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German Pages 713 [714] Year 2017
Der Mensch und seine Seele
Schleiermacher-Archiv
Herausgegeben von Notger Slenczka und Andreas Arndt, Jörg Dierken, Lutz Käppel, Günter Meckenstock
Band 26
Der Mensch und seine Seele Bildung – Frömmigkeit – Ästhetik Akten des Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Münster, September 2015 Herausgegeben von Arnulf von Scheliha und Jörg Dierken
ISBN 978-3-11-046457-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-046831-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-046782-6 ISSN 1861-6038 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Der hier vorgelegte Band präsentiert die Akten des Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft, der vom 27.–30. September 2015 in Münster/Westfalen stattfand und dem Thema „Der Mensch und seine Seele. Bildung – Frömmigkeit – Ästhetik“ gewidmet war. Die Anordnung der hier dargebotenen Abhandlung entspricht bis auf eine Ausnahme der thematischen Gliederung der drei Sektionen. Zwei Mitwirkende haben auf eine Veröffentlichung ihrer Beiträge verzichtet. Allen Beiträgerinnen und Beiträgern sei an dieser Stelle aufrichtig dafür gedankt, dass sie ihre Vorträge für die Veröffentlichung überarbeitet und zur Verfügung gestellt haben. Die Beiträge wurden für den Zweck dieser Veröffentlichung redaktionell bearbeitet. Spezifische Eigentümlichkeiten in Sachen Zitation und Nachweis wurden mit Rücksicht auf fach- und wissenschaftskulturelle Gewohnheiten jedoch belassen. Die Durchführung des Kongresses wurde durch vielfältige Unterstützung ermöglicht. Zu danken ist zuvörderst der Fritz-Thyssen-Stiftung (Köln), die den maßgeblichen Beitrag zur Finanzierung der Tagung bewilligt hat. Ein Dank gilt dem Rektorat der Westfälischen Wilhelms-Universität, das die Durchführung des Kongress finanziell und organisatorisch unterstützt hat. Zu danken ist auch den Mitarbeitenden des Instituts für Ethik und angrenzende Sozialwissenschaften (IfES) der WWU Münster, ohne deren unermüdlichen Einsatz die Durchführung des Kongresses und die Vorbereitung der Drucklegung dieses Bandes nicht möglich gewesen wäre. Zudem sei die MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg für einen Druckkostenzuschuss bedankt. Die Herausgeber danken schließlich den Herausgebern des Schleiermacher-Archivs für die Aufnahme des Kongress-Bandes in diese Verlagsreihe und dem Verlag de Gruyter für die sorgfältige Betreuung der Publikation. Die Herausgeber haben die begründete Hoffnung, dass die in diesem Band versammelten Beiträge die Schleiermacher-Forschung auf den hier bearbeiteten Themengebieten weiter beflügeln werden. Münster und Halle im Winter 2016
Arnulf von Scheliha / Jörg Dierken
Inhalt Jörg Dierken / Halle (Saale) Der Mensch und seine Seele – Eröffnung des Kongresses und Einführung in das Thema 1 Klaas Huizing / Würzburg Schleiermachers ursprüngliche Einsicht. Über literarische Formen der Theologie 9
Bildung Ursula Frost / Köln Gesinnungsbildung – Überlegungen zur rezenten Rezeption Schleiermachers in 35 der Erziehungswissenschaft Hartmut Kreß / Bonn Kinderrechte heute – im Gegenüber zur Sicht der Kindheit in der Aufklärung und bei Schleiermacher. Mit kritischen Hinweisen auf Schattenseiten und Grenzen der Überlegungen Schleiermachers 51 Andreas Kubik / Osnabrück Die implizite Religionspädagogik von Schleiermachers Reden „Über die 71 Religion“ Christiane Ehrhardt / Berlin Schleiermachers Voten zur preußischen Schulreform – ein Werkstattbericht 93 Constantin Plaul / Halle (Saale) Die Performanz der Spannung des bewussten Lebens. Zum Wechselverhältnis der individuellen Darstellung von Selbst und Universum beim frühen 117 Schleiermacher Georg Hardecker / Tübingen Bildung und Wahrheit. Das Gebildetwerden des religiösen Gefühls als Zugang 131 zum Wahrheitsverständnis Schleiermachers Kelly Brotzman / Lexington/Virginia Schleiermacher and Experiential Learning
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Inhalt
Martin Fritz / Neuendettelsau Schleiermachers Idee theologischer Bildung
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Christian Polke / Göttingen Bildung – eine Angelegenheit des Menschen nach Schleiermacher Malte Dominik Krüger / Marburg Bild und Bildung. Protestantische Perspektiven
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Frömmigkeit Eilert Herms / Tübingen Leibhafter Geist – Beseelte Organisation. – Schleiermachers Psychologie als Anthropologie. Ihre Stellung in seinem theologisch-philosophischen System und 217 ihre Gegenwartsbedeutung Andreas Arndt / Berlin Schleiermachers Psychologie – eine Philosophie des subjektiven 245 Geistes? Roderich Barth / Gießen „Frömmigkeit nannten sie all diese Gefühle“ Schleiermacher und die moderne 257 Emotionsdebatte Christian Albrecht / München „… daß jene Anforderung nicht mehr in ihm entstehe“. Schleiermachers Programm der Seelsorge als Wiederherstellung religiöser Autonomie 277 Julia A. Lamm / Washington, D.C. Schleiermacher’s Re-Writing as Spiritual Exercise, 1799 – 1806: Revising the Reden 293 Georg Sans SJ / München „So gewiss ich bin, so gewiss ist Gott“ Unmittelbare Gewissheit des Glaubens bei Hegel und Schleiermacher 303 Anne Käfer / Münster Von der Freiheit einer christlich frommen Seele
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Vasile Hristea / Weingarten Der erfüllte Augenblick. Schleiermacher als Phänomenologe des Genusses 325
Inhalt
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Klaus Viertbauer / Innsbruck Von einer transzendentalen Begründung zu einer dialektischen Vermittlung. Zur formalen Gestaltung des Glaubensbegriffs bei Friedrich Schleiermacher und Søren Kierkegaard 339 Jana Huisgen / Osnabrück Die wechselseitige Bedingung frommen Selbst- und Weltbewusstseins. Aspekte der Schleiermacherdeutung Gerhard Ebelings 349 Sabine Schmidtke / Heidelberg ‚Lebendige Empfänglichkeit‘ als anthropologische Grundbedingung der Frömmigkeit 363 Henning Theißen / Greifswald Gottes Geburt in der Seele. Historische und systematische Kontexte von Schleiermachers Wiedergeburtslehre 379 Bernd Harbeck-Pingel / Freiburg i.B. Struktur und Bedeutung in der Lehre vom Heiligen Geist
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Matthew Ryan Robinson / Bonn Vollendet: The Completion of Humanity, the Gospel of John, and the Intersubjective Soul of Schleiermacher’s Monologen 405 Eckart David Schmidt / Mainz „… weil doch der Christ der rechte Bürge ist“? Zur Funktion des „historischen Jesus“ in christologischen Entwürfen des frühen Schleiermacher – ein kritischer Versuch 421
Ästhetik Christoph König / Osnabrück Schamhaftigkeit als Prinzip des Verstehens. Zu Friedrich Schleiermachers 441 Vertrauten Briefen über Friedrich Schlegels Lucinde Denis Thouard / Paris Die Kunst der Moderne. Von Schleiermacher zu Schwitters
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Björn Pecina / Halle (Saale) Vom Gourmet zum Kunsthandeln. Aufgeklärte Empfindungen vor Schleiermachers 469 Ästhetik
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Inhalt
Christian Senkel / Halle (Saale) Die Macht der Phantasie und der theologische Diskurs
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Jonas Lundblad / Lund Taste and sensibility for the infinite as vision of cohesion: Aesthetic communication as (a‐)political theory in Schleiermacher’s On Religion
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Peter Grove / Aarhus Der Grundton aller unserer Gefühle. Schleiermachers Begriff der 533 Stimmung Holden Kelm / Berlin Kunsttrieb und Besinnung. Das ambivalente Verhältnis von Kunst und Natur in 553 Schleiermachers Ästhetik Markus Firchow / Hamburg Das Bild des Erlösers. Inkarnation als göttliche Tätigkeit und menschliche Darstellung 565 Susanne Hennecke / Bonn Schleiermachers Weihnachtsfeier als Theorie der Kirche
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Simon Gerber / Berlin Ästhetische Probleme des Gottesdienstes nach Schleiermachers Praktischer 607 Theologie Hermann Patsch / München „Wenn Alle untreu werden, erhalte mich dir treu“ Schleiermachers Einkirchung des Novalis in das Berliner Gesangbuch 619 Richard Janus / Paderborn Schleiermachers Wirkung auf die Malerei. Zur Diskussion um den Einfluss des Denkens Friedrich Schleiermachers auf das Werk Caspar David Friedrichs und zur Schleiermacherrezeption im Allgemeinen 659 Christian Neddens / Saarbrücken Ästhetik des Kreuzes. Zur Theologie des Bildes bei Caspar David Friedrich – auch 673 im Blick auf Schleiermachers ‚Reden‘
Jörg Dierken / Halle (Saale)
Der Mensch und seine Seele – Eröffnung des Kongresses und Einführung in das Thema Eröffnung Das Thema des Kongresses „Der Mensch und seine Seele. Bildung – Frömmigkeit – Ästhetik“ erkundet Friedrich Schleiermachers Verständnis des Menschlichen in weiträumigen Perspektiven. Maßgebliche Beiträge dazu finden sich im gesamten Oeuvre Schleiermachers. Sie betreffen zentrale Phänomene des menschlichen Lebens. Bereits die „Reden“ von 1799 entfalteten mit der Frömmigkeit einen Grundzug des Menschlichen in verschiedenen subjekt- und sozialtheoretischen Konstellationen, und die „Monologen“ von 1800 beschrieben die Individualität des Menschen im Kontext von ethischer Selbstbildung im Lebenslauf. Schon daraus wird ersichtlich, dass es nicht um eine invariante anthropologische Formel zur Feststellung des ‚Wesens‘ des Menschen geht, sondern um dynamische Wechselbezüge zwischen Phänomenen des Menschlichen und geschichtlich-kulturellen Lebenszusammenhängen. Erst in der Differenziertheit der ‚höheren‘ Kultur kommen diese Phänomene zu ihrem jeweiligen Ausdruck, zugleich bildet sich die Kultur gerade über Interferenzen zwischen den Sphären, die durch jene Phänomene markiert werden. Subjektive Vermögen wie Erkennen, Gefühl und Handeln prägen sich in objektiven Institutionen aus, und diese bilden gerade in ihrer Eigenart als Kirche, Staat, Geselligkeit oder Wissenschaft Wechselverhältnisse. Das haben die kulturtheoretisch ausgerichteten Schriften zur philosophischen und theologischen Ethik herausgestellt. Schleiermacher hat zudem wesentliche Elemente dieser Wechselbezüge eigens erörtert. Den Fragen der Erziehung, der Religiosität und des Ästhetischen galten eigene Entwürfe, die teilweise nur durch die Hinterlassenschaft seiner Vorlesungstätigkeit überliefert sind. Neben weiteren Entwürfen zu Themenfeldern wie Staat, Geschichte, Verstehen und Kommunikation hat Schleiermacher auch die Psychologie des Menschen entfaltet. Die „Psychologie“ (ab 1818) hat es mit den Ausprägungen der Vernunft im Inneren des Menschen zu tun, dessen Leben immer auch leibhaft-organisch verfasst ist. Angesichts der mannigfachen Wechselbezüge zwischen den verschiedenen Disziplinen seines Oeuvres kann Schleiermacher geradezu als Prototyp eines Systemdenkers verstanden werden. Der in seiner Zeit prominente systematische Anspruch eines umfassenden Denkens war ihm nicht fremd. Das Stichwort ‚System‘ muss freilich mit prozeduraler Offenheit verbunden werden, die geschichtlicher Evolution und kultureller Variation Rechnung trägt. Ohne diesen weiten Zusammenhang ist Schleiermachers Verständnis des Menschlichen nicht zu fassen. Es integriert eine Vielzahl von Aspekten, die ebenso die sozialen Bedingungen des Lebens in den Formationen von Kirche, Politik und
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Ökonomie betreffen wie auch die individuellen Ausprägungen von Charakter und Herz, von Geschmack und Stilempfinden. Nachdem die Internationale Schleiermacher-Gesellschaft in mehreren Kongressen die religionstheoretischen und die gleichsam objektiven und institutionellen Seiten der Kultur beleuchtet hat, sollen beim diesjährigen Kongress insbesondere die subjektiven Dimensionen des individuellen Lebens erkundet werden. Hierfür steht die symbolische Prägnanz des Begriffs der Seele. Er markiert zwar nicht den vordersten Platz der Leitbegriffe von Schleiermachers literarischem Werk, aber Schleiermacher war sich der Bedeutung des Begriffs sehr wohl bewusst. Der Begriff der Seele stellt auf die besondere Geistigkeit des Menschen ab, also seine ‚höheren‘ und intellektuellkommunikativen Vermögen, ohne die die ideellen Gehalte von Vernunft und Freiheit nicht wirksam werden können. Selbstverständlich ist mit der Seele keine gleichsam ätherische Substanz gemeint. Die Seele des Menschen steht für Schleiermacher in unlösbaren Bezügen zu seiner naturalen Verfasstheit als organisches Wesen. Der Bezug zum Leiblichen ist schon damit gegeben, dass alles Handeln des Menschen an den Leib gebunden ist. Das gilt für Ausdruck und Darstellung in kommunikativen Verhältnissen ebenso wie bei der Realisierung von Zielen in der sozialen und politischen Welt und erst recht für alle technische Realisierung von Zwecken. Gerade Schleiermacher trennte die Seele als Symbol für das geistige Leben des Menschen nicht vom Leib als Inbegriff seiner organischen Seite. Die Differenz von Leib und Seele ist ebenso wie ihr Bezogensein stets relativ, absolute Trennung ist für Schleiermacher ebenso undenkbar wie vollständige Gleichheit. Freilich liegt ein Primat bei der Seele. Sie symbolisiert eine implizite Sollbestimmung und überformt im Idealfall kultivierend den Leib. Das gilt nicht nur für den einzelnen Menschen, sondern auch für die menschliche Kultur als humane Lebensform. Kultur kann geradezu als ‚Beseelung der Natur‘ durch Vernunfttätigkeit beschrieben werden, in ihr wird Natur gleichsam als zu gestaltendes ‚Organ‘ der Freiheit thematisch. Neben den Impulsen zum weltgestaltenden Handeln in den mannigfachen äußeren Relationen des Lebens bezeichnet die menschliche Seele auch eine auf das Innere bezogene Reflexivität. Sie markiert gleichsam die Innenseite in der Dynamik von sozialer Einbindung, kommunikativem Austausch und äußerer Darstellung. Diese Dimension des Inneren ist für die Bildung des jeweilig Individuellen, das zur Führung des eigenen Lebens befähigt, unverzichtbar, hieran hängen die je eigenen Prägungen von Stil und Charakter. Der Begriff der Seele fokussiert mithin im Spiegel des Inneren zentrale Aspekte einer Anthropologie, für die Wechselverhältnisse des Individuellen und des sozialen Lebens in geschichtlich-kultureller Evolution maßgeblich sind. Damit betont der Seelenbegriff gegenüber verschiedensten Reduktionismen die gleichsam unbedingte Geltung des Humanum mit einem kulturellen Eigenrecht des Subjektiven. Weder ist es ein bloßes Epiphänomen organisch-naturaler Prozesse, noch geht es in leeren Reflexen auf gesellschaftliche Vorgänge auf. Es ist auch kein bloßer Knotenpunkt der Kommunikation, die – wie gegenwärtig z.T. die elektronische – nach vorgegebenen Algorithmen verläuft und dadurch die Aktivitätsmuster der Beteiligten steuert. Das MenschlichSubjektive hat eine Verfassung eigener Art, deren innerer Modus ein reflexiv geformtes
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Erleben ist. Es will intersubjektiv anerkannt sein, muss sich dazu freilich in sozialen Konstellationen verstehbar darstellen. Dieser zumindest subkutan mitlaufende Geltungsanspruch im Blick auf das Menschlich-Subjektive macht die zeitdiagnostische Aktualität des Seelenbegriffs aus, jene Wechselbezüge von Innerem und Äußerem, von Individuellem und Kommunikativem markieren seine Anschlussfähigkeit für interdisziplinäre anthropologische Diskurse in Geschichte und Gegenwart. Diese Pointen des Seelenbegriffs lassen sich übrigens auch dann verstehen, wenn der Begriff selbst angesichts vielfacher Kritik wegzurutschen droht. Die Erkundung des breiten Spektrums von Selbstverhältnissen in sozialen Prozessen soll bei diesem Kongress mit besonderem Fokus auf die Sphären Bildung und Erziehung, Frömmigkeit und Kirche sowie Literatur und Ästhetik erfolgen. Die drei Leitbegriffe für die Kongresstage haben eine gewisse Strukturierungsfunktion, sie identifizieren aber keine fixen Grenzen jener Sphären. Diese bilden Interdependenzen. So besitzt Bildung auch eine religiöse Dimension, die einerseits durch die Entwicklung der unvertauschbaren Individualität, andererseits durch Erziehung zur Gemeinschaftsfähigkeit gekennzeichnet ist. Den Horizont für beides markiert das Gottessymbol, Inbegriff einer Instanz, die für das Individuell-Verschiedene eine letzte Gleichheit bedeutet. Auch darum gibt es Religionspädagogik. Natürlich will auch der Sinn für Kunst und Schönheit gebildet werden. Die Anlagen zu Frömmigkeit und Kunstsinn sind in der Subjektivität des Menschen verankert, aber sie können verschüttet bleiben, wenn sie nicht durch Anregung und Kommunikation gefördert werden. Im Gravitationsfeld frommer Praxis liegt das darstellende Handeln, das nicht nur für den Kultus, sondern auch für die Kunst maßgeblich ist. Sie besitzt mit dem individuellen Symbolisieren ohnehin Familienähnlichkeiten mit der Religion. Wie sie, so hat auch die Kunst im Inneren des Gemüts ihren Boden, doch mehr als die Religion lebt die Kunst von dessen äußerer Darstellung. Gestatten Sie mir drei Hinweise zur Aktualität und Anschlussfähigkeit der Leitbegriffe. Von ihnen hat der Begriff der Bildung heute die größte öffentliche Aufmerksamkeit. Bildungsoffensiven werden vom gesamten politischen Spektrum gefordert, und zwar von der frühkindlichen Förderung über die Optimierung der Schullaufbahn bis hin zur beruflichen Bildung durch Praxis oder Studium, mit Fortschreibung zum lebenslangen Lernen. In großem Stil werden Bildungsinstitutionen auf-, aus- und umgebaut, angefangen bei den Kitas über das Schulsystem bis hin zu den Universitäten. Gerade hier sind Dauerbaustellen permanenter Reformen entstanden. Ein wesentliches Motiv dafür ist ökonomischer Art: Bildung sei der Rohstoff, aus dem in unserem rohstoffarmen Land der Wohlstand erzeugt und tunlichst zukunftsfest gesichert werde. Ich brauche das nicht näher auszuführen. Nicht das Dass, doch das Wie der Gestaltung der Bildungsrepublik Deutschland ist umstritten: Familiäre oder öffentliche Früherziehung, gegliedertes Schulsystem oder Einheitsschule, breite Light-Akademisierung oder praktisch-berufliche Ausbildung, verschultes Massenstudium gegenüber Elitenbildung. Auch hier wird v. a. um ökonomische Effekte gestritten. Das lässt grundsätzlich nach Legitimität und Reichweite eines ökonomischen Maßstabs für Bildung fragen. Diese Frage wird verschiedentlich erörtert, bis hin
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zur Fundamentalkritik des ökonomischen Paradigmas durch das Kontrastideal selbstzwecklicher Bildung. In diesem Zusammenhang werden die großen klassischen Namen genannt, zu denen neben Humboldt insbesondere auch Schleiermacher gehört. So plausibel die Kritik an technizistischer Engführung des Bildungsverständnisses ist, so wenig dürfte aber eine simple Opposition von Ökonomie und Bildung weiterführen. Es wäre vermessen, den evidenten Zusammenhang von Bildung und Wohlstand zu ignorieren, insbesondere in einer Gesellschaft, die maßgeblich durch ökonomische Teilhabe integriert wird. Allerdings ist es ebenso vermessen, an Bildung einfach eine fremde Latte anzulegen und sie auf ein externes Paradigma hin zu trimmen. Bildung wirkt vielmehr indirekt auf andere gesellschaftliche Größen, sie kann ihre Effekte im Zusammenspiel auch mit Ökonomie und Politik dann am besten erzielen, wenn ihre eigene Logik befolgt wird. Das hat Schleiermacher gewusst. Wenn Bildung in den Einzelnen den Sinn für das Allgemeine fördern soll, der anschlussfähig ist an die Organisation der sozialen Systeme des Staates und der Wirtschaft, gelingt dies nur, wenn zugleich das je Eigene der Einzelnen gestärkt wird. Das im Inneren des Einzelnen angelegte Individuelle gilt es durch Erziehung ebenso zu bilden wie seine Fähigkeit, seine berufliche Rolle zu erfüllen und in den entsprechenden äußeren Lebensgemeinschaften förderlich zu wirken. Damit ist Abweichen in die Norm aufgenommen, es geht nicht um Funktionsautomaten. Erziehung ist ein Einwirken auf den ‚Zögling‘ mit dem Ziel seiner Selbsttätigkeit und Freiheit. Es geht um Verantwortung und Handeln in der Gesellschaft aufgrund eigener Einsicht. Dazu ist nicht nur ein Verständnis wesentlicher Dimensionen von Bildung vonnöten, sondern es bedarf auch angemessener institutioneller Strukturen für Bildungsprozesse. Beides wird in Schleiermachers Pädagogik expliziert. Für Ersteres steht das mit Blick auf die Seele in ihren verschiedenen Lebensperioden differenzierte Begriffspaar des Individuellen und des Allgemeinen, für Letzteres ein durchaus pragmatisches Zusammenspiel von familiärer und öffentlicher Erziehung in Schule, beruflichen Ausbildungseinrichtungen und Universität. Natürlich wirken manche Formulierungen abständig, so etwa, dass Erziehung die Zöglinge bei den ‚großen Gemeinschaften‘, insbesondere von Staat und Ökonomie sowie Kirche und Wissenschaft, ‚abliefert‘; natürlich haben sich die institutionellen Verhältnisse der ‚großen Gemeinschaften‘ – zumal im Verhältnis von Staat und Kirche – geändert; und natürlich setzt der Gedanke einer Mischung von privater und öffentlicher Erziehung, der den seinerzeit selbstverständlichen Eigenstand von Familie und Staat fortschreibt, andere Akzente als viele gegenwärtige Debatten. Weitere Punkte ließen sich nennen. Doch ob eine vollkommen verstaatlichte Erziehung Freiheitsspielräume einschränkt statt erweitert, bleibt schon angesichts des klassischen Musters in Platons ‚Politeia‘ zu diskutieren. Und ob ein einziges Paradigma der für Freiheit und Verantwortung erforderlichen Komplexität von Bildungsprozessen entspricht, wäre angesichts des marktökonomischen Modells des Austauschs von Verschiedenem zu fragen. Gegenüber externen Funktionalisierungen stellte Schleiermacher stark auf Freiheit und Eigenständigkeit der Erziehungsinstitutionen ab – sowohl als Bildungspolitiker wie auch als Bildungstheoretiker. Am deutlichsten wird dies wohl an Schleiermachers Universitätskonzept sichtbar, das Freiheit von staatli-
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cher Gängelung einfordert – mithin auch von der in ihrem Umfeld liegenden ökonomischen Instrumentalisierung von Bildung. Leider bleiben Bekenntnisse zum Humboldtschen – und damit faktisch ebenso Schleiermacherschen – Universitätskonzept oftmals leere Worte. Mein zweiter Hinweis gilt dem Begriff der Frömmigkeit. Er wirkt mit seinem Gefälle zum Innerlichen eher abständig.Wenn von Religion die Rede ist – etwa in Verbindung mit dem Bildungssystem –, dann scheint es v. a. um ihre Bedeutung für das soziale Leben zu gehen. Dabei rücken vielfach Negativfunktionen in den Fokus, etwa im Sinne von Integrations- oder Modernitätshemmnissen. Das betrifft v. a. die neuartige Präsenz des Islams in unserem Kulturraum, dem ein aufgeklärtes Christentum gegenübergestellt wird. Jenen Negativfunktionen sei durch Bildung abzuhelfen. Dabei kommt besonders der Hybridcharakter der Religion in den Blick – also der Umstand, dass sie immer mehr und anderes ist als individuelle und innerliche Frömmigkeit, weshalb sie andere Lebensgebiete ausgreift und das Leben Anderer beeinflusst – etwa durch Einstellungen zu Politik oder Geschlechterverhältnissen.Wenn Bildung und Erziehung hier nicht äußerlich bleiben sollen, ist ein Verständnis der zentralen eigenen Kräfte von Religion erforderlich. Schleiermacher bündelte sie im Begriff der Frömmigkeit. Er beschreibt primär subjektive Gemüts- oder Bewusstseinszustände. Doch sie regen auch andere Lebensfunktionen an und gehen in deren Gebiete ein. Exemplarisch sei auf Bildung und Erziehung verwiesen, in denen die Ausgangspunkte – die Anerkennung des gleichsam geschöpflichen Eigenstands der Individuen mit ihren Anlagen – und die Ziele von Erziehung – Selbsttätigkeit und ein Bewusstsein einer letzten Gleichheit vor Gott – religiös grundiert sind. Mit beidem – Freiheit und Gleichheit – erweist sich der Romantiker Schleiermacher übrigens als Sohn der Aufklärung. Voraussetzung der Wechselwirkung mit anderen Lebensgebieten ist, dass Frömmigkeit als Inbegriff der Zustände und Vollzüge fungiert, in denen das Subjekt seiner selbst in eigener Bestimmung inne wird. Daher muss sich Frömmigkeit als Element des Menschlichen aufzeigen lassen. Deshalb gibt es untrennbare Bezüge zur Thematik der Anthropologie und ihrem Symbol, der Seele. Frömmigkeit gehört zur Psychologie des Menschen. Mit ihr sind die Koordinaten der conditio humana im Spiel. Schleiermacher konnte Frömmigkeit gar als zentrales Element der ‚menschlichen Natur‘ beschreiben. Genau damit ist angesichts der gegenwärtigen empirischen Phänomene einer zunehmenden Religionslosigkeit eine elementare Herausforderung verbunden: Wenn Religion solcherart anthropologisch fundiert sein soll, wird entweder die Allgemeinheit dieser Fundierung durch das Phänomen der Areligiosität widerlegt – oder die Nichtreligiösen werden nicht als Subjekte mit eigener Selbstbeschreibung ernst genommen. Schleiermacher ist in seiner Zeit dem Problem mit differenzierten Abstufungen zwischen religiöser Anlage, ihrer höchst unterschiedlichen Ausbildung in der Lebens- und Kulturgeschichte und dem Negativ von Frömmigkeit im Sinne von Erlösungsbedürftigkeit begegnet. Angesichts der forcierten Säkularität der Gegenwart dürfte es indes zunehmend bedeutsam werden, mit dem Religiösen seine Kontingenz zusammenzudenken – ohne damit im Gegenzug den Anker von Frömmigkeit im Menschlichen zu verlieren. Die Kontingenz des Religiösen steckt schon in den Mög-
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lichkeiten geschichtlicher Entwicklung und Veränderung, sie ist mit Neuaufbrüchen bis hin zur Umkehr und Anderswerden verbunden. Doch sie muss auch dahingehend zugespitzt werden können, dass die Negation von Religion im Horizont von Frömmigkeit fassbar werden kann. Meine dritte Bemerkung gilt dem Leitbegriff Ästhetik. Mit ihm sind erhebliche Ähnlichkeiten zu der Sphäre der Religion verbunden, allerdings auch Differenzen, die bis zur Negation und Ablösung reichen. Diese liegen in der modernen Entwicklung zur Autonomie der Kunst begründet, die ihre Instrumentalisierung im Namen von Religion und Kirche beendete. Diese Entwicklung war schon zu Schleiermachers Zeit im Gang, und sie fand Vorschub durch gewisse Abschottungstendenzen im damaligen kirchlichen Milieu. Schleiermacher selbst musste dies in betrüblichem Kontrast zu seinen eigenen poetischen Neigungen zur Kenntnis nehmen. Freilich fielen die Hauptschübe dieser Entwicklung in die Zeit nach Schleiermacher, etwa mit ihrem bekannten Gipfel im spätromantischen ‚Gesamtkunstwerk‘, in dem die nunmehr selbst kultähnliche Kunst an die Stelle der Religion treten sollte. Weitere Phänomene ließen sich leicht nennen. Sie betreffen nicht nur die sog. Hochkultur in Opernhäusern, Museen oder im Literaturbetrieb, sondern auch die durch neue Techniken massiv veränderte Rolle ästhetischer Formate in unserem heutigen Alltag und seiner Kommunikation. Es sei nur verwiesen auf die Rolle von Bildern im Zusammenhang elektronischer Medien – künstlichen wie künstlerischen, vielfach von Klängen und Weiterem begleitet. Die Kulturwissenschaften verzeichnen einen turn hin zur Sprache der Objekte. Die neue mediale Entwicklung scheint vom Sinn zur Sinnlichkeit zu gehen, weniger indes wie zur Sattelzeit der Moderne erhofft, hin zum Ausdruck von philosophisch beschreibbaren Ideen oder gar zu symbolischer Darstellung des Absoluten. Auch bei Schleiermacher finden sich diese Motive: etwa in der Metapher von Gott als Künstler, dessen Schöpfung eine gleichsam urbildlich-künstlerische Darstellung dessen sei, was in der Kunst abbildlich als schöpferische Kreativität des Menschen zum Ausdruck komme. Damit ist bereits eine Ähnlichkeit zur Religion markiert, unbeschadet der systemischen Differenz von Kirche und Geselligkeit als Gemeinschaftsgestalten auf dem gemeinsamen Boden des individuellen Symbolisierens und unbeschadet der vielfachen Differenzen im konkreten Zyklus von Formen und Medien. Diese Ähnlichkeit fußt darauf, dass für Schleiermacher auch die Kunst in ihren Objektivationen Darstellung des Subjektiven ist, dass sie wie die Religion das Innere von Gemüt und Gefühl ausdrückt und in symbolische Mitteilung überführt. Mit dem Gefühl wird eine zentrale Dimension des menschlichen Seelenlebens thematisch, die auch in den ständigen Wechselzusammenhängen mit Erkennen und Handeln beansprucht ist: die innere Einheit des Subjekts, ohne die es nicht als es selbst in der Welt handeln oder als solches von ihr wissen kann. Diese in Korrelation mit der Welt in Handeln und Erkennen befindliche Einheit besteht zwar in ihrem dynamischen Vollzug, sie ist darin aber nicht durch das Subjekt gemacht. Es findet sich hierin immer schon vor. Darum steht diese Einheit über den Weltbegriff in einem Zusammenhang mit Gott, und darum wird eben auch in der Ästhetik das Absolute thematisch. Kunst ist ein Symbol des Absoluten im Einzelnen. Soziologisch schattet sich dies darin ab, dass das sittliche
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Leben, in dem die Universalität der kulturell überformten Welt und das Allgemeine der Gesellschaft in individuellen Brechungen ihren praktischen Ort haben, bei Schleiermacher selbst in der Metapher von Ästhetik beschrieben wird. Nach Schleiermacher ist ‚jeder Mensch ein Künstler‘ – ein geradezu demokratisch-egalitäres Motiv. Dennoch wird die Differenz zur artifiziellen Kunst, deren Regeln Schleiermachers Produktionsästhetik beschreiben will, nicht außer Kraft gesetzt. Kunst wird soziologisch eingehegt und ästhetisch fruchtbar gemacht, und zwar im Bewusstsein dessen, dass künstlerische Darstellung in sinnlich vermittelte Kommunikation übergeht. In diesem Gedanken dürfte eine Chance zum Umgang mit den heutigen Herausforderungen ästhetisch-medialer Kommunikation liegen. Eine weitere scheint darin gegeben zu sein, dass auch die Kunst – wie auch Religion und Bildung – in einem gehaltvollen Sinn anthropologisch oder subjekttheoretisch verankert ist. Damit sind freilich auch aktuelle Probleme verbunden, für die das Stichwort ‚Ende des Subjekts‘ steht. Eine besondere Bewährungsprobe für das Ästhetische dürfte darin bestehen, dass es nach Schleiermacher immer an das Innere und Innerliche zurückgebunden bleibt, während in gegenwärtiger Wahrnehmung eher der Akzent auf dem Äußeren der Darstellung als solchem liegt. Doch schon der Begriff des Äußeren zeigt, dass es nicht allein stehen kann. Das Innere bleibt im Spiel, zumindest virtuell. All diese Aspekte wurden auf dem Kongress eingehend bedacht und diskutiert. Die Ergebnisse werden in diesen Kongress-Akten der wissenschaftlichen Öffentlichkeit vorgestellt.
Klaas Huizing / Würzburg
Schleiermachers ursprüngliche Einsicht. Über literarische Formen der Theologie Einleitung: Parallelaktionen in der Gigantomachie zwischen Schleiermacher und Barth Karl Barth schreibt am 23. 3.1932 an Charlotte von Kirschbaum, genannt Lollo, in Bern einen Brief, der auf das Bergli, Liebesnest und Denkkommune oberhalb des Züricher Sees, expediert wird: „Viel mehr bewegte mich eigentlich in diesen Tagen die Lektüre der Forsyte-Saga, mit deren dritten Band ich gestern abend zu Ende kam. […] Wieviel besser als die Buddenbrooks, nicht?“¹ Bereits in einem Brief an Otto Lauterburg vom 24.11.1908 moniert Barth an den Buddenbrooks den „abscheulich ins Detail gehenden Realismus mit Schopenhauer‘scher Tendenz. […] Als Gegengift habe ich soeben Schleiermachers Monologen eingenommen und befinde mich indessen so wohl, daß ich ohne die geringste Besorgnis der Nachtruhe entgegengehen kann.“² Karl Barth, übrigens der Patenonkel von Peter Rühmkorff, liest in seiner Frühzeit die Romantiker, die Russen Tugenjew und Dostojewski, den Renouveau catholique, allerdings kaum deutsche Autoren des beginnenden 20. Jahrhunderts. Seine eigenen literarischen Versuche, mit Vorliebe Dramen,³ weichen schnell der Produktion von Wissenschaftsprosa. Schleiermacher plante in seiner genialischen Frühphase Novellen und einen längeren Roman mit dem Titel Geschichte eines geistigen Faublas. Er liebt drei Frauen und einige Mädchen. Karl Barth hat diesen Plan in reformierter Verknappung mehr als dreißig Jahre lang gelebt – Ehefrau plus Geliebte wohnten unter einem Dach. Und auch das Symphilosophieren – die romantische Idee im Kollektiv zu denken und zu schreiben – hat Schleiermacher nur bei einigen wenigen Aphorismen im Schulterschluss mit Friedrich Schlegel während der Arbeit an der Zeitschrift Athenaeum ein-
Ralf-Joachim Erler (Hg.): Karl Barth – Charlotte von Kirschbaum. Briefwechsel 1925 – 1935, Bd. 1, Karl Barth Gesamtausgabe V. Briefe, Zürich 2008, 229. Barth verweist auf den Roman von John Galsworthy (1867– 1933): Die Forsyte Saga (1922, dt. 1925), Köln 2011. Galsworthy bekam 1932 den Nobelpreis für Literatur. Karl Barth: Thomas Mann. Buddenbrooks. Verfall einer Familie 1914/1915, in: Ders.: Vorträge und kleinere Arbeiten 1914– 1921, Zürich 2012, 100 – 104. Der Herausgeber zitiert aus den Briefen. Vgl. auch Thomas Kucharz: Theologen und ihre Dichter. Literatur, Kultur und Kunst bei Karl Barth, Rudolf Bultmann und Paul Tillich. Theologie und Literatur Band 4, Mainz 1995, 35 – 100. Ernst Busch: Karl Barths Lebenslauf. Nach seinen Briefen und autobiographischen Texten, München 2 1975, 39: „Sein umfangreichstes Drama entstand dann 1901 unter dem Titel ‚Leonardo von Montenueva oder Freiheit und Liebe‘.“ DOI 10.1515/9783110464573-002
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gelöst.⁴ Karl Barth hingegen hat nicht nur in frühen Jahren sehr eng mit seinem Freund Eduard Thurneysen zusammengearbeitet, sondern seine ganze Kirchliche Dogmatik mit seiner Geliebten ausbuchstabiert. Beide, Schleiermacher wie Karl Barth, beeindrucken bis heute Leserinnen und Leser als sehr gute Stilisten.⁵ Jedoch besteht ein nicht geringer Unterschied zwischen Karl Barth und Friedrich Schleiermacher in Hinblick auf ihren theologischen Schreibstil. Karl Barth hat nie beherzt die traditionellen Gattungsunterschiede eingeebnet, wenn er das, was er Theologie nannte, trieb. Anders Schleiermacher: Das Besondere und bis heute Aufregende bei ihm ist die Planierung der Gattungsunterschiede, die er in vier großen Texten, die ausdrücklich literarische Formen aufnehmen, durchhält: den Reden über die Religion, den Vertrauten Briefen über Friedrich Schlegels Lucinde, den Monologen und der Weihnachtsfeier. Mich interessiert, warum Schleiermacher zunächst explizit auf die Verwendung von literarischen Formen für die Darstellung seiner Form von Theologie setzt, dann aber weitgehend darauf verzichtet, sofern man sich nicht dazu entschließt, Schleiermachers späte Vorlesung Leben Jesu ⁶ als wissenschaftlich camoufliertes literarisches Porträt zu deuten, genauer: als Lobgesang auf Christus. Schleiermachers Hinwendung zu den literarischen Formen ist einfacher zu beantworten als seine spätere Abkehr davon. Die Intuition, Theologie in ein literarisches Gewand zu kleiden, verdankt sich nicht nur Schleiermachers Nähe zum Kreis der Frühromantiker, sondern auch seiner Fronarbeit der Platonübersetzung, in die er bekanntlich von Friedrich Schlegel, mit dem er kurzzeitig unter einem Dach lebte, gedrängt wurde. Schlegel, ein ADHSler bevor die Medizin von diesem Krankheitsbild wusste, erwies sich als viel zu nervös, um das Projekt zu stemmen, Schleiermacher dagegen kam als gelernter Herrnhuter ein stabiles Arbeitsethos zugute. Nicht zufällig gibt er den Dialog Phaidros als ältesten Dialog aus, auch deshalb, weil im Phaidros (und im siebten Brief, den Schlegel übrigens wie alle Briefe für unecht hielt) Platons Schriftkritik behandelt wird, denn Platon hielt die Schrift für unfähig, dem Leser bei Verständnisschwierigkeiten beizuspringen und inszenierte deshalb Dialoge, die eine ideale Gesprächsführung zur Einsichtgewinnung der Gesprächspartner anbot. Platons Schriftkritik und die symphilosophische Erregung durch die romantische Universalpoesie haben offenbar Schleiermacher zu ganz unterschiedlichen literarischen Darstellungsformen, nicht nur zu Dialogen, animiert: Monologe, Reden, Erzählungen,
Vgl. KGA I/2, 141– 156. Bekanntlich erhielt Karl Barth 1968 den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa. Vgl. Friedrich D.E. Schleiermacher: Das Leben Jesu. Vorlesungen an der Universität zu Berlin 1832 gehalten, Sämtliche Werke I/6, hg.v. K.H. Rütenik, Berlin 1864. Dazu Markus Schröder: Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums: Schleiermachers Wesensbestimmung der christlichen Religion, Tübingen 1996.
Schleiermachers ursprüngliche Einsicht. Über literarische Formen der Theologie
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Briefe. Weil Gattungen von der Interdependenz von Form und Inhalt zehren⁷, wird zu fragen sein, welche Gattungen Schleiermacher für seine Ziele jeweils folgerichtig auswählt.⁸ Mein Beitrag hat drei Teile. In einem ersten Teil will ich die ursprüngliche Einsicht Schleiermachers in den Monologen, dem Gründungsdokument einer individualistischen theologischen Ethik⁹, nach meiner Einschätzung der beste, der mutigste Text Schleiermachers, aufsuchen. Hier entscheidet sich zunächst alles, wer hier ungenau liest, vergibt die Chance zu einem Gespräch zwischen den noch heute unterschwellig herrschenden Denkschulen im Anschluss an die Gigantomachie zwischen Schleiermacher und Barth, die sich zu zwei manierierten Extremen entwickelt hat: hier eine konservativ-hermeneutische Theologie, die sich in einen grotesken Passivitätswahn¹⁰ hineingesteigert hat nach dem Motto: an Demut macht uns keiner etwas vor, hier eine postliberale, auf Schleiermacher sich berufende und mit dem fiebrigen Pathos der Freiheit sich schmückende Religionstheologie der Deutungsvirtuosität.¹¹ In einem zweiten Teil dient mir die Weihnachtsfeier als Schleiermachers milde verspäteter Beitrag zur Romantik, die sich teilweise eng an die Poetik von Novalis, bürgerlich Georg Philipp Friedrich von Hardenberg (1772– 1801), anlehnt, und von ihm den Gedanken übernimmt, das Fest sei Kernsymbol des Christentums. Im Anschluss
Gerade diese Interdependenz von Form und Inhalt ermöglicht auch das Spielen mit Gattungen und Formen, wobei Gattungen umgeprägt werden und eine andere Funktion erhalten. Z. B. Amos 5: ein parodistisches Leichenlied/Leichenklage. Vgl.: Gottfried Gabriel: Zwischen Logik und Literatur. Erkenntnisformen von Dichtung, Philosophie und Wissenschaft, Stuttgart 1991; Christiane Schildknecht: Philosophische Masken. Literarische Formen der Philosophie bei Platon, Descartes, Wolff und Lichtenberg, Stuttgart 1990; Gottfried Gabriel, Christiane Schildknecht (Hg.): Literarische Formen der Philosophie, Stuttgart 1990; Thomas Szlezák: Gespräche unter Ungleichen. Zur Struktur und Zielsetzung der platonischen Dialoge, in: ebd., 40 – 61; Jürgen Habermas: Exkurs zur Einebnung des Gattungsunterschieds zwischen Philosophie und Literatur, in: Ders.: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a.M. 1985, 219 – 247; Ders.: Philosophie und Wissenschaft als Literatur?, in: Ders.: Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a.M. 1988, 242– 263; Pierre Hadot: [Art.] Philosophie VI. Literarische Formen der Philosophie, in: HWPh 7 (1989), 848 – 858; Wolfgang Wieland: Platon und die Formen des Wissens, Göttingen 1982. Vgl. Hans-Joachim Birkner: Einleitung, in: Ders. (Hg.): F.D.E. Schleiermacher: Brouillon zur Ethik (1805/1806), Hamburg 1981, VII-XXVIII; hier VII. Vgl. Ingolf U. Dalferth: Umsonst: Eine Erinnerung an die kreative Passivität des Menschen, Tübingen 2011. Vgl. Ulrich Barth: Was ist Religion? Sinndeutung zwischen Erfahrung und Letztbegründung, in: Ders.: Religion in der Moderne, Tübingen 2003, 3 – 27. Dazu Dirk Evers: Neuere Tendenzen in der deutschsprachigen evangelischen Dogmatik, in: ThLZ 140 (2015), 3 – 22. Evers hat in seinem inventarisierenden Essay eine hermeneutische Theologie, die stark am Begriff der Widerfahrnis orientiert ist, von einer im Anschluss an Schleiermacher konzipierten Religionstheologie als „menschliche Selbstauslegung“ (10) abgehoben. Diese etwas grobe Skizzierung ist durchaus hilfreich, weil sie Einseitigkeiten markiert und somit den Blick für Mittelwege öffnet. Evers nimmt Themen auf, die vorgedacht wurden in dem Sammelband: Ingolf U. Dalferth, Hans Peter Grosshans (Hg.): Kritik der Religion. Zur Aktualität einer unerledigten philosophischen und theologischen Aufgabe, Tübingen 2006.
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an die Weihnachtsfeier wird auch die Frage zu klären sein, warum Schleiermacher zunehmend auf literarische oder poetische Formen in seinen Publikationen, durchaus nicht im Privaten, verzichtet hat. Verbirgt sich dahinter ein ausgefuchster Stufenplan der Bildung? Oder hat sich hier nur der Systemwille eines Ehrgeizigen durchgesetzt? Oder geht beides zusammen? Ein letzter Teil stellt Fragen an Schleiermacher. Endlich hat die Theologie es wieder zu einem auch in den Feuilletons der überregionalen Zeitungen wahrgenommenen Skandal gebracht. Der an der Humboldt-Universität lehrende Kollege Notger Slenczka hat die Frage nach der Bedeutung des Alten Testaments oder Ersten Testaments für die Theologie erneut gestellt und sich selbst in eine Ahnenreihe mit Schleiermacher gerückt, der bekanntlich nicht zu den ausgewiesenen Liebhabern des Alten Testaments gehörte – eine Schwäche, die neben seinem auch auf die Religionen angewandten Individualitätsansatz nicht zuletzt einem Christozentrismus geschuldet ist, den er, wenn auch aus anderen, spekulativen Gründen, mit Karl Barth teilt. Wer an dieser Stelle mit guten Gründen anders votiert, fordert zugleich eine gewaltige Umformung der Theologie, die die Alternative von Schleiermacher und Barth weit hinter sich lässt. Auf offene Türen zu hoffen, wäre naiv.
Eigentümlichkeit und Geselligkeit Die Gattung der Monologe¹², die Selbstgespräche, die Schleiermacher nach den Reden wählt, zählt zu den wichtigsten Sprachformen des okzidentalen Individualismus. Der Monolog wird bei Schleiermacher zu einer Sprachform mit psychopolitischer Sprengkraft, die gewaltige Energien freisetzt und die die bisherigen Denkgebäude und Institutionen in Ruinen verwandelt – Schleiermacher selbst hat nach 1806 alle Kraft aufwenden müssen, diese, von ihm selbst freigesetzte Energie abzuschöpfen, um aus den Ruinen Neues entstehen zu lassen. Als Gattungsvorbild dienten Schleiermacher einerseits die philosophischen Monologe: Descartes Meditationes de prima philosophia oder Fichtes Die Bestimmung des Menschen. Andererseits sieht Schleiermacher eine Verwandtschaft des Monologs mit den Confessiones etwa eines Augustins¹³, aber auch mit der Tagebuchkultur¹⁴ der Frommen im Lande, eines Rousseaus und Lavaters. Nicht
Ich zitiere die Monologe nach folgender Ausgabe und belege die Zitate direkt im Hauptteil: Friedrich D.E. Schleiermacher: Monologen nebst den Vorarbeiten. Kritische Ausgabe, hg.v. Friedrich Michael Schiele, erweitert u. durchgesehen von Hermann Mulert, Hamburg 31978. In einer Studie hat Hermann Detering die These aufgestellt, die Confessiones würden von Anselm von Canterbury, nicht von Augustin stammen: O du lieber Augustin. Falsche Bekenntnisse?, Aschaffenburg 2015. Vgl. Arno Dusini: Tagebuch. Möglichkeiten einer Gattung, München 2005, zu Schleiermacher 61 f.; vgl. auch Manfred Frank: Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und Textinterpretation nach Schleiermacher, Frankfurt a.M. 1977; Burkhard Meyer-Sickendiek: Der Schmerz im literarischen Tagebuch, in: Ders.: Affektpoetik. Eine Kulturgeschichte literarischer Emotionen, Würzburg 2005, 424–
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zufällig überschreibt Schleiermacher seinen zweiten Monolog mit dem Titel Prüfungen. Damit legitimiert er in begeisterten Jamben das,was ich seine „ursprüngliche Einsicht“ nenne, die ihm im geselligen Umgang an zwei Orten aufgegangen ist: die Idee der Menschheit als Privatlehrer im ehrwürdigen Hause des Reichsgrafen zu Dohna in Schlobitten, der Gedanke der Individualität im Kreis der Frühromantik. „Mit stolzer Freude“ schreibt Schleiermacher im zweiten Monolog, „denk ich noch der Zeit, da ich die Menschheit fand, und wußte, daß ich sie nie mehr verlieren würde.“ (27 f.) Diese Durchbruchserfahrung und neue Einsicht versprachlicht er doxologisch in jambischer Versform, also (griech.: iambos) vorwärtsdrängend, galoppierend und herausschleudernd, und erinnert damit an die Parrhesia¹⁵ der Antike: dem bedingungslosen, aber auch selbstbewussten Mut zur Wahrheit. Schleiermacher fährt fort, er habe diese Erfahrung „durch keine Tugendlehren und kein System der Weisen“ (28) gelernt, sondern „von innen kam die Offenbarung, […] das lange Suchen, dem nichts gelingen wollte, krönte ein heller Augenblick; es löste die dunklen Zweifel die Freiheit durch die Tat“ (28). Oder wie es später im Text heißt: „Im fremden Hause ging der Sinn mir auf für schönes gemeinschaftliches Dasein, ich sah, wie Freiheit erst veredelt und recht ge453; Walter Sparn: Wer schreibt meine Lebensgeschichte? Biographie, Autobiographie, Hagiographie und ihre Entstehungszusammenhänge, Gütersloh 1990. Vgl. Michel Foucault: Der Mut zur Wahrheit: Die Regierung des Selbst und der anderen II.Vorlesung am Collège de France 1983/84, aus dem Französischen von Jürgen Schröder, Berlin 2010; Foucault unterscheidet sehr präzise zwischen unterschiedlichen Ausprägungen der parrhesia in griechischen, jüdisch-hellenistischen, christlichen und nachchristlichen Kontexten. Im griechischen Kontext meint es „die Billigkeit, die allgemeine Nützlichkeit, die hier die Grundlage einer parrhesia sind, und zwar seitens einer Reihe von Personen, bei denen die Reinheit des Herzens, der Mut, der Seelenadel diese parrhesia ermöglichen.“ (418) Im jüdisch hellenistischen Kontext gibt es erste Modifikationen: „Zu dieser Zeit bezeichnet parrhesia nicht mehr bloß den Mut des einzelnen, der gewissermaßen allein gegenüber allen anderen die Wahrheit sagen muß, und wie es um das steht, was getan werden soll. Diese andere parrhesia, die sich hier abzeichnet, versteht sich als eine Art von Modalität des Verhältnisses zu Gott, eine volle und positive Modalität. Es geht um etwas wie die Öffnung des Herzens, die Transparenz der Seele, die sich dem Blick Gottes darbietet. […] Die parrhesia wird sich also, wenn Sie so wollen, nicht mehr auf der (horizontalen) Achse der Verhältnisse des einzelnen zu den anderen abspielen, auf der Achse dessen der den Mut gegenüber denen aufbringt, die sich irren. Die parrhesia ist nun auf der vertikalen Achse eines Verhältnisses zu Gott angeordnet, wo einerseits die Seele transparent ist und sich Gott gegenüber öffnet, und wo sie sich andererseits zu ihm erhebt.“ (419) Bei Philon von Alexandrien rückt die parrhesia an das Gebet heran. In anderen Texten „erscheint die parrhesia als eine Eigenschaft, eine Qualität, genauer noch als eine Gabe Gottes.“ (420) Und in den Sprüchen (in der Septuaginta) wird der Ruf der Weisheit als parrhesia verstanden: „Es ist die parrhesia Gottes, die überströmende Gegenwart Gottes, gewissermaßen seine übervolle Gegenwart. […] Es handelt sich nicht mehr um den Mut des einsamen Mannes gegenüber den anderen, die sich irren, sondern um die Seligkeit, die Glückseligkeit des Menschen, der sich Gott zugewandt hat.“ (412) In den neutestamentlichen Texten wird die parrhesia als Zuversicht und Vertrauen auf Gott gedeutet, und als apostolische Tugend, als „mutige Haltung dessen, der das Evangelium predigt.“ (424) In der Folgezeit wird der „Märtyrer der Parrhesiast schlechthin.“ (426) In den Jahrhunderten danach kommt es zu einer markanten Verschiebung, denn jetzt wird parrhesia als Vertrauen durch „zitternden Gehorsam“ (428) ersetzt. Parrhesia wird zu einem „tadelswerte(n) Verhalten der Anmaßung“ (430), wird zu einem „Mangel an Ehrfurcht“ (432).
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staltet die zarten Geheimnisse der Menschheit“. (71) Diese Entdeckungserfahrung der Menschheit, was also allen Menschen als individuell bildsamen Wesen gemein ist¹⁶, feiert Schleiermacher mit dem Pathos der Freiheit: „Ein einziger freier Entschluß gehört dazu, ein Mensch zu sein, wer den einmal gefaßt, wird’s immer bleiben; wer aufhört es zu sein, ist’s nie gewesen.“ (27) Die Entdeckung der Menschheit, die zum Spitzenbegriff der Sittlichkeit erklärt wird, ist freilich nur der eine von zwei Schritten. Erst in der Denkatmosphäre der romantisch bewegten Freunde in Berlin entdeckt Schleiermacher den Gedanken der Individualität in voller Schärfe – in voller Schärfe, denn die Frage des Verhältnisses von Allgemeinheit und Besonderheit hatte Schleiermacher in Spinozastudien und in der Arbeit an der Platonübersetzung (Parmenides, Sophistes¹⁷) bereits im ontologischen Fragehorizont vorgedacht, jetzt stellt sich ihm das Problem bewusstseinstheoretisch als Verhältnis von Menschheit und individueller Darstellung der Menschheit. In diesem Text legt Schleiermacher allen Nachdruck auf die Individualität und feiert sie als „etwas Höheres Sittliches“ (39) im Vergleich zur allgemeinen Humanität. Diese selbstbewusste Nullpunkt-Geste bedarf freilich einer Klärung, weil die Rede von der ‚inneren Offenbarung‘ den Begegnungscharakter abzuschatten scheint, denn die ursprüngliche Einsicht ist eine Sicht, die mehr ist als eine Beobachtung, vielmehr eine Anschauung lebendiger Menschen, weil die Menschheit in Gestalt der Grafenfamilie und die individuelle Darstellung der Menschheit in Gestalt der Freunde Friedrich Michael Schiele schlägt in seiner Einleitung zu den Monolgen vor: „Hier nicht = Gesamtheit der Menschen, sondern humanitas, das, was das (höhere, ihn vom Tier unterscheidende) Wesen des Menschen ausmacht“; Friedrich Michael Schiele: Einleitung: Die Entstehung der Monologen, in: Schleiermacher: Monologen (Anm. 12),XIV-XXXV, XVI, Anm. 1. Schleiermacher hat vor allem den Sophistes besonders geschätzt, weil erst der Sophistes „das erste in seiner Art vollständige Bild des Mannes selbst“ bietet. Friedrich D.E. Schleiermacher: Der Sophist, in: Ders.: Über die Philosophie Platons. Geschichte der Philosophie.Vorlesungen über Sokrates und Platon (zwischen 1819 und 1823). Die Einleitungen zur Übersetzung des Platon (1804– 1828), hg. u. eingeleitet v. Peter M. Steiner, Hamburg 1996, 244– 260, 251. Dazu Gunter Scholz: Schleiermacher und die platonische Ideenlehre, in: Victor Selge (Hg.): Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984, Schleiermacher-Archiv Bd. 1, Teilband 2, Berlin 1985, 849 – 871. Schleiermachers Platon-Interpretation inventarisiert Hans-Georg Gadamer: Schleiermacher als Platoniker, in: Ders.: Kleine Schriften III: Idee und Sprache, Tübingen 1972, 141– 149, 148: „Die Auszeichnung, die Platon in der Einleitung zur Kritik aller bisherigen Sittenlehre durch Schleiermacher erfährt, sofern er (neben Spinoza) als einziger nach dem Einheitsgrund gefragt habe, der Physik und Ethik zusammenschließe, und in der Ableitung der Idee der absoluten Einheit bzw. der Gottheit deren Primat anerkannt habe, liegt diesem Umdenken der platonischen Dialektik in eine Individualmetaphysik zugrunde und ebenso seine Kritik an der Postulatenlehre der ‚Kritik der praktischen Vernunft‘. Schleiermacher denkt die Welt als ein Kunstwerk der Gottheit, und er meint das bei Platon zu finden,wobei er sich wohl vor allem auf den inneren sachlichen Zusammenhang zwischen der Schrift vom ‚Staate‘ und dem ‚Timaios‘ beruft. Aber ausdrücklich interpretiert er damit die Ideen als die Gedanken der Gottheit. […] Es ist aber klar, wie erst diese Umdeutung es Schleiermacher erlaubt, in der Schöpfung und damit in jeder Individualität die Darstellung der Gottheit zu denken. Insofern ist seine Umdeutung der platonischen Dialektik auf die Anerkennung des Individuellen hin kein zufälliger Anachronismus.“
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Schlegel und Novalis und vor allem in der Gestalt seiner Freundin Jette Herz an ihm handelt, insofern ruht der Freiheitsentschluss selbstredend auf einer Passivitätserfahrung auf, die Selbstanschauung ist eine Reaktion auf die Anschauung¹⁸ geselligen Lebens in unterschiedlichen Ausprägungen, wird aber in der inneren Erfahrung verarbeitet.¹⁹ Und die Idee, jeder Mensch habe die Menschheit ganz individuell darzustellen, ist ein versteckter Imperativ. Ganz ohne Imperative wie diesen: Stelle in deinem Leben die Menschheit individuell dar!, kommt auch eine deskriptiv verfahrende Ethik nicht aus. Radikal neu freilich ist die Idee, diesen Imperativ nicht an einer allgemeinen Bestimmung zu orientieren. Gegen Fichte, dessen Schrift Die Bestimmung des Menschen Schleiermacher mit einer zwischen den Zeilen enorm giftigen, nicht ganz fairen Rezension bedachte, weil er die Gattung betreffend ihm sehr nahe ist²⁰, verzichtet er auf die Rede von einer Bestimmung des Menschen, die die radikale und kontingente Individualität dem unendlichen allgemeinen Humanitätsideal unterordnet.²¹ Diese Neuausrichtung ist deshalb so revolutionär, weil sie in ethischen (und religiösen) Fragen davor schützt, eine normative Bestimmung des Menschen auszugeben, an der jeder Mensch notorisch scheitert oder zumindest zu scheitern droht. Dieses Scheitern passte freilich vielen pathologisch sündenfixierten theologischen Entwürfen nach Schleiermacher herrlich in den Kram, weil der Ehrgeiz befeuert wurde, die Allgemeinheit der Sünde auszuweisen, indem man Anthropologien konstruierte, die das Scheitern immer schon garantierten. Sünde wurde prompt als quasi unvermeidbare Verfehlung einer allgemeinen Lebensbestimmung ausgegeben. Der Der Begriff der Anschauung, ein Spitzenbegriff der Reden, ist in späteren Auflagen herausredigiert worden, weil der Begriff zu wenig Passivitätsschwere vermittelt. Dazu: Friedrich Wilhelm Graf: Ursprüngliches Gefühl unmittelbarer Koinzidenz des Differenten. Zur Modifikation des Religionsbegriffs in den verschiedenen Auflagen von Schleiermacher ‚Reden über die Religion‘, in: ZThK 75 (1978), 147– 186.Vgl. auch Ulrich Barth: Was heißt ‚Anschauung des Universums‘? Spinozanische Hintergründe von Schleiermachers Jugendschrift, in: Ders: Kritischer Religionsdiskurs.Tübingen 2014, 222– 244, 225: „Der Gottesgedanke steht für die Einheitsbasis sämtlicher Tätigkeiten des Geistes, die ihrerseits in der vorprädikativen Einheit des Gefühls zu mentaler Darstellung gelangen. Die im Weltbegriff enthaltene Totalitätsidee hingegen bildet das regulative Prinzip der auf systematische Vollständigkeit zielenden Wissenskonstruktion. Das Wissen selbst aber gelangt in der Anschauung, nun verstanden als Balance von begrifflich-intellektueller und sinnlich rezeptiver Erkenntnisfunktion, zu seiner operationalen Vollendungsgestalt.“ Ulrich Barth legt allen Wert darauf, Schleiermacher nicht unter der Rubrik eines „anthropologische(n) Religionskonzept(s)“ zu verrechnen, weil alle Beschreibungen menschlicher Gemütszustände aus der inneren Erfahrung resultieren, nicht aus dem objektiven Bewusstsein. Ulrich Barth: Subjektphilosophie, Kulturtheorie und Religionswissenschaft. Kritische Anfragen an Schleiermachers Theologieprogramm, in: Ders.: Kritischer Religionsdiskurs (Anm. 18), 293 – 320, 297. Friedrich D.E. Schleiermacher: Rezension von Johann Gottlieb Fichte: Die Bestimmung des Menschen [1800], in: KGA I/3, 246 – 248. Vgl. Kurt Nowak: Schleiermacher. Leben,Werk und Wirkung, Göttingen 2001, 92: „Den Reigen seiner kritischen Vernichtungen im ‚Athenaeum‘ krönte Schleiermacher mit der Rezension von Fichtes ‚Bestimmung des Menschen‘. Die Frage des Menschen an sich selber: ‚Wer bin ich?‘ war nicht zu lösen, wenn sich das Individuum als Werkzeug des ‚unendlichen Vernunftzwecks‘ betrachtete. Dieser Ansatz führte zum Untergang des Individuums in einem abstrakten Allgemeinen.“
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dann daraus resultierende Heilswille, der sich einer zutiefst pessimistischen Anthropologie verdankt, ist eine bemerkenswerte Self-fulfilling-prophecy-Theorie. Von Sünde in diesem Sinn ist in den Monologen nie die Rede, im Gegenteil, Schleiermacher bietet nichts weniger als eine Umwidmung der bisherigen frommen Tagebuchliteratur, die bekanntlich stilistisch gepresst von Sündenzerknirschtheit redet. Seine Durchbruchserfahrung ist sehr viel optimistischer getönt, der Pietismus bekommt jetzt knallige Farben. Schleiermacher favorisiert – bei Platon (Phaidros) und vielleicht bei Goethe abgeschaut – eine organologische Metaphorik, will alles Juridische, alles, was nach Pflichten und Regeln riecht, auch die juridische Rede vom Gerichtshof des Gewissens, ausscheiden. Mit Pathos schreibt Schleiermacher: „Eitler Tand ists immer und leeres Beginnen, im Reich der Freiheit Regeln geben und Versuche machen.“ (27) Beschränkt ist die Freiheit nur durch die erste Wahl des Urbilds des eigenen Lebens: „Unmöglichkeit liegt mir nur in der Beschränkung meiner Natur durch meiner Freiheit erste That, nur was ich aufgegeben als ich bestimmte, wer ich werden wollte, das nur kann ich nicht. […] Immer mehr zu werden, was ich bin, das ist mein einziger Wille; jede Handlung ist eine Entwicklung dieses Einen Willens.“ (68 f.) Die Kunst der Selbstbildung²² soll sich organologisch entfalten und immer klarer zur Darstellung kommen. Diese ursprüngliche Einsicht hat sich auch auf das Projekt der Platonübersetzung übertragen oder lag bereits, das ist nicht zu entscheiden, der Idee der Platonübersetzung, wie sie Schlegel vorschwebte und von Schleiermacher mit nur geringen Korrekturen ausgeführt wurde, zugrunde, nämlich eine chronologische Anordnung der Dialoge, die der gedanklichen Entwicklung der Dialoge und damit der organologischen Selbstbildung Platons folgt.²³ Der Schlüsselbegriff der Monologen heißt Eigentümlichkeit, ein Begriff, den Schleiermacher wohl von Novalis übernommen hat. Die individuelle Darstellung der Menschheit wird nach Schleiermacher nur erreicht durch das romantische Zauberwort der Phantasie, um sich in „tausend Bildungen“ (32) hineinzudenken. Sein Bildungsverständnis ist auf Austausch, auf ein glückliches Verhältnis von „Geben und Empfangen“ (38), auf Geselligkeit und Mitteilung im „Reich der Geister“ geeicht: „(B)eim innern Denken, beim Anschauen, beim Aneignen des Fremden bedarf ich eines geliebten Wesens Gegenwart, dass gleich an die innere That sich reihe die Mittheilung.“ (36) Die neue Sitte, die Schleiermacher propagiert, besteht in der Freiheit sich von alten, petrifizierten Regeln und Gesetzen zu lösen. Das Band zwischen den Individuen
Zum Begriff der Bildung bei Schleiermacher vgl. Matthias Riemer: Bildung und Christentum, Göttingen 1989, 14– 71. Jan Rohls hat in einem Aufsatz genau inventarisiert, wie stark Schleiermacher der ursprünglichen Intention Schlegels gefolgt ist: Jan Rohls: Schleiermachers Platon, in: Niels Jørgen Cappelørn: Schleiermacher und Kierkegaard. Subjektivität und Wahrheit/Subjectivity and Truth, Akten des Schleiermacher-Kierkegaard-Kongresses in Kopenhagen, Oktober 2003, Kierkegaard Studies 11/ Schleiermacher-Archiv Bd. 21, Berlin/New York 2006, 709 – 732.
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knüpft die in der Romantik gefeierte Liebe²⁴, die einerseits die Bildsamkeit begleitet, andererseits jede individuelle Darstellung toleriert: „Wo ich Anlage merke zur Eigentümlichkeit, weil Sinn und Liebe die hohen Bürgen da sind, da ist für mich ein Gegenstand der Liebe.“ (44) Erkennen werden sich die „Weisen und Guten“ (65), wie Schleiermacher sagt, an der Melodie ihrer Rede, am hohen Ton: „Es bilde nur jeder seine Sprache sich zum Eigenthum und zum kunstreichen Ganzen.“ (65)²⁵ Dieser Ton ist der Ton der Parrhesia, der Mut zur freien Rede, die Feier des Neuen und der Kreativität, die sich geliebten Wesen mitteilt: „Schäme dich fremder Meinung zu folgen in dem was das Heiligste ist!“ (94) Und man darf ergänzen: „Schäme dich eine Sprache zu sprechen, die toten Buchstaben folgt.“ Spätmodern, im Jargon der achtziger Jahre gesprochen: Werde dein ganz eigener Liebes-Freak.²⁶ Weil aber nicht jede seiner Mitteilung brieflich überliefert ist, bietet Schleiermachers Bildungsbegriff ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für Generationen, denn Ideengeschichtler und Problemgeschichtler können sich bis zur Materialermüdung daran abarbeiten, was Schleiermacher mutmaßlich aus jeder Begegnung anverwandelt hat: aus der Begegnung mit Platon natürlich, allen philosophischen Fußnoten zu Platon, und vor allem: tout Berlin. Wir dürfen in ewiger Jugend und des Lebens Fülle noch hunderte von Dissertationen erwarten, die sich auf Spurensuche begeben. Die literarische Form der Monologe ist Schleiermachers Ansinnen nicht äußerlich, weil sie zunächst der autobiographischen Selbstklärung dient, die gleichwohl paradigmatischen Charakter bekommt und in der Mitteilung auf nichts weniger drängt als eine revolutionär neue, von juridischen Beschränkungen freie Form der Bestimmung des Menschen zur geselligen Selbstbestimmung. Insofern bringen die Monologen etwas Objektives zur Darstellung: eine neue Anthropologie und Ethik der Individualität, die allerdings nur, weil es um Eigentümlichkeit geht, exemplarisch vorgeführt werden kann. Im hohen Ton, der gleichermaßen unterhalten, die Leserinnen aber nicht zerstreuen, sondern vorwärtstreiben will²⁷, wird an die Leserin und den Leser appelliert,
Dazu Hermann Timm: Die heilige Revolution. Das religiöse Totalitätskonzept der Frühromantik, Frankfurt a.M. 1978. Auch hier dürfte Novalis Pate gestanden haben: „Sprache ist Ausdruck des Geistes“ (Novalis: Schriften 2. Band: Das philosophische Werk I, Die Werke Friedrich von Hardenberg, hg.v. Paul Kluckhohn u. Richard Samuel, Stuttgart 21960, 588). Vgl. Kurt Nowak: Schleiermacher und die Frühromantik. Eine literaturgeschichtliche Studie zum romantischen Religionsverständnis und Menschenbild am Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland, Göttingen 1986. Der Gedanke hat überlebt, denn dass ein liberaler Individualismus einer Zähmung durch eine ethische Instanz, durch Liebe und Hingabe, bedarf, ist auch die Überzeugung aller Romane von Michel Houellebecq. Dazu: Bernard Maris: Michel Houellebecq. Eine Poetik am Ende des Kapitalismus, Köln 2015. Hilfreich zum Verständnis der Gattungswahl von Schleiermacher ist eine zeitgenössische Stimme über die Gattung „philosophische Monologe“, die zwar auf Fichtes „Bestimmung des Menschen“ bezogen ist, aber mutatis mutandi auch für Schleiermacher gilt: A.F. Bernhardi: [Rez.] Die Bestimmung des Menschen. Dargestellt von Johann Gottlieb Fichte (1800), in: Berlinisches Archiv der Zeit und ihres
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die Reflexion selbst zu vollziehen, weil andernfalls die vermittelten Inhalte bloße Beteuerungen bleiben.²⁸ Die Gattung der Monologe korrespondiert dem Inhalt insofern, als die zentralen Begriffe der Monologe die Eigentümlichkeit und die Individualität sind. Keine andere Gattung kann Eigentümlichkeit besser inszenieren als Monologe. Dabei ist der Monolog stets Selbstgespräch und Selbstbildung: Die Monologe wenden sich „gemäß ihrer Gattung, an ihn selbst“²⁹. Doch ist dies noch zu kurz gegriffen. Allgemein galt im 19. Jahrhundert der Monolog als „lyrische Poesie, denn zu sich selbst spricht ein Mensch nur dann, wenn er innerlich bewegt ist. Der Monolog ist also subjektive Poesie und unterscheidet sich von der Lyrik nur durch die Abwesenheit des Gesangartigen, indem er nur Rede bleibt und nicht gesungen, sondern gesprochen werden will. […] (V)on Rechtswegen darf ein Monolog nur dann erfolgen, wenn er der betreffenden Person innerlich nothwendig ist, indem sie sich sammelt, über sich selbst klar werden, einen Beschluß fassen will, oder wenn die innere Aufgeregtheit wirklich so groß ist, daß das volle Herz in Worten überströmen muß“³⁰. Dies entspricht Schleiermachers inhaltlichen Ausführungen zum Freiheitsentschluss, Mensch zu werden. Insofern gebraucht Schleiermacher genau jene Form, die für einen Beschluss/Entschluss (27) reserviert ist – und damit ist immer eine Konversion verbunden, also wiederum eine schöne Parallele zur pietistischen BekenntnisGattung. Hier zeigt sich die hohe Interdependenz von Form und Inhalt. Markant, also eigentümlich an Schleiermachers Umdeutung der Gattung Selbstgespräche ist die Drift weg vom Sündenbegriff. Im Reich der Geister und im gewählten Idealbild gibt es keine Sünde. Sie taucht bei Schleiermacher als Mangel erst auf, wenn die „äußere Persönlichkeit“ (31) und damit die Leiblichkeit ins Spiel kommt. Hier
Geschmacks 1 (1800), Heft 3, 204– 211, 205 f.: „Es war gewiß keine geringe Schwierigkeit die nothwendige Form aufzufinden […]. Eine philosophische mußte es sein, dies forderte der Inhalt, und eine poetische untergeordnete war eben so nöthig als Vehikel der Darstellung populärer Wahrheiten. Eine rein-philosophische, nach der mathematischen hinstrebende, würde durch ihren strengen Ernst, durch ihr Ausschließen alles dessen was auf die Imagination Bezug hat, den Leser abschrecken; eine zu poetische gegen die Absicht des Verfassers, den Blick anders gelenkt, den Leser zerstreut haben. Beides aber wurde vermieden durch die Form des philosophischen Monologs. Das Nachdenken und besonders das Nachdenken über uns selbst, wie könnte es besser dargestellt werden, als durch eine Form, welche alles Belehren von außen abgeschnitten, und das Innere selbst als Stoff des Nachdenkens aufstellt. Dem Monologe ist ferner die logische Entwickelung der Gedanken am natürlichsten. Im Dialog wirkt ein zweites vernünftiges Wesen auf uns ein und dringt uns seine Schlüsse auf; und indem wir mit und durch dasselbe eine Reihe von Ideen durchlaufen, sind wir an dasselbe gefesselt, opfern wir einen Theil unserer Eigenthümlichkeit auf, um in eine fremde einzudringen.“ Siehe Ulrich Barth: Das Individualitätskonzept der ‚Monologen‘. Schleiermachers ethischer Beitrag zur Romantik, in: Ders.: Aufgeklärter Individualismus, Tübingen 2004, 291– 327, 297: „Die literarische Form des Monologs hat die Funktion, paradigmatische Selbstdeutung in idealtypischer Form zu inszenieren und zu vermitteln.“ Kristin Junga: Wissen – Glauben – Bilden. Ein bildungsphilosophischer Blick auf Kant, Schleiermacher und Wilhelm Humboldt, München 2011, 158. August Knüttell: Die Dichtkunst und ihre Gattungen. Ihrem Wesen nach dargestellt und durch eine nach Dichtungsarten geordnete Mustersammlung erläutert, Dritte, vermehrte Auflage 1863, 231.
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überwintert eine wohl von Platon geerbte Leibfeindlichkeit, die, wie wir gleich sehen werden, Schleiermachers Theologie vor eine letztlich unlösbare Aufgabe stellt. Die Idee der Toleranz, die Schonung der Eigentümlichkeit des Anderen, die man nicht hoch genug rühmen kann, hat Schleiermacher auch im Privaten durchgehalten, selbst dann noch, als seine Ehefrau eine Freundin ins Haus holte, die als Medium einen zweifelhaften Ruf genoss. Im Hause Schleiermachers wurden auch die Kinder von der Mutter dazu angehalten, den abendlichen Séancen beizuwohnen, Schleiermacher flüchtete dann an seinen Schreibtisch. Grausam schlechte Ehen sind bekanntlich häufig der Anlass zur ausufernden Buchproduktion. Am Begriff der Eigentümlichkeit scheitert letztlich auch die erotische Beziehung zwischen Schleiermacher und der Herz. Eine der geliebten Wesen war für Schleiermacher fraglos Jette Herz³¹, die in Berlin einen der großen Salons führte, in dem jeder, der etwas auf sich hielt, verkehrte. Diese Herz, die als schönste Frau Berlins galt und Schleiermacher um Haupteslänge überragte, hat offenbar nach dem Tode ihres Mannes sehr darauf gehofft, Schleiermacher würde sich erklären, es also nicht bei einer platonischen Liebe belassen. Er erklärte sich per Postillion anders als erwartet, nachdem Jette Herz ihn in einem nahezu verzweifelten Brief, der nicht erhalten ist, ganz allgemein fragte, warum die Männer sie nicht suchen. Die Hoffnung wird zunichte gemacht, indem Schleiermacher ihr vorhält, es an Eigentümlichkeit auf allen Ebenen, dem Geistigen aber auch dem Sinnlichen fehlen zu lassen. „Erstlich, liebste Jette, suchen sie (die Männer, K.H.) dich ja, und zweitens geht das in Männer-Mysterien hinein, die du nicht zu kennen scheinst. Weil du mich aber ernstlich fragst, so will ich dich auch gar nicht schonen, sondern dir vorrechnen, dass du entsetzlich viele Fehler hast oder eigentlich nur einen, geistig und körperlich. Wenn die Männer auch nicht allein ihre Sinnlichkeit befriedigen wollen, so soll diese doch immer mit affiziert werden, das ist, was ich zwar an ihnen hasse, aber es ist doch so. Nun bist du freilich sehr schön, aber ich möchte sagen, du bist zu schön, du bist zu imponierend und zu wenig pikant, es ist nichts an dir, was ein bisschen liederlich aussähe, und das ist notwendig für die Anziehungskraft der Männer. Auch dein Imposantes ist zu passiv; es frägt gar nicht: Wollt ihr nicht niederknien allesamt? Sondern es sagt nur ganz gelassen: Ich will doch sehen, was ihr mit mir machen wollt. Ebenso kläglich steht es um deinen Geist, Jette. Du bist nicht recht witzig, nicht recht schalkhaft, nicht recht herrschsüchtig – kurz, die anziehende geistliche Sinnlichkeit kommt auch zu kurz, und du wirst dich mit all deinem Charakter, deinem Verstand und deiner Schönheit mit ein paar so treuen Hunden begnügen müssen wie Alexander (zu Dohna, K.H.) und mir.“³² Jette Herz lebte, das zeigen auch ihre wenigen autobiographischen Texte³³,
Klaas Huizing: Frau Jette Herz. Roman, München 2009. Schreiben Schleiermachers an Henriette Herz, vom 15.11. 1802, in: Friedrich D.E. Schleiermacher: Briefwechsel 1802– 1803 (Briefe 1246 – 1540), KGA V/6, hg.v. Andreas Arndt u. Wolfgang Virmond, Berlin/New York 2005, Nr. 1379, 201 f. Siehe auch Henriette Herz: Schleiermacher und seine Lieben. Nach Originalbriefen der Henriette Herz, Magdeburg 1910; Heinrich Meisner (Hg.): Schleiermacher als Mensch. 1. Sein Werden. Familien- und Freundesbriefe 1783 bis 1804, Gotha 1922; 2. Sein Wirken 1804 bis
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nicht im vorwärtsstrebenden Jambus. Warum allerdings Jette Herz nach diesem Brief noch mit Schleiermacher verkehrte, ist mir bis heute schleierhaft, denn Schleiermacher lässt es hier an Schonung der Eigentümlichkeit mangeln. Jette Herz musste in späten Jahren sogar erleben, wieviel eigentümlicher Friedrich Schleiermacher die kleine und sichtbar quirlige Bettina von Arnim empfand.
Religiöse Eigentümlichkeit Schleiermacher hat seine Entdeckung der Eigentümlichkeit nicht nur auf die Ethik angewandt, sondern auch auf die Religion bezogen – mit, wie noch zu zeigen, problematischen Folgen. Das Eigentümliche des Christentums entdeckt Schleiermacher um 1806 im Fest der Weihnacht. Christentum ist, zumindest auf den ersten Blick, Weihnachtschristentum. Gattungsspezifisch ist der Text der „Weihnachtsfeier“ , der davon erzählt, wie befreundete Familien gemeinsam Weihnachten verbringen und sich darüber verständigen, was für sie das Eigentümliche des Weihnachtsfestes ausmacht, ein romantisches Gesamtkunstwerk, denn es versammelt Rahmenerzählung, Dialoge, novellistische Erzählungen, Reden³⁴, die, wie der Untertitel verrät, an Platons Symposion gemahnen. Der Herausgeber der Weihnachtsfeier in der Gesamtausgabe, Hermann Patsch, hat deshalb als hübschen Begriff „Dialognovelle“³⁵ vorgeschlagen. Die Weihnachtsfeier bietet eine Vielzahl von Gattungen und ist daher als universalpoetische Form zu charakterisieren. Dementsprechend verfolgt auch die Weihnachtsfeier die allgemeine Funktion der universalpoetischen Form: Das ist: Symphilosophie und Synästhetik. Beide dienen zugleich der Poetisierung der Welt. Und obwohl Dialoge und Reden bestimmende Formen in der „Weihnachtsfeier“ sind, hat
1834, Gotha 1923.Vgl. auch von Schleiermacher die frühe, ironisch gebrochene Meinung aus der „Idee zu einem Katechismus der Vernunft für edle Frauen – Die zehn Gebote. 1) Du sollst keinen Geliebten haben neben ihm: aber du sollst Freundin seyn können, ohne in das Kolorit der Liebe zu spielen und zu kokettiren oder anzubeten.“ Friedrich D.E. Schleiermacher: Fragmente [Athenaeum 1798], in: KGA I/2, 153. Henriette Herz in Erinnerungen, Briefen und Zeugnissen, hg. von Rainer Schmitz, Leipzig/Weimar 1984. Franz Christ hat deutlich machen können, wie Schleiermacher durch die Stufenfolge von Erzählung und Reden das platonische Verhältnis von Mythos und Logos zur Darstellung bringt. Franz Christ: Schleiermacher zum Verhältnis von Mythos und Logos bei Platon, in: Selge: Schleiermacher-Kongreß (Anm. 17), 837– 848. Hermann Patsch: Einleitung des Bandherausgebers. Historische Einführung, in: Friedrich D.E. Schleiermacher: Schriften aus der Hallenser Zeit 1804– 1807, hg.v. Hermann Patsch, KGA I/5, Berlin/ New York 1995, VIII-CXXXII, L; Ders.: Alle Menschen sind Künstler. Friedrich Schleiermachers poetischen Versuche, Schleiermacher-Archiv 2, Berlin/New York 1986; Ders.: Die esoterische Kommunikation der ‚Weihnachtsfeier‘. Über Anspielungen und Zitate, in: Ruth Drucilla Richardson (Hg.): Schleiermacher in Context. Papers from the 1988 International Symposium on Schleiermacher at Herrnhut, the German Democratic Republik, Schleiermacher: Studies and Translations 6, Lewiston u. a. 1991, 132– 156.
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sich Schleiermacher nicht für die rein dialogische Form³⁶ entschieden. Ein bestimmender Grund für die universalpoetische Form liegt im Stoff/Inhalt selbst begründet. Das Thema „Weihnachtsfeier“ sperrt sich gegen eine rein dialogische oder oratorische Form. Will ein Autor die Weihnachtsfeier darstellen, so ist er gezwungen, die bestimmende Atmosphäre und Stimmung zu inszenieren. Stimmung und Atmosphäre lassen sich aber literarisch am besten einfangen, wenn erzählerische Elemente, also bilderhaltige und -erzeugende Formelemente dargeboten werden: „Der freundliche Saal war festlich geschmückt“ (43) heißt es gleich am Anfang. Das Atmosphärische ist nach Gernot Böhme „etwas zwischen Subjekt und Objekt […], nämlich ihre gemeinsame Wirklichkeit. Sie werden erfahren in affektiver Betroffenheit“. Atmosphären sind „quasi-objektive Gefühle“³⁷. Schleiermacher erzeugt oder inszeniert also mit seinem Formexperiment eine bestimmte Wirklichkeit, die es erlaubt, sowohl das kognitiv-vernünftige wie auch das affektiv-sinnliche des Weihnachtsfestes einzufangen. Die Erzeugung einer Atmosphäre ermöglicht es ein Objekt ganzheitlich und umfassend darzustellen, ohne dass die Einzelglieder dabei ihre Eigentümlichkeit verlieren. Es wird mithin Gemeinschaft dargestellt. Schleiermacher selbst hat die Arbeit als Kunstwerk verstanden, war aber etwas erschrocken darüber, dass die Eigentümlichkeit seines Stils bei seinen Freunden, die er mit einem anonymen Sonderdruck bedachte, nicht sofort erkannt wurde. Die Rezensionen blieben, mit Ausnahme einer gespreizten, aber positiven Besprechung durch Schelling, der sich im Text erkannt glaubte, zurückhaltend. Hinter vorgehaltener Hand wurde im Freundeskreis eher über die Kunstfertigkeit gemäkelt – ich finde zu Unrecht. Fraglos gelingt es Schleiermacher die Festlichkeit von Weihnachten zu inszenieren, denn man kann die Weihnachtsfeier im Sommerurlaub am Strand lesen und erlebt doch Weihnachten, allenfalls die Personenzeichnung der Frauen zeigt nicht immer die angedachte Eigentümlichkeit. Die drei markanten Reden sind sichtbar der Produktionsästhetik von Platon, wie man eine Rede aufbauen muss, gefolgt: „Aber das wirst du doch zugeben, denke ich: dass jede Rede wie ein Lebewesen organisch aufgebaut sein und ihren eigenen Leib haben muss, so dass sie weder ohne Kopf noch ohne Füße ist, sondern Mitte und Enden hat, die so geschrieben sind, dass sie zueinander und zu dem Ganzen in einem passenden Verhältnis stehen.“ (Phaidros 264c) Schleiermachers Weihnachtsfeier, so die These, ist der späte Höhepunkt der frühromantischen Universalpoesie und atmet an vielen Stellen den Geist von Novalis³⁸, der das Wesen des Romans als weihnachtlichen Verzauberungsstab beschreibt: „Ein Roman muß durch und durch Poesie seyn. Poesie ist nämlich, wie die Philosophie, eine harmonische Stimmung unsers Gemüths, wo sich alles verschönert, wo jedes Ding seine gehörige Ansicht – alles seine passende Begleitung und Umgebung Die rein dialogische Form intendiert Bildungs- und Erkenntnisfortschritte mit dem Gewichten von Argument und Gegenargument. Dieser Bildungs- und Erkenntnisfortschritt ist aber nicht Inhalt der Festlichkeit. Gernot Böhme: Anmutungen. Über das Atmosphärische, Ostfildern 1998, 8 f. Dazu sehr erhellend: Nowak: Schleiermacher (Anm. 25).
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findet. Es scheint in einem ächt poetischen Buche, alles so natürlich – und doch so wunderbar – Man glaubt es könne nichts anders seyn, als habe man nur bisher in der Welt geschlummert – und gehe einem nun erst der recht Sinn für die Welt auf. Alle Erinnerung und Ahndung scheint aus eben dieser Quelle zu seyn – So auch diejenige Gegenwart, wo man in Illusion gefangen – einzelne Stunden, wo man gleichsam in allen Gegenständen, die man betrachtet, steckt und die unendlichen, unbegreiflichen gleichzeitigen Empfindungen eines zusammenstimmenden Plurals fühlt.“³⁹ Wenn Schleiermacher in seinem romantischen Kurzroman sich scheinbar überlang über die Geschenke – ohne viele exakt zu nennen – auslässt, dann geht es auch um diese romantische Verwandlung von Alltagsgegenständen, die als „Wechselgeschenke“ (62) eine „reine Darstellung der religiösen Freude“ (62) sind. Einer der Spitzensätze von Novalis lautet: „Ein Kind ist eine sichtbargewordene Liebe“⁴⁰. Die ersten Bögen der Weihnachtsfeier sind nichts anderes als Erzählungen oder besser: Novellen zu diesem Thema⁴¹ und bilden den Hintergrund für die im engeren Sinne theologischen Reden der Männer. Aufgabe der Kunst im romantischen Sinne ist es, erfahrbar zu machen, wie die Welt sein sollte, nicht als Gegenmodell – das wäre Schwärmerei – sondern als Verwandlung.⁴² „Die Welt muss romantisiert werden. So findet man den urspr(ünglichen) Sinn wieder. Romantisieren ist nichts, als eine qualit(ative) Potenzirung. Das niedre Selbst wird mit einem bessern Selbst in dieser Operation identificirt.“ (II, 545) Nicht wie die Welt ist, sondern wie die Welt sein sollte, kommt zur Darstellung. Novalis wählt dafür bekanntlich gerne das Märchen (also den Mythos) oder den Traum, aber an erster Stelle doch das Fest, das den Alltag verflüssigt, eine Pause einlegt⁴³ und das romantische Band der Liebe spürbar werden lässt. In der
Novalis: Schriften 3. Band: Das philosophische Werk II, Die Werke Friedrich von Hardenberg, hg.v. Paul Kluckhohn u. Richard Samuel, Stuttgart 21960, 558 (Nr. 21). Novalis: Schriften 3. Band (Anm. 39), 253. Die Erzählungen der Frauen wirken wie verflüssigte Marienbilder,vielleicht auch eine hintersinnige Anspielung auf Schlegels Katholizismussehnsucht. Vgl. Josef Haslinger: Die Ästhetik des Novalis, Königstein 1981. Haslinger ist heute Schriftsteller von Rang, der durch den Roman Opernball bekannt wurde. In seiner Dissertation zeigt Haslinger auch, wie kapitalismuskritisch das Romantisieren von Novalis verstanden werden muss. Treffend weist er auch auf den Unterschied zu Goethes Wilhelm Meister hin: „Die Kritik, die er daran übte, betraf unter anderem das Stilmittel der Mystifikation. Er fand, daß Goethe dort, wo er eine qualitative Potenzierung des Alltäglichen vernahm, diese ausdrücklich als Schwärmerei dem Romangeschehen gegenüberstellte. Das Bestreben von Novalis‘ Ästhetik ging jedoch dahin, sämtlichen Inhalt der Poesie in jene höhere Gemütseinheit zu erheben, die dem Rezipienten die entfremdete Wirklichkeit als solche erkennen lässt.“ (Ebd., 147). Schleiermacher hatte den Gottesdienst später als Fest definiert: F.D.E. Schleiermacher: Die praktische Theologie nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche, hg.v. J. Frerichs, Berlin 1850, 70. Dazu Dietrich Rössler: Unterbrechungen des Lebens. Zur Theorie des Festes bei Schleiermacher, in: Peter Cornehl/Martin Dutzmann/Andreas Strauch (Hg.): In der Schar derer, die da feiern. Feste als Gegenstand praktisch-theologischer Reflexion, Göttingen 1993, 33 – 40, 37: „Im Fest also repräsentiert sich eine andere Weise des Daseins. Die Formel von der ‚Unterbrechung des übrigen Lebens‘ kann als die fundamentale These der Schleiermacherschen Festtheorie bezeichnet werden.“
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späteren Sprache Schleiermachers wird das wirksame Handeln unterbrochen und das darstellende Handeln hat seinen Auftritt. Daraus erklärt sich auch, wieso die Gespräche der Figuren im Grunde nicht streng dialogisch sind. Die Figuren bringen sich der Gemeinschaft „zur Anschauung“. Die Gemeinschaft und das höhere Bewusstsein entstehen eben im Sich-Mitteilen, nicht in der dialogischen Auseinandersetzung mittels Argumenten.⁴⁴ Die drei Reden dienen zunächst und zumeist der „Belebung des religiösen Bewußtseins, der Erbauung.“⁴⁵ Der erste Redner in Schleiermachers Weihnachtsfeier scheint mir besonders starke Anleihen bei Novalis genommen zu haben⁴⁶, denn der erste Redner, Leonhardt, ein offenbar durch die Bibelkritik der Aufklärung gestählter Pastor, ist am legendarischen Tand der biblischen Weihnachtsgeschichte uninteressiert, hinlänglich reicht ihm die Bedeutung der Feier selbst, seine rituelle Wiederholung, in der die „symbolische Art der Weihnachtsgeschenke“ (88) jene Verzauberungserfahrung spürbar werden lässt, die durch die Auszeichnung der Kindheit durch das Christentum in die Welt kam. Der passende Ort der Feier ist deshalb der private Raum, nicht die Kirche.⁴⁷ Das Weihnachtsfest ist Romantisierung in Vollendung, und es ist durchaus das Anliegen des Kunstwerkes aus der Hand Schleiermachers, eine Stimmung zu erzeugen, in der sich das ersehnte romantische goldene Zeitalter allweihnachtlich darstellt. Ernst, der zweite Redner, gibt dem ersten Redner zwar zu, dass „der geschichtliche Grund der Sache“ (87), wie Leonhardt gesagt hat, sehr „schwach“ sei. In gewisser Weise rückt er aber noch näher an Novalis heran, wenn er die heitere Freude, die sich gleichsam flächendeckend einstellt, nun auch anthropologisch als Überwindung von Zwiespalt und Entfremdung deuten will. In der Rede von Ernst wird gleichsam das Kind romantisiert, weil eben dieses Kind mehr als ein Kind ist, nämlich die Idee eines Erlösers: „Mögen die historischen Spuren, die Sache so in einem niedrigen Sinne kritisch angesehen, noch so schwach sein; das Fest hängt nicht daran, sondern an der notwendigen Idee eines Erlösers, und darum waren auch jene genug.“ (92) Der religiöse Sinn des Festes ist die Geburt eines göttlichen Kindes, somit die „Freude an dem wiedergefundenen höheren Leben“ (93) und damit der Anbruch einer „neuen Welt“ (92). Die Hypothek freilich ist nicht gering, denn das göttliche Leben kommt nur ans Ziel, wenn das göttliche Kind nichts „Verderbliches (…) ansetzt“ (52). Weihnachten ist dann auch nur ein Versprechen auf „Charfreitag und Ostern“ (93). Eduard heißt der letzte Redner dieses weihnachtlichen Symposions, dessen Eigentümlichkeit und rednerischer Ehrgeiz darin besteht, die Kluft zwischen dem his-
Zu den Festtheorien siehe Christian Albrecht: Sinnvergewisserung im Distanzgewinn. Liturgische Erwägungen über das Wesen des evangelischen Gottesdienstes zwischen Feier und Fest, in: ZThK 97 (2000), 362– 384. Schleiermacher: Praktische Theologie (Anm. 43), 216. Achim von Arnim glaubte in Leonhardt Heinrich Steffens, den Freund Schleiermachers, wiederzuerkennen, siehe: Patsch: Einleitung (Anm. 35), LIII. Dazu muss man wissen, dass zur Zeit Schleiermachers die Christmetten eher wüste Vergnügungen waren.
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torischen Jesus und der dogmatischen Kindes-Christologie spekulativ vermitteln zu wollen. Eduard will diese Vermittlung aber nun nicht anhand der Mythen und Legenden der synoptischen Evangelien lösen, sondern anhand des Prologs des Johannesevangeliums (Joh 1,14). Er hält sich an den „Mystischen“, an Johannes, „bei dem fast gar nichts Geschichtliches vorkommt, auch kein Weihnachten äußerlich, in dessen Gemüth aber eine ewige kindliche Weihnachtsfreude herrscht.“ (94) Die Fleischwerdung des Wortes beschreibt den Eintritt des Göttlichen oder des Logos, genauer: den Eintritt „de(s) Gedanke(s), d(es) Erkennen(s)“ in die „endliche beschränkte sinnliche Natur“ (94). Das Ergebnis, diese mystische Verschränkung, nennt Schleiermacher Erdgeist – ein Begriff, den vor ihm Goethe und Schelling bereits benutzt haben⁴⁸ – bei Eduard aber eine inkarnationslogische Pointe bekommt: „Menschen an sich“ (95) sind zwar erdgebunden, haben aber ein Erkennen des Ewigen in sich. „Was ist der Mensch an sich anders, als der Erdgeist selbst, das Erkennen der Erde in seinem ewigen Sein und in seinem immer wechselnden Werden. So ist auch kein Verderben in ihm und kein Abfall, und kein Bedürfniß einer Erlösung. Der Einzelne aber, wie er sich anschließt an die andern Bildungen der Erde, und sein Erkennen in ihnen sucht, da doch sein Erkennen allein in ihm wohnt, dieser ist das Werden allein, und ist ihm Abfall und Verderben, welches ist die Zwietracht und die Verwirrung, und er findet seine Erlösung nur in dem Menschen an sich.“ (95) Nur beim „Menschensohn“, so die Behauptung, „(i)n Christo sehen wir […] den Erdgeist zum Selbstbewußtsein in dem Einzelnen sich ursprünglich gestalten. […] Andacht und Liebe sind sein Wesen.“ (95) Bei den übrigen Erdlingen gelingt das nur, wenn sie aus dem Geist Jesu und seiner Gemeinde wiedergeboren werden. „Und eben so jeder von uns schaut in der Geburt Christi, seine eigene höhere Geburt an, durch die nun auch nichts anderes in ihm lebt, als Andacht und Liebe, und auch in ihm der ewige Sohn Gottes erscheint. Darum bricht das Fest hervor.“ (96) Die Weihnachtsfeier endet mit dem Erscheinen eines Gastes, Josef ⁴⁹, dem alles „Reden zu langweilig und kalt ist“ (96) und der für eine gemeinsame Gemütserregung durch das polyphone Singen plädiert. Ein so wunderbares Kunstwerk wie Die Weihnachtsfeier, das nicht nur zum Nachsinnen animiert und ein Fest erlebbar macht, im Vollzug Positionen in ihrer romantischen Potenzierung durchspielt und Identitätsnarrative anbietet, ist nicht jedermanns Geschmack, vielmehr hat ein wahrer Kenner und Liebhaber Schleiermachers einen Stoßseufzer der Erleichterung am Ende seines Essays über die Weihnachtsfeier ausgestoßen, der nachhallt: „Der bald danach eingeschlagene Weg verlief aber glücklicherweise in weniger überdrehten Bahnen. Schleiermacher hatte wohl eingesehen, daß bei größerer methodischer Disziplin sich einige Probleme auch von selbst erledigen.“⁵⁰ Dem ist entschieden nicht so. Alle Probleme, die exemplarisch vor Vgl. Ulrich Barth: Christologie und spekulative Theologie. Schleiermacher und Schelling, in: Ders.: Kritischer Religionsdiskurs (Anm. 18), 245 – 262, 255. Patsch: Einleitung (Anm. 35), LIII, sah hier eine Anspielung auf den „‘Bruder Joseph‘ August Gottlieb Spangenberg (1704– 1792), den Herrnhuter Brüderbischof“. Barth: Christologie (Anm. 48), 257.
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allem in Eduards Rede aufscheinen, bleiben bis zum Ende auch bei Schleiermacher ungelöst. Hoch problematisch etwa bleibt Eduards These, die geistige Menschwerdung setzte die Inkarnation voraus, markiere also einen Epochensprung, der das Christentum markant von anderen Religionen abhebt. Das ist eine spekulative Verhebung, die auch quer steht zur Mystifikationsthese von Novalis, denn Novalis – darin auch unterschieden von Schlegel – will gleichsam die Erde durch Kunst mystifizieren, um von dort aus das drohende Verderben einzudämmen, lange Partien der Weihnachtsfeier lassen sich durchaus so lesen. In der dritten Rede drohen die Weltbezüge aus dem Blick zu geraten. Die Mystifizierung von unten, die leichter am historischen, besser: am literarischen Jesus ausweisbar wäre, steht eine Mystifizierung von oben entgegen, die nach meiner Überzeugung zum Scheitern verurteilt ist. Der Redner Eduard hätte, das wäre seine Bringschuld gewesen, zeigen müssen, wie die christologische Verschränkung von Geist und Erde im Erdgeist Jesu gelingt. Bereits die Monologe warnen aber ausdrücklich davor, sobald das Thema der Persönlichkeit genannt werde, sei es um die Idealität geschehen. Ich tue mich schwer mit dem vom hallischen Interpreten vorgeschlagenen Gedankenexperiment im Anschluss an Eduard⁵¹, ein Mensch, hier: Jesus könne ständig, aufgrund der Kräftigkeit des Gottesbewusstseins gleichsam limitativ eine Liebestugend ausbilden und somit vor Vereinzelung geschützt sein. Ich halte dieses Gedankenexperiment zwar für spannend, aber im Schleiermacher-Kontext für völlig verkorkst, denn streng genommen müsste eine metaphysische Wachheit oder ein konsequentes religiöses Träumen vorgestellt werden. Das zumindest ist nicht menschlich, allenfalls verspäteter hallischer Romantizismus. Schleiermacher bleibt letztlich im Platonismus gefangen, denn die Urbildlichkeit ist für ihn kein „Grenzbegriff der strukturellen Entwicklungsmöglichkeiten“, sondern ein „ontologisches Prädikat“, und es muss ein ontologisches Prädikat sein, wenn man Jesus von Sünde sehr grundsätzlich, nicht etwa als Ergebnis eines Bildungsprozesses freisprechen will.⁵² Historischer Jesus und spekulativer Christus gehen nicht zusammen⁵³, daran hat sich nach der Weihnachtsfeier letztlich nichts geändert, anders gewendet: die Entkleidung der literarischen Formen zeigt nur die Nacktheit des Scheiterns, wenn man eine Position konsequent durchspielt. Die Weihnachtsfeier arbeitet mit einer offenen Form. Diese freilich muss auch in die Interpretation einbezogen werden. Jede Publikation zur Schleiermacherschen Weihnachtsfeier versucht hinter den Figuren und ihren Positionen Schleiermacher selbst zu entziffern. Hinsichtlich der Weihnachtsfeier widerspricht diesem Vorgehen
Vgl. Barth: Christologie (Anm. 48), 260 f. Vgl. Barth: Christologie (Anm. 48), 261. Vgl. Wilhelm Gräb: Humanität und Christentumsgeschichte. Eine Untersuchung zum Geschichtsbegriff im Spätwerk Schleiermachers, Göttinger theologische Arbeiten 14, Göttingen 1980; Ders.: Geschichtsphilosophie und Geschichtstheologie bei Schleiermacher, in: NZSTh 54 (2012), 240 – 261; Ders.: Sinn fürs Unendliche. Religion in der Mediengesellschaft, Gütersloh 2002.
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auch die Form: Die Gespräche und Reden in der Weihnachtsfeier stellen individuelle Persönlichkeiten dar, deren Meinungen gerade nicht dialogisch vermittelt werden, die also argumentativ aufsteigend zur klärenden Wahrheit gelangen, sondern unvermittelt nebeneinander ein Gesamtes ergeben, das seine Einheit in der Vielstimmigkeit erfährt. Daher die Pointe am Schluss: Männer- und Frauenstimmen singen gemeinsam. Warum verzichtet Schleiermacher nach 1806 auf markante Werke literarischer Theologie? Drei Gründe scheinen mir dafür ausschlaggebend. Die mobilisierende Kraft der Symphilosophie war für Schleiermacher Lebenselexier.⁵⁴ Als diese Bewegung zum Erliegen kam, als auch noch der enge Freund Novalis stirbt, fehlt Schleiermacher die freundschaftliche Erregung. Vielleicht war er von allen Freunden am meisten auf das Geben und Nehmen, auf die Affektion durch andere angewiesen. Mit deutlicher Parusieverzögerung erscheint Die Weihnachtsfeier 1806, zu diesem Zeitpunkt ist der frühromantische Hype bereits abgeflaut. Und die arme Frau Jette Herz hatte offenbar nicht sinnliche Geistigkeit genug, um ihn auch künftig literarisch zu affizieren. Die von den Aufklärern zelebrierten Dialogproduktionen empfand bereits der junge Schleiermacher offenbar als zu abgeschmackt, wie seine Besprechungen von Engel und Garve⁵⁵ zeigen, um produktiv daran anzuknüpfen.⁵⁶ Vielleicht war Schleiermacher von der Raffinesse der platonischen Dialoge auch so eingeschüchtert, dass er auf eine Neuauflage verzichtete und nur das Element der Mythen (Erzählungen der Frauen) und die großen Reden im freien Anschluss an das Symposium übernahm. Offenbar hat Schleiermacher karrieretechnisch die Lust gepackt, nicht nur den Vollzug von (Selbst)Bildung zu inszenieren, sondern auch institutionell zu verorten, zunächst als Universitätslehrer, später auch in der Mitarbeit an der Gründung der Humboldt-Universität. Als sich ihm die Chance bot, hat er zugegriffen. Schleiermacher war im besten Sinne ehrgeizig, die Idee des Systems, das er sich bei Platon erlesen hatte, stachelte seinen Ehrgeiz an. Zwar entscheidet sich Schleiermacher in seinem Vgl. bereits die in der Auseinandersetzung mit Adolf Freiherr Knigge geschriebene frühe Arbeit Versuch einer Theorie des geselligen Betragens, in: KGA I/2, 163 – 184. Vgl. die Rezension zu Johann Jakob Engel: Der Philosoph für die Welt, dritter Theil [1800], in: KGA I/ 3, 225 – 234. Schleiermacher giftet: „Die Philosophie besteht nemlich darin, daß es gar keine Philosophie geben soll, sondern nur eine Aufklärung; die Welt ist eine Versammlung gebildeter und unterrichteter Zuhörer, die jedoch hauptsächlich zu Tische sitzen und nur demnächst schöne Sachen hören wollen. […] Eben so fordere wenigstens ich von einem Dialog weniger, wenn die Personen A und B heißen, oder ohne weiteres nur mit einem Namen eingeführt werden. Sobald man aber diese Formen individualisirt, sobald offenbar Koketterie mit ihnen getrieben wird, und die Einbildung von ihrer Vortrefflichkeit so weit geht, daß der Verfasser glaubt, die Leser in besondern Anmerkungen benachrichtigen zu müssen, diese Formen seien nur fingirt, so muß doch Brief und Dialog so beschaffen sein, daß man die Möglichkeit sieht, solche Personen könnten in solchen Verhältnissen so geredet oder geschrieben haben“ (ebd., 230 f.). Engel wird von Schleiermacher sehr ungnädig verabschiedet, zu Unrecht, vor allem Engels Mimik zeigt eine ganz neue Zulänglichkeit zur Körperlichkeit. Nur einmal wählt Schleiermacher anonym die Dialogform: Gespräch zweier selbst überlegender evangelischer Christen über die Schrift: Luther in Bezug auf die neue preußische Agende, Leipzig 1827. Schleiermacher wendet sich gegen eine Schrift des preußischen Königs und bleibt deshalb anonym.
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theologischen Hauptwerk ausdrücklich für den Terminus Glaubenslehre, um die subjektspezifische Anknüpfung deutlich zu machen, gleichwohl möchte er nicht „ein Gebäude von lauter ganz eigentümlichen Meinungen und Ansichten“⁵⁷ vertreten, sondern er versucht sich an dem zu orientieren, was zumindest in Teilen der kirchlichen Öffentlichkeit Gültigkeit hat. Die Rede von Eigentümlichkeit weicht methodisch dem „Postulat, eine mittlere Linie der Dogmatik zu zeichnen“⁵⁸, die zumindest Raum lässt, die petrifizierten Dogmatiken der Vergangenheit behutsam umzuwidmen. Die anvisierte mittlere Linie beschreibt freilich auch die hermeneutische Problemlage, denn zumindest gelegentlich scheint diese anvisierte Mittellinie doch reine Beteuerung zu sein und verdankt sich dem divinatorischen Genius von Schleiermacher. Ganz ohne literarische Formen kommt aber auch die Glaubenslehre nicht aus, denn die Christologie ist, wie Nowak richtig sieht, nichts anderes als ein „Lobgesang“⁵⁹, eine fromme Doxologie, ich halte sie eher für eine spekulative Selbstgratulation. Und schließlich die Vermittlung der Glaubenslehre an ein breiteres Publikum setzt explizit auf die ‚epistorale Poetik‘⁶⁰, denn die berühmten zwei Sendschreiben an Lücke, die ja der Erläuterung der Glaubenslehre dienen, sind in der poetischen Form des Briefes gehalten. Die Gattung des Briefes wartet aber mit der Besonderheit auf, dass sie sich auf der „oszilliernde[n] Grenze zwischen öffentlichem und privatem Raum als Schwellensituation“⁶¹ auszeichnet. Insofern inszeniert die Gattung Brief eine Art „Intimität“ und „Privatheit“, also Inhalte, die ein individuelles, eigentümliches Element transportieren, das in einer Dogmatik nicht markant zur Geltung gebracht werden kann.
Umwidmungen im Denken Schleiermachers Weil auch die Geisteswissenschaften von Konjunkturen nicht frei sind, kommt es turnusmäßig zu Debatten, die häufig mit der üblichen Rhetorik bedient werden: der
Friedrich D.E. Schleiermacher: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1821/1822), KGA I/7,1, 3. Kurt Nowak: Schleiermacher (Anm. 21), 268. Kurt Nowak: Schleiermacher (Anm. 21), 279. Thomas Nolden: „An einen jungen Dichter“. Studien zur epistoralen Poetik, Würzburg 1995, 29: „Wie sehr sich auch diese einzelnen Situationen, in denen Autoren zum fiktiven poetologischen Briefen greifen, voneinander unterscheiden mögen, gemeinsam ist ihnen doch der Versuch, durch das scheinbar private Medium des Briefes Öffentlichkeit herzustellen.Während sich die Fiktion der intimen Mitteilung in der Form des Briefes dabei stets an die Tabus hält, die der offizielle Diskurs diktiert, unterwandert der veröffentlichte Brief zugleich diese Ausschlußregelungen – eben weil seine öffentlichkeitsscheue Intimität nur Fiktion und der Brief letztenendes ein der Öffentlichkeit zugänglicher Text ist. Er bringt zum Ausdruck, was in der Öffentlichkeit noch nicht […] gesagt werden darf, aber schon auf dem Wege ist, ‚offenes Geheimnis‘ zu sein.“ Tanja Reinlein: Der Brief als Medium der Empfindsamkeit. Erschriebene Identitäten und Inszenierungspotentiale, Würzburg 2003, 57.
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Streit um die Bedeutung des Alten Testaments, oder – wie es wissenschaftspolitisch korrekt heißt – des Ersten Testaments für die evangelische Theologie flammt etwa nach Dekaden der Beruhigung dann plötzlich jäh auf, erst jüngst wieder, als der an der Humboldt-Universität lehrende Notger Slenczka⁶² die Debatte wieder anfachte. Reflexhaft wurde eine Mobilmachung beschlossen, kollegiale Schelte schlug über den Kollegen zusammen, er wurde an den digitalen Pranger gestellt, mit Schnappatmung der Bruch des evangelisch-akademischen Zivilisations-abkommens konstatiert. Tonart und argumentative Dichte der Rechtgläubigen hielt mit der Gediegenheit von Slenczkas Essay nicht mit. Die lärmende Absetzbewegung beschädigte dabei auch eine honorige Ahnenreihe, die von Semler, Schleiermacher, Harnack, Hirsch bis hin zu Falk Wagner reicht. Richtig an der Diagnose von Slenczka ist die Unbeholfenheit der Theologie, das Erste Testament auf Augenhöhe zu rezipieren, Pflichtzitate verkommen zu LamettaFlitter in den akademischen Texten.⁶³ Offenbar ist das sich im Einsatz befindende akademische Besteck ungeeignet, tragfähige Verbindungen herzustellen: Einseitig johanneisch-spekulative oder rechtfertigungstheologische Christozentrismen haben häufig nur Bedarf an den alttestamentlichen Schöpfungserzählungen plus Sündenfall, der Rest wird eilig und interesselos überblättert. Schleiermacher als Repräsentant einer spekulativen Theologie grenzt sich vom Alten Testament durch zwei Argumente ab. Er stellt den Unterschied zwischen dem Judentum, dessen Grundanschauung er als Vergeltung⁶⁴ charakterisiert (besser wäre wohl: karikiert), und dem Christentum als der Erlösungsreligion heraus.Weil zugleich, wie gesehen, das geistige Wesen des Menschen überhaupt erst durch die Inkarnation Christi erschlossen wird, ist der Hiatus zu allen nichtchristlichen Religionen markant.
Vgl. Notger Slenczka: Die Kirche und das Alte Testament, in: Elisabeth Gräb-Schmidt, Reiner Preul (Hg.): Das Alte Testament in der Theologie. Marburger Jahrbuch Theologie XXV, Leipzig 2013, 83 – 119. Ich will die Debatte hier nicht inventarisieren, auch deshalb nicht, weil die Argumente zu sehr von Reflexen gesteuert wurden. Entscheidende Hinweise kamen deshalb allenfalls von außerhalb. So hat etwa Jan Assmann noch einmal an die Bedeutung des Ersten Testaments für das kulturelle Gedächtnis erinnert: „Das hängt mit der viel höheren Farbigkeit und Einprägsamkeit der alttestamentlichen Erzählungen, dem größeren Reichtum an Gebeten und Lobpreisungen, dem unerschöpflichen Vorrat an ‚Weisheit‘ und Lebensregeln und der Vielfalt der lyrischen, narrativen, normativen und historiographischen Gattungen zusammen.“ (Jan Assmann: Die Fremdheit des Alten Testaments. Bemerkungen zu einer These von Notger Slenczka, in: FAZ Nr. 149, 1. Juli 2015, N 3.) Nach der erstaunlich schnellen Auskühlung der Debatte und den flugs verschorften Stigmata des Berliner Kollegen besteht jetzt der Kairos, ein anderes Theologiemodell in die Debatte einzubringen, um den Hiatus zwischen Erstem und Zweiten Testament zu minimieren. Vgl. Friedrich D.E. Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Hamburg 1958, 160. Dazu: Rudolf Smend: Die Kritik am Alten Testament, in: Dietz Lange (Hg.): Friedrich Schleiermacher 1768 – 1834. Theologe – Philosoph – Pädagoge, Göttingen 1985, 106 – 128. Jetzt: Friedhelm Hartenstein: Zur Bedeutung des Alten Testaments für die evangelische Kirche. Eine Auseinandersetzung mit den Thesen von Notger Slenczka, in: ThLZ 140 (2015), 738 – 751; Andreas Feldtkeller: Vom Reichtum der ganzen Bibel. Die Zusammengehörigkeit von Altem und Neuem Testament aus der Perspektive Interkultureller Theologie, in: ThLZ 140 (2015), 752– 765.
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Der Johannismus, also die Rede von der Fleischwerdung des Logos, dient als Markierung eines Epochensprungs hin zur geistigen Menschheit: erst mit der Inkarnation ist der Mensch an sich erkennbar. Zu einer unglücklichen Melange verkommt die Idee, Eigentümlichkeit und Fortschritte in der Religion gleichermaßen zu verschränken.⁶⁵ Denn Schleiermacher wendet das Individualitätsparadigma nicht konsequent an, stattdessen bildet er Religionstypen und vernachlässigt individualisierende Binnenformen der jeweiligen Religionen. Eigentümlichkeit der Reformierten und Lutheraner bewertet er offenbar nicht so hoch, weil er dort eine Kirchen-Union anstrebt, vor dem Katholizismus aber dann doch zurückschreckt. Mir ist es bis heute nicht ganz verständlich, warum zumindest die frühen Romantiker, Schlegel und Novalis, die beide die orientalische Erzählkunst über den Klee loben, die Abundanz literarischer Formen des Ersten Testaments nicht ausgeschöpft haben, denn das Alte Testament hat das Zeug zu einem veritablen romantischen Roman. Poetische Gattungen im Alten Testament wahrzunehmen, gelang offenbar zu Schleiermachers Zeiten nur bedingt, weil die meisten Texte als Historie gelesen wurden. Die aufkommende historisch-kritische Erforschung des Alten Testaments bestärkte diese Tendenz noch zusätzlich. Selbst für Herder und Eichhorn sind nur geringe Teile des Alten Testaments Poesie. Erst durch die Arbeiten von Gunkel wurde der Schleier gelüftet. Schleiermacher ist jedenfalls ganz entschieden, wenn er im §2 der Glaubenslehre in seiner ersten, mutigeren Auflage schreibt: „Den jüdischen Kodex mit in den Kanon zu ziehen, heißt, das Christentum als eine Fortsetzung des Judentums ansehn, und streitet gegen die Idee des Kanon.“⁶⁶ In seiner Enzyklopädie rechnet Schleiermacher das Alte Testament zur Hilfswissenschaft nur deshalb, weil die christlichen Autoren in der Denk- und vor allem Sprachwelt des Alten Testaments gearbeitet haben.⁶⁷ Erneut verstellt Schleiermachers karikierende Charakterisierung des Judentums den nicht bloß historischen Zusammenhang der beiden Religionen. Schleiermacher hat in seinen (wenigen) Predigten zum Alten Testament beinahe ausschließlich „Weisheitstexte oder Verwandtes aus den Psalmen“⁶⁸ (auch Kohelet) ausgewählt, Texte, die offenbar in Schleiermachers Wahrnehmung als nicht ursprünglich israelitisch galten und deshalb auch Gegenstand einer christlichen Predigt sein konnten. Noch der Alttestamentler Ernst Würthwein konstruierte Ende der Vgl. Jörg Dierken: Fortschritte in der Geschichte der Religion. Aneignung einer Denkfigur der Aufklärung, Leipzig 2012. Schleiermacher: Der christliche Glaube (Anm. 56), §2; vgl. Friedrich D.E. Schleiermacher: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt [1821/1822], KGA I/7,2, 88 (§22): „Das Christentum ist ohnerachtet seines geschichtlichen Zusammenhanges mit dem Judenthum doch nicht als eine Fortsezung oder Erneuerung desselben anzusehen; vielmehr steht es, was seine Eigenthümlichkeit betrifft, mit dem Judenthum in keinem anderen Verhältniß als mit dem Heidenthum.“ Friedrich D.E. Schleiermacher: Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, hg.v. Heinrich Scholz (1910), Darmstadt 1982, § 126. Rudolf Smend: Kritik (Anm. 64), 116.
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fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts einen Gegensatz zwischen Weisheit und JHWH-Glaube.⁶⁹ Längst hat die Weisheitsforschung diese Auffassung revidiert.⁷⁰ Wenn man überhaupt von einer Eigentümlichkeit reden will, dann im Blick darauf, wie die gemeinorientalischen Vorstellungen im Alten und Neuen Testament zu einer sehr eigentümlichen Bildungstheologie ausgearbeitet wurden, die im Weisheitslehrer Jesus von Nazaret kulminiert. Ein Anmarsch wäre auch von der anderen Seite her möglich. Schleiermachers Intuition, die Dialoge Platons als Stufenfolge der Einsichtgewinnung anzuordnen, lässt sich lesen als Theorie der Selbstbildung und Bildung nach außen. Entsprechend wäre das Alte Testament im Verbund mit dem Neuen Testament eine Bildungstheorie der Menschheit und eine Selbstbildung Gottes, die, das ist faszinierend, bereits im Alten Testament mediengeschärft agiert. Die Geschichte Gottes mit der Menschheit, die auch immer eine Selbstbildung Gottes einschließt, ist bei näherem Hinsehen eine Geschichte der Medienkrisen. Der literalisierte Gott setzt, wenn er nicht mehr vorsintflutlich agiert, immer wieder auf die Kunst, auf die Poesie und Novellistik, auf die Eventkultur bei den Propheten und auf einen finalen Erzähler, der alltagsnahe neue Mythen, vulgo: Gleichnisse erzählt, die sich niemals ganz dem Logos erschließen. Eine weisheitliche Bildungstheologie scheint eine Kandidatin für eine gesamtbiblische Theologie zu sein. Jesus ist eine eigentümliche Verkörperung dieser Idee, weil seine Eigentümlichkeit wiederum darin besteht, traditionelle Weisheit und apokalyptische Weisheit zu verschränken.⁷¹ Das setzt freilich voraus, der Weisheit eine zentrale Rolle in der literarischen Formatierung des biblischen Kanons zuzusprechen.⁷² Das Thema wäre neu zu verhandeln. Altes und Neues Testament sind dann ein über die Weisheit verschränktes Gesamtkunstwerk der Bildung der Menschheit. Unterkomplex wäre es, biblische Texte nur als Ausdruck religiöser Erfahrung⁷³ oder als symbolisches Gedächtnis⁷⁴ zu deuten, sie sind vielmehr produktionsästhetisch gelesen Inszenierungen, die immer schon die Leserin und den Leser im Auge haben, ge Vgl. Ernst Würthwein: Die Weisheit Ägyptens und das Alte Testament (1958/1960), in: Ders.: Wort und Existenz. Studien zum Alten Testament, Göttingen 1970, 197– 216, 207. Vgl. Markus Witte: ‚Weisheit‘ in der alttestamentlichen Wissenschaft. Ausgewählte literatur- und theologiegeschichtliche Fragestellungen und Entwicklungen, in: ThLZ 137 (2012), 1159 – 1176. Vgl. Andeas Grandy: Die Weisheit der Gottesherrschaft. Eine Untersuchung zur jesuanischen Synthese von traditioneller und apokalyptischer Weisheit, Göttingen 2012. Vgl. Klaas Huizing: Inszenierte Geistesgegenwart. Kleines Plädoyer für eine weisheitliche Theologie und Ethik, in: Christian Senkel (Hg.): Geistes Gegenwart. Zur religiösen Grundierung der Lebenswelt, Theologie Kultur Hermeneutik 18, Leipzig 2016, 77– 95. Vgl. Jörg Lauster: Religion als Lebensdeutung. Theologische Hermeneutik heute, Darmstadt 2005. Vgl. Ulrich Barth: Subjektphilosophie (Anm. 19), 313: „Meine These lautet: Heilige Schriften repräsentieren das symbolische Gedächtnis einer Religion. Ihr Gebrauch bildet die Mitte religiöser Erinnerungskultur. Das besagt aber zugleich: Objektiv fixierte Bedeutungskomplexe werden nur als subjektiv erinnerte zum symbolischen Kapital einer Religion. Codifizierte Sinnressourcen leisten nur dort einen Beitrag zu konkreter Sinngebung,wo sie als Deutungsschemata eigenen Erlebens aufgerufen und angeeignet werden. Textbezogene Erinnerungskultur und gegenwartsbezogene Deutungskultur gehören zusammen.“
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deutetes Erleben inszenatorisch nachvollziehbar machen wollen und Glauben und somit auch Gewissheit allererst erzeugen. Das aber hieße wissenschaftspolitisch, sich den literarischen Formen des Alten Testaments und des Neuen Testaments ausdrücklich nochmals zuzuwenden. Auf die Agenda gehört eine Poetik der Weisheit und des Heiligen Geistes, um der Kraft literarischer Formen aufklärerisch auf die Spur zu kommen. In unserer an literarischen Formen inzwischen höchst armen Theologie wäre produktionsästhetisch künftig mit der Erneuerung literarischer Form zu antworten. An anderer Stelle erweist sich der Platonismus von Schleiermacher allerdings als Mühlstein. Die von mir gefeierten Monologen können Sündenfreiheit nur im Reich der Geister durchhalten, sobald die Leiblichkeit ins Spiel kommt, wird der Sünde als Unlust erneut ein Platz zugestanden. „Der Leib ist der Kerker der Seele“, dieser Satz aus dem Phaidros (247c, 250; Kratylos 400) von Platon hatte für die Geistesgeschichte entsetzliche Nebenwirkungen und zementierte die Leibfeindlichkeit für Jahrtausende. Wer hier gegensteuern will, ist gut beraten, einen anderen Zugang zu wählen und die Enge subjektivitätstheoretischer Verortung, in der Schleiermacher seinen Platon umwidmete, zu verlassen. Nur so ist auch die geniale Intuition Schleiermachers zu retten, Gefühle auszuzeichnen, die er zwar fälschlich für die Religion reservieren wollte⁷⁵, und die er aber doch als „inneres Zustandsbewusstsein“⁷⁶ verkürzt. Hier muss man anders ansetzen. Die inzwischen hochgeschätzte, auf eine Intuition Goethes zurückgehende Gefühlstheorie von Hermann Schmitz deutet Gefühle als Atmosphären, die den resonanten Körper heimsuchen.⁷⁷ Auch Schleiermacher spricht in den Reden von einer „mit auflösenden und magnetischen Kräften angefüllte(n) Atmosphäre“⁷⁸, das meint wohl eher einen Gefühlsraum als einen inneren Zustand. Von dieser realitätsgesättigten Betroffenheit her erschließt sich eine leibfreundliche Anthropologie, die einer entsprechenden Theologie zur Grundlage dienen kann. Eine leibfreundliche Theologie, die den engen Zusammenhang von Emotion und Ethik, Emotion und Theologie im Auge behält, kann auch von der Sündenfixierung lassen. Im Gegensatz zu dieser Sündenfixierung arbeitet das biblisch-weisheitliche Paideia-Konzept mit allen Tricks, gerne auch mit Beschämung, um die Leserinnen und Leser zur Bildung ihrer Eigentümlichkeit zu animieren, um, ein Gedanke, der im christlichen Westen wenig Anhänger hat, die Vervollkommnung, jetzt aber als Bildungsprogramm umgewidmet, voranzutreiben. In einem spannenden Artikel hat der Alttestamentler Konrad Schmid von der Unteilbarkeit der Weisheit gesprochen und in wünschenswerter Klarheit an den Schöpfungserzählungen gezeigt: „Es gibt keine
Vgl. Hans-Peter Grosshans: Alles (nur) Gefühl? Zur Religionstheorie Friedrich Schleiermachers, in: Andreas Arndt, Ulrich Barth, Wilhelm Gräb (Hg.): Christentum – Staat – Kultur. Akten des Kongresses der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft in Berlin 2006, Schleiermacher-Archiv Bd. 22, Berlin/ New York 2008, 547– 565. Ulrich Barth: Subjektphilosophie (Anm. 19), 305. Vgl. Hermann Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn 1990. Schmitz charakterisiert Schleiermacher treffend als „kontemplativen Sentimen-talismus“, ebd., 444. Schleiermacher: Über die Religion (Anm. 64), 54. Dazu Timm: Revolution (Anm. 24), 48.
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göttliche Spezialweisheit, die sich von der menschlichen qualitativ absetzen würde, vielmehr ist die Weisheit eine Weisheit.“⁷⁹ Heil und Rettung haben in diesem Konzept eine andere, aus der Sündenumklammerung gelöste Pointe. Nochmals: Eine gesamtbiblische und zugleich antiplatonisch-leibfreundliche und von der Sündenpathologie geheilte Theologie ist über die Weisheit als Bildungstheorie möglich, sofern man sie nicht auf eine Bildung der Seele reduziert. Die Umbaukosten für diese Theologie sind dann aber beträchtlich. Sie siedelt diesseits von Schleiermacher und Barth. Zur Eigentümlichkeit des Protestantismus gehören das Freiheitspathos und die Geselligkeit gleichermaßen. Ich wünsche uns allen Witz und Schalkhaftigkeit, also jene sinnlichen Elemente am Geist, die erfrischend sind und die Schleiermacher bei der Herz vermisste, damit ein Fest ein spannendes Fest wird. Nun lasst uns also feiern und fröhlich sein.
Konrad Schmid: Die Unteilbarkeit der Weisheit. Überlegungen zur sogenannten Paradieserzählung Gen 2 f. und ihrer theologischen Tendenz, in: ZAW 114 (2002), 21– 39, 30 (Hervorhebung im Original).
Bildung
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Gesinnungsbildung – Überlegungen zur rezenten Rezeption Schleiermachers in der Erziehungswissenschaft In den letzten Jahren hat die Pädagogik Schleiermachers und ihre Begründung wieder vergleichsweise deutliche Aufmerksamkeit erhalten. Von einer Schleiermacher-Renaissance in der Pädagogik zu reden, wäre allerdings zu viel gesagt. Eher zeichnet sich das altbekannte Bild des Abarbeitens an einem überragenden Klassiker ab,wie es auch für Humboldt gilt, auf dessen Werk die aussterbende Zunft Allgemeiner Pädagogen von Zeit zu Zeit in beharrlicher Hassliebe zurückgreift, um sich von ihm abzugrenzen und neue Wege zu gehen, die man auch als „Humboldts Albtraum“ ansehen kann¹. Eine ernsthafte Auseinandersetzung findet sich in Bezug auf Schleiermacher – auch das hat Tradition – vor allem in Dissertationen vor. Im Folgenden werden drei davon aufgegriffen, weil sie einen charakteristischen Eindruck von der rezenten Rezeption Schleiermachers in der Erziehungswissenschaft vermitteln können.
1. Drei neue Blicke auf Schleiermacher 2008 erschien Steffen Kleints Arbeit „Über die Pädagogik D.F.E. Schleiermachers. Theoriebildung im Spannungsfeld von Kritik und Affirmation“.² Diese Arbeit widmet sich den Begründungsfiguren der Pädagogik als Wissenschaft ebenso wie dem „Fachwerk“ ihrer spezifischen Grundbegriffe und theoretischen Gestalten. Der Fragehorizont ergibt sich aus dem hartnäckigen Urteil eines ‚Vernunft-, Natur- und Geschichtsoptimismus’ Schleiermachers, das das erziehungswissenschaftliche Schleiermacher-Bild seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend prägt und das in den Spuren einer Kritischen Erziehungswissenschaft zum Vorwurf einer „affirmativen Erziehung“ führt. Kleints Arbeit geht dem nach, indem sie insbesondere das Verhältnis von Pädagogik und Ethik untersucht und die spannungsreichen Bezüge von Natur und Vernunft zu Rate zieht, um am Ende das Urteil über einen in erster Linie bloß affirmativen Charakter der Pädagogik Schleiermachers vorsichtig, aber deutlich zu revidieren.
Vgl. dazu Franz Schultheis/ Paul-Frantz Cousin/ Marta Roca i Escoda (Hrsg.): Humboldts Albtraum. Der Bologna-Prozess und seine Folgen. Konstanz 2008. Steffen Kleint: Über die Pädagogik D.F.E. Schleiermachers – Theoriebildung im Spannungsfeld von Kritik und Affirmation, Frankfurt a.M. 2008. DOI 10.1515/9783110464573-003
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2010 veröffentlichte Stefanie Bermges ihr Buch „Die Grenzen der Erziehung. Eine Untersuchung zur romantischen Bildungskonzeption Friedrich Schleiermachers“.³ In dieser Arbeit werden die frühromantischen Konzepte von Individualität, Bildung und Religion als entscheidende Grundlagen für sein späteres pädagogisches Denken vermutet und in ihrem Einfluss für das Bildungsverständnis in den Pädagogikvorlesungen verfolgt. Am Ende steht eine eigenständige Reflexion, die den Versuch unternimmt, Schleiermachers Individualitätsdenken als persönlichkeitsethischen Ansatz zu lesen und in einen aktuellen Bildungsbegriff einzutragen. 2012 wurde Franziska Bartels Buch über „Die Entstehung des Erziehungsdenkens bei Schleiermacher“ gedruckt.⁴ Bartel setzt ebenfalls bei den Frühschriften Schleiermachers an und verbindet die Tatsache, dass Schleiermachers früheste Gedanken zur Erziehung sich innerhalb religiöser Kontexte finden, mit dem Generalverdacht einer religiös-theologischen Hegemonie. Schleiermachers Pädagogik sei insgesamt von dieser Herkunft geprägt und müsse in diesem Sinne gelesen werden, auch und gerade da, wo sie explizit Unabhängigkeit behaupte. In ihrer Arbeit zeigt sie die biographischen Kontexte des Herrnhuter Pietismus und insbesondere den Einfluss Zinzendorfs als ideengeschichtliche Basis für das spätere Erziehungsdenken Schleiermachers auf und stellt daraufhin die relative Autonomie seiner Pädagogik in Frage. Es wäre nun von eigenem Interesse, den verschiedenen Ansätzen und den sich teilweise deutlich widersprechenden Ergebnissen dieser drei jüngeren Arbeiten nachzugehen. Hier soll ein anderer Weg eingeschlagen werden, der das Augenmerk auf ein Thema richtet, das für alle drei Arbeiten von zentraler Bedeutung ist: Gesinnungsbildung. In Kleints Arbeit kommt die Gesinnungsbildung als Kernstück einer affirmativen, weil der sittlichen Entwicklung des einzelnen Edukanden und Erziehers folgenden und „vertrauenden“ Grundhaltung der Erziehung zur Sprache. Stefanie Bermges macht an der Gesinnungsbildung die Verpflichtung des Individuums auf die Gemeinschaft bzw. Gesellschaft fest, die die Betonung der Individualität in den Frühschriften in starker Form modifiziere. Bei Franziska Bartel steht der Begriff der Gesinnung als solcher unter Verdacht; dass sich pädagogisches Handeln überhaupt auf Gesinnung richten sollte, wird – auch unabhängig von allen inhaltlichen Bezügen – auf Schleiermachers missionarischen Eifer zurückgeführt, das Gebiet der Erziehung insgesamt unter die „Leitung“ religiöser Kategorien und Haltungen zu bringen. Der Begriff der Gesinnung, den alle drei Untersuchungen als zentrale Kategorie behandeln, stellt in Schleiermachers Pädagogik wohl am deutlichsten den Zusammenhang zur Ethik her. Gerade an diesem Zusammenhang aber muss sich die aktuelle Schleiermacher-Rezeption in ihrer Tragfähigkeit für pädagogisches Denken erweisen. Zugespitzt kann man im Blick auf die angeführten jüngsten Schleiermacher-Arbeiten Stephanie Bermges: Die Grenzen der Erziehung. Eine Untersuchung zur romantischen Bildungskonzeption Friedrich Schleiermachers. Studien zur Pädagogik der Schule, hrsg. v. Rudolf Biermann, Stephanie Hellekamps und Wilhelm Wittenbruch Bd. 34, Frankfurt a.M. usw. 2010. Franziska Bartel: Die Entstehung des Erziehungsdenkens bei Schleiermacher. Erziehung, Schule, Gesellschaft, hrsg. v. Winfried Böhm u. a. Bd. 62, Würzburg 2012.
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fragen: Welche Zumutung ist aus heutiger Sicht mit der Kategorie der Gesinnung für die pädagogische Theorie formuliert?
2. Gesinnung – Gesinnungserziehung – Gesinnungsbildung Steffen Kleint arbeitet als systematischen Kern der Pädagogikvorlesungen die „befördernde Erziehungsart“, die „Gesinnungs- und Fertigkeitserziehung“ und die „Erziehung als Kunst“ heraus. Dass Schleiermacher gegenüber der verhindernden und gegenwirkenden Tätigkeit die unterstützende in den Mittelpunkt rückt, fasst Kleint in den Begriff der „befördernden Erziehung“, um damit herauszustellen, dass Schleiermacher sich hauptsächlich auf eine positive statt einer negativen Erziehung konzentriert und dass seine Erziehungstheorie als Kunstlehre sich an reale Gegebenheiten anschließt statt ein Gegenmodell zu entwerfen. Die Analyse von deren Herzstück, der Gesinnungs- und Fertigkeitserziehung, arbeitet sich denn auch besonders an der Darlegung ab,wie die Erziehung dem durch die Selbsttätigkeit des zu Erziehenden sich Zeigenden folge – und also darauf angewiesen ist, dass sich von ihm selbst her das jeweils ‚Richtige‘ ergebe. Gesinnung als die bewusste Bestimmung des Willens und ihre sittliche Orientierung scheinen ihm zu leicht in eins zu fallen. Das Zutrauen, dass sich Freiheit als Sittlichkeit erweist, wird als Problem eines von Schleiermacher zugrunde gelegten „Weltvertrauens“ angesprochen. Diesem Befund entspricht auch für die Seite des Erziehers Schleiermachers „Vertrauen in eine pädagogische Gesinnung“, so dass Kleint sich verwundert, „wie zuversichtlich Schleiermacher auf pädagogische Gefühle setzte und sich mit einer gelehrten ‚Appellation‘ an deren Sittlichkeit begnügte“⁵. Stefanie Bermges widmet sich den Verschiebungen in Schleiermachers Bildungsdenken von den frühromantischen Schriften zur Formulierung seiner Pädagogik. Während in der romantischen Konzeption Bildung als Selbstbildung gedacht werde, komme sie in den Pädagogikvorlesungen als mögliches ‚Ergebnis‘ von Erziehung vor. Zwar finde sich auch dort die Betonung der Individualität wieder, werde aber in eine Passung zur Universalität und damit zu Gemeinschaft und Gesellschaft versetzt. In diesem Zusammenhang konzentriert sich die Fragestellung auf die Gesinnung, „da sich vor allem in diesem Bereich die Spannung von individueller und universeller Erziehung“ zeige⁶. Als pädagogische Probleme der Gesinnungsbildung werden ausgemacht: die persönliche Eigentümlichkeit des Einzelnen im Verhältnis zur Sittlichkeit des Ganzen – Kann Erziehung beides gleichermaßen bewirken? – und die Paradoxie, etwas durch Erziehung erreichen zu wollen, was der Einzelne nur selbsttätig hervorbringen kann. Kleint 2008, S. 187. Bermges 2010, S. 103.
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Für Franziska Bartel zeigt Schleiermachers pädagogische Konzentration auf Gesinnung bereits die christlich-religiöse Grundlage seiner Pädagogik an. Die „Konstellation von Gesinnungsbildung und pädagogischem Handeln“ überhaupt sowie deren systematische Bedeutung für Theologie und Pädagogik gleichermaßen ließen sich nur historisch und biographisch herleiten.⁷ „Schleiermacher ist Theologe, seine originären Bestrebungen widmet er der Religion, und in diesem Kontext entstehen erste Ansätze seines Erziehungsdenkens“⁸. Dieser Entstehungskontext bestimmt Bartel zufolge die gesamte Ausrichtung seines pädagogischen Denkens, wofür die bisherige pädagogische Schleiermacherforschung blind gewesen sei. Die „Vernachlässigung der religiös-theologischen“ zugunsten einer „einseitigen Akzentuierung der philosophischen Perspektive“ wird hier als „Problem der pädagogischen Schleiermacherforschung“⁹ identifiziert und stellt den Zugang zur eigenen Problemformulierung dar. In deren Zentrum steht die Gesinnung, die dem zufolge kein pädagogisches Problem aufwirft, sondern selbst eines darstellt, da sie auf religiöse Vereinnahmung und Missionierung verweise. „Die pädagogische Methodologie, insbesondere die originäre unterstützende Maxime, postuliert in Bezug auf die Gesinnungsbildung eine spezifische Form christlicher Erziehung in Konformität zum Herrnhuter Pietismus. Erziehung findet im praktischen Leben statt, während sich der Erzieher in religiöser Nächstenliebe der Kinder und Jugendlichen annimmt, um die persönliche Erfahrung der menschlichen Wesensstruktur zu sichern.“¹⁰ Welcher Art ist also die Zumutung, die sich aus heutiger Sicht mit dem Begriff der Gesinnung verbindet? Die Antworten lauten zugespitzt: Die Zumutung liegt darin, dass Erziehung freigibt; dass und wie Freiheit in Anspruch genommen wird. Dazu Kleint: „Mit der befördernden Erziehung nähert man sich vor allem einer freien Lebensregung, wodurch die pädagogische Theoriebildung überflüssig zu werden droht, und ihrem Namen nach neigt die befördernde Erziehung zur Affirmation des Gegebenen, weswegen sie als notwendiger Handlungszusammenhang überhaupt verloren gehen kann“¹¹. Die hier aufgeworfene Frage lautet: Wie kann Schleiermacher den wichtigsten Teil der Erziehung dem sogenannten ‚freien Leben‘ überlassen? Muss darin nicht einerseits ein naiver Glaube an eine sich von selbst einstellende Sittlichkeit und andererseits die Gefahr der Zementierung gegebener gesellschaftlicher Verhältnisse befürchtet werden? Bermges geht – beinahe umgekehrt – von der frühromantischen Betonung individueller Selbstbildung aus und argumentiert: Wenn Schleiermacher in sein Konzept der Gesinnungsbildung die Selbstbildung der Individualität aufnimmt, wie kann diese „Grenze der Erziehung“ angesichts der gleichzeitigen Deutung von Gesinnung als „Gemeingeist“ gewahrt werden? Die „selbstverständliche Pflicht, einen solch Bartel 2012, S. 229. Ebd., S. 13. Ebd., S. 16. Ebd., S. 228. Kleint 2008, S. 81.
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harmonischen Zustand mit der Gesamtheit anzustreben“ stellt Bermges „als die normative Pointe von Schleiermachers handlungstheoretischen Überlegungen“ heraus.¹² Für Bartel ist die Freigabe der Gesinnungsbildung nichts als die Sicherstellung einer um so wirksameren religiösen Sozialisation. Bartel betont, „dass Schleiermachers pädagogische Konzeption auf christlichem Gedankengut basiert und deshalb ihr einschlägiger Autonomieanspruch (…) obsolet wird“¹³. Die Zumutung der Schleiermacherschen Pädagogik scheint bei aller Unterschiedlichkeit der genannten Untersuchungen darin zu liegen, dass sie „GesinnungsPädagogik“ ist – was nach Kleint sittlichen Optimismus, nach Bermges Einschränkung der Individualität, nach Bartel religiöse Übergriffigkeit bedeutet. Hinter der Frage: Was mutet uns Schleiermacher mit seiner Betonung der Gesinnung zu? steht nachdrücklich die Frage: Muss nicht jede Art von Gesinnungs-Pädagogik heute obsolet sein?
3. Das Problem der Normativität Eine gemeinsame Klammer der drei unterschiedlichen Arbeiten bildet die Verabschiedung einer normativen Pädagogik. Normative Pädagogik abzubauen ist ein Projekt, das allen derzeitigen Ansätzen der Erziehungs- und Bildungswissenschaft gemeinsam ist. Normative Vorgaben, etwa im Rückgriff auf metaphysische Vorentscheidungen, sollen, insbesondere im Umgang mit traditionellen Theorien, kenntlich gemacht und abgewiesen, generell die normative Übergriffigkeit von Theorien aufgedeckt werden. Das führt bei Kleint und Bermges dazu, die „starken“, metaphysisch begründeten Vorannahmen Schleiermachers zu identifizieren, die heute so nicht mehr geteilt werden können. Demgegenüber wollen sie Sperrigkeiten zur Geltung bringen, die sich Schleiermachers „harmonischem Denken“ nicht fügen. Bei Franziska Bartel geht es dezidiert um die Verabschiedung der Pädagogik Schleiermachers und ihrer philosophisch-geisteswissenschaftlichen Rezeption. In ihren Arbeiten stellen die zitierten Erziehungswissenschaftler normative Vorannahmen heraus, mit denen Schleiermachers Konzept der Gesinnungsbildung begründet und gesichert werde. So könne er das Risiko einer dem freien Leben überlassenen Willensorientierung der zu Erziehenden nur eingehen, weil er von einer Gleichsetzung von Entwicklung und guter Entwicklung, von Freiheit und Sittlichkeit ausgehe, so Kleint. Die Forderung nach freier Entwicklung der Individualität könne er nur stellen, weil er eine Passung von Individualität und Allgemeinheit annehme, so Bermges. Da das Individuelle als Teil des Ganzen gedacht werde, könne es keine wirklichen Widersprüche und Verletzungen geben, sondern nur harmonische Ergänzungen. Demnach sei „die Verwirklichung der Eigentümlichkeit bei Schleiermacher ganz undialektisch die harmonischste Form des Menschseins: Die Entdeckung
Bermges 2010, S. 126. Bartel 2012, S. 229.
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und Ausfaltung der Eigentümlichkeit des Einzelnen koinzidiert mit den Individuationen der allgemeinen Menschheit, denn die ‚menschliche Gattung realisiert sich nur in der Unendlichkeit der persönlichen Differenzen‘“¹⁴. Humane Entwicklung scheint teleologisch gesichert. „Die Entfaltung des individuellen telos ist hier also mit der Entfaltung des allgemeinen telos identisch“¹⁵. Religion wird in der romantischen Sicht zum einen als Grundlage für Pluralität und Individualität herangezogen, andererseits behält sie als Einheitsgrund und höchste Stufe des Selbstbewusstseins eine teleologische Funktion. Beide Autoren führen an, Schleiermachers pädagogische Theorie bleibe zu offen, sie überlasse zu viel der Praxis und den darin handelnden Personen, und das erscheine umso problematischer, wenn Schleiermachers metaphysische Sicherungen entfallen. Nach Bartels Ausführungen ist die gesamte Gesinnungsbildung Domäne religiöstheologischer Ansprüche, so dass seine Pädagogik nicht nur normative Vorgaben für Pädagogik enthalte, sondern auf gar kein genuin pädagogisches Interesse zurückgreife. „Aus dem Bewusstsein der religiösen Mission erstrebt er die Weiterentwicklung des ethischen Zusammenlebens in der Gesellschaft, denn lediglich »mit« Religion ist moralisches Handeln möglich. Die Religion verfährt aus einem übergeordneten Standpunkt ziel- und richtungsweisend, somit kommt ihr binnen des soziokulturellen Lebens eine Leitungsfunktion zu. In der Obliegenheit, die Entwicklung humaner Existenz für das »Höhere und Göttliche« zu fördern, kulminieren vorerst Schleiermachers pädagogische Interessen“¹⁶. Der zunächst auf einzelne Texte bezogene Befund wird zum allgemeinen Urteil: „Von einem originär pädagogischen Interesse Schleiermachers kann in dieser Arbeit kaum ausgegangen werden“¹⁷. Bartels Rückführung der Pädagogik Schleiermachers auf „christliches Gedankengut“¹⁸ vollzieht sich als Abkehr von geisteswissenschaftlicher als normativer Pädagogik im Ganzen. Erziehungstheorie soll nicht normativ sein. Darin sind sich die angeführten Untersuchungen zu Schleiermachers Pädagogik einig. Die Rede von einer „nicht-normativen Theorie der Erziehung“ ist indes missverständlich. Teils wird darunter Wertneutralität im Sinne der empirisch-analytischen Wissenschaft, teils Analyse und Kritik von Normen verstanden. In jedem Falle besteht die Gefahr, die eingenommene Haltung selbst nicht als normierende mit zu bedenken. So kann die Wertneutralität der Empirie zur Norm der Meßinstrumente oder der Meßbarkeit selbst werden (Lutz Koch spricht treffend von „normativer Empirie“¹⁹). So geraten aber auch die Kriterien und Maßstäbe von Analysen immer wieder zur Normierung des Blicks und der Diskurse,
Bermges 2010, S. 211. Ebd., S. 213. Bartel 2012, S. 13. Ebd., S. 12. Ebd., S. 229. Lutz Koch: Eine neue Bildungstheorie? Qualitätsentwicklung, Neues Steuerungsmodell, Evaluation und Standards. In: Ursula Frost (Hrsg.): Unternehmen Bildung, Paderborn 2006, 126 – 139.
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auf die sie sich beziehen. Nach Dietrich Benner meint eine nicht-normative Theorie der Erziehung eine solche, die bestehende normative Ansprüche unterschiedlichster Herkunft auf die „konstitutive Fragestruktur“ individueller und gesellschaftlicher Lernprozesse und auf die Fraglichkeit des „Experiments, Menschen mit Hilfe von Menschen zu bilden“, bezieht.²⁰ Alle möglichen Arten von Normen, die Anspruch auf Erziehung erheben, sollen hier in doppelter Weise reflexiv gebrochen werden; zum einen, indem sie in je neuen Lernprozessen sachlicher Auseinandersetzung unterworfen, zum anderen, indem sie auf die Fraglichkeit menschlicher Selbstwerdung bezogen werden. Damit ist eine pädagogisch ungefilterte Funktionalisierung der Erziehung und Bildung für bestehende Normen abgewiesen, aber auf einer zweiten Ebene wird pädagogische Theorie in einem weiten Sinne selbst normativ, nämlich indem sie für die Ermöglichung des Fragens in bestimmtem Sinne eintritt. Die „konstitutive Fragestruktur“ sachlicher Auseinandersetzung und der Bezugshorizont der Bildung als Menschwerdung drücken selbst Ansprüche eines bestimmten Welt- und Menschenbildes aus, das Reflexion im Sinne von Erkenntnissuche und Freiheitsversuchen in den Lebensentwurf von Individuen und Gesellschaften mindestens einbezieht und sich damit gegen Menschen anders beanspruchende Normen zur Wehr setzt. Die Betonung des Fragens und der Fraglichkeit in Bezug auf Sachen und Menschen eröffnet einen anderen Horizont als etwa die Konzentration auf Problemlösen und Funktionalität. Auf dieser Ebene lässt sich das Problem der Normativität nicht aus der Pädagogik ausschließen. Bartel liefert mit ihrer Arbeit selbst einen Beleg dafür, wenn sie am Ende ein Bekenntnis ablegt für den Pragmatismus Deweys, für die empirische Bildungsforschung und das Kompetenzmodell, das durch PISA und Bologna verwirklicht wurde.
4. Schleiermachers aufklärerischer Humanismus Schleiermachers Konzept der Gesinnungsbildung steht unzweifelhaft im Zusammenhang mit seiner großen Vision einer humanen Selbstbestimmung der Menschheit. Seine Theorie der Erziehung setzt gleichwohl bei der realen Gesellschaft an, in der sie stattfindet, hofft aber auf jenen Fortschritt der Generationen, den Kant in seinem berühmten Aufklärungsaufsatz andeutet und auslösen will. Der Kontrast zwischen der Beschreibung realer Verhältnisse und dem Selbstbestimmungsanspruch hat schon in Kants Aufklärungsaufsatz appellativen Charakter. Es geht um die Lösung aus herrschenden Vormundschaften durch die Anstrengung des Selberdenkens und um die Ermöglichung politischer und moralischer Freiheit durch den öffentlichen Vernunftgebrauch. Von diesem soll nach Kant, unter Umgehung gängiger Praktiken, ein
Dietrich Benner: Studien zur Theorie der Erziehung und Bildung, Weinheim 1995, 166.
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Lernprozess über Generationen hinweg ausgehen²¹, der eine Orientierung an theoretischer und praktischer Vernunft statt an kurzschlüssigen Eigeninteressen bewirkt, so dass Eltern nicht nur das gesellschaftliche „Fortkommen“ ihrer Kinder, Regierende nicht nur die Stabilisierung ihrer Machtstrukturen wollen.²² Wenn Schleiermacher die „Lösung der sittlichen Aufgabe“ zum „Beruf“ des Menschen als Menschen erklärt, dann ist damit nicht nur eine Erweiterung der ethischen Perspektive, sondern zugleich ihre Überantwortung an die Praxis selbst gemeint. Fragen zu stellen, eigene Antworten zu geben und selbst Verantwortung zu übernehmen, bedeutet am Prozess der offenen Bestimmung des Menschseins teilzunehmen. Sittlichkeit ist dabei keine Selbstverständlichkeit, sondern nur eine Möglichkeit. Aber diese Möglichkeit kann eröffnet oder verstellt werden. Sie zu eröffnen, bedarf einer gemeinschaftlichen Anstrengung aller gesellschaftlichen Mächte und Gruppen und ist kein spezieller Auftrag für ausgewählte Berufsgruppen, wie etwa Lehrer und Professoren. Deshalb nimmt er in seiner Pädagogikvorlesung von 1826 bekanntlich die jeweils gesamte Generation von Erwachsenen einer Gesellschaft in die erzieherische Verantwortung. Der bis heute kaum abzuweisende Grundgedanke dabei ist: Erzieherisch wirken nicht nur pädagogisch intendierte Maßnahmen und Institutionen, sondern der entscheidende Einfluss geht von der tatsächlichen Orientierung der Menschen in einer Gesellschaft aus.
4.1 Jede Gesellschaft hat die Erziehungstheorie, die sie (sich) verdient Lange vor Emile Durkheim sah Schleiermacher die Gebundenheit der Erziehung an und ihre Abhängigkeit von der jeweiligen Gesellschaft, in der sich ihre Praxis und Theorie entwickelt. Daraus resultierte für ihn aber weniger der fremde Blick bloß empirischer oder struktureller Analyse als vielmehr in erster Linie ein Impetus aufklärerischer Reform. Wissenschaft von Erziehung soll demzufolge nicht selbstbezüglich sein und die Verwendung ihrer Ergebnisse einer ihr äußerlichen Praxis überlassen. Stattdessen dient sie der kritischen Reflexion und ethischen Erneuerung einer Praxis, und zwar zunächst immer der je gegebenen faktischen Erziehungspraxis in einer bestimmten gesellschaftlichen Situation. Dabei kommt dieser Praxis aber eine zu beachtende eigene Würde zu, weniger aufgrund der bestehenden Strukturen und Funktionen als hinsichtlich der darin handelnden Personen, die erzieherisch wirken. Unter dem Hinweis auf die „Dignität der Praxis“²³ wird deren Eigenrecht betont, das
Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Werkausgabe Bd. 11, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M. 1964, S. 58. Immanuel Kant: Über Pädagogik. In: Werkausgabe Bd. 12, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M.1964, S. 704. Friedrich Schleiermacher: Texte zur Pädagogik. Kommentierte Studienausgabe Bd. 2, hrsg. von Michael Winkler und Jens Brachmann, Frankfurt a.M. 2000, S. 11.
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durch den geschichtlichen Rahmen von Traditionen, vor allem aber durch die Unvorgreiflichkeit und Unverfügbarkeit des Miteinanderhandelns lebendiger Personen begründet ist und daher nicht beliebig konstruiert und verplant werden darf. Pädagogische Theorie ist für Schleiermacher gerade in ihrer kritisch reformerischen Ausrichtung nicht ohne großen Respekt vor dem Eigenrecht der Erziehungspraxis zu denken. Keinesfalls kann sie, ohne die Freiheit, den Handlungsspielraum und die eigene Reflexion der beteiligten Personen zu berücksichtigen, von außen ‚innoviert‘ werden. Denn gerade ihre freie Selbstbestimmung ist ja das Ziel. Eben darum liegt die Dignität der Praxis andererseits aber nicht schon in der bloßen Faktizität begründet, sonst wären alle Formen und Praktiken der Erziehung, die in einer Gesellschaft tatsächlich vorkommen, eo ipso sakrosankt. Dagegen schafft erst das Bemühen einer offenen, reflektierten Auseinandersetzung um das, was eine gute Erziehung ausmacht, die Spannung zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit, die jeweils den Horizont des Handelns und seiner Verantwortung eröffnet. Gesellschaftliche Praxis hat da ihre eigene Dignität, wo dieser Horizont wahrgenommen wird. In diesem Sinne ist die Qualität von Erziehung und Bildung von der je gesellschaftlich entwickelten Sittlichkeit bzw. Ethik her zu ermessen.²⁴ Schleiermacher unterstellt damit das pädagogische ‚Praxisfeld‘ nicht einfach gesellschaftlicher Funktionalität oder professionellem Management, sondern fordert mit dem Hinweis auf gesellschaftliche Abhängigkeit alle gesellschaftlichen Kräfte zur ethischen Anstrengung heraus. Ihm erscheint es ebenso absurd, die Qualität von Erziehung und Bildung als partielles Feld losgelöst von den gesellschaftlichen Bedingungen erfassen zu wollen, wie auch, sie unabhängig von den ethischen Anstrengungen einer Gesellschaft zu diskutieren. In diesen Zusammenhang gehört auch die Bestimmung der Art von Pädagogik, die sich eine Gesellschaft leistet: Sie ist ihrerseits Indiz für die Entwicklung einer Gesellschaft im Umgang mit Freiheit.
4.2 Pädagogik und Politik müssen koordiniert, nicht kurzgeschlossen werden Pädagogisches Denken und Handeln haben insofern immer eine eminent politische Dimension, als sie zugleich Grundlage und Aufgabe der Politik sind. Pädagogik und Politik sind in ihrer Wirkung aufeinander bezogen. Was die eine hervorbringt, gibt der anderen ihre Bedingungen vor. Beide müssen gut „koordiniert“²⁵ sein, wenn die sinnvolle Gestaltung eines öffentlichen Gemeinwesens gelingen soll. Für Schleiermacher war klar, dass mit den wachsenden Spielräumen bürgerlicher bzw. humaner Freiheit und Verantwortung die pädagogische und die politische Praxis eng anein-
Vgl. dazu auch Birgitta Fuchs: Schleiermachers dialektische Grundlegung der Pädagogik. Klärende Theorie und besonnene Praxis, Bad Heilbrunn/ Obb. 1998. Schleiermacher 2000, S. 13.
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ander rücken. Ihre gemeinsame Mitte müsse der offene Prozess eines Miteinanderhandelns verantwortlicher Personen sein; in der Erziehung tragen dabei die schon etablierten und – im besten Falle – gebildeten Erwachsenengenerationen die Hauptverantwortung gegenüber der nachwachsenden, während in der Politik die gleichartige Verantwortlichkeit aller Beteiligten anzusetzen sei. Schleiermacher, sicher kein Demokrat im heutigen Verständnis, verlangte die Teilhabe aller an der pädagogischen und politischen Praxis unter prinzipieller Gleichheit und Gemeinsamkeit über soziale, kulturelle und individuelle Differenzen hinweg durchzusetzen. Das bedeutete für ihn in pädagogischer Hinsicht die Stärkung der allgemeinen Bildung als gemeinsame Bildung gegenüber Privaterziehung und Standesbildung. In der Politik sollte bürgerliche Selbstbestimmung als Grundlage und Kontrolle der Regierung eingerichtet werden. Individuelle und kulturelle Differenzen sollten dabei nicht nur berücksichtigt, sondern überall gefördert werden – solange sie irgend ethisch vertretbar erscheinen. Sein zentraler Gesichtspunkt dabei: In der pädagogischen wie in der politischen Praxis dürfen Menschen als Mithandelnde niemals zu bloßen Objekten von Handlungen degradiert werden. Der Demokratie als Verfassungsform stand Schleiermacher skeptisch gegenüber. Er befürchtete an ihr wie viele seiner Zeitgenossen das „Tumultarische“, den blinden Kampf aller gegen alle um die Durchsetzung von Interessen. Sein Argument ist, dass dieser Kampf ein gemeinsames Handeln verhindert. Dem bloßen Kampf der Interessen gegenüber eröffne nur die Suche nach Orientierung und ethischen Maßstäben gemeinsames Handeln. Gerade weil es um ein solches geht, sind aber auch politische Vorgaben inakzeptabel, die mit den Betroffenen nicht abgestimmt sind. Die Differenz von Regierenden und Regierten sei nur zu rechtfertigen durch eine ebenso umfassende wie intensive Gesprächsführung; so müsse Regieren dezentralisiert und pluralisiert werden.²⁶
4.3 Pädagogisches Handeln bezieht sich auf freie Personen als mündige Gesellschaftsmitglieder und zugleich widerständige Individuen Schleiermachers Pädagogik liegen in der Tat normative Vorentscheidungen zugrunde: In ihr werden die zu Erziehenden von Anfang an als Personen betrachtet, die nie bloße Objekte des Erziehungshandelns sein dürfen, sondern denen durch die Anerkennung Die Konzentration der Macht soll den politischen Handlungsraum für die „Regierten“ nicht nur beschränken, sondern in gewissem Sinne erst eröffnen. Monarchie impliziert in Schleiermachers Verständnis Demokratisierungsprozesse. „Wenn nun aber in diesem größten und umfassendsten Staat der Gegensatz zwischen Regent und Unterthan so weit auseinander gelegt ist: so giebt es auch einen desto größeren Spielraum für die vielseitigsten und lebendigsten Einwirkungen des einen Theils auf den andern, deren auch das Bestehen des Ganzen durchaus bedarf“ (KGA I, 11, S. 121; vgl. auch KGA I,11,S. 109; vgl. KGA II,8, S. 70).
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ihres Subjektstatus prinzipiell eine Mitwirkung zugestanden wird. Des Weiteren werden Menschen in der Tat gleichermaßen als soziale Wesen wie auch als Individuen gesehen. Dass Individualität gegen Gemeinschaft streiten kann, ändert nichts am doppelten Ziel der Erziehung: die Bildung zum Miteinanderhandeln in Gesellschaft und Gemeinschaft einerseits und die Ausbildung der eigenen Individualität andererseits. Für beide Teilziele ist die oszillierende Spannung von Individualität und Gemeinschaft, von Selbstsein und Mitsein maßgebend, so dass mündige Teilhabe an Gesellschaft auch Kritik und individuelle Persönlichkeitsbildung sowohl Abweichung als auch gegenseitige Mitteilung und Anerkennung einschließt. Das Sperrige individueller Bildung, die in einem gegebenen oder gedachten Ganzen nicht aufgeht, wäre hier gerade als nicht vorschnell zu glättende Spannung einzutragen. Es aber nicht auf ein größeres Ganzes zu beziehen, würde nicht nur seine Sittlichkeit infrage stellen, sondern es zu gesellschaftlicher Unsichtbarkeit und Nichtlebbarkeit verdammen.²⁷ So ist gesellschaftliche Teilhabe über bloßes Funktionieren hinaus immer auch auf Widerspruch und kritische Auseinandersetzung gerichtet; individuelle Selbstwerdung über bloßes Abgrenzen hinaus ist immer auf die Wahrnehmung und Anerkennung der Anderen in ihrem Eigenrecht bezogen. Für beide Seiten gilt der Verweisungszusammenhang von Mit-teilen und Ver-antworten, der in Schleiermachers ethischem Modell grundgelegt ist und in seiner pädagogischen Handlungstheorie ausgeführt wird.
5. Erziehung als Unterstützung von Gesinnungsbildung Was erzieherisches Handeln im Einzelnen bewirken will, kann angemessen nur im oben angegebenen Zielhorizont bedacht werden, denn die Tätigkeit muss am Zweck, das Resultat an der Tätigkeit gemessen werden. Dieser systematische Zusammenhang kann nicht ohne Schaden aufgelöst oder umgekehrt werden (wie etwa bei derzeit gängigen Zielvereinbarungen, Outputorientierung, Außensteuerung etc.). Demgemäß ist die Unterscheidung zwischen Fertigkeiten und Gesinnung von grundlegender Bedeutung. „Die Erweckung und Befestigung der Gesinnung umfaßt das freie Gebiet, die Entwicklung der Fertigkeit das methodische, technische Gebiet, beides zusammen das ganze Gebiet der Erziehung.“²⁸
Die polare Verklammerung von Individuum und Gemeinschaft in der Pädagogikvorlesung dient sowohl einer Verpflichtung des Einzelnen auf die Gemeinschaft als auch der Veränderung von Gemeinschaft durch Individualität. Nur wenn individuelle Bildung nicht nur Abgrenzung, sondern auch Mitteilung umfasst, kann tatsächlich Wahrnehmung und Anerkennung des bzw. der je Anderen und gesellschaftliche Veränderung möglich werden. Vgl. Schleiermacher 2000, S. 34. Ebd. S. 115.
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5.1 Die Differenz von Fertigkeiten und Gesinnung Ein Begriff von Erziehung ist nur dann nicht defizitär, wenn er sowohl die Entwicklung von Fertigkeiten als auch von Gesinnung umfasst. Während Fertigkeiten alles bezeichnen, was nach Regeln gelernt und ausgeführt werden kann, also physische, psychische und geistige Operationen und Techniken, die vermittelbar im Sinne der Übertragbarkeit sind, meint Gesinnung die unvertretbare individuell subjektive Haltung, die allgemeine Einstellung des Willens, die jeweils den einzelnen Willensakten eines Menschen zugrunde liegt. Beiden eignet eine verschiedenartige Güte, weshalb ihre Unterscheidung in der Erziehung Schleiermacher so wichtig ist. Sowohl Fertigkeiten als auch Gesinnung können auch ohne erzieherischen Einfluss durch bloße Sozialisation entwickelt werden. Das Gütekriterium eines pädagogischen Handelns liegt demgegenüber für die Fertigkeiten in ihrer sachlichen Angemessenheit; Aufgabe der Erziehung ist es hier, „Vollständigkeit, Ordnung und Zusammenhang“ in die Entwicklung zu bringen. Für die Entwicklung der Gesinnung liegt die Aufgabe darin, „die Bewußtlosigkeit in Hinsicht des Einflusses zum Bewußtsein“ zu erheben. Das Ziel liegt hier darin, die erworbene Haltung als solche zu durchschauen und sich von bloß übernommenen Mustern in Richtung eigenständigen Denkens und Handelns zu bewegen. Pädagogisches Handeln hat hier zu berücksichtigen und zu unterstützen, dass „ein entwickeltes Bewußtsein in ein sich entwickelndes Bewußtsein hineintrete“²⁹. Fertigkeiten und Gesinnung sind gleichermaßen dem Doppelziel der Erziehung zuzuordnen; sowohl für die gesellschaftliche Teilhabe als auch für die Ausprägung der eigenen Individualität bedarf es einer Beherrschung von Operationen und Techniken bis hin zu dem, was Schleiermacher „mechanische Virtuosität“ nennt, und einer möglichst durchdachten und entschiedenen Haltung bis hin zu dem, was Schleiermacher „die fortwirkende Kraft der Begeisterung“ nennt. Er lässt keinen Zweifel, was das „Höhere“ und Schwerere in der „Kunst“ der Erziehung sei: „Gewiß nur das letztere.“³⁰ Denn Fertigkeiten sind regelbar, Gesinnung meint die Möglichkeit von Freiheit.
5.2 Letztlich kann nur in Freiheit zur Freiheit erzogen werden Kants Erziehungsparadox „Wie kann ich die Freiheit kultivieren bei dem Zwange?“ wird bei Schleiermacher handlungstheoretisch weitergedacht. Während Kant auf den Sprung zwischen der Vermittelbarkeit auf den Erziehungsstufen der Disziplinierung, Kultivierung, Zivilisierung und der nötigen Selbstübernahme auf der Stufe der Moralisierung, die nicht mehr zu bewirken, sondern schon Ausdruck der Freiheit ist, nur verweist, bedenkt Schleiermacher die pädagogischen Konsequenzen. Die erzieherische Tätigkeit muss ihr planvolles Wirken auf den Bereich der Fertigkeiten be-
Ebd. S. 146. Ebd. S. 126.
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schränken und die Bildung der Gesinnung an das nicht geregelte Leben freigeben, so seine Überlegung. Das bedeutet ihm zufolge keine Preisgabe der Erziehung für diesen Bereich, sondern knüpft an die Voraussetzung einer schon bewussten Freiheitspraxis in verschiedenen Bezügen des individuellen und gesellschaftlichen Lebens an. Dazu gehören für ihn die mit der Aufklärung beginnende politische Freiheit des Bürgers neben der Freiheit der Christenmenschen und die Freiheit der Wissenschaft neben der Freiheit des geselligen Verkehrs. Gesinnung bildet sich bei der jüngeren Generation durch das Beispiel des mündigen Gebrauchs der Freiheit durch die Erwachsenen und durch die Zumutung eigener Freiheit an die Jugend. Erzieherische Einwirkung im positiven Sinne geschieht durch die Artikulation von Gesinnung; durch Billigung und Missbilligung: „Durch diese soll die Gesinnung erweckt und entwickelt werden; und zwar in jener vierfachen Beziehung auf das bürgerliche und religiöse Gemeinwesen, auf das gesellige Leben und auf alles, was Steigerung der Erkenntnis bezweckt, bis zur Wissenschaft hinauf.“³¹ Gesinnungsbildung ist damit auf die Erfahrung der kritischen Auseinandersetzung und der mutigen Stellungnahme in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen als Freiheitspraxen angewiesen. „In der Familie allein kann dies nicht geschehen; es muß in einem eigentlich gemeinsamen Leben geschehen.“³² Während Operationen und Techniken nach Regeln erlernt und durch Übung vervollkommnet werden können, geht es in der persönlichen Haltung und Einstellung gerade darum, Regeln zu befragen und neu zu bestimmen. Hier kommt die Spannung von Regeln und Freiheit ins Spiel. „Im Leben bleibt immer der Gegensatz von Regel und Freiheit; dies muß die Erziehung berücksichtigen.“³³ Zwar ist nach Schleiermacher der Gegensatz von Regeln und Freiheit, Fertigkeiten und Gesinnung nur ein relativer, weil beides einander durchdringt, aber für die Erziehung ist die Spannung zwischen beidem unbedingt zu beachten, wenn die Zielbestimmung nicht unterwandert und verkehrt werden soll. Denn die Fertigkeiten bringen ihre eigene implizite Gesinnung mit sich, die sich in der Ausübung als Muster festsetzen. So bringen die Techniken der Wahrnehmung „Weltanschauung“ hervor, die Techniken des selbsttätigen Eingreifens in die Welt Muster der „Weltbildung und Beherrschung“³⁴. Daher gilt es gerade demgegenüber für die Erziehung zu differenzieren: „es ist eine andere Art der Einwirkung auf die zu erziehende Generation, wodurch die Gesinnung, und wodurch die Fertigkeit entwickelt wird.“³⁵ Denn die den Fertigkeiten implizite Gesinnung gehört zum „entwickelten Bewußtsein“ und fordert nicht zum Übergang in ein „sich entwickelndes Bewußtsein“ heraus. Um die Möglichkeit des letzteren nicht zu umgehen,
Ebd., S. 156. Ebd. Ebd., S. 111. Ebd., S. 148 ff. Ebd., S. 149.
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fordert Schleiermacher: „Das streng methodische technische Verfahren darf aber bei der Einwirkung auf die Gesinnung nicht eintreten.“³⁶ Pädagogisches Handeln muss mit der möglichen Freiheit des Gegenübers ‚rechnen‘ und darf daher nicht alles unter Regeln bringen und steuern wollen. „Die Erziehung enthält dann keine Aufforderung zu einem lebendigen freien Handeln, und hindert, die ursprüngliche Freiheit zu gebrauchen …“³⁷. Dies wäre nicht nur ein performativer Widerspruch, der das Erziehungsziel unter der Hand verkehrte, sondern brächte auch einen Machtmissbrauch in das Generationenverhältnis. „Es wäre die offenbarste Verschiedenheit zwischen denjenigen, welche die Regel geben und nach ihr leben, und den anderen, die, ohne sie gegeben zu haben, ihr Folge leisten sollten; jene hätten die höhere Potenz des menschlichen Lebens, diese scheinen nur das Leben jener fortzusetzen, nur als untergeordnete Organe gar nicht mit eigenem Leben ausgerüstet. Das dies das Rechte nicht sei, ist klar.“³⁸ Erziehung zur Freiheit ist nur durch das Zugeständnis von Freiheit in der Spannung zu gegebenen Regeln sinnvoll. Das müssen Erwachsene verantwortlich vorleben. Es geht Schleiermacher um die Rechenschaft politischer Regeln vor dem „Gemeingeist“; religiös-kirchlicher Gebote vor einer „christlichen Gesinnung“; wissenschaftlicher Kenntnisse und Fertigkeiten vor einer „wissenschaftlichen Gesinnung“ und der sozialen Regeln des informellen geselligen Verkehrs vor einer Art ästhetischen Gewissens, nämlich der Wahrnehmung des Anderen mit „Sinn für das Anmutige und Schöne“³⁹. Dass Gesinnungsbildung dabei an Gemeinschaft verwiesen ist, bedeutet, dass Freiheit in Schleiermachers Sinne zum einen immer die Achtung und Berücksichtigung der Freiheit der Anderen einbezieht, und zum anderen, dass Freiheitspraxen sich nur in der gegenseitigen Bezugnahme von Personen in Sprechen und Handeln verwirklichen können.
6. Ausblick: Wucherung der Fertigkeiten, Mangel an Gesinnung. – Ein desillusionierender Blick mit Schleiermacher auf die heutige Gesellschaft Der Impetus aufklärerischer Reform, den Schleiermacher mitgeprägt hat, hat sich im professionalisierten Bildungssystem zu einem beschleunigten Dauerspektakel verselbstständigt, ohne noch an humane Leitideen gebunden zu sein. Die ethische Fundierung ist in den Transformationen der Pädagogik zu Erziehungs- und Bildungswissenschaft weitgehend einem „neutralen“ Wissenschaftsverständnis zum Opfer gefallen, ähnliches gilt in der Politikwissenschaft; in der pädagogischen und
Ebd., S. 125. Ebd., S. 112. Ebd., S. 111 f. Ebd., S. 116 ff.
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politischen Praxis kann sie kaum noch als Feigenblatt ausgemacht werden. Pädagogisches Handeln richtet sich nicht an freie Personen, sondern an kybernetische Steuerungssysteme, die als Lerner und Lernorganisierer bzw. Selbstorganisierer auftreten. Schulen sind im selben Sinne lernende Systeme, die von außen entwickelt, gewartet und technisch überprüft werden müssen. Freiheit ist allein dem Markt vorbehalten und denen, die ihn vertreten und beherrschen. Um an dieser Freiheit partizipieren zu können, muss man sich seinen Gesetzen unterwerfen und allein von ihm Segnungen und Gratifikationen erwarten. Erziehung und Bildung, ihre Spannungen, Differenzen und Hoffnungen, sind im vereinheitlichenden Kompetenzmodell untergegangen. Überlebt hat die Perspektive der Steigerung. Aber sie ist nicht mehr die Perspektive einer über Generationen hinweg anzuregenden Steigerung einer Orientierung im Denken und Humanisierung aller Lebensverhältnisse, sondern die einer jederzeit sofort einzufordernden und zu erbringenden Steigerung von Leistung, die sich auf das pure Können reduziert hat. Das Subjekt der Freiheit in Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft als pädagogisches Leitbild ist zum selbstverantwortlichen Mehr- oder Minderleister für beliebige Verwertungskontexte mutiert. Erziehung richtet sich auf Fertigkeiten und die Potenzierung von Fertigkeiten, nicht auf Gesinnung. Fertigkeiten werden keineswegs nach ihrer sachlichen Angemessenheit beurteilt, sondern nach der Messbarkeit des Könnens. Dieses wird Bildung genannt. Bildung erweist sich also nicht am Maßstab geistiger Horizonte, sondern an vorgefertigten Produktstandards nach Industrienormen. Im gemessenen Können löst sich die Vielfalt der sachlichen und mitmenschlichen Ansprüche auf in ihre kompetente Bewältigung, die am besten gelingt, wo sie von der Begegnung mit dem Anderen unberührt bleibt. Die verlangte Kette erfolgreicher Bewältigung von Herausforderungen des Könnens – ‚Problemlösungen‘ – macht immun gegen mögliche Widerstände des Bewältigten. Dazu verhilft die Verselbstständigung der Messlatten: Es herrscht eine unabsehbare Wucherung willkürlicher Standardisierung und Produktion von Fertigkeiten und ein eklatanter Mangel an Gesinnung. Die den Fertigkeiten implizite Gesinnung ist an ihre Stelle getreten und verhindert das politische, religiöse, wissenschaftliche und soziale Gewissen. Die politische Hoffnung auf die Gemeinschaft widerständiger Individuen ist verblasst gegenüber dem Verweis an soziale Kompetenzen als (Anpassungs‐) Leistung des Einzelnen. Das religiöse Engagement neigt zu gesellschaftlicher Defensive und sucht als religiöse Kompetenz Angleichung – oder pervertiert zu Fundamentalismen. Wissenschaft pocht kaum noch auf ihre Autonomie, sondern tritt als gesellschaftlicher Zulieferer auf, organisiert sich betrieblich und produziert Wissen belohnungs-, absatz- oder wegwerforientiert. Die freie Geselligkeit als nichtöffentlicher Rückzugsort für die Erprobung abweichender Individualität verschwindet in der Vielzahl der Markt- und Konsumprodukte, die als Kulturindustrie alle Orte längst aufgesucht und mit Mustern des Leistens und Sichleistenkönnens überzogen und umgeschrieben haben. Wettbewerb und Vorteilssicherung stehen bei all dem im Vordergrund und setzen auf den Kampf der Interessen gegen die Möglichkeit der Gemeinschaftsbildung. Die
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Prüfung gesellschaftlicher Regeln und Strukturen wird dabei mit organisiert und erfolgt nach eben denselben Regeln und Strukturen, so dass diese perpetuiert werden. Das sensible Gleichgewicht zwischen verschiedenartigen kulturellen und sozialen Gemeinschaften und ihren Gewissensformen wird nicht mehr als anthropologisches Experiment unter ethischen Leitfragen wahrgenommen. Vielmehr scheinen alle Menschheitsfragen zur kompetitiven Bewerbung von Problemlösern ausgeschrieben zu sein.⁴⁰ Vielleicht wäre es ja an der Zeit, angeregt von Schleiermacher, Bildung nicht als Produkt, sondern als Grenze der Erziehung aufzufassen, wie Bermges vorschlägt. Schleiermachers Erziehungstheorie bestimmt und fordert eine Erziehung, die dem bloßen Bewirken-wollen (als Steuern und Beurteilen) Grenzen setzt, ohne die pädagogische Verantwortung damit enden zu lassen. Die Möglichkeit von Freiheit zuzugestehen, schafft erst den Raum, in dem einzigartige Personen sich zeigen und bewegen können. Sie in all ihrer Unsicherheit, Schönheit und Verletzlichkeit wahrzunehmen und zu unterstützen gehört ebenso zu dieser Verantwortung wie die Herausforderung des Gewissens in seinen unterschiedlichen Bezügen als politisch-soziales und persönlich-ästhetisches, als wissenschaftliches und als religiöses. Das würde bedeuten, in den Lebens- und Bildungsräumen unserer Gesellschaft gemeinsam zu lernen, erwachsen zu werden, denn Erwachsenwerden heißt, wie jüngst die Potsdamer Philosophin Susan Neiman erinnert hat, nicht nur fähig zu werden, die Spiele und Spielregeln unserer Gesellschaft mitzuspielen, sondern faktische Realitäten unter ideale Ansprüche zu stellen und aus dieser Differenz sein Leben zu gestalten.⁴¹ Besser kann man kaum zum Ausdruck bringen, was Schleiermacher uns mit seinem Konzept der Gesinnungsbildung zumutet.
Das gilt auch für Bildung; als ein Beispiel sei hier verwiesen auf Richard David Precht: Anna, die Schule und der liebe Gott. Der Verrat des Bildungssystems an unseren Kindern, München 2015. Susan Neiman: Why grow up? London 2014. Dt. Übers.: Warum erwachsen werden? Eine philosophische Ermutigung. Aus dem Engl. von Michael Bischoff, München 2015.
Hartmut Kreß / Bonn
Kinderrechte heute – im Gegenüber zur Sicht der Kindheit in der Aufklärung und bei Schleiermacher. Mit kritischen Hinweisen auf Schattenseiten und Grenzen der Überlegungen Schleiermachers
Die Humanität einer Gesellschaft ist in besonderem Maß daran abzulesen, wie sie sich zu vulnerablen Gruppen, zu ihren schwächeren und verletzlichen Angehörigen verhält. Zu denjenigen, die als vulnerabel zu betrachten sind, gehören auf jeden Fall Kinder. Im Folgenden werde ich die Sicht von Kindern und Kindheit bei Schleiermacher ansprechen – und zwar im Horizont der damaligen Epoche,vor allem im Vergleich mit der jüdischen Aufklärung –, um abschließend auf heutige Problemstellungen einzugehen. Ein Blick auf die Gegenwart soll vorab als Einstieg dienen.
1. Durchbruch im ausgehenden 20. Jahrhundert: Die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen Kinder sind schutzwürdig und schutzbedürftig, weil sie insbesondere im frühen Kindesalter und in jüngeren Lebensjahren ihre Interessen noch nicht selbständig zur Sprache bringen, geschweige denn durchsetzen können. Umso dringlicher ist es geboten, dass sich die Ethik und die Rechtsordnung mit ihren Schutzansprüchen befassen. Vor ca. 25 Jahren kam ein Dokument zustande, das in dieser Hinsicht eine Schlüsselstellung besitzt, das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes, kurz: die UN-Kinderrechtskonvention, die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 20. November 1989 verabschiedet worden ist. Sie symbolisiert ethischen Fortschritt, einen kulturellen Zugewinn an Humanität und ist als epochaler Durchbruch zu würdigen, weil sie Kinder als eigenständige Rechtssubjekte versteht und ihnen persönliche Grundrechte zuschreibt. Zu den Abwehr-, Schutz- und Freiheitsrechten von Kindern gehören ihr Recht auf Gesundheitsschutz, auf Gewissens- und Religionsfreiheit oder ihr Recht auf Bildung. Es war freilich ein langwieriger Prozess gewesen, bis es zur Kodifizierung solcher Kinderrechte in einer eigenen Menschenrechtskonvention kam. Kulturgeschichtlich waren andere Akzente gesetzt worden. Jahrhundertelang hatten Kinder nicht als Menschen mit eigenen Rechten, sondern als das Eigentum der Eltern oder als unfertige Menschen bzw. als unfertige oder kleine Erwachsene gegolten. Das griechische Wort für „Kind“ (pais) bedeutete zugleich „Knecht“ oder „Sklave“. Noch Martin Luther sprach im Sinn der ständischen Gesellschaft des Mittelalters in einem Atemzug von DOI 10.1515/9783110464573-004
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„Kindern und Gesinde“. Diese Gruppe war der patriarchalen Gewalt des Familienoberhauptes, des Hausherrn, des pater familias unterstellt.¹ Im Mittelalter hatte man Kinder offenbar noch nicht einmal unbedingt als Individuen mit persönlicher Identität empfunden. Es war nicht zwingend, ihnen einen eigenen Namen zu geben; denkbar war, sie nach der Reihenfolge der Geburt durch Beinamen zu unterscheiden.² Noch in der Zeit Montaignes finden sich Äußerungen, die darauf hindeuten, dass insbesondere kleine Kinder nicht als eigenständige Persönlichkeiten galten und ihr Tod nicht als Verlust eines unverwechselbaren Menschen erschien.³ Dies erklärt sich auch aus der damaligen extremen Kindersterblichkeit. Daneben spielten gedanklich weitere Motive eine Rolle. So hielt der Aufklärungsphilosoph René Descartes das Kind für einen Gegenstand des Erschreckens und des Unglücks, weil ihm die Vernunft als Merkmal des Menschseins fehle.⁴ Angesichts solcher kultureller Traditionen liegt auf der Hand, dass die UN-Kinderrechtskonvention einen epochalen Durchbruch repräsentiert. Nun hat es kulturgeschichtlich für die Anerkennung eigener Rechte von Kindern, die die UN-Konvention ausspricht, bestimmte Vorstufen gegeben, etwa die Bemühungen um allgemeine Schulbildung seit dem Ausgang des Mittelalters⁵ sowie die Aufklärungsphilosophie, für die die Subjektivität von Kindern und der Eigenwert der Kindheit zum Thema wurde. Im Horizont der Aufklärung lässt sich bedenken, welchen Beitrag Schleiermacher beigesteuert hat. Dabei werden freilich Grenzen und Schattenseiten seiner Sicht aufzuzeigen sein. Doch zunächst ist auf wegweisende Ideen hinzuweisen, die sich bei ihm finden.
2. Gesichtspunkte zu Kindern bei Schleiermacher 2.1 Ein konstruktiver Ansatz: Schleiermachers Hochschätzung von Individualität Vom Ansatz her waren Denkmotive Schleiermachers gut geeignet, die „Entdeckung“ der Kindheit und des Kindes zu rezipieren, die sich im 18. Jahrhundert vor allem seit Jean-Jacques Rousseau ausgeprägt hatte.Von Belang ist seine Auslegung menschlicher Existenz mit Hilfe eines Individualitätsgedankens. So finden sich in seiner Schrift
Vgl. Frank Surall, Ethik des Kindes. Kinderrechte und ihre theologisch-ethische Rezeption, Stuttgart 2009, 35. Vgl. Neil Postman, Das Verschwinden der Kindheit, Frankfurt a. M. 1993, 55. Vgl. Philippe Ariès, Geschichte der Kindheit, München 17. Aufl. 2011, 98 f. Vgl. R. Mühlbauer, Kind, in: Joachim Ritter†/Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Basel/Stuttgart 1976, 827– 834, hier 830. Vgl. Ariès, Geschichte (s.o. Anm. 3), 267 f.; Juliane Jacobi,Versorgte und unversorgte Kinder, in: Meike Sophia Baader/Florian Eßer/Wolfgang Schröer (Hg.), Kindheiten in der Moderne. Eine Geschichte der Sorge, Frankfurt a. M. 2014, 21– 41, hier 35 ff.
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„Monologen“ Überlegungen zur Hochschätzung jedes Menschen als eines unverwechselbaren Individuums, zu ethischem Wachstum und zur steten Vertiefung von Sittlichkeit und Ich-Werden: „Immer mehr zu werden was ich bin, das ist mein einziger Wille“; „bei jeder That eigne ich etwas mir an von dem gemeinschaftlichen Nahrungsstoffe der Menschheit, und wachsend bestimmt sich genauer meine Gestalt“.⁶ Mit solchen Sätzen interpretierte Schleiermacher die einzelne menschliche Person in ihrer biographischen Besonderheit („Eigenthümlichkeit“) und erfasste das Phänomen der Individuation, so dass Potenzialität und Dynamik des persönlichen Werdens zum Zuge gelangten. Diese anthropologische Grundidee war wie geschaffen, dem Phänomen der Kindheit gerecht zu werden. In seinen Pädagogikvorlesungen deutete Schleiermacher Kinder als Subjekte, die an ihrer Bildung aktiv zu beteiligen sind. Daher sprach er von ihrer „Selbsttätigkeit“ und „Freiheit“, womit er dann die sog. verhütenden, gegenwirkenden und unterstützenden Funktionen der Erziehung verband.⁷ Darüber hinaus beschäftigte er sich mit pädagogischen Zielen – ein Aspekt, auf den sogleich zurückzukommen sein wird. Doch zunächst ist wichtig, dass er neben den Zielen als dem Zukunftsbezug der Erziehung dem Sein, der Existenz von Kindern in ihrem jeweiligen Lebensalter einen eigenen Rang zuschrieb. Es gelte, ihre Empfindungen in ihrer jeweils erlebten Gegenwart ernstzunehmen. Diesem Postulat verlieh er hohes Gewicht, indem er es in Worte kleidete, die an den Kategorischen Imperativ Kants anklangen. Der pädagogische Umgang mit Kindern dürfe nicht allein an den Erziehungszielen orientiert werden, die in der Zukunft bzw. in der Zeitspanne des späteren Erwachsenenlebens lägen, weil dies für das Kind im Hier und Jetzt, in den Augenblicken seiner Kindheit – „Das Kind lebt […] ganz in der Gegenwart“⁸ – eine Instrumentalisierung bedeute. In eine rhetorische Frage gekleidet: „Darf man überhaupt zugestehen, daß ein Lebensaugenblick als bloßes Mittel für einen anderen diesem anderen könne geopfert werden?“⁹ Schleiermachers Antwort fiel verneinend aus. Es sei vonnöten, dem Kind in seiner Gegenwart gerecht zu werden. Deswegen betonte er pädagogisch den Sinn von Spiel und Spielen.¹⁰ Hiermit antizipierte er Überlegungen, die ein Jahrhundert später der Vordenker moderner Lebensphilosophie und Sozialwissenschaft Georg Simmel auf den Punkt gebracht hat.¹¹ Bei Simmel erfolgte dies begrifflich nochmals deutlich präziser. Auch er Friedrich Schleiermacher, Monologen, hg v. Friedrich Michael Schiele, Philosophische Bibliothek Bd. 84, 3. Aufl. Hamburg 1978, 69, 85. Vgl. Wolfgang H. Pleger, Schleiermachers Philosophie, Berlin/New York 1988, 82 ff. Friedrich Schleiermacher, Pädagogische Schriften I. Die Vorlesungen aus dem Jahre 1826, hg.v. Erich Weniger, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1983, 46. Ebd.; vgl. auch 267. Ebd. 50. Zu den ideengeschichtlichen Verbindungslinien zwischen Schleiermacher und Simmel vgl. Hartmut Kreß, Schleiermachers Individualitätsgedanke in seinen Auswirkungen auf die Lebensphilosophie Georg Simmels, in: Kurt-Victor Selge (Hg.), Schleiermacher-Archiv Bd. 1, Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984, Berlin/New York 1985, 1243 – 1266.
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griff den Kategorischen Imperativ Kants auf, dem er konzeptionell neue Pointen verlieh. In der Fassung Kants liege dem Kategorischen Imperativ ein Menschenbild zugrunde, das die Menschen egalisiere und ihre Individualität einebne, weil Kant zu einseitig nur von der Vernunft bzw. von universalisierbaren ethischen Prinzipien als dem „allgemeinen Gesetz“ ausgegangen sei, dem alle Menschen unterlägen. Hier setzte eine erste Korrektur Simmels an. Sie bestand darin, den einzelnen Menschen als „individuelles Gesetz“ zu bezeichnen. Simmel wollte neben der Gleichheit der Menschen ihre jeweilige individuelle Verschiedenheit verdeutlichen und unterstrich, jeder Einzelne habe für sich selbst Verantwortung zu übernehmen.¹² Sodann verlieh er dem Kategorischen Imperativ eine weitere Pointe, die sich auf einzelne Stationen und Augenblicke innerhalb der Biographie bezog. Seiner Lebensund Individualitätsphilosophie gemäß „ist jeder Lebensaugenblick, jedes Sich-Verhalten und Handeln das ganze Leben“¹³ – eine anthropologisch-ethische Leitidee, die er pädagogisch fruchtbar machte. Dass ein jeder Mensch „in jedem Augenblick der ganze Mensch“ sei, gelte gerade auch für Kinder. In seinen Pädagogikvorlesungen von 1915/1916 legte Simmel dar, dass „jeder Augenblick als Selbstzweck angesehen werden“ müsse: „Was Kant über den ganzen Menschen im Verhältnis zu andern sagt: man dürfe ihn niemals nur als Mittel, sondern müsse ihn immer zugleich als Zweck ansehen – das gilt auch für das Verhältnis der einzelnen Lebensmomente zueinander“. Pädagogisch, im Blick auf Kinder und Kindheit, sei deswegen jede „falsche Teleologie“ zu verneinen. Ein Kind sei weder ein antizipierter noch ein kleiner Erwachsener; Kindheit und Jugend dürften nicht als bloßes Durchgangsstadium, als „Durchgangspunkt und Mittel für das Erwachsensein“ bewertet, sondern müssten in ihrem Eigenwert und in ihrer Selbstzwecklichkeit gesehen werden.¹⁴ Mit derartigen Erwägungen brachte Simmel auf den Nenner, was im Kern bereits von Schleiermacher erkannt worden war. Schon Schleiermacher hatte Individualität und Individuation, das Ich-Sein und das Ich-Werden der Menschen zu würdigen gewusst und auf dieser Basis Kinder in ihrer Selbstzwecklichkeit¹⁵, d. h. als eigenständige Subjekte gedeutet. Erziehung und Bildung sollten ihm zufolge deshalb bei der Subjektivität des Kindes ansetzen. Damit gelang Schleiermacher der Anschluss an das Verständnis von Kindheit, das sich seit der Aufklärung Bahn gebrochen hatte. Im Übrigen lag die Wahrnehmung von Kindern und Kindheit in Berlin um 1800 noch
Vgl. Georg Simmel, Das individuelle Gesetz. Ein Versuch über das Prinzip der Ethik (1913), in: Ders., Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse, hg.v. Michael Landmann, Frankfurt a. M. 1968, 174– 230. Zur Idee der Verantwortung vgl. ebd. z. B. 201, 228. Simmel, Das individuelle Gesetz (s.o. Anm. 12), 207. Georg Simmel, Schulpädagogik. Vorlesungen, gehalten an der Universität Straßburg 1915/16, hg.v. Klaus Rodax, Konstanz 1999, 88. In den Pädagogikvorlesungen von 1813/1814 hieß es, jeder „Zögling“ sei „selbst Zweck“ (Schleiermacher, Anhang: Einleitung und Allgemeiner Teil der Vorlesungen aus dem Wintersemester 1813/14, in: Ders., Pädagogische Schriften I [s. o. Anm. 8], 371– 405, hier 372). Dass diese Formulierung auf Kants Kategorischen Imperativ anspielt, meint auch der Herausgeber der Textedition (vgl. ebd. 450).
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anderweitig geradezu in der Luft. Im Wintersemester 1802/1803 wurde von Christoph W. Hufeland erstmals eine Vorlesung über Kinderheilkunde angekündigt. Sein einschlägiges Werk über die Gesundheitserziehung – „Guter Rath an Mütter über die wichtigsten Punkte der physischen Erziehung der Kinder in den ersten Jahren“ – war 1794 und 1799 erschienen.¹⁶ Drei Jahrzehnte später, in den Jahren 1829/1830, entstand an der Berliner Charité das erste deutsche Kinderkrankenhaus.¹⁷ Zu Schleiermacher ist indessen auch eine Kehrseite anzusprechen. Er hat seinen eigenen Ansatz, Kinder in ihrer Subjektivität und als Selbstzweck zu begreifen, anderweitig relativiert, ja konterkariert.
2.2 Überlagerung durch Etatismus und Intoleranz An dieser Stelle wird belangvoll, was Schleiermacher inhaltlich sowie soziostrukturell über das Ziel von Erziehung vorgetragen hat. Ihm lag an der Eingliederung der Kinder in die Institutionen, die das Zusammenleben in der Gesellschaft regulieren, so dass sie auf die Kirche und auf den Staat hin zu erziehen seien. Die von ihm gern verwendete Formel lautete, sie seien an Kirche und Staat „abzuliefern“.¹⁸ Mit Bezug auf die Kirche legte er dar, dass durch die Erziehung „religiöse Gesinnung entwickelt und […] Gleichgültigkeit gegen die religiöse Gemeinschaft verhütet“ werden solle.¹⁹ Und bezogen auf den Staat: „Die Kinder gehören den Eltern und dem Staat gemeinschaftlich“; denn der Staat repräsentiere „nur eine erweiterte Familienverbindung“. Die Eltern seien „die natürlichsten Organe des Staats“ und sollen daher „im Namen wie im Geist des Staats erziehen“.²⁰ Bündig gesagt: „Daß aber für den Staat erzogen werden solle, darüber ist die Theorie nicht schwankend.“²¹ Die Aufgabe der Erziehung, das Kind an den Staat abzuliefern, erwuchs für ihn auch daraus, dass es als Bürger dann einmal
Vgl. Josef N. Neumann, Christoph Wilhelm Hufeland (1762– 1836), in: Dietrich v. Engelhardt/Fritz Hartmann (Hg.), Klassiker der Medizin, 1. Bd., München 1991, 339 – 359, hier 349. Vgl. Karl Max Einhäupl/Detlev Ganten/Jakob Hein (Hg.), 300 Jahre Charité – im Spiegel ihrer Institute, Berlin/New York 2010, 128. – Das überhaupt erste europäische städtische Kinderkrankenhaus war 1802 in Paris errichtet worden; vgl. Pia Schmid, Die bürgerliche Kindheit, in: Baader u. a. (Hg.), Kindheiten in der Moderne, a.a.O. (s.o. Anm. 5), 42– 71, hier 46. Vgl. Schleiermacher, Pädagogische Schriften I (s.o. Anm. 8), z. B. 375, 379. – Schleiermacher hat durchaus erkannt, dass sein Postulat, die Erziehung habe das Kind an den Staat abzuliefern, in Spannung zu seiner antiteleologischen Idee des Eigenwerts der Kindheit stand (s. oben bei Anm. 8 – 10). Daher versuchte er, in tastender Formulierung einen gewissen Ausgleich zu schaffen: „Alle Vorbereitung muß zugleich unmittelbare Befriedigung, und alle Befriedigung muß zugleich Vorbereitung sein“ (a.a.O. 380). Schleiermacher, Pädagogische Schriften I (s.o. Anm. 8), 157. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Vorlesungen über die Lehre vom Staat, hg.v. Walter Jaeschke, Kritische Gesamtausgabe (KGA) II/8, Berlin/New York 1998, 152. Schleiermacher, Pädagogische Schriften I (s.o. Anm. 8), 28.
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„lebendiger organischer Bestandtheil des Ganzen“ sein werde.²² Insofern ziele Erziehung auf Gehorsam ab, die „Basis des bürgerlichen Zustandes“ sei. Dies bestärkend unterstrich Schleiermacher: „Die Regel, daß man, um den Kindern den Gehorsam zu erleichtern, ihnen Gründe angeben müsse, ist nichtig; denn Gründe angeben, heißt den Gehorsam erlassen“.²³ Zwar hat er sich im Rahmen des monarchischen Staates für eine Verfassung und auch für Reformen ausgesprochen.²⁴ Die Option, dass im Staat Reformen erfolgen, sei gleichfalls pädagogisch zu berücksichtigen: „Die Erziehung soll so eingerichtet werden, daß beides in möglichster Zusammenstimmung sei, daß die Jugend tüchtig werde einzutreten in das, was sie vorfindet, aber auch tüchtig in die sich darbietenden Verbesserungen mit Kraft einzugehen“.²⁵ Das Schwergewicht hat er jedoch ganz auf den Staatsgedanken als solchen gelegt. Dass die Ausrichtung der Erziehung auf den Staat und die Nation sein Leitbild war, hat später auch sein Interpret Wilhelm Dilthey betont. Schleiermacher biete ein Gegenmodell zur Philosophie der Renaissance, die das Eigenrecht des Individuums gegenüber dem Staat herausgearbeitet habe.²⁶ So betrachtet wirkt sich in Schleiermachers Erziehungstheorie ein vordemokratisches Ethos aus, das die evangelische Tradition des Gehorsams gegen die Obrigkeit und das absolutistische Staatsmodell des 17./18. Jahrhunderts noch nicht hinter sich zu lassen vermochte. Letztlich tritt bei ihm ein Etatismus zutage, der sein anderweitiges Plädoyer für eine Erziehung zugunsten von Freiheit und Selbsttätigkeit von Kindern in hohem Maß überlagerte. Ein weiterer Problempunkt kommt hinzu. Es gehört zu den Schwächen Schleiermachers, dass er sich auf das Phänomen soziokultureller Pluralität und auf das Ideal der Toleranz nicht einließ. Diese Grenze seines Werks prägte auch seine Sicht des Umgangs mit Kindern. Ihm schwebte ein homogener, christlich geprägter Staat vor, auf den hin zu erziehen sei. In seiner Abhandlung „Über den Beruf des Staates zur Erziehung“ von 1814 bezeichnete er sich selbst „als christlicher Bürger eines christlichen Staates“.²⁷ Zur Religionsfreiheit als Menschenrecht fand er keinen Zugang. Daher freundete er sich auch nicht damit an, dass in Preußen 1812 ein Emanzipationsedikt erlassen wurde, durch das die Lage von Juden zeitweise ein Stück weit verbessert
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Akademievorträge, hg.v. Martin Rössler, KGA I/11, Berlin/ New York 2002, 144 (aus dem Vortrag „Über den Beruf des Staates zur Erziehung“, 22.12.1814). Friedrich Schleiermacher, Texte zur Pädagogik. Kommentierte Studienausgabe, Bd. 1, hg.v. Michael Winkler/Jens Brachmann, Frankfurt a. M. 2000, 267. Vgl. Dankfried Reetz, Staatslehre mit „politischer Tendenz“? Schleiermachers Politik-Vorlesung des Sommersemesters 1817, in: ZNThG 7 / 2000, 205 – 250, hier 223 f., 224 ff. Schleiermacher, Pädagogische Schriften I (s.o. Anm. 8), 31. Vgl. Wilhelm Dilthey, Pädagogik. Geschichte und Grundlagen des Systems, Gesammelte Schriften, IX. Band, Stuttgart/Göttingen 4. Aufl. 1974, 24. Schleiermacher, Akademievorträge (s.o. Anm. 22), 144. Vgl. Matthias Blum, „Ich wäre ein Judenfeind?“. Zum Antijudaismus in Friedrich Schleiermachers Theologie und Pädagogik, Köln/Weimar/ Wien 2010, 148 f., 154, 190, 195 ff.
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wurde.²⁸ Folgerichtig schob er das Anliegen der Religionsfreiheit von Kindern, konkret: von Kindern aus jüdischen Familien beiseite.²⁹ Dieses Unverständnis schlug sich in seinen Erwägungen zum Religionsunterricht nieder, mit dem er sich in seinen Vorlesungen, aber auch in seiner amtlichen Funktion in Preußen als Staatsrat für das Unterrichtswesen³⁰ beschäftigte.
2.3 Die Frage des Religionsunterrichts Nun waren Schleiermachers Vorstellungen über einen vom Staat erteilten Religionsunterricht nicht aus einem Guss. Einerseits meinte er, die Vermittlung von Religion sei Aufgabe von Familie und Kirche.³¹ Beim staatlichen Religionsunterricht in Schulen bestehe die Gefahr, dass dieser inhaltlich einseitig werde und anderweitige christliche Überzeugungen übergehe.³² In seiner Kritik an einem vom Staat durchgeführten Religionsunterricht ging Schleiermacher gelegentlich recht weit. Er deutete ihn als historisch-kulturellen Anachronismus und meinte: „Was nun den Religionsunterricht, der in öffentlichen Anstalten erteilt wird, betrifft, so bin ich der Meinung, daß dieser ganz erspart werden kann. Es ist dieser Unterricht nur ein Relikt aus früherer Zeit, in der diese Anstalten, kirchlichen Ursprungs, der Kirche untergeordnet waren.“³³ Doch trotz solcher kritischen Distanzierung legte er andererseits dar, die Religion sei neben der „Gymnastik“ eines der „beiden Grundelemente der Volksbildung“.³⁴ Es sei Sache
Aus Schleiermachers Abwehrreflex gegen das Edikt erklärt sich vielleicht zumindest teilweise sein scharfes, schroff ungerechtes Verhalten gegenüber einem jüdischen Medizinstudenten in Berlin im Jahr 1812 („Fall Brogi“); vgl. Matthias Wolfes, Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft. Friedrich Schleiermachers politische Wirksamkeit, Schleiermacher-Studien, Bd. 1 Tl. 2, Berlin/New York 2004, 353 f., 357 f. – Zu dem Edikt selbst: Hannah Lotte Lund, Die Berliner Juden und die Diskussion um die Verbesserung ihrer Lage – Von Mendelssohn bis Friedländer, in: Irene A. Diekmann (Hg.), Das Emanzipationsedikt von 1812 in Preußen, Berlin/Boston 2013, 77– 102, hier 101. Indirekt zeigte sich Schleiermachers Ablehnung der Religionsfreiheit jüdischer Kinder auch an einer Äußerung, die zwei Jahre nach dem Erlass des Edikts in seiner Abhandlung „Über den Beruf des Staates zur Erziehung“ fiel. Er hielt bedauernd fest, für die staatsbürgerliche Existenz habe der Staat „bis noch vor kurzem wenigstens [verlangt,] daß zuvor die christliche Kirche ihn als ihr Mitglied sollte angenommen haben und der Erzieher mußte auch dieses prästiren“ (Schleiermacher, Akademievorträge [s. o. Anm. 22], 144). Vgl. Ingrid Lohmann, Jüdische Identität zwischen Vernunft und Verbürgerlichung, in: Roderich Barth/Ulrich Barth/Claus-Dieter Osthövener (Hg.), Christentum und Judentum. Akten des Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Halle, März 2009, Berlin/Boston 2012, 29 – 41, hier 40; Dies., Lehrplan und Allgemeinbildung in Preußen, Frankfurt a. M. 1984, 9; Kurt Nowak, Schleiermacher, Göttingen 2001, 219. Vgl. Schleiermacher, Pädagogische Schriften I (s.o. Anm. 8), 117. Ebd. 340. Ebd. 339. Schleiermacher, Vorlesungen über die Lehre vom Staat (s.o. Anm. 20), KGA II/8, 321 (Kolleg 1817, Nachschrift Varnhagen).
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des staatlichen Religionsunterrichtes, „Gleichgültigkeit gegen die religiöse Gemeinschaft“, d. h. gegen die Kirche zu „verhüten“, da die Zugehörigkeit zur Kirche nun einmal die Voraussetzung für die bürgerliche Stellung bzw. die bürgerlichen Rechte im Staat bilde.³⁵ Obwohl Schleiermacher wiederholt auch für eine Trennung von Staat und Kirche plädiert hatte, ging er letztlich dann eben doch von einem christlichen Staat und von der Zuordnung, der Koordination von Kirche und Staat aus.³⁶ Insofern ließ er sich von einer vormodernen Staatsidee leiten. Was nun aber in besonderem Maß irritiert: Auf Schüler jüdischen Glaubens sei keine Rücksicht zu nehmen. Aus Gründen des Staatsinteresses müsse der Religionsunterricht „christlich“ bzw. „in unserem protestantischen Staate auch protestantisch sein“. Um „der etwaigen jüdischen Zöglinge willen“ dürfe man keine Konzessionen machen und ihn keinesfalls im Sinn einer „sogenannten allgemeinen Religion“ – heute würde man sagen: als übergreifende Religionskunde – erteilen.³⁷ Entscheidend sei, dass der Staat für seine „Staatsdiener“ und für die „höher Gebildeten“ die Kenntnis des Christlichen wünsche.³⁸ Mit dieser staatspositivistischen Begründung schob Schleiermacher die Identität von Kindern jüdischer Religionszugehörigkeit bzw. „die Schwierigkeit, welche aus dem Zusammensein verschiedener Religionsgenossen auf den Schulen entsteht“³⁹, kurzerhand einfach beiseite. Aus seinem massiven theologischen und soziokulturellen Antijudaismus⁴⁰ erklärt es sich, dass er für den auf jeden Fall nur christlichen Religionsunterricht zudem den Gebrauch des Alten Testaments ablehnte.⁴¹ Zwar hatte er theoretisch ein Verständnis für die Individualität und Identität von Kindern entwickelt, nahm den Individualitätsgedanken kulturell und pädagogisch aber nicht tatsächlich ernst. Zum Respekt vor der Alterität des Andersdenkenden und zur Toleranz – auch im
Schleiermacher, Pädagogische Schriften I (s.o. Anm. 8), 157. Ähnlich wie diese Äußerung in den Pädagogikvorlesungen von 1826 fielen die entsprechenden Überlegungen in Schleiermachers Abhandlung „Über den Beruf des Staates zur Erziehung“ von 1814 aus; s.o. bei Anm. 27– 29. Zur Problematik der Voten Schleiermachers zum Religionsunterricht vgl. auch Christiane Ehrhardt, Religion, Bildung und Erziehung bei Schleiermacher, Göttingen 2005, 285 ff., 288 ff. Vgl. auch Blum, Judenfeind? (s.o. Anm. 27), 192, 195 ff. Schleiermacher, Texte zur Pädagogik (s.o. Anm. 23), 169, aus Schleiermachers „Allgemeinem Entwurf zum Religionsunterricht auf gelehrten Schulen“ für die Schulabteilung der preußischen Regierung. Ebd. 171. Ebd. 171 f. Vgl. Matthias Wolfes, Schleiermacher und das Judentum. Aspekte der antijudaistischen Motivgeschichte im deutschen Kulturprotestantismus, in: Aschkenas – Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 14 / 2004, 485 – 510; Matthias Blum, Briefe bei Gelegenheit (Friedrich Schleiermacher, 1799), Über die Religion (Friedrich Schleiermacher, 1799), in: Wolfgang Benz (Hg.), Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. 6, Publikationen, Berlin/Boston 2013, 83 – 85, 711– 713; Micha Brumlik, Die Duldung des Vernichtenden. Schleiermacher zu Toleranz, Religion und Geselligkeit, in: Jens Flemming/Dietfrid Krause-Vilmar/Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Juden in Deutschland, Kassel 2007, 27– 45. Vgl. Schleiermacher, Pädagogische Schriften I (s.o. Anm. 8), 277.
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Kontext von Erziehungs- und Bildungsinstitutionen – drang er nicht vor. Hiermit blieb er weit hinter den Einsichten zurück, die zu seiner Zeit eigentlich bereits gewonnen worden waren. Um dies zu verdeutlichen, beleuchte ich in einem Seitenblick die Toleranzidee im aufgeklärten Judentum im damaligen Preußen und gehe auf jüdische Zugänge zu Kindheit und Bildung in der Epoche Schleiermachers ein. Vergleicht man die Standpunkte, die jüdische Aufklärer einerseits, Schleiermacher andererseits vertraten, dann tritt besonders markant zutage, wie sehr er hinter das gedankliche Niveau zurückfiel, das damals eigentlich bereits erreicht war.⁴²
2.4 Zum Vergleich: Ideen zu Bildung und Toleranz in der jüdischen Aufklärung Wesentliche Vordenker der Haskala, der jüdischen Aufklärung, wirkten seinerzeit in Berlin, unter ihnen Moses Mendelssohn oder sein Schüler David Friedländer. Gegen religionspolitische Ideen, die Friedländer in die Debatte gebracht hatte, verfasste Schleiermacher im Jahr 1799 eine heftige ablehnende Schrift: „Briefe bei Gelegenheit der politisch theologischen Aufgabe und des Sendschreibens jüdischer Hausväter.Von einem Prediger außerhalb Berlin“.⁴³ Als Mendelssohn das Judentum im Licht der Aufklärung interpretierte, gelangte er zu dem Ergebnis, es stelle im Unterschied zum Christentum keine dogmatische, sondern im Kern eine ethische Religion dar. Eine Schlüsselidee, die der Aufklärungsphilosophie und dem Judentum gemeinsam sei, sah er in der persönlichen Gewissensfreiheit jedes Menschen. Auf dieser Basis entwarf er ein sehr starkes Verständnis von Gewissensfreiheit: Sie sollte ihm zufolge nicht nur im Staat, sondern auch innerhalb der Religionen gelten.⁴⁴ Kant zeigte sich von Men-
Schleiermacher ließ sich im Übrigen auch nicht darauf ein, dass in den Vereinigten Staaten von Amerika Religionsfreiheit 1776 zur Staatsräson geworden war. Hierdurch ändere sich nichts daran, dass „bei uns“ in der Jugend durch staatlichen Religionsunterricht „religiöse“ – d. h. christlich-kirchliche – „Gesinnung entwickelt“ werden müsse (Schleiermacher, Pädagogische Schriften I [s.o. Anm. 8], 157). Friedländer widersprechend schlug Schleiermacher vor, ein Teil des Judentums, das Reformjudentum, solle unter staatlicher Aufsicht eine neue „Kirchengesellschaft“ oder „Sekte“ werden. Sein Votum lief darauf hinaus, das Judentum konfessionalisierend und klerikalisierend zu überfremden; vgl. Hans-Martin Kirn, Friedrich Schleiermachers Stellungnahme zur Judenemanzipation im „Sendschreiben“ David Friedländers, in: R. Barth u. a. (Hg.), Christentum und Judentum (s.o. Anm. 30), 193 – 212, hier 209 ff.; Julius H. Schoeps, David Friedländer. Freund und Schüler Moses Mendelssohns, Hildesheim/Zürich/New York 2012, 205 – 238, bes. 222 ff. Vgl. Moses Mendelssohn, Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum (1783), in: Ders., Gesammelte Schriften, Jubiläumsausgabe Bd. 8, Stuttgart-Bad Cannstatt 1983, 99 – 204, z. B. 103 f., 130, 138: „Weder Kirche noch Staat haben also ein Recht die Grundsätze und Gesinnungen der Menschen irgend einem Zwange zu unterwerfen“, 140 ff. Mit seinem Plädoyer für innerreligiöse – innerchristliche und innerjüdische – Freiheitsrechte ging Mendelssohn noch deutlich über die Vorstellungen hinaus, die der von ihm inspirierte preußische Staatsrat Christian Wilhelm Dohm in seinen Reformschriften
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delssohns Idee möglichst umfassender Gewissensfreiheit derart beeindruckt, dass er sie als beispielgebend und als vorbildlich auch für das Christentum würdigte.⁴⁵ In unserem Zusammenhang ist vor allem wichtig, dass Mendelssohn und die ihm folgenden jüdischen Aufklärer, die Maskilim, ein individualitätsorientiertes Verständnis der Kindheit entwickelten. Sie entwarfen Programme für eine Erziehungsreform, um die jüdische mit einer säkularen Bildung zu versöhnen, übten innerjüdisch Kritik am herkömmlichen Rabbinismus, forderten den Verzicht auf körperliche Strafen⁴⁶ und legten Wert auf die individuelle Bildungsfähigkeit der Kinder. Aufgrund einer verbesserten, der Gegenwart gemäßen Bildung von Kindern erhofften sich die jüdischen Aufklärungsdenker eine gesellschaftliche Emanzipation bzw. Integration von Juden.⁴⁷ Ein Projekt, das in Berlin seit 1778 verfolgt wurde, war die Errichtung einer jüdischen Freischule. Die Schule unterlag in den nachfolgenden Jahrzehnten einem wechselvollen Schicksal, was mit Finanzierungsproblemen und mit der Schaukelpolitik Preußens gegenüber der jüdischen Minorität zusammenhing.⁴⁸ In der jüdischen Freischule lernten zwischen 1809 und 1818 ebenfalls christliche Schüler, und zwar mit einem Anteil von ca. 30 %.⁴⁹ Genauso waren außerhalb von Berlin Kinder aus christlichen Familien in jüdischen Schulen anzutreffen.⁵⁰ Solche Schulen besaßen Anziehungskraft, unter anderem weil in ihnen erwerbsvorbereitender Unterricht, sei es zum Kaufmann oder zum Handwerker, erteilt wurde. Zu den Anliegen der Berliner Schule gehörte es, mit Hilfe der gemeinsamen Beschulung von Juden und Christen religiöse Vorurteile abzubauen. In den Schulprogrammen wurde seit 1810 explizit kundgetan, dass die christlichen Schüler nicht am jüdischen Religionsunterricht teilzunehmen brauchten.⁵¹
vorgetragen hatte; vgl. Schoeps, Friedländer (s.o. Anm. 43), 179; Shmuel Feiner, Moses Mendelssohn, Göttingen 2009, 141 ff. Vgl. Hartmut Kreß, Die Theorie der Gewissensfreiheit bei Moses Mendelssohn. Ein Beispiel für die Freiheitsidee als Leitmotiv der neuzeitlichen jüdischen Religionsphilosophie, in: ZNThG 3 / 1996, 60 – 87, hier 64 f. Dieses Anliegen teilte der Sache nach auch Schleiermacher. Vgl. Michael Graetz, Jüdische Aufklärung, in: Mordechai Breuer/Michael Graetz (Hg.), Deutschjüdische Geschichte in der Neuzeit, 1. Bd., 1600 – 1780, München 1996, 249 – 350, hier 333 – 350. Vgl. Ingrid Lohmann, Die jüdische Freischule in Berlin – eine bildungstheoretische und schulhistorische Analyse, in: Dies. (Hg.), Chevrat Chinuch Nearim. Die jüdische Freischule in Berlin (1778 – 1825) im Umfeld preußischer Bildungspolitik und jüdischer Kultusreform. Eine Quellensammlung, Münster i. W. u. a. 2001, 13–86; Ingrid Lohmann/Uta Lohmann, Die jüdische Freischule in Berlin im Spiegel ihrer Programmschriften (1803 – 1826), in: Arno Herzig/Hans Otto Horch/Robert Jütte (Hg.), Judentum und Aufklärung. Jüdisches Selbstverständnis in der bürgerlichen Öffentlichkeit, Göttingen 2002, 66 – 90. Vgl. Lohmann/Lohmann, a.a.O. 79. Vgl. Michael A. Meyer, Jüdische Gemeinden im Übergang, in: Michael Brenner/Stefi Jersch-Wenzel/ Michael A. Meyer (Hg.), Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, 2. Bd., 1780 – 1871, München 1996, 96 – 134, hier 120. Vgl. Lohmann/Lohmann, Freischule (s.o. Anm. 48), 79.
