125 75 37MB
German Pages 284 [285] Year 1992
ERFAHRUNG
UND
DENKEN
Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften
Herausgeber Alwin Diemer (Düsseldorf), Helmar Frank (Paderborn), André Mercier (Bern), Karl R. Popper (London), Kurt Schelldorfer (Reinach).
Beirat Th. Ballauf (Mainz), H. Coing (Frankfurt), C. J. Friedrich (Cambridge), H. Hediger (Zürich), H. Heimann (Bern), R. Meili (Bern), G. Pilleri (Bern), B. Rensch (Münster), F. Wagner (München), M. Waldmeier (Zürich), R. Wellek (New Haven, Conn./USA).
Schriftleitung Kurt Schelldorfer
Hinweise 1. Der Zweck der Schriften „Erfahrung und Denken" besteht in der Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften unter besonderer Berücksichtigung der „Philosophie der Wissenschaften". 2. Unter „Philosophie der Wissenschaften" wird hier die kritische Untersuchung der Einzelwissenschaften unter dem Gesichtspunkt der Logik, Erkenntnistheorie, Metaphysik (Ontologie, Kosmologie, Anthropologie, Theologie) und Axiologie verstanden. 3. Es gehört zur Hauptaufgabe der Philosophie der Gegenwart, die formalen und materialen Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften zu klären. Daraus sollen sich einerseits das Verhältnis der Philosophie zu den Einzelwissenschaften und andererseits die Grundlage zu einer umfassenden, wissenschaftlich fundierten und philosophisch begründeten Weltanschauung ergeben. Eine solche ist weder aus einzelwissenschaftlicher Erkenntnis allein noch ohne diese möglich.
WALTER OTT · DER RECHTSPOSITIVISMUS
E R F A H R U N G
UND
D E N K E N
Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften
Band 45
Der Rechtspositivismus Kritische Würdigung auf der Grundlage eines juristischen Pragmatismus
Von
Prof. Dr. Walter Ott
Zweite, überarbeitete u n d erweiterte Auflage
Duncker & Humblot * Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Ott, Walter:
Der Rechtspositivismus : kritische Würdigung auf der Grundlage eines juristischen Pragmatismus / von Walter Ott. 2., Überarb. und erw. Aufl. - Berlin: Duncker und Humblot, 1992 (Erfahrung und Denken; Bd. 45) ISBN 3-428-07423-8 NE: GT
Alle Rechte vorbehalten © 1992 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: Werksatz Marschall, Berlin 45 , Druck: Werner Hildebrand, Berlin 65 Printed in Germany ISSN 0425-1806 ISBN 3-428-07423-8
Vorwort zur zweiten Auflage
Seit Erscheinen der 1. Auflage dieses Buches, einer im Jahre 1978 von der Rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich abgenommenen Habilitationsschrift, ist die internationale Diskussion um den Rechtspositivismus weiter gegangen. 1977 veröffentlichte R. Dworkin, der Nachfolger von H. L. A . Hart auf dessen Lehrstuhl für Jurisprudence in Oxford, das Buch „Taking Rights Seriously", welches einen allgemeinen Angriff auf den Positivismus seines Vorgängers enthält. — I m Jahre 1979 erschien aus dem Nachlaß Kelsens das große unvollendete Werk „Allgemeine Theorie der Normen", das in mancherlei Hinsicht von der Reinen Rechtslehre in ihrer klassischen Gestalt abweicht. — Weiter ist in der Zwischenzeit eine neue Form des Positivismus entwickelt worden, nämlich der sog. Institutionalistische Rechtspositivismus MacCormicks und Weinbergers. — Drittens ist heute aufgrund der seither erschienenen Literatur erwiesen, daß der Positivismus nichts zu tun hatte mit der Verwüstung des Rechts im I I I . Reich. — Und schließlich hat der Gegenstand dieses Buches eine unerwartete Aktualität durch die deutsche Wiedervereinigung erhalten. Damit stellen sich erneut die Probleme des Übergangs von einem Unrechtsstaat in eine rechtsstaatliche Demokratie. I n bezug auf die ehemalige D D R konnten diese Probleme nicht mehr expressis verbis behandelt werden, doch sind wohl da und dort analoge Problemlagen gegeben. A n dieser Stelle kann nur auf Heiner Sauer und Hans-Otto Plumeyer, Der Salzgitter-Report verwiesen werden. Die Zentrale Erfassungsstelle berichtet über Verbrechen im SED-Staat (Esslingen / München 1991). Damit sind die Schwerpunkte erwähnt, die eine überarbeitete und erweiterte Auflage als wünschenswert erscheinen ließen. Daneben finden sich zahlreiche Änderungen; vor allem habe ich versucht, die Argumentation im Streit um die sog. Trennungsthese (d. h. die begriffliche Trennung von Recht und Moral) zu verbessern. [§§ 21 E, 22, 23] Dank schulde ich in erster Linie dem Erziehungsrat des Kantons Zürich für das im Winter 1988/89 gewährte Freisemester. I n dieser Zeit ist der Hauptteil der Arbeit entstanden. — Herr Dr. iur. Martin Sigg war so liebenswürdig, mir bei der kritischen Würdigung der „Allgemeinen Theorie der Normen" Kelsens (hinten § 5 B) mit seinen normenlogischen Kenntnissen beizustehen. — Zu danken habe ich weiter meinen Assistenten und Assistentinnen: Frau lie. iur. Franziska Buob überarbeitete selbständig den
6
Vorwort zur zweiten Auflage
Abschnitt „Gesetzespositivismus und Nationalsozialismus" (hinten § 23 D , überprüft von meinem Kollegen Prof. Dr. iur. Clausdieter Schott, wofür ich ebenfalls herzlich danke); Herr lie. iur. Werner Stocker und Frau lie. iur. Milena K o h l sichteten für mich amerikanische und englische Literatur und verrichteten mit großem Einsatz die umfangreichen Abschlußarbeiten. Außerdem standen sie mir jederzeit als kritische Gesprächspartner zur Verfügung. Herrn Klaus Füsser, Berlin, verdanke ich den Hinweis auf methodische Mängel der Gumbel-Mordstatistik [hinten, Seite 209 f.]. Herr lie. iur. Roland Verardo erstellte das Personenregister am Schluß des Bandes. Dank gebührt schließlich dem Verlag Duncker & Humblot sowie Herrn Rechtsanwalt Prof. Norbert Simon für die erneute Aufnahme des Werkes in die Reihe „Erfahrung und Denken". Die Betreuung der Drucklegung erfolgte durch Herrn D . H . Kuchta in gewohnt sorgfältiger Weise. Last but not least sei auch Frau Rosemarie Stotz erwähnt, die einen großen Teil der Schreibarbeiten besorgte.
Zürich, Oktober 1991
Walter Ott
Inhaltsverzeichnis §1
Einleitung
17
Α. Zielsetzung
17
Β. Begriffliche Klarstellungen: Positivität — Geltung — Verbindlichkeit
19
I.
§2
Das Kriterium zur Unterscheidung der verschiedenen Varianten des Rechtspositivismus II. Die Positivität III. Die Geltung 1. Die faktische Geltung 2. Die normative Geltung
19 19 21 21 22
IV. Die Verbindlichkeit V. Schematischer Überblick
22 23
Zusammenfassung und Ergebnisse
24
ERSTER TEIL Arten und Begriff des Rechtspositivismus
Erstes Kapitel: Der etatistische Positivismus §3
Die Analytical Jurisprudence John Austins
§4
Der Gesetzespositivismus
§5
Die Reine Rechtslehre Hans Kelsens
32
32 33 39 45
A. Die Reine Rechtslehre in ihrer klassischen Gestalt
45
B. Das Spätwerk Kelsens: Die „Allgemeine Theorie der Normen" . .
53
I. II.
Ausgangspunkte Die Frage der Anwendbarkeit logischer Prinzipien auf Normen im allgemeinen
53 54
8
nsverzeichnis
III. Der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch (Normenkonflikte) IV. Die Nichtanwendbarkeit der Regel der Schlußfolgerung . . . V. Die Anerkennung der generellen Norm als Voraussetzung für die Setzung der individuellen Norm VI. Die logische Natur der als „Entsprechung" bezeichneten Beziehung zwischen zwei Normen
55 56 58 58
Zweites Kapitel: Der psychologische Positivismus
59
§6
Die Anerkennungstheorien
60
A. Die individuellen Anerkennungstheorien
60
I. II.
Die psychologische Rechtstheorie Ernst Rudolf Biedings . . . Rudolf Launs Lehre von der Autonomie des Rechts
B. Die generellen Anerkennungstheorien I. II.
Adolf Merkel Georg Jellinek
66 66 67
C. Die Theorien von der Anerkennung durch die führende, tonangebende Schicht (Ernst Beling, Hans Nawiasky) §7
61 63
69
Der skandinavische Rechtsrealismus
70
A. Allgemeine Charakterisierung
70
B. Die realistische Rechtslehre von Alf Ross im besonderen
72
Drittes Kapitel: Der soziologische Positivismus §8
Eugen Ehrlich
§9
Max Weber
§10
Theodor Geiger
§11
Der amerikanische Rechtsrealismus
76 77 79 82
Viertes Kapitel: Mischformen des Rechtspositivismus
87 89
§ 12 Die Rechtstheorie von H. L. Hart § 13 Der Institutionalistische und Ota Weinbergers
Rechtspositivismus Donald Neil MacCormicks 97
89
nsverzeichnis
Fünftes Kapitel: Der Begriff des Rechtspositivismus § 14 Die Mehrdeutigkeit
9
104
des Wortes „Rechtspositivismus"
§ 15 Definition und Charakterisierung
104
des Rechtspositivismus
108
A. Der Verzicht auf sogenannte „metaphysische" Annahmen
108
B. Bestimmung des Begriffs des Rechts durch empirische Merkmale
110
I. II.
Das Recht als positives Recht Die Unterscheidung zwischen dem Recht, wie es ist, und dem Recht, wie es sein sollte (positivistische Trennungsthese) . . .
111 112
C. Bestimmung des Begriffs des Rechts durch veränderliche Merkmale
115
ZWEITER TEIL Der axiomatische Charakter des Rechtspositivismus
Erstes Kapitel: Das Problem der wissenschaftlichen Erkenntnis §16
Die axiomatische Methode A. Charakterisierung der axiomatischen Methode im allgemeinen . . I. II. III. IV. V.
Die Axiome Kettendefinitionen Operationsregeln Anforderungen an das axiomatische System Kalkülisierung
B. Die Axiome im besonderen I. II.
§17
117
117 118 118 118 119 119 120 121 122
Die alte Auffassung: Axiome als evidente Wahrheiten Die moderne Auffassung: Axiome als Postulate
122 123
C. Genetische und logische Betrachtungsweise am Beispiel der euklidischen Geometrie gezeigt
126
Die empirische Methode
128
A. Schematischer Überblick
128
B. Konstatierungen
128
C. Gesetze
130
10
nsverzeichnis
I. II. III. IV.
§18
Bildung von Hypothesen Verifizierung und Falsifizierung Bildung von Theorien Zusammenfassendes Schema nach Bocheùski und Seiffert . . 1. Der Forschungsablauf
130 131 133 134 134
2. Der logische Ablauf
135
D. Singuläre Sätze
135
E. Empirische Aussagen als Feststellungen
136
Wissenschaftliche
Wahrheit und wissenschaftliche
Erkenntnis
A. Die Bestimmung des Erkenntnisbegriffs als Festsetzung
138
B. Die logische Wahrheit
140
C. Die empirische Wahrheit
141
D. Erkenntnistheoretischer Positivismus und Wertrelativismus
142
Zweites Kapitel: Die Unbeweisbarkeit des Rechtspositivmus §19
142
Feststellungen (unechte Definitionen) A. Behauptungen über einen vorliegenden Sprachgebrauch (analytischsemantische Definitionen) I. Grundsätzliches II. Beispiel: Der Begriff des „Werkes" i. S. von OR 58 III. Die positivistischen Definitionen des Rechts als analytischsemantische Definitionen? B. Sacherklärungen I. II. III. IV.
§20
138
Grundsätzliches Beispiel: Definition der „Kurzsichtigkeit" Die sog. „Wesensdefinition" Die positivistischen Definitionen des Rechts als Sacherklärungen?
143 143 143 144 145 149 149 149 150 150
Festsetzungen (echte Definitionen)
153
A. Syntaktische Definitionen
153
B. Synthetisch-semantische Definitionen
154
I.
Grundsätzliches
154
nsverzeichnis
11
II. Beispiel: Die Neufassung des Todesbegriffs in der Medizin . . III. Die positivistischen Definitionen des Rechts als Festsetzungen
155 158
C. Die Unbeweisbarkeit und Unwiderlegbarkeit des Rechtspositivismus
162
DRITTER TEIL Folgerungen
163
§ 21 Rechtsphilosophien in der Deutung des juristischen Pragmatismus
163
A. Der „axiomatische" Charakter des philosophischen Denkens . . .
163
B. Die rechtsphilosophischen Theoreme als Entwürfe
165
C. Die geschichtliche Bedingtheit des Rechtspositivismus
168
D. Die Frage nach den Vor- und Nachteilen der rechtspositivistischen Theorien
171
E. Die Frage nach den Vor- und Nachteilen der positivistischen Trennungsthese insbesondere
172
§ 22 Die Vorteile der positivistischen
Trennungsthese
A. Die Fruchtbarkeit der Trennungsthese für Rechtsgeschichte und Rechtsethnologie
175
Rechtssoziologie, 175
B. Die Trennungsthese unter dem Aspekt der Rechtssicherheit
176
C. Die Trennungsthese und das Problem der Rechtspolitik
177
D. Die Trennungsthese und das Prinzipienargument
178
I. Die drei Hauptthesen des Positivismus in der Sicht Dworkins II. Die Kritik Dworkins an den drei Hauptthesen des Positivismus III. Die Begründung dieser Kritik durch Dworkin 1. Die Unterscheidung zwischen Rechtsregeln und Prinzipien 2. Das Auffinden der maßgebenden Prinzipien 3. Die These von der allein richtigen Entscheidung auch in schwierigen Fällen (die sog. „right-answer thesis")
179 180 180 180 182 183
IV. Keine Widerlegung der positivistischen Trennungsthese durch das Prinzipienargument
185
nsverzeichnis
§ 23 Die Trennungsthese und das „Hitler-Argument"
187
A. Die Formulierung des „Hitler-Arguments" durch Gustav Radbruch
188
B. Das unmenschliche Gesetz im Lichte der verschiedenen positivistischen Theorien
190
C. Der Streit um die Trennungsthese im Hinblick auf das unmenschliche Gesetz
193
I.
Das Argument der Naivität 1. Der Richter im Unrechtsstaat
195 195
2. Der Richter nach dem Zusammenbruch des Unrechtsstaßtes
196
II. Das Argument der Verwirrung III. Die Gefahr der Anarchie IV. Der Vorwurf der verdeckten Strategie in Straffallen
199 200 202
D. Gesetzespositivismus und Nationalsozialismus I. II.
206
Der Juristenstand Die Bindung des Richters an das Gesetz
207 211
E. Ergebnis
§ 24 Die übrigen Vor- und Nachteile der rechtspositivistischen
222
Theorien
A. Allgemeine Gesichtspunkte
224
B. Vor- und Nachteile der Analytical Jurisprudence Austins
227
C. Vor- und Nachteile des Gesetzespositivismus
229
D. Die Vor- und Nachteile der Reinen Rechtslehre Hans Kelsens . . .
233
I.
Würdigung der Reinen Rechtslehre in ihrer klassischen Gestalt
233
II.
Würdigung der „Allgemeinen Theorie der Normen"
238
1. Semiotische Grundlegung
238
2. Der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch (Normkonflikte)
242
3. Nichtanwendbarkeit der Regel der Schlußfolgerung auf Normsätze?
244
E. Vor- und Nachteile des psychologischen Positivismus
248
F. Vor-und Nachteile des soziologischen Positivismus
251
...
224
nsverzeichnis
13
G. Vor- und Nachteile der Rechtstheorie Harts
255
H. Vor- und Nachteile des Institutionalistischen Rechtspositivismus MacCormicks und Weinbergers
260
Schlußbemerkungen: Naturrecht als kulturelle Schöpfung
265
Summary
268
Literaturverzeichnis
270
Personenregister
279
Abkürzungsverzeichnis Α. a. A. a. a. 0 . Abs. AcP a. E. a. F. a. M. ARSP Art. BB1 bes. betr. BGB BGBl BGE
= = = = = = = = = = = = = = = —
BGHSt
—
BGHZ
—
BNSDJ BV BVerfGE bzw. Cambr. L. J. ch. Coll. nouv. Col. L. R. D ders. d. h. d. i. Diss. DRB DRiZ EMRK
=
=
= = = = = =
=
= = = = = =
=
Auflage am Anfang am angeführten Ort Absatz Archiv für civilistische Praxis (Tübingen) am Ende alte Fassung anderer Meinung Archiv für Rechts- und Sozialphilosopbie (Wiesbaden) Artikel Bundesblatt der Schweizerischen Eidgenossenschaft (Bern) besonders betreffend Deutsches Bürgerliches Gesetzbuch vom 18. August 1896 Bundesgesetzblatt (Bonn) Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichtes. Amtliche Sammlung (Lausanne) Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen (Köln / Berlin) Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen (Detmold) Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 29. Mai 1874 Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (Tübingen) beziehungsweise The Cambridge Law Journal (London) chapter Collection nouvelle Columbia Law Review (New York) Digesta corpus iuris civilis I, hrsg. v. Th. Mommsen / P. Krüger (2. A. Berlin 1962) derselbe das heißt das ist Dissertation Deutscher Richterbund Deutsche Richterzeitung (Köln / Berlin / Bonn / München) Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention) vom 4. November 1950
Abkürzungsverzeichnis
f. ff. Gestapo GG gl. M. Harv. L. R. hrsg. Hrsg. i. e. S. im Ersch. insbes. IRP i. S. IVR i. w. S. JuS
= = = = = = = = = = = = = = = =
JW JZ lit. Lit. m. a. W. m. E. Mich. L. R. m. W. Ν NF NJW no Nr. NS NSDAP ο. J. OLG OR
= = = = = = = = = = = = = = = = = =
OS
=
ÖJZ = ÖZöR = Rechtstheorie = RGBl RGZ
= =
SA Schweiz. SJZ
= = =
15
und folgende(r) (Seite, Note, Artikel) und folgende (Seiten, Noten, Artikel) Geheime Staatspolizei Bonner Grundgesetz vom 23. Mai 1949 gleicher Meinung Harvard Law Review (Cambridge, Massachusetts) herausgegeben Herausgeber im engeren Sinne im Erscheinen insbesondere Institutionalistischer Rechtspositivismus im Sinne Internationale Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie im weiteren Sinne Juristische Schulung, Zeitschrift für Studium und Ausbildung (München / Frankfurt) Juristische Wochenschrift (Leipzig) Deutsche Juristenzeitung (Tübingen) litera Literatur mit anderen Worten meines Erachtens Michigan Law Review (Ann Arbor) meines Wissens Fußnote und Randnote bei Kommentaren Neue Folge Neue Juristische Wochenschrift (München / Frankfurt a. M.) numéro Nummer nationalsozialistisch (ζ. B. NS-Staat, NS-Zeit) Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei ohne Jahresangabe Oberlandesgericht Bundesgesetz über das Obligationenrecht vom 30. März 1911 und 18. Dezember 1936 Offizielle Sammlung der seit 10. März 1831 erlassenen Gesetze, Beschlüsse und Verordnungen des Eidgenössischen Standes Zürich Österreichische Juristenzeitung (Wien) Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht (Wien) Rechtstheorie, Zeitschrift für Logik, Methodenlehre, Kybernetik und Soziologie des Rechts (Berlin) Reichsgesetzblatt (Berlin) Entscheidungen des Reichsgerichtes in Zivilsachen (Berlin / Leipzig) Sturmabteilungen schweizerisch Schweizerische Juristenzeitung (Zürich)
16
sog. SS StGB t. u. a. u. a. m. u. dgl. usf. usw. u. U. v. v. a. Vera Lex Verf. vgl. VO vol. Yale, L. J. z. B. ZGB Ziff. zit. ZSR ZStrW
Abkürzungsverzeichnis
= sogenannt = Schutzstaffeln = Strafgesetzbuch (Deutsches vom 15. Mai 1871 oder Schweizerisches vom 21. Dezember 1937) = tome = unter anderem / und andere / und anderswo = und anderes mehr = und dergleichen = und so fort = und so weiter = unter Umständen = von = vor allem = Vera Lex, An International Review on a Global Issue (Pace University, Pleasant ville, New York 10570) = Verfasser = vergleiche = Verordnung = volume = The Yale Law Journal (New Haven, Connecticut) = zum Beispiel = Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 = Ziffer = zitiert = Zeitschrift für Schweizerisches Recht (Basel) = Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (Berlin)
Zitierweise 1. Selbständig erschienene, im Literaturverzeichnis aufgeführte Arbeiten werden grundsätzlich nur mit dem Verfassernamen zitiert. Zum Beispiel: LarenzAll, statt K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (5. A. Berlin / Heidelberg / New York / Tokio 1983) 422. 2. Mehrere selbständig erschienene, im Literaturverzeichnis aufgeführte Arbeiten desselben Autors werden mit einem unterscheidenden Kennwort versehen zitiert. Zum Beispiel: Hart, Concept of Law 21; im Gegensatz zu Hart, Definition 21. 3. Unselbständig erschienene, im Literaturverzeichnis aufgeführte Arbeiten werden nur mit dem Verfassernamen und der Fundstelle zitiert. Zum Beispiel: Kramer, ÖZöR NF 23 (1972) 105 ff., statt E. A. Kramer, Zum Problem der Definition des Rechts. Vier Antworten auf eine Frage des Augustinus, ÖZöR NF 23 (1972) 105 ff.
§ 1 Einleitung Α. Zielsetzungen Dieses Buch entstand aus Enttäuschung darüber, daß sich die Rechtsphilosophen kaum je einig sind. Sie gleichen darin aufs Haar ihren großen Brüdern, den Fachphilosophen, die es auch nur selten zu einer Übereinstimmung bringen können. Während die Einzelwissenschaften — bei allen Unsicherheiten, die aktuelle, noch ungelöste Probleme auch dort auszulösen pflegen — doch einen mehr oder minder großen Stock gesicherten Wissens vorweisen können, pflegt man in der Philosophie im allgemeinen und in der Rechtsphilosophie im besonderen seit eh und je dieselben Probleme zu wälzen, ohne daß man Resultate gefunden hätte, die auf die Anerkennung aller oder auch nur der meisten Fachgenossen gestoßen wären. So schien es reizvoll zu sein, einmal den Gründen nachzugehen, warum dies so ist. Die Untersuchung konnte jedoch nicht auf alle rechtsphilosophischen Richtungen ausgedehnt werden, sondern wurde auf eine Richtung beschränkt, die allerdings zu den wichtigsten der Gegenwart zählt, nämlich auf den Rechtspositivismus. Dies aus zwei Gründen: Einmal zeigt sich auch bei den Rechtspositivisten der mißliche Umstand, daß sie sich nicht einig sind. Und zweitens gehen sie, wie zu zeigen sein wird, im Prinzip von der gleichen philosophischen Plattform aus, was die Gegenüberstellung ihrer Theorien erleichtert. Diese beiden Gründe lassen die rechtspositivistischen Lehren zu besonders geeigneten Objekten einer Untersuchung werden, wie sie hier beabsichtigt ist. Die Zielsetzungen dieser Arbeit sind die folgenden: — Zunächst soll eine Darstellung der wichtigsten rechtspositivistischen Lehren gegeben werden (hinten §§ 3-13). — A u f Grund dieser Zusammenstellung ist dann zu prüfen, was man sinnvollerweise überhaupt unter „Rechtspositivismus" verstehen soll (hinten §§ 14/15). — Anschließend sollen die Voraussetzungen aufgedeckt werden, auf denen die vorliegende Untersuchung beruht (hinten §§ 16-18). — Darauf gilt es abzuklären, warum sich die Rechtspositivisten nicht einig sind (hinten §§ 19/21). — Anschließend soll eine bestimmte Deutung des rechtsphilosophischen Denkens entwickelt werden, die von der herkömmlichen abweicht und 2 Ott, 2. Aufl.
18
§ 1 Einleitung
die die Unterschiede in den Meinungen der Rechtsphilosophen erklärt (hinten §21). — Zum Schluß soll am Beispiel des Rechtspositivismus skizziert werden, wie man auf Grund dieser Deutung, die wir als Juristischen Pragmatismus" bezeichnen wollen, rechtsphilosophische Lehren überprüfen sollte (hinten §§22-24). Nicht angestrebt werden in dieser Arbeit dagegen die folgenden Ziele: — Es soll nicht eine schlechthin umfassende Darstellung des Rechtspositivismus gegeben werden. D . h., es soll nicht danach gefahndet werden, wo überall in der Vergangenheit (ζ. B. im griechischen Rechtsdenken) oder in der Gegenwart (ζ. B. in der Systemtheorie N. Luhmanns) sich — neben den hier als exemplarisch dargestellten Lehren — auch noch rechtspositivistische Züge finden. Luhmann hat eine vielversprechende Theorie entwickelt, die sich aber noch im Wandel befindet und noch nicht ihre definitive Ausprägung erfahren hat. Vgl. dazu hinten § 6 Ν 44. — Ebenso wenig soll das Wertproblem hier behandelt werden. Vor allem in den Paragraphen 22 bis 24 werden zwar Wertungen vorgenommen; wie man diese aber begründen kann, ist nicht Gegenstand dieses Buches. Doch sei vorsorglich gleich betont, daß hier das Hauptproblem der Rechtsphilosophie liegt und alles davon abhängt, an welchen Maßstäben man die einzelnen Lehren mißt. — Schließlich wird nicht Stellung genommen zum heute so umstrittenen Problem einer Abgrenzung der Rechtsphilosophie einerseits und der sog. Rechtstheorie andererseits. Nach einer neueren Terminologie gehören zur Rechtsphilosophie nur jene Lehren, die die axiologischen Strukturen des Rechts untersuchen 1 . Damit würden die rechtspositivistischen Lehren zur sog. Rechtstheorie, nicht aber zur Rechtsphilosophie gehören, weil sie sich nicht über den Inhalt des Rechts äußern. Da diese Abgrenzung jedoch nicht unbestritten ist und sich heute noch keine klaren Konturen der Forschungsobjekte der Rechtstheorie im Gegensatz zu denjenigen der Rechtsphilosophie und der rechtswissenschaftlichen Einzeldisziplinen erkennen lassen, folgen wir dem älteren Sprachgebrauch, nach dem auch die rechtspositivistischen Theorien rechtsphilosophische Lehren sind 2 .
1
Vgl. das Schema bei G. Jahr und W. Maihofer (Hrsg.), Rechtstheorie. Beitrage zur Grundlagendiskussion (Frankfurt a.M. 1971) 488. 2 Gegen die erwähnte Abgrenzung von Rechtsphilosophie und Rechtstheorie haben sich ζ. B. ausgesprochen Eckmann 17/18 und Hoerster, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 2 (1971) 129. Auch W. Hassemer, Artikel „Rechtsphilosophie", in: A. Görlitz, Handlexikon zur Rechtswissenschaft (München 1972) 332, Spalte rechts, stellt fest, man könne die Rechtstheorie zur „Rechtsphilosophie im weitesten Sinne" rechnen.
§ 1 Einleitung
19
Β. Begriffliche Klarstellungen: Positivität — Geltung — Verbindlichkeit3 I. Das Kriterium zur Unterscheidung der verschiedenen Varianten des Rechtspositivismus Als erstes stellt sich uns das Problem, nach welchem Kriterium wir die verschiedenen Varianten des Rechtspositivismus einteilen sollen. Die Beantwortung dieser Frage nach dem zweckmäßigsten Unterscheidungskriterium setzt natürlich bereits die Kenntnisse der im ersten Teil zu behandelnden Materie voraus: Erst wenn man die einzelnen Theorien genau kennt, die allenfalls verschiedenen Spielarten des Rechtspositivismus zugeordnet werden können, läßt sich ein Kriterium finden, für das man den Anspruch erheben darf, daß es dem Stoffe angemessen ist. Insofern war also der Autor seinerzeit gezwungen gewesen, den Weg in der anderen Richtung als in derjenigen zu gehen, die er nun dem Leser vorschlägt; für die Verständlichkeit wird es jedoch zweifellos besser sein, das maßgebende Kriterium bereits hier einzuführen und von verwandten Begriffen abzugrenzen. Die nähere Betrachtung der verschiedenen rechtspositivistischen Theorien wird zutagefördern, daß ein Zusammenhang besteht zwischen dem allgemeinen philosophischen Positivismus und dem Rechtspositivismus — ein Zusammenhang, den sowohl einzelne Rechtspositivisten selbst als auch Autoren anderer Provenienz schon bemerkt haben. Wie der philosophische Positivist will auch der Rechtspositivist anknüpfen an das „positiv Gegebene", d. h. an etwas Tatsächliches, an etwas unbestreitbar Wirkliches, um zu sicheren Erkenntnissen zu gelangen. Von daher gesehen, scheint es zweckmäßig zu sein, darauf abzustellen, worin die einzelnen Theorien die sog. „Positivität" des Rechts erblicken. W i r unterscheiden die verschiedenen rechtspositivistischen Lehren also danach, was für Merkmale nach ihnen für die Positivität des Rechts konstitutiv sind.
II. Die Positivität Unter dem „positiven" Recht versteht man üblicherweise das von einer sozialen Autorität, insbesondere einer staatlichen Instanz, gesetzte Recht 4 . Positivität in diesem Sinne heißt also Gesetzt-Sein des Rechts durch Akte 3 Bei der Lektüre dieses Abschnitts hält man sich am besten das zusammenfassende Schema hinten § 1 Β V vor Augen. Andere Unterscheidungen bieten Hoerster, „Wirksamkeit", „Geltung" und „Gültigkeit" von Normen, in: Gedächtnisschrift für René Marcie (Berlin 1983) 585 ff. und Lippold, Geltung, Wirksamkeit und Verbindlichkeit von Rechtsnormen, Rechtstheorie 19 (1988) 463 ff. 4 Vgl. zum Begriff der „Setzung" Geddert 94.
2*
20
§ 1 Einleitung
einer sozialen, insbesondere einer staatlichen Autorität. Positiv im so verstandenen Sinne sind sämtliche in den amtlichen Sammlungen enthaltenen Staats Verträge, Gesetze und Verordnungen bis zu ihrer Aufhebung, und zwar unabhängig davon, ob sie von den Rechtsunterworfenen gebilligt und tatsächlich befolgt bzw. vom sog. „Rechtsstab" angewendet werden 5 . Auch die sog. „paper rules", d.h. Rechtsregeln, die bloß auf dem Papier stehen, sind in diesem Sinne positiv. — Unabhängig von der Einhaltung bestimmter Gesetzgebungsformen sind aber auch positiv in diesem Sinne Befehle eines Machthabers oder Siegers sowie das sog. Gewohnheitsrecht, das im modernen Staat eine verschwindend geringe, in der Rechtsgemeinschaft primitiver Gesellschaften dagegen die Hauptrolle spielt. Dieser engere Begriff von „Positivität" wäre aber für den Zweck unserer Untersuchung ungeeignet. Denn nicht alles, was in diesem ersten Sinne als „positiv gesetzt" erscheint, würde auch vom psychologischen oder vom soziologischen Rechtspositivisten als „positives Recht" bezeichnet werden. Wir haben das Beispiel der „paper rules" erwähnt. Die „paper rules" sind positiv i. S. von „gesetzt durch den staatlichen Gesetzgeber", nicht aber i. S. der modernen soziologischen Zwangstheorie, weil der Rechtsstab nicht bereit ist, sie anzuwenden und durchzusetzen. Oder: Ein unmenschliches Gesetz wäre ebenfalls im ersten Sinne positives Recht, nicht aber i. S. einer Variante des psychologischen Positivismus, die auf die Anerkennung durch die Mehrheit der Rechtsunterworfenen abstellt, sofern diese das Gesetz mißbilligt. Umgekehrt wäre eine höchstrichterliche gesetzeswidrige Praxis positives Recht nach der soziologischen Zwangstheorie, nicht aber i. S. von „positiv gesetzt durch den staatlichen Gesetzgeber". I m ersten Sinne könnte man das Wort „Positivität" hier nur verwenden, wenn man es in der Bedeutung von „positiv gesetzt durch die obersten Richter" nehmen würde. Wir müssen das Unterscheidungskriterium aber so wählen, daß es allen von uns als „Rechtspositivismus" bezeichneten Theorien zugrunde gelegt werden kann. Aus diesem Grunde empfiehlt es sich, von einem weiteren Begriff der „Positivität" auszugehen, der zwar auch die „Setzung durch eine soziale Autorität", aber nicht nur diese umfaßt. Unter „Positivität" i. w. S. des Rechts soll hier verstanden werden die tatsächliche Existenz, die Wirklichkeit des Rechts. „Positives Recht" soll hier soviel bedeuten wie „tatsächlich existierendes", „wirkliches", „faktisch geltendes" Recht. Analysiert man die rechtspositivistischen Theorien, dann zeigt es sich, daß sie die Positivität immer in einer physischen, d. h. raumzeitlichen Wirklichkeit oder in einer psychischen, d. h. nur zeitlichen Wirklichkeit erblicken, bzw. in einer Verbindung zwischen beiden. Der etatistische 5 Wenn im folgenden von „Rechtsstab" die Rede sein wird, dann sind damit alle an der Rechtsanwendung und -Vollstreckung beteiligten Organe gemeint.
§ 1 Einleitung
Positivist erblickt die Positivität des Rechts in der Setzung durch eine staatliche Instanz, der psychologische Positivist in gewissen psychischen Zuständen wie „Sollenserlebnis", „Anerkennung", „opinio necessitatis" und der soziologische Positivist in gewissen äußeren Verhaltensweisen, nämlich in der tatsächlichen Befolgung des Rechts durch die Rechtsgenossen oder in dessen Anwendung durch einen bestimmten Menschenstab. Wenn wir im folgenden von „Positivität" des Rechts sprechen, dann ist damit in der Regel dieser weite Begriff gemeint.
III.
Die Geltung
1. Die faktische Geltung Dieser soeben entwickelte Begriff der Positivität i. w. S. ist nun nichts anderes als die sog. „faktische Geltung" des Rechts. Unter faktisch geltendem Recht soll hier dasselbe verstanden werden wie „positives Recht" i. w. S., d. h. das tatsächlich existierende Recht. „Geltung" in diesem Sinne ist also nichts Normatives, sondern etwas Tatsächliches und bezieht sich immer auf ein Recht, das in irgendeiner näher zu bestimmenden Weise „wirklich" geworden ist. Wenn wir also ζ. B. sagen, daß eine Rechtsnorm faktisch gilt, dann heißt das weder, daß diese Norm damit notwendigerweise von einem höheren Standpunkt aus als gerechtfertigt erscheint (daß sie also „verbindlich" im nachstehend unter I V zu erörternden Sinne ist) noch, daß sie den Geltungskriterien der Verfassung entspricht (d. h. daß ihr die sog. „normative Geltung" zukommt), sondern nur, daß sie in irgendeiner näher zu bestimmenden Weise tatsächliche Existenz erlangt hat, also „positiv im weiteren Sinne" geworden ist (was natürlich nicht ausschließt, daß Normen faktischer Geltung auch normativ gültig oder verbindlich oder beides zusammen sein können). Die tatsächliche Existenz einer faktisch geltenden Rechtsregel kann nun bestehen in der Positivität i. e. S. oder in einer psychologischen Wirksamkeit bzw. soziologischen Wirksamkeit oder in einer Kombination zwischen diesen. Psychologisch wirksam ist eine Rechtsregel etwa dann, wenn sie als „bindend", oder als „verpflichtend" erfahren wird, soziologisch wirksam dagegen dann, wenn sie entweder von den Rechtsgenossen tatsächlich befolgt oder vom Rechtsstab tatsächlich angewendet wird. Meist, wenn in der Literatur von der „Wirksamkeit" des Rechts gesprochen wird, ist nur die soziologische Wirksamkeit gemeint. Der Gegensatz dazu wäre die „psychologische Wirksamkeit", die wir mit der soziologischen Wirksamkeit unter dem Begriff der „Wirksamkeit im weiteren Sinne" zusammenfassen. I n seiner grundlegenden Studie über „Die Geltung von Rechtsnormen" hat R. Schreiber einen faktischen Geltungsbegriff entwickelt, der anknüpft an die
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§ 1 Einleitung
Tätigkeit des Sanktionsapparates 6 . Dieser Begriff der faktischen Geltung würde also entsprechen unserem Begriff der soziologischen Wirksamkeit in jener Variante, die auf die Anwendung des Rechts durch einen Rechtsstab abstellt. Da wir aber auch die psychologischen Rechtslehren erfassen wollen, müssen wir für unsere Zwecke den Begriff der faktischen Geltung weiter fassen, so daß er neben der soziologischen Wirksamkeit auch die „psychologische Wirksamkeit" des Rechts umfaßt ( = faktische Geltung i. e .S.), was natürlich nichts gegen die Fruchtbarkeit der Schreiberschen Festsetzung sagt. 2. Die normative Geltung Streng zu unterscheiden von den Begriffen der faktischen Geltung i. e. S. und i. w. S. hat man den Begriff der normativen Geltung oder Soll-Geltung bzw. der juristischen Geltung. Eine Rechtsnorm ist normativ gültig, soll heißen, daß sie den in einer höheren Norm oder in mehreren höheren Normen enthaltenen Kriterien über die Geltung niedrigerer Normen entspricht. Eine individuelle Rechtsnorm, z. B. ein richterliches Urteil, ist normativ gültig, wenn es den in den einschlägigen Gesetzen enthaltenen Kriterien über die Geltung individueller Normen, z. B. richterlicher Urteile, entspricht; diese Gesetze sind ihrerseits normativ gültig, wenn sie den in der Verfassaung enthaltenen Kriterien über die Geltung von Gesetzen entsprechen; im System Kelsens ist die Verfassung wiederum dann normativ gültig, wenn sie den in der sog. „hypothetischen Grundnorm" enthaltenen Geltungskriterien entspricht. Die normative Geltung wird also durch einen Deduktionsschluß aus einer Norm, die ein Geltungskriterium oder mehrere Geltungskriterien enthält und als Obersatz fungiert, sowie aus einem Tatsachenurteil als Untersatz festgestellt. Also durch ein logisches Verfahren 1. Demgegenüber stellt man die faktische Geltung durch Beobachtung, d. h. durch ein empirisches Verfahren fest. IV. Die Verbindlichkeit Unter „Geltung" des Rechts kann aber auch noch ein Drittes verstanden werden, das wiederum von den faktischen Geltungsbegriffen und dem normativen Geltungsbegriff im eben erläuterten Sinne streng zu scheiden ist, nämlich die sog. „ Verbindlichkeif ' des Rechts. Eine Rechtsnorm ist „verbindlich", soll heißen, daß sie von einem höheren (philosophischen oder religiösen) 6
R. Schreiber, Die Geltung von Rechtsnormen (Berlin / Heidelberg / New York 1966)
59. 7
Beispiel: Was der König befiehlt, soll man tun (Obersatz, enthaltend das Geltungskriterium). Der König befiehlt, X zu tun (Tatsachenurteil als Untersatz). Also soll man X tun (Konklusion mit normativer Geltung).
Positivität i. e. S. = „ Gesetz t-Seine durch Akte einer sozialen Autorität
tatsächliche Befolgung
psychologische Wirksamkeit
Il
soziologische Wirksamkeit
tatsächliche Anwendung = faktische Geltung i. S. R. Schreibers
Normative Geltung Verbindlidikeit = Soll-Geltung = philosophische = juristische metaphysische Geltung Geltung
Wirksamkeit i. w. S. = faktische Geltung 1. e. S.
Faktische Geltung i. w. S. = Positivität i w S = ÌS^&L·* des Rechts
Geltung im weiteren Sinne
§ 2 Zusammenfassung und Ergebnisse 23
24
§ 2 Zusammenfassung und Ergebnisse
Standpunkt aus als gerechtfertigt erscheint. Zur Begründung der Verbindlichkeit von Rechtsnormen bieten sich verschiedene Argumentationen an, insbesondere werttheoretische (z. B. i. S. des Wertobjektivismus oder des Utilitarismus), naturrechtliche und religiöse. Wie wir sehen werden, behandeln die Rechtspositivisten in der Regel das Problem der Verbindlichkeit des Rechts nicht. Wo dies ausnahmsweise dennoch geschieht, können die entsprechenden Gedankengänge nicht als Bestandteile der jeweiligen positivistischen Theorie angesehen werden. V. Schematischer Überblick Zur Verdeutlichung der Ausführungen dieses Abschnitts diene das auf Seite 23 stehende Schema. Wir werden im Laufe unserer Untersuchung nicht jedesmal anführen, welcher Geltungsbegriff gemeint ist, wenn von „Geltung des Rechts" die Rede ist, in der Meinung, daß der aufmerksame Leser dies aus dem jeweiligen Zusammenhang ohne weiteres ersehen kann.
§ 2 Zusammenfassung und Ergebnisse 1. Nach der im ersten Teil zu entwickelnden Konzeption liegt das maßgebende Kriterium für die Einteilung der verschiedenen Varianten des Rechtspositivismus darin, worin diese die sog. „Positivität i. w. S.", d. h. die tatsächliche Existenz, die Faktizität des Rechts erblicken. Die Merkmale der Positivität sind zugleich die entscheidenden Merkmale des Begriffs des Rechtes i. S. der jeweiligen Theorie. A u f Grund dieses Kriteriums kann man drei Hauptgruppen des Rechtspositivismus unterscheiden, nämlich den etatistischen, den psychologischen und den soziologischen Positivismus. Eine Sonderstellung nehmen die Theorien Harts einerseits und MacCormicks und Weinbergers andererseits ein, die Elemente aus diesen drei Hauptgruppen in sich vereinigen. 2. Die etatistischen Positivismen (hinten §§ 3-5) erblicken die Positivität des Rechts im wesentlichen in der Setzung von Vorschriften durch eine staatliche Instanz. Für Austin besteht das Recht aus dem Inbegriff der Befehle, die von der höchsten politischen Instanz, dem Souverän einer unabhängigen politischen Gesellschaft, den Untertanen gesetzt werden. I m Unterschied zu gewöhnlichen Wünschen ist der Befehl dadurch ausgezeichnet, daß er mit der Androhung von Zwang verbunden ist und der Souverän ihm im Falle des Ungehorsams durch Hinzufügung eines Übels Nachachtung zu verschaffen vermag. Weiter betont Austin mit Nachdruck die für jede rechtspositivisti-
§ 2 Zusammenfassung und Ergebnisse
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sehe Theorie charakteristische Trennung zwischen dem Recht, wie es ist, und dem Recht, wie es sein sollte, d.h. zwischen Recht und Moral: Aus der Tatsache, daß eine Regel die Grundsätze der Moral verletzt, kann nicht gefolgert werden, daß sie keine Rechtsregel ist; und aus der Tatsache, daß eine Regel moralisch erwünscht ist, kann nicht gefolgert werden, daß sie eine Rechtsregel ist. Für den Gesetzespositivisten ist das Recht alles und nur das, was der jeweilige staatliche Machthaber in formell korrekter Weise als Gesetz erläßt. Für diese Lehre ist weiter eine bestimmte Rechtsanwendungstheorie charakteristisch: die Rechtsanwendung soll sich in einer bloßen logischen Deduktion aus den Normen des gesetzlichen Systems erschöpfen, das als ein logisch geschlossenes, lückenloses Ganzes gedeutet wird. Für die Reine Rechtslehre ist das Recht eine von Menschen gesetzte normative und zwangsandrohende Ordnung, die effektiv, d. h. im großen und ganzen wirksam ist. Da Kelsen unter „Geltung" stets die normative Geltung versteht, kann der letzte Geltungsgrund dieser Normativordnung nicht in einer Tatsache, sondern nur in einer Norm liegen. Diese Grundnorm, die nicht tatsächlich existiert, sondern nur hypothetisch vorausgesetzt wird, besagt, daß man sich so verhalten soll, wie es die Verfassung vorschreibt. Der „Zurechnungspunkt", in dem sich die Einheit der Rechtsordnung ausdrückt, ist nichts anderes als der Staat im juristischen Sinne. Der Staat in diesem Sinne ist identisch mit der Rechtsordnung selbst. I n seinem posthum erschienenen Spätwerk „Allgemeine Theorie der Normen" verneint Kelsen die Anwendbarkeit logischer Prinzipien auf Normen. Einen logischen Widerspruch zwischen Normen kann es nicht geben, weil logische Prinzipien für ihn nur auf Aussagen anwendbar sind, die wahr oder falsch sein können. Und die Regel der Schlußfolgerung gilt für ihn darum nicht, weil sich zwischen eine generelle Norm (ζ. B. ein Gesetz) und eine individuelle Norm (z.B. ein Urteil) stets ein Willensakt (z.B. eines Richters) schieben muß, damit die letztere Geltung erlangt. 3. Der psychologische Positivismus (hinten §§ 6/7) erblickt die Positivität des Rechts in bestimmten Gefühls- und Bewußtseinsinhalten: Die sog. individuellen Anerkennungstheorien (.Bierling, Laun) stellen ab auf die Anerkennung jedes einzelnen Normadressaten; die generellen Anerkennungstheorien CMerkel, Jellinek) auf die Anerkennung durch die Mehrheit der Normadressaten. Eine Mittelstellung nehmen die Lehren Belings und Nawiaskys ein, welche die Vorstellungen der führenden, tonangebenden Schicht innerhalb eines Verbandes als maßgebend erachten. Auch der skandinavische Rechtsrealismus, der sich durch eine besondere Metaphysikfeindschaft auszeichnet, erblickt die Positivität des Rechts in psychischen Wirklichkeiten, nämlich in den Imperativisch wirkenden Ver-
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§ 2 Zusammenfassung und Ergebnisse
haltensvorstellungen, die im Gesetzgebungs- und Rechtsprechungsmaterial zum Ausdruck kommen. Die Aufgabe der Rechtswissenschaft besteht darin, durch sprachliche Analyse diese Bewußtseinsinhalte aufzuweisen. Bei Ross, der eine Synthese zwischen psychologischer und soziologischer Betrachtungsweise versucht, sind die Rechtsnormen dadurch ausgezeichnet, daß sie von den Richtern als bindend empfunden (psychologischer Aspekt) und daher angewendet werden (soziologischer Aspekt). Die Rechtswissenschaft ist ein Zweig der Psychologie und Soziologie; die von ihr formulierten Sätze sind Voraussagen eines zukünftigen richterlichen Verhaltens und können durch die Erfahrung bestätigt oder widerlegt werden. 4. Der soziologische Positivismus (hinten §§8-11) erblickt die Positivität des Rechts in bestimmten menschlichen Verhaltensweisen, nämlich der Gruppengenossen oder des sog. „Rechtsstabes". Nach Ehrlich liegt der Schwerpunkt der Rechtsentwicklung weder in der Gesetzgebung noch in der Jurisprudenz oder in der Rechtsprechung, sondern in der Gesellschaft selbst. Das sog. gesellschaftliche Recht besteht für Ehrlich aus den Regeln, nach denen sich die Menschen tatsächlich verhalten. Sie sind getragen von einer „opinio necessitatis" und lösen bei ihrer Verletzung das Gefühl der Empörung aus (Gefühlstheorie). Neben dem gesellschaftlichen Recht kennt Ehrlich aber auch die Normenkomplexe des Juristenrechts und des staatlichen Rechts; alle drei zusammen machen das sog. „lebende Recht" aus. Die soziologische Zwangstheorie ( Weber, Geiger) stellt demgegenüber ab auf die Existenz eines spezifischen Rechtsstabes. Das Recht ist diejenige Ordnung, die durch die Chance garantiert ist, daß ein eigens darauf eingerichteter Menschenstab auf einen Normbruch mit einem charakteristischen Zwang reagiert. Die Geltung des Rechts i. S. der soziologischen Zwangstheorie liegt in der Wahrscheinlichkeit des Eintrittes eines spezifischen Zwanges von Seiten eines eigens darauf eingestellten Sanktionsapparates. I n gewissen Formen des amerikanischen Rechtsrealismus wird nicht nur die Positivität des Rechts, sondern das Recht schlechthin mit einem tatsächlichen Verhalten bestimmter Menschen, besonders der Justizbeamten, identifiziert. Nach einer anderen Variante des amerikanischen Rechtsrealismus besteht das Recht aus Prophezeiungen über das, was die Gerichte tatsächlich tun werden {Holmes). Der Aussagewert solcher „rules of description and prediction" {Llewellyn) kann durch Beobachtung des richterlichen Verhaltens überprüft werden. 5. Eine Mittelstellung zwischen den Hauptformen des Rechtspositivismus nehmen die Theorien Harts einerseits und MacCormicks und Weinbergers andererseits ein (hinten §§ 12 und 13). Nach Hart besteht das Recht aus den sog. Primärregeln (primary rules), die die Individuen zu einem bestimmten
§ 2 Zusammenfassung und Ergebnisse
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Verhalten motivieren (ζ. B. die Normen des Strafrechts), und den Sekundärregeln (secondary rules), die private oder öffentliche Macht übertragen (ζ. B. Normen über Gesetzgebungskompetenzen). Die wichtigste aller Sekundärregeln ist die sog. Erkennungsregel (rule of recognition), die die Geltungskriterien des Systems enthält. Sie ist keine Norm, sondern eine Tatsache und existiert als eine komplexe, aber normalerweise übereinstimmende Praxis der Gerichte, Beamten und Privatpersonen bei der Identifizierung des Rechts nach gewissen Kriterien. Die Positivität des Rechts besteht bei Hart einerseits in der psychologischen Tatsache, daß die Amtspersonen die Erkennungsregel akzeptieren (internal aspect) und in der soziologischen Tatsache ihrer Anwendung durch gewisse Gesellschaftsmitglieder (external aspect). Harts Theorie enthält somit psychologische und soziologische Elemente. M i t dem Gesetzespositivismus und der Reinen Rechtslehre stimmt er darin überein, daß er einen normativen Geltungsbegriff verwendet. Nach dem Institutionalistischen Rechtspositivismus MacCormicks und Weinbergers gehören zu einem Rechtssystem nicht nur die explizit gegebenen Primär- und Sekundärregeln i. S. Harts , sondern auch die sog. Rechtsprinzipien, ja der gesamte teleologische Hintergrund des Rechts (ζ. B. Gerechtigkeitspostulate) sowie die juristische Doktrin, soweit diese Elemente positivsoziales Dasein haben, d. h. in der Argumentation der Rechtspraxis wirksam sind. 6. A m Schluß des ersten Teiles wird versucht, den Begriff des Rechtspositivismus zu entwickeln (hinten §§ 14/15). Als charakteristisch für alle rechtspositivistischen Theorien werden die folgenden Züge erwähnt: Erstens: Alle Rechtspositivisten bestimmen ihren Begriff des Rechts unter Bezugnahme auf physische Wirklichkeiten, d. h. Tatsachen der raum-zeitlichen Außenwelt, oder auf psychische Wirklichkeiten, d. h. Tatsachen der seelischen Innenwelt. Das bringt zwei Konsequenzen mit sich: Recht kann immer nur etwas sein, das auf eine der angeführten Weise „positiv", d.h. wirklich geworden ist. Alles Recht ist positiv, und nur positives Recht ist Recht. Und: Das Recht, so wie es nun einmal existiert, d. h. „positiv" i. S. einer bestimmten Theorie geworden ist, ist scharf zu trennen vom Recht, wie es sein sollte (positivistische Trennungsthese). Eine Norm kann ihren Rechtscharakter nicht dadurch verlieren, daß sie von einem höheren Standpunkt aus als unmoralisch qualifiziert werden muß. Drittens: Alle positivistischen Theorien weisen eine relativistische Tendenz auf. Sie stellen nämlich nicht auf konstant bleibende Merkmale, sondern auf variable Größen ab, nämlich etwa darauf, was der jeweilige Souverän setzt, oder was die Mehrheit der Bürger der jeweiligen Sozietät anerkennt, bzw. auf die jeweiligen Verhaltensweisen bestimmter Personen in einem Verband. Dies führt natürlich zu einer Relativierung des Rechtsinhaltes. Als interessantes Zwischenergebnis ergibt sich daraus, daß die deutsche
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Begriffsjurisprudenz des 19. Jahrhunderts nicht als positivistisch in diesem Sinne angesehen werden kann, weil sie nicht relativistisch eingestellt gewesen ist. 7. Alle rechtspositivistischen Theorien beruhen stillschweigend oder ausdrücklich auf den Voraussetzungen des allgemeinen philosophischen Positivismus. I m zweiten Teil wird nun geprüft, ob eine von ihnen vom Standpunkt einer modernen positivistischen Erkenntnistheorie aus als wahr bewiesen werden kann. Von einer solchen Position aus kommen für die Überprüfung wissenschaftlicher Aussagen nur logisch-empirische Verfahren in Betracht (hinten §§16-18). Dabei hat man sich zu vergegenwärtigen, daß diese Grundforderung des philosophischen Positivismus auf einer Konvention beruht, da sie nicht selbst wieder mit logisch-empirischen Verfahren bewiesen werden kann (hinten § 18). Als logisch wahr gilt nun ein Satz dann, wenn er mit Hilfe der vorausgesetzten Axiome, Definitionen und Operationsregeln eines deduktiven Systems zu beweisen ist. Demgegenüber gilt ein Satz dann als empirisch wahr, wenn er sich widerspruchslos in einen gesetzmäßigen Zusammenhang einer Vielzahl von Wahrnehmungsaussagen und gewisser theoretischer Voraussetzungen einordnen läßt. Entgegen einer weitverbreiteten Meinung ist die Anwendung logisch-empirischer Verfahren nicht nur auf den Bereich der Naturwissenschaften beschränkt. Die Prüfung der Angemessenheit eines solchen Wissenschaftsverständnisses für die Rechtswissenschaft ist aber nicht Gegenstand dieses Buches; es geht dem Autor allein darum, sich auf den gleichen Boden zu begeben wie die Rechtspositivisten, die jedenfalls alle bewußt oder unbewußt auf diesem Wissenschaftsverständnis aufbauen. Nach der im ersten Teil entwickelten Konzeption unterscheiden sich die verschiedenen rechtspositivistischen Theorien vor allem in der verschiedenen Bestimmung des Positivitäts- und (damit eng zusammenhängend) des Rechtsbegriffes. Aus den jeweiligen Begriffen der Positivität i. w. S. und des Rechts folgen aber mit Notwendigkeit verschiedene Theorien. Die Frage, ob eine der rechtspositivistischen Theorien als wahr bewiesen werden kann, reduziert sich somit auf die Frage, ob eine der rechtspositivistischen Definitionen des Rechts als wahr bewiesen werden kann. Zu diesem Zwecke wird auf die moderne Definitionstheorie zurückgegriffen (hinten §§ 19/20). Nach dem im ersten Kapitel des zweiten Teiles entwickelten Erkenntnisbegriff kommen für die Überprüfung nur logisch-empirische Verfahren in Betracht. Die wichtigsten Definitionsarten sind die Behauptungen über einen vorliegenden Sprachgebrauch (analytisch-semantische Definitionen), die Sacherklärungen sowie die Festsetzungen eines Sprachgebrauchs (synthetischsemantische Definitionen). Die analytisch-semantischen Definitionen sind Feststellungen, nicht etwa Festsetzungen, der Bedeutung, die ein Wort besitzt, bzw. der Verwendung, die es findet. Als Beispiel wird auf die
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bekannte Definition des „Werkes" i. S. von OR 58 durch Oftinger hingewiesen. Die positivistischen Definitionen des Rechts können nun nicht solche analytisch-semantischen Definitionen sein, weil, wie nachgewiesen wird, im tatsächlichen Sprachgebrauch das Wort „Recht" zur Bezeichnung ganz verschiedener Erscheinungen verwendet wird. Die positivistischen Definitionen schalten nämlich alle die ideelle Bedeutung des Wortes aus und siedeln ihre Begriffe im normativen und/oder faktischen Bereich an, ohne daß einer davon den Anspruch erheben könnte, den tatsächlichen Gebrauch in der Sprache umfassend aufzuweisen. — Sacherklärungen sind demgegenüber Beschreibungen eines bereits hinlänglich identifizierten Gegenstandes. Ein Beispiel dafür wäre die Definition von „Kurzsichtigkeit". Die Problematik einer Definition des Rechts i. S. einer Sacherklärung besteht darin, daß sie nur möglich ist, wenn auf Grund von Sprachgebrauch oder pragmatischer Übereinkunft der zu beschreibende Gegenstand schon identifiziert ist. Die erste Möglichkeit fällt, wie gezeigt wurde, außer Betracht; im zweiten Fall dagegen ist die Sacherklärung im Vergleich zur vorher getroffenen Konvention relativ bedeutungslos. Denn die entscheidende Frage verlagert sich dann natürlich um eine Stufe und geht dahin, auf welche sprachliche Konvention man sich einigen soll. — Die positivistischen Definitionen des Rechts können daher nur sog. synthetisch-semantische Definitionen, d. h. Konventionen, sein, die die Bedeutung des Wortes „Recht" festsetzen. Sie behaupten also nichts, was sich als wahr oder falsch beweisen ließe, sondern sie sind Postulate; sie stellen nicht fest, was Recht ist, sondern postulieren eine bestimmte Bedeutung des Wortes Recht. Daß die Charakterisierung einer Definition als konventioneller Sprachgebrauchsregelung keinen Freipaß für Willkür bedeutet, wird am Beispiel der Neufestlegung des Todesbegriffes in der modernen Medizin gezeigt. Der sog. „axiomatische" Charakter des Rechtspositivismus besteht also darin, daß letztlich alle Theorien auf Konventionen zurückgehen, die — gemessen am Erkenntnisbegriff des philosophischen Positivismus — selbst nicht verifizierbar oder falsifizierbar sind. 8. Es wäre nun allerdings verfrüht, daraus zu schließen, der Aufbau einer rechtspositivistischen Theorie sei ein zum vornherein verfehltes Unterfangen. Denn, wie im dritten Teil ausgeführt wird, läßt sich eine Deutung entwickeln, die die Bemühungen der Rechtspositivisten trotz ihrer prinzipiellen Unbeweisbarkeit als ein durchaus ernstzunehmendes Unterfangen erscheinen läßt (hinten §21). Es ist dies die hier als Juristischer Pragmatismus" bezeichnete Deutung des rechtsphilosophischen Denkens. Nach dieser Konzeption vermitteln rechtsphilosophische Theoreme keine Erkenntnisse und kein Wissen, sondern sie sind Entwürfe, d. h. Gedankengebäude, die nicht — wie erfahrungswissenschaftliche Theorien — dem Wahrheitskriterium unterstehen, sondern die zu akzeptieren oder zurückzuweisen sind auf Grund der sich aus ihnen ergebenden Konsequenzen. Der Wert rechtsphiloso-
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phischer Gedanken liegt nicht in ihrer wissenschaftlichen Wahrheit, sondern in ihrer Fruchtbarkeit zur Erreichung theoretischer oder praktischer Ziele. Infolgedessen wird am Schluß dieses Buches nicht danach gefragt, inwiefern die einzelnen rechtspositivistischen Theorien richtig und inwiefern sie falsch sind, sondern danach, wo ihre Vor- und Nachteile liegen, d. h. danach, wozu sie sich eignen bzw. nicht eignen (§§22-24). Der bisher wichtigste Streitpunkt in der Positivismusdiskussion war die Auseinandersetzung um die Trennungsthese, und zwar vor allem im Lichte der Erfahrungen mit dem Dritten Reich. Man wirft dem Positivismus vor, er liefere das Recht an die jeweilige Macht aus und öffne damit dem politischen Mißbrauch Tür und Tor (sog. „Hitler-Argument"). Zur Überprüfung der Stichhaltigkeit dieses Vorwurfs wird als Beispiel eine kraß unmenschliche nationalsozialistische Strafrechtsverordnung gewählt und untersucht, ob ihr nach den einzelnen Theorien die Rechtsqualität zukommt. Dabei zeigt sich überraschenderweise, daß dies wohl für die meisten, nicht aber, wie zu erwarten war, für alle rechtspositivistischen Lehren zutrifft. — Die Theorien, die hier zur Bejahung des Rechtscharakters gelangen, verlagern das Problem vom juristischen in den moralisch-sittlichen Bereich, d. h. konkret: Ein Richter wäre zwar nach ihnen juristisch, nicht aber moralisch verpflichtet, das unmenschliche Gesetz anzuwenden. Da ein Richter aber — vor allem nach dem Zusammenbruch eines Unrechtsstaates — wahrscheinlich eher bereit sein wird, die Anwendung des Gesetzes zu verweigern, wenn ihm für die Begründung dieser Wcigcmngjuristische Kriterien, nicht nur moralische, zur Verfügung stehen, scheint dem Autor für diesen Problemkreis ein nichtpositivistischer Entwurf, der gewisse inhaltliche Minimalgarantien bereits in den Begriff des Rechts aufnimmt, die bessere Lösung zu sein. Ein ethisch angereicherter Begriff des Rechts erleichtert (außer in Straffällen) die Bewältigung gesetzlichen Unrechts nach dem Zusammenbruch eines Unrechtsstaates. Die Trennungsthese führt in solchen Fällen zu stoßenden Ergebnissen, wie an einem Beispiel gezeigt wird (hinten § 23 C12). Schließlich wird auch der Nachweis geführt, daß der Vorwurf, der Rechtspositivismus, insbesondere der Gesetzespositivismus, sei schuld an der nationalsozialistischen Rechtsverwüstung, falsch ist (hinten § 23 D). I m übrigen weisen alle Rechtspositivismen die Vorteile auf, daß sie ihren Untersuchungsgegenstand mit Hilfe nachprüfbarer Kriterien bestimmen und daß sie den Blick auf die sog. „Realfaktoren der Rechtsbildung" gelenkt haben. Andererseits weisen auch alle — mit Ausnahme der Lehren Harts sowie MacCormicks und Weinbergers — den Mangel auf, in gewisser Hinsicht einseitig zu sein und entweder normative oder psychologische oder soziologische Gesichtspunkte zu verabsolutieren. Über die Leistungsfähigkeit der verschiedenen rechtspositivistischen Theorien zur Erfassung bestimmter Problemkomplexe kann jedoch nichts Allgemeines gesagt werden,
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sondern man hat dies anhand jeder einzelnen Theorie gesondert zu prüfen. Die Ergebnisse dieser Prüfung fallen ganz verschieden aus, je nachdem, was für eine Theorie man auf was für einen Problemkreis ansetzt. Eine Theorie kann für die Behandlung eines Problemkreises (z.B. Entwicklung eines Begriffes des Rechts, der für den Richter brauchbar ist, oder Erhellung der Struktur positiver Rechtsnormen) geeignet, für die Behandlung eines anderen Problemkreises (ζ. B. Erfassung der Rechtsnatur des Völkerrechts, Erfassung des Vorganges der richterlichen Interpretation oder Entwicklung eines Begriffs des Rechts, der für rechtssoziologische und rechtshistorische Untersuchungen fruchtbar ist) ungeeignet sein. Daraus ergibt sich, daß es zu großen Schwierigkeiten führt, alle Phänomene, die mit dem Verständnis des Rechts verknüpft sind, über den Leisten einer einzigen Theorie schlagen zu wollen. Aufgrund der vorgeschlagenen Deutung des juristischen Pragmatismus erscheinen auch die in diesem Buch nicht behandelten Naturrechtslehren in einem anderen Licht. Sie sind Schöpfungen der abendländischen Kultur. Die Naturrechtler, die ζ. B. die Menschenrechte postulierten, haben nicht etwas entdeckt, das schon immer da war, sondern sie haben etwas geschaffen, das es vorher noch nicht gab. Die Menschenrechte beruhen auf einer kulturellen Schöpfung, nicht auf einer wissenschaftlichen Entdeckung. Wie an jede andere Rechtsphilosophie ist auch an eine Naturrechtslehre nicht die Frage zu stellen: Ist sie wahr oder ist sie richtig?, sondern eine Rechtsphilosophie, insbesondere eine Naturrechtslehre, ist dann akzeptabel, wenn sie sich durch ihre praktischen Konsequenzen bewährt.
Erster Teil
Arten und Begriff des Rechtspositivismus Erstes Kapitel
Der etatistische Positivismus Die Theorien, die wir im folgenden unter der Bezeichnung „etatistischer Positivismus" zusammenfassen, stimmen darin überein, daß sie die Positivität des Rechts in der Setzung von Vorschriften durch eine soziale Autorität, und zwar ganz überwiegend durch eine staatliche Instanz, erblicken. Dieser letzte Punkt rechtfertigt es, hier i. S. von pars pro toto vom „etatistischen Positivismus" zu sprechen. M i t Positivität ist also bei diesen Theorien die Positivität i. e. S. gemeint. Die hier zu behandelnden Theorien sind die „Setzungstheorien" vom Recht 1 . Die Bezeichnung „etatistischer Positivismus" könnte hinsichtlich der Reinen Rechtslehre als unpassend empfunden werden, will doch Kelsen auch die vorstaatliche Ordnung primitiver Gemeinschaften und die über- (oder zwischenstaatliche Ordnung des allgemeinen Völkerrechts erfassen 2. Die Reine Rechtslehre wäre also insofern nicht „etatistisch". Die alles überragende Bedeutung, die Kelsen]tdoch der relativ zentralisierten Rechtsordnung, d. h. der staatlichen Rechtsordnung, zumißt, was in seiner berühmten Formel von der „Identität von Staat und Recht" zum Ausdruck kommt 3 , rechtfertigt aber trotzdem die Einordnung der Reinen Rechtslehre beim etatistischen Positivismus, zumal sie den hier zu behandelnden Theorien zweifellos näher steht als den „realistischen" Varianten des Rechtspositivismus, die Gegenstand der Kapitel zwei und drei im ersten Teil sein werden 4 . Der etatistische 1
Das gilt auch für die Reine Rechtslehre: vgl. Walter, Rechtstheorie 1 (1970) 76: „Unter »positivem Recht4 versteht die Reine Rechtslehre eine von Menschen, sei es durch ausdrückliche Willensakte einzelner oder Gruppen, sei es durch Gewohnheit . . . gesetzte (d. h. positive)... zwangsandrohende effektive Ordnung." Auch Kelsen, Reine Rechtslehre 9/ 201, verwendet den Ausdruck „Positivität" i. e. S. von „Setzung". Dagegen nimmt er an anderen Stellen seines Werkes in den Begriff der Positivität zusätzlich das Moment der soziologischen Wirksamkeit hinein. Vgl. hinten § 5 A und § 5 Ν 60. 2 Hinten § 5 A. 3 Hinten § 5 A.
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§ 3 Die Analytical Jurisprudence John Austins
Positivismus w i r d h ä u f i g m i t d e m Rechtspositivismus schlechthin gleichgesetzt 5 . D i e bedeutsame historische Effizienz dieser Rechtsauffassung zeigte sich bis i n die jüngste Vergangenheit d a r i n , daß seit der Stalinära die meisten Vertreter der marxistischen Rechtstheorie den Begriff des Rechts unter starker B e t o n u n g des etatistischen M o m e n t e s zu fassen versucht h a t t e n 6 . D i e marxistische Rechtstheorie als Ganzes läßt sich j e d o c h n i c h t einem der h e r k ö m m l i c h e n Rechtspositivismen z u o r d n e n 7 .
§ 3 Die Analytical Jurisprudence John Austins8 D i e sog. „analytische" Rechtstheorie (Vorläufer: J. Bodinus, W. Blackstone)
Th. Hobbes*
w u r d e — u n t e r d e m maßgeblichen E i n f l u ß v o n J. Bentham
d u r c h John Austin
—
begründet. E r hat sie v o r a l l e m i n seinen „Lectures o n
4 Kelsen , General Theory of Law and State (Cambridge 1949) S. XV, hat selbst die Verwandtschaft der Reinen Rechtslehre mit der „analytical jurisprudence" betont: „The orientation of the pure theory of law is in principle the same as that of the so-called analytical jurisprudence." 5 Vgl z.B. Brecht 221. 6 Als repräsentatives Beispiel diene die Definition durch A. J. Vysinskij, The Law of the Soviet State (New York 1954) 50: „ Das Recht ist die Gesamtheit der Verhaltensregeln (Normen), die den Willen der herrschenden Klasse ausdrücken und auf gesetzgeberischem Wege aufgestellt sind, sowie die Gesamtheit der Bräuche und Regeln des Gemeinschaftslebens, die von der Staatsgewalt sanktioniert sind und deren Anwendung von der Gewalt des Staates garantiert ist . . . ", zit. nach D. Pf äff, Die Entwicklung der sowjetischen Rechtslehre (Köln 1968) 117. Vgl. auch das Zitat bei P. Higi, Sein und Sollen in der marxistischen Rechtstheorie, Zürcher Studien zur Rechts- und Staatsphilosophie Nr. 2 (Zürich 1988) 132. 7 Vgl. Polak, Zur Dialektik in der Staatslehre (Berlin 1969) 216: „Positivismus und Marxismus-Leninismus sind unversöhnliche Gegensätze", zit. nach H.-J. Bopp, Marxismus und Rechtswissenschat (Diss. Zürich 1963) 113. Nach Pfaff (zit. Ν 6) 41/230 und K. Westen, Die rechtstheoretischen und rechtspolitischen Ansichten Josef Stalins, Schriften des Kopernikuskreises Nr. 5 (Lindau / Konstanz 1959) 85/86 und 245, ist die marxistische Rechtstheorie für den außenstehenden Betrachter ein Gemisch von Gesetzespositivismus, Interessenjurisprudenz und Natur rechtslehre. Eine Dokumentation zur marxistischen und sozialistischen Rechtstheorie enthält der Sammelband von N. Reich (Hrsg.): Marxistische und Sozialistische Rechtstheorie (Frankfurt a. M. 1972). Vgl. ferner vom gleichen Verf., Sozialismus und Zivilrecht. Eine rechtstheoretisch-rechtshistorische Studie zur Zivilrechtstheorie und Kodifikationspraxis im sowjetischen Gesellschafts- und Rechtssystem (Frankfurt a. M. 1972). Vgl. zum neuesten Stand der marxistischen Rechtstheorie vor dem Umbruch die vorstehend zit. Arbeit von P. Higi. 8
Vgl. die im Literaturverzeichnis angeführten Werke von Austin, Lectures I und II; derselbe, Province; Löwenhaupt; Eckmann 21 ff., 28ff., 58ff., 66; Reich 29ff.; Cattaneo ; reiche Literaturangaben ferner bei Löwenhaupt 362ff.365 ff.; K.-L. Kunz, Die analytische Rechtstheorie: Eine „Rechts"-theorie ohne Recht?, Schriften zur Rechtstheorie Nr. 59 (Berlin 1977); W. Mincke, Die finnische Rechtstheorie unter dem Einfluß der Analytischen Philosophie, Schriften zur Rechtstheorie Nr. 82 (Berlin 1979).
3 Ott, 2. Aufl.
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Jurisprudence" dargestellt. Austin unterteilt die Rechtslehre in die „particular jurisprudence" und in die „general jurisprudence" 9 . Die particular jurisprudence beschäftigt sich mit einem bestimmten historischen Rechtssystem 10 . Die general jurisprudence behandelt demgegenüber die allen oder doch allen entwickelteren Rechtssystemen gemeinsamen Grundsätzen und -begriffe 11 . Die notwendigen Grundsätze des Rechts, unter denen Rechtsvorschriften allgemeinen Inhalts zu verstehen sind, behandelt er allerdings nicht näher 12 . Der Hauptteil seines Werkes befaßt sich mit den notwendigen Begriffen und Unterscheidungen des Rechts. Austins Theorie ist insofern „analytisch", als sie die Rechtsbegriffe in ihrer gegenseitigen logischen Abhängigkeit untersucht und die dabei aufgefundenen Ergebnisse in einem System zusammenstellt. Doch wäre es falsch, daraus zu folgern, Austin gehe rein deduktiv, d. h. ohne Bezug auf die Erfahrung, vor. I m Gegenteil haben neuere Untersuchungen seines Werkes, u. a. durch H. L. A. Hart, ergeben, „daß Austin sich bemüht, streng empirisch vorzugehen. Er geht davon aus, daß alle von ihm gebrauchten Wörter radikal empirisch sind, d. h. direkt oder indirekt zu Sinnesdaten als Quelle ihrer Bedeutung referieren 13 . Zur Illustration sei hier auf Austins Pflichtbegriff verwiesen, wo er versucht, die Pflicht nicht normativ, sondern als Tatsache zu begreifen 14 . Als Einstieg in das Austinsche, Denken beginnen wir mit der berühmten, auch von Bentham betonten Unterscheidung zwischen dem Recht, wie es ist, und dem Recht, wie es sein sollte. Austin formulierte die These so 15 : „Das Vorhandensein einer Rechtsnorm ist eine Sache; ihre Richtigkeit oder Unrichtigkeit eine andere. Ob sie besteht oder nicht, ist eine Frage; ob sie einer zugrunde gelegten Idealvorstellung entspricht oder nicht, eine andere. Ein bestehendes Gesetz ist auch dann Gesetz, wenn es uns nicht zusagt oder wenn es von dem Kriterium abweicht, an dem wir unsere Billigung oder Mißbilligung orientieren 16 ." Austin bringt dafür folgendes Beispiel 17 : „Angenommen, eine harmlose oder geradezu nützliche Tat wird 9
Austin, Lectures I 31. Austin, Lectures I I 1077. 11 Austin, Lectures I I 1077/1078. 12 Eckmann 22 unter Hinwes auf W. L. Morison, Some Myth about Positivism, Yale L. J. 68 (1958/59), 224/225. 13 Eckmann 23 unter Hinweis auf Hart, Einleitung zu Austin, Province S. XI. 14 Vgl. hinten bei Ν 32 ff. 15 Übersetzung nach Hoerster bei Hart, Recht und Moral 17. 16 Austin , Province 184: „The existence of law is one thing; its merit or demerit is another. Whether it be or be not is one enquiry; whether it be or be not conformable to an assumed standard, is a different enquiry. A law, which actually exists, is a law, though we happen to dislike it, or though it vary from the text, by which we regulate our approbation and disapprobation." 17 Übersetzung nach Hoerster bei Hart, Recht und Moral 41. 10
§ 3 Die Analytical Jurisprudence John Austins
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vom Machthaber bei Todesstrafe verboten: begehe ich diese Tat, so wird man mich anklagen und verurteilen, und wenn ich dem Urteil entgegenhalte, daß es dem Gesetz Gottes w i d e r s p r i c h t . . s o wird mir das Gericht die Unmaßgeblichkeit meiner Argumentation dadurch beweisen, daß es mich kraft des Gesetzes, dessen Gültigkeit ich angefochten habe, aufhängen läßt 1 8 ." — Entsprechend der Unterscheidung zwischen dem Recht, wie es ist, und dem Recht, wie es sein sollte, teilt Austin die Rechtslehre auf in die „jurisprudence" und in die „science of legislation": Während sich jene mit dem positiven Recht befaßt, ohne Rücksicht auf dessen Wert oder Unwert 19, untersucht diese die Frage, wie das positive Recht beschaffen sein sollte 20. Die maßgebenden Grundsätze dazu sind für Austin einerseits das (geoffenbarte) Gesetz Gottes und andererseits das (nicht-geoffenbarte) Utilitätsprinzip, wie es Bentham aufgestellt hatte und das als „Index" der Befehle Gottes fungiere 21 . Bentham formulierte das Utilitätsprinzip folgendermaßen: „Die Natur hat das Menschengeschlecht zwei souveränen Herrschern unterworfen, der Freude und dem Schmerz. Sie allein haben anzugeben, was wir tun sollen, und legen fest, was wir tun werden... Sie lenken uns in Allem, was wir tun, in Allem, was wir sagen, in Allem, was wir denken; jede Anstrengung, die wir unternehmen, unsere Knechtschaft abzuschütteln, wird sie uns immer mehr beweisen und bestärken . . . Das Nützlichkeitsprinzip anerkennt diese Unterworfenheit und baut auf ihr jenes System auf, das die Werkstatt des Glücks mittels Vernunft und Recht stärken soll 2 2 ' 2 3 ." — Als Beispiel für die Anwendung des Utilitätsprinzips in rechtlichen Belangen diene Austim Stellungnahme zum Widerstandsrechts: Gott gebiete im allgemeinen den Gehorsam gegenüber der Obrigkeit. Denn ohne diesen Gehorsam gäbe es nur wenig Sicherheit und Freude. Werde aber der Schutz, den eine Obrigkeit biete, zu teuer bezahlt, weil sie die Untertanen mit sinnlosen 18
Austin, Province 185. Austin , Lectures I 172: „The science of jurisprudence . . . is concerned with positive laws, or with laws strictly so called, as considered without regard to their goodness or badness." 19
20
Austin , Lectures I 32. Austin , Lectures 1104 f f . / l 18: „ . . . If we take the principle of utility as our index to the Divine commands . . . " 22 An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, coll. works I I / l , ed. by J. H. Burns and H. L. A. Hart (London 1970) 11. Kap. 1 Nr. 1. Übersetzung nach Löwenhaupt 68. 23 Sowohl Bentham als auch Austin identifizieren das Utilitätsprinzip mit dem Prinzip des „größten Glückes der größtmöglichen Zahl". Vgl. Löwenhaupt 20 Ν 5 mit Nachweisen. Anders faßt demgegenüber Hoerster, Einleitung 11/12, die utilitaristische Konzeption auf: Für deren Ethik sei entscheidend, daß Handlungen nicht „in sich", ohne Rücksicht auf ihre Folgen, richtig oder falsch sein können. Der Utilitarismus sei stets mit der einen oder anderen Form einer Wertlehre (was zählt als „gute" bzw. „schlechte" Folge?) verbunden, wobei der höchste Wert keineswegs im Vergnügen („Hedonismus") oder Glück („Eudämonismus") zu liegen brauche. 21
3*
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Beschränkungen quäle und ihnen nutzlose Abgaben auflade, dann mag das Nützlichkeitsprinzip einmal nicht mehr den Gehorsam gebieten, sondern den Widerstand rechtfertigen. I n diesem Fall überwiege der besondere Nutzen das allgemeine Übel eines Widerstandes 24 . Nach Austin ist also mit der Feststellung, daß ein Gesetz positives Recht darstellt, noch nicht über die Frage entschieden, ob ihm auch Gehorsam geleistet werden soll! Den Gehorsam von Seiten der Untertanen verdienen grundsätzlich nur die gemeinnützigen Gesetze. A n diesem Gedankengang scheint uns folgendes bemerkenswert: Das Beispiel Austins läßt erkennen, daß der Rechtspositivismus nicht — wie dies häufig unterstellt wird — mit einem ethischen Relativismus in der überpositiven Sphäre einhergehen muß. Der Rechtspositivist kann „durchaus ein frommer Christ, ein eifriger Utilitarier oder ein Fanatiker der Gleichheit sein, der auf die Frage, welche Normen erlassen werden sollen und welche nicht, eine bestimmte Antwort geben würde" 2 5 . Doch kehren wir von Austins (utilitaristischen) Überlegungen zum Recht, wie es sein sollte, zu seinen (positivistischen) Analysen des Rechts, wie es ist, zurück: Für Austin ist der Begriff des Befehls der Schlüssel zum Verständnis der Wissenschaften vom Recht und von der Moral 2 6 . Unter „law" i. w. S. versteht er nämlich nichts anderes als die von einem Mächtigeren einem ihm Untergeordneten gesetzten Befehle, die mit Sanktionen ausgestattet sind. Unter den Begriff des „law" in diesem Sinne fallen sowohl das positive als auch das göttliche Recht 27 . Das positive Recht nun grenzt er nach zwei Seiten hin wie folgt ab: 1. Erstens unterscheidet es sich vom göttlichen Recht durch die Person des Befehlenden: Das göttliche Recht ist von einem überirdischen Gesetzgeber für die Menschen erlassen, während das positive Recht von Menschen für andere Menschen gesetzt ist. Positives Recht ist also menschliches Recht 28 . 2. Zweitens erweist sich das positive Recht in Abgrenzung zur positiven M o r a l 2 9 als Inbegriff der von der höchsten politischen Instanz (sovereign) 24 25
Austin, Lectures I 118.
Brecht 222, Hervorhebung durch Verf. Α. M. Shuman 9, 15, 193, der einen anderen Begriff des Rechtspositivismus entwickelt als den hinten in § 15 vorgeschlagenen. Nach Shuman sind für den Rechtspositivismus charakteristisch einerseits die Trennungsthese und andererseits die Bindung an die Theorie des ethischen Nonkognitivismus. Folglich kann für Shuman die analytische Theorie Austins keine positivistische Lehre sein, im Gegensatz etwa zur Reinen Rechtslehre Kelsens. 26 Austin, Lectures I 88. 27 Austin, Lectures I 86. 28 Austin, Lectures I 86 f./169 ff. 29 Austin trennt vorbildlich zwischen der positiven (menschlichen) Moral und der Moral an sich ( = Gesetz Gottes), Lectures I 171: „ I f you say that an act or omission
§ 3 Die Analytical Jurisprudence John Austins
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einer unabhängigen politischen Gesellschaft den Untertanen gesetzten Verhaltensregeln 30 . Das positive Recht ist also staatliches Recht 31 . Worin besteht jetzt aber des näheren ein Rechtsbefehl? Ein Rechtsbefehl ist zunächst, wie alle Befehle, Ausdruck eines Wunsches des Befehlenden. I m Unterschied zu gewöhnlichen Wünschen tritt beim Befehl das Merkmal hinzu, daß die sich äußernde Person bei Ungehorsam des Adressaten dem Wunsch durch Hinzufügung eines Übels Nachdruck zu verschaffen vermag 3 2 . Eine Pflicht ist nun für Austin nichts anderes als die Kehrseite eines solchen Befehls: Wenn jemand dem Übel von Seiten einer anderen Person unterworfen ist, falls er dem Wunsch dieser Person nicht entspricht, bedeutet dies, daß er verpflichtet ist, dem Befehl zu gehorchen 33 . Jeder mit einer Zwangsdrohung versehene Befehl erzeugt demnach eine Pflicht; die Pflicht ist nichts anderes als die Möglichkeit eines Übels im Falle des Ungehorsams gegenüber dem Befehl 34 . Je größer das mit dem Befehl verbundene Übel ist, desto größer sind die Kraft der Verpflichtung und die Chance, daß der Befehl befolgt wird 3 5 . — I m Unterschied zu den gewöhnlichen Befehlen zeichnet sich ein Rechtsbefehl durch weitere zwei Momente aus: Nur ein genereller Befehl (general command) kann eine Rechtsregel, ein juridisches „law" sein. Dabei bezieht Austin das Wort „general" nicht auf die Anzahl der Adressaten 36 , sondern auf den Inhalt des Befehls. Wenn eine bestimmte Handlung oder Unterlassung befohlen wird, liegt ein individueller Befehl vor; wenn eine Klasse von Handlungen oder Unterlassungen befohlen wird, liegt ein genereller Befehl, eine Regel vor. Der Befehl an den Hausdiener, an einem bestimmten Morgen zu einer bestimmten Zeit aufzustehen, wäre ein individueller Befehl (occasional, particular command), der Befehl, jeweils immer am Morgen zu einer bestimmten Zeit aufzustehen, wäre eine Rechtsregel 37 . — Als weiteres Erfordernis tritt beim Rechtsbefehl violates morality , you speak ambigously. You may mean that it violates the law which I style positive moralityor that it violates the Divine law, which is the measure or test of the former." Vgl. auch hinten § 15 Β II. 30 Austin , Lectures I 86/87: „Of the laws or rules set by man to man, some are established by political superiors, sovereign and subject: by persons exercising supreme and subordinate government , in independent nations, or independent political societies." 31 Austin , Lectures I I 534: „Every Positive Law, obtaining in any community, is a creature of the Sovereign or State . . . " 32 Austin , Lectures I 89. 33 Austin , Lectures I 89. 34 Eckmann 30. Austin faßt also den Pflichtbegriff rein empirisch, nicht normativ. Dementsprechend ist das positive Recht für ihn, weil in Befehlen bestehend, ebenfalls eine Tatsache, nicht etwa ein Sollen wie bei Kelsen. 35 Austin, Lectures I 90. 36 Löwenhaupt 127. 37 Austin, Lectures I 93.
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hinzu, daß dieser dem Willen der höchsten, rechtlich nicht gebundenen Macht in einer unabhängigen politischen Gesellschaft entspringen muß 3 8 . Nur die vom Souverän direkt oder indirekt durch seine politischen Amtsträger und privaten Mandatare (zu denen alle Inhaber subjektiver Rechte zählen) erlassenen Befehle sind positives Recht und damit Rechtsbefehle 39. Die Souveränität manifestiert sich nach innen darin, daß die Mehrheit der Untertanen der höchsten Obrigkeit gewöhnlich gehorcht, und nach außen darin, daß die Obrigkeit gewöhnlich nicht den Befehlen anderer Herrscher gehorcht 40 . Eine absolute Machtüberlegenheit des Souveräns ist also bei Austin weder nach innen noch nach außen erforderlich 41 . Weder der gelegentliche Ungehorsam der Untertanen noch der gelegentliche Gehorsam des Herrschers gefährden die souveräne Stellung. Das einfache Schema von Befehl, Sanktion und Souverän der Austin sehen Imperativentheorie scheint nun an verschiedenen Stellen die Rechtswirklichkeit nicht zu treffen. Zunächst hat natürlich auch Austin nicht übersehen, daß es Normen gibt, die keine Sanktionen statuieren und die man trotzdem üblicherweise zum positiven Recht zählt. Er verweist auf Gesetze, die eine authentische Interpretation enthalten oder die ein Verhalten erlauben, sowie auf die sog. leges imperfectae. Austin gibt hier freimütig zu, daß es sich um Ausnahmen handelt, die nicht in sein Befehlsschema passen und die folglich nicht als Rechtsregeln im eigentlichen Sinne des Wortes angesehen werden können. Immerhin betont er die imperative Funktion, die solche „Gesetze" trotzdem häufig aufweisen: Gesetze, die authentische Interpretationen des positiven Rechts geben, würden in Wirklichkeit oft neues Recht erzeugen. Erlaubende Gesetze würden subjektive Rechte der Privaten schaffen; weil einem Recht aber eine Pflicht entspreche, würden durch diese Gesetze mittelbar auch Pflichten geschaffen. Endlich werde eine lex imperfecta nicht selten von den Gerichten mit einer Sanktion versehen 42. — Das Fehlen einer souveränen Zwangsmacht im internationalen Bereich führt Austin weiter dazu, die Rechtsnatur des Völkerrechts zu leugnen. Die Regeln des sog. Völkerrechts rechnet er zur positiven (internationalen) Moral 4 3 . — Ebenfalls zur positiven Moral zählt Austin das sog. Gewohnheitsrecht, solange es nicht vom Souverän direkt oder durch die Gerichte unter stillschweigender Duldung des Souveräns zum positiven Recht erhoben worden ist 4 4 . 38 39 40 41
Löwenhaupt 143 und die dort in Ν 147 angeführten Nachweise. Löwenhaupt 124/125. Vgl. zur Souveränität nach außen und nach innen Austin, Lectures I 221 ff.
Löwenhaupt 145. Austin, Lectures I 99. 43 Vgl. zum Problem des Völkerrechts bei Austin, Löwenhaupt 138 ff. mit eingehenden Nachweisen. 44 Austin, Lectures I 102. 42
§ 4 Der Gesetzespositivismus
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I n diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, wie Austin die Stellung des Richters sieht. Es ist nämlich schon behauptet worden, Austin habe — wohl unter dem Einfluß der deutschen Begriffsjurisprudenz — eine rein logischformalistische Interpretationstheorie vertreten 45 . Dies trifft jedoch, wie insbesondere H. L. A. Hart nachgewiesen hat, nicht zu 4 6 . Nach Austin wird der Richter bei der Interpretation in der Regel rechtsschöpferisch tätig. Er wendet nicht bereits bestehendes Recht an, sondern setzt neues Recht 47 . Dies ist nur dann nicht der Fall, wenn der Richter in grammatischer Interpretation von Ausdrücken des Gesetzes den dahinter stehenden Willen des Gesetzgebers ermittelt 4 8 . „Interpretiert" der Richter dagegen extensiv oder restriktiv, dann fungiert er in Wirklichkeit als Gesetzgeber 49. I n dieser realistischen Einschätzung des richterlichen Entscheidungsprozesses hebt sich Austim analytical jurisprudence vorteilhaft ab von der Spielart des etatistischen Positivismus, der wir uns nunmehr zuwenden wollen, nämlich vom Gesetzespositivismus.
§ 4 Der Gesetzespositivismus1 Der Gesetzespositivismus ist, was die Auswirkungen auf die Praxis anbelangt, die bedeutendste Spielart der juristischen Positivismen. Diese Theorie identifiziert das Recht mit dem im verfassungsmäßigen Verfahren zustande 45
In diesem Sinne z.B. Reich 31 und J. Stone, The Province and Function of Law (Sidney 1950) 141. Weitere Nachweise bei W.L. Morison (zit. vorne Ν 12), Yale L.R. 68 (1958/59) 212 ff. 46 Hart, Harv. L. R. 71 (1957/58) 608 ff. Derselbe, Recht und Moral 32 f. Ebenso Shuman 192. 47 Austin , Lectures I I 628: „And here I will briefly remark, that, when I speak of a rule made by a judicial decision, I mean, of course, such a judicial decision as is not a mere application of previously existing law . . . In every judicial decision by which law is made, the ratio decidendi is a new ground or principle, or a ground or principle not previously law." 48 Austin , Lectures I I 628. 49 Austin , Lectures I I 629: „ . . . But, in these cases (d. h. bei extensiver oder restriktiver Interpretation), he is not a judge properly interpreting the law, but a subordinate legislator correcting its errors or defects." 1 Literatur: G. Anschütz / R. Thoma , Handbuch des deutschen Staatsrechts I / I I (Tübingen 1930/32); Baratta , ARSP 54 (1968) 325 ff.; Evers 68 ff.; Henkel 496ff.; Kaufmann 69ff., 101 ff., 131 ff., 148 ff.; Riebschläger 19ff.; Rüthers 91 ff.; Wieacker 458 ff.; F. Somló, Juristische Grundlehre (2. Aufl. Leipzig 1927) 298 ff., bes. 308 und 431. Vgl. ferner zum staatsrechtlichen Positivismus im 19. und 20. Jahrhundert die Schriften von: M. Friedrich, Zwischen Positivismus und materialem Verfassungsdenken. Schriften zur Verfassungsgeschichte Nr. 14 (Berlin 1971) 11 ff., und Th. Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft. Schriften zur Verfassungsgeschichte Nr. 20 (Berlin 1973) 242 ff. Ferner Cl.-E. Barsch, in: M. J. Sattler, Staat und Recht (München 1972) 43 ff.
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gekommenen staatlichen Gesetzesrecht 2. Einerseits existiert das Recht nur in den Gesetzen3; andererseits ist jedes Gesetz eo ipso auch Recht. Recht ist also nur das positive (d. h. hier: das von der staatlichen Autorität gesetzte) Recht. Alles und nur das, was der jeweilige staatliche Machthaber in formell korrekter Weise als Gesetz erläßt, erlangt Rechtsqualität. Die Bezugnahme auf ein formales, d.h. nicht wertbezogenes Kriterium (hier die in den Gesetzen zum Ausdruck kommende staatliche Macht des jeweiligen Souveräns) führt — wie bei jedem Rechtspositivismus — dazu, daß auf eine Bewertung des Rechtsinhaltes verzichtet wird. Infolgedessen kann der staatliche Gesetzgeber jeden beliebigen Inhalt in Form eines Gesetzes zu Recht werden lassen4. Der Gesetzspositivismus verkündet damit die juristische Allmacht des Gesetzgebers 5. „Quod principi placuit, legis habet vigorem" lehrte schon Ulpian 6; das Reichsgericht gab seinerzeit dieser Auffassung ihren klassischen Ausdruck mit der Formulierung: „Der Gesetzgeber ist selbstherrlich und an keine anderen Schranken gebunden als diejenigen, die er sich selbst in der Verfassung oder in anderen Gesetzen gezogen hat 7 ." Billigt man diesen Standpunkt, dann befindet man sich nach Bergbohm „in der peinlichen Lage, auch das niederträchtigste Gesetzesrecht, sofern es nur formell korrekt erzeugt ist, als verbindlich anerkennen zu müssen" 8 . Einer so verstandenen 2 Unter „Gesetz" verstehen wir hier das „Gesetz im materiellen Sinne", also das Verfassungsgesetz, das formelle Gesetz und die Verordnung. 3 Vom gesetzespositivistischen Standpunkt aus gilt folglich das Gewohnheitsrecht nur insoweit, als es vom Gesetz ausdrücklich oder stillschweigend anerkannt wird. 4 Gewisse gesetzespositivistische Züge enthält auch die Interessenjurisprudenz. Dies zeigt sich einmal darin, daß auch für Heck die Gesetzesgebote im wesentlichen das Recht ausmachen (Larenz 50) und zum zweiten darin, daß aus rechtsstaatlichen Gründen das Gebot der Gesetzestreue betont wird ( Wieacker 576). Heck wendet sich zwar gegen die Vorstellung vom Richter als dem Rechtsautomaten (Begriffsbildung und lnteressenjurisprudenz [Tübingen 1932] 4), betont aber die Bindung des Richters an die dem Gesetz immanenten Wertungen (4), und dies auch dann, wenn dem Gesetz nicht unmittelbar eine Antwort zu entnehmen ist. (Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung [2. Aufl. Tübingen 1932] 30; derselbe, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudence, AcP 112 [1914] 226/ 230). Der Richter soll sogar an eine verfehlte gesetzliche Regelung gebunden sein (Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung 39). Zur lnteressenjurisprudenz vgl. auch hinten § 15 Nil. 5 Henkel, 496/497, unterscheidet im Anschluß an Anschütz / Thoma I I (zit. §4 Ν 1) 140 ff. eine gemäßigte und eine radikale Strömung des Gesetzespositivismus. Die erstere betont im Gegensatz zur letzteren, daß das rechtliche Können des Gesetzgebers gewissen Schranken unterliegen sollte (z.B. freiwillige Selbstbindung des Gesetzgebers an den Gemeinwillen oder an die Vernunft, an das Ethos des Rechts oder an die verfassungsmäßige Grundordnung der Sozietät). 6 D 1,4, 1 pr. 7 RGZ 118 (1928) 327. Vgl. immerhin hinten §23 bei Ν 131 das historische Umfeld dieses Entscheides. 8 Bergbohm 144. Gemeint ist natürlich nur juristische, nicht etwa moralische Verbindlichkeit. Vgl. die nachstehenden Ausführungen.
§ 4 Der Gesetzespositivismus
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juristischen Geltungslehre ist es unmöglich, „den Imperativen eines Paranoikers, der sich König dünkt, mit zwingenden Gründen die Geltung abzusprechen" 9 . Aber gerade dem „um seiner Schädlichkeit oder Inhumanität mißfälligen Recht" gegenüber bewährt sich, wie Bergbohm es ausdrückt, erst „des reinen Juristen vornehmste Tugend: die Fähigkeit, seinen Verstand jeder Beeinflussung selbst durch die tiefsten persönlichen Überzeugungen und heißesten Herzenswünsche zu entziehen, die Befriedigung derselben nur auf dem Wege der Rechtsumbildung erwartend" 10 . Z u betonen ist, daß auch die Gesetzspositivisten üblicherweise keinen Versuch machen, die Verbindlichkeit des positiven Rechts i. S. seiner philosophischen Geltung zu begründen 11 , woraus sich nicht nur eine juristische, sondern auch eine moralische Pflicht zur Befolgung des Gesetzes ergeben würde. Wenn etwa Bergbohm an der oben zitierten Stelle sagt, daß auch das niederträchtigste Gesetzesrecht, sofern es nur formell korrekt erzeugt ist, als verbindlich anerkannt werden müsse, so meint er damit, wie seine Ausführungen an anderer Stelle ergeben, nur eine „formelle Verbindlichkeit des ordnungsgemäß als Recht gesetzten Rechts" (d. h. in unserer Terminologie seine normative [juristische] Geltung), die von seiner „materiellen Güte" (in unserer Terminologie: seiner Verbindlichkeit) scharf zu trennen ist 1 2 . Ebenso stellt Somló fest, daß es „absolut unsittliches Recht" geben kann, und erklärt daher „die Auferlegungen der Rechtsnorm als von den moralischen Pflichten unabhängige Belastungen" 13 . Aus der Tatsache, daß jemand — juristisch gesehen — zur Befolgung des positiven Rechts verpflichtet ist, folgt also noch nicht, daß dies vom moralischen Standpunkt aus auch der Fall ist. I n ähnlicher Weise fassen Anschütz / Thoma den Fall ins Auge, daß eine Norm vom Gesetzgeber gar nicht als eine gerechte und gemeinnützige intendiert ist 1 4 . I n einem solchen Fall könnte das sittliche Gewissen den Einzelnen bis zur öffentlichen Aufforderung zum Ungehorsam, ja bis zur Rebellion treiben 15 . 9
Radbruch 175. Bergbohm 398. 11 Vorne § 1 Β IV. 10
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Bergbohm 397/398. Somló (zit. § 4 Ν 1) 431. 14 Anschütz / Thoma I I (zit. § 4 Ν 1) 141. 15 Anschütz / Thoma I I (zit. § 4 Ν 1) 142. Im Widerspruch dazu steht allerdings, wenn Anschütz in einem anderen Werk (Die Verfassung des deutschen Reiches vom 11. August 1919 [12. A. Berlin 1930] 417) schreibt: „Kann schon nicht zugegeben werden, daß der Richter befugt sei, das Gesetz auf seine Verfassungsmäßigkeit zu prüfen, so noch weniger, daß er dem verfassungsmäßig zustandegekommenen Gesetz den Gehorsam verweigern dürfe, weil es nach seiner Meinung gewissen Normen, die — wiederum nach seiner Meinung — über dem Gesetzgeber stehen (etwa: Sitte, Sittlichkeit, Treu und Glauben, „Naturrecht") widerspricht oder gewissen Werturteilen (Gerechtigkeit, Billigkeit, Vernunft) nicht standhält." 13
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1. Teil, . Kap.: Der
i s c h e Positivismus
Wenn man also bei den Gesetzespositivisten liest, das positive Recht verpflichte zu „unbedingtem Gehorsam", ist dies grundsätzlich nur im juristischen, nicht im moralischen Sinne gemeint, d. h. es gibt keine juristischen Gründe für eine Gehorsamsverweigerung. Auch von der gesetzespositivistischen Position aus läßt sich somit eine kritische Distanz dem positiven Recht gegenüber einnehmen. Eine wertphilosophische Fundierung der positivistischen Machttheorie hat demgegenüber Radbruch versucht. Als Wertrelativist geht Radbruch von der Unmöglichkeit einer wissenschaftlichen Erkenntnis letzter Werte aus 16 . Gerade aus dieser Unmöglichkeit könne jedoch die (philosophische) Geltung des positiven Rechts begründet werden. Die Ordnung des Zusammenlebens könne den Rechtsanschauungen der zusammenlebenden Einzelnen nicht überlassen bleiben, sondern müsse vielmehr durch eine überindividuelle Stelle eindeutig geregelt werden: „ D a aber nach relativistischer Ansicht Vernunft und Wissenschaft diese Aufgabe zu erfüllen außerstande sind, so muß der Wille und die Macht sie übernehmen. Vermag niemand festzustellen, was gerecht ist, so muß jemand festsetzen, was rechtens sein soll, und soll das gesetzte Recht der Aufgabe genügen, den Widerstreit entgegengesetzter Rechtsanschauungen durch einen autoritativen Machtspruch zu beenden, so muß die Setzung des Rechts einem Willen zustehen, dem auch eine Durchsetzung gegenüber jeder widerstrebenden Rechtsanschauung möglich ist. Wer Recht durchzusetzen vermag, beweist damit, daß er Recht zu setzen berufen ist 1 7 ." Das positive Recht ist nach dieser Auffassung also nicht nur juristisch gültig, sondern auch verbindlich, weil es durch seine bloße Existenz wenigstens den Wert der Rechtssicherheit verbürgt: Die Konsequenz daraus ist, daß den Richter nicht nur eine juristische, sondern auch eine moralische Pflicht zum Gesetzesgehorsam trifft: „Der Richter, indem er sich dem Gesetze ohne Rücksicht auf seine Gerechtigkeit dienstbar macht, wird also trotzdem nicht bloß zufälligen Zwecken der Willkür dienstbar. Auch wenn er, weil das Gesetz es so will, aufhört, Diener der Gerechtigkeit zu sein, bleibt er noch immer Diener der Rechtssicherheit. Wir verachten den Pfarrer, der gegen seine Überzeugung
16 Gemeint ist die Position Radbruchs vor seiner Bekehrung zum Naturrecht. Vgl. dazu hinten § 12 und §23 A. Neben dem Versuch einer wertphilosophischen Begründung der Verbindlichkeit des Rechts unterscheidet sich Radbruchs Lehre vom Gesetzespositivismus dadurch, daß sie die Rechtsanwendung nicht auf eine logische Operation beschränkt. Vgl. Radbruch 210 ff. Zu Radbruch nun A Kaufmann, Gustav Radbruch. Rechtsdenker, Philosoph, Sozialdemokrat (München 1987) und H. Dreier, Die Radbruch'sche Formel — Erkenntnis oder Bekenntnis?, in: H. Mayer (Hrsg.), Festschrift Robert Walter zum 60. Geburtstag (Wien 1991) 117 ff. 17 Radbruch 179.
§ 4 Der Gesetzespositivismus
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predigt, aber wir verehren den Richter, der sich durch sein widerstrebendes Rechtsgefühl in seiner Gesetzestreue nicht beirren läßt 1 8 ." Wir halten fest: Eine solche Begründung des Geltungsanspruches des positiven Rechts wie bei Radbruch ist innerhalb des Rahmens einer positivistischen Theorie des Rechts nicht möglich, sondern nur durch einen Rückgriff auf eine wertphilosophische Position. Die gesetzespositivistischen Lehren begründen, wie alle rechtspositivistischen Theorien, die Verbindlichkeit des Rechts nicht und können daher richtigerweise nur eine juristische, nicht aber eine moralische Pflicht zum Gehorsam annehmen. Die gesetzespositivistische These der Identität von Gesetz und Recht — genauer: der Identität des in den Gesetzen zum Ausdruck kommenden Rechts mit dem Recht schlechthin — führt mit Notwendigkeit dazu, daß die Rechtsanwendung ausschließlich als Gesetzesanwendung aufgefaßt werden muß. Das Recht anwenden heißt: unter die Normen des Gesetzes subsumieren 1 9 . Daraus resultiert die Vorstellung vom Richter, der nichts anderes sei als „la bouche, qui prononce les paroles de la l o i " 2 0 . Der Richter findet das Recht im Gesetz vor, er erfindet es nicht; seine Tätigkeit ist Rechtserkenntnis, nicht aber Rechts Schöpfung. Dem Gesetzspositivisten sind daher Argumentationen aus Analogie und „Natur der Sache" von Grund auf verdächtig 21 , ja mitunter hat man dem Richter schon die gewöhnliche Interpretation von Gesetzen untersagt 22 . A u f der anderen Seite muß aber betont werden, daß der heute als Inbegriffeines rechtsstaatlichen Strafrechts geltende Grundsatz „nullum crimen, nulla poena sine lege", ein K i n d des liberalen, aufklärerischen Gesetzspositivismus ist 2 3 . — Die gesetzespositivistische Methode der Verarbeitung des gesetzten Rechts schließt es also aus, durch Berufung auf politische, moralische und soziologische — d. h. außergesetzliche — Prinzipien, den Inhalt der Gesetze zu erweitern oder gar zu ändern 24 . 18 Radbruch 182. Anders als die Stellung des Richters schätzt Radbruch dagegen diejenige des gewöhnlichen Gesetzesunterworfenen ein, wo er eine unbedingte moralische Gehorsamspflicht offenbar nicht annimmt, vgl. 181. 19 Vgl. dazu Kaufmann: Rechtsphilosophie im Wandel. Stationen eines Weges (Frankfurt a. M. 1972) 275. 20 Montesquieu , De l'Esprit des Lois, Livre X I , chapitre 6. 21 Vgl. Kaufmann: Rechtsphilosophie im Wandel. Stationen eines Weges (Frankfurt a. M. 1972) 275. 22 Solche Auslegungsverbote finden sich z. B. in der Constitutio Tanta Justinians (C 1, 17, 2, 21 a. E.) und vor allem in Erlassen aus der Zeit des Absolutismus. Vgl. dazu MeierHayoz, Der Richter als Gesetzgeber (Zürich 1951) 27 Ν 1, und Somló (zit. § 4 Ν 1) 385/386
NI.
