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German Pages 319 Year 2005
Schriften zum Strafrecht Heft 167
Begründung des Völkerstrafrechts auf der Grundlage der Kantischen Rechtslehre Von
Katrin Gierhake
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
KATRIN GIERHAKE
Begründung des Völkerstrafrechts auf der Grundlage der Kantischen Rechtslehre
Schriften zum Strafrecht Heft 167
Begründung des Völkerstrafrechts auf der Grundlage der Kantischen Rechtslehre
Von
Katrin Gierhake
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn hat diese Arbeit im Jahre 2004 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
D5 Alle Rechte vorbehalten # 2005 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 3-428-11743-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Meinen lieben Eltern
Vorwort Die Idee, eine Doktorarbeit zur Frage der freiheitlichen Begründung des Völkerstrafrechts zu verfassen, entstand als Folge zweier, miteinander zunächst in keinerlei Zusammenhang stehender Ereignisse: Einerseits wurde Mitte des Jahres 1998 in Rom die Errichtung des internationalen Strafgerichtshofs beschlossen und andererseits bot im Wintersemester 1998/99 mein akademischer Lehrer, Herr Professor Dr. Rainer Zaczyk, an der Universität Trier ein Seminar zu Immanuel Kants Metaphysik der Sitten an. Die gedankliche Verknüpfung dieser beiden Materien, also der Entstehung einer permanenten internationalen Strafgerichtsbarkeit auf der einen Seite und der Rechtslehre Kants auf der anderen, führte zu der Fragestellung, die der vorliegenden Arbeit zugrunde liegt: Läßt sich das Völkerstrafrecht als Recht der Weltgemeinschaft, einzelne Personen wegen begangener Unrechtstaten zu bestrafen, auf der Grundlage eines freiheitlichen Rechtsverständnisses begründen? Die Arbeit wurde im Sommer 2004 von der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Dissertation angenommen. Sie ist im wesentlichen zwischen Januar 2001 und November 2003 entstanden; während dieser Zeit habe ich als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl von Herrn Professor Dr. Zaczyk gearbeitet, zunächst in Trier und nach seinem Wechsel an die Universität Bonn am dortigen Rechtsphilosophischen Seminar. Für die in unzähligen persönlichen Gesprächen und gemeinsamen Seminaren gegebene Unterstützung und Ermutigung möchte ich ihm ganz herzlich danken. Er hat mir durch seine wissenschaftliche Förderung und seine menschliche Größe eine wunderbare Zeit der Freiheit im Denken und Handeln ermöglicht. Zu danken habe ich auch Herrn Professor Dr. Urs Kindhäuser für seine zügige Erstellung des Zweitgutachtens, dessen Inhalt mir Bestätigung in der Sache sowie Anlaß zum weiteren Nachdenken gegeben hat. Meinen Kollegen am Rechtsphilosophischen Seminar sage ich Dank für die vertrauensvolle Zusammenarbeit am Lehrstuhl, die mir das Verfassen der Arbeit sehr erleichtert hat. Ganz besonders danke ich meiner Kollegin und Freundin Dr. Bettina Noltenius für die vielen wertvollen Hinweise bei ihrer kritischen Durchsicht der Arbeit und für ihren nie versiegenden Zuspruch in allen Phasen der Promotion.
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Vorwort
Ohne den steten Rückhalt und die liebevolle Unterstützung meiner Eltern Gisela und Klaus Gierhake wäre meine Promotion undenkbar gewesen. Ihnen ist die Arbeit deshalb in Dankbarkeit gewidmet. Bonn, Im Winter 2004
Katrin Gierhake
Inhaltsverzeichnis Kennzeichnung der Fragestellung
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A. Die Schwierigkeit der Begründung internationaler Strafe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 B. Exemplarische Kritik am vorherrschenden Umgang mit der Begründungsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 C. Skizzierung des Begründungsgangs und des Anliegens der vorliegenden Arbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
1. Teil Freiheitliche Strafbegründung im Staat
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A. Die Freiheit des Subjekts als Fundament jeder Rechtsbegründung . . . . . . . . . . 35 B. Die Verbundenheit der freien Subjekte miteinander. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 C. Der rechtliche Zusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Inhaltlich-materielle Bestimmung des Rechts nach Kant. . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das allgemeine Rechtsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Zwangsbefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zusammenfassung zu I. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Zustandekommen positiver Gesetze und die Garantie der Rechtswirklichkeit in einer rechtlich verfaßten Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Positive Gesetze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Materielle Bestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Formelle Bestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Garantie der Rechtswirklichkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zusammenfassung zu II. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
51 54 56 62 70 71 76 76 78 81 88
D. Staatliche Strafe als Unrechtsreaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 I. Staatlicher Rechtszwang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 II. Staatliche Rechtsstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 1. Freiheitliche Strafbegründung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 a) Unrecht bzw. Verbrechen als Anknüpfungspunkt der Strafe . . . . . . 108 aa) Interpersonales Unrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 bb) Die „Verletzung des Rechts als Recht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 cc) Bruch des rechtlich verfaßten Friedensverhältnisses . . . . . . . . . 123 b) Die Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
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Inhaltsverzeichnis aa) Strafe im Interpersonalverhältnis? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Aufhebung der Verletzung des Rechts als Recht . . . . . . . . . . . . (1) Wiederherstellung der Rechtsgeltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Aufhebung des Selbstwiderspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Ausgleich zum Bruch des rechtlich verfaßten Friedensverhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zusammenfassung zu 1. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Rolle des Staates für eine freiheitliche Strafbegründung . . . . . . . . a) Strafe wegen der Verletzung der gesetzlichen Ordnung als solcher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Realisierung moralisch begründeter Strafe im Staat . . . . . . . . . c) Materiell-formelle Strafbegründung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zusammenfassung zu 2. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kritik an instrumentalen Denkansätzen zur Strafbegründung . . . . . . . .
129 135 135 139 141 146 147 148 152 155 156 157
E. Zusammenfassung des 1. Teils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
2. Teil Rechtsstrafe auf internationaler Ebene
168
A. Notwendige Begründungserweiterung im internationalen Zusammenhang . . . 169 B. Materiell-rechtliche Begründungselemente des Völkerstrafrechts . . . . . . . . . . . I. Interpersonales Unrecht im Völkerstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Gültigkeit eines interpersonalen Unrechtsbegriffs im Völkerstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Begriff der „Makrokriminalität“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Begriff der „staatsverstärkten Kriminalität“ . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Begriff des „Systemunrechts“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das völkerrechtliche Verbrechen als konkrete Freiheitsverletzung im Interpersonalverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zusammenfassung zu I. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die „Verletzung des Rechts als Recht“ durch ein völkerrechtliches Verbrechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das allgemeine Weltrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vorbedingungen eines Rechtsfriedens: Das Fundament der internationalen Rechtsbegründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Inhaltlich-materielle Bestimmung des internationalen Rechts. . . . . c) Internationale Rechtsfriedensordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Das Staatsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Das (öffentliche) Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Das Weltbürgerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zusammenfassung zu 1. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
173 173 174 175 181 185 192 205 206 210 214 222 226 228 231 239 244
Inhaltsverzeichnis
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2. Das völkerrechtliche Verbrechen als Negation allgemeinen Weltrechts: Völkerstrafrechtlicher Unrechtsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 a) Differierende Begründungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 aa) Zustand der Rechtlosigkeit durch das völkerrechtliche Verbrechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 bb) Das universale Verbrechen als Negation der Verfassungsund Völkerrechtsfähigkeit eines Volkes bzw. Staates . . . . . . . . 263 b) Die Straftatbestände des Völkerstrafrechts: Grundzüge einer Unrechtsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 aa) Völkermord. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 bb) Verbrechen gegen die Menschlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 cc) Kriegsverbrechen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 c) Zusammenfassung zu 2. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 III. Zusammenfassung zu B. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 C. Formell-rechtliche Aspekte der Legitimität des Völkerstrafrechts . . . . . . . . . . . 288 I. Primäre Zuständigkeit der Staaten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 II. Freiheitliche Wahrnehmung des Völkerstrafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 D. Zusammenfassung des 2. Teils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314
Kennzeichnung der Fragestellung Das Internationale Strafrecht – ein Begriff, der noch vor gar nicht so langer Zeit mit dem Vorwurf konfrontiert war, in sich selbst widersprüchlich zu sein1 – erfährt zur Zeit eine außergewöhnliche Entwicklung. Nachdem zu Beginn der neunziger Jahre die zwei ad hoc Tribunale für Ex-Jugoslawien2 und Ruanda3 ihre Arbeit aufgenommen hatten, wurde 1998 in Rom die Errichtung eines permanenten Internationalen Strafgerichtshofs von 120 Staaten beschlossen.4 Im April 2002 wurde die Zahl der notwendigen Ratifizierungen (mindestens sechzig dieser Staaten) erreicht und das Inkrafttreten des IStGH-Statuts durch eine feierliche Zeremonie in den Räumen der Vereinten Nationen in New York besiegelt.5 1 Der Widerspruch nämlich zwischen dem Strafrecht als Ausdruck und höchster Stufe staatlicher Souveränität und der Existenz einer überstaatlichen Instanz, die dieses Strafrecht unabhängig von staatlicher Souveränität ausüben soll. Vgl. dazu G. Schwarzenberger, „The Problem of an International Criminal Law“ Current Legal Problems 3 (1950), S. 263 (295) abgedruckt in: G. O. W. Mueller/E. M. Wise (Hrsg.), International Criminal Law (1965), S. 3 ff. (35): „(. . .) an international criminal law that is meant to be applied to the world powers is a contradiction in terms“ (Fn. weggelassen); P. A. McKeon, „An International Criminal Court: Balancing the Principle of Sovereignty Against the Demands for International Justice“ St. John’s Journal of Legal Commentary 12 (Spring 1997), S. 535 ff. 2 Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat mit Resolution 827 am 25. Mai 1993 die Errichtung eines „International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia“ (ICTY) beschlossen. Er handelte dabei im Rahmen seines Mandats gemäß der Artikel 24 I und 41 der UN-Charta, im Falle einer Bedrohung oder eines Bruchs des Friedens Maßnahmen auf Grund der Artikel 41 und 42 zu beschließen (Artikel 39 UN-Charta). Vgl. S.C. Res. 827, UN Doc. S/RES/827 (1993). 3 Am 8. November 1994 hat der Sicherheitsrat die Errichtung des „International Criminal Tribunal for Rwanda“ (ICTR) durch Resolution 955 aufgrund der selben Rechtsgrundlage beschlossen. Vgl. S.C. Res. 955, UN Doc. S/RES/955 (1994). 4 Rom Statut vom 17. Juli 1998, vgl. A/Conf. 183/9 (1998). Auf der Konferenz in Rom stimmten 120 Staaten für das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), 7 dagegen (darunter die USA, China und Israel) und 21 enthielten sich. Bis zum 31. Dezember 2000 hatten 139 Staaten den Vertrag unterschrieben. Deutscher Text des Statuts in EuGRZ, Dez. 1998, (Hefte 20–22), S. 618 ff.; eine erste ausführliche Analyse des Romstatuts findet sich bei L. N. Sadat/R. Carden, „The New International Criminal Court: An Uneasy Revolution“ Georgetown Law Journal 88 (March 2000), S. 381 ff.; für eine Auflistung aktueller Literatur zum IStGH (in englischer Sprache) siehe R. Vigorito, „The Evolution and Establishment of the International Criminal Court (ICC)“ International Journal of Legal Information 30 (Spring 2002), S. 92 ff.
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Kennzeichnung der Fragestellung
Der Anspruch dieser Institutionen ist enorm hoch: Sie sollen eine internationale Strafgerichtsbarkeit begründen für Verbrechen wie Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Durch eine solche Strafgerichtsbarkeit soll erreicht werden, daß der internationale Frieden gesichert oder wiederhergestellt und daß die Gerechtigkeit in den betroffenen Gebieten befördert wird.6 Diese Zielsetzungen rufen für sich genommen keinen Widerspruch hervor; wer will schon bezweifeln, daß Verbrechen der genannten Art strafrechtlicher Beurteilung unterliegen sollten, daß ein friedliches Zusammenleben aller Menschen dieser Welt erstrebenswert ist und daß das Befördern der Gerechtigkeit ein sehr ehrenhaftes Anliegen ist? Es ist allerdings noch nicht unternommen worden, einen gedanklichen Schritt hinter diese Zielsetzung zu wagen, um dem Zusammenhang zwischen der Bestrafung eines einzelnen wegen einer der genannten Straftaten, der friedlichen Koexistenz der Individuen und der Rolle, die die Gerechtigkeit dabei spielt, auf den Grund zu gehen. In der Sache ist damit die Frage nach der Begründung der Strafe in einer auf Rechtsprinzipien gründenden (weltweiten) Gemeinschaft von Individuen gestellt. Die völkerrechtlichen Rechtsgrundlagen für die beiden ad hoc Tribunale und den IStGH enthalten selbst keine ausdrücklichen Regelungen zu dieser Frage. Aus einigen Formulierungen zur Intention der Begründer dieser Institutionen lassen sich lediglich einige Schlüsse auf das zugrundeliegende Strafverständnis ziehen. So heißt es im fünften Absatz der Präambel des Rom Statuts: „Determined to put an end to impunity for the perpetrators of these crimes and thus to contribute to the prevention of such crimes“. Hieraus kann in einem noch ganz unvermittelten ersten Zugang herausgelesen 5 Vgl. Art. 126 des Rom Statuts. Zum aktuellen Stand der Ratifikationen siehe www.iccnow.org. 6 Vgl. dazu die Absätze 5, 6 und 7 der Sicherheitsratsresolution 827 zur Gründung des ICTY, a. a. O. (Fn. 2): „Determined to put an end to such crimes and to take effective measures to bring to justice the persons who are responsible for them, Convinced that in the particular circumstances of the former Yugoslavia the establishment as an ad hoc measure by the Council of an international tribunal and the prosecution of persons responsible for serious violations of international humanitarian law would enable this aim to be achieved and would contribute to the restoration and maintenance of peace, Believing that the establishment of an international tribunal and the prosecution of persons responsible for the above-mentioned violations of international humanitarian law will contribute to ensuring that such violations are halted and effectively redressed“; siehe auch Resolution 955 zur Gründung des ICTR (Absätze 6–8 sind annähernd wortgleich), a. a. O. (Fn. 3) und die Präambel des Rom Statuts, a. a. O. (Fn. 4).
Kennzeichnung der Fragestellung
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werden, daß die Gründer des IStGH ein Strafverständnis zugrunde legen, das sowohl am begangenen Unrecht selbst als Grund für die Strafe ansetzt, als auch in der Strafe eine Präventivmaßnahme sieht, die weitere Straftaten in der Zukunft verhindern soll.7 Auch in den Gründungsresolutionen der beiden ad hoc Tribunale finden sich Anhaltspunkte für dieses Grundverständnis der Strafe als Unrechtsausgleich und Präventionsmaßnahme in einem.8 Bestätigt wird diese Auslegung durch die Urteile der ad hoc Tribunale, die im Rahmen ihrer „General Sentencing Policy“ wiederholt auf diese beiden Aspekte der Strafbegründung hinweisen. Wenn auch noch keine einheitliche Linie in ihrer Rechtsprechung erkennbar ist, so wird doch deutlich, daß sie die beiden Begriffe „Abschreckung“ („Deterrence“) und „Vergeltung“ („Retribution“) ganz zwanglos miteinander kombinieren, teilweise verbunden mit dem Gedanken der Resozialisierung oder der Unschädlichmachung des Täters.9 Begründungen für diese Ansichten finden sich in den 7 Die erste Formulierung „to put an end to impunity for the perpetrators of these crimes“ weist ganz allgemein auf die Notwendigkeit der Bestrafung als Reaktion auf begangenes Unrecht hin, während der zweite Halbsatz ausdrücklich die Prävention solcher Unrechtstaten anspricht („to contribute to the prevention of such crimes“). Vgl. zu einer genaueren Auslegung der Präambel des Rom Statuts im Hinblick auf Vorgaben zu den Strafzwecken des IStGH J. Ch. Nemitz, Strafzumessung im Völkerstrafrecht/Ein Beitrag zur Strafzwecklehre und zur Strafzumessungsmethode unter besonderer Berücksichtigung des Römischen Statuts (2002), 2. Kapitel, S. 15 ff. 8 Vgl. dazu den Text in Fn. 6. Absatz 7 gibt Aufschluß über die unmittelbare Zielsetzung der Gründung des ICTY. Es soll dazu beitragen sicherzustellen, daß die Verletzung bestimmter Bestimmungen des humanitären Völkerrechts aufgehalten und wiedergutgemacht werden („will contribute to ensuring that such violations are halted and effectively redressed“). 9 Vgl. etwa folgende Urteile des Appeals Chambers: Prosecutor v. Tadic, Judgement in Sentencing Appeal, Case No IT-94-1-A und IT-94-1-Abis, 26. Jan. 2000, para 48 (ICTY): „In determining the sentences to be imposed on the Appellant, the Trial Chamber took into account, as one of the relevant factors, the principle of deterrence. The Appeals Chamber accepts that this is a consideration that may legitimately be considered in sentencing, a proposition not disputed by the Appellant. Equally, the Appeals Chamber accepts that this factor must not be accorded undue prominence in the overall assessment of the sentences to be imposed (. . .).“ und Prosecutor v. Aleksovski, Judgement, Case No IT-95-14/1-A; 24. March 2000, para 185 (ICTY): „While the Appeals Chamber accepts the general importance of deterrence as a consideration in sentencing for international crimes, it concurs with the statement in Prosecutor v. Tadic that ‚this factor must not be accorded undue prominence in the overall assessment of the sentences to be imposed on persons convicted by the International Tribunal‘. An equally important factor is retribution. This is not to be understood as fulfilling a desire for revenge but as duly expressing the outrage of the international community at these crimes. This factor has been
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Kennzeichnung der Fragestellung
Urteilen allerdings nur in Ansätzen. Hingewiesen wird in der Regel lediglich auf die genannten Passagen der Gründungsresolutionen der Tribunale, die sich auf ihre generelle Zielsetzung beziehen.10 Eine nähere Untersuchung, ob diese Vorgaben überhaupt Relevanz für die Frage der Strafbegründung haben können, oder ob aus ihnen gar Folgerungen in die Richtung der einen oder anderen Straftheorie möglich sind, bleibt aber aus.11 Allerdings sind für solche Begründungsleistungen strafrechtliche Urteile auch nicht unbedingt der richtige Ort, sollen sie doch vor allem Aussagen über die individuelle Schuld des Täters und seine Bestrafung im konkreten Fall treffen.12 widely recognized by Trial Chambers of this International Tribunal as well as Trial Chambers of the International Criminal Tribunal for Rwanda. Accordingly, a sentence of the International Tribunal should make plain the condemnation of the international community of the behaviour in question and show ‚the international community was not ready to tolerate serious violations of international humanitarian law and human rights‘.“ (ohne FN) Für die Rechtsprechung der Trial Chambers siehe z. B. „Sentencing Judgement“ Prosecutor v. Erdemovic, Case No IT-96-22-T, 29. Nov. 1996, para 64 (ICTY); „Judgement“ Prosecutor v. Delalic et al., Case No IT-96-21-T, 16. Nov. 1998, paras 1231–1234 (ICTY); „Judgement“ Prosecutor v. Furundzija, Case No IT-95-17/1-T, 10 Dec. 1998, paras 288-291 (ICTY); „Judgement“ Prosecutor v. Kunarac et al., Case No IT-96-23-T & IT-96-23/1T, 22. Feb. 2001, paras 836-844 (ICTY); „Judgement and Sentencing“ Prosecutor v. Kambanda, Case No ICTR-97-23-S, 4. Sept. 1998, para 28 (ICTR); „Sentence“ Prosecutor v. Akayesu, Case No ICTR-96-4-S, 2. Oct. 1998, para 19 (ICTR); „Judgement and Sentence“ Prosecutor v. Rutaganda, Case No ICTR-96-3-T, 6. Dec. 1999, para 456 (ICTR); „Judgement and Sentence“ Prosecutor v. Musema, Case No ICTR-9613-T, 27. Jan. 2000, para 986 (ICTR); alle Urteile veröffentlicht auf den Web-Sites der Tribunale: http://www.icty.org bzw. http://www.ictr.org. 10 Vgl. dazu insbesondere das Erdemovic-Urteil des ICTY, para 58, a. a. O. (Fn. 9) und das Akayesu-Urteil des ICTR, para 18 ff., a. a. O. (Fn. 9). Vgl. ferner W. Schabas, „Sentencing by International Tribunals: A Human Rights Approach“ Duke Journal of Comp. & Int’l Law 7 (1997), S. 461 (499); siehe auch D. B. Pickard, „Proposed Sentencing Guidelines for the International Criminal Court“ Loyola of Los Angeles Int’l and Comp. Law Journal (Nov. 1997), S. 123 (137). 11 Dazu im Ansatz A. M. Danner, „Constructing a Hierarchy of Crimes in International Criminal Law Sentencing“ Virginia Law Review 87 (2001), S. 415 (444 ff.). 12 Diese Einschätzung wird in der internationalen Diskussion nicht immer geteilt. Vielerorts wird die Hauptaufgabe völkerstrafrechtlicher Urteile in ihrer Funktion als „historical record“ oder als Mittel zur öffentlichen Bekanntmachung begangener Massenverbrechen gesehen. So wird im Zusammenhang mit den Nürnberger Prozessen darauf verwiesen, daß nicht die individuelle Schuldfeststellung, sondern vielmehr die durch die hohen Anforderungen eines Strafverfahrens gesicherte Feststellung von Tatsachen, die die Verbrechen der Nationalsozialisten bestätigen, primäre Bestimmung der Urteile sei. Vgl. dazu H. Ostendorf/H. ter Ven, Das „Nürnberger Juristenurteil“, Eine kommentierte Dokumentation (1985), S. 12; W. Schabas, „Sentencing by International Tribunals: A Human Rights Approach“, a. a. O. (Fn. 10), S. 499, 500: „The eternal contribution of the Nuremberg judgment is not so
Kennzeichnung der Fragestellung
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Immerhin sind mit der Nennung dieser „Strafzwecke“ aber schon die beiden grundsätzlichen Denkansätze zur Legitimation von Strafe angegeben. Wie aus den nationalen Rechtsordnungen bekannt13, wird differenziert zwischen den sogenannten relativen Theorien, die auf den Zweck abstellen, der durch die Strafe erreicht werden soll, und der sogenannten absoluten Theorie, die in der Strafe individuellen Schuldausgleich sieht.14 Zu den ersteren zählen die Lehre von der Generalprävention, der Spezialprävention, der Resozialisierung und der Unschädlichmachung des Täters15, die letztere wird meist mit dem Begriff der Vergeltung identifiziert. Es wird in dieser Arbeit zu zeigen sein, daß die zweckorientierten Straftheorien schon im Ansatz zu kurz greifen, um Strafe begründen zu könmuch the individual punishment of the handful of accused, most of whose names have long been forgotten by all but the experts, but rather in its affirmation of the facts of Nazi atrocities.“ H. Jäger, „Menschheitsverbrechen und die Grenzen des Kriminalitätskonzepts, Theoretische Aspekte der Einsetzung eines UN-Kriegsverbrechertribunals“ KritV 76 (1993), S. 259 (271) meint, daß ein gewisser Effekt internationaler Strafgerichtsbarkeit „immerhin (in der) Aufdeckung begangener Verbrechen und (dem) Öffentlichmachen makrokriminellen Unrechts“ liegt. Die Ansicht, daß völkerstrafrechtliche Urteile primär Forum der Bekanntmachung und Ächtung von Kriegsverbrechen seien, findet eine Bestätigung auch in den Formulierungen einzelner Urteile des ICTY. Wenn dort, wie etwa in der offiziellen Urteilsverkündung im Kunarac-Fall, populistisch und emotional aufgeladen „rape camps“ beklagt, die moralische Verwerflichkeit der Beteiligten hervorgehoben und allgemeine Aussagen zu opportunistischen Mitläufern gemacht werden, so spricht dies in der Tat gegen ein auf legitime strafrechtliche Beurteilung des einzelnen Angeklagten abzielendes Verfahren. Erkennbar ist Ziel einer solchen Formulierung die Veröffentlichung der Geschehnisse, nicht aber eine angemessene Reaktion auf strafrechtlichen Unrecht. Vgl. Prosecutor v. Kunarac et al., Case No IT-96-23-T & IT96-23/1T, 22. Feb. 2001, Press release 566: „(. . .) Political leaders and war generals are powerless if the ordinary people refuse to carry out criminal activities in the course of war. Lawless opportunists should expect no mercy, no matter how low their position in the chain of command may be. Indeed, it is opportune to state that, in time of peace as much as in time of war, men of substance do not abuse women. (. . .)“ 13 Vgl. für eine rechtsvergleichende Zusammenstellung J. Ch. Nemitz, Strafzumessung im Völkerstrafrecht/Ein Beitrag zur Strafzwecklehre und zur Strafzumessungsmethode unter besonderer Berücksichtigung des Römischen Statuts (2002), 3. Kapitel, S. 73 ff. 14 Vgl. für einen ersten Überblick G. Jakobs, Strafrecht AT, 2. Auflage (1991), S. 1 ff.; H.-H. Jescheck/Th. Weigend, Strafrecht AT, 5. Auflage (1996), S. 50 ff.; R. Maurach/H. Zipf, Strafrecht AT, Teilband 1, 7. Auflage (1987), S. 63 ff.; H. Mayer, Strafrecht AT (1967), §§ 3, 4, S. 20 ff.; E. Schmidhäuser, Strafrecht AT, 2. Auflage (Lehrbuch, 1975), S. 47 ff. 15 Eine genauere, kritische Untersuchung dieser Theorien erfolgt im Rahmen der Überlegungen zur Rechtsstrafe im Staat. Vgl. dazu unten 1. Teil, D. II. 3.
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nen.16 Es kann für eine Strafbegründung, die ihrem Anspruch nach dem Prinzip der Gerechtigkeit verpflichtet ist, nicht genügen, bloß einen ZweckMittel-Zusammenhang zwischen der Bestrafung eines Unrechtstäters und der Erreichung eines vorformulierten, international anerkannten Zwecks herzustellen; dies geschieht etwa dann, wenn die Bestrafung eines Subjekts durch ein internationales Tribunal (= Mittel) damit gerechtfertigt wird, daß dies andere, potentielle Täter von der Begehung ähnlicher Straftaten abschreckt (= Zweck). Denn selbst wenn ein empirischer Beweis der Eignung international verhängter Strafe zur Erreichung eines bestimmten Zwecks gelänge17, wäre damit noch nichts für die Frage der Legitimität der Bestrafung gewonnen: Daß die Strafe überhaupt als rechtliche Maßnahme verhängt werden darf, ist dann implizit immer schon vorausgesetzt, es wird lediglich festgestellt, daß sie eine bestimmte, erwünschte Wirkung hat. Wenn aber von einer legitimen, einer gerechten Strafe die Rede sein soll, darf sie sich gegenüber dem Betroffenen nicht nur als Instrument zur Realisierung bestimmter erwünschter Wirkungen darstellen, dem er – zufällig und ohnmächtig – um des Wohls anderer willen unterworfen ist, sondern als einen auch vor ihm und durch ihn begründeten Rechtsakt.18 16 Dazu grundlegend für den innerstaatlichen Zusammenhang M. Köhler, Strafrecht AT (1997), S. 37 ff. 17 Die generell abschreckende Wirkung von Strafe auf internationaler Ebene ist bisher noch nicht Gegenstand von kriminologisch-empirischen Studien gewesen. In der öffentlichen Diskussion wird zwar dem ICTY vorgeworfen, daß seine Existenz jedenfalls nicht die mutmaßlichen Verbrechen im Kosovo verhindert hat, obwohl sie unter seine Zuständigkeit fallen. Für eine generelle Aussage zur abschreckenden Wirkung der von den beiden ad hoc Tribunalen verhängten Strafe ist aber zu berücksichtigen, daß das ICTY erst seit 1993 und das ICTR erst seit 1994 tätig ist. Für eine zeitlich umfassende Studie fehlt schlicht eine gesicherte Strafpraxis, aufgrund derer empirische Wirkungen hätten untersucht werden können. Vgl. dazu auch A. M. Danner, „Constructing a Hierarchy of Crimes in International Criminal Law Sentencing“, a. a. O. (Fn. 11), S. 444 ff. Ein Gleiches gilt für Studien darüber, ob durch internationale Strafe dem Ziel der Resozialisierung gedient ist. Angesichts der spezifischen Konfliktlagen, in denen sich die Täter bei Zuständigkeit der beiden Tribunale in der Regel befinden, ist es ohnehin fraglich, ob hier die aus den nationalen Rechtsordnungen bekannten Argumentationen tragen. (So auch C. Roxin, Strafrecht AT, § 3 I, RN 19) Hinzu kommt, daß die konkreten Resozialisierungsprogramme nicht durch die internationale Strafgerichtsbarkeit selbst, sondern durch die nationale Handhabung in dem Staat, in welchem die verhängte Strafe abgeleistet wird, bestimmt wird. (Vgl. dazu das Urteil des ICTY Prosecutor v. Kunarac et al., Case No IT-96-23-T & IT-96-23/1T, 22. Feb. 2001, para 844) Wie allerdings die Resozialisierung eines bosnischen Serben, dessen Urteil auf 40 Jahre Freiheitsstrafe wegen Kriegsverbrechen lautet, in einer finnischen Strafvollzugsanstalt aussehen könnte, bedarf tatsächlich der Forschung. 18 Vgl. schon hier E. A. Wolff, „Das neuere Verständnis von Generalprävention und seine Tauglichkeit für eine Antwort auf Kriminalität“ ZStW 97 (1985), S. 786 ff.; ders., „Die Abgrenzung von Kriminalunrecht und anderen Unrechtsfor-
A. Die Schwierigkeit der Begründung internationaler Strafe
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Es wird gleichermaßen deutlich werden, daß auch mit dem Hinweis auf „Vergeltung“ alleine eine tragende Begründung nicht schon geleistet ist. Der richtige Gedanke an dieser Straftheorie liegt darin, den Grund der Strafe in der Unrechtstat selbst zu suchen. Wird aber ganz unvermittelt von einer Vergeltung durch die internationale Gemeinschaft gesprochen, die damit ihre Empörung deutlich macht („retribution“ verstanden als „duly expressing the outrage of the international community at these crimes“19), bleibt doch im Dunkeln, wie sich nun gerade die Berechtigung zur Vergeltung der geschaffenen internationalen Strafinstanz gegenüber dem einzelnen Unrechtstäter begründen läßt. Diese prinzipiellen Bedenken gegenüber dem plakativen, jeder gedanklichen Vertiefung entbehrenden Umgang mit der Strafbegründungsfrage lassen sich auch nicht dadurch aus der Welt schaffen, daß nun relative und absolute Begründungselemente in der Weise vereinigt werden, daß sie gleichwertig nebeneinander stehen („an equally important factor“20). Denn durch Verdopplung gedanklicher Schwäche wird niemals inhaltliche Richtigkeit entstehen. Die Frage, ob es überhaupt möglich ist, Strafe, die durch eine internationale Strafgerichtsbarkeit verhängt wird, als Rechtsinstitut zu begründen, bleibt dabei nach wie vor offen.
A. Die Schwierigkeit der Begründung internationaler Strafe Die Frage der Strafbegründung ist in der strafrechtlichen Diskussion nur insofern neu, als sie sich nunmehr auf die Strafe durch eine internationale Instanz bezieht. Seit je her ist es begründungsbedürftig, wenn ein Staat auf die äußere Freiheit des einzelnen Subjekts durch Strafe zugreift. Die Meinungen darüber, wie sich dieser Eingriff begründen läßt, gehen weit auseinander: Die Diskussion um die Straftheorien als Kernstück einer jeden Auseinandersetzung mit dem Strafrecht wird vehement geführt und ist längst noch nicht abgeschlossen.21 Kommt aber die zusätzliche Komponente der internationalen Ebene hinzu, herrscht im wissenschaftlichen Diskurs Stille. men“ in: W. Hassemer (Hrsg.), Strafrechtspolitik, Bedingungen der Strafrechtsreform (1987), S. 137 ff.; M. Köhler, Über den Zusammenhang von Strafrechtsbegründung und Strafzumessung (1983); ders., Der Begriff der Strafe (1986); ders., Strafrecht AT (1997), S. 37 ff. 19 Prosecutor v. Aleksovski, Judgement, Case No IT-95-14/1-A; 24. March 2000, para 185 (ICTY), siehe oben Fn. 9. 20 Prosecutor v. Aleksovski, Judgement, Case No IT-95-14/1-A; 24. March 2000, para 185 (ICTY), siehe oben Fn. 9. 21 Vgl. nur die Nachweise zu aktuelleren Beiträgen bei C. Roxin, Strafrecht AT, Bd. 1, § 3, S. 37–40.
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Seinen Grund könnte dies darin haben, daß im Ansatz alle Diskussionsbeiträge schon von der Existenz einer rechtlich verfaßten Gemeinschaft, von staatlichen Strukturen, ausgehen, um Strafe zu rechtfertigen. Verlagert sich der Blickwinkel und wird nach einer Begründung für Strafe gefragt, die von einer internationalen Strafgerichtsbarkeit verhängt wird, so gerät die gedankliche Konstruktion ins Wanken: Es ist ungesichert, in welchem Verhältnis die internationale Strafinstanz zum zu strafenden Individuum steht; eine verfaßte rechtliche Gemeinschaft, innerhalb derer sich das Strafrecht neben anderen Rechtsgebieten als allgemein konstituierte Freiheitsordnung hätte herausbilden können, fehlt. Der Sicherheit des staatlichen Zusammenhangs beraubt, müssen die Überlegungen zur Strafe zwangsläufig komplexer werden. Um überhaupt an den Kern des Problems zu gelangen, sind die Zusammenhänge zwischen Strafrecht und verfaßter Gemeinschaftlichkeit aufzuklären und auf ihre Grundbedingungen zurückzuführen. Erst von diesem Punkt ausgehend und in einem neuen gedanklichen Anlauf besteht Aussicht darauf, dem Institut der internationalen Strafe auf den Grund gehen zu können. Dem erhöhten Schwierigkeitsgrad dieser Aufgabe entspricht die Seltenheit, mit der Anstrengungen zu ihrer Bewältigung unternommen werden. Und die wenigen Beiträge, die sich überhaupt mit der Frage befassen, zeichnen sich auch noch durch eine ausgesprochene rechtswissenschaftliche Unbekümmertheit aus. So wird vielerorts das Problem der Begründung schlicht unterschätzt. Zwar beschäftigen sich einige Abhandlungen mit der Frage, welche der genannten Theorien – Vergeltung, Abschreckung, Unschädlichmachung oder Resozialisierung des Täters – am ehesten auch im internationalen Zusammenhang anwendbar seien.22 Dabei wird aber durch Nennung des jeweiligen Ansatzes nur scheinbar die Begründungsebene erreicht. Die Formulierungen bleiben vage, es ist die Rede davon, daß der Zweck supranationalvölkerrechtlichen Strafens „am ehesten“23 in einer positiv generalpräventiven Wirkung liege, daß „Denkverbote kritisch und tabulos zu überprüfen“24 22 Siehe z. B. K. Ambos/C. Steiner, „Vom Sinn des Strafens auf innerstaatlicher und supranationaler Ebene“ JuS 2001, S. 9 ff.; M. J. Aukermann, „Extraordinary Evil, Ordinary Crime: A Framework for Understanding Transitional Justice“ Harvard Human Rights Journal 15 (Spring 2002), S. 39 ff.; H. Jäger, „Menschheitsverbrechen und die Grenzen des Kriminalitätskonzepts, Theoretische Aspekte der Einsetzung eines UN-Kriegsverbrechertribunals“, a. a. O. (Fn. 12), S. 270 ff.; W. Schabas, „Sentencing by International Tribunals: A Human Rights Approach“, a. a. O. (Fn. 10). 23 K. Ambos/C. Steiner, „Vom Sinn des Strafens auf innerstaatlicher und supranationaler Ebene“ JuS 2001, S. 9 (13): Der Zweck supranational-völkerrechtlichen Strafens liege „am ehesten in einer positiv generalpräventiven Wirkung“. 24 H. Jäger, „Menschheitsverbrechen und die Grenzen des Kriminalitätskonzepts, Theoretische Aspekte der Einsetzung eines UN-Kriegsverbrechertribunals“, a. a. O.
B. Exemplarische Kritik am Umgang mit der Begründungsfrage
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seien und daß Strafe „auch“ dem Ziel der Rehabilitation diene25. Aussagen dieser Art werden aber der Fragestellung nicht gerecht; sie lassen auf eine Beliebigkeit in der Antwort schließen, die die Labilität vorgetragener Begründungsansätze eher betont als aufhebt.26 Inhaltlich sind die Beiträge durch eine übereinstimmende Herangehensweise geprägt. Es sollen Begründungslinien, die im innerstaatlichen Zusammenhang entwickelt wurden, auf ihre Anwendbarkeit auch auf internationaler Ebene überprüft werden.27 Dabei sollen die Besonderheiten des Völkerstrafrechts Beachtung finden und die Straftheorien entsprechend modifiziert werden. Für ein solches Vorgehen spricht, daß auf die gedankliche Leistung innerstaatlicher Strafbegründung zurückgegriffen werden kann und so eine Basis besteht für den Ausbau dieser Überlegungen. Bedingung ist allerdings, daß auch wirklich gedankliche Grundsatzarbeit geleistet wird.
B. Exemplarische Kritik am vorherrschenden Umgang mit der Begründungsfrage Beispielhaft für den gegenwärtigen Umgang mit der Frage der Strafbegründung im internationalen Bereich soll im folgenden der Beitrag von Ambos/Steiner kurz näher untersucht werden.28 Sie scheinen sich der Problematik zu stellen, wenn sie in ihrem Beitrag auf drei, für den Zusammenhang wesentliche Aspekte eingehen: „Zur Aufgabe des Strafrechts“ (erstens auf innerstaatlicher Ebene und zweitens unter Berücksichtigung der Beson(Fn. 12), S. 270 (271, 272): Neben der positiv generalpräventiven Rechtfertigung seien auch Denkansätze, die „uns im innerstaatlichen Strafrecht kaum erträglich erschienen“ nicht zu tabuisieren, „Stigmatisierung, Ächtung, Ausgrenzung, Ausgliederung statt Wiedereingliederung“ seien trotz des Anscheins der Inhumanität bedenkenswerte Ansätze, da es sich mit den „großen Weltzerstörern nicht leben ließe“, „die kein Teil der Gesellschaft sein können, die auf sie folgt.“ 25 W. Schabas, „Sentencing by International Tribunals: A Human Rights Approach“, a. a. O. (Fn. 10), S. 503: „(. . .) punishment is also expected to fulfill an objective of rehabilitation“. 26 H. Jäger weist nach kurzer Darstellung des Vergeltungs- und Abschreckungsgedankens selbst darauf hin, daß „wir uns mit den völkerstrafrechtlichen Sanktionen doch wohl in einem Begründungsnotstand“ befinden. H. Jäger, „Menschheitsverbrechen und die Grenzen des Kriminalitätskonzepts, Theoretische Aspekte der Einsetzung eines UN-Kriegsverbrechertribunals“, a. a. O. (Fn. 12), S. 271. 27 Vgl. K. Ambos/C. Steiner, „Vom Sinn des Strafens auf innerstaatlicher und supranationaler Ebene“, a. a. O. (Fn. 22), S. 9. W. Kersting, „Philosophische Friedenstheorie und globale Rechts- und Friedensordnung“ ZfP 44 (1997), S. 278 (280) sieht in dieser Vorgehensweise den Zugang zur moralisch-rechtlichen Beurteilung internationaler Zusammenhänge überhaupt. 28 Zur folgenden Darstellung siehe K. Ambos/C. Steiner, „Vom Sinn des Strafens auf innerstaatlicher und supranationaler Ebene“, a. a. O. (Fn. 22).
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Kennzeichnung der Fragestellung
derheiten im Völkerstrafrecht), „Innerstaatliche und supranationale Strafgewalt“ und „Zum Strafgrund und den Strafzwecken“. Sie beginnen mit der Fragestellung, welches Verhalten vom Staat als strafbar zu untersagen sei und weisen daraufhin, daß dies kultur- und zeitabhängig geschehe. Ohne diese Überlegung jedoch weiter zu verfolgen, verweisen sie auf das „moderne“ Verständnis vom Strafrecht, nach dem sein Zweck im Schutz des Zusammenlebens der Menschen in der Gesellschaft liege; dieser Zweck sei durch staatliche Androhung von Strafe für Verletzungen von Rechtsgütern zu erfüllen. Der Rückgriff auf die Strafe, als „ultima ratio der Ordnungsinstrumente“ des Staates, habe sich nach der Erfahrung als notwendig erwiesen, um die Geltung der Rechtsordnung nicht zur Disposition des einzelnen zu stellen und die Gefahr der Selbstjustiz zu bannen. Die Besonderheiten des Völkerstrafrechts lägen nun in seinem universellen Anwendungsbereich und darin, „dass es sich auf den Schutz elementarer Rechtsgüter des Menschen und der Völkergemeinschaft beschränkt, zu deren Schutz die Anerkennung völkerrechtlicher Bestrafungspflichten in besonderem Maße gerechtfertigt ist“. Im zweiten Teil ihres Beitrags weisen sie auf die Unterschiede zwischen staatlicher Strafgewalt und der der Völkergemeinschaft hin: Erstere sei berechtigt deshalb, weil es Aufgabe des Staates sei, eine Rechtsordnung zu schaffen und durchzusetzen. Bei letzterer liege das Problem darin, daß die Völkergemeinschaft sich heute in einer Phase befinde, die mit der Entstehungsphase der Nationalstaaten vergleichbar sei: Es bilde sich ein Gewaltmonopol heraus, „auf dessen Grundlage sich ein ius puniendi begründen“ lasse. Der dritte Teil stellt die verschiedenen Straftheorien dar und fragt nach ihrer Anwendbarkeit im Völkerstrafrecht. Zunächst wird auf die Theorie der Vergeltung eingegangen: Strafe könne als gerechter Ausgleich für das Unrecht der Tat angesehen werden, ohne Rücksicht auf die mit der Strafe bewirkten Folgen. Dieser Ansatz sei im Gerechtigkeitsgedanken verankert, der allerdings seiner Natur nach nur relativ sei, denn Gerechtigkeitsideen variierten je nach nationalem, kulturellen und religiösem Umfeld. Dementsprechend sei ein Konsens nur schwer zu erzielen, das Gerechtigkeitsgefühl eines Christen könne von dem eines Buddhisten abweichen. Der „richtige“ Gerechtigkeitssinn lasse sich jedenfalls niemandem aufzwingen. In einem zweiten Schritt stellen sie die präventiven Straftheorien vor. Zunächst wird die Spezialprävention in ihren drei Formen dargestellt: Schutz der Allgemeinheit vor dem Täter, Abschreckung des Täters von weiteren Straftaten und die Resozialisierung des Täters. Kritikpunkte seien die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis der Resozialisierung und die Tatsa-
B. Exemplarische Kritik am Umgang mit der Begründungsfrage
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che, daß die Spezialprävention über die Höhe des Strafmaßes keine Aussagen treffen könne. Im weiteren Verlauf gehen die Autoren auf die Generalprävention ein, nach der einerseits durch Androhung von Strafe potentielle Täter von der Begehung einer Straftat abgeschreckt werden sollen und andererseits durch das Strafen das Vertrauen in die Bestands- und Durchsetzungskraft der Rechtsordnung und somit die Rechtstreue der Menschen gestärkt werden soll. Im Unterschied zur Vergeltungstheorie komme es hier nicht auf das Leid des Täters an, sondern „auf den Ausgleich an sich, die Herstellung ‚abstrakter‘ Gerechtigkeit; das persönliche Leid des Täters (werde) lediglich zum Zwecke des Ausgleichs in Kauf genommen, (sei) jedoch nicht Selbstzweck des generalpräventiven Strafens.“ Die Schwächen dieser Theorie seien offensichtlich. Sie biete wie auch die Spezialprävention keine Maßstäbe zur Begrenzung der Strafdauer, maßloses Strafen ließe sich mit ihrer vorgeblichen Abschreckungswirkung rechtfertigen. Ferner bestehe die Gefahr, daß der einzelne als Mittel zur Erreichung eines gesellschaftlichen Zwecks mißbraucht werde. Letztlich wird auf die Vereinigungstheorien verwiesen, die durch ein vereinendes Modell die Schwächen von Spezial- und Generalprävention zu vermeiden suchten. Strafe sei nur zum Zweck der Prävention zugelassen, allerdings sei die Schuld des Täters als Maßstab zur Beschränkung des Strafmaßes heranzuziehen. Nach Strafzwecken im Völkerstrafrecht gefragt, meinen die Autoren zunächst darauf hinweisen zu müssen, daß kulturelle, religiöse und traditionelle Unterschiede in der Gerechtigkeitsvorstellung auf der Ebene des Völkerstrafrechts nicht überzubewerten seien. Es gehe um schwere Verbrechen gegen fundamentale Rechtsgüter der Menschheit, die wohl von keiner Kultur gebilligt werden könnten. Die Vergeltung als Strafgrund sei aber auch im Völkerstrafrecht abzulehnen. Ein Ausgleich des erlittenen Unrechts sei bei Massenverbrechen undenkbar. Der Zweck supranational-völkerrechtlichen Strafens bestehe – mangels einer funktionierenden völkerstrafrechtlichen Ordnung – am ehesten in einer positiv-generalpräventiven Wirkung, nämlich darin, einen Beitrag zu leisten zu der Errichtung und Konsolidierung einer völker(straf)rechtlichen Wertordnung. Die dargestellte Argumentation hat Schwächen, selbst wenn man ihren Ausgangspunkten, dem Strafrecht in seiner Funktion des Rechtsgüterschutzes und der staatlichen Strafgewalt als aus der Erfahrung abgeleitete Ultima-Ratio-Macht, für einen Moment folgt. Denn diese Prämissen werden, sobald von der internationalen Ebene die Rede ist, in Wahrheit nicht weiter verfolgt. Die Besonderheiten des Völkerstrafrechts lägen darin, „dass es sich auf den Schutz elementarer Rechtsgüter des Menschen und der Völker-
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Kennzeichnung der Fragestellung
gemeinschaft beschränkt, zu deren Schutz die Anerkennung völkerrechtlicher Bestrafungspflichten in besonderem Maße gerechtfertigt ist“. Zunächst ist dies eine quantitative Umgrenzung derjenigen Rechtsgüter, die Relevanz für das Völkerstrafrecht haben: Es gehe nur noch um „elementare“ Rechtsgüter und nur um solche eines Menschen oder der Völkergemeinschaft. Was allerdings inhaltlich diese Rechtsgüter kennzeichnet, was den Bezug zum überstaatlichen Bereich ausmacht, wie überhaupt die Bestimmung solcher Rechtsgüter im internationalen Bereich erfolgen kann, bleibt offen. Der Schutz des Völkerstrafrechts setze ein, wenn völkerrechtliche Bestrafungspflichten in besonderen Maße gerechtfertigt seien. Dies ist im Grunde eine Leeraussage, die nicht begründen kann, warum es in einem Fall zu einer Zuständigkeit des Völkerstrafrechts kommen soll und in einem anderen nicht. Daß dies etwas mit der Qualität des begangenen Unrechts zu tun haben könnte, ist an dieser Stelle nur zu erahnen. Daß die Qualität des Unrechts in unmittelbarem Zusammenhang mit der Qualität des Rechts steht, und daß dieses Recht wiederum auf einer gemeinschaftlichen Vernunftleistung beruht, die in der konkreten Unrechtshandlung durch den Täter negiert wurde, geht bei der zitierten zirkulären Bestimmung von Völkerstrafrecht komplett verloren. Dabei ist gerade für einen Ansatz, der von Rechtsgütern als Schutzgütern des Strafrechts ausgeht, die Bestimmung dessen, was als Rechtsgut geschützt werden soll, von drängender Bedeutsamkeit.29 Dies gilt sowohl für den Inhalt als auch für das Verfahren der positiv rechtlichen Setzung. Im Völkerstrafrecht gibt es in beiderlei Hinsicht Besonderheiten, die nicht nur quantitativer sondern auch qualitativer Natur sind. So muß z. B. begründet werden, warum die Völkergemeinschaft bei einem Völkermord, der auch bei der Tötung von nur wenigen Opfern begrifflich vorliegen kann30, nicht 29
Vgl. zu diesem Ansatz C. Roxin, Strafrecht AT, § 2; E. Schmidhäuser, Strafrecht AT, 2. Aufl. (1975) (Lehrbuch), 6/6 ff. (S. 142 ff.), 8/28 ff. (S. 205 ff.); zur Kritik an einem Ansatz, der die Rechtsgüter als objektive Sozialwerte begreift (und deshalb das Strafrecht als Schutzinstrument solcher Werte definiert), siehe M. Köhler, Strafrecht AT (1997), S. 24, 25; vgl. auch W. Naucke, „Schwerpunktverlagerung im Strafrecht“ KritV 76 1993, S. 135 (138); zu einer Bestimmung der Rechtsgüter als Daseinselemente der Freiheit und ihrer Konstitution in einem Prozeß wechselseitiger Anerkennung siehe R. Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat (1989), S. 165 ff., vgl. auch S. 188: Die Forderung, jeder Straftatbestand müsse sich als Rechtsgutsverletzung begreifen lassen, sei berechtigt. „Dies ist notwendig so, wenn man das Rechtsgut als Daseinselement der Freiheit und d.h. als thematisch beschränkten Ausdruck von rechtlich konstituierter Selbständigkeit versteht. Einem Straftatbestand muß zugrunde liegen ein positives Verständnis eines rechtlich strukturierten Teils des Gemeinschaftslebens, in dem (rechtliche) Freiheit wirklich wird. Das bedeutet ferner, daß das Strafrecht nicht etwa beliebige Rechtsgüter erfinden kann, die nicht außerhalb des Strafrechts das freiheitliche Zusammenleben ausmachen.“ (ohne FN).
B. Exemplarische Kritik am Umgang mit der Begründungsfrage
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aber bei einem Serienmord mit vergleichbar vielen Opfern betroffen ist.31 Der Hinweis auf „elementare Rechtsgüter eines Menschen und der Völkergemeinschaft“, kann den Unterschied nur dann erklären, wenn diese Begriffe inhaltlich gefüllt werden. Es muß das spezifisch „Übernationale“ des Unrechts bestimmt werden. Im gegebenen Beispiel müßte die besondere Absicht32, die den Völkermord auszeichnet, als Anhaltspunkt für eine solche Unrechtsbestimmung herangezogen werden. Die Begründungsleistung, die dann zu folgen hätte, müßte das geschützte Rechtsgut inhaltlich bestimmen und den Grund dafür nennen, warum es sich um ein international zu schützendes Rechtsgut handelt. Nur durch eine solche inhaltliche Bestimmung wäre der genannte Zirkelschluß aufzulösen und zu begründen, ob und wann völkerrechtliche Bestrafungspflichten gerechtfertigt sind. Hinzu kommt, daß die Rechtsetzung im Völkerstrafrecht anderen Wegen folgt, als die innerhalb eines Staates. Das, was als Rechtsgut im Staat dem Schutz des Strafrechts unterliegt, hat diesen Stellenwert ja nicht zufällig. Es wurde als allgemein anerkannte, objektiv-vernünftige Konkretisierung von Freiheitssphären mehrheitlich gesetzt – dem einzelnen einsichtig und wesentlich durch ihn mitbegründet. Diesen Setzungsmodus kann das Recht auf internationaler Ebene nicht einfach überspringen, Rechtsgüter sind auch dort nicht beliebig vorfindbar. Wenn auch die Entwicklung über Völkervertragsrecht und Völkergewohnheitsrecht hin zur Kodifizierung in den Statuten der beiden ad hoc Tribunale und des IStGH33 nicht mit der eines innerstaatlichen Gesetzesvorhabens vergleichbar ist, so gilt doch, daß dem ein30
Vgl. den Tatbestand des Völkermordes in Art. 6 des Rom Statuts, Art. 4 des ICTY Statuts oder Art. 2 des ICTR Statuts und den insofern deckungsgleichen früheren § 220 a StGB, heutigem § 6 VStGB. 31 Der Tatbestand des Völkermordes wird hier nur exemplarisch genannt. Auch für die sonstigen Verbrechen, die unter die Zuständigkeit des IStGH und der ad hoc Tribunale fallen, müßte eine Unrechtsbegründung, die den besonderen Bezug zur Völkergemeinschaft klärt, geleistet werden. Zu diesen Verbrechen gehören die Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 7 IStGH Statut), die Kriegsverbrechen (Art. 8 IStGH Statut) und die Aggression, die erst noch definiert werden muß, bevor sie unter die Gerichtsbarkeit des IStGH fallen kann. Vgl. ferner die Art. 2, 3 und 5 des ICTY Statuts und die Art 3 und 4 des ICTR Statuts. Zum Gehalt dieser Tatbestände im Zusammenhang mit der Ordnungsfunktion des Völkerstrafrechts siehe C. Stahn/S.-R. Eiffler, „Über das Verhältnis von Internationalem Menschenrechtsschutz und Völkerstrafrecht anhand des Statuts von Rom“ KritV 82 (1999), S. 253 ff. 32 § 220a I StGB (a. F.)/§ 6 VStGB: „Wer in der Absicht, eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihr Volkstum bestimmte Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“ eine der in den Nummern 1–5 genannte Ausführungshandlungen begeht, wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft. Vgl. zum „mental element“ des Völkermordes W. A. Schabas, Genocide in International Law (2000), S. 206 ff. und H. Vest, Genozid durch organisatorische Machtapparate (2002), S. 99 ff.
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Kennzeichnung der Fragestellung
zelnen das so entstandene positive Recht nicht bloß als heteronome Zwangsordnung gegenüberstehen darf. Es muß vielmehr auch hier möglich sein, den einzelnen als Mitbegründer eben dieser Rechtsordnung zu begreifen. Ein Strafrecht, das auf dem Reißbrett entwickelt wird und dann als fertige Ordnung einer Menge von Menschen gleichsam übergestülpt wird, entbehrt dieser Möglichkeit. Eine Begründung, die sich dieser Schwierigkeit stellt, müßte die Verlängerung der Legitimationskette vom einzelnen Rechtssubjekt zur Rechtsetzung und die kommunikativen Schwierigkeiten, die sich dabei aus verschiedenen Sprachen, Kulturen und Denkweisen ergeben, berücksichtigen. Neben der inhaltlichen Begründung von internationalem Unrecht wäre auch ein solcher Legitimationsbeweis zu erbringen, um von völkerstrafrechtlichen Schutzgütern sinnvoll sprechen zu können: Nicht als beliebige, vorgefundene Werte sondern als Produkt der Bündelung subjektiver Vernunft. Auch bei den Überlegungen zur Strafgewalt im Staat und in der Völkergemeinschaft bleiben bei Ambos/Steiner entscheidende Fragen offen. Die Strafgewalt im Staat sei vom Schutzgedanken abzuleiten, die Erfahrung habe das Strafrecht als Ultima-ratio-Instrument ausgewiesen, um das Zusammenleben der Menschen in der Gesellschaft zu ermöglichen. Wie der Zusammenhang zwischen der Bestrafung eines einzelnen wegen eines bestimmten Verbrechens und der Ermöglichung friedlichen Zusammenlebens beschaffen ist, wird allerdings an dieser Stelle nicht weiter behandelt. Aus diesem Grund kann auch bei dem Blick auf die völkerstrafrechtliche Ebene nicht mehr erfolgen, als der Hinweis darauf, daß das Gewaltmonopol sich dort zur Zeit herausbilde und konsolidiere. Wenn dies auch zutrifft, so bringt ein solcher Hinweis das ursprüngliche Anliegen, dem Sinn und der Legitimität des Strafens auf supranationaler Ebene auf den Grund zu gehen, keinen Schritt weiter. Denn die Frage nach der Legitimität ist mit einer Beschreibung der tatsächlichen Zustände nicht einmal berührt. Trotzdem ist, gewissermaßen intuitiv, mit dem Hinweis darauf, daß sich die Völkergemeinschaft in einer Phase befindet, die mit der Entstehungsphase der Nationalstaaten vergleichbar ist, eine entscheidende Einschätzung erfolgt: Die Völkergemeinschaft befindet sich in einem noch nicht rechtlich verfaßten 33 Vgl. zu dieser Entwicklung M. C. Bassiouni, „From Versailles to Rwanda in seventy-five Years: The Need to establish a permanent International Criminal Court“ Harvard Human Rights Journal 10 (1997), S. 11 ff.; D. Blumenwitz, „Die Strafe im Völkerrecht“ ZfP 44 (1997), S. 324 ff.; B. Broomhall, „Looking forward to the Establishment of an International Criminal Court: Between State Consent and the Rule of Law“ Criminal Law Forum 8 (1997), S. 317 ff.; B. B. Ferencz, „International Criminal Courts: The Legacy of Nuremberg“ Pace International Law Review 10 (1998), S. 203 ff.; H.-H. Jescheck, „Entwicklung, gegenwärtiger Stand und Zukunftsaussichten des Internationalen Strafrechts“ in: ders. (Hrsg.), Beiträge zum Strafrecht (1980–1998), S. 437 ff.
B. Exemplarische Kritik am Umgang mit der Begründungsfrage
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Zustand. Diese Erkenntnis führt dann erst zu den eigentlich zu klärenden Fragen: Ist ein Strafrecht auch außerhalb staatlich verfaßter Strukturen begründbar?34 Welches Verhältnis besteht zwischen dem Staat und seinen Bürgern, das einen Zugriff auf die Freiheitssphäre des einzelnen durch staatliche Strafe legitimiert und ist ein ähnliches Verhältnis auch dann begründbar, wenn es keine zentrale Einheit wie den Staat gibt, keine allgemeingültige verfaßte Rechtsordnung, keine Institutionen, die der Rechtsordnung umfassend Gültigkeit verschaffen? Ist es zutreffend, ein ius puniendi aus einem Gewaltmonopol herzuleiten wie Ambos/Steiner es andeuten? Umgekehrt gefragt: Folgt aus einem (faktischen) Gewaltmonopol auch das Recht zu strafen? Ist es nicht vielmehr so, daß sich ein Gewaltmonopol von vornherein nur aus der inhaltlichen Richtigkeit der durchzusetzenden Positionen begründen läßt und daß das ius puniendi in diesem Zusammenhang eine Besonderheit ist, die einer erweiterten Begründung bedarf? Es ist kein Zufall, daß diesen Fragen in dem zitierten Beitrag nicht nachgegangen wird, denn ihre Bewältigung setzt ein gefestigtes Grundverständnis vom Strafrecht im Staat voraus. Die Frage nach dem Zusammenhang von Strafe, Staat und Rechtsordnung hatten Ambos/Steiner aber gerade offen gelassen, bevor sich ihr Augenmerk auf die Strafgewalt der Völkergemeinschaft richtete. Eine Grundlage, die durch gedankliche Weiterentwicklung zu einem Lösungsansatz führen könnte, wurde nicht gelegt. Aufgefangen wird dies auch nicht durch die anschließende Beschäftigung mit den Straftheorien. Denn auch dort fehlt eine gedankliche Auseinandersetzung mit dem ihnen zugrundeliegenden Verständnis vom Recht. Daß der Vergeltungstheorie im Ansatz eine bestimmte Vorstellung von Gerechtigkeit unterliegt, wird zutreffend hervorgehoben. Allerdings wird die selbst angeführte Kritik an dieser Theorie – sie stütze sich auf einen im wesentlichen relativen Gerechtigkeitsbegriff – ad absurdum geführt, wenn nur zwei Seiten weiter, im völkerstrafrechtlichen Zusammenhang, von „fundamentalen Rechtsgütern der Menschheit, deren Verletzung wohl von keiner Kultur gebilligt werden könnten“ die Rede ist und die Autoren selbst darauf hinweisen, daß damit die Unterschiede in der Gerechtigkeitsvorstellung „nicht überzubewerten seien“. Auch betonen die Autoren bei ihrer Beschäftigung mit der positiven Generalprävention, der sie sich im Ergebnis 34 Vehement von einem anderen als dem hier vertretenen gedanklichen Standpunkt aus verneinend G. Jakobs, „Zur gegenwärtigen Straftheorie“ in: K.-M. Kodalle (Hrsg.), Strafe muß sein! Muß Strafe sein? Philosophen – Juristen – Pädagogen im Gespräch (1998), S. 29 (38, 39); ders., „Das Strafverständnis der Strafrechtswissenschaft vor den Herausforderungen der Gegenwart“ in: A. Eser/W. Hassemer/ B. Burkhardt (Hrsg.), Die Deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende (2000), S. 47 (55).
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Kennzeichnung der Fragestellung
anschließen wollen, daß es um die Herstellung „abstrakter“ Gerechtigkeit gehe – und dies obwohl sich doch nach eigener Aussage der „richtige“ Gerechtigkeitssinn niemandem aufzwingen lasse. Unabhängig davon wird aber bei der Behandlung der Vergeltungsidee ohnehin nicht auf den entscheidenden Punkt eingegangen, der Frage nämlich, warum der Staat als neutrale Instanz überhaupt begangenes Unrecht „vergelten“ darf. Denkbar wäre ja bei einer Vergeltungsaktion viel eher, daß das Opfer zurückschlägt. Die Bedeutung, die die staatliche Struktur bei einer vergeltenden Strafaktion spielt, ist überhaupt nicht Gegenstand der Untersuchung. Daß sich qualitativ etwas ändert, wenn statt von interpersonaler Rache von Rechtsstrafe die Rede ist, bleibt unberücksichtigt. Welche Bedeutung der Ausgleich von (strafrechtlichem) Unrecht für eine Rechtsgemeinschaft hat, wird in die Überlegung nicht miteinbezogen. Wie sollen sich dann Erkenntnisse zum überstaatlichen Zusammenhang einstellen, bei dem viele Grundbedingungen einer verfaßten Rechtsgemeinschaft noch ausstehen? Anders als mit der mangelnden Beschäftigung mit diesen Hintergründen läßt sich dann auch das vollkommen unvermittelte Ergebnis der beiden Autoren nicht erklären: „Ebenso wie auf innerstaatlicher Ebene ist die Vergeltung als Strafgrund auch im Völkerstrafrecht abzulehnen.“ Und: „Ein Ausgleich des erlittenen Unrechts sei bei Massenverbrechen undenkbar.“ Irgendwelche, auch nur im Ansatz begründende Bemerkungen folgen diesen Feststellungen nicht. Spätestens an dieser Stelle ist das selbst formulierte Anliegen, sich mit der Frage der Legitimität völkerrechtlichen Strafens zu beschäftigen, nicht mehr glaubhaft. Ein letzter Punkt ist hervorzuheben: Ganz zutreffend werden in der Abhandlung einige Kritikpunkte zur Theorie der Generalprävention benannt, die sich durch weitere, substantiellere ergänzen ließen. Diese Kritik wird an keiner Stelle entkräftet. Trotzdem kommen die Autoren ganz selbstverständlich zu dem Fazit, daß der Zweck supranational-völkerrechtlichen Strafens am ehesten in einer positiv-generalpräventiven Wirkung liege. Ganz unabhängig davon, ob man dem im Ergebnis zustimmt, ist doch das Vorgehen im höchsten Maße ungewöhnlich. Die Autoren legen im einzelnen dar, welche Kritikpunkte an der von ihnen favorisierten Theorie bestehen, scheinen ihren vorangehenden Ausführungen selbst aber keinerlei Bedeutung zuzumessen, wenn sie ohne jede Konsequenz aus der genannten Beanstandung eben jene Position vertreten, die sie vorher kritisierten.
C. Begründungsgang und Anliegen der vorliegenden Arbeit
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C. Skizzierung des Begründungsgangs und des Anliegens der vorliegenden Arbeit Deutlich wird angesichts der vorgetragenen Kritik an dem Beitrag von Ambos/Steiner, daß die Probleme der Strafbegründung auf internationaler Ebene mannigfaltig sind und ihre Aufarbeitung bisher von Seiten der Rechtswissenschaft nur unbefriedigend angegangen wurde.35 Wenn auch nur angedeutet, wurde schon während der Auseinandersetzung mit dem Text auf entscheidende Begründungsschritte hingewiesen, die es auszuarbeiten gilt. Schon die Begründung von Strafe innerhalb eines Staates, ihr Aufweis als Rechtsakt, muß notwendig vom Grundverständnis des Rechts als allgemein konstituierte Freiheitsordnung ausgehen, den Zusammenhang zwischen einer Unrechtstat und der gemeinschaftlichen Reaktion darauf aufklären und die Strafe von einem beliebigen Gewaltmittel unterscheiden (dazu der 1. Teil der vorliegenden Arbeit). In einem zweiten Schritt sind diese Bedingungen auf den internationalen Zusammenhang anzuwenden (2. Teil der Arbeit). Auch dort muß der Begründungsgang die Eigenschaft jedes einzelnen Rechtssubjekts als vernünftiger Mitkonstituent der Rechtsgemeinschaft als unübergehbare Einsicht berücksichtigen. Eine Schwierigkeit besteht dann darin, eine Rechtsgemeinschaft auszumachen, innerhalb derer die Begriffe Recht und Unrecht Verfestigung erfahren haben und durch gemeinschaftliche Institutionen in der Wirklichkeit garantiert werden. In der Natur der internationalen Strafgerichtsbarkeit liegt es ja gerade, über einzelne verfaßte Rechtsgemeinschaften hinaus, unter der Prämisse der Universalität auf Unrecht zu reagieren. Dabei darf aber der Zusammenhang zwischen dem einzelnen Rechtssubjekt, der Recht-setzenden und der Recht-durchsetzenden Allgemeinheit, die Basis allen Rechts in gemeinschaftlicher Vernunftleistung nicht aus den Augen verloren werden.36 Eine internationale Straf35 Wenn auch nur ein aktueller Beitrag näher untersucht wurde, so läßt sich doch eine solche generelle Aussage rechtfertigen. Denn es wurde schon darauf hingewiesen, daß eine Unsicherheit in den Aussagen auch anderer Verfasser offensichtlich ist, sobald es um die Begründung internationaler Strafe geht (vgl. nochmals die in Fn. 22 genannten Aufsätze). Es wird hier zwar kein Anspruch auf vollständige Zusammenstellung aller Beiträge in diesem Bereich erhoben, eine Tendenz läßt sich aber sehr wohl aus den genannten Quellen erkennen. 36 Diesem Anspruch ist in der Wirklichkeit internationaler Strafgerichtsbarkeit nur schwer gerecht zu werden. Es ist nämlich nicht dasselbe, ob jemand vor einem Gericht seines eigenen Rechtskreises – die Sprache und die Religion seien als zwei ganz augenscheinliche kulturelle Besonderheiten beispielhaft genannt – steht und sich für eigene Taten verantworten muß, oder ob er dies vor einem international besetzten, nach fremder Gerichtsordnung verhandelnden, fremde Rechtsgrundsätze anwendenden und in fremder Sprache vorgehenden Tribunal tun muß. Auch ist es nicht unerheblich, daß die Strafe, so sie verhängt wird, in der Regel nicht im Hei-
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Kennzeichnung der Fragestellung
gerichtsbarkeit, die dem einzelnen nur als überlegene Machtinstitution, nicht auch als mitbegründete, die Allgemeingültigkeit rechtlicher Verbote in Übereinstimmung mit eigener, subjektiver Vernunft wiederherstellende Instanz gegenübertritt, verliert die Rechtsqualität, eignet sich höchstens noch zur Durchsetzung politisch erwünschter Effekte. Die Vernachlässigung der Begründungsfrage im internationalen Kontext durch die Rechtswissenschaft beruht wohl nicht auf einer bewußten Entscheidung – etwa weil eine Begründung für unnötig befunden wurde. Vielmehr ist zu vermuten, daß die vielen eher auf der pragmatischen Seite angesiedelten Schwierigkeiten des Internationalen Strafrechts die Grundsatzfragen verdrängen. Es ist aber unzureichend, mitunter auch gefährlich, aufgrund nicht weiter geprüfter Prämissen strafrechtliche Überlegungen anzustellen; ist der Grund nicht gelegt, steht das Gebäude eben nur zufällig.37 Angesichts der Tatsache, daß Einzelpersonen schon jetzt nach den Statuten der beiden ad hoc Tribunale verurteilt und mit Freiheitsentzug bestraft werden38, sind Grundsatzüberlegungen überfällig. Wie auch im staatlichen Bereich sind Freiheitsstatusminderungen zu begründen, wenn sie den Anspruch der Legitimität mit Recht erheben wollen. Es ist das Kernanliegen dieser Arbeit, daß dazu der Hinweis auf irgendwelche Zwecke oder praktische Schwierigkeiten mit Alternativverfahren für ein rechtliches Verfahren gerade nicht ausreichen. matstaat verbüßt wird, sondern in einem beliebigen anderen Staat, sofern dieser nur die internationalen Mindeststandards für den Strafvollzug erfüllt. – Eine Tatsache, die etwa für die Möglichkeit einer Wiedereingliederung in die Gesellschaft (in welche?) eine wesentliche Rolle spielt, wird doch dem einzelnen die Möglichkeit genommen, im Kontakt mit seiner Umgebung zu bleiben, sich über öffentliche Diskussionen zu informieren, sich mit den anderen Gefängnisinsassen zu verständigen, etc. Für die Bedeutung der Strafe können solche Spezifika nicht gänzlich unbeachtet bleiben. A. A. wohl Th. Duve, „ ‚Mit Kant und mit ihm‘ Anmerkungen zu Reinhard Merkel: ‚Lauter leidige Tröster‘. Kants Friedensschrift und die Idee eines Völkerstrafgerichtshofs“ Rechtsphilosophische Hefte, VII., Int. Gerechtigkeit (1997), S. 137 (151): „Haft ist Haft, gleichgültig aufgrund welcher Strafnorm“. Vgl. zur Haft aufgrund internationaler Strafgerichtsbarkeit außerdem M. M. Penrose, „Spandau Revisited: The Question of Detention for International War Crimes“ New York Law School Journal of Human Rights (Spring 2000), S. 553 ff. 37 Im Zusammenhang mit menschlicher Vernunfterkenntnis überhaupt hat I. Kant diese Schwierigkeit folgendermaßen beschrieben: „Es ist aber ein gewöhnliches Schicksal der menschlichen Vernunft in der Speculation, ihr Gebäude so früh wie möglich fertig zu machen und hintennach allererst zu untersuchen, ob auch der Grund dazu gelegt sei. Alsdann aber werden allerlei Beschönigungen herbeigesucht, um uns wegen dessen Tüchtigkeit zu trösten, oder auch eine solche späte und gefährliche Prüfung lieber gar abzuweisen.“ I. Kant, KrV, Einleitung III, A 5/B 9 (Akademie-Ausg., Band III, S. 32). 38 Vgl. zur Statistik der Verfahren vor dem ICTY http://www.un.org/icty/ index.htm, zum ICTR http://www.ictr.org.
C. Begründungsgang und Anliegen der vorliegenden Arbeit
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Um der genannten Schwierigkeit auf den Grund gehen zu können, muß es einen gedanklichen Ansatzpunkt geben, dessen man sich als gefestigt sicher sein kann. Nur wenn sich ein rechtlicher Zusammenhang zwischen den Individuen der Welt und der international strafenden Instanz begründen läßt, kann von einem Rechtsinstrument, von Rechtsstrafe gesprochen werden. Ein solches Rechtsverhältnis ist naturgemäß auf Weltebene noch schwieriger nachzuweisen als innerhalb einer staatlichen Gemeinschaft, die in der Regel wenigstens auf sprachliche und religiöse Gemeinsamkeiten zurückgreifen kann. Gefordert ist deshalb eine Rückbesinnung auf die Grundbestimmung des Rechts als allgemein konstituierte Freiheitsordnung, deren Wurzel die von den kulturellen Unterschieden unabhängige Vernunftbegabung eines jeden Menschen ist.39 Die den Menschen bestimmende und die für die Begründung des Rechts entscheidende Eigenschaft des einzelnen Subjekts, sich selbst als Vernunftwesen zum Richtigen bestimmen zu können, kann als eine gedankliche Basis herausgearbeitet werden, von der aus die Regeln für das menschliche Zusammenleben näher bestimmt werden und die einen Grund für die Organisation in einer Rechtsgemeinschaft liefert. So verstandene menschliche Freiheit ist dann unübergehbar im Rechtsbegriff verankert. Für die hier zu behandelnde Frage der Strafbegründung ist diese Grundlage bisher nur im Zusammenhang einer staatlichen Rechtsgemeinschaft fruchtbar gemacht worden: Ausgehend vom Individuum, das nicht vereinzelt sondern in Gemeinschaft mit anderen lebt, ergibt sich die Notwendigkeit, das Zusammenleben rechtlich zu organisieren und darin mitangelegt 39 Daß es möglich sein muß, von einer Grundbestimmung des Menschen ausgehend universell gültige Aussagen zu machen, scheint im Ansatz auch dem Statut des IStGH zugrunde zu liegen, wenn es in seiner Präambel von einem Band spricht, das alle Völker vereint und von einem Gewissen, das der Menschheit eigen ist. Vgl. Abschnitt 1 und 2 der Präambel des Rom Statuts: (1) Conscious that all peoples are united by common bonds, (. . .), (2) Mindful that during this century millions of children, women and men have been victims of unimaginable atrocities that deeply shock the conscience of humanity, (Hervorhebungen der Verfasserin). Wie allerdings von dieser Basis aus nicht nur emotionale, sondern auch rechtliche Schlüsse gezogen werden können, bedarf weiterer Überlegungen. Denn das Recht stellt als äußere Freiheitsordnung andere Ansprüche an eine Reaktion auf das, was in der Präambel mit „unimaginable atrocities that deeply shock the conscience of humanity“ beschrieben ist, als eine unwillkürliche, menschliche Gemütsregung. Auch ist der Begriff des „Gewissens“ im Zusammenhang mit einer rechtlichen Institution nicht ganz unbelastet, – geht es doch nicht um eine moralische, sondern um eine rechtliche Beurteilung des Geschehens. Im internationalen Zusammenhang gehen solche, in der Geschichte der Philosophie mühsam herausgearbeiteten Unterschiede sehr leicht verloren, – nicht zuletzt weil Medienwirksamkeit und politische Effizienz zu den Leitmotiven der Entwicklung des Völkerstrafrechts gehören.
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Kennzeichnung der Fragestellung
die Möglichkeit von Unrecht. Strafe ist dann als Reaktion auf bestimmtes Unrecht näher zu bestimmen. Ob ein solcher Gedankengang auch als Begründungsansatz für die internationale Strafe taugt, ist nicht auf den ersten Blick erkennbar. Da aber auch dort die Betrachtung beim einzelnen Individuum anzusetzen hat, ist es zumindest einen Versuch wert, sich gedanklich am staatlichen Zusammenhang zu orientieren – zumal dort entscheidende Grundsatzarbeit in bezug auf die Rechtsbegründung, speziell auch Strafrechtsbegründung, schon geleistet wurde.
1. Teil
Freiheitliche Strafbegründung im Staat Um zu einer Beurteilung der Frage zu gelangen, ob das Strafhandeln in einem Staat als gut begründet werden kann, muß auf den Grund menschlichen Handelns überhaupt rekurriert werden. Denn auch das Strafhandeln ist als nach außen tretender, verwirklichter menschlicher Wille den Prinzipien menschlichen Handelns unterworfen und kann deshalb „wie jede menschliche Handlung darauf befragt werden, ob sie praktisch-vernünftig, also gut ist“40. Hinzu kommt, daß es sich als eine Reaktion auf menschliches Handeln, konkret: eine Unrechtshandlung, darstellt. Es mag auf den ersten Blick verwunderlich erscheinen, daß sich beide Arten von Handlungen, das Strafen und das Unrecht-tun, auf die gleiche Grundbestimmung der menschlichen Handlung zurückführen lassen. Es wird aber bei näherem Hinsehen deutlich, daß allein darin der Grund für die Richtigkeit, ja die Notwendigkeit, auf Unrecht mit Strafe zu reagieren, zu finden sein wird. Sobald ein allgemeiner Maßstab für das richtige menschliche Handeln gefunden ist, lassen sich auch Aussagen hinsichtlich der Güte einzelner, bestimmter Verhaltensweisen machen; und dies nicht etwa als abstrakte, vom Leben abgeschnittene kleine „Rechenaufgabe“, sondern für jeden Menschen (und damit auch für die von Menschen geschaffenen Institutionen) bei seiner konkreten Lebenshandlung erkennbar. Ist die Fähigkeit eines jeden Subjekts, Richtiges vom Unrichtigen zu trennen, aber erst einmal eingestanden, so läßt sich damit auch erklären, warum der einzelne an seinen Handlungen festgehalten werden darf, warum er überhaupt anhand seiner Handlungen beurteilt wird. Es ist dann Grund gelegt für die entscheidende Einsicht, daß sein Verhalten als das eines Vernünftigen nach außen tritt und das Resultat eines bestimmten Denkprozesses ist. Daran lassen sich dann die Reaktionen anderer, selbst durch die gleiche Grundbestimmung wesentlich charakterisiert, auf ihn beurteilen. Es muß also, in einem ersten Schritt, der Frage nach den das menschliche Handeln leitenden Prinzipien nachgegangen werden. Diese Frage soll im vorliegenden Zusammenhang ausschließlich Ausgangspunkt für die Be40 R. Zaczyk, „Staat und Strafe – Bemerkungen zum sogenannten ‚Inselbeispiel‘ in Kants Metaphysik der Sitten“ in: G. Landwehr (Hrsg.), Freiheit, Gleichheit, Selbständigkeit (1999), S. 73 (83).
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1. Teil: Freiheitliche Strafbegründung im Staat
urteilung der Strafe als Rechtsinstitut sein; die Befassung mit ihr erhebt keinesfalls den Anspruch, die menschlichen Reflexionsprozesse in ihrer gesamten Komplexität aufzuklären. Erstrebt ist zunächst lediglich eine Begründung dafür, daß eine Handlung tatsächlich als die eines Subjekts verstanden werden kann und damit die Grundlage gelegt ist, den einzelnen an seinen Handlungen, als verantwortlicher Urheber, zu messen. Denn soll der einzelne legitimerweise strafrechtlich in Anspruch genommen werden, so setzt das schon voraus, daß er selbst Grund für die ihm vorgeworfene Verfehlung einer allgemeingültigen Verhaltensnorm ist.41 Damit verknüpft stellt sich die Frage, wie denn dem einzelnen eine Orientierung zum Richtigen möglich sein kann – die Frage also nach einem allgemeinen Prinzip guten Handelns, das dem einzelnen zugänglich ist und als Maßstab für eine Beurteilung gelten kann. Ein solches Prinzip müßte allgemeingültig sein, um verbindliche Aussagen zur Güte eines bestimmten menschlichen Verhaltens zu erlauben; gesucht wird also nach einem moralischen Handlungsprinzip mit absolutem Geltungsanspruch.42 Existiert ein solches Prinzip, ist in einem weiteren Schritt fraglich, inwieweit der einzelne dieses Prinzip für sich aufstellen und daraufhin auch sein Handeln danach ausrichten kann. Nur wenn eine solche Fähigkeit prinzipiell zu bejahen ist, kann auch über Fehlleistungen des einzelnen bei diesem Prozeß nachgedacht werden. Solche Überlegungen, zunächst immer noch auf der (vorrechtlichen) subjektiv-moralischen Ebene des einzelnen, führen zu der Notwendigkeit, solche Fehlleistungen nicht einfach ignorierend „in der Welt“ zu lassen, sondern sie durch eine gedankliche Gegenbewegung für sich aufzuheben. Im folgenden werden die Grundbestimmungen, die in der Tradition Immanuel Kants zu diesen Fragestellungen entwickelt wurden, nachgezeichnet. Damit soll gedanklich Grund gelegt werden für den weiteren Zusammenhang, der sich vom einzelnen Subjekt über das Verhältnis mehrerer 41 Vgl. M. Köhler, Die bewußte Fahrlässigkeit (1982), S. 143: „Soll das selbstbestimmend-selbstberechtigte Willenssubjekt mit freiheitsmindernden Sanktionen legitimerweise in Anspruch genommen werden können, so setzt das (. . .) voraus ein positiv-prozeßhaftes Grundsein des Subjekts für die Verfehlung einer allgemeinen, die Gemeinschaft und das individuelle Subjekt übergreifenden intersubjektiven (rechtlichen) Verhaltensbestimmung, – eine Selbstbegründung, die auch die rechtsmindernde Sanktion – als notwendig auf jene Verletzung folgend – miteinbezieht.“ 42 Es wird sich zeigen, daß in der Fortentwicklung eines solchen moralisch-praktischen Prinzips für die Ebene des Rechts eine Möglichkeit liegt, auch dort zu allgemeingültigen Ergebnissen zu kommen. Der Struktur nach läßt sich das rechtlich Richtige auf das moralisch Richtige zurückführen, wenn auch unter Beachtung der spezifisch rechtlichen Schwierigkeiten. Geht es um die Beurteilung eines konkreten Verhaltens in der realen Welt, ist allerdings die moralische von der rechtlichen Seite zu trennen.
A. Die Freiheit des Subjekts als Fundament jeder Rechtsbegründung
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Subjekte zueinander zum Recht, und von dort aus zum Unrecht und dessen Aufhebung durch Rechtsstrafe erstreckt. Letztlich wird es auch dieser Zusammenhang sein, der in einer Weiterentwicklung Aussagen über die Legitimität internationaler Strafe ermöglicht.
A. Die Freiheit des Subjekts als Fundament jeder Rechtsbegründung Nach Kants Grundeinsicht ist die menschliche Natur nicht auf das „Bedürfnissubjekt Mensch“ beschränkt. Der Mensch ist zwar durch die Natur determiniert und insofern als Bedürfnissubjekt angewiesen auf die Außenwelt. Er ist den Zufälligkeiten innerer und äußerer Verwirklichungsbedingungen ausgesetzt und damit zum Teil empirisch heteronom bestimmt.43 Es ist dem Menschen aber auch eigen, frei, das heißt hier zunächst unabhängig von den „bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt“ handeln zu können.44 Ein wesentlicher Teil menschlichen Daseins ist danach mit einem unübergehbaren Eingebundensein in seine natürliche Umgebung nicht hinreichend beschrieben; vielmehr existiert die Möglichkeit einer durch Reflexion zu erreichenden Unabhängigkeit von solchen Naturvorgaben.45 Das menschliche Handeln richtet sich also nicht ausschließlich nach Naturgesetzen, die den einzelnen in einer bestimmten Richtung festlegen. Im Gegenteil ist ihm die Fähigkeit zur Gestaltung der eigenen Wirklichkeit gegeben, die Fähigkeit, selbst Grund für einen bestimmten Handlungsverlauf zu sein. Er kann spontan, aus sich selbst heraus und von bestimmenden Einflüssen unabhängig, kraft seiner Freiheit handeln.46 Der innere Prozeß, der zu einem Wirken in der Außenwelt führt, ist zunächst dadurch gekennzeichnet, daß der einzelne sich selbst einen Zweck 43
Vgl. M. Köhler, Der Begriff der Strafe (1986), S. 21. I. Kant, GMdS, BA 109; vgl. auch MdS, Einleitung in die MdS, I., AB 6, 7 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 213): „Die F r e i h e i t der Willkür ist (jene) Unabhängigkeit ihrer B e s t i m m u n g durch sinnliche Antriebe“; vgl. auch KrV, I., Zweite Abtheilung, Zweites Buch, 2. Hauptstück, 9. Abschnitt, III., B 561, 562/A 533, 534 (Akademie-Ausg. Band III, S. 363): „Die F r e i h e i t i m p r a k t i s c h e n Ve r s t a n d e ist die Unabhängigkeit der Willkür von der N ö t i g u n g durch Antriebe der Sinnlichkeit“; negative Bestimmung der Freiheit. 45 Vgl. F. Kaulbach, Immanuel Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ (1988), S. 45: „Da nicht der Mensch nur als Natur, sondern auch als Vernunftwesen in Frage steht, kommt es nicht auf das Studium der Eigenschaften an, welche die Natur dem Menschen mitgibt, sondern dessen, was der Mensch aus sich selbst macht.“ 46 Vgl. zu dieser Einheit von endlichen und intelligiblen Elementen im menschlichen Dasein E. A. Wolff, „Das neuere Verständnis von Generalprävention und seine Tauglichkeit für eine Antwort auf Kriminalität“ ZStW 97 (1985), S. 786 (806–811). 44
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1. Teil: Freiheitliche Strafbegründung im Staat
setzt, dem er im Handeln Wirklichkeit geben will. Gerade diese innere Zwecksetzung macht sein Handeln aus47. Als Grund für die Setzung gerade dieses oder jenen Zwecks kommen prinzipiell die naturbedingten menschlichen Bedürfnisse, aber eben auch die freie Entscheidung, die eine oder andere Absicht zu verfolgen, in Betracht. Der einzelne kann sich überlegen, was er tun will, er kann unter Alternativen wählen und bewußte Entscheidungen treffen. Die Wahl des Handlungszwecks ist damit nur zu einem geringen Teil durch äußere Bedingungen definiert, der einzelne kann darüber hinaus auch aus sich selbst heraus die Ziele seines Handelns bestimmen. Damit ist zunächst noch nicht mehr gesagt, als daß die grundsätzliche Möglichkeit der Überwindung empirischer Vorgaben (das schließt auch innere, im Menschen selbst angelegte Vorgaben ein) besteht. In dieser zunächst durch die Unabhängigkeit der inneren Willenssetzung von treibenden Kräften definierten Freiheit (= negative Freiheit) des Menschen liegt aber schon die Vorbedingung für einen weiteren Schritt der Selbstbestimmung des einzelnen, nämlich den selbstgewählten Zweck auch inhaltlich auszugestalten, positiv Zwecke zu begründen. Der einzelne kann es als eigene Leistung vollbringen, nicht nur selbst zwischen verschiedenen Zwekken zu wählen, sondern diese auch daraufhin zu überprüfen, ob sie als Grundsätze für das Handeln taugen, ob sie als die den Willen bestimmende Regeln richtig oder falsch sind. Dies ist Selbstbestimmung in einer Form, die über die reine Wahlfreiheit hinaus geht, sie ist „Autonomie des Willens als inhaltliche Selbstsetzung“48: Das Subjekt begründet den Inhalt seines Willens selbst; ihm ist dadurch eine Orientierung seines Handelns am eingesehenen Guten möglich und es ist also auch insofern (positiv) frei. Positive Freiheit ist die „Möglichkeit, durch Denken zu praktischer Selbstorientierung zu gelangen“49. Für beides, die Einsicht in das Gute schlechthin (das Erkennen einer allgemeinen Handlungsregel) und für die Orientierung an dieser Einsicht im Einzelfall einer bevorstehenden Handlung, ist die menschliche Vernunft zwingende Vorbedingung. Sie ist der Grund dafür, daß der Mensch zusätz47 Vgl. zu diesem regelhaften Ablauf der Zwecksetzung bei Lebewesen ganz allgemein: M. Köhler, Die bewußte Fahrlässigkeit (1982), S. 145, 146; siehe auch E. A. Wolff, „Die Grenzen des dolus eventualis und der willentlichen Verletzung“ in: K. Lackner, u. a. (Hrsg.) Festschrift für W. Gallas (1973), 197 (208 ff.). 48 M. Köhler, Die bewußte Fahrlässigkeit (1982), S. 178. 49 E. A. Wolff, „Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen“ in: W. Hassemer (Hrsg.), Strafrechtspolitik (1987), S. 137 (167); vgl. auch R. Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat (1989), S. 137: „Nicht die Indifferenz zwischen zwei Möglichkeiten kann Freiheit im positiven Sinne sein, sondern der gesuchte Begriff muß einen Vernunftgrund für die Entscheidung enthalten, angeben, warum ich dies tue und nicht das andere.“
A. Die Freiheit des Subjekts als Fundament jeder Rechtsbegründung
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lich zu, oder sogar entgegen seiner Anlage, naturvorgegebenen Neigungen nachzugehen, reflektierte Selbstbestimmung im Handeln leisten kann. Die Vernunft ist damit der Bestimmungsgrund für das bewußte menschliche Handeln.50 Sie liefert sowohl den Weg zum guten Handeln als auch den Maßstab dafür. Insofern der einzelne nach seinen eigenen Maximen handelt und diese Maximen anhand schlüssigen Denkens auf ihre Güte überprüfen kann, ist er selbst- und nicht fremdbestimmt, auch wenn er sich in der Materie seiner Umgebung bewegt, die ihm seinen Handlungsraum absteckt.51 Im praktischen Handeln liegt für ihn die Möglichkeit, die vorgefundenen Bedingungen der Außenwelt selbst (mit) zu gestalten. Er kann seinen Vorstellungen Wirklichkeit geben: Der menschliche Wille als Ursprung seiner Handlung wird durch sie nach außen hin verwirklicht. Darin angelegt ist auch, daß er die durch seine Umgebung auf ihn einwirkende Fremdbestimmung seines Willens durch selbstbestimmtes Handeln meistern, Heteronomie also aufheben kann.52 Nur weil der Wille eines Menschen frei in diesem Sinne ist, kann eine Handlung überhaupt als das Werk des Handelnden begriffen werden, denn wäre er fremdbestimmt, käme als Ursache der Handlung nicht das Subjekt selbst, sondern eben die es bestimmenden Faktoren in den Blick.53 Kant beschreibt diesen Zusammenhang so: „(Jedem vernünftigen Wesen, das einen Willen hat, muß notwendig auch die Idee der Freiheit geliehen werden, unter der es allein handle.) Denn in einem solchen Wesen denken wir uns eine Vernunft, die praktisch ist, d. i. Kausalität in Ansehung ihrer Objekte hat. Nun kann man sich unmöglich eine Vernunft denken, die mit ihrem eigenen Bewußtsein in Ansehung ihrer Urteile anderwärts her eine Lenkung empfinge, denn alsdenn würde das Subjekt nicht seiner Vernunft, sondern einem Antriebe, die Bestimmung der Urteilskraft zuschreiben. Sie muß sich selbst als Urheberin ihrer Prinzipien ansehen, unabhängig von fremden Einflüssen, folglich muß sie als praktische Vernunft, oder als Wille eines vernünftigen Wesens, von ihr selbst als frei angesehen werden; d. i. 50 Vgl. I. Kant, MdS, Einleitung in die MdS, I., AB 5 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 213). 51 Vgl. auch R. Zaczyk, Strafrechtliches Unrecht und die Selbstverantwortung des Verletzten (1993), S. 20. 52 Vgl. zu diesem Gedanken M. Köhler, Der Begriff der Strafe (1986), S. 21. 53 Die strafrechtliche Verantwortlichkeit ist daher sinnvoll nur an bewußtes, selbstbestimmtes Handeln anzuknüpfen. Die allgemeine Fähigkeit dazu muß ebenso festgestellt sein, wie die dem konkreten Handeln zugrundeliegende bewußte Entscheidung, so zu handeln. Vgl. dazu R. Zaczyk, Strafrechtliches Unrecht und die Selbstverantwortung des Verletzten (1993), S. 19, 20.
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1. Teil: Freiheitliche Strafbegründung im Staat
der Wille desselben kann nur unter der Idee der Freiheit ein eigener Wille desselben sein, und muß also in praktischer Absicht allen vernünftigen Wesen beigelegt werden.“54 Die Freiheit des Subjekts ist also das Attribut, das sich aus der Vernunftbegabtheit eines jeden Menschen zwingend ergibt. Sie ist für praktisches Handeln stets Grundbedingung, folgt doch das Handeln stets Prinzipien, die sich der Mensch selbst gibt. Das vernunftbegabte Wesen Mensch hat demnach die Fähigkeit, nach seiner Vorstellung von Regeln zu handeln, es hat einen verwirklichungsfähigen Willen, praktische Vernunft.55 Dies bedeutet nach dem Gesagten aber auch, daß es sein Handeln nach dem, was die Vernunft, „unabhängig von der Neigung, als praktisch notwendig, d. i. als gut erkennt“56, ausrichten kann. Die unmittelbar nachfolgende Frage lautet dann aber: Welches Verhalten erkennt die Vernunft als gut?, oder anders formuliert: Was macht gutes Handeln aus? Kant bestimmt als „praktisch gut (. . .), was vermittelst der Vorstellungen der Vernunft, mithin nicht aus subjektiven Ursachen, sondern objektiv, d. i. aus Gründen, die für jedes vernünftige Wesen, als ein solches, gültig sind, den Willen bestimmt.“57 Bei der Formulierung der Prinzipien für das Verwirklichen des Willens im Handeln, stellt sich der Mensch also die Frage, warum er so und nicht anders handeln soll. Die vorgestellte Sollensvorschrift hat den Grund für das Handeln zum Inhalt. Nach Kants Systematik der Imperative sind grundsätzlich zwei zu unterscheidende Gründe denkbar: Der erste ist die praktische Notwendigkeit einer möglichen Handlung als Mittel, zu etwas anderem, was man will, zu gelangen („hypothetischer Imperativ“). Der zweite ist, daß die Handlung für sich selbst, ohne Beziehung auf einen anderen Zweck, als objektiv notwendig, als gut, vorgestellt wird („kategorischer Imperativ“).58 Deutlich ist nach dem Gesagten zunächst, daß der einzelne sich subjektive Zwecke setzen und in Verfolgung dieser Zwecke handeln kann. In der Bestimmung dieser subjektiven Ziele ist jeder zunächst frei59 – er kann 54
I. Kant, GMdS, BA 101. Vgl. I. Kant, GMdS, BA 37. „Das Vernünftige (. . .) ist der Maßstab und das Vermögen des Ich, das Vorfindliche zu ordnen und zu ändern, (. . .)“ E. A. Wolff, „Das neuere Verständnis von Generalprävention und seine Tauglichkeit für eine Antwort auf Kriminalität“, a. a. O. (Fn. 46), S. 805. 56 I. Kant, GMdS, BA 37. 57 I. Kant, GMdS, BA 38. 58 I. Kant, GMdS, BA 39. 59 „Nun kann ich zwar zu Handlungen, die als Mittel auf einen Zweck gerichtet sind, nie aber e i n e n Z w e c k z u h a b e n von anderen gezwungen werden, sondern ich kann nur selbst m i r etwas zum Zweck m a c h e n.“ I. Kant, MdS, Einlei55
A. Die Freiheit des Subjekts als Fundament jeder Rechtsbegründung
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handeln, um seine besonderen, konkreten Bedürfnisse zu stillen oder er kann handeln, weil er glaubt, dies werde ganz allgemein seine Glückseligkeit befördern60. Ebenso fest steht aber, daß diese Setzung von Zwecken zwar für den einzelnen Gültigkeit haben, als allgemeines Handlungsprinzip, also als eines, das gutes Handeln schlechthin beschreibt, jedoch nicht taugen kann. Denn der einzelne steht in einem besonderen Lebenszusammenhang, das Erreichen des subjektiven Ziels der Bedürfnisbefriedigung oder der Glückseligkeit ist abhängig von der jeweiligen Situation und Verfassung des Menschen.61 Das bedeutet, daß die Sollensnorm, die das Erreichen eines solchen Zwecks zum Inhalt hat, nur eine bedingte, eben auf das Subjekt beschränkte Gültigkeit hat.62 tung zur Tugendlehre I, A 4, 5 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 381). Hier meint „frei zur Setzung der eigenen Zwecke“ also zunächst die Freiheit von äußerem Zwang: Das Ziel, um dessen Erreichung willen es zu handeln gilt, kann dem Subjekt nicht aufgezwungen werden, es kann lediglich zum Handeln selbst gezwungen werden. 60 „Es ist (. . .) ein Zweck, den man bei allen vernünftigen Wesen (sofern Imperative auf sie, nämlich als abhängige Wesen, auf sie passen) als wirklich voraussetzen kann, und also eine Absicht, die sie nicht etwa bloß haben k ö n n e n , sondern von der man sicher voraussetzen kann, daß sie solche insgesamt nach einer Naturnotwendigkeit h a b e n , und das ist die Absicht auf G l ü c k s e l i g k e i t.“ I. Kant, GMdS, BA 42, vgl. auch KpV, § 3 Lehrsatz II, Anmerkung II, A 45, 46). 61 Vgl. M. Köhler, Der Begriff der Strafe (1986), S. 23. 62 Vgl. I. Kant, KpV, § 8 Lehrsatz IV, Anm. I: „Alle Materie praktischer Regeln beruht immer auf subjektiven Bedingungen, die ihr keine Allgemeinheit für vernünftige Wesen, als lediglich die bedingte (im Falle ich dieses oder jenes b e g e h r e , was ich alsdenn tun müsse, um es wirklich zu machen) verschaffen, und sie drehen sich insgesamt um das Prinzip d e r e i g e n e n G l ü c k s e l i g k e i t . Nun ist freilich unleugbar, daß alles Wollen auch einen Gegenstand, mithin eine Materie haben müsse; aber diese ist darum nicht eben der Bestimmungsgrund und Bedingung der Maxime; denn, ist sie es, so läßt diese sich nicht in allgemein gesetzgebender Form darstellen, weil die Erwartung der Existenz des Gegenstandes alsdenn die bestimmende Ursache der Willkür sein würde, und die Abhängigkeit des Begehrungsvermögens von der Existenz irgend einer Sache dem Wollen zum Grunde gelegt werden müßte, welche immer nur in empirischen Bedingungen gesucht werden, und daher niemals den Grund zu einer notwendigen und allgemeinen Regel abgeben kann.“ (A 59, 60); vgl. auch Anm. II, A 64. Siehe dazu auch F. Kaulbach, Immanuel Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ (1988), S. 53: „Das Gute unterscheidet sich vom Angenehmen in folgenden Hinsichten: Es gilt für alle vernünftigen Wesen, während das letztere nur relativ auf den besonderen Sinnengeschmack jedes einzelnen wertvoll ist. Damit hängt zusammen, daß das Gute der Inhalt eines subjektiven Sollens ist, während das Angenehme vom Subjekt nur subjektiv gewünscht wird. Weiterhin muß der Wille zur Erfüllung des Sollens genötigt werden, während er als menschlicher Wille von sich aus das Wünschbare, Angenehme sucht. Schließlich wird das Gute vom eigentlichen Selbst verbindlich gemacht, während das Angenehme nur für das ‚uneigentliche‘ Selbst, das Naturwesen in mir wertvoll ist: Es gehört nicht dem Gesetz der Freiheit, sondern der Natur an.“
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1. Teil: Freiheitliche Strafbegründung im Staat
Köhler formuliert die Konsequenz aus dieser Einsicht so: „Daraus folgt, was für alle ferneren Bestimmungen auch des Rechts und des Strafrechts festzuhalten von größter Wichtigkeit ist: In irgendwelchen Glückseligkeits-/ Nutzenzwecken für sich selbst oder für andere kann per se eine als objektiv gut begründbare Verhaltensgesetzlichkeit nicht bestehen. (. . .) Vernunftnotwendige absolute, objektive Gültigkeit und Güte, welche sich auch gegen die Willkür des einzelnen durchzusetzen beanspruchen könnten, kommen ihnen nicht zu.“63 64 Wird also nach einem allgemeingültigen Prinzip guten Handelns gesucht, muß auf die zweite Kategorie von Sollenssätzen (dem kategorischen = unbedingten) zurückgegriffen werden. Der kategorische Imperativ stellt eine Handlungsregel auf, die angibt, wann eine Handlung als gut schlechthin angesehen werden kann, „mithin als notwendig in einem an sich der Vernunft gemäßen Willen, als Prinzip desselben“65. Vernunftnotwendigkeit weist sich als Resultat eines Denkprozesses aus, der darauf gerichtet ist, das Gute in einer Handlungsmaxime zu formulieren, also den Geltungsgrund eines Verhaltensprinzips festzustellen. In den Worten Kants ist das Prinzip guten Handelns definiert als „(diejenige) M a x i m e , d u r c h d i e d u z u g l e i c h w o l l e n k a n n s t , d a ß s i e e i n a l l g e m e i n e s G e s e t z w e r d e “ .66 Wesentlich an dieser Regel ist neben ihrer Aussagekraft als Kriterium guten Handelns, daß sie das Gute durch den vernünftigen Denkprozeß selbst zu bestimmen vermag, nämlich durch den Prozeß schließenden Prüfens des subjektiven Handlungsgrundsatzes auf widerspruchslose Verallgemeinerbarkeit.67 Dadurch ist die objektive Gültigkeit eines so aufgestellten Prinzips durch die Einsicht eines jeden einzelnen, vernünftigen Subjekts überprüfbar. Das Gute ist also nicht ein von außen als solches Definiertes, sondern ein durch die Denkbewegung des einzelnen selbst Hervorgebrachtes. Diese Art der Bestimmung des Guten schließt es aus, ein spezifisches materielles „Gut“ allgemeingültig festzulegen – sie kann nur die Formel liefern, nach der der Wille zum Guten bestimmt wird. 63
M. Köhler, Der Begriff der Strafe (1986), S. 24 (Fn. weggelassen). Übertragen auf das Problem der Strafbegründung heißt das, daß die Richtigkeit des Strafhandelns, wie auch anderen Handelns, nicht, jedenfalls nicht absolut, daran gemessen werden kann, ob es tauglich ist, einen bestimmten Zweck zu erfüllen. Denn auch dabei muß die Setzung des Zwecks (etwa andere abzuschrecken oder den Täter zu bessern) als schon gegeben betrachtet werden, um zu einer Aussage über die Eignung der Handlung zur Erreichung dieses Zwecks zu gelangen. Die Zwecksetzung selbst ist dagegen mit dieser Methode nicht zu überprüfen. 65 I. Kant, GMdS, BA 40. 66 Erste Formulierung des kategorischen Imperativs, I. Kant, GMdS, BA 52. 67 Vgl. M. Köhler, Der Begriff der Strafe (1986), S. 24. 64
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Mitangelegt ist in diesem Prinzip aber über die Selbstverständigung in bezug auf das gute Handeln hinaus eine Beziehung zu den anderen vernünftigen Wesen, die das denkende Subjekt umgeben. Teil der Bestimmung ist ja gerade, über sich selbst hinaus die Vernunft der anderen als Voraussetzung und Regulativ der allgemeinen Handlungsregel einzubeziehen. Dies ist zunächst insofern erforderlich, als die Handlung, die durch das Prinzip bestimmt wird, ebenfalls nach außen wirkt und somit einen Einfluß auf andere haben kann. Es ist aber auch aus einer wesentlichen Grundbestimmung des Menschen, nämlich nicht allein auf der Welt zu sein68, verständlich. Aus dieser Bezüglichkeit zu anderen ergibt sich dann in der Weiterentwicklung des Gedankens auch die Notwendigkeit, sich gegenseitig als freie, selbstbestimmte Individuen anzuerkennen und letztlich auch die Besonderheit des Rechts.69 Der Prozeß der Selbstbestimmung im Handeln ist zusammenfassend als notwendige Basis weiterer Überlegungen in seinen wesentlichen Schritten folgendermaßen zu skizzieren: Die natürliche Umgebung des Menschen bietet Anlaß und Materie zu handeln. Das Subjekt befindet sich in einem bestimmten Lebensumfeld – Möglichkeiten und Schranken des Handelns sind dadurch zu einem gewissen Grad festgelegt; in dieser Hinsicht determiniert die Außenwelt das Subjekt. Der erste Einfluß auf den Selbstbestimmungsprozeß ist das naturhafte Leben, der erste Schritt das Erkennen dieser Tatsache und die Aufnahme der Einflüsse in den Reflexionsprozeß.70 Diese Erkenntnis der eigenen Naturvorgaben ist zugleich der erste Schritt ihrer Beherrschung durch den freien Willen des Subjekts. Die praktische Vernunftleistung gibt sich nicht zufrieden mit der Ordnung von Vorfindlichem sondern wirkt selbst neubegründend. Das reflektierende Subjekt kann durch die Generalisierung der aufgenommenen Maxime im Verfahren des kategorischen Imperativs zu einer praktischen Selbstorientierung finden, und es ist in der Lage, sein Dasein dieser Orientierung gemäß zu gestalten. Insofern es sich solcher Reflexionsleistung entsprechend in der Außenwelt setzt, ist es selbst Grund dieser Handlung, nicht mehr nur Teil einer natürlichen Ordnung. Im zweiten Schritt erfaßt sich das Subjekt also „in seiner Wechselwirkung zwischen Naturhaftigkeit und begründender Vernunft“71. Dafür benötigt es einen „verfestigten Haltepunkt“72 außerhalb der eigenen Person. Der 68 Vgl. I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 13, AB 83, 84 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 262): Wegen der Kugelform der Erde müssen die Menschen notwendig zu einer Gemeinschaft untereinander kommen. 69 Vgl. dazu die folgenden Gliederungspunkte B. und C. 70 E. A. Wolff nennt dies den „unteren Leistungsvollzug“, „Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen“, a. a. O. (Fn. 49), S. 169.
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1. Teil: Freiheitliche Strafbegründung im Staat
einzelne kann sich seiner selbst als Einheit von Natur und Vernunft nur bewußt werden, wenn er sich gewissermaßen von außen betrachtet. Dies erfordert eine „Verobjektivierung“ des eigenen Ichs, es muß von sich selbst abstrahieren.73 Diese Abstraktionsleistung ist nur möglich, indem es sich als anderer denkt und dessen Perspektive einnimmt. Dies setzt die Existenz anderer, ebenso konstituierter Vernunftwesen voraus und macht es notwendig, sie als konstitutionell gleichbedeutsam mit dem eigenen Ich anzuerkennen.74 Im Verfahren der Selbstbestimmung durch den kategorischen Imperativ wird also eine Beziehung zur Umwelt und zu anderen Vernunftwesen hergestellt. Das Subjekt begründet eine Veränderung der Außenwelt, setzt sich innerhalb dieser Beziehung selbst neu. Richtiges Handeln ist also prinzipiell jedem vernünftigen Wesen möglich. In der Bestimmung des Guten als Resultat eines vernünftigen Denkprozesses liegt für den Menschen allerdings auch die Gefahr, es zu verfehlen. Denn der Mensch, dessen Willen durch die Sollenssätze geleitet wird, ist als endliches (nicht göttliches) Wesen gerade nicht gleichsam „automatisch“ in Übereinstimmung mit dem objektiv Guten.75 Er muß vielmehr selbst denkend tätig werden, um seine Handlungsmaximen in Übereinstimmung mit dem einsehbaren allgemeinen Gesetz zu bilden. Nicht gut ist der zwecksetzende Wille, wenn seine Maxime nicht als verallgemeinerbar gedacht werden kann. Besteht ein solcher Widerspruch, so stellt dies zunächst einen äußeren Mangel, objektive Unrichtigkeit dar.76 Damit ist nicht schon gesagt, daß diese objektive Unrichtigkeit auf einem bewußten Entschluß des Subjekts zum „nicht guten Handeln“ beruht. Denk71
E. A. Wolff, „Das neuere Verständnis von Generalprävention und seine Tauglichkeit für eine Antwort auf Kriminalität“, a. a. O. (Fn. 46), S. 813. 72 Wolff weist an dieser Stelle auf die Leistung Fichtes hin, der erkannt hat, daß dies nur über einen Anderen erreicht werden kann. Er sei für die Konstitution des Ich Voraussetzung und bleibe auch später Stütze dafür, das absolut begründende Element des Ich zur Geltung zu bringen. E. A. Wolff, „Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen“, a. a. O. (Fn. 49), S. 169. 73 Vgl. dazu auch die Gedanken Hegels zur reinen Reflexion des Ich in sich, der absoluten Abstraktion im menschlichen Denken als erstes Element des freien Willens und der Besonderung des Ichs als zweites Element. Erst ihre Einheit macht den freien Willen aus. G. W. F. Hegel, RPh, § 5–7, S. 49 ff. 74 Vgl. dazu den Abschnitt zur Verbundenheit freier Subjekte untereinander, unten unter B. 75 I. Kant, GMdS, BA 39: „Daher gelten für den g ö t t l i c h e n und überhaupt für den h e i l i g e n Willen keine Imperativen; das S o l l e n ist hier am unrechten Orte, weil das W o l l e n schon von selbst mit dem Gesetz notwendig einstimmig ist. Daher sind Imperativen nur Formeln, das Verhältnis objektiver Gesetze des Wollens überhaupt zu der subjektiven Unvollkommenheit des Willens dieses oder jenes vernünftigen Wesens, z. B. des menschlichen Willens, auszudrücken.“ 76 So M. Köhler, Die bewußte Fahrlässigkeit (1982), S. 255.
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bar ist zum Beispiel, daß sich das Subjekt irrt und daraufhin einen Handlungsgrundsatz aufstellt, der dann schon durch seine Vorgaben die Unvereinbarkeit mit dem allgemeinen Gesetz in sich trägt. In diesem Fall liegt zwar objektiv Unrichtigkeit vor, dies ist dem Subjekt aber nicht klar. Um von einer Fehlleistung des Subjekts bei seiner Maximenbildung sprechen zu können77, muß zu dieser objektiv feststellbaren Widersprüchlichkeit hinzukommen, daß die Verfehlung eine selbstbegründete ist.78 Dies ergibt sich aus der Grundbestimmung der positiven Freiheit des Subjekts als inhaltliche Selbstbestimmung: Die menschliche Autonomie erlaubt es, die richtige Einsicht in der Willensbildung entweder zu vollziehen oder eben nicht. Begründet der einzelne bewußt einen Selbstwiderspruch, d.h. setzt er sich als Ergebnis eines Reflexionsprozesses als grundsätzlich Vernünftiger doch in Widerspruch zu dem als richtig Erkannten, handelt konkret unvernünftig, so ist er selbst Grund für den Fehlschluß.79 Dabei kann die Motivation für diesen Fehlschluß durchaus von außen kommen; sinnlich-natürliche Antriebe sind eben Teil der menschlichen Natur, sie haben in ihrer Wucht häufig die Macht, den einzelnen zu überwältigen: Er fühlt sich getrieben, er gibt einem Verlangen trotz besseren Wissens nach, er hält einen Anreiz für unübergehbar, er täuscht sich selbst, rechtfertigt scheinbar sein Verhalten oder legt sich eine Ausnahme zum Grundsatz zurecht.80 Allerdings ist nach dem Gesagten ausgeschlossen, daß der Mensch allein durch diese Art von Einflüssen bestimmt ist, er ist ihnen gerade nicht ausgeliefert sondern trägt in sich die Kapazität zu ihrer Überwindung. Die prinzipielle Einsichtsfähigkeit in das Gute ist also durch die Tatsache, daß es Fehlschlüsse gibt, nicht tangiert. Das Subjekt kann sich aber in einen bewußten (oder zumindest in einen bewußt-werdbaren) Wider77
Und damit von einem Anknüpfungspunkt für das Strafrecht. Vgl. M. Köhler, Die bewußte Fahrlässigkeit (1982), S. 255. 79 Für diesen Grundgedanken siehe M. Köhler, Der Begriff der Strafe (1986), S. 26 ff. und ders., Die bewußte Fahrlässigkeit (1982), S. 255–259. 80 Vgl. auch E. A. Wolff, „Die Grenzen des dolus eventualis und der willentlichen Verletzung“, a. a. O. (Fn. 47), S. 197 (216): „Auch der Vernünftige kann unvernünftig handeln; er muß sich dann aber selbst mit fingierten allgemeinen Gegengrundsätzen belügen oder das Erkannte übertönen.“ Siehe auch I. Kant, GMdS, BA 57, 58: „Wenn wir nun auf uns selbst bei jeder Übertretung einer Pflicht Acht haben, so finden wir, daß wir wirklich nicht wollen, es solle unsere Maxime ein allgemeines Gesetz werden, denn das ist uns unmöglich, sondern das Gegenteil derselben soll vielmehr allgemein ein Gesetz bleiben; nur nehmen wir uns die Freiheit, für uns, oder (auch nur für diesesmal) zum Vorteil unserer Neigung, davon eine A u s n a h m e zu machen. Folglich, wenn wir alles aus einem und demselben Gesichtspunkte, nämlich der Vernunft, erwögen, so würden wir einen Widerspruch in unserem eigenen Willen antreffen, nämlich, daß ein gewisses Prinzip objektiv als allgemeines Gesetz notwendig sei und doch subjektiv nicht allgemein gelten, sondern Ausnahmen verstatten sollte.“ 78
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spruch zum allgemeingültigen Gesetz setzen81 – und damit, weil dieses über die Vernunftleistung auch gerade dieses Subjekts bestimmt wird, in einen Selbstwiderspruch. Diese Bestimmung der bewußten Verfehlung des Guten auf der subjektiven Ebene (des Gewissens82) als auf Selbstbestimmung beruhender Selbstwiderspruch entwickelt nun eine Eigendynamik, wenn es darum geht festzustellen, wie auf ein solches Fehlurteil zu reagieren ist (primär durch das Subjekt selbst, in einem weiteren, inter-subjektiven Zusammenhang dann aber auch durch andere): Der Widerspruch zum Guten tritt durch eine Handlung nach außen, hat also Wirklichkeit, Existenz. Er ist „in der Welt“ und erhebt deshalb, weil er das Resultat eines selbstbestimmten, vernünftigen Entschlusses ist, Anspruch darauf, ernst genommen zu werden. Ernst nehmen kann man aber nur eine Behauptung mit Geltungsanspruch, d. h. eine Handlung, die, weil sie von einem Vernünftigen stammt, auch als vernünftig gelten soll. Da die ihr zugrundeliegende Maxime aber nicht als allgemeingültig gewollt sein kann, erhebt die nach außen tretende Verwirklichung dieser Maxime den Anspruch auf Vernunft-Anerkennung zu unrecht: Sie stammt zwar von einem Vernunftsubjekt, dessen Handlung aber gerade auf einer unvernünftigen Maxime beruht. Die Handlung hat nach außen wegen ihrer Herkunft vom prinzipiell vernunftbegabten Subjekt den Anschein der Verallgemeinerbarkeit, ihrem Inhalte nach ist diese aber gerade nicht gegeben. Die Universalisierung der unvernünftigen Maxime kann nicht gewollt sein, auch nicht vom handelnden Subjekt selbst. Dies muß der einzelne früher oder später erkennen (weil er vernünftig ist), er kann sich der Einsicht nicht auf Dauer verschließen. Es gilt also, diesen Widerspruch, die Behauptung einer Allgemeingültigkeit einer nicht verallgemeinerbaren Maxime, aufzulösen.83 81 Vgl. auch G. W. F. Hegel, RPh, § 139, S. 260, 261: „Das Selbstbewußtsein (. . .) ist ebensosehr die Möglichkeit, das an und für sich Allgemeine, als die Willkür, die eigene Besonderheit über das Allgemeine zum Prinzipe zu machen und sie durch Handeln zu realisieren – böse zu sein.“ 82 Vgl. G. W. F. Hegel, RPh, § 137, S. 255: „(. . .) Das Gewissen drückt die absolute Berechtigung des subjektiven Selbstbewußtseins aus, nämlich in sich und aus sich selbst zu wissen, was Recht und Pflicht ist, und nichts anzuerkennen, als was es so als das Gute weiß, zugleich in der Behauptung, daß, was es so weiß und will, in Wahrheit Recht und Pflicht ist.“ Vgl. auch § 136, S. 254. 83 Dieser Gedankengang ist für die Ebene des abstrakten Rechts bei G. W. F. Hegel im § 97 seiner RPh vorschattiert: „Die geschehene Verletzung des Rechts als Rechts ist zwar eine positive, äußerliche Existenz, die aber in sich nichtig ist. Die Manifestation dieser ihrer Nichtigkeit ist die ebenso in die Existenz tretende Vernichtung jener Verletzung – die Wirklichkeit des Rechts, als seine sich mit sich durch Aufhebung seiner Verletzung vermittelnde Notwendigkeit.“ Für die morali-
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Die Notwendigkeit der Aufhebung des Selbstwiderspruchs ergibt sich damit als schlüssige Konsequenz aus der Bestimmung des Subjekts als vernunftbegabtes, einsichtsfähiges, selbstbestimmtes Wesen. In der unumgänglichen Qualifizierung des einzelnen als positiv-frei ist damit schon der Grund gelegt für den Umgang mit konkret unvernünftigem Verhalten. Das Subjekt muß, sobald es realisiert hat, daß es seine konkret unvernünftige Maxime nicht als allgemeingültig (und damit eben auch nicht für sich selbst gültig) wollen kann, den Schein ihrer Geltungsallgemeinheit beheben und damit eine „Geltungsrestitution des immanent Guten“84 leisten. Dies setzt als ersten Schritt das Erkennen des Widerspruchs durch das einzelne Subjekt voraus: Es muß sich gedanklich selbst unter seine Maxime als allgemeingültige subsumieren und ihren Inhalt gedacht als allgemeingültiges Gesetz auf sich selbst anwenden. Damit wird in einem zweiten Schritt sozusagen der eigene Vernunftwiderspruch auch für das Subjekt selbst wirklich. Dadurch, daß das Subjekt die Konsequenzen seiner eigenen Handlungsmaxime praktisch auf sich selbst anwendet (selbst darunter leidet), hat es aber auch eine entscheidende Leistung erbracht: Es hat für sich selbst das Unrichtige erlitten und sich damit den Weg zum Richtigen wieder frei gemacht. Es hat für sich festgestellt, warum die Wiederherstellung des Guten von ihm selbst gewollt ist und damit den Grund für die Geltung des Guten für sich selbst wiederentdeckt. Damit ist beschrieben, was den moralischen Aspekt der Strafe ausmacht: Eine Eigenvermittlung des Subjekts, das sich durch eigene Vernunftleistung von seinem Fehlverhalten distanziert und durch Umkehrung des eigenen unrichtigen Handlungsgrundsatzes wieder zum vernünftigen Handeln zurückfindet, wie es auch seiner Grundbestimmung als positiv-frei entspricht. An diesem Grund ist festzuhalten, auch wenn die Komplexität des beschriebenen Zusammenhangs im Bereich der inter-subjektiven Verhältnisse noch zunimmt. Dort geht es nicht um reine Selbstvermittlung, sondern zusätzlich noch um den Umgang von Vernunftwesen miteinander. Allerdings ist nach dem bisher Ausgeführten schon deutlich, daß der Reflexionsprozeß im Subjekt ohnehin nicht gleichsam fernab der Welt stattfinden kann, denn sowohl in der Selbsterkenntnis als Vernunftsubjekt als auch in der damit zusammenhängenden Grundbestimmung des guten Handelns liegen schon Elemente des Bezuges zu anderen Subjekten: Der beschriebene Denkprozeß ist angewiesen auf die Kategorie der Allgemeinheit, der Allgemeingültigkeit. Im kategorischen Imperativ ist damit ein Verhältnis zu anderen vernünftigen Wesen enthalten, und zwar eines, das die anderen ihrerseits als sche Ebene der subjektiven Selbstvermittlung hat M. Köhler diesen Gedankengang in seiner vollen Komplexität erarbeitet (Der Begriff der Strafe (1986), S. 30–33). 84 M. Köhler, Der Begriff der Strafe (1986), S. 34.
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selbstbewußte Wesen versteht und – wegen dieser prinzipiellen Gleichartigkeit – sie als solche anerkennt.85 Das Vernunfturteil des einzelnen wird „immer schon mit Rücksicht auf die anderen gebildet und zwar so, daß der einzelne sich als einer unter anderen in einer wechselseitige Freiheit ermöglichenden Weise einrichtet oder – auch selbst Grund des Versagens – nicht einrichtet.“86 Auf diesen notwendigen Zusammenhang zwischen der eigenen Vernunftleistung und der Anerkennung anderer als gleichfalls zu dieser Vernunftleistung befähigt wird im folgenden noch näher einzugehen sein. Zusammenfassung Es bleibt zunächst festzustellen, daß eine Begründung der Institution Strafe nicht an den Grundeigenschaften menschlichen Handelns vorbeigehen kann, denn es geht eben gerade darum, ein solches Handeln zu beurteilen und darauf zu reagieren. Die Freiheit des einzelnen erlaubt es, ihn als Grund seiner Handlungen zu verstehen, denn selbstbestimmtes Handeln ist die äußere Seite dieser Freiheit. Die Vernunft als Bestimmungsgrund des Handelns ist geleitet durch selbst gesetzte Sollensvorschriften, der Kern des Sollens liegt im Subjekt selbst. Neben der Fähigkeit, gesetzten Zwecken entsprechend zu handeln, hat das Subjekt auch die Fähigkeit, Zwecke inhaltlich selbst zu gestalten, sich das Gute zu erschließen und sich daran zu orientieren – durch eigene Leistung Handlungsprinzipen auf ihre Güte zu überprüfen und danach zu handeln. Trotz dieser Fähigkeit, kann das Subjekt aber im Einzelfall fehl gehen, es ist endlich, nicht unfehlbar. In einer Fehlleistung liegt dann eine Unstimmigkeit mit sich selbst: Einerseits ist das Gute durch eigene Leistung erkennbar, prinzipiell also Allgemeingültigkeit als Regulativ anerkannt, andererseits widerspricht die eigene Handlung diesem Prinzip und kann nur durch vorgeschobene Gründe vor sich selbst „gerechtfertigt“ werden. Will das Subjekt nicht in stetigem Selbstwiderspruch leben, muß es die eigene Fehlleistung umkehren – es muß mit sich selbst ins Reine kommen.
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Siehe auch J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre (1796), §§ 3, 4, S. 30 ff.; vgl. auch E. A. Wolff, „Das neuere Verständnis von Generalprävention und seine Tauglichkeit für eine Antwort auf Kriminalität“, a. a. O. (Fn. 46), S. 811 ff. 86 E. A. Wolff, „Die Grenzen des dolus eventualis und der willentlichen Verletzung“, a. a. O. (Fn. 47), S. 197 (215).