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Im Jahr 1819 untersagte die preußische Regierung der jüdischen Schule dann jedoch die Unterrichtung christlicher Kinder. Die Begründung lautete, dass sich auch außerhalb des Religionsunterrichts die Unterrichtung von Christenkindern durch Juden „auf ihren Charakter und die Richtung ihres Geistes“ nachteilig auswirke.⁵² Das Verbot des preußischen Staates war Ausdruck religiöser Vorurteile, von Intoleranz und Diskriminierung. Hiervon sticht ab, wie zuvor sogar von evangelisch-kirchlicher Seite zu der Schule Stellung genommen worden war: nämlich zustimmend. Zu den Beobachtern der Schule gehörte der Berliner evangelische Propst Hanstein.⁵³ Er hatte die Aufnahme christlicher Schüler positiv bewertet und schrieb im Jahr 1807, die Freischule sei in dieser Hinsicht „ein schönes Muster ächter Toleranz und Unparteilichkeit“.⁵⁴ Dieser Auffassung schlossen sich die preußische Schulpolitik sowie Schleiermacher freilich nicht an – Letzterer weder in seinen akademischen Äußerungen noch in seiner preußischen regierungsamtlichen Funktion 1810 als Direktor der wissenschaftlichen Deputation bei der Sektion für Kultus und öffentlichen Unterricht und bis 1815 als Mitglied der Unterrichtssektion.⁵⁵ Wenn man sich dies alles vor Augen führt: Es ist nicht nur so, dass Schleiermacher die Toleranzideen der profanen Aufklärungsphilosophie deutlich unterbot und dass er sich an den Vertretern der jüdischen Aufklärung ein Beispiel hätte nehmen können. Vielmehr unterschritt er sogar das Maß an Toleranz, das einzelne Kirchenvertreter seiner Zeit an den Tag gelegt hatten. Und nicht zuletzt: Er fiel völlig dahinter zurück, wie Wilhelm von Humboldt staats- und schulpolitisch für Religions- und Gewissensfreiheit, Toleranz, bürgerliche Gleichstellung der Juden sowie Ausgestaltung von Schulreformen zugunsten der jüdischen Minorität plädiert hatte.⁵⁶ Mit Wilhelm von Humboldt schließt sich im Übrigen der Kreis zu Impulsen zugunsten von Aufklärung, Bildung und Toleranz, die vom Judentum selbst ausgegangen waren. Denn Humboldt war von Christian Wilhelm Dohm beeinflusst gewesen, also von jenem preußischen Beamten, der – aus einem evangelischen Pfarrhaus stammend – sich seinerseits die Ideen Moses Mendelssohns über Aufklärung, Emanzipation und Bildung zu eigen gemacht und in seinen eigenen Schriften verbreitet hatte.⁵⁷
Zit. ebd. 83. Im Jahr 1821 hielt Schleiermacher eine Totenrede auf Hanstein; vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Kleine Schriften 1786 – 1833, hg.v. Matthias Wolfes/Michael Pietsch, KGA I/14, Berlin/ New York 2003, 309 ff. Zit. nach Lohmann/Lohmann, Freischule (s.o. Anm. 48), 78. S.o. Anm. 30. Vgl. Dietrich Spitta, Die Staatsidee Wilhelm von Humboldts, Berlin 2004, 33 ff., 40, 101 ff.; I. Lohmann, Freischule (s.o. Anm. 48), 54. Einschlägig insbesondere: Christian Wilhelm Dohm, Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden, Berlin/Stettin 1781/1783. Vgl. Schoeps, Friedländer (s.o. Anm. 43), 175 ff.
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2.5 Fazit: Die Ambivalenzen in der Sicht von Kindern bei Schleiermacher Insgesamt ist zu Schleiermachers Verständnis von Kindern und Kindheit ein zweiseitiges Fazit zu ziehen. Zwar finden sich bei ihm Gedanken über Kindheit und Bildung, die der Aufklärung gemäß waren. Vor allem war es sein anthropologisch-ethischer Individualitätsgedanke, der sich pädagogisch fruchtbar machen ließ. Trotzdem blieb sein Standpunkt vormodern. Die Orientierung an der Individualität des Kindes wurde dadurch relativiert und davon überlagert, dass das Kind für Kirche und Staat zu erziehen und dort „abzuliefern“⁵⁸ sei. Hier schlug durch, dass Schleiermachers Denkansatz aufgrund methodischer Grundsatzentscheidungen, nämlich seiner deskriptiven Methode, positivistische Züge trug. Auch in seiner Pädagogik gab für ihn letztlich dasjenige den Ausschlag, was „bei uns“ vorhanden und in Kirche und Staat in Preußen als „das Bestehende“ zu erachten sei. Zum Positivismus Schleiermachers kam sein vehementer Antijudaismus hinzu.⁵⁹ Dieser schlug sich sogar in seiner Wortwahl nieder. Den Aufklärungsphilosophen und Reformdenker Moses Mendelssohn, der im 18. Jahrhundert als „der deutsche Sokrates“ höchste Anerkennung besaß und von Gotthold Ephraim Lessing in der Gestalt Nathans des Weisen gewürdigt worden war⁶⁰, bezeichnete er abschätzig als „diesen ungekreuzigten Juden“, den er „eben nicht sehr verehre“.⁶¹ Er wertete das Judentum in religiöser Hinsicht als Straf-, Vergeltungs- und Gesetzesreligion ab, deutete es medikalisierend und pathologisierend als „Krankheit“, als „todte Religion“, als Infektionsherd und Auslöser von Kontaminierung und nicht zuletzt als „höchst kindlich“.⁶² In diesem Fall, mit Bezug auf das Judentum, verwendete Schleiermacher das Wort „Kind“ also sogar in herkömmlicher Weise pejorativ, nämlich als Äquivalent für einen zu überwindenden Zustand der Unreife im Gegensatz zum Erwachsensein. Sein scharfer christlicher Antijudaismus kehrte in seinen Voten zu gesellschafts- und schulpolitischen Fragen wieder, so dass er der Religionsausübung von Kindern aus jüdischen Familien den notwendigen Respekt versagte.
S.o. Anm. 18. S.o. Anm. 28 und 40. Vgl. Feiner, Mendelssohn (s.o. Anm. 44), 80, 119. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Briefwechsel 1796– 1798, hg.v. Andreas Arndt/Wolfgang Virmond, KGA V/2, Berlin/New York 1988, 113 (Brief 379). Vgl. Christiane Ehrhardt, „Erwachsen“ oder „kindlich“? Religionspädagogische Aspekte des Verhältnisses Christentum/Judentum bei Schleiermacher, in: R. Barth u. a. (Hg.), Christentum und Judentum (s.o. Anm. 30), 368 – 384, hier 374 f., 383.
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3. Heutige Anschlussfragen Geistesgeschichtlich ist mithin festzuhalten, dass Schleiermachers Reflexionen zu Kindern und Kindheit zweideutig ausfielen und sie von der Hypothek sozioreligiöser Intoleranz belastet sind. Dies vermittelt den Impuls, heutige Fragestellungen des Umgangs mit Kindern mit geschärftem kritischem Blick zu erörtern. In diesem Sinn bringe ich exemplarisch aktuelle Probleme zur Sprache. Als erstes sei ein Thema erwähnt, das anzusprechen sich im Anschluss an Schleiermacher unmittelbar aufdrängt.
3.1 Klärungsbedarf zum Religionsunterricht In der Retrospektive auf Schleiermacher wird ersichtlich, dass der kirchlich oder konfessionell getragene Religionsunterricht an staatlichen Schulen seit mehr als zwei Jahrhunderten Verlegenheiten erzeugt und einen Problempunkt bildet. Schleiermachers Überlegungen schillerten zwischen dem Postulat einer Trennung von Staat und Kirche mit entsprechenden Konsequenzen für den schulischen Religionsunterricht einerseits, dem Modell eines homogen christlich gestalteten Religionsunterrichts im sogenannten christlichen Staat andererseits. Er entschied sich dann für den zweiten Ansatz.⁶³ Insgesamt lässt sich an seinen Erörterungen ablesen, dass bereits lange vor der Errichtung eines weltanschaulich neutralen Staates, die 1919 durch die Weimarer Verfassung erfolgte, konfessioneller Religionsunterricht im Schulsystem des neuzeitlich-modernen Staates zu einem Fremdkörper geworden war. Schleiermacher selbst fand keine schlüssige Lösung, auch weil er zulasten der Kinder aus jüdischen Familien die schon damals zutage tretende religiöse Pluralität und das Gebot der Toleranz beiseiteschob. Nun haben sich in der Bundesrepublik Deutschland in den zurückliegenden Jahren die Bemühungen verstärkt, genau dieses – Pluralismus sowie Toleranz – ernsthaft zu berücksichtigen. Deshalb wurde ein bekenntnisorientierter Islamunterricht eingeführt. Jedoch ist fraglich, ob es sich um eine tragfähige Lösung handelt. Nicht nur, dass zur Etablierung des Islamunterrichts die Verfassungsnormen zum Religionsunterricht an staatlichen Schulen in Artikel 7 Absatz 3 Grundgesetz auf das Äußerste gedehnt worden sind⁶⁴ und nicht nur, dass islamische Strömungen hierdurch S. oben Abschnitt 2.3: „Die Frage des Religionsunterrichts“. So wird zum Beispiel zur Einführung und Umsetzung des islamischen Religionsunterrichts in Nordrhein-Westfalen (Beiratslösung) konstatiert, dass sie „die Erfordernisse von Art. 7 Abs. 3 unterschreitet“ und der hierauf bezogene § 132a Schulgesetz NRW „grenzwertig“ sei (Stefan Muckel, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, Bd. 48, hg.v. Burkhard Kämper/Klaus Pfeffer, Münster 2015, 125, 140); es stelle sich die Frage der Verfassungswidrigkeit (Christian Hillgruber, a.a.O. 139). Im Sinn eines dilatorischen Kompromisses heißt es, es handele sich um „eine an sich grundgesetzlich unzulässige Maßnahme“, die nur insofern hinnehmbar sei, als „keine Lösung möglich ist, die der
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gleichsam verkirchlicht werden, so dass der Staat erneut, dieses Mal gegenüber dem Islam, eine Art landesherrliches Kirchenregiment in Anspruch nimmt.⁶⁵ Vielmehr ist zu fragen, ob die Einführung weiterer bekenntnisgebundener Religionsfächer – u. a. auch christlich-orthodox, alevitisch usw. – innerhalb der Schulen organisatorisch zu bewältigen ist und ob hierdurch nicht zusätzliche sozioreligiöse Zersplitterungen befördert werden. In der heutigen pluralistischen Zivilgesellschaft und im Rahmen des weltanschaulich neutralen Staates wäre stattdessen zu bedenken, wie sich auf schulischer Ebene die Integration der Religionen und Weltanschauungen stützen lässt. In dieser Hinsicht haben in der Bundesrepublik Deutschland die Reformansätze der zurückliegenden Jahre zu kurz gegriffen. Das kleine westliche Nachbarland Luxemburg ist jetzt weiter gegangen und hat am 26. Januar 2015 einen religionsübergreifenden gemeinsamen Werteunterricht auf den Weg gebracht.⁶⁶ Die Probleme und Anachronismen des konfessionellen Religionsunterrichts, die prinzipiell schon von Schleiermacher erkannt worden waren, sind in der Bundesrepublik bis heute nicht hinreichend aufgearbeitet und bislang unbewältigt geblieben. Immerhin ist auf der ethisch-rechtlichen Grundlagenebene zu Kindern im Vergleich zur Epoche Schleiermachers ein Durchbruch erzielt worden. Er wird – wie eingangs erwähnt – durch die UN-Kinderrechtskonvention von 1989 symbolisiert.⁶⁷
3.2 Grundrechte von Kindern zwischen Theorie und Praxis Aufgrund der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen werden Kinder menschen- und völkerrechtlich heutzutage zumindest theoretisch als Rechtssubjekte und als Träger eigener Grundrechte anerkannt, die von Schutz- und Abwehrrechten über Freiheits- und Partizipations- bis zu Anspruchs- und sozialen Leistungsrechten reichen. In der Bundesrepublik Deutschland ist zu konkreten Fragen freilich nach wie vor Diskussionsbedarf gegeben. Zwar hat die Bundesrepublik am 15. Juli 2010 ihre Vorbehalte gegen die UN-Kinderrechtskonvention zurückgezogen. Unter anderem hat man minderjährigen Asylbewerbern kein Recht auf Bildung oder auf Gesundheit gewähren wollen, wie es deutschen Kindern zusteht. Zudem wurde von den Vereinten Nationen kritisiert, dass die von der Bundesrepublik praktizierte Drittstaatenregelung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge mit der Kinderrechtskonvention nicht zu ver-
Verfassung besser entspricht“ (Gerhard Robbers, Neuere Entwicklungen des Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen, in: Max-Emanuel Geis/Markus Winkler/Christian Bickenbach [Hg.], Von der Kultur der Verfassung, München 2015, 393 – 399, hier 396). Vgl. Hartmut Kreß, Ethik der Rechtsordnung, Stuttgart 2012, 179. Vgl. Erny Gillen, Neue Verhältnisse in Luxemburg – zwischen Staat und Religionsgemeinschaften. Zu den neuen Konventionen vom 26. Januar 2015, Berlin 2015, 29 ff. Vgl. oben Abschnitt 1: „Durchbruch im ausgehenden 20. Jahrhundert: Die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen“.
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einbaren war.⁶⁸ Aktuell – zur Zeit der Niederschrift dieses Beitrags (Februar 2016) – ist festzuhalten, dass im Umgang mit Kindern als Flüchtlingen erneut schwere humanitäre Probleme aufbrechen.⁶⁹ Im Übrigen ist es bis heute nicht gelungen, Kindergrundrechte im Grundgesetz selbst zu verankern. Ein solcher Schritt ist erneut im Jahr 2014 unterblieben. Denn es hätte nahegelegen, spätestens die 25-jährige Wiederkehr der Verabschiedung der UN‐Konvention hierfür als Anlass zu nehmen. Hierdurch wäre zum Beispiel die Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde zugunsten von Kindern eröffnet worden; Gerichte wären verpflichtet, sich bei Abwägungen an Kindergrundrechten als Verfassungsnorm zu orientieren; Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe hätten es leichter, ihre individuelle Hilfeplanung im Sinn der Kinderrechtskonvention auszugestalten.⁷⁰ Insgesamt ist zu sagen, dass bei der Realisierung von Kinderrechten in der Bundesrepublik Deutschland, auch im Vergleich zu anderen europäischen Staaten, Nachholbedarf besteht.⁷¹ Eine Bereichsethik, für die Kinderrechte eine sehr große Rolle spielen, stellt die Ethik der Medizin und des Gesundheitswesens dar. Auf dieses Themenfeld abschließend einzugehen, empfiehlt sich im hier vorliegenden Zusammenhang auch deshalb, weil in der Epoche Schleiermachers neben dem pädagogischen Blick auf Kinder – „pädagogischer Kindheitsdiskurs“⁷² – ebenfalls ein „medizinischer Kindheitsdiskurs“⁷³ geführt wurde und Kinder als Patienten in ganz anderer Weise Aufmerksamkeit fanden als zuvor.⁷⁴
3.3 Kinderrechte im Gesundheitswesen – die Medizin zwischen Schrittmacherrolle und Aufholbedarf Für die Umsetzung der Kinderrechtsidee kam und kommt der Medizin eine Schlüsselfunktion zu. Ein Kern der 1989 kodifizierten Kinderrechte besteht darin, die Freiheits-, Mit- und Selbstbestimmungsrechte des Kindes zu betonen, und zwar „entsprechend seinem Alter und seiner Reife“.⁷⁵ Die Ärzteschaft hat diese Vorgabe zügig
Vgl. Surall, Ethik des Kindes (s.o. Anm. 1), 66. Vgl. Ärzte Zeitung v. 12.10. 2015: „Pädiater fordern: Jungen Flüchtlingen schneller helfen!“, online unter www.aerztezeitung.de; Die Welt v. 3. 2. 2016: „Kinderschutzbund in großer Sorge um junge Flüchtlinge“, online www.welt.de/151793615, beides zuletzt abgerufen am 6. 2. 2016. Vgl. Klaus Graf, Ethik der Kinder- und Jugendhilfe, Stuttgart 2014. Vgl. Hartmut Kreß, UN-Kinderrechtskonvention 1989 – 2014. Ethischer Durchbruch vor 25 Jahren – Hürden bei der Durchsetzung und Konkretisierung, in: ZEE 58 / 2014, 243 – 247, mit weiteren Nachweisen. Schmid, Kindheit (s.o. Anm. 17), 47 ff. Ebd. 45 ff. S.o. bei Anm. 16 – 17. Übereinkommen über die Rechte des Kindes. UN-Kinderrechtskonvention vom 20.11.1989, Artikel 12 Absatz 1.
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aufgenommen. Im Jahr 1998 hat sich der Weltärztebund auf seiner 50. Generalversammlung in Ottawa mit Kindern als Patienten befasst und eine Deklaration verabschiedet, die sich an die einschlägigen Aussagen der UN-Kinderrechtskonvention anlehnt. Für Entscheidungen, die die Gesundheit oder Krankheit von Kindern berühren, gilt dem Weltärztebund zufolge: „In diesen Entscheidungsprozessen sollten die Wünsche des Kindes berücksichtigt werden und in Abhängigkeit von der geistigen Reife des Kindes zunehmende Bedeutung erhalten. Das nach ärztlichem Urteil entscheidungsfähige Kind hat das Recht, die Entscheidungen über seine gesundheitliche Versorgung selbst zu treffen“.⁷⁶ Für Diagnostik und Therapie gilt daher: „Besitzt das Kind […] die erforderliche geistige Reife, so muss das Kind nach entsprechender Aufklärung um Zustimmung gebeten werden“.⁷⁷ Überdies beachtet der Weltärztebund die Religionsfreiheit des Kindes und erklärt, im Krankheitsfall gelte für Kinder gleichfalls in religiöser Perspektive das Selbstbestimmungsrecht: „Es sollte alles getan werden, damit das kranke Kind geistigen und moralischen Beistand erhält; dies schließt den Beistand eines Geistlichen der Konfession seiner Wahl ein“.⁷⁸ Hier lässt sich ablesen, dass das Anliegen des ansteigenden Mit- und Selbstbestimmungsrechts von Kindern in der Medizinethik und im Medizinrecht nachdrücklich aufgenommen worden ist. Doch sogar in der Medizin, die eine Vorreiterrolle und Schrittmacherfunktion übernommen hat, zeigen sich bis heute Desiderate. Um einen neuralgischen Punkt zu nennen: Nach wie vor werden Kinder in der Bundesrepublik Deutschland weitgehend mit für sie nicht zugelassenen Medikamenten (off label) behandelt. Da Kinder nur eine kleine Patientengruppe bilden, ist die Entwicklung und Prüfung von Medikamenten für sie ökonomisch nicht von Interesse. Zahlreiche Medikamente, die eigentlich für Erwachsene entwickelt sind, faktisch aber auch bei Kindern eingesetzt werden, sind noch jetzt kinderspezifisch ungeprüft.⁷⁹ Die Anstöße, Abhilfe zu schaffen, gingen im Wesentlichen von der Europäischen Union aus.⁸⁰ Überhaupt ist in der Bundesrepublik bis heute eine Tendenz zu beobachten, sensible Themen des Umgangs mit Kindern nicht beim Namen zu nennen – sogar im Bereich der Medizin und des Gesundheitswesens. So werden seit den 1990er-Jahren in der Bundesrepublik Deutschland Fragen der Transplantationsmedizin eigentlich sehr intensiv erörtert. Insbesondere geht es darum, unter welchen Bedingungen Menschen nach ihrem Hirntod Organe entnommen werden dürfen. Grundsätzlich gilt in der Bundesrepublik die Regel, dass Organe explantiert werden dürfen, sofern der Be-
Deklaration von Ottawa zum Recht des Kindes auf gesundheitliche Versorgung, Oktober 1998, Nr. 9. Ebd. Nr. 10. Ebd. Nr. 30. Vgl. z. B. Ärzte Zeitung v. 18.9. 2015: „Kinder-Arznei: Kernproblem bleibt ungelöst“, online: www. aerztezeitung.de/politik_gesellschaft/arzneimittelpolitik/article/894407/kinder-arznei-kernproblembleibt-ungeloest.html, zuletzt abgerufen am 6. 2. 2016. Vgl. Verordnung (EG) Nr. 1901/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12.12. 2006 über Kinderarzneimittel.
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treffende zuvor, zu Lebzeiten, explizit oder zumindest mutmaßlich eingewilligt hat (erweiterte Zustimmungslösung, seit 2012 als sog. Erklärungs- oder Entscheidungslösung gefasst). Nun kommen auch Kinder, einschließlich Kleinkindern, als Quelle bzw. als Geber von Organen in Betracht. In Kliniken werden Eltern aktiv darauf angesprochen, ob sie damit einverstanden sind, dass ihrem Kind nach dem Hirntod Organe explantiert werden. Ethisch besteht ein Dilemma allerdings darin, dass Kinder in die Organentnahme durchweg nicht eingewilligt haben, noch nicht einmal mutmaßlich. Bei kleinen Kindern kann dies auf keinen Fall gegeben sein. Wenn man sich die Gesetzesmaterialien und das Schrifttum ansieht, wird man feststellen, dass die grundrechtliche Problematik der Organentnahme bei Kindern so gut wie überhaupt nicht erörtert worden ist. Ethisch und rechtswissenschaftlich wäre dies unbedingt geboten gewesen.⁸¹ Hier erweist sich, dass es nach wie vor ein Desiderat bildet, Kindergrundrechte bei einschlägigen Problemdebatten systematisch zu berücksichtigen. Deshalb ist hervorzuheben, dass das Kinderrechtsanliegen angesichts heutiger kultureller, zivilisatorischer sowie technologischer Fortentwicklungen auch gezielt weiterentwickelt und fortgeschrieben werden muss. Zur Veranschaulichung sei erneut ein Thema aus der Medizin aufgegriffen, und zwar die genetische Diagnostik an vorgeburtlichem menschlichem Leben. Bislang werden vorgeburtliche Untersuchungen – pränatale Diagnostik oder Präimplantationsdiagnostik – durchgeführt, damit eine Frau bzw. ein Paar Informationen über Krankheiten und Schädigungen erhalten, die für den Embryo oder Fetus konkret zu befürchten sind. Den Hintergrund bilden in der Regel familiäre genetische Belastungen oder sonstige biographische Risikofaktoren, etwa ein erhöhtes Lebensalter der Schwangeren. Künftig werden sich die Reichweite und das potenzielle Anwendungsspektrum vorgeburtlicher genetischer Diagnostik voraussichtlich erheblich ausweiten. Es zeichnet sich ab, dass nicht nur nach einzelnen bestimmten Krankheitsanlagen gesucht, sondern das Genom eines Embryos oder Fetus sehr weitgehend oder praktisch vollständig erfasst werden kann (Ganzgenomsequenzierung). Ein solcher technischer Fortschritt könnte ethisch freilich einen hohen Preis fordern. Falls der untersuchte Embryo oder Fetus tatsächlich ausgetragen und geboren würde, wäre er als geborener Mensch in seinem informationellen Selbstbestimmungsrecht von Vornherein beeinträchtigt. Ihm wäre die Möglichkeit genommen, im Lauf des Lebens über eine Analyse seines Genoms frei entscheiden zu können, da die pränatal erhobenen Daten bereits vorliegen. Nun ist das vorgeburtliche Leben, an dem gegebenenfalls eine Genomanalyse vorgenommen würde, positiv-rechtlich selbst noch kein Rechtsträger oder Rechtssubjekt. Jedoch ist es an der Zeit, darüber nachzudenken, inwieweit für vorgeburtliches Leben vorwirkend die Selbstbestimmungsrechte greifen, die später das Kind und der Erwachsene besitzen. Namentlich geht es hier um die Vorwirkung des Abwehr- und Freiheitsrechts
Vgl. Hartmut Kreß, Organentnahme nach dem Hirntod bei Kindern. Ethische und rechtliche Gratwanderung, in: Medizinrecht 33 / 2015, 855 – 860.
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Hartmut Kreß
auf Nichtwissen um das eigene Genom.⁸² So gesehen ist es unerlässlich, Kinderrechte zeitgemäß fortzuschreiben, und zwar keineswegs nur – wie zuletzt angesprochen – in Bezug auf den Umgang mit vorgeburtlichem Leben, sondern ebenso mit Blick auf den Gesundheitsschutz und die Gesundheitsbildung Heranwachsender.⁸³
4. Resümee Seit der Aufklärung – prominent repräsentiert durch John Locke, Jean-Jacques Rousseau oder Moses Mendelssohn – sind die Achtung der Subjektivität und Individualität von Kindern zu einem herausragenden Postulat der Ethik geworden. Die UN‐Kinderrechtskonvention hat dieses Anliegen fortgeführt, indem sie Schutz-, Mitund Selbstbestimmungs- sowie Anspruchsrechte von Kindern auf das Niveau von Menschenrechten hob. Bis heute bestehen freilich, auch in der Bundesrepublik Deutschland, gravierende Defizite im Schutz von Kindern und in der Gewährleistung ihrer Grundrechte. Nach wie vor ist eine soziostrukturelle Rücksichtslosigkeit von Staat und Gesellschaft gegenüber Kindern festzustellen, die als vulnerable Gruppe eigentlich besonders schutzbedürftig sind. Schleiermacher kommt das Verdienst zu, den Kategorischen Imperativ Kants dem Sinn nach auf Kinder ausgedehnt und ihnen Eigenrecht und Selbstzwecklichkeit zuerkannt zu haben. Im Jahr seiner einschlägigen Pädagogikvorlesungen – 1826 – erfolgte dies ebenfalls durch den Pädagogen Adolf Diesterweg.⁸⁴ Begrifflich und sachlich haben Autoren wie Georg Simmel⁸⁵ oder Hans Jonas⁸⁶ dem Anliegen später zusätzliches Profil verliehen. An diese geistesgeschichtliche Tradition ist heute verstärkt anzuknüpfen. Andererseits hat Schleiermacher seinen an der Individualität des Kindes orientierten Denkansatz selbst konterkariert, indem er ihn in ein individualitätsunfreundliches,vordemokratisches Staatsverständnis einband. Seine Überlegungen sind zudem auf das Schwerste belastet durch seine religiöse Intoleranz und seinen massiven Antijudaismus, der auch auf seine religionspädagogischen und das Schulwesen betreffenden Schlussfolgerungen durchschlug. Wenn man sich seine Gedankengänge zu Kindern und zur Kindheit geistesgeschichtlich vergegenwärtigt, sind diese Schat-
Vgl. Hartmut Kreß, Schwangerschaftsabbrüche im Kontext von Reproduktionsmedizin und Präimplantationsdiagnostik, in: Ulrike Busch/Daphne Hahn (Hg.), Abtreibung. Diskurse und Tendenzen, Bielefeld 2015, 139 – 161, hier 156 ff. Vgl. Surall, Ethik des Kindes (s.o. Anm. 1), 270 – 334; Britta Wulfhorst/Klaus Hurrelmann (Hg.), Handbuch Gesundheitserziehung, Bern 2009; Janika Suck, Gesundheitsförderung an Schulen aus ethischer Sicht, Frankfurt a. M. 2015. Vgl. Adolf Diesterweg, Ueber den Gebrauch der Kinder zur Fabrik-Arbeit, in: Rheinisch-westfälische Monatschrift für Erziehung und Volksunterricht 5 / 1826, 161– 190. S.o. bei Anm. 11– 14. Vgl. Hans Jonas, Technik, Medizin und Ethik, Frankfurt a. M. 1985, 193 f.
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tenseiten unverkennbar. Es gilt, aus der Geistesgeschichte – hier konkret: aus den Schwächen des Denkansatzes Schleiermachers – zu lernen, um Desiderate in der Gegenwart umso nachdrücklicher zur Sprache zu bringen.
Andreas Kubik / Osnabrück
Die implizite Religionspädagogik von Schleiermachers Reden „Über die Religion“ 1. Der gegenwärtige Streit um die religiöse Bildung Kinder müssen in der Schule etwas über Religion lernen. Darüber gibt es heute wenig Meinungsverschiedenheit. Kaum jemand zweifelt heute noch die grundsätzliche Bildungsbedeutung des Themas an. Religion ist zumindest als soziales Faktum zurück im Fokus der Aufmerksamkeit. Andere Aspekte wie ihre mögliche Bedeutung für den Wertehaushalt der Nation oder ihr Potenzial als persönliche Sinnressource können hinzutreten. Kinder müssen in der Schule etwas über Religion lernen. Was sie dabei allerdings genau lernen sollen und in welcher Weise dies zu geschehen habe, darüber dürfte weit weniger Einigkeit herrschen. In der wissenschaftlichen Religionspädagogik wird darüber eine recht intensive Diskussion geführt,¹ von der die Öffentlichkeit allerdings wenig Notiz nimmt. Im gesellschaftlichen Gespräch kann man kaum von einer wirklichen Debatte sprechen; verschiedenste Meinungsäußerungen stehen einfach nebeneinander. Diese haben wiederum so gut wie keinen politischen Effekt, weil sie in aller Regel ohne die Kenntnis der komplizierten und fragilen Rechtslage auszukommen meinen, welche positive und negative Religionsfreiheit der Schülerinnen und Schüler, bis zur Religionsmündigkeit den Willen der Eltern und die religiöse Neutralität des Staates unter einen Hut bekommen muss.² Unterdessen haben sich auch Parteien, die früher für eine grundsätzlich andere Form des Religionsunterrichts plädierten (SPD, FDP, Grüne), zu Unterstützerinnen von Modellen gewandelt, welche auf enge Kooperation mit den Religionsgemeinschaften setzen. Nicht zuletzt durch den politischen Willen, auch jüdischen und islamischen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen anbieten zu können, gewann die bewährte, wenn auch vielfach kritisierte³ herkömmliche Form des Religionsunterrichts als einer gemeinsamen Angelegenheit von Staat und Religionsgemeinschaft neue Plausibilität. Allerdings leuchtet vielen Menschen diese Form nicht mehr ein.Wenn ich
Vgl. pars pro toto Rudolf Englert (Hg.), Was sollen Kinder und Jugendliche im Religionsunterricht lernen? Neukirchen-Vluyn 2011. Diese Herausforderung löst die deutsche Rechtskonstruktion zum Religionsunterricht im Prinzip vorbildlich; vgl. Uta Hildebrandt, Das Grundrecht auf Religionsunterricht. Eine Untersuchung zum subjektiven Rechtsgehalt des Art. 7 Abs. 3 GG, Tübingen 2000, 41– 134. Vgl. etwa Barbara Asbrand, Zusammen leben und lernen im Religionsunterricht. Eine empirische Studie zur grundschulpädagogischen Konzeption eines interreligiösen Religionsunterrichts im Klassenverband der Grundschule, Frankfurt a. M. 2000; Gerd Laudert-Ruhm, Religion gemeinsam lernen. Anstöße zu einer überfälligen Reform, Düsseldorf 2009. DOI 10.1515/9783110464573-005
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Andreas Kubik
meine eigene Erfahrung aus vielen Gesprächen darüber zugrunde lege,⁴ so gelingt es kaum noch, die Vorzüge unserer Organisationsform von Religionsunterricht plausibel zu machen. Wie gesagt: Die grundsätzliche Überzeugung, dass Religion Lerngegenstand sein solle, ist davon nicht berührt. Aber jenseits dessen fangen die Dissense an. Folgende Meinungen scheinen einigermaßen populär zu sein: Erstens, Unterricht in religiösen Angelegenheiten solle gemeinsam im Klassenverband vorgenommen werden; die Trennung nach verschiedenen Konfessionen und Religionen sei anachronistisch und bedeute eher den Keim von Unfrieden, indem sich hier ein Disktinktionsmerkmal objektiviere und aufdränge, das in der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler ansonsten gar keine besondere Bedeutung habe – ein Argument, das so ähnlich übrigens bereits Adolph Diesterweg vor gut 170 Jahren vorbrachte.⁵ Zweitens, es sollten alle Religionen in einem neu zu konzipierenden Religionsunterricht vorkommen; die Bevorzugung des Christentums habe lediglich historische Gründe und entspreche nicht mehr der religiösen Lage der Gesellschaft. Drittens, der Unterricht in Religion solle im Wesentlichen informativen Charakter haben; die Religionslehrkräfte sollten außerdem in der Darstellung keine Religion bevorzugen und gerade dadurch die unvoreingenommene Meinungsbildung der Schülerinnen und Schüler unterstützen. Alle drei Forderungen sind bei näherem Hinsehen längst nicht so einleuchtend, wie sie auf den ersten Blick scheinen. Zum ersten: Aufteilungen des Klassenverbandes finden aus den unterschiedlichsten Gründen andauernd statt. Dies kann also für sich genommen kein Argument sein. Dass die unterschiedliche Religionszugehörigkeit in der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler keine Rolle spiele, ist eine einseitige Betrachtung, welche für weitgehend homogene säkularisierte Milieus zutreffen mag. Ansonsten aber spiegelt das Nebeneinander verschiedener Religionen in der Schule unzweifelhaft auch gesellschaftliche Realität wider. Es ist mehr als fraglich, ob der Staat via Religionsunterricht ein Mandat hat, dies innerhalb der Schule zu überwinden und eine Art Konsensökumene⁶ voranzutreiben. Das selbstverständlich unverzichtbare Toleranzgebot muss vom Standpunkt der Religionen selbst aus rekonstruiert werden; wie diese es zu erfüllen suchen, hat der Staat ihnen nicht vorzuschreiben. Zum zweiten: Die Redeweise von einer Privilegierung des Christentums ist beliebt, aber unzutreffend. Der Schein der Bevorzugung kommt nur dadurch zustande, dass die konkrete Organisationsform der gemeinsamen Angelegenheit von Staat und Re-
Ich denke dabei an Gespräche mit anderen Eltern,Verwandten, Menschen aus dem Bekanntenkreis, KollegInnen anderer Fächern, also durchweg Personen abseits des theologischen Zirkels. Vgl. Friedrich Adolph Wilhelm Diesterweg; Konfessioneller Religionsunterricht in den Schulen oder nicht? (1848): In: Ders., Sämtliche Werke, 1. Abt., VII. Band, bearbeitet von Ruth Hohendorf, Berlin (DDR) 1964, 381– 416. Dieser Aufsatz löste eine heftige Kontroverse aus; vgl. die lange Anmerkung 13 der Herausgeberin im Band VIII der ‚Sämtlichen Werke‘, Berlin (DDR) 1965, 473 f. Vgl. Hans-Michael Heinig, Religionsunterricht nach Art. 7.3 des Grundgesetzes – Rechtslage und Spielräume. In: Bernd Schröder (Hg.), Religionsunterricht – wohin? Modelle seine Organisation und didaktischen Struktur, Neukirchen-Vluyn 2014, 141– 154, hier: 148 (im Anschluss an Martin Heckel).
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ligionsgemeinschaft historisch tatsächlich der Zusammenarbeit von Staat und Kirche abgelesen ist. Aber die Frage, wie diese im Hinblick beispielsweise auf islamischen Religionsunterricht zu konkretisieren ist, wird zurzeit mit den muslimischen Verbänden intensiv diskutiert; es wird sich irgendwie lösen lassen.⁷ Ferner schreiben die Lehrpläne von evangelischer, katholischer und islamischer Religionslehre selbstverständlich die Beschäftigung mit ‚anderen‘ Religionen verbindlich vor. Deswegen wird – wenn man im Gespräch überhaupt so weit gelangt – die Forderung häufig dahingehend präzisiert, alle Religionen müssten ‚gleichberechtigt‘ vorkommen. Doch hier wäre sofort zurückzufragen, welche Religionen mit ‚alle‘ denn genau gemeint sein sollen. Ferner: Wer soll einen solchen Unterricht in der Vorbereitung stofflich bewältigen können? Schon am Christentum haben Studierende m. E. heute eher zu viel als zu wenig zu lernen. Und schließlich wäre damit der Standpunkt eines skeptischen, bestenfalls neugierigen Agnostikers von Staats wegen verbindlich gemacht, denn die Annahme, allen Religionen sei inhaltlich gleiches Recht zuzubilligen, ist ihrerseits eine höchst voraussetzungsreiche und weltanschaulich keineswegs ‚neutrale‘ Position. Sie widerspricht im Übrigen gerade der Grundintuition des Grundgesetzes, durch die Möglichkeit von Religionsunterricht der positiven Religionsfreiheit entgegen zu kommen. Wenn man sich von einem staatlich verantworteten Unterricht dann noch abmelden könnte,⁸ wäre es mit der erwünschten Sachlichkeit und Einheitlichkeit auch schon wieder vorbei. Für die Idee eines neutralen Unterrichts gibt es drittens auch in der gegenwärtigen christlichen Religionspädagogik viele Sympathien.⁹ In der Tat läuft vielerorts der Religionsunterricht als eine Art ‚engagierte Sachkunde Religion‘ ab. Wäre dann der
Stand Frühjahr 2016 haben bislang die Länder Hamburg und Bremen einen Staatsvertrag mit muslimischen Gemeinschaften geschlossen, der auch den Religionsunterricht berührt. In Niedersachsen befindet sich ein analoger Vertrag in der unmittelbaren Beschlussphase. Der bereits geschlossene Staatsvertrag in Bremen klammert das Problem des Religionsunterrichts aus; im Hintergrund steht der unglückliche Artikel 32 der Bremer Landesverfassung, welcher die Erteilung des staatlichen Religionsunterrichts „auf allgemein christlicher Grundlage“ festschreibt. In anderen Bundesländern gibt es bislang unterschiedliche Regelungen und Modellversuche zum Islamischen Religionsunterricht. Zu den grundsätzlichen Aspekten des Themas vgl. Wolfgang Bock (Hg.), Islamischer Religionsunterricht? Rechtsfragen, Länderberichte, Hintergründe, Tübingen 2006. Ein staatlicher Religionsunterricht müsste wegen der negativen Religionsfreiheit (Art. 4 GG) vermutlich eine Abmeldemöglichkeit enthalten. Anders sieht es mit einem Ethikunterricht mit religionskundlichen Anteilen aus, wie er in Berlin unlängst eingeführt wurde (§ 12, Abs. 6 des Berliner Schulgesetzes von 2004 bzw. dessen Novellierungen). Hier hat das Bundesverfassungsgericht keinerlei Gründe gegen die verpflichtende Teilnahme finden können; vgl. die Begründung des Gerichts, die Verfassungsbeschwerde der Kirchen nicht zur Entscheidung anzunehmen; in: Deutsches Verwaltungsblatt 2007, 693 – 698. Vgl. klassisch Gert Otto, Allgemeiner Religionsunterricht – Religionsunterricht für alle. Sieben Thesen mit Erläuterungen. In: Jürgen Lott (Hg.), Religion – warum und wozu in der Schule? Weinheim 1992, 359 – 374; aus der neueren Diskussion vgl. etwa Burkhard Porzelt, Welcher Religionsunterricht passt zur Schule? Erwägungen zu Legitimation und Gestaltung eines schulkompatiblen Religionsunterrichts. In: Jahrbuch der Religionspädagogik 30 (2014), 125 – 137.
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Weg so weit, diesem Sachverhalt auch durch einen neuen Gesamtzuschnitt religiöser Bildung in der Schule Rechnung zu tragen, auch wenn dafür eine Verfassungsänderung notwendig wäre? Politisch muss man hier sogleich begegnen, dass es äußerst unwahrscheinlich ist, dass bereits die katholische Kirche, geschweige denn die anderen Religionen bei diesem Weg mitmachen.¹⁰ Mit diesem eher politischen Hinweis ist allerdings noch nichts über die gedankliche Sachgemäßheit dieser letzten Forderung ausgemacht. Ich werde am Schluss dieses Aufsatzes noch einmal darauf zurückkommen. Kinder müssen etwas über Religion lernen. Es zeigt sich, dass die Frage, was und wie sie lernen sollen, dass also das Verständnis von Wegen und Zielen religiöser Bildung selbst schon sehr voraussetzungsreich und nicht unabhängig von inhaltlichen religiösen – oder meinetwegen weltanschaulichen – Positionen ist. Aus der Perspektive des heutigen Protestantismus dürfte sich die Frage nach dem eigentlichen Problem religiöser Bildung heute am besten in den Worten des bekannten muslimischen Orientalisten Navid Kermani ausgedrückt finden: „[A]ngesichts des sich ausbreitenden Islamismus haben wir plötzlich gemerkt, dass uns die Verstehensmechanismen für Religion abhandengekommen sind, weil uns die eigene religiöse Tradition fernlag.“¹¹ Ich würde mich ihm anschließen: Der Verlust dieser Verstehensmechanismen ist ein, wenn nicht das zentrale religionspädagogische Problem unserer Tage. Angesichts einer öffentlichen Debattenkultur, die der Religion mit immer weniger Verständnis begegnet, und eines zunehmenden religiösen Traditionsverlustes besteht die hauptsächliche Aufgabe darin, Religion dem Verstehen zugänglich zu machen, soweit das möglich ist: also unabhängig von der sich entwickelnden eigenen religiösen Position den ‚Sinn für Religion‘¹² zu bilden.
In der Sache ist dazu anzumerken: Wenn man der Meinung ist, religiöse Bildung sei am besten als neutrale Religionskunde zu verwirklichen und man sich dabei im Dissens mit verschiedenen, großen religiösen Gruppierungen befindet, so zeigt sich, dass diese Meinung keineswegs vom Standpunkt der puren Vernunft aus gefällt wurde, sondern ihrerseits Ausdruck einer ganz bestimmten religiösen Position ist, zumeist einer liberal-christlichen. Doch warum sollte diese für andere Religionsgemeinschaften verbindlich gemacht werden? Wenn es aber um Religion wirklich nur als fait social gehen soll, so stellt sich in der Tat die Frage, ob man ein solches Fach – wie in Frankreich – nicht ganz ersparen und die Inhalte im Politikunterricht behandeln könnte. Navid Kermani, Interview: „Religion ist eine sinnliche Erfahrung“. URL: http://www.zeit.de/2015/ 34/navid-kermani-christentum-kunst-unglaeubiges-staunen/seite-2 [Abruf 16.03. 2016, 12:00 MEZ]. Der inzwischen häufig verwendete Ausdruck ‚Sinn für Religion‘ hat seine Wurzeln vermutlich in der Romantik: „Wer keinen Sinn für Religion hätte – müßte doch an ihrer Stelle etwas haben, was für ihn das wäre, was andern die Religion ist, und daraus mögen wohl viel Streite entstehn“ (Novalis, Werke, Tagebücher und Briefe, Bd. 2: Das philosophisch-theoretische Werk, hg. von Hans-Joachim Mähl, Darmstadt 1999, 759; vgl. dazu Andreas Kubik, Die Symboltheorie bei Novalis. Eine ideengeschichtliche Studie in ästhetischer und theologischer Absicht, Tübingen 2006, 326 – 331). Eine Online-Suchmaschine verrät mir noch eine Fundstelle bei Johann Heinrich Ewald, Soll und kann die Religion Jesus [sic!] allgemeine Religion seyn? Parallele zwischen Christentum und Kosmopolitismus, Lepizig 1788, 40, der an dieser Stelle seinerseits Johann Caspar Lavater zitiert. Dort scheint der Ausdruck allerdings eher die allgemeine ‚Anlage‘ zur Religion zu bezeichnen.
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Im Folgenden seien dazu einige Gedanken Schleiermachers erwogen, die in meinen Augen dazu beitragen könnten, die Lösung des angesprochenen Problems voranzutreiben. Dabei möchte ich mich weniger seinen religionspädagogischen Texten im engeren Sinne zuwenden,¹³ die in Schleiermachers Wissenschaftssystematik schon dem technischen Lehrkreis angehören.¹⁴ Denn die pädagogische Technik setzt ja voraus, dass grundlegende Dinge schon geklärt sind. Die geschilderte Problematik erinnert vielmehr stark an die Reden „Über die Religion“, die von einer ganz ähnlich gelagerten Problembeschreibung ausgehen. Denkt man im religionspädagogischen Kontext an die „Reden“, so fällt einem zunächst natürlich die dritte Rede ein,welche die Bildung zur Religion zu ihrem Thema macht. Doch bei unserer Auslegung soll diese nicht im Vordergrund stehen. Stattdessen möchte ich es unternehmen, die implizite Religionspädagogik der „Reden“ insgesamt zu erheben, also das konkrete Vorgehen nachzuzeichnen, mit dem Schleiermacher versucht, den Gebildeten unter den Verächtern der Religion nun gerade in religiöser Hinsicht noch ein Bildungserlebnis zu verschaffen. D. h., ich versuche, die „Reden“ selbst als eine Schrift konkreter Religionspädagogik zu interpretieren. Dass man sie als eine Lerngelegenheit über Religion verstehen kann, gibt Schleiermacher selbst zu erkennen. Mehrfach notiert er Lernfortschritte, welche die Gebildeten unter den Verächtern im Verlauf der Lektüre gemacht haben sollen. Offensichtlich imaginiert sich der Redner seine Leserschaft so, dass sie ihm jeweils bis hierhin auf dem Lernweg gefolgt ist und deshalb nun mehr von der Religion verstanden hat als zuvor.¹⁵ Indem wir also den „Reden“ ihre verborgene religionspädagogische Technik ablauschen, die nicht als eine solche formuliert ist, bewegt sich unsere Untersuchung gleichsam noch im Vorhof der im engeren Sinne Praktischen Theologie.¹⁶
Vgl. dazu Erwin Wißmann, Religionspädagogik bei Schleiermacher, Gießen 1934; Hans-Hermann Wilke, Religionspädagogik, wissenschaftliche Bildung und Theologie. Am Beispiel der religionspädagogischen Fragestellungen in Schleiermachers System der Wissenschaften, Diss. Hannover 1977; Horst F. Rupp, Religion – Bildung – Schule. Studien zur Geschichte und Theorie einer komplexen Beziehung, Weinheim 21996; Martina Kumlehn, Symbolisierendes Handeln. Schleiermachers Theorie religiöser Kommunikation und ihre Bedeutung für die gegenwärtige Religionspädagogik, Gütersloh 1999. Vgl. die §§59 – 61 der Einleitung in: Friedrich Schleiermacher, Ethik (1812/13). Auf der Grundlage der Ausgabe von Otto Braun hg. von Hans-Joachim Birkner, Hamburg 21990, 12. Der Ausdruck ‚technische Disziplin‘ ist bei Schleiermacher keineswegs pejorativ gemeint. Z. B.: „[…] wenn ihr nun ein günstigeres Urteil über die Religion überhaupt fällt […]“ (244/1657). Ich zitiere die erste Auflage doppelt: zunächst die Originalpaginierung, dann nach dem Schrägstrich die Seitenzahl aus Friedrich Schleiermacher, Über die Religion (1799), hg.v. Günter Meckenstock, Berlin/ New York 2001. Die weiteren Auflagen der „Reden“ werden zitiert nach Friedrich Schleiermacher, Über die Religion (2.‐) 4. Auflage, Monologen (2.‐) 4. Auflage, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin/New York 1995 (KGA I/12). Zitate aus diesen Schriften werden im Folgenden im Haupttext in Klammern gesetzt, wobei Zitate aus den späteren Auflagen der Reden mit dem Siglum KGA I/12 zitiert werden. Ich konzentriere mich im Folgenden auf die Erstauflage; die weiteren Auflagen und andere Texte werden ergänzend hinzugezogen.
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2. Eine religionspädagogische Interpretation der „Reden“ 2.1 Die kommunikative Situation als Lernsituation Zur Rechtfertigung seines Unternehmens, den Gebildeten Reden über die Religion zu halten, verweist Schleiermacher bekanntlich zunächst auf die „unwiderstehliche Nothwendigkeit meiner Natur“ (5/596), ja auf seinen „göttliche[n] Beruf“ (ebd.). Doch die „Reden“ sind nur in einer Hinsicht Herzensergießungen eines inspirierten Jünglings. Die Redesituation wird vom Redner vielmehr je länger je mehr als Lernsituation konturiert. Die Adressatinnen und Adressaten sollen zunächst begreifen, dass sie sich in einem vollkommenen Missverstand über den Gegenstand befinden. Im Verlauf der zweiten Rede gipfelt die Skizzierung dieser Lernsituation in die Anmutung einzusehen, „daß, was die Religion betrifft, Ihr noch nichts von ihr wißt.“ (47/7810) Dies ist ein Zustand, der geradezu danach schreit, von einer kundigen Person behandelt zu werden. Allerdings handelt es sich um eine äußerst ungünstige und für den Redner schwierige Lernsituation. Und zwar aus zwei Gründen: Zum ersten meinen die Gebildeten ganz im Gegenteil sehr gut über die Religion Bescheid zu wissen; es liegt ihnen gewissermaßen auf der Hand und scheint sich von selbst zu verstehen. Ein großer Teil der ersten Rede besteht daher in dem Nachweis Schleiermachers, dass dies gerade nicht der Fall ist. Zum zweiten, die Gebildeten meinen nicht nur zu wissen, was die Religion sei, sondern haben obendrein noch eine klare Meinung davon, was man von ihr zu halten hat und wozu sie allenfalls gut ist: Sie macht den Einfältigen das Leben ein bisschen schöner, und sie unterstützt durch den Glauben an die jenseitige Vergeltung ein wenig das Wertekorsett der Gesellschaft. Die Verachtung, mit der die Gebildeten der Religion begegnen, wird durch ihre partielle Nützlichkeit nicht aufgehoben, vielmehr in gewisser Weise noch verstärkt, da man als Angehöriger der Führungsschicht sie sogar aktiv funktionalisieren kann, ohne dass dies den Religiösen auffällt. Der Redner will nun der Religion gerade Achtung wiedergewinnen, folglich kann er sich diese Nützlichkeitszuschreibung nicht zu eigen machen. Damit aber scheint er sich gerade der Argumente zu entschlagen, mittels derer der Religion im öffentlichen Diskurs wenigstens noch ein kleiner Kredit eingeräumt wird. Folglich muss er im Verlauf der „Reden“ auch noch begründen, warum die Religion als Lerngegenstand dennoch essenziell ist. Die Aussichten schätzt er dabei als gering, aber auch nicht als exzeptionell ungünstig ein, denn „von der Religion haben immer nur Wenige etwas verstanden.“ (1/571; Hvg. A.K.)
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2.2 Der Lernweg In dieser einigermaßen desolaten Lage gilt es zunächst, die geeignete Lücke in der Schanze zu finden, durch die überhaupt ein Einstieg in das Thema möglich ist. Eine solche kann nur in einem irritierenden Moment liegen, da ja vonseiten der Gebildeten gar kein Bildungsdefizit vorzuliegen scheint. Eben diese Selbstsicherheit muss zumindest ein klein wenig verunsichert werden, damit der Redner überhaupt einen Fuß in die Tür bekommen kann. Doch wie jeder gute Einstieg muss dieses Moment nicht nur die rechte Lernhaltung erzeugen, sondern zugleich auch inhaltlich einen Drehpunkt in den eigentlichen Hauptteil bereitstellen. Als ein solches Moment dient die scheinheilige Rückfrage, ob die Gebildeten denn gerade in ihrer Verachtung hinreichend gebildet sind, oder ob sie nicht gewissermaßen an der Sache selbst vorbeiverachten. Irritierend soll diese Rückfrage wirken, da sich die Gebildeten auf ihre Verachtung als vermeintlich emanzipative Haltung einiges einbilden und es sich nun gefallen lassen müssen, vom Redner – wie sie es eigentlich erwartet hatten – weder gedanklich angegangen noch ob ihrer Gottlosigkeit moralisch diskreditiert, sondern vielmehr von ihm rechts überholt werden: In ihrer Religionsverachtung erweisen sie sich als nicht auf dem sonstigen Höhenstand ihrer Bildung. Indem er dies zeigt, gewinnt Schleiermacher zugleich seine erste religionspädagogische Maxime zur Untersuchung von Religion. Beginnen wir also damit, inwiefern sich die Gebildeten in ihrer Verachtung als ungebildet erweisen. Ihre Unbildung besteht nicht etwa in mangelnder Kenntnis über diese oder jene religiösen Phänomene, sondern darin, dass sie einen Religionsbegriff postulieren, der der Sache der Religion schlechterdings unangemessen ist. Infolgedessen schätzen sie auch die konkrete Erscheinungswelt der Religion völlig falsch ein. Das Wesen der Religion besteht nämlich nach der Meinung der Gegner in zweierlei: zum einen in der „Furcht vor einem ewigen Wesen“ und zum anderen im „Rechnen auf eine andere Welt“ (22/6612), sie stellt also ein vorgebliches Wissen über Gott und eine heteronome Auffassung von Moral bereit. Dieser Begriff aber lässt sich weder spekulativ noch empirisch halten, sondern die ‚Gebildeten‘ haben zwei kontingente religiöse Vorstellungsgehalte unter anderen willkürlich zu Wesensmerkmalen der Religion erklärt und diesen dann die weiteren religiösen Phänomene zugeordnet. Bei einem unhaltbaren Vorbegriff stehen zu bleiben und sich die religiöse Erscheinungswelt entsprechend zurecht zu legen, das ist das eigentlich Ungebildete in der Vorgehensweise. Ein adäquater Allgemeinbegriff von Religion kann aber nach Schleiermacher nicht anders als auf induktivem Wege gefunden werden. Es gilt also, sich in einem erneuten Suchvorgang der religiösen Welt zuzuwenden, denn „[i]hr müßt Eueren Begriff […] aus dem Einzelnen rechtfertigen.“ (24/6711) Der Begriff des ‚Einzelnen‘ wird dabei von Schleiermacher durchaus stufig verstanden. Er meint zunächst die „einzelne[n], erhabene[n] Gedanken“ (29(6922), „einzelne Andeutungen und Stimmungen“ (30/6940) als den eigentlichen Aufbaumomenten der Religion. Er kann ferner auch die „Elemente [scil. der theologischen] Systeme“ (27/6816) darunter ver-
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stehen. Und schließlich sind auch die großen positiven Religionen auch noch das ‚Einzelne‘ im Vergleich zum Allgemeinbegriff von Religion. Es mutet freilich seltsam an, dass Schleiermacher nach diesem flammenden Plädoyer für das ‚Einzelne‘ im Fortgang zunächst gar nicht so vorgeht. Zwar folgt zu Beginn der zweiten Rede ein Appell an die der induktiven Vorgehensweise entsprechende Einstellung: Es handelt sich um einen Gegenstand, „den Ihr lange mit angestrengter Aufmerksamkeit werdet beobachten müßen, um ihn zu erkennen, und seine bedeutsamen Züge zu verstehen.“ (39/7420) Aber dann folgt die umfangreiche Darlegung des Wesens der Religion, oder, wie Schleiermacher auch sagt, „das allgemeine Bild der Religion“ (66/8621), die in Anschauung und Gefühl besteht. Welchen Reim kann man sich auf diesen Schwenk in der Vorgehensweise machen? Offensichtlich genügt der bloße Appell zur Wahrnehmung des Einzelnen eben doch noch nicht. Ein religiöses Phänomen ist niemals nur dies, es tritt nie ‚rein‘ auf, und daher ist nicht von vornherein klar, was an der Erscheinung denn eigentlich genau zu betrachten ist. Deshalb ist es erforderlich, zunächst die Betrachtungsperspektive zu klären. Genau dazu dient der in der zweiten Rede erörterte Begriff der Religion. Streng genommen dürfte dieser zu diesem Zeitpunkt in der Argumentation noch gar nicht auftreten, denn er lässt sich ja eben nur aus dem ‚Einzelnen‘ rechtfertigen, von dem aber noch gar nicht die Rede war. Der Wesensbegriff der zweiten Rede ist religionspädagogisch gesehen eher ein Vor-Begriff, eine Wahrnehmungsperspektive, mit der sich die Gebildeten dann den konkreten Einzelanschauungen zuwenden können. Gleichwohl ist ein solcher in der Tat völlig unverzichtbar, will man nicht weiterhin vor den zur Religion hin offenen Phänomenen wie der Ochs vorm Berge stehen. Schleiermacher fragt die Gebildeten: „ob Ihr auch alle ihre Erscheinungen richtig beobachtet“ (24/679; Hvg. A.K.). Man muss vorher einigermaßen wissen, was man sucht, bevor man sich auf die Suche macht. Wir können an dieser Stelle auf die Einzeldurchmusterung von Natur, Menschheit und Geschichte, deren Anschauung Schleiermacher in der 2. Rede nacheinander bespricht, absehen.¹⁷ Das Religiöse an den sinnlichen Anschauungen, an denen sich die Religion entzündet, liegt in der spezifischen Qualität des Bezugs auf den Gegenstand. Diese Qualität besteht eben in der Betrachtung des ‚Einzelnen‘ als Repräsentation des Universums. Sie ist nach Auskunft der neueren Forschung als „Deutung“¹⁸ zu beschreiben. Und diese Deutung geht stets einher mit einem begleitenden Gefühlseindruck: Ehrfurcht vor dem Walten des Universums; Demut angesichts der eigenen Nichtigkeit; Liebe zu allem, mit dem man verbunden ist; Dankbarkeit gegenüber allen, die uns Leben ermöglichen und sich dadurch selbst einschränken, sowie Mitleid mit denen, die sich selbst behaupten wollen und denen das Schicksal einen Strich durch
Vgl. Christof Ellsiepen, Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva. Die spinozistischen Grundlagen von Schleiermachers früher Religionstheorie, Berlin 2006, 311– 349. Vgl. Ulrich Barth, Die Religionstheorie der ‚Reden‘. Schleiermachers theologisches Modernisierungsprogramm. In: Ders., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 259 – 289; Peter Grove, Deutungen des Subjekts. Schleiermachers Philosophie der Religion, Berlin 2004, 253 – 334; Christof Ellsiepen, Anschauung, a.a.O., 369 – 381.
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die Rechnung macht (vgl. 109 f/104 f). Novalis hat diesen Katalog religiöser Gefühle in seiner Europa-Rede aufgegriffen und noch um einiges erweitert.¹⁹ Die relativ umfangreiche Beschreibung der religiösen Gefühlskultur, die die Romantiker aus der Aufklärungstheologie übernehmen und fortschreiben,²⁰ dürfte zu den fruchtbarsten Abschnitten ihrer Religionstheorie gehören. Ohne eine Ahnung von dieser religiösen Gefühlskultur hätte man von der Religion noch nicht viel verstanden.²¹ Pädagogisch gewendet: Was in der religiösen Perspektive vor allem einzuüben ist, ist das Achten auf diese Betrachtungsweise: einerseits, welches Bild vom Universum sich in der religiösen Anschauung zeigt und welchen Namen man ihm am besten gibt (Schleiermacher diskutiert verschiedene Kandidaten wie „blindes Geschik“, „motivirte Notwendigkeit“, „Gott“, oder „Welt“ vor; vgl. 126 – 130/11218-1148), andererseits, welche Gefühle mit ihm verbunden sind. Von da aus erschließen sich auch die in der zweiten Rede eingestreuten religionsgeschichtlichen Beispiele, denn mit dieser ‚Brille‘ kann man sich den konkreten Religionen zuwenden; und anders als bei der Betrachtung von Natur und Menschheit kann man sich sicher sein, in ihnen die ganze Fülle möglicher religiöser Anschauungen präsentiert zu bekommen. Schleiermacher hatte verlangt, dass das Wesen der Religion aus dem ‚Einzelnen‘ gewonnen werde und dennoch seinen Religionsbegriff bereits im Vorhinein eingeführt. Daraus folgt die Notwendigkeit, diesen im Nachhinein an den Phänomenen zu bewähren. Doch wie kann diese Bewährung sachgemäß vonstatten gehen? Noch einmal warnt er eindringlich vor einem abstrahierenden Verfahren, das von den Spezifika einer Religion absieht und darauf abzielt, die allen Religionen gemeinsame Vorstellungen zu katalogisieren: So kommt man „immer anstatt des Geistes der Religion [scil. bloß] auf ein bestimmtes Quantum von Stoff“ (281/18027). Dieses Verfahren würde gerade das Individuelle an jeder Religion unterschlagen. Das wahre Gemeinsame der Religion besteht nicht in dieser oder jener konkreten religiösen Vorstellung, sondern in der spezifischen Art der Bezugnahme auf diese: als jeweils konkretes Deuten und Erleben. Man kann Schleiermachers Vorgehen hier, denke ich, als eine Phänomenologie der Religion bezeichnen: nicht im Sinne einer Liste an Phänomenen,
Vgl. Andreas Kubik , Restauration oder Liberalisierung? Christentumstheoretische Aspekte in Novalis‘ „Die Christenheit oder Europa“. In: Mattias Pirholt, Constructions of German Romanticism, Uppsala 2011, 45 – 77; hier: 71 f. Vgl. Claus-Dieter Osthövener, „Affectionate Religion“. Religion und Gefühl in der englischen und deutschen Aufklärung. In: Roderich Barth/Christopher Zarnow (Hg.), Theologie der Gefühle, Berlin/ Boston 2015, 79 – 111. Hierin dürfte das bleibende Recht des inkriminierten Ausdrucks liegen, Religionsunterricht habe sein Telos in der „Übertragung“ von Gefühlen und Vorstellungen (Richard Kabisch, Über die Lehrbarkeit der Religion. In: ZThK 12 [1902], 316 – 344, hier zit. nach Rainer Bolle u. a. (Hg.), Hauptströmungen evangelischer Religionspädagogik im 20. Jahrhundert, Münster 2002, 21). Problematisch daran ist nicht die Gefühlsorientierung selbst, sondern lediglich einerseits, dass die Kinder dasselbe erleben sollen wie der Lehrer, und andererseits die seltsame Idee, die Erlebnisübertragung ließe sich unterrichtlich methodisieren. Es gibt auch im Bereich der Gefühle ein bloßes ‚Wirken auf den Mechanismus‘ (vgl. 139/11810), welches gerade den Freiheitscharakter des Gefühlslebens einschränkt.
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sondern im dem Sinne, dass das Gemeinsame in verschiedenen religiösen Bewusstseinsakten aufgesucht und beschrieben wird.²² Es ist vielleicht nicht überspitzt, wenn man dies als eine Art ‚eidetische Reduktion‘ (Husserl) betrachtet.²³ Das bedeutet allerdings nicht, dass die religiösen Inhalte gleichgültig würden. Im Gegenteil. Im religiösen Vollzug erweisen sie sich als schlechterdings unaustauschbar, sie allein vermitteln ja die subjektiven Deutungen und Erlebniszustände mit dem Universum. Religion deutet und erlebt nicht im Allgemeinen, sondern in der Konkretheit religiöse Symbol- und Vorstellungswelten. Diese Konkretheit zeichnet recht eigentlich für die Individuation historischer Religion verantwortlich. Genau dafür steht Schleiermachers Theorie einer „Centralanschauung“ (260/1722).²⁴ Eine Religion wird ‚positiv‘ und individuell durch die kontingente Wahl eines geistigen Vorstellungsgehalts als Mittelpunkt sowie durch die Art und Weise, wie sich die übrigen religiösen Vorstellungen im Verhältnis zu diesem gruppieren und anordnen. Religionen gewinnen ihre Eigenart – wie übrigens jede Individualität²⁵ – nicht durch die Vorstellungen oder Eigenschaften, die sie im Vergleich zu anderen exklusiv haben, sondern durch das spezifische Verhältnis, in dem die Vorstellungen miteinander gemischt sind. Sowohl das Wesen der Religion überhaupt als auch das Individuelle jeder positiven Religion liegen nicht einfach so am Tage, sondern sind allererst zu erarbeiten. Es sind geistige Konstellationen, die im wirklichen Vorkommen durchaus mit allen möglichen anderen Begleitumständen vermischt sind. Es bedarf jeweils eines eigenen Aktes der „Einbildungskraft“, welche „die ganze Idee dieser Charaktere auffaßen kann“ (40/7514). Folglich ist nicht nur die Religion selbst, sondern auch ihre theoretische Reflexion ein konstruktiver innermentaler Akt, bei dem sich die Frage seiner inneren Zugänglichkeit stellt. Es zeigt sich, dass diese davon abhängt, ob diejenigen, die sich damit befassen, selbst innerlich einen Zugang zu dem Feld haben, das sie bearbeiten. Es braucht ein gewisses Selbsthaben der Religion, wenigstens in Form der „Sehnsucht“ (132/1151) oder ‚Ahndung‘ (vgl. 51/8010). Religionspädagogisch ist folglich die Arbeit am eigenen Selbstverständnis vollkommen unverzichtbar: „[W]äret Ihr Euch nur erst derjenigen [Religion] bewußt, die Ihr wirklich schon habt! denn in der That, wenn Ihr auch nur die wenigen religiösen Anschauungen betrachtet, die ich mit geringen Zügen jezt entworfen habe, so werdet Ihr finden, daß sie Euch bei weitem nicht alle fremd sind.“ (105 f/10319) Für die Gewissheit, dass die Suche danach nicht vergebens ist, steht das umstrittene Theorem der „religiösen Anlage“ (144/1209). Dieses Theorem wäre dann äußerst fraglich, wenn Schleiermacher eine Art anthropologi-
Der menschliche Sinn geht – wie es im sachlichen Vorgriff auf die Phänomenologie heißt – auf das „Was und Wie“ (149/12214) des Eindrucks, den er empfängt, statt auf das „Woher und Wozu“ (ebd.); er will „jedes in seinem eigenthümlichen Charakter erkennen“ (ebd.). Vgl. dazu Michael Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, Berlin 21977, 37– 45. Auch „Fundamental-Anschauung“ (265/17332) oder „Grundanschauung“ (281/18033). Vgl. Ulrich Barth, Das Individualitätskonzept der ‚Monologen‘. Schleiermachers ethischer Beitrag zur Romantik. In: Ders., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 291– 327.
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schen ‚sechsten Sinn‘ postulieren würde.²⁶ Doch der religiöse ‚Sinn‘ baut sich, auch wenn ihm eine „eigene Provinz im Gemüthe“ (37/7235) angehört, aus derselben mentalen Struktur auf, die dem Menschen auch sonst zur Verfügung steht: „Sinn […] ist Wahrnehmungs- und Empfindungsvermögen“ (KGA I/12, 13022). Er bildet sich aus der reflektierenden Urteilskraft als dem eigentlichen Deutungsvermögen sowie aus der Idee eines ‚Ganzen‘, in das der Mensch mit eingewoben ist. Wir fassen zusammen. Die Voreinstellung einer gerichteten Aufmerksamkeit, ein Vor-Begriff der Religion als Suchanweisung, die konkrete Phänomenologie des Religiösen, also die Betrachtung religiöser Akte auf ihre Anschauung des Universums und die zugehörigen Gefühle hin, sowie die Arbeit am religiösen Selbstverständnis: Diese machen nach Schleiermacher die Aufbaumomente des religiösen Lernwegs aus.
2.3 Die Person des Lehrers Es ist deutlich geworden, dass all das Geschilderte mit ‚Religionsunterricht‘ im Sinne einer Vermittlung von ‚Glaubenswahrheiten‘ oder Katechismuswissen recht wenig zu tun hat. Das kann auch nicht anders sein. Denn nach Schleiermacher entzieht sich das Wesen des Religiösen der ‚direkten Instruktion‘; alles, was man ‚beibringen‘ kann, sind nur die sekundären intellektuellen Niederschläge der ursprünglichen Anschauungen und Gefühle.²⁷ Die einzige Art,wie sich Religion mitteilt, ist deren freie Darstellung und ihre lebendige Aufnahme durch andere. Deshalb ist „Unterricht in ihr ein abgeschmaktes und sinnleeres Wort“ (139 f/11823). Das eigentliche religionsvermittelnde Verhältnis ist nicht das von Lehrer und Schülerin, sondern eher das von Meisterin und Jünger, wenn dieses Verhältnis nichts als den freien Anschluss an eine exemplarische religiöse Subjektivität ausdrücken soll.²⁸ Von daher kann man die dritte Rede auch als So drückt Christof Ellsiepen, Anschauung, a.a.O., 375, die verfehlte Schleiermacher-Deutung aus. Schleiermacher hatte hier freilich bedeutende Vorläufer in der Religionspädagogik der Aufklärung; hier ist v. a. Christian Gotthilf Salzmann, Ueber die wirksamsten Mittel, Kindern Religion beyzubringen, Leipzig 21787, zu nennen. Zur Religionspädagogik der Aufklärung, die aber immer noch unzureichend erforscht ist, vgl. einleitend Rainer Lachmann,Vom Westfälischen Frieden bis zur Napoleonischen Ära. In: Ders./Bernd Schröder (Hg.), Geschichte des evangelischen Religionsunterrichts in Deutschland, Neukirchen-Vluyn 2007, 78 – 127. Was Schleiermacher von dieser Tradition wusste, ist noch nicht recht klar. Er hatte ja eine Art Schul-Referendariat bei dem bedeuteten Pädagogen Friedrich Gedike absolviert, bei dem diese Texte eine Rolle gespielt haben könnten; vgl. Kurt Nowak, Schleiermacher, Göttingen 22002, 59 – 62. 67 f. Auch der „falsche Schein von Philanthropie“ (156/12517), den Schleiermacher beseitigen möchte, könnte ein Seitenhieb auf die gleichnamige zeitgenössische pädagogische Bewegung sein. – Schleiermachers Abgrenzung von der Aufklärung ist auch in religionspädagogischer Hinsicht von grandioser, verzerrender Einseitigkeit. In diesem Zusammenhang ‚wagt‘ es Schleiermacher, das Wort aus dem Johannes-Evangelium (Joh 15, 16a) umzudrehen: „Jünger sind das nicht, weil ihr Meister sie dazu gemacht hat; sondern er ist ihr Meister, weil sie ihn dazu gewählt haben.“ (141/11915) Der ‚Jünger‘ findet sich in einer Anschauung des Universums selbst neu entdeckt und wählt deshalb den Darsteller derselben zu seinem ‚Meister‘. Die religionspsychologische Plausibilität dieser Beschreibung wird dadurch nicht vermindert, dass die
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einen Selbstkommentar zum bisherigen Vorgehen Schleiermachers verstehen: Die Wesensdarlegung der Religion hatte nicht den Zweck „als ob ich Euch oder Andre bilden wolte zur Religion, oder Euch lehren wie Ihr Euch selbst […] dazu bilden müßt“ (142/11932). Beides ist schlechterdings nicht möglich. Schleiermacher wendet hier die alte protestantische Einsicht von der Alleinwirksamkeit Gottes in der Rechtfertigung religionstheoretisch: Alle Fäden, die zwischen dem Menschen und dem Universum geknüpft sind, gehen auf die Aktivität des Letzteren zurück. Münzt man diese Einsicht noch religionspädagogisch, so muss man festhalten, dass Schleiermacher hier das später so intensiv diskutierte Problem der ‚Lehrbarkeit von Religion‘²⁹ scharf stellt und in gewisser Weise – negativ – auflöst. Das heißt aber nicht, dass religionspädagogische Tätigkeit überhaupt sinnlos ist. Eine solche These würde auf einen performativen Selbstwiderspruch hinauslaufen, da der Redner ja selbst – wie gesehen – auch als Religionslehrer verstanden werden will. Als solcher schreibt er sich selbst eine ganze Reihe von Tätigkeiten zu, welche sich religionspädagogisch begreifen lassen. Die erste ist das „geleiten“ oder „führen“ (19 f/ 6514/18) der Lernenden. Damit ist das Bereitstellen eines geeigneten Standpunktes gemeint, von dem aus sich das religiöse Feld überblicken lässt, welche Fähigkeit auf dem religionstheoretischen Wissen beruht, welches der Lehrerin unerlässlich ist, wenn sie andere auf ihrer Suche vor-orientieren möchte. Eine zweite Aktivität ist das „[Z]eigen“ (ebd.), also das belehrte Hinweisen auf Örter, an denen sich das Religiöse zu erkennen gibt, damit die Lernenden nicht an den gleichsam falschen Stellen suchen.³⁰ Die wichtigste Tätigkeit des Lehrers aber dürfte in dem Hinweis auf die Selbstbildungskraft des Universums bestehen. Denn religiöses Lernen geht ja von einer offensichtlichen Paradoxie aus: Menschen können andere Menschen nicht religiös machen, diese können aber auch nicht von sich aus ein religiöses Verhältnis aufnehmen, denn ein solches kann ja immer nur vom Universum ausgehen. Für diesen Widerspruch gibt es nur eine Auflösung: „Das Universum bildet sich selbst seine Betrachter und Bewunderer“ (143/11936). Entzieht sich dieser Vorgang nun zwar menschlicher Verfügung, so lässt er sich aber dennoch seinerseits betrachten, und auch darin besteht eine wichtige religiöse Bildungsaufgabe. Woran kann man sehen, dass das Universum selbst die Bildungsaufgabe in die Hand nimmt? Vier Aspekte wären hier zu nennen. Der erste ist die Allgemeinheit der religiösen Anlage selbst. Kein Mensch ist a priori von der Ewigkeitsbeziehung ausgeschlossen; es lassen sich im Vorfeld keine Kriterien dafür
nachträgliche Ausdeutung durchaus zu dem Ergebnis kommen kann, dass der Inhalt jener Anschauung eben in dem Erlebnis einer Erwählung bestand. Vgl. Matthias Heesch, Lehrbare Religion? Studien über die szientistische Theorieüberlieferung und ihr Weiterwirken in den theologisch-religionspädagogischen Entwürfen Richard Kabischs und Friedrich Niebergalls, Berlin/New York 1997; Achim Plagentz, Religion lehren? Eine theoriegeschichtliche Untersuchung zur liberalen Religionspädagogik im Kontext der Reformpädagogik, Hamburg 2006. Die sog. ‚Performative Religionsdidaktik‘ knüpft an dieses Stichwort an; ausdrücklich in dem Sammelband aus ihrer formativen Phase: Bernhard Dressler/Michael Meyer-Blanck (Hg.), Religion zeigen. Religionspädagogik und Semiotik, Münster 1998.
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angeben, in welchem Menschen sich eine persönliche Religiosität entwickeln kann. Zweitens zeigt sich nach Schleiermacher, wie sich in der natürlichen Entwicklung von Kindern alles zur „Sehnsucht […] nach dem Wunderbaren und Übernatürlichen“ (145/ 12029) hinneigt. In einer Art ironischer Inversion von Rousseau wird die kindliche Neigung zur fantastischen Ausgestaltung der höheren Welt selbst zur ‚natürlichen Religion‘, deren kindlicher Realismus in der Pubertät dann der Korrektur bedürftig und fähig ist,³¹ dafür aber die Übung der religiösen Anlage als schöne Frucht zurücklässt. Als drittes macht Schleiermacher jene natürlichen Gegebenheiten geltend, welche von sich aus auf eine tiefere Betrachtung hinneigen, wie etwa Geburt oder Tod, oder auch „das Unermeßliche der sinnlichen Anschauung“ (154/12420). Sie kommen gleichsam als „Übergänge ins Unendliche“ (153/1243) zu stehen, an denen sich der religiöse Sinn besonders leicht entzündet. Viertens schließlich, auch in religionsfeindlichen Diskurslagen kommt es immer wieder zu Durchbrüchen des Religiösen, die sich weniger in den Missionserfolgen bestimmter Kirchen³² zeigen als vielmehr in der Selbstartikulation der „Richtung des Gemüths auf das Ewige“ (31/136), wie Schleiermacher es – Tillich vorwegnehmend – ausdrückt, in den verschiedensten Kulturbereichen. Es ist eine eigene Bildungsaufgabe, auch diese Seitenbewegungen wahrzunehmen und nach ihrer religiösen Valenz auszudeuten, wie Schleiermacher es mit der humanistischen Pädagogik, der idealistischen Philosophie und der romantischen Kunstbewegung auch sogleich unternimmt.³³ Das Nachspüren dieser Momente, welche das religiöse Gemüt als Wirkung des Universums auf den Bildungstrieb ausdeutet, macht mithin einen Hauptgesichtspunkt der Religionspädagogik aus. Indem der Lehrer oder die Lehrerin etwas ‚zeigt‘ und darauf aufmerksam macht, worauf bei der Erscheinung zu achten ist, zeigt er im ‚Religion Zeigen‘ zugleich auch etwas von sich selbst. An diesem Gesichtspunkt zeigt sich besonders deutlich: Es hängt davon ab, dass die Lehrerin einen innerlichen Zugang zur religiösen Betrachtungsweise hat, welcher sich gerade bei eher implizit re „[W]ie leicht wäre dieser von der Natur selbst veranstaltete Irrthum berichtigt“ (146/1213). – JeanJacques Rousseau hatte die These vertreten, Kinder würden sich im Wesentlichen blanken Unsinn über Gott zusammenreimen, der dann in der Pubertät, wenn die Vernunft an sich die ‚natürliche Religion‘ erfassen könne, nicht mehr auszutreiben sei. Deshalb plädierte er dafür, den Religionsunterricht erst mit 14 oder 15 Jahren beginnen zu lassen und zuvor mit den Kindern überhaupt nicht über Religion zu sprechen; vgl. die einschlägigen Passagen aus Rousseaus Erziehungsroman „Emile“ bei Karl Ernst Nipkow/Friedrich Schweitzer (Hg.), Religionspädagogik. Texte zur evangelischen Erziehungs- und Bildungsverantwortung seit der Reformation, Bd. 1, München 1991, 176 – 180. Ausdrücklich verwahrt sich Schleiermacher in den späteren Auflagen dagegen, die deutsche Erweckungsbewegung als Erfüllung dieser Prophezeiung zu lesen. Vielmehr wendet er sich gegen deren „unduldsame Lieblosigkeit“ (KGA I/12, 178). So gesehen ist Schleiermacher ein Vorläufer dessen, was man heute ‚Theologische Kulturhermeneutik‘ zu nennen pflegt: der Wahrnehmung religionsaffiner Dimensionen in solchen Kulturerscheinungen, die an sich selbst nicht zum Religionssystem gehören. Vgl. dazu ausführlich Andreas Kubik, Theologische Kulturhermeneutik impliziter Religion. Voraussetzungen und Implikationen eines praktisch-theologischen Paradigmas der Spätmoderne, Habil. Schr. masch. Rostock 2016 (wird derzeit zum Druck vorbereitet).
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ligiösen Phänomenen bewährt.Wer nachvollziehbar über Religiöses zu reden weiß, so Schleiermacher, „muß es nothwendig gehabt haben“ (15/6321). Aus all dem ergibt sich, dass der Lehrer auch selbst als exemplarische religiöse Subjektivität zur Verfügung stehen muss, als ein Gegenüber, an dem ersichtlich werden kann, was es mit Religion auf sich hat. Doch wie verträgt sich diese genuin religiöse Funktion mit der Rolle des Religionslehrers als bürgerlichem Agenten, welcher Staatsbeamter, zur Werteerziehung verpflichtet und über die Notengebung auch an der Verteilung gesellschaftlicher Aufstiegschancen beteiligt ist? Die Antwort fällt ernüchternd aus: Sie verträgt sich damit gar nicht. Der Religionsunterricht in der Weise, wie Schleiermacher ihn um 1800 vorfand, ist ein Beispiel für die von ihm bekämpfte Verbindung von Staat und Kirche. Genau aus diesem Grund hat er den schulischen Religionsunterricht zeitlebens für einen dürftigen Notbehelf gehalten, der eigentlich nur dann eine Funktion hat, wenn familiäre und kirchliche religiöse Erziehung mehr oder weniger ausfallen.³⁴ Zugleich war er aber Realist genug zu sehen, dass ein vollständiger Rückzug der wahrhaft Religiösen aus der Schule unter den gegebenen Bedingungen auch nicht weiterführt.³⁵ Damit werden die beamteten Religionslehrerinnen vor ein strukturelles Identitätsproblem gestellt.Was folgt daraus für die konkrete Arbeit? Erstens, es ist streng und für die Schülerinnen und Schüler nachvollziehbar zu trennen zwischen der eigentlichen religionspropädeutischen Arbeit und den äußeren Anforderungen des Schulbetriebs. Zweitens, für die Sache der Religion ist fast wichtiger als die Kommunikation der Inhalte die religiöse Vorbildfunktion von Lehrerin und Lehrer: „[S]o wird vielleicht durch diese stumme Sprache manchen der Sinn aufgehn für das was in ihnen wohnt.“ (228/15711) Zusammengefasst kann man sagen, dass Religionsunterricht an Schulen unter allen Umständen – um Kierkegaards glücklich gewählten Ausdruck aufzugreifen – ‚indirekte Mitteilung‘ ist.³⁶ Dies Schicksal trägt er freilich nicht allein. Alle Fächer, die mit den höheren Geistestätigkeiten befasst sind, können letztlich immer nur Anreize zur Selbstbildung bzw. der Öffnung für den inneren Geist der Sache darstellen.³⁷
Das Urteil, Schleiermacher habe „nichts Grundsätzliches gegen einen Religionsunterricht in der Schule einzuwenden“ (Christiane Ehrhardt, Religion, Bildung und Erziehung bei Schleiermacher, Berlin 2005, 276), ist mithin etwas zu optimistisch. Vielmehr werden die Gegengründe von Ehrhardt in ihrem instruktiven Kapitel zum schulischen Religionsunterricht selbst luzide dargestellt (vgl. a.a.O., 253 – 306). Hier und im Folgenden habe ich die tendenziell eher pastoraltheologischen Maximen auf den Schuldienst hin konkretisiert, der sicherlich auch zu den „größeren Kreise[n] der profanen Welt“ (227/ 15621) gehört, an die sich der wahrhaft Religiöse gewiesen sieht. Vgl. Sören Kierkegaard, Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brosamen, hg. von Hermann Diem und Walter Rest, München 2005, 390 – 459. Dieser Umstand ist also streng genommen kein Spezialproblem des Religionsunterrichts; die Fachdidaktik Ethik steht, ähnlich wie die Kunst- und Musikdidaktik, vor analogen Problemen. Alles, was zur Organisation des Geistes gehört, muss man in sich selbst erzeugen, es lässt sich nicht im strengen Sinne lehren: „Zeigt mir Jemand, dem Ihr Urtheilskraft, Beobachtungsgeist, Kunstgefühl oder
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„Kunstgefühl oder Sittlichkeit“ (141/11911) beispielsweise lassen sich ebensowenig ‚beibringen‘ wie Religion: In „geistigen Dingen ist Euch das Ursprüngliche nicht anders zu schaffen, als wenn Ihr es durch eine ursprüngliche Schöpfung in Euch erzeugt, und auch dann nur auf den Moment, wo ihr es erzeugt.“ (48/7836) Die eigentliche ethische und ästhetische Bildung ist ebenso unableitbar wie die religiöse, nur dass diese sich selbst noch einmal auf eine Instanz außer sich zurückbezieht.
2.4 Die unersetzliche Leistung der Religion Unser Verfahren bestand bisher darin, Schleiermachers eigenes Vorgehen bei dem Versuch, Religion den ‚Gebildeten‘ verständlich zu machen, nachzuzeichnen. Dies geschah stets mit dem Ziel, daraus möglicherweise Gesichtspunkte für die gegenwärtige Frage nach den Verfahren religiöser Bildung zu gewinnen. Diese Frage hängt aber ihrerseits an der Voraussetzung, dass Religion an sich überhaupt ein Gegenstand ist, der notwendigerweise – auch über die Tatsache hinaus, dass Religion möglicherweise etwas ist, das andere haben und damit das soziale Leben beeinflussen, – zu den Bildungsgütern zu zählen ist. Wir hatten oben gesehen, dass Schleiermacher gerade die im öffentlichen Diskurs halbwegs akzeptierten Gründe für den Nutzen der Religion scharf zurückgewiesen hat. Wie kann es ihm dann aber gelingen, die Bedeutung von Religion überhaupt einsichtig zu machen? Die Notwendigkeit, diese Frage zu beantworten, verschärft sich unter solchen gesellschaftlichen Bedingungen, in denen es ohne Zweifel möglich ist, ohne Religion zu leben. Diese Frage wird zwar an keiner Stelle der „Reden“ bündig beantwortet, läuft aber gewissermaßen subkutan die ganze Zeit über mit. Dass Religion nach Meinung der ‚Gebildeten‘ weitgehend überflüssig ist, haben wir bereits oben angesprochen. Den entsprechenden Standpunkt rekonstruiert Schleiermacher so, dass ihrer Meinung nach das Erkennen (Metaphysik oder Transzendentalphilosophie) und das Handeln (Ethik) zur Hochschätzung des Menschen ausreichen. Schleiermacher konzediert nun, dass sich in der Tat der Mensch auch im Erkennen und Handeln auf das Universum richtet. Für diese These spricht sowohl der Grenzgedanke des vollständig erkannten Seins als auch der Unbedingtheitscharakter der ethischen Forderung. Es ist richtig: Sowohl im vernünftigen Denken als auch im moralischen Handeln hat der Mensch völlig zu Recht ein „Gefühl seiner Unendlichkeit und Gottähnlichkeit“ (52/8026). Dieser Erfahrung marktet Schleiermacher nichts ab. Aber sie wird von einer anderen scharf gekontert, welche eine entgegengesetzte Sicht des Menschen nahegelegt, nämlich das Bewusstsein „seiner Beschränktheit […], der Zufälligkeit seiner ganzen Form, des geräuschlosen Verschwindens seines ganzen Daseins im Unermeßlichen.“ (52/8028) Der Mensch kann das Unendliche denken und
Sittlichkeit angebildet und eingeimpft habt; dann will ich mich anheischig machen auch Religion zu lehren.“ (141/11910).
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sich in Freiheit über jeden widrigen Umstand erheben und das Reich der Freiheit damit erweitern, aber diese Größe muss mit dem Dasein des Menschen als eines kontingenten Stücks Erdenstaub vermittelt werden. Genau dies können Metaphysik und Ethik nicht mehr aus sich selbst heraus erbringen, denn wie sollten sie jene Konterperspektive in sich rekonstruieren können? Jene Vermittlungsleistung ist vielmehr die genuine Funktion der Religion: Sie nimmt den Menschen „aus dem Gesichtspunkte, wo er das sein muß, was er ist, er wolle oder wolle nicht.“ (52/8014). So ist die Kontingenz des Menschen als je dieses Individuum ihr eigentliches Gebiet. Gerade weil Religion das Endliche als Repräsentanz des Unendlichen ansieht, kann sie Kontingenz, Individualität und Unendlichkeitsdimension des Menschen zusammen halten.³⁸ Die Religion verschafft einen Totaleindruck der interconnectedness alles Endlichen, der im Erleben und Deuten bewusst wird, und gibt dadurch dem individuellen, beschränkten Leben eine spezifische „Universalität“ (112/10615). Denn nur in der Religion will man nicht auf das Universum wirken, sondern es vielmehr auf sich wirken lassen. Lebensweltlicher Niederschlag ist jene Gelassenheit, welche das Individuum als Teil des Werdens und Vergehens im Universum anschauen lässt. Religion ist nicht nur der emotionale Reflex auf die wechselseitige Bezogenheit alles Individuellen, sondern zugleich der bevorzugte Modus, in dem das sich seiner selbst bewusste Individuum seine eigene Endlichkeit deutet. Diese Endlichkeit kann ihrerseits noch einmal in zweifacher Hinsicht entfaltet werden. Zum einen besteht sie im Bewusstsein, als Individuum in seiner Kontingenz immer nur einen Ausschnitt des Menschenmöglichen darzustellen und mit jeder Realisierung von etwas zugleich andere Potenzialitäten brachliegen lassen zu müssen. Sie besteht zum anderen in dem Wissen um die zeitliche Begrenztheit des eigenen Lebens. Nach beiden Hinsichten ist Religion der Modus, deutend mit der menschlichen Endlichkeit umzugehen. Aus diesem Grund ist die Religion, um es mit einem Ausdruck der neueren englischsprachigen Aristoteles-Rezeption zu sagen, Teil des „human flourishing“ (so ein neuerer Übersetzungsvorschlag für eudaimonia)³⁹ und als solche aller Bildungsanstrengungen wert. Man kann dennoch zweifellos ‚ohne Religion‘ leben (auch wenn das seltener vorkommen dürfte als es den Anschein hat), aber dann bleibt jene oben benannte Spannung eben auch unbearbeitet.
Unübertrefflich dürfte dies im Psalm 8 zum Ausdruck gebracht worden sein. – Es ist zugespitzt, aber nicht unzutreffend zu sagen, dass nach Schleiermacher erst die Religion vollends dem Individuum „das Selbstverständnis als Individuum“ eröffnet (Matthias Riemer, Bildung und Christentum. Der Bildungsgedanke Schleiermachers, Göttingen 1989, 95; Hvg. A.K.). Vgl. John M. Cooper, Reason and Human Good in Aristotle, Cambridge 1975, 89 f.
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3. Denkanstöße für die gegenwärtige Religionspädagogik Es wäre sicherlich unangebracht, von Schleiermachers impliziter Religionspädagogik in den „Reden“ direkt auf die heutige religionspädagogischer Debatte kurzzuschließen. Mehrere Vermittlungsschritte wären an dieser Stelle nötig. Ich möchte deshalb hier lediglich in freier Weise über bestimmte Einsichten Schleiermachers unter der Perspektive der gegenwärtigen Anforderungen meditieren.
3.1 Zur Reduktion des Religionsunterrichts auf ethische Bildung Noch bis weit in die 1980er Jahre hinein konnte der Witz erzählt werden, dass es im Religionsunterricht ungefähr um alles gehe, nur nicht um Religion. Schon um 1970 konstatierte Emanuel Hirsch die Tendenz, „die tieferen Ziele des Religionsunterrichts in Moralunterricht und Sozialkunde zu suchen. […] Die natürliche Folge dieses religiös neutralen, moralisch-sozialen Gestaltens des Religionsunterrichts ist deutlich in der Verwässerung und Verbreiterung der Stoffgebiete des Religionsunterrichts.“⁴⁰ Inzwischen haben mehrere neuere religionspädagogische Strömungen diese Tendenz einigermaßen korrigieren können. Doch das Bestreben, die Relevanz und den Inhalt des Religionsunterrichts vor allem in der christlichen Ethik zu sehen, ist nicht nur in der öffentlichen Apologetik, sondern auch in der wissenschaftlichen Diskussion nach wie vor verbreitet. Dass ‚gerade der Religionsunterricht‘ in dieser oder jener ethischen Angelegenheit einen besonderen Beitrag leisten könne, kann man in studentischen Hausarbeiten immer wieder lesen. Mit Schleiermacher wäre, denke ich, daran zu erinnern, dass diese Strategie nicht nur Gefahr läuft, das genuin Religiöse aus den Augen zu verlieren, sondern auch den Eigenwert des Ethischen zu unterlaufen. Ob mit ihr dem eingangs geschilderten Problem fehlender Verstehenskategorien des Religiösen abgeholfen werden kann, darf füglich bezweifelt werden. Mit diesem Hinweis soll selbstverständlich nicht eine völlige Beziehungslosigkeit zwischen Religion und Ethik behauptet werden, die so noch nicht einmal für die „Reden“ namhaft gemacht werden könnte. Aber der Relevanzverlust des Christentums scheint mir eher dort zu drohen,wo unter dem Titel einer ‚christlichen Ethik‘ einfach nur mit etwas erhöhtem Ton noch einmal dasselbe gesagt wird, was in der Gesellschaft ohnehin schon weitgehend Konsens ist.
Emanuel Hirsch, Die Erweckung der Ehrfurcht vor dem Heiligen als Ziel des Religionsunterrichts. In: Die Spur 16 (1976), 113 – 121, hier: 114. (Eine Edition der religionspädagogischen Schriften Emanuel Hirschs im Rahmen der Gesammelten Werke ist derzeit in Vorbereitung und wird hoffentlich spätestens 2017 erscheinen.)
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3.2 Zum Thema Sachkunde Religion Wir hatten eingangs offen gelassen, ob die Forderung nach einem unkonfessionellen, eher sachkundlich orientierten Religionsunterricht zu unterstützen wäre, auch wenn sie sich politisch schwer durchsetzen ließe. Ich denke, von Schleiermacher her lassen sich in dieser Frage einige Gesichtspunkte gewinnen. Fragt man etwa danach, was genau denn Lerngegenstand in einer Sachkunde Religion sein würde, so würde sicherlich auf das vermeintlich Objektive, also die weitgehend unstrittigen Zeichen- und Lehrsysteme verwiesen. Beim Unterricht über den Islam wird das besonders augenfällig: Sechs dogmatische Hauptsätze und fünf sogenannte Säulen lassen sich schnell lernen. Das Problem ist, dass gar nicht klar ist, was ich eigentlich wirklich von einer Religion gelernt habe, wenn ich mich in dieser Weise an das Objektive halte. Oder, wie Schleiermacher es in einer späteren Auflage der „Reden“ ausgedrückt hat: „Wenn Ihr also nur die religiösen Lehrsäze und Meinungen ins Auge gefaßt habt: so kennt Ihr noch gar nicht die Religion selbst“ (KGA I/12, 28). Als Beispiel für die aktuelle Relevanz dieser Auffassung sei kurz auf eine Debatte in Frankreich verwiesen. Die religiösen Spannungen in der Einwanderungsgesellschaft und die inzwischen vielfach konstatierte „véritable inculture religieuse“⁴¹ der angestammten Bevölkerung haben manche dazu geführt, den traditionellen Laizismus zu überdenken: Religion solle als kulturelle Dimension in den anderen Schulfächern verstärkt mitgeführt werden – dies aber natürlich immer noch im Geiste der staatlichen Neutralität. Der prominente französische Religionshistoriker René Nouailhat hat dazu das Konzept einer ‚Schwellenpädagogik‘ entwickelt: „Man muss [scil. den Schülerinnen und Schülern] dabei helfen, etwas von der menschlichen Erfahrung, die den religiösen Gegebenheiten an ihren heiligen Orten und zu ihren heiligen Zeiten innewohnt, zu erahnen oder sogar zu erspüren, sie in ihren verschiedenen symbolischen, mythologischen, rituellen oder institutionellen Dimensionen zu ergreifen. [Scil. Es geht also um eine] Pädagogik, welche bis zu dieser Schwelle führt, sie aber nicht überschreitet.“⁴² Man sieht hier das Problem in nuce, das Schleiermacher auf geniale Weise vorweggenommen hat: Eine Sachkunde Religion treibt sich selbst über sich hinaus; gerade um der Sache der Religion willen kann sie nicht im Äußeren der ‚Meinungen und Lehrsätze‘ verbleiben, sondern fordert, sie gleichsam von innen heraus zu verstehen. Wie eine solche Auseinandersetzung dann freilich gelingen soll, ohne dass sich die Lehrperson als exemplarische religiöse Subjektivität zwecks Auseinandersetzung zur Verfügung stellt, bleibt unklar; ebenso, wie es eigentlich gelingen soll zu garantieren, dass jene Schwelle nicht überschritten wird. Das Problem verweist auf den tiefen Sinn des religionsdidaktischen Arrangements, in dem die Lehrperson als religiös erkennbare/r Gesprächspartner/in bereitsteht. Das ist noch kein nacktes Plädoyer für die Dieses Zitat entstammt einem Konferenzbericht von 1998; geäußert habe es René Nouailhat (http:// www.lalibertedelesprit.org/spip.php?article84; 18.03. 2016 00:00 Uhr MEZ). Zit. nach Cornelia Frische, Religionskunde à la française – Anmerkungen zu Debray-Bericht. In: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 57 (2005), 219 – 227.
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Beibehaltung des status quo in Angelegenheiten des Religionsunterrichts, aber ein Hinweis darauf, wie komplex die Umstellung auf eine allgemeine Sachkunde Religion wäre⁴³ – selbst wenn man von den noch schwierigeren Rechtsfragen einmal absieht.
3.3 Interreligiöse Bildung Interreligiöse Bildung gilt in Zeiten wie diesen gewissermaßen als der Gipfelpunkt religiöser Bildung überhaupt. Sie ist – neben den Werten – dasjenige Argument, was auch denjenigen einleuchtet, die ansonsten nicht viel für Religion übrig haben. Im Hintergrund stehen die Anliegen einer gegenseitigen Verständigung und der Sorge um die Wahrung des gesellschaftlichen Friedens. Doch greifen diese erneut insofern zu kurz, als auch sie ein außerreligiöses Bedürfnis artikulieren, ohne auf dessen Erfüllungsbedingungen zu reflektieren. Verständigung wird in dem Maße erleichtert und angebahnt, als das jeweilige religiöse Anliegen auch von Menschen mit ‚anderer‘ Religion (bzw. aus der Sicht von Religionslosen: mit überhaupt einer Religion) innerlich plausibel gemacht werden kann.⁴⁴ Ganz ausdrücklich wollen nun Schleiermachers „Reden“ mit seiner allgemeinen Religionstheorie ja auch einen Schlüssel zum Verständnis der konkreten Religionen zur Verfügung stellen, und zwar geht es ihm vor allem um die Religionen, „welche unter uns noch mehr oder minder vorhanden sind“ (286/18233). Nun lässt es sich nicht leugnen, dass es um das religionskundliche Wissen Schleiermachers vergleichsweise dürftig bestellt war.⁴⁵ Wir konzentrieren uns deshalb hier ganz auf die Programmatik.
Das aufgeworfene Sachproblem wäre allerdings noch nicht aus der Welt, wenn Deutschland seine Rechtslage in Sachen Religionsunterricht beibehielte. Denn inzwischen gibt es faktisch – in Gestalt der ordentlichen Fächer Ethik (Berlin) und L-E-R (Bandenburg) sowie der vielen Ersatzfächer (Philosophie, Werte und Normen usw.) – bereits fest etablierten, weltanschaulich neutralen Unterricht mit religionskundlichen Anteilen. Die Frage, wie dieser im Hinblick auf die Religion sachgemäß zu unterrichten ist, stellt sich also in jedem Fall. Vgl. zu diesem Problemkreis einleitend Joachim Willems, Annäherungen an eine religionskundliche Didaktik. In: Eva-Maria Kenngott u. u. (Hg.), Konfessionell – interreligiös – religionskundlich. Unterrichtsmodelle in der Diskussion, Stuttgart 2015, 163 – 178. Es ließe sich fragen, ob nicht im Geschäft der Verständigung unter den Religionen sowie zwischen den Religionen und den Religionslosen die gebildeten Religiösen immer die besten Voraussetzungen haben. „[I]ch fürchte daß auch Religion nur durch sich selbst verstanden werden kann, und daß Euch ihre besondere Bauart und ihr charakteristischer Unterschied nicht eher klar werden wird, bis Ihr selbst irgend einer angehört.“ (286/18222). Die Frage ist, wie dieses ‚Angehören‘ auszulegen wäre: ob als subjektives Überzeugtsein, ob als Aufwachsen in einer konkreten Symbolwelt oder auch als sekundäre Aneignung. – Ein Spezialproblem ist die Frage, was genau das Bildungsanliegen für jemanden ohne jede religiöse Musikalität wäre. Diese Frage verweist auf das grundsätzliche Problem aller interreligiösen Diskurse, welche dazu neigen, die Konfessions- oder Religionslosen stillschweigend auszugrenzen. „Das fällt dann umso schwerer ins Gewicht, weil Schleiermacher die von ihm programmatisch eingeforderte Konkretion selbst weitgehend schuldig bleibt. Die Darstellung des Judentums kann allenfalls als Karikatur durchgehen“ (Claus-Dieter Osthövener, Schleiermachers kritisches Verhältnis zur
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Das Ziel von Schleiermachers „Reden“ als Pädagogik ist zunächst die Kompetenz, positive Religionen als individuelle und bestimmte Ausgestaltungen des religiösen Grundverhältnisses zu verstehen. Eine Religion verstehen heißt nach Schleiermacher verstehen, welche Auffassung vom Absoluten und vom Menschen einerseits in ihr kommuniziert werden und welche Gefühlswelten im Verhältnis zu ihm andererseits dabei im Vordergrund stehen. Jene Kompetenz schließt ausdrücklich auch das Christentum ein – ein Hinweis, der in einer Zeit, in der der Sinn des Christentums als Religion immer weniger verstanden wird, als geradezu prophetisch eingeschätzt werden muss. Auch die Schnittstelle Religion/Nicht-Religion ist zu beachten – und sie hat Schleiermacher ja in geradezu meisterhafter Weise in seinen „Reden“ zur kommunikativen Grundkonstellation gemacht. Doch das Nachverstehen ist noch nicht das höchste Ziel dieses interreligiösen Lernens. Dies besteht vielmehr in der Möglichkeit der gastlichen und produktiven Partizipation am religiösen Leben anderer Glaubensweisen. Nicht als „untätige Zuschauer“, sondern „durch lebendige Theilnahme an dem Gottesdienst“ soll man „sich das Gemüth fremder Glaubensgenossen liebend zu vergegenwärtigen suchen“ (KGA I/ 12, 298), wie Schleiermacher in einer Erläuterung zur 4. Auflage ausführt. Dabei ist nicht gefordert, seine eigene Glaubens- und Ausdrucksweise zu relativieren oder pausieren zu lassen. Der Wille, den anderen gerade in seiner Andersheit zu verstehen und dennoch das Auftreten religiöser Anschauung zu ehren, findet darin seinen Zielpunkt, dass man am ‚anderen‘ Gottesdienst „innerlich umbildend berichtigend übersezend“ (A.a.O., 299) teilnimmt.⁴⁶ Die wechselseitige Gastfreiheit im Gottesdienst ist dann Ausdruck der Sehnsucht aller Religionen, untereinander Gemeinschaft zu haben. Dieser Gedanke ist unverzichtbar um der Tendenz der Religion auf Universalität willen: „[D]ie Freieren […] suchen überall die Gemeinschaft zu knüpfen, und dadurch die allgemeine Zusammengehörigkeit des menschlichen Geschlechtes darzustellen“ (ebd.). Toleranz und eine klare Auffassung von der Individualität der eigenen Religion verstärken sich in der gebildeten Religion wechselseitig. Das verlangt jedenfalls das Christentum von sich selbst: „Ich aber meinte, es sei ächt christlich, die Frömmigkeit überall aufzusuchen und unter welcher Gestalt es auch sei anzuschauen.“ (KGA I/12, 145)⁴⁷ Diese Ausführungen sind inzwischen fast 200 Jahre alt und klingen doch immer noch utopisch. Für wie immer realistisch man sie auch hält: In dem einen Punkt hat
theologischen Aufklärung. In: Ulrich Barth u. a. (Hg.), Aufgeklärte Religion und ihre Probleme. Schleiermacher – Troeltsch – Tillich, Berlin/Boston 2013, 513 – 541, hier: 528. Über den Islam oder indische Religionen wusste er sicherlich noch schlechter Bescheid. Schleiermacher scheint an dieser Stelle lediglich die Differenzen der christlichen Konfessionen vor Augen zu haben. Aber es gibt weder in den „Reden“ noch den „Erläuterungen“ einen Hinweis darauf, dass diese Überlegungen auf den binnenchristlichen Raum zu beschränken seien. Diese Auffassung vom interreligiösen Lernen stellt sich somit selbst als eine christliche dar. Sie ist zunächst einmal das Produkt einer innerchristlichen Selbstklärung und in einem zweiten Schritt auch Einladung an andere Religionen, ihr Verständnis von interreligiösen Lernen darzutun.
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Schleiermacher, denke ich, recht, dass alle Bemühungen um Religionsfrieden und Verständigung ohne eine innere Anschauung dessen, was religiöse Menschen bewegt und umtreibt, kaum zu haben ist. Daher dürfte das derzeit höchste Bildungsziel von Schleiermacher gültig am Anfang der fünften Rede formuliert worden sein: „Daß der Mensch in der Anschauung des Universums begriffen ein Gegenstand der Achtung und der Ehrfurcht für Euch alle sein muß“ (235/1613). Das und das vor allem müssen Kinder in der Schule über Religion lernen.
Christiane Ehrhardt / Berlin
Schleiermachers Voten zur preußischen Schulreform – ein Werkstattbericht 1. „Die Handschrift redet“: Schleiermachers Manuskripte zur Schulreform Dass „[d]ie Handschrift redet“¹, gilt in besonderer Weise für Schleiermachers Manuskripte zur preußischen Erziehungsreform. Zum einen sprechen die oftmals in einem Zuge und ohne jede Korrektur geschriebenen Zeilen von der Leichtigkeit, die eigenen Gedanken und die der anderen zu ordnen und in einfache und klare Worte zu fassen, die in den Amtsstuben Bestand haben konnten. Zum anderen berichten sie von der Mühsal der Korrekturen und von den etwa mit den Prüfungen der Schulamtskandidaten verbundenen aufwändigen Arbeitsvorgängen (Einberufungen unterschiedlich zusammengesetzter Prüfungskommissionen, Koordinierung von Unterrichtsbesuchen, mündliche und schriftliche Prüfungen, Prüfungsberichte, Gutachten und Zeugnisse). Wilhelm von Humboldt hatte Schleiermacher im Frühjahr 1810 als Direktor in die Wissenschaftliche Deputation in Berlin hineingeholt, insbesondere mit dem Auftrag, das öffentliche Unterrichtswesen umzugestalten. Ihr „bedeutendstes Geschäft“², so Schleiermacher in seinem Jahresbericht vom 17. Dezember 1810 über die Tätigkeit der Wissenschaftlichen Deputation, war der Entwurf zu einem Lehrplan für die höheren Schulen. Sowohl dieser einzige Bericht Schleiermachers über die vielfältigen Arbeiten der Deputation unter seiner Leitung als auch dieser Lehrplanentwurf vom September 1810 werden demnächst erstmals veröffentlicht, und zwar in dem Band der Kritischen Gesamtausgabe mit Schleiermachers Pädagogik-Vorlesungen (KGA II/12). Die Tätigkeit für die Wissenschaftliche Deputation nahm nicht wenig Raum in Schleiermachers Leben um 1810 ein, sodass er zu dem Ergebnis kam: „[D]er Lehrplan hat mir alle Zeit genommen […]“³.
So der Titel des Beitrags von Malcolm Pasley im Ausstellungskatalog zu Kafkas in Marbach ausgestelltem Manuskript „Der Prozess“; Marbacher Magazin 52/1990. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin (GStA PK), I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 2, Bl. 3r. Brief an J. Chr. Gaß vom 1. September 1810: „Nun verreise ich und habe hernach bis zur Eröffnung der Universität nur drei Wochen übrig, und alle Hände voll zu thun. Wie das werden wird, sehe ich noch nicht ab. Die Encyclopädie ist auch noch nicht geschrieben; der Lehrplan hat mir alle Zeit genommen und wird noch mit Noth zur lezten Sizung fertig. Sie werden doch nicht glauben, daß ich faul gewesen bin? Ich kann es mir wenigstens nicht nachsagen.“ Friedrich Schleiermacher’s Briefwechsel mit Joachim Christian Gaß. Mit einer biographischen Vorrede. Hg. von Wilhelm Gaß. Berlin 1852, S. 78. DOI 10.1515/9783110464573-006
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Die von mir für den KGA-Band zur Pädagogik herangezogenen Manuskripte aus dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin zeugen von einem Dialog, den Schleiermacher initiierte, strukturierte, vielstimmig hielt, dessen Ergebnisse er bündelte und mit eigenen Akzenten versah. So formulierte er Arbeitsfragen für seine Kollegen in der Wissenschaftlichen Deputation (z. B. die Frage: „Soll in den Lehrplan für gelehrte Schulen ein eigner Religionsunterricht aufgenommen werden oder nicht?“⁴), sorgte dafür, dass jeder, auch er selber, schriftlich antwortete, wachte über den Austausch aller Antworten, ließ die mündliche Erörterung der Ergebnisse protokollieren, erlaubte Gegenstellungnahmen und verfasste abschließend entweder selbst ein zusammenfassendes Gutachten oder beauftragte ein anderes Mitglied der Deputation damit. Diesem dialogischen Arbeiten lässt sich nur durch eine textkritische Wiedergabe gerecht werden, die sowohl Aktennotizen aufnimmt als auch Manuskripte der Kollegen und weiterer an der Reform Beteiligter. Denn ‚die Handschrift redet‘ hier vor allem mit anderen. Doch sie erzählt auch von sich selbst,von ihrer Entstehung,wie eine märchenhafte Begegnung zeigt.
2. Dornröschen, Franz Kafka oder High-Tech? Eine märchenhafte Begegnung Als ich wieder einmal im Lesesaal des Geheimen Staatsarchivs über ein Manuskript gebeugt saß und zum wiederholten Male zu erforschen suchte, was es mir wohl zu sagen hatte, breitete sich um mich her eine bleischwere Mittagsstille aus.Wenn ich den Kopf hob, fiel mein Blick auf immer dieselben älteren Herren, die sich träge wohl der Familien- oder Heimatforschung hingaben, oder auf den Beamten des Staatsarchivs, der an der Stirnseite mit halb geschlossenen Augen über das wachte, was in ‚seinem‘ Lesesaal geschah. Erinnerungen an die in der Schule beaufsichtigten Klausuren stellten sich ein, Assoziationen auch zu den in Franz Kafkas Werk wiederkehrenden Wächterfiguren. Die Tinte Schleiermachers drohte schon vor meinen Augen zu verschwimmen … Als ich mich plötzlich auf den Aufseher zugehen sah, ihm das soeben studierte Manuskript unter die Nase hielt und ihn schlicht und ergreifend fragte: „Ist das Sepiatinte?“ Erschrocken riss er die Augen auf und fragte mich nach der überstandenen Schrecksekunde, was das denn überhaupt für ein Dokument sei. Ich antwortete feierlich: „Schleiermacher!“. Bis heute bin ich mir nicht sicher, was ihm dieses Wort eigentlich sagte, oder ob es vielmehr der feierliche Ton in meiner Stimme war, der mit einem Mal den Dornröschenschlaf beendete und ihn zum Telefon greifen ließ. „Warten Sie!“ –
GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 9r.
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Jäh flog die Tür hinter der Balustrade mit dem Wächter auf und herein wehte ein agiles Männchen mit flatterndem weißem Kittel und ebensolchen Haaren. Ein Arzt, ein Maler? Leben floss in die Starre: „Wo?“, „Wer?“, „Was?“ wirbelte der weiß Bekittelte, zog mit der letzten Frage Schleiermachers Manuskript an sich, was mich die Augen erschreckt aufreißen ließ. „Folgen Sie mir!“ Wie im Traum folgte ich ihm durch nicht enden wollende Gänge, durch Türen und über Stiegen und Treppen in ein Dachkämmerchen, in dem nein, nicht die 13. Fee wohnte, sondern der Restaurator des Geheimen Staatsarchivs. „Was?“ fragte er mich noch einmal mit Adleraugen-Blick. Dass an der ein oder anderen Stelle der Kritischen Gesamtausgabe davon die Rede sei, dass Schleiermacher mit Sepiatinte geschrieben habe, stotterte ich und schaute dabei fasziniert auf unzählige Siegel, kleine und große, braune und rote, die gebrochen, zerbröselt, wiederhergestellt überall umher lagen und von ganz anderem erzählten. Der Restaurator, wohl froh, seiner Siegelwelt für einen Moment entronnen zu sein, antwortete, die Augen auf Schleiermachers Manuskript gesenkt: „Niemals!“ Und nun griff auch er zum Hörer eines an der Wand hängenden altmodischen Telefons. Er verabredete einen Untersuchungstermin für Schleiermachers Manuskript, der ob des Ernstes der Lage schon in wenigen Tagen und an einem externen Ort vonstatten gehen sollte. Natürlich nur unter meiner Begleitung, denn nie hätte ich Schleiermachers Handschriften alleine ihrem Schicksal überlassen. So traf ich an einem kalten Wintermorgen vor den Toren des Staatsarchivs auf den Restaurator, der die von mir gewählten Manuskripte, es waren drei, in einem abgeschabten blauen Rucksack bei sich trug. Schweigend legten wir zu Fuß den Weg zurück. In der Erinnerung kommt es mir vor, als seien wir schließlich unbemerkt durch einen Hintereingang in ein großes altes Gebäude eingedrungen. Wir erreichten einen Raum, der für mich wie ein riesiger Heizungskeller aussah, in dem es – in meiner Erinnerung – zischte und stampfte. Ängstlich blickte ich auf den Rucksack. Mich hätte es nicht verwundert, wenn gleich „Der Heizer“ auftauchte, der bei Kafka dem verschollenen Karl Rossmann im Schiffsbauch begegnete. Doch freundlich wurden wir von Oliver Hahn begrüßt, inzwischen Professor in Hamburg, der sich in diesem ‚Heizungskeller‘, nämlich in der Bundesanstalt für Materialforschung und –prüfung, mit Filigranem beschäftigte, wie z. B. mit Mozarts Autograph der Zauberflöte oder mit der Frage „Was ist falsch am falschen Rembrandt?“⁵. Strahlen treffen auf Kulturgut, lautete sein Programm, das aber bislang noch nicht bei Schleiermacher zur Anwendung gekommen war. Bei dem, was nun folgte, ließ ich Schleiermachers Manuskripte nicht aus den Augen. Zunächst wurde die erste Seite von Schleiermachers Jahresbericht auf den Untersuchungstisch gelegt und einer Röntgenfluoreszenzanalyse unterzogen. Dann folgte Schleiermachers eigene Antwort auf seine Frage an die Wissenschaftliche De-
Hahn, Oliver, Czichos, Horst: Was ist falsch am falschen Rembrandt? Mit High-Tech den Rätseln der Kunstgeschichte auf der Spur. München 2011.
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putation: „Soll auf den gelehrten Schulen ein besonderer ReligionsUnterricht ertheilt werden?“ und schließlich die erste Manuskriptseite seines „Allgemeinen Entwurfs zum Religionsunterricht auf gelehrten Schulen“. Der Bildschirm, der an das Untersuchungsgerät angeschlossen war, lieferte dabei eindrückliche Bilder. Fotos von der Untersuchung und grafische Darstellungen der Röntgenfluoreszenzspektren des Schreibmaterials und des zugehörigen Papieruntergrundes der drei untersuchten Manuskriptseiten werden im Anhang des KGA-Bandes II/12 präsentiert. Dort wird auch der Untersuchungsbericht Oliver Hahns veröffentlicht. Er zeigt, dass alle drei Röntgenfluoreszenzspektren belegen, dass es sich bei den Hauptkomponenten des Schreibmaterials um Eisen (Fe) und Zink (Zn) handelt, ein eindeutiger Hinweis auf Eisengallustinten. Auch die Nebenkomponenten Kalium (K), Mangan (Mn) und Kupfer (Cu) gehören zu den Eisengallustinten, deren Herstellung ebenfalls dem Untersuchungsbericht zu entnehmen ist. Organische Schreibmaterialien, wie Ruß- bzw. Bistertusche, Dornentinte oder auch Sepia enthalten diese anorganische Komponenten nicht oder nur in sehr geringen Konzentrationen und können so eindeutig von Eisengallustinten unterschieden werden. Die zerstörungsfreie (!) Analyse der anorganischen Bestandteile, die ich habe vornehmen lassen, ermöglichte somit eine eindeutige Zuordnung: Schleiermacher schrieb seine Voten zur preußischen Schulreform mit Eisengallustinte.
3. „In Abwesenheit des Direktors“: Der erste Lehrplanentwurf für gelehrte Schulen Verlassen wir nun die Methode der Durchleuchtung mit Röntgenstrahlen und kehren zurück zu dem, was mit dem bloßen Auge zu erkennen ist. Dabei konzentriert sich der Blick als Nächstes auf die Bedeutsamkeit der kleinen Aktennotizen, die im Kontext der preußischen Reformen ein Manuskript begleiten, auf die letzten Zeilen, mit denen ein Dokument unterschrieben wurde oder auf dessen ‚Vorspann‘. Diese Informationen werden selbstverständlich in einer textkritischen Edition mitgeteilt. So darf etwa bei dem von der Berliner Wissenschaftlichen Deputation entworfenen Lehrplan nicht übersehen werden, dass dieser in der Handschrift des Philologen und Schuldirektors August Ferdinand Bernhardi, der ebenfalls der Deputation angehörte, folgendermaßen unterzeichnet ist: „In Abwesenheit des Direktors [.] Bernhardi“. Es folgt ein Datum: „Berlin den 3. September 1810“⁶. Eine Notiz, die Bernhardi dem Lehrplan voranstellte, betont noch einmal: „Der Unterzeichnete übergiebt dem Auftrage des abwesenden Doktor und Profeßor Schleiermacher gemäß einer Hochpreislichen Sektion gehorsamst den beikommenden Entwurf eines Lehrplans für gelehrte Schulen“⁷ und zwar am 21. September 1810. Schleiermacher war also abwesend. GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII neu, Sekt. 1 A Teil II, Nr. 14, Bd.1, Bl. 36r, Bl. 98r. GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII neu, Sekt. 1 A Teil II, Nr. 14, Bd.1, Bl. 36r, Bl. 36r.
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Anhand seiner Tageskalendereintragungen lässt sich rekonstruieren, dass er am 3. September nachmittags oder abends nach Dresden abreiste: „Mittag bei Dohna. Wissenschaftliche Deputation. Abreise“⁸ und bis zum 25. September verreist blieb. Schleiermachers Notizen in seinem Tageskalender ist ebenso zu entnehmen, dass er am 12. September 1810 Caspar David Friedrich in seinem Dresdener Atelier traf, in der Phase der finalen Änderungen am sogenannten „Mönch am Meer“. Vielleicht konnte sich Schleiermacher am strahlenden Blau des Gemäldes ähnlich erfreuen wie die heutigen Besucher der Alten Berliner Nationalgalerie, wo seit Januar 2016 das aufwändig restaurierte Bild zu bewundern ist.⁹ Schleiermacher war demnach nicht anwesend, als der Lehrplan in Berlin von einem Schreiber abgeschrieben und von Bernhardi korrigiert wurde. Zwar hatte Schleiermacher mit einem kurzen Text zur Redaktion des Lehrplans einen Vorschlag zur Struktur des Plans hinterlassen,¹⁰ nach dem dieser redigiert wurde, doch setzte Bernhardi bei seiner Zusammenstellung der verschiedenen Einzel-Voten der Mitglieder der Wissenschaftlichen Deputation, also bei seiner Endredaktion, starke eigene Akzente. Zwei Beispiele sollen dies verdeutlichen.
3.1 Religionsunterricht Schleiermacher konzipierte zwei Schulfächer selbst: den Deutschunterricht und den Religionsunterricht. Diese beiden Beiträge prägten den Lehrplan maßgeblich. Sie beeinflussten dessen Struktur und inhaltliche Systematik. Den einzelnen Fächerkonzeptionen ging die von Schleiermacher initiierte Auseinandersetzung der Wissenschaftlichen Deputation mit der Frage voraus: „Soll in den Lehrplan für gelehrte Schulen ein eigner Religionsunterricht aufgenommen werden oder nicht?“¹¹ Diese Frage war der erste Anstoß von insgesamt vier Impulsen, die Schleiermacher im Juni 1810 für den Start der Lehrplanarbeit gab.¹² Damit hatte er veranlasst, dass der Religionsunterricht das Fach war, an dem sich die Diskussion um die Neugestaltung der Schule entzündete. Die Beschäftigung mit der Frage zum Religionsunterricht regte dazu an, Chancen und Grenzen der neuen Schule zu bestimmen. Im Zentrum der Überlegungen standen die Abgrenzungen von Kirche und
Schleiermacher Nachlass Nr. 439 (Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in Berlin). „Der Mönch ist zurück“. Die Restaurierung von Caspar David Friedrichs Mönch am Meer und Abtei im Eichwald: http://www.smb.museum/museen-und-einrichtungen/alte-nationalgalerie/restaurierung/ caspar-david-friedrich-projekt.html (abgerufen am 09.04. 2016). Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 111r–v. GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 9r. Die anderen drei Impulse betrafen die Auswahl der neuen Sprachen, die Verbindlichkeit u. a. der Aussprache der alten Sprachen und die Struktur des Lehrzyklus.Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 9r–v.
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Schule, von Schule und Universität und die Verhältnisbestimmung von Gesinnungsbildung und Kenntnisvermittlung. Mit der Publikation (in KGA II/12) der schriftlichen Antworten von Schleiermachers Kollegen auf seine Frage, einschließlich der Antwort, die Schleiermacher selbst gab, wird der Weg nachvollziehbar, auf den sich die Wissenschaftliche Deputation bei ihrer Begründung des Religionsunterrichts als Schulfach begab. Die einzelnen Voten zeigen, welche unterschiedlichen Aspekte in den Diskussionsprozess eingebracht wurden, gemeinsame Probleme und individuelle Antworten werden sichtbar. Wie konnte die Deputation aus der Fülle der Antworten und darin beschriebenen unterschiedlichen Ansätzen zu einer gemeinsamen Positionen gelangen? Das ebenfalls in KGA II/12 publizierte Sitzungsprotokoll vom 18. Juni 1810 fasst Übereinstimmungen zusammen und gibt Aufschluss über die getroffenen Verabredungen.¹³ An diese hielt sich Schleiermacher bei der von ihm übernommenen Aufgabe, aus allen Voten einen „Allgemeinen Entwurf“ zum Religionsunterricht zu gestalten. Darin nahm er konträre Positionen ernst und entfaltete einen eigenen Standpunkt unter Berücksichtigung der Argumente der übrigen Deputationsmitglieder. Es sind demnach zwei Voten zum schulischen Religionsunterricht von Schleiermacher auseinander zu halten: eine erste persönliche Antwort auf die von ihm in Umlauf gebrachte Frage und ein „Allgemeiner Entwurf zum Religionsunterricht auf gelehrten Schulen“, der unter Berücksichtigung der übrigen Voten entstand und schließlich – mit Veränderungen – in die Fächerbeschreibung des Lehrplans aufgenommen wurde. Ein Vergleich der verschiedenen Voten in ihrer Chronologie zeigt, dass die Konzeption des Religionsunterrichts, zu der die Berliner Deputation gelangte, zugleich die Verständigung über Grundsätze des Lehrplans eintrug, die in dessen allgemeinen Teil einflossen. Bereits in seinem ersten Votum hatte Schleiermacher erklärt: „Auf die Gesinnung zu wirken kann aber niemals ein unmittelbares Object für die Schule sein“¹⁴. Damit unterschied er sich von seinen Kollegen in der Wissenschaftlichen Deputation, die mehrheitlich den Religionsunterricht mit dessen gesinnungsbildender Kraft begründen wollten. Für Bernhardi ließ sich das Proprium des Faches gar „mit einem Worte“ bestimmen: „die Gesinnung soll gebildet werden“! Religionsunterricht habe die „ächte Sittlichkeit […] hervorzubringen“. Denn die Religion bestimme den „sittlichen Gehalt“ des Handelns des Heranwachsenden und sogar „den Zweck desselben“. ¹⁵ Demgegenüber verwendete Schleiermacher ein Begriffspaar, indem er der Gesinnung die „Einsicht“ gegenüber stellte. Im Religionsunterricht auf gelehrten Schulen müsse „die Einsicht die Hauptsache sein“ und „die Belebung der Gesinnung die Ne-
Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 33r–34r. GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 28r. Bernhardi, August Ferdinand: Ueber die ersten Grundsätze der Methodik für die Lehrobjecte eines Gymnasiums. Programm von 1810. In: Ders.: Ansichten über die Organisation der gelehrten Schulen. Jena 1818, S. 86.
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bensache“, heißt es.¹⁶ Schleiermacher ging davon aus, dass „die Schwierigkeit welche aus dem Zusammensein verschiedener Religionsgenossen auf der Schule entsteht“, vermieden werden könne, wenn der Unterricht in „Form einer allgemeinen historischen Darstellung der christlichen Lehre und Kirche“ abgehalten werde. Die Heranwachsenden sollten etwas über die geschichtliche Entwicklung des Christentums und der christlichen Kirche wissen, anstatt durch die „gewohnte Catechisation“ des Predigers glauben zu müssen, was ihnen vorgesetzt wird.¹⁷ Die bisher den künftigen Klerikern überlassene „Einsicht in die Religionssachen“, wie sie zuvor durch das Theologiestudium auf der Universität erworben wurde und damit Sache von Spezialisten war, wird nun zur „Hauptsache“ des allgemeinen schulischen Religionsunterrichts. Schleiermachers Beschreibung der Schule als Institution, in der Unterricht pädagogisch reflektiert und curricular strukturiert stattfindet, eine Beschreibung, die ihn zur Konstituierung eines veränderten, intellektuellen, über „Einsicht“ vermittelten Typus von Gesinnung führte, gab den Begründungshorizont ab, der die Aufnahme des Religionsunterrichts als allgemein bildendes Schulfach ermöglichte. Mit der Reflexion der Schule als „Lehranstalt“ setzte der „Allgemeine Entwurf zum Religionsunterricht“ ein. Schleiermacher betonte in diesem Entwurf, dass in den öffentlichen Schulen „vermittelst des Lernens die Entwiklung der geistigen Kräfte“ im Mittelpunkt stehen müsse. Es käme darauf an, die „Selbstthätigkeit für das Gute und Rechte“ zu erregen.¹⁸ Damit wies Schleiermacher auf die Unverfügbarkeit der inneren Handlungen des Menschen hin und achtete die Heranwachsenden als solche, die an ihrer eigenen Erziehung mitwirken können und müssen. „[U]nter der Form des Lehrens“¹⁹ galt es, die Selbsttätigkeit des Zöglings zu fördern und verantwortlich zu leiten. Der pädagogisch Handelnde dürfe und könne seinem Zögling nicht vorschreiben, wer er sei und werden wolle und was dabei das für ihn Gute und Rechte darstelle.²⁰ Bernhardi, der im Gegensatz zu Schleiermacher von der konstitutiven Rolle der Religion für die Moral ausging, griff bei der Endredaktion des Lehrplans verändernd in den „Allgemeinen Entwurf“ ein. Die größte Nähe zu den Formulierungen Schleiermachers weisen in der von Bernhardi zusammengestellten ersten Lehrplanfassung von 1810 die Passagen über den Religionsunterricht für die unterste und oberste Bildungsstufe auf. Diesen sind Überlegungen vorangestellt, welche die in Schleiermachers Entwurf geschilderte Problematik der Parallelität von schulischem Religionsunterricht und Konfirmandenunterricht aufnehmen, und zwar mit der Entscheidung, den schulischen Unterricht in dieser Zeit auszusetzen. Folglich gibt es im
GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 28v. Ebd. GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 109r. Ebd. Nicht erst in seinen Vorlesungen zur Pädagogik, sondern schon in diesem Entwurf zum Religionsunterricht richtete Schleiermacher sein Augenmerk auf die dem freien Wesen des Zöglings innewohnende Selbsttätigkeit und unbestimmte Bildsamkeit.
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Lehrplanentwurf von 1810, anders als bei Schleiermacher, keine Ausführungen zum Religionsunterricht in der Mittelstufe. In der Überblicksdarstellung dessen, was auf jeder Stufe geleistet werden soll, korrespondiert die Zielsetzung, dass das Fach „Religion“ bei den älteren Schülern „das Lebenselement der sittlichen Welt die Gesinnung zum klaren Bewußtsein“²¹ zu bringen habe, mit Bernhardis Votum zum Religionsunterricht. Bernhardis Ansicht von der Rückführbarkeit aller Unterrichtsgegenstände auf das einheitsstiftende Prinzip einer als religiös verstandenen Sittlichkeit zeigt sich im Lehrplanabschnitt über den Religionsunterricht, wenn es heißt, dass in diesem Unterricht auf „die Religiosität als die höchste Einheit aller Gesinnung gewirkt“²² werde. Dies ist eine Auffassung, die Schleiermachers Konzeption zuwiderläuft. An den weiteren Überarbeitungen des Lehrplans war Schleiermacher nicht mehr als Direktor der Berliner Wissenschaftlichen Deputation beteiligt. Mit dem Jahresende 1810 kam sein Direktorat zum Abschluss. Durch die Berücksichtigung von Schuckmanns Änderungswünschen – nach dem Weggang Wilhelm von Humboldts war Kaspar Friedrich von Schuckmann im November 1810 Chef der Sektion für den Kultus und öffentlichen Unterricht beim Innenministerium geworden, – entfernte sich der Plan schon in seiner zweiten Fassung des Jahres 1811 und vor allem in den darauf folgenden Überarbeitungen in wesentlichen Gesichtspunkten immer weiter von Schleiermachers Überlegungen. So widersprach zum Beispiel die auf Schuckmanns Forderung zurückgehende Aufnahme des Hebräischunterrichts in den Fächerkanon Schleiermachers Ansatz, dass die gelehrte Schule nicht Spezialschule zur Vorbereitung für Theologen sein dürfe, weil der Bildungsgang auf dieser neu konzipierten gelehrten Schule auf keine bestimmte antizipierbare, sondern auf eine unbestimmte, von den Heranwachsenden selbst zu wählende Zukunft auszurichten sei. Schuckmann verlangte auch, der Lehrplan solle festlegen, dass der Unterricht mit Gesang und Gebet eröffnet und beendet werden müsse.²³ Schleiermacher hatte sich in diesem Zusammenhang absichtsvoll zurückgehalten, „da hiebei die gute Wirkung doch ganz von dem Geist abhängt mit welchem die Sache behandelt wird“, und sprach sich ausdrücklich gegen eine allgemeine Regelung aus.²⁴ Zeigten in den verschiedenen Lehrplanbearbeitungen vor allem Schleiermachers konkrete Anregungen für den Religionsunterricht auf den unterschiedlichen Bildungsstufen eine fortgesetzte Wirkung, so sucht man hingegen seine den Allgemeinen Entwurf zum Religionsunterricht eröffnenden Gedanken zur Schule als Lehranstalt vergeblich in den über die Jahre veränderten Lehrplanabschnitten zum Religionsunterricht. Diese grundsätzlichen Überlegungen Schleiermachers, mit denen er in systematischer Hinsicht seinen Entwurf aufbaute, um damit den Platz des Religionsunterrichts in der Schule zu begründen, haben stattdessen in den allgemeinen Teilen der Lehrpläne Eingang gefunden. So ist etwa der zentrale Aspekt von Schleiermachers
GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII neu, Sekt. 1 A Teil II, Nr. 14, Bd.1, Bl. 52v. GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII neu, Sekt. 1 A Teil II, Nr. 14, Bd.1, Bl. 78r. Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 116r. Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 110v.
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Entwurf, dass in der Schule Sorge für die Entwicklung der geistigen Kräfte zu tragen sei, in die „Allgemeine Ansicht von dem Zweck der gelehrten Schulen“ des Lehrplanentwurfs von 1810 eingeflossen.²⁵ In einer ersten Verordnung, die das Kultusministerium am 28. Juni 1826 zum Religionsunterricht in preußischen Gymnasien erließ, sind deutliche Spuren von Schleiermachers „Allgemeinem Entwurf zum Religionsunterricht“ zu lesen und dessen Formulierungen wortwörtlich wiederzufinden. Zugleich widersprach die mit dieser Verordnung erteilte Anweisung, dass in den unteren Klassen der Katechismus „nebst den Beweisstellen und hierauf sich beziehender Kirchenlieder“ auswendig zu lernen sei²⁶, Schleiermachers Position. Hatte er doch bereits in einem frühen Gutachten für den preußischen Staat das Auswendiglernen des Katechismus als „leere Gedächtniskrämerei“ kritisiert.²⁷
3.2 Deutschunterricht Neben den Entwürfen zum Religionsunterricht ist von Schleiermacher ein Entwurf zum „Unterricht in der deutschen Sprache“ überliefert, der dreiteilig gegliedert ist: Eingangs werden die Aufgaben formuliert, die der Deutschunterricht in der Schule im Allgemeinen und im Rahmen des Fächerkanons im Besonderen zu übernehmen habe. Der mittlere Teil reflektiert, welche Qualifikationen die Schüler am Ende ihrer Schullaufbahn aus der Schule und speziell aus dem Deutschunterricht für ihre unterschiedlichen Lebenswege mitnehmen sollten. Aus diesen grundsätzlichen Überlegungen heraus beschreibt ein letzter, ausführlicher Teil Inhalte und Ziele des Deutschunterrichts aufgeteilt nach drei Bildungsstufen. Bereits mit dem ersten Satz seiner Disposition legte Schleiermacher fest, dass der Unterricht in der deutschen Sprache „nicht bloß als Sprachunterricht“²⁸ zu betrachten sei. Die Begründung dafür, dass der Deutschunterricht nicht auf einen bloßen Sprachunterricht verkürzt werden dürfe, leitete Schleiermacher aus seinem Verständnis der Muttersprache her, die für ihn „das unmittelbare Organ des Verstandes ist und das allgemeine der Fantasie“²⁹. Diese beiden Eckpunkte des geistigen Lebens, Verstand und Fantasie, gelte es bei den Heranwachsenden zu fördern – eine Aufgabe,
Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII neu, Sekt. 1 A Teil II, Nr. 14, Bd.1, Bl. 39v–48r. Vgl.Verordnungen und Gesetze für die höheren Schulen in Preußen. Hg. von L. Wiese. Berlin 21875, S. 60. Vgl. Schleiermachers Gutachten zu den von Hoffmann bei der Sektion des öffentlichen Unterrichts eingereichten Schriften, zitiert nach: Wißmann, Erwin: Religionspädagogik bei Schleiermacher. Gießen 1934 (Studien zur Geschichte des neueren Protestantismus Heft 15), S. 438. Vgl. auch Schleiermachers vehemente Kritik am Katechismusunterricht in seiner Praktischen Theologie (SW I/13, u. a. S. 411, S. 373). GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 55r. Ebd.
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die dem Unterricht in der Muttersprache wie keinem anderen Unterricht in der Schule zukomme. In diesem Unterricht konzentriere sich „alles was für die freie formelle Bildung des Geistes auf Schulen geschehen kann“³⁰. Schleiermacher explizierte, dass die Bildung des Geistes, die der Deutschunterricht zu übernehmen habe, erstens aller Vorbereitung zur Philosophie diene. Er ergänzte auf dem Rand seines Votums, dass einzig der Religionsunterricht hier „von anderer Seite“ zur Hilfe kommen könne.³¹ Die Schule bereite vor auf die Philosophie, ohne jedoch einen eigenen Philosophieunterricht anzubieten, da dieser in die Universität gehöre. In seiner zwei Jahre zuvor veröffentlichten Schrift „Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn“ hatte Schleiermacher den Unterschied zwischen schulischem und universitärem Lernen an der Philosophie festgemacht, die er als grundlegende Wissenschaft eines jeden Studiums an der Universität bestimmte.³² Philosophie in der Schule wäre demnach eine Art von Spezialbildung für angehende Studenten, doch Schleiermacher ging in seiner Konzeption der Schule davon aus, dass den beruflichen Entscheidungen nicht vorgegriffen werden dürfe. Nicht jeder Schüler werde von der Schule in die Universität übergehen; Zeitpunkt und Ziel der Übergänge ins Leben seien offen zu halten. Die Bildung des Geistes fördere zweitens das Verständnis der redenden Künste.³³ Die Schüler sollten lernen, die Rede als Darstellungsmittel nutzen zu können, ohne dieses Mittel immer schon auf einen konkreten Anwendungszusammenhang beziehen zu müssen. Als dritten Aspekt der Bildung des Geistes im Deutschunterricht nannte Schleiermacher die Förderung des Sprachverständnisses. Er sah hier einen essentiellen Unterschied zwischen dem muttersprachlichen Unterricht und den gelehrten Sprachen. Der Unterricht in der Muttersprache trage zum höheren Verständnis der Sprache selbst bei.³⁴ Im mittleren Teil seiner Disposition betonte er, dass das, was in den einzelnen Klassen unterrichtet werden solle, einerseits das Weiterlernen des Zöglings in der Schule ermöglichen und ihm andererseits gleichsam eine Grundausstattung mit bestimmten Kompetenzen mit ins Leben geben müsse, wann immer und wohin immer er die Schule verließe. Bevor Schleiermacher darauf einging, was im Detail auf den einzelnen Stufen des „Lehrgebiets“ gelernt werden solle, erläuterte er, dass er von einer Schule mit sechs gestuften Klassen ausgehe. Nach dem großen Lehrplanentwurf, den die Berliner Wissenschaftliche Deputation in Folge vorlegte, ergaben je zwei Klassen für sich eine
Ebd. Ebd. KGA I/6, S. 30 – 42. Schleiermacher hatte zunächst angesetzt, „dich“tende Künste zu schreiben, korrigierte sich dann aber und notierte „redende“ Künste.Vgl. I. Kant: KdU § 51: „Die redenden Künste sind Beredsamkeit und Dichtkunst.“ Statt „höheren“ Verständnis hatte Schleiermacher in seinem Manuskript zunächst „philosophischen“ Verständnis geschrieben, dieses Wort dann aber gestrichen.
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Abteilung oder Bildungsstufe, mit deren Beendigung eine gewisse abgeschlossene Bildung erreicht werden sollte. Doch Schleiermachers Entwurf zum Deutschunterricht sah die Abgänge von der Schule auch aus der fünften und vierten Klasse vor (aus Quinta und Quarta), aus der dritten und zweiten (Tertia und Secunda) sowie aus Prima. Damit folgten die von ihm skizzierten Übergänge ins Leben nicht streng der Aufteilung in drei Bildungsstufen, sondern plädierten für größere Flexibilität. Demnach könnten diejenigen Knaben, die ein Handwerk erlernen wollten oder im Kleinhandel ihre Beschäftigung suchten, die Schule nach der fünften oder auch erst nach der vierten Klasse verlassen. Die künftigen Künstler, kleineren Beamten, Militärs und Kaufleute sollten die Möglichkeit erhalten, schon nach der dritten oder erst nach der zweiten Klasse abzugehen. Schleiermacher ging davon aus, dass die Mehrzahl derjenigen, die den ganzen Gymnasialkurs vollendeten, die „höchste wissenschaftliche Bildung“ anstrebten. Im dritten und letzten Teil seines Entwurfs beschrieb er schließlich den Deutschunterricht für jede einzelne der drei Bildungsstufen. Dabei ging er am ausführlichsten auf die unterste Bildungsstufe ein, konstatierte er doch einen großen „Mangel an Bildung“ in Deutschland in Bezug auf die Muttersprache, der verlange, dass die Schulen künftig im Besonderen für die untere „Klasse“ der Gesellschaft mehr leisten müssten als bisher. Diese „Klasse“ müsse so weit gebracht werden, „das ganze Gebiet der Muttersprache welches in das gemeine Leben gehört in einer gewissen Vollständigkeit inne zu haben und auch schreibend und sprechend richtig handhaben zu können“³⁵. Mit „gemeinem“ Leben ist hier zugleich das „gemeinsame“ Leben in einer Gesellschaft im Blick, von dem ausgeschlossen bleibt, wer sich nicht sprachlich mitzuteilen vermag. Das Zusammenleben in den großen Gemeinschaften des Lebens (bei Schleiermacher Kirche, Staat, Geselligkeit und Wissenschaft) ist auf die Artikulation des Einzelnen angewiesen, darauf, dass man sich mündlich und schriftlich zu Wort zu melden weiß. Dazu verhalfen keine „Verstandesübungen“ und keine „Technologie“³⁶, wie sie besonders die Lektionen der Aufklärungspädagogik beinhalteten, um damit einer unmittelbar praxisbezogenen und anwendungsorientierten Übung des Denkens zu dienen. Anhand von Unterrichtsstoffen, die vornehmlich aus den Bereichen der empirischen Naturwissenschaften und der Handwerkskunde stammten, sollten in erster Linie lebenspraktisch relevante und nützliche Techniken eingeübt werden. Schleiermacher bezeichnete solche Übungen als „kunstlos und unverständig“³⁷ und setzte damit einen Kontrast zu seinem Begriff sprachlicher Bildung, der sich allen Ansprüchen auf direkte Anwendbarkeit für eine bestimmte Praxis entzieht. Dem Begriffspaar „Bildung“ und „Übung“ stellte er hier zwei weitere polare Begriffe zur Seite: „Können“ und „Technik“. Bekanntermaßen ist es charakteristisch für Schleiermachers Denken,
GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 55v. Ebd. Ebd.
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dass sich die Begriffspaare überkreuzen; in seinem Entwurf zum Deutschunterricht verband er „Bildung“ und „Können“ miteinander genau wie „Übung“ und „Technik“. – Das Können, das der Zögling mithilfe des neu konzipierten Deutschunterrichts erwarb, unterschied sich von einer zweckgebundenen Technik, z. B. des Abschreibens. So lernte der Heranwachsende Schreiben, nicht weil er Schreiber in einer Amtsstube werden sollte, sondern um seinen Belangen in den vielfältigen Situationen des Lebens Ausdruck verleihen zu können. In welchem beruflichen oder persönlichen Kontext er sich äußerte, bestimmte er selbst. Der Deutschunterricht in der Anfangsphase auf der Schule diene daher der Erweiterung des Wortschatzes, der Überwindung von Beschränkungen des „Sprachvorraths“, wenn dieser zum Beispiel regional geprägt sei. Alle provinziellen Fehler gelte es zu beheben.³⁸ Aus diesem Grund nähmen die Schüler in der Eingangsklasse vor allem erst einmal die korrekte Rechtschreibung und Grammatik auf, um ihre Kenntnisse in der darauffolgenden Klasse sodann bei der Wortbildung und Satzbildung produktiv anwenden zu können. Schleiermacher setzte hier einen bildungstheoretischen Akzent, der in den Grundsätzen des Lehrplans wiederzufinden ist, den die Wissenschaftliche Deputation unter seiner Leitung verabschiedete: In der früheren Klasse auf jeder Bildungsstufe sollte das empfangende Lernen überwiegen, in der fortgeschritteneren Klasse das hervorbringende – Rezeptivität und Spontaneität ergänzten einander auf jeder Bildungsstufe. Indem Schleiermacher betonte, dass es die provinziellen Mängel auszuräumen gelte, legte er Wert auf die Überschreitung der bisherigen Kommunikationsgrenzen, die sowohl spezielle geographische Bedingungen mit sich bringen konnten, als auch die soziale Herkunft. „Provinziell“ meint hier zugleich auch „speziell“, das heißt, dass einer jeglichen frühen Spezialisierung auf der Schule Einhalt geboten werden sollte. Schleiermacher stellte in diesem Zusammenhang klar, dass sich die erste Bildungsstufe nicht auf das Handwerk reduzieren ließ. Sie entsprach vielmehr einer Elementarstufe, die darauf ausgerichtet war, dass die Lernenden sich elementare Kulturtechniken wie Schreiben und Lesen so aneigneten, dass sie diese allgemein und selbstständig gebrauchen konnten. Damit diente der Unterricht auf dieser Bildungsstufe zum einen der Vorbereitung auf die nächst höhere und zum anderen sollte er sicherstellen, dass diejenigen Schüler, die schon jetzt die Schule verlassen wollten, die Elementartechniken in einer zugleich allgemeinen und lebensbedeutsamen Weise beherrschen lernten. Zusammenfassend ist festzustellen, dass der Einfluss von Schleiermachers Entwurf zum Deutschunterricht innerhalb der preußischen Schulreform weit über die Anregungen zur Gestaltung eines einzelnen Schulfaches hinaus reichte. Dies ist unter anderem daran zu erkennen, dass Schleiermachers Vorschlag nicht nur in den besonderen Teil des Lehrplans (bei der Konzeption der einzelnen Fächer) aufgenommen wurde, sondern dass seine Überlegungen zur Aufgabe des Deutschunterrichtes für die
Vgl. ebd.
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allgemeine Bildung auch im allgemeinen Teil des Lehrplanentwurfs der Deputation wiederzufinden sind, mit welchem sich diese bildungstheoretisch positionierte. Die doppelte Aufgabe des Deutschunterrichts, erstens in jedem Jahrgang die Grundlagen für das Weiterlernen in der nächst höheren Klasse oder Bildungsstufe zu legen und zweitens auf die verschiedensten Übergänge ins Leben allgemein vorzubereiten, ist als doppelte Aufgabe schulischer Bildung in mehreren einzelnen Fächerentwürfen sowie vor allem in der Gesamtkonzeption des Lehrplans wiederzuentdecken. Eingang in dessen Grundsätze fand ebenso das von Schleiermacher am Beispiel des Deutschunterrichts entfaltete Prinzip des sich wechselseitig ergänzenden empfangenden und hervorbringenden Lernens. Grammatikübungen, Lektüre und selbsttätige sprachliche Produktionen der Schüler stehen in einem auch quantitativ ausgewogenen Verhältnis zueinander. Seine Hauptaussage, dass die Muttersprache zugleich Organ des Verstandes und der Fantasie sei, explizierte Schleiermacher im Zuge des Votums als eine doppelte Kompetenzbeschreibung. Nicht nur die Ratio der Heranwachsenden möge sich entwickeln, sondern gleichermaßen ihre Fantasie – ein neuer Aspekt der Aufgabenbeschreibung des Deutschunterrichts, der dem Utilitarismus und Rationalismus bestimmter Strömungen der Aufklärung nicht in den Sinn gekommen wäre. Die Schüler konnten am Ende interpretieren und deuten, sie hatten es gelernt, selbstständig zu urteilen und konnten ihr Handeln erproben. Urteils- und Partizipationskompetenz ergänzten einander. Dass Schleiermacher hier eine Kernaussage zur schulischen Bildung getroffen hatte, ist auch daran zu erkennen, dass sein polares Begriffspaar Bildung des Verstandes und der Fantasie in die Abiturvorschriften aufgenommen wurde, die nicht nur die Prüfungen regelten, sondern die Bildungsstandards reflektierten, die ein Schüler mit dem Abschluss des Gymnasiums erreicht haben sollte. In den Vorschriften hieß es, dass sich an dem beim Abitur zu erstellenden Aufsatz in der Muttersprache die „Gesammtbildung des Examinanden, vorzüglich die Bildung des Verstandes und der Fantasie“,³⁹ erweise. Die Entwicklung von Sprachverständnis und Sprachfertigkeit vollzog sich Schleiermacher zufolge nicht losgelöst oder unabhängig von einem bestimmten Bedeutungskontext, und dementsprechend war auch die sprachliche Produktivität auf der jeweiligen Bildungsstufe nur mit Bezug auf einen solchen Kontext möglich: auf das gemeine Leben, die gebildete Gesellschaft, die Wissenschaften. Diese außerschulischen Kontexte waren absichtlich sehr viel allgemeiner gehalten als diejenigen, auf die sich die überkommenen Lektionen bezogen, die auf einen speziellen Beruf hin ausrichteten. Der neu konzipierte Deutschunterricht vermittelte sprachlich-kommunikative Kompetenzen, die in der Alltagspraxis, im „gemeinen Leben“ benötigt wurden, nicht nur in einem eingegrenzten beruflichen oder privaten Ausschnitt. Prozesse der Wortbildung und Satzbildung betrachtete Schleiermacher nicht einfach als Prozesse der Selbsttätigkeit eines einzelnen sich bildenden Individuums, sondern grundsätz-
Abiturreglement 1834, zitiert nach Rönne, Ludwig von: Das Unterrichts-Wesen des Preußischen Staates. Berlin 1855, S. 263.
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lich als kommunikative soziale Prozesse, die schon einmal in der Klassengemeinschaft eingeübt wurden. Dies ist ein neues Verständnis von Unterricht als einem kommunikativen Prozess, der zur Partizipation an Öffentlichkeit erzieht. In der Akte, in der die entscheidenden Vorarbeiten für den Lehrplan der Wissenschaftlichen Deputation aufbewahrt sind, folgt auf Schleiermachers Entwurf eine tabellarische Übersicht über die „Gegenstände“ des Deutschunterrichts für die Klassen Sexta bis Prima in der Handschrift Bernhardis. Diese Übersicht bezog sich auf Schleiermachers Konzept. Sie versuchte, die Anzahl der Unterrichtswochenstunden pro Klasse festzulegen, mit weniger Stunden als von Schleiermacher vorgesehen. Ein stärkeres Gewicht, als dies in Schleiermachers Entwurf der Fall ist, wurde in Bernhardis Zusammenstellung auf die Schönschreibstunden gelegt. Während Schleiermacher betonte, dass ab Quarta ein Unterricht in Kalligraphie „nicht mehr stattfinden darf“, weil er eine jegliche Spezialisierung ablehnte (für ihn gehören die „Schnörkeleien“, die in Kanzleien gebraucht werden, in eine „Specialschule“), plante Bernhardi dafür zwei Stunden ein. Schleiermachers Systematik des einander ergänzenden rezeptiven und spontanen Lernens blieb erhalten. Bernhardi erläuterte hierzu am Anfang seiner Darlegungen zur Quinta: „Nachdem der Knabe das Elementarische erlernt hat ist die produktive Seite anzuregen.“⁴⁰ Mit dieser Zuordnung wurde jetzt allerdings – anders als bei Schleiermacher – das Rezeptive und Spontane auf eine zeitliche Abfolge, auf ein Nacheinander festgelegt. Der Lehrplan widmete sich schließlich einer ausführlichen Beschreibung des „Unterrichts im Deutschen“,⁴¹ die Schleiermachers Vorschläge zum Deutschunterricht paraphrasierend wiedergab. Bei dieser Paraphrase blieben Schleiermachers grundsätzliche Überlegungen, die verschiedenen Übergänge aus der Schule ins Leben im Blick zu behalten und dementsprechend zu strukturieren, was in den einzelnen Klassen gelernt werden soll, gleichsam auf der Strecke. Der Akzent verschob sich auf eine Auflistung der Unterrichtsgegenstände hin (Bernhardis Übersichten entsprechend) – der Blick reichte nun nicht mehr über die Schule hinaus. Damit ging zugleich die Begründung dafür verloren, warum der Zögling eigentlich sprachfähig werden sollte, nämlich um sich in den verschiedenen Lebenszusammenhängen mitteilen und damit aktiv an der Gesellschaft teilnehmen zu können. Auch im einleitenden Teil des Lehrplantextes zum Deutschunterricht sind Schleiermachers Überlegungen nur entfernt und in veränderter Weise zu erkennen. Zwar wurde sein Begriffspaar „Verstand und Fantasie“ aufgenommen, doch ist jetzt nicht mehr von der Muttersprache als „Organ“ für diese geistigen Tätigkeiten die Rede, sondern vom „Regen“⁴² des Verstandes und der Fantasie. Möglicherweise ist die Wandlung von „Organ“ zu „Regen“ ein Abschreibfehler, so wie der Schreiber des
GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 57r. GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII neu, Sekt. 1 A Teil II, Nr. 14, Bd.1, Bl. 61v–64v. GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII neu, Sekt. 1 A Teil II, Nr. 14, Bd.1, Bl. 62r.
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Lehrplans aus Schleiermachers „redenden“ Künsten unsinnigerweise „werdende“⁴³ Künste machte. Einen weiteren gedanklichen Unterschied zu Schleiermachers Votum enthält der Anfang des Lehrplantextes. Ist hier von einem „umfassenden System“⁴⁴ von Anschauungen die Rede, so sprach Schleiermacher, der nicht nur als junger Denker systematische Schwierigkeiten mit den Systembegriffen seiner Zeit formulierte, von der „eigenthümlichen Art und Weise“ der „Verknüpfung“⁴⁵der in einer Nation lebenden Begriffe und Anschauungen, die es – mit der Unterstützung des Deutschunterrichts – vom Heranwachsenden herzustellen gelte.
4. Der erste Lehrplanentwurf in Beziehung zu Schleiermachers Denken Abschließend soll nach den Bezügen des Lehrplans zu Schleiermachers Denken gefragt werden. Lassen sich doch neben den unmittelbaren Einflüssen der amtlichen Voten, die (in veränderter Form) in den Lehrplan aufgenommen wurden, deutliche Spuren entdecken, die aus Schleiermachers Arbeiten vor seiner Tätigkeit für die preußischen Reformen stammen. Das Selbstverständnis der Wissenschaftlichen Deputation unter Schleiermachers Leitung spiegeln die einleitenden Bemerkungen des Lehrplanentwurfs: Die Deputation beabsichtigte, ihre Rolle als öffentliche Einrichtung dergestalt wahrzunehmen, dass sie im lebendigen Diskurs mit den Schulen ihre Vorschläge überdenken und verbessern wollte. Sie nahm nicht an, dass ihr Entwurf ein auf ewige oder auch nur auf lange Zeiten feststehendes Werk sei, sondern sie wünschte ausdrücklich, nur den Grund gelegt zu haben „zu einer allgemeinen Einigung über die Sache“ und „zu einer lebendigeren Wechselwirkung zwischen sich und den gelehrten Schulen des Staates“.⁴⁶ Abgesehen davon, dass der Lehrplan hier den Begriff der Wechselwirkung aufnimmt, der in philosophischen und literarischen Werken der Zeit und in Schleiermachers Denken schon vor 1810 von Bedeutung war⁴⁷, gibt es einen solchen Vorschlag zu einer „allgemeinen Einigung“ auch in den „Gelegentlichen Gedanken über Universitäten“ aus dem Jahr 1808. In seiner Universitätsschrift ging Schleiermacher davon aus, dass Wissenschaft niemals Sache des Einzelnen sein könne, sondern ein
GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII neu, Sekt. 1 A Teil II, Nr. 14, Bd.1, Bl. 64r. GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII neu, Sekt. 1 A Teil II, Nr. 14, Bd.1, Bl. 61v. GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 55r. GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII neu, Sekt. 1 A Teil II, Nr. 14, Bd.1, Bl. 39r. Beim früheren Schleiermacher findet sich der Begriff explizit im „Versuch einer Theorie des geselligen Betragens“, KGA I/2, S. 169. Vgl. auch Schleiermachers wahrscheinlich im Jahr der Entstehung der Reden „Über die Religion“ und der „Monologen“ in seinem Gedankenheft festgehaltene Notiz, die als Verhältnisbestimmung dieser beiden Werke gelesen werden kann: „Selbstanschauung und Anschauung des Universums sind Wechselbegriffe; darum ist jede Reflexion unendlich.“ Gedanken III, Notat Nr. 34, KGA I/2, S. 127.
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„gemeinschaftliches Werk“ sein müsse, das auf wechselseitiger Mitteilung und regem Austausch beruhe. In diesem Gespräch in der Gemeinschaft des Wissens übernehme die Schule ihren speziellen Part.⁴⁸ Schleiermachers Theorie der Wissensbildung, die auf dem erkenntnistheoretischen Prinzip basiert, dass alles Erkennen ein gemeinschaftliches sei, sowie der von ihm in diesem Kontext entwickelte Wissenschaftsbegriff sind im Selbstverständnis der Wissenschaftlichen Deputation wiederzufinden, wenn sich diese zum Ziel setzte, das öffentliche Leben zu stärken und sich dabei zugleich angewiesen sah auf die Rückwirkung aus dem öffentlichen Raum. Hier zeigt sich ein Verständnis von Erziehung als Diskurs. Mit der Anerkennung von Diskursivität als einer Konstruktionsform, in der pädagogisches Wissen möglich wird, stärkte die Wissenschaftliche Deputation zugleich die Autonomie der Schulen. Die Entscheidungsbefugnisse der Schulrektoren und -konferenzen sollten erweitert und damit Handlungsspielräume gegenüber der staatlichen Schulaufsicht eröffnet werden. Die Deputation war daran interessiert, in den Schulen Eigeninitiative und Mitverantwortung für die Reform zu wecken. Im Dialog mit den Schulen wollte die Deputation diese zu regelmäßigen Berichten aufgefordert sehen, weil davon auszugehen sei, dass man auf diesem Weg nicht lauter Mängel, sondern manches erfahren werde, was den Lehrplanentwurf übertrifft und verbessert.⁴⁹ Der Plan könne somit ein „Kern“ werden,von welchem sich alle wichtigen Erfahrungen abheben, die auf gelehrten Schulen gemacht werden. Aufgabe der Deputation sei es sodann, diese Erfahrungen aufzugreifen, um sie „zum Besten des Ganzen zu combiniren“ und weiter zu verarbeiten. Die Einleitung in den Lehrplan, die den Charakter einer Präambel hat, endet an dieser Stelle mit dem Satz: „[S]o kann ein lebendiges Fortschreiten so wohl als eine wachsende und wahrhaft nationale Gleichförmigkeit erwartet werden.“⁵⁰ Dem systematischen Aufbau seines „Allgemeinen Entwurfs“ zum Religionsunterricht entsprechend, hatte Schleiermacher für den allgemeinen Lehrplanteil vorgeschlagen, dass dieser aus der Idee der gelehrten Schule und ihrem Ziel die Wahl der Lehrobjekte und ihr Verhältnis zueinander entwickeln sollte.⁵¹ Dementsprechend musste dieser Teil des Lehrplans vom „Endzweck“ der Schule ausgehen.⁵² Dabei hob der allgemeine Teil des Lehrplans an erster Stelle die Bedeutung der „Entwickelung der geistigen Kräfte“⁵³ hervor, genau wie dies auch Schleiermacher gleich zu Beginn seines Vgl. KGA I/6, S. 21, S. 30 – 42.Vgl. auch Schleiermachers Ausführungen über die „Gemeinschaft des Wissens“ in seiner philosophischen Ethik (1812/13), § 146–§ 186. Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII neu, Sekt. 1 A Teil II, Nr. 14, Bd.1, Bl. 39r–v. GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII neu, Sekt. 1 A Teil II, Nr. 14, Bd.1, Bl. 39v. Im Fragment eines frühen Heftes zu den Vorlesungen über die Lehre vom Staat schilderte Schleiermacher das „Fortschreiten“ des preußischen Staats: „[…] Dritte Periode hebt nun an mit den technischen Deputationen […] [.] Von den wahren Fortschritten der Nationalbildung die man nun erst wird messen können und von dem Gefühl der Einheit wird es abhängen wie bald auf diese die vierte folgen kann.“ KGA II/8, S. 42 f. Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 111r. Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII neu, Sekt. 1 A Teil II, Nr. 14, Bd.1, Bl. 39v. Ebd.
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„Allgemeinen Entwurfs“ unternommen hatte, um sich damit von einem Verständnis von Schule als einer Einrichtung des bloßen Lernens und Kenntniserwerbs abzugrenzen. Die Deputation verabschiedete mit ihrem Lehrplan ein Verständnis von Schule, dem gemäß ausschließlich Kenntnisse und Fertigkeiten einzuüben seien. So wie Schleiermacher im Bezug auf den Religionsunterricht in der Schule beide Seiten pädagogischen Handelns aufeinander zu führte – die Seite, die auf die Entwicklung der Verstandesfähigkeiten zielt, und diejenige, die auf die Entwicklung der Gesinnung unter Berücksichtigung von Einsicht gerichtet ist –, so kommt auch der Lehrplanentwurf zu dem Schluss, dass mit der einen Seite „zugleich fort gehen soll die andere“: In den unteren Klassen der gelehrten Schule werde noch die „Vorhaltung von Kenntnißen“ überwiegen, während in den oberen der freie Gebrauch der eigenen geistigen Kräfte der Schüler zunehmen müsse. In diesem Sinne werde die Schule zur Vorbildungsstufe für die Universität, die darauf angewiesen sei, beides vorauszusetzen.⁵⁴ Die Aufgabenbestimmung der Schule wird hier in Übereinstimmung mit Schleiermachers „Gelegentlichen Gedanken“ fortgeführt in seinem Votum zum Deutschunterricht und in Abgrenzung gegenüber der Universität verdeutlicht.⁵⁵ Mit dieser Bestimmung der gelehrten Schule, deren Zweck die Vorbereitung der wissenschaftlichen Bildung und nicht die frühe Festlegung auf eine bestimmte Disziplin sein sollte, ist in systematischer Hinsicht derjenige zentrale Aspekt verbunden, mit dem sich der von der Deputation vorgelegte Entwurf von den zu ihrer Zeit herrschenden Schulentwürfen kritisch lossagte, nämlich der Aspekt der universellen oder allgemeinen Bildung. Indem die Deputation diesen Aspekt in den Vordergrund stellte, überwand sie bei ihrer Konzeption der Schule deren ständische Zersplitterung und die Rücksichtnahme auf spezielle berufliche Ausbildungsinteressen. Wenn nämlich alles in die Schule gehöre, was zur gemeinsamen Bildung derjenigen beitrage, welche sich „bis zur Wissenschaft erheben wollen“, so die Argumentation der Deputation, dann müsse alles ausgeschlossen bleiben, was sich nur auf einen bestimmten Gegenstand beziehe, auf welchen Einzelne in der Folge ihren wissenschaftlichen Geist anwenden wollten. Also müsse die Schule im Hinblick auf die von ihr zu behandelnden Gegenstände „ganz universell“ sein.⁵⁶ Gegen eine „verderbliche Einseitigkeit“ der Schulen hatte sich Schleiermacher in seinen „Gelegentlichen Gedanken über Universitäten“ ausgesprochen.⁵⁷ Die erziehungstheoretische Grundlage für diese Position hatte er in seiner Zöllner-Rezension entfaltet. Denn hier stand für ihn die Auseinandersetzung mit der Frage, inwieweit der Erzieher sich überhaupt herausnehmen dürfe, über die künftige besondere Bestimmung seines Zöglings zu entscheiden, im Zentrum seiner Kritik an Zöllner, der sich
Vgl. ebd. Vgl. KGA I/6, besonders S. 30 – 34, S. 38. Wie bereits in Schleiermachers Votum zum Deutschunterricht angelegt, ging der Lehrplan davon aus, dass die Grenze zur Universität dadurch gegeben sei, dass dieser die Philosophie vorbehalten blieb. Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII neu, Sekt. 1 A Teil II, Nr. 14, Bd.1, Bl. 40v. Vgl. KGA I/6, S. 32.
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dieses Problems nicht gestellt habe. Vor diesem Hintergrund forderte Schleiermacher beispielsweise die Schließung der Garnisonsschulen, weil diese einzig auf den Stand des Militärs vorbereiteten.⁵⁸ Die Deputation kam in ihrem Lehrplan zu dem Schluss: „Aus den gelehrten Schulen muß alles entfernt werden,was ihnen den Anschein geben könnte Specialschulen für einen oder den andern einzelnen Stand zu seyn.“⁵⁹ Dieser Grundsatz hatte Auswirkungen auf die Gliederung der Schulen sowie auf deren „Wahl der Lehrobjecte“, wie es Schleiermacher in seiner „Redaction des Lehrplans“ formulierte.⁶⁰ Die Deputation unterbreitete in ihrem allgemeinen Teil des Lehrplans die Idee eines organischen Schulaufbaus. Analog zu der mit den drei Bildungsstufen innerhalb des Gymnasiums entworfenen curricularen Struktur war daran gedacht, die höheren Elementar- und Stadtschulen als parallele Einrichtungen dergestalt zu etablieren, dass Übergänge von den Elementarschulen in die untere und von den Stadtschulen in die mittlere gymnasiale Bildungsstufe möglich wären. Dieses „Ineinandersein“ der höheren Elementarschule, der höheren Stadtschule und der eigentlichen gelehrten Schule wurde mit Hilfe eines lehrplantheoretischen Begriffspaars in Schleiermacherscher Terminologie entwickelt: mit dem „Empfangen und Hervorbringen“⁶¹. So hieß es im Lehrplanentwurf, dass jede Bildungsstufe zwar einerseits eine relativ eigenständige sei, andererseits aber auch Teil eines Ganzen. Die Unterscheidung einer jeden Stufe in zwei Klassen wurde aus dem Fortgang von der rezeptiven zur spontanen Tätigkeit abgeleitet. In der unteren Klasse solle jedes Mal das Empfangen, in der oberen das Hervorbringen überwiegen. Damit folgte der Lehrplan nicht den Vorschlägen Bernhardis, der sich darauf beschränkt hatte, die untere Klasse jeder Stufe als die vorbereitende für die nächst höhere zu bezeichnen.⁶² Im Hinblick auf die Klasseneinteilung enthält der Lehrplanentwurf eine der wenigen Passagen der schriftlich dokumentierten Beratungen der Deputation: Diese sei übereingekommen, dass die gelehrte Schule in der Regel sechs Klassen umfasse (zwei Vgl. Rezension von Johann Friedrich Zöllner: Ideen über Nationalerziehung, KGA I/5, S. 14 und S. 9. Vgl. auch Schleiermachers Pädagogik-Vorlesung 1813/14 (SW III/9, S. 628 f.): „Die lezte Ansicht, daß Schulen bloß Unterrichtsanstalten (Kenntnißfabriken) wären, Supplement auf der einen Seite, Vorbereitung möglichst bestimmt für den persönlichen Kreis auf der anderen, hat lange geherrscht und den Verfall der Schulen bewirkt.“ GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII neu, Sekt. 1 A Teil II, Nr. 14, Bd.1, Bl. 40v–41r. Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 111r. Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII neu, Sekt. 1 A Teil II, Nr. 14, Bd.1, Bl. 42r. Vgl. Schleiermachers 41. Aphorismus zur Pädagogik (SW III/9, S. 680): „Der allgemeine Theil kann von keinem anderen Schema ausgehen als von der Bildung der Receptivität und Spontaneität […].“ Vgl. Pädagogik-Vorlesung 1813/14 (SW III/9, S. 589, 615, 642– 647). Schon in seinen Reden „Über die Religion“ sind Rezeptivität und Spontaneität die beiden Pole, zwischen denen Schleiermacher das geistige Leben ausbreitete. In diesem Spannungsverhältnis gründen sowohl sein Religionsverständnis als auch seine Überlegungen zu Bildung. Vgl. Über die Religion, KGA I/2, besonders S. 191. Vgl. A. F. Bernhardi: Ueber Zahl, Bedeutung und Verhältniß der Lehrobjecte eines Gymnasiums. Programm von 1809. In: Ders.: Ansichten über die Organisation der gelehrten Schulen. Jena 1818, S. 1– 53, besonders S. 25 f.
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Klassen in jeder der drei Bildungsstufen).⁶³ Die Anzahl der Klassen war nicht identisch mit der Anzahl der Schuljahre. Für einen vollständigen Gymnasialkursus waren zehn Jahre vorgesehen – vom achten bis zum achtzehnten Lebensjahr des Schülers.⁶⁴ Der untersten Stufe sollten zwei, der nächst höheren drei und der höchsten fünf Jahre zugewiesen werden. Dabei habe sich die Deputation mit der entscheidenden Frage auseinandergesetzt, ob „jeder Schüler in jedem Lehrgegenstande in einer und derselben Klasse sitzen muß, oder ob umgekehrt jeder in jeder nach Maasgabe seiner Fortschritte in einer eigenen soll sitzen können“⁶⁵. Die Deputation entschied sich für die Eingruppierung nach Jahrgängen. Zwar sollte es einem Schüler ermöglicht werden, in einem Fach unterschiedliche Leistungsklassen zu besuchen, jedoch immer nur innerhalb einer Bildungsstufe. Erst wenn er in jedem „Lehrobject vollkommen geleistet hat, was auf seiner bisherigen Stufe zu leisten war“, könne er in die nächst höhere Bildungsstufe versetzt werden.⁶⁶ Eine unharmonische Ausbildung und Einseitigkeit durch zu rasches Voraneilen in einem oder mehreren Lieblingsfächern des Schülers hätte dem Zweck der gelehrten Schule widersprochen, allgemeine Bildung vermitteln zu wollen. Die Deputation vertrat hier die Auffassung, dass eine gewisse Gleichmäßigkeit und Harmonie der individuellen Entwicklung erst das Resultat einer bestimmten vorgegebenen Rahmung des pädagogischen Prozesses sei, in der die Jahrgangsgruppe als soziale Gemeinschaft eine wesentliche Rolle spielte. Wollte die Wissenschaftliche Deputation der Idee der allgemeinen Menschenbildung mit ihrem Curriculum Ausdruck verleihen, so musste sie diese mit bestimmten organisatorischen Maßnahmen auch und gerade für die Mehrzahl derjenigen Schüler in der Schullaufbahn verankern, die das Gymnasium nicht bis zum Abitur besuchen, sondern früher abgehen würden. Im Unterschied zum aufklärerischen Fachklassensystem war es nach dem Modell der drei Bildungsstufen nicht möglich, in einzelnen Fächern verschiedenen Bildungsstufen anzugehören, bzw. sich partiell in die nächsthöhere Bildungsstufe versetzen zu lassen, obwohl Differenzierung innerhalb der Stufen möglich und erwünscht war. Mit diesem Strukturmodell war eine nachhaltig wirksame organisatorische Form für die Durchsetzung der Allgemeinbildung gegeben. Da die Deputation zudem nicht mehr gestattete, dass Schüler von einzelnen Unterrichtsfächern (wie z. B. vormals vom Griechischunterricht) befreit werden konnten, trug sie wesentlich dazu bei, dass alle Schüler der gelehrten Schule, ob nun Frühabgänger oder später Studierende, ein und denselben Fächerkanon in zumindest
Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII neu, Sekt. 1 A Teil II, Nr. 14, Bd.1, Bl. 42v. Vgl. die Veränderung im zweiten Lehrplanentwurf vom 26. 5.1811: „Der Schüler wird als mit dem 9. Jahr eintretend 10 Jahre die Schule besuchend und also mit dem 19. Lebensjahre die Universität beziehend gedacht.“ GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 123r; und Horstmann, Wilhelm: August Ferdinand Bernhardi (1769 – 1820) als Pädagoge. Ein Beitrag zur Pädagogik der Reformzeit. Leipzig 1926, S. 149. GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII neu, Sekt. 1 A Teil II, Nr. 14, Bd.1, Bl. 42v. Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII neu, Sekt. 1 A Teil II, Nr. 14, Bd.1, Bl. 43r.
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schon teilweise ein und demselben sozialen Verband, nämlich der Bildungsstufe als Vorform der Jahrgangsklasse absolvierten. Mit diesen Überlegungen zur Pädagogisierung des Lernprozesses und zur curricularen Strukturierung der Schullaufbahn beschrieb die Deputation eine andere Auffassung von der Rolle des schulischen Bildungsprozesses für die Entwicklung der Individualität des einzelnen Zöglings als Wilhelm von Humboldt und Johann Wilhelm Süvern diese seitens der Sektion in ihren Empfehlungen zur Lehrplanarbeit vertreten hatten.⁶⁷ Der Deputation zufolge war eine streng gebotene „ganz gleichmäßige Thätigkeit“ an möglichst vielfältigen Gegenständen Voraussetzung zur Entfaltung von Individualität.⁶⁸ Die Totalität der geistigen Kräfte sollte in Bezug auf die einzelnen Gegenstände entwickelt werden. Der Vervielfältigung des Wissens und seiner Einheitlichkeit sei in Unterricht und Fächerkanon Rechnung zu tragen. Zu dieser Auffassung bedurfte es eines Wissensbegriffs, den die Berliner Deputation vor allem mithilfe ihrer Konzeption des Religionsunterrichts untereinander geklärt hatte, der nämlich Kenntnisvermittlung und Entwicklung der geistigen Kräfte nicht als Widerspruch betrachtete. Keine Stufe, auf der sich der Heranwachsende befindet, dürfe nur als Übergang zur folgenden, nur als Mittel für die spätere Ausbildung betrachtet werden.⁶⁹ Die Ausführungen im Lehrplanentwurf erinnern an dieser Stelle an Schleiermachers Ablehnung der Aufopferung eines Moments für die Zukunft.⁷⁰ Die Entwicklung des
Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 3r–4r. Im Gegensatz zu Schleiermacher und Bernhardi, die sich für eine Modifikation des curricularen Systems der Schulen in Richtung auf ein Jahrgangsklassensystem einsetzten, plädierte Humboldt eher für ein Fachklassensystem. Damit stimmte Humboldt in diesem Punkt mit den Pädagogen der Spätaufklärung überein, die den besonderen institutionellen Kontext der Schule in ihrer eigenständigen Bedeutung für den Lernprozess vernachlässigten.Vgl.W. v. Humboldt: Der Königsberger und der Litauische Schulplan. In: Ders.: Werke in fünf Bänden. Hrsg. von Andreas Flitner und Klaus Giel. Bd. IV, Schriften zur Politik und zum Bildungswesen. Darmstadt 1964, S. 168 – 195, hier S. 174 f. Darin sprach sich Humboldt dafür aus, „dass die Klassenabtheilung nicht durchweg, sondern nach den Hauptzweigen der Erkenntnis gehe, und die Lehrer erlauben und begünstigen, dass der Schüler, wie ihn seine Individualität treibt, sich des einen hauptsächlich, des anderen minder befleissige, wofern er nur keinen ganz vernachlässigt. Eine Verschiedenheit der intellectuellen Richtung auf Sprachstudium, Mathematik und Erfahrungskenntnisse ist einmal unläugbar vorhanden, und es wäre ebenso wunderbar nur Eine begünstigen, als, sie in verschiedene Anstalten verweisend, sie noch mehr spalten zu wollen. Bloss die letztere muss man nie dulden, ohne sie fest an eine der andern zu knüpfen, da sie sonst nach und nach auch die Möglichkeit wahrer Wissenschaft in einem Kopfe zerstört.“ Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII neu, Sekt. 1 A Teil II, Nr. 14, Bd.1, Bl. 40r. Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII neu, Sekt. 1 A Teil II, Nr. 14, Bd.1, Bl. 41v. Vgl. die neunte Stunde in der Pädagogik-Vorlesung 1813/14 (SW III/9, S. 598): „Wenn das Ziel der Erziehung ist, den Menschen für Staat, Kirche etc. abzuliefern, in ihm aber von Anfang an kein Bewußtsein hievon einwohnt: so behandelt man jeden Moment nur als Mittel für einen künftigen. Darf man einen Moment einem andern aufopfern? Offenbar nein; […]. Sondern was Vorbereitung ist, muß zugleich auch unmittelbare Befriedigung sein.“ Vgl. schon Schleiermachers Predigt von 1795 über Mt 6, 34, in der er der Frage nachging: „Haben wir denn Recht […] wenn wir Alles, was wir in den frühern Jahren des Lebens thun und treiben, Alles, wozu wir junge Gemüther, die unserer Leitung anvertraut
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Zöglings könne unmöglich gedeihen, wenn man nicht darauf achte, dass dieser „eine gewiße Stufe des Daseyns genieße, und sich ihrer mit Bewußtsein erfreue, sondern ihn immer nur auf eine Zukunft, die ihm dunkel ist, und deren Zusammenhang mit der Gegenwart er nicht fassen kann, verweiset“⁷¹. Jede einzelne Stufe der gelehrten Schule habe ihre eigene Daseinsberechtigung und ihren eigenen Wert und bilde zugleich mit den anderen Stufen zusammengenommen eine Einheit, insofern die gelehrte Schule das Ineinandersein der höheren Elementarschule, der höheren Stadtschule und der eigentlichen gelehrten Schule verkörpere. Der Zögling müsse aus einer jeden Stufe in ein „ausübendes Leben“ übergehen können.⁷² Die Wissenschaftliche Deputation legte demnach einerseits Wert auf die Förderung der Kenntnisse und geistigen Kräfte des Einzelnen, d. h. auf die individuelle Seite der Erziehung, und zugleich auf das Hineinbilden in das Gesamtleben, also auf die universelle Seite der Erziehung. Dies sind die beiden Gesichtspunkte, zwischen denen Schleiermacher seine Theorie der Erziehung aufspannt.⁷³ Neben dem lehrplantheoretischen Begriffspaar „Empfangen und Hervorbringen“ ist somit ein zweites Begriffspaar festzuhalten: individuell und universell. In seinen Aphorismen zur Pädagogik (wir nennen sie in unserem KGA-Band „Gedanken“ zur Pädagogik), die er den Vorlesungen von 1813/14 zu Grunde legte, griff Schleiermacher im 4. „Gedanken“ diese beiden Begriffspaare auf: „In die allgemeine Pädagogik auch die allgemeinen Principien über das Ineinandersein des universellen und individuellen, und des receptiven und spontanen.“⁷⁴ Die Verhältnisbestimmung, die Schleiermacher hier für seine Begriffe vornahm: das Kreuzen von zwei Gegensatzpaaren,⁷⁵
sind veranlaßen, nur als eine Vorbereitung auf dasjenige ansehn, was in spätern Jahren gefordert werden wird? So wird in der That Alles, was wir Erziehung und Bildung nennen, von den meisten Menschen behandelt.“ Schleiermacher empfahl hingegen: „Wenn wir bei Kindern weniger daran denken, daß sie Knaben und Jünglinge werden, als daß sie Kinder sein sollen; wenn wir nur dasjenige für sie und in ihnen hervorzubringen suchen, was ihr kindisches Leben glücklich und in seiner Art vollkommen machen kann; wenn wir so mit unserer hülfreichen Liebe die allmählige Entwikelung der menschlichen Natur mehr begleiten als beschleunigen: so wird jede Erkenntniß, die wir ihnen mittheilen, jede Anleitung zur Weisheit, die wir ihnen geben können, die beste Stelle finden, und es wird auch für die zukünftige Zeit ohne Sorge am besten gesorgt sein.“ KGA III/1, S. 145 – 146. GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII neu, Sekt. 1 A Teil II, Nr. 14, Bd.1, Bl. 41v. Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII neu, Sekt. 1 A Teil II, Nr. 14, Bd.1, Bl. 42r. Vgl. besonders die sechste Stunde der Pädagogik-Vorlesung 1813/14 (SW III/9, S. 593): „Es sind also dieses zwei verschiedene Gesichtspunkte der Erziehung, das Ausbilden der Natur, und das Hineinbilden in das sittliche Leben.“ Vgl. auch die Ausführungen zur Rolle der Wissenschaft (unter ausdrücklicher Einbeziehung der Schulen) in den Gelegentlichen Gedanken über Universitäten, KGA I/6, S. 31: „Die Wissenschaft, wie sie in der Gesammtheit der gebildeten Völker als ihr gemeinschaftliches Werk und Besizthum vorhanden ist, soll den Einzelnen zur Erkenntniß hinanbilden, und der Einzelne soll auch wiederum an seinem Theil die Wissenschaft weiter bilden. Dies sind die beiden Verrichtungen auf welche alles gemeinschaftliche Thun auf diesem Gebiet hinausläuft.“ SW III/9, S. Dieses Verfahren führte Schleiermacher paradigmatisch bezüglich der Einteilungsschemata seiner philosophischen Ethik durch.Vgl. zur Quadruplizität: Albrecht, Christian: Schleiermachers Theorie der
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zeigt sich auch in der Konzeption der gelehrten Schule im Lehrplan der Wissenschaftlichen Deputation mit genau denselben Begriffen. Aus der Idee der gelehrten Schule und dem Ziel, welches sie sich gibt, ergebe sich, so Schleiermacher, die „Wahl der Lehrobjecte“.⁷⁶ Diesbezüglich hielt die Deputation – im Gegensatz zur Einteilung in Universal- und Nationalbildung bei Bernhardi⁷⁷ – an der alten Gliederung der Fächer in Sprachen und Wissenschaften fest. Allerdings erforderte das Interesse der Deputation an einer allgemeinen Bildung, dass den Wissenschaften mehr Raum als bisher gegeben werde. So wie die Schule zur Vorbereitung auf die Universität schon einen Vorbegriff von der Einheit allen Wissens in der Philosophie zu geben habe, ebenso müssten in der Schule die beiden Seiten aller Erkenntnis – das geschichtliche und das naturwissenschaftliche Wissen – ihren Platz haben.⁷⁸ Diese Position weist ein große gedankliche Nähe zu Schleiermachers Betrachtung von der vollständigen Einheit des endlichen Seins als ein Ineinander von Vernunft und Natur auf.⁷⁹ Mit ihrem Lehrplan von 1810 legte die Deputation fest, dass erstmals ein mathematischer und naturwissenschaftlicher Unterricht verpflichtend wurde. Ebenso erhielten der Geschichts- und Geographieunterricht, der Unterricht in einer modernen Fremdsprache und der Deutschunterricht erstmalig gesicherte Positionen im Curriculum. Griechisch wurde im Pflichtkanon des Gymnasiums verankert, die Stundenzahl des Lateinunterrichts wurde jedoch reduziert. Ein Religionsunterricht nach Maßgabe von Schleiermachers „Allgemeinem Entwurf“ gehörte genau wie der Mathematikunterricht zur „wissenschaftlichen Bildung“ in der neuen gelehrten Schule dazu. In seinem Schlussteil enthält der erste Lehrplanentwurf der Berliner Wissenschaftlichen Deputation eine Fülle bedeutsamer Gesichtspunkte für die Entwicklung der wissenschaftlichen Pädagogik (z. B. die Darlegungen über Disziplin und Strafe), deren Analyse – auch im Bezug zu Schleiermachers Denken – noch aussteht. Diese von Schleiermacher als „nothwendige Erläuterungen“⁸⁰ zum Lehrplanschema bezeichneten Anmerkungen geben Einblick in die Bemühungen, die gelehrte Schule als öf-
Frömmigkeit. Ihr wissenschaftlicher Ort und ihr systematischer Gehalt in den Reden, in der Glaubenslehre und in der Dialektik. Berlin/New York 1994, S. 49. Zur Denkfigur der Ellipse, die bei Schleiermacher seit seinen frühen Spinozastudien bekannt ist und die er z. B. für seine „Monologen“ geltend macht (u. a. in seinem Brief an C. G. v. Brinckmann am 19.4.1800, KGA V/3, S. 484), vgl. Reble, Albert: Schleiermachers Denkstruktur. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 17 (1936), S. 254– 272. Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 111r. Vgl. A. F. Bernhardi: Ueber Zahl, Bedeutung und Verhältniß der Lehrobjecte eines Gymnasiums. Programm von 1809. A.a.O. Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII neu, Sekt. 1 A Teil II, Nr. 14, Bd.1, Bl. 43v. Vgl. Gelegentliche Gedanken über Universitäten, KGA I/6, S. 46 f. und Entwurf eines Systems der Sittenlehre, bes. § 54–§ 109. Dilthey ging in diesem Zusammenhang von einem deutlichen Einfluss Schleiermachers auf den Lehrplan aus; vgl. Dilthey, Wilhelm: Süvern. In: Allgemeine Deutsche Biografie. Bd. 37. Leipzig 1894, S. 243. GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 111r.
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fentliche Schule zu begründen (z. B. in den Passagen über das Verhältnis der Eltern zur Schule und über die Rolle der Schule in der Öffentlichkeit⁸¹). In dieser Schule sollte pädagogisch verantwortliches Handeln geschehen, das sich zeigen lassen konnte und wollte: bei Schulfeiern, öffentlichen Prüfungen und ausdrücklich erwünschten Hospitationen des „Publico“ im Unterricht. Die neue gelehrte Schule legte Wert auf Transparenz und entwickelte sich im Dialog mit allen, die ihr Leben begleiteten. Dazu gehörte auch das Gespräch zwischen den einzelnen Schulen und den verantwortlichen Gremien des preußischen Staates, welches die Wissenschaftliche Deputation nachdrücklich zu fördern beabsichtigte. So verstand diese Deputation ihren ersten Lehrplanentwurf ganz im Sinne Schleiermachers als Vorschlag, „wie zur schnelleren Beförderung des Guten eine lebendige Gemeinschaft aller pädagogischen Einsichten unter uns könnte gestiftet werden“.⁸² Mit den amtlichen Voten zum öffentlichen Unterricht, die den Band der Kritischen Gesamtausgabe mit Schleiermachers Pädagogik-Vorlesungen (KGA II/12) eröffnen, lässt sich nun die Entwicklung von Schleiermachers Theorie der Erziehung chronologisch und vor allem systematisch nachvollziehen. Im Übrigen sind diese Voten die einzigen Texte in dem KGA-Band zur Pädagogik, die auf der Grundlage von Handschriften ediert werden konnten.
In seiner Theorie der Erziehung bezieht Schleiermacher Öffentlichkeit und Bildung systematisch aufeinander. Vgl. Brüggen, Friedhelm: Öffentlichkeit. In: Historisches Wörterbuch der Pädagogik. Hrsg. von Dietrich Benner und Jürgen Oelkers. Weinheim 2004, S. 724– 749, besonders S. 745 f. GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII neu, Sekt. 1 A Teil II, Nr. 14, Bd.1, Bl. 97v–98r. Vgl. Schleiermachers Darstellung des höchsten Gutes in seiner philosophischen Ethik, z. B. im Brouillon zur Ethik (1805/06). Vgl. Gelegentliche Gedanken über Universitäten, KGA I/6, z. B. S. 21, S. 26, 1. Aphorismus zur Pädagogik (SW III/9, S. 675), Pädagogik-Vorlesung 1813/14 (SW III/9, S. 595 – 600, S. 625) und die Akademievorträge „Über den Begriff des höchsten Gutes“, KGA I/11, S. 535 – 553 und S. 657– 677.
Constantin Plaul / Halle (Saale)
Die Performanz der Spannung des bewussten Lebens Zum Wechselverhältnis der individuellen Darstellung von Selbst und Universum beim frühen Schleiermacher
Einleitung Konkretes Menschsein vermag sich für Schleiermacher nicht anders denn in individueller Form zu vollziehen. Die naturale Grundlage dessen bildet die leibliche Gestalt eines jeden Einzelnen, die unbeschadet ihrer gattungsallgemeinen Strukturverfasstheit niemals völlig identisch sein kann, sondern nur in besonderer Brechung existiert. Damit ist freilich nur eine ganz basale Voraussetzung dessen benannt, worin menschliche Individualität zum Ausdruck kommt. Denn mindestens ebenso sehr, wie die jeweilige Eigentümlichkeit als Faktum der Natur erscheint, stellt sie einen sich entwickelnden Sachverhalt dar, der aus dem komplexen Zusammenspiel externer Gegebenheiten des Subjekts und deren interner Verarbeitung durch dasselbe resultiert. Personale Individualität liegt darum niemals einfach bloß vor, sondern bildet sich im Zuge subjektiv vollzogener Erfahrung, Bewertung und Gestaltung des eigenen Lebens immer erst heraus. Darüber hinaus ist der Tatbestand Individualität für Schleiermacher bekanntlich nicht nur auf personaler Ebene angesiedelt, sondern begegnet – entsprechend der konstitutiven Intersubjektivitätsbeziehung des Menschen – auch in kollektiven Gebilden von Gesellschaft und Kultur. In Schleiermachers Deskription des bewussten Lebens findet sich nun aber auch ein weiteres Moment, das dessen Tendenz- auf Individualität geradezu entgegengesetzt ist. Ich meine damit nicht so sehr den unhintergehbaren Bezug auf Allgemeinheit alles humanen Handelns,wie er ihn in seiner Philosophischen Ethik entfaltet hat. Ich denke vielmehr an die tiefgreifende Relativierung der Individualität, wie sie sich für ihn mit dem religiösen Bewusstsein verbindet. Die Einsicht in diese Relativierung hat dabei bereits der junge Schleiermacher zur Geltung gebracht. Zugespitzt stehen für diese Spannung die unterschiedlichen Bewusstseinsarten, zu deren Ausbildung er seine Leser einmal in den Reden und einmal in den Monologen aufruft.Vor diesem Hintergrund möchte ich mir im Folgenden die Frage vorlegen, wie sich beide Seiten in Schleiermachers Konzeption zueinander verhalten, wobei ich keinen Werküberblick bieten, sondern mich auf seine frühe Phase konzentrieren werde. Meine Ausführungen gliedern sich in zwei Hauptabschnitte, von denen der erste jenem Gegensatz selbst gewidmet ist, während im zweiten Abschnitt eine Antwort auf jene Frage gegeben werden soll.
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1. Der Gegensatz von Religion und Individualitätsethik In seiner äußersten Zuspitzung tritt der eben berührte Gegensatz zutage, wenn man zwei Grundforderungen einander gegenüberstellt, mit denen Schleiermacher einmal in den Reden und einmal in den Monologen an seine Leser herantritt. So kann er in letztgenannter Schrift einen wesentlichen Lebenszweck des Menschen dahingehend bestimmen, dass ein jeder ein „volle[s] Bewusstsein seiner Eigentümlichkeit“¹ entfalten solle, während er in den Reden von seinen Zuhörern geradezu verlangt, sie sollten in religiöser Perspektive danach streben, „schon hier Eure Individualität zu vernichten“.² Das, was Schleiermacher meint, wenn er von ‚Vernichtung der eigenen Individualität‘ im Vollzug des religiösen Anschauens spricht, stellt einen Unterfall dieser Anschauungsart dar. Von daher bietet es sich an, sich jenem Vernichtungstheorem über eine Betrachtung der Struktur religiöser Anschauung anzunähern. Schleiermacher hat diese bekanntlich auf die Formel gebracht: „alles Einzelne als einen Teil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen hin[zu]nehmen“.³ Religiöses Bewusstsein ist folglich dadurch charakterisiert, dass in ihm einzelne Tatbestände nicht nur in ihrer Vereinzelung gewahrt, sondern als in einen göttlichen Gesamtzusammenhang eingeordnet begriffen werden. Solche Einordnung erfolgt für Schleiermacher dadurch, dass die endlichen „Begebenheiten in der Welt“ in „Beziehung auf ein unendliches Ganzes“⁴ gebracht werden, wodurch allererst „der Trieb anzuschauen […] aufs Unendliche gerichtet“⁵ wird. Dabei kann nicht etwa „die Natur und Substanz d[ieses] Ganzen“⁶ – „vor der Welt und außer der Welt“⁷ – in den Blick genommen werden, sondern das fragliche Ganze gelangt nur dadurch zur Präsenz, dass es im Ausgang vom Endlich-Singularen als dessen unendliche Tiefendimension vorgestellt wird.⁸ Anders gesagt: Das Unendliche bzw. das Universum stellt einen Fluchtpunkt dar, auf den hin ein Einzelnes bezogen werden kann, so dass es nicht mehr bloß als ein solches fungiert, sondern zugleich zur besonderen Erscheinungsweise eines unbegrenzten Wechselwirkungsgefüges avanciert. Die religiöse An-
F. D. E. Schleiermacher: Monologen, in: Kritische Gesamtausgabe [=KGA], Abt. I, Bd. 3, Berlin/New York, 1982 ff [=M], 41 Die entsprechenden Seitenangaben erfolgen nach der Originalpaginierung. F. D. E. Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, in: KGA I.2 [=R], 132. Auch hier erfolgen die entsprechenden Seitenangaben nach der Originalpaginierung. R 56. Ebd. R 65. R 56. R 57. „Alle Begebenheiten in der Welt als Handlungen eines Gottes vorstellen, das ist Religion“ (R 57).
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schauung konstituiert und vollzieht sich also, indem sie zwischen Endlichem und Unendlichem schwebt und dadurch beides wechselseitig auseinander erhellt. Schleiermacher stellt nun drei „verschiedene Richtungen des Sinnes“ in Rechnung, in denen sich das religiöse Bewusstsein entfalten kann: „die eine nach innen zu auf das Ich selbst, die andre nach außen auf das Unbestimmte der Weltanschauung, und eine dritte die beides verbindet“.⁹ Für die uns interessierende Problemstellung ist die erste Richtung entscheidend, in der die eben geschilderte Struktur der religiösen Anschauung durch den Anschauenden auf sich selbst angewendet wird. Genau in diesem Zusammenhang kommt es nach Schleiermacher nämlich zu jener Form der Selbstnegation, von der oben die Rede gewesen ist. Denn die religiös motivierte Einordnung des eigenen Selbst in das unendliche Ganze des Universums geht mit einer umfassenden Selbstrelativierung einher. Insofern nun nämlich nicht mehr nur irgendein beliebiger Tatbestand oder Sachverhalt der Außenwelt ‚als Handlung eines Gottes‘ bzw. des Universums angesehen wird, sondern der Anschauende sich selbst als eine solche Handlung zu begreifen sucht, zielt die Anschauung notwendig darauf, alle Momente von Selbstheit und Spontaneität zu negieren, zugunsten der Auffassung des eigenen Ichs als Element des unendlichen Lebens des Kosmos. In denselben systematischen Zusammenhang gehört nun auch die bereits teilweise zitierte Aufforderung Schleiermachers: „Strebt danach schon hier Eure Individualität zu vernichten, und im Einen und Allen zu leben“ bis „Ihr so mit dem Universum […] zusammengeflossen seid“.¹⁰ In der dritten Rede hat er dann geradezu eine Konstruktionsanweisung für diese Form der religiösen Selbstanschauung gegeben, indem er seinen Lesern gleichsam zuruft: „Schaut Euch selbst an mit unverwandter Anstrengung, sondert alles ab, was nicht Euer Ich ist, fahrt so immer fort mit immer geschärfterem Sinn, und je mehr Ihr Euch selbst verschwindet, desto klarer wird das Universum vor Euch dastehen, desto herrlicher werdet Ihr belohnt werden für den Schreck der Selbstvernichtung durch das Gefühl des Unendlichen in Euch“.¹¹ Im Zusammenhang von Selbstanschauung ist also dann und nur dann von Religion zu sprechen, wenn der Einzelne sich selbst in der Weise transzendiert, dass er von seiner individuellen Eigenheit absieht, indem er sich als Produkt eines überpersönlichen Wirklichkeitszusammenhanges versteht. Schleiermachers Selbstvernichtungstheorem zielt demnach nicht etwa auf ein Bewusstsein vom Grund der eigenen Freiheit des Menschen, sondern nimmt seinen Ausgang von solchen Passivitätserfahrungen des Menschen, in denen dieser sich des eigenen Daseins als Ausdruck überindividueller Strukturen bewusst wird. ,,[D]ie Religion atmet da, wo die Freiheit selbst schon wieder Natur geworden ist, jenseit des Spiels seiner besondern Kräfte und seiner Personalität faßt sie den Menschen, und sieht ihn aus dem Gesichtspunkte, wo er das sein muß was er ist, er wolle oder wolle nicht.“¹² R 165. R 132. R 166. R 51 f.
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Neben der eben beschriebenen Tendenz, in der Religion sein eigenes Selbst zu vernichten, kennt Schleiermacher nun aber, wie bereits erwähnt, auch eine andere, die jener diametral entgegenläuft. Ihren Fluchtpunkt hat sie nicht in der vorstellungsmäßigen Selbstauslöschung, sondern stattdessen gerade in der Ausbildung eines eigenen Individualitätsbewusstseins.¹³ Demnach vermag der Einzelne sich nur dort wirklich selbst gerecht zu werden, wo er für sich und andere eine deutliche Anschauung seiner Eigentümlichkeit entwickelt. Angesichts dessen kann Schleiermacher dem Menschen dann geradezu die Lebensaufgabe zuweisen, in allem „gegenwärtigen Handeln sich seiner Eigenheit bewusst“¹⁴ zu sein bzw. – wie bereits zitiert – ein ,volles Bewusstsein seiner Eigentümlichkeit‘ zu entwickeln. Dies geht notwendig damit einher, „das eigene Wesen zu bestimmen“¹⁵ bzw. „sich zu einem bestimmten Wesen“¹⁶ zu bilden. Dabei hat solche „Bestimmung“¹⁷ sowohl eine positive als auch eine negative Seite. Positiv steht sie für den Aufbau einer individuellen Gestalt, kraft Ausbildung, Aneignung und Kultivierung spezifischer Eigenschaften und Eigenschaftskomplexionen. Negativ bedeutet sie den Ausschluss anderer Möglichkeiten des Selbstseins, die von innen und außen prinzipiell ebenso offen stünden. Die eigene Individualitätsbildung geht folglich immer auch einher mit der Ausklammerung anderer Entwürfe dessen, wer oder was man noch sein könnte. So führt die Entwicklung der Eigentümlichkeit des eigenen Selbst notwendig dazu, diesem eine „Beschränkung“¹⁸ zuteilwerden zu lassen. Denn als Individuum vermag man nicht alles zugleich zu sein. Weder kann man jede Anlage gleich entfalten noch kann man alle äußerlich gegebenen Bildungschancen gleichermaßen produktiv aufnehmen und weiter entwickeln. Damit ist der Gegensatz, durch den Schleiermacher das bewusste Leben gekennzeichnet sieht, hinreichend beschrieben: In individualethischer Einstellung strebt der Mensch danach, seine Persönlichkeit zu entwickeln und zu einer eigentümlichen Daseinsgestalt fortzubilden, die dann als Gegenstand nicht nur fremder, sondern auch eigener Anschauung fungieren kann. Die Bildung individueller Selbstheit erfolgt dabei vermöge des freiheitlichen Handelns des Einzelnen, durch das dieser sich selbst eine bestimmte und damit zugleich endliche Gestalt zu geben sucht. Mit Schleiermachers Worten geht es um die Setzung des „Endlichen, wozu seine [sc.
Den Sachverhalt, dass der Schleiermacher der Monologen in der Entwicklung eines solchen Bewusstseins geradezu die ethische Grundaufgabe des Menschen erblicken kann, hat Hans-Joachim Birkner in der Formel einer „Ethik der Individualität“ zusammengefasst, vgl. H.-J. Birkner: Einleitung, in: Ders. (Hg.): F. D. E. Schleiermacher: Brouillon zur Ethik (1805/06), Hamburg 1981, VII-XXVIII; hier VII. M 50. M 47. M 50. M 45. 53. M 45. 103.
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des Menschen] Willkür ihn hintreibt“.¹⁹ Im religiösen Bewusstsein vollzieht der Einzelne nun genau die Gegenrichtung, indem er „dem Endlichen […] ein Unendliches, dem zusammenziehenden Streben nach etwas Bestimmtem und Vollendetem das erweiternde Schweben im Unbestimmten und Unerschöpflichen“²⁰ entgegensetzt. Man könnte in diesem Zusammenhang auch von einer Abstiegs- und einer Aufstiegsbewegung sprechen: In der Entwicklung einer individuellen Daseinsgestalt und dem entsprechendem Selbstbewusstsein geht das Subjekt hinab auf ein einzelnes Endliches zu dem er sich selbst bestimmt hat; in der Einnahme der religiösen Perspektive auf sich selbst hebt es diese Begrenzung in der Anschauung gerade auf, indem er sich selbst – entsprechend der Struktur religiöser Anschauung – nicht mehr bloß als Einzelnes, sondern als Teil eines unendlichen Ganzen begreift, das in ihm auf eine endliche Weise zum Ausdruck gelangt.²¹
2. Die grenzdialektische Vermittlung des Gegensatzes Bewusstes Leben vollzieht sich Schleiermacher zufolge also in einer Grundspannung von Selbstvernichtung und Selbstaffirmation. Meine These ist nun, dass er diesen Gegensatz nicht im Sinne eines einfachen Gegensatzes konzipiert, sondern ihn grenzdialektisch vermittelt, d. h. beide Seiten verweisen jeweils wechselseitig aufeinander und bleiben selbst in ihrer stärksten Ausbildung auf die jeweils andere bezogen. Eine umfängliche Plausibilisierung dieser These müsste freilich nach beiden Richtungen hin durchgeführt werden. So müsste einerseits gezeigt werden, inwiefern das Streben nach Vernichten der eigenen Individualität diese niemals restlos durchzustreichen vermag – und zwar schon deshalb, weil letztere für den Vollzug jenes Strebens immer schon in Anspruch genommen ist. Andererseits wäre umgekehrt aufzuweisen, inwiefern auch die Ausbildung von Individualitätsbewusstsein nicht ohne religiöse Bezüge auskommen kann. Während Schleiermacher den erstgenannten Aspekt weithin im Impliziten belässt, hat er im Blick auf den zweitgenannten vergleichsweise umfangreiche Überlegungen angestellt. Angesichts dessen – sowie aus Platzgründen – möchte ich mich im Folgenden darauf konzentrieren, jenes Wechselverhältnis lediglich von dieser Seite aus zu erhellen. Dabei wird zu zeigen sein, dass
R 115.Vgl. auch 112 f: „Auf einen Punkt richtet sie zunächst das Gemüt des Menschen und dieser eine Punkt ist immer etwas endliches“. R 115. Ich orientiere mich dabei partiell an einem Interpretationsvorschlag, den Wilhelm Dilthey in seiner großen Schleiermacher-Biographie gegeben hat: „Und zwar durchmißt, sozusagen, der religiöse Vorgang das Universum vom Endlichen aus in der Richtung auf Anschauung und Gefühl des Unendlichen, der sittliche Vorgang dagegen vom Universum her in der Richtung auf Anschauung und Bildung der menschlichen Individualität“, W. Dilthey: Leben Schleiermachers, Bd. 1, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 13, Göttingen1970, 330.
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Schleiermacher in einer Art apagogischem Verfahren zunächst zwei Typen misslingenden Individualisierungsstrebens vorstellt – die beide dadurch charakterisiert sind, dass sie von der Religion abzusehen versuchen –, um aus deren Misslingen sodann die Notwendigkeit des religiösen Bezugs folgern zu können.
2.a Die beiden Gefährdungen des Individualisierungsprozesses Die Individualitätsbildung sieht sich in Schleiermachers Augen vor allem zwei Beeinträchtigungsmöglichkeiten ausgesetzt, die beide auf unterschiedliche Weise dem eben geschildertem Zug auf Bestimmtheit und Beschränkung korrespondieren. Im einen Fall wird dieser Zug vom Subjekt beherzt ergriffen, dabei aber einseitig ausagiert. Im anderen Fall wird die Forderung nach Selbstbeschränkung umgekehrt gerade als Zumutung erfahren und darum gleichsam liegen gelassen, wodurch die Entwicklung eigener Individualität freilich sistiert zu werden droht. Schleiermacher diskutiert beide Probleme in den Reden. Den erstgenannten Fall schildert er wie folgt: Zunächst weist er darauf hin, dass der Mensch in allem „Handeln und Wirken, sei es sittlich oder philosophisch oder künstlerisch, […] nach Virtuosität streben“²² soll. Und insofern „alle Virtuosität beschränkt“,²³ kann das Streben nach ihr geradezu als Ausdruck der mit aller Individualisierung verbundenen Begrenzungsleistung angesehen werden. So gibt Schleiermacher seinen Lesern denn auch ausdrücklich recht in der ,,große[n] Forderung mit welcher die Bessern unter Euch jetzt hervortreten an die Zeitgenossen und an die Nachwelt. Ihr seid müde das fruchtlose enzyklopädische Herumfahren mit anzusehen, Ihr seid selbst nur auf dem Wege dieser Selbstbeschränkung das geworden, was Ihr seid, und Ihr wißt, daß es keinen andern gibt um sich zu bilden; Ihr dringt also darauf, Jeder solle etwas bestimmtes zu werden versuchen und solle irgend etwas mit Stetigkeit und ganzer Seele betreiben“.²⁴ Die mit solcher Hingabe verbundene Gefahr besteht nun aber darin, dass „alle Virtuosität“ nicht nur beschränkt, sondern für sich genommen auch „kalt, einseitig und hart [macht]“.²⁵ Schleiermacher denkt hierbei offensichtlich an solche Formen der Lebensgestaltung, in denen der Betreffende in seiner Dedikation an einen bestimmten Lebensentwurf anders gearteten Zielen und Projekten seiner Mitmenschen allenfalls noch einen eingeschränkten Wert beizumessen vermag, so dass sich sein Bewusstsein für die Möglichkeiten sinnvoller Lebensführung des Menschen letztlich immer mehr auf die von ihm selbst gewählte Lebensweise einschränkt. Die andere Beeinträchtigung des Individualisierungsprozesses stellt gewissermaßen das Gegenstück dazu dar. Hier vermag sich der Einzelne gerade nicht auf einen bestimmten Aspekt festzulegen, den er in Selbstbeschränkung und Selbstbildung zu
R 112. Ebd. R 164. R 112 f.
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kultivieren trachtet. Denn die Vorstellung jeder Realisierungsmöglichkeit geht hier mit dem Bewusstsein einher, dass letztere in „Rivalität“²⁶ zu anderen Daseinsmöglichkeiten steht, die durch ihre Verwirklichung ausgeschlossen würden. Insofern der Einzelne dieser inneren Konfliktsituation nicht Herr zu werden vermag, kann es schließlich dazu kommen, dass eine tiefergehende Bestimmung des eigenen Selbst zu einer individuellen Gestalt dann gar nicht erst in Angriff genommen wird. Gegenüber der schier unendlichen Fülle innerer und äußerer Möglichkeiten das eigene Leben zu gestalten, vermag der Einzelne kein Zutrauen zu entwickeln, in Selbstbegrenzung Erfüllung finden zu können. Dadurch kommt es allerdings zu einer gewissen Orientierungslosigkeit hinsichtlich dessen, wer man eigentlich ist und wer man sein will: „Wie viele von Euch gehen nur deshalb zugrunde weil sie sich selbst zu groß sind; ein Überfluß an Kraft und Trieb der sie nicht einmal zu einem Werk kommen läßt, weil doch keines ihm angemessen wäre, treibt sie unstet umher und ist ihr Verderben“.²⁷ Schleiermacher vertritt in den Reden nun die Auffassung, dass beide mögliche Beeinträchtigungen des Selbstbildungsprozesses letztlich daraus resultieren, dass der Einzelne versucht, eine Gestalt konkreter Subjektivität auszubilden, die unter Absehung von Religion auszukommen versucht. Diese Auffassung Schleiermachers zeigt sich indirekt daran, dass er der Religion für den Entwicklungsprozess eigener Individualität zwei Funktionen zuweist, die sich unschwer auf die beiden eben geschilderten Verzerrungen oder Gefährdungen beziehen lassen. So heißt es auf der einen Seite, ,,[d]aß sie [sc. die Religion] allein dem Menschen Universalität gibt“.²⁸ Folglich wird man die Ausbildung jener bornierten Selbstheit – durch die sich das Individuum in der Weise auf eine bestimmte Entwicklungsrichtung festlegt, dass ihm das Bewusstsein um den prinzipiellen Wert anderer und damit eben auch fremder Selbstentwürfe verloren zu gehen droht – als Ausdruck des Fehlens von Religion betrachten können. Auf der anderen Seite hebt Schleiermacher hervor, dass erst die Religion „seiner [sc. des Menschen] überflüssigen Kraft einen unendlichen Ausweg [schafft]“.²⁹ Dass der Einzelne sich angesichts des Sachverhalts, dass jede Kultivierung eines möglichen Daseinsaspektes in Konflikt mit anderen Kultivierungsmöglichkeiten gerät, nicht zur emphatischen Ausbildung eines eigentümlichen Daseins aufzuraffen vermag, erscheint in diesem Licht ebenso als Folgeerscheinung eines Desiderats an Religion. Was aber tut die Religion eigentlich, wenn sie den individualethischen Vorgang ergänzt?
R 114. R 113. R 112. R 115.