23
So Kaufmann 149 mit Nachweisen. Baratta, ARSP 54 (1968) 332. Sprechend dafür z. B. R Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches I (4. Aufl. Tübingen / Leipzig 1901) S.IX. Es ist zu betonen, daß Anschütz / Thoma (zit. §4 Ν 1) 4f. diese Auffassung ausdrücklich ablehnen und somit nicht als reine Gesetzespositivisten anzusehen sind. 24
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Dies zieht folgende bedeutsame Konsequenzen nach sich: Der Richter muß sein Urteil als rechtlich begründet (und nicht etwa nur: moralisch begründet) ausweisen; und dies auf Grund des Rechtsverweigerungsverbotes selbst dann, wenn er dem Gesetz nicht unmittelbar eine klare Antwort geben entnehmen kann. Weil nun aber nach gesetzespositivistischer Auffassung eine solche Begründung nur dem positiv gesetzten Recht, nicht etwa außerpositiven Prinzipien entnommen werden kann, muß der Gesetzpositivist die Lückenlosigkeit des Gesetzes oder, was weitaus häufiger geschieht, des Rechtes postulieren 25 . Für die Lückenlosigkeit der Gesetze plädiert ζ. B. Plathner, indem er verlangt, daß das Gesetz „ausreichend und bestimmt" sei und daß „eine jede Entscheidung nach keiner anderen Norm erfolge als nach der Bestimmung des Gesetzes"26. Jede andere Norm sei der Partei gegenüber Willkür und bleibe dies auch dann, wenn sie durch den Richter festgestellt werde. Die Theorie von der Lückenlosigkeit der Rechtsordnung geht demgegenüber vor allem auf Bergbohm zurück: Schweigt die Rechtsordnung auf eine bestimmte Frage, dann sind nach Bergbohm zwei Fälle zu unterscheiden: Wenn dem positiven Recht auch nach „Aufbietung aller Hilfsmittel" kein Ausspruch abzunötigen sei, so müsse man die angebliche Frage „rückwärts" für eine „unjuristische" erklären 27 ; sie falle in den die Rechtsordnung umgebenden rechtsleeren Raum. Wenn man dies aber nicht zugeben könne, so müsse eine Entscheidung, d. h. ein „Quantum positiven Rechts", das genau in die sog. Lücke passe, gefunden werden, wodurch sich dieses scheinbare Vacuum von selbst schließe 28 . In diesem Fall stecke die Lücke nicht im Recht selbst, sondern in dem nach dem Recht Forschenden 29 . Die Existenz und die Evidenz des Rechtes dürften nicht miteinander verwechselt werden. Die Evidenz des Rechts sei an formelle Rechtsquellen gebunden, die noch nie erschöpfend gewesen seien 30 . Mittels „schwieriger Deduktionen" könne der Richter dennoch zu den erforderlichen Rechtssätzen gelangen. Daß ein solcher Rechtssatz, weil mit Mühe gefunden, weniger positiv sei als ein anderer, der sich wörtlich aus dem Gesetzestext ableiten lasse, könne nicht
25 Vgl. zum Lückenlosigkeitsdogma die bei Cl.-W. Canaris , Die Feststellung von Lücken im Gesetz. Eine methodologische Studie über Voraussetzungen und Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung praeter legem, Schriften zur Rechtstheorie Nr. 3 (Berlin 1964) 173 Ν 3 ff. und 176 Ν 22, und bei Riebschläger 24 Ν 22 zit. Lit. 26 Plathner, Geist des preußischen Privatrechts, S. X X X I I I , zit. nach Kohler, Über die Interpretation von Gesetzen, Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht (Wien 18741916), begründet von Grünhut, 13 (1886) 49. 27 Bergbohm 381. 28 Bergbohm 381. 29 Bergbohm 382. 30 Bergbohm 382.
§ 5 Die Reine Rechtslehre Hans Kelsens
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einleuchten 31 . — Aus dieser Argumentation, der sich im wesentlichen die meisten Vertreter des Lückenlosigkeitsdogmas angeschlossen haben 32 , erhellt, daß im Grunde auch Bergbohm für die Lückenlosigkeit des Gesetzes eintritt. Seine Ausführungen zielen genau genommen dahin, die Lückenhaftigkeit des gesetzlichen Wortlautes und die Lückenlosigkeit des im Gesetz zum Ausdruck gekommenen Rechtes darzutun 33 . Das erst mittels (angeblich) logisch zwingender Folgerungen aus dem unklaren Wortlaut gewonnene Recht muß nämlich sinnvollerweise auch zum System des Gesetzesrechtes gezählt werden 34 ; es kann nicht als ein vom Gesetz unabhängiges Normensystem gedeutet werden. Denn dies widerspräche der These einer Identität von Gesetz und Recht. Vom gesetzespositivistischen Standpunkt aus kann nur dann sinnvoll von Lücken eines positiv-rechtlichen Normensystems gesprochen werden, wenn zu dessen Ergänzung oder Korrektur ein anderes, ebenfalls positiv-rechtliches Normensystem zur Verfügung steht, wie ζ. B. bei einer Ergänzung von gliedstaatlichem Recht durch Bundesrecht 35 .
§ 5 Die Reine Rechtslehre Hans Kelsens A. Die Reine Rechtslehre in ihrer klassischen Gestalt1 Die Reine Rechtslehre will eine Theorie des positiven Rechts sein, und zwar des positiven Rechts schlechthin, nicht einer speziellen Rechtsordnung 2 . Die 31 32
Bergbohm 381. Riebschläger 24.
33 Bergbohm 382 unterscheidet zwischen dem Gesetz und dessen Bedeutung: „Die Gesetze sind nicht das Recht, sie bedeuten nur Rechtsgedanken, die jeder selbst nacherzeugen muß aus den gegebenen Gedankenweckern: den Worten des Gesetzes." 34 Mit der Setzung der Prämissen, Grundbegriffe, Definitions- und Operationsregeln eines logisch geschlossenen Systems sind auch sämtliche seiner ableitbaren Theoreme implizit mitgesetzt. 35 Vgl. U. Klug, Rechtslücke und Rechtsgeltung, Festschrift für H. C. Nipperdey I (München / Berlin 1965) 82. 1 Literatur: Kelsen, Reine Rechtslehre; derselbe, Hauptprobleme; derselbe, JZ 20 ( 1965) 465 ff.; derselbe, Was ist die Reine Rechtslehre?, in: Demokratie und Rechtsstaat, Festgabe für Zaccaria Giacometti (Zürich 1953) 143 ff.; derselbe, Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus. Philosophische Vorträge, veröffentlicht von der Kant-Gesellschaft Nr. 31 (Charlottenburg 1928); Walter, Rechtstheorie 1 (1970) 69 ff.; A. Verdross (Hrsg.), Gesellschaft, Staat und Recht. Untersuchungen zur Reinen Rechtslehre, Festschrift für Hans Kelsen zum 50. Geburtstag (Wien 1931); A. J. Merkl/A. Verdross / R. Marcie / R. Walter (Hrsg.), Festschrift für Hans Kelsen zum 90. Geburtstag (Wien 1971). Leben und Werk Kelsens sind geschildert im Buch von Metall. R Koller, in: O. Weinberger / W. Krametz (Hrsg.), Reine Rechtslehre im Spiegel ihrer Fortsetzer und
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„Positivität" des Rechts besteht für Kelsen darin, daß es einerseits durch in bestimmter Weise qualifizierte menschliche Akte gesetzt und andererseits in einem gewissen Grade wirksam sein muß 3 . Als Theorie will die Reine Rechtslehre ihren Gegenstand erkennen, d. h. die Frage beantworten, was Recht ist y nicht aber, was es sein soll 4. Das Postulat der „Reinheit" bedeutet die Eliminierung aller „unjuristischen" Betrachtungsweisen und Methoden (insbesondere der Psychologie, der Ethik und der politischen Theorie) aus der Rechtswissenschaft. Die Erkenntnis des Rechts soll durch keinen „Methodensynkretismus" getrübt werden. Die Rechtserkenntnis ist auf die Erkenntnis von Rechts normen gerichtet 5 . Eine Norm besteht nun nicht in Raum und Zeit; sie gehört nicht zu den wahrnehmbaren Gegebenheiten der Außenwelt, sondern ist der Sinn eines in Raum und Zeit gegebenen Willensaktes. Bei den mit dem Recht in irgendeinem Zusammenhang stehenden Tatbeständen (ζ. B. bei einem Parlamentsbeschluß, Verwaltungsakt, Urteil, Rechtsgeschäft oder Delikt) kann man nämlich stets zwei Elemente unterscheiden: das eine ist ein in Raum und Zeit vor sich gehender, äußerer Vorgang menschlichen Verhaltens; das andere ist dessen rechtliche Bedeutung. Wenn etwa ein Kaufmann einem anderen einen Brief bestimmten Inhalts schreibt und der andere mit einem Gegen-Brief antwortet, dann ist dieses sinnlich wahrnehmbare Geschehen als solches nicht Gegenstand spezifisch juristischer Erkenntnis. Was einen Tatbestand Kritiker, Forschungen aus Staat und Recht Nr. 81 (Wien / New York 1988) 129ff.; H. Klecatsky / R. Marcie / H. Schambeck (Hrsg.), Die Wiener rechtstheoretische Schule. Schriften von Hans Kelsen, Adolf Merkl, Alfred Verdross I - I I I (Wien u.a. 1968); W. Krawietz/H. Schelsky (Hrsg.), Rechtssystem und gesellschaftliche Basis bei Hans Kelsen, Rechtstheorie, Beiheft 5 (Berlin / München 1984); O. Weinberger / W. Krawietz (Hrsg.), Reine Rechtslehre im Spiegel ihrer Fortsetzer und Kritiker, Forschungen aus Staat und Recht Nr. 81 (Wien / New York 1988); W. Krawietz / E. Topitsch / P. Koller (Hrsg.), Ideologiekritik und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, Rechtstheorie, Beiheft 4 (Berlin 1982); Stanley L. Paulson / R. Walter (Hrsg.), Untersuchungen zur Reinen Rechtslehre (Wien 1986); J. Behrend, Untersuchungen zur Stufenbaulehre Adolf Merkls und Hans Kelsens, Schriften zur Rechtstheorie Nr. 65 (Berlin 1977); E. Weinreb, Yale L. J. 97 (1988) 949ff.; derselbe, Col. L.R. 87 (1987) 472ff.; W. Kubes / O. Weinberger,, Die Brünner rechtstheoretische Schule (Wien 1980);£". Kaufmann, Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie (Tübingen 1921); H. Holzhey, Kelsens Rechts- und Staatslehre in ihrem Verhältnis zum Neukantianismus, in: Untersuchungen zur Reinen Rechtslehre, Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts, Band 11 (Wien 1986) 167 ff. Raz, Concept, ch. III-V. 2
Kelsen, Reine Rechtslehre 1. Kelsen, JZ 20 (1965) 465; derselbe, Reine Rechtslehre 207 N**. Es ist zu beachten, daß in der Reinen Rechtslehre — im Gegensatz zu den meisten anderen positivistischen Theorien — die „Positivität" des Rechts nicht mit dessen „Geltung" zusammenfällt, da Kelsen unter „Geltung" nur die normative Geltung versteht. Der Gebrauch des Wortes „Positivität" ist bei den Vertretern der Reinen Rechtslehre nicht ganz einheitlich. Vgl. vorne §3 Ν 1. 3
4 5
Kelsen, Reine Rechtslehre 1. Kelsen, Reine Rechtslehre 4.
§ 5 Die Reine Rechtslehre Hans Kelsens
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zu einem Rechts- (oder Unrechts-)Akt macht, ist nicht sein kausalgesetzlich bestimmtes Sein, sondern der objektive Sinn, der mit diesem A k t verbunden ist 6 . Diesen objektiven Sinn — im Beispiel: daß ein Vertrag geschlossen wurde — erhält der A k t erst durch eine Norm, die sich auf ihn bezieht, so daß er nach ihr gedeutet werden kann. Die Norm fungiert als Deutungsschema 1. Sie sagt aus, daß etwas sein oder geschehen, insbesondere, daß sich ein Mensch in bestimmter Weise verhalten solP. Dabei verwendet Kelsen das Wort „Sollen" in einem weiteren Sinn als nach dem üblichen Sprachgebrauch: Eine Norm kann ein Verhalten nicht nur gebieten, sie kann es auch erlauben oder ermächtigen. Auch das „Dürfen" auf Grund einer Erlaubnis und das „Können" auf Grund einer Ermächtigung sind im „Sollen" mit Inbegriffen 9. — Die Norm ist also ein Sollen, der Willensakt, durch den sie gesetzt wird und dessen Sinn sie darstellt, ein Sein. I n der Folge betont Kelsen mit aller Schärfe den Gegensatz von Sein und Sollen. Die Aussage, daß etwas ist, sei wesentlich verschieden von der Aussage, daß etwas sein soll! Daraus, daß etwas ist, kann nicht folgen, daß etwas sein soll; und daraus, daß etwas sein soll, kann nicht folgen, daß etwas ist 10. Sein und Sollen stehen allerdings nicht beziehungslos nebeneinander, weil sie sich auf gleiche Inhalte, insbesondere menschliche Verhaltensweisen, beziehen können: Ein menschliches Verhalten kann seiend oder gesollt sein. Die spezifische Existenz einer Norm ist nun ihre „Geltung". Unter „Geltung" versteht Kelsen — im Gegensatz zu gewissen realistischen Theorien — nicht etwa die faktische Geltung, z. B. i. S. der „Wirksamkeit" der Norm, sondern die „Soll-Geltung". Die Wirksamkeit einer Norm ist die SeinsTatsache, daß sie faktisch angewendet und befolgt wird und darf nicht mit der „Geltung" identifiziert werden. Zwar ist ein Minimum an Wirksamkeit eine Bedingung der Geltung der Norm, denn eine Norm, die niemals angewendet und befolgt wird, pflegt man auch nicht als gültig zu betrachten 11 . 6
Der Sinn, der dem Akt im objektiven Rechtssystem zukommt, ist zu unterscheiden vom subjektiven Sinn, der durch Selbstdeutung des handelnden Menschen entsteht. Beide gehören nicht notwendigerweise zusammen: Ein Schriftstück kann vom Erblasser subjektiv als Testament gemeint sein, während es dieser Qualität — gewisser Formfehler wegen — vom Standpunkt des objektiven Rechts aus ermangelt. Vgl. dazu Reine Rechtslehre 2/3. 7 Kelsen, Reine Rechtslehre 3/4. 8 Kelsen, Reine Rechtslehre 4. 9 Kelsen, Reine Rechtslehre 4/5. Neben diesem „normativen" Sollen kennt Kelsen auch noch den Begriff eines „deskriptiven" Sollens. Vgl. dazu hinten § 7 Ν 20. 10 Kelsen, Reine Rechtslehre 5. Diese Basisthese der Reinen Rechtslehre ist unwiderlegbar; vgl. dazu hinten § 24 Ν 60. 11 Kelsen, Reine Rechtslehre 10. Das klassische Beispiel ist die durch eine Revolution oder einen Staatsstreich außer Kraft gesetzte Rechtsordnung. Kelsen, Reine Rechtslehre 213/214.
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Die Wirksamkeit ist aber niemals der Grund der Geltung einer Norm: Dieser kann immer nur in einer höheren Norm liegen, die die Erzeugung der niedrigeren Norm regelt und möglicherweise auch deren Inhalt vorausbestimmt 1 2 . Der Befehl eines Steuerbeamten, eine bestimmte Geldsumme zu geben, läßt sich nur darum als gültige (individuelle) Norm deuten — im Gegensatz zu einem entsprechenden Befehl eines Gangsters —, weil diese in Anwendung des Steuergesetzes gesetzt wurde 1 3 . Die Norm des Steuergesetzes gilt ihrerseits nur darum, weil sie von der gesetzgebenden Körperschaft beschlossen wurde und diese durch eine Norm der Staatsverfassung ermächtigt ist, generelle Normen zu setzen. Fragt man nach dem Geltungsgrund der Staatsverfassung, gerät man vielleicht auf eine ältere Staatsverfassung und begründet die Geltung der bestehenden Staatsverfassung damit, daß sie gemäß den Bestimmungen der vorangehenden Staatsverfassung zustandegekommen ist; die Geltung der historisch ersten Staatsverfassung kann demgegenüber nicht mehr durch eine von einer Rechtsautorität gesetzte Norm begründet werden 14 . W i l l man auch die Normen der historisch ersten Staatsverfassung als objektiv-gültige Normen deuten, muß man nach Kelsen eine Norm voraussetzen, der keine reale Existenz mehr zukommt, die vielmehr eine bloß gedachte Norm ist. Diese hypothetisch vorausgesetzte Grundnorm, die mithin nicht dem positiven Recht angehört, setzt die historisch erste Verfassung als normerzeugenden Tatbestand ein und lautet wie folgt: „Zwangsakte sollen gesetzt werden unter den Bedingungen und auf die Weise, die die historische erste Staatsverfassung und die ihr gemäß gesetzten Normen statuieren 15 ." Oder kürzer: „ M a n soll sich so verhalten, wie die Verfassung vorschreibt." Kelsen betont mit Nachdruck, daß die Aussage, das Recht habe objektive Geltung, nur eine mögliche, nämlich unter der Voraussetzung der hypothetischen Grundnorm mögliche, keinesfalls aber notwendige Deutung der rechtssetzenden Akte ist 1 6 . Niemand kann mit zwingenden Gründen daran gehindert werden, die in Betracht kommenden zwischenmenschlichen Beziehungen nicht normativ, sondern soziologisch, d. h. als bloße Machtbeziehungen zu deuten 17, und daher dort, wo die Juristen von Recht sprechen, nichts anderes als nackte Gewalt zu sehen 18 . 12
Kelsen, JZ 20 (1965) 467. Kelsen, Reine Rechtslehre 8. 14 Kelsen, Reine Rechtslehre 203. Ebensowenig ist dies der Fall bei einer Verfassung, die revolutionär in Geltung getreten ist. Die folgenden Ausführungen lassen das Völkerrecht außer acht. Bezieht man das Völkerrecht auch ein, verschiebt sich das Problem um eine Stufe. 15 Kelsen, Reine Rechtslehre 203/204. 16 Kelsen, Reine Rechtslehre 218, Fußnote. Vgl. zur Entwicklung der Reinen Rechtslehre bei R. Walter hinten § 20 Β III. 17 Kelsen, Reine Rechtslehre 224. 18 Kelsen, Reine Rechtslehre. Einleitung in die rechts wissenschaftliche Problematik (1. Aufl. Leipzig / Wien 1934) 36. 13
§ 5 Die Reine Rechtslehre Hans Kelsens
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Die Kelsenschz Grundnorm begründet also hypothetisch die Geltung der positiven Rechtsordnung, und zwar jeder positiven Rechtsordnung. Denn der Inhalt der positiven Rechtsordnung ist von der Grundnorm völlig unabhängig 19 , er läßt sich nicht aus ihr ableiten. Infolgedessen kann keine positive Rechtsordnung als ihrer Grundnorm nicht entsprechend und daher als nicht gültig angesehen werden. Weil die Wirksamkeit aber, wie wir gesehen haben, eine Bedingung der Geltung von Normen und damit auch eines ganzen Normensystems ist, kann nur eine im großen und ganzen wirksame Zwangsordnung als Rechtsordnung i. S. der Reinen Rechtslehre gedeutet werden. Die Grundnorm bezieht sich daher immer nur auf eine Zwangsordnung mit dauernder Wirksamkeit 2 0 ; umgekehrt kann jede dieser Bedingung genügende Zwangsordnung als objektiv-gültige normative Ordnung begriffen werden. Dies zeigt Kelsen an dem seinerzeit von Augustinus in seiner Civitas Dei aufgeworfenen Problem des Unterschieds zwischem dem Staat (als einer Rechtsgemeinschaft) und einer Räuberbande 21 . Die Akte einer Räuberbande sind nach der Reinen Rechtslehre nur dann keine Rechtsakte, wenn sich die staatliche Rechtsordnung als die wirksamere erweist, indem gegen die Mitglieder der Bande Sanktionen durchgesetzt werden können. Sobald aber die Zwangsordnung der Räuberbande innerhalb eines bestimmten Gebietes so wirksam ist, daß sie die Geltung jeder anderen Zwangsordnung ausschließt, kann sie als Rechtsordnung und die durch sie konstituierte Gemeinschaft sehr wohl als „Staat" betrachtet werden. Kelsen beruft sich auf die Existenz der sog. Seeräuber-Staaten an der Nordostküste Afrikas (Algier, Tunis, Tripolis), die im 16. bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts das Mittelmeer unsicher machten 22 . Aus dem Gesagten erhellt, daß auch nach der Reinen Rechtslehre jeder beliebige Inhalt zum Rechtsinhalt werden kann. „Es gibt kein menschliches Verhalten, das als solches, kraft seines Gehalts, ausgeschlossen wäre, Inhalt einer Rechtsnorm zu sein 23 ." Darin zeigt sich die für jede rechtspositivistische Theorie charakteristische Trennung von Recht und Moral. Kelsen begrün19
Kelsen, Reine Rechtslehre 224. Kelsen, Reine Rechtslehre 51, verweist zur Erhärtung seiner Auffassung auf die Tatsache, daß Gerichte der USA sich seinerzeit geweigert hatten, Akte der revolutionär etablierten russischen Regierung als Rechtsakte anzuerkennen; dies mit der Begründung, es handle sich dabei nicht um Akte eines Staates, sondern einer Gangsterbande. Sobald jedoch die revolutionär errichteten Zwangsordnungen sich als dauernd wirksam erwiesen hätten, seien sie als Rechtsordnungen anerkannt worden. 21 Augustinus, Civitas Dei, IV, 4, zit. nach Kelsen, Reine Rechtslehre 50. Augustinus fragt: „Was sind Reiche ohne Gerechtigkeit anderes als große Räuberbanden? Sind Räuberbanden etwas anderes als kleine Reiche?" Nach der Anschauung des Augustinus unterscheidet sich das Recht durch die Gerechtigkeit seines Inhalts von anderen Zwangsordnungen. 22 Kelsen, Reine Rechtslehre 49. 23 Kelsen, Reine Rechtslehre 201. 20
4 Ott, 2. Aufl.
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det dies damit, daß es höchst verschiedene und einander widersprechende Moralsysteme gebe und die gegenteilige These eines moralischen Rechtes auf eine unkritische Rechtfertigung der eigenen staatlichen Zwangsordnung hinausliefe. Denn, daß diese Recht sei, wird als selbstverständlich vorausgesetzt, so daß sie der Theorie gemäß auch moralisch sein müsse. Eine solche Legitimierung des positiven Rechts sei von der Rechtswissenschaft nicht zu leisten 24 . Den Unterschied zwischen dem Recht und den anderen sozialen Normativordnungen, die er unter der Bezeichnung „Moral" zusammenfaßt 25 , sieht Kelsen nicht darin, was die beiden sozialen Ordnungen inhaltlich gebieten bzw. verbieten, oder wie sie erzeugt und angewendet werden 26 . Der Unterschied liegt vielmehr darin, auf welche Weise sie ein bestimmtes Verhalten gebieten bzw. verbieten. Das Recht ist eine normative Ordnung, die ein bestimmtes menschliches Verhalten dadurch herbeizuführen sucht, daß sie an das gegenteilige Verhalten einen gesellschaftlich organisierten Zwangsakt (Entzug bestimmter Güter wie Leben, Freiheit oder wirtschaftliche Güter) knüpft 2 7 . Die Sanktionen der Moral bestehen demgegenüber nur in der Billigung des normentsprechenden und der Mißbilligung des normwidrigen Verhaltens 28. Die Moral übt nur psychischen Zwang aus, keinen physischen. Die Charakterisierung des Rechts als Zwangsordnung im vorstehend erläuterten Sinne führt zu einer radikalen Umdeutung des Begriffs des Unrechts: Ein menschliches Verhalten wird nicht darum, weil es ein Unrecht ist, mit einem Zwangsakt als Rechtsfolge verknüpft, sondern es ist umgekehrt ein Unrecht, weil es mit einem Zwangsakt verknüpft ist 2 9 . Nicht die Sozialschädlichkeit ist maßgebend, sondern der Umstand, daß der fragliche Tatbestand Bedingung ist für einen staatlichen Zwangsakt. Nach der Reinen Rechtslehre gibt es also keine „mala in se", sondern nur „mala prohibita" 3 0 . Aus der erwähnten Konstruktion ergibt sich weiter folgende bedeutsame Konsequenz: Da es üblich ist, den Staat als politische Organisation zu kennzeichnen und das „politische" Element dieser Organisation nach Kelsen in dem durch diese geregelten von Mensch zu Mensch geübten Zwang 24
Kelsen, Reine Rechtslehre 70/71. Kelsen, Reine Rechtslehre 60. 26 Kelsen, Reine Rechtslehre 64. 27 Kelsen, Reine Rechtslehre 34/64. Es ist hier präzisierend daraufhinzuweisen, daß die Rechtsordnung einen Zwangsakt nicht unbedingt an ein menschliches Verhalten knüpfen muß, sondern auch einen als sozialschädlich erachteten Tatbestand als Bedingung des Zwangsaktes setzen kann (wie ζ. B. bei der Internierung von Personen, die mit einer ansteckenden Krankheit behaftet sind). Dazu Kelsen, Reine Rechtslehre 41 ff. 28 Kelsen, Reine Rechtslehre 64/65. 29 Kelsen, Reine Rechtslehre 117. 30 Kelsen, Reine Rechtslehre 118. 25
§ 5 Die Reine Rechtslehre Hans Kelsens
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besteht, ist der Staat im juristischen Sinne nichts anderes als die Rechtsordnung selbst 31 . Denn die staatlichen Zwangsakte sind eben jene Zwangsakte, die die Rechtsordnung unter bestimmten Bedingungen statuiert. Der Staat als Subjekt der Staatsakte ist die „Personifikation" der Rechtsordnung 32 , er ist ein „Zurechnungspunkt", in dem sich die Einheit der Rechtsordnung ausdrückt und den der nach Anschauung drängende menschliche Geist nur allzu leicht hypostasiert, d.h. real setzt, und ihn sich als ein hinter der Rechtsordnung stehendes Wesen vorstellt 33 . Jeder Staat ist somit eine Rechtsordnung, aber nicht jede Rechtsordnung ist ein Staat. U m ein Staat zu sein, muß die Rechtsordnung einen gewissen Grad von Zentralisation aufweisen. Dies trifft weder für die Rechtsordnung der primitiven Gesellschaft noch für diejenige des heutigen Völkerrechts zu. Der Staat ist also eine relativ zentralisierte Rechtsordnung 34 . Konsequenterweise bezieht Kelsen auch die drei staatlichen Elemente des Staats Volkes, des Staatsgebietes und der Staatsgewalt auf die Rechtsordnung: Das Staatsvolk kann als personaler Geltungsbereich, das Staatsgebiet als räumlicher Geltungsbereich und die Staatsgewalt als Geltung der Rechtsordnung begriffen werden 35 . — Die Gleichsetzung des Staates mit der Rechtsordnung führt ferner dazu, daß jeder Staat — formell gesehen — ein Rechtsstaat ist 3 6 . Aus dem vorne dargestellten Stufenbau der Rechtsordnung ergeben sich für die Reine Rechtslehre bedeutsame Einsichten zum Interpretations - und Lückenproblem: Die Interpretation ist ein geistiges Verfahren, das den Prozeß der Rechtserzeugung in seinem Fortgang von einer höheren zu einer, von der höheren bestimmten, niedrigeren Stufe begleitet 37 . Die Gesetzgebung ist Verfassungsinterpretation, die Rechtssprechung Gesetzesinterpretation und die Rechtsvollziehung Interpretation der individuellen Norm eines richterlichen Urteils oder Verwaltungsaktes. Dabei bestimmt die höhere Norm das Verfahren, in dem die niedrigere erzeugt werden soll, und eventuell auch deren Inhalt 3 8 . Entscheidend ist jetzt aber, daß diese Bestimmung niemals eine vollständige sein kann, so daß der Interpretation auf jeder Stufe konstitutive Bedeutung zukommt. Bei der Rechtssprechung, auf die wir uns im folgenden beschränken wollen, ist dies in doppelter Hinsicht der Fall: 31
Kelsen, Reine Rechtslehre 289. Kelsen, Reine Rechtslehre 296. 33 Kelsen, Reine Rechtslehre 294. 34 Kelsen, Reine Rechtslehre 289. 35 Kelsen, Reine Rechtslehre 291/292. 36 Kelsen, Reine Rechtslehre 314. Der Ausdruck „Rechtsstaat" wird aber üblicherweise im materiellen Sinne gebraucht für einen Staat, in dem das demokratische Prinzip, das Legalitätsprinzip und gewisse Freiheitsrechte gewährleistet sind. Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre 315. 37 Kelsen, Reine Rechtslehre 346. 38 Kelsen, Reine Rechtslehre 347. 32
4*
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Einerseits ist schon die „Feststellung", daß überhaupt ein konkreter Tatbestand vorliegt, der mit einer Rechtsfolge zu verknüpfen ist, eine durchaus konstitutive Funktion des Gerichts 39 . Nicht der Tatbestand selbst ist nämlich — genau genommen — die Bedingung der Rechtsfolge, sondern die Meinung des Gerichts über das Vorliegen des Tatbestandes. Damit über jemanden die auf M o r d angedrohte Strafe verhängt wird, ist es nicht notwendig, daß er diesen M o r d wirklich begangen hat, sondern daß das Gericht der Meinung ist, er habe den M o r d begangen! Andererseits bietet jede Norm immer nur einen Rahmen, innerhalb dessen mehrere Möglichkeiten der Anwendung gegeben sind 40 . Stets bleibt also ein mehr oder weniger großer Spielraum freien Ermessens 41. Jeder A k t , der in diesem Rahmen bleibt, ist normgemäß. Kelsen wendet sich also deutlich gegen die (gesetzespositivistische) These, der Richter habe bloß ein fix und fertig vorliegendes, in seiner Erzeugung abgeschlossenes Recht zu finden 42 . Aus diesem Grunde kann man die Reine Rechtslehre nicht einfach dem Gesetzespositivismus zurechnen. Die Rechtssprechung ist nach Kelsens Theorie eine im wesentlichen schöpferische Tätigkeit; denn die Interpretation von Normen gilt ihm — sofern dabei der von diesen abgesteckte Rahmen gefüllt wird — als Willens-, nicht als Erkenntnisakt 43 . Was das Lückenproblem anbelangt, vertritt auch Kelsen die Meinung, eine Rechtsordnung könne immer auf einen konkreten Fall angewendet werden 4 4 . Dieses „Lückenlosigkeitsdogma" unterscheidet sich aber wesentlich von demjenigen der Gesetzespositivisten: Denn Kelsen verkennt nicht, daß es Fälle geben kann, wo die Anwendung einer einzelnen Rechtsnorm ausgeschlossen ist. Die Anwendung der Rechtsordnung sei aber trotzdem möglich. Denn es gelte die „negative N o r m " 4 5 , daß, wenn die Rechtsordnung keine Pflicht eines Individuums zu einem bestimmten Verhalten statuiert, sie dieses Verhalten erlaubt 46 . Wenn ζ. B. ein Gesetz bestimmt, daß ein Organ durch Wahl kreiert werden soll, nicht aber das Wahlverfahren regelt, bedeutet dies, daß jede beliebige A r t der Wahl (nach dem Proporz, Majorz, öffentlich oder geheim usw.) gesetzmäßig ist. Das zur Wahl befugte Organ kann nach seinem Ermessen das Verfahren bestimmen 47 . 39 40 41
Vgl. dazu Kelsen, Reine Rechtslehre 244 ff. Kelsen, Reine Rechtslehre 348.
Kelsen, Reine Rechtslehre 347. Kelsen, Reine Rechtslehre 243. 43 Kelsen, Reine Rechtslehre 351. 44 Kelsen, Reine Rechtslehre 251. 45 Kelsen, Reine Rechtslehre. Einleitung in die rechts wissenschaftliche Problematik (1. Aufl. Leipzig / Wien 1934) 101. 46 Kelsen, Reine Rechtslehre 251. 47 Kelsen, Reine Rechtslehre 254/255. 42
§ 5 Die Reine Rechtslehre Hans Kelsens
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B. Das Spätwerk Kelsens: Die „Allgemeine Theorie der Normen" 48 A m 19. April 1973 ist Hans Kelsen gestorben. I m Jahre 1979 erschien aus seinem Nachlaß das große unvollendete Werk „Allgemeine Theorie der Normen". Es enthält den letzten Stand von Kelsens normtheoretischem Denken, das in mancherlei Hinsicht von der Reinen Rechtslehre in ihrer klassischen Gestalt abweicht. I. Ausgangspunkte Immerhin bleiben die folgenden Ausgangspunkte unverändert: Norm i. S. eines Gebotes bedeutet, daß etwas sein oder geschehen soll, insbesondere, daß ein menschliches Verhalten sein soll 49. „Das Sollen, die Norm, ist der Sinn eines Wollens, eines Willensaktes .. . 5 0 " Dabei wird das Sollen in einem weiten Sinne verstanden: Es umfaßt nicht nur Gebote, sondern auch Ermächtigungen, Erlaubnisse und Derogationen 51 . Sprachlich ausgedrückt wird eine Norm durch einen Sollsatz (im vorschreibenden Sinne) 52 . I m Gegensatz dazu wird eine Aussage, die der Sinn eines Denkaktes ist 5 3 und die wahr oder unwahr sein kann, durch einen Seinssatz ausgedrückt. Wer eine Norm setzt, will, daß sich ein Mensch (oder Menschen) in bestimmter Weise verhalten soll (oder sollen) 54 . Die Normen bilden also eine 48
Literatur (Auswahl): C. E. Alchourrón /E. Bulygin, Festgabe für Alois Troller zum 80. Geburtstag 143 ff.; dieselben, Schriften zur Rechtstheorie Nr. 125 (Berlin 1987) 15 ff.; H. Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen (Wien 1979); derselbe, Forum 12 (1965) 421 ff. und 495ff.; derselbe, Neues Forum 14 (1967) 39f.; V. Kubes, ÖZöR 31 (1980) 155ff.; R. Lippold 146 ff.; K. Opalek, Überlegungen zu Hans Kelsens „Allgemeine Theorie der Normen", Schriftenreihe des Hans-Kelsen-Instituts Nr. 4 (Wien 1980); M. Troper, in: R Amselek / Ch. Grzegorczyk (Hrsg.), Controverses autour de l'ontologie du droit (Paris 1989) 53 ff.; G.H. von Wright, Festgabe für Ota Weinberger zum 65. Geburtstag 447ff.; derselbe, Is and Ought, in: E. Bulygin / J.-L. Gardies u. a. (Hrsg.), Man, law and modern forms of life (Dordrecht / Boston / Lancaster 1985) 263 ff.; R. Walter, Rechtstheorie Beiheft 1 (1979) 295 ff.; derselbe, Rechtstheorie 11 (1980) 299 ff.; O. Weinberger, Normentheorie. 49
Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen 2. Kelsen a.a.O., Hervorhebung durch Verf. 51 Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen 3. 52 Walter, Rechtstheorie Beiheft 1 (1979) 296. Die Wissenschaft hat solche Sollsätze in einem beschreibenden Sinne darzustellen: Ein Jurist sagt z. B.: „Nach Art. 112 des Schweiz. StGB soll ein Mörder mit lebenslänglichem Zuchthaus bestraft werden." Das ist ein deskriptiver Satz, der dadurch überprüft werden kann, daß man im Schweiz. StGB nachschlägt. Vgl. hinten § 7 Ν 20. 53 Kelsen Allgemeine Theorie der Normen 21. 54 Kelsen a.a.O. 50
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1. Teil, . Kap.: Der
i s c h e Positivismus
Unterklasse der Befehle. Aber nicht jeder Befehl ist eine Norm. Wenn etwa ein Straßenräuber einem Opfer befiehlt, das Geld herauszugeben, ist das keine Norm. Denn als Norm gilt nur der Sinn eines durch eine Norm einer positiven Moral- oder Rechtsordnung ermächtigten Befehlsaktes 55. Die spezifische Existenz einer Norm ist ihre Geltung 56. Geltung bedeutet, daß die Norm befolgt und, wenn nicht befolgt, angewendet werden soll 51. Die Geltung ist klar zu unterscheiden von der Wirksamkeit der Norm. Die Wirksamkeit bedeutet, daß die Norm tatsächlich befolgt, und wenn nicht befolgt, angewendet wird 5*. U m zu gelten, muß eine Norm durch einen Willensakt gesetzt sein. Keine Norm ohne einen normsetzenden Willensakt, kein Imperativ ohne Imperator 5 9 . I n diesem Gesetzt-Sein durch menschliche Willensakte liegt die Positivität der Norm. „Nur eine im Wege bewußter Setzung oder im Wege der Gewohnheit gesetzte Norm kann als positive Norm der Moral oder des Rechts gelten 60 ." Und nur solche Normen kommen als Gegenstand eines Moral- oder Rechtspositivismus in Betracht 61 .
II. Die Frage der Anwendbarkeit logischer Prinzipien auf Normen im allgemeinen I n ihrer ursprünglichen Gestalt überschritt die Reine Rechtslehre, was das Verhältnis von Recht und Logik anbelangt, den traditionellen Rahmen nicht. „Sie bediente sich der Regeln der Logik in derselben oder einer ähnlichen Weise, wie dies die traditionelle Jurisprudenz tat 6 2 ." I n der 2. Aufl. der Reinen Rechtslehre (1960) problematisierte Kelsen dieses Verhältnis jedoch, indem er nur noch eine indirekte Anwendbarkeit logischer Prinzipien auf Normen anerkannte: „Da Rechtsnormen als Vorschreibungen . . . weder wahr noch unwahr sein können, ergibt sich die Frage, wie logische Prinzipien, insbesondere der Satz vom Widerspruch und 55
Kelsen a.a.O. Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen 2. 57 Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen 3. 58 Kelsen a.a.O. 59 Kelsen a.a.O. 60 Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen 113/114. Auch in der „Allgemeinen Theorie der Normen" bestimmt Kelsen den Begriff der Positivität nicht einheitlich. Während er zuerst a.a.O. 4 die Positivität i.e.S. des Gesetzt-Seins versteht, nimmt er a.a.O. 114 zusätzlich das Moment der Wirksamkeit in den Begriff der Positivität hinein. Vgl. auch vorne § 3 Ν 1 und § 5 A. 61 Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen 4. 62 Walter, Rechtstheorie 11 (1980) 299. 56
§ 5 Die Reine Rechtslehre Hans Kelsens
55
die Regeln der Schlußfolgerung, auf das Verhältnis von Rechtsnormen angewendet werden können (so wie das die Reine Rechtslehre seit jeher getan hat), wenn, traditioneller Anschauung nach, diese Prinzipien nur auf Aussagen anwendbar sind, die wahr oder unwahr sein können. Die Antwort auf diese Frage ist: daß logische Prinzipien, wenn nicht direkt, so doch indirekt auf Rechtsnormen angewendet werden können, sofern sie auf die, diese Normen beschreibenden Rechtssätze, die wahr oder unwahr sein können, anwendbar sind. Zwei Rechtsnormen widersprechen sich und können daher nicht zugleich als gültig behauptet werden, wenn die beiden sie beschreibenden Rechtssätze sich widersprechen; und eine Rechtsnorm kann aus einer anderen abgeleitet werden, wenn die sie beschreibenden Rechtssätze in einen logischen Syllogismus eingehen können 6 3 ." I n seinem Aufsatz „Recht und Logik" wich Kelsen auch von dieser Auffassung ab 6 4 . Er erklärte, daß die beiden wichtigsten logischen Prinzipien, der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch und die Regel der Schlußfolgerung, auf die Beziehungen zwischen Normen eines positiven Rechtssystems weder direkt noch indirekt anwendbar seien 65 . A n dieser Position hält er in der „Allgemeinen Theorie der Normen" fest: III.
Der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch
(Normenkonflikte)
Zunächst ist unbestritten, daß in empirischen Rechtssystemen Normenkonflikte 6 6 vorkommen können 6 7 . „Ein Konflikt zwischen zwei Normen liegt vor, wenn das, was die eine als gesollt setzt, mit dem, was die andere als gesollt setzt, unvereinbar i s t . . . 6 8 " Das wäre etwa der Fall, wenn eine Norm vorschreibt, daß M o r d mit dem Tode bestraft, eine andere, daß Mord mit Gefängnis bestraft werden soll 6 9 . Einen logischen Widerspruch zwischen Normen kann es — wie wir gesehen haben — für Kelsen nicht geben, weil die logischen Prinzipien für ihn nur auf Aussagen anwendbar sind, die wahr oder unwahr sein können, was nach seiner Auffassung auf Normen nicht zutrifft. Eine direkte Anwendung des Satzes vom Widerspruch auf Normen scheidet also aus. Aber Kelsen verneint jetzt auch eine indirekte Anwendung des Satzes vom Widerspruch auf Normen. Denn wenn zwei Aussagen zwei Normen, die 63 64 65 66 67 68 69
Kelsen, Reine Rechtslehre 76f., Hervorhebung durch Verf. Forum 12 (1965) 421 ff., 495 ff. Forum 12 (1965) 498. Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen 99 ff. Vgl. Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen 100. Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen 99. Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen 100.
56
1. Teil, . Kap.: Der
i s c h e Positivismus
miteinander in Konflikt stehen, beschreiben, sind beide Aussagen wahr 7 0 . Sie stehen folglich nicht in einem logischen Widerspruch zueinander. Der „Widerspruch" liegt in diesem Fall im Gegenstand, der zu beschreiben ist, nicht in den diesen Gegenstand beschreibenden Aussagen. I n einer ganz entfernten Analogie ist die Rechtswissenschaft nach Walter „also in derselben Lage wie ζ. B. ein Biograph, der eine Persönlichkeit nicht als ein ,aufgeschlagenes Buch', sondern als ,Mensch mit seinem Widerspruch 4 beschreibt.. ." 7 1 . IV. Die Nichtanwendbarkeit
der Regel der Schlußfolgerung
Kelsen verneint in der „Allgemeinen Theorie der Normen" aber auch die Anwendbarkeit der Regel der Schlußfolgerung auf Normen: Es geht hier insbesondere — und auf diesen Hauptfall wollen wir uns im folgenden beschränken — um die Frage, ob das Verhältnis zwischen einer generellen Norm und der individuellen N o r m 7 2 , in der sie auf einen konkreten Fall angewendet wird, eine logische Schlußfolgerung darstellt; ob also die Geltung der individuellen Norm im Wege einer logischen Schlußfolgerung erzielt wird. Unproblematisch ist zunächst auch für Kelsen der sog. theoretische Syllogismus wie z. B.: 7 3 1)
Alle Menschen sind sterblich
2)
Sokrates ist ein Mensch
3) Sokrates ist sterblich Die Wahrheit der Schlußfolgerung folgt aus der Wahrheit der beiden als Prämissen vorausgesetzten Aussagen. Durch die beiden Prämissen ist auch die Schlußfolgerung mitgesetzt, unabhängig davon, ob ein realer Denkakt eines Menschen die Schlußfolgerung trägt oder nicht. Ob die Prämissen wahr sind, ist eine empirische, nicht eine logische Frage. 70
Vgl. Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen 178. Walter, Rechtstheorie 11 (1980) 304. Ein Normenkonflikt kann nur durch eine Regel des positiven Rechts wie: „Lex posterior derogat priori" oder: „Bundesrecht bricht kantonales Recht" aufgelöst werden. 72 Dabei versteht Kelsen unter genereller Norm nicht eine Norm, die an eine bestimmte Kategorie von Menschen gerichtet ist, sondern eine Norm, die sich auf eine von vornherein unbestimmte Zahl von Handlungen oder Unterlassungen bezieht. Unter einer individuellen Norm versteht er demgemäß nicht eine Norm, die sich an einen individuell bestimmten Menschen richtet, sondern eine Norm, die sich auf ein einmaliges bestimmtes Verhalten bezieht. Vgl. Walter, Rechtstheorie Beiheft 1 (1979) 297. 73 Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen 181 f. 71
§ 5 Die Reine Rechtslehre Hans Kelsens
57
Als problematisch empfindet dagegen Kelsen den sog. normativen Syllogismus. Er bringt dafür folgendes, von mir leicht abgewandeltes Beispiel 74 . 1)
Wenn ein Mensch einem anderen ein Versprechen gegeben hat, soll er es halten.
2)
Der Mensch Maier hat dem Menschen Schulze ein Versprechen gegeben.
3)
Der Mensch Maier soll das dem Menschen Schulze gegebene Versprechen halten.
Kelsen stört hier, daß die Geltung ( = Existenz) der individuellen Norm (3) aus der Geltung (— Existenz) der generellen Norm (1) und der Wahrheit der Aussage (2) logisch folgen soll 7 5 . Sein Hauptargument dagegen lautet: „Die Geltung der individuellen Norm kann nicht in der Geltung der generellen Norm und der Wahrheit der Aussage impliziert sein, weil die Geltung einer Norm durch den Willensakt bedingt ist, dessen Sinn sie ist, während in dem theoretischen Syllogismus die Wahrheit der individuellen Aussage in der Wahrheit der generellen Aussage darum impliziert sein kann, weil die Wahrheit einer Aussage nicht durch den Denkakt bedingt ist, dessen Sinn sie ist 7 6 ". Zwischen die Geltung der generellen Norm, ζ. B. eines Gesetzes, und die Geltung der ihr entsprechenden individuellen Norm, ζ. B. eines richterlichen Urteils, muß sich ein Willensakt eines Menschen, ζ. B. eines Richters, schieben 77 . „So wie die Existenz einer Tatsache nicht aus der Existenz einer anderen Tatsache logisch folgen kann — die Wege des Denkens sind nicht die Wege des Seins —, so kann die Existenz einer Norm, das ist ihre Geltung, nicht aus der Existenz einer anderen Norm, das ist aus der Geltung einer anderen Norm, logisch folgen 78 ." — Auch gilt es zu bedenken, daß die Autorität, die die generelle Norm setzt, d. h. die in Kelsens Beispiel will, daß alle Menschen ihr Versprechen halten sollen, nicht wollen kann, daß Maier sein dem Schulze gegebenes Versprechen halten soll. Denn sie kann nicht im voraus wissen, daß in Zukunft ein Mensch Maier einem Menschen Schulze ein Versprechen geben wird 7 9 . „ M a n kann nicht wollen, wovon man nichts weiß 8 0 ."
74 75 76 77 78 79 80
Vgl. Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen Vgl. Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen 186. Vgl. Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen 186. Vgl. Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen Kelsen a.a.O.
184. 185/186. 186/187. 189.
58
1. Teil, . Kap.: Der
i s c h e Positivismus
V. Die Anerkennung der generellen Norm als Voraussetzung für die Setzung der individuellen Norm Weil die individuelle Norm nach Kelsen nur gilt, wenn sie als Sinn eines Willensaktes gesetzt ist, entsteht die Frage: Wie erfolgt die Setzung einer individuellen Norm, etwa der Norm, daß Maier dem Schulze das ihm gegebene Versprechen halten soll, d.h. ihm 1000 zahlen soll 81 ? Dies kann, muß aber nicht, dadurch geschehen, daß Maier in Anerkennung der generellen Norm an sich selbst einen entsprechenden Befehl richtet. Oder Schulze kann, muß aber nicht, in Anerkennung der generellen Norm einen entsprechenden Befehl an Maier richten 82 . I m Bereiche des Rechts schließlich ist es möglich, daß ein Richter in Anerkennung einer generellen Rechtsnorm an sich selbst den Befehl richtet, die entsprechende individuelle Norm zu setzen. Aber auch das muß nicht geschehen. Der Richter kann auch aus irgendeinem Grunde, ζ. B. weil er die Anwendung der generellen Norm im konkreten Falle für ungerecht hält, ihre Geltung für diesen Fall nicht anerkennen und eine andere individuelle Norm setzen 83 . I n diesem Falle ist es möglich, daß ein höheres Gericht im Berufungsverfahren dem unteren Richter befiehlt, die der generellen Norm entsprechende individuelle Norm zu setzen. Es ist aber auch möglich, daß das höhere Gericht seinerseits aus irgendeinem Grunde die Geltung der generellen Norm für den konkreten Fall nicht anerkennt 84 . Nach Kelsen trifft die von ihm früher bekämpfte 85 Anerkennungstheorie insofern zu, „als die Anwendung einer generellen Rechtsnorm auf einen konkreten Fall durch das rechtsanwendende Organ in der Tat von der Anerkennung der anzuwendenden generellen Rechtsnorm für den konkreten Fall abhängt 8 6 ". Ein richterliches Urteil gilt nach Eintritt der Rechtskraft selbst dann, wenn es nicht der generellen Rechtsnorm entspricht, die auf den konkreten Fall anzuwenden gewesen wäre. Die Geltung des Urteils für den konkreten Fall kann also nicht von einer logischen Schlußfolgerung abhängen. VI. Die logische Natur der als „Entsprechung" bezeichneten Beziehung zwischen zwei Normen Trotz dieser Ausführungen sieht aber Kelsen doch eine logische Beziehung zwischen Normen, die er mit „Entsprechung" bezeichnet 87 . Eine individuelle 81 82 83 84 85 86 87
Kelsen a.a.O. Vgl. Kelsen a.a.O. Vgl. Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen 191. Vgl. Kelsen a.a.O. Kelsen, Hauptprobleme 346ff., 355 ff. Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen 191/192. Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen 208.
§ 5 Die Reine Rechtslehre Hans Kelsens
59
Norm entspricht einer generellen Norm (und auf diesen Hauptfall wollen wir uns wieder beschränken): „1. wenn sie von einem individuell bestimmten Organ gesetzt ist, das in der generellen Norm ermächtigt ist, die individuelle Norm zu setzen . . . 2. wenn die Vorstellung des von dem zuständigen Organ festgestellten individuell bestimmten Tatbestandes unter den in der generellen Norm enthaltenen Begriff eines bedingenden Tatbestandes subsumiert werden kann, und 3. wenn die Vorstellung der in der individuellen Norm als gesollt gesetzten Rechtsfolge unter den in der generellen Norm enthaltenen Begriff einer Rechtsfolge subsumiert werden kann 8 8 ." I n diesem Fall ist die Entsprechung eine Subsumtionsbeziehung, die zwischen dem allgemeinen (abstrakten) Begriff und einer konkreten Vorstellung (Individual-Begriff) besteht 89 . Die generelle Norm kann Begriffe enthalten, „unter die in anderen Normen enthaltene Begriffe oder konkrete Vorstellungen von individuell bestimmten Tatbeständen und als gesollt statuierten individuell bestimmten Rechtsfolgen subsumiert werden können 9 0 ." Die Subsumtion ist ein logisches Denkverfahren, das die Begründung der Geltung einer Norm aus der Geltung einer anderen Norm liefert. Insofern es zur Anwendung kommt, ist die Logik auf die Beziehung zwischen Normen schlußendlich doch anwendbar 91 . Nach Kelsen ist diese Beziehung allerdings keine Schlußfolgerung 92 , sondern eine andere logische Beziehung, nämlich diejenige der „Entsprechung".
Zweites Kapitel
Der psychologische Positivismus Die verschiedenen Varianten des psychologischen Positivismus stimmen darin überein, daß die Positivität des Rechts in bestimmten Gefühls- und Bewußtseinsinhalten erblickt wird. Da sich diese Gefühls- und Bewußtseinsinhalte aber auch in einem äußeren Verhalten der Rechtsunterworfenen und des Rechtsstabes auszudrücken pflegen (nämlich in der tatsächlichen Befolgung bzw. Anwendung des Rechts), läßt sich eine scharfe Grenze zwischen 88 89 90 91 92
Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen 213. Vgl. Kelsen a.a.O. Kelsen a.a.O. Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen 214. Kelsen a.a.O.
60
1. Teil, 2. Kap.: Der psychologische Positivismus
den psychologischen u n d den soziologischen Positivismen n i c h t ziehen. D i e E i n t e i l u n g zur einen oder anderen R i c h t u n g hat nach der vorherrschenden Tendenz zu erfolgen 1 . Konsequenterweise bedeutet die G e l t u n g f ü r die psychologische wie f ü r die soziologische Rechtstheorie „ i m allgemeinen eine faktische G e l t u n g i m Sinne der tatsächlichen Existenz des Rechts, w o b e i sie f ü r jene allerdings weniger i n einem äußeren V e r h a l t e n als i n V o r s t e l l u n g e n u n d G e f ü h l e n besteht"2. A l s Spielarten des psychologischen Positivismus fallen die folgenden i n Betracht:
§ 6 Die Anerkennungstheorien3 A. Die individuellen Anerkennungstheorien Bei den u n t e r der Bezeichnung „ A n e r k e n n u n g s t h e o r i e n " laufenden rechtstheoretischen Positionen hat m a n zu unterscheiden zwischen den individuellen u n d den generellen A n e r k e n n u n g s t h e o r i e n . W ä h r e n d das Recht n a c h den i n d i v i d u e l l e n A n e r k e n n u n g s t h e o r i e n d u r c h die Anerkennungye^fes einzelnen Normadressaten i n seiner G e l t u n g k o n s t i t u i e r t w i r d , ist dies nach den generellen A n e r k e n n u n g s t h e o r i e n bereits a u f G r u n d eines Konsenses des überwiegenden Teiles der Normadressaten der F a l l 4 . 1 Eckmann 20. Elemente einer psychologisch-soziologischen Rechtslehre sind auch in der lnteressenjurisprudenz enthalten, die das Gesetzesrecht entstanden erklärt aus kausal wirkenden „Interessen". Unter Interessen versteht Heck „Begehrungsdispositionen", d. h. „latente Wünsche oder Neigungen, die nicht fortdauernd in unserem Bewußtsein gegenwärtig sind, aber durch irgendwelche Reizvorgänge ein aktuelles Begehren erzeugen". (Ph. Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung [2. Aufl. Tübingen 1932] 27). Da die Begehrungsdispositionen natürlich nicht unmittelbar beobachtbar sind, werden sie aus sozialen Fakten erschlossen, nämlich aus den durch sie verursachten Handlungen sowie jenen sozialen Grundlagen, die nach der Erfahrung des Lebens solche Dispositionen zu erzeugen pflegen (Heck 27). Die lnteressenjurisprudenz begründet die Entstehung des Rechts naturalistisch, seine Geltung dagegen gesetzespositivistisch {Wieacker 575/576 Ν 45). Vgl. auch vorne § 4 Ν 4. Den Zusammenhang mit dem philosophischen Positivismus betont insbesondere Larenz, Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie, AcP 143 (1937) 274 ff. Vgl. dazu hinten §15 Ν 11. 2
Eckmann 21. Literatur: Kramer, Festschrift Merkl 187 ff.; Bier ling, Prinzipienlehre I / I V ; derselbe, Kritik I; Beling, Festgabe für Philipp Heck, Max Rümelin und Arthur Benno Schmidt (Tübingen 1931) 1 ff.; Laun; Jellinek\ Merkel, Elemente; derselbe, Enzyklopädie; Kelsen, Hauptprobleme 346ff.; Larenz 39 ff.; Nawiasky; Schreiber 85 ff.; Welzel 1 ff.; H. Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung. Schriften zur Rechtstheorie Nr. 64 (Berlin 1977) 43 ff. und 75 ff. 4 Kramer, Festschrift Merkl 188. 3
§ 6 Die Anerkennungstheorien
61
Erste Ansätze einer individuellen Anerkennungstheorie finden sich in einer bereits 1813 erschienenen Jugendschrift des von H. -L. Schreiber für die Rechtsphilosophie wiederentdeckten Carl Theodor Welcher 5. Der psychologische Ansatz wird aber von Welcher nicht konsequent durchgehalten, da er — im Widerspruch zu seinen individuell-empirischen Voraussetzungen — ständig überindividuelle, materiale Wertgehalte voraussetzt, um dadurch zu einem objektiven, mit dem Sittengesetz verbundenen Rechtsgesetz zu gelangen 6 .
I. Die psychologische Rechtstheorie Ernst Rudolf Bierlings Eine durchgebildete psychologische Rechtstheorie hat erst Ernst Rudolf Bierling entwickelt. Bierlings positivistische Einstellung zeigt sich zunächst darin, daß er alle Lehren ablehnt, die die verpflichtende Kraft des Rechts auf die Hoheit Gottes, auf ein vor dem Recht liegendes ethisches Prinzip, auf ein übergeordnetes Sittengesetz oder auf irgendwelchen sonstigen überpositiven Prinzipien gründen lassen7. Es sei die stillschweigende, aber nie zu übersehende Voraussetzung jeder juristischen Prinzipienlehre in seinem Sinne, „daß nur dem positiven Recht der Titel ,Recht' zukommt .. ." 8 . Daneben wendet er sich aber auch gegen jene positivistischen Auffassungen, die das Recht auf die tatsächliche Machtstellung des Herrschers oder auf einen gemeinsamen Willen zurückführen. Die bloße Macht, der staatliche Zwang genügen nach seiner Auffassung nicht, um die verpflichtende Kraft des Gesetzes zu begründen 9 . Vielmehr ist Recht im juristischen Sinne nach Bierling „im allgemeinen alles, was Menschen, die in irgend welcher Gemeinschaft miteinander leben, als Norm und Regel dieses Zusammenlebens wechselseitig anerkennen" 10 . Und zwar muß das Recht von allen, die zum bestimmten Rechtskreis gehören, anerkannt werden, nicht nur — wie bei den generellen Anerkennungstheorien — von einer Mehrheit. Denn in diesem Falle würde die Gehorsamspflicht irgendeiner Minorität gegenüber der Majorität aus einem reinen Zahlenverhältnis abgeleitet, eine Auffassung, die nach Bierling augenscheinlich unsinnig ist 1 1 . Die verpflichtende Kraft der 5 6
Die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe (Gießen 1813). Dazu Schreiber 85 ff.
Schreiber 90. 7 Bierling, Kritik I 19 ff.; Schreiber 91/92. 8 Prinzipienlehre I 5 Ν 1 a. E. 9 Schreiber 92. Bierling ist überdies ein Vertreter der sogenannten Imperativentheorie, wonach alles Recht aus Imperativen besteht, so daß seine Theorie, wie Eckmann, 21, betont, gleichzeitig als analytische Rechtstheorie angesehen werden kann. 10 Bierling, Prinzipienlehre 119. Zur Abgrenzung des Rechts von Religion, Moral, Sitte und Mode vgl. Prinzipienlehre I 54 ff. 11 Bierling, Kritik I 79.
62
1. Teil, . Kap.: Der
gischositivismus
Rechtsnormen gegenüber einem Individuum erklärt sich also daraus, daß dieses selbst ihnen zugestimmt hat 1 2 . Damit erhebt sich natürlich sofort die Frage, was geschieht, wenn eine Norm auf einen Rechtsbrecher angewendet werden soll. Da die Nichtbefolgung als Symptom mangelnder Anerkennung durch den Rechtsbrecher gedeutet werden muß, würde die Norm ausgerechnet dann ihren Rechtscharakter verlieren, wenn es gilt, sie gegenüber einem widerstrebenden Einzelnen durchzusetzen. Bierling hilft sich hier mit seiner Lehre von der indirekten Anerkennung. Die Anerkennung braucht nämlich nicht immer eine direkte, „d. h. unmittelbar auf jede einzelne Rechtsnorm gerichtete zu sein. Vielmehr ist auch eine bloß indirekte Anerkennung ausreichend, diejenige Anerkennung nämlich, welche nichts anderes ist, als die schlechthin notwendige logische Konsequenz einer anderen, natürlich im letzten Grunde notwendig einer direkten Rechtsnormen-Anerkennung. So erscheinen alle Normen, die sich in verfassungsgemäß zustandegekommenen Gesetzen finden, darum allein schon als indirekt anerkannte Rechtsnormen, sofern und solange eine wahre Rechts-Anerkennung bezüglich der betreffenden Verfassung oder auch nur der auf den Erlaß und die Verbindlichkeit von Gesetzen bezüglichen Bestimmungen besteht" 13 . Daß diese indirekte Rechts-Anerkennung bloß eine eigentümliche Art idealer Anerkennung ist, verkennt Bierling freilich nicht. Wie Larenz zu Recht betont, verläßt Bierling hier den Boden einer rein psychologischen Rechtstheorie 14 . Konsequent psychologisch faßt Bierling dagegen wieder die Begriffe der Rechtspflicht und des Anspruchs. Den Anspruch definiert er als „dasjenige — Imperativisch ausdrückbare — Begehren, dessen Inhalt eine Rechtsnorm ausmacht . . . , die nicht nur von dem oder den Begehren an einen oder mehrere Andere gerichtet, sondern auch gleichzeitig von diesen Anderen als von ihnen zu erfüllende, m. a. W. als ihre Rechtspflicht anerkannt wird" 1 5 . Rechtspflicht und Rechtsanspruch sind somit Korrelate: „wie letzterer der Ausdruck des in bestimmter Beziehung für einen Anderen norm-gebenden Willens, so ist die Rechtspflicht der Ausdruck des entsprechenden, d. h. in derselben bestimmten Beziehung von dem Anderen norm-nehmenden Willens" 16 . Diese Konzeption führt dann allerdings in den Fällen, wo von einer wahren Normenanerkennung nicht die Rede sein kann, zu Schwierigkeiten — so bei Kindern, Geisteskranken und bei juristischen Personen 17 . 12 Es ist hier zu beachten, daß Bierling unter „Rechtspflicht" nicht etwas Normatives, sondern etwas Tatsächliches meint, nämlich den Ausdruck eines „normnehmenden Willens". Vgl. die nachstehenden Ausführungen. 13 Bierling, Prinzipienlehre I 46. 14 Larenz AO. 15 Bierling, Prinzipienlehre I 161. 16 Bierling, Prinzipienlehre I 171.
§ 6 Die Anerkennungstheorien
63
Was das Problem der Gesetzesauslegung betrifft, steht Bierling grundsätzlich auf dem Boden einer subjektiv-historischen Auslegungsmethode. Weil Rechtsgesetze nach seiner Auffassung Ausdruck des Willens des Gesetzgebers sind 1 8 , geht es bei der Auslegung darum, durch Betrachtung der Entstehungsgeschichte des Gesetzes19 den wirklichen (d.h. den realen psychischen) Willen des Gesetzsgebers zu erforschen 20 . Konsequenterweise muß er damit die objektiven Auslegungslehren ablehnen 21 .
IL Rudolf Launs Lehre von der Autonomie des Rechts Elemente einer individuellen Anerkennungstheorie finden sich weiter in Rudolf Launs „Lehren von der Autonomie des Rechts" 22 , die er 1924 in seiner Rektoratsrede niedergelegt hat 2 3 . I n späteren Zusätzen hat er indessen seinen Ansatz in die Nähe der generellen Anerkennungstheorien fortentwickelt 24 , ja schlußendlich verläßt er sogar seinen positivistisch-psychologischen Ausgangspunkt, indem er „die transzendente Geltung einer sittlichen Weltordnung" anzunehmen geneigt ist 2 5 . Grundlegend für Launs Theorie ist seine Unterscheidung von positivem Recht und „autonomem" Recht. Unter dem positiven Recht versteht er ursprünglich das Recht, als dessen Entstehungsquellen anzusehen sind die Gewohnheiten, Gesetze und Staatsverträge sowie „die Befehle eines Machthabers oder Siegers, denen sich die Schwächeren oder Besiegten tatsächlich beugen, ohne daß eine längere Gewohnheit und ohne daß die Einhaltung einer bestimmten Gesetzes- oder Vertragsform vorausgesetzt wird .. ." 2 6 . Diese Vorschriften des positiven Rechts treten uns als heteronome Befehle entgegen 27 . Damit enthalten sie aber nach Laun keine Verpflichtung. Denn für ihn gilt, und darin zeigt sich sein individualistischer Ansatz: „Ein Satz, der mir etwas befiehlt, ist entweder der Ausdruck eines mir fremden Willens, dann kann er mich nicht verpflichten; 17 Vgl. die Einwände zu diesem Punkt von Larenz 41, Schreiber Hauptprobleme 355 ff. 18 Bierling, Prinzipienlehre I V 256. 19 Bierling, Prinzipienlehre I V 275. 20 Bierling, Prinzipienlehre I V 280. 21 Bierling, Prinzipienlehre I V 257 ff. 22 Laun 59. 23 Laun 1 ff. (Abschnitt I). 24 Laun 52 ff. 25 Laun 77. 26 Laun 1. 27 Laun 7.
96 und Kelsen,
64
1. Teil, . Kap.: Der
gischositivismus
oder er verpflichtet mich, dann kann er nicht Ausdruck eines fremden Willens sein 2*" Als Ausdruck eines fremden Willens enthält das positive Recht somit gar kein Sollen 29 , es verpflichtet nicht, es zwingt nur. „Das sogenanntepositive Recht ist schlechthin Gewalt 30". Es wäre daher richtiger, statt von „positivem Recht" von „positiver Gewalt" zu sprechen 31 . Aus der Kausalwelt, und dazu gehört nach Laun ja auch das positive Recht, kann demnach der Inhalt des Sollens nicht gewonnen werden. Die entscheidende Erkenntnisquelle ist vielmehr das Urerlebnis des Sollens in jedem Einzelnen 32 . „Dessen, was wir sollen, des Inhalts unserer Pflicht können wir nur durch unmittelbares eigenes Erleben gewahr werden 33." Dieses Sollenserlebnis ist zwar zunächst etwas rein Subjektives 34 . Es erlangt aber eine relative empirische Objektivität dann, wenn mehrere Menschen darin übereinstimmen. Das wahre, das „autonome" Recht ist nun nach Laun „niemals anders gegeben als in einer Summe individueller subjektiver autonomer Erlebnisse des Sollens, der Pflicht" 3 5 . Dem heteronomen, positiven „GewaltRecht" steht somit das autonome, wirkliche „Gefühlsrecht" gegenüber 36 . Diese beiden Rechte stehen allerdings nicht beziehungslos nebeneinander. Was die Gewalt dekretiert hat und was an sich niemanden verpflichtet, wird im einzelnen Anwendungsfall zum verbindlichen Recht, falls es der Einzelne auf Grund seines Gewissens oder Rechtsgefühls billigt 3 7 . Bedeutsam an dieser Konzeption Launs ist, daß er sich — im Gegensatz zu anderen Varianten der Anerkennungstheorie — nicht mit einer Anerkennung der 28
Laun 6/7. Das positive Recht gehört also ausschließlich der Sphäre der Tatsächlichkeit an. Da Laun als Neukantianer von der Disparität zwischen Sein und Sollen ausgeht, ist es klar, daß aus der Seinstatsache der Gewalt niemals eine Pflicht abgeleitet werden kann, „auch dann nicht, wenn man die Gewalt,Recht 4 nennt." {Laun 9). 30 Laun 8. 31 Laun 9. 32 Daß dieses Erlebnis auch nichts anderes ist als eine psychologische Tatsache, aus der vom neukantianischen Standpunkt aus kein Sollen abgeleitet werden kann, scheint Schreiber, 104, der Grund dafür zu sein, daß Laun schlußendlich induktiv aus dem Sollenserlebnis auf ein akttranszendentes, allgemeingültiges Sollen zu schließen versucht. Vgl. die nachstehenden Ausführungen. 33 Laun 10/11. Vgl. dazu E.-J. Lampe (Hrsg.), Das sog. Rechtsgefühl, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 10 (Opladen 1985). 34 Laun 12. 35 Laun 13, sinngemäß dasselbe 49. 36 Laun 14. 37 Laun 14. Laun versucht hier offensichtlich, aus der Zustimmung des einzelnen (d. h. aus etwas Tatsächlichem) eine „Verbindlichkeit" des Rechts (d. h. etwas Normatives) im vorne § 1 Β I V erwähnten Sinne abzuleiten, worüber sich die Rechtspositivisten sonst nicht äußern. Dieser Schluß wäre nur dann zulässig, wenn Laun eine „hypothetische Grundnorm" voraussetzen würde, die für sein System etwa lauten müßte: „Was der einzelne als gesollt erlebt, ist verbindlich!" 29
§ 6 Die Anerkennungstheorien
65
Rechtsordnung als Ganzem, mit einem Blanko-Akzept begnügt, sondern eine reale Anerkennung jeder einzelnen Norm verlangt: „Der einzelne steht demnach dem sog. positiven Recht, den Gesetzen, Staatsverträgen usw. in jedem einzelnen Anwendungsfall in doppelter Weise gegenüber: Entweder er billigt sie, er erlebt sie im einzelnen Fall ihrer Anwendung als Sollen, als innere Nötigung seines Gewissens oder Rechtsgefühls, dann sind sie für ihn Recht, auch wenn er sie nicht befolgt; oder es fehlt diese Billigung, dann sind sie für ihn nur Gewalt, auch wenn er sich ihnen beugt 38 ." Von daher gelangt Laun zu einer veränderten Auffassung von „Positivität": Die „Positivität" des Rechts besteht in zwei tatsächlichen Gegebenheiten: daß nämlich die Massen effektiv gehorchen und zum großen Teil ihren Gehorsam nicht bloß als Müssen, sondern als Sollen erleben 39 . Damit man noch von einem positiven Recht in diesem Sinne sprechen kann, müssen der tatsächliche Gehorsam und die Billigung aus autonomem Pflichtgefühl bei einer tragfähigen Mehrheit vorhanden sein 40 . Hier, beim Problem der Rechtsgeltung (im faktischen Sinne), geht Launs Lehre — worauf Schreiber hinweist — in eine der generellen Anerkennungstheorien über 4 1 . Es bleibt die Frage, ob trotz der partiellen Verschiedenheit der subjektiven Sollenserlebnisse nicht etwas absolut Gültiges über den Inhalt des Sollens behauptet werden kann. Denn eine Verpflichtung für die das Recht mißbilligende Minderheit läßt sich auch nicht auf Grund eines von den billigenden Gefühlen der Mehrheit getragenen Rechts ableiten, wenn man nicht den Autonomiegedanken aufgeben will. Die Quintessenz von Launs Ausführungen zu diesem Punkt läßt sich knapp wie folgt zusammenfassen 42: Wir müssen, so meint er, aus dem Faktum der Sollenserlebnisse durch Induktion — zwar nur hypothetisch, aber mit großer Wahrscheinlichkeit — auf die Existenz einer allgemeinen realen transzendenten Weltordnung, auf ein allgemeines Sollen schließen. Anderenfalls bleiben absolute Skepsis und Anarchie unabwendbar. Damit verläßt Laun den Boden einer empirischpsychologischen Rechtstheorie. I n bezug auf den Inhalt des absoluten Sollens geht er nicht über einige Andeutungen hinaus 43 .
38
Laun 15. Laun 52. 40 Laun 52/54. Es gibt daher nach Laun verschiedene „Grade der Positivität" (53), je nachdem, wieviele den Gehorsam tatsächlich und autonom leisten. 41 Schreiber 103. 42 Laun 60 ff. 43 Laun 80/81. 39
5 Ott, 2. Aufl.
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gischositivismus
B. Die generellen Anerkennungstheorien 44 /. Adolf Merkel Eine generelle Anerkennungstheorie hat in neuerer Zeit offenbar als erster Adolf Merkel entwickelt 45 . Merkel betont folgende Doppelnatur des Rechtes 46 : Die vom Recht ausgehende Nötigung ist im allgemeinen einerseits ein Müssen, d. h. „eine sinnliche Notwendigkeit zu einem entsprechenden Verhalten" 4 7 . Das Recht ist also auf der einen Seite materielle Macht 4*. Diese äußert sich darin, daß das Recht physische Machtmittel bereithält, durch welche die Erfüllung der Gebote, soweit dies möglich ist, erzwungen werden soll 4 9 . A u f der anderen Seite wäre es nun aber verfehlt, wenn man das Recht als das Ganze der sozialen Zwangsnormen charakterisieren würde 5 0 . Denn nicht jeder Rechtssatz hat eine Sanktion; auch würde das Recht eines Volkes nicht aufhören, Recht zu sein, wenn die Anwendung mechanischer Machtmittel allgemein überflüssig würde 5 1 . Dem Recht ist vielmehr und vor allem eine moralische Dimension eigen, indem diejenigen, an welche die Gebote sich richten, sich moralisch genötigt sehen, ihnen zu gehorchen 52 . Daraus erklärt sich, warum das Recht in der Mehrzahl der Fälle auf freiwillige Befolgung rechnen kann 5 3 . Worin liegt nun aber die verpflichtende Kraft der Rechtsvorschriften? Sie liegt nach Merkel darin, daß das Recht der Unterstützung seitens des 44
Vgl. die bei Welzel 12/13 Ν 28 zit. Lit. Die Theorie des Rechtssystems von N. Luhmann läßt sich keiner der bisher bekannten Spielarten eines juristischen bzw. soziologischen Positivismus zurechnen (Krawietz, Rechtstheorie 18 [1987] 244). Luhmann definiert das Recht durch seine Funktion, nämlich „kongruente Generalisierung normativer Verhaltenserwartungen" (Rechtssoziologie [2. A. Opladen 1983] 105/107), nicht durch seine Positivität (vgl. hinten § 15 B). Luhmann hat sowohl der Zwangstheorie des Rechts eine Absage erteilt (a.a.O. 99 f., 107) wie auch der Anerkennungs- oder Konsenstheorie (a.a.O. 67 f. und Legitimation durch Verfahren [2. A. Darmstadt und Neuwied 1975] 2); vgl. dazu Krawietz, Rechtstheorie 18 (1987) 244 f.). 45
So Schreiber 105. Als Vorläufer erwähnt Welzel 10/11J. Brehmer und O. Bülow. Vgl. zu Merkel auch G. Dornseifer, Rechtstheorie und Strafrechtsdogmatik Adolf Merkels. Schriften zur Rechtstheorie Nr. 80 (Berlin 1979). 46 Merkel, Enzyklopädie § 46 S. 39. 47 Merkel, Enzyklopädie § 46 S. 39. 48 Merkel, Elemente 588. 49 Merkel, Enzyklopädie § 50 S. 42. 50 Merkel, Elemente 588. 51 Merkel, Elemente 588. 52 Merkel, Enzyklopädie §46 S. 39. 53 Merkel, Enzyklopädie §47 S. 39; Elemente 589.
§ 6 Die Anerkennungstheorien
67
Pflichtgefühls der Normadressaten teilhaftig wird; sie ist nichts anderes als „das Bündnis mit den im Volke lebenden moralischen Kräften, kraft dessen von den Letzteren eine Nötigung zur Erfüllung der Rechtsgebote ausgeht" 54 . Daraus erhellt, daß aus Unrecht und Gewalt Recht hervorgehen kann, wenn nämlich unter dem Einflüsse der Gewohnheit und anderer vermittelnder Faktoren die „Kräfte des Volksgewissens" in ein „begünstigendes Verhältnis" zu den (durch Unrecht und Gewalt) geschaffenen Tatsachen treten (ζ. B. bei Revolution und Staatsstreich). Umgekehrt kann aus Recht Unrecht werden, wenn „das Recht in seiner Entwicklung den ethischen Anschauungen bei einem Volke nicht f o l g t . . ." 5 5 . Merkel wendet sich ausdrücklich gegen die Theorien, die die verpflichtende Kraft des Rechts auf einen A k t der Anerkennung durch einen Einzelnen zurückführen 56 . Das Recht ist vielmehr von den „ethischen Werturteilen abhängig, welche sich bei einem gegebenen Volk zu einer gegebenen Zeit als die herrschenden erweisen" 57 . Wesentlich ist dem Recht, daß es im Einklang mit den „herrschenden Überzeugungen" steht. Dabei ist die Billigung durch die Rechtsunterworfenen nicht in bezug auf jede einzelne Norm, sondern nur in bezug auf den obersten Imperativ („gehorche meinen Vorschriften") — mithin in bezug auf die Rechtsordnung als Ganzes — erforderlich 58 . Die (aus der Übereinstimmung mit den herrschenden Wertvorstellungen hervorgehende) verpflichtende Kraft der Rechtsordnung enthält bereits das Moment der Anerkennung 59 . Einen selbständigen A k t der Anerkennung hält daher Merkel offenbar nicht für erforderlich.
IL
Georg Jellinek
Einen methodisch klaren psychologischen Positivismus vertritt Georg Jellinek. U m vom „schwer zu erfassenden Wesen des Rechtes" eine Vorstellung zu gewinnen, könne man einen doppelten Weg einschlagen: Entweder suche man die Natur des Rechts „als einer vom Menschen unabhängigen, in dem objektiven Wesen des Seienden gegründeten Macht" zu erforschen 60 . Dies sei der Weg der metaphysischen Spekulation. Jellinek 54 Merkel, Lampe. 55 Merkel, 56 Merkel, 57 Merkel, 58 Merkel, 59 Merkel, 60 Jellinek
5*
Elemente 590. Vgl. dazu auch den vorne §6 Ν 33 zit. Sammelband von Elemente 590. Elemente 607; Enzyklopädie §49 S.42. Enzyklopädie § 32 S. 29. Enzyklopädie § 80 S. 55; § 48 S. 39/40. Enzyklopädie §49 S.42. 332.
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betrachtet es nicht als seine Aufgabe, den „transzendenten Wert menschlicher Institutionen" zu erkennen 61 . Oder man fasse das Recht als „subjektive, d. h. innermenschliche Erscheinung" auf. Nach dieser, von ihm bevorzugten, psychologischen Methode ist das Recht demnach „ein Teil der menschlichen Vorstellungen, es existiert in unseren Köpfen, und die nähere Bestimmung des Rechtes hat dahin zu gehen, welcher Teil unseres Bewußtseinsinhaltes als Recht zu bezeichnen ist" 6 2 . I n Anwendung dieser Methode charakterisiert Jellinek die Rechtsnormen (im Unterschied zu den Normen der Religion, der Sittlichkeit und der Sitte) wie folgt: Es sind Normen, die das äußere Verhalten der Menschein zueinander regeln, die von einer anerkannten äußeren Autorität ausgehen und deren Verbindlichkeit durch äußere Mächte garantiert ist 6 3 . Die Positivität des Rechts beruht daher in letzter Linie auf einem rein subjektiven Element, auf einer psychologischen Tatsache, nämlich auf der Überzeugung von seiner Gültigkeit 64. Diese Überzeugung ist nicht weiter ableitbar, sie ist einfach empirisch gegeben. Die Umwandlung der zunächst nur faktischen Macht des Staates in rechtliche erfolgt also durch einen rein innerlichen, in den Köpfen der Menschen sich vollziehenden Prozeß, durch eben die Vorstellung, „daß dieses Faktische normativer A r t sei, daß es so sein solle, wie es ist" 6 5 . Dabei ist die maßgebende Überzeugung diejenige des „Durchschnitts eines Volkes" 6 6 . Bei allen massenpsychologischen Feststellungen würden notwendig die entgegenwirkenden Akte einer Minderheit vernachlässigt 67 . Die Opfer der spanischen Inquisition hätten die Normen, auf Grund deren sie verurteilt wurden, schwerlich als Recht empfunden. Für eine soziale Betrachtung von Staat und Recht ergebe sich daraus die höchst bedeutsame Möglichkeit eines Widerstreites in den Anschauungen über die Rechtsqualität bestimmter Teile der staatlichen Ordnung, der auf den Lebensprozeß der Rechtsordnung tiefen Einfluß zu üben vermöge. Der Jurist allerdings könne mit diesem Widerstreit nicht rechnen, solange er sich auf einen geringen Kreis von Personen und vereinzelte Fälle beschränke 68 .
61
Jellinek 332. Jellinek 332. 63 Jellinek 333. 64 Jellinek 333/334. 65 Jellinek 342. 66 Jellinek 334 Ν 1. 67 Jellinek 334 Ν 1. 68 Jellinek 334 Ν 1. Eine juristische Relevanz erhält der Widerstand erst, wenn er einen solchen Grad erreicht, daß sich die Frage einer Beseitigung der bekämpften Norm durch derogatorisches Gewohnheitsrecht stellt. 62
§ 6 Die Anerkennungstheorien
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Jellinek verwirft also die individuellen Anerkennungstheorien. Die Gültigkeit eines Rechtssatzes ist nach ihm keineswegs „subjektiver Willkür" anheimgegeben 69 .
C. Die Theorien von der Anerkennung durch die führende tonangebende Schicht (Ernst Beling, Hans Nawiasky) Eine Mittelstellung zwischen den generellen und den individuellen Anerkennungstheorien nehmen die Lehren Belings und Nawiaskys ein, welche nicht auf die Anerkennung durch den Einzelnen oder durch die Mehrheit der Rechtsgenossen abstellen wollen, sondern auf die Vorstellungen der führenden, tonangebenden Schicht innerhalb eines Verbandes 70 . Innerhalb der räumlich abgegrenzten Gemeinschaft, die wir Staat nennen, sei immer nur eine kleine Zahl von Menschen wirklich maßgebend 71 ; nur in den Wertungen dieser Schicht wurzele das Recht 72 ; sie bildeten den „realen Urgrund alles Rechts" 73 . Die Positivität des Rechts beruht demnach auf dem Willen oder der Anerkennung durch diese maßgebende Gruppe 7 4 . Für die positive Geltung des Rechts ist aber nicht erforderlich, daß jeder einzelne Satz von der tonangebenden Gruppe bejaht wird. Es genügt vielmehr die Anerkennung des Systems als Ganzes: „Anerkennt man das System, so anerkennt man damit auch die zugehörigen einzelnen Normen, es sei denn, daß für bestimmte Sätze das ausdrückliche Gegenteil nachgewiesen wird 7 5 ." Ja, nach Beling brauchen die Angehörigen der maßgebenden Schicht nicht einmal Normierungsinhalte zu kennen; es genügt, „daß sie bestimmte Personen als Repräsentanten walten lassen und das von diesen Verordnete blankettartig als im Namen des Verbandes gesetzt,anerkennen'" 76 .
69
Jellinek 333 Ν 1. Nawiasky 18; Beling, Festgabe für Heck, Rümelin und Schmidt 10 ff. Eine ähnliche Lehre vertritt auch E. Riezler, Der totgesagte Positivismus, in: W. Maihofer (Hrsg.): Naturrecht oder Rechtspositivismus? (Bad Homburg v. d. H. 1962, Neudruck 1966) 242; nach diesem Autor ist maßgebend die Anerkennung durch „die zu nicht ganz ephemerer tatsächlicher Herrschaft gelangte Macht, der die Allgemeinheit... unterworfen ist". 70
71 72 73 74 75 76
Nawiasky 18. Beling, Festgabe für Heck, Rümelin und Schmidt 11. Beling, Festgabe für Heck, Rümelin und Schmidt 15. Nawiasky 19; Beling, Festgabe für Heck, Rümelin und Schmidt 10. Nawiasky 21. Beling, Festgabe für Heck, Rümelin und Schmidt 11.
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§ 7 Der skandinavische Rechtsrealismus1 A. Allgemeine Charakterisierung Der skandinavische Rechtsrealismus ist jene Richtung der Rechtstheorie, die, mit dem Schwerpunkt in Schweden, die rechtswissenschaftliche Grundlagenforschung in den letzten fünfzig Jahren in Skandinavien weitgehend geprägt hat 2 . Ihre allgemein-philosophische Fundierung liegt in der von Axel Hägerström begründeten Uppsala-Schule. Diese zeichnet sich durch eine ausgeprägte Metaphysikfeindschaft aus, wie sie im Wahlspruch Hägerströms, den dieser 1929 seiner Selbstdarstellung vorausschickte, programmatisch zum Ausdruck kommt: Praeterea censo metaphysicam esse delendam 3. Der skandinavische Rechtsrealismus ist eine psychologisch-soziologische Rechtstheorie mit dem Schwergewicht auf dem psychologischen Moment, was seine Einordnung an dieser Stelle rechtfertigt 4 . Die Uppsala-Schule lehrt 5 , daß in Wertsätzen keine Aussagen über Wirkliches gemacht werden. Ein Wert wird bestimmt durch das ihm zugehörige GefìihP. Er verliert alle Bedeutung, wenn er nicht getragen wird von einem Gefühl von Lust oder Unlust beim Wertenden 7 . I m Gefühl wird nun keine Eigenschaft des betrachteten Objektes festgestellt. Infolgedessen können Wertsätze kein Wissen bzw. wissenschaftliche Erkenntnis ausdrücken; sie können nicht wahr oder falsch sein und enthalten keine wissenschaftlich sinnvollen Aussagen 8. Wie durch die Wertsätze wird nun aber auch durch die Rechtsregeln keine Erkenntnis vermittelt. Rechtsregeln sind nicht deskriptiv, sie enthalten Imperativische Elemente. Ihre Funktion ist nicht eine theoretische in dem 1 Literatur: Ross, On Law and Justice; derselbe, Realistic Jurisprudence; derselbe, Kritik der sogenannten praktischen Erkenntnis, zugleich Prolegomena zu einer Kritik der Rechtswissenschaft (Kopenhagen / Leipzig 1933); Bulygin, ARSP Beiheft 41 (1965) 39 ff.; Kelsen, ÖZöR N F 10 (1959/60) 1 ff.; Vogel; Hart, Scandinavian Realism, Cambr. L. J. 1959 233 ff.; weitere Literaturangaben bei Coing 63 Ν 9. Bjarup; E. Kamenka/R. S. Summers / W. L. Twining , Soziologische Jurisprudenz und realistische Theorien des Rechts, Rechtstheorie Beiheft 9 (Berlin / München 1986) Teil III.; W. Mincke, Die finnische Rechtstheorie unter dem Einfluß der Analytischen Philosophie, Schriften zur Rechtstheorie Nr. 82 (Berlin 1979). 2 Vogel 9. 3 R. Schmidt (Hrsg.), Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen V I I (Leipzig 1929) 111. 4 Vgl. Kramer, Festschrift Merkl 198 Ν 37; Eckmann 19/20. 5 Zur werttheoretischen Position der Uppsala-Schule Vogel 26 ff. 6 Vogel 27. 7 Vogel 28. 8 Vogel 30.
§ 7 Der skandinavische Rechtsrealismus
71
Sinne, daß sie eine Wirklichkeit beschreiben, sondern eine praktische: Unter Ausnützung psychischer Mechanismen soll das Verhalten von Menschen gesteuert werden 9 . Olivecrona formuliert die Kritik der realistischen Rechtstheorie am Begriff des „geltenden Rechts" der traditionellen Rechtslehre wie folgt (nach der Übersetzung von Vogel): „Jeder Versuch, mit wissenschaftlicher Grundlage zu behaupten, daß die Rechtsordnung bindende Kraft auf andere Weise habe, als daß sie faktisch einen Druck auf die Menschen ausübe, ist zum Mißerfolg verurteilt. Ein solcher Versuch kann nur zu Widersprüchen und anderen Fehlern führen. Hier verläuft deshalb die Grenzlinie zwischen Realismus und Metaphysik, zwischen wissenschaftlicher Methode und Mystizismus bei der Erklärung der Rechtsordnung. Halten wir uns an die Tatsachen, haben wir lediglich mit der Idee einer bindenden Kraft zu tun. Sie ist eine psychologische Realität, die bedeutungsvoll genug ist. Das ist aber auch alles 10 ." Worin liegt nun i. S. der skandinavischen Realisten die Aufgabe der Rechtswissenschaft? Wissenschaftlich ist nach den Grundsätzen der Uppsala-Philosophie eine Tätigkeit nur dann, wenn sie sich mit in Raum und Zeit Feststellbarem befaßt 11 . Da das Recht nach Auffassung der Rechtsrealisten nur in Imperativisch wirkenden, wirklichen Vorstellungen — vorab im Gesetzgebungs- und Rechtsprechungsmaterial — festgestellt werden kann, ist eine Tätigkeit dann rechts wissenschaftlich, wenn sie diesen Verhaltensvorstellungen, die im Gesetzgebungs- und Rechtsprechungsmaterial zum Ausdruck kommen, gewidmet ist 1 2 . Das methodische Mittel dazu ist die Begriff.sanalyse u. Die juristischen Begriffe wie z.B. „Eigentum", „Forderung", „Geltung" stehen für menschliche Vorstellungen. Da die letzteren jedoch nicht unmittelbar zugänglich sind, muß die Analyse an deren geäußerten Formen anknüpfen. „Ergebnis der sprachlichen Analyse ist die Fixierung auf einen bestimmten Bewußtseinsinhalt 14 ." Das Wort „Pflicht" beispielsweise hat keinen objektiven Inhalt. „Es ist lediglich der rationalisierte Ausdruck eines irrationalen Erlebnisses, eines Pflichtgefühls auf mystischer oder metaphysischer Basis, dem erst die Sprache den Anschein von Objektivität gibt 1 5 ."
9
Vogel 49. K. Olivecrona, Omlagenockstaten(K/óbenhavn/Lund 1940) 19f., zit. nach Vogel43 und 43 Ν 162. 11 Vogel 61. 12 Vogel 61. Selbständige Wertungsüberlegungen eines Richters bei der Urteilsfindung wären demzufolge keine wissenschaftliche Tätigkeit i. S. der Uppsala-Schule. 13 Dazu Vogel 60/66 ff. 14 Vogel 68. 15 Eckmann 20. 10
72
1. Teil, . Kap.: Der
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B. Die realistische Rechtslehre von Alf Ross im besonderen Zur Verdeutlichung des Anliegens der skandinavischen Rechtsrealisten betrachten wir etwas näher die Lehre von Alf Ross, dem international bekanntesten Vertreter dieser Schule. Ross9 Theorie des positiven Rechts will eine „realistische", d.h. eine empirische Theorie sein 16 . Nach dem Ansatz von Ross ist die Rechtswissenschaft als ein Teil der Wissenschaft vom menschlichen Verhalten zu begreifen; deshalb muß ihr Gegenstand im Bereich der psychophysischen Erscheinungen liegen 17 . Die Rechtswissenschaft ist also ein Zweig der Psychologie und Soziologie 18 . Die Sätze der Rechtsdogmatik über Rechtsnormen müssen daher Seinsurteile sein, die dem Verifikationskriterium unterstehen 19 , nicht aber Sollenssätze, die weder wahr noch falsch sein können. Und dies, obwohl sie grammatikalisch oft in der Form von Sollenssätzen aufzutreten pflegen. Wenn ζ. B. ein Rechtswissenschaftler sagt: „Nach der Norm sollen die Rechtsfolgen y eintreten", dann ist das ungeachtet der grammatikalischen Form kein Sollenssatz, sondern eine Behauptung, die wahr oder falsch sein kann 2 0 . Der Satz schreibt nichts vor, sondern er beschreibt etwas. Er steht grammatikalisch gesehen im Imperativ, semantisch dagegen im Indikativ 21. Wie solche Sätze nach Ross' Meinung verifiziert werden können, werden wir nach der Behandlung seines Geltungsbegriffs und seines Begriffs des Rechts weiterverfolgen. Von seinem Standpunkt einer auf die soziale Wirklichkeit des menschlichen Verhaltens gerichteten Betrachtungsweise aus verwirft Ross vehement die Bestimmung des Geltungsbegriffes i. S. einer objektiven Soll-Geltung. Eine so verstandene Geltung ist für Ross nichts objektiv Faßbares, sondern nur ein sinnloses Wort: „ . . . validity in the sense of a category or sphere of existence co-ordinated with reality is nonsense in the literal meaning of the w o r d " 2 2 ! Sein Bestreben geht dahin, den Begriff der Geltung mit Ausdrücken über empirisch nachweisbare Fakten umzudeuten 23 . Ein rein behaviouristi16
Ross, On Law and Justice, Vorwort S. I X , X. Ross, Towards a Realistic Jurisprudence 78. 18 So die zutreffende Charakterisierung durch Kelsen, ÖzÖR NF 10 (1959/60) 14. 19 Ross, On Law and Justice 6 ff. 20 Auch Kelsen, Reine Rechtslehre 73 ff., unterscheidet scharf zwischen den Sätzen der Rechtswissenschaft und den Rechtsnormen. Im Gegensatz zu Ross bezeichnet er die Sätze der Rechtswissenschaft als Sollens-Sätze, betont aber gleichzeitig, daß diese eine beschreibende, nicht eine vorschreibende Funktion haben. Sachlich liegt also insofern kein Unterschied zu Ross vor, doch ist die Terminologie eines „deskriptiven Sollens" äußerst mißverständlich. Vgl. Reine Rechtslehre 83. 21 Vgl. dazu J.-M. Priester, Rechtstheorie als analytische Wissenschaftstheorie, in: G. Jahr/ W. Maihofer (Hrsg.), Rechtstheorie, Beiträge zur Grundlagendiskussion (Frankfurt a.M. 1971) 34 ff. 22 Ross, Towards a Realistic Jurisprudence 77. 23 Ross, On Law and Justice, Vorwort IX. 17
§ 7 Der skandinarvische Rechtsrealismus
73
sches Vorgehen würde aber nach Ross nicht zum Ziele führen, was er am Modell des Schachspiels zu veranschaulichen sucht. Denn ein Zuschauer einer Partie, der des Schachspiels nicht kundig ist, könnte nur eine sinnlose Abfolge von Zügen und im günstigsten Falle gewisse Regelmäßigkeiten des Ablaufs beobachten. Sinnvoll werden die verschiedenen Züge erst, wenn der Beobachter die Schachregeln kennt, die ihm als Deutungsschema der verschiedenen Bewegungen dienen, welche die Spieler ausführen. Durch bloße Beobachtung des äußeren Verhaltens der Spieler könnte man niemals die Schachregeln erschließen. Denn man könnte nicht unterscheiden zwischen einem regelbestimmten Verhalten und einem bloß gewohnheitsmäßigen Verhalten (etwa auf Grund der Schachtheorie). Aus diesem Grunde muß zur behaviouristischen Methode eine Methode hinzutreten, die Ross nicht sehr glücklich als eine „introspektive" bezeichnet 24 . Es gilt herauszufinden (etwa durch eine Befragung der Spieler), welche Regeln als bindend empfunden werden. Nur jene Regeln, die von den Spielern tatsächlich befolgt (äußerer Aspekt) und von ihnen als bindend empfunden werden (innerer Aspekt), sind die gültigen Schachregeln 25 . Diese beiden Aspekte hält Ross analog auch beim Begriff der Geltung von Rechtsnormen auseinander 26 : Daß eine Rechtsnorm „gilt", bedeutet nichts anderes, als daß sie von den Richtern als bindend empfunden und daher angewendet wird 27. Der Begriff der Geltung enthält also bei Ross zwei Momente, ein äußeres, physisches und ein inneres, psychisches28: jenes besteht in einem äußeren Verhalten, nämlich in der tatsächlichen Anwendung der Norm, dieses in einem bestimmten inneren Zustand des Richters, nämlich im Gefühl, durch die Norm gebunden zu sein. Die „Geltung" ist also bei Ross nichts Normatives, sondern etwas Tatsächliches, nämlich eine psycho-physische Wirklichkeit 2 9 . 24 Die Bezeichnung scheint mir darum nicht sehr glücklich zu sein, weil man mit „Introspektion" üblicherweise nicht die Beobachtung von Fremdseelischem, sondern die Beobachtung des eigenen Seelenlebens bezeichnet. 25 Ross, On Law and Justice 16. 26 Ross, On Law and Justice 34 ff. 27 Die Ausdrücke „Richter" und „Gericht" werden bei Ross im weiten, alle an der Rechtsprechung und Urteilsvollziehung beteiligten Organe umfassenden Sinne gebraucht. Vgl. Ross, On Law and Justice 18 Ν 2, und Bulygin, ARSP Beiheft 41 (1965) 42 Ν 12. 28 Ross, On Law and Justice 37: „In the concept of validity two points are involved: partially the outward, observable and regular compliance with a pattern of action, and partly the experience of this pattern of action as being a socially binding norm." In seinem Buch „Towards a Realistic Jurisprudence", 78 ff., hatte Ross den Geltungsbegriff noch rein psychologisch gefaßt. 29 Da „validity" im englischen Sprachgebrauch ausschließlich die normative Geltung zu bedeuten scheint (so Eckmann 126), ist die Verwendung dieses Ausdrucks in der englischen Ausgabe von „On Law and Justice" mißverständlich. Bulygin, ARSP Beiheft 41 (1965) 43 Ν 15, übersetzt daher „validity" mit „Wirksamkeit".
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1. Teil, . Kap.: Der
gischositivismus
Entsprechend realistisch faßt nun Ross auch den Begriff des Rechts: Unter geltendem Recht versteht Ross eine normative Ideologie 30 , die als Deutungsschema für die rechtlichen Erscheinungen dient und die vom Richter tatsächlich angewendet wird, weil er sie als bindend empfindet 31 . Nach dieser Begriffsbestimmung müßte man annehmen, daß nicht alle Normen, die tatsächlich angewendet werden, gültige Rechtsnormen sind. Eine Rechtsnorm ist erst dann gültig, wenn sie sich auf gewisse psychologische Erlebnisse des Richters (nämlich das Gefühl der Verbindlichkeit der Norm) gründet. Damit erhebt sich jedoch die Frage, wie es sich verhält, wenn ζ. B. die Richter eines besetzten Landes die Gesetze der Besatzungsmacht als willkürliche und „rechtswidrige" Befehle betrachten und sie trotzdem — etwa aus Angst und Eigennutz — anwenden 32 . A u f Grund des von Ross angegebenen Kriteriums würden solche Normen keine gültigen Rechtsnormen sein, weil das ideologische Moment des Verbindlichkeitsgefühls fehlt 3 3 . Diese Konsequenz lehnt Ross jedoch ausdrücklich ab, indem er ausführt, von einem rein kognitivdeskriptiven Standpunkt aus könne man nicht unterscheiden zwischen einem Rechtssystem und einer Gewaltherrschaft. Er räumt zwar ein, daß es an sich möglich wäre, den Begriff des Rechts dergestalt zu begrenzen, daß man nur eine solche Ordnung „Rechtsordnung" nennt, die der Zustimmung durch die Mehrheit teilhaftig wird. Allein, in einer solchen Fassung des Begriffs würde Ross keinen Vorteil sehen, sondern nur den Nachteil, den Begriff mit einem Kriterium zu verbinden, das unpraktikabel sei. Zudem könne sich keine Gewaltherrschaft auf die Dauer halten, ohne zumindest innerhalb der Gruppe, die den Sanktionsapparat handhabt, auf ein gewisses Entgegenkommen zu stoßen. Ross verwirft ausdrücklich die Meinung, Hitlers Gewaltherrschaft sei keine Rechtsordnung gewesen34. — Diese Spannung im Geltungsbegriffvon Ross, auf die insbesondere^. Schreiber 35 undis. Bulygin 36 hingewiesen haben, erklärt sich daraus, daß er eine Synthese zwischen einer psychologischen und einer soziologischen Rechtstheorie versucht 37 . 30 Der Ausdruck „normative Ideologie" darf nicht mißverstanden werden: Die Ideologie als solche ist bei Ross etwas Faktisches, nämlich ein psychischer Faktor, der den Richter motiviert (Ross, On Law and Justice 37). Der Inhalt der Ideologie ist jedoch in dem Sinne normativ, als er aus Direktiven, nämlich den Rechtsnormen, besteht. 31 Ross, On Law and Justice 18: „ . . . , v a l i d law 4 means the abstract set of normative ideas which serve as a scheme of interpretation for the phenomena of law in action, which again means, that these norms are effectively followed, and followed because they are experienced and felt to be socially binding." 32 Bulygin, ARSP Beiheft 41 (1965) 44. 33 Bulygin, ARSP Beiheft 41 (1965) 44. 34 Ross, On Law and Justice 31/32. 35 Die Geltung von Rechtsnormen (Berlin / Heidelberg / New York 1966) 99 ff. 36 Bulygin, ARSP Beiheft 41 (1965) 43 ff. 37 Ross, On Law and Justice 73.
§ 7 Der skandinavische Rechtsrealismus
75
Wir kehren nun zum Problem zurück, wie die Sätze der Rechtsdogmatik über geltendes Recht verifiziert werden können 3 7 a . Wie wir gesehen haben, ist für Ross die Rechtsdogmatik eine empirische Wissenschaft 38 : folglich müssen sich die von ihr formulierten Behauptungen letztlich durch die Erfahrung bestätigen oder widerlegen lassen. Als Verifikationskriterium wählt Ross die Beobachtung des Verhaltens der Gerichte. Aus der Beobachtung des Verhaltens der Gerichte soll erschlossen werden können, ob eine bestimmte Norm eine gültige Rechtsnorm ist oder nicht. Weiter ist nach Ross das Folgende zu beachten: Wenn jemand die Behauptung aufstellt: „Dies ist eine gültige Rechtsnorm", dann will er zweifellos etwas darüber aussagen, wie die zukünftigen einschlägigen Rechtsstreitigkeiten entschieden werden. Die Behauptung bezieht sich also auf das zukünftige Verhalten der Gerichte, nicht aber darauf, wie die Gerichte bis zur Gegenwart entschieden haben (obwohl eine konstante Praxis in der Vergangenheit natürlich eine gute Basis für eine Prognose der zukünftigen Entscheidungen abgeben wird). Ross schließt dies auch daraus, daß man eine vom Gesetzgeber eben erlassene Rechtsnorm als gültig betrachtet, schon bevor sie von einem Gericht angewendet worden ist. Damit kommt Ross zum Ergebnis: Die Behauptungen der Dogmatik sind Voraussagen eines zukünftigen richterlichen Verhaltens; oder genauer ausgedrückt: Wenn jemand behauptet: „Dies ist eine gültige Rechtsnorm", liegt darin die Prognose, daß, wenn eine Klage vor ein Gericht gebracht wird, in welcher die Tatsachen, die nach der Norm bestimmte Rechtsfolgen bedingen, als gegeben behauptet werden, dann die fragliche Norm einer der Motivationsfaktoren sein wird, die den Richter zu seiner Entscheidung bestimmen 3 9 . Ob eine rechtsdogmatische Behauptung tatsächlich zutrifft, läßt sich somit in der Gegenwart nur mit größerer oder kleinerer Wahrscheinlichkeit vermuten 40 . Erst wenn die Gerichte tatsächlich so entscheiden, wie es die 37a Einen anderen Ansatz verfolgt Adomeit 116 ff. mit der sog. Zertitätstheorie. Die Zertität einer rechtsdogmatischen Aussage wird ermittelt durch eine Abstimmung unter 100 zufällig ausgewählten Juristen. Diese wird eine Zahl von Ja-Stimmen (a) und NeinStimmen (b) ergeben. Der Zertitätwert folgt aus dem Verhältnis von deren Differenz und deren Summe:
ζ = - — - , so daß 80 : 20 als Abstimmungsergebnis a+ b ζ = — — — = 0,6 ergeben würde.
80 + 20
Eine dogmatische Behauptung kann also nicht wahr oder falsch sein, sondern nur mehr oder weniger sicher. 38 Ross, On Law and Justice 40. 39 Ross, On Law and Justice 42. 40 Ross, On Law and Justice 44/45.
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1. Teil, . Kap.: Der
ischositivismus
Prognose behauptet, weiß man, daß sie richtig war; und erst wenn das richterliche Verhalten der Behauptung nicht entspricht, weiß man, daß sie falsch war. Ross' realistische Konzeption führt ihn ferner zu radikaler Ablehnung der Wissenschaftlichkeit werttheoretischer und naturrechtlicher Gedankengänge; damit hält er auch eine rationale Rechtspolitik für unmöglich. Konsequenterweise betont er den schöpferischen Charakter der Auslegung 4 1 . Die verschiedenen Auslegungsargumente sind nach seiner Meinung so unbestimmt gehalten, daß der Richter — in gewissen Grenzen — jedes erwünschte Ergebnis erreichen kann. So kann der Richter etwa eine restriktive Auslegung begründen unter Berufung auf den wahrscheinlichen Willen des Gesetzes. Wünscht er dagegen eine extensive Auslegung, behauptet er einfach, daß die Voraussetzungen einer Analogie vorlägen. Falls der Richter gar keine andere Möglichkeit sieht, kann er immer noch zu bloßen Postulaten Zuflucht nehmen, indem er etwa unterstellt, der Gesetzgeber würde dasselbe gewollt haben, was ihm — dem Richter — als wünschenswert erscheint 42 .
Drittes Kapitel
Der soziologische Positivismus Der soziologische Positivismus erblickt die Positivität des Rechts in einer gesellschaftlichen Realität, nämlich in bestimmten beobachtbaren menschlichen Verhaltensweisen (der Gruppengenossen und des sog. „Rechtsstabes"). Diese Beschränkung des Blickfeldes auf Vorgänge der sinnlich wahrnehmbaren Wirklichkeit erklärt sich aus dem Bestreben, dadurch zu intersubjektiv nachprüfbaren Behauptungen über das Recht zu gelangen. Die Sätze der Rechtswissenschaft i. S. der Rechtssoziologie sollen von der Erfahrung her verifiziert bzw. falsifiziert werden können. Die soziologische Betrachtungsweise führt damit notwendigerweise zu einer Eliminierung der ideellen und metaphysischen Dimensionen des Rechts, insoweit diese nicht gesellschaftlich wirksam geworden sind 1 . Auch der soziologische Positivist versteht unter Geltung des Rechts die faktische Geltung des Rechts i. S. seiner 41
Ross, On Law and Justice 152. Ross, On Law and Justice 152/153. 1 Natürlich kann sich auch der Soziologe ζ. B. mit den in der Gesellschaft wirksamen Glaubensüberzeugungen befassen, aber nicht, indem er — wie der Theologe — nach ihrem transzendenten Wahrheitsgehalt fragt, sondern, indem er sie als Faktoren begreift, die das soziale Geschehen steuern. 42
§ 8 Eugen Ehrlich
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tatsächlichen Existenz, wobei er aber andere Kriterien als der psychologische Positivist heranzieht 2 .