B. Die Verbundenheit der freien Subjekte miteinander
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B. Die Verbundenheit der freien Subjekte miteinander Begreift man die Menschen als frei im oben beschriebenen Sinne, so hat das Konsequenzen für ihr Zusammenleben in Gemeinschaft.87 Das einzelne Subjekt versteht sich selbst als vernünftig, positiv-frei, indem es im Denkprozeß die anderen Subjekte als ebenso vernünftig, positiv-frei einbezieht. Es ist also mit seiner eigenen Selbstbestimmung nicht isoliert, es erkennt sich selbst als Vernünftigen vermittelt über andere.88 Dieser Gedanke ist im kategorischen Imperativ angelegt. Er ist entscheidend für die Bestimmung des Verhältnisses von Menschen untereinander, er bildet die Basis rechtlicher Beziehungen.89 Das Verhältnis zwischen Menschen gründet demnach darauf, den jeweils anderen ebenso als Vernunftsubjekt zu begreifen wie sich selbst. Damit ist zunächst eine notwendige substantielle Gleichartigkeit der einzelnen erkannt: Es ist nach diesem Schritt nicht mehr denkmöglich, daß der eine den anderen als beliebiges Objekt seiner Willkür versteht, er ist ihm vielmehr wesensgleich, Subjekt wie er selbst.90 Dieses Verständnis hat eine weitreichende Konsequenz für jede zwischenmenschliche Beziehung: Es fordert Respekt untereinander.91 Eine weitere Bestimmung des kategorischen Imperativs wird nun ebenfalls deutlich: Im Umgang miteinander folgt aus der Beschaffenheit des jeweils anderen als Vernunftsubjekt, daß der eine zwar auf den anderen zur eigenen Selbstorientierung angewiesen ist, ihn insofern zu seinem Mittel macht, andererseits aber gleichzeitig ihm dasselbe in Bezug auf sich selbst zubilligt und ihn insofern auch als Zweck betrachtet. Das Dasein eines jeden vernünftigen Wesens hat damit einen absoluten Wert, einen Zweck an sich selbst. Dies hat Kant in einer weiteren Formulierung festgehalten: „(. . .) vernünftige Wesen stehen alle unter dem G e s e t z, daß jedes der87 Dies ist im vorliegenden Zusammenhang der Strafbegründung von Bedeutung, denn es geht dabei ja gerade um einen Extremfall menschlichen Aufeinandereinwirkens: Der eine nimmt mit seinem Strafakt für sich in Anspruch, eine legitime Begrenzung äußerer Freiheit des anderen vorzunehmen. Es geht also nicht mehr ausschließlich um den inneren Prozeß der Widerspruchsaufhebung, nicht mehr nur um die moralische Begründung der Strafe, sondern es geht letztlich um rechtlichen Strafzwang. 88 Vgl. auch E. A. Wolff, „Die Grenzen des dolus eventualis und der willentlichen Verletzung“, a. a. O. (Fn. 47), S. 197 (216). 89 Vgl. R. Zaczyk, Das Strafrecht in der Rechtslehre Fichtes (1981), S. 31. 90 Vgl. dazu auch E. A. Wolff, „Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen“ (1987), a. a. O. (Fn. 49), S. 137 (184) und R. Zaczyk, Das Strafrecht in der Rechtslehre Fichtes (1981), erstes Kapitel. 91 Vor diesem Hintergrund ist Hegels Rechtsgebot Konsequenz aus jener Basis: „Sei eine Person und respektiere die anderen als Personen“, G. W. F. Hegel, RPh, § 36, S. 95.
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selben sich selbst und alle anderen n i e m a l s b l o ß a l s M i t t e l, sondern jederzeit z u g l e i c h a l s Z w e c k a n s i c h s e l b s t behandeln solle.“92 Zu beachten ist dabei, daß diese Regel als praktische, auf das Handeln bezogene Regel Geltung hat. Es geht also nicht nur um eine bestimmte Geisteshaltung, die anderen gegenüber einzunehmen ist. Jeder soll sich selbst und alle anderen zugleich als Zweck an sich selbst behandeln; damit ist das äußere Verhalten der Subjekte untereinander angesprochen: Sie wirken auf bestimmte Weise durch ihre Handlungen auf das Dasein der anderen ein und für dieses wechselseitige Aufeinandereinwirken gilt der Grundsatz der Selbstzweckhaftigkeit eines jeden einzelnen. Das Verhältnis gegenseitiger Achtung, der wechselseitigen Anerkennung als Vernunftwesen, spielt sich also nicht gleichsam im Innenleben der einzelnen Subjekte ab. Die Personen stehen sich gerade nicht als abstrakte Wesen oder Geister gegenüber.93 Sie wirken im Gegenteil durch ihr Handeln als Äußerung ihrer Freiheit aufeinander ein – die gegenseitige Achtung als Vernunftwesen muß deshalb als Grundsatz für jede Außenweltveränderung gelten.94 Damit ist nicht nur ein Verhältnis zur gleichsam „abstrakten Allgemeinheit“ beschrieben. Es geht nicht nur um das theoretische, denknotwendige Anerkennen von vernünftigen Wesen außer mir überhaupt. Es geht um konkrete interpersonale Beziehungen, die sich herstellen, sobald ein Subjekt seine Freiheit nach außen hin betätigt und dadurch auf ein anderes Subjekt einwirkt: „Nur durch Handlungen, Aeusserungen ihrer Freiheit in der Sinnenwelt, kommen vernünftige Wesen in Wechselwirkung miteinander (. . .)“95. Diese Wechselwirkung hat nicht nur die Bedeutung, daß Individuen miteinander in Kontakt treten, sich austauschen, sich im Zusammenleben organisieren. Sie birgt auch die Gefahr des Konflikts, der Kollision von Handlungssphären. In diesem Zusammenhang erlangt das oben zu menschlichen Handlungsprinzipien Gesagte eine zusätzliche Bedeutung, hier nun für die interpersonalen Beziehungen von freien Subjekten untereinander: Die Selbstbestimmung im Handeln des einen trifft auf die Selbstbestimmung im Handeln des anderen. Beide sind als Vernunftwesen in der Lage, das Gute zu erken92 I. Kant, GMdS, BA 74, 75. Vgl. dazu F. Kaulbach, Immanuel Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ (1988), S. 73 ff. und H. Bielefeldt, Philosophie der Menschenrechte, Grundlagen eines weltweiten Freiheitsethos (1998), S. 62 ff. 93 R. Zaczyk, Das Strafrecht in der Rechtslehre Fichtes (1981), S. 15. 94 Vgl. R. Zaczyk, Das Strafrecht in der Rechtslehre Fichtes (1981), S. 29. 95 J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre (1796), § 4, Corollaria 4), S. 55.
B. Die Verbundenheit der freien Subjekte miteinander
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nen und danach zu handeln; beide wissen dies auch von ihrem jeweiligen Gegenüber. In der wechselseitigen Anerkennung dieser Beschaffenheit des anderen liegt gleichzeitig jedesmal die Bestätigung, selbst so beschaffen zu sein. Mehr noch: Das einzelne Subjekt wird sich seiner selbst, als Vernunftund Naturwesen gleichermaßen, gerade durch die Existenz des anderen bewußt96: Z. B. tritt dieser ihm gegenüber, fordert ihn auf zu handeln, reagiert seinerseits auf dieses Handeln. Durch dieses Aufeinander-Angewiesen-Sein ergibt sich zwangsläufig eine weitere Einsicht, nämlich „daß neben dem einzelnen als selbstbezügliche Einheit andere mit dem gleichen Anspruch leben und es deshalb gilt, ihre Fortexistenz in Freiheit in das je eigene Handeln zu integrieren“97. Dies bedeutet, daß es jedem möglich sein muß, in Freiheit zu leben und daß das eigene Handeln mit diesem Grundsatz in Übereinstimmung gebracht werden muß. Es ist die Leistung eines jeden einzelnen, diesem Grundsatz gemäß zu leben: Sich selbstbestimmt handelnd Wirklichkeit zu geben, immer unter Einrechnung der anderen, denen dies ebenfalls möglich sein muß. Die Freiheit des einzelnen muß zu einer freiheitlichen Gemeinschaft werden. Nun sind die Personen, die sich im Anerkennungsverhältnis gegenüberstehen, neben ihrer Eigenschaft als Vernunftwesen auch endliche Naturwesen. Beim Vollzug des praktischen Denkens kann der einzelne irren oder sich bewußt in Widerspruch zum Richtigen setzen.98 Denn es ist möglich, daß der einzelne in der Handlungssituation eine Sachlage verkennt oder daß er einen Fehlschluß zieht. Ebenso ist es nicht ausgeschlossen, daß sich der einzelne über das als richtig Erkannte hinwegsetzt und „über andere den Meister spielt“99. Aber auch wenn der einzelne sich selbst zum Richtigen bestimmt, also gemäß dem kategorischen Imperativ handelt, ist nicht ausgeschlossen, daß es dabei zu Kollisionen mit Freiheitssphären anderer, sich ebenso verhaltender Personen kommt. Denn jeder kann zunächst nur die je für sich richtige 96
Daß der Prozeß des Selbstbewußt-Werdens nicht in völliger Isolierung des Individuums von anderen erfolgen kann, ist schon im kategorischen Imperativ angelegt. Daß es aber die konkrete Aufforderung durch andere freie Personen ist, die diesen Prozeß in Gang bringt, hat erst Fichte herausgearbeitet. Vgl. J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre (1796), §§ 3 und 4, S. 30 ff. 97 R. Zaczyk, Strafrechtliches Unrecht und die Selbstverantwortung des Verletzten (1993), S. 23. 98 Siehe auch E. A. Wolff, „Das neuere Verständnis von Generalprävention und seine Tauglichkeit für eine Antwort auf Kriminalität“ a. a. O. (Fn. 46), S. 814, 815: Die Leistung des Selbstbewußtseins habe Schranken. Vgl. dazu auch die Darstellung oben unter A. 99 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 42, AB 157 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 307).
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Handlung anhand der Überprüfung auf Verallgemeinerbarkeit feststellen. Dabei fließen nach dem Verfahren des kategorischen Imperativs die jeweiligen Lebensbedingungen, die konkrete Lebenslage des einzelnen als Materie für den Prüfvorgang ein. Der Handlungsgrundsatz, den es zu überprüfen gilt, wird ja nicht abstrakt gebildet sondern hat einen unmittelbaren Bezug zu den realen Gegebenheiten – etwa die tatsächliche Verwirklichungsmöglichkeit der vorgestellten Handlung, ihre Bedingungen und Konsequenzen, Handlungsalternativen oder die Verzichtsmöglichkeit. All dies sind Umstände, die auf die Aufstellung der Handlungsmaxime Einfluß haben. Dies hat zwangsläufig Auswirkungen auf den Inhalt des aufgestellten Handlungsprinzips: Die so erreichten Urteile bleiben immer zu einem bestimmten Grad subjektiv. Hinzu kommt, daß das Handeln bezogen ist auf konkrete äußere Objekte oder sogar unmittelbar auf andere Subjekte. Das Charakteristikum des Handelns ist eben Außenweltveränderung. Da aber auch die anderen Vernunftwesen solche empirischen Elemente in ihre Selbstbestimmung aufnehmen, ist eine Widersprüchlichkeit in den Ergebnissen der Reflexion nicht prinzipiell ausgeschlossen.100 So ist es zum Beispiel möglich, daß Kollisionen dadurch entstehen, daß auf den selben Teil der realen Welt zugegriffen wird, etwa wenn zwei Subjekte gleichzeitig dieselbe Sache haben wollen und es keine zwingende Vernunftlösung gibt, die in die prinzipielle Gleichberechtigung der beiden eine gewisse Rangordnung bringt (beide kommen zugleich beim Bäcker an und wollen das letzte Brot haben; im Freibad streiten sich zwei Parteien um den Liegeplatz unter einem Baum; etc.). Oder zwei Subjekte schätzen bei ihrer Maximenbildung ein und dieselbe Situation unterschiedlich, aus ihrer jeweiligen Sicht durchaus nachvollziehbar, ein. Die Perspektive bleibt dann subjektiv, auch wenn die Perspektive des anderen durchaus als Regulativ in die eigene Betrachtung eingeflossen ist (etwa wenn ein Arzt eine rettende Bluttransfusion beim Patienten in der Erwartung vornimmt, daß dieser sein Leben erhalten will, aber nicht mit dem besonderen Glauben des Patienten rechnet, der eine solche Transfusion verbietet). Aus der vernünftigen Einsicht, zusammen in Freiheit leben zu wollen, und den beschriebenen Schwierigkeiten in der Umsetzung dieser Einsicht, bedingt durch die Endlichkeit des Menschen (er kann bewußt fehlgehen 100 Auch E. A. Wolff, „Das neuere Verständnis von Generalprävention und seine Tauglichkeit für eine Antwort auf Kriminalität“ a. a. O. (Fn. 46), S. 815; vgl. auch ders., „Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen (1987), a. a. O. (Fn. 49), S. 137 (185); vgl. dazu auch R. Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat (1989), S. 152: Für die Frage, ob das Recht verzichtbar wäre, verhielten sich nur alle moralisch, sei zu bedenken, daß eine solche Auffassung die „Möglichkeit einer ausschließlich subjektiv geleisteten Weise des Umgangs mit Anderen (überschätze) und dabei die Bedeutung von deren Selbst-Sein (unterschätze)“.
C. Der rechtliche Zusammenhang
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oder irren, er kann aber auch sein Bestes tun und trotzdem in Kollision mit anderen geraten), ergibt sich nun eine besondere Notwendigkeit: Ein Leben in Freiheit muß auch wirklich für alle real möglich gemacht werden, es muß ein Weg gefunden werden, wie jeder ein selbstbestimmtes Leben führen kann, ohne den anderen daran zu hindern, dies seinerseits zu tun.101 Dafür genügt es nach dem Gesagten nicht, sich darauf zu verlassen, daß alle selbstbestimmt richtig handeln. Vielmehr muß auf der Basis der Selbstbestimmung ein zusätzlicher Schritt erfolgen: Das Zusammenleben muß freiheitlich organisiert werden, eine rechtliche Gemeinschaft muß geschaffen werden.102 Wie die Grundsätze einer solchen Rechtsgemeinschaft zu bestimmen sind, wird im folgenden näher untersucht werden. Zusammenfassung Die Miteinbeziehung anderer, ebenfalls vernünftiger Wesen in den Prozeß der Selbstbestimmung ist notwendig und damit verbunden ist die Erkenntnis der Gleichbedeutsamkeit aller Vernunftwesen. Die Folge aus dieser Erkenntnis ist ein Anerkennungsverhältnis untereinander, welches nicht bloß gedanklich sondern gerade durch menschliches Handeln in der Außenwelt Gestalt annimmt. Über die abstrakte Anerkennung von Vernunftwesen „außer mir“ überhaupt führt dies auch zu einem konkreten Anerkennungsverhältnis im direkten menschlichen Kontakt. Die Bedeutsamkeit des konkreten Gegenübers als Vernunftwesen ist der Grund für die Notwendigkeit, diesem – wie mir selbst – ein selbstbestimmtes Leben real möglich zu machen. Die Basis für eine die freiheitliche Koexistenz garantierenden Gemeinschaft ist nunmehr gedanklich gelegt.
C. Der rechtliche Zusammenhang Angesichts der eingangs gestellten Aufgabe, staatliche Strafe als Rechtsinstitut zu begründen, ist die Stelle, an der sich der Gedankengang nun befindet, von erheblicher Bedeutung. Denn die Begriffe „Recht“, „Staat“ und „Strafe“ können erst jetzt, auf der herausgearbeiteten Basis der Freiheit der Person aufbauend, in einen Zusammenhang gebracht werden. Dies allerdings kann nicht ohne vermittelnde Schritte erfolgen. Das beschriebene interpersonale Verhältnis, das grundlegend auf der Freiheit der einzelnen Personen beruht, ist die Basis für jede rechtliche Bezie101
Vgl. G. Luf, Freiheit und Gleichheit (1978), S. 47. Vgl. I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 44, A 163, 164/B 193, 194 (AkademieAusg. Band VI, S. 312). 102
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1. Teil: Freiheitliche Strafbegründung im Staat
hung.103 Die Fähigkeit zur Selbstbestimmung durch den kategorischen Imperativ und die Erkenntnis, daß dies die Vernunftwesen miteinander verbindet, schafft eine Grundlage für eine Vertrauensbeziehung, die sich für das Recht ausbauen läßt. Auch ist durch die gedankliche Einbeziehung mehrerer Personen in die Betrachtung schon ein Vorgriff auf den Bereich des Rechts erfolgt: Es geht nicht mehr nur um „Selbstbestimmung meiner selbst als moralisches Wesen“104, sondern um eine zwischenmenschliche Beziehung. Und auch mit der Feststellung, daß es um ein Anerkennen durch Handeln geht, ist der für das Recht relevante Bereich „äußerer Handlungen mit interpersonaler Relevanz“105 schon angesprochen. Entscheidend aber für den vorliegenden Zusammenhang ist, daß das Recht nicht als eine beliebige Form der Ordnungsschaffung eingeführt wurde, sondern als ein sich zwangsläufig aus menschlicher Autonomie ergebendes allgemeines Prinzip: Die einzelnen können die Existenz der jeweils anderen zwar allgemein in ihr Handeln einbeziehen, nicht aber in jeder konkreten Situation auch deren Perspektive einnehmen und so jede Überschneidung von freiheitlichem Wirken in der gemeinsamen Wirklichkeit vermeiden. So haben ihre Handlungen einerseits interpersonale Relevanz, andererseits kann der jedem zur Verfügung stehende kategorische Imperativ aber nicht zu einer verbindlichen Festlegung eigener Kompetenz im Verhältnis zum anderen herangezogen werden. Dieses Vakuum in der Bestimmbarkeit von Verhaltensregeln gilt es durch das Recht zu füllen.106 Diese Herleitung hat Auswirkungen sowohl für den Inhalt des Rechts als auch für die Form seines Zustandekommens als positive Gesetze. Inhaltlich muß sich die Selbstbestimmung des einzelnen, seine Freiheit, als Basis aufweisen lassen: Recht muß aus der Autonomie des einzelnen begründbar sein, wenn es als allgemeines Prinzip Geltung beanspruchen soll. Hinsicht103
Vgl. zu einem Rechtsbegriff aus Freiheit allgemein W. Bartuschat, „Zur Kantischen Begründung der Trias ‚Freiheit, Gleichheit, Selbständigkeit‘ innerhalb der Rechtslehre“ in: G. Landwehr (Hrsg.), Freiheit, Gleichheit, Selbständigkeit (1999), S. 11 ff.; G. Luf, Freiheit und Gleichheit (1978), insbes. S. 47 ff.; W. Schild, „Die Menschenrechte als Sinnräume der Freiheit und ihre Sicherung im Recht“ in: J. Schwartländer (Hrsg.), Modernes Freiheitsethos und christlicher Glaube (1981), S. 246 ff. 104 R. Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat (1989), S. 147. 105 R. Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat (1989), S. 147; vgl. dazu auch Kants erste Umgrenzung des Rechtsbegriffs in der Metaphysik der Sitten (Rechtslehre): „Der Begriff des Rechts, sofern er sich auf eine ihm korrespondierende Verbindlichkeit bezieht (d. i. der moralische Begriff desselben), betrifft e r s t l i c h nur das äußere und zwar praktische Verhältnis einer Person gegen eine andere, sofern ihre Handlungen als Fakta aufeinander (unmittelbar oder mittelbar) Einfluß haben können.“ (MdS, Rechtslehre, Einleitung, § B, AB 32 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 230)). 106 Vgl. dazu R. Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat (1989), S. 149.
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lich der Form des Zustandekommens ist eines schon nach dem bisher Gesagten deutlich: Es ist nicht möglich, daß ein einzelner verbindliche Aussagen zum Zusammenleben aller macht; es ist dem Prinzip wechselseitiger Freiheit immanent, daß solche Feststellungen nur gemeinsam, d. h. unter Einschaltung aller Betroffenen, getroffen werden können. Dabei ist von Bedeutung, daß die einzelnen das Vermögen haben, sich selbst zum Guten zu bestimmen. In der Einbeziehung aller anderen, ebenso befähigten Individuen, können dann überindividuelle Regelungen getroffen werden, die diese Selbstbestimmungsbefähigung der einzelnen als Grund mitumfassen. Neben diesen beiden Konsequenzen für die Begründung von Recht ist noch ein dritter Punkt aus den vorangegangenen Überlegungen abzuleiten. Wenn das interpersonale Verhältnis nach den bisherigen Grundaussagen legitimerweise durch Recht allgemeinverbindlich gestaltet werden darf, muß das Recht auch eine äußere Verfestigung erhalten. Denn es geht ja gerade darum, im äußeren Miteinander aufgrund des selbstgesetzten Regelwerks zurecht zu kommen – jeder einzelne muß sich daher auf die Geltung dieser Regeln verlassen können. Dafür genügt aber nicht eine nur innerliche Übereinstimmung zwischen den Betroffenen, die in Konfliktlagen wiederum nur subjektive Aussagen möglich machen würde. Es bedarf vielmehr einer nach außen erkennbaren Kodifizierung des Vereinbarten und auch der Möglichkeit, der Regelung in der Wirklichkeit Geltung zu verschaffen. Soll ein Leben in einer freiheitlich organisierten Gemeinschaft möglich sein, so erfordert dies neben einem Zusammenschluß aller Betroffenen zur Rechtsbegründung auch Institutionen, die dieser Rechtsbegründung Wirklichkeit geben. Damit ist in der Sache der staatliche Zusammenhang angesprochen.107 Im folgenden soll auf diese drei Aspekte des Rechts – seiner inhaltlichen Ausgestaltung, seinem Zustandekommen und seiner Garantie – näher eingegangen werden. Dies geschieht nicht nur wegen der unmittelbaren Bedeutung für die Strafbegründung im Staat (die sich erst aus dem Verständnis einer freiheitlichen Rechtsgemeinschaft ergeben kann), sondern auch schon 107 Vgl. dazu M. Köhlers vorläufige Bestimmung des Rechts: „Das Recht reguliert (. . .) zunächst eine wechselseitige Abgrenzung äußerer Handlungsfreiheitssphären, gesichert durch eine von den Einzelwillküren unabhängige Regelungs- und Zwangsorganisation (Staat), notwendig, weil die Einzelnen als Bedürfnis- und Willkürsubjekte nicht in einer prästabilisierten Harmonie miteinander leben, sondern vielmehr in der unendlichen Möglichkeit der Kollision stehen.“ Eine solche Beschreibung von Recht und Staat leistet allerdings noch keine inhaltliche Beurteilung einer so entstehenden Ordnung, denn das Kriterium für eine Bewertung bleibt bei einer solchen äußeren Betrachtung unbenannt, – auch eine Gewaltherrschaft ließe sich unter diese Definition subsumieren. Aus diesem Grund muß ein Bezug zur Autonomie des einzelnen Subjekts hergestellt werden: Nach dem Gesagten ist der Grund aller rechtlicher Verhältnisse dort zu suchen. Vgl. dazu M. Köhler, Über den Zusammenhang von Strafrechtsbegründung und Strafzumessung (1983), S. 34, 35.
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im Hinblick auf den überstaatlichen Zusammenhang, in dem sich neuerdings Strafe auch abspielt. Es ist nämlich eine entscheidende Frage, ob für eine freiheitliche Strafrechtsbegründung eine zugrundeliegende, verfaßte und nach Rechtsprinzipien organisierte Gemeinschaft notwendige Vorbedingung ist.108 Wenn dies zu bejahen ist, hat das unmittelbare Konsequenzen für eine Strafbegründung auf internationaler Ebene, wo eine solche verfaßte Gemeinschaft dann ebenfalls begründet werden müßte.
I. Inhaltlich-materielle Bestimmung des Rechts nach Kant Beim Recht geht es um die äußere Beziehung freier Vernunftsubjekte zueinander, um die Regelung ihrer Verhältnisse in der Außenwelt.109 Eine solche Regelung muß, nachdem die Freiheit der Person als Basis anerkannt ist, die „selbständige Bewältigung des Daseins im äußeren Verhältnis der Gleichbedeutsamkeit zum anderen ermöglichen“110. Dieses Rechtsverständnis ist unmittelbare Folge des oben bestimmten Anerkennungsverhältnisses unter Vernunftwesen. Diese bedürfen als freie Individuen, grundsätzlich fähig zu praktischer Selbstorientierung, keiner Macht, die sie erst von außen auf den „richtigen Weg“ bringt, wohl aber einer ihre individuelle Perspektive übersteigenden Gestaltungsobjektivität, um das friedliche Zusammenleben zu organisieren. Dies bedeutet aber 108
So z. B. W. Schild, „Die staatliche Strafmaßnahme als Symbol der Strafwürdigkeit“ in: R. Zaczyk/M. Köhler/M. Kahlo (Hrsg.), Festschrift für E. A. Wolff (1998), S. 429 (431): „So kann es also nur ein Strafrecht im Staatsverband geben, (. . .)“; ders., „Ende und Zukunft des Strafrechts“, ARSP (70) 1984, S. 71 (79, 80): „Strafrecht gibt es nur im bürgerlichen Zustand, im Staat (. . .), und nur als öffentliches Recht, d.h. als Summe von Gesetzen, ‚die einer allgemeinen Bekanntmachung bedürfen, um einen rechtlichen Zustand hervorzubringen‘.“ (vgl. auch Seiten 81, 82); ders., Anmerkungen zur Straf- und Verbrechensphilosophie Immanuel Kants“ in: M. Heinze/J. Schmitt (Hrsg.), Festschrift für Wolfgang Gitter zum 65. Geburtstag (1995), S. 831 (836, 837). Siehe ferner E. A. Wolff, „Das neuere Verständnis von Generalprävention und seine Tauglichkeit für eine Antwort auf Kriminalität“ ZStW 97 (1985), S. 786 (825, Fn. 85), R. Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat (1989), S. 187, 188; ders., „Staat und Strafe – Bemerkungen zum sogenannten ‚Inselbeispiel‘ in Kants Metaphysik der Sitten“, a. a. O. (Fn. 40), S. 73 (84); O. Höffe, „Kants Begründung des Rechtszwangs und der Kriminalstrafe“ in: R. Brandt (Hrsg.), Rechtsphilosophie der Aufklärung (1982), S. 335 (357 ff.); H. Oberer, „Über einige Begründungsaspekte der Kantischen Strafrechtslehre“ in: R. Brandt (Hrsg.), Rechtsphilosophie der Aufklärung (1982), S. 399 (407, 408); vgl. aber auch M. Köhler, Der Begriff der Strafe (1986), S. 47, 48 (Fn. 66). 109 Vgl. schon oben Fn. 105. 110 E. A. Wolff, „Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen“ (1987), a. a. O. (Fn. 49), S. 137 (198).
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auch, daß das Recht nicht gleichsam auf die einzelnen wartet, sie sich ihm nur noch fügen müssen und damit eine freiheitliche Rechtsordnung schon geschaffen wäre. Ein freiheitliches Miteinander ist vielmehr angewiesen auf die Leistung eines jeden einzelnen, der – unabtrennbar von seiner Grundbestimmung als selbstbestimmt – nun auch in der Verantwortung steht, wenn es um die Bewältigung eines gemeinschaftlichen Daseins geht. Die zusätzliche Dimension der Gemeinschaftlichkeit hebt die Autonomie des einzelnen nicht auf, er bleibt zur Selbstorientierung im Verfahren des kategorischen Imperativs befähigt. Um aber ein freiheitliches Dasein für alle verwirklichen zu können, muß die Kraft, die in der Autonomie liegt, gebündelt und für den weiteren Zusammenhang der Gemeinschaft fruchtbar gemacht werden. Das Prinzip, das schon auf moralischer Ebene die Bestimmung des (unbedingt) richtigen Handelns leitete, muß nun auch Richtschnur für die Bestimmung von Regelungen mit allgemeiner Geltung für die Gemeinschaft sein.111 Dies ist nun nicht so zu verstehen, daß nunmehr das moralisch Richtige unvermittelt auch zum rechtlich Richtigen wird. Denn nach dem Gesagten liegt der Grund für die Notwendigkeit des Rechts darin, daß die einzelnen selbst bei moralisch-praktischem Verhalten nach dem kategorischen Imperativ ihre eigene, beschränkte Perspektive nie völlig verlieren. Allgemeinverbindlichkeit ist deshalb durch den einzelnen – im Gegensatz zu moralisch richtigem Handeln – nicht begründbar. Wohl aber liegt in dem Maßstab der Verallgemeinerbarkeit ein Prüfstein, der jedem einzelnen zugänglich ist. Dies bedeutet, daß sich die – durch Zusammenschluß der Vernunft vieler Individuen geschaffenen – Rechtsnormen durch jeden einzelnen und vor jedem einzelnen nach eben diesem Maßstab als begründet aufweisen lassen können müssen.112 Die Vernunft hat hier eine eigentümliche Stellung: Sie verlangt notwendig nach einer Objektivität, die nur herstellbar ist durch das Zusammenwirken vieler einzelner Vernunftwesen, andererseits gibt sie jedem einzelnen das Mittel an die Hand, das Produkt dieser Gesamtheit zu überprüfen. Aus dieser Bestimmung lassen sich für den Inhalt des Rechts zwingende Vorgaben ableiten. So muß sich nicht nur der kategorische Imperativ in einen kategorischen Rechtsimperativ113 wandeln, es müssen auch die Implikationen bedacht werden, die sich aus einer solchen Wandlung ergeben. 111
Vgl. dazu R. Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat (1989), S. 140, 141. Kant erklärt rechtliche Freiheit als die „Befugnis, keinen äußeren Gesetzen zu gehorchen, als zu denen ich meine Beistimmung habe geben können.“ I. Kant, Zum ewigen Frieden, Erster Definitivartikel (*-Anm.), BA 21. 113 Vgl. zu diesem Begriff O. Höffe, „Der kategorische Rechtsimperativ“ in: O. Höffe (Hrsg.), Immanuel Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (1999), S. 41 ff. 112
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1. Das allgemeine Rechtsgesetz Der kategorische Imperativ als „moralisch-praktisches Gesetz“114 lautet in der Formulierung, die Kant in der Metaphysik der Sitten gibt: „Handle nach einer Maxime, welche zugleich als ein allgemeines Gesetz gelten kann!“115 Verändert sich die Fragestellung, wird statt nach einem moralisch-praktischen Gesetz nach einem allgemeinen Rechtsgesetz gefragt, so gibt Kant folgende, veränderte Bestimmung: „Handle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammenbestehen (kann).“116 Beide Formen des Imperativs sind gleichermaßen verbindlich, haben also einen nötigenden Charakter.117 Sie haben als Gesetze der Freiheit (im Unterschied zu solchen der Natur) Verbindlichkeit; Kant nennt sie moralisch – hier im Sinne eines Oberbegriffs für praktische Vernunftgesetze überhaupt.118 Die unterschiedliche Formulierung ist auch nicht so zu verstehen, daß nun die erste durch die zweite zu ersetzen wäre, sobald es um den Bereich des Rechts geht; vielmehr geht es um eine Fortentwicklung, die den Besonderheiten des Rechts Rechnung trägt. Zu diesen rechtlichen Besonderheiten gehört, daß nach Kant die Verbindlichkeit des Gesetzes als moralisches Gesetz nicht auch die Motivation der Befolgung dieses Gesetzes sein muß. Das allgemeine Rechtsgesetz ist „zwar ein Gesetz, welches mir eine Verbindlichkeit auferlegt, aber ganz und gar nicht erwartet, noch weniger fordert, daß ich ganz um dieser Verbindlichkeit willen meine Freiheit auf jene Bedingungen selbst einschränken solle; (. . .)“119. Um recht zu handeln, genügt es, daß das eigene äußere Handeln mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann. Für Aussagen über die Moralität der Handlung120 ist dage114 I. Kant, MdS, Einleitung in die MdS, IV., AB 21 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 222, 223). 115 I. Kant, MdS, Einleitung in die MdS, IV., AB 25 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 225). 116 I. Kant, MdS, Rechtslehre, Einleitung, § C, AB 34 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 231). Vgl. zu dieser Gegenüberstellung von kategorischem Imperativ und Rechtsgesetz auch S. May, Kants Theorie des Staatsrechts zwischen dem Ideal des Hobbes und dem Bürgerbund Rousseaus (2002), S. 77 ff. 117 I. Kant, MdS, Einleitung in die MdS, IV., AB 21 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 223). 118 I. Kant, MdS, Einleitung in die MdS, I., AB 6 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 214). 119 I. Kant, MdS, Rechtslehre, Einleitung, § C, AB 34 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 231) (Hervorhebungen der Verf.). 120 Der Begriff der Moralität der Handlung bezieht sich nun nicht auf die Freiheitsgesetzlichkeit als Oberbegriff, sondern auf das begriffliche Gegenstück zur „Legali-
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gen mehr als diese bloß äußere Übereinstimmung erforderlich. Die Vernunft als gesetzgebendes Vermögen muß die „Tauglichkeit der Maxime der Willkür zum allgemeinen Gesetze selbst zum obersten Gesetze und Bestimmungsgrunde der Willkür machen“121. Das ist ein wesentlicher Unterschied, der sich auch unmittelbar in den verschiedenen Formulierungen des kategorischen Imperativs spiegelt: Drückt die erste Version ein Sollen unmittelbar in Bezug auf die Maxime, die als subjektives Handlungsprinzip122 zugrunde liegt, aus („Handle nach einer Maxime, welche zugleich als ein allgemeines Gesetz gelten kann!“), ist der Bezugspunkt des Rechtsimperativs nur das äußerliche Handeln („Handle äußerlich so, daß . . .“). Dies hat zwar keine Auswirkung auf den Grad der Verbindlichkeit, wohl aber auf ihren Grund. Das Recht beschränkt sich auf Sollensvorschriften für das äußere Handeln; ob gerade um des Rechthandelns Willen eine solche Vorschrift eingehalten wird, ist eine Frage, die das Recht nicht mehr betrifft.123 Eine weitere Modifikation im Rechtsimperativ betrifft diesen Punkt mit. Kant spricht von Übereinstimmung des freien Gebrauchs deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann. Im Vergleich zur Fassung des kategorischen Imperativs als moralisches Prinzip wird hier also die Art der Handlung, die es zu beurteilen gilt, näher bestimmt. Den Begriff der Willkür definiert Kant in seiner Einleitung in die Metaphysik der Sitten. Willkür ist das „Vermögen, n a c h B e l i e b e n z u t u n o d e r z u l a s s e n “, „sofern es mit dem Bewußtsein des Vermögens seiner Handlung zur Hervorbringung des Objekts verbunden ist“124. Es geht dabei also um eine Beziehung der Vorstellung eines Subjekts zu der von ihm zu bewirkenden Außenweltsveränderung. Ist es eine verwirklichungsfähige Vorstellung, ist sich das Subjekt darüber bewußt, daß es die Wirklichkeit tatsächlich seinem Belieben nach gestalten kann, so handelt es sich nicht um einen bloßen Wunsch125 des tät“. Gemeint ist also, in der Begrifflichkeit Kants, die „ethische“ Handlung; vgl. I. Kant, MdS, Rechtslehre, Einleitung, I., AB 6 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 214). 121 I. Kant, MdS, Einleitung in die MdS, I., AB 6 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 214). 122 Vgl. I. Kant, GMdS, BA 52 (*-Anm.). 123 „Das Rechthandeln mir zur Maxime zu machen, ist eine Forderung, die die Ethik an mich tut.“ I. Kant, MdS, Rechtslehre, Einleitung, § C, AB 34 (AkademieAusg. Band VI, S. 231). Vgl. dazu auch H. Bielefeldt, Philosophie der Menschenrechte, Grundlagen eines weltweiten Freiheitsethos (1998), S. 68 ff. und F. Kaulbach, Studien zur späten Rechtsphilosophie Kants und ihrer transzendentalen Methode (1982), S. 55 ff. 124 I. Kant, MdS, Einleitung in die MdS, I., AB 5 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 213). 125 Vgl. dazu Kants Bestimmung des „Wunsches“ in der MdS, Einleitung in die MdS, I., AB 5 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 213). In der Beschreibung Höffes
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Subjekts, sondern um dessen Willkür.126 Beim Recht geht es um den Gebrauch der Willkür des einen im Verhältnis zum Gebrauch der Willkür des anderen – wie Kant auch in seinen Anmerkungen zum Begriff des Rechts feststellt.127 „Gebrauch“ ist dabei die äußere Umsetzung des Vermögens, nach Belieben zu tun oder zu lassen, also die Verwirklichung der Vorstellung in der Außenwelt. Das Attribut „frei“ bezieht sich auf diese äußere Umsetzung. Eine Außenweltsveränderung des Subjekts, die fremdbestimmt (unfrei) ist, wird damit aus dem unmittelbaren Geltungsbereich des Rechtsgesetzes ausgeklammert. Das Rechtsgesetz ist also bezüglich der Handlung, um die es geht, sehr präzise: Nur das äußerlich erfahrbare Ergebnis eines Willensbildungsprozesses wird betrachtet, nicht auch der Prozeß selbst. Außerdem entfaltet das Rechtsgesetz seine nötigende Wirkung nur für freies Wirken in der Außenwelt. Ist es unfrei, etwa durch äußere, unwiderstehliche Gewalt verursacht, kann es nicht als ein durch das Rechtsgesetz gebundenes Verhalten beurteilt werden.128 Diese Ergebnisse stimmen mit den bisherigen Erkenntnissen zum Recht auch überein: Die Frage, ob das äußere Verhalten innerlich durch eine Maxime bestimmt wurde, die zum allgemeinen Gesetz taugt, ist für das Recht nicht entscheidend. Wohl aber bezieht sich das Recht als Prinzip nur auf solches Verhalten, das überhaupt als Resultat eines eigenen Willensprozesses nach außen tritt. Fremdbestimmtes Verhalten kann der Urheber ja auch gar nicht nach dem Rechtsgesetz ausrichten, er selbst hat dies in diesem Fall gerade nicht in der Hand. Als Adressat des Rechtsgesetstellt sich der Unterschied zwischen Wunsch und Willkür folgendermaßen dar: „Während sich der Wunsch auch auf Gegenstände richten kann, die außerhalb der Reichweite der eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten liegen, richtet sich die Willkür nur auf jene Objekte, die man tatsächlich hervorzubringen vermag. Man kann die Willkür daher auch reale Handlungsfreiheit nennen. (. . .) Bloße Wünsche verbleiben im Innerlichen; sie führen zu keinen Handlungen, können sich deshalb auch nicht wechselseitig beeinflussen.“ O. Höffe, „Kants Begründung des Rechtszwangs und der Kriminalstrafe“, a. a. O. (Fn. 108), S. 335 (347); vgl. auch R. Zaczyk, „Untersuchungen zum rechtlichen Postulat der praktischen Vernunft in Kants Metaphysik der Sitten“ in: Ch. Fricke/P. König/T. Petersen (Hrsg.), Das Recht der Vernunft (1995), S. 311 ( 319). 126 Von dem Begriff der Willkür ist der Begriff des Willens zu unterscheiden. „Wille“ ist nach Kant das, was die Willkür (das Vermögen etwas Verwirklichungsfähiges zu tun oder zu lassen) inhaltlich bestimmt, ihr Bestimmungsgrund, die praktische Vernunft selbst. Vgl. I. Kant, MdS, Einleitung in die MdS, I., S. AB 5 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 213). Siehe dazu auch L. W. Beck, Kants „Kritik der praktischen Vernunft“ (1974), S. 169–173 und 187–191. Die Gesetze, die diesen Willen leiten, sind die Gesetze der Freiheit. 127 I. Kant, MdS, Rechtslehre, Einleitung, § B, AB 32 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 230). 128 Diese Grundbestimmung muß sich im rechtlichen Handlungsbegriff wiederfinden lassen. Siehe dazu E. A. Wolff, Der Handlungsbegriff in der Lehre vom Verbrechen (1964).
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zes kommt danach sinnvollerweise nur ein prinzipiell selbstbestimmtes Wesen in Betracht. Im Rückschluß bedeutet dies, daß Recht niemals danach streben darf, die Autonomie des einzelnen aufzuheben, will es sich nicht selbst den Boden entziehen. Verfolgt man die Formulierung des Rechtsimperativs weiter, so fällt eine zusätzliche Erweiterung zur allgemeinen Formulierung des kategorischen Imperativs auf: Die Freiheit von jedermann wird als Grenze für die eigene Handlung eingeführt. Hat das moralisch-praktische Gesetz das Handeln schlechthin zum Gegenstand, bezieht sich das Rechtsgesetz gerade auf Handlungen, die Auswirkungen auf die Freiheit anderer haben können. Dies war ja schon in der Herleitung der Notwendigkeit des Rechts herausgearbeitet worden und findet nun konsequenterweise seinen Platz in der Ausgestaltung des Rechtsgesetzes. Zusätzlich zu dieser Dimension ist aber auch bedeutsam, daß die Einbeziehung der Freiheit der anderen in das eigene Handeln eine Erweiterung des Prozesses der moralischen Selbstbestimmung durch den kategorischen Imperativ darstellt: Dort war nämlich in dem Bemühen, eine allgemeingültige Regel für das gute Handeln aufzustellen, erkannt worden, daß die Vernunft der anderen als Voraussetzung und Regulativ der allgemeinen Handlungsregel in den Denkprozeß einzubeziehen ist. Und es wurde in der Fortentwicklung dieses Gedankens das Aufeinander-Angewiesen-Sein bei diesem Prozeß festgestellt, das notwendig zu einem Verhältnis gegenseitiger Achtung hinleitete. Im Rechtsgesetz ist die Existenz von Vernunftwesen außer mir nicht nur notwendig in den Denkprozeß einzubeziehen, sondern zusätzlich auch ganz konkret in mein äußeres Handeln: Mein Handeln muß mit der Freiheit von jedermann zusammenbestehen können. An dieser Stelle findet sich im allgemeinen Rechtsgesetz das oben beschriebene Anerkennungsverhältnis zwischen den Personen wieder. Hier hat es die Gestalt eines Rechtsverhältnisses129, das die Achtung des anderen als freies Rechtssubjekt zum Gegenstand einer (rechts)verbindlichen Regelung macht. Es ist damit nicht nur ein Gebot moralisch-praktischer Vernunft, sondern auch ein Rechtsgebot, den anderen als freie Person zu achten. Da es im Recht aber 129 Hier wird der Begriff des Rechtsverhältnisses nicht identisch mit dem von Fichte entwickelten Begriff verwendet; wohl aber liegt die Herleitung Fichtes, die das Rechtsverhältnis als vernunftnotwendig aufgewiesen hat, dem hier entwickelten Verständnis zugrunde. Fichtes Definition des Rechtsverhältnisses lautet: „Das deduzierte Verhältnis zwischen vernünftigen Wesen, daß jedes seine Freiheit durch den Begriff der Möglichkeit der Freiheit des anderen beschränke, unter der Bedingung, daß das erstere die seinige gleichfalls durch die des anderen beschränke“. J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre (1796), § 4, Corollarium, S. 52; vgl. dazu auch R. Zaczyk, „Die Struktur des Rechtsverhältnisses (§§ 1–4) im Naturrecht Fichtes“ in: M. Kahlo/E. A. Wolff/R. Zaczyk (Hrsg.), Fichtes Lehre vom Rechtsverhältnis (1992), S. 9 ff.
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ausschließlich um das äußere Verhältnis zwischen Personen geht, ist der Begriff des Rechtsverhältnisses hier auf Anerkennung im äußeren Umgang miteinander beschränkt. Die Geisteshaltung, die diesem Verhalten zugrundeliegt, ist der rechtlichen Beurteilung entzogen. Andererseits ist durch die Einbeziehung der interpersonalen Respektsbeziehung in das Recht dieses Verhältnis als allgemeinverbindlich verobjektiviert. Im Recht verfestigt sich also das Anerkennungsverhältnis und wird zu einem äußerlich verbindlichen Rechtsverhältnis. Als letzte, aber wesentliche Bemerkung zu den beiden Formen des kategorischen Imperativs ist auf ihre übereinstimmende innere Struktur hinzuweisen. Beide gebieten Handlungen, indem sie die Formel für einen Prozeß schließenden Prüfens auf widerspruchslose Verallgemeinerbarkeit aufstellen. Es wurde für die moralisch-praktische Ebene schon darauf hingewiesen, daß nicht ein bestimmter Inhalt als allgemeingültiges „Gut“ gesetzt werden kann, sondern sich das Gute nur der Form nach in einem bestimmten Denkprozeß darstellen läßt. Nach Kant können „praktische Prinzipien, die ein O b j e k t (Materie) des Begehrungsvermögens als Bestimmungsgrund voraussetzen, (. . .) keine praktischen Gesetze abgeben“130. Alle „materiale praktische Prinzipien“ sind nach Kant „von einer und derselben Art, und gehören unter das allgemeine Prinzip (. . .) der eigenen Glückseligkeit“131. Daß ein Sollenssatz, der auf das Erreichen eigener Glückseligkeit gerichtet ist, nur subjektiv verbindlich wirkt, nicht aber als allgemein gültiges Gesetz aufgestellt werden kann, wurde schon begründet.132 Allgemeine praktische Gesetze enthalten nicht der Materie, sondern bloß der Form nach den Bestimmungsgrund des Willens.133 Ganz parallel dazu enthält auch das allgemeine Rechtsgesetz keinerlei inhaltliche Vorgaben. Es fragt danach, ob die äußere Handlung des einen sich mit der Freiheit des anderen unter einem allgemeinen Gesetze vereinbaren lasse, nicht aber ob die Handlung einem bestimmten, vorausgesetzten Zweck diene. Dies ist ein wesentlicher Unterschied zu sonstigen Vorstellungen über das Recht, etwa der, die in der Tradition des Utilitarismus134 ent130
I. Kant, KpV, § 2, Lehrsatz I, A 38. I. Kant, KpV, § 3, Lehrsatz II, A 40. 132 Vgl. dazu oben unter A., insbesondere Fn. 62. 133 Siehe I. Kant, KpV, § 4, Lehrsatz III, A 48. 134 Utilitarismus ist die Gegenposition zu dem hier zugrundegelegten Standpunkt der Ethik. Aus utilitaristischer Sicht wird die Richtigkeit einer Handlung nach der Nützlichkeit ihrer Folgen beurteilt. Die anthropologische Grundlage stellt das natürliche menschliche Streben nach Lust und Vermeidung von Unlust dar. Das Handeln ist an möglichst großer Erfüllung der menschlichen Bedürfnisse und Interessen ausgerichtet. Daraus ergibt sich folgende Definitionskette: Lust bestimmt das Streben nach Glück, Glücksstreben erfüllt sich in der Bedürfnisbefriedigung, die Möglichkeit und das Ausmaß der Befriedigung ergibt den Nutzencharakter. Dabei ist unter131
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wickelt wurde und – in verschiedenen Ausgestaltungen – im Recht ein Mittel zur Erreichung eines bestimmten Zwecks sieht.135 Gegenstand von Kants allgemeinem Rechtsgesetz ist ausschließlich die abstrakt-formale Koordinierung selbstbestimmten Handelns; es beinhaltet eine „allgemeine Regelung interpersonaler Verhältnisse zur Gewährleistung der äußeren Bedingungen subjektiver Autonomie“136. Vor dem Hintergrund menschlicher Autonomie, die ja überhaupt erst den Grund für das Recht darstellt, ist es auch gar nicht anders denkbar, als daß die einzelnen in der Bestimmung ihrer Lebensinhalte frei bleiben – auch wenn, oder vielmehr gerade wenn sie ihr Dasein in Gemeinschaft äußerlich organisieren. Ein Rechtsgesetz, das inhaltliche Vorgaben für das Handeln macht, hebt den Grund seiner eigenen Existenz auf: War es ursprünglich dazu gedacht, selbstbestimmtes Handeln für alle möglich zu machen, greift es nun in eben diesen Selbstbestimmungsprozeß von außen ein und nimmt dessen Produkt vorweg. Die Bedingung, die seine Existenz notwendig gemacht hat, fällt weg. Deshalb darf Recht auch „in keiner Weise äußeres Instrument zur Durchsetzung einer bestimmt-inhaltlichen Konzeption der Glückseligkeit und des Guten sein. stellt, daß sich die Befriedigung hinsichtlich ihrer Lustquantität und -qualität unterscheiden und eindeutig bestimmen lassen. Zu dieser Definition vgl. P. Prechtl, „Utilitarismus“ in: P. Prechtl/F.-P. Burkhard (Hrsg.), Metzler Philosophie Lexikon, 2. Auflage (1999), S. 623. Siehe ferner J. Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation (1789), insbesondere Chapter I (Of the Principle of Utility); J. S. Mill, Utilitarianism (1861), sehr deutlich unter 2.2.: „The creed which accepts as the foundation of morals, Utility, or the Greatest Happiness Principle, holds that actions are right in proportion as they tend to promote happiness, wrong as they tend to produce the reverse of happiness.“ Für die deutsche Fassung siehe J. S. Mill, Das Nützlichkeitsprinzip, Gesammelte Werke (1968), Bd. 1, Zweites Kapitel, Zweiter Absatz, S. 134. 135 Vgl. etwa J. Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation (1789), Chapter VII (Of Human Acts in general), 1., S. 74: „The business of government is to promote the happiness of the society, by punishing and rewarding. That part of its business which consists in punishing, is more particularly the subject of penal law. In proportion as an act tends to disturb that happiness, in proportion as the tendency of it is pernicious, will be the demand it creates for punishment. What happiness consists of we have already seen: enjoyment of pleasures, security from pains.“ 136 M. Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil (1997), S. 13; vgl. auch I. Kant, Über den Gemeinspruch, A 233, 234: „Der Begriff aber eines äußeren Rechts überhaupt geht gänzlich aus dem Begriff der F r e i h e i t im äußeren Verhältnisse der Menschen zu einander hervor; und hat gar nichts mit dem Zwecke, den alle Menschen natürlicher Weise haben (der Absicht auf Glückseligkeit), und der Vorschrift der Mittel, dazu zu gelangen, zu tun: so daß auch daher dieser letztere sich in jenes Gesetze schlechterdings nicht, als Bestimmungsgrund derselben, mischen muß. R e c h t ist die Einschränkung der Freiheit eines jeden auf die Bedingung ihrer Zusammenstimmung mit der Freiheit von jedermann, in so fern diese nach einem allgemeinen Gesetze möglich ist; (. . .).“
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Recht und Staat sind weder moralische Veranstaltung noch zwangsweise Glücksorganisation oder Erziehungsanstalt.“137 Recht ist nach Kant „der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.“138 Eine Hierarchie von erstrebenswerten Lebensinhalten ist nicht Gegenstand eines so verstandenen Rechts und kann deshalb legitimerweise auch nicht mit den Mitteln des Rechts durchgesetzt werden. 2. Die Zwangsbefugnis Eine zusätzliche Überlegung zum Inhalt des Rechts wird von Kant im Anschluß an seine Bestimmung des Rechtsprinzips in seiner Einleitung in die Rechtslehre eingeführt: Er weist darauf hin, daß das Recht und die Befugnis zu zwingen dasselbe („einerlei“) bedeuten.139 Es ist nicht selbstverständlich, daß die Zwangsbefugnis als austauschbarer Begriff für das Recht entwickelt wird; Kant selbst weist darauf hin, daß er sich damit gegen eine Ansicht wendet, die „das Recht als aus zwei Stücken, nämlich der Verbindlichkeit nach einem Gesetze und der Befugnis dessen, der durch seine Willkür den anderen verbindet, diesen dazu zu zwingen, zusammengesetzt“140 denkt. Bei einer solchen Auffassung von Recht würde Zwang „als Durchsetzungsmodus bloß äußerlich mit der Rechtsinhaltlichkeit (verbunden), damit aber eigentlich außerhalb des Legitimationszusammenhangs (. . .) belassen.“141 Kant erhebt den Anspruch, rechtlichen Zwang ebenso durch praktisch rechtliche Vernunft zu begründen wie das Recht selbst, es wird eine „vernunftbegriffliche Synthese von Recht und äußerem Zwang“142 behauptet.143 Der Begriff des Rechts sei nicht zu trennen von der „Möglich137
M. Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil (1997), S. 15. I. Kant, MdS, Rechtslehre, Einleitung, § B, AB 33 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 230). 139 I. Kant, MdS, Rechtslehre, Einleitung, § E, AB 36 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 232). 140 I. Kant, MdS, Rechtslehre, Einleitung, § E, AB 35, 36 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 232). 141 M. Köhler, „Zur Begründung des Rechtszwangs im Anschluß an Kant und Fichte“ in: M. Kahlo/E. A. Wolff/R. Zaczyk (Hrsg.), Fichtes Lehre vom Rechtsverhältnis (1992), S. 93 (96). 142 M. Köhler, „Zur Begründung des Rechtszwangs im Anschluß an Kant und Fichte“, a. a. O. (Fn. 141), S. 94. 143 Dies macht gerade den Unterschied aus zu einem Zwang, der als reines Gewaltinstrument wirkt und im Grunde genommen nur eine faktisch überlegene Stellung des Zwingenden zur Voraussetzung hat. Daß sich Zwang aus der Autonomie des einzelnen begründen läßt (und zwar auch aus der des zu Zwingenden), ist entscheidendes Kriterium für die Kategorisierung als Rechtszwang. 138
C. Der rechtliche Zusammenhang
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keit der Verknüpfung des allgemeinen wechselseitigen Zwanges mit jedermanns Freiheit“144. Es geht also beim Rechtszwang um einen Bestandteil des materiellen Rechtsprinzips, zunächst unabhängig von einem organisierten rechtlichen Gesamtzusammenhang, in dem Recht für jedermann durchsetzbar ist (also gedanklich vor einer äußeren Setzung des Rechts in positiven Gesetzen und der Gründung eines bürgerlichen Zustandes).145 Die äußere Verbindlichkeit des Rechts ist nach einem solchen gedanklichen Ansatz ohne eine korrespondierende äußere Zwangsbefugnis nicht denkbar. Dies bedeutet zunächst, daß die Aussagen, die zum Rechtsgesetz getroffen wurden, auch für den Bereich äußerlichen Zwangs von Bedeutung sind, denn so verstanden ist er inhaltlicher Bestandteil des Rechts. Es ist also erstens erneut an die Unterscheidung zwischen Moralität und Legalität zu erinnern – Rechtszwang kann sich nur auf die äußerliche Seite des Handelns beziehen und nicht auf den zugrundeliegenden Willensprozeß zugreifen; zweitens ist die Bedeutung der Autonomie des Rechtssubjekts auch im Zusammenhang mit dem Rechtszwang nicht aufgehoben; drittens kann das äußerlich verbindliche Rechtsverhältnis nicht als solches durch Rechtszwang berührt sein, es muß vielmehr als Grundlage bestehen bleiben, auch wenn es durch äußerlichen Zwang in der Waage gehalten wird; letztlich wird auch die Befugnis zum Zwang nicht an die Erreichung eines bestimmten, inhaltlich festgelegten Ziels gebunden, sondern nur der Form nach daran, ob die Ausübung des Zwangs mit der Freiheit von jedermann vereinbar ist. Wie aber ein wechselseitiger Zwang gedacht werden kann, der mit der Freiheit von jedermann unter einem allgemeinen Gesetz übereinstimmt, ist damit noch nicht geklärt. Im ersten Zugriff scheint das unmöglich, hat doch Kant selbst den Zwang als ein „Hindernis oder Widerstand, der der Freiheit geschieht“146 bezeichnet. Zwang als Beugung des Willens zu einer bestimmten Verhaltensmaxime147 scheint überhaupt unvereinbar mit mensch144 I. Kant, MdS, Rechtslehre, Einleitung, § E, AB 36 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 232). 145 Vgl. dazu O. Höffe, „Kants Begründung des Rechtszwangs und der Kriminalstrafe“, a. a. O. (Fn. 108), S. 357. 146 I. Kant, MdS, Rechtslehre, Einleitung, § D, AB 35 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 231. 147 So M. Köhler, „Zur Begründung des Rechtszwangs im Anschluß an Kant und Fichte“, a. a. O. (Fn. 141), S. 100. Er weist darauf hin, daß eine durch Zwang motivierte Handlung nicht gleichzusetzen ist mit einer unfreiwilligen Handlung. Die (negative) Willensfreiheit des Gezwungen wird durch Zwang nicht aufgehoben: Wenn auch der Prozeß der Wahl zwischen zwei möglichen Aktionen durch den Zwang in eine Richtung gedrängt wird, so kann Zwang nicht die Wahlmöglichkeit
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1. Teil: Freiheitliche Strafbegründung im Staat
licher Freiheit zu sein. Und doch stellt Kant die Befugnis zu zwingen als notwendigen Bestandteil des Rechts vor. Einer Antwort kommt man näher, wenn man sich den Zusammenhang zwischen Rechtsverbindlichkeit und der implizierten Zwangsbefugnis folgendermaßen vor Augen führt: „Der Widerstand, der dem Hindernisse einer Wirkung entgegengesetzt wird, ist eine Beförderung dieser Wirkung und stimmt mit ihr zusammen. Nun ist alles, was unrecht ist, ein Hindernis der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen; der Zwang aber ist ein Hindernis oder Widerstand, der der Freiheit geschieht. Folglich: wenn ein gewisser Gebrauch der Freiheit selbst ein Hindernis der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen (d. i. unrecht) ist, so ist der Zwang, der diesem entgegengesetzt wird, als V e r h i n d e r u n g eines H i n d e r n i s s e s d e r F r e i h e i t mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmend, d. i. recht; mithin ist mit dem Rechte zugleich eine Befugnis, den, der ihm Abbruch tut, zu zwingen, nach dem Satze des Widerspruchs verknüpft.“148 Diese Begründung der Zwangsbefugnis ist auf die Begründung des Rechts als gedanklicher Ausgangspunkt angewiesen. Von dort aus läßt sich dann mittels eines logischen Schlusses die Begründung erweitern, ohne nun nochmals ganz neu ansetzen zu müssen. Rechtliche Regelungen sind solche, die die „selbständige Bewältigung des Daseins im äußeren Verhältnis der Gleichbedeutsamkeit zum anderen ermöglichen“149. Inhaltlich sind diese Regeln Konkretisierungen des allgemeinen Rechtsgesetzes. Rechtlich selbst aufheben. Resultat des Zwangs bleibt eine vom freien Willen gesteuerte Handlung, – allerdings ein freier Wille, dem es sehr schwer gemacht wird, sich anders zu entscheiden. Vgl. dazu auch G. W. F. Hegel, Rph, § 91, S. 178, 179: „Als Lebendiges kann der Mensch wohl bezwungen werden, d.h. seine physische und sonst äußerliche Seite unter die Gewalt anderer gebracht, aber der freie Wille kann an und für sich nicht gezwungen werden (§ 5), als nur sofern er sich selbst aus der Äußerlichkeit, an der er festgehalten wird, oder aus deren Vorstellung nicht zurückzieht (§ 7). Es kann nur der zu etwas gezwungen werden, der sich zwingen lassen will.“ Die Fähigkeit zur Selbstbestimmung, die positive Freiheit, wird durch Zwang ebenfalls in ihrer Existenz im Vernunftwesen nicht berührt. Der Zwang kann noch so stark sein, der einzelne bleibt doch in der Lage, inhaltlich das Gute einzusehen. 148 I. Kant, MdS, Rechtslehre, Einleitung, § D, AB 35 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 231); vgl. dazu auch O. Höffe, „Kants Begründung des Rechtszwangs und der Kriminalstrafe“, a. a. O. (Fn. 108), S. 352 ff.; ders., „Der kategorische Rechtsimperativ“, a. a. O. (Fn. 113), S. 55 ff.; vgl. außerdem in Abgrenzung zum Strafzwang H. Mayer, „Kant, Hegel und das Strafrecht“ in: P. Bockelmann/A. Kaufmann/U. Klug (Hrsg.), Festschrift für Karl Engisch zum 70. Geburtstag (1969), S. 54 (69 ff.); H. Oberer, Über einige Begründungsaspekte der Kantischen Strafrechtslehre“, a. a. O. (Fn. 108), S. 404 ff. 149 E. A. Wolff, „Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen“ (1987), a. a. O. (Fn. 49), S. 137 (198).
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richtiges Handeln ist danach solches, das mit der Freiheit von jedermann nach allgemeinen Gesetzen vereinbar ist. Im Umkehrschluß handelt derjenige unrechtlich, der durch seine Handlungen ein Hindernis der Freiheit anderer nach allgemeinen Gesetzen begründet, der ihnen die selbständige Bewältigung ihres Daseins als prinzipiell gleichbedeutsam erschwert oder unmöglich macht.150 Die Verhinderung eines solchen Unrechts ist die Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit und daher eine sie im Ergebnis bestätigende und erhaltende Aktion. Eine denkbare, gleichzeitig die drastischste Möglichkeit, anstehendes Unrecht zu verhindern, ist die Ausübung äußerlichen Zwangs. Wird äußerer Zwang so angewendet, daß im Ergebnis eine freiheitliche Position aufrechterhalten wird, daß also Unrechtliches nicht geschieht, ist diese Zwangsanwendung rechtlich vernünftig, somit rechtlich begründet. Dann ist die Erzwingbarkeit von der Wirklichkeit des Rechts nicht mehr zu trennen.151 Erweitert werden kann diese Begründung, wenn neben der objektiv bevorstehenden Unrechtshandlung das Verhältnis der davon betroffenen Rechtssubjekte zueinander näher betrachtet wird. Der zum Unrecht Ansetzende ist als Vernunftwesen selbst Grund seines Entschlusses, das Rechtsverhältnis zwischen ihm und anderen, grundsätzlich gleich bedeutsamen Rechtspersonen, in ein Ungleichheitsverhältnis zu verwandeln. Ausgangspunkt eines rechtlichen Zusammenlebens ist die subjektive Vernunft jedes einzelnen – und zwar auch dessen, der Unrecht verwirklichen will – und diese weist notwendig den Weg zu einem objektiv-rechtlich verfestigten Gleichheitsverhältnis untereinander. Wenn auch dieses Gleichheitsverhältnis durch eine einzelne Unrechtshandlung nicht schon prinzipiell in seiner Existenz gefährdet ist152, so liegt doch in dem Entschluß zum Unrecht und in 150 An dieser Stelle wird zwischen strafrechtlichem Unrecht und sonstigem Unrecht begrifflich noch nicht unterschieden. Vgl. dazu aber unten unter D. 151 Kant nennt als Beispiel das Nicht-Bezahlen einer Schuld, das durch äußeren Zwang verhindert werden darf. „Ein Zwang, der jedermann nötigt, dies zu tun (die geschuldete Leistung zu erbringen, Anm. der Verf.), kann gar wohl mit jedermanns Freiheit, also auch mit der seinigen, nach einem allgemeinen äußeren Gesetz zusammen bestehen: Recht und Befugnis zu zwingen bedeuten also einerlei.“ I. Kant, MdS, Rechtslehre, Einleitung, § E, AB 36 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 232). 152 Vgl. R. Zaczyk, Das Strafrecht in der Rechtslehre Fichtes (1981), S. 98 ff., insbes. S. 100, der sich gegen die Ansicht Fichtes wendet, daß das Rechtsverhältnis selbst durch Unrecht zerstört werde. Die Argumentation erfolgt an einer Stelle, an der der Staat in seinen zwei Funktionen, positive Zuweisung der Rechtssphären der einzelnen und Verwaltung des prinzipiell jedem einzelnen zukommenden Zwangsrechts, schon eingeführt ist (S. 54 ff.). Nach dem in der vorliegenden Arbeit eingeschlagenen Begründungsgang ist allerdings zwischen der abstrakten Ebene des Rechts als Produkt praktisch-rechtlicher Vernunft und der Einführung eines verwirklichenden Gesamtzusammenhangs stärker zu differenzieren, da mit Blick auf den internationalen Zusammenhang Rechtsbegründungen unabhängig von staatlich ver-
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seiner Verwirklichung eine momentane Herabsetzung eines anderen Rechtssubjekts, die dieses nicht einfach hinnehmen muß: Es darf auf Gleichheit beharren, Herabsetzung abwehren.153 Und auch aus der Sicht dessen, der sich zum Unrecht wendet, ist eine Bewahrung des Gleichheitsverhältnisses einsichtig, ist er doch mittels seiner eigenen subjektiven Vernunft selbst Mitkonstituent eines solchen objektiv-vernünftigen Zustands. Das Zwangsrecht ist damit gleichsam Instrument der Aufrechterhaltung des Rechtsverhältnisses; das entstehende Zwangsrechtsverhältnis die Kehrseite des Rechtsverhältnisses.154 Damit ist auch eine sich unmittelbar aus dem Rechtsverhältnis ergebende Zwangsbefugnis erklärbar. Die Beteiligten am Rechtsverhältnis dürfen einander an ihrer Eigenschaft als Vernunftwesen festhalten und auf ein ungebrochenes Fortbestehen des auf Gleichheit basierenden Rechtsverhältnisses bestehen. Schon an dieser Stelle, also noch unabhängig von einer Verfestigung des Rechtsverhältnisses durch positiv-gesetzliche Festlegungen und einem sichernden Allgemeinzusammenhang (Staat), ist die Rechtsbefugnis zum Zwang also denk- und begründbar. Dies ist insofern von Bedeutung, als die Befugnis zum Zwang so gedanklich schon vor jeglichen Fragen ihrer Ausübung (Fragen sowohl apriorischer als auch pragmatischer Natur) als aus dem Rechtsprinzip unmittelbar folgend abgeleitet werden kann. Diese von Kant durch die abstrakte Betrachtung der Unrechtshandlung gefundene Feststellung findet Unterstützung auch unter dem Blickwinkel der Interpersonalität. Durch diese Herleitung als praktisch vernünftiges Rechtsinstitut ist aber über die Bedeutung als subjektive Befugnis eines einzelnen im Zweipersonenverhältnis hinaus auch ein Moment der Allgemeinheit umfaßt. faßter Gemeinschaftlichkeit gesucht werden. Zaczyks Argumentation ist aber inhaltlich auch nicht auf die Existenz eines verfaßten Staates angewiesen, er nimmt nur die dem Rechtsprinzip zugrundeliegenden Momente auf und denkt sie konsequent weiter: „Selbst die größte Ungerechtigkeit wird begangen von einem, der prinzipiell als Vernünftiger anerkannt wurde; nur dann kann ich überhaupt von Unrecht sprechen, wenn ich als Ursache (weiter) einen Vernünftigen voraussetze. Das einmal in Stand gesetzte Anerkennungsverhältnis kann nur dadurch beseitigt werden, daß die Voraussetzung allen Rechts, das Beisammenstehen freier Wesen, überhaupt aufgegeben wird, d.h. faktische Isolierung eintritt. Solange die Gesellschaft aber besteht, darf ich dem anderen seine Vernünftigkeit nicht absprechen.“ Es bleibt also auch nach einer Unrechtshandlung ein Rechtsverhältnis zwischen den beiden vernünftigen Konstituenten dieses Verhältnisses bestehen, es wird allerdings zuungunsten des Opfers verändert, was wiederum den Grund für die Korrekturmöglichkeit (hier zunächst als vorbeugende Maßnahme gedacht) ausmacht. Vgl. zur Kritik an Fichtes Position auch M. Köhler, „Zur Begründung des Rechtszwangs im Anschluß an Kant und Fichte“, a. a. O. (Fn. 141), S. 107–115. 153 Vgl. auch M. Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil (1997), S. 21. 154 Vgl. zur Herleitung des Zwangsrechts in Fichtes Rechtslehre R. Zaczyk, Das Strafrecht in der Rechtslehre Fichtes (1981), S. 64 ff.
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Denn das Rechtsverhältnis selbst ist inhaltlich aufgehoben im abstrakt-allgemeinen Rechtsgesetz, welches seinen Voraussetzungen nach Objektivität nur hat, weil es Resultat allgemeiner Vernunftanstrengung ist. Die so geschaffene Objektivität schlägt gewissermaßen auf das Basisverhältnis zwischen den Rechtspersonen durch, konstituiert diese Beziehung erst als verbindliches Rechtsverhältnis. Sobald also das Verhältnis zweier Vernunftwesen überhaupt in der Sphäre des Rechts besteht, wird reine Gegenseitigkeit eingebettet in den Zusammenhang der mit dem Rechtsbegriff immanent verbundenen Allgemeinheit. Dies gilt dann konsequenterweise auch für die im Rechtsverhältnis bestehende Zwangsbefugnis. Mit ihrer Qualifizierung als Rechtsinstitut ist ein Bezug zur Rechts-Allgemeinheit schon mitgedacht – wohlgemerkt immer noch auf der (vorstaatlichen, abstrakten) Ebene des allgemeinen Rechtsprinzips.155 Damit ist zwar belegt, daß die Möglichkeit von Zwang im Recht denknotwendig ist, allerdings fehlt noch eine genauere Begriffsbestimmung vom Zwang. Es wurde zunächst nur als eine Anwendungsbedingung eingeführt, daß es sich notwendig um Gegen- und nicht um originären (Erst-)Zwang handeln kann.156 Dadurch ist immerhin schon festgelegt, daß es sich um eine Reaktion auf ein bevorstehendes oder schon ausgeführtes, den Gegenzwang auslösendes Ereignis handeln muß; in den Worten Kants „ein gewisser Gebrauch der Freiheit(, der) selbst ein Hindernis der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen (d. i. unrecht) ist.“157 Ferner besteht zwischen der Zwangsanwendung und diesem Unrecht eine enge, inhaltliche Beziehung. Das eine wird als das Gegengewicht zum anderen vorgestellt, quasi als Ausgleich einer einseitig durch das Unrecht herbeigeführten momentanen Ungleichheit: Zwang wird diesem Unrecht entgegengesetzt. Das wiederum hat zur Konsequenz, daß sich das Maß für den Zwang aus dem Gewicht des Unrechts ergibt; geht es um ein Gleichgewicht, muß quantitativ Kongruenz herrschen. Der Zwangsrechtsinhalt ist mit Kant der Form nach bestimmt wie auch der Rechtsinhalt: Zwang muß mit jedermanns Freiheit, also auch mit der des Gezwungenen, nach einem allgemeinen äußeren Gesetz zusammen bestehen können. Die Grenze des Zwangsrechts bildet also der Rechtsinhalt.158 155 Auf diese Überlegung wird unten unter D. I. im Rahmen der Behandlung des staatlichen Rechtszwangs nochmals genauer eingegangen. 156 Vgl. O. Höffe, „Der kategorische Rechtsimperativ“, a. a. O. (Fn. 113), S. 56, 57. 157 I. Kant, MdS, Rechtslehre, Einleitung, § D, Ab 35 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 231). 158 So auch M. Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil (1997), S. 21.
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Begrifflich bestimmt ist Rechtszwang nach dem bisher Gesagten als „Verhinderung von Unrecht“. Unmittelbar erfaßt sind davon ohne Zweifel solche Handlungen, die durch Einwirkung auf den Willen des zum Unrecht Ansetzenden oder durch die Unterbreitung eines physischen Hindernisses die bevorstehende Unrechtshandlung unmöglich machen. Allerdings ist auch eine weitere Lesart des Begriffs Zwangsbefugnis denkbar: Mit Verhinderung von Unrecht könnte auch gemeint sein, daß ein schon eingetretener unrechtlicher Zustand nicht von Bestand sein soll, daß also Zwang auch zur Umkehr in einen materiell rechtlichen Zustand angewendet werden darf. Dies kann Relevanz in zwei Richtungen haben: Erstens kann es um die Wiederherstellung des Gleichheitsverhältnisses unmittelbar im interpersonalen Rechtsverhältnis gehen. In diesem Fall sind dann die Beseitigung der Folgen eines schon begangenen Unrechts im Verhältnis zu einer anderen Rechtsperson vom Rechtszwang umfaßt, etwa durch erzwungene Schadenersatzleistung. Zweitens ist aber auch denkbar, daß es um die ausgleichende Wiederherstellung des durch die Unrechtshandlung in seiner Allgemeingültigkeit verletzten Rechtsverhältnisses geht.159 Dann wechselt die Perspektive des Zwangs vom einzelnen Rechtssubjekt zur Allgemeinheit: Eine Störung des Rechtsgleichheitsverhältnisses soll innerhalb der Rechtsallgemeinheit nicht von Bestand bleiben, weil sie nicht wie jede rechtliche Handlung objektiven Geltungsanspruch erheben kann. Es geht dann um einen „Prozeß der Restitution wirklicher Freiheit“160, um Strafe (hier im Vorgriff schon in dem Verständnis, das im wesentlichen Hegel geprägt hat).161 Es soll an dieser Stelle die Möglichkeit eines solchen sehr weiten Verständnisses der von Kant als begrifflich unmittelbar mit dem Recht identifizierten Zwangsbefugnis in den §§ D und E seiner Rechtslehre nur angedeutet werden. Einem solchen Verständnis liegt wesentlich zugrunde, daß die begründete intersubjektive Zwangsbefugnis abhängig ist von einem sie umspannenden rechtlichen Raum, der es überhaupt erst möglich macht, von materiell begründeten Rechtspositionen zu sprechen, mit denen die Zwangsbefugnis korrespondieren kann. Gerade in der Legitimierung von Zwang durch inhaltliche Bindung an das Recht liegt der Hinweis darauf, daß es 159 Vgl. zu dieser Begriffsbestimmung M. Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil (1997), S. 37. 160 M. Köhler, „Strafbegründung im konkreten Rechtsverhältnis“ in: W. Küper/ I. Puppe/J. Tenckhoff (Hrsg.), Festschrift für Karl Lackner zum 70. Geburtstag (1987), S. 11. 161 Vgl. dazu auch M. Salomon, „Kants Strafrecht in Beziehung zu seinem Staatsrecht“ ZStW 33 (1912), S. 1 (14): „Nur unter dem Gesichtspunkte eines in der Strafe sich vollziehenden dialektischen Prozesses nach Hegelschem Vorbilde kann behauptet werden, die Strafe als Negation der Negation des Rechts, also Position des Rechts, sei Entfernung eines Hindernisses der Freiheit.“ Dazu genauer unten D. II. 1.
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nicht um die Verwirklichung nur subjektiv begründeter Rechtspositionen gehen kann. Denn das Recht war ja wegen seiner gedanklichen Qualität als allgemeinverbindlich schon seinem Prinzip nach nicht durch einzelne subjektive Vernunft begründbar; dann ist aber immer, wenn von rechtlich begründeter praktischer Vernunft gesprochen wird, die Allgemeinheit schon anwesend. Damit ist nicht gemeint, daß eine Menge von Vernunftwesen schon zusammengetreten ist, um in einem bestimmten Verfahren positive rechtliche Normen zu schaffen, die konkrete Bereiche des intersubjektiven Zusammenlebens freiheitlich organisieren. Gemeint ist aber, daß auch das reine Vernunftrecht nur gedacht werden kann als Zusammenschluß der subjektiven Vernunft vieler Individuen.162 Hinzuweisen ist auf die Argumentation Höffes, die auf den ersten Blick einem Verständnis wie dem hier angedeuteten, widerspricht.163 Die im Begriff des Rechts enthaltende Zwangsbefugnis sei eine vorstaatliche Befugnis, die dem einzelnen zurechnungsfähigen Subjekt zustehe. Die Begründung der Zwangsbefugnis bei Kant erfolge schon vor der Erörterung des im Naturzustand geltenden Privatrechts. Sie ergebe sich nicht erst aus den inneren Schwierigkeiten oder Widersprüchen des Naturzustandes; sie habe eine grundsätzliche Wurzel. Wer den Zwang zu besorgen hat und wie er dabei vorgehen darf und soll, ob es in jedem Fall tunlich ist, den Zwang anzuwenden, sei für konkrete Anwendungen der Zwangsbefugnis, nicht aber für seine prinzipielle Begründung von Bedeutung. Diese mit der hier vertretenen Auffassung übereinstimmende Bewertung führt dann aber bei Höffe dazu, daß dieser eine denkbare parallele Herleitung der Strafbefugnis von vornherein mit der Begründung ausschließt, daß „Strafzwang (. . .) begrifflich mehr als der bloße Rechtszwang“ sei. Diese Feststellung ist unzweifelhaft richtig, trägt aber für sich genommen einen generellen Ausschluß einer grundsätzlich aus dem Rechtsprinzip ableitbaren Strafrechtsbegründung noch nicht; sie müßte lediglich um diese begriffliche Erweiterung ergänzt werden. Und auch Höffes weiterer Hinweis, daß Kriminalstrafe ein Institut des öffentlichen Rechts und damit ein Element des Staates sei, kann unbestritten bleiben ohne dem hier angeregten Denkansatz zu widersprechen. Denn daß Strafe im Staat begründet werden kann, heißt ja nicht, daß sie als abstraktes Rechtsinstitut nicht zu begründen ist; die Vermutung spricht eher für die umgekehrte Schlußfolgerung. 162 Vgl. dazu auch M. Köhler, Strafrecht AT (1997), S. 12, 13: Das allgemeine Rechtsgesetz resultiert aus einer gemeinschaftlichen Vernunftleistung zur freiheitsgemäßen Organisation der äußeren Verhältnisse. Inhaltlich-substantiell beruht auch das positiv-gesetzte Recht auf einer allgemeinen Regelung interpersonaler Verhältnisse zur Gewährleistung der äußeren Bedingungen subjektiver Autonomie. 163 Vgl. dazu O. Höffe, „Kants Begründung des Rechtszwangs und der Kriminalstrafe“, a. a. O. (Fn. 108), S. 357.
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Ferner sei in diesem Zusammenhang dann auch auf Höffes eigene Befassung mit dem Rechtszwang als Unrechtsabwehr in seiner Untersuchung zum „kategorischen Rechtsimperativ“164 verwiesen. Dort legt auch er Kants Zwangsbegriff in zweierlei Richtung aus, in präventiver und restitutiver. Man dürfe einen Diebstahl verhindern, so er sich anbahne, und man dürfe das Gestohlene wieder zurückholen. Und nicht nur das: Wer dem Unrecht präventiv oder restitutiv Widerstand leiste, hebe das Unrecht auf und erkenne das legitime Recht wieder an. An dieser Stelle wird nicht ganz klar, ob Höffe in eine Richtung denkt, die die „Restitution wirklicher Freiheit“ als von der Zwangsbefugnis umfaßt begreift. Jedenfalls stellt er diese Erwägung im Zusammenhang mit seiner Befassung mit dem Rechtszwang an, die er getrennt wissen will von Überlegungen zur staatlichen Kriminalstrafe im öffentlichen Recht. 3. Zusammenfassung zu I. Ein freiheitliches Rechtsverständnis im Anschluß an Kant geht vom Recht als gemeinschaftlicher Vernunftleistung aus. Der kategorische Rechtsimperativ gibt in allgemeiner Form eine Orientierung für das, was das Recht ausmacht. Es geht um die Wahrung von Freiheit in Gemeinschaft als ein notwendiges Gebot der Vernunft. Die Verbindlichkeit des Rechts ist daher nicht dadurch begründet, daß es als beliebige Ordnung irgendwann einmal gesetzt wurde, sondern daß es freiheitsgesetzlichen Charakter hat, daß es Ausdruck (rechtlich) praktischer Vernunft ist. Dieser Grund besteht sowohl für das Gesamtgerüst einer freiheitlichen Ordnung als auch für die rechtsrelevante Handlung eines einzelnen.165 Konkretisierungen im Recht sind demnach Umsetzungen rechtlich praktischer Vernunft in bestimmten Rechtsverhältnissen. Rechtliche Regelungen haben sich inhaltlich an folgende Vorgaben zu halten: Sie können nur auf die äußere Seite menschlichen intersubjektiv relevanten Handelns bindend wirken. Sie setzen dabei ein autonomes, positiv freies Subjekt als Urheber der Handlung voraus, das sich notwendig in einem Verhältnis gegenseitiger Vernunftanerkenntnis mit anderen Subjekten befindet. Das Recht verfestigt dieses Verhältnis äußerlich, indem es einerseits für eine äußerliche Abgrenzung von Freiheitssphären sorgt, gleichzeitig aber auch das verbindende Moment, ein übergreifendes Bewußtsein des Aufeinander-Angewiesenseins, manifestiert. Dabei darf es nicht inhaltlich vorgeben, was die einzelnen Rechtssubjekte aus ihrem Leben machen sol164
O. Höffe, „Der kategorische Rechtsimperativ“, a. a. O. (Fn. 113), S. 56, 57. Vgl. dazu R. Zaczyk, „Schuld als Rechtsbegriff“ in: U. Neumann/L. Schulz (Hrsg.), Verantwortung in Recht und Moral (2000), S. 103 (107). 165
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len, es kann lediglich die Bedingungen schaffen, die ein Leben in Selbstbestimmung für jeden real möglich machen. Der Begriff des Unrechts taucht auf, noch bevor von einer staatlichen Verfestigung der Rechtsverhältnisse die Rede ist. Es ist also möglich, materiell von Unrecht zu sprechen auch unabhängig von der – noch zu behandelnden – positiven Festlegung und faktischen Durchsetzbarkeit von Recht.166 Dies ist insofern von Bedeutung, als damit auch die dem Unrecht entgegengesetzten Ausgleichsbemühungen nicht zwangsläufig an einen staatlich verfaßten Gesamtzusammenhang gebunden sind – sie können unter Umständen allein als notwendig aus dem Unrecht folgend mittels praktischrechtlicher Vernunft begründet werden. Kant hat dies für die Zwangsbefugnis getan. Dabei geht es ihm beim Rechtszwang um die „Verhinderung“ von Unrecht. Damit ist offenbar zunächst eine Aktion gemeint, die im Vorfeld einer Handlung ansetzt, die als Unrecht zu qualifizieren wäre. Dagegen nicht unmittelbar vom Wortlaut umfaßt sind die nachträgliche Behebung von Unrechtsfolgen (Folgenbeseitigung, Restitution, Schadensersatz) und die Strafe. Diese Unrechtsreaktionen haben allerdings ebenfalls unmittelbar Einfluß auf das aus den Fugen geratene Gleichheitsverhältnis zwischen zwei Rechtspersonen. Sie wirken – in je spezifischer Weise – ausgleichend. Es ist deshalb, auch unter Berücksichtigung der noch herauszuarbeitenden prinzipiellen Unterschiede zwischen der Strafe und anderen Unrechtsfolgen, zumindest gedanklich nicht ausgeschlossen, daß derselbe Ansatz auch für die Begründung von Unrechtsreaktionen weiterhilft.
II. Das Zustandekommen positiver Gesetze und die Garantie der Rechtswirklichkeit in einer rechtlich verfaßten Gemeinschaft Das Recht ist soeben als eine das gemeinsame Dasein in Freiheit strukturierende Ordnung vorgestellt worden. Die Rechtsordnung ist ihren Grundsätzen nach eine Vernunftordnung – nachvollziehbar aus subjektiv-vernünftiger Perspektive, begründet durch eine gemeinschaftliche Vernunftleistung aller, die durch ihre allgemeingültigen Aussagen Objektivität schafft. Ihre Notwendigkeit ergibt sich aus der Grundbestimmung des Menschen, Vernunft- und Naturwesen zugleich zu sein; das Zusammenleben im geteilten Raum und in der selben Zeit schafft die Schwierigkeiten, die durch die vernunft-begabten, positiv freien einzelnen gemeistert werden müssen. Daß sie 166 Dies findet Bestätigung in der Definition Köhlers, der Unrecht ganz allgemein folgendermaßen faßt: „Unrecht ist ein dem Recht widersprechendes, die äußere Freiheit einer Person (. . .) verletzendes Verhalten mit der Folge unrechtshindernder oder -ausgleichender Zwangsbefugnis.“ M. Köhler, Strafrecht AT (1997), S. 20.
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äußeren und inneren Bestimmungen nicht ohne eigene, selbstbegründete Gestaltungsmöglichkeit ausgeliefert sind, ist Bestandteil ihres Wesens als positiv frei. Eben diese Begabung zur Selbstbestimmung durch eigene Denkleistung befähigt sie nun auch zu einer Lösung jener realen Schwierigkeiten. Die Erkenntnis, daß sich „die Freiheit aller in der Wirklichkeit jedes einzelnen, damit zugleich aber auch allgemein herstellen muß“167, ist zugleich Resultat und Bestätigung menschlicher Autonomie. Die inhaltliche Ausgestaltung rechtlicher Verhältnisse ist, wie oben gezeigt, unmittelbar aus der Vernunftstruktur der Selbstbestimmung einsichtig. Und auch die Notwendigkeit der äußeren Verwirklichung solcher Verhältnisse leitet sich nach Kant aus der Vernunftidee ab, es ist also nicht etwa nur ein Erfahrungswert, daß es zu einer äußeren Verfestigung von Recht und seiner Durchsetzbarkeit kommen muß, sondern eine Erkenntnis a priori.168 Denn, so schreibt Kant, „bevor ein öffentlich gesetzlicher Zustand errichtet worden (ist), (können) vereinzelte Menschen, Völker und Staaten niemals vor Gewalttätigkeiten gegeneinander sicher sein, und zwar aus jedes seinem eigenen Rechte, zu tun, was ihm recht und gut dünkt, und hierin von der Meinung des anderen nicht abzuhängen“169. Es besteht also eine dem noch nicht rechtlich verfaßten (Natur-)Zustand immanent anhaftende Schwäche, die prinzipieller Natur ist und nicht erst durch die Unvollkommenheit empirischer Möglichkeiten aufscheint. Sie ist im Ansatz die selbe Schwäche, die das Recht überhaupt als allgemein-objektive Vernunftordnung erforderlich gemacht hatte: Die ständige Kollisionsmöglichkeit von Freiheitssphären einzelner selbstbestimmter Wesen im geteilten Raum-ZeitZusammenhang, selbst bei deren maximaler moralischen Leistung in Form eines Lebens gemäß dem kategorischen Imperativ. Ebenso wie das Recht eine prinzipielle Bewältigung dieser Schwäche darstellt, muß nun nach einer prinzipiellen Lösung für die Realisierung rechtlicher Verhältnisse gesucht werden. Denn eine vernunft-gebotene Regelung äußeren gemeinschaftlichen Daseins kann ihre freiheitsbewahrende Funktion nur erfüllen, wenn sie sich in der Wirklichkeit des menschlichen Zusammenlebens bewährt. Kant beschreibt dies so: „Aus dem Privatrecht im natürlichen Zustande geht nun das Postulat des öffentlichen Rechts hervor: du sollst, im Verhältnisse eines unvermeidlichen Nebeneinanderseins mit allen anderen, aus je167 R. Zaczyk, „Staat und Strafe – Bemerkungen zum sogenannten ‚Inselbeispiel‘ in Kants Metaphysik der Sitten“, a. a. O. (Fn. 40), S. 78. 168 Vgl. I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 44, A 162, 163/B 192, 193 (AkademieAusg. Band VI, S. 312). 169 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 44, A 162, 163/B 192, 193 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 312).
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nem heraus in einen rechtlichen Zustand, d. i. den einer austeilenden Gerechtigkeit übergehen. – Der Grund davon läßt sich analytisch aus dem Begriffe des R e c h t s im äußeren Verhältnis im Gegensatz der G e w a l t (violentia) entwickeln.“170 Mit dem „Privatrecht im natürlichen Zustande“ sind die aus dem Rechtsprinzip entwickelten allgemeinen Regelungen gemeint, die eine „selbständige Bewältigung des Daseins im äußeren Verhältnis der Gleichbedeutsamkeit zum anderen ermöglichen“171; Kant verweist hiermit also auf das materielle Recht, das Konkretisierung des Rechtsimperativs ist.172 Dieses materielle Recht existiert als Ausdruck praktisch-rechtlicher Vernunft auch vor äußerer Verfestigung und Durchsetzbarkeit; es beinhaltet die Bestimmung dessen, was recht und was unrecht ist. Es ist aber schon in seiner Herleitung aus praktisch-rechtlicher Vernunft und dem damit verbundenen Anspruch auf Allgemeingültigkeit angelegt, daß es auch Wirklichkeit im Dasein der einzelnen Vernunftsubjekte erhalten soll. Dies meint Kant, wenn er davon spricht, daß das „Postulat des öffentlichen Rechts aus dem Privatrecht“ hervorgehe. Die Erkenntnis dessen, was recht ist, soll auch praktisch werden. Dabei hat diese Forderung nach dem „Praktisch-werden“ der durch rechtliche Vernunft erlangten Einsichten nicht bloß den Status eines bedingten, zweck-gebundenen Imperativs, in der Terminologie Kants: Der Sollenssatz ist nicht nur „hypothetisch“.173 Denn es geht nicht nur darum festzustellen, daß der rechtliche Zustand ein geeigneter Weg wäre, um ein vordefiniertes Ziel zu erreichen.174 Kant formuliert die Aufforderung zum Übergang in einen rechtlichen Zustand als für sich, d.h. unabhängig von jedem Zweck, objektiv notwendig: „Du sollst, im Verhältnisse eines unvermeidlichen Nebeneinanderseins mit allen anderen, aus jenem (dem Naturzustand, Anm. der Verf.) heraus in einen rechtlichen Zustand, (. . .) übergehen.“175 Damit ist ausgedrückt, daß der Grund, der zu der Notwendigkeit rechtlicher Strukturen geführt hat, fortwirkt, bis die tatsächlichen Verhält170
I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 42, A 157/B 156, 157 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 307). 171 E. A. Wolff, „Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen“ (1987), a. a. O. (Fn. 49), S. 198. 172 Vgl. zum materiellen Rechtsprinzip schon oben unter C. I. Das Privatrecht ist Gegenstand des ersten Teils der Metaphysik der Sitten, in dem Kant die Konkretisierung des Rechtsprinzips für das äußere Verhältnis von Personen untereinander, vor allem vermittelt durch das Eigentum und den Besitz, leistet. 173 I. Kant, GMdS, BA 39, vgl. dazu schon oben unter A. 174 Vgl. dazu auch I. Kant, Über den Gemeinspruch, A 233, 234. 175 Vgl. dazu auch den § 41, nach dem es als Gesetz a priori gilt, daß „alle Menschen, die miteinander (auch unwillkürlich) in Rechtsverhältnisse kommen können, in diesen (rechtlichen) Zustand treten s o l l e n .“ MdS, Rechtslehre, A 156/B 155 (Akademie-Ausg., Band VI, S. 306).
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nisse dem Recht gemäß eingerichtet werden. Es ist ebenso ein Gebot rechtlich-praktischer Vernunft, einen das Recht garantierenden Zustand zu schaffen, wie überhaupt unter Rechtsgesetzen zusammen zu leben.176 Das kritische Selbstbewußtsein eines jeden einzelnen, der sich selbst als ein endliches Vernunftwesen begreift, wird diesen Schritt nachvollziehen und als mit seiner Autonomie vereinbar wissen. Entscheidend dabei ist, daß bei der Schaffung der Wirklichkeit von Recht nun nicht aus der auf Autonomie gründenden materiellen Rechtsordnung eine heteronome Zwangsveranstaltung wird. Der Grund für den Übergang in einen rechtlichen Zustand kann nur aus dem Begriff des Rechts entwickelt werden, nicht etwa aus dem der Gewalt: Nicht tatsächliche Macht, sondern Legitimität ist die Basis des Rechtszustandes. Der rechtliche Zustand ist beschrieben als „dasjenige Verhältnis der Menschen untereinander, welches die Bedingungen enthält, unter denen allein jeder seines Rechts t e i l h a f t i g werden kann“.177 Diesen Zustand nennt Kant den des öffentlichen Rechts oder den bürgerlichen Zustand (status civilis). Um ihn zu schaffen, müsse man sich „mit allen anderen (mit denen in Wechselbeziehung zu geraten (man) nicht vermeiden kann) dahin vereinigen, sich einem öffentlich gesetzlichen äußeren Zwange zu unterwerfen, also in einen Zustand treten, darin jedem das, was für das Seine anerkannt werden soll, g e s e t z l i c h bestimmt und durch hinreichende M a c h t (die nicht die seinige, sondern eine äußere ist) zu Teil wird, (. . .)“178. Es soll also durch den Übergang in einen rechtlichen Zustand eine Garantie für die Verwirklichung von Rechtspositionen geschaffen werden, die schon im Naturzustand als inhaltlich begründet zu denken sind. Die Allgemeinheit, die bei der materiellen Rechtsbegründung schon eine entscheidende, Objektivität schaffende Dimension darstellte, weil nur durch ihren gedanklichen Einschluß in die Überlegung Allgemeingültigkeit von Rechtsregeln begründbar war, erhält nun eine erweiterte Bedeutung. Sie wird von denk-notwendiger Begründungsinstanz zu einer verfaßten Rechtsgemeinschaft, in der Recht in Gesetzen konkretisiert und deren Wirksamkeit gewährleistet wird. Das Rechtsverhältnis der Menschen zueinander wird zu einem Garantieverhältnis, innerhalb dessen ein jeder auf die Wahrung seines Rechts vertrauen kann, weil es förmlich verfaßt, nach außen erkennbar mit Gültigkeit versehen und durch eine über den einzelnen hinausgehende 176 Vgl. auch W. Enderlein, „Die Begründung der Strafe bei Kant“ Kant Studien 76 (1985), S. 303 (309). 177 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 41, A 154, 155/B 154 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 305, 306). 178 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 44, A 163/B 193 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 312).
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Wirkmacht geschützt wird. Diese Leistung ist, wie auch die materielle Bestimmung dessen, was Recht ist, gar nicht anders denkbar, als daß alle gemeinschaftlich wirken: Wie die subjektive Vernunft nicht in der Lage war, das Verhältnis zu anderen objektiv richtig zu bestimmen, geht es über die Kraft eines einzelnen hinaus, Garantien für einen rechtlichen Zustand zu leisten.179 Kant schreibt: „Der Friedenszustand unter den Menschen, die nebeneinander leben ist kein Naturzustand (status naturalis), (. . .). Er muß also g e s t i f t e t werden; (. . .).“180 Der Begriff des „Stiftens“ weist auf eine zu erbringende Leistung, der Schaffung eines bestimmten Zustandes durch aktive Einflußnahme hin.181 Diese Leistung ist zu erbringen von denjenigen, die einen solchen Zustand begründen bzw. erhalten wollen. Sie ist ihnen möglich, weil sie die Kapazität zur Gestaltung ihrer eigenen Wirklichkeit haben; sie muß von ihnen gemeinsam erbracht werden, weil der einzelne alleine schon im Ansatz keine Allgemeingültigkeit schaffen kann; sie bleibt als Aufgabe individuell, weil sich der einzelne nicht in der Allgemeinheit verliert, sondern selbständiger Mitkonstituent bleibt.182 Die Vernunftordnung verwirklicht sich also nicht von selbst, sie muß vielmehr in mühevoller Kleinstarbeit hergestellt, erhalten, immer wieder neu durch freiheitliches Handeln bestätigt und gegen alle Eventualitäten menschlicher Schwäche abgesichert werden.183 Denn auch wenn sie inhaltlich jedem einsichtig ist, wenn also jeder ihr aus Vernunftgründen zustimmen muß, so bleibt der Mensch doch auch ein Wesen, das im Einzelfall gegen die objektiv-rechtliche Vernunft handelt, sei es wegen einer bewußten Fehlleistung oder aus Gründen subjektiv-beschränkter Perspektivität. Um einen rechtlichen Zustand zu schaffen, müssen nach Kant alle Rechtskonstituenten ihre subjektive Vernunft zu einem allgemein gesetzgebenden Willen vereinigen und sich einem öffentlich gesetzlichen Zwang unterwerfen. Sie müssen sich, mit anderen Worten, auf gesetzliche Bestimmungen einigen, diese positiv setzen (dazu unter 1.) und in einem weiteren Schritt eine äußere Macht konstituieren, die diesen Gesetzen zur Durchsetzung verhilft (dazu 2.).
179 I. Kant, MdS, Rechtslehre, §§ 8, 9, AB 73 ff. (Akademie-Ausg. Band VI, S. 255 ff.); siehe auch R. Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat (1989), S. 182. 180 I. Kant, Zum ewigen Frieden, Zweiter Abschnitt, BA 18. 181 So V. Gerhardt, Immanuel Kants Entwurf „Zum ewigen Frieden“, Eine Theorie der Politik (1995), S. 74. 182 Vgl. dazu E. A. Wolff, „Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen“ (1987), a. a. O. (Fn. 49), S. 189 und 195. 183 Vgl. dazu auch R. Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat (1989), S. 181 ff.
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1. Positive Gesetze Für die Gesetze einer Rechtsgemeinschaft lassen sich in Konkretisierung des skizzierten freiheitlichen Rechtsbegriffs materielle und formelle Vorgaben herausarbeiten, die im folgenden kurz dargestellt werden. a) Materielle Bestimmungen Gesetze, die als Konkretisierungen des Rechtsprinzips das Zusammenleben in der Gemeinschaft organisieren, müssen inhaltlich das Verhältnis freier Rechtssubjekte zueinander regeln. Es muß sich also all das in ihnen bewahrheiten, was in der Betrachtung der Ausgestaltung des Rechts abstrakt als Vorgabe herausgearbeitet wurde184, allerdings in deutlich konkretisierter Form.185 Wolff nennt drei Konkretisierungselemente materieller Gesetzgebung186: Es muß zum einen eine Zuordnung äußerer Freiheitssphären erfolgen, die sowohl den eigenen Körper als notwendiges Moment allen praktischen Handelns nach außen umfaßt, als auch die äußeren Güter, die der einzelne in seinem realen Dasein und zur freiheitlichen Gestaltung seines Lebens benötigt. Für den äußeren Umgang miteinander werden allgemeingültige Aussagen über das „äußere Mein und Dein“187 getroffen, woraus sich subjektive Rechtspositionen des einzelnen (und auch der geschaffenen Gemeinschaft selbst) ergeben. In diesen subjektiven Rechtspositionen liegt eine nähere Bestimmung dessen, was aus Vernunftgründen im gegenseitigen Rechtsverhältnis als „Daseinselement der Freiheit“ anzuerkennen ist.188 Bei der „Zuordnung“ geht es daher nicht um eine äußere Neuschaffung von Rechtsgütern, sondern um die Verfestigung dessen, was sich aus dem Rechtsverhältnis als Freiheitsraum eines jeden einzelnen notwendig ergibt.189 190 Ein gemeinschaftlicher Normsetzungsprozeß gleicht also einem 184
Vgl. dazu oben unter C. I. Zu der Bedeutung von positiven Gesetzen in der Rechtslehre Fichtes siehe R. Zaczyk, Das Strafrecht in der Rechtslehre Fichtes (1981), S. 73–76. 186 Vgl. dazu E. A. Wolff, „Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen“ (1987), a. a. O. (Fn. 49), S. 199 f. 187 Kant nennt den ersten Teil seiner Rechtslehre „D a s P r i v a t r e c h t – vom äußeren Mein und Dein überhaupt.“ 188 Vgl. dazu R. Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat (1989), S. 165 ff., der als Basiselemente das Leben, den Körper, die Freiheit und das Eigentum (verstanden als äußere Realisierbarkeit von Selbstbestimmung) entwickelt. 189 Vgl. auch dazu R. Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat (1989), S. 169. 190 Vgl. E. A. Wolff, „Das neuere Verständnis von Generalprävention und seine Tauglichkeit für eine Antwort auf Kriminalität“, a. a. O. (Fn. 46), S. 816, 817: „Die 185
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gemeinschaftlichen Anerkennungsverfahren, bei dem der einzelne sowohl als Anerkennender als auch als Anerkannter teilhat, und zwar in mehreren Dimensionen: Der einzelne ist eingebundenen in eine Vielzahl von Gleichheitsverhältnissen, die in ganz unterschiedlichen Konkretisierungsformen bestehen: Etwa innerhalb der Familie oder in Geschäfts- und Arbeitsverhältnissen, oder in zufälligen Begegnungen des Alltags. Innerhalb solcher Verhältnisse geht es um ein freiheitliches Dasein auf verschiedenen Betätigungsebenen und die gegenseitige Anerkennung muß rechtliche Verfestigung in je spezifischer Form erhalten. Gleichzeitig steht der einzelne aber auch in einem Verhältnis zur Allgemeinheit als solcher, etwa zu einer Gemeinde, einem Staat oder der Welt als ganzer. In einem rechtlich verfaßten Zustand kommt dieser Allgemeinheit eine besondere Bedeutung zu, denn sie ist es, die den einzelnen Rechtspositionen verobjektivierend Gültigkeit und Sicherheit verschaffen kann. Der einzelne ist Bestandteil dieser Allgemeinheit, wird umfaßt von ihrem sichernden Zusammenhang, behält aber gleichzeitig seinen Status als selbstbestimmtes, positiv freies Individuum. Auch dieses Verhältnis wird rechtlich gefaßt, indem die Rechtspositionen wechselseitig anerkannt und durch die Dimension der Allgemeinheit verobjektiviert werden. Rechtsgüter der Allgemeinheit bilden sich dann ebenso heraus wie die subjektiven Rechte des einzelnen gegenüber der Allgemeinheit. Ein zweites Element materieller Gesetzgebung liegt nach Wolff darin, daß den konkretisierten subjektiven Rechtspositionen ein Verbot für die jeweils anderen korrespondieren muß, diese zu verletzen. Das allgemeine Rechtsgesetz Kants („Handle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann!“) wird nun unmittelbar relevant für die ausgeformten Freiheitsverhältnisse unter positiven Gesetzen. Der Widerspruch zum allgemeinen Rechtsgesetz wird auf der Ebene konkretisierter Freiheitsbestimmung zur qualifizierten Rechtsverletzung. Als letztes Moment muß positiv rechtlich festgeschrieben werden, wie die einzelnen über die grundsätzliche Zuordnung und Sicherung ihrer Rechtssphären hinaus selbst gestaltend tätig werden können. Dies markiert den rechtsgeschäftlichen Verkehr, über dessen Ausgestaltung der einzelne im Rahmen der Rechtsordnung frei entscheiden kann.191 In der gestaltenden Tätigkeit liegt, wie oben entwickelt, ein Wesensmoment des selbstbestimmEinzelnen schaffen sich zunächst genügend Basis für ein selbstbewußtes Dasein, und zwar durch gegenseitige Zuordnung subjektiver Rechte in Beziehung auf äußere Gegenstände und Willensbildungen. Sie schaffen sich die Voraussetzungen des bürgerlichen Zustandes, (. . .).“ (ohne FN). 191 Hier liegt der Grund für das zivilrechtliche Prinzip der Privatautonomie.
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ten Menschen. Es ist deshalb auch zwingender Bestandteil einer freiheitlichen Rechtsordnung, daß dem einzelnen das einmal als „sein“ zu recht Anerkannte nicht nur vor fremden Zugriff gesichert wird, sondern gleichzeitig die Möglichkeit für ihn besteht, gestaltend damit zu verfahren: es zu veräußern, es zu verschenken, es auszutauschen, ganz allgemein: darüber zu verfügen. b) Formelle Bestimmungen Die Gesetze innerhalb einer Rechtsgemeinschaft haben ihre Bedeutung in der Klarstellung und Ausformung rechtlicher Verhältnisse für alle Beteiligten. Daraus folgt für ihre Form einerseits, daß sie zur Orientierung für die einzelnen über die jeweils geltende Rechtslage dienen sollen und daher bestimmt und widerspruchsfrei sein müssen. Sie müssen ferner in äußerlich verfestigter Form vorliegen, um die Subjektivität nur innerlicher Überzeugungen überwinden zu können. Die Entscheidung für die Schriftform von Gesetzen ist also nicht beliebig; bindende Wirkung und damit Zwangswirkung können nur solche Regelungen haben, deren Inhalt positiv und für alle nachvollziehbar fixiert wurde. Drittens müssen die Gesetze, weil nicht alle in der Lebenswirklichkeit entstehenden Rechtsverhältnisse wegen der unendlichen Vielfalt ihrer möglichen Gestalt erfaßt werden können, in abstrakter Form verfaßt sein.192 Für das Verfahren ihres Zustandekommens läßt sich aus der Herleitung des Rechts als Prinzip wechselseitiger Freiheit zweierlei erschließen: 1. Die Gesetzgebung für alle kann nicht in der Hand eines einzelnen liegen. 2. Der Gesetzgebungsprozeß muß zwangsläufig innerhalb der Rechtsgemeinschaft, d.h. unter Beteiligung derer, die durch die Gesetze gebunden werden sollen, stattfinden. Hinsichtlich beider Punkte wäre die Mißachtung ein Rückschritt in Heteronomie. Denn sobald gesetzliche Regelungen nicht für jeden zumindest als durch ihn mitkonstituiert gedacht werden können, beruht ihre Bindungswirkung nur noch auf äußeren Machtstrukturen. Die erste Aussage gilt, weil ein „besonderer Wille“, subjektive Vernunft, schon im Ansatz nur eine Richtigkeit aus subjektiver Perspektive begrün192 Siehe zu diesen formellen Anforderungen auch E. A. Wolff, „Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen“ (1987), a. a. O. (Fn. 49), S. 196– 198, der allerdings die Einteilung in materielle und formelle Bestimmungen der Gesetze nicht in der hier gewählten Art vornimmt.
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den kann. Hierin liegt ja der Grund für die Notwendigkeit von Recht in einer Gemeinschaft überhaupt und diese Einsicht muß dann auch bei der praktischen Umsetzung von rechtlichen Verhältnissen zugrunde liegen. Kant fügt dieser Überlegung noch eine weitere hinzu: Wenn alle über alle entscheiden, entscheidet auch jeder über sich selbst. Das bedeutet, daß in einem solchen Prozeß die Autonomie des einzelnen in Ansatz gebracht ist: Ich füge mich nicht dem Willen anderer, sondern bin selbst Mitbegründer des allgemeinen Willens, der uns alle gemeinsam bindet. Kant schreibt dazu: „Ein öffentliches Gesetz aber, welches für alle das, was ihnen rechtlich erlaubt oder unerlaubt sein soll, bestimmt, ist der Actus eines öffentlichen Willens, von dem alles Recht ausgeht, und der also selbst niemand muß Unrecht tun können. Hiezu aber ist kein anderer Wille, als der des gesamten Volks (da alle über alle, mithin ein jeder über sich selbst beschließt), möglich: denn nur sich selbst kann niemand unrecht tun. Ist es aber ein anderer, so kann der bloße Wille eines von ihm Verschiedenen über ihn nichts beschließen, was nicht unrecht sein könnte; folglich würde sein Gesetz noch ein anderes Gesetz erfordern, welches seine Gesetzgebung einschränkte, mithin kann kein besonderer Wille für ein gemeines Wesen gesetzgebend sein.“193. Bedeutsam ist an diesem Zitat, daß nach Kant die Mitwirkung aller nicht nur verhindert, daß ein einzelner unter fremdbestimmten Gesetzen leben muß. Die Beteiligung des gesamten Volkes, bestehend aus autonomen einzelnen, wirke auch auf die inhaltliche Rechtmäßigkeit der Gesetze hin: Er sagt, daß niemand sich selbst unrecht tun könne, oder an anderer Stelle: „Nun ist es, wenn jemand etwas gegen einen a n d e r e n verfügt, immer möglich, daß er ihm dadurch unrecht tue, nie aber in dem, was er über sich selbst beschließt (. . .)“194. Der Gefahr von unrechten Gesetzen wird also dadurch entgegengewirkt, daß alle ihre Zustimmung zu einer bestimmten Gesetzgebung geben müssen. Hier wird ein unabdingbarer Zusammenhang zwischen formeller und materieller Rechtmäßigkeit eingeführt: Die Form des Zustandekommens hat Auswirkung auch auf die inhaltliche Richtigkeit der geschaffenen Regeln. In dem Zusammenwirken vieler einzelner Vernunftwesen liegt eine Kraft, die über die Summe aller einzelnen subjektiven Vernunftleistungen hinaus einen synergetischen Effekt hat195: Es wird eine Allgemeingültigkeit geschaffen, die zwar ihren Grund in der Fähigkeit zur Selbstbestimmung der einzelnen hat, aber deren Schwäche zu überwinden sucht, indem sie möglichst viele subjektive Perspektiven durch ein Verfahren gegenseitiger Verständigung in die Lösung miteinbezieht und zu einem Ausgleich bringt.196 197 193
I. Kant, Über den Gemeinspruch, A 244. I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 46, A 165/B 195, 196 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 313). 195 Vgl. R. Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat (1989), S. 207. 194
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Auch für die zweite Konsequenz aus einem freiheitlichen Rechtsverständnis spielen die herausgestellten Aspekte (Autonomie als Grund für die formelle Beteiligung an der Gesetzgebung und als Bedingung für eine inhaltlich gute Rechts-Einheit) eine wesentliche Rolle. Eine Rechtsgemeinschaft muß sich ihr Recht selbst geben, jedes Mitglied muß sich selbst als Mitbegründer verstehen können, wenn die gesetzlichen Regelungen nicht bloß „äußerliches Schrankenziehen“198 sein sollen. Das schließt aus, daß der eigene, gemeinschaftliche Gesetzgebungsprozeß durch die Übernahme einer fremden Rechtsordnung ersetzt wird; eine von außen an eine Rechtsgemeinschaft heran getragene Regelsammlung würde ein wesentliches Moment eines freiheitlich begründeten Rechtssystems ignorieren199: Die Wurzel des 196
Der einzelne muß sich bei dem Prozeß der Gesetzgebung auf die Argumente der anderen einlassen und sie in seine eigene Entscheidung einfließen lassen. Die Auseinandersetzung mit anderen, ebenso zur Selbstbestimmung befähigten Wesen erweitert den eigenen Horizont, macht es möglich, auch andere Perspektiven einzusehen. Wirken viele subjektiv vernünftige Wesen auf diese Weise zusammen, so erhöht sich die Chance, eine allgemeingültig gute Regelung zu erarbeiten. Entscheidende Bedingung für ein gutes Ausgehen dieses Verfahrens ist, daß der einzelne als autonomes Wesen in Ansatz gebracht wird. Denn nur, wenn gedanklich die Fähigkeit zum guten Handeln bei jedem einzelnen vorausgesetzt wird – also der einzelne nicht bloß als naturhaft-determiniert verstanden wird – kann das Verfahren gegenseitiger Verständigung ein „Mehr“ zur bloß subjektiven Richtigkeit herbeiführen. 197 Kant hat bei diesen Ausführungen die tatsächliche Situation einer Vielheit von endlichen Vernunftwesen, die sich zu einer Rechtsgemeinschaft verbinden wollen, nicht aus den Augen verloren. Wenn auch die Zustimmung aller zu einem öffentlichen Gesetz prinzipiell geboten ist, so wird dies in der Praxis der Gesetzgebung nicht erreichbar sein. „Wenn also das erstere (nämlich die Zustimmung aller, Anmerkung der Verf.) von einem ganzen Volk nicht erwartet werden darf, mithin nur eine Mehrheit der Stimmen (. . .) dasjenige ist, was allein man als erreichbar voraussehen kann: so wird doch selbst der Grundsatz, sich diese Mehrheit genügen zu lassen, als mit allgemeiner Zustimmung, also durch einen Kontrakt, angenommen, der oberste Grund einer bürgerlichen Verfassung sein müssen.“ I. Kant, Über den Gemeinspruch, A 248, 249); vgl. zu dem Gedanken der Mehrheitsbeschlüsse auch E. A. Wolff, „Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen“ (1987), a. a. O. (Fn. 49), S. 202–203: „(. . .) Zustimmung zu einer gemeinsamen Regelung (bedeutet nicht), daß der Einzelne nicht eine andere Lösung vorzöge. Vielmehr genügt es ihm nach den Regeln der Vernunft, daß diese Lösungen nachvollziehbar sind und von der Mehrheit als besser akzeptiert werden. Insoweit kommt es auf die Mehrheit an, wie Rousseau richtig gesehen hat. Das kann nur deswegen möglich sein, weil die Richtigkeit begründeten Daseins auch ein quantitatives Moment hat. Wenn eine inhaltlich bessere Lösung nicht zu erreichen ist, dann bleibt immerhin noch ein Teil der gemeinsamen Vernunft, jener Alternative den Vorzug zu geben, bei der eine größere Anzahl ein ihrer primären Begründung näheres Leben haben.“ 198 R. Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat (1989), S. 145. 199 Vgl. dazu auch G. W. F. Hegel, RPh, § 274 Anm., S. 440: „Einem Volke eine, wenn auch ihrem Inhalte nach mehr oder weniger vernünftige Verfassung a
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Rechtsbegriffs selbst liegt in der Autonomie des einzelnen. Die grundsätzliche Befähigung zu praktischer Selbstorientierung muß in einem gemeinschaftlichen Akt zum Prinzip für alle erhoben und wirklich gemacht werden. Ein Verfahren, das eine solche Eigenleistung übergeht, kann nur zum temporären Ordnungschaffen taugen. Ein dauerhaftes und stabiles rechtliches Miteinander ist nur möglich, wenn die einzelnen als selbstbestimmte Vernunftwesen ihre Gemeinschaft selbst gestalten können.200 Darin liegt dann aber auch eine anspruchsvolle Aufgabe der Selbst-Verantwortung, die einen gewissen Reifegrad der Gesellschaft voraussetzt und eine enorme Kraftanstrengung aller Beteiligten erfordert: Es geht nicht nur darum, sich einmalig gesetzliche Grundlagen zu schaffen, sondern auch darum, diese in freiheitlicher Betätigung immer wieder zu bestätigen. 2. Garantie der Rechtswirklichkeit Um die Wirklichkeit von Recht im Dasein eines jeden Vernunftsubjekts sicherstellen zu können, genügt es nicht, äußere Rechtssphären verbindlich zuzuordnen, Verletzungsverbote aufzustellen und Gestaltungsmöglichkeiten festzulegen. Zur Gründung und Aufrechterhaltung eines rechtlichen Zustandes muß hinzukommen, daß das gesetzlich Anerkannte durch „hinreichende Macht“201 verwirklicht wird. Diese Macht kann nach dem bisher gedanklich Erarbeiteten wiederum nicht einem einzelnen zukommen, sondern muß auf die Allgemeinheit zurückführbar sein. Denn ebenso wie das einzelne Vernunftsubjekt keine Allgemeingültigkeit verbindlich für alle festlegen kann, kann es ihm auch nicht gelingen, seine eigene subjektive Perspektive zu überwinden, wenn es priori geben zu wollen, – dieser Einfall übersähe gerade das Moment, durch welches sie mehr als ein Gedankending wäre. Jedes Volk hat deswegen die Verfassung, die ihm angemessen ist und für dasselbe gehört.“ Vgl. auch den Zusatz zum § 274, in dem Hegel u. a. auch darauf hinweist, daß das Entwickeln einer eigenen Verfassung seine Zeit braucht. 200 Im internationalen Bereich spielt diese Feststellung eine bedeutsame Rolle. Ein Volk, das nach längeren Konflikten im eigenen Land oder nach kriegerischen Auseinandersetzungen mit fremden Staaten vor dem Neuanfang steht, muß diesen Schritt grundsätzlich selbst bewältigen. Ein Eingriff von außen kann dafür Grundlagen schaffen helfen, er kann eine „Starthilfe“ geben. Ersetzen kann er diesen Prozeß aber nicht. Für das Thema dieser Arbeit wird im Vorgriff auf eine genauere Analyse schon an dieser Stelle eines deutlich: Auch die Unrechtsbewältigung als Teil der Auseinandersetzung mit dem Geschehenen kann nicht fernab vom betroffenen Volk geschehen, wenn es sich dabei tatsächlich um eine gemeinschaftliche Anstrengung zur (Wieder)herstellung freiheitlicher und friedlicher Verhältnisse handeln soll. Denn nach dem Gesagten ist es wesentlich Eigenleistung, die zu dauerhaft rechtlichen Zuständen führt und nicht ein heteronom gesetzter Ordnungsmechanismus. 201 Vgl. oben Fn. 178.
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um die Umsetzung des allgemein Verfaßten geht. Auch hier wird also ein Zusammenwirken der Vielen in einer Gemeinschaft erforderlich – und auch das ist im Rechtsprinzip selbst schon angelegt. Es ergibt sich allerdings die Schwierigkeit der äußeren Realisierung dieser Einsicht. Wie auch bei der gemeinsamen Gesetzgebung202 muß eine Lösung gefunden werden, wie trotz der unendlichen Bandbreite subjektiver Eigenarten eine auf Allgemeinheit basierende Um- und Durchsetzung der positiv festgelegten Gesetze praktisch möglich werden kann. Es bedarf also einer Organisation, die ihre Basis in der Mitwirkung aller hat, darüber hinaus aber eine gewisse Selbständigkeit erlangt, um sich von der Beschränktheit bloß subjektiver Einsichten unabhängig zu machen. Mit anderen Worten: Es muß eine neue, höherstufige Einheit entstehen, die die einzelnen als wesentliche, begründende Einheiten umfaßt, über sie hinaus aber auch eine eigene Identität gewinnt, die in der Verfassung als Rechtsgemeinschaft ihren Ausdruck findet. Die Rede ist von der Konstitution des Staates.203 „Der Akt, wodurch sich das Volk selbst zu einem Staat konstituiert, eigentlich aber nur die Idee desselben, nach der die Rechtmäßigkeit desselben allein gedacht werden kann, ist der u r s p r ü n g l i c h e K o n t r a k t, nach welchem alle (omnes et singuli) im Volk ihre äußere Freiheit aufgeben, um sie als Glieder eines gemeinen Wesens, d. i. des Volkes als Staat betrachtet (universi), sofort wieder aufzunehmen; und man kann nicht sagen: Der Mensch im Staate habe einen Teil seiner angeborenen äußeren Freiheit einem Zwecke aufgeopfert, sondern er hat die wilde, gesetzlose Freiheit gänzlich verlassen, um seine Freiheit überhaupt in einer gesetzlichen Abhängigkeit, d. i. in einem rechtlichen Zustande, unvermindert wieder zu finden; weil diese Abhängigkeit aus seinem eigenen gesetzgebenden Willen entspringt.“204 Dies ist die Art, wie Kant die Begründung205 eines staatlichen Zusammenhangs umschreibt, der Rechtmäßigkeit und nicht faktische Gewalt als seine Basis hat. Die angeborene Freiheit des einzelnen Rechtssubjekts wird 202
Vgl. dazu Fn. 197. Vgl. dazu u. a. M. Köhler, Über den Zusammenhang von Strafrechtsbegründung und Strafzumessung (1983), S. 34, 35; E. A. Wolff, „Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen“ (1987), a. a. O. (Fn. 49), S. 203 ff.; R. Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat (1989), S. 181 ff.; ders., Das Strafrecht in der Rechtslehre Fichtes (1981), S. 50 ff. 204 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 47, A 168, 169/B 198, 199 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 315, 316). 205 „Begründung“ ist hier nicht zu verstehen als historisch fixierbares Ereignis, sondern als gedanklicher Vorgang. Siehe dazu auch I. Kant, Über den Gemeinspruch, A 250 und R. Zaczyk, „Staat und Strafe – Bemerkungen zum sogenannten ‚Inselbeispiel‘ in Kants Metaphysik der Sitten“, a. a. O. (Fn. 40), S. 79. 203
C. Der rechtliche Zusammenhang
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zu einer unverminderten „Freiheit überhaupt“ in einem rechtlichen Zustand. Der einzelne gibt seine Autonomie also nicht dadurch auf, daß er sich selbst in eine gesetzliche Abhängigkeit begibt. Er schafft sich vielmehr erst die Möglichkeit, wirklich autonom zu leben – und das heißt unter Einrechnung der anderen, auf die er genauso angewiesen ist, wie diese auf ihn. Das gemeinsame Eintreten in eine solche gesetzliche Abhängigkeit ist als apriorische Vernunftforderung für jeden subjektiv als unbedingt-richtig einsichtig, sie „entspringt“ seinem „eigenen gesetzgebenden Willen“. Das Recht wird innerhalb eines solchen verfaßten rechtlichen Zustandes komplexer: Rechtsverhältnisse erhalten eine Verfestigung durch positive Gesetze, die durch Organe der gemeinschaftlichen Gesamtstruktur ausgeführt und durchgesetzt werden. Die gedanklich zugrundeliegende Zwei-PersonenStruktur fächert sich auf und wird zu einem Netz von Rechtsverhältnissen. Die übergeordnete verbindende Gesamtstruktur muß aber nach wie vor den Prinzipien der praktischen Vernunft gemäß gestaltet sein. So bleibt die staatliche Struktur der subjektiven Vernunft zugänglich, wenn sie ihr auch übergeordnet ist. Wie eine staatliche Struktur in Parallele zur Struktur der praktischen Vernunft gedacht werden kann, hat Kant im § 45 seiner Metaphysik der Sitten erläutert. Er verweist zunächst auf die drei Gewalten in einem Staat: Erstens die H e r r s c h e r g e w a l t (Souveränität) des Gesetzgebers, zweitens die v o l l z i e h e n d e G e w a l t der Regierung (zufolge dem Gesetz) und drittens die r e c h t s p r e c h e n d e G e w a l t (als Zuerkennung des Seinen eines jeden nach dem Gesetz) in der Person des Richters. In einem zweiten Schritt weist er diese drei Gewalten den drei Schritten eines praktischen Vernunftschlusses zu: Die Gesetzgebung dem Obersatz, die vollziehende Gewalt dem Untersatz und die Rechtsprechung dem Schlußsatz. Damit ist zunächst noch nicht mehr geschehen, als eine gedankliche Zuordnung eines in der Wirklichkeit existierenden Phänomens (der Gewaltenteilung im Staat) zu einem abstrakt-logischen Vernunftschluß (Obersatz, Untersatz, Schlußsatz als Syllogismus). Es liegt darin aber mehr als auf den ersten Blick erkennbar, denn diese Identifizierung der Gesamtheitsstruktur mit der in jedem einzelnen befindlichen Vernunftstruktur läßt all die Erkenntnisse zur menschlichen Vernunft auch für die sie umfassende, höherstufige Einheit wieder aufleben. So kann jene Zuordnung in Zusammenhang gebracht werden sowohl mit der Finalstruktur menschlicher Vernunft als auch mit dem Prozeß schließenden Prüfens des subjektiven Handlungsgrundsatzes auf widerspruchslose Verallgemeinerbarkeit, also auf die Vernunftbewegung des kategorischen Imperativs.206 Geht es um eine absolute Bewertung 206 Siehe dazu die Interpretation E. A. Wolffs in „Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen“ (1987), a. a. O. (Fn. 49), S. 208.