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2.b Die Funktion der Religion für den Individualisierungsprozess Welche Form das Individualitätsverständnis dadurch gewinnt, dass es durch die Religion begleitet wird, lässt sich einem Teilabschnitt der zweiten Rede entnehmen, in dem Schleiermacher eine religiöse Deutung der Menschheitsvorstellung bietet. Vordergründig hat der systematische Kontext seiner hier angestellten Überlegungen freilich eine andere Stoßrichtung: Denn ihm ist es in diesem Zusammenhang darum zu tun, seine Zuhörer – auf propädeutischem Wege – zur Erkenntnis der Bedeutung von Religion hinzuführen, was er dadurch tut, dass er sie zunächst auf eine Betrachtung der Naturgesetze lenkt, um sie anschließend mithilfe des ihnen als vertraut unterstellten Menschheitsgedankens für die Anschauung des Universums zu sensibilisieren. Indem diese Form der Betrachtung unmittelbare Konsequenzen auch für das Individualitätsverständnis besitzt, ist es aber möglich und sinnvoll, Schleiermachers Ausführungen als Kommentar zu dem uns interessierenden Problem heranzuziehen. Seine Auffassung bezüglich des Verhältnisses von Einzelnem und Menschheit entwickelt er hier vor der Negativfolie einer bestimmten Konzeption dieses Verhältnisses, die von ihm als mangelhaft zurückgewiesen wird. Diese Konzeption setzt nämlich voraus, dass „die Menschen doch, Zeit und Umstände abgerechnet, eigentlich einerlei sind“.³⁰ Humanität wird so gesehen als ein abstraktes Allgemeines begriffen, dem gegenüber der Einzelne lediglich als besonderer ,Fall von‘ diesem Allgemeinen erscheint.Was Einzelne zu unterschiedlichen Individuen macht, wäre demnach nichts anderes als eine aus ihrer bestimmten raum-zeitlichen Position resultierende äußere Modifikation. Die Unangemessenheit dieses Ansatzes zeigt sich Schleiermacher zufolge aber bereits daran, dass sich die Vielfalt möglicher Selbstentwürfe nicht in das Prokrustesbett jener moralischen Anschauungsweise einordnen lassen will – weshalb diejenigen, die sich auf dem Boden dieser Menschheitsanschauung dem Unternehmen einer Bildung der Menschen zu widmen versuchen, ihr Bestreben denn auch regelmäßig zum Scheitern verurteilt finden.³¹ Es ist dieser Zusammenhang, in dem Schleiermacher nun seine religiöse Deutung der Humanität ins Spiel bringt, indem er seine Leser angesichts des offensichtlichen Ungenügens ihres Humanitätsverständnisses dazu auffordert, sich doch „auf den Flügeln der Religion höher zu der unendlichen, ungeteilten Menschheit“ zu erheben und „sie [… ] in jedem Einzelnen“ zu R 92. „Ihr quält Euch an ihr [sc. der Menschheit] zu bessern und zu bilden, jeder auf seine Weise, und am Ende laßt Ihr unmutsvoll liegen was zu keinem Ziel kommen will […] Auf die Menschheit wollt Ihr wirken, und die Menschen die Einzelnen schaut Ihr an. Diese mißfallen Euch höchlich; und unter den tausend Ursachen die das haben kann, ist unstreitig die schönste und welche den Besseren angehört, daß Ihr gar zu moralisch seid nach Eurer Art. Ihr nehmt die Menschen einzeln, und so habt Ihr auch ein Ideal von einem Einzelnen, dem sie aber nicht entsprechen“ (R 90). Die Negativfolie bildet offensichtlich ein aufklärerisches Moralverständnis, wie es etwa in Kants sollensethisch konzipierter Sittenlehre seinen Ausdruck gefunden hat; vgl. dazu U. Barth: Das Individualitätskonzept der ‚Monologen‘. Schleiermachers ethischer Beitrag zur Romantik, in: Ders.: Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 291– 327.
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suchen.³² Die Religion kennt folglich eine Mehrzahl von Unendlichkeitsperspektiven, in denen das Subjekt im Vollzug des religiösen Bewusstseins zu einem unendlichen Ganzen aufsteigen kann. In etwas freier Anlehnung an die spinozanische Unterscheidung von Substanz und deren Attributen³³ könnte man Schleiermachers Intention vielleicht dahingehend zusammenfassen: dass das Universum auch in der religiösen Einstellung nicht als solches zugänglich ist, sondern sich nur in unterschiedlichen Attributen darbietet, wobei die religiös gedeutete Humanitätsvorstellung eben als ein solches Attribut zu fungieren vermag.Vor diesem Hintergrund ist es dann möglich, den Einzelnen nicht mehr daraufhin zu betrachten, inwiefern er als Repräsentant einer abstrakten-allgemein vorgestellten Menschheit fungiert, sondern ihn als individuelle Darstellung einer Totalität aufzufassen, deren Gehalt nicht vor und außer ihrer einzelnen Erscheinungen feststeht, sondern nirgends anders als im inneren Zusammenhang ihrer prinzipiell unendlichen Teile besteht. Von daher ist dann auch klar, was es bedeuten soll, dass Schleiermacher für den Aufbau eines solchen Menschheits- bzw. Individualitätsbewusstseins die ,Flügel der Religion‘ in Anspruch nimmt, entspricht das eben in Anschlag gebrachte Verhältnis von Teil und Ganzen formal doch genau derjenigen Struktur,wie sie für die religiöse Anschauung überhaupt in Rechnung zu stellen ist. Aus diesem Grund vermag sich die Betrachtung der Menschheit dann auch allererst zur Hinführung auf das Thema Religion zu eignen.³⁴ Für die Ausbildung eines tragfähigen Verständnisses von Eigentümlichkeit überhaupt und damit eben auch der eigenen Individualität hat die eben geschilderte Auffassung von Humanität und Individuum folgendes Doppelresultat: Zum einen vermag der Einzelne auf ihrem Boden ein Bewusstsein davon zu entwickeln, dass er in seiner bestimmten Gestalt nicht als ein abgetrenntes Dasein existiert, sondern in einen unendlichen Zusammenhang inbegriffen ist, der in ihm auf symbolische Weise zur Darstellung gelangt. Damit muss ihm aber notwendig auch die Einsicht erwachsen, dass es neben ihm noch andere Darstellungen jenes Zusammenhanges geben muss, weil anderenfalls dessen Unendlichkeit nicht ausgeschöpft werden könnte. Also ist „jedes Individuum seinem innern Wesen nach ein notwendiges Ergänzungsstück zur vollkommenen Anschauung der Menschheit“.³⁵ Entsprechend kann Schleiermacher im Blick auf den Einzelnen dann geradezu von einer „Offenbarung von ihr [sc. der
R 90 f. Zur kritisch-konstruktiven Aneignung des Denkens Spinozas durch Schleiermacher vgl. Chr. Ellsiepen: Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva. Die spinozistischen Grundlagen von Schleiermachers früher Religionstheorie (TBT 135), Berlin/New York 2006. Von hier aus lässt sich eine Linie bis zu Feuerbach ausziehen, für den die menschliche Gattung ebenso als Unendliches fungierte, vgl. dazu F. Wagner: Was ist Religion. Studien zu ihrem Begriff und Thema in Geschichte und Gegenwart, Gütersloh 21991, 91– 96. Während Feuerbach aus dieser Auffassung dann aber bekanntlich religionskritische Konsequenzen ableitet, zieht Schleiermacher das humane Gattungsbewusstsein ob dessen Unendlichkeitsdimension gerade zur Freilegung des religiösen Sinns heran. Es wäre reizvoll den Bezügen Feuerbachs auf Schleiermacher einmal näher nachzugehen. R 94.
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Menschheit] an Euch“³⁶ bzw. wechselbegrifflich von einer „Offenbarung des Universums“³⁷ sprechen. Zum anderen begegnet jene mannigfaltige Vielheit humaner Daseinsmöglichkeiten dem Einzelnen aber nicht nur als ein äußeres Faktum, sondern in gewissem Sinne vermag er sie auch in seinem Inneren wiederzufinden. „Von diesen Wanderungen durch das ganze Gebiet der Menschheit kehrt dann die Religion mit geschärfterem Sinn und gebildeterem Urteil in das eigne Ich zurück, und sie findet zuletzt alles, was sonst aus den entlegensten Gegenden zusammengesucht wurde, bei sich selbst.“³⁸ Schleiermacher kann in diesem Kontext auch davon sprechen, dass der Einzelne auf diese Weise „dort [sc. in seinem Inneren] das Unendliche gefunden hat“.³⁹ Dabei sei daran erinnert, dass Schleiermacher im Zusammenhang seiner Konstruktionsanweisung für die Vernichtung des eigenen Selbst ebenso ein ,Gefühl des Unendlichen in Euch‘ in Anschlag gebracht hatte. Um deutlich zu machen, wie letzteres soll möglich sein können, sei kurz etwas zu einem bestimmten Grundzug von Schleiermachers Theorie personaler Individualität gesagt, den wir bisher ausgeklammert hatten. So sehr Individuen in Schleiermachers Augen innerlich unterschieden sind, so wenig kommen sie getrennt voneinander zu stehen. Vielmehr weisen sie eine tiefgreifende Gemeinsamkeit auf.Wie er dann vor allem in den Monologen ausgeführt hat, wie er es aber auch in den Reden bereits mehrfach andeutet, versteht er Eigentümlichkeit nämlich nicht in einem exklusiven bzw. abstraktivem Sinne, wonach sich der Einzelne dadurch als Individuum auszeichnen würde, dass er Merkmale aufwiese, die ausschließlich ihm allein zukämen. Stattdessen legt Schleiermacher ein solches Modell zugrunde, wonach Eigentümlichkeit in der besonderen Konstellation und Akzentuierung allgemeinmenschlicher Eigenschaften besteht. Das bedeutet aber zugleich, dass der Einzelne unbeschadet der im Rahmen seiner eigenen psychischen Struktur und Biographie vollzogenen Individualisierung einen prinzipiellen Zugang zum unendlichen Spielraum alles Menschenmöglichen besitzen kann, der ihm nicht zuletzt durch Phantasie und Einbildungskraft eröffnet ist. Dieser in jedem intersubjektiven Verstehensakt erfahrbare Sachverhalt wird in der religiösen Anschauung gewissermaßen ins Prinzipielle gehoben, was Schleiermacher dadurch zum Ausdruck bringt, dass er seinen Lesern gegenüber festhält: „Bei wem sich die Religion so wiederum nach innen zurückgearbeitet hat“, der gelangt zur Einsicht, dass „Ihr selbst [… ] ein Kompendium der Menschheit [seid], Eure Persönlichkeit umfaßt in einem gewissen Sinn die ganze menschliche Natur und diese ist in allen ihren Darstellungen nichts als Euer eigenes vervielfältigtes, deutlicher ausgezeichnetes, und in allen seinen Veränderungen verewigtes Ich“.⁴⁰ Dieses Ich ist dann aber nicht mehr das Ich des individuell bestimmten Selbst, sondern dasjenige der überindividuellen Größe Menschheit, der
R 91. R 93. R 98. R 99. R 99.
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gegenüber der Einzelne sich nurmehr als Produkt ihres unendlichen Handelns begreift. Von hier aus kann der Bogen zurück geschlagen werden zum Problem jener doppelten Beeinträchtigung des individualethischen Selbstbildungsprozesses und der Frage, welche wichtige Funktion die Religion diesbezüglich spielen kann. Zunächst gilt es festzuhalten, dass ihr Einbezug zu einer doppelten Relativierung des individuellen Selbstseins führt. Denn einerseits bringt es die Einbettung des Bewusstseins eigener Individualität in den humanen Sinnzusammenhang mit sich, dass sich das Subjekt konstitutiv auf andere Individuen verwiesen weiß. Andererseits wird die Einschränkung der Bedeutung des individuellen Eigenseins nicht nur im Blick auf den Sachverhalt fremder Personen vorgenommen, sondern vermag dem Subjekt auch insofern zur Einsicht zu gelangen, als es in sich selbst die – freilich mehr oder weniger bewusst ausgeprägte – Teilhabe an prinzipiell allem Menschenmöglichen erfährt. Dadurch wird sodann aber auch jenen beiden mit dem Individualisierungsprozess verbundenen Beeinträchtigungen vorgebeugt: Durch das Wissen um die Notwendigkeit anderer Individualitäten für eine ,vollkommene Anschauung der Menschheit‘ wird der Einzelne davon abgehalten, sich im Zuge seiner Individualisierung zur bornierten Selbstheit zu entwickeln. Im Bewusstsein der inneren Unendlichkeit seiner selbst, angesichts derer auch die individuelle Bestimmtheit der eigenen Person gleichsam zerschmilzt, findet der Einzelne ein Ventil für seinen sich ins Unendliche erweiternden Trieb, so dass dieser die individualethisch gebotene Selbstbeschränkung nicht mehr blockiert. „Dieses einem sinnigen Menschen sich überall aufdringende Anerkennen des Fremden und Vernichten des Eigenen [… ] ist nicht möglich ohne eine dunkle Ahndnung des Universums.“⁴¹ Und eingedenk dessen, dass erst die Religion den Aufbau einer solchen Bewusstseinsgestalt zu ermöglichen vermag, kann Schleiermacher sie dann geradezu als die „der Sittlichkeit und allem andern was ein Gegenstand des menschlichen Tuns ist [… ] unentbehrliche Freundin“⁴² bezeichnen. Festzuhalten bleibt: Die Ausbildung von Eigentümlichkeit bedeutet die zunehmende Bestimmung des eigenen Selbst zu einer individuellen Gestalt in freiheitlich vollzogener Selbstbegrenzung.Von der damit gegebenen Fixierung des eigenen Selbst zu einem Endlichen vermag sich das Subjekt durch die religiöse Selbstthematisierung zu entlasten, indem es die eigene Selbstbeschränktheit nicht als solche stehen lässt, sondern sie auf das unendliche Ganze der Menschheit hin transzendiert, wodurch sie sich als deren Ausdruck zu begreifen vermag. Infolge dieses schwebenden Wechselverhältnisses kann der Einzelne dann der für alle gelingende Selbstentwicklung unhintergehbaren Tendenz auf Selbstbestimmung Rechnung tragen, ohne deshalb seine innere Unendlichkeitsdimension unerfüllt zu finden. Dem biographisch vollzogenen sowie innerlich und äußerlich artikulierten Abstieg zum individuell bestimmten Dasein korrespondiert der Aufstieg zur Ausbildung eines Universalitätsbewusstseins, in
R 165. R 112, Hvh. v. Verf.
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dessen Lichte der Einzelne seine eigene Individualität als eigentümliche Darstellung der Totalität des Humanen weiß.⁴³ Insofern die religiöse Selbstanschauung dabei eine tiefgreifende Selbstrelativierung darstellt, zeigt sich der – früher behauptete – Wechselbezug von Selbstvernichtung und Selbstaffirmation hier also vonseiten letzterer. Die These einer grenzdialektischen Vermittlung von Vernichtung und Affirmation würde, wie gesagt, erfordern, jenen Wechselbezug nun auch von der anderen Seite her aufzuweisen.Vor dem Hintergrund des eben Ausgeführten wäre dies etwa dadurch zu tun, dass die Verzerrungen in den Blick genommen würden, denen das religiöse Leben unterliegt, wenn es ohne Bewusstsein für die individuelle Partikularität und Perspektivität seines Vollzugs auskommen zu können meint. Als grellstes Beispiel solch verunglückender Religion wäre nicht zuletzt an alle Spielarten von religiösem Fanatismus zu denken. An dieser Stelle muss es aber – aus oben genanntem Grund – mit dem bloßen Hinweis auf diese Problematik sein Bewenden haben.
3. Schluss Die Religion leistet nicht zuletzt den Beitrag, den Einzelnen in seiner konkreten Subjektivität zu einer solchen komplexen Bewusstseinsgestalt zu verhelfen, in der er sich in seiner eigenen Individualität zugleich als Repräsentant der unendlichen Menschheit verstehen kann. Im Blick auf Schleiermachermachers Theoriemodell ergibt sich angesichts dessen allerdings eine gewisse Schwierigkeit. Denn es ist zu fragen, inwiefern die Religion dazu eigentlich in der Lage sein kann. Diesbezüglich gilt es daran zu erinnern, dass sowohl in den Reden als auch in den Monologen deutlich gemacht wird, dass die Ausbildung eigener Individualität das Resultat eines Freiheitsaktes ist. Entsprechend wird in den Monologen von der Humanität denn auch als einem ‚Reich der Freiheit‘ gesprochen, das sich kraft der Wechselwirkungsprozesse von Freiheitsvollzügen der unterschiedlichen Individuen allererst konstituiert. Dem gegenüber zielt der mithilfe des religiösen Bewusstseins vollzogene Aufschwung des subjektiven Bewusstseins zu der Einsicht, in der besonderen Selbstbestimmtheit Teil und Ausdruck der Menschheit zu sein, in letzter Konsequenz darauf, sich in seiner eigenen Individualität nicht als Resultat eigenen Freiheitshandelns, sondern als Produkt eines überpersönlichen Wirkens zu verstehen. Um eine bereits zitierte Äußerung nochmals heranzuziehen: „Die Religion atmet da, wo die Freiheit selbst schon wieder Natur geworden ist“. Entsprechend ist in der zweiten Rede auch vom „Genius der Menschheit als“ des „vollendetsten und universellsten Künstler[s]“⁴⁴ die Rede, als dessen Schöpfung jedes eigentümliche Dasein erscheint. Wie das mit dem Freiheits Dieses Strukturverhältnis hat Schleiermacher bekanntlich dann auch seinen Ausführungen in den Monologen zugrunde gelegt. Angesichts des Sachverhalts, dass er das Bewusstsein um jenes Verhältnis in den Reden darauf zurückführt, dass das individuelle Selbstbewusstsein durch die Religion begleitet wird, wäre nochmals nach dem werksystematischen Zusammenhang von beiden Schriften zu fragen. R 91.
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charakter von Individualität und Menschheit zusammenstimmen kann, bleibt unklar. Der tiefere Grund für diese theoretische Unwucht dürfte darin liegen, dass Religion für Schleiermacher nicht zugleich für die Einsicht in den Grund subjektiver Freiheit, sondern allein für das Bewusstsein von deren Abgrund steht. Dem gegenüber wäre aber zu fragen, ob es in religionstheoretischer Hinsicht nicht zweckmäßiger wäre, neben dem Ganzheitserleben des Menschen auch dessen Freiheitsvollzug eine religiöse Deutungsmöglichkeit zu eröffnen. Diesen Weg ist später übrigens der vielfach als bloßer Schleiermacher-Adept apostrophierte Wilhelm Dilthey gegangen, der einen tiefgreifenden Gegensatz des religiösen Lebens in Rechnung gestellt hat.⁴⁵ Unabhängig von dieser kritischen Überlegung bleibt die Schleiermachersche Konzeption in bewusstseinsphänomenologischer Hinsicht von daher interessant, als sie sich interpretieren lässt als Beschreibung einer tiefgreifenden Spannung des bewussten Lebens, durch die dasselbe sich charakterisiert erweist. Innermental artikuliert sich diese Spannung darin, dass der Einzelne sich selbst sowohl aufs Entschiedenste zu bejahen vermag, wie er umgekehrt zugleich eine solche Perspektive auf sich selbst einzunehmen imstande ist, in der sein eigenes individuell-persönliches Dasein im Lichte der Idee eines unendlich Allgemeinen relativiert wird. Aus der Polarität beider Seiten kann eine spezifische Dynamik erwachsen, die umso stärker zur Geltung gelangt, je weniger beide Seiten zum Ausgleich gebracht sind. Dem Bewusstseinsleben ist demnach eine innere Unruhe eigen, die nicht erst durch die Verarbeitung äußerlich gegebener Sachverhalte hervorgerufen wird, sondern ihm mit seiner eigenen Strukturverfasstheit immer schon mitgegeben ist. ‚Religion‘ und ‚Ethik‘ stünden so gesehen für die Performanz einer Grundspannung des bewussten Lebens, die mit dessen Vollzug strukturell mitgesetzt ist.
Allerdings hat er diesen Gegensatz auf die etwas missverständliche Formel von ‚pantheistischer‘ und ‚personalistischer‘ Religion gebracht; vgl.W. Dilthey: Der entwicklungsgeschichtliche Pantheismus nach seinem geschichtlichen Zusammenhang mit den älteren pantheistischen Systemen, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 2, Stuttgart/Göttingen 1969, 339 f.
Georg Hardecker / Tübingen
Bildung und Wahrheit. Das Gebildetwerden des religiösen Gefühls als Zugang zum Wahrheitsverständnis Schleiermachers In seiner Göttinger Vorlesung „Die Theologie Schleiermachers“ kommt Karl Barth auch auf den Sachverhalt der Wahrheit zu sprechen.¹ Für ihn sind es „das Wort, die Aussage, der Satz“, die als „Träger, Bringer und Verkünder der Wahrheit“ begegnen.² Wahrheit ist damit an Sprache gebunden, genauer: an objektive biblische und kirchliche Aussagen.³ Barth sieht richtig, dass Wahrheit für Schleiermacher dagegen nicht ursprünglich im „geredeten Wort“ gegeben ist, sondern im Gefühl, das sich seinerseits auch nicht ursprünglich im Wort Ausdruck verschafft, sondern mittels des Leibes. ⁴ Schleiermachers Rückführung der biblischen und kirchlichen Aussagen „auf das Subjektive“ machen es in Barths Augen grundsätzlich unmöglich, „die Wahrheit zu sagen“.⁵ Denn Wahrheit richte sich bei Schleiermacher eben nicht auf das Wort Gottes, sondern „sein Gegenstand [ist doch] kein anderer als – es selbst, seine Bestimmtheiten und sein Woher, Gott als seine und seiner Bestimmtheiten causa“.⁶ Dass Schleiermacher selbst in der Glaubenslehre vom Gefühl oder unmittelbaren Selbstbewusstsein als der „Wahrheit unseres Daseins“ spricht,⁷ ändert für Barth am Grundproblem bei Schleiermacher nichts: Für Schleiermacher ist Wahrheit nicht an objektive biblische und kirchliche Aussagen und damit nach Barths Sicht nicht an das Wort Gottes geknüpft, sondern an das Gefühl und damit nur an das „Subjektive“.
Aufgrund von Rückmeldungen auf meinen Vortrag unter dem Titel „Bildung – Gegenstand, Prägung und Bestimmung des religiösen Gefühls“ wurde der Vortragstext für die Veröffentlichung stark überarbeitet und zugespitzt. Karl Barth: Die Theologie Schleiermachers. Vorlesung Göttingen Wintersemester 1923/24, in: Karl Barth – Gesamtausgabe, II. Akademische Werke 1923/24, hg. von Dietrich Ritschl, Zürich 1978, 373 (im Folgenden: Karl Barth: Die Theologie Schleiermachers). A.a.O., 374. Karl Barth spricht a.a.O., 373 von der „Mimik“, Schleiermachers Verständnis angemessener wäre es aber,von der „Geberde“ zu sprechen, diese genauer als „Geberde auch im weitesten Sinne“, so Friedrich Schleiermacher: Ethik (1812/13) mit späteren Fassungen der Einleitung, Güterlehre und Pflichtenlehre, hg. von Hans-Joachim Birkner, Hamburg 1981, im Folgenden zitiert unter Verweis auf die jeweilige Vorlesung mit Seitenzahl der Braun’schen Ausgabe, ggf. mit Zeilennummer: Güterlehre (L.B.), § 61, 597 Z. 35; denn nur so kann schließlich die Figur des Totaleindrucks als Medium für die Prägung des Gefühls erklärt werden. Karl Barth: Die Theologie Schleiermachers, 374. A.a.O., 373. Friedrich Schleiermacher: Der christliche Glaube. Nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, in: KGA I/13,1, § 65, 404 Z. 6 (im Folgenden zitiert als „CG²“ mit Angabe von Paragraph, Seite und ggf. Zeile). DOI 10.1515/9783110464573-008
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Allerdings sieht auch Barth, dass das Gefühl nach Schleiermacher keine bloß selbstreferentielle Größe ist, sondern über sich hinaus verweist auf „Gott als seine und seiner Bestimmtheiten causa“. Damit konstatiert auch Barth, dass das Gefühl als das „Subjektive“ bei Schleiermacher einen Bezug auf etwas „Objektives“ hat. Ungelöst scheint mir bei Barths Schleiermacher-Interpretation die Frage, wie das Verhältnis von Subjektivem und Objektivem, von Gefühl und Wirklichkeit, in Schleiermachers Augen genau beschaffen ist. Um dieses Verhältnis von Gefühl und Wirklichkeit zu bestimmen, soll im Folgenden das Geprägtwerden des Gefühls, und damit seine Bildung, genauer in den Blick genommen werden. Denn diese Bildung wird bei Schleiermacher nicht als ein Reflexionsfortschritt verstanden, sondern als eine in einem „Totaleindruck“ gipfelnde soziale Begegnung, in der sich im Gefühl Wahrheit präsentiert. Die Bestimmtheit des Totaleindrucks ist von der Art, dass sie fortan allen anderen Gefühlen „ihre Farbe und ihren Ton mitteilt“, wie es in der Glaubenslehre heißt.⁸ Wahrheit ist damit nicht ursprünglich Sache des Denkens, sondern des Erlebens. In einem ersten Teil ist darzustellen, wie die Bildung des Gefühls mit dem Sachverhalt der Wahrheit zusammenhängt. Diese Theorie der Bildung des Religiösen macht womöglich stutzig; inwiefern kann der Eindruck eines anderen Menschen Wahrheit erleben lassen, inwiefern das Verhältnis des Menschen zur Transzendenz prägen? Um dies zu beantworten, legt es sich nahe, einen genauen Blick auf das zu richten, womit es das Gefühl nach Schleiermacher überhaupt zu tun hat und wie menschliches Fühlen auf Wirklichkeit bezogen ist. Daher handelt der zweite Teil vom religiösen Gefühl und von dem, was diesem gegeben ist, von dessen Gegebenheit. Es ist zu zeigen, dass es sich dabei um ein Geschehen der Bildung handelt. Beide Teile decken damit das Verhältnis von Bildung und religiösem Gefühl ab: Das religiöse Gefühl ist selbst Gegenstand eines Bildungsgeschehens (1.), Bildung ist aber auch das, womit es das religiöse Gefühl ursprünglich zu tun hat (2.). Der Gewinn einer solchen Betrachtung besteht m. E. darin, dass über den Bildungsbezug des Gefühls dessen Wahrheitsbezug freigelegt werden kann. Schon Ursula Frost hatte in ihrer Habilitationsschrift zum Verhältnis von allgemeiner und religiöser Bildung auf die Bedeutung von Schleiermachers Ethik für die Rekonstruktion des Sachverhaltes Bildung verwiesen.⁹ Das leuchtet auch aus grundsätzlichen Überlegungen zum Wissenschaftssystem Schleiermachers ein, da es sich bei der Ethik schließlich um die „materiale Grundlage“ des Schleiermacherschen Denkens handelt, wie Ulrich Barth festhält.¹⁰
CG² § 10, 85 Z. 28 f. Zum „Totaleindruck“ vgl. a.a.O., 90 Z. 22– 30. Vgl. Ursula Frost: Einigung des geistigen Lebens. Zur Theorie religiöser und allgemeiner Bildung bei Friedrich Schleiermacher, Paderborn 1991, 28: Sie betont die „zentrale Bedeutung, die Bildung innerhalb der Ethik Schleiermachers von Anfang an eingenommen hat“. Vgl. Ulrich Barth: Die Schleiermacher-Literatur im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, in: Theologische Rundschau 66 (2001), 408 – 461, 427.
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Da Schleiermacher in der Ethik auch grundlegende Ansichten zum religiösen Gefühl ausspricht, eignen sich die ethischen Texte Schleiermachers¹¹ in besonderem Maße dazu, das Gebildetwerden des religiösen Gefühls und damit dessen Bildungsdimension zu rekonstruieren.
1. Bildung als Geprägtwerden des religiösen Gefühls Eine Schlüsselstellung beim Verständnis dessen, was das religiöse Gefühl ist und in welchem Verhältnis es zur Wahrheit steht, kommt Schleiermachers Aussagen zum Geprägtwerden des religiösen Gefühls zu, seiner Theorie der Bildung des religiösen Gefühls. Dies scheint mir in der Forschung bisher nicht ausreichend berücksichtigt worden zu sein. Peter Groves bedeutende Arbeit „Deutungen des Subjekts“ etwa stellt eine umfassende Rekonstruktion von Schleiermachers Theorie der Religion dar. Allerdings verzichtet sie programmatisch auf die Erarbeitung des personal vermittelten Geprägtwerdens der Religion.¹² Dass die soziale Dimension der Religion eine erst sekundär zum religiösen Gefühl hinzukommende ist, meint auch Ulrich Barth: Er sieht die „kommunikationstheoretische Durchführung des Religionsbegriffs“ in Schleiermachers Heranwachsen im Pietismus begründet,¹³ und nicht im Geprägt- und Gebildetwerden der Religion überhaupt.¹⁴ Im Folgenden sind zunächst die beiden wesentlichen Sachverhalte genauer darzustellen, die für eine Rekonstruktion von Schleiermachers Theorie des Geprägtwerdens des religiösen Gefühls wichtig sind: Zum einen eröffnet sich ein Verständnis der Bildung des religiösen Gefühls über Schleiermachers Schilderung der Interaktionsweise auf dem Gebiet des individuellen Symbolisierens als „Andeuten“ und „Ahnden“. Zum anderen erschöpft sich diese Bildung aber nicht in menschlicher Tätigkeit, sondern basiert auf dem Ereignis eines „Totaleindrucks“ zwischen Menschen und ist jeweils auf einen solchen hingeordnet.
Vgl. dazu Schleiermachers Vorlesungen zur Ethik, in: Friedrich Schleiermacher: Ethik (1812/13); mit späteren Fassungen der Einleitung, Güterlehre und Pflichtenlehre, hg. von Hans-Joachim Birkner, Hamburg 1981. Außerdem zählen dazu Schleiermachers Akademievorträge, vgl. KGA I/11. Peter Grove: Deutungen des Subjekts. Schleiermachers Theorie der Religion, Berlin/New York 2004, 4: „die intersubjektive Dimension des Religionsbegriffs [wird] nicht weiter verfolgt“. Vgl. Ulrich Barth: Subjektphilosophie, Kulturtheorie und Religionswissenschaft. Kritische Anfragen an Schleiermachers Theologieprogramm, in: Ders.: Kritischer Religionsdiskurs, Tübingen 2014, 293 – 320, 301 f. So schreibt Schleiermacher über das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit, „daß es auf demselben Wege durch die mittheilende und erregende Kraft der Aeußerung zuerst ist in ihm geweckt worden“,vgl. CG², § 6, 56 Z. 3 – 6.
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1.1 Individuelles Symbolisieren als „Andeuten“ und „Ahnden“ Zunächst sind die Interaktionsweisen in den Blick zu fassen, die auf dem Gebiet des individuellen Symbolisierens eine Rolle spielen. Schleiermacher benennt hier – wie bei den übrigen Gütern auch – eine eher rezeptive Handlungsweise, das „Ahnden“, und eine eher spontane, das „Andeuten“.¹⁵ Beide Interaktionsweisen beziehen sich auf einen Sachverhalt, der schlechthin unübertragbar ist, nämlich auf das Gefühl des Einzelnen.¹⁶ Ob jeweils tatsächlich das erahnt wurde, was angedeutet werden sollte, ist viel schwerer zu überprüfen als etwa auf dem Gebiet des Wissens. Und selbst wenn das Gefühl des anderen erahnt wurde, kann dessen Gefühl nicht in das eigene verwandelt werden.¹⁷ Dennoch ist Ahnen und Andeuten möglich. Das Andeuten des eigenen Gefühls hat immer die Form der leibhaften Darstellung, und ist also vermittelt durch den je eigenen Leib und dessen Umgang mit dem jeweiligen eigenen Bezogensein. Schleiermacher spricht von der „Geberde im weitesten Sinne“.¹⁸ Darunter fällt letztlich alles Handeln als ein äußerlicher Ausdruck des Inneren. Soll das jeweils vorherrschende Gefühl eines Menschen von einem anderen geahnt werden, muss es aus dessen „Gebärde“ heraus erschlossen werden. Da der Zusammenhang zwischen dem je eigenen Gefühl und dessen Äußerlichwerden im Umgehen mit dem Bezogensein bekannt ist,¹⁹ aber nur das Äußerlichgewordensein des Gefühls des anderen, kann aus diesen drei Größen auf das verborgene Gefühl als die vierte geschlossen werden. Dieses Schließen ist ein „analoges“.²⁰ Es findet also kein Denken im Sinne Schleiermachers statt, das in begrifflicher Ableitung und Zusammensetzung besteht.²¹ Vielmehr handelt es sich bei analogem Schließen um das Zusammenstellen von leiblich-szenischen Sequenzen, deren Ergebnis Bildrelationen sind.²² Schleiermacher rechnet nun aber – überraschenderweise, angesichts der starken Betonung der Unübertragbarkeit des Gefühls – auch allein auf dem Gebiet des individuellen Symbolisierens mit der Möglichkeit einer Raum und Zeit übergreifenden
Güterlehre (L.B.), § 61, 598 Z. 2 f. Güterlehre (L.B.), § 51, 588. Vgl. Güterlehre (L.B.), § 61, 598 Z. 20 – 22. Vgl. Güterlehre (L.B.), § 61, 597 Z. 35. Güterlehre (L.B.), § 61, 598. Vgl. a.a.O., § 69, 601. Vgl. Güterlehre (L.B.), § 69, 601 Z. 34– 36. Vgl. CG² § 13, 113 Z. 19 – 24. Das Kombinieren dieser Sequenzen kann m. E. widerspruchsfrei in Schleiermachers Theorie des Gefühls integriert werden, eben weil hier kein Denken im Sinne Schleiermachers stattfindet. Bereits im vorsprachlichen Alter sind Kinder bekannterweise zu Analogien fähig, und können etwa das Verhältnis Kind/Mutter auf das Verhältnis Puppe/Kind übertragen. Mit Schleiermacher ist zu betonen, dass es sich hierbei nicht um Denken handeln kann, da Denken stets sprachgebunden ist.
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Gemeinschaft von Menschen.²³ Während die Interaktionsgemeinschaften von Staat, Wissenschaft und Geselligkeit wesentlich partikularen Charakter besitzen, ist Religion auf eine Raum und Zeit überschreitende, auf eine universale Gemeinschaft hin angelegt. Wie aber passt die Aussage über die absolute Unübertragbarkeit des religiösen Gefühls einerseits zu der Aussage über dessen universale Bestimmung andererseits? Um auf diese Frage eine Antwort zu bekommen, müssen wir uns dem Sachverhalt des „Totaleindrucks“ zuwenden.
1.2 Der „Totaleindruck“ Schleiermacher rechnet auf dem Feld individuellen Symbolisierens mit dem Ereignis eines sogenannten „Totaleindruckes“ zwischen zwei Kommunikanten, durch den das religiöse Gefühl des Erlebenden seine Prägung erhält.²⁴ Was besagt nun die Rede vom „Totaleindruck“? Sie lässt sich in dreierlei Hinsicht verstehen. Zum einen kann sie sich damit auf das beziehen, was einen bestimmten Eindruck auslöst, und also besagen, dass nicht einfach ein bestimmter Moment der Lebensgestalt des anderen beeindruckend wirkt, sondern dessen Lebensganzheit, eben dessen Totalität. Diese Lebensganzheit als solche ist nun aber aus menschlicher Perspektive überhaupt nicht zugänglich. Die einzelnen Momente können höchstens als Symbole, als Repräsentanten des Ganzen erscheinen.²⁵ Ein Totaleindruck ist also nur dann möglich, wenn einzelne Momente als Symbol des Ganzen erscheinen, weil in ihnen die der Lebensganzheit zugrundeliegende und sie prägende individuelle Vernunft zum Ausdruck kommt. Ein Totaleindruck geht demnach aus der Präsenz der Lebensganzheit in einzelnen Momenten hervor. Zum anderen kann der Begriff „Totaleindruck“ aber auch aussagen, dass der Eindruck total ist im Sinne seiner Wirkung. Da Religiosität in Schleiermachers Augen der „Mittelpunkt der Gesinnung“ ist,²⁶ ist eine Wirkung auf das religiöse Gefühl
Diese Darstellung folgt auf die der wesentlichen Partikularität von Staat, Wissenschaft und Geselligkeit, vgl. „Über den Begriff des höchsten Gutes. Zweite Abhandlung“, KGA I/11, 657– 677, besonders 674– 676. Vgl. dazu auch Eilert Herms: Das Zustandekommen des Glaubens nach Paulus, Luther und Schleiermacher, in: Ders.: Phänomene des Glaubens, Tübingen 2006, 1– 55, 48 f. Die Begrifflichkeit „Totaleindruck“ begegnet zwar erst in der Glaubenslehre, CG² § 10, 90 Z. 22– 30, der Sachverhalt aber, der damit angesprochen wird, schon in den Vorlesungen zur Ethik: Wie zum Gedanken die Sprache gehört, so zum Gefühl das Äußerlichwerden in Form der „Geberde auch im weitesten Sinne“, so in der Güterlehre (L.B.), § 61, 597. Diese umfasst letztlich alles Handeln und ist damit umfassender Ausdruck des Innersten einer Person: Das „Leben will also Kunst werden“, Güterlehre (1812/13), § 221, 313, Anmerkung 2, Zusatz am Rande 1816, 1. Das Symbolverständnis Schleiermachers ist prägnant festgehalten in der Güterlehre (L.B.), § 33, 576. Vgl. Friedrich Schleiermacher: Allgemeiner Entwurf zum Religionsunterricht auf gelehrten Schulen (1810), in: Friedrich Schleiermacher: Texte zur Pädagogik. Kommentierte Studienausgabe, 2 Bände, hg. von Michael Winckler/Jens Brachmann, Frankfurt a. M. 2000, Bd. 1, 168.
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letztlich immer eine Wirkung auf den ganzen Menschen.²⁷ Ein Totaleindruck wäre demnach ein das religiöse Gefühl prägender Eindruck. Der Begriff Totaleindruck kann sich zum dritten aber nicht nur auf die eben angesprochenen formalen Aspekte richten. Die Totalität des Eindrucks kann auch den Inhalt des Eindrucks beschreiben. Jedes individuelle Dasein manifestiert immer auch die allgemeine „Kraft“, die ihm innewohnt und die es mit anderen Individuen seiner Gattung teilt.²⁸ Diese allgemeine „Kraft“ kommt nur in individuellen „Erscheinungen“ zum Ausdruck, und damit nie unmittelbar.²⁹ Dennoch ist jede individuelle Erscheinung immer auch Hinweis auf die der Gattung eignenden Kraft. Das Leben eines Individuums kann als ein solches erlebt werden, in dem die Erscheinung ganz Ausdruck der dem Menschsein innewohnenden Kraft ist. Eine Gestalt kann in der Form eines leiblich-szenischen Eindrucks als eine dieser Kraft angemessene, und damit als wahre Gestalt menschlichen Lebens im Gefühl zu stehen kommen.³⁰ Der Eindruck, der von einer Person ausgeht, hat demnach also eine unübertragbare und eine übertragbare Seite. Das, was den Totaleindruck auslöst, ist immer die äußere Seite eines Lebens, die „Erscheinung“; aber diese manifestiert ihrerseits die allgemeine „Kraft“, die dem Menschsein überhaupt zu eigen ist und deren Bestimmung darstellt. Dieser Bezug auf die allen Menschen einwohnende Kraft ist es auch, der es allein der Gemeinschaft individuellen Symbolisierens grundsätzlich erlaubt, die Begrenzungen durch Raum und Zeit zu überschreiten.³¹ Allein die Gemeinschaft der „Offenbarung“³² ist diesen Begrenzungen nicht unterworfen – anders als Staat, Wissenschaft und Geselligkeit. Der Grund dafür liegt in der universalen Gegebenheit des religiösen Gefühls, der „Kraft“ oder Bestimmung des Menschseins. Wie kommt Schleiermacher nun zu einem solchen Theoriestück wie dem des „Totaleindrucks“? Schleiermachers Verständnis von Individualität als unhintergehbarer Gegebenheitsweise alles Wirklichen führt dazu, dass es auch den Sachverhalt der Religion nur in jeweils individueller Gestalt gibt: Religion gibt es nur in der Gestalt „positiver“ Religionen.³³ Und das Zustandekommen der christlichen Religion ist nach Schleiermachers Dafürhalten nicht anders möglich als so, dass die Person Jesu auf einen Menschen einen Eindruck, einen „Totaleindruck“ macht, der diejenige „Gewißheit“ etabliert, auf deren Grund dann der freie Entschluss zum Eintreten in die
Auch bei diesem Erleben ist der Erlebende beteiligt, denn „keine Veränderung in einem Lebendigen ist ohne eigene Tätigkeit“, so CG², § 91, 36. Vgl. dazu die Ausführungen in Abschnitt 2.1 und 2.2. Ulrich Barth: Wissenschaftstheorie der Theologie. Ein Durchgang durch Schleiermachers Enzyklopädie, in: Ders.: Kritischer Religionsdiskurs, Tübingen 2014, 263 – 278, 272, rechnet „Kraft“ und „Erscheinung“ „zu den wenigen echten ontologischen Prinzipien Schleiermachers“. Ulrich Barth: Evangelienhermeneutik als Prolegomena zur Christologie, in: Ders.: Kritischer Religionsdiskurs, Tübingen 2014, 321– 352, 342, spricht im Zusammenhang seiner Interpretation von Luthers Hermeneutik von „pikturaler Evidenz“. Vgl. „Über den Begriff des höchsten Gutes. Zweite Abhandlung“, 676 Z. 17– 38. Güterlehre (L.B.), § 61, Leitsatz, 596. CG², § 6, Zusatz, 58 f., vgl. auch a.a.O., § 10, Zusatz, 86 – 89.
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christliche Gemeinschaft allererst möglich ist.³⁴ In diesem Gebildetwerden christlicher Religiosität erblickte Schleiermacher nun einen übertragbaren und einen unübertragbaren Sachverhalt: Allein die christliche Religion bezieht sich auf denjenigen Totaleindruck, der von der Person Jesu von Nazareth ausgeht. Aber dass sich das Geprägt- und Gebildetwerden einer Religion überhaupt auf einen Totaleindruck zurückbezieht, ist kein Spezifikum der christlichen, sondern ein Merkmal jeder monotheistischen Religion. So beziehen sich das Judentum auf Mose und der Islam auf Muhammed.³⁵ „Bildung“ stellt sich vor dem Hintergrund von Schleiermachers Theorie des individuellen Symbolisierens und des Totaleindrucks entsprechend als zweierlei dar: In formaler Hinsicht als Fähigkeit, an Kommunikationsprozessen im Bereich des individuellen Symbolisierens teilzunehmen. Dazu gehört eine Sensibilität für dasjenige, was hinter dem äußerlich Zugänglichen verborgen ist, auch im Falle des eigenen Lebens. Weiter kann nur derjenige angemessen an diesem gemeinschaftlichen Leben teilnehmen, der Kenntnis von den verschiedenen, kulturell geprägten Ausdrucksformen des religiösen Gefühls im Kultus und im übrigen Leben hat.³⁶ Dann aber beschreibt Bildung in inhaltlicher Hinsicht das Gestaltgewinnen des religiösen Gefühls als Mittelpunkt der Gesinnung.³⁷ Diese, sagt Schleiermacher in der Tugendlehre, sei nicht in der Zeit wachsend, sondern „in Einem Augenblick ganz entstehend“.³⁸ Das Gestaltgewinnen der Gesinnung hat damit im Gegenüber zum kontinuierlichen Erlernen von Fertigkeiten und Kenntnissen einen diskontinuierlichen Charakter, der darin gründet, dass Totaleindrücke nicht durch menschliche Tätigkeit erzeugt werden können, sondern menschlichem Handeln gegenüber kontingent sind.³⁹ Schleiermacher sagt in der Güterlehre, „daß wir das Gefühl eines anderen durch seinen Ausdruck zwar inne werden, aber ohne es in uns aufnehmen und in das unsrige verwandeln zu können.“⁴⁰ Damit ist die Grenze menschlichen Handelns beschrieben: Nachempfinden CG², § 14, 115 Z. 8 – 12. Vgl. CG², § 11.3, 97– 100. Aus der Perspektive der Gegenwart wäre hier auch noch der Buddhismus in die Gruppe der sich auf einen Totaleindruck gründenden Religionen zu nennen. Diese wären dann allerdings nicht mehr als monotheistische, sondern als Transzendenzreligionen anzusprechen. Vgl. Friedrich Schleiermacher: Die praktische Theologie nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche, hg. von Jacob Frerichs, 1850, 387. Schleiermacher benennt vier Gegenstände, die gewusst werden sollen: „Schrift“, „Glaubens- und Sittenlehre“, den „Kirchengesang“ und die Aneignung der Kirche als eines geschichtlichen Ganzen, also die Kirchengeschichte, vgl. a.a.O., 387– 389. Vgl. Friedrich Schleiermacher: Allgemeiner Entwurf zum Religionsunterricht auf gelehrten Schulen (1810), in: Friedrich Schleiermacher: Texte zur Pädagogik. Kommentierte Studienausgabe, 2 Bände, hg. von Michael Winckler/Jens Brachmann, Frankfurt a. M. 2000, Bd. 1, 168. Tugendlehre 1812/13, 394 Z. 23 – 26. Einen Hinweis auf die Asymmetrie zwischen menschlichem Handeln und Totaleindruck bietet Schleiermachers Akademieabhandlung „Über den Begriff des Großen Mannes“, in: F.D.E. Schleiermacher: Werke. Auswahl in vier Bänden, hg.von Otto Braun und D. Johannes Bauer, Bd. 1, 520 – 531, 521: „immer noch wird der Eindruck, den jeder solcher auf uns macht, nicht ganz wiedergegeben sein und zum klaren Verständnis erhoben“. Güterlehre (L.B.), § 61, 598 Z. 20 – 22.
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kann ein Mensch zwar, was der andere fühlt. Dass dieses Empfinden des anderen aber zum eigenen Empfinden wird, steht nach Schleiermacher nicht in der Macht dessen, der empfindet. Dies wird umso deutlicher, als Schleiermacher mit der Rede vom „Gefühl“ nicht nur auf Gefühlsinhalte wie Schmerz und Freude abhebt, sondern auch und in besonderer Weise auf das Gefühl für denjenigen freien Umgang mit Natur, in dem die Kraft der Gattung vollständig realisiert wird. Dieses Gefühl für die Kraft der Gattung ist das Gefühl für die Wahrheit des Menschen. Dessen können wir „zwar innewerden“, aber wir können es nicht in das unsrige verwandeln. Dass ein Aufnehmen und Verwandeln grundsätzlich aber schon möglich ist, zeigen Schleiermachers Ausführungen in der Glaubenslehre zur Anteilhabe der Christen an Jesu Gottesbewusstsein.⁴¹ Diese Anteilhabe ist als Anteilhabe an Jesu Gefühl vorzustellen und weist durch ihr kontingentes Zustandekommen über sich hinaus.
1.3 Totaleindruck und Transzendenz Inwiefern kann hier aber von religiöser Bildung gesprochen werden? Wie stellt sich für Schleiermacher der Konnex dar zwischen Totaleindruck und Transzendenz? Schleiermacher war ein Kind seiner Zeit, tief geprägt durch die Kritiken Kants und sorgsam darauf bedacht, nichts über Gott auszusagen, was nur in irgendeiner Weise den Anschein erwecken könnte, es sei erträumt, erfunden oder herbeispekuliert. Schleiermacher weist in seiner Tugendlehre darauf hin, dass die Liebe zu Gott nur möglich sei vermittelst der Liebe zur Natur,⁴² und umgekehrt⁴³ – Transzendenz gibt es nur in Verknüpfung mit dem Endlichen.⁴⁴ Die Pointe Schleiermachers liegt nun aber nicht in diesem simplen Zusammenhang, sondern darin, dass sich die Eigenart der Transzendenz in der Eigenart des Endlichen manifestiert. Endliches gibt es nur als endliches Werden, nämlich als eines in der Spannung von „Kraft“ und „Erscheinung“. Allerdings ist dieses Werden eben nicht so beschaffen, dass der Einklang zwischen individuellem Werden und allgemeiner Kraft immer schon bestünde. In einem Totaleindruck wird nun ein individuelles Leben als im Einklang mit der Kraft der Gattung erlebt.⁴⁵ Diese die Gattung konstituierende und damit auch der Gattung von jenseits ihrer selbst her vorgegebene Kraft, deren Bestimmung im Bestimmtsein der indivi Etwa CG², § 91, 35 ff. Der Begriff „Natur“ wird von Schleiermacher an dieser Stelle zur Bezeichnung der Gesamtheit allen endlichen Seins verwendet, nicht im Gegenüber zu „Vernunft“ – vgl. zu Schleiermachers Verständnis von „Natur“ den nächsten Abschnitt. Das religiöse Gefühl ist es daher auch, das die Liebe eines Menschen als „Einseinwollen“ ausrichtet; dass Liebe zur Natur nur sittlich ist als Liebe zu Gott und umgekehrt: Vgl. dazu die Tugendlehre 1812/13, 387, Randschrift 1827a. So exemplarisch auch Ursula Frost: Einigung des geistigen Lebens. Zur Theorie religiöser und allgemeiner Bildung bei Friedrich Schleiermacher, Paderborn 1991, 276. Entsprechend nennt Schleiermacher: Pädagogik 1813/14, 264 Z. 9 ein Kind dann „fromm“, „[w]enn das Kind sein Wohlsein nur in seiner Übereinstimmung mit dem Ganzen findet“.
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duellen Erscheinungen durch die Kraft besteht, manifestiert das Wesen des Absoluten als seinen Ursprung. Der transzendente Ursprung der menschlichen Gattung manifestiert sich in der Bestimmung der Gattung.⁴⁶ Nach Schleiermachers Verständnis des christlich geprägten Gefühls besteht dessen Gewissheit über die menschliche „Kraft“ darin, dass der Mensch der Gottesgemeinschaft fähig und zu dieser auch „bestimmt“ ist. Diese Gemeinschaft, verstanden als Dominanz des Gottesbewusstseins über das Weltbewusstsein, wird aber nicht vom Menschen etabliert, sondern widerfährt diesem als eine „Erlösung“: Erlösung zum Leben gemäß seiner Bestimmung in Gottesgemeinschaft durch Anteilgabe an Jesu Gottesgemeinschaft. Die Bildung der Kenntnisse und Fertigkeiten, das Gestaltgewinnen des Ahnenund Darstellenkönnens, zielt also letztlich auf die Ermöglichung des Erlebens eines Totaleindrucks. Dieser ist als Erleben von Wahrheit das Medium einer Bildung der Transzendenzrelation. Bislang konnte deutlich gemacht werden, wie das religiöse Gefühl zu seiner Bestimmtheit zu kommen vermag. Ungelöst ist aber noch die Frage, wie ein solcher „Totaleindruck“ überhaupt im Gefühl zu stehen kommen kann. Daher folgt nun ein zweiter Teil, der das, was dem Gefühl gegeben ist, und den Aufbau des Gefühls näher entfaltet. Die Pointe von Schleiermachers Gefühlstheorie liegt darin, dass es sich bei der Gegebenheit des Gefühls um den Sachverhalt der „Bildung“ handelt.
2. Bildung als Gegebenheit des religiösen Gefühls Das religiöse Gefühl eines Menschen wird geprägt durch Totaleindrücke, die er von anderen Menschen empfängt, und deren Totalität letztlich daher rührt, dass die Lebensgestalt eines Menschen die Bestimmung des Menschseins überhaupt manifestieren kann und stets auf diese hinweist.⁴⁷ Diese Beobachtung, die bisher dargelegt wurde, scheint in Spannung zu stehen mit Schleiermachers Theorie des Gefühls. Das Gefühl sei Ausdruck innerer Zuständlichkeit, notiert etwa Ulrich Barth.⁴⁸ Dies ist m. E. aber nur dann richtig, wenn zugleich ausgesagt wird, dass zum Gefühl dessen Bezo-
Dass der „Gedanke des Unbedingten“ eine „Vernunftidee“ sei, die keine empirischen Merkmale aufweisen, wie Ulrich Barth in seinem Aufsatz „Subjektphilosophie, Kulturtheorie und Religionswissenschaft. Kritische Anfragen an Schleiermachers Theologieprogramm“, in: Ders.: Kritischer Religionsdiskurs, Tübingen 2014, 293 – 320, 305 [Hervorhebung: G.H.] anmerkt, ist sicher richtig. Das religiöse Gefühl hat seinen Ursprung aber eben nicht in einem Gedanken, sondern im Erleben von Szenen, in denen sich ausdrückt, was der Mensch kann und was er nicht kann. Der Totaleindruck als Phänomen erscheint in concreto nur in einer großen Pluralität; dennoch dominiert letztlich ein Eindruck die anderen, wie Schleiermacher dies schon in den Reden mit seinem Begriff der „Zentralanschauung“ deutlich gemacht hat, vgl. KGA I/2, 303, Z. 23 – 304 Z. 15. Ulrich Barth: Subjektphilosophie, Kulturtheorie und Religionswissenschaft. Kritische Anfragen an Schleiermachers Theologieprogramm, in: Ders.: Kritischer Religionsdiskurs, Tübingen 2014, 293 – 320, 299, vgl. auch a.a.O., 305.
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gensein auf das „Außen“ des Gefühls konstitutiv mit dazu gehört. Denn Schleiermacher sagt in seiner Vorlesung zur Güterethik im Jahre 1816 vom Gefühl, dass dieses immer etwas „aussagt“:⁴⁹ „Denn das Gefühl auch von der niedrigsten Art sagt immer aus, was die Vernunft wirkt oder nicht wirkt in der Natur.“⁵⁰ Das Gefühl sagt immer aus, was die Vernunft wirkt oder nicht wirkt in der Natur; damit ist vorausgesetzt, dass eben diese beiden Relate, Vernunft und Natur, für das Gefühl gegeben sind.⁵¹ Im vorliegenden Zusammenhang soll jedoch von der „Gegebenheit“ die Rede sein, um das zu bezeichnen, mit dem es das Gefühl und damit auch das religiöse Gefühl zu tun hat.⁵² Schleiermacher selber versteht das Gefühl und dessen Aufbau an dieser Stelle von dem her, auf was das Gefühl bezogen ist, nämlich auf das, „was die Vernunft wirkt oder nicht wirkt in der Natur“. Soll das Gefühl verstanden werden, dann ist es also zunächst notwendig, die genaue Bedeutung von „Natur“ und „Vernunft“ herauszuarbeiten. Dabei kann festgestellt werden, dass das Geschehen zwischen diesen beiden Größen als Bildungsgeschehen charakterisiert wird. Schleiermachers Naturund Vernunft-Verständnis findet sich im Rahmen der die Ethik einleitenden Skizze seines Seinsverständnisses. Diesem wenden wir uns daher zunächst in aller Kürze zu, um in einem zweiten Schritt dann den Aufbau des Gefühls in den Blick zu fassen.
2.1 Der Aufbau des Seins nach der Ethik: Die „größte Verschiedenheit des Umfangs“ und der „höchste Gegensatz“ Wie stellt sich nun das Sein Schleiermachers Auffassung zufolge dar? Sein gibt es jedenfalls nur innerhalb relativer Gegensätze, als die „größte Verschiedenheit des Umfangs“ und als den „höchsten Gegensatz“.
Dieses „Aussagen“ des Gefühls könnte als Hinweis darauf verstanden werden, dass Schleiermacher in das Gefühl als unmittelbares Selbstbewusstsein auch reflexive Vorgänge des Denkens einträgt. Die Vorgänge innerhalb des Gefühls haben aber nicht begrifflichen, sondern bildlichen Charakter, weswegen das „Aussagen“ des Gefühls zu verstehen ist als ein inhaltlich bestimmtes zum-AusdruckBringen, ohne dabei aber Denken und damit Reflexion zu sein.Vgl. dazu oben den Abschnitt 1.1, sowie weiter unten 2.3.2 „Zum Gefühl überhaupt“. Güterlehre (L.B.), § 52, 589. Wenn Schleiermacher von einem Gegenstand spricht, dann zumeist im Kontext des „gegenständlichen Bewußtseins“, so CG², § 3, 22 Z. 16 f. In Friedrich Schleiermachers Ästhetik, hg. von Rudolf Odebrecht, Berlin/Leipzig 1931, 104, Z. 12 f. kann Schleiermacher aber durchaus sagen, dass der „absolut erhabene Gegenstand … Gott“ ist. Deutlich muss nur sein, dass das Gefühl nichts „Verworrenes“ ist, sondern etwas, das „als das, was es ist, gedacht werden kann“ so CG², § 3, 31 Z. 7– 12.
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2.1.1 Zur größten Verschiedenheit des Umfangs Das erste Spannungsfeld,⁵³ innerhalb dessen jedes Seiende anzutreffen ist, ist das zwischen „Erscheinung“ und „Kraft“.⁵⁴ Seiendes begegnet immer als dieses eine Seiende, und damit als einzelnes. Es ist aber kein isoliertes Einzelnes, sondern erscheint immer als Variation eines Allgemeinen, einer „Gattung“. Gattungen wiederum gewinnen ihre Bestimmtheit daher, dass sie die Bestimmtheiten unterschiedlicher Stufen des Seins variieren. Bei diesen Stufen des Seins handelt es sich nach Schleiermacher um die physikalische und chemische, um die pflanzliche und tierische und schließlich um die menschliche Seinsstufe, wobei jede die Bestimmtheiten der vorangegangenen festhält.⁵⁵ Jedes individuelle Seiende hat „dinglichen“ Charakter⁵⁶ und ist also zum einen eine je individuelle „Erscheinung“; weiter eignet ihm aber auch eine bestimmte „Kraft“ nicht nur vermöge seiner Zugehörigkeit zu einer Gattung, sondern auch dadurch, dass es vermittelst dieser Gattung immer auch Anteil an allen vorangegangenen Stufen und deren Bestimmtheiten hat. Daher findet sich bei jedem Seienden diese „größte Verschiedenheit des Umfangs“.⁵⁷
2.1.2 Zum höchsten Gegensatz Neben diesem Spannungsfeld zwischen individueller Erscheinung und allgemeiner Kraft erscheint Seiendes aber stets zugleich auch innerhalb eines anderen Spannungsfeldes, nämlich innerhalb des „höchsten Gegensatzes“. Dieser rückt ins Blickfeld, wenn „Tätigkeiten“ angeschaut werden.⁵⁸ Schleiermacher sieht den höchsten Gegensatz in jenem zwischen „Vernunft“ und „Natur“.Was beschreibt Schleiermacher mit diesen beiden Begriffen? Zunächst liegt es nahe, an den Unterschied zwischen vor-menschlichen Seinsformen und dem Menschsein zu denken. Und in der Tat verwendet Schleiermacher die beiden Begriffe an einigen Stellen in dieser Weise.⁵⁹ Dennoch kann diese Erklärung
Vgl. Gunter Scholtz: Die Philosophie Schleiermachers, Darmstadt 1984, 53 – 57. Nach Ulrich Barth: Wissenschaftstheorie der Theologie. Ein Durchgang durch Schleiermachers Enzyklopädie, in: Ders.: Kritischer Religionsdiskurs, Tübingen 2014, 263 – 278, 272, zählt dieses Begriffspaar „zu den wenigen echten ontologischen Prinzipien Schleiermachers“. „Über den Unterschied zwischen Naturgesetz und Sittengesetz.“ (Gelesen am 6. Januar 1825), in: KGA I/11, 429 – 451, hier: 448 f. Einleitung der Ethik (L.B.), § 32, 527 f. Einleitung der Ethik (L.B.), § 51, 533. Einleitung der Ethik (L.B.), § 32, 528. Schleiermacher unterscheidet den Naturprozess vom Vernunftprozess, wobei letzterer zusammenfällt mit dem Prozess des Menschseins, so etwa in seinem Akademievortrag „Über den Unterschied zwischen Naturgesetz und Sittengesetz“ (Gelesen am 6. Januar 1825), in: KGA I/11, 451 Z. 9.: Das Sittengesetz ist das „höchste individuelle Naturgesetz“.
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nicht vollständig sein. Denn Schleiermacher spricht vom „höchsten Gegensatz“, also einem Gegensatz, der sich in allem Sein findet. Der höchste Gegensatz wird zunächst als ein relativer Gegensatz vorgestellt. Vernunft und Natur sind zwei Momente, die immer nur gleichzeitig an einem Seienden anzutreffen sind und ein Geschehen beschreiben. Denn im Blick ist ein „Handeln der Vernunft mit der Natur auf die Natur“.⁶⁰ „Natur“ ist also sowohl das, auf das hin gewirkt wird, als auch das, was Medium des Wirkens ist. Sie ist also nicht einfach die stoffliche, materielle Seite des Geschehens, sondern umfasst das gesamte Bezogenheitsgefüge, in dem und auf das hin gemäß einer bestimmten Vernunft gewirkt wird.⁶¹ Wäre dies anders, könnte es sich bei „Natur“ nicht um das Medium und um den Gegenstand des Wirkens gleichermaßen handeln. Schleiermacher bezeichnet die Vernunft im Blick auf den Menschen auch als das „Innere des Handelns oder das Prinzip“.⁶² Vernunft in diesem Sinne gibt es aber auch bei nicht-menschlichen Prozessformen: Auch die Wechselwirkung eines pflanzlichen oder animalischen Seienden folgt jeweils einem solchen „Prinzip“.⁶³ Mit der „Vernunft“ wird also die innere, stets verborgen bleibende Seite eines Prozesses bezeichnet. Dass diese Verwendung von „Vernunft“ zunächst Verständnisschwierigkeiten hervorruft, sah bereits Schleiermacher selbst: „Daß der Gebrauch der Ausdrücke nicht allen gewohnt sein wird, ist natürlich. Dies wäre aber bei der eben so lächerlichen als heilsamen Sprachverwirrung mit allen anderen [ergänze: Ausdrücken, G.H.] eben so der Fall gewesen“.⁶⁴
2.1.3 Das Vernunft-Natur-Geschehen als Bildungsgeschehen Das eben aufgezeigte Geschehen, das Handeln der Vernunft mit der Natur auf die Natur, ist für Schleiermacher nun ein Prozess der „Bildung“.⁶⁵ Bildung findet immer dort statt, wo ein individuelles Seiendes im Verlauf der Wechselwirkung mit seiner
Güterlehre (L.B.), § 2, 566 [Hervorhebung: G.H.]. Es begegnen bei Schleiermacher aber auch Verwendungen des Begriffs „Natur“, mit dem er den „Inbegriff allen endlichen Seins“ bezeichnet, vgl. etwa CG², § 96, 63 Z. 16 f. Güterlehre (L.B.), § 2, 562. Eine sehr ähnliche Beschreibung dieses Sachverhaltes scheint mir bei Eilert Herms vorzuliegen,vgl. Ders.: Leben. Wahrnehmen, erkennen, verstehen und gestalten, in: Ders.: Phänomene des Glaubens, Tübingen 2006, 320 – 346. Einleitung der Ethik (L.B.), § 47, 532. „Über den Unterschied zwischen Naturgesetz und Sittengesetz“ (Gelesen am 6. Januar 1825), in: KGA I/11, 448, Z. 14.
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Außenwelt eine Gestalt gewinnt.⁶⁶ Bildung kann daher als Gestaltgewinnen begriffen werden.⁶⁷ Dieses Gestaltgewinnen hat nun einen eigentümlichen Charakter. Zum einen ist es eines, das „Gesetzen“ folgt, die für die Bildungsprozesse gelten.⁶⁸ Diese sind es, die Gattungen konstituieren: „Nämlich alle Gattungsbegriffe der verschiedenen Formen des individuellen Lebens sind wahre Naturgesetze“.⁶⁹ Hier ist deutlich, dass die Naturgesetze nichts anderes sind als die einer Gattung einwohnende „Kraft“. Zum anderen legen diese Gesetze aber nicht den genauen Verlauf der Bildungsprozesse fest, vielmehr denkt sich Schleiermacher die individuellen Bildungsprozesse als solche, die in einem gewissen Umfang von diesem ihrem Gattungsgesetz abweichen können. So gehören nach Schleiermacher auch „Perturbationen“ zu den Bildungsprozessen dazu.⁷⁰ Diese Perturbationen haben ihren Ursprung darin, dass der individuelle Bildungsprozess nicht vollständig dem Gesetz oder der „Kraft“ der Gattung folgt, sondern noch den Kräften der vorangegangenen Stufen. Das jeweilige Gattungsgesetz beschreibt nach Schleiermacher demnach zum einen ein Faktum, insofern als mit ihm ein bestimmtes Prinzip in das Sein eingetreten ist und ein Sein bestimmt. Zum anderen beschreibt es aber auch eine Bestimmung, da jeder individuelle Bildungsprozess diesem seinen Gattungsgesetz noch nicht vollständig folgt, dieser Einklang aber möglich ist. Individuelle Bildungsprozesse stehen also in einem besonderen Verhältnis zu dem für sie geltenden Gattungsgesetz, sie können diesem mehr oder weniger entsprechen.⁷¹ Damit ist nun jedenfalls auch deutlich, dass für Schleiermacher höchster Gegensatz und größte Verschiedenheit ebenfalls nur zwei Aspekte eines Sachverhaltes sind, nämlich zwei Aspekte jedes Seienden. Jedes Seiende besteht als individueller Bildungsprozess und steht insofern unter dem höchsten Gegensatz. Es bewegt sich als dieser Prozess aber immer in der Spannung von „Kraft“ und „Erscheinung“, insofern
Dabei gilt: Individualität ist einerseits durch Handeln konstituiert, andererseits ist sie aber schon durch die Individualität im Arrangement oder Aufbau eines Wesens gegeben, vgl. dazu Güterlehre (L.B.), § 8, 565. In diese Richtung gehen schon die Überlegungen von Aristoteles, vgl. Jens Brachmann: Friedrich Schleiermacher – ein pädagogisches Porträt. Stuttgart 2002, 10 f. Man kann mit Eilert Herms: Das Bildungsverständnis Schleiermachers, in: Ders.: Menschsein im Werden, Tübingen 2003, 227– 249, hier: 227, von dem lebendigen „Kontinuum des Werdens“ insgesamt sagen: „Dieses Werden ist Bilden“; Schleiermacher zufolge beschränkt sich Bildung auf lebendige Prozesse, da erst auf dieser Ebene Individuen in Erscheinung träten, vgl. „Über den Unterschied zwischen Naturgesetz und Sittengesetz“ (Gelesen am 6. Januar 1825), in: KGA I/11, 447 Z. 25 – 33. „Über den Unterschied zwischen Naturgesetz und Sittengesetz“ (Gelesen am 6. Januar 1825), in: KGA I/11, 447– 448. A.a.O., 447 Z. 16 – 18. A.a.O., 447 Z. 1, ähnlich a.a.O., 448 Z. 13 f. A.a.O., 449 Z. 1 f.: Die Abweichungen stellen eine fehlende Dominanz des höheren Prinzips gegenüber dem niederen dar.
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die Erscheinung für gewöhnlich nie vollständiger Ausdruck der Kraft, und damit des Gattungsgesetzes ist. Die Besonderheit menschlichen Bezogenseins besteht nun darin, dass erst hier von Vernunft schlechthin gesprochen werden kann, da erst auf der menschlichen Seinsstufe alle Natur als Natur, als potentieller Gegenstand menschlichen Wirkens erscheint. Die menschliche Vernunft hat ihre Eigenart darin, umfassend auf alles Sein als Natur Bezug nehmen und es zum Symbol oder zum Organ bilden zu können. Vor dem Hintergrund dieser Skizze des Seins ist nun ein helles Licht auf die spezifische Gegebenheit des Gefühls geworfen: Bei ihr handelt es sich um das NaturVernunft-Geschehen und damit um bestimmtes Werden, das in seiner Bestimmtheit auf die Spannung von individueller Erscheinung und allgemeiner Kraft verweist. Gegeben ist dem Gefühl wie dem Denken damit schlechthin alles Wirkliche in seiner Bestimmtheit; die Besonderheit des Gefühls ergibt sich aus der besonderen Weise, wie dieses Wirkliche im Gefühl gegeben ist. Im nächsten Abschnitt ist darum genauer der Frage nachzugehen, wie dieses Werden für das Gefühl gegeben ist und in ihm zu stehen kommt.
2.2 Der Aufbau des Gefühls nach der Ethik Schleiermachers Rede über das Gefühl verwies bislang zunächst auf das Sein.⁷² Dieses verweist wiederum zurück auf das Gefühl, insofern noch ungeklärt ist, wie dieses Sein für den Menschen gegeben ist. Schleiermacher nennt in seiner Ethik-Vorlesung von 1816 jedenfalls drei Formen des Gefühls: Das leibliche, das religiöse und das sittliche Gefühl.⁷³ Zunächst beziehen sich alle drei Formen auf dieselbe einheitliche Gegebenheit, nämlich das Wirken der Vernunft mit der Natur auf die Natur, und damit auf „Bildung“ in ihrer Spannung von Kraft und Erscheinung. Was unterscheidet die drei Arten des Gefühls aber voneinander? Wie kommt in ihnen Bildung zu stehen? Auch im Falle des Gefühls rechnet Schleiermacher jedenfalls mit der Grundgestalt aller endlichen Wechselwirkung, mit einer eher rezeptiven und einer eher spontanen Seite.⁷⁴ Während das leibliche Gefühl die eher rezeptive Seite im Erleben abbildet, steht das sittliche Gefühl für die eher spontane Seite.
Dieser objektive Bezug des subjektiven Gefühls kommt auch in Schleiermachers Eschatologie zum Ausdruck: Auch hier schließen sich individuelles und universales Moment nicht aus, sondern die individuelle Vollendung begegnet zugleich mit der sie einschließenden „Vollendung der Kirche“, vgl. dazu Eilert Herms: Schleiermachers Eschatologie nach der zweiten Auflage der „Glaubenslehre“, in: Ders.: Menschsein im Werden, Tübingen 2003, 125 – 149, 135. In seiner Vorlesung 1812/13 begegnen die drei Formen des Gefühls als sinnliches, religiöses und ethisches Gefühl: Vgl. die Güterlehre (1812/13), § 229, 315, ebenso a.a.O., § 249, 318. Schleiermacher rechnet mit „Passion“ und „Reaction“ im Gefühl, vgl. Güterlehre (1812/13), § 208, 310.
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2.2.1 Zum leiblichen Gefühl Alles Erleben ist leiblich situiert und damit stets auch durch den Gegensatz von Lust und Unlust geprägt.⁷⁵ Was wird nach Schleiermacher nun leiblich gefühlt? Eben eher Lust oder eher Unlust, stets aber zusammen mit dem, was die Vernunft wirkt oder nicht wirkt in der Natur. Dem Gefühl ist damit zunächst nicht Seiendes als „dingliches“ gegeben; dies begegnet als einzelnes im objektiven, wahrnehmenden Bewusstsein. Das Gefühl richtet sich dagegen auf Situationen, die immer das Resultat eines Wirkens der Vernunft sind. Im Gefühl für eine Situation, auch schon im leiblichen, wird deren „Vernunft“ erlebt. Dies begründet die – relative – Rationalität leiblichen Erlebens.⁷⁶
2.2.2 Zum Gefühl überhaupt Wie sollen wir uns nun die Gegebenheitsweise des Wirklichen für dieses leibliche Gefühl und für das Gefühl überhaupt vorstellen? Dies wird von Schleiermacher leider nicht explizit erörtert, aber er gibt doch einige Hinweise hierzu. So erläutert er das Gefühl genauer als „Einheit des Lebens“.⁷⁷ Das, was im Gefühl gegeben ist, ist als Natur-Vernunft-Geschehen ein dauerndes Geschehen. Und so kann die Einheit des Lebens ebenfalls nur so verfasst sein, dass sie dieses dauernde Erleben umfassen kann. Daher muss sie als Dauererleben verfasst sein.⁷⁸ Da das Geschehen zwischen Natur und Vernunft immer eines zwischen einer bestimmten Vernunft und einer bestimmten Natur ist, eignet auch diesem Dauererleben im Gefühl eine Bestimmtheit. Das dauernde Erleben⁷⁹ von bestimmter Dauer können wir uns aber nur schwerlich anders vorstellen als in bildlich-szenischer Gestalt.⁸⁰ Diese bildlich-szenische Dauer
Vgl. Güterlehre 1812/13, § 249, 318. Als Beispiel mag Folgendes dienen: Bereits beim Hinzutreten zu einer Versammlung kann sich das Gefühl einstellen, dass hier etwas nicht stimmt und irgendwie „dicke Luft“ herrscht, verbunden mit einem Gefühl des Unbehagens. Diese Atmosphäre in der Versammlung ist das Resultat eines Wirkens, und damit „Natur“, die Impulse, die zu dieser Situation führten, stellen die „Vernunft“ dar. Im Gefühl wird also nicht einfach nur das eigene Unbehagen erlebt, sondern auch die durch die Atmosphäre vermittelte Vernunft. Schleiermacher bezeichnet das „Gefühl des Menschseins als bestimmter Einheit des Lebens“, so in der Güterlehre (L.B.), § 54, 590. Die Eigenart menschlichen Erlebens besteht im „Zeitlichwerden und sich als zeitlich finden und wieder aufnehmen“,vgl. „Über den Begriff des höchsten Gutes. Zweite Abhandlung“, in: KGA I/11, 671 Z. 36. Güterlehre (L.B.), § 33, 576: „Das schlechthin Innere des Menschen auch als Ineinander von Vernunft und Natur […]“ – das Fühlen ist also auch prozessual verfasst. Eilert Herms beschreibt das Gegebensein des Wirklichen als „szenische Erinnerung“, vgl. Eilert Herms: Die Sprache der Bilder und die Kirche des Wortes, in: Ders.: Offenbarung und Glaube, Tübingen 1992, 221– 245, bes. 229 – 231. Die größte Verschiedenheit des Umfangs wäre dann zunächst der Gegenstand des begrifflichen Denkens, der höchste Gegensatz zunächst Gegenstand des bildlichen Erlebens oder des Erlebens von Szenen.
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wiederum ist nun keine bloß äußerliche Größe, sondern eine, die den Erlebenden als leibhaft Fühlenden mit einschließt.⁸¹ Der allgemeine Zug des Gefühls ist also als leiblich-szenisches Dauererleben vorzustellen.⁸² In diesem Sinne ist mittels des Gefühls tatsächlich schlechthin alles für den Menschen da, im Gefühl findet sich die „unmittelbare Gegenwart des ganzen ungetheilten Daseins“.⁸³ Das Gefühl stiftet die – inhaltlich gefüllte! – Einheit der Lebensmomente eines Menschen. Im Gefühl findet der Mensch eine ursprüngliche Entsprechung zum ihn einschließenden Wirklichen und damit: Wahrheit. Daher kann Schleiermacher auch vom unmittelbaren Selbstbewusstsein als der „Wahrheit unseres Daseins“ sprechen.⁸⁴
2.2.3 Zum sittlichen Gefühl Alles Erleben ist nach Schleiermachers immer auch das Erleben von möglichen Einigungen von Natur und Vernunft, die in einer Situation mitgegeben sind. Denn das sittliche Gefühl sagt „was die Vernunft wirkt oder nicht wirkt in der mit ihr geeinigten Natur zufolge des Verhältnisses, in welchem diese steht gegen die nicht geeinigte; und dies ist eben die zu jedem Gefühl nothwendige Erregung“.⁸⁵ Das mögliche Wirken der Vernunft oder ihr Wirkenkönnen auf die Natur wirkt nach Schleiermacher „erregend“ auf den Erlebenden.⁸⁶ Schleiermacher erfasst den Unterschied zwischen leiblichem und sittlichem Gefühl durch die unterschiedliche Weise des Gegebenseins von Natur und Vernunft: Im Falle des leiblichen Gefühls handelt es sich um die angetroffene, im Falle des sittlichen Gefühls um eine noch ausstehende Situation. Und während die angetroffene durch den Ausdruck „Einigkeit“ von Natur und Vernunft beschrieben wird, so die noch ausstehende durch den Begriff der „Einigung“.⁸⁷
Denn es gibt „keine Form des Bewußtseins, die anders als mit ihrer Leiblichkeit zugleich hervortreten könnte“, vgl. „Über den Begriff des höchsten Gutes. Zweite Abhandlung“, in: KGA I/11, 672 Z. 7 f. Auch herrscht ein Gefühl für das leibliche Eingefügtsein in den kosmischen Rhythmus: Güterlehre (L.B.), § 28, 573. Höchst anregend in diesem Zusammenhang lesen sich die Ausführungen von Thomas Fuchs: Das Leibgedächtnis in der Demenz, in: Andreas Kruse (Hg.): Lebensqualität bei Demenz, Heidelberg 2010, 231– 242. CG², § 3, 23: So Schleiermacher im Anschluss an Ausführungen seines Kollegen Steffens. CG², § 65.2, 404 Z. 6. Güterlehre (L.B.), § 52, 589. Auch hier ein Beispiel: Das gemeinsame Altwerden zweier Liebender kann als mögliche Situation anziehend erlebt werden; diese Aussicht wirkt „erregend“, hat also insofern einen Impulscharakter, als sie ein weiteres Handeln zu orientieren vermag. Güterlehre (L.B.), § 36, 623.
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2.2.4 Zum religiösen Gefühl Welche Rolle spielt nun aber das religiöse Gefühl im Aufbau des Gefühls? In welchem Verhältnis steht es zum leiblichen und zum sittlichen Gefühl? Womit hat es das religiöse Gefühl nun zu tun? Im religiösen Gefühl wird eine einzelne Einigungsgestalt von Natur und Vernunft als die wahre Einigungsgestalt erlebt.⁸⁸ Als wahr wird diese eine Gestalt menschlichen Lebens erlebt, weil sie als im Einklang mit der verborgenen Kraft des Menschseins sich befindend erlebt wird, und damit als Realisierung der Bestimmung des Menschen. Wenn die Lebensgestalt eines Menschen, seine „Erscheinung“, als unverfälschter Ausdruck der angelegten „Kraft“ erlebt wird, dann kann sie als ein „Totaleindruck“ begegnen. Für Schleiermacher geschah dies in exemplarischer Weise in der Person Jesu von Nazareth. Die im Menschen verborgene und in Jesus von Nazareth vollständig zum Ausdruck gekommene Kraft ist die zur Gemeinschaft mit Gott. ⁸⁹ Die Bestimmung der Kraft realisiert sich in einer Lebensgestalt, in der alle auf Einzelnes gerichteten Erfahrungen im Horizont der bestimmten Gottesbezogenheit erlebt werden und alles Umgehen geprägt ist von dieser Gottesbezogenheit: Das Gottesbewusstsein dominiert das Weltbewusstsein. Die Kraft ist ganz in der Lebensgestalt zur Erscheinung gekommen. Seine Eigenart hat das Gottesbewusstsein im christlichen Falle dadurch, dass die Gottesgemeinschaft eben als durch Gott selber etabliert erlebt wird, und der Mensch nur beteiligt ist mittels seiner „lebendigen Empfänglichkeit“.⁹⁰ Der christliche Glaube ist eine Erlösungsreligion, weil die Realisierung der im Menschen verborgenen Kraft nicht durch den Menschen selbst geschehen kann. Der Mensch muss davon erlöst werden, alles entgegen seiner Wahrheit nur als Einzelnes zu erleben und zu behandeln; er muss zur Gottesgemeinschaft befreit werden, dazu, alles als Medium der Gottesbezogenheit zu erleben und zu behandeln. Damit stimmen auch Schleiermachers philosophische Ausführungen zum Gefühl überein. In Schleiermachers eigener Nachschrift seiner ersten Pädagogik-Vorlesung heißt es: „Ist also einer nicht spekulativ, so kann man ihn nicht dazu machen; es ist seine natürliche Unvollkommenheit. Ist aber einer nicht religiös, so ist es eine Verkehrtheit, denn er müßte in einer beständigen Skepsis sein; ist er dies nicht, so ist er von einem bloß in seiner Besonderheit liegenden Grunde geleitet, und das ist böse.“⁹¹
Ganz im Sinne des Wahrheitsverständnisses der Tugendlehre begegnet hier die Identität von Idealem und Realem, vgl. die Tugendlehre 1812, 383, Zusatz 1827a. Die beim Menschen nicht anders verfasst sein kann als in der Form des „Gottesbewusstseins“. Vgl. etwa CG², § 91, 30 Z. 2. Vgl. dazu in diesem Band auch den Aufsatz von Sabine Schmidtke. Friedrich Schleiermacher: Texte zur Pädagogik. Kommentierte Studienausgabe, 2 Bände, hg. von Michael Winckler/Jens Brachmann, Frankfurt a. M. 2000, Bd. 1, Pädagogik 1813/14, 244 Z. 31– 33.
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Gibt es kein religiöses Gefühl, dann herrscht nach Schleiermachers im Erleben entweder die „Skepsis“ – und keine Möglichkeit wird als anziehend erlebt. Dass Schleiermacher hier nicht Skepsis im Sinne einer fehlenden Realitätsgewissheit meint, sondern eine Skepsis gegenüber den eigenen Handlungsmöglichkeiten, erhellt daraus, dass Schleiermacher die zweite Alternative zur Frömmigkeit in einem Geleitetsein durch die bloße persönliche Eigentümlichkeit sieht – „und das ist böse“. Das religiöse Gefühl hat demnach eine handlungsorientierende Kraft. Als Innesein eines Bildes von einem bestimmungsgemäßen Leben besteht grundsätzlich keine „Skepsis“ hinsichtlich dessen, was gut und anstrebenswert ist: Es vermag das sittliche Gefühl am gefühlten Guten auszurichten.⁹² Schleiermacher kann weiter fordern, dass „jede Lust und Unlust religiös wird“.⁹³ Das „leibliche“ Gefühl, alles Erleben leiblicher Lust und Unlust, soll im Lichte des religiösen Gefühls und der in diesem präsenten Bestimmung des Menschen erscheinen. Schleiermacher sieht das menschliche Gemüt immer schon auf eine derartige Konstruktion hin angelegt, in der das Reale nur im Lichte des Idealen erscheint, und alle Erscheinung unmittelbarer Ausdruck der Kraft ist. Im Falle des Weisen ist das Gefühl nicht so konstruiert, dass es keine Lust oder Unlust mehr gäbe, sondern es ist „ganz anders construiert [], so nämlich, daß das sinnliche gleich in seinem Entstehen von einem höheren belebt“ wird.⁹⁴ Dies geschieht, wo alles leibliche Fühlen – in seiner Bestimmtheit – im Horizont des religiösen Fühlens erscheint.
3. Fazit Karl Barths Äußerung, es seien „das Wort, die Aussage, der Satz“, die als „Träger, Bringer und Verkünder der Wahrheit“ fungierten,⁹⁵ ist aus der Sicht Schleiermachers zumindest eine schwerwiegende Verkürzung dessen, was Wahrheit eigentlich ist: Nämlich das bildende Erleben einer Gestalt menschlichen Lebens, in der die dem Menschsein ursprünglich einwohnende Kraft vollständig im Lebensvollzug eines Menschen zum Ausdruck kommt. Eine solche Lebensgestalt kann dann als Realisierung der menschlichen Bestimmung über sich hinaus auf Gott als den Ursprung dieser Bestimmung verweisen. Damit erweist sich Schleiermachers Theorie des religiösen Gefühls und dessen Bildung als eine philosophische Auslegung von Joh 114: „Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine
„In der Gesinnung ist das Gute das Zusammenfallen des Gemeinsamen mit dem Einzelnen“, so in der Pädagogik 1813/14, 239 Z. 19 f. Güterlehre (1812/13), § 249, 318. „Über die wissenschaftliche Behandlung des Tugendbegriffs“, in: KGA I/11, 313 – 335, hier 326. Karl Barth: Die Theologie Schleiermachers, 373.
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Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.⁹⁶ Die Wahrheit Gottes, sein „Wort“, wurde nach Schleiermachers Sicht der Dinge eben nicht selbst wiederum bloß schriftliches Wort, sondern „Fleisch“. Verborgen im „Fleisch“ Jesu, verstanden als das Ganze seines Lebens, begegnet der logos, die von Gott gesetzte Bestimmung des Menschen. Damit wird am religiösen Gefühl exemplarisch deutlich, was für das Gefühl überhaupt gilt: Es ist ein unhintergehbar subjektives Innesein eines objektiven Sachverhaltes. Die Bildungsfähigkeit dieses Verhältnisses verweist damit zugleich darauf, dass das religiöse Gefühl auf Wahrheit hin angelegt ist. Der Mensch ist dazu bestimmt, im Gefühl den Einklang von äußerer Erscheinung eines Menschen und innerer Kraft des Menschseins, und damit Wahrheit zu erleben,⁹⁷ und selbst mittels der Bildung des Gefühls Anteil an diesem Einklang zu bekommen.
Als eine theologische Auslegung dieses Verses wollte Schleiermacher bekanntlich auch seine Glaubenslehre verstanden wissen, vgl. „Über die Glaubenslehre. Zwei Sendschreiben an Lücke“ (1829), in: KGA I/10, 307. An dieser Stelle sei noch einmal betont, dass sich Wahrheit zunächst nicht auf Aussagen bezieht, sondern auf das leiblich-szenische Erleben, vgl. 2.3.2.: Schon auf dieser Ebene können sich Ideales und Reales entsprechen.
Kelly Brotzman / Lexington/Virginia
Schleiermacher and Experiential Learning In Friedrich Schleiermacher’s mature theology and ethics, the concept of experience (Erfahrung) plays an undeniably central role. Because he engaged such a wide array of disciplines outside of theology and ethics, however, it is worth asking whether this distinctive commitment to experience also characterizes other areas of Schleiermacher’s thought. I believe that his writings on education and pedagogy are particularly ripe for this sort of examination. One reason to start here is the conspicuous fascination, especially in educational institutions in the United States and Canada over the last forty years, with “experiential learning”. It is not unusual for North American colleges and universities to tout experiential learning as a top priority in strategic plans, fundraising campaigns and public relations efforts.¹ Increasingly, whole schools and departments require students to complete some form of experiential learning in order to graduate or progress. Many campuses now have whole centers or offices devoted to experiential learning.² The exact list of practices that count as “experiential learning” is contested, but there is broad consensus that it includes forms of participatory, hands-on, learning-by-doing such as internships, fieldwork, practicums, service learning, civic engagement, and travel or place-based experiences like field trips and cultural immersions.³ This boom in experiential learning has not, however, been accompanied by vigorous theorizing. This is probably because the emphasis has been on facilitating experiential learning – making sure that more of it happens – rather than on conceptualizing experiential learning – developing a sophisticated understanding of its nature, aims, effectiveness, limitations, and so on. Still, it is troubling that such a There is some evidence that experiential learning is gaining momentum in Europe as well. The profusion of interest in experiential learning may be partly traceable to George D. Kuh’s muchtouted and well-received study of ten so-called “high impact” educational practices. At least seven of Kuh’s ten “high impact” practices (and arguably all ten) are highly experiential in nature (for example, internships, fieldwork, service learning, practicums, and living/learning communities). See HighImpact Educational Practices: What They Are Who Has Access to Them, and Why They Matter (Washington, DC: AAC&U, 2008). In the 2015 National Survey of Student Engagement (NSSE), the largest survey of college students in the United States, 67 % of fourth-year students at bachelor’s degreegranting institutions reported engaging in service-learning during their college career; 68 % completed an internship or fieldwork; and 36 % studied abroad. See http://nsse.indiana.edu/2015_institu tional_report/pdf/HIPTables/HIP.pdf. For the purposes of this paper, I will define EL as any approach in which educators purposefully facilitate direct interactions between students and their worlds in order to expand, deepen or strengthen knowledge and/or skills. Most definitions of experiential learning include at least two main ingredients: (1) some experience which is intentionally selected and structured by educators and intentionally entered into by students for the explicit purpose of learning; and (2) an ongoing process of reflection explicitly aimed at interpreting the meaning and learning value of the experience.
DOI 10.1515/9783110464573-009
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fast-growing and popular educational movement remains so undertheorized. Contemporary discussions of experiential learning, though lively and widespread, often feel distinctly uncentered, unsystematic or even downright incoherent. There is no core set of questions around which these discussions tend to orbit, and no identifiable set of paradigms competing to offer the best answers to these core questions. Theoretical discussions about experiential learning (hereafter EL) are usually an ad hoc jumble of references to John Dewey or David Kolb, perhaps a casual mention of Piaget, Vygotsky or Bandura, or more recently, a heavy but somewhat haphazard reliance on recent discoveries in neuroscience and cognitive psychology.⁴ My goal in this paper is to make two fairly modest suggestions. First, those who wish to shore up and de-clutter the muddled theoretical foundations of EL should consider turning to Schleiermacher as a historical interlocutor. I believe his thought contains conceptual resources which can lend coherence and clarity to many of the central claims of EL. My second suggestion is that Schleiermacher scholars and appreciators should consider engaging the field of EL. In particular, those who are trying to reassert the importance of Schleiermacherian Bildung in today’s educational landscape may discover that EL provides a rich reservoir of practices which can concretely illustrate and instanciate what Bildung looks like.
1. Schleiermacher on Bildung and Erziehung Bildung is a larger category than Erziehung for Schleiermacher. Indeed, it is the largest category of all in Schleiermacher’s moral thought. At its most capacious, the concept of Bildung is co-extensive with the whole of reality. It is the name for an activity which is always already going on, both in the world and in our inner selves.⁵ Everything within the “realm of reciprocity” – Schleiermacher’s name for the complex and dynamic web of relationships and interactions which comprises finite existence⁶ – exercises formative power in the sense that it shapes and determines who we are. When this activity is rightly oriented, Bildung becomes Schleiermacher’s name for the good life as such, which is a comprehensive, ongoing project of integrating rea-
To see examples of this, one could simply peruse recent issues of some prominent journals in the field: Journal of Experiential Education, Michigan Journal of Community Service Learning, Journal of Community Engagement and Scholarship, Partnerships, Journal of Cooperative Education and Internships, International Journal for Research on Service Learning and Community Engagement, and others. I am particularly indebted here (as later) to Elisabeth Gräb-Schmidt, “Bildung als Emanzipation. Neuere Bildungstheorien im Anschluss an Friedrich Schleiermacher,” in Lived Religion: Conceptual, Empirical and Practical-Theological Approaches. Essays in Honor of Hans-Günter Heimbrock, (Leiden: Brill, 2008). She correctly points out that Schleiermacher’s very notion of reality is a permanent Bildungsprozeß. For a typical example, see Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der Evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1830/31), ed. Martin Redeker, (Berlin: de Gruyter, 1999), §4.2.
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son and nature.⁷ This integration as an ideal worth striving for originates in the human being herself, who is a synthesis of embodied reason and rational nature, or in other words, a soul.⁸ The moral process of Bildung proceeds both inwardly and outwardly. Outwardly, Bildung describes what happens when human beings fashion their worlds into meaningfully ordered moral spaces which enhance life (Lebenserhöhung) rather than diminish it (Lebensverringerung), or in other words, make them into cultures. Kulturschaffung is a resolutely teleological and ultimately perfectionistic process aimed at realizing the highest good. In day-to-day life, Kulturschaffung manifests itself mostly in the work of building, sustaining, enriching and perfecting the basic cultural forms within which human life unfolds and flourishes: political, economic, and educational systems and institutions; structures for work, commerce and labor; artistic, religious and recreational associations; family life; and informal social interaction such as friendship, voluntary and civic involvement, and the like.⁹ For Schleiermacher, these are the concrete goods (Güter) produced in the outwardly-directed process of Weltbildung or Kulturschaffung. ¹⁰ Bildung also proceeds inwardly. Because every determinate moment of sensible self-consciousness within the realm of reciprocity is constituted by the antithesis of relative freedom and dependence, human beings are always partially aware of them-
See especially the introductory section of Ethik (1812/1813) Mit späteren Fassungen der Einleitung, Güterlehre und Pflichtenlehre, ed. Hans-Joachim Birkner, Philosophische Bibliothek, vol. 35 (Felix Meiner Verlag: Hamburg, 1990), 5 – 18. William Schweiker made this point particularly well in “Schleiermacher’s Ethics: Humanistic Premise and Ecological Promise,” in Schleiermacher, the Study of Religion, and the Future of Theology: A Transatlantic Dialogue (Berlin: Walter de Gruyter, 2010), 323 – 334. Because Bildung is such a comprehensive category, moral activity is simultaneously grandiose and mundane for Schleiermacher. I am not only engaged in moral activity when I make high-stakes decisions (say, blowing the whistle on corrupt practices in my workplace), or take public stands on particular issues (say, protesting against human rights violations). I am also engaged in equally significant moral activity when I shop for nutritious foods, prepare well-balanced meals, and devote regular time to exercise. In doing these things I am using my capacities for intentionality and choice (reason) to sustain, develop and enhance the body I was born with (nature). The result is health, a moral good of the highest order. To take another example, when parents nurture children and raise them to be thoughtful, creative adults who contribute to their communities in constructive ways, they are engaged in a monumentally important ethical activity. Quality parenting turns the raw fact of reproduction (nature) into a noble work of person-formation (culture). Neglectful or abusive parenting, on the other hand, has a dis-integrating effect, not only within the soul of the child but also within the wider world. Brent Sockness, Richard Crouter, David Klemm, John Wallhausser, John Crossley, and James Brandt have been instrumental in demonstrating to Anglophone Schleiermacher scholars the central importance of culture in all areas of Schleiermacher’s thought, especially his ethics. See for example Brandt’s All Things New: Reform of Church and Society in Schleiermacher’s Christian Ethics, Columbia Series in Reformed Theology (Louisville: Westminster John Knox Press, 2001), 70 ff. This point has long been commonplace among German-speaking Schleiermacher scholars such as Hans-Joachim Birkner, Wilhelm Gräb and Wilhelm Christe and others.
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selves as agents who determine their lives, but also as patients. The basic parameters and conditions of our lives are in many ways given to us and in many ways forged by us. We ourselves are both a cause and an effect of them. Inward Bildung concerns precisely this dynamic. It is about turning the fact of situated human freedom into a settled disposition and a conscious attitude (Gesinnung) of co-responsible selfhood. For Schleiermacher, a person’s Gesinnung is the fundamental orientation of her soul which saturates all thinking and doing and directs specific choices, decisions and acts of will.¹¹ The ideal Gesinnung is one which embraces both the real possibilities and the real limits of human freedom in perfecting the world and ourselves. As agents tasked with removing and overcoming evil and enlarging the reign of goodness, we are neither omnipotent nor powerless. Neither apathy nor fanaticism, neither moral lethargy nor moral mania, are appropriate expressions of this Gesinnung. Rather, it is evidenced in a steady, lifelong commitment to integrity and wholeness in all areas of life.¹² This inward Selbstbildung is quite clearly the condition for the possibility of outward Weltbildung in Schleiermacher’s thinking.¹³ It is precisely here, in the realm of Selbstbildung, that education assumes enormous significance. Training and enhancing a young person’s native capabilities and
See Friedrich Schleiermacher: Texte zur Pädagogik, vol. 2, ed. Michael Winkler and Jens Brachmann (Frankfurt: Suhrkamp Verlag, 2000), 113 – 115. This volume contains notes from Schleiermacher’s 1826 lectures on Erziehungskunst. In this sense, Gesinnung resembles habitus or character in Aristotle. I am indebted to the following for informing my understanding of Schleiermacher’s concept of Gesinnung: Franziska Bartel, Die Entstehung des Erziehungsdenkens bei Schleiermacher (Würzburg: Ergon, 2012); Helmut Girndt, “Kultur und Erziehung bei Schleiermacher,” Zeitschrift für philosophische Forschung 23:4 (1969): 550 – 66; Elisabeth Gräb-Schmidt (see note 10); Martina Kumlehn, “Individuelles Symbolisieren und religiöse Kommunikation. Schleiermachers Theorie religiöser Bildung und ihre Impulse für die Debatte um religiöse Kompetenzen und Bildungsstandards,” International Journal of Practical Theology 12:1 (2008), 3 – 22; and the consensus of the theological committee of the Protestant church in Germany published in Bildung in evangelischer Verantwortung auf dem Hintergrund des Bildungsverständnisses von F.D.E. Schleiermacher: eine Studie des theologischen Ausschusses der evangelischen Kirche der Union (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2001). Once again, I think Gräb-Schmidt has it exactly right when she describes Selbstbildung as basically a competence of responsibility. Some may think I am neglecting the famous feeling of absolute dependence here. I will not dwell on this feeling in this paper, except to note that it is a necessary precondition for all human experience. I do not interpret the feeling of absolute dependence itself as an experience. It is not even, on Schleiermacher’s anthropology, experienceable. Schleiermacher consistently acknowledged, embraced and even celebrated the finitude and boundedness of human experience. He saw the realm of human experience as vast, rich, and complex, but also as profoundly thisworldly, as something inescapably conditioned and limited. Certain things simply transcend this realm. Absolute dependence is one such thing. Whenever the modifier “absolute” is attached to something, it points beyond humanly experienceable relations and interactions. This is why he insisted that absolute dependence was a Gefühl rather than an Erregung or Gemuthsbewegung. I understand the feeling of absolute dependence as an always-already, pre-thematic awareness that we are not the source of our own being or of the world’s existence rather than as an experienced sensation of awe or wonder. I believe this is consistent with the weight of Schleiermacher interpretation.
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skills (Fertigkeiten) was, Schleiermacher thought, a fairly straightforward educational project. It could be accomplished through more or less routine pedagogical techniques and methods. When a young person develops an informed worldview and a sufficient level of practical know-how, this project has basically succeeded.¹⁴ A young person’s inner spiritual disposition, however (Gesinnung), cannot be trained in the same straightforward way. It must instead be formed (gebildet). Gesinnung is malleable, particularly among the young, although once developed it possesses a quasi-permanent durability.¹⁵ Gesinnung is the product of all of the influences on a young person in all four cultural spheres. In other words, our moral educators are not just our schoolteachers and professors (Schule/Akademie), but also our parents, siblings and friends (freie Geselligkeit), our fellow citizens, workers, consumers and producers (Staat) and our brothers and sisters in our faith communities (Kirche).¹⁶ The primary tools used in the educational process of Gesinnungsbildung are Gegenwirkung and Unterstützung: resistance (or counteraction) and support.¹⁷ Support is clearly primary for Schleiermacher, and consists primarily in verbal and nonverbal expressions of praise, approval and encouragement when a young person shows positive growth toward responsible selfhood. Schleiermacher believed that supportive expressions should be used liberally.¹⁸ They can assume increasing didactic complexity as a young person grows in reason and understanding, for example explaining why telling the truth is the right thing to do, or identifying the goodness inherent in fair play. Resistance or counteraction was a much trickier business for Schleiermacher, who abhorred the notion of shaming or punishing a young person, let alone imposing any sort of corporal discipline. In instances of naughtiness (more common among young children) or callousness, baseness, or outright malice (more common among
See Friedrich Schleiermacher: Texte zur Pädagogik, vol. 2, ed. Michael Winkler and Jens Brachmann (Frankfurt: Suhrkamp Verlag, 2000), 115 – 119. This typically happens near the culmination of adolescence, which Schleiermacher saw as the second of three main developmental periods (early childhood, typically including the years before a child begins interacting with the wider world outside the family through formal schooling; youth, roughly approximating the period of formal schooling; and mature adulthood, where people enter the social Gesamtleben as full participants). This is also when it usually becomes clear whether a young person is well-suited for higher philosophical training in a university setting. Though dated, I also found Franz Vorländer’s Schleiermachers Sittenlehre: ausführlich dargestellt und beurteilt mit einer einleitenden Exposition des historischen Entwicklungsganges der Sittenlehre überhaupt, orig. pub. 1851, rev. ed. (Aalen: Scientia Verlag, 1984) helpful on this point. See Friedrich Schleiermacher: Texte zur Pädagogik, vol. 2, ed. Michael Winkler and Jens Brachmann (Frankfurt: Suhrkamp Verlag, 2000), 139 – 147. Another is protection (behüten), which is primarily limited to very young preschool children who are in the first of the three basic developmental periods. Protection is primarily about shielding innocent children from harm and evil influences. See Friedrich Schleiermacher: Texte zur Pädagogik, vol. 2, ed. Michael Winkler and Jens Brachmann (Frankfurt: Suhrkamp Verlag, 2000), 61– 65. In emphasizing the primacy of Unterstützung, Schleiermacher may foreshadow developmental theories focused on positive reinforcement.
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Figure 1: Bildung and Erziehung in Schleiermacher’s thought
adolescents and young adults), the seasoned educator will show restraint, more often allowing such behavior to take place rather than intervening to obstruct or thwart it. Gegenwirkung consists primarily in verbal and nonverbal expressions of disapproval, displeasure, disappointment or reproach after the fact. As with Unterstützung, these can increase in complexity as a child grows in understanding, for example explaining the harm of bullying or identifying the detrimental repercussions of cheating. However, Gegenwirkung should be used as sparingly as possible and should cease once its goal has been achieved. This goal is to awaken the educand’s own awareness of the badness or irresponsibility of his actions and call forth a sense of his own answerability for such choices.¹⁹ This should in turn bolster his consciousness that, as a responsible agent, he can and should choose better next time. In employing support and resistance, the educational process of Gesinnungsbildung taps into the powerful antithetical senses of pleasure and pain. Like relative freedom and dependence, pleasure and pain permeate and determine every moment of sensible self-consciousness. They are the fundamental impulses which motivate all human action. They are also, however, amenable to formation. Human beings do not come into the world pre-programmed to take joy and pleasure in Lebenserhöhung or to feel pain and sorrow at Lebensverringerung. The educational process employs Gegenwirkung and Unterstützung precisely to calibrate these senses, aligning
I am especially informed here by Bartel, Die Entstehung des Erziehungsdenkens bei Schleiermacher, 200 – 210 and Vorländer, Schleiermachers Sittenlehre, 300 – 310.
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pleasure with goodness and pain with evil. The process of Gesinnungsbildung can therefore be imagined as taking place within a magnetic field of sorts: the forces of attraction are used to pull young souls toward responsible agency, and the forces of repulsion are used to push them away from vice and depravity.²⁰ Schleiermacher insisted that the skillful use of these tools was more art than science. The master educator does not follow a fixed procedure in administering them. Instead, he improvises, adapting the dose, nature and timing of his supportive and counteractive expressions to each young soul he encounters.²¹ This highlights the highest goal of Bildung: individualization. The centrality of Schleiermacher’s Individualitätsgedanke has long been appreciated among his interpreters, but it is nowhere more prominent than in his pedagogical and educational thought. Well-educated, well-formed people do not live homogeneous lives, strive for the same goals, or exhibit uniformity. Schleiermacher believed that excellent education could and should yield variegated and abundant forms of life. The artist, the activist, the businessperson, the scholar, the pastor, the laborer, the parent, the politician – all of these could be the products of fine education, because each can embody responsible selfhood in his or her own unique way. The test of a community’s educational systems is not whether young people have mastered a standardized body of knowledge or possess a uniform set of skills but whether they can fashion their lives into a “piece of art,”²² fully actualizing their distinctive potential to make the contributions only they can make to the Gesamtleben. For Schleiermacher, then, education at its apex is a kind of “soulcraft,” a term I borrow from Matthew Crawford²³ but which fits nicely with the organizing theme of this group of papers: die zu bildende Seele, the soul-in-formation.²⁴
Gegenwirkung may be the educational equivalent of what Schleiermacher classifies as purifying or restorative actions (reinigende, wiederherstellende) in his Christian ethics. Unterstützung, by the same token, may be the educational version of disseminating or broadening actions (verbreitende). The educator’s attempts to influence the educand’s Gesinnung by expressing, displaying, or communicating the contents of her own Gesinnung bear some similarity to Schleiermacher’s description of Jesus’ influence on his followers. Both consist in mediating or communicating self-consciousness. Of course, the crucial difference is that Jesus’ mediation of his God-consciousness has assumptive (aufnehmend) power. Jesus didn’t just influence others but redeemed them by making his fellowship with God possible for them. A mere teacher does not have this power. This is precisely why she must activate the student’s own consciousness. She must encourage the student to move autonomously toward responsible selfhood precisely because she cannot make this possible for him on her own. Brent Sockness, “Was Schleiermacher a Virtue Ethicist?: Tugend and Bildung in the Early Ethical Writings,” Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte 8 (2001): 32. Crawford develops this concept extensively in his remarkable Shop Class as Soulcraft: An Inquiry into the Value of Work (New York: Penguin, 2010) but it also turns up in his recent The World Beyond Your Head: On Becoming an Individual in an Age of Distraction (New York: Farrar, Strauss and Giroux, 2015). It may seem that I am neglecting the other main goal of Erziehung in Schleiermacher’s thought: cultural continuation. Education is the primary means through which the older generation transmits its cultural achievements to the younger generation and equips them with the tools to preserve (Er-
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2. How Schleiermacher’s thought can inform EL I believe that Schleiermacher’s account of the human soul, particularly the formation of Gesinnung, can make at least four significant contributions to the field of EL. First and perhaps most obvious, Schleiermacher envisioned Bildung as a broadly communal process involving all four cultural spheres. This view was somewhat novel in educational theory, which for centuries was largely focused on the narrow educational dyad of an individual teacher interacting with an individual student.²⁵ Advocates for EL often assert that the learning process cannot be limited to campuses or classrooms. The power to educate is not the exclusive possession of professional teachers but is wielded by many members of society, who act as vital co-educators, influencing not only what and how students learn, but also who they become. Formal instruction alone, in other words, cannot educate fully; it accomplishes infinitely more when it is coupled with concrete praxis in authentic, real-world settings. This is why EL advocates urge schools and universities to maintain robust partnerships with a wide array of organizations working in other sectors such as businesses, NGOs, charities and civic and cultural organizations, political advocacy groups, and so on. Schleiermacher’s thought grounds and legitimates the notion, prominent within EL, that education is a broadly social process. Second, Schleiermacher supplies an anthropology, a normative picture of the experiencing human self, which is remarkably well-suited to support many of the claims of EL.²⁶ At the level of sensible self-consciousness, the distinguishing feature of Schleiermacher’s anthropology is the intersection of two antitheses: relative freedom/dependence and pleasure/pain. Each of these antitheses can clarify claims which have been made on behalf of EL. For example, some have argued that EL is a “high impact” educational practice because it is a strong catalyst for “metacognition,” or deliberate thinking about one’s own thinking and learning. In metacognition, learners “step back” to assess their strengths and weaknesses, identify learning preferences and challenges, and reflect on strategies and techniques they can use to
halten) what is humanizing and life-enhancing in them while also correcting its imperfections, critiquing its deficiencies, and realizing further progress (Verbessern). The cultural function of education is therefore not to replicate ideology or manufacture consent but ensure future progress and development. I have not attended closely to this aspect of the Bildungsprozess in this paper because it is less relevant for my exploration of EL. In truth, Bildung as cultural continuation can be seen as the flipside of Gesinnungsbildung. On the dialectic of erhalten and verbessern, see especially Schleiermacher in der Pädagogik, ed. Johanna Hopfner (Würzburg, Ergon Verlag, 2007). Karsten Kenklies, “Friedrich Schleiermacher,” in Encyclopedia of Educational Theory and Philosophy, ed. Denis Phillips (Thousand Oaks, CA: SAGE, 2014). This is something that theorists of EL have conspicuously avoided. The field as a whole, while it utilizes models of the human-as-learner borrowed from psychology, neuroscience and a few other disciplines, has not typically devoted sustained attention to anthropological questions.
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strengthen or maximize their learning.²⁷ When EL is championed for these metacognitive benefits, what is really being said, I think, is that EL can enhance learners’ responsibility, i. e., their conscious awareness of their own possibilities and limits as learners as well as the possibilities and limits of the bodies of knowledge they encounter in the learning process. For Schleiermacher, the Gesinnung of responsible agency grows out of a human being’s continual oscillation between experiences of relative freedom – shaping our worlds, imbuing our lives with meaning, making an impact on the world and on other people, pursuing plans and purposes – and experiences of relative dependence – confronting the historical boundedness of our understandings, encountering our physical and intellectual limits, or seeing our plans and purposes thwarted or obstructed. The phenomenon of metacognition can be seen as a similar sort of oscillation. If one of EL’s distinctive strengths is that it sparks this phenomenon, it illustrates how education is also always a process of Gesinnungsbildung. Another example of how Schleiermacher’s anthropology provides a useful explanatory framework for EL can be found in the concept of “valence.” Several recent discoveries in neuroscience point to the importance of affect and positive emotion in the learning process. When a particular topic or subject matter has positive “valence” for a learner, the limbic system is triggered, which activates attention and mental effort, thereby greatly enhancing cognitive ease and retention.²⁸ Some evidence suggests that the whole process of learning is driven by the release of dopamine in the nucleus accumbens, a powerful reward system in the brain’s pleasure center.²⁹ Commentators in the field of EL have seized upon these findings, hypothesizing that because EL facilitates real-world encounters, it appeals to learners as a “sampler plate” where they can test the valences that various bodies of knowledge have for them, whether positive or negative.
See National Research Council, Committee on Developments in the Science of Learning, How People Learn: Brain, Mind, Experience and School (Washington DC: National Academies Press, 2000), 95 – 100; John Flavell, “Metacognition and Cognitive Monitoring,” American Psychologist 34:10 (1979), 906 – 911; Alice Kolb and David Kolb, “The Learning Way: Meta-Cognitive Aspects of Experiential Learning,” Simulation & Gaming 40:3 (2009), 297– 327 and Janet Eyler, “The Power of Experiential Education,” Liberal Education 95:4 (2009), 24– 31. David Sousa, “Mind, Brain, and Education: The Impact of Educational Neuroscience on the Science of Teaching,” Learning Landscapes 5:1 (2011): 37– 43; Mary Helen Immordino-Yang and Antonio Damasio, “We Feel, Therefore We Learn: The Relevance of Affective and Social Neuroscience to Education,” Mind, Brain and Education 5:1 (2011), 3 – 10; Jeb Schenck and Jessie Cruikshank, “Evolving Kolb: Experiential Education in the Age of Neuroscience,” Journal of Experiential Education 38:1 (2015), 73 – 95. Roy A. Wise, “Dopamine, Learning and Motivation,” Nature Reviews: Neuroscience 5 (2004), 1– 12. This same mechanism is often linked to addictive behavior. Interestingly, Elisabeth Gräb-Schmidt, in her article on Schleiermacher, “Bildung als Emanzipation,” references a similar body of neuroscientific research.
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Whether or not these neuroscientific findings hold up over time, Schleiermacher’s anthropology firmly locates all activities, including those explicitly involved in the learning process, within the magnetic force field of pleasure and pain. It almost goes without saying for Schleiermacher that a learner’s attention and mental effort will be pushed and pulled by these forces of attraction and repulsion. To put this quite plainly, students will pursue the sorts of learning they relish and enjoy, or which evoke delight or interest, and avoid those they detest, or which evoke boredom or exasperation. The key pedagogical task for Schleiermacher is to help the learner calibrate these pleasures and pains to responsible participation in the Gesamtleben. This is accomplished through the proper application of Unterstützung and Gegenwirkung. Using Schleiermacher’s thought as a guide, there is a way to see EL as a particularly sophisticated form of Bildung which expands the circle of pedagogues and enlists the whole community and even the learner herself in the “feedback loop” which delivers messages of support, encouragement and praise on the one hand and signals of dissuasion, resistance or opposition on the other. A less complicated but more theological way of putting this is that EL provides a context within which learners can discern their individual callings based on communal assessments of how their interests and aptitudes can meet common needs and serve common goods. Once again, we see that Schleiermacher’s anthropology provides an excellent theoretical backdrop for the field of EL. A third contribution concerns the notion of individualization. Many have argued that EL is effective because it “conditionalizes” knowledge, placing it within a tangible context where the learner can establish a personal connection to it and actively appropriate it in his own way. Such a connection increases “salience,” or the learner’s sense that the knowledge is important and meaningful.³⁰ If modern educational research has achieved near-consensus on anything, it is the irreducible individuality of all learning. No two brains or personalities are alike. What maximizes learning for one person may frustrate it for the next. Conventional forms of instruction such as classroom teaching, though essential and valuable, inevitably confront limitations in tailoring the learning process to the needs of each individual student. If, as Schleiermacher asserts, the highest goal of Bildung is not to level differences or enforce conformity to a static ideal but rather to enable each human person to “manifest spiritual freedom by actualizing one’s own individuality […] in a unique configuration,”³¹ then it is imperative for educators to develop and implement flexible and diverse learning formats where this individuality can flourish rather than wither. EL and other outside-the-box approaches are perfect examples of inclusive and learnercentered approaches to Bildung.
This line of thinking is closest to John Dewey’s position on experience and its role in education. See also Janet Eyler, “The Power of Experiential Education,” Liberal Education 95:4 (2009), 24– 31. David Klemm, “Culture, Arts and Religion,” The Cambridge Companion to Friedrich Schleiermacher, ed. Jacqueline Marina (Cambridge: Cambridge University Press: 2005), 266.
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Fourth and most importantly, positioning EL against the backdrop of Schleiermacher’s thought can have the enormous benefit of re-humanizing the field. Particularly in the last decade, studies of EL tend to be tightly zoomed in on micro-level phenomena such as cognition, brain activity and measurable instructional outcomes. As interesting as these are, the field as a whole began with a much wider frame. Dewey himself insisted that education needed to be experiential because ordinary people, not just aristocratic elites, needed to be prepared to participate fully in all aspects of social and community life. If Bildung is understood a form of soulcraft, the field of EL needs to zoom back out to the macro-level questions: What is education for? What is its telos? How can carefully constructed educational experiences help achieve this telos? This will require shifting the focus from Sachwissen (how do learners master content?) to what Elisabeth Gräb-Schmidt calls the “Orientierungsfrage”³²: What do human beings need to navigate their complex and challenging worlds? How can communities equip them, through Bildung, with the know-how to become whole, responsible selves? The field of EL will have nothing to say in response to these questions if it is framed as just another effective instructional technique. If, on the other hand, EL is understood to be in the service of Gesinnungsbildung for co-responsible agency in a complex world, then it is quite literally a cornerstone of social and cultural progress.
3. How EL can help advance Schleiermacherian Bildung These four contributions are, I suspect, just the tip of the iceberg. Further exploration could certainly uncover more synergies between EL and Schleiermacher’s anthropological, ethical and educational thought. But hopefully this is enough to show that my first suggestion – that those who wish to fortify the messy theoretical foundations of EL should consider engaging Schleiermacher as a historical interlocutor – is a sensible one. What about my second suggestion, that Schleiermacher scholars should consider constructively engaging the field of EL? A number of German books and articles have appeared in recent years bemoaning the wasteland that is today’s educational landscape, with its business-minded focus on the efficient transmission of easily monetizable technical skills, its relentless focus on standardized tests, and its near-total neglect of creativity, spirituality and character.³³ Similar laments can
Gräb-Schmidt, 261. Here I have in mind particularly Bildung in evangelischer Verantwortung, the 2001 volume published by the theological committee of the German Protestant church cited above, as well as the articles by Kumlehn and Gräb-Schmidt cited above.
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be found in other languages and other social contexts.³⁴ Many contain eloquent pleas for a return to the broad humanistic Bildung of the Schleiermacher/Humboldt era. Few, however, contain concrete, actionable plans which educators, policymakers, or others can implement to begin the real work of restoring this ideal. I believe that the innovative pedagogical practices and techniques associated with EL can help advance the Bildung agenda. Let me illustrate with three real examples. First, a biology professor at a U.S. university who taught a course on tropical ecology routinely took his students to Belize for the last two weeks of the class. There they gathered and analyzed data for the professor’s research on a particular species of tropical fish. Obviously, the opportunity to observe firsthand the scientific matters they had been studying introduced an experiential component into the course, and this was highly appealing to many students. Still, however, the professor wasn’t satisfied. He felt his students came away with improved knowledge of tropical biology and improved field skills but without an adequate appreciation for the value and significance of tropical environments, their fragility, and their meaning to the communities that lived in them and were sustained by them. In a future iteration of the course, he devoted the last two days in Belize to a service-learning project which required him and his students to assist Belizian volunteers in clearing dead trees from a jaguar sanctuary which had been created to curb the profitable but illegal practice of jaguar poaching. With the inclusion of this second experiential element, the professor achieved his goals. Students’ conversations with the sanctuary’s many local supporters gave them, on the whole, a deeper grasp of the importance of preserving tropical habitats and the critical role of science in stewarding resources toward this goal. As an unexpected bonus, students also reported newfound respect for solidaristic human efforts to protect the natural world. Second, consider the case of a literature professor who regularly taught a popular seminar on his specialty: the memoir as literary genre. He lectured brilliantly on many classic memoirs and facilitated engaging, highly participatory discussions. The professor’s own scholarship focused on memoir not just as a style of writing, but as a powerful tool in deconstructing narratives of domination and oppression, especially for authors who were marginalized or whose voices were somehow subjugated. Although he typically asked students to write personal memoirs detailing particular episodes from their own lives, he did not feel that this exercise adequately exposed them to this empowering aspect of memoir. The next time he offered the course, he replaced the personal memoir assignment with an oral history project in partnership with a local permanent supportive housing development for formerly homeless HIV-positive individuals. Each student was partnered with a resident, and together they worked to produce a memoir documenting an episode from the resident’s See especially William Deresiewicz, Excellent Sheep: The Miseducation of the American Elite and the Way to a Meaningful Life (New York: Free Press, 2014). Deresiewicz argues that elite universities in the U.S. are failing to help students discover themselves and discern the meanings and purposes of their lives. Instead, they are shaping a herd of obedient and homogeneous credential-seekers.
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life. This required the students not merely to read and write memoirs, but also (which was much more difficult) to establish a trusting and respectful relationship with their partner, listen to their partner’s life experiences, and, most importantly, honor their partner’s wishes for how their story should be told. This time around, results were much more dramatic. Some students enjoyed the assignment while others struggled and resisted (perhaps this was the pleasure/pain dichotomy). But both types of students left the course with not only more literary knowledge, but also with enlarged possibilities for human relationship, human compassion, and human understanding. Third, an accounting professor had been teaching the same advanced accounting course for almost a decade. This was the final course students took prior to graduating. Most of the students went on to practice some form of accountancy in their professional lives. The course was notoriously content-heavy, with complex daily case studies and rigorous problem sets. Still, the professor did not feel that the curriculum met the demands of today’s world, in which relentless pressure from managers and investors routinely legitimated various forms of dishonesty and concealment (not to mention outright fraud) in the accounting field. She wanted each student to know firsthand how complicated and difficult it can be to discuss weighty financial matters with audiences who may resist such discussions or the realities they might uncover. In partnership with a tutoring program which targeted low-income teenagers aspiring to college, she assigned teams of students to do a series of “financial readiness” workshops with the teens and their parents. In these workshops, the students worked with families to assess the possible range of college costs, examine the family’s current finances and its ability to meet these costs, and develop a list of steps the families could take to strengthen their financial readiness. Some families were dismayed by the unpleasant discovery that they less than fully prepared to finance their child’s college aspirations; others came away emboldened to take the steps needed to accomplish this goal. All workshops required students and families to talk candidly and pragmatically about delicate subjects. Many felt that the difficulty of this was counterbalanced by the potential benefit of approaching the daunting challenge of financing a college education with greater knowledge. Though she felt more could still be done to improve her students’ readiness to practice responsible accountancy, the professor felt this version of course was a step in the right direction. What is happening in these examples? I contend that in each case, we see education being transformed into an interactive process of true Bildung. In each example, real communities are enlisted in the educational process, providing a human context for topics which might otherwise remain abstract (for example, literary genre). In addition, in each example, we see a movement from the simple training of Fertigkeiten (for example, practicing scientific field skills) to the formation of Gesinnung (valuing fragile natural environments). Because students were required to actively use knowledge and skills to make a contribution to the Gesamtleben (for example, preparing financial readiness workshops), they became participants, practitioners and agents of their own learning rather than mere recipients or spectators.
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In other words, each of these examples shows how EL can achieve the highest ideals of Bildung: forming people for responsible selfhood in a complex world. As a broadly communal and also highly individualizable educational approach, EL also manifests many of Schleiermacher’s own educational ideals. In his reflections on universities, Schleiermacher criticized the “pure” philosophical curriculum preferred by Fichte and the Idealists as disembodied, “spectral” or “phantom-like” (gespensterartig). Although he agreed that this highest stage of formal education needed to be reserved for those with the passion and the ability to think rigorously and the willingness to devote themselves earnestly and entirely to the philosophical spirit, he also believed that philosophy needed to be understood as “real knowledge” (reale Wissen). It would, he writes, be a great loss to science (Wissenschaft) if a society’s brightest young minds spent their best years occupied with a kind of philosophy which couldn’t provide any concrete direction (bestimmte Leitung) in life but which only served to “clean out their heads” (den Kopf aufzuräumen). A too-pure philosophy, Schleiermacher seemed to think, was not capable of exerting any “living influence” on the learner or on the world.³⁵ As Martina Kumlehn has argued, the most basic Schleiermacherian pedagogical axiom is that education must have a “Realitätsund Erfahrungsbezug.”³⁶ Without an explicit connection to the real world of lived experience, education can only produce clean-headed phantoms, not responsible, engaged human beings. Although it would be a mistake to see personal and social responsibility as simple “learning outcomes” which can be easily or automatically manufactured by utilizing a nifty pedagogical technique such as EL, those who call for a return to the ideals of Schleiermacherian Bildung would do well to couple these pleas with a vigorous commitment to increasing the use and implementation of EL at all levels of education. This can be done by training educators in how to facilitate EL, incentivizing and rewarding high-quality EL among teachers, and creatively re-connecting education to the larger spheres of social and cultural life which structure our lives. Few pedagogical approaches embody Schleiermacher’s goals for education as fully as EL, and few hold as much promise for realizing the promise of Bildung.
Schleiermacher, Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn, reprint ed. (Berlin: Elibron Classics, 2006), 84– 5. The full quote is: “Der wissenschaftliche Geist als das höchste Prinzip, die unmittelbare Einheit aller Erkenntnis kann nicht etwa für sich allein hingestellt und aufgezeigt werden in bloßer Transzendentalphilosophie, gespensterartig, wie leider manche versucht und Spuk und unheimliches Wesen damit getrieben haben. Leerer läßt sich wohl nichts denken, als eine Philosophie, die sich so rein auszieht, und wartet, daß das reale Wissen, als ein niederes, ganz anders woher soll gegeben oder genommen werden; und vergeblicher für die Wissenschaft würde wohl nichts die Jünglinge in den schönsten Jahren vorzüglich beschäftigen, als eine Philosophie, die keine bestimmte Leitung für das künftige wissenschaftliche Leben in allen Fächern gäbe, sondern höchstens diente, den Kopf aufzuräumen, was man ja schon an der gemeinen Mathematik rühmt. Sondern nur in ihrem lebendigen Einfluß auf alles Wissen läßt sich die Philosophie, nur mit seinem Leibe, dem realen Wissen zugleich läßt dieser Geist sich darstellen und auffassen.” Kumlehn, 15.
Martin Fritz / Neuendettelsau
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1. Wer nach der Präsenz Schleiermachers in den aktuellen Selbstverständigungsdebatten der Theologie fragt, dem bietet sich ein ambivalentes Bild. Einerseits findet der epochale Rang der Theologiekonzeption, die Schleiermacher in der Kurzen Darstellung des theologischen Studiums vorgelegt hat, in allen theologischen Lagern Anerkennung.¹ Andererseits ist, abgesehen von einigen Schlagworten, die substanzielle Wirkung inhaltlicher Einsichten aus dieser klassischen Konzeption recht begrenzt.² Und was die enzyklopädische und methodische Selbstbesinnung der einzelnen Fächer angeht, ist Schleiermachers Stimme heute allenfalls in der Systematischen und Praktischen Theologie zu hören. In den übrigen Fächern spielt die Kurze Darstellung so gut wie keine Rolle.³ Ein Grund für diesen Negativbefund ist die Sperrigkeit von Schleiermachers Programmschrift: „Die Kurze Darstellung ist ein extrem kompliziertes Buch.“⁴ Die enigmatische Kürze der Leitsatzform, die Überlagerung unterschiedlicher Darstellungsziele und die Fülle an Theorievoraussetzungen machen die Interpretation beschwerlich. Allerdings hat die Forschungsarbeit der vergangenen Jahre und Jahrzehnte in der Auslegung der Kurzen Darstellung Bedeutsames geleistet,⁵ so dass ein adäquates
Vgl. z. B. Ingolf U. Dalferth: Evangelische Theologie als Interpretationspraxis. Eine systematische Orientierung (THLZ.F 11/12), Leipzig 2004, 34– 36; Konrad Stock: Die Theorie der christlichen Gewißheit. Eine enzyklopädische Orientierung, Tübingen 2005, passim. In letzter Zeit ist hier indessen ein gewisser Aufschwung zu verzeichnen. S. dazu die Bände Wilhelm Gräb/Notger Slenczka (Hg.): Universität – Theologie – Kirche. Deutungsangebote zum Verhältnis von Kultur und Religion im Gespräch mit Schleiermacher (Arbeiten zur Systematischen Theologie 4), Leipzig 2011; Andreas Kubik/Michael Murrmann-Kahl (Hg.): Die Unübersichtlichkeit des theologischen Studiums heute. Eine Debatte im Horizont von Schleiermachers theologischer Enzyklopädie (Beiträge zur rationalen Theologie 21), Frankfurt/M. 2013. Das belegen die Beiträge des Tagungsbandes Markus Buntfuß/Martin Fritz (Hg.): Fremde unter einem Dach? Die theologischen Fächerkulturen in enzyklopädischer Perspektive (TBT 163), Berlin/Boston 2014. Darin ist der Versuch dokumentiert, das 200-jährige Erscheinungsjubiläum der Kurzen Darstellung als Impuls für eine interdisziplinäre enzyklopädische Neubesinnung zu nutzen. – Denselben Befund bezeugt bereits der Band Ingolf U. Dalferth (Hg.): Eine Wissenschaft oder viele? Die Einheit evangelischer Theologie in der Sicht ihrer Disziplinen (ThLZ.F 17), Leipzig 2006. Ulrich Barth: Wissenschaftstheorie der Theologie. Ein Durchgang durch Schleiermachers Enzyklopädie, in: ders.: Kritischer Religionsdiskurs, Tübingen 2014, 263 – 278, 264. Grundlegend ist neben dem Aufsatz von Barth (aaO.) vor allem Markus Schröder: Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums. Schleiermachers Wesensbestimmung der christlichen Religion (BHTh 96), Tübingen 1996; ferner Martin Rössler: Schleiermachers Programm der Philosophischen Theologie (SchlA 14), Berlin/New York 1994; Hans-Joachim Birkner: Schleiermachers „Kurze Darstellung“ als theologisches Reformprogramm (1986), in: ders.: Schleiermacher-Studien, hg.v. Hermann Fischer (SchlA 16), Berlin/New York 1996, 285 – 305; Eilert Herms: Schleiermachers Lehre vom Kirchenregiment (2001), in: ders.: Menschsein im Werden. Studien zu Schleiermacher, Tübingen 2003, 320 – 399; ders.: Theologie an der Universität. Die Gegenwartsrelevanz von Schleiermachers Programm, DOI 10.1515/9783110464573-010
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Verständnis in den Grundlinien eigentlich sichergestellt ist. Dies gilt zumindest für Schleiermachers enzyklopädische Theorie der Theologie bzw. des theologischen Wissens. Dagegen ist die propädeutische Seite der Schrift, also ihr Ansinnen, junge Studenten in das „theologische Studium“ einzuführen, lediglich am Rande thematisiert worden. Auf diese Weise blieb aber ein Gutteil ihres Erschließungspotenzials unerschlossen. Denn Schleiermachers Theologiekonzeption gewinnt erst ihre volle Plastizität und Plausibilität, sobald man unter Berücksichtigung des propädeutischen Zwecks den praktischen Fokus der ‚positiven Wissenschaft‘ Theologie, d. h. die künftigen Kirchenleitungsaufgaben der Studenten, und die Theorie theologischen Wissens beständig aufeinander bezieht. Dann nämlich wird die Idee theologischer Bildung sichtbar, die beiden Seiten zugrundeliegt und die daher als der Nukleus der Kurzen Darstellung angesehen werden darf. Diese Bildungsidee gilt es herauszuarbeiten, um daraufhin ihre gegenwärtige Relevanz für das theologische Studium und für die Selbstreflexion der Theologie zu bedenken.⁶ 2. Zwei Grundmerkmale kennzeichnen den Theologiebegriff der Kurzen Darstellung. Erstens wird die Theologie nicht von einem ihr vorgegebenen Inhalt, sondern von ihrem praktischen Zweck aus konzipiert, nämlich dem Zweck, (damals noch ausschließlich) Männer durch das Studium für die praktische Aufgabe der „Kirchenleitung“⁷ tüchtig zu machen. In diesem Sinne wird die Theologie analog zu Medizin und Jurisprudenz als eine „positive Wissenschaft“⁸ deklariert. Ausgehend von diesem „funktionalen“⁹ Theologiebegriff weist Schleiermacher den theologischen Disziplinen nun aber zweitens eine gemeinsame inhaltliche Aufgabe zu: Der Theologe muss in seinen unterschiedlichen Studien ein geeignetes „Wissen um das Christenthum“¹⁰
in: Gräb/Slenczka (Hg.): Universität – Theologie – Kirche, aaO., 24– 50; schließlich die historischen Beiträge in Kubik/Murrmann-Kahl (Hg.): Unübersichtlichkeit, aaO. Der vorliegende Beitrag ist eine Kurzfassung der deutlich umfangreicheren Untersuchung vom Vf.: Schleiermachers Idee theologischer Bildung. Zur Aktualität der ‚Kurzen Darstellung des theologischen Studiums‘, in: Buntfuß/Fritz (Hg.): Fremde unter einem Dach?, aaO., 167– 218. – Als Hauptquellen dienen Schleiermacher: Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen (1811/1830), in: KGA I/6, hg.v. Dirk Schmid, Berlin/New York 1998 (Studienausgabe Berlin/ New York 2002), 243 – 315 (1. Auflage 1811 – Sigle KD1) und 321– 446 (2. Auflage 1830 – Sigle KD2); ders.: Theologische Enzyklopädie (1831/32). Nachschrift David Friedrich Strauß, hg. von Walter Sachs (SchlA 4), Berlin/New York 1987 (Sigle ThEnz). Herangezogen wird außerdem die enzyklopädische „Vorerinnerung“ in der Einleitung der Vorlesung zur Praktischen Theologie: ders.: Die praktische Theologie nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen hg.v. Jacob Frerichs, Berlin 1850 (Sämmtliche Werke I/13; Ndr. Berlin/New York 1983 – Sigle PT), 3 – 63. KD2 § 3, 327 u. ö. Schleiermachers Begriff von ‚Kirchenleitung‘ umfasst sowohl die Leitung der Einzelgemeinde als auch die übergeordnete Leitungsverantwortung für das Ganze einer Kirche, außerdem die freie Einflussnahme einzelner „Geister“ auf Christentum und Kirche. KD2 § 1, 325. Vgl. Birkner: Schleiermachers „Kurze Darstellung“, aaO., 292. KD2 § 10, 330.
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erwerben, um für seinen späteren Beruf gewappnet zu sein. Der funktionalen Bestimmung – Ertüchtigung zur Kirchenleitung – korrespondiert unmittelbar eine materiale Bestimmung der Theologie: Bemühung um angemessenes Wissen vom Christentum.¹¹ Diese Grundkonzeption ist bestechend schlicht. Bei allen Ausführungen Schleiermachers zu den Theoriegehalten der Theologie sind die angehenden kirchlichen Funktionsträger mit im Blick, also diejenigen Subjekte, um deren Ausbildung willen jenes eigentümliche Konglomerat von heterogenen Disziplinen überhaupt unter dem Dach einer eigenen Fakultät existiert. Der Theologietheorie liegt eine Theologentheorie zugrunde. Schleiermacher profiliert die Idee der theologisch gebildeten Kirchenleitungsperson in der Einleitung der Kurzen Darstellung anhand der „Idee eines Kirchenfürsten“¹². In diesem Idealbild sind die gesinnungsmäßige wie die intellektuelle Voraussetzung einer Eignung zum kirchenleitenden Beruf jeweils „im höchsten Grade“¹³ erfüllt gedacht. Das ist zum einen der religiöse Wunsch, seine Kräfte der „Förderung des Wohls der Kirche“¹⁴ und des Christentums zu widmen. Mit diesem „kirchlichen Interesse“¹⁵ ist es freilich nicht getan. Um bei allem guten Willen mehr als eine nur „verworrene“¹⁶, nämlich eine „besonnene Einwirkung“¹⁷ auf Kirche und Christentum zu erreichen, bedarf der zur Kirchenleitung Berufene zugleich ein möglichst hohes Maß an „wissenschaftlichem Geist“¹⁸. Mit dessen Hilfe hat er sich ein „Wissen um das Christentum“ zu eigen zu machen, das seinem kirchenleitenden Handeln eben jene „Besonnenheit“ vermittelt, die es in der Folge „zweckmäßig wirksam“¹⁹ werden lässt. Kurz: Eine professionelle Arbeit für das Christentum erfordert ein wissenschaftliches Studium des Christentums. Aber welche Art von Christentumswissen hat der künftige Amtsträger zu erwerben, auf dass sein kirchenleitendes Handeln einmal „besonnen“ und „zweckmäßig“ ausfallen wird? Das ist für Schlei-
Zuerst hat Schröder darauf hingewiesen, dass die einseitige Fixierung auf den funktionalen Gesichtspunkt Schleiermachers Theologiekonzept verkürzt; vgl. Kritische Identität, aaO., 101. Vgl. dazu Martin Laube: Das Wesen des Christentums als Organisationsprinzip der Theologie. Überlegungen im Anschluss an die ‚Kurze Darstellung‘ Friedrich Schleiermachers, in: Kubik/Murrmann-Kahl: Unübersichtlichkeit, aaO., 29 – 54, 34. 45. KD2 § 9, 329. Vgl. zum Ganzen Christian Albrecht: „Religiöses Interesse“ und „wissenschaftlicher Geist“. Zur Grundlage von Schleiermachers Theologiebegriff und ihren Implikationen, in: Jens Schröter (Hg.): Die Rolle der Theologie in Universität, Gesellschaft und Kirche (VWGTh 36), Leipzig 2012, 121– 134. KD2 § 9, 329. KD2 § 11 Zs., 330. Vgl. KD2 § 12, 330. KD2 § 12 Zs., ebd. KD2 § 263, 419; vgl. § 70, 353. KD2 § 9, 329. ThEnz 10. Vgl. KD2 § 8, 329.
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ermacher die entscheidende Frage für die Organisation der Theologie in der Vielfalt ihrer Fächer. 3. Schleiermachers Antwort lässt sich in einem Dreischritt fassen, dem die drei Teile der Theologie entsprechen: (a) Als professionelle Tätigkeit braucht das kirchenleitende Handeln Anleitung durch praktisches Regelwissen („Kunstregeln“). Das ist von der Praktischen Theologie bereitzustellen. (b) Bei einer isolierten Kenntnis von Kunstregeln wird der kirchliche Praktiker kaum über routinierte Regelanwendung hinauskommen. Um das praktische Kirchenleitungswissen stattdessen in freier schöpferischer Applikation auf die jeweilige Situation von Kirche und Christentum gebrauchen zu können, benötigt er zusätzlich eine gründliche Kenntnis des gegenwärtigen Christentums und seines geschichtlichen Gewordenseins. Das ‚technische‘ Wissen aus der Praktischen Theologie muss fundiert werden durch ‚historisches‘ Wissen, das in der Historischen Theologie zu erwerben ist. (c) Wie das isolierte Regelwissen zu toter Routine tendiert, so droht die nackte Kenntnis geschichtlicher Geschehnisse für die Kirchenleitungspraxis unfruchtbar zu bleiben. Das historische Wissen wird als Horizont für die Kirchenleitung erst produktiv, sofern es reflektierte Urteile über geschichtliche und gegenwärtige Entwicklungen in Kirche und Christentum enthält. Geschichtliche Urteile aber setzen Urteilsprinzipien voraus, die selbst nicht aus den historischen Erscheinungen zu gewinnen sind. Die betreffenden Wertmaßstäbe in Blick auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Christentums sind Gegenstand der Philosophischen Theologie. In umgekehrter Logik stellt sich der dreistufige Grundaufbau des theologischen Studiums dar wie folgt: Die Philosophische Theologie mit ihrer Reflexion der Urteilsprinzipien in Hinsicht auf die Christentumsgeschichte begründet das Vermögen zur historischen Beurteilung des Christentums. In Anwendung dieser Urteilsprinzipien entwirft die Historische Theologie ein wertendes Bild von Geschichte und Gegenwart des Christentums, das dann in der Kirchenleitungspraxis einer eigenständigen gegenwartsverantworteten Anwendung des Regelwissens aus der Praktischen Theologie als Horizont dienen kann. Die Duplizität von ‚historischem‘ und ‚technischem‘ Wissen, welche die Theologie als Wissenschaft mit praktischer Ausrichtung kennzeichnet, differenziert sich bei näherem Hinsehen also in den Dreiklang von Wertmaßstabsreflexion, Geschichtsbildentwicklung (inklusive Gegenwartsdiagnose) und Kunstregelformulierung. Damit ist nach Schleiermacher der Kreis theologischen Wissens grundsätzlich ausgeschöpft.²⁰ – Das skizzierte Dreierschema soll im Folgenden noch etwas eingehender erläutert werden, wiederum im Ausgang vom praktischen Zweck der Theologie.
Vgl. ThEnz 26: Es „lassen sich wohl keine weiteren Theile der christlichen Theologie als positiver Wissenschaft finden. Habe ich die Principien, wonach ich den gegenwärtigen Zustand beurtheile, habe ich den gegenwärtigen Zustand selbst nebst seiner Genesis begriffen, und habe ich die Regeln für die Geschäftsführung: so bin ich mit Allem ausgerüstet, was zur Kirchenleitung gehört.“
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4. Wer einer praktisch-gestaltenden Tätigkeit nachgeht und diese nicht mit zufällig wechselndem Erfolg, sondern ziel- und mittelbewusst ausüben will, benötigt ein (im aristotelischen Sinne) „technisches“ Regelwissen, er muss verschiedene „Kunstregeln“²¹ kennen. Der Pfarrer zum Beispiel braucht unter anderem Grundsätze, die beschreiben, wie man eine gute Predigt macht. Solche Regeln für die pastorale Praxis sind natürlich Sache der Praktischen Theologie. Nun könnte man meinen, in solch praktischem Wissen erschöpfe sich die für die Kirchenleitung notwendige Leistung der Theologie. Tatsächlich war diese Meinung wohl bereits in Schleiermachers Tagen anzutreffen. Sie wird von ihm ausdrücklich verworfen. Denn es „[kann] die gewöhnliche Mittheilung der Regeln für die einzelne Geschäftsführung […] nur als mechanische Vorschrift wirken, wenn ihr nicht das Studium der historischen Theologie vorangegangen ist. – Aus der übereilten Beschäftigung mit dieser Technik entsteht die Oberflächlichkeit in der Praxis“.²²
Die pastorale Praxis wird „oberflächlich“, sofern „man sich“ bei der Aneignung von praktisch-theologischem Regelwissen für die Tätigkeitsfelder der Kirchenleitung „der Gründe der Thätigkeit nicht bewußt ist“²³. Wenn einer nur gegebenen Regeln folgt, ohne den geschichtlichen Hintergrund der fraglichen Tätigkeit sowie der betreffenden Regeln zu kennen und ohne ihre Passgenauigkeit für die gegenwärtige Situation beurteilen zu können, so wird seinem Handeln „immer etwas Mechanisches“²⁴ anhaften. Ohne eigenständige Beurteilung des jeweils zum Wohl des christlichen Glaubens und Lebens Geeigneten erstarrt die Kirchenleitung zu leblosem Dienst nach überlieferter Vorschrift, der „ganz in der Praxis wie sie einmal ist, befriedigt ist“²⁵ – und von dem kaum förderliche Impulse in der aktuellen Lage des Christentums zu erwarten sind. Ins Positive gewendet besagt Schleiermachers Warnung vor einem einseitig praktisch-theologisch ausgerichteten Studium: Eine lebendige selbsttätige und gegenwartsverantwortete Kirchenleitung setzt zum einen grundsätzlich ein geschichtliches Bewusstsein von der Wandelbarkeit des Christentums und der Anforderungen an seine Gestaltung voraus. Zudem bedarf sie eines eigenständigen gegenwartsdiagnostischen Urteilsvermögens hinsichtlich der Lage von Kirche und Christentum sowie hinsichtlich der in dieser Lage adäquaten Anwendung adäquater Kirchenleitungsregeln. Um gegen die Schwerkraft traditionalistischer Routine gefeit zu sein, ist der künftige kirchliche Amtsträger daher auf den historischen Teil des Theologiestudiums angewiesen.
KD2 § 5, 328. KD2 § 30 mit Zs., 337. ThEnz 30. Ebd. ThEnz 31.
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5. Tatsächlich richtet Schleiermacher die Historische Theologie prinzipiell auf die Christentum und Kirche betreffende Gegenwartsdiagnose aus. Nur so hat sie einen Bezug auf die Kirchenleitung und erfüllt damit das Schlüsselkriterium für die Zugehörigkeit zur Theologie.²⁶ Die Gegenwartsorientierung ist bei den von Schleiermacher ausgewiesenen historisch-theologischen Disziplinen deutlich erkennbar. Unmittelbar fällt sie bei ‚dogmatischer Theologie‘ und ‚kirchlicher Statistik‘ ins Auge, welche die „geschichtliche Kenntniß von dem gegenwärtigen Zustande des Christenhums“²⁷ behandeln. „Da aber die Gegenwart nur verstanden werden kann als Ergebniß der Vergangenheit“²⁸, setzt die Gegenwartsdiagnose auch Kenntnisse in Kirchen- und Theologiegeschichte voraus. Der exegetischen Theologie und der von ihr zu erlangenden „Kenntniß des Urchristenthums“²⁹ kommt dabei eine fundamentale Sonderrolle zu (auf die hier nicht näher eingegangen werden kann). Ob das historische Wissen wirklich etwas zu besonnener Christentumsgestaltung beiträgt, hängt nach Schleiermacher nun allerdings von einer weiteren Voraussetzung ab: Es muss wertende Urteile über die historischen Entwicklungen enthalten.³⁰ Dazu wiederum muss die historische Theologie Vergangenheit und Gegenwart an einem Normbegriff vom Christentum messen, anhand dessen sich bestimmen lässt,wo Christentum und Kirche jeweils „Fortschritte oder Rückschritte“³¹ gemacht haben. Erst ein derart wertendes Bild vom Christentum befähigt den Amtsträger, von den Wegen und Abwegen, die in die gegenwärtige Lage geführt haben, Konsequenzen für sein kirchenleitendes Handeln zu ziehen. Der Beitrag der Historischen Theologie zum gegenwarts- und zukunftsdiagnostischen Urteilsvermögen steht und fällt also mit der Ausbildung eines Bildes von Geschichte und Gegenwart des Christentums, das kraft eines Normideals vom Christentum werthaft profiliert ist. Denn ohne Bewertung bleibt die Geschichte für das praktische Interesse am Christentum stumm. Dass die Historische Theologie dieser Aufgabe tatsächlich nachkommt, ist nicht ausgemacht.³² Schleiermacher kennt zwei mögliche Abwege. Im ersten Fall zielt die
Vgl. KD2 § 6. KD2, Überschrift zum dritten Abschnitt des II. Teils zur ‚historischen Theologie‘, 393. KD2 § 82, 357. KD2 § 85, 358, u. ö. An diesem Punkt weicht die vorliegende Auslegung dezidiert von Rössler: Schleiermachers Programm, aaO., 95 f, ab, der die einschlägigen Aussagen über das historische Urteilen ausdrücklich nicht axiologisch, sondern im Sinne eines mathematischen Wertbegriffs interpretiert. Dagegen hat schon Hermann Süskind: Christentum und Geschichte bei Schleiermacher. Die geschichtsphilosophischen Grundlagen der Schleiermacherschen Theologie, Tübingen 1911, hervorgehoben, es gehe bei der Beurteilung der Geschichte um „die Abstufung der Erscheinungen nach ihrem Geltungswert, also um ein auf bestimmten Norm- und Idealbegriffen fußendes Verfahren“ (71 f; vgl. 61). Ähnlich Schröder: Kritische Identität, aaO., 168. Vgl. ThEnz 27. 29 und öfter. Daher auch „der gänzliche Mangel an Sicherheit in der Anwendung derselben auf die Kirchenleitung“ (KD2 § 29 Zs., 337).
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Beschäftigung mit der Christentumsgeschichte auf „blose Chronik“³³, d. h. auf eine „blos empirische Auffassung“³⁴ des Gewesenen ohne jede Bewertung. Im zweiten Fall dagegen wird der Geschichtsverlauf durchaus beurteilt, aber die Urteilsprinzipien sind nicht „Resultat eigner Überlegungen“³⁵, sondern „blos traditionell“³⁶. Schleiermacher denkt an konfessionelle Geschichtsbilder mit ihren expliziten oder impliziten Wertungen.³⁷ Das Problem ist hier nicht eine Urteilsenthaltung, sondern die Reflexionsenthaltung bezüglich der Urteilsprinzipien. Auf diese Weise kommt das Theologensubjekt zwar zu Einschätzungen der gegenwärtigen Lage, es fehlt darin aber die „Selbständigkeit“³⁸, welche dem Urteilen und Handeln allein Authentizität verleiht. Zudem geht dem traditionalistischen Urteil in der Regel der Blick für die geschichtlichen Veränderungen und die entsprechende Anpassungsfähigkeit ab. Aus alledem ergibt sich die Forderung, dass „sich die historische Theologie immer mehr losmacht von dem blos Traditionellen“³⁹, sei es im Sinne traditionalistischer Geschichtsbilder oder im Sinne bloßer Archivierung von Geschichtsbeständen. Dafür räumt Schleiermacher der Besinnung auf die Prinzipien der historischen Beurteilung des Christentums – in Abweichung von allen herkömmlichen Einteilungen – unter dem Titel ‚Philosophische Theologie‘ einen eigenen Platz in der Organisation des theologischen Studiums ein. 6. Die Wertmaßstabsreflexion der Philosophischen Theologie besteht im Wesentlichen – das ist der springende Punkt in der Konzeption – in der Ausarbeitung eines reflektierten Normbegriffs vom Christentum. Schleiermacher spricht vom „Begriff“, der „Idee“ oder vom „Wesen des Christentums“.⁴⁰ Diese Normidee soll dann in der konkreten historischen Arbeit zur Anwendung kommen, und zwar in Werturteilsakten, in denen die historischen Phänomene an dem idealen Wertmaßstab „gemessen“ werden. Die dabei registrierten Abweichungen bezeichnet Schleiermacher als „Krankheitszustände“⁴¹, um damit griffig den evaluativen Charakter des Urteilsvollzuges zu unterstreichen. Die wertende Beurteilung der Christentumsgeschichte setzt die Wesensbe-
ThEnz 44. ThEnz 20. ThEnz 73. Vgl. ThEnz 71. Vgl. ThEnz 27, wo Schleiermacher die unterschiedlichen konfessionellen Geschichtsbilder als Beleg für die Macht impliziter Urteilsprinzipien bei der Geschichtsbetrachtung anführt. ThEnz 73. ThEnz 30. Vgl. ThEnz 37, wo die drei Termini auf engstem Raum als Synonyme gebraucht werden. – S. zur Vorgeschichte und Bedeutung der Formel „Wesen des Christentums“ Rolf Schäfer: Welchen Sinn hat es, nach einem Wesen des Christentums zu suchen?, in: ZThK 65 (1968), 329 – 347; Friederike Nüssel: Die Umformung des Christlichen im Spiegel der Rede vom Wesen des Christentums, in: Albrecht Beutel/ Volker Leppin (Hg.): Religion und Aufklärung. Studien zur neuzeitlichen „Umformung des Christlichen“ (AKThG 14), Leipzig 2004, 15 – 32. Vgl. KD2 § 35, 339.
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stimmung voraus, „weil krankhaftes in der Kirche nur erkannt werden kann in Bezug auf eine bestimmte Vorstellung von dem eigenthümlichen Wesen des Christenthums“⁴². Mit der Entwicklung einer solch „bestimmten Vorstellung“ begründet die Philosophische Theologie die Ausarbeitung eines konkreten Bildes von den „Fortschritten und Rückschritten“ in Geschichte und Gegenwart des Christentums. Dieses Bild wird von dem an der Kirchenleitung orientierten Theologen mit einem spezifischen Gestaltungsinteresse wahrgenommen: „als Keim einer dem Begriff [sc. des Christentums; M.F.] mehr entsprechenden Zukunft“⁴³. Er sucht an der Gegenwart zu „bestimmen […], was von diesem Momente aus in den künftigen bleiben muß oder was in den künftigen geändert werden muß, d. h. was der Idee angemessen ist oder nicht“⁴⁴. Demzufolge reicht die Normfunktion der Christentumsidee über Geschichte und Gegenwart hinaus in die zu gestaltende Zukunft. Die Norm für das historische Urteil dient zugleich als Norm für die Zukunftsgestaltung. In der Vorlesung zur Praktischen Theologie gibt Schleiermacher eine handlungstheoretische Begründung für die Notwendigkeit derartiger Normideen für jede Leitungstätigkeit: Eine solche „sezt voraus einen gegebenen Zustand; aber auf diesen wirken und aus diesem etwas bestimmtes hervorbringen wollen, sezt voraus eine Vorstellung von dem was aus dem gegebenen werden soll. Offenbar läßt sich eine leitende Thätigkeit nur denken aus der Voraussezung und zusammen mit dem Bestreben der Fortschreitung; denn wenn nichts werden soll, bedarf es keiner leitenden Thätigkeit. Diese Fortschreitung sezt voraus daß ein vollkommnerer Zustand als der gegebene gedacht wird […]. Aber woher ist nun zu nehmen die Idee von dem vollkommenen, was gedacht wird als Zielpunkt worauf die leitende Thätigkeit gerichtet wird? Das kann in verschiedenen Graden der Bestimmtheit sein, aber irgendwie muß sie sein. […] Das ist das was man bisweilen durch den Ausdrukk des Ideals zu bezeichnen pflegt, einen Zustand von dem ausgesagt wird daß er erreicht werden soll durch die von dem gegenwärtigen ausgehende Thätigkeit, von dem man aber nicht sagen kann, daß er zu irgend einer Zeit erreicht sei.“⁴⁵
Im Falle der kirchlichen Leitungsperson nimmt die Vorstellung vom Wesen des Christentums die Funktionsstelle des Leitideals ein. Sie ist nicht nur Maßstab für Geschichtsbild und Gegenwartsdiagnose, sondern ebenso Zielidee für die Arbeit zur Förderung von Christentum und Kirche: Leitbild für den Zukunftsentwurf. Dieser Befund lässt sich auf die konstitutiven Elemente innerhalb der Theologensubjektivität zurückbeziehen, auf ‚kirchliches Interesse‘ und ‚wissenschaftlichen Geist‘. Demnach ist das leitende Willensmotiv des Theologen die möglichst reine Verwirklichung des
KD2 § 63 Zs., 350.Vgl. Ernst Troeltsch: Was heißt „Wesen des Christentums“? , in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 2: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Tübingen 21922, 386 – 451, 410: „Ja die Gesamtanschauung des Wesens wird doch überhaupt nur gesucht, um ein Urteil über das Wesentliche zu finden, von dem aus nicht bloß d[a]s Unwesentliche ignoriert, sondern auch das Wesenswidrige verurteilt werden kann.“ KD2 § 26 Zs., 336. ThEnz 37. PT 18 f (Hvhg. i. O.). Vgl. Herms: Kirchenregiment, aaO., 321 f.
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Wesens des Christentums.⁴⁶ Damit dieses Leitmotiv aber konkret handlungsleitend werden kann, muss der Theologe eine möglichst „bestimmte Vorstellung“⁴⁷ von diesem Wesen ausbilden. Darauf aber zielen wesentlich seine Bemühungen im nicht‚technischen‘ Teil des theologischen Studiums. 7. Die Ausbildung einer konturierten Idee vom Wesen des Christentums und von dessen Verwirklichung in Geschichte, Gegenwart und Zukunft hat sich damit als Gegenstand und Ziel theologischer Bildung erwiesen. Die Dringlichkeit einer adäquaten Wesensbestimmung wird noch deutlicher, wenn man in Betracht zieht, dass hinter dieser Theologiekonzeption eine doppelte Krisendiagnose steht. Erstens hält es Schleiermacher, wie ein Seitenblick auf die Einleitung der Glaubenslehre zeigt,⁴⁸ geradezu für ein Signum seiner Zeit, dass im Verständnis des Wesentlich-Christlichen ein allgemeiner „Zustand der Verworrenheit“⁴⁹ herrscht, und zwar keineswegs nur zwischen den großen Konfessionen, sondern gerade innerhalb des Protestantismus. Das liegt vor allem daran, dass die in den Bekenntnisschriften fixierte Christentumsauffassung des alten Protestantismus mit dem Aufkommen des historischen Bewusstseins ihre unbefragte Autorität eingebüßt hat. Es ist daher unmöglich geworden, sich eine normative Idee vom Christentum von der konfessionellen Tradition autoritativ vorschreiben zu lassen; sie muss stattdessen wissenschaftlich erhoben werden. Hinter dem Programm der wissenschaftlichen Wesensbestimmung steht aber eine noch tiefer greifende neuzeitdiagnostische Problemanzeige. Das tritt besonders im Zweiten Sendschreiben an Lücke (1829) hervor. So sieht Schleiermacher durch die Entwicklung der modernen Wissenschaften fundamentale Elemente des überkommenen Christentums erschüttert. Das aufkommende naturwissenschaftliche Weltbild bedroht etwa den Schöpfungs- und den Wundergedanken, die kritische Historie führt eine Krise des Schriftprinzips herauf. In der Folge gerät das Christentum unter einen ungekannten Revisionsdruck: „[W]ir werden lernen müssen uns ohne vieles behelfen, was Viele noch gewohnt sind als mit dem Wesen des Christenthums unzertrennlich verbunden zu denken.“⁵⁰ Die theologische Aufgabe der Stunde erblickt Schleiermacher daher darin, in Aufnahme der wissenschaftlichen Geltungsstandards der Gegenwart eine Auffassung vom Christentum zu entwickeln, die dem allgemeinen Wahrheitsbewusstsein der Zeitgenossen standhält. „Freilich nicht“, so hebt Schleiermacher hervor,
Vgl. KD2 § 84, 358, wonach „der lezte Zwekk“ der Theologie „darin besteht, das eigenthümliche Wesen“ des Christentums „in jedem künftigen Augenblikk reiner darzustellen“. KD2 § 63 Zs., 350. Vgl. Schleiermacher: Der christliche Glaube, nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1821/22), 2 Bde., in: KGA I/7.1 und 7.2, hg.v. Hermann Peiter, Berlin/New York 1984 (Sigle CG1), Bd. 1, 19 – 21. CG1 Bd. 1, 19. Schleiermacher: Über die Glaubenslehre. Zwei Sendschreiben an Lücke (1829), in: KGA I/10, hg.v. Hans-Friedrich Traulsen, Berlin/New York 1990, 309 – 394, 345 f.
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„um irgend etwas zum Wesen des evangelischen Christenthumes Gehöriges Preis zu geben […]; aber um bei Zeiten uns alles dessen zu entledigen, was offenbar nur Nebenwerk ist und auf Voraussetzungen beruht, die nicht mehr gelten können, damit wir uns nicht in einen unnützen Streit [sc. mit der wissenschaftlichen Weltsicht; M.F.] verwickeln, in welchem hernach Viele leicht die Hoffnung aufgeben möchten, auch das Wesen erhalten zu können.“⁵¹
Herausgefordert durch die Dissonanzen zwischen dem überlieferten Christentum und dem modernen Weltbild, aber getragen von der inneren Gewissheit von der Wahrheit des Christentums hat sich der mit ‚kirchlichem Interesse‘ und ‚wissenschaftlichem Geist‘ begabte Theologe der Aufgabe zu stellen, sein Christentum mit den wissenschaftlichen Standards seiner Zeit zu vermitteln, ohne dass dabei die Kontinuität mit der Geschichte verloren geht. Der maßgebliche Ort dieser Vermittlung ist die Wesensbestimmung: die Entwicklung eines Bildes vom Christentum, in dem Peripheres und Zeitbedingtes an dessen traditioneller Gestalt von dem Unaufgebbar-Wesentlichen geschieden wird, das von den geistigen Umwälzungen unbetroffen ist. Die „Wesensbestimmung“ zielt auf „Wesensgestaltung“, wie Ernst Troeltsch später pointiert formuliert hat.⁵² Sie ist der Leitbegriff einer programmatischen Umformung, die dem weltanschaulichen Veralten des Christentums entgegenzuwirken sucht. Die Vermittlungsbemühungen sollen sich dann natürlich auch entsprechend auf das Kirchenleitungshandeln auswirken. Im Falle der Predigt etwa soll das Bewusstsein der Differenz von maßgeblichem Zentrum und verzichtbarer Peripherie den Prediger davor bewahren, ein „antiquiertes“⁵³ Bild vom Christentum zu vertreten, das vor den Zeitgenossen unüberwindbare Zugangshürden aufrichtet, weil darin Dinge „als mit dem Wesen des Christenthums unzertrennlich verbunden“⁵⁴ präsentiert werden, die für ein waches Wahrheitsgewissen unter den Bedingungen der Zeit nicht mehr erschwinglich sind. 8. Wie der Wesensbestimmungsversuch in der Einleitung der Glaubenslehre nahelegt, rechnet Schleiermacher immerhin für den Bereich der eigenen Kirchengemeinschaft mit einer überindividuellen Ausstrahlung von herausragenden Leistungen in diesem fundamentalen theologischen Metier. Gleichwohl hält er zugleich daran fest, dass
AaO. 356. Troeltsch: Wesen des Christentums, aaO., 431. Das paradoxe Ziel solcher Wesensgestaltung durch Wesensbestimmung ist nach Troeltsch die „Verjüngung aus der Geschichte“ (aaO. 432). Entscheidend ist daher, dass die historische Wesensbestimmung „vor allem das ausspricht, was für Gegenwart und Zukunft aus der Vergangenheit sich ergibt. Eine Wesensbestimmung, die von der dauernden Lebenskraft des Christentums überzeugt ist und sich dieser Aufgabe entschlägt, wäre völlig sinnlos“ (433). Letztlich handelt es sich also bei der historischen Wesensbestimmung um „das Wagnis, aus dem Historischen die lebendige Idee für die Gegenwart hervorzuholen“ (448). – Vgl. Schröder: Kritische Identität, aaO., 121. Vgl. KD2 § 205, 399. Schleiermacher: Sendschreiben, aaO., 345 f.
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jeder Theologe die Wesensbestimmung – im Gegensatz zu anderen Elementen der Theologie – eigenständig zu vollziehen habe: „Da die philosophische Theologie eines Jeden wesentlich die Principien seiner gesammten theologischen Denkungsart in sich schließt: so muß auch jeder Theologe sie ganz für sich selbst produciren.“⁵⁵
Weil die Wesensbestimmung die letzten Grundsätze des theologischen Urteilsvermögens betrifft, darum „muß sie von Grund aus als klare und feste Ueberzeugung angeeignet sein“⁵⁶. Das Christentumsideal, das den praktischen Gestaltungswillen des Theologen anleitet und seinem Geschichts- und Gegenwartsbild evaluatives Profil gibt, ist allein Sache der unvertretbar eigenen Überzeugung – und muss daher ureigener Besitz werden. Es darf „nicht blos traditionell“⁵⁷, auf die Autorität von Tradition hin, übernommen werden. „Hiedurch soll keinesweges“, fügt Schleiermacher hinzu, „irgendeinem Theologen benommen werden sich zu einer von einem anderen herrührenden Darstellung der philosophischen Theologie zu bekennen“⁵⁸. Schleiermachers Selbständigkeitsforderung schließt nicht die Möglichkeit aus, sich die christentumstheoretischen Grundlagenreflexionen und Idealbegriffe theologischer Lehrer zu eigen zu machen. Überhaupt ist Selbständigkeit nach Schleiermacher nicht mit „Originalitätssucht“⁵⁹ zu verwechseln. Weil Kirchenleitung immer „zusammenstimmende“⁶⁰, die Gemeinschaft „zusammenhaltende“⁶¹ Leitung sein muss, hat sich jede verantwortliche Wesensbestimmung, im Gegensatz zur „antigeschichtlichen“ Tendenz origineller Privatmeinungen, „durch Anschließung an das Vorhandene“ auszuweisen: durch Anschluss an die Christentumsgeschichte und damit an die verbindenden Herkunftsbezüge der Gemeinschaft.⁶² Demnach zielt die Kurze Darstellung mit ihrem Modernisierungsimpuls keineswegs auf umstürzende Neuerungen ab. Schleiermachers Programm einer selbständigen, aber zugleich kontinuitätsverpflichteten Neubildung der Idee vom Wesentlich-Christlichen richtet sich sowohl gegen die Versuchung traditionsergebener Reproduktion als auch gegen den Abweg geschichtsblinder Willkürschöpfung.⁶³
KD2 § 67, 351. KD2 § 67 Zs., ebd. ThEnz 71. KD2 § 67 Zs., 351. ThEnz 7. KD2 § 5, 328. ThEnz 6. Ebd. Nach protestantischer Überzeugung kommt hier neben den reformatorischen Bekenntnissen natürlich dem Bezug zum biblischen Kanon eine Schlüsselrolle zu; vgl. ThEnz 7. Allerdings problematisiert Schleiermacher diesen Rückgang zugleich; vgl. KD2 §§ 103 – 115. Troeltsch: Wesen des Christentums, aaO., hat das entsprechende Streben auf die Formel vom „anschlußbedürftigen Subjektivismus“ (439) gebracht. – Ob Schleiermacher selbst hier immer das
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Die Bedeutung der eigenständigen Ausbildung oder Aneignung einer Normidee vom Christentum in philosophisch-theologischen Studien lässt sich schließlich noch einmal mit Rekurs auf das Modell des „Kirchenfürsten“ aus der Einleitung der Kurzen Darstellung herausstreichen. Wer ein solches Ideal nicht einmal rudimentär besäße, dem würde bereits die erste Voraussetzung des Theologenberufs fehlen: der religiöse Wille zur Förderung des Christentums, der ohne derlei ideale Triebfedern nicht zu denken ist. Wer dieses ‚kirchliche Interesse‘ und die darin wirksamen Motive zwar ins Studium mitbrächte, dann aber deren wissenschaftliche Durchklärung zu einem reflektierten Christentumsideal versäumte und stattdessen unbefragt ein traditionelles Christentumsbild übernähme, der brächte den ‚wissenschaftlichen Geist‘, die zweite Voraussetzung des Theologeseins, nicht zur erforderlichen Wirksamkeit. Auch er wäre nach Schleiermachers Auffassung nicht im vollen und eigentlichen Sinne Theologe zu nennen – und „würde auch in der Kirchenleitung nur eine Maschine seyn“⁶⁴. 9. Im Ausgang vom praktischen Zweck der Kirchenleitung hat die dreigliedrige Struktur von Schleiermachers Theologiebegriff inzwischen Kontur gewonnen. Das im Theologiestudium zu erwerbende Wissen differenziert sich zunächst in ein ‚technisches‘ und ein ‚historisches‘ Gebiet. Im historischen Teil soll ein Urteil über positive und negative Entwicklungen in Geschichte und Gegenwart des Christentums begründet werden, auf dass die Kunstregeln der Kirchenleitung im praktisch-technischen Teil auf gegenwartsangemessene Weise entfaltet und dann mithilfe des ausgebildeten Urteilsvermögens besonnen angewandt werden können. Um aber das historisch Gegebene im Blick auf künftige Gestaltung bewerten zu können, muss der Theologe über eine normative Idee vom Wesen des Christentums verfügen. Da wiederum diese Leitidee nicht mehr durch die Tradition diktiert wird, ist er auf eine historisch-philosophische Selbstvergewisserung angewiesen. Er muss seine Christentumsidee einerseits in Einklang mit den geltenden Wahrheitsbedingungen bringen, sie aber zugleich in Kontinuität mit dem überkommenen Christentum halten, um ihrer geschichtlichen Herkunftstiefe versichert zu bleiben. So ergibt sich die besagte Dreifaltigkeit theologischer Disziplinen: Nachdem die Philosophische Theologie mit der Bestimmung des Wesentlich-Christlichen die grundlegende Wertmaßstabsreflexion geleistet hat, entwirft die Historische Theologie anhand dieses Wesensbegriffs ein kritisches Bild von der schwankenden Wesensverwirklichung in Geschichte und Gegenwart des Christentums, um daraufhin in der Praktischen Theologie Kunstregeln für eine größtmögliche künftige Annäherung an das Wesen des Christentums zu formulieren. In diesem Dreischritt gewinnt der angehende
Rechte getroffen hat, ist eine eigene Frage. Jedenfalls „weist […] auch Schleiermachers Dogmatik eine ganze Reihe ausgesprochen konservativer Züge auf“ (Barth:Wissenschaftstheorie, aaO., 275). Nach dem Urteil Barths „wird man sagen müssen, daß Schleiermacher die Gegenwartsverpflichtung der Dogmatik nicht in der konsequenten Weise eingelöst hat, die ihre programmatische Inanspruchnahme suggeriert“ (276). ThEnz 101.
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Theologe eine Urteilsfähigkeit, die ihn theoretisch wie praktisch in die Lage versetzt, die kirchenleitenden Aufgaben nicht nur routiniert, sondern eigenständig-produktiv zu erfüllen. Mit der beschriebenen Trias zeichnet Schleiermacher ein differenziertes Bild von Theologie und theologischer Bildung, das im Gedanken der Ausbildung theologischer Urteilskompetenz durch reflektierte Aneignung einer Christentumsidee seine inhaltliche Mitte hat. Hinter dieser Bildungsidee wiederum steht eine bestimmte Idee von Kirchenleitung. Danach genügt es nicht mehr, das kirchliche Leben in gewissenhafter Fortführung des Überkommenen zu gestalten.Vielmehr erfordern die sich wandelnden Existenzbedingungen des Christentums eine flexiblere Wahrnehmung der Leitungsfunktionen, wozu nur selbständig urteilende Leitungspersonen fähig sind. Der Diagnose vom grundstürzenden historischen Wandel korrespondiert das Ideal eines mündigen Theologensubjekts, bei dem die innere Autorität der eigenen reflektierten Überzeugung an die Stelle der verlorenen Autorität objektiver Instanzen tritt, um kraft eigenständiger Wesensbestimmung und Wesensgestaltung dem Christentum Wege in die Zukunft offen zu halten. Dem Ideal solcher Mündigkeit entspricht in der enzyklopädischen Konstruktion der Umstand – das sticht gerade im Vergleich mit gegenwärtigen Entwürfen ins Auge –, dass der Theologie nicht eine bestimmte Christentumsidee normativ vorgegeben wird, sondern dass die Ausbildung einer solchen Idee als der gemeinsame, aber nie definitiv erreichbare Zielhorizont aller Fächer ausgewiesen wird. Das Gerüst der Theologie zielt bei Schleiermacher nicht auf die Herstellung und Vermittlung einer allgemein verbindlichen Christentumsidee, sondern es ist der Rahmen für die freien Bildungsvollzüge von jungen Theologen mit dem Ziel des Aufbaus einer je persönlichen Normidee vom Christentum. 10. Als Ort im Studium für den Aufbau einer solchen Normidee hat Schleiermacher, wie dargestellt, die Philosophische Theologie vorgesehen. Sie hat, unbeschadet ihres Namens, eine historische Wesensbestimmung zu leisten, muss dabei aber in bestimmter Weise die Sphäre des begrifflichen Denkens in Anspruch nehmen, etwa einen bestimmten Religionsbegriff. Faktisch greifen dabei also historische und philosophische Reflexionen vielfach ineinander. Wie sich Schleiermacher das im Einzelnen vorgestellt hat, ist seinem Wesensbestimmungsentwurf in der Einleitung der Glaubenslehre zu entnehmen.⁶⁵ Es ist an dieser Stelle zu notieren, dass Schleiermacher diesen Entwurf im vollen Bewusstsein unüberwindbarer Vorläufigkeit unternommen hat. Denn als Ergebnis einer begrifflich-empirischen Mischreflexion kann jeder historischen Wesensbestimmung lediglich der Status eines hypothetischen Urteils zukommen, das wiederum auf
Schleiermachers Methode der Wesensbestimmung ist ausführlich rekonstruiert worden von Schröder: Kritische Identität, aaO., Teil B, und Rössler: Schleiermachers Programm, aaO., Teil III. Eine Zusammenfassung gibt Laube: Wesen des Christentums, aaO., 38 – 44.
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„Bewährung“⁶⁶ durch ein auf seiner Basis entwickeltes Geschichtsbild angewiesen ist. Aus der Einsicht in den Hypothesenstatus der Wesensbestimmung ergibt sich aber für jeden (protestantischen) Theologen das Erfordernis, sich – unbeschadet ihrer konstitutiven Funktion für sein Kirchenleitungshandeln – einer möglichen Korrektur der eigenen Christentumsidee grundsätzlich nicht zu verschließen.⁶⁷ In der Konsequenz der damit konstatierten Unabschließbarkeit der Wesensbestimmung rechnet Schleiermacher denn auch mit einer unhintergehbaren Pluralität von Wesensauffassungen innerhalb des Christentums.⁶⁸ Aus der Verschränkung von historischer und philosophischer Reflexion resultiert indes auch eine architektonische Problematik im Aufbau der akademischen Theologie. Denn infolge dieser Verschränkung ist der disziplinäre Status der Philosophischen Theologie von vornherein instabil. Der Philosophische Theologe hat zwar eine eigene, fundamentale Aufgabe und mit dem Rekurs auf philosophische Begriffe auch eine eigene Methodik. Aber gemessen an der Stofffülle des Historischen Theologen und in seiner Abhängigkeit von dessen Einsichten wirkt er doch wie ein König ohne Land. Schleiermacher selbst geht deshalb davon aus, dass die Philosophische Theologie „nicht leicht zu einer förmlichen theologischen Disciplin wird ausgebildet werden“⁶⁹. Wie aber wäre der unverzichtbaren Aufgabe der Wesensreflexion auch ohne die Wahrnehmung durch eine eigene Disziplin nachzukommen? Mangels der „gehörigen Ausbildung“ der Philosophischen Theologie „können die einzelnen Theile derselben“ laut § 29 der Kurzen Darstellung immerhin „fragmentarisch mit dem Studium der historischen Theologie gewonnen werden“⁷⁰. „In dieser“, so erläutert Schleiermacher in der Enzyklopädie-Vorlesung, „kommen nämlich auf eine geschichtliche Weise auch die Hauptsäze der philosophischen Theologie vor, und dadurch muß sich die philosophische Theologie im Studirenden gestalten. In der historischen Theologie müßte also vorkommen, was zu gewissen Zeiten als das Wesen des Christenthums gegolten hat, wie sich die Ansicht darüber verschieden modificirt hat: daraus nun muß sich jeder seine eigne Vorstellung von dem Wesen des Christenthums bilden, und dann hat er das Fundament für sich, worauf er zu bauen hat.“⁷¹
Vgl. KD2 § 44 Zs., 343. Vgl. dazu Schröder: Kritische Identität, aaO., 150 – 158. Diese Korrekturbereitschaft hält Schleiermacher für „den wesentliche[n] Unterschied des protestantischen und katholischen Charakters“ (PT 22). Unter den Bedingungen eines unverdrängten historischen Bewusstseins „[muß] jeder, weil die historische Betrachtung immer im Verstehen des gegenwärtigen aus dem vergangenen muß begriffen bleiben, also das Urtheil über die Gegenwart nicht als absolut geschlossen vorausgesetzt werden kann, in der Forschung welches die Grenzen des Christenthums sind […], verharren“ (PT 24); vgl. auch PT 21. Schon von alters her ist nach Schleiermacher eine Pluralität von Wesensauffassungen gegeben: „Sobald sich Differenzen im Christenthum entwickelt haben, so muß auch Verschiedenheit gewesen seyn in der Vorstellung von dem eigenthümlichen Wesen des Christenthums, zB in dem Gegensaz von Judenchristen und Heidenchristen“ (ThEnz 28). KD1, 23 § 6, 264. KD2 § 29, 336. ThEnz 29.
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In Ermangelung einer ausgebildeten Philosophischen Theologie kann sich der Student damit behelfen, sich in seinen historischen Studien die unterschiedlichen Auffassungen des Wesentlich-Christlichen innerhalb der Geschichte zu vergegenwärtigen. So kann die Historische Theologie ersatzweise zu dem Ort werden, an dem die „Bildung“ einer „eigne[n] Vorstellung vom Wesen des Christenthums“ stattfindet. In der Beschäftigung mit Paulus oder Augustin, Thomas oder Luther, Spener oder Spalding, um nur einige „Väter“ zu nennen, stehen dann nicht vorwiegend theologische Gedanken oder Systeme zur Debatte, sondern Auffassungen vom Wesen des Christlichen, die dem Studenten als exemplarische Varianten vor Augen treten, an denen sich das eigene Ideal profilieren lässt. 11. Mit dem Hinweis auf das Behelfsmodell der Wesensreflexion ist die Darstellung von Schleiermachers Idee von Theologie und theologischer Bildung an ihr Ende gekommen. Daran sollen sich noch einige Bemerkungen zu deren Aktualität anschließen. Dies erscheint gerade angesichts des Umstandes notwendig und sinnvoll, dass die fragliche Idee schon wegen der zentralen Formel vom ‚Wesen des Christentums‘ schnell den Vorwurf von „Essentialismus“ und überholter „Ontologie“ auf sich zieht.⁷² Dieser Beitrag will demgegenüber auf eine Ebene innerhalb der Schleiermacher’schen Konzeption aufmerksam machen, die ganz unabhängig von ontologischen Implikationen zugänglich ist. Insbesondere die handlungstheoretischen Überlegungen Schleiermachers sowie seine Äußerungen zur Pluralität der Wesensauffassungen bieten einen ganz „unontologischen“ Begriff von ‚Wesen‘ oder ‚Idee‘ des Christentums.⁷³ Demzufolge ist eine mehr oder weniger bestimmte Vorstellung vom Wesentlich-Christlichen einfach ein Konstituens der Theologensubjektivität, nämlich ein notwendiges Implikat des Impulses, das Christentum professionell fördern zu wollen. Jeder Theologe trägt sonach faktisch, wie undeutlich auch immer, eine Vorstellung vom Entscheidend-Christlichen als Triebfeder des Leitungshandelns und als Reflexionsbegriff der Urteilskraft in sich. Die Frage ist nur, woher sie stammt, wie sie aussieht, und welches Maß an Bestimmtheit und Reflektiertheit sie besitzt. Geht man davon aus, dass sich die betreffende Vorstellung anfänglich in der Regel der kirchlichen Tradition verdankt, bedeutet jene Grundannahme für die Frage akademisch-theologischer Bildung: Der Theologe und die Theologin bringen für gewöhnlich einen traditionellen Wesensbegriff ins Studium mit. Die Frage ist nur, ob dieser Wesensbegriff im Laufe des Studiums primär eine traditionalistisch-dogmatische oder eine historisch-philosophische Durchklärung erfährt.
Vgl. z. B. Michael Moxter: Neuzeitliche Umformungen der Theologie. Philosophische Aspekte in der neueren Schleiermacherliteratur, in: PhR 41 (1994), 133 – 158, 158. Vgl. Schröder: Kritische Identität, aaO., 121 f.
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12. Schleiermachers Beschreibung eines gelungenen Theologiestudiums besticht zunächst dadurch, dass sie die diversen Lernprozesse in den heterogenen Fächern in eine differenzierte Integrationsperspektive einstellt. Auf der Basis der Unterscheidung von ‚technischem‘ und ‚historischem‘ Wissen wird, was das Letztere betrifft, der Erwerb einer klaren, historisch und philosophisch aufgeklärten Idee von dem, was das Christentum wesentlich ausmacht und woran folglich das Urteil über das real bestehende Christentum zu messen und die kirchenleitende Gestaltungsarbeit auszurichten ist, zum übergreifenden Bildungsziel, dem alles Einzelwissen zuzuordnen ist. Angesichts der Studienwirklichkeit unserer Tage scheint diese integrale Bildungsidee nach wie vor bedenkenswert zu sein. Denn gegen das Gefühl von Disparatheit, das Studentinnen und Studenten ob der Fächer- und Wissensmannigfaltigkeit innerhalb der Theologie bestimmt, helfen keine „Integrationsseminare“. So werden die Vertreterinnen und Vertreter aller Fächer von Schleiermacher vor die Frage gestellt, worin der spezifisch theologische Gewinn des je dargebotenen Wissens (abgesehen von einem möglichen allgemein-wissenschaftlichen Interesse) bestehen mag. Anders als beim ‚technischen‘ Wissen geht es im Falle des ‚historischen‘ Wissens dabei wohlgemerkt nicht um eine unmittelbare Relevanz für die Leitungspraxis (im Sinne der geläufigen Frage: „Wozu brauche ich das eigentlich im Pfarramt?“). Das ‚historische‘ Wissen hat sich nur mittelbar auf die Kirchenleitung zu beziehen, sofern es einen Beitrag zur Bestimmung und Entfaltung der Christentumsidee leistet und sofern es als Horizont für die Gegenwartsdiagnose dient. Damit kommt eine Dimension des historischen Studiums in den Blick, die in der Selbstbeschreibung der fraglichen Disziplinen kaum eine Rolle spielt – umso mehr aber in der Bildungsbiographie von Theologinnen und Theologen. Demnach liegt der genuine Bildungsgewinn der historischen Disziplinen nicht schon in der Kenntnis der Geschichte, erst recht nicht in der Vorbereitung auf unmittelbare Praxisbelange. Vielmehr dienen sie nach Schleiermachers Behelfsmodell der Wesensreflexion vorzüglich dem Interesse der theologischen Existenz nach Vergewisserung darüber, was das Entscheidend-Christliche sei. Mag sich der Exeget oder die Theologiehistorikerin in Orientierung an den Standards historischer Wissenschaft noch so sehr gegen die Zumutung von Wesensfragen sträuben – das theologische Bildungsinteresse der Studierenden wird sich doch unter der Hand der Beschäftigung mit theologiegeschichtlichen Positionen bemächtigen, indem dabei die Frage möglicher Aneignung mitläuft. Auf diese Weise wird beim einzelnen Studenten die eigene Christentumsidee ins Bewusstsein gehoben, hinterfragt, womöglich korrigiert und erweitert. Und am Ende bildet sich im Idealfall eine Reihe von historischen „Helden“, die jeweils für gewisse Einsichten hinsichtlich des Wesentlich-Christlichen stehen, aus denen sich immerhin die „Hauptsätze“ der eigenen Idee zusammenstellen lassen. Aus der Sicht der reinen Wissenschaft sind solche Aneignungen nicht vorgesehen und werden womöglich milde als Erscheinungen theologischer Adoleszenz belächelt; aus der Sicht von Schleiermachers Bildungsidee sind sie die Hauptsache am Studium der Historischen Theologie. Dem ist freilich hinzuzufügen, dass es von der Zusammensetzung der
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jeweiligen Ahnenreihe abhängt, in welchem Maße die aus ihr sich zusammenspiegelnde Christentumsidee auch zukunftsfähig ist.⁷⁴ Im Übrigen können die fraglichen Bildungsprozesse natürlich nur gelingen, wenn die Studierenden über den nötigen ‚wissenschaftlichen Geist‘ verfügen. Schleiermachers Bildungsideal setzt die Bereitschaft voraus, sich in der Reflexion der eigenen Leitbilder sowohl mit den geltenden Wahrheitskriterien zu konfrontieren als auch mit den vielfältigen Erscheinungsformen des Christentums. Damit ist eine doppelte Infragestellung der mitgebrachten Überzeugungen gegeben, der es standzuhalten gilt, um in langwierigen Verstehensprozessen zu einer erneuerten Anschauung des Wesentlich-Christlichen zu gelangen. Nur wer eine solch reflektierte Anschauung erwirbt, gewinnt auch eine eigene theologische Identität. 13. Mit dieser Konzeption des zu bildenden Theologen ist indessen auch ein basales Problem des Theologeseins unter den Bedingungen der Moderne berührt. Für Schleiermacher ist die Idee vom Wesen des Christentums eine konstitutive Funktion innerhalb der Theologensubjektivität; variabel sind allein der Gehalt, der Grad an Bestimmtheit sowie die Art und Weise ihrer Bestimmung. Ist ein Mindestmaß an ‚wissenschaftlichem Geist‘ vorhanden, strebt das Theologensubjekt nach einer möglichst konturierten Christentumsidee, um einen möglichst klaren Maßstab für das eigene Leitungshandeln zum Wohl des Christentums zu gewinnen. Nun ist es, wie bereits von Schleiermacher vorausgesehen, nicht zu einer „gehörigen“ Etablierung von Aufgabe und Methodik der historisch-philosophischen Wesensklärung gekommen. Und die aufgezeigte Behelfsalternative, die Klärung im Modus des Historischen, liefert nur Fragmente, die sich kaum zu einem Ganzen fügen. Der proklamierte Weg zur Durchklärung des je eigenen Wesensbegriffs scheint ins Ungefähr zu führen. Wird aber das Bedürfnis nach Klarheit nicht ausreichend erfüllt, bieten sich verschiedene Fluchtwege. Nicht wenige Theologen dispensieren sich von der Aufgabe einer Orientierung über das Wesen des Christentums und beschränken sich auf die „bloß empirische“ Erforschung seiner reichen Geschichte – und scheiden damit nach Maßgabe der Kurzen Darstellung aus dem Kreis der eigentlichen Theologie aus. Schleiermacher hat eine solche Selbstdispensierung als Entkoppelung von ‚wissenschaftlichem Geist‘ und ‚kirchlichem Interesse‘ innerhalb des Theologen gefasst.⁷⁵ Das Theologenethos kann sich dieser Dissoziation der Grundelemente theologischer Existenz natürlich auch widersetzen. Wie gelangt es dann aber, da das philosophischhistorische Verstehen bloß bruchstückhafte Einsichten zutage fördert, zu einer hinreichend bestimmten Christentumsidee?
Der Frage, welche Rolle der Systematischen Theologie bei der Wesensreflexion im Zusammenspiel mit der Historischen Theologie zukommen mag, kann hier nicht eigens nachgegangen werden. Aber dass sie aus Schleiermachers Konzeption der Philosophischen Theologie – die bei ihm gelegentlich auch als „systematische Theologie“ (PT 26) firmiert – Grundlegendes für ihr Selbstverständnis gewinnen könnte, liegt auf der Hand. Vgl. ThEnz 12 f.
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Es bleibt dann noch die Flucht aus der historisch-philosophischen zur traditionalistisch-dogmatischen Wesensbestimmung. Die Stelle der Wesensidee kann nach Schleiermachers Grundeinsicht im Theologensubjekt nicht unbesetzt bleiben, und es besteht diesbezüglich das Bedürfnis nach möglichst großer Distinktheit. So wählt die Exegetin, der Kirchen- oder Theologiehistoriker nicht selten den Rückgriff auf die dogmatische Tradition, um seinem oder ihrem Denken ein wohldefiniertes Prinzipienfundament zu verleihen. Unbeschadet der im Einzelnen herrschenden historischen Methode sind daher nicht wenige Historiker im Grunde ihres Denkens Dogmatiker. Ein Beispiel dafür ist die häufig zu beobachtende mehr oder weniger verdeckte Inanspruchnahme der altprotestantischen Schrifttheologie in der Exegese. Da aber mit der Wesensvorstellung die Prinzipien der „gesamten Denkungsart“⁷⁶ des Theologen gegeben sind, kann man davon ausgehen, dass sich diese dogmatischen Wesensbegriffe in der historisch-theologischen Arbeit in irgendeiner Weise zur Geltung bringen, und sei es nur in der Auswahl von interpretationswürdigen Quellen. Es gibt kein theologisches Denken, in dem sich die – mehr oder weniger deutliche – Wesensidee nicht – mehr oder weniger deutlich – manifestieren würde. Es ist demnach an jede historisch-theologische Position die Frage zu richten,welche Christentumsidee ihr offenes oder heimliches Leitaxiom abgibt. Nimmt man diese hintergründigen Leitbegriffe zur Kenntnis, stellt sich das faktische Verfahren der historischen Theologie – sofern sie sich nicht von vornherein von ihrer theologischen Orientierungsaufgabe dispensiert – in der Regel als komplexe Methodenmischung dar, als Ineinander von philosophischen oder kulturwissenschaftlichen Begriffen, genuin historischen Methoden sowie prinzipientheoretischen Anleihen aus der Dogmatik. Die hermeneutische Leistung von Schleiermachers Theologiekonzeption besteht darin, dieses Ineinander ins Bewusstsein zu heben, analysierbar und reflektierbar zu machen. 14. Aber soll man sich damit begnügen? Ist es nicht nach wie vor ein erstrebenswertes Bildungsziel, zu einer historisch-philosophisch begründeten Auffassung vom Wesen des Christentums zu gelangen, die einen ausreichenden Grad an Bestimmtheit hat, um als Fundament theologischer Identität und als subjektive Normidee für die Förderung von Kirche und Christentum zu taugen? Die methodischen Optionen und Probleme sind jedoch, wie spätestens seit Troeltschs Wesensaufsatz gänzlich am Tage liegt, so vielgestaltig und unübersichtlich, dass man gerne den oben beschriebenen Fluchtimpulsen nachgeben und sich der reinen Wissenschaft hingeben oder der dogmatischen Tradition überantworten würde. Aber soll der Weg zu theologischer Bildung immer wieder so auseinandergehen? Mit der Wissenschaft, aber heraus aus der Theologie, oder mit der Theologie, aber heraus aus der Wissenschaft? Vielleicht wäre es ja an der Zeit, Schleiermachers Bildungsideal erneut in Betracht zu ziehen und – in allen theologischen Fächern – größere Klarheit über mögliche Wege wissenschaftlicher Wesensbestimmung und Wesensgestaltung zu suchen.
Vgl. KD2 § 67, 351.
Christian Polke / Göttingen
Bildung – eine Angelegenheit des Menschen nach Schleiermacher Für Peter Cornehl
Eine Angelegenheit des Menschen – so lautete bekanntlich der Untertitel von Johann Joachim Spaldings religionstheoretischem Spätwerk¹, erschienen nur zwei Jahre vor Schleiermachers nachmaligem Welterfolg, der frühromantischen Jugendschrift: Über die Religion, Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799). Über die Beziehung Schleiermachers zu Spalding wissen wir mittlerweile einiges, die in sachlicher Hinsicht gemeinsamen Anliegen sind gut erforscht.² Für unseren Kontext ist dabei von Interesse, dass beide Denker mit ihren Schriften den anthropologischen Zugang zur Religionsthematik in bildungstheoretischer Terminologie vornahmen. So sprach Schleiermacher bekanntlich nicht nur von den „Gebildeten unter den Verächtern“ der Religion als dem eigentlichen Adressatenkreis seiner Schrift, sondern widmete die gesamte dritte Rede, der „Bildung der Menschen zu dieser (sc. der Religion; C.P.) erhabenen Anlage“³. Spalding wiederum sah in der Bildung das wichtigste Mittel zur Kultivierung des religiösen Sinns der Menschen, wovon der vierte Abschnitt seiner Schrift – überschrieben mit „Sicherste Art, die Religion dem Menschen angelegentlich zu machen; Anwendung davon“⁴ – beredt Zeugnis ablegt. So überrascht es auch nicht, dass er dort auf den beklagenswerten Zustand des seinerzeitigen Religionsunterrichts zu sprechen kommt.⁵ Mit jener Verknüpfung aus religions- und bildungstheoretischen Überlegungen bilden beide Denker in ihrer Zeit keine Ausnahmen. Vielmehr avanciert seit Mitte des 18. Jahrhunderts Bildung zu einem Dauerthema in der gelehrten Öffentlichkeit, wird Bildung als Begriff zu einer Art Leitkategorie.⁶ Vor allem die Namen Herder⁷ und
Vgl. J.J. Spalding, Religion eine Angelegenheit des Menschen (1797), hg. von W.E. Müller, Darmstadt 1997. Siehe dazu: A. Beutel, Aufklärer höherer Ordnung? Die Bestimmung der Religion bei Schleiermacher (1799) und Spalding (1797), in: ders., Reflektierte Religion. Beiträge zur Geschichte des Protestantismus, Tübingen 2007, 266 – 298. F.D.E. Schleiermacher, Über die Religion, an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), in: Ders., Kritische Gesamtausgabe I. Abteilung, Bd. 2: Schriften aus der Berliner 1796 – 1799 (= KGA I/2), hg.von G. Meckenstock, Berlin/New York 1984, 248, 5 f. Spalding, Religion (Anm. 1), 108. Vgl. a.a.O., 110 f.116 ff. Vgl. R. Vierhaus, Art. Bildung, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland, Bd. I, hg. von O. Brunner, W. Conze und R. Koselleck, Stuttgart 1972, 508 – 551. Vgl. J.G. Herder, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774), hg. von H.D. Irmscher, Stuttgart 1990. DOI 10.1515/9783110464573-011
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Christian Polke
Humboldt⁸ stehen hier Pate, weil sie den Bildungsbegriff jeweils in den Mittelpunkt ihrer anthropologisch fundierten wie auch geschichts- und sprachphilosophisch versierten Kulturtheorie und Ethik rücken. Zu letzterer gehört für sie wesentlich auch das Ausarbeiten praktischer Vorschläge für die Bildungspolitik im Schul- wie Wissenschaftsbereich. Interessant ist in diesem Kontext allerdings, dass man im Gegensatz zur Religion – man erinnere nochmal den Titel von Spaldings Spätwerk – die Bildung kaum so prominent als eine Angelegenheit des Menschen gekennzeichnet findet. Das mag Zufall sein, jedoch überrascht es insofern, da in sachlicher Hinsicht Bildung zu einem fundamentalanthropologischen Thema par excellence in diesem Zeitraum wird. Wenn im Folgenden von Bildung als Angelegenheit des Menschen „nach“ Schleiermacher gesprochen werden soll, dann zunächst im doppelten Sinne: der sachlichen Orientierung an Schleiermachers Bildungstheorie sowie mit Blick auf zeitlich ihr nachfolgende Debatten. Der spezifische Zugriff auf das Bildungsthema, der mit der Formel von der „Angelegenheit“ zum Ausdruck gebracht wird, zielt in Anschluss an Spalding auf Sachverhalte, die „auf die ganze, wesentliche Natur des Menschen und auf deren ursprüngliche, unabänderliche Zwecke“ derart bezogen sind, dass „daraus ohne Zweifel eine allgemein interessierende und uneingeschränkt verpflichtende Angelegenheit“⁹ wird. Als „angelegentlich“ wird hier wie noch später im Grimm‘schen Wörterbuch etwas bezeichnet, das eine „eigentlich (…) wichtige“, darum „anliegende, dann überhaupt uns angehende sache“ meint.¹⁰ Damit aber wird Bildung in besonderer Weise auch als unter ethischen und politischen Gesichtspunkten bedenkenswert angesehen. Als politisches Thema erscheint sie freilich nicht als Thema einer „Lehre vom Staat“, wie sie Schleiermacher als Theorie der Staatsverfassung und Staatsverwaltung vor Augen stand. Auch geht es nicht primär um Fragen bildungspolitischer Art. Vielmehr steht dahinter die Einsicht in die Notwendigkeit der Bildungsaufgabe für eine Lebensform, die sich unter der Bedingung elementarer Sozialität in der Öffentlichkeit vollzieht. Weil der Mensch, mit Aristoteles gesprochen, in seiner öffentlichen Natur ein zoon politikon ist, lässt sich im Nachdenken über Funktion und Wert von Bildung nicht nur etwas über die Eigenart „humane Lebensform“ (conditio humana) als solche – also dem „Menschen und seiner Seele“ – lernen, sondern darin wird zugleich offenkundig, welche ethischen Grundlagen eine funktional ausdifferenzierte Gesellschaft, wie sie schon für Schleiermacher bestand, für ihren Fortbestand bedarf.
Für Humboldt verweise ich exemplarisch auf eine frühe Skizze: W. von Humboldt, Theorie der Bildung des Menschen. Bruchstück, in: Ders., Werke in fünf Bänden, Bd. I: Schriften zur Anthropologie und Geschichte, hg. von A. Filtner und K. Giel, Darmstadt 1960, 234– 240. Spalding, Religion (Anm. 1), 8. Vgl. Deutsches Wörterbuch von J. Grimm und W. Grimm, Online-Ausgabe der DFG und BBAW (Zugriff September 2015 unter: http://woerterbuchnetz.de/DWB/?sigle=DWB&mode=Vernetzung& lemid=GA03794).
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In vier lose aufeinander aufbauenden Schritten will ich das Thema angehen. Zunächst soll nochmals auf die Rede von der Bildung als einer Angelegenheit des Menschen zurückgegriffen werden. Dabei steht der anthropologisch-gesellschaftstheoretische Aspekt im Vordergrund (I.). Danach soll diese Fundierung mit Blick auf Schleiermachers Ausführungen zur Pädagogik wissenschaftsdisziplinär vertieft werden. Denn sie, die Pädagogik, galt ihm als eigentliche Kunstlehre der Erziehung (II.). Auf die darin entfalteten Konturen seines Bildungsverständnisses sowie der Rekonstruktion ihrer ethischen Implikationen ist sodann das Augenmerk zu richten (III.). Schließlich soll noch mit wenigen Strichen der Blick auf bildungstheoretische Debatten nach Schleiermacher gelenkt werden, und zwar in der Absicht diejenigen Impulse zu unterstreichen, deren Gegenwartsrelevanz offenkundig zu sein scheinen (IV.).
I. In der Sprache der Aufklärung meint die Formel von der Bildung als einer Angelegenheit des Menschen zunächst das Eingeständnis, dass es sich beim Menschen um ein gleichermaßen zur Bildung befähigtes, und dabei zugleich zu ihr genötigtes (Lebe‐) Wesen handelt. Noch in der häufig transitiven Verwendung des Verbs „bilden“ als „sich oder etwas oder jemand bilden“ macht die grammatikalische Notwendigkeit eines direkten Objektbezugs darauf aufmerksam, dass es dabei um einen Prozess der wechselseitigen Tätigkeit in einer Verhältnisrelation geht. Denn so oder so bedarf es zur Bildung eines Subjekts und eines – grammatikalisch dann als Objekt gefassten – anderen Subjekts, das nicht unbedingt ein Mensch und nicht zwingend ein anderer Mensch (man kann sich auch selbst bilden!) sein muss. In Schleiermachers Terminologie haben wir es beim Vorgang des Bildens, oder substantivisch gesprochen: in der Bildung, mit einem ebenso exemplarischen wie paradigmatischen Fall jener von ihm auch sonst stets in den Vordergrund gerückten, prinzipiellen Wechselwirkung von Rezeptivität und Spontaneität zu tun¹¹. Das ist deswegen mehr als eine metaphorische Redewendung, weil für ihn alles Leben – in Abstufungen – sich selbst und sich mit anderen bildet. Elementare wie komplexe Lebensprozesse lassen sich ohne weiteres stets auch als elementare bzw. komplexe Bildungsprozesse begreifen. „Sich bilden“ bedeutet daher immer auch „gebildet zu werden“, und für den Menschen, jener
Dies wird in allen Fassungen seiner Vorlesung zur Erziehungslehre (Pädagogik) hervorgehoben. In der Vorlesungsmitschrift von 1820/1 spricht Schleiermacher stets von den beiden Polen des Wechselverhältnisses von „Passivität“ und „Selbsttätigkeit“ bzw. dem „Gegensatz zwischen Rezeptivität und Spontaneität“. Vgl. F.D.E. Schleiermacher, Pädagogik. Die Theorie der Erziehung von 1820/21 in einer Nachschrift, hg. von Chr. Ehrhardt und W. Virmond, Berlin/New York 2008, hier: 64.73.u.ö. – So nicht anders angegeben beziehen sich sämtliche Schleiermacher-Zitate die Pädagogik betreffend auf diese Ausgabe, welche erstmals den vollständigen Text des mittleren Kollegs bietet. Zu den Charakteristika und der besonderen Scharnierfunktion der Vorlesung von 1820/21 gegenüber den Vorlesungen von 1813/14 und 1826 vgl. die Einleitung der Herausgeber: a.a.O., 1– 35.
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chronischen Frühgeburt – um es in Anlehnung an Adolf Portmann¹² zu sagen –, trifft dies in besonderem Maße zu. Es ist daher von Vorteil, wenn Schleiermacher auf das anthropologische Fundament von Bildung und Erziehung abstellend ganz unprätentiös argumentiert und so weit wie irgend möglich dieses theorie- bzw. voraussetzungsarm plausibilisiert. Denn das Postulat von der Notwendigkeit zu Bildung und Erziehung ist zunächst ganz schlicht gattungsgeschichtlich zu verstehen. So gesehen stellt Bildung als Erziehung nichts anderes als die „p ä d a g o g i s c h e E i n w i r k u n g d e r ä l t e r e n G e n e r a t i o n a u f d i e j ü n g e r e “¹³ dar. Damit wird Bildung nicht zu einem hehren Ideal, das – bildungsbürgerlich verhoben – zur Basis oder zum Ersatz für eine wie auch immer geartete Weltanschauung oder Religion wird. Solche Attitüden sind denn auch eher ein Jahrhundert später zu konstatieren, wo man auf (Selbst‐)Beschreibungen wie „Bildungsbürgertum“ oder eben „Bildungsreligion“ allergrößten Wert legt. Im Gegensatz dazu liegen für Schleiermacher Bildung und Erziehung schlicht in der Fluchtlinie menschlicher Selbsterhaltung und -steigerung. Konsequent folgen sie aus dem Faktum der intergenerationellen Verwobenheit und bürgen für Kontinuität und Entwicklung. Insofern hätte Schleiermacher dem Diktum Deweys zustimmen können: „Was Ernährung und Fortpflanzung für das physische Leben sind, ist Erziehung“ – und die Weitergabe von Wissensbeständen und Fertigkeiten – „für das soziale Leben“¹⁴ von Menschen. Schleiermacher ist sich sehr genau bewusst, wie stark Bildungsprozesse, aber auch Erfolge in der Erziehungskunst vom Bewusstsein ihres geschichtlichen Gewordenseins und ihres stetigen Wandels abhängen. Dies gilt nicht zuletzt deswegen, weil beide – also Bildung und Erziehung – durch den Zuwachs von überlieferten Wissensbeständen und Fertigkeiten kontinuierlich angereichert werden. Insofern trifft es zumindest vor dem digitalen Zeitalter, aber wahrscheinlich noch für dieses zu, dass mit jeder Zunahme an Wissensbeständen und Kompetenzen der zeitliche Rahmen für die Erziehungsperiode der Einzelnen ebenfalls gestreckt werden muss, eben bis hin zur Idee des lebenslangen Lernens. Zur Selbstständigkeit und Kooperationsfähigkeit der Individuen bedarf es nämlich mehr als nur des Erwerbs basaler Verständigungsfertigkeiten. Vielmehr muss stets von Neuem nach einem einigermaßen passgenauen Verhältnis zwischen den jeweils als geltend vorausgesetzten Wissensbeständen und den Portmann zielte mit seinen berühmten Formeln vom Menschen als einer „physiologischen Frühgeburt“ und eines „sekundären Nesthockers“ gerade auf die Verschränkung der Aspekte von biologischer und soziokultureller Entwicklung qua Erziehung, auf die der Mensch notwendig angewiesen bleibt. Vgl. dazu seine Ausführungen in: A. Portmann, Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen, zweite, erweiterte Auflage Basel 1951. F.D.E. Schleiermacher, Die Vorlesungen aus dem Jahre 1826, in: Sämmtliche Werke. Friedrich Schleiermacher′s literarischer Nachlaß. Dritte Abtheilung: Zur Philosophie, Neunter Band: Erziehungslehre. Aus Schleiermacher′s handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen (= SW III,9), hg. von C. Platz, Berlin 1849, 17. J. Dewey, Demokratie und Erziehung. Eine Einleitung in die philosophische Pädagogik, hg. und mit einem Nachwort von J. Oelkers, Weinheim/Basel 2000, 25.
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üblicherweise in Gebrauch stehenden Kommunikationsstilen auf der einen und dem für die Ausbildung und Erziehung benötigten und ermöglichten, jedoch stets begrenzten Zeitraum auf der anderen Seite Ausschau gehalten werden. „Die Menschen erwerben“, so Schleiermacher, „allmählich eine Menge von neuen Kenntnissen, Tätigkeiten und Fertigkeiten von Geschlecht zu Geschlecht. Wer in einem späteren Geschlecht geboren wird, steht nun an und für sich auch auf demselben Punkte wie der, dessen Leben in ein früheres Geschlecht fällt“ – nämlich, er muss erzogen also gebildet werden. – „Er soll nun aber alles durchmachen, was alle früheren Generationen erworben haben. Denken wir uns diese Fortschreitung, so muss, das Leben, das in die Erziehungsperiode fällt, immer reicher werden.“¹⁵ Hellsichtig beschreibt Schleiermacher zudem die Komplexitätszunahme von Bildungsprozessen aufgrund des Gesellschaften übergreifenden Wissenstransfers. Damit wird schon aufgrund externer Faktoren eine regelgeleitete Kunst für die Optimierung von Bildungsprozessen erforderlich, wobei dieser vornehmlich zugemutet wird durch die Selektivität des Bildungsstoffes – d. h. der Fertigkeiten und Wissensbestände – die notwendige Kontinuität (als Traditionsbildung) mit der gleichermaßen erforderlichen Aktualität (als Gegenwartsbezug) so zu kombinieren, dass es dem Zuwachs an Wissen und Kompetenzen nicht entgegengewirkt, sondern dass diesem bei gleichzeitigem Herkunftsbewusstsein zugearbeitet wird. Aus diesen soziokulturellen Bedingungen des Werdens menschlicher Lebensformen in individueller und kollektiver Gestalt resultiert nicht zuletzt, dass bei fortschreitender Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilbereiche Bildung als Angelegenheit des Menschen auch zur Frage der Institutionalisierung von Bildungseinrichtungen, der Etablierung und Perfektionierung einer wissenschaftlich ausgerichteten Kunst der Bildung als Erziehung, sowie zur Pädagogik, und der dadurch notwendigen Ausbildung eines eigens dafür verantwortlichen Professionsstands (Erzieher, Pädagogen) wird. Zwar gilt für alle Gesellschaften, selbst für sog. primäre, dass sich Erziehung (als Bildung) nie abseits institutioneller Settings vollzieht. Hierbei ist natürlich zuvorderst an die Institution der Familie aber auch der Sippe zu denken. Nach und nach lässt sich allerdings fast überall eine ähnliche Entwicklung hin zur Delegierung und Differenzierung von Erziehungsprozessen an unterschiedliche, private wie öffentliche Einrichtungen beobachten. Bildung wird dabei zu einer stets auch politischen, mitunter geistlichen, mehrheitlich aber – spätestens seit den Tagen der Aufklärung – zu einer weltlichen Angelegenheit von Menschen.¹⁶ Mit der Durchsetzung der institutionellen Trennung der weltlichen von der geistlichen Sphäre wird zudem das Problem der Ausbildung einer regelrechten, da regelgeleiteten Kunst der Bildung als Erziehung samt einer eigenständigen Profession akut.
Schleiermacher, Pädagogik (Anm. 11), 156. Der Bildungsbereich ist somit selbst Teil eines kulturellen Ausdifferenzierungsprozesses, der sich jedoch nicht auf ein einziges Teilsystem konzentriert, wie man zahlreichen diesbezüglichen Äußerungen Schleiermachers entnehmen kann.
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II. Im Unterschied zu Interpretationen Schleiermachers, die sich vornehmlich auf die Explikation seines kategorialen, d. h. allgemeinen und religiös konnotierten Bildungsbegriffs kaprizieren¹⁷, scheint es für meine Belange näher zu liegen, vom wissenschaftstheoretischen Ort derjenigen Disziplin auszugehen, die als Pädagogik oder „Erziehungskunst“, wie Schleiermacher auch sagen kann, unter Bedingungen ausdifferenzierter und entsprechend institutionalisierter Lebenswelten die Theorie für diejenige Praxis bereitstellt, die wir Bildung nennen. Soll nämlich jene kein willkürliches, d. h. unkontrolliertes Unterfangen darstellen, sondern soll sich mit ihr ein durch Wissen und Kunst aufgeklärtes, regelgeleitetes und darin eo ipso ethisches Anliegen verbinden, dann bedarf sie selbst einer theoretischen Rekonstruktion und Entfaltung. Grundsätzlich fällt die Pädagogik nach Schleiermacher in den Rahmen der Ethik, wobei letztere „als Darstellung des Zusammenseins der Vernunft mit der Natur“, d. h. als „Wissenschaft der Geschichte“¹⁸ verstanden wird. Bekanntlich kennt Schleiermacher dabei Disziplinen, die im Zwischenbereich von (spekulativer) Sittenlehre und (empirischer) Geschichtskunde anzusiedeln sind. Neben den kritischen sind dies hier vor allem diejenigen Wissenschaften, die als Kunstlehren durch „technische[ ] Verfahren (…) das Beschauliche und das Erfahrungsmäßige aufeinander [beziehen]“¹⁹. Zu ihnen gehört die Pädagogik. Ohne an dieser Stelle auf die Schwierigkeiten von Schleiermachers Wissenschaftssystematik eingehen zu können²⁰, ist es gleichwohl von Belang, dass er die Pädagogik als eine „regelgebende“ oder „technische“ Disziplin begreift. Denn durch ihren praktischen Grundzug gehört sie damit einerseits mehr auf die „Seite der Kunst“ als auf die Seite der Wissenschaft²¹; was wiederum andererseits dazu führt, dass Schleiermacher in der Pädagogik-Vorlesung von 1820/21 das Verhältnis von Ethik als kategorialer Sittenlehre und Pädagogik als technischer Kunstlehre auch so beschreiben kann, „dass alles in der Sittenlehre keine andere Bewährung findet als in der Pädagogik. Jeder nämlich, der ein Gesetz des Lebens richtiger erkannt zu haben meint, als es sich aus dem Leben, wie es ist, unmittelbar ergibt, wünscht es
So klammert z. B. Ursula Frost in ihrer Darstellung der Bildungstheorie Schleiermachers die Pädagogik von vornherein aus. Vgl. U. Frost, Einigung des geistigen Lebens. Zur Theorie religiöser und allgemeiner Bildung bei Friedrich Schleiermacher, Paderborn/München/Wien/Zürich, 1991, 28 ff. Auch die jüngste Dissertation zum Thema konzentriert sich ganz auf das religionstheoretische Potential von Schleiermachers Bildungstheorie. Siehe: D.T. Bauer, Das Bildungsverständnis des Theologen Friedrich Schleiermacher (PThGG 16), Tübingen 2015. F.D.E. Schleiermacher, Ethik (1812/13) mit späteren Fassungen der Einleitung, Güterlehre und Pflichtenlehre. Auf der Grundlage der Ausgabe von O. Braun, hg. und eingeleitet von H.-J. Birkner, Hamburg 1981, 11. A.a.O., 217. Die immer noch konziseste Darstellung findet sich bei: H.-J. Birkner, Schleiermachers christliche Sittenlehre im Zusammenhang seines philosophisch-theologischen Systems, Berlin 1964, 30 – 36. Vgl. Schleiermacher, Ethik (Anm. 18), 218.
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auch zu realisieren durch das durch die Gewohnheit noch nicht gebändigte Geschlecht. Und nun gibt die Pädagogik die Probe für die Sittenlehre; denn ein Gesetz für das menschliche Leben kann nicht das rechte sein, wenn es nicht realisiert werden kann.“²² Man würde den Intentionen Schleiermachers nun nicht gerecht werden, würde man aus dem so beschriebenen Verhältnis von Ethik und Pädagogik auf eine Konstellation von Deduktion (der Ideen und Prinzipien) und Applikation (in der Form von Regelwissen) schließen. Dem widersetzt sich schon das grundlegende Motiv Schleiermachers, nach dem auf allen Feldern der Wissensgewinnung Empirie und Spekulation sich wechselseitig durchdringen und bestimmen müssen. Doch die eigentliche Pointe in der Beschreibung Schleiermachers liegt in meinen Augen darin, dass sich allererst in der Erziehungspraxis selbst herausstellt, was als jeweils gelebte Sittlichkeit einer Gesellschaft bzw. als zu bewahrendes und damit auf Zukunft ausgerichtetes Ethos eines Gemeinwesens gelten darf. Mehr noch, in der Erziehung zeigt sich insgesamt, wie es um die sozialmoralischen Ligaturen unseres Zusammenlebens bestellt ist und welche Chancen etwaigen Veränderungs- oder gar Verbesserungsvorschlägen eingeräumt werden können. Die pädagogische Praxis wird nicht nur zur Bewährungsprobe ethischer und bildungstheoretischer Maximen, sie darf vielmehr als ihr Realitätscheck gelten, um es neudeutsch zu formulieren. Gründe hierfür gibt es schon wissenschaftssystematisch. Denn die Ethik als spekulative oder formale Sittenlehre ließe sich gar nicht unmittelbar, also ohne kritische und technische Disziplinen, auf die empirische Geschichtskunde anwenden²³; und gleiches gilt für eine etwaige Applikation ethischer Maximen im Unterrichtsgeschehen. So fußt die Notwendigkeit der Pädagogik als Vermittlungsinstanz, die sich zwischen ethische Theoriebildung und pädagogische Praxis (in konkreten Bildungsprozessen) schaltet, auf ihrer Eigenart als Kunstlehre sozusagen auf der Schwelle von Theorie zur Praxis zu stehen: Als Kunstlehre ist sie Theorie, aber ihr Fokus ist die Praxis, d. h. die Erziehungskunst. In diesem Zusammenhang mag eine Erinnerung helfen, diesen eigentümlichen Zwischenstand der Pädagogik noch etwas genauer zu fassen. Denn wie diese ist nach Schleiermacher auch die Staatslehre eine technische Disziplin. Sowohl die Darlegung der „Staatsklugheit“²⁴ – wir würden heute wohl sagen: der Politik – betreffend, als auch hinsichtlich der Lehre von der Staatsverfassung und -verwaltung fußt sie weder auf einer a priori gesetzten Idee vom Staat²⁵, noch stellt sie in ihrem Kern eine Ethik des
Schleiermacher, Pädagogik (Anm. 11), 58. Dieses Verhältnis von Ethik (als praktischer Philosophie) und Pädagogik kennzeichnet z. B. auch den Ansatz von Johann Friedrich Herbart.Vgl. dazu: K. Prange, Johann Friedrich Herbart (1746 – 1841), in: H.E. Tenorth (Hg.), Klassiker der Pädagogik, Bd. 1: Von Erasmus bis Helene Lange, München 22010, 172– 180. Vgl. Schleiermacher, Ethik (Anm. 18), 217. A.a.O., 12. Das macht Schleiermacher gleich zu Beginn seiner Vorlesungen über die Lehre vom Staat klar und wendet sich damit gegen eine Tradition von Plato bis Fichte. Vgl. F.D.E. Schleiermacher, Die Lehre vom Staat 1829 – 1833, in: ders., Kritische Gesamtausgabe II. Abteilung, Band 8: Vorlesungen zur Lehre vom
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Politischen dar. Man kann die Parallelisierung von Staats- und Erziehungslehre sogar noch etwas weiter treiben²⁶, sind doch beide Disziplinen im Grunde gar nicht ohne einen auf sie abgestellten institutionellen Kontext denkbar. So, wie die Lehre vom Staat ihren organisierenden Fluchtpunkt in der Institution des Staates findet und dabei ganz und gar von der Aufgabe des mittels Macht und Recht zu regelnden Zusammenlebens herkommt, so zielt die Pädagogik auf die Verwirklichung ihrer „Kunst“ am Ort der konkreten Bildungseinrichtungen. Mag man auch über Schleiermachers Behandlung der Frage „Über den Beruf des Staates zur Erziehung“²⁷ unterschiedlicher Ansicht sein, entscheidend bleibt seine Einsicht in die (zunehmende) Eigenständigkeit des Bildungsund Erziehungssektors und seiner institutionellen Settings. In deren Autonomie liegt ein ethisch wie kulturtheoretisch nicht zu unterschätzender Wert. Zudem ist darin begründet, warum Schleiermacher sowohl gegenüber Theorien, welche Bildung und Erziehung – im Gefolge Platons – gänzlich zur öffentlichen, staatlichen (und/oder geistlichen) Aufgabe machen als auch gegenüber denjenigen, die diese allein dem familiären oder häuslichen Privatbereich zusprechen wollen, skeptisch bleibt. Beide Richtungen tendieren dazu, die Eigenständigkeit der Erziehung als Bildung²⁸ zu unterschlagen, und beiden fehlt zumeist das notwendige Verständnis für die Unabhängigkeit der aus der Erziehung selbst zu generierenden Ideale und Wertüberzeugungen.²⁹ Beides aber verdient es, wissenschaftlich ernstgenommen zu werden.