§ 8 Eugen Ehrlich 3 Als Begründer der modernen Rechtssoziologie gilt Eugen Ehrlich. Für den hier interessierenden Zusammenhang liegt seine Bedeutung darin, daß er dem Gesetzespositivismus des 19. Jahrhunderts einen neuen — in seinen Augen wissenschaftlicheren — Positivismus gegenübergestellt hat, der die Positivität des Rechtes nicht in der Gesetzgebungsgewalt des Staates, sondern in der sozialen Realität erblickt. In seiner berühmten Vorrede zur „Grundlegung der Soziologie des Rechts" führt er aus, daß der Schwerpunkt der Rechtsentwicklung zu allen Zeiten weder in der Gesetzgebung noch in der Jurisprudenz oder in der Rechtsprechung liege, sondern in der Gesellschaft selbst. Gerade das Beispiel Ehrlichs zeigt die enge Verflechtung von psychologischer und soziologischer Betrachtungsweise, auf die schon hingewiesen worden ist. Nach Ehrlich ist das Recht „ein gedankliches Ding, das nicht in der greifbaren, sinnlich wahrnehmbaren Wirklichkeit, sondern in den Köpfen der Menschen lebt. Es gäbe kein Recht, wenn es keine Menschen gäbe, die mit sich die Vorstellung von Recht tragen würden" 4 . Ehrlich verläßt jedoch diesen psychologischen Ausgangspunkt sogleich, indem er bemerkt: „Aber wie sonst überall, so sind auch hier unsere Vorstellungen aus einem Stoffe geformt, den wir der greifbaren, sinnlich wahrnehmbaren Wirklichkeit entnehmen. Es liegen ihnen stets Tatsachen zugrunde, die wie beobachtet haben. Solche Tatsachen müssen vorhanden gewesen sein, bevor im menschlichen H i r n überhaupt der Gedanke an Recht und Rechtsverhältnis aufzudämmern begann... Hier ist also die Werkstätte des Rechts zu suchen 5 ." Die erste Frage der Rechtswissenschaft ist diejenige nach dem Ursprung des Rechts und geht somit über in die Frage, an welche Tatsachen der menschliche Geist gewisse Regeln knüpft. Ehrlichs Antwort lautet: Die grundlegen2
Eine umfassende Zusammenstellung der rechtssoziologischen Literatur enthält der Band von M. Rehbinder, Internationale Bibliographie der rechtssoziologischen Literatur (2. A. Berlin 1977). Vgl. auch E. Kamenka / RS. Summers / W.L. Twining (Hrsg.), Soziologische Jurisprudenz und rèalistische Theorien des Rechts, Rechtstheorie Beiheft 9 (Berlin / München 1986). 3 Literatur: Ehrlich, Grundlegung; derselbe, Recht und Leben. Gesammelte Schriften zur Rechtstatsachenforschung und zur Freirechtslehre, Schriftenreihe des Instituts für Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung der Freien Universität Berlin Nr. 7 (Berlin 1967); Rehbinder, Eugen Ehrlich; derselbe, Einführung 21 ff.; Larenz 62ff.; Henkel 490ff; Raiser , Einführung 58 ff. 4 Grundlegung 82. 5 Grundlegung 82, Hervorhebungen durch Verf.
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den Rechtsstatsachen sind die Übung, die Herrschaft, der Besitz und die Willenserklärung 6 (insbesondere Satzung, Vertrag und letztwillige Anordnung) 7 . Aus den konkreten Übungen, Herrschafts- und Besitzverhältnissen, Verträgen, Satzungen und letztwilligen Anordnungen — und nur sie sind für den Forscher unmittelbar beobachtbar — ergeben sich nach Ehrliche Auffassung die Regeln des Handelns, die das Verhalten der Menschen in der Gesellschaft bestimmen. „Unmittelbar sind daher für die rechtliche Ordnung in der Gesellschaft nur diese Tatsachen, nicht die Rechtssätze maßgebend, nach denen die Gerichte entscheiden oder die staatlichen Behörden vorgehen 8 ." Das Recht selbst zerfällt für Ehrlich in drei verschiedene Normenkomplexe 9 : Der erste besteht aus dem „in der Gesellschaft selbsttätig entstandenen Organisationsrecht der menschlichen Verbände" 10 . Es handelt sich hier um diejenigen Regeln, die unmittelbar aus den erwähnten Rechtstatsachen hervorgehen. Das Recht besteht mithin primär nicht aus Entscheidungsnormen, die von staatlichen Organen angewandt werden, sondern aus den Regeln, nach denen sich die Menschen tatsächlich verhalten 11 \ Bezeichnend dafür ist, daß staatliche Sanktionen nur in einer verschwindend kleinen Minderzahl der Fälle nötig sind, um die Einhaltung der Rechtsregeln durchzusetzen 12 . Hier stellt sich für Ehrlich natürlich das Problem, worin der Unterschied zwischen den so verstandenen Rechtsregeln und den anderen gesellschaftlichen Regeln (insbesondere der Sitte, der Sittlichkeit, der Religion, der Mode) liegt. Die Antwort lautet: I n der Verschiedenheit der durch den Normbruch ausgelösten Gefühle: „ M a n vergleiche das Gefühl der Empörung, das einem Rechtsbruch folgt, mit der Entrüstung gegenüber einer Verletzung des Sittengebotes, mit dem Ärgernis aus Anlaß einer Unanständigkeit, mit der Mißbilligung der Taktlosigkeit, mit der Lächerlichkeit beim Verfehlen des guten Tones, und schließlich mit der kritischen Ablehnung, die die Modehelden denen angedeihen lassen, die sich nicht auf ihrer Höhe befinden 13 ." Der Rechtsnorm sei eigen das Gefühl der opinio necessitatis , womit Ehrlich 6
Grundlegung 82. Grundlegung 169. 8 Grundlegung 169. 9 Rehbinder, Einführung 29. 10 Rehbinder, Einführung 29. 11 Ehrlich, Grundlegung 47: „Man muß daher bei dem, was die Gesetzgeber, Religionsstifter oder Philosophen gesetzt, verkündet oder gelehrt haben, immer fragen, was davon nicht bloß von den Gerichten angewendet, von der Kanzel gepredigt, oder in Büchern und Schulen gelehrt, sondern auch tatsächlich geübt und gelebt wird. Nur was ins Leben tritt, wird lebende Norm, das andere ist bloß Lehre, Entscheidungsnorm, Dogma oder Theorie." 7
12 13
Vgl. dazu Grundlegung 63/64. Grundlegung 146/147.
§ 9 Max Weber
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interessanterweise wieder in die Nähe des psychologischen Positivismus (i. S. der Anerkennungstheorien) gerät 14 . Der zweite der Normenkomplexe, aus denen sich der Rechtsstoff zusammensetzt, ist das Juristenrecht. Es ist seinem Ursprung nach eine Schöpfung des Juristenstandes (wobei freilich die Juristen stets unter der Herrschaft gesellschaftlicher Einflüsse handeln) und besteht zur Hauptsache aus Entscheidungsnormen, die sich in erster Linie an die Gerichte wenden und der Beilegung von Streitigkeiten im Verband dienen 15 . Der dritte Normenkomplex umfaßt das Recht, das seinem Inhalte nach vom Staat ausgeht 16 . „Das staatliche Recht besteht in den Befehlen des Staates an seine Behörden 17 ." Die Unterscheidung zum Juristenrecht ist insbesondere bei vielen gesetzlichen Entscheidungsnormen nicht klar. So stellen nach Ehrlich die Grundsätze des Gefahrüberganges beim Kauf Juristenrecht dar, während die Normen des BGB über die Voraussetzungen der Rechtsfähigkeit bei Vereinen als staatliches Recht anzusehen sind 1 8 . Diese drei Normenkomplexe des gesellschaftlichen Rechts, des Juristenrechts und des staatlichen Rechts, die untereinander in vielerlei Wechselbeziehung stehen, machen zusammen das sog. „lebende Recht" aus 19 . Ehrlich vermeidet also eine Identifikation des sog. „lebenden Rechts" mit dem gesellschaftlichen Recht. Auch scheidet er nicht das normative Element aus seinen Betrachtungen aus. Soziologisch ist seine Lehre nur in dem Sinne, daß er den Ursprung aller Rechtsnormen letztlich in der gesellschaftlichen Realität sucht, indem er vom „tatsächlich Geübten" ausgeht 20 . Darüber hinaus ergänzt Ehrlich jedoch seine Theorie, wie gezeigt, mit psychologischen und normativen Überlegungen.
§ 9 Max Weber1 Max Webers Denken ist u. a. durch seine vorbildliche Methodenstrenge gekennzeichnet. So beginnt Weber die Erörterungen über das Thema 14 Als Anerkennungstheorie qualifizieren diese Lehre ausdrücklich Rehbinder, Einführung 59, und Raiser , Einführung 60. 15 Vgl. dazu Grundlegung 112. 16 Rehbinder, Einführung 28. 17 Ehrlich, Grundlegung 166. 18 Ehrlich, Grundlegung 166. 19 Vgl. die Ausführungen zum „lebenden Recht", 409 ff. 20 Für Ehrlich ist das Recht aber nicht nur eine durch die soziale Realität determinierte Erscheinung, sondern es wirkt seinerseits auf diese zurück: „Der Rechtssatz ist nicht nur das Ergebnis, er ist auch ein Hebel der gesellschaftlichen Entwicklung . . . " (Grundlegung 178). 1 Literatur: Weber, Wirtschaft und Gesellschaft; die Kapitel V I (S. 368 ff.) und V I I
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„Rechtsordnung und Wirtschaftsordnung" mit der scharfen Scheidung von juristischer (genauer: rechtsdogmatischer) und soziologischer Betrachtungsweise: „Die erstere fragt: was als Recht ideell gilt. Das will sagen: welche Bedeutung, und dies wiederum heißt: welcher normative Sinn einem als Rechtsnorm auftretenden sprachlichen Gebilde logisch richtigerweise zukommen sollte. Die letztere dagegen fragt: was innerhalb einer Gemeinschaft faktisch um deswillen geschieht, weil die Chance besteht, daß am Gemeinschaftshandeln beteiligte Menschen . . . bestimmte Ordnungen als geltend subjektiv ansehen und praktisch behandeln, also ihr eigenes Handeln an ihnen orientieren. — Danach bestimmt sich auch die prinzipielle Beziehung zwischen Recht und Wirtschaft 2." Beide Betrachtungsweisen stellen nach Weber gänzlich heterogene Probleme; ihre Objekte können unmittelbar gar nicht miteinander in Berührung geraten: Die „ideelle Rechtsordnung 4 der Rechtstheorie" hat mit dem „Kosmos des faktischen wirtschaftlichen Handelns" direkt nichts zu schaffen, da beide in verschiedenen Ebenen liegen: „die eine in der des ideellen Geltensollens, die andere in der des realen Geschehens"3. Trotzdem können Wirtschafts- und Rechtsordnung in höchst intimen Beziehungen zueinander stehen, wobei sich dabei allerdings — und das ist das Entscheidende — der Sinn des Wortes „Rechtsordnung" völlig ändert: es ist nicht mehr im juristischen Sinne eines Kosmos „logisch als ,richtig' erschließbarer Normen", sondern im soziologischen Sinne eines Komplexes „von faktischen Bestimmungsgründen realen menschlichen Handelns" zu verstehen 4. Des näheren präzisiert Weber diesen soziologischen Begriff des Rechts im Unterschied zu den anderen Sozialordnungen der Sitte und der Konvention wie folgt: Unter der Sitte will Weber den Fall eines typisch gleichmäßigen Verhaltens verstehen, welches lediglich durch seine Gewohnheit und unreflektierte (S. 387 ff.) sind als Studienausgabe von Winckelmann gesondert herausgegeben worden, die hier zitiert wird mit: Weber, Rechtssoziologie; Rehbinder, Max Webers Rechtssoziologie: Eine Bestandsaufnahme, in: R. König/ J. Winckelmann: Max Weber zum Gedächtnis (Köln 1963) 470 ff.; derselbe, Einführung 35 ff.; Raiser , Einführung 52ff.; E Loos, Zur Wert- und Rechtslehre Max Webers (Tübingen 1970). M. Baurmann, Grundzüge der Rechtssoziologie Max Webers, JuS 31 (1991) 97 ff. Nach Krawietz, Rechtstheorie 18 (1987) 241 sind die Grundlagen von Webers Soziologie des Rechts gar nicht in „Wirtschaft und Gesellschaft" enthalten,sondern in dessen Kritik an der Stammlerschen Rechtsphilosophie aus dem Jahre 1907: M. Weber, R. Stammlers „Überwindung" der materialistischen Geschichtsauffassung, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (4. A. Tübingen 1973) 291 ff. Dort ist weder der Zwang noch die Sanktion das maßgebende Strukturelement der Rechtsnorm, sondern die durch diese konstituierte Erwartung. — Die folgenden Ausführungen halten sich an das erst posthum erschienene Hauptwerk. 2 Weber, Rechtssoziologie 69. 3 Weber, Rechtssoziologie 70. 4 Weber, Rechtssoziologie 70.
§ 9 Max Weber
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Nachahmung in den überkommenen Geleisen gehalten wird 5 . Die Fortsetzung dieses Massenhandelns wird aber den Einzelnen von niemandem in irgendeiner Weise zugemutet 6 . Sitte ist demnach für Weber nur eine faktische Verhaltensregelmäßigkeit 1. Webers Terminologie weicht hier, worauf Rehbinder hinweist, vom üblichen Sprachgebrauch ab, da man sonst die hier als „Sitte" bezeichnete Erscheinung „Brauch" oder „Herkommen" nennt 8 . Demgegenüber versteht Weber unter „Konvention" das, was üblicherweise „Sitte" heißt 9 . Konvention soll heißen die Ordnung, deren Geltung „äußerlich garantiert ist durch die Chance, bei Abweichung innerhalb eines angebbaren Menschenkreises auf eine (relativ) allgemeine und praktisch fühlbare Mißbilligung zu stoßen .. ." 1 0 . Der Unterschied zur „Sitte" als einer bloßen faktischen Verhaltensregelmäßigkeit besteht darin, daß bei der Konvention das Moment des Normativen hinzutritt; Konvention ist bei Weber etwas Normatives, Sitte dagegen etwas Faktisches. Das nicht-konventionelle Verhalten des Handelnden führt — anders als bei der Sitte — zu einer Reaktion der Umwelt, die sich allerdings auf Mißbilligung beschränkt. Bei der Rechtsordnung tritt nun als spezifisches Merkmal der auf die Erzwingung eingestellte Menschenstab hinzu. Eine Ordnung soll nach Weber dann Recht heißen, „wenn sie äußerlich garantiert ist durch die Chance (physischen oder psychischen) Zwanges durch ein auf Erzwingung der Innehaltung oder Ahndung der Verletzung gerichtetes Handeln eines eigens darauf eingestellten Stabes von Menschen" 11 . Die Existenz des ErzwingungsStabes braucht allerdings in keiner Weise dem zu gleichen, was wir heute gewohnt sind. Es ist insbesondere nicht nötig, daß eine richterliche Instanz vorhanden sei. Auch die Sippe (bei Blutrache oder Fehde) stellt nach Weber einen solchen Stab dar, wenn für die Art ihres Reagierens Ordnungen irgendwelcher Art tatsächlich gelten. Weiter fallen kirchliche Regeln, die mittels des psychischen Zwanges der eigentlichen kirchlichen Zuchtmittel von einem Menschenstab durchgesetzt werden, sowie die Regeln eines „Komments" unter diesen Begriff des Rechts, während dies für die Regeln des Völkerrechts zumindest zweifelhaft ist 1 2 . Die Geltung des Rechts im soziologischen Sinne liegt also für Weber in der Chance (d. h. Wahrschein5
Weber, Rechtssoziologie 80. Weber, Rechtssoziologie 80. 7 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft 18, nennt als Beispiel die „Sitte", seine Speisen in bestimmter Art zuzubereiten. 8 Rehbinder, Einführung 36. 9 Rehbinder, Einführung 36. 10 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft 17. Weber, 18, nennt als Beispiele für konventionelle Ordnungen diejenigen des üblichen Grüßens oder der als anständig geltenden Bekleidung. 11 Weber,, Wirtschaft und Gesellschaft 17. 12 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft 18. 6
6 Ott, 2. Aufl.
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lichkeit) des Eintritts von psychischem oder physischem Zwang von Seiten eines eigens darauf eingestellten Zwangsapparates 13 . Anders als Ehrlich, der in der „opinio necessitatis" das maßgebliche Unterscheidungsmerkmal des Rechts im Vergleich zu den übrigen Sozialordnungen erblickt hatte, vertritt Weber somit eine Zwangstheorie 14. Sein Begriff des Rechts, nicht derjenige Ehrlichs, hat sich in der heutigen Rechtssoziologie durchgesetzt 15 , wobei seine hier einschlägigen Gedanken durch den im folgenden zu behandelnden Denker — vor allem im Hinblick auf die sog. „Effektivitätsquote" — präzisiert worden sind.
§ 10 Theodor Geiger1 Ein konsequenter soziologischer Positivismus findet sich im Werk Theodor Geigers. Geiger will das Recht im besonderen und die soziale Ordnung im allgemeinen „als Faktizitäten, als Wirklichkeitszusammenhänge" untersuchen 2 . Sein Bemühen geht dahin, „metaphysisch-ideologisch geladene Vorstellungskomplexe wie Norm, Geltung, Pflicht, Rechtsanspruch usw. auf die durch sie verfälschten Tatsachenzusammenhänge hin zu analysieren und diese in Termini der wahrnehmbaren Wirklichkeit zu fassen" 3. Eine allgemeine Rechtslehre, die nicht in den „Gedankensümpfen der Metaphysik und Ideologie" festfahren will, muß nach seiner Auffassung von soziologischen Ausgangspunkten entwickelt werden, ja sie fällt mit der theoretischen Rechtssoziologie zusammen 4 . Geiger bezeichnet selbst seine Position als „soziologischen Rechtsrealismus" 5 . Damit bezieht er eine klare Frontstel13
Vgl. dazu Weber, Rechtssoziologie 7Iff. Weitere Vertreter der Zwangstheorie sind neben Weber ζ. B. Geiger, Pound, Olivecrona, Durkheim und Kelsen. 15 Raiser, Einführung 72. 1 Literatur: Geiger, Raiser, Einführung 74 ff.; H. Oetjens, Kritischer Rationalismus und Rechtssoziologie, in: W. Naucke / P. Trappe (Hrsg.), Rechtssoziologie und Rechtspraxis (Neuwied / Berlin 1970) 11 ff.; C. Bickel, Kritische Theorie und Rechtssoziologie. Ein Beispiel positivistischer Rechtssoziologie im Licht der kritischen Theorie betrachtet: Theodor Geigers „Vorstudien zu einer Soziologie des Recht", in: W. Naucke / P. Tïappe, 29ff.; W. Naucke, Wissenschaftsbegriff — Rechtssoziologie — Rechtspraxis. Bemerkungen zu einem konkret-humanen juristischen Pragmatismus, in: W. Naucke / Ρ Tïappe, 79 ff.; P. Trappe, Die Rechtssoziologie Theodor Geigers (Diss. Mainz 1959). Eine Ergänzung der Ge/gerschen Theorie bietet W. Zitscher, Normen und Feldtheorie, Schriften zur Rechtstheorie Nr. 110 (Berlin 1983). 14
2
Geiger 44. Geiger 40. 4 Geiger 39/40. 5 Geiger 371. Geiger erteilt einer psychologischen Rechtsbegründung eine klare Absage (382 ff., 44). Das Rechtsbewußtsein klammert er aus methodischen Gründen aus, nicht, weil er dessen Existenz bestreitet, sondern weil es ein untaugliches Objekt wissenschaftlicher Untersuchung sei (385). Erfahrungswissenschaftlich müsse man sich an die Handlung gen als solche halten. 3
§ 10 Theodor Geiger
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lung sowohl gegenüber der klassischen Rechtsphilosophie, die aus einem vermeintlichen „Wesen" des Rechts normative Folgerungen ziehen zu können glaubte, als auch gegenüber der herkömmlichen Rechtsdogmatik, die in ihrem „Normenfetischismus" allezeit geneigt sei, dem positiven Recht eine A r t objektiver Geltung zuzuschreiben 6. I n der Wertfrage schließt sich Geiger ausdrücklich dem „theoretischen Wertnihilismus" der skandinavischen Uppsala-Schule an 7 . Gut und Schlecht sind „völlig imaginäre Begriffe . . . , jeder empirischen Fassung ihres vermeintlichen Inhaltes unzugänglich und deshalb, für ein rationales Weltbild wenigstens, nicht-existent" 8 . Die Erfahrungswissenschaft kann sich mit dergleichen Vorstellungen nur in der Weise befassen, daß sie sie als „psychologische Merkwürdigkeiten" verzeichnet und analysiert 9 . Darüber, was für einen Inhalt eine konkrete Entscheidung haben solle, läßt sich folglich wissenschaftlich nichts aussagen. Geigers Analysen befassen sich zunächst mit allen Arten sozialer Ordnungen, differenzieren also noch nicht zwischen Regeln des Rechts, der Moral und der Sitte. Ausgangspunkt ist die „der unmittelbaren Anschauung" gegebene Tatsache, daß die Menschen in ihrem Dasein aufeinander eingestellt und angewiesen sind 1 0 . Die Menschen leben „in gegenseitiger Anlehnung aneinander", ein Umstand, den Geiger mit „sozialer Interdependenz" bezeichnet 11 . Damit nun ein gemeinschaftliches Zusammenleben überhaupt möglich wird, muß der Einzelne mit einiger Sicherheit voraussagen können, wie andere sich in oft wiederkehrenden, typischen Situationen verhalten werden 12 . Eine gesellige Ordnung beruht mithin darauf, daß in einer bestimmten Sozietät zwischen gewissen typischen Situationen s und entsprechenden typischen Gebarensweisen g ein festes Verhältnis besteht 13 . Geiger bezeichnet diese Zusammengehörigkeit einer Situation und eines Gebarens mit der Formel s^g („auf s folgt g"). Er erklärt sich die Entstehung eines solchen Gebaren-Modells unter Berufung auf die Mneme-Theorie des Zoologen R. Semon wie folgt 1 4 : Jeder Eindruck hinterläßt im Gedächtnis eine 6
Geiger 44. Geiger 297 ff.. Geiger steht der Uppsala-Schule nahe, rügt aber die „soziologische Unzulänglichkeit" der skandinavischen Rechtstheorien, deren Anhänger, mit Ausnahme von A. Ross, „einen erstaunlichen Mangel an soziologischem Verständnis ihres Gegenstandes" verraten würden (Geiger 45). 8 Geiger 299. 9 Geiger 299. 10 Geiger 46. 11 Geiger 48. 12 Geiger 48. 13 Geiger 49. 14 R. Semon, Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens (Leipzig 1904). Vgl. zum folgenden Geiger 92 ff. 7
6*
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Spur, ein sog. „Engramm". Besteht ein Eindruck aus zwei oder mehreren Elementen, bilden diese einen „Engrammkomplex". Wenn jetzt eine handelnde Person H sich einmal in s befunden und mit g geantwortet hat, hinterläßt die Eindrucksverbindung von s und g eine Gedächtnisspur, einen Engrammkomplex. Dieser zeichnet sich durch folgende Eigenheit aus: Tritt an die Person H später ein neuer Eindruck heran, der einem Element des Engrammkomplexes gleicht, hat dieser aktuelle Eindruck die Tendenz, die Vorstellung des ganzen Engrammkomplexes hervorzurufen. Semon nennt diesen Vorgang Ekphorie (Auslösung). Die Mneme (Gedächtnis) ergänzt also ekphorisch die mit der Situation s verknüpfte Vorstellung durch die Vorstellung des Gebarens g, so daß //vermutlich auch in der neuen Situation s mit dem Gebaren g reagieren wird. Jede nächste Wiederholung vertieft die Gedächtnisspur. Aus einer individuellen Handlung ist eine individuelle Gewohnheit ( s ^ g ) geworden. — Der gleiche Mechanismus wirkt nun auch in der Gruppe, indem die anderen Gruppenmitglieder nach wiederholter Beobachtung des Verhaltens von H in der Situation das Gebaren g einerseits erwarten und es andererseits auch selbst in ähnlichen Situationen s übernehmen. Durch Gebarens-Erwartung und soziale Nachahmung wird die feste Gewohnheit eines Individuums zum sozialen Brauch s-+g. Dieser bedeutet zunächst bloß eine „faktische Regelhaftigkeit", d.h. er enthält noch kein normatives Moment 1 5 . — Wenn in dieser Weise ein sozialer Brauch eingespielt ist und nun ein Individuum wider Erwarten nicht nach dem Schema s — g handelt, sondern nach s g („auf s folgt non-g"), werden die Gruppenmitglieder mit Befremden, möglicherweise mit Entrüstung reagieren. Denn die soziale Interdependenz verlangt die Voraussehbarkeit des Verhaltens in typischen Fällen 1 6 . Die Gruppenmitglieder werden daher von dem in einer Situation s Handelnden das Gebaren g fordern. Das Modell s~*g wird mit dem Moment der Verbindlichkeit (v) ausgestattet und verwandelt sich so zur sozialen Norm ( s g) v. Worin besteht jetzt aber die Verbindlichkeit einer Norm? Es ist klar, daß Geiger, wenn er seinen eigenen methodischen Grundsätzen treu bleiben will, die Verbindlichkeit der Norm auf in der äußeren Welt feststellbare Tatsachen zurückführen muß 1 7 . Die Verbindlichkeit der Norm kann daher nichts anderes als ihre Wirklichkeit sein, und die Wirklichkeit der Norm ist ihre Wirkungschance 18. Was heißt das?
15
Geiger 96. Vgl. vorstehend. 17 „Verbindlichkeit" i. S. von Geiger ist also nicht dasselbe, was wir vorne § 1 Β I V als „Verbindlichkeit" bezeichnet haben. Verbindlichkeit ist bei Geiger etwas Tatsächliches, nämlich die faktische Geltung i. S. der soziologischen Wirksamkeit des Rechts. 18 Geiger 68. 16
§ 10 Theodor Geiger
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Jedes Individuum der betreffenden Gruppe sieht sich in einer Situation s vor die folgende Alternative gestellt: Entweder verhält es sich i. S. des geforderten Gebarens g und erfüllt dadurch die Norm. Oder es verhält sich normwidrig i. S. des Gebarens c (crimen) und setzt sich damit einer Reaktion r von Seiten der Gruppe aus. Diesen Sachverhalt kennzeichnet Geiger mit folgender Formel 1 9 :
Es ist jedoch nicht unbedingt sicher, daß auf c unter allen Umständen eine r folgt. Das Vergehen mag unentdeckt bleiben, die Gruppenöffentlichkeit kann nachlässig handeln oder der Normbrecher vermag sich der Sanktion zu entziehen. Es wäre daher verfehlt, die Verbindlichkeit der Norm ausschließlich in der beschriebenen Wirkungsalternative zu sehen, denn damit wäre gesagt, daß die Norm beim Fehlen einer Normerfüllung oder einer Reaktion nicht verbindlich ist. Eine Norm kann deshalb nach Geiger nicht als absolut verbindlich oder absolut unverbindlich betrachtet werden, sondern nur als mehr oder weniger verbindlich 20 . Die Verbindlichkeit einer Norm kann höheren oder geringeren Grades sein und ist eine meßbare Größe. Sie läßt sich durch die Bruchzahl j ausdrücken, wobei e die Anzahl der Fälle bedeutet, in denen sich die Norm durch Befolgung oder Reaktion auf Nichtbefolgung als wirksam erweist, und s die Gesamtzahl der Fälle umfaßt, in denen die Normadressaten in die normtypische Situation geraten 21 . Eine Verbindlichkeit von 70% z.B. würde bedeuten, daß in 70% der Fälle der Norm nachgelebt wird oder Normbrüche Sanktionen nach sich ziehen, während in 30 % der Fälle der Normbrecher ungeschoren davonkommt. Die Verbindlichkeit und Wirklichkeit der Norm ist also nichts anderes als die beschriebene iy4lternativwirkungs-Chance" 22. — Die Frage, warum in einer einzelnen menschlichen Gesellschaft gerade diese und nicht eine andere Gebarensweise mit dem v-Stigma versehen, d. h. zur Norm erhoben wurde, ist für Geiger (vorläufig) nicht zu beantworten 23 . Das Recht unterscheidet sich nun nach Geiger durch die folgenden Merkmale von den übrigen Normativordnungen: 19 20 21 22 23
Geiger 70. Geigerll. Geigerll. Geigerll. Geiger 111/112.
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1. Von Recht kann man erstens sinnvollerweise nur sprechen, wenn dieses sich auf ein „differenziertes und gegliedertes gesellschaftliches Groß-Integrat" bezieht 24 . Das Ordnungsgefüge des Rechts gehört also nur „den verhältnismäßig hochentwickelten menschlichen Gesellschaften" an 2 5 . Bei Primitiven läßt sich nach Geiger nicht zwischen Recht und Gesittung unterscheiden. 2. Von Recht spricht man zweitens nur dann, wenn innerhalb eines nach einzelnen, nebeneinanderstehenden oder ineinander verschränkten Gruppen differenzierten Gesellschaftsmilieus eine übergeordnete Zentralmacht sich gebildet hat 2 6 . 3. Drittens ist bei einer Rechtsordnung die Reaktionstätigkeit, d. h. die Verhängung und Vollstreckung von Sanktionen bei der Zentralmacht monopolisiert 27. 4. Die rechtliche Ordnung unterscheidet sich viertens von der vorrechtlichen dadurch, daß ein besonderer Apparat zur Handhabung der Ordnung besteht, daß also eigene Organe dafür gebildet werden 28 . Die Reaktionstätigkeit ist Organen der Zentralmacht übertragen 29 . 5. Fünftens ist die Reaktionstätigkeit durch ein förmliches geregelt.
Verfahren
6. U n d sechstens kennzeichnet die Rechtsordnung eine besondere A r t der Reaktions-Zumessung 30. Normübertretungen der verschiedenen Arten sind je besondere, als angemessen erachtete Reaktionen zugeordnet 31 . Diese Zuordnungen ersetzen die ohne feste Maßstäbe erfolgenden Spontanreaktionen der außerrechtlichen Ordnungssysteme. Zusammenfassend definiert Geiger das Recht als „die soziale Lebensordnung eines zentral organisierten gesellschaftlichen Großintegrats, sofern diese Ordnung sich auf einen von besonderen Organen monopolistisch gehandhabten Sanktionsapparat stützt 32 . Dabei macht Geiger für seine Charakterisierung des Rechts keinen absoluten Wahrheitsanspruch geltend, sondern betont in methodisch vorbildlicher Weise, daß man es hier mit einer Definitionsfrage zu tun habe. Definitionen seien „Krücken der Erkenntnis" 33 . 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33
Geiger Geiger Geiger Geiger Geiger Geiger Geiger Geiger Geiger Geiger
168. 125. 130. 168. 130. 133. 154. 155. 339. 126.
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§ 11 Der amerikanische Rechtsrealismus K r ü c k e n aber sollten v o r a l l e m handlich
sein. D a m i t m e i n t er, daß eine
(echte) D e f i n i t i o n nach ihrer F r u c h t b a r k e i t , n i c h t nach ihrer W a h r h e i t zu beurteilen i s t 3 4 .
§ 11 Der amerikanische Rechtsrealismus1 Elemente eines soziologischen Positivismus f i n d e n sich ferner i m a m e r i k a nischen „legal r e a l i s m " 2 . D i e amerikanische realistische Bewegung läßt sich allerdings n u r unter Schwierigkeiten a u f einen N e n n e r bringen, da sie weder eine eigentliche Schulde b i l d e t , deren sämtliche Vertreter i n wesentlichen P u n k t e n ü b e r e i n s t i m m e n 3 , n o c h eine einheitliche u n d zusammenhängende Rechtstheorie e n t w i c k e l t hat. V o n den Realisten werden so verschiedene Postulate vertreten wie etwa die A b l e h n u n g übertriebener B e g r i f f l i c h k e i t 4 , die B e r ü c k s i c h t i g u n g v o n D a t e n empirischer Wissenschaften bei der Urteilsf i n d u n g 5 , die B e f ü r w o r t u n g einer ,/unktional-teleologischen 34
Methode" 6
(d. h.
Vgl. hinten §20 Β I. Aus der deutschsprachigen Literatur: H. Coing , Neue Strömungen in der nordamerikanischen Rechtsphilosophie, ARSP 38 (1949/50) 536ff.; G. Casper , Juristischer Realismus und politische Theorie im amerikanischen Rechtsdenken, Schriften zur Rechtstheorie Nr. 10 (Berlin 967); Reich, Kantorowicz, Rechtswissenschaft und Soziologie 101 ff.; derselbe, Yale L. J. 43 (1934) 1240 ff.; W. Fikentscher, Gedanken zu einer rechtsvergleichenden Methodenlehre, in: Recht im Wandel, Festschrift hundertfünfzig Jahre Carl Heymanns Verlag K G (Köln / Berlin / Bonn / München 1965) 141 ff.; Th. Löffelholz, Die Rechtsphilosophie des Pragmatismus. Eine kritische Studie, Monographien zur philosophischen Forschung Nr. 31 (Meisenheim am Glan 1961); F. K. Beutel, Die Experimentelle Rechtswissenschaft. Möglichkeiten eines neuen Zweiges der Sozialwissenschaft, Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung Nr. 21 (Berlin 1971). R. S. Summers, Rechtstheorie 13 (1982) 257 ff.; derselbe, Pragmatischer Instrumentalismus und amerikanische Rechtstheorie. 2 Hauptvertreter des „legal realism" sind: K. N. Llewellyn , J. Frank, U. Moore, F. K. Beutel und F. S. Cohen. Der legal realism setzte nach 1930 die von O. W. Holmes, R. Pound , L. D. Brandeis und B. N. Cardozo entwickelte „Sociological Jurisprudence" fort und ist von dieser nicht scharf zu trennen. Vgl. allgemein zum legal realism Reich 82 ff. 3 Fikentscher (zit. § 11 Ν 1) 153; Kantorowicz, in: Rechtswissenschaft und Soziologie 101 ; so bezeichnet etwa Llewellyn in seinem Buch „The Bramble Bush" (2. Aufl. New York 1951) 9 seine eigene realistische „Verhaltensdefinition" des Rechts (vgl. nachstehend) als „unhappy" und als „a very partial statement of the whole truth". 4 Casper (zit. § 11 Ν 1) 59. 5 Bahnbrechend war hier der von Brandeis verfaßte anwaltliche Schriftsatz im Fall Muller v. Oregon, US Supreme Court Reports 208 (1907) 412 ff. (sog. „Oregonbrief) gewesen, wo auf Grund von Statistiken, medizinischen Gutachten und soziologischen „case-studies" empirisch nachgewiesen wurde, daß eine extrem lange Arbeitszeit schwere physische und psychische Schädigungen für Frauen nach sich zieht. Daraufhin ließ der Supreme Court eine Gesetzgebung von Oregon, wonach die Arbeitszeit von Frauen auf zehn Stunden zu beschränken ist, als nicht verfassungswidrig passieren. Vgl. dazu Reich 70 ff. 6 Reich 103. 1
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1. Teil, . Kap.: Der
ischositivismus
der Richter soll nach Zweck und Folgen eines Rechtssatzes fragen), das Prinzip der Interessenauffindung und -abwägung 7 , die Anpassung des Rechts an veränderte Umstände, die Identifizierung des Rechts mit gewissen äußeren Verhaltensweisen bzw. Sätzen über diese äußeren Verhaltensweisen (vgl. dazu die nachstehenden Ausführungen), die psychologische Durchdringung der Richtersprüche mit dem Ziel, die wahren Entscheidungsgründe aufzufinden, die zu einem Urteil geführt haben 8 u. a. m. I n diesem Zusammenhang interessieren nur die — auch im Lager der Realisten keineswegs unbestrittenen — Thesen, welche das sog. „Wesen" des Rechts soziologisch zu bestimmen suchen: So gebraucht etwa Bingham den Ausdruck „Das Recht" in dem Sinn von „Folgen äußerer Tatsachen und ihrer bestimmten gesetzlichen Wirkungen mittels der konkreten Handlung des staatlichen Apparates" 9 . Frank schreibt, das Recht bestehe aus Entscheidungen, nicht aus Regeln, und der Richter setze darum jedesmal Recht, wenn er einen Fall entscheide 10 . Llewellyn ist der Auffassung, daß das, was die Beamten in Rechtsstreiten tun, das Recht selbst sei 11 . Kantorowicz hat diese Meinungen der Realisten prägnant wie folgt zusammengefaßt: „Das Recht ist nicht ein Inbegriff von Rechtsregeln, ist nicht ein Sollen, sondern eine tatsächliche Wirklichkeit. Es ist das wirkliche Verhalten bestimmter Menschen, besonders das der Justizbeamten, ganz speziell das der Richter, die das Recht durch ihre Entscheidungen schaffen, die eben darum das Recht ausmachen 12 ." Mitunter wird das Recht nicht mit einem tatsächlichen Verhalten identifiziert, sondern mit Sätzen, die ein tatsächliches Verhalten beschreiben. Hier ist die berühmte „prediction-theory of law" von Holmes zu erwähnen. U m zu erfahren, was das Recht wirklich ist, muß man sich nach Holmes auf den Standpunkt des „schlechten Menschen" stellen. Der „schlechte Mensch" interessiert sich nicht für Rechtsaxiome oder -prinzipien, sondern dafür, was etwa die Gerichte von Massachusetts wahrscheinlich tun werden. Holmes versteht unter „Recht" nichts Anspruchsvolleres als die Prophezeiung über das, was die Gerichte tatsächlich tun werden 13. So verstanden sind die 7
Reich 101. Zur psychologischen Phase des Realismus vgl. Reich 86ff., bes. 90ff. 9 Bingham , What is law, Mich. L.R. 11 (1912) 109 Ν 29 (zit. nach Kantorowicz, in: Rechtswissenschaft und Soziologie 104 Ν 9, der bemerkt, allem Anschein nach definiere Bingham „Recht" durch den Begriff „gesetzlich"). 10 J. Frank , Law and the Modern Mind (6. Aufl. London 1949) 128: „The law, therefore consists of decisions , not of rules. I f so, whenever a judge decides a case he is making law. u 11 Llewellyn (zit. § 11 Ν 3) 8: „What these officials do about disputes is, to my mind, the law itself." 12 Kantorowicz , in: Rechtswissenschaft und Soziologie 105. 13 Ο. W. Holmes , The Path of the Law, in: Collected Legal Papers (New York 1921) 171/ 173: „ I f you want to know the law and nothing else, you must look at it as a bad m a n . . . we 8
§ 12 Die Rechtstheorie von H . L. A . Hart
89
Rechtsregeln „rules of description and prediction 1 4 ; sie können auf ihren Aussagewert überprüft werden, indem man sie mit späteren Gerichtsurteilen vergleicht und feststellt, inwiefern diese der Regel entsprechen oder von ihr abweichen 15 . Bei einem hohen Grad von Konformität handelt es sich um „real rules", d. h. um Regeln, welche das wirkliche Recht verkörpern, da sie von den Gerichten tatsächlich befolgt werden; im umgekehrten Fall liegen nur sog. „paper rules" vor, d. h. Regeln, an die sich die Gerichte nicht halten und die darum bloß „auf dem Papier" stehen 16 . Die vordringliche Aufgabe der Rechtswissenschaft besteht nach der realistischen Auffassung in der Beschäftigung mit diesen „real rules"; die herkömmlichen dogmatischen Probleme sollen demgegenüber weniger Aufmerksamkeit erheischen 17 .
Viertes Kapitel
Mischformen des Rechtspositivismus § 12 Die Rechtstheorie von H. L. A. Hart 1 Das Werk H. L. A. Harts , der zu den einflußreichsten Rechtsphilosophen des angelsächsischen Sprachraumes gehört, enthält eine rechtspositivistische Theorie, die Elemente aller bisher behandelten Hauptrichtungen in sich vereinigt. Sie zeichnet sich nämlich aus durch den Versuch einer Synthese von psychologischer, soziologischer und analytischer Betrachtungsweise 2. shall find that he does not care two straws for the axiomes or deductions, but that he does want to know what the Massachusetts oder English Courts are likely to do in fact ... The prophecies of what courts will do in fact, and nothing more pretentious, are what I mean by the law ." Hervorhebung durch Verf. 14 Llewellyn , A Realistic Jurisprudence — The Next Step, Col. L. R. 30 (1930) 439. Wie Rehbinder, Einführung 55, hervorhebt, hat Llewellyn aber durchaus gesehen, daß das Wort „Regel" auch einen normativen Sinn haben kann; Llewellyn spricht in diesem Sinne von „prescriptive rules" oder „ought-rules". 15 16
Llewellyn , Col. L. R. 30 (1930) 444. Zur Unterscheidung von „real rules" und „paper rules" Llewellyn , Col. L. R. 30 (1930)
448. 17 1
Llewellyn , Col. L. R. 30 (1930) 457 ff., sowie die bei Reich 104 Ν 6 zit. Lit.
Literatur: Hart, Concept of Law; Begriff; derselbe, Harv. L. R. 71 (1957/58) 593 ff.; auch deutsch erschienen im Sammelband Hart, Recht und Moral 14ff.; derselbe, Definition; Eckmann; Hoerster, Einleitung 5 ff.; derselbe, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 2 (1971) 115 ff.; D. N. MacCormick, H. L. A. Hart (London 1981); P. M. S. Hacker / J. Raz (Hrsg.), Law, Morality and Society. Essays in Honour of H. L. A. Hart (Oxford 1977); weitere Literaturangaben zum Werk H. L. A. Harts bei Eckmann 134 ff. 2 Eckmann 128.
90
1. Teil, 4. Kap.: Mischformen des Rechtspositivismus
Besonders charakteristisch ist ferner das Bemühen von Hart, in den analytischen Teilen die Methoden und Denkansätze der von Wittgenstein maßgeblich beeinflußten modernen Sprachphilosophie, wie sie heute in den angelsächsischen Ländern herrschend ist und in Oxford ihr Zentrum hat 3 , für die Theorie des Rechts fruchtbar zu machen. Der größere und bedeutendere Teil des Werkes von Hart ist logisch-empirischen Strukturuntersuchungen des Rechts gewidmet 4 ; ausschließlich ihnen gilt im folgenden unsere Aufmerksamkeit. Daneben hat Hart aber auch Beiträge zu sachhaltigen Rechtsproblemen veröffentlicht, in denen er sich vom Standpunkt einer liberalen Ideologie aus kritisch mit Problemen der Strafrechtsreform auseinandersetzt 5 . Harts rechtspositivistischer Ansatz zeigt sich zunächst in der begrifflichen Trennung von Recht und Moral. Er knüpft dabei an Bentham und Austin an, die immer wieder mit Nachdruck auf die Notwendigkeit hingewiesen hätten, kompromißlos und mit größtmöglicher Klarheit zu unterscheiden zwischen dem Recht, wie es ist, und dem Recht, wie es sein sollte 6. Bentham und Austin sei es auf die folgenden zwei einfachen Dinge angekommen: Erstens: Aus der bloßen Tatsache, daß eine Norm die Grundsätze der Moral verletzt, kann nicht gefolgert werden, daß sie keine Rechtsnorm ist (es sei denn, eine ausdrückliche verfassungsrechtliche oder gesetzliche Vorschrift sehe dies vor). Zweitens: Aus der bloßen Tatsache, daß eine Norm moralisch erwünscht ist, kann nicht gefolgert werden, daß sie eine Rechtsnorm ist 1. Diese begriffliche Unterscheidung zwischen Recht und Moral, die Hart lebhaft unterstützt, verführt ihn jedoch nicht dazu, die tatsächlichen Einflüsse der Moral auf das Recht (und umgekehrt) zu leugnen, wobei er wiederum auf Bentham und Austin verweist: Beide hätten nie die historische Tatsache bestritten, daß moralische Überzeugungen einen starken Einfluß auf die Entwicklung von Rechtssystemen ausgeübt haben und daß umgekehrt das Recht die Moral wesentlich geprägt hat, so daß der Inhalt vieler gesetzlicher Bestimmungen moralische Grundsätze oder Regeln widerspiegelt 8 . 3 Hoerster, Einleitung 5. Hart war bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1968 Inhaber des Lehrstuhles für Jurisprudence in Oxford. 4 Eckmann 12. 5 Hart , Punishment and Responsibility, Essays in the Philosophy of Law (Oxford 1968); derselbe , The Morality of the Criminal Law, Two Lectures (Jerusalem / London 1965); derselbe , Law, Liberty and Morality (London 1963); derselbe , Prolegomenon to the Principles of Punishment, in: Proceedings of the Aristotelian Society 60 (1959/60) 1 ff.; derselbe , Essays on Bentham, Studies in Jurisprudence and Political Theorie (Oxford 1982). 6 Hart , Recht und Moral 15; Harv. L. R. 71 (1957/58) 594. 7 Hart , Recht und Moral 20; Harv. L. R. 71 (1957/58) 599. 8 Hart , Recht und Moral 19/20; Harv. L. R. 71 (1957/58) 598.
§ 12 Die Rechtstheorie von H . L. A . Hart
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Hart verteidigt die positivistische Trennungsthese in Auseinandersetzung mit den Argumenten, die deren Gegner eingewendet haben: Ein erster Einwand geht dahin, daß die Unhaltbarkeit der sog. „Imperativentheorie" des Rechts, wie sie insbesondere Austin vertreten hatten, die Unhaltbarkeit der Trennungsthese dartut 9 . Denn der Unterschied zwischen dem Befehl eines Banditen, der seinem Opfer mit den Worten „Geld oder Leben" entgegentritt, und einem Rechtsbefehlt kann — so scheint es jedenfalls — nur in einer moralischen Qualifikation liegen. Da das simple Schema von Befehl, Sanktion und Souverän, wie es die Imperativentheorie lehrt, auch auf die Situation eines Banditen zutrifft 1 0 , läßt sich von dieser Position aus keine Abgrenzung zwischen einem Rechtsbefehl und einem Banditenbefehl finden, mit der einzigen Ausnahme, daß im Fall des Rechts ein Bandit großen Stils am Werk ist. — Harts Entgegnungen in diesem Punkt laufen darauf hinaus, die Mangelhaftigkeit der Befehlstheorie auf andere Gründe zurückzuführen, die wir in anderem Zusammenhang darstellen werden 11 . Vor allem aber weist er darauf hin, daß die Verwerfung der einen These Austins, nämlich derjenigen, Recht als wesensgleich mit Befehlen aufzufassen, noch nicht unbedingt die Verwerfung der Trennungsthese nach sich zieht, da beide voneinander logisch unabhängig sind 1 2 . Ein zweiter Einwand gegen die Trennungsthese besagt, daß eine wesentliche Beziehung zwischen Recht und Moral dann sichtbar wird, wenn man untersucht, wie Gesetze, deren Bedeutung umstritten ist, im konkreten Fall ausgelegt und angewendet werden. Hier scheint es nahezuliegen, daß der Richter auf Grundsätze der Moral zurückgreifen muß, um die Unbestimmtheit und Lückenhaftigkeit der Gesetze zu überbrücken. — Hart zeigt an einem einleuchtenden Fall, wie der Wortlaut von Gesetzesnormen tatsächlich häufig mehrere Auslegungen zuläßt 13 . Die gesetzespositivistische These, wonach der Richter jedoch mittels begrifflicher Deduktionen die allein richtige Lösung finden könne, weist Hart zurück 1 4 . Was liegt nun aber in Wirklichkeit vor bei einer Urteilsbegründung, die als zu „formalistisch" gebrandmarkt wird? Harts Antwort lautet: Die sozialen Zielvorstellungen, die der Norm zugrundeliegen, sind unberücksichtigt geblieben! Die „forma9
Dazu Hart, Recht und Moral 22ff.; Harv. L. R. 71 (1957/58) 601 ff. Hart, Recht und Moral 25; Harv. L. R. 71 (1957/58), 603. 11 Hinten § 24 B. 12 Hart, Recht und Moral 22; Harv. L. R. 71 (1957/58) 601; Hoerster,, Einleitung 6. 13 Hart, Recht und Moral 30 ff.; Harv. L. R. 71 (1957/58) 607 ff. 14 Hart, Recht und Moral 32; Harv. L. R. 71 (1957/58) 608/609. Hart betont den schöpferischen Charakter der Auslegung (Recht und Moral 57; Harv. L. R. 71 [1957/58] 629). Sobald der unbestimmte Grenzbereich der sog. Schattenzone (penumbra) eines bestimmten Ausdruckes, und nicht dessen harter Bedeutungskern (hard core) in Frage steht, hat der Richter einen Entscheidungsspielraum zwischen mehreren Möglichkeiten. Eine zusammenhängende Darstellung von Harts Interpretationslehre gibt Eckmann 53 ff. 10
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1. Teil, 4. Kap.: Mischformen des Rechtspositivismus
listische" Urteilsbegründung zeichnet sich nicht — wie man fälschlicherweise oft liest — durch ein Zuviel an Logik (denn die sog. „formallogischen" Argumentationen in der Jurisprudenz sind tatsächlich kaum je logisch zwingend!), sondern eher durch eine gehörige Portion Dummheit aus 15 . — Die Tatsache, daß der Richter bei der Gesetzesanwendung und -lückenfüllung also auf soziale Zielvorstellungen zurückzugreifen hat, bedeutet jedoch mitnichten, daß diese eo ipso moralisch sein müssen! Auch die sozialen Ziele, die einem bestimmten Rechtssystem zugrunde liegen, können ausgesprochen unmoralisch sein 16 , was nach Hart wiederum die Fruchtbarkeit der Unterscheidung zwischen dem Recht, wie es ist, und dem Recht, wie es sein sollte, belegt. Ein weiterer Einwand gegen die Trennungsthese stammt von G. Radbruch. Radbruch hatte in einem vielbeachteten Aufsatz die Meinung vertreten, der Positivismus (i. S. des Bestehens auf der Trennung des Rechts, wie es ist, vom Recht, wie es sein sollte) habe in hohem Maße zu den Greueln des nationalsozialistischen Regimes beigetragen. Die Grundprinzipien menschlicher Gesittung gehörten in den Begriff des Rechts als solchen: Kein positives Gesetz, das grundlegenden Prinzipien der Moral zuwiderläuft, könne gültig sein, selbst wenn es den formalen Geltungskriterien des betreffenden Rechtssystems entspreche 17. — Hart weist hier daraufhin, daß mit der Anerkennung einer Norm als einer gültigen Norm des Rechts die moralische Frage noch nicht entschieden ist, ob dieser Rechtsnorm Gehorsam geleistet werden muß 1 8 . Gerade die Trennungsthese ermöglicht eine moralisch-kritische Haltung gegenüber dem Recht: Diese wird nämlich, wie Hoerster in Interpretation des //arischen Gedankens ausführt, nicht dadurch gefördert, daß man die Frage, was das Recht in einer bestimmten Situation sagt, mit der Frage vermengt, wie man sich in der entsprechenden Situation als Bürger oder Richter verhalten soll; sondern viel eher dadurch, „daß man es sich zur selbstverständlichen Denkgewohnheit macht, daß die moralische Fragwürdigkeit einer Handlung mit der Feststellung ihrer rechtlichen Gebotenheit oft erst überhaupt beginnt 19 . Hart lehnt folglich eine Aufnahme naturrechtlicher Prinzipien in den Begriff des Rechts ab 2 0 . Interessanterweise sieht er aber trotzdem eine notwendige Entsprechung von Recht und Moral, die er in seiner Lehre vom „Mindestinhalt des Naturrechts" (minimum content of natural law) 2 1 entwickelt: Harts Aus15
Hart, Recht und Moral 33/34; Harv. L. R. 71 (1957/58) 610/611. Hart, Recht und Moral 36; Harv. L. R. 71 (1957/58) 613. 17 Hart, Recht und Moral 41; Harv. L. R. 71 (1957/58) 617. Vgl. dazu hinten §23 A. 18 Hart, Recht und Moral 42; Harv. L. R. 71 (1957/58) 618. 19 Hoerster, Einleitung 9. 20 Hart würde an der Trennung von Recht und Moral selbst dann festhalten wollen, wenn es „kognitive" Theorien der Moral gäbe. Vgl. hinten § 15 Β II. 16
§ 12 Die Rechtstheorie von H. L. A. Hart
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gangspunkt ist hier die — möglicherweise nur zufällige — Tatsache, daß die Menschen im allgemeinen den Wunsch haben zu leben 22 . Aus diesem tatsächlich bestehenden Überlebenswunsch folgert er, daß eine Rechtsordnung nicht bestehen kann, wenn sie nicht das Leben wenigstens einiger Individuen schützt 23 . So ergeben sich aus der körperlichen Verwundbarkeit des Menschen (human vulnerability) das Körperverletzungs- und das Tötungsverbot 24 ; aus der Tatsache, daß Nahrung, Kleidung und Obdach nicht in unbegrenztem Maße zur Verfügung stehen, folgt ein Mindestmaß an Institutionalisierung und Schutz des Eigentums (wenn auch nicht notwendig eines Individualeigentums) 25 ; und die begrenzte Einsicht und Willensstärke des Menschen (limited understanding and strength of will) machen Sanktionen erforderlich, um die Wirksamkeit des Rechts zu gewährleisten 26 . Es ist aber zu beachten, worauf Eckmann hinweist, daß Hart hier keinen unzulässigen Schluß vom Sein auf das Sollen vollzieht 27 . Hart leitet nicht aus der Tatsache des Überlebenswunsches das Ziel ab: Der Mensch soll überleben 28 . Was aus der Natur des Menschen folgt, ist nicht ein Sollen, sondern ein Sein, nämlich das tatsächliche Bestehen der erwähnten Regeln. — Ferner enthalten Harts Ausführungen keine Untersuchung der Richtigkeit und Verbindlichkeit des Rechts i. S. der herkömmlichen Naturrechtslehre 29 . Nach den //arischen Kriterien ist keinesfalls erforderlich, daß ein Normensystem, um Recht zu sein, das Leben aller Menschen oder auch nur der meisten unter ihnen schützen muß 3 0 . Erst wenn die Regeln niemandem — nicht einmal einer kleinen Gruppe von Sklavenhaltern — die Wohltat ihres Schutzes gewähren, hätten wir es nicht mehr mit einem Recht, sondern mit einer Reihe sinnloser Tabus zu tun 3 1 . Auch sind die von Hart aufgestellten Mindestinhalte des Rechts keineswegs denknotwendig und für alle Zeiten unabänderlich. Wenn ζ. B. die Menschen einmal gegen Angriffe ihrer Artgenossen unverwundbar würden oder ihre Nahrung mittels eines inneren chemischen Prozesses aus der Luft gewinnen könnten, würden Gesetze, die den freien Gebrauch von Gewalt verbieten oder eine Minimalform des Eigentums 21 22 23 24 25 26
Hart, Concept Hart, Concept Eckmann 49. Hart, Concept Hart, Concept
of Law 189, Begriff 266. of Law 188, Begriff 265. of Law 190, Begriff 268 of Law 192, Begriff 270.
Hart, Concept of Law 193, Begriff 272 f. Eckmann 49. 28 Die Annahme, daß die Menschen deshalb zu überleben wünschen, weil dies ihr vorbestimmtes Ziel sei, lehnt Hart ausdrücklich als zu metaphysisch ab: Hart, Concept of Law 187/188, Begriff 264; Eckmann 49. 29 Eckmann 48. 30 Eckmann 46. 31 Hart, Recht und Moral 50/51; Harv. L. R. 71 (1957/58) 624. 27
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1. Teil, 4. Kap.: Mischformen des Rechtspositivismus
schaffen, offensichtlich überflüssig 32 . Aus all dem folgt, daß die Bezeichnung der Hartschcn Lehre von den Mindestinhalten des Rechts als Naturrechtslehre zumindest mißverständlich ist 3 3 . Wie stellt sich nun Hart die Struktur des positiven Rechts vor? Für Hart besteht das Recht aus allgemeinen Regeln: und zwar unterscheidet er zwei grundlegend verschiedene Arten von Regeln: die sog. Primärregeln (primary rules) und die sog. Sekundärregeln (secundary rules) 34 . Die Primärregeln sind jene Rechtsregeln, die Rechtspflichten schaffen 35 , und dies unabhängig vom Willen der Betroffenen. Ihre soziale Funktion besteht darin, die Individuen zu einem bestimmten Verhalten zu motivieren dadurch, daß an die Verletzung der Rechtspflicht Sanktionen geknüpft werden. Der Prototyp solcher Regeln sind die Normen des Strafrechts 36 . Unter Sekundärregeln versteht Hart demgegenüber jene Rechtsregeln, die Macht übertragen 37 . Die Sekundärregeln, die private Macht übertragen, befähigen die Individuen, durch Abschluß von Rechtsgeschäften ihre Beziehungen nach eigenem Gutdünken zu ordnen; einige legen die Mindestvoraussetzungen zur Ausübung dieser Machtbefugnisse fest (Volljährigkeit, geistige Gesundheit), andere schreiben die Formen vor, in denen die Macht ausgeübt werden muß 3 8 . Die Regeln, die öffentliche Macht übertragen, legen Inhalt und Umfang der drei staatlichen Funktionen (Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung) fest, indem sie ζ. B. die notwendigen Qualifikationen der Organe und das Verfahren dieser staatlichen Funktionen bestimmen. Durch diese Sekundärregeln werden drei Mängel behoben, die einem Rechtssystem, das nur aus Primärregeln besteht, anhaften würden: Der erste Mangel einer reinen Primärregelordnung bestünde im statischen Charakter ihrer Regeln. Hier schaffen besondere Sekundärregeln Abhilfe, die Hart Änderungsregeln (rules of change) nennt 3 9 . I n ihrer einfachsten Form ermächtigen sie ein Individuum oder eine Gruppe von Personen, neue Primärregeln, die sich auf das Verhalten von Personen beziehen, einzuführen und alte aufzuheben. Der zweite Mangel einer reinen Primärregelordnung läge in der Wirkungslosigkeit (inefficiency) des diffusen sozialen Drucks, mit dem ihre Regeln ausgestattet wären 40 . Zur Beseitigung dieses Mangels müssen sog. Entscheidungsregeln (rules of adjudication) eingeführt werden, welche einerseits einzelne 32 33 34 35 36 37 38 39 40
Hart, Recht und Moral 48/49; Harv. L. R. 71 (1957/58) 623. Eckmann 48/49/50. Hart, Concept of Law 77 ff., Begriff 115 ff. Hart, Concept of Law 237, Begriff 337. Hart, Concept of Law 27, Begriff 46. Hart, Concept of Law 237, Begriff 337. Hart, Concept of Law 28, Begriff 48. Hart, Concept of Law 93, Begriff 136. Hart, Concept of Law 94, Begriff 138.
§ 12 Die Rechtstheorie von H. L. A. Hart
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Personen dazu ermächtigen, in autoritativer Form darüber zu entscheiden, ob eine Primärregel verletzt worden ist, und die andererseits das dabei zu beobachtende Verfahren festlegen 41. Die Änderungs- und Entscheidungsregeln sind also — wie Eckmann betont — offensichtlich weitgehend mit jenen Sekundärregeln identisch, die öffentliche Macht übertragen und sich auf die Funktionen der Gesetzgebung bzw. Rechtsprechung beziehen 42 . Eine reine Primärregelordnung würde indessen noch an einem dritten Mangel kranken, demjenigen der Ungewißheit (uncertainty) 43 . Es ist ungewiß, nach welchen Kriterien sich die Zugehörigkeit einer bestimmten Regel zu einem gegebenen System bemißt. Der Behebung dieses Mangels dient die sog. Erkennungsregel (rule of recognition) 44 . Diese gibt die Merkmale an, die eine Regel aufweisen muß, um zum System gezählt und damit des den Regeln dieses Systems eigenen sozialen Drucks teilhaftig zu werden. Die Erkennungsregel enthält somit die Geltungskriterien des Systems und ist die wichtigste aller Sekundärregeln. Der Zusammenhang dieser Erkennungsregel mit den grundlegenden Änderungs- und Entscheidungsregeln ist nach Hart ein sehr enger; und zwar in dem Sinne, daß die Erkennungsregel in den Änderungs- und Entscheidungsregeln bereits enthalten ist. Wenn etwa in der Schweiz die grundlegende Änderungsregel besagt, daß die verfassunggebende Gewalt dem Volk und den Ständen zusteht 45 , dann ist damit implizit auch die Erkennungsregel enthalten, daß das, was Volk und Stände beschließen, als Recht zu gelten habe 46 . Das Geltungskriterium der Verfassungsgesetzgebung, wie es die Erkennungsregel enthält, ist im Grunde genommen nur die Kehrseite der Änderungsregel, welche die grundlegende Rechtssetzungsmacht dem Volk und den Ständen überträgt 47 . Ähnliches gilt bei den Entscheidungsregeln: Wenn eine Entscheidungsregel ein Gericht dazu ermächtigt, autoritativ über die Verletzung einer Primärregel zu entscheiden, ist es damit implizit auch ermächtigt, autoritativ über die Geltung dieser Primärregel zu entscheiden. Es existiert somit nach Hart eine Erkennungsregel, welche besagt, daß die in Gerichtsentscheidungen zum Ausdruck kommenden Primärregeln als Recht zu betrachten sind 4 8 . Damit ist natürlich die 41
Hart, Concept of Law 94, Begriff 138. Eckmann 87. 43 Hart, Concept of Law 90, Begriff 132/133. 44 Hart, Concept of Law 92, Begriff 135. Ich übernehme hier und im folgenden die Terminologie Weinbergers, die mir die treffendste Übersetzung von „rule of recognition" zu sein scheint. 45 BV 123 I. 46 Vgl. die allgemeine Darstellung dieses Zusammenhangs bei Hart, Concept of Law 93 und 97/98, Begriff 136 und 142/143. 47 Vgl. Eckmann 91/92. 48 Hart , Concept of Law 94/95: „ . . . if courts are empowered to make authoritative determinations of the fact that a rule has been broken, these cannot avoid being taken as 42
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1. Teil, 4. Kap.: Mischformen des Rechtspositivismus
Rechtsprechung als „Rechtsquelle" anerkannt. — I n einem entwickelten Rechtssystem enthält folglich die grundlegende Erkennungsregel mehrere Geltungskriterien: Sie kann insbesondere die gesetzgeberische, gewohnheitsrechtliche und richterliche Rechtsbildung vorsehen 49 . Die in der Erkennungsregel enthaltenen Kriterien sind der letzte Geltungsgrund aller Regeln des Systems. Da Hart, wenn er von „Geltung" einer Regel spricht, immer nur eine „interne", d.h. innerhalb eines gegebenen Systems bestehende Geltung meint 5 0 , kann sich bei der Erkennungsregel selbst die Frage nach der Geltung nicht mehr stellen. Die Erkennungsregel ist weder gültig noch ungültig 5 1 , weil sie als oberste Regel des Systems nicht ihrerseits wieder aus einer noch höheren Regel als gültig bzw. ungültig erwiesen werden kann. Worin besteht dann aber die spezifische Existenz der Erkennungsregel im System Harts ? Die Erkennungsregel existiert — so führt Hart aus — „nur als eine komplexe, aber normalerweise übereinstimmende Praxis der Gerichte, Beamten und Privatpersonen bei der Identifizierung des Rechts nach gewissen Kriterien. Ihre Existenz ist eine Tatsache 52 . Die Existenz der Erkennungsregel liegt also nach diesem Satz in einem äußeren Verhalten gewisser Gesellschaftsmitglieder, nämlich in der tatsächlichen Anwendung durch diese 53 . Damit scheint Harts Theorie auf eine Variante des soziologischen Positivismus hinauszulaufen. Allein, diese Charakterisierung wäre zu einseitig. Denn neben diesem „äußeren Aspekt", d. h. der soziologischen Tatsache einer Anwendung der Regel durch gewisse Gesellschaftsmitglieder, betont Hart den folgenden „inneren Aspekt" 5 4 : Dieser besteht in der psychologiauthoritative determinations of what the rules are. So the rule which confers jurisdiction will also be a rule of recognition, identifying the primary rules through the judgments of the courts and these judgments will become a ,source' of law"; Begriff 139. 49 Hart , Concept of Law 98: „In a modern legal system where there are a variety of ,sources4 of law, the rule of recognition is correspondingly more complex: the criteria for identifying the law are multiple and commonly include a written constitution, enactment by a legislature and judicial precedents"; Begriff 143. Die Gewohnheit als Rechtsquelle erwähnt Hart , Concept of Law 92, Begriff 136. Zu Harts Lehre von der Hierarchie dieser Geltungskriterien vgl. Eckmann 89, Hart 103/104 und Begriff 151. 50 Hart, Concept of Law 105, Begriff 153. 51 Hart, Concept of Law 105, Begriff 153. 52 Hart , Concept of Law 107: „ . . . the rule of recognition exists only as a complex, but normally concordant practice of the courts, officials and private persons in identifying the law by reference to certain criteria. Its existence is a matter of fact"; Begriff 155. 53 So Eckmann 95. 54 Hart (Concept of Law 55, Begriff 84) spricht zwar nur bei der Behandlung der sog. systemunabhängigen Primärregeln (ζ. B. die Regeln der Etikette) ausdrücklich von „internal aspect" und von „external aspect". (Der innere Aspekt einer sozialen Regel besteht darin, daß sie in einer Sozietät als Standard anerkannt wird; der äußere Aspekt einer sozialen Regel besteht in einem übereinstimmenden äußeren Verhalten einer sozialen Gruppe.) Doch liegt dieses Schema, wie Eckmann 93 ff. überzeugend darlegt, sachlich auch Harts Lehre von der Erkennungsregel zugrunde.
§ 13 Der Rechtspositivismus MacCormicks und Weinbergers
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sehen Tatsache, daß die fragliche Sekundärregel durch die Amtspersonen akzeptiert wird. Erforderlich ist also nicht, daß die Mehrheit der Bürger die Regel anerkennt (obwohl dies meist auch der Fall sein wird, nämlich dann, wenn sich die Bürger mit der offiziellen Rechtssetzung und Rechtsanwendung zufrieden geben 55 ); sondern ein Rechtssystem existiert bereits dann, wenn die Amtspersonen die grundlegende Sekundärregel mit den darin enthaltenen Geltungskriterien akzeptieren 56 . Hart trennt nicht scharf zwischen der Akzeptierung und der Anwendung der grundlegenden Sekundärregel 57 . Vielmehr besteht eine Verbindung zwischen beiden insofern, als sich die Akzeptierung in der Anwendung der Regel offenbart. Die Gesetzgeber anerkennen die grundlegenden Änderungsregeln (und damit implizit auch das entsprechende Geltungskriterium in der Erkennungsregel), wenn sie das Recht gemäß diesen Regeln schaffen; die Gerichte erkennen sie an, indem sie die so erlassenen Vorschriften als von ihnen anzuwendendes Recht identifizieren, und die Experten, indem sie die gewöhnlichen Bürger unter Hinweis auf diese Vorschriften beraten 58 . Von Seiten der Bürger ist, wie gesagt, eine Anerkennung des Rechtssystems nicht erforderlich. Zur Existenz eines Rechtssystems genügt es, wenn sie die Normen im großen und ganzen befolgen. Harts Rechtstheorie ist somit als psychologisch-soziologischer Positivismus zu qualifizieren. Eckmann kennzeichnet sie treffend als ,y4nerkennungsundBefolgungstheorie des Rechts" 59 . M i t dem Gesetzespositivismus und der Reinen Rechtslehre stimmt Hart ferner darin überein, daß er, wie gezeigt, einen normativen Geltungsbegriff verwendet. — Modifikationen von Harts Theorie finden sich im Werk seines Schülers J. Raz. 60
§ 13 Der Institutionalistische Rechtspositivismus Donald Neil MacCormicks und Ota Weinbergers1 Beim Institutionalistischen Rechtpositivismus (IRP) handelt es sich um eine Rechtstheorie, die von Donald Neil McCormick (Edinburgh) und Ota 55 57 59
Hart, Concept of Law 60, Begriff 90. 5 6 Hart, Concept of Law 114, Begriff 164. Eckmann 96. 5 8 Hart, Concept of Law 59/60, Begriff 90. Eckmann 97. 6 0 Raz, Concept, ch. VI-IX; Raz, Authority.
1 Literatur: D. N. Mac Cormick / O. Weinberger, IRR Diese Sammlung von Aufsätzen der beiden Autoren aus den Jahren 1970-1983 wird je nach Autor zitiert als MacCormick, IRP oder Weinberger, IRR Englische Version: dieselben, An Institutional Theory of Law. New Approaches to Legal Positivism (Dordrecht / Boston / Lancaster / Tokio 1986); Ο. Weinberger , Recht, Institution und Rechtspolitik. Grundprobleme der Rechtstheorie und Sozialphilosophie (Stuttgart 1987); derselbe, Revue Internationale de Philosophie 35 (1981) 487 ff.; derselbe, in: W. Krawietz / R. Alexy (Hrsg.), Metatheorie juristischer Argumentation (Berlin 1983) 159ff., bes. 214ff.; derselbe, Norm und Institution. Eine Einführung in die Theorie des Rechts (Wien 1988).
7 Ott, 2. Aufl.
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1. Teil, 4. Kap.: Mischformen des Rechtspositivismus
Weinberger (Graz) unabhängig voneinander und ungefähr zur gleichen Zeit entwickelt worden ist. MacCormick hatte das erste Programm des IRP in seiner Antrittsvorlesung „Law as Institutional Fact" im Jahre 1973 vorgelegt 2 , und Weinberger hatte im wesentlichen die gleichen Gedanken in seinem Aufsatz „Die Norm als Gedanke und Realität" im Jahre 1970 veröffentlicht 3 . Der IRP baut auf den folgenden allgemeinen Voraussetzungen auf: 1. Für die praktische Philosophie ist auszugehen von einer gnoseologisch (erkenntnismäßig) differenzierten Semantik, d. h. rein beschreibende Sätze (Aussagesätze) und praktische Sätze (ζ. B. Normsätze) sind kategorial verschieden4. 2. Aus dieser kategorialen Zäsur zwischen beschreibenden und praktischen Sätzen folgen die beiden Unableitbarkeitspostulate: a) „Aus einer Klasse rein deskriptiver Prämissen kann kein informativer Normsatz abgeleitet werden 5 ." b) „Aus einer Klasse praktischer (insbesondere normativer) Prämissen kann kein informativer Aussagesatz abgeleitet werden 6 ." Diese beiden Unableitbarkeitsthesen sind nicht logische Prinzipien, die sich als richtig beweisen lassen, sondern sie sind metalogische Postulate, denen jedes normenlogische System entsprechen muß 7 . 3. Über die Unableitbarkeitspostulate hinaus gilt die These des NonKognitivismus: Es ist unmöglich, „informative praktische Sätze rein kognitiv zu begründen, d. h. ohne solche Argumente, die auch Stellungnahmen enthalten" 8 . Es gibt keine praktische Erkenntnis, d. h. keine Möglichkeit, richtiges Recht, insbesondere ein Naturrecht, objektiv zu erkennen 9 . Trotzdem sind auch auf dem Boden des Non-Kognitivismus rationale Argumentationen im Wertbereich möglich: nämlich (a) durch Analyse von ZweckMittel-Relationen und durch Analyse der Folgen unserer Handlungen sowie (b) durch Prüfung der inneren Konsequenz unserer Wertungen 10 . Demzufol2
Inaugural Lecture Nr. 52, University of Edinburgh 1973, auf deutsch erschienen in MacCormick , IRP 76 ff. 3 ÖZöR 20 (1970) 203 ff., wieder abgedruckt in Weinberger, IRP 60 ff. 4 Vgl. Weinberger, IRP 19 f. und derselbe, Revue Internationale de Philosophie 35 (1981) 488. 5 Weinberger, IRP 21. 6 Weinberger a.a.O. 7 Vgl. Weinberger, IRP 21. 8 Weinberger, IRP 187. MacCormick, IRP 58, fragt sich, ob er ein Non-Kognitivist sei. Seine Ausführungen a.a.O. belegen aber klar, daß er im entscheidenden Punkt NonKognitivist ist. Denn er anerkennt eine Wahrheit von Moralurteilen nur in bezug auf irgendwelche Wertvoraussetzungen, die nicht selbst argumentativ rechtfertigbar sind. 9 Weinberger, IRP 38. 10 Vgl. Weinberger, IRP 46.
§13 Der Rechtspositivismus MacCormicks und Weinbergers
99
ge wird die Möglichkeit rationaler De-lege-ferenda-Argumentationen in diesem eingeschränkten Sinne anerkannt. 4. Das Recht ist stets gesellschaftlich bedingt, d. h. es entstammt dem menschlichen Wollen und nicht spekulativen Vernunftprinzipien oder einer absoluten Wertsphäre 11 . 5. Das Rechtssystem ist ein von der positiven Moral zu unterscheidendes Normensystem, „das nur dort Normen der gesellschaftlichen Moral heranzieht, wo auf diese verwiesen wird" 1 2 . I n der Umgangssprache wird zwar der Terminus „Recht" mit gutem Grund nicht wertfrei verwendet, weil normale Rechtssysteme mit dem Anspruch auftreten, daß ihre Gebote und Verbote gesellschaftlich gerechtfertigt sind. Der Rechtstheoretiker jedoch sollte „mit einem wertfreien Begriff des Rechts (der Rechtsordnung) arbeiten und ,ungerechtes Recht', ,unmoralisches Recht4 u. ä. nicht als contradictio in adjecto ansehen..., denn dies ist eine notwendige Bedingung dafür, daß man die institutionell existente Realität in jedem Fall darstellen kann" 1 3 . Der IRP will eine Rechtsontologie sein, die eine angemessene Antwort gibt auf die folgende Frage: Wie kann rechtlichem Sollen reales Dasein zugeschrieben werden, obwohl Sollen prinzipiell (d. h. i. S. der vorstehend genannten Thesen 1 und 2) vom Sein verschieden ist 14 ? Die Antwort, die anknüpft an die Unterscheidung von J. R. Searle zwischen rohen und institutionellen Tatsachen 15 , lautet: I n der menschlichen Welt gibt es Tatsachen wie z. B. Staaten, Religionen, Spiele, Kulturen und Rechtsordnungen, bei denen die Mittel zur adäquaten Darstellung roher Tatsachen (z. B. Steine, Seen, Planeten) nicht ausreichen. Zur Darstellung solcher institutioneller Tatsachen ist es unerläßlich, praktische Begriffe heranzuziehen 16 , insbesondere die Begriffe der Handlung und der praktischen Informationen. Die Grundthese der Ontologie des IRP lautet: Es besteht eine wesenhafte Verbindung zwischen „institutionellen Tatsachen auf der einen Seite und praktischen Informationen (Normen-, Zweck- und Wertsystemen) auf der anderen Seite. Die Institutionen sind funktional verbunden mit real daseienden Systemen praktischer Informationen (insbesondere normativen Regulativen); institutionelle Tatsachen und deren beobachtbare Abläufe können nur dann verstanden werden, wenn man sie im 11 12 13 14 15 16
i*
Weinberger, IRP 41. Weinberger, IRP 50. Weinberger, IRP 48. Vgl. Weinberger, Revue Internationale de Philosophie 35 (1981) 501. Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay (Frankfurt 1971) 78 ff. Weinberger, Revue Internationale de Philosophie 35 (1981) 502.
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1. Teil, 4. Kap.: Mischformen des Rechtspositivismus
Kontext mit normativen Regulativen deutet, und das heißt zu guter Letzt, wenn man sie im Handlungskontext auffaßt" 17 . Die Bewegungen von Schachspielern ζ. B. können nicht verstanden werden, wenn man sie als bloße Verhaltensregelmäßigkeiten deutet, sondern erst dann, wenn man die Schachregeln kennt. Ebensowenig können gesellschaftlich relevante Handlungen von Menschen verstanden werden, ohne daß man die maßgebenden Normen des Rechts, der Moral und der Sitte kennt. Zusammenfassend hält Weinberger
fest:
„.Institutionen sind Rahmensysteme menschlichen Handelns. Sie haben einen Kern praktischer Informationen. Sie sind in dem Sinne immer ein komplexer Gegenstand, als sie aus einem geordneten System praktischer Informationen bestehen, das in Wirkzusammenhängen mit psychischen und gesellschaftlichen Tatsachen und Vorgängen steht 1*." Dabei kann man zwei Unterscheidungen treffen: Es läßt sich einerseits unterscheiden zwischen Normativ- und Realinstitutionen 1 9 . Zu den Normativinstitutionen gehören die Rechtsinstitutionen (oder Rechtsinstitute 20 ) wie Eigentum, Ehe, Testament, Intestaterbfolge, Körperschaft, Rechtspersönlichkeit usw. Zu den Real- (oder Sach-)Institutionen gehören Einrichtungen wie Spitäler, Universitäten, Spiele, das Bankwesen oder der Markt. Die Unterscheidung zwischen diesen beiden Arten von Institutionen ist freilich nicht scharf. „Die Ehe ist ein normatives Institut; sie ist aber auch ein soziales Gebilde — eine Sachinstitution —, das Personen, Rollenbeziehungen und Gegenstände umfaßt 2 1 ." Umgekehrt sind Spiele wie das Fußball- oder Schachspiel nicht nur soziale Einrichtungen, sondern auch normative Institute, nämlich Systeme von Regeln. Die Unterscheidung gibt lediglich an, wo der Akzent liegt, ob mehr im normativen oder mehr im sachlichen Bereich. Andererseits muß man nach MacCormick unterscheiden zwischen der Institution (ζ. B. der Ehe oder des Vertrages) und den individuellen Fällen der Institution (den konkreten Ehen oder Verträgen) 22 . Bei den Institutionen des Rechts finden wir nach ihm drei Typen von Regeln 23 : 1. Institutive Regeln, die festsetzen, unter welchen Bedingungen ein individueller Fall der Institution Existenz erlangt (also ζ. B. die Regeln über die Eheschließung). 17
Weinberger, Rechtspolitik 149 f. Weinberger, Rechtspolitik 33. 19 Weinberger, Rechtspolitik 34/154. 20 Im Deutschen verwendet man im Gegensatz zum Englischen für diese Institutionen auch den Terminus „Institute". 21 Weinberger, Rechtspolitik 33. 22 MacCormick, IRP 82. 18
§ 13 Der Rechtspositivismus MacCormicks und Weinbergers
101
2. Konsequentielle Regeln, die festlegen, welches die Rechtsfolgen der Existenz eines Falles der Institution sind (also z.B. die Regeln über die Wirkungen der Ehe). 3. Terminative Regeln, die festlegen, unter welchen Bedingungen ein Fall der Institution beendet ist (z. B. die Regeln über die Ehescheidung). Zu den institutionellen Tatsachen gehört nun auch das Recht 24 . Eine Rechtsnorm ist einerseits eine Idealentität (ein objektiver Gedanke), die im Normalfall sprachlich ausgedrückt wird 2 5 . Sie ist nicht eine platonische Idee, sondern schlicht die Bedeutung einer sprachlichen Zeichenreihe 26 . Als Idealentität unterliegt sie der semantischen Analyse und steht in logischen Beziehungen 27 . Die Norm in diesem Sinne darf nicht verwechselt werden mit psychologischen Tatsachen. Wenn z. B. Fahrgäste in einen Autobus einsteigen und den Fahrpreis bezahlen, ist es ziemlich sicher, daß viele davon nicht wissen, daß sie einen Vertrag mit dem Busunternehmen abgeschlossen haben. Aber dieses Nichtwissen ist völlig unerheblich für die Feststellung, daß so viele Verträge wie Passagiere existieren 28 . — Das Recht ist in diesem Sinne philosophisch institutionell a9. Andererseits hat die Norm aber auch ein reales Dasein. Dieses wird vor allem durch zwei Momente vermittelt: Erstens lebt die Norm in der Sphäre des menschlichen Bewußtseins. „Es gibt so etwas wie ein Sollerlebnis, das Bewußtsein, daß etwas gesollt ist 3 0 ." Daneben gibt es auch das Soll-Wissen, das Wissen, daß etwas in einer Gruppe gilt, wobei der Träger dieses Wissens die Norm nicht unbedingt selbst bejahen muß 3 1 . Normen wirken so als Handlungsdeterminanten im Menschen. Zweitens hängt das reale Dasein der Norm eng mit sozialen Institutionen wie Verwaltungsbehörden, Gerichten, gesetzgebenden Organen usw. zusammen 3 2 . Das Recht ist insofern soziologisch institutionell, als es von solchen Institutionen geschaffen, aufrechterhalten, durchgesetzt und weiterent23
MacCormick, IRP 80 f. MacCormick, IRP 76 ff. 25 Normen des Gewohnheitsrechts brauchen nicht ausdrücklich sprachlich formuliert zu sein, man kann sie aber immer sprachlich formulieren. 26 Vgl. Weinberger,, IRP 77. 27 Weinberger, Revue Internationale de Philosophie 35 (1981) 502. Diese Annahme Weinbergers, daß logische Beziehungen direkt zwischen den Normen bzw. den Normsätzen bestehen, ist umstritten. Vgl. vorne § 5 Β II, I I I , I V und hinten § 24 D. 28 Vgl. MacCormick, IRP 77. 29 Vgl. MacCormick, IRP 85. 30 Weinberger, IRP 68. 31 Weinberger, IRP 69. 32 Weinberger, IRP 69. 24
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1. Teil, 4. Kap.: Mischformen des Rechtspositivismus
wickelt wird 3 3 . Das Wirken des Staatsapparates besteht zum Teil in Vorgängen, die sinnlich wahrnehmbar sind, die beobachtet werden können. Aus dieser Doppelnatur der Norm folgt, daß die Rechtserkenntnis i. S. des IRP sowohl Verstehen des normativen Sinngehalts der Rechtsordnung als auch Erkenntnis der zugehörigen gesellschaftlichen Wirkungen ist. Die Rechtsnorm selbst kann nicht beobachtet, sondern nur als Sinngebilde verstehend erfaßt werden 34 . Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, eine analytische Hermeneutik i. S. des IRP zu entwickeln 35 , eine Aufgabe, zu deren Lösung bisher noch kaum Ansätze vorliegen 353 . Bisher steht lediglich fest, daß das Deuten als notwendiger Bestandteil der Kommunikation in pragmatischen Sprachen erkannt werden muß und daß die Hermeneutik als systematische Weiterentwicklung des „natürlichen Deutens" anzusehen ist 3 6 . Aus der Doppelnatur des Rechts folgt weiter, daß der IRP eine Position jenseits von Normativismus und Realismus einnimmt 3 7 . M i t dem Normativismus (insbesondere Kelsens) stimmt er darin überein, daß das Recht primär als ein normativ-gedanklicher Gegenstand, als ein Normensystem, betrachtet wird und daß Sein und Sollen bzw. Aussagesätze und Normsätze kategorial verschieden sind. Der IRP unterscheidet sich dagegen vom Normativismus Kelsens hauptsächlich in drei Punkten: 1. Das Reinheitspostulat Kelsens 38 wird abgelehnt 39 . Auch nicht-normative Methoden wie ζ. B. diejenigen der Psychologie und der Soziologie sind für die Erkenntnis des Rechts zugelassen. 2. Der Geltungsgrund einer einzelnen Norm des Systems liegt nicht in einer höheren Norm allein 4 0 , sondern in einem Zusammenspiel zwischen höheren Normen und beobachtbaren Tatsachen. Betrachten wir dazu das vorne erwähnte Beispiel: (a) Was der König befiehlt, soll man tun. (b) Der König befiehlt, X zu tun. (c) Also soll man X tun. 33
MacCormick, IRP 85. Vgl. Weinberger, in: Metatheorie juristischer Argumentation 215. 35 Vgl. dazu Weinberger, in: Metatheorie juristischer Argumentation 225 ff. 35a V g l . jetzt aber H. Alwart, Recht und Handlung. Die Rechtsphilosophie in ihrer Entwicklung vom Naturrechtsdenken und vom Positivismus zu einer analytischen Hermeneutik des Rechts (Tübingen 1987) 86 ff. und 110 ff. 36 Weinberger, Rechtspolitik 105. 37 Weinberger, IRP 15. 38 Vorne § 5 A bei Ν 4. 39 Vgl. Weinberger, IRP 12 f. 34
§13 Der Rechtspositivismus MacCormicks und Weinbergers
103
Das Beispiel zeigt, daß der Geltungsgrund für den abgeleiteten Normsatz (c) in einem Zusammenspiel zwischen dem vorausgesetzten Normsatz (a) und dem Aussagesatz (b) beruht, nicht im Normsatz (a) allein. 3. Der Geltungsgrund des Rechtssystems als Ganzem kann nicht in einer hypothetischen Grundnorm liegen, denn eine solche ist nicht geeignet, die Geltung realer Normen zu begründen. Die Geltung eines Rechtssystems in der gesellschaftlichen Realität hängt immer von Tatsachen ab, die nur durch soziologische Beobachtungen erkannt werden können 4 1 . Vom Realismus unterscheidet sich der IRP folgendermaßen: Der Rechtsrealismus schaltet entweder das normative Element vollständig aus (so bei Hägerström 42 und gewissen Formen des amerikanischen Rechtsrealismus 43 ) oder er behält zwar das normative Element bei, siedelt jedoch die Geltung des Rechts im Bereich des Faktischen an, so daß diese mit der Positivität zusammenfällt 44 : Der psychologische Realist erblickt die Geltung des Rechts in psychischen Zuständen wie „Sollenserlebnis", „Anerkennung", „opinio necessitatis" 45 , der soziologische Realist in gewissen äußeren Verhaltensweisen 46 , vor allem in der Anwendung des Rechts durch den Staatsapparat, und Alf Ross versucht eine Kombination zwischen beidem, indem bei ihm Geltung bedeutet, daß eine Rechtsnorm von den Richtern als bindend empfunden und daher angewendet wird 4 7 . — Der IRP verwendet demgegenüber wie der Gesetzespositivismus und die Reine Rechtslehre den vorstehend erläuterten normativen Geltungsbegriff. Gegen den soziologischen Rechtsrealismus insbesondere wendet er ein, daß das Recht in der Gesamtheit der durch es geschaffenen gesellschaftlichen Einrichtungen real ist und es somit einer unzulässigen Verkürzung der Sichtweise gleichkommt, nur die Tätigkeit des Rechtsstabes zu betrachten. Der Ansatz des IRP führt zu einer erheblichen Erweiterung des Begriffs des positiven Rechts 48: Zum Rechtssystem gehören nicht nur die explizit gegebenen Primär- und Sekundärregeln i. S. Harts (bzw. die Verhaltens- und Ermächtigungsnor40 Vgl. vorne § 5 A bei Ν 12 ff. und Kelsen, Reine Recntslehre 197. Hier liegt allerdings bei näherer Betrachtung kein großer Unterschied zu Kelsen vor. Denn auch für Kelsen ist bekanntlich die Wirksamkeit der Norm für ihre Geltung bedeutsam, indem jene eine Bedingung für die Geltung darstellt. 41 Weinberger, IRP 144. 42 A. Hägerström, in: R. Schmidt (Hrsg.), Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen V I I (Leipzig 1929) 132, 155. 43 Vorne § 11. 44 Vorne § 1 Β III. 45 Vorne §§ 6/7. 46 Vorne §§8-11. 47 Vorne § 7 Β bei Ν 27. 48 Vgl. dazu Weinberger, IRP 33 und Rechtspolitik 119 f.
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1. Teil, 5. Kap.: Der Begriff des Rechtspositivismus
men), sondern auch die sog. Rechtsprinzipien, ja der gesamte teleologische Hintergrund des Rechts (ζ. B. Gerechtigkeitspostulate) sowie die juristische Doktrin, soweit diese Elemente positiv-soziales Dasein haben, d. h. in der Argumentation der Rechtspraxis wirksam sind. I m Sinne des IRP sind diese Elemente keineswegs Bestandteile eines Naturrechts, sondern Konstituenten des positiven Rechts. Darin liegt — wie wir sehen werden — die praktisch wichtigste Konsequenz der Rechtstheorie des IRP.
Fünftes Kapitel
Der Begriff des Rechtspositivismus
§ 14 Die Mehrdeutigkeit des Wortes „Rechtspositivismus" I m folgenden soll als Abschluß der vorangehenden Darstellung verschiedener Spielarten des Rechtspositivismus versucht werden, einen möglichst prägnanten Begriff des Rechtspositivismus aufzustellen. Wie immer, wenn es darum geht, die genaue Bedeutung eines Wortes anzugeben, empfiehlt es sich, zunächst vom Sprachgebrauch auszugehen. Grundsätzlich fallen jeweils in Betracht der Gebrauch eines Wortes in der Alltagssprache oder in der wissenschaftlich-philosophischen Sprache. Beim Ausdruck „Rechtspositivismus" kann offenbar nur der wissenschaftlich-philosophische Sprachgebrauch als Anknüpfungspunkt in Frage kommen, weil dieses Wort in der Alltagssprache keine Verwendung findet. Wir werden also zunächst bei einigen Autoren nachforschen, was für Bedeutungen sie dem Ausdruck „Rechtspositivismus" beilegen. Das Ergebnis wird sein, daß der Ausdruck mehrdeutig ist. Nach Hart sind in der heutigen Rechtstheorie mindestens fünf Bedeutungen von „Positivismus" im Umlauf, die in folgenden fünf (voneinander logisch unabhängigen) Thesen zum Ausdruck kommen 1 : Erstens: Gesetze sind menschliche Befehle; zweitens: Es besteht kein notwendiger Zusammenhang zwischen Recht und Moral (d. h. zwischen dem Recht, wie es ist, und dem Recht, wie es sein sollte); drittens: Die Bedeutungsanalyse von Begriffen ist zu unterscheiden sowohl von empirischen Untersuchungen über das Recht wie auch von der kritischen Würdigung des Rechts unter dem Gesichtspunkt der Moral oder sonstiger sozialer Zielvorstellun1 Hart, Recht und Moral 23; Harv. L. R. 71 (1957/58) 601/602 Ν 25. Vgl. die zusammenfassende Darstellung der fünf Thesen bei Hoerster, Einleitung 6.
§ 14 Die Mehrdeutigkeit des Wortes „Rechtspositivismus"
105
gen; viertens: Das Recht ist ein „in sich geschlossenes logisches System", aus dem sich mittels logischer Deduktionen — ohne Rücksicht auf außerpositive Prinzipien — richtige rechtliche Entscheidungen fällen lassen; und fünftens: Moralische (insbesondere rechtspolitische) Urteile sind rational nicht begründbar (ethischer Nonkognitivismus). I n ähnlicher Weise hält A. Baratta die folgenden drei Bedeutungen von „Rechtspositivismus" auseinander: I n erster Linie erweise sich der Rechtspositivismus als eine Rechtstheorie, „welche die Gültigkeit der Rechtsnormen ausschließlich von der Tatsache ableitet, daß sie von Rechtsorganen aufgestellt sind, deren rechtsetzende Zuständigkeit sich aus Normen ergibt, welche die Organisation der Rechtsordnung regeln" 2 . I n dieser Bedeutung sei der Rechtspositivismus an eine Geisteshaltung gebunden, für die das Recht, so wie es ist, vom Recht, wie es sein soll, als zwei voneinander trennbare und zu trennende Problemkreise zu unterscheiden sei3. In seiner zweiten Bedeutung erweise sich der Rechtspositivismus als eine Werttheorie, nach der das Sein-Sollen nicht vom Sein abzuleiten sei. Deshalb seien Werturteile (ganz besonders solche, die das Recht, so wie es sein soll, betrachten) nicht rational begründbar, d. h. beweisbar 4. In seiner dritten Bedeutung erweise sich der Rechtspositivismus als eine Methode zur Fassung und Interpretation der Gesetze, die auf der Idee der Rechtssicherheit beruhe. Diese Rechtssicherheit werde von Seiten des Gesetzgebers durch Aufstellung von Gesetzestatbeständen mit eindeutiger Bedeutung erreicht sowie durch die Unterordnung des Gesetzesauslegers unter den Willen des Gesetzes5. — Baratta betont jedoch, mit der Fixierung des Ausdrucks „Positivismus" auf diese drei Thesen nicht alle Bedeutungen aufgezeigt zu haben 6 . Andere Autoren legen das Schwergewicht auf die Verwandtschaft des juristischen Positivismus mit dem allgemeinen philosophischen Positivismus 7 . Wie dieser lehne jener jegliche metaphysische Spekulation ab und 2
Baratta, ARSP 54 (1968) 330. Baratta, ARSP 54 (1968) 330. 4 Baratta, ARSP 54 (1968) 330. 5 Baratta, ARSP 54 (1968) 332. 6 Baratta, ARSP 54 (1968) 329. Auch Coing 77/78 reduziert den juristischen Positivismus auf drei Thesen, nämlich: a) Nur positives Recht ist Recht, b) Das positive Recht beansprucht unbedingten Gehorsam; dies deshalb, weil sittliche Wertungen allein subjektive Überzeugungen sind, c) Die Auslegung des Gesetzes hat sich grundsätzlich auf die grammatisch-logische Auslegung zu beschränken. Wieder eine andere Einteilung findet sich bei Bobbio 103 ff. 7 In diesem Sinne die Ausführungen von Coing 59 ff.; Henkel 487 ff.; Kelsen, JZ 20 (1965) 465; Larenz 36 ff.; Eckmann 16 ff./25/33/35; Wieacker 431 f.; W. Krawietz, Neues Naturrecht oder Rechtspositivismus?, Rechtstheorie 18 (1987) 216 Ν 21. 3
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1. Teil, 5. Kap.: Der Begriff des Rechtspositivismus
wolle sich demgegenüber an das „positiv Gegebene" halten, an unbestreitbare Fakten (ζ. B. Setzungsakte durch eine staatliche Instanz; Bewußtseinsinhalte, insbesondere Gefühle bestimmter Individuen; beobachtbare Verhaltensweisen des „Rechtsstabes" oder der Mitglieder einer bestimmten Sozietät u. a. m.), wobei je nachdem, in welchen Tatsachen man die „Positivität" erblickt, verschiedene Varianten zu unterscheiden seien. Oft wird unter Rechtspositivismus auch nur der etatistische, besonders der Gesetzespositivismus verstanden 8 . Nach Brecht bezeichnet das Wort Rechtspositivismus „die Lehre, daß nur diejenigen Normen rechtsgültig sind, die von der Regierung eines souveränen Staates in den von der (geschriebenen oder ungeschriebenen) Verfassung vorgesehenen Formen erlassen oder anerkannt werde" 9 . Nach Fechner findet sich der Rechtspositivismus in der üblichen Bedeutung des Wortes mit dem Rechtssetzungsakt als einem Faktum ab, das weiterer Erklärung nicht bedarf. I m engeren Sinne positivistisch ist für diesen Autor nur die Machttheorie, derzufolge das Recht menschliche Setzung aus der Willkür des Mächtigen ist, welcher im Bereich seiner Macht setzt und durchsetzt, was ihm wünschenswert oder notwendig erscheint 10 . — Eine Gleichsetzung des Rechtspositivismus mit dem Gesetzespositivismus nimmt demgegenüber Kaufmann in verschiedenen Aufsätzen vor 1 1 . Die Fülle dieser Ansichten belegt klar, daß das Wort „Rechtspositivismus" mehrdeutig ist. Einen einheitlichen Sprachgebrauch gibt es nicht; folglich fällt eine reine analytisch-semantische Definition im hinten zu erläuternden Sinne außer Betracht 12 . Es stellt sich uns deshalb die Aufgabe, einen möglichst fruchtbaren Begriff des Rechtspositivismus vorzuschlagen; m. a. W. geht es nicht darum festzustellen, was Rechtspositivismus „ist", sondern darum, festzusetzen, was man sinnvollerweise unter Rechtspositivismus verstehen soll. Zu diesem Zwecke scheint es mir notwendig zu sein, drei Problemkreise klar auseinanderzuhalten, die in den vorstehend angeführten Charakterisierungen des Rechtspositivismus angeschnitten worden sind 1 3 : 8 So definiert z. B. J. Hoffmeister, Wörterbuch der philosophischen Begriffe (2. Aufl. Hamburg 1955) den Rechtspositivismus als „die Gleichsetzung des Rechts mit dem in Gesetzen, Satzungen usw. gegebenen sog. positiven Recht". Zit. nach Kelsen, JZ 20 (1965) 466 und dort Ν 10. 9 Brecht 220/221. 10 Fechner 36. 11 Kaufmann 102, 132 f. und 208/275 (Rechtsphilosophie im Wandel. Stationen eines Weges [Frankfurt a. M. 1972]). Der Gesetzespositivismus ist gegenüber den anderen Arten des etatistischen Positivismus, wie wir gesehen haben, vor allem dadurch ausgezeichnet, daß bei ihm noch eine bestimmte, den Richter eng an den Wortlaut des Gesetzes bindende Rechtsanwendungsmethode hinzutritt. 12 Vgl. hinten § 19 A. Das heißt natürlich nicht, daß wir bei unserer Definition vom bisher üblichen, wenn auch uneinheitlichen Sprachgebrauch, völlig abstrahieren dürfen. Im Gegenteil sollte die Definition mit dem bisherigen Sprachgebrauch so weit als möglich vereinbar sein.
§ 14 Die Mehrdeutigkeit des Wortes „Rechtspositivismus"
107
Der erste Problemkreis betrifft die Bestimmung des Begriffs des Rechts. I n diesen Problemkreis gehören die Fragen nach den Merkmalen der Positivität, nach der Rechtsgeltung, nach der Trennung bzw. Verbindung von Recht und Moral, nach der Relativität und Beliebigkeit des Rechtsinhaltes, nach der Rechtspflicht und dem Widerstandsrecht im juristischen Sinne sowie nach der Verwandtschaft des juristischen Positivismus mit dem allgemeinen philosophischen Positivismus. Der zweite Problemkreis betrifft das Interpretations - und Lückenproblem: Hierher gehören die Fragen nach der Bindung bzw. Freiheit des Richters dem Gesetz gegenüber, nach der Berechtigung bzw. Nichtberechtigung einer rein formallogischen Rechtsanwendungsmethode. Der dritte Problemkreis betrifft das Wertproblem. Zu diesem Problemkreis gehören die Fragen nach der Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit einer rationalen Begründung von axiologischen Sätzen (und damit auch nach der Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit einer rationalen Rechtspolitik), nach dem Verhältnis von Sein und Sollen und nach dem Widerstands „recht" im moralischen Sinne. Es fragt sich nun, bei welchem Problemkreis wir zweckmäßigerweise einhaken sollen, um zu einem Begriff des Rechtspositivismus zu gelangen. Entscheiden wir uns für den zweiten Problemkreis, müssen wir als „positivistisch" definieren eine Rechtstheorie, die eine formale Rechtsanwendungsmethode vorschlägt, also die Lehre vom Richter als einem Subsumtionsautomaten vertritt 1 4 . Daraus würde folgen, daß Theorien wie diejenigen von Austin, Kelsen, Bierling, Ehrlich. Ross, Geiger und Hart nicht als „positivistisch" zu gelten hätten, weil diese Autoren die schöpferische Funktion der Rechtsanwendung betont haben. Eine solche Definition würde sich aber weit vom üblichen Sprachgebrauch entfernen, da man diese Autoren meist als typische Positivisten, ja mitunter als Exponenten des Rechtspositivismus {Kelsen) hinstellt 1 5 ; sie wäre also ausgesprochen unglücklich. — Entscheiden wir uns für den dritten Problemkreis, dann wählen wir als Anknüpfungspunkt für eine Charakterisierung des Rechtspositivismus ein Gebiet, das auch und vor allem der allgemeinen Philosophie, nämlich der Wertphilosophie, angehört. Ob axiologische Sätze rational begründbar sind und ob aus Seinssätzen Sollenssätze abgeleitet werden können, interessiert den Fachphilosophen, insbesondere den Moralphilosophen, ebensosehr wie den Juristen. Es erscheint mir daher nicht sinnvoll, für die Kennzeichnung einer rechisi heoretischen Position an diesem Punkte einzuhaken. Aus diesem 13
Vgl. die Unterscheidung dieser drei Problemkreise bei Cattaneo , Kap. 1. Ob daneben noch weitere Merkmale in den Begriff aufzunehmen wären, braucht hier nicht geprüft zu werden. 15 Vgl. z. B. A. Kaufmann / W. Hassemer, Grundprobleme der zeitgenössischen Rechtsphilosophie und Rechtstheorie (Frankfurt a. M. 1971) 11. 14
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1. Teil, 5. Kap.: Der Begriff des Rechtspositivismus
Grunde entscheiden wir uns für den ersten Problemkreis: Maßgebend für unsere Definition soll sein, welchen Begriff des Rechts die einschlägigen Theorien voraussetzen.
§ 15 Definitionen und Charakterisierung des Rechtspositivismus1 Wir definieren den Rechtspositivismus wie folgt: Unter Rechtspositivismus soll hier verstanden werden jede Theorie, die unter Vermeidung metaphysischer Annahmen (d. h. insbesondere der Existenz Gottes, eines Ideenreiches, einer vernünftigen Weltordnung, einer unveränderlichen Natur des Menschen oder einer teleologisch bestimmten Natur) den Begriff des Rechts mit Hilfe empirischer Merkmale bestimmt, die jeweils veränderlich sind ( = Rechtspositivismus im weiteren Sinne). I n einem engeren Sinne als hier angegeben, kann man unter „Rechtspositivismus" aber auch nur die etatistischen Positivismen verstehen. I n diesem Sinne läßt sich dann der Rechtspositivismus dem Rechtsrealismus (psychologische und soziologische Theorien) gegenüberstellen. I m engsten Sinne positivistisch ist dagegen nur der Gesetzespositivismus, der sich durch eine besondere Rechtsanwendungslehre auszeichnet 13 . Die in dieser Definition angegebenen Merkmale sind nun näher zu erläutern: A. Der Verzicht auf sogenannte „metaphysische" Annahmen Unter Metaphysik versteht man „die philosophische Lehre von den allgemeinsten Prinzipien des Seins und den letzten erkennbaren Zusammenhängen des Seienden und des Geschehens"2. Die Metaphysik handelt also von den „letzten" Dingen, vom Transzendenten, Unerfahrbaren, Übersinnlichen, Absoluten. Metaphysisch sind solche Aussagen, die sich nicht auf innere oder äußere Erfahrung und deren denkerische Verarbeitung mittels der Logik und der Mathematik zurückführen lassen. Charakteristisch für alle rechtspositivistischen Theorien ist es nun, daß sie ohne solche metaphysischen Annahmen zu operieren versuchen 3 . Die Positivi1
Vgl. dazu auch A. Aarnio, Form and Content in Law: Dimensions and Definitions of Legal Positivism, in: derselbe, Philosophical Perspectives in Jurisprudence (Helsinki 1983) 76 ff.; F. Müller, Artikel: Positivismus, in: N. Achterberg (Hrsg.), Ergänzbares Lexikon des Rechts (Neuwied 1986) 1 ff. la V g l . vorne § 4 bei Ν 19 ff. 2 R. Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe I I (4. Aufl. Berlin 1929) 126. 3 Eine Sonderstellung nimmt hier die hypothetische Grundnorm Kelsens ein, die schon
Psychologischer Positivismus (ζ. B. Recht ist das, was die Mehrheit der Bevölkerung anerkennt ->- „Anerkennungstheorien")
Quelle: Gedächtnisschrift für René Marcie, Berlin 1983.
Rechtspositivismus im engeren Sinne
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Rechtsrealismus
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-
Soziologischer Positivismus (ζ. B. Recht sind die Regeln, die tatsächlich befolgt und durch den sog. „Rechtsstab" angewendet werden) (Max Weber, Theodor Geiger)
GesetzesReine Analytical Generelle Individuelle SkandinapositivisRechtslehre JurispruAnerkenAnerkenvischermus (Berg- (Kelsen) dence nungstheonungstheoRechtsbohm) (J. Austin) riien (Merrien (Bierrealismus ' ν ' kel, Jellinek) ling) (Alf Ross) I Rechtspositivismus im engsten Sinne
Etatistischer Positivismus (Recht ist das, was durch eine soziale Autorität, insbesondere durch den Staat, gesetzt wird)
im weiteren Sinne
Anknüpfen an das „Positiv Gegebene"
Rechtspositivismus
§15 Definitionen und Charakterisierung des Rechtspositivismus 109
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1. Teil, 5. Kap.: Der Begriff des Rechtspositivismus
sten verzichten insbesondere darauf, die Existenz Gottes, eines Reiches absoluter Ideen oder Werte, einer Weltvernunft, einer teleologisch bestimmten Natur oder einer unveränderlichen Natur des Menschen vorauszusetzen bzw. nach dem „Wesen", der „Idee" oder der „Essenz" des Rechts zu fahnden. Bei manchen Rechtspositivisten geht dieses Anliegen mit einer ausgesprochenen Metaphysikfeindschaft einher. Hier sind insbesondere die Vertreter der Uppsala-Schule wie z. B. Geiger oder Ross zu erwähnen. Andere wiederum verzichten nur im Rahmen ihrer positivistischen Theorie auf metaphysische Annahmen, halten aber im übrigen den Versuch einer metaphysischen Erkenntnis offenbar nicht für ein zum vornherein unmögliches Unterfangen, ja mitunter wird etwa die Existenz Gottes 4 oder einer transzendenten sittlichen Weltordnung 5 offen angenommen. Diese zweite Haltung ist die angemessenere. Denn aus dem positivistischen Erkenntnisbegriff folgt nur, daß metaphysische Erkenntnis jedenfalls eine Erkenntnis anderer Art sein muß, nicht aber, daß sie prinzipiell unmöglich ist 6 . B. Bestimmung des Begriffs des Rechts durch empirische Merkmale Der Verzicht eines Rückgriffs auf metaphysische Annahmen führt die Rechtspositivisten dazu, den Begriff des Rechts durch empirische Merkmale zu bestimmen, die als solche nicht aufwerte bezogen sind. Die Ausklammerung von Rechtsinhalten aus dem Begriff des Rechts wird bei allen Rechtspositivismen deutlich: Wenn man etwa des Recht zurückführt auf den Willen eines Machthabers oder auf die Anerkennung durch die Mehrheit der Mitglieder einer Gesellschaft oder auf faktisch gelebte Verhaltensweisen, kommt es offensichtlich nicht darauf an, was nun inhaltlich der Machthaber gebietet oder die Mehrheit in der Gesellschaft anerkennt oder wie sich konkret die Menschen verhalten. Dem Rechtspositivismus dient als Kriterium seines Begriffs des Rechts allein das Moment der „Positivität": Das Recht wird immer definiert unter Bezugnahme auf eine physische oder psychische Wirklichkeit; die rechtskonstituierenden Merkmale sind Tatsachen der raum-zeitlichen Außenwelt (Akte eines Machthabers oder Gesetzgebers bzw. tatsächliche Anwendung oder Befolgung von Regeln) oder der seelischen Innenwelt (psychologische Tatsachen wie „Anerkennung", „Solvon Vertretern anderer rechtspositivistischer Richtungen als „metaphysisch" beurteilt worden ist. Aber jedenfalls würde es sich hier i. S. Eislers, 126, um eine „kritische", nicht um eine „dogmatische" Metaphysik handeln. 4 So bei Austin, vgl. vorne § 3 bei Ν 17 ff. 5 So bei Laun, vgl. vorne § 6 A II. 6 Vgl. hinten § 18 A und § 18 D.