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1. Teil: Freiheitliche Strafbegründung im Staat
der Staatsorganisation ist der zuletzt genannte Gedanke weiterzuverfolgen. Das gute Staatshandeln bestimmt sich dann auf ähnlichem Wege wie das gute Individualhandeln. Das allgemeine Gesetz, anhand dessen eine Prüfung erfolgt, wird durch die Gesetzgebung unter der Mitwirkung aller (im oben beschriebenen Sinn der Bündelung subjektiver Vernunft) aufgestellt. Die Regierung, als vollziehendes Organ, ist das praktisch handelnde Element, das die Einflüsse und Gegebenheiten der Wirklichkeit in seiner Maximenbildung aufnimmt und nach einem Prozeß der Abwägung zur Tat schreitet. Der Richter schließlich überprüft die Vereinbarkeit von Maxime und allgemeinem Gesetz, er leistet die gültige Subsumtion. Es wird also das Verfahren der Selbstbestimmung erweitert auf den Zusammenhang einer die menschliche Freiheit in ihrer Gesamtheit hervorbringende Organisationsform. Das ist ein gewagtes Unterfangen, denn moralische Selbstbestimmung des einzelnen und die Gesamtorganisation einer freiheitlichen Rechtsgemeinschaft sind unvermittelt nicht ohne Schwierigkeiten parallel zu denken. Allerdings hat eine ähnliche gedankliche Erweiterung auch schon für den Bereich des Rechts im allgemeinen Erkenntnisse hervorgebracht, die nun als vermittelnder Schritt einzubeziehen sind. Dort war der kategorische Imperativ in einen kategorischen Rechtsimperativ gewandelt worden und mehrere Spezifika des Rechts wurden herausgearbeitet: Erstens die Unterscheidung zwischen Moralität und Legalität (die äußerliche Seite des Handelns, nicht der zugrundeliegende Willensprozeß ist Gegenstand eines rechtlichen Urteils), zweitens die Bedeutung der Autonomie des Rechtssubjekts, drittens die Erkenntnis, daß nicht das Erreichen eines bestimmten, inhaltlich festgelegten Ziels Aussagen über die Rechtlichkeit einer Handlung erlaubt, sondern nur ihre Vereinbarkeit mit der Freiheit der anderen unter einem allgemeinen Gesetz ausschlaggebend ist. Soll nun die Übertragung des Gedankens der praktischen Vernunft auf die Organisation des Staates zutreffend sein, muß es praktisch-rechtliche Vernunft sein, die in Ansatz gebracht wird. Bei dem allgemeinen Gesetz handelt es sich dann also um ein Rechtsgesetz, der Richter ist zuständig nur für eine Beurteilung einer Handlung als recht oder unrecht (und nicht als moralisch gut oder böse), die vollziehenden Handlungen der Regierung sind als Rechtshandlungen zu begreifen. Dies ändert aber nichts daran, daß es die Struktur des kategorischen Imperativs ist, die sich in Gesetzgebung, Regierung und Rechtsprechung wiederfindet. Diese Struktur hatte sich ja in der Entwicklung zum Rechtsimperativ auch nicht verändert. Es geht also um rechtliche Selbstbestimmung auch in der Form der gemeinsamen Organisation. Kant schreibt: „Also sind es drei verschiedene Gewalten (. . .), wodurch der Staat (civitas) seine Autonomie hat, d. i. sich
C. Der rechtliche Zusammenhang
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selbst nach Freiheitsgesetzen bildet und erhält.“207 Der Staat wird hier offenbar analog zum einzelnen natürlichen Rechtssubjekt als eine Einheit verstanden, die sich selbst zum Richtigen, also zum Freiheitserhaltenden bestimmen kann. In Verfolgung dieser Analogie stellt sich die Frage, ob der Staat bei seinem äußeren Handeln in Richtung anderer Staaten genauso der Gefahr von Fehlleistungen ausgesetzt ist, wie das bei äußeren Handlungen eines Individuums in Richtung anderer Individuen der Fall ist. Und, wenn ja, ob eine solche Feststellung nicht dazu führen müßte, daß die Notwendigkeit von Recht und seiner Garantie in einem rechtlichen Zustand auch für das Verhältnis von Staaten untereinander gilt. Tatsächlich denkt Kant in diese Richtung weiter.208 Solche Gedanken werden an dieser Stelle der Argumentation aber zunächst zurückgestellt209, denn der Schwerpunkt dieses Abschnitts liegt auf dem Verhältnis der „Einheit Staat“ zur „Einheit Individuum“, geht es doch letztlich darum, Befugnisse der ersteren zum Eingriff in die Freiheit der letzteren zu begründen. Die Analogie zur Selbstbestimmung des einzelnen Vernunftsubjekts hat noch weitere Aspekte. Das handelnde Organ, die Regierung, kann sich wie das endliche Vernunftwesen Mensch selbst irren oder sich sogar bewußt gegen das Recht wenden („über andere den Meister spielen“210). Bei der Aufnahme der wirklichen Verhältnisse und der (subjektiven) Maximenbildung trifft sie nur eine vorläufige, provisorische (eben subjektive) Entscheidung darüber, ob sich ihr Handlungsgrundsatz mit dem allgemeinen Gesetz in Einklang bringen läßt. Dies ist auch gar nicht anders denkbar, ist doch die vollziehende Gewalt das dynamische Element der Staatsorganisation. Sie muß die Wirklichkeit in den Griff bekommen, zügig Entscheidungen treffen, um damit ihrerseits die Wirklichkeit zu gestalten, mit andern Worten: den Alltag meistern. Dabei kann nicht mehr verlangt werden, als daß sie sich überhaupt am allgemeinen Gesetz orientiert, es ernst nimmt und – nach ihrer subjektiven Einschätzung – ihm gemäß handelt. Das endgültige Urteil darüber, ob rechtlich gehandelt wurde, muß in einem anderen Rahmen gefällt werden: Unabhängig vom Entscheidungsdruck der spezifischen Lebenssituation, nur dem allgemeinen Gesetz verpflichtet und in einer Umgebung, die eine besonnene Entscheidung ermöglicht: Die Sphäre der Richter.211 207 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 49 (am Ende), A 172/B 202 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 318). 208 Vgl. dazu den 2. Abschnitt (Das Völkerrecht) des 2. Teils der RL (§§ 53 ff.), A 215 ff./B 245 ff. (Akademie-Ausg. Band VI, S. 343 ff.) und die Schrift Zum ewigen Frieden, insbesondere den Zweiten Definitivartikel. 209 Vgl. aber in diesem Zusammenhang B. II. 1. im 2. Teil der vorliegenden Arbeit. 210 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 42, AB 157 (Akademie-Ausg., Band VI, S. 307).
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1. Teil: Freiheitliche Strafbegründung im Staat
Damit ist prinzipiell eine Gleichwertigkeit der Maximenbildung und -verwirklichung durch die staatliche Einheit und durch den selbstbewußten einzelnen anerkannt, keiner hat also per se Recht. Allerdings hat die staatliche Macht eine überlegene (keine absolute) Stellung, die eben auch von dem im Einzelfall abweichenden besonderen Willen des betroffenen einzelnen prinzipiell Zustimmung gefunden hat und ihre Berechtigung aus dem Zusammenwirken der Mehrheit der Gesellschaft zieht. Kippt dieses Verhältnis, ist also das Handeln des Staates unter diesen Gesichtspunkten nicht mehr nachvollziehbar, wird staatliches Handeln zu Unrecht, also zu einem Hindernis der Freiheit. Die Stellung des Richters im Staat wurde schon angesprochen. Laut Kant fällt er den „Schlußsatz, der den R e c h t s s p r u c h (die Sentenz) enthält, was im vorkommenden Falle Rechtens sei“212. Auch hier hilft die Analogie zum Prozeß der Selbstorientierung bei endlichen Vernunftwesen weiter. Dort findet die Überprüfung der Übereinstimmung der Handlung mit dem allgemeinen Gesetz als moralische Selbstbestimmung im Inneren der Person statt. Bei äußeren Handlungen mit interpersonaler Relevanz ist dies zunächst nicht anders, auch die rechtliche Selbstbestimmung ist wesentlich Eigenleistung des Subjekts. Insofern findet die vorläufige Abwägung dessen, was im konkreten Fall richtig bzw. recht ist, innerhalb der Person statt, hier im übertragenen Sinne innerhalb der künstlichen Person Staat, und ihr Ergebnis äußert sich in ihrem Handeln. Allerdings kann es zu Konflikten zwischen zwei Subjekten kommen, wenn beide im konkreten Fall Rechtlichkeit beanspruchen, sich die beiden Perspektiven aber im Widerspruch zu einander befinden und nur eine aus sach-logischen Gründen zutreffend sein kann. Dies bedeutet, daß, sobald nur überhaupt mehrere beteiligt sind, der einzelne nicht mit Gültigkeit auch für die anderen Richtigkeit feststellen kann. Eine außenstehende Instanz wird dann für jeden Beteiligten einsichtig eher fähig sein, die Lage zu überblicken und die Handlungen der einzelnen auf ihre Vereinbarkeit mit dem allgemeinen Gesetz zu überprüfen. Die Notwendigkeit eines Richters hat also wiederum im Kern denselben Grund, wie das Recht selbst, es geht um eine die subjektiven Perspektiven überwindende Objektivität. Die Schaffung einer Richterinstanz ist daher notwendig Teil der Umsetzung rechtlicher Verhältnisse. Die Stellung des Richters im Staat hat aber noch eine zusätzliche Komponente. Nur in einer mit Macht ausgestatteten äußeren Organisation kann 211
Für ein gesundes Gemeinwesen ist die Frage, ob die Richterschaft tatsächlich in einer solchen Atmosphäre arbeiten kann, von erheblicher Bedeutung. Vgl. zur Kritik am heutigen Zustand der Justiz in diesem Zusammenhang M. Köhler, „Zur Stellung der Justiz in der Gerechtigkeitsordnung“ SchlHA 9 (2001), S. 201 ff. 212 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 45 (am Ende), A 165/B 195 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 313).
C. Der rechtliche Zusammenhang
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auch sichergestellt werden, daß der Richterspruch verwirklicht wird. Solange sich die einzelnen in einem noch nicht rechtlich verfaßten Zustand befinden, ist die Richterstellung zwar immer noch begründbar – die neutrale Sicht der Dinge kann auch dort zu einer Verständigung führen – aber die Durchsetzung des für Recht Befundenen bleibt letztlich zufällig. Sie hängt wesentlich von äußeren Machtverhältnissen ab. Im Staat steht hinter dem Richter ein Gesamtgerüst von Organen, die mit Durchsetzungskraft versehen sind und im Notfall Zwang ausüben können. Dabei ist der Richter bei seinem Urteil stets an das allgemeine Gesetz gebunden, das wesentlich unter der Mitwirkung derer, die nun im konkreten Fall vor ihm stehen, zustande gekommen ist. Das bedeutet, daß er zwar eine Einzelfallentscheidung trifft, die mit der subjektiven Richtigkeit mindestens eines Beteiligten nicht übereinstimmt, die aber andererseits auf einem Gesetz beruht, dem auch dieser Betroffene wenigstens hätte zustimmen können, ohne seine eigene subjektive Vernunft über Bord werfen zu müssen. Auch der Zwang, der unter Umständen dem Betroffenen gegenüber in Durchsetzung des Urteils angewandt wird, ist nicht bloß heteronome Gewalt, die sich nur nach faktischer Macht richtet. Die Möglichkeit von verobjektiviertem Zwang in einer Rechtsgemeinschaft war einer der Gründe, warum es überhaupt zur Konstitution des Staates kommen mußte. Eine Garantie der eigenen Rechtspositionen ist nur zu haben, wenn man sie auch den anderen zubilligt. Daher ist der Zwang, der sich nun gegen den einen richtet, von ihm selbst zumindest mitbegründet. Dies gilt allerdings nur solange, wie der Zwang sich inhaltlich am Recht orientiert. Das war ja schon aus dem Rechtsprinzip entwickelt worden und hat Bedeutung nun auch in der Realisierung rechtlicher Verhältnisse. Eine Schwierigkeit ergibt sich allerdings: Die Richterstellung, so wie sie hier entwickelt wurde, erlangt Bedeutung wegen der ständigen Möglichkeit von Konflikten zwischen zwei Subjekten (denn „jeder folgt seinem eigenen Kopfe“213). Die Position des Richters ist aus der Sicht der Subjekte notwendig eine äußere. Nun ist aber der Richter als dritte Staatsgewalt als ein Teil des Ganzen beschrieben, nicht als etwas von außen Hinzukommendes. Er soll u. a. die Handlungen der vollziehenden Gewalt daraufhin überprüfen, ob sie in Übereinstimmung mit dem allgemeinen Gesetz stehen. Ein solches Urteil verlangt eine gewisse Unabhängigkeit von der ausführenden Kraft, es muß von ihr abstrahiert, ihre Perspektive verlassen und statt dessen die Gesamtheit in den Blick genommen werden. Dies ist ein vertrautes Prozedere, verfährt doch die menschliche Vernunft eben auf jene Weise, wenn sie das Richtige ermitteln will. In seiner Position als letztentscheidende Instanz 213 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 44, A 163/B 193 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 312).
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1. Teil: Freiheitliche Strafbegründung im Staat
muß der Richter also zwangsläufig unabhängig von den Einflüssen der ausführenden Staatsgewalt sein, wenn seine Urteile die Übereinstimmung mit oder auch die Widersprüchlichkeit zu dem allgemeinen Gesetz zutreffend feststellen sollen. Gerade bei der Überprüfung der Rechtmäßigkeit von staatlichem Handeln, enthält dann die Richterposition auf einmal eine Doppelrolle. Denn der staatliche Richter ist einerseits Bestandteil des Staates, andererseits soll er als neutrale (dritte) Instanz auftreten: Er ist Partei und Richter in einem. Dies ist nur aufzulösen durch die Idee der Unabhängigkeit der Richter von der ausführenden Staatsgewalt.214 3. Zusammenfassung zu II. Die Schaffung eines rechtlichen Zustandes, in dem jedem endlichen Vernunftwesen ein selbstbestimmtes Leben tatsächlich möglich gemacht wird, ist eine apriorische Notwendigkeit und schon im materiellen Rechtsprinzip angelegt. Die Leistung, einen solchen Zustand wirklich zu machen, ist von den einzelnen Subjekten selbst zu erbringen – sie müssen sich einerseits vereinigen und so eine neue Einheit gründen, die in ihrer Gesamtheit mehr zu erbringen vermag als die einzelnen alleine; sie müssen sich andererseits aber auch als Person durch Teilhabe am Ganzen auszeichnen. Sie bleiben mit der Gesamtheit etwa durch Mitwirkung an der Gesetzgebung, durch ein selbstbestimmtes Leben gemäß dem Gesetz, durch Übernahme von Staatsämtern, durch öffentliche Meinungskundgabe, etc. verbunden. Wesentlich für die Gründung und den Erhalt eines die Rechte der einzelnen garantierenden Zustandes ist eine äußere Verfestigung der Rechtspositionen und eine äußere Macht, die diese auch gegen den besonderen Willen im Einzelfall verwirklicht. Damit sind die drei Gewalten in einem Staat in ihren wesentlichen Funktionen umschrieben. Die Gesetzgebung konkretisiert das allgemeine Rechtsgesetz, indem sie für eine Vielzahl von denkbaren Rechtsverhältnissen positiv festlegt, wie diese materiell in Übereinstimmung mit dem Freiheitsgesetz zu bringen sind. Die vollziehende Gewalt verschafft diesen Gesetzen durch eine übergeordnete Macht Geltung, die rechtsprechende Gewalt urteilt in Fällen von Unklarheit über die Rechtmäßigkeit eines äußeren Verhaltens. Dabei stehen diese drei Gewalten dem einzelnen Rechtssubjekt nicht bloß äußerlich gegenüber, sondern es besteht im Gegenteil eine Verbundenheit, die tief in der Natur des einzelnen als endlichem Vernunftwesen verwurzelt ist. Der letzte Grund für eine solche Organisation liegt in der Autonomie des einzelnen.
214 Vgl. auch dazu die Kritik bei M. Köhler, „Zur Stellung der Justiz in der Gerechtigkeitsordnung“ SchlHA 9 (2001), S. 201 ff.
D. Staatliche Strafe als Unrechtsreaktion
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D. Staatliche Strafe als Unrechtsreaktion Die staatliche Organisation ermöglicht nach dem Gesagten eine Konkretisierung des Rechts (in den Bereichen des Privatrechts und des öffentlichen Rechts) und seine praktische Verwirklichung. Einzelne Anerkennungsverhältnisse werden zu rechtlich verfaßten und durch die Allgemeinheit garantierten Gleichheits- bzw. Friedensverhältnissen, ausgedrückt in der verbindlichen Zuordnung von Rechtsgütern als äußere Verwirklichungsmomente der persönlichen Freiheit. Dies gilt gleichermaßen für Gemeinschafts- wie für Individualrechtsgüter. Gesetze regeln das Verhältnis der einzelnen Subjekte zueinander, u. a. indem sie Freiheitssphären kodifizieren und Verletzungsverbote aufstellen. Der rechtliche Zustand umspannt die einzelnen Rechtsverhältnisse und sorgt dafür, daß es sich bei ihnen nicht bloß um Zweipersonenbeziehungen handelt, sondern immer schon ein Eingebundensein in den – nunmehr215 – verfaßten Gesamtzusammenhang besteht. Die einzelnen stehen sich als Rechtspersonen in verfaßten Anerkennungsverhältnissen gegenüber und dürfen wegen der stabilisierenden Wirkung des staatlichen Zusammenhangs darauf vertrauen, daß sie in ihrem Status als autonome Mitbegründer dieses Zustandes geachtet werden. Das Vertrauen in die Vernünftigkeit der anderen, das entscheidender Grund für die Fähigkeit zur Selbstorientierung war, wird nun auf einer höheren Ebene gefestigt: Die Verhältnisse werden insgesamt sicherer und der Regelfall ist ein rechtlicher Umgang miteinander, der nicht dem Zufall entspringt, sondern System hat. Trotzdem muß die Rechtsgemeinschaft menschliche Fehlleistungen miteinrechnen. Das Vertrauen auf ein friedliches Miteinander ist nur dann gerechtfertigt, wenn gerechte Ausgangsverhältnisse geschaffen und für den Fall von Vertrauensbrüchen Gegenmaßnahmen ins Auge gefaßt werden. So müssen zunächst insgesamt Verhältnisse geschaffen werden, die es von vornherein unnötig machen, daß der einzelne glaubt, das ihn einbindende Rechtsverhältnis zu seinen Gunsten manipulieren zu müssen. Das setzt voraus, daß im Ansatz tatsächlich Gleichheitsverhältnisse bestehen – sowohl was die rechtliche Stellung als auch was die materiellen Verwirklichungsmöglichkeiten angeht. Staatlich vermittelte Diskriminierung und Armut sind mit einem dauerhaften Friedenszustand unvereinbar. Die Grundverhältnisse müssen gerecht gestaltet werden – eben dies machte ja bei der Konstitution des Staates den Unterschied zu einer beliebigen Gewaltherrschaft aus. Nur durch eine inhaltliche Bindung an den Autonomiegrund215 Vgl. dazu die Ausführungen zum vorstaatlichen Rechtszwang oben unter C. I. 2. Auch dort war die Rede von einer Einbettung des Rechtsverhältnisses in die objektivität-schaffende Rechtsallgemeinheit – dort noch nicht gedacht als staatlich verfaßt.
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1. Teil: Freiheitliche Strafbegründung im Staat
satz216 ist vom Ansatz her gewährleistet, daß die einzelnen in ihrer Eigenschaft als freie Wesen – und davon abgeleitet als alle gleichbedeutsam217 – unter Rechtsgesetzen leben können. Wird ein solches Gemeinwesen durch die Mitwirkung der einzelnen geschaffen, so liegt es auch bei ihnen, es zu erhalten. Aus diesem Grund werden die Mitkonstituenten in einem Akt gemeinschaftlicher Reflexionsleistung Verletzungsmöglichkeiten der Freiheit des einzelnen und des Ganzen erkennen und ihnen begegnen wollen.218 Die Möglichkeit von Rechtsverletzungen ist ganz real, denn sie ist angelegt in der Natur des Menschen als endlich-vernünftig und durch Selbstreflexion unmittelbar erfahrbar.219 Durch den Übergang in einen rechtlichen Zustand wird nicht generell ausgeschlossen, daß sich die Endlichkeit der einzelnen Rechtssubjekte auswirkt und der einzelne bei seinen äußeren Handlungen fehlgeht. Dabei kann er das verfaßte Anerkennungsverhältnis mit anderen verletzen, es in ein Ungleichheitsverhältnis verwandeln, das Vertrauen des anderen auf Wahrung des Rechtsverhältnisses zwischen beiden enttäuschen, kurz: Unrecht verwirklichen. Dies ist deshalb möglich, weil seine Selbständigkeit durch den Eintritt in den Rechtszustand nicht aufgehoben wird. Es ist ja im Gegenteil gerade Ziel des Übergangs in einen Rechtszustand, dem einzelnen Subjekt ein selbstorientiertes Leben möglich zu machen. Dann kann aber durch allgemeine Festlegung seine Handlungspalette nicht so begrenzt werden, daß die Möglichkeit der Verletzung anderer Freiheitssphären überhaupt ausgeschlossen ist. Mit der Entscheidung für die Wahrung von Autonomie als Staatsziel ist dem einzelnen ein faktischer Spielraum für seine Lebensführung gegeben, der immer auch eine Einwirkung auf andere umfaßt. Da das Recht, wenn es denn Recht ist, prinzipiell vom Recht-handeln seiner Adressaten ausgehen kann, weil dies schon im Ansatz mit subjektiver Vernunft übereinstimmt, muß es die Möglichkeit endlicher Fehlleistungen nicht als die Regel, sondern als die Ausnahme menschlichen Verhaltens in Ansatz bringen. Der Mensch ist nach dem bisher erarbeiteten Verständnis keine nur durch 216
Vgl. dazu M. Köhler, Über den Zusammenhang von Strafrechtsbegründung und Strafzumessung (1983), S. 34, 35. 217 Vgl. dazu I. Kant, MdS, Einteilung der Rechtslehre, B., AB 45 (AkademieAusg. Band VI, S. 237, 238): „Die angeborene G l e i c h h e i t (. . .) (liegt) schon im Prinzip der angeborenen Freiheit und (ist) wirklich von ihr nicht (. . .) unterschieden.“ 218 Vgl. E. A. Wolff, „Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen“ (1987), a. a. O. (Fn. 49), S. 211. 219 Die Neigung der Menschen überhaupt, über andere den Meister zu spielen (die Überlegenheit des Rechts anderer nicht zu achten, wenn sie sich der Macht oder List nach diesen überlegen fühlen) kann jeder in sich selbst hinreichend wahrnehmen. Siehe I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 42, AB 157 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 307).
D. Staatliche Strafe als Unrechtsreaktion
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Druck zu bändigende Kreatur, sondern ein sich im Regelfall seiner Vernunftbegabung bewußtes und verantwortlich handelndes Wesen. Bisher wurde für das Verständnis vom Unrecht auf die allgemeine Bestimmung Kants als „Hindernis der Freiheit“ abgestellt, und im Kern ist damit das Wesen von Unrecht auch zutreffend beschrieben. Nach Kant liegt die Konsequenz aus Unrecht in der Befugnis zu zwingen.220 An dieser Stelle ist noch undeutlich, welche Bedeutung die Rechtsallgemeinheit und – in einem zweiten Schritt – insbesondere die verfaßte (staatliche) Allgemeinheit für das Verhältnis von Unrecht und Zwang hat. Ebenfalls ungeklärt ist auch noch, welche zusätzliche Komponenten in diesen Zusammenhang treten, wenn das Moment der Strafe hinzukommt: Einerseits im Hinblick auf die Qualität des Unrechts, andererseits im Hinblick auf die Stellung der Allgemeinheit. Angedeutet wurde bisher nur, daß es auf der Ebene abstrakt-vernünftiger Rechtsbegründung zumindest nicht undenkbar ist, aus dem Begriff des Rechts den Begriff der Strafe herzuleiten, wie Kant dies für den Zwang getan hat. Allerdings erheben sich beachtliche Stimmen, die die Strafe an das Bestehen eines rechtlichen Zustandes knüpfen wollen, die also die Möglichkeit von Rechtsstrafe nur im staatlichen Zusammenhang sehen.221 Dann wäre ein staatlicher Zusammenhang unverzichtbar, um Strafe als Rechtsinstitut zu begründen. Es wären also gerade die Besonderheiten einer rechtlich verfaßten Gemeinschaft, die das Institut der Strafe rechtlich begründbar machten. Diesen Schwierigkeiten soll im folgenden auf den Grund gegangen werden. Dabei wird zunächst noch einmal die Begründung rechtlichen Zwangs, genauer: die Begründung von Rechtszwang im Staat betrachtet. Dadurch wird die Grundlage gelegt für eingehende Überlegungen zur Strafbegründung. Es ist kein Zufall, daß diese Überlegungen am Ende eines Gesamtgedankengangs stehen, der mit der menschlichen Freiheit seinen Ausgang genommen hat. Denn es muß auch bei der Strafe, die doch den gravierendsten Eingriff in die Freiheitssphäre eines verantwortlichen Individuums darstellt, letztlich um die Wahrung freiheitlicher Verhältnisse gehen; auch und gerade um die Verhältnisse, die durch den Betroffenen mitbegründet wurden und die auch und gerade ihm ein Leben in Freiheit garantieren. Nur wenn es gelingt, Strafe als ein freiheitswahrendes und nicht als freiheitsvernichtendes Institut aufzuweisen, kann in einem auf Selbstbestimmung aufbauenden Gemeinwesen von Rechtsstrafe die Rede sein. Vorwegzunehmen ist eine bestimmte gedankliche Differenzierung, die in dieser Deutlichkeit noch nicht benannt wurde: Das Urteil, daß ein bestimm220 I. Kant, MdS, Einleitung in die Rechtslehre, § D, AB 35 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 231). 221 Vgl. dazu die Nachweise in Fn. 108.
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tes Rechtsinstitut auf abstrakt-rechtlicher Ebene begründbar ist, besagt zunächst, daß dieses Institut mit dem allgemeinen Rechtsgesetz, also mit praktisch-rechtlicher Vernunft, vereinbar ist. Dadurch verdient es sich das Prädikat „Rechtsinstitut“.222 So ist der Zwang, wenn er als Gegenmaßnahme zum Unrecht eingesetzt wird, vereinbar mit dem allgemeinen Rechtsprinzip und deshalb als Rechtszwang legitimierbar. Noch nicht in eine solche Betrachtung einbezogen ist dabei die konkrete Anwendung eines solchen Instituts. Die Frage, ob es sich bei einer bestimmten Zwangsanwendung um eine rechtmäßige Maßnahme handelt, hängt von weiteren Kriterien ab: In einem staatlichen Gemeinwesen müssen geschriebene Gesetze Anwendungsbedingungen festlegen und es müssen die zuständigen Organe in richtiger Form handeln. So kann es materiell (i. S. des allgemeinen Rechtsprinzips) begründet sein, Zwang auszuüben bzw. zu strafen, trotzdem aber können der konkret ausgeübte Zwang oder die konkret verhängte Strafe unrechtlich sein; etwa wenn aufgrund des Verstoßes gegen ein nicht geschriebenes Gesetz gezwungen oder bestraft wird (selbst wenn materiell Unrecht verwirklicht wird) oder jemand zwingt bzw. straft, der dazu nicht befugt ist (etwa wenn Selbstjustiz geübt wird). Bedeutsam ist, daß eben diese Bedingungen der konkreten Anwendung ihrerseits ihren Grund in der Freiheit des einzelnen haben. Sie wurden ja aus dem allgemeinen Rechtsprinzip selbst entwickelt und fußen auf der Erkenntnis, daß ein friedliches Miteinander notwendig durch den Eintritt in einen rechtlichen Zustand hergestellt (gestiftet) werden muß. Dann ist aber der Verstoß gegen solche auf praktisch-rechtlicher Vernunft basierenden Festlegungen nicht vereinbar mit menschlicher Freiheit. Daraus kann ein Dilemma entstehen: Es kann Situationen geben, in denen nach reinen Rechtsprinzipien Zwang oder Strafe die berechtigte Folge wäre: Jemand begeht (strafrechtliches) Unrecht, dem durch Zwang zu begegnen ist oder das die – noch näher zu begründende – Reaktion „Strafe“ legitimieren würde, etwa wenn er jemand anderen tötet. Wie ist dann aber ein Zwangs- oder Strafakt zu beurteilen, der zwar materiell betrachtet als rechtmäßig einzustufen ist, sich aber nicht an die festgelegten Anwendungsbedingungen hält? Diese Situation, die Diskrepanz zwischen formeller und materieller Rechtmäßigkeit staatlichen Handelns, ist in 222 Dies gilt unproblematisch dann, wenn das Rechtsinstitut analytisch aus dem Rechtsbegriff entwickelt werden kann, wie das beim Zwang geschehen ist. Schwieriger wird es, wenn sich das Ergebnis: „praktisch-rechtlich-vernünftig!“ nur unter Hinzunahme anderer, ihrerseits vernünftiger Momente erreichen läßt: Etwa wenn sich die Strafe nur durch das Zusammendenken von materiell-richtigem Recht und der Garantiewirkung eines rechtlich verfaßten Zustandes (die ihrerseits rechtlichpraktisch-vernünftig ist) begründen ließe. Einen solchen Weg scheint anzudenken R. Zaczyk, „Staat und Strafe – Bemerkungen zum sogenannten ‚Inselbeispiel‘ in Kants Metaphysik der Sitten“, a. a. O. (Fn. 40), S. 84, wenn er erwägt, „ob nach Kant die Strafe (allgemein betrachtet) nicht ein synthetischer Rechtssatz a priori ist.“
D. Staatliche Strafe als Unrechtsreaktion
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jeder Rechtsordnung problematisch und es muß versucht werden, einen vernünftigen Ausgleich zu finden.223 Schwieriger wird es, wenn der Mangel in der formellen Seite des Zwangs- oder Strafakts gerade daran liegt, daß eine staatliche Organisation, innerhalb derer Gesetzgebung, ausführende Gewalt und Rechtsprechung durch allgemeine Vernunftanstrengung hätte geschaffen werden können, nicht existiert.224 Dann stellt sich nämlich die Frage, ob es – untechnisch gesprochen – das größere Übel ist, Unrecht geschehen oder „in der Welt“ zu lassen, weil keine formell rechtmäßigen (im Sinne von substantiell auf Freiheit beruhenden) Zuständigkeiten und Verfahren zur Verfügung stehen; oder ob die materielle und die formelle Seite durch Gleichbedeutsamkeit eine untrennbare Einheit bilden, die das Prädikat „freiheitlich“ nur in jenem Zusammenwirken trägt.225 Das Problem erinnert, obwohl es hier in veränderter Gestalt auftritt, an die gestellte Grundsatzfrage: Wie kann Recht wirklich werden? Die gültige Antwort lautete: Nur, indem sich alle in einem Rechtszustand vereinigen! Dieser Grundgedanke könnte mit entsprechenden Erweiterungen auch hier weiterführen. Denn nach jener Erkenntnis war es eine (unbedingt) notwendige Entwicklung, daß rechtliche Verhältnisse „gestiftet“226 werden, d. h. daß bestimmte, „vernunftrechtlich begründete Rechtsstrukturen, die die politischen Machtund Herrschaftskonstellationen institutionell überformen“227 etabliert wer223
Regeln in den Polizei- und Ordnungsgesetzen bzw. in der Strafprozeßordnung werden festlegen, welche Verstöße gegen Zuständigkeits-, Verfahrens- und Formvorschriften im Ergebnis zur Unzulässigkeit der Maßnahme führen und welche wegen eher marginaler Bedeutung diesen Effekt nicht haben. Nicht aus den Augen zu verlieren ist dabei, daß es für eine freiheitliche Rechtsordnung ganz entscheidend auch auf freiheitliche Organisationsformen ankommt und nicht eine nur faktisch überlegene Stellung der staatlichen Organe ausreichen kann. Dies gilt, weil materielles Recht und seine Durchsetzbarkeit nicht getrennt zu betrachten sind (vgl. dazu schon die Ausführungen zum Zwangsbegriff nach Kant, oben unter C. I. 2.). Vielmehr gehört zu einer rechtmäßigen Maßnahme eben beides. 224 Gedacht ist dabei an die Situationen, die das Thema der Arbeit bilden: Strafe, die durch internationale Tribunale oder den IStGH verhängt wird, ist, selbst wenn sie objektiv eine Reaktion auf erhebliches Unrecht darstellt, nicht ohne weiteres, also etwa als selbstverständliche Folge rechtmäßig. Es geht im Recht eben um Gerechtigkeit, die sich auch der Form nach herstellen muß. Diese Unterscheidung von materiellen und formellen Begründungselementen der internationalen Strafe liegt dem 2. Teil der Arbeit zugrunde. 225 In diesem Sinne M. Köhler, „Rechtsbegriff und Rechtsgeltung“ Rechtsph. Hefte 1 (1999), S. 79 (81/82, 88). 226 I. Kant, Zum ewigen Frieden, Zweiter Abschnitt, BA 18. 227 W. Kersting, „Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein“ in: O. Höffe (Hrsg.), Zum ewigen Frieden (1995), S. 87 (88). Die englische Übersetzung des Begriffs „gestiftet“ lautet in der Cambridge University Press Ausgabe (hrsg. von H. Reiss, übersetzt von H. B. Nisbet, 2. Auflage, 1991) „formally instituted“ (S. 98).
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1. Teil: Freiheitliche Strafbegründung im Staat
den. Wenn eine solche Entwicklung für das Recht insgesamt notwendig (apriorisch gefordert) ist, so gilt dies wohl auch für den hier behandelten Teilaspekt des Zwangs- oder Strafrechts. So läßt sich sagen, daß ein materielles „Zwangs- bzw. Strafbedürfnis“ zwangsläufig auch vernunftrechtlich begründete institutionelle Überformungen hervorbringen muß, wenn es insgesamt um eine dauerhafte, nicht nur provisorische Herstellung von Gerechtigkeit gehen soll.228 Auf diesen Punkt wird zurückzukommen sein, wenn die Untersuchung sich im zweiten Teil der Arbeit der Rechtmäßigkeit internationaler Strafe zuwendet.
I. Staatlicher Rechtszwang Bei den Ausführungen zu Kants Vorstellung vom Zwang als Teil des Rechtsbegriffes wurde bereits Wesentliches für den Zwangsbegriff eines freiheitlichen Rechtsverständnisses deutlich.229 Zum einen wurde festgestellt, daß Recht und Zwang eine untrennbare Einheit bilden, ähnlich wie zwei Seiten derselben Münze. Daraus folgt einerseits, daß es Recht ohne korrespondierenden Zwang nicht geben kann, andererseits, daß Rechtszwang mehr ist als bloß faktische Durchsetzung vom Recht.230 Zum zweiten wurde der Begriff des Zwangs durch einen analytischen Schluß aus dem Rechtsbegriff abgeleitet: Der Zwang sei als Verhinderung des Hindernisses der Freiheit mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmend.231 Angewendet auf ein Zwei-Personen-Rechtsverhältnis hat sich diese Überlegung als zutreffend erwiesen, denn dort kann Rechtszwang gedacht werden als die Möglichkeit, das ursprüngliche Gleichheitsverhältnis zu bewahren. Die Konstituenten des Rechtsverhältnisses dürfen ihnen drohendes Unrecht des jeweils anderen „verhindern“. Die genaue begriffliche Bestimmung von „Verhinderung“ war bei der oben angestellten Betrachtung noch offen geblieben und soll im nächsten Abschnitt – im Rahmen der Überlegungen zur Rechtsstrafe – genauer gefaßt werden. Fest steht aber jedenfalls, daß unmittelbar präventiv wirkende, also Unrecht 228
Vgl. nochmals § 44 der MdS, in dem Kant den Naturzustand zwar nicht mit einem Zustand der Ungerechtigkeit gleichsetzt, wohl aber darauf hinweist, daß es nur vorläufige Rechtspositionen geben kann, solange die Gerechtigkeit nicht durch institutionelle Umsetzung Wirklichkeit hat. 229 Vgl. dazu oben unter C. I. 2. 230 Vgl. zur Kritik an Denkansätzen, die dies verkennen, M. Köhler, „Zur Begründung des Rechtszwangs im Anschluß an Kant und Fichte“, a. a. O. (Fn. 141), S. 94–96. 231 Siehe dazu auch W. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit (1993), S. 28.
D. Staatliche Strafe als Unrechtsreaktion
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schon im Vorfeld verhindernde Maßnahmen vom Kantischen Zwangsbegriff umfaßt sind. Zum dritten war der Rechtszwang als Gegenmaßnahme zu einem unrechtlichen Verhalten vorgestellt worden. Sowohl für sein Maß als auch für seine inhaltliche Bestimmung ist dies von Bedeutung: Die Grenze für das Maß bildet der Grad des Unrechts, die Grenze für seinen Inhalt ist durch den korrespondieren Rechtsinhalt gekennzeichnet. Ganz bewußt wurde bisher die Begründung rechtlichen Zwangs unabhängig von jeglicher staatlichen Verfestigung der Rechtspositionen angegangen. Die Zwangsbefugnis ergab sich aus dem Rechtsprinzip selbst, war Bestandteil desselben und hatte zu ihrer Voraussetzung nur den Rechtsbegriff überhaupt.232 Es ging bisher also um Rechtszwang, der zu denken auch schon in vorstaatlichen – nicht garantierten – Rechtsverhältnissen möglich war. So darf unter der Befugnis zu zwingen in einem ersten fundamentalen Sinne ein Zwangsrecht der einen Person gegenüber einer anderen Person verstanden werden, welche die Rechtsbeziehung durch ihr Handeln verletzt; Kant selbst nennt in diesem Zusammenhang das Zwangsrecht des Gläubigers beim Einfordern einer Schuld. In diesem Fall würde das Recht des Gläubigers kein wirkliches Recht darstellen, wenn er es nicht auch erzwingen könnte, umgekehrt bestünde kein Zwangsrecht, stünde ihm nicht in Wahrheit die Leistung des Schuldners zu. Diese – auf den ersten Blick unmittelbar einleuchtende – Argumentation hat aber eine versteckte Schwierigkeit, die erst zutage tritt, wenn man sich nochmals an den Grund des Rechts erinnert. Recht, so die Herleitung in dieser Arbeit, ist eine die bloß subjektiv-perspektivische Richtigkeit übersteigende objektive und allgemeingültige Fassung dessen, was mit Freiheitsgesetzen im Einklang steht; namentlich ist nur solches äußeres Verhalten recht, das bei gedachter Verallgemeinerung mit der Freiheit von jedermann vereinbar ist. Aus einer solchen Bestimmung des Rechts war auch erklärbar, warum es eine apriorische Pflicht ist, rechtlich verfaßte Verhältnisse anzustreben: Sie gewährleisten eine Verwirklichung dessen, was praktischrechtlich vernünftig ist. Wird einem solchen Rechtsverständnis zugestimmt, so ist schon im vorstaatlichen Verhältnis zwischen zwei Rechtspersonen rechtliches und unrechtliches Verhalten am Maßstab des reinen Rechtsprinzips voneinander zu unterscheiden. Anders formuliert: Es gibt bereits objektive Rechtlichkeit – im Beispiel: Der Schuldner ist verpflichtet, die Leistung zu erbringen oder eben nicht. Nur daran, daß im konkreten Fall das Recht des Gläubigers besteht, läßt sich auch seine Zwangsbefugnis knüpfen. Mit einer solchen Aussage ist dann aber die subjektiv-perspektivische 232
Vgl. dazu nochmals die §§ C, D und E der MdS.
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Sicht der einzelnen Subjekte bereits verlassen. Das Urteil darüber, ob der eine das Recht und damit die Zwangsbefugnis hat und der andere sich im Unrecht befindet und deshalb den Zwang des anderen dulden muß, ist objektiver Natur. Eine objektive Festlegung dessen, was recht ist, läßt sich aber nicht denken, ohne den Horizont der beiden Personen zu verlassen und gedanklich die Allgemeinheit hinzuzuziehen. In einem verfaßten Staat geschieht dies, indem auf den allgemeinen Willen aller, die bei der Gesetzgebung mitwirken, abgestellt wird. Dort werden Rechtspositionen objektiv durch Gesetze festgelegt und notfalls staatlich vermittelter Zwang zu ihrer Sicherung eingesetzt. Im vorstaatlichen Bereich kann es nur die abstrakte Allgemeinheit sein, die als rechtsbegründende Instanz gedacht werden muß, um Objektivität im Recht erzeugen zu können. Ohne ihre gedankliche Einbeziehung fehlte dem allgemeinen (!) Rechtsgesetz und seiner Anwendung auf den konkreten Fall (der Gläubiger hat ein Recht auf Leistung und damit eine Befugnis zu zwingen) ihr allgemeingültiger Charakter. Soll also Recht und Zwangsbefugnis (sie bedeuten „einerlei“, § E der Metaphysik der Sitten) auch im vorstaatlichen Zustand als tatsächlich bestehend gedacht werden – und nicht bloß als subjektiv begründete Rechtspositionen im ZweiPersonen-Verhältnis, die wegen ihrer perspektivischen Beschränkung niemals ein Recht im vollen Wortsinn sein können – dann muß auch in einer noch unverfaßten menschlichen Gemeinschaft von der Denkbarkeit objektiv-rechtlicher Positionen ausgegangen werden. Dabei ist dann das Rechtsverhältnis zweier Vernunftsubjekte eingebettet in – noch unverfaßte – Rechtsallgemeinheit. Gegen eine solche Sicht der Dinge könnte eingewendet werden, daß in einem vorstaatlich-privatrechtlichen Verhältnis „wegen des wechselseitig widersprüchlichen Normsetzungshorizontes“ Rechtspositionen niemals objektiv sein können.233 Das, was der eine als sein Recht zu wissen glaubt, bleibt dem anderen gegenüber immer nur die beschränkte Sicht eines einzelnen, die für ihn keine absolute Gültigkeit hat; Rechtsverhältnisse sind dann inhaltlich bloß relativ bestimmt. Da die Rechtsallgemeinheit formal noch nicht verfaßt ist, kann niemals aus der beschränkt perspektivischen eine rechtlich absolute Rechtsposition entstehen. Nur relative Rechtspositionen wiederum können aber keine absolute Zwangsbefugnis begründen. Die Unsicherheit des vorstaatlichen Zustandes bezöge sich dann nicht allein auf die fehlende Positivierung und Garantie der einzelnen Rechtspositionen, sondern wäre fundamentaler: Es wäre überhaupt unmöglich, von Recht und Unrecht zu sprechen, weil beides bloß subjektiv bestimmt werden könnte. Es hieße auch, eine wirklich bestehende Zwangsbefugnis der einen gegen 233
S. 89.
Siehe dazu M. Köhler, „Rechtsbegriff und Rechtsgeltung“ a. a. O. (Fn. 225),
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die andere Person im vorstaatlichen Zustand als Rechtsverwirklichung nicht anzuerkennen. Das Recht selbst wäre als Konsequenz dieser Überlegung erst Recht, wenn es in einem staatlichen Zusammenhang gedacht wird. Die beiden genannten Positionen unterscheiden sich also in der Bedeutung, die dem rechtlichen Zustand, dem Staat, zugemessen wird. Zwar wird die apriorische Notwendigkeit, aus dem Naturzustand herauszutreten und eine verfaßte Gemeinschaft zu gründen, bei beiden Ansätzen anerkannt. Der Grund dafür wird aber unterschiedlich beurteilt: Wenn Recht als bestehend schon im vorstaatlichen Zustand gedacht ist, geht es bei der Konstitution des Staates nicht um Rechtsbegründung sondern um Rechtsverwirklichung. Das bedeutet, daß rechtlich-praktische Vernunftregeln in der Realität der Rechtssubjekte tatsächlich werden sollen, nicht aber, daß sie erst in einer rechtlich verfaßten Gemeinschaft als solche entstehen. Die Gegenansicht muß von letzterem ausgehen, also in der Konstitution des Staates auch die Konstitution des Rechts überhaupt sehen. Dies führte bei der Begründung eines Rechts und der damit verbundenen Zwangsbefugnis dann dazu, ihr Gelingen vom Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtszustandes abhängig zu machen. In der vorliegenden Arbeit wurde durch den bisherigen Gang der Argumentation eine Präferenz für erstere Ansicht sichtbar und zum Teil auch in den Überlegungen zum Rechtszwang als Pendant zum Recht vorweggenommen. Es gilt nun, Gründe für diese Präferenz zu nennen. Bevor dazu übergangen wird, soll aber kurz die Bedeutung des Ausgangs dieser Frage für die Aufgabe dieser Arbeit – Strafbegründung auf internationaler Ebene – hervorgehoben werden: Wenn sich bestätigt, daß das Rechtsinstitut Zwang abstrakt-rechtlich, d. h. aus reinen Rechtsprinzipien begründet ist und die Staatsgründung für dieses Rechtsinstitut allein die Bedeutung hat, es allgemein freiheitskonform zu verwirklichen, könnte ein ähnlicher Gedankengang auch zu einer abstrakt-rechtlichen Begründung der Strafe führen. Dann wäre immerhin eine Strafbefugnis aus rechtlich-praktischer Vernunft aufweisbar, ohne daß dabei staatliche Strukturen konstitutiv wären. Die Schwierigkeit auf internationaler Ebene wäre dann von totaler Grundlosigkeit der Strafe außerhalb rechtlich-verfaßter Garantieverhältnisse reduziert auf die Frage, ob die gewählte Umsetzung freiheitlich ist. Für das Anliegen dieser Arbeit wäre eine solche Feststellung ein Meilenstein. Daß es auf der vom Staat unabhängigen Ebene der Rechtsbegründung aus Vernunftprinzipien tatsächlich möglich ist, von objektiven, allgemeingültigen Rechtspositionen zu sprechen, mit denen eine echte Zwangsbefugnis von Person zu Person einhergeht, ist in der bisherigen Darstellung zwar schon antizipiert, aber noch nicht ausreichend begründet herausgearbeitet worden.
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Für eine solche Annahme spricht zunächst, daß im § 41 der Metaphysik der Sitten der rechtliche Zustand als „dasjenige Verhältnis der Menschen untereinander, welches die Bedingungen enthält, unter denen allein jeder seines Rechts t e i l h a f t i g werden kann“ beschrieben wird. Im selben Paragraphen heißt es weiter: „Dieses (das öffentliche Recht, Anm. der Verf.) enthält nicht mehr oder andere Pflichten der Menschen unter sich, als in jenem (im Privatrecht, Anm. der Verf.) gedacht werden können; die Materie des Privatrechts ist ebendieselbe in beiden. Die Gesetze des letzteren betreffen also nur die rechtliche Form ihres Beisammenseins (Verfassung), in Ansehung deren diese Gesetze notwendig als öffentliche gedacht werden müssen.“ Im rechtlichen Zustand geht es nach Kant also darum, Recht, das schon im Naturzustand gedacht werden kann, in der Realität der Rechtsbeziehungen umzusetzen; objektive Rechtspositionen sollen durch den Übergang in den Rechtszustand von den Zufälligkeiten faktischer Machtverteilung unabhängig gemacht werden.234 Was recht und was unrecht ist, bestimmt sich demnach prinzipiell schon nach dem reinen Rechtsbegriff im privatrechtlichen Zustand. Allerdings ist es im vorstaatlichen Verhältnis der Rechtspersonen untereinander nie möglich, daß einer für beide verbindlich festlegt, was im konkreten Fall recht und was unrecht ist: Daher die schon oben herausgearbeitete Notwendigkeit eines Richters und entsprechender staatlicher Strukturen. Dasselbe gilt für die Ausübung des Zwangsrechts. Im Naturzustand ist es als Teil des Rechtsprinzips zwar schon begründet, bedarf aber zur allgemein freiheitswahrenden Umsetzung einer übersubjektiven Perspektive. In gesicherten Rechtsverhältnissen ist es deshalb nur die Ausnahme, daß der einzelne quasi-naturzuständlich sein Recht selbst erzwingt.235 In der Regel sind dafür die von der Allgemeinheit geschaffenen Machtstrukturen zuständig, weil nur sie eine objektiv freiheitswahrende Ausübung garantieren können. Bestätigung für dieses Verständnis findet sich auch im § 44 der Metaphysik der Sitten. Der Naturzustand ist danach nicht ein Zustand der Ungerechtigkeit per se, wohl aber einer, in dem es keine öffentlichen Gesetze gibt, keine öffentliche Gerechtigkeit, die allgemein- und endgültig Rechtspositionen bestimmt (es findet sich kein kompetenter Richter, wenn es Streit um das Recht gibt) und keine das Recht ausübende, sichernde Gewalt. Das Manko des Naturzustands liegt also nicht im Bereich materieller Gerechtigkeit sondern in der formellen Umsetzung eines gerechten Zustands.236 234
So auch H. Bielefeldt, Philosophie der Menschenrechte, Grundlagen eines weltweiten Freiheitsethos (1998), S. 73 ff. 235 Etwa wenn er sich gem. § 229 BGB selbst hilft, weil „obrigkeitliche Hilfe nicht rechtzeitig zu erlangen ist“.
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Hinzu kommt, daß Kant die Frage der Zwangsbefugnis systematisch unmittelbar an die Ausführungen zum allgemeinen Rechtsprinzip anschließt und damit an einer Stelle anspricht, an der die Unterscheidung Privatrecht – öffentliches Recht noch nicht eingeführt ist. Es geht ihm um eine analytische Herleitung des Zwangsrechts aus dem Rechtsbegriff selbst, die Kategorie des Staates ist dafür nicht erforderlich. Ein anderes Bild ergibt sich bei einer entsprechenden Argumentation für die Strafbefugnis: Sie wird bei Kant erst nach einem Durchgang durch das gesamte Staatsrecht angesprochen (allerdings im Rahmen einer allgemeinen Anmerkung und nicht als eingegliederter Bestandteil des gesamten Systems237).238 In rechtswissenschaftlichen Beiträgen zu Kants Rechtslehre wird für die der Strafbegründung vorgelagerte Frage nach der Zwangsbefugnis das hier vertretene Verständnis bekräftigt: Oberer schreibt in diesem Zusammenhang: „Kant begründet also das Zwangsmoment auf der Begründungsstufe des strikten überpositiven Rechts. Es gibt demnach ein Recht des Zwangs gegen jeden äußeren Willkürgebrauch, sofern dieser den Vernunftgesetzen seiner selbst, d. h. dem Recht überhaupt, zuwider ist. Das Recht selbst ist die Befugnis zu einem Zwang gegen rechtswidrige Hindernisse der äußeren Freiheit. Diese grundsätzliche Befugnis ist nach § D zunächst als eine solche des jeweiligen Willkürsubjekts, das in seiner rechtmäßigen Freiheitsausübung behindert wird, vorgestellt.“239 Und an späterer Stelle: „(Denn es gibt im Naturzustand keine Befugnis zu strafen.) In ihm bleibt vielmehr die rechtliche Zwangsbefugnis auf ebendasjenige beschränkt, was wir im Text der §§ D und E allein vorgefunden haben: Auf Prävention und Restitution.“240 Auch Höffe und Schild teilen diese Ansicht. Bei Höffe heißt es: „Die im Begriff des Rechts enthaltene Zwangsbefugnis ist eine vorstaatliche Befugnis. (. . .) Die Begründung der Zwangsbefugnis erfolgt schon vor der Erörterung des im Naturzustand geltenden Privatrechts. Sie ergibt sich nicht erst aus den inneren Schwierigkeiten oder Widersprüchen des Naturzustandes; sie hat etwa im Gegensatz zu Hobbes eine grundsätzlichere Wurzel. (. . .) Wer den Zwang zu besorgen hat und wie er dabei vorgehen darf und soll, 236 Vgl. nochmals H. Bielefeldt, Philosophie der Menschenrechte, Grundlagen eines weltweiten Freiheitsethos (1998), insbesondere S. 75. 237 Vgl. I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 49, Allgemeine Anmerkung E, A 195 ff./B 225 ff. (Akademie-Ausg. Band VI, S. 331 ff.). 238 Vgl. dazu auch O. Höffe, „Kants Begründung des Rechtszwangs und der Kriminalstrafe“, a. a. O. (Fn. 108), S. 339, 340. 239 H. Oberer, „Über einige Begründungsaspekte der Kantischen Strafrechtslehre“, a. a. O. (Fn. 108), S. 405. 240 H. Oberer, „Über einige Begründungsaspekte der Kantischen Strafrechtslehre“, a. a. O. (Fn. 108), S. 407, 408.
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ob es in jedem einzelnen Fall tunlich ist, den Zwang anzuwenden – all diese Fragen sind für konkrete Anwendungen der Zwangsbefugnis, nicht aber für seine prinzipielle Begründung von Bedeutung.“241 Schild bestätigt: „(. . .) Für andere wiederum (zu denen auch Kant zählte) gab es im Naturzustand nur die (natur)rechtliche Befugnis einer Person, Zwangshandlungen gegen die eigene Rechtssphäre mit Gegenzwang zurückzuweisen (Notwehr) und den diesen Zwang herbeigeführten rechtswidrigen Zustand durch Gegenzwang wieder rückgängig zu machen (Schadensersatz), auch z. B. die geraubte Sache gewaltsam zurückzuholen.“242 Köhler schließlich hält es für einen Fehler, die Begründung von Rechtszwang erst auf der Ebene des formell verfaßten Staatrechtsverhältnisses anzusetzen. Bei ihm heißt es: „Auch wenn Recht und Zwang mit der Entfaltung des modernen Staates weitestgehend öffentlichrechtlich aufgehoben sind, so handelt es sich doch systematisch und historisch zunächst um vorstaatliche Kategorien eines bloß privatrechtlich-gesellschaftlichen Verhältnisses; diese müssen ihrerseits den zwingenden Rechtsgrund des kontinuierlichen Übergangs in das Staatrechtsverhältnis implizieren.“243 Das Zwangsrecht des einzelnen gegenüber einem anderen ist also bei Kant tatsächlich als Bestandteil des Rechtsprinzips gedacht und ist ein aus Erkenntnissen a priori ableitbarer Begriff. Der Rechtsbegriff Kants als „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“244 trägt schon in sich die Notwendigkeit einer korrespondierenden Zwangsbefugnis. „Soweit (der einzelne) den objektiv gesollten rechtlichen Zustand auch gegen den natürlichen Willen der Beteiligten herstellt, beseitigt er nur ein Hindernis der Freiheit.“245 Für eine solche Zwangsrechtsbegründung ist die Konstitution des Staates, die freiheitliches Leben in Gemeinschaft erst wirklich möglich macht, kein denknotwendiges Begründungselement. Allerdings ist der „objektiv gesollte rechtliche Zustand“ gedanklich nicht faßbar, ohne eine überindividuelle Perspektive einzunehmen. Dies ist einem einzelnen Vernunftsubjekt nur beschränkt mög241 O. Höffe, „Kants Begründung des Rechtszwangs und der Kriminalstrafe“, a. a. O. (Fn. 108), S. 357. 242 W. Schild, „Die staatliche Strafmaßnahme als Symbol der Strafwürdigkeit“, a. a. O. (Fn. 108), S. 431. 243 M. Köhler, „Rechtsbegriff und Rechtsgeltung“ a. a. O. (Fn. 225), S. 82 und Fn. 13: „So konstituiert sich Kants Rechtsbegriff allgemeingültig vor Eintritt in den Staat, in Privatrecht und öffentliches Recht. (. . .)“. 244 I. Kant, MdS, Einleitung in die Rechtslehre, § B, AB 33 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 230). 245 H. Mayer, „Kant, Hegel und das Strafrecht“ in: P. Bockelmann/A. Kaufmann/ U. Klug (Hrsg.) Festschrift für Karl Engisch zum 70. Geburtstag (1969), S. 54 (71).
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lich; es kann zwar individuelle Maximen verallgemeinern und auf Vereinbarkeit mit der Freiheit von jedermann überprüfen, das gefundene Ergebnis kann aber niemals allgemeinverbindlich sein. Nur das Zusammendenken vieler solcher die Rechtlichkeit der eigenen Position überprüfender Vernunftwesen kann zu einem tatsächlich allgemeingültigen, eben objektiv rechtlichen Ergebnis führen.246 Dies ist in der Idee des Rechts selbst angelegt, dessen Notwendigkeit ja gerade auf dieser Schwäche des einzelnen Individuums beruht. Wenn es also noch keine verfaßte Rechtsgemeinschaft ist, innerhalb derer schon Aussagen zum Recht allgemeinverbindlich festgelegt wurden, so ist mit dem Begriff „Recht“ aber doch immer schon eine Mehrheit von Personen verbunden, die als allgemeine Instanz dieses Recht gedanklich verobjektiviert hat. Ohne eine solche Instanz wäre ein objektiv gesollter Zustand undenkbar, weil alles bloß perspektivisch verfärbt wäre. Im Staat wird das schon bestehende Zwangsrecht den Freiheitsgesetzen gemäß verwaltet247, seine freiheitliche Ausübung über positive Gesetze und garantierende Institutionen gewährleistet. Der Grund für diese Notwendigkeit ist derselbe, der die Staatsgründung als solche erforderlich macht: Er liegt in der subjektiven Beschränktheit einzelner Personen, die es nicht erlaubt, in jenen Fällen das Bestehen der Zwangsbefugnis allgemeingültig festzustellen und eine gerechte Ausübung zu gewährleisten. Allerdings darf durch eine solche Betrachtungsweise nicht der Eindruck entstehen, daß der Staat seine Bedeutung ausschließlich in der formell-freiheitlichen Umsetzung materiell schon begründeter Positionen hat. Denn wenn dies auch ein wesentlicher Aspekt der Rechtsverwirklichung ist, hat die Konstitution des Staates eine viel fundamentalere Bedeutung248: Sie ist insgesamt Ausdruck des verfaßten und durch immer wieder neue Bestätigung aktuell gehaltenen Willens der einzelnen selbstbestimmten Vernunftsubjekte, in eben jener freiheitsrealisierenden Ordnung leben zu wollen.249 Die einzelnen besonderen Willen der Subjekte, die im Naturzustand zwar schon das Allgemeine als Instanz in ihre Vernunfttätigkeit aufnehmen konnten, etablieren und formen 246
Vgl. dazu auch die Ausführungen zu Hegels Rechtsphilosophie unten unter D. II. 1. a) bb), insbesondere seine Vorstellung vom Staat als das an und für sich (objektiv) Vernünftige. Bei ihm ist dieses objektiv Vernünftige gedacht als eine Gegebenheit, eine Wahrheit, die für sich genommen existiert. Die Subjekte können diese Objektivität aufgrund ihrer Vernunftbegabung ermitteln. Hier soll es hingegen umgekehrt verstanden sein: als eine gedankliche Zusammenführung der subjektiven Vernunft vieler, die durch ihre Vielseitigkeit das Objektive zutage fördert, Objektivität schafft. 247 Zum Staat als Verwalter des Zwangsrechts im Zusammenhang mit Fichtes Rechtslehre siehe R. Zaczyk, Das Strafrecht in der Rechtslehre Fichtes (1981), S. 63 ff. 248 Vgl. dazu auch schon oben C. II. 249 Siehe R. Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat (1989), S. 184.
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nun selbst wirklich-werdende Allgemeinheit. Dem Inhalt rechtlicher Normen wird erst mit der Staatsgründung konkrete Gestalt gegeben: Recht wird für bestimmte Rechtsverhältnisse abstrakt gefaßt und positiviert, durch Anwendung fortentwickelt und dabei gesellschaftlichen Verhältnissen angepaßt. Die Prinzipien der so geschaffenen Gesetze sind aus dem Rechtsbegriff selbst ableitbar, sie liegen als reine Rechtsprinzipien den „statutarischen“ Gesetzen zugrunde und dienen jenen als „Richtschnur“250.251 Gedanklich noch nicht erfaßt von einem solchen Verständnis ist diejenige Zwangsbefugnis im vorstaatlichen Zustand, die der Pflicht zum Übergang in einen Rechtszustand korrespondiert. Liest man Kants § 42 in der Metaphysik der Sitten daraufhin nochmals genauer, wird zunächst deutlich, daß es sich hierbei um eine Rechtspflicht und damit um ein Zwangsrecht von besonderer Qualität handelt: Es geht um eine unbedingte, apriorische Pflicht, die sich nicht auf die Ausgestaltung einzelner Rechtsverhältnisse, sondern auf das Verlassen des Naturzustandes und das Eintreten in einen Rechtszustand überhaupt bezieht.252 Das Verbleiben in einem Zustand, in dem das Recht nicht wirklich ist, ist nach Kant für sich selbst genommen Unrecht, weil es allgemeine Freiheit verhindert253. Ein entgegenstehender Zwang ist dann eben die Verhinderung dieses Hindernisses der Freiheit. Deshalb darf „ein jeder den anderen mit Gewalt antreiben“254, in einen rechtlichen Zustand zu treten. Insofern trifft auch hier der Satz Mayers zu, daß „(s)oweit (der einzelne) den objektiv gesollten rechtlichen Zustand auch gegen den natürlichen Willen der Beteiligten herstellt, er nur ein Hindernis der Freiheit (beseitigt).“255 In welchem Verhältnis steht aber dieser „Urzwang“ zu demjenigen im Naturzustand, der auf die unmittelbare Durchsetzung eines Rechts im ZweiPersonen-Verhältnis bezogen ist? Man könnte an dieser Stelle den Formulierungen des § 42 entnehmen, daß es im Grunde genommen nur diese eine „Urzwangsbefugnis“ im Naturzustand gibt, alle auf das gegenseitige Rechts250
Vgl. I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 45, A 164/B 195 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 313). 251 Vgl. dazu auch den „Probierstein der Rechtmäßigkeit eines jeden öffentlichen Gesetzes“ bei I. Kant, Über den Gemeinspruch, A 250. 252 Vgl. dazu die Herleitung dieser apriorischen Pflicht oben unter C. II. 253 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 42, AB 158 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 307, 308): „(. . .); aber überhaupt tun sie im höchsten Grade daran unrecht, in einem Zustande sein und bleiben zu wollen, der kein rechtlicher ist, d. i. in dem niemand des Seinen wider Gewalttätigkeit sicher ist.“ (ohne Anmerkung). 254 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 44, A 163/B 193 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 212); vgl. zu einem Verständnis von Gewalt als einem Mittel des Zwangs M. Köhler, „Zur Begründung des Rechtszwangs im Anschluß an Kant und Fichte“, a. a. O. (Fn. 141), S. 99. 255 H. Mayer, „Kant, Hegel und das Strafrecht“ a. a. O. (Fn. 245), S. 71.
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verhältnis direkt bezogenen Zwangsbefugnisse aber wegen der Instabilität der rechtlichen Verhältnisse bloß Scheinbefugnisse sind. Kant schreibt in seiner Anmerkung zum § 42: „(. . .) Der Feind, der, statt seine Kapitulation mit der Besatzung einer belagerten Festung ehrlich zu vollziehen, sie bei dieser ihrem Auszug mißhandelt oder sonst diesen Vertrag bricht, kann nicht über Unrecht klagen, wenn sein Gegner bei Gelegenheit ihm denselben Streich spielt. Aber sie tun überhaupt im höchsten Grade unrecht, weil sie dem Begriff des Rechts selber alle Gültigkeit nehmen und alles der wilden Gewalt gleichsam gesetzmäßig überliefern und so das Recht der Menschen überhaupt umstürzen.“256 Bedeutet dies, daß – entgegen des bisher erarbeiteten Verständnisses – eine Befugnis zum Zwang als Bewahrung des eigenen Rechts der aus der Festung ausziehenden Partei nicht zusteht, weil ohnehin alles in einem rechtlich ungesicherten Umfeld stattfindet? Und darf der Feind sich nicht wehren, wenn sein Widersacher bei nächster Gelegenheit selbst gegen „Kriegsrecht“ verstößt? Ist es tatsächlich einzig das Zwangsrecht, das die andere Partei in rechtliche Verhältnisse treibt, welches objektiv schon im Naturzustand besteht? Kant schreibt, daß in Fällen wie dem genannten die Parteien nicht über Unrecht klagen können. Sie befinden sich eben in einem Zustand, in dem ständige Rechtsunsicherheit herrscht; wenn diese Unsicherheit für sie aktuell wird, ist dies nichts, was sie beanstanden können. Deshalb wird aber das, was ihnen geschieht, nicht dadurch zum Recht, daß sie im bestehenden Zustand immer damit rechnen müssen, daß es geschieht. Es bleibt vielmehr objektiv Unrecht und darf mit Zwang verhindert werden. Nun wird das Verhältnis zwischen dem „Urzwang“ zum Staat und dem mit jedem Recht verbundenen Zwang i. S. des § D der Metaphysik der Sitten deutlicher: Es ist ein Stufenverhältnis derart, daß beides objektive Zwangsbefugnisse sind, die eine aber rechtlicher Unsicherheit für die Gesamtheit der Rechtsverhältnisse entgegenwirkt, während die andere nur punktuelle, einzelne Rechtspositionen betrifft. Kant selbst stellt ein solches Stufenverhältnis bezogen auf das Unrecht auf, dem durch den Zwang begegnet wird: Die Parteien tun im „höchsten Grade daran unrecht, in einem Zustande sein und bleiben zu wollen, der kein rechtlicher ist, d. i. in dem niemand des Seinen wider Gewalttätigkeit sicher ist“257. Da außerhalb einer rechtlich verfaßten Gemeinschaft die Rechtsverwirklichung niemals endgültig gewährleistet werden kann, obwohl dies schon im Rechtsprinzip selbst angelegt und apriorisch notwendig ist, gilt es Kant als das höchstran256
I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 42, *-Anmerkung, AB 158 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 307, 308); es ist sicher kein Zufall, daß Kant hier ein Beispiel benutzt, das systematisch in den Bereich des Völkerrechts gehört (die Frage nach dem Verhalten der Kombattanten nach Beendigung der primären Feindseligkeiten). 257 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 42, A 158/B 157, 158 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 307) (Hervorhebung der Verf.).
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gige Unrecht, diesen Zustand der Unsicherheit nicht zu verlassen. Auf einer anderen gedanklichen Ebene bewegen sich dagegen die sonstigen Unrechtstaten, also Verstöße gegen das allgemeine Rechtsgesetz, die gemäß §§ D und E die Zwangsbefugnis begründen. So verstanden, bietet der § 42 jedenfalls kein Gegenargument zu oben gefundenem Ergebnis, daß es auch im vorstaatlichen Zustand ein objektives Zwangsrecht des einzelnen gegenüber einem anderen als Kehrseite eines objektiv bestehenden Rechts gibt. Denn Kant sagt nicht, daß den einzelnen Parteien im vorstaatlichen Zustand kein Unrecht geschehen kann (das sie durch Zwang abzuwehren befugt wären), sondern nur, daß sie immer damit rechnen und deshalb auf lange Sicht notwendig zu rechtlich gesicherten Verhältnisses übergehen müssen. Wenn auch über dieses Verständnis vom Rechtszwang als schon vorstaatlich objektiv-begründetes Rechtsinstitut Übereinstimmung herrscht, so wird an keiner Stelle – weder bei Kant selbst, noch bei den zitierten Kantinterpretationen – deutlich gemacht, daß sich dieses Ergebnis nur unter gedanklicher Hinzunahme einer das Zwei-Personen-Verhältnis auch im vorstaatlichen Zustand umspannenden (Rechts-)Allgemeinheit erzielen läßt, wie es in der vorliegenden Arbeit zugrundegelegt werden soll. Bei der Zwangsbefugnis wird eine solche Überlegung zwar nicht unmittelbar offensichtlich, denn es geht ja zunächst nur um das Verhältnis zweier Personen zueinander. Relevant und sogar substantiell entscheidend wird sie aber, wenn gedanklich der Begründungsgang des Zwangsrechts fruchtbar gemacht wird, um sich dem des Strafrechts zu nähern. Denn dort geht es ersichtlich nicht mehr nur um ein Zwei-Personen-Verhältnis, sondern gerade um die Befugnis, die der Allgemeinheit gegenüber einem Unrechtstäter zusteht. Wird Allgemeinheit als Instanz aber erst im Staat überhaupt existent, kann es Strafe eben nur im Staat geben. Anders, wenn die Allgemeinheit bei Rechtsfragen gedanklich immer schon anwesend ist.
II. Staatliche Rechtsstrafe Mit dem Strafrecht ist ein Rechtsbereich des Staates angesprochen, dessen freiheitliche Begründung Anstrengungen in besonderem Maße erfordert. Schließlich bedeutet der Eingriff in die Freiheit des einzelnen Rechtssubjekts durch die überlegene Macht des Staates auf den ersten Blick einen Bruch mit dem Rechtsprinzip, wonach das Recht „die selbständige Bewältigung des Daseins im äußeren Verhältnis zum anderen ermöglichen“258 und 258 E. A. Wolff, „Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen“ a. a. O. (Fn. 49), S. 198.
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nicht durch mit Durchsetzungmacht verbundenen Maßnahmen Freiheit schmälern soll. Eine Strafmaßnahme, die den Täter in seinem Freiheitsstatus beschränkt, scheint schon begrifflich eine gleichzeitige Vereinbarkeit mit dessen Freiheit auszuschließen. So betrachtet, erscheint die Strafe als heteronome Übelszufügung durch den Staat, bei der die Subjektqualität des Bestraften einfach ausgeblendet wird. Bliebe es bei diesem Urteil, müßte ein freiheitliches Rechtsverständnis an dieser Stelle kapitulieren und das Institut der Strafe als unbegründet zurückweisen. Der Anspruch an eine freiheitliche Strafrechtsbegründung ist identisch mit dem, der überhaupt an Rechtsbegründungen zu stellen ist: Es ist notwendig, die Strafe als Rechtsinstitut auszuweisen und das heißt nachzuweisen, daß sie in einem „gegründeten Zusammenhang mit der Freiheit des Einzelnen“259 steht. Nun muß an dieser Stelle nicht gänzlich neu angesetzt werden, denn wesentliche vermittelnde Schritte im Gedankengang wurden in den vorangestellten Ausführungen bereits erarbeitet: Die Freiheit der Person wurde als unübergehbare Einsicht zum Ausgangspunkt einer jeden Überlegung zum Recht herausgestellt260; die notwendige Anerkennung des jeweils anderen als gleichbedeutsam wurde als Grundlage einer jeden Rechtsbeziehung hervorgehoben261; das Recht ist als objektive Vernunftordnung entwickelt worden, in der sich die Anerkennungsverhältnisse zu interpersonalen Rechtsverhältnissen verfestigt haben; und schließlich wurde der Zusammenschluß der einzelnen endlichen Vernunftsubjekte zu einer verfaßten Rechtsgemeinschaft als unbedingt notwendig für ein Wirklichwerden rechtlicher Verhältnisse begründet.262 Auch das Moment der Endlichkeit der Rechtssubjekte wurde in die Betrachtung schon miteinbezogen: Die Möglichkeit der Fehlleistung einzelner Subjekte beim praktischen Handeln wird durch die Gründung des Staates nicht per se ausgeschlossen. Sie bleiben weiter in der Lage, andere in ihrer Gleichbedeutsamkeit zu verletzen, also Unrecht zu begehen, auch wenn insgesamt die Verhältnisse sicherer werden und das Rechtsvertrauen dadurch bestärkt wird. Unrecht als „Hindernis der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen“ ist aber nicht einfach hinzunehmen, sondern löst die Berechtigung aus, ihm mit Zwang zu begegnen. Rechtszwang ist als Gegenzwang zum Unrecht bestimmt, der darauf gerichtet ist, das Unrecht zu verhindern und damit rechtliche Verhältnisse zu bewahren. Durch eine solche Begründung ist es ausgeschlossen, den (staatlichen) Zwang als bloßes Gewaltmittel der überlegenen Macht staatlicher Institutio259 R. Zaczyk, „Staat und Strafe – Bemerkungen zum sogenannten ‚Inselbeispiel‘ in Kants Metaphysik der Sitten“ a. a. O. (Fn. 40), S. 76. 260 Vgl. oben unter A. 261 Dazu oben B. 262 Siehe oben C.
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nen zu verstehen. Köhler formuliert das folgendermaßen: „Rechtszwang tritt aus bloßer Heteronomie dadurch heraus, daß er in jedem Einzelfall als Konsequenz der Vernunftentscheidung für wechselseitig gesicherte äußere Freiheitssphären gegenüber freiheitsverletzenden Verhaltensweisen des Rechtssubjekts begreiflich sein muß.“263 Aus den bisherigen Überlegungen ist aber auch schon deutlich geworden, daß die Begründung der Strafe weiter greifen muß als die für Maßnahmen, die eine Unrechtstat schon im Vorfeld verhindern, also Rechtszwang im oben beschriebenen Sinne darstellen. Im Unterschied zur Unrechtsverhinderung durch Zwang ist bei der Strafe die einmal begangene Unrechtstat als solche nicht mehr zu beeinflussen; sie ist geschehen, sie hat Existenz, sie ist in der Welt. Dennoch folgt ihr eine mit Zwang verbundene Freiheitsstatusminderung des Täters. Diese Freiheitsstatusminderung ist ihrer Qualität nach etwas vom hindernden Rechtszwang Verschiedenes und bedarf somit auch einer eigenen Begründung. 1. Freiheitliche Strafbegründung Gegenstand der Strafbegründung ist streng begrifflich ausschließlich die Unrechtsreaktion, d. h. die der geschehenen Unrechtstat „nachfolgende Negation des Grundrechtsstatus des Täters wegen der Tat.“264 Dementsprechend müssen die Überlegungen bei der zeitlich und sach-logisch vorgehenden Unrechtstat ansetzen und ihren Zusammenhang mit der auf sie folgenden gemeinschaftlichen Gegenbewegung in Form der Strafe klären. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit liegt dabei der Schwerpunkt auf der Frage, ob für eine solche Begründung vorhandene staatliche Strukturen konstitutiv sind. Dieser Denkvorgang war schon bei dem Begründungsgang für das Institut des Rechtszwangs in den Vordergrund gestellt worden. Dort war im Ergebnis eine abstrakt-vernunftrechtliche Begründung für möglich gehalten worden, die ohne den Staat als maßgeblichen Begründungsfaktor auskommt.265 Auf dieser Basis soll nun untersucht werden, ob eine ähnliche, rein materiell-rechtliche Begründung auch für das Institut der Strafe möglich ist. Dieser Pfad freiheitlicher Strafbegründung wurde wegen seiner Abstraktion von staatlichen Strukturen bisher kaum beschritten; schließlich stellte 263 M. Köhler, „Über den Zusammenhang von Strafrechtsbegründung und Strafzumessung erörtert am Problem der Generalprävention“ (1983), S. 35. 264 M. Köhler, Strafrecht AT (1997), S. 37. 265 Dieses Ergebnis wurde gestützt durch eine nähere Auseinandersetzung mit den relevanten Textstellen aus Kants MdS und dem Hinweis, daß das erarbeitete Verständnis auch generell auf Zustimmung bei der Sekundärliteratur stößt.
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sich das Problem bisher ohnehin nur für staatliches Strafhandeln. Dort war es vom Ansatz her berechtigt, die Existenz des Staates mit in den Begründungszusammenhang einzubeziehen, und es war auch nicht notwendig, über eine von staatlichen Strukturen unabhängige Rechtsstrafe nachzudenken. Das Anliegen war ja stets, vom Staat verhängte Strafe freiheitlich zu begründen. Ein anderer Blickwinkel ergibt sich aber seit der Existenz internationaler Straftribunale, die über die Grenzen solcher verfestigten Ordnungen hinaus – überstaatlich – Strafgewalt ausüben. Dort müssen Begründungswege auf Schwierigkeiten stoßen, die eine rechtlich verfaßte Gemeinschaft voraussetzen, innerhalb derer das Strafrecht einen Teil des durch alle mitbegründeten positiven Rechts darstellt. Denn das internationale Strafrecht ist gerade nicht Produkt eines mit staatlicher Gesetzgebung vergleichbaren Prozesses gemeinsamer Willensbildung der Weltbevölkerung innerhalb einer weltweit verfestigten Rechtsgemeinschaft. Auf Weltebene lassen sich die für den Staat entwickelten Grundsätze zur Gesetzgebung, Rechtsprechung und ausführender Gewalt nicht, jedenfalls nicht ohne weiteres, übertragen. Es ist deshalb einen Versuch wert, einen gedanklichen Schritt vor die Staatsgründung zu unternehmen und – ganz ähnlich wie beim Rechtszwang – nach einer schon im allgemeinen Rechtsgesetz selbst angelegten Notwendigkeit von Strafe zu suchen. Läßt sich Strafe (wie auch der Zwang) als notwendig aus dem Rechtsgesetz folgend herleiten, dann wäre ein Grund dafür gefunden, daß es auch unabhängig von verfestigten Strukturen rechtlich zwingend ist, auf Unrecht mit Strafe zu reagieren und es nicht einfach „in der Welt zu lassen“. Die Frage der Verwirklichung einer solchen Notwendigkeit würde dann gedanklich erst nachfolgen. Daß die Verwirklichung rechtlicher Zustände eine apriorische Pflicht ist und selbst freiheitlichen Grundsätzen folgen muß, war schon im Zusammenhang mit der Staatsgründung herausgearbeitet worden. Es wäre aber möglich, daß sich eine solche Entwicklung auf internationaler Ebene anders abspielt als bei der (primären) Staatsgründung. Diesem zweiten Aspekt der Realisierung rechtlicher Verhältnisse muß aber erst nachgegangen werden, wenn materiell-rechtlich die Strafe als Rechtsinstitut feststeht. Nach einer Durchsicht der Literatur zur freiheitlichen Rechtsbegründung scheint dieser Weg zunächst verschlossen. Denn die Mehrheit der Beiträge zu Kants Rechtslehre und – was schwerer wiegt – Kant selbst scheinen es für unmöglich zu halten, Rechtsstrafe im vorstaatlichen Zustand zu begründen.266 Es muß deshalb in der Auseinandersetzung mit diesen Beiträgen darauf eingegangen werden, warum die Autoren sich ihrer Aussage so ge266 Vgl. dazu die Nachweise in Fn. 108 und I. Kant, Reflexion 7677, AkademieAusg. Band XIX, S. 486, RN 6; vgl. auch die Anmerkung E zum 2. Teil der Rechtslehre, die systematisch und sprachlich schon auf der Existenz des Staates aufbaut.
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wiß sind und ob sie im Ergebnis zutreffend argumentieren. Es wird sich erweisen, daß gute Gründe für eine gedankliche Einschränkung der rechtlichen Strafe auf den Zusammenhang verfestigter Rechtsverhältnisse sprechen, diese letztlich aber durch eine präzise begriffliche Differenzierung zwischen der Strafe als (materiellem, abstrakt-rechtlichem) Rechtsinstitut und der Strafe als konkreter Strafmaßnahme nicht zum Tragen kommen. a) Unrecht bzw. Verbrechen als Anknüpfungspunkt der Strafe Der Begriff des Unrechts wurde in dieser Arbeit zunächst im Kontext mit dem allgemeinen Rechtsprinzip als dessen Negation eingeführt.267 Nach Kant war das Unrecht in diesem ersten Zugriff „ein Hindernis der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen“, dem der Zwang entgegengesetzt werden durfte, weil und soweit er Verhinderung eines solchen Hindernisses der Freiheit ist. Unrecht ist danach also ein „dem Recht widersprechendes, die äußere Freiheit einer Person oder Personengemeinschaft verletzendes Verhalten mit der Folge unrechtshindernder oder -ausgleichender Zwangsbefugnis.“268 Mit einer solchen Unrechtsdefinition ist die zusätzliche Qualität, die aus Unrecht strafbares Unrecht macht, aber noch nicht benannt. Wie ist überhaupt strafrechtliches Unrecht zu bestimmen? Was genau ist es, das der begangenen Unrechtstat eine Dimension gibt, die allein durch materiellen, äußeren Schadensausgleich nicht mehr zu erreichen ist? Ist der Grund für diesen Qualitätswechsel auf der Ebene abstrakter Rechtsbegründung zu finden oder muß das zusätzliche Element der staatlichen Garantie- und Sicherungsfunktion hinzukommen? Auf der Basis eines freiheitlichen Rechtsverständnisses soll im folgenden versucht werden, ein differenziertes Bild vom strafrechtlichen Unrecht zu zeichnen. Dies hat anzusetzen an dem unmittelbaren Verhältnis der Rechtssubjekte zueinander („interpersonales Unrecht“), muß in einer weiteren Betrachtung aber auch das Verhältnis zur umgebenden Rechtsallgemeinheit miteinbeziehen („Verletzung des Rechts als Recht“) und schließlich darauf abstellen, welche Bedeutung staatliche Strukturen für die Bestimmung strafrechtlichen Unrechts haben („Bruch des rechtlich verfaßten Friedensverhältnisses“).
267 268
Vgl. oben unter C. I. 2. M. Köhler, Strafrecht AT (1997), S. 20.
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aa) Interpersonales Unrecht Interpersonal betrachtet bedeutet Unrecht die Störung eines auf gegenseitiger Anerkennung basierenden Rechtsverhältnisses durch eine konkrete Freiheitsverletzung des einen gegenüber dem anderen.269 Dabei ist es möglich, daß dieselbe Unrechtshandlung zwei miteinander verbundene Momente dieses Rechtsverhältnisses betrifft: Einerseits bezieht sich der Zugriff auf ein äußeres Daseinselement der Freiheit, ein Rechtsgut270 der Person, andererseits kann damit einhergehend das Rechtsverhältnis selbst durch einen Durchgriff auf das Gleichheitsverhältnis beider Personen durch Instrumentalisierung des anderen verletzt sein. Ersteres stellt einen äußerlichen Angriff, einen Zugriff auf die äußere Seite der Person dar. Letzteres betrifft die verbindende innere Sphäre eines Rechtsverhältnisses, das auf der Anerkennung des anderen als gleichbedeutsamem Vernunftwesen beruht. Beide Seiten, die äußere der Körperlichkeit und die innere der Geistigkeit, machen einen wesentlichen Teil der Rechtspersönlichkeit von endlichen Vernunftwesen aus. In einer Unrechtshandlung kann die Negation beider dieser Seiten im Gegenüber liegen: Der andere wird durch einen Eingriff in seine äußere Freiheitssphäre (gewissermaßen körperlich271) verletzt und damit wird gleichzeitig eine Mißachtung des anderen zum Ausdruck gebracht: Man stellt sich über ihn, benutzt ihn, negiert seine Selbstzweckhaftigkeit, wandelt das Gleichheitsverhältnis in ein Ungleichheitsverhältnis.272 Darin liegt dann eine Unrechtshandlung besonderer Qualität, die sich nicht darin erschöpft, dem anderen einen Nachteil zuzufügen, der schon durch eine materielle Kompensation wieder auszugleichen wäre. Eine solche Verletzung greift tiefer, denn sie betrifft das Gleichheitsverhältnis zwischen den Rechtssubjekten selbst.273 Sie trifft den anderen so, daß ein Moment seines selbständigen Daseins, sein Grundvertrauen in die prinzipielle Vernunftbegabung des anderen, erschüttert wird. Eine solche Wirkung wird nur ein 269 Vgl. zu einer interpersonalen Unrechtsbestimmung zunächst R. Zaczyk, Das Strafrecht in der Rechtslehre Fichtes (1981), S. 93 ff. 270 Vgl. zu dieser Bestimmung der Rechtsgüter R. Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat (1989), S. 165 ff. 271 Der Begriff der Körperlichkeit wird hier sehr weit als überhaupt äußerlich vermittelte Freiheitssphäre einer Person verstanden. Vgl. dazu auch die Formulierung bei G. W. F. Hegel, Rph, § 41, S. 102: „Die Person muß sich eine äußere Sphäre ihrer Freiheit geben, um als Idee zu sein.“ 272 Vgl. dazu M. Köhler, der Begriff der Strafe (1986), S. 47. 273 Vgl. R. Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat (1989), S. 200: „Die vollendete Verletzung eines Daseinselements von Freiheit ist so beschaffen, daß über sie das Gleichheitsverhältnis zerstört wird, indem einer der Beteiligten (der Täter) den ihm zukommenden Freiheitsraum so erweitert, daß der oder die angegriffenen Anderen daneben nicht als anerkannte Gleiche bestehen bleiben, sondern für die Zwecke des Täters instrumentalisiert werden. (. . .)“
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Angriff mit gewisser Bedeutsamkeit für das interpersonale Verhältnis im Hinblick auf ihre Intensität und Zielrichtung haben. Erreicht die Unrechtshandlung aber eine solche Qualität, ist der einzelne im Umgang damit überfordert, weil ihm gewissermaßen die Basis seiner eigenen Selbständigkeit im rechtlichen Umgang mit anderen wegbricht. Deshalb definiert Wolff strafrechtliches Unrecht als „die Verletzung Anderer in der Basis ihrer Selbständigkeit, die in einem gegliederten, den Täter umfassenden und auch von ihm abhängigen Anerkennungsverhältnis ihr Dasein hat.“274 Der Verletzte selbst müßte in einer solchen Situation aus eigener Kraft das ursprüngliche Gleichheitsniveau mit dem Unrechtstäter wiederherstellen, dessen Verhalten aber gerade den Unwillen, in einem solchen Verhältnis zu ihm zu stehen, manifestiert hat. Der Verletzte hat in dieser Situation keine Möglichkeit, den anderen gegen dessen Willen zu einer Restitution des Gleichheitsverhältnisses zu bewegen. bb) Die „Verletzung des Rechts als Recht“275 Bezogen auf die das konkrete Rechtsverhältnis umgebende Rechtsallgemeinheit hat die Unrechtstat einen weiteren Sinngehalt: Sie stellt einen nach außen getretenen Widerspruch zur Vernunftrechtsordnung durch ein prinzipiell vernünftiges Rechtssubjekt dar. Der Mitkonstituent des Rechts behauptet mit seiner Tat (konkrete Freiheitsverletzung eines anderen bei gleichzeitiger Übersteigerung seiner selbst) das Gegenteil dessen, was er selbst als Vernunftwesen als richtig eingesehen hat: Nämlich die Geltung des allgemeinen Rechtsgesetzes zwischen ihm und den anderen. Dieser Gedanke war schon im Rahmen der (moralischen) Selbstbestimmung des Subjekts aufgetaucht – dort zunächst als Beschreibung einer „bösen“ Handlung276: Die der Handlung zugrundeliegende Maxime steht im Widerspruch zum kategorischen Imperativ, ist nicht verallgemeinerbar und kann daher nicht als allgemeingültig gewollt sein. Der Widerspruch zum Richtigen äußert sich in einer bösen Handlung und hat damit äußere Wirklichkeit. Als Resultat eines selbstbestimmten, vernünftigen Entschlusses des Subjekts erhebt die böse Handlung Geltungsanspruch, denn sie stammt von einem prinzipiell Vernünftigen. Die nach außen tretende Verwirklichung der Maxime erhebt den Anspruch auf Vernunftanerkennung aber zu unrecht: Sie stammt zwar von einem Vernunftsubjekt, dessen Hand274 E. A. Wolff, „Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen“ a. a. O. (Fn. 49), S. 211. 275 Vgl. zu dieser Formulierung zunächst G. W. F. Hegel, RPh, §§ 95, 97, S. 181, 185. 276 Vgl. dazu oben unter A.
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lung aber gerade auf einer konkret unvernünftigen Maxime beruht. Die Handlung hat nach außen damit nur den Anschein der Verallgemeinerbarkeit. Die Universalisierung der unvernünftigen Maxime kann aber tatsächlich nicht gewollt sein, auch nicht vom handelnden Subjekt selbst.277 Eine ganz ähnliche Argumentation läßt sich auch für die Ebene des Rechts aufstellen.278 Hegel hat dies in seinen Grundlinien zur Philosophie des Rechts unternommen. Die „Verletzung des Rechts als Recht“, in seiner Terminologie das Verbrechen, ist der Ausgangspunkt für seine Strafbegründung.279 280 Er definiert das Verbrechen als eine Verletzung des „Dasein(s) der Freiheit in seinem konkreten Sinne“.281 Dabei ist „die geschehene Verletzung des Rechts als Recht“ eine „positive, äußerliche Existenz, die aber in sich nichtig ist.“282 Die bei Hegel verwendeten Begrifflichkeiten sind nicht ohne weiteres aus sich selbst heraus verständlich, sondern bedürfen einer Einordnung in den Gesamtzusammenhang der Hegelschen Rechtsphilosophie. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit ist allerdings eine umfassende, Hegels Denken angemessen kennzeichnende Darstellung nicht zu leisten.283 Es soll daher im folgenden lediglich versucht werden, die für den 277
Vgl. zu diesem Zusammenhang nochmals M. Köhler, Der Begriff der Strafe (1986), S. 27 ff. 278 Dabei sind die Spezifika der rechtlichen Selbstbestimmung im Vergleich zur moralischen immer mitzubedenken: Im Recht geht es um die Regulation interpersonaler äußerer Freiheitsbeziehungen und zwar in der Form des allgemeinen Rechtsgesetzes. Vgl. zur Ähnlichkeit der moralischen und rechtlichen Strafbegründung ihrer Struktur nach M. Köhler, Der Begriff der Strafe (1986), S. 44 ff. 279 G. W. F. Hegel, RPh, § 95, S. 181. 280 Vgl. zu den Kernaussagen Hegels zum Strafrecht die §§ 90 ff., 218 und 220 in seiner Rph; vgl. ferner zur Strafbegründung bei Hegel O. K. Flechtheim, Hegels Strafrechtstheorie (2. Aufl. 1975); F. Herzog, Prävention des Unrechts oder Manifestation des Rechts (1987), S. 57 ff.; D. Klesczewski, Die Rolle der Strafe in Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft (1991); H. Mayer, „Kant, Hegel und das Strafrecht“ in: P. Bockelmann/A. Kaufmann/U. Klug (Hrsg.), Festschrift für K. Engisch zum 70. Geburtstag (1969), S. 54 ff.; W. Schild, „Juristisches Denken und Hegels Rechtsphilosphie“ Österr. Z. öffentl. Recht und Völkerrecht (29) 1978, S. 5 ff.; ders., „Die Aktualität des Hegelschen Strafbegriffs“ in: E. Heintel (Hrsg.), Philosophische Elemente der Tradition des politischen Denkens (1979), S. 199 ff.; K. Seelmann, „Hegels Straftheorie in seinen ‚Grundlinien der Philosophie des Rechts‘ “ JuS 1979, S. 687 ff.; ders., „Wechselseitige Anerkennung und Unrecht/ Strafe als Postulat der Gerechtigkeit?“ ARSP (79) 1993, S. 228 ff. 281 G. W. F. Hegel, Rph, § 95, S. 181. 282 G. W. F. Hegel, Rph, § 97, S. 185. 283 Vgl. dazu W.-R. Molkentin, Das Recht der Objektivität/Hegels Konzept abstrakter Rechtsverfolgung zur Schuldigkeit von Welt und Individuum (2003); zu einem Gesamtdurchgang durch Hegels Rechtsphilosophie im Hinblick auf seine Straftheorie D. Klesczewski, Die Rolle der Strafe in Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft (1991).
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Zusammenhang der Hegelschen Strafbegründung wesentlichen Begriffe soweit zu klären, daß die Grundgedanken zum Verbrechensbegriff und zur Strafe korrekt dargestellt werden können und eine Einordnung in die auf Kant basierende freiheitliche Rechtsbegründung erfolgen kann. Dies ist für den Argumentationsgang dieser Arbeit aus zwei Gründen auch bruchlos möglich: Einerseits, weil in Hegels Rechtsphilosophie eine Ausarbeitung und Fortführung des im Grundsatz schon bei Kant angelegten freiheitlichen Rechtsverständnisses gesehen wird. Die prinzipielle Kontinuität, die zwischen Kant und Hegel in der gedanklichen Ausfaltung menschlicher Freiheit als Rechtgrund liegt, erlaubt es, Einsichten des einen mit denen des anderen zu verbinden, ohne sich dabei dem Vorwurf auszusetzen, Unterschiede zweier großer Rechtsentwürfe per se nivellieren zu wollen. Der zweite Grund liegt darin, daß bezogen auf die Strafbegründung mit Hegel ein neues Begründungungsniveau erreicht worden ist. Dies rechtfertigt es, sich mit dem Strafentwurf Hegels auch nach nur kurzer Darstellung seiner eigenen Herleitung auseinanderzusetzen. Dies gilt insbesondere deshalb, weil die Untersuchung nicht den Anspruch erhebt, eine dezidierte Interpretation der Hegelschen Straftheorie als solche vorzunehmen oder gar einen umfassenden Vergleich zum Kantischen Denken zu erarbeiten. Der Rekurs auf Hegel dient allein der Lösung des Sachproblems „freiheitliche Strafbegründung“ und hilft, den Gedankengang voran zu treiben. Die diese Vorgehensweise ermöglichende gemeinsame Basis im freiheitlichen Rechtsbegriff ist dabei stets mitgedacht. Das „Dasein des freien Willens“ ist in der Terminologie Hegels eine Umschreibung für das Recht.284 Die Grundlage für diese Aussage wird in den §§ 4 bis 7 seiner Grundlinien der Philosophie des Rechts285 gelegt: Hegel beschreibt hier den freien Willen, das Bewußtsein des Menschen, als unüberwindbare Grundvoraussetzung jeglicher rechtlicher Überlegungen.286 Im § 4 heißt es dazu: „Der Boden des Rechts ist überhaupt das Geistige und seine nähere Stelle und Ausgangspunkt der Wille, welcher frei ist, so daß die Freiheit seine Substanz und Bestimmung ausmacht und das Rechtssystem das Reich der verwirklichten Freiheit, die Welt des Geistes aus ihm selbst hervorgebracht als eine zweite Natur, ist.“ Freiheit ist bei Hegel die Grundbestimmung des Willens und er ist sich dieses Zusammenhangs so gewiß, daß er ihn mit einer naturgesetzlichen Erkenntnis gleich setzt: „Freiheit ist (. . .) ebenso eine Grundbestimmung des Willens, wie die 284 G. W. F. Hegel, Rph, § 29, S. 80; vgl. auch § 30, S. 83: Recht als Dasein der selbstbewußten Freiheit. 285 Im folgenden werden die Paragraphen von Hegels Rechtsphilosophie ohne genauere Angaben der Fundstelle zitiert. 286 Vgl. zum freien Willen als dem Prinzip des Rechts D. Klesczewski, Die Rolle der Strafe in Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft (1991), S. 32 ff.
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Schwere eine Grundbestimmung des Körpers ist.“287 Die Gesetzmäßigkeit der Freiheit, die zu erkennen und zu leben dem Menschen eigen ist, weil er ein denkendes, sich selbst reflektierendes Wesen ist, muß zwangsläufig freiheitliche Verhältnisse hervortreiben. Denn der Mensch ist nicht bloß theoretisch reflektierendes Wesen, er kann sein Denken auch praktisch werden lassen: „das Denken als sich übersetzend ins Dasein, als Trieb, sich Dasein zu geben“288 macht gerade den menschlichen Willen aus. Das Prinzip des Rechts, die Moralität und die Sittlichkeit sind Resultate dieser Fähigkeit.289 In den §§ 5 bis 7 wird deutlicher, was Hegel mit dem Begriff „Willen“ denkt: Einerseits ist das Element des subjektiven Willens gemeint (§ 5), in dem die Fähigkeit zur Selbstreflexion begründet liegt: Das Subjekt kann sich selbst denken und zwar in Abstraktion von äußeren Bedingungen und Einflüssen; es kann eine „reine Reflexion des Ich in sich“290 leisten. Der einzelne kann sich „von allem los machen, alle Zwecke aufgeben, von allem abstrahieren“291. Im reinen Denken seiner selbst liegt dann „die Kraft, sich Allgemeinheit zu geben, das heißt alle Besonderheit, alle Bestimmtheit zu verlöschen.“292 Andererseits hat der Wille ein zweites Moment (§ 6). Der einzelne kann zur „Unterscheidung, (zum) Bestimmen und Setzen einer Bestimmtheit“ übergehen. Er kann etwas Bestimmtes als das seinige wollen, seinen Willen in Richtung auf ein bestimmtes Etwas richten, aussondern und wählen293: Der einzelne will nicht bloß, er will etwas.294 Damit ist auch die Voraussetzung für das praktische Handeln benannt, denn ließe sich der Wille nicht auch auf eine konkrete (äußere) Sache oder eine bestimmte Person richten, wäre der Mensch gar nicht in der Lage, sein Leben in äußerer Verwirklichung freiheitlichen Daseins zu führen. Die Fähigkeit zur Besonderung des Willens ist daher ein ebenso bestimmendes Moment des Willens wie die zur Abstraktion. Weil aber der unbestimmte (allgemeine) Wille „ebenso einseitig ist als der bloß in der Bestimmtheit stehende“295, muß der menschliche Wille die Einheit beider Momente sein: „die in sich reflektierte und dadurch zur 287 288 289 290 291 292 293 294 295
G. W. F. Hegel, Rph, Zusatz zum § 4, S. 46. Vgl. G. W. F. Hegel, Rph, Zusatz zum § 4, S. 47. G. W. F. Hegel, Rph, § 21 (Anm.), S. 72. G. W. F. Hegel, Rph, § 5, S. 49. G. W. F. Hegel, Rph, Zusatz zum § 5, S. 51. G. W. F. Hegel, Rph, Zusatz zum § 5, S. 51. Vgl. Hegels handschriftl. Anmerkung zum § 6 Rph, S. 53. Siehe den Zusatz zum § 6 Rph, S. 54. Zusatz zum § 6 Rph, S. 54.
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Allgemeinheit zurückgeführte Besonderung.“ (§ 7) Die Freiheit des Willens liegt nach Hegel in jener Einheit, in der sich das Selbstbewußtsein als Allgemeines – als die Möglichkeit, von allem Bestimmten zu abstrahieren – und als Besonderes mit einem bestimmten Gegenstand, Inhalt und Zweck weiß.296 Mit dem Verständnis vom Recht als Dasein des freien Willens will Hegel eine positive Bestimmung in Abgrenzung zu Kants „negativer Bestimmung“ leisten. Hegel ist Kants Rechtsgesetz nicht genug, er verlangt eine weitere, allumfassende Definition des Rechts, bei der das Vernünftige nicht bloß als „beschränkend für die(se) Freiheit sowie auch nicht als immanent Vernünftiges, sondern nur als ein äußeres, formelles Allgemeines herauskomm(t).“297. Im Begriff des „Daseins“ des freien Willens ist das interpersonale Moment des Rechts als Basis hervorgehoben. Denn das „Dasein“ meint sich gegenüberstehend298, also eine Beziehung des einen freien Willens zum anderen.299 Auch bei Hegel wird also – im Anschluß an Fichte – das Recht mit einer Beziehung gegenseitiger Anerkennung identifiziert.300 „Recht ist als ‚Sich-Gegenüberstehen“ freier Willen zu verstehen, das sich zum Begriff verdichtet hat, indem die Anerkennungsbeziehung hinzutritt, die wiederum die freien Willen als Personen bestimmt.“301 Resultat dieses 296
Vgl. G. W. F. Hegel, Rph, § 7 (Anm.), S. 55. G. W. F. Hegel, Rph, § 29 (Anm.), S. 80, 81. 298 Siehe § 23 der Rph, S. 75. 299 Vgl. K. Seelmann, „Hegels Straftheorie in seinen ‚Grundlinien der Philosophie des Rechts‘ “ JuS 1979, S. 688. 300 Hegel stellt schon in den Jenaer Vorlesungen zur Realphilosophie aus dem WS 1805/06 fest: „Diß Anerkennen ist das Recht“. Jenaer Systementwürfe III (hrsg. v. Rolf-Peter Horstmann) in: G. W. F. Hegel, Gesammelte Werke (hrsg. v. der Westfälischen Akademie der Wissenschaft), Bd. 8 (1976), S. 215. Allerdings ist der Prozeß gegenseitiger Anerkennung bei Hegel nicht friedlich gedacht: Er versteht ihn als Kampf des einen Selbstbewußtseins gegen das andere. Vgl. dazu D. Klesczewski, Die Rolle der Strafe in Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft (1991), S. 42, 43 und K. Seelmann, „Wechselseitige Anerkennung und Unrecht/Strafe als Postulat der Gerechtigkeit?“ ARSP (79) 1993, S. 228 (232, 233). Fichte hat in diesem Zusammenhang festgestellt, daß für das Selbstbewußtwerden ein „äußerer Standpunkt“ notwendig ist und das Ich deshalb für den Prozeß der Selbstorientierung auf die anderen, ebenso gearteten Vernunftwesen angewiesen ist. Als vernünftige Wesen erkennen dies die einzelnen und wissen, daß nur in der tätigen Anerkennung der anderen Autonomie für alle bewahrt sein kann. So konstituiert sich das Rechtsverhältnis unter den Personen und damit die Basis für das Recht. Vgl. J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre (1796), §§ 3, 4. Siehe dazu auch R. Zaczyk, „Die Struktur des Rechtsverhältnisses (§§ 1–4) im Naturrecht Fichtes“ in: M. Kahlo/E. A. Wolff/R. Zaczyk (Hrsg.), Fichtes Lehre vom Rechtsverhältnis (1992), S. 9 ff. 301 So die Definition von F. Herzog, Prävention des Unrechts oder Manifestation des Rechts (1987), S. 63, 64. 297
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Rechtsverständnisses ist auch hier notwendig die Gleichbedeutsamkeit der Personen in ihrer Rechtsbeziehung. Vor diesem Hintergrund ist dann auch Hegels Rechtsgebot im § 36 der Grundlinien der Philosophie des Rechts zu lesen: Sei eine Person und respektiere die anderen als Personen. „Person“ ist für Hegel der „für sich seiende oder abstrakte Wille“302, der freie Wille also, insofern er nicht „bloß ein Selbstbewußtsein überhaupt von sich hat als konkretem, auf irgend eine Weise bestimmtem, sondern vielmehr ein Selbstbewußtsein von sich als vollkommen abstraktem Ich, in welchem alle konkrete Beschränktheit und Gültigkeit negiert und ungültig ist“.303 In der Persönlichkeit findet sich also die Einheit des freien Willens zwischen Allgemeinheit und Besonderung wieder und es ist gerade jene Einheit, die im anderen von Rechts wegen zu respektieren ist. Das Recht teilt sich nach Hegel in verschiedene Sphären: Das abstrakte Recht, die Moralität und die Sittlichkeit.304 Das abstrakte Recht beschreibt gewissermaßen das Gesamtverhältnis der Personen zueinander, das allgemeine Interpersonalverhältnis in seinen verschiedenen Ausgestaltungen. Eine Person hat bei Hegel ihr Dasein, ihre Realität im Verhältnis zu anderen, im Eigentum305, wobei der Eigentumsbegriff dabei sehr weit gefaßt wird: Er umfaßt überhaupt die äußere Sphäre einer Person, in der sie ihre Freiheit nach außen leben kann.306 Der freie Wille gibt sich im Eigentum Dasein, „das erste sinnliche Material dieses Daseins sind Sachen, das heißt die äußeren Dinge“307. Im Verhältnis der Personen zueinander haben sie „als Eigentümer füreinander Dasein“ und das „Übergehen des Eigentums des einen in das des anderen mit gemeinsamen Willen und Erhaltung ihres Rechts“ geschieht im Vertrag.308 Für den Vertrag ist wiederum Voraussetzung, daß sich die daran Beteiligten als Personen und Eigentümer anerkennen.309 Zur Sphäre des abstrakten Rechts gehört in einem weiteren Schritt auch „das Recht in seiner Verletzung als Verbrechen und Strafe“310. In diesen drei Aspekten des abstrakten Rechts findet sich die Gesamtheit der Momente des Zusammenlebens mit anderen im 302
Zusatz zum § 35 Rph, S. 95. § 35 (Anm.) Rph, S. 93. 304 Vgl. zu dieser Einteilung § 33 Rph, S. 87 ff. 305 § 41 Rph, S. 102. 306 § 41 Rph, S. 102; vgl. dazu auch K. Seelmann, „Hegels Straftheorie in seinen ‚Grundlinien der Philosophie des Rechts‘ “ JuS 1979, S. 689. 307 Zusatz zum § 33 Rph, S. 91. 308 § 40 Rph, S. 98. 309 § 71 (Anm.) Rph, S. 153. 310 Zusatz zum § 33 Rph, S. 91. 303
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äußeren Verhältnis der gemeinsamen Welt; das abstrakte Recht stellt gewissermaßen den objektiven, äußeren Teil des Rechts dar. Die Sphäre der Moralität ist die Sphäre der subjektiven Freiheit. Dies bedeutet eine Freiheit, die nicht gebunden ist an die äußere Seite des Daseins, sondern die in der Person selbst ihren Ort hat. Die Selbstbestimmung des einzelnen geschieht durch subjektive Reflexion, die zur Einsicht in das Gute führt. „In dieser Sphäre ist es, wo es auf meine Einsicht und Absicht und auf meinen Zweck ankommt, indem die Äußerlichkeit als gleichgültig gesetzt wird.“311 Das subjektive Bewußtsein setzt sich von der äußeren Welt ab, geht in sich und hebt sich aus dem umgebenden Zusammenhang heraus. Es erkennt seine eigene Besonderheit durch Entgegensetzung zum Allgemeinen. Dies erlaubt es ihm, das Vorfindliche zu ordnen und auf das „Gute“312 zu befragen. Die Äußerung des subjektiven Willens ist die Handlung.313 Die Moralität ist aber auch die Ebene der Bestimmung des bösen Willens: „Das Selbstbewußtsein in der Eitelkeit aller sonst geltenden Bestimmungen und in der reinen Innerlichkeit des Willens ist ebensosehr die Möglichkeit, das an und für sich Allgemeine, als die Willkür, die eigene Besonderheit über das Allgemeine zum Prinzipe zu machen und sie durch Handeln zu realisieren – böse zu sein.“314 Das Bösehandeln ist bei Hegel also gekennzeichnet dadurch, daß der subjektive Wille ganz bewußt die eigene subjektive Bedeutung tätig über die der Allgemeinheit stellt, ein „der Allgemeinheit des Willens Entgegengesetztes“315 anstrebt. In der Sphäre der Sittlichkeit werden die äußere Freiheit und der subjektive Wille zu einer Einheit gebracht. Erst auf dieser Ebene werden das Moment des abstrakten Rechts und das der Moralität zugleich wirklich: Die gedachte Idee des Guten realisiert in dem in sich reflektierten Willen und in äußerlicher Welt.316 Die Einheit äußeren Daseins mit dem inneren Bewußtsein317 schafft die Möglichkeit eines bewußten Zusammenlebens der 311
Zusatz zum § 33 Rph, S. 91. Das Gute ist von Hegel beschrieben als die realisierte Freiheit, der absolute Endzweck der Welt. § 129 Rph, S. 243, vgl. auch § 132 (Anm.) Rph, S. 245. 313 § 113 Rph, S. 211. 314 § 139 Rph, S. 261. 315 Zusatz zum § 139 Rph, S. 263. An dieser Stelle ist an eine Parallele zum Begriff des bösen Handelns in der Rechtsphilosophie Kants zu erinnern: Die subjektive Maxime, die im Widerspruch zum kategorischen Imperativ steht, also nicht als verallgemeinerbar gedacht werden kann, wird trotz der Erkenntnis diese Widerspruchs in die Tat umgesetzt. 316 § 33 Rph, S. 87. 317 Die Einheit von Endlichkeit und Vernunft im Subjekt ist auch für Kant der gedankliche Ausgangspunkt seiner Rechtsphilosophie. Auch bei ihm hat sich die rechtliche Selbstbestimmung des einzelnen erweitert und freiheitliche Organisationsformen in der Sozialität hervorgebracht. 312
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einzelnen in einer geordneten Sozialität. Im Sittlichen liegt die Vollendung personaler und interpersonaler Freiheit, das „lebendige Gute“318. Die verwirklichte Form von Freiheit nimmt dreifache Gestalt an: Die Familie, die bürgerliche Gesellschaft und der Staat.319 Die Familie stellt den gleichsam natürlichen, originär gemeinschaftlichen Zusammenhang dar, der allerdings mit dem Prozeß des Selbstbewußt-Werdens fortschreitend zu überwinden ist. Die bürgerliche Gesellschaft bildet gewissermaßen das Bindeglied zwischen Familie und Staat: „Sie ist einerseits notwendiger Entfaltungsraum selbständiger, aus der Familie entlassener Individuen; sie bringt es andererseits noch nicht zur wirklichen Allgemeinheit eines alle einzelnen verbindenden Zusammenhangs, wie es der substantielle Staat leistet.“320 Die bürgerliche Gemeinschaft ist also bei Hegel nicht gleichgesetzt mit dem Staat, denn ihr fehlt trotz ihrer schon geordneten freiheitlichen Struktur (Bedürfnisbefriedigung, Wirklichkeit der Freiheit durch allgemein anerkannte Gesetze und Rechtspflege, Institutionen zur Aufrechterhaltung dieser Ordnung321) das Ideale des Staates: „Der Staat ist als die Wirklichkeit des substantiellen Willens, die er in dem zu seiner Allgemeinheit erhobenen besonderen Selbstbewußtsein hat, das an und für sich Vernünftige. Diese substantielle Einheit ist absolut unbewegter Selbstzweck, in welchem die Freiheit zu ihrem höchsten Recht kommt, so wie dieser Endzweck das höchste Recht gegen die Einzelnen hat, deren höchste Pflicht es ist, Mitglieder des Staates zu sein.“322 Mit der Idee des Staates ist bei Hegel also mehr gedacht, als der gemeinschaftliche vernünftige Wille der Subjekte323; der Staat ist das an und für sich (objektiv) Vernünftige, objektiver Wille. Dabei geht es Hegel nicht um die Betrachtung eines bestimmten, historisch existierenden Staates, sondern allein um den ideellen Staat. Die Bestimmung dessen, was diesen Staat ausmacht, muß substantiell, nach Prinzipien erfolgen und nicht bloß beschreibend historische Zufälligkeiten aufnehmen. Der Staat ist die Verwirklichung von Freiheit in einem absoluten Sinne, „sein Grund ist die Gewalt der sich als Wille verwirklichenden Vernunft.“324 318
§ 142 Rph, S. 292. § 33 Rph, S. 87, 88. 320 R. Zaczyk, Rezension der Arbeit D. Klesczewskis, Die Rolle der Strafe in Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft, GA, Bd. 8 (1993), S. 381 (383). 321 § 188 Rph, S. 346. 322 § 258 Rph, S. 399. 323 Hegel widerspricht an dieser Stelle ausdrücklich Rousseaus Bild vom Gesellschaftsvertrag (vgl. bei Hegel: § 258 Rph) und inhaltlich auch dem Staatsverständnis Kants, allerdings bei gleichzeitiger Anerkennung der prinzipiellen Herangehensweise. Siehe J.-J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts (1762), insbesondere das erste Buch, 6. und 7. Kapitel. Vgl außerdem die Ausführungen in dieser Arbeit zu Kants Staatsbegriff. 319
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Die Begriffe „Unrecht“, „Verbrechen“ und „Strafe“ werden von Hegel auf der Ebene des abstrakten Rechts eingeführt, also als Phänomene der äußeren Seite des Rechts.325 Hegel kennzeichnet drei verschiedene Formen des Unrechts, von denen nur zwei – der Betrug und das Verbrechen – Strafe als Folge nach sich ziehen. Das unbefangene (bürgerliche) Unrecht (§§ 84–86 Rph) ist gekennzeichnet durch die Verneinung des „besonderen Willens“ bei gleichzeitiger Anerkennung allgemeiner Rechtsgeltung: Bei einem Streit um eine Sache bleibt es bei der „Anerkennung des Rechts als des Allgemeinen und Entscheidenden, so daß die Sache dem gehören soll, der das Recht dazu hat. Der Streit betrifft nur die Subsumtion der Sache unter das Eigentum des einen oder des anderen; – ein schlechtweg negatives Urteil, wo im Prädikate des Meinigen nur das Besondere negiert wird.“326 Im bürgerlichen Unrecht wird also nicht die Rechtsgeltung als solche in Frage gestellt. Die Kollision von Freiheitssphären geschieht, weil Unklarheit über das Recht besteht – beide Seiten glauben sich im Recht, wollen subjektiv recht handeln und wollen rechtliche Verhältnisse prinzipiell aufrechterhalten; allein, es besteht objektiv ein Widerspruch zum geltenden Recht, den der (unbefangen) unrechtlich Handelnde nicht erkennt. Er will das Recht im allgemeinen, negiert es aber im besonderen. Nach Hegel ist auf das unbefangene Unrecht deshalb keine Strafe gesetzt, weil der „Täter“ hier „nichts gegen das Recht gewollt“327 hat; das interpersonale Anerkennungsverhältnis steht an sich nicht in Frage328, es geht nicht um die Rechtsfähigkeit des anderen und die Rechtsgeltung im allgemeinen als solche, sondern um die Frage der Zuordnung einer Rechtsposition im konkreten Fall. Unrecht, das sich auf eine solche Zuordnung bezieht, kann ausgeglichen werden, indem die Zuordnung nachträglich berichtigt wird: Durch Herausgabe des unberechtigt Erlangten, durch Schadenersatz oder durch Folgenbeseitigung. Beim Betrug (§§ 87–89 Rph) wird dagegen der „besondere Wille“ respektiert, aber das allgemeine Recht negiert.329 Jemand spiegelt vor, rechtlich zu handeln: Er handelt nur zum Schein rechtgemäß, negiert aber in Wahrheit mit seiner Handlung allgemeines Recht. „Im Betruge wird der besondere Wille nicht verletzt, indem dem Betrogenen aufgebürdet wird, daß 324
Zusatz zum § 258 Rph, S. 403. Erster Teil, Dritter Abschnitt (§§ 82 ff.) der Rph. 326 § 85 Rph, S. 175. 327 Zusatz zum § 89, S. 177. 328 Vgl. F. Herzog, Prävention des Unrechts oder Manifestation des Rechts (1987), S. 69; siehe auch D. Klesczewski, Die Rolle der Strafe in Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft (1991), S. 64. 329 Zusatz zum § 87 Rph, S. 177. 325
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ihm Recht geschehe. Das geforderte Recht ist also als ein subjektives und bloß scheinendes gesetzt, was den Betrug ausmacht.“330 Das Wesen dieser zweiten Stufe des Unrechts ist es also, daß die allgemeine Rechtsgeltung in Wahrheit negiert wird, obwohl nach außen hin, im besonderen, dieser Eindruck gerade nicht entsteht. Wenigstens der Form nach liegt dabei noch eine Anerkennung des Rechts vor, inhaltlich handelt es sich aber um eine Negation.331 „Die Gestalt (des Betruges, Anm. der Verf.) ist, daß ich unter Wahrung der äußeren Form des Rechts, also im Schein der Anerkennung des Anderen als Person – im Vertrag als Inszenierung des interpersonalen Austauschs in Anerkennung der Form nach – ein Ziel gegen das Recht an sich verfolge.“332 Nach Hegel liegt mit dieser Art des Unrechts schon strafwürdiges Unrecht vor, denn es handelt sich bereits um eine Verletzung des Rechts in seiner allgemeinen Geltung. Erst im Verbrechen (§§ 90 ff. Rph) findet sich aber die objektiv-subjektive Negation des Rechts, eine Verneinung des Besonderen und des Allgemeinen zugleich: „Das eigentliche Unrecht ist das Verbrechen, wo weder das Recht an sich, noch (das Recht), wie es mir scheint, respektiert wird, wo also beide Seiten, die objektive und subjektive, verletzt sind.“333 Das Verbrechen ist für Hegel die „Verletzung des Rechts als Recht“334, eine Verletzung des „Dasein(s) der Freiheit in seinem konkreten Sinne“.335 Mit einer Verletzung im konkreten Sinne meint Hegel „das unendliche Urteil, welches nicht nur das besondere Recht, sondern die allgemeine Sphäre zugleich negiert“.336 In Abgrenzung zum unbefangenen Unrecht wird hier also nicht bloß eine konkrete Fehl-Zuordnung einer Rechtsposition unternommen, sondern die Rechtsfähigkeit des anderen schlechthin negiert. In Abgrenzung zum Betrug wird beim Verbrechen nun nicht mehr die „Zustimmung des Getäuschten erschlichen“, indem dessen Wille durch falschen 330
Zusatz zum § 87 Rph, S. 177. Vgl. Zusatz zum § 83 Rph, S. 174. 332 F. Herzog, Prävention des Unrechts oder Manifestation des Rechts (1987), S. 70, 71. 333 Zusatz zum § 90 Rph, S. 178. 334 G. W. F. Hegel, Rph, § 95, S. 181. 335 G. W. F. Hegel, Rph, § 95, S. 181; die vollständige Bestimmung des Verbrechens bei Hegel lautet: „Der erste Zwang als Gewalt von dem Freien ausgeübt, welche das Dasein der Freiheit in seinem konkreten Sinne, das Recht als Recht verletzt, ist Verbrechen, – ein negativ-unendliches Urteil in seinem vollständigen Sinne (. . .), durch welches nicht nur das Besondere, die Subsumtion einer Sache unter meinen Willen (§ 85), sondern zugleich das Allgemeine, Unendliche im Prädikate des Meinigen, die Rechtsfähigkeit, und zwar ohne die Vermittlung meiner Meinung (wie im Betrug; § 88) ebenso gegen diese negiert wird, – die Sphäre des peinlichen Rechts.“ (ebenda). 336 G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik II, S. 325. 331
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Schein manipuliert wird, sondern der Wille des anderen wird in seiner Gesamtheit durch (rohen) Zwang ausgeschaltet.337 In Hegels Verständnis vom Verbrechen geht es also ganz ähnlich wie in dem zuerst genannten interpersonalen Unrechtsbegriff auch um die Negation des Verhältnisses wechselseitiger Anerkennung als freier und gleicher Personen: Wer einen anderen durch Unrecht verletzt, entzieht diesem die geschuldete Anerkennung, macht sich einseitig zum Subjekt über ihn und reduziert ihn zum Mittel der eigenen Willkür. Der Täter verletzt also den anderen direkt in seiner äußeren Rechtssphäre und auch in seiner Qualität als Rechtssubjekt, als Person. Darüber hinaus wird bei Hegel aber eine weitere Bedeutung der Unrechtstat eingeführt: Der Unrechtstäter verletzt auch die Grundlage der gesellschaftlichen Personen-Beziehungen überhaupt, das Prinzip wechselseitiger Anerkennung. Denn „die Negativität des Verbrechens in der personalen Daseinsbestimmung des Verbrechers trifft (. . .) nicht bloß das besondere Dasein der Freiheit einer anderen Person, sondern die darin gesetzte interpersonale Geltungsallgemeinheit (. . .)“.338 Die Verletzung des Rechtsverhältnisses durch ein Verbrechen hat nach dieser Betrachtungsweise immer auch die Bedeutung, allgemeine Rechtsgeltung zu negieren. Die Begründung, die Hegel dafür gibt, setzt bei der inneren Logik der Unrechtstat an: „Die geschehene Verletzung des Rechts als Rechts ist zwar eine positive, äußerliche Existenz, die aber in sich nichtig ist.“339 Diese Aussage hat zwei Bedeutungsebenen: Eine Handlung hat einen bestimmten Willen nach außen hin manifestiert, der im Widerspruch zum allgemeinen Recht steht; und in eben jener Handlung verhält sich ein selbstbewußtes Wesen auf eine Art, die seiner eigener Vernunfteinsicht widerspricht. Beides zusammengenommen bedeutet einerseits die Negation der allgemeinen Geltung des Rechts (objektiver Gesichtspunkt), andererseits die Negation des Bildes vom Handelnden als Vernunftwesen (subjektive Seite). Das Verbrechen stellt dann einen objektiv-subjektiven Vernunftrechtswiderspruch dar. Diese Wesensbestimmung des Verbrechens ist Resultat eines Gedankengangs, der den objektiv-subjektiven Widerspruch im Verbrechen auf der Basis des allgemeinen Rechtsgesetzes aufweist, also wesentlich durch ein im Ursprung Kantisches Verständnis von rechtlicher Selbstbestimmung geprägt ist. Köhler bemerkt dazu, daß das Merkmal „in-sich-nichtig“ nicht verständlich werden kann, wenn nicht die „Abfolge von Verbrechen und Strafe als 337 So D. Klesczewski, Die Rolle der Strafe in Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft (1991), S. 66. 338 M. Köhler, „Strafbegründung im konkreten Rechtsverhältnis“ a. a. O. (Fn. 160), S. 17 (ohne FN). 339 G. W. F. Hegel, § 97 Rph, S. 185.