Staat (= KGA II/8), hg. von W. Jaeschke, Berlin 1998, 69. – Dieser Befund gilt ungeachtet dessen, dass Schleiermacher in seiner gegenwärtigen Lage es für nicht möglich hält, eine „Kunstlehre der Staatsleitung“ (ebd.) vorzulegen. Überhaupt wären die inhaltlichen wie wissenschaftssystematischen Parallelen der verschiedenen technischen Disziplinen bei Schleiermacher, insbesondere aber diejenigen von Staatslehre und Pädagogik, einer eigenen Untersuchung wert. Vgl. F.D.E. Schleiermacher, Über den Beruf des Staates zur Erziehung (1814), in: ders., Texte zur Pädagogik. Kommentierte Studienausgabe Bd. 1., hg. von M. Winkler und J. Brachmann, Frankfurt/M. 2000, 272– 290. Schleiermacher kennt im Unterschied zur gegenwärtigen Erziehungswissenschaft (vgl. z. B. D. Brenner, Allgemeine Pädagogik. Eine systematisch-problemgeschichtliche Einführung in die Grundstruktur pädagogischen Denkens und Handelns, Weinheim/München 42001, 129 ff.) noch keine trennscharfe Differenzierung zwischen einer Theorie der Bildung und einer Theorie der Erziehung, geschweige denn einer Institutionentheorie des Erziehungssystems im Unterschied zu einer Theorie der Bildungsinstitutionen. Generell ist der Bildungsgedanke bei ihm umfassender gedacht, insofern er auf ein fundamentalanthropologisches (vgl. Schleiermacher, Pädagogik [Anm. 11], 62), nach Eilert Herms sogar kosmologisches (vgl. E. Herms, Schleiermachers Bildungsbegriff und seine Gegenwartsrelevanz, in: ders., Menschsein im Werden. Studien zu Schleiermacher, Tübingen 2006, 227– 249, 227– 234.) Element verweist. Dennoch darf man nicht der Gefahr erliegen, durch die Weite dieses Bildungsbegriffs die Erziehung als reines Anwendungsfeld zu begreifen und die Pädagogik dadurch ganz und gar von einer philosophisch wie auch immer gefüllten Bildungstheorie abhängig zu machen. Dies würde nur erneut dem Missverständnis Vorschub leisten, das Verhältnis von Ethik und Pädagogik gleiche dem von Deduktion der Prinzipien und ihrer Applikation in der Praxis. Unabhängigkeit der Erziehungsideale meint hierbei das Faktum, dass Bildungsprozesse einer Eigendynamik unterliegen, die sich weder rein auf interessegeleitete noch auf weltanschaulich imprägnierte Kompetenzbegriffe und Lerncurricula zurückführen lassen. Dies gilt ungeachtet der Tatsache,
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III. Liest man Schleiermachers Einordnung der Pädagogik als „kritischer Disziplin“ in das Gebiet der Ethik so, dann sprechen sowohl wissenschafts- wie institutionentheoretische Gründe dafür, von einer Fundierung ersterer in letzterer in Gestalt der Konstruktion ihrer Ideale, etwa aus der (reinen) Idee des Guten Abstand zu nehmen. Zwar wird damit keineswegs geleugnet, dass Bildungsprozesse nicht stets auch an ethischen Kriterien zu bemessen wären, so wie auch eine spekulative Ethik gut daran tut, sich mit der Form ihrer Vermittlungsprozesse mehr als nur äußerlich zu beschäftigen.³⁰ Gleichwohl erleichtert zumal in transzendentalphilosophisch skeptischen Zeiten ein solch abgeschwächtes Vorgehen den Zugang zum Aktualitätspotential dieses Ansatzes. Dem fügt sich, dass Schleiermacher wenigstens in seiner Pädagogik weniger auf einen transzendentalen Freiheitsbegriff als auf dessen empirische Gestalt im Wechsel von Selbsttätigkeit und Gebundenheit (Passivität) rekurriert.³¹ Insofern plädiere ich für eine auf mittlere Reichweite angelegte, ethische Rekonstruktion von Schleiermachers Bildungstheorie im Kontext seiner Erziehungslehre (Pädagogik). Weniger top down und mehr bottom up scheint mir an dieser Stelle angebracht. Schlägt man diesen Weg ein, dann lassen sich gerade Schleiermachers Erziehungslehre ethische Maximen und Prinzipien entnehmen, die sich als konkrete Sozialethik in der Form einer für ihre Zeit ausformulierten Bildungsethik lesen lassen. Genau hierin kommt auch die überraschende Gegenwartsaktualität ihrer Ausführungen zum Vorschein. Es ist häufig und mitunter sogar kritisch³² bemerkt worden, dass der Schleiermacher der Pädagogik durch seine Betonung der sozialisations- und gesellschaftsdass natürlich sowohl Sachzwänge als auch religiös-weltanschauliche Überzeugungen Bildungsprozesse prägen (können). Zur Bedeutung der Ethik Schleiermachers für die Fundierung der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften, vgl.: G. Scholtz, Ethik und Hermeneutik. Schleiermachers Grundlegung der Geisteswissenschaften, Frankfurt/M. 1995, 35 ff.65 ff. Ähnlich wie Schleiermacher rekurriert auch Johann Friedrich Herbart weniger auf einen transzendentalen Freiheitsbegriff, den er zwar ebenso wie jener kennt und voraussetzt, als auf einen empirischen Freiheitsbegriff. Die von mir als rein im begründungstheoretischen Sinne zu verstehende Abschwächung des Freiheitsbegriffs hat Herbart pointiert zum Ausdruck gebracht in der Sentenz: „Kein leisester Wind von transzendentaler Freiheit darf in das Gebiet des Erziehers durch irgendein Ritzchen hineinblasen“. (J.F. Herbart, Über die ästhetische Darstellung der Welt als Hauptgeschäft der Erziehung [1804], in: Ders., Sämtliche Werke Bd. I, Langensalza 1887, NA Aalen 1989, hg. von K. Kehrbach und O. Flügel, 261.) Im Vordergrund steht dagegen die individuelle Wahlfreiheit, die sich im Bildungsgeschehen immer wieder bemerkbar macht, als eine „Freiheit der Wahl, die wir alle in uns finden.“ (ebd.) Zu den (latent) kritischen Stimmen sind m. E. auch solche zu zählen, die wie Hermann Fischer auf Parallelen in der Wortwahl zwischen dem späten Schleiermacher und Arnold Gehlen aufmerksam machen. So lassen sich Reserven gegenüber Formulierungen, die wie diejenigen vom Ziel der Erziehung als einem „Abliefern“ der Individuen an die Gemeinschaften, nicht verbergen.Vgl. H. Fischer, Friedrich Schleiermacher, München 2001, 92 f., sowie: ders., Schleiermachers Theorie der Bildung, in: J. Ochel (Hg.), Bildung in evangelischer Verantwortung auf dem Hintergrund des Bildungsverständnisses von F.D.E. Schleiermacher, Göttingen, 2001, 129 – 150, 148.
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theoretischen Seiten des Bildungsprozesses sich weit vom frühromantischen Ideal entfernt hat, wie es beispielsweise seine Monologen ³³ leitet. Demgegenüber aber gilt es, die Entwicklung Schleiermachers hin zu seinen (späteren) Vorlesungen über die Erziehungskunst als echten Reifungsprozess zu lesen. Im Vergleich zu seiner früheren Ansicht, nach welcher es in der Bildung vor allem um die Erweckung und Kultivierung von dem einzelnen Individuum mitgegebenen Anliegen ginge – eine aus der heutigen Forschungssicht nur schwer aufrechtzuerhaltende These³⁴ – zielt der spätere Schleiermacher viel stärker auf die Komplementarität von Individualität und Sozialität ab. Konsequent heißt es daher in der Vorlesung von 1820/21: „Die zwei Hauptaufgaben bei der Erziehung sind folgende: 1) Den Menschen tüchtig zu machen für die Gemeinschaften, in die er eintreten soll, und 2) seine eigentümliche Natur zu entwickeln“³⁵. Ist das Ziel allen Bildungs- und Erziehungshandelns die Entwicklung einer eigenständigen Persönlichkeit, kann dieses auch keiner von beiden entbehren.³⁶ Beiden Aufgaben gilt von daher in seinen Ausführungen Schleiermachers Aufmerksamkeit und sie werden dabei keineswegs so delegiert, dass sie jeweils entweder der privaten oder der öffentlichen Erziehungsaufgabe einseitig zugesprochen, wenngleich schwerpunktmäßig zugeteilt werden³⁷. Die ethisch-pädagogische Pointe dieser Doppelperspektive auf Individualität und Sozialität lässt sich demnach auch so charakterisieren, dass in der Erziehung einmal
Vgl. F.D.E. Schleiermacher, Monologen nebst den Vorarbeiten. Kritische Ausgabe, hg. von F.M. Schiele. Erweitert und durchgesehen von H. Mulert, Hamburg 1978, 37 f. – Zur darin vertretenen frühromantischen Ethik der Individualität siehe: U. Barth, Das Individualitätskonzept der ›Monologen‹ Schleiermachers ethischer Beitrag zur Romantik, in: ders., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 291– 327. Insofern wäre der Vorschlag, Wendungen, wie die, welche die Herausgeber der Pädagogik von 1820/21 dem Werk vorausschicken – „Die Erziehung kann nicht das im Menschen entwickeln, was sie will, sondern was in ihm liegt.“ (Schleiermacher, Pädagogik [Anm. 11], 176) – stets von ihrem Kontext und ihrer Absicht her zu begreifen: Diese zielen an jener Stelle auf die Kenntnisnahme von natürlichen Differenzen im Sinne von Bildungsstartbedingungen, die zu mindern gleichwohl Aufgabe einer ethisch ausgerichteten Erziehungspraxis ist und als solche auch möglich sind, wie Schleiermacher selbst betont (vgl. ebd.). A.a.O., 99. Vgl. a.a.O., 73.88, sowie 62: „Der Mensch selbst ist nämlich eine lebendige Kraft, welche in der Entwicklung begriffen ist; aber der einzelne Mensch ist auch in beständiger Wechselwirkung mit anderen, und diese bestimmt alles in der Erscheinung mit.“ – Dennoch darf nicht unterschlagen werden, dass Schleiermacher die in den Fokus gerückte Komplementarität von Individualität und Sozialität immer wieder zugunsten einer latenten Vorordnung der individuellen Seite zu verschieben scheint. So heißt es gleich im Anschluss an die zitierte Stelle: „Denn der Mensch kann zwar nichts wirken oder tun, das mit seiner Individualität in Widerspruch stände, und wenn wir das, was er wirklich geworden ist, betrachten, so hätte er zwar von diesem innerlichen Agens allein werden können: Aber dennoch hilft ihm offenbar die Wechselwirkung mit anderen bei seinem Handeln bestimmen.“ (ebd.) Aus heutiger entwicklungs- und sozialpsychologischer Sicht wird man diese These so nicht halten können, da der Aufbau eines Bewusstseins von individueller Identität sich basalen Sozialisationsleistungen verdankt. Vgl. a.a.O., 84.
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mehr die „A u s b i l d u n g d e r e i g e n e n N a t u r “³⁸ und ein anderes mal eher das „H i n e i n b i l d e n i n d a s s i t t l i c h e L e b e n“³⁹ im Vordergrund stehen. Dass sich diese Perspektiven verschränken, macht jedoch den eigentlichen Sinn aus. Denn erst die in den und durch die Sozialformen der Öffentlichkeit, also durch die Gemeinschaften von Staat und Volk, Sprache und Wissenschaft, Religion und freier Geselligkeit⁴⁰ geformte Individualität erlangt eine ihrer Selbsttätigkeit entsprechende, d. h. informierte und habitualisierte Handlungskompetenz, ohne die in den jeweiligen Bereichen, in denen sie sich später im Berufsleben wiederfindet, kein Zuwachs an Wissen, keine Steigerung von Fertigkeiten und erst recht keine Vervollkommnung ethischer Verhältnisse (Zwecke) erlangt werden kann. Das „Leben in der Erziehung ist [von daher] die Vorbereitung zum Leben in der Freiheit“⁴¹. Der hier wie auch sonst von Schleiermacher vertretene ethische und technische Meliorismus basiert auf dem Interagieren kompetenter Individuen mit anderen als ihresgleichen und in Institutionen. Deshalb ist schon für den Erziehungsprozess festzuhalten: „1) Die Erziehung soll davon ausgehen, dass in jedem Einzelnen ein eigentümliches menschliches Dasein angelegt ist: Sie soll jeden tüchtig machen, in das gemeinsame Leben einzugreifen, sodass er sich als den Gesellschaftsformen wirklich angehörig zeigt und das Seinige beitragen kann, die Unvollkommenheit zu vertilgen und den Zustand vollkommener zu machen. 2) Die Erziehung soll dahin ausgehen, da jedem Menschen mit vielen anderen ein gemeinsamer Typus schon angeboren ist, eine ausschließende persönliche Eigentümlichkeit in jedem einzelnen Einzelnen zu entwickeln.“⁴²
Sowohl kulturelle und soziale Fortschritte als auch gestiegene Selbstverwirklichungschancen stellen somit Resultate gelungener Erziehungs- und andauernder Bildungsprozesse dar. Dabei setzt dies jedoch voraus, dass insbesondere den nachwachsenden Generationen bei aller Vermittlung von wichtigen Wissensbeständen, Fähigkeiten und Fertigkeiten die Chance zur Kritik und zur Revision gegeben wird. Andernfalls sinkt Erziehung zur bloß „mechanischen“ Übermittlung von tradierten Gehalten ab, was wiederum das soziale und individuelle Leben versteinern und erlahmen ließe. Die Förderung kreativer Eigenständigkeit ist damit der Motor zivilisatorischer Entwicklung, deren Fundament in gelingenden Bildungsprozessen begründet liegt.⁴³ Ferner gehört es
Aus dem Manuskript der Vorlesung von 1813/14: Schleiermacher, SW III (Anm. 13), 593. Ebd. Vgl. Schleiermacher, Pädagogik (Anm. 11), 76 ff. A.a.O., 227. A.a.O., 83. Darin unterscheiden sich die Ansätze von Schleiermacher und bspw. Arnold Gehlen in fundamentaler Hinsicht. Trotz aller scheinbaren Nähen in Wortwahl und Augenmerk auf ähnliche Sachverhalte (inkl. denjenigen der Disziplin) hätte Schleiermacher der folgenden Bemerkung Gehlens seine Zustimmung so nie geben können: „die Kultur in einem menschenwürdigen Sinne erhält sich dadurch, daß junge Menschen in vernünftige Einrichtungen hineinwachsen, die von langen Erfolgen legitimiert sind; sonst werden unersetzbare Erbschaften verschlissen: die Disziplin, die Geduld, die Selbstverständlichkeit“ (A. Gehlen, Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik, Frankfurt/M. 62004, 97.).
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zur Aufrechterhaltung kreativer Spielräume, dass den Unterschieden in der Ausbildung sowohl mit Blick auf die individuell vorhandenen Bildungsfertigkeiten und -fähigkeiten sowie angesichts der gesellschaftlichen Anforderungen als auch im Hinblick auf die konkreten institutionellen Ausgestaltungsformen des Bildungs- und Erziehungswesens Rechnung getragen wird. Daher ist es nur konsequent, wenn Schleiermacher in der Vorlesung von 1826 auf beides genauer eingeht: auf die Darlegung der Erziehungsperioden und auf die differenzierten Erziehungsaufgaben, die, über die Kindheits- und Jugend-, d. h. Schulphase hinausgehend, die akademische, d. h. universitäre und berufliche, d. h. berufsausbildende Phase mit einschließt.⁴⁴ Dessen bedarf es schon deswegen, weil die jeweiligen Rahmenbedingungen, hier konkret: von ausdifferenzierten, arbeitsteiligen Gesellschaften auf der Ebene der Theorie berücksichtigt werden müssen. Andernfalls verlöre die Pädagogik ihren Anhaltspunkt an der Realität, in die sie eingelassen ist. Selbstredend gehört dazu, dass eine kooperative Entfaltung individueller Fertigkeiten und Fähigkeiten erforderlich wird. Denn für den Einzelnen ist es unmöglich, alle für den Erhalt des gesellschaftlichen Status quo notwendigen Kompetenzen selbstständig zu erlangen und professionell auszuüben. Auch deswegen erschöpft sich für Schleiermacher Bildung weder in der Vermittlung von Allgemeinbildung noch geht sie in Gesinnungsbildung und Kompetenzförderung auf, so wichtig letzteres für ihn ist, weswegen man schon bei ihm der Formel vom „Lernen des Lernens“⁴⁵ begegnet. Nein, Schleiermacher ist auch darin modern, dass er schon für die späte schulische Erziehungsphasen diese als mindestens ebenso sehr der professionsorientierten Ausbildung verpflichtet begreift. So gesehen geht es in der Bildung als Angelegenheit des Menschen um die Kultivierung und Ausgestaltung von Räumen sozialer Freiheit. Bildung erscheint hierfür als das entscheidende Mittel und in der Erziehung gilt es, die hierfür notwendigen Lernund Experimentierprozesse zu erproben. Denn in ihr, der Erziehung, wird eingeübt, wie persönliche Interessen mit dem „Interesse am Gemeinsamen“ („Gemeingefühl“⁴⁶) so zusammenfinden können, dass noch in der Anerkennung wechselseitiger Angewiesenheit in sozialen Kontexten die individuelle Freiheit, auch in Form des Rechts auf
Von Gehlen unterscheidet sich Schleiermacher durch sein melioristisch ausgerichtetes Handlungs- und Kultur-, und damit auch Erziehungsverständnis. Vgl. F.D.E. Schleiermacher, Grundzüge der Erziehungskunst (1826), in: ders., Texte zur Pädagogik. Kommentierte Studienausgabe Bd. 2, hg. von M. Winkler und J. Brachmann, Frankfurt/M. 2000, 384– 404. Diese Formel findet sich explizit in seinen Gelegentliche Gedanken über Universitäten im deutsche Sinne.Vgl. F.D.E. Schleiermacher, Gelegentliche Gedanken über Universitäten im deutsche Sinn (1808), in: Ders., Kritische Gesamtausgabe I. Abteilung, Bd. 6: Schriften und Entwürfe (= KGA I/6), hg. von D. Schmid, Berlin/New York 1998, 35. – Vgl. dazu die Überlegungen von: D. Henrich, Menschsein – Bildung – Erkenntnis. Eine Variation von Schleiermachers Grundgedanken in Beziehung auf seine Gedanken zur Begründung der Universität, in: ders., Philosophie im Prozeß der Kultur, Frankfurt/M. 2006, 156 – 182. Schleiermacher, Pädagogik (Anm. 11), 227.
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Privatheit und Gewissensfreiheit, nicht unterschlagen wird.⁴⁷ In diesem Sinne lauten die Spitzensätze in der Vorlesung von 1820/21: „Dieses Prinzip der Freiheit im richtigen Verhältnisse des Einzelnen zum Ganzen ist das allgemeine Sozialprinzip, worauf alle Entwicklung beruht; es ist der Exponent in der geselligen Entwicklung, aber auch an und für sich unbestimmt und in jedem geselligen Zustande anders modifiziert. Denn das Gefühl des Menschen schließt sich stets an das Gegebene an, und hier muss man die Fortschreitung anknüpfen.“⁴⁸
Dies gilt es am Ort der Schule, zuvorderst im Verhältnis von Erziehern zu ihren „Zöglingen“, sowie unter diesen, umzusetzen. Nur so kann die Schule ihre Funktion für den Aufbau, Erhalt und Fortbestand von Gemeinwesen erfüllen, dank derer im gesellschaftlichen Verkehr einer bürgerlichen Gesellschaft die Achtung des Einzelnen mit seiner Wertschätzung als ein unvertretbar „tätiges Glied“ einhergeht. Dann aber kann die Erziehung „nicht allein für den vorhandenen Zustand der Gesellschaft erziehen, sondern auch für einen besseren.“⁴⁹ Ohne den Schutz der bislang erzielten, pluralen Räume sozialer Freiheit, – was primär Aufgabe politischen Handelns ist; und ohne die Pflege und Weitergabe derjenigen Kompetenzen, die zu deren Fortentwicklung jeweils beitragen, – was oberste Aufgabe erzieherischen und bildenden Handelns in den entsprechenden Institutionen (von Schule, Universität und beruflichen Einrichtungen) und ein Mittel regelgeleiteter Praxis darstellt –, würden alsbald die Realisierungschancen individuell und kollektiv tätiger Freiheit und gesellschaftlicher Fortentwicklung schwinden. Vor diesem Hintergrund ist schließlich interne Kritik an Schleiermachers zeitgebundenen und im Vergleich zu früheren Äußerungen eher rückständigen Ansichten, vor allem Fragen weiblicher Bildung betreffend, angezeigt. Immerhin erkennt er keine essentialistischen Begründungen für die aus unserer Sicht mangelhafte Geschlechtergerechtigkeit an, sondern bezieht sich lediglich auf soziale und ökonomische Verhältnisse. Gleichwohl war er an diesem Punkt schon einmal weiter. Ebenfalls kritisch zu betrachten sind die Überlegungen zur Chancengleichheit in der Bildung. Vielleicht an kaum einem anderen Punkt bleibt er den ständischen Ordnungen seiner Zeit so stark verhaftet. Allerdings sieht er es in der Tat als „barbarisch“ an, „wenn die Gegenstände des Unterrichts der Volksmasse so abgegrenzt sind, dass höhere Talente Vgl. Schleiermacher, Pädagogik (Anm. 11), 228. A.a.O., 229. A.a.O., 230. – Dieses „Besserwerden“ setzt für Schleiermacher freilich voraus, dass Abstand genommen wird von jedem Standesdenken. Vielmehr gilt schon für ihn, was Émile Durkheim dann zum „kategorischen Imperativ des moralischen Bewußsteins“ in der Erziehung erklärt hat: „Bereite dich vor, eine bestimmte Funktion nützlich auszufüllen.“ (É. Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften. Mit einer Einleitung von N. Luhmann. Mit einem Nachwort von H.-P. Müller und M. Schmid, Frankfurt/M. 21988, 87.). Sowohl für Schleiermacher als auch für Durkheim besteht also gerade in einer arbeitsteiligen Gesellschaft die Möglichkeit, die Anerkennung und Wertschätzung der einzelnen Individuen bei gleichzeitiger Achtung ihrer gleichen Freiheit sozial zu vermitteln und durchzusetzen.
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nie erregt werden können.“⁵⁰ So zaghaft die Kritik auch vorgetragen sein mag, so deutlich bleibt sie in der Sache. Noch unter negativem Vorzeichen erweist sich Schleiermachers Erziehungslehre somit als geeigneter Ort, an dem ethische Reflexion sich mit Blick auf ihre Bewährung vollzieht, da es in ihr doch stets um basale Bedingungen für die künftige Gestaltung und Verbesserung individueller wie sozialer Lebensräume geht. Das Erstaunliche ist, dass Schleiermacher keiner kulturessentialistischen Bildungsidee das Wort redet. Polemisch ausgedrückt: Von genuin „Deutscher Bildung“⁵¹ weiß er nichts; was bei einem Ansatz letztlich nicht verwundert, der so sehr auf den Gegenwartsbezug und die Zukunftsausrichtung von Bildung und Erziehung und der sich mit ihnen beschäftigenden Kunstlehren konzentriert ist.⁵² Von daher stehen alle Bildungs- und Erziehungstheorien selbst wiederum unter einem zeitlichen Vorbehalt. Professions- und institutionentheoretisch sind sie stets von Neuem darauf auszurichten, welche Kompetenzen die jeweils gegenwärtigen gesellschaftlichen und, man sollte mit Schleiermacher hinzufügen: natürlichen⁵³ Lebensbedingungen erfordern, und wie unter solchen Konditionen in ethischer Hinsicht eine zeit- wie sachgemäße Bildung unter dem Ideal der sozialen Freiheit und der Verantwortung für zivilisatorische Fortschritte aussehen könnte.
IV. Die vorangegangenen Überlegungen beanspruchen keinen Originalitätswert.Vielmehr ging es ihnen in der Konzentration auf Schleiermachers Überlegungen zur Erziehungslehre um eine bildungstheoretische Betrachtung mittlerer Reichweite. Dabei waren sie von der Überzeugung geleitet, wonach sich auf dem Feld der pädagogischen Praxis vornehmlich erweist, welche Realisierungschancen ethische Wertüberzeugungen und kulturelle Ideale haben können. Und umgekehrt verkörpern Erziehungsund Bildungsprozesse selbst spezifische ethische und sozialmoralische Grundsätze. Daraus ergeben sich, wie mir scheint, bislang unausgeschöpfte Anregungen und
Schleiermacher, Pädagogik (Anm.11), 238. Hundert Jahre später sind sich selbst Schleiermacher verbundene und humanistisch gesinnte Denker nicht zu schade, sich dieser Kampfformel zu bedienen, um die Überlegenheit der „deutschen Idee der Freiheit“ gegenüber den sog. westlichen Ideen herauszustellen; Bildungsideale werden zu Mitteln des Kulturkampfes, der als Krieg geführt wird. So leider auch bei: E. Troeltsch, Deutsche Bildung, in: ders., Deutscher Geist und Westeuropa. Gesammelte kulturphilosophische Aufsätze und Reden, hg. von H. Baron, Tübingen 1925/NA Aalen 1966, 169 – 210. Vgl. Schleiermacher, Pädagogik (Anm. 11), 106. Unbeschadet ihres Anachronismus im Konkreten gilt es mit Schleiermacher zu fragen, ob nicht auch unter gegenwärtigen Bedingungen, „physische Voraussetzungen“ (vgl. a.a.O., 68) von Bildung und Erziehung stärker berücksichtigt werden müssten, die zugleich Konsequenzen für eine pädagogische Ethik nach sich zögen. Dazu zählen auch nicht-reduktionistische Ansätze der Neuropädagogik und -didaktik.
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Impulse für eine sich als Bildungsethik begreifende und darin konkrete Sozialethik für die Gegenwart. Mehr noch als zu Zeiten Schleiermachers steht die Schule für den herausgehobenen Einübungsort, an dem (junge) Menschen unterschiedlichster Herkunft, Ethnie, Klasse, Religion etc. im Schmelztiegel ihrer Lebenswelten lernen miteinander auszukommen und sich gemeinsam auf ihr künftiges Berufsleben vorzubereiten. Genau das macht sie – technokratisch gesprochen – zur Sozialisationsagentur par excellence, und genau darin liegt ferner die einzigartige Bedeutung, die dem Vollzug gemeinsamen Lernens und Erwachsenwerdens im Hinblick auf den Aufbau geteilter Wertüberzeugungen zukommt. Ethische Ideale greifen an der Schule, nicht anders wie sonst in der Öffentlichkeit am ehesten, wenn sie sich (zumindest partiell) gemeinsam verwirklichen lassen. Insofern käme es für eine realistische Sozial- als Bildungsethik entschieden darauf an, getreu dem Vorgehen Schleiermachers in Form von Hermeneutik und Kritik sowohl die sich in den pädagogischen Konzepten artikulierenden Einstellungen und Haltungen als auch die in Kerncurricula, Professionstheorien (von Pädagogen, Erziehern wie Hochschullehrern) und institutionellen Kontexten niedergeschlagenen Bildungs- und Sozialideale freizulegen, sowie sie einer problembezogenen, den aktuellen Herausforderungen und gesellschaftlichen Debatten entsprechenden Rekonstruktion zu unterziehen und ggf. zu kritisieren. Wenn Schleiermacher betont, dass der „Grundkanon aber ist, dass alles Kunstgemäße in der Erziehung auch als das reine Resultat einer sittlichen Handlungsweise muss angesehen werden können“⁵⁴, dann zielt dies nicht auf eine Moralisierung oder ethische Überhöhung von professionellen Bildungsprozessen ab, wohl aber ist es ein Insistieren darauf, dass sich eben hieran am ehesten ablesen lässt, wie es um den gegenwärtigen wie künftigen Zustand einer Gesellschaft und ihrer interagierenden Individuen bestellt ist. Deswegen sind Fragen, wie wir miteinander und in welcher Art von Gemeinwesen zusammenleben wollen, und welche Veränderungen die großen Herausforderungen unserer Lebensgegenwart auf unsere Sicht auf die Welt und die eigene Existenz mit sich bringen, keine nebensächlichen Themen für Schule, Universität und berufliche Ausbildung. Sie bilden weniger ein Beiwerk als den Horizont, vor dem und die Fluchtlinie, auf die hin junge Menschen ihren Stand im Leben und in der Gesellschaft, in der sie leben, finden sollen und müssen. Daher kommt es bei allem Autoritätspathos darauf an, dass „Erzieher“ und „Zöglinge“ nicht einfach in einem strikten Gehorsamsbzw. Unterordnungsverhältnis zueinander zu stehen kommen, sondern sich in einen Prozess des wechselseitigen voneinander Lernens begeben.⁵⁵
Schleiermacher, Pädagogik (Anm.11), 113. – Im Übrigen bedeutet „auch“ keineswegs „ausschließlich“. Ganz getreu der Schleiermacher′schen Maxime, nach der das Moment der reinen Gegenwirkung stetig abnehmen und in das unterstützende und fördernde Moment mehr und mehr übergehen soll. Nur vor diesem Hintergrund lässt sich z. B. auch die Strafe als pädagogisches Zuchtinstrument rechtfertigen, wie er betont.Vgl. a.a.O., 121 ff.146 ff. – Heute würden wir dies vielleicht so formulieren: Gelingende Erziehungsprozesse beruhen auf der Tatsache, dass auf beiden Seiten Resonanzen ausgelöst werden, die, trotz der unabdingbaren Differenzen von Lehrern und Schülern, aus Bildungserfahrungen
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Mit einem solchermaßen an der konkreten Praxis ausgerichteten Blick auf das,was Ethik in unseren Lebenswelten heißen kann und soll, ist Schleiermacher nicht allein geblieben. Auch nach ihm und keineswegs nur in seinem unmittelbaren Gefolge haben immer wieder Stimmen daran erinnert, dass die Realisierung konkreter Freiheitschancen entscheidend davon abhängt, wie wir erziehend und bildend junge Menschen dazu befähigen, soziale Spielräume zum Nutzen aller (bonum commune) und das heißt immer auch für jeden Einzelnen zu vergrößern. Zwei der bedeutendsten Denker in diesem Zusammenhang habe ich schon an der einen oder anderen Stelle beiläufig erwähnt. Sie sollen abschließend noch einmal zu Wort kommen, um mit ihnen zu verdeutlichen, wie kontextübergreifend sich Schleiermachers Überlegungen zu Relevanz und Rolle von Bildung und Erziehung begreifen lassen. Émile Durkheim hat in seiner Moralsoziologie, die vor allem eine Theorie der Pädagogik darstellt⁵⁶, überzeugend dargelegt, warum nicht zuvorderst das Recht, sondern eine in Bildungsprozessen erlernte und darin eingeübte demokratische Sittlichkeit dasjenige wirksame Gewährsmittel bereithält, dessen hoch individualisierte Gesellschaften bedürfen, um zu einer nachhaltigen Integration und Inklusion aller und zur wechselseitigen Solidarität untereinander zu gelangen. Dem entspricht auch Schleiermachers Zurückhaltung gegenüber der ausschließlich staatlich dominierten Schule und sein Eintreten für ein breiteres zivilgesellschaftliches Bildungsengagement, auch in institutioneller Hinsicht. Nicht minder darf an John Dewey erinnert werden, der – darin noch immer selbst unserer eigenen Gegenwart voraus – darauf insistierte, dass Demokratie als ethisch vorzugswürdige Staatsform davon abhängt, dass sie als umfassende Lebensform geteilt und praktiziert wird. ⁵⁷ Und wiederum kommt hierbei der Erziehung, und zwar nicht allein am Ort der Schule, eine entscheidende Bedeutung zu. Hier entscheidet sich nicht nur, wie weit demokratische Ideale überhaupt Chancen auf Realisierung haben, sondern zugleich soll hier der Kreativität zur Bildung neuer Ideen und Ideale freier und geschützter Raum gelassen werden. Bildung als demokratischer Prozess am Ort der Schule heißt demnach nichts weniger als die Möglichkeit zum experimentellen Lernen bei gleichzeitigem Einüben von wechselseitiger Kritik und Förderung. Auch dem hätte Schleiermacher seine Zustimmung nicht verweigert. Es ist dabei auffällig, dass sowohl Schleiermacher als auch Dewey und Durkheim den Fokus bei der Vermittlung ethischer Einstellungen und Haltungen nicht allein auf
wechselseitige Lern- und Experimentierprozesse werden lassen. Gerade darin können sie zu einem Laboratorium demokratischen Zusammenlebens werden. Vgl. É. Durkheim, Erziehung, Moral und Gesellschaft. Vorlesung an der Sorbonne 1902/1903. Mit einer Einleitung von P. Fauconnet, Frankfurt/M. 1984. Darin v. a. die Einleitung, a.a.O., 7– 33; sowie: ders., Physik der Sitten und des Rechts. Vorlesungen zur Soziologie der Moral, hg. von H.-P. Müller, Frankfurt/M. 1999. Darin auch das Nachwort des Herausgebers „Die Moralökologie moderner Gesellschaften. Durkheims „Physik der Sitten und des Rechts““, a.a.O., 307– 341. Vgl. J. Dewey, Demokratie und Erziehung (Anm. 14), bes. 120 ff.; zum melioristischen Ideal als Kriterium guter Erziehungsideale, vgl. a.a.O., 142 ff.
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kognitive Aspekte legen. Fast wichtiger noch erscheint in der Konsequenz ihrer Ansätze der praktische Aspekt von gemeinsamer Erprobung und dann auch Einübung und Gestaltung zu sein. Man könnte von einem ethisch-pädagogischen Experimentalismus reden, einmal im Geist aufgeklärter Liberalität (Schleiermacher), das andere Mal und dem nahe verwandt in der Tradition von Republikanismus (Durkheim) und sozialreformerischer Demokratie (Dewey). Wie dem auch sei: Die damit verbundenen Chancen kulturellen und sozialen, d. h. stets zugleich ethischen Fortschritts sind zuvorderst in der kritischen Sichtung eingespielter Bildungspraxen und institutionalisierter Bildungssettings auszuloten. Anders gesagt: Weit mehr als bislang begriffen – jedenfalls in der theologischen Ethik, aber nicht nur in ihr⁵⁸ – haben empirische Bildungsforschung, pädagogische Theoriebildung und ethische Urteilskraft ineinander zu gehen, um zu einer realistischen Sozialethik zu gelangen. In diesem Zusammenhang wird dann auch die Frage virulent, welche Rolle religiöse Bildung hierbei spielen kann und soll. Zieht man nur die drei genannten Denker heran, liegen natürlich große Unterschiede zwischen dem mild säkularen Dewey, dem fast schon militanten Laizisten Durkheim und dem evangelischen Theologen Schleiermacher. Nachdenklich macht allerdings der Umstand, dass alle drei hinsichtlich der Relevanz religiöser Bildung (inklusive ihrer einzuübenden Fertigkeiten) mit Blick auf den Bereich des öffentlichen Schulwesens eher ablehnend bis skeptisch-reserviert blieben.⁵⁹ Diese Debatte wäre an anderer Stelle fortzusetzen. Entscheidend ist jedoch, dass es dabei nicht allein um die Stellung des Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen oder um die Sinnhaftigkeit religiös gebundener Schulträgerschaften gehen kann. Wichtiger wäre darüber nachzudenken, ob wir die Eigenart des Religiösen und der Religion wirklich als so wenig öffentlich relevant erachten dürfen, dass der kritische Austausch darüber und das gemeinsame Erlernen und Begehen von Orten ihrer Inszenierung mit gutem Recht unterbleiben könnte. So zu fragen, macht bereits deutlich, dass es hier nicht allein um ein Recht von positiv religiös Gebundenen geht, sondern
Ein Symptom für die weitgehende Vernachlässigung dieses Themas ist, dass sich in kaum einem der mittlerweile zahlreichen Handbüchern für Angewandte Ethik ein eigenständiger Abschnitt zur „Pädagogischen Ethik“ findet. Auch bildungsethische Fragestellungen bleiben oftmals allein im engeren Kontext einer Ethik der Gerechtigkeit. – Zur Einführung in die Thematik immerhin: D.-J. Löwisch, Einführung in pädagogische Ethik. Eine handlungsorientierte Anleitung für die Durchführung von Verantwortungsdiskursen, Darmstadt 1995. Während Durkheim einen funktionalen Ersatz religiöser Bildung im Ideal der „laiischen Moral“ (vgl. É. Durkheim, Erziehung, Moral und Gesellschaft [Anm. 57], 57– 69.) sucht und findet, setzt sich Dewey nur gelegentlich und dann eher kritisch mit dem religiös-puritanisch geprägten Schulwesen seiner Zeit auseinander. Immer wieder aber beschäftigt ihn die religiöse Valenz von Bildungsprozessen. Dazu siehe: St.C. Rockefeller, John Dewey, Religious Faith and Democratic Humanism: New York 1991, 259 – 269. Auch Schleiermachers Haltung schwankt in dieser Hinsicht. Tendenziell plädiert er dafür, die religiöse Bildung in ihrer historischen Dimension dem öffentlichen schulischen Unterricht zuzuschlagen und die katechetische Dimension allein in die Obhut der Kirche zu geben. So andeutungsweise bereits: Schleiermacher, Pädagogik (Anm. 11), 260.
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um die Dringlichkeit einer Beschäftigung mit Religion, die alle, auch und gerade Säkulare, betrifft. Wenn gilt, was für Schleiermacher noch nicht abzusehen und für Dewey und Durkheim nur in Ansätzen greifbar war, worüber uns die Sozialwissenschaften aber mittlerweile hinreichend belehrt haben: Wenn es nämlich erst mit der Bildungsrevolution und mit ihrem Insistieren auf „Massenbildung“ – noch am Ort der Universität – möglich wurde, die beiden „Versprechen der Moderne“, Chancengleichheit und Gleichheit als Bürgerinnen und Bürger, so miteinander zu verbinden⁶⁰, dass unter gegenwärtigen Bedingungen wenigstens prinzipiell einem jeden Menschen Chancen zu persönlichem Aufstieg, zu sozialer Teilhabe und damit eben auch zu verstärkter, demokratischer Partizipation gegeben sind; dann stünde es einem Protestantismus, der sich mit und nach Schleiermacher als eine freilich nicht-elitäre, sondern differenzsensibel egalitäre „Bildungsreligion“ verstehen möchte, gut an, verstärkt den Implikationen und damit auch Komplikationen Aufmerksamkeit zu schenken, die heute in der Formel von der Bildung als einer Angelegenheit weniger nur des sondern mehr noch der Menschen enthalten sind. Die Stichworte von „Integration“ und „Inklusion“ mögen hier abschließend genügen. Nicht zuletzt daran wird sich im Grunde ganz konkret erweisen, ob und wie die nachfolgenden Generationen die Herausforderungen ihrer Gegenwart meistern werden. In etwas pathetischen Worten: Nicht von der Bildung an sich,wohl aber von unterschiedlich gebildeten und stets sich weiter bildenden Menschen hängt die Zukunftsfähigkeit menschlicher Gemeinwesen, ja vielleicht sogar der Menschheit als solcher ab. Darin bleibt Bildung eine eminent wichtige Angelegenheit von Menschen.
Klassisch formuliert bei: T. Parsons, Das System der modernen Gesellschaften, München 1972, 120 ff.
Malte Dominik Krüger / Marburg
Bild und Bildung. Protestantische Perspektiven
Religion und Bildung sind als Anlagen des Menschen in dessen Bildvermögen verankert. Dieses Bildvermögen ist die spezifisch menschliche Möglichkeit, mit äußeren Bildern umgehen zu können, wozu es einer inneren Bildlichkeit bedarf, nämlich einer sich selbst einklammernden und sich durchstreichenden Einbildungskraft. Auf diesem Bildvermögen und seiner Fähigkeit relativer Verneinung bauen Sprache und Vernunft auf. Und dieses Bildvermögen wird im Horizont des Unbedingten als Religion und im Horizont des Individuellen als Bildung wirklich. Das möchte ich im Folgenden in Thesen darlegen, die ich erläutern werde. Dabei geht es mir weniger um den Buchstaben Friedrich Schleiermachers, als vielmehr um eine Aufnahme seiner epochalen Einsicht, menschliches Selbst, christliche Religion und wissenschaftliche Rechenschaft konstruktiv aufeinander zu beziehen.¹ Soll dies systematisch-theologisch aufgenommen werden, muss dies unter heutigen Bedingungen erfolgen.² In dem Sinn wird im Folgenden der aktualisierende Vorschlag gemacht, das Anliegen einer individualitätsfokussierten, religionsoffenen wie kultursensiblen Leib-Seele-Anthropologie im Bildvermögen zu verankern. Erst daraus resultiert die relative Eigenständigkeit der Religion.³
Vgl. zur Sache bei Schleiermacher auch: Jörg Dierken, Glaube und Lehre im modernen Protestantismus. Studien zum Verhältnis von religiösem Vollzug und theologischer Bestimmtheit bei Barth und Bultmann sowie Hegel und Schleiermacher, Tübingen 1996, 308 – 416; Arnulf von Scheliha, Friedrich Schleiermacher: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, in: Christian Danz (Hg.), Kanon der Theologie. 45 Schlüsseltexte im Porträt, Darmstadt 2009, 245 – 254. Was im Folgenden dargelegt wird, findet sich grundlegend ausgeführt in meiner bei Mohr Siebeck erscheinenden Hallenser Habilitationsschrift „Das andere Bild Christi. Spätmoderner Protestantismus als kritische Bildreligion“. Das Folgende nimmt auch wörtlich Einsichten dieser Habilitationsschrift auf.Was genauere Auslegungen der in diesem Beitrag genannten Sekundärliteratur bzw. deren Themen und Thesen angeht, sei auf die erscheinende Habilitationsschrift verwiesen. Ist im Folgenden eine Aussage oder ein Zitat nicht unmittelbar am Ende durch eine Fußnote nachgewiesen, ist die Angabe der im Text nachfolgenden Fußnote darauf zu beziehen. Vgl. zu den entsprechenden Konstruktionsprobleme von Schleiermachers Gefühlsbegriff grundlegend: Dierken, Glaube und Lehre (vgl. Anm. 1), 308 – 416; vgl. im Horizont unmittelbar gegenwärtiger Diskurse auch in diesem Band den Beitrag von Roderich Barth. Das heißt im Gegenzug freilich nicht, dass der Begriff des Gefühls seine basale Funktion verlieren muss. Er wird darin „nur“ relativiert (vgl. dazu hier die vierte These mit Erläuterungen). DOI 10.1515/9783110464573-012
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These 1: Bild, Religion und Bildung stehen in einem engen Zusammenhang. Dies ist der protestantischen Tradition vertraut, ohne dass dies etwas exklusiv Protestantisches wäre. Erstens gehören Bild, Religion und Bildung zusammen. Dies gilt jedenfalls für eine sprach- und begriffsgeschichtliche Sicht des Bildungsbegriffs. In seiner spezifisch deutschsprachigen Prägung geht der Bildungsbegriff auf Meister Eckhart zurück. Dieser versteht Bildung im Sinn eines theologisch komplexen Bilddenkens, dem die Dialektik von unmittelbarer Symbolproduktion und deren relativer Selbstdurchstreichung bewusst ist. Bildung macht in gewisser Weise den Menschen aus, der als relationales Ebenbild Gottes so an der Dynamik von dessen trinitarischer Selbstverbildlichung teilhat, dass der Mensch selbst auch als Bildwesen mit der Welt gestaltend umgeht: Als gottebenbildliches Bildwesen ist der Mensch buchstäblich weltbildend. Seit der Renaissance wird der Bildungsbegriff dann zunehmend naturphilosophisch verstanden. Bildung ist demnach die organische Entfaltung von Anlagen, die im Menschen zielgerichtet im Rahmen eines göttlich geordneten Kosmos mitgegeben sind. Erst im 18. Jahrhundert erfährt der Bildungsbegriff im Sinn des sich auf die Antike ausrichtenden Neuhumanismus der Form nach eine pädagogische Zuspitzung und dem Inhalt nach eine prägnante Verpflichtung auf die antike Sprachkompetenz. Dabei gerät die Grundierung des Bildungsbegriffs durch ein theologisches Bilddenken immer mehr aus dem Blick.⁴ Zweitens hat der Protestantismus an dieser Geschichte kritisch und konstruktiv teil – praktisch in Bemühungen um Schule und Universität, theoretisch in Einsichten von Martin Luther und Friedrich Schleiermacher. Wenn Luther sein Bildungsverständnis aus einer für ihn grundlegenden wie theologischen Bildhermeneutik entwickeln kann, wonach es anthropologisch unmöglich ist, ohne Bilder zu denken und zu verstehen und dabei die Einbildungskraft in den Vordergrund rückt, dann wird ein dynamisches Bildungsverständnis religiös grundiert. Und wenn für Schleiermacher das Verhältnis von Frömmigkeit und Bildung zum Lebensthema avanciert und er gegenüber der neuhumanistischen Wendung des Bildungsbegriffs im Gespräch mit den Gebildeten unter ihren Verächtern die Religion als Bedingung von Bildung einklagt, dann sind maßgeblich auch neuprotestantisch Bildung, Bild und Religion in einem produktiven Verhältnis. Schleiermacher hält Bild und Bildung, den Ausdruck eines wahrnehmungsgebundenen und momentanen Lebensgefühls und die Verwirklichung der Menschheit im Individuum, das wiederum im Horizont der Gemein-
Vgl. klassisch: Ernst Lichtensteins Untersuchung Zur Entwicklung des Bildungsbegriffs von Meister Eckhart bis Hegel, Heidelberg 1966; vgl. zum Folgenden die Weiterführung dieser Einsichten bei: Joachim Kunstmann, Religion und Bildung. Zur ästhetischen Signatur religiöser Bildungsprozesse, Gütersloh 2002, 123 – 227.
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schaft zu denken ist, beisammen – in spannungsvoller Einheit von außerindividuellen Vorgaben und individueller Eigenaktivität.⁵ Drittens ist in der gegenwärtigen Bildungsdebatte das Merkmal der ganzheitlichen Bildung des Individuellen zumindest in den Hintergrund getreten, wenn nicht sogar unter den Verdacht geraten, aus marxistischer Sicht eine Staffage bürgerlichen Aufstiegs im Kapitalismus oder aus nietzscheanischer Sicht ein Ausdruck ökonomischer und staatlicher Funktionalisierung, ästhetizistischer Reduktion und lebensabständigem Spezialwissens zu sein. Weiter heißt es gegenwärtig, im Zeitalter der Bildschirmkultur seien wir inzwischen in der Welt der Unbildung angekommen, in der Fernsehquizsendungen mit ihrem fragmentierten Abfragewissen als Bildung wahrgenommen würden. Diese kritische Diagnose lässt sich allerdings noch steigern, wenn es heißt, die Bildung im Bildschirm-Zeitalter zu verachten, sei überaus populär.⁶ Dies hat für die protestantische Tradition, die Bild, Bildung und Religion in einem Zusammenhang sieht, die Folge, dass – nach dem Selbstverständlichkeitsverlust der Religion in der europäischen Moderne – auch der Bildungsbegriff immer problematischer wird. Als Zugang bietet sich daher im Zeitalter von Bilderflut und Bildschirm der Bildbegriff an. Doch: Was ist das Bildvermögen? Und: Ist es grundlegend für den Menschen? Zweite These: Das Bildvermögen als Fähigkeit, äußere Bildern realisieren zu können, ist anthropologisch, kulturhistorisch und gegenwartsdiagnostisch von wesentlicher Bedeutung. Wenden wir uns zunächst der anthropologischen Bedeutung des Bildvermögens zu. Folgt man Einsichten der kulturwissenschaftlichen Forschung zur Schriftlichkeit⁷ und
Vgl. Michael Moxter, Medien – Medienreligion – Theologie. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 101, 2004, 465 – 489; Kunstmann, Religion und Bildung (vgl. Anm. 4), 127. 178 – 198; Hermann Steinlein, Luthers Anlage zur Bildhaftigkeit, in: Luther-Jahrbuch 22, 1940, 9 – 45; Ulrich Barth, Hermeneutik der Evangelien als Prolegomena zur Christologie, in: Christian Danz/Michael Murmann-Kahl (Hg.), Zwischen historischem Jesus und dogmatischem Christus. Zum Stand der Christologie im 21. Jahrhundert, Tübingen 22011, 275 – 305; Wolfgang H. Pleger, Schleiermachers Philosophie, Berlin/New York 1988, 163 – 167; Gunter Scholtz, Das Bild im Denken Schleiermachers, in: Reinhard Hoeps (Hg.), Handbuch der Bildtheologie I: Bild-Konflikte, Paderborn/München/Wien/Zürich 2007, 286 – 299; Inken Mädler, Ausdrucksstil und Symbolkultur als Bedingung religiöser Kommunikation, in: Ulrich Barth/ClausDieter Osthövener (Hg.), 200 Jahre „Reden über die Religion“, Berlin/New York 2000, 897– 908. Vgl. zur Diskussion mit den entsprechenden Referenztexten: Heiner Hastedt (Hg.), Was ist Bildung? Eine Textanthologie, Stuttgart 2012, bes. 7– 28. Vgl. zum Problemfeld auch: Jochen Krautz, Ware Bildung. Schule und Universität unter dem Diktat der Ökonomie, München 32011; Josef Kraus, Ist die Bildung noch zu retten? Eine Streitschrift, München 2009; Julian Nida-Rümelin, Der Akademisierungswahn. Zur Krise beruflicher und akademischer Bildung, Hamburg 2014, bes. 29 – 79. 143 – 223; Jürgen Kaube, Im Reformhaus. Zur Krise des Bildungssystems, Springe 2015. Vgl. Sybille Krämer, Sprache und Schrift oder: Ist Schrift eine verschriftete Sprache?, in: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 15, 1996, 92– 112; dies., „Schriftbildlichkeit“ oder: Über eine (fast) vergessene Dimension der Schrift, in: dies./Horst Bredekamp (Hg.), Bild, Schrift, Zahl, München 2003, 157– 176;
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der neuesten Primatenforschung⁸, an die sich wiederum kritisch die Philosophie anschließen kann⁹, dann hebt im Sinn des prägnanten anthropologischen Kriteriums nicht erst die Sprache den Menschen aus dem Tierreich heraus.¹⁰ Vielmehr setzt dieses Kriterium bereits das Bildvermögen voraus, wenn man dessen Eigenart berücksichtigt, etwas (sichtbar) zeigen zu können. So entsteht die Schriftsprache aus Bildlichem und besteht in Sichtbarem („Schriftbild“); und so entsteht die Lautsprache aus der Zeichensprache und besteht im Zusammenhang einer Wahrnehmungsordnung, für die das Sehen wichtig und in der Regel dem Hören übergeordnet ist. Was menschliches Bildvermögen und Sprachvermögen dabei verbindet, ist die spezifisch menschliche Fähigkeit zur relativen Negation, die im Bild anschaulich und in der Sprache diskursiv erfolgt. Zwar kann ein Tier unter Umständen dasjenige wahrnehmen, was auf einem Bild dargestellt ist. Doch das Tier verkennt dessen Bildlichkeit. Dass beispielsweise eine Banane abgebildet ist, vermag ein Tier zu realisieren. Dass diese Banane jedoch in Wahrheit lediglich das Bild einer Banane ist, übersteigt das nicht-menschliche Vermögen. Für das Tier bleibt nur die Alternative, entweder auf das Bild als Täuschung hereinzufallen oder gänzlich von dem Zusammenhang zwischen dem Bildträger und dem Abgebildeten abzusehen. Tiere leben grundsätzlich in einer Umwelt, in der das Sichtbare als Bestand und nicht als Verneinung der erfahrbaren Wirklichkeit zugänglich ist. Der Mensch distanziert bei der Bildwahrnehmung die aktuelle Situation seiner raumzeitlichen Wahrnehmung so, dass er etwas sieht, was dort, wo es ist, gerade nicht ist, und was dort, wo es nicht ist, gerade ist. Diese Fähigkeit zur relativen Verneinung verbindet das Bild mit der menschlichen Sprache. So ist der vorrangige Ort der Verneinung die Aussageform menschlicher Sprache. Die Aussage ist ein Urteil der basalen Form „S ist P“ beziehungsweise „S ist nicht P“. Dabei bezieht sich der Subjektbegriff auf etwas anderes außerhalb seiner selbst, das wiederum im Prädikatsbegriff charakterisiert wird, und zwar in einer bejahenden oder verneinenden Form, so dass das Urteil entweder wahr oder falsch ist. Damit überschreitet das Urteil die raumzeitliche Situation des Hier und Jetzt – und führt zur Ausbildung von Subjektivität, die intersubjektiv verflochten ist. Die spezifisch menschliche Kompetenz äußerer Bildlichkeit verbindet also mit der spezifisch menschlichen Sprachlichkeit die zugrunde liegende Fähigkeit des Menschen, etwas verneinen und es dabei zugleich in dieser Verneinung festhalten zu können. Im Bild erfolgt dies anschaulich und in der dies., „Operationsraum Schrift“. Über einen Perspektivenwechsel in der Betrachtung der Schrift, in: dies./Gernot Grube/Werner Kogge (Hg.), Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine, München 2005, 23 – 57; dies., Operative Bildlichkeit. Von der „Grammatologie“ zu einer „Diagrammatologie“? Reflexionen über erkennendes Sehen, in: Martina Heßler/Dieter Mersch (Hg.), Logik des Bildlichen. Zur Kritik der ikonischen Vernunft, Bielefeld 2009, 94– 122. Vgl. Michael Tomasello, Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation, Frankfurt a.M. 2009. Vgl. Jürgen Habermas, Es beginnt mit dem Zeigefinger, in: Die Zeit 51, 2009, 45; Reinhard Brandt, Die Wirklichkeit des Bildes. Sehen und Erkennen – Vom Spiegel zum Kunstbild, München/Wien 1999; ders., Können Tiere denken? Ein Beitrag zur Tierphilosophie, Frankfurt a.M. 2009. Im Folgenden werden in eigener Verantwortung die zuvor genannten Referenzen zusammengeführt und fokussiert (vgl. Anm. 7– 9), was die anthropologische Bedeutung des Bildvermögens angeht.
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Sprache diskursiv, wie in der Vernunft diese sprachliche Diskursivität sich nochmals selbst thematisieren kann. Im Bildvermögen wird diese Fähigkeit zur Negation elementar realisiert. Insofern kommt mit dem Bildvermögen als basalem Kriterium des Menschen eine negative beziehungsweise negationstheoretische Anthropologie zum Zug. Diese Negationsfähigkeit ist vermutlich in der Trennung von Dasein und Sosein im Sehen und in der von sich selbst wegweisenden Zeigegeste vorgebildet. So sind Zeigen, Behaupten und Öffentlichkeit bei der nicht auf sich, sondern auf Anderes verweisenden Geste des Zeigefingers verbunden. Die im Bildvermögen anschauliche Negationsfähigkeit markiert die Schnittstelle zwischen Natur und Kultur: Mit seinem das Hier und Jetzt distanzierenden Bildvermögen unterliegt der Mensch nicht mehr dem tierischen Reiz-Reaktions-Schema, sondern verhält sich zu seiner Umwelt wie zu sich selbst. Dies scheint die elementare Form von Freiheit zu sein, die sich im Sprachvermögen und Vernunftvermögen erheblich steigern kann, gleichwohl aber an das Bildvermögen zurückgebunden bleibt. Die kulturspezifische Freiheit des Bildvermögens entwickelt und entfaltet sich im Lauf der Zeit immer stärker. Entsprechende Einsichten geben medientheoretische Klassiker zu verstehen.¹¹ So ist der Bildgebrauch kulturhistorisch in eine Abfolge von Medienumbrüchen einzuzeichnen, welche die menschliche Kultur tiefgreifend formieren. Auf den ersten Übergang vom Körper- zum Schriftgedächtnis folgt der zweite Übergang vom Handschriften- zum Druckschriftengedächtnis. Schließlich kommt es zum dritten Übergang vom Buchdruck zum Bildschirm. Mit diesem letzten Umbruch gipfelt der bisherige Bildgebrauch in der Moderne und kann dabei Gegenwelten präsentieren, ohne religiös sein zu müssen. Dabei sind bis heute religiöse Prägekräfte im menschlichen Bildgebrauch am Werk, die aufgrund ihrer sedimentierten Gestalt leicht übersehen werden, aber grundlegend sind. So entstammt das Bild dem, was man nachmals als Kult und Religion anspricht, und verliert durch seine massenhafte Verbreitung insbesondere in der Moderne auch seinen religiösen Nimbus.Von daher ist die Bildgeschichte auch Religionsgeschichte – und umgekehrt. Gerade die Zunahme des Bildgebrauchs führt gegenwartsdiagnostisch zu deren reflexiver Erfassung in der Rede von der Wende zum Bild. In Anlehnung an die Rede von dem linguistic turn, wonach in die Sprache letzter Bezugspunkt menschlicher Wirklichkeitserschließung ist, spricht man von einer Wende zum Bild – ob nun als
Vgl. dazu maßgeblich: Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit und weitere Dokumente. Kommentar von Detlev Schöttker, Frankfurt a.M. 2007; Marshall McLuhan, Magische Kanäle. „Understanding Media“, Düsseldorf/Wien/New York/Moskau 1992; ders., Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters, Bonn/Paris/Reading, Massachusetts/Menlo Park, California/New York/Don Mills, Ontario, Wokingham, England/Amsterdam/Milan/Sydney/Tokyo/ Singapore/Madrid/San Juan/Seoul/Mexico City/Taipei, Taiwan 1995; Hans Belting, Das unsichtbare Meisterwerk. Die modernen Mythen der Kunst, München 1998; ders., Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 62004; ders., Das echte Bild. Bildfragen als Glaubensfragen, München 2005.
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imagic, pictorial, iconic oder visualistic turn akzentuiert.¹² Eine Durchmusterung der damit verbundenen Programme macht deutlich: Zwar möchte die Rede von der Wende zum Bild einen Beitrag zur philosophischen Semantik leisten. Doch dies darf nicht im Sinn einer schlichten Ablösung begriffen werden, wonach das Bild die Sprache als kulturelle Leitvorstellung ersetzen würde. Denn diese Relativierung der Sprache auf das Bild ist auch eine Relativierung des Bildes auf die Sprache. Das Bild liegt dabei der Sprache zugrunde, die als Erkenntnismittel komplexer und universaler als das Bild ist. Die Rede von der Wende zum Bild erscheint daher genau dann angemessen, wenn sie Bilder nicht in Konkurrenz zur Sprache bringt. Doch: Was ist eigentlich ein Bild? Dritte These: Unter einem (äußeren) Bild lässt sich ein wahrnehmungsnahes Zeichen verstehen, das wesentlich auf die Einbildungskraft angewiesen ist, die sich dabei selbst durchstreicht beziehungsweise einklammert. Es gibt im Grunde hier typologisch vier Möglichkeiten, die Frage zu beantworten, was ein Bild ist. Diese Möglichkeiten lassen sich als eine anreichernde Sequenzierung verstehen.¹³ Die erste, die zeichentheoretische Richtung ist überzeugt: Das Bild ist ein Zeichen. Es ist Teil eines primär kommunikativen Zeichensystems. Nicht naturwüchsige Ähnlichkeit zwischen dem Abgebildeten und seiner Darstellung, sondern kulturelle Konvention ist entscheidend; und der Umgang mit Bildern ist konventionell zu erlernen. Das Besondere des bildlichen Zeichens ist seine syntaktische und semantische Dichte. Dass das Bild anders als die Sprache nicht aus alphabetisch wohldifferenzierten Zeichen besteht, sondern aus ineinander untrennbar übergehenden Formen und Farben, ist seine Besonderheit.¹⁴ Ein entscheidender Kritikpunkt lautet: Hier wird das Besondere des Bildbegriffs durch die Allgemeinheit des umfassenderen Zeichenverständnisses verfehlt, das sich auch durch die genannte „Dichte“ nicht nach-
Vgl. zu den Schlagworten und den damit verbundenen Konzepten: Ferdinand Fellmann, Symbolischer Pragmatismus. Hermeneutik nach Dilthey, Reinbek bei Hamburg 1991; William J.T. Mitchell, Picture Theory. Essays on Verbal and Visual Representation, Chicago 1994; Gottfried Boehm (Hg.), Was ist ein Bild? München 42006; Klaus Sachs-Hombach, Das Bild als kommunikatives Medium. Elemente einer allgemeinen Bildwissenschaft, Köln 22006. Sowohl die im Folgenden damit vorausgesetzte Typologisierung als auch die kritische Diskussion der jeweiligen Position können hier nur angedeutet werden (vgl. zu der Diskussion, deren Kritikpunkte jeweils im Anschluss an die Darstellung der jeweiligen Position hier nur elementar aufgerufen werden können, besonders: Christoph Asmuth, Bilder über Bilder, Bilder ohne Bilder. Eine neue Theorie der Bildlichkeit, Darmstadt 2011; Lambert Wiesing, Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes, Frankfurt a.M. 2005; ders., Sehen lassen. Die Praxis des Zeigens, Frankfurt a.M. 2013; Martin Seel, Ästhetik des Erscheinens, Frankfurt a.M. 2003; Daniel Hornuff, Bildwissenschaft im Widerstreit. Belting, Boehm, Bredekamp, Burda, München 2012). Vgl. dafür maßgeblich: Nelson Goodman, Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, Frankfurt a.M. 1995; Oliver R. Scholz, Bild, Darstellung, Zeichen. Philosophische Theorien bildlicher Darstellung, Frankfurt a.M. 32009; Sachs-Hombach, Bild als kommunikatives Medium (vgl. Anm. 12).
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träglich kompensieren lässt. Insbesondere das Eigenrecht der sinnlichen Verkörperung des Bildes scheint verspielt. Genau darauf legt die zweite, wahrnehmungstheoretische Richtung großen Wert. Demnach ist das Bild eine wahrnehmbare Erscheinung, und zwar eine rein sichtbare Erscheinung, die in ihrer Sinnlichkeit einen Sinn verrät, der von der Sprache nicht eingeholt werden kann.¹⁵ Ein entscheidender Kritikpunkt an dem wahrnehmungstheoretischen Bildbegriff lautet: Hier wird mit einer letzten Unverständlichkeit gespielt, die theoretisch tendenziell dualistisch und praktisch tendenziell ausgrenzend ist; noch weniger überzeugt die einseitig personalisierende Rede vom Eigenleben der Bilder, die auf die menschliche Passivität abstellt, ohne das konstruktive Vermögen des Menschen angemessen zu berücksichtigen. Hier droht im schlimmsten Fall eine neue Mythologie des Bildes mit animistischen Zügen. Die dritte, imaginationstheoretische Richtung korrigiert dies, wenn sie unterstreicht: Das Bild verdankt sich demnach dem Menschen. Das Spezifische des Bildes liegt in seiner existentiellen Menschlichkeit und das Spezifische des Menschen in seiner Bildlichkeit; nicht erst das Sprechen, sondern die schon bei Immanuel Kant prominente Einbildungskraft zeichnet den Menschen aus; und in der Bildproduktion wird die weltdistanzierende Freiheit des Menschen sich selbst anschaulich. Die Rede vom geistigen und materiellen Bild ist daher keine bloße Namensgleichheit. Vielmehr geht es in beiden Fällen um das Bewusstsein von etwas, das – wie im Film oder in der Vorstellungskraft – in seiner Abwesenheit gegenwärtig ist.¹⁶ Ein entscheidender Kritikpunkt lautet: Hier wird mit der hermeneutisch gängigen und der auf manches anwendbaren Verschränkung von Abwesenheit und Anwesenheit das Spezifische des Bildes nur ungenau erfasst. Darauf reagiert die vierte, die negationstheoretische und jüngste Richtung und stellt fest: Das Bild ist eine konkrete Negation. Es ist genau dasjenige nicht, was es abbildet; zum Beispiel ist ein abgebildetes Haus kein reales Haus. Doch es ist genau dieses bestimmte reale Haus nicht, das abgebildet wird. Dieses Bildverständnis ist allerdings nicht daran gebunden, dass das Abgebildete neben dem Bild existieren muss, sondern das Bild kann sich auf etwas beziehen, was lediglich abgebildet wird. Diese sinnlich rückgebundene Operation konkreter Negativität ist als relationale Negation erst dann zu sehen, wenn sie zumindest zugleich verstanden wird. Denn anders sind relationale Negationen nicht greifbar. Damit rückt die Einbildungskraft in
Vgl. dafür maßgeblich: Maurice Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, Hamburg 2003; ders., Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 32004; Gottfried Boehm,Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin 32010; Lambert Wiesing, Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik, Frankfurt a.M. 22008. Vgl. dafür maßgeblich: Hans Jonas, Das Prinzip Leben. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Lizenzausgabe, Frankfurt a.M./Leipzig 1994; Hans Belting, Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001; Ferdinand Fellmann, Von den Bildern der Wirklichkeit zur Wirklichkeit der Bilder, in: Klaus Sachs-Hombach/Klaus Rehkämper (Hg.), Bild – Bildwahrnehmung – Bildverarbeitung. Interdisziplinäre Beiträge zur Bildwissenschaft, Wiesbaden 1998, 187– 195.
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ihrer negativen Selbstbezüglichkeit in den Mittelpunkt.¹⁷ Ein Kritikpunkt lautet: Dieses Bildverständnis ist einseitig kognitiv-abstrakt und schließt darin scheinbar paradox gerade abstrakte Bilder aus, die keine Abbildungen bieten. Dies ist in der Tat ein prekärer Punkt, der sich jedoch entschärfen lässt und letztlich dieses relativ negationstheoretische Verständnis nahelegt: Zum einen sind abstrakte Bilder nur vor dem Hintergrund der Tradition gegenständlicher Bilder als Bilder verständlich, und zum anderen ist zu erwägen, ob abstrakte Bilder eben nicht Abstraktionen konkreter Negativität in ihrer Selbstbezüglichkeit darstellen. Folglich kann im Sinn einer sich anreichernden Sequenzierung gesagt werden: Das (äußere) Bild ist ein wahrnehmungsnahes Zeichen, das wesentlich auf die Einbildungskraft angewiesen ist, die sich dabei selbst durchstreicht beziehungsweise einklammert. Vierte These: Mit dem Bildvermögen ist ein religiöser Zug zum Unbedingten verbunden. Religion ist danach das Bildvermögen im Horizont des Unbedingten, wie es auch im Christentum deutlich wird. In der Distanzierung der Wirklichkeit durch das Bildvermögen stellt sich ein das ReizReaktions-Schema freiheitseröffnendes Überschreiten bzw. Transzendieren ein, das im fortschreitenden Nacheinander ineinander untrennbar übergehender Momente eines Bildes mit der Vermutung einer umfassenden Ganzheit einhergeht. Religion ist demnach nicht, so mein Vorschlag, exklusiv auf die hochstufige Erfahrung der Vernunft angewiesen, dass der Mensch nur gewaltsam sein Bedürfnis abbrechen kann, immer weiter fragen und verstehen zu wollen. Religion ist vielmehr eine Projektion des Menschen, die nicht nur aufgrund ihrer Fundierung im Bildvermögen erklärbar, sondern aufgrund der internen Struktur des Bildvermögens auch nachvollziehbar ist. Wird diese Struktur ausdrücklich religiös praktiziert, dann wird sich der Mensch des ungegenständlichen Einheitspunktes, auf den er in seinem Leben bezogen ist, so inne, dass er keinem falschen Bewusstsein aufsitzt. Insofern scheitert der Projektionsverdacht der klassischen Religionskritik an seiner eigenen Berechtigung. Er ist zwar im Recht, verweist aber auf das ihm zugrunde liegende Bildvermögen, dem eine unscheinbare, aber wirkungsvolle Unbedingtheit eingeschrieben ist, ob sie nun als religiöser Hang ausdrücklich religiös oder auch in anderen Kulturgestalten verwirklicht wird. Ist die Religion im Bildvermögen fundiert, dann kann sie meines Erachtens näher charakterisiert werden. Denn werden die Eigenarten des Bildes ihrer Bedingtheit entkleidet, sind damit die religionskonstitutiven Momente freigelegt. Dies lässt sich folgendermaßen skizzieren.
Vgl. dafür maßgeblich: Peter Reisinger, Idealismus als Zeichentheorie. Untersuchung zur Grundlegung einer Zeichenphilosophie, Stuttgart 1979; Brandt,Wirklichkeit des Bildes (vgl. Anm. 8); Asmuth, Bilder über Bilder (vgl. Anm. 13).
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Der zeichentheoretische Bildbegriff lässt auf das Vermögen des Menschen schließen, intern einen Zusammenhang unaufhebbar ineinander übergehender Aspekte zu symbolisieren, der extern als Eines und Ganzes erscheint. Wird dieses Vermögen entgrenzt, wird aus der relativen Ganzheit unaufhebbar ineinander übergehender Momente eine unbedingte Ganzheit, die das Prozessuale ihrer minimalen Unterschiede noch so steigert, dass es auch alle ihm vermeintlich äußerlichen Beziehungen durchdringt. Zuständlich ist Religion dann die Erfahrung eines nicht-diskursiven Innewerdens („Gefühl“) und gegenständlich die Vorstellung einer umfassenden Alleinheit. Der wahrnehmungstheoretische Bildbegriff macht darauf aufmerksam, dass der Mensch etwas erfassen kann, was rein – und das heißt: ausschließlich – sichtbar ist: Das Sein des Bildes besteht in seinem Erscheinen. Damit wird zeitlich im „AugenBlick“ umgesetzt, was auch räumlich die reine Sichtbarkeit bedeutet. Dies ist die Unterbrechung, die bei dem Bild relativ ist, insofern die reine Sichtbarkeit zwar die Ordnung der normalen Alltagswahrnehmung durchbricht, aber als Sichtbarkeit weiterhin in sie eingebunden bleibt. Ungleich einschneidender als die Bilderfahrung klammert die religiöse Erfahrung im Horizont des Unbedingten die gewohnte Wirklichkeit ein. Zuständlich ist Religion dann eine raumzeitliche Aussonderung, die Erfahrung des Heiligen, der Ekstase, gegenständlich bedeutet Religion dann die Vorstellung eines Unbedingten, das erkennbar zur Welt kommt und dennoch nicht in ihr aufgeht; traditionell wird dies als Offenbarung bezeichnet. Der imaginationstheoretische Bildbegriff macht darauf aufmerksam, dass in der Bildproduktion die weltdistanzierende Eigenart des Menschen sich selbst anschaulich wird. Wenn diese Distanzierung in den Horizont des Unbedingten gestellt wird, dann wird die vorhandene Welt unbedingt auf Distanz gebracht, obgleich man genau darin auf sie bezogen bleibt. Zuständlich handelt es sich in der Religion dann um eine Erfahrung des Kontemplativen. Gegenständlich entspricht dem die Vorstellung eines Unbedingten, das sich selbst genügt. Der negationstheoretische Bildbegriff macht darauf aufmerksam, dass sich der Mensch von der real existierenden Faktizität lösen kann – bis hin zur Darstellung einer erlösenden Gegenwelt, und zwar so, dass der Mensch dadurch seiner relativen Freiheit gewiss wird.Wird diese Freiheit in den Horizont des Unbedingten gestellt, wird sich der Mensch der Freiheit unbedingt inne. Zuständlich erfährt sich das menschliche Bewusstsein in der Religion dann als frei, mithin gelöst und aktiv. Gegenständlich entspricht dem die Vorstellung eines Unbedingten, das selbst kreative Freiheit ist und dem daher dies an sich nicht abgesprochen werden darf. Daher ist es plausibel, ein personales Gottesbild zu vertreten. Dieses Unbedingte spiegelt sich in seiner kreativen Freiheit (ebenbildlich) im Menschen, der seinerseits Welten bildlicher Symbolisierung hervorbringen kann. Wie im Fall des Bildbegriffs, dem sich diese Einsichten verdanken, gibt es eine aufstufende Sequenz von der nicht-diskursiven Alleinheit über die aussondernde Unterbrechung und die kontemplative Selbstgenügsamkeit zur kreativen Freiheit, ohne dass die vorangegangenen Momente damit überflüssig wären.
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Was Religion allgemein ausmacht, das wird im Christentum besonders wirklich, wenn Jesus von Nazareth in der Sprache des Glaubens als Bild Gottes erscheint. Dies geschieht nicht zufällig, sondern ist in hermeneutischer und sachlicher Hinsicht motiviert.¹⁸ Die hermeneutische Hinsicht besteht darin, dass sich das Christentum mit dem Bezug auf Jesus von Nazareth auf eine historische Person richtet. Schon damit ist über die Form der historischen Erzählung und deren Angewiesenheit auf die Einbildungskraft eine bildtheoretische Pointe gegeben. Und die sachliche Hinsicht lässt sich dreifach auffächern. So hat Jesus erstens in den sprachlichen Bildern seiner Gleichnisse so überzeugend von der Gottesherrschaft gesprochen und sich selbst entsprechend in kontrastiver Anschaulichkeit verhalten, dass Menschen ihr Leben änderten. Zweitens erlosch nach dem irdischen Tod Jesu seine Wirkkraft nicht, sondern seinen Anhängern wurde er in den sogenannten Ostererscheinungen bildlich vorstellig, so dass davon ausgehend eine der wirkmächtigsten Religionen der Welt entstand. Diese christliche Religion gab drittens ihr Bild von Jesus von Nazareth im Sinn eines medialen Kultgedächtnisses weiter, die weitergegebenen Erinnerungen des Ursprungsimpulses der eigenen Religion kann man als sprachliche und sakramentale Wiedergabe szenischer, bildlicher Erinnerungen verstehen. Wichtig ist insbesondere der Zusammenhang zwischen Monotheismus, Bilderverbot und Ostern.¹⁹ Drückt sich nämlich im alttestamentlichen Bilderverbot der exklusive Monotheismus aus, der seinerseits vielleicht oder wahrscheinlich die Reaktion auf ein verlorenes JHWH-Kultbild ist, dann wurde dieses monotheistische Deutungsmuster, irdische Niederlage in himmlische Siege zu verwandeln, im Osterglauben aufgenommen. So wurde aus der Kreuzigung Jesu, mit der alle an ihn gerichteten Erwartungen des anbrechenden Gottesreiches nach irdischen Maßstäben schmachvoll gescheitert waren, mit der Auferweckung durch Gott ein himmlischer Sieg über alle widergöttlichen Mächte. Die Ostererscheinungen sind bildlicher Art. Sie sind im Sinn eines wahrnehmungsnahen Zeichens zu begreifen, das die physikalische Welt relativ
Vgl. dazu und zum Folgenden auch: Klaas Huizing, Ästhetische Theologie I. Der erlesene Mensch. Eine literarische Anthropologie, Stuttgart 2000; Eduard Schweizer, Jesus, das Gleichnis Gottes. Was wissen wir wirklich vom Leben Jesu? Göttingen 21996; Eilert Herms, Die Sprache der Bilder und die Kirche des Wortes, in: Rainer Beck/Rainer Volp/Gisela Schirber (Hg.), Die Kunst und die Kirchen. Der Streit um die Bilder heute, München 1984, 242– 259; Barth, Hermeneutik der Evangelien (vgl. Anm. 5); Eberhard Jüngel, Paulus und Jesus. Eine Untersuchung zur Präzisierung der Frage nach dem Ursprung der Christologie, Tübingen 61986; ders., Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 41982; Ulrich Wilckens, Theologie des Neuen Testamentes I/2: Jesu Tod und Auferstehung und die Entstehung der Kirche aus Juden und Heiden, Neukirchen-Vluyn 2003, bes. 124– 195; Jürgen Becker, Die Auferstehung Jesu Christi nach dem Neuen Testament, Tübingen 2007; Gunther Wenz, Christus. Jesus und die Anfänge der Christologie, Göttingen 2011, bes. 178 – 324. Vgl. dazu und zum Folgenden auch: Matthias Köckert,Vom Kultbild Jahwes zum Bilderverbot. Oder: Vom Nutzen der Religionsgeschichte für die Theologie, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 106, 2009, 371– 406; Gerd Theißen, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 22001, 47– 98.
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unterbrach, die Einbildungskraft einbezog und diese Einbildungskraft zugleich in produktiver Wendung so einklammerte, dass eine kontrafaktische Freiheit vorstellig und realisierbar wurde (nämlich als Leben aus dem Tod). Der christliche Glaube, der auf Ostern beruht, geht unterschiedlich mit dieser grundlegenden Bildlichkeit um. Im Fall der Orthodoxie erscheint die Bildlichkeit in einer sich selbst einklammernden Bildlichkeit des Äußeren; im Fall des Katholizismus wird zwar grundsätzlich an dieser orthodoxen Position festgehalten, aber diese äußere Bildlichkeit wird nochmals relativiert; und im Fall des Protestantismus kann sich diese Relativierung weiter zur Einsicht in die zentrale Rolle der Einbildungskraft für die Wahrnehmung des Glaubens steigern. Dies lässt sich im Horizont der Gegenwart prinzipiell so weiterdenken, dass protestantisch die Rechtfertigungslehre eine Deutung innerer Bildlichkeit und die Schriftlehre eine Deutung äußerer Bildlichkeit bietet.²⁰ Die Rechtfertigungslehre steht dann dafür, dass der Mensch über eine innere Bildlichkeit verfügt, die nachvollziehbar in der religiösen Unbedingtheitsdimension ausgelegt werden kann. Dabei kann zwar die Anschaulichkeit des Bildvermögens, die in religiöser Unbedingtheit in Jesus als dem Bild Gottes reflexiv wird, nicht von ihren Artikulationen in den komplexeren Vermögen der Sprache und der Vernunft getrennt werden, aber auch nicht in diese komplexeren Vermögen (vollständig) aufgehoben werden. So bricht die Rechtfertigungslehre mit der intellektuellen Werkgerechtigkeit, die meint, religiöse Gewissheit in argumentativer Diskursivität erzeugen zu können. Inhaltlich leitet die Rechtfertigungslehre zur kontrafaktischen Selbstannahme des Menschen im Licht der entsprechenden Freiheitserfahrung von Ostern an. Auf Ostern zu verweisen, ist auch die inhaltliche Pointe der Schriftlehre, die das mediale Gedächtnis dieser Freiheitserfahrung schriftsprachlich als Erinnerung szenischer Art darstellt. Der Kanon drängt auf die Inszenierung in der Praxis des Gottesdienstes. Der entscheidende Punkt für die Christlichkeit dieser „Inszenierung“ ist die Orientierung an der Vergegenwärtigung der kontrafaktischen Selbstannahme des Menschen im Licht österlicher Freiheit. Insofern handelt es sich um eine „Gegen-Inszenierung“.²¹
Auch neuprotestantisch können die Schrift- und Rechtfertigungslehre wichtig sein (vgl. zum Schriftprinzip: Jan Rohls, Schrift, Tradition und Bekenntnis. Ideengeschichte des Christentums II, Tübingen 2013; Jörg Lauster, Prinzip und Methode. Die Transformation des protestantischen Schriftprinzips durch die historische Kritik von Schleiermacher bis zur Gegenwart, Tübingen 2004; vgl. zur für die Rechtfertigungslehre grundlegenden Kontrafaktizität: Jörg Dierken, Ganzheit und Kontrafaktizität. Religion in der Sphäre des Sozialen, Tübingen 2014; Arnulf von Scheliha, Die Deutung der Rechtfertigungslehre bei Paul Tillich und Emanuel Hirsch. Problemgeschichtliche Perspektiven und systematische Grundentscheidungen, in: Christian Danz/Werner Schüßler (Hg.), Religion – Kultur – Gesellschaft. Der frühe Tillich im Spiegel neuer Texte (1919 – 1920),Wien 2008, 67– 84), auch wenn man sie nicht für zwei unverrückbare (!) Prinzipien des Protestantismus halten muss. Letzteres wäre übrigens ebenfalls prinzipientheoretisch problematisch. Vgl. zur praktisch-theologischen Diskussion über die Frage der Inszenierung: Wilhelm Gräb, Sinn fürs Unendliche. Religion in der Mediengesellschaft, Gütersloh 2002; ders., Sinnfragen. Transformationen des Religiösen in der modernen Kultur, Gütersloh 2006; Michael Meyer-Blanck, Inszenierung
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Malte Dominik Krüger
Der Gottesdienst am Feiertag will in den Gottesdienst im Alltag ausstrahlen. So kehrt die Bildlichkeit protestantisch dorthin zurück, woher sie kommt – aus dem Vollzug menschlichen Lebens, das auf Freiheit ausgerichtet ist. Sie geht freilich nicht am Individuum vorbei. Fünfte These: Mit dem Bildvermögen ist ein menschlicher Zug zur individuellen Selbstbildung verbunden. Bildung ist danach das Bildvermögen im Horizont des Individuellen. Die Entfaltung des Bildvermögens und der auf ihm aufbauenden Sprache und Vernunft sowie der ihm eingeschriebenen religiösen Anlage findet konkret im einzelnen Menschen statt. Er prägt diese Vermögen und diese Anlage in seinem besonderen Lebenslauf eigentümlich aus – und er steht hier unter den Bedingungen von kontingenter Endlichkeit in einer dynamischen Entwicklung. Insofern diese Entwicklung auf der Grundlage des Bildvermögens auf ein Selbst abzielt, das seine Individualität in Abarbeitung von Entfremdungserfahrungen und in überindividueller Verbindlichkeit möglichst ganzheitlich entfaltet, kann man von Bildung sprechen.²² Bildung ist danach das Bildvermögen im Horizont des Individuellen – und daher immer schon auf Sprache und Vernunft angelegt und mit einer religiösen Anlage verknüpft. Entsprechend gelten auch hier die vier aus dem Bildvermögen folgenden Momente von Ganzheit, Andersheit, Distanz und Freiheit – nunmehr im Horizont des Individuellen. Der Umgang mit Ganzheit im Horizont des Individuellen kann als Selbstbildung des Individuums beschrieben werden. Dem Menschen ist mit dem Bildvermögen ein ganzheitlicher Zug eigen. Er erschöpft sich nicht in der Ausbildung einzelner Fertigkeiten, sondern bezieht die gesamte Individualität und damit nicht nur ihre Sprachund Vernunftkompetenz, sondern auch ihre Bildlichkeit und mit ihr Sinnlichkeit und Religiosität mit ein. Diese Selbstbildung schließt eine traditionale Einfügung in vorgegebene Lebenskonzepte ebenso aus wie die Überschätzung der Möglichkeiten von Eigenaktivität, mit der man meint, aus eigener Kraft die Welt neu schaffen zu können. Und diese Selbstbildung trägt der Sache nach die institutionellen Bildungsausprägungen, die sich ihrerseits daran orientieren sollten. Damit ist angedeutet: Selbstbildung meint keine Selbstabschottung, sondern ist alteritätssensibel. So ist der Umgang mit Andersheit im Horizont des Individuellen wesentlich. In der Entfaltung der individuellen Selbstbildung ist eine überindividuelle Verbindlichkeit angelegt, insofern für entwickelte Individualität ihre wechselseitige Anerkennung untereinander maßgeblich ist. Dann kann gerade die Steigerung des Individuellen als Realisierung überindividueller Verpflichtung verstanden werden. Damit sind offenbar
und Präsenz. Zwei Kategorien des Studiums Praktischer Theologie. In: Wege zum Menschen 49, 1997, 2– 16; ders., Authentizität, Form und Bühne: Theatralisch inspirierte Liturgie. In: Pastoraltheologie 94, 2005, 134– 145; Martin Nicol , Einander ins Bild setzen. Dramaturgische Homiletik, Göttingen 22005; ders./Alexander Deeg, Im Wechselschritt zur Kanzel. Praxisbuch Dramaturgische Homiletik, Göttingen 2005; Ursula Roth, Die Theatralität des Gottesdienstes, Gütersloh 2006. Vgl. dazu grundlegend: Hastedt, Was ist Bildung (vgl. Anm. 6).
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ethische Verbindlichkeitszumutungen ebenso wie Fragen nach einem Kanon von Bildung im Spiel. Und solange sie nicht ihrerseits zum Selbstzweck werden, der die Selbstbildung des Individuums an den Rand drängt, können Verbindlichkeitszumutungen aus Ethik und Tradition produktiv sein. Dies leitet zum Umgang mit der Selbstgenügsamkeit und der Distanz des Eigenen gegenüber der Umwelt über. Im Horizont des Individuellen kann darunter die Verarbeitung von Entfremdungserfahrungen verstanden werden, wie sie grundsätzlich mit dem Vermögen relativer Verneinung im Bildvermögen angelegt sind. Auf dieser grundlegenden Ebene ist die Entfremdungserfahrung, nämlich aufgrund der Unterbrechung des Reiz-Reaktions-Schemas auch ein Gegenüber der eigenen Umwelt zu sein, eine Freiheitserfahrung. Ihre Bewältigung und die Überwindung ihrer sich auch in Sprache und Vernunft überindividuell immer wieder neu, auch problematisch zuspitzender Negativität ist dem Menschen aufgegeben. Ohne die Verarbeitung von Entfremdungserfahrungen scheint dem Individuum der Weg zur Bildung kaum möglich – in einer Welt globaler Reise- und Flüchtlingsströme vielleicht kein überraschender Gedanke. Doch die letzte Fremdheit, an der sich das Selbst in der Bildung seines Lebenslaufes abarbeitet, ist dessen Ende. So ist das Bildvermögen als Freiheit im Horizont des Individuellen als Umgang mit der eigenen Kontingenz verbunden, und zwar am Ende insbesondere mit der leiblichen Dimension der Kontingenz; eindrücklich geschieht Letzteres in Luthers Sermon von der Bereitung zum Sterben (1519).²³ Und gemäß der aufstufenden Sequenzierung endet damit die Selbstbildung relativ in einer Lebenskunst, die sich im Verständnis der eigenen Endlichkeit mit ihren Grenzen auseinandersetzt. Gerade hier scheint Religion als Bildvermögen im Horizont des Unbedingten mit der Bildung als Bildvermögen im Horizont des Individuellen übereinzukommen. Was ist mit einer solchen Deutung gewonnen? Mit dem vorgeführten Begriffsnetz werden der Religions- und Bildungsbegriff bildtheoretisch anschlussfähig – freilich mit kritischen Brechungen in allen Richtungen. Der gegenwärtigen Bildkultur werden sprachliche, vernünftige und religionstheoretische Deutungen zugemutet, die für geschlossene Bildwelten einen befreienden Unterbrechungscharakter mit einer Fokussierung des Ungegenständlichen haben. Und den traditionalen Bildungs- und Religionskonzepten wird zugemutet, ihre bildtheoretischen Potentiale, ihre Symbolisierungs- und Inszenierungsmuster auf sinnliche Plausibilisierungsmöglichkeiten hin durchzumustern. Und vor allem: Bildtheoretisch wird es möglich, den engen Zusammenhang von Bild, Bildung und Religion weiterzuschreiben, wie er auch der protestantischen Tradition vertraut ist, deren geringster Vertreter Schleiermacher wohl kaum sein dürfte.
Vgl. zur Sache auch: Paul Althaus, Luthers Wort vom Ende und Ziel des Menschen, in: Luther 28, 1957, 97– 108; Peter Brunner, Luthers Sermon von der Bereitung zum Sterben, in: Zeitwende 49, 1978, 214– 228; Gerhard Ebeling, Des Todes Tod – Luthers Theologie der Konfrontation mit dem Tode in ders., Theologie in den Gegensätzen des Lebens, Wort und Glaube IV, Tübingen 1995, 610 – 642.
Frömmigkeit
Eilert Herms / Tübingen
Leibhafter Geist – Beseelte Organisation. – Schleiermachers Psychologie als Anthropologie. Ihre Stellung in seinem theologisch-philosophischen System und ihre Gegenwartsbedeutung Wie mein Thema erwarten lässt, möchte ich in einem ersten, gewissermaßen exegetischen, Teil das Verhältnis von Schleiermachers „Psychologie“ zu seiner „Anthropologie“ nachzeichnen, sodann die Bedeutung dieser Anthropologie für das Gesamtsystem unseres Autors aufzeigen und schließlich einige Hinweise auf die Anregungen geben, die in Schleiermachers Anthropologie auch heute für die Orientierung in der Wissenschaft und über sie enthalten sind. Die Ausführlichkeit des ersten Teils ermöglicht die Kürze der beiden letzten.
I. Das Verhältnis der „Psychologie“ zur „Anthropologie“ 1. Schleiermacher beginnt seine Vorlesung über „Psychologie“ mit der Standarderinnerung an diejenige Präliminaraufgabe, deren Bearbeitung und Lösung die Bedingung jeder wissenschaftlichen (also gemeinsamen) Untersuchung des für uns und unseresgleichen erkennbar Realen ist. Sie besteht darin, das Verständigtsein über den Sachbezug (die Referenz) der in der Umgangssprache¹ oder in Fachsprachen² überlieferten einschlägigen Gegenstandsbezeichnungen nicht einfach als zwischen den die Untersuchung tragenden Personen immer schon vorhanden zu unterstellen, sondern ausdrücklich zu suchen³ – also im vorliegenden Fall die Verständigung über den Realitätsbezug der Rede von „Seele“.⁴ Lösbar (und insofern sinnvoll) ist diese Aufgabe nur unter der Bedingung, dass jede beteiligte Person sich bezogen findet auf das erkennbar Gegebene (also auf das zu-
Sprache (Sätze) des „gemeinen Lebens“: Ps 4,4; 6,10; 8,30; 9,2.5; 10,18. – Das Sigel „Ps“ verweist hier und folgend stets auf: D. Schleiermacher’s sämmtliche Werke, Abt. III, Bd. 6, Psychologie, hg. von L. George, 1861, mit Seiten- und Zeilenzahl. Sprachliche Vorgaben aus wissenschaftlichen Untersuchungen sind mit besonderer Vorsicht zu behandeln, weil in sie schon alle Ergebnisse von besonderen – stets irrtumsfähigen – Untersuchungen eingegangen sind. Es ist eher anzunehmen, dass sich die Umgangssprache auf das allen gemeinsam zuerkennen Gegebene bezieht als eine besondere Fachsprache: Ps 3,33 ff.; 21,24– 31. Ps 1,1– 10. Ps 1,10 ff. DOI 10.1515/9783110464573-013
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erkennen Gegebene) als ein solches, welches in sich selbst eines und dasselbe für alle möglichen Anderen ihresgleichen ist.⁵ Im gemeinsamen Blick auf dieses für alle menschlichen Personen in seiner eigenen Identität „Gegebene“⁶ kann und muss erstens die spezifische Referenz des Leitbegriffs der gemeinsamen Untersuchung gemeinsam festgelegt werden und dann zweitens durch gemeinsame Betrachtung die reale (also am Gegebenen selbst „gegebene“) Eigenart des thematisierten Sachverhalts erhoben werden, hier also: dessen, was „Seele“ genannt wird. Ist die genannte Bedingung erfüllt? Sie ist es jedenfalls nur dann, wenn das Bezogensein jeder wissenwollenden Person auf das ihr und allen ihresgleichen gemeinsam zu-erkennen Gegebene real ist nicht vermittelst eines eigenen Wissenwollens und als dessen Resultat, sondern wenn es die Weise eines unmittelbaren Inneseins dieses zu-erkennen Gegebenen hat, das durch das eigene „sich-Darbieten“ dieses Gegebenen begründet ist. Eben dies ist für Schleiermacher der Fall: Er „stößt auf“⁷ das Faktum, dass das allen gemeinsam zu-erkennen Gegebene von sich aus „sich darbietet“⁸, und zwar darbietet als das „Leben des Menschen“,⁹ und das heißt genau: als das leibhafte Leben von „Ich“.¹⁰ Die Referenz dieses Ausdrucks, „Ich“, unterscheidet Schleiermacher zunächst ausdrücklich von der Referenz des Ausdrucks „das Ich“.¹¹ Denn durch Verwendung des bestimmten Artikels¹² verweist dieser auf einen Sachverhalt, der keineswegs das Implikat des sich von sich aus darbietenden Realen ist, nämlich¹³ auf ein „unabhängig“ von Anderem „für sich Bestehendes“.¹⁴ Demgegenüber referiert „Ich“ im artikellosen Gebrauch nur auf die sich von sich aus darbietende Eigenart des zu-erkennen Gegebenen, eben als Leben des Menschen das Leben von Ich zu sein, also das Leben, das sich als kontinuierliches „von-Ich-Ausgehen“,¹⁵ „auf-Ich-beziehen“,¹⁶ also auch „Ich setzen“¹⁷ und dann auch „Ich sagen“¹⁸ vollzieht. Die Ausdrücke machen deutlich, dass die in den Blick gefasste Reflexionstätigkeit zwar für „Ich“ wesentlich ist, dass sie aber nicht durch sich selbst das Realsein von Ich konstituiert (begründet, schafft), sondern dass diese Tätigkeit, indem sie ein Ich-sagen ist, schon ein vorgängiges Ich-setzen einschließt, dass sie, indem sie ein Ich-setzen ist, schon ein vorgängiges auf-Ich-be-
Ps 2,9 – 13. Der kontinuierliche Rekurs des Textes auf das so bezeichnete erkennbar-Reale erübrigt Einzelbelege. Ps 3,15 f. Ps 3,16. Ps 7,17 f.; 8,10; 26,2.25; 33,35. Ps 3,15 – 19. Ps 3,17. Ps 3,17 f. Wie man unter Rückgriff auf im selben Text anderwärts Gesagtes hier ergänzen darf und muss. Ps 6,14.25; 7,12. Ps 14,15. Ps 14,25. Ps 3,9; 14,25.27; 15,25; 17,23; 39,5; 41,39; 42,11. 3,28; 18,15; 19,8.25; 39,6; 42,12.
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ziehen einschließt, und dass sie, indem sie ein auf-Ich-beziehen ist, schon ein vorgängiges von-Ich-ausgehen voraussetzt, also Ich als unhintergehbaren Ausgangspunkt und Möglichkeitshorizont seiner eigenen Reflexionstätigkeit in Anspruch nimmt und somit als reflektierende Ich-Tätigkeit sich auf dem Boden der nicht durch diese Tätigkeit begründeten, sondern dieser vorgegebenen, sie ermöglichenden und verlangenden Realität des ihm-selbst-als-es-selbst-Gegebenseins von Ich vollzieht. In diesem ihm-selbst-als-es-selbst-Vorgegebensein-von-Ich gründet die für Ich wesentliche Reflexionstätigkeit, die sich als die der Reflexionstätigkeit des Ich vorgegebene Natur von „Ich“ von sich aus und durch sich selbst jedem Menschen darbietet als das ihm zu-erkennen gegebene Reale seines wesentlich ichbezüglichen Lebens. Weil und indem dieses ichbezügliche Leben des Menschen sich jedem Menschen, also uns und unseresgleichen, von sich aus darbietet, „finden“¹⁹ wir uns selbst immer schon in diesem ichbezüglichen Leben. Und kraft dieses „Sich-selbst-Finden(s)“²⁰ ist jedem Menschen, also uns und allen unseresgleichen, ein „unmittelbares Wissen um uns selbst“²¹ eigen. Um ein „Wissen“ handelt es sich hierbei insofern, als sein Inhalt jedermann zweifelsfrei gewiss ist;²² jedoch zugleich um ein „unmittelbares Wissen“ insofern, als es nicht das Resultat eines eigenen Wissenwollens ist,²³ nicht ein durch uns „Produziertes“, sondern eben ein für uns „Gegebenes“:²⁴ nämlich der „Boden“ aller von uns selbst gewollten „Erkenntnis“,²⁵ ja schon aller wechselnden Bestimmtheiten („Modifikationen“²⁶) unseres Seins, die uns zu-erkennen gegeben sind: Denn „das Ich²⁷ ist die ursprüngliche Tätigkeit“,²⁸ aus der alle diese wechselnden Bestimmtheiten „hervorgehen“²⁹ und die sie alle „begleitet“.³⁰
Ps 8,2; 14,24; 26,29; 39,5 f. Ps 39,5. Ps 55,17 f. Ps 14,29 – 32 (Es „wird doch jeder sagen […], daß es für keinen etwas gewisseres gäbe als dieses“). Ps 15,15 – 17. Ps 14,38 f. Ps 14,30. Ps 15,20.25. Auch Schleiermacher vermeidet also schließlich nicht den Gebrauch von „Ich“ mit bestimmtem Artikel: 11,35 („man orientiert sich immer an dem Ich“); 15,15 („sein Ich“); 18,13 („bleiben wir bei dem Ich stehen“); 19,11 („das Ich kann gar nicht ein wirkliches sein ohne ein Du“); 39,10 („Das Ich aber ist … nichts anderes als eine Erscheinung des Geistes unter der Form des Einzellebens und in der Verbindung mit einer bestimmten Organisation.“). Diese Verwendung macht den oben erwähnten Vorbehalt (3,16 – 18) nicht hinfällig. Denn der Vorbehalt dürfte der Abwehr des Missverständnisses dienen, als könne man „Ich“ als etwas intuieren, das „für sich“ „besteht“ (6,14; 7,12) abgesehen von dem Prozess seines Gewordenseins und seines Lebens. Demgegenüber meint Schleiermachers eigene Rede von „dem Ich“ offenkundig gerade dies, nämlich nichts anders als dasjenige reflexive Tätigsein, die für das Ich als sein ihm-selbst-als-es-selbst-Vorgegebensein konstitutiv und die alles begleitende Basis des Lebens des Menschen ist, die diesem als sein Möglichkeitsgrund und Gegenstand im „unmittelbaren Wissen um sich selbst“ (Ps 55,17) zu-erfassen vorgegeben ist (Ps 8,20). Ps 15,31 f.
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Soweit Schleiermachers Skizze des Lebens des Menschen als des Lebens von menschlichem Ich, das für jeden Menschen das Reale ist, welches ihm samt allen seinesgleichen zu-erkennen vorgegeben ist. Ausschließlich das Orientiertsein an diesem zu-erkennen Gegebenen und seiner eigenen Identität und das Bestimmtsein durch die eigene Identität dieses zu-erkennen Gegebenen macht das wissenschaftliche Wissenwollen und seine Resultate zu einem „identischen Symbolisieren“.³¹ Schleiermacher sieht und hält fest, dass für die Identität dieses zu-erkennen Gegebenen (eben des leibhaften Lebens von „Ich“) zwei – oft übersehene – Inklusionen wesentlich sind: Erstens, schließt es zwar alles äußerlich, in der Umwelt der wissenwollenden³² Personen Gegebene ein, und zwar einschließlich des äußerlichen, eben leibhaften Gegebenseins anderer Menschen für jedes Ich und jedes Ich für andere Menschen,³³ erschöpft sich aber nicht darin, sondern umfasst darüber hinaus auch die wissenwollende Instanz, also „Ich“ (und zwar in ihrer Bezogenheit auf Umwelt) selber.³⁴ Zweitens geht die eigene Identität des zu-erkennen Gegebenen nicht dadurch verloren, dass es in und durch sich selbst durchgehend und ausschließlich verschiedenen individuellen Instanzen zu-erkennen gegeben ist; vielmehr gehört dieser Zug selbst zu seiner Identität hinzu, also zur Identität des Lebens des Menschen, die kraft des Eingeschlossenseins dieses Zuges eben die Identität dessen ist, was jedem Einzelnen als das ihm und allen seinesgleichen Gemeinsame gegeben ist. Nur durch Rekurs auf die Identität dieses allen gemeinsam zu-erkennen Gegebenen kann beides erreicht werden: nämlich erstens das Verständigtsein über den Sachbezug der Rede von „Seele“ und zweitens dann auch das Wissen über die wesentliche Konstitution dieses „Seele“ genannten Realen und die in der Einheit seiner Konstitution begründete Variabilität seiner individuellen Manifestationen (die Mannigfaltigkeit seiner möglichen realen Ausgestaltungen). 2. Das wichtige Resultat dieser Vorüberlegungen ist die Einsicht, dass das mit der Rede von der „Seele“ gemeinte zu-erkennen gegebene Reale sich jedenfalls nur im Ps 15,27. – Das kann nach dem zuvor Gesagten nicht besagen, dass alle Bestimmtheiten von Ich durch dessen natürliche Reflexionstätigkeit hervorgebracht werden, sondern nur, dass sie alle auf dem Boden dieser Ich vorgegebenen Natur von Ich erwachsen – also zwar immer auch von der Reflexionstätigkeit von Ich mitzubestimmen, aber real und vorbestimmt immer nur kraft von Ich zu erleidenden, es bestimmenden Vorgängen, Prozessen, Aktionen, Tätigkeiten sind: dem radikalen Vorgegebenwordensein und -bleiben von Welt und dem relativen der innerweltlichen Lagen. Ps 15,32. Diese feststehende Ausdrucksweise Schleiermachers meint also nicht, dass im Wissen das Vollzogenwerden durch Individuen beseitigt wird (vielmehr ist dieses ja gerade als unhintergehbar und unüberholbar vorausgesetzt), sondern nur, dass diese Vollzüge auf Seiten aller beteiligten Individuen durch die Eigenart des Gegebenen geleitet werden, von dem für jedes Individuen gewiss ist, dass es eines und dasselbe ist für alle seinesgleichen. Wissen vollzieht sich als Wissenwollen: so im transzendentalen Teil der Dialektik (vgl. E. Herms, Religion und Wahrheit bei Schleiermacher, in: F. Hermanni u. a. (Hgg.), Religion und Religionen im Deutschen Idealismus, 2015, 85 – 106) und auch im elementaren Teil der Psychologie. Ps 3,24– 29; 15,5 ff. Ps 3,4 ff.
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Gesamtbereich des überhaupt zu-erkennen gegebenen Realen für die Erkenntnis darbietet, und das heißt: nur innerhalb der zu-erkennen vorgebenen Realität des sich in Ichbezüglichkeit vollziehenden Lebens von Menschen.³⁵ Im zu-erkennen Gegebensein des menschlichen Lebens, und nur hier, ist auch zu-erkennen gegeben, was mit der Rede von „Seele“ gemeint ist. Damit steht jedenfalls fest: Psychologie ist, wenn überhaupt, nur möglich und real innerhalb von Anthropologie.³⁶ Wenn überhaupt – denn das Wissenwollen in Bezug auf die „Seele“ kann nur dann ein reales Ziel haben und dieses sein Ziel erreichen (oder anders gesagt: das „Interesse“³⁷ an wissenschaftlicher Erkenntnis der Seele kann nur dann befriedigt werden), wenn im zu-erkennen gegebenen Realen, also im Leben von menschlichem Ich, auch ein realer Unterschied desjenigen Realen, das als „Seele“ anzusprechen ist, zu anderem im menschlichen Leben Realem zu-erkennen vorgegeben ist. Ist das der Fall? Wenn ja – also wenn sich in der zu-erkennen gegebenen Realität des Lebens des menschlichen Ich eine darin eingeschlossene Differenz darböte – wäre mit dem Verhältnis beider Seiten zueinander zugleich auch das Verhältnis einer jeden zum Ganzen, eben zum Leben des menschlichen Ich, bestimmt.³⁸ Tatsächlich stößt man auf zwei solche Differenzen, die sich selbst als Implikate des zu-erkennen gegebenen Lebens des menschlichen Ich darbieten (und damit als Differenzen, die ihrerseits real sind, nämlich zu-erkennen vorgegeben und nicht etwa durch menschliche Willenstätigkeit – hier: das Wissenwollen – erzeugt): Die eine Differenz ist die zwischen dem Ich und seinem jeweiligen Du.³⁹ Sie ist Implikat des zu-erkennen gegebenen Lebens des menschlichen Ich,weil dieses sich als Leben je eines individuellen Ich⁴⁰ zusammen-mit und bezogen-auf andere seinesgleichen,⁴¹ also in der Einheit der „Gattung“⁴² darbietet. Bei dieser Differenz handelt es sich um die Differenz zwischen den individuell variierten Ausgestaltungen des Gemeinsamen: eben des Lebens des Menschen, das jeweils das Leben eines menschlichen Ich ist. Kann nun die Rede vom „Psychischen“ ihren realen Referenzpunkt im zu-erkennen Gegebenen in dieser Differenz eines jeden Ichs gegenüber allen anderen seinesgleichen finden? Das wäre nur möglich, wenn die Rede von „Seele“ sich auf das bezöge, wodurch einzelne Menschen von anderen ihresgleichen unterschieden sind. Das aber ist nicht der Fall. Die Rede von „Seele“ und vom Psychischen referiert auf das allen Exemplaren der Gattung Gemeinsame: eben auf das Leben jedes Menschen als
Ps 8,18 ff.; 21,14 f. Ps 22,4 ff.; 33,4 ff. Ps 22,10.33; 23,7; 25,21.24. Ps 3,30 („Wie verhält sich die Seele zum Menschen?“). Ps 18,13 ff. – Für Schleiermacher tritt sie an die Stelle der unbestimmten Fichteschen Unterscheidung zwischen Ich und Nicht-Ich: Ps 18,20 ff. Ps 39,33; 42,1. Ps 44,20 ff. Ps 45,2– 10.
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das Leben eines menschlichen Ich. In diesem Gemeinsamen muss also diejenige Differenz zu-erkennen gegeben (das heißt: real) sein, die der Rede vom Seelischen, dem Logos von der Psyche, der Psychologie, ihren Referenzpunkt darbietet. Auf eine solche Differenz verweist nun die herkömmliche sprachliche Unterscheidung von „Seele“ und „Leib“. Die aber kann nicht einfach so, wie in der Sprache vorfindlich aufgegriffen werden. Vielmehr ist zunächst ausdrücklich zu klären und zu fixieren, auf welche im zu-erkennen gegebenen, also realen Ich-Leben des Menschen (also eines jeden menschlichen Ich) zu-erkennen gegebene (also: reale) Differenz die Rede vom Unterschied zwischen Seele und Leib referiert. Erst und nur dann kann sich sowohl das Wissenwollen vom einen, von dem, was „Seele“ genannt wird, als auch vom anderen,von dem, was „Leib“ genannt wird, auf seinen realen Gegenstand richten und sein gewolltes Ziel erreichen: gemeinsames Wissen vom Psychischen und vom Physischen wie beides in seiner Unterschiedenheit und seiner Bezogenheit aufeinander als Implikat des ihm selbst zu-erkennen gegebenen Menschseins ist. Also: Welche Differenz ist im zu-erkennen gegebenen Realen, das heißt im Leben des menschlichen Ich, impliziert, also ebenfalls zu-erkennen vorgegeben? Welche Differenz, die als realer Referenzpunkt für die Rede vom Leiblichen einer- und vom Seelischen andererseits in Betracht kommt? Jedenfalls keine,welche die Ursprünglichkeit und damit auch die Unauflöslichkeit der Einheit, als die sich das Leben des menschlichen Ich (oder eben: das ichbezügliche menschliche Leben) darbietet, auflöst. Nicht zu-erkennen gegeben ist ein nachträgliches Zusammengesetztsein dieses Ganzen aus ursprünglich selbständigen Komponenten, aus einer, die der Referenzpunkt der Rede vom Leiblichen ist, und aus einer anderen, die der Referenzpunkt der Rede vom Psychischen ist. Im dem jedem Menschen zu-erkennen gegebenen, realen Menschsein nicht zu-erkennen gegeben, also auch nicht real, ist ein Referenzpunkt für die Rede vom Leiblichen, der gegenüber der Referenzpunkt der Rede von irgendetwas anderem, etwa dem Psychischen, ursprünglich selbständig wäre und erst nachträglich mit diesem realen anderen zur Einheit des zu-erkennen vorgegebenen Lebens des Menschen verbunden. Ebenso ist als Referenzpunkt der Rede vom Psychischen nichts zu-erkennen gegeben, was ursprünglich gegenüber dem Referenzpunkt der Rede vom Leiblichen selbständig wäre und erst nachträglich mit diesem zur Einheit des zu-erkennen gegebenen menschlichen Lebens verbunden. Psychisches ist, wenn überhaupt, im realen (zu-erkennen vorgegebenen) menschlichen Leben nur zu-erkennen gegeben (also real) in ursprünglicher Einheit mit dem Physischen, die Seele nur in ursprünglicher Einheit mit dem Leib⁴³ – ebenso wie zugleich Physisches im realen (zu-erkennen vorgegebenen)
Ps 8,14 ff.: „[…] wir haben keinen Grund, irgend etwas von der Seele auszusagen, was sich gar nicht auf das Zusammensein derselben mit dem Leibe bezieht, wie es [dieses Zusammensein: E. H.] das Ich konstituiert“ (auch Ps 32,8).– Damit ist auch die Annahme hinfällig, die Seele sei ein Aggregat von selbständigen „Seelenvermögen“, eine Annahme, die ebenfalls die „Einheit des Ich“ auflösen würde, in der das Seelische allein zu-erkennen gegeben (also: real) ist: Ps 11,10 – 32. Festzuhalten ist „die ur-
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menschlichen Leben nur zu-erkennen gegeben (also real) ist in ursprünglicher Einheit mit dem Psychischen, das „Leib“ Genannte nur in Einheit mit dem „Seele“ Genannten.⁴⁴ Dann aber scheint als das Reale gar nichts anderes zu-erkennen vorgegeben zu sein als „der ganze Mensch“⁴⁵ und nichts anderes möglich zu sein als die „Anthropologie“ im Ganzen.⁴⁶ Dann aber wäre auch der zu-erkennen gegebenen Realität Rechnung zu tragen, dass das menschliche Leben im Ganzen leibhaftes, also „organisches“ Leben, Leben eines „Organismus“ ist,⁴⁷ und so wäre denn die Anthropologie im Ganzen als Physiologie durchzuführen, also eben als ein Teil der „Naturwissenschaften“.⁴⁸ Und zwar der Naturwissenschaften im Sinne der Wissenschaft nicht nur von den Prozessen des Organischen, sondern schon des Anorganischen und des Materiellen überhaupt.⁴⁹ Denn der menschliche Organismus präsentiert sich nur als eine Variation des organischen Lebens der Tiere, das seinerseits nur eine Variation des ihm mit den Pflanzen gemeinsamen organischen Lebens überhaupt ist, welches seinerseits wiederum eingebettet ist in den „mechanischen Prozeß“ des „Massendaseins“,⁵⁰ in dessen „Flüssigkeit“⁵¹ es nur „zufällige“ und in sich selbst unbeständige Einheiten gibt⁵², und in dem sich erst das Organische als „Festes“ mit einem je eigenen inneren Prinzip der Bewegung behauptet,⁵³ und zwar ohne dadurch aus der Einheit des materiellen Prozesses auszuscheiden, der schon als solcher, eben aufgrund der wesentlichen „Modifikabilität“⁵⁴ von Materie, überhaupt niemals Materie an sich, sondern immer nur „bestimmte“ ⁵⁵ Weisen des materiellen Prozesses darbietet und dann schließlich eben auch das Organische als eine solche bestimmte Weise des materiellen Prozesses in seinem Verhältnis zum Anorganischen mit umfasst.⁵⁶ Von diesem Ganzen der Anthropologie als Physiologie müsste Anthropologie als Psychologie nur dann unterschieden werden, wenn sich in dem uns zu-erkennen vorgegebenen Realen, also in dem Leben des menschlichen Ich, irgendein Lebensprozess darbieten würde, der nicht hinreichend durch den materiellen Prozess besprüngliche Einheit von Leib und Seele und die ebenso ursprüngliche Einheit von allem, was wir in der Seele selbst unterscheiden.“: Ps 12,1– 4. Ps 7,1 ff.: „[…] wir vermögen aber nicht Seele zu denken ohne auf Leib zurückzugehen, und ebenso hört auch in unserer Sprache der Gebrauch des Ausdrucks Leib sogleich auf, sobald wir von der Seele absehen.“ Vgl. auch Ps 7,31 ff.; 23,15 f.; 34,1. Ps 21,32– 22,4; 23,13 ff. Ps 22,4 f. Ps 5,25 f.; 22,9; 28,6 ff.; 29,30 – 30,12. Ps 22,4– 9. Ps 27,22– 28,19. Ps 27,24– 28,6. Ps 30,6. Ps 27,35 – 28,6. Ps 30,3 – 12. Ps 29,31. Ps 29,33. Ps 29,30 – 30,12; 37,33 – 38,6.
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dingt, also nicht durch diesen selbst hervorgebracht ist. Wenn alle uns zu-erkennen vorgegebenen Tätigkeiten des Ich „vermöge des organischen in seiner Identität mit dem Massendasein in dem Menschen wären, so hätten wir kein Recht (so wäre es nicht realitätsgerecht: E. H.) sie von den physiologischen (gemeint: den physischen Prozessen, die Gegenstand der Physiologie sind: E. H.) zu sondern.“⁵⁷ Nun aber bietet sich uns in dem Leben des menschlichen Ich, das uns von sich aus (eben vermöge der unmittelbaren Selbsterschlossenheit von Ich) zu-erkennen gegeben ist, wirklich ein Tätigsein des Ich dar, das obzwar notwendig (immer auch) bedingt durch den organischen, und das heißt letztlich: den materiellen Prozess, dennoch nicht hinreichend (also ausschließlich) durch ihn bedingt ist, sondern hinreichend erst durch das Ich selbst,⁵⁸ sofern sich dessen Leben nicht nur als materielle, sondern damit zugleich immer auch als „geistige Tätigkeit“⁵⁹ vollzieht.⁶⁰ Indem uns das Leben des menschlichen Ich von sich aus (eben vermöge der unmittelbaren Selbsterschlossenheit von Ich) zu-erkennen vorgegeben ist, ist uns also auch zu- erkennen vorgegeben, dass sich das Leben dieses Ich ebenso wie im Leben der Materie zugleich auch im Prozess des Geistes vollzieht.⁶¹ Und ebenso wie uns das Leben des menschlichen Ich, das uns von sich aus zu-erkennen gegeben ist, zu-erkennen gibt, dass der Prozess der Materie nicht an das Leben des Menschen gebunden ist, sondern weit hinter dieses zurückreicht, also ihm gegenüber ein selbständiges ist, so gibt es uns auch zu-erkennen, dass das Leben des Geistes ebenfalls ein gegenüber dem menschlichen Leben selbständiges ist, nicht an das Leben des Menschen gebunden, sondern – zumindest möglicherweise – weit über es hinausreicht.⁶² Dabei sind die Wesenszüge dieses Lebens, dieses Tätigseins des Geistes, das uns – ebenso wie die Wesenszüge des Prozesses der Materie – am Leben des menschlichen Ich zu-erkennen gegeben ist⁶³, weil dieses an ihm teilhat: Selbstbewusstsein ⁶⁴ (und zwar unmittelbares,
Ps 28,32– 29,2. – Das liefe auf die Behauptung des anthropologischen „Materialismus“ hinaus, „daß alle Tätigkeit, die wir der Seele zuschreiben, doch dem Leibe zukomme, an bestimmte Zustände der Materie nicht allein gebunden, sondern auch in ihnen begründet sei, und daß also alles geistige in seinem Bestande und Grunde ein materielles sei“: Ps 9,23 – 27. Ps 25, 8 ff.: „Unterschied […] zwischen solchen Tätigkeiten der Seele, welche sie verrichtet vermittelst des Leibes und solchen, die sie verrichtet durch sich selbst“. Ps 25,14; 29,3.20. Ps 25,14: Gleichsetzung der Referenz von „geistige Tätigkeit“ mit der von „Tätigkeit der Seele ohne den Leib“, also „von sich aus“, also nicht hinreichend bedingt durch den materiellen Prozess. Insofern kann Schleiermacher den Geist als den größeren „Ort“ bezeichnen, an dem das Leben des Ich sich vollzieht: Ps 42,1. Ps 25,15 – 18; 27,2 ff.; 29,8 – 13; 58,10 ff. – Nota bene: Schleiermacher hat an diesen Stellen das in-Weltund-Geschichte-Sein des Geistes im Blick (wie an den unten Anm. 70 genannten Stellen). Für die Schleiermachers Rede von „Geist“ gilt dasselbe wie für seine Rede von „Seele“ und „Leib“: Schleiermacher findet die Ausdrücke als Begriffe in der Sprache vor (in der allgemeinen Bildungssprache und in der philosophischen Fachsprache), nimmt sie aber nicht einfach in dieser tradierten Meinung auf, sondern nur in derjenigen Bedeutung, welche sich aus der Fixierung ihres Referenzpunktes im zu-erkennen Gegebenen, dem menschlichen Ich-Leben, und aus der Erfassung der zuerkennen gegebenen Eigenart dieses Referenzpunktes selbst ergibt. Ausschließlich in der Bezogenheit
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noch nicht entwickeltes Bewusstsein als Möglichkeitsgrund und Boden von „entwickeltem“,⁶⁵ mittelbarem Selbstbewusstsein), selbstbewusste „Selbsttätigkeit“⁶⁶ (Tätigkeit „durch sich selbst“⁶⁷), und zwar selbstbewusste durch die „Ideen“ des „Wahren“ und des „Guten“⁶⁸ geleitete Selbsttätigkeit, also selbstbewusstes prinzipiengeleitetes wirksames Wollen.⁶⁹ Damit ist klar: Das uns zu-erkennen gegebene Leben des menschliche Ich gibt uns nicht nur seinen ursprünglichen und durchgehenden Charakter als organisches, sondern ebenso seinen davon unterschiedenen, aber ebenso ursprünglichen und durchgehenden Charakter als geistiges Leben zu erkennen; nicht nur sein physisches, sondern auch sein damit gleichursprüngliches psychisches Wesen. Ist mit dem Leben des Ich das Leben des Leibes zu-erkennen gegeben als Leben im Prozess der Materie,
auf diesen Referenzpunkt im zu-erkennen Gegebenen, also im menschlichen Leben, ist die Rede vom „Geist“ Rede von etwas Realem: „Was wir Geist nennen ist uns nur im Menschen gegeben, und alle anderen Arten von Geistern sind problematisch („problematisch“ heißt, nota bene, wie wir gleich sehen werden nicht: unmöglich). Darin würde nun schon liegen, daß der Ausdrukk auf dem menschlichen Gebiete und bei der Beobachtung des menschlichen Lebens müsse entstanden sein“ (Ps 24,28 – 32). Und worin besteht dasjenige Implikat im uns zu-erkennen gegebenen Ich-Leben von Menschen, das als der spezifische Referenzpunkt für die Rede von „Geist“ in Betracht kommt? Schleiermachers Antwort: Es besteht in einer Differenz in den Tätigkeiten des Ich, nämlich in der Differenz zwischen solchen „Tätigkeiten“, die verrichtet werden „vermittelst des Leibes“, und solchen Tätigkeiten, die von Ich verrichtet werden „durch sich selbst“, „und diese letzteren stehen dann in einer besondern Beziehung zu dem, was durch den Ausdrukk Geist bezeichnet werden soll. So könnten wir vorläufig ziemlich adäquat sezen die beiden Ausdrükke ‚Tätigkeiten der Seele ohne den Leib‘ und ‚geistige Tätigkeiten‘ (dieser Unterschied wird an anderen Stellen beschrieben als Unterschied zwischen Tätigkeiten von Ich, die zwar durch die Leiblichkeit von Ich „bedingt“, aber dadurch nicht „begründet“ [Ps 9,23 – 27], also nicht „vermöge“ des organischen [und damit letztlich des materiellen] Prozesses real sind [Ps 28,33]) und ist das einmal angenommen, so läge auch die Möglichkeit darin, daß diese Tätigkeiten statthaben könnten ganz abgesehen von der Identität des Leibes und wenn das wäre, so wäre es nicht mehr Seele, die sich immer auf den Leib bezieht, sondern Geist“ (Ps 25,8 – 18). So betrachtet ist die Tätigkeit von menschlichem Ich dann eben „eine (Kursivierung E. H.) Art und Weise des Seins des Geistes, oder auch, wenn wir darauf sehen, daß sie eben dadurch zu einer Zeit an das organische als äußerliches gegebenes gebunden ist, eine (Kursivierung E. H.) Erscheinung des Geistes in Verbindung mit dieser Organisation.“ (Ps 30,33 – 31,3). Das aber schließt ein, dass das, was an dieser einen Weise des Geistes mit der Organisation verbunden zu sein, eben mit der menschlichen Organisation, als das typisch Geistige zu-erkennen gegeben ist, auch für alle anderen Weisen des Lebens des Geistes in der Welt, die möglich sind, gilt. Ps 41,36: Die „allgemeine Formel für alle rein geistigen Veränderungen“ ist die des „sich seiner bewußten“ Lebens. Deshalb ist dann auch „Bewußtsein“ „der Centralpunkt, die Art und Weise des Geistes zu sein in der Einheit mit der Organisation“: Ps 35,33 ff. Ausgeschlossen ist, dass das „Sein in der Organisation“ der hinreichende Grund dafür wäre, dass das Sein des Geistes „Bewußtsein“ wird. Ps 44,25. Ps 47,25; 48,28. Ps 25,9 – 18. Ps 25,25 – 35; 30,26; 44,10 – 16. Ps 48,30 ff. (manifestiert sich das Leben des Geistes im Menschen als Wollen, so eignet ihm dieser Zug an sich).
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so ist mit ihm zugleich das Leben der Seele auch als Leben in der Tätigkeit des Geistes zu-erkennen gegeben. Mit dem Leben des Ich ist uns zu-erkennen gegeben (also als realer Gegenstand eines Wissenwollens dargeboten) nicht nur das Leben des Leibes, sondern auch das Leben der Seele, das seinerseits nichts anderes ist als eine besondere Weise des Lebens des Geistes, nämlich die Weise seines Lebens in Verbindung mit dem menschlichen Organismus: Das Seelische „ist nichts anderes als […] eine (Kursivierung E.H.) Art und Weise des Seins des Geistes“, die eben kraft dieser ihrer Besonderheit, an das Organische gebunden zu sein, zugleich „eine Erscheinung des Geistes in Verbindung mit dieser Organisation“ ist.⁷⁰ Eben dies ist der reale Grund dafür, dass die ganze Anthropologie nicht nur als Physiologie, sondern auch als Psychologie durchzuführen ist. Dabei haben es beide Disziplinen eben nicht mit je einem Teil des Menschseins zu tun, der vom anderen zu trennen wäre, und bieten daher auch nicht etwa jeweils ein „Segment“⁷¹ der Anthropologie, sondern beide jeweils die ganze Anthropologie unter je verschiedenem Gesichtspunkt: „Die Psychologie ist nichts anderes als die ganze Anthropologie aus dem Gesichtspunkt des Geistes betrachtet, ebenso wie die Physiologie dasselbe umgekehrt ist von dem des Leibes aus angesehen“.⁷²
Und dabei wird jede die „ganze Anthropologie“ nur bieten können, wenn sie auch die den Unterschied überspannende „Einheit des [menschlichen: E. H.] Lebens“ festhält, also das Psychische nur als wesentlich, konstitutiv und durchgehend, bedingt durch das Organische und dieses nur als wesentlich, konstitutiv und durchgehend, bedingt durch das Psychische betrachtet. Das heißt dann erstens: Die Physiologie richtet sich auf das menschliche Leben als einen besonderen, eigengearteten, organischen Prozess, nämlich auf diejenige Weise des materiellen Prozesses, die wesentlich bedingt ist durch das Leben des Geistes, das in ihm daher auch immer schon, wenigstens „minimal“, manifest ist.⁷³ Sie richtet sich auf die menschliche Organisation als diejenige, welche schon als solche „Darstellung des Geistes“ ist, der ihr, der Organisation, „als Seele einwohnt“.⁷⁴ Somit ist der Physiologie des menschlichen Lebens zwar die Einheit von Rezeptivität und Spontaneität, die schon allem Organischen als solchem einwohnt,⁷⁵ zu-erkennen gegeben, aber im Falle des menschlichen Organismus eben als eine solche, in der das Leben des Geistes (also das Wollen⁷⁶) immer schon, wenigstens minimal, mitwirksam ist.⁷⁷
Ps 30,31– 31,3. So eine vorläufige Formulierung: Ps 22,14. Ps 33,4– 7. Ps 32,12. Ps 48,7 f. Ps 43,4– 33. Geistige Tätigkeit gleich „Wollen“: Ps 36,24; 48,31 f. Ps 36,17 ff.
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Umgekehrt richtet sich die Psychologie auf das menschliche Leben als auf eine besondere, eigengeartete, Gestalt des Lebens des Geistes, nämlich diejenige, die gebunden ist an (und somit wesentlich bedingt durch) eine besondere, eigengeartete Gestalt des materiellen Prozesses, eben durch das Leben des menschlichen Organismus, der in jeder geistigen Tätigkeit, also in aller Selbsttätigkeit des Willens, ebenfalls immer schon, wenigstens „minimal“, mitwirksam ist.⁷⁸ Somit ist der Psychologie zwar die für alles geistige Leben wesentliche Selbsttätigkeit, also das Wollen, zu-erkennen gegeben, aber eben nur in deren überhaupt durch den menschlichen Organismus⁷⁹ und darum auch durch dessen lebenszyklisch⁸⁰ und gattungsgeschichtlich⁸¹ wechselnden Zustände bedingten Weise. Zu-erkennen gegeben ist diese Wechselbedingung zwischen dem Organischen und dem Geistigen also als eine solche, die durchgehend ist, aber zugleich auch durchgehend asymmetrisch: In der uns zu-erkennen gegebenen Einheit des menschlichen Lebens ist uns nämlich der materielle Prozess nie an sich, sondern immer nur als „bestimmter“ zu-erkennen gegeben,⁸² hingegen das Prozedieren des Geistes als das von sich selbst aus tätige und bestimmende. Und das heißt: Das Zusammensein des organischen und des geistigen Prozesses in der Einheit des menschlichen Lebens (des Lebens des menschlichen Ich) bietet sich uns als ein solches dar, in welchem das geistige Leben den „Primat“ hat⁸³ und die Bewegung des organischen bestimmt.⁸⁴ Soweit die Klärung und Fixierung dessen, was uns innerhalb des Lebens des menschlichen Ich, also innerhalb des uns und unseresgleichen zu-erkennen gegebenen Realen, als der besondere Gegenstand der Psychologie zu-erkennen gegeben ist. Eben dieser ihr spezifischer Gegenstand unterscheidet die Psychologie dann auch von anderen wissenschaftlichen Erkenntnisvorhaben. Nämlich einerseits vom Erkenntnisvorhaben der Physiologie: Diese richtet sich – als eine gegenstandsbezogene Variation der Physik⁸⁵ – auf die im „universellen Prozeß“ der Materie ablaufenden Prozesse, durch die jeder menschliche Organismus seine individuelle Selbständigkeit in diesem universellen Prozess gewinnt und erhält.⁸⁶ Im Unterschied hierzu richtet sich das Erkenntnisvorhaben der Psychologie auf diejenige Gestalt des Lebens des Geistes, welche gebunden ist an das Leben des menschlichen Organismus. Freilich richtet sie sich auf dieses organismusgebundene Leben des Geistes, wie es sich in jedem ein-
Ps 48,8 ff. Ps 30,31– 31,3; 41,26 – 42,1. Etwa Ps 38,32– 40,9; 40,10 – 41,25; 41,26 – 44,17; 44,29 – 50,29. Ps 44,29 – 47,17 (bes.45,2– 10); 56,33 – 57,29. Ps 28,14– 19; 29,31– 30,12. Ps 31,30 – 34. Ps 34,4 f.12 ff.: Der „Geist“ ist „das den Organsimus bewegende“. Ps 29,28 – 30,12; 37,33 – 38,8; 40,11– 41,4; 45,12– 29. Ps 30,3 – 12; 37,32– 38,8.
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zelnen,⁸⁷ mit seinesgleichen zusammenlebenden⁸⁸ menschlichen Individuum und in dem Verlauf seines individuellen Lebens darbietet, nicht aber auf das Leben des Geistes, wie es sich im Leben der menschlichen Gattung und ihrem Verlauf zu-erkennen gibt, und unterscheidet sich dadurch vom Erkenntnisvorhaben der Ethik⁸⁹, die eben auf dieses Tätigsein des Geistes im Leben der Gattung gerichtet ist. Ebenso wie diese beiden Disziplinen und gemeinsam mit ihnen bewegt sich also auch die Psychologie auf dem Boden von Anthropologie, in deren Rahmen und unter der für diese insgesamt geltenden Möglichkeitsbedingung: nämlich dem von sich aus zu-erkennenGegebensein des Lebens des menschlichen Ich, das im Geistcharakter dieses Ich gründet, der ihm zugleich mit seinem Leibcharakter eignet und sich, im Lichte ursprünglicher Selbsterschlossenheit, als ideengeleitete Selbstbestimmung vollzieht. Wie aber verhält sich das Erkenntnisvorhaben Psychologie zu denjenigen Erkenntnisvorhaben,welche auf „Welt“⁹⁰ und auf deren Grund, das „Sein schlechthin“,⁹¹ gerichtet sind? Schleiermacher spricht diese Erkenntnisvorhaben als „speculativ“⁹² an. Damit bringt er zum Ausdruck, dass sie nicht nur von der Anthropologie und ihren beiden gleichursprünglichen Spielarten unterschieden, sondern dass sie überhaupt nicht in den Bereich des gewollten Wissens fallen, welches – wie das Wissen der Psychologie und der Physiologie – von der Seele selbst, gestützt auf die Organisation⁹³ gewollt und erzeugt wird und das sich in der zunehmenden Durchdringung der apriorischen und aposteriorischen Sicht auf das Leben aufbaut.⁹⁴ Vielmehr fallen der Horizont von „Welt“ und der Horizont ihres Grundes, des „Seins schlechthin“⁹⁵ in den Bereich des Gegenstands der Psychologie, also in den Bereich des geistigen Lebens des menschlichen Ichs, das (und zwar eben als eine „Erscheinung“ des Geistigen in Verbindung mit der Organisation, also an der Einheit des menschlichen Lebens) der Psychologie als ihr spezifisches Erkenntnisobjekt zu-erkennen gegeben ist (sich ihr „darbietet“). Die Horizonte von „Welt“ und ihres Grundes, des „Sein(s) schlechthin“ gehören zu den „Prinzipien“⁹⁶ der geistigen Tätigkeit, die das menschliche Ich unter Hinzunahme der menschlichen Organisation vollzieht, also seines Symbolisierens und Organisierens,⁹⁷ seines Erkennenwollens⁹⁸ und Gestaltenwollens.⁹⁹ Und dabei
Ps 38,23.29; 42,1. Ps 44,20 – 45,10; 45,30 – 50,29. Ps 38,21– 32 (die Ethik „abstrahiert von dem einzelnen Leben“); vgl. auch Ps 57,30 – 58,20; 497,9 – 14. Ps 197,23. Ps 197,23. Ps 57,33; 58,6.20; vgl. auch 46,28 – 32. Ps 25,30 – 32. Ps 12– 20. Ps 197,23. Ps 25,25 – 34. Ps 25,32 f. Ps 75 – 216. Ps 216 – 286.
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bezeichnet die Rede von „Welt“¹⁰⁰ näher hin die „Idee“ der Einheit des Möglichkeitsraumes, in dem der Mensch in der Einheit mit seiner Organisation geistig tätig sein, also symbolisieren und organisieren, wissenwollen und gestaltenwollen kann, also die Idee dessen, was die Spätfassung der Vorlesung über Dialektik den „terminus ad quem“ allen gewollten Wissens und Wirkens, also allen Lebens in der asymmetrischen Wechselwirkung von geistiger und organischer Tätigkeit, bezeichnet,¹⁰¹ während die Rede vom „Sein schlechthin“, also vom absoluten Sein, die Idee des Grundes von Welt als dem Möglichkeitsraum allen wahren Wissens und erfolgreichen Wirkens¹⁰² bezeichnet, also die Idee dessen, was die Vorlesung über Dialektik den „terminus a quo“ allen gewollten Wissens und Wirkens bezeichnet (also allen Lebens in der asymmetrischen Wechselwirkung von geistiger und organischer Tätigkeit).¹⁰³ Dass diese „Ideen“ die „Prinzipien“ des Ich-Lebens als eines geistigen Lebens in Einheit mit dem organischen sind,¹⁰⁴ besagt, dass sie zwar erst im Laufe des leibhaften, sich in organisationsbedingter Wechselwirkung mit Umwelt vollziehenden, Lebens des Ich mit zunehmender Klarheit hervortreten, jedoch – das ist das Wahrheitsmoment in der überlieferten Behauptung ihres Angeborenseins – für den Geistcharakter des IchLebens konstitutiv sind, also dieses schon von Anfang an in seinen elementarsten Vollzügen leiten,¹⁰⁵ nämlich schon in seiner geistigen Rezeptivität, die sein Denken und Wirken basiert, also in seinem Fühlen (will sagen einem elementaren „Bewußtsein“ in dessen Duplizität als objektives und subjektives Bewusstsein, Objektbewusstsein und Selbstbewusstsein¹⁰⁶). Also: Die Ideen der „Welt“ und des „Seins schlechthin“ sind die realen, zu-erkennen vorgegebenen Prinzipien allen Wissenwollens (und Wirkenwollens). Als solche sind sie überhaupt kein Produkt oder Resultat irgendeines gewollten Wissens, sondern eben die allem gewollten Wissen zu-erkennen vorgegebenen, alles gewollte Wissen ermöglichenden realen Konstituentien der realen Geistigkeit des Lebens des menschlichen Ich, das eben kraft dieses seines eigenen Geistcharakters ihm selbst zuerkennen vorgegeben ist. Diese realen, zu-erkennen vorgegebenen konstituierenden Prinzipien der Geistigkeit des Lebens von Ich, werden von diesem Ich in der absichtlichen, gewollten Selbsterkenntnis dieses Geistcharakters seines leibhaften Lebens erkannt, also in der Psychologie. Und zwar eben als die realen Prinzipien des Geistcharakters des leibhaften Ichlebens, nämlich als die Ideen, die sein bewusstes Wissen- und Wirkenwollen auf allen Stufen und in jeder gegenstandsbezogenen
Ps 177,20; 197,23; 201,1; 203,30. Dial (das Sigel bezeichnet: F. Schleiermachers Dialektik, hg. von R. Odebrecht, 1942, Neudruck 1976) 306,11 f. Dial 48,15d.; 94,21 ff.; Ps 212,27. Dial 307,18 ff. Ps 44,10 – 16. Ps 44,10 – 16. Ps 76 – 182 (Aufnehmende Tätigkeit: objektives Bewusstsein); 182– 216 (Aufnehmende Tätigkeit: subjektives Bewusstsein).
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Ausrichtung de facto leiten. Als solche sind sie der Selbsterkenntnis des leibhaften IchLebens des Menschen, also der Anthropologie, zu-erkennen gegeben und als solche werden sie planmäßig erkannt und gewusst von demjenigen Vollzug von Anthropologie, der sich auf den Geistcharakter dieses leibhaften Ich-Lebens richtet und deshalb von Schleiermacher „Psychologie“ genannt wird. Diese – die Psychologie – ist es also, die die Ideen von „Welt“ und vom „Sein schlechthin“ als Implikate des ihr zu-erkennen vorgegebenen Geistcharakters des leibhaften Ich-Lebens, eben als die konstituierenden Prinzipien dieses Geistcharakters des Ichlebens, erkennt. Und somit ist auch sie – die Psychologie – es, welche die Möglichkeitsbedingungen von schlechthin allem Wissen, also von aller expliziten Anthropologie, zum Inhalt eines expliziten Wissens macht, also nicht nur die Möglichkeitsbedingungen ihrer selbst, der Psychologie, sondern ebenso auch die Möglichkeitsbedingungen der Physiologie. 3. Dann aber fragt sich, welche explizite Kontur die Ideen der Welt und ihres Grundes (des „Seins schlechthin“) gewinnen, wenn sie in der Psychologie als die realen, zu-erkennen vorgegebenen, Konstitutentien der realen, zu-erkennen vorgegebenen Geistigkeit unseres leibhaften Ich-Lebens gewusst und zur Sprache gebracht werden – also welche Gewusstseinsgestalt sie in Schleiermachers Psychologie annehmen. Dieser Frage möchte ich mich zum Schluss des exegetischen Teils meines Beitrags kurz zuwenden. 3.1. Die Gewusstseinsgestalt der Idee von Welt, die in der Psychologie als Wissen von einem in dem realen, zu-erkennen vorgegebenen geistigen Leben des menschlichen Ich realen, zu-erkennen gegebenen wirksamen Prinzip zu erreichen und vorzutragen ist, kann man durchaus „Kosmologie“¹⁰⁷ nennen. Allerdings: Diese „Rede von Welt“ bringt – das ist nach dem Gesagten klar – nichts Gewusstes von der Art zur Sprache, wie es in der „Anthropologie“ und ihren beiden sich gegenseitig auf unterschiedliche Weise einschließenden Spielarten der „Psychologie“ und der „Physiologie“ (der „Rede vom geistigen Leben in der Verbindung mit dem materiellen Prozeß“
Ps 41,5 – 14 kommt Schleiermacher auf die Möglichkeit von „Kosmologie“ zu sprechen. Diese wäre Rede über das Bedingungsganze, innerhalb dessen die Entstehung der im Menschsein realen Einheit von Leib und Seele möglich und real ist. Diesen Raum fasst Schleiermacher aber nur in den Blick, um ihn aus dem Umkreis der psychologischen Untersuchung auszuschließen: Der in der Psychologie gelieferte Beitrag zur Anthropologie spricht über das entstandene Menschsein und nicht über das Entstehen des Menschseins. Folglich kommt für den Beitrag der Psychologie zur Anthropologie auch ein „Zurückgehen“ „auf einen ersten problematischen Menschen“ nicht in Betracht: Ps 41,14– 25. – In den Bereich des Gegenstandes der Rede über „Welt“, also über den Möglichkeitsraum der das Menschsein begründenden Einheit des Materiellen (in seiner Bestimmtheit als Organisches) und des Geistigen, gehören auch die Gegenstände der Rede über „Materie“ und „Geist“ als die Konstituentien des Menschseins vor ihrem und unabhängig von ihrem Einssein in diesem, etwa: Ps 25,5 – 18; 29,3 – 28; 29,28 – 30,12; 30,12– 31,3; 58,10 – 12; 495,36 ff. Dasselbe gilt für den Gegenstand des Diskurses über „Materialismus“ und „Spiritualismus“ (Ps 9,16 – 10,12; 31,4– 29): auch das ist der (im „metaphysischen“ [Ps 9,20 f.] Diskurs thematisierte) Möglichkeitsraum des Einswerdens von Materiellem und Geistigem im Menschsein. Eben diesen Möglichkeitsraum thematisieren auch die Erwägungen Schleiermachers über ein Einssein des Geistes mit dem Materiellen, das über das Menschsein hinausgeht: Ps 27,2– 10; 29,8 – 27.
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und der „Rede vom materiellen Prozeß in Verbindung mit dem geistigen Leben“) zur Sprache kommt. Gleichwohl kann man nicht sagen, dass es bei Schleiermacher keine Kosmologie, keine Rede über die Welt gäbe. Vielmehr gibt es sie – und zwar als Rede über den unverzichtbaren Horizont des Gegenstandes seiner Rede über das Psychische. Denn die Psychologie beschreibt die ihr zu-erkennen und also auch zu-beschreiben gegebene Geistigkeit des leibhaften Lebens von Ich,welches seinerseits kraft seiner Geistigkeit ihm selbst – eben damit aber auch der Psychologie – in seiner realen Eigenart zu-erkennen gegeben ist und das heißt: gegeben im Horizont seiner Welt und bezogen auf deren Grund: Ihm selbst in seiner Eigenart zu-erkennen gegeben (vermöge seiner Geistigkeit) ist das Leben, indem es ihm erscheint, und es erscheint ihm, indem es ihm präsent ist als Exemplar im Horizont von möglichem anderem – schon realem oder noch als real ausstehendem anderem – Gleichartigem, und eben das heißt: indem es ihm im Horizont seiner „Welt“ präsent ist. Anthropologie als Psychologie ist möglich, weil das menschliche Ich-Leben in der Einheit der asymmetrischen Wechselbedingung von geistigem Leben und materiellem Prozess als Exemplar im Horizont von anderem möglichem Gleichartigem erscheint, also in eine ganze „Welt“ gestellt ist¹⁰⁸. Was umfasst diese „Welt“? Zunächst auf jeden Fall die Sphäre, in der jedes Ich sich mit allen möglichen seinesgleichen als der ihm mit ihnen allen gemeinsamen vorfindet, also die Sphäre der Gattung. Die Thematisierung dieser Sphäre geht insofern über die Psychologie hinaus, als diese das in jedem möglichen einzelnen Ich gegebene Einssein von Organischem und Geistigem unter dem Primat des Geistigen zu erfassen strebt.Wie sich im Gattungsleben der Primat des Geistigen darstellt, ist Gegenstand der Ethik.¹⁰⁹ Aber der von Schleiermacher als „Welt“ angesprochene Möglichkeitsraum umfasst über den Möglichkeitsraum des menschlichen Lebens, den Möglichkeitsraum der Geschichte, hinaus mehr, nämlich eben auch den – die menschliche Geschichte übergreifenden – Raum, in dem das Zusammentreten von Materiellem und Geistigem möglich ist, in dem also auch das Materielle und das Geistige vor und unabhängig von ihrem Vereintsein im Menschen real sind.¹¹⁰ Zu ihm gehört also alles von Menschen überhaupt Erkennbare, auch das Materielle vor und unterhalb des durch das Zusammensein mit dem Geistigen konstituierten menschlichen Organismus;¹¹¹ ja, alle möglichen Formen materieller Organisation, mit dem sich das Geistige einigen könnte – über das Menschsein hinaus.¹¹² Das Psychische, also das Geistige in seiner Einheit mit der menschlichen Organisation ist eben nur „eine Erscheinung des Geistes“ im Organischen, nur „eine einzelne Form der Erscheinung des Geistes auf der Erde“,¹¹³
Und zwar „vermöge ihrer Einheit mit dem Leibe“: Ps 47,21; 58,13 f. Vgl. oben Anm. 88. Vgl. oben Anm. 106. Ps 26,32– 27,2; 27,16 – 28,19. Ps 29,19 f. Ps 58,13 f.; vgl. auch Ps 30,31– 31,3; 39,11.
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nämlich diejenige, in welcher er in Verbindung mit dieser menschlichen Organisation erscheint und die somit von sich aus zu-erkennen gegeben ist als eine solche, die einerseits viele andere unter sich hat, aus denen sie geworden ist, und andererseits im weiteren Werden viele mögliche andere über sich. Unter sich (hinter sich) hat sie nicht nur alle Gestalten des tierischen Lebens, des pflanzlichen Lebens und des Organischen überhaupt,¹¹⁴ sondern auch schon des Materiellen, sofern dieses sich uns nirgends „an sich“ präsentiert, sondern immer nur als ein schon so oder so „bestimmtes“,¹¹⁵ und zwar nicht durch sich selbst sondern eben durch den Geist. So dass „wir Ursache haben, wie überall Materie gegeben ist, auch überall Geist vorauszusetzen“¹¹⁶ – nämlich Geist, der zwar keiner dieser früheren Erscheinungen seiner selbst Anteil gibt an seiner Selbsterschlossenheit und Selbsttätigkeit (die ist ausschließlich im menschlichen Leben gegeben¹¹⁷), wohl aber schon in diesen allen das tut, was er exemplarisch in seiner Einheit mit unserem Organismus tut, nämlich für uns zu „erscheinen“,¹¹⁸ sich in ihnen für uns „darzustellen“.¹¹⁹ Und über uns hinaus sind uns zwar keine Manifestationen des Geistes im Materiellen bzw. Organischen gegeben,¹²⁰ aber – sofern man den „Geist an sich“¹²¹ als „das gemeinsame Prinzip aller solcher geistigen Tätigkeiten denkt, möchten die Subjecte auch ganz andere sein als der Mensch“¹²² – sind doch auch solche über uns hinausliegende Manifestationen des Geistes im Materiellen nicht als in Zukunft unmöglich auszuschließen.¹²³ In dieser Welt, in diesem Möglichkeitsraum des Zusammenseins von bestimmbaren und bestimmten materiellen Prozessen und bestimmender Tätigkeit des Geistes, das als solches ein materiell bedingtes, aber geistig bestimmtes und insofern zielstrebig gerichtetes Zusammensein ist, findet sich die besondere menschliche Gestalt des Zusammenseins vor. Diese Welt ist der Möglichkeitsraum allen Wissen- und Wirkenwollens von Ich überhaupt, also von geistiger Tätigkeit in Gebundenheit an materielle Prozesse menschlicher und möglicherweise auch anderer Art. 3.2. Näher hin aber ist Welt auch der Möglichkeitsraum eines wahren Wissenwollens sowie eines erfolgreichen Wirkenwollens von Ich. Dieser Charakter eignet Welt, weil sie als ganze eben eine Manifestation des „Seins schlechthin“¹²⁴ ist, nämlich
Ps 27,2 ff. Ps 28,12– 19; 29,31– 33. Ps 58,15 f.; vgl. auch 38,11 ff. Ps 29,5 ff. Alle Wendungen, die vom „Erscheinen“ des Geistes in Verbindung mit der menschlichen Organisation reden – Ps 31,2; 39,11 ff.; 47,21 – sind offenkundig exemplarisch gemeint. Von der Selbstdarstellung des Geistes schon in der menschlichen Organisation spricht Ps 48,6 – 8. Auch das schwebt Schleiermacher als ein möglicherweise exemplarischer Sachverhalt vor: Ps 34,12– 29. Ps 27,5. Ps 38,12. Ps 29,19 f. Ps 27,6 – 10. Ps 197,23.
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des von sich aus selbsttätig das materielle Sein bestimmenden, also geistigen Seins.¹²⁵ Im Konstituens des psychischen Lebens des Menschen, seiner Geistigkeit, ist also zugleich mit der Idee der Welt auch die Realität der Idee ihres Grundes real und wirksam,¹²⁶ kraft dessen sie der Möglichkeitsraum von wahrem Wissen und erfolgreichem Wirken ist.¹²⁷ 3.3. Beide Ideen gewinnen erst im entwickelten Selbstbewusstsein ihre bestimmten Gewusstheitsgestalten, sie sind aber ihrem Gewusstsein zu-erkennen vorgegeben: Sie sind die realen Konstituentien des Geistcharakters des Lebens des Menschen als eines Ich und daher real schon in der elementaren, unmittelbaren Gestalt des menschlichen Bewusstseins in seiner asymmetrischen Duplizität als objektives und subjektives Bewusstsein, Anschauung und Gefühl, in der das Subjektive, das Gefühl basal ist, und zwar genau in seiner Bestimmtheit als religiöses Gefühl.¹²⁸ Denn in seinem Selbstgefühl ist das Ich sich präsent als bezogen „auf ein anderes“,¹²⁹ und zwar als jeweils einzelnes leibhaftes Ich („Einzelwesen“) „auf das ganze uns zugewandte Außeruns“¹³⁰. Dieses ist auf jeden Fall die Natur¹³¹ in ihrer Schönheit¹³² und Erhabenheit,¹³³ einschließlich der menschlichen Gestalt, „als Manifestation des Geistes in der Natur, indem wir die ganze plastische Kraft in der geistigen inhärirend“ ¹³⁴ finden. Eingeschlossen ist aber auch das Gattungsgefühl, auf dessen Boden es steht¹³⁵ und zu dessen Entwicklung es beiträgt.¹³⁶ Dieses Gefühl ist ein „sich selbst einem anderen untergeben finden, ein in der Unerschöpflichkeit des Gegenstandes gleichsam untergehen und doch wieder von demselben angezogen werden. Es ist ein sich verlieren in das unendliche, mit dem Bewußtsein verbunden, daß hier eine jede Reaction völlig unstatthaft ist“¹³⁷. Eingeschlossen in diesem Gefühl des Einzelnen auf das gesamte Außer-ihm ist aber das Gefühl des Einzelnen als Exemplar seiner Gattung. Und das heißt: Diese religiöse Bestimmtheit des Selbstgefühls des leibhaften Ich vereinzelt es nicht, sondern steht selbst im Horizont des Gattungsfühls und wird daher von diesem beeinflusst und beeinflusst es seinerseits: Ps 58,10 – 16; vgl. schon 25,12– 18. Zur Wirksamkeit der Ideen im geistigen Leben vgl. Ps 30,24– 31; 495,16 – 19. Diese Qualität von Welt kommt besonders klar im transzendentalen Teil der Dialektik heraus: Welt ist der terminus ad quem allen wahren Wissens, das als solches, eben wahres, die Möglichkeitsbedingung von allem erfolgreichen Wirken ist. Dazu vgl. E. Herms, Religion und Wahrheit bei Schleiermacher, in: F. Hermanni u. a. (Hgg.), Religion und Religionen im Deutschen Idealismus, 2015, 85 – 106, bes. 92, Anm. 32. Ps 197,6 – 26. Ps 198, 10 f. Ps 198, 26 f. Ps 199, 6; 202,3 ff.;203,7 ff.; 213,24. Ps 198,18 f. Ps 209 ff. Ps 201,20 – 22. Ps 211 ff. Ps 192. Ps 211,27 ff.
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„In dem religiösen Gefühl ist also ein Zusammenfassen des Naturgefühls und des geselligen Gefühls […] und wenn wir die natürliche Richtung, die darin liegt, bezeichnen sollen, so ist es die auf die Aufhebung des Gegensatzes zwischen dem Sein,wie es zugleich Bewußtsein ist, und dem Sein, wie es im Bewußtsein gegeben ist, aber eine Aufhebung rein auf der subjectiven Seite des Bewußtseins. Sobald wir uns das intelligente Subject in der Tendenz denken dies zu vollziehen […] so muß sich dasselbe ereignen, was wir als das eigentümliche Wesen des erhabenen gefunden haben, die sich immer erneuernde Aufgabe und das Bewußtsein des Unvermögens. Wobei allerdings die unwillkürliche Richtung darauf zu dem inneren Bewußtsein der Wahrheit wird, die in unserem eigenen Sein liegt (,) und die überall dieselbe ist mit der (sc. unwillkürlichen Richtung: E. H.) zum Bewußtsein der Notwendigkeit, insofern sie eine rein innere und eins mit der Freiheit ist. Wir können nicht anders als (sc. unwillkürlich: E. H.) darauf gerichtet zu sein; darin liegt die Aufhebung des Gegensazes (;) und die Beziehung des eigenen Seins auf diese (sc. Aufhebung des Gegensatzes) ist das eigentliche Wesen des religiösen Gefühls“.¹³⁸
Soweit die entfaltete psychologische Beschreibung des Geistcharakters des Ich, nämlich seines sich-selbst Findens als Selbstgefühl, das als solches, eben als unmittelbares Innesein des Selbst in seiner Leibhaftigkeit, zugleich unmittelbares Innesein von Welt und Gott ist. Diese ursprüngliche und unhintergehbare Bestimmtheit des Selbstverhältnisses, in dem das Ich sich immer schon vorfindet, als Weltverhältnis und Gottesverhältnis, ist die Fundamentalgestalt derjenigen Rezeptivität des Ich, welche in sich selbst der Möglichkeitsgrund seiner Spontaneität, seines sich selbst Wissen- und Gestaltenwollens ist,¹³⁹ also auch der Möglichkeitsgrund seiner Selbsterfassung in der Anthropologie in der Einheit von Psychologie und Physiologie: das ihm selbst zu-erkennen Vorgegebensein des Ich, von dem es „ausgehen“ muss in seinem eigenen spontanen sich-auf-sich-(also auf das ihm selbst vorgegebene Ich)Beziehen, in seinem darin eingeschlossenen sich-als-sich-(also als Ich)-Setzen und dann auch seinem Ich-Sagen in der Anthropologie, im Logos über das menschliche Ich in der Einheit von geistigem und materiellem Leben. Sie ist der gegebene Ausgangspunkt, von dem die Anthropologie ihren Anfang nimmt, und zwar ihren Anfang, der darin besteht, sich zu besinnen auf das ihr zu-erkennen und zur-Sprache-zu-bringen vorgegebene Reale in seiner eigenen Bestimmtheit und Identität: eben das vorgegebene menschliche Ich in der Einheit von Selbst-, Welt- und Gottesverhältnis. Der gesamte von Schleiermacher sogenannte „elementare“ Teil der Psychologie tut also offensichtlich nichts anderes, als genau diejenige Befindlichkeit detailliert zu beschreiben, die schon in der Fixierung und Lösung der einleitenden Präliminarfrage
Ps 212,14– 33. Die in dem zügigen mündlichen Vortrag des Beitrags begründete Erschwerung des sachlichen Mitvollzugs für die Zuhörer hat Opfer verursacht. Zu ihnen gehört auch der Berichterstatter der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der (in der Ausgabe vom 14.10. 2015) meinte feststellen zu können, Referent hätte Schleiermachers Einsicht in das Bedingtsein aller Reflexion durch das Gefühl verkannt. Vorstehende Passage zeigt, dass Referent diesen Sachverhalt keineswegs übersehen hat, sondern ihn sogar noch etwas genauer als der Berichterstatter es wünschte beschrieben hat: nämlich als die Abhängigkeit keineswegs nur der auf das Symbolisieren gerichteten Reflexion, sondern allen Wollens, aller Selbsttätigkeit des Ich, auch des Wirkenwollens (Organisierenwollens).
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in Anspruch genommen und in den Blick gefasst wird. Und insofern gilt für Schleiermachers Anthropologie dasselbe, was nach Karl Barth für die Theologie gilt, dass nämlich die Prolegomena, also hier: die Präliminarien, schon begründet und geleitet sind von der durch sich selbst präsenten Sache selbst: Der Mensch findet sich ihm selbst präsentiert („dargeboten“) als Freisein-bezogen-auf-(also: relativ-auf)-das-organische-Geschehen, also als leibhaftes Freisein in seiner Welt (dem Möglichkeitsraum dieses seines relativen Freiseins). Das sich-so-Finden ist das sich-so-Fühlen. Und indem der Mensch sich ihm selbst als innerweltlich-leibhaftes Freisein dargeboten findet, findet (fühlt) er dieses sein relatives Freisein auch als ihm selbst unabweisbar zugemutet: Er findet, d. h. er fühlt, sich unter der für ihn bestehenden Notwendigkeit,¹⁴⁰ dieses sein relatives Freisein zu bestimmen, also zu erfassen und zu gestalten. Dieses so sich-Finden macht die absolute Gebundenheit des Menschen aus, seine für sein Ich-Sein konstitutive Religiosität (von re-ligare). In dieser seiner Gebundenheit, das heißt: Religiosität, betrachtet und beschreibt ihn die Psychologie. Und das heißt: Sie tut dasselbe, was schon die Reden taten.
II. Die Welt-des-Menschen als Gegenstand und Thema des Gesamtsystems Ich komme damit zum ersten meiner beiden kurzen Schlussteile: einem kurzen Hinweis auf die Bedeutung der Anthropologie, also der Selbstbetrachtung und Selbsterfassung des Menschen als leibhaft-innerweltliches Ich für Schleiermachers Gesamtwerk: Der anthropologische Reflexions- und Beschreibungsgang, den die Vorlesungen über Psychologie vollziehen, ist offenkundig derselbe, den schon die Reden – und zwar in ihrer ersten und zweiten Auflage¹⁴¹ – vollzogen hatten. Der Reflexions- und Beschreibungsgang insbesondere der zweiten Rede steht unter derselben Voraussetzung wie der der Psychologievorlesung – eben unter der Voraussetzung des unmittelbaren Gegenwärtig- und Dargebotenseins des Menschseins für es selbst – und er erfasst und beschreibt dieses sich-selbst-Dargebotene, das Menschsein, als genau so strukturiert, wie es auch in der Psychologie erfasst wird: Die zweite Rede erfasst und beschreibt – wie die Psychologie – das Menschsein als das ihm selbst Dargeboten- und Zugemutetsein des relativen Freiseins als das für es
Diese Notwendigkeit ist keine absolute, wohl aber Notwendigkeit für ihn: den Menschen (vgl. E. Herms, Art.: Notwendigkeit, in: RGG4 VI 408 – 414). Die beiden Versionen unterscheiden sich bekanntlich „nur“ dadurch, dass die zweite Auflage im Blick auf das Unterschiedensein von subjektivem und objektivem Bewusstsein (das sich in beiden Auflagen findet, auch schon in der ersten) die das Menschsein konstituierende Religiosität – richtigerweise – ganz und gar dem subjektiven Bewusstsein zuschreibt.
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selbst notwendige¹⁴² Freisein-in-der-Welt.¹⁴³ Und das heißt, sie beschreibt dieses ihm Dargeboten- und Zugemutetsein des Menschseins als Innesein des Naturgeschehens¹⁴⁴ in seiner Einheit und Geregeltheit,¹⁴⁵ nach der sich die individuellen Systeme bilden und wechselwirken;¹⁴⁶ aber dies Innesein des materiellen Prozesses und seiner Organisationskraft seinerseits nur als Implikat des seiner-selbst-Inneseins-desMenschseins und seines Spezifikums: des Seelischen, des „Gemüts“,¹⁴⁷ das wiederum seinerseits ihm selbst nur dargeboten ist „in seiner Welt“,¹⁴⁸ der Welt der „Menschheit“ als ganzer¹⁴⁹ und ihrer Geschichte,¹⁵⁰ die aber ihrerseits geworden ist und im Werden verbleibt und somit auch ausgeliefert ist an ein Werden, das die menschliche Geschichte selbst umgreift und also auch über das Menschsein hinausführt,¹⁵¹ und das heißt: ausgeliefert an die alles bestimmende absolute „Tätigkeit“ und „Selbstdarstellung“ des Universums,¹⁵² nämlich seine „Selbstoffenbarung“.¹⁵³ Die zweite Rede
R (das Sigel bezeichnet: F.Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, 1799; zitiert nach der Originalpaginierung) 51 f.: „Die Religion atmet da, wo die Freiheit selbst schon wieder Natur geworden ist, jenseits des Spiels seiner besonderen Kräfte und seiner Personalität faßt sie den Menschen, und sieht ihn aus dem Gesichtspunkte, wo er das sein muß, was er ist, er wolle oder wolle nicht“. R 88. R 78 f. R 83. R 86. R 87 f.: „Im inneren Leben bildet sich das Universum ab, und nur durch das innere wird das äußere verständlich.“ R 88: „Aber auch das gemüt muß, wenn es Religion erzeugen und nähren soll, in einer Welt angeschaut werden.“ R 87– 99; bes. 88 f.: „Nun erst (sc. nach der Schaffung Evas: E. H.) regten sich in ihm (sc. in Adam, dem Menschen: E. H.) lebende und geistvolle Töne, nun erst ging seinen Augen die Welt auf. In dem Fleisch von seinem Fleische und Bein von seinem Beine entdeckte er die Menschheit, und in der Menschheit die Welt, von diesem Augenblicke an wurde er fähig die Stimme der Gottheit zu hören.“ (Schleiermacher bezieht sich hier offenkundig auf J. G. v. Herders Schrift „Älteste Urkunde der Menschheit“ [1747/1776]). R 99 – 104. R 93, 104– 105: Die Religion kann bei der Anschauung der Menschheit in ihrer Geschichte nicht stehen bleiben, sondern „sieht erst auf der anderen Seite dieses Punktes recht hinaus ins Unendliche. Wenn die Menschheit selbst etwas bewegliches und bildsames ist […], fühlt ihr nicht daß sie dann unmöglich selbst das Universum sein kann? […] sie ist nur eine einzelne Form desselben, Darstellung einer einzigen Modifikation […] und es müßte noch ein höherer Charakter gefunden werden im Menschen als seine Menschheit um ihn und seine Erscheinung unmittelbar aufs Universum zu beziehen.“ Statt von Selbst„darstellung“ des Universums ist von seiner es selbst „offenbarenden“ Tätigkeit die Rede: R 56; 67; 91; 93; 114; 118. R 56 f.: „Das Universum ist in einer ununterbrochenen Tätigkeit und offenbart sich uns jeden Augenblick. Jede Form die es hervorbringt, jedes Wesen dem es nach der Fülle des Lebens ein abgesondertes Dasein gibt, jede Begebenheit die es aus seinem reichen immer fruchtbaren Schoße herausschüttet, ist ein Handeln desselben auf Uns; und so alles Einzelne als einen Teil des Ganzen, alles beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen hinnehmen, das ist Religion.“
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beschreibt das Verhältnis des Ichseins zu diesem Absoluten, eben in seinem „Verhältnis zum Universum“. Wobei gilt, dass dieses Verhältnis durch das Absolute selbst gesetzt und bestimmt ist und als solches für das Ichsein des Menschen, also für dieses als Einheit des Selbst-, Welt- und Ursprungsverhältnisses des Menschen, konstitutiv. Der Grundbefund, zu dem die Anthropologie, Selbstbetrachtung und Selbstbeschreibung des Menschseins, vorstößt, ist also nichts anderes als die Grundbefindlichkeit des Menschen als leibhaft-innerweltliches Ich: dessen sich-selbst-Fühlen in seiner Bezogenheit auf seine Welt und auf deren Grund. Die Anthropologie erkennt diese Grundbefindlichkeit als ihre eigene Möglichkeitsbedingung, also auch als die Möglichkeitsbedingung aller Selbsterfassung und Selbstgestaltung des Menschseins. Diesen Grundbefund der Anthropologie setzen die Reflexionsgänge Schleiermachers in allen seinen Werken voraus. Ihn nehmen sie in Anspruch als den einen, ihnen allen gemeinsamen Ausgangspunkt und Gegenstand der Betrachtung und Beschreibung, die sich dann auf jeweils einen seiner verschiedenen Aspekte richtet: Das ließe sich zeigen für die Monologen, die sich ausdrücklich als „Selbstanschauung“ bezeichnen,¹⁵⁴ als Selbstanschauung des Geistes, seiner sich selbst bestimmenden Freiheit, im einzelnen Menschen,¹⁵⁵ der als individuelles Exemplar der Individualität allen Menschseins¹⁵⁶ in seiner Welt¹⁵⁷ lebt. Es ließe sich zeigen für die Ethik, die in allen ihren Versionen das Menschsein in seiner Grundbefindlichkeit als beseelte Natur¹⁵⁸ oder eben „Erscheinung des Geistes in Verbindung mit seiner Organisation“ zum Ausgangspunkt und Gegenstand nimmt, den sie hinsichtlich eines seiner Implikate beschreibt, nämlich hinsichtlich des darin zu-erkennen gegebenen selbsttätigen Umgangs des geistigen Lebens mit seiner Organisation im Gattungsmaßstab. Dasselbe gilt für alle Unterdisziplinen der Ethik, also auch für die Erziehungslehre, für die Staatslehre, für die Ästhetik und für die Dialektik als
M (das Sigel bezeichnet: F. Schleiermacher, Monologen. Eine Neujahrsgabe (1800), Kritische Ausgabe von F. M. Schiele, zweite Ausgabe durch H. Mulert, 1914; mit Seiten- und Zeilenzahl) 21,7– 21 (gleichbedeutend mit „Selbstbetrachtung“: 1,22): „Drum hebt auch weit über das Endliche, das in bestimmter Folge und festen Schranken sich übersehen lässt, die Selbstanschauung mich hinaus. […] Mein ganzes Wesen kann ich wieder nicht vernehmen, ohne die Menschheit anzuschauen, und meinen Ort und Stand in ihrem Reich mir zu bestimmen; und die Menschheit, wer vermöchte sie zu denken, ohne sich mit dem Denken ins unermessliche Gebiet und Wesen des reinen Geistes zu verlieren“. Es ist offenkundig nichts als eine Wiederholung der hier beschriebenen Leistung der Selbstanschauung, wenn es in der Psychologie heißt, „daß der Ausdrukk (sc. „Geist“: E. H.) auf dem menschlichen gebiete und bei der beobachtung des menschlichen müsse entstanden sein“ (Ps 24,31 f.). – Schon Schiele hat darauf hingewiesen, dass die Monologen als „Selbstanschauung“ an ein älteres literarisches Projekt Schleiermachers schon aus dem Jahre 1798 anknüpfen, das eben diesen Titel „Selbstanschauung“ tragen sollte (XXII). M 30,12 ff. M 25 – 47. M 48 – 94. Brouillon von 1804/05. – Dazu vgl. E. Herms, „Beseelung der Natur durch die Vernunft“. Eine Untersuchung der Einleitung zu Schleiermachers Ethikvorlesung von 1805/06, in: ders., Menschsein im Werden. Studien zu Schleiermacher, 2003, 49 – 100.
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Kunstlehre des Wissenwollens, also der Verwirklichung der Absicht, von streitigen Meinungen zu gemeinsamer Überzeugung zu gelangen. Und erst recht ließe sich dies zeigen an Schleiermachers Beiträgen zur christlichen Theologie, die sämtlich – unter der anthropologischen Voraussetzung der gesellschaftsgeschichtlichen Modifikabilität der für das Ichsein des Menschen konstitutiven Religiosität¹⁵⁹ – deren christliche Bildungsgestalt betrachten¹⁶⁰ und diese als die die Wahrheitsmomente aller anderen bekannten Bildungsgestalten von Frömmigkeit integrierende Bildungsgestalt von Frömmigkeit beschreiben. In der Tat, alle Erkenntnisprojekte Schleiermachers vollziehen sich methodisch und thematisch als Beiträge zur Anthropologie, das heißt als Inanspruchnahme der Identität des uns und unseresgleichen zu-verstehen gegebenen Realen, eben des Menschseins als Einheit von materiell/organischem Prozess und geistiger Selbsttätigkeit unter dem Primat der letzteren, mit dem Ziel, durch umsichtige Betrachtung dieses Identischen zu wissenschaftlicher Überzeugung zu gelangen, also im Ausgang von verschiedenen Meinungen und im Vollzug ihrer gegenstandsorientierten Kritik zu gemeinsamer, in der Autorität der identischen Sache selbst gegründeter Überzeugung (und dann auch gemeinsamer Praxisorientierung).¹⁶¹ Somit ist also dem Urteil schon des Herausgebers der Psychologievorlesungen, Ludwig George – und dann auch dem späteren, sachlich gleichlautenden Urteil W. Diltheys¹⁶² –, Recht zu geben, dass die Vorlesung zur Psychologie „gewissermaßen den Schlüssel nicht nur zu dem philosophischen System sondern auch zu der theologischen Grundanschauung des verehrten Meisters abgiebt.“¹⁶³ Dies Urteil wiederholt nur das letzte eigene Wort Schleiermachers über die Psychologie aus der Vorlesung von 1833/34: Die Seelenlehre „wird bei Logik, Physik und Ethik vorausgesetzt“.¹⁶⁴
CG (das Sigel steht für: F. Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (21830), hg. von M. Redeker, 2 Bde., 1960; mit Band-, Seiten- und Zeilenzahl) I 14– 74 (Paragraphen 3 – 10). CG I 74– 105 (Paragraphen 11– 14). So das Wissenschaftsverständnis in der Letztfassung der Dialektik. Dazu vgl. E. Herms, Religion und Wahrheit bei Schleiermacher (o. Anm. 32). W. Dilthey, Gesammelte Schriften XIV/1: Leben Schleiermachers. Zweiter Band: Schleiermachers System als Philosophie und Theologie. Aus dem Nachlass herausgegeben von M. Redeker, Erster Halbband, 1966, 461– 470, bes. 465. Ps VII,5 – 8. Ps 530.
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III. Schleiermachers Anthropologie als Handreichung zur Orientierung in der Wissenschaft und über sie heute Wenn es in der vieldeutigen Rede von der Seele des Menschen heute ein Gemeinsames gibt, dann scheint mir das die Überzeugung zu sein, dass der Mensch eine Seele hat. Diese Überzeugung teilt Schleiermacher nicht. Für Schleiermacher hat der Mensch nicht eine Seele, sondern er ist Seele. Und daher ist seine Psychologie nichts anderes als die ganze Anthropologie unter dem Gesichtspunkt der Erscheinung des Geistes in bestimmter Leibhaftigkeit. Diese Durchführung der ganzen Anthropologie als Psychologie sei daher abschließend auf ihre Bedeutung für eine Orientierung in der Wissenschaft und über sie heute befragt. Offenkundig räumt Schleiermacher der Anthropologie die Stellung der Grunddisziplin aller Wissenschaften ein. Das ist Ausdruck seiner, meines Erachtens nicht erfolgreich zu bestreitenden, Gewissheit, a) dass der Mensch als real genau das und nichts anderes anzuerkennen hat als das, was ihm zu-erkennen gegeben ist (einschließlich des uneinholbaren Überschusses von allem derart zu-erkennenden Realen über alles, was Menschen je schon erkannt haben), b) dass dem Menschen außerhalb seines eigenen Daseins und vorbei an diesem gar nichts zu erkennen gegeben ist sowie c) dass demgemäß auch alles, was dem Menschen überhaupt zu erkennen gegeben ist ihm in seinem eigenen Dasein, an diesem und durch, also vermittelst seiner, zuerkennen gegeben ist. Diese Überzeugung Schleiermachers ist nun alles andere als originell, sondern nur das besonders eindrucksvolle Exemplar einer Grundüberzeugung, die sich, wie die Erforschung der europäischen und europäisch geprägten Wissenschafts- und Ideengeschichte in bis heute immer wiederholten Ansätzen dargetan hat,¹⁶⁵ mit der Renaissance ankündigt, dann zunehmend an Boden gewinnt und schließlich im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert zur Selbstverständlichkeit geworden war. Und dies unbeschadet unterschiedlicher Antworten auf die Frage, wie und als was denn das Menschsein ihm selbst zu-erkennen vorgegeben sei. Auf die wie-Frage stehen sich zunächst die Antwort des durch Descartes inaugurierten Rationalismus, der auf die Unbezweifelbarkeit der unmittelbaren Selbstgewissheit des intelligenten Ich verweist, und die Antwort des aus England stammenden
Jüngst hat hierauf wieder aufmerksam gemacht O. Marquard, Zur Geschichte des philosophischen Begriffs „Anthropologie“ seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, in: ders., Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, 1982, 122 – 144. Vgl. auch ders., Über die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften, in: ders., Apologie des Zufälligen, 1986, 98 – 116.
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Empirismus und Sensualismus gegenüber, der auf Erfahrung in der zugespitzten Form von Sinnesempfindung als die Gegebenheitsweise des Menschseins für sich selbst verweist, bis sich schließlich, und zwar erstmals und wirksam durch Kant, die Einsicht in die Abstraktheit dieses Gegensatzes Bahn bricht – eine Einsicht, die von allen „Schülern“ Kants geteilt wird und der dann Hegel in seiner Enzyklopädie einen prägnanten und exemplarischen Ausdruck durch die Feststellung gegeben hat, die Pointe des „Prinzip(s) der Erfahrung“ selber liege in der „unendlich wichtige(n) Bestimmung“, „daß für das Annehmen und Fürwahrhalten eines Inhaltes der Mensch selbst dabei sein müsse, bestimmter, daß er solchen Inhalt mit der Gewißheit seiner selbst in Einigkeit und vereinigt finde“.¹⁶⁶ Bezüglich der was-Frage stehen sich zunächst gegenüber die schon im 17. Jahrhundert prominent vertretene These, dass dem Menschen an und mit ihm selbst nur die Materie und ihr Prozedieren zu-erkennen gegeben sei, und die gleichalte These, es sei das sich selbst bestimmende Prozedieren des Geistes, welches dem Menschen an und mit ihm selbst zu-erkennen gegeben sei. Auch dieser Gegensatz ist schließlich durch den Blick auf das ihm selbst zu-erkennen gegebene Menschsein selber als abstrakt durchschaut worden. Und zwar wiederum anfangsweise durch Kant, der – und zwar eben kraft der anthropologischen Grundorientierung seiner Philosophie¹⁶⁷ (man erinnere sich: Kants Grundvorlesung war bekanntlich die „Anthropologie in pragmatischer Absicht“, die er auch während der Erarbeitung seiner kritischen Philosophie und nach ihrer Vollendung durchhielt) – zu der Einsicht kam, dass an und mit dem Menschsein diesem selbst sowohl Prozesse der Kausalität nach dem Naturgesetzt als auch Prozesse der Kausalität aus Freiheit zu-erkennen gegeben seien, wobei er jedoch das Verhältnis zwischen beiden in ihrem Zusammensein in der Einheit des menschlichen Lebens unbestimmt ließ. Für die Versuche der Beantwortung dieser offenen Frage in der nächsten Generation ist Schleiermachers Anthropologie ein eindrucksvolles Exemplar: Man könnte auf den Gedanken kommen, dass Schleiermacher das Anthropologieprogramm, das den Rahmen seiner Psychologie ausmacht, in direkter Anlehnung an das Kantische konzipiert hat. Denn dieses lautet: „Eine Lehre von der Kenntniß des Menschen, systematisch abgefaßt (Anthropologie), kann es entweder in physiologischer oder in pragmatischer Hinsicht sein. – Die physiologische Menschenkenntniß geht auf die Erforschung dessen, was die Natur aus dem Menschen macht, die pragmatische auf das, was er als freihandelndes Wesen aus sich selber macht, oder machen kann und soll.“¹⁶⁸
G. W. F. Hegel, Enyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundriß (1830) § 7. Das hat neuerdings wieder hervorgehoben: K. Huxel, Ontologie des seelischen Lebens. Ein Beitrag zur theologischen Anthropologie im Anschluß an Hume, Kant, Schleiermacher und Dilthey, Tübingen, 2004. AA (Sigel für: Kants Werke, Akademieausgabe, 1902 ff.) Bd. VII, 119.
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Jedenfalls nimmt Schleiermacher das von Kant gerade für die naturwissenschaftliche Erkenntnis erfolgreich vertretene epistemologische Modell des Wechselbedingtseins sensueller, also materieller, Datenflüsse und vernunftgeleiteter Verstandesoperationen an als die wahre Erkenntnis eines im Leben des Ich, das ihm selbst zu-erkennen gegeben ist, implizierten, also ebenfalls zu-erkennen gegebenen realen Zug des Menschseins selber. ¹⁶⁹ Schleiermacher sieht: Das Menschsein bietet sich ihm, dem Menschsein, selber dar als ein bestimmter in das Ganze des materiellen Prozesses eingebetteter organischer Prozess, nämlich als derjenige, welcher in ursprünglicher Einheit mit der ideengeleiteten freien Selbsttätigkeit des Geistes (also mit dem auf Räume des Möglichen bezogenen und über sie verfügenden Wollen) verbunden ist, und zwar in asymmetrischer Weise mit dem Primat des Geistes, so dass diese ursprüngliche Verbundenheit die Bedingung des erfolgreichen Wissenwollens um diesen organischen Prozess und damit auch des erfolgreichen Wirkenwollens in diesem Prozess ist. Das ihm selbst zu-erkennen gegebene Menschsein, impliziert als in und mit ihm zu-erkennen gegeben den gesamten materiellen und organischen Prozess als einen solchen, der nicht an sich existiert, sondern nur als ein bestimmter, nämlich als der im Menschsein und zugleich mit diesem vom Menschsein angemessen zu-erkennende und wirksam zu-beeinflussende. Die Anthropologie kann sich also konkret, in nicht abstrakter Weise, nur vollziehen, indem sie das Menschsein betrachtet und zur Sprache bringt als den organischen Prozess, der mit dem geistigen so zusammen, also in diesem und für diesen so da ist, dass dieses geistige Leben sich als das angemessene Erkennen und erfolgreiche Eingreifen in den materiellen Prozess vollziehen kann. Das aber heißt nichts anderes als: Anthropologie kann sich somit nur als asymmetrische Einheit von Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft vollziehen, nämlich einerseits als Wissenschaft vom menschlichen Geistesleben, welche selbst die Notwendigkeit einer Wissenschaft vom organischen Leben des Menschen und die Bedingungen der Möglichkeit einer solchen Wissenschaft erfasst, und andererseits als Wissenschaft des zur menschlichen Organbildung führenden materiellen Prozesses,
Das schließt ein, dass die Sphäre des zu-erkennen gegebenen Realen nicht beschränkt bleibt auf die von Kant explizit ausgearbeitete, nämlich des Naturprozesses, sondern erweitert wird um die von Kant nur faktisch in Anspruch genommene Sphäre: nämlich um die Sphäre des zu-erkennen-Gegebenseins des Menschseins für dieses selbst im – unmittelbaren – Selbstbewusstsein. – W. Diltheys Bemühungen um den Nachweis des Wissenschaftscharakters der Geisteswissenschaften können (und müssen vielleicht auch) in ihrem zeitgenössischen Kontext, dem Alleingeltungsanspruch der Wissenschaftlichkeit für die experimentierenden Naturwissenschaften, als der Versuch interpretiert werden, diesen Status einer empirischen Wissenschaft auch für die Geisteswissenschaften zu vindizieren, in der Sache aber leben sie von der Inanspruchnahme der von Schleiermacher in seiner Psychologie abschließend vorgetragenen Sicht von Anthropologie und der Einheit ihrer beiden gleichursprünglichen Durchführungen als Psychologie/Ethik und Physiologie/Physik. Was insbesondere an der offenkundigen Übereinstimmung von Diltheys erkenntnistheoretischer Grundmaxime mit der Schleiermacherschen sichtbar wird, dass das Leben (verstehe das menschliche) nur durch das Leben (verstehe das menschliche) zu verstehen sei (einer offenkundigen Variation des Schleiermacherschen Grundsatzes, das Menschsein sei nur durch das Menschsein zu erkennen).
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also als Naturwissenschaft, welche diesen zur Bildung des menschlichen Organismus führenden Prozess als die notwendige (allerdings nicht hinreichende) Bedingung für das erfolgreiche Wissenwollen und Wirkenwollen des Menschen erfasst. Fakt ist nun allerdings, dass es diese Sicht auf eine konkrete Anthropologie in der asymmetrischen Wechselbedingung von Natur- und Geisteswissenschaft nicht zu allgemeiner Anerkennung gebracht hat, sondern eine – keineswegs klare – Vorstellung eines irgendwie gearteten Nebeneinanders von Natur- und Geisteswissenschaften vorherrschend geworden ist. Als Ursache dafür, also für die bis heute herrschende Lage des Nichtzustandegekommenseins einer Gesamtanthropologie, ist mit besten Gründen eine im 19. Jahrhundert vollzogene Weichenstellung in der Anthropologie selber in Anspruch genommen worden.¹⁷⁰ Nämlich der auf dem Boden der evolutionstheoretischen Erklärung der Entstehung der biologischen Arten¹⁷¹ verkündete und bewährte Grundsatz: Der Mensch macht keine Ausnahme.¹⁷² Er beherrscht die naturwissenschaftliche Betrachtung bis heute. Diesem Grundsatz kann im Horizont der konkreten Anthropologie Schleiermachers auf gar keinen Fall widersprochen werden. Nur müsste dieser Grundsatz der naturwissenschaftlichen Anthropologie und insbesondere der Evolutionsbiologie im Sinne Schleiermachers und im Horizont seiner Sicht von Anthropologie um einen weiteren Grundsatz ergänzt werden. Nämlich um diesen: Auch die Naturwissenschaft als ganze „macht keine Ausnahme“: Auch Naturwissenschaft kann nichts anderes sein als Anthropologie. Auch ihr Was und Wie ist unhintergehbar und uneinholbar gebunden an das Menschen zu-erkennen gegebene Reale: eben an das ihm selbst zu-erkennen gegebene Ich-Leben des Menschen, das ihm selbst erschlossen, ihm selbst gegenwärtig, ihm selbst zu-erkennen gegeben ist. Das Was der Naturwissenschaft ist nichts anderes als ein Implikat des Lebens von Menschen, also Implikat des Lebens von leibhaftem Ich. Und das Wie der Naturwissenschaft ist gebunden an die im Menschsein gegebenen Bedingungen der Möglichkeit und Unvermeidbarkeit (Notwendigkeit) des Wollens von wahrem Wissen und erfolgreichem Wirken. Die Bedingungen der Möglichkeit und Notwendigkeit von beidem sind beschlossen in dem Faktum, dass das Leben des Menschen das Leben je
W. Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, 1976; ders., Naturgeschichte und Anthropologie im 18. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift, Bd. 231, Heft 1 (August 1980), 21– 41. Ch. Darwin, On the Origin of Species by Means of Natural Selection, 1859. Ch. Darwin, The Decent of Man, and Selection in relation to Sex, 2 Bde., 1871. – Für diese Pointe der Theorie Darwins – dass der Mensch im Kontinuum der Evolution durch natürliche Evolution keine Ausnahme mache – ist entscheidend, dass sie die Spezifika, welche die menschliche Spezies gegenüber allen anderen Tieren auszeichnen: Moralität und Religiosität, ausdrücklich anerkennt und dem Menschen einschließlich dieser Spezifika eine Ausnahmestellung abspricht, also die Realität auch dieser Spezifika durch natürliche Selektion zu erklären beansprucht (in Buch IV und V des „Decent“). Eine aufschlussreiche Nachzeichnung dieses – kulturgeschichtlich Epoche machenden – Versuchs und seiner Probleme bei: E.-M. Engels, Charles Darwin, 2007, 164– 206.
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eines leibhaften Ich ist, das als solches (eben als Realität eines Ich) ihm selbst zuverstehen vorgegeben, also ihm selbst präsent ist als ein solches, das ihm selbst im asymmetrischen Zusammenspiel von materiellem/organischem und geistigem Prozess angemessen zu erkennen und erfolgreich zu gestalten gegeben ist. Nichts anderes als die Bedingungen der Möglichkeit für beides sind beschlossen in der ursprünglichen, von ihm selbst unhintergehbaren und unüberholbaren, Befindlichkeit des Menschsein: in seiner Befindlichkeit als unmittelbar selbstbewusstes leibhaftes und als solches innerweltliches Ich. Diese Befindlichkeit ermöglicht alle Befunde von Wissenschaft überhaupt, auch alle Befunde der Naturwissenschaft. Auf diese ursprüngliche Befindlichkeit des leibhaft-innerweltlichen Ich richtet sich die Psychologie. Ihr Befund ist die Verfasstheit dieser unhintergehbaren und unüberholbaren Befindlichkeit des innerweltlich-leibhaften Ich als unmittelbares Selbstbewusstsein (Selbstgefühl), das als solches – also unmittelbares – zugleich unmittelbares Weltbewusstsein (Weltgefühl) und unmittelbares Ursprungsbewusstsein (Gottesgefühl) ist. Diese ursprüngliche Einheit von Selbst-, Welt- und Gottesgefühl, also eben das, was Schleiermacher „Frömmigkeit“ nennt, ist für ihn die Möglichkeitsbedingung für alles wahrheitsfähige und erfolgreiche Wollen und Wirken von Menschen, also auch für den Betrieb und alle Erfolge von Naturwissenschaft. So stellen sich die Dinge im Horizont von Schleiermachers Verständnis von Anthropologie dar. Ich sehe nicht, dass dieses Anthropologieverständnis irrig wäre. Somit sehe ich auch nicht, dass der durch sie begründete Grundsatz – das Menschsein als Einheit von unmittelbarem Selbstbewusstsein (Selbstgefühl), unmittelbarem Weltbewusstsein (Weltgefühl) und Gottesbewusstsein (Gottesgefühl) ist die Möglichkeitsbedingung für alles wahrheitsfähige und erfolgreiche Wollen und Wirken von Menschen, also auch für den Betrieb und alle Erfolge von Naturwissenschaft und nota bene: Technik – irrig wäre. Dieser Grundsatz wirkt im heutigen Kontext skandalös. Ich sehe aber nicht, dass er obsolet wäre oder je obsolet sein könnte.
Andreas Arndt / Berlin
Schleiermachers Psychologie – eine Philosophie des subjektiven Geistes? 1.
Die schöne Seele, so ist der letzte Tag des Kongresses im Programm überschrieben, – wer denkt da nicht gleich an das wenig schmeichelhafte Bild, das von ihr in Hegels Phänomenologie des Geistes gezeichnet wurde? „Die wirklichkeitslose schöne Seele“, so heißt es dort, sei „zur Verrücktheit zerrüttet, und zerfließt in sehnsüchtiger Schwindsucht“.¹ Gut ein Jahrzehnt später, 1818, notiert Schleiermacher zur 36. Stunde seiner Vorlesungen über die Psychologie „Auf dem ethischen Gebiete kann eine Seele schön sein“; als schön gilt hier „das Aufgehobensein der Gegensäze in einem bestimmten Spiel lebendiger Kräfte und die unendliche Fülle in diesem Spiel“.² Es wäre nun gewiss reizvoll, die schöne Seele bei Hegel mit derjenigen bei Schleiermacher zu vergleichen, jedoch würde dies vermutlich nur wieder in bekannte polemische Konfrontationen hineinführen. Zwar möchte ich, wie schon der Titel meines Beitrags deutlich macht, Schleiermacher und Hegel durchaus aufeinander beziehen, wobei ich allerdings Hegels Philosophie im Hintergrund lassen und nur als Interpretationsfolie für eine systematische Konjektur bei Schleiermacher benutzen werde. Dabei betone ich vor allem die Gemeinsamkeiten. Deren Liste ist lang. Sie beginnt schon mit der systematisch leitenden Grundüberzeugung, dass die Trennung von Seele und Leib eine Abstraktion sei: „Die Seele ist uns nur mit dem Leibe gegeben“,³ heißt es bei Schleiermacher, und auch Hegel argumentiert in diesem Sinne im Paragraphen 389 der Enzyklopädie (1830).⁴ Schon das legt die Vermutung nahe, dass die Psychologien beider nicht nur in einzelnen materialen Aussagen miteinander vergleichbar sind, sondern sich auch in ihrer systematischen Begründung beträchtliche Schnittmengen aufweisen lassen. Auch hiervon kann man sich schon vorab leicht überzeugen. Hegel hat seine Vorlesungen über die Philosophie des subjektiven Geistes im Haupttitel als „Anthropologie und Psychologie“ bzw. (die letzten beiden Vorlesungen) „Psychologie und Anthropologie“ ausgewiesen. Beides ist nicht deckungsgleich. Die Anthropologie im eigentlichen Sinne bezieht sich auf die erste Stufe der Philosophie des subjektiven Geistes, die Naturseele; es folgen die Stufen des Bewusstseins (Phänomenologie) und,
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Gesammelte Werke, Hamburg 1968 ff. (im Folgenden GW), Bd. 9, 360. Friedrich Schleiermacher, Schriften, hg.v. Andreas Arndt (Bibliothek deutscher Klassiker 134, Bibliothek der Philosophie), Frankfurt/M 1996, 915; 913. Ebd., 846. Vgl. Michael Wolff, Das Körper-Seele-Problem. Kommentar zu Hegel, Enzyklopädie (1830), § 389, Frankfurt/M 1992. DOI 10.1515/9783110464573-014
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wie Hegel in einer Vorlesung ausführt, der „Geist als Subjekt, Gegenstand der sonstigen Psychologie“.⁵ Die Psychologie bezeichnet demnach im engeren Sinne den Geist als Subjekt oder den „Geist für sich als Geist betrachtet, der sich auf sich selbst bezieht, in sich auf sich thätig ist“.⁶ Sie greift aber insofern auf Anthropologie und Phänomenologie über, als diese Stufen des Werdens des Geistes zu sich bezeichnen. Die Architektonik und systematische Vorortung der Psychologie bei Schleiermacher entspricht dem weitgehend. Sie ist „ein Bruch“ der Anthropologie, nämlich soweit, wie das Geistige im Körperlichen erscheint, wobei dieses geistige Moment isoliert und als „Glied in der ganzen Reihe der Pneumatologie“ betrachtet wird.⁷ Diese Verwendung des Terminus „Pneumatologie“ ist, soweit ich sehen kann, bei Schleiermacher singulär und auf diese Stelle in dem Manuskript 1818 zur Psychologie beschränkt. Er ist als philosophischer Begriff aus der Tradition der älteren metaphysica specialis hervorgegangen und bezeichnet ursprünglich die Lehre von Gott, den Engeln und den Seelen der Menschen, wobei er im 18. Jahrhundert schließlich weitgehend mit der rationalen Psychologie gleichgesetzt wird.⁸ Mit Kants Kritik der Pneumatologie als einer Lehre der von der körperlichen getrennten Geisterwelt wird der Terminus zunehmend aus der Philosophie verdrängt und durch „Geist“ im Sinne von mens, Bewusstsein, ersetzt, was auch den Brückenschlag zur empirischen Psychologie ermöglicht. Schleiermacher hält an dem Ausdruck „Pneumatologie“ an dieser Stelle seines Manuskripts 1818 wohl deshalb fest, weil er die Perspektive über die menschliche Seele hinaus erweitern und damit genau das tun will, was Kant durch seine Entgegensetzung von Psychologie und Pneumatologie kritisiert; diese „spekulativen Blicke“ seien sogar „der eigentliche Hauptzweck der Psychologie“.⁹ Man kann unschwer annehmen, dass das „Allgemeine“, das Schleiermacher in diesem Zusammenhang anspricht, das Vernunft-Prinzip meint, das ja im ethischen Prozess als die Natur beseelend vorgestellt wird. Ich glaube nicht, dass es zu weit hergeholt ist, wenn man dies in eine Entsprechung zu Hegels Philosophie des Geistes setzt. Seine unter dem Titel Psychologie vorgetragene Philosophie des subjektiven Geistes zielt ja ebenfalls darauf, den Geist für sich als Geist bereits auf der Ebene der Psychologie zu thematisieren, weshalb Hegel seine Vorlesungen seit 1825 auch mit dem Zusatz „i. e. philosophiam mentis“ bzw. „sive philosophiam mentis“ ankündigt, obwohl der Begriff des Geistes sich in der Psychologie natürlich nicht erschöpft. Hegels Schüler, u. a. Erdmann und Rosenkranz, haben daher auch für den dritten Teil der Philosophie des subjektiven Geistes den Ausdruck „Pneumatologie“ verwendet.¹⁰
GW (vgl. Anm. 1), Bd. 25, 1, 208 f. Ebd., 8. Schleiermacher, Schriften (vgl. Anm. 2), 846. Vgl. Theodor Mahlmann, Pneumatologie, Pneumatik, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg.v. Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Bd. 7, Darmstadt 1989, 996 – 999. Schleiermacher, Schriften (vgl. Anm. 2), 846. Vgl. Eckart Scheerer, Psychologie, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg.v. Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Bd. 7, Darmstadt 1989, 1612.
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Der vergleichende Blick auf Hegel, so meine These, kann deutlich machen, womit wir es eigentlich bei Schleiermachers Psychologie zu tun haben, die ja systematisch bei ihm gewissermaßen in der Luft hängt, da er ihren Ort im Kosmos seiner philosophischen Disziplinen nicht genau bezeichnet hat. Ich werde hierauf jedoch erst zum Schluss zu sprechen kommen und dabei auch die Frage beantworten, was es denn mit den schönen Seelen bei Schleiermacher und Hegel auf sich hat. Beginnen möchte ich jedoch mit der Frage, weshalb eigentlich Schleiermacher eine Disziplin wie die Psychologie scheinbar aus dem Nichts hervorzaubern konnte, denn vor dem Beginn der Vorlesungen 1818 erwähnt er diese Disziplin nur einmal, Ende 1816, als Desiderat, ohne über ihren Inhalt und systematischen Ort etwas zu sagen.
2. Schleiermacher erwähnt die Psychologie – neben der Ästhetik – erstmals in einem Brief an Joachim Christian Gass vom Dezember 1816, ohne dass die Notwendigkeit oder der Platz dieser Disziplin näher bezeichnet werden; als Schleiermacher dann 1818 mit seinen Vorlesungen beginnt, bekennt er, sie eigentlich ohne Vorbereitung halten zu müssen und von der Hand in den Mund zu leben.¹¹ Nun wird man allerdings kaum annehmen können, Schleiermacher habe die Psychologie im Verlaufe seiner Vorlesungen erst „erfunden“; die Möglichkeit einer solchen Disziplin stand ihm ja schon 1816 vor Augen, auch wenn er sie als eine von ihm zu bearbeitende erst spät in den Blick nimmt. Tatsächlich ist natürlich auch vorher schon von psyché, Seele – und auch von Psychologie die Rede, die für Schleiermacher ganz selbstverständlich zum traditionellen Kosmos philosophischer Disziplinen gehört, wobei er sich jedoch auf den zeitgenössischen Diskussionsstand bezieht. Die deutsche Schulphilosophie hatte, beginnend mit Christian Wolff, die empirische Psychologie oder „Erfahrungsseelenkunde“ von der rationalen Psychologie, der metaphysica specialis, unterschieden. Sie wird einerseits in die Nähe der Naturlehre gestellt, andererseits als Bewusstseinslehre
An Joachim Christian Gaß, 29.12.1816 (vgl. Schleiermacher, Briefwechsel mit J. Chr. Gaß, hg.v. W. Gaß, Berlin 1852, 128). Als Schleiermacher dann das Thema aufgriff, war der Gegenstand noch keineswegs durchgearbeitet und seine systematische Stellung noch unklar (vgl. an Gaß, 11.5.1818, ebd., 149; dort heißt es, er schreibe sich die Vorlesungen im nachhinein auf: „Dasselbe thue ich auch mit der Psychologie, einem ganz funkelnagelneuen Collegio, dem stärkstbesezten, was ich noch gehabt habe, so lange ich hier bin, denn ich habe 130 Zuhörer.Wie es recht werden wird, weiß ich noch nicht, bis jezt ist es leidlich gegangen“). Am 23. 3.1818 heißt es in einem Brief an den Philologen und Prediger Ludwig Gottfried Blanc: „dann soll ich nun noch meinen ganzen Leisten und Zuschnitt für die Psychologie erfinden. Diese Tollheit, auf die ich gar nicht recht weiß wie ich gerathen bin, werde ich schwer büßen müssen“ (Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen, Bd. 4, Berlin 1863, 233). Gegenüber August Twesten bekannte Schleiermacher, daß er „ohne bestimmte Vorbereitung“ an die Vorlesung gegangen sei und nun „aus der Hand in den Mund lebe“ (11.6.1818; C.F. Georg Heinrici, D. August Twesten nach Tagebüchern und Briefen, Berlin 1889, 318).
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in den Rang einer grundlegenden philosophischen Disziplin erhoben. In dieser Form hatte der junge Schleiermacher die Psychologie wohl auch bei seinem akademischen Lehrer Johann August Eberhard, dem damaligen Vertreter der Hallischen Schulphilosophie, kennengelernt.¹² Der Gegenstand der empirischen Psychologie sind vornehmlich die „Vermögen“ des Menschen; in letzter Instanz Gefühl,Verstand und Wille, die jeweils in höhere und niedere differenziert werden. Kant radikalisierte die Trennung von rationaler und empirischer Psychologie, indem er die rationale auf Fehlschlüsse (Paralogismen) der reinen Vernunft zurückführte und aus dem objektiv gültigen Wissen ausschloss. Zugleich aber wertete Kant auch die empirische Psychologie ab. Als „Physiologie“, d. h. als Naturlehre des „inneren Sinnes“ bleibe sie „jederzeit von dem Range einer eigentlich so zu nennenden Naturwissenschaft entfernt“, wie es in der Kritik der reinen Vernunft heißt.¹³ Weil Mathematik und Experiment hier nicht anwendbar seien, wird die empirische Psychologie bei Kant schließlich als Gegenstand der pragmatischen Anthropologie behandelt, die es – im Gegensatz zur Physiologie – mit dem Menschen als einem frei handelnden und sich selbst gestaltenden Wesen zu tun hat.¹⁴ Mit dieser Auffassung setzt sich Schleiermacher in seiner 1799 anonym im Athenaeum der Brüder Schlegel publizierten Rezension der Kantischen Anthropologie in pragmatischer Hinsicht kritisch auseinander. Hier formuliert Schleiermacher eine Position, die sich dann durch seine Ethik bis hin zu seiner Psychologie durchzieht. Schleiermachers Kritik an Kant ist von ätzender Polemik: Kants Werk, so schreibt er, sei „vortreflich […], nicht als Anthropologie, sondern als Negation aller Anthropologie, als Behauptung und Beweis zugleich, daß so etwas nach der von Kant aufgestellten Idee durch ihn und bei seiner Denkungsart gar nicht möglich ist“.¹⁵ Unmöglich wird eine Anthropologie für Schleiermacher schon durch Kants Prämisse der Unterscheidung von physiologischer und pragmatischer Anthropologie, die freilich der überkommenen von anthropologia physica und anthropologia moralis entspricht.¹⁶ Schleiermacher sieht darin einen Gegensatz aufgestellt, der ganz „in Kants Denkart“ gründe,¹⁷ womit letztlich die Kantische Trennung von mundus intelligibilis und mundus sensibilis gemeint ist. Naturbestimmtheit und Freiheit müssten, so Schleiermacher, auch in anthropologischer Perspektive als Einheit gedacht werden: „alle Willkühr im Menschen ist Natur, […] alle Natur im Menschen ist Willkühr; aber Anthropologie soll eben die
Vgl. Eilert Herms, Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt des Systems der Wissenschaften bei Schleiermacher, Gütersloh 1974; Bernd Oberdorfer, Geselligkeit und Realisierung von Sittlichkeit. Die Theorieentwicklung Friedrich Schleiermachers bis 1799, Berlin und New York 1995, Kap. 2. KrV A, 381. Immanuel Kant, Werke, Akademie-Textausgabe, Berlin 1968, Bd. 7, 119. KGA I/2, 366. Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: ders., Werke. Akademie-Textausgabe, Bd. 7, 119. – Vgl. Johann Georg Walch, Anthropologie, in: Philosophisches Lexicon, Leipzig 41775, 173 f. KGA I/2, 366.
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Vereinigung beider seyn, und kann nicht anders als durch sie existiren; physiologische und pragmatische ist Eins und dasselbe, nur in verschiedener Richtung“.¹⁸ Damit ist ein Programm vorgegeben, das in der Konsequenz auch darauf zielt, die Kantische Verflüchtigung der empirischen Psychologie in die pragmatische Anthropologie als „Weltkunde“ zu widerrufen. Der Gedanke der Einheit von Natur- und Selbstbestimmung – den Schleiermacher übrigens schon 1789 in seinem Freiheitsgespräch in Bezug auf das Verhältnis psychologischer Gesetze zu Naturgesetzen formuliert hatte¹⁹ – verlangt die Annahme einer psycho-physischen Einheit als Ausgangspunkt des menschlichen Naturverhältnisses. Man kann daher in Schleiermachers Kritik an Kants Anthropologie durchaus die Grundrisse seiner späteren Psychologie erkennen. Zumindest erklärt diese Kritik, weshalb für Schleiermacher die Möglichkeit einer solchen Disziplin 1816 keiner weiteren Begründung bedurfte. Allerdings war Schleiermacher seither einen Weg gegangen, der ihn von der Realisierung dieser Möglichkeit wegführte.Während in den Hallenser Vorlesungen zur Ethik die Idee einer Psychologie sehr deutlich hervortritt – ich werde darauf noch zurückkommen – wird sie später zugunsten einer Deduktion der Ethik aus der Dialektik in den Hintergrund gedrängt. Dabei ist jedoch festzustellen, dass in der ersten ausführlichen, kompendienartig ausgearbeiteten Fassung der Dialektik 1814/15 die rationale Psychologie jenseits der Kantischen Kritik eine Erneuerung erfährt. Im § 228 des Transzendentalen Teils äußert sich Schleiermacher über das „Aggregat von Disciplinen“ der ehemaligen Metaphysik, also Ontologie, rationale Psychologie, Kosmologie und rationale Theologie.²⁰ Letztere – in Schleiermachers Transformation der metaphysica specialis die Ideen Gottes und der Welt – werden der rationalen Psychologie als deren Fluchtpunkt zugeordnet: „In der rationalen Psychologie kann nichts anderes enthalten sein wenn sie nicht fantastisch werden oder ins empirische streifen soll als die Entwiklung der Idee des Wissens und der Idee des Handelns wie beide auf die Idee Gottes und der Welt als constitutive Principien des menschlichen Daseins hinführen.“²¹ Aber auch die Ontologie ist auf die Ideen Gottes und der Welt bezogen, genauer: „das jede beiden Ideen constituirende Entsprechen des Seins zur Form des Wissens und somit auch […] die Entwiklung der Relativität aller Gegensätze. Also diese beiden Disciplinen sind correlata die nicht zu trennen sind, die leztere aber wesentlich unter die erstere subsumirt weil uns nur in der Grundbedingung unseres Seins diese Construction des endlichen Seins überhaupt gegeben ist.“²² Die rationale Psychologie, wie Schleiermacher sie in seiner Dialektik 1814/15 skizziert, erhält ihre besondere Funktion dadurch, dass sie gewissermaßen die Stelle
KGA I/2, 366. KGA I/1, 137: „so sehr auch die psychologischen Geseze von den physischen unterschieden seyn müsten, so gehörten sie doch ebenfals so fern unsre Handlungen nothwendig unter denselben stünden zu dem allgemeinen Naturmechanismus“. KGA II/10, 1, 152 f. Ebd. Ebd., 153.
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der transzendentalen Subjektivität einnimmt. Sie bezeichnet zunächst das Innesein der (transzendenten) Ideen Gottes und der Welt als der termini a quo und ad quem des Wissens und Handelns. Insoweit betrifft sie das unmittelbare als dasjenige Selbstbewusstsein, welches des transzendentalen Grundes inne ist. Nun gibt es daneben aber noch ein reflektiertes Selbstbewusstsein, welches in einer vermittelten Beziehung zum unmittelbaren Selbstbewusstsein steht, indem es die Einheit des Idealen und Realen zwar nicht im Absoluten verankert, aber doch auf diese Einheit bezogen ist und deren Folgen für das empirische Selbst- und Weltverhältnis beschreibt. Im reflektierenden Selbstbewusstsein ist uns, Schleiermacher zufolge, ein Dreifaches gegeben: (1) „daß wir beides Denken sind und Gedachtes und unser Leben haben im Zusammenstimmen beider“, (2) dass „das Wissen selbst […] uns […] nur im Sein gegeben“ sei, „aber als ein von ihm verschiedenes“, und (3), dass „ein gegenseitiges Werden“ von Denken und Sein „durch einander in der Reflexion und im Willen gegeben“ sei und niemand glauben könne, „daß beide beziehungslos neben einander hingehen“.²³ Die Einheit und Entsprechung von Denken und Sein erscheint hier als eine Tatsache des (Selbst‐) Bewusstseins auf der Ebene unseres endlichen Seins. In diesem Sinne bezeichnet Schleiermacher auch in der Dialektik-Vorlesung 1811 das durch unser Sein gesetzte Selbstbewusstsein als „Keim alles realen Wissens“.²⁴ In dieser Funktion taucht das reflektierte Selbstbewusstsein der empirischen Subjekte (das als Grundlage des realen Wissens und Handelns zugleich Weltbewusstsein ist) nur in den ersten beiden Dialektik-Vorlesungen 1811 und 1814/15 auf. In der Vorlesung 1818/19 verweist Schleiermacher für die Zusammenstimmung des Denkens und Seins ausdrücklich auf das unmittelbare Selbstbewusstsein, welches befragt werden müsse.²⁵ Dies geschieht proleptisch. Erst im Ausgang vom unmittelbaren Selbstbewusstsein werden dann Formen und Funktionen des Selbst- und Weltverhältnisses im Kontext des realen Wissens und Handelns beschrieben. Dabei bleibt es dann. Aus der transzendentalphilosophischen Perspektive der Dialektik ist dies konsequent. Der begründende Rekurs auf das reflektierte Selbstbewusstsein für das Zusammenstimmen von Denken und Sein trägt ein empirisches Element in den Begründungszusammenhang der Dialektik. Die Erklärung der Leistungen des empirischen Selbst- und Weltverhältnisses aus dem unmittelbaren Selbstbewusstsein als dem Innesein des transzendentalen Grundes beseitigt diesen Fremdkörper. In der letzten
Ebd., 93, § 101– 103. Vgl. KGA II/10, 2, 85, wo es im technischen Teil der Vorlesung 1811 heißt: „Nun aber finden wir eben in uns die Gegensätze von Seyn und Thun, (eine Identität des Seyns zieht sich in unserm Bewußtseyn durch die ganze Reihe des Thuns) und des Idealen und Realen, des Seyns und Begriffs (ohne den eben so wenig irgend ein Moment des Daseyns bestehn kann; denn es wird zum Bestehn ja immer Action und Seyn erfordert)[.] Dieses unser durch unser Seyn nothwendig gesetzte Selbstbewußtseyn ist der Keim alles realen Wissens. Das Resultat dieses Beysammenseyns ist die Bildung des Gegensatzes, als dessen Identität wir das Absolute setzen, in welcher es uns nicht mehr etwas bloß leeres ist.“ Ebd., 146.
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Bearbeitung der Einleitung zur Ethik (1816/17) heißt es, die Dialektik sei „nicht sowol die Durchdringung […] von Ethischem und Physischem, Beschaulichem und Empirischem, als vielmehr keines von beiden, […] das gehaltlose Abbild des höchsten Wissens, welches nur Wahrheit hat, inwiefern es in den beiden andern“, also Physik und Ethik ist.²⁶ Wenn die Psychologie, Schleiermacher zufolge, spekulative Blicke auf die Prinzipien unserer Seelentätigkeit wirft, dann wirft die Dialektik jetzt gewissermaßen in einer gegenläufigen Bewegung empirische Blicke auf diese Seelentätigkeit vom spekulativen Standpunkt aus. Auffällig ist, dass dieser Wechsel in der Begründungsstruktur der Dialektik genau dann erfolgt, als Schleiermacher zum ersten Mal die Disziplin der Psychologie ins Auge fasst. Man kann diesen Befund nach meiner Auffassung durchaus so interpretieren, dass Schleiermacher den Rekurs auf die empirische Psychologie (denn darum handelt es sich letztlich beim reflektierten Selbstbewusstsein) zugunsten der Reinheit der transzendentalen Begründung aus der Dialektik ausgegliedert und der Psychologie als einer gesonderten Disziplin zugewiesen hat, die dann als Komplement und empirischer Gegenpol zur Dialektik zu verstehen ist.²⁷ Das bedeutet indessen auch, dass die rationale Psychologie, der Schleiermacher, wie gesehen, eine besondere Rolle innerhalb seiner Transformation der metaphysischen Tradition zuweist, nicht mit der Psychologie als Einzeldisziplin konfundiert werden darf, und es bedeutet weiter, dass diese Einzeldisziplin für ihre spekulativen Blicke eben jenen spekulativen Gehalt voraussetzt, den Dialektik und Ethik begründend erschließen.
3. Wie steht es in diesem Zusammenhang mit der Ethik? Wäre die Ethik, als kritische Disziplin, deren Aufgabe es ist, das Empirische mit dem Spekulativen zu vermitteln, nicht eigentlich der natürliche Ort für die Psychologie, zumal die Ethik ja – als der Physik koordiniert – genau dort einsetzt, wo auch die Psychologie sich verortet, nämlich an der Schnittstelle zwischen Physik (bzw. Natur) und Ethik (bzw. Geschichte)? Tatsächlich stand die Psychologie einmal an dieser Stelle, nämlich in der Hallenser Ethik 1805/06 (über die Ethik 1804 lässt sich mangels überlieferter Zeugnisse nichts sagen). Ich zitiere aus der Nachschrift Köpke: „Die ganze Menschennatur erscheint uns […] zuvörderst als Leib für die Vernunft. Zu jenem gehört alles, was er vermöge seiner physischen Beschaffenheit mit sich in Verbindung bringen kann. Auch das Psychische denken wir uns als Organ für die Vernunft. […] Eine vollkomne Harmonie soll zwischen den Psychischen Kräften mit den Qualitäten der Natur statt finden. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, hg.v. Otto Braun (Werke. Auswahl in vier Bänden, Bd. 2), Leipzig ²1927, 537; die Datierung nach Birkner, Einleitung, in: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Ethik (1812/13) mit späteren Fassungen der Einleitung, Güterlehre und Pflichtenlehre, hg.v. Hans-Joachim Birkner, XXIX. Vgl. Andreas Arndt, Friedrich Schleiermacher als Philosoph, Berlin und Boston 2013, 379 – 394.