§ 15 Definitionen und Charakterisierung des Rechtspositivismus
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lenserlebnis", Pflichtgefühl"). Das Recht existiert nur, wenn und soweit es positiv, d. h. auf eine der angeführten Arten wirklich geworden ist. Diese Betrachtungsweise zieht zwei bedeutsame Konsequenzen nach sich:
I. Das Recht als positives Recht Für die positivistischen Lehren gilt grundsätzlich der Satz Bergbohms: „Alles Recht ist positiv . . . und nur positives Recht ist Recht 7 ." Diesen Satz müssen wir immerhin für einen Positivisten wie Austin einschränken, der neben dem positiven Recht die Existenz eines Natur-„rechtes" anerkennt. Aber auch für Austin ist Recht im vollen Sinne des Wortes nur das positive Recht, was etwa in folgenden Wendungen zum Ausdruck kommt: „ . . . every law properly so called is set by a superior to an inferior or inferiors .. ." 8 und: „Every positive law, or every law simply and strictly so called, is set by a sovereign person, or a sovereign body of persons .. ." 9 . I n der Grundvoraussetzung, daß „Recht" immer nur etwas sein kann, für das sich gewisse im faktischen Bereich liegende Vorgänge nachweisen lassen, zeigt sich deutlich die Verwandtschaft des Rechtspositivismus mit der Strömung des allgemeinen philosophischen Positivismus 10 , auch wenn gewisse Formen des juristischen Positivismus (insbesondere die Lehren von Hobbes, Blackstone, Bentham und Austin) dem Positivismus Comte scher Prägung zeitlich vorangingen 11 . Dieser Zusammenhang ist zunächst offensichtlich bei den realistischen Theorien (psychologischer und soziologischer Positivis7 Bergbohm 52 Fußnote, wobei freilich Bergbohm als Gesetzespositivist „Positivität" im engeren Sinne einer „Setzung" durch einen Gesetzgeber versteht. 8 Austin, Lectures I 330. 9 Austin, Lectures I 220. 10 Vgl. die vorne § 14 Ν 7 zit. Autoren. Ebenso Noll 20 ff.; a. M. Weinberger, IRP 146 und Alwart 12. 11 A. Comte (1798-1857) gilt als Begründer des philosophischen Positivismus. Wie Noll 20 betont, ist aber die Grundhaltung des Positivismus schon bei den Sophisten und Nominalisten erkennbar. Umstritten ist, ob auch die lnteressenjurisprudenz Hecks implizit auf dem positivistischen Wissenschaftsbegriff beruht. Heck selbst verneint dies entschieden, indem er immer wieder die Unabhängigkeit seiner Lehre von irgendeinem philosophischen System betont (ζ. B. Die Interessenjurisprudenz und ihre neuen Gegner, AcP 142 [1936] 170); ebenso W Kallfass, Die Tübinger Schule der lnteressenjurisprudenz (Frankfurt a. M. 1972) 16/17 Ν 56 a. E. Anders dagegen die folgenden Autoren: Larenz 51 f., 55; derselbe, Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie, AcP 143 (1937) 274ff.; Henkel 493 und Wieacker 576. Richtig scheint mir zu sein, daß in der lnteressenjurisprudenz positivistische Elemente enthalten sind (vgl. vorne § 4 Ν 4 und § 6 Ν 1), daß sie aber nicht als eine eigentliche Theorie des Rechtspositivismus anzusehen ist, weil sie nach Hecks eigenen Worten „weder eine allgemeine Rechtslehre in vollem Umfange, noch gar eine Rechtsphilosophie" ist (Heck, Rechtsphilosophie und Interessenjurisprudenz, AcP 143 [1937] 146). Sie ist eine „Kunstlehre der richterlichen Gesetzesanwendung" (Wieacker 576).
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1. Teil, 5. Kap.: Der Begriff des Rechtspositivismus
mus) und wird bisweilen von ihren Vertretern offen betont 1 2 . Wie wir später sehen werden, gilt nach dem positivistischen Erkenntnisbegriff als „wissenschaftlich" eine Erkenntnis — grob gesprochen — nur dann, wenn sie sich entweder mi Erfahrungen und deren Verarbeitung mit Hilfe von Logik und Mathematik stützt oder aber auf zwingende Deduktionen innerhalb eines axiomatischen Systems ohne Bezugnahme auf Erfahrungen. Der Versuch der realistischen Theorien, das Recht auf psychische oder physische Wirklichkeiten zurückzuführen, entspricht der Grundforderung empirischer Erkenntnis i. S. des philosophischen Positivismus. — Der Zusammenhang des juristischen Positivismus mit dem philosophischen Positivismus gilt aber auch für den etatistischen Positivismus. I n bezug auf die Reine Rechtslehre hat ihn Kelsen selbst klar betont 1 3 . Zwar könne das Postulat des philosophischen Positivismus auf Rechts normen keine unmittelbare Anwendung finden, da Rechtsnormen keine Tatsachen, sondern der Sinn von Tatsachen seien. Aber die Geltung des Rechts sei durch Tatsachen bedingt, nämlich dadurch, daß es gesetzt und in gewissem Grade wirksam sein müsse 14 . — Für den Gesetzespositivismus hat Coing diesen Zusammenhang an einer Bergbohm- Stelle nachgewiesen. Nach Bergbohm kann eine Norm oder Regel positives Recht i. S. der Jurisprudenz und Rechtswissenschaft... nur sein, wenn ihr eine kompetente rechtsbildende Macht durch einen geeigneten, äußerlich erkennbaren Vorgang, der als solcher der Geschichte angehört, die Rechtsqualität verleiht 15 . Darin, daß sich für jede als Rechtsnorm anzuerkennende Norm ein äußerer historischer A k t nachweisen lassen muß, liegt, wie Coing richtig bemerkt, die deutliche Parallele zur Grundforderung des philosophischen Positivismus 16 .
IL Die Unterscheidung zwischen dem Recht, wie es ist, und dem Recht, wie es sein sollte (positivistische Trennungsthese) Die zweite Konsequenz aus dem positivistischen Begriff des Rechts ist die Unterscheidung zwischen dem Recht, wie es ist, und dem Recht, wie es sein sollte, oder, wie man es kürzer zu umschreiben pflegt: die Trennung von Recht und Moral. Da der Begriff des Rechts mit Hilfe empirischer Merkmale 12
Vgl. z.B. Ehrlich, Grundlegung 20, der ausführt, bei aller echten Wissenschaft herrsche die induktive Methode vor, die durch Beobachten von Tatsachen, Sammeln von Erfahrungen unsere Einsicht in das Wesen der Dinge zu vertiefen suche. Ähnlich auch Ross, On Law and Justice S. IX. 13 Kelsen, JZ 20 (1965) 465: „Der juristische Positivismus muß von dem philosophischen Positivismus unterschieden werden; doch steht er zu diesem in naher Beziehung." 14 Kelsen, JZ 20 (1965) 465. 15 Bergbohm 549. 16 Coing 77.
§ 15 Definitionen und Charakterisierung des R e c h t s p o s i t i v i s m u s 1 1 3
bestimmt wird, spielt der mehr oder weniger gerechte Inhalt für die Rechtsqualität keine Rolle. Die positivistischen Theorien kennen daher, wenigstens vom Standpunkt einer juristischen Behandlung des Problems aus, keinen Dualismus zwischen Begriff und Idee des Rechts. Sie gelangen vielmehr zu einem Monismus: Jede an den erwähnten empirischen Merkmalen orientierte Gegebenheit — und nur sie — erfüllt den Begriff und ist damit eo ipso auch Recht. Ihre Rechtsqualität kann sie durch keine noch so gravierende Diskrepanz zu einer (absolut oder relativ gedachten) Rechtsidee verlieren. Wenn die Vertreter der analytischen Rechtstheorie von der Trennungsthese sprechen, meinen sie nicht nur die begriffliche Unterscheidung des positiven Rechts von der positiven Moral, d. h. der tatsächlich geltenden Moral, sondern auch von der sog. „critical morality ", d.h. einer aufgeklärten Moral 1 7 . Unter „critical morality" verstehen sie die allgemeinen moralischen Grundsätze, die gebraucht werden zur Kritik tatsächlich bestehender sozialer Institutionen einschließlich der positiven Moral 1 8 . Die positivistische Forderung einer Trennung von Recht und Moral bedeutet natürlich keinesfalls, daß das Recht nicht in irgendeiner Weise „moralisch" sein soll, d. h. inhaltlich nicht einen bestimmten (absoluten oder relativen) Gerechtigkeitswert erfüllen soll. Sie bedeutet auch nicht, daß die tatsächlichen Einflüsse von moralischen Vorstellungen über das Recht, wie es sein sollte, auf die inhaltliche Ausgestaltung des positiven Rechts geleugnet werden. Was abgelehnt wird, ist die These, inhaltliche Kriterien in den Begriff des Rechts aufzunehmen; Gegenstand der positivistischen Betrachtungsweise ist das Recht so, wie es effektiv besteht, wie es tatsächlich existiert, nicht aber irgendein Idealrecht. Auch vom positivistischen Standpunkt aus kann man Kritik am positiven Recht üben, jedoch nur mit der Folge, daß man ein positives Recht gegebenenfalls als schlechtes, moralisch verwerfliches Recht disqualifiziert; die Folge einer Kritik am positiven Recht kann aber nie die sein, daß dieses wegen eines Widerspruches zur Gerechtigkeit seinen Rechtscharakter verliert, d. h. zum Nicht-Recht wird. Un-Recht ist für den Positivisten nie gleichbedeutend mit „Nicht-Recht" 1 9 , sondern nur 17
Vgl. zu dieser Differenzierung Hart, Concept of Law 181 und 201 und deutlicher Hart, Law, Liberty and Morality (London 1963) 20. Daß Hart die Trennungsthese in diesem doppelten Sinne versteht, ergab sich vor allem aus einem Gespräch, das ich mit ihm im Sommer 1985 in Oxford führen durfte. Vgl. dazu meinen Bericht in: Rechtstheorie 18 (1987) 538 ff. 18 J.-C. Wolf,; Studia Philosphica 44 (1985) 35 umschreibt die kritische Moral wie folgt: „Kritische Moral ist nicht die Summe dessen, was die Menschen für moralisch richtig halten, sondern es ist vielmehr eine Art zu denken, welche es uns erlaubt, moralische Entscheidungen rational zu prüfen. Das Thema der kritischen Moral sind die normativen Geltungsansprüche von moralischen Überzeugungen. Sie unterscheidet sich mithin von einer deskriptiven oder genetischen Moral, welche verschiedene Meinungen über moralische Fragen rubriziert und die Ursachen erforscht." Vgl. auch hinten §22A. 19
Geiger 207.
8 Ott, 2. Aufl.
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1. Teil, 5. Kap.: Der Begriff des Rechtspositivismus
mit „moralisch verwerflichem" Recht 20 . Auch die Ordnung des nationalsozialistischen Staates war deshalb — z.B. vom Standpunkt der Reinen Rechtslehre aus — eine Rechtsordnung. Diese Formulierung verliert jedoch viel von ihrem anstößigen Charakter, wenn man für „Rechtsordnung" den positivistischen Begriff des Rechts von Kelsen einsetzt. Sie lautet dann: Auch die Ordnung des nationalsozialistischen Staates war eine „im großen und ganzen wirksame Zwangsordnung" — eine Behauptung, die wohl kein Kenner der historischen Wirklichkeit bestreiten wird. — Wenn der Positivist von „Rechtsordnung" spricht, meint er eben nicht ohne weiteres, daß er diese auch ge-recht findet und sie billigt (was das deutsche Wort „Recht" immer nahelegt). Die Tatsache, daß der Positivist seinen Begriff des Rechts ohne Bezugnahme auf Werte definiert, führte zur weitverbreiteten Auffassung, der Rechtspositivismus müsse immer mit einem ethischen Relativismus in der überpositiven Sphäre Hand in Hand gehen. Wie die subtilen Ausführungen von Hart ergeben haben, braucht dies jedoch nicht notwendigerweise der Fall zu sein. Nehmen wir einmal an, schlägt Hart vor, moralische Urteile ließen sich ebensogut rational rechtfertigen wie alle anderen Arten von Urteilen. Dies allein würde nämlich noch nichts gegen die positivistische Trennungsthese besagen. Denn der einzige Unterschied, der sich daraus ergäbe, wäre der, daß die moralische Verwerflichkeit solcher Rechtsnormen etwas wäre, das man beweisen könnte; man könnte beweisen, daß die Norm verwerflich ist und nicht Recht sein sollte, oder umgekehrt, daß sie moralisch wünschenswert ist und Recht sein sollte. Aber dieser Nachweis würde nicht besagen, daß die Norm Recht ist bzw. nicht ist. Die Beweisbarkeit moralischer Prinzipien würde die Tatsache unberührt lassen, „daß es Recht jeden Grades von Ungerechtigkeit oder Dummheit gibt, das dennoch Recht ist, und daß es andererseits Regeln gibt, die jede moralische Qualifikation besitzen, Recht zu sein, und es dennoch nicht sind" 2 1 . — Ein positivistischer Begriff des Rechts wäre also — entgegen der gängigen Meinung — vereinbar mit der Anerkennung absoluter Werte. Zum Beispiel kann ein Rechtshistoriker seinen Forschungen durchaus einen positivistischen Begriff des Rechts zugrunde legen und trotzdem — in der überpositiven Sphäre — an die Existenz eines Naturrechtes glauben. „Der Rechtspositivismus als solcher behandelt überpositive Fragen überhaupt nicht, weder in relativistischer noch in absoluter Weise 22 ." 20 Daraus ergibt sich auch zwingend die Einstellung des Positivisten zum Widerstandsrecht. Ein solches kann er nur bejahen, wenn es unter seinen Begriff des Rechts fällt, also ζ. B. vom Gesetzgeber vorgesehen oder von der Gemeinschaft anerkannt ist. Wo dies nicht zutrifft, was meist der Fall sein wird, kann es für den Positivisten ein Widerstands-„recht" im juristischen Sinne nicht geben, sondern höchstens im moralischen Sinne. 21 Hart, Recht und Moral 53/54; Harv. L. R. 71 (1957/58) 626. 22 Brecht 223. Diese logische Unabhängigkeit von Wertrelativismus und Rechtpositivismus bedeutet allerdings nicht, daß die Wertrelativisten nicht tatsächlich häufig Rechtposi-
§ 15 Definitionen und Charakterisierung des Rechtspositivismus
115
Aus diesem Grunde schlage ich vor, zwischen starken und schwachen Versionen des Rechtspositivismus zu unterscheiden. Eine starke Version des Rechtspositivismus soll heißen, daß dieser mit einem ethischen Relativismus in der überpositiven Sphäre kombiniert ist (so die kontinentalen Positivismen, insbesondere der skandinavische Rechtsrealismus und die Reine Rechtslehre Kelsens). Eine schwache Version des Rechtspositivismus soll bedeuten, daß dieser in der überpositiven Sphäre eine rationale Moralbegründung für möglich hält (so der britische Rechtspositivismus von Hobbes, Bentham, Austin und Hart). Die Merkmale der Positivität bilden bei den realistischen Theorien zugleich die Merkmale der Rechtsgeltung. So besteht für den psychologischen Positivisten die Positivität des Rechts in der „Anerkennung", im „Pflichtgefühl", im „Sollenserlebnis" bestimmter Personen; und das Recht gilt für ihn darum, weil es von diesen Personen anerkannt, als verpflichtend gefühlt oder als gesollt erlebt wird. — Für den soziologischen Positivisten liegt die Positivität des Rechts in einer gesellschaftlichen Realität, nämlich in einem von den Mitgliedern einer Gesellschaft „tatsächlich verlangten, praktizierten und im Fall der Mißachtung erzwungenen Verhaltensmuster" 23 . Und das Recht gilt im soziologischen Sinne in dem Maße, als ihm eben eine solche gesellschaftliche Realität, die z. B. in der Effektivitätsquote ausdrückbar ist, entspricht. Anders liegen die Verhältnisse beim Gesetzpositivismus und bei der Reinen Rechtslehre, wo ein normativer Geltungsbegriff verwendet wird, der damit natürlich etwas anderes ist als die Positivität. Geltung und Positivität des Rechts fallen also bei diesen Lehren auseinander.
C. Bestimmung des Begriffs des Rechts durch veränderliche Merkmale Ein weiteres Kennzeichen der rechtspositivistischen Theorien ist ihre relativistische Tendenz 24 : Die empirischen Merkmale, die jeweils angegeben werden, verweisen nicht auf konstant bleibende Faktoren, wie dies beim tivisten sind und umgekehrt. Denn die Veränderlichkeit der Merkmale seines positivistischen Begriffs des Rechts (siehe nachstehend C) macht seine Anhänger leicht geneigt, auch im überpositiven Bereich in relativistischen Kategorien zu denken. Umgekehrt neigt ein Wertrelativist natürlich dazu, Rechtpositivist zu sein, weil er die Verifizierbarkeit eines höheren Rechtes leugnet. Logisch notwendig ist dies aber nicht. 23 Raiser , Einführung 104. 24 In seiner grundlegenden Schrift „Die Richtigkeit des Rechts", Jahrbuch der Schweizerischen Philosophischen Gesellschaft 3 (1943) 135, führt H. Nef treffend aus, daß der Positivismus auf ein relativ formales Kriterium (z. B. den Machtstandpunkt) abstellt, d. h. er ist relativistisch eingestellt und nicht auf Werte bezogen. 8*
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1. Teil, 5. Kap.: Der Begriff des Rechtspositivismus
Hinweis auf bestimmte menschliche Triebe der Fall wäre (ζ. B. beim Selbsterhaltungstrieb), sondern auf variable Größen: Der etatistische Positivismus stellt ab auf die Macht des jeweiligen Souveräns, der psychologische Positivismus auf Bewußtseinsinhalte der jeweils maßgebenden Personen und der soziologische Positivismus auf die jeweiligen faktischen Verhaltensmuster. Der Inhalt des positiven Rechts ist damit von Ort zu Ort und von Zeit zu Zeit verschieden. Es gibt kein schlechthin allgemeingültiges, von Ort und Zeit unabhängiges positives Recht 25 . Aus diesem Grunde kann die Begriffsjurisprudenz des 19. Jahrhunderts nicht als positivistische Theorie i. S. der von uns vorgeschlagenen Definition gelten. Denn sie war — wie neuere Untersuchungen ergeben haben — nicht relativistisch eingestellt und entbehrte nicht des rechtsethischen Fundamentes: „ I n der Tat leben die ethischen Grundvorstellungen des deutschen Idealismus, vor allem Kants, wenn auch in äußerst sublimierter, verdünnter Form noch in den Begriffssystemen eines Windscheid oder v. Tuhr . . . fort, wenn man auch von diesem Zusammenhang am Ende des Jahrhunderts nicht mehr viel weiß und vollends einer rechtsphilosophischen Begründung aus dem Wege geht 2 6 ." I n den Rechtsbegriffen wie subjektives Recht, Akzessorietät des Pfandrechts, Elastizität des Eigentums haben sich nach der Meinung der Vertreter dieser Richtung „zeitlos gültige Aussagen über richtiges Recht derart verselbständigt, daß ihre logische Anwendung (wie die eines mechanischen Satzes oder einer richtigen physikalischen Formel) notwendig auch wieder zur richtigen (d. h. gerechten) Entscheidung führen muß" 2 7 . Es ist daher Wieacker durchaus zuzustimmen, wenn er vorschlägt, hier besser von „rechtswissenschaftlichem Formalismus" statt von „Positivismus" zu sprechen 28 .
25
Immerhin hat Lampe in diesem Zusammenhang auf Grenzen des Rechtspositivismus aufmerksam gemacht. Der Gesetzgeber kann ζ. B. nicht die Zeit der Schwangerschaft verkürzen; er kann nicht stark von den Sprachgesetzen abweichen, sonst wird der Rechtstext unverständlich; und er kann nicht gegen ein logisches Gesetz verstoßen, ohne daß der Inhalt unsinnig wird, d.h. wenn er etwa erklärt, eine Sache befinde sich im Alleineigentum mehrerer Eigentümer zugleich. Vgl. E.-J. Lampe, Grenzen des Rechtpositivismus, Schriften zur Rechtstheorie Nr. 128 (Berlin 1988). 26 Larenz 22/23. 27 Wieacker 433/434. Hervorhebung durch Verf. 28 Wieacker 432. Die Begriffsjurisprudenz wird häufig als „rechtswissenschaftlicher Positivismus" bezeichnet, so ζ. B. von Wieacker 433 f. und von D. Tripp, Der Einfluß des naturwissenschaftlichen, philosophischen und historischen Positivismus auf die deutsche Rechtslehre im 19. Jahrhundert, Schriften zur Rechtsgeschichte Nr. 31 (Berlin 1983) Kap. 7. Vgl. zur Begriffsjurisprudenz: W. Krawietz (Hrsg.), Theorie und Technik der Begriffsjurisprudenz (Darmstadt 1976).
Zweiter Teil
Der axiomatische Charakter des Rechtspositivismus
Erstes Kapitel
Das Problem der wissenschaftlichen Erkenntnis I m letzten Paragraphen haben wir gesehen, wie alle Varianten des Rechtspositivismus stillschweigend oder ausdrücklich auf den Voraussetzungen des philosophischen Positivismus beruhen. Das Thema des zweiten Teiles wird es nun sein, die rechtspositivistischen Theorien anhand dieser ihrer eigenen Voraussetzungen zu überprüfen. Zu diesem Zweck soll im ersten Kapitel das Wissenschaftsverständnis näher dargelegt werden, wie es von der neueren positivistisch orientierten Wissenschaftstheorie entwickelt worden ist. Wir halten uns an diese Variante der modernen Wissenschaftstheorie aus dem Bestreben heraus, die kritische Sonde an den Rechtspositivismus nicht von Voraussetzungen aus zu legen, die „artfremd" sind, d. h. zum vornherein von einem anderen Wissenschaftsverständnis ausgehen. Vielmehr soll möglichst das Wissenschaftsverständnis getroffen werden, das den rechtspositivistischen Lehren selbst zugrunde liegt. Wenn daher am Ende dieses Kapitels ein positivistischer Erkenntnisbegriff postuliert werden wird, heißt dies nicht, daß wir nun der Meinung seien, die Rechtswissenschaft müsse ganz allgemein von einem solchen ausgehen; ebensowenig heißt es, daß man nicht auch eine Kritik des Rechtspositivismus vom Standpunkt der sog. „kritischen" Wissenschaftstheorie versuchen könnte. Die Fragen nach der Angemessenheit oder Unangemessenheit eines positivistischen Erkenntnisbegriffes bzw. nach Berechtigung oder Nichtberechtigung der kritischen Theorie für die Rechtswissenschaft sind sehr wesentlich, aber nicht Gegenstand dieses Buches. Uns geht es hier allein darum, eine Plattform für eine faire Kritik am Rechtspositivismus zu schaffen, und zwar dadurch, daß wir uns grundsätzlich auf denselben Boden begeben wie dieser. Der moderne erkenntnistheoretische Positivismus anerkennt nun zwei grundlegende Methoden, die der Sicherung wissenschaftlicher Erkenntnisse
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2. Teil, 1. Kap.: Das Problem der wissenschaftlichen Erkenntnis
dienen, nämlich die axiomatische und die empirische Methode. Beide sollen in den folgenden Paragraphen dargestellt werden. Dabei wird es unerläßlich sein, etwas weiter auszugreifen und auf Zusammenhänge hinzuweisen, deren Kenntnisse wir für den weiteren Fortgang unserer Untersuchung nicht unmittelbar benötigen werden 1 . Trotzdem sind sie für ein tieferes Verständnis des positivistischen Erkenntnisbegriffes unverzichtbar und sollen daher hier zur Sprache kommen.
§ 16 Die axiomatische Methode2 A. Charakterisierung der axiomatischen Methode im allgemeinen I. Die Axiome Die axiomatische Methode ist die strengste unter den bisher bekannten wissenschaftlichen Methoden. Alle Theoreme ( = abgeleitete Sätze) eines axiomatischen Systems sollen in einem streng logisch-deduktiven Verfahren nach bestimmten Regeln bewiesen werden. Und zwar müssen sie sich auf gewisse Grundbeziehungen, die „Axiome", zurückführen lassen. „Für den Ausdruck Axiom können auch die synonymen Bezeichnungen Postulat, Grundsatz, Grundvoraussetzung und Grundprämisse verwandt werden 3 ." Entscheidend ist, daß man diese Grundvoraussetzungen beweislos einführt. Wir wollen uns einige Beispiele solcher Axiome vor Augen führen: 1. Die sog. „Axiome der Verknüpfung", welche eine der Axiomengruppen bilden, auf denen die euklidische Geometrie aufbaut, lauten in der Formulierung von Gonseth 4: 1
ζ. B. die Methoden zur Überprüfung von Gesetzeshypothesen. Literatur: Hilbert, Grundlagen; derselbe, Axiomatisches Denken, in: D. Hilbert, Gesammelte Abhandlungen I I I (Berlin 1935) 164 ff.; Klug 15/16 und dort in Ν 49 zit. Lit.; Th. Viehweg, Topik und Jurisprudenz (5. A. München 1974) 8Iff.; Gonseth; Bochenski 73 ff.; Seiffert I 127 ff.; Weinberger, Rechtslogik 361 ff.; E. v. Savigny, Zur Rolle der deduktiv-axiomatischen Methode in der Rechtswissenschaft, in: G. Jahr / W. Maihofer (Hrsg.), Rechtstheorie, Beiträge zur Grundlagendiskussion (Frankfurt a. M. 1971) 315 ff.; Austeda 28 ff., 64 ff., H. Scholz, Die Axiomatik der Alten, in: H. Scholz, Mathesis universalis, Abhandlungen zur Philosophie als strenger Wissenschaft (Basel / Stuttgart 1961) 27 ff.; derselbe, David Hilbert, der Altmeister der mathematischen Grundlagenforschung, in: Mathesis universalis 279 ff.; Fuchs 28 ff., 35 ff., 203 ff.; A. Szabó, Artikel „Axiom", in: J. Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie I (Basel / Stuttgart 1971) 737 ff.; H. Freudenthal, Artikel „Axiomatik", in: J. Ritter (Hrsg.), 748 ff. 2
3
Klug 16. Gonseth 16/17. Will man die axiomatische Basis für die Raumgeometrie aufstellen, so müssen noch weitere Verknüpfungsaxiome eingeführt werden, welche die Beziehungen „Punkt liegt in der Ebene" und „Gerade liegt in der Ebene" zum Gegenstand haben: Gonseth 17. 4
§ 16 Die axiomatische Methode
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„Für jeden P u n k t e und für jede Gerade a steht es fest, ob ,4 auf α liegt oder nicht." (1) „ A u f jeder Geraden gibt es mindestens zwei Punkte." (2) „Durch zwei Punkte gibt es eine und nur eine Gerade." (3) 2. Oder: I m Aussagenkalkül von Hilbert / Ackermann lauten die ersten beide Axiome 5 : (1) (Χ ν X) X, zu lesen als: „Wenn X oder X, dann X " Dieses Axiom ist „einleuchtend", wenn man sich ein Beispiel vergegenwärtigt: „Wenn es schneit oder schneit, dann schneit es." (2) X - (Χν y), zu lesen als: „Wenn X, dann Zoder 7." Also ζ. B.: „Wenn es regnet, dann regnet oder schneit es." Die grundlegende Bedeutung der Axiome wird uns nachher (hinten Β I und I I ) gesondert beschäftigen.
II. Kettendefinitionen Weiter werden gewisse Grundbegriffe Undefiniert in das System eingeführt. I n den vorstehend erwähnten geometrischen Axiomen wären die Begriffe „Punkt" und „Gerade" solche Undefinierten Grundbegriffe. Alle anderen Begriffe müssen dann aber als aus den Grundbegriffen schrittweise abgeleitete Begriffe nach Maßgabe bestimmter Regeln (Definitionsregeln) definiert werden. Die Bedeutung jedes Ausdrucks im System steht also genau fest. III Operationsregeln Damit man im System von den Axiomen zu neuen Aussagen fortschreiten kann, müssen ferner gewisse Regeln festgelegt werden, welche die dazu erforderlichen Operationen genau beschreiben. M i t Hilfe dieser Regeln werden dann also aus den Axiomen neue Aussagen und aus den letzteren wiederum weitere Aussagen Schritt für Schritt erschlossen. Als Beispiel sei auf die unter dem Namen „modus ponens" bekannte Schlußregel hingewiesen, die sich wie folgt darstellen läßt 6 : Wenn Α, dann Β nun aber A also B. Oder: Die Einsetzungsregel im vorstehend erwähnten Aussagenkalkül von Hilbert / Ackermann lautet: „Für eine Aussagenvariable (d. h. für einen 5 6
Klug 37. Bochenski 75.
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2. Teil, 1. Kap.: Das Problem der wissenschaftlichen Erkenntnis
großen lateinischen Buchstaben) darf, aber dann überall, wo sie vorkommt, ein und dieselbe Aussagenverbindung eingesetzt werden 7 ". IV. Anforderungen
an das axiomatische System
A n ein axiomatisches System stellt man heute die folgenden drei Forderungen: 1. Die Axiome müssen voneinander unabhängig sein. Das heißt: Die einzelnen Axiome dürfen nicht aus dem System selbst gefolgert werden können. Denn ein solches, aus den übrigen deduziertes Axiom wäre ja dann überflüssig. Als Beispiel betrachten wir den folgenden Satz: „Zwei Gerade haben einen oder keinen Schnittpunkt 8 ." A u f den ersten Blick scheint er in seiner „einleuchtenden" A r t zu den geometrischen Axiomen der Verknüpfung zu gehören, wie wir sie (vorne § 1 6 A I ) kennengelernt haben. Dies trifft indessen nicht zu, wie folgende Überlegung zeigt: Wenn man annimmt, eine Gerade g werde von einer anderen Geraden f in zwei Punkten A und Β geschnitten, dann folgt daraus, daß durch diese zwei Punkte A und Β auch die Gerade / g e h t . Damit erhält man sofort einen Widerspruch zum dritten Axiom der Verknüpfung (vorne § 16 A I ) . Der Satz, daß zwei Geraden einen oder keinen Schnittpunkt haben, ist daher kein Axiom, sondern eine Folgerung aus den übrigen Axiomen. Diesen Satz als selbständiges Axiom aufstellen, hieße somit gegen die Forderung von der Unabhängigkeit der Axiome verstoßen. 2. Die wichtigste Anforderung an ein axiomatisches System ist seine Widerspruchslosigkeit. Ein Axiomensystem ist widerspruchsfrei genau dann, wenn in ihm kein Satz ,^4" gleichzeitig mit seiner Negation „non-A " abgeleitet werden kann 9 . Er verliert also seine Widerspruchslosigkeit genau dann, wenn eine Aussagenverknüpfung von der Form f yA und non-A" bewiesen werden kann 1 0 . Wie sich zeigen läßt, ist aus einem widerspruchsvollen System jede Aussage des betreffenden Gebietes ableitbar 11 . Die unangenehme Konsequenz ist dann die, daß nicht mehr zwischen wahren und falschen Aussagen unterschieden werden kann, was natürlich eine wissenschaftliche Tätigkeit verunmöglicht. Der Nachweis der Widerspruchsfreiheit eines axiomatischen Systems gestaltet sich je nach den Umständen verschieden. Zum Beispiel zeigte David Hilbert die Widerspruchsfreiheit der in seinen „Grundlagen der Geometrie" angeführten Axiome, indem er eine Deutung anführte, 7
Klug 37. Gonseth 17. 9 In diesem Sinne Weinberger, 10 Fuchs 58. 11 Bochenski SO. 8
Rechtslogik 367.
§ 16 Die axiomatische Methode
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durch welche die Axiome in Sätze einer anerkannten mathematischen Theorie, nämlich in die Theorie der reellen Zahlen, übergehen 12 . Die Widerspruchsfreiheit des Hilbertschen Systems war damit erwiesen unter der Voraussetzung, daß die Theorie der reellen Zahlen widerspruchsfrei ist 1 3 . 3. Eine weitere Anforderung an ein axiomatisches System ist seine Vollständigkeit. „ M a n nennt ein System ,vollständig', wenn aus seinen Axiomen alle wahren Aussagen des Gebietes ableitbar sind .. ." 1 4 . Daß die ersten drei Axiome der Verknüpfung (vorne § 16 A I ) natürlich noch keine vollständige Basis für die euklidische Geometrie hergeben, läßt sich ζ. B. wie folgt zeigen: Gegeben seien eine Gerade a und darauf zwei Punkte Α γ und A 2 1 5 . Dieses Gebilde erfüllt, wie man sich leicht überzeugen kann, die drei ersten Axiome der Verknüpfung. Daß es mehr als zwei Punkte und mehr als eine Gerade gibt, läßt sich somit aus diesen drei Axiomen nicht folgern. Es sind daher weitere Axiome und Axiomengruppen anzunehmen, um die euklidische Geometrie lückenlos aufbauen zu können.
V. Kalkülisierung Meistens, aber nicht notwendigerweise, geht man bei der Axiomatisierung einer Wissenschaft noch einen Schritt weiter: Wegen der einer natürlichen Sprache immer innewohnenden Tendenz zu unpräzisen Begriffen und Aussagen bemüht man sich, eine geeignete Kunstsprache einzuführen. Die Relationen zwischen den Begriffen und Aussagen werden durch eine abkürzende Symbolik dargestellt; d. h. man bringt die betreffende Wissenschaft in einen Kalkül. Der so erfolgreiche „denkökonomische Trick" besteht, wie Klug sich ausdrückt 16 , darin, „daß man mit Hilfe der Symbole logisch operieren (rechnen, kalkulieren) kann, ohne fortgesetzt an ihre jeweiligen Inhalte denken zu müssen". Nach dieser kurzen Charakterisierung der axiomatischen Methode im allgemeinen wenden wir uns nun einer näheren Betrachtung der erkenntnistheoretischen Bedeutung der Axiome zu.
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Vgl. Hilbert 34 ff. Scholz, David Hilbert (zit. § 16 Ν 2) 284. Bochenski 80. Gonseth 17. Klug 17.
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2. Teil, 1. Kap.: Das Problem der wissenschaftlichen Erkenntnis
B. Die Axiome im besonderen I. Die alte Auffassung: Axiome als evidente Wahrheiten Die alte, bis ins 19. Jahrhundert hinein herrschende Auffassung von der erkenntnistheoretischen Bedeutung der Axiome ging dahin, daß Axiome nach ihrer Evidenz zu beurteilen seien. Das Postulat der Evidenz hat als erster Aristoteles klar formuliert. Es lautet in der Übersetzung von Scholz 11 : „Eine Grundwahrheit ist eine Aussage, die ihre Evidenz . . . sich selbst und nicht irgendwelchen anderen Aussagen verdankt; denn die Prinzipien einer Wissenschaft dürfen nicht mehr einer Begründung bedürfen, sondern müssen unmittelbar... evident.. .sein." I n der Tat: Ein unbefangener Betrachter mit „gesundem Menschenverstand", der sich die vorne erwähnten geometrischen Axiome durch eine Zeichnung vergegenwärtigt, ließe diese Sätze wohl ohne weiteres als evidente Wahrheiten gelten. Eine nähere Untersuchung würde zwar zutagefördern, daß sie unbeweisbar sind, falls man nicht andere Prämissen zu Hilfe nimmt. So könnte man beispielsweise das berühmte Parallelenaxiom Euklids (vgl. nachstehend) ersetzen durch folgende Aussage: „Von einem beliebig im Innern eines Winkels angenommenen Punkte kann man immer eine Gerade ziehen, welche die beiden Schenkel des Winkels trifft 1 8 ." Aber dann wäre eben diese Prämisse beweislos, mithin ein Axiom; daraus erhellt, daß man nicht darum herumkommt, als von gewissen letzten Voraussetzungen auszugehen, die sich ihrerseits nicht weiter ableiten lassen, ein Sachverhalt, der in der zitierten Äußerung des Aristoteles auch sehr schön zum Ausdruck kommt. Die Auffassung, wonach Axiome evidente Wahrheiten aussprechen, führt indessen zu Schwierigkeiten. Vor allem stellt sich die Frage, „wie das Verhältnis der offenbar psychologischen Kategorie der Evidenz zur logischen Kategorie des Wahrseins zu denken ist" 1 9 . Die Subjektivität des Evidenzgefühls wurde offenbar beim Streit um das Parallelenaxiom Euklids, das in den Brennpunkt des Interesses geriet, weil man meinte, es sei nicht evident genug. Es lautet in der Formulierung von Gonseth: „Durch einen Punkt gibt es zu einer Geraden nur eine Nichtschneidende (Parallele) 20." Die nicht weniger als 17
Scholz, Die Axiomatik der Alten (zit. § 16 Ν 2) 32 mit Nachweisen. Gonseth 39. 19 Scholz, Die Axiomatik der Alten (zit. § 16 Ν 2) 33. 20 Gonseth 37. Die originale Fassung des Postulates bei Euklid ist wesentlich komplizierter: „Es sei gefordert, daß, wenn eine gerade Linie beim Schnitt mit zwei geraden Linien bewirkt, daß immer auf derselben Seite entstehende Winkel zusammen kleiner als zwei Rechte werden, dann die zwei geraden Linien bei Verlängerung ins Unendliche sich treffen auf der Seite, auf der die Winkel liegen, die zusammen kleiner als zwei Rechte sind." Szabó (zit. § 16 Ν 2) 740/741. 18
§ 16 Die axiomatische Methode
123
zwei Jahrtausende währenden Bemühungen der Mathematiker, das Parallelenaxiom aus den anderen Axiomen zu beweisen, scheiterten (und mußten scheitern, wie man heute weiß). Ein Beweis des Parallelenaxioms gelang immer nur, wenn man von einer anderen, beweislos anzunehmenden Voraussetzungen ausging; ob diese aber größere Evidenz als das euklidische Postulat besitzt, schien allemal fraglich.
II. Die moderne Auffassung: Axiome als Postulate Der entscheidende Bedetungswandel des Wortes „Axiom" vollzog sich erst im Anschluß an die Entwicklung nicht-euklidischer Geometrien im 19. Jahrhundert 21 . Die Untersuchungen von Gauss, LobatschewskijBolyai, Riemann und Hilbert führten zum Nachweis, daß es möglich ist, widerspruchsfreie Systeme geometrischer Sätze zu konstituieren, in denen das Parallelenaxiom oder auch andere Axiome der euklidischen Geometrie nicht gelten! Diese neuen Axiome widersprechen zwar unserer (euklidischen) Anschauung, sind also unanschaulich, aber keineswegs denkunmöglich. Damit war erstens der lange gesuchte Nachweis erbracht, daß das Parallelenaxiom (oder eine ihm gleichwertige Prämisse) tatsächlich von den übrigen Axiomen der euklidischen Geometrie unabhängig ist, also nicht aus ihnen hergeleitet und bewiesen werden kann. Vor allem aber wurde dadurch die Auffassung der Axiome als Formulierungen evidenter Wahrheiten erschüttert: Wenn die euklidische Geometrie nicht die einzig mögliche ist, sondern sich je nach der Wahl der axiomatischen Basis noch weitere, logisch gleichberechtigte Geometrien aufstellen lassen, dann kann man offenbar die Axiome einer Geometrie nicht mehr als in sich selbst einleuchtende Wahrheiten interpretieren. — Die Relativität von Axiomen hat sich inzwischen auch in der Logik gezeigt: Zwar bot die ältere Logik — vor 1921 — nicht mehrere Systeme an. „1921 haben aber (gleichzeitig und unabhängig voneinander) J. Lukasiewicz und E. Post sogenannte mehrwertige Systeme der Logik aufgestellt, die sich in vielem von der ,klassischen' Logik unterscheiden. Die Systeme von Lukasiewicz wurden dann streng axiomatisiert, ihre Widerspruchsfreiheit und Vollständigkeit bewiesen usw. Danach kam die sogenannte intuitionistische Logik von L. Brouwer auf; auch diese wurde 1930 durch A. Heyting streng axiomatisch formuliert. Heute haben wir Dutzende von verschiedenen Systemen zur Verfügung, und zwar ist der Unterschied zwischen ihnen recht groß. So gilt z. B. das tertium non datur (das Gesetz des ausgeschlossenen Dritten) weder in der dreiwertigen Logik von Lukasiewicz noch in der Heytingschen intuitionistischen Logik, während es ein Gesetz
21
Freudenthal (zit. § 16 Ν 2) 750.
124
2. Teil, 1. Kap.: Das Problem der wissenschaftlichen Erkenntnis
der,klassischen 4 mathematischen Logik (etwa der Principia ist 2 2 ."
Mathematica)
Die für den Laien höchst erstaunliche Konsequenz, die man daraus ziehen mußte, lautet: Axiome können sinnvollerweise nur als Postulate , als Forderungen, Gebote oder, wie Austeda sich ausdrückt 23 , als Anweisungen zu einem bestimmten Denkvollzug gedeutet werden. Axiome behaupten also nichts über die Wirklichkeit, sie entdecken keine Wahrheiten, sie sind keine Feststellungen, die Erkenntnis vermitteln, sondern sie fordern uns auf, in einer bestimmten Weise zu denken; sie postulieren gewisse Beziehungen zwischen Begriffen. Infolgedessen können Axiome weder wahr noch falsch sein; nach Meinung der Konventionalisten sind sie auf Übereinkomme! beruhende Festsetzungen, die nach ihrer Zweckmäßigkeit zu beurteilen sind 2 4 . Austeda demgegenüber unterscheidet zwischen willkürlich gewählten und notwendig gültigen Axiomen 2 5 . Während für jene (z. B. die Axiome der nichteuklidischen Geometrien) der konventionalistische Standpunkt zutreffe 26 , sind diese „in der menschlichen Konstitution begründete Postulate , zwingende Forderungen unseres Intellekts, denen gemäß wir zu denken, zu erkennen, zu verstehen gezwungen sind . . . " Sie üben also einen Zwang auf unser Denken, Erkennen, Verstehen aus und sind insofern nicht willkürlichkonventionell. Zu diesen gehört z.B. der Identitätssatz der Logik iyA=A" oder das für die Gewinnung empirischer Gesetze entscheidende „RegelAxiom", worunter Austeda die Anweisung versteht, „einzelne Erscheinungen unter der Annahme einer durchgängigen yRegelmäßgkeif des Geschehens gedanklich zu verknüpfen und in der Sukzession von Zuständen bei Wiederkehr gleicher Bedingungen gleiche Ereignisse zu erwarten" 27 . Auch die Axiome der gewöhnlichen Geometrie sind insofern nicht Konventionen, als sie — psychologisch gesehen — in unserem (euklidischen) Anschauungsraum begründet sind 2 8 . — Nach der Hilbertsciitn Auffassung, die der 22
Bochenski 86/87. Wie Bochenski aber anschließend betont, dürfen daraus keine voreiligen philosophischen Schlüsse eines vollständigen Relativismus und Skeptizismus gezogen werden. Die zur Formalisierung der betreffenden Systeme gebrauchten metasprachlichen Regeln seien durch und durch ,klassisch4. So z. B. anerkennt die dreiwertige Logik von Lukasiewicz das tertium non datur nicht, aber metasprachlich wird immer vorausgesetzt, daß jeder Aussage ein bestimmter Wert zukommt oder nicht und daß eine dritte Möglichkeit nicht besteht. Es gibt wohl Systeme, in welchen das Widerspruchsprinzip nicht gilt, aber diese Systeme müssen selbst widerspruchsfrei aufgebaut sein . . . " (Bochenski 88). Vgl. dazu auch Austeda 36. 23
Austeda 63. H. Poincaré , Wissenschaft und Hypothese (2. Aufl. Leipzig 1906) 51: ,J)ie geometrischen Axiome sind also weder synthetische Urteile a priori noch experimentelle Tatsachen. Es sind auf Übereinkommen beruhende Festsetzungen. " 25 Austeda 65. 26 Austeda 192/193 Ν 184. 27 Austeda 23. 28 Austeda 38/39. 24
§16 Die axiomatische Methode
125
konventionalistischen nahesteht, sind Axiome „nicht Sätze, sondern Satzgerüste, die erst nachträglich durch eine,Deutung' der in ihnen vorkommenden ,Variablen' in effektive Sätze übergehen" 29 . Die Axiome in den „Grundlagen der Geometrie" lassen sich nämlich auch so formulieren, daß von „Punkten, Geraden, Ebenen" gar nicht mehr die Rede ist. „ M a n muß jederzeit anstelle von ,Punkten, Geraden, Ebenen' ,Tische, Stühle, Bierseidel' sagen können" 3 0 , soll Hilbert einmal in einer Diskussion geäußert haben. Das heißt Hilbert fragt nicht mehr danach, „was Punkte, Geraden, Ebenen ,sind', sondern er setzt sie als irgendwelche ,Dinge', zwischen denen er sich Beziehungen' denkt. Wichtig sind nur die Beziehungen als solche, denn ihre Beschreibung macht eben die Axiome aus" 3 1 . Wenn man statt von Punkten und Geraden von ^4-Dingen und ^-Dingen sowie anstelle der Beziehung „liegen a u f von der „/? r Beziehung" spricht, kann man das anschauliche Axiom „zu zwei Punkten P l P 2 gibt es stehts genau eine Gerade G, so daß ΡγΡ 2 auf G liegen" 32 , durch folgendes Satzgerüst ersetzen: „ Z u zwei ADingen P l P 2 gibt es stets genau ein 1?-Ding G, so daß P l und P2 in der Rr Beziehung stehen zu G 3 3 . " Daß dieses Gebilde keine Evidenz für sich in Anspruch nehmen kann und keinen Bezug zur Wirklichkeit aufweist, ist offensichtlich. Satzgerüste sind weder wahr noch falsch, sondern entweder erfüllbar oder nicht erfüllbar 34 ." Durch Einsetzung von irgendwelchen Konstanten (ζ. B. „Stuhl", „Tisch", „stehen an") an die Stelle der Variablen ,^4-Ding", „i?-Ding" und „i? r Beziehung" wird das Axiom in einem bestimmten Sinne gedeutet und in einem vollständigen Satz übergeführt (ζ. B. „ Z u zwei Stühlen P l P 2 gibt es stets genau einen Tisch G, so daß Ρ γ und P 2 am Tisch G stehen", eine Deutung, die etwa in einem kleinen Caféhaus erfüllt sein könnte 3 5 ). Für Hilbert sind die Axiome also rein formale Beziehungsgefüge, die am Anfang eines deduktiven Systems stehen. Das Gemeinsame an den hier skizzierten Ansichten ist, daß Axiome keine unerschütterlichen Wahrheiten darstellen und mithin nichts mit „Evidenz", „Wesensschau" u. dgl. zu tun haben. Axiome sind nach der heute herrschenden Auffassung keine Behauptungen über die Wirklichkeit, sondern Forderungen oder Anweisungen. Das schließt nicht aus, daß man einem axiomatischen System eine äußere Bedeutung unterlegen und es insofern zur Beschreibung empirischer Zusam29
Scholz, David Hilbert (zit. § 16 Ν 2) 282. Ο. Blumenthal, Lebensgeschichte, in: D. Hilbert, Gesammelte Abhandlungen I I I (Berlin 1935) 403. 31 Seiffert I 138. 32 Scholz, David Hilbert (zit. § 16 Ν 2) 282. 33 Scholz IM. 34 Scholz 282. 35 Das Beispiel stammt von Fuchs 35. 30
126
2. Teil, 1. Kap.: Das Problem der wissenschaftlichen Erkenntnis
menhänge (ζ. B. in der klassischen Mechanik) heranziehen kann 36. I n diesem Sinne sind dann die Axiome als durch die Erfahrung widerlegbare empirische wissenschaftliche Hypothesen zu qualifizieren 37 . Innere Struktur und äußere Bedeutung eines axiomatischen Systems hat man also streng auseinanderzuhalten. Während jene von der Erfahrung unabhängig ist, ist diese der Erfahrung prinzipiell zugänglich. M i t diesen Fragen rühren wir an einen bedeutsamen Problemkreis, der uns in einem abschließenden Abschnitt gesondert beschäftigen soll. Zu seiner Veranschaulichung ziehen wir einmal mehr die Geometrie, das klassische Beispiel axiomatischen Denkens, heran.
C. Genetische und logische Betrachtungsweise am Beispiel der euklidischen Geometrie gezeigt38 Wenn man sich fragt, warum ein geometrischer Satz als „wahr" gilt, so kann die Antwort nur lauten: Weil er aus den Axiomen des betreffenden Systems zu beweisen ist. Das bedeutet: Die äußeren Phänomene dürfen niemals zum Beweis eines geometrischen Satzes herangezogen werden. Ein Beweis darf nur aus dem axiomatisch fundierten System durch logischdeduktive Verfahren geführt werden. Es wäre fehlerhaft, etwa den Satz des Pythagoras aus Messungen an realen Dreiecken beweisen zu wollen, auch wenn diese anhand noch so vieler und noch so genauer Zeichnungen gewonnen würden. Ebensowenig darf der Geltungsgrund der geometrischen Axiome in der äußeren Realität des uns umgebenden physikalischen Raumes erblickt werden. Das folgt einerseits schon aus der Möglichkeit von Geometrien, die der Anschauung widersprechen. Es ergibt sich andererseits aus folgender Überlegung: Das geometrische Denken fängt zwar an „mit einer sinngemäßen Übertragung des Physisch-realen in das Geometrisch-ideale" 3 9 . So wird uns ζ. B. der Begriff der geometrischen Geraden suggeriert durch gewisse räumliche Gegebenheiten: durch die Kante eines Lineals oder eines Tisches, durch einen geraden Strich auf einer Zeichnung oder durch eine straff gespannte Schnur. Dies ist aber nur möglich, weil das menschliche Auge uns bloß grobe Bilder von der Materie liefert. Physikalisch gesehen besteht die Materie aus getrennt liegenden Atomen, so daß die vollkommene, kontinuierliche Gerade in der Außenwelt überhaupt nicht existierü Die Wirklichkeit inspiriert uns zwar zu bestimmten geometrischen Begriffen und Beziehungen, wir abstrahieren diese aus äußerlichen Phänomenen; einmal gedacht, nehmen sie aber einen durchaus autonomen Charakter an; sie 36 37
Savigny (zit. § 16 Ν 2) 340/341. Zur Deutung der Axiome als empirischer wissenschaftlicher Hypothesen Popper
42 ff. 38 39
Vgl. zum Folgenden die eingehenden Ausführungen von Austeda 9 ff. Gonseth 13.
§16 Die axiomatische Methode
127
werden zu einem Gedankenschema, dem u . U . gewisse Erscheinungen im physikalischen Raum ungefähr entsprechen. Von einer logischen (erkenntniskritischen) Betrachtungsweise her muß man also sagen, daß die Geometrie von der Erfahrung völig unabhängig ist. Sie ist keine Erfahrungswissenschaft. Von einer genetischen (erkenntnispsychologischen) Betrachtungsweise her sieht die Sache jedoch anders aus: Wenn man nach der Genesis der Geometrie frägt, also danach, wie die Geometrie entstanden ist, wird man der Erfahrung, in diesem Falle der Anschauung, eine erhebliche Bedeutung beimessen dürfen. Denn die Realität hat ja den Menschen im Falle der euklidischen Geometrie offensichtlich zur Erstellung der axiomatischen Basis inspiriert (und die nichteuklidischen Geometrien sind ja aus der euklidischen hervorgegangen). „ Wenn es also keine festen Körper in der Natur geben würde, so hätten wir keine Geometrie" 40, sagt Poincaré mit Recht. Trotzdem beschäftigt sich die reine Geometrie — logisch (erkenntniskritisch) gesehen — „in Wirklichkeit nicht mit natürlichen Körpern; sie hat gewisse ideale, durchaus unveränderliche Körper zum Gegegenstand, welche nur ein vereinfachtes und wenig genaues Bild der natürlichen Körper geben. Der Begriff dieser idealen Körper ist aus den verschiedenen Gebieten unserer Verstandes-Tätigkeit hervorgegangen, und die Erfahrung ist nur eine Gelegenheit, welche uns antreibt, sie daraus hervorgehen zu lassen" 41 . So gelangen wir zur scheinbar paradoxen Feststellung, daß die Geometrie (genetisch gesehen) der Erfahrung entstammt und gleichzeitig (logisch gesehen) von der Erfahrung unabhängig ist! Oder, wie es Poincaré formuliert: „Man sieht, daß die Erfahrung eine unumgänglich notwendige Rolle in der Genesis der Geometrie spielt; aber es würde ein Irrtum sein, daraus zu schließen, daß die Geometrie — wenn auch nur teilweise — eine Erfahrungswissenschaft sei 42 ." Die Paradoxie ist jedoch bloß eine scheinbare, wenn man bedenkt, daß hier zwei verschiedene Betrachtungsweisen vorliegen, die genetische und die logische. Diese Unterscheidung zwischen der genetischen (erkenntnispsychologischen) und der logischen (erkenntniskritischen) Betrachtungsweise ist erkenntnistheoretisch weit über den Bereich der Geometrie hinaus von Bedeutung. Wir werden ihr hinten § 19 Β I V wieder begegnen beim Problem, ob es möglich ist, mit empirischen Mitteln einen bestimmten Begriff des Rechts als richtig zu beweisen. Sie wurde deshalb bereits an dieser Stelle eingeführt, weil man sie am Beispiel der euklidischen Geometrie besonders deutlich veranschaulichen kann.
40 41 42
Poincaré , Wissenschaft und Hypothese (2. Aufl. Leipzig 1906) 63. Poincaré 12. Poincaré 72.
128
2. Teil, 1. Kap.: Das Problem der wissenschaftlichen Erkenntnis
§ 17 Die empirische Methode A. Schematischer Überblick Die empirischen Aussagen lassen sich wie folgt einteilen 1 ' 2 : Aussagen über • die persönliche Erlebniswirklichkeit
Empirische Aussagen -Gesetze
Aussagen "über die äußere Wirklichkeit
-Singulare Sätze Die Einteilung beruht auf der Unterscheidung zwischen „innerer" und „äußerer" Erfahrung. Als Erkenntnisquelle dient jener die Reflexion auf das eigene Erleben (Introspektion), dieser dagegen die sinnliche Wahrnehmung 3 .
B. Konstatierungen Unter „Konstatierungen" versteht man Aussagen über „das Vorliegen eines unmittelbaren persönlichen Erlebens" 4 , wie ζ. B. „Ich fühle Schmer1 Literatur: Bochenski 100 ff. ; Kraft; H. Stachowiak, Denken und Erkennen im kybernetischen Modell (Wien / New York 1965) 156 ff.; B. Juhos/H. Schleichen, Die erkenntnislogischen Grundlagen der klassischen Physik, Erfahrung und Denken Nr. 12 (Berlin 1963) 23 ff.; B. Juhos, Die Erkenntnis und ihre Leistung (Wien 1950); Popper, Austeda 75 ff.; Seiffert I 153 ff., 201 ff.; Brecht 29 ff. 2 Diese Einteilung beruht auf der Tabelle bei Juhos (zit. §17 Ν 1) 83 und auf den Ausführungen von Austeda 75 ff. 3 In diesem Sinne Austeda 76. 4 Juhos / Schleichen (zit. § 17 Ν 1) 24.
§1
Die m i s c h e Methode
129
zen", „Ich sehe ein rotbraunes Dach" oder „Ich rieche Rosenduft". Konstatierungen stellen also etwas fest über die eigene Erlebniswirklichkeit des Individuums, das sich darüber äußert. Dabei ist gleichgültig, ob die persönlichen Erlebnisse von Gegenständen der Innen- oder Außenwelt herrühren. Auch die Außenwelt wird dem Individuum ja zunächst nur über ein eigenes Erlebnis bekannt wie z. B. in der Aussage: „Ich sehe ein rotbraunes Dach". Daraus erhellt, daß eine Aussage über die eigene Erlebniswirklichkeit nicht schon dann falsch ist, wenn sie objektiv unrichtig ist 5 , wenn also beispielsweise der vom Individuum als „rotbraunes Dach" identifizierte Gegenstand in Wirklichkeit ein rotbraunes Pferd ist. Die Konstatierung ist vielmehr bereits wahr, sofern sie das in Frage stehende Erlebnis zutreffend beschreibt. Denn jemand kann zweifellos subjektiv das Erlebnis haben, ein rotbraunes Dach zu sehen, während in Wirklichkeit ein anderer oder — bei einer Halluzination — überhaupt kein Gegenstand vorliegt. Umstritten ist, ob Konstatierungen in diesem beschränkten Umfange (d. h. nur in bezug auf die eigenen Erlebnisse) absolute Gewißheit verbürgen. Verschiedene Autoren vertreten diese Auffassung, so z. B. Schlick, Russell, Ayer 6 und auch Juhos 7. Sie sehen in diesen Sätzen die letzten, nicht mehr bezweifelbaren Grundlagen der empirischen Erkenntnis. Erlebnisaussagen könnten demzufolge höchstens Lügen, niemals aber Irrtümer sein. I n der Tat wird man in aller Regel an Konstatierungen nicht zweifeln können; immerhin lehren die Erfahrungen hinsichtlich der Selbstbeobachtung bei psychologischen Experimenten, daß Irrtümer vorkommen 8 . Das belegen auch die jedem Arzt geläufigen Zweifel, ob der Kranke ihm seine Schmerzen wohl richtig beschreibt. Damit nun aber die in Konstatierungen enthaltenen subjektiven Beobachtungen für die Wissenschaft fruchtbar gemacht werden können, pflegt man die Erlebnisaussagen in eine andere logische Form überzuführen, nämlich in sog. Protokollsätze 9. Zu diesem Zweck werden die in der Konstatierung 5 6
Kraft 209/210. Kraft 206 mit Nachweisen.
7 Juhos (zit. § 17 Ν 1) 10; Juhos / Schleichen (zit. § 17 Ν 1) 24. Man beachte aber die Einschränkung 25. 8 Kraft 210 und dort in Ν 414 zit. Lit. 9 Für einen empiristischen Positivisten wie Kraft wird die Wahrnehmungsaussage in einem Protokollsatz durch das Wahrnehmungserlebnis begründet (Kraft 294). Gegen eine solche Auffassung erhebt Popper 60 ff. den Vorwurf des „Psychologismus". Popper spricht daher nicht von Protokollsätzen, sondern von Basissätzen (Popper 9 und 10 Ν 2). Im Unterschied zu den Protokollsätzen werden diese durch Beschluß, Konvention anerkannt. Basissätze i. S. Poppers sind Festsetzungen (Popper 71). Die Wahrnehmungserlebnisse, die auch dem Basissatz zugrunde liegen, sind nur die Motive für die Festsetzung, nicht aber deren Begründung. Sowohl für die Forschungspraxis wie auch für den weiteren Gang unserer Untersuchung spielen diese Differenzierungen an sich keine Rolle. Wir schließen uns aber der Konzeption Krafts an. weil man dadurch eine klarere Abgrenzung zwischen
9 Ott, 2. Aufl.
130
2. Teil, 1. Kap.: Das Problem der wissenschaftlichen Erkenntnis
enthaltenen hinweisenden Variablen (ich, hier, jetzt) durch Konstanten ersetzt 10 , nämlich durch die genauen Angaben des Namens des Beobachters, des Beobachtungsortes und der Zeit, also ζ. B.: „Herr M . hat am 25.12.1973 um 19.00 Uhr in der Sternwarte in Z. das und das beobachtet." Die Konstatierung als Aussage eines Individuums über seine eigene Erlebniswirklichkeit wird dadurch umgewandelt in eine Aussage über die äußere Wirklichkeit, zu der natürlich jetzt auch das Beobachtungserlebnis des Herrn M . gehört. Die Wahrheit des Protokollsatzes ist davon abhängig, ob Herr M . sein Beobachtungserlebnis richtig wiedergegeben hat, also nicht einem Irrtum (im vorstehend angeführten Sinne) erlegen ist oder gar geheuchelt hat; ferner müssen die richtigen Konstanten (Herr M., Sternwarte Z., 19.00 Uhr am 25.12.1973) anstelle der Variablen (ich, jetzt, hier) eingesetzt worden sein. Ein Protokollsatz ist damit „noch weniger unbedingt wahr als jede Erlebnisaussage; er muß in Zweifelsfällen geprüft und erst als wahr oder falsch erwiesen werden" 11 .
C. Gesetze Es fragt sich weiter, wie man nun von der ungeordneten Klasse von Protokollaussagen, welche die einzelnen Beobachtungsdaten festhalten, dazu gelangt, empirische Gesetze zu formulieren. Hier stellt sich der Wissenschaftstheorie eines ihrer heikelsten Probleme, nämlich das sog. „Induktionsproblem". Nach Bochenski scheint es zwar tatsächlich gelungen zu sein, durch das induktive Verfahren einige Aspekte der Natur zu erfassen; wie dies aber möglich ist, weiß im Grunde heute noch niemand zu sagen. „Dem Logiker erscheint die gewaltige, durch die Induktion geleistete Arbeit wie ein erfolgreiches Entziffern eines chiffrierten Textes, zu dem uns doch der Schlüssel fehlt. Daß einiges entziffert wurde, scheint sicher zu sein, wir wissen nur nicht, wie es geschieht 12 ." Immerhin lassen sich die folgenden Schritte unterscheiden: /. Bildung von Hypothesen Zunächst ist festzuhalten, daß kein logisch zwingendes Verfahren besteht, mit dessen Hilfe man von einem festgestellten Einzelsachverhalt allein (ohne Heranziehung eines Obersatzes) auf weitere, noch nicht beobachtete Tatsachen schließen könnte. Einen logisch zulässigen, spezifischen InduktionsErfahrungswissenschaft und Philosophie erhält. (Vgl. hinten § 21 Β und die Schlußbemerkungen am Ende des Buches). I0 n ' Kraft 212. 12 Bochenski 124.
§17 Die empirische Methode
131
schluß vom Besonderen auf das Allgemeine gibt es nicht 1 3 . Denn aus einer Aussage läßt sich durch logisches Schließen nur herausholen, was in ihr schon enthalten ist; beim induktiven Verfahren geht es aber um eine Extrapolation über den bekannten Einzelfall hinaus. Die neuen Sachverhalte sind in keiner Weise im ursprünglichen Tatbestand bereits enthalten. Infolgedessen können allgemeine Sätze, die sich über Beziehungen zwischen einer unbestimmten Vielzahl von Sachverhalten äußern, zunächst nur als Hypothesen eingeführt werden. Unter einer Hypothese versteht man eine versuchsweise Behauptung, eine Annahme, deren Wahrheitsgehalt noch unsicher ist, da nicht feststeht, ob der behauptete Sachverhalt in der Wirklichkeit zutrifft. — Diese Annahme muß so gewählt werden, daß sich aus ihr die bisher bekannten Protokollaussagen deduzieren lassen. Sie „erklärt" damit bis auf weiteres die bisherigen Beobachtungen. Erkenntnistheoretisch bedeutsam erscheint das Folgende: Die Hypothesenbildung beruht auf der nicht beweisbaren Voraussetzung einer durchgängigen Regelmäßigkeit des Naturgeschehens, d.h. „daß eine Ereignisfolge unter ähnlichen Umständen sich ähnlich wiederholen werde, wie es bisher regelmäßig immer geschehen ist" 1 4 . Nur unter dieser Voraussetzung darf man hoffen, daß bisher nicht beobachtete Einzelsachverhalte die Hypothese in Zukunft vielleicht bestätigen werden. Ohne Regelmäßigkeit bliebe uns die Welt „ein unserem Verstände unzugängliches Chaos" 1 5 ! A n dieser Stelle wird deutlich, wie eine „rein empirische" Wissenschaft, die nur aus Beobachtungsdaten aufgebaut wäre, offenbar unmöglich ist 1 6 . Vielmehr scheint unausweichlich eine bestimmte „axiomatische" Struktur unseres Denkens in den Erkenntnisprozeß hineinzuspielen. Dieser bedeutsame Aspekt wird hinten § 19 Β I V wieder aufgegriffen werden müssen. II.
Verifizierung
und Falsifizierung
Die Überprüfung der Hypothese geschieht nun in der Regel folgendermaßen: Aus der die bisherigen Beobachtungen deckenden Aussage leitet man neue Aussagen über bisher noch nicht beobachtete Einzelsachverhalte ab. A u f Grund des vermuteten Gesetzes formuliert man also Voraussagen über zukünftige Ereignisse. Der Endzweck dieses Vorgehens liegt aber nicht 13 14
Kraft,
Einführung in die Philosophie (2. Aufl. Wien / New York 1967) 145.
Juhos / Schleichen (zit. § 17 Ν 1) 26. 15 Austeda 48. 16 Darauf weist Bochenski 108 hin: „Daraus (d. h. aus der Tatsache, daß die empirischen Wissenschaften auf der Erfahrung gründen, Anm. des Verf.) folgt aber keineswegs, daß eine ,rein empirische 4 Wissenschaft in dem Sinne möglich wäre, daß sie ausschließlich aus Protokollaussagen bestünde. Das wäre keine Wissenschaft, sondern eine ungeordnete Klasse von Aussagen."
9*
132
2. Teil, 1. Kap.: Das Problem der wissenschaftlichen Erkenntnis
darin, Prognosen zu treffen, sondern darin, die Hypothese zu bestätigen oder zu widerlegen 17 . Dies geschieht mithin durch eine „Deduktion innerhalb der Induktion": Aus dem vermuteten Gesetz werden die Einzelfälle so abgeleitet, „als ob das Gesetz in einem deduktiven System stünde" 18 . Die so gewonnenen Aussagen sind der Form nach Protokollaussagen; ihr Wahrheitswert muß „technisch feststellbar" 19 , aber bis anhin noch nicht festgestellt sein. Da sie unmittelbar beobachtbare Ereignisse anvisieren, lassen sie sich leicht mittels Durchführung von Experimenten und anderen Beobachtungstechniken überprüfen. Stimmen die tatsächlichen Beobachtungen mit den aus der Hypothese abgeleiteten Schlußfolgerungen überein, dann gilt diese indirekt als bestätigt, im anderen Falle als widerlegt. Als Beispiel können wir auf die Einrichtung des Blitzableiters verweisen 20 : Die physikalische Erklärung von Blitz und Donner besagt, daß Teilchen, die man nicht sehen kann, in einem Luftstrom, der infolge von Erwärmung aufsteigt, sich reiben und dadurch elektrisch aufladen. Der Blitz ist nun die Entladung dieser elektrischen Spannungen. Die dadurch erzeugten Schallwellen nimmt das Ohr als Donner wahr. Wenn diese Erklärung zutrifft, muß sich nach den Gesetzen der Elektrizitätslehre der Blitz durch einen Blitzableiter einfangen und unschädlich zur Erde lenken lassen. Daß dies tatsächlich möglich ist, bestätigt die Richtigkeit der Erklärung des Blitzes als einer elektrischen Entladung. — Alle Anwendungen der Technik beruhen, wenn sie erfolgreich sein sollen, auf solchen zutreffenden Voraussagen auf Grund von Naturgesetzen. Ist eine Hypothese in mehreren Fällen bestätigt, in keinem Fall dagegen widerlegt worden, erhebt man sie zum Gesetz. Unter einem empirischen Gesetz versteht man eine verifizierte Aussage allgemeinen Inhalts 2 1 . Das Gesetz beschreibt also nicht einen einmaligen Sachverhalt (ein solcher wird durch eine sog. singuläre Aussage ausgedrückt, siehe hinten § 17 D), sondern bezieht sich auf eine unbeschränkte Vielzahl von Sachverhalten, indem es eine empirische Folgebeziehung (Implikation) ausdrückt: Wenn die Bedingungen A gegeben sind, treten stets die Folgen Β ein. Diese apodiktische Formulierung läßt aber sofort wieder das Induktionsproblem deutlich werden: Ein empirisches Gesetz ist offenbar nie endgültig verifizierbar. Denn dazu müßte man sämtliche, in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sich 17
Seiffert I 181. Seiffert I 181. 19 Bochenski 107. 20 Das Beispiel stammt von V. Kraft, Was ist Wahrheit?, Der Wahrheitsbegriff in Wissenschaft und Philosophie, in: Der Mensch, sein Wesen und sein Wirken, hrsg. vom Institut für Wissenschaft und Kunst in Wien (Wien 1960) 82 ff. 21 In diesem Sinne Seiffert I 163. Auf den wichtigen Unterschied zwischen den hier behandelten „Gesetzeshypothesen" und den „Einzelhypothesen" wird hinten § 17 D zurückzukommen sein. 18
§
Die m i s c h e Methode
133
ereignenden, in den Geltungsbereich des Gesetzes fallenden Vorgänge beobachten können, was offensichtlich unmöglich ist. Dagegen genügt die Beobachtung eines einzigen Sachverhaltes, der dem Gesetz widerspricht, um dieses endgültig zu widerlegen, sofern der Widerspruch nicht durch Nachweis einer Einwirkung zusätzlicher Faktoren als bloß scheinbarer entlarvt werden kann. Diese „Asymmetrie" zwischen der (logisch gültigen) Falsifikation und der (nie endgültigen) Verifikation hat Popper dazu geführt, als Kriterium empirischer Systeme die Falsifizierbarkeit des Systems vorzuschlagen 22 . Das heißt: Das System muß, um als empirisches anerkannt zu werden, zwar nicht endgültig (positiv) verifizierbar sein, sondern es genügt, daß es an der Erfahrung scheitern kann 2 3 . Das System muß also auch bei Popper einer Nachprüfung durch die Erfahrung fähig sein. Dieser Gedanke läßt sich etwas überspitzt folgendermaßen formulieren: Die „ Verifizierung" empirischer Gesetze liegt im Mißlingen ihrer Falsifizierungl — In der Forschungspraxis wird nun allerdings der Grundsatz von der endgültigen Falsifikation eines Gesetzes durch widersprechende Beobachtungen nicht so streng gehandhabt. Nach Bochenski wäre es „eine Naivität zu meinen, daß der Naturwissenschaftler ein gut verifiziertes Gesetz preisgibt, wenn er ein oder zwei ihm widersprechende Protokollaussagen findet .. ," 2 4 . Eher wird man die Richtigkeit der Protokollaussagen bezweifeln oder — falls diese feststeht — nach Störfaktoren suchen, die das Ergebnis beeinflussen, so daß das Gesetz, wenn sich solche tatsächlich nachweisen lassen, weiter aufrechterhalten werden kann. Trotzdem bleibt hier festzuhalten: Jedes empirische Gesetz gilt streng genommen nur bis auf weiteres\ Das heißt, es kann jederzeit durch spätere, bisher noch nicht bekannte Erfahrungen umgestürzt werden. Empirische Forschung führt also prinzipiell nie zu apodiktischer Gewißheit. Immer muß man mit zukünftigen Änderungen rechnen. Je häufiger ein Gesetz durch später hinzutretende Wahrnehmungen bestätigt wird, desto wahrscheinlicher trifft es zu. Zwischen einer Hypothese im technischen Sinne des Wortes (Aussage im Stadium der Vermutung) und einem Gesetz besteht also nur ein gradueller, nicht ein prinzipieller Unterschied: auch das empirische Gesetz gilt nur hypothetisch! III.
Bildung von Theorien
In der Regel gibt man sich mit dem Aufstellen von Gesetzen nicht zufrieden, sondern bildet eine dritte Stufe von Aussagen, die ihrerseits die Gesetze erklären. „Wenn diese Aussagen genügend allgemein sind und viele 22 23 24
Popper 14/15. Popper 15. Bochenski 108.
134
2. Teil, 1. Kap.: Das Problem der wissenschaftlichen Erkenntnis
Gesetze erklären, werden sie im allgemeinen ,Theorien' genannt (die diesbezügliche methodologische Terminologie ist noch etwas schwankend). Der Vorgang, der zur Bildung von Theorien führt, ist, logisch gesehen, prinzipiell derselbe wie jener, der zur Aufstellung der Gesetze führte.. ." 2 5 . Eine Theorie ist also eine „.Zusammenfassung mehrerer Gesetze zu einem ,Obergesetz'" 26 . Sie gründet direkt auf den Gesetzen, die sie erklärt, indirekt auf den die Gesetze stützenden Protokollaussagen. Unsere bisherigen Ausführungen über die Struktur empirischer Forschung lassen sich im folgenden zusammenfassenden Schema verdeutlichen:
IV
Zusammenfassendes Schema nach Bochenski und Seiffert
27
1. Der Forschungsablauf Ά * \
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P*
Pi
Aus den Protokollaussagen P l und P 2 wird die Hypothese H x gebildet, anschließend durch die aus ihr abgeleitete Protokollaussage P 3 verifiziert und darauf zum Gesetz Gl erhoben. Analoges gilt für H 2. Aus Gl und G 2 stellt man die Theorie T x auf. Diese wird verifiziert durch Ableitung von H 3 aus T x und von Ρ Ί aus H 3. Ρ η ist die verifizierende Protokollaussage. 25 26 27
Bochenski 106. Seiffert I 165. Bochenski 109; Seiffert
I 167.
§
135
Die m i s c h e Methode
2. Der logische Ablauf Ti
G2.
Gi.
G8 θα TT rt o' 3
ν Ρ
Ρ
Ρ
ν Ρ
y ρ
Dieses Schema zeigt die logische Struktur der fertigen Theorie. Alle Gesetze lassen sich aus der Theorie und alle Protokollaussagen aus den Gesetzen ableiten. D. Singuläre Sätze Die singulären Sätze beziehen sich, im Gegensatz zu den empirischen Gesetzen, auf einen konkreten Sachverhalt. Sie behaupten „in Einzelfällen empirische Geltungsbeziehungen zwischen Konstatierungen. So behauptet der singläre Satz ,Dies ist ein Tisch 4 für den vorliegenden Einzelfall die gleichzeitige Geltung, d. i. die ,empirische Äquivalenz' gewisser Konstatierungen von optischen, haptischen etc. Sinneseindrücken, welche Geltungsbeziehungen zwischen Konstatierungen der betreffenden A r t bisher immer beobachtet wurden" 2 8 . Die auf Grund des optischen Eindrucks formulierte Behauptung „Dies ist ein Tisch" läßt sich beispielsweise durch Abtasten des als „Tisch" bezeichneten Gegenstandes überprüfen. Wie die empirischen Gesetze tragen auch die singulären Sätze streng genommen nur hypothetischen Charakter. I m vorliegenden Beispiel könnte eine nähere Prüfung zutagefördern, daß der als „Tisch" bezeichnete Gegenstand in Wirklichkeit ein großer Spiegel ist, der das Bild eines Tisches zeigt. Die Hypothese „Dies ist ein Tisch" wäre damit falsifiziert. Dabei kommt dem Wort „Hypothese" 28
Juhos / Schleichen (zit. § 17 Ν 1) 26.
136
2. Teil, 1. Kap.: Das Problem der wissenschaftlichen Erkenntnis
hier offenbar eine etwas andere Bedeutung zu als diejenige, die wir ihm bisher (vorne § 17 C I) beigelegt haben. Ging es dort immer nur um sog. „Gesetzeshypothesen", die eine Vermutung über eine unbeschränkte Menge von Fällen aussprechen, handelt es sich hier um „Einzelhypothesen", die einen individuellen Sachverhalt behaupten. Bestätigte Gesetzeshypothesen führen, wie wir gesehen haben, zu empirischen Gesetzen, bestätigte Einzelhypothesen zu singulären Sätzen. Diese Unterscheidung zwischen Gesetzeshypothesen und Einzelhypothesen bzw. zwischen empirischen Gesetzen und singulären empirischen Sätzen ist sehr wichtig 2 9 ; sie läßt deutlich werden, daß man legitimerweise schon dann von empirischer Forschung sprechen darf, wenn Einzelsachverhalte exakt sichergestellt werden, nicht aber erst dann, wenn — wie meist in den Naturwissenschaften — allgemeine Sätze aufgestellt werden. Die Gleichsetzung „empirische Wissenschaften = Naturwissenschaften" ist ausgesprochen unglücklich, finden sich doch auch in den übrigen Wissenschaften viele Sätze, die sich auf Grund von Beobachtungen direkt oder indirekt „intersubjektiv" nachprüfen lassen und daher mit Fug als „empirisch" bezeichnet werden können, auch wenn es sich nur um die Feststellung von individuellen Tatsachen (ζ. B. in der Geschichtswissenschaft oder in der Soziologie), nicht aber um allgemeine Gesetze handelt. Als empirisch nachprüfbar gelten uns daher nicht nur solche Behauptungen wie diejenige, daß sich Stickstoff bei Erwärmung um 1 °C um l / 2 n seines Volumens ausdehnt, sondern auch beispielsweise die folgenden: „Die Mehrheit der Studenten an der juristischen Fakultät der Universität in G. sind gegen die Todesstrafe", oder: „Das Musikstück X stammt vom Komponisten A " , oder: „Die Praxis des höchsten Gerichts des Landes Ζ in der Rechtsfrage Y läßt sich so und so zusammenfassen". Die erste dieser Behauptungen wäre durch eine Umfrage zu überprüfen, die zweite durch Analyse der historischen Quellen (wobei die Sicherheit des Urteils natürlich von der konkreten Quellenlage abhängt), die dritte durch Einsichtnahme in die Judikatur des betreffenden Gerichts.
E. Empirische Aussagen als Feststellungen Zusammenfassend können wir die empirischen Aussagen wie folgt charakterisieren: Empirische Aussagen behaupten etwas über die Wirklichkeit. Sie sind keine Festsetzungen, sondern Feststellungen und vermitteln daher Erkenntnis. Durch die angegebenen Verfahren lassen sie sich auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen; sie können verifiziert bzw. falsifiziert werden, und zwar durch jedermann, der urteilsfähig ist, ein normales Wahrnehmungsvermögen besitzt und (wenn nötig) die entsprechende wissenschaftli29
Darauflegt Seiffert
I 153 f., 170 f., 232 ff. großen Wert.
§
Die m i s c h e Methode
137
che Ausbildung besitzt. „ I m Sinne der traditionellen Logik sind sie synthetische' oder ,Erweiterungsurteile' insofern, als sie den Subjektsbegriff durch die Prädikation erweitern und ein neues, im Subjektsbegriff noch nicht mitgedachtes Merkmal aussagen. Sie sind also nicht ,leer' wie die logischen Sätze, konstituieren dafür aber auch nicht apodiktisches Wissen wie diese .. ." 3 0 . Streng genommen stehen alle empirischen Sätze mithin nur hypothetisch fest. Ihre erste und wichtigste Geltungsgrundlage ist dit Erfahrung. Diese kann „innere" oder „äußere" Erfahrung sein, d. h. sie kann sich auf die eigene, durch Introspektion erfaßte Erlebniswirklichkeit oder auf die äußere, letztlich durch sinnliche Wahrnehmung erfaßte Wirklichkeit beziehen. Zu dieser äußeren Wirklichkeit gehören auch Tatsachen, die zwar nicht direkt beobachtbar sind, aber aus Beobachtungsdaten (und in der Psychologie auch durch Introspektion) auf Grund von (u. U. sehr verwickelten) Schlußfolgerungen abgeleitet werden können, wie z. B. Vorgänge im Seelenleben fremder Personen 31 . — Auch geistige Wirklichkeiten können u. U. durch logische Folgerungen aus Beobachtungsdaten intersubjektiv nachprüfbar erwiesen werden: So. z. B. eine Sitte aus der Beobachtung tatsächlicher menschlicher Verhaltensweisen oder das geltende Recht eines Landes aus den entsprechenden Gesetzbüchern und Urteilen. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang auch folgendes Beispiel Bochenskis: „Nehmen wir ein unbekanntes Wort, es sei ,TAR\ Was es bedeuten soll, wird man allmählich verstehen, wenn die folgenden Axiome vorliegen: 1. TAR hat zwei Füße, 2. TAR spricht englisch, 3. TAR raucht Pfeife. Wäre nur 1 gegeben, dann könnte ,TAR' auch ein Möbel bezeichnen; mit 1 und 2 bedeutet es sicher ein Lebewesen, es könnte aber auch ein Papagei sein; hat man aber alle drei Axiome, so weiß man, daß 9 TAR' nur einen Menschen bezeichnen kann 3 2 ." Der Sinn des Wortes „TAR" — also etwas Geistiges! — kann hier intersubjektiv nachprüfbar festgestellt werden. Die zweite Geltungsgrundlage empirischer Sätze sind die Regeln der Logik. Da die Erfahrung allein uns nur ein Chaos von Eindrücken vermitteln könnte, müssen wir die Regeln der Logik anerkennen, um eine geordnete 30
Austeda 77. Beispiel: Jemand sagt: „Ich fühle Zahnschmerzen!" Ob das wirklich zutrifft, kann man von außen natürlich nicht direkt beobachten, da der Betreffende allein unmittelbaren Zugang zu seiner Erlebniswirklichkeit hat. Aber es läßt sich erschließen: erstens aus dem außersprachlichen Verhalten des Kranken (z. B. ob er sich bei einem Zahnarzt behandeln läßt, ob er eine geschwollene Backe hat, schmerzverzerrte Miene zeigt usw.); zweitens aus den Äußerungen des Kranken selbst, sofern keine Motive für eine Lüge vorliegen; drittens durch Introspektion: da auch der Beobachter höchstwahrscheinlich Zahnschmerzen aus eigener Erfahrung kennt, kann er sich in etwa vorstellen, was der andere fühlen muß, wenn seine Aussage wahr ist. — Aus all diesen Indizien läßt sich der wirkliche fremdseelische Vorgang mit einiger (wenn auch nicht mit absoluter!) Sicherheit erschließen. 31
32
Bochenski 92/93.
138
2. Teil, 1. Kap.: Das Problem der wissenschaftlichen Erkenntnis
Erfahrungswelt aufbauen zu können. Diese Regeln der Logik, auf denen alles Denken, Schließen, Beweisen beruht, können nicht ihrerseits aus der Erfahrung als richtig erwiesen werden, sondern gelten unabhängig von der Erfahrung und vor aller Erfahrung. Drittens beruht die empirische Forschung auf gewissen zusätzlichen theoretischen Voraussetzungen, die weder aus der Erfahrung zu beweisen sind noch den Regeln der Logik angehören. A u f eine von ihnen haben wir bereits hingewiesen, nämlich auf die Voraussetzung einer Regelmäßigkeit des Naturgeschehens 33 . Eine andere ist die dem sog. „gesunden Menschenverstand" ohne weiteres einleuchtende Annahme, daß jenseits unserer Erlebnisse eine Körperwelt existiert. Dies entspricht der Grundthese des erkenntnistheoretischen Realismus, welcher einen Dualismus von Bewußtsein und einer davon unabhängigen Wirklichkeit lehrt. Es ist hier nicht der Ort, die außerordentlich heikle Grundlagenproblematik der Wissenschaft aufzurollen und zu zeigen, welche Voraussetzungen im einzelnen von der Wissenschaft „axiomatisch" vorausgesetzt werden müssen, da diese nicht im Rahmen und mit den Mitteln der wissenschaftlichen Methoden bewiesen werden können 3 4 . Es genügt uns, hier auf diesen Umstand hingewiesen zu haben, daß jedenfalls selbst empirische wissenschaftliche Forschung nicht voraussetzungslos betrieben werden kann (geschweige denn das philosophische Denken!).
§ 18 Wissenschaftliche Wahrheit und wissenschaftliche Erkenntnis A. Die Bestimmung des Erkenntnisbegriffs als Festsetzung I n den bisherigen Ausführungen ist wiederholt von „Wahrheit" und „Erkenntnis" die Rede gewesen, ohne daß explizit dargelegt worden wäre, was unter diesen Ausdrücken zu verstehen sei. Unser Vorgehen war insofern ein zulässiges, als sich schon aus dem Gebrauch dieser Worte, aus der Stellung in den Zusammenhängen, in denen sie verwendet wurden, ihre ungefähre Bedeutung ergab. Diese Bedeutung soll nun im folgenden genauer aufgezeigt werden. Und zwar kann es nicht darum gehen zu untersuchen, was Wahrheit oder Erkenntnis „an sich" ist, gehören doch diese beiden Ausdrücke zu den umstrittensten der Philosophie. Darunter kann nämlich sehr Verschiedenes verstanden werden. Vielmehr soll geklärt werden, was wir im folgenden darunter verstehen wollen, welche Bedeutung von der hier entwickelten Konzeption aus diesen Worten zukommen soll. 33 34
Vgl. vorne § 17 C I. Eingehend dazu das Buch von Austeda.
§ 18 Wissenschaftliche Wahrheit und wissenschaftliche Erkenntnis
139
Stellen wir uns also zunächst die Frage: „Was ist Erkenntnis?", dann zeigt sich bei näherem Zusehen, daß diese Frage unglücklich formuliert ist. Denn beim Versuch zu erkennen, was Erkenntnis ist, gerät man unvermeidlich entweder in einen unendlichen Regreß oder in einen Zirkel 3 5 . U m zu erkennen, was Erkenntnis ist, braucht man ein Kriterium, das selbst eine Erkenntnis darstellt. Damit aber dieses Kriterium seinerseits als Erkenntnis erwiesen werden kann, braucht man ein weiteres Kriterium, welches das erste als Erkenntnis beweist und so fort bis ins Unendliche. Wenn man diesen unendlichen Regreß dadurch vermeidet, daß man einen bestimmten Erkenntnisbegriff einfach als Resultat richter Erkenntnis behauptet, wird die Begründung offensichtlich zirkulär. Der Begriff der Erkenntnis kann folglich nicht seinerseits auf einer Erkenntnis gründen, sondern nur als Festsetzung eingeführt werden. Die Frage lautet also nicht: „Was ist Erkenntnis?", sondern: „Was soll Erkenntnis sein? 36 " oder: „Was wollen wir als Erkenntnis gelten lassen?" Damit dürfte klar sein, daß mit dem im folgenden zu entwickelnden Erkenntnisbegriff nicht eine bestimmte Weltanschauung propagiert werden soll, sondern nur ein methodisches Instrument für den Gang unserer Untersuchung geschaffen werden soll. Auch der Metaphysiker kann nämlich durchaus zu Recht das von ihm im Zustand der Erleuchtung Geschaute als Erkenntnis ausgeben. Nur liegt dann seinen Aussagen eben ein anderer als der hier zu entwickelnde Erkenntnisbegriff zugrunde; seine Behauptungen können allenfalls von einem anderen Erleuchteten, nicht aber allgemein überprüft werden. Natürlich setzen wir den Erkenntnisbegriff nicht einfach willkürlich fest, sondern lassen uns von bestimmten Motiven leiten. Diese Motive sind die folgenden: Zunächst müssen wir den Erkenntnisbegriff in der Weise festsetzen, daß auch Aussagen über psychische Vorgänge als grundsätzlich verifizierbar gelten sollen. Würden wir nämlich nur Sätze über Tatsachen der physischen Außenwelt, d. h. über Tatsachen in Zeit und Raum, als empirisch überprüfbar ansehen, wären damit zum vornherein die psychologischen Rechtspositivismen diskreditiert: Schon allein auf Grund unserer Festsetzung des Erkenntnisbegriffes würden sie dann als unbeweisbar gelten. Weiter sollen auch Sätze über geistige Wirklichkeiten dann als Erkenntnisse gelten, wenn sie durch logisch-empirische Untersuchungen begründet werden können. Würden wir dies nicht zulassen, dann wären ζ. B. Sätze über Rechts-normen, d. h. über den Sinn gewisser empirisch gegebener Tatsachen, zum vornherein unverifizierbar. Es ist aber — wie die in den vorangegange35 36
Vgl. zum Folgenden Kraft 21 ff. Kraft 27.
140
2. Teil, 1. Kap.: Das Problem der wissenschaftlichen Erkenntnis
nen zwei Paragraphen vorgenommenen Analysen gezeigt haben — durchaus voreilig zu schließen, daß etwas, was nicht direkt beobachtbar ist, außerhalb einer empirischen Erkenntnis fallen müsse. Nur ein kleiner Teil der Inhalte einer physikalischen Theorie ist ζ. B. direkt beobachtbar; trotzdem darf die ganze Theorie als empirisches System gelten, da sie als Ganzes an der Erfahrung scheitern kann. Und ebenso ist nun ein Sinn nicht sinnlich wahrnehmbar. Trotzdem kann er einer logisch-empirischen Analyse zugänglich sein 37 . Kelsen hat dies für die Rechtstheorie wie folgt klar formuliert: „,Empirisch' im Gegensatz zu,metaphysisch' ist eine Wissenschaft nicht nur, wenn sie in Raum und Zeit sich abspielende Tatsachen, sondern auch, wenn sie den Sinn gewisser menschlicher Akte beschreibt. Eine Theorie des Rechts bleibt empirisch, wenn sie sich auf die Beschreibung von Normen beschränkt, die der Sinn empirischer, in Raum und Zeit gesetzter, von Menschen gesetzter Akte sind, ohne sich auf Normen zu beziehen, die von übermenschlichen Instanzen wie Gott oder einer von Gott geschaffenen Natur ausgehen, solange das ,Sollen' der Normen, die sie beschreibt, nicht das Sollen einer metaphysischen Gerechtigkeit ist 3 8 ." Als Aussagen, die Erkenntnisse vermitteln (Feststellungen), sollen nur solche bezeichnet werden, die sich von jedermann, der urteilsfähig ist, ein normales Wahrnehmungsvermögen und die dazu nötige Ausbildung besitzt, auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen lassen. Als Erkenntnis gilt uns das, was als wahr erwiesen werden kann. Damit sind wir auf den Begriff der Wahrheit verwiesen. Dieser soll wie folgt festgelegt werden:
B. Die logische Wahrheit Als logisch wahr soll ein Satz dann gelten, wenn er sich innerhalb eines deduktiven Systems auf Grund der vorausgesetzten Axiome, Definitionen und Operationsregeln des Systems herleiten läßt. Ein logisch wahrer Satz gilt also nur i. S. einer „Wenn-dann-Aussage": Wenn man die und die Axiome, Definitionen und Operationsregeln akzeptiert, dann gilt das und das. Es geht also immer nur um eine „interne" Wahrheit, d.h. um eine Wahrheit innerhalb des betreffenden Systems: Damit ist die logische Wahrheit in dem Sinne eine relative, als sie von den Voraussetzungen des jeweiligen Systems abhängt. A u f der anderen Seite ist die logische Wahrheit aber insofern eine absolute, als sie innerhalb des 37 Vgl. vorne § 17 E. Ob er es in einem bestimmten Falle tatsächlich ist, hängt natürlich von den konkreten Umständen ab, insbesondere davon, ob die verwendeten Ausdrücke im Gebrauch der Alltags- bzw. Fachsprache in einer bestimmten gleichbleibenden Bedeutung verwendet werden. 38 Kelsen, ÖZöR NF 10 (1959/60) 5.
§ 18 Wissenschaftliche Wahrheit und wissenschaftliche Erkenntnis
141
Systems ein für allemal feststeht, d. h. nicht, wie die empirische Wahrheit, durch spätere Untersuchungen wieder umgestoßen werden kann.
C. Die empirische Wahrheit Ein Satz soll als empirisch wahr dann gelten, wenn er sich widerspruchslos in einen gesetzmäßigen Zusammenhang einer Vielzahl von Wahrnehmungsaussagen, die durch innere oder äußere Wahrnehmungen begründet sein können, und gewisse theoretische Voraussetzungen einordnen läßt 39. I n dieser Definition sind zunächst die schon behandelten Geltungsgrundlagen empirischer Sätze (nämlich Logik, Erfahrung und gewisse theoretische Voraussetzungen) erwähnt 40 . Folgende Punkte sind weiter zu betonen: „Empirisch" ist hier nicht im engen Sinne der Naturwissenschaften zu verstehen. Dies in doppelter Hinsicht: Als „empirisch" haben wir auch die Aussagen über die eigene Erlebniswirklichkeit (Konstatierungen) bezeichnet. Auch die „innere" Erfahrung ist also zugelassen! — Andererseits soll auch schon eine durch Beobachtungen gesicherte bzw. daraus logisch abgeleitete Feststellung von Einzelsachverhalten als „empirisch" gelten (also nicht nur die Feststellung von Gesetzmäßigkeiten). In diesem Sinne gehen sowohl der Historiker, der bestimmte Quellen, und der Psychologe, der einen Patienten untersucht, „empirisch" vor. Maßgebend für die Wahrheit eines empirischen Satzes (sowohl einer Konstatierung wie auch einer Aussage über die äußere Wirklichkeit) ist nicht schon ein einzelnes subjektives Erlebnis, ζ. B. eine einzelne sinnliche Wahrnehmung 4 1 . Das sinnliche Erleben bildet für sich allein noch kein hinreichendes Kriterium für die Wahrheit. Vielmehr muß sich der das betreffende Erlebnis beschreibende Satz in einen logischen Zusammenhang einer Vielzahl von Erfahrungen und theoretischen Voraussetzungen einordnen lassen. Erst eine solche widerspruchslose Einordnung in ein bereits bekanntes System verbürgt die Wahrheit des empirischen Satzes. Dafür ein Beispiel: Wenn man einen Stab ins Wasser hält, erscheint er bekanntlich als gebrochen. Ein Beobachter, dem die optischen Gesetze unbekannt sind, müßte demzufolge auf Grund dieser einen Wahrnehmung die Hypothese aufstellen, daß ein Stab unter den geschilderten Umständen bricht. Zieht der Beobachter den Stab wieder heraus, zeigt es sich, daß dieser unversehrt geblieben ist. Der Beobachter erhält damit zwei einander widersprechende optische Ein39 Der hier im Anschluß an die Ausführungen Krafts formulierte Wahrheitsbegriff besteht also in einer Kombination zwischen der sog. „Korrespondenztheorie" und der sog. „Kohärenztheorie". Kraft 366. 40 Vgl. vorne § 17 E. 41 Dazu Kraft 292 ff.
142
2. Teil, 2. Kap.: Die Unbeweisbarkeit des Rechtspositivismus
drücke. Berührt er ferner den scheinbar gebrochenen Stab unter Wasser, bestätigt ihm der Tastsinn die zweite optische Feststellung. Dafür, daß der Stab tatsächlich nicht bricht, spricht weiter beispielsweise der Umstand, daß man durch Rudern ein Boot vorwärts treiben kann, was sonst unmöglich wäre. Durch diese und ähnliche unter den verschiedensten Umständen gewonnenen Wahrnehmungen verschiedener Sinne wird die Gegenhypothese vom nicht brechenden Stab bestätigt, während die ursprüngliche Hypothese sich als falsch erweist. Ein letzter Zweifel bleibt aber noch, solange nicht feststeht, wieso der täuschende Sinneseindruck zustandekommt. Erst wenn man das Gesetz der Optik kennt, wonach ein Lichtstrahl seine Richtung ändert, wenn er von einem Medium (ζ. B. Luft) in ein anderes Medium verschiedener Dichte (ζ. B. Wasser) eintritt, darf man den Sachverhalt als geklärt betrachten.
D. Erkenntnistheoretischer Positivismus und Wertrelativismus Meist wird die Meinung vertreten, aus dem Ansatz des erkenntnistheoretischen Positivismus folge, daß Werturteile aller Art irrationaler Natur seien und außerhalb der wissenschaftlichen Erkenntnis lägen 42 . Daran ist nur soviel richtig, daß die Erkentnis von Werten nicht mit den hier beschriebenen Mitteln wissenschaftlicher Erkenntnis möglich ist und daß die meisten Positivisten de facto Wertrelativisten sind. Vom positivistischen Ansatz aus ist es aber m. E. nicht ausgeschlossen, daß es eine andere A r t der Erkenntnis von Werten geben kann, ζ. B. auf Grund einer utilitaristischen Konzeption, und daß damit eine rationale Erörterung von Wertfragen möglich wird. Aus der positivistischen Konzeption folgt nur, daß die Werterkenntnis eine Erkenntnis anderer Art sein muß, nicht aber; daß sie unmöglich ist. Erkenntnistheoretischer Positivismus und Wertrelativismus sind also logisch voneinander unabhängige Thesen, auch wenn sie faktisch bei vielen Denkern in Verbindung miteinander aufzutreten pflegen.
Zweites Kapitel
Die Unbeweisbarkeit des Rechtspositivismus U m die uns im folgenden zu beschäftigende Hauptfrage zu beantworten, nämlich diejenige, ob eine unter den dargestellten Rechtstheorien, bzw. 42
So z. B. Coing 62.
§ 19 Feststellungen (unechte Definitionen)
143
welche von ihnen, die „richtige" ist, müssen wir uns zunächst ins Gedächtnis zurückrufen, daß die entscheidenden Divergenzen zwischen den verschiedenen Rechtspositivismen in einer Begriff,sbestimmung liegen: Die rechtspositivistischen Theorien unterscheiden sich hauptsächlich voneinander in dem von ihnen vorausgesetzten Begriff des Rechts. Es stellt sich uns nun die Verifikationsfrage, d. h. die Frage, ob eine der von den Positivisten gegebenen Definitionen des Rechts als wahr bewiesen werden kann, was in sich schließt, daß alle übrigen als falsch zu gelten hätten. Nach dem in den vorangehenden Paragraphen entwickelten Erkenntnisbegriff kommen als Verifikationsmethoden nur logisch-empirische Verfahren in Betracht. Weil im Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit, wie eben ausgeführt, Begriffsbestimmungen stehen, scheint es angezeigt, an dieser Stelle auf die Definitionslehre der Logik zurückzugreifen 1 . Und zwar werden wir uns auf die moderne Definitionslehre abstützen, da sich die klassische Definitionslehre in verschiedener Hinsicht als unzulänglich erwiesen hat 2 . Die für uns wichtigste Unterscheidung besteht darin, ob eine Definition als Feststellung (nachstehend Ä) oder als Festsetzung (nachstehend Β) zu qualifizieren ist 3 . Nur im letzten Fall spricht Klug von echten Definitionen 4 .
§ 19 Feststellungen (unechte Definitionen) Hier sind zwei Untergruppen auseinanderzuhalten, die Behauptungen über einen vorliegenden Sprachgebrauch und die sog. Sacherklärungen.
A. Behauptungen über einen vorliegenden Sprachgebrauch (analytisch-semantische Definitionen) I. Grundsätzliches Eine analytisch-semantische Definition, von Dubislav auch „Zeichenerklärung" genannt, behauptet etwas über das Bestehen eines Sprachgebrauchs 5. Sie ist eine „Feststellung, nicht etwa Festsetzung, der Bedeutung, die ein 1 Literatur: R. Robinson, Definition (Oxford 1950); Austeda 73 ffBochenski90 ff.;Klug 88 ff.; derselbe, Festschrift Emge 33 ff.; Kantorowicz 19 ff.; Dubislav,; E. v. Savigny, Grundkurs im wissenschaftlichen Definieren (München 1970); L. Kuhlen, Typuskonzeptionen in der Rechtstheorie, Schriften zur Rechtstheorie Nr. 66 (Berlin 1977) 30 ff. 2 Klug 89. 3 Klug, Festschrift Emge 40. 4 Klug 89-93. 5 Robinson (zit. § 19 Ν 1) 35 ff. spricht von „lexical definition".
144
2. Teil, 2. Kap.: Die Unbeweisbarkeit des Rechtspositivismus
Wort oder allgemein ein Zeichen besitzt, bzw. die Feststellung der Verwendung, die es findet 6 . Nach Bochenski wird durch eine analytisch-semantische Definition „einem Zeichen eine ihm schon irgendwo zukommende Bedeutung ausdrücklich zugeordnet" 7 . Es ist also vorausgesetzt, daß bei einem bestimmten Menschen (ζ. B. im Werk eines Gelehrten) oder in einer Gruppe von Menschen eine bestimmte Bedeutung des Zeichens schon anerkannt ist. Eine Feststellung darüber kann offensichtlich zutreffend oder unzutreffend sein; d. h. es ist sinnvoll danach zu fragen, ob sie wahr ist oder falsch. Wie dargelegt, kommen für uns zur Überprüfung von Definitionen nur logisch-empirische Methoden in Betracht. Bei den analytisch-semantischen Definitionen pflegt dabei das Schwergewicht dann auf dem logischen Element zu liegen, wenn aus einem systematischen Zusammenhang heraus argumentiert wird (vgl. das nachstehende Beispiel); daneben spielen natürlich auch empirische Feststellungen eine Rolle (ζ. B. Feststellungen eines Gesetzestextes). II. Beispiel: Der Begriff des „ Werkes"
z. S. von OR 58
Betrachten wir die bekannte, von Oftinger stammende Definition des „Werkes" i. S. von OR 58 (Kausalhaftung des Werkeigentümers): Danach sind Werke „stabile, mit der Erde direkt oder indirekt verbundene, künstlich hergestellte oder angeordnete Gegenstände" 8. Welche logische Struktur weist die vorliegende Definition auf? Oftinger gewinnt die Definition aus dem Gesetzestext9 und aus der Judikatur 1 0 . Das Marginale zu OR 58 und die Wendung „Der Eigentümer eines Gebäudes oder eines anderen Werkes" lassen die Folgerung zu, daß der Gebäudebegriff einen Unterbegriff des zu suchenden Werkbegriffes darstellt 11 und daß damit der Werkbegriff eine gewisse (weitere oder engere) Beziehung zum Gebäudebegriff von Gesetzes wegen haben muß. Die Judikatur hat nun diese Bezeichnung näher präzisiert: Es ist die Eigenschaft der Stabilität, „die so verschiedenartigen Gegenständen wie der Straße, dem Dampfkessel eines Schlachthofes, der Wasserleitung, der Telephonstange gemeinsam ist, die alle vom Bundesgericht zu Werken erklärt worden sind" 1 2 . Die vorliegende Definition stellt, wie das Gesagte deutlich zeigt, eine analytisch-semantische Definition dar, d. h. es 6 7 8
188. 9 10 11 12
Dubislav 131. Bochenski 90. K. Oftinger / E. W. Stark, Schweizerisches Haftpflichtrecht I I / l (4. A. Zürich 1987) Oftinger Oftinger Oftinger Oftinger
/ Stark 184 f. / Stark 188 ff. / Stark 184 f. / Stark 188.
§ 19 Feststellungen (unechte Definitionen)
145
wird herausgearbeitet, welcher Begriff des Werkes dem Gesetz und vor allem der bisherigen Judikatur zugrunde liegt. Dem Wort „Werk" wird eine ihm schon irgendwo (hier in Gesetz und Judikatur) zukommende Bedeutung ausdrücklich zugeordnet. Die fragliche Definition behauptet etwas; sie unterliegt also dem Wahrheitskriterium und läßt sich verifizieren, wenn man das Gesetz und die Gerichtspraxis heranzieht. Die Definition beruht also auf einer wissenschaftlichen Erkenntnis, nicht auf Setzung 13 . Der Sinn der Oftingerschen Definition des Werkes ist es, einen bestimmten Sprachgebrauch auf zuweisen, nicht aber, zu einem bestimmten Sprachgebrauch anzuweisen 14 . III.
Die positivistischen Definitionen des Rechts als analytisch-semantische Definitionen?
Wir fragen uns nun, ob man die positivistischen Definitionen des Rechts als analytisch-semantische Definitionen im eben erläuterten Sinne deuten kann. Dies scheint schon auf den ersten Blick unwahrscheinlich zu sein, sind doch, wie Kantorowicz bemerkt, ganze Bibliotheken um der Frage willen geschrieben worden, was unter „Recht" zu verstehen ist, jedoch, wie deren bloße Existenz beweist, ohne daß man ein bestimmtes Ergebnis gefunden hätte 15 . Diese Situation wäre wohl kaum gegeben, wenn ein festumrissener Sprachgebrauch bestünde und es in der Absicht der Rechtstheoretiker gelegen hätte, einfach diesen Sprachgebrauch aufzuweisen. Da in diesem Falle Kriterien zur Verfügung stünden, die eine objektive Nachprüfung der verschiedenen Begriffsbestimmungen gestatten würden, hätte sich über kurz oder lang eine dieser Definitionen als die allein richtige ausweisen und allgemeine Anerkennung erlangen müssen. Die heutige internationale Rechtstheorie unterscheidet denn auch zwischen drei verschiedenen Dimensionen des Rechts 16 , denen verschiedene 13 Dies geht auch deutlich aus der Bemerkung Oftingers a.a.O. 186 Ν 138 hervor: „Und zwar kann es nicht darum gehen, irgend einen neuartigen Werkbegriff zu erfinden, der mit der bisherigen Gerichtspraxis an zahlreichen Punkten in Konflikt geriete; sondern es ist zweckmäßiger zu versuchen, durch eine kritische Analyse der Judikatur Merkmale zu gewinnen, die die Umschreibung des Werkbegriffes erlauben sollen." 14 Immerhin ist hier folgende Einschränkung angebracht: Es gibt einige wenige Gerichtsurteile, die dem so gefaßten Werkbegriff widersprechen. So sind beispielsweise schon bewegliche Dreschmaschinen und transportable Seilwinden als Werke bezeichnet worden (iOftinger / Stark 190 Ν 161 und 163; vgl. BGE 47 I I 425/429; 77 I I 310/312). Der Werkbegriff gründet also nicht auf der gesamten Judikatur. Vielmehr mußte unter den Urteilen eine Auswahl getroffen und ein kleiner Teil der Entscheide ausgeschaltet werden (darauf weist Oftinger ausdrücklich hin, Oftinger / Stark 187 Ν 138 a. E.). Darin liegt ein gewisses postulatorisches Element, nämlich die Forderung, gewisse Urteile als nicht maßgebend für diese Frage zu betrachten. 15 Kantorowicz 19.
10 Ott, 2. Aufl.
1 4 6 2 .