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Subjektvernunftschlüsse, der äußeren Widerspruchsetzung und eben darauf bezogener Schlußtätigkeit widerspruchsfreier Verallgemeinerung, fortentwickelt werden.“340 Kants kategorischer (Rechts-)Imperativ ist also stets anwesend und bildet das gedankliche Rüstzeug für die folgende, von Köhler wörtlich übernommene gedankliche Herleitung des im Verbrechen steckenden Widerspruchs: „Die im Verbrechen durch den Täter als freie Person gesetzte Verhaltensregel beansprucht kontinuierliche Existenz, d. h. auch weitere Verallgemeinerung – im Widerspruch zur (vorausgesetzt) wahren Geltungsallgemeinheit personalen Respekts. Dieser Widerspruch ist (. . .) präsent in der Ebene der rechtlichen Allgemeinheit (repräsentiert in anderen Personen) und ebenso als Selbstwiderspruch der besonderen Willenssetzungen des Täters. Er selbst setzt sich in zwei miteinander unvereinbare Daseinsweisen, nämlich sich als Mitträger gültigen rechtlichen Allgemeinwillens (‚sich als an und für sich seiendes Wesen‘) und in eine dieser vorgängig gültigen Bestimmung widersprechende äußerliche Existenzweise. Er will selbst anerkannt allgemeingültig personal da sein und negiert zugleich Geltungsallgemeinheit in anderer Personalität. Im Hinblick auf die eigene Person ist damit Selbstaufhebung, Selbstentmächtigung als widerspruchsfrei-allgemeiner Rechtssetzungsinstanz im Dasein angesetzt, und zwar nicht bloß punktuell-statisch, sondern als prozeßhaft fortexistierender (Selbst)Widerspruch.“341 Die Unrechtshandlung ist nach dem bisher Gesagten also in drei Richtungen von Bedeutung342: Erstens wird das Interpersonalverhältnis zweier Vernunftwesen durch die Verletzung der Freiheitssphäre des einen in seiner Gesamtheit aus der Waage gebracht.343 Zweitens bedeutet die Unrechtshandlung aus der Sicht des handelnden Rechtssubjekts einen Selbstwiderspruch.344 Wird diese subjektive Seite der Unrechtstat betrachtet, so muß im Hinblick auf Hegels innere Systematik des Rechts auch die Sphäre der Moralität miteinbezogen werden. Der aufgewiesene Selbstwiderspruch wäre nämlich nicht existent, handelte es sich 340
M. Köhler, Der Begriff der Strafe (1986), S. 55. M. Köhler, „Strafbegründung im konkreten Rechtsverhältnis“, a. a. O. (Fn. 160), S. 18, 19 (ohne FN). 342 Vgl. zu diesem Unrechtsverständnis auch M. Köhler, Die bewußte Fahrlässigkeit (1982), S. 324 ff. 343 Vgl. dazu oben unter aa). 344 „Der handelnd-tätige Selbstwiderspruch einer der selbst anerkannten/anzuerkennenden Rechtsallgemeinheit entgegengesetzten Bestimmung in ihrem Geltungsschein (‚die sonst gelten würde‘)“ M. Köhler, Der Begriff der Strafe (1986), S. 56 mit dem Verweis auf § 99 von Hegels Rph. 341
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nicht um ein Wesen, das Selbstreflexion im Inneren leisten und sich so die Einsicht in das Gute erschließen kann – in Hegels Terminologie eine Frage der Moralität. Von einer Unrechtstat kann eben nur bei prinzipiell selbstorientierten, freien Wesen gesprochen werden – eine Feststellung die schon mit Kant in der Entwicklung des Rechtsbegriffes getroffen wurde.345 Die Fehlleistung, die im Subjekt vor sich geht, wenn es sich für das Unrecht entscheidet, ist mit Hegel darin zu sehen, daß es nur seinen besonderen Willen, nicht aber die Allgemeinheit in seine Reflexionsleistung einbezieht. Es „verabsolutiert damit den Geltungsanspruch seiner Einzelheit, wie sie in der Verletzung des besonderen Willens des Opfers in Erscheinung tritt und hebt so durch das durchgängig widersprüchliche Behaupten seiner Unrechtsmaxime die Geltung des allgemeinen Willens in der Vorstellung auf, (. . .).“346 Diese gedankliche Bewegung ist angewiesen auf die Fähigkeit zur positiven Selbstbestimmung im kategorischen Imperativ; sie setzt „logisch und praxislogisch (. . .) das auf Geltungsallgemeinheit reflektierende Subjekt als Wesensgrund voraus.“347 Im Unrecht mißlingt der Prozeß rechtlicher Selbstbestimmung: Das Subjekt erkennt das Allgemeine, das auch durch seinen eigenen Willen allgemein ist, will aber dennoch das dem entgegengesetzte Besondere, wissend, daß damit dem Allgemeinen widersprochen wird. Würde es sich mit diesem Resultat selbst ernst nehmen, befände es sich in einem unauflösbaren inneren Konflikt: Seine Vernunftbegabung weist ihm den Weg zur allgemeinen Freiheit (zum Recht), durch seine Unrechtshandlung manifestiert es aber gerade den gegenteiligen Willen seiner eigenen Übersteigerung (zum Unrecht). Sein eigener Wille wird auf einmal in sich selbst verkehrt.348 Drittens, aus Sicht der Rechtsallgemeinheit, liegt in der Unrechtshandlung eine Umkehrung des Rechtsprinzips durch das Subjekt, die wegen ihres Ursprungs im Vernunftwesen den Anschein der Verallgemeinerbarkeit, allgemeiner Gültigkeit in sich trägt. Eine inhaltlich mit dem Rechtsprinzip unvereinbare Maxime wird nach außen in einer Handlung so gesetzt, als hätte sie allgemeine Geltung. Damit wird Geltung beansprucht, wo sich auch aus subjektiv einsichtiger Vernunftperspektive allgemeine Geltung ge345 Die strafrechtlichen Schwierigkeiten der Zurechnung, des Vorsatzes und der Schuld haben hier ihren Ursprung. Vgl. auch I. Kant, MdS, Einleitung in die MdS, IV, AB 18 ff. (Akademie-Ausg. Band VI, S. 221 ff.) und G. W. F. Hegel, Rph, §§ 105 ff., insbes. §§ 113 –118, S. 203 ff. 346 D. Klesczewski, Die Rolle der Strafe in Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft (1991), S. 73. 347 M. Köhler, „Strafbegründung im konkreten Rechtsverhältnis“, a. a. O. (Fn. 160), S. 21 (ohne FN). 348 Vgl. zu diesem Zusammenhang die differenzierte Darstellung bei M. Köhler, „Strafbegründung im konkreten Rechtsverhältnis“, a. a. O. (Fn. 160), S. 30 ff.
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rade nicht herstellen kann. Die Unrechtsmaxime ist „in sich nichtig“, hat aber durch ihre Verwirklichung in der Handlung „positive, äußere Existenz“. Es ist also auch die gesamte Rechtsgemeinschaft in ihrer Angewiesenheit auf Rechtsgeltung verletzt, denn die verbindende Vertrauensbeziehung, die sich im Recht manifestiert, ist daran gebunden, daß Vernunftwesen auch vernünftig handeln. Dies wird bereits auf der Ebene des abstrakten Rechts deutlich, ist also in der Argumentation zunächst nur auf die äußere Seite des Rechts angewiesen. Hegel denkt aber schon an dieser Stelle die Implikationen für die bürgerliche Gesellschaft und den Staat mit. In seiner zweiten Anmerkung zum § 96 Rph vermerkt er, wie sich die Bedeutung der Unrechtstat wandelt, wenn insgesamt die gesellschaftlichen Verhältnisse sicherer werden: Die Wirkung des Unrechts wird relativiert, weil „das Allgemeine so fest (ist), daß es fast nicht verletzt wird“. Darauf wird zurückzukommen sein, wenn nun die dritte Dimension strafrechtlichen Unrechts – Bruch des rechtlich verfaßten Friedensverhältnisses – genauer gefaßt wird. Zusammenfassung Mit den bisher herausgearbeiteten Aspekten des Unrechts wurde eine Begründungsebene erreicht, die gewissermaßen an dem auch vorstaatlich existierenden Zwei-Personen-Rechtsverhältnis ansetzte und von dort aus die verschiedenen Bedeutungsebenen – „Opfer“, „Täter“, „Opfer-Täter-Beziehung“ und (noch unverfaßte) Rechtsgemeinschaft – entwickelte. Die Argumentation war angewiesen auf eine schon durch praktisch-rechtliche Vernunft begründete inhaltliche Bestimmung dessen, was Recht ist – das materiell bestimmte allgemeine Rechtsgesetz –, aber noch unabhängig von den Garantieverhältnissen im Staat. Dieser letzte Gesichtspunkt muß nun noch ergänzt werden. cc) Bruch des rechtlich verfaßten Friedensverhältnisses In die Überlegungen zum strafwürdigen Unrecht ist bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht eingeflossen, welche Auswirkungen für den Unrechtsbegriff mit der Konstitution staatlicher Verhältnisse durch die handelnden Personen verbunden sind. Im Staat werden die Anerkennungsverhältnisse zu rechtlich verfaßten und durch die Gemeinschaft garantierten Gleichheits- bzw. Friedensverhältnissen. Sie finden ihren Ausdruck in der verbindlichen Zuordnung von Rechtsgütern als Daseinselemente der persönlichen Freiheit: wechselseitige, auch formelle Anerkennung als Grund für die Konstitution allgemeingültiger Da-
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seinssphären in einem gegliederten Gesamtzusammenhang. Allgemeine Gesetze regeln das äußere Verhältnis der Rechtssubjekte zueinander. Die Rechtsallgemeinheit hat sich gültig verfaßt und bildet nun den institutionellen Rahmen, in dem Rechtsvertrauen Bestand haben kann. Die einzelnen sind auf diese Weise eingebunden in einen selbst geschaffenen Garantiezusammenhang, der ihnen Sicherheit gibt für ihre äußere freiheitliche Betätigung. Die stabilisierende Wirkung der staatlichen Strukturen schlägt auch durch auf die interpersonalen Beziehungen der Rechtssubjekte zueinander, aus denen die Zufälligkeit der faktischen Machtverteilung herausgenommen und durch allgemeingültig gesetzte, und durch (selbstbegründete, nicht heteronome) höhere Macht gesicherte Rechtlichkeit ersetzt wird.349 Das Unrecht erhält nun eine weitere Dimension dadurch, daß es den einzelnen und die Gesamtheit in diesem Zustand verfaßter Gemeinschaftlichkeit trifft. Der Unrechtsbegriff, der sich aus dieser zusätzlichen Dimension ergibt, muß ansetzen an der Verletzung des durch allgemeine Anerkennung auf die Ebene der Allgemeingültigkeit gehobenen Garantieverhältnisses zwischen zwei Rechtspersonen oder zwischen Einzelsubjekt und Gemeinschaft, welches durch die Rechtsgemeinschaft formell konstituiert wurde. Daraus resultiert: „(. . .) Unrecht gegenüber Rechtsgütern des Einzelnen oder der Gesellschaft ist die von einem Rechtssubjekt vorgenommene Vernichtung konkreter Freiheit (bei gleichzeitiger Ausdehnung seiner eigenen Freiheitssphäre), deren Erhalt von der Rechtsgemeinschaft (dem Staat) gesetzlich garantiert ist und auf deren Bestand die Beteiligten daher vertrauen. Die Vollendung des Unrechts zeigt sich an der realisierten Überordnung des Täters über den oder die Anderen.“350 In einem solchen Unrechtsbegriff sind die oben erarbeiteten abstrakt-materiellen Momente schon mitgedacht: die Rechtsgutsverletzung, die Verletzung des Interpersonalverhältnisses und der Widerspruch zur Rechtsgeltung (sowohl nach seiner subjektiven als auch nach seiner objektiven Seite). Hinzu kommen aber nun die Momente der staatlichen Garantie und des verfestigten Vertrauens, die wesentliche Bestandteile der Begriffsbestimmung ausmachen. Diesem Verständnis von strafrechtlichem Unrecht liegt eine Vorstellung vom Strafrecht als einer Rechtsmaterie zugrunde, die auf den schon geschaffenen rechtlichen Verhältnissen im Staat „aufruht“, sie voraussetzt. Das „Strafrecht als Recht“ fordert „eine Basis von konstituierter Gemeinschaftlichkeit (. . .), die erst Selbständigkeit begründet und auf der dann das Strafrecht sowohl von seiner Voraussetzung (dem Unrecht) als auch von 349 350
Vgl. insgesamt zur Konstitution des Staates oben C. II. 2. R. Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat (1989), S. 203.
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seiner Rechtsfolge (der Strafe) her gesehen aufruht. Das Strafrecht setzt eine bereits bestehende positive staatliche Gemeinschaft mit dem „Täter“ als Bürger voraus, die erst durch die Tat (und d. h.: auf nachrangiger Stufe seines Daseins als Freier) zerstört und dann durch die Strafe wiederhergestellt wird.“351 Konsequent wird dann im Unrecht neben seinen materiellen Momenten eine konkrete Verneinung (zumindest partikulärer Natur) des Rechtszustandes gesehen.352 Denn – über die Verletzung des anderen und des Rechtsverhältnisses und den Widerspruch zum Recht als solchem hinaus – hat die Verletzung „eine zusätzliche Qualität dadurch, daß die Rechtsgüter von der Rechtsgemeinschaft anerkannt sind und diese Gemeinschaft (der Staat) ihren Erhalt auch garantiert. (. . .) (D)as Unrecht (hat) deshalb immer auch eine allgemeine Bedeutung: das Vertrauen des Einzelnen auf ein Dasein in Freiheit richtet sich in einem staatlich verfaßten Gemeinwesen nicht nur auf den und die jeweils begegnenden Anderen, sondern auch auf die Gemeinschaft im ganzen. Wenn auch die Verletzung unmittelbar durch einen Einzelnen geschieht, so ist doch durch jene allgemeine Seite die Wiederherstellung des Rechtszustandes eine Aufgabe, die nur unter Mitwirkung des Staates geschehen kann.“353 354 Auch diesem Unrechtsverständnis liegt in einem ersten Schritt wesentlich die Selbstbestimmungsfähigkeit des Subjekts zugrunde. Denn auch im staatlichen Zustand handelt es sich beim Unrecht nicht um einen Unglücksfall oder ein Kettenglied in einem Naturvorgang, sondern um menschliches, also prinzipiell selbstbestimmtes Verhalten. Der einzelne hat Teil an der Begründung rechtlicher Verhältnisse, sowohl was das unmittelbare Rechtsverhältnis zum jeweiligen Gegenüber angeht als auch im Hinblick auf die Schaffung eines allgemein rechtlichen Zustandes. Es ist wesentlich auch seine Leistung, daß ein solcher Zustand von Bestand ist. Er ist in der Lage, diese Leistung zu erbringen, weil es im Ansatz seine eigene Einsicht ist, die ihn diesen Zustand wollen läßt. Deshalb hat es auch so schwere Konsequenzen, wenn die subjektiv-objektive Vernunft im Unrecht nun auf einmal tätig in ihr Gegenteil verkehrt wird. Handelt ein Mitkonstituent der freiheitlichen Ordnung in konkret freiheitsbehindernder Weise, so stellt er damit die Gültigkeit seiner eigenen Entscheidung zum Leben in realisierter Freiheit gewissermaßen öffentlich zur Disposition. Er behauptet Überlegenheit, wo seine eigene Vernunft ihm Gleichheit signalisiert. Dies war ja schon als Wesen des Unrechts in überhaupt (abstrakt-)rechtlicher Umgebung heraus351
R. Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat (1989), S. 187, 188. Vgl. R. Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat (1989), S. 196. 353 R. Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat (1989), S. 200, 201. 354 Vgl. zu diesem Verständnis vom Verbrechen auch R. Zaczyk, „Staat und Strafe – Bemerkungen zum sogenannten ‚Inselbeispiel‘ in Kants Metaphysik der Sitten“, a. a. O. (Fn. 40), S. 81. 352
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gearbeitet worden. An Gewicht gewinnt dieser Widerspruch aber dadurch, daß in staatlichen Verhältnissen gerade diese Gleichheit auch formell, d. h. durch allgemeingültige Regelung, etabliert wurde und sie die Basis für die gesamte Rechtsgemeinschaft bildet. Durch die Tat wird also auch die Basis des Rechtszustandes selbst tangiert. Dies äußert sich vor allem darin, daß der einzelne („das Opfer“) wegen des an sich sicheren, freiheitswahrenden Umgangs mit anderen, gar nicht mit verletzendem Verhalten rechnet (wohingegen im noch unverfaßten Naturzustand diese stete Ungewißheit einen immer anwesenden Druck zur Vorsicht erzeugte). Denn das grundsätzlich bestehende Vertrauen auf die Vernünftigkeit des anderen wurde im Staat ja nochmals qualitativ angehoben und durch auch äußerliche stützende Maßnahmen untermauert. Mit der Tat wird Rechtsunsicherheit in einem an sich rechtssicheren Zustand erzeugt. Auf diese Weise birgt jede unrechtliche Handlung die Gefahr, mühevoll konstituierte rechtliche Verhältnisse zurückzuwerfen auf vorstaatliche Unsicherheit. Ein so verstandener strafrechtlicher Unrechtsbegriff enthält immanent gleichbedeutsame materielle und formelle Komponenten.355 Denn strafrechtliches Unrecht setzt nach diesem Verständnis erst an, nachdem Recht in Form von Gesetzen konkretisiert wurde und zusammen mit staatlichen Institutionen Realität von rechtlichen Verhältnissen erzeugt hat. Eine Straftat negiert konkrete Freiheit, d. h. hier solche, die schon allgemeinverbindlich festgelegt wurde. Dieser letzte Aspekt kommt bei diesem Verständnis nicht bloß zum strafbaren Unrecht hinzu, wenn es sich um eine Fehlleistung des einzelnen innerhalb einer staatlichen Gemeinschaft handelt, sondern ist selbst für die Qualifizierung als strafbares Unrecht konstitutiv. Überspitzt formuliert: Auch wenn eine bestimmte Handlung unter materiellen Gesichtspunkten die Qualität eines „Verbrechens“ (im oben beschriebenen Sinn) erreicht – also einen anderen in seiner Gleichbedeutsamkeit unter bewußter Negation des allgemeinen Rechtsgesetzes durch äußere Verletzung seiner Freiheitssphäre herabsetzt – wird dies erst zu strafrechtlich relevantem Unrecht, wenn dabei allgemein konstituierte Gesetze verletzt werden, wenn also auch formell errichtete Freiheit verletzt ist. Diese (auch) formelle Errichtung von Freiheit war von Kant als apriorische Notwendigkeit entwickelt worden und wurde bei ihm umgesetzt durch die Staatsgründung. Dies erklärt die Identifizierung von materiell und formeller Freiheitsrealisierung mit dem Staat und davon abgeleitet eben auch den materiellformellen Unrechtsbegriff. Allerdings muß selbst bei diesem gedanklichen Verfahren das „Verständnis der materialen Seite des Unrechts (. . .) der Formulierung des Tatbestandes vorausgehen“356. Dann muß aber nach einem 355 356
Vgl. R. Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat (1989), S. 217. R. Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat (1989), S. 195.
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Weg gesucht werden, das eigentlich Strafbegründende in einem rechtserheblichen Verhalten als solchem zu erfassen. Dies ist nur möglich, indem auf das allgemeine Rechtsgesetz rekurriert und untersucht wird, ob sich aus ihm, also aus Gründen rechtlich-praktischer Vernunft, eine Reaktion in Form der Strafe auf bestimmtes Verhalten begründen läßt. Die formelle Festlegung dessen, was als Resultat dieser Untersuchung herauskommt, folgt dann gedanklich erst nach. Es ist möglich, den Schwerpunkt strafrechtlichen Unrechts in der geschehenen schweren Vertrauensverletzung zu sehen.357 Dafür ist Voraussetzung, daß dieses Vertrauen durch Festlegung der allgemeingültigen, öffentlichen Regeln ein Niveau erreicht hat, bei dem allen in der Gemeinschaft bewußt ist, daß ein Vertrauensbruch des einen sie alle betrifft. Dabei kann es sich nur um eine schon verfaßte Gemeinschaft handeln, die den Prozeß des Zusammenfindens zur Rechtsetzung und der gemeinsamen Schaffung garantierender Institutionen schon vollzogen hat, die, anders ausgedrückt, eine verfaßte Einheit bildet. Denn die notwendige Verbundenheit mit anderen kann sich nur als Ergebnis einer durch den einzelnen mitbegründeten Sozialität entwickeln: Der Akt der Staatskonstitution ist ja gerade dadurch gekennzeichnet, daß „alle (omnes et singuli) im Volk ihre äußere Freiheit aufgeben, um sie als Glieder eines gemeinen Wesens, d. i. des Volkes als Staat betrachtet (universi), sofort wieder aufzunehmen; und man kann nicht sagen: Der Mensch im Staate habe einen Teil seiner angeborenen äußeren Freiheit einem Zwecke aufgeopfert, sondern er hat die wilde, gesetzlose Freiheit gänzlich verlassen, um seine Freiheit überhaupt in einer gesetzlichen Abhängigkeit, d. i. in einem rechtlichen Zustande, unvermindert wieder zu finden; weil diese Abhängigkeit aus seinem eigenen gesetzgebenden Willen entspringt.“358 Wird auf diese Weise Vertrauen in das rechtmäßige Verhalten des anderen zum Prinzip erhoben, muß dieses Prinzip selbst auch durch die Gemeinschaft geschützt werden.359 Der einzelne wird dann gewissermaßen mit seiner gesamten Persönlichkeit zum Repräsentanten der Gemeinschaft, wenn er Opfer eines Vertrauensbruchs wird.360 Im begangenen Unrecht liegt nicht nur ein Angriff auf die Person des anderen, sondern wesentlich eine partielle Aufhebung der „Regeln der Grundkonstitution des äußeren Zusammenlebens“361.362 Dies erklärt auch, warum es die 357 Vgl. dazu die Verbrechensdefinitionen bei E. A. Wolff, „Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen“ a. a. O. (49), S. 213. 358 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 47, A 168, 169/B 198, 199 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 315, 316). 359 Vgl. E. A. Wolff, „Das neuere Verständnis von Generalprävention und seine Tauglichkeit für eine Antwort auf Kriminalität“ a. a. O. (Fn. 46), S. 819. 360 E. A. Wolff, „Das neuere Verständnis von Generalprävention und seine Tauglichkeit für eine Antwort auf Kriminalität“ a. a. O. (Fn. 46), S. 819.
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Gemeinschaft als ganze ist, die dann auf das begangene Unrecht mit Strafe reagiert.363 Auf der anderen Seite ist aber die Bedeutung, die der einzelnen Unrechtshandlung im verfaßten rechtlichen Zustand zukommt, weniger gravierend als im Naturzustand. Gerade die allgemeine Stabilität eines solide auf Freiheitsgesetzen aufbauenden und mit ausreichender Macht versehenen staatlichen Zusammenhangs kann die Wirkung der einzelnen Unrechtshandlung relativieren.364 Sie bleibt in einer solchen Umgebung eben Ausnahme und wird nicht zur Regel. Gerade deshalb stellt sie sich nur als konkrete Rechtsverletzung eines anderen, sondern auch als nach außen getretener Zweifel an der Rechtsordnung selbst dar. Zusammenfassung Die letzte Dimension des strafrechtlichen Unrechts betrifft die gesetzliche Garantie freiheitlicher Verhältnisse und das darauf gegründete Rechtsvertrauen der Beteiligten. Definiert ist es unter Berücksichtigung materieller und formeller Momente von Wolff folgendermaßen: „Verbrechen ist die umrissene Verletzung des rechtlich konstituierten Basisvertrauens und setzt voraus, daß ein Anderer oder der Staat in einer Art verletzt werden, auf die er sich – in dem von der Rechtsordnung eingeräumten selbstorientierten Dasein – nicht aus eigener Kraft einstellen kann.“365 361
E. A. Wolff, „Das neuere Verständnis von Generalprävention und seine Tauglichkeit für eine Antwort auf Kriminalität“ a. a. O. (Fn. 46), S. 826. 362 Vgl. auch R. Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat (1989), S. 199: „Die geschehene Tat führt einen Zustand herbei, den die Beteiligten aus dem Begriff des Daseins ihrer wechselseitigen Freiheit gerade ausschließen wollten und an dessen Vermeidung sie ihr praktisches Verhalten auch ausrichten. Damit ist immer mitverstanden, daß jene Konkretion von Freiheit auch aufgehoben werden kann. Weil aber ein Verständnis von der Notwendigkeit dieses Elements von Freiheit besteht und dieses Verständnis allgemein anerkannt ist, können die Beteiligten in einer spezifischen Weise darauf vertrauen, daß alle sich an die gesetzte Norm halten. Das gemeinsame Leben in Interaktion ist bezüglich dieser Bereiche also gleichsam entlastet und legt sie als gesichert zugrunde.“ 363 Vgl. dazu unten zur Strafe, D. II. 1. b). 364 Dieser Gedanke taucht auf bei G. W. F. Hegel, Rph, handschriftl. Anm. 2 zum § 96 und im § 218 und seinem Zusatz. Bedeutsam ist, daß Hegel auch den Schluß zieht, eine Gesellschaft, die ihrer sicher ist, strafe nur gemäßigt. Es ist im Rückschluß also ein schlechtes Zeichen, wenn Aufgaben der Politik nicht mehr durch Schaffung der notwendigen Bedingungen eines friedlichen Soziallebens, sondern durch übertriebenen Gebrauch der Strafe verfolgt werden. Eine Rechtsgemeinschaft mit einem gesunden Selbstbewußtsein hat dies in dieser Weise nicht nötig. Vgl. dazu auch unten D. II. 1. b) cc). 365 E. A. Wolff, „Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen“ a. a. O. (Fn. 49), S. 213.
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b) Die Strafe Die Dimensionen des strafrechtlichen Unrechtsbegriffs wurden im Verlauf der Arbeit in einer Art Stufenfolge dargestellt: Ausgehend vom einzelnen, über sein Rechtsverhältnis zu anderen, von dort aus zur sie umgebenden Rechtsallgemeinheit bis hin zum Garantieverhältnis im Staat. Es finden sich also im Unrecht dieselben Entwicklungsstufen (nicht historischer, sondern gedanklicher Natur) wieder, die auch den Gedankengang des Rechts als solchem, der affirmativen Seite, vorangetrieben haben, indes in seiner Negation: Den Realisierungsstadien der Freiheit entsprechen im Negativen die Unrechtsdimensionen. Im folgenden Abschnitt soll untersucht werden, auf welcher der genannten Unrechtsebenen die Strafe als Rechtsinstitut beruht. Dabei bleibt es Ziel, die Strafe als praktisch-rechtlich vernünftig aus Rechtsprinzipien herzuleiten, d. h. äußere Freiheitsrealisierung als Grund und Maßstab der Beurteilung zu bewahren. Bei der Behandlung des Instituts der Zwangsbefugnis war dies Kant über den Satz des Widerspruchs gelungen. Da bei der Strafe einige vermittelnde Schritte hinzukommen (dies war der Grund für die genauere Fassung des Spezifischem am strafrechtlichen Unrecht), wird der Gedankengang zwar komplexer, von seinem Anspruch her verändert er sich aber nicht. Nun wird auch deutlich, warum es notwendig war, zunächst die Grundzüge eines freiheitlichen Rechtsverständnis darzustellen: Das Unrecht und die Strafe sind etwas vom Recht Abgeleitetes und können nur als solches in ihrem Wesen begriffen werden. In den Überlegungen zur Strafe laufen nun gewissermaßen die Fäden der einzelnen Begründungsschritte zusammen. aa) Strafe im Interpersonalverhältnis? Das strafrelevante interpersonale Unrecht ist nach dem Gesagten dadurch gekennzeichnet, daß es das Rechtsverhältnis zweier Personen als solches verletzt: Durch einen Zugriff auf die äußere, körperliche Seite einer anderen Person wird sie in ihrer Selbstzweckhaftigkeit negiert und so nicht mehr als gleichwertiges Vernunftwesen anerkannt. Der Anspruch auf Anerkennung wird verletzt, indem sich das handelnde Subjekt einen Freiheitsraum anmaßt, der ihm wegen seiner Gleichbedeutsamkeit mit dem Opfer gerade nicht zukommt. Der Unrechtstäter wandelt das Gleichheitsverhältnis zu seinen Gunsten in ein Ungleichheitsverhältnis um.366 Deutlich wird mit dieser Begriffsbestimmung, daß es bei der Strafe nicht um den Ausgleich von Unrechtsfolgen in rein körperlicher, äußerlicher Hin366
Vgl. dazu schon oben zum interpersonalen Unrechtsbegriff, D. II. 1. a) aa).
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sicht gehen kann. Sie zielt nicht ab auf Kompensation des durch das Unrecht bewirkten „physischen“ Schadens, sondern auf Unrechtsausgleich in einem umfassenden, auch geistigen Sinne: Deshalb genügt zur Begründung von strafrechtlichem Unrecht ein Angriff auf die äußere Sphäre eines anderen solange nicht, wie damit nicht gleichzeitig auch die verbindende geistige Ebene – das Anerkennen des anderen als gleichwertiges Vernunftwesen – betroffen ist.367 Als Minderung des Freiheitsstatus’ des Unrechtstäters aufgrund der Tat368 ist die Strafe weder geeignet noch dazu bestimmt, zivilrechtlichen Schadensausgleich zu leisten. Sie muß ihren Wirkkreis vielmehr im Rechtsverhältnis haben, das durch die Unrechtstat gestört wurde und nun wieder auf die Ebene einer funktionierenden Vernunftbeziehung der einzelnen Rechtssubjekte gehoben werden muß. Dafür ist auf der Seite des Täters dessen Überhebung über den anderen durch einen Eingriff in seine Freiheitssphäre auszugleichen; das Ungleichheitsverhältnis soll nicht von Bestand sein und muß durch restituierenden Eingriff zum ursprünglichen Gleichheitsverhältnis zurückgeführt werden.369 Dabei ist dies der Zustand der Gleichheit, der auch dem Unrechtstäter, einem Vernunftsubjekt, als vernunftnotwendig einleuchten wird, wenn er sich nicht jene Einsicht künstlich verstellt. Er wird also durch die Strafe nicht zu etwas gezwungen, dessen Richtigkeit er nicht selbst einsehen kann – damit wird in Hegels Terminologie „das Recht des subjektiven Willens“, „das höchste Recht des Subjekts“ gewahrt.370 Ein wesentlicher Rechtsgrund der Strafe liegt also nach diesem ersten Zugang in der Notwendigkeit, ausgleichend auf ein Wiederherstellen des Rechtsverhältnisses hinzuwirken.371 Denkbar wäre es nun, diesen Ausgleich – wie auch die präventive Zwangsbefugnis und die Schadenskompensation für Unrechtsfolgen – innerhalb des Rechtsverhältnisses zwischen den beiden Personen (Opfer und Täter) anzusiedeln. Das Zwangsrecht ist als die Befugnis des einen gegenüber dem anderen verstanden worden, anstehendes Unrecht (zum Beispiel das Nichtbezahlen einer Schuld) zu verhindern. Die Grenze für das Maß bildet der Grad des 367
Vgl. G. W. F. Hegel, Rph, § 98, S. 186. Vgl. zur Begriffsbestimmung bei M. Köhler, Strafrecht AT (1997), S. 37. 369 Vgl. dazu die Überlegung bei K. Seelmann, „Wechselseitige Anerkennung und Unrecht, Strafe als Postulat der Gerechtigkeit?“ ARSP 79 (1993), S. 228 (230): „Die Rechtsbeziehung mit den anderen könne dann erst wieder hergestellt werden, wenn der Täter sich mit dem unmittelbaren Opfer und mit den anderen erneut auf gleicher Ebene bewege, sich mit ihnen in ein neuerliches Anerkennungsverhältnis begebe. In dem Maße, wie er sich einseitig über die anderen aufgeschwungen hat, muß er dazu selbst in seinem Rechtsstatus gemindert werden. Nur dann ist wechselseitige Anerkennung wieder möglich.“ 370 G. W. F. Hegel, Rph, § 132 und Anm., S. 245. 371 Vgl. M. Köhler, Der Begriff der Strafe (1986), S. 51. 368
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Unrechts, die Grenze für seinen Inhalt ist durch den korrespondieren Rechtsinhalt gekennzeichnet.372 Schon in diesem Zusammenhang wurde herausgearbeitet, daß die Feststellung des objektiven Rechtsinhaltes, also die Frage, ob die zu erzwingende Position tatsächlich Recht darstellt, über die Urteilskraft des einzelnen hinausgeht, weil Recht mehr ist als bloß subjektive Richtigkeit. So war die Begründung des Zwangsrechts angewiesen auf die Objektivität schaffende Rechtsallgemeinheit, ohne die immer nur von subjektiv-perspektivisch beschränkten Rechtsansichten, nie aber von einem bestehenden Recht und einer damit zusammenhängenden Zwangsbefugnis gesprochen werden kann. Dies eingerechnet, handelt es sich aber beim Zwang dennoch um ein Rechtsinstrument, das strukturell von der einen Person gegenüber der anderen Person angewendet werden kann, um drohendes Unrecht zu verhindern. Das Zwangsrecht als vorstaatliche Befugnis, die im Rechtsprinzip selbst unmittelbar angelegt ist, spielt sich seiner Natur nach im Zwei-Personen-Verhältnis ab, ohne dabei auf die Allgemeinheit in mehr als nur inhaltsbegründender und maßvorgebender Funktion angewiesen zu sein. Im Staat wandelt es sich nicht seiner Struktur nach, sondern wird nur unter objektiv freiheitswahrende Anwendungs- und Ausübungsbedingungen gestellt: der Staat verwaltet das Zwangsrecht, aber er begründet es nicht. Für die Unrechtskompensation durch Schadensersatz, Rückgabe der erlangten Sache oder Wiederherstellung der Verhältnisse vor der Tat (Folgenbeseitigung) ist gedanklich ebenfalls nur erforderlich, daß der „äußerliche“ Vorteil, den der andere durch seine Tat erlangt hat, gegenüber dem Benachteiligten rückgängig gemacht wird. Auch hier ist zwar die praktischvernünftige Zuordnung dessen, was den einzelnen von Rechts wegen zusteht, die Konstitution von Freiheitssphären durch gegenseitige Anerkennung, schon vorausgesetzt373 – und zwar in seiner objektiven, nicht bloß subjektiv-beschränkten Gestalt (also wiederum nur unter gedanklicher Einbeziehung der Rechtsallgemeinheit). Aber der Ausgleich selbst kann von Person zu Person, also innerhalb des Rechtsverhältnisses stattfinden und ist seinen Voraussetzungen nach nicht auf ein Eingreifen von außen angewiesen. Auch in diesem Zusammenhang spielt der Staat eine durchsetzende, freiheitssichernde, nicht aber eine konstitutive Rolle. Mit dem Rechtsinstitut der Strafe ist es schwieriger bestellt. Die Herabsetzung des Opfers durch eine Straftat bewirkt nicht nur, daß dieses einen äußerlichen Nachteil erleidet, sondern auch, daß es vom Täter nicht mehr 372 Vgl. dazu oben die Abschnitte zur Zwangsbefugnis bei Kant und zum staatlichen Zwangsrecht. 373 Gemeint ist hier noch nicht die gesetzliche Konstitution von Rechtsgütern, sondern die vorgehende vernunft-rechtliche Erkenntnis, daß die Freiheit des einen nur so weit gehen kann, wie die Freiheit der anderen nicht behindert ist.
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als gleichwertiges Vernunftwesen anerkannt wird. Auch ist diese Herabsetzung im Zeitpunkt der Strafe nicht mehr zu verhindern. Durch die geschehene Unterordnung ist das Rechtsverhältnis nicht nur oberflächlich gestört, sondern in seiner Substanz angegriffen. Es ist zweifelhaft, ob eine solche Verletzung trotz der geschaffenen Über/Unterordnungbeziehung durch die beiden daran Beteiligten selbst wieder behoben werden kann. Denn im Gegensatz zum Rechtszwang und den Maßnahmen zum Schadensausgleich fällt das bestehende, noch „gesunde“ (auf Anerkennung der Gleichbedeutsamkeit des anderen beruhende) Rechtsverhältnis als Basis für solche Aktionen aus. Die geschehene Substanzverletzung hat die Eigenart, daß sie nicht aus dem interpersonalen Rechtsverhältnis selbst heraus geheilt werden kann, weil sie eben jenes substantiell beeinträchtigt hat. Wenn es auch nicht zerstört ist, weil in der Tat die Anerkennung des anderen nicht grundsätzlich, sondern nur partikulär verweigert wird, übersteigt es doch die Möglichkeiten der beiden Beteiligten, aus ihrem gestörten Innenverhältnis heraus die Behebung des entstandenen Mißverhältnisses in rechtlicher Weise zu leisten: Sie können sich nicht mehr in Gleichheit begegnen, was aber doch vom Ansatz her die Voraussetzung eines jeden rechtlichen Umgangs miteinander ausmacht. Weder bei der äußerlichen Verletzung, die schon durch Schadensersatz auszugleichen wäre, noch beim hindernden Rechtszwang ist das Anerkennungsverhältnis als Basis wechselseitiger Rechtshandlungen gestört und die interpersonale Ausgleichshandlung vor vergleichbare Schwierigkeiten gestellt. Als Konsequenz aus diesem gestörten Rechtsverhältnis ist es fraglich, ob überhaupt vom (Straf-)Recht des einen gegen den anderen gesprochen werden kann. Die Basis der Rechtsbeziehung ist ja in ihrer Substanz gestört, der eine wurde in einem bestimmten Teil seines Daseins in seiner Selbstzweckhaftigkeit negiert, dem anderen zum Objekt gemacht. Nun soll der Verletzte ausgerechnet an der Stelle des Verhältnisses zum anderen, an der seine eigene Reduktion zum Objekt stattgefunden hat, ein Gegenrecht (ein „Strafrecht“) besitzen. Es ist aber völlig ungeklärt, auf welcher rechtlichen Grundlage ein solches Gegenrecht in dieser Situation entstehen soll. Die Zwangsbefugnis, die auf Aufrechterhaltung des Rechtsverhältnisses zielt, und der Anspruch auf Schadensersatz, der seinerseits nur in einem bestehenden, funktionierenden Rechtsverhältnis gedacht werden kann, haben ihren Grund in der fortbestehenden Anerkennungsbeziehung. Das Strafrecht entsteht seiner Voraussetzung nach dagegen erst, nachdem eben jene Anerkennungsbeziehung gelitten hat, sein Entstehungsgrund und sein Träger müssen deshalb außerhalb der Zwei-Personen-Beziehung gesucht werden. Hinzu kommt, daß den beiden Beteiligten am Rechtsverhältnis der notwendige über-subjektive Überblick fehlt, der eine ausgleichende Reaktion ihrem Maß und ihrer Qualität nach gültig für beide bestimmen könnte. Hier
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kommt derselbe Gedanke zum Tragen, der bei der Bestimmung des Rechts immer wieder hervorgehoben wurde: Recht ist die die subjektive Perspektive übersteigende objektive Festlegung dessen, was sein soll. Dies gilt nun auch für das Strafrecht. Der einzelne bliebe in der Bestimmung und Ausübung „seines Strafrechts“ subjektiv gefangen, wenn nicht seine beschränkte Sicht gedanklich überwunden würde und die Allgemeinheit als objektivität-schaffende Instanz hinzugedacht würde, um das Strafrecht inhaltlich und seinem Maß nach zu bestimmen.374 Diese konstitutionell fehlende Fähigkeit eines einzelnen, die Frage des Inhalts und des Maßes des Strafrechts im vorstaatlichen Zwei-PersonenVerhältnis gültig zu bestimmen, hebt auch Hegel hervor: Das „Aufheben des Verbrechens (. . .) in dieser Sphäre der Unmittelbarkeit des Rechts (sei) zunächst Rache, dem Inhalte nach“ zwar gerecht, „insofern sie Wiedervergeltung ist“, aber der „Form nach bloß Herstellung eines „subjektiven Willens“, dessen Gerechtigkeit daher überhaupt nur zufällig sein kann, so wie er „für den anderen nur als besonderer“ sein kann. Die Rache werde dadurch, daß sie „als positive Handlung eines besonderen Willens ist, eine neue Verletzung: sie verfällt als dieser Widerspruch in den Progreß ins Unendliche“.375 376 Damit sind drei weitere Schwachstellen in einer bloß intersubjektiv gedachten Verbrechensaufhebung benannt: Erstens kann es sich nicht um eine vom Ansatz her gerechte Reaktion handeln, weil sie nur durch das verletzte Subjekt selbst bestimmt wird, nicht aber durch die Rechtsallgemeinheit verobjektiviert wurde. Dadurch ist immer die Gefahr gegeben, daß das Maß der inhaltlich zum Unrechts-Ausgleich geforderten Strafe überschritten wird; eine inhaltliche Richtigkeit wäre bloßer Zufall. Damit hängt die zweite Schwachstelle unmittelbar zusammen: Überreagiert der einzelne in seiner Straf- bzw. Rachereaktion, übersteigt er also das 374 Im Rahmen der Strafbegründung wird dieser Punkt in der Literatur regelmäßig hervorgehoben. Um so erstaunlicher ist es, daß im Rahmen der Zwangsrechtsbegründung diese Schwierigkeit, die ihrer Natur nach dort ebenso auftaucht, nie explizit erwähnt wird. 375 G. W. F. Hegel, Rph, § 102, S. 196. 376 Vgl. auch G. W. F. Hegel, Rph, Zusatz zum § 102, S. 197: „In einem Zustande der Gesellschaft, wo weder Richter noch Gesetze sind, hat die Strafe immer die Form der Rache, und diese bleibt insofern mangelhaft, als sie die Handlung eines subjektiven Willens, also nicht dem Inhalte gemäß ist. Die Personen des Gerichts sind zwar auch Personen, aber ihr Wille ist der allgemeine des Gesetzes, und sie wollen nichts in die Strafe hineinlegen, was nicht in der Natur der Sache sich vorfindet. Dagegen erscheint dem Verletzten das Unrecht nicht in seiner quantitativen und qualitativen Begrenzung, sondern nur als Unrecht überhaupt, und in der Vergeltung kann er sich übernehmen, was wieder zu neuem Unrecht führen würde. (. . .)“
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angemessene Maß an Vergeltung377, begründet er damit neues interpersonales Unrecht. Dies würde nun wiederum eine Reaktion des anderen provozieren, bei dem aber das Maß ebenso nur subjektiv bestimmt werden könnte. Dadurch entstünde eine unendliche Spirale von Gewalt und Gegengewalt. Drittens würde auch eine nach objektiver Bestimmung richtige und ihrem Maß nach angemessene Vergeltungsaktion vom Gegenüber nur als die subjektive Reaktion des anderen verstanden. Selbst wenn also die Reaktion des einen auf das Unrecht des anderen nach objektiven Kriterien inhaltlich angemessen sein sollte, wäre sie in der Wahrnehmung durch den anderen immer bloß subjektive Reaktion und damit nie allgemeingültig: immer nur besonderer Wille, nie allgemein gerecht. Aus den genannten Gründen ist also die Strafe als Aufhebung des Verbrechens durch Wiederherstellung des Gleichheitsverhältnisses zweier Personen als Rechtsinstitut nicht schon auf der Ebene eines isoliert betrachteten Zwei-Personen-Rechtsverhältnis zu begründen. Zwar liegt ein Grund dafür, daß Strafe sein muß, in der Verletzung des Rechtsverhältnisses durch das Verbrechen. „Strafe“, die durch das Opfer dem Täter aufgelegt wird, kann nach dem hier entwickelten Verständnis aber niemals Rechtsstrafe sein. Es handelt sich vielmehr um eine „bloß negierend-ausgleichende ‚Vergeltung‘, in einem vorstaatlich-emotionalen Verhältnis die Rache des (. . .) persönlich vom Verbrechen Betroffenen.“378 Nun wurde bereits darauf hingewiesen, daß ein Rechtsverhältnis im vorstaatlichen Zustand nicht isoliert, sondern immer schon als eingebunden in eine noch unverfaßte objektivität-schaffende Rechtsallgemeinheit gedacht werden muß: Es ist aufgehoben im abstrakt-allgemeinen Rechtsgesetz, das seine Objektivität allgemeiner Vernunftanstrengung verdankt. Die so geschaffene Objektivität schlägt auf das Basisverhältnis zwischen den Rechtspersonen durch. Sobald das Verhältnis zweier Vernunftwesen überhaupt in der Sphäre des Rechts besteht, wird reine Gegenseitigkeit eingebettet in den Zusammenhang der mit dem Rechtsbegriff immanent verbundenen Allgemeinheit. Dies bildet den Hintergrund für den Übergang zur nächsten Unrechtsebene, der Verletzung des Rechts als Recht. Die substantielle Verletzung der interpersonalen Rechtsbeziehung bleibt als die Basis der Strafbegründung erhalten, muß nun aber in den weiteren Zusammenhang einer auch 377
Nach Hegel bestimmt sich das richtige Maß der Wiedervergeltung nach dem qualitativen und quantitativen Umfang des Verbrechens. Dabei denkt er nicht an ein Vergelten durch eine gleichgeartete Rechtsverletzung („Gleiches mit Gleichem“), sondern an Wiedervergeltung dem Werte nach. Siehe G. W. F. Hegel, Rph § 101 und Anm., S. 192, 193. 378 M. Köhler, Der Begriff der Strafe (1986), S. 52.
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allgemeinen Rechtsverletzung gestellt werden. Es wird sich zeigen, daß sich erst durch diese gedankliche Erweiterung Strafe als Rechtsinstitut aufweisen läßt. bb) Aufhebung der Verletzung des Rechts als Recht Hegel hatte das Wesen des Verbrechens mit der Umschreibung als „Verletzung des Rechts als Recht“, d. h. des Allgemeinen im besonderen Dasein der Freiheit näher bestimmt und dabei festgestellt, daß „(d)ie geschehene Verletzung des Rechts als Rechts (..) zwar eine positive, äußerliche Existenz (ist), die aber in sich nichtig ist.“379 Dadurch war deutlich geworden, daß mit der Verletzung des Rechtsverhältnisses immer auch eine partielle Negation allgemeiner Rechtsgeltung verbunden ist. Bei genauerer Betrachtung hatten sich daraus zwei Aspekte eines im Verbrechen liegenden Widerspruchs ergeben: Objektiv ein nach außen getretener Widerspruch zum geltenden, allgemeinen Recht und damit verbunden ein Widerspruch im Subjekt selbst.380 Strafe als Reaktion auf so bestimmtes Unrecht muß diesen Aspekten Rechnung tragen; ihre wesentliche Bedeutung muß daher in der Wiederherstellung der Rechtsgeltung (objektive Seite, dazu (1)) und im Aufheben des Selbstwiderspruchs (subjektive Seite, dazu (2)) liegen. Dies impliziert, daß die Strafe auf zwei Ebenen, der allgemein-sozialen und der individuellen des Täters wirksam werden muß. (1) Wiederherstellung der Rechtsgeltung Einerseits muß die Strafe „öffentlich“, also mit erkennbarem Bezug zur Rechtsgemeinschaft erfolgen. Ihre erste Eigenart besteht dann darin, die im Verbrechen erfolgte Negation des Rechts nach außen hin bewußt zu machen und sie als allgemein inakzeptabel herauszuheben aus der Menge der rechtlich-richtigen Handlungen. Dies ist notwendig, weil die geschehene Handlung zunächst äußerlich unterschiedslos in der Menge freiheitlicher Daseinsäußerungen der Rechtssubjekte steht und wie diese als Verwirklichung eines praktisch-rechtlich vernünftigen Willens erscheint. Bliebe in dieser Situation das Verbrechen ohne tätiges Veto der Allgemeinheit, entstünde das falsche Bild der Unrechtshandlung als allgemein freiheitskonforme Verhaltensweise. Denn das Handeln eines Mitrechtssubjekts kann für sich einen gewissen Vertrauensvorsprung in Anspruch nehmen: Es ist anzunehmen, daß es sich in freiheitlichen Bahnen bewegt, da es Resultat eines Denkpro379
G. W. F. Hegel, Rph, § 97, S. 185. Vgl. dazu oben die Ausführungen zum Verbrechensbegriff im Anschluß an Hegel. 380
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zesses ist, der im zur rechtlichen Selbstbestimmung konstitutionell Befähigten stattgefunden hat. Dann ist aber aus Sicht der (hier noch unverfaßten) Rechtsgemeinschaft mit der Unrechtshandlung implizit die Behauptung aufgestellt, daß sie mit dem allgemeinen Rechtsgesetz in Übereinstimmung steht. Ein Geltungsanspruch entsteht, der auf der Unterstellung beruht, daß die Unrechtshandlung „mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen“381 kann. Dieser Geltungsanspruch hat seinen Grund im Subjekt und ist notwendige Konsequenz freiheitlichen Denkens. Wird er fälschlich erhoben, weil die Handlung konkret freiheitsvernichtend ist (etwas, das der Unrechtstat immanent ist), so muß dies auf irgendeine Weise manifestiert werden382; die erste Bedeutung der Strafe liegt also im öffentlichen Sichtbarmachen des Geltungswiderspruchs. Dieses Publik-machen der Unrichtigkeit des Geltungsanspruchs alleine hebt ihn aber noch nicht auf. Denn er wurde nicht bloß durch verbale Äußerung aufgestellt, der nun auch nur verbal widersprochen werden könnte, sondern durch eine konkret freiheitsverletzende Handlung. Darin ist schon angelegt, daß auch die Aufhebung ein tätiges Element (mit interpersonaler Relevanz) aufweisen muß. Die Art dieser tätigen Aufhebung ist ihrerseits in mehrfacher Weise durch die Unrechtshandlung vorgegeben: Zunächst handelt es sich bei der Unrechtstat ganz allgemein um „eine Tat auf dem Gebiet des Rechts, da sie das allgemeine Kriterium erfüllt, als Faktum auf einen anderen einzuwirken.“383 Dies gilt, obwohl sie rechtlich unvernünftig ist. Dann gilt für die Strafe als Reaktion auf dieses Unrecht, daß sie ihrerseits Rechtshandlung sein muß. Es wurde bei der Herleitung des Rechts und des Rechtszwanges bereits herausgearbeitet, welche Folgen eine solche Aussage impliziert; es sei hier kurz an diese Aussagen erinnert und der wesentliche Bezug zur Strafe hergestellt: Erstens ist zwischen Moralität und Legalität der Handlung zu unterscheiden. Rechtsstrafe kann nur die äußerliche Seite des handelnden Subjekts betreffen, seine Rechtspersönlichkeit. Dagegen ist ein Zugriff auf den zugrundeliegenden Willensprozeß (etwa eine mit Zwang verbundene Einwirkung auf „moralische Besserung“) nicht zulässig. Das Rechtsinstitut Strafe darf nicht mit der im ersten Abschnitt dargestellten Selbstbewältigung einer 381 I. Kant, MdS, Rechtslehre, Einleitung, § C, AB 34 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 231). 382 Das Strafverfahren, die öffentliche Verhandlung und das begründete Urteil sind Umsetzungen dieser Bedeutung der Strafe in einem staatlichen Zusammenhang. Vgl. auch E. A. Wolff, „Das neuere Verständnis von Generalprävention und seine Tauglichkeit für eine Antwort auf Kriminalität“ a. a. O. (Fn. 46), S. 821. 383 R. Zaczyk, „Staat und Strafe – Bemerkungen zum sogenannten ‚Inselbeispiel‘ in Kants Metaphysik der Sitten“, a. a. O. (Fn. 40), S. 81.
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bösen Tat384 gleichgesetzt und dann nur äußerlich mit Zwang verbunden werden. Damit ist nicht ausgeschlossen, daß eine Hilfestellung für die moralische Verarbeitung des Geschehenen angeboten wird – etwa die Möglichkeit, an Selbsthilfe- oder Therapiegruppen teilzunehmen – aber eben als Einladung und nicht als Zwangsveranstaltung. Zweitens muß der Unrechtstäter in seiner Eigenschaft als autonomes Rechtssubjekt auch dann anerkannt bleiben, wenn sich nun wegen einer konkreten Fehlleistung die Strafe gegen ihn richtet. Als Rechtsinstitut kann die Strafe nur qualifiziert werden, wenn sie diese unumstößliche Einsicht in der Wirklichkeit aufrechterhält. Dies wird als wesentlicher Kritikpunkt an allen instrumentalen Straftheorien herauszustellen sein.385 Drittens kann durch die Strafe nicht das bestehende Rechtsverhältnis zum Täter als solches aufgehoben werden. Unrecht und Strafe bewirken gerade nicht einen totalen Zusammenbruch der rechtlichen Beziehungen miteinander, sondern eine Verhältnisänderung: Durch die Unrechtstat wird das Verhältnis beeinträchtigt und durch die Strafe wiederhergestellt. Die Strafe ist nicht etwa ein Mittel dazu, den Täter aus den rechtlichen Beziehungen zueinander auszustoßen. Soll sich Strafe als Rechtsinstitut erweisen, ist dafür immer schon Voraussetzung, daß rechtliche Beziehungen noch existieren und auch erhalten bleiben sollen. Viertens gilt auch für das Strafrecht, daß seine inhaltliche Richtigkeit, seine Charakterisierung als rechtlich praktisch vernünftig, nicht an die Erreichung eines bestimmten, inhaltlich festgelegten Zieles gebunden sein kann, sondern nur der Form nach daran, ob die Ausübung des Strafrechts mit der Freiheit von jedermann vereinbar ist. Neben diesen allgemeinen Konsequenzen daraus, daß sowohl die Unrechtshandlung als auch die reagierende Strafhandlung Rechtshandlungen sind, muß die tätige Aufhebung des Unrechts durch Strafe auch in anderer Hinsicht dem geschehenen Unrecht entsprechen: Dabei ist – wie oben bereits erarbeitet – das durch die Straftat in Ungleichheit gestürzte Rechtsverhältnis durch die Strafe zu restituieren; also muß sich die Strafe ihrem Maße nach unmittelbar an der Gewichtigkeit der Störung des Rechtsverhältnisses orientieren und ihrem Inhalte nach an dem Rechtsstatus des Täters ansetzen, der sich selbst eine Rechtspersönlichkeit angemaßt hat, die ihm nicht zusteht: Er hat sich über den anderen gestellt und Gleichbedeutsamkeit negiert. Strafe muß also eine Rechtsstatusminderung des Täters in einem dem Wert des Unrechts entsprechenden Maße beinhalten. 384 385
Also der moralischen Seite der Strafe. Vgl. dazu D. II. 3.
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Ferner ist nun die Strafe auch nach der Bedeutung der Unrechtshandlung für die Rechtsgeltung in der Gemeinschaft zu bestimmen. Es geht nach dem oben Gesagten um tätige Aufhebung des durch den Verbrecher in die Welt gebrachten konkreten Geltungswiderspruchs, um Rechtsbewährung in dem Sinne, daß sich das Allgemeine gegen das widersprüchliche Besondere durchsetzt. Strafe soll die Wirklichkeit des Rechts auch gegen einen besonderen Einzelwillen wiederherstellen. Nach Hegel ist dies in der Logik des Verbrechens zwingend angelegt: „Die Tat des Verbrechens ist nicht ein Erstes, Positives, zu welchem die Strafe als Negation käme, sondern ein Negatives, so daß die Strafe nur Negation der Negation ist. Das wirkliche Recht ist nun Aufhebung dieser Verletzung, das eben darin seine Gültigkeit zeigt und sich als ein notwendiges vermitteltes Dasein bewährt.“386 An anderer Stelle schreibt er: „Die positive Existenz der Verletzung ist nur als der besondere Wille des Verbrechers. Die Verletzung dieses als eines daseienden Willens also ist das Aufheben des Verbrechens, das sonst gelten würde, und ist Wiederherstellung des Rechts.“387 Deutlich wird damit, daß die Strafe keine beliebige Gegenbewegung zum Unrecht ist, sondern eine gedanklich unumgängliche. Sie ist mit dem Verbrechen nicht bloß lose verbunden, sondern hat nur durch seine negative Existenz überhaupt ihrerseits Existenz. Anders ausgedrückt: Im Begriff des Verbrechens, so wie er hier entwickelt wurde, ist die Strafe schon mitangelegt. Denn die Verletzung des Allgemeinen im besonderen Dasein der Freiheit kann nicht von Bestand bleiben, weil sie logisch zwingend schon ihre eigene Aufhebung in sich trägt. Allgemeinheit und Besonderheit des Rechts bilden eben nur als Einheit wirkliches Recht, d. h. die Wirklichkeit des Rechts kann sich nur in dieser Einheit herstellen. Ist durch die Existenz des Verbrechens ein Auseinanderklaffen von Besonderem und Allgemeinen bewirkt, indem der Verbrecher seinen eigenen besonderen Willen über die allgemeine Rechtsgeltung zum Prinzip erhoben hat388, muß zur Rechtswiederherstellung eben jener besondere Wille – auch äußerlich – aufgehoben werden. Dieser (öffentliche, allgemeine) Widerspruch, die kollektive Bekundung, sich nicht dem besonderen Willen des Täters zu unterstellen, sondern an der Allgemeinheit festzuhalten, wird in der Strafe manifest. Um der Eindringlichkeit dieses Festhaltens an der Allgemeinheit des Rechts willen, ist es notwendig, daß sich die Gemeinschaftsreaktion nicht bloß in einem verbalen Tadel erschöpft. Der Täter muß, so wie er selbst durch seine Handlung konkrete Freiheit verletzt und dadurch die Rechtsgeltung in Frage gestellt hat, Einbu386
G. W. F. Hegel, Rph, Zusatz zum § 97, S. 186. G. W. F. Hegel, Rph, § 99, S. 187. 388 Vgl. dazu für die Moralitätssphäre den § 139 in Hegels Rph. Siehe außerdem D. Klesczewski, Die Rolle der Strafe in Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft (1991), S. 73. 387
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ßen an seinen äußeren Rechtspositionen hinnehmen und dadurch die Wirklichkeit des Rechts bestätigen. Durch die Strafe wird „widerspruchsfreie Allgemeinheit des Rechts im interpersonalen Dasein restituiert.“389 Entscheidend bei diesem Verständnis von der Restitution der Rechtsgeltung ist, daß sie als Realisierung allgemeiner Freiheit auch vom Unrechtstäter selbst (auch aus seiner subjektiven Vernunftperspektive) als unbedingt notwendig begreiflich ist. Nur wenn das Recht, wie in dieser Arbeit zugrunde gelegt, als eine auch durch den (späteren) Unrechtstäter mitbegründete Freiheitsordnung begriffen wird, kann die Wiederherstellung der Rechtsgeltung durch Strafe auch vom Täter selbst als rechtlich-richtig eingesehen werden. Damit unterscheidet sich das hier Vertretene von jeglicher Form bloß heteronomer Übelszufügung um der Stabilisierung einer dem Straftäter bloß äußerlich auferlegten Sollensnorm willen. (2) Aufhebung des Selbstwiderspruchs Zu der allgemein-sozialen Freiheitsrestitution durch die Strafe kommt wegen der Eigenschaft des Verbrechens als auch im Subjekt stattfindender Widerspruch ein Grund für die Strafe hinzu, der die Innenseite des Täters betrifft. Der Straftäter hat, weil er Vernunftwesen ist, durch seine Unrechtshandlung die Behauptung der Verallgemeinerbarkeit seines Handlungsgrundsatzes aufgestellt, obwohl ihm kraft seiner eigenen Vernunftbefähigung klar sein mußte, daß dieser mit allgemeiner Freiheit gerade unvereinbar ist. Hegel beschreibt nun einen Weg der Auflösung dieses Widerspruchs: „Denn in seiner als eines Vernünftigen Handlung liegt, daß sie etwas Allgemeines, daß durch sie ein Gesetz aufgestellt ist, das er in ihr für sich anerkannt hat, unter welches er also als unter sein Recht subsumiert werden darf.“390 Der Grundgedanke liegt dabei darin, die vom Täter selbst aufgestellte Regel („ich darf die konkrete Freiheit anderer verletzen“) gedanklich zu verallgemeinern („konkrete Freiheitsverletzungen anderer sind erlaubt“) und anschließend den Täter selbst unter die Geltung dieses vermeintlich allgemeinen Gesetzes zu stellen, „ihn unter sein Recht zu subsumieren“. Der Täter erleidet dann seine eigene Maxime gedacht als allgemeines Gesetz, indem er äußere Freiheitseinbußen hinnehmen muß. Das Verfahren des kategorischen Imperativs wird dabei zugrunde gelegt. Dieser gedankliche Prozeß kann nur Sinn machen, wenn der Täter als selbstbestimmtes Subjekt in Ansatz gebracht wird, welches prinzipiell in der Lage ist, diese Verarbeitungsleistung zu erbringen. Insoweit spielt die moralische 389 M. Köhler, „Strafbegründung im konkreten Rechtsverhältnis“, a. a. O. (Fn. 160), S. 19. 390 G. W. F. Hegel, Rph, § 100, S. 190.
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Leistung der Selbstbewältigung, das Zurückfinden zum Richtigen durch Erleidung des Falschen391 auch bei der Rechtsstrafe eine Rolle. Dies steht nicht im Widerspruch zur oben postulierten Trennung zwischen Moralität und Legalität. Denn (auch) im Recht ist es zulässig und notwendig, die Autonomie des Täters ernst zu nehmen und darin den Grund für einen bestimmten Umgang mit ihm zu sehen. Allerdings darf sich der Strafzwang nicht auf den Prozeß der Selbstbewältigung selbst beziehen, sondern kann nur den äußeren Anstoß dazu geben, den Widerspruch für sich aufzuheben. Die Reaktion der Rechtsgemeinschaft durch die Strafe kann an der äußerlichen Seite der Rechtspersönlichkeit des Täters ansetzen: Etwa am Eigentum, oder an der Bewegungsfreiheit, darf aber in keinem Fall auch solche Sphären betreffen, die von der inneren Seite des Täters nicht mehr zu trennen sind, weil der Täter sie nicht bloß an sich sondern auch in sich geschehen lassen muß. Ob der Täter die Auferlegung der Strafe dann tatsächlich zum Anlaß nimmt, sein Fehlverhalten innerlich zu verarbeiten, muß ihm selbst überlassen bleiben und kann nur durch die Gemeinschaft unterstützt, nicht aber erzwungen werden. Wenn also die Eigenvermittlung im Täter auch nicht durch die Rechtsstrafe selbst schon erreicht ist, sondern immer eine freiwillige Leistung des Täters hinzukommen muß, so ist sie doch auch ein Grund für die Notwendigkeit von Strafe. Wolff umschreibt diesen Prozeß im Zusammenhang mit der Restitution des Gleichheitsverhältnisses zu anderen: „Dadurch, daß sie (die Mitglieder der Rechtsgemeinschaft, Anm. der Verf.) den Täter einem entsprechenden Grundsatz unterwerfen, dem er den Anderen unterworfen hat, messen sie ihm eine äußere Rolle zu, deren existentiell negative Seite, die ihn nun trifft, ihm die Möglichkeit und Anlaß bietet, in einer Leistung der Abstraktion seine herabsetzende Tat einzubeziehen und sich in das Gleichheitsverhältnis zurückzufinden. Diese Leistung läßt gleichzeitig den in des Täters Grundsatz enthaltenden Irrtum deutlich werden und bietet eine Korrekturmöglichkeit. Nur weil auch nach des Täters – unkorrumpierten – Vernunftsgebrauch das Gleichheitsverhältnis die Beziehung bestimmt, kann ein solches Verfahren Sinn haben.“392 Der „Prozeß der Restitution wirklicher Freiheit“393, die Strafe, hat also neben der Seite des Ausgleichs einer im Zwei-Personen-Verhältnis entstandenen Ungleichheit eine weitere Dimension dadurch, daß sie auch die Auf391 Vgl. dazu den Prozeß der Aufhebung des Selbstwiderspruchs auf moralischer Ebene oben unter A. 392 E. A. Wolff, „Das neuere Verständnis von Generalprävention und seine Tauglichkeit für eine Antwort auf Kriminalität“ a. a. O. (Fn. 46), S. 820, 821. 393 M. Köhler, „Strafbegründung im konkreten Rechtsverhältnis“, a. a. O. (Fn. 160), S. 11.
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hebung partieller Negation allgemeiner Rechtsgeltung bedeutet: Objektiv durch Wiederherstellung der Rechtsgeltung nach außen und subjektiv durch Aufhebung des Selbstwiderspruchs im Subjekt. Es ist deutlich geworden, daß für eine solche (dreistufige interpersonal-allgemein-subjektive) Strafbegründung die Ebene des Zwei-Personen-Verhältnisses verlassen werden muß und eine Rechtsgemeinschaft, in der das Interpersonalverhältnis eingebettet ist, für einen freiheitlichen Strafbegriff unverzichtbar ist. Noch nicht endgültig geklärt ist aber, ob sich Strafe tatsächlich schon auf dieser abstrakt-rechtlichen Ebene als praktisch-vernünftiges Rechtsinstitut letztgültig begründen läßt, oder ob dafür ein verfaßter, staatlicher Zustand denknotwendig ist. cc) Ausgleich zum Bruch des rechtlich verfaßten Friedensverhältnisses Es wurde bereits dargestellt, das eine letzte Dimension strafrechtlichen Unrechts in der Verletzung der gesetzlichen Garantie freiheitlicher Verhältnisse und des darauf gegründeten Rechtsvertrauens gesehen werden kann. Der Täter hat die von ihm selbst mitgetragene Rechtsordnung in einem bestimmten Punkt selbstwidersprüchlich gestört, indem er entgegen dem Grundsatz allgemeiner Rechtssicherheit fremde, allgemein anerkannte Freiheitspositionen angegriffen und dadurch ein von ihm selbst mitbegründetes Gesetz mißachtet hat. Durch die tätige Mißachtung des Anerkennungsanspruchs seines Opfers in einem bestimmten Daseinselement der Freiheit wurde auch die allgemeine Anerkennung dieser Rechtspositionen durch öffentliches Gesetz verletzt und so der sichernde Rechtszustand partiell in Frage gestellt. Innerhalb einer staatlich verfaßten Rechtsgemeinschaft muß deshalb die Strafe die Bedeutung haben, gerade den verfaßten Rechtsgarantiezusammenhang durch gemeinschaftliche Reaktion auf strafrechtliches Unrecht wiederherzustellen und den Weg frei zu machen für ein restituiertes Vertrauensverhältnis zwischen den Rechtspersonen. Umfaßt sind damit zwar auch die schon herausgestellten Bedeutungsebenen der Strafe auf abstraktmaterieller Ebene, die Restitution des Gleichheitsverhältnisses (interpersonaler Aspekt), die Aufhebung des Selbstwiderspruchs (subjektiver Aspekt) und die Wiederherstellung der Rechtsgeltung (objektiver Aspekt). Die allgemeine Bedeutung der Strafe geht im Staat aber über diese Gründe hinaus und richtet sich gewissermaßen auch auf die formelle Ausgestaltung eben jener materiellen Strafrechtsgründe. So ist im Staat die Verletzung des interpersonalen Rechtsverhältnisses eine Verletzung des durch formelle Gesetze auf die Ebene allgemeiner An-
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erkennung gehobenen, rechtlich verfaßten Gleichheits- und Friedensverhältnisses. Der Selbstwiderspruch im strafrechtlichen Unrecht liegt in einer verfaßten Rechtsgemeinschaft darin, daß der Täter gegen ein äußeres Gesetz verstößt, welches er selbst mitbegründet hat394 und das durch ein öffentliches Verfahren, an dem er selbst beteiligt ist, für ihn und das Opfer gleichermaßen gilt. Das Infragestellen allgemeiner Rechtsgeltung stellt sich im Staat so dar, daß formell errichtete Rechtsgarantie, die in einem allgemeine Freiheit sichernden Rechtszustand herrscht, durch die Tat des Täters partiell auf vorstaatliche Unsicherheit zurückgeworfen wird und damit das Vertrauen in die Vernünftigkeit des Täters in diesem Punkt nur noch als ein natürliches (vorstaatliches) Bestand haben kann, nicht aber mehr das Niveau eines auch formell konstituierten Rechtsvertrauens erreicht. Die materiellen Unrechtsdimensionen wandeln sich also durch den erweiterten Zusammenhang einer staatlich gefestigten Rechtsordnung und werden zu materiell-formellen Unrechtsbestimmungen. Sie erfahren dabei auch qualitativ eine Modifikation, denn der staatliche Zusammenhang wird nun Bestandteil der Rechts- und (davon abgeleitet) Unrechtsbestimmung. Die staatliche Strafe als Reaktion auf strafrechtliches Unrecht muß diese Wandlung mitvollziehen. Sie muß also – den Bruch des rechtlich verfaßten Gleichheits- und Friedensverhältnisses ausgleichen; – den auch formellen Widerspruch des Täters, der im Verstoß gegen ein von ihm selbst mitverfaßtes Gesetz liegt, aufheben; – formelle Rechtsgarantie wiederherstellen und gesichertes Rechtsvertrauen bestätigen. Aus diesen Modifikationen in der Funktionsbestimmung der Strafe lassen sich nun einige wesensbestimmende Merkmale der Strafe im Staat ableiten: Zunächst sind Inhalt und Maß der Strafe wesentlich durch die Qualität und Quantität der Verletzung des Gleichheits- und Friedensverhältnisses festgelegt. Durch positive Gesetze werden im Staat Daseinselemente der Freiheit zu allgemein anerkannten Rechtsgütern, deren Verletzung gerade wegen ihrer allgemeinen Anerkennung nicht nur den unmittelbar Betroffenen angeht, sondern auch einen Angriff auf die Basis der Gemeinschaft beinhaltet. In die Bewertung des Gewichts der Unrechtstat wird daher auch diesen Affront gegen die grundlegenden, auch durch den Täter als Mitglied der Gemeinschaft mitgetragenen Vereinbarungen einfließen müssen. Auch muß die Tatsache, daß Verletzungsverbote nunmehr in gesetzlich formulier394 Vgl. R. Zaczyk, „Staat und Strafe – Bemerkungen zum sogenannten ‚Inselbeispiel‘ in Kants Metaphysik der Sitten“, a. a. O. (Fn. 40), S. 82.
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ten Tatbeständen allgemeingültig festgelegt sind, eine eigenständige Bedeutung erlangen: Der Täter ist bei seinem Entschluß zum Unrecht nicht mehr komplett auf seine subjektive Vernunft angewiesen, um Recht von Unrecht zu trennen, sondern erhält durch den formulierten Tatbestand eine Orientierungshilfe. Dann ist ihm aber in einem viel höheren Maße zuzumuten, sich im konkreten Fall rechtlich zu verhalten. Außerdem ist die zu erwartende Reaktion der Gemeinschaft auf die Negation des in einem bestimmten Tatbestand ausgesprochenen Verbotes der Freiheitsverletzung ihrerseits gesetzlich bestimmt, so daß der Täter weiß, worauf er sich beim Rechtsbruch einläßt. Die Strafe trifft ihn dann nicht überraschend, sondern als direkte Folge seines eigenen bewußten Verhaltens. Ferner erlangt nun Bedeutung, wie groß die Erschütterung des Rechtsvertrauens der Allgemeinheit durch die Unrechtstat ist und welche Auswirkung auf die insgesamt sicheren Verhältnisse im Staat durch die einzelne Unrechtstat zu befürchten ist. Hegel nennt diesen Aspekt „die Gefährlichkeit der Handlung für die Gesellschaft“395. Bei ihm hat diese Gefährlichkeit für die verfaßte Gesellschaft einerseits die Bedeutung, daß „die Größe des Verbrechens verstärkt wird; andererseits aber setzt die ihrer selbst sicher gewordene Macht der Gesellschaft die äußerliche Wichtigkeit der Verletzung hinunter und führt daher eine größere Milde in der Ahndung desselben herbei.“396 „Ein Strafkodex gehört darum vornehmlich seiner Zeit und dem Zustand der bürgerlichen Gesellschaft in ihr an.“397 Die Beurteilung der Bedeutung der Unrechtstat wird also innerhalb einer auch formell konstituierten Rechtsgemeinschaft nicht nur hinsichtlich der Rechtsgutseinbuße beim Opfer und der Intensität der Störung des Rechtsverhältnisses, sondern auch im Hinblick auf den Gesamtzusammenhang im Staat erfolgen.398 Die Funktion der Strafe als Aufhebung des nach außen getretenen Geltungswiderspruchs, einer Rechtsgarantiestörung, hat in einem Staat weiterhin dazu zu führen, daß die notwendigen Institutionen geschaffen werden, die diesen Prozeß öffentlich und nach Prinzipien staatlicher Gerechtigkeit durchführen können. Erst „in einem Zustande der Gesellschaft, wo (. . .) Richter (und) Gesetze sind“ kann die Strafe in Form einer „strafenden Gerechtigkeit“ wirklich werden.399 Denn die Subjektivität in der Bestimmung der Strafe und die Zufälligkeit der Machtverhältnisse im vorstaatlichen Zustand verhindern eine gleichmäßig gerechte Ausübung des Strafrechts. Inso395
G. W. F. Hegel, Rph, § 218, S. 372. G. W. F. Hegel, Rph, § 218, S. 372. 397 G. W. F. Hegel, Rph, § 218 (Anm.), S. 372. 398 Siehe auch F. Herzog, Prävention des Unrechts oder Manifestation des Rechts (1987), S. 82 ff. 399 Vgl. G. W. F. Hegel, Rph, Zusatz zum § 102 und § 103, S. 197. 396
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1. Teil: Freiheitliche Strafbegründung im Staat
fern hat die Staatskonstitution neben den beschriebenen Auswirkungen auf den Inhalt und das Maß der Strafe auch eine entscheidende Bedeutung für ihre Form. Es muß, wie schon beim Recht und beim Zwangsrecht festgestellt, ein dem materiellen Strafrechtsinhalt entsprechender formeller Umsetzungsweg gefunden werden. Damit ist auch hier nicht gemeint, daß der „Strafrechtsinhalt“ bloß äußerlich mit der „Strafrechtsdurchsetzung“ verbunden ist. Dies würde schon im Ansatz der von Kant im Rahmen des Rechtszwangs erarbeiteten Einheit des Rechts widersprechen400 und letztlich den ausgeübten Strafzwang „außerhalb des Begründungszusammenhangs belassen“401. Im Staat verweisen formelle und materielle Aspekte zwingend aufeinander402, nur in ihrem Zusammendenken läßt sich eine mit der Freiheit der Rechtssubjekte vereinbare Wirklichkeit des Strafrechts begründen. Daraus ergeben sich dann zwingende Konsequenzen für das staatliche Strafverfahren von den ersten Ermittlungen an bis hin zum Strafvollzug. Es ist von der Gesellschaft eine Leistung zu erbringen, die es dem Täter ermöglicht, den Selbstwiderspruch des Verbrechens für sich selbst zu bewältigen; gleichzeitig muß der Rechtszustand auch nach außen hin restituiert werden. Der öffentliche Strafprozeß und das begründete Urteil dienen der Klarstellung der tatsächlichen und rechtlichen Situation. Sowohl für das Subjekt selbst als auch für die Rechtsallgemeinheit und das Opfer ist dies der erste Teil des Unrechtsaufhebungsprozesses. Das Auferlegen der Strafe signalisiert die Bedeutung der (erwiesenen) Unrechtstat für die Gesellschaft, gleicht die tätige Herabsetzung des Opfers aus und läßt den Täter seine Fehlleistung „am eigenen Leibe“ spüren. Er selbst bleibt damit Grund der Strafe, wird nun allerdings durch äußerlich wirkende Freiheitsbeeinträchtigung daran erinnert. Dies gibt Anlaß, sein Fehlverhalten auch für sich selbst als solches zu begreifen. Die Gesellschaft muß sich deshalb zwingend auch im Strafvollzug (und danach) um den Täter bemühen, wenn dieser Selbstfindungs-Prozeß gefördert werden soll. Ein bloßes „Wegsperren“ erschöpft sich im Ausnutzen einer Übermachtsposition und verliert jeden Bezug zum Autonomiegrund des Rechts. Auch im Staat bleibt der Strafakt seiner Qualität nach Rechtsakt; deshalb bleibt es – wie oben dargestellt – bei seiner Einschränkung auf Maßnahmen, die nur den äußeren Rechtsstatus des Täters betreffen, ihn als autonomes Vernunftwesen auch weiterhin anerkennen, ihm nicht die Rechtsfähig400 I. Kant, MdS, Einleitung in die Rechtslehre, § E, AB 35, 36 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 231, 232). 401 Vgl. für den Kontext des Rechtszwangs M. Köhler, „Rechtsbegriff und Rechtsgeltung“ a. a. O. (Fn. 225), S. 81. 402 Vgl. dazu die Ausführungen zum Recht, zur Staatskonstitution und zum Zwangsrecht in dieser Arbeit.
D. Staatliche Strafe als Unrechtsreaktion
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keit als solche absprechen und ihn nicht bloß um der Erreichung irgendwelcher Gesellschaftszwecke willen treffen. In ihrer Bedeutung für das Opfer erfährt die Strafe als staatlicher Hoheitsakt zwei spezifische Modifikationen: Das Opfer wird durch den Eintritt in den Rechtszustand auf der einen Seite verletzlicher als im vorstaatlichen Zustand403, denn sein Vertrauen in die Nichtverletzung durch andere wird durch die staatliche Garantie seiner Rechtssphäre zunächst auf eine höhere Stufe gestellt. Es muß, anders als im ungesicherten Zustand, nicht mit Rechtsverletzungen rechnen. Daher ist vom Ansatz her auch die unmittelbare Selbsthilfe im Staat nur die Ausnahme404 und der Kreis rechtlich-begründeter Gegenmaßnahmen des Opfers formell beschränkt. Auf der anderen Seite lebt das Opfer im Staat in gesicherten Rechtsverhältnissen, die nicht schon durch eine einzelne Unrechtstat in ihrer Gesamtheit gefährdet sind. Die Sicherheit bewirkt vielmehr, daß auch für den Fall, daß der einzelne vom Unrecht getroffen wird, dieser mit der Bewältigung nicht alleine gelassen ist, sondern Strukturen und Institutionen existieren, die eigens für diese Fälle begründet wurden. Die Strafreaktion als Unrechtsausgleich muß also einerseits die Verletzlichkeit des einzelnen ernst nehmen und darf die Wucht des Vertrauensbruchs und die verunsichernde Wirkung der Straftat nicht unterschätzen. Hier liegt der Grund für eine notwendige Härte der Strafe. Andererseits ist das Opfer dem Unrecht gerade nicht als vereinzeltes, allein gelassenes Wesen ausgeliefert, sondern ist Mitglied einer festen Sozialität. Dieser Zusammenhang wird virulenter, wenn es in seiner Qualität als Vernunftwesen und Mitbegründer der Gemeinschaft angegriffen wird. Die Gemeinschaft hat dafür Sorge zu tragen, daß der Getroffene in dieser Qualität bestätigt wird. Sie muß aber auch berücksichtigen, daß der einzelne Angriff keine absolute Bedeutung für das gemeinschaftliche Leben in gesicherten Rechtsverhältnissen hat, weil dieses nicht in seiner Gesamtheit, sondern nur partiell – in dem konkret getroffenen Aspekt des freiheitlichen Daseins des Opfers – negiert wurde. Deshalb ergibt sich durch den verfestigten Gesellschaftszusammenhang eine gewisse Relativierung der Unrechtsbedeutung auch für das Opfer, das ja Teil des Ganzen ist. Zusammengenommen ergeben sich im staatlichen Zusammenhang damit Konkretisierungen dessen, was materiell durch ein freiheitliches Strafverständnis vorgegeben ist. Eine freiheitliche Rechtsordnung bestimmt Maß, 403 E. A. Wolff, „Das neuere Verständnis von Generalprävention und seine Tauglichkeit für eine Antwort auf Kriminalität“ a. a. O. (Fn. 46), S. 818. 404 Die Regelung der Notwehr etwa enthält zwar eine rechtliche (nicht bloß moralische) Befugnis, sich bei einem Angriff zu wehren, kann aber in einem staatlichen Zusammenhang nur die Ausnahme zum sonst herrschenden Machtmonopol des Staates darstellen. Sie ist gewissermaßen ein Restbestand vorstaatlicher Unmittelbarkeit des Rechts.
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1. Teil: Freiheitliche Strafbegründung im Staat
Inhalt, Form und Rechtsqualität der Strafe nach ihrer Funktion der Unrechtsaufhebung, wobei im Staat materielle und formelle Unrechtsbestandteile – und damit auch die Strafmomente als deren Negation – insoweit gleichbedeutsam nebeneinander stehen, als im Rechtszustand überhaupt materielles und formelles Recht eine untrennbare Einheit bildet. c) Zusammenfassung zu 1. Der Ausgleich einer substantiellen Verletzung der interpersonalen Rechtsbeziehung ist die Basis einer freiheitlichen Strafbegründung. Im Interpersonalverhältnis selbst läßt sich Strafe jedoch noch nicht in ihrer spezifischen Gestalt als Rechtsstrafe denken, sondern verbleibt immer bloß subjektive Reaktion; in der Terminologie Hegels heißt dies, es handelt sich nicht schon um „strafende Gerechtigkeit“, sondern nur um interpersonale Rache.405 Zur Begründung von Rechtsstrafe muß daher zwingend die gedankliche Ebene einer umgebenden Rechtsallgemeinheit hinzukommen, innerhalb derer die interpersonale Unrechtstat auch allgemeine Bedeutung erlangt. Strafe ist dann als Ausgleich nicht bloß interpersonalen, sondern eben auch allgemeinen Unrechts zu fassen. In ihrer allgemeinen Bedeutung bestimmt sich Strafe wesentlich dadurch, daß sie Aufhebung einer partiellen Negation allgemeiner Rechtsgeltung bedeutet; objektiv durch Wiederherstellung der Rechtsgeltung nach außen und subjektiv durch Aufhebung des Selbstwiderspruchs im Subjekt. Ein weiterer gedanklicher Schritt weist die Modifikationen aus, die die Strafe im formell verfaßten Rechtszustand im Gegensatz zur nur materiell bestimmten (abstrakten) Strafe erfährt. Erst in diesem Zusammenhang ist es möglich, die Strafe in ihrer konkreten Ausgestaltung zu bestimmen. Maß, Inhalt, Form und Rechtsqualität der Strafe richten sich auch im Staat nach ihrer Funktion der Unrechtsaufhebung. Aber das Unrecht ist nicht mehr ausschließlich durch reine rechtlich-praktische Vernunft bestimmt, sondern erfährt Konkretisierung durch die Fassung in Gesetzen. Dann wird aus dem abstrakt-materiellen Unrechtsbegriff ein auch konkretformeller. Eine entsprechende Entwicklung zeichnet auch die Strafe als Unrechtsreaktion aus: Sie wird zu einem materiell-formellen Rechtsinstitut im Staat. Wie auch bei der allgemeinen Rechtsentwicklung ist es im Zusammenhang der Strafe also ebenfalls erst der staatliche Zustand, in dem materiell bestimmte Rechtspositionen durch freiheitliche Umsetzungen wirklich werden können. Die Realität der Strafe als freiheitliches Rechtsinstitut ist also an die Existenz eines Rechtszustandes gebunden, wie sich auch die Realität des Rechts und die damit zusammenhängende Zwangsbefugnis nur innerhalb einer verfaßten Rechtsordnung herstellen kann. 405
G. W. F. Hegel, Rph, § 103, S. 197.
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2. Die Rolle des Staates für eine freiheitliche Strafbegründung Wenn im vorherigen Abschnitt deutlich wurde, daß Strafe als Rechtsinstitut erst in einem förmlich verfaßten Rechtszustand Wirklichkeit erlangen kann, so wird dies im Hinblick auf die Herleitung des Rechts vom allgemeinen Rechtsgesetz hin zum Verwirklichen rechtlicher Verhältnisse im Staat nicht verwundern. Denn die Entwicklung des Strafrechts wird dann parallel zum Recht überhaupt gedacht. Diese Parallelität bedeutet entsprechend der Herleitung in dieser Arbeit aber auch, daß das Strafrecht wie das Recht insgesamt schon auf der vorstaatlichen Ebene des allgemeinen Rechtsgesetzes aus rechtlich-praktischer Vernunft begründbar ist. Wenn dies im Unterschied zum Rechtszwang auch nicht schon analytisch aus dem Rechtsgesetz gefolgert werden kann, so läßt sich die Strafe doch über mehrere Vermittlungsstufen als notwendiges Rechtsinstitut aus dem Rechtsbegriff herleiten. Diese Vermittlungsstufen sind ihrerseits nicht beliebig hinzu gedachte Prämissen, sondern haben ihren Grund ebenfalls in praktischrechtlicher Vernunft. So wird die erste Unrechtsdimension unmittelbar vom Rechtsverhältnis abgeleitet. Hinzukommen muß nach der hier vertretenen Konzeption für die Strafe die Dimension der Rechtsallgemeinheit, ohne die die Strafe als objektives Rechtsinstitut undenkbar wäre, weil sich die Beteiligten am Rechtsverhältnis nicht von ihrer bloß subjektiven Perspektive lösen können. Das Konzept des in Rechtsallgemeinheit eingebetteten Rechtsverhältnisses wurde nicht eigens für die Strafbegründung „erfunden“, sondern prägt nach dem bisher Erarbeiteten das Verständnis vom Recht überhaupt. Bei den Erörterungen zur Zwangsbefugnis wurde dies evident, erlangt im Zusammenhang mit dem Strafrecht aber deshalb besondere Bedeutung, weil dieses im Gegensatz zum Rechtszwang als Recht des einen gegen den anderen (also unmittelbar im Zwei-Personen-Verhältnis) nicht denkbar ist. Strafe ist hier als die notwendige Aufhebung der Verletzung des Rechts als Recht durch die den Täter und das Opfer mitumfassende Rechtsgemeinschaft bestimmt worden. Dabei stellte sich heraus, daß sich die Aufhebung von strafrechtlichem Unrecht durch die Strafe schon auf dieser noch vorstaatlichen Ebene als Folge aus dem allgemeinen Rechtsgesetz darstellen ließ. Das bereits entwickelte Verständnis dessen, was das allgemeine Rechtsgesetz beinhaltet, war dafür zwingende Voraussetzung. Unrecht und spezifisch strafrechtliches Unrecht mußte davon abgeleitet werden und die Begründung der Strafe mußte ihrerseits an dieser Unrechtsbestimmung ansetzen. Die nächste gedankliche Stufe, das apriorisch geforderte Übergehen der Rechtsgemeinschaft in einen Rechtszustand, hat nun nicht nur zur Folge, daß rechtliche Verhältnisse insgesamt Wirklichkeit erlangen, sondern auch,
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1. Teil: Freiheitliche Strafbegründung im Staat
daß das Strafrecht dieser Gesellschaft realisiert werden kann. Durch die Verfassung zu einer über-individuellen Einheit erhält die Rechtsgemeinschaft eine Gestalt, die es ihr ermöglicht, als Gemeinschaft, wenn auch vermittelt durch Repräsentanten, zu handeln. Waren die einzelnen vorher Mitglieder einer unverfaßten Rechtsallgemeinheit, sind sie nun Mitbürger eines Staates, der seinerseits eine gewisse Selbständigkeit erlangt hat. Hierin liegt der Grund dafür, daß das Strafrecht mit der Konstitution des Staates in viel engerer gedanklicher Abhängigkeit steht als etwa das Zwangsrecht. Denn Strafe ist ein Recht der Allgemeinheit, die erst durch ihre (formelle) Verfassung als solche überhaupt tatsächlich handlungsfähig wird. Das Zwangsrecht dagegen war von seiner Rechtsqualität her ein Recht des einen Beteiligten am Rechtsverhältnis gegen den anderen; also vom Ansatz her ein Recht des Vernunftwesens Mensch, das seinem Willen unmittelbar durch Handlung Wirklichkeit geben kann. Die Strafe ist also für ihre tatsächliche Ausübung auf einen Zustand verfaßter Gemeinschaftlichkeit angewiesen, während dies für das Zwangsrecht nicht zutrifft. Allerdings gilt für beide Rechtsinstitute gleichermaßen, daß sie zwar erst im Staat eine allgemein-freiheitswahrende Gestalt annehmen können, ihr Rechtsgrund aber schon im allgemeinen Rechtsgesetz zu finden ist. Für das Zwangsrecht wird dies auch ganz allgemein anerkannt. Im Hinblick auf die Strafe steht diese Annahme im Widerspruch zur überwiegenden Ansicht in der Literatur, daß eine freiheitliche Strafbegründung im Anschluß an Kant und Hegel ohne den Staat als wesentliche Begründungsinstanz nicht auskommt. Den Gründen für diese Ansicht ist nun nachzugehen. a) Strafe wegen der Verletzung der gesetzlichen Ordnung als solcher Schild entwickelt in seinem Beitrag „Die staatliche Strafmaßnahme als Symbol der Strafwürdigkeit“ eine Argumentation, mit der er seine Aussage zu untermauern sucht, ein Strafrecht könne es nur im Staatsverband geben.406 Es sei nach Kant wegen der stetigen Unsicherheit im Naturzustand 406 W. Schild, „Die staatliche Strafmaßnahme als Symbol der Strafwürdigkeit“, S. 431 ff. Vgl. auch ders., „Ende und Zukunft des Strafrechts“, S. 79–82; ders., Anmerkungen zur Straf- und Verbrechensphilosophie Immanuel Kants“, S. 836, 837 (alle vollständig zitiert in Fn. 108). Im Hinblick auf Hegels Rechtsphilosophie siehe ders., „Juristisches Denken und Hegels Rechtsphilosophie“ Österr. Z. öffentl. Recht und Völkerrecht 29 (1978), S. 5 (17, Fn. 10); ders., „Die Aktualität des Hegelschen Strafrechtsbegriffs“ in: E. Heintel (Hrsg.), Philosophische Elemente der Tradition des politischen Denkens (1979), S. 199 (219 ff.); ders., „Verbrechen und Strafe in der Rechtsphilosophie Hegels und seiner ‚Schule‘ im 19. Jahrhundert“ ZRph 1 (2003), S. 30 ff.
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die Pflicht eines jeden Menschen, in den Staatsverband einzutreten. Das Strafrecht müsse dann auf den Zweck des Staates – Abgrenzung, Einräumung und Sicherung von Freiheitssphären – bezogen sein. Mit der Strafe reagiere der Staat auf Verstöße gegen die öffentlichen Gesetze für das freie Zusammenleben der Personen, die „im Kern zum größten Teil auch naturrechtliches Unrecht sind“407. Dies sei eine Reaktion auf sein „eigenes Verletztwerden als gesetzliche Ordnung der Freiheitssphäre aller, nämlich auf die Brechung seiner auch (das) naturrechtliche Unrecht aufnehmenden und positivierenden Gesetze.“408 Schild stellt den Zusammenhang von Unrecht und Strafe im Staat folgendermaßen dar: „Der Verbrecher verletzt durch seine Tat die grundlegende Pflicht eines jeden Menschen, mit allen andern in ein solches Staatsverhältnis zu treten, in dem die gleiche Freiheit aller garantiert ist. Er nimmt sich durch seine Tat eine Position heraus, die ihm rechtlich nicht zusteht; er macht sich dadurch zu einem Ungleichen. Diese herausgehobene Stellung kann der Staat als Hüter der Ordnung von Freiheit, Gleichheit und Selbständigkeit aller nicht akzeptieren, weshalb er mit Zwangsmaßnahmen – eben der Strafe – die vorherige Gleichheit aller wiederherstellen soll. Den Vorteil, den der Verbrecher durch seine Tat erreicht und erhalten hat, wird ihm nicht nur wieder weggenommen, sondern ihm wird zusätzlich ein Nachteil zugefügt, der seine verbrecherische Tat ausgleicht. Ziel der staatlichen Strafmaßnahme ist die Wiederherstellung des Zustands von Freiheit und Gleichheit, also auch des Täters und des Opfers; wobei bei diesem Täter-Opfer-Ausgleich zu berücksichtigen ist, daß durch das Sichherausstellen des Verbrechers aus der staatlichen Ordnung alle anderen Personen Opfer sind.“409 Nach Schild ist also mit dem Verbrechen primär die Pflicht eines jeden Menschen verletzt, in den rechtlichen Zustand überzugehen und darin zu verbleiben. Das beinhaltet, daß der Vorwurf bezogen ist auf den Verstoß gegen die öffentlichen Gesetze, die durch gemeinschaftliche Verfassung zustande gekommen sind. Der Schwerpunkt liegt bei Schild dabei auf dem Bruch der öffentlichen Gesetze per se, dem formellen Bestand dieser Gesetze, und die Strafe ist gedacht als äußeres Wiederherstellen formell verfaßter rechtlicher Verhältnisse. Dies ist ein Gedanke, der die von Kant begründete Rechtspflicht apriori zum Übergang und Verbleib in einen rechtlichen Zustand als Ausgangspunkt nimmt, nun aber bei ihrer Nichtbeachtung 407 W. Schild, „Die staatliche Strafmaßnahme als Symbol der Strafwürdigkeit“, a. a. O., S. 433. 408 W. Schild, „Die staatliche Strafmaßnahme als Symbol der Strafwürdigkeit“, a. a. O., S. 433. 409 W. Schild, „Die staatliche Strafmaßnahme als Symbol der Strafwürdigkeit“, a. a. O., S. 433; vgl. auch ders., Anmerkungen zur Straf- und Verbrechensphilosophie Immanuel Kants“, a. a. O. (Fn. 108), S. 840.
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1. Teil: Freiheitliche Strafbegründung im Staat
nicht nur ein Zwangsrecht410 sondern sogar ein Strafrecht entstehen läßt. Bei dieser Erklärung des Strafrechts besteht allerdings die Schwierigkeit, daß sie keine Kriterien dafür zu ermitteln vermag, in welchen Fällen einfache Gesetzesübertretungen die Schwelle zum strafrechtlich relevanten Unrecht überschreiten. Nach Schild müßte jedes gesetzeswidrige Verhalten wegen der darin liegenden Manifestation, sich nicht an die allgemein verbindliche verfaßte Freiheitsordnung halten zu wollen, nicht nur ein Recht begründen, dieses Verhalten zu verhindern, sondern auch ein Strafrecht, das die Ungesetzlichkeit des Verhaltens symbolisiert. Daß mit dem Begriff des strafrechtlichen Unrechts auch und gerade materielles Unrecht gemeint sein muß, kommt eher beiläufig daher: Die Rede ist bei Schild von Verstößen gegen öffentliche Gesetze, die „zum größten Teil auch naturrechtliches Unrecht sind“. Eine solche Darstellung verkennt aber, daß der entscheidende und ursprüngliche Aspekt des strafbaren Unrechts die Verletzung der Rechtsbeziehung zu einem anderen Vernunftsubjekt ist. Ihren Grund muß die Strafe als Unrechtsreaktion deshalb primär in dieser interpersonalen Rechtsverletzung haben. Sie ist daher zunächst materielle Rechtsgleichheitsrestitution und erst in einem davon abgeleiteten Sinne auch formelle Wiederherstellung friedlicher Verhältnisse im Staat. Es ist in einem freiheitlich gedachten Rechtssystem gerade nicht möglich, strafrechtliches Unrecht unter Ausblendung der Inhaltlichkeit allein durch die Verletzung einer formell verfaßten Rechtsnorm als solcher zu bestimmen. Im Gegenteil ist die Bestimmung des materiellen Unrechtsgehalts in einem bestimmten Verhalten eine der Kodifizierung vorgängige Frage. Wie in dieser Arbeit gezeigt, erhält Unrecht erst dann Strafrechtsrelevanz, wenn materiell der andere in seiner Selbstzweckhaftigkeit negiert wurde, wenn ihm seine Selbständigkeit tätig abgesprochen wird, wenn er nicht mehr als gleichbedeutsame Person behandelt wird. Eine freiheitliche Strafrechtstheorie kann diese Bestimmung nicht als Marginalie behandeln, will sie sich nicht dem Vorwurf der Konturlosigkeit aussetzen. Festzuhalten ist deshalb, daß es jedenfalls nicht essentiell der Verstoß gegen öffentliche Gesetze als solche sein kann, der strafbares Unrecht begründet und damit den Ausgangspunkt für die Strafe darstellt. Nur wenn dem formellen Moment das materielle vorausgeht, kann mit zureichender Genauigkeit bestimmt werden, worin der eigentliche Unrechtsgehalt eines Verhaltens liegt.411 Es sind deshalb nicht die staatliche Strukturen selbst, deren Verletzung das entscheidende Moment zur Begründung eines Strafrechts ausmachen, sondern eine Rechtsverletzung, die im Grundsatz auch schon 410
Vgl. dazu oben zum staatlichen Rechtszwang, insbesondere die Überlegungen zum § 42 von Kants MdS. 411 Wesentlich dabei ist, daß beide Momente selbstbegründet sind, d.h. daß sie jederzeit einer Prüfung durch subjektive Vernunftanstrengung Stand halten.
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vorstaatlich als solche qualifizierbar ist und nur ihre konkrete Gestalt im Staat erhält. 412 412
Schild führt nun seine Gedanken fort, indem er auf die Funktion der Strafe in einer formell verfaßten Rechtsgemeinschaft näher eingeht: Strafe müsse dem Verbrecher den Nachteil der Strafmaßnahme zufügen, weil dessen Tat sonst mögliches Vorbild für die anderen Bürger sein könnte (und auch für den straflos und damit „erfolgreich“ gebliebenen Täter selbst). (S. 434) So greife der Staat mit Strafmaßnahmen ein, um den Bürgern (auch dem Täter selbst) deutlich vor die Sinne zu stellen, daß Verbrechen sich nicht lohnt. Die Verhängung der Strafmaßnahme sei also ein politisches Mittel der Prävention, der Steuerung und Lenkung der Gesellschaft. (S. 434, 436) Die Strafmaßnahme ihrerseits sei aber Zwang, der sich nur als Gegenzwang rechtfertigen ließe – zwar „nicht als naturrechtlicher Gegenzwang zum Unrecht, aber doch als staatliche Reaktion auf Verbrechen“. (S. 435) Dabei sei bei aller Zweckdurchsetzung des Staates erforderlich, daß er den Verbrecher als Person anerkenne und behandle, ihn also nicht nur als Mittel verwende. Dies bedeute, daß der Grund der Bestrafung im Verbrechen des Täters gesehen werden müsse. (S. 435). Schild denkt hier Strafe als „politisches Mittel der Prävention, der Steuerung und Lenkung der Gesellschaft“. Erst als Korrektiv führt er an, daß bei „aller Zweckdurchsetzung des Staates der Verbrecher als Person“ anzuerkennen und zu behandeln ist, daß er also nicht bloß als Mittel zu einem staatlichen Zweck verwendet werden darf. Bei einer solchen Darstellung gerät die freiheitliche Begründung des Staates in den Hintergrund; die Autonomie des einzelnen, der doch als selbstbewußte Einheit den Staat erst mit schafft, wird nur noch als Schranke staatlicher Handlungsmöglichkeiten verstanden. Dieser Rückfall in unfreiheitliches Denken ist angelegt in dem oben kritisierten Mißverständnis des Staates als bloß äußeres Gerüst öffentlicher Gesetze, denen primär um der Wahrung des Rechtszustandes willen Folge zu leisten ist. Sobald die materielle Rechts- und Unrechtsbestimmung von der Frage der Rechtsbindung abgekoppelt wird, besteht die Gefahr, daß die geschaffene Ordnung dem einzelnen nur noch als Regelwerk beliebiger Verhaltensdomestizierung gegenübersteht. Erst von einer solchen Basis aus ist es überhaupt denkbar, daß sich die Staatsbürger durch die Strafe als Methode politischer Lenkung und Steuerung auf rechtlichen Bahnen halten lassen müssen. Daß dann das Korrektiv der anerkennenden Behandlung des Straftäters wenigstens als nachrangige Richtlinie eingeführt wird, ändert daran nichts, scheint es sich doch dabei mehr um einen staatlichen Gnadenakt als um ein erkanntes Rechtserfordernis zu handeln. Es muß aber nach dem hier vertretenen Strafverständnis gerade umgekehrt so sein, daß die Begründung an der Autonomie der Rechtssubjekte ansetzt und erst als Folgewirkung auch präventive Momente anerkennen kann. In einem nächsten Schritt hebt Schild das Verbrechen als Verletzung einer grundlegenden sittlichen Pflicht eines jeden Menschen hervor und verweist auf den Begriff der Strafwürdigkeit bei Kant. (S. 436, 437; der Begriff der Strafwürdigkeit taucht in Kants Kritik der praktischen Vernunft, § 8, Lehrsatz IV, Anm. II auf. (A 65, 66)) Zusammenfassend meint Schild, daß für Kant die Strafe „staatliche Maßnahme der Prävention (sei), die ihren rechtlichen Grund in der dem Täter zugerechneten Tat haben muß und die als Handeln der Staatsorgane so beschaffen sein muß, daß sie die sittliche Dimension der Widervernünftigkeit (Unmenschlichkeit, eigentlichen Unfreiheit) des Verbrechens zum Ausdruck bringt: als ‚Symbol der Strafwürdigkeit‘“. (S. 439) Der Hinweis auf die moralische Ebene, die Bezeichnung des Verbrechens als „unvernünftige Handlung“ bzw. als die „Verletzung einer sittlichen Pflicht“ und der
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1. Teil: Freiheitliche Strafbegründung im Staat
b) Die Realisierung moralisch begründeter Strafe im Staat Nach Oberer kann der „Begriff der Strafe (. . .) aus bloßen Rechtsbegriffen gar nicht abgeleitet werden, sondern muß als grundlegender Begriff aus der praktischen Grundlegungssphäre in die Rechtslehre allererst eingebracht werden.“413 Der Begründungsgang Oberers setzt mit der Überlegung an, daß die Vernunftidee der Strafwürdigkeit (und mit ihr die Idee der Gerechtigkeit) ihren Ursprung im Feld der Prinzipien praktischer Geltung überhaupt habe und demnach der Ansatz der vernünftigen Idee der Strafe in der vorrechtlichen Dimension des Sittengesetzes liege.414 Die Idee der Strafwürdigkeit betreffe den Gesamtbereich möglicher Praxisgeltung, also auch jenen Bereich, für den eine „äußere“ Gesetzgebung gar nicht möglich ist.415 Damit wird bei Oberer die Bestimmung eines Strafbedürfnisses zunächst auf moralischer Ebene geleistet, um dann in einem weiteren Schritt diese Bestimmung auf den staatlichen Zusammenhang zu übertragen: „Nur sofern die Idee der Strafe als reine praktische Vernunftforderung systematisch schon verfügbar ist, kann die Idee der rechtlichen Zwangsbefugnis auf sie bezogen und als Moment der Weiterbegründung einer möglichen Realisierung dieser Idee genutzt werden.“416. Die Übertragung auf die Ebene des Rechts wird bei Strafe als „Akt der Wiedervergeltung“, kann aber die oben genannten Bedenken nicht abmildern. Denn der Begriff der „Strafwürdigkeit“ bei Kant ist gerade kein Rechtsbegriff, der nun unmittelbar eine Basis für das Handeln des Staates bieten könnte. Es erfolgt zwar eine Anbindung an die Autonomie des einzelnen, indem die moralische Unrichtigkeit, die im Verbrechen auch immer inbegriffen ist, für die Strafbegründung herangezogen wird. Allerdings fehlt der entscheidende Zwischenschritt, der diese Überlegung auf die rechtliche Ebene hebt. (Vgl. R. Zaczyk, „Staat und Strafe – Bemerkungen zum sogenannten ‚Inselbeispiel‘ in Kants Metaphysik der Sitten“, a. a. O. (Fn. 167), S. 83, 84.) Die Schwierigkeit sieht auch Schild selbst, wenn er darauf hinweist, daß der Staat die sittliche Dimension der freiwilligen Umkehr und Abkehr vom Unrechtlichen nicht erzwingen kann. Der Staat hat gerade nicht die Befugnis, das moralisch Böse zu bestrafen, sondern nur das, was zugleich auch Unrecht darstellt. (S. 438) Trotzdem soll nach Schild das Wesen der Strafe entscheidend auch dadurch geprägt sein, daß die Staatsorgane die „Widervernünftigkeit“ des Verbrechens durch die Strafe zum Ausdruck bringen. Es bleibt dann aber ungeklärt, woher die Berechtigung zu solch einem „moralischen Tadel“ in Form einer Freiheitsstatusminderung durch den Staat kommen soll. 413 H. Oberer, „Über einige Begründungsaspekte der Kantischen Strafrechtslehre“ a. a. O. (Fn. 108), S. 403. 414 H. Oberer, „Über einige Begründungsaspekte der Kantischen Strafrechtslehre“, a. a. O., S. 402. 415 H. Oberer, „Über einige Begründungsaspekte der Kantischen Strafrechtslehre“, a. a. O., S. 403. 416 H. Oberer, „Über einige Begründungsaspekte der Kantischen Strafrechtslehre“, a. a. O., S. 407.
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Oberer vorbereitet durch die Feststellung, daß in der Rechtslehre Kants das Recht mit der Zwangsbefugnis gleichzusetzen ist. Das Zwangsrecht sei ein auch im vorstaatlichen Zustand bestehendes Recht, das sich vom Strafrecht dadurch unterscheide, daß es nur als präventives und restitutives Recht gedacht werden kann. Das Strafrecht selbst sei im Naturzustand jedoch noch nicht existent, sondern könne erst dadurch entstehen, daß die Idee der Strafwürdigkeit angewendet werde auf die Störung des vollendeten Rechtszustandes, die in der Unrechtstat liege.417 Aus diesem Grund entsteht nach Oberer das Strafrecht erst im Staat selbst. „(Und) erst durch die Grundlegung in einem als wirklich vorgestellten allgemeinen und öffentlich gesetzgebenden Willen wird Strafe als wirkliche möglich. Ein einzelner kann kein Recht haben, dem Willkürgebrauch anderer Gesetze vorzuschreiben, über deren Befolgung zu urteilen und gegebenenfalls die Übertretung zu bestrafen, da dies für jeden Anderen willkürlich und damit rechtswidrig wäre. Nur unter der Voraussetzung eines öffentlichen Rechts haben wir einen allgemeinen Willen, der als Wille eines Jeden angesehen werden darf; erst dann haben wir auch ein allgemeines Gesetz von der Art, daß nach ihm gemäß dem Willen eines Jeden geurteilt werden kann, eine öffentliche urteilende Behörde und eine öffentliche Vollzugsgewalt. Erst dann darf (und muß aber auch) jeder Einzelne als Gesetzgeber betrachtet werden, nach dessen Willen Urteil und Vollzug geschehen. Die Realmöglichkeit der vernunftnotwendigen Strafe ergibt sich erst durch den Übergang aus dem natürlichen in den bürgerlich-rechtlichen Zustand.“418 Oberer selbst faßt seinen gedanklichen Dreischritt wie folgt zusammen: „1. Den Strafgedanken überhaupt als Implikat des positiven Freiheitsbegriffs, in der Bedeutung der prinzipiellen Strafwürdigkeit eines jeden Verstoßes gegen ein praktisches Gesetz, d.h. die Vernunftnotwendigkeit der Strafe. 2. Die auf die besonderen Bedingungen des Rechts eingeschränkte Befugnis, äußeren Willkürgebrauch zwangsweise gegen rechtswidrigen äußeren Freiheitsgebrauch einzusetzen, um Hindernisse des rechtmäßigen äußeren Freiheitsgebrauchs zu beseitigen, d. h. die natürlich-rechtliche Zwangsbefugnis als unerläßliche Bedingung der Realmöglichkeit der Strafe. 3. Die weitere Einschränkung der Strafmöglichkeit auf die Bedingungen eines öffentlich-rechtlichen, bürgerlichen Zustandes, in welchem allein und erstmalig die Befugnis entspringt, daß ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen strafenden Zwang gegen andere ausübt, aufgrund eines diesen Zustand (status civilis) konstituierenden allgemeinen Willens und in Über417
Vgl. H. Oberer, „Über einige Begründungsaspekte der Kantischen Strafrechtslehre“, a. a. O., S. 407. 418 Vgl. H. Oberer, „Über einige Begründungsaspekte der Kantischen Strafrechtslehre“, a. a. O., S. 408 (ohne FN).
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1. Teil: Freiheitliche Strafbegründung im Staat
einstimmung mit diesem allgemeinen Rechtssicherungs- und Rechtserhaltungswillen, der damit auch allgemeiner Strafwille ist, d. h. die zureichende Begründung der Realmöglichkeit der Strafe.“419 Dieser Argumentation ist vor dem Hintergrund des bisher Erarbeiteten nur im Ergebnis zuzustimmen: Es trifft zu, daß die freiheitliche Umsetzung, die „Wirklichkeit“ des Strafrechts auf einen rechtlich verfaßten Zustand angewiesen ist, wie dies insgesamt über rechtliche Verhältnisse gesagt werden kann. Insofern ist es richtig, mit Oberer darauf hinzuweisen, daß die Realmöglichkeit der Strafe rechtlich verfaßte Strukturen voraussetzt. Damit ist allerdings noch nichts darüber ausgesagt, welche Rolle der Staat für die Strafbegründung spielt. Oberer denkt das Strafrecht als eine Verknüpfung der Strafwürdigkeit auf moralischer Ebene („rationale Strafwürdigkeit“) und der Durchsetzungsmöglichkeit im Staat, der Zwangsanwendung („reale Zwangsbefugnis“); begründet sei diese Verknüpfung durch den Rechtsbegriff des status civilis.420 Dies ist ein problematischer Ansatz, denn es geht um eine rechtliche Begründung der Strafe, die sich aus Rechtsbegriffen, d. h. aus rechtlich-praktischer Vernunft ergeben muß. Ansatzpunkt muß deshalb das allgemeine Rechtsgesetz sein, das freilich die Struktur des kategorischen Imperativs zur Voraussetzung hat. Es ist dann aber gerade nicht so, daß das Strafrecht „erst aus der praktischen Grundlegungssphäre“ in den Bereich des Rechts eingebracht wird, sondern es muß eine inner-rechtliche Begründung geleistet werden, wie es in der vorliegenden Arbeit auch versucht wurde. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, daß dies nicht wie beim Zwangsrecht analytisch aus dem Rechtsprinzip geschehen kann, sondern mehrerer Vermittlungsschritte bedarf, die aber ihrerseits rechtlicher Natur sind. Der moralische Aspekt der Strafbegründung liegt der Argumentation zwar zugrunde (die vorausgesetzte Fähigkeit zur Selbstbestimmung macht es überhaupt erst möglich, sinnvoll vom Strafrecht zu sprechen und der Vernunftwiderspruch ist Grund für die notwendige Eigenvermittlung des Täters), kann aber nicht schon zureichen, um ein Eingriffsrecht anderer in die Freiheitssphäre eines einzelnen zu begründen. Auch in der Argumentation Oberers liegt somit kein zwingender Grund dafür, Strafbegründung vom Vorhandensein staatlicher Strukturen abhängig zu machen.
419
Vgl. H. Oberer, „Über einige Begründungsaspekte der Kantischen Strafrechtslehre“, a. a. O., S. 410. 420 Vgl. H. Oberer, „Über einige Begründungsaspekte der Kantischen Strafrechtslehre“, a. a. O., S. 408.
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c) Materiell-formelle Strafbegründung Es ist nach dem Gesagten nicht ausgeschlossen, daß es zumindest auch der Bruch der Rechtspflicht zum Verbleib in geordneten Verhältnissen ist, der – gleichwertig neben der materiellen Rechsverhältnisverletzung – Grund für die Strafe ist. Eine solche Auffassung wurde schon bei der Darstellung zum strafrechtlichen Unrecht und der staatlichen Strafe als Möglichkeit genannt: Die dritte Dimension des strafrechtlichen Unrechts war diejenige, die die gesetzliche Garantie freiheitlicher Verhältnisse und das darauf gegründete Rechtsvertrauen der Beteiligten betrifft.421 Dementsprechend hatte die Strafe in dieser Dimension die Bedeutung, den Bruch des rechtlich verfaßten Gleichheits- und Friedensverhältnisses auszugleichen, den (auch) formellen Widerspruch des Täters, der im Verstoß gegen ein von ihm selbst mitverfaßten Gesetz liegt, aufzuheben, die formelle Rechtsgarantie wiederherzustellen und gesichertes Rechtsvertrauen zu bestätigen. Nun ist es im Hinblick auf ein solches (begründetes) Verständnis vom Strafrecht als Teil des positiven Rechts in einem Staat zutreffend, von der Einheit des Rechts in seiner formellen und materiellen Seite auszugehen. Wird also die Betrachtung an einem schon bestehenden Strafrecht angesetzt (an der positiv-rechtlichen Norm) und wird von dort aus nach der zugrundeliegenden Begründung gesucht, so muß die Frage der Rechtlichkeit gerade beiderlei Aspekte, den formellen wie den materiellen, als Einheit beleuchten. Diese Vorgehensweise wurde von Kant selbst empfohlen, um eine bloß empirische Rechtslehre zu überwinden: „Was Rechtens sei (quid sit iuris), d. i. was die Gesetze an einem gewissen Ort und zu einer gewissen Zeit sagen oder gesagt haben, kann er (der Rechtsgelehrte, Anm. der Verf.) wohl noch angeben, aber ob das, was sie wollten, auch recht sei, und das allgemeine Kriterium, woran man überhaupt Recht sowohl als Unrecht (iustum et iniustum) erkennen könne, bleibt ihm wohl verborgen, wenn er nicht eine Zeitlang jene empirischen Prinzipien verläßt, die Quellen jener Urteile in der bloßen Vernunft sucht (wiewohl ihm dazu jene Gesetze vortrefflich zum Leitfaden dienen können), um zu einer möglichen positiven Gesetzgebung die Grundlage zu errichten.“422 Eben dieser Begründungsweg wird durch die zitierte Untersuchung durchgehalten. Insofern sind die gefundenen Ergebnisse aus dem eingenommenen Blickwinkel der Betrachtung gültig. In der vorliegenden Arbeit kann im Unterschied zu dieser Vorgehensweise aber nicht schon an einem formell verwirklichten Strafrecht als Teil 421
Vgl. R. Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat (1989), S. 187, 188, 196, 200, 201, 203. 422 I. Kant, MdS, Einleitung in die Rechtslehre, § B, AB 32 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 229, 230).
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einer Rechtsordnung angesetzt werden, um von dort aus die zugrundeliegenden Vernunftprinzipien zu erforschen: Die positiven Gesetze, die „vortrefflich zum Leitfaden dienen könnten“, sind auf internationaler Ebene nur in Ansätzen vorhanden und existieren vor allem nicht als Resultat eines strukturierten Gesetzgebungsverfahrens. Die Einheit materieller Regeln mit freiheitlich-formeller Umsetzung ist gerade erst im Entstehen begriffen, so daß der Weg von der positiven Norm hin zu ihrem Vernunftgrund wesentlich erschwert ist. Das Anliegen in dieser Arbeit ist es deshalb, umgekehrt von den Prinzipien praktisch-rechtlicher Vernunft auf die mögliche Form der positiven Norm zu schließen. Für den Bereich des Strafrechts heißt das: Eine Begründung des Strafrechts zu finden, die am materiellen allgemeinen Rechtsgesetz ansetzt, um von dort aus auf die konkrete Form zu schließen, die das Strafrecht unter freiheitlichen Bedingungen anzunehmen hat. Daß sich die Ergebnisse beider Vorgehensweisen auf staatlicher Ebene gleichen, ist nicht verwunderlich: Beide stützen den Argumentationsgang auf praktisch-rechtliche Vernunft, die jedem positiven Recht als Basis zugrunde liegen muß. Allerdings ist es unter dem Blickwinkel des internationalen Zusammenhangs notwendig, von der staatlichen Verfaßtheit zu abstrahieren und zunächst nur die materielle Strafbefugnis in den Blick zu nehmen. Es hat sich erwiesen, daß eine solche Abstraktion möglich und auch auf dieser Ebene die Strafe als Rechtsinstitut begründbar ist.423 Wenn dies durch die materiell-formelle Betrachtung auch nicht explizit herausgehoben wird, so ist es auch nach jenem Ansatz anerkannt, daß das „Verständnis der materialen Seite des Unrechts (. . .) der Formulierung des Tatbestandes vorausgehen“424 muß. Dies bedeutet, daß sich strafrechtliches Unrecht und daraus in einem zweiten Schritt das Strafrecht selbst durch reine Vernunftprinzipien bestimmen lassen müssen, bevor die Beurteilung einer konkreten Umsetzung dieser Ergebnisse erfolgen kann. d) Zusammenfassung zu 2. Strafe kann nach dem hier gewählten Begründungsgang aus praktischrechtlicher Vernunft auch unabhängig von staatlichen Strukturen begründet werden. Die benannten Gegenauffassungen weisen zwar zutreffend darauf 423
So auch M. Köhler, Der Begriff der Strafe (1986), S. 48 (Fn. 66): „Aber der Strafbegriff ist, in welcher historischen Form auch immer, auch mit dem vorstaatlichen Verhältnis, sofern es ein Rechtsverhältnis ist, gesetzt; daher wird das Strafrecht von Hegel im abstrakten Recht eingeführt. Gerade in der Kantischen Perspektive, wonach das Rechtsverhältnis vorstaatlich privatrechtlich im unmittelbaren Verhältnis der Rechtsvernünftigen zueinander konstituiert, ist die völlige Identifikation des Strafrechts mit der Staatsrechtlichkeit nicht einsichtig.“ (ohne Klammerzusatz). 424 R. Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat (1989), S. 195.
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hin, daß die Strafe als Rechtsstrafe ihre konkrete Gestalt erst mit der Verwirklichung rechtlicher Verhältnisse annehmen kann: Erst die Verfassung der Allgemeinheit in handlungsfähige Institutionen macht es möglich, Strafe auch freiheitskonform auszuüben. Allerdings bleibt es bei der abstrakt rechtlich herausgearbeiteten Vernunftnotwendigkeit, daß auf materielles (strafrechtsrelevantes) Unrecht Strafe zu folgen hat, und zwar im gedanklich ersten Schritt auch unabhängig von jeglicher staatlichen Verfestigung der Rechtsverhältnisse. Diese Notwendigkeit trägt allerdings bereits eine Dynamik in sich: Es müssen zwangsläufig auch rechtliche Formen geschaffen werden, um ihr in der Realität Geltung zu verschaffen. Insofern findet sich hier der Gedankengang wieder, den Kant für das Recht insgesamt aufgestellt hat: Es ist eine apriorische Notwendigkeit, daß eine Rechtsgemeinschaft in den Rechtszustand übergeht und in der Wirklichkeit rechtliche Verhältnisse schafft. An dieser Stelle treffen dann materiell-rechtliche und formelle Vorgaben zusammen: Die ersteren müssen in Verfolgung ihres Drangs, „sich Dasein zu geben“ zwangsläufig zu letzteren führen425, welche ihrerseits freiheitlich begründet sein müssen und nicht bloß als Durchsetzungsmodus äußerlich mit dem materiellen Teil verbunden werden können. 3. Kritik an instrumentalen Denkansätzen zur Strafbegründung Einen gedanklich vollkommen anderen Weg der Strafbegründung gehen Vertreter solcher Begründungsansätze, die die Strafe nicht – wie hier – von der Unrechtstat ausgehend als die Aufhebung des Unrechts in seinen verschiedenen Dimensionen auffassen, sondern sie als Möglichkeit begreifen, bestimmte erwünschte Wirkungen zu erzielen.426 Solche (relativen) Straftheorien sind dadurch gekennzeichnet, daß sie an der in der Person des Täters liegenden Gefährlichkeit (dann: Spezialprävention) und in einem weiteren Sinne an die in jedem Menschen angelegte Bereitschaft zur Begehung strafbarer Handlungen (dann: Generalprävention) ansetzen.427 Nicht die Unrechtstat als solche, sondern die durch die Strafe zu erreichenden Zwecke seien der Grund für die Berechtigung des Staates, den Unrechtstäter zu bestrafen; Strafe sei zu bestimmen als ein Mittel, künftige Straftaten zu verhindern, sie diene unmittelbar der Verbrechensbekämpfung.428 425 „das Denken als sich übersetzend ins Dasein, als Trieb, sich Dasein zu geben“, G. W. F. Hegel, Rph, Zusatz zum § 4, S. 47. 426 Vgl. zu solchen Begründungsansätzen zunächst die kurze Darstellung bei E. Schmidhäuser, Vom Sinn der Strafe (2. Aufl. 1971), S. 24–28; siehe ferner insgesamt zu den relativen Straftheorien C. Roxin, Strafrecht AT, § 3, S. 44 ff. (m. w. N.). 427 H.-H. Jescheck/Th. Weigend, Strafrecht AT, 5. Auflage (1996), S. 66.