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Die einzelne Kraft in der Natur soll auch ihre einzelne in dem Menschen haben; welche ihr gleichsam korrespondirt. Hier zeigt sich alsdann das Talent welches in einer besondern Vereinigung des physischen und psychischen im Menschen besteht“.²⁸ In seinem Manuskript zu dieser Vorlesung, dem sogenannten Brouillon zur Ethik, bestimmt Schleiermacher die Ethik als „die ganze eine Seite der Philosophie. Alles erscheint in ihr als Produciren, wie in der Naturwissenschaft als Product. Jede muß etwas anders aus der andern als positiv aufnehmen […]. Sonach theilt sich alles reale Wissen in diese beiden Seiten.“²⁹ Auf die „Frage, was man an die Spize der Sittenlehre stellen soll“, verweist Schleiermacher auf eine „ursprüngliche Anschauung“, welche man „nicht in einem Saz zusammenfassen“ könne, weshalb man „also unmittelbar in der Anschauung haften bleiben“ müsse.³⁰ Diese „sittliche Anschauung sezt nun den Menschen, soweit ihn die theoretische Philosophie als Natur giebt, mit seinem geistigen Vermögen als Leib und sezt diesem als Seele entgegen die Freiheit des Vermögens der Ideen“³¹, d. h. sie bezieht sich auf den Schnitt- bzw. Indifferenzpunkt von Physik und Ethik. Das Vermögen der Ideen sei die den Menschen einwohnende Vernunft, in der ihre Freiheit von der unmittelbaren Naturbestimmtheit gründe.³² Die den Menschen beseelende Vernunft sei Teil eines universellen, sich durch alle Gestaltungen und Stufen des lebendigen Seins hindurchziehenden Prinzips. Mit der „alten Philosophie“ könne das ganze Universum „als ein Lebendes und Beseeltes“ gesetzt und (in Anlehnung an Anaxagoras) der nous als beseelendes Prinzip gesetzt werden.³³ Der Ausdruck für die Beziehung der menschlichen Seele auf ein höheres geistiges Prinzip sei dann die zu „ahndende“ Gottebenbildlichkeit des Menschen.³⁴ Der Ausgangspunkt der Psychologie entspricht dem, was Schleiermacher 1805/06 zu Beginn der Ethik ausführt. Er ist die leib-seelische Einheit, die – und darin besteht das unterscheidende Merkmal zur Anthropologie überhaupt – im Blick auf das geistige Prinzip thematisiert wird und durch diese Perspektive nun einen „Bruch“ mit der Anthropologie darstellt. Die dort erwähnte „Reihe der Pneumatologie“³⁵ entspricht der Beziehung der menschlichen Seele auf das geistige Prinzip. Die „höchste Seelenkunde“³⁶ wäre erst die, welche diese Reihe der Pneumatologie abgeschritten und somit die vorausgesetzte leib-seelische Einheit an ihre spekulativen Voraussetzungen gebunden hätte. Die Psychologie bleibt daher nach Schleiermacher „vorbereitende“ Seelenkunde, die erst in der vollständigen Durchdringung des Physischen und Ethi „Ethik / Nach dem Vortrage / des HE. Prof. Schleiermacher. / Michaelis 1805–Ostern 1806. / Friedrich Carl Köpke.“ Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, 246 Bl. 8°, Ms. Germ. oct. 1215, Bl. 22 recto f. Schleiermacher, Sittenlehre (vgl. Anm. 26), 79 f. Ebd., 82. Ebd. Ebd. Ebd., 84. Ebd.; vgl. zur Bindung der Vernunft in der Natur auch 88. Schleiermacher, Schriften (vgl. Anm. 2), 846. Ebd., 845.
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schen vollendet wäre.³⁷ Der Anfang der Psychologie ist demnach empirisch; sie beginnt mit der „Darlegung der verschiedenen Tätigkeiten der Seele aus der Erfahrung“,³⁸ um diese Erfahrung mit ihren spekulativen Voraussetzungen – den geistigen Prinzipien – zu vermitteln. Sie ist daher eine Verbindung empirischer bzw. aposteriorischer Elemente einerseits und spekulativer bzw. apriorischer Elemente andererseits.³⁹ Die ursprüngliche Konzeption der Ethik umfasste demnach wenigstens den Ausgangspunkt der Psychologie und verfolgte von dort aus den Prozess der Durchdringung des Physischen und Ethischen. Dass diese Konzeption aufgegeben wurde, hängt mit den besonderen Umständen zu Beginn des Lehrbetriebs der neugegründeten Berliner Universität zusammen und hat also eher einen äußerlichen Grund. Nachdem die Berufung seines Freundes aus Hallenser Zeiten, Henrich Steffens, misslang, konnte Schleiermacher seine Ethik nicht mehr an dessen Naturphilosophie (in Schleiermachers Terminologie: Physik) anschließen, was ihn veranlasste, seine Wissenschaftskonzeption zunächst als Dialektik voranzuschicken, um sich auch deutlich von der Konkurrenz der Fichteschen Wissenschaftslehre abzusetzen; dies geschieht ausdrücklich, um auf den Standpunkt der Ethik vorzubereiten.⁴⁰ In der Ethik selbst wird dies dann so durchgeführt, dass – erstmals in der Vorlesung 1812/13 – eine „Deduction der Ethik aus der Dialektik“⁴¹ an die Stelle der ursprünglichen Anschauung tritt. Lemma 9 lautet: „Der Gegensaz ist uns eingeboren unter der Form von Seele und Leib, Idealem und Realem, Vernunft und Natur“.⁴² Damit wird unterstrichen, dass die Psychologie in der Weise, wie sie 1818 Gegenstand einer besonderen Disziplin wird, zumindest in ihren Anfangsgründen in der Dialektik verortet und aus ihr vorauszusetzen ist. Wie dies innerhalb der Dialektik geschieht und dass Schleiermacher diese Behandlungsweise aus offenbar systemlogischen Gründen der Vereinheitlichung des transzendentalen Begründungsverfahrens wieder aufgibt, habe ich bereits ausgeführt. Dies führt jedoch nicht dazu, dass die Psychologie der Ethik wieder integriert werden würde, sondern es führt zur Auslagerung der Thematik in eine eigene Disziplin, deren Ort im System des realen Wissens unklar bleibt, denn schließlich behauptet Schleiermacher ja weiterhin durchgehend, dass Physik und Ethik das gesamte reale Wissen erschöpfen und alle besonderen, sei es kritischen, sei es technischen Disziplinen als Unterdisziplinen der Ethik zu konzipieren seien. Genau dies ist mit der Psychologie jedoch nicht ausdrücklich der Fall. Sie schwebt nicht nur ortlos zwischen Physik und Ethik, sondern auch zwischen Empirie und Spekulation.
Ebd. Ebd. Vgl. auch Friedrich Schleiermacher, Psychologie, hg.v. Ludwig George, Berlin 1862 (Sämmtliche Werke, Abt. 3, Bd. 6), 492 ff. Vgl. die Historische Einführung in KGA II/10, 1, VIII–X. Schleiermacher, Sittenlehre (vgl. Anm. 26), 247. Ebd., 248.
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1832 hat Schleiermacher sie in seinen Aufzeichnungen zur Ethik näher zu bestimmen versucht. „Die Erklärung der Ethik als Wissen um das gesamte Thun des Geistigen wäre zu weit, weil Logik und Psychologie auch darunter gehören würden.“⁴³ Hier scheint, wenn auch nur negativ, kurz die Möglichkeit auf, Psychologie und Ethik in einer integrativen Geistesphilosophie zusammenzuführen, eine Möglichkeit, die auf der Linie der Hallenser Ethik liegt. Umso mehr Interesse verdienen Schleiermachers Argumente dafür, dass diese Möglichkeit nicht realisiert werden soll. An der zuletzt zitierten Stelle fährt Schleiermacher fort: „Die Psychologie entspricht der Naturlehre und Naturbeschreibung, ist also empirisches Wissen um das Tun des Geistigen“. Naturlehre und Naturbeschreibung sind hier offenbar im Sinne der rein empirischen Naturkunde zu verstehen, da wenig später die Physik ausdrücklich als Naturwissenschaft vorgestellt und die Psychologie als Teil des rein empirischen Wissens dadurch begrenzt wird, dass die empirische Seite erst durch die Geschichtskunde – das Pendant zur Naturkunde – erschöpft werde.⁴⁴ Dieser Abgrenzungsversuch von Psychologie und Ethik ist in sich inkonsistent und offenbar missglückt. Er unterläuft den erklärten Hauptzweck der Psychologie, die spekulativen Blicke auf das geistige Prinzip, also die Vermittlung des Empirischen und Spekulativen bzw. Aposteriorischen und Apriorischen, indem er die Psychologie einseitig der rein empirischen Naturkunde zuschlägt. Zugleich soll damit das Tun des Geistigen wenigstens basal gefasst werden, das Voraussetzung dessen ist, was in der Geschichtskunde beschrieben wird. Die Verwirrung wird noch größer, wenn Schleiermachers hieraus gefolgerte Definition der Ethik hinzugenommen wird; sie lautet: „Sittenlehre ist also speculatives Wissen um die Gesamtwirksamkeit der Vernunft auf die Natur“.⁴⁵ Der Gegensatz von spekulativ und empirisch, auf den Schleiermacher seine Definition gründet, kollidiert nicht nur mit dem genannten Hauptzweck der Psychologie, er sagt auch gar nichts aus zu der zunächst leitenden Fragestellung, ob die Ethik das Wissen um das geistige Tun erschöpfe. Ginge es nur um den Gegensatz von Empirie und Spekulation, dann müsste, sofern die Seele ja auch ethisch als eingeborene Vernunft bestimmt wird, zur vollständigen Beschreibung des geistigen Tuns auch eine spekulative oder wenigstens spekulativ gerichtete Psychologie etabliert werden – innerhalb der Ethik oder in Ergänzung zu ihr.
4. Schleiermachers Psychologie bleibt in ihrem Verhältnis zu den anderen Disziplinen auf eine eigentümliche Weise ortlos und unbestimmt. Das hat offenbar vor allem damit zu tun, dass Schleiermacher das ihr zugehörige Themenfeld mehrfach verschiebt. Dieses
Ebd., 632. Ebd., 633. Ebd.
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scheint 1799 zuerst in der Rezension von Kants Anthropologie auf und findet dann seinen natürlichen Ort zunächst im Schnittfeld zwischen Natur und Menschheitsgeschichte am Beginn der Hallenser Ethik, wo es in die ursprüngliche Anschauung des sittlich handelnden Menschen integriert wird. Von dort wandert es im Zuge der Umstrukturierung des Systems der Wissenschaften in den Berliner Vorlesungen in die neu geschaffene Disziplin der Dialektik, wo es in dem Verhältnis des reflektierten, empirischen und des unmittelbaren Selbstbewusstseins erscheint. Mit der Beseitigung dieses empirischen Elements aus dem Begründungszusammenhang der Dialektik wird dann die Psychologie verselbstständigt, ohne dass vor allem das Verhältnis zur Ethik geklärt würde. Schleiermachers späte Intuition von 1832, man könne Ethik und Psychologie in eine umfassende Geistesphilosophie integrieren, scheint mir der Stellung der Psychologie sowohl zur Physik als auch zum ethischen Prozess am meisten gerecht zu werden. So hatte bereits Gunter Scholtz vorgeschlagen, dass man Schleiermachers Psychologie „als Ergänzung zu seiner Ethik“ lesen solle.⁴⁶ Der elementarische Teil der Psychologie behandelt ja mit dem individuellen seelischen Dasein die Träger des ethischen Prozesses, deren Tätigkeits- und Bewusstseinsformen – bis hin zum Gattungsbewusstsein – im Ausgang vom ursprünglichen Naturverhältnis im Tier-MenschÜbergangsbereich entwickelt werden. Die Ethik – namentlich die Güterlehre – schließt hieran an, indem sie den Gattungsprozess im gesellschaftlichen Naturverhältnis als Natur- und Vernunftbildungsprozess entwickelt, bis in die institutionalisierten Formen des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses in Staat, Akademie, Kirche und freier Geselligkeit bzw. Ökonomie, Eigentum, Wissenschaft, Kunst und Religion. Sofern dieser Prozess als fortschreitende Durchdringung von Empirie und Spekulation verstanden wird, thematisiert er zugleich auch die geschichtliche Seite des Wissens, dessen spekulative Voraussetzungen die Dialektik erschließt, die von daher auch rückläufig die spekulative Tendenz der ursprünglichen Seelentätigkeit begründet, die dort nur vorausgesetzt werden kann. In dem Titel meines Beitrags habe ich gefragt, ob Schleiermachers Psychologie eine Philosophie des subjektiven Geistes sei. Von Schleiermacher aus lässt sich das nicht abschließend beantworten. Die Frage lässt sich nur dann bejahen, wenn durch eine Konjektur am System Psychologie und Ethik integriert werden, wie ich es soeben angedeutet habe. Dem Einwand, ob eine solche Konjektur überhaupt berechtigt sein könne, würde ich durch den Hinweis darauf begegnen, dass ein systematischer Umgang mit der Psychologie ohne solche Konjekturen ohnehin nicht auskommen kann. Die von mir vorgeschlagene Konjektur hätte den Vorzug, Schleiermachers Psychologie und Ethik mit Hegels Philosophie des Geistes ins Gespräch zu bringen und dabei unter anderem auch deutlich zu machen, dass in der Epoche der Klassischen Deutschen Philosophie wohl nur Schleiermacher über ein vergleichbares Konzept verfügt, das – von Hegel aus gesehen – den subjektiven, objektiven und absoluten Geist im Prozess
Gunter Scholtz, Die Philosophie Schleiermachers, Darmstadt 1984, 165.
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seiner geschichtlichen Selbstbildung umfasst – ungeachtet der Unterschiede in der Auffassung der Erkenntnis des Absoluten. Über die schöne Seele würden Hegel und Schleiermacher sich dabei nicht entzweien lassen. Denn wirklichkeitslos, nur in ihrem Gemüt sich hin- und herwendend, kann nach Schleiermacher die Seele im ethischen Prozess gar nicht sein, wenn sie denn nicht als unethisch – und damit jedenfalls auch nicht als schön – angesehen werden soll. Ethisch ist nur dasjenige, in dem Individualität mit Welthaltigkeit sich verbindet und in dem auch der Gegensatz gegen die Welt aufgehoben ist, den Hegel dem romantischen Bewusstsein zu Unrecht generell zuschreibt.
Roderich Barth / Gießen
„Frömmigkeit nannten sie all diese Gefühle“ Schleiermacher und die moderne Emotionsdebatte
1. Gefühle im Diskurs der Gebildeten In der Zweiten Rede über die Religion findet sich eine Bemerkung, die über Schleiermachers Verständnis von Frömmigkeit und deren Zusammenhang mit Gefühlen Ausdruck gibt: „Die Alten wußten das wohl: Frömmigkeit nannten sie all diese Gefühle, und bezogen sie unmittelbar auf die Religion, deren edelster Theil sie ihnen waren“.¹ Der Kontext für diese Bemerkung ist bekanntlich der Versuch, unter den Frühromantikern einen ganz neuen Zugang zum eigentümlichen Wesen der Religion zu eröffnen. Allein – so die Überzeugung des jungen Theologen – mit rhetorischem Effet und anspruchsvoller Begriffsarbeit lässt sich noch der Zugang zu einem Phänomen freilegen, das er bei seinen Zeitgenossen von vielen Vorurteilen und Missverständnissen verstellt sieht. Und da die Begriffsarbeit allein wiederum die Gefahr der Abstraktion in sich birgt, so lässt Schleiermacher der begriffsanalytischen Erörterung seines neuen Religionsbegriffs immer wieder auch Konkretionen folgen. Dazu gehört unter anderem die Entfaltung einer den konkreten Anschauungen des Universums jeweils entsprechenden, dieses Tableau aber zugleich weiter ausdifferenzierenden Sequenz von ganz konkreten Gefühlen: der ›innigen Ehrfurcht‹, der ›ungekünstelten Demut‹, einer ›innigen Liebe und Zuneigung‹, der ›Dankbarkeit‹, dem ›herzlichsten Mitleid‹ und der Ewigkeitssehnsucht.² Es ist genau diese Sequenz von konkreten Gefühlen, die Schleiermacher mit dem Hinweis zusammenfasst, dass die Alten sie mit dem Begriff Frömmigkeit bezeichneten und sie als edelsten Teil der Religion ansahen. Diese Feststellung ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Zunächst enthält sie eine begriffsgeschichtliche Reflexion über den Terminus, der dann gut zwanzig Jahre später in seiner Glaubenslehre zum Spitzenbegriff avanciert und förmlich den Leitbegriff der Reden, also den Religionsbegriff bzw. den Begriff der Religiosität ablöst. Entsprechend findet sich daher in der Glaubenslehre an prominenter Stelle, nämlich zum Abschluss der Abgrenzung von Frömmigkeit gegenüber Wissen und Tun eine ganz ähnlich lautende Bemerkung: „Endlich wird niemand läugnen, daß es Gefühlszustände giebt, welche wir, wie Reue Zerknirschung Zuversicht Freudigkeit zu Gott, an
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Schriften aus der Berliner Zeit 1796 – 1799, hg.v. Günter Meckenstock (KGA I.2), Berlin / New York 1984, 237 (= OP 111). AaO. 236 f (= OP 108 – 111). Das letzte von mir mit Ewigkeitssehnsucht zusammengefasste Gefühl beschreibt Schleiermacher wörtlich als „das sehnlichste Verlangen umzukehren und uns mit allem was uns angehört in jenes heilige Gebiet zu retten, wo allein Sicherheit ist gegen Tod und Zerstörung.“ DOI 10.1515/9783110464573-015
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und für sich fromme nennen ohne Rüksicht auf ein daraus hervorgehendes Wissen und Thun“.³ Bemerkenswert ist jene Feststellung in den Reden sodann insofern, als sie zeitdiagnostisch den Verlust eines positiven Begriffs von Frömmigkeit und des Wissens um die zentrale Bedeutung der Gefühle dabei zu beklagen scheint. Dass dies bemerkenswert ist, mag freilich dann übersehen werden, wenn man sich von tief verwurzelten Klischees blenden lässt und die Aufklärung als gefühlskaltes Zeitalter eines asketischen Moralismus und einer instrumentellen Vernunft wahrnimmt, gegen die erst die romantische Reaktion wieder gleichsam im Naturgefühl schwelgend die emotionale Dimension zur Geltung gebracht habe. Doch derartige Abbreviaturen sind nicht dazu geeignet, den debattenpolitischen Hintergrund von Schleiermachers früher Bemerkung zur Frömmigkeit und ihren Gefühlen aufzuhellen. Denn das 18. Jahrhundert war eben nicht nur das Jahrhundert des mündigen Verstandesgebrauchs und der Versittlichung, sondern zugleich ein Jahrhundert des Stürmens und Drängens, der Empfindsamkeit und vor allem der psychologischen „Erfindung der Gefühle“.⁴ Von daher empfiehlt es sich, Schleiermachers Erinnerung an das Verständnis von Frömmigkeit bei den Alten vielmehr als eine Reaktion auf spezifische Entwicklungen im aufgeklärten Gefühlsdiskurs zu verstehen. Woran wäre hier zu denken? Ein möglicher Kandidat wäre die gerade innerhalb der Theologie wachsende Skepsis gegenüber dem Bestreben, das „Gefühl [ …] zum Grund der Religion“ zu erheben, wie es eine Anmerkung Schleiermachers zu einer Dogmatik-Einführung des Jenaer Theologen Ludwig Baumgarten-Crusius in der ersten Auflage der Glaubenslehre formuliert.⁵ Und auch schon der debattenpolitische Hintergrund der Reden kann derartige Entwicklungen voraussetzen, man denke etwa nur an Spaldings durchaus kritische Gedanken über den Werth der Gefühle in dem Christenthum. ⁶ Darüber, auf wen Schleiermacher wiederum mit der Autorität der ›Alten‹ anspielt, ob es die konkrete praxis pietatis seiner Herrnhuter Wurzeln ist oder ob er – vom Sprachgebrauch eher naheliegend – an antike Affektlehren oder die cura animae denkt, lässt sich trefflich spekulieren. Wichtig ist jedoch ein in den Reden explizit angedeuteter zweiter Hintergrund. Im Anschluss an unsere Stelle über die frommen
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage (1830/31), hg.v. Rolf Schäfer (KGA I.13,1), Berlin / New York 2003, 29 f. (§ 3.4 = SW 14). Vgl. dazu die den theoriegeschichtlichen Wandel dokumentierende und die Erfindung der Gefühle auf die Mitte des 18. Jahrhunderts datierende Studie von Jutta Stalfort, Die Erfindung der Gefühle. Eine Studie über den historischen Wandel menschlicher Emotionalität (1750 – 1850), Bielefeld 2013; vgl. ferner Fernando Vidal, The Eighteenth Century as ›Century of Psychology‹, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 8 (2000), 407– 436. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1821/22), hg.v. Hermann Peiter (KGA I.7,1), Berlin / New York 1980, 26. Johann Joachim Spalding, Gedanken über den Werth der Gefühle in dem Christenthum (1.–5. Auflage), hg.v. Albrecht Beutel u. Tobias Jersak (KA I.2), Tübingen 2005.
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Gefühle fährt Schleiermacher nämlich fort: „Auch Ihr kennt sie, aber wenn Euch so etwas begegnet, so wollt Ihr Euch überreden es sei etwas sittliches, und in der Moral wollt Ihr diesen Empfindungen ihren Plaz anweisen“.⁷ Es ist also nicht zuletzt die Vereinnahmung des emotionalen Lebens für die Moral, gegen die Schleiermacher mit seinem Hinweis auf das Wissen der Alten protestiert. Denn nicht nur die moral sentiments der in Deutschland eifrig rezipierten und in Schleiermachers Reden mit dem Gegenentwurf eines religiösen Sinns konfrontierten britischen Philosophen sind hier zu nennen. Sondern gerade auch die Kantische Moralphilosophie ist ein vorzüglicher Adressat dieser kritischen Erinnerung. Zwar hatte sich Kant nach anfänglichen Versuchen im Gefolge des moral sense radikal von einer gefühlstheoretischen Begründung der Ethik losgesagt,⁸ doch findet sich dann in der Durchführung seiner Vernunftethik im Kontext des Problems der Realisierung von Autonomie unter den Bedingungen von Geschichte und humaner Ganzheitlichkeit eine erstaunliche Dichte von Emotionen. Dabei ist keineswegs nur an das intellektuelle Gefühl der Achtung zu denken oder an das von Kant der Religion zugewiesene Gefühl der Hoffnung, das erstaunlicher Weise in den Reden kaum eine Rolle spielt, sondern vor allem an die schon bei Kant begegnende Korrelation von Ehrfurcht und Demut oder auch an die Liebe und die Dankbarkeit.⁹ Dass dabei teils implizite, teils explizite Anklänge an die christlichen Symbolbestände vorliegen, wird den um die Selbständigkeit der Religion besorgten Schleiermacher besonders motiviert haben. Ich fasse zusammen: Vor dem Hintergrund verschiedener Tendenzen der Spätaufklärung fürchtet also der junge Romantiker, dass die Religion bei der eifrigen Erkundung der Gefühlswelten seiner Zeitgenossen gar nicht erst in den Blick gerät. Gerade für die Religion im Sinne ihrer subjektiven Vollzugsform, die Schleiermacher schon hier mit dem später deutlich aufgewerteten Begriff der Frömmigkeit bezeichnen kann, seien aber Gefühle schlechterdings zentral. Daher misst er ihnen in Mitten von Anschauung, Bildung, Mitteilung und geschichtlichen Erscheinungsformen der Religion eine große Aufmerksamkeit in seinen Reden zu, die weit über die Ausführungen und Konkretionen zum Gefühlsbegriff in der Zweiten Rede hinausreichen. Von der „heiligen Scheu“ in der Apologie bis zur christentumstheoretischen Zentralstimmung einer „heilige[n] Wehmuth“ in der Fünften Rede bilden sie einen roten Faden des dichten Gewebes der Frühschrift.¹⁰ Und es bedarf keiner besonderen Beweisführung dafür, dass Schleiermacher in seiner werkgeschichtlichen Entwicklung, auch wenn es zu Verschiebungen gegenüber der frühen Religionstheorie gekommen ist, die prinzipielle Bedeutung des
KGA I.2 (s. Anm. 1), 237 (= OP 111). Dieter Henrich, Hutcheson und Kant, in: Kant-Studien 49 (1957/58), 49 – 69. Vgl. Paul Guyer, Kant über moralische Gefühle. Von den Vorlesungen zur Metaphysik der Sitten, in: Kants „Metaphysik der Sitten“ in der Diskussion. Ein Arbeitsgespräch an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 2009, hg.v. Werner Euler und Burkhard Tuschling, Berlin 2013, 177– 209. Birgit Recki, Kant on Religious Feeling – An Extrapolation, in: European Journal for Philosophy of Religion 6/3 (2014), 85 – 99. KGA I.2 (s. Anm.1), 196 (= OP 17); 320 (= OP 299).
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Gefühlsbegriffs beibehalten, ja in gewisser Hinsicht das Gefühl gegenüber den Reden sogar noch stärker ausgezeichnet hat. Das hat ihm auch letztendlich den nicht immer freundlich gemeinten Titel des ›Gefühlstheologen‹ eingebracht. Da sich der Status eines Klassikers nicht zuletzt dem Umstand verdankt, dass seine Relektüre auch für aktuelle Debatten Impulse und Anregungen bereitzuhalten vermag, soll nun im Folgenden Schleiermachers Verständnis des Gefühls im Allgemeinen und dessen Bedeutung für die Religion im Besonderen mit der aktuellen Emotionsdebatte ins Gespräch gebracht werden. Denn auch heute stehen die Gefühle wieder im Fokus des Interesses der Gebildeten. Man spricht förmlich von einer ›Renaissance der Gefühle‹. Das rührt vor allem daher, dass sich im 20. Jahrhundert in den unterschiedlichsten Wissenschaften eine merkwürdige Gefühlskälte ausgebreitet hatte. Wie und warum es dazu kommen konnte, ist eine Frage für sich. Und auch die Gründe dafür, dass es dann am Ende des letzten Jahrhunderts zu einem emotional turn gekommen ist, sind vielfältig. Ausgangspunkt dürfte jedoch ein wiedererwachendes Interesse in der sogenannten sprachanalytischen Philosophie gewesen sein, die den Gefühlen aufgrund ihrer Wurzeln im logischen Positivismus und des damit verbundenen Methodenideals zunächst wenig Beachtung schenkte. Doch immanente Probleme der Moralphilosophie haben dann zu einer Neubewertung der Emotionen geführt, die mehr sein wollte als ein bloßes Wiederanknüpfen an klassische Konzepte einer Gefühlsethik. Von diesen Anfängen ausgehend strahlte die Debatte in die angelsächsische theory of mind aus und ist dann über die Schulgrenzen hinaus auch Verbindungen etwa mit der Phänomenologie der Leiblichkeit kontinentaler Herkunft eingegangen. Über die Fachgrenzen der Philosophie hinaus ergaben sich einerseits Synergieeffekte mit den Kognitionswissenschaften und analogen Entwicklungen in der Hirnforschung, andererseits sind Forschungen der Sozial- und Kulturwissenschaften zur Seite getreten, sodass es sich inzwischen um einen kaum mehr überschaubaren interdisziplinären Diskurs handelt. Im angelsächsischen Sprachraum verdichtete sich die Debatte bereits seit den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Im deutschen Sprachraum ist ein signifikantes Ansteigen der Veröffentlichungen ab der Jahrtausendwende festzustellen.¹¹ Blickt man von dieser neueren Debatte aus auf die kritische Zeitdiagnose Schleiermachers zurück, so besteht nicht nur in der Konzentration auf die moralische und ästhetische Bedeutung der Emotionen unter Absehung vom Religionsthema eine interessante Parallele, sondern auch die theologische Skepsis gegenüber den Gefühlen hat Analogien. Denn eine Beteiligung der Theologie am interdisziplinären Emotionsdiskurs der Gegenwart kommt, wenn überhaupt, erst allmählich in Gang. Ent-
Einen Überblick über die neueren Emotionsdebatten bieten Sabine A. Döring, Die Moralität der Gefühle: Eine Art Einleitung, in: Dies. / Verena Mayer (Hg.), Die Moralität der Gefühle, Berlin 2002, 15 – 35; Christoph Demmerling / Hilge Landweer, Philosophie der Gefühle.Von Achtung bis Zorn, Suttgart / Weimar 2007, 1– 34; Sabine A. Döring, Allgemeine Einleitung: Philosophie der Gefühle heute, in: Dies. (Hg.), Philosophie der Gefühle, Frankfurt am Main 2009, 12– 65.
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sprechend hat sich die allgemeine Emotionsdebatte auch erst spät dem intrikaten Zusammenhang von Religion und Gefühl geöffnet.¹² Wenn ich im Folgenden die Gefühlstheorie Schleiermachers mit der aktuellen Emotionsdebatte ins Gespräch bringen will, so kann das natürlich nur in exemplarischer Weise geschehen. Weder eine Darstellung des im Gesamtwerk verästelten Gefühlsverständnisses Schleiermachers ist möglich noch ein auch nur ansatzweise repräsentativer Überblick über die irritierende Vielfalt von neueren Emotionstheorien. Ich werde zunächst versuchen, anhand einiger Schlaglichter auf die neuere Emotionsdebatte ein Desiderat auszuweisen, von dem aus ich mich dann zu Schleiermacher zurückwenden werde. Dabei werde ich zunächst vom allgemeinen Emotionsverständnis ausgehen und erst zum Schluss auf die frommen Gefühle zurückkommen.
2. Motive, Grundlinien und Desiderate der aktuellen Emotionsdebatte Dass der emotional turn mit einer moralphilosophischen Neubewertung der Gefühle anhob und sich darin ein durchhaltender Schwerpunkt der neueren Debatte zeigt, hatte ich ebenso erwähnt, wie den Umstand, dass man hierbei gegenüber klassischen Gefühlsethiken ein grundlegend anderes Verständnis der Gefühle zu etablieren suchte.¹³ Man kann dies prägnant an einer terminologischen Differenz verdeutlichen, die für die neuere Emotionsdebatte grundlegend geworden ist und die Leitbegriffe selbst betrifft: Die Unterscheidung zwischen feeling und emotion. Unter die sogenannten feeling- oder auch Empfindungstheorien kann man diejenigen Auffassungen subsumieren, die das Gefühl im Kern als ein wie auch immer näherbestimmtes Selbstverhältnis verstehen. Gefühle werden – so etwa in der hier immer wieder herangezogenen Theorie des schottischen Philosophen David Hume, in gewisser Weise aber auch in den physiologischen Modellen der James-Lange-Tradition – als reflexive Einstellungen oder als Selbstwahrnehmungen eines subjektiven Zustandes verstan-
Exemplarisch lässt sich das Fehlen des Religionsthemas und der Theologie zeigen an: The Oxford Handbook of Philosophy of Emotion, ed. by Peter Goldie, Oxford 2010. Nach systematischen und historischen Teilen wird explizit die Bedeutung der Emotionen für die praktische Vernunft und Moral einerseits, für die Kunst und Ästhetik andererseits reflektiert – die Religion fehlt. Über die neu einsetzende Erforschung zu Religion und Gefühl informieren z. B. die Bände: Ole Riis / Linda Woodhaed, A Sociology of Religious Emotion, Oxford 2010; Lars Charbonnier / Matthias Mader / Birgit Weyel (Hg.), Religion und Gefühl. Praktisch-theologische Perspektiven einer Theorie der Emotionen. FS für W. Gräb, Göttingen, 2013 sowie Roderich Barth / Christopher Zarnow (Hg.), Theologie der Gefühle, Berlin / Boston 2015. Vgl. dazu Sabine A. Döring, Die Moralität der Gefühle (s. Anm. 11), 15: „Ich werde zeigen, daß die Integration der Gefühle, wie sie in der Moraltheorie der Gegenwart angestrebt wird, keineswegs bloß eine Renaissance der klassischen Gefühlsethik darstellt. […] Es handelt sich vielmehr um einen von Grund auf neuen Ansatz normativ-ethischer Theoriebildung.“
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den. Als solche sind Gefühle wesentlich durch Erlebnisse von einer bestimmten Qualität und Intensität ausgezeichnet. Daher kann dieser Ansatz auch die motivationale Kraft verständlich machen, die affektiven Einstellungen nachgesagt wird. Aber es fehlt ihnen eben zugleich auch ein wesentliches Merkmal, das sie zu rechtfertigenden Gründen für moralisches Handeln machen könnte. Denn subjektive Gefühle sind demzufolge nicht an objektiven Kriterien messbar und in diesem Sinne irrational. Um nun diesem Dilemma zu entgehen, verweisen neuere, kognitivistische Emotionstheorien unbeschadet aller Unterschiede auf die Intentionalität von Emotionen. Ein Großteil der Evidenz wird dabei auf den sprachlichen Ausdruck bezogen: Wir fürchten uns vor etwas, wir trauern oder freuen uns über etwas, wir sind jemandem dankbar für etwas etc. – Emotionen sind demzufolge nicht so sehr Repräsentationen eines subjektiven Zustandes, sondern vielmehr Repräsentationen von etwas in der Welt. Genau für dieses Merkmal ist in der neueren Emotionsdebatte der Begriff emotion in Abgrenzung gegenüber feeling reserviert. Auch im deutschen Sprachgebrauch versucht man diesen terminologischen Unterschied zwischen intentionaler Emotion im Gegensatz zum subjektiven Gefühl oder zur Empfindung abzubilden, wobei der Gefühlsbegriff zugleich weiterhin auch als Oberbegriff verwendet wird.¹⁴ Diese Hervorhebung der Intentionalität von Emotionen ist im Grunde genommen die Geburtsstunde der neueren Emotionsdebatte, die sich infolge dessen zunächst vor allem an einer adäquaten Konzeptionalisierung der Intentionalität sowie ihrer Verhältnisbestimmung zu anderen Formen derselben abarbeitet. Für ersteres ist vor allem die Konzeption des formal objects der Emotionen maßgeblich, wie sie etwa von Ronald de Sousa in Fortführung von Anthony Kenny entwickelt wurde, der dieses Konzept wiederum scholastischen Traditionen entlehnt und zugleich mit der Intentionalitätsforschung eines Brentano und Husserl in Beziehung gesetzt hatte.¹⁵ Aber auch in der Folge wird dieser Ansatz kontinuierlich weiterentwickelt.¹⁶ Der intentionale Bezug von Emotionen ist demzufolge so vorzustellen, dass Emotionen sich vermittelt durch ihr formales Objekt auf entsprechende Gegenstände beziehen. Das formale Objekt zeichnet gleichsam den Gegenstandsbereich der emotionalen Intentionalität vor und individualisiert dadurch zugleich die Emotion. Emotionen unterscheiden sich diesem Ansatz gemäß nicht durch eine spezifische Erlebnisqualität, sondern durch das ihnen eigentümliche formale Objekt, wie etwa ärgerlich, erfreulich oder beneidenswert. Das letztgenannte Beispiel kann dabei auf einen weiteren Aspekt hinweisen: Emotionen sind nicht einfach nur deskriptive Repräsentationen, sondern Bewertungen. Sie sind also intentional, d. h. auf etwas in der Welt bezogen, und dabei zugleich repräsenta-
Sabine A. Döring, Philosophie der Gefühle heute (s. Anm. 11), 14, kann in diesem Sinne auch zwischen „nichtemotionalen“ und „emotionalen“ (= intentionalen) Gefühlen unterscheiden. Zum Gegensatz von Feelingtheorien und kognitivistischen Emotionstheorien vgl. aaO. 29 ff. Anthony Kenny, Action, Emotion and Will, London 1963, 194– 202. Ronald de Sousa,The Rationality of Emotion, Cambridge, Mass./London, 1987, 107– 139. Vgl. etwa Bennett W. Helm, Emotional Reason. Deliberation, motivation, and the nature of value, Cambridge 2001, 34; 62 ff.
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tional-evalutativ, d. h. wir bewerten mit ihnen etwas in der Welt mit genau den Eigenschaften, die das formale Objekt der Emotion bestimmt. Der kognitivistische Neuansatz konnte Emotionen daher förmlich als Werturteile verstehen. Unabhängig von der durchaus umstrittenen Urteilstheorie ist mit der Betonung der Intentionalität von Emotionen jedoch zumindest ein spezifisches Verständnis ihrer Rationalität möglich. Denn eine Emotion kann demgemäß einer Situation bzw. einem möglichen Gegenstand und dessen objektiven Eigenschaften angemessen sein oder eben nicht. Von daher eröffnet dieses kognitivistische Verständnis eine Antwortperspektive auf die im Ausgang problematisierte Frage, ob Emotionen als rechtfertigende Gründe im ethischen Sinne in Anspruch genommen werden können. Hinsichtlich der Verhältnisbestimmung zu anderen Formen der Intentionalität treibt die Emotionsdebatte dann jedoch über ihre anfänglichen Evidenzen hinaus. In den klassischen Intentionalitätstheorien der analytischen Philosophie werden vor allem zwei Grundformen unterschieden, eine kognitive und eine konative bzw. belief auf der einen, desire auf der anderen Seite.¹⁷ Da es sich hierbei um zwei entgegengesetzte Erfüllungsrichtungen zwischen Geist und Welt handelt, stellte sich die Frage, welcher Klasse sich Emotionen zuordnen lassen: Sie können entweder als eine spezifische Form von Überzeugung oder aber als eine Art des Wünschens verstanden werden. Alternativ zu diesen wenig tragfähigen Ansätzen bot sich die Möglichkeit, Emotionen als eine spezifische Kombination aus Überzeugungen und Wünschen zu konzeptionalisieren. Dieses Modell, das systematisch betrachtet eine gewisse Nähe zu den vor allem in den empirischen Wissenschaften verbreiteten Komponententheorien besitzt,¹⁸ lässt jedoch nicht nur das Problem der phänomenalen Einheit von Emotionen virulent werden, sondern zeigt auch an konkreten Fallbeispielen seine Grenzen.¹⁹ Daher ist es gegenüber den Theorieoptionen der älteren kognitivistischen Emotionstheorien etwa ab der Jahrtausendwende zu Korrekturen gekommen. Und sie betreffen vor allem den Aspekt der Erlebnisqualität oder Phänomenalität der Emotionen, der ja zunächst mit dem gegen die sogenannten feeling-Theorien gerichteten kognitivistischen Neuansatz gezielt vernachlässigt bis ganz ausgeblendet wurde. Peter Goldie, neben Bennett Helm einer der Hauptvertreter dieser neueren Ansätze, hat förmlich von einer ›Überintellektualisierung‹ der Emotionen in den analytischen Theorien der kognitivistischen Wende sprechen können.²⁰ Sowohl hinsichtlich der
Vgl. dazu Bennett W. Helm, Emotional Reason (s. Anm. 16), 29 – 59; Sabine A. Döring, Philosophie der Gefühle heute (s. Anm. 11), 24– 29. Vgl. z. B. Bernard Grom, Was ist religiöses Erleben und wie entsteht es? Überlegungen aus emotionspsychologischer Sicht, in: Barth / Zarnow (Hg.),Theologie der Gefühle (s. Anm. 12), 23 – 45, hier: 24– 25. Vgl. dazu beispielsweise die Auseinandersetzung mit Philip Pettits Rekonstruktion der Hoffnung bei Sabine A. Döring,Was darf ich hoffen?, in: Barth / Zarnow (Hg.), Theologie der Gefühle (s. Anm. 12), 61– 75. Peter Goldie, The Emotions. A Philosophical Exploration, Oxford 2000, 41: „feelings, and in particular feelings towards the object of the emotion, are central to emotional experience, and to exclude
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Unterscheidung der Emotionen gegenüber Überzeugungen einerseits, Wünschen andererseits, als auch für den Aufbau des evaluativ-repräsentationalen Inhalts der Emotionen kommt – so die weiterführende These – dem Erlebnisgehalt eine entscheidende Rolle zu. Goldie und Helm versuchen daher je auf ihre Weise die Empfindungsqualität in das Intentionalitätskonzept selbst zu integrieren. Progammatische Leitbegriffe dabei sind Konzepte wie feeling towards oder felt evaluations. ²¹ Freilich ergibt sich dadurch das systematische Folgeproblem, wie diese Integration genauer hin zu denken ist. Beide Autoren weisen immer wieder auf die phänomenale Einheit dieser emotionalen Gefühle hin und lehnen daher sogenannte Komponententheorien, die gleichsam verschiedene Momente einfach nur additiv zusammenfügen, kategorisch ab. Demgegenüber plädieren sie vielmehr dafür, dass es sich im Falle emotionaler Gefühle um eine Intentionalität sui generis handele. Wie genau aber jene Einheit von Intentionalität und Erlebnisqualität zu denken ist, bleibt in beiden Ansätzen unklar bzw. lässt zumindest Fragen offen.²² Es ist nicht auszuschließen, dass sich hier strukturelle Grenzen des in der analytischen Theorie des Geistes vorgegebenen konzeptionellen und methodischen Rahmens zeigen. Daher soll auch von diesem Desiderat aus der Rekurs auf die Gefühlstheorie Schleiermachers genommen werden.
3. Der mögliche Beitrag einer transzendentalen Theorie des Gefühls Hier stellt sich zunächst die Frage nach geeigneten Anknüpfungspunkten innerhalb des Schleiermacherschen Wissenschaftssystems, das in fast allen Teilen Bezüge zur Gefühlsthematik aufweist. Ein Zugang über den Gefühlsbegriff der Religionstheorie scheint dabei – ähnlich wie über den der Ästhetik – als Anknüpfungspunkt eher ungeeignet zu sein, da gerade das Verhältnis von Religion und Gefühl durchaus komplexer Natur ist, wie nicht zuletzt die verwickelten Debatten zum Thema in der Gegenwart beweisen. Ich werde daher vorerst von der Religionsthematik weitestgehend absehen.Vom methodischen Zuschnitt her dürften der heutigen Philosophie der Gefühle im Schleiermacherschen Œuvre am ehesten seine Philosophische Ethik und die Psychologie entsprechen.²³ Und so zeigen sich in der Tat schon dem oberflächlichen
these feelings from an explanation of emotion or of action out of emotion ist to over-intellectualize them“; vgl. auch 50. Peter Goldie, The Emotions (s. Anm. 20), 16 – 20; 58 – 83; Bennett W. Helm, Emotional Reason (s. Anm. 16), 27– 122. Vgl. dazu die Anfragen in der prägnanten Zusammenfassung von Jan Moritz Müller / Sabine A. Döring: Einleitung zu Teil V. Phänomenologie der Emotionen, in: Sabine A. Döring (Hg.): Philosophie der Gefühle (s. Anm. 11), 363 – 368. Beide Vorlesungen liegen noch nicht in der KGA vor. Zur Philosophischen Ethik vgl. Schleiermachers Werke (WA). Zweiter Band. Entwürfe zu einem System der Sittenlehre / nach den Handschriften Schleiermachers neu hg. und eingel. v. Otto Braun, ND d. 2. Aufl. Leipzig 1927, Aalen 1981; kritisch ediert
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Blick – und um mehr, gar um werkgeschichtliche Differenzierungen kann es im Folgenden nicht gehen – zahlreiche Anknüpfungspunkte und eben auch auffallende Parallelen zur heutigen Emotionsdebatte. Zunächst dürfte eine erstaunliche Nähe zum kognitivistischen Grundtenor der neueren Emotionstheorie ins Auge stechen. Schleiermacher thematisiert das Gefühl nämlich in beiden Vorlesungen als einen Aspekt des Erkenntnisvermögens, das analog zu neueren Theorien nach seiner Erfüllungsrichtung gegenüber der Welt als eine aufnehmend-rezeptive Tätigkeit verstanden wird, die einer hervorbringend oder spontan in die Welt wirkenden Intentionalität entgegengesetzt ist.²⁴ Des Näheren wird diese Tätigkeit auch im Falle des Gefühls als eine der Vernunft oder des SeelischGeistigen verstanden, die aber im Menschen wesentlich durch die organisch-leiblichen Grundlagen bestimmt bleibt.²⁵ Auch hier zeigt sich also eine gewisse Entsprechung zur aktuellen Debatte, und zwar sowohl zum grundlegenden Interesse an der Rationalität der Emotionen als auch zur Phänomenologie der Leiblichkeit bzw. der Rückbindung des Mentalen an seine physiologischen Grundlagen. Mit dem letztgenannten Aspekt verbindet sich sogleich eine weiteres Merkmal: Schleiermacher entwickelt den Gefühlsbegriff zunächst in seiner Funktion innerhalb unseres durch die Sinne vermittelten Weltbezugs. Einschlägig dafür ist die Korrelation von Anschauung und Gefühl bzw. Wahrnehmung und Empfindung.²⁶ In diesen Explikationskontexten wird also
liegen jedoch inzwischen die thematisch einschlägigen Akademievorträge vor, hg.v. Martin Rössler, Berlin / New York 2001 (KGA I.11), 313 – 335; 415 – 451; 491– 513; 535 – 553; 657– 677; zur Psychologievorlesung vgl. Sämtliche Werke (SW) III, 6, Psychologie. Aus Schleiermacher’s handschriftlichen Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen, hg.v. Leopold George, Berlin 1862. Aus der neueren Literatur vgl. zur Philosophischen Ethik die grundlegende Studien von Peter Grove, Deutungen des Subjekts. Schleiermachers Philosophie der Religion, Berlin / New York 2004, 373 – 430; zur Psychologie vgl. die instruktive Einführung und Literaturübersicht bei Andreas Arndt, Friedrich Schleiermacher als Philosoph, Berlin / Boston 2013, 379 – 394. Im Brouillon zur Ethik 1805/06 etwa finden sich die das Gefühl umfassenden Ausführungen zur „erkennenden Function“ in WA 2, 150 – 199. Ab den Ethik-Entwürfen von 1814 nennt Schleiermacher die der „organisierenden“ entgegengesetzte Tätigkeit auch die „symbolisierende“, vgl. WA 2, 425; 427. Im Manuskript zur Psychologie-VL von 1818 finden sich die Ausführungen zu den „aufnehmenden Thätigkeiten“ in: SW III, 6, 420 – 466; das Gefühl begegnet darin nach seinen verschiedenen Stufen von der Grundform aller Gefühle, dem erheiternden und deprimierenden Gefühl (Lust/Unlust), 429 ff., bis zu höheren Gefühlen wie dem „mitleidigen“, dem „geselligen“ Gefühl, dem „Ehrgefühl“, der „Schadenfreude“ bis hin zum „religiösen“ und „ästhetischen Gefühl“, 453 – 465 (§§ 28 – 36) So kann Schleiermacher das Thema der Philosophischen Ethik im Brouillon förmlich wie folgt definieren: „Beseelung der menschlichen Natur durch die Vernunft“ (WA 2, 87). Die Psychologie als „Glied in der Reihe der Pneumatologie“ unterscheidet Schleiermacher zwar von der Anthropologie, der er gegen Kant die Aufgabe zuweist, „das geistige und körperliche in jedem Moment zusammen[zu]fassen“ (SW III, 6, 407). Gleichwohl gilt auch für seine Fortschreibung der Tradition der empirischen Psychologie: „Die Seele ist uns nur mit dem Leibe gegeben“ (ebd.). Vgl. z. B. WA 2, 150 – 154; zu den terminologischen Differenzen von Wahrnehmung, Anschauung, Empfindung und Gefühl und den werkgeschichtlichen Entwicklungen vgl. Grove, Deutungen (s. Anm. 23), 393 f; 398 ff; 403 ff. In der Psychologie ist der wahrnehmungspsychologische Ansatz noch
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förmlich eine wahrnehmungspsychologische Gefühlsgenese beschrieben, die von sprachlich-begrifflichen Weltauslegungen noch abstrahiert. Zugleich wird dieser Ansatz aber mit einem Entwicklungsmodell verschränkt, das von einer Transformation des Gefühls durch höhere Bewusstseinsleitungen ausgeht und sich dann etwa in geselligen oder ästhetischen Gefühlen niederschlagen kann – in der Sprache der Ethik: das zunehmende „Einbilden der Vernunft in die Natur“.²⁷ Auch der für die neuere Debatte einschlägige Gegensatz von Erlebnisqualität und Intentionalität hat in Schleiermachers Theorierahmen eine Entsprechung, allerdings ein solche, die ihn prima facie den heute mehrheitlich abgelehnten feeling-Theorien zuzuweisen scheint. Denn für Schleiermacher gehört das Gefühl auf die Seite des „individuellen subjectiven Erkennens“, das im relativen Gegensatz zum objektiven Erkennen steht.²⁸ Demzufolge wären Gefühle also im Gegensatz zum heutigen Konsens keine intentionalen, d. h. auf etwas in der Welt bezogenen, und insofern an Objektivitätskriterien messbaren Einstellungen, sondern ein spezifisches Selbstverhältnis, das lediglich einen subjektiven Zustand zu Bewusstsein bringt.²⁹ In der Tat kann man das als eine zutreffende Beschreibung des allgemeinen Gefühlsbegriffs Schleiermachers gelten lassen. Allerdings sprechen zwei gewichtige Gründe dafür, dies eher im Sinne der neueren, den feeling-Aspekt in die Intentionalität integrierenden Theorien emotionaler Gefühle zu verstehen. Denn einerseits sieht Schleiermacher die Korrelation zwischen Objektintentionalität und Gefühl als eine unauflösliche, die lediglich graduelle Abstufungen hinsichtlich der mentalen Präsenz beider Elemente zulässt. Gefühle sind – wie es in den sinnespsychologischen Kontexten heißt – als ›Reactionen‹ konstitutiv an den Weltbezug rückgebunden, treten insofern also immer in einer intentionalen Erfahrung auf.³⁰ Zum anderen unterscheidet Schleiermacher das Selbstverhältnis der Gefühle von einem gegenständlich reflektierten Selbstbewusstsein.³¹
reiner durchgeführt, da die Leitperspektive der Güterlehre fehlt, vgl. z. B. SW III, 6, 420 ff sowie zur „andre[n] Seite des Sinnes, die Gefühl werden will“ 428 ff. WA 2, 215. WA 2, 186. In der Psychologie vgl. z. B.: „die reinste Anschauung ist das vollkommenste sich selbst vergessen. Ist der Eindruck zu stark […], so geht die Wahrnehmung ganz verloren, es bleibt nur noch der Zustand der Seele, das Gefühl übrig, und das reinste Gefühl ist das vollkommenste Vergessen des einwirkenden Gegenstandes“ (SW III, 6, 421). In dieser Konsequenz steht Schleiermachers Erläuterung und Näherbestimmung des Gefühlsbegriffs durch den bzw. im Verhältnis zum Begriff des Selbstbewusstseins. Zur Entwicklung dieses Verhältnisses in der Ethik vgl. Grove, Deutungen (s. Anm. 23), 410 – 113; 415 – 421; 426 – 430. WA 2, 159: „Beide Charaktere kommen in facto nicht abgesondert vor; keine Anschauung ist ohne Gefühl, kein Gefühl ohne Anschauung […]. In facto ist also immer nur von einem relativen Hervortreten die Rede, wobei als Bewährung dafür, daß der Gegensatz nicht etwa bloße Fiction ist, allemal ein nie ganz gelingendes Bestreben sich findet das Gegentheil auszuschließen.Von jeder Anschauung will man alles Gefühl absondern und glaubt sie dadurch erst ganz zu bekommen, und eben so von jedem Gefühl alles Objective.“ Zur Psychologie s. o., das entsprechende Zitat in Anm. 28. Vgl. dazu die zugleich den Begriff des ›unmittelbaren Selbstbewusstseins‹ einführende Stelle aus der Letzten Bearbeitung der Güterlehre, WA 2, 589: „Selbstbewußtsein nemlich ist jedes Gefühl. Denn jedes Bewußtsein eines anderen wird Gedanke. Aber auch nur unmittelbares; denn das mittelbare, in
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Die These Peter Goldies, dass die Erlebnisqualität zwar für emotionale Erfahrung konstitutiv sei, aber nicht notwendig als solche reflektiert sein müsse,³² ließe sich somit in Schleiermachers Modell konzeptionell darstellen. Schließlich ist noch auf den evaluativen Aspekt hinzuweisen, der von neueren Emotionstheorien übergreifend als konstitutiv angesehen wird. Die evaluative Dimension emotionaler Erfahrung resultiert nach Schleiermacher daraus, dass die aus dem Weltverhältnis resultierenden Modifikationen des Subjekts als Förderungen oder Hemmungen seines „Lebensprocesses“ erlebt werden können und somit den fundamentalen Wertgegensatz von Lust und Unlust konstituieren.³³ Verschränkt man diesen Aspekt mit dem bereits oben erwähnten Modell einer zunehmenden Bildbarkeit der Natur durch die Vernunft, so zeigen sich auch hier Parallelen zur neueren Emotionsdebatte. So hat etwa Ronald de Sousa darauf hingewiesen, dass konkrete Gefühle weniger angeborene Wertungsschemata darstellen als sich kulturell bedingten Schlüsselszenarien und Lernprozessen verdanken.³⁴ Der basale Wertgegensatz von Lust-Unlust wird kulturell kodiert und dabei zugleich ausdifferenziert.³⁵ Zeigen sich so vielfache konzeptionelle Schnittstellen zwischen aktuellen Emotionstheorien und Schleiermachers Gefühlsbegriff, so lässt sich dieser Vergleich auch auf die systematischen Probleme ausweiten. In meiner Skizze von Grundbegriffen und Entwicklungen der neueren Emotionsdebatte hatte ich auf das Problem eines adäquaten Konzepts für die phänomenale Einheit von emotionalen, d. h. intentionalen, Gefühlen hingewiesen, das in den eher programmatischen Begriffen wie feeling towards oder felt evaluations mehr angezeigt als gelöst ist. Bei Schleiermacher findet sich diese phänomenale Ebene in der These von der Zusammengehörigkeit und dem nur relativen Hervortreten von Anschauung und Gefühl wieder. Gleichwohl bietet er mit der analytischen Unterscheidung von subjektivem und objektivem Erkennen (Gefühl/ Anschauung) einerseits, der Entgegensetzung von aufnehmend-theoretischen und hervorbringend-praktischen Funktionen andererseits ein Modell an, welches das Einheitsproblem auf der bewusstseinstheoretischen Ebene noch viel dringlicher macht. Man kann dieses Problem auf die Frage nach dem ontologisch-epistemologischen Status der ›Einheit des Lebens‹ zuspitzen, die Schleiermacher bereits in den Reden, dann aber auch in der Psychologie und der Philosophischen Ethik methodisch voraussetzt und zudem behauptet, dass in dieser Einheit die genannten Gegensätze
dem wir uns selbst wieder Gegenstand geworden sind, wird Gedanke“; vgl. dazu Grove, Deutungen (s. Anm. 23), 428 ff. Goldie, The Emotions (s. Anm. 20), 62– 69. SW III, 6, 429 (Psychologie 1818): „Unmittelbar aber wird empfunden durch diese Einwirkungen eine Förderung oder Hemmung der Lebensprocesse mit einem erheiternden oder deprimierenden Gefühl. […] Lust und […] Unlust […] die Grundformen aller Gefühle“ (den Kontext dieser Passage bildet die Theorie des ›Hautsinnes‹, von der wir hier absehen können). De Sousa, Rationality (s. Anm. 15), 181– 184. Dieser Aspekt ist natürlich vor allem für die soziologischen Emotionstheorien leitend, vgl. in einem nicht reduktionistischen Sinne: Riis / Woodhaed, Sociology (s. Anm. 12), 5 f.
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erst auftreten und dass – zumindest in späten Fassungen – das Gefühl eine besondere Affinität zu dieser Einheit besitzt.³⁶ Es ist wohl nicht zu viel gesagt, wenn man in den hier liegenden systematischen Problemen auch ein entscheidendes Movens für die werkgeschichtlichen Entwicklungen bei Schleiermacher erblickt. Im Unterschied zu den konzeptionellen Möglichkeiten der neueren Emotionstheorie verfügt das Schleiermachersche System jedoch über eine weitere Explikationsebene, auf die sowohl Philosophische Ethik wie Psychologie systematisch rückbezogen sind und sie begründungslogisch voraussetzen: Die in den Vorlesungen über die Dialektik entfaltete Transzendentalphilosophie.³⁷ Daher soll ein kurzer Blick auf den transzendentalen Gefühlsbegriff geworfen werden. Transzendentalphilosophie stellt auch im Sinne der Dialektik, obgleich in sie weitere Aspekte wie etwa die Kommunikationstheorie eingehen, die Frage nach den nichtempirischen Bedingungen unseres empirischen Weltumgangs. Als solche führt sie bei Schleiermacher jedoch über eine reine Theorie des menschlichen Geistes hinaus in ontologische und absolutheitstheoretische Dimensionen. Gleichwohl zeichnet sich Schleiermachers Transzendentalphilosophie dadurch aus, dass sie nicht aus einem spekulativen Begriff des Absoluten deduziert, sondern streng der Methode transzendentaler Reduktion verpflichtet bleibt.³⁸ Aus diesem Zuschnitt ergibt sich eine doppelte Ausgangskonstellation: Auf der einen Seite wird ein Grenzbegriff entwickelt, die Idee eines ›transzendentalen Grundes‹, der als Einheitsprinzip den Weltbezug des menschlichen Geistes ermöglichen soll,³⁹ auf der anderen Seite steht die methodische Rückverlagerung seines Ausweises in die Frage nach der Einheit unserer theoretischen und praktischen Intentionalität.⁴⁰ Mit dieser Frage nach den Einheitsbedingungen des menschlichen Geistes in seiner ›duplizitären‹ Intentionalität bietet Schleiermachers
Zu der entsprechenden Passage in den Reden vgl. Roderich Barth, Religion und Gefühl. Schleiermacher, Otto und die aktuelle Emotionsdebatte, in: Charbonnier u. a. (Hg.), Religion und Gefühl (s. Anm. 12), 15 – 48, hier: 28 f; sowie Grove, Deutungen (s. Anm. 23), 315 ff; 422– 430. Vgl. dazu U. Barth, Der Letztbegründungsgang der ›Dialektik‹. Schleiermachers Fassung des transzendentalen Gedankens, in: ders., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 353 – 385, sowie: Grove, Deutungen (s. Anm. 23), 433 – 530. In beiden neueren Interpretationen finden sich Hinweise auf weitere Forschungsliteratur und deren Diskussion. Auf die feinen Differenzen beider Interpretationen, die jedoch die Gemeinsamkeiten nicht aufwiegen und erst in einer abweichenden Rekonstruktion der Subjektivitäts- und Religionstheorie der Glaubenslehre zum Tragen kommen, kann hier ebenso wenig eingegangen werden wie auf die werkgeschichtliche Entwicklung der Dialektik. Die im Folgenden angegebenen Belege haben daher auch nur exemplarischen Charakter. U. Barth, Letztbegründungsgang (s. Anm. 37), 361 f; 378; Grove, Deutungen (s. Anm. 23), 478 f. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher,Vorlesungen über die Dialektik. 2 Teilb., hg.v. Andreas Arndt (KGA II.10,1/2), Berlin / New York 2002, hier: II.10,1, 101f: „Das transcendentale, worauf wir von hier aus kommen, ist also die Idee des Seins an sich unter zwei entgegengesezten und sich auf einander beziehenden Arten oder Formen und modis, dem idealen und dem realen als Bedingung der Realität des Wissens.“ 105: „Die Idee des absoluten Seins als Identität von Begriff und Gegenstand ist also kein Wissen […] Sie ist aber der transcendentale Grund und die Form alles Wissens“. KGA II.10,1, 141: „Wir bedürfen eben so gut eines transcendentalen Grundes für unsere Gewißheit im Wollen als für die im Wissen, und beide können nicht verschieden sein.“
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Dialektik nicht nur eine Schnittstelle zu dem oben im Kontext des emotionstheoretischen Vergleichs aufgewiesenen Desiderat, sondern genau hier hat auch der transzendentaltheoretische Begriff des Gefühls seinen systematischen Ort. Denn nur das Gefühl im Sinne dieser Elementen- oder Strukturtheorie des Bewusstseins kann nach Schleiermacher genau jene innermentale Einheitsfunktion gewährleisten.⁴¹ Mit dieser These ist nun aber eine Näherbestimmung des Gefühls verbunden, die ihm jede Form von Intentionalität abspricht und es als unmittelbares und reines Selbstverhältnis expliziert.⁴² Weil sich in der Selbstbezüglichkeit des Gefühls nur die bloße Tätigkeit des Mentalen erschließt, die in unserer theoretischen und praktischen Intentionalität immer schon auf etwas bezogen ist, vermag das Gefühl den Wechsel beider Formen mentaler Aktivität zu vermitteln und darüber hinaus Einheit in Gestalt zeitlicher Kontinuierung zu begründen. Gefühl im transzendentalen Sinne ist identisches Bewusstsein reiner Tätigkeit oder – wie es in einer Vorlesungsnachschrift heißt: „Bewusstsein des Lebens“.⁴³ In seiner transzendentalen Funktion als innermentales Einheitsvorkommnis bleibt es in seinem Vorkommen im empirischen Bewusstseinsleben jedoch an die genannten Formen mentaler Intentionalität gebunden, was Schleiermacher mit einer von Kant entlehnten Formel auch als ›Begleiten‹ bezeichnen kann.⁴⁴ Gerade weil Schleiermacher also im Gegensatz zur neueren Emotionstheorie Objektintentionalität strikt als eine Funktion gedanklicher Reflexion versteht und das Gefühl als ein nichtintentionales Zustandsbewusstsein davon unterscheidet, vermag er nicht nur die Einheit des intentionalen Bewusstseins kohärent zu denken, sondern zugleich auch den sui generis-Charakter des Gefühls gegenüber kognitiven und konativen Funktionen zu begründen. Dass dieser Ansatz von den Evidenzen unwiderlegt
Vgl. in der frühen Fassung von 1814/15, KGA II.10,1, 142: „Dem gemäß nun haben wir auch den transcendentalen Grund nur in der relativen Identiät des Denkens und Wollens nemlich im Gefühl“. Vgl. dazu die einschlägige Passage aus der Ausarbeitung zum Kolleg 1822, KGA II.10,1, 266: „Im Denken ist das Sein der Dinge in uns gesezt auf unsere Weise, im Wollen ist unser Sein in die Dinge gesezt auf unsere Weise. […] Aber unser Sein ist das sezende in der Indifferenz beider Formen. Dies ist das unmittelbare Selbstbewußtsein = Gefühl“. Die Näherbestimmung des Gefühls als ›unmittelbares Selbstbewusstsein‹ erklärt sich über die Abgrenzung gegenüber dem gegenständlichen, d. h. reflektierten und durch die gedankliche Ich-Vorstellung vermittelten, Selbstbewusstsein, vgl. dazu die direkt an das Zitat anschließenden Ausführungen. Die ›Reinheit‹ des Selbstbewusstsein meint demgegenüber das Nichtvorkommen von Intentionalität: „Jedes abbildliche Denken ist Bewußtsein von etwas jedes vorbildliche auch. Der Übergang als solcher ist also Bewußtsein von Null“ (KGA II.10,1, 344 – Kolleg 1831.). Mit dem Begriff des ›Übergangs‹ ist das zentrale Theorem des transzedentalen Gefühlsbegriffs genannt, vgl. dazu Barth, Letztbegründungsgang (s. Anm. 37), 366 ff; Grove, Deutungen (s. Anm. 23), 501 ff. KGA II.10,2, 771 (Kolleg 1831. Nachschrift Erbkam). KGA II.10,1, 266: „Und so finden wir auch das Gefühl als beständig jeden Moment sei er nun vorherrschend denkend oder wollend immer begleitend. Es scheint zu verschwinden wenn wir ganz in einer Anschauung oder in einer Handlung aufgehen; aber es scheint nur. Es ist aber auch immer nur begleitend; es scheint bisweilen allein hervorzutreten und darin Gedanke und That unterzugehen, aber dis scheint nur, es sind immer Spuren des Wollens und Keime des Denkens oder umgekehrt beides wenn auch eines scheinbar verschwindend darin mitgesezt.“
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bleibt, die in der neueren Emotionsdebatte für eine eigene Intentionalität des – empirischen – Gefühls angeführt werden, resultiert aus dem methodischen Unterschied zwischen transzendentaler und empirischer Theorie des Bewusstseins.⁴⁵ Das empirische Bewusstsein stellt demzufolge bereits in phänomenal einheitlichen Erlebnissen eine hochkomplexe Einheit unterschiedlicher Geistesfunktionen dar. Ein übergreifender Gefühlsbegriff ist dennoch für Schleiermacher kohärent zu denken, da er auch das empirische Gefühl als subjektives Zustandsbewusstsein bestimmt. Wie verhält sich nun aber dieses innermental gedachte Einheitsvorkommnis zu dem viel weiteren Grenzbegriff eines ›transzendentalen‹ oder auch ›transzendenten Grundes‹, der förmlich als Übereinstimmungsgarant all unserer Objektintentionalität gedacht und daher mit dem philosophischen Gottesbegriff identifiziert werden kann?⁴⁶ Dieses Verhältnis von Gefühl und Absolutem bestimmt Schleiermachers Dialektik in einer spannungsreichen Doppelthese: Weil das Gefühl ein vorgegenständliches Selbsterschlossensein ist – und in diesem Sinne Ideelles und Reelles vereinigt –, stellt es zwar eine mentale Entsprechung (›Analogie‹) zum Absoluten dar. Als vorgegenständliches Selbsterschlossensein kann es aber eben kein Bewusstsein vom Absoluten sein.⁴⁷ Während ersteres die spezifische Explikationshinsicht des dialektischen Begründungsgangs bündelt, führt letzteres zur Frage nach dem religiösen Gefühl.
4. Religiöse Gefühle Auch mit Bezug auf diesen abschließenden und zugleich zum Anfang zurückführenden Punkt möchte ich mit einem Desiderat der neueren Emotionsdebatte einsteigen. Sie hat sich – wie einleitend bemerkt – erst seit wenigen Jahren überhaupt dem Thema Religion und Gefühl zugewandt. Überblickt man die neueren Veröffentlichungen, so zeigt sich dabei sowohl ein gewisser Konsens als auch eine gewisse Ratlosigkeit. Was das erstere betrifft, so sind sich eigentlich alle neueren Positionen darin einig, dass es so etwas wie phänomenal, d. h. vom Erlebnisgehalt her unterscheidbare, also religiöse Gefühle sui generis nicht gibt. Damit wendet man sich explizit von den kontinentalen Traditionen ab, allen voran von Rudolf Ottos Theorie des numinosen Gefühls, aber auch von Schleiermachers Konzept schlechthinniger Abhängigkeit. Und selbst William James, der sich ja im Namen der Vielfalt religiöser Erfahrung erstmals gegen ein seiner Meinung nach zu unrecht vereinseitigendes Konzept eines religiösen Grundgefühls gewandt hatte, entgeht der Kritik der Neueren nicht, da man auch bei ihm in seinen Analysen extremer Bekehrungs- und Visionserlebnisse den Rekurs auf eine phänomenale Besonderheit religiöser Erfahrung inkriminiert. Vor allem zwei Argumente werden demgegenüber geltend gemacht: Zum
Vgl. Grove, Deutungen (s. Anm. 23), 465 f; 505 f u.ö. Vgl. z. B. KGA II.10,1, 144. Vgl. Barth, Letztbegründungsgang (s. Anm. 37), 375 – 378; Grove, Deutungen (s. Anm. 23), 508 – 513.
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einen wird auf empirische Erhebungen hingewiesen, denen zufolge alle sogenannten säkularen Gefühle auch in religiösen Kontexten begegnen, während wiederum sogenannte religiöse Gefühle wie Ehrfurcht oder Demut auch gegenüber Menschen oder in anderen nichtreligiösen Kontexten erlebt würden.⁴⁸ Zum anderen wird von der emotionalen Intentionalitätsanalyse her argumentiert und gezeigt, dass sie in zentralen Punkten mit unterschiedlichen Konzepten von Transzendenzerfahrung unvereinbar sei.⁴⁹ Da man jedoch zugleich die enge Verknüpfung von Emotionen und Religion als kulturelles Phänomen anerkennt, stellt sich die Frage nach möglichen Kriterien für den Bereich religiöser Gefühle um so dringlicher. Und genau hier zeigt sich die von mir angesprochene Ratlosigkeit. Denn die gängige Erklärung, auf die man sich mehrheitlich verständigen kann, setzt das Explanandum immer schon voraus: Unter der Prämisse einer religiösen Erfahrung, die in der Regel kognitivistisch als eine Art beliefset verstanden wird, könnten gewöhnliche Gefühle und ihr evaluativer Gehalt auch von religiösen Objekten erfüllt werden.⁵⁰ Da dieses Modell jedoch offensichtlich nicht alle Phänomene zu erschließen vermag und zudem dem emotionalen Erlebnisgehalt äußerlich bleibt, konnten jüngst die Tübinger Philosophinnen Anja Berninger und Sabine Döring resümieren, dass der Begriff des religiösen Gefühls lediglich ein vager Sammelbegriff für eine ganz „heterogene Gruppe von Emotionen“ sei, deren Komplexität noch „in jedem Fall weiterer Analyse“ bedürfte.⁵¹ In diesem Sinne wende ich mich noch einmal zu Schleiermacher zurück und schließe dort an, wo ich oben unterbrochen hatte. Die Bedeutung des transzendentalen Gefühlsbegriffs mit Bezug auf die vorliegende Frage scheint mir dabei in mehrfacher Hinsicht zu liegen: Zunächst bietet das Konzept eine subjektivitätstheoretische Begründung für das, was in den neueren Emotionstheorien mehr oder weniger unerläutert als religiöse oder Transzendenzerfahrung in Anspruch genommen wird – bei Emotionsforschern mit religiösem Hintergrund, wie etwa Robert C. Roberts, affirmativ, bei der überwiegenden Mehrzahl dagegen eher mit einer skeptisch-distanzierten Neugier. Menschlicher Geist – so Schleiermachers Grundthese – hat einen immanenten Bezug zur Transzendenz. Die Begründung dieser These setzt bei systematischen Problemen an,von denen sich oben gezeigt hatte, dass sie sich auch der neueren theory of mind und deren Emotionskonzepten stellen, nämlich dem Einheitsproblem in seinen vielen Facetten. Sodann zeigt aber Schleiermachers subjektivitätstheoretische Begründung des religiösen Bewusstseins, dass es sich bei jenem Transzendenzbezug gerade nicht um eine
Vgl. z. B. Grom, Religiöses Erleben (s. Anm. 18), 28 – 31; 35 – 40. Vgl. z. B. Eva Weber-Guskar, Religious Emotions as Experiences of Transcendency. The Example of Consolation, in: Barth / Zarnow (Hg.), Theologie der Gefühle (s. Anm. 12), 47– 60. Dies trifft beispielsweise auch auf die Rekonstruktion religiöser Gefühle zu, die Robert C. Roberts im Anschluss an seine allgemeine Emotionstheorie entfaltet, insofern Emotionen als concern based construals Überzeugungen voraussetzen, vgl. Robert C. Roberts, Spiritual Emotions. A psychology of Christian virtues, Grand Rapids, Michigan / Cambridge, U.K. 2007. Sabine Döring / Anja Berninger,Was sind religiöse Gefühle? Versuch einer Begriffsklärung, in: Lars Charbonnier u. a. (Hg.), Religion und Gefühl (s. Anm. 12), 45 – 60, hier 58 f.
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einfache Erfahrung handelt, wie in der neueren Debatte über religiöse Gefühle meist unhinterfragt vorausgesetzt wird. Jener Transzendenzbezug ist nach Schleiermacher keine Gegebenheit für empirische Emotionalität oder emotionale Erfahrung. Und er ist auch im transzendentalphilosophisch verstandenen Gefühl als solchem nicht thematisch. Denn der transzendente Einheitsgrund hat zunächst nur eine „Analogie“ im transzendentalen Gefühl,⁵² das an sich selbst kein religiöses Bewusstsein ist und als Selbstbewusstsein auch gar kein objektives Wissen von einem Grund sein kann. Dass es einen Zusammenhang von transzendentem Grund und transzendentalem Gefühl gibt, bedeutet nicht zwangsläufig, dass er auch für letzteres ist. Vielmehr ist dieser Zusammenhang zunächst nur Gegenstand philosophischer Reflexion und Ergebnis des transzendentalen Begründungsdenkens. Für das Auftreten dieses Strukturmoments und seiner Implikationen im empirischen Bewusstsein müssen dagegen eine ganze Reihe Zusatzbedingungen erfüllt sein. Zunächst geht das Fühlen im transzendentalen Sinne eines mentalen Einheitsvorkommnis überhaupt erst über seine bloße Einheitsfunktion hinaus und wird als ein zeiterfüllendes Moment im Bewusstsein selbst thematisch, wenn es Bestimmtheit annimmt.⁵³ Und auch hier sind wir noch nicht im religiösen Gefühl, sondern zunächst kann sich dies auf der Ebene des empirischen und intentionalen Bewusstseins vollziehen. Schleiermachers transzendentaler Gefühlsbegriff ist somit auch ein Element von empirischen Gefühlen, durch deren konkrete und individuelle Bestimmtheit – wie bereits oben im Kontext der Psychologie ausgeführt – die evaluative Wertdifferenz im Bewusstseinsleben eintritt. Religiös wird das Gefühl erst dann, wenn der transzendente Grund im Sinne einer gegensatzlosen Einheit in ihm irgendwie Bestimmtheit annimmt und so in einen Für-Bezug tritt. Erst dann handelt es sich um ein Bewusstsein vom transzendentalen Grund und in diesem Sinn um ein religiöses Gefühl.⁵⁴ Dass diese Reflexivität nicht nur vermittels einer sprachlich-gedanklichen Reflexion oder einer religiös-gegenständlichen Symbolisierung, sondern bereits am Orte des Gefühls selbst möglich, ja sogar ursprünglich ist, ist Schleiermachers religionstheoretische Pointe. Sie findet ihre Begründung im Hinweis auf den epistemologischen Charakter jenes
KGA II.10.1, 266. Peter Grove erblickt exakt hierin die feine Differenz zwischen Gefühlsbegriff und Begriff des unmittelbaren Selbstbewusstseins, die Schleiermacher in anderer Hinsicht gleichsetzt. Gefühl meint die konkrete zeiterfüllte Gestalt des reinen Identitätsbewusstsein des Subjekts, welch letzteres den engen Sinn von unmittelbarem Selbstbewusstsein ausmacht, vgl. Grove, Deutungen (s. Anm. 23), 508 – 510. Vgl. dazu die einschlägige Passage aus dem Kolleg 1822: „Diese Aufhebung der Gegensätze könnte aber nicht unser Bewußtsein sein, wenn wir uns selbst darin nicht ein bedingtes und bestimmtes wären oder würden. Aber nicht bedingt oder bestimmt durch etwas selbst im Gegensaz begriffenes […], sondern durch dasjenige worin allein das denkend wollende und das wollend denkende mit seiner Beziehung auf alles übrige Eins sein kann, also durch den transcendenten Grund selbst. Diese transcendente Bestimmtheit des Selbstbewußtseins nun ist die religiöse Seite desselben oder das religiöse Gefühl, und in diesem also ist der transcendente Grund oder das höchste Wesen selbst repräsentirt“ (Hvh. i.O.). Zur Interpretation vgl. Barth, Letztbegründungsgang (s. Anm. 37), 382 f; Grove, Deutungen (s. Anm. 23), 540 ff.
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transzendentalen Grundes. Denn seine intentionale Vorstellung würde ihn gleichsam seiner Transzendenz berauben, weil sie ihn in den Gegensatz der endlichen Wechselbestimmung hineinzöge. Das Gefühl ist für Schleiermacher also genau aus dem Grund der vorzügliche Ort für eine religiöse Repräsentation, weil es nichtintentional ist. Alle Intentionalität dagegen verendlicht den transzendenten Grund. Daher stellt selbst das religiöse Gefühl den transzendenten Grund nicht als solchen gegenständlich vor, sondern gleichsam nur indirekt als Zustandsbewusstsein. Es ist das Bewusstsein des Bedingtseins des eigenen Zustandes. Exakt das meint der Begriff des religiösen Abhängigkeitsgefühls, wie er sich von Schleiermachers Transzendentalphilosophie her entwickeln lässt.⁵⁵ Der eigene Zustand übergegensätzlicher Einheit kann nicht, so ließe sich das dahinter stehende transzendentalphilosophische Argument zusammenfassen, in einer inneren Genese bewusst werden. Daher kann gerade ein Zustandsbewusstsein als Innerlichkeit des Absoluten verstanden werden. Das religiöse Gefühl stellt also gegenüber dem transzendentalen Gefühl bereits eine Anreicherung dar, insofern es dessen Unbedingtheitsdimension als Zustandsbestimmung thematisch macht und darin implizit fremdsetzt. Lässt sich nun dieses Konzept mit den oben skizzierten Evidenzen der neueren Emotionsforschung oder auch nur mit der Beschreibung der Frömmigkeitsgefühle in den Reden vermitteln? Wenn dies überhaupt gelingen soll, so ist jedenfalls die methodische Differenz zwischen transzendentalem Gefühlsbegriff im Sinne einer Elementen- und Strukturtheorie des Bewusstseins und einer Phänomenologie oder deskriptiven Psychologie des konkreten Bewusstseins unbedingt zu berücksichtigen.⁵⁶ Unter dieser Voraussetzung ergeben sich durchaus Theorieoptionen mit Bezug auf den oben bereits erwähnten Befund, der für die neuere Debatte über Religion und Gefühl grundlegend ist. Gemeint ist die Beobachtung, dass sich mit empirischen Verfahren keine spezifisch religiösen Gefühle erheben lassen, sondern alle vermeintlich religiösen Gefühle vielmehr auch in nichtreligiösen Kontexten auftreten. Dieser Befund impliziert jedoch zugleich, dass allgemeine Gefühle zumindest einer religiösen Konnotation offen stehen. Vor dem Hintergrund der transzendentalen Theorie des Bewusstseins wäre diese religiöse Konnotation empirischer Gefühle nun jedenfalls nicht als Erfüllung der emotionalen Intentionalität durch ein kognitiv bereits vorauszusetzendes religiöses Objekt zu verstehen, wie es sich vom sprachlichen Ausdruck religiöser Gefühle her nahezulegen scheint. Derartige Ausdrücke (Furcht vor oder
KGA II.10,1, 267: „Diese transcendente Bestimmtheit des Selbstbewußtseins nun ist die religiöse Seite desselben oder das religiöse Gefühl […]. Sie ist […] als allgemeines Abhängigkeitsgefühl“. Auf die in der Auslassung enthaltene Begründung dieser Näherbestimmung, die weitere ›Identifikationsleistungen‹ aussagt, und ihre Problematik kann hier nicht weiter eingegangen werden. Eine analoge Ebenendifferenz findet sich auch im anders gelagerten Kontext der Gefühlstheorie in der Glaubenslehre. Gemeint ist der wichtige Hinweis im Leitsatz von § 5 der zweiten Auflage von 1830/31, der zufolge auch das ›schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl‹ als „höchste Stufe des menschlichen Selbstbewußtseins […] in ihrem wirklichen Vorkommen von der niederen niemals getrennt ist“ (KGA I.13,1, 41); vgl. dazu vom Verf., Religion und Gefühl (s. Anm. 36), 19 ff.
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Dankbarkeit gegenüber Gott etc.) wären vielmehr als komplexe Auslegungsgestalten zu rekonstruieren, für deren Bestimmung des intentionalen Objekts bereits begrifflichsprachliche Reflexionsleistungen vorausgesetzt werden müssen, die für die Ebene des religiösen Gefühls im transzendentalphilosophischen Sinne, d. h. also der Innerlichkeit des transzendenten Grundes im Modus eines Zustandsbewusstseins, auszuschließen sind. Demzufolge wäre auch die in der neueren Emotionsdebatte immer wieder diskutierte Frage nach möglichen Angemessenheitskriterien von Emotionen zumindest im religiösen Kontext weniger im korrespondenztheoretischen Sinne als nach Maßgabe ihrer hermeneutischen Erschließungskraft für das ihnen zugrunde liegende Erleben zu entwickeln. Demzufolge wäre aber auch die einfache Disjunktion zwischen gewöhnlichen und religiösen Gefühlen, wie sie von der neueren Debatte vorausgesetzt wird, preiszugeben und zwar zugunsten eines Modelles, das wenigstens eine dritte bzw. eine Vermittlungsebene zwischen nichtreligiösen und religiösen Gefühlen einzieht. Wenn ›religiöse Gefühle‹ im oben genannten Sinne des sprachlichen Gefühlsausdrucks bereits höherstufige Deutungsleistungen voraussetzten, so liegt die eigentlich spannende Frage doch offensichtlich darin, ob sich auf der Ebene unseres emotionalen Selbst- und Weltumgangs nicht Situationen auszeichnen lassen, die Anknüpfungspunkte für derartige Auslegungsprozesse bieten. Es wären also diejenigen Momente des empirischen Bewusstseins bzw. diejenigen emotionalen Gefühle im Sinne der gegenwärtigen Debatte zu identifizieren, die Bestimmungshinsichten und Strukturen aufweisen, deren Explikation zu einer Konkretion des dem religiösen Gefühl im transzendentalphilosophischen Sinne impliziten Unbedingtheitssinns führt. Emotionale Gefühle in diesem Sinne sind dann aber eben weder eindeutig religiös noch areligiös. Vielmehr könnte man für diese eigentümliche Zwischenebene von ›religionsaffinen‹ Gefühlen sprechen.⁵⁷ Hinsichtlich der Frage nach einer besonderen Erlebnisqualität religiöser Gefühle, die ja mit Bezug auf die einfache Distinktion in der neueren Debatte in der Regel abgelehnt wird, ließe sich vor diesem Hintergrund ebenfalls eine Vermittlungsposition entwickeln. Unbeschadet der Plausibilität, welche die These zur Individuation von Emotionen über ihre ›formalen Objekte‹ aufweist, muss dieses Modell nicht nur vor dem Hintergrund der komplexen Intentionalität des religiösen Bewusstseins, die in den Ausführungen zuvor allenfalls angedeutet wurde, sondern auch im Lichte neuerer Einsichten in den hermeneutischen und narrativen Charakter emotionaler Erfahrung
Zur methodischen Auszeichnung dieser religionshermeneutischen Kategorie vgl. Claus-Dieter Osthövener, Religionsaffinität. Erkundungen im Grenzbereich von Theologie und Kulturwissenschaften, in: ZThK 112 (2015), 358 – 377. Für eine konkrete Durchführung dieses Modells am Beispiel der Dankbarkeit vgl. Roderich Barth, Dankbarkeit als religionsaffines Gefühl. Überlegungen zu dogmatischen Anknüpfungspunkten, in: Erleben und Deuten. Dogmatische Reflexionen im Anschluss an Ulrich Barth. FS zum 70. Geburtstag, hg.v. ders., Andreas Kubik u. Arnulf von Scheliha, Tübingen 2015, 169 – 191. Als klassisches Paradigma für die Auslotung von Erlebniswelten im Sinne einer „Religion, bevor sie Religion ist“, ist die Religionspsychologie Georg Simmels zu nennen, vgl. ders., Gesammelte Schriften zur Religionssoziologie, hg.v. Horst Jürgen Helle, Berlin 1989, hier 37.
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variiert werden.⁵⁸ Wenn wiederum die Erlebnisqualität empirischer Gefühle immer nur in intentionalen Kontexten auftritt, worauf gerade die neuere Emotionsforschung insistiert, dann ist davon auszugehen, dass phänomenale Grundmuster oder Typen einer gewissen Plastizität und Bandbreite unterliegen. Trifft das aber zu, dann spricht nichts dagegen, sondern vielmehr alles dafür, dass sich religionsaffine Erlebnisse und erst recht deren Auslegung durch explizit religiöse Symbole im Rahmen eines phänomenalen Grundmusters qualitativ abheben. Hier würde dann das Wahrheitsmoment einer Phänomenologie des Heiligkeitserlebnisses liegen.⁵⁹ Sie wäre gleichsam der Versuch einer methodischen Abstraktion der Erlebnisschichten, die speziell der Explikation des transzendenten Grundes dienen, zugleich aber im Horizont und an unserer allgemeinen emotionalen Erfahrung auftreten. Die religionspsychologisch dichten Beschreibungen emotionaler Frömmigkeit in den Reden – und damit bin ich zu meinem Ausgangspunkt zurückgekehrt – scheinen genau auf ein solches Ineinander von allgemeinem Emotionstyp und religiöser Phänomenalität zu zielen, wenn sie alttägliche Gefühle wie Dankbarkeit oder Wehmut mit Attributen wie ›innig‹, ›still‹, ›ewig‹ und vor allem ›heilig‹ versehen. Wenn mein Versuch, Schleiermachers transzendentalphilosophisch fundierte Theorie des Gefühls mit der neueren Emotionsdebatte ins Gespräch zu bringen, vor allem den konstruktiven Beitrag ersterer hervorzuheben suchte, so soll das nicht bedeuten, dass nicht im Einzelnen auch hier zahlreiche Sachprobleme schlummern und nicht umgekehrt auch konstruktive Impulse und Korrekturen von der neueren Debatte her zu erwarten sind.⁶⁰ So wäre etwa die konzeptionelle Aufwertung des Deutungsaspekts im Konzept des ›allgemeinen oder schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls‹ ebenso erforderlich wie die kritische Revision einer Einengung auf die Lust-Unlust-Dichotomie, wie sie vor allem für die Glaubenslehre bestimmend ist.⁶¹ In erster Linie kann die an empirisch-konkreten Plausibilisierungsverfahren orientierte neuere Emotionsdebatte also dazu beitragen, den transzendentalphilosophischen Gefühlsbegriff und die Religionstheorie an eine konkrete Religionspsychologie und Phänomenologie rückzubinden. Daher kann ich dem Fazit der oben zitierten Tübinger Philosophinnen nur beipflichten: Es bedarf weiterer Anstrengungen in der Analyse des Zusammenhangs von Religion und Gefühl, auch wenn nicht auszuschließen ist, dass sich dabei letztlich nicht nur der Begriff des religiösen Gefühls, sondern der Gefühlsbegriff überhaupt als ein zu vages Konzept erweisen könnte.
Peter Goldie, The Emotions (s. Anm. 20), 11– 49. Vgl. dazu R. Barth, Religion und Gefühl (s. Anm. 36), 31– 41. Im Bereich der Philosophie ist neben der analytischen Tradition, auf die ich oben vereinzelt Bezug genommen habe, auch die Neue Phänomenologie einzubeziehen, vgl. dazu z. B. Hermann Schmitz, Die Verwaltung der Gefühle in Theorie, Macht und Phantasie, in: Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle, hg.v. Claudia Benthien, Anne Fleig u. Ingrid Kasten, Köln / Weimar / Wien 2000, 42– 59. Eine kritische Aneignung in diesem Sinne findet sich beispielsweise bei Michael Moxter, Gefühl und Ausdruck. Nicht nur ein Problem der Schleiermacherinterpretation, in: Barth / Zarnow (Hg.), Theologie der Gefühle (s. Anm. 12), 125 – 142.
Christian Albrecht / München
„… daß jene Anforderung nicht mehr in ihm entstehe“. Schleiermachers Programm der Seelsorge als Wiederherstellung religiöser Autonomie Der Begriff der Seele steht für die subjektive Seite des individuellen Lebens, für die Innenseite von Gemeinschaftsbezügen und Kommunikationsverhältnissen. Der folgende Beitrag soll aber weder einer weiteren Dimension solcher Außenbeziehungen gelten noch den Seelenbildern, die dabei als leitend erschlossen werden können, sondern der Frage, was nach Schleiermachers Auffassung zu tun ist, wenn diese Seele einmal instabil wird, wenn also das Bedürfnis nach Seelsorge entsteht. Schleiermachers Theorie der Seelsorge ist, wie zu zeigen sein wird, ganz aus der Beobachtung des Verlustes von subjektiver Gewissheit heraus und auf die Wiederherstellung selbstständiger Orientierungsfähigkeit hin konzipiert. Sie bearbeitet alle Themen, deren Vorkommen man in einer zeitgenössischen und übrigens auch gegenwärtigen praktisch-theologischen Theorie kirchlicher Seelsorge erwarten darf – und sie bearbeitet sie systematisch im Geist des Zieles der Wiederherstellung ursprünglicher Mündigkeit. Schleiermachers Theorie der Seelsorge ist, obwohl sie auf die Generation seiner unmittelbaren Schüler, allen voran Carl Immanuel Nitzsch, deutliche Prägewirkungen hatte, in der Praktischen Theologie erst vergleichsweise spät und vergleichsweise langsam wahrgenommen worden. Daran ist nicht zuletzt die Quellenlage schuld. Das vorhandene Material ist erst 1850 von Jacob Frerichs für die „Sämmtlichen Werke“ ediert worden¹, und es ist extrem disparat. Als Schleiermachers ipsissima vox können dabei allenfalls knappe Vorlesungsmanuskripte gelten, teils nur in der Form von Zetteln mit Stichworten. In der Hauptsache sind Vorlesungsnachschriften von unterschiedlichem Wert kompiliert und ediert worden.² Zudem sind viele für das Verständnis entscheidende konzeptionelle Weichenstellungen gar nicht in den praktischtheologischen Texten angesprochen, sondern müssen aus den knappen Bestimmungen der „Kurzen Darstellung“ erhoben werden. Vor allem aber fiel Schleiermachers Seelsorgelehre komplett aus ihrer Zeit. So sehr sie sich pietistischen Einflüssen und aufklärerischen Impulsen verdankt, so sehr lässt sie diese zugleich hinter sich. Und zahlreiche Zentralmotive von Schleiermachers Die praktische Theologie nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt von Dr. Friedrich Schleiermacher. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen herausgegeben von Jacob Frerichs (Friedrich Schleiermacher’s Sämmtliche Werke. Erste Abtheilung: Zur Theologie, Dreizehnter Band), Berlin 1850 (Photomechanischer Nachdruck) Berlin/New York 1983. Die Edition von Schleiermachers Texten zur Praktischen Theologie in der Kritischen Gesamtausgabe wird nach derzeitigem Stand nicht vor 2024 abgeschlossen sein. DOI 10.1515/9783110464573-016
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Seelsorgelehre – z. B.: Reflexionen auf den Gesprächscharakter der Seelsorge, auf die Beziehungsdynamik zwischen Seelsorger und Seelsorgesuchendem, auf den temporären Charakter der Seelsorge, auf Freiheit und Freiwilligkeit als Bedingungen der Seelsorge sowie Selbstständigkeit und Mündigkeit als ihr Ziel – sind erst im Laufe des 20. Jahrhunderts in den Blick der Seelsorgetheorie getreten, dann freilich in der Regel als Neuerfindungen und fern von der Vorstellung, dass man hier durchaus an Schleiermacher hätte anknüpfen können. Erst in den 1980er Jahren, durch Vertreter einer historisch versierten und systematisch anschlussfähigen Praktischen Theologie sowie begünstigt durch die Schleiermacher-Renaissance seit den 1960er Jahren, erfuhr Schleiermachers Seelsorgetheorie eine gewisse Wiederentdeckung, über die freilich die alsbald einsetzende Spezialisierung, teils auch Zersplitterung der Seelsorgelehre schnell hinwegging.
I. Man muss, um den Weitblick von Schleiermachers Seelsorgetheorie würdigen zu können, sich zunächst in wenigen, groben Strichen den theoriehistorischen Kontext ihrer Entstehung vor Augen führen. Das soll in einem einleitenden Gedankenschritt geschehen, bevor zweitens die Grundzüge von Schleiermachers Seelsorgelehre rekonstruiert und drittens einige ihrer Pointen vertieft werden. Die Seelsorge ist bekanntlich dasjenige Praxisfeld des Geistlichen, das im Vergleich zu anderen – Predigt, Gottesdienst, Unterricht – seit der Reformation die massivsten Wandlungen seiner Aufgabenstellung erlebte. Hallte in der lutherischen Reformation die römisch-katholische Vorstellung des Beichtgespräches mit dem Ziel der Kirchenzucht nach, so ordnete die Schweizer Reformation der Seelsorge das Ziel der Erziehung des Einzelnen zu immer vollkommenerem Lebenswandel zu. Diese reformatorischen Aufgabenbestimmungen der Seelsorge als eines Instrumentes der Gemeindeerziehung ändern sich nun im Pietismus. Hier zielt die Seelsorge auf die Heiligung des Einzelnen, auf die Verfeinerung seiner religiösen Subjektivität. Die Seelsorge ist dabei nicht mehr nur Sache der Geistlichen, sondern – als einander wechselseitig beobachtende Pflege des inneren religiösen Lebens – ein Dienst aller an allen, eine Grundform religiöser Kommunikation. Auch die aufklärerische Seelsorgetradition nimmt den Einzelnen in den Blick, freilich mit der veränderten Aufgabenbestimmung der Bildung zur christlichen Persönlichkeit: Seelsorge soll Einsicht und Tugend des Einzelnen fördern. Zugleich erstarkt allmählich eine tief in der lutherischen Tradition verankerte Skepsis gegenüber all solchen Formen individueller Seelsorge, die im Verdacht stehen könnten, der Predigt als dem zentralen Ort des persönlichen Wortes für den Einzelnen den Rang streitig zu machen. Sehr viel weniger ausgeprägt als diese unterschiedlichen, gleichzeitig im Umlauf befindlichen Aufgabenbestimmungen der zeitgenössischen Seelsorge ist allerdings das Interesse an deren theoretischer und systematischer Erfassung. Zwar setzt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bekanntlich ein Prozess ein, in dem die überlie-
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ferten pastoraltheologischen Klugheitsregeln allmählich zum Gegenstand einer theoretischen Zuwendung werden und sich die Herausbildung einer modernen Praktischen Theologie abzeichnet. Doch bezieht sich dies zunächst, wie zum Beispiel die entsprechenden Überlegungen von Lorenz von Mosheim³, Johann August Nösselt⁴ oder Johann Joachim Spalding⁵ erkennen lassen, noch ganz weitgehend auf Grundlegungsfragen, auf den prinzipiellen Status und den Zuschnitt dieser im Wandel begriffenen praktischen Disziplin der Theologie. Und dort, wo bereits materiale Themen dieser neuen Disziplin in den Blick genommen werden, bezieht sich das fast ausschließlich auf die Predigt. Der Seelsorge hingegen gilt dieses theoretische Interesse bis in das 19. Jahrhundert hinein noch kaum. Zwei kurze Beispiele sollen genügen. So bestehen die Ausführungen zur Seelsorge in dem erstmals zur Mitte der 1820er Jahren erschienenen Lehrbuch der Praktischen Theologie aus der Feder des Herborner Theologen Ludwig Hüffell⁶ (das in späteren Auflagen den Untertitel „Handbuch der Praktischen Theologie in ihrem ganzen Umfange“ tragen wird⁷) in einer schlichten Aufzählung ganz verschiedener seelsorgerlicher Tätigkeiten. Vor allem aber leitet Hüffell, ganz in der Tradition der alten Pastoraltheologie, diese Tätigkeiten aus der Aufgabe des Seelsorgers ab, kaum aber aus einer systematischen Vorstellung von der Aufgabe der Seelsorge. Und noch das in den 1860er Jahren erschienene Lehrbuch der Praktischen Theologie von Wilhelm Otto⁸ ordnet die Seelsorge ganz und gar der Predigtaufgabe zu und versteht sie als Anrede des Einzelnen. Eine solche systematische Erfassung und materiale Durchbildung der seelsorgerlichen Aufgabe in ihrer Eigenständigkeit und in ihren theologischen Kontexten bietet nun in einer wissenschaftsgeschichtlich einmalig frühen und in der Folgezeit gleichwohl sachlich noch kaum ausgeschöpften Weise Schleiermacher. Im zweiten Gedankenschritt sollen die systematische Anlage und die Grundgedanken seiner Seelsorgelehre referiert werden.
Johann Lorenz von Mosheim, Pastoraltheologie von denen Pflichten und Lehramt eines Dieners des Evangelii (1754), Nachdruck neu hg. und eingeleitet von Dirk Fleischer, Waltrop 1991. Johann August Nösselt, Anweisung zur Bildung angehender Theologen. 3 Bde., Bde. 1 und 2 Halle 1786, Band 3 Halle 1789. Johann Joachim Spalding, Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung (11772; 2 1772; 31791), hg. von Tobias Jersak (SpKA I/3), 2002. Ludwig Hüffell, Ueber das Wesen und den Beruf des evangelisch-christlichen Geistlichen, 2 Bände, Bd. 1 Gießen 1822, Bd. 2 Gießen 1823. Ders., Ueber das Wesen und den Beruf des evangelisch-christlichen Geistlichen. Ein Handbuch der Praktischen Theologie in ihrem ganzen Umfange, 2., völlig umgearbeitete Auflage Gießen 1830/31, 3., vermehrte und verbesserte Auflage Gießen 1835. Wilhelm Otto, Evangelische Praktische Theologie. Band 1: Die erbauenden Thätigkeiten, Gotha 1869; Band 2: Die ordnenden Thätigkeiten, Gotha 1870.
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II. Während Schleiermachers Auffassungen über die Durchführung der Seelsorge sich aus der „Praktischen Theologie“ erheben lassen, müssen seine Bestimmungen der Aufgabe der Seelsorge zunächst in der Rekonstruktion des wissenschaftssystematischen Ortes erschlossen werden, den Schleiermacher der Seelsorgelehre in der „Kurzen Darstellung“ zuweist.⁹ (1.) Grundsätzlich gilt für die Seelsorgelehre dasselbe wie schon für die Praktische Theologie als Ganze: Ihre Gliederung leitet Schleiermacher nicht, wie das in der überlieferten Pastoraltheologie üblich war, umweglos aus den (klassischen) pastoralen Tätigkeitsformen ab, sondern diese Gliederung gewinnt er durch den Blick auf die jeweiligen Anforderungen in den unterschiedlichen Vergemeinschaftungsformen innerhalb der Kirche, aus denen sich dann je spezifische Tätigkeiten des Geistlichen ergeben. So unterscheidet Schleiermacher zunächst die überparochialen und die parochialen Anforderungen und gewinnt so die Differenzierung zwischen „Kirchenregiment“ und „Kirchendienst“.¹⁰ Im Bereich des Kirchendienstes nun, dessen Zweig hier allein weiter verfolgt werden soll, ist der oberste Teilungsgrund der Adressaten Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen. Entworfen von Dr. F. Schleiermacher. Zweite umgearbeitete Ausgabe, Berlin 1830 (Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe, hg.v. Hermann Fischer u. a., Erste Abteilung: Schriften und Entwürfe, Band 6: Universitätsschriften. Herakleitos. Kurze Darstellung des theologischen Studiums, hg.v. Dirk Schmid, Berlin/New York 1998, 317– 446), bes. §§ 277– 302. An ausgewählter Sekundärliteratur zu Schleiermachers Seelsorgelehre ist zu nennen: Alfred Gennrich, Grundfragen der Seelsorge bei Schleiermacher, in: ELKZ 8 (1951), 126 f. – Jochen Rabast, Die Entwicklung der Seelsorge im 19. und 20. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung Friedrich Naumanns, Diss. masch. Berlin 1970, 10 – 13. – Werner Schütz, Seelsorge. Ein Grundriß, Gütersloh 1977, 50 – 53. – Diether Gerbracht, Die Gemeinde und der Einzelne. Das Verständnis der Seelsorge bei Friedrich D.E. Schleiermacher. Eine Anfrage an die gegenwärtige Seelsorge-Diskussion. Mit einem Beitrag zur Wirkungsgeschichte von Friedrich D.E. Schleiermacher: Das Verständnis der Seelsorge bei Carl I. Nitzsch. Ausblick auf die Ziele der von Emil Sulze begründeten Gemeindebewegung. Diss. masch. Göttingen 1977, bes. 10 – 44a. – Friedrich Wintzer, Einführung, in: Seelsorge. Texte zum gewandelten Verständnis und zur Praxis der Seelsorge in der Neuzeit, hg. und eingeführt von Dems., München 31988, XI–L, XVII–XIX. – Dietrich Rössler, Grundriß der Praktischen Theologie, 2., erweiterte Auflage, Berlin/ New York 1994, 187– 190. – Volker Weymann, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, in: Geschichte der Seelsorge in Einzelporträts, hg.v. Christian Möller, Bd. 3: Von Friedrich Schleiermacher bis Karl Rahner, Göttingen 1996, 21– 40. – Klaus Winkler, Seelsorge, Berlin/New York 1997, 134 f. – Christian Albrecht, Systemische Seelsorge. Therapie und Beratung im Horizont der Seelsorgekonzeption Friedrich Schleiermachers, in: International Journal of Practical Theology, Vol. 4 (2000), S. 213 – 252. Die unten gebotene Rekonstruktion von Schleiermachers Seelsorgelehre fasst teilweise die a.a.O., 227– 241 stehenden, ausführlichen Überlegungen zusammen. – Wilhelm Gräb, Ratsuchende als Subjekt der Seelsorge, in: Handbuch Seelsorge, hg. von Wilfried Engemann, Leipzig 2007, 128 – 142, hier 129 – 131. – Hans Martin Dober, Seelsorge bei Luther, Schleiermacher und nach Freud, Leipzig 2008, 95 – 112. – Kristin Merle, Birgit Weyel, Einleitung, in: Seelsorge. Quellen von Schleiermacher bis zur Gegenwart, hg. von Dens., Tübingen 2009, 1– 35, 1– 3. Schleiermacher, Kurze Darstellung (s.o. Anm. 9), § 274.
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derjenige zwischen Selbstständigkeit und Unselbstständigkeit in religiösen Angelegenheiten, zwischen religiöser Mündigkeit und Unmündigkeit.¹¹ Den überwiegend Mündigen gilt vor allem die sogenannte erbauende Tätigkeit des Geistlichen, nämlich: seine predigende und liturgische Tätigkeit in den gottesdienstlichen Versammlungen der Gemeinde.¹² Den – noch oder zeitweilig – überwiegend Unmündigen gilt dagegen die sogenannte regierende Tätigkeit des Geistlichen.¹³ Sie wird von Schleiermacher „Seelsorge im weiteren Sinne“¹⁴ genannt. Als solche richtet sie sich an diejenigen, die sich noch in einer Entwicklungsphase der religiösen Unmündigkeit befinden. Ihr Zweck besteht darin, „die Unmündigen den Mündigen gleich zu machen“¹⁵, also die Integration in die durch religiöse Selbstständigkeit ausgezeichnete Gemeinschaft zu leisten. Das leistet der Geistliche durch seine katechesierende¹⁶ (und wohl auch durch die missionierende¹⁷) Tätigkeit, die Schleiermacher zur Seelsorge im weiteren Sinne rechnet. Daneben richtet sich die regierende Tätigkeit des Geistlichen aber auch auf diejenigen Einzelnen, die durch krisenhafte Phänomene ihre vormals erworbene religiöse Mündigkeit zeitweise verloren haben, bzw.: „welche ihrer Gleichheit mit den andern durch innere oder äußere Ursachen verlustig gegangen sind; und die Beschäftigung mit diesen nennt man die Seelsorge im engeren Sinne“¹⁸. (Darin ist die alte Unterscheidung zwischen cura generalis und cura specialis aufgenommen, aber in neuer Weise begründet.) Damit ist der wissenschaftssystematische Ort erreicht, an dem Schleiermacher die Entfaltung der speziellen Seelsorgelehre in der „Praktischen Theologie“ beginnen lassen wird. Festzuhalten ist als Zwischenergebnis, dass Aufgabe und Ziel der Seelsorge klar vor Augen stehen: Die Seelsorge dient der Integration des Einzelnen in die Gemeinschaft der religiös selbstständigen Individuen, und zwar am Maßstab eines Bildes religiöser Mündigkeit, das in der konkreten und individuellen Vermittlung von überlieferten Idealvorstellungen hinein in die faktischen Realgestalten des christlichen Lebens realisiert wird. (2.) Während die wissenschaftssystematisch motivierten Ausführungen der „Kurzen Darstellung“ die Fundamentalbestimmungen der Seelsorge enthielten, bieten die Entfaltungen der Theorie von der konkreten Durchführung der speziellen Seelsorge in der „Praktischen Theologie“ nun Detailüberlegungen. Sie sind überwiegend durch Fragen des Handlungsvollzuges motiviert, ihre Bearbeitung erfolgt jedoch in einer, wie sich zeigen wird, recht grundsätzlichen Weise.
Vgl. aaO. §§ 267.269.279. Vgl. aaO. § 280 – 289. Vgl. aaO. § 279. AaO. § 291. AaO. § 293. Vgl. aaO. § 291. Vgl. aaO. § 298. AaO. § 299.
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Schleiermachers Ausführungen in der „Praktischen Theologie“ lassen sich in drei Themenkreise gliedern. Deren erster geht der Frage nach, wie das Seelsorgegespräch zu Stande kommt bzw. welche Arten der Anknüpfung angemessen sind.¹⁹ Diese Frage wird unter dem Gesichtspunkt des Zweckes der Seelsorge diskutiert. Der zweite Themenkreis befasst sich dann mit dem Verfahren des Seelsorgegespräches, also der Frage nach den Regeln seines Gelingens.²⁰ Im dritten Themenkreis schließlich wird nach den unterschiedlichen Anlässen und Themen des Seelsorgegespräches gefragt.²¹ (2.1.) Zunächst zum ersten Themenkreis. Die Frage nach der angemessenen Anknüpfung des Seelsorgegespräches ergibt sich aus der (durch die römisch-katholische und pietistische Beicht- bzw. Seelsorgepraxis nahegelegten) Infragestellung des Freiwilligkeitsgrundsatzes der Seelsorge. Schleiermacher zerstreut diese Zweifel an dem Freiwilligkeitsprinzip der evangelisch-volkskirchlichen Seelsorge durch den grundsätzlichen Hinweis auf die protestantische Idee der Gottunmittelbarkeit des einzelnen Gläubigen, der darum der Vermittlung durch den Beichtvater nicht bedarf,²² anders gesagt: mit dem Grundsatz „von der allgemeinen priesterlichen Würde jedes einzelnen Christen“²³. Mit diesem Grundsatz ist zugleich das Kriterium für den Zweck, die Gestalt und auch für die Grenzen der Seelsorge gegeben. Insofern bildet das Axiom der religiösen Ebenbürtigkeit jedes einzelnen Christen das Leitmotiv für anschließende grundlegende Ausführungen Schleiermachers. Sie richten sich zunächst auf die Beschreibung des Verhältnisses zwischen dem Seelsorger und dem seelsorgebedürftigen Gemeindeglied. Diese Beziehung wird als Ausschnitt des umfassenden Beziehungsgeflechtes zwischen dem Geistlichen und der Gemeinde gesehen. Es handelt sich um ein auch vor dem eigentlichen Seelsorgegespräch bestehendes „persönliches Verhältniß“²⁴, das durch die übrigen erbauenden und regierenden Tätigkeiten des Geistlichen, insbesondere den Unterricht, bereits konstituiert ist. Dem Grundgedanken religiöser Gleichwertigkeit folgend ist dieses Verhältnis als ein solches definiert, in dem der Seelsorgesuchende priesterlich-magistraler Bevormundung genauso wenig ausgesetzt sein kann wie dem misslichen Erlebnis, dass der Geistliche sich grenzverletzend „in die Angelegenheiten anderer […] mische“²⁵ oder das „Geheime im Leben“²⁶ nicht respektiere. Das Axiom des allgemeinen Priestertums bildet dann auch die Grundlage von Schleiermachers Behandlung der Frage nach dem allgemeinen (und zunächst noch Vgl. Schleiermacher, Praktische Theologie (s.o. Anm. 1), 428 – 436. Vgl. aaO. 436 – 443. Vgl. aaO. 443 – 466. Vgl. aaO. 430. Die christliche Sitte nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt von Dr. Friedrich Schleiermacher. Aus Schleiermacher’s handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen herausgegeben von Ludwig Jonas (Friedrich Schleiermacher’s Sämmtliche Werke. Erste Abtheilung: Zur Theologie, Zwölfter Band), Berlin 1843, 175. Schleiermacher, Praktische Theologie (s.o. Anm. 1), 433. AaO. 428. AaO. 452.
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vom Einzelfall völlig absehenden) Grund für das Seelsorgebegehren. Prinzipiell gilt, dass „jedes Gemeineglied […] in unmittelbarem Verhältniß zu dem göttlichen Wort“ steht und auch „sich aus demselben selber berathen“ kann, das heißt: der Einzelne wird idealiter „zu seinem Verständniß des göttlichen Wortes und seiner Subsumtion der einzelnen Fälle unter die in dem göttlichen Wort gegebenen Regeln, Vertrauen haben“²⁷. Eben jenes Vermögen individuellen Verständnisses und individueller Anwendung der Überlieferung ist aber das Resultat der erbauenden und regierenden Aktivitäten des Geistlichen, wiederum insbesondere des Unterrichts. Fehlt es dem Einzelnen aber eben an dieser Verständniskraft und damit am Vertrauen in die ihn persönlich meinende Gültigkeit der Überlieferung, so dass er der seelsorgerlichen Bekräftigung seines Vertrauens in die Gewissheitsgründe und in die Orientierungskraft der Überlieferung bedarf, so kann dies nicht ohne weiteres als Unzulänglichkeit des Seelsorgesuchenden aufgefasst werden, sondern ist zunächst vielmehr ein Indiz für Defizite in der erbauenden und regierenden Tätigkeit des Geistlichen. Das zum Seelsorgebegehren führende, fehlende Vertrauen „beweist zunächst, daß die Thätigkeit des Geistlichen im Religionsunterricht und die Erklärung des göttlichen Wortes im öffentlichen Gottesdienst nicht hinreichend gewesen ist und ihren Zwekk nicht erfüllt hat.“²⁸ Ist damit also im Gottesdienst und im Unterricht des Geistlichen „die Wahrheit die er mittheilte nicht klar herausgetreten“²⁹, so ist der Geistliche „schuldig das zu ergänzen was er an der Vollkommenheit seiner Pflichtthätigkeit hat fehlen lassen“³⁰. Mit dieser Deutung verbinden sich mehrere Pointen. Die erste betrifft den Stellenwert der Seelsorge als Form religiöser Kommunikation. Die Seelsorge ist von Schleiermacher nicht als ein Normalfall religiöser Kommunikation verstanden, sondern als deren Ausnahmefall. Daraus ergibt sich zweitens eine distinkte Auffassung über die Zweckgebundenheit und die Zielbestimmung der Seelsorge. Grundsätzlich besteht nun nämlich das Ziel des Seelsorgegespräches in der Aufhebung der Gründe, die zu ihm geführt haben: „Überall, wo solche [seelsorgebegehrende] Anforderung an den Geistlichen geschieht, hat er sie dazu zu benuzen die geistige Freiheit des Gemeinegliedes zu erhöhen und ihm eine solche Klarheit zu geben, daß jene Anforderung nicht mehr in ihm entstehe.“³¹ Inhaltlich gesehen besteht die Aufgabe der Seelsorge also, das wird wiederholt, in der Wiederherstellung verlorener religiöser Freiheit und geistlicher Selbstständigkeit. Doch seine eigentliche Aufmerksamkeit widmet Schleiermacher im fraglichen Zusammenhang einem anderen Punkt, nämlich dem Zweckbezug und der Zielgerichtetheit seelsorgerlichen Handelns. Denn nachdem die Seelsorge kein Selbstzweck ist, bemisst ihre Qualität sich an der Effizienz, die sie im Blick auf die ihr zugrundeliegende inhaltliche Aufgabe erreicht. Das hat Konsequenzen für das Selbstverständnis des
AaO. 430. Ebd. AaO. 444. AaO. 430. AaO. 431. Im Original hervorgehoben. Vgl. auch die fast wortgleiche Formulierung aaO. 445.
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handelnden Seelsorgers: Sein Handeln ist nun ausschließlich durch den Zweck bestimmt und damit motiviert durch den „Glauben den er hat, daß dabei wirklich etwas herauskommen wird“, also durch den „Effekt“ der Seelsorge.³² Darum entscheidet der Seelsorger z. B. über die äußere Form des Seelsorgegespräches, über seine Dauer und sein Ende,³³ vor allem aber über die in der Seelsorge einzuschlagenden, unten genauer zu betrachtenden Verfahren grundsätzlich undogmatisch und lösungsorientiert, nämlich in der pragmatischen Abwägung der Möglichkeiten des Gelingens und des Misslingens,³⁴ und ausschließlich nach Maßgabe des Zweckes, dem das Seelsorgegespräch dient: „Wenn es einem gelingt: so hat er Recht gehabt“³⁵. (2.2.) Im zweiten Themenkreis³⁶ der speziellen Seelsorgelehre widmet Schleiermacher sich der Frage nach den angemessenen Verfahrensweisen der Seelsorge, also der Frage nach ihrer Methodik. Hier gilt zunächst und grundsätzlich, dass zwar sehr wohl Verfahrensregeln aufgestellt werden können, dass aber die Frage ihrer angemessenen Umsetzung in das Reich des Individuellen und damit des selbst nicht mehr auf Regeln zu Bringenden fällt.³⁷ Den Grund hierfür sieht Schleiermacher in der Einmaligkeit der vom Seelsorger im einzelnen Falle zu leistenden Aufgabe der Vermittlung zwischen Realität und Idealität, die stets neu bestimmt und durchgeführt werden muss.³⁸ Unter dieser Bedingung, dass die Anwendung der Regeln ihrerseits nicht auf Regeln zu bringen ist, sondern selbst eine konstruktive Leistung des Seelsorgers darstellt, kann Schleiermacher dann freilich doch einige Verfahrensregeln der Seelsorge formulieren. So nennt er beispielsweise erstens die Forderung der Vorurteilsfreiheit des Seelsorgers; zweitens die Forderung, dass der Seelsorger sich im Gespräch angemessen informiere über den individuellen Fall; drittens die Forderung, dass der Seelsorger sich vorschnellen Deutungen enthalte und den Seelsorgesuchenden selbst zunächst und ausführlich über seine Lage Erläuterungen geben lasse.Viertens erinnert Schleiermacher daran, dass diese Selbstdeutungen des Betroffenen ihrerseits keinen Anspruch auf Objektivität erheben können, sondern als individuelle Mitteilungen selbst schon Interpretationen des Betroffenen sind und weiteren Interpretationen durch den Seelsorger oder durch andere unterliegen können. Und fünftens erinnert Schleiermacher an ein früher schon einmal genanntes Meta-Ziel der Seelsorge,
AaO. 432. Vgl. aaO. 442 f. Vgl. aaO. 436. AaO. 439. Vgl. aaO. 436 – 443. Vgl. aaO. 436.466. Es sind „die Verhältnisse der Wirklichkeit zu dem was in der Natur der Sache liegt gar sehr verschieden; der Geistliche kann sein Verfahren nicht aus der bloßen Wirklichkeit allein bestimmen, sondern indem er zugleich auf das was in der Natur der Sache liegt Rükksicht nimmt“ (aaO. 434 f.). Umgekehrt formuliert: „Allgemeine Regeln lassen sich deswegen gar nicht aufstellen, weil alles darauf beruht wie die gegebene Wirklichkeit zur Natur der Sache sich verhält“ (aaO. 439).
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nämlich die Stabilisierung des Vertrauensverhältnisses³⁹ zwischen Ratsuchendem und Seelsorger durch dessen Empathie und Einfühlung: „je mehr der Geistliche sich den Ruf erhalten hat unbefangen zu sein, in die verschiedensten Sinnesarten einzugehen, desto mehr wird es ihm gelingen“⁴⁰. (2.3.) Im dritten Themenkreis⁴¹ schließlich differenziert Schleiermacher die Praxis der Seelsorge nach ihren Anlässen und ihren Gegenständen. Im Einzelnen unterscheidet er dabei dreierlei: – Zunächst sind dies zwei unterschiedliche, für alle Seelsorgeanlässe und Seelsorgegegenstände einschlägige Ausprägungen der Grundsituation des Seelsorgesuchenden: Entweder wird er des Umstandes gewahr, dass ihm die innere Einheit grundsätzlich fehlte und er ist in einer Krise, um sie zu gewinnen – oder er ist aus der bisherigen Lebenseinheit herausgeworfen.⁴² – Sodann unterscheidet Schleiermacher zwei Anknüpfungsbereiche der Seelsorge, nämlich zum einen den öffentlichen Gottesdienst bzw. das religiöse Leben und zum anderen das bürgerliche bzw. gesellige Leben.⁴³ – Schließlich unterscheidet Schleiermacher drei Themen- oder Gegenstandsbereiche der Seelsorge, die sich wiederum zurückführen lassen auf Anlässe, aus denen der Seelsorgebegehrende aus der selbstständigen Identität mit der Gemeinde gefallen ist. Dabei handelt es sich entweder um innerlich-religiöse Anlässe, die als beunruhigtes religiöses Gefühl sich Geltung verschaffen; oder es handelt sich um Anlässe in der Lebensführung, die die Gemeinschaft mit der Gemeinde zum Problem werden ließen – oder es handelt sich um lebensgeschichtlich-kontingente Anlässe, nämlich um Sorgen anlässlich von Leiden, Sterben und Tod. Damit sei das Referat der Grundzüge von Schleiermachers Seelsorgelehre abgeschlossen. Im dritten Gedankenschritt sollen einige der genannten Aspekte vertieft werden.
III. Diese Vertiefung ließe sich unter verschiedenen Gesichtspunkten vornehmen. Denkbar wäre beispielsweise eine theoriegeschichtliche Würdigung von Schleiermachers Ausführungen. Man würde dann zum einen Schleiermachers differenzierte Anknüp-
Dass das Streben nach einem Vertrauensverhältnis ein Spezifikum der evangelischen Seelsorge ist und sich „nach protestantischem Prinzip“ von selbst fordert, hebt Schleiermacher in seinem frühen, ausführlichen (von Frerichs als nicht datierbare Beilage A abgedruckten) Vorlesungsmanuskript hervor: aaO. 782. AaO. 437. Vgl. aaO. 443 – 466. Vgl. aaO. 447. Vgl. aaO. 443.
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fung an zeitgenössische Impulse herausstellen, also zum Beispiel ausführen, in welcher Weise er die im Pietismus begründete Bedeutung des einzelnen Menschen in der christlichen Gemeinde aufgreift, dagegen die pietistische Auffassung der Seelsorge als einer auf Dauer gestellten Grundform religiöser Kommunikation gerade nicht übernimmt – oder in welcher Weise Schleiermacher das aufklärerische Interesse an der Bildung der einzelnen Persönlichkeit aufnimmt, dagegen die aufklärerische Tendenz zur Beratung zurückstellt. In diese theoriegeschichtliche Würdigung gehörte auch die Erschließung von Aspekten, mit denen Schleiermacher Einsichten der Seelsorgelehre des 20. Jahrhunderts vorwegnimmt – so zum Beispiel die Konzeption der Seelsorge als Gespräch in der Seelsorgebewegung oder deren Einsichten in die komplexe Beziehungsdynamik zwischen Seelsorger und Seelsorgesuchendem, etwa als Übertragung und Gegenübertragung; vorweggenommen wird von Schleiermacher aber zum Beispiel auch die Entdeckung der Abhängigkeit seelischer Konflikte von sozialen Kontexten, wie sie in den letzten zwanzig Jahren insbesondere von der Systemischen Seelsorge herausgestellt worden ist. Denkbar wäre sodann eine werkgeschichtliche Einordnung von Schleiermachers Ausführungen zur Seelsorgelehre, indem beispielsweise einmal die seelsorgerliche Methodik der Vermittlung zwischen dem Seelsorgebedürftigen und der Gemeinde, zwischen Idealvorstellungen und Realgestalten christlichen Lebens, zwischen Individuellem und Allgemeinem als praktische Konkretion einer heuristischen Grundoperation philosophisch-theologischen Denkens rekonstruiert würde. Hier soll die Vertiefung jedoch durch die Diskussion einiger inhaltlicher Schwerpunkte von Schleiermachers Ausführungen geschehen. Dies geschieht durchaus in der Überzeugung, dass es für die gegenwärtige Seelsorgelehre eine lohnende Aufgabe wäre, sich mit dem Anspruchsniveau der systematischen Anlage und inneren Geschlossenheit, das Schleiermachers Seelsorgelehre erkennen lässt, auseinanderzusetzen – dass es aber keine guten Gründe dafür gibt, dieses Anspruchsniveau einfach zu ignorieren. Schleiermachers Entwurf hat, das war deutlich geworden, seinen Fluchtpunkt im Ideal der selbstständigen religiösen Orientierungsfähigkeit des Einzelnen, anders gesagt: in dessen Fähigkeit, Irritationen des religiösen Gefühls, Probleme der Lebensführung oder Verunsicherungen durch Leiden, Sterben und Tod mit Hilfe der christlich-frommen Selbst- und Weltsicht zu verstehen, zu bewältigen und letztlich stabilisierend in das religiöse Selbstbewusstsein zu integrieren. Es soll also die autonome Orientierungs- und Handlungsfähigkeit des Einzelnen wiederhergestellt werden. Die paralysierend wirkende Fixierung des Seelsorgesuchenden auf seine eigene Lage soll dadurch überwunden werden, dass ihm die Fähigkeiten zum selbstständigen und selbstbewussten Dasein in seinem Selbstverhältnis wie in den ihn prägenden Gemeinschaftsbezügen zurückgegeben werden. Gerade Letzteres ist in Anschlag zu bringen im Blick auf den Vorwurf einer übersteigerten Orientierung am Individuum. Schleiermachers Seelsorgekonzeption kultiviert vielmehr einen produktiven Zusammenhang zwischen der Funktionsfähigkeit des inneren seelischen Systems eines einzelnen Menschen und des gemeindlichen
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Systems. Denn zum einen zielt sie auf die Reintegration des Einzelnen in die Gemeinschaft und damit auf die Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft. Zum anderen strebt sie die Realisierung dieses gemeinschaftsorientierten Zieles eben genau dadurch an, dass sie die geistige Freiheit und lebenspraktische Mündigkeit des Einzelnen als des autonomen Individuums stärkt. Der Einzelne wird also in gewisser Weise durch die Stärkung seiner Autonomie gemeinschaftsfähig gemacht. Den Ausgangspunkt der speziellen Seelsorge bildet insofern die Faktizität des religiösen Bewusstseins als des „Gesamtlebens“ dieser Gemeinde – nicht als Norm, sondern in seiner Unhintergehbarkeit für den Einzelnen. Umgekehrt bringt Schleiermacher diese Korrelativität von Individualität und Sozialität im Blick auf ihre Folgen für die Individualität gelegentlich in folgende Formulierung: „Wie die einzelnen persönlichen Eigentümlichkeiten aus dem Gesammtleben entstehen: so werden sie auch als solche durch das ganze erhalten, und, wo es nöthig ist, wiederhergestellt werden.“⁴⁴ Darum lässt sich sagen: „Das Leben der Gemeinde bildet Maßstab und Grundlage für die seelsorgerliche Tätigkeit. Die Identität mit diesem Leben der Gemeinde bildet Kriterium und Ziel der Seelsorge. Die Seelsorge wird zum Instrument, die Gemeinde zu erhalten, aber sie wird nicht Ausdruck und Mittel des Gemeindelebens selbst“⁴⁵. In der Wiederherstellung, im Rückgewinn eines Zustandes der Selbstständigkeit, der zeitweilig labil geworden ist, aber doch als bereits gegeben und erfahren vorausgesetzt wird, liegt also das formale Ziel der Seelsorge. Sie kann darum, wie gesagt, niemals ein auf Dauer gestellter Normalfall religiöser Kommunikation sein, sondern ist ein Ausnahmefall, veranlasst durch seelische Konflikt- und Problemlagen. Die Seelsorge ist mit der Orientierung an der Bewältigung des seelischen Leidens durch Wiederherstellung eines früheren Zustandes auf ein Ziel verpflichtet, mit dessen Erreichen sie ihren Zweck erfüllt hat und ihre eigene Notwendigkeit aufhebt. Kurz gesagt: Die Seelsorge hat ihren Zweck dann erreicht, wenn sie überflüssig geworden ist. Diesem ganz formalen Ziel der Seelsorge als einer Aufhebung der Gründe, die zu ihr geführt haben, ist denn auch die Bestimmung ihrer Methodik untergeordnet. Grundsätzlich ist diese Methodik durch einen auffälligen Zug zur Pragmatisierung des Verfahrens gekennzeichnet. Alle Neigungen zur Normierung werden eingefangen durch eine ziel- und zweckbegründete Skepsis gegenüber jedem Methodendogmatismus: „alles auf ein bestimmtes System zurükkführen, ist ein beschränkendes Princip.“⁴⁶ Schleiermacher bringt das darin sich ausdrückende Bewusstsein von den Grenzen einer jeden Methode und die daraus resultierende Scheu vor „geistige[m] Hochmuth und [dem] Gefallen an einer bestimmten Form“ am Schluss seiner Seelsorgelehre denn auch in die ebenso lapidar und traditionsbewusst zusammenfassende Formulierung: „Das Princip von dem das Verfahren ausgeht ist die Liebe“⁴⁷.
Schleiermacher, Christliche Sittenlehre (s.o. Anm. 23), 117. Rössler, Grundriß (s.o. Anm. 9), 188. Schleiermacher, Praktische Theologie (s.o. Anm. 1), 466. Ebd. Vgl. auch schon aaO. 433.
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Das Moment der Pragmatisierung gilt jedoch auch noch in einem weiteren Sinne, nämlich bezogen auf die Art und Weise, in der der Seelsorger das ihm begegnende Problem des Seelsorgesuchenden wahrnimmt. Grundsätzlich geht er davon aus, dass Probleme stets das Resultat von subjektiven Konstruktionen sind, von emotionalen, gedanklichen und sprachlichen Konstruktionen. Als solche nimmt der Seelsorger sie auf und als solche würdigt er sie – im Bewusstsein, dass „die Mittheilung selbst […] ein Moment ist, der verschieden beurtheilt werden kann“⁴⁸. Der Aspekt der „Unbestimmtheit der Erzählung“ wird zugestanden, kann aber deswegen problemlos zugestanden werden, weil das Ziel der Seelsorge darin besteht, jenen Zustand wiederherzustellen, in dem der Einzelne in der Lage ist, „sich selbst zu berathen“⁴⁹. Das den Seelsorgebedarf auslösende Problem kann nicht erst dann als bewältigt gelten, wenn es objektiv gelöst oder sonstwie aus der Welt geschaffen ist, sondern wenn der Betroffene selbst dessen systemparalysierenden oder selbstständigkeitshemmenden Wirkungen als überwunden einschätzt. Schleiermachers Seelsorge konnte darum auch, einem naheliegenden Einfall zufolge, als „Hilfe zur Selbsthilfe“ bezeichnet werden.⁵⁰ Ratschläge sind dabei schon deswegen obsolet, weil sie die Freiheit des Einzelnen in der Regel nicht hinreichend berücksichtigen, vor allem aber, weil sie mit der Schwierigkeit belastet sind, dass der Ratgebende die subjektiven Konstruktionsbedingungen des Problems vernachlässigt und im Ratgeben das eigentliche Ziel der Seelsorge, die Wiedergewinnung von Selbstständigkeit des Seelsorgesuchenden, konterkariert.⁵¹ „Das Rathgeben kann nie etwas völlig bestimmtes sein, entweder heißt es: ›ich würde in diesem Verhältnisse so handeln‹ oder man sucht den andern in Klarheit über die Sache zu bringen und ihn selbst zur Entscheidung zu führen.“⁵² Es liegt auf der Hand, dass das Konzept einer auf die Wiedergewinnung der Selbstständigkeit des Seelsorgesuchenden zielenden, methodisch undogmatischen, sich Präskriptionen und inhaltlichen Normierungen enthaltenden Seelsorge Konsequenzen hat für das Selbstverständnis des Seelsorgers. Der Seelsorger im Sinne Schleiermachers ist durch ein Selbstverständnis definiert, nach dem er sich nicht als Heiler und nicht als Gesinnungsinstrukteur versteht, sondern vor allem als Moderator eines Selbststeuerungsprozesses. Der Seelsorger im Geiste Schleiermachers ist weniger Experte für irgendeine ›Sache‹, sondern für die Freisetzung hilfreicher Prozesse der Selbstberatung des Seelsorgesuchenden. Dieses Selbstverständnis des Seelsorgers fordert einerseits die permanente, kontrollierende Selbstreflexion des Seelsorgers, andererseits aber auch die strikte Selbstverpflichtung zur Neutralität und Distanznahme, der zufolge der Seelsorger zwar nicht kühl und technizistisch agieren muss, aber doch über die Fähigkeit der Distanzierung von eigenen Emotionen verfügen muss und zur Abstinenz gegenüber dem Interesse und der Neigung, die Behandlung des
AaO. 436. AaO. 430. Schütz, Seelsorge (s.o. Anm. 9), 51. Vgl. Schleiermacher, Praktische Theologie (s.o. Anm. 1), 452 f. AaO. 452.
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einschlägigen Problems in eine bestimmte Richtung lenken zu wollen.⁵³ Denn die Aufgabe des Seelsorgers besteht, seinem eigenen Selbstverständnis zufolge, ja darin, den Prozess der Selbstberatung als eine produktive innere Auseinandersetzung des Seelsorgesuchenden mit sich selbst in Gang zu setzen. Dieser inneren Auseinandersetzung auf Seiten des Seelsorgesuchenden korrespondiert die auf Dauer gestellte Selbstreflexion des Seelsorgers. Sie vollzieht sich als permanente Ausmittlung, vor allem zwischen überlieferten Idealvorstellungen christlichen Lebens und faktisch wahrnehmbaren Realgestalten, wie diese etwa begegnen im Seelsorgesuchenden und seinem Orientierungsbedarf. Der Verzicht auf einen ausschließlich an der Überlieferung orientierten autoritativen Gestus macht den Bedarf an praxisethischen Legitimationen der konkreten Formen des eigenen seelsorgerlichen Handelns und an Begründungen eigener Positionen in moralischen Konflikten umso deutlicher. „Unsere persönliche Eigenthümlichkeit darf […] nie entscheiden; entweder muß das Gemeinsame allein walten, oder die Persönlichkeit des andern muß frei gemacht und gesteigert werden.“⁵⁴ Schleiermachers Vorstellung zufolge vollzieht sich der Aufbau solcher Positionen und ihrer praxisethischen Begründungen wiederum im Vorgang eines innerlich abwägenden Ausmittlungsprozesses zwischen Individuellem und Allgemeinem. So muss der Seelsorger, wie Schleiermacher am Beispiel der Erwägungen um die konkrete Beratungstätigkeit im Falle gefährdeter Ehen auseinandersetzt, in seiner Tätigkeit für sich selbst ausmitteln zwischen der „Idee der Unauflöslichkeit der Ehe“⁵⁵ und der am Einzelfall anzustellenden Abwägung, ob der „momentane […] Scandal einer Ehescheidung“ möglicherweise dem „fortwährenden Scandal einer schlechten Ehe“⁵⁶ vorzuziehen sei. Solche Ausmittlungsvorgänge stellen je und je konkretisierte Herausforderungen an die grundlegende Abwägungsfähigkeit des „Kirchenfürsten“, nämlich an „die Leichtigkeit, verschiedene Ansichten von diesem oder jenem einzelnen im Christenthum auf das wesentliche zurükkzuführen und sich daran zu halten.“⁵⁷ Schleiermachers Konzeption der Seelsorge gewinnt damit zum Schluss eine zwar vielleicht nicht überraschende, aber folgenreiche Pointe. Sie verlangt den gebildeten Seelsorger, den theologisch urteilsfähigen Seelsorger, den Seelsorger als Theologen.
So lenkt Schleiermacher die Selbstreflexion des Seelsorgers auf das Phänomen seiner eigenen Verwicklung – modern gesprochen: seiner eigenen, übertragungsanfälligen emotionalen Anteile – in das konkrete Problem des Seelsorgebegehrenden: „Es fragt sich nun: in wie fern soll oder darf der Geistliche sein eigenes persönliches Gefühl zu dem des andern machen?“ (aaO. 452, im Original teilweise hervorgehoben). Im weiteren Verlauf beschreibt Schleiermacher das Ideal der Fähigkeit des Seelsorgers, sich diese seine eigenen Emotionen zu vergegenwärtigen, von ihnen zu abstrahieren und sich von ihnen der professionalisierten Unterstützung des Seelsorgesuchenden und seiner Individualität zuliebe zu distanzieren (aaO. 453). Ebd. Im Original hervorgehoben. AaO. 457. AaO. 456. AaO. 466.
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Schleiermacher konzipiert die Seelsorge, wie gezeigt wurde, im Gegensatz zur zeitgenössischen Tradition nicht mehr aus den pastoralen Tätigkeitsformen heraus, sondern leitet sie aus den Anforderungen des gemeindlichen und individuellen christlichen Lebens ab. Er entzieht dem Seelsorger die Rolle des geistlichen Führers und weist ihm die Aufgabe zu, dem Seelsorgesuchenden dabei zu helfen, für sich selbst angemessene Formen der Bewältigung von Krisen und Problemen zu finden. Aber das kann sich keinesfalls in therapeutisch-technischen Funktionen erschöpfen, sondern genau diese seelsorgerliche Aufgabe verlangt den urteilsfähigen Theologen. „Je mehr der Geistliche sich den Ruf erhalten hat unbefangen zu sein, in die verschiedensten Sinnesarten einzugehen, desto mehr wird es ihm gelingen; je mehr er sich selber in seinem Leben einseitig zeigt und beschränkt im Urtheil, desto weniger wird er im Stande sein ein tüchtiger Seelsorger zu sein. […] Daher nun finden wir es so sehr allgemein, dass solche Geistliche die große Eiferer sind nichts bewirken in der Seelsorge. […] Damit hängt zusammen dass der Geistliche die gehörige Achtung haben muss vor der Verschiedenheit der Meinungen und Handlungsweisen in der evangelischen Kirche, dass er den Kreis dessen, was für alle recht und wahr ist, nicht zu sehr ins einzelne ausdehnen darf. […] es muss einer die größte Empfänglichkeit haben und Milde im Urtheil über die Handlungsweisen, aber zugleich feststehen in seinem eigenen.“⁵⁸ Der Wiedergewinn religiöser Selbstständigkeit und Mündigkeit ist also zwar das Ziel der Seelsorge, aber nichts, was vom Himmel fiele. Dieser Wiedergewinn ist ein Prozess, der im Inneren des Seelsorgesuchenden selbst sich vollzieht, der aber initiiert und begleitet werden muss. Dafür bedarf es mehr als einer Technik, nämlich Einfühlungsvermögen, Augenmaß und Urteilsfähigkeit. Und es bedarf mehr als eines Technikers, nämlich des theologisch gebildeten Seelsorgers. Schleiermachers Seelsorgelehre setzt die Bildung des Seelsorgers voraus und knüpft an sie an. Diese Bildung ist, so könnte man vorläufig sagen, das Vermögen der kritischen und konstruktiven Bewältigung von Differenzerfahrungen. Sie ist Ausdruck der produktiven Verarbeitung von Differenzwahrnehmungen, etwa der Differenz zwischen historischer Überlieferung und gegenwärtiger Erfahrung, zwischen Allgemeinem und Individuellem, zwischen Sein und Sollen, zwischen Rationalität und Kontingenz. Gebildet ist, wer beide Perspektiven aus der Richtung der je anderen zu sehen, zu würdigen und zu beurteilen vermag. Gebildet ist, wer mit diesen Perspektivendifferenzen und den aus ihnen resultierenden Ambivalenzzumutungen zu leben vermag – oder dies immerhin versucht. Ungebildet ist, wer in der Illusion lebt, diese Differenzen auflösen, überwinden, ignorieren oder sonst wie negieren zu können. Diese Bildung zielt auf den Seelsorger, der seine evangelische Freiheit zu verbinden vermag mit einem Bewusstsein der Anforderungen an seine theologische Urteilssicherheit, mit einem Bewusstsein der Verantwortung für seine persönliche Amtsführung und mit einem Bewusstsein der Notwendigkeit reflektierter Selbstdis-
AaO. 437.
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tanz. Es ist eine Bildung, die auf die Souveränität des Geistlichen zielt. Denn sie weiß, dass erst aus dieser Souveränität die Empathie entstehen kann für die Menschen, die sich dem Seelsorger anvertrauen und ihm doch nicht ausgeliefert sein sollen.
Julia A. Lamm / Washington, D.C.
Schleiermacher’s Re-Writing as Spiritual Exercise, 1799 – 1806: Revising the Reden I have recently published a volume of translations of Schleiermacher in the series Classics of Western Spirituality (Paulist Press).¹ This series has proven to be influential in the Anglophone world – originally because it provided scholarly translations of full texts previously unavailable in English (or, in some cases, in any modern language), and subsequently because it has shaped the study of spirituality as a respected sub-field of theology and religious studies. The series was inaugurated almost forty years ago with the publication of Julian of Norwich’s Showings and (after more than 130 volumes) is now winding down, so exhaustive and comprehensive it has been. The volumes dedicated to the major Protestant theologians – Martin Luther, John Calvin, and Friedrich Schleiermacher – are relatively recent additions to the series (2002, 2007, 2009, 2014). I take this to be because, in the history of Protestant-Catholic polemics, the very rubric of “spirituality” was associated with Catholicism. In the Introduction to my volume, I therefore thought it important to problematize the notion of spirituality as it might apply to Schleiermacher. That Introduction (“Schleiermacher’s Spirituality: An Introduction”) turned out to be a hundred pages in length. Since German-speaking scholars of Schleiermacher would not be inclined to purchase a book of English translations, I thought I would share with you some of the ideas I develop there, with the hope of starting a conversation. My talk today rehearses some of what I wrote in my Introduction, but it also takes that argument into new territory. I shall begin with a quick overview of Pierre Hadot’s notion of writing as spiritual exercise and suggest how Schleiermacher’s early published writings might well be considered examples of spiritual exercises; then I shall move into the main part of my argument, which focuses on the Reden and explores what insights we might gain by reading it as a spiritual exercise.
I. Hadot on Writing as Spiritual Exercise² The philosopher Pierre Hadot has argued that, for the ancients, philosophy was not so much a discourse or system as a way of life, and therefore their act of writing can be best understood as a spiritual exercise. Explaining the “fascinating power” of Marcus Aurelius’s Meditations, Hadot writes,
Julia A. Lamm, ed. and trans., Schleiermacher: Christmas Dialogue, The Second Speech, and Other Selections (Mahwah, N.J.: Paulist Press, 2014). These first two sections are slightly revised versions of Lamm, “Schleiermacher’s Spirituality: An Introduction,” 36 – 41. DOI 10.1515/9783110464573-017
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[…] we have the feeling of witnessing the practice of spiritual exercises – captured live, so to speak. There have been a great many preachers, theoreticians, spiritual directors, and censors in the history of world literature. Yet it is extremely rare to have the chance to see someone in the process of training himself to be a human being […] […] we feel a quite particular emotion as we catch a person in the process of doing what we are all trying to do: to give a meaning to our life, to strive to live in a state of perfect awareness and to give each of life’s instants its full value. To be sure, Marcus is talking to himself, but we still get the impression that he is talking to each one of us as well.³
Although here, with Marcus Aurelius, Hadot depicts spiritual exercise as a solitary activity, elsewhere he stresses the importance of the dialogical character of spiritual exercises for ancient philosophers, witness Socrates: Thus, the Socratic dialogue turns out to be a kind of communal spiritual exercise. In it, the interlocutors are invited to participate in such inner spiritual exercises as examination of conscience and attention to oneself; in other words, they are urged to comply with the famous dictum, ‘Know thyself.’⁴
There is, Hadot maintains, an oral (pedagogical) dimension to ancient philosophical writing.⁵ Allow me to summarize Hadot’s phrase “writing as spiritual exercise.” Spiritual refers as much to the goal (wisdom, the ideal good person) as to a way of life (to act justly, to live intentionally and calmly, to think rightly, to value correctly, to be aware).⁶ Spiritual also refers to what Arnold Davidson calls the “existential value,” which is something more than just moral.⁷ Exercise refers to the discipline, concentration, and continual practice that this way of life requires; such practice is neces-
Pierre Hadot, Philosophy as a Way of Life: Spiritual Exercises from Socrates to Foucault, edited by Arnold I. Davidson and translated by Michael Chase (Oxford and Cambridge, Mass.: Blackwell, 1995): 201– 202. French: Exercices spirituels et philosophie antique (Paris: Études Augustiniennes, 1981). Ibid., 90. See ibid., 63 – 65. Elsewhere Hadot writes, “For the ancients in general, but particularly for the Stoics and for Marcus Aurelius, philosophy was, above all, a way of life. This is why the Meditations strive, by means of an ever-renewed effort, to describe this way of life and to sketch the model that one must have constantly in view: that of the ideal good man. Ordinary people are content to think in any old way, to act haphazardly, and to undergo grudgingly whatever befalls them. The good man, however, will try, insofar as he is able, to act justly in the service of other people, to accept serenely those events which do not depend on him, and to think with rectitude and veracity” (The Inner Citadel: The Meditations of Marcus Aurelius, translated by Michael Chase [Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1998]: 35). French: La citadelle intérieure. Introduction aux pensées de Marc Aurèle (Paris: Fayard, 1992). Arnold I. Davidson, “Spiritual Exercises and Ancient Philosophy: An Introduction to Pierre Hadot,” Critical Inquiry, 16/3 (1990): 476. For a comparison of Hadot’s “existential” approach with “aesthetic” (Foucault) and “therapeutic” (Nussbaum) approaches, see Maria Antonaccio, “Contemporary Forms of Askesis and the Return of Spiritual Exercises,” The Annual of the Society of Christian Ethics 18 (1998): 69 – 92.
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sary for personal appropriation of whatever is being contemplated.⁸ The act of writing is one type of exercise (a repeated, disciplined practice) that is spiritual in nature (due both to its content and its intended result). The repetition and association of ideas that occur by means of writing serve to reactivate “a series of representations and practices.”⁹ The act of writing shapes ideas, deepens awareness, and facilitates self-appropriation. And, Hadot explains, Whoever wishes to make progress strives, by means of dialogue with himself or with others, as well as by writing, to ‘carry on his reflections in due order’ and finally to arrive at a complete transformation of his representation of the world, his inner climate, and his outer behavior. These methods testify to a deep knowledge of the therapeutic powers of the [word].¹⁰
Hadot’s insights have influenced scholars from many different disciplines, so much so that any reflection on Schleiermacher’s spirituality would be wanting, were it not to address this aspect. And surely, for a prolific writer such as Schleiermacher, this connection cannot be ignored. At the same time, it ought not to go unnoticed that it was Schleiermacher’s own revolution in Plato studies – in particular, his insistence on the importance of the dialogue form and the dialogical process for understanding Plato – that paved the way for just such an insight as Hadot’s.¹¹
II. Schleiermacher’s Early Writings as Spiritual Exercises: Speeches, Soliloquies, and the Christmas Dialogue I propose that we consider Schleiermacher’s earlier writings (1799 – 1806) as exercises in spirituality. If (according to Hadot) the oral, dialogical character of ancient philosophical writing was sometimes indirect and remained in the background, Schleiermacher’s early writing had a manifestly social and relational dimension to it. Consider first the formal aspects of these three genres: speech, soliloquy, and dialogue. All three have an oral, communicative dimension to them. All three are examples of interpersonal communication that stems from self-examination and attentiveness to the other. Now consider the specific execution of these genres in the Reden, Monologen, and Die Weihnachtsfeier, respectively. All engage an audience, and a very See David Tracy, “Traditions of Spiritual Practice and the Practice of Theology,” Theology Today 55/ 2 (1998): 239. Hadot, The Inner Citadel, 50. According to Hadot, “Marcus writes only in order to have the dogmas and rules of life always present to his mind” (ibid.). Hadot, Philosophy as a Way of Life, 85 – 86. A typographical error in the English translation incorrectly renders parole as world rather than word. See Hadot, Exercices spirituels, 35. See Julia A. Lamm, “Schleiermacher as Plato Scholar,” Journal of Religion 80/2 (April 2000): 206 – 39.
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specific audience – Schleiermacher is speaking to specific people, whom he knows well, from whom he seeks to evoke certain responses in a way that respects that their freedom, and for whom he wishes a certain kind of ongoing transformation. And in engaging those friends, he himself is susceptible, both in the sense of being vulnerable to them (and to their criticism) and in the sense of being influenced by them. His own ongoing transformation occurs in relation to them. On this point Hadot’s reminder about the presence of an interlocutor is helpful. The presence of the other, he writes, prevents the [text] from being a theoretical and dogmatic account and forces it to be a concrete and practical exercise, because, to be precise, it is not concerned with the exposition of a doctrine, but with guiding an interlocutor to a certain settled mental attitude […]¹²
These early writings may be said to be spiritual not just in that they are expressive of Schleiermacher himself and describe the pious heart, but also in that they set forth an ideal of how life ought to be lived and valued, and they provide guidance of a sort. In these writings, Schleiermacher tries to make lucid, to work things through, to exercise clarity and truthfulness, to attract, and to shape by example. Both the act of writing and the products of that act are, potentially at least, transforming of self and of others. The process he describes is also the process he is undergoing as he writes. Viewing these early texts in this way is different from viewing them through Schleiermacher’s own categories of poetic and rhetorical types of religious expression that he sets forth in §16 of the Glaubenslehre. It better captures, I suggest, the movement that Schleiermacher himself describes as religious – the oscillation between self and other, inner and outer, part and whole. This brings me to another reason why Hadot’s work has attracted the attention of so many: he reminds us of how the ancients held together theory and praxis, and he challenges contemporary philosophy’s penchant for severing theory from praxis. This can be said to be true also of Schleiermacher scholarship: too often, the laser-like focus on Schleiermacher’s theory of religion has eclipsed our view of the religious practice that is taking place before our very eyes.
III. The First Two Speeches as Specific Example of Spiritual Exercise Let me turn our attention to the first two Speeches and, using Hadot’s notion of writing as a spiritual exercise as a lens through which to read them, argue two main points. First, part of the genius of Schleiermacher’s Reden lies in how he holds together theory and practice in the text itself; and second, many of Schleiermacher’s
Hadot, Exercices spirituels, 34, quoted and translated by Davidson (1990), 477; emphases added.
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revisions in 1806 can be read as restoring the creative tension between theory and practice that was sometimes lost in the first edition. (Note: I am using “theory” and “practice” differently from how Schleiermacher uses these terms in the Reden. I mean Schleiermacher’s theory of religion and his practice of religion.) At the beginning of the first Speech, Schleiermacher identifies “two opposing”¹³ or “two primal forces”¹⁴; he goes on to describe every human soul both as a product of these two forces and also as engaging in these two “original functions of spiritual nature”;¹⁵ he highlights the problem when these two drives are not held together, when therefore life is lived at the extremes; and, finally, he counter-poses such extreme souls with the ideal soul, who by uniting the two forces attains a “perfect equilibrium.”¹⁶ If we map out the trajectory from this starting point through to the end of the second Speech, we might detect a continual process whereby those two forces are brought into harmonious relation,¹⁷ a process culminating in a dizzying oscillation¹⁸ that yields a perfect equilibrium.¹⁹ Schleiermacher sets his own task as one of leading the Cultured Despisers from one state to the next – not just theoretically but also in practice. He explains, “Only the thoughtful expert penetrates into the secrets of such a combination brought to rest,”²⁰ and importantly he identifies himself as one such spiritual expert: “I wish to lead you to the innermost depths from which religion first addresses the heart [Gemüth]. I wish to show you from what capacity of humanity religion proceeds.”²¹ Throughout these first two Speeches, Schleiermacher reiterates, “let me lead R1 5 – 6 ≈ R 2 (Peter 10; KGA 1/12: 16) (Kräften → Tätigkeiten); Crouter 79. Working with the various editions of the Reden, and citing them, is a notoriously difficult task. For the first edition (1799), I give the original manuscript page numbers to facilitate easy reference within any edited version. For the second edition (1806), I cite the page number from the text edited by Niklaus Peter et al., since it lays out the first two editions side-by-side on the same page text to the extent possible, which enhances the comparative project (Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern 1799/1806/ 1821, edited by Niklaus Peter, Frank Bestebreurtje, and Anna Büsching [Zürich: Theologischer Verlag, 2012]); I also give the corresponding page(s) from KGA 1/12, which prioritizes the fourth edition (Über die Religion (2.–) 4. Auflage, Monologen (2.–) 4. Auflage, edited by Günter Meckenstock [Berlin: Walter de Gruyter, 1995]. ). I use “=” to indicate a passage is the same in both editions and “≈” to indicate a passage has only been slightly revised. Unless noted otherwise, I use Richard Crouter’s translation of the first edition (On Religion: Speeches to Its Cultured Despisers [Cambridge: Cambridge University Press, 1988]) and my own translation of the second edition of the second Speech (in Schleiermacher, 152– 223). R1 6 ≈ R 2 (Peter) 10, KGA 17; Crouter 80. R1 7 ≈ R 2 (Peter) 11, KGA 17; Crouter 80. R1 9 ≈ R 2 (Peter) 12, KGA 18; Crouter 81. See R1 115 = R 2 (Peter) 98, KGA 111; Crouter 132, Lamm 212. See R1 102 ≈ R2 (Peter) 91, KGA 95; Crouter 126, Lamm 206. See R1 115 = R 2 (Peter) 98: KGA 111; Crouter 132, Lamm 212. R1 9 (“In die Geheimnisse einer solchen zur Ruhe gebrachten Mischung dringt nur der gedankenvolle Kenner ein; […]”); Crouter 81. Compare R 2: “Denn in die Geheimnisse einer so getrennten oder einer so zur Ruhe gebrachten Mischung dringt nur der tiefere Seher” (Peter 12; KGA 19). R1 19 – 20 ≈ R 2 (Peter) 19, KGA 24); Crouter 87 (slightly altered).
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you”²²; he “directs” their attention elsewhere;²³ he invites them to “follow” him.²⁴ And what they are to follow is not just an argument. He is asking his friends, the cultured despisers of religion, to do something – but that “doing” is a different kind of “doing” from that associated with metaphysics and morality; it is not an imposing. It is a doing that begins in undoing. It is an ongoing act of contemplation – meditation, careful consideration (Betrachtung) – that involves the whole self and requires selfreflection. The contemplation he calls them toward requires their stepping back, freeing themselves of prejudices and preconceptions, looking at things from a distance, and making distinctions. Schleiermacher demands of the Despisers an “impartial sobriety of mind.”²⁵ He re-presents and critiques their mistaken views, challenging them to see their inconsistencies. “You do not,” he cautions, “want to have fought against a shadow.”²⁶ All of this is an apophatic move, so to speak, to clear a space. Schleiermacher informs them that what he wants them to see cannot be completely conveyed by an argument; rather, something must take place within them. He explains, “in spiritual things” the aim is “to create the original in no other way than producing it by means of an original creation in you, even then only for the moment when you produce it.”²⁷ Again, this activity, this producing, is different from other forms of activity – it comes through intuiting, feeling, longing, overhearing, and undergoing; it comes through falling in love – with another person, with the world-spirit,²⁸ and with humanity;²⁹ it comes through entering “into that realm where you are also most properly and best at home, where your most inner life opens up to you.”³⁰ The Despisers must cultivate certain emotions and moods as they prune away others.³¹ We must, he says, first master ourselves and our pious feelings.³² The exercise of the repeated movements from inner to outer and back to inner, the losing of oneself in order to discover oneself – it is all a spiritual practice that brings about transformation as it moves toward equilibrium. There is, in other words, a pattern, a rhythm, to his Reden that is meditative as it builds to a point, then pulls back, and repeats. Schleiermacher builds, bidding them to admit what they presently think, even though they may not be aware of it; he
See, e. g., R1 6, 21, 72, 78, 91, 104. E. g., R1 30. E. g., R 2 (Peter) 72, KGA 84; Lamm 189. R1 39 = R 2 (Peter) 34, KGA 42; Lamm 152– 53; cf. Crouter 96. R1 48 ≈ R 2 (Peter) 42, KGA 49; Lamm 159; cf. Crouter 100. R1 48 ≈ R 2 (Peter) 42, KGA 50; Lamm 160; cf. Crouter 100. “For to love the world-spirit and joyfully to behold its works is the aim of our religion, and in love there is no fear” (R1 80 = R2 [Peter] 74, KGA 86; Lamm 191; cf. Crouter 115). “[…] a person must first have found humanity, and humanity is only found in love and by means of love” (R1 89 = R 2 [Peter] 82; KGA 94; Lamm 198). R1 89 = R 2 (Peter) 83, KGA 95; Lamm 198, cf. Crouter 120. See R1 30 and R 2 (Peter) 26; KGA 31– 32; Crouter 92. See R1 69; Crouter 110.
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points to problems with that; he suggests a new movement of the mind or heart; he continues with this pattern by taking it further, extending and interweaving his points. And then he invites them, again and again, to turn to their own experience and consider what their experience really tells them; he offers them example after example to reflect on as an aid in opening that experience to contemplation. At the same time, as he addresses his friends, asking them to do this, he himself is in the process of doing the same, and so he himself arrives at a deepened understanding of process. The overall goal of this process is nothing less than human life, what it means to live a fully human life, which in turn is nothing less than a social life in relation to all the rest of life and to the Infinite. It is a way of living that resists idolatry, the dead letter, and ignorance. It is a way of living that cultivates joy, humility, and openness. Yet, unlike the ancients, it turns out, this way of life is not only for the philosopher; it is for any open, pious heart. This is why it can be a mistake to approach Schleiermacher’s Reden merely as a philosophical or theological argument, and why it may be instructive to read it rather as an exercise in philosophy as a way of life, reframed as religion as a way of life.
IV. Re-writing as Spiritual Exercise: The Revisions of 1806 Most studies that compare the various editions of the Reden tend to focus on the question of whether Schleiermacher’s theory of religion changed in any significant way, and most also tend to focus on a few terms – Gefühl and Anschauung, in particular. Whether a scholar finds continuity or discontinuity depends in part on which aspect she or he decides to emphasize. Yet what I want to argue – and what viewing the Reden as a spiritual exercise helps to disclose – is that part of the genius of the Reden lies precisely in how, in writing it, Schleiermacher held together theory and practice, an especially difficult task since theory about religion always threatens to undermine religion. In fact, at several points in the first edition it did just this. Schleiermacher seemed to have been aware of just this, insofar as several of his more substantial revisions serve to rein in the theory, emphasize the religious, and heighten the creative tension between theory and practice (again: here, practice understood as spiritual exercise). In 1806, Schleiermacher complained to the Cultured Despisers: “you convert what I say into your concepts and seek precepts in them, and thus the misunderstanding has become ever more deeply rooted.”³³ But really Schleiermacher’s own formulation of theory in 1799 did a similar thing. In his revisions, he tried to undo that.
R2 (Peter) 54; KGA 64; Lamm 173.
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Let me offer three examples of where I think Schleiermacher’s revisions in 1806 give evidence that he either recognized some inconsistencies in his theory or tried to restore the creative tension between his theory about religion and the religious element itself. First, let us return to his discussion of the two opposing forces or drives at the beginning of the first Speech. In 1799, Schleiermacher described the second drive as one that “longs to extend its own inner self ever further, thereby permeating and imparting to everything from within”; this drive, he said then, “goes on to ever-increasing and heightened activity; […] it wants to penetrate and to fill everything with reason and freedom, and thus it proceeds directly to the infinite and at all times seeks and produces freedom and coherence, power and law, right and suitability.”³⁴ Notice the problem: this description of the second drive comes perilously close to what he says about Metaphysics and Morals; it wants to impose reason and freedom. Now notice what he does in the revision: he describes that second impulse quite differently. It is, he says in 1806, the “longing to surrender oneself to [the whole], and to feel oneself grasped and determined by it.”³⁵ Surrender cannot be confused with either Metaphysics or Morals; it is distinctly religious. He has thereby set the second drive in a more coherent relation with the first drive (that of striving to be an individual) and has aligned both drives together with what he says elsewhere about piety. From the perspective of a spiritual exercise, it also makes much more sense: what needs to be exercised is precisely the movement between the striving toward individuality and the striving toward surrender. Each movement in itself needs to be practiced, and bringing them into relation requires practice. Second, consider Schleiermacher’s revisions of what I shall call “The Three.” In 1799, he named them simply as Metaphysics, Morals, and Religion.³⁶ In 1806, however, the first two of The Three are presented in terms of a much more complex typology – as a way of thinking and a way of acting,³⁷ with acting subdivided into life and art and thinking subdivided into theory about physics/metaphysics and theory about human behavior. What is especially compelling about this substantial revision is not just how he changes his theory but how those changes have altered what he does in relation to the Cultured Despisers.
R1 6 – 7; Crouter 80. R 2 (Peter) 10, KGA 17. See, e. g., R1 41; Crouter 97. Denkungsart, Handlungsweise, R2 (Peter) 36, KGA 43; Lamm 154. “Religion is to you, in one moment, a kind of thinking, a faith, a distinct manner of observing the world and of connecting whatever we encounter in it; in another moment, it is a manner of acting, a particular desire and love, a special kind of conducting and moving oneself inwardly. Without this separation of the theoretical and the practical, you can hardly think, and although religion belongs to both sides, you are nevertheless accustomed, every time, to looking at it selectively from one of the two sides.”
Schleiermacher’s Re-Writing as Spiritual Exercise, 1799 – 1806: Revising the Reden
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In 1799, his categorization of The Three did nothing to challenge them. On the contrary, he knew they shared his assessment of the “practical people” and of speculative philosophers; although he wanted them to think differently about religion, he nonetheless confirmed their view of things. In 1806, however, he does challenge them. Not only does the more complex typology require more work on their part to understand it, but the new typology also catches them in their own mistaken views and even chides them for not having rightly examined themselves. Moreover, rather than help orient the Cultured Despisers with the same series of (relatively) clear definitions of religion he had offered in 1799, he now poses a series of questions, throwing them back on themselves, so to speak, and disorienting them, making them perhaps doubt themselves. The ground he lays in this lengthy addition is purposively unstable and disorienting. As a result, the dialogue is actually more engaging, more intense. Third, in 1799 Schleiermacher entreated the Cultured Despisers, “become familiar with this concept: intuition of the universe. It is the hinge of my whole speech; it is the highest and most universal formula of religion.”³⁸ Again, his revisions in 1806 suggest that he realized such an assertion actually undermined his own theory, since it so explicitly tied religion to a particular concept – and thus made it into an argument and into a “theory” – which would make it either an example of Metaphysics (1st edition) or a “way of thinking” (2nd edition). Schleiermacher’s theory of religion, however, cannot be like other theories; to work, it must be sustained in a tensive relationship to a religious way of being. If we compare the two editions, we see that Schleiermacher not only drops his assertion about “intuition of the universe,” but he also adds a substantial revision that includes a six-page addition.³⁹ Notice the new entreaty he makes in 1806. Instead of asking them to understand a concept, he bids the Despisers towards self-reflection: So that you understand, however, what I mean by this unity of science, religion, and art – and, at the same time, what I mean by their distinction – try to descend with me into the innermost sanctuary of life. Perhaps there we may find some common bearings. Only there will you find the original relation of feeling and intuition, and only out of this relation will their being-one and their distinction be understood. But I must refer you to your own selves, to the apprehension of a living moment. You must understand it by eavesdropping on your own selves before your consciousness, or at the very least by reconstituting this condition for yourselves out of that consciousness. What you should notice is the coming-to-be of your consciousness, but you shouldn’t reflect on some already-having-become.⁴⁰
R1 56; Crouter 104. See R 2 (Peter) 49 – 56, KGA 58 ff.; Lamm 167 ff. R 2 (Peter) 50, KGA 58 – 59; Lamm 168, emphases added.
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Julia A. Lamm
They have to examine themselves and train their attention in order to realize something, although what they are to realize is not a fixed concept. It is a “living moment,” and they must “capture [themselves] in the process.”⁴¹ There is so much more that could be said, but perhaps it comes down to the added line, “Religion is essentially contemplation.”⁴² As someone who once read the Reden as a philosophical argument, it has been instructive to return to it from this angle of spirituality and religious practice. As I write in the opening lines of my Introduction, “Schleiermacher was a virtuoso of spirituality. To some this will seem obvious, to others dubious; either way it needs to be explained.”⁴³ I have only just begun to reflect of this in relation to Schleiermacher’s revisions of the Reden – in other words, to reflect on Schleiermacher’s re-writing as spiritual exercise.
Ibid. R 2 (Peter) 45, KGA 53; Lamm 162. Lamm, “Schleiermacher’s Spirituality,” 1.
Georg Sans SJ / München
„So gewiss ich bin, so gewiss ist Gott“ Unmittelbare Gewissheit des Glaubens bei Hegel und Schleiermacher Im Sommersemester 1821 hielt Hegel an der philosophischen Fakultät der Berliner Universität erstmals Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Dass er sich nur wenige Wochen nach dem Erscheinen des ersten Bandes von Schleiermachers ‚Glaubenslehre‘ gerade diesem Systemteil zuwandte, dürfte kein Zufall sein. Bis zu seinem Tod im Jahr 1831 wiederholte Hegel die Religionsphilosophie noch drei weitere Male. Schleiermacher las im gleichen Zeitraum fünfmal an der theologischen Fakultät über die Grundsätze des christlichen Glaubens. Bis heute herrscht keine rechte Klarheit über das Verhältnis, in dem Hegels eigene Behandlung der Religion zu Schleiermachers Theorie der Frömmigkeit steht. Im Folgenden richte ich meine Aufmerksamkeit deshalb auf den wenig beachteten ersten Teil der Vorlesungen Hegels, in denen er so etwas wie seine Erkenntnistheorie der Religion entwickelt. In diesem Zusammenhang erörtert er ausführlich die Funktion des unmittelbaren Wissens von Gott und des religiösen Gefühls. Die Gegenüberstellung mit Schleiermacher fördert sowohl bemerkenswerte Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede ihrer Beschreibungen des religiösen Bewusstseins zutage. Was Schleiermachers Gefühl der Abhängigkeit am deutlichsten von Hegels Theorie des religiösen Bewusstseins trennt, ist die Kennzeichnung seines Inhalts. Schleiermacher versteht unter Frömmigkeit die Abhängigkeit von Gott als Ursprung des Daseins. Hegel hingegen deutet den Glauben als Bewusstsein der Einheit mit Gott als Geist. Doch schließen ihre Positionen, wie ich am Ende zeigen möchte, einander keineswegs aus; denn eins wissen mit dem Absoluten kann sich nur, wer sich zugleich seiner schlechthinnigen Abhängigkeit von ihm bewusst ist.
1. Hegel über das unmittelbare Wissen von Gott Der erste Teil von Hegels Vorlesungen ist dem Begriff der Religion gewidmet. Einerseits geht es ihm um die Darstellung des religiösen Bewusstseins in der Vielfalt seiner epistemischen Formen; andererseits betont Hegel die Priorität des Denkens gegenüber Empfindung und Vorstellung. Gott ist nichts Gefühltes oder Angeschautes, sondern etwas Gedachtes. Im Manuskript von 1821 spricht Hegel zunächst von der „Andacht“ als „Erhebung über alles Beschränkte und Endliche“ in Richtung auf „das ganz Allgemeine als solches, das Allbefassende“ (118).¹ Im Anschluss an das Denken kommt
Alle Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf Georg Wilhelm Friedrich Hegel:Vorlesungen über DOI 10.1515/9783110464573-018
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Georg Sans SJ
Hegel auf die religiöse Empfindung zu sprechen und beklagt als einen der „ärgsten und gröbsten Irrtümer unserer Zeit“, dass man in den verschiedenen Arten von Gefühlen nicht das Denken als „das Element und wesentliche Form, wie als den einzigen Grundinhalt“ erkenne (118 f.). In der Vorlesung von 1824 ist der Abschnitt über das religiöse Bewusstsein mit „Die empirische Beobachtung“ überschrieben. Statt mit der Andacht beginnt Hegel die Darstellung mit dem „unmittelbaren Wissen“. Daran ändert sich in der Vorlesung von 1827 nichts mehr. Unter dem unmittelbaren Wissen versteht Hegel eine Art vorreflexiven Bewusstseins. Wenn ich von etwas unmittelbar weiß, dann ist das Sein dieses Gegenstands für mich so gewiss, dass kein sinnvoller Zweifel an ihm möglich ist. Hegel vergleicht die Gewissheit eines solchen Inhalts mit der Gewissheit meiner selbst. „Daß der Gegenstand ist, ist mir gewiß; wir sagen, es ist so gewiß, wie ich bin; das Sein des Gegenstands ist zugleich mein Sein“ (169). Solange Ich und Gegenstand nicht voneinander getrennt sind, gibt es weder Erkenntnis noch Wahrheit; denn beides würde voraussetzen, dass sich die Sache auch anders verhalten könnte, als sie mir scheint. Hegel erläutert diesen Zusammenhang folgendermaßen: „Gewißheit ist unmittelbare Beziehung des Inhalts und meiner. Will ich diese Beziehung intensiv ausdrücken, so sage ich: Ich weiß dies so gewiß, als ich selbst bin. Beides, die Gewißheit dieses äußerlichen Seins und die Gewißheit meiner ist eine und dieselbe Gewißheit. Diese Einheit der Gewißheit ist die Ungetrenntheit des Inhalts, der von mir verschieden ist, die Ungetrenntheit beider voneinander Unterschiedener, und diese ungetrennte Einheit ist in der Gewißheit.“ (282 f.)
Anders als man vielleicht erwarten würde, begnügt sich Hegel nicht mit der sinnlichen Erfahrung endlicher Dinge, wie Bäume oder Häuser, sondern räumt auch die Möglichkeit eines unmittelbaren Wissens von Gott ein. „Wir wissen, daß ein Gott ist; wir wissen es unmittelbar, daß er ist. Das ist ganz richtig, können wir sagen, und unsere Vorstellung muss dies zugeben“ (168). Zugleich weist Hegel auf die Unbestimmtheit des unmittelbaren Wissens hin. Gott sei zwar von mir unterschieden, aber dem Begriff fehle sein „weiterer Inhalt“ (173). Dieser ergebe sich erst im Aufstieg zu den höheren Formen des religiösen Bewusstseins. In der Vorlesung von 1827 steht die ganze Theorie des religiösen Erkennens unter der Überschrift „Das Wissen von Gott“. Hegel beginnt wieder mit dem unmittelbaren Wissen; es folgen Abschnitte über das Gefühl, über die Vorstellung und über das Denken. Das Letztere stellt Hegel als vermitteltes Wissen dem unmittelbaren Bewusstsein gegenüber und macht deutlich, dass das unmittelbare Wissen leer bleibt, wenn nicht der Gedanke Gottes hinzutritt. Demnach würde Hegel gründlich missverstanden, läse man aus der Abhandlung über das unmittelbare Wissen die Ansicht heraus, es gebe eine vom begrifflichen Denken losgelöste religiöse Gewissheit. Für sich genommen stellt das unmittelbare Wissen vielmehr eine Abstraktion dar:
die Philosophie der Religion, Teil 1: Einleitung. Der Begriff der Religion, hg. von Walter Jaeschke, München 1983.
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„Das unmittelbare Wissen entfernt alle Unterschiede, diese Weisen des Zusammenhangs, und hat nur ein Einfaches, einen Zusammenhang, nämlich die subjektive Form, das Wissen, und dann die Bestimmtheit des ‚es ist‘. Das ist also der Zusammenhang meiner mit dem Sein. Insofern ich gewiß weiß, daß Gott ist, ist das Wissen das Sein meiner, der Zusammenhang meiner und dieses Inhalts; so gewiß ich bin, so gewiß ist Gott.“ (303)
Angesichts der Unbestimmtheit des unmittelbaren Wissens fragt sich, warum Hegel ihm überhaupt ein solches Gewicht beilegt. Warum begnügt er sich nicht mit dem begrifflichen Denken? Offenbar war Hegel der Überzeugung, dass die unmittelbare Gewissheit Bestandteil der religiösen Erfahrung ist, das heißt im Bewusstsein der Gläubigen tatsächlich auftritt. In der Vorlesung von 1824 ist die Rede vom „empirischen Standpunkt“ und von „empirischer Beobachtung“ (165 f.).
2. Hegel über das religiöse Gefühl Während im Manuskript von 1821 noch das Wort ‚Empfindung‘ steht, gebraucht Hegel in der Vorlesung von 1824 den Ausdruck ‚Gefühl‘. Außerdem differenziert er nun klarer zwischen dem unmittelbaren Wissen einerseits und dem Gefühl andererseits. Letzteres besitzt weitreichende anthropologische Bewandtnis. Das Gefühl ist gewissermaßen die Weise, wie sich der Mensch als lebendiges Wesen einen bestimmten Gegenstand oder Inhalt zu eigen macht. Was gewöhnlich getrennt erscheint, nämlich das Ich und sein Objekt, bildet im Gefühl eine Einheit. „Im Gefühl verschwindet das doppelte Sein, die Bestimmtheit des Gegenstands wird die meinige“ (176). Ganz ähnlich erklärt Hegel drei Jahre später, im Gefühl wisse ich den Inhalt „in seiner Bestimmtheit und zugleich mich in dieser Bestimmtheit“ (285). Worauf es bei der Beschreibung der Empfindung ankommt, ist die konstitutive Individualität alles Fühlens und Empfindens.² Genau wie das unmittelbare Wissen, so bleibt auch das Gefühl selbst vorreflexiv. Es kann deshalb den „allermannigfaltigsten“, ja sogar „widersprechendsten“ Inhalt haben (176). Ich kann etwas als rot oder blau, kalt oder warm, hart oder weich empfinden; es gibt Gefühle von Recht und Unrecht, Freundschaft und Feindschaft, Liebe und Hass. „Das Gefühl ist demnach eine Form für allen möglichen Inhalt“ (177). Daraus folgert Hegel, dass die bloße Empfindung niemals die Geltung des betreffenden Inhalts verbürgt. Was ich als rot ansehe, könnte auch blau sein; was mir kalt vorkommt, könnte warm sein; was mir als Recht erscheint, könnte Unrecht sein. Von dieser Schwierigkeit bildet das religiöse Gefühl, dessen Inhalt Gott sein soll, keine Ausnahme. „Wenn Gott also in unserem Gefühl ist, so hat Gott nichts vor dem Allerschlechtesten voraus“ (176 f.). Die frömmste Gesinnung ist manchmal ebenso tief
In der Philosophie des subjektiven Geistes bemerkt Hegel, das Gefühl sei „nichts anderes, als die Form der unmittelbaren eigenthümlichen Einzelnheit des Subjects“ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse [1830], hg. von Wolfgang Bonsiepen und Hans-Christian Lucas, [GW 20], Hamburg 1992, 468 [§ 471 Anm.]).
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empfunden wie die größte Niedertracht. Der Umstand, dass ein bestimmter Inhalt dem Gefühl entspringt, taugt nicht zu seiner „Beglaubigung und Berechtigung“ (288).³ Dass sich die Erkenntnis Gottes nicht auf das religiöse Gefühl gründet, tut dessen anthropologischer Bewandtnis keinen Abbruch. Wäre Religion nichts innerlich Empfundenes, hörte der Glaube auf, eine Herzensangelegenheit des Menschen zu sein. Hegel führt den Begriff des Herzens in der Abhandlung über das Gefühl ein, um die Ganzheitlichkeit des Gemeinten zu verdeutlichen. Während das Gefühl „nur momentan, flüchtig“ sei, besage das Herz die „fortdauernde, feste Weise meiner Existenz“ (179). Das Herz umfasst die – sei es sittliche, sei es religiöse – Bildung des Charakters (vgl. 180). In der Vorlesung von 1827 verbindet Hegel die metaphorische Betrachtung mit dem anatomischen Ursprung des Ausdrucks ‚Herz‘: „Die Besonderheit unserer Person ist die Leiblichkeit; das Gefühl also gehört auch zu dieser Seite der Leiblichkeit. Beim Gefühl kommt auch das Blut in Wallung, es wird uns warm ums Herz. Das ist der Charakter des Gefühls. Der ganze Komplex des Fühlens ist das, was man Herz, Gemüt nennt.“ (286)
Wie verwandt sind Hegels ganzheitliche Sicht des religiösen Gefühls und Schleiermachers Theorie der Frömmigkeit? Im Blick auf die ‚Glaubenslehre‘ gilt es vor allem zu beachten, dass die frommen Erregungen zwar vom sinnlichen Gefühl verschieden sind, aber niemals von ihm getrennt auftreten können.⁴ Insofern Hegel bei seiner Kritik der „Gefühlsreligion“ (288) den Unterschied zwischen dem sinnlichen und dem frommen Selbstbewusstsein unterschlägt, trifft er Schleiermachers Theorie nur bedingt. Stattdessen enthält Hegels Abhandlung über das religiöse Bewusstsein von 1824 gleichsam einen Gegenentwurf zu Schleiermacher. Hegel beginnt mit der Beschreibung des gegenständlichen Bewusstseins, in dem ich mich „gegen das Objekt als Endliches“ auffasse (183). Es folgen Ausführungen über die konstitutive Endlichkeit des Menschen als lebendiges Wesen: „Als Leben sind wir äußerlich abhängig vom Anderen, haben Bedürfnisse usf. […] Wir fühlen uns als abhängig, als tierische Existenz“ (184). Den Unterschied des Menschen vom Tier erblickt Hegel darin, dass wir uns nicht bloß abhängig fühlen, sondern um die eigene Beschränktheit wissen. Daraus folgert er, offenbar gegen Schleiermacher gewandt: „Wenn man sagt, die Religion beruhe auf diesem Gefühl der Abhängigkeit, dann müssen auch die Tiere Religion haben, denn sie fühlen diese Abhängigkeit“ (ebd.). Entscheidend für die hegelsche Deutung des Gefühls der Abhängigkeit ist der Gedanke, dass der Mensch im Bewusstsein seiner Hegel verdeutlicht diesen Punkt mehrfach mit Bezug auf das moralische Gefühl: „Ist das Gefühl das Berechtigende, so fällt der Unterschied zwischen Gutem und Bösem weg; denn das Böse mit all seinen Schattierungen und Modifikationen ist ebenso im Gefühl wie das Gute; alles Böse, alle Verbrechen, schlechte Leidenschaften, Hass, Zorn, alles hat im Gefühl seine Wurzel“ (291). Vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1821/22), Teilband 1, hg. von Hermann Peiter (KGA I/7/1), Berlin/New York 1980, 33 – 40 (§ 10 – 11).
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Grenzen bereits über diese hinausgreift. Jede Schranke „ist nur insofern für mich, als ich über die Schranke hinausgehe; im Gefühl, im Bewußtsein der Schranke liegt das Darüberhinaussein“ (ebd.). Das Überschreiten der Grenze äußert sich als das Bedürfnis oder der Trieb, mich selbst zu behaupten, indem ich die Grenze negiere. Hegel spricht von dem „gesättigten Selbstgefühl“ (185) eines Tieres, das sich im Aufheben der Schranke mit sich selbst versöhnt. Doch das Überschreiten ist auch in der umgekehrten Richtung möglich. Statt durch die Negation des Anderen sich selbst zu bestätigen, kann das Ich den Anderen auch als Bedrohung erfahren. Gleichzeitig mit dem Bewusstsein der eigenen Endlichkeit entsteht die Vorstellung von der Unendlichkeit des Objekts. Sie bewirkt ein „Gefühl der Furcht, der Abhängigkeit“ (186).⁵ Wiederum auf Schleiermacher gemünzt, warnt Hegel davor, die Religion auf ein solches Gefühl zu reduzieren. Aus Gott werde dann nämlich „das Andere des Endlichen“ (187), mehr lasse sich von ihm nicht erkennen.⁶ Eine solche Kennzeichnung Gottes ist in zweifacher Hinsicht unbefriedigend. Zum einen bietet sie keinerlei Anhaltspunkte zur näheren Bestimmung des Wesens Gottes; zum anderen stellt sie Gott als bloßes Gegenüber des Menschen vor. Wenn Endliches und Unendliches einander unvermittelt gegenüberstehen, lässt sich die Religion nur als „ein Streben, eine Sehnsucht nach dem Jenseits“ (189) verstehen. Da ich trotz allen Strebens das Jenseits nie erreiche, kommt es zu einer „Entzweiung innerhalb meiner selbst“ (ebd.). Hegels Behandlung des religiösen Gefühls geht weit über eine bloße Polemik gegen Schleiermacher hinaus. Hegel zerlegt das Gefühl in mehrere Arten und erschließt sie von ihrer alltäglichen Bewandtnis her. Abhängigkeit, Furcht und Sehnsucht sind für Hegel Elemente des empirisch beobachtbaren religiösen Bewusstseins, doch keines von ihnen erreicht den spekulativen Kern der Religion. Der Glaube mag mit dem Gefühl der Abhängigkeit verbunden sein; aber Gott ist kein Objekt des Bewusstseins wie die endlichen Dinge, die uns umgeben und an die wir stoßen. Das Unendliche flößt uns möglicherweise Furcht ein; aber Gott darf nicht als bloßes Jenseits zum Menschen aufgefasst werden. Und gewiss gehört zur Religion das Streben nach Gott; aber sobald sich der Gläubige einseitig als im Gegensatz zu Gott stehend erfährt, droht die religiöse Sehnsucht ihn in sich selbst zu entzweien. Allen drei Spielarten des religiösen Gefühls ist in Hegels Augen gemeinsam, dass sie für sich genommen das wahre Wesen Gottes verfehlen. Ohne begriffliches Denken bleibt aller Inhalt der Religion zweideutig.
Für Schleiermacher ist die Gottesfurcht „nur eine Umbiegung des Abhängigkeitsgefühls“ (Schleiermacher: Der christliche Glaube, a.a.O. [Anm. 4], 53 [§ 15.5]). Betrachtet man nur die Einleitung zur ‚Glaubenslehre‘, scheint mir dieser Kritikpunkt Hegels zutreffend. Es bedarf weiterer Argumente, die zeigen, dass sich das Bewusstsein schlechthinniger Abhängigkeit auf Gott bezieht.
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3. Hegel und Schleiermacher über den Glauben an Gott In den einleitenden Paragraphen der ‚Glaubenslehre‘ wendet Schleiermacher sich unter anderem gegen die Gleichsetzung der Frömmigkeit mit religiösem Wissen. Andernfalls, so sein Einwand, wäre der beste Kenner der christlichen Lehre „zugleich der frömmste Christ“.⁷ Mit der Abgrenzung der Religion von der Dogmatik ist es freilich nicht getan, denn als bloßes Gefühl wäre die Frömmigkeit etwas gänzlich Unbestimmtes. Dass Letzteres bei Schleiermacher keineswegs der Fall ist, sondern die ‚Glaubenslehre‘ im Gegenteil eine komplexe Rekonstruktion des unmittelbaren Selbstbewusstseins enthält, bedarf keines Belegs. Die ‚Glaubenslehre‘ dient dem Ziel, die „frommen Erregungen“ einerseits und das „Lehrgebäude“ andererseits so aufeinander zu beziehen, dass die Lehre als Abbild des Gefühls hervortritt.⁸ Aufgrund dieses für seine Darstellung grundlegenden Gegensatzes zwischen dem frommen Gefühl und der kirchlichen Lehre gebraucht Schleiermacher das Wort ‚Glaube‘ äußerst selten. In einer handschriftlichen Notiz definiert er den Glauben als „die im Selbstbewußtsein gesezte Gewißheit von dem Mitgesezten“.⁹ Der Glaube erscheint hier als etwas fromme Erregungen und dogmatische Sätze gleichermaßen Übergreifendes. Ein ähnliches Wechselspiel findet bei Hegel zwischen Gefühl und Vorstellung statt. Ihren Gehalt verdankt die Religion nicht der Empfindung, sondern den Vorstellungen, die mit ihr verbunden sind.¹⁰ Dennoch beschränkt sich der religiöse Glaube für Hegel durchaus nicht auf Gefühl und Vorstellung. Interessanterweise gebraucht er das Wort ursprünglich in einer anderen Bedeutung. Gemäß dem Manuskript von 1821 heißt ‚Glaube‘ die Identifikation des Einzelnen mit den Lehren seiner Religion. In einer Randbemerkung erläutert Hegel: „Glaube ist dasselbe, was religiöse Empfindung als absolute Identität des Inhalts mit mir, aber so, daß der Glaube ferner die absolute Objektivität des Inhalts ausdrückt, die er für mich hat; die Kirche und Luther haben wohl gewußt, was sie gewollt haben mit dem Glauben; sie haben nicht aisthesis, Empfindung, Überzeugung, Liebe gesagt, dass man durch diese, sondern dass man durch den Glauben selig werde.“ (152)
Schleiermacher: Der christliche Glaube, a.a.O. (Anm. 4), 27 (§ 8.2). Schleiermacher: Der christliche Glaube, a.a.O. (Anm. 4), 17 (§ 4) Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1821/22), Teilband 3: Marginalien und Anhang, hg. von Ulrich Barth, KGA I/7/3, Berlin/New York 1984, 26 (Marg. 92). Die beiden Seiten religiöser Gewissheit „sind erstens Glauben, die Gewißheit, sofern sie Gefühl und im Gefühl ist – das betrifft die subjektive Seite. Das zweite ist dann die objektive Seite, die Weise des Inhalts“ (282). Das Gefühl betrifft „die Form des subjektiven Glaubens“, die Vorstellung „das Gegenständliche, den Inhalt“ (297).
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An dem Gedanken der Identität des Gläubigen mit dem Geglaubten hält Hegel in der Vorlesung von 1824 fest und betont die denkerische Vermittlung, die im Glauben stattfinde. Die religiöse Gewissheit beruhe weder auf einem äußeren Grund, noch besitze sie einen von ihr verschiedenen Inhalt, sondern der Glaube könne als „Vermittlung in sich“ beschrieben werden (238). Demnach wäre die religiöse Gewissheit eine Form der Selbsterkenntnis. Eine in der Theologiegeschichte viel verwendete Formel aus dem Römerbrief des Apostels Paulus aufgreifend, spricht Hegel vom Glauben als „Zeugnis des Geistes vom Geist“ (ebd.) oder „Zeugnis des Geistes vom absoluten Geist“ (241). Zur Religion gehört für Hegel unverzichtbar das Bewusstsein des Gläubigen davon, eines Wesens mit Gott, das heißt Geist zu sein. Der Glaube „ist Gewißheit von der Wahrheit des göttlichen an sich seienden Zusammenhangs des Geistes in sich selbst und seiner Gemeinde, das Wissen der Gemeinde von diesem ihren Wesen“ (242). Der Glaube in dem zuletzt beschriebenen Sinn ist nichts anderes als das unmittelbare Wissen von Gott. Hegel beruft sich für diese Gleichsetzung auf den Sprachgebrauch Jacobis, dem zufolge auch die Existenz der Außenwelt oder des eigenen Körpers nicht bewiesen werden können, sondern geglaubt werden müssten (vgl. 168; 284). Im Unterschied zu Jacobi schließt Hegel die Gegenstände der Wahrnehmung aus dem Bereich des Geglaubten aus und verwendet den Ausdruck ‚Glaube‘ nur für die unmittelbare religiöse Gewissheit. Auf die Weise wird das unmittelbare Wissen von Gott zu etwas Drittem gegenüber der sinnlichen Gewissheit und dem begrifflich vermittelten Denken. Die Religion richtet sich weder auf irgendwelche Gegebenheiten der Sinne, noch besteht sie in irgendwelchen durch vernünftiges Schließen gewonnenen Einsichten.¹¹ Das unmittelbare Wissen von Gott verbürgt, „daß dieser Inhalt der Natur meines Geistes gemäß sei, die Bedürfnisse meines Geistes befriedige“ (285). Der Vergleich des unmittelbaren Wissens mit Schleiermachers Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit offenbart eine Reihe von Gemeinsamkeiten. Sowohl Hegel als auch Schleiermacher beschreiben den Glauben an Gott als ein vorreflexives Bewusstsein, das sich von der sinnlichen Wahrnehmung unterscheidet und einer philosophischen Explikation bedarf. Außerdem ist die religiöse Gewissheit für beide mit einem Gefühl verbunden, das den Menschen als ganzen erfasst. Es wäre deshalb irreführend, wollte man die Unterschiede zwischen Hegels Religionsphilosophie und Schleiermachers Glaubenslehre auf den Gegensatz von Denken und Fühlen zurückführen. In seinen Vorlesungen widmet Hegel dem unmittelbaren Wissen von Gott und den religiösen Empfindungen breite Aufmerksamkeit. Umgekehrt wird das fromme Gefühl bei Schleiermacher keineswegs einfach vom Denken getrennt. Als Bewusstsein
Als Beispiel einer sinnlichen Gegebenheit nennt Hegel, „daß ein Himmel über mir ist“ (283), als Beispiel einer vermittelten Erkenntnis „den pythagoreischen Lehrsatz“ (284).
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schlechthinniger Abhängigkeit erscheint es nur, wenn die Reflexion hinzutritt.¹² Sie muss die Frömmigkeit vom sinnlichen Gefühl abheben und die Abwesenheit des Moments der Selbsttätigkeit feststellen, das gewöhnlich mit dem Moment der Empfänglichkeit zusammen auftritt. Reine Abhängigkeit liegt genau dann vor, wenn wir uns zwar als empfänglich, aber nicht zugleich als tätig erleben. Dass sich das Gefühl reiner Abhängigkeit auf Gott bezieht, ergibt sich für Schleiermacher aus einer „Besinnung unter der Form des Denkens“.¹³ Leider zeigt sich der Autor nicht sehr auskunftsfreudig, welches die Überlegungen sind, die auf den Begriff des höchsten Wesens führen. Er erklärt lediglich, in den frommen Erregungen sei Gott „auf eine innerliche Weise als die hervorbringende Kraft selbst gegeben“.¹⁴ In der zweiten Auflage der ‚Glaubenslehre‘ kennzeichnet Schleiermacher Gott als „das in diesem Selbstbewußtsein mit gesezte Woher unseres empfänglichen und selbstthätigen Daseins“.¹⁵ In seinen ‚Vorlesungen über die Dialektik‘ spricht Schleiermacher bekanntlich von Gott als dem transzendentalen Grund des Selbstbewusstseins.¹⁶ Allen diesen Kennzeichnungen ist gemeinsam, dass sie Gott als den Ursprung des Daseins fassen. Ohne weitere Erläuterung stützt sich Schleiermacher auf die Annahme einer Entsprechung zwischen der Abhängigkeit als Qualität des frommen Gefühls und der Abhängigkeit als metaphysischer Bestimmung. Dass es sich um die Abhängigkeit von Gott handelt, ist nicht mehr Inhalt des Gefühls, sondern ergibt sich aus der philosophischen Reflexion. Im Vergleich mit Hegel ist dieser Befund durchaus bemerkenswert. Hegel erkennt die Abhängigkeit zwar als eine Art des religiösen Gefühls an, räumt ihr aber keinen Vorrang beispielsweise gegenüber der Sehnsucht nach Gott ein. Insgesamt wird man sogar sagen müssen, dass der Glaube für Hegel umso authentischer ist, je mehr er sich in einem Gefühl des Einsseins niederschlägt. Wie wir gesehen haben, ist die Gewissheit der Einheit des Bewusstseins mit seinem Gegenstand für Hegel jedoch nicht frei von Ambivalenzen. Damit es sich um das unmittelbare Wissen von Gott handelt, muss sich der absolute Geist im Bewusstsein der Gläubigen auf sich selbst beziehen. Eine solche Deutung der Religion als Selbstverhältnis ist ihrerseits nicht mehr etwas Gefühltes, sondern etwas Gedachtes. Deshalb hält Hegel das unmittelbare Wissen und das Gefühl solange für wertlos, wie sie nicht auf den Begriff gebracht werden.
Zum Verhältnis von Frömmigkeit und Reflexion im Allgemeinen vgl. Jörg Dierken: Das zwiefältige Absolute. Die irreduzible Differenz zwischen Frömmigkeit und Reflexion im Denken Friedrich Schleiermachers, in: ZNThG 1, 1994, 17– 46, bes. 24– 28. Schleiermacher: Der christliche Glaube, a.a.O. (Anm. 4), 33 (§ 9.3). Ebd. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage (1830/31), Teilband 1, hg. von Rolf Schäfer, KGA I/13/1, Berlin/New York 2003, 39 (§ 4.4). – Wenige Zeilen später schreibt er, dass „Gott uns zunächst nur das bedeutet was in diesem Gefühl das mitbestimmende ist, und worauf wir dieses unser Sosein zurückschieben“ (a.a.O. 40). Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Vorlesungen über die Dialektik, Teilband 1, hg. von Andreas Arndt, KGA II/10/1, Berlin/New York 2002, 141– 145 (Ausarbeitung 1814/15, § 214– 216).
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Was Hegels Beschreibung des Glaubens als Bewusstsein der Einheit angeht, lässt sich der Gegensatz zu Schleiermachers Rede vom Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit meines Erachtens entschärfen. Betrachtet man die Positionen beider vor dem Hintergrund ihrer eingangs angedeuteten metaphysischen Grundüberzeugungen, stehen die Einheit mit dem Absoluten und die schlechthinnige Abhängigkeit nämlich komplementär zueinander. Eins fühlen mit dem Absoluten kann ich mich nur, wenn ich mich zugleich von ihm schlechthin abhängig weiß. Denn hinge der Mensch nicht von dem Absoluten ab, mit dem er sich eins fühlen soll, wäre Gott nicht mehr das Unbedingte. Dass auch das Umgekehrte zutrifft, ist weniger leicht zu sehen. Das Bedingte muss zunächst einmal von demjenigen unterschieden werden, von dem es abhängt. Weder Schleiermacher noch Hegel haben diese Verschiedenheit jemals in Abrede gestellt.¹⁷ Trotzdem gilt auch hier: Soll dasjenige, von dem ich schlechthin abhänge, das Unbedingte sein, darf Verschiedenheit nicht bedeuten, dass ich in einer oder mehreren Hinsichten von dem Absoluten unabhängig wäre. Deshalb kann sich schlechthin abhängig von Gott nur fühlen, wer sich zugleich mit ihm eins weiß.
Man erinnere sich an die Bestimmung des unmittelbaren Wissens als die ungetrennte Einheit „voneinander Unterschiedener“ (283).
Anne Käfer / Münster
Von der Freiheit einer christlich frommen Seele Dass die christlich fromme Seele sich schlechthin abhängig weiß von dem durch Christus und den Geist geoffenbarten Schöpfer, diese Überzeugung teilen Friedrich Schleiermacher und Martin Luther. Das Lehrbuch des einen wie des anderen Theologen, der Große Katechismus und die Glaubenslehre beginnen mit der Beschreibung dieser vollumfänglichen Abhängigkeit.¹ Dass Herz und Seele des Menschen von vielerlei Gegenständen abhängen können, ist ebenfalls für beide Theologen ausgemacht.² Doch könne nur dann von vollumfänglicher, schlechthinniger Abhängigkeit die Rede sein, wenn die Allmacht Gottes, die die Allmacht seiner Liebe sei, diese Abhängigkeit bestimme.³ Von der Abhängigkeit des Christenmenschen handeln beide Theologen ausführlich. Dabei ist es Luthers theologisches und seelsorgerliches Anliegen, die Freiheit eines Christenmenschen, die mit dem Bewusstsein und der Akzeptanz dieser Abhängigkeit einhergehe, herauszustellen. Was diese Freiheit, die genuin christliche Freiheit auszeichne, hält er, vielzitiert, in seiner Schrift „De votis monasticis“ fest: „Est […] libertas christiana seu Euangelica libertas conscientiae, qua solvitur conscientia ab operibus, non ut nulla fiant, sed ut in nulla confidat. Conscientia enim non est virtus operandi, sed iudicandi, quae iudicat de operibus. Opus eius proprium est […] accusare vel excusare, reum vel absolutum, pavidum vel securum constituere. Quare officium eius est, non facere, sed de factis et faciendis dictare, quae vel ream vel salvam faciant coram deo. Hanc igitur Christus liberavit ab operibus, dum per Euangelium eam docet nullis operibus fidere, sed in solius sua misericordia praesumere. Atque ita heret fidelis conscientia in solis operibus Christi absolutissime“.⁴
S. Martin Luther, Der Große Katechismus, in: Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Vollständige Neuedition, hg.v. Irene Dingel, Göttingen 2014 (Abk. BSELK), 912– 1162, s. v. a. Luthers Auslegung zum ersten Gebot, a.a.O., 930 ff.; s. auch Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage (1830/31), hg.v. Rolf Schäfer, Berlin/New York 2008 (Abk.: CG, Verweise unter Angabe von Paragraph, Absatz, Seite), § 4. S. BSELK 932, Z. 12 ff. und CG § 7,3, 64. S. BSELK 932, Z. 6 ff. und Martin Luther, Auslegung des Apostolischen Glaubensbekenntnisses, Erster Artikel, BSELK 1052, Z. 4 ff. und CG § 167,2, 505. Martin Luther, De votis monasticis Martini Lutheri iudicium,WA 8, (564– 669) 606, Z. 30 – 607, Z. 1. S. auch: D. Martin Luthers Urtheil von den geistlichen und Klostergelübden, in: Dr. Martin Luthers sämtliche Schriften, hg.v. Joh. Georg Walch, Bd. 19, Nachdr. der zweiten, überarb. Aufl., Groß Oesingen 1987, (1500 – 1665) 1556/1557: „Es ist […] die christliche oder evangelische Freiheit die Freiheit des Gewissens, durch welche das Gewissen frei wird von den Werken, nicht, daß keine gethan werden sollen, sondern daß es auf keine vertraue. Denn das Gewissen ist nicht eine Kraft, die da wirken, sondern eine Kraft, die da urtheilen soll, die da urtheilt über die Werke. Das ist sein eigentliches Werk DOI 10.1515/9783110464573-019
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Anne Käfer
Die Freiheit des Gewissens, die darin bestehe, dass ein Mensch nicht länger an seinen Werken hänge und durch sie sich zu erlösen suche, sondern vielmehr auf Gottes Barmherzigkeit und Liebe vertraue, diese ist nach Luther die Freiheit, zu der Gott in Christus durch den Geist befreit. Er befreie davon, das Heil in den eigenen Werken zu suchen. Und er befreie dazu, von ganzem Herzen auf Gottes Liebe zu setzen und allein an den erlösenden Werken Christi zu hängen. Die These von der Freiheit eines Christenmenschen ist ein Kernanliegen der Theologie Martin Luthers. Wird es jedoch auch von Schleiermacher geteilt? Inwiefern handelt er von der Freiheit einer christlich frommen Seele? Um hierauf Antwort zu finden, nimmt die folgende Interpretation, die von einzelnen Verweisen auf Einsichten Luthers begleitet wird, ihren Ausgang in der Mitte der zweiten Auflage der Glaubenslehre Schleiermachers. Ich setze ein beim Paragraphen 83 zur Heiligkeit Gottes; er steht am Ende des ersten Bandes und am Ende des Abschnitts, der die Entwicklung des Sündenbewusstseins entfaltet. In diesem Paragraphen handelt Schleiermacher insbesondere vom Gewissen. Ausgehend von seinem Gewissensverständnis kann, so meine These, vor dem Hintergrund der reformatorischen Einsicht, dass christliche Freiheit Gewissensfreiheit ist, Aufschluss über Schleiermachers Auffassung von christlicher Freiheit gewonnen werden. Weil dem Theologen Friedrich Schleiermacher ebenso wie dem Reformator Martin Luther daran gelegen ist, unter Bezugnahme auf das Gewissen die Gottesbeziehung des Christenmenschen angemessen zu beschreiben, und beide erhellend von dieser einen und selben Sache handeln, ist eine Interpretation der Einsichten Schleiermachers mit Blick auf diejenigen Luthers aufschlussreich; die Eigenheiten der Position Schleiermachers werden dadurch besonders deutlich. Die Interpretation beginnt mit einem Abschnitt zu Schleiermachers Gewissensverständnis.Von Gewissensfreiheit insbesondere wird im zweiten Abschnitt gehandelt. So kann dann drittens reflektiert werden, was im Kontext der Theologie Schleiermachers die christlich fromme Seele mit dem Gewissen, mit christlicher Freiheit und der allmächtigen Liebe Gottes verbindet. Viertens folgen kritische Anmerkungen.
I. Das Gewissen als aktivierte Sehnsucht Die göttliche Eigenschaft der Heiligkeit kann nach Schleiermacher von Gott nur insofern ausgesagt werden, als dem Menschen seine Sündigkeit und seine Erlösungsbedürftigkeit zu erkennen gegeben sind. Das Sündenbewusstsein aber sei dem Ge-
[…] verklagen oder entschuldigen, schuldig machen oder freisprechen, furchtsam oder sicher machen. Daher ist sein Amt nicht etwas thun, sondern urtheilen über das, was gethan ist, oder was man thun sollte, was vor Gott […] entweder schuldig oder sicher (salvam) machen kann. Christus hat es daher frei gemacht von den Werken, da er es durch das Evangelium belehrt, daß es auf keine Werke vertrauen soll, sondern vermessen sein allein auf seine Barmherzigkeit. Und so hangt ein gläubiges Gewissen lediglich (absolutissime) allein an den Werken Christi“.
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wissen verdankt, das nach Schleiermacher in einem jeden Menschen funktionsfähig vorhanden, nicht aber immer schon aktiviert sei.⁵ Dieses Gewissen beschreibt Schleiermacher als „die Stimme Gottes im Gemüth“ und als „eine ursprüngliche Offenbarung Gottes“; es sei jedoch „nicht dasselbe mit der Erscheinung des Gottesbewußtseins im Menschen überhaupt“.⁶ Gottes Stimme sei vielmehr hörbar, wenn das Gottesbewusstsein das Leben und Erleben eines Menschen nicht dominiere.⁷ Diese Stimme zeuge von Gottes Heiligkeit, die als diejenige Eigenschaft zu verstehen sei, in der Gott vom Menschen das Tun des Guten fordere.⁸ Dementsprechend verkündet diese Stimme das Gesetz Gottes, das Schleiermacher mit dem Gewissen als der fordernden Stimme Gottes selbst identifiziert.⁹ Damit das Gesetz oder Gewissen tatsächlich gehört und vernommen werden könne, sei es nötig, dass der jeweilige Mensch seine Erlösungsbedürftigkeit erkenne und anerkenne. Voraussetzung hierfür sei die Erlösung durch Christus. Denn erst im Bewusstsein der Erlösung könne die immer wieder vorhandene Dominanz des sinnlichen Selbstbewusstseins als Sünde und damit die eigene Erlösungsbedürftigkeit immer wieder bewusst werden; wem aber die Unstetigkeit der eigenen Frömmigkeit bewusst geworden sei, dessen Gewissen sei aktiviert.¹⁰ Als conscientia antecedens, consequens oder in begleitender Weise rufe das aktivierte Gewissen dem handelnden Menschen den jeweils vorhandenen Mangel an Gesetzmäßigkeit und Gottesbewusstsein ins Bewusstsein und mache damit zugleich den Mangel der Liebe bewusst, die zur Erfüllung des Gesetzes nötig sei.¹¹ Nach
S. CG § 83,1, 512 und CG § 83,2, 513. CG § 83,1, 512. Vgl. dazu CG § 4,4, 40, hier hält Schleiermacher fest: „[…] und wenn man von einer ursprünglichen Offenbarung Gottes an den Menschen oder in dem Menschen redet, so wird immer eben dieses damit gemeint sein, daß dem Menschen mit der allem endlichen Sein nicht minder als ihm anhaftenden schlechthinigen Abhängigkeit auch das zum Gottesbewußtsein werdende unmittelbare Selbstbewußtsein derselben gegeben ist.“ Vgl. hierzu kritisch die Ausführungen von Hans-Joachim Birkner, „Offenbarung“ in Schleiermachers Glaubenslehre, in: Schleiermacher-Studien, 84 (SchlA 16), eingel. und hg.v. Hermann Fischer, mit einer Bibliogr. der Schriften von Hans-Joachim Birkner von Arnulf von Scheliha, Berlin/New York 1996, (81– 98) 84: „Gewissen wird das Gottesbewußtsein da,wo es nicht in der Lage ist, den Willen eines Menschen voll und ganz zu bestimmen. Das Gewissen ist für Schleiermacher das Gottesbewußtsein in seiner kritischen Funktion.“ S. CG § 83,3, 516. S. CG § 83,2, 514: „Das Gewissen aber, wie es in einem Gesammtleben als dasselbe in Allen und für Alle auftritt, ist das Gesez, das sittliche zunächst, von welchem aber das bürgerliche jedesmal ein Ausfluß ist.“ Zum Gewissensverständnis Schleiermachers s. auch Stefan Hübsch, Gewissen bei Schleiermacher, in: EvTheol, Heft 5, 56. Jg, 1996, 446–457; Hübsch geht v. a. Schleiermachers Ausführungen in den „Monologen“, „Grundlinien“, in der „Dialektik“ und in Texten zur Ethik nach. S. hierzu v. a. CG § 68,2, 414/415, CG § 68,3, 417 und CG § 83,2, 513. Das Gewissen bedeutet nach Schleiermacher „ein immerwährendes Bewußtsein der Sünde, welches nur bald der Sünde selbst als warnende Ahndung vorangeht, bald sie als innerer Vorwurf begleitet oder ihr als Reue nachfolgt.“ (CG § 66,1, 406) S. dazu CG § 83,2, 513: Nach Schleiermacher erregt das Gewissen „immer das Bewußtsein der Sünde“.
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Schleiermacher ist die Liebe „schon als innere Bewegung die Erfüllung des Gesezes […], weil sie ohnfehlbar bei jeder gegebenen Veranlassung hervorbricht in die äußere That“.¹² Nur solche Taten, die in Liebe gewirkt werden, werden nach Schleiermacher der heiligen Forderung Gottes gerecht.¹³ Das aktivierte Gewissen macht nach Schleiermacher einen Mangel an Gottesbewusstsein als Mangel an Liebe und damit zugleich die Erlösungsbedürftigkeit des jeweiligen Menschen bewusst. Als solches ist es meines Erachtens in eine Entwicklungsreihe mit dem „ersten Anknüpfungspunkt“ gestellt; unter diesem versteht Schleiermacher das „nie gänzlich erloschne Verlangen nach der Gemeinschaft mit Gott“.¹⁴ Eben dieses Verlangen wird durch das aktivierte Gewissen geschürt. Das Gewissen verstärkt das Verlangen nach Gottesgemeinschaft und also die Sehnsucht nach Gottes Reich, indem es die Erlösungsbedürftigkeit des jeweiligen Menschen schmerzhaft zu Bewusstsein bringt.¹⁵ Diese Sehnsucht ist ausgerichtet auf eine uneingeschränkte Liebesbeziehung mit Gott, die nach Schleiermacher in Gottes Reich vollendet sein wird.¹⁶ Die ersehnte Realisation des Reiches Gottes als die ewige Liebesgemeinschaft der Geschöpfe mit ihrem Schöpfer werde von Gott selbst vorangetrieben, und zwar indem der Erlöser sich selbst mit Menschen vereinige und sie auf diese Weise beseele. Durch diese Beseelung werde im einzelnen Menschen „Christus die Seele […], jeder Einzelne aber der Organismus durch welchen sie wirkt.“¹⁷ Indem ein Mensch von Christus beseelt ist, ist er nach Schleiermacher mit Gottes Liebe erfüllt. Diese Liebe nämlich sei das Sein Gottes in Christus,¹⁸ das sich nun, vermittelt durch den Organismus des Glaubenden, in christlich frommen Werken äußere.¹⁹ Diese guten Werke beschreibt Schleiermacher als „Ausdrukk unsrer Lebensgemeinschaft mit Christo“;²⁰ an ihnen
CG § 73,2, 459. S. hierzu v. a. CG § 112,3, 223/224. CG § 108,6, 190. Dieses Verlangen beschreibt Schleiermacher auch als „Ahndung“ und „Sehnsucht“, s. CG § 80,2, 490. Vgl. CG § 83,2, 513. Das Gewissen mache bewusst, dass der Mensch den Willen Gottes, der auf die Realisation des Reiches Gottes ziele, nicht erfülle. Das Gesollte und vom Menschen Geforderte ist die Mitwirkung an der Realisation des Reiches Gottes, die nur dem Erlösten im Glauben möglich sei, s. CG § 124,2, 296. Das Ziel des allmächtigen Liebeswirkens Gottes besteht nach Schleiermacher in der Realisation des höchsten Gutes als der ewigen Liebesgemeinschaft Gottes mit seinen Geschöpfen, s. v. a. CG § 163 und CG § 166. CG § 100,2, 108. Zu Schleiermachers Ausführungen über die Beschaffenheit des Erlösers s. Anne Käfer, Inkarnation und Schöpfung. Schöpfungstheologische Voraussetzungen und Implikationen der Christologie bei Luther, Schleiermacher und Karl Barth (TBT 151), Berlin/New York 2010, III.1.1., 133 – 137. S. dazu CG § 112,1, 221: Schleiermacher hält fest, „daß der Wiedergebohrne nicht anders kann, als vermöge des Glaubens gute Werke verrichten“. CG § 112,3, 224.
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habe Gott Wohlgefallen, weil sie von Liebe, von seiner Liebe geleitet seien und die Realisation seines Reiches bedingten.²¹ Dass ein Mensch von Christus beseelt werde und an ihn glaube, sei auf Seiten des Menschen durch dessen Empfänglichkeit für die Liebe Gottes gewährt. Indem ein Mensch, in den die Liebe Gottes eindringe, sich dieser Einwirkung hingebe, werde seine lebendige Empfänglichkeit freigelassen.²² Diese Empfänglichkeit ist nach Schleiermacher dem Menschen anerschaffen. Sie soll mit dem ersten Anknüpfungspunkt gegeben sein, der von Anbeginn eines Menschenlebens an Verlangen nach Gott verspüren lasse.²³ Weil ein jeder Mensch qua Anknüpfungspunkt nach Gottes Liebe immer schon Verlangen habe, werde das Eindringen Christi begleitet von einer Zustimmung des menschlichen Willens, die „nichts weiter ist als das sich hingeben in die Einwirkung oder das Freilassen der lebendigen Empfänglichkeit für dieselbe.“²⁴ Mit der durch Christi Einwirkung hervorgerufenen Dominanz des Gottesbewusstseins sei zugleich das Bedürfnis nach der Stetigkeit dieser Dominanz aktiviert; eben dies bringe das schmerzende Gewissen zu Bewusstsein.
II. Gewissensfreiheit Auch nach Luther kennt das Gewissen die Forderung des Gesetzes, durch das dem jeweiligen Menschen die ihm eigene Sündhaftigkeit und Lieblosigkeit zu Bewusstsein komme. Doch sei es mit diesem nicht identisch.Vielmehr verurteile die virtus iudicandi angesichts der Gesetzesforderung die Werke eines sündigen Menschen, der dadurch in Verzweiflung gerate. Aus solcher Verzweiflung befreie allein das Evangelium von der Liebeszuwendung Gottes in Jesus Christus.²⁵ Indem der Heilige Geist die Wahrheit dieser Liebeszuwendung erschließe, mache er die sündigen Werke sowie deren Vergebung durch die Werke Christi bewusst. Da-
Es sei die Liebe Christi, die durch einen Erlösten gute Werke, nämlich Liebeswerke tätige. „Mithin ist nur die Liebe in unsern guten Werken das Gottgefällige, so wie sie in dem Wollen des Reiches Gottes zugleich Liebe zu den Menschen und Liebe zu Christo und Liebe zu Gott ist, und zugleich auch die in uns und durch uns fortwirkende Liebe Christi selbst.“ (CG § 112,3, 224) S. dazu v. a. CG 100,2, 106 – 108. S. CG § 108,6, 190. CG § 108,6, 189. Die Verurteilung durch das schlechte Gewissen führe dazu, dass ein Mensch in Verzweiflung gerate und sich davor fürchte, Gott werde sich ihm gegenüber zornig erweisen. In seiner Auslegung der fünften Vaterunserbitte hält Luther fest, dass „das fleisch, darin wir teglich leben, der art ist, das es Gott nicht trauet und gleubt und sich immerdar regt mit bösen lüsten und tücken, das wir teglich mit worten und wercken, mit thun und lassen sündigen, davon das gewissen zu unfried kömpt, das sich für Gottes zorn und ungnade fürchtet und also den trost und zuversicht aus dem Evangelio sincken lesset.“ (BSELK 1100, Z. 4– 10) Deshalb ist es nach Luther nötig, dem Menschen immer wieder das Evangelium zu predigen, „darin eitel vergebung ist“ (BSELK 1100, Z. 1).
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durch, dass er in den Werken Christi Gottes Wesen als Liebe und Gottes Willen als schlechthin gut zu erkennen gebe, befreie er den Willen des Menschen zur Ausrichtung auf Gott. Durch sein Offenbarungswirken wende der Geist den Willen von der Unwahrheit, von Abgötterei und Werkgerechtigkeit, hin zur Wahrheit des in Inkarnation, Kreuz und Auferstehung vollbrachten Heilsgeschehens. Diese Befreiung zur Wahrheit gehe einher mit dem Wollen dieser Wahrheit. Der Heilige Geist wirke, dass die, denen Gottes Liebe in Wahrheit erschlossen ist, mit „lust und liebe“ tun wollen und tun, was Gott will.²⁶ Dieses Ausgerichtetsein auf Gott und das Wollen seines Willens bezeichnet Luther in „De servo arbitrio“ als „regia libertas“, als königliche Freiheit.²⁷ Sie sei die Freiheit, in der ein Mensch auf Gott, auf Gottes vergebende und erlösende Liebe vertraue. Im Gewissen des erlösten Menschen werde diese Freiheit von den Werken und die Freiheit zum Glauben mit Fröhlichkeit erlebt; das christlich freie Gewissen sei „frölich und unverzagt“.²⁸ Nach Schleiermacher hingegen scheint die christlich fromme, von Gottes Liebe erfüllte Seele nicht nur von einem schmerzenden oder schlechten Gewissen, sondern geradezu vom Gewissen selbst befreit zu sein. Denn indem Schleiermacher die Möglichkeit einer dauerhaft frommen Seele erwägt, hält er fest: „Könnten wir uns aber jemals den [menschlichen] Willen vollkommen dem Gottesbewußtsein geeinigt denken, so daß nichts angestrebt würde, was nicht aus diesem hervorginge: dann würde […] das Gewissen in seiner wahren Eigenthümlichkeit aufhören.“²⁹ Für den Erlöser gibt Schleiermacher sogar an, dass dieser, in welchem Gottes Sein dauerhaft einwohnte, „das Gewissen nur als Mitgefühl, nicht als sein persönliches kann gehabt haben.“³⁰ Je mehr der Einzelne von Gottes Liebe durch die beseelende Tätigkeit des Erlösers erfüllt werde, umso mehr soll in ihm das Gewissen verstummen und nicht länger in der ihm eigentümlichen Art funktionieren.³¹ Erlösung geht nach Schleiermacher einher mit der Inaktivierung des Gewissens, ja mit der Befreiung vom Gewissen als dem Gesetz, das ein von Gottes Liebe geleitetes Leben und Handeln fordere.