Teil, 2. Kap.: Die Unbeweisbarkeit des Rechtspositivismus
juristische Disziplinen zugeordnet sind und denen verschiedene Ansätze für die Begriffsbildung entsprechen 17 : Die erste Betrachtungsweise ist gerichtet auf die Faktizität des Rechts. I n diesem Sinne ist das Recht Gegenstand der juristischen Erfahrungswissenschaften, nämlich der Rechtssoziologie 18 , der Rechtsgeschichte19, der Ethnologie sowie der Rechtspsychologie. Alle diese Wissenschaften fragen nach der aktuellen oder geschichtlichen Realität des Rechts. Das Recht kann zweitens betrachtet werden als System von in Geltung (i. S. der Soll-Geltung) befindlichen Normen, die in erster Linie in den Gesetzen, daneben aber auch in richterlichen Entscheidungen und gewohnheitsrechtlichen Bildungen enthalten sind. Das Recht in diesem Sinne ist Gegenstand der Rechtsdogmatik; aber auch viele Untersuchungen der modernen Rechtslogik beschäftigen sich mit dem Recht als N o r m 2 0 . Drittens kann das Recht im Sinne einese Ideals verstanden werden; die Aufgabe, nach den Inhalten der Rechtsidee zu fragen, fällt der materialen Rechtsphilosophie zu. Der Rechtsphilosoph fragt nach dem gerechten Inhalt des Rechts. Vorausgesetzt nun, die positivistischen Definitionen des Rechts sind ihrer logischen Struktur nach als analytisch-semantische Definitionen zu qualifizieren, müssen sie die Bedeutungen aufzeigen, welche dem Wort „Recht" und den entsprechenden Ausdrücken „ius", „law", „droit", „diritto", „derecho" im tatsächlichen Sprachgebrauch beigelegt sind. Ein Blick auf die erwähnten drei Dimensionen des Rechts zeigt sofort, daß alle postivistischen Begriffe des Rechts die dritte Dimension ausklammern. Dieser Umstand ist so offenkundig, daß wir in ihm ein charakteristisches Merkmal für unseren 16
Rehbinder, Einführung 2; derselbe, Eugen Ehrlich 130 ff. und dort die in Ν 19/20/21 zit. Lit. 17 Raiser , Einführung 103 f. 18 Moderne Rechtssoziologen, wie ζ. B. Rehbinder, verfallen allerdings nicht mehr dem Extrem, das Recht im soziologischen Sinne, das sog. „lebende Recht", ausschließlich mit gewissen Tatsachen zu identifizieren. Das lebende Recht besteht „aus denjenigen Normen, die anzuwenden oder zu befolgen der Rechtsstab bereit ist" (Rehbinder, Eugen Ehrlich 130; Hervorhebung durch Verf. Vgl. auch dazu die graphische Darstellung 131). Trotzdem bleibt das Hauptaugenmerk der Rechtssoziologie auf die Faktizität des Rechts gerichtet. 19 Die Rechtsgeschichte ist insbesondere dann eine Tatsachenwissenschaft, wenn sie untersucht, aus welchen kausalen Gründen bestimmte Rechtsinstitute herausgebildet wurden oder bestimmte Rechtslagen entstanden sind. Präzisierend ist hier darauf hinzuweisen, daß aber ein gewisser Teil dessen, was unter der Bezeichnung „Rechtsgeschichte" betrieben wird, Normwissenschaft ist, nämlich dann, wenn der normative Inhalt einer früheren Rechtsordnung dogmatisch beschrieben wird ( Walter, Rechtstheorie 1 [1970] 78 Ν 42 mit Nachweisen). Bei solchen Untersuchungen geht der Rechtshistoriker von einem Begriff des Rechtes aus, bei dem auch die nachstehend zu erwähnende zweite Dimension des Rechts hineinspielt. 20 Vgl. ζ. B. C. E Alchourrón/E. Bulygin, Normative Systems (Wien / New York 1971).
§ 19 Feststellungen (unechte Definitionen)
147
Begriff des Rechtspositivismus gesehen haben. Nun ist es aber nicht zu bestreiten, daß die Worte „Recht", „ius", „law", „droit", „diritto", „derecho" in den Wortverbindungen „Natur-Recht", „ius naturale", „natural law", „droit naturel", „diritto naturale" und „derecho natural" offensichtlich in der dritten Bedeutung gebraucht werden. Folglich dienen das Wort „Recht" und seine Äquivalente in den angeführten Sprachen in gewissen Zusammenhängen auch der Bezeichnung eines Idealrechtes, eine Feststellung, die ganz unabhängig davon ist, ob es ein solches Idealrecht überhaupt gibt, ob ein Naturrecht wirklich existiert. Bereits dieser Umstand zeigt, daß allen positivistischen Theorien keine reinen analytisch-semantischen Definitionen des Rechts zugrunde liegen können, da sie — möglicherweise mit guten Gründen — eine gewisse Bedeutung des Wortes „Recht", wie sie im tatsächlich geübten Sprachgebrauch vorkommt, ausschließen. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man einzelne Theorien näher unter die Lupe nimmt: Gehen wir vom Beispiel aus, das höchste Gericht eines souveränen Staates entscheide einen Rechtsstreit gesetzwidrig, und beleuchten wir diesen Tatbestand vom Standpunkt jener Theorien, die entweder das Recht unter Ausschaltung des normativen Elementes mit Tatsachen richterlichen Verhaltens identifizieren oder als System von Normen auffassen, die im Verhalten eines spezifischen, von einem bestimmten Menschenstab gehandhabten Sanktionsapparates ihre Entsprechung finden. Die gesetzeswidrige Entscheidung ist nach der einen Theorie als „Recht" zu qualifizieren, weil sie eben ein richterliches Verhalten darstellt, nach der anderen aber darum, weil auch ein gesetzeswidriges Urteil bei Ungehorsam des Adressaten Sanktionen nach sich zu ziehen pflegt. — Wenn man von diesen Theorien ausgeht, ist es aber nicht mehr möglich, zwischen einer „richtigen" oder „falschen" Rechtsprechung zu unterscheiden. Denn das setzt einen Maßstab voraus, an dem sich die Entscheidung messen läßt, mit der Folge, daß sie als richtig, d.h. rechtlich begründet, oder als falsch, d. h. als rechtlich unbegründet, qualifiziert werden kann. Dieser Maßstab kann nur das Recht i. S. eines Normewsystems sein, dessen Geltung unabhängig davon ist, ob es von den Organen richtig angewendet wird oder nicht. Wenn daher in der Literatur eine Rechtsprechung als richtig gelobt oder als falsch getadelt wird, bedeutet dies, daß man i n diesem Zusammenhang das Wort „Recht" i. S. eines Systems von Normen mit juristischer Geltung (d. h. mit Soll-Geltung) braucht. Folglich können die Definitionen der erwähnten soziologischen Theorien nicht einfach Wiedergaben eines Sprachgebrauchs sein. Analoges ist zu sagen von jenen Theorien, die die Definition so bestimmen, daß dem Völkerrecht kein Rechtscharakter zukommt 2 1 . Für eine solche 21
10*
Vgl. vorne § 3 bei Ν 43, § 9 bei Ν 12 und hinten § 24 G.
1 4 8 2 .
Teil, 2. Kap.: Die Unbeweisbarkeit des Rechtspositivismus
Abgrenzung mögen sich beachtenswerte Argumente finden lassen. Es ist aber nicht zu bestreiten, daß die Ordnung der internationalen Beziehungen von Staaten untereinander im Sprachgebrauch als „Recht", nämlich eben als „Völker-Recht" bezeichnet wird. Eine Definition des Rechts, die als analytisch-semantische gelten will, müßte daher so konzipiert werden, daß sie auch diesen Komplex einbezieht. Für die Unterstützung unserer Ansicht sei auf die Ausführungen von Hart verwiesen 22 . Hart stellt den (weiteren) positivistischen Begriff des Rechts jenem (engeren) naturrechtlichen Begriff des Rechts gegenüber, der sowohl die Positivität und gewisse inhaltliche Kriterien als Merkmale enthält 2 3 . Hart führt aus, daß weder der Positivist noch der Naturrechtler befriedrigt wäre, wenn man ihm bescheinigen würde, er habe mit seinem Begriff des Rechts (lediglich) den Sprachgebrauch ζ. B. in England oder in Deutschland zutreffend wiedergegeben. Es gehe nicht um die Richtigkeit der Wiedergabe eines Sprachgebrauchs, sondern was tatsächlich in Frage stehe, sei der verhältnismäßige Wert eines weiteren oder engeren Begriffs zur Klassifizierung sozial wirksamer Regeln. Eine rationale Wahl zwischen diesen beiden Begriffen müsse darauf beruhen, daß der eine dem anderen überlegen sei in der Art, wie er unsere theoretischen Nachforschungen unterstützt oder unsere moralischen Überlegungen weiterbringt und klärt oder sogar beides zusammen leistet. Als Zwischenergebnis halten wir somit fest: Das Wort „Recht" wird im tatsächlichen Gebrauch zur Bezeichnung ganz verschiedener Erscheinungen verwendet. Es kommt ihm nicht eine festumrissene Bedeutung zu, die mittels einer analytisch-semantischen Definition wiederzugeben wäre und als wahr oder falsch erwiesen werden könnte. Die positivistischen Definitionen schalten die ideelle Bedeutung des Worte aus und siedeln ihre Begriffe im normativen und/oder faktischen Bereiche an, ohne daß einer davon Anspruch erheben könnte, den tatsächlichen Gebrauch in der Sprache umfassend aufzuweisen. Sie sind daher nicht als (wahre oder falsche) Behauptungen über einen vorliegenden Sprachgebrauch zu qualifizieren 24 .
22
Hart, Concept of Law 204/205, Begriff 288. Es ist das Verdienst von Eckmann 39 ff./ 129, die etwas summarischen Ausführungen Harts überlegen in die allgemeinen methodologischen Zusammenhänge gerückt zu haben. 23
Vgl. z. B. G. Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, Süddeutsche Juristenzeitung 1 (1946) 107, zit. hinten §23 A. 24 Die zweite Deutung, die hier möglich wäre, daß es sich nämlich um unzutreffende, weil unvollständige analytisch-semantische Definitionen handle, kann deshalb außer Betracht bleiben, weil alle zitierten Autoren von der Existenz weiterer Bedeutungen des Wortes „Recht" gewußt haben.
§ 19 Feststellungen (unechte Definitionen)
149
B. Sacherklärungen Ein Positivist, der, wie ζ. B. Austin, das Völkerrecht nicht als „Recht", sondern als „internationale positive Moral" auffaßt, könnte beim bisherigen Stand unserer Darlegungen jetzt folgendes einwenden: „Ich gebe zwar zu, daß mein Begriff des Rechts nicht den Sprachgebrauch wiedergibt, weil das Wort ,Recht' unbestreitbar u. a. auch zur Bezeichnung jenes Gegenstandes verwendet wird, der bei mir ,internationale positive Moral' heißt. Trotzdem halte ich meinen Begriff des Rechts für den allein richtigen, weil das Völkerrecht in Wirklichkeit gar kein ,Recht' ist. Der übliche Sprachgebrauch ist schlicht falsch." — M i t dieser Argumentation wird das Problem in eine ganz andere Ebene verlagert. Es geht nun nicht mehr darum, ob die positivistischen Definitionen einen Sprachgebrauch richtig erfassen, sondern darum, ob sie einen vorliegenden Gegenstand richtig beschreiben. Damit gelangt jene Art von Definitionen in unser Blickfeld, die man „Sacherklärungen" nennt. I. Grundsätzliches Sacherklärungen heißen nach der modernen Definitionslehre jene Aussagen, die man in der klassischen Logik als „Realdefinitionen" zu bezeichnen pflegte. „Eine Sacherklärung eines vorgelegten Gebildes ist nichts anderes als der Inbegriff der Aussagen, den man im Rahmen der Wissenschaft über dasselbe ermitteln kann .. ," 2 5 . Sacherklärungen sind also Aussagen über die Wirklichkeit. Sie enthalten Feststellungen über einen Sachverhalt, sie behaupten etwas. Daher müssen sie verifizierbar sein und unterliegen dem Wahrheitskriterium. Sie unterscheiden sich folglich nicht prinzipiell von empirischen Urteilen, was der Grund dafür ist, daß man sie heute — im Interesse eine klaren Scheidung der Aussageformen — nur als Pseudodefinitionen auffaßt 26 . II. Beispiel: Definition
der „Kurzsichtigkeit"
Betrachten wir folgende Definition: „Kurzsichtigkeit ist ein Refraktionsfehler des Auges, der entweder auf einer zu starken Brechkraft des optischen Systems (Hornhaut, Linse) oder auf einer zu großen Länge der Augenachse beruht, so daß die aus der Ferne kommenden, parallel ins Auge einfallenden Lichtstrahlen vor der Netzhaut vereinigt werden." Diese Aussage kann man durch empirische Forschungen auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüfen. 25
Dubislav 147. Savigny (zit. § 19 Ν 1 ) 30 spricht daher von „Definitionen" nur bei den Feststellungen über eine Sprache und bei den Festsetzungen. 26
1 5 0 2 .
Teil, 2. Kap.: Die Unbeweisbarkeit des Rechtspositivismus
Dies setzt allerdings voraus, wie nachstehend ausführlicher darzustellen sein wird, daß die Verwendung des Wortes „Kurzsichtigkeit" entweder durch den Sprachgebrauch (vorne § 1 9 A ) oder durch eine Konvention (im hinten § 20 Β zu erörternden Sinne) bereits festgelegt ist. Das heißt, es muß klar sein, welche Erscheinungen mit dem Wort „Kurzsichtigkeit" bezeichnet werden sollen. Erst dann lassen sich nachprüfbare Urteile i. S. von Sacherklärungen fällen. III.
Die sog. „Wesensdefinition"
Zu den Sacherklärungen gehören auch solche Aussagen, die i. S. phänomenologischer Theorien das sog. „Wesen" eines Gegenstandes zu bestimmen suchen 27 . Geht man von dem vorne festgesetzten positivistischen Erkenntnisbegriff aus, sind „Wesensaussagen" wissenschaftlich nicht überprüfbar. Wir werden ihre Problematik bei der Frage nach dem sog. „Wesen" des Rechts erkennen (nachstehend § 19 Β I V a. E.).
IV. Die positivistischen Definitionen als Sacherklärungen?
des Rechts
Wir fragen uns nun, ob die positivistischen Definitionen des Rechts als solche Sacherklärungen aufgefaßt werden können. Dies würde bedeuten, daß man sie von der Erfahrung her verifizieren oder falsifizieren kann. Da alle positivistischen Theorien den Begriff des Rechts unter Bezugnahme auf physische oder psychische Wirklichkeiten definieren, sollte dies — auf den ersten Blick gesehen — eigentlich möglich sein. Und zwar nicht nur bei jenen Theorien, die das Recht ausschließlich als Tatsache auffassen, sondern auch bei jenen, die, wie ζ. B. die Reine Rechtslehre, das normative Element in ihre Definitionen einbauen. Denn, wie Kelsen richtig bemerkt, ist eine Wissenschaft „empirisch" im Gegensatz zu „metaphysisch" nicht nur dann, wenn sie in Raum und Zeit sich abspielende Tatsachen, sondern auch dann, wenn sie den Sinn gewisser menschlicher Akte beschreibt 28 . Beim Versuch, den Begriff des Rechts auf Grund der Erfahrung herzuleiten, stoßen wir indessen auf einen fatalen Zirkel: Das Vorhaben kann nämlich nur dann glücken, wenn man bereits weiß, welches Material als „rechtliches", welche Tatsachen als „Rechts"-Tatsachen zu gelten haben. U m zu wissen, was Recht ist, muß man von Erfahrungen ausgehen, die sich — im Unterschied zu anderen Erfahrungen — als Rechts-Erfahrungen darbieten. Damit ist aber — logisch gesehen — der Begriff des Rechts, den es zu suchen gilt, bereits vorausgesetzt! Denn wie sollten gewisse Erscheinungen als 27 28
Bochenski 95. Vgl. das Zitat vorne § 18 A.
§19 Feststellungen (unechte Definitionen)
151
„rechtliche" qualifiziert werden können, ohnç daß man schon weiß, was Recht ist? Der forschende Geist stößt hier, sofern er sich selbst genügend kritisch durchschaut, auf das ärgerliche Hindernis, daß er dem empirischen Material im Grunde genommen nur das abgewinnt, was er zuvor in dieses hineingelegt hat, daß ihm die Dinge genau jene Musik spielen, deren Noten er ihnen zuerst vorgeschrieben hat! A n dieser Stelle zeigt sich erneut, daß es keine Erfahrung „an sich" geben kann, sondern daß die Erfahrung immer mitbedingt ist durchdie menschliche Erkenntnis weise, welche sich erst „ihre" Wirklichkeit formt 2 9 . Je nach dem begrifflichen Konzept, das — vielleicht unbewußt — den Forschungen zugrunde liegt, wird das Ergebnis dieser Forschungen beeinflußt. Wir kommen also zum Schluß, daß empirische Untersuchungen niemals für sich allein zu einem bestimmten Begriff des Rechts führen können, weil sie nur unter Voraussetzung eines Begriffes des Rechts überhaupt erst möglich sind. I n Abwandlung eines Wortes von Heymans könnte man formulieren: Der Begriff des Rechts steht — logisch gesehen — nicht am Ende, sondern am Anfang der Forschung: er ist nicht ein Resultat, sondern ein Postulat (vgl. dazu hinten § 20 Β I I I ) 3 0 . Betont werden muß, daß diese Rangfolge nur eine logische, nicht etwa eine zeitliche ist 3 1 . Das heißt, es widerspricht dem Gesagten keineswegs, daß ein Forscher seinen Begriff des Rechts u. U. erst nach eingehender Analyse bestimmter Erfahrungen aufstellt. So sehr — genetisch (psychologisch) gesehen — die Begriffsbildung von bestimmten Erfahrungen abhängig sein kann, so sehr erweist sich der Begriff— logisch gesehen — als von dieser Erfahrung unabhängig, da ja erst er ihre Deutung als einer Rechts-Erfahrung ermöglicht! Die scharfe Trennung der genetischen (erkenntnispsychologischen) Betrachtungsweise von der logischen (erkenntniskritischen) Betrachtungsweise ist eines der wichtigsten Ergebnisse moderner Erkenntnistheorie 32 . Wir haben sie bereits früher am Beispiel der euklidischen Geometrie kennengelernt 33 . Eine verifizierbare Definition i. S. einer Sacherklärung ist folglich nur möglich, wenn entweder durch den Sprachgebrauch oder aber durch eine Festsetzung im hinten § 20 Β zu erörternden Sinne das zu untersuchende Material bereits genau abgegrenzt ist, wenn also auf Grund von Sprachgebrauch oder pragmatischer Übereinkunft der zu beschreibende Gegenstand identifiziert ist. Nur wenn eine dieser beiden Voraussetzungen erfüllt ist, kann man Feststellungen treffen, die i. S. des vorne § 18 entwickelten Er29
Aus teda 14. Heymans, Die Gesetze und Elemente des wissenschaftlichen Denkens (3. Aufl. Leipzig 1915) 429, spricht nicht vom „Begriff des Rechts", sondern vom „Gedanken einer mechanischen Naturerklärung". Ansonsten ist das Zitat unverändert, abgesehen davon, daß ich zur Verdeutlichung die Worte „logisch gesehen" eingefügt habe. 31 Vgl. R. Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft (2. Aufl. Halle 1923) 25. 32 Grundlegend dazu Aus teda 9 ff. und 28 ff. 33 Vorne § 16 C. 30
152
2. Teil, 2. Kap.: Die Unbeweisbarkeit des Rechtspositivismus
kenntnisbegriffes als „wissenschaftliche Erkenntnisse" gelten dürfen. Ein hinlänglich genauer Sprachgebrauch liegt nun aber, wie vorne §19 A I I I gezeigt worden ist, im Falle des Wortes „Recht" nicht vor 3 4 . Eine Sacherklärung, die einen durch einen Sprachgebrauch bezeichneten Gegenstand zu erfassen sucht, ist damit unmöglich. Die erste der beiden Voraussetzungen scheidet also aus. — Grenzt dagegen eine Festsetzung die rechtlichen Gegebenheiten von den außerrechtlichen ab, ist eine Sacherklärung zwar möglich, doch im Vergleich zur vorher erfolgten Festsetzung relativ bedeutungslos; denn in diesem Falle verlagert sich das entscheidende Problem natürlich sofort um eine Stufe: Es fragt sich dann nämlich, in welchem Sinne man die alles entscheidende Festsetzung zu treffen hat. Diese Variante ist im nächsten Paragraphen weiterzuverfolgen, wobei sich herausstellen wird, daß die Frage nicht mit wissenschaftlichen Mitteln entschieden werden kann. Wir kommen damit zum Ergebnis, daß in beiden Fällen die positivistischen Definitionen des Rechts letztlich nicht als verifizierbare oder falsifizierbare Feststellungen zu werten sind, d. h. als Urteile, die von der Erfahrung her bewiesen oder widerlegt werden können. Wie schon angeführt, kann man unter den Sacherklärungen aber noch etwas anderes verstehen, nämlich Aussagen über das sog. „Wesen" eines Gegenstandes. Kantorowicz, dem wir die bisher gründlichste Arbeit zum Problem eine Definition des Rechts verdanken, bemerkt dazu: „Viele Systeme — der antike Piatonismus, der scholastische Realismus, die moderne Phänomenologie — glaubten, durch ein Verfahren intellektueller und mystischer Intuition könnten Begriffe gefunden werden, die mit wesensmäßiger Wahrheit oder Notwendigkeit' ausgestattet seien, weil sie — und sie allein — das wiedergäben, was das unwandelbare und absolute ,Wesen' der Dinge bildet und sie von allen anderen Dingen unterscheidet. Wenn dem so wäre, wenn ζ. B. so etwas wie das ,Wesen' des Rechts existierte, so müßte in der Tat zugegeben werden, daß unter den vielen Bedeutungen des Ausdruckes ,Recht' nur diejenigen, welche dieses Wesen des Rechts bezeichnete, und daher auch nur diejenige Definition, welche diese Bedeutung wiedergäbe, zutreffend sein könnte und daß ganz allein diese Bedeutung und diese Definition ,richtig' wären 3 5 ." Kantorowicz hält diese Anschauung, die er als „verbalen Realismus" kennzeichnet, für grundsätzlich verfehlt 36 . Moderne Juristen, die so tun, als ob zwischen dem Namen eines „Objekts" (d.h. irgendeines Denkgegenstandes) und dem betreffenden Gegenstand selbst 34 R. Dreier, Zum Selbstverständnis der Jurisprudenz als Wissenschaft, in: Rechtstheorie 2 (1971) 43 Ν 23, bemerkt ganz richtig, daß ein Rechtsbegriff, der alle mit „Recht" genannten Verhaltensordnungen umfassen wollte, nicht über eine wenig aussagekräftige Inhaltsarmut hinauskäme. 35 Kantorowicz 21. 36 Kantorowicz 19.
§
Festseungen (echte Definitionen)
153
eine metaphysische Beziehung bestünde, die zu leugnen gefährlich und frevelhaft wäre, beweisen nach seiner Ansicht, daß sie sich noch nicht von dem alten, dem prähistorischen Glauben an die verbale Magie befreit haben 37 . Eine Auseinandersetzung mit solchen Anschauungen, insbesondere mit der modernen Phänomenologie, müßte weit ausgreifen 38 . Heute fällt vor allem auf, daß selbst „analytisch" geschulte Denker wie Bochenski 39, Seiffert 40 und z.T. auch Klug 41 die Phänomenologie nicht zum vornherein ablehnen, was zur Vorsicht mahnen muß. Für unsere Zwecke erübrigt sich jedoch eine Stellungnahme zur Phänomenologie, denn eines läßt sich mit Sicherheit feststellen: Die phänomenologische Methode entspricht nicht dem positivistischen Wissenschafts Verständnis, wie wir es einzufangen versucht haben. Kein einziger der behandelten Denker hat sich zur Verteidigung seines Begriffs des Rechts auf „intuitive Evidenz", auf „Wesensschau" u. dgl. berufen. Sie würden zweifellos alle ein solches Vorgehen als „metaphysisch", als „unwissenschaftlich" empfunden haben 42 . Die positivistischen Definitionen des Rechts können daher auch keine Sacherklärungen sein i. S. von Feststellungen, die durch „Wesensschau" gewonnen wurden.
§ 20 Festsetzungen (echte Definitionen) A. Syntaktische Definitionen Die syntaktischen Definitionen werden hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt, haben aber für die in dieser Untersuchung zu verfolgenden Zwecke keine Bedeutung, so daß sich eine nähere Darstellung erübrigt. Nach Klug handelt es sich bei einer syntaktischen Definition „um eine Vereinbarung (oder Festsetzung) über die Zulässigkeit der Ersetzung eines Wortes — genauer: eines Zeichens, das u. a. auch ein Wort sein kann, aber nicht sein muß — durch ein anderes, gewöhnlich kürzeres" 1 . 37
Kantorowicz 21. Eine Zusammenstellung der Werke des Juristen G. Husserl , des Sohnes von E. Husserl , findet sich in Th. Würtenberger (Hrsg.), Phänomenologie, Rechtsphilosophie, Jurisprudenz, Festschrift für G. Husserl (Frankfurt a. M. 1969) 274 ff. 39 Bochenski 22 ff. 40 Seiffert I I 25 ff. 41 Phänomenologische Aspekte der Strafrechtsphilosophie von Kant und Hegel, Festschrift für G. Husserl (zit. §20 Ν38) 212ff., bes. 216ff. 42 Wie problematisch sich in der Rechtspraxis das sog. „Wesensargument" auswirkt, zeigt W. A. Scheuerle, Das Wesen des Wesens, Studien über das sog. Wesensargument im juristischen Begründen, AcP 163 (1964) 429 ff. 38
1
Klug, Festschrift Emge 39.
1 5 4 2 .
Teil, 2. Kap.: Die Unbeweisbarkeit des Rechtspositivismus
B. Synthetisch-semantische Definitionen I. Grundsätzliches Die synthetisch-semantischen Definitionen sind die eigentlichen „schöpferischen" Definitionen 2 . Sie setzen die Bedeutung eines Zeichens oder Wortes fest. Sie postulieren, was man unter einem Zeichen oder Wort genau zu verstehen habe. Ungeachtet ihres Charakters als Regelungen des Sprachgebrauchs pflegen sie äußerlich oft in der Form von empirischen Feststellungen aufzutreten. So lautet ζ. B. die Legaldefinition von StGB 91: „Verbrechen sind die mit Zuchthaus bedrohten Handlungen." Man muß sich indessen stets vor Augen halten, daß dies logisch korrekt nur den Sinn haben kann: „Unter einem Verbrechen ist zu verstehen usw." Denn, daß ein Verbrechen eine mit Zuchthaus bedrohte Handlung ist, läßt sich durch keine Forschungen irgendwelcher Art erweisen; dies mußte vielmehr durch den Gesetzgeber festgelegt werden. Als Sprachgebrauchsregelungen behaupten synthetisch-semantische Definitionen also nichts über die Wirklichkeit; sie drücken keine Erkenntnisse aus, sondern beruhen auf Setzungen, auf Konventionen. Folglich können sie weder wahr noch falsch sein (abgesehen natürlich von einem logischen Fehler), sondern nur zweckmäßig oder unzweckmäßig. — Ihres anweisenden Charakters wegen ähneln sie, was sofort in die Augen springt, stark den Axiomen 3 , unterscheiden sich von diesen aber dadurch, daß Axiome einen bestimmten Denkvollzug, synthetisch-semantische Definitionen dagegen einen bestimmten Sprachgebrauch fordern 4 . A n dieser Stelle sei zwei Mißverständnissen begegnet, die sich einstellen können: Erstens ließe sich einwenden, die eben skizzierte Auffassung von der (echten) Definition führe dazu, daß man völlig willkürlich Begriffe aufstellen dürfe. Es sei dann unmöglich, zwischen zwei sich widersprechenden Begriffen einen Entscheid zugunsten des einen zu fällen. Allein, dem ist nicht so, falls man mit fruchtbaren, d. h. sich bewährenden Begriffen arbeiten will. I n diesem Fall besteht, wenn auch nicht in logischer, so doch in teleologischer Hinsicht eine Bindung: Es gilt, von uns als verbindlich akzeptierte Wertungen und gegebene Erfahrungen bei der Begriffsbildung zu berücksichtigen! (Vgl. das nachstehende Beispiel der Todesdefinition.) Zweitens könnte das Mißverständnis auftauchen, durch die moderne Definitionslehre würden viele wissenschaftliche und philosophische Diffe2 3 4
Bochenski 90. Vgl. vorne § 16 Β II. Austeda 63.
§
Festseungen (echte Definitionen)
155
renzen über begriffliche Festlegungen zu bloßen Fragen der Terminologie degradiert, da es ja nicht um Wahrheit bzw. Unwahrheit geht. Kantorowicz bemerkt dazu: „Dies hieße die Tatsache übersehen, daß hinter einem Streit über eine Begriffsbestimmung stets ein Problem der Zuordnung steckt, und solche Zuordnungen betreffen nicht die Beziehungen von Namen, sondern von Dingen zueinander. Ob man ζ. B. einen Begriff, von dem bedeutsame Aussagen gemacht werden, unter einem bestimmten Namen miteinordnen darf oder nicht, ist eine terminologische, aber keineswegs nur terminologische Frage: Es heißt dann nämlich nicht nur zwischen verschiedenen Ausdrücken wählen, sondern zwischen verschiedenen, von diesen Ausdrücken bezeichneten Gegenständen 5 ." Als Beispiel halten wir uns an die vorne erwähnte Legaldefinition des Verbrechens von StGB 91. Was man unter Verbrechen verstehen will, ist nicht nur eine terminologische Frage, weil das Wort „Verbrechen" in anderen Zusammenhängen auftritt und somit die ihm durch die Definition zugeordnete Bedeutung in diese Zusammenhänge miteinbezieht. So ist nach StGB 24 I I die versuchte Anstiftung nur dann strafbar, wenn jemand zu einem Verbrechen (also nicht zu einem Vergehen oder einer Übertretung) hätte bestimmt werden sollen. Aus der Legaldefinition des Verbrechens in Verbindung mit StGB 24 I I ergibt sich folglich, daß nur die versuchte Anstiftung zu einer mit Zuchthaus bedrohten Handlung strafbar ist. Die Regelung des Sprachgebrauchs in StGB 91 zieht also für einen Angeklagten u. U. bedeutsame praktische Konsequenzen nach sich!
II. Beispiel: Die Neufassung des Todesbegriffs
in der Medizin
6
Als Beispiel sei auf die in letzter Zeit vieldiskutierte Problematik des Todesbegriffs hingewiesen. Die bahnbrechenden Errungenschaften der mo5
Kantorowicz 26/27. Literatur: G. Geilen, Medizinischer Fortschritt und juristischer Todesbegriff, Festschrift für E. Heinitz (Berlin 1972) 373 ff.; G. Kaiser, Der Tod und seine Rechtsfolgen, in: A. Mergen (Hrsg.), Die juristische Problematik in der Medizin I (München 1971) 31 ff. und dort zit. Lit.; G. Stratenwerth, Zum juristischen Begriff des Todes, Festschrift für Karl Engisch (Frankfurt a. M. 1969) 528 ff. und dort zit. Lit.; H. Hinder ling, Die Transplantation von Organen als Rechtsproblem, SJZ 64 (1968) 65 ff.; Wawersik, Kriterien des Todes unter dem Aspekt der Reanimation, Der Chirurg 39 (1968) 345 ff. und dort zit. Lit.; Richtlinien für die Definition und die Diagnose des Todes (aus dem Jahresbericht 1968 der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften), ZSR NF 88 (1969) 1355 ff. Im § 44 der Verordnung über die Kantonalen Krankenhäuser vom 25.3.1971 des Kantons Zürich wurden diese Richtlinien für maßgebend erklärt. Eine dagegen gerichtete staatsrechtliche Beschwerde hat das Bundesgericht in BGE 98 Ia 508 ff. abgewiesen. — Die erwähnte VO wurde aufgehoben durch die VO über die kantonalen Krankenhäuser vom 28. Jan. 1981 [OS 48 (1981/83) 12 ff.], in Kraft seit 1. April 1981. Die einschlägigen Bestimmungen sind unverändert geblieben. Außerdem sind heute maßgebend die Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften vom 6. Mai 1983, Schweizerische Ärztezeitung 64 (1983) 810 ff. 6
1 5 6 2 .
Teil, 2. Kap.: Die Unbeweisbarkeit des Rechtspositivismus
dernen Medizin haben das bisherige, seit Jahrtausenden gültige Kriterium als fragwürdig erscheinen lassen, wonach ein Mensch dann als tot zu betrachten ist, wenn Herzschlag und Atmung zum Stillstand gekommen sind ( = „klinischer Tod"). Würde man weiterhin an diesem Todesbegriff festhalten, ergäben sich die folgenden Konsequenzen: 1. Ein Patient würde u . U . zu einem Zeitpunkt als tot erklärt, wo eine Wiederbelebung der Herz- und Atemtätigkeit noch möglich ist. Dank den modernen Reanimationsmethoden (künstliche Beatmung und Herzmassage) gelingt es heute relativ häufig, einen solchen plötzlich aufgetretenen Funktionsausfall (vor allem bei Operationszwischenfällen, Schockzuständen, Embolien, Herzinfarkten und Verkehrsunfällen 7 ) zu beheben, d. h. also den Patienten jenseits der Schwelle des klinischen Todes ins Leben zurückzurufen. 2. Andererseits gestatten die neuzeitlichen Herz-Lungen-Maschinen, Atmung und Kreislauf eines Menschen künstlich aufrechtzuerhalten, dessen Gehirnfunktionen, z.B. infolge einer direkten Schädigung durch äußere Gewalteinwirkung, definitiv erloschen sind. Bei Festhalten am alten Todeskriterium müßte nun ein Patient trotz „Definitiwerlust des Bewußtseins" 8 ( = sog. „Gehirntod") auf unbestimmte Zeit hinaus durch Maschinen künstlich als „Herz-Lungen-Präparat" an einem Scheinleben erhalten bleiben. 3. Der Arzt, der den Apparat in diesem Stadium abstellt, würde sich einer vorsätzlichen Tötung schuldig machen. W i l l man diese Konsequenz vermeiden, käme man — weil der Patient ja per definitionem noch „lebt" — nicht darum herum, „dem Arzt ein Recht zur Verfügung über Leben und Tod zuzusprechen, das über die eigentliche passive Sterbehilfe hinausgeht" 9 . 4. Die Transplantation lebenswichtiger Organe wäre in diesem Stadium schlechthin unerlaubt. 5. Wenn folglich mit dem Eingriff zu einer Transplantation bis zum Herzstillstand gewartet werden müßte, würde „eine bis dahin optimal vorhandene Eignung der Organe künstlich beatmeter Personen entscheidend beeinträchtigt. Da nämlich der Eingriff am Spender mit dem Eingriff am Empfänger synchronisiert und der Empfänger operationsfähig gemacht werden muß, was Zeit erfordert, steht die mangelnde Voraussehbarkeit des Herzstillstandes und damit des Operationsbeginnes einer erfolgreichen Terminierung im Wege" 10 . 7
Stratenwerth, Festschrift Engisch (zit. § 20 Ν 6) 531. Dieser Zustand ist streng zu unterscheiden von bloßer Bewußtlosigkeit. Unter „Gehirntod" versteht man die „grobanatomische oder feinstrukturelle Zerstörung des Gehirns in seiner Gesamtheit". Wawersik (zit. § 20 Ν 6) 346. 9 Stratenwerth, Festschrift Engisch (zit. § 20 Ν 6) 542. Unter passiver Sterbehilfe versteht man die Unterlassung lebensverlängernder Maßnahmen. Das Abschalten der Maschine wäre dagegen eine aktive Handlung. 10 Hinderling (zit. § 20 Ν 6) SJZ 64 (1968) 66. 8
§
Festseungen (echte Definitionen)
157
U m alle diese unerfreulichen Konsequenzen zu vermeiden, beginnt man heute immer mehr auf eine veränderte Definition des Todes (nämlich i. S. des sog. „Gehirntodes") abzustellen. I n großen Zügen herrscht bereits Einigkeit über die den Gehirntod beweisenden Kriterien (vor allem: Fehlen der Spontanatmung, totale Pupillenstarre, Fehlen aller Reflexe, absolutes NullLinien-Elektroenzephalogramm während einer gewissen Zeitspanne, Feststellung klinischer Schäden, die mit dem Leben nicht vereinbar sind u. a. m.), in Einzelheiten divergieren die Auffassungen noch (besonders über den Umfang der Beweiskraft des EEG und über die zu beobachtende Zeitspanne, während der eine Null-Linie im EEG gegeben sein muß). Diese These vom Hirntod als Kriterium des Menschentodes ist nun allerdings — wie Kaiser betont — „nicht zwingender Ausdruck naturwissenschaftlicher Erkenntnis" n und deshalb nicht unbestritten. Die empirische Forschung kann nämlich nur einen fortlaufenden Vorgang bis zum Funktionsstillstand der letzten Zelle des Organismus mehrere Tage nach Eintritt des klinischen Todes zutage fördern, so daß daher von einem „Todeszeitpunkt" streng genommen nicht die Rede sein kann 1 2 . So bestünde prinzipiell auch die Möglichkeit, an den sog. „biologischen Tod" ( = irreversibler Kreislaufstillstand, so daß Absterben des Gesamtorganismus unvermeidlich geworden ist) anzuknüpfen, worauf Stratenwerth hinweist, was allerdings die meisten vorstehend angeführten Schwierigkeiten nach sich zöge 13 . Die Tatsache, daß offenbar verschiedene einander ausschließende Todesbegriffe denkbar sind, zeigt mit aller Deutlichkeit, wie es in dieser Frage letztlich um die Aufstellung eines Postulates, um eine Festsetzung, nicht aber um eine Erkenntnis geht. Die Frage lautet also nicht: „Wann ist der Mensch tot?", sondern sie lautet: „Wann soll der Mensch tot sein (als tot betrachtet werden)?" Da hier weder empirische noch logische Verifikationsmöglichkeiten gegeben sind, kann es sich nicht darum handeln, den einzig „wahren" Todesbegriff zu entdecken, sondern nur darum, einen rebus sie stantibus mehr oder weniger sinnvollen Todesbegriff zu entwickeln 14 . U m sinnvoll zu sein, darf dieser nicht willkürlich gewählt werden, sondern muß an gegebene Erfahrungen und vor allem an getroffene Wertentscheidungen anknüpfen. Eine zukünftige Veränderung dieser Erfahrungs- oder Wertbasis würde natürlich eine erneute Veränderung des Todesbegriffes nach sich ziehen 15 ! 11
Kaiser (zit. §20 Ν 6) 46. Vgl. Kaiser mit Nachweisen. 13 Stratenwerth, Festschrift Engisch (zit. §20 Ν 6) 536 ff. 14 Das wird ganz deutlich in der Formulierung der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften (zit. § 20 Ν 6), ZSR NF 88 (1969) I 335: „Die Entwicklung der Reanimationstechnik hat es notwendig gemacht, die biologischen Kriterien des menschlichen Todes neu festzulegen." (Hervorhebung durch Verf.) 15 Daß die Todeserklärung" Konventionscharakter hat und dahinter ein Wertungsproblem steht, betont insbesondere Geilen (zit. §20 Ν 6), Festschrift Heinitz 393. 12
1 5 8 2 .
III.
Teil, 2. Kap.: Die Unbeweisbarkeit des Rechtspositivismus
Die positivistischen
Definitionen
des Rechts als Festsetzungen
Unsere bisherigen Ausführungen haben ergeben, daß man die positivistischen Definitionen des Rechts nicht als Feststellungen, die eine wissenschaftliche Erkenntnis zum Ausdruck bringen, auffassen kann. Sie sind weder Behauptungen über einen vorliegenden Sprachgebrauch noch Sacherklärungen, die durch empirische Forschungen bzw. durch „Wesenschau" auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüft werden können. Folglich können sie nur zur vorstehend erläuterten Definitionsart gehören: sie müssen als synthetischsemantische Definitionen aufgefaßt werden 16 . Die positivistischen Definitionen des Rechts behaupten daher nichts, was sich als wahr oder falsch beweisen ließe; sie sind keine wahren oder falschen Feststellungen, sondern Postulate. Sie stellen nicht fest, was Recht ist, sondern sie postulieren eine bestimmte Bedeutung des Wortes „Recht"; sie setzen fest, was unter „Recht" verstanden werden soll. 11 Damit erweist sich aber unsere eingangs dieses Kapitels aufgeworfene Frage, welche der dargestellten Rechtstheorien die „richtige" ist, genauer: welche dieser Theorien den „wahren" Begriff des Rechts gefunden hat, als logisch falsch gestellt! Die Frage lautet nicht: „Was ist Recht?", denn darauf kann, wie nachgewiesen wurde, keine mit Anspruch auf wissenschaftliche Objektivität auftretende Antwort gegeben werden. Sondern die Frage lautet: „Was soll man sinnvollerweise unter Recht verstehen?" oder: „Von welchem Begriff des Rechts wollen wir ausgehen?" Bei dieser Betrachtungsweise, die man mit Kantorowicz als „begrifflichen Pragmatismus" 18 bezeichnen kann 1 9 , verlagert sich die Debatte um den 16 Die vorne § 20 A erwähnte Definitionsart fällt außer Betracht, weil die positivistischen Definitionen des Rechts ja die Bedeutung des Wortes „Recht" angeben, und nicht einfach die Ersetzung eines Zeichens (Wortes) durch ein anderes festsetzen. 17 Die neuere Definitionslehre kennt neben der Bedeutungsanalyse bzw. -feststellung und der Bedeutungsfestsetzung die Begriffsexplikation. Diese steht „in der Mitte" der beiden vorgenannten. L. Kuhlen, Typuskonzeptionen in der Rechtstheorie, Schriften zur Rechtstheorie Nr. 66 (Berlin 1977) 31, erklärt die Unterschiede folgendermaßen: „Von Explikationen sprechen wir, wenn ein vager Begriff (das Explikandum) durch einen präziseren (das Explikat) ersetzt wird. Soll dieses das Explikandum ,ersetzen' können, darf es von ihm offenbar nicht völlig abweichen, ist durch seine Bedeutung irgendwie determiniert und unterscheidet sich insofern von dem Definiens, d.h. dem durch eine Definition eingeführten Ausdruck. Da das Explikat definitionsgemäß präziser ist als das Explikandum, kann seine Bedeutung andererseits nicht vollständig durch dieses bestimmt sein, anders als bei der Bedeutungsanalyse bleibt also bei der Explikation ein durch noch so umfassende Erforschung des tatsächlichen Sprachgebrauchs nicht auszufüllender Entscheidungsspielraum offen. Wie Definitionen können Explikationen daher nicht wahr oder falsch, sondern nur adäquat oder inadäquat sein." Deshalb ist auch die Auffassung vertretbar, daß es sich bei den verschiedenen Definitionen von „Recht" um Begriffsexplikationen handelt. Da auch Begriffsexplikationen nicht wahr oder falsch sein können, ändert sich an meinem Argument nichts. 18 Kantorowicz 22. Diese Anschauung teilen heute Kramer, ÖZöR NF 23 (1972) 116;
§
Festseungen (echte Definitionen)
159
Begriff des Rechts in eine andere Ebene: Es geht mithin nicht mehr um eine Wahrheitsfrage, sondern darum, einen mehr oder weniger fruchtbaren Begriff des Rechts zu entwerfen. Es gilt nicht, einen bestimmten Begriff zu entdecken, sondern einen bestimmten Begriff zu konzipieren. Die Fruchtbarkeit einer jeden Begriffsbestimmung wird danach zu beurteilen sein, ob man die sich aus ihr ergebenden Konsequenzen im Lichte gegebener Erfahrungen und als verbindlich vorausgesetzter Wertungen für akzeptabel erachtet 20 . Dabei wird sich vielleicht zeigen, daß zweckmäßigerweise nicht ein einziger Begriff, sondern mehrere Begriffe des Rechts aufgestellt werden sollten: Es ist nicht gesagt, daß ζ. B. der Rechtssoziologe, der Rechtshistoriker und der Richter in ihren verschiedenen Tätigkeitsbereichen den gleichen Begriff benutzen müssen. Diese „axiomatische" Problemlage, die darin besteht, daß letztlich eine Festsetzung den Ausschlag gibt darüber, was als Recht zu gelten hat und mit welchem Gegenstand sich somit eine Theorie befaßt, ist in neuerer Zeit von verschiedenen positivistischen Autoren durchschaut worden: I n erster Linie sei hier Geiger erwähnt. Wie wir gesehen haben, macht er für seinen Begriff des Rechts keinen absoluten Wahrheitsanspruch geltend, sondern betont, daß man es mit einer Definitionsfrage zu tun habe. Definitionen seien „Krücken der Erkenntnis" und sollten vor allem handlich sein 21 . Dieses Zugeständnis ist bei Geiger besonders bedeutungsvoll, weil er ja streng empirisch vorgeht in dem Sinne, daß er das Recht und die soziale Ordnung im allgemeinen „als Faktizitäten, als Wirklichkeitszusammenhänge" begreifen will. Bei einem solchen Vorgehen hätte es besonders nahegelegen, die Definition des Rechts als „unanfechtbare" wissenschaftliche Erkenntnis hinzustellen. — Die Anschauung des „begrifflichen Pragmatismus" wird auch bei Weber deutlich: Seine Begriffe der Soziologie und des Rechts ζ. B. führt er mit folgenden Wendungen ein: „Soziologie (im hier verstandenen Sinne dieses sehr vieldeutig gebrauchten Wortes) soll heißen .. ." 2 2 oder: Bydlinski, Rechtsbegriff 285; Hoerster, NJW 39 (1986) 2481 Spalte links; Dreier, NJW 39 (1986) 893 ff.; Krawietz, Rechtstheorie 18 (1987) 216. 19 B. Horvath, Probleme der Rechtssoziologie, Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung Nr. 20 (Berlin 1971) 28, betont sehr richtig: „Und es gibt schlechterdings keinen Erfahrungsbeweis des Satzes, daß Recht nur in der Erfahrung gegeben sein könne." Die Orientierung der positivistischen Theorien an der Faktizität hängt eben von einer Definition ab, die ihrerseits einer bestimmten Wissenschaftsauffassung entspricht! 20 Diese hier entwickelte Auffassung ist wohl zu scheiden von jener, die besagt, man dürfe völlig willkürlich Begriffe aufstellen. So ζ. B. offenbar Ross, der ausführt (On Law and Justice 31), bei der Frage nach dem Begriff des Rechts handle es sich um eine „arbitrary question of definition". Einer solchen Auffassung tritt auch Hart, Concept of Law 210, Begriff 296 entgegen. Vgl. Eckmann 131. Immerhin zeigt diese Bemerkung, daß Ross den kritischen Positivisten (vgl. die nachstehenden Ausführungen) zuzurechnen ist. 21 Vorne § 10 a. E. 22 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft 1. Hervorhebung durch Verf.
1 6 0 2 .
Teil, 2. Kap.: Die Unbeweisbarkeit des Rechtspositivismus
„Eine Ordnung soll heißen ... Recht, wenn sie äußerlich garantiert i s t . . ." 2 3 . Dieses „soll heißen" drückt deutlich den postulatorischen Charakter der Definition aus. Weber stellt nicht fest, was Soziologie oder Recht „an sich" ist. Dies zeigt auch eine Bemerkung zum Problem der Rechtsnatur des Völkerrechts, wo er ausführt, eine solche Ordnung würde nach seiner als zweckmäßig gewählten Terminologie nicht mit „Recht" zu bezeichnen sein. Für die juristische Terminologie könne dennoch sehr wohl das Gegenteil gelten 24 . A u f die Ausführungen Harts haben wir schon hingewiesen: Nach Hart ist die Entscheidung zwischen dem (weiteren) positivistischen Begriff des Rechts und dem (engeren) naturrechtlichen zu fällen auf Grund des verhältnismäßigen Wertes der beiden Begriffsbestimmungen zur Klassifizierung sozial wirksamer Regeln. Es gehe darum, welcher Begriff dem anderen überlegen sei in der A r t , wie er unsere theoretischen Nachforschungen unterstützt und/oder unsere moralischen Überlegungen weiterbringt und klärt. Dabei tritt Hart mit Nachdruck für die Überlegenheit des positivistischen Begriffes ein 2 5 . Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, daß auch Hart nicht dem Irrtum verfällt, er habe in seinem grundlegenden Werk den „einzig wahren" Begriff des Rechts gefunden. — Eine bedeutsame Entwicklung in dieser Richtung hat weiter in neuerer Zeit die Reine Rechtslehre erfahren. Dies ist vor allem das Verdienst von Walter 26. Walter betont, daß die Abgrenzung des Erkenntnisgegenstandes der Reinen Rechtslehre auf einer Wahl beruht 2 7 . Die Reine Rechtslehre will eine Theorie des positiven Rechts sein und versteht unter positivem Recht eine von Menschen, nicht von einer übermenschlichen Autorität, gesetzte (Positivität), für Menschen erlassene, zwangsandrohende Ordnung, die effektiv, d. h. im großen und ganzen wirksam ist 2 8 . Walter hebt ausdrücklich hervor, es handle sich hier um eine „Festsetzung" im Popperschen Sinne; über die Zweckmäßigkeit einer Festsetzung könne man nach Popper verschiedener Meinung sein 29 . Die zweite grundlegende Entscheidung, auf der die Reine Rechtslehre aufbaut, liegt darin, daß sie die positiven, effektiven Zwangsordnungen als normative Ordnungen, als Soll-Ordnungen deuten will. Dies geschieht bekanntlich durch Einführung der hypothetischen Grundnorm 3 0 . Sie erlaubt die Deu23
Weber 17. Hervorhebungen durch Verf. Weber 18. 25 Vorne § 19 A III. 26 Walter, Rechtstheorie 1 (1970) 69 ff.; derselbe, ÖZöR 18 (1968) 331 ff. Zum Problem, ob Walter sich mit seiner Auffassung auf Kelsen selbst stützen kann: Walter, ÖZöR 18 (1968) 343 ff. 27 Walter, Rechtstheorie 1 (1970) 75ff./79. 28 Walter, ÖZöR 18 (1968) 336. 29 Walter, Rechtstheorie 1 (1970) 76 Ν 35. 30 Daß der Grundnorm eine deflatorische Funktion innewohnt, hat Kramer, ÖZöR 23 24
§
161
Festseungen (echte Definitionen)
t u n g , daß das, was die effektiven Z w a n g s o r d n u n g e n vorschreiben, auch gesollt i s t 3 1 . Kelsen hat die G r u n d n o r m lange Z e i t als Hypothese
qualifi-
z i e r t 3 2 . D a m a n aber u n t e r einer H y p o t h e s e meist eine verifizierbare Voraussetzung versteht, die G r u n d n o r m j e d o c h von der Erfahrung tigt noch widerlegt
her weder bestä-
werden kann, sind gegen diese Q u a l i f i k a t i o n E i n w e n d u n -
gen erhoben w o r d e n 3 3 . Kelsen hat daher später v o n einer „ F i k t i o n " gesproc h e n 3 4 . Walter,
d e m a u c h diese E i n s t u f u n g zu Recht m i ß f ä l l t 3 5 , empfiehlt
demgegenüber den A u s d r u c k „ A n n a h m e " i. S. einer „Setzung eines Satzes, als o b er g ü l t i g wäre, zu einem theoretischen Z w e c k " 3 6 . D a r a u s erhellt m i t aller D e u t l i c h k e i t , wie auch die Reine Rechtslehre „ a x i o m a t i s c h " v o n gewissen letzten Voraussetzungen ausgehen m u ß , die, gemessen a m positivistischen E r k e n n t n i s b e g r i f f , n i c h t zu verifizieren sind, g l e i c h w o h l aber entschei-
(1972) 113/114, überzeugend am Problem der Abgrenzung zwischen der Räuberbande und der Rechtsordnung gezeigt, das nominalistisch-pragmatisch als ein Problem der Sprachkonvention aufgefaßt werden kann. Kelsens Position kann nach Kramer, ÖZöR 23 (1972) 114, wie folgt umformuliert werden: „Wenn die die Räuberbande »konstituierende, die interne und externe Ordnung umfassende Zwangsordnung nicht als Rechtsordnung, wenn ihr subjektiver Sinn, daß man sich entsprechend verhalten soll, nicht als ihr objektiver Sinn gedeutet wird 4 , so nicht etwa darum, ,weil keine Grundnorm vorausgesetzt wird, derzufolge man sich dieser Ordnung gemäß verhalten soll', sondern allein deswegen, weil die Sprachkonvention die Räuberbande nicht als Rechtsordnung bezeichnet und ihre Anordnungen deshalb nicht als Rechts- bzw. Sollensakte deutet: Damit entfällt weiter Kelsens entscheidende Frage, warum keine Grundnorm für die Räuberbande vorausgesetzt wird. Sie wird nicht deshalb nicht,vorausgesetzt, weil — oder richtiger — wenn diese Ordnung nicht jene dauernde Wirksamkeit hat, ohne die keine sich auf sie beziehende, ihre objektive Geltung begründende Grundnorm vorausgesetzt wird 4 , sondern ganz einfach deswegen, weil die Sprachkonvention gerade darin besteht, nur eine dauernd wirksame Zwangsordnung (an der es der Räuberbande nun einmal mangelt) als eine Rechtsordnung zu bezeichnen." Die Zitate im Zitat beziehen sich auf Kelsen, Reine Rechtslehre 49. Daß in der Grundnorm eine Definition des Rechts enthalten ist, hat Kelsen selbst erkannt. Vgl. Reine Rechtslehre 51. 31
Walter, ÖZöR 18 (1968) 338. Vgl. etwa Reine Rechtslehre 47. 33 Walter, ÖZöR 18 (1968) 339 mit Nachweisen in Ν 32/33. 34 Kelsen, Die Funktion der Verfassung, Verhandlungen des Zweiten Österreichischen Juristentages 1964 I I 7. Teil S. 71. Kelsen beruft sich ausdrücklich auf Vaihingers „Die Philosophie des Als Ob" (5./6. Aufl. Leipzig 1920). Die Reine Rechtslehre behauptet also nicht, daß die wirksamen Zwangsordnungen geltende Ordnungen sind, sondern sie beschreibt sie nur, als ob sie es wären. Vgl. Kramer, ÖZöR 23 (1972) 111. 35 Denn unter „Fiktion" wird oft „eine Annahme verstanden, deren Unwahrscheinlichkeit oder Unmöglichkeit eingesehen wird, was man jedoch bei Annahme der Grundnorm nicht sagen kann". Walter, ÖZöR 18 (1968) 339. 36 Walter, ÖZöR 18 (1968) 339; Kramer, ÖZöR 23 (1972) 112, wendet seinerseits gegen Walters Terminologie ein, sie lasse nicht erkennen, daß Kelsens Theorie gerade dadurch ausgezeichnet ist, daß sie das Recht wegen der von ihr angenommenen erkenntnistheoretischen Unmöglichkeit wissenschaftlicher Verifizierung dessen, was „Recht" ist, nur unter dem Aspekt des Vaihingerschen „als ob" begreifen und daher ex definitione nichts über die Essenz des Rechts wissenschaftlich aussagen kann. 32
11 Ott, 2. Aufl.
1 6 2 2 .
Teil, 2. Kap.: Die Unbeweisbarkeit des Rechtspositivismus
dend über den Begriff des Rechts und den Gegenstand der Kelsenschzn Theorie befinden. Je nachdem, ob er sich der Relativität seines Begriffs des Rechts und damit der Bedingtheit seiner eigenen Theorie bewußt ist oder nicht, kann man somit den kritischen Rechtspositivisten vom dogmatischen Rechtspositivisten unterscheiden. Der kritische Positivist weiß, daß die Frage nach dem Begriff des Rechts und nach dem Gegenstand seiner Theorie nicht mit wissenschaftlichen Mitteln gelöst werden kann, sondern nur dadurch, daß er — unter Angabe der Gründe — klarstellt, was er unter dem Wort „Recht" verstanden haben will, um dann die Konsequenzen aus seinem Ansatz zu ziehen. Die vorstehend erwähnten Autoren wären somit alle als kritische Rechtspositivisten zu kennzeichnen. — Der dogmatische Positivist meint demgegenüber, mit seiner Abgrenzung eine unanfechtbare wissenschaftliche Feststellung getroffen zu haben. Seine Theorie ist, wie er glaubt, die allein richtige; alle anderen sind notwendigerweise falsch. Die große Gefahr jedes Dogmatismus liegt darin, daß er die Fronten verhärtet, zu unfruchtbaren, weil nicht entscheidbaren, Streitereien führt und vor allem den Blick für die Lösung praktischer Probleme verstellt. Einen typischen dogmatischen Positivismus finden wir ζ. B. bei Bergbohm.
C. Die Unbeweisbarkeit und Unwiderlegbarkeit des Rechtspositivismus37 Wir kommen zum Ergebnis: Die positivistischen Definitionen des Rechts und die daraus entwickelten Theorien sind wissenschaftlich unbeweisbar. Wenn man vom vorne festgesetzten Erkenntnisbegriff ausgeht, gibt es keine Möglichkeit, eine dieser Theorie als die allein richtige zu beweisen. Aus dem gleichen Grunde sind sie aber auch unwiderlegbar. Denn mit wissenschaftlichen Mitteln kann man — abgesehen von inneren logischen Widersprüchen — ebensowenig den Nachweis führen, daß eine dieser Theorien falsch ist. Es wäre nun allerdings verfrüht, daraus den Schluß zu ziehen, der Aufbau einer rechtspositivistischen Theorie sei ein zum vornherein verfehltes Unterfangen, da man ja doch nie feststellen könne, ob sie wahr ist oder falsch. Denn abgesehen davon, daß sich dies bei genügend kritischer Analyse wohl auch den nicht-positivistischen Theorien gegenüber nachweisen ließe, fragt es sich, ob man nicht eine Deutung entwickeln kann, welche die Bemühungen der Rechtpositivisten im speziellen und der Rechtsphilosophen im allgemeinen als ein durchaus ernstzunehmendes und sinnvolles Unterfangen erscheinen läßt. M i t diesem Thema soll sich der abschließende dritte Teil beschäftigen. 37
Die Unbeweisbarkeit und Unwiderlegbarkeit der positivistischen Position betont Fechner, ARSP Beiheft Nr. 6 (1970) 215. Gl M. Bydlinski, Rechtsbegriff 254 f.
Dritter
Teil
Folgerungen § 21 Rechtsphilosophien in der Deutung des juristischen Pragmatismus A. Der „axiomatische" Charakter des philosophischen Denkens M i t dem im vorangegangenen Paragraphen gewonnenen Ergebnis ist ein wichtiges Ziel dieser Arbeit erreicht. Denn es ist jetzt klar, warum die Rechtspositivisten so verschiedene Auffassungen vertreten: Diés ergibt sich aus dem relativen Charakter des jeweils vorausgesetzten Begriffs des Rechts. Ein einziger Begriff kann nicht alle Probleme lösen, die mit dem Verständnis des Rechts verknüpft sind. „Recht ist weder ein Normensystem, noch eine Vorhersage über das Verhalten der Behörden oder ein Befehl an die Behörden oder die Bürger, noch ein allgemeiner Begriff oder eine Ideologie, noch tatsächliches regelmäßiges Verhalten, sanktionierte Verhaltensnormen, Spielregeln oder ,rule of recognition', noch endlich Gewohnheit im Rahmen eines rechtshistorischen oder kulturwissenschaftlichen Modells. Recht ist vielmehr etwas von all diesem zugleich. Seine verschiedenen Definitionen sind in Wahrheit jeweilige Ausschnitte aus einem einzigen Seinsverhältnis, die durch eine unzulässige Verallgemeinerung zum Ausdruck für das Recht als Ganzes gemacht werden 1 ." Da der Begriff des Rechts auf einer vorwissenschaftlichen Entscheidung beruht, kann man eben unter Recht sehr Verschiedenes verstehen; aus der einen oder anderen Festlegung des Begriffes folgen aber mit Notwendigkeit verschiedene Theorien. Eine Schwierigkeit entsteht hier nur für den, der sich über den postulatorischen Charakter von (echten) Definitionen nicht im klaren ist, sondern glaubt, die philosophische Reflexion dürfe nur auf sicheren, womöglich „evidenten" Erkenntnissen aufbauen. Unsere Untersuchung ist von der Festsetzung eines logisch-empirischen Erkenntnisbegriffes ausgegangen und hat zum Ergebnis geführt, daß unter Zugrundelegung eines solchen strengen Maßstabes die rechtspositivistischen 1
11'
Jrfrgensen
38.
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3. Teil: Folgerungen
Theorien nicht verifizierbar sind. Es fragt sich nun, was sich daraus für ein Verständnis des Rechtpositivismus ergibt. Ein solches Verständnis setzt allerdings eine bestimmte Auffassung von der Aufgabe der Philosophie, ihren Möglichkeiten und ihren Grenzen voraus. Unsere Absicht geht dahin, eine Deutung zu entwickeln, die die Bemühungen des Rechtspositivisten trotz ihrer prinzipiellen Unbeweisbarkeit als ein grundsätzlich sinnvolles philosophisches Vorhaben erscheinen läßt. Diese nachstehend näher darzulegende Deutung findet ihren Ausgangspunkt in der Konzeption, die der österreichische Erkenntnistheoretiker Austeda in seinem bereits mehrfach zitierten Werk „Axiomatische Philosophie" für die allgemeine Philosophie entwickelt hat. Grundlegend ist für dieses Verständnis von Philosophie „die Einsicht, daß jede Philosophie (und damit auch jede philosophische Untersuchung, überhaupt jedes Philosophem) sich bei genügend tiefdringender Analyse als ,axiomatisch' aufgebaut erweist und daher auch nur ,axiomatisch' zu verstehen ist. d. h. eine von bestimmten Annahmen ausgehende (im besten Fall: konsequent durchdachte und daher fehlerfreie und stilreine) Entwicklung von Folgerungen darstellt" 2. Von einer Philosophie, die sich selbstkritisch ihres „axiomatischen" Charakters bewußt ist, muß man erwarten, daß sie sich über die eigenen Voraussetzungen Rechenschaft gibt, sie offen darlegt, den eigenen Standpunkt allen anderen gegenüber klar abgrenzt und von den eigenen Prämissen aus logisch-konsequent weiterdenkt 3 . Darin liegt ihre Grundforderung! I m vorangegangenen Paragraphen haben wir den „axiomatischen" Charakter der rechtspositivistischen Theorien nachgewiesen. Wenn im folgenden aber nicht nur vom Rechtpositivismus, sondern von der Rechtsphilosophie schlechthin die Rede ist, so liegt darin zweifellos eine etwas voreilige Verallgemeinerung. Diese Verallgemeinerung baut auf der Vermutung auf, daß sich der „axiomatische" Charakter auch bei den nichtpositivistischen Rechtstheorien, z.B. bei den Naturrechtslehren, nachweisen ließe, was bedeuten würde, daß auch sie mit unbeweisbaren Voraussetzungen beginnen müssen, die aber bereits die grundlegenden Entscheidungen enthalten 4 . 2 Austeda 171. Damit soll natürlich nicht die Meinung vertreten werden, eine Philosophie sei ein den mathematischen und logischen Systemen ohne weiteres vergleichbares, präzis aufgebautes axiomatisches System. Gemeint ist viel eher das, was Klug 194 „quasiaxiomatisch" nennt (in bezug auf die Systematisierungsbestrebungen der traditionellen Rechtswissenschaft). Wenn jeweils diese Bedeutung gemeint ist, soll dies dadurch gekennzeichnet sein, daß der Ausdruck in Anführungszeichen gesetzt wird. 3 Austeda 172. 4 Es ist beeindruckend zu sehen, wie heutzutage die katholische Naturrechtstradition selbst in Kreisen der katholischen Kirche kritisiert wird. So kommt Pförtner, Das Natürlich-Rechte, in: Natur und Naturrecht. Ein interfakultäres Gespräch (Freiburg / Schweiz 1972) 281, zum Schluß: „Ein von der positiven Forschung geprägtes Wahrheitsbewußtsein muß jedoch die meisten anthropologischen Voraussetzungen, die die neuscholastische Naturrechtslehre ihren Aussagen zugrunde legt, als unbewiesen oder sogar nach-
§ 21 Rechtsphilosophien in der Deutung des juristischen Pragmatismus
165
Diese V e r m u t u n g ist deswegen plausibel, w e i l hier der Nachweis der U n b e weisbarkeit den positivistischen T h e o r i e n gegenüber geführt werden k o n n t e , deren U r h e b e r j a besonderen W e r t a u f ein „wissenschaftliches" Vorgehen legen; die A n n a h m e liegt nahe, daß ein Gleiches bei allen anderen L e h r e n gelingen w ü r d e . Setzt m a n das e i n m a l voraus, w o b e i der genaue Nachweis — wie gesagt — erst n o c h z u erbringen wäre, d r ä n g t sich eine veränderte Auffassung v o n Rechtsphilosophie auf.
B. Die rechtsphilosophischen Theoreme als Entwürfe N a c h der a n dieser Stelle zu e n t w i c k e l n d e n Auffassung v e r m i t t e l n rechtsphilosophische T h e o r e m e keine E r k e n n t n i s u n d k e i n Wissen, sondern sie sind Entwürfe
5
. D i e T ä t i g k e i t des Rechtsphilosophen ist n i c h t eine Wiederga-
be v o n etwas „ a n sich" V o r h a n d e n e m , sondern Schöpfung v o n etwas N e u e m ; sie ist k e i n passives „ S c h a u e n " , sondern ein aktives „Schaffen", „ B a u e n " , „ F o r m e n " . D e r Rechtsphilosoph sollte versuchen, solche K o n s t r u k t e zu ersinnen, die er auch angesichts der aus i h n e n zu ziehenden Folgerungen v e r a n t w o r t e n k a n n 6 . E r m ü ß t e sie also d a d u r c h überprüfen, daß er ihren Konsequenzen
nachgeht und zusieht, ob er diese akzeptieren
kann 1. D e n n der
weislich als Spekulation zurückweisen." Aus dieser Nichtbeweisbarkeit der Naturrechtslehre darf man aber m. E. keinesfalls den Schluß ziehen, die Formulierung von Naturrechtstheorien sei ein zum vornherein sinnloses philosophisches Unterfangen. Vgl. dazu hinten die Schlußbemerkungen. 5 Den „Entwurfscharakter" des menschlichen Daseins, an dessen Gestaltung der Jurist einen nicht unerheblichen Anteil hat, betonen aus existenzphilosophischer Sicht E. Fechner, Naturrecht und Existenzphilosophie, in: W. Maihofer (Hrsg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus? (Bad Homburg v. d. H. 1962/1966) 399, und Maihofer, Realistische Jurisprudenz, in: G. Jahr / W. Maihofer (Hrsg.), Rechtstheorie, Beiträge zur Grundlagendiskussion (Frankfurt a. M. 1971) 439. H. Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit (4. Aufl. Göttingen 1980) 242, charakterisiert die Naturrechtslehren treffend als „Sinnentwürfe"; dem schließt sich auch Wieacker 617 an. 6 Daß Rechtstheorien unter dem Aspekt geprüft werden sollten: „Wo führen sie praktisch hin?", betont Kriele, ÖZöR 16 (1966) 426. 7 Die rechtsphilosophische Reflexion sollte also nach analogen Grundsätzen vorgehen, wie sie Hare — unter Hinweis auf Popper — für das ethische Raisonnement entwickelt hat. Vgl. dazu R. Zippelius, Problemjurisprudenz und Topik, NJW 20 (1967) I I 2230 mit Nachweisen. Ein Beispiel für eine solche Überprüfung einer Norm bzw. eines Werturteils bringt K. Haag, Messung wertrationaler Komponenten der strafrichterlichen Entscheidung mittels sozialwissenschaftlicher Skalierungsverfahren, in: Die Funktion des Rechts in der modernen Gesellschaft, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 1 (1970) 439: „Jemand stelle den Satz auf: ,Jede nicht medizinisch indizierte Schwangerschaftsunterbrechung ist verwerflich. 4 Zur Überprüfung kann man etwa einen Fall konstruieren oder auf einen praktischen Fall verweisen, in dem ein weiteres Kind zu enormen sozialen Schwierigkeiten führen würde oder in dem es für eine Frau etwa unzumutbar ist, das Kind eines Verbrechers auszutragen. Man kann auch auf die nachteiligen Folgen für das Kind verweisen, die aus einer solchen Situation entstehen können und an die der Behauptende
166
3. Teil: Folgerungen
Wert seiner Theoreme liegt in ihrer Fruchtbarkeit zur Erreichung theoretischer oder praktischer Ziele, nicht aber in ihrer Wahrheit 8 . Insofern der Rechtsphilosoph theoretische Ziele verfolgt, geht es ihm darum, ein begriffliches Instrumentarium zur Verfügung zu stellen, das die Forschungen der rechtswissenschaftlichen Einzeldisziplinen unterstützt und fördert. Verfolgt er dagegen praktische Ziele durch die Entwicklung einer materialen Rechtsphilosophie, geht es ihm darum, die reale gesellschaftliche Welt in bestimmter Weise zu gestalten. Rechtsphilosophie in diesem Sinne ist „reflektierte Rechtspolitik" 9. Die rechtsphilosophischen Entwürfe hat man also nicht danach zu beurteilen, ob sie wahr sind oder falsch, sondern danach, ob sie einerseits ein theoretisches Verständnis der rechtlichen Erscheinungen ermöglichen und ob sie andererseits auf Werte ausgerichtet sind, deren Verwirklichung man für erwünscht erachtet. Rechtsphilosophische Gedanken stellen nichts fest, sie sind insbesondere keine Tatsachenbehauptungen 10 , sondern fordern uns auf zu einer bestimmten Betrachtungsweise des Rechts; sie enthalten Vorschläge zur theoretischen Erfassung oder zur praktischen Gestaltung der rechtlichen Wirklichkeit. Von diesem Verständnis der Rechtsphilosophie her gesehen ist es beispielsweise sinnlos zu fragen, ob es „an sich" ein Widerstandsrecht „gibt", ob ein Widerstandsrecht „existiert". Diese A r t der Fragestellung führt zu einer mit wissenschaftlichen Mitteln nicht entscheidbaren Kontroverse. Sinnvoll dagegen ist es zu fragen, ob ein Widerstandsrecht unter gewissen Bedingungen erwünscht ist und ob sich die Kriterien seiner Zulässigkeit mit hinreichender Genauigkeit formulieren lassen. Bejaht man dies, dann gilt es eben, eine entsprechende rechtsphilosophische Theorie zu „bauen", die das Widerstandsrecht begründet und justiziable Kriterien für seine Zulässigkeit enthält. Das erreichbare Ziel einer solchen Untersuchung ist nicht die Beweisbarkeit und Unwiderlegbarkeit der Lösung, sondern ihre Plausibilität auf Grund „einer vernünftigen, von annehmbaren Prämissen ausgehenden Argumentation" 1 1 . Nicht die Theorie führt also zur „Einsicht" in die Existenz nicht gedacht hat. Gelingt es, sich über die Beurteilung dieses Falles zu einigen, wobei alle sachlichen Argumentationen zugelassen sind, so erhält man einen zur Überprüfung der Behauptung tauglichen Basissatz. Erkennt man etwa die Zulässigkeit der Schwangerschaftsunterbrechung in einem solchen Fall an, so ist damit der allgemeine Satz, jedenfalls in der uneingeschränkten Form, verworfen." 8 Anders verhält es sich immerhin dann, wenn eine rechtsphilosophische Theorie in sich widerspruchsvoll ist oder erfahrungswidrige Behauptungen enthält. In diesem Falle ist sie nicht nur als unfruchtbar, sondern als falsch zu qualifizieren. 9 So der treffende Ausdruck von Kriele, ÖZöR 16 (1966) 422. 10 Für die rechtsphilosophischen Gedanken gilt also das Gleiche, was Austeda 155/158 für die Philosophie ganz allgemein feststellt. 11 J.-J. Gil-Cremades, Rechtstheorie und Rechtspraxis, ARSP 56 (1970) 25/26. GilCremades spricht allerdings von „Richtigkeit" der Argumentation, während ich den
§ 21 Rechtsphilosophien in der Deutung des juristischen Pragmatismus
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eines Widerstandsrechtes, sondern das erwünschte Widerstandsrecht führt zu einer entsprechenden Theorie! — Das skizzierte Verständnis von Rechtsphilosophie zieht die folgenden Konsequenzen nach sich: Erstens ergibt sich daraus die Vorläufigkeit jeder Rechtsphilosophie. Angesichts der Unbeweisbarkeit rechtsphilosophischer Gedanken gilt es, energisch gegen jeden Dogmatismus anzutreten, der vorgibt, endgültige Antworten zu bieten. Ein rechtsphilosophisches Theorem kann zwar nicht im strengen Sinne verifiziert oder falsifiziert werden, muß aber anhand seiner Konsequenzen kritisiert und gegebenenfalls revidiert werden dürfen. Zweitens folgt aus unserer Deutung das Gebot einer rechtsphilosophischen Diskussion im Geiste der Toleranz. Eine besonnene Diskussion wird keineswegs dadurch gefördert, daß jeder den anderen zu „widerlegen" trachtet und den eigenen Standpunkt als den allein richtigen behauptet, sondern viel eher dadurch, daß man die Abhängigkeit des eigenen und des fremden Standpunktes von einem meist mehr oder weniger wertvollen Ansatz durchschaut und sich das Pro und das Kontra des jeweiligen Einstiegs vergegenwärtigt. Vorbildlich ist in dieser Hinsicht ζ. B. die Haltung Walters: Als ein Vertreter der Reinen Rechtslehre, der sich des „axiomatischen" Charakters einer Position bewußt ist, wendet er gegen die Anerkennungstheorie nicht etwa ein, sie sei falsch, sondern räumt ein, daß theoretisch gegen eine solche Konstruktion nichts einzuwenden ist. Doch frage es sich, ob sie zweckmäßig sei und ob sie im praktischen Ergebnis nicht auf dasselbe wie die Kelsensche hinauskomme. Walter verweist insbesondere auf die Schwierigkeit, wie die „Anerkennung" durch die Rechtsgenossen festzustellen sei 12 . — Bei einer solchen Betrachtungsweise wird eine Diskussion entschärft und in vernünftige Bahnen geleitet. Drittens offenbart unser Ansatz die erhebliche Verantwortung des Rechtsphilosophen für die von ihm entwickelten Lehren. Hier zeigt sich ein grundsätzlicher Unterschied zur positiven Wissenschaft: Eine wissenschaftlich beweisbare Behauptung wird nicht deswegen falsch, weil sie unerwünschte Folgen nach sich zieht. So ist etwa die Feststellung, daß nach dem derzeitigen Stand der medizinischen Wissenschaft die Krankheit χ unheilbar sei, nicht deswegen unrichtig, weil sie viele an dieser Krankheit leidende Menschen in Verzweiflung stürzt; und die Erkenntnisse der modernen Atomphysik sind nicht deswegen falsch, weil sie den Bau der Atombombe ermöglicht haben! Ganz anders verhält es sich bei einer rechtsphilosophischen Theorie: Da diese, wie wir gesehen haben, grundsätzlich nicht dem Wahrheitskriterium unterliegt, wird die Frage nach den Konsequenzen jeder Theorie zur allein entscheidenden! Wenn es ζ. B. so wäre, daß ein bestimmter Ausdruck „Plausibilität" vorziehe, um anzudeuten, daß solche Argumentationen nicht zu absolut zwingenden Lösungen führen. 12 Walter, Rechtstheorie 1 (1970) 79/80 Ν 43.
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3. Teil: Folgerungen
Begriff des Rechts, etwa derjenige des Gesetzespositivisten, als der allein richtige bewiesen werden könnte, müßte man ihn hinnehmen unabhängig davon, was die Folgen sind. Da dies aber nachweislich nicht zutrifft, besteht hier für den Rechtsphilosophen die Freiheit, eine Theorie zu entwickeln, die zu verantwortbaren Konsequenzen führt. Viertens zeigt sich, daß ein ungeschichtliches Verständnis von Rechtsphilosophie nicht haltbar ist 1 3 . Rechtsphilosophische Gedanken sind abhängig von bestimmten geschichtlichen Bedingungen wie dem Stand der allgemeinen Philosophie oder der sozialen, politischen und rechtlichen Situation in einer bestimmten Zeitepoche. Verfolgen wir dies kurz anhand des Rechtspositivismus: C. Die geschichtliche Bedingtheit des Rechtspositivismus In allen rechtspositivistischen Theorien wird das Bedürfnis deutlich, jene "reduktionistische" Methode anzuwenden 14 , die in neuerer Zeit die Naturwissenschaften sowie die experimentelle Psychologie zu so augenscheinlichen Erfolgen geführt hat und die darin besteht, sich nur an unbestreitbaren logisch-empirischen Gegebenheiten zu orientieren. Der Positivist sucht nicht nach tiefen, sondern nach faßbaren Begründungen seiner Theorie; beides läßt sich erfahrungsgemäß nicht zugleich miteinander erreichen, da „Tiefe" und „Faßbarkeit" einer Argumentation im umgekehrt proportionalen Verhältnis zueinander stehen: Je tiefer; desto unfaßbarer (und vermutlich auch subjektiver), je faßbarer, desto objektiver (aber auch vordergründiger) wird die Beweisführung! Das positivistische Anliegen tritt immer in jenen Epochen stärker in Erscheinung, wenn es gilt, idealistische Höhenflüge, die zu offenkundigen Subjektivitäten geführt haben, in die Schranken zu weisen, indem man sich wieder auf den festen Boden der Faktizität begibt 15 . I n neuerer Zeit gesellt sich zu diesem mehr kritizistischen Motiv, wie gesagt, das positive hinzu, es auch in rechtlichen Belangen mit jener Methode zu versuchen, die sich in den erwähnten Wissenschaften als so erfolgreich erwiesen hat. Neben dieser Abhängigkeit des Rechtspositivismus von einer bestimmten wissenschafts- und philosophiegeschichtlichen Konstellation haben ver13 Auf die geschichtliche Bedingtheit der Rechtsphilosophie verweist W. Hassemer, Artikel „Rechtsphilosophie", in: A. Görlitz, Handlexikon zur Rechtswissenschaft (München 1972) 332/333. Ein sprechendes Beispiel dafür ist nach Hassemer, 336, die Reaktion der Rechtsphilosophie in der Nachkriegszeit auf das Nazi-Regime. 14 Die reduktionistische Tendenz (i. S. einer Verkürzung der Wirklichkeit) des Rechtspositivismus betont Kriele, ÖZöR 16 (1966) 413. 15 Vgl. die instruktive Tabelle bei Brecht 167 über Eklipsen und Wiederaufleben des Naturrechtsgedankens.
§ 2 1 Rechtsphilosophien in der Deutung des juristischen Pragmatismus
169
schiedene Autoren auf eine andere Art geschichtlicher Bedingtheit gewisser rechtspositivistischen Lehren hingewiesen, die darin besteht, daß diesen eine ideologisch-politische Komponente inhärent ist. Dies bezieht sich vor allem auf die etatistischen Positivismen: So war die Betonung des Rechtsetzungsmonopois des Gesetzgebers (im Gegensatz zu bloßen Rechtsetzungsprärogativen), die in den bekannten Interpretationsverboten zum Ausdruck kam, nach Kriele politisch gegen die Rechtsfortbildungsanspräche des Juri16 stenstandes gerichtet gewesen . Die positivistische Idee einer staatlichen Souveränität dagegen hatte sich einerseits gegen die potestas indirecta der Kirche, und zwar insbesondere der katholischen Kirche, gewandt, andererseits gegen die Anerkennung eines Widerstandsrechtes der Untertanen. I n diesem letzteren Sinne richtet sich der Rechtspositivismus „gegen Rebellion, Ungehorsam, Anarchie, Tyrannentötung, Bürgerkrieg und plädiert für Ordnung, Gehorsam, innerstaatlichen Frieden" 17 . Das politische Ziel liegt hier in der Erreichung eines hohen Grades von Rechtssicherheit, unter Hintansetzung einer individualisierenden Gerechtigkeit. Daß eine solches Rechtslehre gern mit einer autoritären Gesellschaftsauffasung einhergeht, hat Franssen für den Positivismus Labands, des führenden Staatsrechtlers der Wilhelminischen Ära, behauptet; die politische Funktion dieser Lehre soll in der Rechtfertigung der bestehenden Ordnung des 1871 von Bismarck gegründeten Deutschen Reiches 18 bestanden haben. — Auch die Anerkennungstheorie wird gelegentlich mit dem Rechtssicherheitsprinzip begründet. So von Riezler: Nach ihm konstituiert „die Anerkennung durch die zu nicht ganz ephemerer tatsächlicher Herrschaft gelangte Macht" den Rechtscharakter einer N o r m 1 9 . Der tiefere Grund dafür, daß naturrechtliche Ideale nicht mit dem so verstandenen geltenden Recht vermengt werden sollten, liege im Bedürfnis nach Rechtssicherheit „in dem doppelten Sinne, daß feststeht und bestimmbar ist, was Rechtens ist, daß aber auch jeder darauf vertrauen darf, daß ihm durch die Gerichte und sonstigen staatlichen Organe das Recht, aber auch nur das Recht, zuteil werde" 20 . Rechtspositivistische Lehren können somit, müssen aber nicht, politisch motiviert sein. Da eine positivistische Theorie, wie wir gesehen haben, auf einem Begriff des Rechts aufbaut, der aus wertneutralen Elementen zusammengesetzt ist, braucht sie nicht schon a priori ideologisch geprägt zu sein. 16
Kriele, JuS 9 (1969) 150/151. Kriele 152. 18 E. Franssen, Positivismus als juristische Strategie, JZ 24 (1969) 769/770. Auch Radbruch begründet seinen Positivismus mit dem Rechtssicherheitsprinzip: vgl. das Zitat vorne § 4. 19 Riezler, in: Naturrecht oder Rechtspositivismus? 242. Der Positivismus Riezlers wäre also den Lehren Belings und Nawiaskys von der Anerkennung durch den „tonangebenden Verband" zuzurechnen. Vorne § 6 Ν 70. 20 Riezler 250/251. 17
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3. Teil: Folgerungen
Die grundlegende Festsetzung kann tatsächlich auch aus nichtpolitischen Gründen erfolgen. Dies gilt vor allem für die Reine Rechtslehre. Verschiedene Autoren haben in ihr schon ideologische Züge zu entdecken vermeint 21 . Als repräsentatives Beispiel dafür sei die Stellungnahme von Verdross herangezogen: Verdross argumentiert, der Grund dafür, daß die Kelsenscht Grundnorm gerade die wirksame, effektive Ordnung (und nicht eine andere) als Rechtsautorität einsetze, könne nur darin liegen, daß allein eine solche die Rechtssicherheit im Zusammenleben der Menschen zu gewährleisten vermöge. Der Kelsenschz Positivismus sei daher auf die Werte der Ruhe und Ordnung ausgerichtet 22 . Verdross übersieht dabei, daß die Wahl des Erkenntnisgegenstandes (nämlich der wirksamen, zwangsandrohenden Ordnungen) bei Kelsen aus erkenntnistheoretischen, nicht aber aus politischen Gründen erfolgt. Da Kelsen als Wertrelativist die Möglichkeit der Erkenntnis absoluter Werte verneint, erscheint es nicht sinnvoll, zum Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis ein Recht im absoluten Sinne zu machen 23 ; Recht muß vielmehr etwas sein, dessen tatsächliche Existenz durch beobachtbare Vorgänge in Raum und Zeit offenbart wird; diese sieht Kelsen eben in der Positivität des Rechts, d. h. darin, daß es von Menschen gesetzt und im großen und ganzen wirksam ist. — Ebensowenig kann man eine ideologische Tendenz der Reinen Rechtslehre (i. S. des Liberalismus) etwa aus der „negativen Norm" Kelsens schließen, daß, wenn die Rechtsordnung keine Pflicht eines Individuums zu einem bestimmten Verhalten statuiert, sie dieses Verhalten erlaubt 24 . Denn selbst unter Zugrundelegung dieser Norm könnte man den perfektesten totalitären Polizeistaat aufbauen, sofern nur hinreichend viele Verhaltensweisen ausdrücklich verboten werden! — Auch Kelsens Bekenntnisse zur Demokratie haben nichts mit seinem Positivismus zu tun, sondern erklären sich aus seinem Wertrelativismus 25 . 21
Vgl. dazu Fechner, ARSP Beiheft Nr. 6 (1970) 199 ff.; Kramer, Festschrift Merkl 199 Ν 38; R.A. Metall, Die politische Befangenheit der Reinen Rechtslehre, Internationale Zeitschrift für Theorie des Rechts 10 (1936)163 ff.; H. Mayer, Das Ideologieproblem und die Reine Rechtslehre, Internationale Zeitschrift für Theorie des Rechts 11 (1937) 22 ff. 22 Verdross, Völkerrecht (5. Aufl. Wien 1964) 18. Diese Interpretation scheint allerdings durch eine nicht sehr glückliche Bemerkung Kelsens, JZ 20 (1965) 468 Ν 22a, gestützt zu werden: Kelsen wehrt sich gegen Welzeis Behauptung, es gebe „Rechtspflichten nur als sittliche Pflichten" (Naturrecht und Rechtspositivismus, in: W. Maihofer [Hrsg.], Naturrecht oder Rechtspositivismus? [Bad Homburg v. d. H. 1962] 337) mit dem Argument, dann könne „jedes rechtsunterworfene Subjekt die Geltung des Rechts für sich mit der Begründung aufheben, daß die ihm vom Recht auferlegte Pflicht nicht sittlich sei." Kriele, ÖZöR 16 (1966) 426, folgert daraus, daß sich Kelsen damit auf die Ebene eines politischen Vernunft-Argumentes begibt. Walter, ÖZöR 17(1967) 124, macht demgegenüber geltend, daß Kelsens Argument eine intrasystematische Einwendung gegen Welzel ist, also offenbar nicht eine ideologisch-politische Begründung der Reinen Rechtslehre enthält. Dagegen wiederum Kriele, ÖZöR 17 (1967) 303. 23 24 25
Walter, Rechtstheorie 1 (1970) 77. Kelsen, Reine Rechtslehre 251. Vgl. dazu Kelsen, Was ist Gerechtigkeit? (Wien 1953) 40 ff.
§ 21 Rechtsphilosophien in der Deutung des juristischen Pragmatismus
171
Ob der Rechtspositivismus politisch-ideologisch gebunden ist, kann daher nicht allgemein, sondern nur differenziert, d. h. im Hinblick auf jede einzelne Theorie, beantwortet werden. Eine entsprechende nähere Untersuchung müßte weit ausgreifen und fällt außerhalb der von uns gewählten, mehr auf den erkenntnistheoretischen Aspekt des Problems konzentrierten Zielsetzung dieser Arbeit. Sicher scheint m. E. zu sein, daß der Nachweis bei einigen Lehren geführt werden kann, ebenso sicher, daß er bei anderen mißlingen dürfte. So ist es ζ. B. meiner Meinung nach unerfindlich, worin die von Naucke geltend gemachte Wertentscheidung in Geigers zentralem Begriff der „sozialen Interdependenz" bestehen soll 2 6 . A u f der anderen Seite sind alle rechtspositivistischen Theorien insofern geschichtlich bedingt, als sie — ausdrücklich oder stillschweigend — von einem Wissenschaftsverständnis ausgehen, das nicht überall und zu allen Zeiten gegolten hat und gerade auch heutzutage wieder schwer angefochten wird: Es ist das Ideal einer objektiven, exakten, auf nachprüfbaren Grundlagen beruhenden Wissenschaft.
D. Die Frage nach den Vor- und Nachteilen der rechtspositivistischen Theorien A u f Grund der in diesem Paragraphen entwickelten Deutung, die wir als Juristischen Pragmatismus" bezeichnen, fragen wir — wie dargelegt — nicht mehr nach Wahrheit oder Unwahrheit der rechtspositivistischen Theorien, sondern nach ihrer Fruchtbarkeit zur Erreichung theoretischer und praktischer Ziele. Wir fragen also nach den Konsequenzen eines Entwurfes, d. h. danach, wohin eine bestimmte Theorie führt und wozu sie sich eignet bzw. nicht eignet. Es gilt folglich nicht zu entdecken, inwiefern eine Theorie richtig und inwiefern sie falsch ist, wo ihre „Wahrheiten" und wo ihre „Unwahrheiten" stecken, sondern es gilt, ihre Leistungsfähigkeit zur Behandlung bestimmter theoretischer oder praktischer Probleme zu erfassen. Dies bedingt nun allerdings die Aufgabe unserer bisherigen wertfreien Haltung; denn bei der Frage, ob gewisse Konsequenzen einer Lehre erwünscht sind oder nicht, müssen unweigerlich Werturteile gefällt werden. Von welchen Wertungen der Autor dabei ausgeht, ersieht man am besten anhand der folgenden konkreten Erörterungen. Das Ziel dieser Ausführungen wird es allerdings nicht sein, aus dem verwirrenden Geflecht von Gründen und Gegengründen nun selbst eine weitere Theorie zusammenzuzimmern, die natürlich nach unserer Auffas26
W. Naucke, Wissenschaftsbegriff — Rechtssoziologie — Rechtspraxis, Bemerkungen zu einem konkret-humanen juristischen Pragmatismus, in: W. Naucke / P. Trappe (Hrsg.), Rechtssoziologie und Rechtspraxis (Neuwied / Berlin 1970) 110/111.
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3. Teil: Folgerungen
sung — aber wahrscheinlich auch nur nach dieser! — als „die beste" zu gelten hätte. Denn abgesehen davon, daß ein solches System selbstverständlich wieder zahllosen Einwänden ausgesetzt wäre und womöglich noch größere Mängel aufweisen würde als die bisherigen Systeme, ist es gerade der Sinn dieser Ausführungen zu zeigen, zu welchen Schwierigkeiten es führt, alle Probleme, die mit dem Phänomen des Rechts verknüpft sind, über den Leisten einer einzigen Theorie schlagen zu wollen. Die gleiche Theorie kann zur Erreichung eines bestimmten Zieles (ζ. B. Entwicklung eines Rechtsbegriffes, der für rechtssoziologische Untersuchungen zweckmäßig ist) geeignet, zur Erreichung eines anderen Zieles (ζ. B. Entwicklung von materialen Kriterien, die den Richter bei der Füllung von Gesetzeslücken leiten sollen) dagegen ungeeignet sein. I m folgenden soll daher versucht werden, eine erste Bestandsaufnahme der Vor- und Nachteile der rechtspositivistischen Theorien vorzunehmen und bei dieser Gelegenheit die A r t und Weise aufzuzeigen, wie nach unserer Meinung rechtsphilosophische Lehren überprüft werden sollten. Diese Bestandsaufnahme muß hier ganz im Grundsätzlichen bleiben, kann also nur eine grobe sein, weil die meisten der anzuschneidenden Problemkreise dermaßen komplex sind, daß hier nur eingehende Spezialuntersuchungen wirkliche Klärung bringen könnten. Trotzdem wollen wir auf Grund unseres Überblickes über die verschiedenen Varianten des Rechtspositivismus versuchen, wenigstens die wesentlichen Gründe und Gegengründe zu skizzieren. Zur Gliederung des Stoffes scheint es dabei vorteilhaft zu sein, die Argumente und Gegenargumente hinsichtlich der positivistischen Trennungsthese gesondert zu behandeln (hinten §§22 und 23) und die übrigen zu unterteilen in solche, die sich auf alle rechtspositivistischen Richtungen beziehen (hinten §24A), sowie in solche, die sich nur auf einzelne rechtspositivistische Richtungen beziehen (hinten § 24 B-H). — Vorerst wollen wir uns also jenem Gebiet zuwenden, auf dem die Hauptschlacht mit dem Positivismus geschlagen wurde, die zu seiner weitgehenden Diskreditierung in der heutigen Zeit geführt hat, d. h. der Auseinandersetzung um die positivistische Trennungsthese. E. Die Frage nach den Vor- und Nachteilen der positivistischen Trennungsthese insbesondere I n diesem Zusammenhang sind jedoch zwei Vorbemerkungen notwendig: Die Argumente für und gegen die Trennungsthese lassen sich in drei Gruppen einteilen: in empirische, normative und analytische 21.
27
Alexy, ARSP Beiheft 37 (1990) 10 f.
§ 21 Rechtsphilosophien in der Deutung des juristischen Pragmatismus
173
Ein empirisches Argument gegen die Trennungsthese lautet, daß der Rechtspositivismus i. S. der Trennung von Recht und Moral zu den Greueln des nationalsozialistischen Systems beigetragen habe. Das ist eine historische Frage, eine Tatsachenfrage, die wir hinten behandeln werden 28 . Um normative Argumente handelt es sich dann, wenn etwa gegen die Trennungsthese angeführt wird, sie erschwere die Bewältigung „gesetzlichen Unrechts" oder wenn zu ihren Gunsten angeführt wird, sie fördere die Rechtssicherheit und die begriffliche Klarheit. Das wichtigste analytische Argument gegen die Trennungsthese lautet, daß eine begrifflich notwendige Beziehung zwischen Recht und Moral besteht; daß man ζ. B. Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren könne „denn als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinn nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen" 29. — Alexy hat den Nachweis zu führen versucht, daß ein solcher begrifflich notwendiger Zusammenhang zwischen dem Recht und irgendeiner Moral, ja sogar zur „richtigen" Moral, besteht 30 . Auch Höffes Kritik am Rechtspositivismus geht in die gleiche Richtung 31 . Aus dem bis jetzt erreichten Zwischenergebnis folgt aber, daß nur empirische und normative Argumente in Betracht kommen, keine analytischen 32 . Denn die Frage, ob ein analytischer Zusammenhang zwischen Recht und Moral besteht, hängt von der vorausgesetzten Definition des Rechts ab; und diese beruht, wie wir gesehen haben, auf einer vorwissenschaftlichen Entscheidung 33 . Wenn man ζ. B. „Recht" als den „Inbegriff aller Normen, die von den dazu bevollmächtigten Stellen einem bestimmten Verfahren gemäß erlassen worden sind, und nicht im Widerspruch zur Moral stehen" 34 , definiert, folgt daraus analytisch, daß es kein unmoralisches Recht geben kann, daß also ein begrifflich notwendiger Zusammenhang zwischen Recht und Moral besteht. Definiert man dagegen „Recht" i. S. der Positivisten 28
§ 23, v. a. § 23 D. Radbruch, Süddeutsche Juristen-Zeitung 1 (1946) 107, Spalte rechts. 30 Alexy, ARSP Beiheft 37 (1990) 23 f. 31 Die spezifische Eigenart des Rechts besteht nach Höffe darin, daß die Gruppe der vom Zwang Betroffenen mit der Gruppe der von diesem Zwang Bevorteilten zusammenfallen (interner Zwang), während bei einem Verbrechersyndikat der Zwang nach außen gerichtet ist, d.h. diese beiden Gruppen auseinanderfallen {Höffe 161, 169). In solchen Fällen spreche man — und das sei das entscheidende Argument gegen eine gerechtigkeitsfreie Rechtsdefinition — noch nicht von einer Rechtsordnung (a.a.O. 170). — Es ist aber offensichtlich, daß man etwa von der Rechtsordnung des Nationalsozialismus spricht, obwohl der in diesem System ausgeübte Zwang den Juden keine Vorteile, sondern nur Nachteile brachte. D. h. es gibt im Falle des Terminus „Recht" keinen gefestigten Sprachgebrauch, der sich durch eine analytisch-semantische Definition wiedergeben ließe (vgl. vorne §19 A H I a.E.). 29
32
In diesem Sinne auch Dreier, Recht — Moral — Ideologie 182 f.
33
Vorne § 20 Β I I I , C, § 21 A. Geddert 193; vgl. auch a.a.O. 207.
34
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3. Teil: Folgerungen
ausschließlich durch empirische Merkmale, folgt allein aus dieser Festlegung, daß es keinen analytischen Zusammenhang zwischen Recht und Moral geben kann. Ob man im einen oder anderen Sinne vorgehen soll, ist aber gerade die Frage; und diese Frage kann nur mit empirischen und normativen Argumenten beantwortet werden, nicht mit analytischen. Bei den Fragestellungen, auf die wir im folgenden eintreten werden, kann man solche unterscheiden, die unmittelbar praktische Bedeutung haben, und solche, bei denen dies nicht zutrifft. Als Fragen von unmittelbar praktischer Bedeutung sollen hier solche verstanden werden, die darauf abzielen, wie sich ein Richter oder ein Rechtsunterworfener unter einem bestimmten Rechtssystem in einer bestimmten Situation verhalten soll. Alle übrigen Fragestellungen, insbesondere solche, die den Rechtsvergleicher, Rechtshistoriker oder den Rechtssoziologen interessieren, sollen hier theoretische Fragestellungen heißen 35 . Sie besitzen keine unmittelbar praktische, sondern allenfalls eine mittelbar praktische Bedeutung. So können Befunde, die ein Rechtsvergleicher erhoben hat, in einem Prozeß, der nach einer ausländischen Rechtsordnung zu beurteilen ist, mittelbar praktische Bedeutung erlangen; ebenso können Fakten, auf die ein Rechtssoziologie im Rahmen seiner Rechtstatsachenforschung gestoßen ist, mittelbar praktische Bedeutung für die Entscheidung eines Richters haben Die hier vorgeschlagene Unterscheidung zwischen Fragen mit unmittelbar praktischer Bedeutung und theoretischen Fragen, d. h. Fragen mit mittelbar praktischer Bedeutung, ist der Unterscheidung zwischen Teilnehmer- und Beobachterperspektive ähnlich, deckt sich jedoch nicht völlig mit dieser 36 . I m folgenden Paragraphen sollen die Argumente zur Sprache kommen, die für die Trennungsthese sprechen; im anschließenden Paragraphen 23 das Argument, das in seiner normativen Version (nicht aber in seiner empirischen Version!) m. E. mehrheitlich gegen sie spricht, das sog. „HitlerArgument". 35
Vgl. zur Unterscheidung des theoretischen vom unmittelbar praktischen Sinn Geddert 31 ff. und 311. 36 Alexy, ARSP Beiheft 37 (1990) 13, umschreibt Teilnehmer- und Beobachterperspektive wie folgt: „Im Zentrum der Teilnehmerperspektive steht der Richter. Wenn andere Teilnehmer, etwa Rechtswissenschafter, Rechtsanwälte oder am Rechtssystem interessierte Bürger, Argumente für oder gegen bestimmte Inhalte des Rechtssystems vorbringen, dann beziehen sie sich letzthin darauf, wie ein Richter zu entscheiden hätte, wenn er richtig entscheiden sollte. Die Beobachterperspektive nimmt ein, wer nicht fragt, was in einem bestimmten Rechtssystem die richtige Entscheidung ist, sondern wie in einem bestimmten Rechtssystem tatsächlich entschieden wird." — Wie man sieht, deckt sich im wesentlichen der Bereich der Fragestellungen mit unmittelbar praktischer Bedeutung mit demjenigen der Teilnehmerperspektive. Dagegen gibt es unter den theoretischen Fragestellungen auch solche, die nicht darauf abzielen, wie in einem bestimmten Rechtssystem tatsächlich entschieden wird, ζ. B. die Frage nach der Berechtigung des sog. Prinzipienarguments. Vgl. dazu hinten § 22.
§ 22 Die Vorteile der positivistischen Trennungsthese
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§ 22 Die Vorteile der positivistischen Trennungsthese Wie wir gesehen haben, bestimmten alle rechtspositivistischen Theorien ihren Begriff des Rechts mit Hilfe empirisch faßbarer Merkmale 1 . Daraus ergibt sich die Wertfreiheit jedes positivistischen Begriffs des Rechts; der Positivist abstrahiert von allen Rechtsinhalten; er behandelt das Recht, wie es ist, nicht aber das Recht, wie es sein sollte. Er trennt, wie man es auszudrücken pflegt, zwischen Recht und Moral 2 . Dabei sind zwei Versionen der Trennungsthese auseinanderzuhalten: 1. Es ist zu unterscheiden zwischen dem Recht, wie es ist, und dem Recht, wie es nach der positiven Moral, d. h. den in einer Gesellschaft herrschenden moralischen Anschauungen, sein sollte. 2. Es ist zu unterscheiden zwischen dem Recht, wie es ist, und dem Recht, wie es nach der sog. „critical morality", d. h. einer aufgeklärten Moral oder einem Naturrecht, sein sollte.
A. Die Fruchtbarkeit der Trennungsthese für Rechtssoziologie, Rechtsgeschichte und Rechtsethnologie3 Ein erster Pluspunkt dieser Konzeption ist der folgende: Wenn man in den Begriff des Rechts gewisse materiale Gerechtigkeitskriterien aufnehmen wollte, mit der Folge, daß eine positive Satzung, die diese Kriterien nicht erfüllt, nicht nur „unrichtiges" Recht wäre, sondern überhaupt des Rechtscharakters entbehrte, dann würden z. B. weite Partien des nationalsozialistischen Rechts oder das antike Sklavenrecht aus den Untersuchungsbereichen des Rechtssoziologen und des Rechtshistorikers fallen, obwohl diese Erscheinungen doch gerade dem Juristen nicht gleichgültig sein können 4 . Entsprechendes gilt für Regelungen primitiver Gemeinschaften, die unseren humanitären Vorstellungen widerstreben, wie dies etwa bei den durch rechtliche Ermächtigungen gedeckten Tötungen von Kindern, Gebrechli1
Vorne § 15 B. Zum doppelten Sinn des Wortes „Moral" vgl. vorne § 3 Ν 22; § 15 Β II. 3 Die Liste der Disziplinen läßt sich erweitern um die Rechtspsychologie, die Rechtsethologie (Verhaltensforschung) und die Rechtsvergleichung. Vgl. zur Rechtspsychologie R. Jakob / M. Rehbinder (Hrsg.), Beiträge zur Rechtspsychologie, Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung Nr. 64 (Berlin 1987) mit eingehender Bibliographie auf S. 217 ff. 4 So sind ζ. B. die actio redhibitoria (Wandelungsklage) und die actio quanti minoris (Minderungsklage) im Sonderrecht der aediles curules für die Käufe von Sklaven und Zugtieren entwickelt worden: M. Käser, Römisches Privatrecht. Ein Studienbuch (14. Aufl. München 1968) 197/198. 2
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3. Teil: Folgerungen
chen und Greisen bei den Eskimos der Fall ist 5 . Die Rechtsethnologie könnte sich mit solchen Phänomenen nicht befassen, weil diese nicht unter den Begriff des Rechts fallen würden, und das wäre zweifellos eine unzweckmäßige Einengung des Forschungsgebietes. Aus diesen Gründen empfiehlt es sich für die Rechtshistoriker, die Rechtssoziologen und die Rechtsethnologen, ihren Untersuchungen einen positivistischen Begriff des Rechts zugrunde zu legen, um nicht durch eine zu enge Vorstellung von dem, was Recht ist, dem jeweiligen Gegenstand der Forschung Gewalt anzutun. Welcher Begriff des Rechts im einzelnen am ehesten geeignet ist, kann nur auf Grund einer fundamentalen Kenntnis des rechtssoziologischen, -historischen und -ethnologischen Materials entschieden werden. Dabei ist nicht gesagt, daß diese Disziplinen alle mit dem gleichen Begriff operieren müssen. So interessieren sich der Rechtshistoriker und der Rechtsethnologe für Rechtsvorstellungen in einem so frühen Stadium der Rechtsentwicklung, daß es für sie sinnlos wäre, „Existenz und Funktion des Rechts mit Institutionen wie Polizei, Gerichtshöfen, Verwaltung usf. in Verbindung zu bringen; dagegen wird, wer sich mit dem aktuellen Recht beschäftigen will, natürlicherweise gerade auf diese Institutionen Gewicht legen, etwa um Recht und Moral zu unterscheiden" 6 .
B.Die Trennungsthese unter dem Aspekt der Rechtssicherheit Unter dem Aspekt der Rechtssicherheit bietet die Trennungsthese den Vorzug, daß die Geltung des Rechts nicht mit Berufung auf politische, moralische, philosophische oder theologische Meinungen angefochten werden kann. Da in diesen Bereichen Kontroversen aufzutreten pflegen, liegt es nahe, jene Fragen, die soziale Relevanz besitzen, einstweilen durch eine Autorität verbindlich entscheiden zu lassen und sie im übrigen „in die Arena geistig geführter politischer Auseinandersetzungen" zu verweisen 7. Selbst wenn man zugibt, daß verschiedene politische Positionen nicht alle gleichberechtigt nebeneinander stehen, sondern daß es unter ihnen bessere und schlechtere, weisere und törichtere gibt, scheiden sich die Geister jeweils gerade an der Frage, welche die bessere ist — und eben dies bedarf der Entscheidung 8 . Die Trennungsthese fördert also die Rechtssicherheit in dem Sinne, daß feststeht, was Rechtens ist, daß aber auch jeder darauf vertrauen 5 Ε. A. Hoebel, Das Recht der Naturvölker. Eine vergleichende Untersuchung rechtlicher Abläufe (Ölten / Freiburg im Breisgau 1968) 97. Nach Meinung der Eskimos kann die Gesellschaft für unproduktive Glieder nicht aufkommen. Dies erklärt sich wohl aus den extrem harten Existenzbedingungen, unter denen die Eskimos leben müssen. 6 Jürgens en 11. 7 Kriele, JuS 9 (1969) 154; derselbe, ÖZöR 16 (1966) 423 ff. 8 Kriele, JuS 9 (1969) 154.
§ 22 Die Vorteile der positivistischen Trennungsthese
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darf, daß ihm durch die staatlichen Organe das Recht, und nur das Recht, zuteil wird 9 .