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Wie die Strafe in den Dienst der Verbrechensbekämpfung zu stellen ist, wird von Vertretern zweckorientierter Ansätze unterschiedlich beurteilt. Die Lehre von der Spezialprävention sieht in der Strafe eine notwendige Einwirkung auf den Täter in der Weise, daß dieser in Zukunft von der Begehung weiterer Straftaten abgehalten wird. Die sog. Generalpräventionslehre sieht den Sinn in der Bestrafung eines Täters wegen einer Straftat in der Abschreckung anderer, potentieller Täter in der Gesellschaft (negative Generalprävention) bzw. in der Normbestätigung für rechtstreue Bürger (positive Generalprävention).429 428
Siehe E. Schmidhäuser, Strafrecht AT (Lehrbuch), 2. Aufl. (1975), S. 52. Vgl. zu den verschiedenen Ansichten: Zur Spezialprävention: F. v. Liszt, „Der Zweckgedanke im Strafrecht“ ZStW 3 (1883), S. 1 (insbesondere S. 33 ff.: Die Strafe als zweckbewußter Rechtsgüterschutz in ihren drei Formen der Besserung, Abschreckung und Unschädlichmachung des Täters); dazu W. Frisch, „Das Marburger Programm und die Maßregeln der Besserung und Sicherung“ ZStW 94 (1982), S. 565 ff.; siehe auch M. Ancel, Die neue Sozialverteidigung (1970). Zur (positiven) Generalprävention: G. Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. (1991), 1. Kapitel, 1. Abschnitt (Generalprävention durch Einübung in Normanerkennung zum Zwecke der Erhaltung der Norm als Orientierungsmuster für sozialen Kontakt, RN 11 und 15); in jüngerer Zeit modifizierend (Strafe als Bestätigung des Normbestandes bzw. Strafrecht als Wiederherstellung der gestörten Normgeltung auf kommunikativer Ebene) und sich selbst vom Begriff der positiven Generalprävention absetzend ders., „Das Strafrecht zwischen Funktionalismus und ‚alteuropäischem‘ Prinzipiendenken. Oder: Verabschiedung des ‚alteuropäischen‘ Strafrechts“ ZStW 107 (1995), S. 843 ff.; ders., „Zur gegenwärtigen Straftheorie“ in: K.-M. Kodalle (Hrsg.), Strafe muß sein! Muß Strafe sein? Philosophen – Juristen – Pädagogen im Gespräch (1998), S. 29 ff.; siehe ferner ders., „Strafrechtliche Zurechnung und die Bedingungen der Normgeltung“ ARSP Beiheft 74 (2000), S. 57 ff.; vgl. zum gedanklichen Hintergrund ders., Norm, Person, Gesellschaft (1997) und „Zur Genese von Rechtsverbindlichkeit“ in: G. Höver (Hrsg.), Verbindlichkeit unter den Bedingungen der Pluralität (1999), S. 5 ff.; siehe zum Ganzen A. Kalous, Positive Generalprävention durch Vergeltung (2000). Vgl. ferner U. Kindhäuser, „Personalität, Schuld und Vergeltung/Zur rechtsethischen Legitimation und Begrenzung der Kriminalstrafe“ GA 1989, S. 493 ff. (mit Bezugnahme auf den Gerechtigkeitssinn der Subjekte: „Für eine Theorie der Generalprävention, die auf den vorpositiven Stabilisierungsfaktor gerechter Normen – scil. den Gerechtigkeitssinn sich wechselseitig als moralische Personen anerkennender Subjekte – reflektiert, ist Strafe ein die Verletzung des Gerechtigkeitssinns beantwortender Tadel, wobei die Übelszufügung dem rechtsethischen Gewicht symbolisch zu entsprechen hat. Der Tadel drückt damit zweierlei aus. Primär: Es ist richtig, Normen um der Gerechtigkeit willen zu befolgen (integrativer Effekt). Sekundär: Es zahlt sich nicht aus, Normen zu brechen (abschreckender Effekt)“ (S. 503, 504, Fn. weggelassen); ders., „Strafe, Strafrechtsgut und Rechtsgüterschutz“ in: K. Lüderssen/C. Nestler-Tremel/E. Weigend (Hrsg.), Modernes Strafrecht und ultima-ratio-Prinzip (1990), S. 29 ff.; ders., „Rechtstreue als Schuldkategorie“ ZStW 107 (1995), S. 701 ff. (u. a. mit einer Auseinandersetzung zum „Vernunftliberalismus“ im Anschluß an Kant). 429
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Gemeinsam ist solchen instrumentalen Straftheorien ein Grundverständnis vom Recht und vom Staat als einer (bloß) äußeren Ordnung der menschlichen Gemeinschaft zur notwendigen Friedenssicherung.430 Geprägt ist dieses Grundverständnis von der Hobbesschen Vorstellung vom Menschen als naturhaft-feindlich431; das Recht und der Staat haben die Aufgabe, diese Naturhaftigkeit in gesellschaftsfähige interpersonale Zusammenhänge zu überführen und diese durch eine äußere Zwangsordnung zu sichern.432 Zur (negativen) Generalprävention: P. J. A. Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen Peinlichen Rechts (1801), §§ 13 ff.; E. Schmidhäuser, „Über Strafe und Generalprävention“ in: R. Zaczyk/M. Köhler/M. Kahlo (Hrsg.), Festschrift für E. A. Wolff (1998), S. 443; ders., Vom Sinn der Strafe (1971); N. Hoerster, „Zur Generalprävention als dem Zweck staatlichen Strafens“ GA 1970, S. 272 ff. Für einen Überblick über den empirischen Forschungsstand zur Generalprävention siehe D. Dölling, „Generalprävention durch Strafrecht: Realität oder Illusion?“ ZStW 102 (1990), S. 1 ff. Für einen geschichtlichen Überblick und die Einordnung dieser Strömungen in den jeweiligen gesellschaftlichen Zusammenhang siehe Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte der Deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl. (1965); kurzer Überblick bei R. Maurach/H. Zipf, Strafrecht AT, Teilband 1, 7. Aufl. (1987), S. 67 ff. 430 M. Köhler, Strafrecht AT (1997), S. 39. 431 Vgl. Th. Hobbes, Leviathan, Part I (Of Man), Chapter 13, insbesondere S. 95: „(. . .) And therefore if any two men desire the same thing, which neverthelesse they cannot both enjoy, they become enemies; and in the same way to their End, (which is principally their owne conservation, and sometimes their delectation only,) endeavour to destroy, or subdue one an other. And from hence it comes to passe, that where an Invader hath no more to feare, than an other mans single power; if one plant, sow, build, or possesse a convenient Seat, others may probably be expected to come prepared with forces united, to dispossesse, and deprive him, not only of the fruit of his labour, but also of his life, or liberty. And the Invader again is in the like danger of another.“ 432 „And because the condition of Man (. . .) is a condition of Warre of every one against every one; in which case every one is governed by his own Reason; and there is nothing he can make use of, that may not be a help unto him, in preserving his life against his enemyes; It followeth, that in such a condition, every man has a Right to every thing; even to one anothers body. And therefore, as long as this naturall Right of every man to everything endureth, there can be no security to any man, (how strong or wise soever he be,) of living out the time, which Nature ordinarily alloweth men to live.“ Th. Hobbes, Leviathan, Part I (Of Man), Chapter 14, S. 99, 100; „The only way to erect such a Common Power, as may be able to defend them from invasion of Forraigners, and the injuries of one another, and thereby to secure them in such sort, as that by their owne industrie, and by the fruits of the Earth, they may nourish themselves and live contentedly; is to conferre all their power and strength upon one man, or upon one Assembly of men, that may reduce all their Wills, by plurality of voices, unto one Will: which is as much as to say, to appoint one man, or Assembly of men, to beare their person; and every one to owne, and acknowledge himself to be Author of whatsoever he that so beareth their person, shall Act, or cause to be Acted, in those things which concerne the
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Friedliche Verhältnisse werden demnach durch Domestizierung der naturhaft gewalttätigen Mitbürger durch ein ihnen heteronom gegenüberstehendes Regelwerk samt entsprechender Durchsetzungsmacht erreicht. Das Strafrecht ordnet sich dabei konsequent als Mittel zur Verhinderung von Verbrechen in eine Reihe staatlicher Gewaltmittel ein, die insgesamt die geschaffene Ordnung schützen sollen.433 Vor dem Hintergrund des bisher erarbeiteten freiheitlichen Rechtsverständnisses wird deutlich, daß ein Rechts- und Staatsverständnis wie das gerade beschriebene den wesentlichen Grund jeder Organisation äußerer Freiheitssphären, des Daseins der Freiheit in der Wirklichkeit menschlichen Zusammenlebens, nicht zu fassen vermag. Die menschliche Autonomie als Grund und Ziel des Rechts, als wesentlicher Teil der menschlichen Natur, wird als lebens-bestimmendes Prinzip in den Begründungszusammenhang nicht miteinbezogen.434 Die Folge ist ein nur einseitiges Bild rechtlicher Zusammenhänge: Die Naturhaftigkeit des Menschen wird verabsolutiert; das Recht ist lediglich äußere Gewalt zur Bändigung dieser natürlichen Anlage. Sowie aber das menschliche Wesen als Einheit von Vernunft und Natur in den Blick kommt, wird offensichtlich, daß der genannte Hobbessche Grundgedanke zu kurz greift: Denn mit äußerer Zwangsorganisation allein ist wohl ein temporäres Ordnungschaffen, nie aber ein gutes freiheitliches Miteinander zu bewirken.435 Dessen Prinzip ist die gegenseitige Anerkennung als gleichbedeutsame Vernunftwesen, die neben ihrer Eigenschaft als Naturwesen die Fähigkeit zur Selbstorientierung besitzen. Common Peace and Safetie; and therein to submit their wills, every one to his Will, and their Judgements, to his Judgement. This is more than Consent, or Concord; it is a reall Unitie of them all, in one and the same Person, made by Covenant of every man with every man, in such manner, as if every man should say to every man; I Authorize and give up my Right of Governing my selfe, to this Man, or to this Assembly of men, on this condition, that thou give up thy Right to him, and Authorize all his Actions in like manner. This done, the Multitude so united in one Person, is called a COMMON-WEALTH, in latine CIVITAS. This is the Generation of that great LEVIATHAN, (. . .). For by this Authoritie, given him by every particular man in the Common-Wealth, he hath the use of so much Power and Strength conferred on him, that by terror thereof, he is inabled to forme the wills of them all, to Peace at home, and mutuall ayd against their enemies abroad.“ (ebenda, Part II (Of Common-Wealth), Chapter XVII, S. 131, 132. 433 Vgl. nochmals Th. Hobbes, Leviathan, Part II (Of Common-Wealth), Chapter 28, S. 240: „(. . .) Because it is of the nature of Punishment, to have for end, the disposing of men to obey the Law; (. . .)“. 434 W. Kersting stellt in diesem Zusammenhang fest: „Der im Leviathan herrschende Frieden ist an keinerlei inhaltliche Ordnungsqualität gebunden, er ist rein formal und negativ.“ In: „Philosophische Friedenstheorie und globale Friedensordnung“ ZfP 44 (1997), S. 278 (284). 435 Vgl. dazu auch G. Geismann, „Kant als Vollender von Hobbes und Rousseau“ Der Staat 21 (1982), S. 161 ff.
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Sobald man gedanklich die Vorstellung vom Recht als reines Ordnungsinstrument für unselbständige Naturwesen verläßt, können staatliche Strafmaßnahmen nicht mehr als Methoden der Zwangsmotivation oder des Zwangsausschlusses aus der Gesellschaft begründet werden. Dies gilt auch dann, wenn es sich dabei um Motivationen zu etwas sehr Wünschenswertem handelt (etwa wenn der Täter dazu bewegt werden soll, sich zu bessern oder die Allgemeinheit dazu, keine Straftaten zu begehen) und wenn der Ausschluß der Person Sicherungszwecke (etwa den Schutz der Gesellschaft vor einem potentiell gefährlichen Täter) mustergültig erfüllt. Denn: „Eben weil der Mensch nicht darauf reduziert ist, ein kluges Tier zu sein, richtet er sich auch nicht nur nach äußerlich verursachten Unbillen.“436 Ein Verständnis der Strafe als Instrument der Domestizierung Unmündiger muß notwendig unzureichend sein, wenn der Anspruch an die Strafbegründung lautet, gültig vom Grund des Rechts her eine Legitimation strafender Eingriffe in die Freiheitssphäre eines einzelnen zu erarbeiten. Die instrumentalen Begründungsansätze können bestenfalls beweisen, daß durch die Wirkung der Strafe ein bestimmter Nutzen gezogen wird, der durchaus sein Gutes (für den Täter selbst oder für die verfaßte Rechtsgemeinschaft) hat. Allerdings ist mit der Anerkenntnis solcher möglichen positiven Wirkungen noch nichts darüber ausgesagt, warum überhaupt ein in der Vergangenheit liegendes Ereignis (die Unrechtstat) eine gemeinschaftliche Reaktion in Form der Strafe herbeiführen kann (und muß) und wie dabei die Grundbestimmung des Menschen als positiv frei auch und gerade in der Gestalt des Täters als mitbegründend in Ansatz gebracht werden kann.437 Die klassische Kritik an den relativen Straftheorien richtet sich gegen die Instrumentalisierung des (voll verantwortlichen, freien) Täters als Abschrekkungsmittel für andere oder für sich selbst sowie gegen ein Verständnis des Täters als Behandlungs-Gegenstand im Rahmen staatlicher Besserungsprogramme unter Ausblendung seiner Qualität als Mitbegründer des Rechts kraft seiner subjektiven Vernunft. Das Rechtssubjekt, so der klassische Kantische und Hegelsche Einwand, wird bei einem solchen Umgang zum Objekt, zu einem bloßen „Mittel zu den Absichten eines anderen“.438 Damit wird die gesamte Basis des Rechts negiert, die Einsicht nämlich, daß mein Gegenüber notwendig als mir wesensgleiches Subjekt anzuerkennen ist und 436 E. A. Wolff, „Das neuere Verständnis von Generalprävention und seine Tauglichkeit für eine Antwort auf Kriminalität“ a. a. O. (Fn. 46), S. 792. 437 Vgl. zu dieser grundsätzlichen Kritik R. Zaczyk, „Staat und Strafe – Bemerkungen zum sogenannten ‚Inselbeispiel‘ in Kants Metaphysik der Sitten“, a. a. O. (Fn. 40), S. 77; M. Köhler, Strafrecht AT (1997), S. 44 ff. 438 Vgl. nur I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 49, Allgemeine Anmerkung E, A 196/ B 226 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 331 ff.); G. W. F. Hegel, Rph, §§ 99, 100, S. 187 ff.
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sein Dasein einen absoluten Wert, einen Zweck an sich selbst besitzt. Kant hat dies unübergehbar festgehalten: „(. . .) vernünftige Wesen stehen alle unter dem G e s e t z, daß jedes derselben sich selbst und alle anderen n i e m a l s b l o ß a l s M i t t e l, sondern jederzeit z u g l e i c h a l s Z w e c k a n s i c h s e l b s t behandeln solle.“439 Geradezu bedrückend wirkt es an dieser Stelle, an die oben gefundene Definition strafrechtlichen Unrechts zu erinnern: Ein Verhalten ist strafwürdiges Unrecht, welches durch einen Durchgriff auf das Gleichheitsverhältnis zweier Personen durch Instrumentalisierung des anderen dessen Selbstzweckhaftigkeit negiert und dadurch die Geltung des Rechts insgesamt in Frage stellt. Angesichts einer solchen begrifflichen Nähe von Unrechtsakt und (kritisiertem) zweck-rationalem Strafakt ist der Weg der Straflegitimation über den Präventions- und Eliminierungsgedanken offensichtlich verschlossen. Das „Zum-Objekt-machen“ verläßt überhaupt den Boden des Rechts, ist Unrecht, und kann deshalb auch nicht als bloßer Kollateralschaden der Strafpraxis mit Blick auf die erwünschte Wirkung hingenommen werden; die Kritik daran ist deutlich mehr als eine „durch den deutschen Idealismus begründete Prüderie“440. Diese Grundsatzkritik trifft Generalprävention in ihren beiden Facetten (Abschreckung und Normbestätigung) und Spezialprävention gleichermaßen.441 Nach beiden Ansätzen findet eine Reduktion der Rechtssubjekte auf motivationsbedürftige Triebwesen statt. Bei der (negativen und positiven) Generalprävention gilt dies sogar für die gesamte abzuschreckende/im Normglauben zu bestätigende Allgemeinheit von endlichen Vernunftwesen, die dabei so behandelt wird, als müsse sie sich wie ein Herde dressurbedürftiger Unselbständiger von vor Augen geführten unangenehmen Konsequenzen vom Unrecht abhalten lassen bzw. als müsse sie durch solche Konsequenzen in ihrem Wissen um das Richtige bestätigt und geleitet werden. Dies ist dann der totale Rückfall in unfreiheitliches Denken.442 439
I. Kant, GMdS, S. 66, BA 75. E. Schmidhäuser, Strafrecht AT (Lehrbuch), 2. Aufl. (1975), S. 53, 54, Fn. 12. 441 Vgl. zu einer umfassenden und grundsätzlichen Kritik der Generalprävention E. A. Wolff, „Das neuere Verständnis von Generalprävention und seine Tauglichkeit für eine Antwort auf Kriminalität“ a. a. O. (Fn. 46), S. 792 ff.; zur Kritik an den instrumentalen Ansätzen überhaupt M. Köhler, Der Begriff der Strafe (1986), besonders S. 69 ff.; derselbe, Strafrecht AT (1997), S. 44 ff. 442 Eine gewisse Ironie liegt bei dieser Theorie darin, daß ihre Vertreter konsequenterweise auch sich selbst in eine solche Wesensbestimmung einbeziehen müßten; sie wären danach rechtstreu deshalb, weil ihnen das Richtige durch eine äußere Macht plastisch demonstriert wird (teils drohend, teils begütigend), nicht weil sich das Richtige als Prozeß auch ihnen selbst – aus sich selbst heraus – offenbart. Die sich unmittelbar anschließende Frage ist dann allerdings, wer denn eigentlich – wenn nicht die Rechtsgelehrten und die Gerichte – das Richtige dann noch feststellen kann, um es generalpräventiv zu bewahren. Soweit nicht durch göttliche Fügung 440
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Die genannten instrumentalen Ansätze begegnen neben dieser grundsätzlichen Schwäche auch noch weiteren Bedenken. Sie verwechseln nämlich das Rechtsinstitut der Strafe, das begrifflich Reaktion auf Unrecht ist, mit dem des (präventiven) Zwangs, welcher bei ihnen eher zufällig an die Unrechtstat geknüpft wird. In Wahrheit soll bei ihnen die Strafmaßnahme als ganz klassischer Rechtszwang präventiv wirken – nämlich um neuen, in der Zukunft liegenden Straftaten entweder des Täters selbst oder anderer, noch potentieller Täter entgegenzuwirken. Das Problem liegt dann aber offensichtlich darin, daß diese Theorien nicht erklären können, wie nun eigentlich die schon begangene Unrechtstat mit der Strafe verbunden ist. Grund der Strafe ist sie danach jedenfalls nicht. Ist sie Anlaß für die Präventivmaßnahme?443 Dies ließe sich nur begründen, wenn mit der Begehung einer Straftat immer auch immanent die Erwartung einer Wiederholung (durch den selben Täter) oder einer Nachahmung (durch andere) verbunden ist. Eine solche Regel läßt sich aber jedenfalls dann nicht aufstellen, wenn von prinzipiell selbstbestimmten, wenn auch endlichen Vernunftwesen als Rechtssubjekten ausgegangen wird. Denn diese sind konstitutionell in der Lage, sich selbst zum Richtigen hin zu orientieren und tun dies in der Regel auch. Eine einmal begangene Fehlleistung erschüttert dieses grundsätzliche Vermögen nicht (wenn sie auch nicht einfach „in der Welt“ bleiben kann). Eine freiheitliche Rechtsordnung kann jedenfalls ihre Strafmaßnahmen nicht auf eine Unterstellung444 stützen, die fundamental mit ihrer eigenen gedanklichen Grundlage, der Autonomie des einzelnen Subjekts, kollidiert. Es war ja gerade die subjektive Vernunft eines jeden Mitglieds der Rechtsgemeinschaft, die zu der Einsicht führte, daß notwendig eine freiheitliche Rechtsgemeinschaft zu gründen sei, die jedem ein Leben in Freiheit ermöglicht. Warum sollte diese Einsicht nun plötzlich als insgesamt ungültig erachtet werden? Zugespitzt formuliert: Warum sollte eine aus dem Rahden Vertretern dieses Berufstandes eine Fähigkeit zukommt, die der übrigen bedauernswerten Menge von Staatsbürgern abgeht, ist es durch nichts gerechtfertigt, einen Unterschied zwischen diesen und jenen in der Fähigkeit zur richtigen Orientierung auszumachen. Wenn nicht überhaupt die Ermittelbarkeit des rechtlich Richtigen und die damit zusammenhängende mögliche Einsicht in das Falsche geleugnet werden soll (etwas, das bei den generalpräventiven Straftheorien ja immer schon vorausgesetzt ist), ist damit in Wahrheit schon das Vermögen eines jeden einzelnen zum Hervorbringen des Richtigen anerkannt. Dann ist aber die Generalprävention als Grund der Bestrafung nicht mehr zu halten. 443 So H.-H. Jescheck/Th. Weigend, Strafrecht AT, 5. Auflage (1996), S. 67: Die Tat sei bei den relativen Theorien nicht der Grund, sondern der Anlaß der Bestrafung. Sie zeige an, daß das Einschreiten des Staates erforderlich ist, weil Symptome eines gefährlichen Zustandes vorliegen. 444 Nämlich die, daß nach einmal begangener Unrechtstat nunmehr lauter weitere Fehlleistungen, entweder des Täters selbst oder der so „ermutigten“ Gemeinschaft, zu erwarten sind.
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1. Teil: Freiheitliche Strafbegründung im Staat
men fallende einzelne Unrechtshandlung das gesamte gesicherte Rechtsvertrauen für die Zukunft aufheben? Auch wenn es verlockend sein mag, sich selbst über andere zu erheben, die Grundeinsicht, daß ein solches Verhalten mit der Freiheit aller und damit eben auch der eigenen Freiheit unvereinbar ist, bleibt unangetastet. Das Regel-Ausnahme-Verhältnis erfährt keine Umkehrung, weil in einem gesunden Gemeinwesen der einzelne kraft seiner subjektiven Vernunft das objektiv gültige Recht mitbegründet hat. Er hat keinen Grund, nun seine eigene Begründungsleistung prinzipiell und für immer zu negieren. Ist dies aber so, dann kann die Notwendigkeit, auf Unrecht Strafe folgen zu lassen, nicht mit dem Argument der Prävention oder der Behandlung des Täters hin zur Besserung oder mit dem Unschädlichmachen des Täters für die Zukunft begründet werden. Solche Ansätze greifen schon von ihrem gedanklichen Anspruch her zu kurz. Sie befassen sich in Wahrheit gar nicht damit, wie sich Strafe begründen läßt, sondern wenden die vorgefundene Begründung des Rechtszwangs für die besondere Art der Verhinderung von Unrecht durch Strafmaßnahmen an; dies mit dem Hinweis, daß nach Begehung der Unrechtstat weitere Unrechtstaten in der Zukunft zu erwarten sind. In diesem Rahmen spielen dann empirische Erhebungen der Art, daß bestimmte Risiken bei bestimmten Deliktstypen, Tätergruppen oder gesellschaftlichen Verhältnissen auftreten, als Hilfestellung zur Gefahrendiagnose eine durchaus bedeutsame Rolle. Als Gegenzwang haben solche Maßnahmen, die weiteres Unrecht verhindern in konkreten Fällen auch ihre Berechtigung. Es handelt sich aber dabei dann eben strukturell um Rechtszwang, der seinen eigenen Voraussetzungen folgt. Die Frage der Bestrafung als Reaktion auf schon begangenes Unrecht wird jedoch nicht berührt. Als letzter Aspekt prinzipieller Kritik ist auf das den instrumentalen Ansätzen zugrundeliegende, durch Kant überwundene rein funktionale Denken hinzuweisen. Es sei an dieser Stelle nochmals an die grundlegende Einsicht Kants erinnert, daß sich das „Gute“, also, „das, was die Vernunft unabhängig von der Neigung, als praktisch notwendig“445 erkennt, nicht durch „das, was (der Wille) bewirkt, nicht durch Tauglichkeit zur Erreichung irgendeines vorgesetzten Zwecks, sondern allein durch das Wollen, d. i. (als) an sich, gut (. . .)“446 erweist. Vernunftnotwendigkeit ist mehr als die Eignung zu einem bestimmten Zweck. Sie weist sich als Resultat eines Denkprozesses aus, der der Bewegung des kategorischen Imperativs folgt. Da es im vorliegenden Zusammenhang um die Beurteilung einer Handlung (dem Strafen) als Rechtsinstitut geht, ist die erweiterte, rechtliche Form des kategorischen Handlungsprinzips maßgeblich. Das allgemeine Rechtsprinzip 445 446
I. Kant, GMdS, BA 37. I. Kant, GMdS, BA 3, 4.
E. Zusammenfassung des 1. Teils
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Kants: „Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann“ ist also auch für die Frage nach der Rechtlichkeit staatlicher Strafe unübergehbarer Maßstab. Strafe muß sich demnach als ein Akt ausweisen lassen, der sich bei seiner gedanklichen Verallgemeinerung als freiheitskonform mit jedermann darstellt – und das beinhaltet auch die Freiheit dessen, der bestraft wird. Das Urteil, ob es sich bei dem Akt der Bestrafung um eine an sich vernunftnotwendige, allgemeingültig richtige Handlung handelt, richtet sich also gerade nicht nur nach ihren Konsequenzen.447 Die genannten nutzenorientierten Denkansätze stellen sich diesem Problem naturgemäß nicht, denn ihr Augenmerk bleibt fest auf den Mittel-Zweck-Zusammenhang zwischen Strafe und gesellschafts-politischen Zielen gerichtet. Sie können deshalb schon von ihren Voraussetzungen her zu keinen gültigen Aussagen über die Legitimation von Strafe kommen.
E. Zusammenfassung des 1. Teils Ihren Ausgang haben die Überlegungen zur freiheitlichen Strafbegründung im Staat beim Prozeß der Selbstbestimmung des endlichen Vernunftwesens Mensch genommen: Das einzelne Subjekt ist in der Lage, durch die gedankliche Generalisierung einer aufgenommenen Handlungsmaxime im Verfahren des kategorischen Imperativs zu praktischer Selbstorientierung zu finden. Dieser Grundbestimmung nach ist es als Vernunftwesen frei in einem umfassenden (positiven) Sinne und damit mehr als ein bloßes Bedürfnissubjekt. Dies äußert sich in der individuellen Gestaltung seines eigenen Lebens durch praktisches Handeln. Mit dem praktischen Handeln ist eine Beziehung zur Außenwelt gesetzt, insbesondere zu den anderen endlichen Vernunftsubjekten. Das entstehende Verhältnis muß geprägt sein durch gegenseitige Anerkennung als wesensgleich und damit gleichbedeutsam. Die Bedeutsamkeit des konkreten Gegenübers als Vernunftwesen ist der Grund für die Notwendigkeit, diesem – wie mir selbst – ein selbstbestimmtes Leben real möglich zu machen: Der Bereich des Rechts. Ein freiheitliches Rechtsverständnis sieht im Recht eine gemeinschaftliche Vernunftleistung der Rechtssubjekte, welche die Wahrung von Freiheit in Gemeinschaft ermöglicht. Rechtsgesetze regeln die äußere Seite menschlichen intersubjektiv relevanten Handelns. Dabei setzen sie ein autonomes, positiv freies Subjekt als Urheber der Handlung voraus, das sich notwendig 447
Vgl. dazu schon oben A.
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1. Teil: Freiheitliche Strafbegründung im Staat
in einem Verhältnis gegenseitiger Vernunftanerkenntnis mit anderen Subjekten befindet. Das Recht verfestigt dieses Verhältnis, indem es einerseits für eine äußerliche Abgrenzung von Freiheitssphären sorgt, gleichzeitig aber auch das verbindende Moment, ein übergreifendes Bewußtsein des Aufeinander-Angewiesenseins, manifestiert. Dabei darf es nicht inhaltlich vorgeben, was die einzelnen Rechtssubjekte aus ihrem Leben machen sollen, es kann lediglich die Bedingungen schaffen, die ein Leben in Selbstbestimmung für jeden in der Wirklichkeit möglich machen. Es ist ein notwendiger Schritt zur Verwirklichung rechtlicher Verhältnisse, diese auch äußerlich – durch positive Gesetze und Institutionen – zu verfestigen: Die Schaffung eines rechtlichen Zustandes (Staat) ist apriorisch gefordert. Die Leistung, einen solchen Zustand wirklich zu machen, ist von den Rechtssubjekten selbst zu erbringen. Sie müssen sich einerseits vereinigen und so eine neue Einheit gründen, die in ihrer Gesamtheit mehr zu verbringen vermag als die einzelnen alleine; sie müssen sich andererseits aber auch als Personen durch Teilhabe am Ganzen auszeichnen. Wesentlich für die Gründung und den Erhalt eines die Rechte der einzelnen garantierenden Zustandes ist eine äußere Verfestigung der Rechtspositionen sowie eine äußere Macht, die diese auch gegen den besonderen Willen im Einzelfall verwirklicht. Die Möglichkeit von Unrecht ist durch die Verfestigung rechtlicher Verhältnisse nicht ausgeschlossen. Unrecht ist in einem ersten prinzipiellen Zugang ein Hindernis der Freiheit. Rechtszwang ist die Gegenbewegung zum Unrecht, die Verhinderung des Hindernisses der Freiheit. Strafrechtliches Unrecht ist näher zu fassen als eine substantielle Verletzung der interpersonalen Rechtsbeziehung zweier Subjekte, die in einer sie umfassenden Rechtsallgemeinheit leben. Die Verletzung erlangt insofern gleichzeitig Bedeutung für die Allgemeinheit, indem sie die Rechtsgeltung partikulär in Frage stellt. Strafe ist als Aufhebung der Verletzung in all ihren Dimensionen zu bestimmen: Strafe als Ausgleich des interpersonal-allgemeinen Unrechts. Für dieses Strafverständnis ist der staatliche Zusammenhang nicht konstitutiv. Zwar ist es erst in einer rechtlich verfaßten Gemeinschaft möglich, die Strafe in ihrer konkreten Ausgestaltung zu bestimmen. Die Verfassung der Allgemeinheit in handlungsfähige Institutionen ist Voraussetzung dafür, Strafe auch freiheitskonform auszuüben. Allerdings bleibt es bei der abstrakt rechtlich herausgearbeiteten Vernunftnotwendigkeit, daß auf materielles (strafrechtsrelevantes) Unrecht Strafe zu folgen hat, und zwar im gedanklich ersten Schritt auch unabhängig von jeglicher staatlichen Verfestigung der Rechtsverhältnisse.
E. Zusammenfassung des 1. Teils
167
Von dieser Basis aus soll im zweiten Teil der Arbeit das völkerstrafrechtliche Unrecht und seine Aufhebung durch Strafe untersucht werden. Dabei wird sich zunächst die Schwierigkeit ergeben, materiell das Wesen völkerstrafrechtlichen Unrechts in seinen Grundzügen zu erfassen. Dafür ist der Bezug eines als Strafunrecht zu kennzeichnenden Verhaltens zur Völkergemeinschaft herauszuarbeiten. Anders als auf der staatlichen Ebene ist im Völkerstrafrecht die umgebende Rechtsallgemeinheit global gefaßt, was notwendig Auswirkung auf ihre Betroffenheit von zunächst interpersonal bestimmtem Unrecht hat. Ein materielles Strafrecht der Völkergemeinschaft wegen einer solchen Unrechtstat kann nur bestehen, wenn es gelingt, eine rechtliche Betroffenheit der globalen Rechtsallgemeinheit zu begründen. Im Anschluß daran stellt sich dann die Frage nach einer auch formellrechtlichen Verwirklichung eines solchen Völkerstrafrechts, wobei das Fehlen eines verfaßten Rechtszustandes auf Weltebene als Problem schon hier offenkundig ist.
2. Teil
Rechtsstrafe auf internationaler Ebene Die Überlegungen im ersten Teil der Arbeit haben gezeigt, daß erster und bestimmender Grund dafür, daß Strafe sein muß, die substantielle Verletzung eines Rechtsverhältnisses durch ein Verbrechen ist. In einem weiteren Zusammenhang wurde das Verbrechen als auch allgemeine Rechtsverletzung herausgearbeitet, als eine partielle Negation allgemeiner Rechtsgeltung, die durch die Strafe aufgehoben werden muß. Der Prozeß der Wiederherstellung der Rechtsgeltung muß öffentlich, also mit erkennbarem Bezug zur Rechtsgemeinschaft geschehen. Die Negation des Rechts muß so manifestiert und der Geltungswiderspruch tätig behoben werden. Damit unmittelbar verbunden ist in der Sphäre des Subjekts das Aufheben des Selbstwiderspruchs durch Subsumtion unter sein „eigenes Recht“, das „Erleiden“ des Falschen zur Einsicht in das Richtige. Es wurde deutlich, daß für die entwickelte dreistufige interpersonal-allgemein-subjektive Strafbegründung notwendig eine Rechtsallgemeinheit gedacht werden muß, in die das verletzte Rechtsverhältnis eingebettet ist. Dieser Gedanke wurde schon bei der Begründung des Rechts und der davon abgeleiteten Bestimmung des Unrechts eingeführt; unumgänglich wurde er beim Erfassen dessen, was strafrechtliches Unrecht und dessen notwendige Aufhebung durch Strafe in ihrem Wesen ausmachen. Denn eine gültige Bestimmung des Strafrechts kann nicht schon auf der Ebene des interpersonalen Rechtsverhältnisses geleistet werden, ist das Spezifische am Strafrecht doch gerade die Reaktion der Rechtsallgemeinheit auf das das Rechtsverhältnis substantiell verletzende Unrecht (im Unterschied zu einem zumindest prinzipiell interpersonal-unmittelbar zu denkenden Zwangs- bzw. Restitutionsrecht). Die besondere Beziehung zwischen den am Rechtsverhältnis unmittelbar Beteiligten – die durch das Verbrechen zu Täter und Opfer werden – und der strafenden Allgemeinheit beruht auf einer der Verhältnisstörung vorgängigen Verbundenheit aller Mitglieder der Rechtsgemeinschaft. Diese haben gemeinsam überhaupt erst den Rechtsraum begründet, der nun eine rechtliche Bewältigung des Geschehens notwendig und möglich macht. Die Allgemeinheit ist auf dieser Grundlage von einer Rechtsverhältnisstörung selbst betroffen, denn nach dem ausgeführten (im Kern Hegelschen) Verständnis
A. Notwendige Begründungserweiterung im internationalen Zusammenhang 169
des Verbrechens liegt in der substantiellen Verletzung des Anerkennungsverhältnisses zwischen zwei Personen immer auch ein Bruch des Prinzips Anerkennung selbst, auf dem eine rechtliche Gemeinschaft notwendig beruht. Es ist diese ursprüngliche Verbundenheit im Recht, die gemeinschaftliche Einsicht in die Notwendigkeit der Rechtsgeltung, die zum Entstehen eines Strafrechts der Allgemeinheit gegenüber dem Verbrecher führt. Dieser Zusammenhang wird besonders deutlich in staatlich verfaßten Strukturen, in denen die Mitkonstituenten des Staates durch allgemeine Willensanstrengung die rechtlichen Rahmenbedingungen für das freiheitliche Miteinander allgemeinverbindlich festgelegt haben. Dort wird wegen des erhöhten Grades gegenseitigen Vertrauens in die Rechtsgeltung die verfaßte Rechtsgemeinschaft durch ein Verbrechen stets in einer Weise mit getroffen, die die Restitution des allgemeinen Friedenszustandes durch Strafe notwendig macht. Auf dieser Grundlage wendet sich die Untersuchung nun dem Hauptgegenstand dieser Arbeit, dem überstaatlichen Strafrecht, zu. Erst nachdem erfaßt ist, welche Bedeutung die Bestrafung eines Verbrechers für das Bestehen einer Rechtsgemeinschaft grundsätzlich hat, kann sich die Betrachtung des internationalen Strafrechts auf ein tragendes gedankliches Fundament stützen. Es gilt nun, die Basis der erarbeiteten Strafbegründung für den erweiterten Zusammenhang internationaler Rechtsgeltung auszubauen. Am gültigen Grund der Strafe im interpersonalen Unrecht und in den weiteren Dimensionen der Unrechtstat – Negation allgemeiner Rechtsgeltung und Selbstwiderspruch des Täters – soll nun auch im Völkerstrafrecht festgehalten werden. Damit ist immerhin erreicht, daß die Schwierigkeiten dieses neuen Rechtsgebiets von keinem beliebigen, sondern von einem aus dem Autonomiegrund des Rechts notwendig folgenden gedanklichen Standpunkt aus angegangen wird.
A. Notwendige Begründungserweiterung im internationalen Zusammenhang Das überstaatliche Strafrecht zeichnet sich begrifflich dadurch aus, daß es die Grenzen rechtlich verfaßter Gemeinschaften – der Staaten – überschreitet. Für den Begründungsgang bedeutet dies, daß zwar die Betrachtung unverändert vom Rechtsverhältnis der freien Individuen auszugehen hat, nun aber über eine schon erfolgte Verfassung der Rechtssubjekte in einem Rechtszustand hinausgehen und eine dieses Gefüge überspannende Einheit in die gedankliche Struktur der Begründung mit aufnehmen muß. Die Perspektive hat sich also vom Rechtsverhältnis der einzelnen über das Staatsrecht zum Interstaatenrecht zu erweitern. Bezogen auf das Strafrecht
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2. Teil: Rechtsstrafe auf internationaler Ebene
bedeutet dies, den Grundzusammenhang zwischen interpersonal-allgemeinem Unrecht und seiner Aufhebung durch Strafe mit einer internationalen Rechtsordnung in Bezug zu setzen. Ausgangspunkt für die Begründung auch des internationalen Strafrechts muß das Rechtsverhältnis und dessen substantielle Verletzung durch interpersonales Unrecht bleiben. Ein Strafrecht gegenüber einem Rechtssubjekt kann überhaupt nur entstehen, soweit es Reaktion auf eine dem Subjekt vorwerfbare Herabsetzung eines anderen zum bloßen Objekt ist. Wird diese erste Dimension des Unrechts durch den internationalen Zusammenhang nicht gegenstandslos, so geht es auch dort um eine im Interpersonalverhältnis entstandene Ungleichheit und deren Aufhebung. Dieser erste Grund der Strafe ist jedoch nicht für alle positiv-rechtlich vorfindbaren völkerstrafrechtlichen Tatbestandsalternativen unproblematisch aufzuweisen. Schon im ersten Schritt des Begründungsgangs ergeben sich Schwierigkeiten, die aus der spezifischen Qualität des Völkerstrafrechts und der Entwicklung seiner Straftatbestände aus völkerrechtlichen Rechtsquellen resultieren.448 Es wird zu zeigen sein, daß dieser völkerrechtliche Hintergrund die Begründung des internationalen Strafrechts auf dieser ersten Stufe nicht prinzipiell modifizieren kann und daß die Erkenntnisse des ersten Teils dieser Arbeit insoweit auch im erweiterten internationalen Kontext einen gültigen Maßstab liefern. Wird dieser Maßstab ernst genommen, muß dies zu Restriktionen bei der Festlegung von als völkerrechtlich-strafbar zu beurteilenden Verhaltensweisen führen. Eine besondere Problematik in der Begründung ergibt sich ferner, sobald die Allgemeinheitsseite der Unrechtstat („die Verletzung des Rechts als Recht“) in den Blick kommt. Die internationale Rechtsstrafe muß für sich in Anspruch nehmen können, praktisch-rechtlich-vernünftige Reaktion seitens einer globalen Rechtsallgemeinheit auf die Tat eines einzelnen Unrechtstäters zu sein. Dies ist insofern mit erheblichem Begründungsaufwand verbunden, als nun die strafende Rechtsgemeinschaft nicht mehr als die das Rechtsverhältnis in räumlicher und kultureller Nähe unmittelbar umgebende zu denken ist, sondern die gesamte Menschheit erfaßt. Der Rechtsraum, die Verbundenheit aller im Recht, muß nun für die Weltgemeinschaft begründet werden, um überhaupt von einer „Betroffenheit“ der strafenden Rechtsgemeinschaft durch geschehenes Strafunrecht sprechen zu können. Dies setzt logisch-vorgängig allgemeine Rechtsgeltung (wenn auch in unverfaßter 448 Vgl. dazu M. C. Bassiouni, „The Sources and Content of International Criminal Law: A Theoretical Framework“ in ders. (Hrsg.), International Criminal Law (2. Aufl., 1999), Vol. I, S. 1 ff.; I. Bantekas, S. Nash, M. Mackarel, International Criminal Law (2001), Chapter 1, S. 1 ff.; F. Malekian, International Criminal Law (1991), Vol. I, Chapter 1, S. 1 ff.
A. Notwendige Begründungserweiterung im internationalen Zusammenhang 171
Form) auch auf Weltebene voraus, die durch strafwürdiges Unrecht partiell negiert werden kann. Da die spezifischen Lebensumstände der Völker auf der Welt, ihre kulturelle, regionale, historische und religiöse Prägung erheblich divergieren, wird es niemals möglich sein, ein allgemeines Recht mit dem Konkretisierungsgrad einer staatlichen Rechtsgemeinschaft zu begründen. Nicht ausgeschlossen ist es aber, daß sich aufgrund der einenden Vernunftstruktur menschlichen Daseins allgemeine Prinzipien zum Verwirklichen äußerer Freiheit auf Weltebene finden lassen. Dann wäre zumindest in Ansätzen eine allgemeine Rechtsgeltung denkbar, die durch bestimmtes Unrecht negiert und von der Weltgemeinschaft durch das Strafrecht wiederhergestellt werden müßte. Das internationale Strafrecht kann also materiell als Recht der Weltgemeinschaft nur begründet werden, wenn – erstens überhaupt interpersonales, strafwürdiges Unrecht als Grund der Strafverfolgung vorliegt (dazu unten B. I.) und – zweitens eine Betroffenheit der Weltgemeinschaft durch das konkret geschehene Unrecht (eine „Verletzung des Rechts als Recht“) begründet werden kann (B. II.). Die Legitimität einer Strafmaßnahme richtet sich allerdings nicht allein nach ihrer materiellen Begründbarkeit. In einem weiteren Schritt sind auch formell-rechtliche Anforderungen an das Völkerstrafrecht zu stellen, d. h. seine Umsetzung als konkreter Rechtsakt muß nicht nur von einer abstraktrechtlichen Strafbefugnis getragen sein, sondern muß auch in seiner Umsetzung den Ansprüchen eines freiheitlichen Rechtsverständnisses genügen (dazu C.). Dabei stellt sich zunächst das Problem des Verhältnisses zwischen staatlicher und übernationaler Ausübung eines für beide Ebenen gleichermaßen begründbaren Strafrechts. Es existieren rechtlich verfaßte Primäreinheiten (Staaten), in denen das Strafrecht als Teil eines positiv-rechtlich konkretisierten, öffentlichen Rechts wahrgenommen wird. Bei einer Rechtsverhältnisstörung mit der Qualität strafbaren Unrechts ist es zunächst diese primäre Einheit „Staat“, die Träger des Strafrechts ist: In diesem Staat wurden gemeinschaftlich Strafnormen gesetzt, die materielles Unrecht konkretisieren, und es wurden die notwendigen Strukturen geschaffen, die eine freiheitliche Realisierung des Strafrechts ermöglichen. Die verfaßte staatliche Rechtsgemeinschaft ist vom geschehenen Unrecht viel unmittelbarer betroffen als die Weltgemeinschaft, denn der gemeinsam geschaffene Rechtszustand selbst, die Garantie freiheitlicher Verhältnisse und das darauf gegründete Rechtsvertrauen, werden durch die Unrechtstat partiell negiert. Geschieht also Unrecht innerhalb einer solchen staatlichen Struktur, so ist es
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2. Teil: Rechtsstrafe auf internationaler Ebene
zunächst sie selbst, die die Restitution wirklich gewordener Freiheit leisten muß. Aus diesem Gedanken folgt, daß für die Ausübung eines internationalen Strafrechts jedenfalls so lange kein Raum ist, wie die staatliche Unrechtsbewältigung tatsächlich unternommen wird. In der Verfaßtheit des Staates selbst liegt dann ein substantieller Grund für seine primäre Zuständigkeit für das Strafrecht (dazu C. I.). Für die materiell-formelle Begründung des Völkerstrafrechts fehlt nun noch ein letzter Schritt: Es wurde bisher ohne weiteres vorausgesetzt, daß die Wahrnehmung des Strafrechts über staatliche Grenzen hinweg rechtlich überhaupt möglich ist. Eine freiheitliche Form der Rechtsausübung ist aber – wie im ersten Teil der Arbeit beschrieben – an verfaßte Rechtsstrukturen gebunden. Auch wenn es gelingt, materiell ein Strafrecht der Weltgemeinschaft aufzuweisen, so ist damit noch nicht seine freiheitliche Ausübung garantiert. Da eine verfaßte Weltrechtsgemeinschaft, innerhalb derer eine freiheitliche Strafrechtsrealisierung stattfinden könnte, unmittelbar nicht aufzuweisen ist, muß ein Weg der Verwirklichung des Strafrechts gesucht werden, der über die Einzeleinheiten (Staaten) vermittelt wird. Dabei werden dann die herausgearbeiteten Anforderungen an eine auf Autonomie der einzelnen Rechtssubjekte gründende Rechtsordnung erneut virulent: Die einzelnen müssen als Mitkonstituenten der Rechtsordnung an dem Verfahren der Rechtssetzung und der Schaffung der notwendigen Institutionen beteiligt sein. Es wird zu prüfen sein, ob dem für den internationalen Bereich prinzipielle Einwände entgegenstehen, die sich aus der Erweiterung des Rechtsraums auf Weltebene ergeben. Es ist jedenfalls nicht auszuschließen, daß kleinere Einheiten eine durch den einzelnen mitbegründete Rechtsgemeinschaft besser gewährleisten können, da in ihnen der natürliche Bezug der Individuen zueinander von viel unmittelbarer Qualität ist als auf Weltebene. Unter C. II. soll der Frage der formell-rechtlichen Ausübung des internationalen Strafrechts daher wenigstens in Form eines kurzen Überblicks nachgegangen werden. Dabei darf nicht verloren gehen, daß ein Ausgleich strafwürdigen Unrechts aus Rechtsgründen und damit aus Gründen praktisch-rechtlicher Vernunft erfolgen muß. Strafe ist als notwendige Reaktion auf Strafunrecht begründet worden; die entstandene Ungleichheit kann nicht einfach bestehen bleiben, wenn insgesamt gerechte Verhältnisse erhalten bzw. geschaffen werden sollen. Es sind also prinzipiell Gerechtigkeitsüberlegungen, die zu einem Strafrecht, aber auch zu einer Strafnotwendigkeit führen. Allerdings darf damit keine Beliebigkeit in der Art der Umsetzung einhergehen. Die Einheit materieller und formeller Gerechtigkeit ist notwendig herzustellen, wenn sich internationale Strafe als Rechtsstrafe erweisen soll.
B. Materiell-rechtliche Begründungselemente des Völkerstrafrechts
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B. Materiell-rechtliche Begründungselemente des Völkerstrafrechts I. Interpersonales Unrecht im Völkerstrafrecht Strafwürdiges Unrecht ist in seiner ersten Dimension gekennzeichnet worden als signifikante Störung eines auf gegenseitiger Anerkennung basierenden Rechtsverhältnisses durch eine konkrete Freiheitsverletzung des einen gegenüber dem anderen.449 Dabei war als wesentlich herausgestellt worden, daß mit der Verletzungshandlung nicht nur die äußere Freiheitssphäre des Gegenübers verletzt, sondern gleichzeitig auch die innere Verbundenheit mit ihm als Gleichbedeutsamem negiert wird. Mitgesetzt ist durch letzteres Begriffselement insbesondere, daß strafbares Unrecht nicht schon durch den äußerlich erfahrbaren Verletzungserfolg (etwa eine Körperverletzung, eine Eigentumsverletzung oder den Todeserfolg) erschöpfend erfaßt ist – was sich übrigens auch dadurch zeigt, daß beim selben Erfolgseintritt die Rede von Unrecht ganz unverständlich wird, wenn er durch ein Naturunglück oder unbewußt-menschliches Verhalten (z. B. Reflex) entstanden ist.450 Es muß notwendig hinzukommen, daß der Verletzende durch seine Handlung das Grundverhältnis zwischen ihm und (dem) anderen in einer Weise stört, die eine prinzipielle Anerkennungsverweigerung des/der anderen zum Ausdruck bringt. Darin liegt die innere Seite der Unrechtstat, der Angriff auf das selbständige Dasein eines anderen. In dem Zusammenwirken der beiden Momente, äußere Freiheitsverletzung und Instrumentalisierung des anderen für eigene Zwecke, liegt das spezifisch strafrechtsrelevante Unrechtsverhalten, welches über eine bloß zivil- oder ordnungsrechtliche Verhältnisstörung hinausgeht und einen Ausgleich in einem umfassenden Sinne – durch Strafe – erforderlich macht.451 Diese Grundbestimmung des interpersonalen Unrechts hat sich in den positiv-gesetzlichen Fassungen des Strafunrechts zu konkretisieren.452 Im staatlichen Zusammenhang geschieht dies durch das allgemeine Gesetzgebungsverfahren, in dem sich die Staatsbürger durch ein strukturiertes Verfahren auf Freiheitsverletzungsverbote einigen, die dann in strafrechtlichen Tatbeständen allgemeinverbindlich, bestimmt und widerspruchsfrei gefaßt werden müssen. Ein verfaßter Straftatbestand muß „die verbotswidrige, ob449
Vgl. dazu 1. Teil, D. II. 1. a) aa). Vgl. M. Köhler, Strafrecht AT, S. 117; R. Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat (1989), S. 198, 199. 451 Vgl. dazu 1. Teil, D. II. 1. b) aa). 452 Vgl. zur Notwendigkeit positiver Gesetze in einer Rechtsgemeinschaft oben 1. Teil, C. II. 1. 450
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2. Teil: Rechtsstrafe auf internationaler Ebene
jektiv hinreichende Beeinträchtigung (Verletzung) der äußeren Freiheit eines anderen (anderer) im Besonderen (z. B. in den Tatbeständen der Tötung, Körperverletzung, des Diebstahls, der Urkundenfälschung, des Landesverrats etc.) durch die willentliche Handlung des Täters“453 umfassen. Freiheitlich begründbar ist ein strafbewehrtes positiv-gesetzliches Verhaltensverbot mithin dann, wenn es konkretisierter Ausdruck des Verletzungsverbotes (mit seinen äußeren und inneren Komponenten) ist, also den Grundgedanken oben erarbeiteter Unrechtsbegründung für bestimmte Freiheitsverletzungen (in richtiger Form und im richtigen Verfahren454) umsetzt.455 Die Gültigkeit der gekennzeichneten Bestimmung interpersonalen Unrechts als erste Unrechtsdimension ist in einem weiteren gedanklichen Schritt nunmehr auch für den Bereich des Völkerstrafrechts aufzuzeigen. Die Herleitung des Unrechts- und Strafbegriffs aus der Grundbestimmung des Subjekts als autonomes Wesen muß prinzipiell auch in den Situationen tragen, die das internationale Strafrecht zum Gegenstand hat. Zweifel daran wurden aus unterschiedlichen Richtungen der Strafrechtswissenschaft artikuliert und sollen wenigstens in ihren Grundzügen in die Betrachtung miteinfließen (dazu unter 1.). Bestätigt sich, daß in der interpersonalen Unrechtsbegründung ein tragendes Fundament auch für den Bereich des Völkerstrafrechts liegt, soll versucht werden, das positiv-rechtlich bereits existierende Völkerstrafrecht auf diese Grundlage zurückzuführen und dadurch einen kritischen Maßstab für dessen Beurteilung herauszuarbeiten. Dabei wird im Rahmen dieser Arbeit keine umfassende Untersuchung des gesamten Völkerstrafrechts angestrebt, sondern allenfalls eine Annäherung dem Prinzip nach anhand ausgewählter Beispiele (2.). 1. Die Gültigkeit eines interpersonalen Unrechtsbegriffs im Völkerstrafrecht Für den Gang der Begründung ist wesentlich, daß sich die erinnerte Bestimmung der ersten Dimension strafwürdigen Unrechts auch im Völkerstrafrecht als richtig erweist. Bedenken wurden diesbezüglich hinsichtlich der unterschiedlichen Unrechtsdimension im Völkerstrafrecht (Jäger) und der Richtigkeit der gedanklichen Ausgangslage auch im internationalen 453
M. Köhler, Strafrecht AT, S. 119. Vgl. dazu 1. Teil, C. II. 1. b). 455 Die vor allem in den angelsächsischen Rechtsordnungen vorherrschende Tradition des sog. caselaws sei an dieser Stelle nicht kritisiert. Es bedürfte einer eigenen Untersuchung, ob dieses Rechtssystem – von innen betrachtet – an Legitimitätsschwächen leidet. Der Maßstab müßte m. E. aber auch bei einer solchen Untersuchung ein freiheitlicher Rechtsbegriff sein. 454
B. Materiell-rechtliche Begründungselemente des Völkerstrafrechts
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Kontext (Naucke) geäußert. Ferner wird bezweifelt, daß sich die strafrechtliche Beurteilung auf internationaler Ebene zutreffenderweise auf Individuen als Adressaten der Bestrafung beschränken läßt (Lampe). Im folgendenden sollen diese Einwände auf ihre Stichhaltigkeit untersucht werden. a) Der Begriff der „Makrokriminalität“456 In Frage stehen könnte die Gültigkeit der interpersonalen Unrechtsbestimmung zunächst deswegen, weil mit Blick auf die Dimensionen der völkerrechtlichen Verbrechen möglicherweise andere Maßstäbe zu gelten haben als im nationalen Bereich. Denn der zuvor entwickelte Verbrechensbegriff basiert in seinem Ansatz auf der Verletzung eines Interpersonalverhältnisses durch einen verantwortlichen Täter; mit einer solchen Rechtsverhältnisverletzung aber, so könnte der Einwand lauten, ist das völkerstrafrechtlich relevante Unrecht nur ganz unzureichend und kategorial unzutreffend beschrieben: Dort gehe es um ganz andere Unrechtsdimensionen, um Makroverbrechen, sowohl was den Kreis der Täter, als auch was das Maß der Verletzung angeht. Einen solchen Einwand hat Jäger in seinem Beitrag zum Makroverbrechen als Gegenstand des Völkerstrafrechts erhoben.457 Jäger stellt in seinem Text die Frage, ob Gewalt- und Greueltaten in Kriegen und Bürgerkriegen, bewaffneten politischen, ethnischen und religiösen Auseinandersetzungen und im Zusammenhang mit staatlichem Terror in Diktaturen und totalitären Systemen überhaupt individuell zurechenbar und mit dem Verbrechensbegriff zu erfassen sind. Er entwickelt den Begriff der Makrokriminalität und spricht sich für ein Denkkonzept aus, das von der Notwendigkeit einer Ausweitung unseres Kriminalitätsverständnisses auf den Makrobereich kollektiven und staatlichen Handelns ausgeht.458 Die Größe der Verbrechen, die mit dem Begriff der Makrokriminalität gemeint sind, könne entweder bezogen werden auf die außerordentliche Schadensdimension oder aber die Größenordnung des Täterkollektivs; letzteres wird von Jäger favorisiert. Makrokriminalität soll vorliegen, wenn sich die kollektiven Taten 456 Vgl. zu diesem Begriff H. Jäger, Makrokriminalität, Studien zur Kriminologie kollektiver Gewalt (1989). 457 H. Jäger, „Makroverbrechen als Gegenstand des Völkerstrafrechts, Kriminalpolitisch-kriminologische Aspekte“ in: G. Hankel/G. Stuby (Hrsg.) Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen. Zum Völkerstrafrecht 50 Jahre nach den Nürnberger Prozessen (1995), S. 325 ff. Vgl. ferner derselbe, „Menschheitsverbrechen und die Grenzen des Kriminalitätskonzepts, Theoretische Aspekte der Einsetzung eines UN-Kriegsverbrechertribunals“ KritV 1993 (Bd. 76), S. 259 ff. 458 H. Jäger, „Makroverbrechen als Gegenstand des Völkerstrafrechts“, a. a. O. (Fn. 457), S. 325.
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2. Teil: Rechtsstrafe auf internationaler Ebene
als Teilakte gesamtgesellschaftlicher Konflikte und Prozesse darstellen, Staat und Gesellschaft also durch ihre auslösende Bedeutung unmittelbar in die kriminellen Ereignisse involviert sind. Denn, so Jäger, „erst die Abhängigkeit der individuellen Handlung von den Geschehnissen auf Makroebene bewirkt jenen Qualitätsumschlag, der den eigentlichen Unterschied von anderen Straftaten ausmacht und dazu nötigt, nach neuartigen kriminologischen Erklärungsmustern, kriminal-politischen Konzepten und nach den Besonderheiten dieser Verbrechen adäquaten Reaktionen und Sanktionszielen Ausschau zu halten.“459 Der Begriff der Makrokriminalität umfaßt nach Jäger solche kriminellen Handlungen, „die überhaupt nur unter bestimmten politischen Rahmenbedingungen möglich sind, also eine kriminogene staatlich-gesellschaftliche Ausnahmesituation zur Voraussetzung haben.“460 Es handele sich im ganzen um systemkonforme und situationsangepaßte Verhaltensweisen innerhalb eines Organisationsgefüges, Machtapparates oder sonstigen kollektiven Aktionszusammenhanges. Ihre Besonderheit bestehe darin, daß niemals isoliert handelnde einzelne, Gruppen und Organisationen für sich allein solche Verbrechen begehen könnten. Als Beispiele für solche Makroverbrechen nennt Jäger den Völkermord und die Vorbereitung eines Angriffskrieges.461 Alle diese Verbrechen hängen laut Jäger von einer sie ermöglichenden, sie scheinbar rechtfertigenden staatlich-gesellschaftlichen Gesamtkonstellation ab.462 Makrokriminalität stelle sich uns als kollektives Ereignis dar. Die „Taten und Tatbeiträge einzelner Täter scheinen in einem undurchdringlichen Netzwerk unterschiedlicher, eng miteinander verflochtener Einzelaktivitäten zu verschwinden, die durch das oft koordinierte Zusammenwirken vieler den Eindruck erwecken, es habe im Grunde die Organisation, das Kollektiv, das ‚System‘ selbst gehandelt, nicht die einzelne beteiligte Person.“463 Allerdings geht es auch nach Jäger im Strafrecht um individuelle Zurechnung und Bestrafung begangenen Unrechts, die „Individualisierung des Geschehens“ ist also auch in seinen Augen notwendig.464 459 H. Jäger, „Makroverbrechen (Fn. 457), S. 327. 460 H. Jäger, „Makroverbrechen (Fn. 457), S. 327. 461 H. Jäger, „Makroverbrechen (Fn. 457), S. 327. 462 H. Jäger, „Makroverbrechen (Fn. 457), S. 329. 463 H. Jäger, „Makroverbrechen (Fn. 457), S. 329.
als Gegenstand des Völkerstrafrechts“, a. a. O. als Gegenstand des Völkerstrafrechts“, a. a. O. als Gegenstand des Völkerstrafrechts“, a. a. O. als Gegenstand des Völkerstrafrechts“, a. a. O. als Gegenstand des Völkerstrafrechts“, a. a. O.
B. Materiell-rechtliche Begründungselemente des Völkerstrafrechts
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In diesem Zusammenhang kritisiert Jäger die Argumentation Jakobs, dem die Möglichkeit individueller Zurechenbarkeit von Taten in einer insgesamt pervertierten Gesellschaft fraglich erscheint, weil der Täter nur deren „Produkt“, nur „Glied in der Genese des Konflikts, nicht aber deren Grund“ 465 sei. Dies werde, wenn man den Täter als „nennenswerten Grund“ definiere, verschleiert und ein genuin politischer Konflikt auf diese Weise „aus der politischen Dimension ins Individuelle geschoben“.466 Folgerichtig gebe es keine Möglichkeit strafrechtlicher Beurteilung dieses Verhaltens. Grund dieser Jakobschen Zweifel an der individuellen Zurechenbarkeit ist nach Jäger ein reduziertes Bild des Individuums als funktionalisierter, ohne Eigenmotivation mitwirkender Täter.467 Aus dieser Perspektive bestehe der Grund des Verbrechens allein oder doch ganz überwiegend in den objektiven Verhältnissen, d. h. den das Kollektiv, den Staat beherrschenden politischen Kräften. Der einzelne sei danach nichts weiter als Charge, Statist, Nebenfigur des Geschehens, in das er verstrickt ist. Jäger meint, dieses reduzierte Verständnis vom Individuum durch empirisch genaue Betrachtung widerlegen zu können.468 Im Ergebnis hält er jedenfalls eine völkerstrafrechtliche Bewältigung von Makrokriminalität für notwendig und möglich, will aber deutlich auf den Unterschied hinsichtlich der Unrechtsqualität und des Rechtsfolgensystems im staatlichen und überstaatlichen Bereich hinweisen.469 Wegen der Dimension der Makroverbrechen ist es seines Erachtens nicht undenkbar, als Ziel völkerrechtlicher Strafe die endgültige Trennung und Distanzierung der für begangene Verbrechen Hauptverantwortlichen von der Gemeinschaft anzustreben.470 Der Ansatz Jägers steht erkennbar in dem Bemühen, den besonderen Situationen, die Anlaß für eine Unrechtsbewältigung auf internationaler Ebene 464 H. Jäger, „Makroverbrechen als Gegenstand des Völkerstrafrechts“, a. a. O. (Fn. 457), S. 330. 465 G. Jakobs, „Vergangenheitsbewältigung durch Strafrecht? Zur Leistungsfähigkeit des Strafrechts nach einem politischen Umbruch“ in: J. Isensee (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung durch Recht; Drei Abhandlungen zu einem deutschen Problem (1992), S. 37 ff. (S. 56). Vgl. für denselben Zusammenhang auch G. Jakobs, „Untaten des Staates – Unrecht im Staat“ GA 1994, S. 1 ff. 466 G. Jakobs, „Vergangenheitsbewältigung durch Strafrecht? Zur Leistungsfähigkeit des Strafrechts nach einem politischen Umbruch“, a. a. O. (Fn. 465), S. 56. 467 H. Jäger, „Makroverbrechen als Gegenstand des Völkerstrafrechts“, a. a. O. (Fn. 457), S. 333. 468 H. Jäger, „Makroverbrechen als Gegenstand des Völkerstrafrechts“, a. a. O. (Fn. 457), S. 333, 334. 469 H. Jäger, „Makroverbrechen als Gegenstand des Völkerstrafrechts“, a. a. O. (Fn. 457), S. 344. 470 H. Jäger, „Makroverbrechen als Gegenstand des Völkerstrafrechts“, a. a. O. (Fn. 457), S. 345.
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2. Teil: Rechtsstrafe auf internationaler Ebene
geben, im Wege des Strafrechts gerecht zu werden. Er weist zu Recht darauf hin, daß es sich dabei um Situationen eigener Qualität handelt – eine Qualität, die über die jeweils bestehenden staatlichen Einheiten hinausweist.471 Exemplarisch nennt er Kriegs- und Bürgerkriegssituationen, unterschiedlich motivierte bewaffnete Auseinandersetzungen und staatliche Terrorsysteme. Zu hinterfragen ist allerdings, ob aus der veränderten Qualität der jeweilig zu beurteilenden Situation – etwa der des Bürgerkriegs im Vergleich zu einem staatlichen Friedenszustand – auch eine veränderte Qualität des Verbrechensbegriffs folgt: Ob also der Anknüpfungspunkt der strafrechtlichen Beurteilung, die menschliche Fehlleistung im Verbrechen, kategorial anders zu fassen ist, wenn sich die Lebenssituation der Handelnden dramatisch verändert, wenn ihre Taten zu „Teilakten gesamtgesellschaftlicher Konflikte und Prozesse“ werden und sie in einen „kollektiven Aktionszusammenhang“ eingeordnet sind.472 Die „Abhängigkeit der individuellen Handlung von den Geschehnissen auf Makroebene“ bewirke den Qualitätsumschlag, der den eigentlichen Unterschied zu anderen Straftaten ausmache.473 Der Hinweis auf die gesellschaftlichen – und damit auch persönlichen – Ausnahmeverhältnisse, die in der Regel völkerstrafrechtlich relevante Delikte begleiten, ist gewiß zutreffend. Das vernünftig-endliche Subjekt kann seinem Wesen nach Strömungen der Gesellschaft ausgesetzt, Versuchungen und Zwangslagen ausgeliefert sein, es kann umgekehrt auch selbst Grund der Unterdrückung anderer werden, sich als Meister über andere aufspielen. Dabei ist immer auch die Möglichkeit inbegriffen, daß die Situation dem Handelnden (buchstäblich) über den Kopf wächst, daß sich menschliche Schwäche im Handeln gegen die Vernunfterkenntnis durchsetzt. Dies um so mehr, wenn diese Schwäche kollektive Züge annimmt, wenn gewissermaßen die gesamte Gesellschaft verrückt wird – wie etwa im nationalsozialistischen Deutschland oder im ruandischen Bürgerkrieg geschehen. Eine davon zu unterscheidende Frage ist aber, ob diese – zugegebenermaßen gewaltigen – Einflüsse der umgebenden Sozialität eine Abhängigkeit des individuellen vom kollektiven Handeln schaffen können und welche 471 Diese Aussage ist an dieser Stelle des Gedankengangs noch unabgeleitet, unter II. wird ihr gründlicher nachgegangen. 472 Von der Einschätzung dieser Frage hängt ab, ob sich die Rechtmäßigkeit der strafenden Reaktion in der im ersten Teil dieser Arbeit entwickelten Weise bestätigt oder ob die Rigorismen greifen, die Jäger am Ende seines Beitrags nennt: „Stigmatisierung, Ächtung, Ausgrenzung statt Wiedereingliederung“ der Hauptverantwortlichen, eine Distanzierung von ihnen in Form des „dauerhaften Freiheitsentzuges“ (bei Jäger gedacht als Surrogat für die von der Völkerrechtsordnung disqualifizierte Todesstrafe). 473 H. Jäger, „Makroverbrechen als Gegenstand des Völkerstrafrechts“, a. a. O. (Fn. 457), S. 327.
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Folge eine solche Abhängigkeit für die strafrechtliche Beurteilung hätte. Unmittelbar einsichtig ist es jedenfalls nicht, wenn Jäger nun ausgerechnet die nach seinem Verständnis in Abhängigkeit begangenen, also im Grunde unfreien Handlungen einer (auch noch besonders harten) strafrechtlichen Verurteilung zuführen will. Mit der Behauptung, jemand sei wegen eines Makroverbrechens zu bestrafen, ist die Zurechnung des Geschehenen als seine Tat ja immer schon vorausgesetzt. Implizit ist damit auch gesagt, das Subjekt selbst sei Grund des Verbrechens; ihm wird der Vorwurf gemacht, nicht etwa dem Kollektiv. Eine Abhängigkeit absolut-bestimmender Natur von äußeren Vorgängen ist durch ein solches Urteil gedanklich gerade ausgeschlossen. Umgekehrt kann mit festgestellter Abhängigkeit des einzelnen von Geschehnissen „auf Makroebene“ dessen Verurteilung nicht mehr auf seine Verantwortlichkeit gestützt werden, also berechtigt gar nicht mehr erfolgen.474 Bei Jäger finden sich diese beiden, sich ihrer Natur nach wechselseitig ausschließenden Aussagen – entweder strafrechtliche Verantwortlichkeit wegen des selbstbestimmten Entschlusses zum Unrecht oder Abhängigkeit von äußeren Umständen, also Fremdbestimmung – in scheinbarer Einheit. Gleichwohl ist es nicht ausgeschlossen, daß mit dem Hinweis auf die gesamtgesellschaftliche Ausnahmesituation eine für den interpersonalen Unrechtsbegriff und die darauf basierende Strafbegründung relevante Überlegung eingeführt ist. Allerdings führt dann die Argumentation notwendig in eine andere als die von Jäger dargestellte Richtung. Es ist durchaus von Bedeutung für das interpersonale Handeln, in welcher Lebenssituation der Agierende steht, wie das Rechtsverhältnis zwischen den Betroffenen konkret ausgestaltet ist und mit welcher gesellschaftlichen und persönlichen Historie die einzelnen im Leben stehen. Äußere Bedingungen wirken auf das Subjekt unweigerlich ein, es nimmt die umgebende Lebenswirklichkeit in seine (Unrechts-)Maximenbildung auf und gestaltet sie durch praktisches Handeln mit. Die einzelnen sind eben endliche Vernunft- und keine Geisterwesen. Aus diesem Grund können auch solche „kollektiven Ereignisse“, die zum Verfall freiheitlicher Zustände überhaupt führen, prägende Wirkung für den einzelnen haben, die sich immer auch im praktischen Handeln äußern kann. Damit ist aber gerade nicht gesagt, daß nun der einzelne deshalb nicht mehr in der Verantwortung steht, weil ihn die Umgebung so sehr zum Unrechtstäter prägte, daß er dem nichts mehr entgegenzusetzen hat. Die Möglichkeit der Einsicht in das Richtige kann erschwert und verstellt sein, ganz aufgehoben ist sie erst durch totale Unterdrückung. Nur in diesem letzten Fall ist die Unrechtsprägung so groß, daß von vernünftigem, selbst474 Dies ist der wahre Kern der zitierten Jakobschen Zweifel an der Möglichkeit strafrechtlicher Bewältigung dieser Situationen.
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bestimmten Handeln nicht mehr die Rede sein kann und deshalb auch das Strafrecht fehl am Platz wäre. Solange aber auch nur ein Fünkchen Freiheit in der Person glüht, ist sie konstitutionell in der Lage, sich zum Richtigen zu bestimmen und damit – im Falle der Entscheidung zum Unrecht – selbst Grund des Verbrechens und der Strafe. Dies schließt in einem gedanklich davon zu trennenden Schritt nicht aus, bei der strafrechtlichen Beurteilung die prägenden Umstände zu berücksichtigen; es ist sogar gefordert, denn die Verantwortlichkeit des Handelnden ist eben die eines Menschen in konkreten Lebensbezügen. Wenn – wie beschrieben – Strafe auf interpersonalsubjektiver Ebene etwas mit dem Ausgleich eines Unrechtsverhältnisses und der „inneren Abarbeitung“ des Verschuldensprozesses seitens des Täters zu tun hat, wenn sie als bewußtes Anerkennen der vernunftwidrigen Maxime durch den Täter begriffen werden soll und damit als seine verantwortliche Übernahme der Konsequenzen aus der eigenen Unrechtshandlung, dann müssen die Extremsituationen, in denen internationale Verbrechen begangen werden, in die Betrachtung miteinbezogen werden – und zwar tendenziell in strafmildernder Weise.475 So betrachtet bekommt der Begriff des „Makroverbrechens“ eine neue Wendung: Er bezeichnet das unrechtliche Verhalten eines einzelnen in einem Zustand erschwerter Orientierung am Richtigen. Nur in dieser Hinsicht kann von einem „Qualitätswechsel“ im Verbrechenstypus gesprochen werden. An der Grundbestimmung des Verbrechens als äußere und innere Freiheitsverletzung eines anderen, als substantielle Rechtsverhältnisstörung durch ein verantwortliches Subjekt, ist dagegen auch in den beschriebenen Situationen festzuhalten. Die Einführung der Kategorie des „Makroverbrechens“ kann also die grundlegende interpersonale Unrechtsbestimmung nicht verändern; insbesondere kann mit dem Hinweis auf Kollektivtaten nicht das für das Strafrecht entscheidende Kriterium der persönlichen Verantwortlichkeit im gegenseitigen Rechtsverhältnis umgangen werden. Dies nimmt auch Jäger nicht an, denn er betont die Notwendigkeit individueller Zurechnung im Völkerstrafrecht trotz bestehender faktischer Schwierigkeiten mit der „Iso475 In diese Richtung gehen auch die Überlegungen M. Köhlers, der für die besonderen Situationen, in denen nach Kriegs- oder Krisenzeiten staatliche Neugründungen anstehen, auch Besonderheiten im Umgang mit jenen Verbrechen anmahnt, die einen Grund eben im vorgängigen Verfall rechtlicher Zustände haben: „Insofern Verbrechen aus einem institutionellen Krisengrund resultiert, muß Strafe zwar abstrakt und moralisch begründet, doch durch gerechte Aufhebung jenes Mangels eingeschränkt werden.“ M. Köhler, „Strafgesetz, Gnade und Politik nach Rechtsbegriffen“ in: K. Schmidt (Hrsg.), Rechtsdogmatik und Rechtspolitik (1990), S. 57 (70). Köhler hält es in diesem Zusammenhang für möglich, den Begriff der Amnestie bzw. der Gnade als Rechtsbegriff aufzuweisen, soweit er als „Teilelement einer staatskonstitutiv-friedensstiftenden, politischen Gerechtigkeit“ verstanden wird. Ebenda, S. 68 ff.
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lation individualisierbarer Verbrechensanteile“ innerhalb „riesiger Netzwerke und Komplexe kollektiven Handelns“.476 Allerdings geht ihm der Grund dieser Aussage verloren, und er setzt sie so der Gefahr der Beliebigkeit aus. Mit „Zurechnung“ verbindet er nämlich offenbar eine von außen – von uns Juristen – in das Individuum hineingelegte Verantwortlichkeit; eine Verantwortlichkeit, die überhaupt erst durch eine „Individualisierung“, durch Heraustrennung aus der Masse der Gesamtverantwortung für das Individuum entsteht. Dem einzelnen wird diese Teilverantwortung zugeordnet wie jedem Geburtstagsgast ein Stück des Kuchens. Jägers Verweis auf Hannah Arendts Verständnis vom strafrechtlichen Verfahren als „Rückverwandlung eines Rädchens in einen Menschen“477 ist eine eindrucksvolle Verdeutlichung dieser Denkweise. Nun kann aber das Bild der Rückverwandlung in einen Menschen gerade nicht erklären, warum an die zeitlich vorgehende Aktion eines Nichtmenschen strafrechtliche Konsequenzen geknüpft werden; es ist absurd, von der Bestrafung eines Getriebeteilchens für bestimmte Funktionsstörungen zu sprechen. Eine solche Sicht der Dinge hebt sich daher notwendig selbst auf: Entweder handeln verantwortliche Wesen, die mit der Strafe die Konsequenz aus ihrer eigenen Unrechtshandlung tragen, oder es handelt sich um Betriebsstörungen, bei denen ja auch sonst niemand auf die Idee kommt, sie im Gerichtssaal beheben zu wollen. Es ist zwar unter Umständen möglich, einem Rädchen im Getriebe den Mißerfolg zuzuordnen, es ist aber ganz unmöglich, es dafür zu bestrafen. Der erste Grund der Strafe bleibt also auch beim „Makroverbrechen“ die einem Subjekt vorwerfbare, weil selbstbegründete Herabsetzung eines anderen zum Objekt. Der Begriff des interpersonalen Unrechts verliert demnach seine Gültigkeit jedenfalls nicht aus den von Jäger genannten Gründen. b) Der Begriff der „staatsverstärkten Kriminalität“ Bedenken bestehen könnten ferner hinsichtlich der Richtigkeit der gedanklichen Ausgangslage des erarbeiteten Strafbegründungsgangs auch im internationalen Kontext: Das Rechtsverhältnis, welches sich zwischen prinzipiell gleichbedeutsamen Subjekten konstituiert, mag für den staatlichen Zusammenhang als gedankliche Basis dienen. Wenn nun aber – wie so häufig bei den völkerstrafrechtlich aufzuarbeitenden Situationen – das unrecht476 Sehr deutlich bei H. Jäger, „Menschheitsverbrechen und die Grenzen des Kriminalitätskonzepts, Theoretische Aspekte der Einsetzung eines UN-Kriegsverbrechertribunals“, a. a. O. (Fn. 457), S. 262 f. 477 H. Arendt, „Die persönliche Verantwortung unter der Diktatur“, konkret 6/ 1991, S. 34 ff. (39) zitiert bei H. Jäger, „Menschheitsverbrechen und die Grenzen des Kriminalitätskonzepts, Theoretische Aspekte der Einsetzung eines UN-Kriegsverbrechertribunals“, a. a. O. (Fn. 457), S. 263.
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liche Verhalten gerade von einer übergeordneten Macht, von staatlichen Stellen ausgeht, so könnte dies schon im Ansatz eine Strafbegründung, wie die in dieser Arbeit entwickelte, unmöglich machen, weil schon das ursprüngliche Rechtsverhältnis nicht durch Gleichbedeutsamkeit der Beteiligten gekennzeichnet ist. Unter dem Begriff der „staatsverstärkten Kriminalität“ hat Naucke auf diese Schwierigkeit hingewiesen.478 Er definiert „staatsverstärkte Kriminalität“ als „Unterdrückung des Wehrlosen durch die in der Staatsorganisation gespeicherte Macht.“479 Er meint, daß die Strafgesetzbücher und die ihnen folgenden Dogmatiken regelmäßig nur das „Grundmuster: Ein Täter A gegen das Opfer B“ kennen und daß dieses Grundmuster „Gleichheit der Stärke zwischen Täter und Opfer“ vorgaukle. Seine Konsequenz lautet: „Dieses Grundmuster muß bei der Erörterung staatsverstärkter Kriminalität aufgegeben werden. Das Opfer, das dem zugreifenden Staat gegenübersteht, ist prinzipiell schwächer als in dem üblichen strafrechtlichen Grundmuster. Aber vor allem, der Täter ist stärker als der Täter des StGB-Grundmusters. Es ist die Stärke der staatlichen Organisation, die eingesetzt wird, erkennbar an Uniformen; an Titeln; an Befehlssträngen; an technischer Ausrüstung; an Verwaltungsorganisation, an Möglichkeiten, große Menschenmassen in Bewegung zu setzen.“480 Zusätzlich sei die staatsverstärkte Kriminalität durch ihren leicht erwerbbaren Schein von Legitimität charakterisiert. Die „A verletzt B Dogmatik“ verharmlose jedenfalls diese Form der Kriminalität und stelle die Täter besser als sie stehen dürften.481 Der zutreffende Kern dieser Darstellung liegt darin, daß in den beschriebenen Situationen der Grad der Ohnmacht des Opfers ein besonderes Maß annimmt. Eine Unrechtshandlung, die in ihrer Wirkweise durch überlegene Macht verstärkt ist, trifft das selbständige Dasein eines anderen viel müheloser als dies bei gleich Wirkmächtigen der Fall wäre. Außerdem handelt es sich beim Staat auch noch um eine besondere Form der „überlegenen Macht“: Nämlich gerade um jene, die als apriorische Notwendigkeit auch der subjektiven Vernunft des Betroffenen selbst einsichtig ist, die als Garant seines Daseins in Freiheit ganz bewußt mit jenen Kräften ausgestattet wurde, die sich nun wider das Subjekt wenden. Dies schafft verzweifelte Wehrlosigkeit, die im doppelten Sinne aus der Auflösung des Staates resul478 Siehe W. Naucke, Die strafjuristische Privilegierung staatsverstärkter Kriminalität (1996). 479 W. Naucke, Die strafjuristische Privilegierung staatsverstärkter Kriminalität (1996), S. 20. 480 W. Naucke, Die strafjuristische Privilegierung staatsverstärkter Kriminalität (1996), S. 20, 21. 481 W. Naucke, Die strafjuristische Privilegierung staatsverstärkter Kriminalität (1996), S. 21.
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tiert: Die Strukturen, die zum Verwirklichen und Erhalten der Freiheit begründet wurden, werden nunmehr für das Gegenteil instrumentalisiert und gleichzeitig fehlt jede sichernde, übergeordnete Macht, die diesen Zerfall aufhalten könnte. Nun ist charakterisierendes Merkmal interpersonalen Unrechts überhaupt, daß das selbständige Dasein eines anderen verletzt wird. Es geht beim Strafrecht ja gerade um den Ausgleich einer im Interpersonalverhältnis entstandenen Ungleichheit. Wenn in den genannten Situationen staatlichen Verfalls auch die Methoden der Herabsetzung eines anderen subtiler werden können und wenn auch deren Grad steigt, so bleibt sie aber die Handlung eines Menschen, der die Selbstzweckhaftigkeit eines anderen negiert. Er geht zu einem unrechtlichen Verhalten, zur Anerkennungsverweigerung über. Dabei ist ohne Zweifel von Bedeutung, daß er dabei Macht mißbraucht, die ihm anvertraut wurde. Durch die Übernahme eines Amtes im Staat wird die unmittelbare Interpersonalität aber nicht gegenstandslos: Der Handelnde ist zwar ausgestattet mit gesteigerter Wirkmacht, in seinem Prozeß der Entschlußfassung aber eben menschlich. Er muß sich für das Unrecht entscheiden, erst dann setzt eine mögliche Verstärkung ein. Naucke weist darauf hin, daß in den besonderen Situationen „staatsverstärkter Kriminalität“ die Opfer besonders schwach und die Täter besonders stark seien. Was die tatsächlichen Kräfteverhältnisse angeht, ist dies sicherlich eine zutreffende Beschreibung. Daraus aber den Schluß zu ziehen, daß das „Grundmuster: Ein Täter A gegen das Opfer B“ bei der Erörterung staatsverstärkter Kriminalität aufgegeben werden muß, ist nicht zwingend. Denn die konzeptionelle Verbrechensbestimmung (und mit ihr die Bestimmung der Rechtsstrafe) kann sich nicht nach den jeweils real existierenden Bedingungen richten; sie verlöre jede gedankliche Festigkeit. Es ist kein Zufall, daß der Verbrechensbegriff eine interpersonale Beziehung zu seinem Ausgangspunkt nimmt und sich von ihr abgeleitet als deren Bruch bestimmen läßt. Ausgangspunkt des „Grundmusters A gegen B“ ist das selbstbestimmte Individuum im Anerkennungsverhältnis mit seinem gleichgearteten Gegenüber. Wenn nun auch der eine dem anderen an faktischer Stärke überlegen ist und ihn deshalb besonders leicht in seinem freiheitlichen Dasein verletzen kann, so ändert dies doch nichts an der Grundkonzeption des Verbrechens: Es handelt sich um den Bruch eines im Prinzip fortbestehenden Gleichheitsverhältnisses zwischen zwei Vernunftwesen. Diese Grundbestimmung hat nichts Beliebiges an sich, das nun je nach Lage der Dinge modifiziert werden könnte, sondern ist über einige vermittelnde Schritte aus dem Rechtsprinzip abgeleitet. Ihre Aufgabe kann jedenfalls gewiß nicht aus der Empirie begründet werden wie Naucke es andeutet. Ein Begründungsgang mit dem Ziel der Modifikation des Verbrechensbegriffs für Situationen staatlich vermittelten Unrechts müßte vielmehr ansetzen an der Qualität des
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Rechtsverhältnisses zwischen Amtsinhaber und Bürger; dabei ist folgendes zu bedenken482: Ersterer ist Person und Teil des Staates zugleich, daher gleich- und übergeordnet im selben Moment. Die Gleichordnung besteht kraft der Eigenschaft als Vernunftwesen483, die Überordnung resultiert aus einer bestimmten amtlichen Stellung, die aus Vernunftgründen mit übergeordneter Macht ausgestattet ist.484 Diese Macht ist ihrerseits legitimiert, solange sie gemäß der gebündelten Vernunft ihrer Mitkonstituenten Freiheit bewahrt und nicht vernichtet – die Aufgabe der staatlichen Tätigkeit überhaupt. Die Rechtmäßigkeit der Ausübung der Macht ist also bedingt durch die Wahrnehmung der staatlichen Aufgabe. Damit ist dann aber ausgeschlossen, daß strafwürdiges Unrecht als (echte) Amtshandlung begangen werden kann, denn sobald ein Amtsträger das Dasein der Freiheit in einem anderen verletzt, handelt er gerade nicht mehr in Ausübung seines Amtes, also ohne berechtigte Überordnung und ist zurückgeworfen auf menschliches Handeln überhaupt. In diesem Fall ist er dann wieder Vernunftwesen im Anerkennungsverhältnis zu anderen, gleichbedeutsamen Mitsubjekten und deshalb auch mit dem selben Maßstab zu messen: Als jemand, der vernunftwidrig einen anderen zum Objekt herabsetzt. Erschwerend – nicht kategorial verändernd – wirkt, daß er dafür auch noch das besondere Vertrauen, das die Gemeinschaft und der Betroffene ihm entgegen bringen, mißbraucht.485 So betrachtet hat die „Staatsverstärkung“ zwar unrechtssteigernde Wirkung, verändert aber gerade nicht das „Grundmuster“ des Verbrechens selbst, wie Naucke meint. Der Begriff des interpersonalen Unrechts behält seine Bedeutung auch für Unrechtstäter, die durch den Mißbrauch staat482 Mehr als eine Skizze des Gedankengangs sei an dieser Stelle nicht geleistet. Sie soll lediglich demonstrieren, in welcher Begründungsdimension sich die von Naucke geforderte Abkehr vom „Grundmuster A gegen B“ bewegt. 483 Aus der Freiheit der Personen ergibt sich auch deren Gleichbedeutsamkeit, vgl. I. Kant, MdS, Rechtslehre, Einteilung der Rechtslehre, B., AB 45 (AkademieAusg. Band VI, S. 237, 238). 484 Vgl. dazu die Ausführungen zur Staatskonstitution im ersten Teil der Arbeit, C. II. 2. 485 Festzuhalten ist allerdings, daß der Erschwerungsgrund selbst kategorial verschieden von anderen denkbaren Qualifikationsgründen ist. Der Mißbrauch staatlicher Macht ist nicht nur beliebiges Mittel des Ausnützens einer überlegenen Stellung, sondern durch die Besonderheit ihrer Begründung als gemeinschaftliche Leistung zur Freiheitsgarantie gekennzeichnet: Gerade dieses Anliegen der Freiheitswahrung, das die Macht ursprünglich konstituierte, wird bei einer mit staatlicher Macht versehenen Unrechtshandlung untergraben. Dadurch unterscheidet sich die Unrechtssteigerung durch Mißbrauch von Staatsmacht von allen anderen Erschwerungsgründen, etwa der Verwendung bestimmter Mittel, des Ausnützens faktischer Überlegenheit oder des Bewirkens besonderer Folgen.
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licher Befugnisse beim Opfer der Tat besondere Ohnmacht hervorrufen. Eine aus der Sicht Nauckes sicher unerwartete Konsequenz aus diesem Festhalten an der erarbeiteten Grundbestimmung des Verbrechens ist, daß darin letztlich sogar der Grund für die Möglichkeit strafrechtlicher Verurteilung staatsverstärkter Kriminalität liegt. Denn die Strafe hat nach dem Gesagten ihren ersten Grund in der substantiellen Verletzung eines Rechtsverhältnisses durch eine verantwortliche Person. Wird in den genannten Situationen an diesem Grund festgehalten, ist Strafe materiell begründete Reaktion auf das Unrecht.486 c) Der Begriff des „Systemunrechts“ Ein dritter Einwand gegen den interpersonalen Unrechtsbegriff im Völkerstrafrecht, vorgebracht von Lampe, betrifft den Adressaten der Bestrafung. Demnach kann überhaupt angezweifelt werden, daß sich die strafrechtliche Beurteilung auf internationaler Ebene auf das Verhalten eines Individual-Täters zu stützen hat. Nicht das die Freiheitsverletzung bewirkende, zur Selbstbestimmung prinzipiell fähige Rechtssubjekt, sondern das politische System, welches zum Verbrechen Anlaß gegeben hat, sei strafrechtlich zu verurteilen.487 486 Die Schwierigkeiten, die sich in formeller Hinsicht auftun – also etwa bezogen auf die konkrete positiv-gesetzliche Rechtslage (Naucke beschäftigt sich in seinem Beitrag mit einem Teilaspekt davon, nämlich dem Rückwirkungsverbot) – sind allerdings dadurch noch nicht behoben. Da materiell- und formell-freiheitliche Momente zusammen kommen müssen, um eine Strafaktion zu legitimieren, ist an dieser Stelle eine abschließende Beurteilung staatsverstärkter Kriminalität nicht möglich. Hinzuweisen ist aber darauf, daß rechtsstaatliche Garantien wie das Rückwirkungsverbot ihrerseits ihren Grund in der Freiheit der einzelnen Rechtssubjekte haben. Dies gilt prinzipiell auch für solche Rechtssubjekte, die im Staatsdienst tätig sind. Es ist gewiß nicht zulässig, diese Rechtsprinzipien aus Gründen politischer Neigung bis zur Unkenntlichkeit aufzuweichen. Andererseits ist materiell strafwürdiges Unrecht in der Welt, hat Existenz, und begründet die Notwendigkeit der Aufhebung durch Strafe. Gibt es im ersten Zugang keinen Weg, der die formell-freiheitliche Bestrafung zuläßt (etwa weil das Rückwirkungsverbot einer Bestrafung entgegen steht), stellt sich die inzwischen schon bekannte Frage, wie das Verhältnis der materiell-rechtlich geforderten Straffolge und der formell-rechtlichen Verwirklichungsmöglichkeit zu bestimmen ist. Die materiell-formelle Einheit des Rechts hat ihren Grund im allgemeinen Rechtsgesetz selbst und steht deshalb nicht zur Disposition; eine Bestrafung müßte also tatsächlich unterbleiben, wenn für sie keine freiheitliche Form gefunden werden kann. Etwas anderes kann nur gelten, wenn die formellen Rechtsgarantien vollkommen ihres freiheitlichen Grundes beraubt sind und damit die Qualität eines Rechtsprinzips verlieren; wenn sich also rechtsmißbräuchlich auf sie berufen wird. 487 In diesem Sinne E.-J. Lampe, „Systemunrecht und Unrechtssysteme“ ZStW 106 (1994), 683 ff.
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Es gebe Verbrechen, so Lampe, die kaum anders als von „höherer“ staatlicher Stelle aus geplant und nur von dort aus befohlen werden können.488 Dennoch richteten sich die Strafrechtsnormen lediglich an einzelne. Die eigentliche Crux liege nun darin, daß die Strafrechtsdogmatik bisher auf jede systemische Delinquenz mit einem auf Einzeltäter zugeschnittenen Instrumentarium reagiere. Dessen grundlegende Kategorien aber – individuelle Handlung, sozialer Erfolg und verbindende Kausalität – seien, gemessen an der Komplexität der zu beurteilenden Sachverhalte, bemerkenswert schlicht.489 Stehe das gesamte Tatgeschehen in einem einzigen Systemzusammenhang, dann verschlängen sich Ursachen und Verantwortungen zu einem „Netz“. Das soziale Gewicht des einzelnen Tatbeitrags sowie der daraus folgenden individuellen Verantwortung könne dann nur noch im Zusammenhang des „Netzes“ bestimmt werden, das die Tatbeteiligten verknüpft.490 Aus diesem Grunde bedürfe „die Dogmatik der Unrechtshandlungen einer Ergänzung durch eine Dogmatik der Unrechtssysteme“491. Strafrechtliche Unrechtssysteme sind nach Lampe definiert als „auf Un488 Er nennt exemplarisch die Vorbereitung eines Angriffskrieges (§ 80 StGB), die Herstellung friedensgefährdender Beziehungen (§ 100 StGB) und den Völkermord (§ 220a StGB a. F./jetzt: § 6 VStGB). 489 E.-J. Lampe, „Systemunrecht und Unrechtssysteme“, a. a. O. (Fn. 487), S. 685, 686. 490 E.-J. Lampe, „Systemunrecht und Unrechtssysteme“, a. a. O. (Fn. 487), S. 686, 687. 491 E.-J. Lampe, „Systemunrecht und Unrechtssysteme“, a. a. O. (Fn. 487), S. 687 (Hervorhebungen im Original). Vgl. in diesem Zusammenhang auch H. Vest, Genozid durch organisatorische Machtapparate (2002), der den Genozid als „Kollektivdelikt“ einordnet, dessen Verübung durch einen (para)staatlichen Machtapparat bedingt sei. Vest schreibt: „(. . .) Dabei bildet dogmatisch nicht primär die Größenordnung der menschliches Vorstellungsvermögen überschreitenden Zahl der Opfer, sondern der in der kollektiven Tatbegehung sich manifestierende Organisations- und Systemaspekt die eigentliche Herausforderung. Strafrecht ist nach unserem herrschenden Verständnis Individualstrafrecht, und der Rechtsbruch die Ausnahmesituation, in welcher der jeweilige Täter sich der (rechtstreuen) Gesellschaft entgegenstellt. Verbrechen gegen die Menschlichkeit bilden dagegen Rechtsbrüche systematischen Charakters, die die Fundamente menschlicher Gesellschaft untergraben, in dem Teile der Bevölkerung prinzipiell außerhalb von Moral und Recht gestellt werden. Der Bruch der Friedensordnung wird damit zur Regel: Humanitätsverbrechen haben ‚eine kriminogene staatlich-gesellschaftliche Ausnahmesituation zur Voraussetzung‘ (Zitat von Jäger, Makroverbrechen, S. 237). In diesem Aspekt zeigt sich auch eine systemische Komponente: Die Verletzung oder Vernichtung der Opfer wird zur kollektiven Aufgabe des Ausnahmesystems erhoben, wobei für die Durchführung regelmäßig nur eine Minderheit herangezogen und eingesetzt wird. Von der Mehrheit wird nur erwartet, daß sie schweigt und die Verübung des Humanitätsverbrechens nicht behindert oder vereitelt.“ (S. 143, Hervorhebungen im Original; ohne Fußnoten). Siehe auch Teil V, S. 301 ff., insbesondere S. 316 ff. der Arbeit von Vest.
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rechtsziele hin organisierte Beziehungen von Menschen“492. „Staatliche Unrechtssysteme“ sind „pervertierte staatliche Systeme“, die „rechtswidrig verfaßt sind, deren Gesetze Unrecht beinhalten oder deren Akte den Makel der Rechtswidrigkeit auf der Stirn tragen, ohne daß dies in einem systemkonformen Verfahren berichtigt werden könnte“493. Kennzeichen von Unrechtssystemen sei ihr Systemunrecht. Dieses trete als spezifische Unrechtsform neben die strafrechtliche „Normal“form, das Beziehungsunrecht.494 Lampe sieht zwischen diesen beiden Unrechtsformen folgendes Verhältnis: „Zum einen konstituiert das Beziehungsunrecht, weil systemfunktional, den Unrechtsgehalt des Systems. Zum anderen konstituiert das Unrecht des Systems, weil handlungsbestimmend, den Unrechtsgehalt der Beziehung. Systemunrecht und Beziehungsunrecht stehen, mit anderen Worten, in einer Wechselwirkung.“495 496 Systemunrecht sei „ein Unrecht, das an sich keiner externen Manifestation durch Handlungen bedarf: Die kriminelle Vereinigung ist ein Unrechtssystem, sobald sie als solche ins Leben tritt; der kriminell pervertierte Staat ist ein Unrechtssystem, noch bevor er seine kriminellen Absichten in die Tat umsetzt; (. . .). Systemunrecht ist also an sich ein Unrechtszustand, der sich in Handlungen betätigen kann, aber nicht muß. Er entspricht der Unrechtsbereitschaft beim Verhaltensdelikt. Doch während die Unrechtsbereitschaft noch kein Unrecht ist, weil dem „System“, worin sie vorhanden ist, dem personalen Charakter, die unmittelbare Asozialität fehlt, ist die Bereitschaft eines Gemeinschaftssystems zu kriminellen Taten, sein asozialer „Charakter“, selbst schon Unrecht. (. . .) Systemunrecht ist strafbares Unrecht, nicht unbedingt jedoch strafwürdiges und strafbedürftiges Unrecht. Wann es strafwürdig und strafbedürftig ist, hängt vielmehr von seiner sozialethischen Wertwidrigkeit und von seiner sozial destabilisierenden Wirksamkeit ab.“497 Der kriminell pervertierte Staat erscheint Lampe zwar als strafwürdig, sobald er sich etabliert habe, jedoch nicht als strafbedürftig, solange sich seine Funktionäre nicht kriminell betätigen.498 Verantwortlich für Systemunrecht (im 492
E.-J. Lampe, „Systemunrecht und Unrechtssysteme“, a. a. O. (Fn. 487), S. 687. E.-J. Lampe, „Systemunrecht und Unrechtssysteme“, a. a. O. (Fn. 487), S. 701. 494 E.-J. Lampe, „Systemunrecht und Unrechtssysteme“, a. a. O. (Fn. 487), S. 702. 495 E.-J. Lampe, „Systemunrecht und Unrechtssysteme“, a. a. O. (Fn. 487), S. 703. 496 Lampe arbeitet vier Faktoren des Systemunrechts heraus: Erstens ein erhebliches Risikopotential (durch konfliktbereite Personen und technische Mittel), das in den Systemen angehäuft sei; zweitens bestehe ein organisierter Einsatz dieses Potentials; drittens sei dieser Einsatz ergänzt durch ein existierendes „Wir-Gefühl“ und viertens werde das Risikopotential unter einen der Rechtsordnung widersprechenden Zweck gestellt. Die Summe der vier Faktoren lasse Systemunrecht entstehen. 497 E.-J. Lampe, „Systemunrecht und Unrechtssysteme“, a. a. O. (Fn. 487), S. 715 (Hervorhebungen im Original). 498 E.-J. Lampe, „Systemunrecht und Unrechtssysteme“, a. a. O. (Fn. 487), S. 716. 493
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Sinne von zuständig für die Straffolgen) können nach Lampe entweder das System selbst oder seine Mitglieder sein, diese wiederum für das Systemunrecht selbst (Zielrichtung, Organisation) oder für dessen Erfolgsunrecht.499 Die Strafe kann sich nach Lampe auch gegen das System selbst wenden: Der Grund für Strafe liege nicht allein im Handlungsunrecht, sondern könne auch in anderem strafwürdigen Unrecht liegen. Strafe bezwecke die Besserung des Charakters und könne dies nicht bloß hinsichtlich der Handlungen beim individualen Menschen bewirken, sondern hinsichtlich seiner Ziele und seiner Organisation auch beim sozialen System.500 Die Personqualität sei keine unabdingbare Prämisse für die Strafe. Strafrechtliche Verantwortlichkeit komme vielmehr jeder Einheit zu, die sich im sozialen Leben betätigt – mag sie Individualperson sein oder ein aus Personen (als Elementen) organisiertes soziales Gebilde. Die Rechtsstrafe sei so wenig wie andere Rechtsfolgen auf einen individualethischen Vorwurf angewiesen, vielmehr gehe es im Strafrecht, soweit überhaupt, um den Schutz sozialethischer Güter und Werte.501 Lampe resümiert: „Gibt es aber sozialethische Verantwortlichkeit von Systemen, die nicht auf Handlungen, sondern auf ihr Sein – auf die Philosophie ihrer Zielsetzung, auf die Organisation ihrer Zielverfolgung – bezogen ist, dann kann es auch sozialethische Mißbilligung geben, wenn sie ihrer Verantwortung nicht nachkommen. Und die sozialethische Mißbilligung kann überdies, wenn die sonstigen Voraussetzungen erfüllt sind, in einer sozialethisch verstandenen Strafe zum Ausdruck kommen. Daß die Strafe dem sozialen System nicht nach Maßgabe einer persönlichen, sondern ausschließlich seiner sozialen Schuld zugemessen werden kann, ist dann ebenso richtig wie letztlich für das Ob der Bestrafung bedeutungslos. Lediglich das Wie hängt davon ab.“502 In der vorangestellten Darstellung spiegelt sich ein bestimmtes Verständnis Lampes vom Unrecht und von der Strafe wider: Unrecht sei Störung des „sozialen Ordnungsgefüges, das Menschen sich auf der ihnen eigenen sittlichen Grundlage geschaffen und normativ abgesichert haben“; Strafunrecht sei dadurch gekennzeichnet, daß es sich um eine besonders schwerwiegende Störung handelt, die der öffentlichen (staatlichen) Züchtigung des Verletzers bedarf.503 Strafe habe die Funktion, den Rechtszustand in der Gesellschaft nach einer solchen Störung wiederherzustellen.504 499 500
E.-J. Lampe, „Systemunrecht und Unrechtssysteme“ a. a. O. (Fn. 487), S. 716. E.-J. Lampe, „Systemunrecht und Unrechtssysteme“ a. a. O. (Fn. 487), S. 722,
723. 501 502 503 504
E.-J. E.-J. E.-J. E.-J.
Lampe, Lampe, Lampe, Lampe,
„Systemunrecht und Unrechtssysteme“ a. a. O. (Fn. 487), S. 724. „Systemunrecht und Unrechtssysteme“ a. a. O. (Fn. 487), S. 725. Strafphilosophie (1999), S. 113. Strafphilosophie (1999), S. 167.
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Aus der Perspektive der vorliegenden Arbeit, mit ihrer Grundlage in der positiven Freiheit des einzelnen und dem daraus resultierenden Rechts-, Unrechts- und Strafbegriff, ist ein solches Verständnis zunächst durchaus nachvollziehbar: Im begangenen Unrecht liegt ein den verfaßten Friedenszustand partiell negierendes Moment und die staatliche Strafe hat – zumindest auch – eine diesen Zustand restituierende Bestimmung. Allerdings – und hier beginnen die grundsätzlichen Bedenken gegen die von Lampe vorgetragenen Erwägungen – stellt diese Beschreibung nur eine von drei aufeinander bezogenen Dimensionen des Unrechts und der Strafe dar und ist ihrerseits nur stimmig, wenn die beiden ersten Dimensionen gedanklich immer mitgeführt werden.505 Die drei Unrechtsdimensionen (interpersonales Unrecht, die „Verletzung des Rechts als Recht“ und der Bruch des rechtlich verfaßten Friedensverhältnisses) stehen in einem Verhältnis inhaltlicher Abhängigkeit zueinander, und zwar gleichsam in einer aufsteigenden Stufenfolge: Die Basis bildet das Rechtsverhältnis vernünftiger Personen, welche sich überhaupt zum (allgemeinen) Recht hin orientieren, das erst im letzten Schritt auch formelle Verfestigung erhält. Es ist erst aus diesem Zusammenhang heraus verständlich, warum die Friedenszustandsverletzung durch das Handeln eines einzelnen Restitution durch Strafe notwendig macht.506 Dabei ist die Verletzung einer anderen Person (oder nach vermittelnden Schritten der Gemeinschaft als solcher) im unmittelbaren Interpersonalverhältnis notwendig der gedanklich erste Schritt, die „Rede von Rechtsgütern“ und ihrer Verletzung ist für den Unrechtsbegriff also deutlich mehr als eine „façon de parler“.507 Dieser Grundzusammenhang geht verloren, wenn man, gewissermaßen rückwärts, am schon bestehenden „sozialen Gefüge“ (Staat) ansetzt und von dort aus zu bestimmen versucht, wann auch Verletzungen im Interpersonalverhältnis eine Rolle spielen. Lampe meint, daß öffentliches Unrecht erst dann die Schwelle zur Strafwürdigkeit überschreitet, wenn es auch Relevanz für die einzelnen „Elemente“ der Öffentlichkeit hat.508 Dabei sind „Elemente“ des sozialen Gefüges nicht nur seine Bürger, sondern auch andere „organisatorische Einheiten“ („soziale Subsysteme“), die ihrerseits sowohl als Opfer als auch als Täter strafwürdigen Unrechts in Betracht kommen.509 Aus einem Blickwinkel, der strafrelevantes Unrecht rein formalistisch als Störung des sozialen Ordnungsgefüges bestimmt, ist die Rechtsverhältnisverletzung unter Personen nur eine von beliebig vielen Möglichkeiten einer solchen Störung (und nicht ihr materialer Grund); hinzu kommen kann dann eben auch die Existenz störender Einheiten, die 505 506 507 508 509
Vgl. dazu den ersten Teil der Arbeit, insbesondere D. II. 1. Zu diesem Zusammenhang oben 1. Teil, D. II. 1. b) cc). E.-J. Lampe, Strafphilosophie (1999), S. 113, 114. E.-J. Lampe, Strafphilosophie (1999), S. 118. Ebenda.
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schon durch ihr „Sein“ das Ordnungsgefüge beeinträchtigen („Unrechtssysteme“). Strafrechtliche Verantwortung, so Lampe, komme jeder Einheit zu, die sich im sozialen Leben betätigt. Dementsprechend könne jede solche Einheit Urheber einer Ordnungsstörung und Adressat der sozialethischen Mißbilligung dieser Störung sein. Definiert man nun Strafe als Beseitigung der Störung und Wiederherstellung eines störungsfreien Zustands, ist es tatsächlich nicht ausgeschlossen, sie auch gegen soziale Subsysteme zu richten, etwa auf ihre Auflösung hinzuwirken. Aus der Perspektive einer rechtlichen Beurteilung ist dies freilich unzureichend. Das Recht hat das Verhältnis von endlichen Vernunftwesen zueinander zum Gegenstand. Es betrifft das „äußere und zwar praktische Verhältnis einer Person gegen die andere, sofern ihre Handlungen als Fakta aufeinander (unmittelbar oder mittelbar) Einfluß haben können“510. Das Verhältnis der Personen zueinander, die durch ihre Handlungen in der Außenwelt miteinander in Kontakt treten, stellt den Grund des Rechts, des Unrechts und der Strafe dar. Schon im Vorverständnis kann deshalb der Begriff der Strafe als Rechtsbegriff nicht entwickelt werden, wenn dabei auf das Kriterium der menschlichen Handlung überhaupt verzichtet wird. Die „sozial tätigen Einheiten“, die mit dem Begriff des „Systems“ umschrieben werden und zu „Unrechtsystemen“ werden, wenn sie „auf Unrechtsziele hin organisiert“ sind, können rechtliche Bedeutung nur haben, soweit sie Ausdruck menschlichen praktischen Handelns sind. Wird dieses Kriterium ausgeblendet, unterscheidet sich ein „Unrechtssystem“ in nichts von einer das gesellschaftliche Ordnungsgefüge empfindlich störenden Heuschreckenplage. Daß eine Bestrafung im letzteren Fall so absurd ist, liegt daran, daß niemand auf die Idee käme, einer Wolke von Heuschrecken – mögen sie auch Absichten mit noch so sozialschädlichen Konsequenzen verfolgen – ernsthaft strafrechtliche Verantwortlichkeit zu unterstellen. Qualitativ ganz ähnlich sind die Bedenken, die bei der Beurteilung von „Unrechtsystemen“ dann entstehen, wenn sie unter Ausblendung ihrer jeweiligen Gründer betrachtet werden. Verantwortlich für „Systemunrecht“ könne auch das System selbst sein, meint Lampe. Nun setzt rechtliche Verantwortlichkeit die Fähigkeit zur Selbstbestimmung und der entsprechenden Sich-Setzung in der Wirklichkeit durch praktisches Handeln voraus. Das System kann sich aber gerade nicht aus sich selbst heraus bestimmen und ist als abstrakte Einheit handlungsunfähig. Allein durch die es begründenden einzelnen Vernunftwesen erfährt es seine Bestimmung und wird nach außen hin handlungsfähig. Dann liegt aber die Verantwortung gerade nicht beim System selbst, sondern bei seinen Begründern, den vernünftigen Subjekten. Deren 510 I. Kant, MdS, Rechtslehre, Einleitung in die Rechtslehre, § B., AB 32 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 230).
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Handlungen, auch wenn sie sich zu einem „Netz“ verknüpfen, sind Anknüpfungspunkt der Rechtsstrafe.511 Bei Lampe geht also der Grund der Strafe, die eigenverantwortliche Entscheidung zum Unrecht, verloren. Dieser Verlust wird auch nicht abgewendet dadurch, daß in dem Beitrag zwischen „individualethischem“ und „sozialethischem“ Vorwurf, der mit der Strafe verbunden sei, unterschieden wird. Abgesehen davon, daß der Begriff der „Ethik“ im Zusammenhang mit der Rechtsstrafe nicht ganz unbelastet ist (handelt es sich doch um die rechtliche, nicht moralische Reaktion auf Unrecht), wird durch die genannte Unterscheidung nichts, außer der Einführung der Begriffe selbst, gewonnen. Es fragt sich dann, was mit „sozialer Schuld“ als Gegenbegriff zur „persönlichen Schuld“ gemeint sein könnte. Nach freiheitlich-rechtlichem512 Verständnis bezieht sich „der strafrechtliche Schuldbegriff (. . .) auf das Strafunrecht (die betätigte Unrechtsmaxime) und enthält das subjektiv-willentliche Grundsein des Täters dafür“513. Schuld ist „der freie (selbstbestimmte) Entschluß (Entscheidungsprozeß) zur Unrechtsmaxime“514, oder, anders ausgedrückt, die „Fehlleistung der Selbstbestimmung (dadurch), daß der sich zur Handlung Bestimmende einerseits weiß, daß er sich im Rechtsraum mit anderen bewegt und seine Handlung in diesen Raum auch als Faktum einwirkt, daß er aber andrerseits dabei Handlungsgrundsätzen folgt, die nicht wechselseitige Freiheit gewährleisten, sondern allein subjektsbezogen (egoistisch) sind“515. In jedem schuldhaft begangenen Strafunrecht liegt nach einem solchen Verständnis notwendig sowohl ein persönliches als auch ein soziales Moment: Der (individuelle, persönliche) Verschuldensprozeß, die Entscheidung zum Unrecht, ist bezogen auf eine praktische Handlung mit Sozialbezug (die ja überhaupt erst Rechtsrelevanz begründet).516 Ändern könnte sich mit der Einführung der Begriffe „persönliche“ bzw. „soziale“ Schuld lediglich die Perspektive der Betrachtung (die des Subjekts oder die der Rechtsgemeinschaft), nicht aber das Phänomen „Schuld“ selbst. Deshalb ist durch die Schöpfung der genannten Begrifflichkeiten auch substantiell nichts gewonnen: Die inhaltliche Bestimmung der Schuld 511 Für eine grundsätzliche Kritik an der Idee der „Verbandsstrafe“ aus freiheitlicher Sicht siehe auch F. v. Freier, Kritik der Verbandsstrafe (1998). 512 Der Begriff der Schuld ist in diesem Zusammenhang als Rechtsbegriff zu explizieren; vgl. R. Zaczyk, „Schuld als Rechtsbegriff“ in: U. Neumann/L. Schulz (Hrsg.), Verantwortung in Recht und Moral (2000), S. 103 ff. 513 M. Köhler, Strafrecht AT (1997), S. 349. 514 M. Köhler, Strafrecht AT (1997), S. 348. 515 R. Zaczyk, „Schuld als Rechtsbegriff“, a. a. O. (Fn. 512), S. 112. 516 Dieser notwendige Zusammenhang zwischen innerer und äußerer Seite des praktischen Handelns macht gerade die Schwierigkeit der strafrechtlichen Unrechtsund Schuldbestimmung aus.
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als Fehlleistung im Selbstbestimmungsprozeß bleibt unberührt, unabhängig davon, ob sie mit dem Attribut „sozial“ oder „persönlich“ versehen wird. Mit Einführung des Begriffs der „sozialen“ Schuld ist daher ein strafrechtlich-schuldhaftes Verhalten von „Systemen“ genausowenig zu begründen, wie deren Bestrafung. Es bleibt also dabei, daß die Basis strafwürdigen Unrechts interpersonalmenschliches Verhalten im gegenseitigen Rechtsverhältnis ist. Das Unrecht ist gekennzeichnet durch eine selbst (das heißt, durch das handelnde Subjekt) begründete innere und äußere Freiheitsverletzung eines anderen, durch die dieser in seiner Subjekthaftigkeit negiert und zum Objekt gemacht wird. Ausgeschlossen ist es dagegen, bei nicht selbstbestimmten Einheiten wie den von Lampe näher gekennzeichneten „Unrechtssystemen“ von Adressaten der Strafe zu sprechen. Auch der Einwand Lampes kann also keinen Grund dafür liefern, auf internationaler Ebene von dem Begriff des interpersonalen Unrechts als dem ersten und bestimmenden Grund der Strafe abzuweichen. 2. Das völkerrechtliche Verbrechen als konkrete Freiheitsverletzung im Interpersonalverhältnis Die Grundbestimmung des interpersonalen Unrechts hat sich gegen mögliche Einwände in Bezug auf die Unrechtsdimension, auf den gedanklichen Ausgangspunkt und auf die Frage der Unrechtsurheberschaft für die Anwendungssituationen des Völkerstrafrechts grundsätzlich behaupten können. Die Gültigkeit des interpersonalen Unrechtsbegriffs als erste Unrechtsdimension ist nicht auf den innerstaatlichen Zusammenhang beschränkt, die willentliche Freiheitsverletzung im Rechtsverhältnis ist vielmehr materialer Grund strafrechtlicher Tatbestände überhaupt. Erklärbar ist die Festigkeit der Unrechtsbestimmung bei auch veränderten Rahmenbedingungen durch deren schlüssige Herleitung aus dem allgemeinen Rechtsgesetz selbst, welches seinerseits nur den rechtlich-praktischen Vernunftschluß freier Individuen zur Voraussetzung hat, nicht aber bestimmte, wandelbar-empirische Bedingungen. Wo immer also berechtigt von verfaßtem strafwürdigem Unrecht die Rede sein soll, ist es ausgeschlossen, daß dies vorbei an der erarbeiteten materiellen Unrechtsbestimmung – gleichsam beliebig – kreiert wurde. Die Konsequenz aus dieser Einsicht ist, daß zur Legitimation verfaßter Völkerstrafrechtstatbestände eine Rückführung auf diesen Grundgedanken möglich sein muß. Für die Begründung des Völkerstrafrechts ist diese Erkenntnis in besonderem Maße wertvoll. Denn wenn es auch sowohl im Hinblick auf seine Regelungsmaterie als auch im Hinblick auf die Umsetzung in der Rechts-
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wirklichkeit Besonderheiten im Verhältnis zum staatlichen Strafrecht aufweist, bleibt es doch von seinem Anspruch her Rechtsmaterie und ist damit rechtlich-praktischer Vernunft unterworfen. Dies bedeutet gleichzeitig, daß es dem erhöhten Anspruch unterliegt, der mit dem Begriff des Rechts einhergeht: Es geht darum, die „selbständige Bewältigung des Daseins im äußeren Verhältnis der Gleichbedeutsamkeit zum anderen (zu) ermöglichen“.517 Auch das Völkerstrafrecht muß sich vor diesem Hintergrund als freiheits-realisierend aufweisen lassen; seiner legitimer Inhalt ist insofern determiniert. Es kann mit Strafe eben nur solches Verhalten ahnden, das tatsächlich strafwürdiges Unrecht im oben beschriebenen Sinne darstellt. Unter diesem Blickwinkel wurde bisher völkerrechtliches Strafunrecht noch nicht näher untersucht. Die Tatbestände des Völkerstrafrechts werden zwar definiert518, katalogisiert519, in eine bestimmte Hierarchie eingeordnet520 oder es wird ihre Entwicklung im historischen Kontext nachgezeichnet521. Auch gibt es ausführliche Darstellungen zur Entwicklung der Judikatur im Hinblick auf die völkerrechtlichen Verbrechenstatbestände522 und zu ihrer Kodifizierung im Romstatut.523 Die Frage aber, ob den im Romstatut kodifizierten Tatbeständen524 tatsächlich interpersonales, strafwürdiges Un517 E. A. Wolff, „Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen“ in: W. Hassemer (Hrsg.), Strafrechtspolitik (1987), S. 137 (167); vgl. zum Grundzusammenhang auch den ersten Teil dieser Arbeit. 518 F. Malekian, International Criminal Law (1991), Vol. I, Chapter 1, S. 1 ff. 519 F. Malekian, International Criminal Law (1991), Vol. I, Chapter 1, S. 19 ff.; B. M. Yarnold, „The Doctrinal Basis for the International Criminalization Process“ in: M. C. Bassiouni (Hrsg.), International Criminal Law (2. Aufl., 1999), Vol. I, S. 127 (132 ff.). 520 A. M. Danner, „Constructing a Hierarchy of Crimes in International Criminal Law Sentencing“ Virginia Law Review (May 2001), S. 416 ff. 521 I. Bantekas/S. Nash/M. Mackarel, International Criminal Law (2001), Chapter 3–6, S. 47 ff.; für Kriegsverbrechen vgl. T. L. H. McCormack, „From Sun Tzu to the Sixth Committee: The Evolution of an International Criminal Law Regime“ in: ders./G. J. Simpson (Hrsg.) The Law of War Crimes (1997), S. 31 ff. 522 J. J. Paust/u. a., International Criminal Law (2. Aufl. 2000), Part 3, S. 717 ff. 523 L. N. Sadat, The International Criminal Court and the Transformation of International Law: Justice for the new Millenium (2002), Chapter 6, S. 129 ff. 524 Vgl. die Artikel 6–8 des Romstatuts, die die Entwicklung völkerrechtlicher Straftatbestände ausgehend vom Gewohnheits- bzw. Vertragsrecht über die Fortentwicklung im Rahmen der Nürnberger und Tokyoer Prozesse, die Kodifikation in den Statuten der beiden UN-Tribunale und deren Judikatur bis hin zu einem umfassenden Straftatkatalog im Rahmen des neuen permanenten IStGHs zu einem vorläufigen Abschluß gebracht haben. Vgl. zu diesen Straftatbeständen auch die „Elements of Crimes“, die gem. Art. 9 des Statuts als Auslegungshilfe dienen, selbst aber nicht verbindliches Recht darstellen: Preparatory Commission for the ICC, PCNICC/2000/1 (sessions: 13–31 March 2000, 12–30 June 2000), http:// www.un.org/law/icc/prepcomm/prepfra.htm.