Martin Luther, Auslegung des Apostolischen Glaubensbekenntnisses, Dritter Artikel, BSELK 1068, Z. 32; s. dazu Martin Luther, De servo arbitrio, WA 18, (551– 787) 635, Z. 14– 17. Martin Luther, De servo arbitrio (s.o. Anm. 26), 635, Z. 16. Martin Luther, Auslegung des Vaterunsers, BSELK 1100, Z. 21/22.Vom Gewissen, dem die befreiende Zuwendung Christi zuteil werde, schreibt Luther auch, dass es in Christus einschlafe; s. Martin Luther, Galaterbriefkommentar, in: WA 40/I, 559, Z. 2/3: „[…] conscientia obdormiat in Christo“. Diese metaphorische Beschreibung des „guten“ Gewissens bedeutet jedoch nicht, dass es nicht länger in seiner ihm eigentümlichen Weise, nämlich als der Ort, an dem der Geist Gottes das Bewusstsein von Sünde und Erlösung wirkt, in Funktion wäre.Vielmehr reagiert es sorglos schlafend auf das Erlösungswirken. CG § 83,2, 513/514. CG § 83,2, 514. Indem der Schmerz des Gewissens nachlasse, weil das Wollen des Reiches Gottes zunehme, steige auch das diesem Wollen verbundene Bewusstsein; dieses Bewusstsein sei „die jenes Wollen begleitende Seligkeit“ (CG § 112,3, 224).
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Die bisher erfolgten Ausführungen zum Gewissen weisen meines Erachtens darauf hin, dass in Schleiermachers Theologie das Verständnis christlicher Freiheit aufs engste mit seinem Liebesverständnis verbunden ist. Denn die Liebe Gottes soll es sein, die einen Menschen aus Gottessehnsucht und von schmerzendem Gewissen befreit. Von dieser Liebe und der durch sie bedingten Freiheit einer christlich frommen Seele soll noch näher im dritten Abschnitt die Rede sein.
III. Von Gottes Werk und menschlichem Handeln a) Von der Liebe Gottes Luther verwendet alternativ zum Ausdruck „Gewissen“ auch die Worte „Herz“ oder „Seele“, um den Ort zu bezeichnen, an dem ein Mensch seine Gottesbeziehung zu erleben vermag. Dabei ist mit diesen Ausdrücken stets das menschliche Individuum in seiner personalen Ganzheit im Blick.³² Am Ort des Gewissens wirke Gott durch seinen Geist die Erkenntnis der gottlosen Werke und die Erkenntnis der Wahrheit des Evangeliums. Indem der Geist Gottes die Liebeszuwendung Gottes in Jesus Christus zu erkennen gebe, befreie er den menschlichen Willen zum Wollen des Guten und befreie also zum Vertrauen auf Gott. Im Vertrauen auf Gott sei der Mensch wiederum befreit zu eigenen guten Werken, über deren Güte das Gewissen urteilend Auskunft gebe und sogar „Ruhm“ (gloria) empfinden lasse.³³ Nur dann, wenn das Gewissen mit Gewissheit wisse, dass ein bestimmtes Tun des Menschen Gott wohlgefällig ist, könne mit Gewissheit davon ausgegangen werden, dass es Gott gefällt. Denn Gott wohlgefällige Werke sind nach Luther durch das Gottvertrauen bedingt, in dem der Handelnde seine Werke wirke. In diesem Vertrauen sei ein Mensch frei von der Verzweiflung über vergangene Werke und frei von jeglichem Zweifel an der Güte seines gegenwärtigen Handelns; in diesem Glauben erfülle ein Mensch das Gesetz und wirke Gutes.³⁴ Nach Schleiermacher ist das unmittelbare Selbstbewusstsein oder auch die Seele eines Menschen der Ort, an dem ein Mensch mit Bewusstsein seine Gottesbeziehung zu erleben vermag.³⁵ Das Gewissen bringe den Mangel an Beziehung zu Bewusstsein. S. dazu Albrecht Beutel, Art. Theologie als Erfahrungswissenschaft, in: Luther Handbuch, hg.v. Albrecht Beutel, Tübingen 2005, (454– 459) 457/458: „Bei Luther ist damit [mit dem Gewissen] nicht allein die Mitte der menschlichen Existenz bezeichnet, sondern zugleich der einzelne Mensch in seiner unverwechselbaren Individualität.“ S. auch Eilert Herms, Art. Mensch, a.a.O., (392– 403) 399. S. Martin Luther, De servo arbitrio (s.o. Anm. 26), 769, Z. 4 ff. Der Glaube impliziert nach Luther die Zuversicht des Glaubenden, dass sein Tun und Handeln Gott gefalle. In seiner Schrift „Von den guten Werken“ hält Luther fest: „Hie kan nu ein iglicher selb mercken und fulen,wen er guttes und nit guttis thut: dan findet er sein hertz in der zuvorsicht, das es gote gefalle, szo ist das werck gut, wan es auch szo gering were als ein strohalmen auffheben“ (WA 6, [196 – 276] 206, Z. 8 – 11). S. v. a. CG § 3, CG § 4 und CG § 5.
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Schleiermachers Ausführungen legen nahe, das Gewissen als die Negativseite des Gottesbewusstseins zu verstehen, als Bewusstsein des Nichtseins von dominierendem Gottesbewusstsein. Denn das Gewissen fälle niemals ein positives Urteil über das Vorhandensein dominierenden Gottesbewusstseins. Vielmehr würde es durch dessen dauerhaftes Vorhandensein seiner Eigentümlichkeit enthoben. Die Dominanz des Gottesbewusstseins oder vielmehr die Liebe Gottes wird nach Schleiermacher mit einem Gefühl der Seligkeit bewusst.³⁶ Dieses werde jedoch nicht im Gewissen verspürt, sondern in der Seele, mit der sich Christus vereinigt habe und die also von Sünde und entsprechend vom (schlechten) Gewissen befreit worden sei. Die in Christus der Seele zuteil gewordene Liebe Gottes bedeute deren Befreiung aus Erlösungsbedürftigkeit und Gottessehnsucht. Die Bestimmtheit der Seele durch Gottes Liebe macht also christliche Freiheit aus. Und was christliche Freiheit ist, entscheidet sich darum am Verständnis der Liebe Gottes. Zwei maßgebliche Einsichten, die mit Schleiermachers Liebesverständnis einhergehen, werden insbesondere bei der Beschäftigung mit seinem Gewissensverständnis deutlich: Weil Gottes allmächtige Liebe Grund alles Seienden sei, könne zum einen das Böse kein reales Dasein haben. Weder aus der Gott wesentlichen Liebe könne Böses entstehen noch könnten seine in Liebe geschaffenen Geschöpfe Böses im realen Gegensatz zum Guten wirken.³⁷ Weil Gottes Liebe allmächtig sei, bestehe zum andern zwischen Gott und Mensch kein „Verhältniß der Wechselwirkung“.³⁸ Gott reagiere also keineswegs missfällig, zornig oder gar beleidigt auf menschliches Handeln. Denn eine solche Reaktion wäre eine Reaktion Gottes auf seine eigene Wirksamkeit, die nämlich das menschliche Handeln bedinge und die als die Wirksamkeit seiner allmächtigen Liebe gar kein Missfallen erregen könne.³⁹ Indem Schleiermacher Furcht vor dem Zorn Gottes als eine Vorstellung entlarvt, die auf einem falschen Verständnis schlechthinniger Abhängigkeit basiert, zeigt er auf, wovon das christliche Bewusstsein schlechthinniger Abhängigkeit befreit. Ein dominierendes christliches Gottesbewusstsein mache Gottes Allmacht bewusst, die die Allmacht seiner Liebe sei. Das Bewusstsein dieser allmächtigen Liebe bedeute Freiheit von der irrtümlichen Vorstellung eines zürnenden und strafenden Gottes.⁴⁰
S.o. Anm. 31. S. CG § 83,3, 515/516. CG § 83,3, 515. S. CG § 84,3, 524. Schleiermacher hält die Annahme vom Zorn Gottes für einen Irrtum; vgl. dazu Simon Gerber, Geist, Buchstabe und Buchstäblichkeit – Schleiermacher und seine Vorgänger, in: Geist und Buchstabe. Interpretations- und Transformationsprozesse innerhalb des Christentums, FS für Günter Meckenstock, hg. v. Michael Pietsch und Dirk Schmid, Berlin/Boston 2013, (105 – 130) 129.
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Auch wenn Gott selbst kein Missfallen an gesetzwidrigem, sündigem Handeln hege, habe er gleichwohl gewirkt, dass der Handelnde ein Missfallen am eigenen Handeln verspüre, und zwar „vermittelst des Gewissens und des Gesezes.“⁴¹ Durch dessen Setzung verursache Gott im Menschen und für den Menschen ein Missfallen daran, dass sein Gottesbewusstsein noch mangelhaft und nicht stetig dominierend sei. Dies Bewusstmachen der menschlichen Erlösungsbedürftigkeit ist nach Schleiermacher keinesfalls als Zorneshandeln Gottes, sondern vielmehr als Teil seines heiligen Liebeswirkens zu verstehen.⁴² Aufgrund seiner Liebe verstärke Gott mithilfe des Gewissens das Verlangen nach Gemeinschaft mit ihm und reize die Sehnsucht nach dem Reich Gottes hervor, in welchem aller Mangel an Gutem überwunden sein werde.⁴³ Schleiermachers Theologie, deren Dreh- und Angelpunkt Gottes allmächtige Liebe ist, kennt ein schlechtes Gewissen, das Sehnsucht nach dieser Liebe vermittele. Ein gutes oder fröhliches Gewissen aber ist mit Schleiermachers Liebesverständnis nicht vereinbar. Vielmehr wirke Gottes Liebe die Freiheit der christlich frommen Seele von der Sehnsucht nach Gottes Liebe und damit die Freiheit vom Gewissen.
b) Vom Glaubensleben einer christlich frommen Seele Christlich frei ist nach Schleiermacher ein von Christus beseelter Mensch, der sich unweigerlich seiner schlechthinnigen Abhängigkeit von Gottes Liebe bewusst sei und so im christlichen Glauben lebe. Denn nach Schleiermacher ist „an Christum glauben und Christum in sich lebend haben dasselbe“.⁴⁴ Ein besonderes Wirken des Heiligen Geistes zur Vermittlung der Glaubensbeziehung nimmt Schleiermacher nicht an.⁴⁵ Anders als Luther versteht Schleiermacher die Glaubensbeziehung nicht als eine Beziehung, in der ein Mensch lebt, weil er durch das Wirken des Geistes die Wahrheit der Heilszuwendung Gottes in Christus erkennt und also befreit ist, auf Gottes Liebe zu vertrauen. Auch teilt Schleiermacher Luthers Pochen auf die Gewissheit des Erlösten, dass alle seine Werke, die er im Glauben wirke, gottgefällig seien, nicht.
CG § 83,3, 515. Durch das schmerzende Gewissen werde der Handelnde aufmerksam auf das „Zurükkbleiben der wirksamen Kraft des Gottesbewußtseins hinter der Klarheit der Auffassung“ (CG § 83,3, 516). S. CG § 167,2, 505; Heiligkeit und Gerechtigkeit seien die Eigenschaften Gottes, in denen er die vollkommene Äußerung und Mitteilung seiner Liebe vorbereite. Vgl. o. Anm. 16. CG § 124,2, 296. S. zum Geistverständnis Schleiermachers Eilert Herms, Äußere und innere Klarheit des Wortes Gottes bei Paulus, Luther und Schleiermacher, in: Ders., Phänomene des Glaubens. Beiträge zur Fundamentaltheologie, Tübingen 2006, 1– 55, v. a. 55. Der Heilige Geist als Vermittler der Liebeswerke Gottes spielt in Schleiermachers Theologie keine eigenständige Rolle. Nach Schleiermacher ist vielmehr „das Leben Christi in uns und das Treiben des Geistes in uns“ eines und dasselbe (CG § 124,2, 295). Eine Vermittlung des Geistes, die das Gewissen zur Bejahung der Gemeinschaft mit Christus erst befreite, nimmt Schleiermacher nicht an.
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Schleiermacher nimmt vielmehr an, ebenso wie Gott an den Werken eines sündhaften Menschen kein Missfallen habe, so hege er auch kein Wohlgefallen an den Werken eines glaubenden Menschen und noch nicht einmal an dessen Person als solcher. Die glaubende Person sei „nur wie Gott sie in Christo sieht[] Gegenstand des Wohlgefallens“.⁴⁶ Gottes Wohlgefallen gilt somit seiner eigenen Liebe, der Liebe Christi, die,wenn sie einen Menschen beseele, durch diesen wirksam werde und gute Werke wirke.⁴⁷ Auch das Wohlgefallen Gottes verdankt sich also keineswegs einer Wechselwirkung zwischen Gott und Mensch, sondern Gottes allmächtiger Liebe allein. Da erlöstes Sein und Handeln allein dem allmächtigen Wirken Gottes verdankt seien, wäre es ein Irrtum, würde ein glaubender Mensch über sich selbst als Individuum und über seine Werke als solche urteilen, sie seien gottgefällig und gut. Schleiermachers Thesen sind grundlegend bedingt durch seine Abwehr einer jeglichen Annahme, es könne zwischen Mensch und Gott Wechselwirkung bestehen. Mit diesem Bemühen kommt er in besonderer Weise dem reformatorischen Anliegen nach, jegliche Vorstellung von Werkgerechtigkeit als heillos aufzudecken. Damit lehnt er jedoch zugleich die reformatorische Annahme ab, ein menschliches Geschöpf könne sich gewiss sein, es selbst und sein Handeln seien gut und Gott wohlgefällig. Zwar ist sich nach Schleiermacher der Erlöste bewusst, dass dem Sein und Wirken Christi in ihm Gottes Wohlgefallen und Liebe gelte. Doch ist dies eben das Sein und Wirken Christi. ⁴⁸ Für die Ablehnung eines positiven Urteils über die Werke eines Menschen ist das Fehlen eines guten, fröhlichen Gewissens eindeutiges Indiz. In Schleiermachers Theologie wird die allmächtige Wirksamkeit Gottes derart hochgehalten, dass ein Gewissensurteil des Glaubenden über das eigene Handeln ebenso wenig Platz hat wie ein Gewissensurteil über das befreiende Liebeswirken Gottes.⁴⁹ Die Erkenntnis der Liebeszuwendung Gottes in Jesus Christus, die in Luthers Theologie der Heilige Geist einem Menschen vermittelt, wodurch er ihn zur Gewissheit der eigenen Gottgefälligkeit und zur Annahme der Gottesliebe befreie,⁵⁰ tritt hinter der Allmacht der Liebe Gottes zurück.
CG § 112,3, 224. Schleiermacher hält ausdrücklich fest, dass ein Mensch, in dem Christus noch keinen Glauben wirkte, weder „ein Gegenstand des göttlichen Wohlgefallens und der göttlichen Liebe ist“, noch dass er für Gott überhaupt Person sei. Erst durch die an ihm vollzogene Erlösung werde er zu einer Person, die als solche von der Masse unerlöster Geschöpfe unterschieden sei (CG § 109,4, 200/201). Die in den guten Werken wirksame Liebe sei „die in uns und durch uns fortwirkende Liebe Christi selbst.“ (CG § 112,3,224; s. auch o. Anm. 21). S.o. Anm. 47. S.o. Anm. 45. S. Martin Luther, Auslegung des Apostolischen Glaubensbekenntnisses, Dritter Artikel, BSELK 1068, Z. 10 – 15: „[W]ir kündten […] nimmermehr dazu komen, das wir des Vaters hulde und gnade erkenneten on durch den Herrn Christum, der ein spiegel ist des Veterlichen hertzens, ausser welchem wir nichts sehen denn einen zornigen und schrecklichen Richter. Von Christo aber kündten wir auch nichts wissen, wo es nicht durch den heiligen Geist offenbaret were.“
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Durch die genannten Verweise auf Luthers Theologie werden Eigenheiten der Theologie Schleiermachers besonders deutlich. Abschließend sollen Überlegungen vorgebracht werden, die Schleiermachers Position kritisch betrachten.
IV. Kritische Anmerkungen Ebenso wie Schleiermacher streicht auch Luther Gottes allmächtiges Wirken heraus. Doch beschreibt dieser das beziehungsstiftende Liebeswirken Gottes grundlegend als Offenbarung und Mitteilung des Heiligen Geistes an das menschliche Gewissen. Dadurch, dass Luther für den Menschen ein Gewissen annimmt, das vermittelt durch Gottes Geistwirken ebenso die Sündhaftigkeit des Menschen wie auch dessen Geliebtsein durch Gott zu beurteilen vermag, wird in seiner Theologie das menschliche Geschöpf in besonderer Weise als Liebespartner Gottes ernst genommen. Nach Schleiermacher verdankt sich dem beziehungsstiftenden Liebeswirken Gottes sowohl das schmerzende Gewissen als auch die Inaktivierung des Gewissens. Für das Verstehen von Liebe ist meines Erachtens von erheblicher Relevanz, dass, wie Schleiermacher ausführt, Liebe nicht zulässt, dass sie mit Gleichgültigkeit gegenüber dem Bösen verwechselt wird. Entsprechend ist mit Schleiermacher hervorzuheben, dass Gott selbst, der weder zürnt noch straft, gleichwohl Sündhaftigkeit und auch die damit verbundene Strafwürdigkeit⁵¹ zu Bewusstsein bringt. Aus der bewusst gemachten Erlösungsbedürftigkeit befreie Gott, indem er durch das Wirken des Erlösers Menschen in seine Liebesgemeinschaft aufnehme und in ihr bewahre. Dass diese Gemeinschaft eine Gemeinschaft der Liebe ist, ergibt sich nach Schleiermacher daraus, dass Gottes Wesen, das doch Liebe sei, durch Christus in der Seele der Erlösten einwohne. Dass es dieser Liebe eigentümlich sei, Gemeinschaft zu suchen, „sich mit andern vereinigen und in anderem sein zu wollen“⁵², wird im Erlösungsgeschehen deutlich. Und weil diese Liebe darauf aus sei, dass mit der Gemeinschaft das Gute wirklich werde, wirke sie durch den Erlösten, dessen Wollen nun auf die Realisation des Reiches Gottes gerichtet sei, die entsprechenden guten Werke. Durch ihre Wirksamkeit befreie die Liebe aus Gottessehnsucht und vom Bösen zur Gottesgemeinschaft und zum Guten. Ebenso wie das Böse nach Schleiermacher ein Nochnichtsein des Guten ist, ist auch die Sehnsucht ein noch nicht gestilltes Verlangen nach Gott. Beiderlei Mangel beseitige Gott, indem er sich selbst zu Bewusstsein bringe und so sein Reich realisiere. Dass diese Erlösung aus Mangel jedoch vor allem auch Befreiung zur Wahrheit ist, die nur dann wirksam wird, wenn sie vom Menschen als solche erkannt werden kann, verlangt auf Seiten des Menschen eine entsprechende Erkenntnis- und Urteilsinstanz. Nach Luther ist das Gewissen der Ort, der empfänglich ist für die Wahrheit des
S. CG § 84,2, 522. CG § 165,1, 499.
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Evangeliums, die der Geist offenbare. Und indem der Geist die Wahrheit und Heilsbedeutung der Werke Christi zu erkennen gebe, wirke er das Bewusstsein des Geliebtseins von Gott und die Freiheit von der Verzweiflung über die eigenen Werke. Im Bewusstsein des Geliebtseins, das Erkenntnis und Willen des jeweiligen Menschen bestimme, sei dieser auf Gott ausgerichtet und willens Gott wiederzulieben und ihm zu vertrauen.⁵³ Dadurch, dass Gott ihn würdigt, seine Liebe annehmen und erwidern zu dürfen, ist ein Mensch frei von Verzweiflung und von Zweifeln an sich selbst und seinem Handeln. Die Erkenntnis der durch den Geist geoffenbarten Wahrheit, dass die Werke Christi für ihn gewirkt worden sind, gibt einem Menschen die Gewissheit, geliebtes Gegenüber Gottes zu sein und im Vertrauen auf die in Christus vollbrachte Liebeszuwendung Gottes mit den eigenen Werken von der Wahrheit zu zeugen. Schleiermachers Annahme, dass ein dominierendes Gottesbewusstsein ein positives Urteil über das eigene Selbst und dessen Werke als unzutreffend erkennen lasse, scheint mir sowohl die Eigenart einer Liebesbeziehung als auch die Identität des erlösten Menschen nicht ausreichend ernst zu nehmen.⁵⁴ Damit der Erlöste sich als Partner (als personales Gegenüber) in seiner Liebesbeziehung mit Gott erfahren kann, sollte er die erlösende Liebe Gottes als eine solche erleben können, die ihn in seiner individuellen Identität liebt. Meines Erachtens wird die schlechthinnige Abhängigkeit eines Menschen von Gott nur dann als Abhängigkeit von allmächtiger Liebe deutlich, wenn ein Mensch sich selbst, als er selbst, als geliebtes Gegenüber Gottes zu beurteilen vermag. Dann ist er in Wahrheit frei, mit Gott in Liebe zu leben, und diese Freiheit ist die christliche Freiheit.
S. dazu Martin Luther, Von den guten Werken (s.o. Anm. 34), 210, Z. 7– 9: „Dan ich mocht gotte nit trawen, wen ich nit gedecht, er wolle mir gunstig und holt sein, dadurch ich yhm widder holt und bewegt wird, ym hertzlich zutrawen und alles guttis zu ym vorsehen.“ Zum theologischen Verstehen von Liebe s. Anne Käfer, Glaube als Beziehungsfrage. Ein fundamentaltheologisches Gespräch mit Karl Barth und Friedrich Schleiermacher, in: Glaube. Das Verständnis des Glaubens im frühen Christentum und in seiner jüdischen und hellenistisch-römischen Umwelt, hg. v. Jörg Frey, Benjamin Schliesser und Nadine Ueberschaer unter Mitarbeit von Kathrin Hager, erscheint Tübingen 2017.
Vasile Hristea / Weingarten
Der erfüllte Augenblick Schleiermacher als Phänomenologe des Genusses
Einleitung Der Mensch ist, so Friedrich Schleiermacher, ein Genusswesen¹. Nichts anderes macht demzufolge den Menschen zum Menschen als der Genuss. Stimmt das und will man die Tragweite dieser Ansicht überprüfen, so stellt sich die Frage nach dem Wesen des Genusses. Was der Genuss aber sein soll, wird in den Texten Schleiermachers leider nicht deutlich genug. Auch bezieht sich Schleiermacher nirgendwo auf die traditionsstiftende uti-frui Unterscheidung des Augustinus. Das ist umso merkwürdiger, als in seinem Werk durch die erstaunlich häufige Erwähnung dieses Begriffs durchaus Züge einer Phänomenologie des Genusses erkennbar sind. Schleiermachers Ansicht eingehender zu beleuchten und Schritte zur Rekonstruktion einer Phänomenologie des Genusses zu unternehmen, ist insofern reizvoll, als sich beobachten lässt, dass die Rede vom Genuss in der Kultur der Gegenwart längst keinen Frevel mehr darstellt. Man will genießen! Damit erlangt der Genuss einen unumstrittenen Geltungsanspruch für jedwede menschliche Existenz. Gerade dieser unumstrittene Geltungsanspruch des Genusses für eine jede Existenz, dieses Selbstverständnis des Menschen als Genusswesen, macht eine Betrachtung des Phänomens mit Hilfe Schleiermachers bedeutungsvoll. Weil es indessen nicht hingenommen werden kann, dass im Werk Schleiermachers von Genuss geredet wird, ohne dabei zu wissen, was der Genuss eigentlich ist, stellt sich die vorliegende Betrachtung in ihrem ersten Teil die Aufgabe, dieses Phänomen im Sinne Schleiermachers zu bestimmen. Weiterhin soll im zweiten Teil untersucht werden, ob der Genuss, gerade als Phänomen des Lebens, möglicherweise zu einer Bedeutung in der Ethikauffassung Schleiermachers gelangen kann. Würde diese Vermutung zutreffen, so könnte es möglich sein, mit Schleiermacher – und über Schleiermacher hinaus – den Genuss, diese alte und verspottete Vokabel der abendländischen Geistesgeschichte, als einen ernst zu nehmenden Begriff der Ethik, der Religion und der Ästhetik zu betrachten. Als Phänomenologe des Genusses würde Schleiermacher uns dann zum Verstehen der zutiefst christlichen Einsicht verhelfen, dass das Leben an sich selbst nichts ohne Genuss wäre. Darüber soll im dritten Teil anhand einiger dieser Gedankengänge in den abschließenden Betrachtungen nachgedacht werden.
Vgl. Friedrich SCHLEIERMACHER, Ästhetik (1819/25). Über den Begriff der Kunst (1831/1832). Herausgegeben von Thomas LEHNERER, Hamburg 1984, 7. (in Folgendem abgekürzt als: Ästhetik). DOI 10.1515/9783110464573-020
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Teil I Genuss als Phänomen des Lebens Nimmt man gelegentliche Äußerungen Schleiermachers über den Genuss in Augenschein, so lässt sich dieser unterschiedlich beschreiben: Er kann still oder freudig sein², er kann das tierische Gemüt charakterisieren oder sich auf Schönes beziehen³, er kann leiblich oder geistig sein⁴. Insgesamt aber orientiert und bestimmt der Genuss die menschliche Existenz in ihrer Tiefe und Breite: „Der Mensch kenne nichts als sein Dasein in der Zeit, und dessen gleitenden Wandel hinab von der sonnigen Höhe des Genusses in die furchtbare Nacht der Vernichtung“⁵.
Die Auffassung, dass im Genuss die höchste Bestimmung des Daseins erblickt werden kann, umschreibt Schleiermacher mit der noch umfassenderen Ansicht, dass der Genuss Losung des Lebens ist⁶. Dementsprechend ist der Genuss der Leitgedanke, nach dem gelebt wird, und damit die Zielvorlage des Lebens. Man lebt also auf den Genuss hin, und das Leben ist, wie Schleiermacher hervorhebt, „Einrichtung und Besinnung dazu“⁷. Ist der Genuss infolgedessen ein Phänomen des Lebens, so bedeutet dies, dass das Verstehen dieses Phänomens nur vor dem Hintergrund der Betrachtung des Lebens selbst unternommen werden sollte. Aus diesem Grund muss vorerst die Frage nach dem Wesen des Phänomens Genuss der Frage nach der Bestimmung des Lebens weichen. Aber das ist kein Umweg – im Gegenteil, denn die Beschreibung eines jeden Lebensphänomens soll nach Schleiermacher beim Leben selbst beginnen⁸.
Vgl. Friedrich SCHLEIERMACHER, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Herausgegeben von H.– J. ROTHERT, Hamburg 1970, 39. Vgl. Friedrich SCHLEIERMACHER, Monologen nebst den Vorarbeiten. Dritte Auflage. Kritische Ausgabe. Herausgegeben von F. M. SCHIELE. Erweitert und durchgelesen von H. MULERT, Hamburg 1978, 14. Vgl. Friedrich SCHLEIERMACHER, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche in Zusammenhange dargestellt (2 Bd.), Berlin 1960, 340 ff; 347 ff; 355 ff. (im Folgenden abgekürzt als: GL I bzw. GL II). Friedrich SCHLEIERMACHER, Monologen. Eine Neujahrsgabe (1829), KGA I.12, Berlin 1995, 329. Vgl. Friedrich SCHLEIERMACHER, Über den Wert des Lebens (1792/92), KGA I.1, Berlin 1983 (in Folgendem angekürzt als: ÜWL), 397. ÜWL 397. Vgl. Friedrich SCHLEIERMACHER, Psychologie. Aus Schleiermachers handschriftlichen Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen, herausgegeben von L. GEORGE, Beilage A, Manuscript 1818, (in Folgendem abgekürzt als: Psy A), in: SW III/6, Berlin 1862, 409; Ders., GL I 18.
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a) Schleiermachers Begriff von Leben Leben ist ein Begriff, der in Schleiermachers Werk in unterschiedlichen Bedeutungen vorkommt. Bei aller Verschiedenheit seiner Lebensbegriffe lässt sich jedoch eine zentrale Bestimmung des Lebens festhalten: das Ineinander von Passivität und Spontaneität, von Rezeptivität und Aktivität⁹. Sämtliche Lebensaspekte, sowohl das Biologische, das Tierische als auch die geistigen Hervorbringungen des menschlichen Daseins, sind folglich auf dieses grundlegende Schema zurückzuführen¹⁰. Vor dem Hintergrund seiner Lebensbetrachtung beschreibt Schleiermacher letztendlich das Ich als „Einheit im Wechsel der Erscheinungen“¹¹. Die beiden konkurrierenden Dimensionen des Lebens, aufnehmend und ausströmend, sieht Schleiermacher in der Einheit des Selbstbewusstseins insofern verbunden, als „unser „Ich-sagen“ einschließt, dass wir uns irgendwie – durch anderes bestimmt – finden„¹². Demnach beschreibt das Ich ein Sich-selbst-Fühlen im Prozess des Bestimmtwerdens durch anderes, ein passives Erleiden oder ein a posteriori, und gleichzeitig einen Prozess aktiver Selbstsetzung oder ein a priori. Weil bei Schleiermacher der Ausdruck a priori nicht den Geltungsanspruch eines Erkenntnisinhalts, sondern die Gegebenheitsweise eines Erkenntnisgegenstandes bezeichnet¹³, ist offensichtlich, dass das Ich nicht spekulativ gesetzt wird. Vielmehr erscheint das Ich, welches allem Wissen zugrunde liegt, als Gegebenheit innerhalb des Lebens. Aus dieser zentralen Perspektive werden dann die beiden Grundaspekte des Lebens nicht länger bloß äußerlich als Wechsel von Tun und Leiden, Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit in der Grundstruktur des menschlichen Daseins beschrieben, sondern das Bewusstsein des Zusammenspiels dieser Tätigkeiten wird hervorgehoben¹⁴. Ein Spezifikum der Psychologie Schleiermachers ließe sich folglich darin erblicken, dass sie neben der Beschreibung des Geistigen des Tuns die Beschreibung des Geistigen des Seins sein will¹⁵. Daher macht die noch differenziertere Präzisierung dieser Duplizität von Rezeptivität und Aktivität möglich, aus der Perspektive des Selbstbewusstseins den Menschen unmittelbar, ja wesentlich kennenzulernen – gerade als Ausdruck oder Beschreibung seines Selbstverständnisses. Denn verhält sich der Mensch rezeptiv zur Außenwelt, so beleuchten die Einwirkungen der Außenwelt als das, was der Mensch wahrnimmt, das gegenständliche
Vgl. Psy A 409. Vgl. GL I 34 f. Psy A 415. Zitat bei E. HERMS, in: Die Bedeutung der „Psychologie“ für die Konzeption des Wissenschaftssystems beim späten Schleiermacher, in: Ders., Menschsein im Werden. Studien zu Schleiermacher, Tübingen 2003, 185. (in Folgendem abgekürzt als: HERMS, Bedeutung). Vgl. HERMS, Bedeutung, 189. Vgl. Th. H. JØRGENSEN, Das religionsphilosophische Offenbarungsverständnis des späteren Schleiermacher, Tübingen 1977, 55. Vgl. HERMS, Bedeutung, 177.
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oder das objektive Bewusstsein.Während die Wahrnehmungen durch das Subjekt aber lediglich seine Vorstellung vom Sein der Dinge prägen¹⁶, nennt Schleiermacher jene Einwirkungen, welche darüber hinaus Änderungen im Bewusstsein hervorrufen, Empfindungen oder Gefühl¹⁷. Aus diesem Grund lassen sich dann auch Gefühl und Selbstbewusstsein als identisch erachten. Entsprechend der Struktur der Rezeptivität beschreibt Schleiermacher die Aktivität als Spontaneität oder als Wirksamkeit, wenn sie gegenstandbezogenen mit Auswirkungen auf die äußere Welt tätig ist, oder als darstellende Tätigkeit in dem Falle, dass sie nur ein Ausdruck des Inneren sein will¹⁸. Als was versteht sich der Mensch unter dem Aspekt des Selbstbewusstseins betrachtet? Zum einen deutet das Selbstbewusstsein oder das Gefühl letztendlich darauf hin, dass der Mensch sich immer auf ein Anderes bezogen erlebt, so wie dies am Beispiel des geselligen oder des religiösen Gefühls gesehen werden kann. Gleichzeitig bedeutet dies aber auch, dass das Selbstbewusstsein den Moment niemals völlig ausfüllt, sondern immer mit dem objektiven Bewusstsein zusammengeht. In Hinblick auf die Aktivität des Daseins lässt sich dann aussagen: Alle Äußerungen sind Äußerungen des Inneren und in jeder seiner Taten oder Handlungen kommt ihr Urheber selbst stückweise zum Vorschein.
b) Lust und Begehren Begleitet das Gefühl oder das Selbstbewusstsein jede menschliche Tätigkeit¹⁹, so wird es dabei dauerhaft entweder von einem Gefühl der Lust oder der Unlust bestimmt²⁰. Die Lust charakterisiert Schleiermacher u. a. als ein durch das Gefühl gegebenes Wissen um ein Sein oder Tun²¹ und sie stellt als solches eine weitere Dimension der menschlichen Betrachtung des Daseins dar. Bewirkt dieses Wissen als Lust ein erhebendes bzw. als Unlust ein deprimierendes Lebensgefühl, so beleuchtet es als Stimmung die Selbst- und Weltbezogenheit des Daseins in einem Lebensmoment. Damit dürfte die Stimmung dem entsprechen, was Martin Heidegger mit der Befindlichkeit meint, wenn er von der Erschlossenheit der Welt im Da des Daseins spricht²².
Vgl. Psy A, 420. Vgl. Friedrich SCHLEIERMACHER, Psychologie. Aus Schleiermachers handschriftlichen Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen, herausgegeben von L. GEORGE, in: SW III/6, Berlin 1862 (im Folgenden abgekürzt als: Psy N) 70 f. Vgl. Psy A 470. Vgl. GL I 24 f. Vgl. Psy A 429; GL I 37. Vgl. Friedrich SCHLEIERMACHER, Grundlegung der Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803), KGA I. 4, Berlin 2002, 70. Vgl. Martin HEIDEGGER, Sein und Zeit, Tübingen 2006, 134 ff.
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Gerade als Stimmung kann die Lust nicht nur ein passives Erleiden sein, so wie es die Wahrnehmungslehre Schleiermachers beschreibt, sondern zugleich einen Impuls zum Handeln oder ein Handeln-Wollen darstellen. Diese differenziertere Auffassung der Lust kommt vor allem in der Kritik der bisherigen Sittenlehre zum Vorschein. Vor dem Hintergrund der Besprechung unterschiedlicher Ethikkonzeptionen bietet dort Schleiermacher eine genuine Beschreibung dieses Phänomens an. Bekanntlich unterscheidet Schleiermacher in diesem Werk zwischen einer auf Lust und Glückseligkeit orientierten Ethik, so wie die von Epikur und Shaftesbury vorgelegte, und einer, die auf Tugend oder Vollkommenheit fokussiert, so wie von Immanuel Kant und Johann Gottlieb Fichte, aber auch Platon und Baruch de Spinoza vertreten²³. Der erste Typ der Ethik wird dadurch diskreditiert, dass die Lust eine individuelle ist. Als „Lust an Gegenständen“ kann diese Lust kein höchstes Gut für alle darstellen, da jeder etwas anderes als Glückseligkeit oder Lust empfindet. Auch der zweite Typ der Ethik wird von Schleiermacher hinterfragt, da er von einem allgemeingültigen Prinzip ausgeht, dem postulierten Dasein Gottes, welches aber zwischen dem allgemeinen sittlichen Prinzip und der Lust als Prinzip des sittlichen Lebens nicht vermittelt²⁴. Es ist nach diesen kritischen Äußerungen zu erahnen,welche Bedeutung gerade in der Grundlegung der Ethik Schleiermachers die Lust bekommt: Sie soll als Berührungspunkt der beiden Ethikauffassungen das allgemeine Prinzip mit dem konkreten Leben versöhnen können. „Also das Leben, wenn ich es loben soll, muss mir unbedingt Stoff geben glücklich zu seyn, es muss mir Veranlassung geben sittliche Güte zu üben und zu entwikeln, aber ohne mich zu zwingen. Danach will ich seinen Werth schätzen; das sind die beiden großen Punkte meiner Untersuchung.“²⁵
Die Möglichkeit einer solchen Vermittlung sieht er im Sinne Platons in der Erkenntnis des unendlichen und höchsten Wesens, die aber eine ursprüngliche Erkenntnis ist, auf die dann jede andere nachträgliche Erkenntnis bezogen wird²⁶. Vor diesem Hintergrund stellt Schleiermacher die Lust in der folgenden Weise vor: „Lust an Wahrheit ist Lust an Regeln, Freude an Übereinstimmung der einzelnen Dinge mit der Regel. Daß ich mir alles denken kann, untergeordnet unter Gesetzen, die ich fand, die in mir selbst liegen, das ist es.“²⁷
Dementsprechend soll diese Vermittlung zwischen Dingen und Regel oder Gesetzen, „die in mir selbst liegen“, lustvoll sein. Auch das Begehren scheint vor dem Hinter-
Vgl. Jan ROHLS, Philosophie und Theologie in Geschichte und Gegenwart, 2002, 441. (in Folgendem abgekürzt als: ROHLS, Philosophie). ROHLS, Philosophie, 441. ÜWL 413. Vgl. ROHLS, Philosophie, 441. ÜWL 412.
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grund der Lustphänomenologie einen wichtigen Moment darzustellen. Zumal Schleiermacher – anders als Kant, der die Lust als Vorstellung von der Übereinstimmung eines Objekts mit dem Begehrungsvermögen sah, – betont, dass die Lust in empirischer und logischer Hinsicht als subjektiver Charakter des Begehrbaren dem Begehren vorangeht, deutet dies drauf hin, dass das begehrt wird, was eine Lust ist oder Lust macht²⁸. Das Begehren selbst steht somit als Lebensimpuls hinter der Lust zurück und unterstreicht dabei das Antreibende der Lust. Bei aller seiner Qual ist das Begehren also lustvoll.
c) Genuss als Phänomen des Lebens Nun hat der Mensch, so Schleiermacher, „nichts, was ihm Lust macht als den Genuss selbst“²⁹. Zeigt diese Formulierung Schleiermachers einen direkten Zusammenhang zwischen Lust, Begehren und Genuss auf, so soll doch zuerst klargestellt werden, was mit dem Genuss selbst gemeint ist. Erst dann kann die Verbindung von Lust, Begehren und Genuss klarer zum Vorschein kommen. Die Genussauffassung Schleiermachers lässt sich am folgenden Text entlang rekonstruieren. „Tief in mir fühle ich die zarte Idee des Schönen, und alles dessen, was damit verwandt ist.Wüsste ich auch nicht woher sie kommt, nicht einmal recht, wohin sie geht, so fühle ich doch ihre sanfte aber starke Gewalt. Wenn sie gleich in meiner Natur gegründet und ein nothwendiges Produkt derselben ist, so trägt sie sich doch nicht bloß in mir mit Formen und Gesetzen einer eigenen Welt, sie sehnt sich aber außer sich nach etwas das dem gemäß sei. Daß ihr dieses so reichlich gewährt wird, daß sie Genuss an äusseren Gegenständen haben kann, dies ist eins der schönsten Beiträge des Lebens zu meiner Glückseligkeit. An den regelmäßigen organischen Formen der Natur, die in sich selbst ein Ganzes ausmachen freut sie sich zuerst des Bewusstseyns und der allmählichen Entwikelung ihrer Geseze; in den regellosen Formen, in dem Zusammennehmen solcher Dinge, die nur durch Fantasie und Ideenverbindung in ein ganzes vereinigt werden können, liegt für mich ihr höchster Genuss„³⁰.
Dementsprechend gründen die Idee des Schönen und all das, was mit ihr verwandt ist, im Menschen. Obgleich diese Idee für Formen und Gesetze steht, die der menschlichen Natur immanent sind, sehnt sie sich nach etwas in der Außenwelt, was ihr gemäß ist. Es ist also diese von Sehnsucht angeleitete Übereinstimmung zwischen der Idee einerseits und den regelmäßigen organischen Formen der Natur andererseits, die somit den Genuss ausmacht. Und gleichzeitig ist der Genuss das Zusammennehmen der regellosen Formen, welche durch Fantasie und Ideenverbindung zu einem geordneten
Vgl. Friedrich SCHLEIERMACHER, Notizen zu Kant: KpV, in: KGA I.1, Berlin 1983, 130. Friedrich SCHLEIERMACHER, Über das höchste Gut (1789), KGA I.1, Berlin 1983, 85. ÜWL 416.
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und vereinigten Ganzen werden soll. Stimmt das, so wäre der Genuss die Übereinstimmung zwischen der Idee des Schönen und der Außenwelt. Die Bestimmung des Phänomens Genuss durch Schleiermacher als Ereignis der Übereinstimmung zwischen der Idee des Schönen und der Außenwelt gewinnt an Klarheit, wenn darauf hingewiesen wird, dass die Idee des Schönen als eine unter anderen angeborenen Ideen zu verstehen ist. Die höchste der angeborenen Ideen – darunter versteht Schleiermacher die Idee des Wissens, des Wahren, des Guten – ist dabei die sittliche Idee³¹. Diese charakterisieren die Geistesbegabung des Menschen und sind somit Aspekt des Sich-Setzens des Ich. Nahe an und doch anders als Friedrich Wilhelm Schelling, der anhand der angeborenen Ideen die Vermittlung der progressiven Identität zwischen dem Begriff des Absoluten und der Persönlichkeit Gottes vertritt, erachtet Schleiermacher die Urbildlichkeit als metaphysisches, ethisch-religiöses Problem. Demzufolge ist das Leben „ein von innerer Einheit ausgehendes Mannigfaltiges von Thätigkeit“³². Diese Ideen, die, mit Schleiermacher gesprochen, „tief in mir liegen“, verlangen also lustvoll nach der Übereinstimmung mit den einzelnen Dingen. Nur unter dieser Bezogenheit sind sie als bestimmte erschlossen. Doch Dinge ihrer Idee nach anzuschauen bedeutet aber, sie kraft der im unmittelbaren Realitätsbewusstsein mitgegebenen Individualität zu erfassen³³. In Anbetracht dessen klingt die Reflexion der Monologen so vertraut nach: „Auch die äussere Welt, mit ihren ewigsten Gesezen wie mit ihren flüchtigsten Erscheinungen, strahlt in tausend zarten und erhabenen Allegorien, wie ein magischer Spiegel, das Höchste und Innerste unseres Wesens auf uns zurück“³⁴.
Heißt dies somit, dass die Anschauung, die der Erkenntnis zugrunde liegt, Selbstanschauung ist, so kann die Selbstanschauung selbst nichts anderes sein als die Vergewisserung des Anschauenden im Angeschauten. Damit stellt sich weiter die Frage, welche Bedeutung dies alles für den Genuss haben kann, der zuvor als die Übereinstimmung der Ideen mit der Erfahrung der Außenwelt, als Moment der Einheit zwischen a priori und a posteriori oder als die Einheit von Idealem und Realem bestimmt worden ist. Vor dem Hintergrund der Deutung der Selbstanschauung als Vergewisserung ist der Genuss als Erfüllung eines Augenblicks nicht nur das Bewusstsein eines Aktes der Lustwahrnehmung oder der Lusterfüllung, sondern zugleich auch das Selbstbewusstsein davon als die Vergewisserung des genießenden Selbst im Genuss.
Psy N 30. Zitat bei K. NEUMANN, Idee, in: HWdPh 4, Berlin 1922, 121. Vgl. E. HERMS, Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt des Systems der Wissenschaften bei Schleiermacher, Gütersloh 1974, 186. Friedrich SCHLEIERMACHER, Monologen nebst den Vorarbeiten, Dritte Auflage. Kritische Ausgabe. Herausgegeben von F. M. SCHIELE. Erweitert und durchgelesen von H. MULERT, Hamburg 1978, 9
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Da Schleiermacher die Lust als eine schwankende Größe beschreibt, die nie gleichmäßig ist, sondern ab- oder zunehmen kann, ist der Genuss als lustvoll angestrebtes Ereignis der Übereinstimmung und somit als Erfüllung der Lust selbst zu bestimmen. Als solches Ereignis der Erfüllung der Lust ist der Genuss bereits eine Reflexion über einen angestrebten und dann erfüllten Lebensmoment. Dies ist auch der entscheidende Unterschied zur Philosophie der Antike: Während der Genuss dort als Sinnesbefriedigung aufgefasst wurde, ist er bei Schleiermacher eine Reflexion über einen erfüllten Lebensmoment in der umfassenden Einheit des Menschseins³⁵.
Teil II Widerspiegelungen des Phänomens Genuss im Wissenschaftsdenken Schleiermachers Wir sahen im ersten Teil der vorliegenden Untersuchung, dass die beiden Ausdrücke „das Reale“ und „das Ideale“ bei Schleiermacher die zwei Seiten des Werdens beschreiben, innerhalb dessen der Mensch sich befindet: Das Reale steht für die Prozesse, die wir erleiden, das Ideale für die Prozesse, deren Fundament die Spontaneität unseres wirksamen Wollens ist. Ist die Einwirkung des Idealen auf das Reale Gegenstand der Ethik, so ist die Einwirkung des Realen auf das Ideale Gegenstand der Physik. Der gemeinsame Gegenstand der Ethik und der Physik ist das konkrete Werden, in welchem alle Menschen inbegriffen sind³⁶. Vor dem Hintergrund der Beschreibung des Phänomens Genuss, als Vergewisserung der Übereinstimmung zwischen dem Idealen und dem Realem, ist es möglich, nun konsequenterweise die Frage zu stellen, ob und inwiefern im Wissenschaftsdenken Schleiermachers dieses Phänomen überhaupt eine Rolle spielt. Einige Überlegungen in Form einer kurzen Skizze sollen sich zuerst der Ethik Schleiermachers, dann der Dialektik, der Glaubenslehre, der Christlichen Sittenlehre und der Ästhetik zuwenden.
Ethik: Zieht man in Betracht, dass der Begriff der Glückseligkeit unter immerwährender Orientierung an die aristotelische eudaimonia die Zielvorgabe und somit das Hauptziel der philosophischen Ethik und der Christlichen Sittenlehre Schleiermachers darstellt, Vgl. G. BILLER/R. MEYER, Genuß, in: HWdPh 3, Berlin 1922,316. Vgl. E. HERMS, Religion und Wahrheit bei Schleiermacher, in: Religion und Religionen im Deutschen Idealismus. Schleiermacher – Hegel – Schelling, herausgegeben von F. HERMANNI, B. NONNENMACHER, F. SCHICK, Tübingen 2015, 88 ff. (in Folgendem abgekürzt als: HERMS, Religion und Wahrheit).
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so ergibt sich die fundamentale Frage nach dem, was die Initiierung und die Realisierung von Willensentschlüssen des Handelnden ermöglicht. Was ist der innere Antrieb, der in der philosophischen Ethik Schleiermachers zur Glückseligkeit führt? Hierzu äußert sich Schleiermacher nicht eindeutig, obwohl er in seinem Jugendwerk nach einer Veranlassung zum sittlichen Tun verlangte, welche aber nicht die Pflicht sein soll und in welcher die Glückseligkeit erfahrbar ist³⁷. Auf der Suche nach der Antwort lautet hier die weitere These: Der Impuls und der Antrieb jeglicher ethischen Handlungen, die letztendlich auf die Glückseligkeit hinzielen und diese verwirklichen, ist der Genuss. Diese Behauptung ergibt sich daraus, dass der Genuss als Einheit von Vernunft und Natur sowohl die Hervorbringung von Gütern – als das „Einssein von Vernunft und Natur“ – begleitet und charakterisiert als auch darüber hinaus die progressive Realisierung des höchsten Guts, als Inbegriff aller einzelnen Güter und damit als Ganzheit aller Einheiten von Vernunft und Natur, begleitet. Indem die Erzeugung der Güter eine Manifestation des Genusses darstellt, die sich in der Realisierung des höchsten Guts als die Hervorbringung des höchsten Genusses erfüllt, lässt sich die Sittlichkeit als ein durch den Genuss beschriebenen Vollzug, ja als Genussvollzug, der den vollkommenen Genuss und somit die vollkommene Glückseligkeit anstrebt, bestimmen. Im Unterscheid zu anderen eudaimonistischen Auffassungen der Ethik, welche von der Glückseligkeit sprechen, diese aber als unerreichbar ansehen – sei es im ewigen Frieden, so bei Augustinus, oder sei es als Garantie eines postulierten Gottes bei Kant – würde der Hinweis auf die Bedeutung der Rede vom Genuss im Kontext der Ethik Schleiermachers es plausibel machen, warum die progressive Realisierung des höchsten Guts gleichzeitig das zunehmende Erleben der Glückseligkeit bedeuten kann. Entgegen der allgemeinen neuzeitlichen philosophischen Tendenz, eine Dissonanz oder Unvereinbarkeit zwischen Sittlichkeit und Glück anzunehmen³⁸, setzt die Ethik Schleiermachers im Genussvollzug Sittlichkeit und gelingende Lebensführung in ein harmonisierendes Verhältnis zueinander. Eine Rede von der Glückseligkeit des Menschen kann nur beim Hinweis auf die Möglichkeit ihrer Erfahrbarkeit redlich sein. Die Rede vom Genuss wäre dann hinsichtlich der ethischen Haltung des Individuums als Motivationsquelle und als plausibler Grund zur Begründung des ethischen Handelns sinnstiftend.
Dialektik: Ähnlich wie in der Ethik lässt sich auch in der Dialektik das Streben nach dem vollkommenen Genuss als das Streben nach dem höchsten Wissen beschreiben. Selbst
Vgl. oben Fußnote 27. Vgl. Ch. HORN, Glück/Wohlergehen, in: (Hgg.) M. DÜWELL, Ch. HÜBENTHAL, M. H. WERNER, Handbuch Ethik, Stuttgart und Weimar 2002, 379 f.
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wenn Schleiermacher hierbei nicht expliziert vom Genuss spricht, ließe sich der Genuss als jener Moment des Wahrheitsbewusstseins, der das subjektive Innewerden der Vermittlung von Individualität und Allgemeinem in der Anschauung begleitet, identifizieren. Denn die Gewissheit als die Entsprechung des Denkens zum Sein ist mehr als der Sachverhalt dieser Entsprechung selbst, weil darin zugleich die Gewissheit unseres Selbst als unmittelbare Selbstgewissheit eingeschlossen wird³⁹. Der Genuss wäre so betrachtet ein Moment, welcher das unmittelbare Selbstgefühl charakterisiert, der Moment einer Selbsterfahrung, welche dann den Boden aller Gesprächsführung ausmacht, bis hin zur gemeinsamen Vorstellung, was ja eine Aufgabe der Dialektik ausmacht⁴⁰. Letzteres wäre dann eine weitere Dimension des Genusses, die sich im Einklang der strittigen Meinungen ereignen soll. Weil aus der Sicht der Dialektik das unmittelbare Selbstgefühl gleichzeitig das Gottgefühl, als der transzendente Grund des Wissens, und das Weltgefühl in einem Verhältnis von schwankender Dominanz in sich einschließt⁴¹, bedeutet dies aber, dass das religiöse Bewusstsein eine Bedingung des Wahrheitsbewusstseins ist und damit eine Bedingung der Genusserfahrung selbst.
Glaubenslehre und Christliche Sittenlehre: Bleibt die Realisierung des vollkommenen Genusses in der philosophischen Ethik und in der Dialektik offen, so wird die Seligkeit in der christlichen Sittenlehre als jener Frömmigkeitszustand erfahren, der durch den Einfluss Christi in jedem, der danach verlangt, zustande gekommen ist⁴². Für die Glaubenslehre und für die Christliche Sittenlehre gilt: Beschreiben Lust oder Unlust die Modifikationen des Gottesbewusstseins im Verhältnis zum sinnlichen Bewusstsein in einem bestimmten Lebensmoment, so ist das Maximum dieser Lust-Empfindung und damit der Genuss die selige Gleichmäßigkeit einer stetigen Obergewalt des Gottesbewusstseins, die absolute Seligkeit als die Seligkeit des Seins Gottes⁴³. Im Genuss des Abendmahls wird von jedem Einzelnen die Erfahrung des „Übergangs des Lebens Christi in das unsrige“⁴⁴ gemacht. Die Vergewisserung der Sündenvergebung in dem Gefühl des wiederhergestellten und gestärkten Lebens⁴⁵ ist als Vergewisserung des eucharistischen Genusses selbst zu bestimmen.
HERMS, Religion und Wahrheit, 96. Friedrich SCHLEIERMACHER, Dialektik. Herausgegeben und eingeleitet von Manfred FRANK, Bd. 2, Frankfurt a.M. 2001, 114. HERMS, Religion und Wahrheit, 97. Vgl. GL II 97. Vgl. GL II 99. GL II 356. Vgl. GL II 357.
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Diese Seligkeit wird dann im darstellenden Handeln ausgedrückt, als „reines Heraustreten des Inneren in das Äußere, um wieder in das Innere aufgenommen zu werden“⁴⁶. Dies stellt Schleiermacher in exemplarischer Weise auch in seiner Ästhetik dar, in welcher der Genuss gleichermaßen als Grundvoraussetzung aber auch als Anregung zur Kreativität betrachtet wird: „So wie in der Kunst der Mensch schöpferisch sei, so Gott in der Schöpfung künstlerisch. Der Genuss dieser göttlichen Kunst ist immer als die höchste Bestimmung des Menschen, durch die er selbst wieder künstlerisch aufgeregt werden sollte (ewige Musik und Poesie der Offenbarung) angesehn worden. Und so löset sich alles in die unendliche Einheit der göttlichen Kunst auf.“⁴⁷
Dabei enthüllt diese Betrachtung des Menschen als Genusswesen nicht nur eine genuine Theorie über die Ursprünge der menschlichen Kreativität als Nachahmung. Denn darüber hinaus ließe sich die Pointe der christlichen Schöpfungslehre darin erblicken, dass die gute Schöpfung Gottes zur Begegnung von Gott und Mensch im Genuss bereitstehe.
Teil III Ethische Relevanz des Phänomens Genuss Wurde bisher das Phänomen Genuss bestimmt und wurde darauf folgend aus dieser Perspektive das Wissenschaftsdenken Schleiermachers als eine Phänomenologie des Genusses interpretiert, so sollen nun im dritten Teil meines Beitrages einige abschließende Reflexionen über: 1. Genuss als Motivation zum ethischen Handeln, 2. Die Bedeutung des Genusses als Thema der christlichen Ethik und 3. Der Mensch als Genusswesen gemacht werden.
1. Genuss als Motivation zum ethischen Handeln Das Phänomen Genuss, so wie es hier beleuchtet wurde, als Übereinstimmungsmoment von Idealem und Realem und gleichzeitig als Erfüllungsmoment der Lust und als Realisierung der dem Menschen innewohnenden Sehnsucht nach Erfüllung und Befreiung, bestätigt einmal mehr die Grundkonzeption der Ethik Schleiermachers, nämlich das Ideale und das Reale in eine Indifferenz zu führen und zu vereinigen und damit, wie gezeigt, die Einseitigkeiten seiner großen Zeitgenossen zu vermeiden. Als solche Konzeption ist seine Ethik keine Morallehre im engeren Sinn. Vielmehr wendet Friedrich SCHLEIERMACHER, Christliche Sittenlehre, Zitat bei H.– J. BIRKNER, Schleiermachers Christliche Sittenlehre im Zusammenhang seines philosophisch-theologischen Systems, Berlin 1964, 105. Ästhetik 7.
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sie sich an den Menschen unter der Beschreibung seiner ihn konstituierenden Lebensprozesse. An dieser Stelle kommt dem Phänomen Genuss seine besondere ethische Relevanz zu, nämlich als allmähliche Aufhebung der Lust-Unlust-Differenz im Selbstbewusstsein eine Motivationsquelle des ethischen Handelns zur Realisierung des höchsten Gutes zu sein. Darin wird in plausibler, in unmissverständlicher Weise für jeden Einzelnen die Ethik als Erfahrung von Lebenserfüllung und von Lebenssinn erlebbar.
2. Die Bedeutung des Genusses als Thema der christlichen Ethik Schleiermachers Rede vom Genuss veranlasst eine neue Betrachtung dieses Begriffs in der christlichen Theologie und möglicherweise eine neue Interpretation dieses Phänomens vor dem Hintergrund unserer kulturellen Tradition. Gerade wegen der vom Genuss vermeintlich implizierten Aufwertung der Sinnlichkeit mögen die enthaltsamen Stoiker, Platoniker und christlichen Platoniker wegen ihrer dualistischen Auffassungen des Leib-Seele-Verhältnisses den Genuss verworfen oder prüde vergeistigt haben und, durch die Verneinung der Leiblichkeit, eine einseitige Betrachtung dieses Phänomens über Jahrhunderte kulturell etabliert haben. Von Schleiermacher lernt man aber anderes. Im Sinne Schleiermachers wäre es möglich zu sagen, dass alles genossen werden kann und soll. Der sinnliche Genuss wäre gar nicht zu verneinen.Von der Höhe des Gottesbewusstseins aus betrachtet wird aber, bei aller Wertschätzung der Genussfähigkeit des Menschen, der Umfang und die Qualität dieses Genusses entsprechend bestimmt. So würde dieser Genuss als Widerspiegelung des Gottesbewusstseins sämtliche Genussmomente zwar integrieren können und in ihrer Daseinsberechtigung bejahen, doch gleichzeitig würden viele für unangebracht erklärt werden können. Denn nicht die Vielzahl der Genussmomente als plumpe Sinnlichkeit macht das Wahre des Genusses aus, sondern die Höhe des Gottesbewusstseins, welches die Sinnlichkeit dabei begleitet, aufnimmt, würdigt und erhebt – so, dass daraus eine stetige, helle, tragende Lebenshaltung entsteht. In diesem Sinne bewahrt ausgerechnet eine Ethik des Genusses vor dem rücksichtslosen Konsumismus und führt zu einer Ethik des Bewahrens, der Nachhaltigkeit und zu einer Haltung der Dankbarkeit. Als Thema der Ethik, der Religion und der Bildung gewinnt der Genuss, gerade als Phänomen des Lebens, die Bedeutung einer Lebensenergie, die das Werden des Menschen gestaltet und vorantreibt. So betrachtet ließe sich die Rekonstruktion der Auffassung Schleiermachers vom Genuss keineswegs als neuer Hedonismus abstempeln, sondern geradewegs als spirituelle Lebensführung.
3. Der Mensch als Genusswesen Als Phänomen ist der Genuss eine Weise des menschlichen Selbsterlebens und der Erschlossenheit der eigenen Individualität. Im Jetzt seiner Selbsterschlossenheit als
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Genusswesen erfährt sich der Mensch als leibliches Wesen und damit als Teil der Welt. Dabei ist vor allem seine Leiblichkeit weder zu verachten noch als Selbstzweck zu betrachten. Nur ein richtiges Verständnis des Genusses kann das Verhältnis des Menschen zu sich selbst – und darüber hinaus zu der Welt – ethisch bestimmen. Auch lehrt die Selbstwahrnehmung des Menschen als Genusswesen, dass jeder Mensch das Bedürfnis und das Anrecht auf Genuss hat. Besonders darin enthüllt der Genuss seine demokratische Relevanz und lädt ein zu einer Haltung des Teilens, der Toleranz und der Teilhabe.
Klaus Viertbauer / Innsbruck
Von einer transzendentalen Begründung zu einer dialektischen Vermittlung Zur formalen Gestaltung des Glaubensbegriffs bei Friedrich Schleiermacher und Søren Kierkegaard Dass sich, einer philosophischen Analyse folgend, der religiöse Glaube nicht einfach auf die Form eines epistemischen Meinens reduzieren lässt, sondern ein Disponiertsein des menschlichen Bewusstseins zum Ausdruck bringt, bildet das gemeinsame Anliegen von Schleiermacher und Kierkegaard. Beide entwickeln ihre Interpretation des religiösen Glaubens vor dem Hintergrund einer Analyse des menschlichen Bewusstseins und beide können sich dabei auf eine Idealismus-Kritik der Frühromantiker beziehen. Ausgehend von der Frage nach Form und Struktur von Selbstbewusstsein, die durch eine nicht-egologische Analyse des Bewusstseinsphänomens vorangetrieben wird, werden die erzielten Ergebnisse als Referenzpunkt für einen Gottesbezug in Anschlag gebracht. Dabei soll aufgezeigt werden, dass es sich um ein und denselben Gedanken handelt, der bei Schleiermacher transzendental und bei Kierkegaard dialektisch begründet wird.
1. Der Grundgedanke: Präreflexive Fassung des Selbstbewusstseins Das Subjekt als elementares Prinzip jeder philosophischen Analyse wurde von Descartes und Kant im neuzeitlichen Diskurs etabliert. Vor dem Hintergrund des methodischen Zweifels brachte René Descartes in seinen Meditationes de prima philosophia den Aufweis, dass man alles, sowohl Sinneserkenntnisse a posteriori, wie auch Verstandeserkenntnisse a priori in Abrede stellen kann, allerdings kein Weg an der transzendentalen Retorsion, also dem Umstand, dass es sich dabei stets um einen selbst handelt, der sich in diesem Akt des Täuschen täuscht, vorbeiführt. So lässt sich die Aussage „ego cogito, ego sum“ als unbezweifelbare und damit elementarste Aussage ausweisen.¹ Dieser Evidenzaufweis des Cogito/Ich-denke-Gedankens wurde von Immanuel Kant aufgenommen und in Abgleich mit den Empirikern mit dem transzendentalen Ich, das alle Vorstellungen begleiten können muss, zu einem
René Descartes, Meditationen. Mit sämlichen Einwänden und Erwiderungen (PhB 598) Hamburg 2009, S. 28. DOI 10.1515/9783110464573-021
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Identitäts-Begriff weiterentwickelt.² „Das Bewußtsein ‚Ich denke‘ kann mit jedem Gedanken, den ein zum Selbstbewußtsein befähigtes Wesen denkt, verbunden werden. Denn dazu, daß dieser Gedanke ‚Ich denke‘ gewonnen wird, ist neben irgendeiner Möglichkeit seiner Formulierung nichts weiter nötig als der Vollzug eines Aktes der Reflexion.“³ So ist mit Descartes und Kant zwar die Notwendigkeit in Form der Funktionalität des Cogito/Ich-denke-Gedankens sichergestellt, allerdings ist damit noch rein gar nichts über das Phänomen des Selbstbewusstseins ausgesagt. An dieser Stelle entzündete sich der Diskurs des Deutschen Idealismus. Fichte erbrachte den Nachweis, dass die Bestimmung des Phänomens von Selbstbewusstsein bis dahin stets in Form eines Repräsentationsmodells erfolgte.⁴ Das Repräsentationsmodell geht von der Annahme aus, dass es sich beim Phänomen des Selbstbewusstseins um einen bloßen Sonderfall von Fremd- bzw. Gegenstandsbewusstsein handelt. Nach diesem Modell ist Bewusstsein stets Bewusstsein von etwas und ist in Form von Selbstbewusstsein damit intentional auf sich selbst als einen äußerlichen Gegenstand gerichtet. Dabei wendet sich das Ich auf sich selbst zurück und versucht sich auf diese Weise in den Blick zu bekommen. Allerdings mündet dieser Argumentationsgang in einer Aporie. Denn das Ich, das sich auf sich selbst bezieht, muss sich – so die erste Prämisse – in ein Sehendes/Denkendes (Subjekt-Pol) und ein Gesehenes/Gedachtes (Objekt-Pol) aufspalten und zugleich – so die zweite Prämisse – diese logisch notwendige Spaltung wiederum leugnen, damit die Identität der Pole vor der Spaltung gewährleistet bleibt. Dieser Aporie stellt sich Fichte, indem er sie zunächst in Form einer reductio ad absurdum freilegt: „Man hat bisher so gefolgert: Entgegen gesetzter Dinge oder äußerer Objekte können wir uns nicht bewußt sein, ohne uns selbst bewußt zu sein, d. h. uns selbst Objekt zu sein. Durch den Akt unseres Bewußtseins, dessen wir uns dadurch bewußt werden können, daß wir uns wieder als Objekt denken, und dadurch Bewußtsein von unserem Bewußtsein erlangen. Dieses Bewußtsein von unserem Bewußtsein werden wir aber wieder nur dadurch bewußt, daß wir dasselbe abermals zum Objekt machen, und dadurch Bewußtsein von dem Bewußtsein unseres Bewußtseins erhalten, und so ins Unendliche fort.“⁵
Diese Aporie lässt sich nach zwei Seiten hin auflösen: In Form eines egologischenModells, das sich am Indexikalbegriff (Ich, Selbst etc.) orientiert oder in Form eines
KrV B 131 f. – Vgl. Konrad Cramer, „Über Kants Satz: Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können“, in: Theorie der Subjektivität. Festschrift für Dieter Henrich (stw 862), hg.von Konrad Cramer u. a., Frankfurt a.M. 1990, S. 167– 202. Dieter Henrich, „Kant und Hegel“, in: Ders. Selbstverhältnisse. Gedanken und Auslegungen zu den Grundlagen der klassischen deutschen Philosophie, Stuttgart 2001, S. 171– 208, hier: S. 179. Vgl. Dieter Henrich, „Fichtes ursprüngliche Einsicht“, in: Subjektivität und Metaphysik. Festschrift für Wolfgang Cramer, hg. von Dieter Henrich und Hans Wagner, Frankfurt a.M. 1966, S. 188 – 232. Johann Gottlieb Fichte, „Wissenschaftslehre nova methodo“, in Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hg.v. Reinhard Lauth und Hans Gliwitzky, Reihe IV, Bd. 2 (= GA IV/2) S. 30.
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nicht-egologischen-Modells, das unmittelbar beim dahinter stehenden Bewusstseinsphänomen ansetzt. Fichte gilt als Verfechter des egologischen Modells. Indem er die erste Prämisse zu eliminieren versucht, greift er in die traditionelle Argumentationsarchitektur nachhaltig ein. So ist „bei der Vorstellung meines Ichs […] das Denkende und Gedachte ebendasselbe – im Begriff des Ichs“⁶, sodass sich das Denkende und das Gedachte in Form eines „unmittelbaren Bewußtseins“⁷ miteinander verbinden. Den herausgestellten Prozess der unmittelbaren Bewusstwerdung bezeichnet Fichte als Tathandlung: „Tathandlung ist nämlich, wenn ich mein Ich innerlich handeln lasse und demselben zusehe. […]. Diese Tätigkeit lässt sich nicht definieren, sie beruht auf unmittelbarer Anschauung; sie besteht darin, daß ich mir meiner unmittelbar bewußt bin.“⁸
Fichtes Theorem der Tathandlung als Gegenmodell zur traditionellen Repräsentationstheorie behauptet, dass das Ich „aus keinem seiner Momente, sondern mit allen zugleich“⁹ hervortritt. So drückt sich in der Tathandlung die „Unmittelbarkeit, in der das ganze Ich in einem hervortritt“¹⁰ aus. Diese Tathandlung, in der sich das Ich als intellektuelle Anschauung gewahr wird, bildet Fichtes „Postulat“ bzw. den „Grundsatz, der nicht weiter bewiesen werden kann und soll“¹¹. Eine Analyse, d. h. Zerlegung, des Ichs als Tathandlung bringt Fichtes Hörer Friedrich Hölderlin erstmals ins Spiel: „Wenn ich sage: Ich bin Ich, so ist das Subject (Ich) und das Object (Ich) nicht so vereinigt, daß gar keine Trennung vorgenommen werden kann, ohne, das Wesen desjenigen, was getrennt werden soll, zu verletzen; im Gegenteil das Ich ist nur durch diese Trennung des Ichs vom Ich möglich.“¹²
Die Kritik Hölderlins unterstellt Fichte einen Kategorienfehler: Die Tathandlung, in der sich das Ich-Subjekt mit dem Ich-Objekt verbindet, ist zwar ein Existenzbegriff des Ichs. Die Existenzaussage, dass ein Ich ist, darf nun aber nicht verwechselt werden mit einer Identitätsaussage, dass ein Ich-Subjekt ein Ich-Objekt ist. Eine derartige Existenzaussage findet sich in Fichtes „Tathandlung“ formuliert: „Wo Subject und Object schlechthin, nicht nur zum Theil vereiniget ist, mithin so vereiniget, daß gar keine Theilung vorgenommen werden kan, ohne das Wesen desjenigen, was getrennt werden
GA IV/2, S. 29. GA IV/2, S. 30. GA IV/2, S. 29. D. Henrich, „Fichtes ursprüngliche Einsicht“, S. 199. Ebd. S. 199. GA IV/2, S. 28. Friedrich Hölderlin, „Urtheil und Syn“, in: Grosse Stuttgarter Ausgabe, Bd. 4, hg. von Friedrich Beissner, Stuttgart 1961, S. 216 f.
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soll, zu verlezen, da und sonst nirgends kann von einem Seyn schlechthin die Rede seyn, wie es bei der intellectualen Anschauung der Fall ist.“¹³
Dieses Konzept darf aber nach Hölderlin gerade „nicht mit der Identität verwechselt werden“¹⁴, denn „das Ich ist nur durch diese Trennung des Ichs vom Ich möglich“¹⁵. Demzufolge kann es laut Hölderlin zwar keine Ich-Existenz vor dem Ich geben, sehr wohl ist aber eine Analyse des Ichs im Sinn einer Urteilung möglich. Denn das, was in Fichtes Tathandlung in den Blick kommt, muss zuvor bereits da gewesen sein. Wäre das nicht so, so hätte es die Reflexion nicht gefunden, sondern erfunden. „Bewußtsein ist ein Sachverhalt, der allen zielgerichteten Leistungen vorangehen muß und der deshalb auch dem selbstbewußten Ich vorausliegt.“¹⁶ Damit verschiebt sich der Ansatz weg von der indexikalen Selbst- auf die phänomenale Bewusstseinsebene. Es handelt sich um ein nicht-egologisches Modell von Selbstbewusstsein, das in der Lage ist vom Indexikalbegriff (Ich, Selbst etc.) zu abstrahieren.¹⁷ Die Romantiker verbinden diese Einsicht mit dem epistemischen Terminus des Gefühls. An dieser Stelle lässt sich mit Friedrich Schleiermacher anknüpfen.
2. Zur Formalisierung des Glaubensbegriffes bei Schleiermacher und Kierkegaard 2.1 Schleiermacher: Religiöser Glaube als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit Friedrich Schleiermacher definiert den religiösen Glauben in einer Randnotiz zur ersten Auflage der Glaubenslehre als „die im Selbstbewußtsein gesezte Gewißheit von dem Mitgesezten“¹⁸. Darin drückt sich, wenngleich enigmatisch verdichtet formuliert, eine anthropologische Bestimmung des religiösen Glaubens auf Grundlage einer Bewusstseinsanalyse aus. In den §§ 3 – 4 der Glaubenslehre wird dieser formelle Glaubensbegriff entfaltet und ab § 32 materialdogmatisch fundiert. Zunächst wird in § 3 eine anthropologische Bestimmung des religiösen Glaubens entwickelt, der unter dem Etikett der „Frömmigkeit“ verhandelt wird. Der Leitsatz von § 3 lautet:
Ebd. 216. Ebd. 216. Ebd. 217. Dieter Henrich, „Selbstbewusstsein. Kritische Einleitung in eine Theorie“, in: Bubner, Rüdiger/ Cramer, Konrad/Wiehlm Reiner (Hg.) Hermeneutik und Dialektik, Bd. 1 (FS für Hans Georg Gadamer) Tübingen 1970, 257– 284, hier: 275. Vgl. Manfred Frank, Präreflexives Selbstbewusstsein. Vier Vorlesungen, Stuttgart 2015, S. 14 ff. Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kiche im Zusammenhange dargestellt (1821/22), in: ders., Kritische Gesamtausgabe (KGA), Abt. I, Bd. 7,3: Marginalien und Anhang, hg. von Ulrich Barth, Berlin/New York 1984, S. 26 Nr. 92.
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„Die Frömmigkeit, welche die Basis aller kirchlichen Gemeinschaften ausmacht, ist rein für sich betrachtet weder ein Wissen noch ein Thun, sondern eine Bestimmtheit des Gefühls oder des unmittelbaren Selbstbewußtseins“.¹⁹
Schleiermacher unterteilt das menschliche Bewusstsein in die Bereiche von „Wissen“, „Thun“ und „Gefühl“. Die „Frömmigkeit“ ordnet er dabei dem Bereich des „Gefühls“ zu. Die Konjunktion „oder“ verwendet Schleiermacher als eine explikative Funktion, die den Terminus „Frömmigkeit“ als „Gefühl“ nochmals als „unmittelbares Selbstbewußtsein“ näher zu präzisieren versucht. Dadurch schließt er vorab eine egologische Fassung von Selbstbewusstsein aus: „Dem Ausdrukk Selbstbewußtsein [ist] die Bestimmung unmittelbar hinzugefügt, damit niemand an ein solches Selbstbewußtsein denke, welches kein Gefühl ist, wenn man nämlich Selbstbewußtsein auch das Bewußtsein von sich selbst nennt, welches mehr einem gegenständlichen Bewußtsein gleicht, und eine Vorstellung von sich selbst und als solche durch die Betrachtung vermittelt ist“.²⁰
Demnach gibt es zwei Arten von Selbstbewusstsein. Ein propositionales und ein nichtpropositionales. Schleiermacher spricht sich für die zweite Art aus, was er durch das Adjektiv „unmittelbar“ herausstellt. „Das Leben ist aufzufassen als ein Wechsel von Insichbleiben und Aussichheraustreten des Subjects. Beide Formen des Bewußtseins [d. i. Wissen, Gefühl] constituieren das Insichbleiben, wogegen das eigentliche Thun das Aussichheraustreten ist; in sofern also stehen Wissen und Gefühl zusammen dem Thun gegenüber. Aber wenn auch das Wissen als Erkannthaben ein In sich bleiben des Subjectes ist, so wird es doch als Erkennen nur durch ein Aussichheraustreten desselben wirklich, und ist in sofern ein Thun. Das Fühlen hingegen ist nicht nur in seiner Dauer als Bewegtwordensein ein Insichbleiben, sondern es wird auch als Bewegtwerden nicht von dem Subject bewirkt, sondern kommt nur in dem Subject zu Stande, und ist also, indem es ganz und gar der Empfänglichkeit angehört, auch gänzlich ein Insichbleiben: und in sofern steht es allein jenen beiden dem Wissen und dem Thun gegenüber“.²¹
Schleiermacher ordnet die Reflexionsakte von „Thun“ und „Wissen“ dem „Aussichheraustreten“ zu. Während das „Wissen“ gleichermaßen dem „Aussichheraustreten“ wie auch dem „Insichbleiben“ zugeschrieben wird und das „Gefühl“ gänzlich dem „Insichbleiben“ zugeordnet wird. Zwar bleibt, wie Schleiermacher im weiteren Verlauf ausführt, das „Gefühl“ auf die Reflexionsakte von „Thun“ und „Wissen“ nicht ohne Wirkung, doch bleibt es, zumal als „Frömmigkeit“ qua „unmittelbares Selbstbewusstsein“, ganz dem Bereich des „Insichbleibens“ zugeordnet.
Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage (1830/31), in: ders., Kritische Gesamtausgabe (KGA), Abt. I, Bd. 13,1, hg. von Rolf Schäfer, Berlin/New York 2003, S. 19 f. (= CG2, § 3 – Leitsatz). KGA I/13,1 S. 22 (= CG2, § 3.2). KGA I/13,1 S. 25 f. (= CG2, § 3.3).
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Der erzielte Begriff des „unmittelbaren Selbstbewusstseins“ bildet – so die These – die transzendentale Grundlage des religiösen Glaubens. „Der Ausdruck ‚transzendental‘ bezeichnet [… die] Bedingungen […], unter denen sich die objektive Gültigkeit von Begriffen und Sätzen a priori als möglich begreifen lässt“.²² Die objektive Gültigkeit des religiösen Glaubens lässt sich von daher nur vor dem Hintergrund der Bewusstseinsdisposition des „unmittelbaren Selbstbewusstseins“ begreifen. Dabei handelt es sich um ein nicht-egologisches Modell von Selbstbewusstsein, das – ganz im Gegensatz zu Hegels Kritik – nicht-propositional verfährt. Eine nähere Bestimmung dieses Bewusstseinsphänomens erfolgt in Form einer phänomenologischen Analyse. In dieser werden die säkularen Bewusstseinsdispositionen mit dem religiösen Phänomen des Glaubens verzahnt. Schleiermacher initiiert die besagte Verflechtung in § 4, der mit folgendem Leitsatz überschrieben ist: „Das gemeinsame aller noch so verschiedenen Aeußerungen der Frömmigkeit, wodurch diese sich zugleich von allen andern Gefühlen unterscheidet, also das sich selbst gleiche Wesen der Frömmigkeit ist dieses, daß wir uns unsrer selbst als schlechthin abhängig, oder, was dasselbe sagen will, als in Beziehung mit Gott bewußt sind.“²³
Der Paragraph strebt eine Identifikation der Bewusstseinsdisposition von „schlechthinniger Abhängigkeit“ mit „Gottesbewusstsein“ an. Zunächst ist zu klären, was Schleiermacher unter „schlechthinniger Abhängigkeit“ versteht. Dazu zieht er weiters die Unterscheidung in „Selbstsetzen“ und „Selbstnichtsogesetzthaben“ heran: „In jedem Selbstbewußtsein […] sind zwei Elemente, ein […] Sichselbstsezen und ein Sichselbstnichtsogesezthaben […]; das lezte also sezt für jedes Selbstbewußtsein außer dem Ich noch etwas anderes voraus, woher die Bestimmtheit desselben ist, und ohne welches das Selbstbewußtsein nicht gerade dieses sein würde. [Denn…] das Ich an sich kann gegenständlich vorgestellt werden; aber jedes Selbstbewußtsein ist zugleich das eines veränderlichen Soseins.“²⁴
Schleiermacher hebt damit implizit die Unterscheidung von Selbstwissen und Selbstbewusstsein hervor. Es geht nicht um eine bloße Vergewisserung, dass ich es bin, der gerade dies und das tut (d. i. eine egologische Theorie), sondern um eine Bestimmung des zugrundeliegenden Bewusstseins (d. i. eine nicht-egologische Theorie). Nicht das egologische „Ich“, sondern das sich stets in Veränderung befindliche phänomenale „Sosein“ steht demnach zur Disposition. Auf dieses in der Zeit veränderliche „Sosein“ bezieht sich nun das dem konkreten Reflexionsakt immer schon vorausliegende „Selbstbewußtsein“. Es sorgt dafür, dass das reflektierte „Ich“, das sich im Laufe der Zeit unter verschiedenen Formen des „Soseins“ wiederfindet, unter der Identität eines
Wolfgang Röd, Die Philosophie der Neuzeit 3. Teil 1: Kritische Philosophie von Kant bis Schopenhauer. München 2006, S. 33. KGA I/13,1 S. 32 (= CG2, § 4 – Leitsatz). KGA I/13,1 S. 33 (= CG2, § 4.1).
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gemeinsamen Bewusstseins seiner selbst vereint sieht. Nur vor diesem Hintergrund lässt sich Schleiermachers Unterscheidung in ein so genanntes „Sichselbstsezen“ und ein so genanntes „Sichselbstnichtsogesezthaben“ verstehen. Während das „Sichselbstsezen“ als Produkt eines Reflexionsakts gedacht wird, stellt Schleiermacher das „Sichselbstnichtsogesezthaben“ als im „unmittelbaren Selbstbewußsein“ befindlich und daher dezidiert „nicht gegenständlich“ vor. Damit folgt Schleiermacher der Kritik Hölderlins an Fichte. Nun findet sich aber ein Subjekt in der Zeit jeweils unter einem anderen phänomenologischen „Sosein“ vor und bleibt dabei doch das gleiche egologische „Ich“Subjekt. Wie lassen sich die argumentativen Fäden miteinander vermitteln? Schleiermacher differenziert im Folgenden weiter in „Selbsttätigkeit“ und „Empfänglichkeit“ sowie in „Freiheitsgefühl“ und „Abhängigkeitsgefühl“. Entscheidend sind dabei die zweiten Glieder von „Empfänglichkeit“ und „Abhängigkeitsgefühl“.Während nämlich die ersten Glieder von „Selbsttätigkeit“ und „Freiheitsgefühl“ das Selbstbewusstsein als ein partikulares „Sosein“ bestimmen, beziehen sich die zweiten Glieder von „Empfänglichkeit“ und „Abhängigkeitsgefühl“ auf dessen überzeitliches „Sein“. Daran anschließend diskutiert Schleiermacher, ob überhaupt so etwas wie ein „schlechthinniges Freiheitsgefühl“ oder ein „schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl“ existieren kann. Zwar weist Schleiermacher beide Varianten zurück, doch folgert er aus der Unmöglichkeit eines „schlechthinnigen Freiheitsgefühl“, dass „allein eben das unsere gesamte Selbsttätigkeit, also auch, weil diese niemals Null ist, unser ganzes Dasein begleitende, schlechthinnige Freiheit verneinende Selbstbewußtsein […] schon an und für sich ein Bewußtsein schlechthinniger Abhängigkeit“²⁵ ist. Aus dem Umstand, dass es ein „schlechthinniges Freiheitsgefühl“ nicht geben kann, postuliert Schleiermacher die notwendige Existenz eines „schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls“. Die ist nämlich nichts anderes, als „das Bewußtsein, daß unsere ganze Selbsttätigkeit ebenso von anderwärts ist, wie dasjenige ganz von uns her sein müßte“²⁶. Schleiermachers Postulat, das die Unmöglichkeit eines „schlechthinnigen Freiheitsgefühls“ die Bedingung der Möglichkeit eines „schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls“ darstellt, erfolgt im Paradigma einer transzendentalen Deduktion. Die transzendentale Begründung fußt auf dem Umstand, dass der Aufweis einer Unmöglichkeit des schlechthinnigen Freiheitsgefühls – was nichts anderes als eine Kritik an Fichtes Konzept der Tathandlung zu verstehen ist – nicht nur als notwendige, sondern auch als hinreichende Bedingung für ein schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl in Anschlag gebracht wird. Diese transzendentale Fassung markiert m. E. das Nadelöhr, durch das man sich zwängen muss, will man Schleiermacher in seiner Argumentationsarchitektur folgen. Die anknüpfende Identifikation des „schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls“ als „in Beziehung mit Gott“ erscheint mir demge-
KGA I/13,1 S. 38 (= CG2, § 4.3). KGA I/13,1 S. 38 (= CG2, § 4.3).
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genüber als unproblematisch. Dabei wird lediglich eine bereits abgeleitete Disponiertheit des Bewusstseins („schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl“) mit einem theologischen Bekenntnis („in Beziehung mit Gott“) korreliert. Eine inhaltlich kompatible, methodisch aber abgefederte Fassung bietet – so meine These – Søren Kierkegaard an. Kierkegaard tauscht die transzendentale durch eine dialektische Begründung aus. Ich arbeite im Folgenden nur die Unterschiede zu Schleiermacher heraus:
2.2 Kierkegaard: Religiöser Glaube als sich durchsichtig gründen im Anderen In seiner berühmten Anfangspassage zu seiner Spätschrift Die Krankheit zum Tode (1849) thematisiert Kierkegaard das Selbst als Einzelnen, der sich in seinem Verhältnis zu der Instanz des Anderen konstituiert. Anhand der Formen, in denen sich ein Selbst zu dieser Instanz des Anderen ins Verhältnis setzt, erschließt sich, welche Existenzform das Selbst einnimmt und an welchen lebensweltlichen Pathologien es folglich verzweifelt. Die Verzweiflungspathologien bilden die phänomenale Seite der Analyse, die m. E. vernachlässigbar ist. Deshalb stelle ich die Strukturierung der Verhältnisse und deren Analyse ins Zentrum meiner Überlegungen: Zunächst muss man sich vor Augen führen, dass der Verhältnis-Terminus innerhalb des Textpassus in drei unterschiedlichen Formen²⁷ gebraucht wird: 1. Verhältnis im Sinn einer Relation zwischen zwei Polen 2. Verhältnis im Sinn eines Zwischenseins, also als Ambiguität zwischen diesen beiden Polen 3. Verhältnis im Sinn eines Verhaltens zu seinem eigenen Grund Die These im Folgenden lautet, dass die beiden ersten Verhältnisformen einem anderen Selbstkonzept als die dritte korrespondieren. Während die beiden ersten Formulierungen ein egologisches-Selbst beschreiben, zielt die dritte Verhältnisbestimmung auf ein nicht-egologisches-Modell. In seiner Schrift Entweder/Oder (1843) erarbeitet Kierkegaard die Existenzformen von Ästhetiker und Ethiker. Beide entfallen auf das egologische-Selbst und korrespondieren den beiden ersten Verhältnisformen. In seiner Schrift Furcht und Zittern nähert er sich Abraham als „Ritter des Glaubens“, der die Lebensform von Religiösität B verkörpert. Dessen Existenzform korrespondiert dem dritten Verhältnis, in dem die paradiesische Ordnung der Unmittelbarkeit mit Gott in der Geschichte realisiert wird. Als Achse, die das egologische- von dem nicht-egologischen-Selbstmodell trennt, dient die von Kierkegaard in die Textpassage eingearbeitete Disjunktion von Selbst- und Fremdsetzung:
Vgl. Frank, Fragmente, 501 ff.
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„[…] ein Selbst, muß entweder sich selbst gesetzt haben, oder durch ein Andres gesetzt sein“²⁸.
Während es bei den beiden ersten Verhältnissen um ein Selbstverhältnis und dessen Binnenstruktur geht, transzendiert das dritte Verhältnis mit der Frage nach dessen Existenzgrund diese Binnenperspektive. Ein Verhältnis konstituiert sich in der Regel aus zwei Polen, die, indem sie zueinander in Beziehung gesetzt werden, ein solches aufspannen. Die erste Verhältnisform nimmt das Verhältnis von den beiden Polen her in den Blick, die zweite setzt beim Zwischensein der besagten Pole an und die dritte Verhältnisform konfrontiert das Verhältnis mit dessen eigenem Grund. Damit transzendiert die dritte Verhältnisbestimmung die Elemente des Verhältnisses. Denn der Grund einer Sache lässt sich nicht mehr aus dessen Elementen ableiten. Kierkegaard entscheidet sich offenkundig für die dritte und damit für die nicht-egologische-Variante, wenn er am Ende der Passage den Selbst-Begriff als ein „Sich-zu-sich-selbstVerhalten“ gepaart mit einem „Es-selbst-sein-Wollen“ definiert, wobei sich das Selbst durchsichtig in der Macht, die es setzt, gründet.²⁹ Mit anderen Worten: Kierkegaards Selbst wird sich in dem Moment gewahr, in dem es vom Indexikalbegriff abweicht und sein Bewusstsein in den Blick nimmt. In diesem Bewusstsein erkennt es sich als ein Gesetztes an. Das Moment des Gesetztseins wird bei Kierkegaard hoch formell gestalten. Er spricht von dem Anderen (wobei er das Neutrum verwendet, was a priori intersubjektive Deutungsversuche unterbindet) und charakterisiert dies als die das Selbst setzende Macht. Diese dritte Verhältnisform, die zwischen dem Selbst und dem Anderen besteht, ist identisch mit dem, was Schleiermacher als „schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl“ bezeichnet. Darin drückt sich ein Subjekt aus, das sich seiner selbst gewahr wird, indem es erkennt, dass es sich selbst nicht gesetzt haben kann. So entspringt aus dem Bewusstsein, sich selbst nicht gesetzt zu haben, die Anerkennung des Anderen. Vor diesem Hintergrund lässt sich von Kierkegaards unverzweifeltem Selbst, das sich in der setzenden Macht des Anderen gründet, ein Bogen zu Schleiermacher und den Romantikern schlagen. Schleiermachers Bestimmung des Glaubens als „die im Selbstbewußtsein gesetzte Gewißheit von dem Mitgesetzten“ antizipiert Kierkegaards unverzweifelte Verhältnisrelationierung von Selbst und Anderen. Der Unterschied zu Schleiermacher besteht darin, dass Kierkegaard die Unmöglichkeit des „schlechhinigen Freiheitsgefühls“ qua Aporie des Ästhetikers und Ethikers als notwendige, nicht allerdings als hinreichende Bedingung wertet. Diese Korrektur von Kierkegaard an Schleiermacher erfolgt durch den Wechsel von einer transzendentalen zu einer dialektischen Analyse. Kierkegaard zieht einen Rahmen in Form der Selbstwahl ein, die auch noch irrationale Formen des „Trotzes“ und „Wahns“ einschließen kann. Dabei handelt es sich um den „Entschluß der Freiheit zu sich selber,
SKS 11, 129 / KT 9 – Hervorhebung vom Verf. SKS 11, 130 / KT 10.
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die als Wahl der Freiheit der Freiheit der Wahl vorausliegt“.³⁰ Diese Wahl ist eine absolute Wahl gemäß der sich das Selbst selbst wählt. Mit Schleiermacher lässt sich dies nicht mehr gegenlesen: Ein Mensch, der völlig über die Unmöglichkeit des „schlechthinniges Freiheitsgefühls“ aufgeklärt ist und mit der alternativen Variante des „schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl“ vertraut ist, kann – so Kierkegaards Korrektur an Schleiermacher – trotzdem gegen diesen status quo rebellieren. In diesem wahnwitzigen Trotz verhält sich das Subjekt wie ein Schreibfehler – so ein berühmtes Bild von Kierkegaard –, der sich weigert von seinem Verfasser getilgt zu werden: „Nein, ich will nicht ausgestrichen werden, ich will stehen bleiben als Zeugnis wider dich, ein Zeugnis davon, daß du ein mäßiger Schriftsteller bist“.³¹
Thomas Pröpper, Erlösungsglaube und Freiheitsgeschichte. Eine Skizze zur Soteriologie, München 1988, S. 24. SKS 11, 187 / KT 74. 2
Jana Huisgen / Osnabrück
Die wechselseitige Bedingung frommen Selbst- und Weltbewusstseins. Aspekte der Schleiermacherdeutung Gerhard Ebelings Die Klassizität von Schleiermachers Glaubenslehre zeigt sich daran, dass ihre grundlegenden Ausführungen zum frommen Selbstbewusstsein durch erneute Lektüre aktualisiert, oftmals auch spezifisch verändert werden, wie hier am Beispiel von Gerhard Ebelings Schleiermacher-Deutung gezeigt werden soll. In den 1960er Jahren, ca. 130 Jahre nach dem Erscheinen der Glaubenslehre Schleiermachers, hat sich Ebeling im Rahmen einer umfassenden Schleiermacherrezeption auch in Bezug auf die Frage nach der frommen Seele von Schleiermacher inspirieren lassen. Man stößt hier in Ebelings Theologie auf Denkfiguren Schleiermachers, die unter veränderten Vorzeichen verwendet werden, sowie anders herum in der Interpretation der Gedanken Schleiermachers auf Einflüsse aus der an Luther orientierten, hermeneutischen Theologie Ebelings, die wiederum wesentlich durch ihr geistiges Umfeld, vor allem durch die Existenzphilosophie Martin Heideggers, beeinflusst ist. Im Folgenden soll Schleiermachers Verständnis der frommen Seele aus der Perspektive Ebelings dargestellt werden, in der die innersubjektive Seite der Frömmigkeit stets gemeinsam mit ihrem Externbezug in den Blick genommen wird. Zum einen nimmt Ebeling Schleiermachers Gefühlsbegriff auf und interpretiert ihn im Sinne seines Gewissensbegriffs. Dabei verfolgt er die Intention, eine rein subjektivistische Interpretation des Schleiermacherschen Frömmigkeitsbegriffs zu delegitimieren.¹ Zum anderen hebt Ebeling in hermeneutisch-theologischer Zugangsweise die Zusammenhänge innerhalb der Gedanken Schleiermachers hervor, die auf die Rückbindung der Religiosität des Einzelnen an die geschichtlich gewachsene Tradition christlicher Verkündigung hinweisen und deutet darüber hinaus das fromme Selbstbewusstsein als ethisches Weltbewusstsein. Diese Schwerpunktsetzung in Ebelings Interpretationsrichtung weist darauf hin, dass er Schleiermachers Ausführungen zum frommen Selbstbewusstsein in ihren Grundsätzen verändert interpretiert, indem er sie ihrem methodischen Status nach nicht subjektivitätstheoretisch, sondern ontologisch deutet. Im Hintergrund dessen steht Ebelings Verständnis einer relationalen Ontologie, die er auch in den Ausführungen Schleiermachers wiederzuerkennen meint: Die menschliche Existenz ist nicht allein ohne die Beziehung auf Gott und die Welt zu
Die Schleiermacherdeutung Ebelings ist besonders in der Anfangszeit (1950er-1960er Jahre) motiviert durch die Intention, die aus der überwiegend negativen Interpretationsrichtung der Dialektischen Theologie resultierende Abgrenzung von Schleiermacher zu überwinden und seine Theologie vorurteilsfrei zur Sprache kommen zu lassen. DOI 10.1515/9783110464573-022
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Jana Huisgen
verstehen, das Dasein der frommen Seele vollzieht sich als Sein coram Deo, coram mundo und coram seipso ² zugleich.
1. Subjektivitätstheorie als (relationale) Ontologie Was erfahren wir in der Einleitung der Glaubenslehre über Schleiermachers Verständnis der frommen Seele? Zunächst ergibt sich hier ein umfassendes Bild des Menschen, das ihn als rationales Wesen zeigt. Dies meint das in § 4,1 beschriebene reflexive Selbstbewusstsein, das vom unmittelbaren Selbstbewusstsein, dem Gefühl, zu unterscheiden ist. Wir erfahren, dass der Mensch mit den vermögenspsychologischen Funktionen Gefühl, Wissen und Tun ausgestattet und aufgrund des „jedem Menschen innewohnende[n] Gattungsbewußtsein[s]“ auf Sozialität angelegt ist. Dieses findet „seine Befriedigung nur […] in dem Heraustreten aus den Schranken der eigenen Persönlichkeit und in dem Aufnehmen der Tatsachen anderer Persönlichkeiten in die eigene. Geleistet wird es dadurch, daß alles Innere auch auf irgendeinem Punkt der Stärke oder Reife ein Äußeres wird, und als solches andern wahrnehmbar.“³ Dazu gehört, dass der Mensch, dass der Mensch über Gesichtsausdruck, Gebärde, Ton und Wort⁴ die Fähigkeit zur Kommunikation dessen besitzt, was in seinem Inneren vor sich geht. Wir erfahren aber auch, dass der Mensch als selbsttätiges, freies, rationales Wesen unterbestimmt bleibt. Nicht nur Freiheit und Selbstsetzung, sondern auch die Gegenseite der Passivität und Abhängigkeit gehören zu seinem Wesen. Die Bestimmtheit des Gefühls als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit des Einzelnen mitsamt der ganzen Welt ist nach Schleiermacher das Gottesbewusstsein. Dieses macht eben die spezifische Bestimmtheit der frommen Seele aus. Mit seiner subjektivitätstheoretischen Bestimmung des Wesens von Frömmigkeit hat Schleiermacher einen Weg gefunden, unter Aufnahme zeitgenössischer philosophisch-anthropologischer Grundgedanken der Passivitäts- und Kontingenzerfahrung des Subjekts einen Ort im Selbstbewusstsein zuzuweisen, um von dort aus „die Abhängigkeitsdimension von Subjektivität als Basis religiöser Erfahrung zu exponieren“⁵. Gleichzeitig hat er damit die Anlage zur Frömmigkeit als tief im Wesen des Menschen verankert bestimmt. Gerhard Ebeling zufolge gibt Schleiermacher in den ersten Paragraphen der Glau-
Gerhard Ebeling: Dogmatik des christlichen Glaubens Bd. I: Der Glaube an Gott den Schöpfer der Welt, Tübingen 1979, 353 – 355. Friedrich Schleiermacher: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der Evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1830/31), Bd. I, hg. von Martin Redeker, Berlin 71960, 42. Ebd., 42 f. Vgl. Ulrich Barth: Bewusstsein schlechthinniger Abhängigkeit. Anmerkungen zu Konrad Cramers Schleiermacher-Interpretation, in: Subjekt und Metaphysik. Konrad Cramer zu Ehren aus Anlaß seines 65. Geburtstags, hg. von Jürgen Stolzenberg, Göttingen 2001, 41– 59, 45.
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benslehre Auskunft über sein Wirklichkeitsverständnis.⁶ Er deutet sie als Beschreibungen, die von der gegebenen Wirklichkeit theoretisch abstrahieren. Sie beziehen sich auf das Sein des Menschen als Subjekt religiöser Erfahrung inmitten seines Seins in der Welt und seines Seins mit der Welt vor Gott.⁷ Damit haben Schleiermachers subjektivitätstheoretische Überlegungen für Ebeling den Status einer „ontologischen Analyse der Lebensformen“.⁸ Schleiermachers Begriff des unmittelbaren Selbstbewusstseins als das Theorem, das seinem Wissenschaftssystem zugrunde liegt, findet bei Ebeling keine nähere Interpretation. Zum einen, weil er den „Erkenntnis- und Vollständigkeitsoptimismus idealistischen Systemdenkens“ für überholt hält.⁹ Zum anderen, weil ihm das unmittelbare Selbstbewusstsein als Theorem, das für Begründungszwecke erfunden wurde, zu abstrakt erscheint, um den lebendigen Vorgang der Frömmigkeit angemessen zu beschreiben.¹⁰ Dies hat zur Folge, dass Ebeling Schleiermachers Aussagen ihrem methodischen Status nach ontologisch und nicht subjektivitätstheoretisch versteht. So kann er dem Externbezug des Subjekts, d. h. dem menschlichen Dasein in seiner Beziehung zur Welt im Sinne der Mitwelt¹¹ eine größere Bedeutung zusprechen und das ‚Innen‘ und ‚Außen‘ des Subjekts gleichzeitig in den Blick nehmen. Methodisch geht Ebeling dabei so vor, dass er einzelne Denkfiguren Schleiermachers aufnimmt, die er unabhängig von ihrem systematischen Zusammenhang interpretiert.¹² Er identifiziert drei grundlegende Lebensformen, die das Sein des Menschen nach Schleiermacher konstituieren: (1.) Der Wechsel von Insichbleiben und Aussichheraustreten, (2.) Empfänglichkeit und Selbsttätigkeit sowie (3.) die drei vermögenspsychologischen Funktionen Gefühl, Wissen und Tun. Das Gefühl markiert die Innenseite des Subjekts. Durch sein Wissen und Tun tritt es aus sich heraus. Diese Korrelate weisen die Gemeinsamkeit auf, dass sie auf der Unterscheidung von Instanzen beruhen, die wiederum aufeinander bezogen sind: Subjekt und Objekt, Innen und Gerhard Ebeling, Beobachtungen zu Schleiermachers Wirklichkeitsverständnis, in: Ders.: Wort und Glaube Bd. 3, Beiträge zur Fundamentaltheologie, Soteriologie und Ekklesiologie, Tübingen 1975, 96 – 115. Vgl. Ebeling, Schleiermachers Wirklichkeitsverständnis, 106. Gerhard Ebeling, Schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl als Gottesbewußtsein, in: Ders.: Wort und Glaube Bd. 3, Beiträge zur Fundamentaltheologie, Soteriologie und Ekklesiologie, Tübingen 1975, 116 – 136; 117. (Hervorhebung J.H.). Gerhard Ebeling, Der Aussagezusammenhang des Glaubens an Jesus, in: Ders.: Wort und Glaube Bd. 3, Beiträge zur Fundamentaltheologie, Soteriologie und Ekklesiologie,Tübingen 1975, 146 – 269; 247. „Ein Denken, das wie dasjenige Schleiermachers so stark am Phänomen des Lebens orientiert ist, darf nicht dabei stehenbleiben, abstrahierend bestimmte ‚Formen‘ […] herauszupräparieren. Das abstrahierende Verfahren des Trennens ist zwar notwendig. Dennoch muß das Denken auf die Konkretion […] im wirklichen Lebensmoment abzielen, also darauf, wie das zu Unterscheidende miteinander da ist und ineinandergreift.“ (Ebeling, Schleiermachers Wirklichkeitsverständnis, 106). Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 91960, 125. Zur „kritisch-selektiven“ Interpretationsmethode Ebelings vgl. Ulrich Barth, Christentum und Selbstbewusstsein.Versuch einer rationalen Rekonstruktion des systematischen Zusammenhangs von Schleiermachers subjektivitätstheoretischer Deutung der Religion, Göttingen 1983, 27– 40.
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Außen, Ich und Welt, Welt und Gott. Das Wirklichkeitsverständnis, das Schleiermachers theologischem Denken zugrunde liegt – dies ist die grundlegende Erkenntnis Ebelings –, ist relational bestimmt. Relationalität identifiziert er als zentrales ontologisches Merkmal, das bei Schleiermacher „schon seit der Frühgestalt seines Denkens“¹³ greifbar ist: In den Reden über die Religion sind es „die beiden Urkräfte der Natur, das durstige Ansichziehen und das rege und lebendige Selbst verbreiten“, die als „entgegengesetzte[] Triebe“ die „menschliche Seele“ formen¹⁴ und zeigen, dass das menschliche Dasein dadurch konstituiert ist, dass es auf außerhalb seiner selbst Gegebenes trifft, das wiederum seine Identität mitbestimmt. In der Tat erfolgt ja Schleiermachers Bestimmung des frommen Selbstbewusstseins auch in der Glaubenslehre über die konstitutiven Gegenmomente: Sichselbstsetzen – Sichselbstnichtsogesetzthaben; Sein – Irgendwiegewordensein; Freiheit – Abhängigkeit; Spontaneität und Rezeptivität. All diese Korrelate bestimmen das Sein des Subjekts in der Welt. Selbstbewusstsein und Weltbewusstsein, das gesamte Fühlen, Denken und Handeln ist dadurch konstituiert, dass es auf Anderes, Vorgegebenes trifft und mit diesem Äußeren in Beziehung steht. Das gesamte Dasein ist unhintergehbar relational verfasst. Die Gleichzeitigkeit von Selbstbewusstsein, Gottesbewusstsein und Weltbewusstsein sind Ebeling zufolge bei Schleiermacher die drei konstitutiven Elemente des Wirklichkeitsverständnisses der frommen Seele. (1.) Seit Ende der 60er Jahre steht hinter Ebelings theologischem Denken die gedankliche Bemühung um eine relationale Ontologie, die einen Gegenentwurf zu der das neuzeitliche Wirklichkeitsverständnis dominierenden Substanzontologie bieten soll. Ebeling sieht das Wirklichkeitsverständnis der ‚modernen Seele’ bestimmt durch das „neuzeitlich[] wissenschaftliche Denken“ und das „Wirklichkeitsverständnis der objektivierenden ratio“.¹⁵ Dieses lässt jedoch eine theologisch anknüpfungsfähige Dimension vermissen, die Schleiermacher seines Erachtens sinnvoll zum Ausdruck gebracht hat. In seiner Beschreibung der wechselseitigen Bedingung von Selbst- und Weltbewusstsein hat Schleiermacher Ebeling zufolge eine Dynamik vor Augen, die das „Sein in Beziehung auf anderes, […] das in Bewegung begriffene Sein“¹⁶ bestimmt. Während es substanzontologisch selbstverständlich erscheint, „daß man primär ein Einzelner ist, zu dem dann verschiedene Relationen hinzukommen, die mit anderem verbinden“, geht es Schleiermacher um das Geschehen, „daß einer zum Einzelnen wird, nicht durch Absehen von seinen Bezügen, sondern gerade durch einen bestimmten Bezug zum andern.“¹⁷ Die ‚Ontologie der Relation‘ erscheint Ebeling deshalb attraktiv, weil hier die Aufmerksamkeit nicht auf der reinen Innerlichkeit des Subjekts allein, sondern auf seinen Externrelationen liegt,¹⁸ und sie somit Raum für den
Ebeling, Schleiermachers Wirklichkeitsverständnis, 97. Ebd. Ebeling, Dogmatik I, 348. Ebeling, Schleiermachers Wirklichkeitsverständnis, 99. Ebeling, Dogmatik I, 350. Vgl. Ebeling, Dogmatik I, 350.
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Glauben und den Gottesgedanken im Selbstverständnis des modernen Menschen bietet. Wenn das Menschsein „nicht substanzhaft als eine species“, sondern konsequent „relational als ein Geflecht von Beziehungen“ verstanden wird, „die auf ein Ich hin zentriert sind“¹⁹, kann genau hier der Glaube und die Gottesbeziehung plausibel verortet werden. Die beiden Elemente Selbststand und Interpersonalität, die die Spannung des Personbegriffs ausmachen, werden bei Ebeling so verstanden, dass der Aspekt des Selbststands eigentlich fehlt bzw. in der Gottesbeziehung aufgehoben ist.²⁰ Ein so verstanden relationales Personverständnis bietet Ebeling zufolge erst entscheidende Impulse für das Verständnis des individuellen und freiheitlichen Lebensvollzugs des Daseins, indem hier das in der Gottesbeziehung gegründete Subjekt zu seinen endlichen Bezügen ins rechte Verhältnis gesetzt wird.²¹ Die Gottesbeziehung kann dann so verstanden werden, dass der Mensch nur vor Gott „aufs äußerste zum Einzelnen“²² wird. Hier ist für Ebeling einerseits seine Individualität gegründet, andererseits ist er als Einzelner „in stärkster Weise auf seine Mitmenschlichkeit und Weltverantwortung“ angesprochen²³ und so zu freier Selbsttätigkeit in ethischer Verantwortung herausgefordert. (2.) Es verwundert nicht, dass Ebeling den Fokus auf die Relationalität legt und besonders den Übergang des Subjekts vom Inneren zum Äußeren reflektiert, wenn man im Hintergrund seinen hermeneutisch-theologischen Ansatz mitbedenkt. Schleiermachers Bestimmung des „Leben[s] […] als […] Wechsel von Insichbleiben und Aussichheraustreten des Subjekts“²⁴ wird von Ebeling aufgenommen als die „Dialektik der Lebensbewegung“²⁵. Die Korrelate Insichbleiben und Aussichheraustreten weisen auf die Sprache als Medium des Übergangs zwischen innen und außen hin: Des Übergangs zwischen der im vorreflexiven, unmittelbaren Selbstbewusstsein verorteten Gottesbeziehung und ihrem äußeren ‚Sichtbarwerden‘ durch die menschliche Sprache, auf deren Anregungen wiederum die Affektion des frommen Selbstbewusstseins anderer Individuen angewiesen ist.
Ebeling, Dogmatik I, 195. Vgl. Herbert Schlögel,Wie weit trägt Einheit? Ethische Begriffe im evangelisch-katholischen Dialog, Münster 2004, 75. Schleiermachers Begriff der schlechthinnigen Abhängigkeit bringt Ebeling zufolge das Problem mit sich, dass er dem zu widersprechen scheint, was „heute en vogue“ ist: „daß einem seine Freiheit bedrückend und erschreckend werden kann, scheint heute […] noch eher auf Verständnis zu stoßen als der Gedanke, daß Abhängigkeit etwas Erhebendes sein kann.“ (Ebeling, Schleiermachers Wirklichkeitsverständnis, 111.) Erhebend ist das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit eben deshalb, weil es eine „Bejahung der Freiheit des Menschen“ impliziert, jedoch auf die Weise, dass sie „endliche[] […], partielle[], nicht schlechthinnige[] Freiheit“ ist, und so „die Freiheit als menschliche Freiheit bestimmt wird. (Ebd., 115). Gerhard Ebeling, Einführung in die theologische Sprachlehre, Tübingen 1971, 57. Ebd. Schleiermacher, Der christliche Glaube, 18. Ebeling, Schleiermachers Wirklichkeitsverständnis, 97. Ebeling, Schleiermachers Wirklichkeitsverständnis, 99.
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2. Sein coram Deo: Gewissen statt Gefühl als anthropologischer Ort der Gottesbeziehung Für Ebeling ist das ausschließlich relational gekennzeichnete Personverständnis im Gewissen zentriert. Schleiermachers Gefühlsbegriff erhält in seiner Interpretation eine ganz ähnliche Bedeutung. Der Fokus liegt auf dessen Externbezug.²⁶ Schließlich beschreibt Schleiermacher das Gefühl im Ersten Sendschreiben an Friedrich Lücke als unmittelbares Existenzialverhältnis.²⁷ Ein Verhältnis verweist auf ein externes Gegenüber. Das Gefühl ist zwar im Subjekt lokalisiert, jedoch als dessen innere Bewegung. Es wird von außen angeregt, ist eine Weise der Empfänglichkeit und fällt unter das passive Genus.²⁸ Zudem tritt es nach außen hin in Erscheinung. Ebeling schreibt ihm eine fundamentalanthropologische Bedeutung zu, insofern Schleiermacher mit der „psychologischen Ortung des Glaubens […] im Gefühl“ den Glauben als „Grundausrichtung des Lebens“ exponieren will.²⁹ In der Einheit der vermögenspsychologischen Funktionen als dem Wesen des Subjekts fällt dem Gefühl die Funktion zu, die Einheit zu stiften und zwischen Wissen und Tun zu vermitteln. Im Gefühl – so Ebeling – ist deshalb „die Person in ihrer Ganzheit getroffen und präsent“.³⁰ Es ist Quellort der Frömmigkeit und ihres Einflusses auf das Lebensganze³¹, ihrer „Durchdringung des ganzen zeitlichen Lebens“³². In der Verhältnisbestimmung der vermögenspsychologischen Funktionen findet Ebeling bei Schleiermacher ein subjektivitätstheoretisches
Für Schleiermacher gilt die Priorität der Empfänglichkeit: „Wie wir uns aber immer nur im Zusammensein mit anderm finden: so ist auch in jedem für sich hervortretenden Selbstbewußtsein das Element der irgendwie getroffenen Empfänglichkeit das erste“ (Schleiermacher, Der christliche Glaube, 24 f.). Die „konstitutiven Elemente des Schleiermacherschen Gefühlsbegriffs [sind]: die Relation der Externität, die Unmittelbarkeit des Selbstbewußtseins, das Genus der Empfänglichkeit sowie die fundamentale Bedeutung für alle konkreten Lebensmomente.“ (Ebeling, Schleiermachers Wirklichkeitsverständnis, 109 f.). Ebeling, Schleiermachers Wirklichkeitsverständnis, 105. Vgl. Ebeling, Schleiermachers Wirklichkeitsverständnis, 100. Ebeling erscheint es geradezu paradox, dass bei Schleiermacher „[i]n dem Maße, wie der Akzent auf die Bewegungsform des Insichbleibens, d. h. auf das Bewegtwerden des Subjekts […] fällt, […] das Externe relevant wird“. (Ebeling, Schleiermachers Wirklichkeitsverständnis, 101). Ebeling, Dogmatik I, 107. („Wenn Schleiermacher das Problem der psychologischen Ortung des Glaubens neu aufgriff und ihm seinen Platz nicht im Wissen oder im Tun anwies und damit weder in der Metaphysik noch in der Moral, sondern im Gefühl als dem spezifisch Religiösen, so ist dies immer wieder dahin mißverstanden worden, als verschiebe sich nur die Ortung in eine andere Seelenpotenz. Schleiermacher ging es im Gegenteil darum, dem Glauben in einer Weise seinen Sitz im Leben zu bestimmen, daß es dabei um die Grundausrichtung des Lebens selbst geht, um das, was für das Leben einschließlich auch des Wissens und des Tuns konstitutiv ist.“) Ebeling, Schleiermachers Wirklichkeitsverständnis, 105. Vgl. Ebeling: Schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl, 123. Ebeling, Schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl, 131.
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Modell als Anknüpfungspunkt für die ethischen Implikationen des Glaubens.³³ Diese ergeben sich jedoch erst zweitrangig als Folge der existenziellen Bedeutung des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls. Hier wird die Nähe zu Ebelings Gewissensbegriff deutlich.³⁴ Das Gewissen ist für Ebeling der anthropologische Ort des Zusammenseins von Mensch, Gott und Welt als „Gewissensphänomenen“, deren Begegnungsweise „allein die des Wortes“ ist.³⁵ Die charakteristischen Merkmale seines Gewissensbegriffs sind 1. „die Ausrichtung auf das Personsein“; 2. dass sich im Gewissen „das ganze Leben versammelt, nicht etwa der gegenwärtige Moment isoliert wird“; 3. „daß ihm der Externbezug eigen ist, das Angesprochensein, das Gehörsein, das einer Urteilsinstanz ausgesetzt sein.“³⁶ Dabei versteht er das Gewissen ausdrücklich nicht moralisch.Was im Gewissen unter dem Urteil steht, sind nicht einzelne fromme oder nicht-fromme Handlungen, sondern das Dasein der frommen Seele als Ganzes. Die existenzielle Bedeutung des Gottesbewusstseins zeigt sich darin, dass das Personsein und der Lebensgang des Einzelnen im Gewissen zentriert vor Gott steht. In gleicher Weise deutet Ebeling Schleiermachers Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit. Er ist der Ansicht, dass der Gefühlsbegriff – wie sich rezeptionsgeschichtlich gezeigt hat – stets die Möglichkeit des subjektivistischen Missverständnisses birgt. Deshalb bevorzugt er das Gewissen als terminologische Alternative, die „unzweideutig zum Ausdruck“³⁷ zu bringen vermag, was seiner Ansicht nach auch für Schleiermacher zentral ist: Dass der Fokus nicht auf einer in sich abgeschlossenen Innenwelt des frommen Individuums neben der Außenwelt liegt, sondern auf der Relation zwischen Innen und Außen. Auch das Gefühl wird relational verstanden als anthropologischer Ort, an dem Gottesbeziehung, Selbstsein und Interpersonalität zentriert sind. Der Externbezug des Gefühls erhält dabei eine Überbetonung. Ebeling bezieht sich hier
Ebeling betont die ethische Ausrichtung der Theologie Schleiermachers und die explizit nur unter methodischen Gesichtspunkten durchgeführte Trennung von Dogmatik und Ethik, vgl. Gerhard Ebeling, Die Evidenz des Ethischen und die Theologie, in: Ders.: Wort und Glaube Bd. 2: Beiträge zur Fundamentaltheologie und zur Lehre von Gott, Tübingen 1969, 1– 41; 2. Der Gewissensbegriff avanciert Ende der 50er Jahre (Vgl. dazu Albrecht Beutel, Gerhard Ebeling. Eine Biographie, Tübingen 2012, 277– 280) zum „fundamentalanthropologischen Grundprinzip der Theologie“ Ebelings, das zum „maßgebliche[n] Bezugspunkt für alle fundamentaltheologischen, materialdogmatischen und ethischen Reflexionen wird.“ (Oliver Pilnei, Wie entsteht christlicher Glaube?, Tübingen 2007, 239). Indem ihm die Funktion des gleichermaßen anthropologischen wie systematischen Zentralpunkts zukommt, „auf den alle theologischen Aussagen ausgerichtet und an dem sie als Geschehen erfahrbar sind“ (Gerhard Ebeling, Das Gewissen in Luthers Verständnis, in: Ders.: Lutherstudien Bd. 3: Begriffsuntersuchungen – Textinterpretationen – Wirkungsgeschichtliches, Tübingen 1985,108 – 125; 109), erhält der Gewissensbegriff eine Bedeutung, die derjenigen Bedeutung des unmittelbaren Selbstbewusstseins bei Schleiermacher gleichkommt – bei allen Differenzen, die sich hinsichtlich des sachlichen Gehalts sowie der Konsequenz der Durchführung bemerkbar machen. (Vgl. Oliver Pilnei, Wie entsteht christlicher Glaube?, Tübingen 2007, 239). Gerhard Ebeling, Theologische Erwägungen über das Gewissen, in: Ders.: Wort und Glaube Bd. 1, Tübingen 1960, 429 – 446; 434. Ebeling, Dogmatik I, 107. Ebd.
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sowohl auf die Welt als Repräsentant des Externen als auch auf Gott, zu dem das Subjekt mitsamt der ganzen Welt in der Relation schlechthinniger Abhängigkeit steht. Schleiermacher schreibt Gott – im Gegensatz zu Ebeling – nicht die Bedeutung einer Urteilsinstanz zu, dem das Subjekt im Modus des ‚Gehörseins‘ und ‚Angesprochenseins‘ gegenübersteht. Ein so verstanden personaler Gottesbegriff liegt ihm fern, da seine subjektivitätstheoretische Bestimmung des Gottesbewusstseins gerade darauf zielt, dass Gott nicht objektivierbar ist. Für Ebeling jedoch bedeutet seine Aussage, das Woher sei im Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit ‚mitgesetzt‘³⁸, dass Gott „in unserm Selbstbewußtsein präsent“ ist und „[w]ie von unserm Sein als Zusammensein mit der Welt […], so auch von unserm Sein als einem Zusammensein mit Gott“³⁹ die Rede sein muss. Das Wort Gott ist dabei „der unabdingbar notwendige Ausdruck, durch den das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl sich ausspricht und so das darin mitgesetzte Woher des Daseins anspricht.“⁴⁰ Mit dieser Eintragung des Anredecharakters in Schleiermachers Bestimmung des Gottesbewusstseins drängt sich der Eindruck auf, dass die in Ebelings Theologie zentrale Kategorie des Gebets als Ausdrucksform des frommen Selbstbewusstseins auch für Schleiermacher eine zentrale Rolle spielt. Ebeling stützt sich hier auf Schleiermachers Aussage, dass „das unmittelbare innere Aussprechen des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls das Gottesbewußtsein ist, und jenes Gefühl, jedesmal wenn es zu einer gewissen Klarheit gelangt, von einem solchen Aussprechen begleitet wird“⁴¹. Schleiermachers Hinweis auf die Entwicklung der Sprachfähigkeit⁴² und des rationalen Bewusstseins dient jedoch vor allem der Begründung der Unterscheidung von individueller Religiosität und wissenschaftlichtheologischer Reflexion. Dies hat auch Ebeling gesehen und an anderer Stelle aufgenommen. In Bezug auf das Verständnis der frommen Seele deutet er es jedoch zugunsten seines eigenen Sprachverständnisses um. So verstanden bedeutet es, dass erst wenn das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit im Reden von Gott zur Sprache kommt, es zu etwas Wirklichem, real Existierenden wird. ⁴³ Das Reden von Gott ist für Ebeling nicht nur wie für Schleiermacher die Ebene begrifflich vermittelter Reflexion, die die Ebene der Unmittelbarkeit symbolisiert. Es ist gleichzeitig Reden zu Gott und in dieser Form der Ort eines Geschehens: Nämlich 1. der Verifikation Gottes; 2. der Verifikation der Existenz des Frommen; 3. der Verifikation der Wirklichkeit. Wenn die fromme Seele im Gewissen ihre Existenz als Existenz coram Deo versteht, handelt es Schleiermacher, Der christliche Glaube, 171. Ebeling, Schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl, 121. Ebd. Schleiermacher, Der christliche Glaube, 40. Der tierisch-verworrenen Gestaltung des Bewusstseins „nähert sich offenbar das Bewußtsein der Kinder, vornehmlich ehe sie sich der Sprache bemächtigen. Von da an verschwindet dieser Zustand immer mehr“ (Schleiermacher, Der christliche Glaube, 31). „Das Unterscheiden tritt beachtlicherweise zusammen mit dem Erlernen der Sprache ein, und zwar auf derjenigen Bewußtseinsstufe, die Schleiermacher das sinnliche Selbstbewußtsein nennt.“ (Ebeling, Schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl, 127). Ebeling, Schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl, 121.
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sich nicht nur um religiöse Selbstreflexion. Sondern nur so kommt Ebeling zufolge das Sein des Menschen in wahrer, unverstellter Form zu seinem Recht.⁴⁴ Das Urteil, dem sich die fromme Seele im Gewissen ausgesetzt sieht, ist deshalb kein moralisches, sondern ein existenzielles Urteil, das das Subjekt im Lebensvollzug erfährt. Hier wird über Sein oder Nichtsein, erfülltes oder unerfülltes Leben entschieden. Das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit versteht Schleiermacher schließlich als eine Grundbestimmung des Menschen, deshalb lässt für Ebeling das „Erwecktwerden […] den Menschen erst wahrhaft Mensch werden.“⁴⁵ Auch die Welt erscheint erst so als qualifizierte Wirklichkeit. Das „sinnliche Selbstbewußtsein“ ist ohne seine Vervollkommnung durch die Beziehung auf das höchste Selbstbewusstsein „für sich allein zwar wirklich, aber gottvergessen“ und wird so „der Wirklichkeit als einer schlechthin abhängigen nicht gerecht.“⁴⁶
3. Das Sein coram mundo als Bedingung des religiösen Selbstbewusstseins 3.1 Das Sein coram mundo in hermeneutisch-theologischer Deutung Obwohl bei Schleiermacher das Gebet nicht in der Weise thematisiert wird,wie Ebeling suggeriert, nimmt er mit den Beobachtungen zur Sprachwerdung der Frömmigkeit einen Schleiermacher durchaus selbst geläufigen Problemkontext auf.⁴⁷ Die Sprache ist, so Ebeling, nicht nur das Medium, in dem die Gottesbeziehung sich vollzieht, sondern ebenfalls die Bedingung des Übergangs zwischen dem Inneren des frommen Subjekts und der Welt als seiner äußeren Bedingung. Der Sprachbezug sichert in Ebelings Verständnis auch bei Schleiermacher die Rückbindung der Religiosität an die Traditionsbestände in kritischer Gegenwartsverantwortung. Für die offensichtlich existenziell notwendige Vermittlung der ‚Vokabel Gott‘ ist der Einzelne auf die Gemeinschaft mit Anderen angewiesen, da das in jeder Seele verborgen vorhandene Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit zuerst „durch die mitteilende und erregende Kraft der Äußerung“⁴⁸ – für Ebeling die sprachliche Äußerung in Wort und Überlieferung – geweckt werden kann. Die Voraussetzung dafür ist natürlich, dass andere fromme Seelen einen Ausdruck für die Bestimmtheit ihres Selbstbewusstseins finden oder gefunden haben. Denn das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit hat seinen Ort Vgl. auch Ebeling, Dogmatik I, 403: „Das Stichwort imago Die verhilft zu einer umfassenden anthropologischen Besinnung darauf, daß und warum nicht vom Menschen allein die Rede sein kann, wenn in Wahrheit von ihm die Rede sein soll.“ Ebeling, Schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl, 122. Ebd. Vgl. dazu auch Ulrich Barth, Christentum und Selbstbewusstsein, 31. Schleiermacher, Der christliche Glaube, 43.
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ja auf der vorreflexiven, unmittelbaren Ebene der Innerlichkeit des Subjekts und muss erst, um nach außen hin wahrnehmbar zu werden, vermittelt werden. Wie Schleiermacher diesen Vorgang begreift, erfährt man im Kontext von § 6 der Einleitung, in dem er die anthropologischen Voraussetzungen für die Kirche als Sozialgestalt beschreibt. Aufgrund des „jedem Menschen innewohnende[n] Gattungsbewußtsein[s]“ ist der Einzelne dazu befähigt, „aus den Schranken der eigenen Persönlichkeit“ hinauszutreten und die „Tatsachen anderer Persönlichkeiten in die eigene“ aufzunehmen.⁴⁹ Dies funktioniert, weil „alles Innere auch auf irgendeinem Punkt der Stärke oder Reife ein Äußeres wird, und als solches andern wahrnehmbar.“⁵⁰ Auch das Gefühl will – unabhängig davon, dass es „in Gedanken oder Tat übergeht“ – „nicht ausschließlich für sich sein, sondern wird ursprünglich und auch ohne bestimmte Absicht und Beziehung ein Äußeres durch Gesichtsausdruck, Gebärde, Ton, und mittelbar durch das Wort, und so anderen eine Offenbarung des Inneren.“⁵¹ In Bezug auf die fromme Seele schreibt Ebeling der Welt als dem einen Repräsentanten des Externen deshalb die Bedeutung einer notwendigen Bedingung für die Frömmigkeit des Einzelnen zu. Denn die Welt ist der Ort, an dem die Affektion des Gottesbewusstseins durch Verkündigung erfolgt. ‚Die Welt‘ ist für Ebeling der Inbegriff des Wirklichkeits- und Geschichtsbezugs des Glaubens.
3.2 Das Sein coram mundo in existenzialtheologischer und ethischer Deutung Darüber hinaus weist die Welt auch phänomenologisch auf die Relationalität des menschlichen Seins und damit auf die Existenz des Menschen als ‚coram-Relation‘⁵² hin. Das von Schleiermacher beschriebene Weltbewusstsein erhält in der Interpretation Ebelings die eigentümliche Deutung, dass das Subjekt „nicht einfach von sich aus das Außen setzt, vielmehr in ein gegebenes Äußeres hinaustritt. Die Leiblichkeit des Subjekts […] demonstriert […], daß die Bedingung der Möglichkeit des Aussichheraustretens“ sein „Schon-draußen-Sein ist“ als eine „vorgegebene und aufgegebene Bedingtheit seines Lebens. Das Draußen kommt also zum Subjekt nicht als etwas Zusätzliches hinzu, in das hinauszutreten ihm freistünde. Vielmehr ist das Subjekt innen und außen zugleich.“ Gleichwohl „muß trotz seines immer-schon-draußen-Seins ein ausdrückliches Aussichheraustreten bedacht werden als Gegenbewegung zu dem, was Schleiermacher […] das Insichbleiben nennt.“⁵³
Schleiermacher, Der christliche Glaube, 42. Ebd. Ebd. Ebeling, Dogmatik I, 346 f. Ebeling, Schleiermachers Wirklichkeitsverständnis, 99 f.
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Dem kann im Blick auf Schleiermacher nur unter Vorbehalt zugestimmt werden, insofern der von Ebeling interpretierte Text der Einleitung der Glaubenslehre für den Hinweis auf die Leiblichkeit gar keinen Anhalt bietet. Für Ebeling jedoch ist das Heraustreten an die Leiblichkeit gebunden und diese genau wie die Sprache Kennzeichen dafür, dass das Sein relational verfasst und die Externrelationen für die menschliche Existenz konstitutiv sind. Diese Interpretationsrichtung lässt sich nur in dem Bewusstsein der kritisch-selektiven Interpretationsmethode Ebelings richtig einordnen und mit einem Blick über den Schleiermachertext hinaus in Ebelings dogmatische Ausführungen deuten. Dafür, dass das Weltbewusstsein konstitutiv für das Gottesbewusstsein ist, indem die Welt phänomenologisch auf die Existenz als coram-Relation hinweist, steht bei Ebeling das Phänomen Gesicht exemplarisch: In den Gesichtszügen sowie im Ausdruck der Augen kreuzen sich innen und außen. „Durch das Gesicht schaut der Mensch aus sich heraus, läßt er erkennen, was in ihm vorgeht. […] Durch das Gesicht nimmt der Mensch aber auch das von außen Kommende wahr. Ist es der Blick eines anderen, so kann er mich im Innersten treffen […] Wenn man einander von Angesicht zu Angesicht sieht, so ist man Sehender und Gesehener in einem. […] Für das Sein des Menschen ist konstitutiv, daß er ein Gegenüber hat und ein Gegenüber braucht, von dem her er überhaupt erst der wird, der er ist. Der Spiegel kann das nicht ersetzen. […] Man muß es auf das Widerfahrnis ankommen lassen, was der andere von einem hält.“⁵⁴
Diese Reflexion dient Ebeling einerseits zur Beschreibung des Sein coram mundo. Zugleich impliziert sie, dass das endliche Sein über sich hinaus auf das Sein coram Deo verweist. Schleiermachers Betonung der Beziehung des höchsten Selbstbewusstsein auf das sinnliche Selbstbewusstsein versteht Ebeling in dem Sinne, dass jede elementare Wirklichkeitserfahrung, die immer relational bestimmt ist, zwei grundlegende religiöse Anknüpfungsmerkmale aufweist: Einmal die Erfahrung, dass das Gegenüber das eigene Sein mitbestimmt und jede Situation prinzipiell eine Situation des Rechenschaft-ablegens ist. Sodann, dass jede elementare Wirklichkeitserfahrung die Affektion des Gottesbewusstseins mitbestimmen kann, indem die „Begegnung mit Seiendem […] nach Zusammenhang mit anderem fragen“ lässt, da die Grunderfahrung des Zusammenseins mit anderem immer den Charakter einer „Aufforderung“ hat, „dem Seienden nachzugehen auf das ihm Fehlende hin.“⁵⁵ Die relationale Existenz und die Sprache als Voraussetzung der Differenzierung von Ich und Welt sowie als Voraussetzung für den Übergang von innen und außen sind für Ebeling Grund genug, die Existenz der frommen Seele als „Sprachlichsein“ und damit als „Verantwortlichsein“ zu kennzeichnen.⁵⁶ Seine Definition des Menschen als „‚zoon logon echon‘“⁵⁷
Ebeling, Dogmatik I, 350 f. Gerhard Ebeling, Existenz zwischen Gott und Gott. Ein Beitrag zur Frage nach der Existenz Gottes, in: Ders.: Wort und Glaube Bd. 2: Beiträge zur Fundamentaltheologie und zur Lehre von Gott, Tübingen 1969, 257– 286; 270. Ebeling, Dogmatik I, 352. Ebeling, Dogmatik I, 104.
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verweist darauf, dass dieser an ein Gegenüber gewiesen und zur Rechenschaft genötigt ist und deshalb wiederum auf das Wort angewiesen ist, „durch das sein Leben zur Wahrheit kommt.“⁵⁸ Darin deutet sich eine existenzphilosophisch inspirierte Deutung von Schleiermachers Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit an: Ebeling versteht schlechthin-abhängig-Sein und Sprachlich-Sein im Sinne der ‚Geworfenheit‘ des menschlichen Daseins als schlechthin abhängiges In-der-Welt-Sein.⁵⁹ Allein durch seine Existenz „erwächst dem Menschen die Notwendigkeit, anstatt sein Leben einfach zu leben, es zu gestalten und so sich allererst zu verwirklichen. Er kann wählen. Deshalb muß er aber auch wählen. […] Obwohl er nun aber wählen kann und muß, darf er doch nicht beliebig wählen.“⁶⁰ Die Sprache ermöglicht es ihm, „alles zum Gegenstand zu machen und ins Gespräch zu bringen.“⁶¹ Dieses schöpferische Potenzial ist wiederum der Polarität von partieller Freiheit und partieller Abhängigkeit ausgesetzt. Schleiermachers Verhältnisbestimmung und theologische Aufnahme dieser anthropologischen Grundkategorien gelten Ebeling als tragfähiges Instrument für die religiöse Deutung des menschlichen Potenzials sowohl zur alltäglichen Lebensgestaltung als auch zur naturwissenschaftlich-technischen Beherrschung der Welt. Die Freiheit der Selbstverwirklichung der frommen Seele wird bei Ebeling stets durch den Ruf zur Verantwortung im Umgang mit allem anderen endlichen Sein eingeschränkt, da jede Handlung im Bewusstsein der schlechthinnigen Abhängigkeit nicht nur des eigenen, sondern des gesamten Daseins geschieht. Das religiöse Selbstbewusstsein ist so vom ethischen Selbstbewusstsein nicht zu trennen. In der Polarität von Freiheit und Abhängigkeit der relationalen Existenz sieht Ebeling die Wurzel des Ethischen⁶² eng verknüpft mit der Identitäts- und Individualitätsfrage. In der Ver-wirklichung der eigenen Identität wird der Einzelne mit seinen Abhängigkeiten konfrontiert. Er ist auf Anderes angewiesen, muss seinen Aufgaben, seinen Mitmenschen und seinem eigenen Wesen zu entsprechen suchen, Anforderungen gerecht werden und „bedarf seinerseits […], daß man ihm gerecht wird, daß ihm das Glück widerfährt, Aufgaben zu finden, die seinen Möglichkeiten gemäß sind, Menschen, die ihm selbst entsprechen.“⁶³ Einem so verstandenen Wirklichkeitsverständnis als Sein coram Mundo und coram Seipso darf das coram Deo als entscheidendes Regulativ nicht fehlen. Die Erfahrungswirklichkeit, die jeden Menschen auf diese Weise angeht, kommt Ebeling zufolge im Wirklichkeitsverständnis der frommen Seele als Gesetz zur Erfahrung, in die das Evangelium befreiend hinein trifft. Im Bewusstsein der schlechthinnigen Abhängigkeit werden die Herausforderungen innerhalb der Erfahrungswirklichkeit
Ebd. Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 91960, 135. Gerhard Ebeling, Studium der Theologie. Eine enzyklopädische Orientierung, Tübingen 1975, 147. Vgl. Gerhard Ebeling, Studium der Theologie, 147. Ebd. Vgl. Ebeling, Studium der Theologie, 148. Ebeling, Dogmatik I, 190.
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überboten und das Subjekt auf die Weise entlastet, dass seine Freiheit als menschliche Freiheit bestimmt wird.⁶⁴
4. Schlussbetrachtung In der Art und Weise, wie Gerhard Ebeling Schleiermachers Bestimmung der frommen Seele in den einleitenden Paragraphen der Glaubenslehre aufnimmt und deutet, lässt sich eine eigentümliche Mischung von Nähe und Distanz zu den rezipierten Aussagen erkennen. Ebeling nimmt die einzelnen Denkfiguren (das Verhältnis von GefühlWissen-Handeln; Abhängigkeit und Freiheit; Insichbleiben und Aussichheraustreten; das Gott-Mensch-Welt-Verhältnis) auf, interpretiert sie dabei jedoch losgelöst aus ihrem systematischen Zusammenhang. Dies geschieht mit der Intention, die Gedanken Schleiermachers nicht in ihrer ursprünglichen Aussageabsicht zu rekonstruieren und werkimmanent zu erschließen, sondern sich von ihnen in gegenwartstheologischer Verantwortung inspirieren zu lassen.⁶⁵ Aus diesem Grund lassen sich in seiner Interpretation zahlreiche Einflüsse nachweisen, die für Ebelings eigene Theologie charakteristisch sind, wie die hermeneutisch-theologische Zugangsweise, existenzphilosophische Einflüsse sowie vor allem in der Beschreibung der coram-Struktur des menschlichen Daseins die Orientierung an der Theologie Martin Luthers. Die grundsätzliche und weitreichende Abweichung besteht dabei in der Umdeutung der Aussagen Schleiermachers hinsichtlich ihres methodischen Status: Weil Ebeling sie als ontologische Deutungen versteht, werden die Denkfiguren von ihrem Urheber entfernt, ohne diese Umdeutung explizit deutlich zu machen. Während Schleiermacher die grundlegende Unterscheidung von Insichbleiben und Aussichheraustreten ausführt, um im Rahmen einer Theorie des Subjekts das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit als Basis religiöser Erfahrung herzuleiten, wird sie bei Ebeling angereichert und ausgeweitet zu einer ontologischen Betrachtung, die das Sein des Menschen als Beziehungsgeschehen zwischen Gott, Mensch und Welt versteht. Im Gegensatz zu Schleiermachers ursprünglicher Aussage gewinnt das Welt-Phänomen bei Ebeling an Bedeutung.⁶⁶ Während bei Schleiermacher der Fokus auf der Innerlichkeit bleibt und einzig das aus dem individuell-religiösen Bewusstsein Ableitbare Gegenstand der Vgl. Ebeling, Schleiermachers Wirklichkeitsverständnis, 115. Im Umgang mit Schleiermacher, so Ebeling, „werden wir auf unsere eigene theologische Verantwortung angesprochen“ und das bedeutet, „seine Gedanken als anregende Mitteilung aufzunehmen, um sie nach eigener Weise zu gebrauchen.“ (Ebeling, Frömmigkeit und Bildung, in: Ders.: Wort und Glaube Bd. 3: Beiträge zur Fundamentaltheologie, Soteriologie und Ekklesiologie, Tübingen 1975, 60 – 95; 94 f.) Dies ist nur ein Aspekt, der die Nähe der Gedanken Ebelings zur Philosophie Martin Heidegger zu erkennen gibt.Vgl. zur Betonung des Welt-Phänomens in der bewussten Unterscheidung zu der SubjektObjekt-Spaltung der neuzeitlichen Bewusstseinsphilosophie bei Heidegger: Rainer Thurnher/Wofgang Röd/Heinrich Schmidinger, Die Philosophie des ausgehenden 19. und 20. Jahrhunderts 3; Lebensphilosophie und Existenzphilosophie [Geschichte der Philosophie XIII], München 2002, 219.
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Jana Huisgen
Theologie ist, offenbart Ebelings Interpretation des Gefühls als Gewissen den entscheidenden Unterschied zu Schleiermacher, indem der Externbezug der frommen Seele über Gebühr betont wird. Daraus folgt einerseits, dass Ebeling seine Theologie gleichzeitig anthropologisch und offenbarungstheologisch ausrichten kann. Andererseits folgt daraus die Betonung der wechselseitigen Bedingung des religiösen Selbst- und Weltbewusstseins und so die Hervorhebung der ethischen Dimension von Frömmigkeit. Grundlegend ist bei Ebeling damit die Intention verbunden, die Welt mit der religiösen Kategorie des Gesetzes zu deuten. Die Aufgabe des Theologen ist es, so Ebeling, die Lebenswirklichkeit mit in den Blick zu nehmen, um in diese hinein das Evangelium verkündigen zu können, das sich als Wortgeschehen, als das Einstellen einer existenziellen Gewissheit der frommen Seele als selbstevident erweist. Wie Schleiermacher geht es Ebeling zwar darum, eine Theologie zu begründen, deren Gegenstand die individuell-religiösen Bewusstseine, d. h. die Subjekte religiöser Erfahrung inmitten ihrer lebensweltlich-sozialen Kontexte sind. Gleichzeitig aber ist sie dabei von dem dogmatisch-normativen Anspruch geprägt, die Selbstgegebenheit des göttlichen Wortes zu repräsentieren, das als kategorial von der Welt Unterschiedenes in die Lebenswirklichkeit hineintrifft. So ist Ebeling mit seiner Bestimmung der frommen Seele nicht nur zeitlich gesehen weiter von Schleiermacher entfernt als von den Hauptansichten der Dialektischen Theologie, gegen die er sich mit seiner Hinwendung zu Schleiermacher ursprünglich wendet.
Sabine Schmidtke / Heidelberg
‚Lebendige Empfänglichkeit‘ als anthropologische Grundbedingung der Frömmigkeit¹ Einleitung Frömmigkeit findet nach den bekannten Ausführungen der Einleitung zur ‚Glaubenslehre‘ ihren ‚seelischen Ort‘ im Gefühl. Sie sei eine „Bestimmtheit des Gefühls“² – konkret seine Bestimmung als „das schlechthinige Abhängigkeitsgefühl, wie es sich als Gottesbewußtsein ausspricht“³. Als solches erscheint die Frömmigkeit als Ergebnis einer Einwirkung auf die Empfänglichkeit des Subjekts, als bestimmtes, unmittelbares Selbstbewusstsein. Wie aber muss man sich eine solche Empfänglichkeit vorstellen, damit als ihr Resultat eine ‚fromme Seele‘⁴ zustande kommen kann? Zur Klärung dieser Frage bietet sich die Analyse des Schleiermacherschen Gedankens der ‚lebendigen Empfänglichkeit‘ an.⁵ Denn ein Vergleich beider Auflagen der ‚Glaubenslehre‘ zeigt, dass diese Gedankenfigur in der ersten Auflage⁶ nicht,⁷ in der zweiten dann aber gehäuft und an neuralgischen Punkten der Darstellung, insbesondere in der Explikation des Gnadenbewusstseins, begegnet. Schleiermacher selbst scheint dieser Vorstellung ein hohes Erschließungspotential beizulegen; so steht die gesamte Entfaltung von Christologie und Soteriologie unter der einleitenden und grundlegenden Formel:
Überarbeitete Fassung des gleichnamigen Vortrags am 29.09. 2015 im Rahmen des Internationalen Schleiermacherkongresses (27. – 30.09. 2015) in Münster. F.D.E. Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage (1830/31), 2 Bde., hg.v. R. Schäfer, Berlin/New York 2008, § 3, 20 [im Folgenden: CG2]. CG² I, § 6.1, 53. ‚Seele‘ bezeichnet nach Schleiermacher die „Erscheinung des Geistes, Art und Weise desselben zu sein in der Verbindung mit dieser [leiblichen] Organisation“ (F.D.E. Schleiermacher, Psychologie. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen, hg.v. L. George, Friedrich Schleiermachers sämmtliche Werke III.6/4, Berlin 1862 [im Folgenden: Psych], Psych [1830], Nr. 8, 496). Ausführlich in: S. Schmidtke, Schleiermachers Lehre von Wiedergeburt und Heiligung. ‚Lebendige Empfänglichkeit‘ als soteriologische Schlüsselfigur der ‚Glaubenslehre‘, DoMo 11, Tübingen 2015. F.D.E. Schleiermacher, Der christliche Glaube (1821/22), 2 Bde., hg.v. H. Peiter, Berlin/New York 1984 [im Folgenden: CG1]. Genau genommen kommt der Ausdruck einmalig im zweiten Zusatz zu CG1 II, § 130 am Rande vor, wird dort zwar auch auf Soteriologie und Christologie bezogen, aber anscheinend noch nicht vollständig in seinem Wert für die Durchdringung der Thematik erkannt (vgl. CG1 II, § 130, Zusatz 2, 134). DOI 10.1515/9783110464573-023
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„Wir haben die Gemeinschaft mit Gott nur in einer solchen Lebensgemeinschaft mit dem Erlöser, worin seine schlechthin unsündliche Vollkommenheit und Seligkeit die freie aus sich herausgehende Thätigkeit darstellt, die Erlösungsbedürftigkeit des Begnadigten aber die freie in sich aufnehmende Empfänglichkeit.“⁸ Diese „freie in sich aufnehmende Empfänglichkeit“ präzisiert Schleiermacher in den Erläuterungen zu § 91: „Aller wirkliche Lebenszusammenhang mit Christo, bei welchem er irgend als Erlöser gesezt sein kann, hängt also daran, daß lebendige Empfänglichkeit für seine Einwirkung schon, und daß sie noch vorhanden sei.“⁹ Für die christliche Frömmigkeit hält Schleiermacher somit deutlich fest, dass ihre Entstehung nicht nur von der erlösenden Tätigkeit Christi, sondern gleichermaßen von der ‚lebendigen Empfänglichkeit‘ der zu Erlösenden abhängt. Dass diese ‚lebendige Empfänglichkeit‘ nach Schleiermacher aber nicht nur die menschliche Grundbedingung christlicher Frömmigkeit, sondern von Frömmigkeit überhaupt bildet, dass durch die Aufschlüsselung dieser Formulierung die Bedingungen der Entstehung und verschiedenen Ausprägung von Frömmigkeit erhellen, soll die folgende Analyse zeigen, die in drei Schritten erfolgt: Zunächst wird der Unterschied von Empfänglichkeit und Passivität (1.) skizziert. Daran schließt sich die Klärung der Frage an, welche Spezifizierung die Empfänglichkeit durch ihre Charakterisierung als ‚lebendig‘ (2.) erhält. Schließlich werden die unterschiedlichen Facetten der ‚lebendigen Empfänglichkeit‘ (3.) thematisiert.
1. „[…], so schließen wir nur jene gänzliche der menschlichen Natur durchaus nicht angemessene Passivität aus […]“¹⁰ Nicht nur im allgemeinen Verständnis, sondern gelegentlich auch in der Forschungsliteratur werden der Wechsel und Zusammenhang von Empfänglichkeit und Selbsttätigkeit, mit dem Schleiermacher den Lebensprozess des Subjekts kennzeichnet, explizit oder implizit als das Gegenüber von Passivität und Aktivität interpretiert.¹¹ Diese Identifikation der Empfänglichkeit mit Passivität verfehlt jedoch die eigentliche
CG² II, § 91, 35. CG2 II, § 91.1, 36 [Sperrung des Originals durch Kursivsetzung wiedergegeben]. CG2 II, § 108.6, 190. Vgl. z. B. E. Brunner, Die Mystik und das Wort. Der Gegensatz zwischen moderner Religionsauffassung und christlichem Glauben dargestellt an der Theologie Schleiermachers, Tübingen ²1928, 63 – 65; U. Glatz, Religion und Frömmigkeit bei Friedrich Schleiermacher. Theorie der Glaubenskonstitution, Forum Systematik 39, Stuttgart 2010, 360; oder sogar in der äußerst differenzierten Analyse des Lebensbegriffs bei G. Ebeling, Beobachtungen zu Schleiermachers Wirklichkeitsverständnis (1973), in: ders., Wort und Glaube, Bd. 3: Beiträge zur Fundamentaltheologie, Soteriologie und Ekklesiologie, Tübingen 1975, 96 – 115, 101.
‚Lebendige Empfänglichkeit‘ als anthropologische Grundbedingung der Frömmigkeit
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Pointe des Empfänglichkeitsbegriffs sowie des Zusammenhangs zwischen Empfänglichkeit und Selbsttätigkeit. Die Beleglage ist in dieser Hinsicht so eindeutig, dass die folgenden Ausführungen auf eine knappe Skizze beschränkt werden können. Eingeführt wird der Begriff der Empfänglichkeit in der ‚Glaubenslehre‘ im Kontext der ethischen Lehnsätze.¹² Er begegnet hier zur Erläuterung der Frömmigkeit als „Bestimmtheit des Gefühls oder unmittelbaren Selbstbewußtseins.“¹³ In diesem Zusammenhang greift Schleiermacher nicht nur auf ethische Gedankengänge, sondern auch auf „geliehenes aus der Seelenlehre“¹⁴ zurück. Deshalb werden im Folgenden für die Analyse des Empfänglichkeitsbegriffs und seiner Spezifizierung durch das Adjektiv ‚lebendig‘ auch Schleiermachers Darstellungen zur Psychologie¹⁵ zu berücksichtigen sein.¹⁶ Bei Schleiermacher steht der Begriff der Empfänglichkeit in enger Verbindung zu dem des Lebens¹⁷ bzw. konstituiert neben und mit der Selbsttätigkeit die Bewegung des Lebens.¹⁸ Neben den einschlägigen Aussagen der ‚Glaubenslehre‘¹⁹ beleuchtet vor
Vgl. CG2 I, §§ 3 – 6, 19 – 59. CG2 I, § 3, 20. CG² I, § 3.3, 24. Die Schleiermachersche Konzeption der Psychologie ist über Vorlesungsmanuskripte und -nachschriften zugänglich. Manuskripte zu den Vorlesungen von 1818, 1830 sowie 1833/34 finden sich als Beilagen A-C in der von George veröffentlichten Psychologienachschrift (vgl. F.D.E. Schleiermacher, Psych, 406 – 557). Aufgrund der zeitlichen Nähe zur zweiten Auflage der ‚Glaubenslehre‘ bietet es sich an, das Manuskript von 1830 (Psych [1830]) samt dessen Nachschrift (PsychNS [1830]) zur Erläuterung hinzuzuziehen, wobei v. a. die Einleitung (vgl. aaO., 1– 59) und der elementare Teil (vgl. aaO., 60 – 286) ertragreich sind. Die Methode, mit der Schleiermacher dort zu Erkenntnissen bezüglich der menschlichen Seele zu gelangen strebt, ist das ‚kritische‘, zwischen Empirie und Spekulation vermittelnde Verfahren. Schleiermacher gelangt zu der Feststellung der Angemessenheit dieser Methode, indem er zunächst die Möglichkeiten einer rein empirischen oder einer rein spekulativen Psychologie durchdenkt (vgl. Psych [1830], Nr. 5, 493 f.) und zu dem Schluss kommt, dass beide für sich einen Skeptizismus zur Konsequenz hätten: „Das empirische giebt den materiellen Skepticismus, ob das auch ist, was wir als seiend sezen, das a priori giebt den formellen, ob das auch wahr ist, was wir wissen“ (aaO., 494 [Hervorhebung des Originals durch Kursivsetzung wiedergegeben]). Die Folgerung, die er für das weitere Vorgehen zieht, ist eine Methode, die auf die gegenseitige Durchdringung zielt: „Daß heißt also, daß alle Annäherung zum Wissen nur wird in der Durchdringung des a priori und des a posteriori“ (ebd. [Hervorhebungen des Originals durch Kursivsetzung wiedergegeben]). Dieser methodischen ‚Mittelstellung‘ entspricht die Einordnung der Psychologie zwischen den Grenzen des rein Physiologischen auf der einen, des rein Ethischen auf der anderen Seite (vgl. aaO., Nr. 7– 10, 495 – 497). Schleiermachers ‚Psychologie‘ insgesamt nimmt ihren Ausgangspunkt vom Phänomen ‚Leben‘, vgl. Psych (1818), Nr. 4, 408 f.; vgl. auch K. Huxel, Ontologie des seelischen Lebens. Ein Beitrag zur theologischen Anthropologie im Anschluß an Hume, Kant, Schleiermacher und Dilthey, RPT 15, Tübingen 2004, 164 ff. Vgl. dazu grundlegend: G. Ebeling, Beobachtungen zu Schleiermachers Wirklichkeitsverständnis, 96 – 115. „Das Leben ist aufzufassen als ein Wechsel von Insichbleiben und Aussichheraustreten des Subjekts […]. Das Fühlen […] ist nicht nur in seiner Dauer als Bewegtwordensein ein Insichbleiben, sondern es wird auch als Bewegtwerden nicht von dem Subject bewirkt, sondern kommt nur in dem Subject zu
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allem ein Zitat des Manuskripts zur Psychologie-Vorlesung von 1830 den Sachverhalt, den Schleiermacher mit ‚Empfänglichkeit‘ bezeichnet: „Das Leben ist physiologisch das Fortbestehen des Gegensazes gegen den universellen Prozeß. […] Tod ist Untergang des individuellen Prozesses im universellen. Auf der Seite der Erscheinung des Geistes im Bewußtsein ist es eben so. […] Das Leben als zum Theil den Grund der Veränderung in sich tragend sezt schon voraus zum Theil Außer-ihm und dies sezt voraus Einwirkung von außen. Zu diesen verhält sich aber das Leben nicht mechanisch sondern mitwirkend. Die Mitwirkung ist eine geringere Lebensäußerung, die ursprüngliche Selbstthätigkeit eine größere.“²⁰ Mit dem letzten Satz begegnet in aller Deutlichkeit der entscheidende Aspekt: Empfänglichkeit ist nach Schleiermacher eine dem lebendigen Sein spezifische Weise des Eingebundenseins in den Wechselwirkungszusammenhang des Weltprozesses. Gegenüber der Selbsttätigkeit sei sie zwar eine geringere Lebensäußerung; aber: es äußere sich in ihr eben auch die Lebendigkeit des Seins, worin sie von der Passivität unterschieden sei. Eine Einwirkung von außen, wenn sie auf Anorganisches, Unbelebtes trifft, bewirke einen Prozess, zu dem das unbelebte Ding nichts tätig beitrage. Es sei daher rein passives Element eines mechanischen Prozesses, ohne eigene Ursächlichkeit, ohne Freiheit.²¹ Treffe aber eine Einwirkung von außen auf ein lebendiges Sein, so stelle dieses Sein der Einwirkung eine Gegenwirkung entgegen. Nur so könne es seinen individuellen Lebensprozess gegenüber dem universellen Prozess behaupten und bewahren. Zwar ist somit nach Schleiermacher „das ganze Leben ein Ineinandersein und Auseinanderfolgen von Thun und Leiden“²², von Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit. Aber das rezeptive ‚Erleiden‘ der Einwirkung von außen bedeute weder im physiologischen noch im psychologischen Sinne ein vollständiges Determiniertwerden durch das Einwirkende. „Die Einwirkung wird nur Ein Moment mit der Gegenwirkung zusammen, welche das Ergebniß nach der Weise des individuellen Prozesses gestaltet. […] Jenes sind des Lebendigen aufnehmende Thätigkeiten, welche zusammen seine
Stande, und ist also, indem es ganz und gar der Empfänglichkeit angehört, auch gänzlich ein Insichbleiben“ (CG2 I, § 3.3, 25). – „In jedem Selbstbewußtsein also sind zwei Elemente, ein […] Sichselbstsezen und ein Sichselbstnichtsogesetzthaben […]; das lezte also sezt für jedes Selbstbewußtsein außer dem Ich noch etwas anderes voraus, woher die Bestimmtheit desselben ist […]. […] Diesen zwei Elementen, wie sie im zeitlichen Selbstbewußtsein zusammen sind, entsprechen nun in dem Subject dessen Empfänglichkeit und Selbstthätigkeit“ (CG2 I, § 4.1, 33 f.). Psych (1830), Nr. 10 f., 497. Vgl. auch Psych (1818), Nr. 4, 409: „Wir gehen also vom Leben aus. Dies ist als einzelnes im Gegensaz gegen alles andre, und als lebendiges hat es den Grund seines Verhaltens im Gegensaz in sich, und der ist das Bestreben sich darin zu erhalten. Leben ist also ein Zustand von Wechselwirkung, aber ohne reine Passivität, sondern die Spontaneität muß Gegenwirkung oder wenigstens Hemmung erfahren, und die Receptivität […] muß sich selbst als Gegenwirkung manifestiren.“ Vgl. ebenso aaO., Nr. 9, 415 f. Vgl. CG2 I, § 49.1, 296 f. CG2 I, § 9.1, 76.
‚Lebendige Empfänglichkeit‘ als anthropologische Grundbedingung der Frömmigkeit
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Empfänglichkeit constituiren.“²³ Für das Sein, von dem Leben ausgesagt wird, kann keine Passivität, sondern muss Empfänglichkeit geltend gemacht werden. Das lebendige Sein will sich nach Schleiermacher „in d[]em Den-Grund-seiner-Veränderungin-sich-selbst-haben erhalten […]. Dadurch wird das, was durch die Einwirkung selbst etwas passives werden sollte, durch die Selbstbestimmung ein dem lebendigen Sein angehöriges und ihm angemessenes“²⁴. Diese der Empfänglichkeit zugehörige Gegenwirkung gegenüber der Einwirkung macht dann auch deutlich, inwiefern für Schleiermacher eben zwischen der empfänglichen Rezeptivität und tätigen Spontaneität nur ein relativer Gegensatz besteht: ‚Empfänglichkeit‘ bezeichnet gewissermaßen eine individuelle Aneignung des von außen Einwirkenden. Damit inhäriert ihr ein Minimum von Selbsttätigkeit – und verbunden damit auch: von relativer Freiheit.
2. Lebendige Empfänglichkeit Wenn ‚Empfänglichkeit‘ von ‚Lebendigkeit‘ gar nicht zu trennen ist, stellt sich doch die Frage, warum Schleiermacher dem Begriff dezidiert das Adjektiv ‚lebendig‘ zur Seite stellt. Meine These ist, dass die Empfänglichkeit unterschiedlicher Art sein und in unterschiedlichem Grad entwickelt sein kann. Ihr kommt somit in höherem oder niedrigerem Maße ‚Lebendigkeit‘ zu – wie im Folgenden gezeigt wird. Wie bereits skizziert, wird durch die Empfänglichkeit eine Einwirkung von außen unter Mitwirkung des Empfänglichen angeeignet. Das die äußere Einwirkung repräsentierende Resultat im Empfänglichen kann nach Schleiermacher zwei Formen annehmen: „Das Ergebniß kann nun das Sein der Dinge in uns darstellen bald mehr unter der Form des einwirkenden = objectives Bewußtsein, bald mehr des wiegewordenen = Selbstbewußtsein.“²⁵ Allerdings sind nach Schleiermacher Rezeptivität und Spontaneität sowie subjektives und objektives Bewusstsein nicht in allen Formen des Lebendigen und nicht zu allen Zeitpunkten des Lebensprozesses in diesem Maße unterscheid- oder aussagbar. Eine grundlegende Differenz herrsche zunächst zwischen animalischem und menschlichen Leben. Sie gründet nach Schleiermachers Darstellung in einem Un-
Psych (1830), Nr. 15, 501 f., 502. PsychNS (1830), 64. Vgl. auch CG² I, § 59.2, 365: „Ist aber wenigstens die Empfänglichkeit eine lebendige und eigenthümliche, so daß dieselbe Einwirkung nicht in Allen dasselbe wird, […]“, sowie CG² II, § 91.1, 36: „Denn keine Veränderung in einem Lebendigen ist ohne eigne Thätigkeit […].“ Psych (1830), Nr. 16, 503. In der Psychologie: „Wahrnehmung“ und „Empfindung“ (Psych [1830], Nr. 16 f., 502– 504); in den ‚Reden‘ und der ‚Glaubenslehre‘: „Anschauung“ und „Gefühl“ (CG2 I, § 5.1, 42).
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terschied bezüglich der Empfänglichkeit, zunächst auf eher physiologischer, genauer betrachtet dann aber auch auf psychologischer Ebene:²⁶ Das menschliche Sein zeichne sich im anfänglichen Zustand der Indifferenz von Rezeptivität und Spontaneität durch ein allgemeines „Geöffnetsein [sc. der Sinne] gegen das gesammte [Äußere]“²⁷ aus. In dieser Weise der Empfänglichkeit sei schon „ein Wollen“²⁸ erkennbar. ‚Wollen‘ ist aber Tätigkeit, ist höhere Lebensäußerung, ist Ausdruck von Lebendigkeit, von relativer Freiheit. Obwohl die anfängliche Indifferenz von Rezeptivität und Spontaneität menschlichem und tierischen Leben gemeinsam sei,²⁹ könne der für das menschliche Sein postulierte Grad ‚lebendiger Empfänglichkeit‘ für die animalische Lebensform nicht in gleicher Weise festgestellt werden. Ihre Öffnung gegenüber der Außenwelt sei an den „Erhaltungstrieb“ gebunden, „wodurch […] [den Tieren] das meiste gleichgültig ist.“³⁰ Diese die Empfänglichkeit einschränkende Triebverhaftung habe Konsequenzen für die Möglichkeiten der Bewusstseinsentwicklung: „Nichts kann reine Wahrnehmung werden, weil es durch die Beziehung auf den Trieb bedingt ist, und nichts kann Selbstbewußtsein werden, weil es sich vom einwirkenden Object nicht losreißen kann.“³¹ Der Grad der Lebendigkeit der Empfänglichkeit markiert somit nach Schleiermacher die Grenze zwischen Tier und Mensch: es brauche eine ‚lebendigere Empfänglichkeit‘, um ein klares Subjekt-ObjektBewusstsein auszubilden, in dem sich „einerseits die Reinheit des Ich-sezens, andererseits die Freiheit des Geistes als sich gegenseitig bedingend“³² spiegelten. Auf der Ebene des menschlichen Seins unterscheidet Schleiermacher wiederum unterschiedliche Stufen der Entwicklung des Selbstbewusstseins. Diese müssen, als Resultate der Empfänglichkeit, wiederum in unterschiedlichen Graden ihrer Lebendigkeit gründen. Die folgende Erläuterung beschränkt sich auf die Darstellung des subjektiven Bewusstseins und setzt die bereits erwähnte Entwicklung von der Stufe ‚tierischer Verworrenheit‘ zu der des sinnlichen Selbstbewusstseins voraus.³³
Vgl. Psych (1818), Nr. 14, 425: „Dies führt […] auf den Unterschied zwischen dem menschlichen und thierischen in diesen den physiologischen Antheil in sich tragenden Stufen der aufnehmenden Thätigkeit.“ – Schleiermacher unterscheidet hinsichtlich des Menschen nicht strikt zwischen Leib und Seele, sondern auch hier findet sich ein ‚Mehr‘ und ‚Minder‘ (Psych [1830], Nr. 6, 494): „Denken wir uns die Theilung sei gemacht, so hätten wir dann statt der Anthropologie die Physiologie, d. h. die Kenntnisse der Thätigkeiten des Leibes in der Identität mit der Seele, und die Psychologie als Kenntniß der Seele in ihrer Identität mit dem Leibe.“ Die Möglichkeit leiblich-sinnlich vermittelter Erregung des Geistes wird in der ‚Glaubenslehre‘ zu einem zentralen Punkt der Vorstellung der ursprünglichen Vollkommenheit (vgl. CG2 I, § 59, 363 ff.). Psych (1830), Nr. 20, 505. Psych (1830), Nr. 19, 505. Daher kann Schleiermacher in CG2 I, § 5.1 auch die unterste Stufe der Bewusstseinsentwicklung des Menschen in unmittelbare Nähe zu dem animalischen Leben stellen (vgl. CG2 I, § 5.1, 41). Psych (1830), Nr. 19, 505. Psych (1830), Nr. 20, 506. Psych (1830), Nr. 20, 506. Vgl. CG2 I, § 5.1, 43.
‚Lebendige Empfänglichkeit‘ als anthropologische Grundbedingung der Frömmigkeit
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Was in der ‚Glaubenslehre‘ zwar auch begegnet, aber in dem bekannten Schema der Einleitung³⁴ nicht als eigene Stufe der Bewusstseinsentwicklung erscheint, bildet in der ‚Psychologie‘ die erste Form der höheren Entwicklung des subjektiven Bewusstseins:³⁵ seine Erweiterung zum Gattungsbewusstsein. Wie auch das sinnliche Selbstbewusstsein entwickle sich das Gattungsbewusstsein durch Eindrücke des Außer-ich. Anders als auf der niedrigeren Stufe bleibe es hier aber nicht beim Bewusstsein des Gegensatzes. Vielmehr vollziehe sich, vermittelt durch die Empfänglichkeit, in der Rezeption menschlich verursachter Einwirkungen ein Identifikationsakt. Das Gattungsbewusstsein beruhe „auf der Anerkennung des menschlichen als uns gleichen“ und werde durch die empfängliche Aneignung anderer Formen menschlichen Selbstbewusstseins „als erweitertes und erhöhtes Leben aufgenommen.“³⁶ Denn diese Rezeption ermögliche es, im eigenen Bewusstsein das Gefühl nachzuempfinden, das der äußernden Tätigkeit des fremden Bewusstseins zugrunde lag. Das Leben des anderen, ja „das Leben der menschlichen Gattung“³⁷, könne so in das eigene Selbstbewusstsein aufgenommen werden. Jene anerkennende Tätigkeit und diese Lebenserhöhung müssen aber, da das Bewusstsein nur vermittelt durch die Empfänglichkeit entstehen könne, im Ansatz auch dieser selbst zugeschrieben werden. Sie öffne sich in besonderer Weise den menschlich verursachten Eindrücken und eigne diese dem Subjekt mitwirkend an. Sie erweist sich darin als ‚lebendiger‘ als eine solche, deren Resultat das nur auf dem Gegensatz zum Außer-ich beruhende Selbstbewusstsein ist. Durch diese Entwicklung werde allerdings ein neuer Gegensatz eröffnet: der zwischen der menschlichen Gattung und allem anderen Sein. Die Aufhebung dieses Gegensatzes vollziehe sich auf einer weiteren Stufe. Die ‚Psychologie‘ thematisiert dies; das ‚Stufenschema‘ der ‚Glaubenslehre‘ ist in dieser Hinsicht jedoch ergiebiger, weil dieser Punkt das eigentliche Darstellungsziel des Schemas bildet: In § 4 werden der Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit die Gefühle der Freiheit und Abhängigkeit zugeordnet. Wie schon der Gegensatz von Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit nur relativ bestimmt sei, so auch derjenige von Freiheits- und Abhängigkeitsgefühlen. Das entsprechende Bewusstsein sei das „zusammengesezte Gesammtselbstbewußtsein […] der Wechselwirkung des Subjectes mit dem mitgesezten Anderen.“³⁸ Damit ein solches Bewusstsein zustande kommen kann, muss m. E. eine Empfänglichkeit vorausgesetzt werden, die nicht nur gegenüber dem von außen Einwirkenden, sondern auch gegenüber der spezifischen Weise des Verhältnisses des Subjekts zum Außer-ich geöffnet ist. Sie ist lebendiger darin, dass sie durch den Lebensprozess selbst, als
Vgl. CG2 I, § 5.1, 41– 43. Vgl. Psych (1830), 519 ff.: Das subjektive Bewußtsein auf seinen höheren Stufen. Psych (1830), Nr. 40, 519. Psych (1818), Nr. 33, 460; vgl. aaO., Nr. 29, 454: „Dies finden wir in den geselligen Empfindungen dominirend und es ist nur dadurch zu erklären, daß man das Leben des andern selbst in die Identität mit dem seinigen aufnimmt. Dieses Aufnehmen ist dann selbst Lebenserhöhung […].“ CG² I, § 4.2, 35 [Hervorhebung des Originals durch Kursivsetzung wiedergegeben].
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Zusammenhang von Empfänglichkeit und Selbsttätigkeit, affiziert wird und so Abhängigkeits- und Freiheitsgefühl zum Resultat hat. Es bleibe jedoch nicht bei dem Bewusstsein der Wechselwirkung, sondern über die Empfindung des nur relativen Gegensatzes von Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit, Freiheit und Abhängigkeit werde eine grundlegende Einheit bewusst. Auf dieser Stufe der Bewusstseinsentwicklung würden Außer-ich und Subjekt erneut als Gesamtheit begriffen. Diese Gesamtheit entspreche jedoch nicht der verworrenen Indifferenz der ersten Stufe. Sie sei ein den entwickelten Gegensatz voraussetzendes und aufhebendes Bewusstsein. Das aus Freiheits- und Abhängigkeitsgefühl zusammengesetzte Wechselwirkungsbewusstsein des Subjekts mit dem Außer-ich werde in eine Identität aufgehoben, indem „wir das Gesammte Außeruns als Eines, ja auch weil ja andere Empfänglichkeit und Selbstthätigkeit, zu welcher wir auch Verhältniß haben, darin gesezt ist, mit uns selbst zusammen als Eines, das heißt als Welt sezen.“³⁹ Die Entwicklung dieses Weltbewusstseins hängt an einer Steigerung und Erweiterung der lebendigen Empfänglichkeit. Sie werde dabei von etwas affiziert, das jenseits des Wechselwirkungszusammenhangs liege:⁴⁰ „Allein eben das […] unser ganzes Dasein begleitende, schlechthinige Freiheit verneinende, Selbstbewußtsein ist schon an und für sich ein Bewußtsein schlechthiniger Abhängigkeit, denn es ist das Bewußtsein, daß unsere ganze Selbstthätigkeit eben so von anderwärtsher ist, wie dasjenige ganz von uns her sein müßte, in Bezug worauf wir ein schlechthiniges Freiheitsgefühl haben sollten.“⁴¹ Es scheint mithin im Schleiermacherschen Sinne die lebendigste Empfänglichkeit diejenige zu sein, deren Resultat das Bewusstsein schlechthinniger Abhängigkeit, die Frömmigkeit, ist.⁴² Da ‚Leben‘ jedoch nicht nur einzelne Momente, sondern einen kontinuierlichen Prozess bezeichne, muss noch ergänzt werden: es sei diejenige am lebendigsten, die ein stetiges Gottesbewusstsein hervorbringt. Umgekehrt wird deutlich: Frömmigkeit kann nur da entstehen, wo
CG² I, § 4.2, 36 [Hervorhebung des Originals durch Kursivsetzung wiedergegeben]. Vgl. Psych (1830), Nr. 45, 522: „Der Gegensaz zwischen dem bewußten Sein als Gattung und dem dem Bewußtsein gegebenen Sein muß im Selbstbewußtsein aufgehoben werden, also es muß dabei afficirt sein von einem anderen. Also offenbar von einem, worauf es nicht reagiren kann = absolutes Abhängigkeitsgefühl.“ CG² I, § 4.3, 38. Vgl. auch aus CG² I, § 53.1, 318 f., im Kontext der Frage danach, ob die göttliche Ursächlichkeit „in Beziehung auf den Raum“ ungleich sein könne, je nachdem, ob „der Raum nur erfüllt ist durch sogenannte todte Kräfte“ oder aber durch wirksames „klares menschliches Bewußtseins“: „Hiegegen nun muß zunächst gesagt werden, daß hiedurch wohlverstanden kein Unterschied in der allmächtigen Gegenwart Gottes gesezt ist, sondern nur in der Empfänglichkeit des endlichen Seins, auf dessen verursachende Thätigkeit eben die göttliche Gegenwart bezogen wird; denn so ist die Empfänglichkeit des Menschen dafür größer als irgend eines andern irdischen Seins, unter den Menschen aber ist sie bei den frommen am größten“ [Hervorhebungen durch die Vfn.].
‚Lebendige Empfänglichkeit‘ als anthropologische Grundbedingung der Frömmigkeit
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Empfänglichkeit in gesteigerter und steigerbarer Lebendigkeit vorausgesetzt werden kann. Der Hund wird eben doch nie der beste oder frömmste Christ werden.⁴³
3. Facetten der ‚lebendigen Empfänglichkeit‘ Auf der Grundlage dieser Rekonstruktion lassen sich verschiedene Facetten der lebendigen Empfänglichkeit unterscheiden, deren Grad wiederum unterschiedlich ausgeprägt sein kann. Die ‚Lebendigkeit‘ der Empfänglichkeit zeigt sich in ihrer koaktiven, transformativen sowie präaktiven Funktion.⁴⁴ Diese drei Aspekte sollen abschließend knapp erläutert und ihre Relevanz für das fromme Bewusstsein im Allgemeinen und in seiner christlichen Ausprägung im Speziellen an je einem Beispiel aufgezeigt werden.
a) Koaktiv-lebendige Empfänglichkeit Die koaktive, das bedeutet mit-tätige Dimension⁴⁵ der lebendigen Empfänglichkeit in ihrer Bedeutung für die Entstehung von Frömmigkeit zeigt sich am deutlichsten in der bereits dargelegten Unterscheidung zwischen dem animalischen und dem menschlichen Leben. Sie knüpft sich zunächst an die „organische Vermittlung aller aufnehmenden Thätigkeiten“⁴⁶, die durch die Sinne geschehe. Das „Geöffnetsein des Sinnes“ beim Menschen gegenüber dem Außer-ich schließe eben bereits „ein Wollen“⁴⁷ und damit zumindest ein Minimum an Selbsttätigkeit ein. Erst eine gesteigerte Form lebendiger Empfänglichkeit ermöglicht nach Schleiermacher eine Bewusstseinsentwicklung, die zur Empfindung frommer Gefühle befähigt.
Vgl. Hegels Kritik an Schleiermachers Bestimmung der Frömmigkeit als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit (G.W.F. Hegel, Vorrede zu Hinrichs’ Religionsphilosophie [1822], in: ders., Werke 11, Berliner Schriften 1818 – 1831, Frankfurt a.M. 1970, 42– 67, 58): „Soll das Gefühl die Grundbestimmung des Wesens des Menschen ausmachen, so ist er dem Tiere gleichgesetzt, denn das Eigene des Tieres ist es, das,was seine Bestimmung ist, in dem Gefühle zu haben und dem Gefühle gemäß zu leben. Gründet sich die Religion im Menschen nur auf ein Gefühl, so hat solches richtig keine weitere Bestimmung, als das Gefühl seiner Abhängigkeit zu sein, und so wäre der Hund der beste Christ, denn er trägt dieses am stärksten in sich und lebt vornehmlich in diesem Gefühle.“ Die Begrifflichkeit geht nicht auf Schleiermacher zurück, sondern reflektiert auf die verschiedenen Dimensionen, in denen Schleiermacher von ‚lebendiger Empfänglichkeit‘ spricht, und versucht, diese begrifflich zu fixieren. Auf den – in der ‚Psychologie‘ durchaus verwendeten – Begriff der Mitwirkung wird hier aufgrund seiner problematischen Konsequenzen hinsichtlich der Explikation des christlichen Gnadenbewusstseins durch den Gedanken ‚lebendiger Empfänglichkeit‘ verzichtet. Psych (1830), Nr. 18, 504. Psych (1830), Nr. 19, 505.
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Für die christliche Frömmigkeit kann Schleiermacher aufgrund dieser koaktiven Dimension von einer ‚Bedingtheit‘ der „Wirksamkeit der göttlichen Gnade“ sprechen: Indem er entschieden daran festhält, dass die Wirksamkeit Christi an die Verkündigung gebunden ist, sei sie insofern auch vom Menschen abhängig, als dieser sich dem Wort öffnen müsse, „wozu die Thätigkeit sowol seiner Sinneswerkzeuge als der innern Functionen des Bewußtseins erforderlich ist. Daher auch mit Recht die Fähigkeit zu dieser Auffassung, auch sofern die Thätigkeit aller jener Functionen von dem freien Willen des Menschen abhängt, ihm in seinem natürlichen Zustand beigelegt werden muß.“⁴⁸ Diese Offenheit für das Wort setze mehr als Passivität beim Hörer voraus: Die lebendige Empfänglichkeit impliziere auf Seiten des Menschen eine mit-tätige „Zustimmung des Willens“⁴⁹, denn bei Widerstand oder Neutralität gegenüber dem Wort könne dieses auch nicht wirksam werden. Dass diese Zustimmung nicht überall erfolgt, deutet wiederum auf unterschiedliche Grade der Entwicklung der ‚lebendigen Empfänglichkeit‘:⁵⁰ Für den Menschen, sofern er an der Ursünde partizipiert, sei das Resultat höchster lebendiger Empfänglichkeit das Sündenbewusstsein, gesteigert zum Bewusstsein der Erlösungsbedürftigkeit. Nur unter der Voraussetzung dieser Entwicklung sei eine Offenheit für die Tätigkeit Christi und eine entsprechende empfängliche Annahme möglich: „Aller wirkliche Lebenszusammenhang mit Christo, bei welchem er irgend als Erlöser gesezt sein kann, hängt also daran, daß lebendige Empfänglichkeit für seine Einwirkung schon, und daß sie noch vorhanden sei.“⁵¹
b) Transformativ-lebendige Empfänglichkeit Der zweite Aspekt, unter dem die Lebendigkeit der Empfänglichkeit in den Blick genommen werden kann, ist die Frage nach dem genaueren ‚Wie‘ der Aneignung des von außen Einwirkenden: „Die Einwirkung wird nur Ein Moment mit der Gegenwirkung zusammen, welche das Ergebniß nach der Weise des individuellen Prozesses gestaltet.“⁵² Die im Subjekt durch die Empfänglichkeit entstehenden Resultate, objektive Wahrnehmung und subjektive Empfindung, seien somit nach der Art seines eigenen
CG² II, § 108.6, 188. CG² II, § 108.6, 189. Vgl. CG2 I, § 14.1, 116 f.: „So haben sich von Anfang an nur diejenigen an Christum zu einer neuen Gemeinschaft angeschloßen, deren frommes Selbstbewußtsein als Erlösungsbedürftigkeit ausgeprägt war, und welche nun der erlösenden Kraft Christi bei sich gewiß wurden. […] Daher auch die, welche ungläubig blieben, nicht deshalb getadelt wurden, weil sie sich etwa durch Gründe nicht hätten bewegen lassen, sondern nur wegen des Mangels an Selbsterkenntniß, welcher zum Grunde liegen muß, wo sich eine Unfähigkeit zeigt den wahr und richtig dargestellten Erlöser als solchen anzuerkennen.“ CG² II, § 91.1, 36 [Hervorhebungen des Originals durch Kursivsetzung wiedergegeben]. Psych (1830), Nr. 15, 502.
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Seins gestaltet. Damit erscheint m. E. die lebendige Empfänglichkeit gewissermaßen transformativ. Diese Dimension zeigt sich einerseits in Schleiermachers Ausführungen darüber, dass nicht jedes Sein andersartiges Sein adäquat repräsentieren könne.⁵³ Entspreche die Lebendigkeit des Empfänglichen nicht dem Grad der Lebendigkeit des Einwirkenden, könnten die transformierten Resultate keine angemessene Repräsentation des Einwirkenden darstellen. Eine sachgemäße, objektive Wahrnehmung, die „das Sein der Dinge in uns darstell[t] unter der Form des einwirkenden“⁵⁴, sei damit auch an das Maß der Lebendigkeit der Empfänglichkeit gebunden. Andererseits zeigt sich die Transformationsleistung in der subjektiven Aneignung des Einwirkenden: Die subjektive Empfindung repräsentiere ja das Sein des Einwirkenden „unter der Form […] des wiegewordenen = Selbstbewußtsein.“⁵⁵ Sie bedeute damit die Transformation des von außen Eindringenden in eine Bestimmtheit des Selbstbewusstseins. Von erheblicher Relevanz ist der transformative Charakter der lebendigen Empfänglichkeit hinsichtlich der Möglichkeit von Frömmigkeit als Bewusstsein der „Beziehung mit Gott“⁵⁶ überhaupt. Es stellt sich ja die Frage, inwiefern der Mensch göttlicher Ursächlichkeit gegenüber überhaupt ‚empfänglich-offen‘ sein könne. Wenn das unbewusste Leben gegenüber dem bewussten keine lebendige Empfänglichkeit besitze usw., wie kann dann der Mensch gegenüber göttlicher Ursächlichkeit lebendig empfänglich sein? Woher kommt sein „Sinn und Geschmak fürs Unendliche“⁵⁷? Schleiermachers Antwort ist der Gedanke „einer ursprünglichen Offenbarung Gottes an den Menschen oder in dem Menschen“⁵⁸, die diesen zur Rezeption befähige: die Richtung auf das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit,⁵⁹ die zu seiner „anerschaffenen ursprünglichen Vollkommenheit“⁶⁰ gehöre und durch die Sünde zwar verdunkelt, nicht aber vollständig negiert werde. Die dem Menschen eigentümliche Richtung auf dieses Gefühl⁶¹ kann als spezifische Erregbarkeit der lebendigen Empfänglichkeit Vgl. CG2 II, § 94.2, 55. Psych (1830), Nr. 16, 503. Psych (1830), Nr. 16, 503. CG2 I, § 4.4, 40. F.D.E. Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), in: ders., Schriften aus der Berliner Zeit, hg.v. G. Meckenstock, KGA I.2, Berlin/New York 1984, 212. CG² I, § 4.4, 40. Weil die Richtung auf dieses Gefühl dem Menschen ‚anerschaffen‘ sei, gelte, dass das „Gottesbewußtsein als Selbstbewußtsein […] nicht von außen hervorgebracht sondern nur von außen gewekkt“ (Psych [1833/34], Nr. 48, 547) werde. CG2 I, § 72.5, 452. Vgl. CG2 I, § 60, 371 ff., der diese ‚Richtung auf das Gottesbewußtsein‘ thematisiert: Impliziert sei mit der Richtung aber auch die Überzeugung des menschlichen Vermögens, zu einem solchen Bewusstseinszustand zu kommen; lebendige Empfänglichkeit ist Teil der ‚ursprünglichen Vollkommenheit‘ des Menschen; vgl. Psych (1818), Nr. 33, 460: „Auch müssen wir ebenso sagen, schon das Menschheitsuchen, welches im geselligen Empfindenwollen liegt, ist ein Gottheit-suchen, ja auch schon das organische Empfindenwollen, es ist alles dieselbe Richtung der Seele, die nur allmählich aus dem bewußtloseren in das bewußtere übergeht.“
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des Menschen gedeutet werden. Sie erscheint gewissermaßen als ‚anerschaffener Transformator‘: „Fassen wir nun dies alles zusammen, so sezen wir hier überall auf der einen Seite eine anfangende göttliche Thätigkeit als etwas übernatürliches, zugleich aber eine lebendige menschliche Empfänglichkeit, vermöge deren erst jenes übernatürliche ein geschichtlich natürliches werden kann.“⁶² Aufgrund des Zusammenseins von Gefühl und Vorstellung sowie von höherem und sinnlichen Selbstbewusstsein − verbunden mit der allgemeinen Entwicklungsform des Selbstbewusstseins − könne es allerdings durch die Transformationsleistung zu teilweise irrtümlichen Schlüssen kommen; auch hier lassen sich somit Gradunterschiede der Lebendigkeit der Empfänglichkeit geltend machen. Allgemein erkläre sich durch die transformative Seite der lebendigen Empfänglichkeit die Entstehung der (unvermeidlichen) Anthropomorphismen „in den Aussagen über Gott“⁶³. Auch die Unterscheidung verschiedener Stufen der Frömmigkeit vollzieht Schleiermacher vor diesem Hintergrund. Diese Stufen gründeten in einer „Verschiedenheit in dem unmittelbaren Selbstbewußtsein“⁶⁴. Damit hängen sie an dem Grad der lebendigen Empfänglichkeit, deren Resultat das subjektive Bewusstsein ist: So fehle es beispielsweise bei der unteren Entwicklungsstufe an einem „Sinn für eine Totalität“⁶⁵, wofür der Grund nur in einer noch nicht vollzogenen Erweiterung der lebendigen Empfänglichkeit liegen kann. Dadurch entstünden in der Reflexion auf das Gefühl auch irrige Vorstellung über das ‚Woher‘ schlechthinniger Abhängigkeit: die Gottesvorstellungen des Fetischismus und Polytheismus. Die angemessenste Transformationsleistung der Empfänglichkeit setze somit wiederum den höchsten Grad ihrer Lebendigkeit voraus: Der ursprüngliche und eigentliche Ort der Vermittlung von Unendlichem und Endlichem liege in Jesus Christus als demjenigen, für den durch seine schlechthin lebendige Empfänglichkeit das Sein Gottes in ihm ausgesagt werden könne.⁶⁶
c) Präaktiv-lebendige Empfänglichkeit Die dritte Facette lebendiger Empfänglichkeit zeigt sich in deren Zusammenhang mit der Selbsttätigkeit im Lebensprozess. Das Leben vollziehe sich nicht in einem kontinuitätslosen Wechsel von Empfänglichkeit und Selbsttätigkeit, sondern Empfänglichkeit gehe in Selbsttätigkeit über. Damit muss nach Schleiermacher aber auch der
CG² II, § 88.4, 27. CG2 I, § 5, Zusatz, 51– 53, 52. CG2 I, § 8.2, 66, CG² I, § 8.1, 65. Vgl. auch Psych (1818), Nr. 34, 460 – 462. Vgl. CG2 II, § 94.2, 54– 56. Zugleich sei nach Schleiermacher diese ‚vollendete Schöpfung der menschlichen Natur‘ auch Erhaltung, „Erhaltung nämlich der von Anbeginn der menschlichen Natur eingepflanzten und sich fortwährend entwikkelnden Empfänglichkeit der menschlichen Natur eine solche schlechthinige Kräftigkeit des Gottesbewußtseins in sich aufzunehmen“ (CG² II, § 89.3, 31).
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Keim der Tätigkeit in der Empfänglichkeit selbst liegen. Das Leben wird daher von ihm bestimmt „als ein Oscilliren zwischen den überwiegend aufnehmenden und überwiegend ausströmenden Thätigkeiten, so daß in der einen immer ein Minimum der andern mitgesezt ist und das ganze sich darstellt als eine fortwährende Circulation, in welcher die Einwirkungen von außen her das einzelne Leben anregen unter der Form der Empfänglichkeit und dann das Leben sich steigert zur Selbstthätigkeit, die in einem Ausströmen sich endigt, bis dann wieder Einwirkungen von außen kommen.“⁶⁷ Unter diesem Aspekt erscheint die von außen angeregte Empfänglichkeit insofern als lebendig, als das ihr inhärierende Minimum von Tätigkeit sich präaktiv steigert, bis der ‚Umschlag‘ eintritt: „das heißt die lebendige Empfänglichkeit geht über in belebte Selbstthätigkeit“⁶⁸. Vor dem Hintergrund der präaktiven Dimension lebendiger Empfänglichkeit erhellt beispielsweise die Unterscheidung und zumindest implizite Hierarchisierung von ästhetischem und teleologischen Frömmigkeitstypus:⁶⁹ Dass Schleiermacher den teleologischen Frömmigkeitstypus höher bewertet als den ästhetischen – und das lässt sich m. E. schon aus der Zuordnung des Christentums zum ersteren erkennen –, ist zum einen in der prinzipiellen Höherschätzung der Selbsttätigkeit als Lebensäußerung gegenüber der bloßen Mitwirkung innerhalb der Empfänglichkeit begründet: Eine teleologische Frömmigkeitsform ist ‚lebendiger‘ als eine ästhetische. Zum anderen scheint der teleologische Frömmigkeitstypus in angemessenerer Weise dem im schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl gründenden und dieses reflektierenden Gottesbegriff zu entsprechen. Dieser beinhaltet nach Schleiermacher den Gedanken „schlechthinige[r] Ursächlichkeit“⁷⁰ bzw. „schlechthinige[r] Lebendigkeit“⁷¹. Dieser Lebendigkeit könne somit nur eine solche Empfänglichkeit adäquat korrespondieren, die als lebendigste übergehe „in belebte Selbstthätigkeit“⁷². Dieser Aspekt wird beispielsweise innerhalb der Christologie relevant: Im Kontext der Bestimmung der Gemeinschaftlichkeit von göttlichem und menschlichem Sein in der Person des Erlösers stellt sich Schleiermacher explizit die Frage danach, wie in dieser Hinsicht die „überwiegend leidentlichen Momente“⁷³ in dessen Leben bewertet werden können. Für das Göttliche selbst sei einerseits kein ‚Erleiden‘ möglich – aber für das Erlösungsgeschäft habe andererseits Christi „Mitgefühl mit dem Zustand der Menschen“⁷⁴ erhebliche Bedeutung. Schleiermachers Argumentation bedient sich aller drei Facetten der lebendigen Empfänglichkeit, um die Gemeinschaftlichkeit von Göttlichem und Menschlichen auch für die ‚leidentlichen‘ Momente zum Ausdruck
PsychNS (1830), 66 [Hervorhebungen durch die Vfn.]. CG² II, § 108.6, 190. Vgl. zum Folgenden aaO. den gesamten § 9 CG2 I, 74– 80. CG² I, § 51, 308 u.ö. CG² I, § 51.2, 312. CG² II, § 108.6, 190. CG² II, § 97.3, 82. CG² II, § 97.3, 82.
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bringen zu können, ohne dass zugleich das Göttliche selbst in den Bereich der Wechselwirkung gezogen wird. Im Sinne der koaktiven Seite könne die göttliche Tätigkeit als ‚mittätiges Element‘ der Empfänglichkeit betrachtet werden: Es sei „die göttliche Liebe in Christo, welche […] die Richtung auf die Wahrnehmungen der geistigen Zustände der Menschen gab.“⁷⁵ Die Öffnung und das Freilassen der Empfänglichkeit für diese Zustände beruhten somit auf dem göttlich-tätigen Impuls. Die präaktive Dimension der lebendigen Empfänglichkeit zeigt sich hinsichtlich ihrer Resultate. Sie könnten aufgrund dieses göttlichen Impulses, der das Innerste der Person des Erlösers ausmache, nicht als dieser Person zugehörig angesehen werden, bevor sie nicht durch diesen Impuls eine „Verwandlung in Thätigkeit“⁷⁶ erführen. In dieser Hinsicht lässt sich das Werk Christi auch als vollkommene Realisierung teleologischer Frömmigkeit interpretieren. Dass bei jeder dieser gemeinschaftlichen Tätigkeiten die göttliche selbst nicht als zeitlich aufzufassen sei, könne wiederum durch die transformative Kraft der lebendigen Empfänglichkeit verbürgt werden, so „daß auch während des Vereintseins das göttliche Wesen in Christo […] nur auf zeitlose Weise thätig gewesen, und nur die schon vermenschlichte […] Seite dieser Thätigkeit zeitlich sei.“⁷⁷ Zusammengefasst: Wenn das „sich selbst gleiche Wesen der Frömmigkeit“ darin besteht, „daß wir uns unsrer selbst als schlechthin abhängig, oder, was dasselbe sagen will, als in Beziehung mit Gott bewußt sind“⁷⁸, dann bildet die lebendige Empfänglichkeit die menschliche Bedingung dafür, dass diese „Bestimmtheit des Gefühls oder des unmittelbaren Selbstbewußtseins“⁷⁹ überhaupt eintreten kann. Zugleich liegt in den unterschiedlichen Graden und Facetten der lebendigen Empfänglichkeit der Grund dafür, dass sich die Frömmigkeit in unterschiedlichen Stufen und Typen realisiert.
4. Es war „die Aufgabe, eine solche [Selbsttätigkeit] zu finden, die aber doch keine Mitwirkung sei […]“⁸⁰ Den Ausgangspunkt der Erwägungen zur lebendigen Empfänglichkeit bildete die Beobachtung, dass diese Gedankenfigur erst in der zweiten Auflage der ‚Glaubenslehre‘, dort aber gehäuft und insbesondere in der Explikation des Gnadenbewusstseins begegnet. An einem exemplarischen Vergleich zwischen erster und zweiter Auflage
CG² II, § 97.3, 82. CG² II, § 97.3, 83. CG² II, § 97.3, 83. CG2 II, § 4, 32. CG2 II, § 3, 20. CG1 II, § 130, Zusatz 2, 133.
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lässt sich zeigen, dass Schleiermacher selbst durch die Herausforderungen der soteriologischen Explikation zu der Figur der lebendigen Empfänglichkeit gelangt ist: In der ersten Auflage bleibt es in der Darstellung des Verhältnisses von natürlicher Tätigkeit des Menschen und göttlicher Gnadenwirkung in der Bekehrung bei einer bloßen Aufgabenstellung: „[…] und es bleibt also die Aufgabe, eine solche [sc. Selbsttätigkeit] zu finden, die aber doch keine Mitwirkung sei, oder, was dasselbe sein wird, den Gegensaz zwischen Mitwirkung und bloßer Leidentlichkeit zu vermitteln und in einen fließenden zu verwandeln.“⁸¹ Schleiermacher findet bzw. bietet hier aber keine Lösung dieser Aufgabe. In genau diesem Kontext erscheint in der zweiten Auflage die lebendige Empfänglichkeit als eben dieses „Mittelglied, […] welches ein leidentlicher Zustand ist, aber doch das Minimum von Selbstthätigkeit in sich schließt“⁸². Schleiermacher selbst ist die Lösung der 1821/22 formulierten Aufgabe erst mit dem Gedanken der lebendigen Empfänglichkeit gelungen. Das diesem Gedanken innewohnende Erschließungspotential nutzt er dann auch für die Christologie⁸³ und an vielen anderen Stellen der ‚Glaubenslehre‘.⁸⁴
CG1 II, § 130, Zusatz 2, 133. CG² II, § 108.6, 189. So wird bspw. das ‚Sein Gottes‘ im Erlöser in CG2 II, § 94.2, 54– 56, durch den Gedanken der lebendigen Empfänglichkeit expliziert. Eine entsprechende Erläuterung findet sich in CG1 II, § 116.3, 28 – 30, noch nicht. Vgl. CG² I, § 3.4, 26 – 30; § 4.1, 33 f.; § 4.2, 34– 37; § 13.1, 107– 110; § 14.1, 115 – 117; § 64.1, 398 f.; § 70.2, 423 – 425; CG² II, § 88.4, 26 f.; § 89.1, 28 f.; § 91.1, 35 – 37; § 94.2, 54– 56; § 100.2, 106 – 108; § 101.1, 112 f.; § 103.2, 124– 128; § 108.6, 187– 191; § 109.4, 200 – 202; § 120.1, 267 f. u. ö.
Henning Theißen / Greifswald
Gottes Geburt in der Seele. Historische und systematische Kontexte von Schleiermachers Wiedergeburtslehre 1. Einleitung: Wiedergeburt als stehende Metapher
„Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er denn wieder in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden?“ Dass die Frage des Nikodemus (Joh 3,4) rundheraus zu verneinen und die Rede von Wiedergeburt, neuer oder zweiter Geburt nur im übertragenen Sinne zu verstehen ist, erscheint für den christlichen Glauben derart selbstverständlich, dass die natürliche Assoziation von Gebären und Geborenwerden gar nicht mehr aufkommt, wenn Wiedergeburt für die christliche Theologie zum Thema wird. Und schon dies geschieht im protestantischen Diskurs eher selten. Gegenwärtig überlässt man das Thema meist den „evangelikal-pfingstkirchlichen Richtungen“, wie U. Kaiser bemerkt, die sich in Hamburg über Wiedergeburtsmetaphorik im Neuen Testament habilitiert.¹ Lange galt Wiedergeburt zudem als eine Spezialität des Pietismus, seit A.H. Francke sie zum Schlüssel der geistlichen Selbsterforschung machte, der Gewissheit über die eigene Stellung zum Heilsgeschehen versprach.² In der Heilsgeschichtlichen Theologie eines J.C.K. v. Hofmann bildete die Wiedergeburt als Erfahrung des persönlichen Heilserlebens gar den Ausgangspunkt des ganzen theologischen Systems.³ Dass Wiedergeburt in all diesen volkskirchlich untypischen Theologien anstelle von Geburt und Geborensein eine Vielzahl seelischer und leiblicher Lebensvollzüge von der asketischen Bußübung bis zur tätigen Reichgottesarbeit bezeichnet, ist augenfällig. Dies gilt aber noch mehr für die typisch volkskirchliche Auffassung, die – mit der biblischen Redewendung vom „Bad der Wiedergeburt“ (Tit 3,5) im Rücken – die Wiedergeburt schlicht in der Taufe, insbesondere der Säuglingstaufe, erblickt. Hier ist vom Anschauungsfeld der Geburt allein die Vorstellung des Anfangs übriggeblieben, den die Wiedergeburt für ein Leben als Christenmensch darstellt, so wie die Geburt den Anfang eines menschlichen Subjekts markiert. Man kann sagen, der Ausdruck Wie-
Zitiert nach der auf der Homepage der Uni Hamburg verfügbaren Projektbeschreibung: https:// www1.theologie.uni-hamburg.de/forschung/wiedergeburt-nt.html (09.12. 2015). Vgl. August Hermann Francke, Eine Predigt von der Wiedergebuhrt am Fest der H. Dreyeinigkeit Anno 1697, über das Evangelium Joh 3,1– 16 am 13. Sonntag nach Trinitatis in der St.-Georgen-Kirche zu Glaucha an Halle gehalten, Halle 1698. So kommt Johann Christian Konrad v. Hofmann, Der Schriftbeweis. Ein theologischer Versuch, Nördlingen 21857/60, Bd. I, 10 zu dem Satz, dass „ich der Christ mir dem Theologen eigenster Stoff meiner Wissenschaft bin“. DOI 10.1515/9783110464573-024
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dergeburt sei in der protestantischen Theologie zur konventionalisierten Metapher für den Anfang des sog. ordo salutis geworden, der sich im Ganzen von der Bekehrung bis zur Heiligung erstreckt.⁴
2. Zur Bedeutung Schleiermachers für die Wiedergeburtslehre Die auf F. Schleiermacher zurückgehende Formel vom „Anfang des neuen Lebens“ ist jüngst von S. Schmidtke geradezu definitorisch für die Wiedergeburt beansprucht worden.⁵ In der Tat hält diese Formel zwischen den verschiedenen protestantischen Christentümern (insbesondere volkskirchlicher und pietistischer Prägung) und ihren sehr unterschiedlichen Gewichtungen des Themas eine Art Grundkonsens fest.⁶ Dieser Konsens ist freilich damit erkauft, dass die Formel die Wiedergeburt auf ihre heilsbiographische Funktion einschränkt und das andere Problem vernachlässigt, das gerade für die Auseinandersetzung zwischen volkskirchlichem und pietistischem Christentum so bedeutsam ist. Gemeint ist die Frage der Lebensform, in der sich das einmal angefangene christliche Leben organisiert. Seitens des Pietismus wurde diese Frage meist mit der Idee eines christlichen Gemeinwesens – welcher Extension und Intensität auch immer – beantwortet, während von volkskirchlicher Seite genau diese Idee vom Gemeinwesen als das Unwesen der Konventikelbildung kritisiert und abgelehnt wurde. Schleiermacher selbst behandelt diese Frage der Lebensform unter dem in der Philosophischen Ethik verwurzelten Begriff des ‚Gesamtlebens‘, der die Gesamtheit der durch wechselseitige Mitteilung allgemein verfügbar gemachten Lebensäußerungen der Einzelnen bezeichnet.⁷ Wiedergeburt ist daher für Schleiermacher kein unhin-
Das gilt mutatis mutandis auch für einen aktuellen Beitrag wie den von Marco Hofheinz, Wiedergeburt? Erwägungen zur dogmatischen Revision eines diskreditierten Begriffs, in: ZThK 109 (2012) 48 – 69, der Wiedergeburt ’mit dem Neuen Testament’ als Neuschöpfung verstehen will, die dann christologisch, pneumatologisch und eschatologisch interpretiert wird. Zu dem noch druckfrischen Beitrag M. Hailers zu Schleiermachers Wiedergeburtslehre s.u. Anm. 9. Sabine Schmidtke, Schleiermachers Lehre von Wiedergeburt und Heiligung. ’Lebendige Empfänglichkeit’ als soteriologische Schlüsselfigur der ’Glaubenslehre’ (DoMo 11), Tübingen 2015, 210 ff. Schleiermachers Wiedergeburtslehre ist deutlich in kritischer Weise auf die Doppelfront der pietistischen Bußkampflehre mit ihrer Forderung einer datierbaren Bekehrung (§ 108,3 der Glaubenslehre von 1830/31) und der zugespitzt volkskirchlichen Auffassung bezogen, dass die Säuglingstaufe (da sie ja kurz nach der Geburt geschieht) die Wiedergeburt quasi ersetze (§ 108,4). Ethische Qualität im Unterschied zur bloßen Geselligkeit besitzt das Gesamtleben, insofern jene Lebensäußerungen als gemeinschaftliches Werk Güter darzustellen vermögen, was für Schleiermacher der Güterlehre den theoretischen Vorzug vor Pflichten- und Tugendlehre gibt, vgl. Hans-Joachim Birkner, Einleitung zu Schleiermachers „Brouillon zur Ethik (1805/06)“ [1981], in: Hans-Joachim Birkner, Schleiermacher-Studien, eingel. u. hg.v. Hermann Fischer. Mit einer Bibliographie der Schriften Hans-Joachim Birkners von Arnulf v. Scheliha (SchlAr 16), Berlin 1996, 209 – 222, hier 212: „In
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tergehbarer Anfang, wie sie es nach der von Schmidtke favorisierten Formel sein müsste, sondern bezeichnet den Übergang und die Schnittstelle zwischen dem alten „Gesammtleben der Sünde“ und dem neuen Gesamtleben „in der Gemeinschaft Christi“.⁸ Der Gegensatz zwischen diesen beiden Lebensformen, der den ganzen zweiten Teil von Schleiermachers Glaubenslehre strukturiert, könnte nicht ausschließlicher sein. Beide stoßen so hart aufeinander, dass an ihrer Schnittstelle der Übergang von der einen zur anderen nur als ausdehnungsloser Punkt gedacht werden kann. Das hat zur Folge, dass Schleiermacher gerade in der Wiedergeburtslehre das gesamte zeitliche Korsett des ordo salutis abwirft.⁹ Die für Schleiermachers Denken wie für den Geschichtsoptimismus seiner Zeit prägende Entwicklungsvorstellung, wonach z. B. die Sünde unweigerlich im Verschwinden begriffen ist, während sich die Gnade unaufhaltsam ausbreitet,¹⁰ widerspricht dem nicht, sondern erklärt sich so, dass der radikale Wechsel vom alten zum neuen Gesamtleben zwar mit dem Auftreten des Erlösers im Nu ein für allemal gesetzt ist, sich aber für die Einzelnen nur „zeitlicherweise“ und „allmählig realisiert“.¹¹ Das liegt daran, dass der Geist Christi, der das neue Gesamtleben beseelt, den Seelen der einzelnen Wiedergeborenen nur als Teilhabe an dessen Gemeingeist zugänglich und jeder direkte Geistbesitz von Schleiermacher nachdrücklich ausgeschlossen wird.¹² Aus dieser Konstellation ergibt sich das für die theologische Enzyklopädie gravierende Problem, dass die Wiedergeburtslehre eigentlich die Lehre von der Geistmitteilung voraussetzt, die Schleiermacher aber erst im folgenden, ekklesiologischen dieser Zuordnung stellt sich die Güterlehre als die Grund- und Hauptform dar. Das Unzulängliche der Nebenformen Tugend- und Pflichtenlehre erblickt Schleiermacher darin, daß in ihnen nur der Einzelne als Subjekt des Handelns erfaßt wird und daß das Handeln getrennt wird von dem daraus hervorgehenden Werk.“ Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der Evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage (1830/31) [CG2] = ders., Kritische Gesamtausgabe, Erste Abteilung: Schriften und Entwürfe, Bd. 13, hg.v. Rolf Schäfer, Teilbd. 2, Berlin 2003 [KGA I/13,2], 176,4 bzw. 176,5 (§ 108,2). Zu der völlig „neue[n] Systematik“, die Schleiermachers Wiedergeburtslehre dadurch in zeitlicher Hinsicht erfährt, vgl. die Zürcher Dissertation von Juliane Müller, Wiedergeburt und Heiligung. Die Bedeutung der Struktur von Zeit für Schleiermachers Rechtfertigungslehre, Leipzig 2005, hier 87– 92 (Zitat: 92). Wenn Martin Hailer, Wiedergeburt. Schleiermacher und Barth zu einem Kernthema der Soteriologie, in: Matthias Gockel/Martin Leiner (Hg.), Karl Barth und Friedrich Schleiermacher. Zur Neubestimmung ihres Verhältnisses, Göttingen 2015, 115 – 182 Wiedergeburt doch wieder durchaus prozesshaft denken will, so scheint mir dies methodisch keinen Fortschritt darzustellen. Dies ist (nicht nur im Kontext der Wiedergeburtslehre) weniger zukunftsoptimistisch als vielmehr gegenwartsgewiss aufzufassen: Da die Sünde vergangen ist, kann sie im christlichen Leben „keinen neuen Boden [mehr] gewinnen“ (Schleiermacher, § 110,2 CG2 = KGA I/13,2, 208,1 f.; Hervorhebung hinzugefügt). Zitate: Schleiermacher, § 109,3 CG2 = KGA I/13,2, 198,33, wo auch betont auf „nur Einen allgemeinen göttlichen Rechtfertigungsact“ (a.a.O., 198,32 f.) Bezug genommen wird, durch den „Gott das menschliche Geschlecht angenehm ist in seinem Sohn“ (a.a.O., 198,27 f.). Der Ausschluss dieser ’schwärmerischen’, den Besitz des Geistes Christi von seinem Wort abkoppelnden Auffassung ist Gegenstand von Schleiermacher, § 108,5 CG2.
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Abschnitt der Glaubenslehre behandelt.¹³ Wird die Wiedergeburtslehre dennoch vorangestellt, wie Schleiermacher dies tut, dann notgedrungenerweise „vorläufig auch ohne die Lehre von dem heiligen Geist“.¹⁴ Es scheint mir nicht statthaft, aus dieser enzyklopädischen Not eine dogmatische Tugend zu machen und die ‚lebendige Empfänglichkeit‘, die der Mensch qua Geschöpf auch ohne Mitteilung des Geistes Christi besitzt, zur ‚anthropologischen Bedingung der Frömmigkeit‘ zu erklären, wie dies Schmidtke vorschweben dürfte.¹⁵ Das Ergebnis ist eine Wiedergeburtslehre unter „Ausklammerung der Pneumatologie“,¹⁶ die, enzyklopädisch gesprochen, bei der Christologie ihr Bewenden hat und darum in vollständiger Analogie zu dieser gestaltet werden kann. Die Wiedergeburt der Christen ist dann im Hinblick auf die fromme Seele der Einzelnen die genaue Wiederholung der Geburt Christi – Schmidtke beruft sich auf eine „fortgesetzte Inkarnation“¹⁷ – und ermöglicht diesen dieselbe Lebensform belebter religiöser ‚Selbstthätigkeit‘, die Christus als Träger des Heiligen Geistes immer schon verkörpert. An diesen Ableitungen, denen Schleiermacher selbst einen Riegel vorschiebt mit dem Hinweis auf die mitgebrachte Sündhaftigkeit der Wiedergeborenen als eine „Grenze, die uns nicht zu überschreiten gegeben ist“,¹⁸ ist immerhin soviel beachtlich, dass die Wiedergeburt hier buchstäblich auf die Geburt zurückbezogen wird. Tatsächlich vergleicht Schleiermacher den Wechsel vom alten zum neuen Gesamtleben einmal mit einer Geburt, doch gilt der Vergleich nicht der Geburt Christi, die ja als Jungfrauengeburt gerade nicht mit der Geburt der Christen vergleichbar ist, sondern richtet sich auf die natürliche „Geburt zum irdischen Leben“.¹⁹
Einschlägig sind Schleiermacher, §§ 121– 125 CG2, die eines von zwei Lehrstücken bilden (das andere ist in §§ 117– 120 CG2 die Erwählungslehre), die von der Kirche als Gemeinschaft der Wiedergeborenen (so nach dem Leitsatz § 113 CG2) abhängen und damit durch das Konzept der Wiedergeburt verbunden sind. Schleiermacher, § 108,5 CG2 = KGA I/13,2, 184,31. Vgl. den Beitrag von S. Schmidtke zu diesem Kongressband. Schmidtke, Wiedergeburt und Heiligung, 209. Schmidtke, Wiedergeburt und Heiligung, 209. Die Analogie der Wiedergeburt der Christen mit der Geburt Christi (konkret § 97 CG2), insofern in der beidesmaligen Vereinigung des Menschseins mit Gott allein Gott handelnd ist, im anschließend Vereintsein aber eine ‚gemeinsame Tätigkeit‘ vorliegt (vgl. z. B. Schleiermacher, § 106,1 CG2 = KGA I/13,2, 166[,8], wo allerdings auch gleich die mitgebrachte „Sündhaftigkeit“ der Christen als Einschränkung dieser Analogie aufgeführt wird), bildet das Grundgerüst von Schmidtkes Arbeit, vgl. a.a.O., 153 („Schwerpunkt […] auf der Durchleuchtung der von Schleiermacher explizit gemachten Analogie“). Schleiermacher, § 110,3 CG2 = KGA I/13,2, 208,5 f. Schleiermacher, § 108,2 CG2 = KGA I/13,2, 180,2– 8: „Wenn daher der Erlöser die entscheidende Wirkung der göttlichen Gnade eine neue Geburt nennt [sc. Joh 3,3.5]: so haben wir auch dies mit darunter zu verstehen, daß sie wie die Geburt zum irdischen Leben einmal nichts völlig ursprüngliches ist, sondern ein verborgenes [sc. intrauterines] Leben ihr schon vorangeht, dann aber auch, daß sie eben wie jene für den Neugebohrnen ein unbewußtes ist, und er sich nur allmählig als eine wirkliche Person in der neuen Welt finden lernt.“ Meine gesamten Überlegungen können als Auslegung dieses
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Die entscheidende Frage lautet allerdings: Was kann ‚natürliche Geburt‘ hier heißen? Wenn sowohl Pietismus als auch volkskirchliches Christentum die Wiedergeburt als stehende Metapher für den Anfang des christlichen Lebens auffassen und die natürliche Geburt natürlich nicht assoziieren, dann ist anzunehmen, dass eine Wiedergeburtslehre an der Doppelfront von pietistischem Bußkampf und volkskirchlicher Säuglingstaufe²⁰ beim Rekurs auf die natürliche Geburt die scheinbar so natürliche Vorstellung der Wiedergeburt als Anfang des christlichen Lebens aufs Korn nehmen will. Wirklich natürlich wäre diese Vorstellung ja nur, wenn sich aus dem Anfang auch die entsprechende Lebensform so ungehemmt, eben natürlich, entwickelte, wie dies bei Christus der Fall ist. In der Christologie selbst aber verwendet Schleiermacher einigen argumentativen Scharfsinn darauf, dass die natürliche, durchweg ungehemmte Entwicklung des Personlebens Christi auf der besonderen Vereinigung von Göttlichem und Menschlichem in seiner Person beruht, so dass gerade die scheinbar übernatürlichen (supranaturalistischen) Lehren von Jungfrauengeburt und Geistzeugung (vgl. Mt 1,20 – 25) die Voraussetzung für Schleiermachers – meist isoliert davon betrachtete – These von der durchgängigen Natürlichkeit der Person des Erlösers bilden.²¹ Wie menschliches Leben nicht erst mit der Geburt anfängt, so ist auch die Wiedergeburt nicht der Anfang des christlichen Lebens, sondern bringt gewisse vorgeburtliche Voraussetzungen in Gestalt des ‚alten Adam‘ mit, der beim Anziehen des neuen Menschen als Kind Gottes adoptiert wird, wie Schleiermacher mit dem tridentinischen Rechtfertigungsdekret (genauer: dessen nicht gegen die Reformatoren gerichteten sog. Capitula) lehrt.²² Wie die Jungfrauengeburt in der Christologie enthält auch die adoptianische Rechtfertigungslehre bei Schleiermacher die übernatürlichen oder besser: gnadenhaften Voraussetzungen, die die Geburt Christi bzw. die Wiedergeburt der Christen zum Anfang einer natürlichen, d. h. ungehemmten Entwicklung einer Lebensform machen, die dem Gesamtleben der Gnade entspricht.
Satzes gelten, der (zum einen) die Vorstellung des Anfangs modifiziert, indem er (zum anderen) diese bewusstseinstheoretisch als neu erinnernde Repräsentation von Anfang konzipiert. S.o. bei Anm. 6. Das entscheidende Argument zugunsten Jesu „übernatürlicher Erzeugung“ (Schleiermacher, § 97,2 CG2 = KGA I/13,2, 72,6 – 81,23, Zitat: 80,9 f.) lautet (a.a.O., 76,23 – 29): „Die Meinung ist nun die, daß, weil durch diese That [„Entstehung jedes Einzelwesens unserer Gattung“, sc. Zeugung] nur der Keim zu dem unvollkommnen und getrübten, nicht aber jenes schlechthin kräftige Gottesbewußtsein einer Person hätte mitgegeben werden können, in der Person Christi aber eben dieses schon von ihrem ersten Lebensanfang an in der Entwikklung begriffen sein mußte, eben deshalb die Person Christi ohne das Hinzutreten der vereinigenden göttlichen Thätigkeit nicht würde zu Stande gekommen sein.“ Die Natürlichkeit von Christi Personleben als „einem in allen auf einanderfolgenden Momenten gleichen Ich“ ist Gegenstand von Schleiermacher, § 96,1 CG2 (Zitat: KGA I/13,2, 64,21 f.). Die deuteropaulinische Vorstellung vom Ablegen des alten und Anziehen des neuen Menschen (Eph 4,23 f.) benutzt Schleiermacher, § 109,2 CG2 = KGA I/13,2, 195,21 f. in der (der Wiedergeburtslehre subordinierten) Rechtfertigungslehre; hier fällt der Terminus der „Adoption“ wie (unter Rekurs auf Röm 8,15) auch in Cap. 4 des tridentinischen Dekrets über die Rechtfertigung (DH 1524).