C. Die Trennungsthese und das Problem der Rechtspolitik Die Abstrahierung von allen Rechtsinhalten bringt weiter folgendes mit sich: Kein Gesetzgeber, der neues Recht schaffen und kein Richter, der einen bisher weder gesetzlich noch judiziell entschiedenen Fall lösen muß, wird von einer rechtspositivistischen Theorie darüber Aufschluß erhalten, in welchem Sinne er vorgehen soll. Alle rechtspositivistischen Theorien sind also gerade im Hinblick auf diese Fragen, die als die wichtigsten anzusehen sind, völlig steril 10 . Der Positivist wird hier nun einwenden, daß der Rechtspositivismus darauf auch keine Antwort geben will. Dieser Einwand ist hinzunehmen; die Tatsache als solche bleibt jedoch bestehen, daß eine positivistische Lehre immer nur sagt, was Recht ist, nicht aber, wie neues Recht gestaltet werden soll. Weiter hat Kriele daraus den Vorwurf gegen die Trennungsthese abgeleitet, sie führe dazu, daß nur die erledigten und endgültig entschiedenen, nicht aber die noch offenen Fragen als Rechtsfragen gelten dürfen 11 und daß alle jeweils aktuellen juristischen Probleme von der Diskussion ausgeschlossen seien 12 . Dazu ist folgendes zu bemerken: Die positivistische Trennungsthese führt in der Tat dazu, die noch offenen Fragen sowohl auf der Gesetzgebungs- als auch auf der Rechtsanwendungsstufe nicht als Rechtsfragen i. e. S. zu qualifizieren, weil in diesen Fällen für den Positivisten noch gar kein Recht existiert, auf das man zurückgreifen könnte 1 3 . Für den Positivisten sind diese Fragen rechtspolitische Fragen, d. h. Fragen nach einem erst zu schaffenden Recht. Es ist nun nicht einzusehen, was an diesem Sprachgebrauch gefährlich sein könnte, sofern man die Wichtigkeit und Notwendigkeit der Rechtspolitik anerkennt und auch dem Richter in gewissem Rahmen die Kompetenz zu rechtspolitischem Tun zubilligt 14. Was wäre damit gewonnen, 9
Vgl. den vorne bei § 21 C Ν 20 zitierten Passus von Riezler. Der Institutionenalistische Rechtspositivismus (IRP) anerkennt in einem beschränkten Sinne rationale De-lege-ferenda-Argumentationen. Vgl. vorne § 13 und hinten § 24 H. 11 Kriele, ÖZöR 16 (1966) 419. 12 Kriele, ÖZöR 16 (1966) 420. 13 Eine Ausnahme scheint für einen Anhänger der generellen Anerkennungstheorie dann vorzuliegen, wenn bestimmte Normen schon vor ihrer gesetzgeberischen oder judiziellen Fixierung von der Mehrheit des Volkes anerkannt sind, bzw. für den soziologischen Positivisten dann, wenn bereits eine Gerichtspraxis unabhängig vom Gesetz sich entwickelt hat. In diesem Falle ginge es nicht darum, neues Recht zu schaffen, sondern darum, das im Sinne dieser Theorien bereits existierende Recht noch gesetzlich festzuhalten. 14 Unter den Positivisten verweigern dem Richter diese Kompetenz nur die Gesetzespositivisten. Vorne § 4. 10
12 Ott, 2. Aufl.
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3. Teil: Folgerungen
solche Fragen als Rechtsfragen zu bezeichnen? Die Gesetzgeber wären gezwungen, nach einem „an sich" bereits bestehenden Recht zu suchen, womit sie sich einen ganzen Knäuel philosophischer Probleme aufhalsen würden; und die Richter würden noch mehr interpretatorische Scheinbegründungen liefern, als sie es ohnehin schon tun, bloß um die Tatsache zu verdecken, daß sie in Wirklichkeit eine Rechtsfortbildung vorgenommen haben. — Der Verzicht auf eine Behandlung der jeweils offenen Fragen nach dem neu zu schaffenden Recht, den sich der Rechtspositivist im Rahmen seiner positivistischen Theorie auferlegt, hindert ihn jedoch keineswegs, außerhalb seiner Theorie zu den aktuellen Fragen der Rechtsgestaltung Stellung zu nehmen. So haben ζ. B. Austin 15, Weber 16, Kelsen 17 und Hart 18 nicht gezögert, Vorschläge für die künftige Gestaltung des Rechts anzubringen. Ja Austin 19 und Kelsen 20 haben sich sogar als erfolgreiche Gesetzgeber hervorgetan. Trotzdem behält der Einwand Kriele s ζ. T. seine Berechtigung: Der Positivist steht nämlich immer in der Gefahr, seinen Scharfsinn an rein theoretischen Problemen zu vergeuden, die zwar sehr interessant und schwierig sind, oft aber keine große praktische Bedeutung besitzen. Die Rechtsphilosophie der Zukunft wird sich in der Tat wieder mehr ganz konkreten Sachproblemen zuwenden müssen, wenn sie ihre einstige Blüte zurückgewinnen will.
D. Die Trennungsthese und das Prinzipienargument 21 Gegen die Trennungsthese wird oft der Einwand vorgebracht, Rechtsnormen seien in einem hohen Maße auslegungsbedürftig und diese Auslegung 15
Nachweise bei Löwenhaupt 49 ff. Vgl. Rehbinder, Max Weber zum 100. Geburtstag, JZ 19 (1964) 332 ff. 17 Métall 110 f. 18 Eckmann 11 und vorne § 12 Ν 5. 19 Während seiner zweijährigen politisch-administrativen Mission als hoher Kommissar auf Malta; vgl. dazu Löwenhaupt 39 ff. 20 Kelsen gilt als der geistige Vater der Österreichischen Verfassung von 1920. Vgl. Métall 112 ff. 21 Literatur (Auswsahl): R. Alexy, Zum Begriff des Rechtsprinzips, in: W. Krawietz / K. Opaîek, A. Peczenik / A. Schramm (Hrsg.), Argumentation und Hermeneutik in der Jurisprüdenz, Rechtstheorie Beiheft 1 (1979) 58 ff.; derselbe, ARSP Beiheft 37 (1990), 9 ff.; M. Baurmann/H. Kliemt, Österreichische Zeitschrift für Soziologie 10 (1985) 121 ff.; C. Bittner, Recht als interpretative Praxis. Zu Ronald Dworkins allgemeiner Theorie des Rechts, Schriften zur Rechtstheorie Nr. 131 (Berlin / München 1988); F. Bydlinski, Rechtsbegriff 221 ff., 236ff., 248, 289; derselbe, Fundamentale Rechtsgrundsätze; R. Dreier, NJW 39 (1986) 890ff., 892f.; derselbe, Rechtstheorie 18 (1987) 368 ff., 378f.; R. Dworkin , Bürgerrechte; derselbe, Taking Rights Seriously; derselbe, No Right Answer?, in: P. M. S. Hacker / J. Raz (Hrsg.), Law, Society ard Morality, Essays in Honour of H. L. Α. Hart (Oxford 1977), 58 ff.; H. Geddert 221 f.; H.L.A. Hart, Legal Duty and Legal 16
§ 22 Die Vorteile der positivistischen Trennungsthese
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sei gar nicht möglich ohne einen Rückgriff auf „moralische" Maßstäbe, auf sog. Prinzipien. Eine klare Trennung von Recht und Moral sei daher schon aus diesem Grund unmöglich. Dieses Argument wird heute am meisten diskutiert in der Form, die ihm R. Dworkin , der Nachfolger von H.L.A. Hart auf dessen Lehrstuhl für Jurisprudence in Oxford, gegeben hat. I n seinem 1977 veröffentlichten Buch „Taking Rights Seriously" 22 faßt Dworkin verschiedene, zum Teil schon früher erschienene Abhandlungen zusammen und unternimmt einen „allgemeinen Angriff auf den Positivismus" 23 , wobei ihm die Theorie seines Vorgängers als Zielscheibe dient 2 4 . /. Die drei Hauptthesen des Positivismus in der Sicht Dworkins Nach Dworkin bilden die folgenden drei Thesen das Gerüst des Positivismus: 1. Das Recht einer Gemeinschaft besteht ausschließlich aus Regeln, die nicht nach ihrem Inhalt, sondern nach ihrer Herkunft 25 (pedigree) identifiziert werden (z. B. aufgrund von Harts Erkennungsregel). M i t Hilfe dieses Herkunftstestes kann man Rechtsregeln von anderen gesellschaftlichen Regeln, insbesondere denjenigen der Moral, unterscheiden 26 . 2. Wenn ein Fall nicht eindeutig von einer solchen Regel abgedeckt wird, etwa weil sie vage ist, kann er folglich nicht durch „Anwendung des Rechts" entschieden werden. Der Richter ist in einem solchen Fall rechtlich ungebunden. Er muß sein Ermessen (discretion) betätigen, was bedeutet, daß er über das Recht hinausgeht und nach einem außerrechtlichen Maßstab greift 27 . Obligation, in: derselbe, Essays on Bentham (Oxford 1982) 147 ff.; N. Hoerster, NJW 39 (1986) 2480ff.; derselbe, ARSP Beiheft 37 (1990) 24ff.; O. Höffe 126f.; H. Koch, ARSP Beiheft 37 (1990) 152 ff.; W. Krawietz, Rechtstheorie 18 (1987) 209 ff., 222ff.; TV. MacCormick, Wie ernst soll man Rechte nehmen? Rechtstheorie 11 (1980) 1 ff.; derselbe, Legal Reasoning and Legal Theory (Oxford 1978), ch. 9, zit. Legal Reasoning; F. Michaut, Droits. Revue française de Théorie juridique (1989) 69 ff.; Archives de Philosophie du Droit 33 (1988) 113 ff.; dieselbe, Droits. Revue française de Théorie juridique (1990) 107 ff.; M. Strolz, Ronald Dworkins These der Rechte im Vergleich zur gesetzgeberischen Methode nach Art. 1 Abs. 2 und 3 ZGB, Zürcher Studien zur Rechts- und Staatsphilosophie Nr. 4 (Zürich 1991); O. Weinberger, Gedächtnisschrift für René Marcie 496 ff. 22 I . A . London 1977, 4. A. London 1984; auf deutsch erschienen unter dem Titel: Bürgerrechte ernstgenommen (Frankfurt a. M. 1984). In Deutschland haben Alexy, Rechtstheorie Beiheft 1 (1979) 59 ff. sowie Theorie der Grundrechte Kap. 3 und Dreier, NWJ 39 (1986) 892 f. die Theorie Dworkins aufgenommen und zum Teil modifiziert. Für Einzelheiten sei darauf verwiesen. 23 Dworkin , Bürgerrechte 54. 24 Dworkin a.a.O. 25 Das deckt sich mit der vorne § 15 Β gegebenen Charakterisierung, daß die Rechtspositivisten den Begriff des Rechts durch empirische Merkmale bestimmen. 26 Vgl. Dworkin , Bürgerrechte 46 f. 27 Vgl. Dworkin , Bürgerrechte 47.
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3. Teil: Folgerungen
3. Eine rechtliche Verpflichtung existiert dann und nur dann, „wenn eine bestehende Rechtsregel eine solche Verpflichtung auferlegt. Hieraus folgt, daß es in einem schwierigen Fall — wenn sich keine solche Regel finden läßt — erst dann eine rechtliche Verpflichtung gibt, wenn der Richter eine neue Regel für die Zukunft schafft. Der Richter kann die neue Regel auf die in diesem Fall Beteiligten anwenden; das aber ist eine Gesetzgebung ex post facto, und nicht die Durchsetzung einer bestehenden Verpflichtung 28 ."
II. Die Kritik Dworkins an den drei Hauptthesen des Positivismus Dworkin hält alle drei Thesen des Positivismus für falsch: 1. I n schwierigen Fällen (hard cases) müsse der Richter auf sog. Prinzipien zurückgreifen. Diese Prinzipien könnten nicht durch einen positivistischen Herkunftstest identifiziert werden 29 . Dazu müsse der Jurist vielmehr moralische Erwägungen anstellen 30 . 2. Auch in schwierigen Fällen existiere eine allein richtige Entscheidung 31 . Diese Entscheidung sei zwar nicht auf Grund von Rechtsregeln, wohl aber auf Grund von Prinzipien gegeben. Der Richter habe kein Ermessen, sondern sei durch die Prinzipien gebunden 32 . 3. Auch in schwierigen Fällen erfinde der Richter folglich seine Antwort nicht, sondern entdecke anhand der Prinzipien, welche Rechte die Parteien bereits haben 33 . III.
Die Begründung dieser Kritik durch Dworkin
1. Die Unterscheidung zwischen Rechtsregeln und Prinzipien Dworkin unterscheidet zwischen Rechtsregeln und Prinzipien als zwei Arten von Rechtsquellen 34 . Eine Rechtsregel wäre z. B. die Bestimmung, daß 28
Dworkin , Bürgerrechte 89. Vgl. auch a.a.O. 47. Dreier, NJW 39 (1986) 893, nennt diese Version des Prinzipienarguments die geltungstheoretische Version. 30 Vgl. Dworkin , Bürgerrechte 124. In der Abhandlung „Regelmodell I" (v. a. 54-90) betrachtet Dworkin die Prinzipien als Bestandteile des Rechts, während er im „Anhang: Entgegnung auf Kritiker" 549 sich nicht darauf festlegen will, ob Prinzipien dem Recht oder der Moral (in welchem Sinne auch immer) oder beiden zusammen angehören. Ich spreche daher im folgenden nur von Prinzipien, nicht von Rechtsprinzipien. 31 Hinten § 22 D I I I 3. 32 Dreier, NJW 39 (1986) 892, nennt diese Version des Prinzipienarguments die strukturtheoretische Version. 33 Hinten § 22 D I I I 3. 34 Dworkin , Bürgerrechte 54 ff. und 130 ff. 29
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ein Testament zu seiner Gültigkeit der Unterschrift dreier Zeugen bedarf 35 . Ein Richter, der über die Gültigkeit eines Testamentes zu entscheiden hat, kann ein von nur zwei Zeugen unterzeichnetes Testament unmöglich als gültig betrachten. „Regeln sind in der Weise des Alles-oder-Nichts anwendbar. Wenn die Tatsachen, die eine Regel als Bedingung festsetzt, gegeben sind, dann ist die Regel entweder gültig — in diesem Fall muß die Antwort, die sie liefert, akzeptiert werden —, oder sie ist nicht gültig, dann trägt sie nichts zur Entscheidung bei 3 6 ." Charakteristisch für Regeln ist auch ihr Kollisionsverhalten: „Wenn zwei Regeln miteinander in Konflikt stehen, dann kann eine von ihnen keine gültige Regel sein. Welche von ihnen gültig ist und welche aufgegeben oder umgeformt werden muß, muß durch Bezugnahme auf Erwägungen entschieden werden, die über die Regeln selbst hinausgehen 37 ." Dies kann ζ. B. durch Bezugnahme auf eine andere Regel geschehen wie diejenige, daß neues Recht altes bricht. Ganz anders ist die Funktionsweise von Prinzipien: Ein Prinzip wie: „Niemand darf von seinem eigenen Vergehen profitieren" 38 verhindert nicht unter allen Umständen, daß jemand doch aus seinem eigenen Vergehen Nutzen ziehen kann. Dworkin erwähnt als Beispiel: „Wenn jemand unter Vertragsbruch eine Anstellung aufgibt, um eine besser bezahlte Stellung anzunehmen, kann es sein, daß er seinem ersten Arbeitgeber Schadenersatz bezahlen muß, aber er hat normalerweise den Anspruch, sein neues Gehalt zu behalten 39 ." Allgemein gesprochen gibt ein Prinzip einen Grund an, der ein Argument in eine bestimmte Richtung ist, der aber nicht eine bestimmte Entscheidung notwendig macht 4 0 . Auch in ihrem Kollisionsverhalten unterscheiden sich Prinzipien von den Regeln: Wenn zwei Prinzipien sich widersprechen, dann ist nicht — wie im Falle von Regeln — nur das eine auf Kosten des anderen gültig, sondern die Entscheidung muß aufgrund des „relativen Gewichts" beider Prinzipien zueinander erfolgen 41 . Alexy hat in Weiterführung des Dworkinschtn Gedankens aufgezeigt, daß Prinzipien etwas gebieten, was mehr oder weniger stark erfüllt werden kann 4 2 , 35
Dworkin , Bürgerrechte 59. Dworkin , Bürgerrechte 58. Zu Recht bemerkt Koch, ARSP Beiheft 37 (1990) 153, dazu einschränkend: „Einen derart abgeschlossenen und statischen Charakter haben auch die ,strikten' Rechtsnormen mit Wenn-Dann-Struktur bekanntlich nicht. Vielmehr ist es häufig nötig und möglich, angesichts neuer Fälle den gesetzlichen Tatbestand im Lichte des Normzweckes erweiternd oder einschränkend auszulegen." 36
37 Dworkin , Bürgerrechte 62. Dazu ist allerdings nach Koch, ARSP Beiheft 37 (1990) 153, einschränkend zu sagen, daß ein Widerspruch zwischen Normen vielfach dadurch ausgeräumt werden kann, daß die eine Norm als Ausnahme der anderen verstanden wird. 38 Dworkin , Bürgerrechte 60. 39 Dworkin a.a.O. 40 Dworkin , Bürgerrechte a.a.O., Hervorhebung durch Verf. 41 Vgl. Dworkin , Bürgerrechte 62.
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3. Teil: Folgerungen
daß Prinzipien m. a. W. Optimierungsgebote enthalten. Demgegenüber kann einer Regel nur entweder gefolgt oder nicht gefolgt werden 43 . 2. Das Auffinden der maßgebenden Prinzipien Weiter ist nun zu fragen, wie sich die maßgebenden Prinzipien nach Dworkin auffinden lassen. Zunächst anerkennt auch Dworkin , daß Prinzipien kodifiziert sein können 4 4 . Was gilt aber für die anderen Prinzipien, bei denen dies nicht der Fall ist? Nach Dworkin ist ein Prinzip „ein Rechtsprinzip, wenn es in der treffendsten Rechtstheorie, die sich als Rechtfertigung der expliziten festen und institutionellen Regeln der betreffenden Rechtsprechung angeben läßt, eine Rolle spielt 45 ." Die Prinzipien einer solchen Rechtstheorie müssen „die bestehenden Regeln dadurch zu rechtfertigen versuchen, daß sie die politischen oder moralischen Anliegen und Traditionen der Gemeinschaft auszumachen versuchen, die nach Meinung des Juristen, um dessen Theorie es sich handelt, die Regeln tatsächlich stützen. Dieser Rechtfertigungsprozeß muß den Juristen tief in die politische und moralische Theorie führen und über den Punkt hinaus, wo es richtig wäre zu sagen, daß ein ,Test' durch die,Herkunft' existiert, mit dem sich bestimmen läßt, welche von zwei verschiedenen Rechtfertigungen unserer politischen Institutionen die überlegene ist 4 6 ." Hier nimmt Dworkin eine Differenzierung vor, weil eine bestimmte Rechtfertigung in zweierlei Hinsicht „besser" sein kann als eine andere: „Sie könnte sich als besser passend erweisen in dem Sinn, daß bei ihr weniger Material als ,Fehler' aufgefaßt werden müßte, oder sie könnte sich als moralisch zwingendere Rechtfertigung erweisen, weil sie einer Erfassung der richtigen politischen Moral näherkommt 4 7 ." I n einem solchen Falle konkurrierender Rechtfertigungstheorien liefert die „moralisch stärkste" Theorie die beste Rechtfertigung, „obwohl sie mehr Entscheidungen als Fehler darstellt als die anderen" 48 . Darin liegt jedoch eine Schwachstelle in Dworkins Versuch, den Rechtspositivismus zu widerlegen 49 . Denn entweder rechtfertigt eine Theorie die bestehenden Institutionen, ohne sie zu kritisieren, d. h. sie paßt zum empi42
Alexy, Rechtstheorie Beiheft 1 (1979), 79/80. Alexy a.a.O. 44 Das geht aus seinen Ausführungen a.a.O. 63 hervor. Ein Beispiel wäre etwa GG 11 Satz 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar." 45 Dworkin , Bürgerrechte 122 f. 46 Dworkin , Bürgerrechte 124. 47 Dworkin , Bürgerrechte 543. Hervorhebung durch Verf. 48 Dworkin , Bürgerrechte 544. 49 Darauf macht Koch, ARSP Beiheft 37 (1990) 156f., aufmerksam. 43
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risch gegebenen Rechtsmaterial. Damit wäre jedoch lediglich (aber immerhin) eine Verbindung zwischen dem positiven Recht, wie es ist, und der Tiefenstruktur dieses positiven Rechts, wie es ist, dargetan. So läßt sich mit Anspruch auf Objektivität und ohne moralische Eigenwertung feststellen, daß den Normen des schweizerischen Rechts über die Vertragsfreiheit 50 und das Eigentum 5 1 das Prinzip der Privatautonomie zugrundeliegt. Oder: Den modernen Strafrechtsordnungen liegt das Schuldprinzip zugrunde 52 ; zum Rechtssystem des Nationalsozialismus gehörten das Rassen- und das Führerprinzip als Prinzipien positiven Rechts 53 . — Diese Beispiele zeigen, daß der Positivist in solchen Fällen durchaus ein Herkunftskriterium anführen kann: Prinzipien lassen sich nicht nur direkt in positivierten Rechtsvorschriften oder in der Gestalt von rationes decidendi in Präjudizien nachweisen, sondern häufig auch indirekt durch Abstraktionen aus positiven Rechtsnormen und Präjudizien 54 . Erst wenn dies nicht möglich ist, muß nach positivistischer Auffassung eine explizite moralische Eigen Wertung des Richters, die eine Ermessensentscheidung darstellt, Platz greifen. Die andere Möglichkeit besteht darin, daß eine Theorie die bestehenden Institutionen kritisch reflektiert, d. h. zum Teil in Frage stellt. Sie paßt also zum Teil nicht zum empirisch gegebenen Rechtsmaterial. I n einem solchen Falle ist aber gerade die positivistische Trennungsthese wieder sinnvoll, d. h. die Unterscheidung zwischen dem positiven Recht, wie es ist, und dem Recht, wie es auf Grund einer solchen rechtfertigenden Theorie sein sollte.
3. Die These von der allein richtigen Entscheidung auch in schwierigen Fällen [die sog. „right-answer thesis"] Die Gesetzespositivisten, vorab Bergbohm, vertraten, wie wir vorne gesehen haben 55 , das Dogma von der Lückenlosigkeit des im Gesetz zum Ausdruck kommenden Rechts. Diese Auffassung darf schon seit langem als überwunden gelten 56 . Dworkin entwickelt nun ebenfalls eine Art von 50
OR 19 I. BV 22ter und ZGB 641-729. 52 Vgl. Koch, ARSP Beiheft 37 (1990) 157, zum Strafrecht der BRD. 53 Alexy, ARSP Beiheft 37 (1990) 22. Das Beispiel nationalsozialistischer Prinzipien zeigt, daß auch Prinzipien von einem höheren Standpunkt aus als höchst „unmoralisch" betrachtet werden können, was gerade für, nicht gegen die Trennungsthese spricht. 54 Vgl. Weinberger, Gedächtnisschrift für René Marcie, 500 f. Koch, ARSP Beiheft 37 (1990) 157, spricht in solchen Fällen von einem Kriterium mittelbarer Herkunft. Nach MacCormick, Legal Reasoning 233, gehören Prinzipien dann zum Recht, wenn sie sich als Gründe für die nach der Erkennungsregel Harts identifizierten Regeln anführen lassen. Als Beispiel erwähnt er das Apartheid-Prinzip des südafrikanischen Rechts (a.a.O. 238 f.). 55 § 4 a. E. 56 Hinten § 24 C. 51
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3. Teil: Folgerungen
Lückenlosigkeitsdogma, freilich auf der Ebene der Prinzipien. Er vertritt nämlich die Auffassung, daß die Rechtsordnungen moderner Industriestaaten auch in schwierigen Fällen stets eine richtige Entscheidung beinhalten 57 . „ A u f alle praktischen Fragen gibt es im nahtlosen Gewebe unseres Rechts eine richtige A n t w o r t 5 8 . " Auch in schwierigen Fällen bleibe es Pflicht des Richters herauszufinden, „welches die Rechte der beiden Seiten sind; und nicht rückwirkend neue Rechte zu erfinden 59." Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden. Wenn zwei Prinzipien im Widerstreit liegen, hat der Richter eine Abwägung vorzunehmen. U m zu einer Entscheidung zu kommen, muß er eine Präferenzrelation festlegen, d. h. er muß festlegen, unter welchen Bedingungen das eine Prinzip dem anderen vorgehen soll. Und diese Festlegung kann nun nicht den Prinzipien selbst entnommen werden 60. Dabei handelt es sich um eine selbständige, von der Frage der Identifikation der maßgeblichen Prinzipien unabhängige Entscheidung. Zu Recht kritisiert Alexy: „Eine perfekte Theorie der Prinzipienrelationen wäre eine Theorie, die alle denkbaren Prinzipienrelationen einschließt. Diese Theorie enthielte die Lösung eines jeden Falles. Eine solche Theorie ist jedoch nicht nur faktisch nicht zu erstellen, sie wäre auch keine eigentliche Prinzipientheorie mehr, sondern ein itege/system, das alles erfaßt, also ein perfekter Kodifikationsvorschlag 61." Daß es eine allein richtige Antwort im Bereiche der Prinzipien nicht geben kann, liegt also gerade im Charakter der Prinzipien begründet, wie Dworkin ihn aufgezeigt hat 6 2 . Allerdings anerkennt Dworkin durchaus, daß Juristen in Prinzipienfragen verschiedener Meinung sein können 6 3 , ja er anerkennt sogar, daß, selbst wenn eine Antwort die richtige ist, es „keine Möglichkeit gibt zu beweisen, daß sie die richtige ist 6 4 ." Trotzdem beharrt er auf seiner These von der allein richtigen Antwort, weil eine Aussage auch dann wahr sein könne, wenn es kein Verfahren gebe, mit dem sich die Wahrheit der Aussage beweisen lasse 65 . Dies wird man hinzunehmen haben, doch fragt sich, ob es sinnvoll ist, eine Theorie auf so unsicherem Grund aufzubauen. Nehmen wir z. B. an, das Schweizerische Bundesgericht habe darüber zu befinden, ob ein bisher nicht anerkanntes Grundrecht in den Katalog der 57
Dworkin , Bürgerrechte 449 ff. Dworkin , Essays in Honour of H. L. A. Hart (Oxford 1977) 84. 59 Dworkin , Bürgerrechte 144. Hervorhebung durch Verf. 60 Vgl. Koch, ARSP Beiheft 37 (1990) 159. 61 Alexy, Rechtstheorie Beiheft 1 (1979) 84. Hervorhebung durch Verf. 62 Koch, ARSP Beiheft 37 (1990) 159. Auch Mac Cormick, Legal Reasoning 251, kommt zum Schluß, eine allein richtige Lösung könne es in schwierigen Fällen nicht geben. 63 Dworkin , Bürgerrechte 144 und 449 ff. 64 Dworkin a.a.O. 450. 65 Sinngemäß a.a.O. 145 und 453. 58
§ 22 Die Vorteile der positivistischen Trennungsthese
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ungeschriebenen Grundrechte aufzunehmen sei. Es ist anzunehmen, daß einige Staatsrechtslehrer eine Theorie entwickeln werden, die dieses umstrittene Grundrecht enthält; andere Staatsrechtslehrer werden eine gegenteilige Theorie entwickeln, derzufolge dieses Grundrecht in der Schweiz nicht existiert. Nach Dworkins Theorie müßte man annehmen, daß die einen Staatsrechtslehrer sich irren, die anderen dagegen nicht, wobei aber nicht festzustellen wäre, welche Seite recht hat. Nehmen wir weiter an, das Bundesgericht anerkenne in einer umstrittenen Beratung dieses neue Grundrecht. Würde damit feststehen, daß die Richter, die in der Minderheit geblieben sind, sich geirrt haben? Nein, denn auch jetzt bestünde die Möglichkeit, daß die Mehrheit sich geirrt hat und fälschlicherweise an die Existenz dieses Grundrechts „geglaubt" hat, während die Minderheit richtigerweise erkannt hat, daß es dieses Recht in der Schweiz gar nicht „gibt". Es fragt sich, ob eine solche Sicht der Dinge realistisch ist. Verkennt sie nicht die politische Funktion der Verfassungsrechtsprechung? Liegt hier nicht die positivistische Auffassung näher, derzufolge die Anerkennung eines neuen ungeschriebenen Grundrechtes ein gesetzgebungsähnlicher A k t ist und daß es folglich dieses Grundrecht vor der Anerkennung durch das Bundesgericht in der Schweiz nicht gibt? Ist es nicht eine alltägliche Erfahrung des Juristen, daß man in schwierigen Rechtsfragen in guten Treuen verschiedener Ansicht sein kann, ohne daß der einen oder anderen Seite ein eigentlicher „Irrtum" vorzuwerfen wäre? Erklärt diese Erfahrung nicht auf natürliche Weise die Meinungsverschiedenheiten der Staatsrechtslehrer und Richter? Hat nicht die Rechtsprechung in solchen Fällen die Funktion einer eigenständigen Rechtsquelle?
IV. Keine Widerlegung der positivistischen Trennungsthese durch das Prinzipienargument Zum Schluß sei die Frage aufgeworfen, ob es Dworkin gelungen ist, die positivistische Trennungsthese zu widerlegen. Als Anschauungsmaterial wähle ich das schweizerische Eherecht: Das Eherecht von 1907 enthielt eine gesetzliche Rollenverteilung, die „dem Mann den Vorrang und die Hauptverantwortung für die Gemeinschaft und der Frau eine Position relativer Unterordnung" zuteilte 66 . Dabei handelte es sich um ein Relikt eines patriarchalischen Familienrechts. I n der Gesellschaft dagegen vollzog sich allmählich ein Wandel in Richtung einer Gleichstellung von Mann und Frau. A m 22. September 1985 nahmen die Stimmbürger und -bürgerinnen mit 921 743 Ja gegen 762 619 Nein ein neues Eherecht an 6 7 , welches die Gleichstellung der Geschlechter weitgehend 66 67
C. Hegnauer, Grundriß des Eherechts (1. A. Bern 1979) 93. C. Hegnauer / P. Breitschmid, Grundriß des Eherechts (2. A. Bern 1987) 30.
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3. Teil: Folgerungen
verwirklicht und das am 1. Januar 1988 in Kraft getreten ist. Dieses Beispiel veranschaulicht, daß nach wie vor an der Trennungsthese in der Version einer Trennung zwischen dem positiven Recht, wie es ist, und dem Recht, wie es nach der positiven Moral, d. h. nach den in der Gesellschaft herrschenden moralischen Anschauungen, sein sollte, festgehalten werden k a n n 6 7 a . Es läßt sich doch — trotz der Kritik Dworkins — nach wie vor unterscheiden zwischen dem positiven Eherecht (mit dem patriarchalischen Prinzip als Hintergrundstruktur), wie es bis zum 31. Dezember 1987 galt, und dem Eherecht (mit dem Gleichberechtigungsprinzip als Hintergrundstruktur), wie es spätestens seit dem 22. September 1985 nach den herrschenden moralischen Anschauungen der Bevölkerung sein sollte. Diese Fassung der Trennungsthese ist also nicht widerlegt. Wie verhält es sich mit der Trennungsthese in der Version, daß zu unterscheiden sei zwischen dem Recht, wie es ist, und einem Naturrecht? Auch hier läßt sich doch nach wie vor unterscheiden etwa zwischen dem positiven Eherecht (mit dem Gleichberechtigungsprinzip als Hintergrundstruktur), in Kraft seit dem 1. Januar 1988, und dem Recht, wie es ζ. B. nach der aristotelischen Naturrechtslehre sein sollte. Nach Aristoteles sind überall in der Natur Herrschaftsverhältnisse anzutreffen. So herrsche im Menschen die Seele über den Leib und unter den lebendigen Wesen sei der Mensch Herrscher der Tiere. „Ferner verhält sich das männliche Geschlecht so zum weiblichen. Das männliche ist von Natur das bessere, das weibliche das schlechtere, weshalb ersteres herrscht und letzteres beherrscht wird 6 8 ." Auch diese Fassung der Trennungsthese scheint mir folglich nicht widerlegt zu sein. Worum es Dworkin beim Prinzipienargument geht, ist der Nachweis einer Verbindung zwischen dem positiven Recht und seiner Hintergrundstruktur, die weder mit einem Naturrecht 69 noch mit den herrschenden moralischen Anschauungen der Bevölkerung 70 identisch ist. Es ist vorne angedeutet worden 7 1 , was für eine Antwort man darauf vom positivistischen Standpunkt aus geben könnte. Die beiden herkömmllichen Fassungen der Trennungsthese beziehen sich jedenfalls nicht darauf und sind daher durch das Prinzipienargument nicht widerlegt 72 . 68
Aristoteles, Politik 1254 b. MacCormick, Rechtstheorie 11 (1980) 2 mit Nachweisen. 70 Dworkin , Bürgerrechte 218: „Die Moral der Gemeinschaft ist . . . nicht die Summe oder Verbindung oder Funktion der konkurrierenden Behauptungen ihrer Mitglieder." Er umschreibt diese „community morality" a.a.O. 215 als die politische Moral, „die von Gesetzen und Institutionen der Gemeinschaft vorausgesetzt wird". 71 Vorne § 22 D I I I 2. 72 Auch Geädert 227 ff. und Höffe 126 f. kommen zum Ergebnis, daß das Prinzipienargument — Geädert nennt es den „bedeutungstheoretischen Einwand" — zurückzuweisen sei. 69
§ 23 Die Trennungsthese und das „Hitler-Argument"
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§ 23 Die Trennungsthese und das „Hitler-Argument" 1 Wir gelangen nun zu jenem Einwand gegen die Trennungsthese, der als eigentlicher Kardinalbeweis gegen den Rechtspositivismus gilt und die unter dieser Bezeichnung laufenden rechtstheoretischen Positionen in offensichtlichen Mißkredit gebracht hat, erscheint doch der Positivist heute vielen Juristen „als ein minderwertiges Mitglied seiner Zunft" 2 . Der Einwand — Dreier 3 und Alexy 4 nennen ihn das „Unrechts-Argument" — tritt in zwei Versionen auf. Nach der einen, von Radbruch vertretenen Version, besagt er, daß es Einzelnormen gibt, „die in einem solchen Maße ungerecht sind, daß ihnen die Rechtsgeltung u n d / oder der Rechtscharakter abgesprochen werden müsse 5 ." Nach der anderen, von Höffe 6 und Alexy 7 vertretenen Version, besagt er, daß Noxmznsysteme, die bestimmte fundamentale Gerechtigkeitskriterien nicht erfüllen, keine Rechtsordnungen sind. Was auf diese Version zu erwidern wäre, ist vorne kurz dargelegt worden 8 . — Die Radbruchsche Version hat sich entzündet an den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus, weshalb wir den Einwand i. S. von pars pro toto als das „HitlerArgument" gegen den Rechtspositivismus bezeichnen wollen, wohl wissend, daß auch andere Beispiele als das Dritte Reich zu seiner Untermauerung dienen könnten. I n seiner empirischen Version besagt er, daß der Positivismus den deutschen Juristenstand wehrlos gemacht habe gegen Gesetze willkürlichen und verbrecherischen Inhalts des Dritten Reiches9. In seiner normativen Version besagt er, der Positivismus erschwere die Bewältigung sog. „gesetzlichen Unrechts" 10 .
1 Literatur (Auswahl): Alexy, ARSP Beiheft 37 (1990) 14-18; Bydlinski, Rechtsbegriff 211 f., 277ff.; Dreier, NJW 39 (1986) 891 f.; Fuller , Harv. L. R. 71 (1958) 630ff.; Geädert 217ff.; Hart, Recht und Moral, 39ff.; Hoerster, Einleitung 9 ff.; derselbe, NJW 39 (1986) 2480ff.; derselbe, Neue Hefte für Philosophie 17 (1979) 78 ff.; derselbe, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 2 (1971) 115 ff.; derselbe, ARSP Beiheft 37 (1990) 27 ff.; Kriele, Recht und praktische Vernunft, Kap. 5; derselbe, ÖZöR 16 (1966) 413 ff.; Kuhlen; Radbruch, Süddeutsche Juristen-Zeitung 1 (1946) 105 ff.; J. C. Wolf, Studia Philosophica 44 (1985) 34ff.; derselbe, Bemerkungen zu Walter Otts Beitrag, Studia Philosophica Supplementum 13 (1987) 203 ff. 2 Riezler, in: Naturrecht oder Rechtspositivismus? 239. 3 NJW 39 (1986) 891. 4 ARSP Beiheft 37 (1990) 14. 5 Dreier, NJW 39 (1986) 891. Vgl. zu Radbruchs Argumentation nachstehend A. 6 a.a.O. 158 f., 170 f. 7 ARSP Beiheft 37 (1990) 16 ff., bes. 17. 8 Vorne § 21 E und Ν 5. 9 Vgl. dazu hinten § 23 D. 10 Vgl. dazu hinten § 23 C.
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3. Teil: Folgerungen
Α. Die Formulierung des „Hitler-Arguments" durch Gustav Radbruch I n seinem berühmten Aufsatz „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht", aus dem wir hier die entscheidenden Stellen wörtlich wiedergeben, hat Radbruch folgendes ausgeführt: „Mittels zweier Grundsätze wußte der Nationalsozialismus seine Gefolgschaft, einerseits die Soldaten, andererseits die Juristen, an sich zu fesseln:,Befehl ist Befehl' und,Gesetz ist Gesetz4. Der Grundsatz ,Befehl ist Befehl' hat nie uneingeschränkt gegolten. Die Gehorsamspflicht hörte bei Befehlen zu verbrecherischen Zwecken des Befehlenden auf (MStGB § 47). Der Grundsatz ,Gesetz ist Gesetz' kannte dagegen keine Einschränkung. Er war der Ausdruck des positivistischen Rechtsdenkens, das durch viele Jahrzehnte fast unwidersprochen die deutschen Juristen beherrschte. Gesetzliches Unrecht war deshalb ebenso wie übergesetzliches Recht ein Widerspruch in sich 11 ." — „Der Positivismus hat in der Tat mit seiner Überzeugung ,Gesetz ist Gesetz' den deutschen Juristenstand wehrlos gemacht gegen Gesetze willkürlichen und verbrecherischen Inhaltes. Dabei ist der Positivismus gar nicht in der Lage, aus seiner Kraft die Geltung von Gesetzen zu begründen. Er glaubt, die Geltung eines Gesetzes schon damit erwiesen zu haben, daß es die Macht besessen hat, sich durchzusetzen. Aber auf Macht läßt sich vielleicht ein Müssen, aber niemals ein Sollen und Gelten gründen. Dieses läßt sich vielmehr nur gründen auf einen Wert, der dem Gesetz innewohnt 1 2 ." I n der Folge entwickelt Radbruch seine bekannte Formel vom „gesetzlichen Unrecht": „ . . . wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Satzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ,unrichtiges Recht', vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur. Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren denn als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinn nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen. A n diesem Maßstab gemessen sind ganze Partien des nationalsozialistischen Rechts niemals zur Würde geltenden Rechts gelangt 13 ." Radbruch fordert die „grundsätzliche Überwindung des Positivismus, der jegliche Abwehrfähigkeit gegen den Mißbrauch nationalsozialistischer Gesetzgebung entkräftete" 14 , zur Vorbeugung gegen die Wiederkehr eines solchen Unrechtsstaates. Seither ist das „Hitler-Argument" in ähnlicher Form noch von vielen bedeutenden Autoren vorgebracht worden, von denen hier nur E. von Hippel 15,H. Weinkauff 6, L. L. Fuller", M. Kriele 1*, R. Dreier 19 und E Bydlinski 20 ausdrücklich genannt seien. 11 12 13 14
Radbruch, Radbruch, Radbruch, Radbruch,
Süddeutsche Süddeutsche Süddeutsche Süddeutsche
Juristenzeitung Juristenzeitung Juristenzeitung Juristenzeitung
1 (1946) 1 (1946) 1 (1946) 1 (1946)
105, Spalte links. 107, Spalte links. 107, Spalte rechts. 107, Spalte rechts.
§ 23 Die Trennungsthese und das „Hitler-Argument"
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Wie man sieht, ist Radbruchs Formel nicht ganz präzis; nach der ersten Formulierung wäre das sog. nationalsozialistische „Recht" begrifflich gar kein Recht, nach der folgenden Ausdrucksweise zwar „Recht", aber nicht geltendes Recht, was einer Auffassung von der derogatorischen Kraft des Naturrechts entsprechen würde. Die Differenzierung hat jedoch, wie die folgenden Ausführungen zeigen werden, keine Bedeutung, weshalb darauf nicht näher eingetreten wird. Radbruchs Formel beeinflußte die Rechtsprechung der obersten deutschen Gerichte nachhaltig 21 ; ebenso löste sie ein gewaltiges Echo in der internationalen rechtsphilosophischen Diskussion aus, indem sie einerseits die Renaissance des Naturrechtsgedankens in den Fünfziger- und Sechzigerjahren einleitete 22 , andererseits aber auch gewichtige Gegenstimmen auf den Plan rief, insbesondere diejenigen H. L. A. Harts 23 und Norbert Hoersters 24. Es fragt sich nun, ob ein engerer Begriff des Rechts in der A r t , wie ihn ζ. B. Radbruch vertreten hat, einem weiteren positivistischen Begriff, wie ihn etwa Hart vertritt, vorzuziehen sei. Diese Frage wird seit Hart und mit bis heute zunehmender Deutlichkeit als praktische, pragmatische oder politische aufgefaßt 25 . „Die Terminologie ist nicht einheitlich, gemeint ist aber jeweils 15
Ε. v. Hippel, Die positivistische Staatslehre im Nürnberger Prozeß und nach dem Grundgesetz, in: Aktuelle Fragen aus modernem Recht und Rechtsgeschichte, Gedächtnisschrift für Rudolf Schmidt (Berlin 1966) 35 ff. 16 Was heißt das: „Positivismus als juristische Strategie"?, JZ 25 (1970 )55; derselbe, in: „Die deutsche Justiz und der Nationalsozialismus" 18 ff. 17 Harv. L. R. 71 (1958) 657 ff. 18 Kriele 124. 19 NJW 39 (1986) 891, Spalte rechts. 20 Rechtsbegriff 211 f., 277 ff., 285 ff. 21 Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts: 3 (1954) 58 ff. (119); 3 (1954) 225 ff. (232 f.); 6 (1957) 132 ff. (198); 23 (1968) 98 ff. (106). Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen: 3 (1951) 94 ff. (107); 16 (1955) 350 ff. (354). Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen: 2 (1952) 234 ff. (237 ff.); 2 (1952) 333 f. (334); 3 (1953) 357 ff. (362 f.). — Vgl. dazu auch die im Dissertationsdruck erschienene Arbeit von Björn Schumacher, Rezeption und Kritik der Radbruchschen Formel (Diss. Göttingen 1985) Teil 3. 22 Vgl. als Beispiel für viele den Sammelband von W. Maihofer (Hrsg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus? (2. A. Bad Homburg v. d. H. 1966). — Vgl. zur Rezeption und Kritik der Radbruchschen Formel in der Lehre Schumacher a.a.O. Teil 2. 23 Hart, Recht und Moral. 24 Hoerster, Einleitung; derselbe, NJW 39 (1986) 2480 ff. (dieser Aufsatz stellt eine Entgegnung dar zu R. Dreier, NJW 39 (1986) 890 ff.); derselbe, Neue Hefte für Philosophie 17 (1979) 77 ff.; derselbe, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 2 (1971) 115 ff. 25 Vgl. vorne § 21 A; Hart, Concept of Law 203-207; Begriff 287-292; Kuhlen 77; Kriele, ÖZöR 16 (1966) 413 ff., bes. 422 und 426; Bydlinski, Rechtsbegriff 285; Geddert 41 Ν43, 225 ff.; Hoerster, Neue Hefte für Philosophie 17 (1979) 78, 83 f.; derselbe, NJW 39 (1986) 2481.
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3. Teil: Folgerungen
das gleiche. Man diskutiert über einen Aspekt des Verhältnisses der Begriffe ,Recht' und ,Moral', und zwar so, daß man fragt, welchen Sprachgebrauch man vernünftigerweise wählen sollte 26 ." Als entscheidend wird angesehen, „wie sich die unterschiedlichen Sprachgebräuche in verschiedenen Kontexten praktisch bewähren. Diese ,Bewährungsprobe' besteht darin, daß man zunächst fragt, welche Konsequenzen die Zugrundelegung des einen oder des anderen Sprachgebrauchs im jeweiligen Zusammenhang hätte, sodann diese Folgen als mehr oder weniger erwünscht bewertet und schließlich die Verwendungsweise wählt, deren Konsequenzen denen der Alternative vorgezogen werden 27 ." B. Das unmenschliche Gesetz im Lichte der verschiedenen positivistischen Theorien Die Ausführungen Radbruchs sind, wie man sieht, ausdrücklich nur gegen den Gesetzespositivismus gerichtet. Doch fragt es sich, ob man sie sinngemäß nicht auch gegen andere positivistische Positionen ausdehnen könnte. Wir wollen also zunächst prüfen, welche Arten des Rechtspositivismus überhaupt diesem Vorwurf ausgesetzt sind. Als Beispiel wählen wir die „Verordnung über die Strafrechtspflege gegen Polen und Juden in den eingegliederten Ostgebieten" vom 4. Dezember 1941 28 . I n dieser Verordnung wird u. a. in I Abs. 3 die Todesstrafe gegen Polen und Juden angedroht, „wenn sie durch gehörige oder ketzerische Betätigung eine deutschfeindliche Gesinnung bekunden" (insbesondere durch „deutschfeindliche Äußerungen", durch das Abreißen oder Beschädigen öffentlicher Anschläge deutscher Behörden oder Dienststellen oder ganz allgemein, „wenn sie durch ihr sonstiges Verhalten das Ansehen oder das Wohl des Deutschen Reiches oder des deutschen Volkes herabsetzen oder schädigen"). Es soll nun untersucht werden, nach welchen positivistischen Theorien ein unmenschliches Gesetz wie diese Verordnung als „Recht" anzusprechen ist 2 9 . Die erwähnte Verordnung ist: 1. „Recht" i. S. von Austins „Analytical jurisprudence". Denn nach Austin würde es sich hier um einen Befehl eines machthabenden Souveräns gegenüber den Machtunterworfenen handeln, womit sein Begriff des Rechts erfüllt wäre. Dies geht auch deutlich aus dem vorne angeführten Beispiel Austins hervor, wonach auch dann von „Recht" zu sprechen ist, 26
Kuhlen 77. Kuhlen lim. 28 Reichsgesetzblatt I 759, zit. nach U. Brodersen (Hrsg.), Gesetze des NS-Staates (Bad Homburg v. d. H. / Berlin / Zürich 1968)141 ff. 29 Unter „Gesetz" ist in diesem Zusammenhang nicht ein formelles, sondern ein Gesetz im materiellen Sinn zu verstehen. 27
§ 23 Die Trennungsthese und das „Hitler-Argument"
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wenn der Souverän eine harmlose oder gar nützliche Tat mit Todesstrafe bedroht 3 0 . 2. „Recht" i. S. des Gesetzespositivismus. 3. „Recht" i. S. von Kelsens Reiner Rechtslehre. Denn es handelt sich hier natürlich um eine von der sozialen Autorität gesetzte, im großen und ganzen wirksame Zwangsnorm. Weil die nationalsozialistische Gewaltherrschaft sich innerhalb des Reiches als tatsächlich wirksam erwies, ist hier nämlich die hypothetische Grundnorm vorauszusetzen 31 , derzufolge der von den Nationalsozialisten gemeinte subjektive Sinn als objektiver, als objektives Sollen gedeutet werden kann 3 2 . 4. Kein Recht i. S. der individuellen Anerkennungstheorien. Denn es ist nicht anzunehmen, daß die Opfer eines solchen Erlasses diesem zugestimmt haben 33 . 5. Vermutlich kein Recht i. S. der generellen Anerkennungstheorie in jener Variante, die die Zustimmung der Mehrheit des Volkes zu einzelnen Rechtssätzen fordert 3 4 . Eine ausdrückliche Anerkennung kommt deshalb nicht in Frage, weil von der Möglichkeit der Volksbefragung, die gemäß § 1 des Gesetzes über Volksabstimmung vom 14. Juli 1933 bestand, während der Dauer des Dritten Reiches insgesamt nur dreimal 3 5 , in diesem Falle jedoch nicht Gebrauch gemacht worden war. Ob die Verordnung einer stillschweigenden Billigung des Volkes teilhaftig geworden war, hätte man theoretisch damals durch Repräsentativbefragungen feststellen können (wenn dies in einem totalitären Regime möglich wäre!); heute kann man darüber natürlich nichts mehr Gewisses aussagen, doch ist die Frage wohl zu verneinen. Immerhin bleibt zu betonen, daß das unmenschliche Gesetz auch nach der generellen Anerkennungstheorie dann „Recht" ist, wenn das Rechtsbewußtsein der Mehrheit eines Volkes so pervertiert ist, daß das Gesetz allgemein gebilligt wird. 6. Kein (gesellschaftliches) Recht i. S. von Ehrlichs Gefühlstheorie: Denn es ist nicht anzunehmen, daß so harmlose „Vergehen" wie die in der 30
Vorne § 3 bei Ν 18. Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre 49, zum Problem der Räuberbande. 32 Es ist wohl nicht überflüssig, hier daran zu erinnern, daß diese Deutung nach Kelsen nicht eine zwingende ist; es bleibt nach der Reinen Rechtslehre jedermann unbenommen, dort, wo die Nationalsozialisten von „Recht" reden, nur nackte Gewalt zu sehen! Vgl. vorne §5 A bei Ν 18. 33 Dies gilt natürlich nur, wenn man die individuelle Anerkennungstheorie in ihrer strengsten Fassung, d. h. wörtlich nimmt. Wegen ihrer offensichtlichen Unhaltbarkeit hat sie in dieser Reinheit niemand vertreten. Bierling hilft sich mit seiner Lehre von der „indirekten Anerkennung", während Laun beim Geltungsproblem auf eine generelle Anerkennungstheorie übergeht. 34 So bei Laun, vgl. vorne § 6 A II. 35 Brodersen (zit. § 23 Ν 28) 14. 31
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3. Teil: Folgerungen
Verordnung mit dem Tode bedrohten, geeignet gewesen sind, das Gefühl der Empörung bei den Rechtsgenossen hervorzurufen, und daß diese Verordnung vom Bewußtsein einer „opinio necessitatis" getragen gewesen ist. Die Verordnung fällt also nicht unter Ehrlichs Begriff des gesellschaftlichen Rechts. Dagegen wäre ihr Rechtscharakter zu bejahen, wenn man von Ehrlichs Begriff des „lebenden" Rechts ausgeht: Zum lebenden Recht gehört bei Ehrlich, wie wir gesehen haben, ja auch der Normenkomplex des staatlichen Rechts. Letzteres ist in seiner Wirksamkeit vom staatlichen Vollstreckungszwang abhängig (der in unserem Beispiel zweifellos vorgelegen hat) und kann durchaus in Gegensatz zu einem großen Teil der Gesellschaft treten 36 . 7. „Recht" i. S. der Anerkennungstheorien Bierlings, Merkels, Belings und Nawiaskys. Denn wenn nur die Rechtsordnung als Ganzes „anerkannt" werden muß (Bierling, Merkel) oder aber die Anerkennung nur durch die „tonangebende Schicht" (im Beispiel also durch die Nationalsozialisten) erfolgen muß (.Beling, Nawiasky), dann war die nationalsozialistische Zwangsordnung eine Rechtsordnung und die erwähnte Norm der Verordnung eine Rechtsnorm. 8. „Recht" i. S. des skandinavischen Rechtsrealismus. Denn für die skandinavischen Rechtsrealisten ist das Recht der Vorstellungskomplex, der im Gesetzgebungs- und Rechtsprechungsmaterial zum Ausdruck kommt, bzw. bei Alf Ross die normative Ideologie, die sich im Entscheidungsverhalten der Richter manifestiert. Folglich sind die nationalsozialistischen Normvorstellungen, die sich in der erwähnten Verordnung bzw. im Verhalten des diese Verordnung anwendenden Rechtsstabes geoffenbart haben, als „rechtliche" zu qualifizieren. 9. „Recht" i. S. des amerikanischen Rechtsrealismus und der modernen soziologischen Zwangstheorie, die beide entscheidend auf das Verhalten des Rechtsstabes abstellen. Denn die erwähnte Norm war eine „real rule", da sie eine Entsprechung im Verhalten des Rechtsstabes gefunden hatte: Der Rechtsstab war bereit gewesen, sie anzuwenden und durchzusetzen. 10. „Recht" i. S. von Harts Theorie: Denn bei Hart muß sich die „Anerkennung" nur auf die grundlegende Sekundärregel beziehen, die die Geltungskriterien des Systems enthält; ferner müssen nur die Amtspersonen diese Sekundärregel anerkennen, während es für die gewöhnlichen Bürger genügt, daß sie die Normen im großen und ganzen befolgen. Alle diese Voraussetzungen waren im Hitler-Reich zweifellos erfüllt. Daß Hart hier den Rechtscharakter nicht verneinen würde, geht auch deutlich aus seinem Sklavenhalter-Beispiel hervor: Wenn eine Zwangsord36
Rehbinder, Eugen Ehrlich 57 f.
§ 23 Die Trennungsthese und das „Hitler-Argument"
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nung auch nur einer kleinen Gruppe von Sklavenhaltern Vorteile gewährt, ist sie nach Hart eine Rechtsordnung 37 . 11. „Recht" i. S. des Institutionalistischen Rechtspositivismus MacCormicks und Weinbergers. Denn zu einem Rechtssystem gehören nach dem IRP nicht nur Rechtsprinzipien, der teleologische Hintergrund des Rechts (ζ. B. Gerechtigkeitspostulate) sowie die juristische Doktrin, sondern in erster Linie natürlich die explizit gegebenen Primär- und Sekundärregeln i. S. Harts (bzw. Verhaltens- und Ermächtigungsnormen). I m vorliegenden Fall haben wir es mit einer explizit gesetzten Primärregel bzw. einer Verhaltensnorm zu tun, die daher als Rechtsnorm zu qualifizieren ist. Aus dieser Zusammenstellung geht hervor, daß nicht alle Rechtspositivismen dem Vorwurf des „Hitler-Argumentes" ausgesetzt sind. Unter diesem Aspekt betrachtet, schneiden die individuelle Anerkennungstheorie, die Gefühlstheorie Ehrlichs sowie die erwähnte Variante der generellen Anerkennungstheorie am besten ab; doch sei gleich hier vorsorglich betont, daß gerade das Gegenteil der Fall ist, wenn man diese Theorien auf andere Problemkreise ansetzt (hinten § 24 E., § 24 F.). Die folgenden Ausführungen beschäftigen sich also nur mit jenen Varianten des Rechtspositivismus, nach denen auch das unmenschliche Gesetz als „Recht" zu betrachten ist.
C. Der Streit um die Trennungsthese im Hinblick auf das unmenschliche Gesetz Nehmen wir an, der Jurist^ sei ein Naturrechtler Radbruchscher Prägung. Als Richter sehe er sich (in einem Unrechtsstaat oder nach dem Zusammenbruch eines Unrechtsstaates) vor das Dilemma gestellt, ein unmenschliches Gesetz wie die erwähnte Verordnung anwenden zu müssen. Da er von dem Radbruchschen Begriff des Rechts ausgeht, wird er zum Schluß kommen, daß hier ein Fall eines „gesetzlichen Unrechts" vorliegt und daß folglich für ihn — richtig betrachtet — gar keine Rechtspflicht zur Anwendung der fraglichen Norm besteht. Er wird deshalb die Anwendung des Gesetzes verweigern (in einem Unrechtsstaat allerdings nur, wenn er das mögliche Martyrium nicht fürchtet), und zwar auf Grund juristischer Überlegungen. Der Jurist Β sei ein Positivist /falscher Prägung. Auch er sehe sich in dieselbe Lage versetzt. Unter Zugrundelegung der Hartschzn Konzeption 37 Vorne § 12 bei Ν 31. Kriele s Versuch, die Theorie Harts dahin umzudeuten, daß in einem solchen Fall der „internal aspect", die Anerkennung, fehle, kann sich daher — wie dieses Beispiel beweist — nicht auf Hart selbst stützen, zeigt aber einen bedeutsamen Ansatz für eine Weiterentwicklung der Hartschcn Konzeption auf. Vgl. Kriele, ÖZöR 16 (1966) 425 Ν 20.
1 Ott, 2. Aufl.
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3. Teil: Folgerungen
wird er zum Schluß kommen, daß das Gesetz als „Recht" zu qualifizieren ist und er folglich —juristisch gesehen — verpflichtet ist, es auch anzuwenden. Andererseits weiß er aber, „daß es Recht jeden Grades von Ungerechtigkeit oder Dummheit gibt" 3 8 und daß mit der Feststellung einer Rechtspflicht noch nicht über die moralisch-sittliche Frage entschieden ist, ob man dem Gesetz wirklich gehorchen soll. Er wird deshalb gleichfalls die Anwendung des Gesetzes verweigern (in einem Unrechtsstaat freilich nur, falls auch er sich nicht vor den möglichen Folgen fürchtet), und zwar unter Berufung auf moralisch-sittliche Überlegungen. Man sieht, beide Positionen bieten für die Problematik mit dem unmenschlichen Gesetz eine Lösung an, sowohl diejenige, die von einem inhaltlichen Begriff des Rechts ausgeht, wie auch die positivistische 39 . Für den Positivisten ist der Richter an das positive Recht gebunden und damit im Extremfall —juristisch betrachtet — verpflichtet, auch das absolut unsittliche Gesetz anzuwenden, nicht aber sittlich betrachtet 40 . Vom sittlichen Standpunkt aus kann er sehr wohl die Anwendung eines unmenschlichen Gesetzes verweigern. Für die Anhänger des inhaltlichen Begriffs des Rechts entsteht dagegen in dieser Situation gar nicht erst eine Rechtspflicht. Es fragt sich nun, welcher dieser beiden „Entwürfe" für die Behandlung dieser unmittelbar praktischen Fragen der fruchtbarere ist. Zunächst ist hier nur klar, daß sich das Problem einer Anwendung der Radbruchschen Formel, wie aus Radbruchs Ausführungen selbst hervorgeht, erst dann stellt, wenn man mit einer lex iniustissima konfrontiert wird: „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als,unrichtiges Recht 4 der Gerechtigkeit zu weichen hat 4 1 ." I m Normalfall gibt es also auch bei ungerechten Gesetzen eine rechtliche und moralische Pflicht zum Gehorsam. So kommt etwa die Anwendung der Radbruchschen Formel einem ungerechten Steuergesetz gegenüber nicht in Frage, solange nicht jener Kernbereich tangiert ist, den die Radbruchscht Formel anvisiert 42 . Was für Argumente werden nun gegen die Radbruchscht Formel im einzelnen vorgebracht und inwiefern sind sie stichhaltig 43 ? 38
Hart, Recht und Moral 53. gl. M. Geddert 222. 40 Hoerster, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 2 (1971) 128. 41 Radbruch, Süddeutsche Juristen-Zeitung 1 (1946) 107. Hervorhebung durch Verf. 42 Das wäre etwa nach Bydlinski, Rechtsbegriff 212, der Fall bei Einkommenssteuerund Beitragssätzen von zusammen mehr als 100% vom Einkommen. 43 Die Argumente gegen die Radbruchsche Formel sind gleichzeitig Argumente für die positivistische Trennungsthese und umgekehrt. 39
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I. Das Argument der Naivität Ein erstes Argument Harts , der den moralischen Ernst des leidenschaftlichen Aufrufs Radbruchs anerkennt, geht dahin, dessen Auffassung sei naiv 4 4 . Nach Hoerster, der den Hartschzn Gedanken präziser formuliert, nimmt Radbruch offenbar an, rechtstheoretische Definitionen könnten die Moral von Gesetzgeber und Bürger bessern 45. Hinter Radbruchs Darstellung steckt nach Hart jedoch noch mehr als bloße Naivität. Alles, was Radbruch sage, beruhe auf dem MißVerständnis, daß mit der Anerkennung einer Norm als einer Rechtsnorm auch schon die moralische Frage: „Soll man dieser Rechtsnorm Gehorsam leisten?" entschieden sei 46 . Dem Argument Hoersters ist sicher in bezug auf die Bürger zuzustimmen. Denn die Bürger pflegen rechtstheoretische Definitionen nicht zu kennen; also können sie durch diese auch nicht beeinflußt werden. I m Normalfall trifft das Argument Hoersters auch auf den Gesetzgeber zu. Denn auch die Politiker pflegen normalerweise nicht auf der Höhe der Rechtsphilosophie ihrer Zeit zu stehen 47 . Wie verhält es sich aber mit den Gerichten? Hier ist m. E. zu unterscheiden zwischen dem Richter in einem Unrechtsstaat und dem Richter nach dem Zusammenbruch eines Unrechtsstaates: 1. Der Richter im Unrechtsstaat Für einen Richter in einem Unrechtsstaat ergibt sich kein wesentlicher Unterschied aus der //arischen und der Radbruchschen Position. Beide könnten zwar an sich die Anwendung eines Terrorgesetzes verweigern — der eine unter Berufung auf moralische Gründe, der andere unter Berufung auf juristische Gründe. Beide Strategien erscheinen jedoch unter den Bedingungen eines Unrechtsstaates als unrealistisch. Denn „richterlicher Widerstand in bestehenden (,etablierten') totalitären Systemen hat — für sich betrachtet — keine Aussicht, eine Systemveränderung zu bewirken. Selbst die kollektive Dienstverweigerung von Richtern würde im Zweifel nur zu ihrer Verdrängung aus dem A m t führen 48 ." I n einem totalitären Unrechtsstaat verbleiben einem Richter, der gegen das Regime aufbegehrt, nur zwei Möglichkeiten: Entweder seinen Widerstand unter eifriger Zitierung der ideologischen 44
Hart, Recht und Moral 42. Hoerster, Einleitung 9. 46 Hart, Recht und Moral 42. 47 Eine Ausnahme stellen die Einflüsse von Pufendorf (hauptsächlich über den Ipswicher Pfarrer John Wise) und Locke auf die Männer der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung dar. Vgl. dazu H. Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit (4. A. Göttingen 1980) 142 ff. 48 So lautet die 22. Lehre, die Rüthers, Entartetes Recht 216, aus der NS-Zeit zieht. 45
1*
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3. Teil: Folgerungen
Phrasen des Systems zu tarnen und „sich im Rahmen einer formal angepaßten Judikatur verdeckte Freiräume gegenläufiger richterlicher Eigen Wertung vorzubehalten" 49 oder seinen Dienst zu quittieren und den Platz einem anderen zu überlassen, der gewiß weniger Skrupel hätte. Beide Wege gefährden aber nicht den Bestand des Systems. Richter verfügen auch, anders als Generäle, Polizeichefs, Industrielle oder Gewerkschaftsführer, über keine reale Machtbasis 50 , von der aus ein Kampf gegen das totalitäre Unrechtssystem mit Aussicht auf Erfolg geführt werden könnte. Zu berücksichtigen ist ferner, daß in einem totalitären System die Gehorsamsverweigerung nicht bloße Zivilcourage verlangt, sondern Martyriumsbereitschaft 51, und die kann man nicht generell von Menschen fordern, auch nicht von Richtern. — Wenn Radbruch gemeint haben sollte, eine Konzeption wie die seinige hätte den deutschen Juristenstand wehrhaft gemacht „gegen Gesetze willkürlichen und verbrecherischen Inhalts" 5 2 , dann wäre diese Ansicht in der Tat als naiv zu qualifizieren. Denn sind solche Gesetze erst einmal erlassen, hat die Justiz keine Chance mehr, etwas Wirksames dagegen zu unternehmen. Der Kampf mit juristischen Mitteln muß, soll er Aussicht auf Erfolg haben, vor der „Machtergreifung" geführt werden 53 . 2. Der Richter nach dem Zusammenbruch des Unrechtsstaates Der Unterschied zwischen den beiden Positionen zeigt sich aber bei dem Richter, der nicht selbst Organ des Unrechtsstaates ist, sondern — wie in der Bundesrepublik nach dem Kriege und jetzt wieder nach dem Zusammenbruch der D D R — nachträglich vor dem Dilemma steht, eine unmenschliche Norm des Unrechtsstaates anwenden zu müssen. Hoerster versucht, die völlige Harmlosigkeit und sprachliche Angemessenheit der positivistischen Ausdrucksweise an folgendem Beispiel zu verdeutlichen: „Ein Boxer sollte sportlich betrachtet (d.h. nach den derzeit gültigen Regeln seines Fachs) versuchen, seinen Gegner k. o. zu schlagen. Sittlich betrachtet jedoch sollte er dieses etwa dann nicht tun, wenn er weiß, daß ein Niederschlag seinen Gegner physisch oder psychisch ruinieren wird. Warum sollten wir in einer solchen Situation aufhören zu sagen..., es sei die sportliche Pflicht des Mannes, nach Möglichkeit seinen Gegner k. o. zu schlagen? Worin liegt die Gefahr eines solchen Sprachgebrauches, wenn wir doch gleichzeitig sagen, er habe die vorrangige sittliche Pflicht, dieses nicht zu tun 5 4 ?" 49 50 51 52 53 54
Rüthers a.a.O. 216. Rüthers, Entartetes Recht 215. Kriele 123. Vgl. vorne § 23 A bei Ν 12. Rüthers, Entartetes Recht 215. Hoerster, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 2 (1971) 128.
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Die Antwort auf diese Frage liegt m. E. auf der Hand: Weil kaum je ein Boxer sich um die sittliche Pflicht, den Gegner nicht zu schädigen, kümmern wird, solange er weiß, daß es seine sportliche Pflicht ist, diesen k. o. zu schlagen. Das beweisen die zahlreichen Fälle, wo Boxer infolge ihrer im Ring erlittenen Verletzungen gestorben sind oder dauernde schwere Schädigungen davongetragen haben. Dieser bedauernswerte Zustand wäre nur dadurch zu ändern, daß der Boxer nicht nur sittlich, sondern auch sportlich verpflichtet wäre, den Gegner nicht zu ruinieren, was sich theoretisch auf zwei Wegen erreichen ließe: Entweder, indem man die derzeit gültigen BoxRegeln ändert; oder, indem man von einer anderen sprachlichen Festsetzung ausgeht, etwa in der Weise, daß in den Begriff der sportlichen Pflicht der Vorbehalt des „neminem laedere" involviert würde. Praktisch gangbar ist in diesem Falle nur die erste Variante, weil die zweite in Sportlerkreisen kaum verstanden würde. Analog verhält es sich beim Problem des unmenschlichen Gesetzes: Ein Richter wird eher bereit sein, die Anwendung des Gesetzes zu verweigern, wenn er weiß, daß er zu dieser Anwendung auch rechtlich nicht verpflichtet ist, als wenn ihn eine solche Rechtspflicht trifft und er „bloß" moralische Gründe für seine Weigerung vorbringen kann. Das gesteht Hoerster zu 5 5 . Die Richter der zivilisierten Staaten sollten unter Hinweis auf das juristische Schrifttum, nicht bloß aus moralphilosophischen und moraltheologischen Gründen, die Anwendung unmenschlicher Anordnungen verweigern dürfen. Rechtstheoretische Definitionen können zwar normalerweise nicht die Moral von Gesetzgeber oder Bürger bessern, sie können aber sicher die Entscheidungspraxis der Gerichte beeinflussen, sofern sie als herrschende Meinung im juristischen Schrifttum anerkannt sind. — Daß unmenschliche Anordnungen von einem soziologischen, historischen oder ethnologischen Standpunkt aus als „Recht" qualifiziert werden können (weil eben der Rechtssoziologe, -historiker und -ethnologe mit je verschiedenen Begriffen des Rechts arbeiten müssen, sollen ihre Forschungen fruchtbar sein 56 ), schließt nicht aus, daß man ihnen den Rechtscharakter abspricht, wenn es um die Frage des vom Richter eines modernen zivilisierten Staates anzuwendenden Rechtes geht. — Schon allein aus diesem Grunde rechtfertigt es sich, von einem engeren, mit minimalen Inhalten gefüllten Begriff des Rechts in diesem Zusammenhang auszugehen. Eine solche Festsetzung hätte den Vorteil, daß wenigstens die elementarsten Grundsätze einer kritischen Moral in den Zuständigkeitsbereich der Gerichte fallen würden, weil sie dann eben gleichzeitig Rechtsgrundsätze wären. Gutes Anschauungsmaterial dafür bietet die Verwendung der Radbruchschen Formel in der deutschen Nachkriegsrechtsprechung. Betrachten wir einen dieser Fälle, dem der folgende Sachverhalt zugrunde lag 5 7 : 55 56 57
NJW 39 (1986) 2482, Spalte links und JZ 34 (1979) 824. Vorne § 22 A. BGHZ 16 (1955) 350 ff. (354).
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3. Teil: Folgerungen
Die Klägerin, eine Jüdin, war im Jahre 1939 in die Schweiz ausgewandert. Dadurch verlor sie nach §2 der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941 (RGBl. I, S. 722 ff.) die deutsche Staatsangehörigkeit. Diese Ausbürgerung hatte nach § 3 Abs. 1 der genannten VO zur Folge, daß das Vermögen der Betroffenen dem Reich verfiel. Sie hinterließ bei der beklagten Bank ein Depot mit Wertpapieren. Dieses Depot blieb während der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft und auch späterhin unverändert auf den Namen der Klägerin in den Büchern der Beklagten eingetragen. Nach Kriegsende verlegte die Klägerin ihren Wohnsitz in die Bundesrepublik zurück und verlangte die Herausgabe der in dem Depot befindlichen Wertpapiere. Der Große Senat für Zivilsachen des Bundesgerichtshofes sprach „der zwar formal in das Gewand eines Gesetzes gekleideten Verfallserklärung" den Charakter einer Rechtsnorm ab 5 8 . Dies unter anderem wegen Verletzung des „übergesetzlichen Gleichheitssatzes", der auch für den Verfassungsgesetzgeber schlechthin undurchbrechbar sei. Der Verstoß dagegen ergebe sich eindeutig daraus, „daß der Vermögensverfall . . . nur über eine allein nach rassischen Gesichtspunkten abgegrenzte Personengruppe" verhängt worden sei 59 . Die Klägerin war daher Eigentümerin und Besitzerin der von der Verfallserklärung betroffenen Wertpapiere geblieben und deshalb nicht angewiesen auf die bereits verwirkten Ansprüche nach der Rückerstattungsgesetzgebung. Nach der //arischen Theorie wäre diese Klage abzuweisen gewesen. Die Klägerin hätte durch die juristisch zwar wirksame, aber moralisch zu mißbilligende Verfallserklärung ihr Eigentum und den Besitz an den Wertpapieren verloren. Und der Richter in der Bundesrepublik hätte ihr sagen müssen: „Sie haben zwar einen moralischen Anspruch auf die Wertpapiere, aber aus juristischen Gründen muß ich Ihre Klage abweisen 60 ." Ein solches 58 59
a.a.O. 353. a.a.O. 353.
60 Hier fragt es sich, ob der Richter i. S. der Theorie Harts nicht auch hätte sagen können: „Aus juristischen Gründen müßte ich Ihre Klage abweisen, aber aus moralischen Gründen heiße ich sie trotzdem gut, weil die 11. VO zu ungerecht ist, um angewendet zu werden." M. a. W.: Dürfte ein Richter nach Hart aus moralischen Gründen die rechtlich falsche Lösung wählen? Wie die Behandlung des Denunziationsfalles durch Hart (vgl. hinten § 23 C I V ) zeigt, ist dies nicht der Fall. Denn Hart erklärt dort nicht, der Richter könne die positiv-rechtliche Befugnis der Frau zur Denunziation aus moralischen Gründen einfach unbeachtet lassen und sie verurteilen, sondern er sagt, man müsse entweder die Frau straflos laufen lassen oder sie auf Grund eines unverhüllt rückwirkenden Gesetzes bestrafen. D. h. Hart läßt dem Richter nicht die Freiheit, eine positiv-rechtliche Befugnis oder Norm aus moralischen Gründen einfach zu ignorieren, wenn er sich dazu entschließt, ein Urteil zu schreiben. Der Richter könnte höchstens aus moralischen Gründen die Anwendung des Gesetzes verweigern und von seinem Amt zurücktreten. Es trifft daher nur für einen idealtypischen Rechtspositivismus zu, wenn Geädert 223 schreibt, man würde immer zu dem Ergebnis kommen, „daß Naturrechtler und Rechtspositivist sich
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Ergebnis wäre aber stoßend gewesen. Das sachgerechte Ergebnis, nämlich die Gutheißung der Klage, läßt sich nur dadurch erreichen, daß man die §§ 2 und 3 der 11. VO zum Reichsbürgergesetz für null und nichtig erklärt und die Kriterien, di e Hart in moralphilosophischen Kategorien diskutieren will, mit der Radbruchschcn Formel in den Bereich des Juristischen hineinzieht 61 . Damit ermöglicht man es dem Gericht, diese Kriterien seiner Entscheidung zugrunde zu legen. Ein Gericht muß einen Rechtsstreit mit juristischen Gründen entscheiden können, nicht mit moral-philosophischen. Ein Entscheid nach Moralprinzipien kommt höchstens dann in Frage, wenn sie aufgrund eines Verweises des positiven Rechts in dieses inkorporiert sind 6 2 oder wenn sich Auslegungs- bzw. Lückenfüllungsprobleme stellen. Hoerster hat die Frage aufgeworfen: „Warum sollen wir uns weigern, eine staatliche Anordnung, die — etwa wegen ihrer eklatanten Ungerechtigkeit — unseres Erachtens nicht befolgt werden sollte, als geltendes Recht zu bezeichnen 63 ?" Die Antwort, die hier im Sinne eines Zwischenergebnisses gegeben werden soll, lautet: Weil wir dann gewisse Zivilrechtsfälle befriedigender lösen können. II. Das Argument der Verwirrung Ein weiteres Argument gegen die Radbruchsche Formel lautet, daß sie Verwirrung stifte. Hart schreibt: „Denn wenn wir uns Radbruchs Ansicht anschließen und mit ihm und den deutschen Gerichten unseren Protest gegen verwerfliche Gesetze in die Behauptung kleiden, daß gewisse Normen wegen ihrer moralischen Unhaltbarkeit nicht Recht sein können, so bringen wir Verwirrung in eine der stärksten, weil einfachsten Formen moralischer Kritik. Wenn wir uns die deutliche Sprache der Utilitaristen zu eigen machen, sagen wir, daß positive Gesetze Recht sein mögen, aber zu verwerfliches Recht, um Gehorsam zu verdienen. Das ist eine moralische Verurteilung, die jeder versteht und die unmittelbar und unübersehbar moralische Beachtung beansprucht. Machen wir aber unseren Protest in der Form über das gebotene Verhalten einigen werden, wenn sie nur darin übereinstimmen, was die Moral im jeweiligen Fall vorschreibt." 61 Hier könnte man allerdings einwenden, daß es Sache des Gesetzgebers gewesen wäre, nach dem Kriege rückwirkend die 11. VO aufzuheben und daß das stoßende Ergebnis auf einen Mangel der Gesetzgebung, nicht der //arischen Theorie, zurückzuführen sei. Dem wäre aber entgegenzuhalten, daß die Gerichte seit jeher immer wieder eine Konstellation vorfinden, wo der Gesetzgeber untätig geblieben ist. Gerade in solchen Situationen müssen sie eine Hilfe von der Rechtslehre her erhalten, so daß es m. E. eben doch ein Mangel der /far/schen Theorie ist, daß sie diese Hilfe nicht leistet. Anders verhält es sich freilich in Straffällen. Vgl. dazu hinten §23 CIV. 62 Vgl. Hoerster, NJW 39 (1986), 2481. 63 Neue Hefte für Philosophie 17 (1979) 82.
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geltend, diese verwerflichen Dinge seien kein Recht, so behaupten wir etwas, das viele Leute nicht glauben und das — wenn sie überhaupt bereit sind, darüber nachzudenken — eine ganze Fülle philosophischer Streitfragen auf den Plan rufen dürfte, bevor man es akzeptieren kann . . . Wenn uns die reichen Mittel klarer Sprache zur Verfügung stehen, dürfen wir die moralische Kritik an Normen nicht als Thesen einer anfechtbaren Philosophie darbieten 64 ." Hoerster schließt sich dem an 6 5 und bringt folgendes Beispiel: „Einen weißen Amerikaner etwa, der mit seiner dunkelhäutigen Ehefrau Südafrika bereisen möchte und sich über Einzelheiten seiner Reise Gedanken macht, wird die ,naturrechtliche' Auskunft, die dortigen ApartheidNormen seien wegen ihres eklatanten Verstoßes gegen die Menschenrechte kein gültiges Recht, kaum beruhigen 66 ." Ernsthafte terminologische Schwierigkeiten auf der Grundlage eines nichtpositivistischen Begriffs sind hier jedoch nicht zu befürchten. Die notwendigen Differenzierungen lassen sich durch sehr einfache Attribute von „Recht" zum Ausdruck bringen 67 . Man kann mit Hart etwa formulieren, es handle sich bei den Apartheid-Normen um geltendes Recht, das staatliche Zwangsmaßnahmen vorsehe, das jedoch zu unmoralisch sei, als daß ihm Gehorsam geleistet werden sollte. Man kann aber ebensogut sagen, die Apartheid-Normen seien bloße Befehle der südafrikanischen Machthaber, die bei Zuwiderhandlung bestimmte staatliche Zwangsfolgen erwarten lassen würden; jedoch handle es sich dabei nicht um wirkliches Recht. — I n beiden Sprechweisen, der positivistischen wie der nichtpositivistischen, läßt sich das Gemeinte klar ausdrücken, und die Befürchtungen des weißen Amerikaners Hoersters sind in jedem Falle begründet. Dem Argument Harts, die Radbruchsche Formel stifte Verwirrung, ist daher entgegenzuhalten, daß es für den Juristen nicht zutrifft. Dieser ist — etwa im Zivilrecht — gewohnt, mit viel schwierigeren dogmatischen Konstruktionen arbeiten zu müssen. Die etwas komplexere Konzeption Radbruchs, die aus einer Kombination von faktischer Geltung und idealer Geltung besteht, dürfte einen durchschnittlich begabten Juristen kaum überfordern. III.
Die Gefahr der Anarchie
Eine weitere Problematik der Radbruchschtn Formel erblicken Hart und Hoerster darin, daß ihre Anerkennung einer Anarchie Vorschub leisten könnte: 64 65 66 67
Hart, Recht und Moral 45/46. NJW 39 (1986) 2482, Spalte links. NJW 39 (1986) 2481, Spalte links. Bydlinski, Rechtsbegriff 286.
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Hart schreibt: „Ältere Autoren wie Bentham und Austin legten auf die Unterscheidung zwischen dem Recht, wie es ist, und dem Recht, wie es sein sollte, unter anderem deshalb so großen Wert, weil sie glaubten, ohne diese Unterscheidung würden die Menschen dazu neigen, voreilig und ohne Rücksicht auf mögliche Schäden für die Gesellschaft bestimmte Gesetze für ungültig und nicht befolgbar zu erklären 68 ." Und Hoerster führt in diesem Zusammenhang aus: dafür, daß irEs besteht keinerlei Garantie oder auch nur Wahrscheinlichkeit jene Moral, die der betreffende Richter oder Bürger in seinen Rechtsbegriff aufnimmt, tatsächlich eine aufgeklärte' Moral ist!... In der Regel wird der Betreffende seinem moralbehafteten Rechtsbegriff seine eigenen moralischen Vorstellungen zugrundelegen. Es spricht jedoch im allgemeinen nichts dafür, daß die moralischen Vorstellungen irgendeines Individuums oder irgendeiner bestimmten Gesellschaft in irgendeinem Sinn aufgeklärter (etwa ,humaner' oder gerechter') sind als die positiven Rechtsnormen des entsprechenden Staates. Man vergleiche beispielsweise die Einstellung unserer Bevölkerung und die Normierung unseres Grundgesetzes zur Legitimität der Todesstrafe. Es gibt eben nicht nur, wie die Gegner des Rechtspositivismus immer wieder suggerieren, den Richter oder Bürger, der, konfrontiert mit ,Nazigesetzen' lieber einer humanen Moral folgen möchte. Es gibt ebenso den Richter oder Bürger, der, konfrontiert mit demokratischen' Gesetzen (etwa denjenigen der Weimarer oder der Bonner Republik), lieber einer Nazimoral folgen möchte 6 9 !" Die Gefahr der Anarchie bei Anwendung der Radbruchschcn Formel vermag ich indessen nicht zu erkennen 70 . Denn aus den vorne zitierten Ausführungen von Radbruch selbst hat das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist. Es kann keine Rede davon sein, daß der Richter oder Bürger von einem je eigenen Rechtsbegriff auf Grund seiner subjektiven Moralvorstellungen ausgehen darf. Zwar ist es richtig, daß die Anschauungen darüber, was das rechtlich Gebotene ist, stark voneinander abweichen. Wir haben also einen unzuverlässigen Gerechtigkeitssinn. Dagegen besteht heute ein weltweiter Konsensus darüber, was jedenfalls im sittlichen Bewußtsein der überwiegenden Zahl aller Menschen als verabscheuungswürdig gilt und damit verwerflich ist. Wir haben also einen zuverlässigeren Ungerechtigkeitssinn. Nur wenn dieser Bereich tangiert ist, der heute in den Kulturstaaten ernstlich nicht mehr bestritten wird, kommt eine Anwendung der Radbruchschen Formel in Frage. Dieser Bereich läßt sich trotz der 68 Hart, Concept of Law 206; Übersetzung nach Hoerster (Hrsg.), Recht und Moral, Texte zur Rechtsphilosophie (Stuttgart 1987) 75; Begriff 290. 69 NJW 39 (1986) 2482, Spalte links. 70 Ebenso Bydlinski, Rechtsbegriff 288.
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3. Teil: Folgerungen
Vagheit der Radbruchschen Formel, die sie mit jeder Generalklausel teilt, durch typische Beispiele wenigstens annäherungsweise einkreisen: Dazu gehören Erscheinungen wie der Archipel Gulag, Konzentrationslager, Sklaverei und Sklavenhandel, Völkermord, Massendeportationen sowie Diskriminierungen aufgrund von Hautfarbe, Rasse, Geschlecht und Herkommen. Objektiviert man den Kernbereich in dieser Weise, bleibt kein Raum dafür, den Rechtsbegriff mit subjektiven Vorstellungen einer Nazi-Moral anzureichern. Was das Beispiel der Todesstrafe anbelangt, so kann man heute, sofern sie in einem rechtsstaatlichen Strafverfahren verhängt wird, noch nicht behaupten, sie verletze diesen Kernbereich. Bekanntlich verbietet selbst die Europäische Menschenrechtskonvention die Todesstrafe nicht 7 1 . Lediglich im Zusatzprotokoll Nr. 6 ist ein Verbot vorgesehen 72 . Es ist aber zu hoffen, unsere Rechtskultur werde sich dahin fortentwickeln, daß man eines Tages wie bei der Folter mit Selbstverständlichkeit davon ausgehen wird, die Todesstrafe gehöre zu den absolut unzulässigen und verabscheuungswürdigen Einrichtungen einer rechtsstaatlichen Strafrechtspflege. IV. Der Vorwurf
der verdeckten Strategie in Straffällen
Ein weiteres Argument gegen die Radbruchsche Formel geht dahin, sie führe in Straffällen zu einer verdeckten Strategie, weil nicht offengelegt werde, daß in Wirklichkeit das Verbot rückwirkender Strafgesetze („nullum crimen sine praevia lege poenali") mit ihrer Hilfe umgangen werde. Ein Beispiel zur Veranschaulichung dieser Problematik ist der folgende, vom Bundesgerichtshof in Strafsachen entschiedene Fall 7 3 : Die Angeklagten hatten als Angehörige der Gestapo in den Jahren 1941/43 an Verschleppungen von Juden nach dem Osten mitgewirkt. Das Schwurgericht Stuttgart sprach sie vom Vorwurf der Beihilfe zur Freiheitsberaubung im A m t mit Todesfolge (§ 239 alt StGB) frei, da sie nicht das Bewußtsein gehabt hätten, gegen das geltende Recht zu verstoßen; dies gestützt auf die Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze von Volk und Staat vom 28. Februar 1933, die die Rechtsgrundlage für die Tätigkeit der Gestapo gebildet hatte. Der B G H verwarf diese Rechtsauffassung. Die erwähnte Verordnung konnte nach seiner Auffassung der Gestapo keinen Freibrief zur Verletzung jenes Kernbereiches des Rechts geben, „den nach dem Rechtsbewußtsein der 71
EMRK 2 Ziff. 1 Satz 2. Vgl. dazu Frowein / Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK-Kommentar (Kehl a. Rhein / Straßburg / Arlington 1985) 24/25. 72 Protokoll Nr. 6 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe vom 28.4.1983. Die Schweizerische Bundesversammlung hat dieses Protokoll am 20.3.1987 genehmigt: Vgl. BB1 1987 I 1018. 73 BGHSt 2 (1952) 234 (237 f.).
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Allgemeinheit kein Gesetz und kein anderer obrigkeitlicher A k t antasten darf' 7 4 . Diesen Kernbereich umschrieb der B G H wie folgt: „Er umfaßt bestimmte als unantastbar angesehene Grundsätze des menschlichen Verhaltens, die sich bei allen Kulturvölkern auf dem Boden übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen im Laufe der Zeit herausgebildet haben und die als rechtsverbindlich gelten, gleichgültig, ob einzelne Vorschriften nationaler Rechtsordnungen es zu gestatten scheinen, sie zu mißachten 75 ." Daher sei die Freisprechung der Angeklagten mit der Begründung, sie seien sich der Widerrechtlichkeit der in den Judenverschickungen liegenden Freiheitsberaubungen nicht bewußt gewesen, nicht gerechtfertigt 76 . Diese Entscheidung ist vor allem deswegen bemerkenswert, weil sie ausdrücklich auf die Problematik des Verbots rückwirkender Strafgesetze einging mit den folgenden Worten: „Damit wird das Verhalten der Angeklagten nicht etwa nach Maßstäben gemessen, die erst später allgemeine Geltung erlangten, und es wird ihnen nicht zugemutet, sie hätten die Frage, ob Recht oder Unrecht, nach damals nicht oder nicht mehr gültigen Grundsätzen beantworten müssen. Daß ihnen die wenigen für das menschliche Zusammenleben unentbehrlichen Grundsätze unbekannt gewesen wären, die zu jenem unantastbaren Grundstock und Kernbereich des Rechts gehören, wie er im Rechtsbewußtsein aller Kulturvölker lebt, oder daß sie ihre Verbindlichkeit unabhängig von aller staatlichen Anerkennung verkannt haben könnten, ist um so weniger anzunehmen, als sie die Eindrücke, nach denen sich solche Überzeugungen bilden, sämtlich noch zu einer Zeit empfingen, ehe der Nationalsozialismus seine verwirrende und vergiftende Propaganda ungehemmt entfalten konnte . . . Nur so ist die Wendung des Urteils zu verstehen, die Angeklagten hätten zwar das ,unklare Gefühl gehabt, daß den Juden Unrecht geschehe4, aber doch geglaubt, mit ihrer dienstlichen Tätigkeit nicht ,gegen das geltende Recht zu verstoßen' 77 ." Hart behandelt diese Problematik anhand eines empörenden Denunziationsfalles 78 . Eine Frau, die ihren Ehemann loswerden wollte, hatte 1944 den Behörden angegeben, er habe während eines Fronturlaubs abfällige Bemerkungen über Hitler gemacht. Der Ehemann wurde festgenommen und zum Tode verurteilt, dann aber nicht hingerichtet, sondern an die Front geschickt. 1949 wurde die Frau vor einem westdeutschen Gericht wegen rechtswidriger Freiheitsberaubung angeklagt. „Sie berief sich darauf, daß die 74 75 76 77 78
a.a.O. 238. a.a.O. 237. a.a.O. 242. a.a.O. 239 f. OLG Bamberg, Süddeutsche Juristen-Zeitung 5 (1950) 207 f.
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3. Teil: Folgerungen
Inhaftierung ihres Mannes aufgrund der Nazigesetze erfolgt sei und daß sie infolgedessen keine Straftat begangen habe 79 ." Das Revisionsgericht, vor das der Fall schließlich kam, sprach die Frau jedoch mit einer naturrechtlichen Begründung schuldig. Hart mißbilligt dieses Vorgehen und schreibt: „Es gab natürlich zwei andere Möglichkeiten. Eine war, die Frau straflos ausgehen zu lassen; man kann für die Auffassung, daß dies eine schlechte Lösung gewesen wäre, Sympathie und Zustimmung empfinden. Die andere war, sich mit der Tatsache abzufinden, daß, sollte die Frau bestraft werden, dies durch den Erlaß eines unverhüllt rückwirkenden Gesetzes hätte geschehen müssen, im vollen Bewußtsein dessen, was man aufgibt, um auf diesem Wege ihre Bestrafung zu erreichen. So abstoßend eine rückwirkende Strafgesetzgebung und Bestrafung auch sein mag, sie in diesem Falle offen durchgeführt zu haben, hätte wenigstens den Vorzug der Redlichkeit gehabt. Es hätte deutlich gemacht, daß man bei der Bestrafung der Frau zwischen zwei Übeln zu wählen hatte: dem, sie unbestraft zu lassen, und dem, ein wertvolles moralisches Prinzip preiszugeben, das die meisten Rechtssysteme gutheißen. Wenn wir aus der Geschichte der Moral etwas gelernt haben, dann doch dieses, daß man moralische Probleme nicht kaschieren sollte 80 ." Wendet man diese Überlegungen auf den anderen Fall an, dann hätten auch jene Angeklagten entweder freigesprochen werden müssen, weil die Gestapo-Verordnung als damals geltendes positives Recht die Rechtmäßigkeit der moralisch zu mißbilligenden Deportationen zur Folge gehabt hätte; oder eine Bestrafung wäre dann möglich gewesen, wenn die Bundesrepublik ein unverhüllt rückwirkendes Strafgesetz für solche Taten erlassen hätte, was aber nur über eine Änderung von G G 103 I I möglich gewesen wäre („Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde."). Es fragt sich nun, ob die vorstehend zitierte Begündung des B G H zur Problematik des Verbots rückwirkender Strafgesetze stichhaltig ist. Richtig ist zunächst zweifellos, daß diese Angeklagten nicht nach Grundsätzen bestraft wurden, die erst später allgemeine Geltung erlangten. Denn diese Grundsätze waren Schöpfungen der abendländischen Kultur (wenn nicht sogar weiterer Kulturen); sie standen in kultureller Geltung, lange bevor der Nationalsozialismus an die Macht kam, und Deutschland gehörte zu dieser Kultur. Aber waren sie uneingeschränkt geltendes Recht auch zur Zeit des Dritten Reiches? Hätte ein nationalsozialistischer Richter damals diese Gestapo-Angehörigen oder die Frau, die ihren Mann loswer79
Hart, Recht und Moral 43. Der Fall, wie er von Hart diskutiert wird, sollte streng genommen nur als hypothetischer Fall diskutiert werden, da er nicht richtig wiedergegeben wurde. Vgl. die Berichtigung bei Hart, Concept of Law 254 f. und Begriff 367 f. 80 Hart, Recht und Moral 44, Hervorhebung durch Verf. In diesem Sinne auch Hoerster, NJW 39 (1986) 2481, Spalte rechts.
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den wollte, wegen Beihilfe zur Freiheitsberaubung bzw. wegen Freiheitsberaubung in mittelbarer Täterschaft verurteilen können? Hätte er argumentieren können, daß schon zur damaligen Zeit das geltende Recht dahingehend interpretiert werden müsse, daß diese Deportationen oder die Denunziation rechtswidrig seien? Zweifellos nicht. „Ein Richter, der damals die Handlungsweise der Frau (oder der Gestapo-Angehörigen, d. Verf.) als rechtswidrig angesehen hätte, hätte nicht das geltende Recht interpretiert, sondern — vielleicht im Namen eines höheren Rechts — gegen das geltende ,Recht' Stellung bezogen, und er wäre sich ganz zweifellos dieser Tatsache bewußt gewesen 81 ." Daraus erhellt, daß sowohl die Gestapo-Angehörigen wie auch die Frau auf Grund von Taten verurteilt wurden, deren Strafbarkeit nicht gesetzlich bestimmt war, bevor sie begangen wurden. Und darauf kommt es beim Grundsatz „nulla poena sine lege" an. Der Ausdruck „lex" in diesem Grundsatz meint das positive Recht, nicht ein höheres Recht 82 , denn sonst hätte dieser Grundsatz keinen Sinn 83 . Daraus folgt: Auch die Strategie mit Hilfe der Radbruchschen Formel erfordert — wie die positivistische — in solchen Fällen eine Einschränkung von „nulla poena sine lege" 84 . Nur erfolgt hier die Einschränkung durch den Richter, nach dem Vorschlag Harts dagegen durch den Gesetzgeber. Die Begründung des B G H überzeugt also insofern nicht, als damit dargetan werden sollte, „nulla poena sine lege" werde auf diesem Wege nicht verletzt. Immerhin wurde der Grundsatz nur eingeschränkt, nicht völlig aufgehoben. Denn es wurde nur der Erlaß, der die Rechtswidrigkeit der Taten der Angeklagten damals aufgehoben hatte (VO des Reichspräsidenten zum Schutze von Volk und Staat vom 28. Februar 1933) nicht als gültig anerkannt; die Verurteilung erfolgte aber auf Grund des deutschen StGB von 1871, das auch während der Dauer des Dritten Reiches in Geltung gestanden hatte. — Ähnlich verhielt es sich im Denunziationsfall Harts. Die Angeklagte hatte von einer ihr positiv-rechtlich zustehenden Befugnis zur Anzeige Gebrauch gemacht. Das O L G Bamberg erklärte, rechtswidrig i. S. von §239 StGB (Freiheitsberaubung) sei ein Verhalten auch dann, „wenn zwar eine formale positiv-rechtliche Befugnis ausgeübt wird, die Ausübung aber gegen das Billigkeits- und Gerechtigkeitsempfinden aller anständig Denkenden gröblich verstößt 85 ." Die Beurteilung der Rechtswidrigkeit erfolgte also nach einem überpositiven Maßstab, die Verurteilung aber auch hier aufgrund des deutschen StGB von 1871. 81
Geädert 228. Geädert 229. 83 Der Grundsatz „nulla poena sine lege" hat nur Bestand, wenn er strikt befolgt wird. Vgl. Grünwald, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 76 (1964) 15. 84 Damit trage ich der Kritik Harts (vgl. Ott, Rechtstheorie 18 (1987) 540) und Gedderts 229 f. Ν 352 an meinem in der Vorauflage 186 vertretenen Standpunkt Rechnung, wonach der Grundsatz „nulla poena sine lege" nicht verletzt werde, wenn man von einer materialen Rechtsphilosophie ausgehe. 85 Süddeutsche Juristen-Zeitung 5 (1950) 207 f. 82
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3. Teil: Folgerungen
Beide Auffassungen, s o w o h l diejenige Harts
wie diejenige
Radbruchs,
f ü h r e n also n i c h t a n d e m D i l e m m a v o r b e i , daß m a n entweder himmelschreiendes U n r e c h t ungesühnt lassen oder einen f u n d a m e n t a l e n rechtsstaatlichen G r u n d s a t z einschränken m u ß . Eine solche E i n s c h r ä n k u n g erscheint i m m e r h i n als erträglich, w e n n eine rechtfertigende N o r m d a n n u n d n u r d a n n umgestoßen w i r d , falls sie gegen elementarste Grundsätze menschlichen Zusammenlebens verstieß, die i m Z e i t p u n k t der Tat i m sittlichen Bewußtsein aller K u l t u r n a t i o n e n a n e r k a n n t w a r e n 8 6 . D e r V o r w u r f , die A n w e n d u n g der Radbruchschen
F o r m e l führe i n Straf-
fällen zu einer verdeckten Strategie, t r i f f t also m . E. zu. Es wäre ehrlicher gewesen, w e n n m a n i n der B u n d e s r e p u b l i k nach d e m Kriege die p o s i t i v i s t i sche Strategie gewählt hätte, d . h . eine A u s n a h m e k l a u s e l zu G G
103II
vorgesehen hätte, i n der ζ. B. die schlimmsten rechtfertigenden Nazi-Erlasse m i t W i r k u n g ex t u n c aufgehoben w o r d e n wären. Soviel zu den normativen A r g u m e n t e n f ü r u n d gegen die Trennungsthese. I m nächsten A b s c h n i t t wenden w i r uns n u n der empirischen V e r s i o n des H i t l e r - A r g u m e n t e s zu.
D . Gesetzespositivismus und Nationalsozialismus 87 V o n d e m i m vorangegangenen A b s c h n i t t behandelten P r o b l e m ist die historische
Frage zu unterscheiden, o b der Rechtspositivismus tatsächlich
die
86 Vgl. in diesem Zusammenhang auch EMRK 7 II. Danach darf durch 7 I (wo der Grundsatz „nulla poena sine lege" niedergelegt ist) „die Verurteilung oder Bestrafung einer Person nicht ausgeschlossen werden, die sich einer Handlung oder Unterlassung schuldig gemacht hat, welche im Zeitpunkt ihrer Begehung nach den von den zivilisierten Völkern allgemein anerkannten Rechtsgrundsätzen strafbar war". Damit wollte man erreichen, daß das Verbot der Rückwirkung von Strafgesetzen sich nicht auf Gesetze beziehen sollte, die am Ende des zweiten Weltkrieges zur Sanktion von Kriegsverbrechen, Verrat und Zusammenarbeit mit dem Feinde erlassen worden waren. Vgl. J. A. Frowein / W. Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK-Kommentar (Kehl / Straßburg / Arlington 1985) 187. 87
Literatur (Auswahl): A. Baratta, ARSP 54 (1968) 325 ff.; U. Brodersen, Gesetze des NS-Staates (Bad Homburg v. d. H. / Berlin / Zürich 1968); G. Dilcher, Der rechtswissenschaftliche Positivismus, ARSP 61 (1975) 497 ff.; H Dreier, Die Radbruch'sche Formel — Erkenntnis oder Bekenntnis?, in: H. Mayer (Hrsg.), Festschrift für Robert Walter zum 60. Geburtstag (Wien 1991) 120 ff.; E. Franssen, Positivismus als juristische Strategie, JZ 24 (1969) 766 ff.; H. Hannover / E. Hannover-Drück, Politische Justiz 1918-1933 (BornheimMerten 1987); M. Hirsch/D. Majer/J. Meinck (Hrsg.), Recht, Verwaltung und Justiz im Nationalsozialismus. Ausgewählte Schrifften, Gesetze und Gerichtsentscheidungen von 1933 bis 1945 (Köln 1984); H. Kramer, Entstehung, Funktion und Folgen des nationalsozialistischen Rechtssystems. Ein Literaturbericht, Kritische Justiz 20 (1987) 218ff.; F. Kiibler, Der deutsche Richter und das demokratische Gesetz, AcP 162 (1963) 104ff.; D. Majer, Grundlagen des nationalsozialistischen Rechtssystems (Stuttgart 1987) 60; I. Maus, Bürgerliche Rechtstheorie und Faschismus (München 1976); dieselbe, Juristische Methodik und Justizfunktion im Nationalsozialismus, ARSP Beiheft 18 (1983) 176 ff.; I. Müller,
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faschistische Rechtsdoktrin und ihre Erscheinungsbilder in der nationalsozialistischen Rechtsprechung ermöglicht hat. Dabei ist zunächst auch hier anzumerken, daß als Ursache allenfalls der Gesetzespositivismus in Frage kommt; denn die realistischen Theorien (soziologischer und psychologischer Positivismus) und die Reine Rechtslehre waren in der Weimarer Zeit eindeutig nicht herrschende Lehre. Der Positivismus Harts sowie der IRP fallen schon aus zeitlichen Gründen außer Betracht.
I. Der Juristenstand** W i l l man versuchen, ein Bild vom Rechtsdenken und der Rechtshandhabung im Nationalsozialismus zu entwerfen und die Voraussetzungen für deren Entstehung zu erfassen, gehört dazu notwendigerweise die Auseinandersetzung mit den Rechtsanwendern und deren Verhältnis zum politischen System. Jedes Staatswesen ist darauf angewiesen, sich die „Konformität des Rechtsstabes"89 zu sichern, um den eigenen Bestand zu gewährleisten, denn im modernen Staat liegt „die wirkliche Herrschaft, welche sich . . . in der Handhabung der Verwaltung . . . auswirkt, notwendig und unvermeidlich in den Händen des Beamtentums" 90 . Unter diesem Aspekt betrachtet läßt es die Geschichte des Richterstandes seit dem Kaiserreich nach Rottleuthner erklärungsbedürftiger erscheinen, warum die Justiz in der Weimarer Republik funktionierte, als warum sie nach 1933 mit dem nationalsozialistischen System konform ging 9 1 . I n der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gehörten die Juristen zu den wesentlichen Trägern des liberalen Gedankengutes. Unter den Parlamentariern der Paulskirchen-Versammlung im Mai 1848 befanden sich neben 94 Rechtsprofessoren über 110 Richter 92 . Furchtbare Juristen. Die unbewältigte Vergangenheit unserer Justiz (München 1987); H. Rottleuthner (Hrsg.), Recht, Rechtsphilosophie und Nationalsozialismus (Wiesbaden 1983), ARSP Beiheft 18 (1983); derselbe, Substantieller Dezisionismus. Zur Funktion der Rechtsphilosophie im Nationalsozialismus, ARSP Beiheft 18 (1983) 20 ff.; B. Rüthers, Unbegrenzte Auslegung; derselbe, Entartetes Recht; M. Walther, Hat der juristische Positivismus die deutschen Juristen wehrlos gemacht? Kritische Justiz 21 (1988) 263 ff.; H. Wrobel, Der Deutsche Richterbund im Jahre 1933. Skizze eines Ablaufs, Kritische Justiz 15(1982) 323 ff. 88
Hannover / Hannover-Drück (zit. § 23 Ν 87); Müller (zit. § 23 Ν 87); Rottleuthner, ARSP Beiheft 18 (1983) 22ff.; Kübler, AcP 162 (1963) 104ff.; Wrobel, Kritische Justiz 15 (1982) 323 ff. 89 Rottleuthner, ARSP Beiheft 18 (1983) 22. 90 M. Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, in: Gesammelte politische Schriften (2. A. Tübingen 1958) 308. 91 Rottleuthner, ARSP Beiheft 18 (1983) 23. 92 Th. Rasehorn, Justizkritik in der Weimarer Republik. Das Beispiel der Zeitschrift „Die Justiz" (Frankfurt a. M. / New York 1985) 110.
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3. Teil: Folgerungen
Nach der Reichsgründung und der Ernennung Bismarcks zum Reichskanzler 1878 nahm dieser eine umfangreiche Justizreform vor mit dem Ziel, den Justizapparat von seinen liberalen Mitgliedern zu säubern und damit die Rechtsprechung endgültig in den Griff zu bekommen 93 . M i t einer drastischen Verminderung der Zahl der Gerichte erreichte er, daß die Richter der zehn ältesten Jahrgänge — jene mit dem politischen Bewußtsein aus der Revolutionszeit — entlassen wurden. Zusätzlich entstand dadurch eine Blockierung der freien Richterstellen auf die nächsten zehn Jahre hinaus, was wiederum die Möglichkeit eröffnete, die Ausbildungszeit massiv auszudehnen: drei- bis vierjähriges Studium mit Abschluß durch Staatsexamen, danach eine drei-, meistens vierjährige Referendarzeit mit anschließendem zweiten Staatsexamen, gefolgt von einer durchschnittlich 5 bis 10 Jahre dauernden Assessorenzeit. Dies alles unentgeltlich, ja in Preußen wurde nur zum Referendardienst zugelassen, wer einen erheblichen Betrag hinterlegen und einen „standesgemäßen Unterhalt" nachweisen konnte. Die Ausbildungs- und Erziehungskosten eines preußischen Richters waren so hoch, daß nur der gehobene Mittelstand, d.h. Söhne von Richtern und sonstigen Beamten, die erforderliche Summe aufbringen konnte. Zusätzlich garantierte die Tatsache, daß ein Anwärter auf den Richterstuhl während der gesamten Probezeit ohne jedes gesetzlich geregelte Verfahren entlassen werden konnte, ein streng obrigkeitsstaatliches Denken der heranwachsenden Richterschaft, zumal liberal gesinnte Juristen zunehmend auf die neu geschaffene freie Advokatur auswichen. Vom Sozialprestige her standen die Richter und erst recht die Anwälte allerdings deutlich unterhalb der weisungsgebundenen und damit der Obrigkeit näheren Staatsanwälte und Verwaltungsjuristen. Entsprechend wurden auch höhere Richterstellen vorwiegend mit altgedienten Staatsanwälten besetzt, die sich, wie die Verwaltungsjuristen, v. a. aus der Adelsschicht rekrutierten. Gerade dieser mindere Status, der sich auch in der verhältnismäßig schlechteren Besoldung der Richter äußerte, führte dazu, daß die sich anbahnenden sozialen und politischen Veränderungen als besonders bedrohlich empfunden wurden 94 . Nach Errichtung der Weimarer Republik entschied sich die vorläufige Regierung für die Übernahme aus der Kaiserzeit in das republikanische Staatswesen und nicht — wie es einer alten sozialdemokratischen Forderung entsprochen hätte — für eine Richterwahl durch das V o l k 9 5 . Ernst Fraenkel faßte 1927 die Situation eines solchen Richters im demokratischen Staat wie folgt zusammen: „,1m Namen des Königs' hatte er seine Urteilssprüche gefällt... Nun soll er ,1m Namen des Volkes' Recht sprechen, des Volkes, in 93
Vgl. zum ganzen Bereich Hannover / Hannover-Drück (zit. §23 Ν 87) 14 ff. 94 Kübler, AcP 162 (1963) 109 f. 95
Hannover / Hannover-Drück
(zit. § 23 Ν 87) 21.