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recht zugrunde liegt, ob sie also zu Recht bestimmtes Verhalten bei Strafe verbieten, ist bisher unberücksichtigt geblieben. Die im Romstatut enthaltenen Straftatbestände des Völkerstrafrechts – der Völkermord, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit und die Kriegsverbrechen – weisen eine übereinstimmende gesetzestechnische Struktur auf: Sie verbieten einzeln aufgeführte Tathandlungen bei Strafe (z. B. die Tötung, den Freiheitsentzug, die Vergewaltigung); gleichzeitig werden diese Tathandlungen je nach Tatbestand durch ein allgemeines, für alle Tatbestandsalternativen gleichermaßen geltendes zusätzliches Erfordernis verbunden (sog. „chapeau“ der Vorschrift). Beim Völkermord etwa muß die Tathandlung in der Absicht begangen werden, eine nationale, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören.525 Als Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind nur die Tathandlungen strafbar, welche im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung und in Kenntnis des Angriffs begangen werden.526 Bei den Kriegsverbrechen schließlich müssen die genannten Handlungen im Rahmen von kriegerischen Auseinandersetzungen stattfinden.527 In der völkerstrafrechtlichen Literatur wird in diesen „chapeau“-Elementen der Bezug zum Völkerstrafrecht verortet528, wohingegen die einzelnen Tathandlungen strafwürdiges Unrecht als solches normieren sollen.529 Im Zusammenhang mit der Frage nach dem interpersonalen Unrecht im Völkerstrafrecht interessieren zunächst nur diese einzelnen Straftathandlungen.530 Sie sind daraufhin zu untersuchen, ob in ihnen tatsächlich interpersonales Unrecht kodifiziert wurde. Nun wird bei vielen der völkerstrafrechtlichen Unrechtstatbeständen dieser Punkt kaum in Frage stehen. Die Straftatbestände des Romstatuts enthalten u. a. Tathandlungen wie die Tötung eines anderen531, die Verletzung 525
Siehe Art. 6 des Romstatuts. Siehe Art. 7 des Romstatuts. 527 Siehe Art. 8 (2) a), b), c). 528 Siehe dazu unten unter II. 2. b). 529 Siehe A. M. Danner, „Constructing a Hierarchy of Crimes in International Criminal Law Sentencing“, a. a. O. (Fn. 520), S. 484 ff. 530 Der Bezug zur Völkergemeinschaft wird Gegenstand des nächsten Abschnitts (B. II.) sein. Dort wird es darum gehen, ein allgemeines Kriterium zu benennen, anhand dessen sich herausfinden läßt, ob es sich bei den genannten Verbrechen tatsächlich um solche handelt, die „die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren“ (Präambel und Art. 5 des Romstatuts). Entscheidende Bedingung eines affirmativen Urteils in dieser Hinsicht ist die Begründbarkeit einer Betroffenheit der Weltgemeinschaft durch ein solches Verbrechen; „Betroffenheit“ hier nicht bloß im Sinne einer emotionalen Bestürzung, einer mitmenschlich-gefühlten Ergriffenheit, sondern einer Betroffenheit nach Rechtsbegriffen. Allein die letztere kann den Grund für eine Eingriffsbefugnis in personale Freiheit (durch Strafe) außerhalb des staatlichen Zusammenhangs liefern. 526
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seiner körperlichen Unversehrtheit532, seine Versklavung533 und seine Vergewaltigung534. Es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, sich um eine umfassende Unrechtsbegründung aller Tatbestandsalternativen im Romstatut zu bemühen. Daß es sich bei den exemplarisch genannten aber um Verhaltensweisen handelt, die eine „signifikante Störung des auf gegenseitiger Anerkennung basierenden Rechtsverhältnisses durch eine konkrete Freiheitsverletzung des einen gegenüber dem anderen“ darstellen, ist durch Subsumtion feststellbar: Wer einen anderen tötet, verletzt den „personalen Geltungsanspruch einer konkreten anderen Person in der Totalität des Lebens“535; wer einen anderen körperlich mißhandelt, verletzt dessen äußere Körperlichkeit und gleichzeitig das durch gegenseitige Achtung getragene Rechtsverhältnis; wer den anderen versklavt, negiert dessen Subjekthaftigkeit, instrumentalisiert ihn, „mengt ihn unter die Gegenstände des Sachenrechts“536; wer einen anderen vergewaltigt, verletzt dessen äußere und innere Freiheit unter Negation der Gleichbedeutsamkeit, bricht in die fremde Freiheitssphäre unter Ausweitung der eigenen rücksichtslos ein.537 Es sind also nicht diese „klassischen“ Freiheitsverletzungen538, die Unsicherheit hinsichtlich ihrer Qualität als strafwürdiges Unrecht aufkommen 531
Vgl. Art. 6 a), 7 a), 8 (2) a) (i), 8 (2) c) (i) des Romstatuts. Vgl. Art. 6 b), 7 (1) k), 8 (2) a) (iii) des Romstatuts. 533 Vgl. Art. 7 (1) c) des Romstatuts. Am Rande sei hier bemerkt, daß die in Art. 7 Abs. 2 c) gegebene Legaldefinition des Begriffs „Versklavung“ in einem Maße nachlässig formuliert ist, daß sich einem selbst nur oberflächlich begrifflich arbeitenden Juristen der Eindruck aufdrängt, man könne bei dem vorliegenden Dokument nicht ernsthaft von einem mit Bindungswirkung versehenen Gesetzestext ausgehen (was es aber ist). Es heißt dort: „Im Sinne des Absatzes 1 bedeutet ‚Versklavung‘ die Ausübung aller oder einzelner mit einem Eigentumsrecht an einer Person verbundenen Befugnisse und umfasst die Ausübung dieser Befugnisse im Rahmen des Handels mit Menschen, insbesondere mit Frauen und Kindern.“ Nähme man die Formulierung ernst, müßte man von einem internationalen Konsens – mit auch deutscher Beteiligung – darüber ausgehen, daß es ein Eigentumsrecht an Personen gibt, dieses nur bei Strafe nicht ausgeübt werden dürfe. Bei der deutschen Umsetzung des Romstatuts im Völkerstrafgesetzbuch wurde die Schlamperei offensichtlich entdeckt, denn dort wird korrekt formuliert, daß es nur um die Anmaßung einer Eigentümerstellung an einer Person gehen kann (vgl. § 8 Abs. 1 Nr. 3 VStGB). Die „Elements of Crimes“, a. a. O. (Fn. 524), die als Interpretationshilfe durch die Preparatory Commission for the ICC entwickelt wurden, formulieren aber ebenfalls wie selbstverständlich: „The perpetrator exercised any or all of the powers attaching to the right of ownership over one or more persons, such as . . .“. 534 Vgl. Art. 7 (1) g), Art. 8 (2) b) xxii) und Art. 8 (2) e) vi) des Romstatuts. 535 M. Köhler, Strafrecht AT (1997), S. 117. 536 In anderem Zusammenhang I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 49, Allgemeine Anmerkung E, A 156/B 226 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 331). 537 Damit ist selbstverständlich noch keine gründliche Unrechtsbestimmung der genannten Verhaltensweisen geleistet. Der Unrechtskern wurde lediglich angedeutet. 532
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lassen. Erheblich höher ist der Begründungsaufwand aber bei solchen Tatbestandsalternativen, bei denen das Verhaltensverbot nur mit gedanklicher Mühe auf eine strafrechtsrelevante Freiheitsverletzung zurückführbar ist. Gedacht ist dabei zum Beispiel an Art. 6 d) des Romstatuts (Tathandlung „Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind“), an Art. 8 Abs. 2 b) xii) (Tathandlung „die Erklärung, daß kein Pardon gegeben wird“) oder an Art. 8 Abs. 2 e) viii) (Tathandlung „die Anordnung der Verlegung der Zivilbevölkerung aus Gründen im Zusammenhang mit dem Konflikt, sofern dies nicht im Hinblick auf die Sicherheit der betreffenden Zivilpersonen oder aus zwingenden militärischen Gründen geboten ist“). Unbefangen gelesen scheint es sich hierbei nicht um Materie des Strafrechts zu handeln: Unter „Maßnahmen, die auf Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind“ könnte z. B. auch das Verteilen von Kondomen an Mitglieder der Gruppe fallen – materiell strafwürdiges Unrecht stellt dies nicht dar, selbst wenn es in der für den Völkermord erforderlichen Zerstörungsabsicht geschieht; die „Erklärung, daß kein Pardon gegeben wird“ ist zunächst eine Erklärung mit unangenehmem Inhalt, nicht aber eine auf Verletzung personaler Freiheit gerichtete Handlung; die „Anordnung zur Verlegung der Zivilbevölkerung aus Gründen im Zusammenhang mit dem Konflikt“ stellt auf den ersten Blick eine Vorfeldhandlung dar, deren Grenze zur Strafbarkeit erst mit dem tatsächlichen Übergehen in eine mit Zwang verbundene Deportation überschritten zu sein scheint. Gewiß ist dies ein noch ganz unvermittelter erster Zugang zu den genannten Normen. Sie bedürfen einer Einordnung in den Gesamtzusammenhang des Statuts und einer Interpretation, die ihren historischen Hintergrund sowie ihre Herkunft aus der Materie des Völkerrechts berücksichtigt. Hinzu kommt, daß begriffliche Unterschiede zwischen der englischen Originalfassung und der amtlichen deutschen Übersetzung bestehen, die mitunter auch den Sinngehalt verschieben. So läßt sich beispielsweise der Inhalt des Artikels 6 d) (sog. „biologischer Völkermord“) erst richtig erfassen, wenn sein geschichtlicher Kontext, die gewaltsame Verhinderung der Geburten innerhalb der jüdischen Bevölkerung unter dem Regime der Nationalsozialisten in Deutschland zum Zwecke der Ausrottung hinzu genommen wird.539 Auch wird durch den 538 Zu ihnen können z. B. auch gezählt werden der Freiheitsentzug (Art. 7 (1) e)), die Eigentumsverletzung (Art. 8 (2) a) iv)) und die Geiselnahme (Art. 8 (2) a) viii)). 539 Siehe W. A. Schabas, „Article 6, Genocide“ in: O. Triffterer (Hrsg.), Commentary on the Rome Statute of the International Criminal Court (1999), S. 107 (113, 114) mit Hinweis auf das Eichmann-Verfahren in Israel im Jahre 1968; ders., Genocide in International Law (2000), S. 172 ff. (zur Kodifikationsgeschichte und zu Fällen, in denen diese Art des Völkermordes Gegenstand war.)
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englischen Originaltext des Artikels der Sinngehalt viel deutlicher. Dort heißt es: „Imposing measures intended to prevent births within the group“ (Hervorhebung der Verf.), was zumindest in einem möglichen Wortsinn von „impose“ ein mit Zwang verbundenes „Verhängen von Maßnahmen“, ein „Aufzwingen“ impliziert.540 Anwendungsbeispiele, die in den traveaux préparatoires der Völkermordkonvention von 1948 genannt werden541, sind die Sterilisation, die erzwungene Abtreibung, die Trennung der Geschlechter und die Verhinderungen von Hochzeiten.542 Um strafrechtliches Unrecht zu begründen, müssen solche Maßnahmen nach dem bisher Erarbeiteten einen Bruch des Rechtsverhältnisses durch eine konkrete Freiheitsverletzung darstellen. Betroffen ist bei solchen Maßnahmen wesentlich die Möglichkeit, selbst über Familiengründung und -planung zu entscheiden.543 Wird diese prinzipiell selbst zu treffende Lebensplanung durch Zwang vereitelt, so ist damit ein wesentlicher Aspekt eines Lebens in Freiheit tangiert: Der einzelne ist nicht mehr Herr seiner eigenen Privatsphäre, sie wird zwangsweise fremdbestimmt. Zusammengenommen mit der für den Völkermord notwendigen Absicht der Zerstörung einer bestimmten Gruppe von Menschen, ist mit der zwangsweisen Verhängung von Maßnahmen zur Geburtenverhinderung innerhalb einer solchen Gruppe auch ausgedrückt, daß die Betroffenen wegen ihrer Eigenschaft als Mitglieder der Gruppe nicht als gleichbedeutsame Mitmenschen anerkannt werden. Sie werden als Personen in ihrer Selbstzweckhaftigkeit negiert, auch wenn sich die Maßnahmen in erster Linie gegen die Existenz der Gruppe richten. Denn ihre Identität als Person ist nicht getrennt zu sehen von der Mitgliedschaft in einer bestimmten Gemeinschaft; ein wesentlicher Bestandteil des menschlichen Lebens ist das Eingebundensein in eine bestimmte Sozialität. Wird nun dieser gesamte Lebenszusammenhang als „minderwertig“, als nicht „erhaltenswert“ eingestuft, ist damit das Individuum als Teil des Ganzen immer direkt mitbetrof540 Siehe dazu auch H. Vest, Genozid durch organisierte Machtapparate (2002), S. 125. Auf diese für die Begründung der Strafwürdigkeit des Verhaltens notwendig-restriktive Auslegung der Vorschrift versäumt es C. Kreß in seiner Kommentierung des deutschen § 220a StGB bzw. § 6 I Nr. 4 VStGB im Münchener Kommentar zum StGB hinzuweisen: § 220a/§ 6 VStGB, RN 62 (Am Rande sei bemerkt, daß es zumindest eine Neuerung innerhalb der deutschen Strafrechtswissenschaft bedeutet, wenn bei der Auslegung von Tatbestandsmerkmalen eines deutschen Strafgesetzes ohne weiteres auf Urteile eines „Jerusalem District Court“ verwiesen wird, als könne das dort Entschiedene Bindungswirkung für die Gesetzesanwendung in Deutschland begründen.) 541 UN Doc. E/623/Add.2; UN Doc. E/447, p. 26; UN Doc. A/C.6/SR.82 zitiert bei W. A. Schabas, „Article 6, Genocide“, a. a. O. (Fn. 539), Fn. 44. 542 Für weitere Nachweise vgl. H. Vest, Genozid durch organisierte Machtapparate (2002), S. 125 (Fn. 189). 543 Je nach Maßnahme ist außerdem die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung und die Bewegungsfreiheit der Betroffenen eingeschränkt.
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fen. Neben der unmittelbaren Freiheitsverletzung durch Eingriff in die konkrete Lebensplanung der einzelnen ist mit den genannten Maßnahmen so auch eine Anerkennungsverweigerung verbunden. Sie beinhaltet einen Angriff auf das selbständige Dasein der anderen, begründet also tatsächlich strafwürdiges Unrecht. Auch für das Verständnis des Artikels 8 Abs. 2 b) xii) ist über seinen Wortlaut hinaus die Entstehungsgeschichte aus dem Kriegsvölkerrecht zu berücksichtigen.544 Die Erklärung, „kein Pardon zu geben“ ist danach gleichbedeutend mit der Aussage, „es soll keine Überlebenden geben“.545 Auch bei diesem Tatbestand gibt die englische Fassung „Declaring that no quarter will be given“ zusammen gelesen mit der entsprechenden Konkretisierung in den „Elements of Crimes“ („The perpetrator declared or ordered that there shall be no survivors“) einen entscheidenden Hinweis auf den Unrechtskern der Vorschrift. Deutlich wird bei näherem Hinsehen, daß es nicht um die Erklärung als solche geht, sondern wesentlich um sie als Drohmittel für die Gegenseite des Konflikts (vgl. den 2. Bestandteil der „Elements of Crimes“) bzw. um die (militärisch relevante) Anordnung, niemanden der Gegenseite überleben zu lassen.546 Der kriegsvölkerrechtliche Hintergrund muß gewissermaßen in die Norm hinein gelesen werden, um überhaupt das spezifisch Unrechtliche in ihr zu entdecken. Von dort aus läßt sich dann erst untersuchen, ob es sich tatsächlich um strafwürdiges Unrecht handelt. Die Drohung bzw. die Anordnung, niemanden überleben zu lassen, muß also als Rechtsverhältnisverletzung begründbar sein. Die Ankündigung, alle Personen der militärischen Gegenseite töten zu wollen, beinhaltet eine angemaßte Verfügungsmacht über das Dasein der anderen; die Umsetzung dieser Ankündigung würde unzweifelhaft interpersonales Unrecht im höchsten Grade verwirklicht (das Dasein der anderen würde ausgelöscht, ihre Freiheit in absoluter Weise negiert). Die Drohung mit der 544 Die Vorschrift wurde wörtlich übernommen aus Art. 23 d) der Anlage zum Abkommen der Haager Landkriegsordnung von 1907. Bemerkenswert ist, daß sie dort nicht als Straftatbestand fungiert. Völkerrechtliche Folge ihrer Mißachtung ist die Verantwortlichkeit (in Form einer Schadensersatzpflicht) derjenigen Kriegspartei, deren militärisches Personal den Verstoß begangen hat (vgl. Artikel 3 des Abkommens). Es ist deshalb nicht unproblematisch, ihren Text unverändert in einen Straftatbestand zu übernehmen. Das Strafrecht stellt – wie beschrieben – in Bezug auf seinen Inhalt und seine Form erhöhte Anforderungen an die gesetzliche Fassung seiner Normen. 545 M. Cottier, „Article 8, War Crimes – para 2 (b) (xii)“ in: O. Triffterer (Hrsg.), Commentary on the Rome Statute of the International Criminal Court (1999), S. 225 ff. 546 So auch M. Cottier, „Article 8, War Crimes – para 2 (b) (xii)“ in: O. Triffterer (Hrsg.), Commentary on the Rome Statute of the International Criminal Court (1999), S. 227 (RN 137), der allerdings lediglich ausführt, daß Anordnungen und Drohungen des genannten Inhalts jedenfalls von der Norm mitumfaßt sind.
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Verwirklichung solchen Unrechts ist ein Angriff auf die Selbstbestimmungsmöglichkeit der Bedrohten. Sie werden durch Einschüchterung für Zwecke des Drohenden benutzt und damit in ihrer Subjekthaftigkeit negiert. Die Anordnung eines solchen Vorgehens, versehen mit entsprechender Durchsetzungsmacht, kann aus zwei Gründen strafbares Unrecht sein: Entweder begründet sie ein selbst schon strafbares (täterschaftliches) Verhalten547 oder sie wird als Teilnahme an der Haupttat (Tötung der Personen der Gegenseite) erfaßt. Die erste Variante setzt ein eigenständiges Unrecht der Anordnung voraus, das sich unter Umständen mit der Gefahrschaffung für die Gegenseite begründen ließe: Wer innerhalb militärischer Befehlsstrukturen einen solchen Befehl ausgibt, schafft damit das Risiko, daß dieser befolgt wird und damit Unrecht geschieht. Allerdings übersähe eine solche Auffassung, daß die Befehlsempfänger dabei in Ansatz gebracht werden, als seien sie bloß ausführende Arme des Anordnenden. Mit der Ausgabe des Befehls wird zwar ein Anstoß gegeben, er setzt sich allerdings nicht nach Art eines Naturvorgangs selbst fort, sondern muß durch jedenfalls prinzipiell regelreflektierende Subjekte verwirklicht werden: Die Befehlsempfänger müssen dazu übergehen, die Personen der Gegenseite umzubringen. Es ist zumindest fraglich, ob dieses bewußte Übergehen zur Verwirklichung schwersten Unrechts nicht die geschaffene Gefahr durch die Anordnung „überdeckt“.548 Aus diesem Grunde spricht viel dafür, die Anordnung als teilnehmendes Unrecht an der Haupttat zu erfassen – von ihr abhängig und bezogen auf sie. Die positiv-rechtliche Fassung im Romstatut unterstützt diese Einordnung. Der „Allgemeine Teil“ des Völkerstrafrechts findet sich im Romstatut in den Artikeln 22 ff.; die Zurechnung fremden Verhaltens (in der deutschen Terminologie „Teilnahme“) ist im Artikel 25 Abs. 3 geregelt. In Art. 25 Abs. 3 b) heißt es: „In Übereinstimmung mit diesem Statut ist für ein der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs unterliegendes Verbrechen strafrechtlich verantwortlich und strafbar, wer die Begehung eines solchen Verbrechens, das tatsächlich vollendet oder versucht wird, anordnet, dazu auffordert oder dazu anstiftet“. Die Anordnung eines im Statut genannten Verbrechens ist demnach als Teilnahme an 547 In diesem Sinne K. Ambos, der in der Anordnung (insgesamt, nicht nur in Bezug auf Art. 8 Abs. 2 b) xii)) strukturell eine Form der mittelbaren Täterschaft sieht. Zur Begründung führt er an, daß der Anordnende regelmäßig zum Hintermann werde, der dem Tatmittler die unmittelbare Tatausführung überlasse. Vgl. K. Ambos, Der allgemeine Teil des Völkerstrafrechts (2002), S. 462, 498, 569, 645 und ders., „Article 25“ in: O. Triffterer (Hrsg.), Commentary on the Rome Statute of the International Criminal Court (1999), S. 480 (RN 12). 548 Mit dieser Argumentation sei jedenfalls bezweifelt, daß bei vollverantwortlich handelnden „Vordermännern“ die Anordnung des verbotenen Verhaltens gleichsam automatisch täterschaftliche Qualität dadurch hat, daß Befehls- oder „Organisations“strukturen bestehen.
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diesem Delikt strafbar.549 550 Hier stellen sich dann typische Zurechnungsfragen, die aus dem Allgemeinen Teil des Strafrechts bekannt sind. Die Zurechnung fremden Unrechts ist jedenfalls nicht selbstverständlich und bedarf erweiterter Begründung.551 Gelingt diese, wird wohl auch bei dieser Tatbestandsalternative zu Recht von strafbarem Unrecht ausgegangen werden können, solange sie auf den (restriktiv ausgelegten) angedeuteten Inhalt zurückgeführt wird.552 Das dritte der genannten Beispiele wirft ähnliche Fragen hinsichtlich seines Unrechtsgehaltes auf. Art. 8 Abs. 2 e) viii) kriminalisiert „die Anordnung der Verlegung der Zivilbevölkerung aus Gründen im Zusammenhang mit dem Konflikt, sofern dies nicht im Hinblick auf die Sicherheit der betreffenden Zivilpersonen oder aus zwingenden militärischen Gründen geboten ist“.553 Auch in dieser Vorschrift wird also ausdrücklich die Anordnung eines bestimmten Verhaltens mit Strafe bedroht.554 Der logisch vorgängige Schritt, den Inhalt der Anordnung straftatbestandlich zu erfassen (nämlich die Verlegung der Zivilbevölkerung), um davon abgeleitet auch dessen An549 A. A. K. Ambos, a. a. O. (Fn. 547). Vgl. aber Art. 25 Abs. 3 a), in dem die täterschaftliche Begehung separat geregelt ist. 550 Die Tatsache, daß das Verbrechen des 8 Abs. 2 b) xii) nach dem Wortlaut selbst in der Erklärung bzw. in sinnvoller Auslegung in der Drohung bzw. Anordnung, „daß kein Pardon gegeben wird“ liegt, und somit die Teilnahmevorschrift des Art. 25 Abs. 3 b) bzgl. der Anordnung leer läuft (bzw. zu äußerst fragwürdigen Ergebnissen führt: Die Anordnung der Anordnung, daß kein Pardon gegeben wird, ist damit strafbares Unrecht, was seinerseits wieder der Begründung bedürfte), gehört zu den üblichen systematischen Ungereimtheiten des Romstatuts und kann nur durch eine am Zweck der Vorschriften orientierte ganzheitliche Betrachtung korrigiert werden. 551 Zu Problemen der Zurechnung fremden Verhaltens aus deutscher Sicht siehe M. Köhler, Strafrecht AT, S. 487 ff.; B. Noltenius, Kriterien der Abgrenzung von Anstiftung und mittelbarer Täterschaft – Ein Beitrag auf der Grundlage einer personalen Handlungslehre – (2003). 552 Ein ganz anderes Problem ist dann allerdings, ob der Text des Artikels 8 Abs. 2 b) xii) dem Bestimmtheitsgebot des Strafrechts genügt, ob er als Teil eines gesamten Gesetzeswerks widerspruchsfrei gefaßt ist und ob der sprachlichen Fassung allgemeinverständlich der Unrechtsgehalt entnommen werden kann. 553 Das Verbot hat seinen Ursprung im Zusatzprotokoll II zu den Genfer Abkommen von 1949 über den Schutz der Opfer nicht nationaler bewaffneter Konflikte (Art. 17 I). 554 Mit dem Begriff der Anordnung („order“) werde impliziert, daß nur solche Akte gemeint sind, die direkt gerichtet sind auf die Entfernung einer bestimmten Zivilbevölkerung. Siehe A. Zimmermann, „War Crimes – para 2 (e) (viii)“ in: O. Triffterer (Hrsg.), Commentary on the Rome Statute of the International Criminal Court (1999), S. 280 ff. (RN 310). In den „Elements of Crimes“ heißt es, daß die Anordnung nach Art. 8 Abs. 2 e) viii) nur dann strafbar sein kann, wenn der Anordnende tatsächlich in der Lage war, die Verlegung der Zivilbevölkerung mit seiner Anordnung zu bewirken.
B. Materiell-rechtliche Begründungselemente des Völkerstrafrechts
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ordnung strafrechtlich zu berücksichtigen, ist nicht erfolgt. Trotzdem muß der Unrechtsbegründungsgang gerade diesen Weg gehen: Ohne die Feststellung, daß es sich bei der Verlegung einer Zivilbevölkerung um strafrechtliches Unrecht handelt, kann auch deren Anordnung nicht strafbar sein. Darzulegen ist dann im ersten Schritt, daß in der Verlegung der Personen ein Angriff auf deren Freiheit verbunden mit einer Negation des Gleichheitsverhältnisses liegt, eine Verletzung in der Basis ihrer Selbständigkeit. Zur Selbständigkeit muß dann prinzipiell auch gehören, über das Verbleiben am bisherigen Lebensort selbst zu entscheiden. Tatsächlich ist es ein fester Bestandteil des Daseins in Freiheit, um seinen Platz auf der Welt zu wissen, sein Leben danach einrichten zu können und die Lebensplanung entsprechend der angestammten Umgebung zu gestalten. Die Person ist durch ihre notwendig körperlich vermittelte Existenz gerade nicht unabhängig von ihrer Umgebung, sie ist substantiell angewiesen auf ein Stück Raum in der Welt, das ihr zugehörig ist.555 Das Entwurzeln durch Umsiedelung ist deshalb ein diese Verbundenheit mit der Umgebung unterbrechender Eingriff, der auf die Substanz eines freiheitlichen Lebens beträchtlich einwirkt. Freiheitsbedeutung kommt der Verlegung einer Zivilbevölkerung also zu. Ob sie auch strafrechtliches Unrecht darstellt, hängt davon ab, ob sie auch herabsetzende Freiheitsverletzung ist. Dies wird wohl immer dann zu bejahen sein, wenn in ihr eine Instrumentalisierung der betroffenen Volksgruppe liegt. Sobald die Umsiedlung nicht aus Gründen, die für sie selbst einsichtig sind556, geschieht, sondern eine Maßnahme darstellt, die die Selbstzweckhaftigkeit der betroffenen Personen im Kern negiert, sie vergleichbar zu Figuren auf einem (politischen oder militärischen) Schachbrett macht, handelte es sich um eine strafrechtsrelevante Herabsetzung anderer. Äußeres Anzeichen dafür ist, daß die Bevölkerung nicht freiwillig geht, sondern gezwungen wird557, wie es etwa bei Deportationen aus Gründen der „eth555 Vgl. I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 13, A 83, 84/B 83 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 262): „Alle Menschen sind ursprünglich (d. i. vor allem rechtlichen Akt der Willkür) im rechtmäßigen Besitz des Bodens, d. i. sie haben ein Recht, da zu sein, wohin sie die Natur oder der Zufall (ohne ihren Willen) gesetzt hat.“ 556 Es sei nochmals an Kants Beschreibung der rechtlichen Freiheit erinnert: Es sei die Befugnis, keinen äußeren Gesetzen zu gehorchen, als zu denen ich meine Beistimmung habe geben können. I. Kant, Zum ewigen Frieden, Erster Definitivartikel, *-Anmerkung, BA 21. 557 Das Moment des Zwangs kommt in der Kommentierung des Artikels mehr in Form eines obiter dictums zum Vorschein: Dort wird ganz selbstverständlich von der „prohibition of forced movement of civilians“ gesprochen (Hervorhebung der Verf.). Siehe A. Zimmermann, „War Crimes – para 2 (e) (viii)“ in: O. Triffterer (Hrsg.), Commentary on the Rome Statute of the International Criminal Court (1999), S. 280 ff. (RN 308). Im Text des Straftatbestandes selbst (auch in der englischen Fassung) fehlt jeder Hinweis auf diesen entscheidenden Punkt.
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2. Teil: Rechtsstrafe auf internationaler Ebene
nischen Säuberung“ geschehen ist. Mit solchen Aktionen werden die betroffenen Personen auf unerwünschte Objekte reduziert, die es zu entfernen gilt. Allerdings ist auch hierbei zu differenzieren, denn nicht jede mit Zwang verbundene Verlegung bestimmter Bevölkerungsgruppen muß strafbares Unrecht sein. Erinnert sei etwa an den Grenzfall der in den deutschen Braunkohleabbaugebieten erfolgten Zwangsumsiedelung ganzer Dörfer. Für die Betroffenen stellte sie ein Sonderopfer in erheblichem Umfang dar; es handelte sich um Rechtseinbußen, die durch Entschädigung materieller Art ausgeglichen werden mußten. Die Grenze zur Verletzung des Anerkennungsverhältnisses, zur Herabsetzung zum Objekt, war aber wohl nicht überschritten. Wenn die betroffene Bevölkerung auch dem Interesse der Allgemeinheit, der sie angehört, weichen mußte, wurde sie nicht in ihrem Status als gleichbedeutsame Mitbürger als solche verleugnet. Erst dies hätte die Aktion strafrechtlich relevant gemacht. Ebenso ist eine strafrechtsrelevante Freiheitsverletzung auch bei zwangsweiser Umsiedelung jedenfalls dann fraglich, wenn es sich – wie im Tatbestand des Art. 8 Abs. 2 e) viii) formuliert – bei der Verlegung um eine Rettungsaktion der betroffenen Bevölkerung handelt („soweit dies nicht im Hinblick auf die Sicherheit der betreffenden Zivilpersonen geboten ist“). Denn dadurch wird Freiheit letztlich erhalten, nicht vernichtet. Zweifelhaft ist dagegen die zweite im Statut benannte Fallkonstellation, nach der eine Verlegung strafbar sei, „soweit dies nicht aus zwingenden militärischen Gründen geboten ist“. Abgesehen von der unpräzisen Formulierung558 ist eine Freiheitsverletzung nicht deshalb per se ausgeschlossen, weil es sich bei ihr um eine militärische Notwendigkeit handelt. Auch dabei ist genauer zu untersuchen, ob es sich im konkreten Fall um ein „zum Objekt machen“ menschlichen Daseins handelt oder nicht. Dies muß der Maßstab für die strafrechtliche Beurteilung sein, nicht die Frage nach der militärischen Gebotenheit. Ist eine Verlegung einer Zivilbevölkerung nach diesen Kriterien als strafwürdiges Unrecht zu qualifizieren, hat sich im nächsten Schritt das Augenmerk auf ihre Anordnung richten. Es ergibt sich wiederum die Schwierigkeit der Einordnung der Anordnung als selbst täterschaftlich oder teilnehmend an der Haupttat (Verlegung der Bevölkerung im oben beschriebenen Sinne). Nach dem Wortlaut des Artikels 8 Abs. 2 e) viii) des Romstatuts stellt die Anordnung selbständiges Unrecht dar; tatsächlich sprechen sowohl die oben genannten materiellen Gründe559 als auch die Gesetzessystematik des Romstatuts für eine straftatbestandliche Erfassung der Verlegung der 558 „Aus militärischen Gründen geboten“ ist ein Allgemeinplatz, der geradezu zum Mißbrauch einlädt. 559 Vgl. dazu oben im Text die Erwägungen zur selbständigen Unrechtsqualität der Anordnung eines deliktischen Verhaltens im Zusammenhang mit Artikel 8 Abs. 2 b) xii).
B. Materiell-rechtliche Begründungselemente des Völkerstrafrechts
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Zivilbevölkerung (als Grunddelikt) und die Teilnahme daran als Anordnung gemäß Art. 25 Abs. 3 b). Beide möglichen Bestimmungen bedürften allerdings ihrerseits der Begründung. Die vorangegangene Annäherung an den Unrechtsgehalt einiger ausgewählter Tatbestandsalternativen aus dem Verbrechenskatalog des Romstatuts erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit – weder im Hinblick auf die Auswahl problematischer Tatbestände, noch im Hinblick auf die Unrechtsanalyse.560 Doch auch die bloß exemplarische und thesenhafte Untersuchung hat schon verdeutlicht, welcher Begründungsaufwand sich hinter einer Vielzahl der im Romstatut kodifizierten Straftatbestände verbirgt. Die Schwierigkeiten in der Unrechtsbestimmung positiv-gesetzlicher Völkerstraftatbestände beginnen mit der sprachlichen Fassung der Tatbestände, umfassen ihre Herkunft aus dem Völkerrecht und haben ihren Grund nicht zuletzt in der mangelnden – schon im Kodifikationsstadium vollkommen vernachlässigten – Rückführung der mit Strafe bedrohten Verhaltensweisen auf (äußere und innere) Freiheitsverletzungen. Es hat sich zwar erwiesen, daß die ausgewählten, in der Begründung schwierigen Unrechtstatbestände jedenfalls im Kern auf materielles, interpersonales Unrecht zurückführbar sind. Sie haben also als Strafgesetze inhaltlich ihre Berechtigung. Allerdings drängt sich der Verdacht auf, daß sich dieses Resultat eher einem glücklichen Zufall verdankt als einer konzentriert-bewußten und systematischen Erfassung des zugrundeliegenden Strafunrechts. Ein übergeordneter sachlicher Grund für die Aufnahme des einen und die Außerachtlassung eines anderen Verhaltens in den Straftatkatalog wird jedenfalls nicht ersichtlich; auch fehlt es an einer irgendwie gearteten gedanklichen Ordnung, etwa nach geschützten Rechtsgütern oder der Schwere der Delikte. Es handelt sich eher um ein Sammelsurium von Tatbestandsalternativen, denen nur gemeinsam ist, daß man sich im Rahmen einer Staatenkonferenz zügig auf sie einigen konnte. Gewiß ist dies kein Grund, den Katalog in seiner Gesamtheit zurückzuweisen. Allerdings ist es ein Indiz für die fehlende Sorgfalt bei der Kodifizierung der Tatbestände; und diese fehlende Sorgfalt ist mehr als ein bloßer Schönheitsfehler: Sie birgt die Gefahr der Willkür in sich. (Straf-)Gesetze dürfen in ihrer Eigenschaft als Konkretisierungen des Rechtsprinzips aber gerade niemals auf Beliebigkeit gründen; der Grund für ihre Verbindlichkeit ist nicht, daß sie gesetzt wurden, sondern daß sie ihrem Grund in der menschlichen Vernunft nach gesetzt wurden. Eine bloß zufällige Übereinstimmung von Ge560 Im Rahmen der vorliegenden Arbeit kann angesichts der Vielzahl der im Statut kodifizierten Straftatbestände (allein Artikel 8 enthält 50 Handlungsalternativen, Doppelnennungen inbegriffen) nicht mehr geleistet werden, als der Versuch einer prinzipiellen Annäherung an die Unrechtsbegründung.
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2. Teil: Rechtsstrafe auf internationaler Ebene
setz und Recht ist deshalb unzureichend, ja vielleicht sogar bedrohlicher als eine offensichtliche Diskrepanz: Während letztere zum Widerspruch drängt, ist erstere der Wachsamkeit entzogen. Ebenso wie eine Konzentration in der Sache wäre eine rechtsbegrifflich bestimmte, systematische und widerspruchsfreie Fassung der Tatbestände notwendig. Die sprachliche Beschaffenheit vieler Tatbestände des Romstatuts läßt eine an den verwendeten Begriffen orientierte Unrechtsbestimmung nicht zu. Die benannten Schwierigkeiten treten zwar nicht überraschend auf: Angesichts der Entwicklungsgeschichte des Völkerstrafrechts561 und speziell des Verfahrens der Kodifikation im Romstatut562 ist es nicht verwunderlich, daß die für das Strafrecht notwendige Genauigkeit und Bestimmtheit der Begriffe fehlen. Es ist gewissermaßen systemimmanent, daß ein diplomatisch ausgehandelter völkerrechtlicher Vertrag (mit den üblichen Verständigungsschwierigkeiten in sprachlicher und weltanschaulicher Hinsicht) nicht die Kohärenz eines nach festen Regeln für die Bündelung subjektiver Vernunft ablaufenden Gesetzgebungsverfahren erreichen kann.563 Die Frage ist 561 Vgl. dazu z. B. M. C. Bassiouni, „Historical Survey: 1919–1998“ in: M. C. Bassiouni (Hrsg.), International Criminal Law (2. Aufl., 1999), Vol. III, S. 597 ff.; A. Bruer-Schäfer, Der Internationale Strafgerichtshof (2001), S. 35 ff.; A. Cassese, „From Nuremberg to Rome: International Military Tribunals to the International Criminal Court“ in: ders./P. Gaeta/J. R. W. D. Jones (Hrsg.), The Rome Statute of the International Criminal Court: A Commentary (2002), S. 3 ff. (Abdruck des Beitrags auch in: A. Cassese, International Criminal Law (2003), S. 327 ff.); B. B. Ferencz, „International Criminal Courts: the Legacy of Nuremberg“ Pace International Law Review 10 (1998), S. 203 ff.; S. Glaser, Droit international pénal conventionnel (1970), S. 15 ff.; K.-M. König, Die völkerrechtliche Legitimation der Strafgewalt internationaler Strafjustiz (2003), Erstes Kapitel; O. Triffterer, Dogmatische Untersuchungen zur Entwicklung des materiellen Völkerstrafrechts seit Nürnberg (1966), S. 1 ff.; G. Werle, Völkerstrafrecht (2003), RN 1 ff. 562 Der Text des Romstatuts wurde im Rahmen eines diplomatischen Verhandlungsmarathons durch Vertreter von 160 Staaten innerhalb von fünf Wochen ausgehandelt. Vgl. dazu L. N. Sadat, The International Criminal Court and the Transformation of International Law: Justice for the new Millenium (2002), Chapter 1, S. 1 ff.; siehe außerdem P. Kirsch, „Introduction“ in: O. Triffterer (Hrsg.), Commentary on the Rome Statute of the International Criminal Court (1999), S. XXIII ff.; zu den Vorarbeiten der International Law Commission (ILC) siehe die Beiträge von J. Crawford (S. 23 ff.) und A. Bos (S. 35 ff.) in: A. Cassese/P. Gaeta/ J. R. W. D. Jones (Hrsg.), The Rome Statute of the International Criminal Court: A Commentary (2002); kritisch zum Prozeß und zum Resultat der Verhandlungen aus US-Amerikanischer Sicht M. R. Mumford, „Building upon a Foundation of Sand: A Commentary on the International Criminal Court Treaty Conference“ Journal of International Law and Practice 8 (Spring 1999), S. 151 ff.; einen Überblick gibt W. A. Schabas, An Introduction to the International Criminal Court (2001), S. 1 ff. 563 Womit nicht gesagt ist, daß ein solches Verfahren schon per se Garant für gute Gesetze ist, wie die neuere deutsche Gesetzgebungsgeschichte eindrucksvoll demonstriert.
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dann aber, ob sich das völkerrechtliche Forum tatsächlich als Strafgesetzgeber eignet. Denn der im ersten Teil der Arbeit begründete Anspruch an das Strafrecht verliert ja nicht seine Gültigkeit dadurch, daß nunmehr Schwierigkeiten in der Verwirklichung entsprechender Verhältnisse auftreten. Das Strafrecht erfordert eine Form der Positivierung, die deutlich höheren Anforderungen zu genügen hat, als etwa der Text eines völkerrechtlichen Vertrags; es steht unter dem Vorbehalt eines hinreichend bestimmten förmlichen Strafgesetzes.564 Konsequenz dieser Einsicht muß sein, daß nur solches Völkerstrafrecht Bestand hat, welches trotz seiner immanenten Schwierigkeiten den formellen Anforderungen eines freiheitlichen Strafrechtsverständnisses genügt – und nicht umgekehrt der Anspruch je nach „Machbarkeit“ nach unten modifiziert wird. 3. Zusammenfassung zu I. Die erste Dimension des Unrechtsbegriffs hat prinzipiell auch im Bereich des internationalen Strafrechts Bestand, auch wenn dies aus verschiedenen Richtungen der Strafrechtswissenschaft angezweifelt wird. Für eine gültige Bestimmung völkerrechtlichen Strafunrechts ist eine Rückführung auf die damit verbundene konkrete Freiheitsverletzung notwendig. Nur Verhaltensweisen, die signifikante Verletzungen eines Rechtsverhältnisses darstellen, kommen überhaupt als strafbewehrtes Unrecht in Betracht. Auf diese Weise gibt der interpersonale Unrechtsbegriff einen festen Maßstab an die Hand, um völkerstrafrechtliche Straftatbestände auf ihre freiheitlich-rechtliche Legitimation hin zu untersuchen. Nicht alles, für das sich ein Staatenkonsens erzielen läßt, ist schon berechtigter Gegenstand von Strafgesetzen. Konsens alleine kann Legitimation nicht schaffen – und das ist dem Prinzip nach völkerrechtsfremd. Es bleibt der Vernunftgrund des Rechts, der sich in den Konkretionen völkerstrafrechtlicher Regelungen bestätigen muß. Diese sind also inhaltlich nicht beliebig gestaltbar, sie müssen – wie bei staatlichen Gesetzen auch – der subjektiven Vernunft des einzelnen, und zwar auch der des durch die Strafe Betroffenen, zugänglich sein. Die Prüfung einzelner, ausgewählter Tatbestandsalternativen des Romstatuts hat ergeben, daß diese materiell auf die Definition interpersonalen Unrechts zurückführbar und damit legitimierbar sind. Allerdings läßt sich dieses Ergebnis nur unter Ausblendung der Unzulänglichkeiten in ihrer formellen Fassung erzielen. Dies ist bedenklich, denn Legitimität stellt sich nur in Einheit materieller und formeller Rechtlichkeit her.565 564
Vgl. M. Köhler, Strafrecht AT, S. 72. Vgl. zu den Schwierigkeiten der formell-rechtlichen Fassung der Tatbestände auch unten unter C. 565
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II. Die „Verletzung des Rechts als Recht“ durch ein völkerrechtliches Verbrechen Das Verbrechen wurde in seiner zweiten Dimension als nach außen getretener Widerspruch eines prinzipiell vernünftigen Rechtssubjekts zur Vernunftrechtsordnung bestimmt: Der Unrechtstäter stellt die allgemeine Rechtsgeltung in Frage, indem er das Recht entgegen besseren Wissens partiell verletzt. Damit ist die gesamte Rechtsgemeinschaft in ihrer Angewiesenheit auf diese Rechtsgeltung tangiert, die im Recht verfestigte Vertrauensbeziehung der Vernunftwesen zueinander wird auf die Probe gestellt.566 Im folgenden soll untersucht werden, ob diese zweite Unrechtsebene – und damit verbunden die zweite Ebene der Strafbegründung – auch im internationalen Zusammenhang Gültigkeit hat. Da nach dem Ansatz dieser Arbeit Rechtsstrafe Ausgleich von interpersonal-allgemeinem Unrecht bedeutet, nähern sich die Überlegungen damit einem ersten Ergebnis im Hinblick auf die Strafbegründung im Völkerstrafrecht: Im vorangegangenen Abschnitt wurde der interpersonale Bestandteil des Unrechts- bzw. Strafbegriffs auch für die völkerstrafrechtliche Ebene bestätigt; nun gilt es herauszufinden, ob dies auch für die Bedeutung des Unrechts nach der Seite der Rechtsallgemeinheit möglich ist. Das völkerrechtliche Verbrechen muß sich als „Verletzung des Rechts als Recht“ erweisen, jetzt verstanden als eine (im Interpersonalverhältnis stattfindende) Freiheitsverletzung, die durch ihre äußerliche Existenz eine partielle Negation allgemeinen Rechts weltweit darstellt. Dem Unrechtsbegriff in seiner allgemeinen Dimension liegt der freiheitliche Rechtsbegriff – als Gegenstand der Negation – zugrunde.567 Er bezieht sich in seiner Grundbestimmung auf das „äußere und zwar praktische Verhältnis einer Person gegen eine andere, sofern ihre Handlungen als Fakta aufeinander (unmittelbar oder mittelbar) Einfluß haben können“568. Inhaltlich ist das Recht als „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“569 beschrieben worden; in der 566
Vgl. dazu D. II. 1. a) bb) im ersten Teil der Arbeit. Vgl. zu der Herleitung des Unrechtsbegriffs aus einem freiheitlichen Rechtsbegriff im Anschluß an Kant und Hegel den 1. Teil der Arbeit. 568 I. Kant, MdS, Rechtslehre, Einleitung, § B., AB 32 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 230). Auch Hegel setzt für den Rechtsbegriff am äußeren Verhältnis der Personen zueinander an: Das „Dasein des freien Willens“ impliziert eine Beziehung des einen freien Willens zu einem anderen, das „Sich-Gegenüberstehen“ freier Willen, vermittelt über die äußere Sphäre der Personen, dem Eigentum. Vgl. dazu die Ausführungen zu Hegels Rechtsphilosophie im ersten Teil der Arbeit. 569 I. Kant, MdS, Rechtslehre, Einleitung, § B., AB 33 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 230). 567
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späteren Umschreibung Hegels wird das Rechtsprinzip gegenseitiger Anerkennung als Basis des Rechts herausgestellt: „Sei eine Person und respektiere die anderen als Personen.“570 Ein solches Rechtsverständnis führt bei Übertragung des gedanklichen Zusammenhangs auf die Weltebene zu eigentümlichen Schwierigkeiten: Das Recht hat in seinem Ursprung ein Moment der Unmittelbarkeit im Umgang der Subjekte miteinander zum Gegenstand, denn die Handlungen der einzelnen Personen müssen zumindest aufeinander einwirken können. Dies setzt eine geteilte Lebenswirklichkeit voraus, die sich auch durch ein Moment der räumlichen Nähe zwischen den Menschen auszeichnet. Das Recht beruht ja gerade auf der Begegnung der Vernunftwesen in derselben realen Welt; erst eine solche Begegnung schafft die Möglichkeit, sich selbst im Verhältnis zu anderen zu begreifen, sie als vernünftige Gegenüber anzuerkennen, das Vertrauen auszubilden, das die Basis des Rechts ausmacht und letztlich eben auch eine Rechtsgemeinschaft mit einer gemeinsamen Rechtsordnung zu schaffen.571 Der Rechtsbegriff ist also raum-abhängig, weil er die Koordination vernünftig-freier Wesen nicht bloß abstrakt zu leisten hat, sondern sich gerade in der Wirklichkeit eines jeden Rechtssubjekts immer wieder bestätigen muß. Die Frage des Rechts stellt sich gar nicht, wenn die Distanz der Rechtspersonen zueinander so groß ist, daß von einem Einfluß fremden Handelns auf das eigene Handeln nicht die Rede sein kann.572 Eine Berufung auf das prinzipiell für alle Vernunftwesen geltende Rechtsgesetz, „handle äußerlich so, daß der freie Gebrauch Deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann“573, macht eben nur innerhalb eines Rechtsraums Sinn, in dem eine Berührung der einzelnen Freiheitssphären zumindest denkbar ist. Aus diesem Grunde ist die räumliche Rechtseinheit gedanklich nicht ins Unendliche erweiterbar und es ist keine Selbstverständlichkeit, von einer allgemeinen Rechtsgeltung auf Weltebene zu sprechen: Was an einem Ende der Welt geschieht, hat nicht ohne weiteres auch Bedeutung für die Rechtsallgemeinheit am anderen Ende. Die genannte Schwierigkeit setzt sich fort, wenn die Wirkung einer konkreten Rechtsverletzung in den Blick kommt: Daß mit einer interpersonalen Freiheitsverletzung gleichzeitig allgemeine Rechtsgeltung in Frage gestellt 570
G. W. F. Hegel, RPh, § 36, S. 95. Vgl. dazu die Herleitung des Rechtsbegriffs im 1. Teil dieser Arbeit. 572 Vgl. dazu auch J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, § 4, C., Corollaria, 5., S. 55. 573 I. Kant, MdS, Rechtslehre, Einleitung, § C., AB 34 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 231). 571
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wird, liegt daran, daß sie als Handlung eines Vernunftwesens Geltungsallgemeinheit suggeriert. Eine solche Wirkung setzt aber voraus, daß die Unrechtshandlung von den sie umgebenden Rechtssubjekten überhaupt wahrgenommen wird. Eine solche Wahrnehmung ist zumindest dann ausgeschlossen, wenn das Geschehen fernab der eigenen Lebenswirklichkeit stattfindet und ein verbindendes Moment nicht existiert. Will sich das internationale Strafrecht als Rechtsinstitut behaupten, muß es nach dem hier gewählten Ansatz indessen möglich sein, eine weltweite gemeinsame Rechtsgeltung und eine allerorts wahrgenommene Rechtserschütterung durch bestimmte Unrechtstaten begreiflich zu machen. Eine solche gemeinsame Rechtsgeltung kann ihren Grund unmöglich in der oben als Wirklichkeitsbasis des Rechts beschriebenen täglichen Nähebeziehung der Personen zueinander haben. Recht dieser Art ist erheblich besser in kleineren – staatlichen oder regionalen – Rechtseinheiten aufgehoben, weil nur in ihnen die interpersonalen Zusammenhänge in der notwendigen Konkretisierung erfaßt werden können. Anzusetzen ist vielmehr an dem Teil des Kantischen Rechtsbegriffs, der die nur indirekte Einflußmöglichkeit der Handlungen aufeinander genügen läßt: Recht betreffe das praktische Verhältnis einer Person gegen eine andere, „sofern ihre Handlungen als Fakta aufeinander (unmittelbar oder mittelbar) Einfluß haben können“ (Hervorhebung der Verf.). Gesucht ist ein Begründungsgang, der über vermittelnde Schritte erklären kann, warum die Handlung eines einzelnen Relevanz für eine Rechtsallgemeinheit haben kann, die nunmehr global gedacht ist. Nach dem bisher Erarbeiteten ist dafür eine vorgängige Verbundenheit der einzelnen Rechtssubjekte notwendig, die die Basis jeden Rechts ausmacht. Um eine solche Verbundenheit zu begründen, muß an die wesentlichen Schritte vom einzelnen hin zu einer Rechtsgemeinschaft angeknüpft werden, die schon skizziert wurden: Gültiger gedanklicher Ausgangspunkt ist die Grundeinsicht der einzelnen Vernunftsubjekte in die Notwendigkeit, ein freies Leben für alle möglich zu machen. Diese Einsicht in die Gleichbedeutsamkeit der anderen ist nicht an kulturelle, geographische oder religiöse Bedingungen geknüpft, es ist allein das Dasein als endliches Vernunftwesen, welches diesen Schluß zwingend macht. Derselbe Grundgedanke war schon für das Recht überhaupt und für die Verfassung in staatliche Rechtsgemeinschaften unentbehrlich.574 Die schlüssige Fortentwicklung dieses Gedankens über den staatlichen Zusammenhang hinaus stellt nun eine Möglichkeit dar, eine gemeinsame Weltrechtsordnung aus dem Autonomiegrund des Rechts zu entfalten – und damit eine Rechtsverbundenheit unter allen Weltrechtssubjekten herzuleiten. 574 Im Staat stellt sich die Verbundenheit der einzelnen Rechtssubjekte durch den Prozeß des Zusammenfindens zur Rechtssetzung und -garantie auch formell her.
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Wie ihre gedanklichen Vorgänger575, Recht und Staat, hat die auf diese Weise erweiterte Rechtsordnung die selbständige Bewältigung des Daseins im äußeren Verhältnis der Gleichbedeutsamkeit für alle zu ermöglichen – und zwar nunmehr weltweit. Neben die unmittelbar mit den räumlichen Distanzverhältnissen auf Weltebene verbundenen Schwierigkeiten einer Rechts- und Unrechtsbegründung treten solche, die sich auf die materiale Bestimmung des Rechts bzw. Unrechts beziehen. Wird in einer Rechtsgemeinschaft von allgemeiner Rechtsgeltung gesprochen, die durch ein Verbrechen negiert werden kann, so ist damit Rechtsgeltung schon in bestimmter Hinsicht gemeint: Ein Diebstahl richtet sich gegen die gemeinschaftlich anerkannte Einsicht, daß Eigentum sein soll; eine Körperverletzung gegen die, daß zu einem auf Anerkennung basierenden Gemeinwesen die Unversehrtheit der einzelnen Subjekte auch in der äußeren Sphäre ihrer Körperlichkeit gehört; ein Tötungsdelikt zerstört die Grundvoraussetzung allen Rechts, das Leben selbst. Zusammengenommen geht es dabei um Grundgestaltungen des Rechts576, ohne die ein gemeinsames Leben in Freiheit unmöglich würde. Die im Interpersonalverhältnis stattfindende, konkrete Freiheitsverletzung hat die Wirkung, diese Grundgestaltungen des Rechts, das Allgemeine, (partiell) zu negieren. Die Rechtsallgemeinheit, die als Urheber dieser Grundgestaltungen gedacht werden muß, hat ein Recht zur Aufhebung der Rechtsverletzung, das Strafrecht. Im staatlichen Zusammenhang kommt hinzu, daß das Allgemeine durch seine Konstituenten verbindlich gesetzt und verfestigt wurde, so daß sich die Verletzungshandlung gerade gegen diese konkret geschaffene Form des Allgemeinen richtet; damit einher geht die Berechtigung der nunmehr verfaßten Rechtsgemeinschaft, nach vorangegangener Verletzung des Rechtszustandes diesen durch Strafe wiederherzustellen. Bedeutsam ist bei diesem Verständnis, daß es jeweils die als Begründer des allgemeinen Rechts, sei es abstrakt oder schon staatlich verfaßt, gedachte umgebende Rechtsgemeinschaft ist, der das Strafrecht zukommt. Auf Weltebene stellt sich nun die Frage, ob die gesamte Weltbevölkerung als Begründer eines gemeinsamen allgemeinen Rechts, als globale Rechtsgemeinschaft, vorgestellt werden kann. Dies wäre die Vorbedingung dafür, sagen zu können, daß ihr ein Strafrecht gegen jene Unrechtstäter zusteht, die mit ihrem Verbrechen dieses allgemeine Recht negieren. Von seinen Grundvoraussetzungen her ist das allgemeine Recht zunächst nicht an eine bestimmte Rechtsgemeinschaft gebunden. Es ist angewiesen nur auf die Begegnung vernünftig-endlicher Rechtssubjekte überhaupt. 575 Hier ist das „Vorgängige“ nicht in seiner historischen, sondern in seiner systematisch-begründenden Dimension gemeint. 576 Vgl. dazu auch G. W. F. Hegel, RPh, § 95 (Anm.), S. 182.
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Rechtliches Handeln zeichnet sich zunächst nur durch die Vereinbarkeit mit jedermanns Freiheit aus; bezogen auf die äußeren Freiheitssphären der einzelnen und der Gesamtheit lassen sich aus diesem Prinzip einige grundlegende Rechtsgrundsätze analytisch herleiten, die begriffen werden können als Resultat der Bündelung subjektiver Vernunft – unabhängig von der Größe der gedachten Rechtsgemeinschaft. Im ersten Zugang scheint es daher möglich, eine allgemeine Rechtsgeltung aus Vernunftprinzipien auch auf Weltebene zu denken. Allerdings bleibt eine solche Betrachtung notwendig abstrakt, so daß die Verbindung des Rechts als Vernunftbegriff mit der Wirklichkeit des Lebens als Regelungsmaterie nur unvollkommen hergestellt ist. Wie auch bei den o. g. Grundgestaltungen des Rechts, etwa der Notwendigkeit einer Eigentumsordnung, ist es auch auf Weltebene erforderlich, allgemeines Recht in bestimmter Hinsicht zu begründen. Dies führt zu der Frage, welche gemeinsamen Lebensbereiche der Welt-Subjekte Gegenstand eines allgemeinen Rechts sein können und wie ein solches Recht praktisch-rechtlich-vernünftig ausgestaltet sein müßte. Es wird zu zeigen sein, daß Gegenstand des das Leben aller Vernunftwesen der Welt gleichermaßen betreffenden Rechts der Rechtsfrieden zwischen den Völkern ist; daß also die weltweite Rechtsallgemeinheit als Urheber der praktisch-vernünftigen Prinzipien gedacht werden muß, die einen solchen Frieden hervorbringen und erhalten können. Dabei muß es dann um eine Rechts-Friedens-Ordnung gehen, deren Bestand durch bestimmtes Unrecht bedroht ist und deren Erhalt durch Strafe sicherzustellen ist. Eine solche einende Rechtsordnung gilt es in Fortentwicklung des Gedankengangs vom ersten Teil der Arbeit herauszuarbeiten (dazu sogleich unter 1.). Dabei soll deutlich werden, wie eine internationale allgemeine Rechtsgeltung denkbar ist, deren partielle Negation durch ein Verbrechen weltgemeinschaftliche Strafreaktion begründbar machen würde (dazu unter 2.). 1. Das allgemeine Weltrecht Die Rechtsbegründung ist im Rahmen dieser Arbeit bis zu einem bestimmten gedanklichen Punkt fortgeschritten: Das äußere Verhältnis freier Individuen zueinander wurde im Anschluß an Kant bis in den staatlichen Zusammenhang hinein entfaltet. Dabei wurde auf die inhaltlich-materielle Bestimmung des Rechts ebenso eingegangen wie auf seine äußere Umsetzung durch positive Gesetze und deren Garantie durch die öffentliche Gewalt.577 Ein wesentlicher Schritt im Gedankengang wird mit dem Übergang einer Rechtsgemeinschaft vom Naturzustand in den bürgerlichen Zustand (status civilis) gekennzeichnet; Kant beschreibt diesen Übergang auch als 577
Vgl. dazu unter C. im ersten Teil der Arbeit.
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den vom Privatrecht in den des öffentlichen Rechts.578 Das öffentliche Recht ist dabei „ein System von Gesetzen für ein Volk, d. i. eine Menge von Menschen, oder für eine Menge von Völkern, die, im wechselseitigen Einflusse gegeneinander stehend, des rechtlichen Zustandes unter einem sie vereinigenden Willen, einer Ve r f a s s u n g (constitutio) bedürfen, um dessen, was Rechtens ist, teilhaftig zu werden.“579 Bedeutsam ist an dieser Definition für den vorliegenden Zusammenhang, daß das öffentliche Recht bei Kant über das Verhältnis der einzelnen Rechtspersonen im Volke untereinander, d. i. das Staatsrecht580, hinausgeht. Ausdrücklich bezieht er zwei weitere „mögliche Formen des rechtlichen Zustandes“ in die Betrachtung mit ein: Die Idee des Völkerstaatsrechts und die des Weltbürgerrechts.581 Diese drei Formen der rechtlichen Verfassung stehen auch nicht etwa beziehungslos nebeneinander. In ihnen verkörpert sind alle denkbaren Rechtsverhältnisse der Personen dieser Welt zueinander – und zwar in abschließender Ordnung. Kant schreibt: „Alle rechtliche Verfassung aber ist, was die Personen betrifft, die darin stehen, 1. die nach dem S t a a t s b ü r g e r r e c h t der Menschen, in einem Volke (ius civitatis), 2. nach dem V ö l k e r r e c h t der Staaten in Verhältnis gegeneinander (ius gentium), 3. die nach dem W e l t b ü r g e r r e c h t, so fern Menschen und Staaten, in äußerem auf einander einfließenden Verhältnis stehend, als Bürger eines allgemeinen Menschenstaates anzusehen sind (ius cosmopoliticum).“582 Mit dieser Einteilung werden die möglichen verfaßten Rechtsverhältnisse der Welt bestimmten Kategorien des Rechts zugeordnet. Neben dieser äußeren Einordnung werden sie aber auch inhaltlich zueinander in Bezug gesetzt. Dabei handelt es sich um einen derart engen inneren Zusammenhang, daß Kant meint, „wenn unter diesen drei möglichen Formen des rechtlichen Zustandes es nur einer an dem die äußere Freiheit durch Gesetze einschränkenden Prinzip fehlt, (muß) das Gebäude aller übrigen unvermeidlich untergraben werden und endlich einstürzen (. . .).“583 Damit ist ein Abhängig578
Vgl. die Paragraphen 41 ff. in der Metaphysik der Sitten. I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 43, A 161/B 191 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 311). 580 Vgl. I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 43, A 161/B 191, 192 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 311). 581 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 43, A 162/B 192 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 311). 582 I. Kant, Zum ewigen Frieden, Zweiter Abschnitt, *-Anmerkung, BA 19. 579
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2. Teil: Rechtsstrafe auf internationaler Ebene
keitsverhältnis besonderer Art angesprochen: Die möglichen Formen rechtlicher Zustände bedingen einander in einem Maße, daß der eine ohne den anderen auf Dauer nicht bestehen kann.584 Dies ist angelegt schon in der Prämisse des öffentlichen Rechts: Eine Menge von Menschen (d. i. ein Volk) oder eine Menge von Völkern, im wechselseitigen Einflusse gegeneinander stehend, bedürfen einer rechtlichen Verfassung. Ein Friedenszustand kann nicht insular geschaffen und erhalten werden, wenn es stets Einflüsse von außen gibt, die in ihn hinein oder sogar ihm entgegen wirken.585 Angewandt auf die genannte Kantische Einteilung heißt das: Ein staatlicher Friedenszustand, das Staatsrecht, ist immer auch abhängig vom Frieden zwischen den Staaten, dem Völkerrecht. Umgekehrt ist nach Kant aber auch ein internationaler Friede nicht denkbar, ohne solide, schon rechtlich-verfaßte Einheiten als seine Basis zu haben.586 Und das Weltbürgerrecht (als Besuchsrecht der Staatsbürger untereinander – staatsübergreifend –) wird erklärbar, wenn die Basis des Rechts im gegenseitigen Begegnen erinnert wird: Eine Rechtskonstitution unter endlichen Vernunftwesen ist ausgeschlossen, wenn sie keine Berührungspunkte miteinander haben. Aus diesem Grund ist das Besuchsrecht unabdingbare Voraussetzung für die Entwicklung eines gemeinsames Rechts über die Staatsgrenzen hinaus, für friedliche Beziehungen unter den Bürgern der einzelnen Staaten. Der einzelne, der im fremden Staat ankommt, hat zunächst kraft seines Menschseins Anspruch auf Anerkennung, ihm darf nicht feindlich begegnet werden.587 Dies bedeutet zwar nicht, daß er sich ohne weiteres niederlassen und seinen Lebenskreis im neuen Land aufbauen darf588, es ist ihm aber 583
I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 43, A 162/B 192 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 311). 584 Vgl. dazu K. Jaspers, „Kants ‚Zum ewigen Frieden‘“ (1957) in: H. Saner (Hrsg.), Karl Jaspers, Aneignung und Polemik; Gesammelte Reden und Aufsätze zur Geschichte der Philosophie (1968), S. 205 (206, 207). 585 Dieser Gedanke taucht auch auf bei A. Pinzani, „Das Völkerrecht (§§ 53–61)“ in: O. Höffe (Hrsg.), Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (1999), S. 235 (236). Siehe auch I. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, Siebenter Satz, A 398. 586 I. Kant, Zum ewigen Frieden, Zweiter Abschnitt, Erster Definitivartikel, BA 20. 587 I. Kant, Zum ewigen Frieden, Zweiter Abschnitt, Dritter Definitivartikel, BA 40. 588 Ebenda. An dieser Stelle beschreibt Kant eine entscheidende Einschränkung in der Berechtigung eines Staates, einen Ankömmling, der einen dauerhaften Aufenthalt anstrebt, abzuweisen. Er schreibt: „(. . .), wenn dies ohne seinen Untergang geschehen kann, (. . .)“. Diese Einschränkung läßt sich so erklären, daß das anerkennende Grundverhältnis zwischen dem „Fremdling“ und der schon existierenden Gemeinschaft ganz unabhängig vom Staatsbürgerstatus besteht. Auch zwischen Bürgern fremder Staaten besteht kraft der einenden Qualität des Menschseins die Ver-
B. Materiell-rechtliche Begründungselemente des Völkerstrafrechts
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unbenommen, sich „zur Gesellschaft anzubieten“. Verstärkt wird dieser Effekt, wenn sowohl im Herkunftsland wie im Gastland des reisenden Bürgers rechtliche Zustände herrschen, die eine Verläßlichkeit im Umgang miteinander auch äußerlich garantieren. Mit der genannten Einteilung steckt Kant den Rahmen ab, in dem sich Überlegungen zu einer internationalen Rechtsordnung zu bewegen haben: Es geht um das Verhältnis vom Staatsrecht zum Interstaatenrecht und um das Verhältnis des einzelnen Bürgers zu den übergeordneten Einheiten, die teils als von ihm selbst mitbegründet (dann sein eigener Staat), teils als ihm fremd (dann andere Staaten) gedacht werden müssen. In ihrem Zusammenwirken haben die genannten Elemente die Kapazität, einen Friedenszustand hervorzubringen, der sich nicht bloß als temporärer Waffenstillstand darstellt, sondern als echter Rechtsfrieden: „Der Weltfrieden kann nur wirklich werden, wenn der rechtliche Zustand in allen drei bis zum Ganzen der Menschheit sich erweiternden Sphären wirklich wird.“589 Hier wird nun deutlich, wie sich die Rechtslehre Kants als „(Rechts-) Friedenslehre und in ihrer systematisch geschlossenen Summe (als) allgemeine (Welt-)Friedenslehre“590 darstellt. In der Weiterentwicklung des Rechtsgedankens über die staatliche Ebene hinaus wird das ursprüngliche Anliegen des Rechts, Wahrung äußerer Freiheit, auch für die Weltebene festgeschrieben. Verbunden ist mit der Bewegung zur weltumfassenden Rechtsordnung gleichzeitig eine Bewegung hin zum Weltfrieden. Wie die drei „möglichen Formen des rechtlichen Zustandes“ zum Weltfrieden führen können, hat Kant in seiner Friedensschrift und in der Metaphysik der Sitten näher ausgearbeitet.591 Im folgenden wird der Gedankengang Kants pflichtung, die Person des anderen zu respektieren. Diese Pflicht hat die Qualität einer Rechtspflicht – sie hat ihren Grund in praktisch-rechtlicher Vernunft. Wäre dies nach Kant nicht so, bliebe ganz ungeklärt, warum man den Fremden nicht einfach „dem Untergang“ aussetzen dürfte: Einerseits könnte man ihn wegen seiner Eigenschaft als „Nichtstaatsbürger“ wie ein Tier behandeln, ihn zu eigenen Nutzen „verwenden“ bzw. durch „Nichtverwendung“ dem eigenen Untergang weihen. Andererseits könnte eine bloß moralische Verpflichtung zum anerkennenden Umgang miteinander keine Einschränkung einer rechtlichen Berechtigung darstellen, den Fremden auszuweisen. Der Staatsbürgerstatus ist demnach nicht gleichzusetzen mit dem Rechtsstatus schlechthin. 589 K. Jaspers, „Kants ‚Zum ewigen Frieden‘ “ (1957), a. a. O. (Fn. 584), S. 207. 590 G. Geismann, „Kants Rechtslehre vom Weltfrieden“ Zeitschrift f. philosophische Forschung 37 (1983), S. 363. 591 Siehe dazu u. a. J. Ebbinghaus, „Kants Lehre vom ewigen Frieden und die Kriegsschuldfrage“ in: H. Oberer/G. Geismann (Hrsg.), Julius Ebbinghaus, Gesammelte Schriften, Bd. 1 (1986), S. 1 ff.; G. Geismann, „Kants Rechtslehre vom Weltfrieden“, a. a. O. (Fn. 590); V. Gerhardt, Immanuel Kants Entwurf „Zum ewigen Frieden“ (1995); O. Höffe (Hrsg.), Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden (1995); W.
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2. Teil: Rechtsstrafe auf internationaler Ebene
die Basis für Überlegungen zu einer internationalen Rechtsgeltung bilden, deren Bruch eine Strafreaktion der Weltgemeinschaft legitimieren könnte. a) Vorbedingungen eines Rechtsfriedens: Das Fundament der internationalen Rechtsbegründung Der Friedensentwurf592, wie Kant ihn in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ entwickelt, beginnt mit „negativen Bedingungen“ des Friedens in Form von Präliminarartikeln, durch deren Beachtung sich eine Art „Vorfriede“ erreichen ließe.593 Sie sind nicht Teil der sich anschließenden, systematischen Rechtslehre vom Frieden, die rechtlich-praktischer Vernunft gemäß den Rechtsbegriff vom Innerstaatenrecht zum Interstaatenrecht und von dort zum Weltbürgerrecht entfaltet.594 Die Präliminarartikel sind dieser Systematik vielmehr vorgelagert. Ihre Bedeutung ist deshalb aber nicht zu unterschätzen, denn sie enthalten immerhin die notwendigen (Vor-)Bedingungen eines zukünftigen Friedenszustandes: Ohne sie wäre ein „Friedenszustand schlechthin unmöglich“595. Kant stellt in ihnen sechs Verbote hinsichtlich solcher Verhaltensweisen im internationalen Umgang miteinander auf, die ihrem Wesen nach unvereinbar sind mit einem dauerhaften (Rechts-)Friedenszustand und bei deren Fortbestehen wegen der durch sie geschaffenen Rahmenbedingungen ein rechtlicher Umgang unter den Völkern unmöglich Platz greifen kann.596 Sie lauten: 1. „Es soll kein Friedensschluß für einen solchen gelten, der mit dem geheimen Vorbehalt des Stoffs zu einem künftigen Kriege gemacht worden.“ 2. „Es soll kein für sich bestehender Staat (. . .) von einem andern Staate durch Erbung, Tausch, Kauf oder Schenkung erworben werden können.“ 3. „Stehende Heere (miles perpetuus) sollen mit der Zeit ganz aufhören.“ Kersting, „Philosophische Friedenstheorie und globale Rechts- und Friedensordnung“ ZfP 44 (1997), S. 278 ff. 592 Vgl. zum Begriff des „Entwurfes“ H. Saner, „Die negativen Bedingungen des Friedens“ in: O. Höffe (Hrsg.), Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden (1995), S. 43 (45, 46) und G. Freudenberg, „Kants Schrift ‚Zum ewigen Frieden‘“, Zeitschrift für evangelische Ethik 11 (1967), S. 65 (69 ff.). 593 Siehe W. Kersting, „Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein“ in: O. Höffe (Hrsg.), Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden (1995), S. 87. Vgl. zu einer rechtshistorischen Einordnung der Präliminarartikel G. Cavallar, Pax Kantiana (1992), S. 100 ff. 594 Vgl. dazu den Zweiten Abschnitt der Friedensschrift, die Definitivartikel. Dazu auch unten im weiteren Verlauf des Texts. 595 G. Geismann, „Kants Rechtslehre vom Weltfrieden“, a. a. O. (Fn. 590), S. 369. 596 Ähnlich G. Geismann, „Kants Rechtslehre vom Weltfrieden“, a. a. O. (Fn. 590), S. 369.
B. Materiell-rechtliche Begründungselemente des Völkerstrafrechts
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4. „Es sollen keine Staatsschulden in Beziehung auf äußere Staatshändel gemacht werden.“ 5. „Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines andern Staats gewalttätig einmischen.“ 6. „Es soll sich kein Staat im Kriege mit einem andern solche Feindseligkeiten erlauben, welche das wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen müssen: als da sind, Anstellung der M e u c h e l m ö r d e r (percussores), G i f t m i s c h e r (venefici), B r e c h u n g d e r K a p i t u l a t i o n , A n s t i f t u n g d e s Ve r r a t s (perduellio) in dem bekriegten Staat etc.“597 Jedes einzelne dieser Verbote hat Kant gemäß seine eigene Berechtigung als Wegbereiter der Konstitution eines dauerhaften Friedenszustandes. 1. Das Verbot des geheimen Vorbehalts beim Friedensschlusse verhindert zunächst den unehrlichen Umgang der Völker miteinander, wirkt also insgesamt vertrauensbildend – eine Voraussetzung des Rechts, die aus dem Rechtsverhältnis positiv-freier Personen wohl bekannt ist. Ein Friedensschluß ist außerdem widerspruchsfrei gar nicht denkbar, wenn (mindestens) eine der Parteien schon bei seinem Abschluß dessen Bruch einrechnet.598 An dieser Stelle sei an Kants zweites Beispiel zum kategorischen Imperativ in seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten erinnert: Ein Versprechen, welches mit dem festen Vorsatz eingegangen wird, es nicht einzulösen, ist in sich widersprüchlich, da bei Verallgemeinerung dieses Handlungsgrundsatzes die Existenz von Versprechen im allgemeinen aufgehoben wäre, also das Versprechen selbst unmöglich würde.599 Positiv gewendet bedeutet dies, daß ein Versprechen pflichtgemäß600 nur geäußert werden kann, wenn es vom Willen zur Einhaltung getragen ist. Handelt es sich um ein Friedensversprechen, so darf es ebenso kategorisch nicht schon mit dem inneren Vorbehalt seines baldigen Bruchs gegeben werden. Nach Kant ist „Frieden“ nämlich mehr, als ein „bloßer Waffenstillstand, Aufschub der Feindseligkeiten“, er bedeutet „das Ende aller Hostilitäten“ überhaupt.601 Damit ist dann aber jede Friedensvereinbarung unter dem inneren Vorbehalt künftiger Kriegshandlungen, wenn auch aus bisher noch unbekannten Ursachen, ein mit dem Begriff des Friedens selbst kollidierendes Verhalten, mithin in sich widersprüchlich, also unrichtig.602 597 598
I. Kant, Zum ewigen Frieden, Erster Abschnitt, BA 5 ff. Siehe V. Gerhardt, Immanuel Kants Entwurf „Zum ewigen Frieden“ (1995),
S. 43. 599 600 601
I. Kant, GMdS, BA 54. In der Grundlegungssphäre ist bei Kant die moralische Pflicht gemeint. I. Kant, Zum ewigen Frieden, Erster Abschnitt, BA 5.
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2. Teil: Rechtsstrafe auf internationaler Ebene
2. Im zweiten Präliminarartikel ist eine Folge aus Kants Verständnis vom Staat als die „Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“603, also einer sich selbst bestimmenden Einheit604 benannt: Kein für sich bestehender Staat soll von einem anderen Staat erworben werden können. Der Staat als moralische Person hat wie einzelne natürliche Personen eine unübergehbare absolute Wertigkeit dadurch, daß er die Fähigkeit zur Selbstbestimmung, Autonomie besitzt. Begreift sich ein Staat, d. h. die verfaßte Gemeinschaft freier Personen, aber als solche selbstbestimmte Einheit, so ist damit in Parallele zum Gedankengang bei den einzelnen vernunftbegabten, positiv-freien Individuen auch die Einsicht in die Gleichbedeutsamkeit der anderen, ebenso gearteten Rechtseinheiten gesetzt. Die gegenseitige Anerkennung von Staaten als autonome Rechtseinheiten ist Konsequenz aus dieser Einsicht; ein Staat hat den anderen als zu erhaltende Rechtseinheit vorauszusetzen.605 Die genannte Parallele kann sogar noch weiter gezogen werden: Im Umgang miteinander ist das Dasein des anderen in seiner Selbstzweckhaftigkeit zu respektieren. Seine Qualität als autonome Einheit verhindert es, zum Mittel degradiert, als Sache behandelt werden zu können.606 Das Verbot des Erwerbs eines Staates ist die notwendige Schlußfolgerung aus einem solchen Gedankengang. 3. Das dritte Verbot betrifft das ständig bestehende Drohpotential eines Staates durch „stehende Heere“, also einer Militärmacht, die eigens unterhalten wird, um stets „gerüstet zu erscheinen“. Kant geht so weit, daß er in dem „Stets bereit!“ eines Staates selbst die Ursache für einen Angriffskrieg sieht: Die Spirale des Wettrüstens könne nicht ins Unendliche fortgetrieben werden, ohne daß der eine oder andere Staat früher oder später notwendig unter den Kosten dieses Wahnsinns zusammen breche und einen Ausweg darin suche, die Spirale durch einen „kurzen Krieg“ zu durchbrechen. Neben dieser einleuchtenden Argumentation im dritten Präliminarartikel setzt Kant an anderer Stelle noch viel grundsätzlicher an, um das Faktum ständiger gegenseitigen Bedrohung der Staaten untereinander als rechtsfeindlich darzustellen. Den zweiten Abschnitt seiner Friedensschrift beginnt Kant mit 602 Vgl. auch G. Geismann, „Kants Rechtslehre vom Weltfrieden“, a. a. O. (Fn. 590), S. 369, 370. 603 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 45, A 164/B 194 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 313). 604 Vgl. I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 49, A 173/B 203 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 318): Also sind es drei verschiedene Gewalten (. . .), wodurch der Staat (civitas) seine Autonomie hat, d. i. sich selbst nach Freiheitsgesetzen bildet und erhält.“ 605 So auch G. Geismann, „Kants Rechtslehre vom Weltfrieden“, a. a. O. (Fn. 590), S. 369. 606 Vgl. V. Gerhardt, Immanuel Kants Entwurf „Zum ewigen Frieden“ (1995), S. 54 und G. Geismann, „Kants Rechtslehre vom Weltfrieden“, a. a. O. (Fn. 590), S. 370, 371.
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Überlegungen zum Verhältnis der Menschen zueinander in einem noch rechts-ungesicherten Zustand, im status naturalis. Er schreibt dort in einer Anmerkung: „Gemeiniglich nimmt man an, daß man gegen niemand feindlich verfahren dürfe, als nur, wenn er mich schon tätig l ä d i e r t hat, und das ist auch ganz richtig, wenn beide im b ü r g e r l i c h - g e s e t z l i c h e n Zustande sind. Denn dadurch, daß dieser in denselben getreten ist, leistet er jenem (vermittelst der Obrigkeit, welche über beide Gewalt hat) die erforderliche Sicherheit. – Der Mensch aber (oder das Volk) im bloßen Naturstande benimmt mir diese Sicherheit, und lädiert mich schon durch eben diesen Zustand, indem er neben mir ist, obgleich nicht tätig (facto), doch durch die Gesetzlosigkeit seines Zustandes (statu iniusto), wodurch ich beständig von ihm bedroht werde, und ich kann ihn nötigen, entweder mit mir in einen gemeinschaftlich-gesetzlichen Zustand zu treten, oder aus meiner Nachbarschaft zu weichen. –“607 Vor diesem Hintergrund wird das dritte Verbot besonders dringlich: Staaten befinden sich, bevor sie sich einem gemeinsamen öffentlichen Recht unterstellen, im Naturzustand, also in einer Situation, in der jede Rechtssicherheit fehlt. Kommt zu dieser zustandsimmanenten Unsicherheit noch ein verstärkender Faktor hinzu, indem durch Übermacht an verletzenden Mitteln die Verletzlichkeit des weniger Gerüsteten noch erhöht wird, so wird dadurch die Überwindung der Instabilität erschwert, die Ausgangslage für einen echten Friedensschluß also drastisch verschlechtert. Die Ausstrahlung einer aggressiven Grundhaltung durch einen bis an die Zähne bewaffneten Nachbarn ist der Ausbildung gegenseitigen Vertrauens hinderlich, entzieht also dem rechtlichen Umgang miteinander die Basis.608 So verstanden ist die allmähliche Abschaffung dauerhafter Heere die Grundlage für ein auf Gleichbedeutsamkeit der Staaten beruhendes Rechtsverhältnis, welches dann zu einem dieses Verhältnis festigenden und absichernden Rechtszustand entwickelt werden kann. 4. Der vierte Präliminarartikel verbietet, „Staatsschulden in Beziehung auf äußere Staatshändel“ zu machen. Gerhardt hat als Verständnishilfe den Begriff „Staatshändel“ mit „gewalttätigen (. . .) ‚Zwistigkeiten‘ zwischen den Staaten“ gedeutet.609 Demnach dürfen keine Schulden bloß zur Bereitstellung von Mitteln zur kriegerischen Auseinandersetzung aufgenommen werden, „Kriegsführungskredite“ sind mit einem dauerhaften Friedenszu607
I. Kant, Zum ewigen Frieden, Zweiter Abschnitt, *-Anmerkung, BA 19. G. Geismann in „Kants Rechtslehre vom Weltfrieden“, a. a. O. (Fn. 590), S. 371 weist darauf hin, daß das Rüsten seiner Idee nach immer ein Wettrüsten ist, „weil es nicht einfach nur ein Sich-Schützen vor einer drohenden Gefahr ist, sondern zugleich das Schaffen einer drohenden Gefahr für den Quell der drohenden Gefahr“. Also bewirke die unvermeidliche Eigendynamik des Rüstens einen Zustand unaufhörlicher Kriegsdrohung. 609 V. Gerhardt, Immanuel Kants Entwurf „Zum ewigen Frieden“ (1995), S. 60. 608
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2. Teil: Rechtsstrafe auf internationaler Ebene
stand unvereinbar. Den tieferen Grund für dieses Verbot benennt Kant schon am Ende des dritten Präliminarartikels: Er meint, daß „unter den drei Mächten, der H e e r e s m a c h t , der B u n d e s m a c h t und der G e l d m a c h t , die letztere wohl das zuverlässigste Kriegswerkzeug sein dürfte“610. Werden nun Schulden aufgenommen, denen kein „materieller Gegenwert“ etwa in Form von Investitionen in die Infrastruktur entspricht („Zum Behuf der Landesökonomie“611) und wird die Tilgung eines solchen Kredits außerdem ihrerseits durch die Aufnahme eines Darlehens ermöglicht, so entsteht ein „Kreditsystem ins Unabsehliche anwachsender und doch immer für die gegenwärtige Forderung (. . .) gesicherter Schulden“ und dadurch „eine gefährliche Geldmacht, nämlich ein Schatz zum Kriegführen“612. Stehen auf diese Weise ausreichend Finanzmittel zur Verfügung, ergibt sich daraus eine „Leichtigkeit Krieg zu führen“, die verbunden mit der „Neigung der Machthabenden dazu“ ein „großes Hindernis des ewigen Friedens“613 darstellt. Hinzu kommt, daß auch durch die Ansammlung einer solchen „Geldmacht“ nur zum Zwecke der Kriegsführung nach außen hin Signale gesetzt werden, die auf die Nachbarschaft bedrohlich wirken können: Wie die Tatsache der Rüstung selbst, ist die Anschaffung der Mittel dafür ein das Vertrauen in die Friedensbereitschaft des Gegenübers schwächendes Moment.614 5. Der fünfte Präliminarartikel enthält das Verbot jeder gewalttätigen Einmischung eines Staates „in die Verfassung und Regierung eines andern Staates“. Einen Grund hat dieses Verbot zunächst in Kants Zweifeln an einer denkbaren Berechtigung für eine solche Intervention: Es könne nicht das Verhalten dieses Staates gegenüber seinen Untertanen sein, welches eine gewalttätige Einmischung von außen rechtfertigt, denn es stelle keine Läsion des anderen Staates dar.615 Hier wird also differenziert zwischen rein innerstaatlichen Vorgängen und solchen, die das Interstaatenverhältnis betreffen. Dies wird auch deutlich dadurch, daß es um das Verbot der Einmischung in die „Verfassung und Regierung“ des fremden Staates geht, also gerade in die innere Struktur fremder Selbstbestimmung, die äußerer Beurteilung und davon abgeleitet äußerer Beeinflussung durch Gewalt ent610
I. Kant, Zum ewigen Frieden, Erster Abschnitt, 3. Präliminarartikel, BA 9. I. Kant, Zum ewigen Frieden, Erster Abschnitt, 4. Präliminarartikel, BA 9, 10. Siehe dazu V. Gerhardt, Immanuel Kants Entwurf „Zum ewigen Frieden“ (1995), S. 59, 60. 612 I. Kant, Zum ewigen Frieden, a. a. O. (Fn. 611). 613 I. Kant, Zum ewigen Frieden, a. a. O. (Fn. 611), BA 10. 614 Argument bei H. Saner, „Die negativen Bedingungen des Friedens“, a. a. O. (Fn. 592), S. 63, 64. 615 Vgl. I. Kant, Zum ewigen Frieden, Erster Abschnitt, 5. Präliminarartikel, BA 11. 611
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zogen sein muß.616 Im Umkehrschluß ergibt sich, daß als berechtigter Grund zum Eingreifen in fremde Staatlichkeit dessen unrechtliches Verhalten gegenüber dem eigenen Staat in Betracht kommt617: Parallel zum Zwangsrecht natürlicher Personen darf bevorstehendes Unrecht im Zweipersonenverhältnis abgewehrt werden. Ganz offensichtlich wird das Bild des Individuums im Rechtsverhältnis zu anderen auf das Verhältnis der Staaten zueinander übertragen und die für das erstere entwickelten Prinzipien auch für den Interstaatenzusammenhang geltend gemacht618: Im Recht darf auf den inneren Prozeß der Selbstbestimmung nicht zwangsweise eingewirkt werden, allein die äußere Rechtmäßigkeit des Handelns darf erzwungen werden.619 Aus der Sicht Kants liegt in der gewalttätigen Einmischung sogar eine „Verletzung der Rechte eines nur mit seiner innern Krankheit ringenden, von keinem andern abhängigen Volkes“620. Zum Prinzip erhoben würde die Einmischung in fremde Staatlichkeit aus Gründen eigener Mißbilligung der Zustände dort, die Selbständigkeit staatlicher Einheiten überhaupt in Frage stellen, zur Verunsicherung der „Autonomie aller Staaten“ führen.621 Denn durch ein solches Verhalten würde das eigene Urteil über das der betroffenen Rechtsgemeinschaft gestellt, deren innere Verfaßtheit zum Objekt eigener (angemaßter) Verfügungsgewalt gemacht. Dies ist angesichts der notwendigen Existenz selbstbestimmter Einheiten (Staaten) für die von Kant begründete Welt-Rechtsordnung622 kein geringes Hindernis des ewigen Friedens. 6. Die letzte Vorbedingung für einen dauerhaften Friedenszustand auf Weltebene betrifft das Verhalten der Staaten zueinander, solange zwischen ihnen noch Krieg herrscht. Selbst im Zustand gewalttätiger Auseinanderset616 Vgl. dazu auch oben im ersten Teil der Arbeit die Ausführungen zur Autonomie im Staat (im Abschnitt zur „Garantie der Rechtswirklichkeit“) durch die drei Gewalten der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt (Regierung) und der rechtsprechenden Gewalt. Der Gedanke der selbstbestimmten Einheit Staat tauchte außerdem schon im 2. Präliminarartikel auf. 617 Vgl. dazu auch G. Geismann, „Kants Rechtslehre vom Weltfrieden“, a. a. O. (Fn. 590), S. 373. 618 So auch V. Gerhardt, Immanuel Kants Entwurf „Zum ewigen Frieden“ (1995), S. 63, 64. 619 Vgl. hierzu den ersten Teil der Arbeit, insbesondere die Überlegungen zur Zwangsbefugnis. 620 I. Kant, Zum ewigen Frieden, Erster Abschnitt, 5. Präliminarartikel, BA 11, 12. 621 I. Kant, Zum ewigen Frieden, Erster Abschnitt, 5. Präliminarartikel (am Ende), BA 12. Zur Frage, ob in den Fällen „humanitärer Intervention“ möglicherweise eine Modifikation dieser Ausführungen zu gelten hat, siehe M. Köhler, „Zur völkerrechtlichen Frage der ‚humanitären Intervention‘“ in: G. Beestermöller (Hrsg.), Die humanitäre Intervention – Imperativ der Menschenrechtsidee“ (2003), S. 75 ff. 622 Vgl. dazu die Definitivartikel in Kants Friedensschrift.
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zungen sollen solche Feindseligkeiten nicht erlaubt sein, „welche das wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen müssen“623. Durch ein solches Verbot wird nicht nur ein bestimmter Kanon von Handlungen geächtet (Kant nennt z. B. die Anstellung von Meuchelmördern und Giftmischern), viel weiterreichend ist die Pflicht, bei jeder Handlung im Krieg immer schon den Gedanken an den zukünftigen Frieden mitzuführen. Die Maximen des Kriegführens haben sich daher nicht mehr bloß nach Art der hypothetischen Imperative am Streben nach dem Sieg zu orientieren (etwa: Ist die in Aussicht genommene Handlung geeignet, den anderen zu besiegen?), sondern müssen außerdem an der unbedingten Pflicht zum Frieden gemessen werden (ist die auszuführende Handlung mit dem Gedanken des zukünftigen Friedens grundsätzlich noch vereinbar oder wird durch sie das Grundvertrauen zwischen den Völkern in einer Art gestört, die einen rechtlichen Umgang miteinander auf Dauer vereitelt?).624 Damit werden – ungeachtet des noch herrschenden Naturzustandes unter den Staaten – (Kriegs-)Handlungen über den Bereich bloßer Zweckorientierung hinaus dem Rechtsprinzip (bzw. seiner Erweiterung im internationalen Zusammenhang) unterworfen. Gedanklich möglich ist dies, weil Kant dem Staat als autonomer Einheit die Orientierung zum rechtlich Richtigen überhaupt zutraut.625 Wie bei den menschlichen Vernunftwesen ergibt sich aus der Autonomie des Staates die Befähigung zum rechtlichen Umgang mit anderen gleichgearteten Einheiten – und zwar schon in einem Zustand, in dem sich eine Rechtsverfassung noch nicht herausgebildet hat. Wenn sich die Staaten auch bekriegen, so muß „irgendein Vertrauen auf die Denkungsart des Feindes übrig bleiben“, wenn nur die Möglichkeit des Friedensschlusses bestehen bleiben soll.626 Dies setzt voraus, den Gegner als überhaupt der Re623 I. Kant, Zum ewigen Frieden, Erster Abschnitt, 6. Präliminarartikel, BA 13 (Hervorhebung der Verf.). 624 Vgl. dazu auch I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 57, A 221/B 251 (AkademieAusg. Band VI, S. 347). 625 Die staatliche Struktur wird bei Kant in Parallele zur Struktur der praktischen Vernunft gedacht (vgl. § 45 seiner Metaphysik der Sitten). Das richtige Staatshandeln bestimmt sich dann ganz ähnlich wie das gute Individualhandeln: Das allgemeine Gesetz, anhand dessen eine Prüfung erfolgt, wird durch die Gesetzgebung unter der Mitwirkung aller aufgestellt. Die Regierung, als das praktisch handelnde Element, nimmt Umstände der Wirklichkeit in seine Maximenbildung auf und handelt nach einem Reflexionsprozeß. Der Richter überprüft die Vereinbarkeit von Maxime und allgemeinem Gesetz, er leistet die gültige Subsumtion. Es wird also das Verfahren der Selbstbestimmung erweitert auf den Zusammenhang einer die menschliche Freiheit in ihrer Gesamtheit hervorbringende Organisationsform. (Siehe dazu und zur Problematik einer solchen Analogie schon oben zur „Garantie der Rechtswirklichkeit“ im Staat, 1. Teil der Arbeit, C. II. 2.) 626 Siehe I. Kant, Zum ewigen Frieden, Erster Abschnitt, 6. Präliminarartikel, BA 13.
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flexion mächtige Einheit anzuerkennen. Rechtlich-vernünftige Konsequenz daraus ist die Unmöglichkeit, den anderen zum bloßen Objekt eigener Willkür zu machen und Ausdruck dieser Unmöglichkeit ist das Verbot des Gebrauchs solcher Kriegsmittel, die einen „Ausrottungskrieg“ bedeuten würden. Solche Mittel sorgen für die „Vertilgung“ „allen Rechts“627 dadurch, daß schon die erste Grundbedingung eines Rechtsfriedens, das Aufeinandertreffen vernünftiger Rechtseinheiten, unerfüllt bleibt. Wenn es also zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommt, die auf der beschränkten, notwendig einseitigen Perspektive der jeweiligen Gegner beruhen, so verhindert das Verbot des sechsten Präliminarartikels immerhin die totale Auslöschung der Kriegsparteien und deren gegenseitigen endgültigen Vertrauensverlust. Der Überblick über die Präliminarartikel in Kants Friedensschrift hat zunächst das Bild einer Ansammlung von Verhaltensregeln für Staaten erzeugt, die qualitativ ganz unterschiedlicher Natur sind und zueinander in keinerlei erkennbarer Ordnung zu stehen scheinen: Es ist die Rede vom Verhalten bei Friedensverträgen, von der Unveräußerlichkeit der Staaten, von der Abschaffung stehender Heere und der Frage der Kreditfinanzierung solcher Heere, vom Interventionsverbot und vom Verbot bestimmter Kriegshandlungen. Es ist zutreffend zu sagen, daß Kant die „Verbote argumentativ kaum miteinander“ verbindet und daß ihre rechtsphilosophische Systematisierung auf Schwierigkeiten stoßen muß.628 Sie sind der systematischen Rechtslehre vom Frieden gerade vorgelagert. Allerdings ist fraglich, ob dies den Schluß zuläßt, ihnen komme deshalb eine im wesentlichen pragmatische Dimension zu629 und sie seien der „Erfahrung entnommen“, seien also nicht aus einem Prinzip abgeleitet630. Die sechs Verhaltensregeln dienen – von ganz unterschiedlichen Richtungen aus – der Förderung, Bewahrung oder dem Schutz der Grundvoraussetzungen eines internationalen Rechts. So tritt in den Artikeln 1, 3, 4 und 6 das Anliegen zutage, das Grundvertrauen zwischen den Staaten, welches im Naturzustand notwendig ungesichert ist, als Vorbedingung rechtlicher Verhältnisse zueinander zu fördern. Die Artikel 2 und 5 machen das Grundverständnis vom Staat als autonomer Einheit zur Grundlage gegenseitiger Anerkennung, welche ausschließt, den anderen zum bloßen Objekt eigener Willkür zu machen. Die sechs Verbote haben damit gemeinsam, daß sie sich auf Gründe zurück führen lassen, die ganz parallel zu den Fundamenten einer freiheitlichen 627 628
I. Kant, Zum ewigen Frieden, Erster Abschnitt, 6. Präliminarartikel, BA 13. So H. Saner, „Die negativen Bedingungen des Friedens“, a. a. O. (Fn. 592),
S. 49. 629
Ebenda. So W. Kersting, „Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein“, a. a. O. (Fn. 593), S. 87. 630
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2. Teil: Rechtsstrafe auf internationaler Ebene
Rechtsordnung unter endlichen Vernunftwesen bestehen: Die Staaten sind Rechtseinheiten, die prinzipiell in der Lage sind, sich zum Richtigen zu orientieren; die Erkenntnis, selbst so geartet zu sein, macht die Anerkennung ebenso gearteter Gegenüber notwendig; diese Anerkennung ist der Grundstock eines prinzipiellen Vertrauens in die Vernünftigkeit der anderen, welches durch rechtliche Regelungen verfestigt werden muß. So betrachtet, sind die einzelnen Artikel Ausgestaltungen bzw. Konkretisierungen praktischer Vernunft, wie sich auch das Anerkennungs- und Vertrauensverhältnis zwischen endlichen Vernunftwesen notwendig aus Vernunftgründen ergibt. Das Verständnis der Präliminarartikel als primär pragmatische, der Erfahrung entnommene Umgangsregeln ist deshalb verkürzt. Sie geben vielmehr den Grundvoraussetzungen eines Weltrechts konkrete Gestalt, wenn sie auch wegen dieser Konkretion keinen abschließenden Katalog bilden können.631 b) Inhaltlich-materielle Bestimmung des internationalen Rechts Von der durch die Präliminarartikel geschaffenen Basis aus läßt sich ein allgemeines interstaatliches Recht entwickeln, welches in der Selbständigkeit der verfaßten Völker seinen Grund hat. Inzwischen schon vertraut ist der Grund für die Notwendigkeit eines solchen Rechts: Wie einzelne Individuen können auch Staaten ihre eigene Perspektive im Umgang mit anderen nie gänzlich verlassen – und zwar auch dann nicht, wenn sie durchaus guten Willens sind, ihre Beziehungen zu den anderen selbständigen Einheiten der Vernunfteinsicht gemäß zu gestalten.632 Auch im Interstaatenverhältnis sind daher verbindende, allgemeingültige Normen unentbehrlich, wenn sich ein äußeres Friedensverhältnis einstellen soll. Insofern trägt die Parallele zum Individuum also nicht nur in Bezug auf die Vernunftbegabung sondern auch auf die Endlichkeit. Es finden sich auf diese Weise für die Ordnung unter den Staaten die wesentlichen Aspekte der allgemeinen materiellen Rechtsbestimmung633 wieder: Das Interstaatenrecht hat die äußere Freiheit der Staaten zu koordinieren wie das Privatrecht634 dies für die Individuen zu leisten hat. Das allgemeine Rechtsgesetz gilt also auch für das Verhältnis der Staaten zueinander: Die äußeren Handlungen eines Staates müssen mit 631 Vgl. zur Schwierigkeit eines reinen Rechtsbegriffs, der jedoch ein „auf die Praxis (Anwendung auf in der Erfahrung vorkommende Fälle) gestellter Begriff ist“ I. Kant, MdS, Rechtslehre, Vorrede, AB III, IV (Akademie-Ausg. Band VI, S. 205, 206). 632 Vgl. in Analogie zu den Menschen § 44 MdS (A 162/B 192): (. . .), sie mögen auch so gutartig und rechtliebend gedacht werden, wie man will, (. . .)“. 633 Vgl. dazu C. I. im ersten Teil dieser Arbeit. 634 Zur Terminologie siehe §§ 41 und 42 der MdS.
B. Materiell-rechtliche Begründungselemente des Völkerstrafrechts
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der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen können.635 Aufgabe dieses Rechts ist es, den verfaßten Gemeinschaften ein Leben in Selbständigkeit zu ermöglichen, nicht, inhaltliche Vorgaben über die Ausgestaltung der inneren Verfassung zu machen. Verbindlichkeit erhält es durch seinen freiheitsgesetzlichen Charakter, nicht durch das Faktum der Gesetztheit schlechthin. Gedacht werden muß dieses materielle Recht als Produkt der Vereinigung der Staatswillen. Die Parallele zu den endlichen Vernunftwesen führt auch zu der Möglichkeit von Fehlleistungen der Staaten bei ihrem äußeren Handeln. Sie können bewußt dem Rechtsgesetz zuwider handeln, sie können sich aber auch irrtümlich allgemein freiheitswidrig verhalten. Die Kehrseite dazu ist die Befugnis, solchen Freiheitshindernissen mit Zwang zu begegnen, sich also bei bevorstehender Verletzung zu wehren.636 Bis zu dieser Stelle im Gedankengang hat die Analogie zum vernünftigen Subjekt ihre Berechtigung. Kant selbst regt sie im zweiten Definitivartikel seiner Friedensschrift an, wenn er ihn mit den Worten beginnt: „Völker als Staaten können wie einzelne Menschen beurteilt werden, (. . .)“.637 Soweit dadurch das Interstaatenverhältnis unter den Rechtsbegriff gebracht wird, trägt die Analogie unter der Bedingung, daß die Staaten Rechtseinheiten, d. h. Vernunftstrukturen gemäß organisierte, selbständige Mengen von Menschen sind.638 Allerdings sind damit die unter das internationale Recht fal635 Nach G. Geismann, „Kants Rechtslehre vom Weltfrieden“, a. a. O. (Fn. 590), S. 366, 367 sollen sich die Völker (als öffentlich-rechtliche Einheiten, also als „Staatsvölker“) in einen Zustand begeben, in welchem „die Freiheit des einen Volkes mit der Freiheit jedes anderen Volkes nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen bestehen kann.“ Zu dem Übergang in einen solchen Zustand vgl. unten unter c). 636 Zum letzteren auch G. Geismann, „Kants Rechtslehre vom Weltfrieden“, a. a. O. (Fn. 590), S. 373. Siehe auch I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 56, A 220/B 250 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 346). 637 I. Kant, Zum ewigen Frieden, Zweiter Abschnitt, Zweiter Definitivartikel, BA 30. 638 Dies wird sowohl in der Rechtslehre als auch in der Friedensschrift dadurch deutlich, daß Kant das Verhältnis der Staaten zueinander erst nach der vollständigen Ausarbeitung der Prinzipien des Staatsrechts bestimmt. Die Organisation der verfaßten (Primär-)Gemeinschaft Staat gemäß der Vernunftstruktur ist im Völkerrecht dann immer schon vorausgesetzt. Aus diesem Grunde höbe das Völkerrecht seine eigene Basis auf, würde es die Selbständigkeit der Staaten prinzipiell in Frage stellen. Überlegungen zum „Souveränitätsverzicht“ zugunsten übergeordneter Institutionen stehen deshalb immer unter dem Vorbehalt, die Staatlichkeit selbst nicht anzutasten. Ganz leer wird das Gesagte dagegen, wenn statt der selbstbestimmten, verfaßten Völker mit der hM im heutigen Völkerrecht beliebige Machtgebilde als Staaten definiert werden: Ein Staat sei dadurch charakterisiert, daß er ein eigenes Staatsgebiet,
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2. Teil: Rechtsstrafe auf internationaler Ebene
lenden Rechtsverhältnisse noch nicht vollständig erfaßt.639 Kant schreibt: „Das Recht der S t a a t e n in Verhältnis zueinander (. . .) ist nun dasjenige, was wir unter dem Namen des Völkerrechts zu betrachten haben: wo ein Staat als eine moralische Person gegen einen anderen im Zustande der natürlichen Freiheit, folglich auch dem des beständigen Krieges betrachtet, teils das Recht z u m Kriege teils das i m Kriege teils das, einander zu nötigen, aus diesem Kriegszustande herauszugehen, mithin einen den beharrlichen Frieden gründende Verfassung, d. i. das Recht n a c h dem Kriege zur Aufgabe macht, und führt nur das Unterscheidende von dem des Naturzustandes einzelner Menschen oder Familien (im Verhältnis gegeneinander) von dem der Völker bei sich, daß im Völkerrecht nicht bloß ein Verhältnis eines Staats gegen den anderen im ganzen, sondern auch einzelner Personen des einen gegen einzelne des anderen, imgleichen gegen den ganzen anderen Staat selbst in Betrachtung kommt; (. . .).“640 Das „Unterscheidende“ zwischen dem Naturzustande einzelner Menschen und dem verfaßter Völker zueinander ist demnach zunächst darin zu sehen, daß es im letzteren zu wechselseitigen Rechtsbeziehungen auch unter verschieden gearteten Rechtseinheiten kommen kann. Das Recht der Personen im Staat (Privatrecht) und das Recht der Staaten untereinander (Interstaatenrecht, bei Kant „Völkerrecht“641) bedarf der Vervollständigung durch ein Recht einzelner Personen des einen Staates gegenüber einzelner Personen des anderen und gegenüber anderen Staaten im Ganzen. Diese Erweiterung im Kreis möglicher Betroffenheit von Freiheitssphären bewirkt, daß das Recht Freiheitsrealisation für das einzelne Individuum wie auch Freiheitsrealisation für verfaßte Gemeinschaften – und zwar je aus Gründen eigener Autonomie – zu leisten hat. Eine Verbindung dieser beiden Sphären hat Kant mit seinem dritten Element des Friedensentwurfes, dem Weltbürgerrecht, angedeutet. Das Recht des einzelnen, sich in einem fremden Staate „zum V e r k e h r (. . .) a n z u b i e t e n“, „sofern es auf die mögliche Vereiein Staatsvolk und eine irgendwie geartete Staatsgewalt habe. Vgl. dazu u. a. Art. 1 der „Montevideo Convention on Rights and Duties of States“ vom 26.12.1933 (League of Nations Treaty Series, Bd. 165, 19 ff.); I. Brownlie, Principles of Public International Law (5. Aufl., 1998), S. 70 ff.; R. Higgins, Problems & Process, International Law and How We Use it (1993), S. 39 ff. (alle mit einem vierten Kriterium, nämlich der Fähigkeit, mit anderen Staaten Beziehungen aufzunehmen); G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre (3. Aufl., 7. Neudruck, 1960), S. 394 ff.; K. Hailbronner in: W. Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht (2. Aufl., 2001), S. 191 ff. 639 Dazu auch A. Pinzani, „Das Völkerrecht (§§ 53–61)“ a. a. O. (Fn. 585), S. 237. 640 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 53, A 215, 216/B 246 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 343). 641 Er selbst weist auf die Ungenauigkeit dieser Begrifflichkeit hin und favorisiert die Bezeichnung „Staatenrecht“ (ius publicum civitatum), I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 53, A 215/B 246 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 343).
B. Materiell-rechtliche Begründungselemente des Völkerstrafrechts
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nigung aller Völker in Absicht auf gewisse allgemeine Gesetze ihres möglichen Verkehrs geht“, ist das weltbürgerliche.642 Es ist notwendig, weil alle Völker naturgemäß (der Kugelgestalt der Erde gemäß643) in einem Verhältnis physisch möglicher Wechselwirkung zueinander stehen. Sie können „untereinander in wirksame Verhältnisse kommen“, worin gerade der Grund für die Notwendigkeit liegt, die Beziehungen rechtlich zu gestalten: Die „Vernunftidee einer f r i e d l i c h e n , (. . .), durchgängigen Gemeinschaft aller Völker auf Erden, die untereinander in wirksame Verhältnisse kommen können, ist nicht etwa philanthropisch (ethisch), sondern ein r e c h t l i c h e s Prinzip.“644 Das Weltbürgerrecht übernimmt eine vermittelnde Rolle zwischen Staatsrecht und Interstaatenrecht, hilft, eine durchgängige friedliche Gemeinschaft aller Völker auf Erden zu verwirklichen, welche sich der Vernunft nach herstellen muß. Die Welt hat zusammenzuwachsen, der ursprünglichen Gemeinschaft des Bodens gemäß, allerdings rechtlichen Ordnungsprinzipien folgend, und das heißt: unter Respektierung vorhandener Autonomie. Daher sind die verfaßten Völker als selbstbestimmte Einheiten für eine Weltrechtsgemeinschaft unübergehbar, wie auch das einzelne Individuum als Grund selbstbestimmten Lebens nicht zur Disposition steht. Eine Weltgemeinschaft hat sich zusammenzusetzen aus freien Individuen und freien Staaten; das Weltbürgerrecht ist so verstanden die vermittelnde Ebene dieser beiden Sphären. Ihm kommt auf diese Weise eine doppelte Rolle zu645: Als ein subjektives Recht des einzelnen auf friedlichen Verkehr mit Angehörigen anderer Staaten sorgt es für die tatsächliche Begegnung von Menschen und Völkern, die allen rechtlichen Beziehungen zugrunde liegt. Andererseits ist das Weltbürgerrecht das allgemeine Recht der „Menschen und Staaten, in äußerem aufeinander einfließenden Verhältnis stehend, als Bürger eines allgemeinen Menschenstaates“646. Die „Bürger“, Menschen und Staaten, haben also gemeinsam eine Weltrechtsgemeinschaft zu begründen, deren Aufgabe die Wahrung individueller und staatlicher Autonomie ist.647 642 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 62, A 229, 230/B 260 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 352). 643 Vgl. I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 62, A 229/B 259 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 352). 644 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 62, A 229/B 259 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 352). 645 So auch G. Geismann, „Kants Rechtslehre vom Weltfrieden“, a. a. O. (Fn. 590), S. 384. 646 I. Kant, Zum ewigen Frieden, Zweiter Abschnitt, *-Anmerkung, BA 19. 647 Eine Schwierigkeit ist dabei offenkundig: Die Art der Autonomie der zugrundeliegenden Rechtseinheiten ist unterschiedlicher Natur. Die Freiheit des Subjekts ist eine ursprüngliche, in seiner Natur als Vernunftwesen angelegte; die Autonomie von Staaten muß sich erst herstellen, muß „gestiftet“ werden, indem sich eine
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2. Teil: Rechtsstrafe auf internationaler Ebene
c) Internationale Rechtsfriedensordnung Wie ein solches Recht in der Staaten- und Individuenwelt wirklich werden kann, ist der nächste Schritt im Kantischen Gedankengang. Sowohl in der Friedensschrift als auch in der Metaphysik der Sitten setzt Kant zur Beantwortung dieser Frage an der Verfaßtheit der Staaten an und bestimmt von dort aus die beiden weiteren Formen des rechtlichen Zustandes, das Völkerrecht und das Weltbürgerrecht.648 Systematisch bewegt er sich bei diesen Überlegungen auf der Ebene des öffentlichen Rechts, also eines Zustandes schon verfaßter rechtlicher Verhältnisse. Nach Kant enthält das öffentliche Recht nun aber „nicht mehr oder andere Pflichten der Menschen unter sich“ als das Privatrecht und die Materie in beiden Zuständen ist „eben dieselbe“.649 Durch die Gesetze des öffentlichen Rechts werden die materiellen Rechtsverhältnisse lediglich in eine bestimmte rechtliche Form gebracht, die Rechtsverwirklichung möglich macht. Für das Staatsrecht (dazu sogleich unter aa)) hat Kant die zugrundeliegenden (Privat-)Rechtsprinzipien und den Übergang in das öffentliche Recht gründlich ausgearbeitet.650 Bei den beiden anderen „Formen des rechtlichen Zustandes“, dem Völkerrecht und dem Weltbürgerrecht, erfolgt diese Ausarbeitung nur in Ansätzen. Die von Kant selbst angeregte Analogie zwischen Individuum und Staat kann aber auch für diesen Zusammenhang fruchtbar gemacht werden: Wenn auch bei der Einheit „Staat“ von Vernunftstrukturen auszugehen ist, die eine Orientierung zum Richtigen prinzipiell ermöglichen651, dann ist die „Materie“ des Völkerrechts ganz parallel zur „Materie“ des Staatsrechts das allgemeine Rechtsgesetz und die Zwangsbefugnis angewandt auf den Interstaatenzusammenhang.652 Die oben unternommene Interpretation der Präliminarartikel unterstützt diese Sicht dadurch, daß sie in den Präliminarartikeln Ausgestaltungen der schon im Naturzustand unter den Staaten herrschenden Prinzipien sieht. Die Frage Menge von Vernunftwesen selbst eine Verfassung gibt, die ihrerseits Vernunftstrukturen folgt. Die Selbständigkeit der Staaten ist deshalb eine vom Individuum abgeleitete. Vgl. zu den Implikationen dieser Differenz für einen Rechtszustand unter Völkern unten unter c) bb). 648 Vgl. dazu schon die Ausführungen zu Beginn dieses Abschnitts 1. 649 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 41, AB 156 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 306). Siehe auch § 44 der MdS (A 164/B 194): „Denn der Form nach enthalten die Gesetze über das Mein und Dein im Naturzustande ebendasselbe, was die im bürgerlichen vorschreiben, sofern dieser bloß nach reinen Vernunftbegriffen gedacht wird: nur daß im letzteren die Bedingungen angegeben werden, unter denen jene zur Ausübung (der distributiven Gerechtigkeit gemäß) gelangen.“ 650 Vgl. dazu schon Teil 1, C. II. 651 Vgl. dazu nochmals die §§ 45 – 49 der MdS. 652 Vgl. dazu schon oben unter b).
B. Materiell-rechtliche Begründungselemente des Völkerstrafrechts
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des öffentlichen Völkerrechts betrifft dementsprechend die Verwirklichung dieser schon im Naturzustand verbindlichen, aber eben noch ungesicherten Rechtsprinzipien.653 Wie der Übergang vom Naturzustand in den bürgerlichen Zustand für eine Gesamtheit von Menschen durch die Konstitution des Staates stattfindet, hat der Übergang vom Naturzustand der verfaßten Rechtsgemeinschaften in einen öffentlichen Völkerrechtszustand durch eine „der bürgerlichen ähnliche Verfassung“ zu erfolgen.654 Kant arbeitet dafür einen Völkerbund, den Zusammenschluß freier Staaten aus (dazu unter bb)). Noch offen ist die Stellung des Weltbürgerrechts655 in diesem System (dazu cc)). Kant beschreibt sie folgendermaßen: „Auf diese Art (nämlich das Recht des Ankömmlings, sich zum Verkehr mit den Einwohnern des fremden Landes anzubieten, Anmerkung der Verf.) können entfernte Weltteile mit einander friedlich in Verhältnisse kommen, die zuletzt öffentlich gesetzlich werden, und so das menschliche Geschlecht endlich einer weltbürgerlichen Verfassung immer näher bringen können.“656 Auch hier haben sich die Prinzipien des Umgangs miteinander – nämlich die nicht-feindliche Aufnahme von Fremden aus Gründen gegenseitiger Anerkennung als Vernunftwesen – in der Wirklichkeit zu bewähren und auch hier steht am Ende der Entwicklung („zuletzt“) ein Zustand öffentlicher Gesetze, eine Verfassung. Der Übergang in einen solchen Zustand der „weltbürgerlichen Verfassung“ ist allerdings noch schwieriger zu erreichen als die beiden anderen Formen des rechtlichen Zustands, denn immerhin umfaßt ein solcher Schritt das gesamte „menschliche Geschlecht“. Es ist außerdem ganz unklar, wie eine solche Verwirklichung des Weltbürgerrechts ausgestaltet sein könnte. Deutlich ist allerdings, daß sie als die dritte mögliche Form des rechtlichen Zustandes jedenfalls als Ergänzung und Vervollkommnung der beiden anderen Formen, dem Staatsrecht und dem Völkerrecht, gedacht ist.657
653 Ähnlich scheint dies G. Geismann, „Kants Rechtslehre vom Weltfrieden“, a. a. O. (Fn. 590), S. 372, zu sehen, der beim Völkerrecht auf der Ebene des Naturzustandes von einem verbindlichen „Kriegsrecht“ spricht. 654 I. Kant, Zum ewigen Frieden, Zweiter Abschnitt, Zweiter Definitivartikel, BA 31. 655 Vgl. dazu schon die einleitenden Bemerkungen zu diesem Abschnitt 1. 656 I. Kant, Zum ewigen Frieden, Zweiter Abschnitt, Dritter Definitivartikel, BA 41, 42. 657 Vgl. I. Kant, Zum ewigen Frieden, Zweiter Abschnitt, Dritter Definitivartikel, BA 46.
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2. Teil: Rechtsstrafe auf internationaler Ebene
aa) Das Staatsrecht Der erste Schritt für die Herstellung rechtlicher Verhältnisse weltweit ist die Vereinigung der Menschen unter Rechtsgesetzen in einzelnen Staaten.658 Die Notwendigkeit eines solchen Zusammenschlusses und die Form der Organisation, die sich praktischer Vernunft gemäß im Staat herzustellen hat, waren Gegenstand der Überlegungen im ersten Teil dieser Arbeit. Es sei an die wesentlichen Ergebnisse der dortigen Untersuchung nur kurz erinnert: Die Schaffung eines rechtlichen Zustandes, in dem jedem Menschen ein selbstbestimmtes Leben tatsächlich ermöglicht wird, ist eine apriorische Notwendigkeit. Die Leistung, einen solchen Zustand wirklich zu machen, ist von den einzelnen Subjekten selbst zu erbringen: Sie müssen sich miteinander vereinigen und auf diese Weise eine neue, übergeordnete Einheit schaffen. Dafür wesentlich ist eine äußere Verfestigung der Rechtspositionen und eine äußere Macht, die diese auch gegen den besonderen Willen im Einzelfall verwirklicht. Diese Funktionen werden von den drei Gewalten in einem Staat übernommen: Die Gesetzgebung konkretisiert das allgemeine Rechtsgesetz, indem sie für eine Vielzahl von denkbaren Rechtsverhältnissen positiv festlegt, wie diese materiell in Übereinstimmung mit dem Freiheitsgesetz zu bringen sind. Die vollziehende Gewalt verschafft diesen Gesetzen durch eine übergeordnete Macht Geltung, die rechtsprechende Gewalt urteilt in Fällen von Unklarheit über die Rechtmäßigkeit eines äußeren Verhaltens. Dabei stehen diese drei Gewalten dem einzelnen nicht bloß äußerlich gegenüber, sondern sind durch ihn selbst mitbegründet, haben ihre Legitimität durch ihn und um seiner Freiheit willen. Durch die Gründung von Staaten teilt sich die Weltbevölkerung in ihrer Gesamtheit in erste (primäre) Rechtseinheiten auf, innerhalb derer die Menschen nunmehr im Verhältnis zueinander im selbstbegründeten rechtlichen Zustand stehen. Die freiheitliche Rechtsordnung im Inneren dieser Staaten hat nach Kant nun aber auch Bedeutung als Ausgangspunkt rechtlicher Verhältnisse auf der Welt insgesamt: Er nennt als ersten positiven Bestandteil einer Weltfriedensordnung das Erfordernis, daß „die bürgerliche Verfassung in jedem Staate (. . .) republikanisch sein (soll)“.659 Republikanisch ist dabei diejenige Verfassung, welche „aus der Idee des ursprünglichen Vertrages hervorgeht“660. Ein erster Grund für einen solchen Bezug zwischen der 658 Vgl. dazu W. Kersting, „Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein“, a. a. O. (Fn. 593), S. 90, 91 und V. Gerhardt, Immanuel Kants Entwurf „Zum ewigen Frieden“ (1995), S. 79 ff. 659 I. Kant, Zum ewigen Frieden, Zweiter Abschnitt, Erster Definitivartikel, BA 20. 660 I. Kant, Zum ewigen Frieden, Zweiter Abschnitt, Erster Definitivartikel, BA 20. Eine republikanische Verfassung ist nach drei Prinzipien organisiert: Erstens
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Konstitution eines Volkes als freiheitlich verfaßter Rechtsgemeinschaft und dem Weltfrieden wird explizit benannt: „Wenn (wie es in dieser Verfassung nicht anders sein kann) die Beistimmung der Staatsbürger dazu erfordert wird, um zu beschließen, ‚ob Krieg sein solle, oder nicht‘, so ist nichts natürlicher, als daß, da sie alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen müßten (als da sind: selbst zu fechten; die Kosten des Krieges aus ihrer eigenen Habe herzugeben; die Verwüstung, die er hinter sich läßt, kümmerlich zu verbessern; zum Übermaße des Übels endlich noch eine, den Frieden selbst verbitternde, nie (wegen naher immer neuer Kriege) zu tilgende Schuldenlast selbst zu übernehmen), sie sich sehr bedenken werden, ein so schlimmes Spiel anzufangen.“661 Beruht das äußere Staatshandeln (hier: in Richtung anderer Staaten662) auf selbstgegebenen Gesetzen und einer ihnen gemäßen Regierung, so ist die Situation des Krieges eine Frage, die – wie andere Rechtsfragen auch – durch Gesetz unter Beteiligung aller Staatsbürger allgemeinverbindlich zu regeln ist.663 Die Regierung hat dann im konkreten Fall diesem Gesetz gemäß zu handeln und bei Zweifeln ob der Rechtmäßigkeit ist die rechtsprechende Gewalt gefragt. Es findet sich hier der Grundgedanke wieder, der schon im Rahmen der Staatskonstitution auftauchte: Durch die Mitwirkung des gesamten Volkes – der vernünftigen Rechtssubjekte – an der Gesetzgebung wird auf die Rechtmäßigkeit der Gesetze hingewirkt; die Form ihres Zustandekommens hat Auswirkung auch auf die inhaltliche Richtigkeit der geschaffenen Regeln.664 Da die Frage des Krieges ein möglicher Regelungsgegenstand ist, sorgt auch in diesem Zusammenhang die Beteiligung aller dafür, daß es zu vernünftigen gesetzlichen Vorgaben über die Zulässigkeit einer kriegerischen Auseinandersetzung kommt. Schon durch die republikanische Form der inneren Verfassung eines Staates ist somit eine Gewähr dafür gegeben, daß aus keinen anderen Erwägungen als denen, für die sich eine Mehrheit unter den vernünftigen Subjekten eines Staates finden ließ, nach „Prinzipien der F r e i h e i t der Glieder einer Gesellschaft (als Menschen); zweitens nach Grundsätzen der A b h ä n g i g k e i t aller von einer einzigen gemeinsamen Gesetzgebung (als Untertanen); und drittens, die nach dem Gesetz der Gleichheit derselben (a l s S t a a t s b ü r g e r)“. (Ebenda). 661 I. Kant, Zum ewigen Frieden, Zweiter Abschnitt, Erster Definitivartikel, BA 23, 24. 662 Dem Prinzip nach gilt das Gesagte aber auch für das Staatshandeln nach Innen: Die vollziehende Gewalt des Staates hat sich bei ihren Handlungen gegenüber den Staatsbürgern am allgemeinen Rechtsgesetz zu orientieren und unterliegt der Letztentscheidung durch die Richter. Vgl. dazu oben im ersten Teil die Ausführungen zur Vernunftstruktur des Staates. 663 Vgl. auch I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 55, A 219/B 249 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 345, 346). 664 Vgl. dazu 1. Teil, C. II. 1. b).
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ein Krieg geführt wird.665 Das entsprechende Rechtsgesetz wird dann praktisch-rechtlicher Vernunft gemäß (als Resultat der Bündelung subjektiver Vernunft der Staatsbürger) festlegen, in welchen Fällen ein Krieg im Verhältnis zu einem anderen Staat zulässig sein kann: Prinzipiell dann, wenn er Gegenzwang zu drohendem oder schon unternommenem unrechtlichen Verhalten des Gegenübers darstellt, wenn er also dazu dient, rechtliche Verhältnisse im Ergebnis zu bewahren.666 Damit ist aber eine enge Vorgabe für die Zulässigkeit der Kriegsführung gegeben, die jede Beliebigkeit aus dem Kanon möglicher berechtigter Kriegsgründe herausnimmt und schon auf diese Weise auf eine Verminderung der Kriegsbereitschaft hinwirkt. Zusätzlich zu diesem Aspekt gibt es aber einen noch weiter reichenden Grund für Kants Behauptung, die innere Staatsform der Republik sei erste Bedingung für friedliche Verhältnisse in der Welt: Die Geltung des allgemeinen Rechtsgesetzes unter Staaten ist darauf angewiesen, daß sich autonome – freie – Einheiten gegenüber stehen. Wie auch sonst im Recht, kommen als Adressaten rechtlicher Regelungen nur selbstbestimmte Einheiten in Betracht.667 Das Recht als Prinzip kann sich nur auf ein äußeres Verhalten beziehen, das überhaupt Resultat eines selbständigen Willensprozesses ist; fremdbestimmte Einheiten können von vorneherein weder Rechtsbegründer noch – in der Folge – Rechtsunterworfene sein. Staaten erhalten nun ihre Autonomie durch die drei Gewalten der Legislative, Exekutive 665
Bei dem Prozeß der Gesetzgebung spielen dann auch die von Kant genannten „Drangsale des Krieges“ eine Rolle, die die Staatsbürger „über sich selbst beschließen müßten“. Wer die Folgen eines Krieges kennt und weiß, daß er selbst sie im Kriegsfalle tragen muß, wird in der Tat bei der abstrakten Fassung denkbarer berechtigter Kriegsgründe zurückhaltend sein. (vgl. W. Kersting, „Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein“, a. a. O. (Fn. 593), S. 95 f. und V. Gerhardt, Immanuel Kants Entwurf „Zum ewigen Frieden“ (1995), S. 88 ff. Kantischem Denken gemäß können es allerdings nicht allein die mit einem Krieg verbundenen schlimmen Folgen für die Staatsbürger sein, die einen Krieg unzulässig machen. Die Qualität einer Handlung richtet sich ja gerade nicht bloß nach den durch sie bewirkten Konsequenzen. Es ist vielmehr der Kriegsgrund selbst, der vernünftig, d. i. gut, sein muß. Bei der Frage nach der richtigen Gesetzgebung müssen sich die Überlegungen von der Frage leiten lassen: Kann ich von der konkreten Maxime des Kriegführens wollen, daß sie ein allgemeines Gesetz werde? 666 Wie der Rechtszwang im Verhältnis einzelner Personen zueinander als „Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmend, d. i. recht“ ist, so kann im Verhältnis der Staaten eine gewalttätige Auseinandersetzung recht sein, wenn sie drohendes Unrecht verhindert (man stellt sich z. B. einer einmarschierenden Armee entgegen) bzw. geschehenes Unrecht ausgleicht (man macht sich von erfolgter Besatzung wieder frei). Vgl. für die Kriegsführung im „natürlichen Zustande der Staaten“ I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 56, A 220/B 250 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 346). 667 Vgl. dazu die Überlegungen zum allgemeinen Rechtsgesetz im ersten Teil der Arbeit, C. I. 1.
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und Judikative668, d. h. sie bilden sich selbst nach Freiheitsgesetzen durch eine bestimmte Staatsorganisation, in welcher die drei Gewalten getrennt, aber in einem bestimmten Verhältnis zueinander stehen (nämlich dem, der den drei Sätzen in einem praktischen Vernunftschluß gleicht).669 Wesentliches Merkmal der republikanischen Staatsform ist nach Kant aber gerade die Trennung der Gewalten (die „Absonderung der ausführenden Gewalt (der Regierung) von der gesetzgebenden“670). Dies bedeutet: Die Staatsform der Republik ist notwendige Bedingung der Autonomie von Staaten und damit eben auch notwendige Bedingung der rechtlichen Ordnung unter Staaten überhaupt. Das interstaatliche Recht hätte ohne die Selbständigkeit der verfaßten Völker keine Basis; und gerade um jener Basis willen hat die bürgerliche Verfassung in jedem Staate republikanisch zu sein.671 bb) Das (öffentliche) Völkerrecht Auch im Verhältnis der verfaßten Völker zueinander besteht die Notwendigkeit, die Geltung des allgemeinen Rechtsgesetzes in der Wirklichkeit zu sichern. Kant schreibt: „Völker, als Staaten, können wie einzelne Menschen beurteilt werden, die sich in ihrem Naturzustande (d. i. in der Unabhängigkeit von äußern Gesetzen) schon durch ihr Nebeneinandersein lädieren, und deren jeder, um seiner Sicherheit willen, von dem andern fordern kann und soll, mit ihm in eine, der bürgerlichen ähnliche, Verfassung zu treten, wo jedem sein Recht gesichert werden kann.“672 Es ist folglich ein rechtlicher Zustand zu stiften, in dem „jedes Volk frei (unabhängig von der nötigenden Willkür jedes anderen Volkes) sein kann“, „in welchem die Freiheit des einen Volkes mit der Freiheit jedes anderen Volkes nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen bestehen kann.“673 Das schon im Naturzustand unter den Staaten (verfaßten Völkern) dem Prinzip nach bestehende 668 Vgl. I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 49, A 172/B 202 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 318). 669 Siehe I. Kant, MdS, Rechtslehre, §§ 45 u. 49, A 165/B 195 u. A 172/B 202 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 313 u. 318). 670 I. Kant, Zum ewigen Frieden, Zweiter Abschnitt, Erster Definitivartikel, BA 25. 671 Dies gilt uneingeschränkt und dem Prinzip nach jedenfalls so lange, wie eine Weltfriedensordnung auf dem Zusammenspiel von Individuen und Staaten beruhen soll. Nur wenn die staatlichen Einheiten überhaupt zugunsten eines Weltstaates aufgelöst werden sollen, kann das Erfordernis republikanischer Verfassungen in den Einzelstaaten mit wegfallen. Vgl. dazu unten im Text und Fn. 681. 672 I. Kant, Zum ewigen Frieden, Zweiter Abschnitt, Zweiter Definitivartikel, BA 28. 673 Vgl. G. Geismann, „Kants Rechtslehre vom Weltfrieden“, a. a. O. (Fn. 590), S. 367.