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Die sowohl in volkskirchlicher als auch pietistischer Sicht stehende Metapher der Wiedergeburt als Anfang christlichen Lebens ist also in Wahrheit höchst voraussetzungsreich. Anfang im strengen Sinn der Ermöglichung einer natürlichen Entwicklung ist nur die Jungfrauengeburt Christi, nicht die Wiedergeburt der Christen, denn sie ist, wie schon der Wortbestandteil ‚wieder‘ anzeigt, keine natürliche Geburt, sondern leistet die Repräsentation einer solchen. Schleiermachers Bedeutung für die Wiedergeburtslehre besteht darin, diese Repräsentationsleistung durch die Vorstellung der Adoption zu erläutern, die „bei den Glaubenslehrern häufig“ und an gewissen Schriftstellen „auf das bestimmteste“ vorkomme, aber, wie er betont, nicht in den Bekenntnisschriften zu finden sei.²³ Das Interpretament der Adoption bewirkt rückwirkend ab Geburt die Gotteskindschaft des als Adamskind Geborenen und stellt so dessen mitgebrachtes Vorleben im Gesamtleben der Sünde unter die Wirkung der vergebenden Gnade.²⁴ Damit geht diese Adoptionsvorstellung sowohl über das volkskirchliche als auch über das pietistische Wiedergeburtskonzept hinaus. Denn während sich im volkskirchlichen Denken, zugespitzt im kirchlichen Mitgliedschaftsrecht, das Problem des ‚alten Adam‘ gar nicht stellt, da alle als Säugling Getauften quasi ab Geburt wiedergeboren sind, ist für das pietistische Verständnis der ‚alte Adam‘ im Bewusstsein der Wiedergeborenen nur in Gestalt einer Negativfolie präsent, auf die im Modus der Konversionsbiographie Bezug genommen wird. Schleiermachers Wiedergeburtslehre eröffnet demgegenüber die Möglichkeit, das gesamte Leben ab Geburt als christliches Leben bewusst zu machen – doch nicht natürlicherweise, sondern kraft Adoption.
3. Zur Bedeutung der Deutschen Mystik für die Wiedergeburtslehre Die Einordnung Schleiermachers in den Theoriebestand der Wiedergeburtslehre hat ein verblüffendes Ergebnis erbracht. Während pietistische und volkskirchliche Anschauung die Wiedergeburt nicht mit der natürlichen Geburt assoziieren, zieht Schleiermacher diese als Vergleich heran. Das Natürliche der Geburt ist für Schleiermacher aber nicht, dass sie auf gegengeschlechtlicher Zeugung durch die Eltern
Schleiermacher, § 109,1 CG2 = KGA I/13,2, 193,10 bzw. 193,12; hier bemerkt Schleiermacher kritisch, dass der Ausdruck „so wenig an dieser Stelle symbolisch“ (a.a.O., 193,11), also in den symbolischen Büchern = Bekenntnisschriften anzutreffen sei. Im Kontext von Schleiermachers Wiedergeburtslehre ist diese Rückwirkung auch an der Lehre von der Heiligung abzulesen, mit der sie ein einziges ’Hauptstück’ bildet. Dabei lehrt Schleiermacher, dass die „Sünden der Wiedergebohrnen“ (Lehrsatz § 111 CG2) „ihre Vergebung immer schon mit sich“ brächten, „weil sie schon immer bekämpft“ würden (Schleiermacher, Leitsatz § 111 CG2 = KGA I/13,2, 210,5 – 7), und begründet dies damit, dass dieser Kampf sich in der frommen Seele nicht als Vorsatz künftiger Besserung, sondern allein an den tatsächlichen Nachwirkungen des sündigen Gesamtlebens (den „wirklich entstehenden Versuchungen“, § 111,4 CG2 = KGA I/13,2, 218,18 f.) niederschlage.
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beruht, sondern dass sie die ungehemmte, eben natürliche, Entwicklung einer Lebensform ermöglicht. In dieser Hinsicht sind es nun gerade nicht natürliche, sondern gnadenhafte Faktoren, die eine Geburt ‚natürlich‘ machen: die Jungfrauengeburt bei Christus, die Adoption der Wiedergeborenen bei den Christen. Offensichtlich also sieht Schleiermacher in der Wiedergeburt die natürliche Geburt repräsentiert, jedoch auf nicht-natürliche Weise. Die Art und Weise, wie hier gleichsam zwischen buchstäblichem und metaphorischem Sprachgebrauch von Wiedergeburt die Rede ist, verdient eine eigene systematische Betrachtung, die ich im Folgenden unternehme. Dabei betrachte ich mehrere Polaritäten (hier kursiv hervorgehoben), in die der Wiedergeburtsbegriff eingespannt ist. Das Schwanken zwischen buchstäblichem und metaphorischem Gebrauch, das wir in Schleiermachers Rede von der Wiedergeburt beobachten konnten, scheint ähnlich unter verschiedenen begrifflichen Oppositionen die gesamte Begriffsgeschichte zu durchziehen, soweit diese zumindest in den lexikalischen Darstellungen überhaupt den buchstäblichen Sinn von Geburt und Gebären vor Augen hat. So wird einerseits in Grimms Deutschem Wörterbuch grundsätzlich zwischen einem älteren, religiösen und einem jüngeren, profanen Gebrauch unterschieden, wobei der erstere immer übertragen und nur der letztere auch buchstäblich als zweite Geburt wie in der paganen Mythologie oder den fernöstlichen Weltanschauungen denkbar sei.²⁵ Die Schwierigkeiten dieser Einteilung verdeutlicht in frühneuhochdeutscher Zeit Luthers Übersetzung von Mt 19,28, wo „Wiedergeburt“ den zweifellos religiös gemeinten Vorgang der jenseitigen Auferstehung in dem deutlich eher buchstäblichen als übertragenen Sinn „beginn eines neuen lebens im jenseits“²⁶ bezeichnet. Wenn andererseits der (aus theologischer Feder stammende) Artikel „Wiedergeburt“ im Historischen Wörterbuch der Philosophie den genannten Zwiespalt umgeht und die fragliche Matthäusstelle einfach ausspart, um nur das mit Sicherheit übertragen zu verstehende „Bad der Wiedergeburt“ (Tit 3,5) als begriffsgeschichtliche Quelle zu akzeptieren,²⁷ so sind bereits alle Vorentscheidungen gefallen, um das eigentliche Bildfeld von Geburt und Gebären nicht mehr in den Blick nehmen zu müssen. Insbesondere fällt so die ganze Traditionslinie aus, die die historische Mystikforschung bis auf Gal 4,19 zurückverfolgt hat, um den Topos der Gottesgeburt in der Seele ableiten zu können, der zumindest für Meister Eckhart geradezu als der „eine
Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob u. Wilhelm Grimm. 16 Bände in 32 Teilbänden [Orig. Leipzig 1854– 1961], Bd. 29, 1001– 1004, hier 10 02: „zufrühest ist das wort im geistlich-christlichen, danach auch im nichtchristlich-profanen sinne bezeugt“, zit. nach der Online-Version: http://dwb.uni-trier.de/ de (04.09. 2015). Nur unter Ziff. 2a) und b) finden sich hier Belege für „eigentlich eine erneute geburt“ (1003), „vereinzelt konkret auf eine person angewandt“ (1003). A.a.O., 1003. Vgl. Martin Friedrich, Art.Wiedergeburt, in: HWP 11, 2001, 730 – 733, hier 730: „Nicht Mtth. 19,28, wo die W[iedergeburt] als eschatologische Totenauferweckung oder als Neuschöpfung der Welt zu verstehen ist, sondern Tit. 3,5, wo die Taufe als ’Bad der Wiedergeburt’ bezeichnet ist, war prägend für das Verständnis des Begriffs.“
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Grund- und Kerngedanke“ seines Schaffens angesehen wurde,²⁸ obwohl anscheinend noch nicht Eckhart, sondern erst sein Schüler Heinrich Seuse den Wortbestandteil „wieder“ hinzugenommen hat. Wenn Seuse damit auch anscheinend den begriffsgeschichtlich frühesten mittelhochdeutschen Beleg bietet, steht er ideengeschichtlich doch am Abschluss einer längeren Diskussion, indem er festhält: „Cristus ist der eingeborene sun und wir nit, er ist der natúrlich sun, wan sin geburt zilet in der natur, aber wir sien nit der naturlich sun, und únser geberunge heiszet ein widergeburt, wan si zilet in einförmikeit siner nature.“²⁹ Seuse spricht von Wiedergeburt, um den Abstand der geistlichen Geburt der Christen von der Jungfrauengeburt Christi auszudrücken, während für seinen Lehrer Eckhart bei der Gottesgeburt in der Seele feststeht, um es mit den Worten des Rostocker Eckhartforschers U. Kern zu sagen: „Beide Male haben wir es mit der einen ewigen Geburt des Einen in der gleichen ontologischen und epistemologischen Qualität zu tun.“³⁰ Zu den schon notierten begrifflichen Polaritäten der Wiedergeburt tritt damit die von Univozität und Analogie hinzu, die die mittelalterliche Diskussion bestimmt: Wird bei der Gottesgeburt in der Seele des Christen in demselben oder nur in einem ähnlichen Sinn von Geburt gesprochen wie bei der Jungfrauengeburt Christi? Diese heute befremdliche Frage ist anscheinend von Luther, der die der Deutschen Mystik nahestehende Theologia Deudsch bekanntlich hoch schätzte, noch mitvollzogen worden, zumindest in ihren Voraussetzungen, dass von Geburt buchstäblich die Rede sein kann, auch wenn der Ausdruck gar nicht wörtlich fällt. Ohne Kenntnis der Deutschen Mystik hätte Luther vielleicht keinen Anlass gehabt, an der schon gestreiften Stelle Gal 4,19 Paulus sagen zu lassen: „Meine lieben Kinder / welche ich abermal mit engsten gebere / bis das Christus in euch eine gestalt gewinne“,³¹ obwohl im griechischen Original nicht vom Gebären, sondern ‚nur‘ von den „Wehen“ des Paulus die Rede ist. Die Erwähnung der Gestaltwerdung Christi könnte aber als Zentraltopos der mystischen Gottesgeburtlehre Luthers dementsprechende Übersetzung motiviert haben. In frühneuhochdeutscher Zeit scheint jedenfalls die von Gal 4,19 herkommende Traditionslinie noch bewusst gewesen zu sein, die sich gegenüber allen Belegen der genannten Lexika (DWB, HWP) dadurch auszeichnet, dass sie die Wiedergeburt der Christen als deren aktives Gebären und nicht als passives Geborensein denkt: Die fromme Seele gebiert ganz genauso Gottes Wort, wie Gott den Logos zeugt. Diese neuerliche Polarität scheint für ein philologisch geschultes, neuzeitliches
So Josef Quint, Einleitung, in: Meister Eckehart, Deutsche Predigten und Traktate, hg. und übers.v. Josef Quint [1955] (= DPT), Lizenzausgabe Darmstadt 1963, 9 – 50, hier 21. Heinrich Seuse, Deutsche Schriften, hg.v. Karl Bihlmeyer, Bd. 14, 355,10 ff. (zit. nach Grimms Deutschem Wörterbuch, Bd. 29, 1001, online: http://woerterbuchnetz.de/DWB/?sigle=DWB&mode=Ver netzung&lemid=GW19328 [04.09. 2015]). Quint, Einleitung, 43 spricht freilich auch mit Blick auf Eckhart umstandslos von „Wiedergeburt“. Udo Kern, Der Gang der Vernunft bei Meister Eckhart. „Die Vernunft bricht in den Grund“ (Rostocker Theologische Studien 25), Münster 2012, 222. Martin Luther, WA.DB 7, 185.
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Denken jede begriffliche Einheit der Wiedergeburt zu sprengen. Sie besitzt aber einen verlässlichen Bezugsrahmen in der Philosophiegeschichte seit Platons Höhlengleichnis, auf den Ch. Schües in ihrer natalitätstheoretischen Habilitationsschrift Philosophie des Geborenseins aufmerksam gemacht hat: Wiedergeburt wird demnach meist als aktiv denkerische Selbstkonstitution des Subjekts in schroffen Gegensatz zu seiner passiv erlittenen Geburt gebracht.³² In diesem aktiv-passiven Vexierspiel zeichnet sich der mystische Wiedergeburtsgedanke dadurch aus, dass die aktive Geburt des Logos in der frommen Seele in einer ganz bestimmten Passivität geschieht, die Meister Eckhart, seinerzeit neologistisch, als ‚gelâzenheit‘ bezeichnet. Mit der Begriffsbildung ‚Gelassenheit‘ steht Eckhart, ähnlich wie nach ihm sein Schüler Seuse beim Begriff ‚Wiedergeburt‘, nicht am Anfang, sondern am Abschluss eines ideengeschichtlichen Diskurses, der sich in der mittelalterlichen Anschauung von der dreifachen Gottesgeburt Ausdruck verschafft. Sie wird von Johannes Tauler, dem anderen prominenten Eckhartschüler, in einer Weihnachtspredigt über Jes 9,5 („Ein Kind ist uns geboren“) anschaulich zusammengefasst. Gottes Logos wird demnach ewig (semper) geboren in der innertrinitarischen Zeugung durch den Vater, zeitlich (semel) in Bethlehem von der Jungfrau Maria und jederzeit (saepe) durch die Wiedergeburt in der frommen Seele, die eine Doppelbewegung von Sammeln und Loslassen ihrer Kräfte („Eingang und Ausgang“) vollzieht, um als Gefäß aufnahmefähig für Gottes Wort zu werden.³³ Wie für einen Mystiker nicht anders zu erwarten – die buddhistische und die islamische Mystik kennen die gleichen Vorstellungen³⁴ –, gilt Taulers Interesse so sehr der Doppelbewegung eckhartischer Gelassenheit, dass er fast nur über die dritte der drei Geburten predigt. Bei dieser Anlehnung an den Lehrer ist es umso auffälliger, dass Tauler die zweite der drei Geburten dennoch festhält, denn sie wird, wie Kern bemerkt, von Eckhart bewusst nicht gelehrt.³⁵
Vgl. den 1. (historischen) Teil von: Christina Schües, Philosophie des Geborenseins (Alber Philosophie), Freiburg 2008. Vgl. Johannes Tauler, herausgegeben, eingeleitet und übersetzt v. Louise Gnädinger, Olten 1983, 65 – 72, hier 65 zur dreifachen Lehre selbst und 68 zur Doppelbewegung von Ein- und Ausgang (dieser Textausgabe liegt die mittelhochdeutsche Kritische Gesamtausgabe der Predigten Taulers zugrunde). Die merkwortartige Alliteration „semper“ – „semel“ – „saepe“ entstammt wie die ganze dreifache Geburtlehre dem scholastischen Schulbetrieb, vgl. Kern, Vernunft bei Eckhart, 222 Anm. 97. Vgl. für den Islam den entsprechenden Hinweis von Alois M. Haas, Meister Eckhart, in: Gerhard Ruhbach/Josef Sudbrack (Hg.), Große Mystiker. Leben und Wirken, München 1984, 156 – 170, hier 165 f. Vgl. den Hinweis bei Kern, Vernunft bei Eckhart, 222, „dass Eckhart mit der ihm bekannten […] Tradition der dreifachen Geburt bricht“ (mit Rekurs auf den Eckhart-Editor G. Steer). Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang der Hinweis von Kurt Ruh, Meister Eckhart. Theologe – Prediger – Mystiker, München 21989, 139, dass Eckharts Besonderheit (und schließlich auch seine Anstößigkeit, die sich im Kirchenprozess gegen ihn ausdrückt) nicht in der Vorstellung der Gottesgeburt als solcher besteht (diese konnte Ruh zufolge vielmehr „vom Munde eines jeden Predigers vernommen werden“, ebd.), sondern in der lehrhaften Fixierung („Ausformung und Formulierung der Gottesgeburtlehre“, ebd.) derselben auf die Seele – wofür die Abweichung von der dreifachen Gottesgeburt eine Rolle spielen mag.
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Mitten durch das Dreigestirn der Deutschen Mystik verläuft hier eine weitere Polarität des Wiedergeburtsbegriffs, die sich anhand der von K. Ruh übersichtlich dargestellten Wirkungsgeschichte von Gal 4,19 rekonstruieren lässt.³⁶ Demnach ist, ausgehend von Origenes, die Gottesgeburt in der Seele in der Westkirche marianisch akzentuiert worden: Die Empfängnis Jesu durch Maria wurde zum Urbild und Exempel der in Sammlung und Loslassen ihrer Kräfte empfänglich gemachten frommen Seele. Die Ostkirche demgegenüber spitzte die Gottesgeburt, vermittelt vor allem über Maximus Confessor, auf den Gedanken der Theosis zu: Die Gott empfangende Seele wird eben darin selbst vergottet. Wenn die genauen Verbindungswege auch historisch strittig sind, ist doch deutlich, dass Meister Eckhart mit seinem Konzept der Gottesgeburt der theosisorientierten Variante folgt. Die implizit antimarianische Stoßrichtung dessen spricht z. B. aus Eckharts Predigt 11 (über Lk 1,57), wo nicht Maria, sondern Elisabeth, die Mutter des Täufers, zur Verdeutlichung dafür herangezogen wird, dass die in Gelassenheit sich übende Seele Gott gleich werden muss, um so, wie Gott seinen Logos in sie hineingebärt, diesen wieder in Gott hineingebären zu können.³⁷ Die Vorstellung scheint die zu sein, dass nur Gleiches Gleiches hervorbringen kann und muss, weshalb die Rede von Geburt für Eckhart keine gegengeschlechtliche Zeugung voraussetzt, sondern vielmehr synonym für Zeugung stehen kann.³⁸ Im Ergebnis dieser Betrachtungen ist offensichtlich die Gottesgeburt in Eckharts deutschen Predigten noch nicht zur stehenden Metapher erstarrt, sondern wird von den unübersehbaren Bezügen auf die buchstäbliche Geburt lebendig erhalten; allerdings redet Eckharts Sprache dabei so kühn vom Gebären, dass anscheinend schon sein Schüler Tauler sich genötigt sah, in konventionelle, eben marianische Sprachgleise zurückzulenken. Das könnte im Verbund mit der historisch nicht letztgeklärten Verbindung Eckharts zur ostkirchlichen Wiedergeburtslehre leicht den Eindruck erwecken, dass das Schulhaupt der Deutschen Mystik in der Frage von marianischer oder theosisorientierter Gottesgeburt einen Sonderweg oder eine Sackgasse geht. Aus dieser führt m. E. jedoch die stärker philosophiegeschichtliche Einordnung Eckharts seit K. Flasch heraus. Insbesondere dessen Schüler und Nachfolger B. Mojsisch hat in seiner Habilitationsschrift Eckhart im Schulzusammenhang der dominikanischen Transzendentalienlehre interpretiert. Sehe ich recht, so hat diese Interpretation ihre Pointe darin, dass die (uns schon bekannten) Konzepte der Analogie und der Univozität, mit deren Hilfe die Konvertibilität der Transzendentalien untereinander gedacht wird, bei Eckhart zwei Systeme sind, die er je nach Redezusammenhang und Aussageabsicht zum Einsatz bringt,wobei die Analogie die „Schwachheit der Geschöpfe gegenüber der Erhabenheit Gottes“ hervorhebt, während die Univozität die Gleichheit beider aussagt, insoweit „der Mensch sich von allem Geschaffenen, somit auch von sich selbst, sofern Vgl. zur folgenden Rekonstruktion: Ruh, Meister Eckhart, 140 – 142. Vgl. Meister Eckharts Predigten, Bd. 1, hg. und übers.v. Josef Quint = Meister Eckhart, Die Deutschen Werke 1, Stuttgart 1958 (= DW 1), 176 – 189 (mittelhochdeutscher Text) bzw. 472– 475 (Übersetzung). In DPT, 208 – 212 wird diese Predigt als Nr. 12 gezählt. Vgl. den entsprechenden Hinweis von Ruh, Meister Eckhart, 138.
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er geschaffen ist, unterscheidet“.³⁹ Dass diese Unterscheidung der beiden Systeme sich exakt auf die Polarität von marianischer (analoger) und theosisorientierter (univoker) Gottesgeburt anwenden lässt, liegt auf der Hand. Nahe liegt dann auch, das in großen Teilen der Wiedergeburtslehre, besonders aber in Eckharts deutschen Predigten auffällige Schwanken zwischen buchstäblicher und übertragener Rede ebenfalls mithilfe von Mojsischs Vorschlag zu verstehen und bei den jeweiligen Äußerungen zur Gottesgeburt in der Seele stärker auf Redezusammenhang und Aussageabsicht zu achten. Selbstverständlich hat die historische Forschung derartige Versuche unternommen, so z. B. für Eckharts vielleicht berühmtesten Predigtstoff, die Perikope von Maria und Martha (Lk 10,38 – 42), die beide als Typen von vita contemplativa bzw. vita activa selbst die genannten Polaritäten der Wiedergeburtslehre verkörpern. Eckharts mystikuntypisch scheinende Bevorzugung der (aktiven) Martha (in Predigt 86)⁴⁰ mit seiner Rolle in der Seelsorge an Beginen zu erklären, deren aktive Bußpraxis⁴¹ dem kontemplativen „Typus der Nonne“ nicht entsprach,⁴² löst die historische Erklärung aber vom systematischen Bezugspunkt der vita activa ab. Ihn erblickt Eckhart – bei allem Engagement für das „Ethos des alltäglichen Handelns“, das A.M. Haas für die Beginen hervorhebt⁴³ – auch bei der Geschichte von Maria und Martha in der Gottesgeburt, selbst wenn das entsprechende Wortfeld gar nicht in Predigt 86, dafür aber (zum selben Bibeltext) in Predigt 2 vorkommt, die ohne Nennung von Namen der Fruchtbarkeit der Frau und Mutter den Vorzug gegenüber der bloßen Empfänglichkeit der Jungfrau gibt.⁴⁴ Dennoch ist der Hinweis auf Eckharts Seelsorgetätigkeit an den Be Zitate: Burkhard Mojsisch, Meister Eckhart. Analogie, Univozität und Einheit, Hamburg 1983, 51 bzw. 145. Vgl. Meister Eckhart, DW 3, Stuttgart 1976, (472) 481– 503 (mhd.), 592– 599 (Übers.) (auch DPT, 280 – 289: Predigt 28). Vgl. die ans Exzesshafte reichenden Beispielschilderungen bei Ruh, Meister Eckhart, 110. Vgl. die Auseinandersetzung von Quint in: DW 3, 479 mit der skizzierten Auffassung von W. Büttner, der auch das Zitat entstammt. Büttners Position vertritt auch Haas, Meister Eckhart, 168: „Auch in diesem Punkt wendet sich Eckhart als Bettelmönch gegen die ältere Kontemplationsmystik.“ Die kirchlichen Auseinandersetzungen um die Eingliederung der als Laienbewegung aufgetretenen, in Gemeinschaft aber unter den Mönchsgelübden lebenden Beginen (vgl. Iris Geyer, Art. Beginen, in: RGG4 1, 1998, 1214) in die Orden, vor allem den Dominikanerorden, für den Eckhart wohl ab 1313 (vgl. Haas, Meister Eckhart, 157) die Seelsorge an den Beginen ausübte, schildert z. B. Ruh, Meister Eckhart, 108 – 114. Vgl. Haas, Meister Eckhart, 168; eine „Spiritualisierung und Ethisierung“ beobachtet für Eckharts Beginenseelsorge auch Otto Langer, Art. Eckhart, in: RGG4 2, 1999, 1048 – 1051, hier 1050. Quint, Einleitung, 41 unterstreicht, dass dieses Ethos im „weltlichsten“ wie im „frömmsten“ Werk wirkt, und ergänzt exemplarisch für das Leben der „Vollkommenen Meister Eckeharts: wenn es ihnen Bedürfnis ist, so essen sie, während andere Leute fasten“ (a.a.O., 42). Vgl. Meister Eckhart, DW 1, (21) 24– 45 (mhd.), 434– 438 (Übers.), hier 434 (= DPT, 160,1– 8): „’Weib’ ist der edelste Name, den man der Seele zulegen kann, und ist viel edler als ’Jungfrau’. Daß der Mensch Gott in sich empfängt, das ist gut, und in dieser Empfänglichkeit ist er Jungfrau. Daß aber Gott fruchtbar in ihm werde, das ist besser; denn Fruchtbarwerden der Gabe, das allein ist Dankbarkeit für die Gabe, und da ist der Geist Weib in der wiedergebärenden Dankbarkeit, wo er Jesum wiedergebiert in Gottes väterliches Herz.“ Dass der Ausdruck Jungfrau in dieser Gegenüberstellung zur Frau, die geboren hat,
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ginen gerade zum Verständnis der zwischen buchstäblich und übertragen schwankenden Rede von Wiedergeburt weiterführend.⁴⁵ Eckhart hat, wie es Ruh zufolge für die Beginenspiritualität kennzeichnend ist, seine Lehre vorwiegend in (deutschen) Predigten entfaltet.⁴⁶ Der Topos vom Gebären Gottes in der Seele wurde also einer weiblichen Hörerschaft vorgetragen, deren Angehörigen aufgrund ihrer keuschen Lebensweise die buchstäbliche Erfahrung des Gebärens ebenso verschlossen bleiben musste wie dem Prediger, der sie als Mann natürlicherweise nicht machen konnte. Dieser Redeumstand dürfte für das Verständnis des zur Geburt Gesagten von Belang sein. Er hat eine biblische Parallele in dem jesuanischen Gleichnis von der gebärenden Frau (Joh 16,21), das der esoterischen Parakletverkündigung Jesu in den nur an den engsten Jüngerkreis gerichteten Abschiedsreden im Johannesevangelium entstammt. Mit Rücksicht auf das Fassungsvermögen der Jünger ausdrücklich als bildhafte und nicht unverhüllte Rede gekennzeichnet (Joh 16,25), wählt dieses Gleichnis für den im Hintergrund stehenden Gegenstand, die Ankündigung des Parakleten, ein Anschauungsmaterial, das der nur aus Männern bestehenden Zuhörerschaft keine erfahrungsmäßigen Anknüpfungspunkte bieten konnte. In dieser hermeneutischen Ausgangslage der Johannesstelle ist zweierlei zu beachten. Einerseits missdeuten die Jünger Jesu Gleichnis als unverhüllte Rede (Joh 16,29),vermutlich weil sie im Bild von der gebärenden Frau fälschlicherweise eine stehende Metapher erblicken, die – ähnlich wie in der Johannesoffenbarung (Offb 12,2) – auf die ‚Wehen der Endzeit‘ verweist. Andererseits hindert dies das rechte Verständnis des Gleichnisses nicht, weil dieses zwar in Wirklichkeit bildlich redet, das Bild aber nicht die Erfahrungswirklichkeit der Hörer beansprucht. Das Gleichnis ist für die Parakletverkündigung vielmehr ein wirkliches Bild, dessen Bildlichkeit nicht bildlich, sondern als solche verstanden werden muss. Zeigt also das Bild an, dass eine gebärende Frau über ihrem neugeborenen Kind die Erfahrung des Geburtsschmerzes vergisst, so ist es genau dies, was Jesus über den Parakleten zu sagen hat, der die Jünger an diese Jesusworte erinnern wird: Er stiftet durch die Erinnerung eine Verbindung mit Jesus, die die gemeinsame irdische Erfahrung mit ihm geradezu vergessen macht, weil die mitgebrachte (‚weltliche‘) Erfahrung derer, denen der Paraklet zuteil wird, fortan ganz durch die Worte Jesu geformt (johanneisch gesprochen: ‚überwunden‘) wird (Joh 16,33), an die er erinnert. Nicht anders verhält es sich mit Eckharts nicht nur allgemein gebraucht ist, sondern auch wieder eine spezifisch antimarianische Spitze enthält, erklärt sich aus der Namensgleichheit der Mutter Jesu mit der Schwester der von Eckhart in Lk 10,38 – 42 bevorzugten Martha. – Dem Gelehrtenstreit über die Authentizität dieser Predigt 2, die z. B. von Quint (DW 3, VIIIf.) energisch betont, von Ruh, Meister Eckhart, 143 aber angezweifelt wird, kann ich nichts hinzufügen als die Feststellung, dass die Anzweiflung sich nur auf Eckharts Selbstdistanzierung im 1326 angestrengten Kirchenprozess gegen ihn stützen kann. Wenn J. Quint im Vorwort zum betreffenden Band der Gesamtausgabe den Mystiker Eckhart schroff gegen den Seelsorger abgrenzt (DW 3, VII-XI, hier IX), so dürften darin nicht zuletzt germanistischtheologische Frontlinien früherer Eckhartforschung vorausgesetzt sein, für deren Überwindung A.M. Haas mit seinem Überblicksbeitrag stehen kann. Vgl. Ruh, Meister Eckhart, 111.
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Predigt von der Gottesgeburt. Auch diese ist keine stehende Metapher, sondern ein ‚wirkliches Bild‘, das wirklich vom Gebären redet, aber nicht auf ein wirkliches Gebären referiert und sich darum auch einer Zuhörerschaft erschließt, die keinen entsprechenden Erfahrungshintergrund mitbringt. Vielmehr stellt die Gottesgeburt, von der Eckhart redet, alle mitgebrachte Erfahrung in das Licht des Gotteswortes. Es dürfte erheblich zur Bedeutung der Deutschen Mystik für die Wiedergeburtslehre beitragen, dass sie den Stellenwert der mitgebrachten Erfahrung in dieser Weise der Kategorie des Gotteswortes zuordnet. Nicht umsonst erklären die Gründerväter der Gesellschaft der Freunde der christlichen Mystik, G. Ruhbach und J. Sudbrack, in ihrem Standardwerk Christliche Mystik Eckharts Gottesgeburtlehre ganz in worttheologischen Bahnen.⁴⁷
4. Schluss: Wiedergeburt als wirkliches Bild Im Rückblick auf die beiden hier betrachteten lehrgeschichtlichen Kapitel der Wiedergeburtslehre zeigen sich überraschende Übereinstimmungen. Anders, als es die in pietistischen wie volkskirchlichen Christentümern stehende Metapher von der Wiedergeburt als Anfang des christlichen Lebens nahelegt, assoziieren sowohl Schleiermacher als auch die Deutsche Mystik die Wiedergeburt mit der natürlichen Geburt, thematisieren diese jedoch jenseits von buchstäblicher und metaphorischer Rede als ein ‚wirkliches Bild‘, das zwar wirklich die Erfahrung von Geburt und Gebären anspricht, aber nicht als Erfahrungswirklichkeit der Rezipientenschaft. Das vermeintlich feststehende Anfängliche der Geburt besteht bei diesem ‚wirklichen Bild‘ vielmehr darin, die von der natürlichen Geburt her mitgebrachte Erfahrung der Rezipienten aufzunehmen und zu verwandeln. Schleiermacher findet für diese Repräsentation der Geburt in der Wiedergeburt den Begriff der Adoption, der genau diese verwandelnde Aufnahme des Mitgebrachten ausdrückt, wird doch auch bei der wirklichen Adoption die Herkunftsgeschichte mit der Eingliederung in die annehmende Familie nicht ausgelöscht, sondern mit dieser zu einer gemeinsamen Familiengeschichte verknüpft. Kern hat darauf aufmerksam gemacht, dass selbst Eckhart bei aller Univozität der Gottesgeburt die Vorstellung einer Kindschaft der Christen „per adoptionem“ im Unterschied zu Christus nicht fremd ist.⁴⁸ Das als Quellensammlung angelegte Werk zieht für Meister Eckhart just Predigt 86 heran und überschreibt dabei mit „Gottesgeburt in der Seele“ den Passus über die Hinordnung des (dreifachen) Willens auf Gottes Schenken und Einsenken seines Wortes: „[…] Und dann spricht die Seele: Herr, schenke mir das Wort, daß dein ewiger Wille geschehe.Wenn sie also dem,wovon wir sprechen, genügt, und es Gott gefällt, dann spricht der Vater sein ewiges Wort in die Seele hinein“ (Gerhard Ruhbach/Josef Sudbrack [Hg.], Christliche Mystik. Texte aus zwei Jahrtausenden, München 1989, 183 – 190, hier 188 in der Wiedergabe von Sudbrack; vgl. Meister Eckhart, DW 3, 490,4– 6: „Danne sprichet diu sêle: ’herre, sprich in mich, daz dîn êwiger wille sî’. Sô si alsus genuoc ist dem, als wir hie vor gesprochen hân, gevellet ez danne gote wol, sô sprichet der liebe vater sîn êwigez wort in die sêle“). Vgl. den Nachweis bei Kern, Vernunft bei Eckhart, 222 mit Anm. 96 und Verweis auf Eckharts lateinischen Johanneskommentar. Die in Predigt 22 begegnende Unterscheidung zwischen einer Sohn-
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Henning Theißen
Ich halte diese adoptianische Vorstellung für den wesentlichen Ertrag einer weder stehend metaphorischen noch buchstäblichen, sondern wirklich-bildhaften Rede von Wiedergeburt. Sie macht es möglich, das mitgebrachte Vorleben vor aller Wiedergeburt in das Leben als Christ zu integrieren. Für ein solches Christenleben wird der ‚alte Adam‘ weder mit der Taufe schon ersäuft sein noch als Schatten der Vergangenheit mitwandern, sondern mit den Augen der Vergebung betrachtet werden können. Nicht zuletzt unterscheidet dieser Umgang mit dem natürlichen Vorleben die christliche Wiedergeburtsauffassung sowohl von der philosophischen Tradition, die Wiedergeburt nur im Gegensatz zur natürlichen Geburt denken kann,⁴⁹ als auch von der theologischerseits zunehmenden Beschäftigung mit dem Natalitätsthema, das in der einen oder anderen Weise einer sozialen Anthropologie gilt⁵⁰ und weniger dem Thema dieses Kongresses: dem Menschen und seiner Seele.
schaft des Logos gemäß der Ungeborenheit und derjenigen der frommen Seele qua Gottesgeburt (Meister Eckhart, DW 1, [371] 373 – 389 [mhd.], 517– 520 [Übers.], hier 518 = DPT Nr. 23, 256 – 261, hier 258), kann hier nicht gut herangezogen werden, da der trinitarische Vergleichspunkt ein emanatorisches Sein bezeichnet (vgl. Ruh, Meister Eckhart, 139). S.o. bei Anm. 32. Dies gilt für die theologische Rezeption des Arendt’schen Natalitätsthemas in feministischer und phänomenologischer (E. Moltmann-Wendel, S. Sandherr) wie auch feminismuskritischer Perspektive (K. Ulrich-Eschemann) und ganz besonders auch für P. Sloterdijks Konzept einer „negativen Gynäkologie“ (P. Sloterdijk, Sphären I, Frankfurt 1998, 275 – 295), das unsere Ausgangsfrage des Nikodemus positiv beantworten möchte (vgl. zum Ganzen: Henning Theißen, Natalität. Eine noch junge Begriffskarriere in der Anthropologie, in: NZSTh 54 [2012] 285 – 311).
Bernd Harbeck-Pingel / Freiburg i.B.
Struktur und Bedeutung in der Lehre vom Heiligen Geist Konrad Stock gewidmet
In der Rede vom Heiligen Geist begegnet eine wesentliche Aufgabe der Reflexion des Christentums: zu erklären, wie das Wissen von Gott zustande kommt und worin es im Einzelnen besteht. Die Pneumatologie ist erstens Strukturtheorie, insofern sie entfaltet, wie für das Bewusstsein die Gegenwart Gottes präsent wird. Zweitens sind aber daran bestimmte Bedeutungen angeschlossen, z. B. Trost, Wahrheit, Artikulation, sozialer Zusammenhalt, Beten. Wissen (wie) und Wissen (was) lassen sich dabei durch Beobachtung unterscheiden. Sie werden aber gemeinsam in Anspruch genommen, wenn die Wirkung Gottes als Wirken des Heiligen Geistes betrachtet wird. Allerdings wiederholt sich dabei die Unterscheidung zugleich. Wie Gott wirkt, kann im engeren Sinn theologisch gedacht werden als Explikation des göttlichen Handelns, oder es kann verstanden werden, wie religiöse Menschen sich der göttlichen Wirksamkeit bewusst sind. Was über die Charakteristika des göttlichen Wirkens gesagt werden kann (es sei tröstend, wahrheitsstiftend, sprachbildend, vereinend usw.), kann wiederum als Kategorie des göttlichen Handelns oder im Bewusstsein der unvertauschbaren und kommunizierbaren religiösen Erfahrung gedacht werden. Dass Schleiermachers Theologie für dieses Thema nicht ungeeignet ist, liegt wohl auf der Hand. Bei der Textauswahl konzentriere ich mich auf seine Predigten, vorrangig zu Pfingsten und Trinitatis, die semantisch variantenreicher als die Theorie des „Gemeingeistes“¹ der Glaubenslehre sind. Die Untersuchung hat zum Ziel, Prozesse in ihrem Entstehen, ihrer Dauer und ihrem Ende beschreiben zu können, wie sie durch die Präsenz Gottes für das endliche Bewusstsein gestaltet sind. Dies bedeutet, dass in Schleiermachers Texten die Stabilität und Veränderung, wie und was über den Geist Gottes gesagt wird, nachgezeichnet werden. Methodisch ist dabei seine subjektivitätstheoretische Konzeption ergänzt durch neuere Arbeiten zur Semantik und Sozialontologie. Wenn am Schluss nach einigen Seitenblicken auf die „Glaubenslehre“ der Gottesbegriff der „Dialektik“ betrachtet wird, erweist sich, dass die Divergenz der Textsorten – Pragmatik der Verkündigung auf der einen Seite, philosophisch-theologische Modellbildung auf der anderen Seite – die Semantik „Geist Gottes“ nicht
Vgl. Wilfried Brandt, Der Heilige Geist und die Kirche bei Schleiermacher, Zürich 1968; Emilio Brito, La Pneumatologie de Schleiermacher, Leuven 1994; Martin Diederich, Schleiermachers Geistverständnis. Eine systematisch-theologische Untersuchung seiner philosophischen und theologischen Rede vom Geist, Göttingen 1999; Dorothee Schlenke, „Geist und Gemeinschaft“. Die systematische Bedeutung der Pneumatologie für Friedrich Schleiermachers Theorie der christlichen Frömmigkeit, Berlin 1999. DOI 10.1515/9783110464573-025
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Bernd Harbeck-Pingel
auseinandertreibt. Sie lässt sich vielmehr integrieren, wenn der strukturelle Aufwand nicht über die Vielfalt sinnvoller Rede von Gott hinweggeht. Wir beginnen mit dem „Geist der Wahrheit“: „Wenn der Erlöser einst sagte, es komme die Zeit, daß man weder in Jerusalem Gott anbeten werde noch an irgend einem andern bestimmten Ort auf ausschließliche ² Weise; denn der Vater wolle solche die ihn anbeten im Geist und Wahrheit: so sagt er dieses ganz vollkommen erst darin worin er die Jünger von sich ab auf seinen Geist hinweist; denn eben hierin sagt er, es werde die Zeit kommen wo man sich der besondern Nähe Gottes bewußt sein werde nicht nur in seiner Person obgleich von sich/ selbst er doch sagte: ,wer mich siehet der siehet den Vater‘: und darin allein könne jeder zur Anschauung Gottes kommen, sondern im Geist und Wahrheit überall könne das Bewußtsein der Gegenwart Gottes in dem Menschen sein.“³
Die Kombination Geist und Wahrheit exponiert an dieser Stelle das Kriterium der Wahrheit. Erstens ist es das Bewusstsein für die Gegenwart Gottes und nicht eine herausgehobene Modalität, nicht die Jünger-Jesu-Beziehung und auch nicht eine räumliche Qualität. Zweitens wird dies aber nicht an die bekannte Verweisrelation Jesus und der Vater angeschlossen, sondern auf den Geist Gottes ausgerichtet. Unter der Hand gelingt hier Schleiermacher eine trinitarische Figur. Auf diese Weise haben wir es mit einem semantischen Raum zu tun, dessen Kategorien im weiteren entfaltet werden. Mit der Kontexttheorie Robert Stalnakers wäre dieser als „common ground“ zu bezeichnen, als Voraussetzung für kommunikative Verwendung, also für die kommunikative Explikation von „common belief“ und „common knowledge“: “The common ground is an information state that we represent with the set of possible worlds (the context set) that is compatible with the information.” ⁴
Anders als Stalnaker bezeichne ich ihn nicht als pragmatische Funktion, weil es mir darauf ankommt, dass auf der Grundlage von Bewusstseinsakten eine Stabilisierung der Semantik über einzelne kommunikative Prozesse hinweg gelingt. So hätte Stalnaker angesichts der pragmatischen Ausrichtung seiner Kontexttheorie auch berücksichtigen können, dass Handeln, Verhalten oder nonverbale Kommunikation Bedeutungen explizieren. Indem ich es aber bei im strengen Sinn sprachlicher Artikulation belasse, wird deutlich, wie semantische Räume generiert und auf Dauer gestellt werden.
Hervorhebung BHP. Friedrich Schleiermacher, Aus der Predigt am 1ten Pfingstfesttag 1832. Joh 16,7, in: Ders., Kritische Gesamtausgabe, hg.v. Günter Meckenstock u. a., Bd. III/13.:Predigten 1832, hg.v. Dirk Schmid, Berlin 2014/Boston, 284 f. Robert Stalnaker, Context, Oxford 2014, 36; vgl. aaO. 45 (“Common ground, in a formal model of this kind, will habe the structure of common knowledge and belief, with an accessibility relation defined in terms of the transitive closure of the acessibility relations for a notion of acceptance for the purposes of the conservation.”).
Struktur und Bedeutung in der Lehre vom Heiligen Geist
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Schleiermacher nimmt an, dass die Rekurrenz auf eine Semantik mehr oder minder erfolgreich sein kann. Er führt dazu beispielsweise an, dass dies bei Propheten und Jüngern nicht immer zuverlässig der Fall gewesen sein muss, was die Bedeutung des Reiches Gottes oder die Wirksamkeit des Geistes betrifft.⁵ Das Wahrheitskriterium zu ermessen, heißt aber im vorliegenden Fall, auf die Struktur, auf die Konstitutionsbedingungen des semantischen Raums durch die vorausgesetzte Stiftung und bleibende Präsenz Gottes für möglicherweise wahre Erfassungen im Glauben zu verweisen. Diese sind zentriert auf die Kombination von Geist und Wahrheit, so dass also keine andere Wahrheit daneben in Bezug gesetzt wird. Zugleich sind sie veranschaulicht durch die Verweisstruktur Jesu auf den Vater hin, die im Modus des Textes eine Konkretisierung darstellt, wie das, was wahr ist, veranschaulicht werden kann. Diese Figur bleibt ferner anschlussfähig an jede weitere Erfahrung des religiösen Subjekts, insofern es frei ist, an welchem Ort und auf welche Weise auch immer, etwas Wahres über sich zu erfahren. Inwiefern diese Wahrheit eine mit anderen geteilte Wahrheit ist, wird noch zu bedenken sein. Denn sofern sie als Explikation der Formel „Wer mich sieht, sieht den Vater“ im Modus des Geistes und der Wahrheit erscheint, ist sie mit der Differenz des Wissens wie / Wissens was noch aufzuschlüsseln. Komplexer wird die Situation dann, wenn die Semantik des Heiligen Geistes, wie es aber der Sache nach nötig ist, in ihrer Variationsbreite bedacht wird und die Erfassung der Wahrheit als sozialer Prozess gedacht wird.⁶ Während die Metapher der Einwohnung subjekttheoretisch gleichsam minimalistisch ist, weil sie mentale Prozesse substantialisiert, diversifiziert sich die Rede vom Geist in denjeningen Iterationen,⁷ die benötigt werden, damit kommunikativ das, was über Gott gesagt wird (er sei Tröster,Wahrheit, verleihe dem Gebet Ausdruck, Schöpfer usw.), für andere und im Modus der Rede anderer gespiegelt wird. „Mögten wir der Erfüllung dieser Verheißung des Herrn inne werden in dem Bewußtsein, welches er in den Jüngern gründete durch seine geistige Gegenwart in ihnen; dann werden wir sagen müssen: ,Die Worte die Geist und Leben sind haben ihren unver-/gänglichen Sitz aufgeschlagen in der Menschheit, nicht hie und da ist die geistige Gegenwart des Herrn zu suchen, auch nicht in dem geschriebnen Buchstaben als solchen; der wäre selbst auch todt wenn der Geist nicht ihn beselte, in ihm lebte, ihn verklärte. Wir finden ihn, der seinen Geist uns mitgetheilt, überall, nicht etwa in der geistigen Entfernung von ihm, nicht etwa durch, von ihm unabhängiges, Licht, sondern durch und vermöge seiner geistigen Einwohnung, durch seinen und von ihm nehmenden Geist haben wir sein Licht, Wahrheit, Leben, aber nicht an irgend leibliche Gegenwart gebunden, sondern ganz im Geiste ihn besitzend und schauend und in ihm seiend.‘“⁸
Vgl. Friedrich Schleiermacher, Aus der Predigt am S. Trinitat. 28. Röm 11,32. Nachschrift Woltersdorff, in: Ders., Kritische Gesamtausgabe, hg.v. Günter Meckenstock u. a., Bd. III/11: Predigten 1828 – 1829, hg.v. Patrick Weiland, Berlin/München/Boston 2014, 113 f. Vgl. Bernd Harbeck-Pingel, Heiliger Geist und Polykontexturalität, Münster 2004. Vgl. Stalnaker, Context (s.o. Anm. 4), 42– 46. Schleiermacher, Aus der Predigt am 1ten Pfingstfesttag 1832 (s.o. Anm. 3), 285 f.
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In euphorischem Ton wird die Zeitstruktur der Gegenwart des Geistes entfaltet, nämlich als in der Mitteilung Christi anfangend. Nun treten aber nicht bloß Begriffe neben Begriffe: Licht, Wahrheit, Leben, sondern Texte neben Texte, wenn wir erstens die Aneignungsform der Predigten bedenken, die ihrerseits auf biblische Texte rekurrieren, von Transformationen in die Pfingsthymnen, Glaubensbekenntnisse, Musik und Bildende Kunst einmal ganz abgesehen. Auf diese sind einzelne Prädikationen des Heiligen Geistes, z. B. „Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf“, von sentence presuppositions ⁹ bestimmt, die das umfassen, was überhaupt als Wissen über den Geist aussagbar wäre. Als speaker presupposition kommt dabei infrage, was der Sprecher über den Geist weiß oder als mit seinen Gesprächspartnern geteiltes Wissen weiß. Die Emphase in Schleiermachers Sprechen zielt auf ein Zusammenstimmen mit der Gemeinde. Gleichwohl ist das geteilte Wissen nicht alles, was wiederholt wird, sondern insofern die Lebensmetapher auf die Erweiterung dessen, was als Erfahrung des Geistes thematisiert wird, ausgerichtet ist, arbeiten presuppositions an der Stelle von Wiederholung und Ergänzung. Die von Stalnaker erörterten semantischen Räume verhalten sich nicht ungeordnet zu common belief oder common knowledge, sondern sie nehmen in sich Zentrierungen auf. Was oben als Bewusstwerden der Wahrheit, die kohärent mit der Relation JesusVater gedacht wird, benannt wurde, wäre eine Figur, mit der diese Zentrierung aufzuweisen wäre. Die Einwohnungsmetapher eine andere, die Mitteilungsfigur eine dritte: „Indem uns gesagt wird, daß die Jünger redeten,wie der Geist es ihnen gab auszusprechen, so wird uns damit angedeutet, daß keiner das Wort des Andern nachbildete und nachsprach, daß es nicht war ein Wort aus andern Worten her, sondern ein Wort aus dem innersten Leben des Geistes und der Seele. Aber anders freilich entsteht das Leben nicht, als vermittelst des Wortes. Daß es so und nicht anders ist und daß Christus selbst nichts andres ist, als das Fleisch gewordene Wort, das, meine Fr., ist eines und dasselbe, das Eine und selbe Geheimniß und Allen gleich deutlich. Aber wenn nur durch das Wort das Leben mitgetheilt werden kann, wie Christus selbst auch nichts Andres hatte, so muß eben das Wort wieder erst ein inneres Leben in dem Menschen werden, und dann kann und soll es auch wieder als Wort aus ihm heraustreten, um Geist und Leben in Anderen zu zünden. […] Der Geist macht lebendig, und aus diesem Leben bringt er dann das Wort hervor, frei und unbeschränkt.“¹⁰
Wenn die Freiheit der Artikulation aber vom „inneren Leben“ des Menschen ausgeht, sehen wir hier die Zentrierung auf eine Körpermetaphorik ausgerichtet, die für die Eigentümlichkeit der Wirkung des Geistes von erheblicher Bedeutung ist. Denn nicht nur die Freiheit der Artikulation, sondern auch ihre Hemmung ist damit auszudrücken. Das Wort artikuliert seine Artikulationsschwäche, denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich’s gebührt.
Stalnaker, Context (s.o. Anm. 4), 59. Friedrich Schleiermacher, Predigt, von Dr. Schleiermacher gehalten am 30. Mai 1830, am 1. Pfingstfeiertage 1830, in: Predigten 1830 – 1831, hg.v. Dirk Schmid. KGA III/12. Berlin 2013, 205.
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Indem Schleiermacher die Eigentümlichkeit der Mitteilung hervorhebt, liegt dies in der Konsequenz der Wirkung des Geistes, die je und je zu anderen Veränderungen der Semantik des Geistes selbst führt. Dieser Rekurs ergibt sich schlicht durch die Ausgangskonstellation, dass etwas, was als wahr bezeichnet wird, unter Bedingungen artikuliert wird, die diesen Wahrheitsbezug explizieren. Die Veränderung der Semantik bezeichnet Stalnaker u. a. als „accomodation“ ¹¹, d. h. die Verschiebung von common grounds hat damit zu tun, dass unter pragmatischer Hinsicht Kontexte sich ihrerseits verändern. „Allein dieses, daß der Herr durch seinen Geist uns los machen will wie er die Jünger los machte in ihrem Verhältniß mit ihm von allem Aeußern, Räumlichen und Zeitlichen […]“¹²
Es ist aber nicht nur eine Veränderung, sondern auch eine Befreiung bezeichnet, und daher trifft es der Begriff „accomodation“ nicht genau. Denn accomodation bezieht sich nicht auf die Anpassung an veränderte Kommunikationsbedingungen oder soziale Kontexte, sondern sie muss ganz different gedeutet werden, nämlich als Konstituierung des geistlichen Lebens. Dass damit keiner Privatisierung das Wort geredet ist, versteht sich von selbst, wenn Schleiermacher die Natur des Geistes als für eine Gemeinschaft bestimmt definiert. Gleichwohl wird die Mehrfachkodierung semantisch unübersichtlich, denn Leben, Wahrheit, Freiheit sind nicht tautologisch zu verstehen. Wenn sie der Rhetorik der Predigt entledigt sind, müssen sie je für sich belastbar sein, für kommunikative Prozesse, die als Realisierung und Bezeichnung der Wirklichkeit des Geistes zu verstehen sind. „[…] aber indem nun die ihnen [scil. den Jüngern] immer unentbehrlichere Gemeinschaft mit ihm [Jesus] eine rein geistige ward, sollten sie zum Bewußtsein eines selbstständigen göttlichen Lebens kommen, welches er selbst in ihnen war und blieb aber unabhängig von seinem menschlichen Dasein. Darum sagte er ihnen, das Bewußtsein sei das Höchste für sie, daß er in ihnen sei ohne äußre Vermittelung. Das ists weshalb hier der Erlöser seinen Geist, den er ihnen verheißt ,den Tröster‘ nennt, und wie passend war diese Benennung so lange noch solche da waren unter denen und mit denen er sein Leben auf Erden gelebt, aber nachdem wir uns sein Dagewesensein nur vergegenwärtigen nur durch seinen uns mitgetheilten Geist, seitdem ist jener Name nicht in dem Munde der Christen; es ist der Geist der Wahrheit, der Geist der Gemeinschaft, des Glaubens und der Liebe welcher uns bindet; nicht ist es eine neue in ihm noch nicht vorhanden gewesene Kraft die uns beselt sondern sein Geist ists der uns von aller Abhängigkeit an Raum und Zeit befreit, da wir, wie groß auch die Entfernung von seinem irdischen Leben sei, ihn selbst als die Quelle des Lebens in uns haben wenn er uns den Geist mitgetheilt.“¹³
So sehen wir Schleiermacher in korrigierender Tätigkeit. Denn die trostreiche Wirkung des Geistes lässt sich ja nicht nur, wie er es vorführt, aus den Abschiedsreden erschließen, sondern viel grundsätzlicher im Seufzen des Geistes selbst, der die nicht
Stalnaker, Context (s.o. Anm. 4), 58. Schleiermacher, Aus der Predigt am 1ten Pfingstfesttag 1832 (s.o. Anm. 3), 287. Schleiermacher, Aus der Predigt am 1ten Pfingstfesttag 1832 (s.o. Anm. 3), 288.
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ausdrucksfähigen Gläubigen vertritt (Röm 8). Oder im Hymnus: „O heilige Brunst, süßer Trost. Nun hilf uns fröhlich und getrost/ in deim Dienst beständig bleiben, die Trübsal uns nicht abtreiben.“¹⁴ Schleiermacher ordnet dagegen den semantischen Vorrat mit der Liste Wahrheit, Gemeinschaft, Glaube, Liebe und zentriert damit das, was konzeptionell in der Logik der Mitteilung liegt. Diese Akkomodation des semantischen Bereichs führt zu Veränderungen, weil nicht alle Bedeutungen gleichzeitig zu haben sind. Die Liste selbst ist ja eine Äußerung von Überforderung. Wenn die Pneumatologie insgesamt nicht überfordern soll, weil sie ja semantisch auf Erweiterung aus ist, schadet eine Verknappung nicht, denn in der Differenz von Sparsamkeit und Redundanz können dann Sprechakte entwickelt werden, die nicht einfach Bekanntes wiederholen, sondern im Modus des Wissens,wie über Gott etwas gesagt wird, fortschreiben. Bei der Beurteilung, was verzichtbar und unverzichtbar ist, kann man dann geteilter Auffassung sein, wie das vorhergehende Beispiel aus Schleiermachers Predigt verdeutlicht. „Darum haben wir das Bewußtsein des Lebens Christi wirklich, so haben wir es ohne äußre Vermittlung, aber wir haben es nicht anders, als nur als Glieder der Gemeinde in der der Geist des Herrn wohnt, und unsre Thätigkeit ist nur etwas als gemeinsame, als bedingt in dem Umlauf der Gemeinschaft des Glaubens und der Liebe,wo immer die Äußerung der Wirksamkeit des Geistes in dem Einen die in dem Andern weckt und jeder ausgezeichnete Augenblick in dem geistigen Leben des Einen sich dem des Andern mittheilt, und so Alles Allen zu gut kommt, und die Gemeinschaft immer thätig und wirksam sein muß: aber das ist nicht leiblich, sondern geistig, es ist das Eine Leben welches Alle durchdringt und Alle verbindet. Darum konnte der Herr nur kurze Zeit auf Erden sein, damit eben die Kraft des Lebens frei dastehe und unabhängig.“¹⁵
Die Abwesenheit des Herrn wird damit zur Gelingensbedingung für die Selbstständigkeit der Gläubigen, die im Geist die Gemeinschaft mit dem Erlöser erleben.Wie auch in den §§121– 126 der Glaubenslehre¹⁶ denkt Schleiermacher die Vereinigung im Kontext des Gesamtlebens. Die mystische Kategorie der Einwohnung korreliert mit der Präsenz des Geistes für die Gemeinschaft, in der sich die einzelnen Wiedergeborenen in ihrem religiösen Ausdruck ergänzen. Für die Zentrierung dieser möglichen Welt gilt, dass die Präsenz des Geistes als Geist für die Gemeinde strukturbildend gedacht wird, also invariant, während die religiöse Erfahrung des Einzelnen und die geteilte religiöse Erfahrung der Gemeinde Variationen unterliegen.
Eyn Enchiridion oder Handbüchlein. eynem ytzlichen Christen fast nutzlich bey sich zuhaben / zur stetter vbung vnd trachtung geystlicher gesenge vnd Psalmen / Rechtschaffen vnd kunstlich verteutscht. Erfurt 1524 (Vorlage 1480). Schleiermacher, Aus der Predigt am 1ten Pfingstfesttag 1832 (s.o. Anm. 3), 289. Vgl. Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube: Nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1830/31), in: Ders., Kritische Gesamtausgabe, hg.v. Hermann Fischer u. a., Bd.I.13,2: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage (1830/31). Teilband 2, hg.v. Rolf Schäfer, Berlin/New York 2003, 278 – 308.
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“We are to use sets of centered possible words, which are pairs consisting of a possible world and a designated time and person within that world.”¹⁷,
definiert Stalnaker und hat offenbar die kommunikative Praxis im Blick. Die Indexikalität des Sprechers hat unter raumzeitlichen Bedingungen zentrierende Wirkung. Doch nicht allein diese wird man bezeichnen können, sondern die Pluralität der Sprecher. Gewiss hat die Vereinfachung auf zwei Sprecher methodisch den Vorteil, dass die „accomodation“ besser darstellbar ist. Doch bereits unter den Bedingungen einer sich über ihren Glauben verständigenden Gemeinde sind die möglichen Verschiebungen erheblich gesteigert. Dabei werden sich Gewohnheit und Stabilität weniger dadurch erklären lassen, dass die Konstruktion des semantischen Raums wegen der Etablierung des Gesamtlebens Christi invariant bleibt. Vielmehr ist Schleiermachers Bemerkung zu beachten, dass die bloße Wiederholung eines semantischen Repertoires nicht zur Belebung des Glaubens beiträgt, eher zu dessen Ermüdung. Indes ist gegenüber Stalnaker einzuwenden, dass die Zentrierung möglicher Welten aufgrund der inferentiellen Beziehung des semantischen Materials erfolgt und auf diese Weise erklärt werden kann, warum bestimmte Konfigurationen z. B. von Leben und Freiheit, Freiheit und Wahrheit, Schwachheit und Tröstung als begriffliche Arrangements wiederkehren. Bei der Analyse eines Textkorpus, beispielsweise von Schleiermachers Pfingstpredigten, wird die Indexikalität auch intensional verständlich, weil die Bevorzugung bestimmter Bedeutungen des Heiligen Geistes und die Vernachlässigung anderer nicht auf Geschmack beruht, sondern konzeptionelle Haltungen erkennen lässt. Diese sind gleichwohl an Sprecherpositionen angeschlossen, nicht jedoch so, dass sie biographisch oder funktional unvertauschbar wären, also mit Schleiermachers Person oder der Rolle des Predigers zu erklären sind. Die Unabsehbarkeit der Anzahl möglicher Sprecher führt bei Schleiermacher selbst zur emphatischen Äußerung: „Das Eine gestaltet sich tausendfältig, aber ist doch im Wesentlichen wieder dasselbe. Der Eine Geist redet tausend verschiedene Zungen. Lassen wir nur ihn wirken, denn giebt er uns auch die unmittelbare Erfahrung davon, wie Alles sich erweiset zu demselben Gemeingut; wie er nichts Geringeres zum Ziel hat, als Alle zusammenzufassen unter Einem.“¹⁸
Das teleologische Moment der Integration des Differenten, das in den Äußerungsformen der Gläubigen erscheint, war anfangs in den Abschiedsreden betrachtet worden. Der Geist wird gesandt, um die Abwesenheit des Erlösers zu kompensieren. Schleiermacher konkretisiert dies bezogen auf den Geist der Gemeinschaft:
Stalnaker, Context (s.o. Anm. 4), 112. Schleiermacher: Predigt, von Dr. Schleiermacher gehalten am 30. Mai 1830, am 1. Pfingstfeiertage 1830 (s.o. Anm. 10), 203.
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„[…] nur wenn in der Gemeinschaft sein Geist wohnt und sie beselt, kann in jedem der Erlöser zu schauen sein wie der Vater in ihm, wie er sagt: ,wer mich siehet der sieht den Vater.‘“¹⁹
Die Gemeinschaft erscheint dabei als Pluralsubjekt,²⁰ in dem die Individualität der Gläubigen kraft der Beseelung scheinbar nicht zu beobachten ist, doch sofort ist verdeutlicht, dass nicht in der Gemeinschaft, sondern „in jedem“ der Erlöser anzutreffen ist. Auf diese Weise lässt sich ein integrierendes Moment der Geistgemeinschaft erkennen, ebenso wie die zuvor benannte auf Bereicherung angelegte Kommunikation der Gläubigen. Diese Kommunikation ist ihrerseits als Medium und Form Ausdruck der Wirklichkeit des Geistes, weil der Modus gemeinschaftlicher Äußerung zielgerichtet auf die Einheit im Geist ist und dieselbe in der Variationen der Semantik des Heiligen Geistes thematisiert.²¹ Für das Verständnis der Semantik des Heiligen Geistes als möglicher Welt lässt sich schlussfolgern, dass in dem Maß, wie geteiltes Wissen erklärungsbedürftig ist, dies auch für geteilte Gefühle gilt. ²² Denn anders als das Handeln im Geist, welches entweder als solitär, beteiligt oder kooperativ verstanden werden kann, sind Wissen und Gefühle an Formationen des Ausdrucks gebunden, die in den Beschreibungspositionen A weiß, dass B weiß, dass – aber: A fühlt mit B, weil B fühlt, dass eine andersartige Asymmetrie benötigt. Denn während sich das Mitwissen offenbar aufklären lässt, gilt dies für das Mitgefühl nur in abgeleiteter Weise.
Die Sozialität des Geistes reproduziert demnach die Probleme der Sozialität des Heiligen Geistes. Wenn das Zusammenstimmen der Personen in der Gemeinschaft nicht wider jede Erfahrung von Differenz affirmiert werden soll, muss die je eigene Ausprägung der Präsenz des Geistes entfaltet werden können. Dies geschieht bei Schleiermacher indes nicht mit der Semantik von Schwachheit, denn diese wird als Grundfigur für die Äußerung des Geistes benötigt: „So sollte von Anfang an das Reich Gottes sich als ein freies entgegenstellen dem Buchstaben. Das ist der neue Bund, wird gesagt, den ich mit euch machen will in jenen Tagen, nicht wie der alte, sondern meinen Sinn und Willen will ich in ihr Herz schreiben. Das ist der neue Bund, den der Herr gemacht hat. So laßt uns nicht wieder Buchstaben suchen in Stein gegraben oder mit Dinte auf
Schleiermacher, Aus der Predigt am 1ten Pfingstfesttag 1832 (s.o. Anm. 3), 289. Vgl. Margret Gilbert, Was bedeutet es, dass wir beabsichtigen?, in: Hans Bernhard Schmid/David P. Schweikard (Hg.), Kollektive Intentionalität, Frankfurt/Main 2009, 356– 386. Vgl. Rainer Schützeichel, Fühlen als ein soziales Phänomen. Über responsive und reflexive, geteilte und kollektive Emotionen, in: Karl Mertens/Jörn Müller (Hg.), Die Dimension des Sozialen, Berlin 2014, 41– 64. Vgl. Christoph Demmerling, Geteilte Gefühle? Überlegungen zur Sozialität des Geistes, in: Karl Mertens/Jörn Müller (Hg.), Die Dimension des Sozialen, Berlin 2014, 21– 40.
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Papier geschrieben, sondern den Geist laßt uns aufnehmen, wo wir ihn finden, nicht den Buchstaben; denn der gehört dem alten Bunde an. So war es ein freier und heiliger Geist, in welchem sich zuerst dieses höhere Leben in den Jüngern des Herrn aussprach. Ja, aus dem Tode heraus hatten sie das Leben geschaut. Und wäre nicht der Gegensatz zwischen der eigenen Schwachheit und der Kraft Gottes in ihnen gewesen, so wäre auch der Geist nicht hervorgetreten; anders als durch diesen Gegensatz hätte der Geist nicht in ihnen gewirkt.“²³
Das dialektische Moment wird also für die Konstitution der Geisteswirkungen in Anklang gebracht und nicht für die je eigene Stärke oder Schwäche des Glaubens. Für letzteres referiert Schleiermacher Paulus: „Und was sagt er [scil. der Apostel] von allen Christen die in der Schwachheit sind? er sagt wenn sie nicht/ wüßten was sie beten sollten, so würde der Geist sie vertreten mit unausgesprochnem Seufzen. Hier ist nicht menschliche Begeisterung, nicht ein Strom schöner Worte und ergreifender Bilder – unausgesprochne Worte sinds. So ists mit aller menschlichen Rede: sie ist schwach und unwürdig aber neben ihr unausgesprochne Seufzer und die bringen allein unsers Daseins Wahrheit vor Gott, die sind das Höchste was aus uns redet und aus uns handelt, so daß dadurch alle wohl wissen die des Geistes kundig sind: das ist der Geist Gottes. Darnach laßt uns trachten, nach dem stillen Leben in Gott mit Gott durch Gott. Menschliche Rede ist unser Beruf, aber laßt uns nicht glauben, daß sie Seligkeit verkünden kann, daß wir dadurch etwas verdienen und wirken, sondern uns den Geist in uns sagen daß wir menschliche Worte reden. Laßt uns die Brüderliebe nicht messen nach denselben menschlichen Worten sondern nach der Selbigkeit des Geistes und trachten nach dem Band des Friedens wodurch die Gemeinde des Herrn zusammengehalten wird und sich erbaut von einem Tage zum andern.“²⁴
Wenn eine Rhetorik der Erregung bereits vorgestellt wurde, so tritt hier eine Beruhigung der Verhältnisse ein. Schleiermacher geht auf die innere Erfahrung zurück, zugleich erkennt er aber im Seufzer keine defektive, sondern (hyperbolisch gewendet) eine maßgebende Äußerung des Glaubens. Aber auch der Seufzer ist Kommunikation, sogar eine solche, die die Gegenwart des Geistes verifiziert. Die Ergänzung der Seufzenden wäre, um es auf die Spitze zu treiben, strukturanalog der Begeisterung des Glaubens und Kennzeichen der Gemeinschaft des Volkes Gottes. ²⁵ Somit wird deutlich, dass die Zentrierung geteilten Wissens Konsequenzen für die Gestaltung von Ritualen und freier Geselligkeit in religiösen Gemeinschaften nach sich zieht.Wenn ich mich bei der Rezeption der Schleiermacher-Predigten auf semantische Fragen konzentriere, so bleibt dies bezogen auf das theologische Problem, was als göttliches Wirken verstanden werden kann, unter der Voraussetzung, dass Formen göttlichen Wirkens gedacht werden können. Das ist gleichsam die Grundaufgabe der Dogmatik.
Schleiermacher, Predigt, von Dr. Schleiermacher gehalten am 30. Mai 1830, am 1. Pfingstfeiertage 1830 (s.o. Anm. 10), 206. Friedrich Schleiermacher, Am 2. Pfingsttage 1828. 1 Cor 2, 12.13. Nachschrift Woltersdorff, in: Ders., Kritische Gesamtausgabe, hg.v. Günter Meckenstock u. a., Bd. III/11: Predigten 1828 – 1829, hg.v. Patrick Weiland, Berlin/München/Boston 2014, 109 f. Vgl. Schleiermacher, Der christliche Glaube (1830/31) (s.o. Anm. 15), §121; II, 279.
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Wenn wir dagegen die pragmatische Reichweite von Stalnakers Context-Theorie berücksichtigen, lässt sich ein Gewinn für das Verständnis von Religionen erzielen. Denn die Strukturtheorie des Geistes zweigt nicht einfach in eine theologische Epistemologie ab. Sie erklärt auch, wie in sozialen Formen, die das Christentum ausbildet, Verhalten und Handeln an eine orientierende Semantik variationsfähig gekoppelt sind. Die Einwohnungsmetaphorik wie auch das stellvertretende Seufzen des Geistes fokussieren dagegen die Frage, wie die göttliche Wirklichkeit in ihrem Gemeinsamsein mit den Gläubigen darin noch von ihnen unterschieden ist. „Nur durch die Kraft des/ göttlichen Geistes sind wir Christen, ohne sie ist alles, was wir denken und thun Stückwerk und unbegründet. Aber, wenn wir uns in Absicht diesen Wirkungen des göttlichen Geistes auf uns, mit Christo vergleichen: so hat er nicht auf ähnliche Weise in Christo Heiligung gewirkt; sonst wäre er nicht der Erlöser, sondern ein Erlöster, sonst nicht unser Vorbild, sondern wir würden ihn übertreffen können. (Also der Geist und Christi sind nicht eins.) An der Sendung dieses Geistes erkennen wir, durch die Kraft der Liebe, daß wir in Christo sind, und Christus in uns. So wird unser Leben ein Theil des göttlichen Selbst.“²⁶
Die Veränderung der Rede vom Heiligen Geist wird hier transparent, insofern Schleiermacher die Reflexionslogik auf die Pneumatologie anwendet. “Changes in the common ground, like changes in common knowledge and belief, will normally take place in response to what I will call a ‚manifest event‘.”²⁷,
schreibt Stalnaker. Das kann auch ein Theorieevent sein, und zwar solch einer, der dazu da ist, Einbezogensein in den Prozess göttlichen Wirkens und darin Unterschiedensein zu bezeichnen. Darüber hinaus wird die Semantik des Heiligen Geistes um die Begriffe Liebe und Vernunft erweitert. „Denn indem das was jeder an dem andern erkennt die gemeinsame Liebe zu Christo ist: so ist hierin ein ununterbrochen wirksames einigendes Princip gegeben.“²⁸
Was aber im Kontext der Glaubenslehre methodisch als Prinzip ausgewiesen wird, verflüssigt sich in der Darstellungsform der Predigt. Als eine Zentrierung der GeistSemantik kommt es in beiden Formen zur Anwendung. Dass Geist-Enthusiasmus nicht einfach irrational neben die „äußere Welt“ tritt, sondern in ein anthropologisches Konzept einbezogen ist, macht Schleiermacher selbst in den Predigten deutlich:
Friedrich Schleiermacher, Einige Gedanken aus Schleiermachers Predigt am Sonntage Trinitatis: 9. Juni [1811]. Nachschrift Matthisson, in: Ders., Kritische Gesamtausgabe, hg.v. Günter Meckenstock u. a., Bd. III/4: Predigten 1809 – 1815, hg.v. Patrick Weiland unter Mitwirkung von Simon Paschen, Berlin/Boston 2011, 336 f. Stalnaker: Context (s.o. Anm. 4), 47. Schleiermacher, Der christliche Glaube (s.o. Anm. 15), §121; II, 280.
Struktur und Bedeutung in der Lehre vom Heiligen Geist
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„Daß wir aber das anerkennen das ists was der Apostel sagt: ,der Geist Gottes giebt Zeugniß unserm Geist’, nemlich dadurch, daß er in uns sondert was ursprünglich unser eigen ist und was wir zu verdanken haben dem in der Kirche Christi waltenden Geist; denn der wirkt auf uns auch schon ehe wir ihn zu unterscheiden vermögen. – Ja der Mensch wird Geist wenn er vom Geist Gottes getrieben wird, die ursprüngliche Kraft wird in ihm Geist jemehr der Geist Gottes das Werk der Heiligung in ihm vollbringt. So laßt uns Beides vereinen, nemlich nach der Vernunft leben und vom Geist Gottes getrieben werden, und laßt uns des Glaubens leben, daß vom Geist Gottes getrieben wir Geist werden, und daß, indem wir den Willen Gottes durch den Geist vollbringen, er Zeugniß geben wird unserm Geist daß wir Gottes Kinder sind und dann auch die Tiefe der Gottheit erforscht jemehr der menschliche Geist Eins mit ihm wird. Das ist die Vollendung des Lebens welches der Herr den Seinen mittheilen will und welches er bezeichnet als das schöne, freie, heilge Leben der Kinder Gottes die den Sinn und Willen Gottes in ihren Herzen finden.“²⁹ Mit transzendentalphilosophischer Präzisierung heißt es in der Dialektik entsprechend: „214.Wir bedürfen eben so gut eines transcendentalen Grundes für unsere Gewißheit im Wollen als für die im Wissen, und beide können nicht verschieden sein. 1. Der Grund vermöge dessen Andere dasselbe wollen wie wir ist auch nicht in uns als Einzelnen gesezt, denn es ist der Grund der Identität des Allgemeinen und Besonderen, sondern zunächst freilich in der lebendigen Kraft der Gattung worauf die eigentliche ethische Deduction ruht. Aber der Grund der Zusammenstim-/mung unsers Wollens zum Sein, daß nemlich unser Thun wirklich außer uns hinaus geht, und daß das äußere Sein für die Vernunft empfänglich auch das ideale Gepräge unseres Willens aufnimmt, dazu liegt der Grund nicht in der Gattung sondern nur in der rein transcendentalen Identität des idealen und realen. […] 3. Der Glaube an Gott ruht bei den meisten Menschen weit mehr auf der Gewißheit des Gewissens als auf der Gewißheit des Verstandes. Wenn sie inne werden daß sie auf dieser Seite können zur Skepsis gebracht werden recurriren sie zwar auf Gott aber selten geht der Glaube ursprünglich von dieser Seite aus weil dazu schon eine speculative Richtung gehört.“³⁰
Für eine handlungstheoretische Erweiterung der Rede vom Heiligen Geist bedeutet dies, die emotive Präsenz religiöser Überlieferung nicht an Individuen anzuschließen, sondern an die sozialen Formen, in denen asymmetrisch Religiosität kommuniziert wird. Wenn der Mensch in den Predigten als „Teil des göttlichen Selbst“ genannt wird, sofern er in den Prozess der Wirksamkeit des Geistes einbezogen ist, fußt dies gleichfalls auf einer transzendentalphilosophischen Herleitung, die wir in der Dialetik
Friedrich Schleiermacher, Aus der Predigt am 2. Pfingstt. 29. Römer 8,13 – 16. Nachschrift Woltersdorff, in: Ders., Kritische Gesamtausgabe, hg.v. Günter Meckenstock u. a., Bd. III/11: Predigten 1828 – 1829, hg.v. Patrick Weiland, Berlin/München/Boston 2014, 399. Friedrich Schleiermacher, Ausarbeitung zur Dialektik (1814/15), in: Ders., Kritische Gesamtausgabe, hg.v. Hermann Fischer u. a., Bd. II/10.1:Vorlesungen über die Dialektik. Teilband 1, hg.v. Andreas Arndt, Berlin 2002, 141 f.
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finden. Die Einheit von Ideen und Gewissen interpretiert Schleiermacher als „Sein Gottes in uns“: „216.Wir wissen nur um das Sein Gottes in uns und in den Dingen gar nicht aber um ein Sein Gottes außer der Welt oder an sich. 1. Das Sein der Ideen in uns ist ein Sein Gottes in uns,³¹ nicht in wie fern sie als bestimmte Vorstellungen einen Moment im Bewußtsein erfüllen sondern in wiefern sie in uns allen auf gleiche Weise (also auch im Sein Gottes in der menschlichen Natur) das Wesen des Seins ausdrücken und in ihrer Gewißheit die Identität des Idealen und Realen aussprechen,welche weder in uns als Einzelnen noch in uns als Gattung gesetzt ist. – Eben so ist das Sein/ des Gewissens in uns ein Sein Gottes. Nicht in wiefern es in einzelnen Vorstellungen vorkommt und so auch irrig sein kann, eben wie auch die Anwendung der Ideen im einzelnen irrig sein kann. Sondern in wie fern es in der sittlichen Ueberzeugung die Uebereinstimmung unsres Wollens mit den Gesezen des äußeren Seins, und also eben dieselbe Identität ausspricht. 2. Gott ist uns also da jenes beides die beharrliche Einheit ist in dem fluctuirenden des Bewußtseins als Bestandtheil unseres Wesens gegeben. Das uns eingeborne Sein Gottes in uns constituirt unser eigentliches Wesen, denn ohne Ideen und ohne Gewissen würden wir zum thierischen herabsinken. 3. In allen anderen Acten unsres Bewußtseins ist uns aber nicht ein Sein Gottes in uns gegeben weil auch unser eignes Sein darin nicht ausgedrükt ist sondern nur ein Zusammensein mit anderem und also um das Sein Gottes darin zu finden außer uns heraus gegangen werden muß. 4.Wenn Gottes Sein in unsern Ideen und in unserm Gewissen ist: so sind doch beide in ihm an sich nicht gesezt weil kein Gegensaz von Begriff und Gegenstand und von Wollen und Können oder Sollen in ihm gesezt ist. Beide drüken also das Sein Gottes an sich nicht aus. 5. Das Sein Gottes ist uns in den Dingen gegeben insofern in jedem Einzelnen vermöge des Seins und Zusammenseins die Totalität gesezt ist, und also auch der transcendente Grund derselben mit; und vermöge seiner Uebereinstimmung mit dem System der Begriffe ist auch in jedem die Identität des idealen und realen gesezt und also auch der transcendentale Grund derselben.“³²
Für das Verstehen von semantischen Welten hat der Übergang zur Transzendentalphilosophie einen bedeutenden Effekt. Denn offenkundig reicht es nicht aus, die Konstellation von Person, Zeit, Begriffen und deren Explikationsgrad heranzuziehen, sondern auch die Lagerung von Begriffen in Theorien. Ein common ground für die Rede über den Heiligen Geist ist durch religiöse Praxis und philosophische Theologie zentriert, wie auch durch Textsorten oder intensional gestufte Inferenzen. Wird der Begriff der möglichen Welt über die Semantik hinaus erweitert, ist er nämlich offen, und das erscheint methodisch erforderlich, für die Reflexion religiöser Praxis und die Zuordnungen von Begriff und Realität.
„in wiefern wir nemlich unser Denken und Wollen als Eins fühlen“ (Anmerkung Schleiermachers). Schleiermacher, Ausarbeitung zur Dialektik (s.o. Anm. 29), 143 f.
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Vollendet: The Completion of Humanity, the Gospel of John, and the Intersubjective Soul of Schleiermacher’s Monologen Introduction One inspiration for this essay is a footnote “invitation” left by Christiane Erhardt in her book Religion, Bildung, und Erziehung bei Schleiermacher that it could be an object of its own study to consider Schleiermacher’s understanding of personhood in relation to his views on immortality.¹ A natural choice for a first text to examine is Schleiermacher’s 1800 “new year’s gift” to his friends, the Monologen, which unfolds his Romantic theory of individual formation.² As one begins to explore the topic, it becomes interesting to see the ways in which the process of self-formation more generally in Schleiermacher seems to be a rather “religious” process, culminating even, I want to suggest, in a Christological reflection on kenotic sacrifice and resurrection. Thus, in the following discussion, I consider the “religious” quality of self-formation in Schleiermacher’s Monologen. Throughout the Monologen, Schleiermacher makes abundant use of theological terminology and imagery. At various points Schleiermacher describes the “community of free spirits” (Gemeinschaft freier Geister) around him like the religious community of the fourth speech on religion, calling it “a holy congregation” (heiligen Gemeinschaft), a “spiritual congregation” (geistigen Gemeinschaft), and a community of “brethren in the spirit” (Brüder im Geiste) who are “the sons of the spirit” (die Söhne des Geistes).³ This spiritual communion “belongs to a better world” (zur beßern Welt gehört),⁴ and Schleiermacher says that he himself is a “prophetic citizen of a later world, drawn to it through living fantasy and strong faith” (ein prophetischer Bürger
Christiane Ehrhardt, Religion, Bildung, und Erziehung bei Schleiermacher: Eine Analyse der Beziehungen und des Widerstreits zwischen den “Reden über die Religion” und den “Monologen” (Göttingen: Vandenhoek und Rupprecht UniPress, 2005), 59, n. 206. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Monologen. Eine Neujahrsgabe (1800), in Kritische Gesamtausgabe I/3; Friedrich Schleiermacher and Horace Leland Friess, ed., Schleiermacher’s Soliloquies: An English Translation of the Monologen, with a Critical Introduction and Appendix (Chicago, Il.: Open Court Publishing, 1926). Volumes in the Kritische Gesamtausgabe will hereafter be referred to as KGA followed by the division (Abteilung) number in Roman numerals and volume (Band) number in Arabic numerals. KGA I/3, 11, 10, 13, 36, 37=Schleiermacher, Soliloquies, 20, 18, 24, 63, 65. KGA I/3, 32=Schleiermacher, Soliloquies, 56. DOI 10.1515/9783110464573-026
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einer spatem Welt, zu ihr durch lebendige Fantasie und starken Glauben hingezogen).⁵ Schleiermacher exhorts his readers: “Wherefore begin at once your life eternal in the constant contemplation of your own true being […] carrying heaven within you.” (Beginne darum schon jezt dein ewiges Leben in steter Selbstbetrachtung […] den Himmel in dir zu tragen).⁶ In the light of the conduct of inner individuality, the “hypocrisy” (Betrug) of those of an “unholy nature” (unheilige Natur) will “reveal itself” (sich offenbaren), while a “secret and holy” liturgical language (heilige und geheime Sprache) of ethics will continue to cultivate and preserve “the elect” (Auserwählte), guide them into “awe before the highest” (Erfurcht vor dem Höchsten), and “help humanity on the way to its goal” (hilft die Menschheit fortbewegen auf der rechten Bahn zu ihrem Ziele).⁷ What is going on with all of this religious language and imagery? Are we to read them as simply the effusive metaphors of a Romantic preacher? Schleiermacher scholarship has often viewed ethics and religion as separate projects in Schleiermacher’s thought, but might Schleiermacher have regarded an individual’s process of self-formation as a “religious” process in some sense? I want to argue that the process of individual formation outlined in the Monologen is a very “religious” process indeed, in the sense of the term “religion” that Schleiermacher had presented in his Reden (1799) on religion one year prior. The conjunction of two features of Schleiermacher’s account leads me to think this is the case. First, individual formation in the Monologen is intrinsically intersubjective; that is, it is marked by relationships (most significantly, intimate, personal relationships) of interdependence with others. Second, this intersubjectivity aims at a certain “completeness” (Vollendung, vollenden, vollendet, etc.) and “perfection” (Vollkommen, Vollkommenheit, vollkommen, etc.) of both the individual and of those intersubjective relationships. The following is divided into two main sections (section 1 and section 2), and each section is further divided into two sub-sections (1.1 and 2.2 on intersubjectivity and 1.2 and 2.1 on completeness). Section one provides some relevant background for understanding the nature and role of intersubjectivity (1.1) and completeness (1.2) in Schleiermacher, looking to his theories of “free sociability” (freie Geselligkeit) and religion, respectively. Close personal relationships are inherently “religious” in Schleiermacher’s view since, for him, they attempt to perfect some sense of “the to-
KGA I/3, 35, 36=Schleiermacher, Soliloquies, 62, 63. On Fantasie in the Soliloquies cf. Blackwell, Schleiermacher’s Early Philosophy of Life, particularly chapters 6 – 7, pp. 273 – 295; Ehrhardt, Religion, Bildung und Erziehung bei Schleiermacher, 210 – 214; Mariña, Transformation of the Self in the Thought of Schleiermacher (Oxford: Oxford University Press, 2008), 142; Brent W. Sockness, “Schleiermacher and the Ethics of Authenticity: The ‘Monologen’ of 1800.” The Journal of Religious Ethics 32, no. 3 (2004): 477– 517. Here 501– 505. KGA I/3, 14=Schleiermacher, Soliloquies, 25. The theological and pious language seems to increase near the end of each discourse. These references may be found in the closing pages of the third soliloquy, “Weltansicht,” KGA I/3, 36 – 40=Schleiermacher, Soliloquies, 64– 68.
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tality of what is real” through a completed, intersubjective pursuit of “reunification with the all.”⁸ In other words, relationships with others always include some level of awareness of the vastness of reality, entail efforts to discern the human’s situatedness in that vastness, and, ultimately, yield asymptotically closer senses of the completion of that process. Section two argues that the individual’s experience and process of self-formation in Schleiermacher’s account likewise entail cultivation of a completed vision of humanity (2.1) achieved intersubjectively (2.2). They are therefore “religious” in Schleiermacher’s view for the same reasons that intersubjectively performed interdependence is religious. The theological and religious language of the Monologen is not to be underestimated. The essay closes with a reflection on the ways that recognizing Schleiermacher’s use of a Johannine theology of resurrection deepens understanding of this “theology of individuality,” so-to-speak.
1. Free Sociability (Freie Geselligkeit) and Religion In his fourth speech on religion Schleiermacher famously declares, “Once there is religion, it will necessarily be sociable” (Ist die Religion einmal, dann muss sie nothwendig auch gesellig sein).⁹ This section aims to show that, in the context of his theory of religion, Schleiermacher’s claim implies its converse also, namely: if there is sociability, then it is necessarily religious. This conclusion will carry into discussion of the intersubjectivity of the Monologen in the next section.
1.1 Free Sociability One of the most important insights Schleiermacher has in the Monologen – indeed his “highest intuition” (höchste Anschauung) – is that each human being is meant to “behold humanity within oneself” and “to present humanity, each in his or her own unique way.”¹⁰ This emphasis on humanity as such, rather than on only the individual human being, is significant. The theory of individuality Schleiermacher
These formulations may be found in Schleiermacher’s discussion of religion in the Brouillon zur Ethik of 1805/06. They capture perfectly what I take to be also the core vision and impulse of the Reden. Friedrich Schleiermacher, Brouillon zur Ethik (1805/06), Schleiermachers Werke vol. 2, ed. Otto Braun (Leipzig: Felix Meiner 1913), 177=ET: Friedrich Schleiermacher, Brouillon zur Ethik / Notes on Ethics (1805/1806), trans. and with essays by John Wallhausser, and Notes on the Theory of Virtue (1804/1805), trans. and with an introduction by Terrence N. Tice (Lampeter, N.Y.: Edwin Mellen Press, 2003), 121. KGA I/2, 267=Friedrich Schleiermacher, On Religion: Speeches to it Cultured Despisers, trans. and ed. Richard Crouter (Cambridge: Cambridge University Press, 1996), 73. KGA I/3, 16 – 17, 18=Soliloquies, 28 – 29, 31. I have adapted the translation to use the gender-inclusive language, which reflects the universal reference to “the human” of the German Mensch and Menschheit.
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presents in the Monologen is a theory of how a numerically singular human subject becomes a distinctive individual by means of uniquely presenting, not simply one’s own humanity, but humanity as such (Menschheit): “so that it reveals itself in every mode, and everything that can come forth from its womb becomes actual in the fullness of infinity” (damit auf jeder Weise sie sich offenbare, und wirklich werde in der Fülle der Unendlichkeit alles was aus ihrem Schooße hervorgehen kann).¹¹ The significance of the reference to “infinity” will become clear below. More to the present point, one should note the emphasis on a universal and complete vision of humanity. If such a vision is necessary for one to realize one’s own individuality, how does one come by it? Schleiermacher attributed the cultivation of such a vision to a form of intersubjectivity that, in his anonymously published 1799 “Versuch einer Theorie des geselligen Betragens” he termed “free sociability.”¹² In this essay, Schleiermacher envisioned free sociability as an alternative form of personal interactions, away from home life and separate from civil obligations, with unique potential for forming individuals’ understandings of reality. In this new kind of quasi-public, yet still intimate setting – a space Schleiermacher modeled on his own experiences in early Romantic Berlin’s “open houses” – individuals freely explore the varieties of human experience through cultivating personal relationships with close friends and new acquaintances in conversation and shared experience.¹³ This is not to say that free sociability, for Schleiermacher, was simply a form of light conversation in polite society, which the association with the salon-style of the open house might suggest.¹⁴ The
KGA I/3, 18=Soliloquies, 31. See [Friedrich Schleiermacher], “Versuch einer Theorie des geselligen Betragens,” pts. 1 and 2, Berlinisches Archiv der Zeit und ihres Geschmacks, 1 (January 1799): 48 – 66; 1 (February 1799): 111– 123. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (1799), KGA I/2, ed. Günter Meckenstock (Berlin: Walter de Gruyter, 1984), 163 – 184. Two English Translations (ET) exist: Friedrich Schleiermacher, “Essay on a Theory of Sociable Behavior,” in Peter Foley, Friedrich Schleiermacher’s Essay on a Theory of Sociable Behavior (1799): A Contextual Interpretation (Lewiston, N.Y.: Edwin Mellen Press, 2006), 153– 176 and also: Friedrich Schleiermacher, “Toward a Theory of Sociable Conduct,” trans. Jeffrey Hoover, in Toward a Theory of Sociable Conduct, and Essays on its Intellectual-Cultural Context, ed. Ruth Drucilla Richardson, New Athenaeum / Neues Athenaeum, vol. 4 (Lewiston, N.Y.: Edwin Mellen Press, 1995), 22– 47. I generally follow Foley’s translation and signal when I have departed from it. Concerning the Berliner “open houses,” Petra Wilhelmy (among others) has pointed out that it is anachronistic to refer to these gatherings at the end of the 18th century as “salons” since the term is used only in reference to hotels and hairdressers until the 1820s. For the sake of clarity, however, I will continue to employ the term since it is the easiest way to refer to the location of what Schleiermacher means by freie Geselligkeit. Petra Wilhelmy, Der Berliner Salon im 19. Jahhundert: 1780 – 1914 (Berlin: Walter de Gruyter, 1989). Cf. Foley, Friedrich Schleiermacher’s “Essay,” 23. Nor should free sociability be delimited to the quadrant of “individual, organizing activity” in the four-fold theory of human associations that Schleiermacher would later develop in his ethics. Free sociability animates all the fields of Schleiermacher’s ethical vision. Schleiermacher presents free sociability in the 1799 essay as a dynamic structure interrelating individuals in groups as they organize
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emphasis in this vision of relationality is placed, rather, on the ways one builds relationships of novelty, creativity, clarity, equality, mutuality, support, and trust. Schleiermacher saw in ordinary human interactions with friends an orientation toward what it means to be human as such and toward the highest ends of human life. Peter Foley suggested, concerning the essay on free sociability, that in it Schleiermacher “finds the root of true humanity in society and sociability.”¹⁵ Similarly, in his biography of Schleiermacher, Kurt Nowak has written that in this essay Schleiermacher argues “sociability was a foundational element of human existence.”¹⁶ How is sociability so integral to the discovery of humanity? “Free sociability,” declares the opening line of Schleiermacher’s 1799 essay, “bound and determined by no external purpose, is demanded loudly by all cultivated persons as one of their first and most noble needs.”¹⁷ Schleiermacher viewed free sociability as a “natural tendency,” a feeling for which is “founded in the essence of human nature.” In the course of one’s normal life – whether domestic or civil – one’s exposure to the various forms, styles, and expressions that humanity can take becomes increasingly routinized. One’s acquisition of “diverse intuitions of humanity” becomes more and more limited. And people experience such limitation as incompleteness, that is, as a sense that their experience of reality does not reflect reality as it really is. The demand for free sociability thus springs naturally from the impulse to know “all appearances of humanity” in order to be able to discern the nature of reality and the situation of humanity in it. Consider the significance of the claim Schleiermacher is making here. Free sociability is no trivial parlor chatter; Schleiermacher regards it as “a fundamental concept founded in nature” which “stands en-
or maintain groups and imagine ways to harmonize their experiences with reality all by means of reciprocal self-presentation. As such, free sociability involves individuals suggesting to one another what kind of group they might be, the group organizing its identity, individuals organizing their relationships to one another in the group, and the group then imagining its forms of self-actualization. These four kinds of action, which Schleiermacher in this essay unfolds as the structure of free sociability, form the structure that Schleiermacher later presents as the whole field of human action in his ethics. For a complete argument to this effect, see my forthcoming Redeeming Relationship, Relationships that Redeem: Free Sociability and the Completion of Humanity in the Thought of Friedrich Schleiermacher (Tübingen, Mohr Siebeck). Peter Foley, Friedrich Schleiermacher’s Essay on a Theory of Sociable Behavior (1799): A contextual Interpretation (Lewiston, Ky.: Edwin Mellen Press, 2006), 147. Kurt Nowak, Schleiermacher: Leben, Werk und Wirkung (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2002), 95. Schleiermacher’s Versuch einer Theorie des geselligen Betragens has been received by an amazingly broad and diverse audience in recent decades – but mainly outside of Schleiermacher scholarship. Political theory, aesthetics, communication theory, and sociology come first to mind, but that is only to name a few. Within Schleiermacher scholarship, however, the essay is seen as important, not so much for the way it develops its stated topic of freie Geselligkeit, but for the way it indicates ideas that later become important in Schleiermacher, for example, Wechselwirkung and Dialektik. KGA I/2 165=Schleiermacher’s Essay, 153.
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tirely on the same footing as that for ethics and law.”¹⁸ Time spent building deep relationships with others is most fundamentally an idealistic, speculative projective which cultivates “all individual perfection” (alle eigne Vollkommenheit) through “sociable perfection” (gesellige Vollkommenheit) – it aims, that is to say, at a completed conception for each person of what it means to be human.¹⁹ And this speculative demand implies an empirical practice: First, the completion of humanity requires maximal diversity. Rather than isolation, “an individual’s sphere [is] to be intersected as variously as possible so that each of one’s own points of limitation will afford a view into a different and strange world. In such a manner, […] the most alien temperament and relationships can also become familiar and similarly intimate to that individual.”²⁰ Second, in order to achieve that diversity, the completion of humanity requires voluntary, reciprocal exchange. The project of completion requires that every person must have equal opportunity to form his or her own humanity (so that no humanity is suppressed). Thus every person in freely sociable relationships must be committed both to seeking out every expression of humanity to be found from others and to communicating all of one’s own humanity to others who are doing the same. “The true character of a society, then, in terms of the intent of its form,” writes Schleiermacher, is that there should be “a reciprocity looping through all participants but also wholly determined and completed by them.”²¹ Free sociability is a process of continuous, reciprocal self-presentation, among a diverse company of equals, of their unique thoughts and feelings drawn from human experience. Most relevant for present interests is that it is the empirical practice of sociability that conducts the speculative project of the completion of humanity. In other words, intimate intersubjectivity conducts ethical striving after understanding of the nature and possibilities of being human in the vastness of reality.²² Schleiermacher redeployed this saturated vision of relationship, first presented in the Versuch as theory KGA I/2, 167=Schleiermacher’s Essay, 156. KGA I/2, 167, 175=Schleiermacher’s Essay, 155, 165. KGA I/2, 165=Schleiermacher’s Essay, 154. KGA I/2, 169=Schleiermacher’s Essay, 158. Translation revised. Several scholars have observed similarities between Schleiermacher’s project of human completion through reciprocal free play and that of Schiller in the latter’s Aesthetische Briefe. Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in Sämtliche Werke (Berliner Ausgabe), Vol. 8 (Berlin: Aufbau Verlag, 2005); ET: Friedrich Schiller, On the Aesthetic Education of Man in a Series of Letters, trans. Reginald Snell (New York, N.Y.: Frederick Ungar Publishing Co., 1971). See Andreas Arndt, “Geselligkeit und Gesellschaft,” 58 – 59; Albert L. Blackwell, Schleiermacher’s Early Philosophy of Life (Chico, Calif.: Scholars Press, 1982), 178 – 182; Frederick Beiser, The Romantic Imperative: The Concept of Early German Romanticism (Cambridge, Mass. and London: Harvard University Press, 2003), 99; Sarah Schmidt, “Zum Denkmodell der Wechselwirkung als Dialektik von Grenzauflösung und Grenzziehung. Freie Geselligkeit bei Friedrich Schleiermacher mit Blick auf Friedrich Schillers Briefe zur ästhetischen Erziehung des Menschen,” in ed. Bärbel Frischmann, Grenzziehung und Grenzüberwindung. Philosophische und interdisziplinäre Zugänge, (Erlangen: Wehrhahn, 2014), 91.
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of sociability, subsequently in the Reden as a theory of religion.²³ Having seen Schleiermacher’s proposal for how humanity might be revealing itself and pursuing its completion (viz., in freely sociable relationships), let us now consider the previously mentioned infinite quality of the task. Let us turn to the Reden.
1.2 Religion Two points require attention: First, religion, for Schleiermacher, is about the completion of humanity in the vastness of all things. Religion is not simply about feeling or intuition or subjectivity or the universe but a particular combination of all of these: “the universe and the relationship of humanity to it,” as he writes in the Reden. ²⁴ The latter is inseparable from the former. It is striking how an overt interest in humanity and the ways human beings relate as humanity to themselves and to the “the totality of what is real” dominate Schleiermacher’s theory of religion, as he describes religion in his ethics. “I speak to you as a human being,” he says again in the Reden, “about the holy mysteries of humanity according to my view.”²⁵ Religion is that in and by which “every side of the human is formed and presented.”²⁶ As in free sociability, the work of religion is to grasp completely the full range of possible expressions, modes, realizations of being human. Every soul, Schleiermacher says, is “a product of two opposing drives”: On the one hand, a discrete drive to draw in and organize all individual things into its thinking and understanding and ambit of experience; on the other hand, a universalizing drive to extend its action over experience, symbolically submitting all reality to its understanding, interests, and longings. “All possible combinations of these forces” are “really present in humanity,” he writes. The work of religion is to calibrate the human soul’s existential instincts vis-à-vis “the universe,” or, the All-Things as it is.²⁷ The goal of religion is that the whole field of human presentations of itself in the universe will be “completely filled out,” “human nature is completed in this sense,” and thereby the finite, limited human being might discern the relationship of humanity to the infinite.²⁸ Second, the “religious” process just described operates in and through – and only in and through – freely sociable community with others. If “humanity itself
The essay portions on sociability appear in the January-February 1799 issues of the Berlinisches Archiv. The speeches on religion were written largely from March to May of 1799. Presumably Schleiermacher was working on and thinking about both pieces simultaneously in 1798 and early 1799, and it is interesting to note the numerous parallels, not only between the Versuch and the fourth speech (on the sociable element in religion), but between the two works overall. KGA I/2, 208=Schleiermacher, On Religion, 19. KGA I/2, 190=Schleiermacher, On Religion, 4. KGA I/2, 199=Schleiermacher, On Religion, 13. KGA I/2, 191– 192=Schleiermacher, On Religion, 5 – 6. KGA I/2, 212=Schleiermacher, On Religion, 23.
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is the universe for you, and you account for everything else only in so far as humanity comes into or goes about in relationship with it” (die Menschheit selbst ist Euch eigentlich das Universum, und Ihr rechnet alles andere nur in so fern zu diesem als es mit jener in Beziehung kommt oder sie umgiebt), as Schleiermacher writes in the second speech on religion then “in order to intuit the world and to have religion, one must first have found humanity” (um die Welt anzuschauen und um Religion zu haben, muß der Mensch erst die Menschheit gefunden haben).²⁹ The sense for the vastness of reality and any understanding of the ways it addresses us occurs, for Schleiermacher, only in encounter with human others. When he turns to “the sociable element in religion” (das Gesellige in der Religion) in the fourth speech of the Reden, he does so because it is the reciprocity of free sociability that generates feeling for the universe. Crucially, free sociability as described in the essay on sociability must be reciprocal not only in form (ein formelles Gesetz) but also in content (ein materielles Gesetz): One person’s self-presentation (in action or speech, for example) effects or stimulates a feeling in another, which in turn prompt the second person to the generation of an original, unique thought. The second person’s communication of that thought effects a feeling in the first person, which leads to a further original thought, et cetera. In religion, this reciprocity (literally, a “switching activity,” a Wechsel-wirkung) cultivates unique and independent individual presentations while at the same time and by means of producing the “total fusion of their natures” (das gänzliche Verschlemzen ihrer Naturen). “The more each approaches the universe, the more each one communicates him- or herself to the others, the more perfectly (desto vollkommner) they become one. No one has a consciousness for oneself alone; each has at the same time the consciousness of the others. They are no longer only human beings, but also humanity, and moving beyond themselves, triumphing over themselves, they are on the way to true immortality and eternity.”³⁰ What is interesting about Schleiermacher’s turn to free sociability in the Reden is that he does not say this sociability is religious only when people are exchanging “religious” thoughts and feelings or are in a “religious” setting. Rather, the freely sociable exchange of thoughts and feelings concerning “all of the elements of humanity” in view of their completion is itself religious. Mutual communication concerning the full sweep of human experience vis-à-vis evolving notions of the vastness of all things just is the development of a feeling and intuition of the universe, just is religion. Free sociability – reciprocal, voluntary, vulnerable, and persistent self-commu-
KGA I/2, 228=Schleiermacher, On Religion, 38. KGA I/2, 291=Schleiermacher, On Religion, 94. Translation revised. “Je mehr sich Jeder dem Universum nähert, je mehr sich Jeder dem Andern mittheilt, desto vollkommner werden sie Eins, keiner hat ein Bewußtsein für sich, jeder hat zugleich das des Andern, sie sind nicht mehr nur Menschen, sondern auch Menschheit, und aus sich selbst herausgehend, über sich selbst triumfirend sind sie auf dem Wege zur wahren Unsterblichkeit und Ewigkeit.”
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nication of one’s ultimate fears, hopes, and understandings, with others offering the same – is not just necessary for religion but necessarily is religious.
2. Complete, Intersubjective Individuality: The Religious Vision of the Monologen Whereas the Reden work on the universal level of “humanity,” the Monologen advance the project of the Reden by further developing the conjunction of freely sociable relationship and the ideal of the completion of humanity in the process of individual formation. In particular, they illuminate the quickening effects of mutual communication. In the Monologen, Schleiermacher’s pious soul forms kenotically (from the Greek “kenosis,” emptying) through increasingly complete fusion (Verschmelzen) with others.
2.1 The Completion of the Individual: Reciprocal Self-Formation Schleiermacher’s theory of individuality is a theory of how a particular but generic human being realizes, forms, and achieves his or her distinct individuality – develops one’s uniqueness (Eigenthümlichkeit). Crucially, this process takes place by means of learning to present in a unique way, not simply one’s own humanity, but humanity (Menschheit) as such.³¹ The point to highlight for the interests of this essay is the emphasis Schleiermacher places on the completion of humanity in a person as the goal of individual formation. This point comes across clearly in Schleiermacher’s statement of his “highest intuition” (höchste Anschauung), quoted earlier: “In this way, what is now my highest intuition occurred to me, [namely], it became clear to me that every human person is to present humanity in his or her own style and in a unique mixing of its elements in order that humanity should reveal itself in every way, so that everything that can proceed from its womb might be able to become real in fullness of the infinite.”³² Thus to form humanity within oneself is the “goal of perfection” (Ziel der Vollkommenheit).³³
Recent treatments of the Monologen in the secondary literature include: Ulrich Barth, “Das Individualitätskonzept der ‘Monologen’: Schleiermacher’s ethischer Beitrag zur Romantik,” in Aufgeklärter Protestantismus (Tübingen: Mohr Siebeck, 2004), 291– 327; Christiane Ehrhardt, Religion, Bildung und Erziehung bei Schleiermacher; Sockness, “Schleiermacher and the Ethics of Authenticity.” For a historical-biographical placement of the text see, Nowak, Schleiermacher, 113 – 121. KGA I/3, 18=Schleiermacher, Soliloquies, 31. Translation revised. “So ist es mir aufgegangen was jetzt meine höchste Anchauung ist, es ist mir klar geworden, daß jeder Mensch auf eigne Art die Menschheit darstellen soll, in einer eignen Mischung ihrer Elemente, damit auf jeder Weise sie sich offenbare, und wirklich werde in der Fülle der Unendlichkeit Alles was aus ihrem Schooße hervorgehen kann.”
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As he relates his own experience, Schleiermacher found himself overwhelmingly aware of his incompleteness, of having an imperfect account of himself (unvollkomnern Darstellung), and felt that he was “still so far from my goal” (noch so fern von meinem Ziele). ³⁴ This incompleteness drives Schleiermacher to seek completion: “I must be up and doing, moving beyond my last position, bringing my own being to its completion, if that be possible in this short life, through new activity and thought” (fort muß ich von der Stelle da ich stand, durch neues Thun und Denken im kurzen Leben noch das eigne Wesen, wenn es möglich, zu vollenden).³⁵ And it drives him into community: “I have to get out, into various forms of community with other spirits in order to see what kinds of humanity there are and what of humanity remains foreign to me, what can become my own, and to determine more and more closely, through giving and receiving, my own essence. […] For this reason, I like to do everything in community.”³⁶ More specifically, Schleiermacher says he longs continuously to be in the company of a friend, placing great value on the immediacy of communication he has with those whose loving comradeship he enjoyed, “in every moment, to be able to exchange thoughts and life with you” (in jedem Augenblik Gedanken und Leben mit Euch tauschen zu können).³⁷ This is due to the necessity of mutually effecting feelings and communicating thoughts to generate appearances of what is human and develop the “intuition of humanity” that Schleiermacher seeks. “For this reason, I like to do everything in community: with inner thought, with intuition, with the taking-on of what is foreign to me—I require the presence of some beloved being so that, already with the inner act, communication provides the organization, and I may forthwith make my account of the world through the sweet and light gift of friendship.”³⁸ The communicative process helps him to identify “whether there is something coherent in me or whether an inner contradiction prevents the picture from
KGA I/3, 20=Schleiermacher, Soliloquies, 35. KGA I/3, 21=Schleiermacher, Soliloquies, 36 – 37. KGA I/3, 21=Schleiermacher, Soliloquies, 37. KGA I/3, 21=Schleiermacher, Soliloquies, 36. Translation revised. KGA I/3, 51=Schleiermacher, Soliloquies, 86. Schleiermacher is careful not to mention names; he published the Monologen anonymously, after all. But all interpreters from Dilthey to Schiele, to Friess and the KGA, as well as more recent Anglophone interpreters Brent Sockness and Theodore Vial see in these lines and in those that follow references to Henriette Herz and Eleanor Grunow. Friess, in addition to his own commentary (pp. 78 – 81), includes the citations to Dilthey and Schiele (p. 86): Wilhelm Dilthey, Leben Schleiermachers (Berlin, Reimer, 1870), 479 ff.; Friedrich Schleiermacher, Monologen. Critical edition by F. M. Schiele (Leipzig: Meiner, 1902), 109. Consult also: Sockness, “Schleiermacher and the Ethics of Authenticity”; Theodore M. Vial, Schleiermacher: A Guide for the Perplexed (London and New York: Bloomsbury T&T Clark, 2013). KGA I/3, 21=Schleiermacher, Soliloquies, 37. Translation revised. “Drum mag ich alles gern in Gemeinschaft treiben: beim innern Denken, beim Anschaun, beim Aneignen des Fremden bedarf ich irgend eines geliebten Wesens Gegenwart, daß gleich an die innere That sich reihe die Mittheilung, und durch die süße und leichte Gabe der Freundschaft ich mich leicht abfinde mit der Welt.
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forming and soon, instead of reaching its completion, like an failed draft my own essence disintegrates into an empty nothingness.”³⁹
2.2 Intersubjective Individuality: Completion Through kenosis Schleiermacher’s close relationships help him to recognize what vision of humanity he is capable of and to understand himself as a human being via that vision. And Schleiermacher’s friends are, of course, themselves developing the visions of humanity they are each capable of at the same time. What is interesting, however, is that in the course of their formation through mutual influence, there is an important sense in which they do not remain independent individuals, for, as seen in the Reden, these friends now live in and through one another. Schleiermacher was a preacher for his entire life, preaching weekly or even multiple times a week. It is difficult to imagine that he might be able to bracket his intimate familiarity with Biblical images and imaginaries even when working on nontheological projects, or that, in a free-flowing text like the Monologen in which he has no stylistic commitments to a strict philosophical genre, he would even wish to do so. Instead, Schleiermacher’s frequent theological allusions in the Monologen might be read as intentional provocations that incite the reader to reflect on an inherent religious quality in the process of forming one’s individuality. Furthermore, it is not a new insight that Schleiermacher consistently gave the Gospel of John pride of place in his theological ruminations throughout his life.⁴⁰ Thus it is not terribly surprising to find an active Biblical literary imagination and one heavily influenced by John in any of Schleiermacher’s works. Recognition of Schleiermacher’s use of a general theological conceptuality of sacrifice and resurrection, as well as particular references to the Gospel of John’s account, deepens understanding of the nature of the specific form of intersubjectivity in the Monologen and its ultimate significance. Mid-way through the fourth soliloquy, Schleiermacher declares a theological hope “that I might know how the old man (der alte Mann) begins a new world just as the transfigured higher life (das verklärte höhere Leben) forms after the resur KGA I/3, 21=Schleiermacher, Soliloquies, 37– 38. “ob in mir ist was sich zusammenreimet, oder ob ein innerer Widerspruch verhindert, daß das Bild sich schließe, und bald als ein verunglükter Entwurf mein eignes Wesen statt die Vollendung zu erreichen sich auflöst in ein leeres Nichts.” From the Weihnachtsfeier to his lectures on das Leben Jesu, Schleiermacher takes John’s Jesus as the conceptual and historical foundation of Christianity. Cf. Friedrich Schleiermacher, Christmas Eve Celebration: a Dialogue, ed. and trans. Terrence N. Tice (Eugene, Or.: Cascade Books, 2010); Friedrich Schleiermacher, The Life of Jesus, ed. Jack C. Verheyden, trans. S. Maclean Gilmore (Mifflintown, Penn: Sigler Press, 1997). Catherine Kelsey has produced a very helpful guide to Schleiermacher’s use of John in his preaching in Catherine L. Kelsey, Schleiermacher’s Preaching, Dogmatics, and Biblical Criticism: The Interpretation of Jesus Christ in the Gospel of John (Eugene, Or.: Pickwick Publications, 2007).
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rection (nach der Auferstehung) of freedom in me.”⁴¹ This is a common Pauline theological trope, found in texts like Romans 6 and Colossians 3. In the latter location, Paul writes to the church that “if you have been raised with Christ, seek the things that are above. […] Put to death what is earthly in you. […] You have put off the old self and have put on the new.” The focus of Romans 6 is resurrection life. Paul says that “If we have been united with him in a death like his, we shall certainly be united with him in a resurrection like his. We know that our old self was crucified with him. […] Now if we have died with Christ, we believe that we will also live with him.” Schleiermacher’s choice to reflect on his old and new life in terms of resurrection signal that a Christological imaginary is active in the Romantic preacher’s mind. As already discussed, an individual’s completion of humanity in oneself entails a taking-up of all of humanity into oneself. But this is only half of the process and corresponds to only one of the human’s “two drives” (namely, the drawing-in) that Schleiermacher outlines in the first speech of the Reden. The process of self-formation, that is, the individual’s completion of humanity’ in oneself, also requires a complete emptying of all that one has taken in into the lives of one’s friends. This second half of the process of self-formation opens itself to deeper understanding when read kenotically and in relation to Schleiermacher’s use of the farewell discourses and Christology of John. The process of mutual presentation with his friends results in Schleiermacher’s taking-up their lives into his own and, indeed, the “fusion” (Verschmelzen) of his soul with those of his friends into one being.⁴² Here, unnamed referents of this union of thought and soul in the text include school friend Samuel Okley, fellow Romantics Friedrich Schlegel, Dorethea Veit, lost lover Eleonore Grunow, and Schleiermacher’s perhaps closest friend, Henriette Herz. “Within” himself, so-to-speak, Schleiermacher regards his unique self as really a combination of selves. Schleiermacher is describing in this way something Jesus seeks for his followers in John 17: “As you, Father, are in me and I am in you, may they also be in us, […] so that they may be one.” In the opening lines of the Monologen, Schleiermacher presents the whole of the work as an “offering” (Darbietung) of his sense for humanity to his readers. “No choicer gift can any man give to another,” he writes, “than his spirit’s intimate converse with itself” (Keine köstlichere Gabe vermag der Mensch dem Menschen anzubieten, als was er im Innersten des Gemü thes zu sich selbst geredet hat).⁴³ The task of individual formation in the Monologen might thus be viewed as Schleiermacher’s interpretation of Jesus’ teaching recorded in John 15:11– 14a, where Jesus says, “No one has greater love than this, to lay down one’s life for one’s friends. You are my friends.” In offering his spirit’s inner converse with itself, Schleiermacher is expend KGA I/3, 47=Schleiermacher, Soliloquies, 78. Translation revised. The Verklärung and the Auferstehung refer to two singular events in the life of Jesus in the gospels, but for which all Christians hope in the consummation, which, incidentally is die Vollendung in German. KGA I/3, 47, 50=Schleiermacher, Soliloquies, 78, 85. KGA I/3, 4=Schleiermacher, Soliloquies, 9.
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ing his life into the lives of his close relations and into the spiritual life of the human republic simultaneously. These allusions become more definite in connection with Schleiermacher’s explicit riff on Chalcedonian two natures Christology. Schleiermacher’s confession at the end of the fourth monologue – “Outlook” (Aussicht) – leads the process of self-formation to its summit. For one who has taken-up all of humanity into oneself then to empty oneself into the lives of one’s friends is to reach “the completion of one’s uniqueness” (der Vollendung seiner Eigenthumlichekeit).⁴⁴ Such a one has overcome the oppositions of humanity’s two natures so long in competition with one another – the drives to subsume all under one’s knowledge and conquer all with one’s activity – by “othering” them, one might say. The mutually self-giving intersubjectivity of the process of self-formation with friends inverts what at first seems an aggressively solipsistic orientation. The two drives that Schleiermacher presents in the Reden as “appropriating” (aneignen) and “penetrating” (eindringen) and less violently in the Monologen as “sense” (Sinn) and “love” (Liebe) might strike one as focused on self-promoting domination.⁴⁵ But it makes more sense to see Schleiermacher as advancing a subversive inversion. For, in the paradigm of the Monologen, one receives all of humanity from one’s friends and relations at one’s own invitation and their free offering; and then one gives it all away, expending all of one’s own humanity into the lives of others. This is a highly idealized process, of course. In fact, the “wholly completed individual” (ganz vollendetes Wesen) to which it refers, writes Schleiermacher, “ist ein Gott.”⁴⁶ The Christological imagery is made explicit. For Schleiermacher the erstwhile pietist preacher cum Enlightenment theologian, Christ is of course the Urbild of a perfected human being.⁴⁷ The reader of the Monologen recognizes a reference to Christ when Schleiermacher writes of this perfect integration of two natures or drives that such “a wholly completed being is a God” (ein ganz vollendetes Wesen ist ein Gott). The redemptive work of Christ then
KGA I/3, 51=Schleiermacher, Soliloquies, 87. Feminist, post-colonial theologian Kwok Pui-Lan, for example, has criticized the Speeches on precisely this point. She argues Schleiermacher’s linguistic and conceptual imaginary reproduces gendered stereotypes and post-colonial oppression. More recently, Steven Jungkeit has tried to address this problem in a complex way by, not smoothing-over Schleiermacher’s imagery, but suggesting nevertheless Schleiermacher may have himself been trying to creatively undermine the oppressors’ activities through co-opting and reversing the language of oppression. See: Steven R. Jungkeit, Spaces of Modern Theology: Geography and Power in Schleiermacher’s World (New York, N. Y.: Palgrave Macmillan, 2012). Throughout, but page 58 features one example; Kwok Pui-Lan, Post-Colonial Imagination and Feminist Theology (Louisville, Ky.: Westminster John Knox Press, 2005), 189 ff. KGA I/3, 51=Schleiermacher, Soliloquies, 87. This typical Enlightenment reference word for Christ does, actually, occur in the Monologen, but only once. KGA I/3, 14=Schleiermacher, Soliloquies, 25. The context, however, makes it likely that Schleiermacher is using the term to refer to Platonic forms. “Aber klarer als der Olymp ist das, was der dürftige Sinn verbannte in unterirdische Finsterniß, und das Reich der Schatten sei schon hier mir das Urbild der Wirklichkeit.”
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is presented here as the completion of all of humanity in the completion of his own humanity. And what happens to one who has attained the perfection of his individuality? Schleiermacher answers: He “must perish” for “in himself he has nothing more to do.”⁴⁸ Christ died because he had completely fulfilled his vision of emptying his life into the lives of those he loved. And for this reason, in John 19 (and in no other gospel), on the cross he could declare “es ist vollbracht.” And this leads, in conclusion, to the vision of resurrection and eternal life offered in this little work: “A completely perfected being,” so Schleiermacher, “must perish” because he “has no place in the world of humankind,” or as Jesus says in John 16, because he has overcome the world.⁴⁹ To overcome the world does not mean to cease to exist. Rather, for Schleiermacher, as for the Jesus of John 20, it means to live a resurrected and transfigured higher life. Just as one receives the lives of others in the formation of one’s own individuality, so, too, one’s resurrected life is taken up completely in the freely sociable community of one’s friends. John 20 gives witness to just such a vision of resurrection: “Jesus came and stood among them and said to them, ‘Peace be with you. […] As the Father has sent me, even so I am sending you.’ And when he had said this, he breathed on them and said to them, ‘Receive the Holy Spirit. If you forgive the sins of any, they are forgiven them; if you withhold forgiveness from any, it is withheld.’” The community’s deliberations over forgiveness illustrate how they realize the presence of Christ in their common spirit by means of mutual giving and receiving of thoughts, feelings, and actions revealing Christ’s completed humanity. In this way, the community of Christ’s followers continues to experience the resurrected Christ and the fulfillment of Jesus’ prayer from John 17 that they be one among themselves and with Jesus and the Father. Within such a Christological frame, in the fourth monologue Schleiermacher approaches the mystical completion of his own individuality-as-humanity when he expresses his desire for a similar kenotic emptying: “Death is thus necessary, and to bring myself closer to this necessity is the work of freedom, and to be able to wish to die is my highest goal! I want to know my friends wholly and intimately and to grasp their entire being, so that with sweet pains each one helps to slay me when he leaves me, and I wish to perfect myself more and more so that my soul may in this way also approach ever nearer the wish to die.”⁵⁰ To empty his inner formation into an external embodiment in one’s community (“daß die innere Bildung auch übergeh in äußre Darstellung”) represents the completion (Vollendung) of every nature.
KGA I/3, 51=Schleiermacher, Soliloquies, 87. KGA I/3, 51=Schleiermacher, Soliloquies, 87. KGA I/3, 52=Schleiermacher, Soliloquies, 88. “Nothwendig also ist der Tod, und dieser Nothwendigkeit mich näher zu bringen sei der Freiheit Werk, und sterben wollen können mein höchstes Ziel! Ganz und innig will ich die Freunde umfaßen und ihr ganzes Wesen ergreifen, daß jeder mich mit süßen Schmerzen tödten helfe, wenn er mich verläßt, und immer fertiger will ich mich bilden, daß auch so dem Sterbenwollen immer näher die Seele komme.”
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“Should I allow the work to ripen and grow perfect within me, my very being itself would pass away as soon as its faithful copy was ready for the world” (ließ ich ihn aber reifen und vollkommen werden das Werk: so müßte dann, so wie das treue Ebenbild erschiene in der Welt, mein Wesen selbst vergehn). Then, Schleiermacher says in his final words, it would be for him as it is for Christ, “it would be finished” (es wäre vollendet).⁵¹
Conclusion It is not the case that Schleiermacher includes exact quotations from the Gospel of John or any other Biblical text, let alone that he cites chapter and verse. Thus, on the one hand, the interpretive suggestion proposed here is simple and modest: A distinctively Johannine vision of the passion and resurrection seems to form when one reads the theological allusions of the Monologen in concert. Reading the text through a theological and specifically Johannine lens, in turn, helps to make a good deal of sense of Schleiermacher’s intersubjective account of the completion of self-formation. On the other hand, the proposal dares to be more bold: The thematic clarity gained by taking Schleiermacher’s theological allusions as, indeed, genuinely religious allusions rather than merely Romantic banter emboldens interpretive intuitions that the Monologen might be articulating the same project on the level of individuality that the Reden advance on a universal scale. Namely, religion concerns the opening of humanity – universally and individually – to the vastness of all things, and this takes place in “freely sociable” relationships of continuous, mutual self-giving. Wherever such relationships might be found and to whatever degree, there is both religion and, what is the same thing, the process of the formation of the completed self.
KGA I/3, 52=Schleiermacher, Soliloquies, 88.
Eckart David Schmidt / Mainz
„… weil doch der Christ der rechte Bürge ist“? Zur Funktion des „historischen Jesus“ in christologischen Entwürfen des frühen Schleiermacher – ein kritischer Versuch
I. Vorwort und Hinführung In der gegenwärtigen theologischen Publizistik erfolgt die Beschäftigung mit Fr. Schleiermacher zweifellos mehrheitlich von der Systematischen Theologie, der Kirchengeschichte oder der Praktischen Theologie (bes. der Kirchentheorie, Pädagogik und Seelsorge) aus. In bibelexegetisch-hermeneutischen Entwürfen wird ihm meist nur in solchen Werken entsprechend Raum eingeräumt, die einen zumindest in wesentlichen Teilen exegetisch-geschichtlichen Ansatz verfolgen¹ – und selbst dort nicht immer.² Ansonsten wird er von exegetischer Seite aus immerhin recht regelmäßig in Einleitungen zum „synoptischen Problem“ als Vertreter der Fragmenten‐ oder Diegesenhypothese im frühen 19. Jahrhundert aufgeführt.³ Diese marginalisierte Berücksichtigung Schleiermachers in der gegenwärtigen exegetischen Beachtung entspricht jedoch nicht der Wahrnehmung aus seiner eigenen Zeit: Während seiner Laufbahn als Professor zwischen 1804 und 1834 las er sowohl in Halle als auch in Berlin fast in jedem einzelnen Semester neutestamentliche Vorlesungen. G. Meckenstock hat errechnet, dass ca. 50 % seiner theologischen Vorlesungen exegetische
So etwa in Peter Stuhlmacher,Vom Verstehen des Neuen Testaments. Eine Hermeneutik, GNT. NTD.E 6, Göttingen 21986, 145 – 148; jüngst Gregor Etzelmüller, Friedrich D. E. Schleiermacher (1768 – 1834). Zwischen Grammatik und Psychologie, in: Susanne Luther/Ruben Zimmermann (Hgg.), Studienbuch Hermeneutik: Bibelauslegung durch die Jahrhunderte als Lernfeld der Textinterpretation. Porträts – Modelle – Quellentexte, Gütersloh 2014, 239 – 251.371 f., hier: 242– 249. Im Standardnachschlagewerk Henning Graf v. Reventlow, Epochen der Bibelauslegung, Bd. IV: Von der Aufklärung bis zum 20. Jahrhundert, München 2001, findet sich beispielsweise kein eigenes Kapitel zu Schleiermacher. Für kurze dahingehende Nennungen vgl. beispielsweise Hans Conzelmann/Andreas Lindemann, Arbeitsbuch zum Neuen Testament, UTB 52, Tübingen 142004, 67; Jörg Frey, Herder und die Evangelien, in: Martin Keßler/Volker Leppin (Hgg.), Johann Gottfried Herder. Aspekte seines Lebenswerkes, AKG 92, Berlin/New York 2005, 47– 91, hier: 79; Martin Hengel, Die vier Evangelien und das eine Evangelium von Jesus Christus. Studien zu ihrer Sammlung und Entstehung, WUNT 224, Tübingen 2008, 129; Udo Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, UTB 1830, Göttingen 72011, 187 f.; Peter Pokorný/Ulrich Heckel, Einleitung in das Neue Testament. Seine Literatur und Theologie im Überblick, UTB 2798, Tübingen 2007, 329; Walter Schmithals, Einleitung in die drei ersten Evangelien, Berlin/New York 1985, 67– 72. DOI 10.1515/9783110464573-027
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Themen zum Gegenstand hatten⁴ und H. Fischer resümiert, dass „[g]emessen am heutigen theologischen Disziplinenkanon […] Schleiermacher schwerpunktmäßig Neutestamentler gewesen“ sei.⁵ Auch H. Patsch ist insgesamt seine exegetisch-geschichtliche Importanz zu restituieren bestrebt,⁶ während W. Baird – soweit zu sehen ist – einer der wenigen Exegeten ist, die ebenfalls Schleiermachers Beiträge zur neutestamentlichen Wissenschaft gegenwärtig für unterschätzt halten.⁷ Als Exeget und aus exegetischer Frageperspektive stelle ich mich der Begegnung mit einem der großen Theologen, der in der gegenwärtigen Exegese zwar nur am Rande ihrer Beschäftigung in Blick genommen wird, zu dem aber die Diskurse anderer theologischer Disziplinen und Fragestellungen ungemein umfangreiche und differenzierte Forschungsliteratur hervorgebracht hat, mit Respekt und hoffe, den interdisziplinären Diskurs aus dieser Sicht bereichern zu können. Meine Fragestellung lautet: Inwiefern integriert Schleiermacher gerade angesichts seines exegetischen Schaffens die historisch-kritische Rückfrage zum „historischen Jesus“ seiner Zeit in seine Christologie? Da diese Frage in der gebotenen Kürze kaum in Gänze angemessen zu behandeln ist, soll an dieser Stelle eine Konzentration auf zwei der früheren Werke Schleiermachers vorgenommen werden: die Reden (1799) und die Weihnachtsfeier (1806).⁸ Zum Aufbau: In dem dieser Hinführung folgenden Abschnitt II. sollen zunächst Schleiermachers exegetische Publikationen vorgestellt werden, in Abschnitt III. folgt eine Durchsicht der Reden mit Hinblick auf die Rolle des „historischen Jesus“ in der dort vertretenen Christologie, in Abschnitt IV. folgt der analoge Durchgang in Bezug auf die Weihnachtsfeier. In Abschnitt V. wird ein Resumée gezogen.
Vgl. Günter Meckenstock, Schleiermachers Bibelhermeneutik, in: Jan Schröder (Hg.), Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik – Rechtswissenschaft, Philosophie, Theologie. Beiträge zu einem interdisziplinären Symposion in Tübingen, 29. September bis 1. Oktober 1999, Contubernium 58, Stuttgart 2001, 249 – 263, hier: 251. Für Schleiermachers Selbstverständnis als Exeget vgl. ebd. Eine Auflistung aller von Schleiermacher gehaltenen Vorlesungen ist zu finden bei Andreas Arndt/Wolfgang Virmond, Schleiermachers Briefwechsel (Verzeichnis) nebst einer Liste seiner Vorlesungen, SchlA 11, Berlin/New York 1992, 300 – 330. Hermann Fischer, Friedrich Schleiermacher, München 2001, 128. Vgl. für die Hallenser Zeit Hermann Patsch, „… mit Interesse die eigentliche Theologie wieder hervorsuchen“, Schleiermachers theologische Schriften der Hallenser Zeit, in: Andreas Arndt (Hg.), Friedrich Schleiermacher in Halle 1804– 1807, Berlin/Boston 2013, 31– 54, hier: 35; für die Berliner Zeit ders., Schleiermachers Berliner Exegetik (Manuskript), erscheint in: Martin Ohst (Hg.), Schleiermacher Handbuch, Tübingen. Ich danke Herrn Dr. Patsch von Herzen für die Zuverfügungstellung des (noch unpaginierten) Manuskriptes vor dessen Veröffentlichung. Vgl.William Baird, History of New Testament Research, vol. 1: From Deism to Tübingen, Minneapolis, MN 1992, 208 f. Einen umfangreicheren Beitrag zur Bedeutung und den Implikationen der „historischen“ Jesusforschung im Zeitalter der Aufklärung und des Idealismus bzw. der Romantik hoffe ich in nicht allzu weiter Ferne vorlegen zu können.
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II. Schleiermachers exegetische Publikationen Schleiermachers eher geringe Rezeption innerhalb der Bibelexegese kommt nicht ganz von ungefähr: Die meisten seiner exegetischen Vorlesungen sind (nicht zuletzt aufgrund von editorischen Hürden) bis heute nicht veröffentlicht. Die geplanten ca. sechs Bände mit exegetischen Vorlesungen, die im Rahmen der Sämmtlichen Werke (1834– 1864) konzipiert waren, erschienen nie im Druck.⁹ Ausnahmen hierzu sind lediglich die beiden Vorlesungen Einleitung ins Neue Testament sowie Das Leben Jesu, beide posthum herausgegeben (1845 resp. 1864). Die nachfolgenden Beobachtungen, die sich auf die zu Schleiermachers Lebzeiten publizierten exegetischen Arbeiten beziehen, werden sich durch die geplante Veröffentlichung der exegetischen Vorlesungen Schleiermachers in der KGA zweifellos noch ausdifferenzieren. Als junger Professor gehörte Schleiermacher zu den ersten Autoren, die die Pseudepigraphie des 1. Timotheusbriefes begründeten¹⁰ (Über den sogenannten ersten Brief des Paulos an den Timotheos. Ein kritisches Sendschreiben an J. C. Gaß, 1807;¹¹ ebenso dann später in der Einleitung in das Neue Testament, 1831/1832).¹² Seine wesentlichen Argumente sind das idiosynkratische Vokabular, die Unvereinbarkeit der biographischen Angaben mit den ansonsten bekannten Paulusbriefen und sprunghafte Gedankenwechsel. Ebenso legt er eine Theorie zur Entstehung des Briefes vor: er sei aus einer Kompilation von Tit und 2Tim gebildet, gekoppelt mit einer irrtümlich fehlerhaften Autorenzuschreibung. So originell diese Thesen auch waren, unterzogen freilich wenig später Eichhorn (1812)¹³ und noch etwas später de Wette (1826),¹⁴ der zwischen 1810 und 1819 Kollege Schleiermachers in Berlin gewesen war, – von Baur ganz abgesehen (zunächst 1836)¹⁵ – alle drei Pastoralbriefe der Skepsis der Authen-
Vgl. Fischer, Schleiermacher, 128 f.; Christine Helmer, Schleiermacher’s Exegetical Theology and the New Testament, in: Jacqueline Mariña (Hg.), The Cambridge Companion to Friedrich Schleiermacher, Cambridge 2005, 229 – 247, hier: 229 f. Vgl. Helmer, Theology, 239; Patsch, Exegetik. Vgl. KGA I/5, 153 – 242; eine überaus instruktive historische Einführung zur Entstehung der Schrift während der Napoleonischen Belagerung Halles ist zu finden a.a.O., LXXXVIII–XCIII. Aus einem Brief an G. A. Reimer von November 1806 geht hervor, dass Schleiermacher den Timotheos gewissermaßen als „Startschuss“ für seine theologische Laufbahn geplant hatte (KGA V/9, 206, 35 – 38; Nr. 2322). SW I/8, 169 f. Schleiermacher hielt seine Vorlesung zur Einleitung in das Neue Testament im SS 1826 und nochmals im WS 1831/32. Sie ist gegenwärtig noch nicht in der KGA neu aufgelegt. Dem Nachschrieb von 1845 liegt die Vorlesung von 1831/32 zugrunde, ergänzt durch Anmerkungen von 1829. Vgl. auch hierzu Patsch, Exegetik. Vgl. Johann Gottfried Eichhorn, Einleitung in das Neue Testament III/1, Leipzig 1812, 315 – 410. Vgl. Wilhelm Martin Leberecht de Wette, Lehrbuch der historisch kritischen Einleitung in die kanonischen Bücher des Neuen Testaments (= Lehrbuch der historisch kritischen Einleitung in die Bibel Alten und Neuen Testaments, Zweyter Theil: Die Einleitung in das N. T. enthaltend), Berlin 1826, 271– 280. Vgl. Ferdinand Christian Baur, Die sogenannten Pastoralbriefe des Apostels Paulus aufs neue kritisch untersucht, Stuttgart 1835, 54. 72 f. 86 f. u. ö., zusammenfassend a.a.O., 143 – 146 (zur Argu-
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tizität. Und bekanntlich ist es deren Position, die sich über Schleiermacher hinweggehend durchgesetzt hat. Und seine Argumente haben sich nur teilweise – aber das eben doch immerhin –, nämlich in puncto des Sprachmaterials sowie der biographischen Angaben durchgesetzt. Originalität zeigt Schleiermacher auch mit der formalen Herausstellung und Bearbeitung des – von ihm selbst noch nicht so genannten – Kolosserhymnus in dem späten Essay Über Kolosser 1,15 – 20 (1832).¹⁶ Mit diesem Essay kommt Schleiermacher das große Verdienst zu, als erster die Sonderstellung dieser Verse innerhalb des Briefes erkannt zu haben,¹⁷ sowie damit überhaupt eine neue Kategorie bzw. Fragestellung in die Exegese eingeführt zu haben, nämlich die der literarischen Form in Abhängigkeit zur Schreibintention.¹⁸ Gleichzeitig jedoch trägt die Argumentation dieses Aufsatzes so deutliche christologische Implikationen im Sinne seiner Glaubenslehre, dass sich auch die in diesem Text vorgenommene semantische Exegese nicht wirklich durchsetzen konnte: Schleiermacher deutet das in Kol 1,16 angesprochene κτίζειν durativ und die vier Machtbegriffe θρόνοι, κυριότητες, ἀρχαί und ἐξουσίαι im selben Vers als auf irdische Mächte bezogen, so dass nun das Himmlische als „Bildnis“ für das Irdische – durchaus auch im ethischen Sinne – zu stehen kommt, und der „ganze Christus“ in seiner Einheit von „Jesus von Nazareth, wie er zugleich der Christus war,“ in seiner soteriologischen Funktion, das christliche Selbstbewusstsein zu befreien.¹⁹ Für die Evangelienforschung sind hingegen zwei weitere von Schleiermachers exegetischen Veröffentlichungen relevanter, nämlich seine frühe Monographie Ueber die Schriften des Lukas ein kritischer Versuch. Erster Theil (1817)²⁰ und die späte Studie
mentation Schleiermachers ausführlich a.a.O., 113 – 142). Baur ergänzt die bislang vorgetragenen Argumente gegen die paulinische Verfasserschaft der Past mit dem der „antignostischen“ Theologie, die er in diesen Briefen findet. Im Hintergrund für diese stark vertretene These steht seine eigene monographische Auseinandersetzung eben mit der Gnosis aus demselben Jahr (Die christliche Gnosis oder die christliche Religions-Philosophie in ihrer geschichtlichen Entwiklung [sic], Tübingen 1835). KGA I/8, 197– 226. Vgl. ebenso Hans Jakob Gabathuler, Jesus Christus, Haupt der Kirche – Haupt der Welt: Der Christushymnus Colosser 1,15 – 20 in der theologischen Forschung der letzten 130 Jahre, AThANT 45, Zürich/Stuttgart 1965, 15; Helmer, Theology, 239; Christian Stettler, Der Kolosserhymnus. Untersuchungen zu Form, traditionsgeschichtlichem Hintergrund und Aussage von Kol 1,15 – 20, WUNT II 131, Tübingen 2000, 3. Vgl. Gabathuler, Jesus Christus, 11– 16; Hermann Patsch/Dirk Schmid, Einleitung der Bandherausgeber, in: KGA I/8 (2001), VII–LVII, hier: XLV. Vgl. hierzu Christine Helmer, The Consummation of Reality. Soteriological Metaphysics in Schleiermacher’s Interpretation of Colossians 1:1– 20, in: dies. (Hg.), Biblical Interpretation. History, Context, and Reality, SBL Symposium Series 26, Atlanta 2005, 113 – 131, hier: 120 – 127. Zur heutigen Deutung des Kolosserhymnus vgl. monographisch etwa Nicole Frank, Der Kolosserbrief im Kontext des paulinischen Erbes. Eine intertextuelle Studie zur Auslegung und Fortschreibung der Paulustradition, WUNT II 271, Tübingen 2009; Matthew E. Gordley, The Colossian Hymn in Context. An Exegesis in Light of Jewish and Greco-Roman Hymnic and Epistolary Conventions, WUNT II 228, Tübingen 2007; Stettler, Der Kolosserhymnus. KGA I/8, 1– 180. Vgl. hierzu Baird, History, 215 f.
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Über die Zeugnisse des Papias (1832).²¹ Sein Lukas ist dasjenige Werk, mit dem er mit der (forschungsgeschichtlich dann so genannten) Fragmenten‐ oder Diegesenhypothese in die Geschichte der Synoptischen Fragestellung eingegangen ist.²² Schleiermacher entwickelt sie an dieser Stelle nicht als Theorie zur Entstehung aller Synoptiker, sondern speziell des Lukasevangeliums.²³ Lukas sei kein eigenständiger Schriftsteller, sondern „von Anfang bis zu Ende nur Sammler und Ordner schon vorhandener Schriften“²⁴ gewesen, die er unverändert übernommen habe. Die offene Frage des Verhältnisses der Synoptiker zueinander ist Schleiermacher bewusst, doch lässt er sie nur am Rande mitlaufen: Sein Hauptinteresse gilt der Analyse des dritten Evangeliums. Die Existenz eines allen drei Synoptikern zugrunde gelegenen „Urevangeliums“ (Eichhorn) hält er bis auf weiteres für unwahrscheinlich. Hierfür müsse man Mt und Mk ebenso detailliert untersuchen wie Lk, doch sei schwer denkbar, dass die Evangelisten eine solche als autoritativ geltende Schrift später willkürlich verändert hätten.²⁵ Die Hauptthese des Papias ist, dass sich die Sammlung der bei Papias erwähnten matthäischen λόγια συνεγράψατο²⁶ (Euseb, HistEccl 3, 39, 16) nicht auf das kanonische Matthäusevangelium, sondern auf eine Sammlung von jesuanischen Sprüchen eines anderen „Matthäus“, nämlich des Apostels, „in palästinensischer Mundart“²⁷ (also aramäisch)²⁸ beziehe. Denn λόγια seien „überall, wo es vorkommt“ – gemeint ist insbesondere die LXX, aber auch die wenigen ntl. Belege (Apg 7,38; Röm 3,2; 1Petr 4,11; Hebr 5,12 i.V.m. 6,1 f.) –, Sprüche Gottes bzw. im abgeleiteten Sinne „geoffenbarte[] Lehren“,²⁹ nicht aber Erzählungen. Diese Sammlung von λόγια versucht Schleiermacher sodann innerhalb des Matthäusevangeliums anhand von vermuteten Scharnieren – „der Probe wegen“,³⁰ also nur vorläufig – literarkritisch abzugrenzen. Zu anderen Aspekten dieses Themas fasst sich Schleiermacher wesentlich kürzer: dass Lukas die Logiensammlung gewiss nicht gekannt habe, da er ja seine Information
KGA I/8, 227– 254. Bei Baird, History, 208 – 220, unberücksichtigt. Vgl. am ausführlichsten bei Schmithals, Einleitung, 67– 72; ebenfalls Werner Georg Kümmel, Einleitung in das Neue Testament, Heidelberg 201980, 20; ders., Das Neue Testament, 100. Die „vollständige Fassung“ der Diegesenhypothese, „daß einzelne Elemente mündliche und schriftliche aus dem Leben Christi vor der Zeit der Evangelien vorhanden gewesen und die Evangelien sind Producte von jenen, und alle unmittelbare Beziehung des einen Evangelii auf das andre ist überflüssig und nicht anzunehmen; die Schreibung derselben wird aber hinuntergerükt (ist also später), wo sie in den Verhältnissen der christlichen Zustände selbst ihren Grund hat“, ist so in seiner Hermeneutik (Nachschrieb Calow von 1832/33 = KGA II/4, 1131, 15 – 21) zu lesen (leicht verändert in der Fassung der SW VII, 384). KGA I/8, 180, 15. KGA I/8, 43, 10 – 46, 8; 65, 98 – 66, 5; 78, 26 – 79, 1 u. ö. Heute meist textkritisch συνετάξατο (v.l.). KGA I/8, 238, 6. KGA I/8, 247, 9. KGA I/8, 232, 7.25. KGA I/8, 238, 15.
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auf anderem Wege erhalten habe;³¹ dass das kanonische Markusevangelium auf ähnliche Weise entstanden sei wie das Matthäusevangelium, nämlich auf der Basis einer vorgängigen, von einem Kollektor ebenfalls mit Namen Markus erstellten Sammlung von Petruspredigten und entsprechenden redaktionellen Ergänzungen in sie (gemäß Papias in Euseb, HistEccl 3, 39, 15); diese seien aber viel schwerer zu analysieren als beim Ersten Evangelium.³² Auch das literarische Verhältnis der drei Synoptiker untereinander lässt Schleiermacher im Vagen; er spielt unterschiedliche Benutzungshypothesen durch, die er alle prinzipiell für möglich hält, denn vor der Beantwortung dieser Frage müsse zuerst der Gebrauch der Logiensammlung durch Matthäus als auch der der Predigtsammlung durch Markus näher geklärt werden. Insgesamt am zuverlässigsten sei einstweilen immer noch das Johannesevangelium. ³³ Auch in seinem Lukas sowie dem Papias legt Schleiermacher also mit der Postulierung einer alten Sammelquelle von Logien einen spannenden, in jedem Falle originellen, sich in Richtung einer Logiensammlung bzw. Spruchquelle zubewegenden Vorstoß vor.³⁴ Andererseits ist es von seiner Position aus zu „der“ Logienquelle, sowohl was ihre methodische Erschließung als auch ihren Umfang anbelangt, noch ein weiter Weg, denn noch ist ausdrücklich Teil von Schleiermachers Konzept, dass Lukas diese Sammlung nicht kannte.³⁵ Durch die Erschließung eben der Spruchquelle durch Chr. H.Weisse nur wenige Jahre später (1838) war der Vorstoß im Papias (ebenso wie im Lukas) schnell obsolet geworden – und damit widerfuhr ihm ein ähnliches Schicksal wie dem Timotheos. So ist zu Schleiermachers exegetischen Veröffentlichungen aus der Distanz zu subsummieren, dass sie zwar allesamt originell sind und wichtige Fingerzeige erhoben haben, die wenigstens teilweise auch in der exegetischen Forschungsgeschichte weitergeführt wurden (insbesondere in Über Kolosser). Ganz abgesehen von dem quantitativen Befund jedoch, dass Schleiermachers exegetische Arbeiten verglichen mit denjenigen Eichhorns, Bretschneiders, de Wettes u.v.a. kurz und nicht zahlreich Vgl. KGA I/8, 247, 5 – 22. Vgl. KGA I/8, 249, 20 – 252, 33. Vgl. KGA I/8, 252, 37– 253, 32. Einige der – soweit zu sehen – wenigen aktuellen Autoren, die Schleiermachers Papias überhaupt an dieser Stelle würdigen, sind Theo K. Heckel, Vom Evangelium des Markus zum viergestaltigen Evangelium, WUNT 120, Tübingen 1999, 256; Hengel, Die vier Evangelien, 129; Dieter Lührmann, Matthäus in der Kritik. Beobachtungen am Thomas und am Mariaevangelium, in: Rieuwerd Buitenwerf/ Harm W. Hollander/Johannes Tromp (Hgg.), Jesus, Paul, and Early Christianity, FS Henk Jan de Jonge, SNT 130, Leiden/Boston 2008, 317– 327, hier: 318. Anders Patsch, Exegetik, der meint, Schleiermachers Ausführungen zu Papias hätten ihn „bis an den Rand der Zwei-Quellen-Theorie geführt“ und es erstaunlich findet, „wie genau Schleiermacher die Grenzen der später auf ganz anderem Wege erschlossenen Logienquelle bestimmt hat“. Doch deckt sich der mutmaßliche Umfang von Q mit der von Schleiermachers Logiensammlung doch nur sehr lückenhaft (vgl. etwa an deutlichen Gegenbeispielen Mt 4,1– 11; 8,5 – 13.19 – 22; Einzellogien 12,11 f.22 – 30.32.38 – 45 u. a.; vgl. hierzu die Übersicht in Schnelle, Einleitung, 220 – 223). Schwierig ist ein solcher Vergleich natürlich auch insofern, als Schleiermacher seine Grenzen nach eigener Aussage nur tentativ zieht und insbesondere für den großen Abschnitt Kapitel 1– 18 nur ganz kursorisch „überfliegt“.
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sind, waren seine bedeutendsten exegetischen Erkenntnisse aber, als er sie niederschrieb, entweder nicht wirklich neu oder lagen sogar schon in komplexerer Form vor (in Bezug auf die Diegesenhypothese etwa durch J. B. Koppe [1782], J. Chr. R. Eckermann [1796] sowie H. E. G. Paulus [1802]),³⁶ oder aber sie hatten erklärtermaßen nur tentativen, vorläufigen Charakter und wurden auch faktisch nicht viel später bereits überholt (in Bezug auf seine Vorstöße in Richtung der Zweiquellentheorie), oder sie tragen schließlich doch deutliche von der Dogmatik her angetragene Züge (wie in Über Kolosser). Die konkrete Frage nach dem „historischen Jesus“ liegt hingegen auch im Lukas und Papias nur im Hintergrund. Schleiermachers vorrangiges Beschäftigungsinteresse liegt auf dem Gebiet der Quellenkritik. Ein kleines, freilich bedeutsames Indiz dafür, dass sie nicht vergessen ist, ist immerhin am Ende des Papias zu finden, wo Schleiermacher nach all den zugegebenen offenen Diskussionen zur Synoptikerfrage die hohe Zuverlässigkeit des Johannesevangeliums bestätigt, da dieser „in dem engsten persönlichen Verhältniß zu Christo stand“³⁷.
III. Der „historische Jesus“ in den Reden (1799) Zentral für die Rolle Christi³⁸ im System der Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern ist unbestritten Begriff und Funktion des „Mittlers“. Am deutlichsten wird dies am Ende der fünften Rede, an deren Ende Schleiermacher darlegt, inwiefern er im Christentum eine herrlichere, erhabenere, würdigere, tiefere Religion als in anderen, ja die „Religion der Religionen“ sieht³⁹ – nachdem die erste Hälfte dieser Rede noch einer religionswissenschaftlichen Methodenlehre gilt.⁴⁰ Doch die Wichtigkeit von Mittlerfiguren in Entsprechung des Religionsbegriffs von anthropologischer und universaler Reziprozität, um ausgleichend zwischen Endlichkeit und Vollkommenheit zu wirken, führt er bereits in der ersten Rede ein, so dass die Christologie der Reden mitunter sogar insgesamt als deren „geheime Mitte“ betrachtet worden ist.⁴¹
Vgl. Schmithals, Einleitung, 65 – 67; E. D. Schmidt, Jesus in Geschichte, Erzählung, Mythos, Idee. Methoden und Perspektiven der Jesusforschung in Aufklärung, Romantik und Idealismus, Abschnitt 7.1.4 (in Vorbereitung). KGA I/8, 253, 38 f. Schleiermacher schreibt in den Reden konsequent von „Christus“, nie von „Jesus“. Für die Adjektivkette vgl. KGA I/2, 316, 26 – 29; Zitat: ebd., 325, 15 f. Vgl. Claus-Dieter Osthövener, Die Christologie der „Reden“, in: Nico F. M. Schreurs (Hg.), „Welche unendliche Fülle offenbart sich da …“ Die Wirkungsgeschichte von Schleiermachers „Reden über die Religion“. Papers Read at the Sympsium of the Theological Faculty Tilburg,Tilburg, 15 April 1999, Assen 2003, 61– 78, hier: 70. Vgl. Osthövener, Christologie, 62, der dies selbst jedoch anders sieht (vgl. a.a.O., insbes. 69 f. 78). Dass die Rede von der „Mittlerschaft in der Religion“ das eigentliche Thema der Reden sei, schluss-
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Die Voraussetzung für die soteriologische Potentialität Christi ist, dass alles Endliche einer Vermittlung mit dem Universum bedürfe und daher das Vermittelnde gleichermaßen der göttlichen und der endlichen Natur teilhaftig sein müsse.⁴² Und dies sei eben in Christus insofern verwirklicht als in ihm das „Bewußtsein von der Einzigkeit seiner Religiosität, von der Ursprünglichkeit seiner Ansicht, und von der Kraft derselben sich mitzutheilen und Religion aufzuregen, […] zugleich das Bewußtsein seines Mittleramtes und seiner Gottheit“ gewesen sei.⁴³ An dieser Stelle ist jedoch insbesondere der Offenheit dieser Christologie für die historische Rückfrage nachzugehen. Mehrere häufige Beobachtungen zum Christusbild der Reden erscheinen mir aus exegetischer Perspektive nicht prinzipiell problematisch: zum ersten, dass die Ausgestaltung seiner Figur noch wenig konkret, wenig detailliert erscheine. Dies ist zwar zweifellos zutreffend, ist aber kein prinzipielles Argument gegen Schleiermachers Christologie der Reden. ⁴⁴ Ebenso ist zu bestätigen, dass trotz des nur schemenhaft ausgeführten Christusbildes dennoch nicht eine Christusidee an die Stelle von Jesus als einer historischen Figur tritt. Denn dass sich Schleiermacher Jesus tatsächlich als historischen vorstellt, folgt schon aus seinem Mittlerbegriff, für den die Teilhabe am Irdischen wie auch an der göttlichen Natur konstitutiv ist. Zutreffend schreibt D. Lange: „Für Schleiermacher hängt […] daran, daß dieser ideale Christus wirklich der historische war, die ganze religionsgeschichtliche Theorie der Reden. Insofern steht schon hier der historische Jesus im Zentrum des religiösen Denkens, wenngleich die Bemühungen, seine Geschichtlichkeit auf dem Wege historischer Untersuchung anschaulich zu machen, erst sehr viel später einsetzen“.⁴⁵ Dass das Johannesevangelium zu Schleiermachers Zeit als das historisch zuverlässigste galt und er selbst diese exegetische Meinung unterstützt und gefördert hat, spielt dieser Christologie natürlich in die Hände.⁴⁶ Doch auch dies ist m. E. kein Einwand, um sein Christusbild exegetisch prinzipiell in Frage zu stellen. Denn auffälligerweise begründet Schleiermacher seine Bevorzugung des vierten Evangeliums hier gar nicht mittels dessen vermuteter historischer Zuverlässigkeit, sondern allgemein inhaltlich: Es gestatte den tiefsten Blick „in das Heiligste seines [sc. Christi] Gemüthes“.⁴⁷ Und an anderer Stelle, wo er die von ihm gesetzten Mittlereigenschaften
folgert Dietz Lange, Historischer Jesus oder mythischer Christus. Untersuchungen zu dem Gegensatz zwischen Friedrich Schleiermacher und David Friedrich Strauß, Gütersloh 1975, 25. Vgl. KGA I/2, 321, 32 f. KGA I/2, 322, 302– 304 (eigene Kursivsetzung). Vgl. Dietz Lange, Schleiermachers Christologie und die Aufklärung, in: Ulrich Barth/ Claus-Dieter Osthövener (Hgg.), 200 Jahre ‚Reden über die Religion‘. Akten des 1. Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft Halle 14.–17. März 1999, SchlA 19, Berlin/New York 2000, 698 – 713, hier: 702. Vgl. Lange, Jesus, 30 f. Lange, Jesus, 31. Wie von Günter Meckenstock, dem Herausgeber des entsprechenden Bandes der KGA, indirekt auch konzediert wird (vgl. I/2, 320, Anm. zu den Zeilen 26 – 30). KGA I/2, 320, 26 – 31, Zitat: a.a.O., 30 f. Vgl. auch die Anspielung a.a.O., 294, 15 f.
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versucht detaillierter an Christus zu belegen, erfolgt dies gar nicht aus dem Johannesevangelium heraus. Schleiermachers oben zitierte zentrale Behauptung von Jesu „Bewußtsein von der Einzigkeit seiner Religiosität, [… und] das Bewußtsein seines Mittleramtes und seiner Gottheit“ folgt für ihn aus Mt 11,27. Dass er für seine Religion „Symbole“ in der Überzeugung ihrer gemeinschaftsstiftenden Kraft eingesetzt habe, noch bevor sie existierte, folgt ebenfalls gerade nicht dem Johannesevangelium, sondern den Synoptikern.⁴⁸ Schließlich ist noch auf das Kreuz hinzuweisen – natürlich auch kein spezifisch johanneisches Motiv –, das Schleiermacher mit der Begrifflichkeit seiner Mittlertheologie deutet, da hier so deutlich wie nirgendwo anders veranschaulicht werde, „daß das adäquate Erscheinen des Absoluten nur im Zerbrechen seiner [sc. Jesu endlicher] Gestalt bestehen kann“.⁴⁹ Die exegetische Rückfrage an Schleiermachers christologisches Konzept der Reden liegt m. E. in der prinzipiellen Stellung der historischen Rückfrage im Kontext der Argumentationsstruktur. Denn wohl führen Schleiermachers Ausführungen zur Religion im allgemeinen qua verwirklicht an den Mittlerbegriff zu einer historischen Mittlerfigur mit den von Schleiermacher gesetzten Eigenschaften, und er belegt diese Eigenschaften auch anhand einiger „biblischer“ Details. Doch damit steht immer noch offen, ob eine konkrete historische Figur diese Rolle mit ihren Eigenschaften tatsächlich ausgefüllt hat. Und dies ist keine systematische Frage an die Schlüssigkeit seines christologischen Konzepts im Kontext des Gesamtaufrisses der Reden, sondern eine konkrete Frage an die bruta facta historiae. Und dies scheint mir das Risiko zu sein, das Schleiermacher eingeht, wenn er – mit gutem fundamentaltheologischem Impetus – versucht nachzuweisen, „daß man als Gebildeter Christ sein könne, ohne der Orthodoxie sacrificia intellectus zu bringen und ohne den Flachheiten der Aufklärung zu verfallen“.⁵⁰ Die Mittlerfunktion Christi muss ins Wanken kommen, wenn die hierfür von Schleiermacher erhobenen Eigenschaften Christi historisch in Frage stehen. Dies hat – von religionswissenschaftlicher Perspektive herkommend – auch schon C.-D. Osthövener erkannt, der als Problematik benennt, dass Schleiermacher auf eine Untersuchung der tatsächlichen „Genese der durch Jesus repräsentierten Idee“ verzichte und sich stattdessen darauf beschränke, sie „‚so zu betrachten, wie wir sie in
Meckenstock verweist in der Fußnote der KGA auf die Einsetzung des Abendmahls nach Mt 26, 63 f.; Mk 14,61 f.; Lk 22,70. Schleiermacher mag freilich auch an den Taufbefehl Mt 28,19 f.; Mk 16,16 gedacht haben. Maureen Junker-Kenny, Die „Anschauung des Universums … zur Vollkommenheit ausgebildet“. Zur Christologie der ‚Reden‘, in: Ulrich Barth/Claus-Dieter Osthövener (Hgg.), 200 Jahre ‚Reden über die Religion‘. Akten des 1. Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft Halle 14.–17. März 1999, SchlA 19, Berlin/New York 2000, 714– 727, hier: 721 f.; vgl. auch Thomas Pröpper, Schleiermachers Bestimmung des Christentums und der Erlösung. Zur Problematik der transzendental-anthropologischen Hermeneutik des Glaubens, in: ThQ 168 (1988), 193 – 214 (spätere Veröffentlichung in: ders., Evangelium und freie Vernunft. Konturen einer theologischen Hermeneutik, Frankfurt u. a. 2001, 129 – 152), hier: 198. Lange, Jesus, 34.
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ihm finden‘“, i.a.W. nicht nur die Figur des „historischen Jesus“, sondern auch die Geschichtlichkeit der Entwicklung des Christentums bleibt bei Schleiermacher zu wenig berücksichtigt. Für Osthövener handeln die Schlusspassagen der Fünften Rede daher auch weniger von der Christologie an sich, sondern von dem Problem der Christologie. Denn auch „für die Person Jesu von Nazareth [gelte], dass seine historische Wirkung als Stifter des Christentums und die Darstellung der von ihm zuerst in ihrer Klarheit gefasste Idee der Vermittlungsbedürftigkeit alles Endlichen nicht notwendigerweise, sondern höchstens faktisch zusammenfallen“.⁵¹
IV. Der „historische Jesus“ in der Weihnachtsfeier (1806) Das grundlegend ambivalente Moment der Weihnachtsfeier ⁵² für die Fragestellung, welche Funktion des „historischen Jesus“ bzw. der „historischen Kritik“ Schleiermacher ihr zukommen lasse, liegt in ihrer fiktionalen Anlage. Man hat zwar immer wieder versucht, insbesondere die vier Männerfiguren Leonhardt, Eduard, Ernst und Josef unterschiedlichen Wesenszügen Schleiermachers selbst zuzuordnen,⁵³ doch schon Schelling hat bekanntlich die Frage, mit welcher der literarischen Figuren denn nun Schleiermacher selbst rede, mit Verweis auf den Kunstcharakter des Büchleins als methodisch unstatthaft abgewiesen,⁵⁴ und auch heute nimmt man von solchen Zuschreibungen mehr und mehr Abstand.⁵⁵ All dies gebietet Zurückhaltung, aus den exegetischen Positionen der Figuren der Erzählung auf Schleiermachers eigene Po-
Alle Zitate Osthövener, Christologie, 76 f.; Binnenzitat: KGA I/2, 321, 25. Vgl. zu ihrer Ausdeutung neu Wittekind, Die Weihnachtsfeier. Ein Gespräch (1805/06) (Manuskript), erscheint in: Martin Ohst (Hg.), Schleiermacher Handbuch, Tübingen. Ich danke Herrn Prof. Dr. Wittekind von Herzen für die Zuverfügungstellung des (noch unpaginierten) Manuskriptes vor dessen Veröffentlichung. Zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen sind Achim v. Arnim (vgl. Hermann Patsch, Einleitung des Bandherausgebers, in: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Schriften und Entwürfe. Schriften aus der Hallenser Zeit, KGA I/5 [1995], VII–CXXXII, hier: LIII; ders., Die zeitgenössische Rezeption der „Weihnachtsfeier“, in: Kurt-Victor Selge (Hg.), Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984, Teilbd. 2, SchlA 1/2, Berlin/New York 1985, 1215 – 1228, hier: 1221 f.; Karl Barth, Schleiermacher Weihnachtsfeier, in: ders., Die Theologie und die Kirche. Gesammelte Vorträge, Bd. 2, München 1928, 106 – 135, hier: 120 – 132, zit. in: Erwin H. U. Quapp, Barth contra Schleiermacher? „Die Weihnachtsfeier“ als Nagelprobe mit einem Nachwort zur Interpretationsgeschichte der „Weihnachtsfeier“, Marburg 1978, 36 – 42; Colin Brown, Jesus in European Protestant Thought 1778 – 1860, Studies in Historical Theology 1, Durham, NC 1985, 113; Fischer, Schleiermacher, 70; Dietrich Korsch, Weihnachten – Menschwerdung Gottes und Fest der Familie, in: IJPT 2 (1999), 213 – 228, hier: 224; Lange, Jesus, 41– 56 gekommen. Vgl. KGA I/5, LVIIIf. Vgl. Kurt Nowak, Schleiermacher. Leben,Werk und Wirkung, UTB 2215, Göttingen 2001, 169; Patsch, Einleitung (KGA I/5), LIII.
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sition zu schließen. Gleichzeitig setzt gerade die narrative Anlage der Erzählung interpretatorische Offenheiten frei.⁵⁶ Auf den ersten Blick nimmt historische Kritik allgemein bzw. die Figur des „historischen Jesus“ von der Warte keiner der Erzählfiguren aus – den Erzähler selbst eingeschlossen – eine besonders bedeutsame Rolle ein. Die tragenden Motive, die im Verlauf der Handlung immer wieder aufgenommen werden und entlang derer die Bedeutung des Weihnachtsfestes über den Gesprächsgang der Männer bis hin zur Rede Josefs durchgeführt wird, sind eher die der Mütterlichkeit bzw. allgemein der Weiblichkeit, der Kindlichkeit sowie der Musik.⁵⁷ Gerade mit den Motiven der Kindlichkeit und der Kunst trägt Schleiermacher Motive weiter, die er bereits in den Reden eng mit dem Religionsbegriff verbunden hatte. Mit der Hochschätzung der Frauen im Vergleich zu den Männern hat sich in jüngerer Zeit insbesondere E. Hartlieb auseinandergesetzt und diese anhand zahlreicher narrativer Details belegt, die hier nicht in extenso wiedergegeben werden können.⁵⁸ Das Motiv des Mutterglücks wird als hohes Ideal mehrfach gepriesen (insbesondere auch in Bezug auf Maria, die Mutter Jesu),⁵⁹ alle drei Erzählungen der Frauen Ernestine, Agnes und Karoline tragen unterschiedliche Facetten des Motivs der Mutterschaft in die Weihnachtsmeditationen ein. Selbst der kritische Leonhardt bezeichnet Mutterliebe in Kombination mit einer musikalischen Metapher als „das Ewige in uns, de[n] Grundakkord unseres Wesens“.⁶⁰ Fast deutlicher noch wird Eduard, nach dem in jeder Mutterschaft die himmlische Botschaft ausgedrückt werde, „daß der Geist der Kirche, der heilige Geist in ihr [sc. der Mutter!] wohnt“.⁶¹ Ganz am Ende der Erzählung dann tadelt der schweigend eingetretene Josef die Dispute der Männer, da sie an die Stelle schöner Töne getreten seien, die die Frauen ihnen gesungen hätten und „in denen alle Frömmigkeit Eurer Reden weit inniger gewohnt hätte“.⁶² Diese Rede wird durch keinen Erzähler‐ oder Figurenkommentar kommentiert, sie bleibt gewissermaßen als Coda mit Schlussakkord der Erzählung stehen.
Vgl. summarisch zu unterschiedlichen Schwerpunkten in der Forschung Wittebrink, Weihnachtsfeier. So bereits Barth, Weihnachtsfeier, 132 f., zit. in: Quapp, Barth, 27; ebenfalls Elisabeth Hartlieb, Geschlechterdifferenz im Denken Friedrich Schleiermachers, TBT 136, Berlin/New York 2006, 50 – 53; Brown, Jesus, 112; Nowak, Schleiermacher, 168; Quapp, Barth, 43 u. a. Vgl. Hartlieb, Geschlechterdifferenz; auch Schmidt, Jesus in Geschichte, Erzählung, Mythos, Idee. Methoden und Perspektiven der Jesusforschung in Aufklärung, Romantik und Idealismus, Abschnitt 8.1.2.2 (in Vorbereitung). Vgl. z. B. KGA I/5, 49, 18 – 20; 51, 31– 35. KGA I/5, 65, 26 f. KGA I/5, 96, 24 f. Vgl. KGA I/5, 97, 16 – 20; Zitat: a.a.O., 17 f. Die Frage der Zuordnung der Geschlechter in dieser Novelle liegt auf der Hand und ist von Hartlieb, Geschlechterdifferenz, 22– 56, eingehend bearbeitet worden.
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Auch die Idealisierung des Kindes – häufig auch hier: des Mädchens und nicht der Knaben⁶³ – kommt im Munde unterschiedlicher Figuren zum Ausdruck, auch des Erzählers: „[R]echt eigentlich das Kinderfest“⁶⁴ nennt er Weihnachten schon ganz am Anfang der Novelle. Die Frömmigkeit und Innigkeit der Sofie wird lebhaft geschildert und von den Eltern gelobt,⁶⁵ das Kind lässt die bohrenden Fragen Leonhardts mit kindlicher Einfalt an sich abperlen, woraus wiederum ihre Mutter Ernestine religiösen Hintersinn schöpft.⁶⁶ Auch noch in den Reden aller drei Männer erscheint das Motiv des idealen Kindes: Leonhardt sieht im Kind den Hauptgegenstand des Weihnachtsfestes, das ihm über allen historischen Zweifel steht,⁶⁷ der vermittelnde Ernst sieht dessen Wert in der „frohe[n] Kindlichkeit, mit der es uns jedesmal wiederkehrt“⁶⁸ und der mystische Eduard wählt das Johannesevangelium als seine Hauptquelle, da in diesem „eine ewige kindliche Weihnachtsfreude herrscht“.⁶⁹ Schließlich konstatiert auch Josef, dass alle Menschen ihm heute Kinder seien, er selbst sei ganz Kind geworden,⁷⁰ der „sprachlose Gegenstand“ von Weihnachten erzeuge ihm eine sprachlose Freude, die „wie ein Kind nur lächeln und jauchzen“ kann⁷¹, so dass er selbst wie ein Kind werde. Seine letzte Einladung zum gemeinsamen Feiern und Singen gilt vor allem dem Kind, „wenn es noch nicht schläft“.⁷² Die musikalische Ummalung der Feierlichkeiten wird schon in der Bescherungsszene eingeleitet durch die Begeisterung Sofies von dem ihr geschenkten Notenbuch und ihr stummes Singen.⁷³ Das gemeinsame Musizieren wird vom Erzähler mit transzendentem Sinn kommentiert.⁷⁴ Später, nachdem man sich über Wohl und Wehe kindlich-phantastischen Glaubens unterhalten und die Gemüter erhitzt hat, erinnert Eduard daran, dass „das volle Bewußtseyn und de[r] rechte[] Genuß“ Sofie zu verdanken sei, die die Gruppe wenig zuvor zur Musik geführt habe. Diese kurze Rede wird beinahe zu einer kleinen „Theologie der Musik“, die das Wort transzendiert, ausweitet⁷⁵, und Schleiermacher lässt Eduard in einer musiktheologische Analogie gar das Wesen des ganzen Christentums zusammenfassen: „Das Christenthum ist ein einziges
Z. B. KGA I/5, 49, 25 – 31. Die beiden Knaben werden nur am Anfang als Nebenrollen, später gar nicht mehr erwähnt (vgl. Hartlieb, Geschlechterdifferenz, 48). Am Ende von Josefs Schlussmonolog lädt dieser sogar ausdrücklich „das Kind“ (Singular!) zum Feiern ein (KGA I/5, 98, 10): gemeint ist Sofie, die beiden Knaben sind vergessen. KGA I/5, 47, 19 f. Vgl. z. B. KGA I/5, 51. Vgl. KGA I/5, 68, 26 – 28. KGA I/5, 88, 4– 26. KGA I/5, 93, 7. KGA I/5, 94, 16 f. Vgl. KGA I/5, 97, 25 – 30. KGA I/5, 97, 24. KGA I/5, 98, 11; vgl. ebenso Hartlieb, Geschlechterdifferenz, 49. Vgl. KGA I/5, 46, 29 – 47, 24. Vgl. KGA I/5, 50, 5 – 9. Vgl. KGA I/5, 63, 30 – 64, 6; 64, 6 – 12.
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Thema in unendlichen Variationen dargestellt“.⁷⁶ In Josefs Ansprache schließlich gilt als positive Alternative zum männlichen Disput der Gesang der Frauen, seine Schlusseinladung gilt dem Heitersein und dem Gesang. Das letzte Wort der gesamten Erzählung ist „singen“. Angesichts dieses auffällig dichten dreifachen Motivnetzes haben es Reflexionen über die Relevanz von „bruta facta“ aus dem Leben Jesu nicht leicht. Doch gelingt es Schleiermacher immer wieder, auf den Anker der Christentums in der faktualen JesusGeschichte hinzuweisen. Am wenigsten deutlich wird dies bei den Frauenerzählungen, die stärker biographisch-narrativ als jesulogisch angelegt sind. Aber bereits recht am Anfang der Novelle betont Sofie mit ihrer Krippendarstellung den unaufgebbaren Ursprung des Christentums in der Geschichte, indem sie „das Haupt des Kindes [sc. Jesu]“⁷⁷ als dramaturgisches Zentrum der gesamten Kirchengeschichte darstellt, weil doch „der Christ [= Jesus Christus] der rechte Bürge ist, daß Leben und Lust nie mehr untergehen werden in der Welt“.⁷⁸ Anders bei Leonhardt: Er ist von den Männern derjenige mit dem am weitesten ausgeprägten historisch-kritischen Bewusstsein und auch der jüngste (unreifste?) des Männertrios. Doch führt ihn das dazu, seine Christologie gerade nicht auf einen „historischen Jesus“ aufzubauen: „[W]ie wenig hängt doch Christus, die wirkliche Person, damit [sc. mit dem Christentum] zusammen!“⁷⁹ Leonhardts Haltung wird so zur Demonstration der Unmöglichkeit der Rückführung des Wesens des Christentums auf einen historischen Ursprung. Die „historische Wiege des Christenthums“ liegt nicht in einem „historischen Jesus“, sondern in der Nacht, in der Dunkelheit und Unerkennbarkeit.⁸⁰ – Ernst hingegen besteht darauf, dass das Weihnachtsfest sehr wohl die Gedächtnisfeier von einem Ereignis sei und dieses Ereignis sei die Geburt des Erlösers, und diese Ausgangspunkt für die eigene Erlösung. Er möchte nicht auf den historisch-positiven Beginn des Christentums verzichten, da er hier, in der „unmittelbaren Vereinigung des Göttlichen mit dem Kindlichen“,⁸¹ das Wesentliche des Christentums erblickt, in der eine nachträgliche Aufhebung der Gegensätze gar nicht mehr nötig sei. Ernst sieht also eine Relevanz des „historischen Jesus“, die aber nicht darin liegt, dass in ihm der unbedingte und schlüssige Impuls für die spätere Christologie zu suchen bzw. sie durch ihn zu legitimieren wäre, sondern darin, dass in ihm als Erstem die Idee des erlösten Menschen samt ihrer sozialethischen Umsetzung vollständig verwirklicht sei.⁸² – Aus dem Munde von Eduard führt
KGA I/5, 64, 16 f.; vgl. auch Korsch, Weihnachten, 222. KGA I/5, 49, 5. KGA I/5, 49, 13 f. KGA I/5, 85, 23; vgl. auch 86, 8 – 10. KGA I/5, 88, 14; vgl. Wittekind, Weihnachtsfeier. KGA I/5, 71, 5. Sieht man in diesem Ansatz einen Ansatz Schleiermachers selbst, hieße dies, dass er „sich damit in den Kontext derjenigen aufklärerischen Christologiekonzeptionen [stellt], die das Inkarnationsdogma und die Zweinaturenlehre im Rahmen der historischen Entwicklung und Realisierung des Guten in der Menschheitsgeschichte neu interpretieren“ (Wittekind, Weihnachtsfeier).
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Schleiermacher eine für die Zeit bemerkenswerte Charakterisierung des Johannesevangeliums ein: Er lässt Eduard seinen Bericht als philosophische Meditation zum „mystischen“ Johannesprolog über Fleisch,Wort und Natur, über das Göttliche und das Irdische anlegen:⁸³ „Weihnachten als Prinzip des Lebens überhaupt“⁸⁴ – und ihn in der Zeit, in der das Johannesevangelium noch praktisch unangefochten für ein authentisches Werk des Zebedaiden gehalten wurde,⁸⁵ am vierten Evangelium als dem „mystischen“ festhalten, obschon bzw. weil bei diesem „fast gar nichts Geschichtliches vorkommt, auch kein Weihnachten äußerlich“ – im Gegensatz zum (Eduards Meinung nach) widersprüchlichen Vorgehen Leonhardts, der sich vorwiegend auf die „mythischen Lebensbeschreiber Christi bezog, und bei ihnen das Geschichtliche aufsuchte“ – gemeint sind die Synoptiker – und sich damit überschnell als Vertreter der neuesten theologischen Avantgarde gezeigt hat.⁸⁶ Schleiermacher lässt Eduard also den Begriff „mythisch“ nicht als Kontrastbegriff zu „historisch“, sondern als Kontrastbegriff für „mystisch“ verwenden, wobei das „Mythische“ mit dem „Historischen“ Hand in Hand gehen kann.⁸⁷ Die Relevanz des Historischen Christi liegt für Eduard darin, dass auch der Mensch sein Selbstbewusstsein im Rahmen des Historischen erlange. Aus der Einsicht, dass es beim Weihnachtsfest um den Menschen selbst gehe, folge, dass auch ein Mensch „aufgestellt“ werden müsse, in dem „die Einerleiheit des Göttlichen und Irdischen“ schon von Anfang an erkannt werden könne, „nicht erst als eine spätere Frucht des Lebens“. Schleiermacher lässt Eduard also ein zunächst spekulatives System der Entwicklung des menschlichen Selbstbewusstseins an ein historisches Ereignis koppeln und von dort aus zur empirischen Kirche als der Gemeinschaft derer, in denen dieses Selbstbewusstsein aufgegangen ist, weiterspinnen.⁸⁸ – In Josefs
KGA I/5, 96, 8.10 – 13.19 f. Korsch, Weihnachten, 224. Die bahnbrechende Arbeit zur Spätdatierung des vierten Evangeliums und Negierung der Authentizität gelang erst in Carolus Theophilus (Karl Gottlieb) Bretschneider, Probabilia de evangelii et epistolarum Joannis, apostoli, indole et origine, Leipzig 1820; allgemeinen akzeptiert wurde diese Auffassung erst allmählich im Laufe des späten 19. Jhs. KGA I/5, 94, 12– 17. Vgl. hierzu Lange, Jesus, 48, Anm. 68; Giovanni Moretto, Schleiermachers ‚Reden‘ und die Mystik, in: Ulrich Barth/Claus-Dieter Osthövener (Hgg.), 200 Jahre ‚Reden über die Religion‘. Akten des 1. Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft Halle 14.–17. März 1999, SchlA 19, Berlin/ New York 2000, 364– 380, hier: 379. In der Zweitausgabe der Erzählung (1826) ersetzte Schleiermacher diesen Passus durch die deutlicheren Worte Eduards: „Wie nun Leonhardt gar oft die mehr äußerlichen Lebensbeschreiber Christi im Sinne gehabt hat [,] um bei ihnen das Geschichtliche aufzusuchen: so will ich mich an den mystischen unter den Vieren halten, bei dem gar wenig von einzelnen Begebenheiten vorkommt, ja auch kein Weihnachten äußerlich“ (KGA I/5, 35 – 39). Überaus aufschlussreich diesbezüglich ist, dass der von der spekulativen Theologie herkommende Schelling Eduards Konzept an dieser Stelle schlicht Inkonsequenz vorwirft, da er spekulativ beginne, dann aber vollständig in die Empirie falle. Vgl. hierzu auch Hermann Bleek, Die Grundlagen der Christologie Schleiermachers, Die Entwicklung der Anschauungsweise Schleiermachers bis zur Glaubenslehre mit besonderer Rücksicht auf seine Christologie, Freiburg u. a. 1898, 199 – 213, insbes. 203 f.; Lange, Jesus, 49 f.
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Schlussansprache schließlich ist von historischem Rückfragen gar nicht mehr die Rede. Keine Figur wird von ihm so gescholten wie der kritische Leonhardt. Josef kritisiert zwar an allen Männerreden die mangelnde Angemessenheit gegenüber ihrem Gegenstand, doch nur Leonhardt wird namentlich genannt. Wenn seiner Rede zwar auch nicht inhaltlich widersprochen wird, wird sie doch als ganz besonders unangemessen und sogar irreführend gerügt, denn sie sei das „schlechte Princip“ der anderen gewesen.⁸⁹ Und so lenkt Josef, der zwar ohne eigene Familie ist, sich aber heute am Weihnachtstag die ganze Menschheit zur Familie gemacht hat und „der Welt“ einen lange[n], liebkosende[n] Kuß gab“,⁹⁰ den Fokus des Weihnachtsfeierns zurück auf das Feiern, die Freude, die Gemeinsamkeit, das Kindliche und – im Gegensatz zu den Reden der Männer – zur Musik. Auf der Figurenebene der Gesamterzählung wird das Problem des Zusammentreffens von Geschichte und Systematik, von Empirie und Spekulation somit vor allem in den Reden Ernsts und Eduards thematisiert. Beide (insbesondere Ernst) stehen für Ansätze, die die historische Kritik auf ihre Weise in ihr Konzept des Christentums integrieren möchten und zu einem notwendigen System entwickeln. Bei Leonhardt führt die historische Kritik hingegen zum Verlust des historisch-positiven Ankers der Christentumsgeschichte, auch bei Josef bleibt sie unberücksichtigt (obschon Leonhard – wie gesagt – nicht inhaltlich, dafür aber methodisch umso deutlicher widersprochen wird). Dass die Rolle eines „historischen Jesus“ in der Erzählung zwar nicht ganz aufgegeben wird, aber insgesamt doch unterbestimmt bleibt, hat wiederum v. a. D. Lange herausgearbeitet. Nach ihm wird die „Geschichtlichkeit Jesu, wenn auch nicht zu einem Postulat, so doch zu etwas ganz Unanschaulichem. Das konkret Lebendige wird von dem Idealen nahezu völlig verdeckt; es ist eigentlich nur implicite gegeben“.⁹¹ Andererseits sieht Lange darin auch einen typischen Wesenszug der Schleiermacher’schen Christologie, wie er sie dann später in der Glaubenslehre ausführt. Denn Schleiermacher stelle im „historischen Jesus“ und gegen Lessing eben doch eine „Geschichtswahrheit“ als eine „sich als notwendig erweisende“⁹² dar, die „in der unanschaulichen, weil im Bereich des Religiösen gelegenen Einheit von spekulativer und empirischer Betrachtung der Person Jesu [kulminiere]: Nicht die den Glauben hinter sich lassende Kritik, sondern der durch die Kritik hindurchgegangene Glaube begreift den Sinn des Weihnachtsfestes“.⁹³
KGA I/5, 97, 11 f.; auch a.a.O., 16 – 21. KGA I/5, 98, 7. Lange, Jesus, 55. Lange, Jesus, 56. Lange, Jesus, 55.
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V. Resumée Das unübersehbare und unmittelbare Verdienst der Geschichtskonzeption Jesu in den beiden hier berücksichtigen Werken Schleiermachers liegt zweifellos erstens darin, dass sie bruchlos und unmittelbar in eine christologische Systematik integriert ist und als deren Bestätigung fungiert; und zweitens, dass sie sich damit unabhängig von historisch-kritischen Einzelentscheidungen über ipsissima verba et facta Jesu halten möchte, deren Ambiguitäten ja schon um die Jahrhundertwende herum zu den ersten prinzipiellen Methodenzweifeln gegenüber dem historisch-kritischen Zugang geführt hatten.⁹⁴ Gleichzeitig geht sein Jesus über die Suffizienz des bloßen „Dass“ seines Gekommenseins, wie es R. Bultmann später genügen würde, ja deutlich hinaus. Schleiermachers Jesus „muss“ die Charakteristika des „Bewußtsein von der Einzigkeit seiner Religiosität, von der Ursprünglichkeit seiner Ansicht, und von der Kraft derselben sich mitzutheilen und Religion aufzuregen, [… und] zugleich das Bewußtsein seines Mittleramtes und seiner Gottheit“ aufweisen, um die ihm zugesprochene entsprechende christologisch-soteriologische Funktion einnehmen zu können. Und diesbezüglich kann kaum ein Zweifel sein: Die historisch-kritischen Jesusforscher, die ab den 1820er Jahren die ersten großen kritischen Leben-Jesu-Monographien vorlegten, also H. E. G. Paulus (1828) und K. v. Hase (1829), konnten an diese Rezeption der Historizität Jesu nicht anknüpfen. Und dies lag gar nicht nur bzw. gar nicht so sehr an Schleiermachers Bevorzugung des Johannesevangeliums, sondern vielmehr an den exegetischen historisch-kritischen Detailentscheidungen, die sich zunehmend durchsetzten.⁹⁵ Wittekind formuliert zwar in Bezug auf die Weihnachtsfeier erläuternd mit Recht: „Nicht der historische Jesus an sich ist der Ursprung des Christentums, sondern er ist dies nur mittels des vernünftigen Postulats einer Person, die als erste die
Bereits K. H. G. Venturini (1768 – 1849), der Autor eines der ersten, erklärtermaßen teilfiktionalen Jesus-„romane“ hatte bereits im Jahr 1800 ausdrücklich als Provaktion gegen die Müßigkeit der „mühsam gesammleten [sic] Schätze der Sprach‐ und Geschichtskunde“ die spöttische Frage formuliert „[W]elches Resultat habt ihr bey euern kritisch-historischen, philologischen-psychologischen und wer weis was alle für Commentaren über die Biographien Jesu von Nazareth – gefunden? – Gar keins, – oder etwa nur das: es bleibe hier alles höchst ungewiß, verstatte vielfache Ansichten, und das so Schwankende dürfe den Laien nicht ohne große Umschweife mitgetheilt werden?“ (Carl H. G.Venturini, Natürliche Geschichte des großen Propheten von Nazareth, Bd. I, Bethlehem (= Kopenhagen) 1800, X.XI). Er selbst hingegen verstand sich als seriöser Historiker und wehrte sich gegen die Bezeichnung „Roman“ für sein Werk. Es ist dies die früheste mir bekannte Fundamentalkritik gegen historische Bibelkritik – wenige Jahrzehnte nachdem sie erst angefangen hatte stark zu werden. Vgl. zu Venturini auch Stefan Alkier, Zur Geschichte und Theologie einer exegetischen Disziplin, BHTh 83, Tübingen 1993, 188. Auf die zeitgenössische harsche Kritik an Schleiermachers Jesus-Ansatz etwa durch F. Chr. Baur oder D. Fr. Strauß ist hier nicht einzugehen (vgl. hierzu etwa Maureen Junker, Das Urbild des Gottesbewußtseins. Zur Entwicklung des Religionstheorie und Christologie Schleiermachers von der ersten zur zweiten Auflage der Glaubenslehre, SchlA 8, Berlin/New York 1990, 133 – 150; Lange, Jesus, 190 – 217).
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Idee der Menschheit und das Prinzip der Erlösung (und damit die Grundidee aller Religion überhaupt) in der Geschichte der gefallenen Menschheit verkörpert.“⁹⁶ Dies heißt aber eben auch, dass das Postulat dieser Verkörperung ohne den hinter ihm stehenden „historischen Jesus“, auf dem es aufsattelt, unbestätigt bleibt. Mit Bezugnahme auf Schleiermachers Bevorzugung des vierten Evangeliums hat Patsch unlängst die kritische Anfrage gestellt: „[D]a sich Schleiermachers Überzeugung, im Johannes-Evangelium authentisches Zeugnis des historischen Jesus zu finden, angesichts der weiteren Entwicklung der historischen-kritischen EvangelienForschung nicht halten lässt, bleibt die ernste Frage, ob damit auch seine systematische Entfaltung der christlichen Glaubensüberzeugungen unhaltbar geworden ist oder ob er ohne Abstrich dasselbe hätte lehren können, wenn das vierte Evangelium nicht den historischen Jesus, sondern johanneische Theologie vertritt“.⁹⁷ Und dies gilt aus exegetischer Sicht nicht nur mit Bezug auf die Frage nach der Authentizität des Johannesevangeliums, sondern allgemein. So bleibt nicht nur angesichts der Detailanforderungen an Schleiermachers „historischem Jesus“, sondern auch aus prinzipiellen methodischen Gründen der Geschichtswissenschaft⁹⁸ die Frage, ob und wenn ja wie – wenigstens auf der Basis der hier betrachteten Werke und insbesondere auch dem (ja viel späteren) Kolosser-Essay – Schleiermachers beschrittener Weg von der christologischen Systematik zur Jesusgeschichte methodisch kontrolliert auch wieder zu ersterer zurückführen kann. Man darf gespannt sein, inwiefern die Veröffentlichung der exegetischen Vorlesungen Schleiermachers in der KGA hierzu weiter Klarheit schaffen wird.
Wittekind, Weihnachtsfeier. Hermann Patsch, Schleiermachers Homilien zum Johannes-Evangelium, in: Michael Pietsch/Dirk Schmid (Hgg.), Geist und Buchstabe. Interpretations‐ und Transformationsprozesse innerhalb des Christentums, FS Günter Meckenstock, Berlin/Boston 2013, 131– 154, hier: 154. Vgl. jüngst nur Jens Schröter, Neutestamentliche Wissenschaft jenseits des Historismus. Neuere Entwicklungen in der Geschichtstheorie und ihre Bedeutung für die Exegese urchristlicher Schriften, ThLZ 128 (2003), 855 – 866; Ruben Zimmermann, Geschichtstheorien und Neues Testament. Gedächtnis, Diskurs, Kultur und Narration in der historiographischen Diskussion, in: Early Christianity 2 (2011), 417– 444, u.v.m.
Ästhetik
Christoph König / Osnabrück
Schamhaftigkeit als Prinzip des Verstehens Zu Friedrich Schleiermachers Vertrauten Briefen über Friedrich Schlegels Lucinde „Wie seine Kunst sich vollendete […]: so ward ihm auch sein Leben zum Kunstwerk“ (Lucinde)¹
(1) Echte und falsche Rettungen Die Forschung versucht in der Regel, Friedrich Schleiermacher vor Friedrich Schlegel zu retten. Hat Schleiermacher das nötig? Schleiermacher verteidigt in seiner Schrift Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde ² (1800) den ein Jahr zuvor erschienenen Roman seines Freunds. Diese Schrift ist bis heute für viele ein Ärgernis, denn sie halten den Roman für unsittlich und künstlerisch misslungen. Emblematisch wurde das Verdikt Wilhelm Diltheys in seiner Biographie von 1870; Dilthey schreibt: „Ich beabsichtige nicht, zu beweisen, daß der Roman Friedrich Schlegels sowohl unsittlich als dichterisch formlos und verwerflich ist. Diese Einsicht bedarf keiner Begründung mehr“.³ Die Form des romantischen Romans, mit der Schlegel programmatisch die herkömmlichen Gattungsgrenzen sprengt, unterliege – so Dilthey – demselben verwerflichen Prinzip wie die im Roman verhandelte Liebesmoral, nämlich dem Prinzip übertriebener Individualität, die sich in der Liebe gegen die Institution der Ehe wendet. Dilthey schreibt weiter: „Dann aber heißt es ganz die Macht menschlicher Leidenschaften verkennen, wenn man die Strenge der Sitten und die heutige Unantastbarkeit der Institutionen, den festen Damm gegen sie, abbrechen möchte, um den ethischen Individualitäten freies Spiel zu gewähren.“⁴ Dilthey begreift Schleiermachers Einsatz für Schlegel als strategischen, sich selbst verleugnenden Freundschaftsdienst. Eine zu dieser Selbstverleugnungsthese komplementäre Lösung des
Friedrich Schlegel, Lucinde, in: Ders., Kritische Friedrich Schlegel-Ausgabe, hg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean Jacques Anstett und Hans Eichner, Bd. 5: Dichtungen, hg. und eingeleitet von Hans Eichner, Paderborn u. a. 1962, 1– 92, 57. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde, in: Ders., Kritische Gesamtausgabe, hg. von Hans-Joachim Birkner und Gerherd Ebeling, Hermann Fischer, Heinz Kimmerle, Kurt-Victor Selge, 1. Abteilung (Schriften und Entwürfe), Bd. 3: Schriften aus der Berliner Zeit 1800 – 1802, hg. von Günter Meckenstock, Berlin und New York, 1988, 139 – 216. Wilhelm Dilthey, Leben Schleiermachers, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. von Karlfried Gründer und Frithjof Rodi, Bd. 13: Leben Schleiermachers, Bd. 1, Halbbd.1 (1768 – 1802), hg. von Martin Redeker, Göttingen 1970, 496. AaO. 511. DOI 10.1515/9783110464573-028
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Christoph König
Ärgernisses der Verteidigung Schlegels durch Schleiermacher schlägt mehr als hundert Jahre später Hans Dierkes vor (1983); Schleiermacher habe – im Gewand der Verteidigung – Abstand von Schlegels Roman genommen und in seiner (Schlegel verleugnenden, theologischen) Re-Interpretation die Lucinde über seinen Leisten des ethisch-religiösen Idealismus geschlagen.⁵ Diltheys sittliche Norm (Schleiermacher habe nie der Promiskuität in der Liebe zugestimmt) präsentiert sich in einem theologischen Argument: Der Schlegelschen Vorstellung der Entgrenzung des Endlichen (in Gestalt der Liebe) halte Schleiermacher seinen Sinn für innerweltliche Grenzen entgegen, auf der Grundlage seiner „›negative[n]‹ Metaphysik des bleibend sich der geschichtlichen Objektivation entziehenden Gottes“⁶. Der Preis für die scheinbare Rettung Schleiermachers, den sowohl Dilthey als auch Dierkes (und viele andere) zahlen, besteht, wie ich nun zeigen möchte, in einer willkürlichen Lektüre von Schleiermachers Vertrauten Briefen. ⁷ Der eine verkennt die Schrift, indem er sie mit seinem eigenen Unverständnis der Lucinde identifiziert, der andere, indem er eine subtile Abkehr von dem gleichermaßen unverstandenen Roman sehen will.
(2) Philologische Liebe Tatsächlich aber reagiert Schleiermacher mit seinen Vertrauten Briefen kongenial auf die Lucinde, indem er die Stellung des Romans in Schlegels fortschreitendem Denken versteht und mit seinen Briefen daran anknüpft, ohne selbst weiterzudichten – anders als zuletzt Manuel Bauer 2011, sowohl Schlegel als auch Schleiermacher verteidigend, vorschlug und in ihnen sogar den fehlenden zweiten Teil der Lucinde erkennen mochte.⁸ Die Briefe sind zwar erfunden (und haben zum Teil Schlüsselcharakter und präsentieren sich in einer Herausgeberfiktion), aber sie besitzen nicht die Freiheit der Poesie Schlegels. Sie sind eine gelehrte Debatte, in der der Verfasser seinen Standpunkt in der Vielzahl der Meinungen durchsetzt. Es geht ihm um die Prinzipien des Verstehens der Lucinde. Mit anderen Worten: Die Briefe parodieren nur die Heterogenität des romantischen Romans. Schleiermachers Vertraute Briefe reagieren auf die Liebe als Gegenstand in der Lucinde. Sie achten auf die spezifische Form, die die Liebe im Roman besitzt. Nun ist, wie ich zeigen werde, die Form der Liebe im Roman philologischer Natur, genauer: Ihre Form entstammt der philologischen Praxis des Verstehens literarischer Werke.⁹ Der
Hans Dierkes, Friedrich Schlegels Lucinde, Schleiermacher und Kierkegaard, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 57, 1983, 431– 449. AaO. 438. Vgl. aaO., vgl. Diltheys Umkehrung der Argumentation Schleiermachers, s.o. Anm. 3, 511– 514. Manuel Bauer, Schlegel und Schleiermacher: frühromantische Kunstkritik und Hermeneutik, Paderborn, München, Wien und Zürich 2011. Vgl. Christoph König, Grenzen der Cyklisation. Friedrich Schlegels Notate Zur Philologie als Form des Romans Lucinde, in: Ders., Philologie der Poesie. Von Goethe bis Peter Szondi, Berlin 2014, 36 – 55.
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Roman führt daher nicht vor, wie ästhetisch zu leben sei, sondern zeigt den Gedanken, dass jedes Leben, einmal ins Kunstwerk gebracht, philologisch werden muss. Und solange diese Form herrscht, ist thematisch alles (auch das Sinnlichste) erlaubt.Wenn hier von Philologie die Rede ist, dann ist streng an Schlegels Vorstellung zu denken (und weder an die theoretisch naive, editorisch und biographisch arbeitende Philologie des 19. Jahrhunderts, noch an eine Kritische Philologie im Sinne Jean Bollacks,¹⁰ die skeptisch ist und die Materialität des Kunstwerks achtet). In Schlegels Vorstellung geht es darum, die Begriffe der Philologie in einem unendlichen Prozess der „Cyklisation“ (wie Schlegel sagt) zu vereinen, so dass das Wort „Kunst“ an die Stelle der Techniken (Grammatik und Poetik) und der Vermögen (Kritik und Hermeneutik) treten kann. Solcherart wird es austauschbar durch das Wort „Liebe“, das den Roman dominiert. Unterschwellig findet jene philologische Cyklisation statt, die die philologischen Begriffe in ein einziges Wort bringt. Schleiermacher unternimmt es nun seinerseits, die Prinzipien der philologischen Prozesse als Formen der Liebe in der Lucinde zu entfalten, sei es explizit oder in der Art, die Vertrauten Briefe zu schreiben. Gerade in ihrer Gesprächsform erweisen sie sich als eine hermeneutische Praxis im Geiste Schlegels. Ich gehe im ersten Teil meines Aufsatzes auf den Denkprozess in Schlegels frühromantischen Schriften ein und konzentriere mich auf dessen Notate Zur Philologie sowie auf Schlegels Roman Lucinde. Ich beschreibe einen Verpuppungsprozess, der von den Notaten zum Roman führt. Der zweite Teil meines Aufsatzes ist Schleiermachers Anweisung zur Auswicklung dieser Verpuppung in seinen Vertrauten Briefen gewidmet.
(3) Vervollkommnung der Begriffe Schlegel legt seinen Philologie-Begriff in zwei Arbeitsheften mit dem Titel Zur Philologie nieder, die 1797 in wenigen Monaten entstanden sind. In den Arbeitsheften kommt es auf Begriffe an. Nicht die Gegenstände der Philologie (die Werke) und eine von ihrer (ästhetischen) Art herzuleitende Methode, sie zu bemeistern, stehen im Zentrum. Sondern die (philologische) Verstehensanstrengung der Notate richtet sich auf die überkommenen Begriffe der Philologie, die in einer Gedankendynamik zu neuen Instrumenten werden sollen. Die zentralen Begriffe lauten ›Kritik‹, ›Hermeneutik‹, ›Grammatik‹, ›Poetik‹, ›Historismus‹, das ›Classische‹, ›Wissenschaft‹, ›Cyklisation‹ oder ›materiale Alterthumslehre‹; die Begriffe gewinnen im Fortschreiten der Notate nicht nur ein deutlicheres Verhältnis zueinander, sondern sie werden zuse Vgl. Jean Bollack, Sinn wider Sinn. Wie liest man? Gespräche mit Patrick Llored, aus dem Französischen von Renate Schlesier, Göttingen 2003; Christoph König, Ungebärdiges Lesen. Laudatio für Jean Bollack (zur Ehrenpromotion an der Universität Osnabrück im Jahr 2007), in: Lendemains 33, 2008, Heft 129, 119 – 127; Denis Thouard, Herméneutique critique: Bollack, Szondi, Celan, Villeneuve d’Ascq 2012.
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hends dem Begriff der ›Kunst‹ unterworfen. Im Zeichen der ›Kunst‹ verlieren die Unterschiede, die die Begriffe im Grunde auszeichnen, an Bedeutung, oder sie treten dort, wo die Begriffe den Kunststatus nicht zu fassen vermögen, zurück. Was Schlegel von seiner Zukunftsphilologie avant la lettre fordert, geschieht also in seinen Arbeitsheften selbst: Die Notate und ihre Begriffe werden selbst ›philologisirt‹, um Schlegels Neuprägung aufzugreifen, das heißt in ihrer Gänze ergriffen bzw. mit immer neuen Anläufen in eine umfassende Konstruktion eingebaut und schließlich in ihren Bedeutungen ausgebleicht. Daher rückt Schlegel den Begriff der ›Cyklisation‹ ins Zentrum. Der Begriff bezeichnet als Tat, was mit ihm geschehen soll. Cyklisierend könne man, so Schlegels Zuversicht, eine Methode (qua Wissenschaft) sich selbst zur Kunst führen lassen. Es geht also in Schlegels Programm einer ›Philologie der Philologie‹ nicht um die Totalisierung eines Gegenstands im Sinne des hermeneutischen Zirkels, sondern um die Vervollkommnung eines methodischen Vermögens. In II/73 schreibt Schlegel in diesem Sinn: „Alles kritische Lesen, alles Lesen mit Rücksicht auf Klassizität […] ist cyklisch.“¹¹
(4) Begriffstilgung und Produktivität der Begriffe – eine Wiegebewegung Zum Paradox von Schlegels Verfahren philologischer Reflexion gehört, dass die philologischen Begriffe, je weiter die Reflexion voranschreitet, im Theoretischen die Unterschiede zusehends verlieren, im Produktiven jedoch umso unverkennbarer und individueller werden. Mit anderen Worten: Die Selbstannihilierung der methodischen Prinzipien (so bestimmt Schlegel mit dem Begriff der ›Annihilazion‹ seine ›absolute Philologie‹ näherhin) mündet in seiner ›Philologie der Philologie‹, wie sie sich in den Arbeitsheften niederschlägt, in ein totalisierendes Wort, nämlich in das Wort von der ›Kunst‹. Wird die ›Kunst‹ indes im ›Kunstwerk‹, der Lucinde nämlich, ausbuchstabiert, so schaffen die in der Cyklisation zum Schweigen gebrachten methodischen Prinzipien in der Verwirrung,von der Schlegel in seinem Roman ausgeht, im Stillen und gegen die Verwirrung gerichtet einen Sinn. Zu diesem Zweck wird die kunstmäßig in der Begriffsarbeit ›philologisirte‹ Wissenschaft wieder – gegenläufig – aktiviert,vor allem die wissenschaftlich-philologische ›Kritik‹ als Technik der Restitution von Texten.¹² In einer Art methodischem Chiasmus geht die Begriffstilgung von der Kritik zur Kunst und die Produktivität von der so gewonnenen Kunst zur Kritik zurück. Das Philologische Friedrich Schlegel, Zur Philologie, in: Ders., Kritische Friedrich Schlegel-Ausgabe, hg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean Jacques Anstett und Hans Eichner, Bd. 16: Fragmente zur Poesie und Literatur I, mit Einleitung und Kommentar, hg. von Hans Eichner, Paderborn u. a. 1981, 33 – 81 (Zur Philologie 1: 33 – 56; Zur Philologie II: 57– 81). Im Folgenden wird aus dieser Ausgabe zitiert; die römischen Ziffern beziehen sich auf die Arbeitshefte, die arabischen auf die jeweiligen Notate. Ausführlich hierzu vgl. v. a. die Kapitel ›Wiegebewegung‹ und ›Begriffsarbeit in den Notaten Zur Philologie‹, in: Christoph König, Grenzen der Cyklisation (s.o. Anm. 9), 38 – 40.
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wird unsichtbar-sichtbar in dem Hauptwort, mit dem der Roman sich selbst zu begreifen sucht. Es ist ein quasi philologisiertes, seinen Sinn im Hintergrund bewahrendes Wort, das dem Wort der Arbeitshefte von der ›philologischen Kunst‹ völlig entspricht, weil dieser Hintergrund philologisch ist – das gemeinte Hauptwort ist das Wort ›Liebe‹ im Roman Lucinde. Die Begriffe sind, so lässt sich zugespitzt sagen, geeignete Instrumente, weil sie ihren spezifischen Gehalt in einer Wiegebewegung verlieren und bewahren. Das Partikulare in Schlegels Projekt überhaupt wird sichtbar: Die Doppeltendenz zur Auflösung der semantischen Differenzen einerseits, zur Respezifizierung und also schöpferischen Herausbildung der Differenzen andererseits. Diese Doppelbewegung ist gleichsam das Ein- und Ausatmen der Schlegelschen Denkbewegung, innerhalb derer auch die Arbeitshefte und der Roman aufeinander bezogen werden.
(5) Historische Kritik des Klassischen Schlegel legt mit dem folgenden Notat den Grundstein für seine Überlegungen Zur Philologie. Das Notat stellt, auch wenn das vorerst nicht offenkundig ist, das Gründungsdokument moderner Poesie dar; es lautet: „Das wichtigste Stück zu einer Philosophie der Philologie ist also eine Theorie der historischen Kritik. – Winkelmanns Historismus“ (I/9). Zunächst meint das, dass die Philologie grundsätzlich historisch sei. Doch weder Friedrich August Wolfs Skepsis, ob es einen Autor der homerischen Epen gegeben hat (vgl. I/174), ist gemeint noch eine „Totalität von Notizen“ (I/92), eine Philologie des Kleinsten und ohne Überblick (das ist das Bild, das bis heute viele von der Philologie haben), sondern Johann Joachim Winckelmanns Einsicht, dass die Antike ebenso gültig wie fremd sei. ›Historismus‹ bedeutet daher, hier wie auch später durchwegs, die Anerkennung des Unterschieds zwischen dem Klassischen und dem Progressiven. Des Weiteren ist die mit der Formel „Theorie der historischen Kritik“ gemeinte Kritik zunächst ein Wort aus der Methodenlehre der Philologie,¹³ das die niedere (technische) Kritik und die höhere bzw. divinatorische Kritik, das heißt die in der Kenntnis der Urkundensprache sich vollziehende, auf das Einzelne gerichtete Kritik zunächst unterscheidet und dann miteinander vereint. Beide Kritikformen haben die Konstitution („restit.[utio]“, I/180) und die Prüfung der „Aechtheit“ (I/204) eines Texts zum Ziel. Treten Historismus und Kritik zusammen, so bedeutet das Notat: Die Ganzheit eines Werks ist im Bewusstsein der historischen Fremdheit des Werks wieder herzustellen. Das gelte auch für moderne Werke, denn auch sie sollen klassisch werden.
Auf die Frage in I/6 nach dem „Verhältniß der Philologie zur Kritik“ präzisiert Schlegel im nächsten Notat: „Künftig: Methodenlehre der Philologie“ (I/7).
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(6) Die Poesie liegt in den Gattungen Das ist also die Grundlage: Die Klassizität sei die Qualität großer Kunst und die Grundlage philologischen Lesens. Von ihr gehen die Romantiker aus – die Klassizität sei auf romantischem Weg wieder zu gewinnen.¹⁴ Nun geschieht etwas Entscheidendes: Als Grundlage der Lektüre wird das mit der Klassizität zunächst gegebene Gattungssystem herangezogen. Das ist mit der Poetik als Grundlage der Kritik in dem Notat gemeint: „Der Hermeneutik entspricht die Grammatik so wie der Kritik die Poetik. So viel Bestandtheile die φλ [Philologie] hat, so viel material[e] Wissenschaft[en] setzt sie voraus. Erst dachte ich: die Herm[eneutik] beruht auf der Logik – die klass.[ische] Gramm[atik] auf der φσ [philosophischen] Gramm[atik]. – “ (I/159) Wenn die Cyklisation aus dem Progress von Poetik zu Kritik hervorgeht, und die Poetik eine Gattungspoetik ist, dann beruht die Cyklisation als Methode der Methoden – in der Rücksicht auf ›Klassizität‹ – grundsätzlich auf den Gattungen. Das Besondere an Schlegels Cyklisation ist also die romantische Überzeugung, dass die auf Klassizität gerichtete Verbesserung der Methode kraft einer Entdifferenzierung des Gattungssystems erfolgen kann. Indem Schlegel den Begriff der Cyklisation durch Gedanken über die Gattungen auslegt, trägt die Literatur die methodische Last im philologischen Programm. Das bestimmt den Roman Lucinde. Der Roman schafft seinen Sinn, indem er im Geist einer Kritik, deren Wesen darin besteht, Ganzheit herzustellen, Gattungen in der genannten Wiegebewegung schafft und wieder einebnet. Der Gestaltungszweck des Romans besteht darin, die Figuren, ihre Lieben und die Geschichte dieser Liebschaften mit den Gattungen und der Gattungsgeschichte zu verbinden.
(7) Identifikation von Liebe, Kunst und Philologie Darauf reagiert Schleiermacher, der den Roman im Zeichen der Liebe verteidigt. Tatsächlich ist die Liebe allein das Sujet des Romans, doch besteht der Sinn dieser Zuspitzung darin, ein semantisches Dach zu bilden, das wenig sagt und der poetischen Praxis alle Freiheit lässt. Die dichterische Praxis, der diese Freiheit zu Gute kommt, entfaltet sich notwendig in den philologischen Operationen des Romans. Philologisch, denn sie wollen dessen Klassizität behaupten. Eine Klassizität aufgrund der Verfasstheit als fremdes, historistisch gefasstes Ganzes von Gattungen. Die Methodik auf diesem Weg verbirgt sich im zum Namen gewordenen Begriff. Insofern hat das Wort ›Liebe‹ den Status des Wortes ›Kunst‹ in den Arbeitsheften Zur Philologie. Und es hat nicht nur einen analogen Status, sondern auch den Sinn des Wortes aus den Ar-
Vgl. Peter Szondi, Das Naive ist das Sentimentalische. Zur Begriffsdialektik in Schillers Abhandlung, in: Ders., Schriften. Mit einem Nachwort von Christoph König, hg. von Jean Bollack u. a., Berlin 2011, Bd. 2, 59 – 105, 62– 66.
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beitsheften. Die Liebe wird zur philologischen Methode, die sich hinter ihrem Namen versteckt und also annihiliert ist. Dabei muss der Roman seine Klassik, philologisierend, innerhalb eines in Auflösung begriffenen Gattungssystems erreichen. Die Gattungen in der Lucinde werden zur Wissenschaft (zur Poetik als Wissenschaft) einer als philologische Kunst verstandenen Liebe. Eine romantische Klassik entsteht, die den Roman, in den Augen Schlegels, erst zu einem genuinen und würdigen Gegenstand der Philologie macht.
(8) Gattungen führen in den Lehrjahren der Männlichkeit zur Liebe Die Mitte der Lucinde bildet das Kapitel Lehrjahre der Männlichkeit, das in Friedrich Schleiermachers Vertrauten Briefen eine zentrale Rolle spielen wird. Das Kapitel versteht sich als Referenz gegenüber Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre, den Schlegel in seiner berühmten Rezension „als ersten Beitrag zu seinem eigenen Projekt ›romantischer Roman‹“¹⁵ liest, nämlich in seiner Fähigkeit, die einzelnen Teile des Romans zu individuellen Organismen zu bilden, die indes ohne das Ganze des Romans bedeutungslos blieben. Eine einheitliche „Subjektstruktur“¹⁶ mache sich in allen Teilen geltend, was schließlich zur Klassizität des modernen Romans führe. Das einheitsstiftende Prinzip, das diese Individualitäten bildet, rückt an Stelle der (harmonischen oder konsekutiven) Komposition in den Vordergrund. So verlieren die einzelnen Gattungen ihren Prioritätsanspruch (das individuierende Prinzip, auf das alles ankommt, verwirklicht sich in jeder einzelnen): Auch die nur kompositorisch in der Mitte der Lucinde stehenden Lehrjahre. Die Steigerung des Gattungsindividuums zur Totalität des Romans führt über die Cyklisation, die in einen umfassenden leeren Gattungsbegriff führt. Alle Gattungen haben daher untereinander wettzumachen, was die Gattung als Gattung jeweils versäumt, wenn man sie vor der Folie des großen, leeren Begriffs ansieht. Zu diesem Zweck fallen sie einander ins Wort und treiben wechselseitig die Cyklisation ihrer Gattung voran. In den Lehrjahren der Männlichkeit geht es um eine Art Literaturgeschichte (eine philologische Gattung) in Gestalt eines Liebesreigens (der zahlreiche Gattungen aufbietet), mit all den Beschränkungen dieses Genres, und mit allen in der Philologie möglichen Kompensationen.
Manfred Engel, Der Roman der Goethezeit, Bd. 1: Anfänge in Klassik und Frühromantik: Transzendentale Geschichten, Stuttgart und Weimar 1993, 382. AaO. 385.
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(9) Eine historistische Geschichte der Liebschaften Die Lehrjahre der Männlichkeit sind ein chronikhaftes Stück Prosa, das aufgereiht die Erlebnisse Julius’ mit einzelnen Frauen schildert und in der glücklichen Verbindung von Julius und Lucinde endet. Das Dokumentarische dominiert das Narrative. Im Grunde werden Liebschaften aufgezählt und laufend kommentiert. Der Kommentar ist selbst schon eine philologische Übung. Die Erlösung vom Dokumentarisch-Kommentierenden am Ende verdankt sich einer literaturgeschichtlichen Konstruktion. Schlegel baut in das Dokumentarische eine Epochensystematik von Klassik und Moderne ein, die die Lehrjahre der Männlichkeit organisiert. Diese Epochensystematik folgt der in den Arbeitsheften entwickelten historistischen Prämisse philologischer Praxis. Ich gebe die Folge der Liebschaften wieder: In seiner Jugend lebt Julius in einem rasenden Narzissmus, der auf den Gegenstand der Leidenschaft nichts gibt („Es war ihm, als wolle er eine Welt umarmen und könne nichts greifen“¹⁷). Die dieser vergeblichen Sehnsucht folgende Phase der Einsamkeit (in Gesellschaft) erschöpft sich in der Phantasie seiner Wünsche. In den Erinnerungsfragmenten, die keinerlei Ganzheit bilden, taucht nun das Bild eines Mädchens (Louise) auf, das er wieder aufsucht und vergeblich zur Leidenschaft bewegen will. Alles in diesem Kapitel drängt voran als abstraktes Geschehen, als Geschichte analysierter Gefühle, deren Dominanz der Erzähler ironischerweise seiner Figur vorwirft. Als Julius sich in seiner willkürlichen Werbung um eine hohle, schlaue Frau der Lächerlichkeit preis gibt, heißt es von ihm: „Im einzelnen verfehlte er immer auf eine scharfsinnige Art das Rechte, weil er überall künstliche Absichten voraussetzte und tieferen Zusammenhang, und gar keinen Sinn hatte für das Unbedeutende“.¹⁸ In der Beziehung zu Lisette, einem innerlich freien Mädchen, das den gescheiten Männern gegenüber leidenschaftlich ist, gegenüber den Freiern (die sie aus Not hält) aber kalt,verkennt er diese Lebensökonomie und treibt sie zur Selbsttötung. Weiter geht es: Nach Erniedrigung und Tragödie wendet er sich von den Frauen ab, doch die nun folgende, in die Leidenschaft führende, aber, wie er nachträglich erkennt, nie zu großen Werken fähige Schwärmerei für die „Göttlichkeit der männlichen Freundschaft“¹⁹ bricht im ennui ab. Erst nach diesen Verwirrungen setzt die philologische Ordnung von Antike und Moderne ein, die im Roman allein zur wahren Liebe führen wird. Sie ist gebunden an die künstlerische Produktion (worauf Schleiermacher seine Freundin Eleonore besonders hinweisen wird): Zunächst liebt Julius die Frau eines Freundes, die selbst antik und ebenso naiv wie sentimentalisch lebt,²⁰ doch Julius selbst muss aus Rücksicht auf
Schlegel, Lucinde (s.o. Anm. 1), 36. AaO. 41. AaO. 45. Es regiert die von Szondi später auf den Punkt gebrachte Einsicht, das Naive sei das Sentimentalische. Vgl. Szondi, Das Naive ist das Sentimentalische (s.o. Anm. 14).