(zit. § 23 Ν 87) 21 ff.; Müller
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dessen Verachtung er groß geworden i s t . . . Das gesamte Beamtentum des alten Regime war monarchistisch, aus Erziehung, Überzeugung, Tradition. Der Richter war außerdem Monarchist aus innerer Notwendigkeit. Kein Zweig des Beamtentums hat sich daher auf die neuen Verhältnisse schwerer umzustellen vermocht als die Justiz 9 6 ." Durch die Inflation näherte sich die wirtschaftliche Lage der Richter zudem immer mehr derjenigen der Arbeiter an, was die Frontstellung gegen die Arbeiterschaft und ihre Organisationen während der gesamten Weimarer Republik zusätzlich förderte 97 . Dabei traten die im Deutschen Richterbund (DRB) organisierten Richter und Staatsanwälte dezidiert für eine unabhängige und v. a. sachliche, formaljuristische, über dem Parteienstreit stehende, unpolitische Justiz ein: „Die deutschen Richter sehen es als ihre selbstverständliche Pflicht an, nur nach Recht und Gerechtigkeit zu urteilen und jedem, ohne Ansehen der Person, sein Recht werden zu lassen. Es ist für sie ohne Belang, welcher politischen Gesinnung die vor Gericht Stehenden anhängen, für die Fällung ihrer Entscheidungen spielt auch keine Rolle, in welcher Form der Staat regiert wird 9 8 ." Hinter dieser Formel steht aber die von Richard Thoma so bezeichnete „Zweiseelentheorie", die es den Richtern ermöglichte, zwischen der rein „zufälligen" Staatsform der Republik und dem eigentlichen Wesen des Staates, das allein für die Rechtspflege erheblich und Gegenstand der richterlichen Gehorsamspflicht sei, zu unterscheiden 99 . Diese Auffassung gab den Richtern die Möglichkeit, alle Konsequenzen der neuen Ordnung, die ihren politischen und sozialen Vorstellungen widersprachen, als „politisch" aus ihren Erwägungen auszuschließen. Die Auswirkungen dieser antidemokratischen Gesinnung auf die Rechtsprechung v. a. im Bereich der Straf justiz mit politischem Bezug wurden von Hannover / Hannover-Drück in ihrem ganzen Ausmaß eindrücklich dokumentiert 1 0 0 . I n der Kürze am aussagekräftigsten sind wohl die Daten, die 1922 vom Mathematikprofessor Emil Julius Gumbel über die politischen Morde der vorangegangenen Jahre erhoben worden sind. 1 0 1 Die von Füsser 1991 bereinigten Zahlen für die Zeit von 1918 bis 1922 lauten 1 0 2 :308 Morden, 96
E. Fraenkel, Zur Soziologie der Klassenjustiz (Berlin 1927) 12. Kubier, AcP 162(1963) 113. 98 DRiZ 1923, Sp. 1, zit. bei Kubier, AcP 162 (1963) 116. 99 Kübler, AcP 162 (1963) 115 f. 100 Hannover / Hannover-Drück (zit. § 23 Ν 87). 101 E. J. Gumbel, Vier Jahre politischer Mord (Berlin-Fichtenau 1922). Gumbels Statistik leidet an verschiedenen methodischen Mängeln, weshalb auf die von Füsser (vgl. Ν 102) bereinigten Zahlen abgestellt wird. Dies ändert allerdings nichts daran, daß Gumbels Behauptungen im wesentlichen richtig waren. 102 Klaus Füsser, Republikfeindliche Tendenzrechtsprechung in Weimar? Zur Aussagekraft der Gumbel-Mordstatistik, Zeitschrift für Rechtssoziologie 12 (1991) 89 f. Die Zahl der Todesurteile habe ich aus den Angaben Füssers a.a.O. 90 errechnet. 97
14 Ott, 2. Aufl.
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begangen von Rechtsstehenden, standen 21 von Linksstehenden gegenüber. A u f einen M o r d von links kamen 2,57 Beschuldigte (nämlich insgesamt 54 Beschuldigte), d. h. Tatverdächtige, gegen die die Strafverfolgungsbehörden ermittelten; auf einen M o r d von rechts kamen nur 0,39 Beschuldigte (d. h. insgesamt 121 Beschuldigte). Von 54 links stehenden Beschuldigten wurden 37 wegen eines Tötungsdeliktes verurteilt, von 121 rechts stehenden Beschuldigten dagegen nur 11. Für die Morde von links wurden 13 Todesurteile und für die Morde von rechts 1 Todesurteil ausgesprochen. Die durch diese Rechtsprechung hervorgerufene Vertrauenskrise gegenüber der Justiz 1 0 3 wurde — sofern man sie überhaupt zugab — auf die Justizkritik durch den Republikanischen Richterbund und die Linksparteien zurückgeführt, welche mit ihren Verallgemeinerungen von einzelnen Fehlurteilen die Krise künstlich erzeugt hätten. Gegenüber der Forderung des Republikanischen Richterbundes nach einem demokratisch-republikanischen Geist der Richterschaft beharrte der D R B auf unpolitischen Richtern und warf den republikanischen Richtern die Politisierung der Rechtspflege v o r 1 0 4 . Nach Hitlers Machtübernahme im Januar 1933 erfolgte innerhalb eines Jahres die Gleichschaltung der deutschen Richter im Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen (BNSD J) und die Selbstauflösung des DRB. Der Glaubenssatz vom unpolitischen Selbstverständnis der deutschen Richterschaft hielt vor dem neuen System nicht stand 1 0 5 . Rottleuthner macht dafür allerdings nicht nur die weltanschauliche Affinität verantwortlich, sondern wesentlich auch die Verunsicherung des Rechtsstabes 106 . Durch personalpolitische Maßnahmen, Änderung der Gerichtsorganisation, Neuordnung der Ausbildung, Übernahme der Fachpublikationen, Partei-Interventionen und Urteilskorrekturen durch verschiedenste Instanzen (Polizei, Gestapo, SS, Hitler) wurde dafür gesorgt, daß die Rechtsanwendung im neuen Geist geschah. Die neuen Rechtsbegriffe wie völkisches Gedankengut, Gemeinschaft, Rasse, Blut und Boden zeichneten sich v. a. durch ihre Unbrauchbarkeit für die praktische Entscheidungsfindung aus. Gerade dadurch ergaben sie in ihrer Kombination mit dem Führerprinzip, d. h. hier mit der permanenten Möglichkeit des Eingriffs irgendeiner Instanz in den originären 103 B. Schulz, Der Republikanische Richterbund (1921-1933) (Frankfurt a. M. / Bern 1982) 95 ff. 104 Schulz (zit § 23 Ν 103) 134 ff. 105 Vgl. zum gesamten Prozeß der Gleichschaltung Wrobel, Kritische Justiz 15 (1982) 323 ff. 1938 waren 54,28 % aller Richter in der NSDAP oder ihren Gliederungen organisiert; der größte Teil von ihnen war auch in der politischen Arbeit aktiv. Vgl. dazu D. Majer, Die ideologischen Grundlagen des nationalsozialistischen Rechtsdenkens, dargestellt am Beispiel der NSDAP (Justiz und NSDAP) in: Niedersächsische Landeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Justiz und Nationalsozialismus (Rosdorf 1985) 119 ff., insbes. 125 f. 106 Rottleuthner, ARSP Beiheft 18 (1983) 24 ff.
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Rechtsprechungsbereich, eine unter dem Schein der Volksnähe jederzeit von der politischen Führung instrumentalisierbare Justiz 1 0 7 . II. Die Bindung des Richters an das Gesetz 108 In der Diskussion um die Rolle der Justiz im Nationalsozialismus nimmt die Frage nach dem methodischen Instrumentarium der Rechtsfindung, insbesondere nach der richterlichen Gesetzesbindung, eine zentrale Position ein. Ausgehend von Radbruchs Aufsatz „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht" 1 0 9 wurde bis in die Gegenwart hinein die Ansicht vertreten, der Gesetzespositivismus habe den Weg bereitet für die faschistische Rechtsdoktrin und sei verantwortlich für die widerstandslose Einreihung der Juristen ins Dritte Reich 1 1 0 . I n jüngerer Zeit wurden allerdings die Gegenstimmen immer zahlreicher 111 , wie denn überhaupt das Schrifttum zu Justiz und Recht im Nationalsozialismus in den letzten Jahren stark zugenommen hat. — Während in den Jahren 1945 bis 1979 zwölf Buchtitel zu diesem Thema erschienen, waren es seit 1979 bereits über vierzig Titel 1 1 2 . Die Kritik am Gesetzpositivismus setzt aber voraus, daß diese Rechtstheorie sowohl in der Weimarer Zeit als auch während des Dritten Reiches herrschende Lehre w a r 1 1 3 , was, wie in der Folge zu zeigen sein wird, gerade nicht zutraf. Die Grundlegung für die deutsche Begriffsjurisprudenz erfolgte in der Historischen Rechtsschule mit der Neubegründung einer methodenbewußten systematischen Privatrechtswissenschaft 114 . Während Dilcher bei Savi gnys Verständnis der Rechtswissenschaft noch eine grundsätzliche Offenheit zu Human- und Sozialwissenschaften feststellte 115 , erfolgte in der Weiterent107
Rottleuthner,, ARSP Beiheft 18 (1983) 29. Franssen, JZ 24 ( 1969) 766 ff.; Wieacker 430 ff.; Dilcher, ARSP 61 ( 1975) 497 ff.; Mûws (zit. §22> Ν dieselbe, ARSP Beiheft 18(1983) 176 ffRüthers, Unbegrenzte Auslegung; derselbe, Entartetes Recht; Rottleuthner (zit. § 23 Ν 87); derselbe, ARSP Beiheft 18 (1983) 20 ff.; Kübler, AcP 162 (1963) 104ff.; Brodersen (zit. § 23 D Ν 87); Hirsch /Majer / Meinck (zit. §23 Ν 87); Walther , Kritische Justiz 21 (1988) 263 ff. 109 Vorne § 23 A. 110 Vgl. Literaturzusammenstellung bei Maus (zit. § 23 Ν 87) Ν 74 und Ν 79; vgl. auch Rottleuthner, ARSP Beiheft 18 (1983) 20 ff. 111 Vgl. etwa Baratta, ARSP 54 (1968) 325 ff., insbes. 327 f. und 339 ff.; Franssen, JZ 24 (1969) 766 ff.; Maus (zit. § 23 Ν 87) 39 mit weiteren Literaturhinweisen; Walther, Kritische Justiz 21 (1988) 263 ff. 112 Kramer, Kritische Justiz 20 (1987) 218 ff. 113 So auch Walther, Kritische Justiz 21 (1988) 263. 114 Wieacker 367 ff. 115 Dilcher, ARSP 61 (1975) 497ff.: Dilcher sieht in dem von Savigny aus dem 18. Jh. übernommenen Dualismus von historischen und philosophischen Elementen in der 108
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wicklung von Savignys Ansatz in der konstruktiven Methode der Pandektenwissenschaft und in der Begriffsjurisprudenz ein Ausschluß jeglicher methodischen Offenheit zur außerjuristischen Materie. Diese Rechtsanschauung leitete die Rechtssätze und ihre Anwendung ausschließlich aus „System, Begriffen und Lehrsätzen der Rechtswissenschaft" 116 ab; außerjuristischen Wertungen und Zwecken wie ζ. B. sozialen, wirtschaftlichen, moralischen, politischen oder religiösen Überlegungen wurde keine rechtsrelevante Bedeutung zugemessen. Durch diese wissenschaftliche Methode und ihre historische Ausrichtung auf das abstrakte römische Verkehrsrecht legte die Pandektenwissenschaft das Privatrecht ausschließlich in die Hand des wissenschaftlich gebildeten Juristen, das heißt also eines Vertreters der bürgerlichen Gesellschaft, und entzog es damit dem Zugriff des Staates 117 . In der historischen Situation der Auseinanderentwicklung von Staat und Gesellschaft bedeutete diese Gewichtung der Willensherrschaft des autonomen Individuums die auf die deutschen politischen Verhältnisse zugeschnittene Entscheidung für die Autonomie des Privatrechts. Durch den Verzicht auf materiale, sozialpolitisch motivierte Schranken in ihrem Privatrechtskonzept hatten sich Savigny und die Begriffsjurisprudenz für die freigesetzte bürgerliche Gesellschaft im obrigkeitlichen Staat ausgesprochen 118 . Mit dem Abschluß des verzögerten deutschen Kodifikationsprozesses gegen Ende des 19. Jahrhunderts trat an die Stelle der gelehrten Rechtsfortbildung die staatliche Rechtsetzung. Sie war allerdings weniger das Produkt einer Volksvertretung, als vielmehr „das Werk einer streng wissenschaftlich gesonnenen Ministerialbürokratie", die ganz in der pandektistischen Tradition stand 1 1 9 . Damit wurde in zunehmendem Maße die Begriffsjurisprudenz durch den Gesetzespositivismus ersetzt, der das Recht mit dem im verfassungsmäßigen Verfahren zustande gekommenen staatlichen Gesetzesrecht identifizierte und die Lückenlosigkeit der Rechtsordnung oder gar des Gesetzes postulierte 120 . Durch Jhering, Gerber und Laband wurde die konstruktive Methode in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch auf das Staatsrecht übertragen. Oertzen faßt das allgemeine Urteil über die sozialen oder politischen Tendenzen, die in der neuen Staatslehre zum Ausdruck kamen, folgendermaßen Rechtswissenschaft einen Bezug zur gesellschaftlichen Realität, indem er den Begriff „historisch" auch mit „empirisch" deutet (505) und davon ausgeht, daß Savigny Geschichtliches und Politisches noch parallel auffaßte (506 und 515 ff.). 116 Wieacker 431. 117 Dilcher,, ARSP 61 (1975) 518. 118 Dilcher, ARSP 61 (1975) 519; zu den methodisch-politischen Alternativpositionen (Jhering, Gierke , Marx) vgl. Dilcher 520 ff. 119 120
Wieacker 459. F. Kubier,, Kodifikation und Demokratie, JZ 20 (1969) 645 ff. Wieacker 459; vgl. vorne § 4.
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zusammen: „Die von der streng wissenschaftlichen Methode des Staatsdenkens behauptete Unabhängigkeit von weltanschaulichen und politischen Werturteilen ist nur Schein. I n Wirklichkeit dient die juristische Methode' dadurch, daß sie sich auf die formale Bearbeitung des geltenden öffentlichen Rechts beschränkt und jede inhaltliche Kritik ausschließt, der Aufrechterhai tung der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung ( . . . ) Das deutsche Bürgertum hat nach der Reichsgründung auf die Verwirklichung seiner freiheitlichen Verfassungsideale verzichtet — es ist,saturiert' — und hat mit den im Staate herrschenden aristokratisch-konservativen Kräften einen Kompromiß geschlossen, der darin besteht, daß ihm durch Erhaltung des formalen Rechtsstaates die ökonomisch-soziale Bewegungsfreiheit gesichert wird, während die eigentliche Staatsgewalt der Monarchie und dem von ihr gelenkten Verwaltungsapparat überlassen bleibt 1 2 1 ." Oertzen fügt aber hinzu, daß das positivistische Staatsdenken zwar der Form nach tatsächlich konserviere, inhaltlich aber nicht konservative, sondern liberale Ideen festgeschrieben habe, die sich v. a. in den Begriffen des formalen „Rechtsstaates" und der „Staatssouveränität" ausgebildet hätten 1 2 2 . Die gesetzespositivistische Rechtsanschauung lebt wesentlich vom Vertrauen in die Stabilität der staatlichen Verhältnisse und in die Garantie der „richtigen" Lösung durch das gesetzgebende Organ. Bereits mit der Erstarkung des Parlaments in der zunehmend pluralistischen Gesellschaft der ausgehenden Wilhelminischen Ära wurde dieses Vertrauen dem deutschen Juristenstand problematisch, vollends erschüttert aber wurde es durch den ersten Weltkrieg und seine Folgen 1 2 3 . Dies führte in den ersten Jahren der Weimarer Republik zu einer tendenziell kritischen Haltung der Richterschaft gegenüber dem staatlich gesetzten Recht, die sich ζ. B. in der D R i Z in Form von Appellen an die Richter zur Lösung vom Gesetzesrecht und zu einer Entscheidung nach Richterrecht äußerte 124 . Senatspräsident Reichert ζ. B. führte 1926 aus: „Nicht das ist Recht, was der Gesetzgeber nach seiner subjektiven Meinung — wenn auch in vermeintlich guter Absicht — willkürlich verordnet. Nur das wird von der Allgemeinheit als Recht empfunden, gehegt und gepflegt, was nach objektiven Gesichtspunkten Recht ist: was der lautere Rechtssinn dem Gesetzgeber vorschreibt, der nicht sowohl als unbeschränkter Herr und Meister sich fühlen darf, sondern als das Gefäß, in dem Recht entsteht, in dem Sinne, daß es bloß ein Recht geben darf, das gemeinsame des ganzen Volkes 125." 121
P. von Oertzen, Die soziale Funktion des staatsrechtlichen Positivismus (Frankfurt a.M. 1974) 321 f. 122 Oertzen (zit. § 23 Ν 121) 322. 123 Rüthers, Unbegrenzte Auslegung 95; Kübler, AcP 162 (1963) 110 ff. 124 Kübler, AcP 162 (1963) 113 ff. 125 M. Reichert, Rechtswende?, JW 55 (1926) 2791 ff., Hervorhebungen im Original.
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Rüthers hat u. a. am Beispiel der freien Aufwertung detailliert aufgezeigt, wie sich diese Haltung auf die Privatrechtsprechung in der Weimarer Republik auswirkte 1 2 6 : Aufgrund der Inflation führte der Grundsatz „Mark gleich Mark", der es erlaubte, Geldmarkschulden durch Papiermarkzahlungen zu tilgen, de facto zu einer währungstechnisch begründeten Enteignung der Geldgläubiger. I n seiner Entscheidung vom 28. November 1923 127 gab das Reichsgericht aufgrund von § 242 BGB (Treu und Glauben) diesen Grundsatz auf, was angesichts des eigentlichen Rechtsnotstandes durchaus zu rechtfertigen war 1 2 8 . Das Reichsgericht ging aber weiter und gestand den Richtern die Befugnis zu, nach Treu und Glauben eine freie Aufwertung von Hypothekenforderungen vorzunehmen — d.h. also, selbst einen neuen Währungskurs festzusetzen und damit eine fundamentale währungs- und wirtschaftspolitische Entscheidung zu treffen. Als die Reichsregierung in der Folge plante, die Aufwertungsfrage abweichend von der Lösung des Reichsgerichts zu regeln, protestierte der Richterverein mit einer formellen Eingabe an die Regierung und deutete an, das Reichsgericht könnte die gesetzliche Regelung für rechtsunwirksam erklären, falls „die im Recht begründete Aufwertung" auch nur zum Teil verboten werden sollte 1 2 9 . Die erste gesetzliche Regelung, die im Februar 1924 folgte 1 3 0 , legte für die abschließend aufgezählten wirtschaftlich wichtigsten Anspruchsarten eine Zwangsquote von 15 % fest, ließ aber als Kompromiß in den übrigen Vermögenslagen eine freie Aufwertung zu. Auch wenn es damit dem Reichsgericht möglich gemacht wurde, zu seinem positivistischen Rechtsverständnis zurückzufinden 1 3 1 und während der nächsten Jahre im wesentlichen dabei zu bleiben, machen dieses Urteil und die Eingabe des Richtervereins, wie auch die richterliche Korrektur von Verträgen als Folge veränderter wirtschaftlicher Verhältnisse 132 einen Umstand besonders deutlich: Hinter diesen Entscheidungen und Verlautbarungen standen wirtschaftliche, politische und soziale Überlegungen und Zusammenhänge, die durchaus geeignet waren, die herkömmliche juristische Methodik zu verdrängen und dem Gesetz seine bindende Kraft zu nehmen, falls es die gesellschaftliche Wirklichkeit erfor126
Rüthers, Unbegrenzte Auslegung 64-90. RGZ 107, 78; entgegengesetzt noch RGZ 101, 145. 128 Vgl. Rüthers, Unbegrenzte Auslegung 69 ff., insbes. 76f. 129 JW 53 (1924) 90. 130 Dritte Steuernotverordnung vom 14. Februar 1924, RGB1I 1179. 131 Ζ. B. im Urteil vom 4. November 1927: „Der Gesetzgeber ist selbstherrlich und an keine anderen Schranken gebunden als diejenigen, die er sich selbst in der Verfassung oder in anderen Gesetzen gezogen hat." (RGZ 118 [1928] 327). 132 Rüthers, Unbegrenzte Auslegung 13-63: Diese Vertragskorrekturen wurden über eine richterliche Ausdehnung der Begriffe der Nichtzumutbarkeit und der wirtschaftlichen Unmöglichkeit erreicht. Vgl. auch F. Dessauer, Recht, Richtertum und Ministerialbürokratie (Mannheim / Berlin / Leipzig 1928) 1-92. 127
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dem sollte. „ D a dem Staat keine echte Autorität mehr zugesprochen wurde, konnte auch das von ihm gesetzte Recht nur noch bedingt gelten 133 ." Dieser aktuelle Konflikt zwischen Gesetzestreue und freier richterlicher Rechtsfindung spiegelt sich auch in der Methodendiskussion der Zeit wider, die sich v. a. mit der Gesetzesanwendung durch den Richter auseinandersetzte. Als Alternative zum Gesetzpositivismus setzte sich neben der eher unbedeutend gebliebenen Freirechtsschule, die den Richter zur Abweichung vom Gesetz ermächtigte, sobald er dessen Anwendung im Einzelfall für unrichtig oder unzweckmäßig hielt 1 3 4 , v. a. die Reformbewegung der Interessenjurisprudenz durch. Diese ging grundsätzlich wieder von der Lückenhaftigkeit der Rechtsordnung aus 1 3 5 und forderte — bei allerdings strenger prinzipieller Gesetzesbindung — eine freiere Stellung für den Richter 1 3 6 . Heck vertrat in der sog. Abweichungstheorie ein wenngleich nur zurückhaltend zugestandenes Recht zur Gebotsberichtigung durch den Richter für den Fall eines Wandels in den Verhältnissen, der vom Gesetzgeber nicht vorausgesehen worden war. Dabei war der Richter aber an die erkannte Interessenwertung des Gesetzgebers gebunden und sollte nur in Ausnahmefällen, wenn jeder Anhaltspunkt im Gesetz fehlte, auf das Rechtsbewußtsein der gegenwärtigen Gemeinschaft abstellen (subjektiv-teleologische Auslegung) 137 . Dieser gesetzestreue Grundzug der Lehre Hecks zeigte sich auch in seiner Kritik am Aufwertungsurteil des Reichsgerichts 138 . Diese Berufung auf den Gesetzgeber war aber auch eine Ursache dafür, daß die während der Weimarer Zeit im Privatrecht dominierende Interessenjurisprudenz zum Zeitpunkt der Machtergreifung 1933 wieder heftig umstritten war 1 3 9 . Auch auf dem Gebiet des Staatsrechts zeichneten sich während der Dauer der Republik Veränderungen ab. Angelpunkt der beginnenden methodischen Kontroverse war die Frage nach dem richterlichen Prüfungsrecht auf der Grundlage des Gleichheitsgrundsatzes des Art. 1091 W R V gegenüber den Akten der Legislative. I n einem Urteil vom 4. November 1925 wurde ein solches Prüfungsrecht für Reichsgesetze vom Reichsgericht erstmals bej a h t 1 4 0 . A n der Staatsrechtslehrertagung 1926 in Münster vertrat Erich 133
O. Kirchheimer, Politische Justiz, Verwendung juristischer Verfahrensmöglichkeiten zu politischen Zwecken (Neuwied und Berlin 1965) 315. 134 Wieacker 579 ff. 135 P. Heck, Gesetzesauslegung und lnteressenjurisprudenz, AcP 112 (1914) Iff., 21; Wieacker 574; Rüthers, Entartetes Recht 34. 136 Heck, AcP 112(1914)2. 137 Rüthers, Unbegrenzte Auslegung 140; Heck, AcP 112 (1914) 176ff., 189ff., 196ff., 218 ff. 138 Heck, Ac? 122(1924)221. 139 Rüthers, Unbegrenzte Auslegung 270 ff.; derselbe, Entartetes Recht 36 ff. 140 RGZ 111, 320 ff.; Rottleuthner, ARSP Beiheft 18 (1983) 21, weist allerdings darauf hin, daß sowohl in diesem wie auch in praktisch allen anderen immer wieder angeführten
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Kaufmann — ehemals strenger staatsrechtlicher Positivist — eine neue, naturrechtlich geprägte Rechtsauffassung: „ . . . der Staat schafft nicht Recht, der Staat schafft Gesetze; und Staat und Gesetz stehen unter dem Recht 1* 1 " Er erhielt heftigen Widerspruch von Vertretern der positivistischen Lehre wie Anschütz, Thoma, Kelsen und Nawiasky, die in der Höherbewertung des richterlichen Urteils gegenüber den Parlamentsakten einen Konflikt mit dem demokratischen Charakter der Verfassung sahen 142 . Kelsen stellte auch die Frage nach dem politischen Hintergrund für den Ruf nach Metaphysik und Naturrecht: „Ob und inwieweit diese Abkehr gewisser juristischer Kreise von dem bisher bedingungslos anerkannten juristischen Positivismus soziologisch mit der Änderung in der politischen Struktur des Gesetzgebungsorgans zu erklären ist, möchte ich hier dahingestellt sein lassen. Jedenfalls ist nicht zu verkennen, daß Juristen, die ehedem die strikteste Bindung des Richters an das Gesetz lehrten, heute den Richtern mit Berufung auf das Naturrecht weitgehende Freiheit gegenüber dem Gesetz zuerkennen möchten; und daß der Richterstand von jenen Änderungen der politischen Struktur so ziemlich frei geblieben ist, die sich in der Zusammensetzung des Parlaments zeigt; so daß zwischen dem heutigen Richterstand und dem Juristenstand nicht jener politische Gegensatz besteht wie zwischen Juristenstand oder doch gewissen Teilen desselben und Parlament 143 ." — Die gesamte Kontroverse macht einen Zusammenhang deutlich, der in der Justizdiskussion nach dem zweiten Weltkrieg völlig untergegangen ist: I m Gesetzespositivismus der Weimarer Zeit steckte noch das Bewußtsein einer „demokratischen Rechtsquellenlehre" 1 4 4 , nach der die inhaltliche Richtigkeit eines Gesetzes gerade nicht durch materiale Bindung an übergeordnetes Recht, „sondern durch die demokratische Organisationsform des Gesetzgebungsverfahrens selber" 145 vermittelt wird — ein Zusammenhang, der den Vorkämpfern der völkischen Rechtserneuerung noch durchaus präsent war. So führte Carl Schmitt 1935 aus: „,Gesetz' bedeutet etwas theoretisch und praktisch völlig Verschiedenartiges, je nachdem es sich um das Gesetz einer konstitutionellen Monarchie, eines parlamentarischen Gesetzgebungsstaats oder eines modernen Führerstaats handelt 1 4 6 ." I n einem Rechtsstaat, der mit dem liberalen VerfassungsEntscheiden das Reichsgericht zwar ein materielles Prüfungsrecht für Reichsgesetze bejaht hat, mit zwei Ausnahmen aber niemals ein Reichsgesetz für ungültig erklärt hat. 141 Zitiert nach Rüthers, Entartetes Recht 33. 142 Vgl. Rüthers, Entartetes Recht 33 f.; Franssen, JZ 24 (1969) 772f. 143 Kelsen, Diskussionsbeitrag, Veröffentlichung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Nr. 3 (Berlin / Leipzig 1927) 54. 144 R. Wiethölter, Rechtswissenschaft (Frankfurt a.M. 1968) 295; vgl. Maus (zit. §23 Ν 87) 27 ff., insbes. 40 f.; 2s. Topitsch, Einleitung zu H. Kelsen, Aufsätze zur Ideologiekritik (Neuwied am Rhein / Berlin 1964) 22ff.; Franssen, JZ 24 (1969) 768. 145 Maus (zit. § 23 Ν 87) 42. 146 C. Schmitt, Der Rechtsstaat, in: H. Frank (Hrsg.), Nationalsozialistisches Handbuch für Recht und Gesetzgebung (München 1935) 24ff., 29.
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Staat gleichgesetzt sei, werde das Gesetz nur durch die Mitwirkung der frei gewählten Volksvertretung und nur durch das vorgeschriebene Verfahren zu einer für alle geltenden Rechtsnorm. I m „deutschen Rechtsstaat Adolf Hitlers" dagegen bedeutete Gesetz im wesentlichen „Plan und Wille des Führers", womit der hohle Gesetzesstaat überwunden sei 147 . Damit sind auch gleich die Hauptangriffspunkte des nationalsozialistischen Rechtsdenkens angedeutet, die einfacher zu eruieren sind als seine inhaltlichen Kernpunkte: es war u. a. anti-demokratisch, anti-Uberalistisch und anti-positivistisch 148. Karl Larenz schrieb 1934: „Die Erneuerung des deutschen Rechtsdenkens ist ohne eine radikale Abkehr vom Positivismus und Individualismus nicht denkbar 1 4 9 ." Denn mit der Auflösung der dualistischen Struktur von Staat und staatsfreier Gesellschaft „muß auch der ihr zugehörige rechtswissenschaftliche Denktypus entfallen" 150 . So feierte denn Heinrich Lange die Lösung aus den „Fesseln des Gesetzspositivismus" 1 5 1 , der zu einem „Verzicht auf schöpferische Umgestaltung im Rechtsleben" führe und „die Verantwortungsfreudigkeit des Richters durch eine zu starre Auffassung seiner Bindung an das Gesetz" lähme 1 5 2 . Erik Wolf stellte dem liberalistischen Rechtsideal des Glücks des einzelnen die „restlose Inpflichtnahme jedes einzelnen für die Volksgemeinschaft" 153 gegenüber und umschrieb den NS-Staat als einen „Staat der materiellen volksgebundenen Gerechtigkeit", in dem die Freiheit des Richters „nicht nur Willkür und nicht durch ein formalistisch-abstraktes Rechtssicherheitsprinzip beengt" werde, sondern vielmehr „durch die im Gesetz zutagetretende, vom Führer verkörperte Rechtsanschauung des Volkes" feste Linien bekomme und daran — wo nötig — ihre Schranken finde 1 5 4 . Recht und Sitte, Recht und Moral sollten künftig eine Einheit bilden 1 5 5 und der „lebensfremde" Methodendualismus von Sein und Sollen aufgehoben werden. Auch wenn es nicht die offizielle, konsistente nationalsozialistische Rechtsphilosophie gab, so kann man doch zentrale Bereiche herausschälen, die sich mit Rottleuthner kennzeichnen lassen durch die „völkische Rechtsi147
Schmitt (zit. § 23 Ν 146) 30 ff. Rottleuthner, ARSP Beiheft 18 (1983) 27; vgl. A. Kaufmann, Rechtsphilosophie und Nationalsozialismus, ARSP Beiheft 18 (1983) 1 ff. mit entsprechenden Zitaten. 149 K. Larenz, Deutsche Rechtserneuerung und Rechtsphilosophie (Tübingen 1934) 15. 150 C. Schmitt, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens (Hamburg 1934) 66. 151 H. Lange, Die Entwicklung der Wissenschaft vom bürgerlichen Recht seit 1933 (Tübingen 1941) 39. 152 Larenz (zit. § 23 Ν 149) 13. 153 E. Wolf Das Rechtsideal des nationalsozialistischen Staates, ARSP 28 (1934/35) 348ff., 349. 154 Wolf ARSP 28 (1934/35) 352. 155 Vgl. Rüthers, Entartetes Recht 26. 148
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dee", eine damit eng verbundene Rassentheorie und das Führerprinzip 156. Dieses neue Rechtsdenken fand teilweise über die Gesetzgebung Eingang in die Rechtsordnung; v. a. in den Gebieten des Strafrechts, der Rassenpolitik, des Wirtschafts- und des Steuerrechts wurden zahlreiche Maßnahmen- und Sondergesetze erlassen, die die nationalsozialistischen Ziele direkt förderten. Die neuen Gesetze waren häufig auffallend kurz und in hohem Maße mit unbestimmten Rechtsbegriffen und ideologischen Präambeln versehen 157 , durch die dem jeweiligen Gesetz das politische Programm vorangestellt wurde. I n vielen Kernbereichen der Rechtsordnung dagegen, v. a. aber im Privatrecht, blieb es — abgesehen von wenigen neuen Einzelgesetzen (Ehegesetz, Testamentgesetz, Reichserbhofgesetz) — bei den Vorschriften, die bereits in der Weimarer Zeit in Kraft waren 1 5 8 . Rüthers stellte für die überkommene gesetzliche Rechtsordnung verschiedene Umwertungsinstrumente fest 159 : Die Proklamierung der völkischen Rechtsidee, die quasi überpositiv vorgegeben war, schuf durch den Dualismus von übergesetzlichem und gesetzlichem Recht die Möglichkeit, mißliebige alte Gesetze für unanwendbar zu erklären, weil sie der neuen Rechtsidee widersprachen. Die Schaffung neuer Rechtsquellen wie Führerwille, Volksgemeinschaft und Parteiprogramm führte durch ihre Vielzahl, die inhaltliche Vagheit und die ungeklärte Rangfolge zu erheblichen Rechtsunsicherheiten in der Praxis und damit auch zu massiven Verunsicherungen der Rechtsanwender, wurden aber als Sieg über den Normativismus gefeiert 160 . Die richtige Auslegung des alten Rechts wurde erreicht über eine extensive Verwendung vorhandener und den Einschub neuer Generalklauseln und unbestimmter Rechtsbegriffe, die alle im „nationalsozialistischen Sinne" zu interpretieren waren 1 6 1 , sowie über eine entsprechende Feststellung und Ausfüllung von Lücken. Damit läßt sich auch erklären, weshalb die Lehre Philipp Hecks im Nationalsozialismus nicht die herrschende Methode bleiben konnte, obwohl Heck selbst sie durchaus für geeignet hielt 1 6 2 : Einerseits wurde seinem Interessenbegriff eine individualistische Ausrichtung vorgeworfen, weil er die materiellen Sonder156
Rottleuthner., ARSP Beiheft 18 (1983) 27; Majer (zit. §23 Ν 105) 123 ff. Vgl. Maus, ARSP Beiheft 18 (1983) 180; I. v. Münch, Einleitung zu Brodersen (zit. §23 Ν 87) 17. 158 Rüthers, Entartetes Recht 19. Zum ganzen Bereich vgl. Rüthers, Unbegrenzte Auslegung. 159 Vgl. Rüthers, Entartetes Recht 22 ff. mit entsprechenden Nachweisen. 160 K. Michaelis, Wandlungen des deutschen Rechtsdenkens, in: K. Larenz (Hrsg.), Grundfragen der neuen Rechtswissenschaft (Berlin 1935) 59: „Der Versuch, das Verhältnis dieser Rechtsquellen und ihre Maßgeblichkeit für den Richter tatbestandsmäßig festzulegen, würde freilich einen Rückfall in das zu überwindende Denken darstellen." 161 C. Schmitt, Nationalsozialismus und Rechtsstaat, JW 63 (1934) 713ff., 717: „Alle unbestimmten Begriffe, alle sog. Generalklauseln sind unbedingt und vorbehaltlos im nationalsozialistischen Sinne anzuwenden." 162 Rüthers, Entartetes Recht 37. 157
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interessen des einzelnen mit den nationalen und ethischen Gemeinschaftsinteressen auf eine Stufe stellte. Seiner „weltanschaulichen Neutralität" fehlte das immanente methodische Bekenntnis zum völkischen Rechtsdenken 163 . Andererseits stand die Interessenjurisprudenz durch ihren Verweis auf die Führungsrolle des Gesetzgebers für die Schließung sekundärer Gesetzeslücken im Widerspruch zu der Zurücknahme gesetzlicher Programmierung im NS-Recht selbst 164 . In der Anwendung der „alten" und der „neuen" Gesetze bestand ein Unterschied einzig hinsichtlich des richterlichen Prüfungsrechts, das nur für vornationalsozialistisches Recht bejaht wurde 1 6 5 . Die juristische Methodik dagegen war für beide Arten von Gesetzen dieselbe 166 , wobei sich allerdings ein Defizit an spezifisch nationalsozialistischen Rechtsanwendungslehren feststellen läßt 1 6 7 . U m die richtige Methode für die völkische Rechtserneuerung entstand zwar eine Kontroverse, die sich quer durch alle Rechtsdisziplinen zog und an der sich alle nichtpositivistischen Richtungen mit Anspruch auf besondere Eignung beteiligten 168 . — Die streitenden Professoren blieben aber weitgehend unter sich 1 6 9 . Die rechtstheoretische Diskussion bewegte sich v. a. um zwei benachbarte Begriffe: einerseits um die von Larenz besonders pointiert vertretene Theorie der konkret-allgemeinen Begriffe, die durch ihre Einzelfallorientierung zu einer situativen Dynamisierung der Rechtsbegriffe führte und damit erwünschte Rechtsänderungen über gezielte Begriffsänderungen erreichte. So wurde ζ. B. der Grundbegriff der Rechtsfähigkeit aus seiner Einheit von Person und Rechtsfähigkeit gelöst, um ihn entsprechend umzuwerten; an die Stelle des abstrakten Begriffs der Person wurde der Rechtsgenosse als Glied einer konkreten Gemeinschaft gestellt: „Entscheidend für die Rechtsstellung des Einzelnen ist nicht mehr sein Personsein überhaupt, sondern sein konkretes Gliedsein; er ist etwa Bauer, 163
Rüthers, Unbegrenzte Auslegung 271 f. Maus, ARSP Beiheft 18 (1983) 180. 165 Maus, ARSP Beiheft 18 (1983) 179 f.; Larenz, (zit. § 23 Ν 149). 166 So durfte nach Larenz die Bindung des Richters an nationalsozialistische Gesetze nicht als eine starre aufgefaßt werden: „Es hieße den Willen des Führers verkennen, wollte man ihn an einem Ausdruck festhalten, der zu einer dem Sinn und dem Geist der völkischen Gesamtordnung nicht entsprechenden Bedeutung führt. Der Richter, der das Gesetz nach dem lebendigen Rechtswillen der Gemeinschaft auslegt und aus ihm ergänzt, handelt dem Willen des Führers gemäß. (...) Der Richter ist gebunden, jedes Gesetz, das mit dem Willen des Führers in Kraft tritt, als Recht anzuerkennen und anzuwenden; aber er hat es anzuwenden im Geiste des Führers, gemäß dem gegenwärtigen Rechts willen, der konkreten Rechtsidee der Gemeinschaft." Larenz (zit. §23 Ν 149) 35 f. 164
167 Maus, ARSP Beiheft 18 (1983) 182; H.-J. Koch, Die juristische Methode im Staatsrecht (Frankfurt 1977) 103 ff. 168 Rüthers, Unbegrenzte Auslegung 276; derselbe, Entartetes Recht 32ff., 52ff.; Maus, ARSP Beiheft 18 (1983) 182 ff. 169 Rüthers, Entartetes Recht 53.
220
3. Teil: Folgerungen
Soldat, Geistesarbeiter — Ehegatte, Familienglied, Staatsdiener 170 ." Über diese Begriffsumdeutung wurde die Rassen- und Gemeinschaftsideologie des Nationalsozialismus in die Rechtsordnung eingeschleust und die zentrale Wertgrundlage der Gleichheit und Würde aller Menschen abgeschafft 171 . Der zweite Begriff, das von Carl Schmitt geprägte konkrete Ordnungsdenken, zielte als materiale institutionalistische Theorie mit seiner Überordnung der „konkreten Lebensordnung des Volkes" über das gesetzte Recht auf eine größere Gesellschaftsadäquanz der Rechtsbegriffe und unterwarf damit ganz allgemein Gesetzgebung und Rechtsprechung den faktischen Machtstrukturen bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse 172 . Die Gerichtspraxis allerdings blieb von diesen methodischen Kontroversen eher unberührt und erreichte über das Mittel der Generalklauseln und der Gemeinwohlformeln sowie durch Rückgriff auf die übrigen Umwertungsinstrumente (völkische Rechtsidee, neue Rechtsquellenlehre) praktisch jedes erwünschte, auch vom Gesetz abweichende Ergebnis 173 . I m Strafrecht, das seit der Machtergreifung durch den Dualismus von Justiz und Polizei bei der Strafverfolgung gekennzeichnet war 1 7 4 , erfolgte die Rechtserneuerung ebenfalls unter tätiger Mithilfe der Gerichte. Bereits ohne Gesetzesänderungen kam es zu einer Verschärfung der Strafpraxis durch extensive Interpretation der Tatbestände und verschärfte Strafzumessung. Die Vermittlung der entsprechenden Maßstäbe erfolgte vorwiegend über Richtlinien, Empfehlungen und Anregungen der Justizführung 175 . Durch zahlreiche neue Strafvorschriften sollte zudem ein nationalsozialistisches Strafrecht geschaffen werden, das „im Gegensatz zur formellen Rechts- und Unrechtsauffassung des Liberalismus" auf dem Gedanken der materiellen Gerechtigkeit aufbaute: „Gesetz und Recht sind nicht dasselbe, sondern das Gesetz ist nur das unentbehrliche, aber notwendig unvollkommene Auskunftsmittel des Rechtes 1 7 6 ." Ein solches Strafrecht, in das auch Straftatbestände mit rückwirkender Geltung eingebaut wurden, brauchte den Grundsatz „nulla poena sine lege" nicht mehr: „Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient. Findet auf die Tat kein 170
Lorenz (zit. §23 Ν 149) 40. Rüthers, Unbegrenzte Auslegung 302ff.; derselbe, Entartetes Recht 76ff.; Maus, ARSP Beiheft 18 (1983) 183 f. 172 Maus, ARSP Beiheft 18 (1983) 184ff.; Rüthers, Entartetes Recht 63 ff. 173 Rüthers, Entartetes Recht 52. 174 L. Gruchmann, Rechtssystem und nationalsozialistische Justizpolitik, in: M. Broszat / H. Möller (Hrsg.), Das Dritte Reich. Herrschaftsstruktur und Geschichte (München 1983) 83 ff., 85 f. 175 D. Majer, „Fremdvölkische" im Dritten Reich (Boppard 1981) 593 ff. 171
176
H. Frank, Nationalsozialistische Leitsätze für ein neues deutsches Strafrecht, 1. Teil (3. A. Berlin 1935) 5 ff., zitiert bei Hirsch / Majer / Meinck (zit. § 23 Ν 87) 434 ff.
§ 23 Die Trennungsthese und das „Hitler-Argument"
221
bestimmtes Strafgesetz unmittelbar Anwendung, so wird die Tat nach dem Gesetz bestraft, dessen Grundgedanke auf sie am besten zutrifft 1 7 7 ." Bezeichnend für diese dem gesetzespositivistischen Verständnis durch und durch entgegenstehende Rechtsauffassung ist auch die Tatsache, daß sowohl die Euthanasieaktionen 1773 als auch die Tötungen in den Konzentrationslagern ohne gesetzliche Grundlage durchgeführt wurden 1 7 8 . In allen Bereichen des Rechts und der Rechtsprechung läßt sich also ein wachsender Aktionsradius gesetzlich ungebundener richterlicher Entscheidung feststellen. Da der nationalsozialistische Staat aber wesentlich durch die erstmals von Ernst Fmenkel analysierte Doppelstruktur gekennzeichnet war 1 7 9 — der „Normenstaat" arbeitet nur unter Vorbehalt des „Maßnahmenstaates" und kann von diesem jederzeit suspendiert werden —, führte diese größere richterliche Entscheidungsfreiheit aber keineswegs zu einer Kompetenzerweiterung der Justiz. — Im Gegenteil: Durch die Schaffung von Sondergerichtsbarkeiten und die Erweiterung der Kompetenzen des Polizeiapparates wurden weite Bereiche des gesellschaftlichen Lebens der ordentlichen Gerichtsbarkeit entzogen. Auch die richterliche Unabhängigkeit blieb nicht unangetastet 180 . Vor allem aber gab es für die Anwendung dieser neu geschaffenen Entscheidungsspielräume ausschließlich einen Maßstab: denjenigen der nationalsozialistischen Wertvorstellungen — Wertvorstellungen, die in zahlreichen Fällen gerade unter Hinweis auf die Gesetzesbindung hätten zurückgewiesen werden können. Zusammenfassend kann man festhalten: Der Vorwurf, der Rechtspositivismus, insbesondere der Gesetzespositivismus, sei schuld an der nationalsozialistischen Rechtsverwüstung, ist nachweislich falsch. Der Gesetzpositivismus hatte schon in der Weimarer Zeit seine führende Rolle eingebüßt, und das nationalsozialistische Rechtsdenken war dem gesetzespositivistischen Rechtsdenken geradezu entgegengesetzt. Die bei den Nationalsozialisten beliebte Technik, in ihre Gesetze massenhaft Generalklauseln einzufügen (ζ. B. das „gesunde Volksempfinden" in §2 Satz 1 des StGB in der Fassung vom 28. Juni 1935), die offene Außerkraftsetzung des Grundsatzes von „nulla poena sine lege" (StGB § 2 177
§ 2 des Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches vom 28. Juni 1935, RGBl 1935
I, 839. 1773
Vgl. dazu Ott, Festschrift für Robert Walter zum 60. Geburtstag (Wien 1991) 519 ff. Vgl. zur Euthanasie E. Klee, Euthanasie im NS-Staat. Die Vernichtung lebensunwerten Lebens (3. A. Frankfurt a. M. 1983)\H.-W. Schmuhl, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie (Göttingen 1987); zu den Tötungen in den Konzentrationslagern: I. Arndt, Antisemitismus und Judenverfolgung, in: Broszat / Möller (zit. § 23 Ν 174) 209 ff. 179 E. Fraenkel, Der Doppelstaat (Frankfurt a. M. / Köln 1974), Rückübersetzung des 1941 im amerikanischen Exil erschienenen Buches „The Dual State". 180 Maus, ARSP Beiheft 18 (1983) 181; Gruchmann (zit. §23 Ν 174) 94. 178
222
3. Teil: Folgerungen
Satz 1 und 2 in der Fassung vom 28. Juni 1935), die zahlllosen Eingriffe in Strafverfahren gegen SS- und SA-Leute 1 8 1 , die Massentötungen von Patienten in Heil- und Pflegeanstalten auf Grund des geheimen Euthanasiebefehls des Führers vom 1.9.1939 182 — dies alles hätte man gerade unter gesetzespositivistischen Gesichtspunkten auf das entschiedenste zurückweisen können. Daß sich eine Mehrzahl der deutschen Juristen in den Dienst der nationalsozialistischen Rechtserneuerung stellen ließ, erklärt sich aus ihrem seit der Justizreform Bismarcks obrigkeitsstaatlichen Denken und aus ihrer antidemokratischen und antiliberalen Gesinnung sowie aus den massiven Eingriffen der politischen Führung in den originären Rechtsprechungsbereich.
E. Ergebnis Unsere Prüfung der Vor- und Nachteile der positivistischen Trennungsthese hat ergeben, daß diese für gewisse juristische Einzeldisziplinen wie Rechtsgeschichte, -psychologie, -Soziologie, -ethologie, -ethnologie und -vergleichung durchaus angemessen ist 1 8 3 . Auch das Prinzipienargument stellt keinen zwingenden Einwand gegen sie dar 1 8 4 . Sie ist also geeignet für theoretische (d. h. nicht unmittelbar praktische) Fragestellungen 185 . I n unmittelbar praktischer Hinsicht bietet sie die Vorteile, daß sie die Rechtssicherheit fördert 1 8 6 und bei der Bewältigung der Hinterlassenschaft eines Unrechtsstaates in Straffällen zu einer offenen Strategie zwingt 1 8 7 . I m übrigen überwiegen bei Fragen von unmittelbar praktischer Bedeutung die Nachteile. Rechtspositivistische Theorien enthalten keine Anleitungen an den Gesetzgeber oder an den Richter, wie er neues Recht schaffen soll 1 8 8 . Ein ethisch angereicherter Begriff des Rechts 189 erleichtert ferner (außer in Straffällen) die Bewältigung gesetzlichen Unrechts nach dem 181
Weinkauff 113/128. Den Rechtscharakter dieses Befehls vermeinte schon unter formellen Gesichtspunkten zutreffend das O L G Frankfurt, Süddeutsche Juristenzeitung 2 (1947) 623 f. Bezeichnend dafür ist, daß der Reichsjustizminister Dr. Gürtner selbst die Tötungen als der gesetzlichen Grundlage entbehrend angesehen hatte. Vgl. weitere Nachweise bei Ever s 4 NI. 183 Vorne § 22 Α. 184 Vorne § 22 D, v. a. D IV. 185 Vgl. zur Unterscheidung der theoretischen von unmittelbar praktischen Fragen vorne §21 E. 186 Vorne § 22 B. 187 Vorne § 23 C IV. 188 Vorne § 22 C. 189 Vgl. die bedenkenswerten Vorschläge zu einem ethisch angereicherten Begriff des Rechts bei Dreier, NJW 39 (1986) 896 und Bydlinski, Rechtsbegriff 317 f. 182
§ 23 Die Trennungsthese und das „Hitler-Argument"
223
Zusammenbruch eines solchen Staates; die Trennungsthese führt in solchen Fällen zu stoßenden Ergebnissen, wie an einem Beispiel gezeigt worden ist 1 9 0 . Will man dies vermeiden, dann bietet sich vor allem die Lösung an, den Begriff des Rechts dergestalt festzusetzen, daß kraß inhumane Anordnungen nicht mehr darunter fallen. Die Richter der zivilisierten Staaten sollten aus juristischen, nicht bloß moralischen Gründen die Anwendung solcher Anordnungen verweigern dürfen. Der Richter ist nicht wie der Rechtstheoretiker am Recht als einem sozialen Phänomen interessiert, sondern an dem Recht, das er anzuwenden hat. Deshalb ist es für ihn das Nächstliegende, nur das verbindliche Recht als „Recht" zu bezeichnen 191 . Schließlich gilt es auch zu berücksichtigen, daß der Begriff „Recht" sowohl der Fach- wie der Alltagssprache angehört. Soll ein Begriff auch von NichtFachleuten nachvollzogen werden können, dann dürfen die Assoziationen, die sich mit ihm nun einmal verbunden haben, nicht einfach vernachlässigt werden 192 . Daß „Recht" nichts mit „Gerechtigkeit" zu tun haben soll, dürfte für den Laien eine ziemlich schwerverständliche These sein; begreifbar ist sie nur für denjenigen, der durch die Zucht des rechtspositivistischen Denkens gegangen ist. Gegen die hier vorgeschlagene Lösung könnte man einwenden, die Uneinheitlichkeit der Ansichten über Gerechtigkeitsfragen verbiete es, gewisse inhaltliche Kriterien in den Begriff des Rechts aufzunehmen. Dieser Einwand schlägt m. E. in der heutigen Situation nicht mehr durch. Denn, wie Bockelmann bemerkt, wissen wir zwar nicht und werden wir niemals wissen, „wie wir diese unsere Welt rechtlich ordnen müssen, damit sie zu einem Himmel auf Erden wird. Aber wir wissen einiges darüber, was wir jedenfalls nicht zulassen dürfen, wenn sie nicht zur Hölle werden soll" 1 9 3 . Auch nach Fechner besteht — bei allen Unsicherheiten darüber, was das sittlich und rechtlich Gebotene ist — ein heute weltweiter Konsensus darüber, was jedenfalls im sittlichen Bewußtsein der überwiegenden Zahl aller Menschen als verabscheuungswürdig gilt und damit verwerflich ist 1 9 4 . Daß ζ. B. Kriegsverbrechen, Völkermord, Sklaverei und Sklavenhandel, daß Massendeportationen oder die Entrechtung der Frauen die allgemeinen Menschenrechte verletzen, wird, wie Dahm ausführt, heute nicht mehr ernstlich bestritten; insoweit bestehe ein allgemeines Kulturbewußtsein in unserer Zeit 1 9 5 . 190
Vorne § 23 C I 2. Eckmann 44. 192 Das betont Jtfrgensen 27. 193 P. Bockelmann, Ist die Rechtswissenschaft wirklich eine Wissenschaft?, in: Das Rechtswesen, Lenker oder Spiegel der Gesellschaft?, 29. 194 E. Fechner, Artikel „Rechtsphilosophie", in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften V I I I (Stuttgart / Tübingen / Göttingen 1964) 754, Spalte rechts. 195 G. Dahm, Völkerrecht I (Stuttgart 1958) 443. 191
224
3. Teil: Folgerungen
Gibt es somit in den Kulturstaaten Anzeichen für die Existenz einer, wenn auch noch so bescheidenen, „Intersubjektivitätsbasis" in bezug auf das, was jedenfalls unter keinen Umständen geduldet werden darf, dann ist kaum einzusehen, warum man darauf nicht zurückgreifen sollte. Denn nichts, insbesondere kein erkenntnistheoretischer Grund, hindert uns, zur Bewältigung dieses Problemkreises nicht von einem positivistischen, sondern von einem materialen Entwurf auszugehen, demzufolge positive Satzungen, die Mindestgrundsätze über die Achtung der Menschenwürde verletzen, keinesfalls als „Recht" anzusehen sind. Dabei dürfte es wohl am zweckmäßigsten sein, sich nicht mit Generalklauseln zu begnügen (z.B. „Verletzung der unantastbaren Personwürde des Menschen"), sondern darüber hinaus kasuistisch vorzugehen, d.h. Gruppen typischer Fälle zu bilden, bei denen jedenfalls eine solche Verletzung angenommen werden muß.
§ 24 Die übrigen Vor- und Nachteile der rechtspositivistischen Theorien A. Allgemeine Gesichtspunkte Ein großer Vorteil aller Rechtspositivismen besteht darin, daß sie ihren Untersuchungsgegenstand mit Hilfe nachprüfbarer Kriterien bestimmen und von anderen Untersuchungsgegenständen abgrenzen. Zwar beruht der Begriff des Rechts bei jeder Theorie, wie wir gesehen haben, auf einer vorwissenschaftlichen Entscheidung und ist damit nicht im strengen Sinne nachprüfbar. Hat man aber den Begriff einer Theorie erst einmal akzeptiert, dann läßt sich in aller Regel eindeutig feststellen, ob etwas i. S. dieser Theorie „Recht" ist oder nicht. Der Positivist weiß also, wovon er redet. Er befindet sich an diesem Punkte gegenüber dem Naturrechtler eindeutig im Vorteil; denn dieser sieht sich, auch nachdem er die Grundsatzfrage nach der Existenz zeitlos gültiger Rechtsgrundsätze bejaht hat, vor Probleme gestellt, die vor philosophischen Schwierigkeiten strotzen: So etwa die Fragen, worin diese zeitlos gültigen Grundsätze begründet sind (etwa in der Vernunft, in einer objektiven Wertordnung oder in der Weisheit und im Willen Gottes), welche Zugänge der Mensch zu diesen ewigen Richtweisern hat (etwa durch die Offenbarung Gottes oder die Stimme des menschlichen Gewissens) und wie sie konkret lauten 1 . Der Positivist verweist dagegen auf die Macht eines Souveräns, auf staatliche Gesetze, auf die sich regelmäßig durchsetzende Zwangsordnung, auf das Verhalten der Bürger oder der Gerichte bzw. auf die Tätigkeit des Sanktionsapparates — alles Gegebenheiten, die sich un1
Fechner 183/184.
§ 24 Die übrigen Vor- und Nachteile der rechtspositivistischen Theorien
225
zweifelhaft objektiv nachweisen lassen —, und schon weiß er, was hic et nunc Recht ist, womit er sich somit zu befassen hat. Eine Schwierigkeit scheint sich hier nur für den psychologischen Positivismus zu stellen, sind doch psychische Vorgänge zwar ebenfalls etwas unbestreitbar Wirkliches, aber nicht in Zeit und Raum, sondern nur in der Zeit gegeben und somit nicht direkt beobachtbar. Bei näherem Zusehen erweist sich diese Schwierigkeit aber für jene psychologischen Positivismen als irrelevant, die sich mit einer Art Blanko-Anerkennung begnügen. Wenn man nur die Geltungsnormen der Verfassung (Bierling) oder nur den obersten Imperativ „Gehorche meinen Vorschriften" (Merkel) oder nur „das System als Ganzes" (Nawiasky,Beling) anerkennen muß, dann ist natürlich jede effektive Zwangsordnung in diesem Sinne „anerkannt", solange die Bürger dagegen nicht mit Erfolg revoltieren. Ebenfalls bedeutungslos ist diese Schwierigkeit für den skandinavischen Rechtsrealismus, weil diese Schule die für das Recht relevanten „Verhaltensvorstellungen" aus dem Gesetzgebungs- und Rechtsprechungsmaterial, also etwas in Raum und Zeit Gegebenem, erschließen will. Eine Schwierigkeit entsteht hingegen dann, wenn man den psychologischen Positivismus in dem Sinne formuliert, daß die Anerkennung durch die Mehrheit sich auf einzelne Rechtssätze beziehen muß. Es fragt sich dann, wie das Vorliegen dieser Anerkennung verifiziert werden kann. Entgegen vielfachen Befürchtungen ist dies heute grundsätzlich möglich, weil die moderne Soziologie über Methoden verfügt, mit Hilfe derer sich Durchschnittswertungen feststellen lassen. I n Betracht fallen hier vor allem die demoskopischen Umfragen, „bei denen die Befragung eines repräsentativen Querschnitts durch die Bevölkerung Schlußfolgerungen auf die im Volk vertretenen Auffassungen zuläßt" 2 . Die Demoskopie vermittelt ein genaueres Bild der Volksmeinung als Volksabstimmungen, weil Repräsentativbefragungen differenzierte Fragestellungen zulassen3. Die Erkenntnisse der Statistik und der Wahrscheinlichkeitsrechnung geben Auskunft darüber, wie groß die Stichprobe sein muß, damit die Fehlerspannen den erforderlichen Genauigkeitsgrad nicht überschreiten 4 . Der Einwand Kelsens, eine Anerkennung von Rechtsnormen könne nie bewiesen werden, trifft also für die heutige Zeit grundsätzlich nicht mehr zu 5 . Ein weiterer Vorteil der rechtspositivistischen Lehren liegt darin, daß sie den Blick auf die sog. „Realfaktoren der Rechtsbildung" gelenkt haben 6 . Welche Faktoren ζ. B. tatsächlich das richterliche Entscheidungsverhalten beeinflussen, haben erst die „realistischen" Bewegungen wissenschaftlich zu untersuchen begonnen. So konnte beispielsweise bei zwei Richtern A und B, 2 W. Birke, Richterliche Rechtsanwendung und gesellschaftliche Auffassungen (Köln 1968) 52. 3 Birke 53. 4 Birke 54. 5 Kelsen, Hauptprobleme 357 ff. 6 So die treffende Bezeichnung durch Henkel 525 ff.
1 Ott, 2. Aufl.
226
3. Teil: Folgerungen
die im Jahre 1967 am gleichen Amtsgericht in jeweils ähnlich gelagerten Fällen alkoholbedingte Straßenverkehrsunfälle zu beurteilen hatten, festgestellt werden, daß zwischen der Tatsache, daß ein Richter den Führerschein besaß bzw. nicht besaß und seinem Entscheidungsverhalten eine zwar geringe, aber doch nachweisbare Korrelation bestand 7 . Und zwar verhängte unerwarteterweise der Richter A , der selbst einen Führerschein besaß, strengere Strafen über fehlbare Automobilisten als sein Kollege Β ohne Führerschein. Würden solche Untersuchungen in größerem Umfange durchgeführt, könnten sie zweifellos dazu beitragen, ein wirklichkeitsgetreueres Bild der Rechtsprechung zu vermittlen. — Ein anderes Beispiel ist das besonders von der Reinen Rechtslehre betonte Effektivitätsprinzip. Trotz vieler Schwankungen ist es im ganzen der Maßstab der Effektivität, der bis heute die internationale Praxis bezüglich der völkerrechtlichen Anerkennung von Staaten und deren Regierungen beherrscht 8 . Das Effektivitätsprinzip besagt, „daß nach allgemeinem Völkerrecht eine Regierung, die, von anderen Regierungen unabhängig, effektive Kontrolle über die Bevölkerung eines bestimmten Gebietes ausübt, die legitime Regierung und daß das unter einer solchen Regierung auf diesem Gebiet lebende Volk einen Staat im Sinne des Völkerrechts bilden; und zwar ohne Rücksicht darauf, ob diese Regierung auf Grund einer schon vorher bestandenen oder erst auf Grund einer von ihr revolutionär etablierten Verfassung diese effektive Kontrolle ausübt" 9 . Aufschlußreich dafür ist die Tatsache, daß Gerichte der Vereinigten Staaten von Amerika sich zunächst geweigert hatten, Akte der revolutionär etablierten russischen Regierung als Rechtsakte anzuerkennen, weil es nicht Akte eines Staates, sondern einer Gangsterbande seien 10 . Nachdem jedoch die revolutionär etablierte Zwangsordnung sich als dauernd wirksam erwiesen hatte, wurde sie als Rechtsordnung und ihre Regierung als Staatsregierung anerkannt. Solange die internationale Praxis dem Effektivitätsprinzip folgt (was nicht immer so bleiben muß), wird man nicht bestreiten können, daß der Positivismus der Reinen Rechtslehre an diesem Punkte (nämlich betreffend der völkerrechtlichen Legitimation von Staaten) ins Schwarze trifft; in der Tat starrt hier dem, „der den Schleier hebt und sein Auge nicht schließt", nichts anderes als das „Gorgonenhaupt der Macht entgegen 11 ! 7 H. Eikenberg, Voraussetzungen und Schwierigkeiten der empirischen Erforschung richterlicher Entscheidungsgrundlagen, in: Die Funktion des Rechts in der modernen Gesellschaft, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 1 (1970) 368. 8 Vgl. zu diesem Problemkreis statt vieler G. Dahm, Völkerrecht I (Stuttgart 1958) 121 ff., besonders 133/135 mit zahlreichen Beispielen. 9 Kelsen, Reine Rechtslehre 221. 10 Kelsen, Reine Rechtslehre 51. 11 So Kelsen in seinem Diskussionsbeitrag an der deutschen Staatsrechtslehrertagung 1926, Veröffentlichung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Nr. 3 (Berlin / Leipzig 1927) 55.
§ 24 Die übrigen Vor- und Nachteile der rechtspositivistischen Theorien
227
Neben diesen offensichtlichen Vorteilen weisen aber alle positivistischen Theorien in irgendeiner Hinsicht den Mangel auf, einseitig zu sein und gewisse Gesichtspunkte zu verabsolutieren 12 . Diesen Vorwurf erheben natürlich in erster Linie jene Denker, die von anderen erkenntnistheoretischen Positionen ausgehen und glauben, daß zum Recht auch eine „Essenz", eine bestimmte „Wesens- und Wertqualität" gehört 13 . Von einem solchen Standpunkt aus sind natürlich alle Rechtspositivismen zum vornherein unzulänglich, weil sie nur die „reale", nicht auch die „ideelle" Seite des Rechts betrachten. Aber selbst wenn man sich auf den gleichen erkenntnistheoretischen Boden wie die Rechtspositivisten begibt, kann man nicht umhin, eine verengende Betrachtungsweise festzustellen (nur Harts , MacCormicks und Weinbergers Lehren machen hier eine Ausnahme): Denn sogar das, was unter Zugrundelegung eines strengen erkenntnistheoretischen Positivismus noch als „wirklich" betrachtet werden kann, wird von den Rechtspositivisten jeweils in bestimmter Hinsicht weiter eingeengt, indem — je nach Richtung — überwiegend nur normative, soziologische, psychologische oder formale Zusammenhänge unter Vernachlässigung der übrigen erforscht werden. Die sich hieraus ergebenden Unzulänglichkeiten lassen sich ab.er besser bei der Betrachtung der einzelnen Theorien aufzeigen, der wir uns nun zuwenden wollen.
B. Vor- und Nachteile der Analytical Jurisprudence Austins Für Austin ist der Begriff des Befehls „der Schlüssel zur Theorie von Recht und M o r a l " 1 4 . Wie aktuell eine solche grundsätzliche Konzeption auch heute noch ist, zeigen die Versuche von modernen Vertretern der analytischen Werttheorie, moralische Urteile bzw. Werturteile als „imperative" oder „präskriptive" Äußerungen (im Gegensatz etwa zu den „deskriptiven" empirischen Sätzen) zu qualifizieren 15 . Diese Auffassung stößt allerdings heute auch innerhalb der analytischen Werttheorie auf Widerspruch 16 . Eine Diskussion der ungemein verwickelten Werturteilsproblematik würde aber an dieser Stelle zu weit führen. — Neben dieser sich auch in den Werken zahlreicher Juristen äußernden Aktualität der Befehlstheorie 17 sind ihre 12 Vgl. ζ. B. Henkel 500 f. und Fechner 64. Kelsen, Hauptprobleme 42, stellt fest, es sei „selbstverständlich, daß der formale, streng normative Gesichtspunkt des Juristen ein einseitiger und durchaus nicht imstande ist, die Gesamt-Rechtserscheinung zu erfassen". 13 So Henkel 501. 14 Austin, Province 13. 15 Darauf verweist Hart, Recht und Moral 24; derselbe, Harv. L. R. 71 (1957/58) 602. 16 Es sei hier insbesondere verwiesen auf die gründlichen Untersuchungen E. v. Savignys, Die Überprüfbarkeit der Strafrechtssätze (Diss. Freiburg / München 1967); derselbe, Die Philosophie der normalen Sprache. Eine kritische Einführung in die „ordinary language philosophy" (Frankfurt a. M. 1969) 220 ff. 17 Vgl. die bei Larenz 243 Ν 5 zit. Autoren.
1*
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3. Teil: Folgerungen
Einfachheit sowie ihre Eignung zur Erfassung des Phänomens des Strafrechts zu rühmen. Die analytical jurisprudence gibt auch gut den Aspekt des Rechts aus der Sicht des Politikers wieder, der „im Recht das Werkzeug der Regierungstätigkeit sieht und die Rechtsnormen daher als sanktionierte Befehle oder Imperative betrachten wird" 1 8 . Der wichtigste Einwand gegen die Befehlstheorie lautet, daß es Rechtsnormen gibt, die man nicht als Befehle deuten kann, weil sie keine Sanktionen anordnen, worauf wir schon hingewiesen haben 19 . Hierzu gehören die Normen über rechtliche Zuständigkeiten, über den Erwerb, die Veränderung, den Übergang oder den Verlust von subjektiven Rechten, über den rechtlichen Status von Personen oder Personenvereinigungen sowie über den Erwerb oder den Verlust einer „Rechtsmacht" (ζ. B. Vollmacht, Vertretungsmacht) 2 0 . Nun ist es freilich möglich, was Larenz betont, die Imperativentheorie rein logisch dadurch zu retten, daß man sagt, diesen Normen komme eine bloße Hilfsfunktion zu 2 1 . Die Norm über die Entstehung einer Vollmacht beispielsweise werde praktisch bedeutsam erst in Verbindung mit einem Rechtsgeschäft, das der Bevollmächtigte namens des Vollmachtgebers mit einem Dritten schließt und aus dem dann Pflichten des Vollmachtgebers sowie des Dritten entstehen können. Die Rechtsnorm über die Entstehung der Vollmacht wäre damit noch keine vollständige Rechtsnorm, sondern nur ein Satz, der dazu dient, eine der tatbestandlichen Voraussetzungen einer anderen Rechtsnorm näher zu umschreiben, und erst im Zusammenhang mit dieser würden dann durch Sanktionen gesicherte Pflichten entstehen. An dieser Stelle zeigt es sich, daß esfast immer möglich ist, durch Zusatzkonstruktionen eine Theorie zu „ retten " und man folglich rechtsphilosophische Gedanken selten stringent widerlegen kann, was für die Angemessenheit unserer Deutung des rechtsphilosophischen Denkens spricht. So läßt sich die Imperativentheorie also nicht als falsch erweisen; man kann nur einwenden, daß sie gekünstelt wirkt, weil sie um den Preis erkauft ist, „daß fast alle Sätze, die der Jurist als ,Rechtssätze' zu betrachten gewohnt ist, den Charakter von lediglich erläuternden und umschreibenden Hilfssätzen annehmen" 22 . Weitere Mängel der^w^/wschen Konzeption hat insbesondere Hart aufgewiesen. Hart wendet ein, ein gewohnheitsmäßiger Gehorsam der Untertanen gegenüber dem Souverän wäre allenfalls nur denkbar bei einem Monarchen, der lange genug lebt, damit eine „Gewohnheit" entstehen kann. Bei einer 18
Jtfrgensen 11. Vorne § 3 bei Ν 41 ff. 20 Larenz 245.; Henkel 42. 21 Larenz 185 (Methodenlehre der Rechtswissenschaft [2. A. Berlin / Heidelberg / New York 1969]). 22 Larenz 185 (Methodenlehre der Rechtswissenschaft [2. A. Berlin / Heidelberg / New York 1969]). 19
§ 24 Die übrigen Vor- und Nachteile der rechtspositivistischen Theorien
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gesetzgebenden Körperschaft mit wechselndem Mitgliederkreis und erst recht bei einer Wählerschaft treffe dieses Schema nicht zu 2 3 . Eine besondere Schwierigkeit entsteht für die Befehlstheorie, wenn man den Fall der Demokratie ins Auge faßt. Da hier letztlich die Masse der Aktivbürger als „Souverän" anzusehen ist, gehorcht in diesem Fall die Masse der Masse, d. h. sie gehorcht sich selbst 24 . Damit ist aber das von der Befehlstheorie entworfene Bild eines höhergestellten Befehlenden und eines unterworfenen Befehlsempfängers für die Demokratie unzureichend. Ein Ausweg bestünde hier nur darin, daß man zwischen dem Gesetzgeber in seiner offiziellen Eigenschaft als einer Person und in seiner privaten Eigenschaft als einer anderen Person unterscheidet. Obwohl nach Hart gegen eine solche Ausdrucksweise nichts einzuwenden wäre, setzte diese Unterscheidung aber gerade machtübertragende Rechtsregeln voraus (damit man nämlich weiß, wann der Aktivbürger als Gesetzgeber und wann als Privatperson fungiert), die, wie wir gesehen haben, nicht als Zwangsbefehle gedeutet werden können 25 . Weitere Nachteile der Austinschtn Theorie bestehen darin, daß sie zur Erfassung der Phänomene des Völkerrechts und des Gewohnheitsrechts untauglich ist. Jenes rechnet er zur positiven Moral, dieses muß er als stillschweigenden Befehl des Souveräns deuten, sofern es von einem Gericht anerkannt worden ist. Hart wendet hier ein, daß Gewohnheitsrecht schon vor einem Gerichtsurteil bestehen könne 2 6 und daß nur selten die gesetzgebende Körperschaft und erst recht die Wählerschaft von dem Gerichtsurteil, das Gewohnheitsrecht anerkennt, etwas wüßten; deshalb könne hier kein stillschweigender Befehl vorliegen 27 .
C. Vor- und Nachteile des Gesetzespositivismus28 Die Vorteile des gesetzespositivistischen Modells liegen offen zutage: Neben seiner Einfachheit ist ihm im besonderen der Vorzug eigen, den wir vorne §24 A am Anfang für die rechtspositivistischen Lehren allgemein festgestellt haben und der darin besteht, ein klares und nachprüfbares Kriterium für den Rechtscharakter einer Regel anzugeben. Während der soziologische und der psychologische Positivist immerhin möglicherweise längere empirische Nachforschungen treiben müssen um festzustellen, ob etwas in ihrem Sinne „Recht" ist oder nicht, kann der Gesetzespositivist als 23
Hart, Recht und Moral 25; derselbe, Harv. L. R. 71 (1957/58) 603. Hart, Recht und Moral 26; derselbe, Harv. L. R. 71 (1957/58) 604. 25 Hart, Concept of Law 42, Begriff 66/67; Eckmann 60. 26 Hart, Concept of Law 45/46, Begriff 71/72; Eckmann 60. 27 Hart, Concept of Law 47, Begriff 73. 28 Zur Geschichte der Kritik am gesetzespositivistischen Rechtsanwendungsmodell im 19. Jahrhundert vgl. nun ausführlich Ogorek 76 ff. 24
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3. Teil: Folgerungen
Antwort auf die Frage, was Recht sei, einfach auf die offizielle Sammlung der staatlichen Erlasse verweisen und ist damit weiterer Untersuchungen enthoben. Ferner ist dem Gesetzespositivisten einzuräumen, daß im modernen Verfassungsstaat das staatliche Gesetz in seinen verschiedenen Erscheinungsformen (Verfassungsgesetz, einfaches Gesetz, Verordnung) unzweifelhaft zur dominierenden Rechtsquelle geworden ist. Eine unerwartete Aktualität hat ferner die gesetzespositivistische Lehre vom Richter als „Subsumtionsautomaten" in neuester Zeit erfahren durch die Möglichkeiten, in der Rechtsanwendung elektronische Datenverarbeitungsmaschinen einzusetzen 29 . Soweit man dies heute überblicken kann, ist zwar die Anwendung automatischer Rechtsfindungsverfahren „offenbar nur dort diskutabel, wo Rechtsfolgen mit voller Eindeutigkeit und Ausschließlichkeit an äußere, und zwar an endlich zahlreiche und quantifizierbare Tatbestände geknüpft sind, und dementsprechend insofern in den Entscheidungsprozeß die stets infinitive Variabilität der konkreten Situation (,die Fallgerechtigkeit') schlechthin nicht eingeht" 30 . Dies gilt insbesondere für einfache Anwendungen der Subsumtion, wie bei Festsetzungen von Steuer-, Lohn- und Rentenbeträgen, von Versicherungsleistungen sowie Geldbußen im Straßenverkehr 31 . I n diesen — möglicherweise engen — Grenzen trifft das gesetzespositivistische Modell jedenfalls zu. Gegen den Gesetzespositivismus hat Ophüls den Nachweis zu führen versucht, daß er eine logisch undurchführbare Theorie sei 32 . Die Behauptung, alle gültigen Rechtssätze, einschließlich den Geltungsnormen, seien positiv erzeugt oder aus positiv erzeugten Sätzen ableitbar 33 , führe zu einem logischen Widerspruch. Das entscheidende Argument gründet er auf die „Rekursivität" der positiv-rechtlichen Normen. Das bedeutet nach Ophüls, „daß keine von ihnen durch sich selbst, kraft ihres Inhalts, Geltung hat, sondern daß ihre Geltung durch einen sie rechtfertigenden positiven Rechtssetzungsakt begründet wird" 3 4 . A u f Grund dieser Definition führt Ophüls den richtigen Nachweis, daß zumindest jene oberste Geltungsnorm, aus der 29 Vgl. dazu Klug, 174 ff. und Simitis, Rechtliche Anwendungsmöglichkeiten kybernetischer Systeme, Recht und Staat Nr. 322 (Tübingen 1966) mit zahlreichen weiteren Nachweisen. 30 F. Wieacker, Recht und Automation, Festschrift für Eduard Bötticher (Berlin 1969) 399. 31 Wieacker (zit. § 24 Ν 30) 399. 32 Ophüls Ausführungen, NJW 21 (1968) I I 1746, richten sich nach seinen eigenen Worten gegen den deutschen Gesetzespositivismus des 19. Jahrhunderts. 33 Ophüls, NJW 21 (1968) I I 1750. 34 Ophüls, NJW 21 (1968) I I 1750. Das Argument der Nicht-Kontingenz der Geltungsnormen ist, wie die subtilen Erörterungen von Hoerster, ARSP 56 (1970) 47 ff., ergeben haben, unhaltbar, weil die Geltungsnormen genauso wie die Sachnormen von Rechtssystem zu Rechtssystem variieren können und damit kontingent (zufällig) sind.
§ 24 Die übrigen Vor- und Nachteile der rechtspositivistischen Theorien
231
das positiv-rechtliche System von Geltungs- und Sachnormen selbst seine Geltung bezieht (im Kelsen sehen System also die berühmte Grundnorm), nicht ihrerseits selbst wieder auf einen positiven Rechtssetzungsakt zurückgeführt werden kann. Ophüls wiederholt damit das Argument, das schon Kant in seiner „Metaphysik der Sitten" formuliert hatte: Selbst wenn man sich eine äußere Gesetzgebung denke, die lauter positive Gesetze enthielte, so „müßte doch ein natürliches Gesetz vorausgehen, welches die Autorität des Gesetzgebers (d. i. die Befugnis, durch seine bloße Willkür andere zu verbinden) begründete" 35 . Damit ist im Grunde genommen nichts anderes als der von uns so betonte „axiomatische" Charakter aufgezeigt, der jeder rechtspositivistischen Theorie und damit auch dem Gesetzespositivismus eigen ist, weil ein Begründungszusammenhang notwendig an irgendeiner Stelle abgebrochen und statt dessen mindestens eine unbewiesene Voraussetzung eingeführt werden muß. Diese Voraussetzung braucht nun keineswegs ein Satz des Naturrechts zu sein, wie Ophüls mit Kant glaubt, sondern kann eine einfache Definition des Rechts sein: A u f die Frage, warum ausgerechnet die Anordnungen des Gesetzgebers als geltendes Recht zu betrachten seien, könnte der Gesetzespositivist schlicht antworten: Weil sie auf Grund der von mir akzeptierten Defìnition des Rechts eben geltendes Recht sind! Diese Begründung mag man als dürftig empfinden, sie ist aber sicher nicht logisch widerspruchsvoll 36 . Der Einwand der logischen Unhaltbarkeit des Gesetzespositivismus schlägt somit nicht durch. Anders verhält es sich freilich, wenn man die Leistungsfähigkeit des gesetzespositivistischen Entwurfes zur Erfassung des Phänomens der Rechtsprechung untersucht. Nach den grundlegenden Untersuchungen von Esser 31, Wieacker 38, Larenz 39, Meier-Hayoz 40 und Canaris 41, um bloß einige neuere einschlägige Publikationen zu nennen, kann heute kein Zweifel mehr bestehen, daß sich die richterliche Tätigkeit nicht in einer Anwendung stringent logischer Schlußverfahren erschöpft, wenn man von der Entscheidung ganz trivialer Rechtsfälle absieht sowie jene Bereiche der Rechtsanwen35 /. Kant, Metaphysik der Sitten, hrsg. von K. Vorländer, Philosophische Bibliothek Bd. 42 (4. Aufl. Leipzig 1922), Einleitung I V S. 28. 36 Hoerster, ARSP 56 (1970) 51, verweist zudem auf die Möglichkeit, in der obersten Verfassungsnorm selbst der jeweiligen Rechtsordnung die oberste rechtliche Geltungsnorm zu sehen. 37 Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts (Tübingen 1956, Neudruck 1964). 38 Gesetz und Richterkunst. Zum Problem der außergesetzlichen Rechtsordnung, Schriftenreihe der juristischen Studiengesellschaft Karlsruhe Nr. 34 (Karlsruhe 1957). 39 Methodenlehre der Rechtswissenschaft (5. Aufl. Berlin / Heidelberg / New York / Tokyo 1983). 40 Der Richter als Gesetzgeber (Zürich 1951). 41 Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, entwickelt am Beispiel des deutschen Privatrechts, Schriften zur Rechtstheorie Nr. 14 (Berlin 1969).
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3. Teil: Folgerungen
dung ausnimmt, in denen der Einsatz von Automaten möglich ist. Das gesetzespositivistische Modell trifft nur insoweit zu, als es gelingt, ein positives Rechtssystem streng zu axiomatisieren und in Form eines Kalküls zu bringen. Die Grenzen der Axiomatisierbarkeit des Rechts bedeuten auch die Grenzen des Gesetzespositivismus. — Da diese Kritik am Gesetzespositivismus schon unzählige Male vorgebracht worden ist, hieße es offene Türen einrennen, wenn wir an diesem Punkte länger verweilen wollten. Statt dessen soll ein Beispiel aus der Rechtsprechung des Schweizerischen Bundesgerichts das Gemeinte verdeutlichen 42 : I n BGE 82 I I 522 ff. hatte ein Zedent nach Vornahme einer entgeltlichen Abtretung, aber noch bevor sie dem debitor cessus mitgeteilt worden war, bei diesem ein Darlehen aufgenommen. Als der Zessionar die abgetretene Forderung gegenüber dem debitor cessus geltend machen wollte, drang er nicht durch, weil die an sich unbestrittene Forderung des Zedenten durch Verrechnung mit der höheren Darlehensforderung des Abtretungsschuldners untergegangen war. Das Bundesgericht hatte nun die Schadenersatzklage des Zessionars gegen den Zedenten zu beurteilen. Gemäß OR 1711 haftet der Zedent bei der entgeltlichen Abtretung für den Bestand der Forderung zur Zeit der Abtretung. Nach dem bloßen Wortlaut von OR 1711 ginge der Zessionar in diesem Falle leer aus, weil die Forderung zur Zeit der Abtretung ja bestanden hatte und erst durch Verrechnung nachträglich untergegangen war. Doch meinte das Bundesgericht, daß dieses Ergebnis derart stoßend wäre, daß es nicht richtig sein könne 43, und führte aus: „Die Vorschrift ist indessen dahin zu verstehen, daß dem Abtretenden die sogenannte Verschaffungspflicht trifft, d. h. daß er dem Abtretungsempfänger die Rechte aus der abgetretenen Forderung zu verschaffen hat. Dieser Pflicht genügt er zunächst durch die vereinbarungsgemäße Übertragung der Forderung. Darüber hinaus darf er aber auch nachher nichts tun, wodurch das abgetretene Recht dem Zessionar entzogen oder wodurch es beeinträchtigt würde . . . Er haftet somit auch für Verschlechterungen der abgetretenen Forderung, welche er in der Zeit zwischen der Abtretung und ihrer Kenntnisgabe an den Schuldner, namentlich durch Verhandlungen mit ihm, herbeigeführt hat .. ." 4 4 . — Die ratio decidendi liegt hier offensichtlich in einem „vorpositiven Prinzip", nämlich in einer Gerechtigkeitsvorstellung, die eine auf dem Wortlaut von OR 1711 basierende Lösung als schlechthin unerträglich erscheinen läßt. Wie Meier-Hayoz betont, ist es „im speziellen die Idee des Ausgleichs, die hier wirksam geworden ist: Wenn der Zedent für die Abtretung schon ein Entgelt erhalten hat, der Zessionar aber aus einem vom 42 Das Beispiel wird erwähnt von Meier-Hayoz, Über geschriebenes und ungeschriebenes Recht, Recueil de travaix suisses présentés au V i l l e Congrès international de droit comparé (Basel 1970) 8/9. 43 BGE 82 I I 524. 44 BGE 82 I I 523.
§ 24 Die übrigen Vor- und Nachteile der rechtspositivistischen Theorien
233
Zedenten zu verantwortenden Umstand der ihm zustehenden Gegenleistung verlustig geht, fordert es die kommutative Gerechtigkeit zwingend, daß hier, selbst über die gesetzliche Anordnung hinweg, Remedur geschaffen werde" 4 5 .
D. Die Vor- und Nachteile der Reinen Rechtslehre Kelsens I. Würdigung der Reinen Rechtslehre in ihrer klassischen Gestalt A u f die Reine Rechtslehre sind wir schon verschiedentlich zu sprechen gekommen. Zunächst im Kapitel über die Unbeweisbarkeit der rechtspositivistischen Theorien: W i r sahen dort, daß Kelsen zu den kritischen Rechtspositivisten gehört, d. h. zu denen, die sich des „axiomatischen" Charakters ihrer Lehre bewußt sind 4 6 . Ja man darf sagen: Bei keinem Rechtspositivismus tritt der „axiomatische" Charakter so deutlich und unmißverständlich hervor wie bei der Reinen Rechtslehre; sie ist das Musterbeispiel einer Theorie, die sich selbstkritisch reflektiert und insofern auch für denjenigen, der ihr nicht oder nicht in allen Teilen folgt, ein rühmliches Vorbild. Ferner haben wir den Vorwurf einer ideologischen Befangenheit der Reinen Rechtslehre zurückgewiesen 47 . Die Beschränkung des Blickfeldes auf die effektiven Zwangsordnungen erfolgt bei Kelsen nicht aus politischen, sondern aus erkenntnistheoretischen Gründen. Bezeichnend dafür ist, daß es kaum eine politische Richtung gibt, derer die Reine Rechtslehre nicht verdächtigt wurde, wofür Métall den eindrucksvollen literarischen Nachweis erbracht hat 4 8 . Gerade dieser Umstand spricht jedoch nicht gegen, sondern für die Reinheit von Kelsens Theorie. Die Reine Rechtslehre will die positiven, effektiven Zwangsordnungen als normative Ordnungen, als So/Z-Ordnungen deuten 49 . Diese Betrachtungsweise ist für den Richter und für den Dogmatiker fruchtbar. Denn beide suchen nach Begründungen für die Lösung von Rechtsfällen; und diese können sich 45
Meier-Hayoz (zit. § 24 Ν 42) 9. Vorne § 20 Β III. 47 Vorne § 21 C. 48 R.A. Métall (zit. §21 Ν 21), Internationale Zeitschrift für Theorie des Rechts 10 (1936) 163 ff., mit zahlreichen Literaturbelegen. Vgl. auch Kelsen, Reine Rechtslehre S. V (Vorwort zur ersten Auflage): „Faschisten erklären sie für demokratischen Liberalismus, liberale oder sozialistische Demokraten halten sie für einen Schrittmacher des Faschismus. Von kommunistischer Seite wird sie als Ideologie eines kapitalistischen Etatismus, von nationalistisch-kapitalistischer Seite bald als krasser Bolschewismus, bald als versteckter Anarchismus disqualifiziert. Ihr Geist sei — versichern manche — der katholischen Scholastik verwandt, andere wieder glauben in ihr die charakteristischen Merkmale einer protestantischen Staats- und Rechtslehre zu erkennen." 46
49
Walter, ÖZöR NF 18 (1968) 336.
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3. Teil: Folgerungen
immer nur aus Normen, nicht aber etwa aus sozialen oder psychologischen Fakten ergeben. Eine Ersetzung der Rechtsdogmatik durch Rechtssoziologie oder -psychologie ist folglich unmöglich. Als weiteres Positivum ist hervorzuheben, daß Kelsens Interpretationstheorie durch die neuere Entwicklung der juristischen Methodenlehre in wesentlichen Teilen bestätigt worden ist 5 0 . Wenn heute das Auslegungsverfahren weithin als ein topisches charakterisiert wird 5 1 , das als solches auf einem Abwägen von Argumenten und Gegenargumenten beruht, dann unterstützt dies Kelsens Anschauung, wonach die Interpretationsmethoden stets nur zu einem möglichen, nie aber zu einem einzig richtigen Resultat führen 52 . Das topische Verfahren ist schöpferisch 53 ; wenn die Interpretation ein topisches Verfahren sein soll, dann muß sie folglich auch schöpferisch sein; und eben dies behauptet Kelsens Lehre von der Interpretation als einem Willensakt, als einem A k t der Rechtserzeugung, nicht der Rechtserkenntnis 5 4 . Die Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung ist ferner so konzipiert, daß sie auch das Phänomen der gesetzeswidrigen Gerichtsentscheidung zu erfassen vermag. Als Beispiel sei an die Praxis des Schweizerischen Bundesgerichts zur Frage erinnert, ob Wirtschaftsverbände die Vereinsform wählen dürfen oder nicht 5 5 . Die Tatsache, daß die Rechtsordnung der letztinstanzlichen Entscheidung Rechtskraft verleiht, bedeutet nach Kelsen, „daß nicht nur eine generelle Norm in Geltung steht, die den Inhalt der gerichtlichen Entscheidung vorausbestimmt, sondern auch eine generelle Norm, derzufolge das Gericht den Inhalt der von ihm zu erzeugenden individuellen Norm selbst bestimmen kann" 5 6 . Das letztinstanzliche Gericht ist also nach dieser Konstruktion ermächtigt, auch gegen die gesetzliche Norm zu entscheiden, was es erlaubt, eine gesetzeswidrige Praxis wie diejenige des Bundesgerichts als gültiges positives Recht zu begreifen. Einer der wichtigsten Einwände gegen die Reine Rechtslehre lautet, daß Kelsen die Disparität von Sein und Sollen nicht durchzuhalten vermöge 57 . So behauptet Larenz, die Postulierung der Grundnorm finde ihre sachliche 50
Dies betont mit Recht Walter, ÖZöR NF 18 (1968) 350/351 Ν 84. Ein Beispiel eines solchen Topoikataloges sind die Auslegungselemente. 52 Kelsen, Reine Rechtslehre 350. 53 W Ott, Jurisprudenz und plausibles Argumentieren, in: Aspekte der Rechtsentwicklung, Festschrift Meier-Hayoz (Zürich 1972) 32 ff. 54 Kelsen, Reine Rechtslehre 350/351. 55 Hinten § 24 F. 56 Kelsen, Reine Rechtslehre 273. 57 Larenz 73; E. Kaufmann, Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie (Tübingen 1921) 30ff.; Fechner, ARSP Beiheft N F 6 (1970) 209/210; Κ Engisch, Besprechung der zweiten Auflage von Kelsen, Reine Rechtslehre, ZStrW 75 (1963) 602. 51
§ 24 Die übrigen Vor- und Nachteile der rechtspositivistischen Theorien
235
Rechtfertigung letztlich darin, daß eine bestimmte Zwangsordnung als solche funktioniere — das „Sollen" ergebe sich damit in der Tat auf dem Umweg über das erkenntnistheoretische Postulat der „Grundnorm", aus dem als solchem für Kelsen sinn- und wertfremden Sein, der (bloßen) Faktizität 5 8 ! Allein, in dieser Form schlägt der Einwand nicht durch: Denn Kelsen erklärt nicht: die Zwangsordnung X ist eine wirksame Ordnung, folglich ist sie auch eine gesollte Ordnung (was in der Tat ein unzulässiger Schluß vom Sein auf das Sollen wäre), sondern er erklärt: Wenn man die wirksame Zwangsordnung X als eine gesollte Ordnung deuten will, muß man eine Grundnorm voraussetzen, die besagt, daß man sich so verhalten soll, wie es die Verfassung X vorschreibt. Niemand ist aber nach Kelsen gezwungen, diese Deutung nachzuvollziehen und die Grundnorm zu akzeptieren 59 . Daraus ersieht man, daß die Grundnorm nicht aus der Faktizität von X „folgt", sondern sie wird bewußt „gesetzt", um das Faktische — freilich nur hypothetisch — als gesollt begreifen zu können. Logisch gesehen ist also die Trennung von Sein und Sollen bei Kelsen nicht gefährdet 60 . Allerdings muß den Kritikern folgendes zugegeben werden: Die Grundnorm ist inhaltlich so formuliert, daß sie sich jeweils auf eine wirksame Zwangsordnung bezieht und diese jeweils als hypothetisch gesollt erklärt, so daß das positive Recht i. S. einer wirksamen Zwangsordnung nie im Widerspruch zu seiner Grundnorm stehen kann 6 1 . Umgekehrt wird die Grundnorm nur bei solchen Zwangsordnungen nicht vorausgesetzt, die nicht genügend wirksam sind, wie etwa im Fall einer Räuberbande, deren Gewalt der staatlichen unterlegen ist 6 2 . Also liegt das entscheidende Kriterium dafür, ob eine Grundnorm gesetzt wird oder nicht, allein darin, ob die fragliche Zwangsordnung genügend wirksam ist oder nicht, d. h. in etwas Faktischem, was die Kritik zu rechtfertigen scheint. Allein, dieses Kriterium liefert Kelsen nicht die Prämisse für eine logische Ableitung der Grundnorm (in diesem Falle müßte diese gar nicht gesetzt, sondern könnte bewiesen werden 63 !), sondern die Orientierung am Faktischen ist nur das (erkenntnistheoretische) Motiv für die Festsetzung der Grundnorm. Ein weiterer Einwand richtet sich gegen Kelsens Begriff der Rechtsnorm. Eine vollständige Rechtsnorm ist für Kelsen nur eine solche, die ein bestimm58
Larenz 14. Vgl. vorne § 5 A bei Ν 15 ff. 60 Das betont Walter, ÖJZ 16 (1961) 478. Die Unangreifbarkeit dieser Basisthese der Reinen Rechtslehre hat Klug nachgewiesen; vgl. U. Klug, Die Reine Rechtslehre von Hans Kelsen und die formallogische Rechtfertigung der Kritik an dem Pseudoschluß vom Sein auf das Sollen, in: U. Klug, Skeptische Rechtsphilosophie und humanes Strafrecht I (Berlin / Heidelberg / New York 1981) 99 ff. 61 Vgl. vorne § 5 A bei Ν 19 f. 62 Vorne § 5 A bei Ν 21. 63 Mit Recht stellt Walter, ÖJZ 16 (1961) 478, fest: „ . . . was abzuleiten ist, braucht nicht hypothetisch vorausgesetzt zu werden." 59
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3. Teil: Folgerungen
tes Individuum (nämlich das Rechtsorgan) ermächtigt, gegen ein anderes Individuum einen Zwangsakt als Sanktion zu richten 64 . Gesollt ist also in erster Linie die Sanktion, nicht aber direkt das Verhalten eines Rechtsunterworfenen, das Bedingung für den Eintritt der Sanktion ist 6 5 . I m Beispiel eines Mordparagraphen wäre also direkt nur die auf einen M o r d zu verhängende Strafe gesollt, nicht aber das Verhalten des Nicht-Tötens. Daraus kann man nun schließen, Kelsens Rechtsnorm richte sich in erster Linie an die Rechtsorgane, nicht aber an die Rechtsunterworfenen 66 . Gegen eine solche Auffassung wendet Hart ein, sie verdunkle den spezifischen Charakter des Rechts als eines Mittels sozialer Kontrolle 61. Die Strafe für ein Vergehen, ζ. B. eine Geldstrafe, sei nicht dasselbe wie eine Steuer, die auf einem erlaubten Verhalten beruht, obwohl die Rechtsorgane in beiden Fällen gehalten seien, denselben Geldverlust zuzufügen. Was die beiden Fälle unterscheide, sei dies, daß im ersten Fall eine Pflichtverletzung ν orliege, in dem Sinne, daß eine Regel für das Verhalten der gewöhnlichen Bürger verletzt worden sei, was im zweiten Fall nicht zutreffe. — Dagegen ist folgendes zu bemerken: Kelsen verkennt nicht die Funktion des Rechts als eines Mittels sozialer Kontrolle: Denn wenn auch direkt die Norm nach ihm die Sanktion als gesollt setzt und sich folglich an das Rechtsorgan richtet, schließt dies nicht aus, daß damit indirekt das Verhalten, welches die Sanktion bedingt, als verboten und das gegenteilige Verhalten als von der Rechtsordnung geboten erscheint. Kelsen erklärt ausdrücklich, das Gesollt-sein der Sanktion schließe das Verbotensein des Verhaltens, das ihre spezifische Bedingung ist, sowie das Gebotensein seines Gegenteils in sich 68 . — Auch das Steuerbeispiel Harts läßt sich m. E. mit Kelsens Theorie erfassen: Wenn ein Steuergesetz auf ein bestimmtes Einkommen eine bestimmte Einkommenssteuer festsetzt, dann kann man in der Tat nicht sagen, die Rechtsordnung verbiete die Erzielung dieses Einkommens und knüpfe daran als Sanktion die entsprechende Steuer! Die Rechtsnorm wäre indessen nach Kelsen wohl wie folgt zu formulieren: Wenn A ein bestimmtes Einkommen erzielt und die darauf gesetzte Steuer nicht bezahlt, dann ist A der Zwangsvollstreckung in Höhe der gesetzlichen Steuer plus Verzugszinsen auszusetzen. Das heißt in diesem Falle ist nicht die Erzielung eines Einkommens, sondern die Nichtbezahlung der gesetzlichen Steuer vom positiven Recht verboten, und daran knüpft es einen Zwangsakt. Auch den Fall einer gesetzlichen Steuer kann man also mit Kelsens Lehre in den Griff bekommen, sofern man die Rechtsnorm in der beschriebenen Weise umformuliert.
64 65 66 67 68
Kelsen, Reine Rechtslehre 35. Kelsen, Reine Rechtslehre 124. So Eckmann 67 und Hart, Concept of Law 35, Begriff 57. Hart, Concept of Law 39, Begriff 62. Kelsen, Reine Rechtslehre 26.
§ 24 Die übrigen Vor- und Nachteile der rechtspositivistischen Theorien
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In Schwierigkeiten gerät Kelsen jedoch mit seinen Begriffen der Rechtspflicht und des subjektiven Rechts. Nach Kelsen ist ein Individuum zu einem bestimmten Verhalten verpflichtet, wenn die Rechtsordnung an das gegenteilige Verhalten einen Zwangsakt knüpft 6 9 . Ross und Welzel wenden hier ein, diese Bestimmung des Begriffs der Rechtspflicht führe zu einem unendlichen Regress. Denn diesfalls könne auch ein Staatsorgan nur insoweit verpflichtet sein, als es dem Zwangsakt eines höheren Staatsorgans unterliegt usw. 70 . Kelsen versucht dem Dilemma dadurch zu entgehen, indem er bei den obersten Staatsorganen keine Pflicht, sondern eine bloße Ermächtigung zur Verhängung von Sanktionen annimmt 7 1 . Aber diese Konstruktion ist nicht vereinbar mit dem eingebürgerten Sprachgebrauch, demzufolge auch die obersten Staatsorgane durch verfassungsrechtliche Vorschriften, die keine Sanktionen enthalten, verpflichtet, nicht nur ermächtigt sind, in einer bestimmten Weise tätig zu werden 72 . — Zu Unvereinbarkeiten mit dem Sprachgebrauch führt ebenfalls Kelsens Begriff des subjektiven Rechts. Ein subjektives Privat-Recht im technischen Sinne liegt für ihn dann vor, wenn die Rechtsordnung einem Individuum die Rechtsmacht verleiht, durch gerichtliche Klage die Nichterfüllung einer ihm gegenüber bestehenden Rechtspflicht geltend zu machen 73 . Akzeptiert man diesen Begriff, dann kann der Handlungsunfähige keine subjektiven Rechte haben, weil ihm die Rechtsordnung die Rechtsmacht zur Klage nicht verleiht! Nur sein gesetzlicher Stellvertreter hat diese Fähigkeit 7 4 . Folgerichtig muß Kelsen annehmen, der gesetzliche Stellvertreter sei in Wirklichkeit der Berechtigte 75 . W i l l man jedoch diese Deutung aus dem Grunde vermeiden, weil der Stellvertreter das subjektive Recht im Interesse des Handlungsunfähigen auszuüben hat, bleibt nur die Folgerung, daß in diesem Fall ein subjektloses Recht vorliegt 7 6 ! Kelsen ist ehrlich genug, mit der ihm eigenen Unerbittlichkeit auch die ungünstigen Konsequenzen aus seinem Ansatz zu ziehen. Denn man versuche sich einmal vorzustellen, was das heißen soll: Ein Recht ohne jemanden, dem es zusteht, ein Recht ohne einen Berechtigten? — Beide Konsequenzen, sowohl die Annahme eines subjektiven Rechts beim Stellvertreter wie auch die Annahme subjektloser Rechte sind wohl unhaltbar und lassen sich nur vermeiden, wenn man von anderen Definitionen ausgeht, die dem Sprachgebrauch besser angepaßt sind. A n diesem Punkte scheint mir die Konzeption Harts derjenigen von Kelsen überlegen zu sein; wir werden auf Harts 69 70 71 72 73 74 75 76
Kelsen, Reine Rechtslehre 121. Ross, Realistic Jurisprudence 75; Welzel 14. Kelsen, Reine Rechtslehre 124/125 Fußnote **. Dies betont zu Recht Welzel 14/15. Kelsen, Reine Rechtslehre 149. Kelsen, Reine Rechtslehre 164. Kelsen, Reine Rechtslehre 165. Kelsen, Reine Rechtslehre 165.
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3. Teil: Folgerungen
besondere Methode der Begriffsanalyse noch gesondert zu sprechen kommen (hinten § 24 G bei Ν 170 ff.).
II.