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allgemeine Recht muß öffentlich-rechtlich werden. Die „rechtlich-praktische Vernunft (erklärt es) zur bedingungslosen Pflicht der Staaten, sich miteinander zu vertragen, d. h. (den) zwischenstaatlichen Zustand der äußerlich gesetzlosen Freiheit (. . .) im Verhältnis zueinander aufzugeben und gemeinsam einen dem ‚bürgerlichen ähnlichen‘ Zustand, und das bedeutet in letzter Konsequenz: den allgemeinen (Welt-)Frieden zu stiften und damit nicht bloß einen Krieg zu beenden, sondern den Krieg überhaupt unmöglich zu machen; (. . .).“674 Unbedingt (apriorisch) gefordert ist also die Überwindung des im höchsten Grade unrechten Kriegszustandes unter den Staaten zugunsten eines beständigen Rechtsfriedens.675 Dies zustande zu bringen ist Aufgabe der Gemeinschaft der Völker. Sie haben einen Weg zu finden, die Freiheit der Staaten in der realen Welt endlich-vernünftiger Rechtssubjekte – Menschen und Staaten – zu erhalten und zu sichern.676 Eine Besonderheit zur Ausgangslage einzelner Personen vor Gründung eines bürgerlichen Zustandes liegt darin, daß die natürliche Vernunfteinheit des Individuums von anderer Qualität ist als die gestiftete Rechtseinheit einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen. Letztere ist Resultat der Vereinigung der einzelnen unter einen gemeinsamen Willen, vernunftgebotene, menschlich-geformte Verfaßtheit. Bei Schaffung eines weltrechtlichen Zustandes sollen die schon gegründeten Primäreinheiten mit je eigener Rechtsverfassung in ihrem Bestand nicht angetastet werden – denn um den Erhalt ihrer Freiheit geht es ja gerade – wie sich auch das Individuum bei der Staatsgründung nicht selbst aufgeben darf. Nun ist aber die Verwandlung der „wilden“ Freiheit des einzelnen Menschen in „gesetzliche“ Freiheit im Staat denkbar ohne Einheitsverlust.677 Dies gilt für die 674 G. Geismann, „Kants Rechtslehre vom Weltfrieden“, a. a. O. (Fn. 590), S. 366 (Hervorhebungen im Original, Fußnote weggelassen). 675 Vgl. in diesem Zusammenhang I. Kant, Zum ewigen Frieden, Zweiter Abschnitt, Zweiter Definitivartikel, BA 28 ff.; ders., MdS, Rechtslehre, §§ 54 ff., A 216 ff./B 246 ff. (Akademie-Ausg. Band VI, S. 343 ff.). Dazu u. a. O. Asbach, „Internationaler Naturzustand und Ewiger Friede“ in: D. Hüning/B. Tuschling (Hrsg.), Recht, Staat und Völkerrecht bei Immanuel Kant (1998), S. 203 ff. (mit Bezügen zu Rousseaus politischer Philosophie); G. Cavallar, Pax Kantiana (1992), S. 178 ff.; J. Ebbinghaus, „Kants Lehre vom ewigen Frieden und die Kriegsschuldfrage“, a. a. O. (Fn. 591), insbesondere S. 10 ff.; V. Gerhardt, Immanuel Kants Entwurf „Zum ewigen Frieden“ (1995), S. 91 ff.; O. Höffe, „Völkerbund oder Weltrepublik?“ in ders. (Hrsg.), Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden (1995), S. 109 ff.; ders., „Kant als Theoretiker der internationalen Rechtsgemeinschaft“ in: D. Hüning/B. Tuschling (Hrsg.), Recht, Staat und Völkerrecht bei Immanuel Kant (1998), S. 233 ff.; ders., Kategorische Rechtsprinzipien (1990), S. 249 ff. 676 Vgl. I. Kant, Zum ewigen Frieden, Zweiter Abschnitt, Zweiter Definitivartikel, BA 36. 677 Siehe I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 47, A 168, 169/B 198, 199 (AkademieAusg. Band VI, S. 315, 316).
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potentielle Vereinigung einzelner Staaten zu einer neuen, übergeordneten Einheit nicht ohne weiteres: Die Eigenständigkeit der einzelnen Staaten beruht gerade darauf, im Inneren einen öffentlich-gesetzlichen Zwang nach Maßgabe der allgemeinen, selbstbegründeten Gesetzgebung und unter selbst errichteter rechtsprechender Gewalt zu besitzen (republikanisch verfaßt zu sein). Wird nun eine dieser Struktur übergeordnete Zwangsgewalt geschaffen, so verliert die Primäreinheit gerade das sie Konstituierende, nämlich die rechtliche Geschlossenheit einer sich selbst regierenden Einheit. Die Lösung des Problems eines rechtlichen Zustandes unter Staaten kann daher nicht einfach im Zusammenschluß zu einem neuen, übergeordneten (Völker-)Staat liegen, denn mit einem solchen Zusammenschluß hörten die einzelnen Glieder gleichzeitig auf, Staaten zu sein.678 Da die Einzeleinheit ihrerseits apriorisch begründet ist, sie Gewähr für das Zusammenleben in Freiheit bietet, kann eine Pflicht zu ihrer Auflösung nicht bestehen. Es muß demnach ein Surrogat zu einem Völkerstaat geben, welches die Sicherung (einzel-)staatlicher Freiheit unter Umgehung der genannten Schwierigkeit ermöglicht: In der Terminologie Kants einen Völkerbund.679 Die gedankliche Alternative, der Zusammenschluß aller Individuen der Welt unmittelbar zu einem Weltstaat680, kann nur unter Ausblendung schon vernunftgemäß geschaffener Rechtswirklichkeit in den Primäreinheiten (Staaten) erwogen werden.681 678 Vgl. I. Kant, Zum ewigen Frieden, Zweiter Abschnitt, Zweiter Definitivartikel, erster Absatz, BA 30, 31. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Begründungen bei J. Ebbinghaus, „Kants Lehre vom ewigen Frieden und die Kriegsschuldfrage“, a. a. O. (Fn. 591), S. 11–13 und bei G. Geismann, „Kants Rechtslehre vom Weltfrieden“, a. a. O. (Fn. 590), S. 367. 679 Vgl. I. Kant, Zum ewigen Frieden, Zweiter Abschnitt, Zweiter Definitivartikel, BA 30 und § 54 der MdS, A 216, 217/B 247 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 344). 680 Vgl. für einen historischen Überblick zur Idee des Weltstaates G. Cavallar, Pax Kantiana (1992), S. 179 ff. (m. w. N.). 681 Ist der gedankliche Ausgangspunkt der Naturzustand unter den Menschen weltweit, so ist fraglich, ob es zwingend zu je einzelnen Republiken kommen muß, oder ob die Pflicht, aus dem Naturzustand in einen bürgerlichen zu treten, auch durch die Gründung eines Weltstaates erfüllt werden kann. Es sei an dieser Stelle nochmals an die Basis des Rechts in der unmittelbaren Begegnung der endlichen Vernunftwesen erinnert: Voraussetzung einer rechtlichen Regelung ist, daß die Handlungen der einzelnen Personen wenigstens aufeinander einwirken können, die Personen also Teil des selben Raum-Zeit-Zusammenhangs sind. Diese Bedingung des Rechts ist konsequenterweise auch Bedingung eines Zusammenschlusses unter einer gemeinsamen Verfassung, denn diese verfestigt und sichert bloß jene Rechtsverhältnisse. Nun ist ein solches unmittelbares Einwirken aufeinander nur möglich bei tatsächlich angrenzenden Lebensräumen, bei geteilten Wirkbereichen in der realen Welt. Selbst in einer Zeit der „Globalisierung“, die sich etwa durch vermehrte Reisetätigkeit und Kommunikationsmöglichkeiten quer über alle Kontinente
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Der Völkerbund ist nach Kant eine rechtliche Vereinigung verfaßter (freier) Völker. Dieser Bund „geht auf keinen Erwerb irgendeiner Macht auszeichnet, finden die alltäglichen Begegnungen und mit ihr die Notwendigkeit, diese Begegnungen rechtlich zu regeln, notwendig in engeren Lebenskreisen statt. Dies ist ein wesentlicher, prinzipieller Grund, warum die Gründung eines Rechtszustandes an räumliche Grenzen gebunden ist. Hinzu kommen die von Kant selbst benannten Aspekte der Sprache und der Religion (vgl. den ersten Zusatz der Friedensschrift (Von der Garantie des ewigen Friedens), B 64/A 62, 63). Eine gemeinsame Rechtsordnung setzt ein gegenseitiges Verstehen der Rechtssubjekte voraus – und zwar einerseits ganz vordergründig durch die Möglichkeit der Kommunikation, andererseits aber auch durch eine gemeinsame Perspektive bei der Sicht auf die Welt. Ohne diese geteilten Grundbedingungen menschlicher Begegnung kann sich ein verfaßter Rechtszustand nicht herausbilden, ist er doch angewiesen auf die Einheit der Willen seiner Subjekte. Es sind also Vernunftgründe (nicht bloß empirische), die für die Verfassung in Einzelstaaten sprechen. Abgesehen von den Schwierigkeiten, die sich schon für die Frage eines gemeinsamen materiellen Rechts ergeben, ist aber auch die Organisation eines Weltstaates gemäß den Prinzipien der Republik mit prinzipiellen Fragen behaftet: Wie ist eine gemeinsame Gesetzgebung, Regierung und Justiz auf Weltebene dem Prinzip der Freiheit der „Weltbürger“ gemäß zu organisieren? Kant meint: Weil „die Gesetze mit dem vergrößerten Umfange der Regierung immer mehr an ihrem Nachdruck einbüßen, und ein seelenloser Despotism, nachdem er die Keime des Guten ausgerottet hat, zuletzt doch in Anarchie verfällt“, so ist die „Absonderung vieler von einander unabhängiger benachbarter Staaten“ nach der Vernunftidee besser als die „Zusammenschmelzung derselben“ (I. Kant, Zum ewigen Frieden, Erster Zusatz, 2., B 64/A 63). J. Ebbinghaus vermerkt dazu: „Es war in bezug auf eine civitas gentium zunächst zu fragen, ob denn für jede von einem Punkte ausgehende und anwachsende Staatengemeinschaft aus den natürlichen Verhältnissen der in ihr zu vereinigenden Völker ein hinreichendes Maß von möglicher Gesetzeskraft herauszuholen sei. Es solle sich ja um eine Weltrepublik handeln, das heißt für Kant um ein Staatswesen, in dem es keine von der gesetzlichen Kraft des vereinigenden Willens aller Glieder unterschiedene Herrschergewalt gibt.“ Und: Es sei die „Beschränkung des Friedensentwurfes auf Europa, die, wenn man sie nach ihren ersten Gründen betrachtet, die eigentümlichen Schwierigkeiten eines alle Völker der Erde umfassenden Staates sichtbar werden läßt. Es ist gerade die aus welchen Ursachen immer gegebene Verbundenheit der europäischen Völker, die einerseits zwar die Gesetzlosigkeit ihres Zustandes besonders drückend, andrerseits aber auch die Schaffung einer Kraft für die gesetzliche Regelung ihrer Freiheit so leicht macht.“ („Kants Lehre vom ewigen Frieden und die Kriegsschuldfrage“, a. a. O. [Fn. 591], S. 18 und 19; Hervorhebung im Original). Es ist wesentlich räumliche und kulturelle Nähe, die eine für verfaßte Verhältnisse ausbaufähige rechtliche Verbundenheit schafft; der freiheitliche Zusammenschluß in staatliche Strukturen hat entscheidende Wirklichkeitsbedingungen: Die tatsächliche Verständigung darüber, was die gemeinsamen Gesetze beinhalten sollen, die Wirkmacht dieser Gesetze (einerseits durch freiheitliche – und das heißt auch kontrollierbare – Durchsetzung, andererseits durch eine Justiz, die durch denselben historischen und kulturellen Hintergrund mit den ihr gegenüberstehenden Rechtssubjekten verbunden ist), die Partizipation der Bürger am Staatswesen und eine öffentliche Meinungsbildung. Eine weltstaatliche Struktur müßte prinzipiell in der Lage sein, den Willen eines chinesischen Reisbauerns mit dem eines portugiesischen Hoteliers, eines kubanischen Ladenbesitzers, eines skan-
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des Staates, sondern lediglich auf Erhaltung und Sicherung der F r e i h e i t eines Staats, für sich selbst und zugleich anderer verbündeten Staaten, ohne daß diese doch sich deshalb (wie Menschen im Naturzustande) öffentlichen Gesetzen, und einem Zwange unter denselben, unterwerfen dürfen“.682 Im Verhältnis der Staaten zueinander fehlt demnach die den staatlichen Zusammenhang entscheidend prägende Garantie der Rechtswirklichkeit durch mit Zwangsrecht ausgestattete Institutionen. Es ist lediglich die Vereinbarung friedlichen Umgangs miteinander, die die Staaten verbindet. Gedacht ist ein solcher Bund als sich stetig ausweitende Friedensvereinigung, beginnend bei „einer Republik (die ihrer Natur nach zum ewigen Frieden geneigt sein muß)“, welche einen „Mittelpunkt der föderativen Vereinigung für andere Staaten“ abgibt, damit diese sich an sie anschließen können, um so „den Freiheitszustand der Staaten, gemäß der Idee des Völkerrechts, zu sichern, und sich durch mehrere Verbindungen dieser Art nach und nach immer weiter auszubreiten“683. Aussicht auf Erfolg hat eine solche Vereinbarung (trotz mangelnder übergeordneter Zwangsgewalt), weil die primäre Ebene rechtlicher Kollisionsmöglichkeiten innerstaatlich schon dem Rechtsprinzip gemäß organisiert ist, rechtliche Verfaßtheit also schon flächendeckend existiert. Die handelnden Individuen sind Glieder ihrer jeweiligen Rechtsverfassung und das Kriegführen als menschliche Handlung unterliegt auf diese Weise schon verfestigten Rechtsprinzipien. Kommt nun die äußere Friedensvereinbarung der ohnehin schon friedenstauglichen und -willigen Einheiten hinzu, so ist die Hoffnung auf Freiheitserhalt der Einzelstaaten begründet. Der so geartete föderative Zustand der Staaten ist nach Kant der „einzige, mit der F r e i h e i t derselben vereinbare, r e c h t l i c h e Zustand“684, das „synthetische Prinzip der äußeren Freyheit der Staaten (. . .)“685. dinavischen Bankers und eines arabischen Basarhändlers zu vereinigen, gemeinschaftliche Gesetze zu begründen, in der Wirklichkeit umzusetzen und ihre Einhaltung zu gewährleisten. Der gemeinsame Richter müßte allen gleichermaßen nah sein, müßte Recht sprechen vor einem geistigen Hintergrund, welcher von allen geteilt wird. Daß hier räumliche Entfernungen und sprachlich-kulturelle Barrieren grundsätzliche Schwierigkeiten bereiten, ist keine reine Ausführungsproblematik, sondern ist der Idee des Weltstaates immanent. (Es sind also nicht bloß „Gegner von Idealen, pragmatische Skeptiker“, die Schwierigkeiten mit der Idee einer Weltrepublik haben, wie O. Höffe, Kategorische Rechtsprinzipien (1990), S. 266 meint.). 682 I. Kant, Zum ewigen Frieden, Zweiter Abschnitt, Zweiter Definitivartikel, BA 36. 683 I. Kant, Zum ewigen Frieden, Zweiter Abschnitt, Zweiter Definitivartikel, BA 36. 684 I. Kant, Zum ewigen Frieden, Anhang II., B 108, 109/A 101). Vgl. auch die Begründung dieser Aussage oben im Text. 685 So in Kants Vorarbeiten zum ewigen Frieden, Handschriftlicher Nachlaß, Bd. X (Akad.-Ausgabe Band XXIII), S. 168.
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Vor diesem Hintergrund ist eine Passage in Kants Friedensschrift zu lesen, die auf den ersten Blick im Widerspruch zu dem bisher Gesagten zu stehen scheint686: „Für Staaten, im Verhältnisse unter einander, kann es nach der Vernunft keine andere Art geben, aus dem gesetzlosen Zustande, (. . .), herauszukommen, als daß sie, ebenso wie einzelne Menschen, ihre wilde (gesetzlose) Freiheit aufgeben, sich zu öffentlichen Zwangsgesetzen bequemen, und so einen (freilich immer wachsenden) V ö l k e r s t a a t (civitas gentium), der zuletzt alle Völker der Erde befassen würde, bilden. Da sie dieses aber nach ihrer Idee vom Völkerrecht durchaus nicht wollen, mithin, was in thesi richtig ist, in hypothesi verwerfen, so kann an die Stelle der positiven I d e e e i n e r W e l t r e p u b l i k (wenn nicht alles verloren werden soll) nur das n e g a t i v e Surrogat eines den Krieg abwehrenden, bestehenden, und sich immer ausbreitenden B u n d e s den Strom der rechtscheuenden, feindseligen Neigung aufhalten, doch mit beständiger Gefahr ihres Ausbruchs (. . .)“.687 Aus dem Zusammenhang gelöst und unbefangen gelesen wirkt diese Passage wie ein Plädoyer für einen mit Zwangsgewalt ausgestatteten Völkerstaat, der als Vernunft-Ideal menschlichem Streben zum Vorbild dienen soll und nur wegen eines real existierenden widerstrebenden, aber in Wahrheit unvernünftigen Willens der Völker nicht zustande kommen kann; dann soll wenigstens das Surrogat des Völkerbundes für einen gewissen Grad an Stabilität unter den Staaten sorgen. Bei näherem Hinsehen zeigt sich aber, daß in der Idee des Völkerbundes mehr liegt als bloß die Konzession an zwar bedauerliche, aber nun einmal nicht zu ändernde Realitäten: Daß „Staaten ihre wilde (gesetzlose) Freiheit aufgeben, sich zu öffentlichen Zwangsgesetzen bequemen, und so einen (freilich immer wachsenden) V ö l k e r s t a a t bilden“, ist zumindest dann unmöglich, wenn sie als Staaten bestehen bleiben sollen; dies wurde oben (im Anschluß an Kant selbst) bereits herausgearbeitet. Diese Unmöglichkeit ist begrifflicher Natur, denn ein Völkerrecht i. S. Kants (als Völkerstaatsrecht) setzt die Fortexistenz ver686 Einen solchen Widerspruch nehmen an: O. Höffe, „Völkerbund oder Weltrepublik?“ a. a. O. (Fn. 675), S. 109 ff. (in jüngerer Zeit ders., „Königliche Völker“ (2001), S. 225); U. Steinvorth, „Kants Staatsbegriffe“ in: G. Landwehr (Hrsg.), Freiheit, Gleichheit, Selbständigkeit (1999), S. 41 (47 f.), dessen Erklärungsansätze aber m. E. nicht das von Kant selbst vorgegebene Begründungsniveau erreichen (am Rande sei bemerkt, daß der durch den Titel des Beitrags erweckte Eindruck, Kant hätte verschiedene „Staatsbegriffe“ (im Plural), jedenfalls mißverständlich ist). – Kantkritisch an dieser Stelle auch W. Kersting, „Philosophische Friedenstheorie und globale Rechts- und Friedensordnung“ ZfP 44 (1997), S. 278 (289 ff.) und O. Asbach, „Internationaler Naturzustand und Ewiger Friede“ a. a. O. (Fn. 675), S. 226 ff. 687 I. Kant, Zum ewigen Frieden, Zweiter Abschnitt, Zweiter Definitivartikel, BA 37, 38.
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faßter Völker, eben Staaten voraus.688 Das könnte gemeint sein, wenn Kant davon spricht, daß die Völker den Völkerstaat nach ihrer Idee vom Völkerrecht durchaus nicht wollen. Die Völker suchen nach einer Möglichkeit, ihre Freiheitssphären als verfaßte Völker zu koordinieren, ihre Auflösung zugunsten einer größeren Einheit fällt begrifflich gar nicht unter die „Idee vom Völkerrecht“. So gesehen, können sie vernünftigerweise gar nicht anders, als den Völkerstaat nicht zu wollen, jedenfalls dann nicht, wenn sie ihr Jetzt-so-verfaßt-sein nicht aufkündigen wollen – wofür gute Gründe bestehen689. Daß es „nach der Vernunft keine andere Art geben kann, aus dem gesetzlosen Zustande, (. . .), herauszukommen“ als sich in einem Völkerstaat zu vereinigen, ist als formale Betrachtung eine gültige Aussage (denn sie stellt die exakte begriffliche Parallelität zur Staatskonstitution unter Individuen dar) – das Recht muß aber eben die Verbindung von Vernunft und Wirklichkeit leisten und dafür sind vorfindliche – wenn auch gestiftete – Verhältnisse gedanklich nicht zu exkludieren. Es ist möglich, daß Kant in diese Richtung denkt, wenn er schreibt: was in thesi richtig ist, werde in hypothesi verworfen. Der Begriff der „These“ zeichnet sich bei Kant nicht durch das „für gewiß Gehaltene“ aus, sondern steht nur für einen „äußerlich näherliegenden Ausgangspunkt, in dem die Antithese gleich ursprünglich ist wie die These“.690 Eine „Hypothese“ ist Kant zufolge eine Meinung, die, „um nicht grundlos zu sein, mit dem, was wirklich gegeben und folglich gewiß ist, als Erklärungsgrund in Verknüpfung gebracht werden muß“691. Als „naheliegender Ausgangspunkt“ ist die Übertragung der Idee der Staatsgründung auf die Interstaatenebene richtig. Allerdings ist durch die Wirklichkeit der Existenz von Staaten ein Grund dafür gegeben, daß jene Aussage zu verwerfen ist. So verstanden, stünde der Satz nicht in Widerspruch, sondern in Kontinuität zu dem von Kant vorher Gesagten. Und auch der letzte Teil der zitierten Passage ordnet sich nun in den Zusammenhang ein: An die Stelle der positiven Idee einer Weltrepublik habe d a s negative Surrogat eines den Krieg abwehrenden Bundes zu treten. Kant schreibt in seinen Vorarbeiten zum ewigen Frieden, der Föderalismus freier Staaten sei „negativ nämlich die Absicht nur den Krieg abzuhalten und zugleich die Zerschmelzung eines Staates mit dem anderen“692. Es 688 Vgl. dazu auch Kants Vorarbeiten zum ewigen Frieden, Handschriftlicher Nachlaß, Bd. X (Akad.-Ausgabe Band XXIII), S. 168. Siehe auch V. Gerhardt, Immanuel Kants Entwurf „Zum ewigen Frieden“ (1995), S. 94. 689 Vgl. dazu die Überlegungen in Fn. 681. 690 J. Ritter/K. Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie (1998), Stichwort „These“. 691 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Transzendentale Methodenlehre, Erstes Hauptstück, Dritter Abschnitt, A 770/B 798 (Akademie-Ausg., Band III, S. 502). 692 Vorarbeiten zum ewigen Frieden, Handschriftlicher Nachlaß, Bd. X (Akad.Ausgabe Band XXIII), S. 168.
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geht auf dieser Stufe693 also nicht um ein Zusammenwachsen im Sinne einer auch innerlich verbundenen Gemeinschaft, sondern nur um Sicherung der Vielheit in Freiheit. Insofern handelt es sich beim Völkerbund um eine bloß negativ-abgrenzende, nicht aber positiv-Einheit-schaffende Verbindung der Staaten, wie es im Begriff des Völkerrechts angelegt ist. Daß Kant von der „Idee einer Weltrepublik“ spricht, beim „negativen Surrogat“ aber den Begriff der „Idee“ weg läßt, weist nochmals in die oben angedeutete Richtung: Die formal gültige Idee muß wegen der für das Recht entscheidenden Verbindung von Vernunft und Wirklichkeit weichen.694 Der Völkerbund ist also die geeignete, der „bürgerlichen ähnliche“ Verfassungsform, um unter den Staaten Freiheit zu erhalten. Sie muß „gestiftet“ werden, es müssen also auch hier Rechtsstrukturen gefunden werden, die das Verhältnis der Staaten zueinander „institutionell überformen“695. Im Unterschied zur staatlichen Verfassung wird damit jedoch keine Zuständigkeit für die Ausübung von Zwang begründet. Die Befugnis der Einzelstaaten, Freiheitsangriffen anderer Staaten mit Zwang zu begegnen, sich also bei bevorstehender Verletzung zu wehren, verbleibt auf diese Weise notwendig in ihrer naturzuständlich perspektivisch-beschränkten Sphäre. Immerhin ist nach dem Friedensentwurf Kants aber der Willensbildungsprozeß in den republikanischen Einzelstaaten seinerseits praktisch-rechtlich-vernünftig organisiert, so daß der Entschluß, Krieg zu führen, am konkretisierten allgemeinen Rechtsgesetz orientiert wird. Dies schließt Kriege aus, die nicht Gegenzwang zu drohendem oder schon unternommenem unrechtlichen Verhalten des Gegenübers sind, denn nur solche Kriege sind rechtens.696 Zwar kann es bei der Entschlußfassung zu Irrtümern und Fehleinschätzungen kommen, denn die Endlichkeit der Individuen setzt sich in der von ihnen geschaffenen Staatsorganisationsstruktur fort. Der Idee nach können aber bei flächendeckender Existenz von republikanisch verfaßten Staaten auf diese Weise keine Aggressionskriege mehr stattfinden; damit fällt in der Folge auch jeder Grund weg, sich gegen solche „Primärzwänge“ zu wehren. Dem Krieg wird auf diese Weise ein wesentlicher Grund entzogen. Kommt zu dieser Grundlosigkeit noch die rechtliche Vereinbarung in Form des Völkerbundes, eine gemeinsame Friedenswillensbildung697, hinzu, so ist der geschaffene Zustand friedfertig.698 699 693 Vgl. aber in diesem Zusammenhang die dritte Stufe der Weltfriedensordnung, das Weltbürgerrecht. 694 Vgl. zum Ganzen auch G. Cavallar, Pax Kantiana (1992), S. 201 ff. 695 W. Kersting, „Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein“ a. a. O. (Fn. 593), S. 88. 696 Vgl. dazu oben Fn. 666. 697 Es steht nicht im Widerspruch zu den oben in Fn. 681 geäußerten Bedenken gegenüber einer umfassenden, allgemeinen weltrepublikanischen Gesetzgebung,
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cc) Das Weltbürgerrecht Um eine Weltrechtsordnung nach allen in ihr möglichen Rechtsverhältnissen bestimmen zu können, bedarf es zur Vervollständigung des Staats- und Völkerrechts des Weltbürgerrechts. Ohne dieses letzte Element wäre der Begriff des öffentlichen Rechts unvollständig700; das Weltbürgerrecht „vereinigt die Momente der vorhergehenden Positionen und bringt sie zu einer wenn nun für den beschränkten Regelungsgegenstand der Friedenssicherung die Möglichkeit einer gemeinsamen Willensbildung der Staaten angenommen wird. Im Gegensatz zu dem erforderlichen Konkretisierungsgrad der Gesetze in einer echten, auch innerlichen Rechtsgemeinschaft, geht es bei der Friedenssicherung um grundlegende Vereinbarungen, die so nah am praktisch-vernünftigen Rechtsprinzip angesiedelt sind, daß nur die Vernunftbegabung überhaupt, nicht aber kulturelle Besonderheiten als Bedingung ihrer Einsichtigkeit gelten kann. 698 Wird dem Kantischen Völkerbund wegen des Fehlens eigener Zwangsbefugnis mangelnde Garantiewirkung vorgeworfen, so darf dabei die entscheidende Grundbedingung dieses Bundes nicht unterschlagen werden: Daß er sich aus Staaten zusammensetzt, die das Recht in verfaßter Form omnipräsent machen. 699 Vgl. zur Wirkweise des Völkerbundes auch J. Ebbinghaus, „Kants Lehre vom ewigen Frieden und die Kriegsschuldfrage“, a. a. O. (Fn. 591): „Was kann nun zur Entscheidung solcher Streitigkeiten ein Bund helfen, der keine Gesetzgebung und keine vollziehende Gewalt hat, und der als Richter in einer Frage des Interessenwiderstreits nicht einmal wissen würde, wonach er denn entscheiden soll? Und doch ist leicht zu sehen, daß die Gesamtlage selbst mit Beziehung auf die Möglichkeit sogenannter politischer Differenzen der Staaten eine grundlegend veränderte wäre. Denn es würde jetzt offenbar der den Verhältnissen gemäß in jedem Augenblick bestehenden Freiheit eines jeden, sich über die Interessen der anderen hinwegzusetzen, ein gemeinsames Interesse aller entgegenwirken, daß keiner so behandelt wird, daß das Motiv, vom Bunde abzuspringen und die Freiheit der Kriegsführung zurückzugewinnen, für ihn überwiegen würde. (. . .) Das gemeinsame Interesse aller drückt (. . .) beständig – und zwar zunächst rein politisch – in Richtung auf eine Gleichgewichtslage der Rechtszuteilung, die ihrem Wesen nach ganz genau demjenigen Zustande entspräche, in dem jedem sein Recht durch allgemeine Gesetzgebung bestimmt würde.“ (S. 22) „Gewiß wäre der Zustand ‚nicht ohne alle Gefahr‘, weil auf allen Seiten jederzeit (. . .) noch ein gewisses Maß von (objektiv berechtigter) Unzufriedenheit über die jeweils ereichte Gesamtlage bestehen kann. Der Augenblick, in dem diese Gefahr völlig überwunden wäre, d. i. der Augenblick, in dem es für keinen Staat ein mögliches Motiv mehr geben kann, die Freiheit Krieg zu führen, wieder zu erlangen, wäre der Augenblick der Etablierung des ewigen Friedens.“ (S. 23) „(. . .) der Zustand, in dem es keine mögliche Rechtsunsicherheit mehr gibt, ist ein Zustand, für dessen Erreichung man wohl Bedingungen schaffen kann, indem man Garantien gegen den Krieg schafft;“ es könne aber „außer dem Kriegsverhinderungsbunde, dem beizutreten jedem unbenommen bleibt, keine wie immer verfassungsmäßig eingerichtete Vereinigung einzelner Staaten (geben), von der man apriori sagen könnte, daß mit ihr der erste Schritt zur Ermöglichung der Weltrepublik aller Völker getan sei.“ (S. 23, 24). 700 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 43, A 161, 162/B 191, 192 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 311).
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systematischen Totalität“701. Seinem Inhalte nach wurde es schon benannt: Es umfaßt das subjektive Recht einzelner Individuen auf friedlichen Verkehr mit Angehörigen anderer Staaten (ein Besuchsrecht) und gleichzeitig ein allgemeines Recht der „Menschen und Staaten, in äußerem aufeinander einfließenden Verhältnis stehend, als Bürger eines allgemeinen Menschenstaates“702. Die dritte Form verfaßter Rechtsverhältnisse, die es um des Rechtsfriedens auf der Welt willen zu schaffen gilt, ist so geartet, daß in ihr Menschen und Staaten dem Prinzip der Freiheit gemäß koexistieren können, in dem also das Staatsrecht und das Völkerrecht in eine sie verbindende Einheit gebracht werden. Diese letzte Stufe der Verrechtlichung der Verhältnisse in der Welt setzt die ersten beiden voraus: „Die Staatenvielfalt ist (. . .) Sinnbedingung des Weltbürgerrechts.“703 Dies wird deutlich, wenn für einen Moment die Auflösung der Staaten als Primäreinheiten und eine Neuverfassung aller Weltbewohner zu einem einheitlichen Weltstaat vorgestellt wird: Die einzelnen Menschen wären dann Weltbürger in einem unmittelbaren Sinne und bedürften keines Besuchsrechts in fremden Staaten mehr704 und die Notwendigkeit der Einheitsstiftung zwischen den Individuen und Staaten der Welt wäre schon begrifflich nicht mehr gegeben. Wird aber die Weltfriedensordnung – wie bei Kant – schlüssig von der primären Rechtseinheit über das Verhältnis dieser Einheiten zueinander zu einer alles umfassenden Gesamtheit bestimmt, so ist die weltbürgerliche Verfassung notwendiger Schlußpunkt dieser gedanklichen Bewegung. Die Kugelgestalt der Erde, die für die physisch mögliche Wechselwirkung der Völker sorgt, findet sich nun auch in der Geschlossenheit der geistigen Erfassung möglicher Rechtsverhältnisse wieder. Die weltbürgerliche Verfassung muß gleich den beiden anderen Formen des rechtlichen Zustandes dem „die äußere Freiheit durch Gesetze einschränkenden Prinzip“ gemäß sein, damit nicht das „Gebäude aller übrigen unvermeidlich untergraben (wird) und endlich einstürz(t).“705 In einem „allgemeinen Menschenstaat“706 muß deshalb das Besuchsrecht der Bürger 701 R. Brandt, „Vom Weltbürgerrecht“ in: O. Höffe (Hrsg.), Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden (1995), S. 133 (142). 702 I. Kant, Zum ewigen Frieden, Zweiter Abschnitt, *-Anmerkung, BA 19. Vgl. dazu auch J. P. Müller, „Das Weltbürgerrecht (§ 62) und Beschluß“ in: O. Höffe (Hrsg.), Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (1999), S. 257 ff. 703 V. Gerhardt, Immanuel Kants Entwurf „Zum ewigen Frieden“ (1995), S. 104. 704 Argument bei V. Gerhardt, Immanuel Kants Entwurf „Zum ewigen Frieden“ (1995), S. 104. 705 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 43, A 162/B 192 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 311). 706 I. Kant, Zum ewigen Frieden, Zweiter Abschnitt, *-Anmerkung, BA 19.
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einzelner Staaten in anderen Staaten zum Zwecke des Handeltreibens gesetzlich geregelt und auch mit gemeinschaftlichen Institutionen versehen sein. Die „Vereinigung aller Völker in Absicht auf gewisse allgemeine Gesetze ihres möglichen Verkehrs“ ist Gegenstand des öffentlichen Weltbürgerrechts. Eine solche Vereinigung steht nicht im Widerspruch zur ansonsten bestehenden Trennung der verfaßten Völker als selbstbestimmte Einheiten, denn sie ist gerade auf die „Bedingungen der H o s p i t a l i t ä t eingeschränkt“707. Es sind gewisse allgemeine Gesetze, die im allgemeinen Menschenstaat – im Zusammenspiel mit dem Staatsrecht und dem Völkerrecht – gelten, nämlich solche, die sich auf den Handelsverkehr unter den Völkern beziehen. Nicht gemeint ist dementsprechend eine allumfassende gemeinsame Gesetzgebung samt Durchsetzungsmechanismus, denn einer solchen stehen zwingende Vernunftgründe entgegen.708 Damit ist einerseits einer auf diese Weise entstehenden Handelsvereinigung der Boden bereitet – es soll zum Austausch unter den Völkern unter gemeinsamen Regeln kommen – gleichzeitig ist aber auch eine scharfe Grenze zu möglicher Rechtsbegründung und Ausübung in allen anderen Fragen des menschlichen Zusammenlebens gezogen.709 Durch diese Beschränkung auf die Schaffung gemeinsamer Regeln im Hinblick auf die Sicherung globaler Handelsbeziehungen wird erreicht, daß von der Völkergemeinschaft nichts Unmögliches gefordert wird, andererseits aber doch ein wichtiger Bereich menschlichen Wirkens – die Wirtschaft im weitesten Sinne – dem Recht unterstellt und so die Grundlage gelegt ist, daß sich durch diese Beziehungen ein „Mehr“ an Gemeinschaftlichkeit ergeben kann. Die so geschaffene weltbürgerliche Vereinigung – die an der Verfaßtheit der Staaten als primäre Rechtseinheiten festhält – trägt das Potential in sich, mit der Zeit die Völker einander näher zu bringen, gegenseitiges Verständnis und damit einhergehend gegenseitiges Vertrauen auszubilden. Die 707 I. Kant, Zum ewigen Frieden, Zweiter Abschnitt, Dritter Definitivartikel, BA 40 (kursive Hervorhebung von Verf.). 708 Vgl. oben Fn. 681. 709 Der Grundgedanke der Europäischen Union war zunächst eine solche – dem Frieden nützende – Handelsvereinigung. Als solche war sie wesentlicher Bestandteil einer europäischen Friedensordnung, sorgte sie doch für ein Zusammenwachsen der Völker, ohne deren Eigenständigkeit als verfaßte Rechtseinheiten in ihrem Bestand anzutasten (vgl. M. Schweitzer/W. Hummer, Europarecht (5. Aufl., 1996), S. 9 ff.). Kritisch zu betrachten sind vor diesem Hintergrund aber all jene Entwicklungen der EU, die durch Kompetenzerweiterungen Bereiche zu erfassen suchen, die mit gutem Grund zunächst der Verfassungsordnung der Einzelstaaten unterstehen. Ihren vorläufigen Höhepunkt haben solche Überlegungen erreicht, seitdem sogar das Strafrecht zum Gegenstand europäischer Gesetzgebung werden soll (siehe dazu M. Köhler, „Rechtsstaatliches Strafrecht und Europäische Rechtsangleichung“ in Festschrift für G.-A. Mangakis (1999), S. 751 ff.).
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Möglichkeit zu reisen, Geschäftsbeziehungen und persönliche Bindungen herzustellen, sich sowohl in fremdem Sprachraum als auch in fremdem Kulturkreis zu bewegen, schafft dann allmählich die Voraussetzungen für eine auch engere Bindung, die allerdings einen gewissen Grad der Annäherung schon wegen der relativ grobmaschigen Vernetzung persönlicher Verhältnisse auf Weltebene niemals überschreiten wird. Dem jeweiligen Stand des Vertrauensverhältnisses angemessen müssen dann auch die sich ausbildenden Rechtsbeziehungen sein. Eine Konkretisierung und Dichte der verbindenden Rechtsnormen wie im innerstaatlichen Rechtskreis kann dabei nicht erwartet werden, wohl aber eine geteilte Grundeinsicht in die alle verbindende Menschlichkeit. Deshalb ist in einem dann erreichten Stadium gegenseitigen Grundverständnisses auch denkbar, grundlegende, d. h. auf die Qualität des Menschseins überhaupt bezogene, gemeinsame Rechtsregeln zu finden: Wenn auch keine Rechtsordnung en detail denkbar ist, so doch immerhin eine gemeinsame Rechtsgeltung nach dem Prinzip der Anerkennung als endliche Vernunftwesen untereinander. Dies bedeutet: Die Entwicklung, die durch die drei aufeinander bezogenen Formen des Rechtszustandes angestoßen und begünstigt wird, kann zu einem Zustand in der Welt führen, in dem Prinzipien der Menschlichkeit als entwickelte Form eines freiheitlichen Miteinanders auf der Basis der Autonomie des einzelnen Geltung haben. Dabei können und müssen die Eigenarten der Völker bestehen bleiben: die Kultur- und Sprachenvielfalt soll nicht aufgehoben, geographisch bedingte und historisch gewachsene Besonderheiten sollen nicht nivelliert werden. Auch die mit diesen Charakteristika untrennbar verbundenen Unterschiede in den Rechtssystemen der Welt müssen nicht weichen. Es geht um Anerkennung des Anderen in seiner Differenz, aber eben mit der Einsicht in die einende Eigenschaft, endliches Vernunftwesen und damit Selbstzweck zu sein. Der Durchgang durch die verschiedenen Stufen rechtlicher Verfaßtheit führt also zurück zum Anfang der Rechtslehre: Die endlichen Vernunftwesen stehen sich im Verhältnis gegenseitiger Achtung gegenüber. Allerdings sind sie nun Teil verfestigter Rechtswirklichkeit, sie sind Staatsbürger in ihren Heimatstaaten und Weltbürger in einer aus verfaßten Staaten zusammengesetzten „durchgängigen Gemeinschaft aller Völker auf Erden“. Die Dynamik, die in der Stiftung der drei Formen des rechtlichen Zustandes liegt, weist so über die Summe der Einzelstadien hinaus: Es wird nicht nur ein innerstaatlicher Rechtsfrieden (Staatsrecht) im Verhältnis zu anderen Staaten gesichert (Völkerrecht) und die Möglichkeit einer weltumspannenden Handelsvereinigung der Völker durch ein Besuchsrecht (Weltbürgerrecht) geschaffen, sondern die Entwicklung ist gerichtet auf ein öffentliches Menschenrecht überhaupt und so auf den ewigen Frieden: „Da es nun mit der unter den Völkern der Erde einmal durchgängig überhand genommenen
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(engeren oder weiteren) Gemeinschaft so weit gekommen ist, daß die Rechtsverletzung an e i n e m Platz der Erde a n a l l e n gefühlt wird: so ist die Idee eines Weltbürgerrechts keine phantastische und überspannte Vorstellungsart des Rechts, sondern eine notwendige Ergänzung des ungeschriebenen Kodex, sowohl des Staats- als Völkerrechts zum öffentlichen Menschenrechte überhaupt, und so zum ewigen Frieden, zu dem man sich der kontinuierlichen Annäherung zu befinden nur unter dieser Bedingung schmeicheln darf.“710 Der Begriff des „öffentlichen Menschenrechts“ weist zurück auf die Ursprungsbestimmung des Rechts: „F r e i h e i t, sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist (das) einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht.“711 Die Realisierung dieser Freiheit in der Welt, der tatsächliche Fortschritt in Verhältnisse, in denen dem Menschenrecht universal Geltung verschafft wird, wäre ein Zustand des „öffentlichen Menschenrechts“. Die dreistufige Systematik des Staats-, Völker- und Weltbürgerrechts kann durch ihre aufeinander aufbauenden, ineinandergreifenden und wechselseitig abhängigen Verfassungsschritte zu einem solchen Zustand der Wirklichkeit von Freiheit hinführen. Der Zustand des öffentlichen Menschenrechts ist also gewiß nicht durch einen einzigen Stiftungsakt herzustellen. Es geht um die kontinuierliche Annäherung an den vernunft-gemäßen Zustand verwirklichter Freiheit, an den Zustand, in dem Rechtsfrieden herrscht. Der Weg über die verschiedenen „Formen des rechtlichen Zustandes“ bewirkt, daß trotz der gewaltigen Größe der Aufgabe, dem Menschenrecht auf der gesamten Welt Geltung zu verschaffen, niemand kapitulieren muß, ist doch die Mitwirkung an den einzelnen Verwirklichungsstufen der Freiheit 710 I. Kant, Zum ewigen Frieden, Zweiter Abschnitt, Dritter Definitivartikel, BA 46. Vgl. in diesem Zusammenhang auch J. Ebbinghaus, „Positivismus – Recht der Menschheit – Naturrecht – Staatsbürgerrecht“ in: W. Maihofer (Hrsg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus? (1962), S. 281 (284): „Diejenige Organisation, in der jeder Mensch das Vermögen hätte, die Freiheit jedes anderen Menschen auf die Bedingungen einer Übereinstimmung mit der seinen nach Gesetzen einzuschränken, wäre offenbar eine Organisation des vollkommenen Friedens auf Erden, eine Organisation, die eben dadurch charakterisiert ist, daß unter ihr jedes gesetzlose Belieben notwendig ohnmächtig ist.“ 711 I. Kant, MdS, Rechtslehre, Einteilung der RL, B., AB 45 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 237). Dazu: G.-J. Ju, Kants Lehre vom Menschenrecht und von den staatsbürgerlichen Grundrechten (1990), insbesondere S. 92 ff.; M. Köhler, „Das angeborene Recht ist nur ein einziges . . .“ in: K. Schmidt (Hrsg.), Vielfalt des Rechts – Einheit der Rechtsordnung? (1994), S. 61 ff.; S. König, Zur Begründung der Menschenrechte: Hobbes – Locke – Kant (1994), S. 186 ff.; G. Luf, „Kant und die Menschenrechte. Überlegungen zur Legitimation von Menschenrechten aus dem Kantischen Rechtsprinzip“ in: G. Landwehr (Hrsg.), Freiheit, Gleichheit, Selbständigkeit (1999), S. 27 ff.
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allen möglich – und zwar ganz gleich auf welcher Stufe der Verwirklichung sie sich gerade befinden, ob sie einen Rückschlag hinnehmen mußten oder in Verhältnissen leben, die den Frieden befördern. An der Vernunftnotwendigkeit der Freiheitsrealisation und damit des Rechtsfriedens können reale Schwierigkeiten bei der Umsetzung nichts ändern. Damit verbunden ist die Pflicht, tatsächlich Anstrengungen zu unternehmen, den vernunftgemäßen Zustand zu befördern: „(. . .) das Handeln nach der Idee jenes Zwecks, wenn auch nicht die mindeste theoretische Wahrscheinlichkeit da ist, daß er ausgeführt werden könne, dennoch aber seine Unmöglichkeit gleichfalls nicht demonstriert werden kann, das ist es, wozu uns eine Pflicht obliegt. Nun spricht die moralisch-praktische Vernunft in uns ihr unwiderrufliches Veto aus: E s s o l l k e i n K r i e g s e i n; weder der, welcher zwischen mir und dir im Naturzustande, noch zwischen uns als Staaten, die, obzwar innerlich im gesetzlichen, doch äußerlich (in Verhältnis gegeneinander) im gesetzlosen Zustand sind; – denn das ist nicht die Art, wie jedermann sein Recht suchen soll. Also ist nicht mehr die Frage: ob der ewige Friede ein Ding oder Unding sei, und ob wir uns nicht in unserem theoretischen Urteile betrügen, wenn wir das erstere annehmen; sondern wir müssen so handeln, als ob das Ding sei, was vielleicht nicht ist, auf Begründung desselben und diejenige Konstitution, die uns dazu die tauglichste scheint, (. . .) hinwirken, um ihn herbeizuführen und dem heillosen Kriegführen, (. . .), ein Ende zu machen.“712 d) Zusammenfassung zu 1. Das Fundament der Rechtsbegründung auf internationaler Ebene ist die Freiheit der Staaten (die von der Freiheit der Individuen abgeleitet ist) und ihre gegenseitige Anerkennung als gleichbedeutsame Konstituenten der gemeinsamen Rechtsordnung. Demgemäß sind die Präliminarartikel in Kants Friedensschrift als Stütze dieses Fundaments zu verstehen: Sie bereiten dem Rechtsfrieden den Boden, indem sie durch konkrete Verbote das Grundvertrauen unter den Staaten fördern und auf den gegenseitigen Respekt als Rechtseinheit hinwirken. Das internationale Recht hat die Vereinbarkeit der Freiheitssphären der auf Weltebene vorhandenen Rechtseinheiten zum Gegenstand, beinhaltet also die Bedingungen, nach denen Individuen und Staaten einem allgemeinen Gesetz der Freiheit gemäß zusammen bestehen können. Notwendig ist ein solches Recht, weil wegen der Endlichkeit der Erde ein wechselseitiger Einfluß von Menschen und (verfaßten) Völkern unvermeidbar ist und ihre 712 I. Kant, MdS, Rechtslehre, Beschluß, A 233/B 263, 264 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 354).
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je subjektiv beschränkte Sicht zwar eine Integration des anderen in die eigenen Handlungsvollzüge, nicht aber eine allgemeinverbindliche Festlegung der Rechtspositionen leisten kann. Das unter den einzelnen Menschen geltende Rechtsgesetz muß der Idee nach auf das Verhältnis der Staaten zueinander übertragen werden: Ihre Handlungen in Richtung anderer Staaten sind recht, wenn sie mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen können. Das Recht der Individuen und das interstaatliche Recht werden ergänzt durch das vermittelnde Element des Weltbürgerrechts, das Recht des Erdbürgers, „die Gemeinschaft mit allen z u v e r s u c h e n und zu diesem Zweck alle Gegenden der Erde z u b e s u c h e n “713. Die Verwirklichung rechtlicher Verhältnisse auf der Welt muß entsprechend der möglichen Rechtsverhältnisse dreistufig gedacht werden: Staatsrecht, Völkerrecht und Weltbürgerrecht müssen als drei Formen des rechtlichen Zustandes eine Gesamtheit, „ein Gebäude“ bilden. Der Vereinigung der Menschen unter Rechtsgesetzen in einzelnen Staaten muß notwendig die Sicherung der Verhältnisse zwischen den Staaten durch den Völkerbund folgen. Das Weltbürgerrecht ermöglicht im ersten Schritt eine beschränkte Vereinigung der Völker zum Zwecke des Handeltreibens, in Fortentwicklung der Anlagen aber auch ein öffentliches Menschenrecht überhaupt und dadurch die Annäherung an den ewigen Frieden. Und diese „allgemeine und fortdauernde Friedensstiftung (macht) nicht bloß einen Teil, sondern den ganzen Endzweck der Rechtslehre innerhalb den Grenzen der bloßen Vernunft (aus).“714 2. Das völkerrechtliche Verbrechen als Negation allgemeinen Weltrechts: Völkerstrafrechtlicher Unrechtsbegriff Gemäß der Untersuchung im letzten Abschnitt läßt sich ein allgemeines Recht auf Weltebene so verstehen, daß es den Inbegriff der Bedingungen enthält, unter denen der Weltfrieden als Rechtsfrieden möglich wird. Nach dem Gesagten sind Kernbedingungen einer solchen Entwicklung: Die Freiheit der Staaten (die von der Freiheit der Individuen abgeleitet ist) und ihre gegenseitige Anerkennung als gleichbedeutsame Konstituenten der gemeinsamen Rechtsordnung, welche sich inhaltlich an dem Prinzip der Vereinbarkeit der Freiheitssphären aller auf Weltebene vorhandenen Rechtseinheiten (Staaten und Individuen) orientiert und deren Verwirklichung entsprechend 713
I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 62, A 230/B 260 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 353). 714 I. Kant, MdS, Rechtslehre, Beschluß, A 234/B 265 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 355).
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2. Teil: Rechtsstrafe auf internationaler Ebene
der möglichen Rechtsverhältnisse auf Weltebene dreistufig durch das Staatsrecht, Völkerrecht und Weltbürgerrecht zu erfolgen hat. Das Hinwirken auf eine solche gemeinsame Weltrechtsordnung ist durch praktische Vernunft geboten; die Notwendigkeit der Bemühungen um eine so geartete Freiheitsrealisation hat sich in schlüssiger Weise aus dem Rechtsbegriff selbst ergeben: Die „allgemeine und fortdauernde Friedensstiftung macht den ganzen Endzweck der Rechtslehre aus“715. Ein so verstandenes allgemeines Recht auf internationaler Ebene ist begreifbar als Resultat der Vernunftanstrengung der gesamten Weltbevölkerung. Es enthält Prinzipien des Zusammenlebens der Weltsubjekte, die praktischer Vernunft gemäß die verschiedenen Rechtsverhältnisse auf der Welt aufnehmen und gestalten. Diese Gestaltung bezieht sich dabei allerdings nur auf Grundfragen der Freiheitsrealisation, nicht auch auf konkrete Ausgestaltungen im Alltagsleben. Wie die einzelnen Stadien der Rechtsverwirklichung auf Weltebene durchlaufen werden, auf welche Art die Bedingungen des Rechtsfriedens peu à peu erfüllt werden und auf welchem Weg die einzelnen Subjekte und die Völker der Erde das allgemeine Recht ausgestalten, bleibt notwendig zeit-, raum- und kulturabhängig. Fest steht nur: Es soll Staaten mit republikanischen Verfassungen geben, diese sollen einem Friedensbund beitreten und das Weltbürgerrecht muß als drittes Element auf die Einheitsstiftung hinwirken können. Die Verbundenheit im Recht ist also auf Weltebene zwar nur fragmentarisch, es existieren aber allgemein-einsichtige Prinzipien, die verbindliche Grundlinien für das Zusammenleben der Menschen und Völker auf der Welt angeben. Dementsprechend läßt sich das eingangs dieses Abschnitts aufgeworfene Problem der Weltbevölkerung als Rechtsallgemeinheit so auflösen, daß sie tatsächlich als Begründer allgemeinen Weltrechts gedacht werden kann; dies allerdings im Unterschied zu staatlichen Rechtsgemeinschaften nur in einer Form, die sich erst auf dem Wege in öffentlich-rechtliche Verhältnisse befindet. Vor diesem Hintergrund ist nun der Schwierigkeit eines völkerstrafrechtlichen Unrechtsbegriffs nachzugehen. Gemäß den Bestimmungen, die im ersten Teil der Arbeit für die Allgemeinheitsseite des strafrechtlichen Unrechts erarbeitet wurden, müßte sich das völkerrechtliche Verbrechen als ein nach außen getretener Widerspruch eines prinzipiell vernünftigen Rechtssubjekts zur weltweiten Vernunftrechtsordnung bestimmen lassen, mit anderen Worten: als eine (im Interpersonalverhältnis stattfindende) Freiheitsverletzung, die durch ihre äußerliche Existenz eine partielle Negation allgemeinen Rechts weltweit darstellt. 715 Vgl. I. Kant, MdS, Rechtslehre, Beschluß, A 234/B 265 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 355).
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Ein Problem, das dabei auftauchen könnte, ist schon durch die Untersuchung im ersten Teil der Arbeit ausgeräumt: Es wurde gezeigt, daß es für die Qualifizierung einer Handlung als strafwürdiges Unrecht nicht notwendig auf die Störung einer schon verfaßten Friedensordnung ankommt, sondern auch die Negation allgemeinen Rechts im materiellen Sinne ausreicht. Strafunrecht ist also auf Weltebene möglich, obwohl die Rechtsverhältnisse noch nicht umfassend verfaßte Formen angenommen haben; es genügt die Negation gemeinschaftlicher Rechtsgeltung, auch unverfaßter Art. Ungeklärt ist aber, wie eine solche Negation allgemeinen Rechts auf Weltebene durch die Handlung eines einzelnen Subjekts genau bestimmt werden kann. Gesucht ist ein Völkerverbrechensbegriff, der die Rechtsverletzung kennzeichnet, die durch weltgemeinschaftliche Reaktion in Form der Strafe aufgehoben werden muß; dafür muß es sich um ein Verhalten mit Belang für die Völkergemeinschaft handeln, es muß „die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren“716. Aus der bisherigen Untersuchung ergibt sich als allgemeine Umschreibung, daß dies bei einem Verhalten eines vernünftigen Subjekts der Fall ist, welches mit der Freiheitsverletzung im Interpersonalverhältnis gleichzeitig die Grundbedingungen des Rechtsfriedens auf Weltebene angreift, eine Handlung also, welche sich gegen die Möglichkeit des Rechtsfriedens überhaupt richtet. Kant hat in Bezug auf das Völkerrecht im § 60 seiner Metaphysik der Sitten einen ganz ähnlichen Gedanken formuliert – allerdings ganz gewiß nicht in Antizipation des Problems eines internationalen Strafrechts: Ein ungerechter Feind nach Begriffen des Völkerrechts sei derjenige, „dessen öffentlich (es sei wörtlich oder tätlich) geäußerter Wille eine Maxime verrät, nach welcher, wenn sie zur allgemeinen Regel gemacht würde, kein Friedenszustand unter Völkern möglich, sondern der Naturzustand verewigt werden müßte“717. Wer sich mit seinem Verhalten gegen die Bedingungen der Möglichkeit eines Friedenszustandes überhaupt richtet, wer die stete Annäherung daran verhindert bzw. zu verhindern sucht, widerspricht dem – auch ihm selbst einsichtigen – Prinzip der Rechtsverwirklichung auf Weltebene. Die Bedingungen der Möglichkeit eines Friedenszustandes unter Staaten und Individuen sind nach dem Durchgang durch die Kantische Rechtslehre in ihren Grundzügen bestimmt. Sie sind Resultat praktisch-rechtlicher Vernunft; sie gehen alle an, denn der Rechtsfrieden unter den Völkern ist gar nicht anders denkbar als von allen gemeinsam geschaffen; die dafür notwendigen 716
Siehe die Präambel (Abs. 4) und Art. 5 des Romstatuts. I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 60, A 225, 226/B 256 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 349). 717
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2. Teil: Rechtsstrafe auf internationaler Ebene
Rechtsprinzipien sind in ihrer Geltung nicht auf bestimmte Regionen oder Kulturen beschränkt, sie haben vielmehr universelle Gültigkeit. Der völkerstrafrechtliche Unrechtsbegriff umfaßt also in einer vorläufigallgemeinen Bestimmung solche (im Interpersonalverhältnis stattfindenden) Freiheitsverletzungen, die durch ihre äußerliche Existenz die universelle Geltung derjenigen Rechtsprinzipien (partiell) negieren, die die Bedingungen der Möglichkeit des Rechtsfriedens auf der Welt (das allgemeine Weltrecht) überhaupt darstellen. Das allgemeine Weltrecht beinhaltet dabei die Notwendigkeit der Existenz von primären Rechtseinheiten (freien Staaten), ihres Zusammenschlusses in einem Staatenbund, der auf der Autonomie seiner Glieder beruht, und der Errichtung einer weltbürgerlichen Einheit aus Staaten und Individuen, in der eine stete Annäherung der Völker der Erde nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit möglich ist, die in ihrer Vervollkommnung bis hin zur universalen Wirklichkeit des Menschenrechts führen kann. Einem so definierten Unrechtsbegriff stehen einige Ansätze zur Völkerstrafrechtsbegründung gegenüber, zu denen im folgenden teils kritisch-distanzierend, teils aufnehmend-reflektierend Stellung genommen wird (a)). In einem zweiten Schritt (b)) sollen dann von der erarbeiteten allgemeinen Definition ausgehend einige grundlegende Aussagen zum völkerrechtlichen Strafunrecht im Hinblick auf seine Konkretisierung in bestimmten Tatbeständen getroffen werden. Die positiv-rechtlich existierenden Tatbestände des Völkerstrafrechts müssen auf dieser Grundbestimmung des Unrechts beruhen, sollen sie materiell-begründet die Völkergemeinschaft als Inhaberin des Strafrechts gegenüber einem einzelnen Weltsubjekt (dem Täter) ausweisen. Äußerer Anknüpfungspunkt für eine solche Untersuchung sollen dabei die schon positivierten Fassungen der völkerrechtlichen Straftatbestände sein, die in ihrem „chapeau“-Teil einen Bezug zur Weltgemeinschaft herstellen.718 a) Differierende Begründungsansätze Die Frage, welche allgemeinen Kriterien erfüllt sein müssen, um das Verhalten eines einzelnen als ein die Völkergemeinschaft im Ganzen betreffendes Völkerstrafunrecht qualifizieren zu können und ihn deswegen einer internationalen Strafgerichtsbarkeit zu unterwerfen, liegt nach dem Gedankengang dieser Arbeit jeder Beschäftigung mit dem Völkerstrafrecht zugrunde: Ohne einen gesicherten Unrechtsbegriff ist der Grund der Bestrafung nicht 718 Vgl. dazu den Hinweis auf die Struktur der völkerstrafrechtlichen Tatbestände oben in diesem Teil unter B. I. 1.
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benannt und grundlose Strafe ist keine Rechtsstrafe. Deshalb gilt es, sich des oben gefundenen völkerstrafrechtlichen Unrechtsbegriffs auch in Gegenüberstellung zu anderen denkbaren Fassungen eines Völkerverbrechensbegriffs zu vergewissern. Die Schwierigkeit in der Begründung dieses Zusammenhangs wird in der rechtswissenschaftlichen Diskussion um das Völkerstrafrecht vielfach unterschätzt. So haben sich in jüngerer Zeit Höffe719 und Merkel720 mit der Thematik im Zusammenhang mit der Kantischen Rechts- und Friedenslehre befaßt; sie entwickeln aber selbst keine tragenden Ansätze zur Begründung internationaler Strafe. Die beiden Beiträge sollen deshalb nur kurz als konzentrierte Problemillustration den beiden Begründungsansätzen von Manske und Köhler vorangestellt werden. Höffe geht in seinem Buch zur Demokratie im Zeitalter der Globalisierung von der Möglichkeit einer Weltrepublik als föderalem Vielvölkerstaat aus.721 Diese Weltrepublik habe bestimmte Aufgaben und Institutionen aus universal gültigen Menschenrechten (S. 350); dazu gehöre u. a. ein Weltstrafrecht (S. 367 ff.). Zur Frage der Legitimität eines solchen Weltstrafrechts schreibt er: „Zweifellos besteht eine Strafbefugnis gegen alle Menschen nur bei allgemeinmenschlichen Rechtsverstößen. Die rechtsmoralische Legitimation begnügt sich daher nicht mit dem Faktum eines interoder transkulturellen Konsenses. Im Ausgang von den universal gültigen Menschenrechten sucht sie das doppelte, subjektive und objektive, und hier sowohl das materielle als auch das prozedurale Weltstrafrecht zu begründen. Das Argumentationsmuster ‚Legitimation plus Limitation‘ bleibt dabei gültig: Die Rechtfertigung eines weltstaatlichen Strafrechts verbindet sich mit dessen Einschränkung auf den Schutz der Menschenrechte.“ (S. 368, 369) Das Weltstrafrecht sei „weit davon entfernt, Ausdruck eines atavistischen Strafbedürfnisses oder gar Racheinstinkts der Weltgesellschaft zu sein, das eine aufgeklärte Welt-Bürgerschaft von sich weisen müßte“, es gehöre vielmehr zum „Schutzschild der Menschenrechte und zur sichtbaren Verbundenheit der Weltbürgerschaft mit den Opfern von Menschenrechtsverletzungen.“ (S. 369) Die materielle Zuständigkeit eines Weltstrafgerichtes erstrecke sich „problemlos auf Verbrechen, die drei Bedingungen zugleich erfüllen: daß sie besonders gravierend, daß sie unstrittig universell strafbar sind und daß sie ohnehin die Belange eines Einzelstaates über719 Demokratie im Zeitalter der Globalisierung (1999) und Gibt es ein interkulturelles Strafrecht? (1999). 720 „ ‚Lauter leidige Tröster‘? Kants Friedensschrift und die Idee eines Völkerstrafgerichtshofs“ in: R. Merkel/R. Wittmann (Hrsg.), „Zum ewigen Frieden“ (1996), S. 309 ff. 721 Demokratie im Zeitalter der Globalisierung (1999), S. 293 (die im folgenden genannten Seitenzahlen beziehen sich auf diesen Text).
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2. Teil: Rechtsstrafe auf internationaler Ebene
schreiten.“ (S. 372) Unter diese universal gültigen Kernverbrechen fallen nach Höffe zumindest Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Angriffskrieg und grenzüberschreitender Terrorismus (S. 372).722 Nach Höffe handelt es sich beim Weltstrafrecht um die Ahndung „allgemeinmenschlicher Rechtsverstöße“, die er mit gravierenden, universell strafbaren und die Belange eines Einzelstaates überschreitenden Menschenrechtsverletzungen näher beschreibt. Dabei bleibt ungeklärt, was genau einen allgemeinmenschlichen Rechtsverstoß ausmacht und warum dieser die Befugnis der Weltgemeinschaft, solche Verstöße zu bestrafen, auslöst. Daß Menschenrechtsverletzungen Unrecht darstellen, ist sicher zutreffend; damit ist aber nicht schon eine materielle Strafbefugnis der Weltgemeinschaft ausgewiesen. Dies geschieht auch nicht durch den Hinweis auf die genannten kumulativ zu erfüllenden Bedingungen: Abgesehen davon, daß das Merkmal „gravierend“ inhaltlich unbestimmt ist723 und das Erfordernis der „universellen Strafbarkeit“ (positivistisch verstanden) eher ein formelles Kriterium darstellt (wird es nicht positivistisch verstanden, handelt es sich um eine zirkuläre Bestimmung, denn Weltstrafrecht wird dann mit „universell Strafbarem“ erklärt), stellt die letzte Bedingung, nämlich das Überschreiten der einzelstaatlichen Belange, gerade das zu begründende Phänomen dar.724 Merkel konstatiert in seinem Beitrag zunächst, daß zwar nach Kant Strafe nur im öffentlich garantierten Rechtszustand existieren könne und deshalb im Völkerrecht (als noch nicht rechtlich verfaßtem Zustand) unmöglich sei. Diese Prämisse überzeuge ihn aber nicht, da es sich um eine Überschätzung des Souveränitätsdogmas und der Zwangskriterien des Rechtsbegriffs handle: „Zwar gibt es völkerrechtlich kein Rangverhältnis (und deshalb auch keine Justizgewalt) zwischen unabhängigen Staaten, wohl aber eines zwischen den fundamentalen Ordnungsnormen der gesamten Staatengemeinschaft und der Rechtsmacht jedes einzelnen ihrer Mitglieder. Daher ist in diesem Verhältnis auch eine zwingende Jurisdiktionsgewalt keinesfalls begrifflich ausgeschlossen.“725 Über diese Schwierigkeit scheinbar hinweg gekommen, wendet sich Merkel im Anschluß den materiellen 722
Vgl. zum Ganzen auch die „Bausteine für eine Theorie der Strafbefugnis“ in Höffes Gibt es ein interkulturelles Strafrecht? (1999), S. 67 ff. 723 Siehe dazu auch die Kritik im Text unten unter aa). 724 Die zitierten Aussagen mit einer Begründung verwechselt K. Ambos, Der Allgemeine Teil des Völkerstrafrechts (2002), S. 65, 66. 725 R. Merkel, „ ‚Lauter leidige Tröster‘? Kants Friedensschrift und die Idee eines Völkerstrafgerichtshofs“ in: R. Merkel/R. Wittmann (Hrsg.), „Zum ewigen Frieden“ (1996), S. 344 (die im folgenden genannten Seitenzahlen beziehen sich auf diesen Beitrag).
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Normen zu, „denen allein eine zwingende Völkerstrafgerichtsbarkeit zugeordnet werden könnte“: Es handle sich um „einen sehr kleinen, dafür aber (. . .) unverzichtbaren Kernbestand des humanitären Erbes der Menschheit. (. . .) Zu diesem zivilisatorischen Minimum dürften heute die in Nürnberg formulierten Prinzipien (. . .) zu zählen sein.“ (S. 345) Zur Begründung lehnt er sich an die Aussage Kants im Rahmen des Weltbürgerrechts an, wonach die „Rechtsverletzung an einem Platz der Erde von allen gefühlt wird“726. Dies verweise auf eine „universale Zuständigkeit, die weit über die bloß emotionale Anteilnahme eines Empfängers von Nachrichten hinausreicht.“ (S. 349) „Gefühlt“ werde eine Verletzung grundlegender Menschenrechte deshalb an jedem Ort und von allen, weil sie zugleich eine Verletzung der Menschenrechte aller darstelle; weil sie die essentiellen Wurzeln der internationalen Gemeinschaft antaste, nämlich deren fundamentale Normen negiere. (S. 349) „Was die Tat zu einer Angelegenheit der gesamten Welt macht, ist der symbolische Schaden an der Geltung der Norm selbst, den der sanktionslose oder unangemessen sanktionierte Bruch der Grundnorm der Zivilisation im Bewußtsein der Normadressaten – und das heißt: potentiell der ganzen Menschheit – nach sich ziehen muß. Normen, die sanktionslos gebrochen werden, erodieren, und wären sie noch so grundlegend. Dies im Bereich seiner Zuständigkeit zu verhindern, ist die primäre Aufgabe des Völkerstrafrechts.“ (ohne FN, S. 349) Hiermit sei nun auch in Differenz zu Kant der Vergeltungsgedanke disqualifiziert, nicht „um der Vergeltung an den Tätern willen, sondern zur Verteidigung eines normativen Fundaments der Menschheit dürfen völkerrechtliche Verbrechen einer Strafdrohung nicht entzogen werden.“ (S. 350) Der dargestellte Gedankengang stützt sich wesentlich auf die nicht näher hergeleitete Existenz fundamentaler Normen der Menschheit, deren Verletzung universale Zuständigkeit nicht bloß emotionaler Natur auslöse. Das Zitat Kants ist an dieser Stelle für eine Begründung dieser Aussage in so unvermittelter Form unpassend, denn Kant redet gerade davon, daß eine Rechtsverletzung an einem Ort von allen „gefühlt“ werde – eine Terminologie, die bei Kant im Regelfall gerade nicht auf rechtliche Zusammenhänge hinweist. Merkels Annahme, daß eine Rechtsverletzung allerorts „gefühlt“ werde, weil sie zugleich die Verletzung der Menschenrechte aller darstelle und weil sie die essentiellen Wurzeln der internationalen Gemeinschaft antaste, stellt den Begründungszusammenhang auf den Kopf: Nicht ein (ohnehin nur behauptetes) Gefühl, sondern rechtliche Betroffenheit der Weltgemeinschaft ist zu begründen. Dies gelingt Merkel auch nicht durch seine nachfolgende Formulierung, daß die Tat zur Angelegenheit der ge726 I. Kant, Zum ewigen Frieden, Zweiter Abschnitt, Dritter Definitivartikel, BA 46.
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2. Teil: Rechtsstrafe auf internationaler Ebene
samten Welt werde, weil sie der Geltung der Grundnorm der Zivilisation symbolischen Schaden zufüge. Bei einer solchen Formulierung bleibt der Zusammenhang zwischen der (irgendwie) bestehenden Grundnorm der Zivilisation und der Weltbevölkerung ungeklärt: Die Schwierigkeit, aber auch einzige Möglichkeit besteht darin, die Weltbevölkerung als Begründer dieser „Grundnorm“ auszuweisen, d. h. die Autonomie der Weltsubjekte als Grund der Geltung universaler Normen in Ansatz zu bringen. Nur dann kann in begründeter Weise davon gesprochen werden, daß ein Bruch dieser Normen sie alle – als Mitkonstituenten – betrifft. Ein Nebeneffekt einer solchen Herangehensweise ist dann, daß nicht mehr nur von einem „symbolischen Schaden an der Geltung der Norm“ gesprochen werden kann, sondern von völkerrechtlichem Unrecht: Es geht nicht nur darum, das „Erodieren von Normen“ zu verhindern, sondern um den Ausgleich materieller Ungerechtigkeit – im Interpersonalverhältnis genauso wie für die Allgemeinheit. So wird dann auch das „normative Fundament der Menschheit“ verteidigt – und zwar in einem begrifflich-entwickelten Sinn durch Strafe als Ausgleich interpersonal-allgemeinen Unrechts. Hinzu kommt, daß mit der Formulierung, daß das Völkerstrafrecht die Erosion von Normen „in seinem Zuständigkeitsbereich“ zu verhindern hat, nichts gewonnen ist, geht es doch gerade um die Schwierigkeit einer Bestimmung eben jenes (materiellen) Zuständigkeitsbereichs. aa) Zustand der Rechtlosigkeit durch das völkerrechtliche Verbrechen Um die allgemeine Bestimmung eines die Völkergemeinschaft im Ganzen betreffenden Völkerstrafunrechts tatsächlich voranzutreiben, bietet es sich an, die schon geleistete Grundsatzarbeit von Manske heranzuziehen, die in einer gründlichen Zusammenstellung und Systematisierung mögliche (in der völkerstrafrechtlichen Literatur erwähnte) Ansatzpunkte für einen allgemeinen Begriff des „internationalen Verbrechens“ einer kritischen Untersuchung unterzogen hat.727 Sie identifiziert in der völkerstrafrechtlichen Literatur zunächst zwei allgemeine materielle Kriterien für die Bewertung einer Tat als „internationales Verbrechen“728: Die „Schwere und Gefährlichkeit der Tat“729 und die „Verletzung internationaler Rechtsgüter“ durch das Verbrechen730. 727 G. Manske, Verbrechen gegen die Menschlichkeit als Verbrechen an der Menschheit (2003), Sechster Teil der Arbeit. 728 G. Manske, a. a. O. (Fn. 727), S. 271 ff. Die von ihr ebenfalls benannten formellen Bestimmungen H. H. Jeschecks („Die Gesamtheit aller Normen strafrechtlicher Natur, die dem Völkerrecht angehören“ in: Die Verantwortlichkeit der Staatsorgane nach Völkerstrafrecht (1952), S. 9), G. Dahms („. . . ein Verbrechen, dessen Strafbarkeit unmittelbar aus dem Völkerrecht folgt“ in: Zur Problematik des Völker-
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Die Schwere und Gefährlichkeit der Tat erweist sich bei näherer Betrachtung als ungeeignetes Kriterium zur Begründung materiell-rechtlicher Betroffenheit der Völkergemeinschaft – nicht nur aus dem von Manske zutreffend benannten Grund der Konturlosigkeit einer solchen Bestimmung: Abgesehen davon, daß die „Schwere“ der Tat als Abgrenzungskriterium voraussetzt, daß die Gewichtigkeit von Unrecht in qualitativer oder in quantitativer Hinsicht meßbar ist731, ist nicht sie es, die eine allgemeine Rechtsnegation zu einer Weltrechtsnegation macht. Zwar wird eine marginale Freistrafrechts (1956), S. 47) und O. Triffterers („. . . die Gesamtheit aller völkerrechtlichen Normen strafrechtlicher Natur, die an ein bestimmtes Verhalten – das internationale Verbrechen – bestimmte, typischerweise dem Strafrecht vorbehaltene Rechtsfolgen knüpfen und als solche unmittelbar anwendbar sind“ in: Dogmatische Untersuchungen zur Entwicklung des materiellen Völkerstrafrechts seit Nürnberg (1966), S. 34) bleiben hier wegen ihrer offensichtlichen Unerheblichkeit für eine materielle Begründung außer Betracht; siehe dazu die S. 268 ff. der Arbeit Manskes. 729 Im Anschluß an S. Plawski, Etudes de principes fondamentaux du droit international pénal (1972), S. 75: „La gravité et la dangérosité des ces infractions permet de les appeler des crimes internationaux.“ 730 Nach S. Glaser, Introduction a l’étude du droit international pénal (1954), S. 7 und 11 (zitiert bei Manske). Siehe auch ders., Droit international pénal conventionnel (1970), S. 16: „(. . .) l’ensemble des règles juridiques, reconnues dans les relations internationales, qui ont pour but de protéger l’ordre juridique ou social international (‚la paix sociale internationale‘) par la répression des actes qui y portent atteinte; ou, en d’autres termes, l’ensemble des règles établies pour réprimer les violations des préceptes du droit international public.“ Vgl. auch G. Hoffmann, Strafrechtliche Verantwortung im Völkerrecht (1962), S. 40 ff. und O. Triffterer, Dogmatische Untersuchungen zur Entwicklung des materiellen Völkerstrafrechts seit Nürnberg (1966), S. 178: „(Vielmehr) verletzen diese Verbrechen Rechtsgüter der Völkerrechtsordnung, denen wegen ihres besonderen Wertes für die Staatengemeinschaft der stärkste Schutz verliehen wird, den eine Gemeinschaft gewähren kann, der Schutz durch das Strafrecht.“ 731 Bedingung für eine solche Gewichtung ist, daß im Rahmen einer allgemeingültigen Unrechtsbestimmung anhand von festen Maßstäben benannt ist, wodurch sich strafwürdiges Unrecht auszeichnet und worin der Kern des Vorwurfs liegt. Nach dem hier gewählten Ansatz ist dafür zunächst auf die Freiheitsverletzung im Interpersonalverhältnis abzustellen: Wie sehr wird der andere in seinem selbständigen Dasein behindert? Wird er seiner Subjekthaftigkeit in der Totalität des Lebens oder der Körperlichkeit beraubt, oder betrifft das kriminelle Verhalten ausschließlich einen bestimmten Bereich des Daseins in Freiheit? Handelt es sich um eine dauerhaft wirkende Herabsetzung des anderen oder um eine Einzelerscheinung, ist die Verletzung reparabel oder nicht? Nach der Seite der Allgemeinheit hin muß dann in einem zweiten Schritt die Bedeutung des Verbrechens für die Rechtsgemeinschaft untersucht werden: Handelt es sich um einen Widerspruch zur Vernunftrechtsordnung, der durch seine Intensität oder durch die Häufigkeit seiner Wiederholung in besonderer Weise Rechtsgeltung in Frage stellt? In welchem Zustand befindet sich die Rechtgemeinschaft? Ist sie ihrer selbst durch verfestigte Rechtsverhältnisse sicher oder befindet sie sich in einem Stadium des Kampfes um die eigene Verfassung? (Vgl. den Gedanken bei G. W. F. Hegel, RPh, § 218.)
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heitsverletzung eines andern (man nimmt ihm etwas weg, betrügt ihn um sein Wechselgeld, begeht Hausfriedensbruch) niemals die Eigenschaft haben, das allgemeine Recht der Völkergemeinschaft in seiner Geltung zu tangieren, denn Bedeutung für den globalen Rechtsfrieden hat ein solches Verbrechen nicht (wohl aber für den Rechtsfrieden innerhalb einer staatlichen Gemeinschaft, bei der sich die Bürger auf die Geltung des Eigentums-, Vermögens- und Hausrechtsschutzes in der konkreten Form eines bestimmten Straftatbestandes geeinigt haben). Insofern kommt es für das Völkerstrafrecht auf die „Schwere und Gefährlichkeit der Tat“ durchaus an. Allerdings ist dieses Merkmal für sich genommen nicht in der Lage anzuzeigen, wann die Betroffenheit der Völkergemeinschaft genau einsetzt: Bei einem Mord als schwerster interpersonaler Freiheitsverletzung? Bei fünf Morden oder bei hundert? – Dasselbe Verbrechen (etwa Tötung eines andern) kann staatliches und völkerrechtliches Unrecht darstellen – je nach Stoßrichtung und übergeordnetem Zusammenhang der Tat. Völkerstrafrechtliches Unrecht setzt jedoch voraus, daß sich die Tat gegen die Geltung allgemeinen Weltrechts richtet und das heißt gegen die Existenz freier Staaten (also die selbständige Verfassung eines Volkes unter Rechtsgesetzen), gegen die Möglichkeit eines Staatenbundes (der interstaatlichem Recht Verfestigung verschafft) und/oder gegen die weltbürgerliche Einheit aus Staaten und Individuen (die durch die Verbindung der beiden ersten Elemente und der Gewährleistung eines subjektiven Weltbürgerrechts zur universalen Wirklichkeit des Menschenrechts führen kann). Die Schwere der Tat kann dabei freilich indizielle Bedeutung haben, denn nur durch Unrecht von einigem Gewicht kann überhaupt diesen Grundbedingungen des internationalen Rechtsfriedens widersprochen werden. Kategoriale Bedeutung kommt ihr aber nicht zu. Der zweite der genannten allgemeinen Anknüpfungspunkte, die Verletzung internationaler Rechtsgüter, ist im ersten Zugang als Grund internationaler Betroffenheit plausibel: Wenn gezeigt werden kann, daß die Völkergemeinschaft eigene Rechtsgüter732 hat und diese durch ein Verhalten eines einzelnen angegriffen werden, dann ist sie in der Tat rechtlich betroffen. Eine echte Schwierigkeit liegt dann aber darin, diese Rechtsgüter gültig zu bestimmen und zu begründen, inwiefern sie durch ein konkretes Verbrechen angegriffen werden. Dabei ergeben sich in zweierlei Richtung Zweifel an der Tragfähigkeit dieser Unrechtsqualifikation: Einerseits ist materiell nicht schon dadurch etwas gewonnen, daß an die Stelle der gesuchten Begründung internationaler Betroffenheit die problematische Bestimmung internationaler Rechtsgüter tritt. Denn die Schwierig732 Kritisch zum Rechtsgutsbegriff als teleologisch-wertphilosophische Konzeption M. Köhler, Strafrecht AT, S. 24, 25.
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keit, inhaltlich einen rechtlichen Belang der Völkergemeinschaft als Ganzes auszumachen, bleibt dieselbe; es handelt sich lediglich um eine Reformulierung des Problems. Die von Vertretern dieses Ansatzes angebotenen Formulierungen zur näheren Bestimmung der völkergemeinschaftlichen Rechtsgüter spiegeln die Hilflosigkeit bei dieser Aufgabe in hohem Grade wider: „Unter materiellem Internationalen Strafrecht (Völkerstrafrecht) sind diejenigen Delikte zu verstehen, die nach Herkommen oder besonderen Abkommen derart bestimmt sind, daß sie gegen Rechtsgüter sich richten, an deren Erhaltung die Menschheit ein allgemeines Interesse hat“733 oder: „Das internationale Strafrecht dient (. . .) dem Schutz international geschützter Interessen gegen Handlungen, die ihnen Schaden zufügen“734. Diesen Definitionen ist gemein, daß sie nur dann überhaupt Aussagekraft besitzen, wenn die „Interessen“ der Menschheit inhaltlich bestimmt werden. Hier nun liegt aber gerade das Problem, wenn es sich um einen Rechtsbegriff der Betroffenheit handeln soll, also einer aus dem Rechtsprinzip abgeleiteten, nicht bloß beliebigen begrifflichen Erfassung gesamtmenschheitlicher Belange.735 Die Behauptung, daß es diese gibt und die exemplarische Nennung einzelner solcher „Interessen“, entbindet nicht von der Aufgabe, sie rechtlich herzuleiten. Der zweite mögliche Einspruch wird deutlich, wenn die Parallele zu Straftaten gegen die Rechtsgüter des Staates gezogen wird: Jemand behindert z. B. die Justiz durch eine Falschaussage (Rechtsgut: Rechtspflege736), 733 So die Definition D. Oehlers, Internationales Strafrecht (2. Aufl., 1983), S. 605 (auch zitiert bei G. Manske, a. a. O. (Fn. 727), S. 272); etwas konkreter, letztlich aber unabgeleitet H. H. Jescheck, „International Criminal Law: Its Object and Recent Developments“ in: M. C. Bassiouni/V. P. Nanda (Hrsg.), A Treatise on International Criminal Law, Vol. 1, S. 49 (61):“Criminal provisions for the protection of international peace, human rights, and other legally protected interests of the community of nations.“ Vgl. auch G. Schwarzenberger, „The Problem of an International Criminal Law“ in: G. O. W. Mueller/E. M. Wise (Hrsg.), International Criminal Law (1965), S. 3. (13): „In any social group in which a criminal law exists the highest values and interests are protected by rules of criminal law. International crimes would, therefore, be in all likelihood only acts of subjects or objects of international law which strike at the very roots of international society.“ (Fn. weggelassen). 734 So faßt G. Manske, a. a. O. (Fn. 727), S. 272 die Aussage S. Glasers zusammen. Siehe dazu auch das bei S. Plawski, a. a. O. (Fn. 729), S. 73 besprochene Zitat Glasers: „(. . .) un fait contraire au droit international et, de plus tellement nuisible aux intérêts protégés par ce droit qu’il s’établit dans les rapports entre les Etats une règle lui attribuant un caractère criminel (. . .)“. 735 Eine solche Betroffenheit bei seiner Definition ebenfalls schon voraussetzend V. V. Pella, La criminalité collective des Etats e le droit pénal de l’avenir (1926), S. 175. 736 Vgl. NK-Vormbaum, Vor § 153, RN 1 ff.
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2. Teil: Rechtsstrafe auf internationaler Ebene
jemand besticht einen Beamten (Rechtsgut: Institution des öffentlichen Dienstes737) oder befreit einen Gefangenen (Rechtsgut: formell-gesetzlich legitimer Gewahrsam738). Die benannten Rechtsgüter lassen sich – von der Freiheit der einzelnen Bürger ausgehend – als Rechtsgüter der Gemeinschaft schlüssig begründen,739 und es handelt sich in den genannten Einzelfällen um den Staat unmittelbar betreffendes Unrecht. Auf völkerstrafrechtlicher Ebene käme dann dementsprechend z. B. Unrecht in Betracht, das die internationale Rechtspflege erschwert (jemand sagt vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) falsch aus), das die Funktionsfähigkeit internationaler Organisationen unterwandert (man besticht UN-Beamte) oder das den Gewahrsam einer UN-Institution an einer Person aufhebt (man befreit Milosevic aus dem Den Haager Gefängnis). Damit ist aber die der Begründung harrende Konstellation der Freiheitsverletzungen im Interpersonalverhältnis als internationale Verbrechen gar nicht angesprochen. Der Zusammenhang zwischen einem im Interpersonalverhältnis stattfindenden Verbrechen (z. B. Mord, Körperverletzung, Diebstahl) und der Betroffenheit der umgebenden Rechtsgemeinschaft (sei es der staatlichen oder der internationalen) ist – wie gezeigt – komplexer. Und um diesen Zusammenhang geht es bei den meisten Völkerstraftatbeständen.740 Selbst wenn es also möglich ist, internationale Rechtsgüter zu benennen (in Betracht kommt zum Beispiel auch der internationale Frieden i. S. der Abwesenheit von Krieg, siehe dazu sogleich), so muß nach diesem Ansatz immer noch gezeigt werden, wie ein Verhalten im Interpersonalverhältnis dieses Rechtsgut tangieren kann: Und damit ist die Ausgangsfrage internationaler Betroffenheit nicht gelöst, sondern wiederum nur in anderer Form gestellt. Speziell für den Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit nennt Manske nun sieben weitere mögliche Gründe für eine internationale 737
NK-Kuhlen, § 331, RN 13. NK-Ostendorf, § 120, RN 3. 739 Siehe dazu R. Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat (1989), S. 170 ff. und 190 ff. 740 Siehe dazu den Katalog der Tathandlungen vom Völkermord, den Verbrechen gegen die Menschlichkeit und den Kriegsverbrechen im Statut von Rom. Die einzige Tatbestandsalternative, bei der als Schutzgut unmittelbar ein Rechtsgut der internationalen Gemeinschaft in Betracht kommt, ist Art. 8 II b) iii) bzw. e) iii): „vorsätzliche Angriffe auf Personal, Einrichtungen, Material, Einheiten oder Fahrzeuge, die an einer humanitären Hilfsmission oder friedenserhaltenden Mission in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen beteiligt sind, solange sie Anspruch auf den Schutz haben, der Zivilpersonen oder zivilen Objekten nach dem internationalen Recht des bewaffneten Konflikts gewährt wird“. Siehe zu den einzelnen Tathandlungen schon oben B. I. 2. in diesem Teil der Arbeit und zu den Völkerstraftatbeständen im Hinblick auf ihren Bezug zur internationalen Gemeinschaft unten unter b). 738
B. Materiell-rechtliche Begründungselemente des Völkerstrafrechts
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Betroffenheit (wobei sie zu Recht darauf hinweist, daß es sich um rechtliche, nicht um faktische oder moralische Betroffenheit handeln muß741): 1. Die Bedrohung bzw. der Bruch des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit, verstanden als Abwesenheit bewaffneter Konflikte742, 2. schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen743, 3. Massenverbrechen744, 4. systematischer oder weitverbreiteter Angriff gegen irgendeine Zivilbevölkerung745, 741
G. Manske, a. a. O. (Fn. 727), S. 357. G. Manske, a. a. O. (Fn. 727), S. 278 ff.; vgl. dazu aus völkerrechtlich-positivistischer Perspektive D. Pickard, „When does Crime become a Threat to International Peace and Security?“ Florida Journal of International Law 12 (Spring 1998), S. 1 ff.; siehe außerdem B. M. Yarnold, „The Doctrinal Basis for the International Criminalization Process“ in: M. C. Bassiouni (Hrsg.), International Criminal Law (2. Aufl., 1999), Vol. I, S. 127 ff., die, Bassiouni (A Draft International Criminal Code and a Draft Statute for an International Criminal Tribunal (1987), S. 36) folgend, folgendes vermerkt: „An international element raises conduct to an international crime, if one of two factors is present: first, the conduct must constitute a direct threat to world peace and security; second, the conduct must either „shock the conscience“ of the world community or constitute an indirect threat to world peace and security due to the magnitude of the offense.“ (S. 131). Zu diesem und zum 2., 3., 4. und 5. der genannten Aspekte auch M. Mohr, „Strafrechtliche Verantwortlichkeit und Staatenverantwortlichkeit für internationale Verbrechen – Wechselwirkung statt Konfusion“ in: G. Hankel/G. Stuby (Hrsg.), Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen (1995), S. 401 (403). O. Triffterer sieht in der Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung des internationalen Friedens und der Sicherheit der Menschheit das durch alle völkerrechtlichen Straftatbestände geschützte Rechtsgut der Völkergemeinschaft; in diesem Rechtsgüterschutz liege das „Charakteristische des Völkerstrafrechts und zugleich seine Rechtfertigung“ („Bestandsaufnahme zum Völkerstrafrecht“ in: G. Hankel/G. Stuby (Hrsg.), Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen (1995), S. 169 (221)); vgl. auch G. Hoffmann, Strafrechtliche Verantwortung im Völkerrecht (1962), S. 41. 743 G. Manske, a. a. O. (Fn. 727), S. 286 ff.; in diese Richtung G. Werle, „Menschenrechtsschutz durch Völkerstrafrecht“ ZStW 109 (1997), S. 808 (818): „Ausmaß und Schwere der Gesamttat schaffen den Bezug der Einzeltat zu Rechtsgütern der Völkergemeinschaft. Dieser Bezug ist notwendig aber auch ausreichend.“ (Fn. weggelassen). 744 G. Manske, a. a. O. (Fn. 727), S. 291 ff.; vgl. dazu schon oben 2. Teil, B. I. 1. a). 745 G. Manske, a. a. O. (Fn. 727), S. 298 ff.; in diese Richtung auch C. Kreß, Vom Nutzen eines deutschen Völkerstrafgesetzbuchs (2000), S. 14: „systematisch begangene(s) schweres Unrecht“ (für diese Formulierung Verweis auf K. Marxen, „Beteiligung an schwerem systematischem Unrecht“ in: K. Lüderssen (Hrsg.), Aufgeklärte Kriminalpolitik oder Kampf gegen das Böse?, Bd. III, (1998), S. 220 ff.); zur systematischen oder großangelegten Tatbegehung als Tatbestandsmerkmal der Verbre742
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2. Teil: Rechtsstrafe auf internationaler Ebene
5. staatliche Verbrechen746, 6. Verstoß gegen die Gleichberechtigung der Völker747, 7. Verstoß gegen das Existenzrecht der Völker748.749 Diese spezielleren Begründungsansätze für Verbrechen gegen die Menschlichkeit konkretisieren die beiden oben erwogenen allgemeinen Kriterien für völkerstrafrechtliches Unrecht und entwickeln sie fort. Auf der chen gegen die Menschlichkeit siehe auch H. Vest, Genozid durch organisatorische Machtapparate (2002), S. 92 ff.; siehe außerdem unten b) bb). 746 G. Manske, a. a. O. (Fn. 727), S. 303 ff.); O. Triffterer, „Bestandsaufnahme zum Völkerstrafrecht“ in: G. Hankel/G. Stuby (Hrsg.), Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen (1995), S. 169 (201): Kennzeichnendes Merkmal aller völkerstrafrechtlichen Tatbestände sei ein „Machtmißbrauch, der typischerweise durch Staatsorgane oder deren Vertreter beziehungsweise mit deren Duldung“ ausgeübt wird. Ähnlich L. Lehmler, Die Strafbarkeit von Vertreibungen aus ethnischen Gründen im bewaffneten nicht-internationalen Konflikt (1999), S. 195. Vgl. auch oben unter B. I. 1. b) im 2. Teil. 747 G. Manske, a. a. O. (Fn. 727), S. 319 ff. 748 G. Manske, a. a. O. (Fn. 727), S. 324 ff.; im Zusammenhang mit dem Tatbestand des Völkermordes siehe BGH NStZ 99, 396 (401): Rechtsgut sei Schutz der sozialen Existenz der verfolgten nationalen, rassischen, religiösen oder durch ihr Volkstum bestimmten Gruppe. 749 Vgl. für die einzelnen Aspekte die Nachweise bei Manske selbst. Einige der genannten Elemente tauchen auch auf bei K. Henrard, „The Viability of National Amnesties in View of the Increasing Recognition of Individual Criminal Responsibility at International Law“ Michigan State University – DCL Journal of International Law 8 (Fall 1999), S. 595 (605 ff.). H. Vest sieht das Charakteristische des Völkerstrafrechts in einer Kombination der Elemente 1, 2, 3 und 5: Das Völkerstrafrecht etabliere „einen komplementären materiellstrafrechtlichen Schutz für gravierende Fälle von (gewolltem und ungewolltem) Versagen der nationalen Rechtsordnungen. Angesichts des Zerfalls der Ordnungs- und Sicherungsfunktion der Staatsstrukturen lebt die minimale menschenrechtliche Schutzfunktion des Völkerstrafrechts auf, die bis zu diesem Zeitpunkt geruht hat. ‚Komplementär‘ ist dieser Schutz (auch), weil das Völkerstrafrecht die Rechtsgüter des internationalen Friedens und der Sicherheit der Menschheit direkt garantiert. ‚In den Kompetenzbereich internationaler Strafgerichtsbarkeit fallende Tatbestände sind dann solche, die nicht nur materiell die Völkerrechtsgemeinschaft in ihrer Identität und in ihren existentiellen Überlebensinteressen berühren, sondern deren Verfolgung die Kapazität des einzelnen Nationalstaates übersteigen‘. Man kann diesen Gedanken noch stärker fassen: Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie z. B. Völkermord entziehen ihren Opfer(n) selbst den elementarsten Schutz der Menschenwürde, verurteilen sie zu absoluter Rechtlosigkeit und stossen sie damit aus der menschlichen Gemeinschaft aus.“ (Genozid durch organisatorische Machtapparate [2002], S. 57, 58; Hervorhebungen im Original, Fn. weggelassen, Zitat von G. Stuby, „Internationale Strafgerichtsbarkeit und staatliche Souveränität“ in: G. Hankel/G. Stuby [Hrsg.], Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen (1995), S. 429 [456]). Zu den Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Abgrenzung zu Kriegsverbrechen und zu Gewaltdelikten des nationalen Strafrechts siehe ebenfalls H. Vest, a. a. O., S. 79 ff.
B. Materiell-rechtliche Begründungselemente des Völkerstrafrechts
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einen Seite stehen jene Ansätze, die auf die Schwere der Tat in qualitativer oder quantitativer Hinsicht abstellen, etwa auf schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen und Massenverbrechen. Damit eng verbunden sind die Überlegungen, die die „systematische oder weitverbreitete Begehung gegen eine Zivilbevölkerung“ und die Begehung durch staatliche Akteure betreffen. Die letzte Gruppe ist um eine Bestimmung derjenigen internationalen Rechtsgüter bemüht, die durch das jeweilige Delikt angegriffen werden: der internationale Frieden und die internationale Sicherheit, sowie die Gleichberechtigung und das Existenzrecht der Völker. Manske kommt nun nach kritischer Prüfung der einzelnen Kriterien zu dem Ergebnis, „daß diese jeweils für sich genommen nicht hinreichend begründen können, warum Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein Einschreiten der internationalen Gemeinschaft erfordern.“750 Vor dem Hintergrund des oben entwickelten allgemeinen völkerstrafrechtlichen Unrechtsbegriffs ist dem zuzustimmen. Die erwogenen Anknüpfungspunkte bezeichnen zwar typischerweise mit völkerstrafrechtlichem Unrecht einhergehende Phänomene, wie Manske zutreffend herausstellt. Sie benennen aber nicht den Grund der völkerrechtlichen Strafbarkeit (die Negation universell geltender Rechtsprinzipien zur Ermöglichung des Rechtsfriedens unter den Völkern). Die oben geäußerte Kritik an den erörterten allgemeinen Bezugspunkten (die Schwere der Tat und die Verletzung internationaler Rechtsgüter durch die Tat) setzt sich nun bei den spezielleren fort. Kurz zusammengefaßt ergibt sich Folgendes: 1. Eine Menschenrechtsverletzung wird nicht deshalb zu einer die internationale Gemeinschaft betreffende, weil sie „schwerwiegend“ ist oder „massenhaft“ verübt wird; entscheidend ist vielmehr die in ihr liegende Negation der Grundbedingungen des Rechtsfriedens auf Weltebene. 2. Dies gilt auch für die „systematische und weitverbreitete Begehung“: Sie alleine gibt noch nicht den rechtlichen Bezugspunkt zur Völkergemeinschaft an; es ist zwar möglich, einen phänomenologischen Zusammenhang zwischen konzertierter Begehung und Weltbetroffenheit festzustellen, nicht aber einen begründend-kategorialen.751 3. Die Tatsache, daß staatliche Stellen am Unrecht beteiligt sind, kann ein Grund dafür sein, daß eine innerstaatliche Bewältigung des Unrechts nicht stattfindet – ihrerseits begründen, warum dies ein Strafrecht der Völkergemeinschaft entstehen läßt, kann sie nicht. Denn eine positive Begründung des Strafrechts einer bestimmten Rechtsgemeinschaft ist nicht schon dadurch geleistet, daß eine andere das ihre nicht ausübt. 750 751
G. Manske, a. a. O. (Fn. 727), S. 329. Vgl. aber zum Merkmal der Systematik unten unter b) bb).
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2. Teil: Rechtsstrafe auf internationaler Ebene
4. Die übrigen Anknüpfungspunkte verweisen auf mögliche Rechtsgüter der Völkergemeinschaft, die durch ein völkerstrafrechtliches Verbrechen angegriffen werden: Den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit bzw. die Gleichberechtigung oder das Existenzrecht der Völker. Für diese Ansätze spricht, daß sie wesentliche Elemente eines globalen Rechtfriedens als Schutzgüter der Völkergemeinschaft benennen: Auch nach der hier entwickelten Unrechtsbestimmung sind die Abwesenheit von Krieg, das Existenzrecht selbstbestimmter Völker und ihre prinzipielle Gleichbedeutsamkeit notwendige Grundbedingungen des friedlichen Zusammenlebens der Weltsubjekte. Allerdings genügt es nicht, diese Rechtsgüter zu benennen, sie müssen aus Rechtsprinzipien abgeleitet und so dem Vorwurf der Beliebigkeit entzogen werden. Es handelt sich nicht um vorfindbare Werte, sondern um Explikationen der Rechtsverhältnisse unter Weltsubjekten, die dabei als ihre Konstituenten in Ansatz zu bringen sind. Diese Rechtsverhältnisse sind von freien Individuen ausgehend, über ihren Zusammenschluß in Rechtsgemeinschaften und die Verfassung in Staaten, bis hin zum Interstaaten- und Weltbürgerrecht zu bestimmen. Von hier aus läßt sich dann strafwürdiges Unrecht umfassend als Negation des allgemeinen Weltrechts durch eine interpersonale Freiheitsverletzung definieren – dagegen ist die „Verletzung von internationalen Rechtsgütern“ bloß eine diesen Zusammenhang immer schon voraussetzende Unrechtsumschreibung. Die Schwäche der benannten Anknüpfungspunkte erkennend, stellt Manske in einem weiteren Schritt ihren eigenen Ansatz zum Strafgrund des Verbrechens gegen die Menschlichkeit als internationales Verbrechen vor. Sie setzt an, indem sie an die notwendige Rechtsbetroffenheit der gesamten Menschheit durch ein solches Verbrechen erinnert.752 Um eine solche Rechtsbetroffenheit annehmen zu können, muß es eine vorgängige Rechtsverbundenheit geben, die internationale Gemeinschaft muß sich als Rechtsgemeinschaft darstellen lassen. Manske sieht nun die „Prämisse und das Fundament der internationalen Gemeinschaft“ darin, aus dem Naturzustand heraus in einen Friedenszustand zu treten, also einen Zustand, in dem das äußere Verhalten durch Rechtsgesetze bestimmt wird.753 Dementsprechend treffe alle Mitkonstituenten dieser Gemeinschaft die Pflicht zur Verhinderung von Rückfällen in den Naturzustand; ein Eingreifen der internationalen Gemeinschaft komme folglich in Fällen des Abgleitens in einen Zustand der Rechtlosigkeit in Betracht, denn durch einen solchen Zustand sei die gesamte Menschheit betroffen.754 Für den Verbrechensbegriff folgert Manske daraus: „Verbrechen an der Menschheit sind nach diesem Ver752 753 754
G. Manske, a. a. O. (Fn. 727), S. 333, 357, 358. G. Manske, a. a. O. (Fn. 727), S. 361. G. Manske, a. a. O. (Fn. 727), S. 364.
B. Materiell-rechtliche Begründungselemente des Völkerstrafrechts
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ständnis solche Taten, die die Grundlage der internationalen Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft in Frage stellen. Die die Prämisse angreifen, daß es eine internationale Gemeinschaft – gleich welcher Ausformung – geben kann. Das wesentliche der internationalen Gemeinschaft ist – in Ermangelung eines ideologisch und kulturell homogenen Weltstaates – daß Menschengruppen unterschiedlicher Kulturen zueinander in rechtliche Beziehungen treten und ihr Zusammenleben – oder wenigstens ‚Koexistieren‘ – nach allgemein verbindlichen Gesetzen gestalten – also die Ablösung des Naturzustandes durch einen Rechtszustand. Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind damit Verbrechen an der Menschheit, wenn sie zu einem Zustand der Rechtlosigkeit führen, der die gesamte internationale Gemeinschaft betrifft.“755 Die Argumentation Manskes setzt also grundsätzlich an: Es gehe beim völkerstrafrechtlichen Unrecht um die Verhinderung des Übergangs vom Naturzustand in einen Friedenszustand auf Weltebene. Im ersten Zugang scheint diese Bestimmung der hier vertretenen (völkerstrafrechtliches Unrecht als Negation der Bedingungen der Möglichkeit eines Weltrechtsfriedens) sehr ähnlich zu sein; überdies ist sie getragen von demselben Grundanliegen, eine allgemeine Definition desjenigen verbrecherischen Verhaltens zu finden, welches sich gegen die „Grundlagen der internationalen Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft“ richtet. Ein Einwand gegen diese Definition völkerstrafrechtlichen Unrechts ergibt sich aber aus dem hier vorangestellten Begründungsgang: Sie macht nicht ausreichend deutlich, daß es um das Herstellen materiell am Freiheitsbegriff orientierter Rechtswirklichkeit gehen muß, daß der formale Aspekt – Wechsel vom Naturzustand in den Rechtszustand – bloß einen Teil dieses Zusammenhangs ausmacht. Das allgemeine Weltrecht, dessen (partielle) Negation das internationale Verbrechen darstellt, umfaßt den Inbegriff der Bedingungen, die einen Rechtsfrieden möglich machen, und d. h. materielle und formelle Elemente des internationalen Rechts gleichermaßen: Sein Fundament in nach Freiheitsgesetzen organisierten Staaten und dem Prinzip der Anerkennung untereinander, die Vereinbarkeit des Handelns der Rechtseinheiten mit der Freiheit der anderen (also das materielle internationale Recht) und die Rechtsverwirklichung in den drei Formen des rechtlichen Zustandes, Staatsrecht, Völkerrecht und Weltbürgerrecht. Die Formulierung Manskes trägt deshalb nur, wenn jene Elemente stets mitgedacht werden756: Es geht nicht nur um eine internationale Gemeinschaft „gleich welcher Ausformung“, auch nicht um die Koexistenz nach allgemein verbindlichen Gesetzen überhaupt, sondern um eine nach Freiheitsgesetzen gebildete Rechtsgemeinschaft. Nur diese 755 756
G. Manske, a. a. O. (Fn. 727), S. 365 (Fn. weggelassen). Durch ihre Berufung auf Kant ist Raum dafür.
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2. Teil: Rechtsstrafe auf internationaler Ebene
Bindung an einen materiellen Rechtsbegriff kann die Beliebigkeit aus der letztlich angestrebten Aussage, daß der Weltgemeinschaft in bestimmten Fällen von Unrechtsbegehung ein Strafrecht zukommt, herausnehmen. Denn sie bewirkt, daß der Grund des Rechts, die Autonomie des einzelnen, bei der Argumentation stets anwesend ist. Dagegen kann Unrecht gültig nicht allein dadurch bestimmt werden, daß eine überhaupt bestehende gesetzliche Ordnung – gleich welcher inhaltlichen Ausgestaltung – angegriffen oder unmöglich gemacht wird.757 Auch bei Manske wird in einem weiteren Schritt materielle Rechtlichkeit hinzugenommen, wenn sie bei der Konkretisierung ihrer allgemeinen Unrechtsdefinition für die Bestimmung der Verbrechen an der Menschheit auf das Menschenrechtsprinzip abstellt. Sie schreibt: „Zu den grundlegenden Prinzipien, die einzuhalten sind, damit von einem Rechtszustand gesprochen werden kann, gehört nach der hier vertretenen Auffassung die Anerkennung des Menschen als Rechtsperson.“758 Das Menschenrechtsprinzip sei gleichzusetzen mit dem Recht auf Rechtsfähigkeit bzw. Rechtssubjektivität.759 Wenn dem auch vorbehaltlos zuzustimmen ist, so tritt diese Aussage an dieser Stelle etwas unvermittelt in die Argumentation. Denn der Mensch als Rechtsperson steht – wie dargestellt – notwendig am Anfang des Gedankengangs. Dies wird auch deutlich, wenn Manske darauf hinweist, daß es zuvörderst die Pflicht des Staates ist, das Menschenrecht zu gewährleisten.760 Von dort aus nun aber unmittelbar darauf zu schließen, daß die „Völkergemeinschaft gehalten (ist), wenigstens für die Dauer einer ‚Rekonstruktion‘ des Rechtszustandes (gemeint ist die Situation nach Zusammenbruch einer staatlichen Gemeinschaft, Anm. der Verf.) für die Einhaltung von Mindeststandards zum Schutz des Einzelnen zu sorgen“, unterschlägt genau die Schwierigkeit, auf die Manske zutreffend selbst hinweist: Nämlich den vorgängigen Bezug der Völkergemeinschaft zum Recht des einzelnen herzustellen. Trotzdem bringt die Verbindung von Menschenrechtsprinzip und förmlichem Rechtszustand die Argumentation weiter, denn im Ergebnis gibt Manske eine auch vor dem Hintergrund des hier erarbeiteten völkerstrafrechtlichen Unrechtsbegriffs haltbare Erklärung für die Betroffenheit der Völkergemeinschaft: Sie sieht das Eingreifen der internationalen Gemeinschaft dann als gerechtfertigt an, wenn ein Zustand der Rechtlosigkeit gerade im Hinblick auf die Gewährleistung des Menschenrechtsprinzips be757 Vgl. in diesem Zusammenhang auch schon die Kritik an W. Schild im ersten Teil der Arbeit D. II. 2. a). 758 G. Manske, a. a. O. (Fn. 727), S. 368 (Hervorhebung im Original). 759 G. Manske, a. a. O. (Fn. 727), S. 370. 760 G. Manske, a. a. O. (Fn. 727), S. 370.
B. Materiell-rechtliche Begründungselemente des Völkerstrafrechts
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steht; dies sei dann der Fall, wenn die Begehung unmenschlicher Handlungen Ausdruck der Maxime der Rechtlosigkeit ganzer Bevölkerungsteile ist.761 Die erste wesentliche Komponente des durch völkerstrafrechtliches Unrecht angegriffenen Weltrechts ist nach dem in der vorliegenden Arbeit vertretenen Ansatz die Existenz freier primärer Rechtseinheiten. Diese sind ohne entsprechende Rechtskonstituenten, einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen, nicht denkbar. Richtet sich nun ein Verhalten gegen das tragende Prinzip einer solchen Primäreinheit – freier Zusammenschluß nach dem Prinzip der Selbstverfassung all jener, die dieser Rechtseinheit zugehören – so ist tatsächlich ein Grundelement des Rechtsfriedens auf Weltebene tangiert. Insofern läßt sich sagen, daß bei „Begehung unmenschlicher Handlungen als Ausdruck der Maxime der Rechtlosigkeit ganzer Bevölkerungsteile“ allgemeines Weltrecht negiert wird, daß also völkerstrafrechtliches Unrecht begangen wird.762 bb) Das universale Verbrechen als Negation der Verfassungs- und Völkerrechtsfähigkeit eines Volkes bzw. Staates Köhlers Herleitung eines allgemeinen Begriffs des universalen Verbrechens setzt gleichursprünglich an wie die vorliegende Arbeit, nämlich indem sie die „Beziehung des allgemeinen Verbrechensbegriffs (zur) Besonderheit des internationalen Rechts und seines Prinzips“ herzustellen sucht.763 Dafür wird in zwei Schritten zunächst Begriff und Verfassung des internationalen Rechts und davon ausgehend der Begriff des universalen Verbrechens erarbeitet. Maßgebend für letzteren sei die „fundamentale Negation von Prinzipien des internationalen Verfassungsrechts“764. Köhler konkretisiert dies folgendermaßen: „(Der Verbrechensbegriff) besteht nicht nur in einer Rechts(guts)verletzung, sondern in der schuldhaft-tätigen Negation fremder Rechtsfähigkeit, also einer Fundamentalbedingung der selbständigen Existenz eines anderen Rechtssubjekts; so wird mit der Tötung oder Versklavung die Personalität überhaupt, mit dem Diebstahl die Privatrechtsfähigkeit negiert. Darin liegt zunächst interpersonale, staatsrechtlich 761
G. Manske, a. a. O. (Fn. 727), S. 373. Vgl. dazu auch unten unter b) bb). 763 M. Köhler, „Zum Begriff des Völkerstrafrechts“ in: J. Hruschka (Hrsg.), Jahrbuch für Recht und Ethik 11 (2003), S. 435 (454). Diese Übereinstimmung im gedanklichen Ursprung ist nicht überraschend, steht doch die vorliegende Arbeit in der Tradition einer wissenschaftlichen Diskussion um Begründungsfragen, die u. a. von M. Köhler wesentlich mit voran getrieben wird. Diese Verbundenheit im gemeinsamen Anliegen ist (erkennbar) stets anwesend. 764 M. Köhler, „Zum Begriff des Völkerstrafrechts“ in: J. Hruschka (Hrsg.), Jahrbuch für Recht und Ethik 11 (2003), S. 435 (456). 762
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2. Teil: Rechtsstrafe auf internationaler Ebene
bestimmte, über das besonders zugefügte Unrecht hinausgehende Allgemeinbedeutung eines Verbrechens. Das Specificum des kategorisch universalen oder Völkerrechtsverbrechens besteht dementsprechend in seinem Bezug auf die Fundamentalbedingung oder Grundsatznorm, die dem internationalen Rechtsverhältnis, mithin der Möglichkeit des Rechtsfriedens zwischen verfaßten Teilverbänden, Völkern und Staaten, bei all ihren sonstigen inneren und äußeren Gegensätzen, konstitutiv zugrunde liegt. Dies ist aber die Rechtspersonalität (Rechtsfähigkeit), nicht unmittelbar der staatsangehörigen Individuen – denn deren Verletzung betrifft zunächst allein das interpersonal-verbandsförmige (staatliche), allenfalls zwischenstaatliche Rechtsverhältnis, sondern der in sich verfaßten Verbände (Völker) und Staaten: ihre Verfassungsfähigkeit oder Völkerrechtssubjektivität, entsprechend der Grundpflicht, den Naturzustand aufzuheben und gegliederte Verfassungsformen bis hin zu internationalen Rechtsverhältnissen zu konstituieren.“765 Daraus ergibt sich folgende allgemeine Definition des universalen Verbrechens: Es besteht in der „schuldhaft-tätigen Negation der Verfassungs- und zugleich Völkerrechtsfähigkeit, also einer Fundamentalbedingung der intern rechtsverfaßten Selbständigkeit eines Verbandes (Volkes) bzw. Staates.“766 Zuzustimmen ist Köhler in seiner Umschreibung des Völkerverbrechens als „fundamentale Negation von Prinzipien des internationalen Verfassungsrechts“. In der Konkretisierung dieser allgemeinen Aussage erfolgt nun aber eine Zuspitzung auf das Moment der Negation fremder Rechtsfähigkeit – entsprechend für den völkerrechtlichen Zusammenhang auf das Moment der Negation fremder Völkerrechtsfähigkeit – die mißverständlich ist. Es ist vor dem Hintergrund des hier vertretenen – im Prinzip mit Köhler geteilten – Verständnisses vom Verbrechen zutreffend zu sagen, daß in jedem Verbrechen über die unmittelbare Rechtsgutsverletzung des anderen hinaus gerade seine Person als Rechtsperson angegriffen wird, ihm also in einem bestimmten Sinne seine Rechtspersonalität abgesprochen wird. Diese Rechtspersonalität des einzelnen Subjekts ist auch „Fundamentalbedingung“ einer jeden Rechtsordnung: Das Prinzip der Respektierung solcher Rechtspersonalität liegt dem Recht zugrunde. Entsprechend läßt sich sagen, daß das Prinzip der Respektierung fremder Völkerrechtspersonalität die Basis des internationalen Rechts bildet. Dies betrifft aber immer noch die im Kern interpersonale Bedeutung des Verbrechens. Es wird Rechtspersonalität in bestimmter Hinsicht verletzt: Z. B. bei der Tötung durch Auslöschen der Person überhaupt oder beim Diebstahl durch Verletzung der Eigentümerstel765
M. Köhler, „Zum Begriff des Völkerstrafrechts“ in: J. Hruschka (Hrsg.), Jahrbuch für Recht und Ethik 11 (2003), S. 435 (456) (ohne Fn.). 766 M. Köhler, „Zum Begriff des Völkerstrafrechts“ in: J. Hruschka (Hrsg.), Jahrbuch für Recht und Ethik 11 (2003), S. 435 (457).
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lung (um bei den von Köhler genannten Beispielen zu bleiben). Völkerrechtlich gewendet: Ganz gewiß liegt Unrecht vor, wenn die Rechtspersonalität eines fremden Volkes negiert wird. Darüber hinaus zeichnet sich strafwürdiges Unrecht aber durch seine unmittelbare Bedeutung für die Rechtsallgemeinheit aus, die hier mit der „Verletzung des Rechts als Recht“ umschrieben wurde. Durch interpersonales Unrecht (der Verletzung des anderen in seiner äußeren Rechtssphäre und in seiner Qualität als Rechtssubjekt) muß allgemeine Rechtsgeltung in Frage gestellt werden, also etwa die allgemeine Geltung des Prinzips der Unversehrtheit der Person oder des Prinzips des Privateigentums als Bestandteile allgemeinen Rechts. Hier ist das Pendant bei der Völkerrechtsordnung dann die Geltung des Prinzips der Existenz und Integrität als Rechtseinheit eines verfaßten Volkes als Bestandteil allgemeinen Weltrechts im oben beschriebenen Sinne. Damit ist anerkannt, daß die Rechtseinheit eines verfaßten Volkes als Bestandteil allgemeinen Weltrechts zu respektieren ist – als eine fundamentale Bedingung der Rechtsgeltung in der Weltrechtsgemeinschaft. Sie ist aber eben Bestandteil der Gesamtheit allgemeinen Rechts und als solcher nicht absolut zu setzen. Deshalb ist die Begriffsbestimmung, so wie sie Köhler vornimmt, zu eng. Völkerstrafrechtliches Unrecht liegt nicht nur dann vor, wenn die Verfassungs- und zugleich Völkerrechtsfähigkeit eines Volkes bzw. Staates negiert wird, sondern auch immer dann, wenn die universelle Geltung anderer Rechtsprinzipien (partiell) negiert wird, die die Bedingungen der Möglichkeit des Rechtsfriedens auf der Welt (das allgemeine Weltrecht) überhaupt beinhalten: So z. B. bei einem Verhalten, das sich gegen die Möglichkeit eines auf der Freiheit der Einzelglieder beruhenden Staatenbundes richtet (man handelt beispielsweise nach der Maxime, schon bestehende Verfassungsstrukturen eines solchen Bundes zu zerstören) oder das prinzipiell die Geltung des Weltbürgerrechts in Frage stellt (man macht sich zur Maxime, alle im eigenen Staat ankommende Fremde umzubringen und setzt diese Maxime – etwa durch systematische Erschießungen – um). So betrachtet enthält der völkerstrafrechtliche Unrechtsbegriff das Element der Negation der Völkerrechtsfähigkeit, weil und soweit es sich mit dem ersten Element des allgemeinen Weltrechts, der Existenz freier primärer Rechtseinheiten, deckt. Zuzustimmen ist Köhler allerdings insofern, als daß es gerade dieses erste Element ist, welches für die heute bestehenden Völkerstraftatbestände (kodifiziert im Romstatut) von besonderer Bedeutung ist. Dies soll im folgenden genauer herausgearbeitet werden.
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2. Teil: Rechtsstrafe auf internationaler Ebene
b) Die Straftatbestände des Völkerstrafrechts: Grundzüge einer Unrechtsbestimmung Die Tatbestände Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen, die gemäß dem Romstatut unter die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs fallen767, haben schwere Rechtsverhältnisverletzungen wie die Tötung eines anderen, die Verletzung seiner körperlichen Integrität, die Instrumentalisierung des anderen durch Versklavung, die mit Zwang verbundene Deportation, Vergewaltigung u. a. zum Gegenstand. Diese Verhaltensweisen gehören nach dem herausgearbeiteten Verständnis zunächst zur interpersonalen Dimension strafrechtlichen Unrechts.768 Die zweite Dimension solcher Verbrechen liegt – wie beschrieben – in ihrer Bedeutung für die Rechtsallgemeinheit: Durch die konkrete Freiheitsverletzung werden Grundgestaltungen des Rechts in Frage gestellt, auf deren Geltung die umgebende Rechtsgemeinschaft angewiesen ist. So greift der Täter mit den oben genannten Verhaltensweisen das Prinzip der Ermöglichung eines selbständigen Daseins für alle Rechtssubjekte an – jeweils in seiner besonderen Ausprägung etwa als Prinzip des Lebensschutzes, der Gewährleistung der körperlichen Unversehrtheit und der Selbstbestimmungsfähigkeit, der Verbundenheit des einzelnen mit seinem angestammten Platz auf der Welt und seiner Befugnis, über den eigenen Körper und Geist selbst zu entscheiden. Die Verbrechen treffen zusätzlich die globale allgemeine Rechtsgeltung, wenn sie über die Negation einzelner Teilaspekte des Rechtsprinzips als solches hinaus die universelle Geltung derjenigen Rechtsprinzipien (partiell) negieren, die die Bedingungen der Möglichkeit des Rechtsfriedens auf der Welt beinhalten. Die völkerstrafrechtlichen Tatbestände müssen also Merkmale aufweisen, die das jeweilige Verhalten in den internationalen Kontext stellen, d. h. die eine besondere Betroffenheit auch übernationaler Allgemeinheit begründen. In den Formulierungen der Tatbestände im Romstatut finden sich Anhaltspunkte für eine solche Betroffenheit im sog. „chapeau“-Teil des jeweiligen Tatbestandes. Der Völkermord (Art. 6 des Romstatuts) muß in einer bestimmten, auf Vernichtung einer nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gruppe gerichteten Absicht verübt werden. Die Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 7) müssen im „Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung und in Kenntnis 767
Vgl. Artikel 5–8 des Romstatuts; das Verbrechen der „Aggression“ (vgl. Art. 5 Abs. 1 d)) bleibt hier außer Betracht, denn bis zur endgültigen Definition dieses Verbrechens übt der IStGH keine Gerichtsbarkeit darüber aus (Art. 5 Abs. 2). 768 Zur Begründung vgl. oben B. I. 2. in diesem Teil der Arbeit.
B. Materiell-rechtliche Begründungselemente des Völkerstrafrechts
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des Angriffs“ begangen werden. Kriegsverbrechen (Art. 8) sind durch ihren Bezug zu einem bewaffneten Konflikt gekennzeichnet. Im folgenden soll untersucht werden, inwiefern in diesen Tatbestandsfassungen ein Unrechtskern des jeweiligen Delikts zum Ausdruck kommt, der sich auf die Grundbestimmung völkerstrafrechtlichen Unrechts zurückführen läßt.769 Dabei wird nicht der Anspruch erhoben, eine letztgültige Unrechtsbestimmung der verschiedenen völkerrechtlichen Delikte zu leisten. Wie schon bei den Überlegungen zur interpersonalen Dimension der benannten Tatbestände kann es nur um eine Annäherung an den Unrechtsgehalt gehen. Immerhin wäre damit aber grundsätzlich ein Weg benannt, wie ein Urteil über die Existenz einer materiellen Strafbefugnis der Völkergemeinschaft – deren Bestehen Voraussetzung einer jeden legitimen internationalen Strafgerichtsbarkeit ist – begründet zustande kommen kann. aa) Völkermord Eine skizzenhafte Unrechtsbestimmung des Völkermordes hat anzusetzen an der erinnerten Struktur des Verbrechens und seiner globale Betroffenheit begründenden Besonderheit. Wer in der Absicht, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören, etwa Mitglieder der Gruppe tötet, bei ihnen schwere körperliche oder seelische Schäden verursacht oder sie unter Lebensbedingungen stellt, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen, macht sich gemäß Art. 6 des Romstatuts strafbar.770 In der Tötung und in körperlichen Verletzungen (die seelischen bedürften vertiefter Begründung771) liegt gewiß eine interpersonale Rechtverhältnisverletzung, die auch nach der unmittelbar umgebenden Rechtsallgemeinheit hin zur Aufhebung durch Strafe drängt. Zum Bruch des Prinzips des Lebensschutzes (der einzelne darf leben) und der äußerlichen Unversehrtheit (der einzelne ist in seiner körperlichen Integrität zu achten) kommt nunmehr aber hinzu, daß der einzelne als Teil einer (näher bestimmten) Gruppe angegriffen wird, ihm also seine Existenz ge769 Zu dieser Vorgehensweise vgl. I. Kant, MdS, Rechtslehre, Einleitung in die RL, § B, AB 32 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 229, 230). 770 Zu den weiteren Handlungsalternativen des Völkermordes vgl. Art. 6 des Romstatuts. 771 Hier wären Überlegungen anzustellen, die, wie unter 2. Teil, B. I. 2. für einige andere Tatbestandsalternativen der Delikte im Romstatut demonstriert, das „Verursachen von seelischen Schäden“ daraufhin untersuchen, ob es sich dabei um eine signifikante Störung des auf gegenseitiger Anerkennung basierenden Rechtsverhältnisses durch eine konkrete Freiheitsverletzung des einen gegenüber dem anderen handelt.