Würdigung der „Allgemeinen Theorie der Normen"
11
1. Semiotische Grundlegung Eine Würdigung der „Allgemeinen Theorie der Normen" fällt schwer, weil es keine allgemein anerkannte semiotische Konzeption gibt 7 8 , von der aus sie sich vornehmen ließe. Die Grundlagen der Normenlogik sind bis heute umstritten geblieben. So unterscheidet Lippold 19 zwischen der Konzeption der unmittelbaren Anwendung der allgemeinen Logik auf Normen (Ä7wg80, Kalinowsky* 1 ,Rödig n, Yoshino 83), der Konzeption der deontischen Logik (vor allem von Wright u) und der Konzeption der echten Normenlogik Weinbergers 85. Soweit Ergebnisse der Normenlogik bereits vorliegen (Ansätze zu Formalisierungen oder auch nur Symbolisierungen), kann man trotzdem sehr weitgehende Übereinstimmungen feststellen 86 . Umstritten sind mehr die semantischen Interpretationen der Schöpfer der verschiedenen Konzeptionen als diese selbst. Entscheidend für die Beurteilung der Theorie Kelsens ist es, von was für einer semiotischen Konzeption man ausgeht. Das scheint nicht eine Wahr77
Literatur wie zu § 5 B. Unter Semiotik versteht man die allgemeine Lehre von den Zeichen(ketten), die sich gliedert in die Semantik (die Lehre von der Bedeutung der Zeichenketten), die Syntax (die Lehre von der Formstruktur von Zeichenketten) und die Pragmatik (die Lehre von der Verwendung von Zeichenketten). Vgl. Lippold, Untersuchungen zur Reinen Rechtslehre I I 147 Ν 5. 79 Lippold a.a.O. 161 ff., 173 ff. 80 Juristische Logik (4. A. Berlin / Heidelberg / New York 1982). 81 Le problème de la vérité en moral et en droit (Lyon 1967); derselbe, Einführung in die Normenlogik (Frankfurt a. M. 1972); derselbe, Über die Bedeutung der Deontik für Ethik und Rechtsphilosophie, in: A. G. Conte u. a. (Hrsg.), Deontische Logik und Semantik (Wiesbaden 1977) 101 ff.; derselbe, Une mise en question de la logique des normes. En Réponse aux objections de Hans Kelsen, Archives de philosophie du droit N. S. 25 (1980) 345 ff. 82 Kritik des normlogischen Schließens, Theory and Decision 2 (1971) 79 ff.; derselbe, Über die Notwendigkeit einer besonderen Logik der Normen, in: H. Albert / N. Luhmann u.a. (Hrsg.), Rechtstheorie als Grundlagenwissenschaft der Rechtswissenschaft, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 2 (1972) 163 ff. 83 Zur Anwendbarkeit der Regeln der Logik auf Rechtsnormen, in: Hans KelsenInstitut (Hrsg.), Die Reine Rechtslehre in wissenschaftlicher Diskussion (Wien 1982) 142 ff. 84 Norm und Handlung. Eine logische Untersuchung (Königstein i. Taunus 1979). 85 Weinberger / Weinberger, Logik, Semantik, Hermeneutik (München 1979). 86 Lippold a.a.O. 183. 78
§ 24 Die übrigen Vor- und Nachteile der rechtspositivistischen Theorien
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heitsfräge zu sein (ganz im Sinne des von uns betonten „axiomatischen" Charakters des philosophischen Denkens), sondern mehr eine Frage der Zweckmäßigkeit. Maßgebend für unsere Wahl soll sein, daß das Konzept demjenigen Kelsens möglichst nahekommt (um eine faire Kritik zu ermöglichen) und auch das Verständnis des praktisch tätigen Juristen möglichst trifft. Die Norm ist das Resultat eines ermächtigten Setzungsaktes, dadurch entsteht sie. Sie ist nicht identisch mit den zur Setzung allenfalls verwendeten sprachlichen Ausdrücken (ζ. B. eines Parlamentsbeschlusses). Und sie ist nicht gleichzusetzen mit dem Normsatz , ζ. B. dem Gesetzestext87. Meistens werden bei der Normsetzung sprachliche Ausdrücke verwendet. Das ist aber nicht notwendigerweise so. Das Gewohnheitsrecht entsteht durch Handlungen, nicht durch die Verwendung von Sprache 88 . Beim Normsatz sind nun zwei Interpretationen möglich 8 9 : Wenn ζ. B. ein Angestellter X von seinem Vorgesetzten angewiesen worden ist, den Thermostaten in einem Raum auf 20 °C einzustellen, kann man sagen: „ X soll die Temperatur auf 20 °C stellen". Man kann aber auch sagen: „ X ist verpflichtet, die Temperatur auf 20 °C zu stellen". I m ersten Fall wird der Normsatz als einpräskriptiver Satz gedeutet 90 : Er schreibt einen realen Sachverhalt vor, nämlich das Verhalten des X , der noch nicht ist und vielleicht nie sein wird. Darum kann der Normsatz — präskriptiv gedeutet — nicht wahr oder falsch sein. I m zweiten Fall wird der Normsatz als deskriptiver Satz gedeutet 91 : Er beschreibt einen idealen, gesollt en Sachverhalt (nämlich die Verpflichtung des X , die Temperatur auf 20 °C zu stellen), der bereits existiert von der Setzung der Norm an. Darum kann der Normsatz — deskriptiv gedeutet — wahr oder falsch sein. Der Satz „ X ist verpflichtet, die Temperatur auf 20 °C zu stellen" ist dann und nur dann wahr, wenn eine Norm gilt, derzufolge X verpflichtet ist, die Temperatur auf 20 °C zu stellen. Er ist falsch, wenn X nicht verpflichtet ist, die Temperatur auf 20 °C zu stellen (d. h. wenn eine solche Norm nicht gilt). Der ideale Sachverhalt, der vom Normsatz beschrieben wird, ist nichts anderes als die Norm selbst. Der Normsatz — deskriptiv gedeutet — beschreibt einen normativen Sachverhalt, d. h. die Norm selbst 92 . Demgegenüber schreibt der Normsatz — präskriptiv gedeutet — nicht die 87
Lippold, Untersuchungen zur Reinen Rechtslehre I I 170. Lippold a.a.O. 170. 89 Nach von Wright , Man, law and modern forms of life 268 und 280 (mit Nachweis i η Ν 15) hat der schwedische Philosoph Ingemar Hedenius auf diese Zweideutigkeit des Normsatzes aufmerksam gemacht. 90 Das entspricht ζ. B. den Auffassungen Kelsens, Allgemeine Theorie der Normen 2 und Weinbergers, Normentheorie 199. 91 Das entspricht ζ. B. der Auffassung Lippolds a.a.O. 170. 92 Lippold a.a.O. 88
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3. Teil: Folgerungen
Norm vor, sondern einen realen Sachverhalt. Bei beiden Interpretationen ist die Norm eine nichtsprachliche Entität. Sie unterscheiden sich aber darin, daß sich im ersten Fall zwischen den Sachverhalt und den Normsatz die Norm i. S. eines objektiven Gedankens 93 schiebt, während im zweiten Fall die Norm mit dem Sachverhalt identisch ist, so daß auf die Vorstellung eines vom Sachverhalt verschiedenen objektiven Gedankens verzichtet werden kann 9 4 . Die erste Interpretation liegt derjenigen Kelsens (und m. E. auch derjenigen des praktisch tätigen Juristen) näher, weil Kelsen den sprachlichen Ausdruck der Norm als einen Sollsatz im vorschreibenden Sinne versteht 95 . Ihr schließen wir uns daher im folgenden an, was nicht heißen soll, daß die zweite Interpretation falsch ist. Wir gehen also davon aus, daß man zwischen der Norm, ihrem sprachlichen Ausdruck, dem Normsatz (Sollsatz), und dem von diesem vorgeschriebenen Sachverhalt zu unterscheiden hat. Die Norm ist der Sinn des Normsatzes, welcher einen Sachverhalt vorschreibt 96 . Sie ist eine Idealentität (ein objektiver Gedanke), die weder mit ihrem sprachlichen Ausdruck, dem Normsatz, noch mit dem vorgeschriebenen Sachverhalt identisch ist. Der Normsatz kann nicht wahr oder falsch sein, denn er beschreibt nicht einen Sachverhalt, sondern er schreibt diesen vor. Demgegenüber ist die Aussage der Sinn eines Aussagesatzes (Seinssatz), der einen Sachverhalt beschreibt. Der Aussagesatz kann wahr oder falsch sein. Er ist wahr, wenn der beschriebene Sachverhalt (ζ. B. daß es regnet) gegeben ist; er ist falsch, wenn der beschriebene Sachverhalt nicht gegeben ist. Betrachtet man mm Kelsens semiotische Konzeption, zeigt sich folgendes: Kelsen unterscheidet an gewissen Stellen seines Werks zwischen der Norm und ihrem sprachlichen Ausdruck. So schreibt er etwa, Norm bedeute, „daß etwas sein oder geschehen soll. Ihr sprachlicher Ausdruck ist ein Imperativ oder ein Soll-Satz" 97 . A n anderen Stellen betrachtet er dagegen die Norm als einen Satz. So, wenn er bei der Behandlung des normativen Syllogismus schreibt, daß der Obersatz eine generelle hypothetische Norm, der Untersatz eine individuelle Norm sei 98 , oder wenn er schreibt: „Diese Doppelbedeutung (des Soll-Satzes, d. Verf.) rührt daher, daß ein Soll-Satz sowohl eine Norm wie eine Aussage über eine Norm sein kann . . . " " . 93
Vgl. Weinberger, IRP 62. Vgl. Lippold a.a.O. 176 f. 95 Vorne § 5 Β I. 96 Ausnahmsweise kann es auch eine Norm geben, die nicht sprachlich formuliert ist, ζ. B. beim Gewohnheitsrecht, wenn dieses im Rechtsbewußtsein von Menschen lebt, aber nirgend ausdrücklich formuliert worden ist; vgl. Weinberger, IRP 62. 97 Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen 2. 98 Kelsen a.a.O. 184. 99 Kelsen a.a.O. 121. 94
§ 24 Die übrigen Vor- und Nachteile der rechtspositivistischen Theorien
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Für Kelsen ist die Norm jedoch in erster Linie der Sinn eines Willensakt e 1 0 0 , also einer empirischen Tatsache. „Dieser ,Sinn' ist kein Begriff der Semantik, nicht der Sinn eines sprachlichen Ausdrucks, sondern der Sinn der empirischen Tatsachen — in diesem Fall der empirischen Willensakte 1 0 1 ." Der Status der Norm bei Kelsen ist also letztlich unsicher. Bald erscheint sie als Normsatz, bald als Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks, hauptsächlich jedoch als Sinn eines Willensaktes. Diese letztere Auffassung kann aber nicht erklären, wie es möglich ist, daß eine Norm über den Willensakt (ζ. B. einen Parlamentsbeschluß), durch den sie gesetzt worden ist, hinaus fortbestehen kann, was auch Kelsen ann i m m t 1 0 2 . Sie kann ferner nicht erklären, wieso eine Norm mit rückwirkender Kraft gesetzt werden kann und dann gilt für Sachverhalte, die sich vor dem Willensakt ereignet haben. Diese Erscheinungen können nur erklärt werden, wenn man die Norm als eine vom Willensakt losgelöste Idealentität auffaßt: „Wenn man sagt, daß die Norm der Sinn gewisser Willensakte ist, dann ist die Anerkennung der Existenz der Norm, auch nachdem der Willensakt beendet ist, nur dann vertretbar, wenn an die Norm . . . von dem sie erzeugenden A k t ablöst und sie als real daseiendes Sinngebilde versteht. Der Willensakt ist dann nur eine Entstehungsquelle der Norm, die als Idealentität ihr eigenes Dasein hat und als gedankliche Entität verstanden werden kann (insbesondere aus ihrer sprachlichen Formulierung 1 0 3 ." — Die Bindung der Norm an einen Willensakt ist weiter im Falle des Gewohnheitsrechts eine Fiktion. „Der Begriff des Gewohnheitsrechts ist unter der Voraussetzung, daß die Norm ihrem Wesen nach der Sinn eines bestimmten Willensaktes sei, kaum zu erklären, denn ein solcher Willensakt ist nicht gegeben .. . " 1 0 3 a . Die enge ontologische Bindung der Norm an den Willensakt verbaut schließlich zum vornherein die Möglichkeit normenlogischer Schlußfolgerungen. Weil die Existenz einer empirischen Tatsache nicht aus der Existenz einer anderen empirischen Tatsache logisch folgen kann, kann die Existenz eines Willensaktes, dessen Sinn ζ. B. eine individuelle Norm ist, nicht aus der Existenz eines anderen Willensaktes, dessen Sinn ζ. B. eine generelle Norm ist, logisch folgen. Bestehen so keine logischen Beziehungen zwischen den empirischen Willensakten, können für Kelsen auch keine logischen Beziehungen zwischen den durch sie gesetzten Normen bestehen.
100 101 102 103 103a
Vgl. vorne § 5 Β I. Opalek 22. Kelsen a.a.O. 187. Weinberger, Normentheorie 30, Hervorhebung durch Verfasser. Weinberger a.a.O. 30.
1 Ott, 2. Aufl.
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3. Teil: Folgerungen
2. Der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch (Normkonflikte) Wie wir vorne gesehen haben 1 0 4 , gibt es für Kelsen keinen logischen Widerspruch zwischen Normen (genauer: Normsätzen), weil die logischen Prinzipien für ihn nur auf Aussagen (genauer: Aussagesätze) anwendbar sind, die wahr oder unwahr sein können. Da Kelsen Normsätze als präskriptive Sätze auffaßt, können sie nicht wahr oder unwahr sein. Damit läßt sich der Satz vom Widerspruch nicht direkt auf Normsätze anwenden. Aber auch eine indirekte Anwendung des Satzes vom Widerspruch auf Normsätze scheidet aus: Wenn zwei Aussagesätze zwei Normsätze, die miteinander in Konflikt stehen, beschreiben, sind beide Aussagesätze wahr. Sie stehen folglich nicht in einem Widerspruch zueinander. Hier ist zunächst das Folgende klar: Wenn man mit Kelsen davon ausgeht, 1. daß der logische Widerspruch darin besteht, daß zwei Sätze nicht gleichzeitig wahr sein können 1 0 5 , und 2. daß Normsätze nicht wahr oder unwahr sein können 1 0 6 , dann folgt daraus per deflnitionem, daß es keinen logischen Widerspruch zwischen Normsätzen geben kann 1 0 7 . Das ist unbestreitbar unter diesen Voraussetzungen. Die Frage ist nur, ob man von diesen Voraussetzungen ausgehen muß; ob nicht auch in Normsatzsystemen Unverträglichkeiten auftreten können, die man analog zum logischen Widerspruch zwischen Aussagesätzen als logischen Widerspruch zwischen Normsätzen interpretieren kann. Diese Möglichkeit scheint durchaus gegeben zu sein. Kelsen selbst anerkennt ja die Existenz des Normkonfliktes (genauer: Normsatzkonfliktes). Ein Konflikt zwischen zwei Normen (genauer: Normsätzen) liegt für ihn vor, wenn das, was die eine als gesollt setzt, mit dem, was die andere als gesollt setzt, unvereinbar ist 1 0 8 . Wir können daher die folgende Festsetzung treffen: Zwei Normsätze sollen als widersprechend betrachtet werden, wenn die Sachverhalte, die sie vorschreiben, nicht gleichzeitig existieren können. Weinberger schreibt dazu: „ . . . dieses ,Nicht-gleichzeitig-existieren-Können' ist hier rein logischer Natur, nicht eine bloß faktische Unmöglichkeit (wie ζ. B. die Unmöglichkeit, die aus der Unfähigkeit einer Person, etwas durchzuführen, resultiert). ,Gehe in die Kirche' — ,Gehe nicht in die Kirche' ist ein solcher Konflikt; es sind logisch unverträgliche Sollsätze, weil sie aus rein logischen Gründen nicht zusammen realisierbar (erfüllbar) sind. ,Schlie104 105 106 107 108
§ 5 Β III. Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre 209. Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre 210. Weinberger, Normentheorie 18. Vgl. vorne § 5 Β III.
§ 24 Die übrigen Vor- und Nachteile der rechtspositivistischen Theorien
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ße jetzt eine halbe Stunde die Augen' und ,Fahre jetzt mit dem Auto durch die Stadt' sind Normen, die offenbar gleichzeitig nicht erfüllt werden können; sie stehen aber miteinander nicht in logischem Konflikt, sondern ihre gleichzeitige Erfüllung ist nur empirisch unmöglich 1 0 9 ." Die Analogie zum logischen Widerspruch zwischen Aussagesätzen springt in die Augen, wenn man die vorstehend erwähnte Ziff. 1 wie folgt umformuliert: Zwei Aussagesätze sollen als widersprechend betrachtet werden, wenn die Sachverhalte, die sie beschreiben, nicht gleichzeitig existieren können. „Es regnet" und „Es regnet nicht" widersprechen sich aus rein sprachlichlogischen Gründen, also unabhängig davon, wie die Realität ist. I n analoger Weise widersprechen sich „Gehe in die Kirche" und „Gehe nicht in die Kirche", weil sie nicht gleichzeitig erfüllt werden können, ganz unabhängig davon, ob der Adressat in Wirklichkeit in die Kirche geht oder nicht. Der Unterschied zwischen dem aussagesatzlogischen und dem normsatzlogischen Widerspruch liegt darin, daß nur der erstere (so wie vorstehend unter Ziff. 1) wahrheitsfunktional definiert werden kann. Wenn der vom Aussagesatz beschriebene Sachverhalt existiert, ist der Aussagesatz wahr. Wenn der vom Normsatz vorgeschriebene Sachverhalt eintritt, dann ist der Normsatz nicht wahr, sondern erfüllt. „Wenn man den logischen Widerspruch wahrheitsfunktional definiert, dann ist es evident und gilt ex definitione, daß Normsätze, da ihnen keine Wahrheitswerte zukommen, nicht zueinander in logischem Widerspruch stehen können 1 1 0 ." Nichts jedoch zwingt uns, so vorzugehen und ausschließlich den Widerspruch zwischen Sätzen, die wahr oder falsch sein können, als logischen Widerspruch anzuerkennen. Es besteht — wie gezeigt — die Möglichkeit, eine Festsetzung zu treffen, derzufolge auch zwei Normsätze als einander logisch widersprechend gedeutet werden können. Für empirische Rechtssysteme kann man unter Umständen nachweisen, daß in ihnen der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch zwischen Normsätzen vorausgesetzt ist. So hat der Richter im schweizerischen Recht dann, wenn Bestimmungen einander widersprechen und dadurch eine ausfüllungsbedürftige Lücke entsteht, nach Gewohnheitsrecht und, wo auch ein solches fehlt, nach der Regel zu entscheiden, die er als Gesetzgeber aufstellen würde (ZGB I I I ) 1 1 1 . Außerdem gelten Kollisionsregeln wie „Bundesrecht bricht kantonales Recht" (Art. 2 der Übergangsbestimmungen der BV) und „lex posterior derogat legi priori". I m schweizerischen Rechtssystem werden 109
Weinberger, Normentheorie 99. Weinberger, Normentheorie 98. 111 Meier-Hayoz, Berner Kommentar, Einleitungsband (Bern 1962, Neudruck 1966) Ν 417 ff. zu ZGB 1. 110
1*
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3. Teil: Folgerungen
Normsatzwidersprüche also immer durch positiv-rechtliche Anordnungen ausgeräumt. I n anderen entwickelten Rechtssystemen wird es sich wohl ähnlich verhalten. Dagegen läßt sich nicht nachweisen, daß der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch in jedem Normensystem schlechthin gilt. Hier kann man nur fordern, daß er für jedes Normensystem gelten sollte. Man wird postulieren, „daß innerhalb eines Systems nur konsistente Normen gesetzt werden — analog wie man Konsistenz bei Aussagensystemen fordert. Und man tut dies bei Aussagen- und Normensystemen aus denselben Gründen: Das System würde unverstehbar, wenn die Normsätze ,p soll sein' u n d , - ρ soll sein' (oder: die Aussagesätze ,p' und , - p ' ) gleichzeitig gesetzt werden dürften, ohne daß dies logische Unkorrektheit bedeuten würde 1 1 2 ."
3. Nichtanwendbarkeit der Regel der Schlußfolgerung auf Normsätze? Wie wir vorne gesehen haben, verneint Kelsen auch die Anwendbarkeit der Regel der Schlußfolgerung auf Normen (genauer: Normsätze). Wir können sinngemäß Kelsens Hauptargument wie folgt wiedergeben 113 : Die Geltung eines individuellen Normsatzes könne nicht in der Geltung eines generellen Normsatzes (der als Obersatz fungiert) und der Wahrheit eines Aussagesatzes (der als Untersatz fungiert) impliziert sein, weil die Geltung eines Normsatzes durch einen Willensakt bedingt sei, während beim theoretischen Syllogismus die Wahrheit des individuellen Aussagesatzes in der Wahrheit des generellen Aussagesatzes darum impliziert sein könne, weil die Wahrheit eines Aussagesatzes nicht durch einen Denkakt bedingt sei. Betrachten wir noch einmal — leicht abgewandelt — Kelsens Beispiel: 1) Wenn ein Mensch einem anderen ein Versprechen gegeben hat, soll er es halten. 2) Der Mensch Maier hat dem Menschen Schulze ein Versprechen gegeben. 3) Der Mensch Maier soll das dem Menschen Schulze gegebene Versprechen halten. Kelsen hat insofern zweifellos recht, als der aus den Sätzen 1 und 2 logisch abgeleitete Normsatz 3 noch kein Normsatz mit juristischer Geltung etwa i. S. eines richterlichen Urteils ist. Der logische Ableitungszusammenhang hat mit der juristischen Geltung des individuellen Normsatzes noch nichts zu t u n 1 1 3 a . Der abgeleitete individuelle Normsatz gibt dem Richter nur an, wie 112
Weinberger a.a.O. 99. Vorne § 5 Β IV. 113a Gl M. Tïoper , in: P. Amselek / Ch. Grzegorczyk (Hrsg.), Controverses autour de l'ontologie du droit (Paris 1989) 53 ff. 113
§ 24 Die übrigen Vor- und Nachteile der rechtspositivistischen Theorien
245
er entscheiden sollte. Er kann aber nicht die Entscheidung des Richters ersetzen. Es braucht in der Tat noch eine Transformation des logisch abgeleiteten individuellen Normsatzes in einen juristisch geltenden individuellen Normsatz, damit von einem richterlichen Urteil gesprochen werden kann. Es braucht in Kelsens Terminologie noch einen Willensakt des Richters. Dies gilt schon dann, wenn der Schlußsatz — wie im Beispiel — durch die Prämissen eindeutig determiniert ist. Es wird aber besonders deutlich dann, wenn der Richter ein gewisses Ermessen hat, etwa darum, weil im Obersatz lediglich ein Strafrahmen enthalten ist. I n einem solchen Fall kann durch die logische Ableitung lediglich ein Schlußsatz, der ebenfalls diesen Strafrahmen enthält, gewonnen werden 1 1 4 . I m Urteil muß der Richter diesen Strafrahmen konkretisieren, was mit der logischen Operation nichts mehr zu tun hat. Dann ist der logisch abgeleitete individuelle Normsatz mit dem im Urteil zu setzenden individuellen Normsatz nicht mehr äquivalent. Kelsens Argument ist aber insofern fehlerhaft, als er die Frage der logischen Ableitungsbeziehung mit der Frage nach der juristischen Geltung vermengt 1 1 4 3 . Ableitungsbeziehungen können auch zwischen nicht oder nicht mehr geltenden Normsätzen bestehen. So kann man auch noch heute — etwa in einem juristischen Examen — einen Fall nach Normsätzen des römischen Rechts lösen, obwohl diese nicht mehr in Geltung stehen. Ein zweites Argument Kelsens lautet, daß die Autorität, die den generellen Normsatz setzt, d. h. die in Kelsens Beispiel will, daß alle Menschen ihr Versprechen halten sollen, nicht wollen kann, daß Maier sein dem Schulze gegebenes Versprechen halten soll. Denn sie kann nicht im voraus wissen, daß in Zukunft ein Mensch Maier einem Menschen Schulze ein Versprechen geben w i r d 1 1 5 . — Ein solches Wissen der normsetzenden Autorität ist aber gar nicht notwendig. Die konkreten Umstände, von denen die normsetzende Autorität in der Tat nichts wissen kann, finden über die zweite Prämisse, den Aussagesatz, Eingang in den abgeleiteten Normsatz. Durch die beiden Prämissen ist der Schlußsatz mitgesetzt, und zwar auf Grund einer rein logischen Beziehung, also ganz unabhängig davon, ob je ein Mensch diesen Schluß zieht oder nicht. Logische Beziehungen dürfen nicht in der Sphäre des Psychischen gesucht werden, so daß Kelsens Bezugnahme auf das NichtWissen des Normschöpfers Ausdruck eines unzulässigen Psychologismus ist. 114
Vgl. das Beispiel bei Lippold a.a.O. 184 Ν 176: Alle Diebe sollen mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft werden. X ist ein Dieb. X soll mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft werden. 114a
Gl Μ. Ί>oper, in: P. Amselek / Ch. Grzegorczyk (Hrsg.), Controverses autour de l'ontologie du droit (Paris 1989) 53 ff. 115 Vorne § 5 Β I V a. E.
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3. Teil: Folgerungen
Ein drittes Argument Kelsens ergibt sich aus der von ihm nun vertretenen Anerkennungstheorie 116 . Die Anerkennungstheorie treffe insofern zu, als die Anwendung einer generellen Rechtsnorm (genauer: eines generellen Rechtsnormsatzes) auf einen konkreten Fall durch das rechtsanwendende Organ von der Anerkennung der anzuwendenden generellen Rechtsnorm (genauer: des Rechtsnormsatzes) für den konkreten Fall abhänge. Dieses Argument ist mit dem ersten verwandt. Wie wir gesehen haben, ist es richtig, daß ein individueller Normsatz nur dann juristisch gilt, wenn er durch einen A k t des rechtsanwendenden Organs, ζ. B. eines Richters, gesetzt wird. Kann man nun sagen, daß der Richter immer dann, wenn er einen individuellen Normsatz setzt, der dem generellen Normsatz entspricht, den generellen Normsatz anerkannt habe? Darin würde m. E. eine Überdehnung des Begriffs der Anerkennung liegen. Ein gesetzestreuer Richter kann doch aus rechtsstaatlichen Gründen einen Normsatz auf einen konkreten Fall anwenden, obwohl er ihn innerlich ablehnt, etwa darum, weil er ihn als unzweckmäßig oder ungerecht empfindet. Es erscheint mir nicht als sinnvoll, in solchen Fällen von einer „Anerkennung" zu sprechen. — Dagegen vertritt Kelsen im Bereiche des Rechts nicht jene unhaltbare Variante der Anerkennungstheorie, wonach ein genereller Rechtsnormsatz, der auf einen Rechtsbrecher angewendet werden soll, von diesem anerkannt werden müsse 117 . Ein weiteres Argument gegen die Möglichkeit von direkten normsatzlogischen Folgerungen, das in der vorne zitierten Stelle aus der Reinen Rechtslehre erscheint 118 , läßt sich wie folgt formulieren: In einem gültigen Syllogismus können nur wahrheitsfähige Sätze auftreten, also nicht Normsätze, die keinen Wahrheitswert haben. Daher wäre ein Schluß wie derjenige im vorstehend angeführten Versprechensbeispiel unzulässig. — Dazu ist folgendes zu bemerken: I n den Standardsystemen der Aussagenlogik erscheint der modus ponens als Operationsregel 119. Operationsregeln lassen sich nicht beweisen, sondern sie werden wie die Axiome beweislos eingeführt. Der modus ponens der Aussagenlogik läßt sich wie folgt darstellen: Wenn A , dann Β A Β
116 117 118 119
Vorne § 5 Β V. Vgl. vorne § 23 Ν 33. Vorne § 5 Β II. Vgl. ζ. B. Klug 208 B.
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Zum Beispiel: Wenn es regnet, wird die Straße näß Es regnet Die Straße wird naß Die Analogie zum normsatzlogischen Syllogismus springt in die Augen: Wenn p, soll q sein Ρ
q soll sein Die Frage lautet nun nicht, ob dieser Syllogismus richtig ist oder nicht, denn dafür kann weder ein Beweis noch ein Gegenbeweis geleistet werden. Sondern die Frage lautet, ob man diesen Syllogismus beweislos als Operationsregel zum Zweck normsatzlogischer Folgerungen anerkennen soll. Die Antwort kann m. E. nicht zweifelhaft sein, wenn man sich vergegenwärtigt, daß in der Praxis der normativen Disziplinen und in der Sprachpragmatik des Alltags die Existenz normsatzlogischer Beziehungen und die Existenz normsatzlogischer Folgerungen (d. h. die Geltung logischer Konsequenzen aus normativen Prämissen) vorausgesetzt werden. „Nur theoretische Überlegungen und philosophische Reflexionen über die Möglichkeit einer Normenlogik sind die Quelle der Skepsis 120 ." Die Nichtanerkennung dieser Schlußregel hätte einschneidende Konsequenzen: Die konflikterledigende Funktion der generellen Normen würde dahinfallen, könnten doch die rechtsanwendenden Organe beliebig davon abweichen. Auch die Überprüfung ihrer Entscheidungen in einem Rechtsmittelverfahren wäre — soweit die rechtliche Würdigung in Frage steht — nicht mehr möglich. Generelle Normen könnten aber auch das Verhalten der Bevölkerung nicht mehr steuern, weil jedermann die Anwendung des generellen Normsatzes auf seine konkrete Situation ablehnen könnte. Kelsens eigene Ausführungen zur logischen Natur der von ihm als „Entsprechung" bezeichneten Beziehung zwischen zwei Normen zeigen, daß auch er die Subsumtion als logisches Denkverfahren anerkennt 121 . Es ist aber offensichtlich, daß im normsatzlogischen Syllogismus von einer Subsumtionsbeziehung Gebrauch gemacht w i r d 1 2 2 . Hinter der von Kelsen als „Entsprechung" bezeichneten Beziehung steckt nichts anderes als eine normsatzlogische Folgerungsbeziehung. 120 121 122
Weinberger, Normentheorie 89. Vorne § 5 Β VI. Lippold a.a.O. 155.
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3. Teil: Folgerungen
Wie immer hat Kelsen auch in seinem letzten Werk ungemein anregend auf die Diskussion gewirkt. Es soll zum Abschluß nicht verschwiegen werden, daß kein Geringerer als von Wright neuerdings Kelsens Ansichten zum Teil unterstützt 1 2 3 .
E. Vor- und Nachteile des psychologischen Positivismus124 Eine Stärke der als „Anerkennungstheorien" bezeichneten psychologischen Rechtslehren liegt zunächst darin, daß in der Regel das Recht, um wirksam zu sein, auf eine positive Haltung der Sozietät ihm gegenüber stoßen muß 1 2 5 . Erfahrungsgemäß können Normen, die bei den Rechtsgenossen keinen Widerhall mehr finden, vom Zwangsapparat gewöhnlich nicht durchgesetzt werden 126 . Ein sprechendes Beispiel hierfür ist in neuerer Zeit die Beeinflussung der Rechtsprechung im Sexualstrafrecht durch die gewandelte Sexualmoral 127 . Den individuellen Anerkennungstheorien ist zugute zu halten, daß sie die relativ plausibelste Begründung der rechtlichen Pflicht auf empirischer Basis bieten: Wenn man schon irgendwo den Sprung vom Sein auf das Sollen, vom bloßen Faktum zur rechtlichen Pflicht vollziehen muß — und hierin liegt ja eine zentrale Frage der Rechtsphilosophie —, dann scheint es noch am tragbarsten zu sein, auf die Zustimmung des betroffenen Individuums selbst abzustellen. Die Rechtfertigung der verbindlichen Kraft des Rechtes liegt dann in der Selbstverpflichtung, die das Individuum auf Grund der Anerkennung der Rechtsnormen eingeht. I m strengen Sinne interpretiert, ist diese Lehre jedoch offenkundig unhaltbar: Wenn man einen „ A k t der bewußten freiwilligen Zustimmung aller Rechtsunterworfenen zu allen Norminhalten des Rechts" verlangen würde 1 2 8 , könnte kaum je ein Normbruch mit einer rechtlichen Sanktion belegt werden, weil wohl die wenigsten Übertreter die 123
So verneint auch von Wright , Man, law and modern forms of life 268 ff. die Möglichkeiten von logischen Widersprüchen und Folgerungsbeziehungen zwischen präskriptiv interpretierten Normsätzen. 124 Kelsen, Hauptprobleme 346ff., 355 ff. 125 Henkel 548. 126 Raiser, Einführung 72/73. 127 Vgl. etwa BGE 96 IV 64, wo das Bundesgericht den schwedischen Film „Ich bin neugierig", der mehrere realistische Beischlafszenen enthielt, im Hinblick auf StGB 204 Ziff. 1 zu beurteilen hatte. Es führte aus, daß sich die Rechtsprechung dem allgemeinen Wandel in der Einstellung zur Sexualität und der damit verbundenen Herabsetzung der Empfindlichkeit nicht verschließen könne. Der Strafrichter habe Art. 204 Ziff. 1 StGB mit Zurückhaltung und erst anzuwenden, wenn die Darstellung geschlechtlicher Vorgänge „eindeutig den von der überwiegenden Mehrheit des Volkes getragenen sittlichen Vorstellungen" zuwiderlaufe. 128 Henkel (Einführung in die Rechtsphilosophie. Grundlagen des Rechts [München / Berlin 1964]) 442.
§ 24 Die übrigen Vor- und Nachteile der rechtspositivistischen Theorien
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ihnen nachteilige Norm freiwillig anerkennen würden. Laun geht daher beim Problem der Rechtsgeltung auf eine generelle Anerkennungstheorie über 1 2 9 , während Bierling sich mit seiner Lehre von der „indirekten Anerkennung" hilft 1 3 0 . A u f die Vorzüge und die Problematik einer solchen „Blanko-Anerkennung" werden wir sogleich zu sprechen kommen. Nimmt man die Anerkennungstheorie näher unter die Lupe, die den Anerkennungsbegriff so umgedeutet haben, daß nur noch die Rechtsordnung als Ganzes pauschal „anerkannt" werden muß (so bei Bierling, Merkel) oder die als Träger der Anerkennung nur noch die „tonangebende Schicht" (.Beling, Nawiasky) gelten lassen, zeigen sich die folgenden Vorzüge: M i t einer solchen Konzeption kann man etwa den Art. 102 G G , wonach die Todesstrafe in der Bundesrepublik Deutschland abgeschafft ist, als geltendes Recht erfassen, obwohl von Anbeginn seiner Inkraftsetzung an eine — allerdings stetig abnehmende — Mehrheit der Bevölkerung die Todesstrafe bejaht hat 1 3 1 . Weiter vermeidet eine solche Fassung der Anerkennungstheorie die Schwierigkeit, die sich daraus ergibt, daß nur ein verschwindend kleiner Prozentsatz der Bevölkerung die Gesetzesblätter wirklich liest. So hatte eine Umfrage in den fünfziger Jahren in Norwegen ergeben, daß nur ein geringer Teil der Hausgehilfinnen die wesentlichen Punkte ihrer Rechtsstellung kannte und von diesen nur wenige auf Grund des Gesetzes informiert waren 1 3 2 . Von einer realen Normenanerkennung kann natürlich in solchen Fällen nicht die Rede sein. Schließlich ist an die Auslegung der früheren Kuppeleibestimmungen des deutschen StGB durch den Bundesgerichtshof zu erinnern: Nach BGHSt 6 (1954) 46 ff. und 17 (1962) 230 ff. galt als strafbares Vorschubleisten zur Unzucht auch die Nichthinderung des Geschlechtsverkehrs zwischen noch nicht volljährigen Verlobten durch die Eltern. Da der Verkehr der Geschlechter sich nach der Meinung des B G H grundsätzlich nur in der Ehe vollziehen sollte, weise der Geschlechtsverkehr unter Unverheirateten — selbst bei ernstgemeintem Verlöbnis — den Charakter der Unzucht auf. A u f Grund von empirischen Untersuchungen ergab sich aber, daß die Mehrheit der deutschen Bevölkerung völlig entgegengesetzte Vorstellungen hatte 1 3 3 . Die einschlägigen Normen des deutschen StGB in der Auslegung 129
Vorne § 6 A I I bei Ν 41. Vorne § 6 A I. 131 W. Maihof er, Gesetzgebung und Rechtsprechung im Spannungsfeld von Staat und Gesellschaft, in: Das Rechtswesen, Lenker oder Spiegel der Gesellschaft? (München 1971)54. 132 Jürgens en 50 Ν 1. 133 Maihofer 50. Mit dem 4. Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 23.11.1973 wurden die Kuppeleitatbestände (§§180, 181 a. F. dt. StGB) zu einer Schutzbestimmung für Minderjährige umgestaltet und damit der Rechtsprechung des BGH der Boden entzogen. Das Beispiel zeigt, daß eine Rechtsprechung auf die Dauer nicht gegen die herrschende Sozialmoral einer Bevölkerung durchgesetzt zu werden pflegt. 130
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3. Teil: Folgerungen
durch den B G H hätten daher von der Anerkennungstheorie als gültiges Recht nur begriffen werden können, wenn man sich mit einer Anerkennung durch die „tonangebende Schicht" (in diesem Falle also durch die obersten Richter) bzw. mit einer Anerkennung der Rechtsordnung als Ganzem durch die Bevölkerung begnügt hätte. Der Verzicht auf eine reale Anerkennung von einzelnen Normen bei diesen Varianten des psychologischen Positivismus bringt aber andererseits den Nachteil mit sich, daß man damit eine Waffe aus der Hand gibt, um auf empirischer Basis den Unrechtscharakter einer gesetzlichen oder richterlichen Norm nachzuweisen. Würde man nämlich die Anerkennungstheorie so auffassen, daß nur jene Normen als Recht gelten dürfen, die realer Anerkennung der Rechtsgenossen teilhaftig werden, würde dies es ermöglichen, u. U. den empirischen Nachweis zu führen (also ohne einen Rückgriff auf Naturrechtssätze), eine gesetzliche oder richterliche Norm sei „gesetzliches oder richterliches Unrecht" und entbehre deshalb in Wirklichkeit des Rechtscharakters. Insbesondere wenn man den Fall eines totalitären Gewaltregimes ins Auge faßt, zeigt sich hier eine potentielle politische Relevanz dieser Variante des psychologischen Positivismus, auf die in anderem Zusammenhang hingewiesen worden ist 1 3 4 . A u f der anderen Seite gerät man mit diesen Theorien in den soeben behandelten Beispielen in Schwierigkeiten, weil dort jedesmal der Rechtscharakter der fraglichen Normen zu verneinen wäre, da es an der realen Anerkennung durch die Bevölkerung mangelt. Zudem gestattet es die Anerkennungstheorie in dieser Fassung nicht, das Recht von anderen Sozialordnungen zu unterscheiden. Diese Problematik hat Rehbinder anhand der Anerkennungstheorie Ehrliche untersucht: Ehrlich macht, wie wir gesehen haben, die Rechtsnorm von der staatlichen Geltung unabhängig und verlegt sie durch seinen Begriff des lebenden Rechts als konkrete Handlungsnorm in den einzelnen gesellschaftlichen Verband 1 3 5 . Das Problem, wie sich das Recht von den anderen Sozialordnungen unterscheidet, beantwortet er bekanntlich mit seiner Gefühlstheorie: Maßgebendes Unterscheidungskriterium soll sein die Verschiedenheit der durch den Normbruch ausgelösten Gefühle. Rechtsnormen sind für ihn diejenigen Normen, deren Verletzung den stärksten Gefühlsausbruch bei der Gruppe, nämlich Empörung, nach sich zieht. Dieses Kriterium ist in der Tat unpraktikabel, denn wie soll man in der Praxis je einen Unterschied machen können „zwischen den von Ehrlich angegebenen Gefühlstönen der Empörung (Rechtsbruch), der Entrüstung (Sittenverletzung), des Ärgernisses (Anstandsverstoß), der Mißbilligung (Taktlosigkeit), der Lächerlichkeit (Verfehlen des guten Tones) und der kritischen Ablehnung (Nichtbeachtung
134 135
Vorne § 23 Β bei Ν 34 f. Rehbinder, Eugen Ehrlich 124.
§ 24 Die übrigen Vor- und Nachteile der rechtspositivistischen Theorien
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der Mode)" 1 3 6 ? Aus diesem Grunde stellt die moderne soziologische Rechtstheorie im Anschluß an Weber und Geiger ab auf die Existenz eines spezifischen Rechtsstabes. Erst diese Kontrollinstanz macht eine Norm zur Rechtsnorm. M i t den Vorzügen und den Nachteilen einer solchen Konzeption wollen wir uns im nächsten Abschnitt beschäftigen.
F. Vor- und Nachteile des soziologischen Positivismus Ein erster Vorteil jener soziologischen Lehren, welche die Geltung des Rechts mit dem tatsächlichen Verhalten eines Rechtsstabes in Zusammenhang bringen, liegt darin, daß dies eine Abgrenzung zwischen dem aktuellen Recht und solchen Regeln ermöglicht, die sich in der Praxis niemals durchgesetzt haben oder aufgehört haben, sich durchzusetzen 137 . Die Fruchtbarkeit einer solchen Konzeption zeigt sich beispielsweise, wenn man die Rechtsprechung des Schweizerischen Bundesgerichts zur Frage betrachtet, ob Kartelle die Vereinsform wählen dürfen oder nicht: In den dreißiger Jahren hatte das Bundesgericht entschieden, daß Wirtschaftsverbände mit ökonomischer Zielsetzung die Vereinsform wählen dürfen, sofern sie kein kaufmännisches Unternehmen betreiben 138 . Diese Praxis war, wie das Bundesgericht nunmehr selbst zugibt 1 3 9 , angesichts von Z G B 59 I I und 601, wo für Vereine ein idealer Zweck vorgesehen ist, gesetzeswidrig. I n BGE 88 I I 209 ff. ging das Bundesgericht deshalb von der alten Rechtsprechung ab und entschied, daß eine Personenverbindung nur dann dem Vereinsrecht unterstehen könne, wenn sie einen idealen Zweck verfolge. I n BGE 90 I I 333 ff. stellte es jedoch die alte Rechtsprechung wieder her: Es führte aus, eine strenge Interpretation der erwähnten Vorschriften ließe sich allenfalls rechtfertigen, wenn die Frage noch nie von den Gerichten entschieden worden wäre. Dann würde man eben von den betreffenden Verbänden die genaue Beachtung des Gesetzeswortlauts verlangen. I n Wirklichkeit sei aber die Sachlage eine ganz andere. Die Berufs verbände hätten tatsächlich in der Gestalt des Vereins Wurzel gefaßt. Viele von ihnen würden eine wichtige Rolle im wirtschaftlichen und sozialen Leben des Landes spielen. Die Rechtsprechung habe diese Lösung während nahezu 30 Jahren gebilligt. Sie könne eine Rechtslage, die sich mit ihrer Zustimmung gefestigt habe, nicht umstürzen, wenn sie keinerlei Möglichkeit habe, eine Übergangs136
Rehbinder, Eugen Ehrlich 123. Rehbinder zeigt jedoch auf, daß die Konzeption Ehrlichs, der das Recht unmittelbar in das Gruppenleben verlegt, durchaus noch Bedeutung für eine moderne rechtssoziologische Theorie hat (141). 137 Jrfrgensen 29/30. 138 Entscheid vom 5. Dezember 1934, Journal des Tribunaux 1935 I 66ff., bestätigt in BGE 62 I I 32 ff. 139 BGE 88 I I 217ff.; BGE 90 I I 336.
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3. Teil: Folgerungen
regelung vorzusehen. Die Folgen einer solchen Kehrtwendung wären für die Berufsverbände und deren Mitglieder sowie außenstehende Dritte höchst unangenehm 140 . Unter Zugrundelegung eines soziologischen Geltungsbegriffes läßt sich das Phänomen einer gesetzeswidrigen Gerichtspraxis wie der vorliegenden erfassen: Für den soziologischen Positivisten ist die (gesetzeswidrige) Regel, daß Wirtschaftsverbände die Vereinsform des Schweizerischen Z G B wählen dürfen, wenn sie kein kaufmännisches Unternehmen betreiben, darum „Recht", weil sie, und nur sie (nicht etwa die dem Z G B gemäße strenge Regelung) vom Rechtsstab tatsächlich angewendet wird. Sie allein ist „real rule", d.h. lebendes Recht; die vom Z G B geforderte Lösung, daß Vereine immer eine ideale Zwecksetzung aufweisen müssen, ist in bezug auf Wirtschaftsverbände ohne kaufmännisches Unternehmen heute bloß „paper rule", weil es an der Bereitschaft des Rechtsstabes zu ihrer Anwendung fehlt. Weiter gibt der soziologische Positivismus die Perspektive des Anwalts in bezug auf das Recht zutreffend wieder: Denn der Anwalt „will nicht wissen, wie der Rechtsstab sich eigentlich verhalten sollte, sondern er will wissen, wie er sich tatsächlich verhält. Nur dann kann er nämlich seinem Mandanten voraussagen, ob dieser zu seinem Recht kommen wird oder nicht" 1 4 1 . Schließlich bringt die soziologische Konzeption richtig zum Ausdruck, daß die Rechtsanwendung meist auf einer alogischen Entscheidung beruht und man folglich die Rechtsprechung als Rechtsquelle anerkennen muß. Die normerzeugende Funktion der Rechtsprechung wird heute insbesondere auch von den Vertretern der modernen „Wertungsjurisprudenz" betont. Die Frage liegt nahe, ob nicht die Entwicklung vom juristischen Formalismus der Pandektenzeit über den Gesetzespositivismus des endenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts bis zur heutigen „Richterrechtsbildung" als eine Entwicklung zu einem .Richterpositivismus" hin verstanden werden muß 1 4 2 . Auch auf das Geltungserlebnis in bezug auf Rechtsregeln mag ζ. T. die soziologische Erklärung zutreffen: Eine Regel wird von den Rechtsgenossen bisweilen darum als geltendes Recht betrachtet, weil für den Fall ihrer Mißachtung eine rechtliche Sanktion zu erwarten ist. I n solchen Fällen ist das Geltungserlebnis eine Folge der zu erwartenden Sanktion 1 4 3 . Ein erster Nachteil einer rein soziologischen Betrachtungsweise des Rechtes liegt darin, daß sie für den Richter unbrauchbar ist. Dem Richter nützt es 140 141
BGE 90 I I 343. Rehbinder, Einführung 55. Hervorhebung durch Verf. Im gleichen Sinne Jtfrgensen
11. 142 143
Rüthers 476. Jtfrgensen 31.
§ 24 Die übrigen Vor- und Nachteile der rechtspositivistischen Theorien
253
nichts zu wissen, daß das Recht das ist, was er tun wird, bzw. jene Ordnung ist, die durch die Wahrscheinlichkeit des Eintrittes von physischem oder psychischem Zwang äußerlich garantiert ist. Denn die Frage ist ja für den Richter gerade die, wie er sich verhalten bzw. welcher Regel er mit seiner Zwangsgewalt zum Durchbruch verhelfen soll. Der Richter sucht also nach einer Begründung seiner Entscheidung, und die kann ihm nur das Recht i. S. eines Normengefüges, nicht aber i. S. eines Komplexes sozialer Fakten liefern. Anderenfalls wäre eine unrechtmäßige Entscheidung unmöglich, und man könnte, wie Kantorowicz bemerkt, den Obersten Gerichtshof genau so gut mit neun Generälen besetzen, da kein Zweifel besteht, daß diese wüßten, wie sie ihre Entscheidungen zu vollstrecken hätten 1 4 4 ! Die Annahme eines soziologischen Begriffs des Rechts schließt ferner das Recht primitiver Gemeinschaften (ohne Gerichtsorganisation) aus 1 4 5 ; selbst wenn sich „Organe" wie Häuptlinge, Magier, Priester, Stammesälteste, Sippengerichte oder das „Thing" gebildet haben, erfüllen sie noch ganz andere Funktionen politischer, ritueller und militärischer A r t und können also nicht als Stab juristischer Spezialisten, als „Rechtsstab" im soziologischen Sinne angesehen werden 146 . — Ebensowenig können die völkerrechtlichen Regeln als Recht begriffen werden, da es an einer obligatorischen internationalen Gerichtsbarkeit fehlt 1 4 7 . — Weiter würden gewisse Bestimmungen einer Verfassung, die vor kein Gericht und keine andere Behörde gebracht werden können, nicht zum Recht zählen 148 ; J0rgensen verweist als Beispiel auf die Verfassungsbestimmungen über das Datum der Eröffnungssitzung des Dänischen Reichstages 149 . Ein weiterer Einwand gegen die beschriebene soziologische Konzeption geht dahin, daß viele Normen an die Rechtsgenossen, nicht aber an die Behörden gerichtet sind und folglich in erster Linie der Vorbeugung, nicht aber der Lösung von Konflikten dienen. Es sei daher gekünstelt und übertrieben, das Recht hauptsächlich mit dem Verhalten des Rechtsstabes in Zusammenhang zu bringen 1 5 0 . Dieser Schwierigkeit läßt sich aber leicht dadurch begegnen, daß man als Kriterium in den (soziologischen) Begriff des 144 Kantorowicz, Rechtswissenschaft und Soziologie, ausgewählte Schriften zur Wissenschaftslehre (Karlsruhe 1962) 114. 145 Jtfrgensen 30. 146 Kantorowicz 80. Das „Recht", das die Ethnologen untersuchen, ist daher zumeist kein Recht im soziologischen Sinne. Bevor sich ein Rechtsstab gebildet hat, sind Recht und Sitte nicht zu trennen. Es herrscht eine Vorform des Rechts, das sog. „Sittenrecht": Rehbinder, Eugen Ehrlich 129. 147 Jtfrgensen 30; Kantorowicz 31. 148 Bulygin, ARSP Beiheft 41 (1965) 57. 149 Jtfrgensen 30. 150 In diesem Sinne etwa Kantorowicz, Rechtswissenschaft und Soziologie, ausgewählte Schriften zur Wissenschaftslehre (Karlsruhe 1962) 109, und Jtfrgensen 50.
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3. Teil: Folgerungen
Rechts nicht die tatsächliche Reaktion eines spezifischen Rechtsstabes einführt, sondern auf die Reaklionsbereitschaft dieses Stabes abstellt 151 . Auch eine Regel, die von allen freiwillig befolgt wird und folglich nicht mit Zwang durchgesetzt werden muß, ist dann im soziologischen Sinne Recht, weil auch bei ihr die Chance besteht, daß sie gegenüber einem etwaigen Normbrecher vom Rechtsstab durchgesetzt würde. Wie gegen die Befehlstheorie kann man auch gegen die soziologische Zwangstheorie des Rechts einwenden, daß es Rechtsnormen gibt, die nicht ein bestimmtes Verhalten gebieten oder verbieten und folglich nicht befolgt bzw. vom Rechtsstab mit Zwang durchgesetzt werden können. „Nehmen wir als Beispiel eine Norm, die vorschreibt, wie ein Testament gemacht oder ein Vertrag geschlossen werden kann. Wenn die vom Gesetz vorgesehenen Bedingungen nicht erfüllt sind, so ist der betreffende Vertrag nichtig, aber es gibt hier weder Pflichtverletzung, noch Sanktion, weder Unrecht noch Unrechtsfolge 152 ." — Diese Klippe läßt sich jedoch vermeiden, wenn man die vor allem von Bulygin entwickelte Konzeption zu Hilfe nimmt, der zwischen der Befolgung und dem Gebrauch von Normen unterscheidet 153 . Eine „Sekundärregel" kann zwar nicht befolgt 1 5 4 , wohl aber zur Begründung einer Entscheidung gebraucht werden. Zum Recht im soziologischen Sinne gehören also nicht nur Normen, bei denen im Falle ihrer Mißachtung die Chance des Eintrittes eines spezifischen, von einem Rechtsstab ausgeübten Zwanges besteht, sondern auch solche, die vom Rechtsstab zur Begründung von Entscheidungen gebraucht werden können. Gegen die „prognostischen" Theorien schließlich läßt sich einwenden, daß die Voraussehbarkeit der Entscheidung gerade auf der Kenntnis der Rechtsregeln beruht 1 5 5 . Folglich kann man das Recht nicht einfach mit dem Verhalten des Rechtsstabes in Zusammenhang bringen. Ross versucht, dieses Dilemma dadurch zu vermeiden, daß er nicht rein behaviouristisch vorgeht, sondern ein psychologisches Element in seine Theorie einbaut 1 5 6 . Das Recht ist für ihn eine normative Ideologie, die sich im Entscheidungsverhalten der Richter äußert und von dort erschlossen werden kann. Nun steht aber dem Richter, wie wir vorstehend gesehen haben, diese Quelle der Erkenntnis des Rechts nicht zur Verfügung, da er nicht aus seinem eigenen Entscheidungsverhalten das Recht erschließen kann, sondern wissen muß, was Recht ist, bevor er entschieden hat. Folglich muß es für ihn einen anderen Zugang zur „Ideologie" geben, nämlich durch das Studium der Gesetze, der früheren 151 152 153 154 155 156
Rehbinder, Eugen Ehrlich 130. Bulygin, ARSP Beiheft 41 (1965) 41. Bulygin, ARSP Beiheft 41 (1965) 45 ff. Vgl. Rehbinder, Eugen Ehrlich 130 Ν 12. Jürgens en 32. Vgl. vorne § 7 Β bei Ν 24.
§ 24 Die übrigen Vor- und Nachteile der rechtspositivistischen Theorien
255
Gerichtsentscheidungen sowie der Fachliteratur. Gibt man dies zu, dann fragt es sich, wieso man zur Feststellung des Rechts ausschließlich auf das Entscheidungsverhalten der Richter angewiesen sein soll und ob sich das geltende Recht nicht direkter aus den erwähnten Quellen (ohne den überflüssigen Umweg einer Verifikation am zukünftigen Richterverhalten) erkennen ließe. Wenn schließlich, wie Ross annimmt, die Urteilsbegründungen in weitem Umfang bloß eine „Fassadenlegitimation" (façade of justification) darstellen 1 5 7 , die gar nicht die wahren Entscheidungsgründe enthalten, die den Richter motiviert haben, dann würde man — wie J0rgensen betont — gerade durch das Studium der Gerichtsurteile eine gründliche Fehlinformation über das geltende Recht riskieren 158 ; und die Prognosen der Rechtsdogmatiker über zukünftige Entscheidungen, die auf dieser Basis aufbauen, würden wohl meist das Ziel verfehlen.
G. Vor- und Nachteile der Rechtstheorie Harts 1 5 9 Harts Konzeption weist den Vorzug auf, in der sozialen Wirklichkeit der jeweiligen Rechtsordnung fundiert zu sein. Er braucht seine „rule of recognition", welche die Geltungskriterien des Systems enthält, nicht als „transzendental-logische Voraussetzung" jeder Rechtsordnung zu begreifen, sondern er faßt sie schlicht als eine, von Rechtsordnung zu Rechtsordnung im Inhalt wechselnde, nichtsdestoweniger aber für jedes Rechtssystem bestimmbare Regel auf, die sich in einer komplexen, aber normalerweise übereinstimmenden Praxis der Gerichte, Beamten und Privatpersonen bei der Identifizierung des Rechts nach gewissen Kriterien manifestiert. Sie ist also eine Tatsache, die sich mit Anspruch auf Objektivität von jedem neutralen Beobachter des Systems feststellen läßt; damit fällt sie unter die Gegebenheiten, die auch vom Standpunkt eines strengen erkenntnistheoretischen Positivismus aus als „wirklich" angesehen werden dürfen. Hart verzichtet konsequent darauf, eine — wenn auch nur hypothetische — Soll-Geltung eines Rechtssystems anzunehmen. Eine Rechtsordnung existiert oder existiert nicht; die Frage, ob sie von einem höheren Standpunkt aus als gesollt oder nicht gesollt betrachtet werden kann, setzt die Anwendung von Wertmaßstäben voraus und hat nichts mit der Frage nach der Existenz der Rechtsordnung zu t u n 1 6 0 . 157
Ross, On Law and Justice 152. Jtfrgensen 101. 159 Vgl. zur Hart-Kritik: Fuller, Harv. L. R. 71 (1958) 630 ff.; Alexy, ARSP Beiheft Nr. 37 (1990) 9 ff.;Rai, Norms 146 ff.; derselbe, Concept ch. VI-IX; derselbe, Authority 90 ff.; Firnis 11 ff., 163, 312 ff., 357 ff. Zu Dworkin vgl. vorne § 22 D. V. A. Menchaca, Hart und der Rechtsbegriff, in: W. Krawietz/Walter Ott, Formalismus und Phänomenologie im Rechtsdenken der Gegenwart, Festgabe für Alois Troller zum 80. Geburtstag (Berlin 1987) 73 ff. 158
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3. Teil: Folgerungen
Die „rule of recognition" unterscheidet sich also deutlich von Kelsens „hypothetischer Grundnorm". Hart wendet gegen Kelsen ein, es sei eine sinnlose Reduplikation (needless reduplication), für die Grundnormen aller Rechtsordnungen immer den gleichen Inhalt anzunehmen, nämlich den, daß der Verfassung gehorcht werden solle 161 . Eine Verfassung sei akzeptiert und existiere, wenn die Gerichte und die Beamten des jeweiligen Systems das Recht in Übereinstimmung mit den von der Verfassung vorgesehenen Kriterien identifizieren 162 . Nach Hoerster, der Hart hierin folgt, spricht nichts dagegen, in der obersten Verfassungsnorm der jeweiligen Rechtsordnung selbst die oberste rechtliche Geltungsnorm zu sehen 163 . Diese Polemik Harts gegen Kelsen ist indessen fehlerhaft, worauf Eckmann und Dreier hingewiesen haben 1 6 4 . Denn Kelsen will sich ja, im Gegensatz zu Hart, nicht damit begnügen, das Rechtssystem als ein soziales Faktum aufzufassen, sondern er will die effektiven Zwangsordnungen als — wenn auch nur hypothetisch — gesollte Ordnungen begreifen. Das Problem, wie aus einer tatsächlich existierenden Zwangsordnung eine gesollte Zwangsordnung wird, läßt sich nun von Kelsens Standpunkt aus nur dadurch lösen, daß man eine Norm voraussetzt, welche die jeweils effektive Zwangsordnung als eine gesollte deutet. I n Kelsens System ist die Grundnorm keinesfalls eine sinnlose Reduplikation, wenn man auch Hart und Hoerster darin beipflichten wird, daß ihr Erkenntniswert als gering zu veranschlagen ist. Nach Harts Theorie muß die grundlegende Sekundärregel und damit das Rechtssystem als Ganzes nur von den Amtspersonen akzeptiert werden. Die gewöhnlichen Bürger können dies zwar ebenfalls tun, notwendig ist es aber nicht; für die Existenz des Rechtssystems ist von Seiten der Bürger nur erforderlich, daß diese die Primärregeln des Systems im allgemeinen befolgen165, ohne daß eine eigentliche Akzeptierung notwendig wäre. Diese Konzeption weist natürlich die gleichen Vorteile auf, wie wir sie bei den Anerkennungstheorien Belings und Nawiaskys (Anerkennung des Rechts durch die „tonangebende Schicht") festgestellt haben. Sie gestattet es, auch solche Normen als „Recht" zu erfassen, die der Anerkennung durch die Bürger nicht teilhaftig werden, sei es, weil letztere andere Anschauungen als die gesetzgebenden oder rechtsanwendenden Instanzen haben, sei es, weil sie die Norminhalte gar nicht kennen 1 6 6 . — Wie bei den erwähnten Anerken160
Vgl. Hart, Concept of Law 104, Begriff 151 f. Eckmann 123; Hart, Concept of Law 246, Begriff 352. 162 Hart, Concept of Law 246, Begriff 352. 163 Hoerster, ARSP 56 (1970) 51. 164 Eckmann 124; Dreier, Sein und Sollen, Bemerkungen zur Reinen Rechtslehre Kelsens, JZ 27 (1972) 332. 165 Hart, Concept of Law 109/113, Begriff 158/164. 166 Vgl. vorne § 24 E bei Ν 131 f. 161
§ 24 Die übrigen Vor- und Nachteile der rechtspositivistischen Theorien
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nungstheorien bringt dies jedoch andererseits den Nachteil mit sich, daß der Rechtscharakter einer Norm eines unverantwortlichen Gewalthabers oder Richters nicht mit dem empirischen Nachweis verneint werden kann, daß sie beim überwiegenden Teil der Bevölkerung auf Empörung stößt. Dem vorne erwähnten Versuch Krieles, Harts Theorie in diesem Sinne umzudeuten, kann daher nicht gefolgt werden 167 . Wie wir gesehen haben, enthält Harts Erkennunsregel in einem entwickelteren Rechtssystem mehrere Geltungskriterien. Insbesondere enthält sie auch das Kriterium, daß die in Gerichtsentscheidungen zum Ausdruck kommenden Primärregeln als Recht zu betrachten sind 1 6 8 . Diese Konzeption bringt den Vorteil einer Anerkennung der Rechtsprechung als „Rechtsquelle" mit sich. — Harts Erkennungsregel-Konstruktion taugt jedoch, wie er selbst zugibt, nicht zur Erfassung des Völkerrechts. Da es an einer internationalen Gesetzgebung, an einer obligatorischen Gerichtsbarkeit sowie an zentral organisierten Sanktionen fehlt, gleicht das Völkerrecht eher einer primitiven Primärregelordnung als einem entwickelten Rechtssystem. Es ist nach Hart tatsächlich vertretbar anzunehmen, daß es beim Völkerrecht nicht nur an den grundlegenden Änderungs- und Entscheidungsregeln, sondern auch an einer grundlegenden Erkennungsregel mangelt, welche die Rechtsquellen und die Kriterien für die Identifizierung der systemangehörigen Regeln enthält 1 6 9 . Die besondere Originalität Harts liegt in der Methode seiner Begriffsanalyse. Sie beruht, wie Eckmann in verdienstvoller Weise herausgearbeitet hat, auf der Sprachphilosophie Wittgensteins, und zwar weniger auf dessen Erstlingswerk „Tractatus logico-philosophicus" als auf seinen posthumen „Philosophischen Untersuchungen" 170 . Nach Wittgensteins späterer Auffassung dienen Wörter einer Sprache nicht nur zur Abbildung der Wirklichkeit; in einem solchen Wortgebrauch erschöpfen sich die Funktionen der Sprache nicht, sondern man kann Wörter beispielsweise benutzen, um einen Befehl, eine Bitte oder eine Frage auszusprechen. Dann hat die Sprache eine andere Funktion, weil nicht von Dingen geredet wird. I n einer großen Klasse von Fällen ist nun nach Wittgenstein die Bedeutung eines Wortes identisch mit seinem Gebrauch in der Sprache. Die sich hieraus ergebende Methode der Sprachanalyse und der Behandlung philosophischer Probleme beruht darin, daß man zur Analyse eines Wortes den Gebrauch in der Sprache untersucht. 167
Vorne § 23 Ν 37. Vorne § 12 bei Ν 48. 169 Hart 209: „It is indeed arguable, as we shall show, that international law not only lacks the secondary rules of change and adjudication which provide for legislature and courts, but also a unifying rule of recognition specifying ,sources' of law and providing general criteria for the identification of its rules."; Begriff 294/295. 170 L. Wittgenstein , Philosophische Untersuchungen (Frankfurt a. M. 1967). Dazu Eckmann 101 ff. 168
17 Ott, 2. Aufl.
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3. Teil: Folgerungen
Hart nimmt nun diese Theorie auf und führt aus, Ausdrücke wie „subjektives Recht", „Pflicht", „juristische Person" hätten nicht die Aufgabe, etwas zu bezeichnen 171 , weshalb sich auch keine Tatsachen auffinden ließen, die diesen Ausdrücken entsprächen. Diese Wörter hätten eine ganz andere Bedeutung: Nach/for/s Meinung leiten sie ihre Bedeutung „von der Weise ab, in denen sie in Verbindung mit Rechtsregeln fungieren" 112. Die Fruchtbarkeit einer solchen Untersuchungsmethode zeigt sich m. E. sofort, wenn man sich vergegenwärtigt, daß sie eine Bestimmung des subjektiven Rechts, wie sie ζ. B. Kelsen vornimmt, verunmöglicht. Wie wir gesehen haben, ist Kelsen auf Grund seines Begriffes des subjektiven Rechts gezwungen anzunehmen, daß der Handlungsunfähige keine subjektiven Rechte haben kann. Berechtigt ist nach Kelsen entweder der Vertreter, oder aber es liegt ein „subjektloses" Recht v o r 1 7 3 . Nun ist es aber unbestreitbar, daß die Juristen dauernd von subjektiven Rechten der Handlungsunfähigen reden. Ein Vertreter der /falschen Methode würde einen Rechtsbegriff dadurch erläutern, daß er einen Satz untersucht, in dem der Begriff seine charakteristische Rolle spielt (im vorliegenden Beispiel also etwa: „Das K i n d A hat ein subjektives Recht gegen X"). Dadurch würde er von selbst dazu gelangen, den Begriff des subjektiven Rechts eben so zu bestimmen, daß er auch solche Fälle umfaßt; und nicht umgekehrt zu erklären, daß die Juristen hier fälschlicherweise von einem subjektiven Recht reden 1 7 4 ! I n analoger Weise kommt Hart zu der für ihn grundlegenden Unterscheidung von Primär- und Sekundärregeln. Der Unterschied zwischen ihnen zeigt sich ihm vor allem darin, wie von diesen Regeln gesprochen wird 115. Wenn beispielsweise ein Testament gewisse Gültigkeitsvorschriften — die ja nach Hart Sekundärregeln sind — nicht erfüllt, spricht man nicht wie bei einer Primärregel davon, daß eine Pflicht verletzt worden sei, sondern davon, daß das Testament nichtig sei oder keine Rechtswirkung habe116. Allerdings hängt der Erfolg von Harts Untersuchungsmethode m. E. davon ab, ob der Sprachgebrauch hinsichtlich der zu untersuchenden Rechtsbegriffe genügend konsequent ist. Diese Problematik zeigt sich bei Harts Analyse des Geltungsbegriffs. Wie wir gesehen haben, meint Hart, wenn er von Geltung spricht, immer nur eine interne, d. h. innerhalb eines gegebenen Systems bestehende Geltung. Von „Geltung" einer Regel wird 171
Hart, Definition 12/13. Eckmann 105. 173 Vorne § 24 D I a. E. 174 Das Hartschz Vorgehen bei der Analyse des Begriffes des subjektiven Rechts und sein Ergebnis sind näher erläutert bei Eckmann 106 ff. 175 Eckmann 61/62; Hart , Concept of Law 28: „The radical difference in function between laws that confer such powers and the criminal statute is reflected in much of our normal ways of speaking about this class of laws." 176 Hart , Concept of Law 28, Begriff 47/48. 172
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nach Hart üblicherweise nur gesprochen, wenn der Sprecher deren Existenz durch einen Deduktionsschluß aus einer vorausgesetzten höheren Regel feststellt 177 . Daraus ergibt sich zweierlei: Die Geltung kann nur den untergeordneten Regeln des Systems, nicht aber der Erkennungsregel zukommen. Und: Hart versteht unter der Geltung der Norm nicht die faktische Geltung, sondern die normative Geltung, die Soll-Geltung 1 7 8 . Nach Eckmann ist diese Analyse des Geltungsbegriffs unvereinbar mit dem eingebürgerten Sprachgebrauch, wonach die Geltungskriterien der Verfassung, aus denen die Erkennungsregel besteht, als geltendes Recht bezeichnet werden 179 . Denn auch die Norm von Art. 1231 der schweizerischen Bundesverfassung, wonach Volk und Stände einer Verfassungsrevision zustimmen müssen, betrachtet man als geltendes Recht; d.h. im Sprachgebrauch gibt es eine Geltung des Geltungskriteriums selbst. Vehemente Kritik an Harts Interpretationslehre hat Miedzianagora geü b t 1 8 0 . Hart unterscheidet ähnlich wie Heck lu bei den Ausdrücken der natürlichen Sprache, deren sich ein Gesetzgeber bedient, einen festen Bedeutungskern (core) von einer unbestimmten Schattenzone (penumbra) 182 . Der Bedeutungskern ist der feststehende Sinn des Wortes, welcher die klaren Fälle umfaßt, während in den Bereich des Bedeutungshofes die Grenzfälle gehören, wo eine eindeutige Subsumtion nicht mehr möglich ist. Miedzianagora überprüft diese Lehre anhand des Art. 386 des französischen Strafgesetzbuches von 1810, der u.a. den nächtlichen Diebstahl („vol de nuit") strenger bestraft als den gewöhnlichen. Es fragt sich, was hier unter „nuit" zu verstehen ist. I n einem Entscheid von 1813 hatte die französische Cour de cassation erklärt, unter „nuit" sei der Zeitraum zwischen Sonnenuntergang und -aufgang zu verstehen 183 . Demgegenüber entschied die Cour d'appel de Nîmes im Jahre 1829, unter „nuit" sei nur der Zeitraum zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang unter Ausschluß der Abend- und Morgendämmerung zu verstehen; ein Diebstahl während der Abend- oder Morgendämmerung sei kein „vol de n u i t " 1 8 4 . Ein Diebstahl, begangen in Frankreich im Winter um drei Uhr morgens, wäre demzufolge nach beiden Auffassungen ein nächtlicher Diebstahl (Standardfall), ein Diebstahl um sieben Uhr 177
Eckmann 121. In der Normativität ihres Geltungsbegriffs stimmen die Lehren Harts und Kelsens überein: Eckmann 125. 179 Eckmann 122/123. 180 Miedzianagora 133 ff., 139 ff. 181 Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, AcP 112 (1914) 173. 182 Hart, Harv. L. R. 71 (1957/58) 607. 183 12 Février 1813. Sirey, Recueil général des lois et arrêts, 1812-14, S. 284; zit. nach Miedzianagora 133 Ν 10. 184 7 Mars 1829, Sirey, Coll. nouv., t. I X , 2, 228. Dalloz, Recueil de doctrine de jurisprudence et de législation, Ve vol., n° 469; zit. nach Miedzianagora 134 Ν 11. 178
17*
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3. Teil: Folgerungen
dreißig abends gegen Ende des Sommers wäre demgegnüber nur nach der Meinung der Cour de cassation, nicht aber nach derjenigen der Cour de Nîmes, ein nächtlicher Diebstahl (Grenzfall). Miedzianagora wendet nun gegen Hart ein, auch beim Standardfall sei der Gesetzestext keineswegs klar: Was Hart als Bedeutungshof charakterisiere, sei in Wirklichkeit die Konvergenz zweier verschiedener Interpretationen der Regel 1* 5. Der Standardfall könne nach zwei voneinander abweichenden Auslegungen unter den Gesetzestext subsumiert werden (der Grenzfall dagegen nur nach einer). Beim Standardfall würden sich aus der Mehrdeutigkeit des Ausdruckes keine praktischen Konsequenzen ergeben, wohl aber beim Grenzfall. — Diese an sich richtige Argumentation widerlegt aber m. E. Harts Auffassung nicht. Was Hart mit seiner Lehre vom Bedeutungshof meint, ist doch dies, daß es Fälle gibt, die eindeutig unter einen gesetzlichen Ausdruck subsumiert werden können, ohne daß man zuvor zu Auslegungskünsten Zuflucht nehmen muß. Dieser Sachverhalt kann mit dem Modell Harts ebensogut wiedergegeben werden wie mit demjenigen / 'iedzianagoras.
H. Vor- und Nachteile des Institutionalistischen Rechtspositivismus MacCormicks und Weinbergers 186 Als erstes Positivum ist hervorzuheben, daß MacCormick und Weinberger zu den kritischen Positivisten gehören, d. h. sich des axiomatischen Charakters ihrer Theorie bewußt sind. So beruht nach Weinberger die institutionalistische Auffassung auf Festsetzungen; das ontologische und begriffliche Framework des IRP trage einen prinzipiell stipulativen Charakter 1 8 7 . Auch für MacCormick sind Konklusionen nur innerhalb von gedanklichen Rahmenwerken begründbar, welche im wesentlichen Konstrukte sind und daher ihrerseits nicht in derselben Weise gerechtfertigt werden können 1 8 8 . Die Frage lautet folglich nicht, ob die institutionalistische oder die traditionelle Ontologie die wahre ist, sondern, welche Ontologie zu gewissen Gegebenheiten besser paßt. — Die beiden Autoren legen auch klar das weltanschauliche Vorverständnis offen, das dem IRP zugrundeliegt: Es ist dasjenige einer skeptischen und relativistischen Weltanschauung, nämlich des ethischen Non-Kognitivismus 1 8 9 . Sie verklären daher nicht — wie dies institutionelle 185
Miedzianagora 135. Literatur: MacCormick / Weinberger, IRP; Rüthers, Entartetes Recht; derselbe, Neues zum institutionellen Rechtsdenken? — Einige Literaturhinweise, Zeitschrift für Rechtssoziologie 8 (1987) 139 ff., v. a. 141 ff.; Karl A. Mollnau, Rezension des Werkes von MacCormick und Weinberger in: Deutsche Literaturzeitung für Kritik der internationalen Wissenschaft 108 (1987) 582 f. 187 Weinberger, IRP 18. 188 MacCormick, IRP 58. 189 Vgl. vorne § 13. 186
§ 24 Die übrigen Vor- und Nachteile der rechtspositivistischen Theorien
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Rechtslehren häufig zu tun pflegen 190 — die „Nebel des Institutionellen" mit scheinbar wissenschaftlicher Terminologie. — Die Trennung von Recht und Moral sowie die Unableitbarkeitspostulate garantieren ferner, daß das Faktische nicht einfach als das Sein-Sollende legitimiert wird: MacCormick und Weinberger erklären nicht, was wirklich sei, das sei auch vernünftig. I m Gegensatz zu den kontinentalen Rechtspositivismen anerkennt der IRP auch bis zu einem gewissen Grade die Möglichkeit rationaler De-lege-ferendaArgumentationen: nämlich (a) durch Analyse der sachlichen Zusammenhänge zwischen relevanten Tatsachen und durch Analyse der Folgen unserer Handlungen und (b) durch Prüfung der inneren Konsequenz unserer Wertungen 1 9 1 . Der Anhänger des IRP kann demnach in diesem Umfang etwas beitragen zur Frage, wie zukünftiges Recht gestaltet werden soll, wenn auch die entscheidenden Weichen nach dieser Lehre durch Stellungnahmen gestellt werden, die kognitiv nicht begründbar sind. — Zu rühmen ist ferner, daß der IRP eine ausgewogene Position jenseits von Normativismus und Realismus einnimmt 1 9 2 . Der Hauptvorteil dieser Lehre liegt m. E. darin, daß sie dem Prinzipienargument zum vornherein nicht ausgesetzt ist 1 9 3 . Wenn neben explizit gesetzten Primär- und Sekundärregeln i. S. Harts auch Rechtsprinzipien, Interpretationsregeln, ja die gesamten teleologischen Hintergründe des Rechts, soweit sie in der Argumentation der Rechtspraxis wirksam sind, zum positiven Recht gehören, müssen diese Elemente nicht als ein Naturrecht gedeutet werden und auch nicht als Bestandteile der positiven Moral. Das bedeutet, daß dann Auslegungs- und Lückenfüllungsprobleme auf dem Boden des positiven Rechts lösbar werden. Zum Teil kann der IRP hier auch Kriterien zur Identifizierung von Rechtsprinzipien anführen: Rechtsprinzipien lassen sich manchmal direkt in positivierten Rechtsvorschriften oder in der Gestalt von rationes decidendi in Präjudizien nachweisen, manchmal auch indirekt durch Abstraktionen aus positiven Rechtsnormen und Präjudizien 194 . Wenn solche Nachweise jedoch nicht gelingen, fehlt es an einem klaren Herkunftskriterium, mit dem sich Rechtsprinzipien identifizieren lassen. I n solchen Fällen bleibt nur der Hinweis, daß der Richter eine Ermessensentscheidung aufgrund einer moralischen Eigenwertung treffen darf. Wie jeder Rechtspositivismus läßt auch der IRP den Richter (und den Gesetzgeber) im Stich, wenn es darum geht, das Recht im Hinblick auf bisher unbekannte Probleme fortzubilden.
190 191 192 193 194
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Rüthers, Zeitschrift für Rechtssoziologie 8 (1987) 147. vorne § 13. vorne § 13. vorne § 22 D. Weinberger, Gedächtnisschrift für René Marcie, 500 f.
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3. Teil: Folgerungen
Die teilweise Loslösung von rein formalen Geltungskriterien, mindestens bei Weinberger 19 , 5 führt ferner zu einer Erweiterung der Beobachterperspektive. Das hat den Vorteil, daß die Realität eines Rechtssystems in einem umfassenderen Sinne gesehen wird und folglich besser dargestellt werden kann als mit der verengenden konventionellen Sicht weise — ζ. B. die Realität des Rechtssystems des Nationalsozialismus. Wenn zum positiven Recht auch der teleologische Hintergrund sowie die juristische Doktrin, soweit diese Elemente positiv-soziales Dasein haben, zählen, dann können der Führerwille, die „artbestimmte Volksgemeinschaft", das Parteiprogramm der NSDAP, die nationalsozialistische Weltanschauung und das „gesunde Volksempfinden" als Rechtsquellen begriffen werden, wie dies der nationalsozialistischen juristischen Doktrin entsprach 196 . Der IRP eignet sich also zur Erfassung und Beschreibung unbestreitbarer Realitäten, die mit dem Recht in Zusammenhang stehen. So vorteilhaft diese Betrachtungsweise für die Beobachterperspektive ist, so verhängnisvoll wirkt sie sich aus, wenn man in die Teilnehmerperspektive hinüberwechselt. Der teilweise Verzicht auf klare positivistische Herkunftskriterien zur Identifizierung gültigen Rechts bei Weinberger hat zur Folge, daß etwa das geheime Ermächtigungsschreiben Hitlers vom 1.9.1939, das die Grundlage für die Euthanasieaktionen an geistig behinderten und geisteskranken sowie gebrechlichen Patienten in den Heil- und Pflegeanstalten gewesen ist, als gültiges Recht begriffen werden muß 1 9 7 . Denn dabei handelte es sich zweifellos um eine praktische Information, die in den Institutionen der Heil- und Pflegeanstalten ein positiv-soziales Dasein erlangt hat. Daß es sich dabei im institutionellen Sinne um eine Rechtsnorm, nicht um irgend eine andere A r t von sozialer Norm gehandelt hat, erhellt daraus, daß die juristische D o k t r i n — wie bereits erwähnt — den Führerwillen als eine Rechtsquelle deklariert hat 1 9 8 . Keinem Arzt, der an solchen Tötungsaktionen mitgewirkt hat, hätte man daher entgegenhalten können, seine Handlungen seien rechtswidrig gewesen, weil das Ermächtigungsschreiben Hitlers
195
Die Position MacCormicks ist diesbezüglich unklar. Rüthers, Entartetes Recht 27 f. mit zahlreichen Nachweisen. 197 Das Schreiben hatte den folgenden Wortlaut: „Adolf Hitler Berlin, den 1. September 1939 Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, daß nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann, gez. Adolf Hitler." zit. nach Ernst Klee, „Euthanasie" im NS-Staat. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens" (3. A. Frankfurt a. M. 1983) 100. Vgl. dazu Ott, Festschrift für Robert Walter (Wien 1991) 519 ff. 198 Rüthers, Entartetes Recht 28 f. mit Nachweisen. 196
§ 24 Die übrigen Vor- und Nachteile der rechtspositivistischen Theorien
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mangels Publikation im Reichsgesetzblatt kein gültiges Recht gewesen sei (und weil es an der Anerkennung durch die Bevölkerung gefehlt habe) 1 9 9 . Analoges gilt für die „Endlösung der Judenfrage". Sie basierte auf einem Schreiben Görings an den Chef der Sicherheitspolizei Heydrich vom 31. Juli 1941 (welches einen Tötungsbefehl Hitlers voraussetzt, der aber nicht erhalten geblieben ist) 2 0 0 . Keinem der an der Endlösung Beteiligten hätte aus institutionalistischer Sicht nach dem Kriege von einem Gericht der Vorwurf erhoben^ werden können, er habe gegen damals geltendes Recht verstoßen, indem er, gestützt auf Runderlasse des Reichssicherheitshauptamtes 201 , die in der Folge ergingen, an der Vernichtung der Juden mitgewirkt hat. Denn diese Runderlasse waren in einem institutionellen Sinne positives Recht, so daß jeder an der Endlösung beteiligte Täter sich auf sie als Rechtfertigungsgründe hätte berufen können. Es zeigt sich hier wieder, wie verschieden der Wert rechtstheoretischer Positionen einzustufen ist je nach dem Ziel, das man mit ihnen verfolgt. Je geeigneter eine Rechtslehre für die Behandlung theoretischer Fragestellungen ist (also ζ. B. für die Rechtssoziologie, Rechtsgeschichte, Rechtsethnologie), desto ungeeigneter ist sie für die Lösung unmittelbar praktischer Fragestellungen und umgekehrt. So wird man dem IRP ein hohes Maß an Eignung zur Darstellung rechtsnaher Realitäten zubilligen und gleichzeitig seine Eignung zur Lösung unmittelbar praktischer Probleme als gering veranschlagen dürfen. Den Autoren ist es auch nicht gelungen, eine Position jenseits von Naturrecht und Rechtpositivismus zu entwickeln. Der IRP befindet sich zwar jenseits des naturrechtlichen, dagegen — wie der Name schon sagt — innerhalb des positivistischen Bereiches. Der IRP stellt eine starke Version des Rechtspositivismus im früher erläuterten Sinne dar (d. h. er kombiniert 199 Den Rechtscharakter dieses Schreibens verneinte schon unter formellen Gesichtspunkten zutreffend das O L G Frankfurt, Süddeutsche Juristenzeitung 2 (1947) 623/624. Weiter argumentierte das OLG, ein geheimer Erlaß könne der Anerkennung durch die Staatsangehörigen gar nicht teilhaftig werden. Diese sei aber konstitutiv für den Rechtsnormcharakter. Vgl. Süddeutsche Juristenzeitung 2 (1947) 625/626. 200 Das für den Uneingeweihten harmlos anmutende Schreiben Görings lautete wie folgt: „In Ergänzung der Ihnen mit Erlaß vom 24.1.39 (gemeint ist ein Schreiben Görings an den Reichsinnenminister Frick, das also nicht als „einfacher Brief aufgefaßt wurde: d. Verf.) übertragenen Aufgabe, die Judenfrage in Form der Auswanderung oder Evakuierung einer den Zeitverhältnissen entsprechend möglichst günstigen Lösung zuzuführen, beauftrage ich Sie hiermit, alle erforderlichen Vorbereitungen in organisatorischer, sachlicher und materieller Hinsicht zu treffen für eine Gesamtlösung der Judenfrage im Einflußgebiet in Europa. Soferne hierbei Zuständigkeiten anderer Zentralinstanzen berührt werden, sind diese zu beteiligen...", zit. nach H. G. Adler, Der verwaltete Mensch, Studien zur Deportation der Juden aus Deutschland (Tübingen 1974) 84 f. 201
Beispiele solcher Runderlasse finden sich bei Adler a.a.O. 188 f. und 191 abgedruckt.
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3. Teil: Folgerungen
einen ethisch neutralen Begriff des Rechts mit einem ethischen Relativismus im überpositiven Bereich) 202 . Eine solche Konzeption ist weder mit einer starken Version der Naturrechtslehre (d. h. Naturrecht derogiert widersprechendem positiven Recht) noch mit einer schwachen Version der Naturrechtslehre (d. h. Naturrecht ist ein Maßstab zur Bewertung des positiven Rechts) vereinbar. Eine Versöhnung zwischen Naturrecht und Rechtspositivismus ist nur möglich, wenn man eine schwache Version der Naturrechtslehre mit einer schwachen Version des Rechtspositivismus kombiniert, so wie dies der britische Rechtspositivismus (Hobbes, Bentham, Austin, Hart) seit jeher getan hat; d.h., indem man einen ethisch neutralen Begriff des Rechts verwendet und gleichzeitig die Möglichkeit einer praktischen Erkenntnis i. S. eines Naturrechts oder einer rationalen Moralbegründung bejaht. Trotz dieser Vorbehalte darf davon ausgegangen werden, daß der IRP seine Wirkung auf das rechtstheoretische und rechtsphilosophische Denken der Gegenwart nicht verfehlen wird.
202
Vorne § 15 Β I I a. E. und § 13 Ν 8 zu MacCormicks Position.
Schlußbemerkungen: Naturrecht als kulturelle Schöpfung
I n diesem Buch ist versucht worden zu zeigen, daß die Bemühungen der Rechtsphilosophen im allgemeinen und der Rechtspositivisten im besonderen als ein grundsätzlich sinnvolles Unterfangen begriffen werden können, selbst wenn man von einem erkenntnistheoretischen Positivismus ausgeht (erst recht wäre dies natürlich der Fall, wenn man eine weniger strenge erkenntnistheoretische Position als Ausgangsbasis wählen würde). Zwar hat bis jetzt noch niemand den Königsweg der Rechtsphilosophie gewiesen, und es ist kaum anzunehmen, daß in absehbarer Zeit jemand den allgemein anerkannten Weg wird weisen können. Aber auf Grund der hier entwickelten Deutung läßt sich dem Tun des Rechtsphilosophen jedenfalls auch dann ein Sinn abgewinnen, wenn man die strengsten Anforderungen an die menschliche Erkenntnis zugrunde legt, nämlich diejenigen des philosophischen Positivismus. Geht man einmal davon aus, dann hat es die Rechtsphilosophie zwar nicht — wie die Einzelwissenschaften — mit dem Auffinden von Wahrheiten zu tun. Rechtsphilosphien vermitteln keine Erkenntnis und kein Wissen. Sie sind vielmehr Entwürfe bzw. gedankliche Konstruktionen, die zur Erreichung bestimmter Ziele entwickelt werden. Zu beurteilen hat man sie danach, ob sie im Lichte dieser vorausgesetzten Ziele zu akzeptablen oder unakzeptablen Konsequenzen führen, nicht aber danach, ob sie wahr sind oder falsch. Unsere Untersuchung der rechtspositivistischen Lehren hat gezeigt, daß die Ergebnisse einer solchen Prüfung ganz verschieden ausfallen, je nach dem Problemkreis, auf den man die einzelne Theorie ansetzt. Aus der Wahl eines Ansatzes ergeben sich ganz verschiedene Lösungen, die für bestimmte Problemkomplexe geeignet, für andere Problemkomplexe dagegen ungeeignet sind. Die zukünftigen Bemühungen sollten daher weniger darauf abzielen, nun die eine Theorie zu ersinnen, die alle Probleme des Rechts löst. Man sollte viel eher versuchen, mit einer Plur alitât von Theorieansätzen zu arbeiten 1 ; und 1
Für die Rechtssoziologie hat auf den Vorteil antagonistischer Theorieansätze aufmerksam gemacht H. Schelsky, Systemfunktionaler, anthropologischer und personfunktionaler Ansatz der Rechtssoziologie, in: Die Funktion des Rechts in der modernen Gesellschaft, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 1 (1970) 42.
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Schlußbemerkungen
zwar nicht einfach in willkürlicher Art und Weise, sondern im klaren Bewußtsein, warum man zur Lösung eines bestimmten Problems gerade diesen und nicht einen anderen Ansatz wählt. A u f Grund der vorgeschlagenen Deutung des juristischen Pragmatismus erscheinen auch die — hier nicht behandelten — idealistischen Rechtsphilosophien, insbesondere die Naturrechtslehren, in einem anderen Licht. M. E. handelt es sich bei ihnen um Schöpfungen der abendländischen Kultur 2 . Geht man von einem positivistischen Begriff der Erkenntnis aus (was — wie gezeigt — nicht zwingend ist) 3, sind ζ. B. die Menschenrechte i. S. von Rechtsansprüchen gegenüber dem Staat nicht etwas, das jedem Menschen, in welcher Kultur auch immer, zum vornherein angeboren ist. Die Naturrechtler, die die Menschenrechte postulierten, haben also nicht etwas entdeckt, das schon immer da war, sondern sie haben etwas geschaffen, das es vorher noch nicht gab. Die Menschenrechte beruhen also auf einer kulturellen Schöpfung, nicht auf einer wissenschaftlichen Entdeckung. Das sogenannte Naturrecht entstammt nicht der Natur, sondern der Kultur. Es ist nicht Natur-Recht, sondern Kultur-Rechtl So ist es sinnlos zu behaupten, einem Mitglied einer vorstaatlichen Stammesgesellschaft sei die Religionsfreiheit angeboren. Denn die Religionsfreiheit wird erst in einem bestimmten historischen Zusammenhang wichtig: Nämlich dann, wenn die Glaubenseinheit zerbrochen ist, wie das bei uns seit der Reformation der Fall ist. In einer Stammesgemeinschaft besteht dagegen noch diese Glaubenseinheit. Außerdem ist die Religionsfreiheit ein Recht, das sich in erster Linie gegen den Staat richtet. Auch an dieser Voraussetzung fehlt es bei einer vorstaatlichen Stammesgesellschaft. Oder: Von Pressefreiheit kann man nur dort sprechen, wo es eine Presse gibt. Vor der Erfindung der Presse konnte es auch keine Pressefreiheit geben. A n eine Naturrechtslehre — wie an jede andere Rechtsphilosphie — ist daher nicht die Frage zu stellen: Ist sie wahr oder ist sie richtig? 4 , sondern: 2
Es gibt anscheinend nicht viel mehr als zwei Standards, die in fast allen Kulturen gelten: Nämlich das Verbot der Tötung von Angehörigen der eigenen Gruppe (mit Ausnahmen wie z.B. der Todesstrafe) und das Verbot geschlechtlicher Beziehungen zwischen nahen Verwandten (sog. Inzesttabus). Vgl. dazu F.-H. Schmidt, Verhaltensforschung und Recht (Berlin 1982) 90ff., 169, 172f. Bei den Kulturen mit seßhafter Lebensweise kommen noch „dingliche" Beziehungen zu beweglichen Sachen und zu Grund und Boden dazu. Vgl. Simon Roberts, Ordnung und Konflikt (Stuttgart 1981) 104 ff. In diesem Ausmaß sind die Naturrechtslehren nicht kulturelle Schöpfungen, sondern Ausdruck kultureller Standards. — Die eindrucksvolle Sammlung von Jeanne tìersch , Das Recht, ein Mensch zu sein, Leseproben aus aller Welt zum Thema Freiheit und Menschenrechte (Basel 1990) bedeutet keinen Beweis gegen die hier vertretene Auffassung. Denn die Tatsache, daß ein weiser Mensch in einer Kultur eine bestimmte Auffassung vertreten hat, bedeutet noch lange nicht, daß diese Auffassung für die betreffende Kultur auch repräsentativ ist. 3 Vgl. vorne vor § 16 und § 18. 4 Es sei denn, sie sei in sich widerspruchsvoll oder enthalte erfahrungswidrige Behauptungen. Dann ist eine solche Lehre falsch, nicht nur unfruchtbar. Vgl. vorne §21 Ν 8.
Schlußbemerkungen
Was würde die Befolgung dieser Philosophie für unser Leben und für die außermenschliche Natur bedeuten? — Eine Rechtsphilosphie — mag sie sonst noch so konsequent und gut begründet sein — wird von den Juristen niemals auf Dauer angenommen werden, wenn sie sich nicht im praktischen Leben, im Kampf, in der juristischen Alltagsarbeit bewährt. Diese Bewährungsprobe besteht darin, daß man zunächst fragt, welche Folgen es voraussichtlich hätte, wenn man im jeweiligen Kontext von der einen oder anderen Philosophie ausgehen würde, sodann diese Folgen als mehr oder weniger erwünscht bewertet und schließlich eine Philosophie entwickelt, deren Folgen denen der anderen Lehren vorgezogen werden 5 . Eine Rechtsphilosphie, insbesondere eine Naturrechtslehre, ist also dann akzeptabel, wenn sie sich durch ihre praktischen Konsequenzen bewährt. I m Laufe der Geschichte sind unakzeptable Naturrechtslehren (ζ. B. das Vorrecht des Stärkeren bei Kallikles oder die Rechtfertigung der Sklaverei bei Aristoteles) und akzeptable Naturrechtslehren (ζ. B. die Lehre von den angeborenen Menschenrechten) entwickelt worden. So gehen die wichtigsten Neuerungen unserer Rechts- und Staatsordnung, die uns teuer sind, auf das aufklärerische Naturrecht des 17. und 18. Jahrhunderts zurück. Diese Ideen haben sich als ungemein fruchtbar erwiesen. I m wesentlichen zehren wir heute noch von dieser Quelle. Diese Naturrechtslehren stellen zwar keine Sammlung von Wahrheiten, insbesondere von ewigen Wahrheiten, dar, aber sie sind Sinnentwürfe zur Gestaltung des menschlichen Daseins 6 ; und als solchen kommt ihnen eine Funktion zu, die unverzichtbar ist 7 — allem „Realismus" zum Trotz, der heute so modern ist. Die Anliegen sowohl des idealistischen wie auch des realistisch-positivistischen Philosophen wären erfüllt, wenn es gelänge, die Idealität der Entwürfe des ersteren in die Positivität des Rechts zu verwandeln, damit die vom letzteren geforderte Objektivität der Rechtserkenntnis gesichert ist. Die Forderung für die Zukunft lautet also kurz: Objektivität
von Idealität durch Positivitätl
5 Die pragmatistische Sicht legt als solche nicht fest, welcher Art die Kriterien sein müssen, anhand derer die Konsequenzen einer Philosophie zu bewerten sind. Es ist klar, daß hier die Gefahr eines unendlichen Regresses oder eines circulus vitiosus lauert. Dieser Gefahr kann man auch hier nur dadurch begegnen, daß man den Begründungszusammenhang irgendwo abbricht und gewisse letzte Voraussetzungen beweislos einführt. Vgl. zur analogen Problematik beim Begriff der Erkenntnis vorne § 18 A. 6 Vgl. vorne § 21 Β Ν 5. 7 Vgl. E. Wolf,; Das Problem der Naturrechtslehre. Versuch einer Orientierung (3. A. Karlsruhe 1964) 196.
Summary I n the first part of this book the author discusses Austin's Analytical Jurisprudence, the German Statutory Positivism ["Gesetzespositivismus"], Kelsen's "Pure Theory", the psychological theories of Bierling, Laun, Merkel, Jellinek, Beling and Nawiasky, the Scandinavian Realism, the sociological theories of Ehrlich, Weber, Geiger as well as the American Realism. H. L. A. Hart's as well as MacCormick's and Weinberger's theories are also discussed. As a conclusion of the first part of this book the author proposes that all positivistic theories meet the following criteria: I. A l l positivists try not to rely on any metaphysical hypothesis. 2. A l l positivists define the term law exclusively by using empirical characteristics, i. e. either facts in space and time (for example acts by the sovereign or actual behaviour of the members of the political community subjected to the rule of law) or facts of the spiritual inner life (for example: sense of duty ["Pflichtgefühl"] or the "sense of the binding nature of the law"). This results in the following: Such ("positive") law is defined by empirical criteria and must be clearly distinguished from the law as it should be (this is the positivistic separation of law and morals). According to the positivistic conception a norm will not loose its legal character because it qualifies as immoral from a (higher) moral point of view. 3. A l l positivist theories are basically relativistic theories: They do not rely on constant and unchanging criteria; instead flexible and variable criteria are used such as acts issued by the sovereign at a given time or values accepted by the majority of the citizens of a certain society at a given time. This, obviously, leads to a relativistic understanding of the contents and the consequences of the law. The differences between the various positivistic theories, therefore, stem from the different definitions of the term "law" used by the various legal writers. I n the second part of the book the author analyses the question whether — by using scientific methods — one of the definitions of the term "law" used by the positivistic authors can be proved to be true. The question must be anwered in the negative, because the positivistic definitions of the term "law" are neither empirical "statements" describing a certain given object nor lexical definitions conveying a certain meaning of the term "law". Rather they are (synthetic-semantic) stipulations, stating a certain meaning of the word "law". Stipulations can be neither true nor false but must be
Summary
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evaluated in examining their usefulness. The reason why the positivists developed so many different theories is, therefore, obvious: A l l these theories base on a pre-scientific decision taken by the authors in question but not on a scientific finding which can be proved to be true. In the third part of the book the author develops a certain interpretation (which he calls "legal pragmatism") of legal philosophical thinking which corresponds to the above stated results. According to this interpretation systems of legal philosophy differ sharply from empirical theories: The latter may be submitted to the test as to whether they are true or not while this is not possible in the case of systems of legal philosophy: These are neither true nor false. They are to be judged by the consequences in which they result, i. e. by the advantages and disadvantages which are the result of any such theory. A t the end of the book, the author, therefore, examines every theory from the point of view of the well known reproach which states that positivistic theories furthered the "perversion of the law" in the Third Reich (so-called "Hitler Argument" against positivisms). This reproach is demonstrably false. Legal Positivism, and in particular Statutory Positivism ["Gesetzespositivismus"] was not responsable for the legal desolation under national socialism. Nevertheless the author proposes that in order to cope with these problems a certain minimal content which corresponds to the basic legal principles recognized by all civilized nations should already be guaranteed in the term "law". — What concept of law is appropriate in the sociology of law or for the history of law is a completely different question. I n the opinion of the author, for research in such areas a positivistic conception of law is appropriate. It is not necessary that the judge, the legal sociologist and the legal historian in their various fields of activity should take their departure from the same concept of "law".
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Personenregister Aarnio, Α. 108 Ackermann, W. 118 Adler, H. G. 263 Adomeit, K. 75 Albert, H. 238 Alchourrón, C. E. 53, 146 Alexy, R. 97, 172 ff., 178 f., 181 ff., 187, 255 Alwart 102, 111 Anschütz, G. 39 ff., 216 Aristoteles 122, 186 Arndt, I. 221 Augustinus 49 Austeda, F. 118, 124, 126, 128, 131, 137 f., 143, 151, 154, 164, 166 Austin, J. 23,33 ff., 90 f., 107,109 ff., 115, 149, 178, 190, 201, 225ff., 264, 268 Ayer 129 Baratta, A. 39, 43, 105, 206, 211 Bärsch, Cl.-E. 39 Baurmann, M. 80, 178 Behrend, J. 46 Beling, E. 25, 60, 69, 169, 192, 225, 249, 256, 268 Bentham, J. 33 ff., 90, 111, 115,201,264 Bergbohm, K. 40 f., 44 f., 109,111 f., 162, 183 Beutel, F. K. 87 Bickel, C. 82 Bierling, E. R. 25,60,61 ff., 107,109,191, 225, 249, 268 Bingham 88 Birke, W. 225 Bismarck, O. Fürst von 169, 208, 222 Bittner, C. 178 Bjarup, J. 70 Blackstone, W. 33, 111 Blumenthal, O. 125 Bobbio, N. 105 Bocheóski, I. M. 118 ff., 124,128,130 ff., 137, 143 f., 150, 153 f. Bockelmann, R 223
Bodinus, J. 33 Bolyai 123 Bopp, H.-J. 33 Brandeis, L. D. 87 Brecht, A. 33, 36, 106, 114, 128, 168 Brehmer, J. 66 Breitschmid, R 186 Brodersen, U. 190 f., 206, 211 Broszat, M. 220 Brouwer, L. 123 Bülow, O. 66 Bulygin, E. 53, 70, 73 f., 146, 253 f. Burns, J. H. 35 Bydlinski, F. 159, 162, 178, 187 ff., 194, 200f., 222 Canaris, Cl.-W. 44, 231 Cardozo, B. N. 87 Casper, G. 87 Cattaneo, Μ . Α. 33, 107 Cohen, F. S. 87 Coing, H. 70, 87, 105, 112, 142 Comte, A. 111 Conte, A . G. 238 Dahm, G. 223, 226 Dessauer, F. 214 Dilcher, G. 206,211 f. Dornseifer, G. 66 Dreier, H. 42, 206 Dreier, R. 152, 159, 173, 178 ff., 187ff., 222, 256 Dubislav, W. 143 f., 149 Durkheim 82 Dworkin, R. 5, 178 f., 179ff., 255 Eckmann, H. 18, 33, 34, 37, 60f., 70f., 73, 89ff., 93 ff., 105, 148, 159, 178, 223, 229, 236, 256 ff. Ehrlich, E. 26, 77ff., 82, 107, 112, 146, 190, 192f., 250f., 268 Eickenberg, H. 226
280
Personenregister
Eisler, R. 108, 110 Engisch, K. 155, 234 Esser, J. 231 Evers, H.-U. 39, 222 Fechner, E. 106,162,165,170,223 f., 227, 234 Fikentscher, W. 87 Finnis, J. M . 255 Fraenkel, E. 208 f., 221 Frank, H. 216, 220 Frank, J. 87 f. Franssen, E. 169, 206,211,216 Freudenthal 118, 123 Frick 263 Friedrich, M. 39 Frowein, J. A. 202, 206 Fuchs, W. R. 118, 120, 125 Fuller, L. L. 187f., 255 Füsser, K. 209 Gauss 123 Geddert 19, 173 f., 178, 186 f., 189, 194, 198, 205 Geiger, Th. 26,82 ff., 107,109 f., 113,159, 171,251,268 Geilen, G. 155, 157 Gerber 212 Giacometti, Z. 45 Gierke, Ο. von 212 Gil-Cremades, J.-J. 166 Gonseth, F. 118, 120ff., 126 Goring, H. 263 Görlitz, A. 18, 168 Gruchmann, L. 220 f. Grünhut 44 Grünwald 205 Gumbel, E. J. 209 Gürtner, F. 222 Haag, K. 165 Hacker, P. M . S. 89 Hägerström, A . 70, 103 Hannover, H. 206 ff. Hannover-Drück, E. 206 ff. Hare 165 Hart, H. L. A . 5, 23, 26f., 30, 34, 35, 39, 70, 89ff., 103 f., 107, 113ff., 148, 159 f., 178 f., 183, 187, 189, 192ff., 198 ff., 203 ff., 227 ff., 236f., 255ff., 264, 268
Hassemer, W. 18, 107, 168 Heck, Ph. 40, 60, 111, 214, 218, 259 Hedenius, I. 239 Hegel, G. W. F. 153 Hegnauer, C. 186 Heinitz, E. 155, 157 Henkel, H. 39f., 77, 111, 225, 227f., 248 Hersch, J. 266 Heydrich, R. 263 Heymans 151 Heyting, A . 123 Higi, P. 33 Hilbert, D. 118 ff. Hinderling, H. 155 f. Hippel, E. von 188 f. Hirsch, M . 206,211,220 Hitler, A. 210, 217, 262f., 269 Hobbes, Th. 33, 111, 115,264 Hoebel, Ε. A . 176 Hoerster, N. 18, 19, 34, 35, 89ff., 104, 159,179,187,189,194 ff., 199 ff., 204, 230, 256 Höffe, O. 173, 179, 186 f. Hoffmeister, J. 106 Hofmann, H. 60 Holmes, O. W. 26, 87 f. Holzhey, H. 46 Horvath, B. 159 Husserl, E. 153 Husserl, G. 153 Jahr, G. 18, 72 Jakob, R. 175 Jellinek, G. 25, 60, 67ff., 109, 268 Jhering, R. von 212 Jprgensen, St. 163, 176, 223, 228, 249, 251 ff. Juhos, B. 128 f., 131, 135 Kaiser, G. 155, 157 Kalinowsky 238 Kallfass, W. 111 Kamenka, E. 70, 77 Kant, I. 153,231 Kantorowicz, H. 87 f., 143,145,152,155, 158, 253 Käser, M . 175 Kaufmann, Α. 39, 42f., 106f., 217 Kaufmann, E. 46, 216, 234
Personenregister Kelsen, H. 5, 22, 25, 32, 33, 36f., 45 ff., 60, 63, 70, 72, 82, 102f., 105 ff., 112, 115, 140, 150, 160 ff., 167, 170, 178, 191,216,225 ff., 230,233 ff., 248,255, 258 f., 268 Kirchheimer, O. 215 Klecatsky, H. 46 Klee, E. 221,262 Kliemt, H. 178 Klug, U. 45, 118 ff., 143, 153, 164, 230, 235, 238, 246 Koch, H.-J. 179, 181 ff., 219 Köhler 44 Koller, P. 45 f. König, R. 80 Kraft, V. 128 ff., 132, 139, 141 Kramer, Ε. Α. 60, 70, 158, 160f., 170 Kramer, Η . 206,211 Krawietz, W. 45 f., 66, 80, 97, 105, 116, 159, 179, 255 Kriele, M. 165 f., 168 ff., 176ff., 187ff., 193, 196, 257 Kubes, V. 46, 53 Kübler, F. 206ff., 21 Iff. Kuhlen, L. 143, 158, 187, 189 f. Kunz, K.-L. 33 Laband, P. 43, 169, 212 Lampe, E.-J. 64, 67, 116 Lange, H. 217 Larenz, K. 40, 60,62f., 77, 105, 111, 116, 217 ff., 227f., 231, 234f. Laun, R. 25,60,63ff., 110, 191,249,268 Lippold, R. 19, 53, 238 ff., 245, 247 Llewellyn, Κ . Ν . 26, 87 ff. Lobatschewskij 123 Locke, J. 195 Löffelholz, Th. 87 Loos, F. 80 Löwenhaupt, W. 33, 35, 37f., 178 Luhmann, Ν . 18,66, 238 Lukasiewicz, J. 123 MacCormick, D. N. 5, 23, 26 f., 30, 89, 97ff., 179, 183 f., 186, 193, 227, 260ff., 268 Maihofer, W. 18, 69, 72, 165, 189, 249 Majer, D. 206, 210, 218, 220 Marcie, R. 45 f., 109 Marx, K. 212 Maus, I. 206, 211, 216, 218 ff.
Mayer, H. 42, 170, 206 Meier-Hayoz, A. 43, 231 ff., 243 Meinck, J. 206,211,220 Menchaca, V. A . 255 Mergen, A. 155 Merkel, A. 25, 60, 66 f., 109, 268 Merkl, A . J. 45 f. Métall, R. Α. 45, 170, 178, 233 Michaelis, Κ . 218 Michaut, F. 179 Miedzianagora 259 f. Mincke, W. 33, 70 Möller, H. 220 Mollnau, Κ . A. 260 Montesquieu 43 Moore, U. 87 Morison, W. L. 34, 39 Müller, I. 108, 206 ff. Münch, I. von 218 Naucke, W. 82, 171 Nawiasky, H. 25, 60, 69, 169, 192, 216, 225, 256, 268 Nef, H. 115 Noll, P. 111 Oertzen, P. von 212 f. Oetjens, H. 82 Oftinger, K. 29, 144 f. Ogorek, R. 229 Olivecrona 71, 82 Opaiek, K. 53, 241 Ophüls, C . F. 230 f. Paulson, S. L. 46 Peukert, W. 202, 206 Pfaff, D. 33 Pfürtner 164 Plathner 44 Poincaré, H . 124, 127 Polak 33 Popper, K. R. 126, 128 f., 133, 160, 165 Post, E. 123 Pound, R. 82, 87 Priester, J.-M. 72 Pufendorf, S. von 195 Radbruch, G. 41 ff., 92, 148, 169, 173, 187,188ff., 193 ff., 205 f., 210 Raiser, Th. 77, 79f., 82, 115, 146, 248 Rasehorn, Th. 207
282
Personenregister
Raz, J. 46, 89, 97, 255 Rehbinder, M . 77ff., 89, 146, 175, 178, 250 ff. Reich, N. 33, 39, 87 ff. Reichert, M . 213 Riebschläger, Kl. 39, 44 f. Riemann 123 Riezler, E. 69, 169, 177, 187 Ritter, J. 118 Roberts, S. 266 Robinson, R. 143 Rödig 238 Ross, A . 26,70,72 ff., 83,103,107,109 f., 112, 159, 192, 237, 254 f. Rottleuthner, H . 207, 210f., 215, 217f. Rümelin, M . 60 Rüssel, B. 129 Rüthers, B. 39, 195 f., 207, 211, 213 ff., 252, 260 ff. Sattler, M . J. 39 Savigny, E. von 118, 126, 143, 149, 227 Savigny, F. C. von 211 f. Schambeck, H . 46 Schelsky, H. 46, 265 Scheuerle 153 Schleichen, H . 128, 131, 135 Schlick 129 Schmidt, Α. B. 60 Schmidt, F. H . 266 Schmidt, R. 70, 103 Schmitt, C. 216 ff. Schmuhl, H.-W. 221 Scholz, H. 118, 121 f., 125 Schreiber, H.-L. 61, 63 ff. Schreiber, R. 21 f., 22, 74 Schulz, B. 210 Schumacher, B. 189 Searle 99 Seiffert 118, 125, 128, 132, 134, 136, 153 Semon, R. 83 Shuman, S. I. 36, 39 Simitis, S. 230 Somló 39, 41, 43 Stachowiak, H . 128 Stammler, R. 151 Stark, E. W.. 144f. Stone, J. 39 Strolz, M . 179 Stratenwerth, G. 155 ff.
Summers, R. S. 70, 77, 87 Szabo,A. 118, 122 Thoma, R. 39 ff., 209, 216 Topitsch, E. 46, 216 Trappe, P. 82 Tripp, D. 116 Troper, M . 244 f. Tuhr, A . von 116 Twining, W. L. 70, 77 Ulpian 40 Vaihinger 161 Verdross, A. 45 f., 170 Vieh weg, Th. 118 Vogel, H.-H. 70 f. Vorländer, Κ . 231 Vysinskij, A . Ja. 33 Walter, R. 32, 42,45 f., 48, 53 f., 56, 146, 160 f., 167, 170, 233 ff. Walther, M . 207,211 Wawersik 155 f. Weber, M . 26, 79 ff., 109,159 f., 178,207, 251,268 Weinberger, O. 5, 23, 26f., 30, 45 f., 53, 95,97 ff., 111,118,120,179,183,193, 227, 238 ff., 247, 260ff., 268 Weinkauff, H . 188, 222 Weinreb 46 Welcker, C. T. 61 Welzel, H . 60, 66, 165, 170, 195, 237 Westen, K. 33 Wieacker, F. 39 f., 60,105,111,116,165, 211 f., 215, 230f. Wiethölter, R. 216 Winckelmann, J. 80 Windscheid, B. 116 Wise, J. 195 Wittgenstein, L. 90, 257 Wolf, E. 217, 267 Wolf, J. C. 113, 187 Wright, G. H . von 53, 238 f., 248 Wrobel, H. 207, 210 Würtenberger, Th. 39, 153 Yoshino 238 Zippelius, R. 165 Zitscher, W. 82
Druckfehlerberichtigung zu: Walter O t t , Der Rechtspositivismus, Zweite Auflage (Erfahrung und Denken, Band 45)
A u f Seite 266 muß der kursiv gedruckte Satz in der 7. bis 9. Zeile der Fußnote 2 richtig lauten:
In diesem Ausmaß sind die Naturrechtslehren Ausdruck überkultureller Standards. —
nicht kulturelle
Schöpfungen, sondern