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2. Teil: Rechtsstrafe auf internationaler Ebene
rade als Mitglied dieser Gruppe (der einzelne soll als Teil einer Gruppe existieren dürfen) unmöglich gemacht wird.772 Dies stellt seinerseits Unrecht dar, weil der einzelne nicht solitär existiert, sondern immer schon eingebunden ist in eine bestimmte Sozialität, angewiesen auf den Zusammenhalt mit anderen, sei es familiär, gesellschaftlich oder eben spezifisch-gruppenbezogen. Auch bezogen auf dieses Moment des Unrechts ist vorrangig an eine strafrechtliche Bewältigung durch die unmittelbar umgebende Rechtsgemeinschaft zu denken: Etwa durch das im Staat verfaßte Volk, welches sich Regelungen zum Minderheitenschutz gegeben hat und nun das interpersonale Gleichheitsverhältnis unter den Rechtssubjekten und die Geltungsallgemeinheit seiner Normen – und damit zugleich den im Staat geschaffenen Friedenszustand (die dritte, nicht konstitutive Dimension strafrechtlichen Unrechts773) – durch Strafe wiederherstellt. Der Angriff auf eine Gruppe bezeichnet daher zwar überhaupt allgemeines Unrecht, noch nicht aber per se das spezifisch internationale Moment des Völkermordes. Dies gilt auch dann, wenn die eingrenzenden Attribute „national, ethnisch, rassisch oder religiös“ hinzugenommen werden. Es sind durchaus Fälle eines „Völkermordes“ (i. S. der o. g. tatbestandlichen Definition) denkbar, die allein eine Strafbefugnis der unmittelbar umgebenden Rechtsgemeinschaft auslösen. Es trifft beispielsweise gerade das innere Recht einer freiheitlichen staatlichen Rechtsgemeinschaft, wenn in ihr Mitglieder einer religiösen Gemeinschaft um der Vernichtung dieser Gemeinschaft willen umgebracht werden: Es gilt das Prinzip freier innerer Ausrichtung – im Glauben oder in der Weltanschauung – und es stellt interpersonal-allgemeines Unrecht dar, den anderen wegen dieser Ausrichtung und als Mitglied einer diese Ausrichtung teilenden Gemeinschaft umzubringen. Ein Bezug zur internationalen Gemeinschaft – und damit ihre Strafbefugnis – ist aber da772 Zum Begriff der „Gruppe“ vgl. Müko-Kreß, § 220a/§ 6 VStGB, RN 32 ff.; an einer begrifflichen Klärung dieses Merkmals nicht interessiert dagegen W. Schabas, „Article 6“ im „Commentary on the Rome Statute of the International Criminal Court“ (1999), hrsg. von O. Triffterer, und A. Cassese bei seiner Kommentierung des Artikels 6 des Romstatuts in dem von ihm selbst mitherausgegebenen Kommentar zum Romstatut, The Rome Statute of the Interntional Criminal Court: A Commentary (2002). Kaum genauer W. Schabas, Genocide in International Law (2000), Chapter 3, S. 102 ff., der sich für eine präzise Definition aus recht diffusen Gründen ausspricht, ohne jedoch selbst an einer solchen zu arbeiten: „The definition is a narrow one, it is true, but recent history has disproven the claim that it was too restrictive to be of any practical application. For society to define a crime so heinous that it will occur only rarely is testimony to the value of such a precise formulation. Diluting the definition, either by formal amendment of its terms or by extravagant interpretation of the existing text, risks trivializing the horror of the real crime when it is committed.“ (S. 114). 773 Vgl. dazu die Herleitung der drei Dimensionen des Unrechts und der Strafe im ersten Teil der Arbeit.
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durch nicht schon begründet. Ähnliches gilt, wenn statt der religiösen eine nationale, ethnische oder rassische Gruppe angegriffen wird: Aus gutem Grund hat zunächst die unmittelbar umgebende Rechtsallgemeinheit Rechtsgeltungsrestitution zu leisten. Der Qualitätswechsel zum völkerstrafrechtlichen Unrecht muß deshalb auf anderem Wege begründet werden, und der folgende Gedankengang stellt einen möglichen Zugang zu diesem Problem vor: Handelt es sich bei dem zu untersuchenden Verhalten um einen Rechtsbruch, der im Falle der Verallgemeinerung seiner zugrundeliegenden Maxime – der Vernichtung einer Gruppe als solcher – nicht nur zu einer partikulären Negation allgemeiner Rechtsgeltung innerhalb eines bestehenden (staatlichen) Friedenszustandes führt, sondern ein Niveau erreicht, das die Voraussetzung menschlichen Zusammenlebens unter Rechtsgesetzen überhaupt in Frage stellt, etwa durch die Vernichtung eines ganzen Volkes (Völkermord im engeren Sinne), dann ist damit notwendig eine Dimension erreicht, die über die unmittelbar betroffene Rechtsgemeinschaft hinausweist. Denn: Durch einen gesellschaftlichen Zusammenhang – durch staatliche Verfaßtheit, aber auch durch die Gemeinschaft in ursprünglicheren Formen rechtlicher Verbundenheit – erhalten die einzelnen Rechtsverhältnisse der Personen Verfestigung. Dementsprechend hat der Bruch eines Anerkennungsverhältnisses zweier Personen zwar rechtserschütternde Bedeutung dadurch, daß ein Teilaspekt der menschlichen Gemeinschaft angegriffen wird. Im verfestigten Rahmen einer Gesellschaft kann aber ein einzelnes Delikt nicht die Grundfesten dieser Gemeinschaft erschüttern und die Rechtsverletzung im besonderen ändert an der prinzipiellen Fortgeltung gesicherter Rechtspositionen nichts, denn das „Allgemeine“ bleibt bestehen.774 Dies ist anders bei Straftaten, die auf die Aufhebung des gesamten gemeinschaftlichen Zusammenhangs gerichtet sind: Sie haben sozusagen die Wirkung, die Gesellschaft als solche über die Verletzung des Individuums anzugreifen, sie aufzulösen dadurch, daß sie die Existenz ihrer Mitglieder in ihrer Eigenschaft als Mitglieder gerade dieser Gesellschaft vernichten. Damit würde der stabilisierende Zusammenhang aufgehoben: Das Opfer einer solchen Straftat wird nicht nur auf der Ebene der direkten (interpersonalen) Anerkennung in seiner Freiheit verletzt, es wird u. U. auch seines gesamten sichernden Zusammenhangs beraubt – jedenfalls stellt dies die Zielrichtung der Unrechtstat dar. Die bestehende Rechtseinheit wäre damit nicht bloß partiell verletzt, sondern in ihrer Existenz als Ganzes gefährdet. 774 Vgl. zu diesem Gedanken G. W. F. Hegel, Rph, § 218 und seinen Zusatz; W. Schild, „Ende und Zukunft des Strafrechts“ ARSP (70) 1984, S. 71 (96); vgl. auch M. Köhler, „Strafbegründung im konkreten Rechtsverhältnis“ in: W. Küper/I. Puppe/J. Tenckhoff (Hrsg.) Festschrift für Karl Lackner (1987), S. 11 (31).
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2. Teil: Rechtsstrafe auf internationaler Ebene
Damit fiele aber gleichzeitig auch die erste Grundbedingung des Rechtsfriedens auf der Welt weg, denn die Existenz selbstbestimmter Völker ist (nach dem Kantischen Friedensentwurf) für friedliche Weltrechtsverhältnisse konstitutiv. Dabei ist einerseits ohne Zweifel das Staatsvolk gemeint, das als Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen lebt, sich also schon unter einem es vereinigenden Willen in einem Rechtszustand verfaßt hat. Andererseits betrifft dies aber auch Volksgruppen, die nach selbstgegebenen Regeln (beispielsweise kultureller oder religiöser Natur) relativ selbständig ihren eigenen Lebenskreis organisieren, aber selbst (noch) keinen eigenständigen Staat bilden. Gedacht ist dabei etwa an Gruppen, die als eigenständige Einheiten in eine staatlich verfaßte Rechtsgemeinschaft integriert sind bzw. jedenfalls einen Bestandteil des Staatsvolkes bilden (beispielsweise als kulturelle, religiöse oder nationale Minderheit im Staat) oder an vom Staat weitgehend unabhängige Gemeinschaften, die außerhalb der staatlichen Strukturen stehen und fernab vom öffentlichen Geschehen ihr eigenes Leben führen (wie z. B. bei ursprünglichen Naturvölkern oder Stammesgemeinschaften). Hier kristallisiert sich nun das eigentlich universale Betroffenheit auslösende Moment des Völkermordes heraus: Es geht um den Angriff auf schon eigenständig verfaßte bzw. jedenfalls verfassungstaugliche Gruppen von Menschen, die durch das Verbrechen ihres selbständigen gesellschaftlichen Zusammenhangs beraubt werden sollen. Die Selbständigkeit der Völker – sei es in schon verfaßter Staatsform, sei es als eigenständiger Bestandteil oder Vorform eines Staates – ist aber eben Grundbedingung der Möglichkeit eines Rechtsfriedens auf Weltebene und damit Sache der Völkergemeinschaft als solcher.775 Damit sind von der materiellen Strafbefugnis der Völkergemeinschaft ausgeschlossen Fälle von „Gruppenmord“, die – wiewohl schwerstes Unrecht darstellend – nicht das Prinzip selbständiger Rechtseinheiten als primärer Stufe einer freiheitlichen Weltgemeinschaft an sich angreifen. Dies erklärt, warum ein Massenmord, beispielsweise begangen an einer national bestimmten Gruppe – etwa: „die Ausländer“ – in der Absicht, diese zu zerstören, nicht zwangsläufig völkerstrafrechtliche Reaktion hervorrufen muß: Diese Art von Unrecht betrifft ausschließlich die umgebende staatliche Rechtsgemeinschaft, die Unrechtsausgleich in Form der Strafe leisten muß. Umgekehrt lassen sich davon Fälle unterscheiden, in denen eigenständige Volkseinheiten, selbst-verfassungstaugliche Gruppen von Menschen in und wegen ihrer jeweiligen Eigenart angegriffen werden. In solchen Fällen rich775 In eine ähnliche Richtung gehen die Überlegungen M. Köhlers, „Zum Begriff des Völkerstrafrechts“ in: J. Hruschka (Hrsg.), Jahrbuch für Recht und Ethik 11 (2003), S. 435 (454 ff.).
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tet sich das Unrecht dann tatsächlich gegen allgemeines Weltrecht, dessen Geltung legitimerweise durch die Völkergemeinschaft mit Strafe restituiert werden darf. bb) Verbrechen gegen die Menschlichkeit776 Auch die Bestimmung des universalen Moments der Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist nicht unproblematisch.777 Orientiert man sich zunächst an ihrer positiven Fassung im Romstatut, so ergibt sich, daß sie dadurch gekennzeichnet sind, daß sie im „Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung und in Kenntnis des Angriffs“ begangen werden (Art. 7 Abs. 1), wobei „Angriff gegen die Zivilbevölkerung“ eine Verhaltensweise bedeutet, „die mit der mehrfachen Begehung der in Absatz 1 genannten Handlungen gegen die Zivilbevölkerung verbunden ist, in Ausführung oder zur Unterstützung der Politik eines Staates oder einer Organisation, die einen solchen Angriff zum Ziel hat“ (Art. 7 Abs. 2 a)). Ausgeschlossen sind danach zunächst vereinzelte und – was ihren Opferkreis und ihre Stoßrichtung angeht – beliebige Taten, denn ihnen fehlt jeglicher übergeordneter Zusammenhang.778 Dieser notwendige übergeordnete 776
Zur Entwicklungsgeschichte und Kodifikation im Romstatut vgl. M. C. Bassiouni, „Crimes against Humanity“ in ders. (Hrsg.), International Criminal Law (2. Aufl., 1999), Vol. I, S. 521 ff.; P. Hwang, „Defining Crimes against Humanity in the Rome Statute of the International Criminal Court“ Fordham International Law Journal 22 (1998), S. 457 ff.; D. Robinson, „Defining ‚Crimes against Humanity‘ at the Rome Conference“ American Journal of International Law 93 (1999), S. 43 ff.; B. Van Schaack, „The Definition of Crimes against Humanity: Resolving the Incoherence“ Colombia Journal of Transnational Law 37 (1999), S. 787 ff. 777 Bemerkenswert sorglos L. Lehmler, Die Strafbarkeit von Vertreibungen aus ethnischen Gründen im bewaffneten nicht-internationalen Konflikt (1999), S. 191 ff. Für einen ersten Vorschlag vgl. A. Becker, Der Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit (1996), S. 148 ff., die als Unterscheidungskriterium zwischen „klassischem Strafrecht“ und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ auf die „wertordnungsfeindliche Gesinnung“ des Täters abstellen will. Der Gedanke G. Werles, Völkerstrafrecht (2003), RN 627 (die Tat stelle die Humanität als solche in Frage und betreffe damit die Völkergemeinschaft als Ganze) ist in dieser Form unabgeleitet, zielt aber in die auch hier vertretene Richtung (vgl. dazu sogleich im Text). Siehe außerdem nochmals G. Manske, a. a. O. (Fn. 727), die durch ihre Untersuchung der Diskussion eine neue Qualität gegeben hat. 778 So auch R. Dixon, „article 7“ in: O. Triffterer (Hrsg.), Commentary on the Rome Statute of the International Criminal Law (1999), RN 4; A. Cassese, „Crimes against Humanity“ in: ders./P. Gaeta/J. R. W. D. Jones (Hrsg.), The Rome Statute of the International Criminal Court: A Commentary (2002), S. 360. Vgl. auch das Tadic-Urteil vor dem ICTY (Case No. IT-94-1-T, 7 May 1997), para 645.
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Zusammenhang zeichnet sich laut Tatbestand durch konzertiertes, systematisches Vorgehen gegen einen bestimmten Opferkreis (Zivilbevölkerung) aus, hinter dem ein politischer Plan entweder eines Staates oder einer sonstigen Organisation steht. Damit ist gewiß symptomatisch korrekt erfaßt, welche Situationen dem völkerstrafrechtlichen Unrecht der Verbrechen gegen die Menschlichkeit zugrunde liegen. Fraglich ist aber, ob das Faktum eines solchen koordinierten Angriffs schlechthin schon die Kategorie des völkerstrafrechtlichen Unrechts eröffnet, oder ob es dafür auf eine bestimmte, inhaltliche Ausrichtung dieses Angriffs ankommt.779 Anzusetzen ist für diese Frage an dem Merkmal des systematischen Angriffs auf eine Zivilbevölkerung. Die Systematik eines Vorgehens setzt voraus, daß sie einem ihr vorgängigen Prinzip folgt.780 Das Prinzip hinter einer systematischen Rechtsverletzung einer bestimmten Zielgruppe ist die grundsätzliche Mißachtung ihrer Rechtspersönlichkeit, der Anerkennung gebührt. Dies bedeutet, daß es bei den Verbrechen gegen die Menschlichkeit um Taten geht, deren Prinzip die Aberkennung des Menschenrechts einer gesamten Bevölkerungsgruppe781 ist. Wer ein solches Verbrechen begeht, verletzt also nicht nur das Rechtsverhältnis zwischen ihm und seinem Opfer und er negiert auch nicht nur eine Ausgestaltung des allgemeinen Rechtsgesetzes, etwa das Prinzip des Lebensschutzes – beides zusammengenommen schon Grund genug für eine strafende Reaktion der unmittelbar umgebenden Rechtsgemeinschaft, dem betroffenen Staat. Das Spezifische an dieser Art von Delikt ist vielmehr, daß sich der Täter von einem Grundsatz leiten läßt, der das allem Recht überhaupt zugrundeliegende und jedem Menschen kraft seines Menschseins zukommende Menschenrecht für eine von ihm näher bestimmte Gruppe als solches verleugnet. Ein Verbrechen im Interpersonalverhältnis stellt dann ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar, wenn es eine Maxime erkennen läßt, bei deren Verallgemeinerung eine bestimmte Bevölkerungsgruppe prinzipiell rechtlos gestellt würde.782 Dabei 779
In diese Richtung G. Manske, a. a. O. (Fn. 727), S. 298–303. Ähnlich R. Dixon, „article 7“ in: O. Triffterer (Hrsg.), Commentary on the Rome Statute of the International Criminal Law (1999), RN 11: „(. . .), the term ‚systematic‘ indicates a ‚pattern or methodical plan‘, which is ‚thoroughly organised and following a regular pattern‘. (mit Verweis auf das Tadic-Urteil, a. a. O. [Fn. 778] und dem Akayesu-Urteil vor dem ICTR [Case No. ICTR-96-4-T, 2 Sept. 1998], para 580). 781 Wobei die Bevölkerungsgruppe hier nicht nach bestimmten Merkmalen eingegrenzt ist – wie beim Völkermord – sondern sich im wesentlichen nur dadurch auszeichnet, daß sie nicht an Kampfhandlungen im Rahmen eines bewaffneten Konflikts teilhat. Siehe R. Dixon, „article 7“ in: O. Triffterer (Hrsg.), Commentary on the Rome Statute of the International Criminal Law (1999), RN 13. Vgl. auch G. Werle, Völkerstrafrecht (2003), RN 615 u. 629 ff. 782 So auch G. Manske, a. a. O. (Fn. 727), S. 368 ff. 780
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werden dann schon im Ansatz die anderen nicht mehr als Mitkonstituenten des Freiheitsgesetzes wahrgenommen; die Freiheit anderer in ihrer Bedeutung als Regulativ des eigenen Verhaltens wird gänzlich abgestritten. Das Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist dann wörtlich zu nehmen als eine Negation der Grundbestimmung des (und das heißt: eines jeden) Menschen als rechtlich-frei.783 Damit bricht die Basis jeden rechtlichen Umgangs miteinander weg, die „selbständige Bewältigung des Daseins im äußeren Verhältnis der Gleichbedeutsamkeit zum anderen“ wird nicht nur als Ausnahmeerscheinung, sondern grundsätzlich und nicht nur für einzelne Opfer, sondern für die Allgemeinheit der angegriffenen Zivilbevölkerung unmöglich gemacht. Die Systematik der Verfolgung ist Konsequenz aus einer vorgängigen prinzipiellen Entrechtung einer bestimmten Gruppe. Der Unterschied zwischen einer im Staat zu bewältigenden Rechtsverletzung und dem Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist damit folgendermaßen zu fassen: Ersteres zeichnet sich durch einen nach außen getretenen Widerspruch zur Geltung des allgemeinen Rechts aus; der subjektive Widerspruch im Täter liegt dabei darin, daß er seine Maxime (ich darf die Freiheit anderer verletzen) über die auch ihm selbst einsichtige Regel (die Freiheit anderer ist zu achten) stellt und damit ein inhaltlich-verkehrtes (und deshalb nur vermeintliches) allgemeines Recht behauptet, dessen Aussage es ist, Freiheitsverletzungen anderer seien erlaubt. Dieser – durch Handlung – nach außen getragene Vernunftwiderspruch im Täter soll durch die Bestrafung aufgelöst werden.784 Mit einem „einfachen“ Verbrechen wird also der vernunft-notwendige Inhalt des Rechtsgesetzes durch ein prinzipiell vernünftiges Subjekt negiert. Im Unterschied dazu richtet sich das Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht gegen den Inhalt, sondern gegen die Grundvoraussetzung des Rechtsgesetzes: Der Täter behauptet nicht allein, Freiheitsverletzungen anderer seien erlaubt (es gebe ein allgemeines Gesetz dieses Inhalts), sondern auch, daß die Freiheit anderer als Orientierungsmaßstab für sein praktisches Handeln in diesem Fall überhaupt keine Rolle spielt. Er macht sich zum Prinzip, eine bestimmte Gruppe von Menschen aus der Geltung des Rechtsgesetzes herauszudefinieren, indem er sie rechtlos zu stellen sucht. Die Frage, ob sein Verhalten „erlaubt“ sei oder nicht, ob sein Verhalten „mit der Freiheit von jedermann zusammen bestehen könne“, kann dann sinnvoll 783 Vgl. I. Kant, MdS, Rechtslehre, Einteilung der RL, B., AB 45 (AkademieAusg. Band VI, S. 237): „F r e i h e i t, sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist (das) einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht.“ 784 Vgl. dazu den ersten Teil der Arbeit.
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nicht mehr gestellt werden, weil seine Opfer vorher aus dem „jedermann“Bereich ausgeschlossen wurden. Ein solches Verhalten löst die Betroffenheit all derer aus, die auf das Recht als Ordnungsprinzip unter Freien angewiesen sind: Also alle endlich-vernünftigen Wesen dieser Welt in ihren jeweiligen Rechtsverhältnissen.785 Ein solches Verbrechen betrifft dann auch die Sphäre der Welt-Grund-Gemeinschaft von vernünftigen Subjekten (und damit globale allgemeine Rechtsgeltung), indem es das sie formende Prinzip in allgemeiner Weise in Frage stellt: Dem allgemeinen Weltrecht liegt wesentlich die Freiheit der einzelnen Weltsubjekte und ihre Einsichtsfähigkeit in die Notwendigkeit von Rechtsgemeinschaften zugrunde. Seine Bestandteile (Freiheit der Primäreinheiten, ihre gegenseitige Anerkennung, die Rechtsverwirklichung im Staats-, Völker- und Weltbürgerrecht) sind nur erklärbar, wenn das Konstitutionsprinzip menschlicher Freiheit stets gedanklich gegenwärtig ist; zugespitzt formuliert: das Recht auf Weltebene steht und fällt mit der Geltung des Menschenrechtsprinzips. Dies zeigt sich vom Beginn des Gedankengangs einer Weltrechtsbegründung bis zu dessen Ende: Freiheit ist das einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht786; das allgemeine Rechtsgesetz ist angewiesen auf die Existenz freier Handelnder, die einander als solche erkennen und jeweils bei ihrem Handlungsvollzug als feste Größe mit einrechnen787; die Verwirklichung rechtlicher Verhältnisse in den 785
Eine Frage, die zu stellen an diesem Punkt der Argumentation möglich wäre, ist, ob denn bei einem solchen Verhalten des Täters dennoch die Reaktion der betroffenen Gemeinschaft eine rechtliche sein muß, hat der Täter doch selbst gerade ein Verhalten an den Tag gelegt, das die Maxime manifestiert, den Rechtszusammenhang mit anderen aufkündigen zu wollen. Denkbar wäre es, ihn nun seinerseits außerhalb des Rechts zu stellen, ihn nach gerade jenem Prinzip zu behandeln, das er selbst gerade zum Ausdruck gebracht hat: Ihn zum Unmenschen zu deklarieren, ihm die Rechtspersönlichkeit abzusprechen und damit die Grenzen des Rechts im Umgang mit ihm zu umgehen. Dies würde aber bedeuten, seinen Fehler zu wiederholen und diese Aktion auch noch zusätzlich mit übergeordneter, wirkmächtiger Strafgewalt auszustatten. Außerdem ist ja nicht nach einer beliebigen Reaktion der betroffenen Gemeinschaft gefragt, sondern eben nach der rechtlichen, d. i. legitimen. Diese setzt aber gerade einen fortgesetzten rechtlichen Zusammenhang zwischen Täter und strafender Gemeinschaft voraus; ansonsten handelt es sich um irgendwie geartete Machtausübung, nicht aber um Rechtsstrafe. In diesem Punkt unklar G. Jakobs, „Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht“ in: Yu-hsiu Hsu (Hrsg.), Foundations and Limits of Criminal Law and Criminal Procedure – an Anthology in Memory of Professor Fu-Tseng Hung – (2003), S. 41 ff. 786 I. Kant, MdS, Rechtslehre, Einteilung der RL, B., AB 45 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 237). 787 I. Kant, MdS, Rechtslehre, Einleitung in die RL, § C, AB 34 (AkademieAusg. Band VI, S. 231).
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drei Formen des Rechtszustandes erfolgt nach dem Prinzip der tatsächlichen Ermöglichung eines selbständigen Lebens für alle788; angestrebter Schlußpunkt der gesamten Entwicklung ist das öffentliche Menschenrecht überhaupt, also ein Zustand der Rechtsverfassung, in dem das Menschenrecht weltweit gewährleistet ist, also die realen Weltverhältnisse ihm gemäß gestaltet werden.789 Läßt sich die Handlung eines vernünftigen Mitkonstituenten von dem Grundsatz leiten, dieses Formprinzip (welt)rechtlicher Gemeinschaft zu verletzen und ihm die Geltung abzusprechen, stellt dies einen Angriff auf alle Weltrechtssubjekte gleichermaßen und damit völkerstrafrechtliches Unrecht dar. Eine interpersonale Freiheitsverletzung, deren allgemeine Bedeutung in einer Negation des Rechtsgesetzes in bestimmter Hinsicht liegt, wird dann zum Humanitätsverbrechen. Der Grund dafür liegt darin, daß die Menschheit für eine praktisch-rechtlich-vernünftige Rechtsverwirklichung auf Weltebene – und damit dem Rechtsfrieden – auf die Geltung dieses Prinzips angewiesen ist, sollen sich die einzelnen Verwirklichungsstufen realisieren lassen. Und völkerstrafrechtliches Unrecht zeichnet sich eben durch die Negation der universellen Geltung derjenigen Rechtsprinzipien aus, die die Bedingungen der Möglichkeit des Rechtsfriedens auf der Welt beinhalten. Das Merkmal der „Systematik“ des Angriffs weist auf das die Universalität begründende Moment eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit hin. Vor diesem Hintergrund lassen sich die weiteren Formulierungen des Artikels 7 des Romstatuts als davon abgeleitet erfassen. Sprachlich dem Tatbestandsmerkmal „systematisch“ durch ein „oder“ gleichgestellt ist im Text das Attribut „ausgedehnt“ (in der englischen Originalfassung: „widespread“). Dieser Begriff kann seinem Wortlaut nach auf eine quantitative und auf eine räumliche Komponente des Angriffs verweisen. Die Auslegung in der Rechtsprechung des ICTY (dort bezogen auf das Merkmal „population“ in Art. 5 des ICTY-Statuts) hat die quantitative Bedeutung hervorgehoben: „(. . .) the acts are directed against a multiplicity of victims“790. Daß aber die Zahl der Opfer alleine nicht schon das Spezifische am Menschlichkeitsverbrechen ausmacht, wurde bereits herausgestellt. Aus diesem Grunde ist die Verknüpfung der beiden Elemente „systematisch“ und „ausgedehnt“ mit der Konjunktion „oder“ im Hinblick auf den Unrechtsgehalt des Verbrechens gegen die Menschlichkeit unrichtig791: Die 788 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 41 ff., A 154 ff./B 154 ff. (Akademie-Ausg. Band VI, S. 305 ff.). 789 Vgl. I. Kant, Zum ewigen Frieden, Zweiter Abschnitt, Dritter Definitivartikel, BA 46. 790 Tadic-Urteil, a. a. O. (Fn. 780), para 648, den „commentary to the I.L.C. Draft Code“ zitierend.
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Systematik eines bestimmten Angriffs kann – bei bestimmter inhaltlicher Ausrichtung – internationale Betroffenheit auslösen; die „Ausgedehntheit“ hat dagegen bloß phänomenologische Bedeutung. Wegen dieser Ungleichheit in der Kategorie beider Merkmale hätte es einer Kodifikationsform bedurft, die die Systematik des Angriffs als begriffsbestimmend und die Ausgedehntheit als eine typische Erscheinungsform hervorhebt.792 In einem ähnlichen Verhältnis müßten die im Romstatut als Legaldefinition des „Angriffs gegen die Zivilbevölkerung“ umschriebenen Umstände zum Merkmal der Systematik des Angriffs stehen: Daß die einzelnen Tatbestandsalternativen mehrfach und in Ausführung oder zur Unterstützung einer vom Staat oder sonstigen Organisation ausgehenden Politik begangen werden müssen, stellt eine Ausgestaltung des Systematik-Erfordernisses dar.793 Das mehrfache Begehen ermöglicht es überhaupt erst, eine Systematik hinter einem Angriff zu erkennen, denn erst eine Vielzahl von Einzelhandlungen kann einen systematischen Zusammenhang bilden. Das Moment der Politik gibt der Systematik ihren geistigen Hintergrund, indem es die Richtung weist, die der einzelne durch seine Ausführungshandlungen einzuschlagen hat. Ist dieser geistige Hintergrund gerade durch die oben herausgearbeitete besondere Ausrichtung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit – der Rechtlosstellung der gesamten Zielgruppe – gekennzeichnet, so spiegelt sie positivrechtlich den Unrechtskern dieser Kategorie von Verbrechen wider. cc) Kriegsverbrechen794 Die Formulierung der Kriegsverbrechen in Artikel 8 des Romstatuts ist auf den ersten Blick diffus. 50 Handlungsalternativen werden in Absatz 2 791 A. A. das ICTY im Tadic-Urteil, a. a. O. (Fn. 780), para 645 ff., seine Ansicht in neuerer Zeit bestätigend in Prosecutor v. Kupreskic et al., Judgement, Case No. IT-95-16-T, 14. Jan. 2000, para. 543 ff. 792 Dies gilt m. E. auch für die deutsche Kodifizierung in § 7 VStGB. 793 Vgl. auch § 7 des VStGB, in dem dieser Teil des „chapeaus“ bei der Kodifizierung weggelassen wurde. 794 Vgl. zu den Ursprüngen der Kriegsverbrechen schon H. Grotius, De Jure Belli Ac Pacis (1625), Drittes Buch; E. de Vattel, Le Droit des Gens ou Principes de la Loi Naturelle (1758), Buch III, insbes. Kapitel 8–10. Für einen historischen Überblick siehe L. C. Green, „International Regulation of Armed Conflicts“ in: M. C. Bassiouni (Hrsg.), International Criminal Law (2. Aufl., 1999), Vol. I, S. 355 ff.; eine Zusammenstellung der völkerrechtlichen Wurzeln findet sich bei Y. Sandoz, „Penal Aspects of International Humanitarian Law“ in: M. C. Bassiouni (Hrsg.), a. a. O., S. 393 ff.; zu nationalen und internationalen strafrechtlichen Verfahren wegen Kriegsverbrechen siehe T. L. H. McCormack/G. J. Simpson (Hrsg.), The Law of War Crimes (1997).
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der Vorschrift in vier Abschnitten mit einem jeweils eigenen „chapeau“Teil verbunden, der im wesentlichen den Bezug der einzelnen Tathandlungen zu einem bewaffneten Konflikt, entweder internationaler oder nicht internationaler Art, herstellt.795 Artikel 8 Abs. 2 lautet: Im Sinne dieses Statuts bedeutet „Kriegsverbrechen“ a) schwere Verletzungen der Genfer Abkommen vom 12. August 1949, nämlich jede der folgenden Handlungen gegen die nach dem jeweiligen Genfer Abkommen geschützten Personen oder Güter: (. . .); b) andere schwere Verstöße gegen die innerhalb des feststehenden Rahmens des Völkerrechts im internationalen bewaffneten Konflikt anwendbaren Gesetze und Gebräuche, nämlich jede der folgenden Handlungen: (. . .); c) im Fall eines bewaffneten Konflikts, der keinen internationalen Charakter hat, schwere Verstöße gegen den gemeinsamen Artikel 3 der vier Genfer Abkommen vom 12. August 1949, nämlich die Verübung jeder der folgenden Handlungen gegen Personen, die nicht unmittelbar an den Feindseligkeiten teilnehmen, einschließlich der Angehörigen der Streitkräfte, welche die Waffen gestreckt haben, und der Personen, die durch Krankheit, Verwundung, Gefangennahme oder eine andere Ursache außer Gefecht befindlich sind: (. . .); d) Absatz 2 Buchstabe c findet Anwendung auf bewaffnete Konflikte, die keinen internationalen Charakter haben, und somit nicht auf Fälle innerer Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten oder andere ähnliche Handlungen; e) andere schwere Verstöße gegen die innerhalb des feststehenden Rahmens des Völkerrechts anwendbaren Gesetze und Gebräuche im bewaffneten Konflikt, der keinen internationalen Charakter hat, nämlich jede der folgenden Handlungen: (. . .); f) Absatz 2 e) findet Anwendung auf bewaffnete Konflikte, die keinen internationalen Charakter haben, und somit nicht auf Fälle innerer Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten oder andere ähnliche Handlungen. Er findet Anwendung auf bewaffnete Konflikte, die im Hoheitsgebiet eines Staates stattfinden, wenn zwischen den staatlichen Behörden und organisierten bewaffneten Gruppen oder zwischen solchen Gruppen ein lang anhaltender bewaffneter Konflikt besteht. 795 Vgl. dazu mit einem Vorschlag zur Systematisierung der Norm G. Werle, Völkerstrafrecht (2003), RN 812 ff.
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2. Teil: Rechtsstrafe auf internationaler Ebene
Im ersten Kommentar zum Romstatut werden die wesentlichen Elemente der Kriegsverbrechen generalisierend folgendermaßen umschrieben: „As a general statement, war crimes are: – one of a list of acts generally prohibited by treaty but occasionally prohibited by customary law, – committed during an armed conflict, – by a perpetrator linked to one side of the conflict and – against a victim who is neutral or linked to the other side of the conflict.“796 Bothe präzisiert diese Bestimmung dahingehend, daß das Verbrechen begangen sein muß „not just during, but in connection with an armed conflict“797. Mit Verweis auf das Tadic-Urteil des ICTY798 betont er das Erfordernis eines „nexus between the criminal conduct and the armed conflict“799. Dieses „nexus“-Erfordernis wurde in einer jüngeren Entscheidung des ICTY bestätigt: „What ultimately distinguishes a war crime from a purely domestic offence is that a war crime is shaped by or dependent upon the environment – the armed conflict – in which it is committed. It need not have been planned or supported by some form of policy. The armed conflict need not have been causal to the commission of the crime, but the existence of an armed conflict must, at a minimum, have played a substantial part in the perpetrator’s ability to commit it, his decision to commit it, the manner in which it was committed or the purpose for which it was committed. Hence, if it can be established, as in the present case, that the perpetrator acted in furtherance of or under the guise of the armed conflict, it would be sufficient to conclude that his acts were closely related to the armed conflict.“800 Wesentliches, begriffsbestimmendes Merkmal der Kriegsverbrechen ist demnach ihr Bezug zu einem bewaffneten Konflikt, in dessen Rahmen sich 796 W. J. Fenrick, „article 8“ in: O. Triffterer (Hrsg.), Commentary on the Rome Statute of the International Criminal Court (1999), RN 2. Ähnlich schon G. Hoffmann, Strafrechtliche Verantwortung im Völkerrecht (1962), S. 61. 797 M. Bothe, „War crimes“ in: A. Cassese/P. Gaeta/J. R. W. D. Jones (Hrsg.), a. a. O. (Fn. 778), S. 379 (388). 798 A. a. O. (Fn. 778), paras 572 ff. 799 M. Bothe, „War crimes“ in: A. Cassese/P. Gaeta/J. R. W. D. Jones (Hrsg.), a. a. O. (Fn. 778), S. 379 (388). 800 Prosecutor v. Kunarac, Kovac and Vukovic, ICTY, Appeals Chamber, Judgement (Case No. IT-96-23/1, 12. June 2002), para 58.
B. Materiell-rechtliche Begründungselemente des Völkerstrafrechts
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das Unrecht abspielen muß.801 Es handelt sich um Verbrechen, die im Unterschied zu Verbrechen in Friedenszeiten gerade im Zusammenhang mit kriegerischen Auseinandersetzungen begangen werden, also in einem Zustand verunsicherter oder schwer geschädigter Rechtsverhältnisse, entweder unter Staaten (dann internationaler Konflikt) oder innerhalb von Staaten (dann nicht internationaler Konflikt).802 Der Begriffsbestandteil „Krieg“ verweist also auf Situationen, in denen Rechtssicherheit durch verfaßte Strukturen nicht mehr gewährleistet und das Recht auf seine Naturzuständlichkeit zurückgeworfen ist, also auf einen gesetzlosen Zustand. Gleichzeitig ist mit ihm nicht nur eine bestehende Rechtsunsicherheit beschrieben, sondern eine Situation, in der schon gegenseitige tätliche Angriffe stattfinden, ein „bewaffneter Konflikt“ zwischen Staaten oder innerstaatlichen Kriegsparteien. Um das spezifische Unrecht der Kriegsverbrechen erfassen zu können, muß diese Besonderheit in Zusammenhang gebracht werden mit den einzelnen Tathandlungen, die ihrerseits schon in einem ersten Schritt als strafwürdiges Unrecht ausgewiesen werden müssen.803 801 Vgl. dazu das Urteil des ICTY in The Prosecutor v. Delalic et al („CelebiciCamp“, IT-96-21, Trial Chamber, 16. Nov. 1998), para 183: „For this purpose, the Trial Chamber adopts the test formulated by the Appeals Chamber in its ‚Decision on the Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction‘, in the case of The Prosecutor v. Dusko Tadic (hereafter ‚Tadic Jurisdiction Decision‘). According to the Appeals Chamber, an armed conflict exists whenever there is a resort to armed force between States or protracted armed violence between governmental authorities and organized armed groups or between such groups within a State. The Appeals Chamber continued by stating that, [i]nternational humanitarian law applies from the initiation of such armed conflicts and extends beyond the cessation of hostilities until a general conclusion of peace is reached; or, in the case of internal conflicts, a peaceful settlement is achieved. Until that moment, international humanitarian law continues to apply in the whole territory of the warring States or, in the case of internal conflicts, the whole territory under the control of a party, whether or not actual combat takes place there.“ 802 Maßgeblich für die Kriegsverbrechen in ihrer heutigen Fassung sind vor allem die Genfer Abkommen vom 12. August 1949, deren Vorschriften auf internationale, bewaffnete Konflikte anwendbar sind, mit Ausnahme des ihnen gemeinsamen Artikels 3, der für nicht internationale Konflikte gilt. Die Abkommen haben gemein, daß sich die Vertragsstaaten in ihnen zur Schaffung (nationaler) „gesetzgeberischer Maßnahmen zur Festsetzung von angemessenen Strafbestimmungen für solche Personen“ verpflichten, die eine der näher beschriebenen „schweren Verletzungen des (. . .) Abkommens“ (sog. grave breaches) begehen oder zu einer solchen Verletzung den Befehl erteilen. Siehe z. B. Art. 129, 130 des III. Genfer Abkommens vom 12.8.1949. Näher dazu H. S. Levie, „Criminality in the Law of War“ in: M. C. Bassiouni (Hrsg.), a. a. O. (Fn. 794), S. 381 ff. Ferner finden sich Regelungen des sog. Haager Rechts wieder (Haager Abkommen mit Haager Landkriegsordnung von 1907). Vgl. zur Unterscheidung von zwischenstaatlichen und innerstaatlichen Konflikten G. Werle, Völkerstrafrecht (2003), RN 817 ff. 803 Vgl. dazu oben B. I. 2. in diesem Teil.
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2. Teil: Rechtsstrafe auf internationaler Ebene
Daß der Zustand des Krieges im Sinne des Zustandes der Gesetzlosigkeit für sich genommen vernunftrechtswidrig ist – durch Rechtsverfassung aufzuheben – ist selbst nicht Gegenstand der Kriegsverbrechen im oben beschriebenen Sinne. Der mit ihnen wesensbestimmend verbundene Vorwurf lautet also nicht, sich überhaupt im gesetzlosen Zustand zu befinden. Genausowenig liegt das von ihnen erfaßte Unrecht darin, überhaupt Krieg zu führen, also in dem Krieg als bewaffnetem Kampf (die „wirkliche Befehdung“804).805 Es geht vielmehr um Handlungen, die „Kriegsrecht“806 im engeren Sinne, also das im Krieg anwendbare Recht, verletzen807. Fraglich ist nun, wie dieses im Krieg anwendbare Recht vorzustellen ist. Der „Zustand der Rechtlosigkeit“ bedeutet zunächst nicht per se, daß in ihm das interpersonale und interstaatliche materielle Recht seine Gültigkeit verloren hätte. Es bleibt bei der Geltung des allgemeinen Rechtsgesetzes sowohl im Verhältnis der Personen als auch im Verhältnis der Staaten zueinander. Diese Fortgeltung des Rechtsprinzips ermöglicht es überhaupt erst, auch im Zustand der Rechtlosigkeit (der eben kein Zustand der Ungerechtigkeit ist808) Recht von Unrecht zu trennen. Allerdings wird mit dem Beginn tatsächlicher Kriegshandlungen die latente Rechtsunsicherheit aktuell. Mehr noch, man beginnt, zu Rechtsverletzungen des anderen überzugehen und verdreht damit an sich gebotene Anerkennungsverhältnisse in vermeintlicher Rechtfertigung in Anerkennungsverweigerungen: Im Krieg verkehrt sich die Vernunft, sie wird künstlich zum Schweigen gebracht, indem die Rechtsverletzungen der anderen durch „Vernünftelei“ vor sich selbst entschuldigt werden. Die Einsicht in das Unrecht des Kriegführens ist auf diese Weise verstellt, die Kriegführenden nehmen sich selbst aus der erkennbaren Geltung des allgemeinen Rechtsgesetzes heraus – ein innerer Prozeß, der wesensbestimmend auch für jede andere Unrechtstat ist. In die804 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 54, A 216/B 247 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 344). 805 Dies ist Gegenstand der sog. „Verbrechen gegen den Frieden“, die durch den Tatbestand der „Aggression“ in die Gerichtsbarkeit des IStGH fallen (Artikel 5 Abs. 1 d) des Romstatuts). Siehe dazu M. C. Bassiouni/B. B. Ferencz, „The Crime Against Peace“ in: M. C. Bassiouni (Hrsg.), a. a. O. (Fn. 794), S. 313 ff. (m. w. N.); siehe außerdem G. Werle, Völkerstrafrecht (2003). Rn 1136 ff. (mit ausführlichen Literaturhinweisen). 806 „War crimes are offenses against the laws of war, (. . .)“. J. Paust/u.a., International Criminal Law/Cases and Materials (2. Aufl. 2000), S. 803. 807 Dies entspricht der klassischen Unterscheidung zwischen dem „ius ad bellum“ und dem „ius in bello“, welche auch Kant seinen Überlegungen zum Völkerrecht zugrunde legt, vgl. §§ 56 und 57 seiner MdS. Siehe dazu auch M. Bothe, „Friedenssicherung und Kriegsrecht“ in: W. Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht (2. Aufl., 2001), S. 603 ff. 808 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 44, A 163/B 193 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 312).
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sen aktuellen Unvernunftsbeziehungen geht nun aber trotzdem nicht jegliche Vernunfteinsicht verloren, das an sich Unrechtliche wird immerhin in seiner Art und Weise beschränkt: Es gelten Regeln beim Kriegführen. Damit ist die Vorstellung eines Rechts im Unrecht verbunden: Wenn schon der Krieg das Rechtsverhältnis verletzt, so sollen doch wenigstens die einzelnen Kriegshandlungen immer noch am Recht gemessen werden. Nach Kant ist dieses Kriegsrecht wie folgt gekennzeichnet: „(Das R e c h t i m K r i e g e) müßte dann dasjenige sein: den Krieg nach solchen Grundsätzen zu führen, nach welchen es immer noch möglich bleibt, aus jenem Naturzustande der Staaten (im äußeren Verhältnisse gegeneinander) herauszugehen und in einen rechtlichen zu treten.“809 An anderer Stelle heißt es: „Es soll sich kein Staat im Kriege mit einem anderen solche Feindseligkeiten erlauben, welche das wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen müssen: (. . .) Denn irgend ein Vertrauen auf die Denkungsart des Feindes muß mitten im Kriege noch übrig bleiben, weil sonst auch kein Friede abgeschlossen werden könnte, (. . .).“810 Was immer also im Krieg auch geschieht, die Parteien müssen solche Handlungen aussparen, die – wiewohl geeignet, zum Sieg zu führen – einen zukünftigen Rechtsfrieden zwischen ihnen unmöglich machen811; etwa durch Vernichtung oder Versklavung der anderen Partei oder durch fundamentale Vertrauensbrüche. Kant nennt dann auch als Beispiele für solche schlechterdings verbotenen Kriegsführungsgrundsätze den „Ausrottungskrieg“ und den „Unterjochungskrieg“, sowie alle „heimtückischen Mittel“, die „das Vertrauen, welches zur künftigen Gründung eines dauerhaften Friedens erforderlich ist, vernichten würden“812. Unmittelbar ist damit zunächst beschrieben, was im Verhältnis der Konfliktparteien zueinander als Unrecht im Krieg gelten muß: Jedes Verhalten, das das Fundamentalverhältnis der Kriegsparteien in irreparabler Weise zerstört. Damit einher geht das Recht der in dieser Weise bedrohten oder verletzten Gegenpartei, sich gegen dieses Unrecht mit Zwang zur Wehr zu setzen: Niemand muß sich „vernichten“ oder „versklaven“ lassen, „heimtückischen Mitteln“ darf alles entgegen gesetzt werden, was sie ihrer Wirksamkeit beraubt. 809 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 57, A 221/B 251 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 347). 810 I. Kant, Zum ewigen Frieden, Erster Abschnitt, 6. Präliminarartikel, BA 13. 811 Vgl. dazu auch schon die Überlegungen zum 6. Präliminarartikel der Friedensschrift oben unter 2. Teil, B. II. 1. a). 812 Vgl. I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 57, A 222, 223/B 252, 253 (AkademieAusg. Band VI, S. 347) und Zum ewigen Frieden, Erster Abschnitt, 6. Präliminarartikel, BA 13.
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2. Teil: Rechtsstrafe auf internationaler Ebene
Damit allerdings ist noch nicht geklärt, wie sich die Kriegsverbrechen als Straf-unrecht erklären lassen. Strafbares Unrecht zeichnet sich durch eine interpersonale (die Verletzung des Rechtsverhältnisses zwischen Opfer und Täter) und eine allgemeine Dimension aus (die Infragestellung der allgemeinen Rechtsgeltung).813 Im Krieg ist nun aber gerade diese allgemeine Rechtsgeltung außer Kraft. Allerdings gilt dies – wie gezeigt – nicht uneingeschränkt: Was allgemein Gültigkeit bewahrt, ist das „Recht im Krieg“. Demgemäß müßte es sich bei den Kriegsverbrechen um im Interpersonalverhältnis stattfindende Freiheitsverletzungen handeln, durch die gerade dieses Kriegsrecht negiert wird. Dies bedeutet: Kriegsverbrechen liegen dann vor, wenn mit einer Rechtsverhältnisverletzung über ihre interpersonale Dimension hinaus der Grundsatz negiert wird, jedenfalls die Möglichkeit eines künftigen Rechtsfriedens zwischen den Kriegführenden zu erhalten. Der Tatbestand des Artikels 8 Romstatut müßte sich demgemäß auf diesen Unrechtsbegriff zurückführen lassen, soll er berechtigt Verhaltensweisen als Kriegsverbrechen ausweisen. Es ist im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich, dem für jede der festgelegten Tathandlungen nachzugehen. Allerdings ergibt sich aus der allgemeinen Bestimmung dessen, was ein Kriegsverbrechen ausmacht, daß es nicht schon jede im Kriegsverhältnis stattfindende, über die eigentlichen Kriegshandlungen hinausgehende Unrechtstat sein kann, die das Niveau eines Kriegsverbrechens im ausgewiesenen Sinne erreicht. Es muß sich um strafwürdiges Unrecht im Interpersonalverhältnis handeln, welches seiner Qualität nach bedeutsam für den zukünftigen Rechtsfrieden zwischen den Kriegsparteien ist. Faßt man die Unrechtsbestimmung diesermaßen eng, wird deutlich, daß mit dem (echten) Kriegsverbrechen die Ebene der internationalen Gemeinschaft betroffen ist. Läßt der Unrechtstäter sich bei seinen Handlungen von Grundsätzen leiten, die einen Friedensschluß und den dauerhaften Eintritt in einen Rechtszustand nicht wenigstens als Möglichkeit offen lassen, so tangiert er damit Grundelemente der Weltrechtsordnung814: 813
Vgl. dazu den ersten Teil der Arbeit. Der Begriffbestandteil „Krieg“ scheint gleichsam automatisch auf eine den staatlichen Bereich transzendierende Ebene hinzuweisen: Einerseits befindet sich der staatliche Zusammenhang, also die das Unrecht der Tathandlungen unmittelbar umgebende Rechtsgemeinschaft, in einem zerrütteten Zustand, entweder in ihrem Verhältnis zu anderen Staaten (Krieg) oder in ihrem Inneren (Bürgerkrieg). In solchen Situation ist sie als Rechtsallgemeinheit einer strafrechtlichen Reaktion auf begangenes Unrecht wegen des Zerfalls verfaßter Rechtsverhältnisse u. U. gar nicht mehr fähig. Andererseits stehen sich zumindest im interstaatlichen Krieg zwei Staaten gegenüber, womit eben per se schon eine überstaatliche Sphäre eröffnet ist. Allerdings ist damit für die Feststellung von völkerstrafrechtlichem Unrecht noch nicht alles gesagt: Nicht das (negative) Moment der zerrütteten staatlichen Gemein814
B. Materiell-rechtliche Begründungselemente des Völkerstrafrechts
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Bei einem Interstaatenkonflikt (auf den allein sich die Überlegungen Kants beziehen) ist dies erstens denkbar in den Fällen, in denen Kriegsverbrechen verhindern, daß sich die Staaten nach Beendigung des bewaffneten Konflikts immerhin noch in Anerkennung ihrer Selbstständigkeit gegenüberstehen – wenn sie also das Fundament des allgemeinen Weltrechts wegbrechen lassen; sei es, weil der Verlierer als Einheit vernichtet ist (beispielsweise durch Flächenbombardements auf die Zivilbevölkerung), oder weil er unter die Herrschaft des anderen gezwungen wurde (beispielsweise durch dauerhafte Besetzung und Übernahme der Staatsgewalt).815 Zweitens können bestimmte Verbrechen im Krieg das Grundvertrauen zwischen den Staaten so sehr erschüttern, daß an einen gemeinsamen, auf Frieden ausgerichteten Staatenbund in überschaubarer Zukunft nicht mehr zu denken ist. Handelt ein Verbrecher im Krieg nach Grundsätzen, die seine Kriegspartei in künftigen Friedensverhandlungen in hohem Maße unglaubwürdig macht und als ernstzunehmende Mitkonstituentin eines Friedensbundes disqualifiziert, so richtet sich sein Verhalten gegen eine der wesentlichen Verfassungsstufen der Weltfriedensordnung, die Möglichkeit eines Staatenbundes. Verbrechen, die dieserart das Restvertrauen in die „Denkungsart des Feindes“ verspielen, können beispielsweise vorliegen, wenn über die zum Kriegführen notwendigen Handlungen hinaus und gegenüber Opfern, die an den Kriegshandlungen unbeteiligt sind, Gewalt verübt wird, etwa wenn sich schaft, sondern nur ein positiver Bezug zur Völkergemeinschaft kann ihre Strafbefugnis begründen. 815 Vgl. nochmals die Formulierungen Kants (oben Fn. 812). M. Köhler beschränkt den Begriff des universalen Kriegsverbrechens auf Unrecht dieser Art (Eroberungs- und Ausrottungskrieg). Die „Totalität der internationalen Rechts(subjekts)negation“ bei diesen Verbrechen unterscheide sie von sonst schuldhaften Verletzungen des ius in bello, die sich aus den Situationen kämpfender Auseinandersetzung entwickeln können. Denn: „Solche Tatbestände beruhen zwar auf international-gemeinsamen Normen (insbesondere den Genfer Konventionen), die das Ausmaß kriegerischen Handelns im Hinblick auf das bleibende gemeinsame Rechtsverhältnis und den möglichen künftigen Frieden einschränken. Aber ihre Verletzung im Einzelfall (z. B. des Krieges zwischen den Staaten A und B) bleibt doch in seiner Verbrechensbedeutung zunächst auf dieses Verhältnis beschränkt. Es tangiert zwar Bedingungen zwischenstaatlichen Friedens, geht aber nicht an sich schon in eine universale Betroffenheit über. Denn die selbständige Existenz und Rechtsverfaßtheit des betroffenen Volkes (Staates) als konstitutive Friedensbedingung wird dadurch, anders als bei Vernichtungskriegsaktionen nicht angegriffen. Vielmehr bleibt der Staat selbst im Verhältnis des Krieges anerkannt, behauptet sich also als Völkerrechtssubjekt – auch mit seinem Strafanspruch. (. . .) Kriegsverbrechen unterhalb der Schwelle von Vernichtungskriegsaktionen verletzen deshalb zwar das eigene Staatsrecht des Täters wie auch das interpersonal-zwischenstaatliche Verhältnis, sind aber nicht kategorisch universale Verbrechen.“ M. Köhler, „Zum Begriff des Völkerstrafrechts“ in: J. Hruschka (Hrsg.), Jahrbuch für Recht und Ethik 11 (2003), S. 435 (458).
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2. Teil: Rechtsstrafe auf internationaler Ebene
interpersonales Unrecht gezielt gegen Zivilisten oder Kriegsgefangene richtet, beispielsweise in Form der Tötung, der Folter oder der Vergewaltigung. Solche Taten erreichen das Niveau der universal bedeutsamen Kriegsverbrechen dann, wenn sie nicht nur als Einzelerscheinung anläßlich des Krieges begangen werden, sondern der Kriegspartei als ihr Werk zuzurechnen sind, weil sie sich in ihre Art und Weise der Kriegsführung einfügen.816 Denn eine Bedeutsamkeit für das Grundvertrauen in die Friedensbereitschaft der Staaten ist nicht schon durch die Exzesse einzelner Täter gegeben; es geht vielmehr um den staatlichen Rückhalt bei solchen Verbrechen. Nur wenn eine nicht nur räumlich-zeitliche Nähe zu einem bewaffneten Konflikt, sondern eine auch innere Verbindung zu der staatlichen Kriegsführung besteht, kann ein verbrecherisches Verhalten eines einzelnen repräsentativ für die staatliche Unvernunft sein und tatsächlich das Vertrauen anderer in diesen Staat erschüttern.817 Es ist diese Verbindung zwischen staatlicher Kriegsführung und verbrecherischer Instrumentalisierung derer, die mit den Kriegshandlungen selbst nichts zu tun haben, die den Staat als zukünftiges Mitglied eines Friedensbundes unverläßlich macht. Mit einer solchen Differenzierung ist einem „Einzelverbrechen“ im Kriegszustand seine Unrechtsqualität nicht abgesprochen. Die Tötung eines anderen zum Beispiel stellt in Friedenszeiten stets interpersonales Unrecht dar, das das allgemein geltende Prinzip des Lebensschutzes als Ausgestaltung des allgemeinen Rechtsgesetzes negiert. Im Krieg ist dieses Prinzip nun bis auf weiteres außer Kraft gesetzt. Die gegnerische Partei kann sich insofern auf Tötungshandlungen einstellen, als sie gerade zum Kriegführen gehören, denn die innere Logik des Krieges erlaubt es, sich gegenseitig umzubringen: Das Töten als Kriegshandlung ist „gerechtfertigt“. Aber selbst unter diesen rechtsfeindlichen Bedingungen eines Krieges, der durch eine Vielzahl von Freiheitsverletzungen im Interpersonalverhältnis gekennzeichnet ist, gibt es Handlungen, die sich mit dem Kriegszustand selbst nicht 816 Vgl. zu dieser Unterscheidung auch D. Oehler, Internationales Strafrecht (2. Aufl., 1983), RN 1019, der aber beide Gruppen von Verbrechen unter den materiellen Begriff des Kriegsverbrechens bringt. Siehe auch G. Werle, Völkerstrafrecht (2003), RN 838, der im Anschluß an das Aleksovski-Urteil des ICTY (Trial Chamber, IT-95-14/1, 25. Juni 1999, para 45) formuliert, daß die Tat „wegen des Konfliktes begangen worden sein“ muß. Er hält mit Hinweis auf Urteile des ICTR einen funktionalen Zusammenhang der Tat mit dem bewaffneten Konflikt für notwendig, der immer dann zu bejahen sei, wenn die „Tat der Konfliktpartei zuzurechnen ist“ (RN 840). Allerdings weicht er von diesem Grundsatz später mit der Bemerkung wieder ab, daß auch „ohne Zurechenbarkeit der Tat zu einer Konfliktpartei im Einzelfall ein funktionaler Zusammenhang zwischen der Tat und dem Konflikt bestehen (kann)“. (RN 843) Wie ein solcher Einzelfall aussehen kann, bleibt offen. 817 Der vom ICTY geforderte „nexus“ zwischen der Tathandlung und dem bewaffneten Konflikt spiegelt diesen Aspekt wider.
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mehr rechtfertigen lassen: Straftaten im Krieg.818 Unrecht dieser Art muß nach Wiederherstellung rechtlicher Zustände in den Staaten von der jeweiligen Gesellschaft bewältigt werden und unterscheidet sich von den Weltbetroffenheit auslösenden echten Kriegsverbrechen durch die fehlende innere Verbindung zur Kriegsführung des Staates.819 Auf innerstaatliche Konflikte (Bürgerkriegssituationen)820 sind prinzipiell dieselben Gedanken anwendbar. Wird der Konflikt in einer Weise ausgetragen, der über den inneren Kampf um die beste Verfassungsform hinaus die Möglichkeit des Übergangs vom Naturzustand in einen gesetzlichen Zustand verhindert, so wird damit der ersten Stufe der Verwirklichung allgemeinen Weltrechts, der Existenz primärer Rechtseinheiten (freier Staaten), entgegengewirkt. Verbrechen werden also nicht schon deshalb zu universalen Kriegsverbrechen, weil sie während solcher bewaffneter Auseinandersetzungen verübt werden. Sie müssen Bedeutung haben für den zukünftigen Rechtsfrieden unter den Parteien, für die notwendige Selbstverfassung im Staat. Auch hier fallen unter diese Kategorie Vernichtungs- und Versklavungsmaßnahmen der Gegner, denn durch solche Verbrechen wird die an818 G. Hoffmann, Strafrechtliche Verantwortung im Völkerrecht (1962), S. 63 nennt sie „Kriegsnebenhandlungen“ und verweist (in seiner Fn. 6) auf die Formulierung von A. Verdross („gemeine Kriegsverbrechen“) und W. Schätzel („gemeine Straftat“). 819 Dies bedeutet, daß dieselbe Unrechtshandlung (z. B. vorsätzliche Tötung eines Kriegsgefangenen) sowohl die Betroffenheit nur der umgebenden, staatlichen Rechtsgemeinschaft als auch der Weltrechtsgemeinschaft auslösen kann, je nachdem ob sie vom kriegführenden Staat mitgetragen wurde (dann Relevanz für seine Staatenbundtauglichkeit) oder nicht (dann innerstaatliche Angelegenheit). Diese Differenzierung wird m. E. in der Fassung des Romstatuts nicht ausreichend deutlich. Ein Hinweis auf diese Einschränkung findet sich immerhin im Absatz 1 des Artikels 8: „Der Gerichtshof hat Gerichtsbarkeit in Bezug auf Kriegsverbrechen, insbesondere wenn diese als Teil eines Planes oder einer Politik oder als Teil der Begehung solcher Verbrechen in großem Umfang verübt werden.“ Mit dieser Formulierung wird allerdings erstens nicht der Begriff des Kriegsverbrechens, sondern nur die Zuständigkeit des Gerichtshofs eingeschränkt. Dies geschieht zweitens nicht begrifflich kategorisch, sondern bloß unverbindlich („insbesondere“). Drittens trifft die Formulierung das entscheidende Einschränkungskriterium nicht, wenn sie auf einen „Plan“ oder eine „Politik“ oder den „großen Umfang“ abstellt; es geht vielmehr um die Relevanz für das Vertrauensverhältnis der Staaten, die sich nach Art des Bezuges zwischen Straftat und staatlicher Kriegsführung richtet. Eine Stütze findet die hier vorgeschlagene Differenzierung in der Rechtsprechung der Tribunale, auf die schon hingewiesen wurde. 820 Das Romstatut versteht unter bewaffneten Konflikten nicht internationalen Charakters solche, die zwischen staatlichen Behörden und organisierten bewaffneten Gruppen oder zwischen solchen Gruppen lang anhalten und im Hoheitsgebiet eines Staates stattfinden (vgl. Art. 8 Abs. 2 f.). Siehe zum Begriff auch L. Lehmler, Die Strafbarkeit von Vertreibungen aus ethnischen Gründen im bewaffneten nicht-internationalen Konflikt (1999), S. 17 ff.
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2. Teil: Rechtsstrafe auf internationaler Ebene
dere Seite aus dem Kreis der Mitkonstituenten einer gemeinsamen Rechtsordnung in absoluter Weise ausgeschlossen. Außerdem sind auch im innerstaatlichen bewaffneten Konflikt Arten des Kampfes möglich, die das „Vertrauen, welches zur künftigen Gründung eines dauerhaften Friedens erforderlich ist, vernichten würden“821 – und damit die erste Ebene allgemeinen Weltrechts, die Möglichkeit eines staatlichen Rechtsfriedenszustands, beträfen. Ausgeschlossen aus dem Kreis der universale Betroffenheit auslösenden Verbrechen sind aber auch hier all jene anläßlich des bewaffneten Konflikts begangenen Unrechtstaten, die auf dieses Grundvertrauen keinen Einfluß haben. c) Zusammenfassung zu 2. Der Völkerverbrechensbegriff hat diejenige Rechtsverletzung zu kennzeichnen, die durch weltgemeinschaftliche Reaktion in Form der Strafe aufgehoben werden muß. Dafür ist entscheidend, daß durch sie die internationale Gemeinschaft rechtlich betroffen ist. Eine Definition, die dem Rechnung trägt, verbindet den allgemeinen Verbrechensbegriff mit der – im Durchgang durch Kants Rechtslehre in ihren Grundzügen bestimmten – Weltrechtsordnung: Der allgemeine völkerstrafrechtliche Unrechtsbegriff umfaßt solche im Interpersonalverhältnis stattfindenden Freiheitsverletzungen, die durch ihre äußerliche Existenz die universelle Geltung derjenigen Rechtsprinzipien (partiell) negieren, die die Bedingungen der Möglichkeit des Rechtsfriedens auf der Welt (das allgemeine Weltrecht) überhaupt beinhalten. Das allgemeine Weltrecht umfaßt dabei die Existenz freier Staaten, also die selbständige Verfassung eines Volkes unter Rechtsgesetzen, die Möglichkeit eines Staatenbundes, der interstaatlichem Recht Verfestigung verschafft, und die weltbürgerliche Einheit aus Staaten und Individuen, die durch die Verbindung der beiden ersten Elemente und der Gewährleistung eines subjektiven Weltbürgerrechts zur universalen Wirklichkeit des Menschenrechts führen kann. Dieser völkerstrafrechtliche Unrechtsbegriff hat Bestand auch in Gegenüberstellung zu abweichenden Begründungsansätzen. Er bietet den gedanklichen Hintergrund für die Untersuchung des Unrechtsgehalts der einzelnen völkerrechtlichen Straftatbestände, die zusätzlich zu ihrer interpersonal-allgemeinen eine globale Dimension aufweisen müssen. Ein Völkermord löst universale Betroffenheit aus, weil er sich gegen schon eigenständig verfaßte bzw. jedenfalls verfassungstaugliche Gruppen 821 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 57, A 223/B 253 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 347).
B. Materiell-rechtliche Begründungselemente des Völkerstrafrechts
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von Menschen richtet, die durch das Verbrechen ihres selbständigen gesellschaftlichen Zusammenhangs beraubt werden sollen. Die Selbständigkeit der Völker ist Grundbedingung der Möglichkeit eines Rechtsfriedens auf Weltebene und damit Sache der Völkergemeinschaft. Der Täter eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit macht sich zum Prinzip, eine bestimmte Gruppe von Menschen aus der Geltung des Rechtsgesetzes herauszudefinieren, indem er sie rechtlos zu stellen sucht. Damit wird die Grundvoraussetzung des Rechtsgesetzes negiert, nämlich die Anerkennung der Freiheit anderer als Regulativ des eigenen Verhaltens. Er wendet sich dadurch gegen das Formprinzip der weltrechtlichen Gemeinschaft überhaupt und verletzt mit seinen Handlungen die gesamte Menschheit, die für eine praktisch-rechtlich-vernünftige Rechtsverwirklichung auf Weltebene, also dem Weltfrieden, auf die Geltung dieses Prinzips angewiesen ist. Kriegsverbrechen liegen vor, wenn mit einer Rechtsverhältnisverletzung im Krieg über ihre interpersonale Dimension hinaus der Grundsatz negiert wird, jedenfalls die Möglichkeit eines künftigen Rechtsfriedens zwischen den Kriegführenden zu erhalten. Mit einem solchen Verhalten ist die internationale Rechtsfriedensordnung unmittelbar verletzt.
III. Zusammenfassung zu B. Die Existenz eines Strafrechts der Weltrechtsgemeinschaft ist abhängig von einer bestimmten Qualität des begangenen Unrechts. Es muß sich um strafwürdiges, interpersonales Unrecht handeln, welches über die Negation bestimmter Grundgestaltungen des Rechts als Ausprägung des allgemeinen Rechtsgesetzes hinaus globale Bedeutung hat, weil es auch allgemeines Weltrecht negiert. Internationale Strafe stellt dementsprechend den Ausgleich der im Interpersonalverhältnis entstandenen Ungleichheit und die Aufhebung der Negation allgemeiner Rechtsgeltung sowohl in Richtung der das Rechtsverhältnis unmittelbar umgebenden Rechtsgemeinschaft als auch der alles umspannenden Weltrechtsgemeinschaft dar. Damit sind die wesentlichen materiellen Begründungsschritte für ein Völkerstrafrecht benannt.
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2. Teil: Rechtsstrafe auf internationaler Ebene
C. Formell-rechtliche Aspekte der Legitimität des Völkerstrafrechts Die vorangegangenen Überlegungen zum Völkerstrafrecht haben sich auf seine materielle Begründung konzentriert. Um eine konkrete Strafmaßnahme der Völkergemeinschaft auf ihre Legitimität untersuchen zu können, fehlt es aber noch an grundsätzlichen Vorgaben für die Verwirklichung dieses Strafrechts, denn für eine abschließende Beurteilung einer Strafaktion als „Rechtsstrafe“ bedarf es einer Einheit von materieller und formeller Rechtmäßigkeit. Besondere Bedeutung kommt dabei seiner formell-gesetzlichen Grundlage und der freiheitlich-rechtlichen Wahrnehmung (dazu unter 2.) durch eine zuständige Instanz (1.) zu. Im ersten Teil der Arbeit wurden die Prinzipien benannt, die für die Verwirklichung des Rechts im staatlichen Zusammenhang gelten: Das Zustandekommen von Gesetzen und die Garantie der Rechtswirklichkeit in einer rechtlich verfaßten Gemeinschaft wurde in seinen Grundzügen bestimmt.822 An diesen Überlegungen hat sich nun auch die Umsetzung des Völkerstrafrechts zu orientieren, obwohl auf internationaler Ebene die Verwirklichung des Rechts über die Existenz der einzelnen Staaten vermittelt ist.823 Im Rahmen der vorliegenden Arbeit sollen zu diesen formell-rechtlichen Aspekten des Völkerstrafrechts keine detaillierten Ausführungen gemacht werden. Es geht ausschließlich um die prinzipiellen Konsequenzen, die sich aus einem freiheitlichen Rechtsverständnis für die Wirklichkeit einer internationalen Strafgerichtsbarkeit ergeben.
I. Primäre Zuständigkeit der Staaten Bisher noch ungeklärt ist, wie das Verhältnis der staatlichen – materiell und formell konkretisierten – Strafbefugnis zum Strafrecht der Völkergemeinschaft zu bestimmen ist. Die Schwierigkeit entsteht, da mit einem völkerstrafrechtlichen Verbrechen nach dem hier vertretenen Unrechtsbegriff sowohl ein Angriff auf die Rechtsgeltung und den Rechtsfrieden im Staat als auch auf das allgemeine Weltrecht einhergeht. Dies bewirkt eine gleichzeitige Betroffenheit beider Rechtsgemeinschaften, der verfaßten staatlichen und der noch unvollständig verfaßten, auf gemeinsamen Grundprinzipien beruhenden globalen. Aus dieser gleichzeitigen Betroffenheit resultiert die Notwendigkeit, das Konkurrenzverhältnis rechtlich begründet aufzulösen und die beiden Ebenen der Strafbefugnis in eine Ordnung zueinander zu bringen. 822 823
Siehe dazu 1. Teil, C. II. Siehe 2. Teil, B. II. 1.
C. Formell-rechtliche Aspekte der Legitimität des Völkerstrafrechts
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Diskutiert wird dieses Verhältnis in der völkerstrafrechtlichen Literatur unter dem Aspekt unterschiedlicher Zuständigkeiten („jurisdiction“) der nationalen und internationalen Strafgerichte. Im Romstatut findet sich in diesem Zusammenhang eine Regelung, die die Gerichtsbarkeit des IStGH als Ergänzung der nationalen Strafgerichtsbarkeit darstellt, sog. „complementarity“. Die Priorität bei der strafrechtlichen Bewältigung von Unrecht völkerstrafrechtlichen Charakters liegt dieser Regelung gemäß bei den nationalen Gerichten, die Gerichtsbarkeit des IStGH ist subsidiär bzw. komplementär zur nationalen.824 Eine gegensätzliche Zuständigkeitsregel findet sich bei den beiden ad hoc Tribunalen: Sie haben ihren Statuten gemäß Vorrang vor den nationalen Gerichten der beiden betroffenen Regionen (Ex-Jugoslawien und Ruanda), sog. „primacy“.825 Beide Zuständigkeitsmodelle setzen eine gleichzeitig staatliche und internationale materielle Strafbefugnis voraus826, gehen aber jeweils von unterschiedlichen Prioritäten der sie ausübenden Gerichtsbarkeit aus. Die Frage nach der Priorität bei der Zuständigkeit spiegelt das problematische Verhältnis der nationalen zur internationalen Strafbefugnis wider. Eine grundsätzliche Lösung der Vorrangfrage hat zunächst das Grundverhältnis der Einzelstaaten zur Weltrechtsgemeinschaft im Rahmen einer gemeinsamen Weltrechtsordnung zu berücksichtigen.827 Die staatliche Primär824 Vgl. dazu die Präambel (Abs. 10), Art. 1, 17 und 18–19 des Romstatuts sowie die Rules of Procedure and Evidence (Rule 51 ff.). 825 Vgl. dazu Art. 9 Abs. 2 des ICTY-Statuts und Art. 8 Abs. 2 des ICTR-Statuts. Siehe zu den beiden Zuständigkeitsmodellen auch J. L. Bleich, „Complementarity“ Denver Journal of International Law and Policy 25 (Winter 1997), S. 281 ff.; B. S. Brown, „Primacy or Complementarity: Reconciling the Jurisdiction of National Courts and International Criminal Tribunals“ Yale Journal of International Law 23 (Summer 1998), S. 383 ff.; A. Cassese, International Criminal Law (2003), Chapter 19, S. 348 ff.; J. T. Holmes, „Complementarity: National Courts versus the ICC“ in: A. Cassese, P. Gaeta, J. R. W. D. Jones (Hrsg.), The Rome Statute of the International Criminal Court: A Commentary (2002), Vol. I, S. 667 ff. 826 Siehe A. Cassese, International Criminal Law (2003), Chapter 19, S. 348: „The establishment of international criminal courts and tribunals has posed the tricky problem of how to co-ordinate their action with that of national courts: whenever both classes of courts are empowered to pronounce on the same crimes, which should take precedence, and under what conditions? Obviously, the problem does not arise in the area where those courts do not have concurrent jurisdiction, that is, with regard to crimes that fall under the exclusive jurisdiction of national courts (for example, piracy, serious instances of international terrorism falling short of crimes against humanity or war crimes, large scale drug trafficking, etc.). The problem only arises when one or more States may assert their criminal jurisdiction over a specific crime on such legal grounds as territoriality, active or passive nationality or universality, and at the same time an international tribunal is empowered to adjudicate the same crime by virtue of its Statute.“ 827 Siehe dazu 2. Teil, B. II. 1.
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2. Teil: Rechtsstrafe auf internationaler Ebene
einheit als innerlich verfaßter Bestandteil der Weltrechtsgemeinschaft ist nicht nur Garantin des Daseins der Freiheit für ihre jeweiligen Bürger, sondern auch Grundvoraussetzung für den Rechtsfrieden auf Weltebene. Sie kann deshalb als Rechtseinheit nicht leichtfertig übergangen werden. Zweitens spielen auch in diesem Zusammenhang die im ersten Teil der Arbeit herausgearbeiteten Unrechtsdimensionen eine Rolle.828 Die Strafbefugnis ist materiell zwar sowohl für die Völkergemeinschaft als auch für die Staaten begründet worden: Eine interpersonale Freiheitsverletzung (erste Dimension) muß als Verletzung des Rechts als Recht (zweite Dimension) durch Strafe aufgehoben werden.829 Für die Ausübung des Strafrechts kommt es aber darauf an, inwieweit sich die jeweilige Rechtsgemeinschaft schon rechtlich verfaßt hat.830 Denn für die freiheitliche Verwirklichung eines Strafrechts sind auch formell-rechtliche Verhältnisse entscheidend. Aus diesem Grund ist der Grad der Verfaßtheit der jeweils betroffenen Rechtsgemeinschaft relevant für die Frage nach dem Vorrang bei der Ausübung bestehender Strafbefugnisse (des Staates und der Völkergemeinschaft). Geschieht ein Verbrechen mit völkerstrafrechtlichem Charakter, so ist zunächst die staatliche, das verletzte Rechtsverhältnis unmittelbar umgebende Rechtsallgemeinheit vom Unrecht betroffen. In ihr haben die Rechtsverhältnisse Verfestigung durch staatliche Strukturen erhalten; das Strafrecht ist Teil einer positivierten Rechtsordnung, in der gemeinsam geschaffene Institutionen für die Rechtsdurchsetzung sorgen. Das Verbrechen (die Tötung, die Körperverletzung, die Vergewaltigung) wird innerstaatlich durch einen gesetzlichen Tatbestand fixiert und nach den gemeinsam geschaffenen Verfahren zum Unrechtsausgleich in Form der Strafe abgeurteilt. Die Richter wenden Recht an, das zuvor durch Beteiligung aller konkretisiert und verbindlich gemacht wurde. Das strafwürdige Unrecht hat in einem solchen Zusammenhang neben seiner Eigenschaft als interpersonale Freiheitsverletzung und Rechtsgeltungsnegation die Bedeutung, den im Staat errichteten Friedens- und Garantiezustand zu verletzen (die dritte Dimension des Unrechts831). Dementsprechend ist die staatliche Gemeinschaft vom Unrecht in einer Weise getroffen, die seine Aufhebung auch in dieser dritten Dimension notwendig macht: Es gilt, den Bruch des rechtlich verfaßten Friedensverhältnisses durch die Strafe auszugleichen. Die gleichzeitig auch betroffene Völkergemeinschaft ist nach dem Gesagten erst auf dem Weg in einen öffentlich-rechtlichen Zustand.832 Die inter828
Dazu 1. Teil, D. II. 1. a). Zur Herleitung der Unrechtsdimensionen vgl. 1. Teil, D. II. 1. a), zur Übertragung dieser Dimensionen auf den internationalen Zusammenhang siehe 2. Teil, B. I. und II. 830 Vgl. 1. Teil, D. II. 1. a), insbesondere cc). 831 Vgl. nochmals 1. Teil, D. II. 1. a) cc) und b) cc). 829
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nationale Rechtsfriedensordnung erreicht nicht den Grad der Konkretisierung von Rechtsverhältnissen und auch nicht die Festigkeit eines staatlichen Zustands. Dementsprechend liegt die Wirkung einer Unrechtstat auf Weltebene nicht wie im Staat in der Verletzung eines schon bestehenden Garantiezustandes, sondern beschränkt sich auf die Negation der einenden Grundprinzipien durch eine konkrete Freiheitsverletzung, richtet sich gegen die Möglichkeit eines Rechtsfriedenszustandes. Strafe stellt deshalb auf internationaler Ebene nur die Aufhebung der ersten beiden Unrechtsebenen dar; die Völkergemeinschaft wird aber nicht in einem auch auf formeller Garantie gestützten Rechtsvertrauen verletzt. Dieser Unterschied in der Unrechtswirkung stellt einen Grund dafür dar, daß die überstaatliche Verwirklichung des Strafrechts subsidiärer Natur sein muß. Die Angriffsfläche für den Rechtsbruch und der Grad der Betroffenheit sind innerhalb einer verfaßten Gemeinschaft höher als in einer nur lose durch einende Grundprinzipien verbundenen. Wenn allerdings der Zusammenhalt der rechtlich verfaßten Primärgemeinschaft „Staat“ in einer Weise aufgehoben ist, die eine freiheitliche Rechtsverwirklichung, speziell: freiheitliche Strafrechtsverwirklichung nicht mehr zuläßt, stellt sich die Frage der übernationalen Strafrechtswahrnehmung. Denn wenn der Staat sein Strafrecht nicht mehr ausübt (weil er nicht kann oder nicht will833), entfiele jegliche Reaktion auf begangenes (schwerstes) Unrecht und die Ungerechtigkeit bliebe materiell in der Welt, wenn nicht die globale Rechtsallgemeinheit, die den Staat ja als Untereinheit umfaßt, Rechtswiederherstellung leistete. In diesen Fällen ist es dann ein Gebot der Gerechtigkeit, den Unrechtsausgleich durch die übergeordnete Instanz doch noch herbeizuführen. Notwendig wird dies, wenn die Selbstbestimmungsfähigkeit des Staates selbst angegriffen ist, wenn die Grundbedingungen der staatlichen Existenz gefährdet sind und der Staat deshalb dem Unrecht nicht mehr begegnen kann. Dabei handelt es sich typischerweise um Situationen, in denen die staatlichen Strukturen zu zerfallen drohen bzw. schon nicht mehr existieren oder die Verhältnisse im Staat in einer Weise krisenhaft sind, die die Rechtsverwirklichung unmöglich macht. Der Staat ist dann im Kern seiner eigenen Selbständigkeit getroffen und stößt an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit. In diesen Situationen ist die übergeordnete Rechtseinheit, die Weltrechtsgemeinschaft, zuständig für die strafrechtliche Bewältigung geschehenen Unrechts – soweit es sich dabei um völkerstrafrechtliches Un832
Siehe 2. Teil, B. II. 1. Vgl. dazu Art. 17 des Romstatuts (für die Zulässigkeit eines Verfahrens vor dem IStGH muß der ebenfalls zuständige Staat „nicht willens oder nicht in der Lage (sein), die Ermittlungen oder die Strafverfolgung ernsthaft durchzuführen“). Siehe auch die Legaldefinition des „mangelnden Willens“ in Art. 17 Abs. 2 und des „Unvermögens“ in Abs. 3 der Norm. 833
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2. Teil: Rechtsstrafe auf internationaler Ebene
recht im oben hergeleiteten Sinne handelt (die Weltrechtsgemeinschaft also überhaupt rechtlich betroffen ist). Nun wird die Zuständigkeitsordnung im Völkerstrafrecht deutlicher: Für Unrecht, das materiell beide Ebenen von Rechtgemeinschaften betrifft, ist primär die unmittelbar umgebende (der Staat) und erst nachrangig die alles umfassende Weltebene zuständig.834
II. Freiheitliche Wahrnehmung des Völkerstrafrechts Die konkrete Strafhandlung einer (zuständigen) internationalen Gerichtsbarkeit muß als Rechtsakt legitimiert sein. Dazu gehört neben ihrer materiellen Begründbarkeit auch ihre formell-rechtliche Ausübung. Grundsätzliche Voraussetzungen dafür sind im ersten Teil der Arbeit herausgearbeitet worden835: Es ist erstens eine formell-gesetzliche Grundlage des Strafrechts zu schaffen836, bei der die Mitkonstitution der Rechtsunterworfenen gewährleistet ist. Dies bedeutet, daß die Konkretisierung des Rechts in einzelnen Straftatbeständen jedenfalls prinzipiell unter Beteiligung derer zustande kommen muß, für die sie gelten soll. Außerdem muß die Form der Straftatbestände den Anforderungen einer freiheitlichen Rechtsgemeinschaft genügen: Sie müssen schriftlich fixiert und abstrakt formuliert sein, und sie unterstehen ferner dem Gebot der Bestimmtheit und Widerspruchsfreiheit.837 834 Dem entspricht die in Fn. 824 zitierte Zulässigkeitsregelung des IStGH-Statuts. Die „primacy“-Vorschrift der beiden ad hoc Tribunale (Fn. 825) ist dagegen meines Erachtens nicht begründbar. 835 Vgl. 1. Teil, C. II. 836 Vgl. 1. Teil, C. II. 1. b). 837 Im Hinblick auf die formell-gesetzliche Grundlage weisen die Statute der bisher errichteten internationalen Strafgerichte erhebliche prinzipielle Mängel auf. Sie seien hier nur kurz angedeutet: 1. Die beiden ad hoc Tribunale wurden vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (VN) gänzlich ohne Beteiligung der Bevölkerung Ex-Jugoslawiens bzw. Ruandas eingesetzt. Sie existieren fernab der Rechtsrealität in diesen beiden Regionen. Die Statute der beiden Tribunale sind durch keinerlei Gesetzgebungsverfahren legitimiert, an dem auch nur ansatzweise diejenigen mitwirkten, für die sie gelten: Im wesentlichen wurden sie durch den Sicherheitsrat selbst festgelegt (siehe dazu B. Graefrath, „Jugoslawien und die internationale Strafgerichtsbarkeit“ in: G. Hankel/G. Stuby [Hrsg.], Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen [1995], S. 295 [298] [m. w. N.]). An diesem Mangel ändert auch die Tatsache nichts, daß sie sich in wesentlichen Aspekten auf schon vorher geltendes Völkerrecht stützen, denn auch in einem solchen Fall der Kodifizierung schon vorhandener Normen ist die Mitwirkung der Rechtsbetroffenen unerläßlich. Auch die Mitgliedschaft der beiden Nationen in den VN kann diese Legitimationslücke nicht schließen. Denn erstens ist schon die Grundlage, aufgrund derer der Sicherheitsrat bei Errichtung der Tribunale agierte (Art. 24 I und 41 der UN Charta) höchst
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Zweitens muß auch die Rechtsgarantieleistung auf die einzelnen zurückführbar sein, darf ihnen also nicht bloß äußerlich gegenüberstehen.838 Die Institutionen und Verfahren müssen ihrerseits durch die Rechtsbetroffenen mitgetragen werden, wenn sie sich von beliebiger Gewaltherrschaft unterscheiden sollen. Für ein Strafgericht bedeutet dies, daß sowohl seine Strafbefugnis als auch das Verfahren, nach dem es vorgeht und die Richter, die das Strafrecht ausüben, in einem rechtlichen Bezug zu den Rechtsunterworfenen stehen müssen: Sie müssen an der Gründung der Institution und an fragwürdig (kritisch dazu auch B. Graefrath, „Jugoslawien und die internationale Strafgerichtsbarkeit“, a. a. O., S. 297 [m. w. N.]; vgl. aber auch die Entscheidung der Appeals Chamber des ICTY im Fall Prosecutor v. Tadic, Decision on the Defence Motion for interlocutory Appeal on Jurisdiction, IT-94-1, 2. Oct. 1995, para 4 ff., die die Rechtmäßigkeit der Errichtung des Tribunals [und damit ihrer selbst] feststellt, siehe para 26 ff. der Entscheidung), denn die Errichtung eines Straftribunals war von dieser Kompetenznorm nicht – jedenfalls nicht ausdrücklich und auch nicht in interpretatorisch naheliegender Weise – erfaßt (so auch einer der Haupteinwände Tadics gegen die Rechtsmäßigkeit des Tribunals; vgl. nochmals die oben zitierte Entscheidung der Appeals Chamber, para 32 ff.). Zweitens ist überhaupt fraglich, ob der Sicherheitsrat der VN in seiner heutigen Form selbst in ausreichender Weise von der Weltrechtsgemeinschaft legitimiert ist. Ganz gewiß fehlen jedenfalls wesentliche Schritte der demokratischen Rückanbindung an die Weltbürger, ganz zu schweigen von den Grundvoraussetzungen eines Völkerbundes im Sinne Kants (dem Föderalismus freier Staaten); siehe in diesem Zusammenhang F. Téson, A Philosophy of International Law (1998), insbesondere S. 25, 26, mit Vorschlägen zu einer Reform der bestehenden Weltrechtsinstitutionen in Anlehnung an den Kantischen Friedensentwurf. 2. Der IStGH ist als völkerrechtlicher Vertrag zustande gekommen und steht insoweit auf einem festeren Grund als die ad hoc Tribunale. Die einzelnen Staaten mußten in ihren jeweiligen Gesetzgebungsverfahren das Romstatut ratifizieren, haben ihm also immerhin unter Beteiligung ihrer Bevölkerung zugestimmt. Allerdings kann der IStGH seine Gerichtsbarkeit in bestimmten Fällen auch in bezug auf Verbrechen ausüben, die auf einem Gebiet eines Staates und von Personen seiner Bevölkerung begangen wurden, der dem Statut nicht zugestimmt hat: Dann, wenn der Sicherheitsrat der VN den Fall im Rahmen seiner Kapitel VII (UN Charta) Kompetenzen dem IStGH vorgelegt hat (vgl. Art. 13 b) des Romstatuts und L. Sadat/R. Carden, „The New International Criminal Court: An Uneasy Revolution“ Georgetown Law Journal 88 [March 2000], S. 381 [404]). Auf diese Weise hat der IStGH also eine weltweite Strafgewalt, faktisch allerdings nicht über die Staaten, die ständige Mitglieder des Sicherheitsrates sind, denn sie müssen einer solchen Vorlage zustimmen (Art. 27 III der UN Charta). Eine solche weltweite Strafgewalt ist in ihrer Legitimation fraglich. Die Befugnisse des Sicherheitsrates zum Friedenserhalt können jedenfalls das Erfordernis der Mitkonstitution des Strafrechts durch diejenigen Rechtssubjekte, die ihm unterworfen sind, nicht aufheben. Zusätzlich bestehen beim Romstatut erhebliche Bedenken hinsichtlich der Form der Kodifizierung, insbesondere in bezug auf das Bestimmtheits- und Widerspruchsfreiheitsgebot (vgl. dazu schon die Ausführungen unter Teil 2, B. I. 2.). 838 Vgl. im ersten Teil der Arbeit C. II. 2.
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2. Teil: Rechtsstrafe auf internationaler Ebene
ihrer Ausgestaltung beteiligt sein, die Existenz und Arbeitsweise des Gerichtshofs müssen auch und gerade von der Einsicht derer getragen sein, die anschließend vor ihm als Angeklagte im Prozeß auftreten.839 Das Problem, das sich auf Weltebene für die Erfüllung dieser Voraussetzungen stellt, ist offensichtlich: Die große Distanz der Rechtssubjekte zueinander, sowohl in räumlicher als auch in kultureller Hinsicht, muß überbrückt werden, um eine solche gemeinschaftlich getragene Rechtswirklichkeit wahr werden zu lassen. Die grundsätzlichen Schwierigkeiten, die mit dieser Distanz einhergehen, wurden im vorherigen Abschnitt schon benannt840; sie waren Grund dafür, daß Rechtsrealität auf Weltebene nicht in Form eines Weltstaates, sondern nur vermittelt über die Einzelstaatlichkeit erreicht werden kann. Die Rechtsverbundenheit kann auf globaler Ebene nur fragmentarisch sein und dies spiegelt sich auch in den Umsetzungsmöglichkeiten wider. Andererseits wurde eine materielle Rechtsverbundenheit der Weltrechtsgemeinschaft in grundlegenden Prinzipien festgestellt, zu der die gemeinschaftliche Einsicht in die Strafbarkeit solchen Unrechts gehört, das die Geltung dieser Prinzipien negiert. Die Realisierung dieser Einsicht ist – wie die Verwirklichung praktisch-rechtlich-vernünftiger Verhältnisse insgesamt – apriorisch gefordert.841 Das materielle Strafbedürfnis muß rechtlich-be839 Bei den beiden ad hoc Tribunalen spiegelt sich die Schwäche in der Legitimation ihrer Statute in diesem Aspekt wider: Sowohl das ICTY als auch das ICTR verhandeln nach einer Prozeßordnung, die den jeweiligen Rechtsordnungen vollkommen fremd ist. Sie müssen außerdem die Sprachbarriere durch Simultanübersetzungen überwinden. Ferner finden die Prozesse in erheblicher räumlicher Distanz zu den betroffenen Rechtsgemeinschaften statt (und in beiden betroffenen Regionen ist der Durchschnitt der Bevölkerung kaum in der Lage, der Berichterstattung über die Medien zu folgen, weil schlicht die Ausstattung fehlt). Praktisch haben diese Schwierigkeiten ganz unterschiedliche Auswirkungen: So waren zumindest zu Beginn der Tätigkeit der Tribunale die Strafverteidiger (die meist aus den betroffenen Regionen stammten und deshalb das Vertrauen der Angeklagten genossen) im Prozeßalltag deutlich benachteiligt, weil sie das stark an das angelsächsische angelehnte Prozeßrecht der Tribunale noch nicht verinnerlicht hatten, während die Richter und Staatsanwälte zumindest auf einzelne Personen ihres Teams zurückgreifen konnten, die schon wegen ihrer Herkunft damit vertraut waren. Die Gewandtheit im Verfahren ist aber gerade im juristischen Alltag ein nicht zu unterschätzender Vorteil. Dies gilt auch für die sprachliche Fähigkeit, sich auch in Nuancen genau ausdrücken zu können – durch die Simultanübersetzung in mindestens drei Sprachen gehen aber zwangsläufig Schattierungen von Bedeutungen verloren. Zusätzlich zu diesen eher praktischen Schwierigkeiten wird die Tätigkeit der beiden Tribunale nicht als gemeinschaftliche Unrechtsbewältigung von der Bevölkerung der früheren Krisengebiete an- oder wenigstens wahrgenommen; sie wirkt aufgesetzt, von außen übergestülpt, fremd. Diese fehlende Akzeptanz ist ein Indiz für die mangelnde Rückanbindung an die betroffenen Rechtssubjekte. 840 Siehe 2. Teil, B. II. 1. c) bb) und dort besonders Fn. 681.
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gründete institutionelle Überformungen nach sich ziehen, wenn es in die Wirklichkeit umgesetzt werden und tatsächlich für Unrechtsausgleich auf Weltebene sorgen soll. Solche Institutionen müssen dann einerseits die benannte Schwierigkeit zu großer Distanz der Weltrechtssubjekte zueinander überwinden, andererseits darf ihre Ausgestaltung nicht zulasten der notwendigen Rückbindung an die Autonomie dieser Subjekte gehen. Daß eine Umsetzung der Strafbefugnis in formell-rechtlich unbedenklicher Weise nicht auf dem selben Weg wie im Staat erfolgen kann, ist schon dadurch deutlich, daß auf Weltebene kein Rechtszustand i. S. eines Weltstaates möglich ist.842 Eine unmittelbare Beteiligung der Weltbürger an Weltgesetzgebung und Weltrechtsgarantie, wie aus dem staatlichen Zusammenhang bekannt, kann es also nicht geben. Möglich ist allenfalls eine Rechtsverwirklichung vermittelt über legitime Staaten. Die Basis dafür kann nur in der oben843 skizzierten, auf Einzelstaaten gründenden internationalen Rechtsfriedensordnung liegen. So wie das legitime Strafrecht im Staat (in seiner materiell-formell vollendeten Form) auf verfaßter Rechtlichkeit „aufruht“844, setzt eine Völkerstrafgerichtsbarkeit eine internationale Rechtsfriedensordnung bestehend aus Staats-, Völker- und Weltbürgerrecht voraus. Damit ist einesteils ausgeschlossen, daß eine Völkerstrafgerichtsbarkeit gänzlich ohne Rückbindung an institutionell-verfestigte Rechtsverhältnisse auf Weltebene auskommt: Sie kann nicht „im luftleeren Raum“, d. h. unabhängig von einer nach Rechtsprinzipien strukturierten Weltgemeinschaft, entstehen und agieren. Anderenteils ist sie aber wegen ihrer Eigenart als völkergemeinschaftliche Institution nicht an den selben Grad verfaßter Rechtszuständlichkeit gebunden, wie dies beim staatlichen Strafrecht der Fall ist. Denn soll das Völkerstrafrecht in einer für die Weltebene möglichen Weise Wirklichkeit erlangen, so muß eine der „bürgerlichen (nur) ähnliche Verfassung“845 als seine Grundlage ausreichen. Selbst diese reduzierte Form von Rechtsverfassung ist allerdings auf der bis heute erreichten Entwicklungsstufe des allgemeinen Weltrechts nicht mühelos zu schaffen. Wie die Staatsgründung und -erhaltung eine Leistung des sich selbst verfassenden Volkes darstellt, ist auch der Prozeß der internationalen Rechtsfriedensgründung mit Anstrengungen verbunden. Ein Blick auf die tatsächlichen Verhältnisse in der Welt zeigt, daß diese An841
Vgl. 1. Teil, C. II. und D. vor I. Vgl. dazu nochmals die Argumentation in Fn. 681. 843 2. Teil, B. II. 1. c). 844 R. Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat (1989), S. 187. 845 I. Kant, Zum ewigen Frieden, Zweiter Abschnitt, Zweiter Definitivartikel, BA 31 (Hervorhebung der Verf.). 842
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2. Teil: Rechtsstrafe auf internationaler Ebene
strengungen bisher noch nicht in ausreichender Weise unternommen wurden. Keine der drei Ebenen der Rechtsfriedensordnung ist in der heutigen Weltgemeinschaft zureichend verwirklicht: Es existieren erstens nicht flächendeckend republikanisch verfaßte Staaten, die die erste Ebene eine der „bürgerlichen ähnlichen Verfassung“ auf Weltebene bilden müßten.846 Zweitens ist ein Völkerbund, ein auf einem „Föderalism freier Staaten“ gründender Zusammenschluß der Primäreinheiten, mit den heute existierenden Vereinten Nationen zwar geschaffen, aber als echter Friedensbund noch gänzlich überfordert. Und drittens ist die Welt von einer weltbürgerlichen Verfassung, einem „allgemeinen Menschenstaat“ noch weit entfernt: Zwar entwickelt sich eine Handelsgemeinschaft auf Weltebene.847 Diese hat aber noch lange nicht das Potential, die Völker auch in der Einsicht in die sie einende Menschlichkeit zusammenwachsen zu lassen, so daß sie als Basis einer diese Menschlichkeit geltend machenden Strafgerichtsbarkeit dienen könnte. Diese Schwäche in der Grundlage schlägt nun notwendig auf die Gründung, Gestalt und Wirkweise der existierenden völkerstrafrechtlichen Gerichtsbarkeit durch. Denn die beiden Grundvoraussetzungen einer freiheitlichen Wahrnehmung der Strafbefugnis, ihre formell-gesetzliche Grundlage und ihre formell-rechtliche Ausübung, können nicht unabhängig von einer ihnen vorgängigen Verfassungsstruktur erfüllt werden. Insofern tauchen die oben benannten tatsächlich erkennbaren Schwächen in der Legitimation der ad hoc Tribunale und des IStGH848 nicht überraschend auf, sondern sind notwendige Folge aus dem unvollkommenen Entwicklungsstand des rechtlichen Zustands auf Weltebene. Unter den heutigen Bedingungen der Rechtswirklichkeit auf Weltebene entsteht also zwangsläufig ein Dilemma: Einer bestehenden materiellen Strafbefugnis und -notwendigkeit für völkerstrafrechtliches Unrecht fehlen die legitimen Umsetzungsmöglichkeiten in der realen Welt. Möglich und tatsächlich vorhanden sind allenfalls Kompromisse, die sich aber dem Vorwurf nur unvollkommener Legitimität ausgesetzt sehen.
846 Vgl. dazu Th. M. Franck, „The Emerging Right of Democratic Governance“ American Journal of International Law 86 (1992), S. 46 ff., der eine Entwicklung in den internationalen Beziehungen beobachtet, die darauf hindeutet, daß das Erfordernis einer demokratisch legitimierten Staatsgewalt Teil des internationalen Rechts werde (S. 47). 847 Siehe für einen Überblick die WTO website www.wto.org. 848 Vgl. dazu oben Fn. 837 und 839.
D. Zusammenfassung des 2. Teils
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D. Zusammenfassung des 2. Teils Bei der Begründung des Völkerstrafrechts ist zu differenzieren zwischen der materiellen Strafbefugnis der Weltgemeinschaft als Reaktion auf völkerstrafrechtliches Unrecht und ihrer formell-rechtlichen Umsetzung als konkrete Strafmaßnahme durch eine internationale Strafgerichtsbarkeit. Es hat sich erwiesen, daß eine materielle Begründung möglich ist. Sie hat ihr gedankliches Fundament in dem für den staatlichen Zusammenhang herausgearbeiteten allgemeinen Unrechts- und Strafbegriff, muß aber zusätzlich die Besonderheit des völkerrechtlichen Zusammenhangs in sich aufnehmen: Strafrechtliches Unrecht ist die substantielle Verletzung eines interpersonalen Rechtsverhältnisses, durch die gleichzeitig allgemeine Rechtsgeltung negiert wird. Rechtsstrafe hebt dieses Unrecht in seinen beiden Dimensionen (der interpersonalen und der allgemeinen) auf. Das allgemeine Recht auf Weltebene ist der Inbegriff der Bedingungen, unter denen der Weltfrieden als Rechtsfrieden möglich wird. Seine Kernbedingungen sind die Selbständigkeit der Staaten, ihre gegenseitige Anerkennung als freie Konstituenten der gemeinsamen Rechtsordnung und das Weltbürgerrecht, das die stete Annäherung der Völker zueinander ermöglicht. Diesen drei Elementen entsprechen die drei Stufen der Rechtsverwirklichung durch das Staats-, Völker- und Weltbürgerrecht. Völkerstrafrechtliches Unrecht liegt in jeder substantiellen Freiheitsverletzung im Interpersonalverhältnis, durch die die Geltung allgemeinen Weltrechts negiert wird. Für die völkerstrafrechtlichen Tatbestände des Völkermordes, der Verbrechen gegen die Menschlichkeit und der Kriegsverbrechen bedeutet diese allgemeine Unrechtsdefinition, daß sie neben ihrer Eigenschaft als schwerstes Strafunrecht das universale Moment der Weltrechtsnegation aufweisen müssen. Dadurch ist ein Kriterium für die Betroffenheit der Weltrechtsgemeinschaft durch bestimmtes Unrecht und die damit korrespondierende Strafbefugnis benannt: Strafwürdiges Unrecht wird zum universal bedeutsamen Völkerverbrechen, wenn es sich gegen die Möglichkeit des Rechtsfriedens auf der Welt richtet. Völkerrechtliche Strafe stellt den Ausgleich der durch das Unrecht entstandenen Ungleichheit im Interpersonalverhältnis und die Aufhebung der Negation allgemeiner Rechtsgeltung in Richtung der das Rechtsverhältnis unmittelbar umgebenden Rechtsgemeinschaft und der alles umspannenden Weltrechtsgemeinschaft dar. Bei der formell-rechtlichen Umsetzung eines solchen Völkerstrafrechts in die Wirklichkeit der internationalen Rechtsverhältnisse ergeben sich mit der
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2. Teil: Rechtsstrafe auf internationaler Ebene
Eigenart der völkerrechtlichen Friedensordnung immanent verbundene Schwierigkeiten: Die Ausübung der Strafbefugnis wegen eines völkerrechtlichen Verbrechens obliegt wegen des unterschiedlichen Grades rechtlicher Verfaßtheit staatlicher Rechtsgemeinschaften einerseits und der Weltrechtsgemeinschaft andererseits primär den Staaten. Die Zuständigkeit der internationalen Strafgerichtsbarkeit ist also nur subsidiär zu der nationaler Gerichte. Sie erlangt Bedeutung, wenn die Unrechtsbewältigung auf staatlicher Ebene nicht (mehr) geleistet wird. Ein konkreter Strafakt durch eine internationale Strafinstanz muß auf einer formell-gesetzlichen Grundlage beruhen und eine Rechtsgarantieleistung der Gesamtheit der Weltrechtssubjekte darstellen, also auf sie zurückführbar sein. Der tatsächlich erreichte Stand internationaler Rechtsverwirklichung läßt dies derzeit nicht zu. Die Legitimität der bestehenden internationalen Strafgerichte ist insofern anzuzweifeln.
Fazit Das Völkerstrafrecht ist durch den Gang der Argumentation in dieser Arbeit als Rechtsakt einer auf Rechtsprinzipien gründenden weltweiten Gemeinschaft von Individuen und Staaten ausgewiesen. Die zu Beginn der Arbeit aufgeworfene Frage nach dem gedanklichen Zusammenhang zwischen der Bestrafung eines einzelnen wegen eines völkerrechtlichen Verbrechens, dem Erhalt und der Restitution internationalen Friedens sowie der Beförderung der Gerechtigkeit hat sich im Verlauf der Arbeit aufgeklärt. Internationale Strafe ist zu bestimmen als Ausgleich der durch ein völkerrechtliches Verbrechen ausgelösten materiellen Ungerechtigkeit im Interpersonalverhältnis und zugleich als Restitution allgemeinen Weltrechts (Aufhebung der „Verletzung des Rechts als Recht“), das die Bedingungen enthält, unter denen der Weltfrieden als Rechtsfrieden möglich wird. Einerseits stützt die vorliegende Arbeit das Völkerstrafrecht, indem sie es als ein Rechtsinstrument der Völkergemeinschaft bestimmt, dessen Grund und Ziel in der Freiheit der einzelnen Weltsubjekte liegt. Gleichzeitig ist eben dadurch aber auch der Anspruch benannt, dem das Völkerstrafrecht in seiner Wirklichkeit zu genügen hat: Es hat sich tatsächlich als freiheitswahrendes Rechtsinstitut zu bewähren und muß von einem beliebigen Gewaltmittel unterschieden sein. Sowohl für den materiellen Gehalt der völkerrechtlichen Straftatbestände als auch für die tatsächliche Ausübung des Strafrechts hat das Konsequenzen: Inhalt und Durchsetzung des Völkerstrafrechts müssen in „einem gegründeten Zusammenhang mit der Freiheit der Einzelnen“849 stehen. Die Arbeit nimmt zwar nicht für sich in Anspruch, diesen „Probierstein der Rechtmäßigkeit“850 für das Völkerstrafrecht insgesamt angewandt zu haben; die Frage der Rechtmäßigkeit des Völkerstrafrechts in seiner heutigen Form ist also nicht letztgültig beantwortet. Immerhin ist aber ein Gedankengang erarbeitet, der das Institut der Strafe auch für den internationalen Zusammenhang überhaupt rechtlich begründet, und das heißt schlüssig aus dem allgemeinen Rechtsgesetz ableitet. Dies ist mehr, als durch die Untersuchung irgendwelcher „Strafzwecke“ jemals geleistet werden kann, denn unabhängig davon, wie eloquent und scharfsinnig sie auch vorgetragen wird, trägt sie ihren Mangel immer schon in sich: Den 849 R. Zaczyk, „Staat und Strafe – Bemerkungen zum sogenannten ‚Inselbeispiel‘ in Kants Metaphysik der Sitten“, a. a. O. (Fn. 40), S. 76. 850 I. Kant, Über den Gemeinspruch, A 250.
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Fazit
Grund der Strafe vermag sie nicht anzugeben. Deshalb besteht in Wahrheit auch keine Alternative zu dem in dieser Arbeit eingeschlagenen Weg der Strafbegründung: Er muß am Rechtsgrund selbst ansetzen, also an der Autonomie des einzelnen Subjekts, und von dort aus über die verschiedenen Vermittlungsstufen – Rechtsverhältnis, rechtliche Gemeinschaft, Staat, Völkergemeinschaft und Weltbürgertum – bis zum Begriff des Unrechts und seiner notwendigen Aufhebung durch die Strafe führen. Vorgezeichnet wurde dieser Weg schon durch Kant, der in seiner Rechtslehre eben jene Entwicklung von der Freiheit des einzelnen bis zur rechtlich organisierten Freiheit in Gemeinschaft ausgearbeitet hat. Erweitert und für die aktuelle Frage nach der Begründung des Völkerstrafrechts erneut durchdacht, hat sich dieser Weg als nach wie vor gangbar erwiesen. Bedeutsam an dieser Herangehensweise ist weniger die Berufung auf die Autorität Kants – mit der man sich immerhin schon in die Sicherheit seiner großen Denkkraft begibt – als vielmehr die Ernstnahme seiner Anleitung zur Rechtsbegründung, die eben notwendig an der Freiheit des einzelnen endlichen Vernunftwesens ansetzen muß.
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Stichwortverzeichnis Abschreckung 15, 20, 22, 158 ff. Ad hoc Tribunal 13 ff., 25, 30, 289, 296 Anerkennungsverhältnis, -beziehung 49 ff., 54, 59 f., 89 f., 105, 110, 114 ff., 123, 132, 169 Autonomie 36 ff., 52, 55, 59 ff., 63, 72 ff., 79 ff., 83 f., 88, 90, 140, 160 ff., 224 f., 230 f., 242, 248, 252, 262, 295, 300 Bedürfnissubjekt 35, 165 Betrug 118 f. Chapeau 194, 248, 266, 277 Complementarity 289 Denkprozeß 33, 40 ff., 47, 59 f., 169 Elements of crime 198 Freiheit 36 ff., 48 ff., 51 ff., 54, 56 ff., 63 ff., 71 f., 76 f., 78, 82 ff., 89 ff., 94 ff., 104 f., 108, 109, 111 ff., 123 ff., 129, 135 ff., 139 f., 141 ff., 149, 160 ff., 165 f., 171 f., 174, 180, 182 ff., 189 ff., 195 ff., 206 ff., 211 ff., 222 ff., 228, 231 ff., 240 ff., 244, 245 ff., 256 ff., 265, 269, 273 f., 287, 290, 299 f. Freiheitsordnung 20, 29 ff., 139, 150 Friedensschrift 213, 221, 223, 226, 236, 244 Garantie der Rechtswirklichkeit 71, 81, 235, 288 Geburtenverhinderung 196 f.
Generalprävention 17, 23 ff., 157 ff. Genfer Abkommen 277 Gesetze, positive 52, 63, 71, 76, 77, 83, 101, 142, 156, 166, 210 Gesetzgebende Gewalt (Legislative) 78 ff., 82 ff., 88, 93, 96, 107, 152, 155, 228 ff., 233, 241 Gesetzgeber 83, 153 Gewaltenteilung 83 Gewaltmonopol 22 ff. Gruppe 153, 176, 194 ff., 259, 266, 267 ff., 272 f., 277, 286 f. Handlungsprinzip 34, 39 ff., 48 ff., 57, 164 Heteronomie 37, 78, 106 Imperativ 38, 56, 73 – hypothetischer 38, 220 – kategorischer 38 ff., 47 ff., 52, 55, 56 ff., 72, 83 f., 110 ff., 139, 154, 164, 165, 215 Individuum 14, 20, 31 f., 41, 48, 53, 54 f., 69, 77, 85, 91, 101, 117, 169 ff., 175, 177 ff., 183, 192 ff., 210, 216 ff., 222 ff., 226, 232 ff., 240, 244, 245 ff., 254 ff., 264, 269, 286, 299 Internationale Rechtsgüter 25, 252 ff. Internationaler Strafgerichtshof (IStGH) 7, 13 ff., 25, 266, 289, 296 Internationales Recht 221, 222 f., 244, 261, 263 f. Internationales Strafrecht 13, 30, 107, 169, 170 ff., 174, 205, 247, 255 Internationales Verbrechen 180, 245 ff., 252 ff.
Stichwortverzeichnis Interpersonalverhältnis, -beziehung 48, 51 ff., 61, 110 ff., 124, 129, 141, 146, 170, 175, 183, 189, 192, 206 ff., 246 ff., 252, 256, 272, 282 ff., 286, 287, 297, 299 Interstaatenrecht 169, 213, 214, 222 ff., 231, 245, 254 ff., 280, 286 IStGH-Statut 13 Jurisdiction 289 Konstitution des Staates 82 ff., 89, 97 ff., 123, 148, 227 Kontrakt, ursprünglicher 82 Kriegsrecht 103, 280 ff. Kriegsverbrechen 14, 194, 250, 266 f., 276 ff., 287, 297 Makrokriminalität 175 ff. Makroverbrechen 175 ff. Massenverbrechen 23 ff., 257 ff. Maxime 37 ff., 56 ff., 84, 101, 110 ff., 139, 165, 180, 220, 247, 263 ff., 269, 272 f. Maximenbildung 43, 50, 84 ff., 179 Menschenrecht 242 f., 245, 248, 249 ff., 254 ff., 272 ff., 286 Menschenrechtsverletzung 249 f., 257 ff. Moralität 56, 63, 84, 113 ff., 136, 140 Naturgesetze 35 Naturzustand 69, 72 ff., 97 ff., 126 ff., 148, 153, 210, 217 ff., 224, 226 f., 231 ff., 244, 247, 260 f., 264, 281 ff. Negative Bedingungen des Friedens 214 Öffentlich gesetzlicher Zustand 72 Pardon 196 ff. Präliminarartikel 214 ff., 222, 226, 244
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Primacy 289 Prinzip guten Handelns 34, 40 Privatrecht 69, 72 f., 89, 98 f., 211, 222 ff., 226 Recht 7, 24 ff., 29 ff., 35, 40 f., 51 ff., 54 f., 56 ff., 62 ff., 70, 71 ff., 76 f., 78 ff., 81 ff., 88, 89 ff., 94 ff., 104 f., 107, 108, 110 ff., 124 ff., 129, 130 ff., 135, 136 ff., 139 f., 143 f., 146, 147 f., 150, 152 ff., 157, 159 ff., 165 f., 168 f., 170 f., 178, 189 f., 193 ff., 205, 206 ff., 210 ff., 215 ff., 222 ff., 226 f., 230, 231 ff., 239 ff., 244, 245 ff., 254 ff., 264 f., 266, 268, 272 ff., 279 ff., 287, 288, 290, 292, 297, 299 – positives 155 Rechtlicher Zustand 68, 73 ff., 83 ff., 88, 89 ff., 97 ff., 107, 125 ff., 141 ff., 146, 147, 149, 153 f., 157, 166 f., 169 ff., 188, 209, 211 ff., 217, 226 f., 228, 231 ff., 240 ff., 245, 250, 261 f., 270, 275, 282 ff., 295 f. Rechtsallgemeinheit 6, 207 ff., 246, 265, 266, 267 ff., 290 f. Rechtsbegriff 31, 67, 74, 76, 81, 94 ff., 112 ff., 134, 147, 152 ff., 189 f., 206 ff., 214, 223, 246, 250, 255 ff. Rechtsfrieden 210, 213 f., 221, 232, 240 ff., 244 ff., 254 ff., 264 f., 266, 270, 275, 281 ff., 286 f., 288 ff., 297, 299 Rechtsgeltung 118 ff., 124, 135 ff., 141 f., 146, 166, 168 f., 170 f., 206 ff., 214, 242, 247, 265, 266, 269, 274, 282, 287, 288, 297 Rechtsgesetz 56 ff., 63 ff., 74, 77, 84, 88, 90 ff., 96 ff., 107, 110 ff., 126 f., 134, 136, 147 f., 154, 156, 165, 192, 207, 216, 222 f., 226, 228 ff., 231 ff., 245, 254 ff., 269 f., 272 ff., 280 ff., 286, 287, 299
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Stichwortverzeichnis
Rechtsgüter 22 ff., 76 f., 89, 109, 123 ff., 142, 189, 203, 252 ff. Rechtsimperativ 55, 57 ff., 70, 73, 84, 121 Rechtsinstitut 19, 34, 51, 66 ff., 91 f., 97 ff., 105, 107 f., 129, 131, 134 f., 136 f., 141, 146, 147 f., 156, 163 f., 208, 299 Rechtsordnung 17, 22 ff., 55, 74, 77 f., 80, 93, 128, 141 ff., 146, 156, 163, 170 ff., 207 ff., 213, 219 ff., 228, 242, 244, 245, 264, 286, 290, 297 Rechtsprechende Gewalt (Judikative) 83, 88, 107, 228 ff., 233 Rechtsstrafe 28, 31, 35, 91, 94, 104, 107, 134, 136, 140, 146, 157, 168, 170 ff., 183, 188 ff., 206, 249, 288, 297 Rechtssubjekt 26, 29, 59, 63 ff., 70, 76, 82 ff., 88, 90, 97, 104 ff., 108, 109, 110 ff., 124, 130, 135 ff., 144, 161 ff., 165 f., 169 ff., 185, 206 ff., 229, 232, 246, 263 ff., 266, 268, 294 Rechtsverfassung 212, 220, 232 ff., 275, 280, 295 Rechtsverhältnis, -beziehung 31, 47, 51, 59 f., 63 ff., 70 f., 72 ff., 76, 78 f., 83 ff., 88, 89 ff., 94 ff., 105, 107 f., 109, 110 ff., 124 ff., 129, 130 ff., 135, 137, 141 ff., 146, 147 f., 149 f., 154, 157, 166, 168, 169 f., 173, 179 f., 181 ff., 189, 192 ff., 205, 211, 215 ff., 224 f., 226, 228 ff., 239 ff., 245, 246 f., 260 f., 264, 269, 272 ff., 279 ff., 287, 290 f., 295, 297, 300 Rechtszwang 63 ff., 71, 91 f., 94 ff., 105, 106 f., 132, 136, 144, 147, 163 f., 166 Reflexion 35, 50, 113 ff. Regierung 83 ff., 215 ff., 229 ff. Resozialisierung 15 ff., 20, 22 Richter 83 ff., 98, 143, 290, 293 Romstatut 193 ff., 205, 265, 266, 267, 271 ff., 276 ff.
Schuld 16, 23, 188 ff. Selbstbestimmung 36 ff., 47 ff., 52, 59, 71, 72, 79, 84 ff., 91, 110 ff., 136, 154, 165 f., 185 ff., 216 ff. Selbstwiderspruch 43 ff., 121, 135, 139, 141 ff., 146, 168 f. Selbstzweckhaftigkeit 48, 109, 129 ff., 150, 162, 183, 197 ff., 216 Souveränität 83 Spezialprävention 17, 22 f., 157 ff. Staat 13, 19, 22 ff., 29, 33, 51 ff., 62, 66 ff., 72, 77, 82 ff., 88, 89 ff., 96 ff., 104 f., 106 f., 117, 123 ff., 129, 131, 141 ff., 146, 147 f., 149 ff., 152 ff., 155, 157 ff., 165 f., 169 ff., 176 f., 182 ff., 187 ff., 209, 211 ff., 214 ff., 222 ff., 226 f., 228 ff., 231 ff., 240 ff., 244, 245 ff., 250, 254 ff., 263 ff., 268 ff., 271 ff., 277 ff., 286, 288 ff., 295 f., 297 f., 299 f. Staatsgründung, -konstitution 97 ff., 107, 126 f., 144, 229, 232 ff., 295 Staatsbürgerrecht 211 Staatsrecht 99, 169, 211 ff., 225, 226 f., 228, 239 ff., 245, 246, 261, 274, 295, 297 Staatsverstärkte Kriminalität 181 ff. Status civilis 74, 153 f. Strafe 14 ff., 19 ff., 22 ff., 29, 33 ff., 45 f., 51 ff., 68 f., 71, 89 ff., 97 ff., 105, 106 f., 108, 112 ff., 125 ff., 129, 130 ff., 135, 136 ff., 139 f., 141 ff., 146, 147, 148 ff., 152 ff., 155, 156, 157 ff., 166 f., 168 f., 170 ff., 173, 177 ff., 185, 188 ff., 193 ff., 205, 209 f., 247, 249 ff., 267 ff., 286, 287, 290 f., 297, 299 f. Strafinstanz 19, 20, 298 Straftheorie 16 ff., 19 ff., 22 ff., 112, 137, 157 ff. – absolute 17 – relative 17, 157 ff. Strafzwecke 17, 22 f., 299
Stichwortverzeichnis Subjekt 18, 19, 31, 34, 35 ff., 47 ff., 57 f., 69, 70, 86 f., 88, 89 f., 96 ff., 105, 110 ff., 125, 129 ff., 135 f., 139 ff., 144, 146, 161 ff., 165 f., 168, 170, 174, 178 ff., 181 f., 190 ff., 199, 207 ff., 223, 228 f., 246 f., 264, 273 f., 295, 300 Systemunrecht 185 ff. Unrecht 15, 22 ff., 32, 33 ff., 65 ff., 71, 79, 86, 90 ff., 94 ff., 105, 107, 108, 109 f., 118 ff., 123 ff., 129, 130 ff., 135, 136 ff., 141 ff., 146, 147, 149 f., 155 f., 157 ff., 166, 168 f., 170 ff., 173, 174, 175 ff., 183 ff., 187 ff., 192 ff., 205, 206 ff., 219, 246 ff., 250 ff., 253 ff., 264 f., 266, 268 ff., 272, 279 ff., 287, 290 ff., 294, 297, 300 – allgemeines 146, 268 – interpersonales 265 – unbefangenes (bürgerliches) 118 f. Unrechtstat, -handlung 7, 19, 24, 29, 33, 65 ff., 104, 153, 157 ff., 167, 169, 170 f., 173, 180 f., 182, 186, 208, 269, 280 ff., 291 Utilitarismus 60 Verbrechen 14, 23 ff., 108, 111 ff., 126 ff., 133 f., 135 ff., 139, 143 f., 149, 160, 168 f., 175 ff., 184, 185 f., 199, 206 ff., 249, 252 ff., 263 f., 266, 267 ff., 272 ff., 278 ff., 287, 290, 298 Verbrechen gegen die Menschlichkeit 14, 194, 250, 256 ff., 266, 271 ff., 287, 297 Verbrechensbegriff 112, 175 ff., 183, 260, 263, 286 Vereinigungstheorie 23 Verfassungsfähigkeit 263 ff. Vergeltung 15 ff., 20, 22 ff., 134, 251 Vergewaltigung 194 f., 266, 284, 290 Vernunft 26, 30, 36 ff., 55, 57 ff., 62 ff., 70 f., 73 ff., 78, 83 ff., 90 ff.,
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97, 117 ff., 125 ff., 143, 146, 147, 154, 155, 156, 160 ff., 172, 182 ff., 193 ff., 205, 210, 214, 225, 228 ff., 232 ff., 244, 245, 246 f., 280 Vernunftbegabung 31, 38, 91, 109, 122, 139, 222 Versklavung 195, 263, 266, 281 Völkerbund 227, 233 ff., 245, 296 Völkergemeinschaft 22 ff., 167, 241, 247, 248, 252 ff., 267, 270 f., 287, 288, 290 f., 299 f. Völkermord 14, 24 f., 176, 194 ff., 250, 266, 267 ff., 286, 297 Völkerrecht 196 ff., 211 f., 224, 226 f., 231 ff., 239 ff., 245, 246 f., 250, 274, 277, 295, 297 Völkerrechtliches Verbrechen 175, 192, 206, 245 f., 251, 252 ff., 264, 288, 298, 299 Völkerstrafrecht 7, 21 ff., 167, 169, 170 ff., 173, 174, 175, 185, 192 ff., 206, 248, 249 ff., 254 ff., 266, 287, 288, 292 ff., 297, 299 f. Völkerstrafrechtlicher Unrechtsbegriff 245 ff., 249, 259 ff., 265, 286 Völkerstrafrechtliches Unrecht 167, 254 ff., 265, 267, 269, 272 ff., 289 ff., 296, 297 Völkerverbrechensbegriff 247, 249, 286 Vollziehende Gewalt (Exekutive) 83 ff., 88, 107, 230 Weltbürgerrecht 211, 224 f., 226 f., 239 ff., 245, 246, 251, 254 ff., 265, 274, 286, 295, 297 Weltfrieden 213, 229, 245, 287, 297, 299 Weltrecht 210, 222, 245 ff., 254 ff., 265, 271, 274, 283 ff., 286, 287, 288, 295, 297, 299 Weltrechtsgemeinschaft 172, 225, 265, 287, 289 ff., 294, 297 f. Weltrepublik 236 ff., 249
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Stichwortverzeichnis
Wille 33, 36 ff., 57 ff., 63 ff., 75, 78 f., 82 ff., 88, 96 ff., 110 ff., 127, 130 ff., 135 ff., 148, 153, 164, 166, 211, 215, 222, 228, 232 ff., 247, 270 Willkür 40, 47, 56 ff., 62, 77, 100, 116 ff., 165, 203, 206 f., 221, 231 Zivilbevölkerung 194 ff., 257 ff., 266, 271 ff., 283
Zwang 62 ff., 87, 91 f., 94 ff., 105 f., 107 f., 120, 131, 136 f., 153, 163, 196 ff., 223, 233 ff., 266, 281 Zwangsbefugnis 62 ff., 71, 95 ff., 108, 129, 130 ff., 146, 147, 152 ff., 226 Zwangsrecht 66 f., 94 ff., 130 f., 144, 148, 150, 153 f., 219, 235