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den Freund seine Liebe zurückdrängen und lebt daher quasi klassizistisch, das heißt ohne Verbindung von innerer Leidenschaft und objektiver bildender Kunst, die er rein nach antikem Vorbild schafft:²¹ „Was er bildete, war groß gedacht und in altem Stil, aber der Ernst war abschreckend, die Formen fielen ins Ungeheure, das Antike ward ihm zu einer harten Manier, und seine Gemälde blieben bei aller Gründlichkeit und Einsicht steif und steinern. Es war vieles zu loben, nur die Anmut fehlt; und darin glich er seinen Werken.“²² Nun erst begegnet er einer älteren Freundin, und ex post werden die Gründe seiner klassizistischen Reaktion deutlich. Die Gründe spiegeln die Opposition von Wissenschaft und Kunst, von einem Spiel nach Regeln, denen Julius gefolgt ist, und der künstlerischen Notwendigkeit, die er nun findet; er gibt der Regel den Namen ›Konsequenz‹ und konzipiert sie kantianisch als Bedingung des Genies („Genie =Enthus[iasmus] + Conseq[uenz] + Talent.“²³) Die Regeln (oder anders gesagt: die Wissenschaften) werden erst in einem weiteren, geselligen Kreis kunstmäßig gehandhabt. Der gesellige Genius, der die Regelhaftigkeit über sich selbst hinausführt, tritt als mütterliches Herz auf: „In dieser Anschauung begriff es Julius klar, daß es keine andre Tugend gebe als Konsequenz. Aber es war nicht die kalte steife Übereinstimmung berechneter Grundsätze oder Vorurteile, sondern die beharrliche Treue eines mütterlichen Herzens, das den Kreis seiner Wirksamkeit und seiner Liebe mit bescheidner Kraft erweitert und in sich selbst vollendet, und die rohen Dinge der umgebenden Welt zu einem freundlichen Eigentum und Werkzeug des geselligen Lebens bildet.“²⁴ Das Poetisch-Systematische wird hier in der biographischen, von Bewunderung gezeichneten Relation Schlegels zu Goethe nochmals gespiegelt. Goethe tritt quasi als diese gesellige ältere Freundin auf. Die Spiegelung erlaubt die Wertschätzung einer noch fruchtbaren Klassik: Die alte Dame erwartet – trotz ihres Alters, aber dank ihres Charakters – noch ein Kind. Danach folgen in den Lehrjahren der Männlichkeit Übergänge, rasche Liebschaften, die Julius (die schon im Untertitel des ›Romans‹ gegebene Doppelbedeutung: Gattung und Liebschaft, nutzend) ›Romane‹ nennt, aber noch schreibt er keine. Das ändert sich mit der Liebe zwischen ihm und Lucinde. Der Gang von der Antike in die Moderne vollendet sich mit ihr, denn: „Lucinde hatte einen entschiedenen Hang zum Romantischen, er fühlte sich betroffen über die neue Ähnlichkeit und er entdeckte immer mehrere.“²⁵ Ihr gemeinsamer Maßstab ist die selbstgebildete Welt.
Zu den Grundfiguren der Schlegel-Forschung gehört Schlegels frühe „klassizistische“ Epoche der „Graecomanie“ – eine im Roman vorweggenommene Literaturgeschichte. Schlegel, Lucinde (s.o. Anm. 1), 50. Friedrich Schlegel, Philosophische Fragmente. Zweyte Epoche. II. [1798 – 1801], in: Ders., Kritische Friedrich Schlegel-Ausgabe, hg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean Jacques Anstett und Hans Eichner, Bd. 18: Philosophische Lehrjahre 1796 – 1806 nebst philosophischen Manuskripten aus den Jahren 1796 – 1828. Erster Teil, mit Einleitung und Kommentar hg.von Ernst Behler, Paderborn u. a. 1963, 323 – 422, 403. Schlegel, Lucinde (s.o. Anm. 1), 51. AaO. 53.
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(10) Die Philologie ist als Kunst verschwiegen – die Allegorie kommt zu Hilfe Was sind nun die Grundlagen dafür, dass Liebeslehrjahre einer systematischen Geschichte der Ästhetik folgen können? In den Lehrjahren der Männlichkeit kann der Erzähler des Romans die Grundlagen nicht explizit nennen. Am Ende der Lehrjahre ist eine von erkenntniskritischer Skepsis motivierte Reflexion eingeschoben: Julius’ inneres Leben lasse sich, überlegt er selbst (er hat die eigene Geschichte in der Er-Form erzählt und wechselt nun zum Ich), in all den Erzählungen nicht „äußerlich darstellen“, denn sein Inneres sei der Kern der Kreativität: „In jener tiefsten Mitte des Lebens treibt die schaffende Willkür ihr Zauberspiel.“²⁶ Doch was sich nicht direkt darstellen lasse, sagt der Roman, sei der Allegorie direkt zugänglich. Die Allegorie erschien Julius zuvor im Wachtraum; sie erhielt ein eigenes Kapitel mit dem Titel Allegorie von der Frechheit. An diese Allegorie hält sich Julius nun, um zu erkennen, was sich in seinen Lehrjahren nicht ausdrücken ließ und als Unaussprechliches im Inneren seiner Figur sitze. Im Kern sitzt, und das ist die Pointe des Romans, eine philologische Konstruktion. Tatsächlich erzählt die Allegorie von der Frechheit von vier Romanen, die der gottähnliche Witz als Söhne gezeugt hat, und es wird berichtet, wie diese Romane, die wiederum literarhistorische Rollen innehaben (der naive, der christlich-ritterliche, der antike und der moderne Roman), zu den Frauengestalten, namentlich zur Dezenz und zur Frechheit sich verhalten. Die Romane sind Figuren und gehen auf die allegorisch gezeichneten Frauen zu, etwa auf die Frechheit, deren „Bildung groß und edel“²⁷ ist. Sie tut sich naturgemäß mit dem klügsten und elegantesten der Romane zusammen: „Man hätte ihn ebensogut für einen Franzosen wie für einen Deutschen halten können; seine Kleidung und seine ganze Art war einfach, aber sorgfältig und völlig modern.“²⁸ Die Frechheit, Stellvertreterin des Witzes, und der Elegant konstituieren die romantische Literatur. Ihr werden Julius und Lucinde am Ende huldigen. Damit stellt sich auch hier die Wiegebewegung von Sprechen und Schweigen ein, die ich eingangs als Kern des Schlegel‘schen Projekts bezeichnet habe. Der nicht ausgesprochene Sinn der Lehrjahre ist die in der Liebe mögliche Kreativität, die sich erzählend verwirklicht und allegorisch-reflexiv fassen lässt. Der Sinn der Allegorie ist eine Bücherlandschaft, die philologisch-historistisch totalisiert wird. Die Allegorie macht den notwendigen Mangel der Lehrjahre wett, totalisiert insofern die Gattungen: Sie spricht wie eine Wissenschaft gegenüber der Kunst.²⁹ Und die Philologie wird in ihrem durchdachten
AaO. 59. AaO. 18. AaO. 17. Am Ende der Reflexion in den Lehrjahren heißt es entsprechend: „Es war nicht ohne Grund, daß der phantastische Knabe, der mir am meisten gefiel unter den vier unsterblichen Romanen, die ich im Traum sah, mit der Maske spielt. Auch in dem was reine Darstellung und Tatsache scheint [die Liebesgeschichten der Lehrjahren], hat sich Allegorie [philologische Reflexion] eingeschlichen, und unter
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Schweigen – aufgegangen im Wort von der ›Kunst‹ und insofern verschwiegen – zum Garanten des modernen Werks.
(11) Schleiermachers Interpretation einer philologisch-produktiven Praxis Schleiermacher unternimmt es in den Vertrauten Briefen, den Roman von Friedrich Schlegel zu verstehen. Er geht vom Sinn der Lucinde aus, den er in dem Prinzip der Liebe ausmacht, und entwickelt aus dem Prinzip des Romans allgemeine Prinzipien des Verstehens. Wenn meine Lektüre zutrifft, dass der Roman philologisch organisiert ist, dann entwickelt Schleiermacher in seinen Briefen die Interpretation einer philologisch-produktiven Praxis. Schlegel hat diesen Weg in seiner Allegorie selbst angeregt. Die Briefe geben also Grundzüge einer Theorie philologischer Praxis, die Schleiermacher wenige Jahre später in seinen Hermeneutik-Vorlesungen zu systematisieren beginnt. Das Verhältnis von ästhetischer und philologischer Rationalität steht methodisch im Zentrum.
(12) Der Roman verändert die Vorurteile seiner Leser In romantischer Tradition setzt Schleiermacher an den Anfang seiner Vertrauten Briefe eine Herausgeberfiktion: Er richtet sich an den Autor und fügt in die Erklärung seiner Absicht die für die Publikation geplante Zueignung an die Unverständigen ein, die er anschließend nochmals kommentiert. Der Sinn dieser Fiktion besteht im Verzicht, die Autorintention rekonstruieren zu wollen (sie sei nur dem Autor bekannt). Stattdessen bestimmt er die Perspektive, die er einnehmen wird. Es sei die Perspektive einer Frau, denn nur eine solche vermag es, ehrerbietig zu sein und sich des Urteils zu enthalten. Der Geschlechtergegensatz wird als Theorie experimentell eingeführt. Allein, der weitere Verlauf der Briefe wird diesen Gegensatz aufheben. Aufgehoben wird der Gegensatz durch die Entfaltung (man darf auch sagen: Cyklisation) der Liebe als Prinzip. Der Interpret erreicht also sein Ziel, wenn er seine Kategorien vom Werk selbst kommentieren lässt: hier der Geschlechtergegensatz, später die Gegenüberstellung von sinnlich und geistig.³⁰ Der Prozess im Roman Lucinde führt diesen Lernprozess in der Entwicklung von Julius vor – die Lehrjahre der Männlichkeit geben die Entwicklung die schöne Wahrheit bedeutende [ebenso wichtige wie sinnstiftende] Lügen gemischt. Aber nur als geistiger Hauch schwebt sie beseelend [Sinn schöpfend] über die ganze Masse, wie der Witz, der unsichtbar mit seinem Werke spielt und nur leise lächelt. „, aaO. 59. Vgl.v. a. Paul Kluckhohn, Die Auffassung der Liebe im 18. Jahrhundert und in der Romantik (1931), 3. Aufl., Tübingen 1966.
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in knapper Form wider.Wer der Entwicklung von Julius zur reinen Liebe folgt,werde als Interpret einen Standpunkt einnehmen, namentlich den Standpunkt der vollkommenen Liebe, in dem es gleichgültig wird, ob er Mann oder Frau ist. Der geplante Einschub richtet sich genau darin gegen die unverständigen Philologen, die Schleiermacher aufgrund ihrer „reinen Verehrung für Worte, Buchstaben, ja alle einzelnen Züge und Töne an sich“³¹ für unfähig erachtet, Prozesse im Werk (und im Leben) nachzuvollziehen. Sie bleiben, als Angehörige des „Senat[s] der Erhalter“,³² bei der Verurteilung Julius’ von außen, von ihren Werten aus stehen und verurteilen auf dieser Grundlage den Roman. Schleiermacher warnt sie vor dem Buch, denn es enthalte die gefährlichsten Anschläge auf ihre Sittlichkeit: „Ja wo[h]l die gefährlichsten Anschläge! denn wenn es offenbar wird, daß dasjenige, was ihr für den Angel der Tugend ausgebt, weit außerhalb alles Sittlichen liegt, wenn dieser Zauber gelöst wird, wer will dann dem neuen Leben wehren, welches sich von hier aus verbreiten kann?“³³ Das Verstehen setzt also eine (An‐)Verwandlung im Verstehenden, im Betrachter voraus.
(13) Den Sinn des Unabgeschlossenen erkennt man in den überall wirkenden Prinzipien Die ersten beiden Briefe gehen von Friedrich an Ernestine; im dritten antwortet Ernestine. Dieser dritte Brief enthält zwei Beigaben, einen alten Traktat von Friedrich mit dem Titel Versuch über die Schamhaftigkeit und den Brief des Mädchens Karoline. Bevor Friedrich im neunten und letzten der Vertrauten Briefe Ernestine antwortet, schreibt er an Karoline zurück, schreibt dann noch einem Freund (Eduard) und erhält von seiner Geliebten Eleonore einen Brief, den er gleichfalls beantwortet. Der Briefwechsel mit Ernestine gibt einen Rahmen, dessen Bündigkeit indes in den Briefen selbst aufgehoben wird, denn sie tritt am Ende wieder mit den alten Vorurteilen an Friedrich heran (Dilthey trat dieser Komposition der Briefe mit Unverständnis gegenüber und hat eine Umstellung vorgeschlagen³⁴). Die solcherart unabgeschlossene Komposition folgt der Darstellungsproblematik, die gleich zu Beginn im Mittelpunkt steht: Wie kann Friedrich sich ausdrücken, fragt er Ernestine, ohne noch mit seiner Lektüre, die unendlich voranschreitet, an ein Ende gekommen zu sein? Die stringente Argumentation sei nicht möglich angesichts eines Romans, der selbst kein Ende findet. Doch wenn im Aufbau keine Ordnung erkennbar sei, so wirke doch im Roman ein Prinzip, das sich erkennen lasse und dem man sich annähern soll, auch wenn der Roman sich erst in einer kunstvollen Komposition erfüllte, von der er weit entfernt
Schleiermacher, Vertraute Briefe (s.o. Anm. 2), 146. AaO. AaO. 147. Dilthey, Leben Schleiermachers (s.o. Anm. 3), 509.
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sei.³⁵ Dem Roman entsprechend, müsse er daher ohne Anfang und Ende schreiben und werde sich allein auf das Prinzip der Liebe konzentrieren. Das geschieht, indem Friedrich zunächst die Vorurteile, die die Lektüre behindern, ausräumen will. Bis zum Ende erreicht er freilich,wie schon gesagt, bei Ernestine nicht viel (insofern täuscht der Rahmen ein erfolgreiches Argument nur vor), sie bemängelt an der Lucinde weiterhin, was sie aus der Konvention kennt: dem Roman fehlten die „Neben- und Außenwerke“³⁶, und der Liebe als Gegenstand die Tat nach außen.³⁷ Inwiefern hat es einen Sinn, sie in das Gespräch einzubeziehen? Darauf antwortet der zweite Brief.
(14) Die freie, unendliche Mitteilung im Gespräch Die Persistenz von Ernestines Vorurteilen wirft einen Schatten auf die Gattung der Briefe selbst. Die Gattung wird im zweiten Brief als genuines Verfahren reflektiert, sich dem Prinzip der Liebe zu nähern. Es geht um das Gespräch und die Bedeutung der Mitteilung für das Nachdenken. Und es geht um die Frage, wer sinnvoll das Gespräch führen und wer sinnvoll daran teilnehmen kann. Ernestine hatte Beschwerde geführt: Ein Buch, worüber sie (aufgrund der sozialen Vorurteile) nicht sprechen kann, möchte sie nicht lesen. Friedrich hält dagegen: „Wie kannst Du also [als Frau] nur Deinen Beruf zum Reden verkennen“,³⁸ und erläutert: „Die Liebe ist ein unendlicher Gegenstand für die Reflexion und so soll auch ins Unendliche darüber nachgedacht werden und Nachdenken findet nicht statt ohne Mitteilung und zwar zwischen denen welche ihrer Natur nach verschiedene Seiten derselben sehen.“³⁹ Die Diskursivität der philologischen Interpretation (deren Kennzeichen das Nachdenken kraft der Mitteilung sei) tritt dem Schweigen der Poesie gegenüber, mit dem Zweck, deren verschwiegene Prinzipien zu verteidigen. Damit ist der Kreis der Gesprächsteilnehmer umrissen – sie stehen auf der Grundlage der Freiheit, die die Liebe gibt; ausgeschlossen sind die Prüden und die Unsicheren; und das Gespräch führen (der Geschlechtergegensatz ist noch wirksam) am besten „edle Frauen [wie Ernestine], deren Beruf doch einmal die Liebe ist“.⁴⁰ Die Briefform von Schleiermachers Werk führt tatsächlich ein Gespräch mit einem Ich im Zentrum vor. Die Aufgabe in den Vertrauten Briefen besteht nun darin, das Ich Friedrichs zu legitimieren. Dazu ist Friedrich an das Ich der Frauen – als Zentrum eines idealen Gesprächs – heranzuführen. Zweierlei ist nötig: die Liebe als Gestalt eines allgemeinen (über die Liebe hinaus geltenden) Prinzips des Verstehens zu begründen und sodann Friedrich als Liebenden in diesem Sinn vorzuführen. Folgen die Teil-
Schlegel, Lucinde (s.o. Anm. 1), 3. Schleiermacher, Vertraute Briefe (s.o. Anm. 2), 151. AaO. Vgl. den 3. Brief, 159 – 167. AaO. 156. AaO. 158. AaO. 155.
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nehmer des Gesprächs einem gemeinsamen Prinzip der freien Mitteilung, dann lässt sich das Gespräch unter ihnen als Format des Verstehens rechtfertigen.
(15) Die Schamhaftigkeit als Prinzip des Verstehens Der eingelegte Versuch über die Schamhaftigkeit zielt auf diese Explikation der Liebe als Gestalt oder als Manifestation eines allgemeinen Prinzips des Verstehens. Schleiermacher fasst die Liebe als Anwendung einer Form, die über sie hinausgeht, allgemeiner ist und die der Liebe den Maßstab gibt. Diese allgemeine Form ist die Schamhaftigkeit. Das ist die Waffe gegen die prüden Leser der Lucinde. Welcher Gegenstand auch immer im Roman, sofern er der Liebe als Prinzip unterliegt und also schamhaft ist, in der Schamhaftigkeit als übergeordneter Form des Verstehens erkannt wird, kann nicht verwerflich sein. Als Tugend hat sie einen allgemeinen Anspruch und muss für mehr gelten als nur für den Trieb; daher reformuliert der Verfasser des Versuchs über die Schamhaftigkeit sie als Verstehen und Schonen eines individuellen Objekts. Friedrich schreibt: „[D]ie allgemeine Aufgabe der Schamhaftigkeit bleibt also, jeden Menschen, in jeder Stimmung, die einem eigen oder mehreren gemeinschaftlich ist, kennenzulernen, um zu wissen, wo seine Freiheit am unbefestigsten und verwundbarsten ist, um sie dort zu schonen“.⁴¹ Jede gewaltsame Unterbrechung bzw. Schmähung der Individualität ist zu vermeiden, und das gelte auch für das, was gemeinhin als unsittlich in der Lucinde verurteilt werde, also auch für den „Zustand des Genusses und der herrschenden Sinnlichkeit“.⁴² Innerhalb von drei Möglichkeiten, sich auf einen Gegenstand zu beziehen, wird die Schamhaftigkeit entwickelt: An Möglichkeiten werden unterschieden: (a) Erkenntnis, (b) Begehren und (c) schamhaftes schönes Anschauen. Vorstellungen in der Anschauung der Schamhaftigkeit (c) sind weder Gegenstand der (begrifflichen, wissenschaftlichen) Erkenntnis (a), noch Gegenstand des Begehrens (b), denn die Schamhaftigkeit führe den Gegenstand an die Idee der Schönheit (ganz nach Kant als interesseloses Interesse gefasst) heran. Die Liebe (und alle ihre Spielarten) in der Erkenntnis (a) oder begehrlich (b) zu ergreifen, zeuge von der „Abscheulichkeit der gemeinen Denkart“.⁴³ Wie die Liebenden zueinander die Schamhaftigkeit als Annäherung des anderen an das Schöne üben, so versteht und schont, besser: schützt der die Liebe mit der Schönheit verknüpfende Interpret die Eigentümlichkeit der Geschehnisse im Roman. Die Liebe ist die konkrete Gestalt einer allgemeinen Form, die Schamhaftigkeit heißt. Sie wird später in der Formel vom kunstmäßigen Verstehen in Schleiermachers Hermeneutik einen nicht mehr poetischen Ausdruck finden. Kunstmäßig ist eine Lektüre, wenn sie das Partikulare erkennt, indem sie Regeln anwendet, ohne dafür selbst Regeln zu besitzen. Die
AaO. 172. AaO. 173. AaO. 175.
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direkte Applikation von Regeln zu vermeiden, ist im Sinn der Vertrauten Briefe schamhaft.
(16) Friedrich als Liebender In den Briefen an Karoline und an Eduard verbittet sich Friedrich, Elemente, die das Prinzip der Liebe im Roman zu einer Ganzheit formen, sei es herauszugreifen, sei es ohne ihren notwendigen Zusammenhang zu lesen. Karoline verkennt die Liebe insofern, als sie die früheren (mädchenhaften) Stadien der Liebe nicht innerhalb des Entwicklungsprinzips und vom später im Roman Erreichten her betrachtet. Und Eduard gegenüber betont Friedrich, dass im Kunstwerk wie in der Liebe, die alles auf sich bezieht, die Notwendigkeit herrsche. Unsittlich sei, was gegen diese Norm der Kunst verstoße; innerhalb der gelungenen Kunst gebe es keine moralische Unsittlichkeit. Diese Briefe bereiten das nun folgende epistolarische Hin und Her zwischen Eleonore und Friedrich vor. Die Liebe gilt – im Brief von Eleonore an Friedrich – als Medium des Verstehens zwischen Ich und Du. Der Roman habe sie allmählich hervorgebracht – der Erzähler spricht von der „wunderbare[n] Gleichheit“,⁴⁴ die Julius wie Lucinde, am Ende der Lehrjahre der Männlichkeit, fühlen, ohne sie freilich in Julius‘ Bewusstsein ganz durchzuführen, der nach Eleonores Dafürhalten noch zu sehr an der in den Geschlechtern unterschiedlichen Art zu lieben festhält; sie sieht sich weiter voran als Julius: „Sieh nur, wenn in Dir die Liebe so ganz anders wäre, als in mir, wie könnte ich dann auf jede Frage in mir eine Antwort finden in Dir? wie könnte jeder Ton, den ich noch so leise angebe, in Dir ansprechen? wie könntest Du mich verstehen, wenn so viel anderes in mir wäre, in einem solchen Augenblick, wo in Dir [wie es das Männerbild von Julius haben will] nur Sinnlichkeit oder Leidenschaft wäre.“⁴⁵ Friedrich bestätigt das in seiner Antwort im Achten Brief: Er könne keine Verschiedenheiten zwischen Ich und Du erkennen, „die organischen ausgenommen, die wir von Anfang an kennen“.⁴⁶ Unterschiede in der Liebe gebe es durchaus, doch sind sie nicht an das Geschlecht, sondern an die übergreifenden Formen der Kreativität gebunden.⁴⁷ Damit ist das Ich Friedrichs an das Ich der Frauen – als Zentrum eines idealen Gesprächs – herangeführt. Die Liebe ist als Gestalt einer allgemeinen Form des Verstehens erwiesen und Friedrich als ganzer Liebender (wie Eleonore selbst) vorgeführt. Das Gespräch als Format des Verstehens, das die Schamhaftigkeit in der Mitteilung denkt, ist begründet. Die Gefahr besteht freilich darin, die Methode auf eine thematische Identität, die hier eine der Geschlechter ist, zu stützen. Die Gefahr hat ihre Gründe: Die Beweglichkeit der Lektüre wird von der Materialität des Gegenstands nicht herausgefordert,
Schlegel, Lucinde (s.o. Anm. 1), 53. Schleiermacher, Vertraute Briefe (s.o. Anm. 2), 200. AaO. 207. Vgl. aaO. 210 f.
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denn Schleiermacher sagt in seinen Vertrauten Briefen allein auf dem Weg philologischer Prinzipien (z. B. Ganzheit, Künstlichkeit qua Schamhaftigkeit) etwas über die Lucinde; es ist womöglich die Vorsicht des Philosophen, die man später bei Ludwig Wittgenstein und Walter Benjamin – auf höchst unterschiedliche Weise – findet. Aus den Prinzipien folgt kein neuer Roman.
(17) Die Liebe ist kein Kunstwerk, das Verstehen nicht die Kreativität Doch noch gilt es, das liebende Verstehen von der Liebe im Kunstwerk abzugrenzen, um den methodischen Zweck der Vertrauten Briefe zu erfüllen. Der Zweck besteht, wie wir gesehen haben, darin, die Voraussetzungen für ein Verstehen der ›Liebe‹ im Kunstwerk zu prüfen, ohne selbst künstlerisch produktiv zu sein. Gemeinsam sei dem Werk wie dem Verstehen das Prinzip der Schamhaftigkeit, das in der Liebe einen Ausdruck finden kann (aber darauf nicht beschränkt ist). Das ist das hermeneutische Prinzip des Verstehens, das die Regeln zugunsten des Individuellen annihiliert. In diesem Sinn wickelt Schleiermacher in seinen Briefen die philologisch-kreativen Prinzipien des Romans aus, ohne den Sinn des Romans zu formulieren (dazu sei er noch nicht fertig genug, sagt er, aber für welchen Roman gilt das nicht?). Er spricht über den Roman, indem er die Voraussetzungen des Verstehens klärt; in dieser Klärung wird der Roman im Spiegel der Methode indirekt sichtbar (etwa wenn er Karoline vorwirft, die Notwendigkeit des Ganzen nicht zu beachten). In diesem Sinn kann das Verstehen – umgekehrt – selbst kein Roman sein; es will seinen eigenen Prozess nicht verschweigen, es ist nicht einer unendlichen Annäherung der Begriffe ausgesetzt. Schleiermacher folgt Schlegels ›Cyklisation‹ der Begriffe, die in das Schweigen mündet, nicht. Im Gespräch der Briefe sollte alles zur Sprache kommen. Diesen Unterschied fixiert Friedrich am Ende Eleonore gegenüber; er schreibt ihr: „Wir sollten unsre Geschichte und unsere Anschauungen zu einem Gegenstück [zur Lucinde] verarbeiten? Dein Gedächtnis wäre dazu vortrefflich; aber wo ist mir die Kunst? […] Es ist eine schöne Phantasie, und ich will Dich nicht darin stören; ich will nur aussprechen, daß sie zu denen gehört, welche Phantasie bleiben müssen. Die Liebe ist selten; aber Werke wie dieses würden noch seltner sein […] nicht jeder Liebe folgt auch die Kunst, nicht jeder Pfeil, den der Sohn der Venus Urania abschießt, verwandelt sich in einen Griffel […] Was von Poesie in uns ist, ist doch wohl nur die unmittelbare der Natur und des Herzens“.⁴⁸ Das deutet auf eine sprachliche Materialität voraus (die dem Herzen fremd ist), für die die Vertrauten Briefe allerdings keinen Begriff haben können. Wesentliche Elemente wären – mit den Begriffen der Notwendigkeit und der Ganzheit – schon vorbereitet. Doch sind die Briefe in ihrer Form der Wiegebewegung mit dem Roman auf das Verschwiegene in der Kunst angewiesen, nicht auf dessen in den Sätzen AaO. 212.
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und Wörtern fassbare écriture. Hierfür ist Schleiermachers Reflexion der philologischen Praxis in eine Geschichte der Hermeneutik zu stellen. Mir bleibt an dieser Stelle nur, nochmals mit einem resümierenden Satz an den Ausgang des Vortrags, zu Dilthey und den Seinen, zurückzukehren. Schleiermacher hat die philologischen Möglichkeiten, die Schlegel bietet, methodisch und kongenial ausgeschöpft und bereitet sich darauf vor, sie in seine Hermeneutik als Theorie der philologischen Praxis zu überführen. Schützen wird man beide wollen gegen einen philologiefernen Zugriff.
Denis Thouard / Paris
Die Kunst der Moderne Von Schleiermacher zu Schwitters Schleiermachers Ästhetik ist bestimmt nicht der wichtigste Bestandteil seiner Philosophie. Sie hat dennoch eine unzweifelhafte Originalität. Diese beruht auf der Geschmeidigkeit des spekulativen Rahmens seines Systems, die ihm bei der Behandlung neuer Gegenstände und Bereiche unterstützt, ohne in eine dürre Einseitigkeit zu münden. Sie nährt sich aber auch von den künstlerischen Erfahrungen, die der Philosoph auf seinem Weg gesammelt hat.¹ Obwohl sie auch die verschiedenen Künste separat behandelt, besteht seine Ästhetik keineswegs aus einem System der schönen Künste. Sie verzichtet auch auf eine geschichtliche Anordnung. Wenn sie natürlich den Unterschied der antiken und christlichen bzw. romantischen Kunst nicht verkennt, vermeidet sie jedoch eine geschichtliche Darstellung. Die Ästhetik löst sich nicht in die Geschichte der Kunst auf. Der spekulative Ansatz bleibt grundlegend. Wer eine Ästhetik schreibt, der hat vorher Werke der Kunst betrachtet. Er wird auch gelegentlich welche erwähnen. Diese geben aber selten Aufschluss über die Ästhetik selbst, da sie ohne dieselbe geschaffen wurden. Kant etwa lobt die didaktische Poesie seines Zeitalters. Aber ein Kandinsky wird sich von der Kritik inspirieren lassen. Damit möchte ich unterstreichen, dass eine Philosophie, auch eine Philosophie der Kunst oder Ästhetik, das künstlerische Schaffen späterer Künstler inspirieren bzw. interpretieren kann. Ja, dass es des Öfteren passiert, notwendiger Weise passiert, dass die Theorie vorausblickt, wo die Empirie noch hinterherhinkt. Von einer solchen Ungleichzeitigkeit, oder Unzeitgemäßheit, zeugt Schleiermachers Ästhetik, indem sie sich kaum auf zeitgenössische Kunst beruft, und trotzdem für die Kunst des 20. Jahrhunderts wegweisend ist. Dank ihrer philosophischen Richtung kann die Ästhetik eine weitere Relevanz beanspruchen als die einer „Ästhetik der Romantik“². Im Folgenden soll gezeigt werden, inwieweit Schleiermachers Entwurf bis zu einer Linie der modernen Kunst führt, welche ihn verwandelt, aber auch weiterentwickelt. Dass alle Menschen Künstler seien, hatte er lange vor Josef Beuys erklärt³, und, im Gegensatz zu diesem, philosophisch begründet. Nicht mit diesem späten Romantiker werden wir aber Schleiermachers Ästhetik in Verbindung setzen, sondern mit einem vielseitigen Ich beziehe mich auf F. Schleiermacher, Ästhetik 1819 Virmond (die als Basis für die französische Ausgabe, F.D.E. Schleiermacher, Esthétique, éd. D. Thouard, Paris, Cerf, 2004, diente); K. Schwitters, Die literarischen Werke, hrsg. v. F. Lach, Köln, DuMont, 1998, 1– 5 Bde (folglich direkt mit Band und Seite im Text zitiert). Für sie sprachliche Verbesserung des Textes danke ich Justus Bernhard. Laut Wilhelm Dilthey, Leben Schleiermachers II, hrsg. v. Martin Redecker, Berlin, de Gruyter, 1966, S. 433. Vgl. Clara Bodemann-Ritter (Hrsg.), Joseph Beuys. Jeder Mensch ein Künstler (Gespräche aus der Documenta 5/1972), Frankfurt am Main, Ullstein, 1975. DOI 10.1515/9783110464573-029
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Vertreter der Avant-Garde der Zwanziger Jahre, Kurt Schwitters. Schwitters Zeitgenossen hatten diese Nähe wohl eher hämisch bemerkt. Im April 1920 konnte man in der Kölner dadaistischen Zeitschrift Die Schammade, die von Max Ernst und Joachim Baargeld herausgegeben wurde, den spöttischen Hinweis lesen, Schwitters sei ein „Schleiermacher Epigone“⁴. Der Berliner Dadaist Richard Huelsenbeck hatte seinerseits bereits die Nähe Schwitters zur Romantik betont, indem er ihn „den Kaspar David Friedrich der dadaistischen Revolution“ nannte, Kaspar mit einem K geschrieben wegen Kasperl, was sicher nicht als Kompliment gemeint war. Die Aussage könnte aber wohl noch positiv umgedeutet werden. Bei dem folgenden Vergleich wird also vor allem versucht werden, die Modernität des Ansatzes Schleiermachers zu eruieren. Es handelt sich nicht um eine Rezeptionsstudie, da Schwitters wohl kaum Schleiermacher vor Augen gehabt haben dürfte, sondern um eine wesentlichere Annäherung. Mein Ziel ist also nicht, Schwitters als Romantiker zu enttarnen, das ist er teilweise sowieso, sondern über den Umweg der Moderne, einen neuen Blick auf die Ästhetik Schleiermachers zu gewinnen. Ich werde erstens das künstlerische Projekt von Kurt Schwitters in Erinnerung bringen; zweitens zentrale Begriffe der Ästhetik Schleiermachers anhand von Schwitters Ausführungen beleuchten und weiterführen; drittens beider Auffassungen der Geschichte parallelisieren, und diese als Ort ihrer schärfsten Entgegensetzung erweisen.
Merz Kurt Schwitters wurde anno 1887 in Hannover geboren, studierte an der Kunstgewerbeschule in Hannover und vor allem an der Dresdener Akademie von 1909 bis zum ersten Weltkrieg. Bald konnte er an der Galerie Der Sturm ausstellen und schuf, orientiert am Dadaismus und Konstruktivismus, eine so eigenartige und vielseitige Kunstproduktion, dass er sie bald mit einem neuen Namen bezeichnete: MERZ. Es war charakteristisch für Schwitters Art und Weise, dass der Begriff Merz aus dem Wort Commerzbank entnommen und vom Künstler umfunktioniert wurde. Aus einem Fragment konnte man eine neue Realität hervorbringen. Das war genau, was die Kunst macht. 1937 verließ er Deutschland zunächst in Richtung Norwegen und nach der deutschen Eroberung übersiedelte er nach England, wo er 1947 starb. Immer schuf er, man kann sogar von ihm zusammenfassend sagen: Er lebte schaffend. Die Produktivität bestimmte sein Schaffen bis zum Ende. Sein Kunsttrieb zeigte sich in allen Bereichen der Kunst: der Malerei, Bildhauerei, Graphik, Typographie, Dichtung, Bühne … Und noch mehr: Alles wurde ihm zu Kunst, auch das Vernachlässigte, das Verworfene. Abfälle waren ihm willkommen, nicht weil das Kunstwerden
Vgl. Sabine T. Kriebel, Cologne, „The Schammade and the Dada early Spring Exhibition“, in Leah Dickermann, Dada, Washington, National Gallery of Art, 2005, S. 230 – 232, 242.
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sie reinigen bzw. heilen sollte, sondern als Zeichen der Zufälligkeit und Abfälligkeit von allem, als Zeugnis einer – nach dem ersten Weltkrieg besonders – kaputten Welt. Die Rede vom Ende der Kunst gehört nicht zu seinem Repertoire, wenn auch sein Ansatz bis weit in den Dadaismus führt. Er schuf aus dem, was übrig bleibt, und zeigte dabei, dass es mit der Kunst zu keinem Ende kommen kann. Besonders gut gelangen ihm dabei die Collagen – eine alltägliche Übung in der partiellen Wiederherstellung einer Ordnung aus losen Blättern. Stellvertretend für sein Schaffen sei der Merzbau genannt: Eine räumliche Gestaltung, die ständig wächst, in welcher die Architektur und die Bildhauerei sich nicht mehr richtig unterscheiden (5, 343 – 345). Es ist Schwitters typische Form, die er immer wieder, zunächst in Hannover, dann in Norwegen und endlich in England aufgenommen hat, als sei sie das sich bildende Gehäuse einer Schnecke. Diese unermüdliche Tätigkeit hat Schwitters in einem seiner letzten Briefe so formuliert: Wir spielen, bis uns der Tod abholt⁵. Diese schöpferische Gestaltung und Umgestaltung drückte sich nicht nur in den Arten der Plastik, Malerei und Graphik aus, sondern betraf ebenso die rednerischen und performativen Künste, sogar tendenziell die Musik, und die Theorie wurde auch bei ihm zum „Ausdruck eines gesunden kreativen Verhaltens“⁶. Lautgedichte, die Sonate für Urlaute, Collagen, Manifeste, Bauentwürfe, abstrakte Bildhauerei und Malerei, aber auch figurative, Portraits sowie Landschaften, kurz, alles was ihm unter der Hand fiel war Stoff für ein Weiterbilden und Gestalten. „Ich baute auf, und es kam mir mehr auf das Bauen als auf die Scherben an“ (1930, 5, 336). Schwitters war ein Künstler, nicht nur ein Ästhetiker. Wenn aber ihm die Performance wesentlich war, hat er sich nicht auf den Vortrag oder auf die Bühne begrenzt, sondern hat dauerhafte Werke aus den beliebigsten Materialen geschaffen, Werke, die Bestand haben. Dabei war sein Ziel nie,Werke für die Ewigkeit oder für den Kunstmarkt zu schaffen. Er vermittelte eher den Eindruck, ohne schaffen nicht leben zu können. Im Unterschied zu den rein negativen bzw. nihilistischen Dadaisten hat er sich wohl bemüht, Kunstwerke zu gestalten. Er empfand die Universalität der künstlerischen Aktivität durch alle Gattungen hindurch und strebte entsprechend zu einem Gesamtkunstwerk, nicht in einem monumentalen Sinn, sondern als Ausdruck dieser Einheit.
Kunsttrieb und Kunsttätigkeit Schleiermacher hat wohl versucht, die verschiedenen Künste anzuordnen. Sein Hauptanliegen war aber nicht, ein System der Künste zu errichten. Die Analyse der ästhetischen Begriffe ist auch nicht direkt sein Ziel, sondern „die ethische Bedeutung des Kunststrebens überhaupt“ (III [12]). Seine Ästhetik fragt grundsätzlich, „Was ei-
Brief vom 24. VII. 1946, an Christoph Spengeman. Friedelm Lach, W 5, 15.
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gentlich das Streben nach Kunst in der menschlichen Natur bedeute“ (II [10]). Er brachte in seine Ästhetik Elemente einer Anthropologie der Kunst. Der Kunsttrieb wird bei Schleiermacher im Rahmen der menschlichen Tätigkeiten betrachtet, d. h. in seiner Allgemeinheit und grundsätzlichen Ambivalenz, als Productivität und als Receptivität. Die Ästhetik als Theorie der Production setzt also voraus, dass jeder genug Künstler sei, um diese Production genießen zu können. So wie man kaum eine Rede verstehen kann, wenn man selbst nicht spricht und also nicht in der Lage gewesen wäre, diese Rede selbst zu halten, so zeugt die Kunstwahrnehmung von der Allgemeinheit des Kunstsinns. Deshalb sind alle Menschen Künstler. Der Gegensatz zwischen Spontaneität und Receptivität, den man auch in der Erkenntnislehre findet, ist nur ein relativer (XXV [96]). „Der Sinn und die Productivität sind nur zwei verschiedene Stufen, die Kunst ist eben dieselbe in dem Liebhaber wie in dem Künstler […]. Der Impuls also ist ein ganz allgemeiner.“ (III, 3, 211).
Als solche Aktivität beruht die ästhetische Production auf bestimmten „ethischen Lemmata“. Die Kunst ist weder reine Erkenntnis oder Symbolisieren, Aufnahme des Seins durch das Denken; noch reines Organisieren, Naturgestaltung durch das Denken, sondern etwas dazwischen: ein Spiel, das die beiden Grundfunktionen begleitet. Wie bei Kant ist dieses Spiel ein Indiz der innigen Zugehörigkeit von Natur und Geist. Vergeblich würde man bei Schwitters nach einem solchen spekulativen Rahmen suchen. Dennoch bietet er eine Auffassung des Kunsttriebes und des Spiels an, die sehr wohl in eine Ästhetik der Produktion passt: „Und so kommen wir auf die Ursache der Kunst, sie ist ein Trieb, wie der Trieb zu leben, zu essen, zu lieben.“ (Kunst und Zeiten, 1926, 5, 237)
Schleiermacher lehnte jeden Zweck für die Kunst, die eigentlich nur für sich ist („Kunst ist Selbstmanifestation“ ([III], 186)), in der dritten, unabgeschlossenen Rede ab und Schwitters stellte fest: „Die künstlerische Gestaltung ist letzten Endes funktionell zwecklos. Kunst ist immer zwecklos, Selbstzweck.“ (Kunst und Zeiten, 1926, 5, 239). Diese Zwecklosigkeit führt aber nicht in eine Verabsolutisierung des Kunstwerkes im Sinne etwa von L’art pour l’art, sondern zum Primat der künstlerischen Praxis. Die Insistenz auf die Tätigkeit des Künstlers erklärt auch, warum sowohl Schleiermacher als auch Schwitters gern das Substantiv Können in dem Wort Kunst hören: „Unser deutsches Kunst hängt mit Können zusammen und bezeichnet eben so die Meisterschaft in der Ausführung wie Kunde die in der Auffassung, das hellenische techne hingegen mit Erzeugen und Gebären“ (III, 3, 185). „Wir haben das deutsche Wort Kunst. Es deutet auf ein Können.Was soll hier gekonnt werden?“ (5, 236).
Eine anthropologische Angelegenheit zur Kunst wird also bei beiden festgestellt. In ihr gründet auch die ebenfalls geteilte Anschauung, dass die Künste im Grunde identisch
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seien, soweit sie in derselben menschlichen Anlage verankert sind. Schleiermacher spricht von der „inneren Einheit aller Künste“ ([XIV, [58]) und von der „Identität aller Künste“ ([III, [12]). Aus ähnlichen Gründen findet man bei Schwitters die Vorstellung eines Merzgesamtkunstwerkes, das „alle Kunstarten zusammenfaßt zur künstlerischen Einheit“ (Merz, 1920, 5, 79). Einheit und Allgemeinheit des Kunsttriebes sind ihnen also gemeinsam, sowie die Ablehnung jeder Nachahmung⁷. Wenn Kunst ein Können, eine Tätigkeit ist, wie lässt sich diese Tätigkeit artikulieren, welche sind ihre Momente? Schleiermacher unterscheidet die Erregung, die Reflexion (Besonnenheit) und die Ausführung. Die Seele wird berührt, aber die Kunst ist nie ein unmittelbarer Ausdruck dieser Empfindung, sondern eher deren Aneignung und Gestaltung durch einen Vorsatz, das Urbild. Die Bildung der Natur in das Werk ist vermittelt. In der Ausführung eines Kunstwerkes nimmt die Kunst an der Begeisterung der Natur teil, wirkt also ethisch (VII, [31]). Der Geist prägt sich in die Natur. Die Dreigliederung der künstlerischen Gestaltung: Ausdruck, Urbildung, Ausführung, zeigt die Arbeit der Einbildungskraft. Sie entwirft eine Skizze oder Schema, gestaltet sie in der Urbildung, also mit Besonnenheit, und führt sie in der Darstellung aus (XXXIII [124– 135]). Das Kunstwerk entsteht aus einer solchen Begrenzung durch das Urbild, es „muß in sich beschlossen sein“ (XXVIII-XXIX [109]). Eine solche Strukturierung der Kunsttätigkeit findet man erstaunlicherweise auch bei Kurt Schwitters. Nicht ein Urbild ist bei ihm bestimmend, sondern ein Rhythmus, genauer gesagt eine „rhythmische Gestaltung“ (5, 239). Schleiermacher stellte seinerseits fest, dass: „Alle Lebensäußerungen Takt und Rhythmus haben“ (XVI [100]). Für Schwitters wird der Rhythmus beinahe zum zentralen Begriff. Beim Vergleich dieses Rhythmus-Begriffs wird jedoch ein großer Unterschied sichtbar. Der Rhythmus wird für Schleiermacher durch die Gestaltung hervorgebracht. Schwitters dagegen braucht ihn zur Materialauslese in der Natur. Schwitters verwendet alle möglichen Materialen, gern Abfälle, gebrauchte Fahrkarten, alte Zeitungen und dergleichen, um „durch Wahl,Verteilung und Entformung der Materialien“ (5, 37) zu schaffen. Der Künstler benutzt konkrete Materialien, die er vorfindet, und trotzdem arbeitet er abstrakt. Die Formen und die Rhythmen, die er sucht, kann er nicht bereits in der Natur vorfinden. Sie werden erst hervorgebracht, indem der Künstler sie aussortiert. Dies ist der Grund seiner Auseinandersetzung mit Hans Arp, der bei der Gelegenheit eines gemeinsamen Spaziergangs am Meer meinte, Strandholz bereits als Kunstwerk betrachten zu dürfen. Schwitters hingegen wollte sich nicht auf den Zufall verlassen⁸. „Kunst ist nie Nachahmung der Natur […]“, 1927, 5, 248; 5, 335. Arp wurde von der Mystik des Geschehen-Lassen und Zu-Lassen tief beeindruck, vgl Götz-Lothar Darsow, „Mystik und Moderne – Zufall und Improvisation, Schwitters_Arp, Basel, H. Cantze, 2004, S. 93 – 99, hier S. 93. Deswegen ist „Zufall“ für ihn „die zentrale Kategorie seines künstlerischen Verfahrens“, S. 94. Schwitters war mehr in dem Spiel und dem schöpferisch-gestaltenden Akt. Auch
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Er lehnte dieses Vertrauen auf die Gunst der Natur ab, so wie er die surrealistische Lehre des Hasard objectif, oder objektiven Zufalls, abgelehnt hätte. Die Erkenntnis vom Rhythmus in dem gegebenen Material war in seinen Augen entscheidend. Das erklärt das i-Manifest von 1922: „i erfasst das Kunstwerk in der Natur. Die künstlerische Gestaltung ist hier das Erkennen von Rhythmus und Ausdruck im Teil der Natur“ (5, 120). Und in anderen Worten 1924: „i ist ein mehr oder weniger künstlerischer Komplex, aus dem durch Begrenzung plötzlich ein Kunstwerk entsteht, das durch inneren Rhythmus konsequent ist.“ (5, 176)⁹. Und noch 1926, in Der Rhythmus im Kunstwerk: „Kunst ist nie Nachahmung der Natur, sondern Kunst ist selbst Natur. Kunst ist stets Schaffen, kann also nie Nachahmung sein, besonders nicht Nachahmung der Kunst eines anderen; die so beliebte Imitation. Damit ist nicht gesagt, daß ein Kunstwerk prinzipiell nichts darstellen dürfte. Wenn die Erfordernisse des künstlerischen Rhythmus gewahrt sind, so ist eine Darstellung, die etwa dem Verständnis für die Formgebung den Weg weist, wohl erlaubt. Das Wichtigste beim Bilde ist der Rhythmus, in Linien, Flächen, Hell und Dunkel, und Farben; kurz, der Rhythmus der Teile des Kunstwerkes, des Materials. Am klarsten wird der Rhythmus im abstrakten Kunstwerk.“ (5, 245).
Hier verdeutlicht Schwitters grundsätzlich, warum die figurative Kunst ihm ebenso legitim als Kunstform erscheint wie die rein abstrakte: Wenn einmal der Rhythmus im Werk wiedererkannt worden ist, so wird es gleichgültig, ob es sich um ein abstraktes Werk handelt oder nicht. Die Abstraktion – die er vor allem mit den holländischen Kollegen um Theo van Doesburg und Mondrian erprobt hat, aber auch mit El Lissitzky – hat formelle Eigenschaften hervorgehoben, die man vielleicht danach und dank dieser Abstraktion überall besser wahrnehmen kann¹⁰. Deswegen ist sie ihm so wichtig: „And so we have, for example, in abstract painting today, in my opinion, the highest development that painting has had in the course of a thousand years […]“ (1929, About me by myself, 5, 323). Aber diese Lust an der Abstraktion sollte weder zu einer modernistischen Utopie noch zu einer Flucht aus der Zeit (Hugo Ball) führen.
Das gebrochene Verhältnis zur Geschichte Dass Schwitters immer wieder figurativ gemalt hat, seien es Porträts oder Landschaften, beweist nicht dass er ein unverbesserlicher Romantiker war, oder einfach im Grund immer ein Bürger, allzu kompromissbereit. Man braucht sich nicht für diesen Teil seiner Produktion zu schämen, die lange Zeit in den Museen für moderne Kunst Isabelle Ewig, „Hans Arp und Kurt Schwitters, oder wie die Natur zur abstrakten Kunst kam“, ibid., S. 159 – 168. Vgl 5, 237; „Sie werden bei meinem i-Bilde sehen, daß die Natur, der Zufall, oder wie Sie es nennen wollen, oft Dinge zusammenträgt, die in sich dem entsprechen, was wir Rhythmus nennen. Die einzige Tat des Künstlers ist hier: erkennen und begrenzen.“ Vgl. Karin Orchard, Isabel Schulz (Hrsg.), Merz-gebiete. Kurt Schwitters und seine Freunde, Köln, DuMont, Hannover, Sprengel-Museum, 2006.
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nicht zu sehen war. Er hat von Anfang an diese Offenheit im Blick gehabt: „Das Wesen der Merzkunst ist Toleranz“ hatte er bereits 1920 erklärt (5, 84). Dieser Zug zeigt die Originalität von Schwitters: Er konnte radikal neue Wege bahnen, ohne dabei die Tradition, d. h. auch die Geschichtlichkeit abzuerkennen oder zu verleugnen. Die Avantgarde identifizierte sich oft mit einer völligen Ablehnung der Vergangenheit, einer Ablehnung, die man wohl in der Selbstzerstörung des ersten Weltkriegs begründet sehen konnte. Diese Ablehnung konnte, wie im Dadaismus, in der Negativität der Kritik als Zerstörung münden, oder in dem Versuch, eine neue Welt zu schaffen,wie in der abstrakten Malerei eines Mondrian oder Kandinsky, denen theosophische Vorstellungen nicht fremd waren. Schwitters dagegen ließ immer Platz für die Zeugnisse der kaputten Welt, indem er Altmaterial neu verwendete. Die Kunst schafft etwas Neues, „man kann nicht immer wieder dasselbe schaffen“ (5, 239), aber sie tut es aus allen möglichen Elementen. Das ist die geschichtliche Situation, die Schwitters wie folgt reflektiert: „Zunächst suchte ich aus den Resten ehemaliger Kultur neue Kunstformen aufzubauen“ (1926, Daten aus meinem Leben, 5, 241). Diese Stellung zur eigenen Zeit macht den größten Unterschied zu Schleiermacher aus. Nicht dass dieser keinen historischen und epochalen Bruch erlebt hätte. Die Französische Revolution war aber nicht das Ende aller Zeiten. Schleiermacher unterschied grundsätzlich zwei Epochen der Weltgeschichte, Altertum und Christentum. Er begriff die Moderne als die Fortsetzung des Christentums. Ein solcher Ansatz erlaubte es ihm, die Romantik als christliche Kunst zu verstehen, und gab ihm generell die Aufgabe, in einer sich wandelnden Zeit jeweils die überlieferten Formen neu zu interpretieren. Statt Abschaffung des Alten und Ersatz durch ein Neues, Du passé faisons table rase usw., neigte er eher zu einer Umdeutung. Die Hermeneutik vertritt direkt diesen Bedarf an Vermittlung. Schwitters begann noch im Kriege zu schaffen, nachdem er eine eher klassische Ausbildung in Dresden absolviert hatte. Es war die Zeit des Dadaismus, zu dessen Vertretern er sich selbst zählte, bevor er für seine vielseitige künstlerische Tätigkeit eine eigene Bezeichnung erfand. Der erste Weltkrieg war kein Befreiungskrieg, sondern eine Selbstauslöschung Europas. Die kritischen Geister, wie Ball, Serner, Tzara, flohen in die Schweiz, wo der Dadaismus gegründet wurde. Oder sie fanden fern vom Schlachtfeld eine andere Zuflucht¹¹. Die Poetik, die damals entstand, speiste sich aus der allgemeinen Zerstörung. Es war Recycling, eine Absage an die Zerstörung und an die dadurch entstandene Sinnlosigkeit. Indem man Teilchen, Reste, Ruinen aus der vorigen Welt aufnahm und wieder mit Kunst auflud, wollte man nicht untätig bleiben und zweierlei zeigen: dass dieser Krieg sinnlos und zugleich nicht mehr aus den Geistern auszuräumen war, so dass man sich ab jetzt unausweichlich mit dieser Zerstörung auseinandersetzen musste.
Vgl. Schwitters Statement über seine Kriegsjahre: „Im Kriege habe ich an allen Fronten des Waterlooplatzes in Hannovers gekämpft, im Feld war ich nie.“ 1927, 5, 251.
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„Kaputt war sowieso alles, und es galt aus den Scherben Neues zu bauen. Das ist aber Merz“ (1930, 5, 335)
Die Umwertung geschah durch den historischen Prozeß selbst. Die Kunst zog nur die Folgerungen. Sie nahm die Negation des Kriegs in Kauf, aber auch die ersten Erscheinungen der Konsumwelt – alles wird gekauft, verbraucht und weggeworfen. Moderne heißt also bei Schwitters der Sinn für eine spezifische Geschichtlichkeit, die von ihrer Negativität nicht absieht, sondern die immer die Spuren dieser Tragik in sich trägt. Das tat er im bewußten Unterschied zu dem, was bei der abstrakten Kunst und Architektur der Moderne geschieht, die den Bruch mit der Vergangenheit zusammen mit dem erlösenden Glauben in eine Utopie des Übermenschen bzw. Neuen Menschen verbinden. Die Kathedrale des erotischen Elends (einen andere Bezeichnung des Merzbaus) mit ihren historisch beladenen Grotten (die Kultur Ikone wie Goethe – „die Göthegrotte mit einem Bein Göthes als Reliquie“ [5, 344] – oder die Lutherecke aber auch Anekdoten,Werbung, Souvenirs usw.) sowie die Ursonate zeugen von dieser Stimmung. Ende der Ursonate (1, 242) Zätt üpsiilon iks (bewegt) Wee fau Uu Tee äss ärr kuu Pee Oo änn ämm Ell kaa Ii haa Gee äff Ee dee zee beee? Zätt üpsiilon iks (bewegter) Wee fau Uu Tee äss ärr kuu Pee Oo änn ämm Ell kaa Ii haa Gee äff Ee dee zee beee? Zätt üpsiilon iks (einfach) Wee fau Uu Tee äss ärr kuu Pee Oo änn ämm Ell kaa Ii haa Gee äff Ee dee zee bee Aaaaa? Zätt
(sehr bewegt) üpsiilon iks Wee fau Uu Tee äss ärr kuu Pee Oo änn ämm Ell kaa Ii haa Gee äff Eeee dee zee beeee? (schmerzlich)
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Die letzte Bewegung der Ursonate ist ein Versuch, zurück zum Anfang zu kommen. Es kann aber nicht gelingen. Die unabschließbare Einkehr von zätt bis zu aaaa zeigt die Unvermeidlichkeit der Zeitlichkeit. Die abstrakte Kunst kann ebenso wie die Musik die Zeit nicht abschaffen. Es bleibt immer ein Riss, der schmerzlich ist: beeee. So ist Merz= der Ausdruck einer Öffnung, die sich in den Schmerz versteckt, also kein Abschluß, aber eine offenen Wunde. Eine Frage. Schwitters Stellung zur Geschichte und zur Kunstgeschichte zeigt sich besonders klar in Texten, die Schwitters vermutlich auf Reisen verfaßt hat. Dabei kam er in Kontakt zu klassischen Kulturgütern. Es werden hier Auszüge kommentiert: Profane Worte über die ewige Stadt, aus dem Jahr 1928. (es ist wohl möglich, dass hier Zitate von Touristen aufgenommen worden sind: dabei beweist sich die Wirksamkeit dieser Methode: Die Welt ist ihre eigene Satire) Warum nur die alten Römer so viel Ruinen gebaut haben? (2, 350).
Das Wichtigste ist bei der Betrachtung der alten Kunst, zu sehen, wie man es nicht mehr machen darf, zu sehen, welche Weltanschauung endgültig und unwiderruflich vorbei ist. Jede Zeit hat ihre eigenen Ausdrucksformen. (2, 352) Euripides, der klassische Dadaist. Dadaisten gab es zu allen Zeiten. (2, 353)
Die Stellung, die sich abzeichnet, weist auf eine Selbstrelativierung des avantgardistischen Bruchs hin, die aber nicht zu einem neuen Klassizismus wird. Die Musealisierung der Welt ist bereits geschehen. Man sucht nach einer neuen Orientierung. Die gängigen Urteilskriterien werden grundsätzlich hinterfragt, aber nicht mehr mit dem revolutionären Pathos. Dieser war bereits politisch allzu sehr besetzt. Der Dritte Prager Brief aus dem Jahr 1928 erklärt es so: „Manchmal denke ich, wenn ich durch alte Städte gehe, wir leben wie in einem Museum, was soll uns eigentlich all das Alte! Täte man nicht besser, in unserer neuen Zeit alles Alte einfach abzureißen, damit Platz für das Neue wird, oder täte man vielleicht gut, das gute Alte zu erhalten, um zu zeigen, was frühere Generationen alles gekonnt haben, oder täte man vielleicht gut, neben dem guten auch das schlechte Alte aufzubewahren, damit nicht jemand auf die Idee kommen könnte, daß etwa frühere Zeiten tüchtiger gewesen wären als unsere Zeit. Nein, wenn etwas wirklich gut ist, dann kann es gern bleiben, von mir aus sogar sehr gerne, wenn es aber schlecht ist, dann kann es ebenso gerne bleiben als Gegenbeispiel. Ich bin überhaupt heute in einer so angenehmen Stimmung, daß ich alles liebe und daß ich alles anerkennen möchte […]“ (5, 300 – 301).
In seiner eigenen Radikalität weiß Schwitters den Geist echter Toleranz zu pflegen. Das macht aus ihm eine seltene künstlerische Persönlichkeit. Es handelt sich aber um keine Geschmackssache, sondern um eine Deutung der Zeit. Die Kunst hat sich mit ihrer Zeit auseinanderzusetzen. Die Brechung der ethischen, bildenden, zivilisatorischen Vorstellung ist in ihr unwiederbringlich geschehen. Der Zweifel an dem Sinn
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begleitet jede Gestaltung. Der Kunsttrieb, der auch ein Spieltrieb ist, bleibt aber erhalten. Schleiermacher hat wahrscheinlich nicht die Ästhetik der Romantik geliefert, eher eine Skizze, die jedoch in ihrer Abstraktheit suggestiv bleibt. Der Akzent, den er auf die künstlerische Tätigkeit setzt, entspricht einerseits der Wendung zur Praxis, die man im 18. Jahrhundert nachvollziehen kann und die besonders nach Kant in der Philosophie immer wichtiger wurde. Er weist aber darüber hinaus in Richtung eines anderen, viel allgemeineren Verständnisses von Kunst, nämlich als eine allgemeine menschliche Fähigkeit. Bei ihm ist diese Anlage philosophisch begründet, nämlich in der Ethik, und sicher nicht ohne einen geschichtsphilosophischen bzw. geschichtstheologischen Hintergrund. Als spekulativer Gestus aber, öffnet er ein breites Verständnis der Kunst als Tätigkeit, das man bei seinen Zeitgenossen lange suchen wird. Kurt Schwitters Selbstverständnis als Künstler multiversum verwirklicht sehr wohl die Breite des soeben skizzierten Spektrums. Aber wo ein Richard Wagner die Kunst als System und Totalisierung realisieren wollte, wo die abstrakte Malerei eine gereinigte formelle Sprache erfinden wollte, hielt sich Schwitters immer in allen Dimensionen seiner Aktivität an das Gegebene als ein Historisches. Die Spuren vergangener Geschichtlichkeit bewahrte er bewusst innerhalb seiner neuen Entwürfe. Auf diese Weise bekannte er sich zu einer gebrochenen Epoche, die es nicht nötig hatte zu vergessen, sondern im Gegenteil: die über die eigene Geschichtlichkeit in der Kunst und durch die Kunst reflektierte.
Björn Pecina / Halle (Saale)
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Aufgeklärte Empfindungen vor Schleiermachers Ästhetik Zu einer aufregenden Epochensignatur des 18. Jahrhunderts gehört die Wendung ins Anthropologische. Anthropologie meint hier in einem sehr elementaren Sinn, dass der ganze Mensch Gegenstand von poetischer, politischer und philosophisch-theologischer Exegese wird.¹ Damit treten auch die Empfindungen immer stärker in den Fokus der Aufmerksamkeit, die nicht nur irgendein Gegenstand der Betrachtung unter anderen, sondern ein entscheidendes Moment sind, um dessen Erforschung die Aufklärung sich besondere Verdienste erworben hat.² Als ›Empfindsamkeit‹ hat es der Begriff vermocht, für die Kennzeichnung einer ganzen Epoche in Gebrauch genommen zu werden, da Lessing Johann Christoph Bode, der gerade an einer Übertragung von Laurence Sternes A Sentimental Journey Through France and Italy (1768) arbeitete, vorschlug, dass er ›sentimental‹ mit ›empfindsam‹ übertragen solle. Schon Ignatius von Loyola machte durch einen ganz ungezwungenen Tränenfluss von sich reden, mit dem er die emotionale Intensität göttlicher Gegenwart gemessen hat.³ Die säkularisierte Variante liquider Expressivität steuert Nicholas Rowes The Fair Penitent (1703) bei, wenn Altamont mit seiner Geliebten Calista um die Fließmenge der vergossenen Tränen zu wetteifern scheint.⁴
1. Voraussetzungen der Aufklärungsästhetik Zusammen mit dem Gefühl bildete sich auch die Ästhetik als eine eigene Wissenschaft heraus, eine Entwicklung, für die im folgenden einige Auslöserreize genannt werden
„Endlich kann man Körper und Seele in ihren gegenseitigen Verhältnissen, Einschränkungen und Beziehungen zusammen betrachten und das ist, was ich Anthropologie nenne“ (E. Platner: Anthropologie für Aerzte und Weltweise, Leipzig 1772, XVI). Grundlegend zum Thema: H.-J. Schings [Hg.]: Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, Stuttgart/Weimar 1994; Ders.: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1977; W. Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller. Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der ›Philosophischen Briefe‹, Würzburg 1985; H. Pfotenhauer: Literarische Anthropologie. Selbstbiographien und ihre Geschichte – am Leitfaden des Leibes, Stuttgart 1987. Cf. hier das Urteil von J. A. Eberhard, der in seiner Allgemeinen Theorie des Denkens und Empfindens (Berlin 1776) sagt: „Wenn man … die neueste spekulative Philosophie richtig charakterisieren wollte: so würde man vorzüglich auf ihre Entdeckungen in der Theorie der Empfindungen zu sehen haben“ (5). M. Plattig: Vom Trost der Tränen. Ignatius von Loyola und die Gabe der Tränen, in: Studies in Spirituality (1992) 2, 148 – 199. N. Rowe: The Fair Penitent, Glasgow 1755,V; 53: „I’ll number grone for grone, and tear for tear; / And when the fountain of thy eyes are dry, / Mine shall supply the stream, and weep for both“. DOI 10.1515/9783110464573-030
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sollen. Die während der Aufklärung entstehende Kunst hat ein besonderes Merkmal darin, sukzessive aus der Indienstnahme durch den Hof herauszutreten. War im 17. Jahrhundert eine bürgerliche Kunst nur für Holland typisch,⁵ so gab es sie nun überall in Europa. Man kann einen gewissen Anfang der Empfindungsreflexion in der Mitte des 17. Jahrhunderts bei Baltasar Gracián y Morales ausmachen. Gracián bedient sich der Idee der Leichtigkeit, die dennoch Schweres auszudrücken vermag (sprezzatura), das Handlungsideal des Castiglionischen Hofmanns also, und überführt sie in die Literatur des aforismo, in der die monastische Abgeschiedenheit sich Ausdruck verschafft. Der Weltmann plädiert für einen guten Geschmack, der den Menschen „fähig [macht], in jedem Fall das Beste zu wählen“.⁶ Damit hatte der Hofmann sich in eine Distanz zur höfischen Gesellschaft gebracht, um sich zum dritten Stand zu gesellen. Baltasar Gracián hatte damit zugleich konsequent mit dem Bildungsideal der Renaissance gebrochen: „Geschmack und Sprache verändern sich von Zeit zu Zeit; wir müssen nicht im alten Style, sondern im Style der heutigen Welt reden. Der Geschmack guter Köpfe dient in allen Fächern den uebrigen zur Richtschnur; nach ihm muß man sich bilden, und bestrebt seyn, sich durch ihn zu vervollkommnen. Der kluge Mann richte sich in Hinsicht seines Aeußern und seines Geistes nach den Sitten seiner Zeit, wenn ihm auch gleich die Sitten der Vorzeit besser scheinen“.⁷ Damit war der Weg in eine bürgerliche Privatheit geebnet, den etwa Locke gehen sollte, als er dem ›private man‹ seine Aufmerksamkeit zuwandte, um ihm in Fragen des Rechts eine wachsende Bedeutung zuzuerkennen.⁸ Das unter religiöser Verwaltung stehende traditionelle Recht wurde jetzt verstärkt daran orientiert, ob diesem in reflexivem Nachvollzug durch den Privatmann zugestimmt werden konnte. Ein sprechendes Beispiel für diesen Lockeschen Perspektivenwechsel ist dessen berühmter Widerlegungsversuch der angeborenen Ideen, denn auch die Bestreitung eines angeborenen Ideenensembles ist noch zu verstehen vor dem Hintergrund der Gewissheit eines Urteils, das erzeugt wird durch die private Arbeit der Anschauung. Auch literaturgeschichtlich wird der Privatier augenfällig: Daniel Defoes Robinson Crusoe (1719) experimentiert 28 Jahre in seinem insularen Exil erfolgreich mit Zivilisationstechniken, um endlich in England ein wohlhabender Mann zu werden.
A. Hauser: Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, München 1990, 497 ff. B. Gracian: Der Mann von Welt, eingeweiht in die Geheimnisse der Lebensklugkeit. Ein nach Balthas. Gracian frey bearbeitetes, vollständig nachgelassenes Manuscript von Karl Heinrich Heydenreich, Leipzig 1803, 37. L. c. 94 f. J. Locke: An Essay concerning human understanding, London 301849, II, 28, 12: „If any one shall imagine that I have forgot my own notion of a law,when I make the law whereby men judge of virtue and vice to be nothing else but the consent of private men who have not authority enough to make a law; especially wanting that which is so necessary and essential to a law, a power to enforce it: I think I may say, that he who imagines commendation and disgrace not to be strong motives on men to accommodate themselves to the opinions and rules of those with whom they converse, seems little skilled in the nature or history of mankind“ (Hervorhebungen vom Verfasser).
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In Frankreich sah es nicht anders aus. Hier findet sich der Abschied vom Barock am Jahrhundertübergang etwa bei Antoine Watteau. Nicht umsonst hatte diesem Charlotte von Orléans wütend vorgeworfen, dass er nicht im Stil eines Hofmalers den Glanz der französischen Höfe darstellte.⁹ Manchmal subtil, mal ganz frei heraus übte Watteau mit seinen Gemälden Kritik am Ancien Régime. Und in der Tat – in seinen pastelligen, oft ans Skizzenhafte streifenden Ölbildern und Rötelskizzen sind die Menschen nicht in repräsentativem Stil festgehalten, sondern eher wie verweht und nach innen gekehrt, dem Zwang, sich zur Schau stellen zu müssen, entzogen. Harlekine, Liebespaare, müde Soldaten – das städtische Bürgertum hielt Einzug auf der Leinwand, das Individuum aber begab sich auf die lange Reise in sein Innenleben.¹⁰ Eng mit den Reformen der Régence-Zeit, die Philippe II. einleitete, als er sich wieder den durch den Sonnenkönig gedemütigten Parlamentariern näherte, hängt es zusammen, wenn Jean-Baptiste Dubos in seinen Réflexions critiques sur la poésie et la peinture (1719) gleich zu Beginn großen Wert darauf legt, als „blosser Bürger (simple citoïen)“ gesehen zu werden. Und im ästhetiktheoretischen Diskurs bringt sich dieses Bürgerbewusstsein dann darin zum Ausdruck, dass Dubos auf die urteilssichere Selbständigkeit des Geschmacks abhebt. Über Schönheit, so eine seiner bekanntesten Thesen, wird mit der gleichen Sicherheit geurteilt, wie man einem gekonnt zubereiteten Fleischeintopf zugesteht, dass er munde. Auch in Deutschland lassen sich immer wieder Parolen bemerken, die von einer empfindungsbewussten Selbstthematisierung des bürgerlichen Subjekts zeugen und damit einer Affektenlehre, wie sie sich etwa bei den C. Monteverdi, A. Kircher, A. Werckmeister und J. Mattheson findet, den Abschied geben. 1752 gibt der Flötenlehrer Friedrichs des Großen J. J. Quantz in seiner Flötenschule dem Anfänger den Rat, gleich zu Beginn darauf zu achten, dass seine innere Empfindung geweckt werde.¹¹ Sehr ähnlich heißt es in C. Ph. E. Bachs Klavierschule, dass man aus der Seele spielen muss;¹² und Ch. F. D. Schubart schreibt von der „Ichheit“, die man in der Musik „heraus []treiben“ solle.¹³ Diese hier nur angedeuteten Tendenzen haben sich in theoretischen Erörterungen niedergeschlagen, von denen im folgenden Dubos und Baumgarten genauer be-
M. Bombek: Kleider der Vernunft. Die Vorgeschichte bürgerlicher Präsentation und Repräsentation in der Kleidung, Münster 2005, 277. M. D. Sheriff [Ed.]: Antoine Watteau. Perspectives on the Artist and the Culture of his Time, Cranbury/ NJ 2006. J. J. Quantz:Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen, Breslau 21780, X. Hauptst. § 22: „Das Singen der Seele, oder die innerliche Empfindung, giebt hierbey einen großen Vortheil. Ein Anfänger muß demnach suchen, nach und nach diese Empfindung bey sich zu wecken“. K. Ph. E. Bach:Versuch über die wahre Art das Klavier zu spielen. Kritisch revidierter Neudruck nach der unveränderten, jedoch verbesserten zweiten Auflage des Originals, Berlin 1759 u. 1762. Mit einem Vorwort und erläuternden Anmerkungen versehen von Dr. W. Niemann, Leipzig 1906, 1. Th. 3. Hauptst. § 7, 83. C. F. D. Schubart: Klavierrecepte, in: Ders.: C. F. D. Schubart’s, des Patrioten, gesammelte Schriften und Schicksale. V, Stuttgart 1839, VI, 73.
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leuchtet werden sollen. Dabei halten wir uns bei Dubos etwas ausführlicher auf, da seine Theorie sich geradezu als ein ästhetiktheoretischer Kommentar des oben Angedeuteten lesen lässt. Mit Baumgarten nehmen wir dann schon Kurs auf Schleiermachers Ästhetik.
2. Dubos’ Ästhetik des guten Geschmacks Für die deutschsprachige Empfindungslehre sind Dubos’ Réflexions critiques (1719) schon darum interessant,¹⁴ weil sie eine Alternative zur kategorialen Fixiertheit der Ästhetik darstellen (G.W. Leibniz, Ch.Wolff, J.-P. de Crousaz), indem sie konsequent auf ein wirkungsästhetisches Paradigma setzen und dem Urteil über die Schönheit von Malerei und Poesie eine aus sich selbst gespeiste unmittelbare Plausibilität zuerkennen,¹⁵ so dass sich die Frage nach der Regelgemäßheit dieser Kunst gar nicht einzustellen vermag. Im Hintergrund dieser Dubosschen Überbetonung des Geschmacks als eines sicher urteilenden Vollzugs stehen Descartessche Überlegungen aus einem Brief vom 6. Oktober 1645 an Elisabeth von Böhmen und dem 94. Artikel aus Les passions de l’âme (1649). Im Elisabeth-Brief finden sich schon die Grundgedanken der Dubosschen Empfindungslehre. Das seelische Vergnügen verzahnt Descartes hier mit einer Glückseligkeit, die streng unterschieden ist von dem körperlichen Wohlbefinden physischer Selbstübereinstimmung. Dies zeigt sich schon allein daran, dass wir emotional erschüttert sein können, ohne dass diese Erschütterung sich immer negativ auf unsere Glückseligkeit oder unser Empfindungsvermögen auswirken müsse.¹⁶
Wir zitieren Dubos in den Fußnoten und im Text unter den folgenden Siglen: KB: J. B. Dubos: Kritische Betrachtungen über die Poesie und Mahlerey. Aus dem Französischen des Herrn Abtes Du Bos, eines der Vierziger und beständigen Secretärs der französischen Akademie. Tle. I–III, Kopenhagen 1760 f. RC: Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture, Tle I u. II, Paris 21733; Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture. T. III, Paris 51746. Bei in den Text gesetzten Seitenzahlen bezieht sich die Zahl vor dem Schrägstrich auf KB I und die Zahl nach dem Schrägstrich auf RC I. KB II 302 f / RC II 324 f: „Der Probierstein der Vernunft (raisonnement) darf […] nichts dabey zu thun haben, wenn ein Urtheil über das Ganze eines Gedichtes oder Gemähldes gefällt werden soll […] Die Entscheidung solcher Dinge gehört nicht vor den Richterstuhl der Vernunft (n’est point du ressort du raisonnement), die sich hierinnen dem Ausspruche der Empfindung, als der rechtmäßigen Richterin über solche Streitigkeiten, unterwerfen muß ( jugement que le sentiment prononce). Untersucht man wohl nach logikalischen Gründen (raisonne-t-on), ob ein Ragout einen guten oder schlechten Geschmack habe? Wer hat sich iemals, um einen Ragout zu beurtheilen, in den Sinn kommen lassen, erst metaphysische Grundsätze ( principes géometriques) über den Geschmack (faveur) festzusetzen“. R. Descartes: Briefe. 1629 – 1650, hg., eingel. u. m. Anm. vers. v. M. Bense. Übers. v. F. Baumgart, Köln / Krefeld 1949, 319/ Œuvres philosophiques. T. III, hg.v. A. Garnier, Paris 1835, 199: „Es ist leicht zu beweisen, daß das Vergnügen der Seele ( plaisir de l’ame), in dem die Glückseligkeit (béatitude) besteht, nicht untrennbar von der Fröhlichkeit und dem Behagen des Körpers ist, und zwar ebensowohl durch das Beispiel der Tragödien, die uns umso mehr gefallen, je mehr Traurigkeit sie in uns erregen, als auch durch das der körperlichen Übungen wie Jagd, Ballspiel und Ähnliches, die immer angenehm
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Diese sehr schlichte Beobachtung hat die weittragende Konsequenz, dass das Subjekt in seiner Selbstdurchsetzung gegenüber dem es andringenden Außenreiz sich als selbsterhaltend wahrnimmt, eine Wahrnehmung, die immer dann als angenehme Affektivität empfunden wird, wenn zugleich ein gesunder Leib, der die Voraussetzung für eine solche Gestimmtheit ist, bereitsteht. ›Freude‹ kommt dem Subjekt also in genau dem Maße zu, als dieses sich eine durch es selbst gesetzte Widerständigkeit gegen Außeneindrücke zuzuschreiben vermag.¹⁷ Hier knüpft Dubos an und exponiert die Theorie seiner Reflexionen folgendermaßen: „Man hat täglich die Erfahrung, daß Verse und Gemählde ein empfindliches Vergnügen verursachen; und dennoch ist es schwer zu erklären, worinn dieses Vergnügen bestehe, welches so oft einem Leiden ähnlich ist […] Die beyden Künste der Poesie und Mahlerey erhalten niemals mehr Beyfall, als wenn es ihnen gelingt, schmerzhafte Empfindungen in uns zu erregen“ ( KB I 1). Damit ist das folgende Problem benannt: Die Erregung einer Empfindung angenehmen Schmerzes, die sich innerhalb der Kunst des Beifalls durch das Publikum sicher sein darf, ist ein oft zu beobachtender Sachverhalt. Und von einem solchen empirischen Sachverhalt geht Dubos aus, ein Umstand, der durchaus bedeutsam ist und innerhalb der von Dubos herbeigeführten Wende unmittelbar darin steht. Die genaue Beobachtung des menschlichen Empfindungslebens stellt den Ausgangspunkt für Dubos’ Gefühlstheorie dar, so dass dieser vollständig auf metaphysische Grundlegungsfiguren verzichten kann. Dubos’ Anliegen ist gut im Vergleich mit Lukrez zu fassen. Lukrez schildert den Genuss des Zuschauers am Kampf einer Schiffsbesatzung mit der bewegten See,¹⁸ wobei die gefährlichen Wellen des Beobachters die Seele in Freude versetzen, weil dieser sich in gefahrloser Distanz zu dem in Seenot geratenen Schiff befindet.¹⁹ Lukrez hat die Schiffbruchmetapher in Gebrauch, um die Zufriedenheit des in sich selbst Ruhenden gegenüber den Schiffbrüchigen zum Ausdruck zu bringen.²⁰ Dubos hingegen setzt auf das Anschwellen seelischer Erregtheit, die sich bei Gefahr steigert. Somit geht es ihm also ausschließlich um die
bleiben, auch wenn sie sehr mühsam sind; und man sieht sogar, daß häufig Müdigkeit und Mühsal das Vergnügen erhöhen“. R. Descartes: Die Leidenschaften der Seele. Französisch – deutsch, hg. u. übers. v. K. Hammacher, Hamburg 1984, Art. 94; 146 f: „Da das Gehirn von Natur aus so beschaffen ist, die gute Verfassung des Körpers und seine Kraft anzuzeigen, stellt sich das, was einen Eindruck im Hirn macht, dann der Seele als ein Gut, das ihr zukommt ( la represente à l’ame comme un bien qui luy apartient), dar, da sie mit dem Körper verbunden ist, und ruft so in ihr Freude hervor“. Lukrez: Von der Natur der Dinge. Mit dem lateinischen Text nach Wakefield’s Ausgabe. Bd. I, übers. v. K. L. v. Knebel, Leipzig 1821, Lib. II,97: „Süß ists, anderer Noth bei tobendem Kampfe der Winde / Auf hochwogigem Meer, vom fernen Ufer zu schauen“. Ib.: „Nicht als könnte man sich am Unfall andrer ergötzen, / sondern dieweil man es sieht, von welcher Bedrängnis man frei ist“. Ib.: „Aber süßer ist nichts, als die wohlbefestigten heitern / Tempel inne zu haben, erbaut durch die Lehre der Weisen: / Wo du hinab kannst sehn auf andere, wie sie im Irrthum / Schweifen, immer den Weg des Lebens suchen, und fehlen“.
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Ursprungssituation hoher Affektivität, die er nicht durch eine noch hinzugezogene Erklärung oder Deutung ermäßigen will.²¹ Dies hängt damit zusammen, dass Dubos das reine Bedürfnis nach affektiver Kompensation seelischer Untätigkeit zum Prinzip erhebt. Empfindung und Denken befinden sich dabei in der folgenden Relation. Die Empfindung überlässt sich dem Anfluten von Außenreizen, ohne dass dieses Anfluten noch einmal reflexiv kommentiert würde. Die Reflexion hingegen überführt den flutenden Andrang des Mannigfaltigen in ein Selbstgespräch, das als kategorial reguliertes eine Ordnungs- und Bewertungsfunktion hat.²² Diese Reflexion bringt die folgenden Probleme mit sich: Einmal kann sie zu einer Erschöpfung der kommentierenden Fähigkeiten führen, so dass das Empfundene seinem Bestimmt-Werden stets vorauseilt und nur dunkle und bedeutungsindifferente Begriffe herausspringen.²³ Und zugleich besteht die Möglichkeit, dass unumkehrbare Zustände der Ermüdung eintreten, deren Konsequenzempfindungen dann in einem Selbstekel bestünden. Hier blieben die Bestimmungsversuche der Reflexion nicht mehr nur hinter den Empfindungen zurück, sondern die Bestimmungsfähigkeit wäre zum Verschwinden gebracht. Zwar hält die Tradition das wirksame Gegenmittel bereit, sich durch Versenkungstechniken in eine meditative Selbstübereinstimmung zu bringen und dadurch dem humanen Selbstverlust zu entrinnen, aber zu dieser Therapie-Technik sind nur sehr wenige in der Lage. „[D]ie Empfindung, vermöge deren sich die Seele den Eindrücken überläßt, welche Gegenstände, die ausser ihr sind ( les objets étrangers), in sie machen, ist weit leichter ( beaucoup plus facile)“ ( 9 f/9). Ist also der Mensch nicht fähig, selbsttherapeutische Meditations-Maßnahmen zu ergreifen, um dem inneren Absterben seiner Vitalität zu wehren, so wird für ihn nun die Möglichkeit, sich Außenreizen zu überlassen, zu einem bevorzugt genutzten Mittel, aktiven Selbstgewinn zu erzielen. Und daraus leitet Dubos seine entscheidende Beobachtung des menschlichen Verhaltens ab: Der Mensch hat Leidenschaften, und diese Leidenschaften sind dafür verantwortlich, dass er sich lebendig fühlt. Dieses Gefühl der Lebendigkeit prägt das Subjekt in seinem Welt-Sein kontinuierlich; und auch dann, wenn das Subjekt sich in eine empfindungslose Ruhe versetzt vermeint, wird es durch dieses Gefühl der Lebendigkeit geprägt, das gleichsam durch das Subjekt als ein Wollen, bewegt zu sein, hindurchgeht. In einer letzten Konsequenz ist dieses Bewegt-Sein die einzige Möglichkeit des empfindenden Subjekts, dem Andringen von Nichtigkeit entgegenzutreten. So treibt
KB I 14: „Aber das Anzügliche, welches eine heftige Gemüthsbewegung über uns hat, ist für die meisten ein weit stärkerer Sporn, als Ueberlegung und Erfahrung. Man läuft in allen Ländern haufenweise, diese gräulichen Schauspiele anzusehen“. KB I 6 f: „Die Seele überläßt sich entweder den Eindrücken, welche die äusserlichen Gegenstände in sie machen; […] dieses nennt man empfinden: Oder sie [sinnt] […] über allerhand Materien nach[]; dieselben mögen […] nützlich seyn, oder nur die Neugier reizen; und dieses heißt man, über eine Sache nachdenken, und Betrachtungen anstellen“. Cf. KB I 7.
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das Bewegt-sein-Wollen das Subjekt empfindend aus sich heraus, um in diesem Heraustritt neuen Eindrücken sich mit Interesse anheimzugeben, und diese Eindrücke setzen das Empfindungsleben in eine Lebendigkeitsrotation, ein Kreislauf, in den der Mensch stets neu eintreten muss, um die Angst davor, auf empfindungslose Langeweile geworfen zu werden, kompensieren zu können.²⁴ Das aufgezeigte Wechselspiel zwischen der Abwehr von Selbstverlusterfahrungen und dem Fixiert-Sein auf Außenimpressionen führt auf eine Dialektik, die näherhin den Leidenscharakter des Subjekts affirmiert. Das Subjekt tritt den Weg zu sich selbst an, indem es den Umweg über ein ihm Anderes nimmt, ein Umweg, der die Heimkunft des Menschen bei sich selbst in eine nicht enden könnende Vermittlungsleistung hinausschiebt. Das dem Subjekt Eigene wird über eine Suche nach Eigentlichkeit im Fremden gewonnen und geht darum gerade in seinem Gefunden-Werden unwiederbringlich verloren. Im empfindenden Subjekt trägt sich diese Verlust-Dialektik so aus, dass der Mensch in Zustände hoher Leidenschaftlichkeit und die Enttäuschung, dergleichen Zustände nur über einen Selbstverlust erlangt zu haben, auseinandergetrieben wird. Es ist diese dem Subjekt innewohnende Gegenwendigkeit, die auf ein Leiden des Menschen an seiner eigenen Hochstimmung führt. Und genau dieses An-sich-selbstLeiden des Subjekts provoziert den Einsatz von Dubos’ Theorie der Kunst. Mit „wirklichen und wahrhaften Leidenschaften ( passions réelles & veritables; 25/25)“ geht der gezeigte Seelenzustand einher, und so stellt sich die Notwendigkeit ein, eine Technik zu entwickeln, die Abhilfe schafft. Die Kunst stellt eine solche Technik bereit. Durch Poesie und Malerei nämlich werden Empfindungen abgerufen, die ein gesteigertes Gefühl von Lebendigkeit erregen. Dies erreichen die Kunstformen durch ein Nachahmungs- und Darstellungsverfahren, das den vitiösen Zirkel von Affekt und Selbstverlust vermeidet.²⁵ Damit steht Dubos in der Tradition der Aristotelischen Tragödiendefinition, einer Beschreibung also der kalkulierten Hervorbringung schmerzhafter Erregungszustände, mit der die Reinigung von unkontrollierbar und unbeherrschbar auftretenden Affekten herbeigeführt werden soll.²⁶
KB I 12 / RC I 11: „In der That ist die gewaltsame Bewegung ( l’agitation), in welcher uns die Leidenschaften erhalten (où les passions nous tiennent), auch noch in der Einsamkeit (solitude) so lebhaft, daß jedweder andre Zustand der Seele dagegen sehr schläfrig ist. Ein innerlicher Trieb (instinct) reizt uns also, nach Gegenständen zu laufen, welche Leidenschaften in uns empören können (qui peuvent exciter nos passions); ob diese Gegenstände gleich solche Eindrücke in uns machen, daß dieselben in uns öfters unruhige Nächte, und traurige und schmerzliche Tage ( journées douloureuses) verursachen. Doch den Menschen […] sind […] Martern, die sie fühlen, wenn sie ganz […] ohne Leidenschaften leben sollen, weit unerträglicher, als die Martern, welche die Leidenschaften nur jemals zu erwecken vermögend sind“. KB I 26/ RC I 25: „Die Poesie und die Mahlerey erreichen diesen Endzweck ( bout)“. Aristoteles: Poetik, Kap. 6: „Die Tragödie ist Nachahmung (μίμησις) einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe, in anziehend geformter Sprache … Nachahmung von Handelnden und nicht durch Bericht, die Jammer und Schauern hervorruft und hierdurch eine Rei-
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Dubos geht aus vom Begriff der Präsentation und Nachahmung.²⁷ Die Nachahmung bezieht sich hier auf jene Gegenstände, die das psychische Subjekt affektiv erregen, und die Repräsentation stellt die Relation zwischen Nachahmungsobjekt und Wahrnehmungssubjekt her. Die hier ausschlaggebende erkenntnistheoretische Operation besteht in affektschwächenden Relationen. Die Kunst ahmt den Gegenstand nach, der in uns Affekte auslöst, so dass wir dem Eindruck der Nachahmung erliegen. Die durch diese Nachahmung hergestellte Relation schwächt aber gleichwohl den hervorgerufenen Eindruck allein durch den schlichten Umstand ab, nicht selbst der Gegenstand dieser Nachahmung zu sein.²⁸ Diese Abschwächung verbindet sich mit dem ausgelösten Affekt, so dass sich eine weitere Relation ausbildet, die Dubos ebenfalls als Nachahmung beschreibt. Der durch die Beziehung zwischen Gegenstand und Nachahmung in der Kunst hervorgetriebene Affekt ahmt nämlich ebenfalls nur jene Leidenschaft nach, die der Gegenstand dann, wenn seine Wirkung nicht durch eine Relation gebrochen wäre, ausüben würde.²⁹ Damit ist das von Dubos angestrebte Ziel erreicht, das Subjekt in einen affektiven Zustand zu versetzen, der keine dem Empfinden dieses Subjektes abträglichen Folgen mit sich bringt. Zugleich ist dann auch ein durch Vernunft ausgezeichneter Zustand hervorgetreten. Die Vernünftigkeit dieses Zustandes nämlich besteht darin, dass der Mensch einmal die Relationalität als affektabschwächende Quasi-Täuschung dechiffrieren kann, aber dennoch diese Dechiffrierung nicht den Kunstgenuss verhindert.³⁰ Und dieser Kunstgenuss bringt eine Erregung hervor, die das affektive Subjekt in einen angenehmen Zustand versetzt, der auch wieder vergehen kann; er vergeht nun aber so, dass das Subjekt in diesem Vergehen nicht gleichsam ebenfalls vergeht, indem es die Erfahrung von Leere und Selbstverlust macht.³¹
nigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt (δι’ ἐλέου καὶ φόβου περαίνουσα τὴν τῶν τοιούτων παθημάτων κάθαρσιν)“. KB I 26 f / RC I 26: „Die Mahler und Dichter erregen diese künstlichen Leidenschaften dadurch, daß sie uns Nachahmungen (imitations) solcher Gegenstände darstellen ( présentant), welche fähig sind, […] Leidenschaften in uns zu erwecken“. KB I 27: „[D]er Eindruck, den die Nachahmung verursacht, [unterscheidet] sich von dem Eindrucke, den der nachgeahmte Gegenstand hervorgebracht haben würde, nicht weiter […] als darinnen, daß er nicht so stark ist“. Ib.: „Die Abbildung des Gegenstandes muß […] eine Abbildung der Leidenschaft hervorbringen“. KB I 27: Der durch den nachgeahmten Gegenstand hervorgerufene Eindruck „[erstreckt] sich nicht bis auf die Vernunft […] die sich in dergleichen sinnlichen Empfindungen nicht hintergehen läßt“. KB I 27 f: „Da er [sc. der Eindruck] nur auf der Oberfläche der Seele bleibt, so verschwindet er, ohne die dauerhaften Folgen hinter sich zu lassen, welche der Eindruck des von dem Künstler nachgeahmten wirklichen Gegenstandes zurücke gelassen haben würde […] Die vollkommenste Nachahmung hat nur ein künstliches Wesen, nur ein erborgtes Leben“. Mit dieser Nachahmungskonzeption glaubt Dubos auch Plato zu treffen, da dieser genau jenem Vernunftmoment keine Aufmerksamkeit hat zukommen lassen, als er seine Kunstkritik formulierte und unterstellte, das Subjekt würde im Moment der Affektivität den relationalen Charakter des in der Kunst Ausgedrückten nicht mehr wahrnehmen. Cf. KB I 42– 46.
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Das hat eine bedeutsame Konsequenz für die Stellung der Vernunft innerhalb der Dubosschen Ästhetik, da die Vernunft einen Erlebnisraum für Geschmack, Gefühl und Empfindung bereitstellt. Die Vernunft wird von Dubos dabei verstanden als ein Vermögen, das hinsichtlich seiner Deutungskompetenz durch das Publikum vertreten werden kann. Darin liegt auch begründet, dass die Kunst ihr Konstruktions- und Wertprinzip an jener Wirkung ausrichten kann, die sie beim Publikum hervorruft, denn diese Wirkung ist stets verbunden mit einem vernunftgemäßen Urteil.³² Damit ist durch die Dubossche Wirkungsästhetik jener Prozess der Vernunft beschrieben, innerhalb dessen sie sich aus sich selbst heraussetzt, um umso deutlicher am Ort des Publikums anwesend zu sein. Und es macht ästhetiktheoretisch wenig Sinn, jenseits dieser Urteilsmacht noch nach weiteren Kriterien zu suchen.³³ Dubos hat damit dem Bürgertum eine Kunsttheorie gegeben, die dessen immer stärker werdender Bedeutung gerecht wird.
3. Baumgartens Vollkommenheitsästhetik Auch Baumgarten³⁴ orientiert seine Ästhetik an der durch die Kunst hervorgebrachten Affektivität, wobei er die Affekte in ein unmittelbares Verhältnis zur Vorstellungsfähigkeit setzt, da die Gemütszustände in dem Maße sich erhöhen, als die Vorstellungen stärker und lebendiger werden: „[R]epraesentationes [.].. vividissimas [.].. sunt extensive clarae“.³⁵ Und wenn Baumgarten sodann in seiner Ästhetik formuliert, dass dieser die Aufgabe zukomme, „die Verbesserung der Erkenntnis auch über den Maueranger der von uns deutlich erkannten Dinge hinaus“ zu erweitern (Ä § 3), so ist darin zugleich das Ziel ausgedrückt, die Vollkommenheitslogik der Schulmetaphysik auch am Ort des Empfindens heimisch zu machen und damit Erkenntnisgewinne zu erzielen, die es dem aufgeklärten Subjekt ermöglichen, im Bereich seiner dunklen oder
KB II 298: „Neue Werke finden […] Richter […], nämlich die Kunstverwandten und das Publicum. Sie würden […] nach ihrem wahren Werthe geschätzt werden, wenn das Publicum sein Urtheil eben so geschickt zu vertheidigen […] wüßte, als es dasselbe gut zu treffen weis“. Oder: KB II 514: „Man braucht dem Publico über den Unterschied zwischen zwey Gedichten die Augen nicht erst zu öffnen, wie etwa, wenn es den Unterschied zwischen zwey philosophischen Lehrgebäuden betrifft. Es […] urtheilt mittelst der Empfindung weit richtiger, als die Kunstrichter mit allen ihren Regeln“. KB II 312: „Ich rechne […] nicht den […] Pöbel unter das Publicum, welches fähig ist, über Gedichte und Gemählde zu urtheilen […] [I]ch verstehe unter dem Publico nur diejenigen, so sich entweder durch Lesen, oder durch guten Umgange gewisse Einsichten erworben haben. Diese allein sind es, welche Gedichten und Gemählden ihren Rang anweisen“. Baumgartens Werke zitieren wir nach den Siglen: Ä: Ästhetik. Lateinisch – deutsch, Bd. 1, übers., m. ein. Einf., Anm. u. Reg. hg.v. D. Mirbach, Hamburg 2007; MED: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus. Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichtes. Lateinisch – deutsch, übers. u. m. e. Einl. hg.v. H. Paetzold, Hamburg 1983; MET: Metaphysica, Halle a. d. S. 71779. MED § CXIII.
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zumindest nicht immer hell durchschaubaren Affektivität zu belastbaren Urteilen zu kommen. Der Zweck allen ästhetischen Erkennens liegt darin, nicht nur eine bestimmungslogische Erkenntnisvollkommenheit zu erlangen, sondern diese Vollkommenheit auch im Bereich der Sinnlichkeit zu ermöglichen. Baumgarten bietet das folgende Beispiel, um seinem Programm im Unterschied zu der logischen Erkenntnis anschaulich Plausibilität zu verleihen: Man denke sich einen Marmorblock, aus dem der Bildhauer eine Kugel formen möchte. Diese Kugel kann nur dadurch geformt werden, dass der Bildhauer alles Material des Marmorblockes solange abträgt, bis die Kugel ihre Form sichtbar werden lässt. Dieser Vorgang der Abtragung von Überflüssigem kennzeichnet die logische, auf Bestimmtheit ausgerichtete Erkenntnis.³⁶ Baumgartens Verfahren der Ästhetik besteht darin, um im Bilde zu bleiben, sich jenem Material zuzuwenden, das durch die Formung der Kugel verloren gegangen ist. Anders als die logische Erkenntnis setzt also die Ästhetik nicht auf eine Durch-Bestimmtheit, sondern auf die Fülle der Merkmale, wie sie ein individuelles Sein auszeichnen. Dieses Individuelle ist immer über die ihr zuteil werdende Bestimmtheit, der gegenüber sie stets einen ontologischen Überschuss bewahrt, hinaus. Näherhin lässt sich dieser Überschuss so verstehen, dass eine Bestimmtheit des Individuums, die über logische Operationen erfolgt, einen Hiat in das Individuum hineinträgt, der das formallogisch am Individuum Bestimmte und das Individuelle, an dem diese Bestimmtheit ist, auseinandertreibt, eine Differenzsetzung, die sich gegenüber der Identifizierung des Individuellen anhaltend verspätet. Dieser Verspätung fallen nach Baumgarten etwa die Fülle der Merkmale oder deren Bedeutsamkeit zum Opfer, jene Elemente also, die als eine den Gegenstand auszeichnende Eigentümlichkeit anzusprechen sind. Durch Eigentümlichkeit wird der in Rede stehende Gegenstand ganz unabhängig davon geprägt, ob sich diese dann noch einmal in eine logische Bestimmtheit überführen lässt. In einem weiten Sinn ist hier also an Sachverhalte zu denken, die nicht in einer Wahr-falsch-Opposition aufgehen.³⁷ Final lassen sich zwei grundsätzliche Definitionen Baumgartens angeben, die einander auf den ersten Blick zu widersprechen scheinen: In der Metaphysik von 1739 heißt es: „Perfectio phaenomenon […] est pulcritudo“ (MET § 662). Anders hingegen lautet die Formulierung in der Ästhetik von 1750: „Aesthetices finis est perfectio co-
Ä § 560: „Ebenso brächtest du aus einem Marmor von unregelmäßiger Form keine Marmorkugel heraus, wenn nicht durch wenigstens soviel Einbuße an Material (nisi cum tanto saltim materiae detrimento), in welchem Maße sie der höhere Wert der Rundheit verlangen wird“. Cf. hier H. Paetzold: Ästhetik des deutschen Idealismus. Zur Idee ästhetischer Rationalität bei Baumgarten, Kant, Schelling, Hegel und Schopenhauer,Wiesbaden 1983, 17 f; D. Mirbach: Einführung. Zur fragmentarischen Ganzheit von Alexander Gottlieb Baumgartens ›Aesthetica‹ (1750/58), in: A. G. Baumgarten: Ästhetik. Lateinisch – deutsch, Bd. 1, übers., m. ein. Einf., Anm. u. Reg. hg.v. D. Mirbach, Hamburg 2007, LXIff; H. Adler: Die Prägnanz des Dunklen. Gnoseologie – Ästhetik – Geschichtsphilosophie bei Johann Gottfried Herder, Hamburg 1990, 4. Cf. Ä § 559.
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gnitionis sensitivae, qua talis […] Haec autem est pulcritudo“ (Ä § 14, Hhgn. v. Vf.). Der Widerspruch beider Aussagen kann so beschrieben werden, dass eine Vollkommenheit, die ihren Ort innerhalb des Phänomenbereichs hat, nicht zusammenstimmen mag mit jener Vollkommenheit, die ausschließlich mit jener Operation identifiziert ist, welche durch eine Erkenntnis innerhalb des Sensitiven erbracht wird. Damit scheint es möglich zu sein, eine Vollkommenheit anzunehmen, die sich ganz unabhängig von der Leistung des Subjekts dingfest machen lässt. Doch löst sich dieser Widerspruch, wenn wir in Rechnung stellen, dass es sich bei der phänomenalen Vollkommenheit keinesfalls um einen anderen Sachverhalt handeln kann als jenen, der durch die sensitive Kognitionsleistung des Subjekts erbracht wird. Baumgarten denkt den Ort des Schönen dort angesiedelt,wo Produktions- und Reproduktionsaspekte nicht miteinander in einen Gegensinn treten, sondern sich als ein identischer Vollzug gestalten. Damit ist – um das mit einem Vorblick auf Schleiermacher zu sagen – eine bemerkenswerte Justierung der Ästhetik vorgenommen. Baumgarten gelingt es nämlich einmal, den subjektivitätstheoretischen Bedingungen einer Ästhetik Rechnung zu tragen. Zugleich hindert ihn dies aber keineswegs daran, den metaphysischen Horizont der Vollkommenheitsästhetik beizubehalten und noch einmal neu ontologisch auszuwerten. Baumgarten hat die Vollkommenheit als ein zentrales metaphysisches Organisationsprinzip in Gebrauch, weil sie eine Vermittlung herzustellen vermag zwischen den Momenten und deren Einheitsgründung. Auf diesen Zusammenhang ist abschließend einzugehen. Das Vollkommene darf nicht als in Beziehung zu Anderem stehend gedacht werden. Es ist nur bei sich selbst und auch nur von sich selbst her. Daraus aber folgt dann auch, dass es nicht in eine Erscheinungsrelation eintreten kann, so als würde sich die Vollkommenheit in der Erscheinung darstellen. Das Verfahren der Ästhetik funktioniert vielmehr so, dass es vollkommenheitsbetroffene Momente abbildet, die zwar nicht in einer Darstellungsrelation zur Vollkommenheit stehen, sich aber dennoch in dieser gegründet wissen. Dass diese Vollkommenheiten sich gegründet wissen, darf aber nicht als ein Gedanke missverstanden werden, der nun die abgewiesene Darstellungsrelation in einer spekulativen Fassung wieder reinstalliert, sondern ist vielmehr eine Folge aus dem Verfahren der Ästhetik, das sich gegenüber der logischen Begriffsbestimmung abgrenzt.Wenn die Ästhetik nämlich den Verlust an deutbarem Material, der durch die logischen Begriffsbestimmungen verursacht wird, wieder rückgängig machen soll, indem sie auf eine möglichst hohe Materialfülle setzt, so muss dies nicht bedeuten, dass daraus eine Totalität der Unbestimmtheit folgen würde. Anders: Die deutbare Fülle des gewonnenen Materials darf nicht der Unbestimmbarkeit ausgesetzt werden. Hier tritt die Vollkommenheit ins Spiel, der die Funktion zukommt, Bestimmtheit nach ihrem unaufgebbaren Moment weiterhin zu bewahren.³⁸ Dieses Moment ist immer
MET § 94: „Si plura simul sumta vnius rationem sufficientem constituunt, consentivnt, consensus ipse est perfectio, et vnum, in quod consentitur, ratio perfectionis determinans (focus perfectionis)“.
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dann in Kraft, wenn konkret Bestimmtes abgerufen wird, aber das Unaufgebbarkeitsmoment ›Bestimmtheit‹ ist selbst nicht wieder ein solches Bestimmtes, sondern eben als das anzusprechen, woher Bestimmtheit ist. Damit ist zum Ausdruck gebracht, dass der Sachverhalt, durch den die Notwendigkeit von Bestimmtheit gekennzeichnet wird, nicht noch einmal in dem Sinne Bestimmtheit ist, wie diese von konkret Bestimmten ausgesagt zu werden pflegt. Baumgarten entzieht also das Material in seiner Fülle dem Zugriff begrifflicher Bestimmtheit, damit der künstlerische Schaffensprozess es sich zu eigen machen kann, und also ist die Kunst frei. Frei ist sie aber nur, indem sie sich dazu bestimmt weiß, Vollkommenheiten auszubilden, die auf das Vollkommene bezogen sind, ohne doch dessen unmittelbare Darstellung zu sein;³⁹ und insofern ist ›Bestimmtheit‹ über den Vollkommenheitsoperator in Baumgartens Ästhetik als ein unverzichtbares Aufbaumoment mitgeführt. Damit hat Baumgarten angestoßen, was von Kant weitergeführt werden sollte: die Integration von Bestimmtheit in den Bereich der Ästhetik. So heißt es dann auch bei Kant: „Das Wohlgefallen am Schönen muß von der Reflexion über einen Gegenstand, die zu irgendeinem Begriffe […] führt, abhängen“.⁴⁰ Kants bekannter Beitrag zur ästhetischen Debatte darf in einer konsequenten Autonomisierung des Geschmacksurteils gesehen werden. Allerdings kann nun nur noch in ans Paradoxon streifendem Duktus ausgesagt werden, was sich dem Zugriff begreifenden Denkens entzieht. Das Geschmacksurteil bestimmt das Objekt, an dem das Subjekt Gefallen findet, aber es nimmt diese Bestimmung vor, ohne dabei auf begriffliches Bestimmen zurückgreifen zu können,⁴¹ wodurch zugleich die dennoch mitlaufende Bestimmtheit nach innen gekehrt ist.⁴²
Im Hintergrund Baumgartens steht offensichtlich das Platonische Konzept der Vernunftseele, noetikón oder logistikón, wie es sich etwa in Staat, Timaios oder auch Phaidros findet. Sie hat die Funktion, das Muthafte (thymoeidés) oder Triebhafte (epithymetikón) zu regieren. I. Kant: Kritik der Urteilskraft, Stuttgart 1963 (zit. KU) § 4. KU § 9: „Nun bestimmt aber das Geschmacksurteil, unabhängig von Begriffen, das Objekt in Ansehung des Wohlgefallens und des Prädikats der Schönheit. Also kann jene subjektive Einheit des Verhältnisses sich nur durch Empfindung kenntlich machen. Die Belebung beider Vermögen (der Einbildungskraft und des Verstandes) zu unbestimmter, aber doch vermittelst des Anlasses der gegebenen Vorstellung, einhelliger Tätigkeit, derjenigen nämlich, die zu einem Erkenntnis überhaupt gehört, ist die Empfindung, deren allgemeine Mitteilbarkeit das Geschmacksurteil postuliert“. KU § 5: „[D]as Geschmacksurteil [ist] bloß kontemplativ, d. i. ein Urteil, welches, indifferent in Ansehung des Daseins eines Gegenstandes, nur seine Beschaffenheit mit dem Gefühl der Lust und Unlust zusammenhält. Aber diese Kontemplation selbst ist auch nicht auf Begriffe gerichtet“.
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4. Schleiermachers Vollzugsästhetik Schleiermacher⁴³ verbleibt hinsichtlich der metaphysischen Anlage seiner Ästhetik durchaus in den durch Baumgarten vorgezeichneten Bahnen, indem er über die Einheit-Mannigfaltigkeit-Dichotomie ein Residuum inventarisiert,⁴⁴ das den Ort anzugeben vermag, von dem her Bestimmtheit ist. Zugleich steigert er die am Gefühl und Geschmacksurteil gezeigte Autonomisierungstendenz in einer besonders eigenwilligen Weise, indem er seine Ästhetik gänzlich umstellt auf den Vollzug des Kunsthandelns. Die am Anderen ihrer selbst leerlaufende Produktionsintentionalität des Kunstvollzugs ist allein aus auf ihre eigene Initiative. Schleiermachers Ästhetik inszeniert somit die konsequente Negation alles dem Kunsthandeln Anderen und setzt auf reinen Vollzug, ohne dass diese Negation noch einmal umschlagen würde, um gleichsam an ihr selbst in neue Formationen übergehen zu können. Kunst ist der Vollzug reiner Produktivität, die einen Ursprung hat und im Vollzug alles tilgt, was durch den Ursprung nicht mit-gesetzt ist. „Ursprüngliche Genesis“⁴⁵ legt Schleiermacher als Terminus dessen fest, was durch die Kunst betrieben wird; und dadurch werden sowohl die subjektive Veranlagung als auch die Bezogenheit auf einen medialen Gegenstand der Kunsterzeugung noch einmal hintergangen auf den Ursprung allen Kunstgeschehens. Um diese Ursprungsgestalt reinen Vollzugs festzuhalten, eliminiert Schleiermacher durchaus auch die Handlungsaktivität als einer Leistung des Subjekts. Es ist nicht die kunstschaffende Aktivität des Künstlers, durch die ein Kunstwerk entsteht, sondern das Kunstschaffen geht gleichsam als bildender Vollzug durch den Künstler hindurch, um von diesem nur wahrgenommen und in eine bestimmte Form gebracht zu werden.⁴⁶ Am Exempel der erotischen Kunst kann Schleiermacher diesen Umstand bildhaft verdeutlichen, indem er den folgenden Gedankengang vorstellt. Die erotische Kunst, so fasst Schleiermacher einen klassischen Vorwurf gegen diese Kunstgestalt zusammen, habe die Tendenz, ein Festhalten am Sinnlichen zu affirmieren und damit die Erhebung zum Geistigen nachhaltig zu verstellen. „Diese Beschuldigung kann aber nur davon ausgehen, daß man von der Kunst verlangt, sie solle bestimmte religiöse oder sittliche Bewegungen erregen. Diese Wirkungen aber will sie nicht, und wenn sie hervorgebracht werden, so geschieht es nur zufällig“.⁴⁷ Dies hängt in der Hauptsache
F. D. E. Schleiermachers Werke werden folgendermaßen zitiert: CS: Die christliche Sitte nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, hg.v. L. Jonas, Berlin 1843; ÄBK: Ästhetik (1819/25). Über den Begriff der Kunst (1831/32), hg.v. Th. Lehnerer, Hamburg 1984. ÄBK 7: „Wir können in der Grenzbestimmung nur auf die bisherige vorläufige Art verfahren […] den Gegensatz von Einheit und Mannigfaltigkeit in der Kunst zum Hauptpunkt unserer Construction machend“. L. c. 15. L. c. 18: „Es singt […] in allen Menschen beständig, wie es in allen bildet“. L. c. 23.
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damit zusammen, dass Kunst darauf aus ist, ein Urbild zu präsentieren, eine Präsentation, die in der Darstellung nur einen untergeordneten Aspekt hat. Darstellung nämlich fixiert eine harte Relation zwischen sich und dem Urbild, eine Relation, die das Urbild entweder verschleiern würde oder, wollte man der Annahme Raum geben, dass das Urbild ohne Bedeutungsverlust in der Darstellung aufginge, nur innerhalb der Darstellung noch von der Darstellung des Urbildes redete, ohne zugleich belastbar die ›ursprüngliche Genesis‹ versichern zu können. Statt der ›Darstellung‹ ist es vielmehr die darstellungstheoretisch flexiblere ›Mitteilung‹, über die sich der Zusammenhang zwischen Urbild und Kunstproduktion erläutern lässt.Will die Kunst das Urbild darstellen, so ist diese Darstellung allein schon darum nur ein untergeordneter Modus, als diese Darstellung keinen Eindruck von dem Urbild vermitteln kann, wenn nicht zugleich die Gestimmtheit mitgeteilt wird, die zu diesem Urbild geführt hat. Im Falle der erotischen Kunst handelt es sich bei dieser Gestimmtheit um „die Freude an dem Erhaltungs- und Vereinigungstriebe, und wie er [sc. der Trieb] sich die Menschen zu Organen bildete“.⁴⁸ Damit wird deutlich, dass die in eine subjektive Mitteilung eingehende Urbildung selbst relational verfasst ist. Diese Relationalität besteht näherhin in dem Sachverhalt, dass das Urbild bildend reagiert auf eine Stimmung, eine gewissermaßen prärelationale Relation, die nicht in durch die Kunst gewirkter Darstellung zur Präsentation kommen kann.⁴⁹ Nur dann nämlich, wenn der Vollzug ganz sich selbst überlassen wird, kann ausgeschlossen werden, dass sich das Urspringen der Bilder mit paralysierender Negativität auflädt. Dem Urbild kann insofern Bestimmtheit nicht in dem Sinne zugesprochen werden, dass dieses nun als ein solches ins Bewusstsein zu treten vermöchte.⁵⁰ Eine nähere Kennzeichnung des Urbildes, so hatte sich schon angedeutet, kann nur geschehen, indem wir es fassen als Identität von Darstellung und Stimmung. Schon darum wäre es unangemessen, das Kunstwerk als eine Darstellung des Urbildes aufzufassen, wenn doch das Urbild diese Darstellung schon insofern ist, als es sich mit der Stimmung in einem identischen Zusammenhang befindet. Dieser Zusammenhang bringt Schleiermacher seiner finalen Bestimmung dessen näher, was er unter Kunst zu verstehen gewillt ist. Die Identität von Stimmung und Darstellung verschließt sich nämlich auch gegenüber einer Definition, die nun die Kunst mit der Stimmung identifizieren wollte. Eine solche Identifizierung ließe dem Moment der Darstellung keinen Raum, der Darstellung mithin, die Aufbaumoment jenes Urbildes ist, das noch vor seiner Darstellung durch die Kunst in einen identischen Vollzug mit der Stimmung gesetzt wurde.
L. c. 24. L. c. 23 f: „Die Darstellung ist nur Durchgangspunkt auf der einen Seite. Sie will das Urbild wiedergeben, und dieses, auch ein Moment, kann nicht mitgetheilt werden, wenn nicht auch das mitgetheilt wird, woraus es hervorgegangen ist. Das war aber nur die Stimmung, nicht das bestimmte Gefühl“. CS 546 (im Orig. hervorg.): „Das reine Kunstelement, als ursprünglicher Ausdrukk betrachtet, ist immer das unwillkührliche und zum großen Theile unbewußte“.
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Interessant nun ist das Verhältnis zwischen Kunst und Religion, das Schleiermacher beschreibt, indem er, um es mit seinem bekannten Satz zu sagen, die wahre Ausübung der Kunst für religiös erklärt. Doch wird diese partielle Gleichsetzung von Religion und Kunst erst sprechend, wenn der Gegensatz beider Bereiche herausgestellt ist. Anders: Die bekannte Gleichung von Religion und Kunst ist religionstheoretisch gerade darum interessant, weil Schleiermacher in diesem Zusammenhang deutlich heraushebt, welcher Unterschied zwischen religiösem und künstlerischem Weltzugang besteht. Nur dann nämlich, wenn dieser Unterschied konsequent beachtet wird, kann sich ein belebendes Zusammenspiel zwischen Kunst und Religion ergeben, ein Zusammenspiel, das dann ermöglicht, auch der Aussage von der Gleichheit zwischen Religion und Kunst eine religionstheoretische Pointe abzugewinnen. Auszugehen ist bei der in Rede stehenden Verhältnisbestimmung vom „Religiösen an sich“. ⁵¹ Eine An-sich-Bestimmtheit des Religiösen lässt sich näherhin fassen, indem eine Affektlage innerhalb des religiösen Subjektes angegeben wird, die es erlaubt, von einem auf Dauer gestellten Vollzug zu sprechen, der durch religiöse oder religionsaffine Stimmungen emporgetrieben wird.⁵² Religion aber, die in solchen Stimmungen oder Gefühlen ihr Aufbaumoment hat, ist nicht denkbar ohne sehr konkrete Inhaltsbestimmtheiten, die durch das Dogma bereitgestellt werden. Eine religiöse Gestimmtheit, die transzendental durch das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl seine Beschreibung findet, trägt sich immer an konkreten Bestimmtheiten aus, so dass sich das religiöse Gefühl gleichsam abhängig fühlt, indem es den reflexiven Fokus auf jeweils unterschiedliche Glaubensaussagen richtet, die in der Dogmatik versammelt sind. Entscheidend ist nun, dass dadurch die religiöse Gestimmtheit kontinuierlich einen Zustand streift, der als gegenständliche Bestimmtheit einer reinen Gefühlsdimension entgegensteht.⁵³ Das religiöse Gefühl hat also eine in ihm selbst angelegte Urverwandtschaft mit bestimmendem Denken, weil es sich nur so in eine unmittelbare Nähe zu den dogmatischen Bestimmtheiten seiner konkreten Religionsgemeinschaft bringen kann. Und genau hier schlägt sich die Kunst als Gegensatzfigur ins Mittel, weil sie „als freie Production dem objectiven Denken am meisten gegenüber[tritt]“.⁵⁴ Die kunstschaffende Eigentlichkeit ist also nach dem Sachverhalt ›Produktion‹ zu rekonstruieren, dies aber so, dass sich diese Produktion als aus der Urbild-Gestimmtheit zeugender Vollzug stets über die konkreten Bestimmtheits-Erzeugnisse unbestimmtbestimmend lagert. Die Kunst hat insofern bei Schleiermacher den in der Aufklärung angelegten Prozess einer Emanzipation des Gefühls ins Extrem getrieben, als sie auf dem Unbestimmtheitsmoment in nachgerade polemischer Weise beharrt und den Vollzug der Kunstproduktion als einen notwendigen Angriff auf Bestimmtheit versteht, eine Be ÄBK 22. Ibid.: „Die Permanenz des religiösen Gefühls ist die Stimmung“. ÄBK 23: „Die Reflexion im Dogma nähert das Gefühl wieder dem Denken, weil sie Denken über das Gefühl ist“. Ibid.
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stimmtheit mithin, die sich als das Einzelne nicht zu behaupten vermag, da sie solchermaßen der unkontrollierbaren Fremdbestimmung durch alles diesem Einzelnen Andere ausgesetzt wäre.⁵⁵ Gleichwohl produziert die Kunst Einzelnes, aber unter der Perspektive des entwickelten Gedankengangs kann von Einzelnem nur noch die Rede sein genau dann, wenn dieses sich zum „Symbol des Absoluten“ bestimmt.⁵⁶ Die Wirklichkeit als eine durch Bestimmtheit dingfest gemachte Zeitlängung vermag das „Ideal“ menschlicher Existenz nie rein und unverstellt heraustreten zu lassen.⁵⁷ Um das Urbild also und das Absolute oder, weicher gesprochen, um den Menschen und seinen Gottesbezug breitet sich die Widerständigkeit einer Wirklichkeit, mit der es nur die Kunst aufzunehmen vermag. Dies kann die Kunst aber nur,wenn sie darauf verzichtet, sich mit dem Wirklichen gemein zu machen, um stattdessen „Ergänzung der Wirklichkeit“ zu werden.⁵⁸ Was aber Ergänzung der Wirklichkeit ist, muss von allen Bestimmtheitsmomenten, denn anders ist nicht Wirklichkeit, frei sein; und so ist es „unmittelbare Production des Absoluten“.⁵⁹ Nur als reine Produktion vermag Kunst zum Absoluten in einen Unmittelbarkeitsbezug zu treten. Und nur weil dieser Vollzug unmittelbar ist, kann er überhaupt absolutheitsbetroffen sein. Schleiermacher hatte mit seiner These von der Kunst als einer Ergänzung des Wirklichen und der Umstellung auf die reine Vitalität des Produzierens Nachfolger: So polemisiert F. Nietzsche gegen partikularistische Tendenzen einer Kunst der Erholung, B. Croce stellt die These auf, der Geist würde nur dadurch intuitiv erkennen, dass er schöpferisch ist, und R. Ingarden setzt unmittelbar auf die Ursprungsemotion des ersten Eindrucks. Bei G. Lukács endlich wird die ganze Ästhetik zu einer grundsätzlichen Frage an die den Menschen umgebende Wirklichkeit, ob diese Wirklichkeit der Eigentlichkeit des Menschen entspreche.
L. c. 24 (Hhgn. v. Vf.): „Im Leben will uns überall das Einzelne als solches festhalten. Gegen diese Ansicht muß die Kunst polemisiren, weil ihr sonst die symbolische Würde des Einzelnen verloren geht“. L. c. 41. L. c. 33. Ibid. (Hhg. v. Vf.). ÄBK 41.
Christian Senkel / Halle (Saale)
Die Macht der Phantasie und der theologische Diskurs Der von Schleiermacher wesentlich mitgeprägte „ästhetische Protestantismus“¹ bezeichnet, in der Aufklärung wurzelnd, mit der Romantik den Anfang der Moderne. Die ästhetische Bewegung um 1800 formt religiös präfigurierte Vorstellungen vom Schönen und der Seele, die mit hohen Sinnerwartungen verbunden sind. Es kommt zu Veränderungen gegenüber dem Zeitalter der Vernunft. Die Romantik vertieft die rationale Psychologie durch ihre das Seelische zerwühlenden Pathologien, durchkreuzt die Vermögenslehre durch Übersteigerung ihrer Elemente und erschüttert aufgeklärte und Kantische Ästhetik durch schlechthin Unschönes – durch eine chaosnahe Naturauffassung und ein reflexives Kunsterhabenes. Phantasie und Religion haben an alledem Anteil, als rotierende Signifikanten in einer neuen Terminologie, und als einander auffangende Medien zur Darstellung einer brüchig werdenden Wirklichkeit. Meine Erörterung dieser Zusammenhänge anhand des Phantasiebegriffs versteht sich als Beitrag zur Erkundung von Schleiermachers romantischem Milieu. Die folgenden Überlegungen bestehen aus vier Kapiteln. Im ersten Kapitel wird der Ort der Phantasie in der Romantik bestimmt; ich gehe darin induktiv vor und komme daher erst zuletzt ausdrücklich auf Religion zu sprechen. Kapitel zwei bis vier gehen exemplarisch-zitierend an jenen romantischen Peripherien von Vernunft und Aufklärung entlang, an denen Phantasie und Religion einander finden. Ein Schluss entfällt, da der Versuch einer impliziten Theologie romantischer Literatur bis auf weiteres offen bleiben muss.
1. Wissen, Phantasie, Religion und das Zeitalter der Romantik a) Wissen als Macht über Phantasie. – In heutigen Wissenschaftssystematiken, die sich kriteriologisch an Bewusstseinsstrukturen oder an der Tatsachenwelt orientieren, ist Phantasie verdächtig. Mit ihr wird ein mehr oder weniger kreativer Bewusstseinsstrom denotiert, der, da nicht jedermann zur Verfügung stehend, als nicht verallgemeinerbar gilt. Ein phantasierendes Bewusstsein scheint kognitiv unscharf, weil mit unüberprüfbaren Prämissen arbeitend. Anders als die sich auf ihren Grund beziehende Vernunft steht die Phantasie womöglich nicht auf einem zweifelsfreien Fundament. Markus Buntfuß: Ästhetischer Protestantismus. Auch eine Umformung des neuzeitlichen Christentums, in: Christian Senkel (Hg.): Geistes Gegenwart. Die religiöse Grundierung der Lebenswelt, Hermann Timm zum 21.5. 2013, Theologie – Kultur – Hermeneutik Bd. 18, hg. von Stefan Beyerle, Matthias Petzoldt und Michael Roth, Leipzig 2016, 13 – 28. DOI 10.1515/9783110464573-031
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Diese und ähnliche Versionen desselben Verdachts führen im besten Fall zur funktionalen Anerkennung von Phantasie. Sie gilt dann in der Kunst und deren kulturellem Umfeld als produktiv und kommunizierbar, soll aber nicht mit anderen rationalen Feldern oder anderen Vermögen vermischt werden. Andernfalls seien Fehlfunktionen wie eine Verwechslung von Tatsachen und Fiktionen oder eine Verkehrung in der wissenschaftlichen Systematik zu erwarten. Infolge dieser bis heute auch geisteswissenschaftlich akzeptierten Konvention fristet die Phantasie als unzuverlässige Quelle von Einfällen ein Dasein am Rand der Diskursordnung; dort begegnet sie der aus den Wissenschaften lange verbannten rhetorischen inventio und der teils aus der Hermeneutik, teils aus dem Poststrukturalismus abkünftigen, buntscheckigen, als intellektuelle Bohème-Erscheinung gelittenen Fiktionalität. Im Zentrum des Diskurses steht jene so wenig wie diese beiden es tun; man muss aber nicht im Mittelpunkt stehen, um sexy zu sein. Im 20. Jahrhundert ist die im Namen einer Logik der Forschung sowie im Zeichen sozialer und kultureller Dysfunktionalität erfolgende Ausgrenzung der Phantasie aus Wissen und Erkennen, Handeln und Erfahren Tenor. Dieser Ausgrenzung begegnen Umwertungen durch Kulturwissenschaften und empirische Anthropologie. Vor allem aber ist in Erkenntnis der Bedingungen wissenschaftlicher Paradigmenwechsel und noch mehr angesichts der epistemischen und praktischen Gefahren eines Methodenzwangs die Reversibilität wissenschaftlicher Gewissheiten in Blick genommen worden. Man hat sie von Positionen aus erörtert, die dem herrschenden Wissen als das jeweils Ephemere gegolten haben. Dadurch hat die Phantasie einen gewissen theoretischen und praktischen Rang erhalten, ohne dass dieser genau bestimmt worden wäre. Die revolutionäre Gärung um 1968 und die Ökologiebewegung haben die Zweifel am Herrschaftsdiskurs in die Öffentlichkeit getragen und dabei durch verstärkende Sprecher Phantasie als Instrument des Protests gegen eine Unrechtsherrschaft über Mitmensch und Natur beansprucht. So schien sich eine kulturelle und kognitive Wiederkehr der Phantasie in politischen Bahnen anzukündigen. Von der Epoche der Romantik als Ressource solchen Protests war man indes ebenso weit entfernt wie von der Einsicht in die Eigenständigkeit der Phantasie. b) Zur Genealogie der Phantasie. – Will man eine Wiederkehr der Phantasie behaupten, so ist ein Ort anzugeben,von dem sie wiederkehrt, und einer, an den sie fest und gewiss gehört. Die Gefahr eines solchen Verfahrens liegt darin, im Namen der Phantasie eine Entgegensetzung zu konstruieren, der die Logik der Forschung oder ein höheres Wissen unschwer eine die Phantasie von Neuem marginalisierende Synthese aufnötigen können. Außerdem würde dann im Rekurs auf Phantasie ein Methodenzwang eigener Art konstruiert.Wissen ist immer Macht. Aussichtsreicher erscheint daher eine relationale Annäherung an die Phantasie, indem man Zuschreibungen der Randständigkeit von Phantasie und ihrer verborgenen Zentralität bzw. ihrer anarchischen Beweglichkeit aufeinander bezieht. Diese Aufgabe ist bisher ungelöst. Während eine Logik der Gefühle durch transzendentale und empirische Bewusstseinstheorie sowie durch die Kulturwissen-
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schaften diskutabel geworden ist, macht man sich mit der Phantasie bislang weniger Mühe. Sie taucht als Element der Neuformung von Wissen, Kunst und Religion seit dem 18. Jahrhundert in historisch-philologischen Erklärungen zu dieser Ära auf. Allerdings gilt die Zeit um 1800 teils als Quelle heutigen Denkens, teils wird sie in einer delegitimierenden Gegenbewegung historisiert, was einen normativen Zug in alle Rekurse bringt. Schwierig ist auch, dass das Wissen für eine Genealogie der Phantasie vielfach in Nischen entsteht. Festgefahrene Sichtweisen auf das im 18. Jahrhundert konstellativ Neue werden meist nur mithilfe von Spezialforschung und in geringer Rezeptionsweite durchbrochen. Exemplarisch könnte man diesen Umstand an Friedrich Gottlieb Klopstocks literarischer und poetologischer Stellung zur Phantasie und ihrer Bedeutung für zeitgenössische Ästhetiken und Religionstheologien erörtern.² Unter anderen wissenschaftssystematischen Umständen wäre es einfach, poetiko-theologisch zur Genealogie der Phantasie beizutragen, unmöglich ist es indes nicht. c) Die Macht der Phantasie. – 1979 hat Ernesto Grassi den intellektuellen und kulturellen Bedeutungsverlust von Phantasie in Die Macht der Phantasie. Zur Geschichte abendländischen Denkens kommentiert. Ausgehend vom Schwinden der Gründungsmacht von Phantasie zeigt Grassi anhand rhetorischer Tradition, mittelalterlicher Bildtheologie und althumanistischer Grammatik – mit Akzenten auf Latini, Alighieri und Landino – wie Philosophie und Philologie Italiens ganz selbstverständlich kognitive, ethische und ästhetische Funktionen der Phantasie entfalten.³ Diese Tradition wird aus verschiedenen Gründen unterbrochen, ideengeschichtlich seit Descartes. Grassi zufolge wandern jene Traditionen im 18. Jahrhundert in die deutsche Intellektualität ein, wo sie im Idealismus gipfeln, aber auch verkürzt werden. Die weitere Geschichte des abendländischen Denkens verläuft weithin unter Ausgrenzung von Phantasie.⁴ Neben einer intellektualgeschichtlichen Richtigstellung zielt Grassi auf die realkulturellen Folgen dieser Verkürzung. So votiert er gegen das seit dem 19. Jahrhundert ausgreifende Paradigma eines überindividuellen Allgemeinen zugunsten von Individualität in Sprache und Weltumgang.⁵ An diesem Ort steht die Phantasie, aber sie steht nicht als Antwort bereit, sondern als Frage im Raum. Die Antwort wird aus den
Christian Senkel: Ästhetik der Aufklärung in theologischer Perspektive, in: Carl Philipp Emanuel Bach im Spannungsfeld zwischen Tradition und Aufbruch, Beiträge der interdisziplinären Tagung anläßlich des 300. Geburtstages von Carl Philipp Emanuel Bach vom 6. bis 8. März 2014 in Leipzig, hg. von Christine Blanken und Wolfram Enßlin, Leipziger Beiträge zur Bachforschung, Leipzig und Hildesheim 2016, 53 – 77. Ernesto Grassi: Die Macht der Phantasie. Zur Geschichte abendländischen Denkens, Frankfurt am Main 1979, programmatisch XIII-XIX. Grassi: Die Machte der Phantasie, 3 – 7.28 – 31.175 ff. u. ö. Dieses Votum ist überall sprachtheoretisch bzw. hermeneutisch formuliert.Vgl. Grassi: Die Macht der Phantasie, 89 – 96.192– 196 u.v.ö.
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genannten Überlieferungen und Mangelanalysen sowie in konzentrierten „Aufzeichnungen“ erschlossen, die einer Memoria-Kultur verpflichtet sind. Es ist merkwürdig, dass Grassi angesichts dieser Interessenlage kaum an der Romantik interessiert scheint. Auch die Thematisierung von Hamanns und Herders sensualistisch-metaphorischem Sprachverständnis führt ihn dort nicht hin. Drei Impulse aus seiner kritischen Bergung der Phantasie verweisen jedoch auf deren romantische Entfaltung: Das Bildhafte der Phantasie verwirrt Ordnungen. Doch darin liegt weniger Bedrohung als Gewinn. In der Metapher wurzelnd kann das Bildhafte Peripherie jener Rationalität sein, die allein in Ordnung scheint, indem sie auf Bilder verzichtend diskursiv Macht ausübt. Das abendländische Denken erscheint so als Geschichte eines permanenten, immer von neuem notwendigen Verdrängens und Verstoßens von Phantasie, die den ratlosen Verstand mit Bildern aus dem Leben anspringen will – ein praktisch folgenreiches Verdrängen also.⁶ Diese Konstellation führt zur epistemischen Frage, ob eine einzelne Form des Logischen über sprachliche Präzision bestimmen könne. Grassi verneint diese Frage unter Hinweis auf eine Selbstblockade rationalistischer Tradition. Diese sei entgegen aufgeklärtem Eigeninteresse gehemmt, Sprache als ebenso individualisierende wie verallgemeinernde Potenz zu verstehen. Gegen die kulturelle und soziale Durchsetzung des verallgemeinernden Zuges mahnt Grassi die Phantasie als verkannte Macht von Individualisierung an.⁷ Die Mächtigkeit zur Steuerung von Phantasie schreibt Grassi den Dichtern und Künstlern zu. Sie garantieren einen präzisen Umgang damit. Doch im Unterschied zum Modell der funktionalen Einhegung (1.a) dominiert hier die rhetorische Auffassung, Phantasie sei gesellschaftsgründend. Wie wenig nostalgisch dieser Gedanke ist, zeigt seine Verknüpfung mit dem individualisierenden Zug von Sprache. Infolge dieser Verknüpfung gewinnt die Sprache ästhetische Macht in realen Kultursphären wie Politik, Wissen, Religion.⁸ d) Phantasie und Romantik. – Romantik ist Protest der Phantasie gegen Hegemonialansprüche, ein Protest, der Hybridbildungen von Kunst und Religion entstehen lässt. Als Ästhetisierung religiöser Perspektiven und als Sakralisierung ästhetischer Verfahren durchkreuzen diese Hybride herkömmliche Ordnungen. Man kann diesen Vorgang als Autonomisierung beschreiben, solange deutlich bleibt, dass romantisch die Interrelationalität von Kunst, Religion und Anderem bedeutsamer als ihre Eigengesetzlichkeit ist. Denn nicht zufällig wird Religion unter ästhetischen Vorzeichen als „Begleitmusik“ des Lebens entworfen, nicht zufällig entstehen Kunst als Kritik und Kritik als Kunst. Auch die Reflexionsgestalten von Kunst und Religion, Ästhetik und Vgl. als Problemanzeige Grassi: Die Macht der Phantasie, 23 – 47. Grassi behauptet dies nicht nur diskursiv, er zeigt es mittels „Aufzeichnungen“, welche exkursartig das diskursive Material meditieren. Grassi: Die Macht der Phantasie, 36 ff.83 ff, mit Bezug auf Vico 239 – 253.
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Theologie, verflüssigen ihre bis dato angenommene Struktur. Die Phantasie hält dieses Zwischen-Sein (Interrelationalität) in Bewegung und in der Schwebe. Konvergenzen mit Grassis Ermittlungen bestehen auf allen Ebenen: Die Romantik zeigt und irritiert Ordnungen durch die Macht von Bildern. So verselbständigt sich in Ludwig Tiecks Der Runenberg (1804) aus der Sehnsucht nach einer anderen Welt eine solche. Darauf verweist die doppeldeutige ‚Rune‘, die Chiffre, aber auch Alraune bedeutet. Sie verkörpert jeweils (unterschiedlich) die Unzugänglichkeit der Natur für die Sehnsucht nach dem Anderen. Wegen dieser Unzugänglichkeit gerät der Protagonist in einen tödlichen Konflikt zwischen dem nächtlichen Runenberg und der Tagwelt bürgerlichen Glücks. Er wähnt im stillgelegten Bergwerk die Welt in den Schätzen der Erde schlechthin lesbar, wühlt indes nur im Dreck; die gegen die ihn liebende Gattin eingetauschte magische Geliebte entpuppt sich als Waldweib. Ungezügelt führt die Macht der Phantasie hier in die Katastrophe, doch die Katastrophe ist auch eine des bürgerlichen Lebens, das sich Sehnsucht entweder ganz verbietet oder ihre Erfüllung allein im geschürften Gold wiedererkennt. Die Phantasie wirkt zwar die Ohnmacht des Protagonisten, doch elementare Metaphern legen bestehende Ordnungen dar und klären Verhältnisse.⁹ Die klärenden Bilder sind ein Kennzeichen romantischer Phantasie. Der von Grassi als Urfaktum ‚kündender‘ Sprache angelegte individualisierende Zug der Poesie ist jedoch deren allgemeines Prädikat. Nicht die Romantik als solche hat hierauf Anspruch, gleichwohl darf sie ihn erheben.¹⁰ Dazu eine Erinnerung an romantische Wissensformen: Romantik ist besonders bei den Brüdern Schlegel die philologisch unterfütterte Suche nach dem Romantischen. Beide erwarten dieses aus literatur- und sprachvergleichenden Studien. Die Individualität von Literatur soll Aufschluss über die Individualität von Sprachen (Idiomen) geben, beide zusammen geben Aufschluss über das Universum, das sich im Humanum bildet.¹¹ So tritt sprachliche Individualität in eine Erkenntnisfunktion ein, die philologische Route führt zur Philosophie. Mit dieser Route zu rechnen, beruht auf Konjektur anhand der romanischen Literatur (Dante, Cervantes, Calderon) und der Gattung des Romans, die jeweils Überzeu-
In diesem wie anderen Kunstmärchen. Ein anderes Muster für diese Macht der Bilder ist Wilhelm Hauffs Das kalte Herz (1824). Hier konfrontiert die aus dem Alten Testament zitierte Metaphorik vom fleischernen und steinernen Herz eine affektiv-ethische Lebensführung mit kapitalistischer Indolenz. Die Metapher wird in der Erzählung ‚schriftgemäß‘ ausgelegt: als Fleisch der Humanität und als transplantierter Inbegriff steinharter Geldbestimmtheit. Der Konflikt wird als übermoralische Entscheidung zwischen Lebensformen disponiert. Künstlernovellen stellen die Phantasie als ambivalente Tätigkeit dar und fiktive Rahmengespräche in Erzählungssammlungen erörtern Inventivität und Obsessivität der Phantasie. Ich komme darauf zurück. Vgl. als forschungsgeschichtlichen Marker Manfred Frank: Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und –interpretation nach Schleiermacher, Frankfurt am Main 1977. Bei Friedrich Schlegel verkörpern die Athenäums-Fragmente und das Gespräch über die Poesie diese Gedankenflucht, bei August Wilhelm Schlegel sind es die frühen Vorlesungen, gehalten in Jena und Berlin: Über philosophische Kunstlehre, die Enzyklopädie-Vorlesung und Über schöne Literatur und Kunst.
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gungsgebilde, Zeitgeist oder Entwicklungsgesetze individualisieren. So bemessen die Schlegels das kognitive Potenzial der Phantasie an sprachlicher Individualität. Erkennbar will die Romantik keine weltabgewandte Sondergemeinschaft sein. „Die Welt muß romantisiert werden“, so Hardenberg.¹² Die Tätigkeit der Phantasie ergreift in ihrer selbstreflexiv-poetologischen Bewegung Weltliches, sie bewegt Wissen, Politik und Christentum. Die Romantiker wissen um die oratorische Macht zur Weltgestaltung: „Die Rede erfordert, wie der Gesang, einen ganz andern Text, als die Schrift. Zwischen Musik und Schrift steht Rede.“¹³ Freilich fehlt für bewegende Rede, wie zeitgleich vom jungen Hegel konstatiert,¹⁴ die Bühne: Schleiermacher hat als Kanzelredner und als religiöser Redenschreiber noch die bestmögliche. Das Oratorische der Poesie ist in der Romantik gebrochen.¹⁵ Es ist nicht mehr wie bei Klopstock als unmittelbares Erscheinen in der Öffentlichkeit denkbar, doch wird sein Schwinden verzeichnet, es erscheint literarisch in Negationsfiguren oratorischer Gründungsmacht. Diese Figuren reichen von der verfolgten Unschuld des konfliktlösenden Wortes bis zur dämonischen Fratze der Manipulation.¹⁶ Unheimlich-anziehend, weil in ihrer Divergenz aus demselben Medium phantasiert wie Wahrheit und Kritik, aus der Sprache, stellen die Figuren das Aufgebot gegen eine Rationalität, die Lösungen für das Meiste zu haben meint. Erinnerung, Wehmut, Mahnung und Sehnsucht weisen einen Ort, an dem sie schlechterdings die Peripherie des Rationalen bilden. Dieser Ort heißt Phantasie. e) An den Peripherien der Vernunft. Romantische Aufklärungspotenziale. – Die Genealogie der Phantasie fördert ein romantisches Aufklärungspotential zu Ästhetik und Religion zutage, das die Aufklärung selbst nicht bieten kann. Die Beschreibung von zentralen und peripheren Elementen soll dazu verhelfen, traditionelle Entgegensetzungen zum Romantischen und der Romantik zu Anderem neu zu sehen. Sie lässt eine Romantik erscheinen, mit der man nicht rechnet. Egon Friedell, über Novalis promoviert, bezeichnet die Romantik als „Maskenball, auf dem sich extreme Rationalisten als Irrationalisten verkleiden“.¹⁷ Etwas entschärft könnte man also sagen, die Romantik habe eine untergründige, teils an literarischen Oberflächen geleugnete, teils auch erst in Rezeptionen gekappte Verbindung zur Aufklärung. Friedells Urteil enthält eine interessante, übertragbare Befreiung von Stereotypen. So sollte etwa die lang-
Fragmente und Studien 1797– 1798 Nr. 37, Novalis Werke, hg. und komm. von Gerhard Schulz, Studienausgabe, München 31987, 384 f. Ich zitiere künftig Novalis als Sigle NW. Fragmente und Studien bis 1797 Nr. 67, NW, 314. Vgl. z. B. in den Bemerkungen zum Unterschied zwischen griechischer Phantasie- und christlicher positiver Religion. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Frühe Schriften. Werke I, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1986, 202– 210. Die englische Romantik bewahrt das oratorische Element in ihren balladesken Formen deutlicher. Außerdem sind die politischen Kontexte englischer Literaten von gelebter Rhetorik geprägt. Einige Figuren behandle ich unter 2. Egon Friedell: Kulturgeschichte der Neuzeit (zuerst 1927– 1931), 2 Bde., München 101993, 899.
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lebige Annahme, Romantik sei katholisierend, reaktionär und effeminiert (also nichtprotestantisch, nichtfortschrittlich und nichtmännlich)¹⁸ weder kritiklos fortgesetzt noch unter Aufweis ihres Gegenteils widerlegt werden. Vielmehr wäre zu fragen, ob Romantiker Gründe für eine Selbst-Peripherisierung hatten, wie sie mit den genannten Prädikaten seinerzeit (und noch lange) verbunden ist. Gleiches gilt für Friedells Neubewertung des Rationalen der Romantik. Da die Romantiker ihr poetisches Tun reflektieren, kann aus Novalis’ Fragment zum Romantisieren der Eindruck entstehen, das Romantische sei verfahrenslogisch rationalisierbar. Maskierter Rationalismus oder rationalistische Maske? Die Frage muss nicht beantwortet werden, solange sie auf die Tätigkeit der Phantasie aufmerksam macht und, was diese anzieht und abstößt, als Aufklärungspotenzial in Schwingung hält. f) Religion und Phantasie. – Religion und Phantasie beschreiben einander peripherisierend. Die Frühromantik entdeckt Religion als das Subjektive im Christentum, als Ausdruckskraft, die durch Hegemonien bedroht wird (Metaphysik, Moral). Für diese stehen verschiedene Akteure und Agenturen, unter ihnen gewiss nicht nur Voltaires ‚infame‘ Kirche. Im Gegenteil erscheint die Gefährdung des Katholizismus durch das revolutionäre und napoleonische Frankreich als Herrschaftswechsel. Der exotisch gemachte ‚Bürger Papst‘ weckt im Exil Empathie und Sympathie wie heute der Dalai Lama. So steigert das Maß der Entdeckerfreude an der Religion deren Ausdruckskraft als peripherisierte Lebensform. Die intrinsische Glaubensüberzeugung bleibt von der Operation des Romantisierens unterschieden, die durch Phantasie der Religion die poetologische „Potenz“ entlockt.¹⁹ In der Perspektive der Phantasie stellt sich Religion insofern als etwas dar, das vor Bedrohungen gerettet werden sollte, das in dieser Bergung aber auch genutzt werden kann. Diese Nutznießung verfährt sehr frei gegenüber Ursprungskontexten. Damit ist die andere Seite des Verhältnisses angesprochen. In der Wahrnehmung derer, die von Bildern des Nichtvernünftigen angesprungen werden und diese ausdrücken, die das Spreizen von Individuellem und Allgemeinem in der Sprache ertragen oder die Hemmnisse oratorischer Macht in Kippfiguren umsetzen, ist Phantasie gänzlich unbeliebig. Sie muss ertragen werden. Wo Vernunft immer mehr die bloße Anpassung an Regeln bedeutet, wird die Phantasie zum ontologisch und epistemologisch prekären Zustand schlechthin (schweben). Angesichts dieser Verhältnisse vermag Religion in die Heimsuchungen der Phantasie einzugreifen. Hamann hatte es mit einer Hyperbel so ausgedrückt: „Das Genie ist eine Dornenkrone, und der Ge-
Vgl. bereits Hermann Timm: Die heilige Revolution. Schleiermacher – Novalis – Friedrich Schlegel, Frankfurt am Main 1978, 11– 22. Die breite Rezeption diskurstheoretischer Perspektiven seitens der Literaturwissenschaft bestätigt die Vermutung vorsätzlich peripherer Selbstthematisierungen durch Romantiker. Fragmente und Studien 1797– 1798 Nr. 37, NW, 384 f.
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schmack ein Purpurmantel, der einen zerfleischten Rücken deckt.“²⁰ Die Sprache des Glaubens ermöglicht der romantischen Phantasie eine Solidarität im Peripheren und Peripherisierten. So wird nicht nur Religion durch Phantasie ‚gerettet‘, Religion gibt der gelebten Phantasie auch Halt und Fokus. Das Bündnis von Religion und Phantasie sucht die Wahrheit des Peripheren. Diese Suche folgt keinem Master-Plan und keiner bündelnden Theorie. Sie ist poetische Praxis, die sich permanent und poetologisch reflektiert. So zielen Kunst und Religion im Modus der Unterscheidung von Wissen und Handeln auf deren Subversion. Dabei kann Religion Instrument der Phantasie sein und davon profitieren oder dabei verlieren. Sie kann die Phantasie auch absorbieren und triumphieren lassen oder ihre Ambivalenzen aufzeichnen. Nichts steht ganz und gar fest. Ist die Wahrheit in Bewegung, kommt sie von den Rändern her, so bedarf sie des Fundaments nicht, sondern des Treibstoffs von Phantasie und Religion.
2. Romantische Nacht als periphere Metaphorik Romantik ist eine Tätigkeit, als Romantisieren, weshalb ich versuche, Phantasie, Poesie und Religion dem entsprechend darzustellen. Das Handeln von Texten kann durch jene Züge einer Sprache der Phantasie umrissen werden, die sich, von Grassi ausgehend, auch für die Romantik haben feststellen lassen: das bildhafte Übertragen, die Vereinzelung des Ausdrucks, die (Kipp)Figuren oratorischer Macht. Ich setze dabei auf eine herausragende Metapher der Romantik: auf die Nacht. Ihre Lichtverhältnisse bestimmen die Erörterung von Texten Hardenbergs, Schleiermachers, des pseudonymen Bonaventura und Hoffmanns. a) Exemplarische Metapher. Nacht als Inbegriff des romantisch Peripheren. – Mit jeder Festlegung einer Epoche auf ein Bild, eine Parole oder ein Emblem produziert man eine Halbwahrheit. Dennoch führen manche Spuren einer Epoche zu deren Anliegen, so auch die romantische Nacht. Gegenüber der Metaphorik des Aufklärens stellt die Nacht ein peripheres Bild dar. Für die Aufklärung ist Nacht ein Dunkel des Unwissens, das im Sehstrahl der Vernunft verschwindet.²¹ Die Aufklärung bringt Heroen des Lichts hervor, Kämpfer gegen klerikale oder politische Dunkelmänner, die die Menschheit mit Verblendung bedrohen.²² Die Phantasie kann dabei zwar Substrat minderer Er-
Johann Georg Hamann: Briefwechsel, Zweiter Band, 1760 – 1769, hg.von W. Ziesemer und A. Henkel, Wiesbaden 21988, 157. Wie weit und gekrümmt der Weg vom Licht als Metapher der Wahrheit zum forschenden Sehstrahl des Aufklärens ist, ist durch Hans Blumenbergs Metaphorologie bekannt geworden. Die Trübung des Sehens gehört durch Descartes’ Vernunftdiskurs zur Wahrheitsmetaphorik. Die Rhetorik der Aufklärung, die es, bei allem Universalisieren des Vernunftsdiskurses eben doch gegeben hat, wird exemplarisch in einer Ode greifbar, die der dänische Oberhofprediger und Klopstock-Freund Johann Andreas Cramer verfasst hat. Darin wird Luther zum aufgeklärten Freiheitskämpfer verklärt, der
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kenntnis sein, sie gilt aber auch als Störenfried. Im Gegenzug entdeckt die Romantik die Phantasie als Zeugin für Verluste beim Aufklären und sie entdeckt die Nacht als Pendant zur Bildwelt des Aufklärens. In dieser kontrastiven Metaphorik findet sich durch die Aufklärung ortlos Gewordenes ein, an die Peripherie driftend. Von ihr aus kommt Bewegung ins Ganze. Die Nacht ist in dieser Hinsicht von einiger Varietät. Sie kann das komplementäre Gegenüber des Lichts oder aber finstere Negativität bedeuten, sie kann Kehrseite des Üblichen, Gewohnten, Banalen sein oder das Geheimnis des Tages schlechthin. Ebenso perspektivisch erscheinen Vernunft und Aufklären. b) Hardenbergs Phantasien über Religion. – Besonders Novalis entfaltet eine Bildwelt, die von der Metapher der Nacht ausgeht und dadurch viel vermeintlich Irrationales resorbiert. Diese Bildwelt verhält sich komplex zu Aufklärung und Rationalität. Fündig wird man dazu in Die Christenheit oder Europa (1799) und Hymnen an die Nacht (1799 – 1800). Die Hymnen sind später als die Europa-Rede entstanden, mit ihnen anzufangen ist aber wegen der Fundorte zur Nacht plausibel. Vor allem die erste, kurze, atmosphärisch akzentuierte Trias der Hymnen lotet die Nacht aus: „Abwärts wend ich mich zu der heiligen, unaussprechlichen, geheimnisvollen Nacht.“²³ Schon die Richtungsangabe setzt ein Signal: Sie kehrt eine elementare Ordnung um, da Geistiges und Göttliches mit dem ‚Oberen‘ konnotiert, nicht aber „abwärts“ gesucht werden. Die Nacht steht demnach für eine Vergegenwärtigung von Abgründig-Elementarem. Überdies ist sie weiblich bestimmt. Als „Weltkönigin“ gibt sie Gesetzmäßigkeiten des Lebens, als „Verkündigerin heiliger Welten“ ermöglicht sie Deutungen des Gegebenen und als „Pflegerin seliger Liebe“ vermittelt sie Leben erotisch.²⁴ Diese Genderzuschreibungen bestimmen eine artifizielle Mythologie der Nacht – die mit der vierten Hymne in die christliche Offenbarung mündet. Die Hymnen beschreiben Leben von der Peripherie aufgeklärter Rationalität her. Sie schreiben der Nacht ein Vitalisierungspotential mit verschiedenen Formen der Passioniertheit zu: Erinnerungen an die eigene Nativität, Erwartung und Meditation des Todes, erfrischende Regression in Schlaf, Traum und Rausch und vor allem auch erotische Intimität. „Trägt nicht alles, was uns begeistert, die Farbe der Nacht?“²⁵ Was begeistert, belebt ein Ganzes, nicht einzelne ‚Vermögen‘. Die Belebung gilt dem gesamten Subjekt, das Bewusstsein findet sich nicht als ausgeschlossener Verlierer wieder. Die Asymmetrie der Vitalisierung zeichnet nicht mit deterministischer Ab-
Licht ins Dunkle bringt. Z. B. so: „Nicht sorgsam, daß auch ihn sein [des Papstes] Bannblitz tödte, / Forscht er, sieht heller, sieht die Wahrheit ganz: / So folgt der Daemmerung die Morgenroethe / Und ihr des Tages voller Glanz.“ Luther, Eine Ode von Johann Andreas Cramer, hg. von Johann Martin Preisler, Kopenhagen 1770, 10 f. Hymnen an die Nacht, NW, 41. Hymnen an die Nacht, NW, 42. Hymnen an die Nacht, NW, 44.
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hängigkeit, sie intensiviert Aufmerksamkeit und Wahrnehmung. Während sich das vom Licht der Vernunft bestimmte Tagwerk äußerlich ausbreitet (bios), ist die Erfahrung der Nacht intensiv (zoë). Daher die hymnisch-religiöse Schreibweise. Man könnte diese reflektierende Poesie im Unterschied zum Biographischen zoëgraphisch nennen: schreibend bewusst gemachte Lebendigkeit.²⁶ Die Lyrik der Nacht formuliert keine Antiaufklärung, sie nutzt ihre periphere Position dazu, die Bildwelt des Aufklärens zu integrieren. Die im Licht fälligen Tätigkeiten werden anerkannt, doch absolute Herrschaft dürfen sie nicht beanspruchen: „Gern will ich die fleißigen Hände rühren, überall umschaun, wo du [Licht] mich brauchst – […] unverdrossen verfolgen deines künstlichen Werks schönen Zusammenhang […]. Aber getreu der Nacht bleibt mein geheimes Herz, und der schaffenden Liebe, ihrer Tochter.“²⁷ So meidet die romantische Peripherie, selbst zur normativen Antithese zu werden. Die Europa-Rede variiert dieses Vorgehen. Sie überträgt die frühromantische (und -idealistische) Systemformel vom Einen, das sich trennt und teilt, um aus Dyaden und Polaritäten zur höheren Einheit zu finden, auf Europas Konfessionsgeschichte seit dem Mittelalter.²⁸ Zunächst werden dem als Goldene Zeit einer vereinten Christenheit verklärten Mittelalter ein Schwinden kirchlicher Vertrauenswürdigkeit und diesem Schwinden die auf es antwortende Reformation entgegengesetzt. Aus dem alles Katholische perfektionierenden und manches Protestantische integrierenden Wirken der Jesuiten ersteht beinahe neue Einheit. Doch auch dieser Weltentwurf zerfällt. Gegen die politisch-religiöse Macht barocker Repräsentation kämpfen nun die Aufklärer metaphorisch auffällig im Zeichen des Lichts: „Das Licht war wegen seines mathematischen Gehorsams und seiner Frechheit ihr Liebling geworden. Sie freuten sich, daß es sich eher zerbrechen ließ, als daß es mit Farben gespielt hätte, und so benannten sie nach ihm ihr großes Geschäft, Aufklärung“.²⁹ Die französische Revolution betreibt dieses Geschäft im Gefolge des nachreformatorischen Zerbrechens Europas als „weltlichen Protestantismus“.³⁰ Das metaphorische Verfahren ist auffällig. Gegen die Newtonsche Leitmetapher einer analytischen Eindeutigkeit des Lichts setzt der Text synthetische Mehrdeutigkeit. Damit ist eine kosmotheologische Alternative zum physikotheologischen Witz (Frechheit) des Aufklärungslichts beabsichtigt. Überdies steht das Spiel mit Farben für das weite Spektrum der Lichtmetapher. Es verweist mit dem Kosmos der Nacht auf die Peripherie des Aufklärens.
Vgl. Hermann Timm: Zwischenfälle. Die religiöse Grundierung des All-Tags, Gütersloh 21985, 136 – 141. Hymnen an die Nacht, NW, 44. Vgl. zur Systemformel nach wie vor Hermann Timm: Dichtung des Anfangs. Die religiösen Protofiktionen der Goethezeit, München 1996, hier 114– 137. Die Christenheit oder Europa, NW, 509. Die Christenheit oder Europa, NW, 511.
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Auch sonst treten die Elemente der Phantasie hervor. Die Europa-Rede verkündet eine Weltstunde, die ihren Ort weder allein im Aufklären und im Flackern der Revolution hat noch allein im gemütvollen Dunkel der von beiden bekämpften Traditionsmächte. Die „neue Urversammlung“³¹ liegt in einem eigenen geschichtlichen Licht. Sie besteht aus Randerscheinungen, die sich auf eine bessere Zukunft hin zu universellen Individuen bilden. Sie bezeichnen eine unwahrscheinliche Mitte zwischen Altem und Neuem, wozu sie „kräftige Phantasie“ benötigen.³² Als intellektuelle NachtLichter harren sie zwischen abschiedlich-abendlicher Wehmut und der Sehnsucht nach neuer Morgenröte aus. Geschichte erscheint in dieser Perspektive als intrinsisch unversöhnbares Geschehen. Sie bedarf der Ergänzung aus der Religion, weshalb Protologie und Eschatologie die Geschichtskonstruktion mit Metaphern des Dämmerns einrahmen. c) Vom Schleier-Machen der Religion und einer Politik der Phantasie. – Für die Gegenwart und die Aussichten des nachrevolutionär zerrütteten Europas erweisen sich Religion und Phantasie in hohem Maß als Elemente einer Forderung des Tages. Das Zerbrechen des Christentums in Konfessionen und der Zerfall der Kultur in eine religiöse und eine säkulare Seite müssen an dieselbe Quelle gehen: „Nur die Religion kann Europa wieder aufwecken und die Völker sichern, und die Christenheit mit neuer Herrlichkeit in ihr altes friedenstiftendes Amt installieren“³³ – ein so nur in der verklärten Erinnerung ans Mittelalter dagewesenes Amt. Die Überzeugungsarbeit leistet die Phantasie, die aus der religionsgenetischen „Anarchie“³⁴ Brücken zur Versöhnung hebt. Zur Religion verweist Novalis auf eine andere Quelle: „Zu einem Bruder will ich euch führen, der soll mit euch reden, daß […] ihr eure abgestorbene geliebte Ahndung mit neuem Leibe bekleidet […] und erkennt, was euch vorschwebte, und was der schwerfällige irdische Verstand freilich euch nicht haschen konnte. Dieser Bruder ist der Herzschlag der neuen Zeit, wer ihn gefühlt hat zweifelt nicht mehr an ihrem Kommen […]. Er hat einen neuen Schleier für die Heilige gemacht, der ihren himmlischen Gliederbau anschmiegend verrät, und doch sie züchtiger, als ein andrer verhüllt“.³⁵ Novalis spielt nicht mutwillig mit Namen. Ihm zufolge gewinnt das Beschreiben von Religion als solcher in einem geschichtlichen Augenblick, der alles und für alle Lebensbereiche von der Religion zu erhoffen habe, eine Bedeutung, die Schleiermachers Absicht und auch seinen Erklärungsanspruch übersteigt. Im Wechselspiel von Zeigen und Verbergen, von Andeuten und leibhafter Präsenz wird Religion überhaupt wieder wahrnehmbar. Novalis berührt mit dieser Zuschreibung eine geradezu erotische Qualität der Religionstextur: Der – weibliche – Körper der Religion zeichnet sich
Die Christenheit oder Europa, NW, 514. Die Christenheit oder Europa, NW, 512. Die Christenheit oder Europa, NW, 516. Die Christenheit oder Europa, NW, 510.516. Die Christenheit oder Europa, NW, 514.
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hinter dem Schleier deutlicher ab, als wenn sie nackt im Licht der Vernunft stünde. Dass sie zugleich züchtig verhüllt erscheint, liegt an der zweiten Rede, welche die Religionsgenese in bestimmter Unbestimmtheit formuliert.³⁶ Während Goethe in einem poetologischen Programmgedicht „Der Dichtung Schleier / Aus der Hand der Wahrheit“ empfängt,³⁷ nimmt Novalis den von Schleiermacher gewobenen Religionstext aus der Hand der Phantasie entgegen. Für das phantasiebestimmte Wirken der Religion ist Uneindeutigkeit unverzichtbar. Schleiermachers Religionstheologie scheint von so handfesten Erwartungen an eine Versöhnungspolitik überfordert. Doch Novalis erörtert ihre praktische Leistungsfähigkeit. Zum einen wecke Schleiermacher das Säkulum aus einem Religionsschlaf, in den es inmitten konfessioneller Ruinen und revolutionärer Barrikaden wie in eine unruhige Ohnmacht gesunken ist. Novalis kennt den Begriff der Verdrängung nicht; er wäre für die Befürchtung angemessen, die einem Verlust der Religion als Versöhnungsmacht gilt: dass, wo die Götter verschwunden sind, Gespenster walten, als unglaubhafte Doktrinen und politische Mythen. Schleiermacher erzeuge im Bewusstsein dieser Gefahr Freude an der Religion, die nach Novalis zugleich eine friedenstiftende Symbolpolitik beleben kann. Zum anderen bedürfe auch die Wissenschaft der religiösen „Begleitmusik“. Wissenschaft ohne Religion verkenne die geheimen Prinzipien der Natur; „gewöhnt an den Glanz unserer Entdeckungen“ erkennt die Vernunft dank Religion, dass ihr Licht geborgt ist. Religion verhindert eine Reduktion der Tätigkeit von Vernunft auf ein puristisches Ideal. Die Möglichkeit zum Austausch zwischen Wissenschaft und Religion hat Novalis anderwärts auf eine bündige Formel gebracht: „Vernunft und Phantasie ist Religion. Vernunft und Verstand ist Wissenschaft.“³⁸ So wenig vernunftfeindlich ist die romantische Peripherienkunst. Schließlich bedürfe die Politik selbst der Religion wegen des doppelten Risses, der als konfessioneller und als säkularistischer durch Europa gehe. Den gegenwärtigen Krieg könne niemand gewinnen, da die Gegner „unvertilgbare“ subjektive Prinzipien verkörpern:³⁹ „hier die Andacht zum Altertum, die Anhänglichkeit an die geschichtliche Verfassung, die Liebe zu den Denkmalen der Altväter und der alten […] Staatsfamilie; dort das entzückende Gefühl der Freiheit, die unbedingte Erwartung mächtiger Wirkungskreise, die Lust am Neuen und Jungen, die zwanglose Berührung mit allen Staatsgenossen […], die Freude am persönlichen Recht […].“ Beide Seiten haben so gewiss Recht, wie sie unversöhnt bleiben. Religion wendet den Gegensatz im Weltgeschehen nach innen, wo er in eine heilsame Schwebe gerät. Geschieht dies, kann man dem Krieg als Ausdruck des letzten, in Europa mächtigen Gegensatzes
Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Göttingen 61967, 62– 66. Aus Johann Wolfgang Goethe: Zueignung, in: Goethes Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 1, textkritisch durchges. und komm. von Erich Trunz, München 131982, 152. Fragmente und Studien bis 1797 Nr. 52, NW, 308. Dieses und die folgenden Zitate: Die Christenheit oder Europa, NW, 515 f.
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nachträglich und in deeskalierender Absicht Sinn geben; sein Ende könnte die Entstehung eines europäischen „Staatenverein[s]“ veranlassen. Ob es danach noch Konfessionskirchen gebe, erklärt Novalis zur subalternen Frage. Sie sollen in einer enthierarchisierten Ökumene verschwinden, in der sich die Christenheit als ein allgemeines Priestertum katholische Bildlichkeit phantasiert. Religion und Phantasie erweisen sich diesem Denken von der Peripherie her als wechselwirksam. Schleiermacher beschreibt Genese und Mitteilung von Religion unüblich, nämlich poetologisch. Phantasie ist an allen Stellen dieses Prozesses beteiligt. Novalis überträgt die Beschreibung des Wirkens von Phantasie mit und aus Religion auf eine Poetologie gelebter Gegensätze. Das Ergebnis ist gleichsam eine sechste Rede Schleiermachers, welche die angespannte politische Lage Europas durch prospektives Phantasieren über das Versöhnungspotential des Christentums stillstellt.
3. Versammlung von Peripherem in der Heiligen Nacht a) Feier nächtlicher Natalität und Individuation. – Während Über die Religion mit sich zueinander verschiebenden, einander überlagernden Bestimmungen des Religiösen operiert, mischt die Europa-Rede funktionale und substantiale Aspekte zu einer knappen Bestimmung des Christentums auf lakonische Weise. Kürze und Drastik müssen aber sein, andernfalls unterböte der Text seinen Anspruch auf eine metakonfessionelle und metaszientifische Sammlung christlicher Versöhnungsmacht von den Peripherien des Diskurses her. Dieser Sachverhalt wird an Hardenbergs Bestimmung des Christentums durch drei Zuschreibungen besonders deutlich. Dazu muss man die definitorischen Elemente der Religionsfreude, der geistlichen Medialität der Welt und einer marianisch ergänzten Christologie allerdings strikt als in sich unterschiedene Einheit verstehen.⁴⁰ Sie wirken, so der Gedanke, in der Welterneuerung eng zusammen. Die Zeugungsfreude an Religion bleibt ohne welthaftes Medium kontextlos und ohne Familiarität mit dem Heiligen fruchtlos. Die ästhetische Medialität aller Welt erlaubt dem Heiligen fröhliche Immanenz. Und eine Familiarität mit dem Heiligen ergibt sich nicht durch doktrinale Repetition von Satzwahrheiten, sondern durch Freude an weltlichen Erscheinungen als den am Heiligen Anteil gebenden Zeichen. Hardenberg formuliert Resonanzen an Schleiermacher, setzt aber stärker als dieser auf die Sprache der Phantasie und ihre transreligiöse Wirksamkeit. Novalis romantisiert Geschichtliches mithilfe der Religionsidee des von ihm als Schleier-Macher Apostrophierten (worauf dieser ambivalent reagiert).⁴¹
Die Christenheit oder Europa, NW, 516 f. NW, Kommentar, 803 f.
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Abgesehen von Schleiermachers Zweifel an Hardenbergs Geschichtskonstruktion besteht eine im Blick auf das Zusammenwirken von Phantasie und Religion wichtige Rückfrage. Die Phantasie in religiösen Diensten bringt zwar eine „Urversammlung“ aus gebildeten Einzelnen hervor, doch das christlich Individuierende erscheint andeutungshaft und eigenartig bildlos. Die Hymnen bilden demgegenüber eine bedeutsame Ergänzung, benennen sie doch die heilige Nacht als den Versammlungspunkt christlicher Individuationskraft. Dies geschieht in der fünften Hymne. Sie sticht durch ihren etwa die Hälfte der Hymnen betragenden Umfang hervor. Der Text wechselt mehrmals zwischen rhythmischer Prosa und gereimter Lyrik. Und er hat ein Narrativ, während die anderen Hymnen (Reminiszenzen an) Erfahrenes aufrufen. Die fünfte Hymne entfaltet Soteriologie aus der Inkarnationsmetaphorik heraus, in Entsprechungen zur Europa-Rede: In der christlichen Überwindung einer die Antike treffenden Religionskrise erscheint religionsgenetische Freude. Die Götter verschwinden in einer vom Tod, den der Glaube an sie nicht verwunden hat, bereiteten Nacht. Sie sind reiner Negativität anheim gegeben. Doch in deren Finsternis geht ein Licht auf, die Kontrarietät christlicher Offenbarung verdichtet sich in der heiligen Nacht.⁴² Die äußersten Gegensätze der antiken Welt erscheinen einfältig-einfach neu gedeutet „in der Armut dichterischer Hütte“:⁴³ Vom Rand der Gesellschaft her familiarisiert sich Gott als Kind in nächtlicher Natalität mit der Welt. Die Hymne betont zum einen ein Familiärwerden mit der neuen „Freudigkeit“, wozu Novalis, auf Apokryphen anspielend, einen fiktiven „Sänger“ Jesu einführt, der das Evangelium nach „Indostan“ verbreitet.⁴⁴ Zum anderen typisiert die Hymne Maria als Seele, in der die schmerzgeprüfte, mit der Negativität des Todes vertraute Vermittlung von Freude an der „Allfähigkeit alles Irdischen“ stattfindet. Maria verkörpert die Medialität der Welt für Gott.⁴⁵ Die fünfte Hymne ist der Höhepunkt dieser impliziten, um die Medialität der Gotteswelt kreisenden Theologie. b) Göttliches, Kindliches, Weibliches in Schleiermachers Heilig-Abend-Phantasie. – Die Weihnachtsfeier enthält starke Resonanzen auf Novalis. Die Bildlichkeit der heiligen Nacht wird ausgekostet, die Inkarnation als christliches Individuationsprinzip dargestellt. Letzteres erfolgt durch stetes Umkreisen des Undarstellbaren. Vor allem die Frauenfiguren bezeigen die oratorische Fähigkeit dazu. Sie verstehen sich auf die nächtliche Natalität des Heiligen. Die im Dienst der Religion stehende Sprache der
Kreuz und Tod sind und bleiben elementar gerade für die Umwertung der Nacht: „In entsetzlicher Angst nahte die Stunde der Geburt der neuen Welt. […] Nur wenig Tage hing ein tiefer Schleier […] Entsiegelt ward das Geheimnis – himmlische Geister hoben den uralten Stein vom dunkeln Grabe.“ Hymnen an die Nacht, NW, 49. Hymnen an die Nacht, NW, 48. Vgl. zusammenfassend NW, Kommentar, 636. Hardenberg hält Distanz zu einem naiven Inkarnationsmythos.Vgl.Vermischte Bemerkungen Nr. 73, NW, 338 ff.
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Phantasie ist in Die Weihnachtsfeier weiblich, weshalb ich Schleiermachers inkarnationspoetisches Experiment genderspezifisch resümiere. Der Textanfang beschreibt das von der Gastgeberin, Eduards Frau Ernestine, arrangierte Weihnachtszimmer. Das Licht spielt darin „schalkhaft mit der Neugierde […] die bekannten Dinge zeigte es deutlich genug; das Fremde aber und Neue konnte nur langsam und bei genauer Betrachtung recht bestimmt wahrgenommen werden.“ Das Spiel mit Neugier und Fremdheit verweist auf die weihnachtlichen Gaben. Das Licht um diese Gaben zitiert das Licht der Krippe, beide haben einen dunklen Rand, sie sind keine Lichtmetaphern der totalen Helle oder Aufhellung. Das Bekannte umgibt in halbdunkler Vertrautheit die Ankunft des Neuen, der Gabe wie des Göttlichen. Sogar die sündentheologisch verdächtige Neugierde wird im weihnachtlichen Helldunkel theologisch rehabilitiert. Wenig später geschieht eine höherstufige Verwandlung, ein Hardenbergsches Romantisieren. Nach der Stimmung rückt der menschliche Sinn, der sie zubereitet, ins Zentrum: „Nicht lange, so öffnete Ernestine die Türe, an der sie angelehnt stehen blieb. Allein, anstatt daß die muntere Schar begierig, wie man erwarten sollte, zu den besetzten Tafeln geeilt wäre, wendeten sich in der Mitte des Saales, wo man das Ganze überschauen konnte, alle Blicke auf sie. So schön war die Anordnung und ein so vollkommener Ausdruck ihres Sinnes, daß unbewußt und notwendig Gefühl und Auge zu ihr hingezogen wurden. Halb im Dunkel stand sie da und gedachte sich unbemerkt an den geliebten Gestalten und an der leichten Freude zu ergötzen: aber sie war es, an der sich alles zuerst ergötzte.“⁴⁶ Religionstheoretisch gesehen erweist Ernestine hier Religion als von Menschen gemacht. Dieses Produktivitätsansinnen erscheint vor dem Hintergrund von Über die Religion unproblematisch. Das Verweisen aufs Göttliche bedarf der Medien, sei es als Atmosphäre (Weihnachtszimmer), sei es als Medium dieser Atmosphäre (Ernestine). Die Medialität der Weihnachtsfreude mit ihren Arrangements ist dabei nicht nur Analogon der „Vereinigung des Göttlichen mit dem Kindlichen“ (Ernst).⁴⁷ Sie ist diese Vereinigung selbst nach deren humaner Seite und insofern, als Gott sich inkarniert. Gegenüber Hardenbergs bethlehemitischer Poetik der europäischen Religionsgeschichte ist Die Weihnachtsfeier schlichter und anspruchsvoller zugleich; schlichter, weil auf das weihnachtliche Grundgefühl in seiner Medialität beschränkt, anspruchsvoller, weil im literarischen Experiment auf eine Theologie der Inkarnation zielend – daher auch die buchstäblich grundlose Bildlichkeit. Drei Frauen – Ernestine, Agnes und Karoline – umspielen erzählend die göttliche Natalität, als würden sie Hardenbergs – nach Ernestines Geschichte gesungenes – Lied Ich sehe dich in tausend Bildern, / Maria, lieblich ausgedrückt auslegen. Begleitet von Friederikes musikalischem „Phantasieren“ am „Klavier“⁴⁸ beziehen sie sich auf erlebte Friedrich Schleiermacher: Die Weihnachtsfeier. Ein Gespräch, Zürich 1989, 7. Ich zitiere künftig den Text als Weihnachtsfeier. Weihnachtsfeier, 43. Weihnachtsfeier, 45.
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Begebenheiten, welche die Weihnachtsfreude als das Medium der „Vereinigung des Göttlichen mit dem Kindlichen“ erweisen. Die Erzählungen haben etwas von den um 1800 beliebten ‚lebendigen Bildern‘ an sich, einem Nachstellen historischer oder typischer bzw. allegorischer Szenen. In der Sprache der Religion ist das lebende Bild jenes, das alles anzieht und alles in Bewegung setzt. Es ist eine Gottesmetapher. Die gebrochen-novellistische Erzählweise entspricht dieser Bildlichkeit, die Erzählungen suchen das Undarstellbare angemessen darzustellen. Ernestine erzählt von ihrer Freude an einer versonnenen Mutter mit Säugling, die sie als Halbwüchsige während der Christmette im Halbdunkel einer gotischen Kirche gesehen hat: „Nun hatte ich lebendige Gestalten zu den schönen Bildern von Maria und dem Kinde, und ich vertiefte mich so in diese Phantasie, daß ich halb unwillkürlich das Gewand der Frau an mich zog“.⁴⁹ Zum einen hilft das Phantasieren überhaupt mehr zur Sache als der Geistliche „mit seiner quäkenden Stimme“.⁵⁰ Zum anderen kommt es zu einem asymmetrischen Gabentausch, der das Urbild der heiligen Nacht wiederholt. Die andächtige Mutter weckt Andacht, Scheu und den Wunsch, sich zu nähern. Ernestine zieht mit einer Demuts- und Schutzgeste den Mantel der Frau an sich – und bittet darum, dem Kind etwas schenken zu dürfen. Dem christologischen Urbild gemäß ist, dass die erste Gabe mit einer Gabe höherer Potenz vergolten wird: hier etwas Naschzeug mit einer goldenen Haarnadel, das Verzehrbare mit einem bleibenden Symbol zur Wiedererkenntnis. Die Erinnerung an das Urbild hat auch Zukunft, sie erweist sich als Verheißung für das Leben, kommt es doch zur Wiederbegegnung beider Frauen. Unter Beibehaltung des Grundgefühls wird die Urbild-Erfahrung in der Christmette in ein personales Verhältnis auf Gegenseitigkeit übersetzt – „wiewohl ich nichts als Schmerzen mit ihr zu teilen hatte, zähle ich doch meine Verbindung mit ihr zu den schönsten und wichtigsten Momenten meines Lebens.“⁵¹ Die anderen Erzählungen haben eine ähnliche Struktur, setzen aber eigene Akzente. Agnes’ Reminiszenz bezieht sich auf einen Moment reiner Gegenwärtigkeit am Weihnachtsfest. In einer befreundeten Familie sei die Weihnachtsfreude durch die Geburt eines Kindes gesteigert und diese Geburt umso fröhlicher gefeiert worden.⁵² Damit könnte der Hinweis enden, doch die halb scherzhafte Mahnung einer Person der Erzählung, niemand habe dem Neugeborenen etwas geschenkt, retardiert alles. Man kauft während der Festvorbereitung noch rasch kleine Gaben ein, die fröhlich als Prophezeiungen für den Lebensweg des Säuglings ausgelegt werden. Nun entscheidet der Vater, ein Geistlicher, das Kind im Festgeschehen zu taufen: „Ihr habt ihm Gaben dargebracht, fuhr er fort, […] die auf ein Leben hindeuten, wovon er noch nichts weiß, wie Christo Gaben dargebracht wurden, die auf eine Herrlichkeit hindeuteten, wovon das Kind noch nichts wußte. Laßt uns ihm nun auch das Schönste, Christum selbst, zueignen […].“ Dies sei nur indirekt möglich, doch das „religiöse Gefühl“ müsse sich
Weihnachtsfeier, 47. Weihnachtsfeier, 46. Weihnachtsfeier, 48. Weihnachtsfeier, 49.
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jedes Individuum ohnehin „aus uns allen […] dereinst zueignen“. Insofern verweisen das in der Taufe dargestellte Empfangen und Umgeben eines christlichen Kindes mit „Liebe und Freude“ und „das Geburtsfest der neuen Welt“, ebenfalls „ein Tag der Liebe und Freude“, aufeinander.⁵³ Das Kindliche rückt ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Gegenwart des in der heiligen Nacht Gefeierten wird ‚realer‘ als sonst. Karoline verstärkt den wehmütigen Ton im Ensemble, der allerdings vom Ausgang ihrer Begebenheit und durch die Glaubensfreude der Hauptfigur entkräftet wird. Einer Freundin Karolines wäre am heiligen Abend beinahe ein Kind gestorben. Die Erzählung besteht wesentlich in einer Charakterisierung der Freundin. Zum einen korrespondiert deren liebevoller Pflege des Kindes eine große Gelassenheit gegenüber dem Gang der Dinge. Fast ärgerlich habe sie, Karoline, nachgefragt, wie sich die Freundin mit dem todkrank geglaubten Kind einem aufwendigen familiären Gabenspiel widmen könne.⁵⁴ Doch diese entgegnet, es gebe „keinen schöneren und auch keinen schicklicheren Rahmen um einen großen Schmerz, als eine Kette von kleinen Freuden, die man andern bereitet.“⁵⁵ Auf der Linie dieses Umgangs mit Schmerz nimmt die Mutter den Abschied von ihrem Kind vorweg. Indes kommt es zur Krise und Genesung des Kleinen. Nun tritt der andere Zug dieser schönen Seele hervor: Der Bereitschaft, als mater dolorosa Schmerz zu bestehen, entspricht eine große Befähigung zur Dankbarkeit: „Es rührte mich wehmütig und versüßend, einen Engel zum Himmel zu senden, zu der Zeit, wo wir die Sendung des Größten auf die Erde feiern. Nun kommen mir beide zugleich unmittelbar von Gott geschenkt. Am Feste der Wiedergeburt der Welt wird mir der Liebling meines Herzens zu einem neuen Leben geboren.“⁵⁶ In Karolines Begebenheit entsteht Freude aus dem äußersten Kontrast, doch wird sie durch die krisengeprüfte Neuwahrnehmung der Natalität stark und präzise. Alle Begebenheiten bezeugen die Weihnachtsfreude als christliches Elementargefühl. Sie wird durch Wiedererkenntnis verstetigt und von einer marianischen UrbildErfahrung her durch Freundschaft personalisiert (Ernestine). Sodann ist die Freude durch eine Taufe am heiligen Abend gesteigert, die Jesu Natalität als Muster von Individuationen vergegenwärtigt (Agnes). Schließlich wird gezeigt, wie die Weihnachtsfreude auch e contrario verstärkt werden kann, gleichsam als schmerzvolle Natalität höherer Ordnung (Karoline). Damit verbunden sind drei marianisch konnotierte Weiblichkeitsentwürfe. So erzeugen die Begebenheiten vom Zusammentreffen göttlicher und humaner Natalität das Bild einer erneuerten Welt. Sie nutzen dazu die Kraft der diskursiv Peripheren – der Frauen und Kinder, und dichten so von dem, was sich kaum sagen lässt: von der Menschwerdung Gottes.
Alle Zitate Weihnachtsfeier, 53. Weihnachtsfeier, 56. Weihnachtsfeier, 57. Weihnachtsfeier, 59 f.
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4. Dunkle Seite der Phantasie, Transzendenz des Schreckens Das Umkreisen der Inkarnation zeigt, wie die Romantik das Wunderbare als ergiebige Peripherie der Vernunft auffasst. Doch die Romantiker machen sich die Darstellung des Wunderbaren schwer, da sie ihre Nostalgie reflektieren. So lässt Schleiermachers Die Weihnachtsfeier den kritisch-ironischen Leonhardt sich (fast) jedes Mal über die Erzählerinnen mokieren. Seine Bemerkungen sind wie ein stetiger Shaftesburyischer test by ridicule, gipfelnd im bissigen Kommentar, das weihnachtliche Helldunkel sei dem dunklen Ursprung des Festes angemessen. So wird im inszenierten Gespräch romantische (Selbst)Ironie indiziert. Eine Variante auf die reflexive Verteuerung des Wunderbaren bildet seine Verkehrung ins Schreckliche, wie sie Ernst Theodor Amadeus Hoffmann beherrscht.⁵⁷ Hoffmann ergänzt das romantische Bild der heiligen Nacht um einen Durchbruch profanen Schreckens. a) Weihnachtsschrecken. – In Nußknacker und Mausekönig ist die vielversprechende Weihnachtswelt von Hardenbergs Hymnen und Schleiermachers Feier erhalten. Das in Die Weihnachtsfeier mit psychologischem Feingefühl auf die Erzählfiguren verteilte religiöse Rezeptwissen wird etwas schablonenhaft aufgerufen. Dennoch geht es um das Grundgefühl der Weihnachtsfreude und dessen Medialität: „So wußten die Kinder wohl, daß die Eltern ihnen allerlei schöne Gaben eingekauft hatten, die sie nun aufstellten, es war ihnen aber auch gewiß, daß dabei der liebe Heilige Christ mit gar freundlichen frommen Kindesaugen hineinleuchte und daß wie von segensreicher Hand berührt, jede Weihnachtsgabe herrliche Lust bereite wie keine andere.“⁵⁸ Die Gleichzeitigkeit von Wissen und Gefühl und die einander steigernden Freuden stimmen mit Schleiermachers Festverständnis überein. Doch die Ereignisse der heiligen Nacht und ihre Folgen weichen davon ab. Für die phantasiebegabte Tochter des Hauses, Marie Stahlbaum, entspinnt sich eine kleine Apokalypse: Das Heer des Mausekönigs, eines siebenköpfigen rattus rex, ergießt sich wie ein napoleonischer Albtraum aus den Ritzen der preußischen Weihnachtsstube und beginnt eine Schlacht mit den bunt zusammengewürfelten Figuren um den Nußknacker, den Alliierten des Kinderzimmers, freiwillig im Kampf, zu dem sie mehr schlecht als recht taugen. Das Weihnachtslicht weicht in eine Verschattung, in der die dämonisch glühenden Augen der aggressiven Nager gut zum Zug kommen. Die Geschichte entwickelt sich kompliziert, ein Märchen im Märchen wird erzählt, das den Kampf nachträglich motiviert. Der Mausekönig sucht demnach seine einst Seine Texte spielen in der literaturwissenschaftlichen Romantikdebatte eine große Rolle, in der theologischen Romantikrezeption kommen sie hingegen wie auch die englische Schauerromantik bis heute kaum vor. Ernst Theodor Amadeus Hoffmann: Die Serapions-Brüder, Gesammelte Erzählungen und Märchen in vier Bänden, Bd. 1, Frankfurt am Main 1983, 266 f. Ich zitiere im Folgenden als Nußknacker.
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getötete Mutter am Nußknacker zu rächen. Frau Mauserincks hatte, weil aus der Küche eines Königshofs verwiesen, die neugeborene Prinzessin zu außerordentlicher Hässlichkeit verflucht. Der nachmalige Nussknacker wiederum erlöst die Prinzessin, die sich aber als undankbar erweist, und er verursacht den Tod der Frau Mauserincks, woraufhin er selbst zur „Mißgestalt“⁵⁹ wird. Schicksalsschwere und Possierlichkeit halten sich in dieser Binnenerzählung eigenwillig die Waage. Die Phantasie ist zur Lösung des Rätsels um den Nußknacker sowie zu dessen Erlösung herausgefordert. Phantasie gilt in Maries Umgebung aber als fragwürdig. Und wirklich könnte vieles von der kleinen Marie phantasiert sein, ist sie doch vor Schreck in den Glasschrank der Weihnachtsstube gefallen und hat Blut verloren. Das Phantasieren der Fiebernden scheint physiologisch erklärbar. Doch der Pate der Stahlbaum-Kinder, der Obergerichtsrat Droßelmeier, ein unheimlicher, wenngleich ihnen gewogener Mensch, bestätigt durch den Vortrag der Binnenerzählung die Realität des Phantastischen und die Banalität des vermeintlich klaren Verstandes.⁶⁰ So verlässt die Phantasie ihren peripheren Ort. Marie träumt sich indes für die nächsten sieben Lebensjahre ganz in ihre Heilig-Abend-Phantasie hinein, schweigt aber davon, um Spott zu meiden, um also nicht peripherisiert zu werden. So aufgeschlossen und aufgeklärt die Eltern Stahlbaum sind, so verständnislos stehen sie der Macht der Phantasie gegenüber, insbesondere der Vater, ein Medizinalrat. Phantasie scheint nur schweigend erlebt, genossen oder erlitten werden zu können. Der Ausgang von Nußknacker und Mausekönig enthält Hinweise auf eine mögliche andere Welt, nicht nur in dem Sinn, dass der Nussknacker gegen Ende des Märchens Marie durch das Puppenreich führt – mit der Bemerkung, „so etwas“ könne Droßelmeier „niemals zustande bringen; Sie selbst doch viel eher, liebe Demoiselle Stahlbaum“.⁶¹ Pate Droßelmeier führt eines Tages bei Stahlbaums einen reizenden jungen Mann, seinen Neffen, ein, in dem Marie vom Stuhl fallend ihren Nußknacker wiedererkennt. Oberflächlich könnte man denken, der Pate manipuliere die Phantasie des Mädchens, um es zu verkuppeln. Maries Liebe auf den ersten Blick wäre dann Folge einer Gehirnwäsche. Doch es gibt Indizien, die dagegen sprechen. So ist der Nußknacker bereits am Weihnachtsabend vom Vater ausdrücklich „unter Mariens Schutz gestellt“, als ihr Bruder Fritz der Figur beim Nüsseknacken den hölzernen Kiefer ausrenkt. Marie wird auf den Nußknacker nicht gestoßen, sie findet von sich aus zu ihm hin. Die heimliche Pointe des Märchens scheint eine andere: Die Intentionen der bürgerlichen Welt und ihres Diskurses mögen sein, welche sie wollen, die Weihnachtsfreude bricht sich in Hingabe Bahn und fasst andere Menschen als Gabe auf.Vor allem die Phantasie schafft es, einen Menschen zu nehmen, wie er ist. Dies ist, mitten
Nußknacker, 309. Ein Erlösungsmotiv. Ein einziges Indiz gewährleistet, dass Marie die Ereignisse der Weihnachtsnacht auf der Erzählebene wirklich erlebt haben muss: die sieben Kronen des Rattenkönigs, die Droßelmeier, um eine diplomatische Lösung für Maries Glaubwürdigkeit zu finden, augenzwinkernd als von ihm verlorene Ringe einer Kette einsteckt. Nußknacker, 323.
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in der Gefährdung des kleinen Universums der Weihnachtswelt,⁶² christliche Kernüberzeugung. Sie ist am Fest der Natalität Gottes an der Zeit. Diese Lösung steht allerdings an der Schwelle zu metaphorischen Finsternissen, welche ebenfalls aus romantischer Reflexion und Erfahrung entstehen. Manche Texte kontextualisieren die kunstreligiösen Erwartungen der Wackenroder, Hardenberg und Schlegel satirisch und reduzieren die Bildlichkeit der Nacht und der Dunkelheit auf Unerklärbares, Schrecken und Ambivalenz. Auch darin erfüllt sich allerdings die Funktion, Randerscheinungen des gewöhnlichen Lebens zu thematisieren.⁶³ b) Nachtwachen. Vernünftige Abnormität und gottlose Vernunft. – Der 1804 unter dem Pseudonym Bonaventura ⁶⁴ veröffentlichte, Ernst August Friedrich Klingemann zugeschriebene Text Nachtwachen bezeichnet ein massives Einbrechen von Fraglichkeiten in alles Gott- und Weltvertrauen der Frühromantik. Nachtwachen formuliert gegen die vitalisierende Nächtlichkeit und die heilige Nacht der frühromantischen Kunstreligion eine nihilistische Ästhetik des Grotesken. Diese Vigilien meditieren Vergeblichkeit. Aber sie meditieren eben. Auch Nachtwachen geht von Peripherien der Aufklärung aus. In sechzehn Nachtszenen gibt der Protagonist berufsbedingt den Weltbeobachter. Seine zynische Soziopathie geht auf Frustrationen zurück, die fragmentarisch angedeutet werden. Das Erzählen zerflattert wie das Leben, dessen Sinn ungreifbar ist: „Nichts!“ ruft der Nachtwächter am Ende des Texts dreimal laut aus, wie zum Bekenntnis seines Unglaubens. Der Unglaube wird im Nachtgeschehen genährt: von der alchemistisch dunkel verbrämten Herkunft des Erzählers, von Gebotsübertretungen wie Ehebruch, Mord und falschem Zeugnis, vom grausamen Schicksal Liebender und vor allem von der wahnwitzigen Normalität im „Tollhaus“, dem Aufenthalt der für verrückt Erklärten. Der Ich-Erzähler romantisiert die Welt – einseitig. Das Verhältnis des Texts zu Phantasie und Religion wird an zwei Stellen sehr deutlich. Anfangs fertigt der Nachtwächter, einen Dichter anredend, jede Verklärung der Poesie sarkastisch ab: „ich habe diese Beschäftigung aufgegeben gegen ein ehrliches Handwerk, das seinen Mann ernährt, und das für denjenigen, der sie darin aufzufinden weiß, doch keineswegs ganz ohne Poesie ist. […] Als ich noch in der Nacht poesierte, wie du, mußte ich hungern, wie du, und sang tauben Ohren; das letzte tue
Die apokalyptische Schlacht im Weihnachtszimmer hat etwas von Hardenbergs durch unversöhnte Gegensätze geprägtem Weltaugenblick an sich. Die Erzählung spielt auf viele Zeitereignisse an. Nach einer Unterscheidung phantastischer Literatur (Todorov) ist Hoffmanns Erzählform durch den Einbruch einer anderen Wirklichkeit oder des ganz Anderen gekennzeichnet, sie erzeugt hingegen keine andere Welt, die die gesamte Erzählung ausfüllt.Während die literaturwissenschaftliche Debatte diese Unterscheidung fruchtbar macht, verzichtet die Theologie weitgehend darauf, das in der romantischen Phantastik implizierte Einbrechen von Transzendenz als ihr Thema zu identifizieren. Gegenüber der sogen. Schwarzen Romantik scheint man etwas gehemmt. Giovanni di Fidanza, gen. Bonaventura (1217/1221– 1274) war Generalminister des OFM, Scholastiker und Kardinal. Sein Itinerarium mentis in Deum enthält eine Fülle von Metaphern zu Licht und Dunkel.
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ich zwar noch jetzt, aber man bezahlt mich dafür. O Freund Poet, wer jetzt leben will, der darf nicht dichten! Ist dir aber das Singen angeboren und kannst du es durchaus nicht unterlassen, nun so werde Nachtwächter, wie ich, das ist noch der einzig solide Posten, wo es bezahlt wird, und man dich nicht dabei verhungern läßt.“⁶⁵ Diese kühle, die bürgerliche Welt so geringschätzig wie realistisch musternde Ansprache bleibt ohne Antwort. Der Poet unterm Dach verharrt in tragischer Stellung, „eine Hand in den Haaren, die andere hielt das Blatt, von dem er wahrscheinlich seine Unsterblichkeit sich vorrezitierte.“ Phantasie macht hungern, vor allem nachts. Nachtwachen erfüllt als selbstreflexive Literatur die frühromantische Bedingung einer Poesie der Poesie (Poetologie).⁶⁶ Der Erzähler zieht aus der zeitgenössischen Stellung des Dichtens den Schluss, einen Abschied von der Poesie zu dichten. Daher besteht Nachtwachen aus knarrend sarkastischer Prosa. Der Dichterberuf wird aber nicht als einziger, sondern bloß als erster verlacht. Aus seiner Peripherisierung heraus lässt er alles Folgende noch verkehrter erscheinen als er selbst zuvor erschienen ist. Die poetische Phantasie bringt alle übrige Verrücktheit zum Vorschein. Die zweite Textpassage kennzeichnet das Verhältnis zur Religion. Es ist die Zeit des Nachtwächters im Tollhaus, während der er die anderen Insassen als ungewöhnlich normal identifiziert. Ein solcher Perspektivwechsel zwischen Normalität und Abnormität ist um 1800 durchaus neu. Der Nachtwächter ist ein Laborant der Peripherie. Er möchte so erzählen „wie andre ehrliche protestantische Dichter und Zeitschriftsteller“, sei aber „im Keime schon verdorben“, da sein Bildungsgang ihn nicht „gescheiter und vernünftiger“ gemacht habe. Er habe „im Gegenteil stets eine besondere Vorliebe für die Tollheit gehabt und es zu einer absoluten Verworrenheit in mir zu bringen gesucht, eben um, wie unser Herrgott, erst ein gutes und vollständiges Chaos zu vollenden, aus welchem sich nachher gelegentlich, wenn es mir einfiele, eine leidliche Welt zusammen ordnen ließe.“⁶⁷ Konfession und Religion sind in die experimentellen Perspektivwechsel hineingezogen. Der Text hat im Bild der vorschöpferischen Anarchie seinen Leitfaden. Er macht anhand von Bildern nächtlicher Störung der Wirklichkeit deren Ordnung sichtbar. Seine Kunsttheologie verzichtet eschatologisch auf jeden nebenschöpferischen Genialitätsanspruch (Klopstockzeit). Dem Ich-Erzähler eignet allerdings nicht die souveräne Stimme der Apokalypse, vielmehr begibt er sich gerade vor und in der Tollhaus-Episode in die Handlung. Als Streich kündigt er einer Stadt das Jüngste Gericht an und entlarvt die moralische und religiöse Heuchelei der Bewohner. Dem infolgedessen Weggeschlossenen erschließt sich umgekehrt die Normalität des Peripheren. Er opponiert seinem Arzt mit einer weisheitlichen Anerkennung von Torheit: „Ich möchte wahrlich mit Ihnen zu einer medizinischen Beratschlagung mich verbinden, bloß um zu überlegen, wie dieser meiner Narrheit beizukommen sei […]. sagen Sie, wie kann man gegen Nachtwachen, von Bonaventura, Coburg 1947, 6 f. Ich zitiere im Folgenden als Nachtwachen. Vgl. Friedrich Schlegel: Athenäums-Fragmente Nr. 238, in: ders.: Schriften zur Literatur, hg. von Wolfdietrich Rasch, München 21985, 50. Nachtwachen, 63.
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Krankheiten sich auflehnen wollen, wenn man selbst, wie Sie wissen, mit dem System nicht im reinen ist, ja wohl gar das für Krankheit hält, was höhere Gesundheit ist und umgekehrt. Ja, wer entscheidet es zuletzt, ob wir Narren hier in dem Irrenhause meisterhafter irren oder die Fakultisten in den Hörsälen? Ob nicht vielleicht gar Irrtum Wahrheit; Narrheit Weisheit; Tod Leben ist – wie man vernünftigerweise es dermalen gerade im Gegenteil nimmt! – O, ich bin inkurabel, das sehe ich selbst ein.“⁶⁸ Der Arzt verordnet viel Bewegung und wenig Denken. Dieser Wahnsinn sei „durch übertriebene intellektuelle Schwelgerei entstanden“. Darauf der Erzähler: „Ich ließ ihn gehen!“ Der Erzähler der Nachtwachen ist Individualist bis zur Verkehrtheit. Er tritt abstoßend auf und stößt die Leserschaft vom Text ab. Er will allein sein, ein Einzelner, weist sogar das Dichten zurück. Als Wächter schreitet er die Grenze von Peripherie und Normalität ab, die unter seinem Schritt in Bewegung gerät. Darin wahrt er die oratorische Macht der Phantasie. Sie gerät ihm religiös zur Prophetie ohne Gott. Finster fragt der Text, ob Vernichten ebenso wesentlich sei wie Schaffen. Damit chiffriert er eine eschatologische Wahrheit des Christentums und romantisiert die Vernunft, an deren Optimismus er leidet. Vielleicht ist der Nachtwächter ein grotesk-komischer Nachbar des ‚Brandmajors‘ Kierkegaard, stimmen doch einige von dessen Pseudonymen zur Verzweiflung des Bonaventura-Buchs. c) Serapiontik. Nachtstücke und eine Heiligenlegende der Phantasie. – Gegenüber dem singulären Streich der Nachtwachen, eine gesamte Erzählung in Nacht zu tauchen und die so angeschaute Welt in sinnlose Episoden zerfallen zu lassen, entfaltet Ernst Theodor Amadeus Hoffmann, seit 1815 mehr Literat und Zeichner als Komponist, ein neues Genre der Nacht. Das Konzept der Nachtstücke ist für die Frage nach der romantischen Phantasie interessant. Hoffmann ordnet vom Unheimlichen zum Grotesken abfallend zwei Mal vier Erzählungen an. Das Phantastische wird nach Graden des Nächtlichen gemessen. Dem korrespondiert die aus der Malerei stammende Bezeichnung des Nachtstücks, die einen allgemeinen Bildeindruck aufruft, darüber hinaus aber auch einzelne Texte ins Licht verwandter Gemälde oder Malweisen rückt. Ähnlich war Schleiermacher in Die Weihnachtsfeier vorgegangen. Kunstreflexion als Darstellungsmittel verbindet die Romantiker. Hoffmanns Nacht knüpft, so meine ich, direkt an Nachtwachen an, die Peripherien der Vernunft und des Soziallebens werden in ähnlicher Manier genutzt. Die Phantasie erscheint selbst als massive Bedrohung, öffnet sie doch eine fließende Gedankenbewegung, die sich von der Poesie zum Wahnsinn und von der Fiktion zur Obsession verselbständigen kann. Dieser Prämisse folgend verwendet Hoffmann das nächtliche Element dreifach: Es versetzt die äußere Handlung mittels zwielichtiger Figuren und nächtlicher Vorkommnisse an den Rand des Geltungsbereichs von Vernunft und Anstand. Das Nächtliche driftet aus den Zonen des physisch Dunklen und Unheimlichen zur Ahnung dunkler, das Leben insgeheim beherrschender Mächte. Und es
Dieses und die folgenden Zitate Nachtwachen, 111 f.
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erwirkt subjektiv einen Wahn, der das Subjekt nicht zum sympathischen Narren werden lässt, sondern es innerlich umnachtet oder auslöscht. Verglichen mit frühromantischen Hoffnungen erweist sich die Phantasie bei Hoffmann mitunter zurecht als peripher: Der Dichter des Schreckens entwickelt diesen oft aus einer überreizten Phantasie seiner Protagonisten, die entweder lernen, mit ihr produktiv umzugehen (neben Marie Stahlbaum prominent Anselmus in Der goldne Topf) oder die an ihr zugrunde gehen (prominent u. a. dank Sigmund Freud Nathanael in Der Sandmann; der Maler in Die Jesuiterkirche in G.). Hoffmann versteht sich – hinter vorgehaltener Hand – als Aufklärer über die hochgespannten Erwartungen der Frühromantik, die er grotesk porträtiert. Religion steht im Gefälle einer als ambivalent gekennzeichneten Phantasie. Auch sie ist häufig die Form einer Verstörung, die an die Peripherie der Gesellschaft treibt, oder aber sie ist die Hülle von Banalität und Heuchelei in der Mitte der Gesellschaft. Hoffmann treibt beide Spielarten auf die Spitze. In der späteren Erzählungssammlung Die Serapionsbrüder kommt es allerdings zu einem Kompromiss und sogar zu einer Anerkennung von Phantasie und Religion als Instanzen einer lebensnotwendigen Außernormalität. Diese Sichtweise wird durch die erste Erzählung der mehrbändigen Sammlung eingeführt, die zugleich der Gesellschaft von Kunstfreunden in der fiktiven Rahmenhandlung den Namen gibt. Der spätere Serapionsbruder Cyprian begegnet auf einer Wanderung bei Bamberg einem Einsiedler, der von sich behauptet, der spätantike Einsiedler Serapion zu sein, der von verstorbenen Gestalten der Christentums-, Geistes- und Kunstgeschichte besucht wird. Der Verstand kann dies nicht für wahr halten. Cyprian lässt sich woanders erklären, der vermeintliche Serapion sei ein dem Wahnsinn verfallener Graf aus München, dereinst ein hochbegabter Diplomat und angenehmer Gesellschafter. Cyprian erfährt, ein Arzt habe empfohlen, den Mann seinem Wahn zu überlassen, da er ausschließlich beim Versuch, ihn über seinen Zustand aufzuklären, hochaggressiv werde. Der psychologisch neugierige Cyprian konfrontiert den freundlichen Einsiedler mit dessen „fixe[r] Idee“ und seinen Selbstwidersprüchen. Serapion reagiert erstaunlich vermittelnd, indem er erklärt, gelegentlich werde er wie andere Eremiten von Agenten des Bösen versucht, sich für jemand anderen zu halten. Doch Cyprian sei „der ohnmächtigste von allen Widersachern“.⁶⁹ Ihn will der Einsiedler mit den „eigenen Waffen schlagen, das heißt mit den Waffen der Vernunft.“ Diese Wendung verändert die ganze Episode. Wahrheit muss von nun an als das angemessene Verhältnis von Vernunft und Phantasie ausgehandelt werden. Dazu argumentiert der Einsiedler logisch. Sei er obsessiv, müsse man verrückt sein, um ihm seine fixe Idee ausreden zu wollen. Sei er wirklich Serapion, brauche man ihm nicht einreden, ein anderer zu sein. Auch sei der Begriff der Zeit relativ und alles andere als
Ernst Theodor Amadeus Hoffmann: Die Serapions-Brüder, Gesammelte Erzählungen und Märchen in vier Bänden, Bd. 1, Frankfurt am Main 1983, 30. Ich zitiere Cyprians Erzählung im Folgenden als Serapion.
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geklärt, „die Allmacht Gottes“ wird vom Vergleich mit der „armseligen Kunst des Uhrmachers“ ausgenommen, eine mechanistische Kosmologie abgewiesen.⁷⁰ Vor allem aber argumentiert der Einsiedler wirkungsbezogen: Er führe ein heiteres, „mit Gott versöhntes Leben“⁷¹ und sei gerade kein aszetischer Radikaler⁷² – wozu dann einen „Schleier“ lüften, wenn es Gott gefallen hat, ihn zu werfen? Wie vor ihm Hardenberg wertet Hoffmann die optische Metapher des Verschleierns wegen ihrer Verwandtschaft mit dem gedämpften Licht auf. Der Gebrauch des Bildes zeigt, wie das Aufklären über Religion deren Funktionsweise verfehlen kann. Cyprian bleibt skeptisch, doch als der Einsiedler ihm „mit der feurigsten Fantasie“⁷³ Novellen erzählt, verändert er sein Urteil. Mit der Wirkung des Wahns überzeugt Serapions Hinweis, Phantasie sei nicht diminutiv, also projektionstheoretisch, sondern als geistiges Gestaltungsprinzip zu verstehen. Dies äußert ein Subjekt, dem Wahnsinn, aber auch Heiligkeit zugeschrieben werden können. Mit Cyprians Serapion wird der Phantasie eine Heiligenlegende gedichtet, die an der Peripherie bürgerlicher Normalität stattfindet.Von dort aus stiften Religion und Phantasie verschwistert Bilder für die Glaubenssprache, komplettieren eine, wenn auch wahnhafte, Individuation und reichern durch oratorische Macht Perspektiven aufs Leben an. Es ist nicht verwunderlich, dass die Gesellschaft der Freunde, deren Treffen die Rahmenhandlung für die Erzählungssammlung bilden, sich im Namen Serapions versammeln. Auch Hoffmanns Erzählungen erwarten aus der religiösen Ausdruckskraft Intuitionen für die gestaltende Phantasie und sie bewegen die Phantasie im Zeichen eines Glaubens, der weniger beruhigt als irritiert. In jenem besteht Kontinuität mit der Frühromantik, in diesem setzt die sogen. schwarze Romantik eigene Akzente. Diese Umwertungen am Anfang der Moderne erfolgen im Zeichen eines ästhetischen Protestantismus, der in der Literatur noch bereitwilliger mit dem Religionsthema experimentiert als in der Theorie. Die Theologie kann von den romantischen Zuschreibungen an Phantasie und Religion Nutzen für eine Theoriesprache ziehen, die, statt sich in eine ‚Kirchensprache einzuspinnen’ (Gerhard Ebeling), den Diskurs ihrer Zeit je neu vermisst. Man kann sich dabei auch insofern auf die Romantik verlassen, als sie die Annäherung der Kunst an das Leben nicht als Selbstverständlichkeit beansprucht. Solche Skepsis drückt Hoffmann aus, wenn er Paulus an die Korinther zitiert: „Vielleicht wirst du, o mein Leser! […] glauben, daß nichts wunderlicher und toller sei, als das wirkliche Leben und daß dieses der Dichter doch nur, wie in eines matt geschliffenen Spiegels dunklem Widerschein, auffassen könne.“⁷⁴ Immerhin dies kann „der Dichter“ jedoch, in jener höchsten Verrückung der Perspektiven, die Phantasie und Glauben einander begegnen lässt.
Serapion, 31. Serapion, 32. Serapion, 33. Serapion, 35. Ernst Theodor Amadeus Hoffmann: Nachtstücke, in: E.T.A. Hoffmann, Sämtliche Werke in sieben Bänden, Bd. 3, hg. von Hartmut Steinecke, Frankfurt am Main 2009, 27.
Jonas Lundblad / Lund
Taste and sensibility for the infinite as vision of cohesion: Aesthetic communication as (a‐)political theory in Schleiermacher’s On Religion Friedrich Schleiermacher most explicitly marked out the notion “intuition of the universe” as the “highest and most universal formula” of religion in the 1799 version of his On Religion. ¹ The scholarly community has generally tended to prove him right, and research at the beginning of the 21th century has brought its interpretation to new standards of precision and historical erudition.² While the twin formula of religion as “intuition and feeling” can easily be incorporated into the interpretation of the former, the notion of religion as “sensibility and taste for the infinite” often lacks the attention of scholarly limelight. It should be uncontroversial to assort this phrase among similar aesthetically inclined conceptions of religion at the turn of the century 1800³, but the theological and political implications of this paradigm has now been contentious for more than two centuries. This essay attends to Schleiermacher’s overlooked formula of religion neither as a conceptual theory on par with the epistemological and ontological scope of “intuition of the universe” nor out of a primary interest in the proper interrelation between religion and art. The phrase “sensibility and taste for the infinite” is rather interpreted from a distinctively political perspective, although the determination of “politics” employed here is deviant both from traditional political theory, Schleiermacher’s own later Staatslehre, and his personal involvement in political affairs and debates.⁴ The 1799 version of On Religion, and in
References to On Religion are given in accordance with F. Schleiermacher: On Religion: Speeches to its Cultured Despisers, R. Crouter (tr.), Cambridge 1996. Here 24 (KGA I/2, 213). See foremost P. Grove: Deutungen des Subjekts: Schleiermachers Philosophie der Religion, Berlin and New York, 2004 and C. Ellsiepen: Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva: Die spinozistischen Grundlagen von Schleiermachers früher Religionstheorie, Berlin and New York, 2006. Among a great number of recent studies, see e. g. J. Rohls: “Sinn und Geschmack fürs Unendliche” – Aspekte romantischer Kunstreligion, 1– 24 in NZST, 27:1 (1985); W. Braungart et al. (ed.): Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden I: um 1800, Paderborn, 1997; M. Buntfuss: Die Erscheinungsform des Christentums: zur ästhetischen Neugestaltung der Religionstheologie bei Herder, Wackenroder und De Wette, Berlin and New York, 2004; E. Müller: Ästhetische Religiosität und Kunstreligion in den Philosophien von der Aufklärung bis zum Ausgang des Deutschen Idealismus, Berlin, 2004. F. Schleiermacher: Vorlesungen über die Lehre vom Staat, W. Jaeschke (ed.), Berlin and New York, 1998 (KGA II/8). For recent research on Schleiermacher’s political theory and activities, see among others: M. Wolfes: Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft: Friedrich Schleiermachers politische Wirksamkeit, 2 vol., Berlin and New York, 2005; M. Rose: Schleiermachers Staatslehre: Tübingen, 2011; several contributions to A. Arndt, U. Barth und W. Gräb (ed.): Christentum – Staat – Kultur: Akten DOI 10.1515/9783110464573-032
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particular its theory of religious sociability, is rather studied as a vital contribution to the trajectory of an “apolitical” and aesthetic ground of politics in German intellectual discourse during the latter half of the 1790 s. The essay highlights Schleiermacher’s vision of a human fellowship that is intended both to recognize and to reconcile – albeit in constant flux – the individualization, fragmentation and rationalization that follows in the wake of modernity. Three major sections provide in turn (1) a historical background to conceive of taste and sensibility as political concerns in postKantian thought, (2) analysis of Schleiermacher’s philosophy of communication in his 1798 Versuch einer Theorie des geselligen Betragens, and (3) interpretation ofhis elaboration on sociability and communication in the third and fourth speeches of On Religion.
The Communication of Taste: Political aspects from Enlightenment to Romanticism The book Homo Aestheticus by French philosopher and politician Luc Ferry is an intellectual genealogy of Western society that unhesitatingly situates questions of aesthetics at the very centre of political considerations, both past and present.⁵ Most specifically, Ferry highlights the “invention of taste” as a pivotal turning point in Western society, i. e., the reconceptualization of art from its previous foundation in the metaphysic concept of beauty to a normativity that gives priority to subjects’ evaluation of art in a distinct faculty of taste. This transformation is not merely coeval with the establishment of a distinct aesthetic sphere in society⁶ but rather instigates a wider remodelling of normativity where metaphysically derived values will gradually yield to conceptualizations of epistemology, ethics and religion within the structures of human subjectivity.⁷ In Ferry’s wide outlook, taste is crucial to the politic his-
des Kongresses der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft in Berlin, März 2006, Berlin and New York, 2008; T. Vial: Schleiermacher and the State, 269 – 285 in The Cambridge Companion to Schleiermacher, in J. Marina (ed.): The Cambridge Companion to Schleiermacher, Cambridge, 2006; A. von Scheliha: Schleiermacher als politischer Denker, 83 – 99 in A. Arndt and K.-V. Selge (ed.): Schleiermacher – Denker für die Zukunft des Christentums?, Berlin and New York, 2011. L. Ferry: Homo Aestheticus: The invention of taste in the democratic age, tr. by Robert de Loaiza, Chicago 1993. Originally published as Homo Aestheticus: L’Invention du goût à l’âge démocratique, Paris 1990. “Ob jemand Geschmack hat bzw. zeigt und ob ein Gegenstand in Geschmacksurteilen günstig oder ungünstig beurteilt wird, ist erst in einer kulturellen Situation von Bedeutung, in welcher es als ausgemacht gilt, daβ die in einem bestimmten Teil unserer Kultur vorkommenden Gegenstände sinnvollerweise unter spezifisch ästhetischen Gesichtspunkten beurteilt werden sollten und die dafür zuständige intellektuelle Eigenschaft eben der Geschmack ist”: R. Lüthe and M. Fontius: “Geschmack/ Geschmacksurteil”, 792– 819 in Ästetische Grundbegriffe, vol. 2, Stuttgart & Weimar, 2001 (792). There is an obvious affinity between Ferry’s historiography and the history of the public sphere as presented by Jürgen Habermas. In both cases, new models to evaluate art within pre-Enlightenment
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tory of Western civilization in so far as art became the harbinger of a lasting societal challenge in any democratic paradigm: The tension between the liberty of free and authentic expression of sensible subjectivity vis-à-vis the universality of common and possibly rationally articulated standards. Indeed, when the yardstick of aesthetic normativity is no longer taken to be universally accessible in conceptual form norms will have to be developed, communicated and acknowledged in complex interplay. The concomitant problem that arises is how to develop a universal consensus that does not constrain individuals’ and specific communities’ claims for authentic expression of their own identity.⁸ A specifically aesthetic resolution of the tension between individuality and community in Kant’s pivotal Critique of the Power of Judgment (CPJ) first received wider attention due to Hannah Arendt’s novel reading of this work as his “unwritten” political philosophy.⁹ The methodology behind her interpretation is palpably problematical as she from the outset circumvented the complex conception of political legitimacy that Kant explicitly articulated and developed in interplay with his philosophy of Recht. ¹⁰ The idiosyncrasy of her imagination in this regard did however go hand in hand with a sagacious empathy for how the Third Critique in its conception of common sense – conceived as a specifically aesthetic quality – contains a vision of cohesion that might well be interpreted as a distinct category for political co-existence. Arendt here highlights the paradox that Kant conceives of judgments of taste, stemming from the immediate impressions of perception upon sensual subjectivity, as a medium to bring individuals together into a universal cosmopolitan community where “the very humanity of man […] is manifest”.¹¹ Her reading simultaneously brought attention to a number of interrelated topics that have become increasingly central in specialist Kant scholarship. Among them are foremost the reciprocity of taste, as a faculty of individual judgment, and human sociability – a theme that a theme that constantly occupied Kant during the development of his theory of taste. Not only does he elaborate on taste as developed in a sociable setting but
courtly life is credited with the construction of novel conceptions of humanity that manages to circumvent traditional hierarchies of political and social representation. Cf. J. Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt am Main 1990, 90 – 107. “[T]he key problem of modernity in general presents itself in its most difficult and most decisive aspect; how to ground objectivity on subjectivity, transcendence on immanence? […] It is in the domain of aesthetics that this question can be read in its purest form, for it is here that the tension between individual and collective, subjective and objective, is at its highest”: Ferry 1993, 25. H. Arendt: Lectures on Kant’s Political Philosophy, R. Beiner (ed.), Chicago 1992. Arendt voices the conviction that “Since Kant never wrote his political philosophy, the best way to find out what he thought about this matter is to turn to his ‘Critique of Aesthetic Judgment’”(61). In her case, this assertion is concomitant with a disregard for his attempt to ground a theory of political legitimacy in a legal framework. On the methodological conflict between Arendt and Kant, see V. Gerhardt: Immanuel Kants Entwurf >Zum Ewigen FriedenSiehst Du die Musik der Landschaft?< sagte Kaspar, >wie geistreich und frei die Natur phantasirt, und mit Nebel und Licht eine bezaubernde Wirkung hervorbringt?< Sie hat hier nur wenig Umfang, keine reiche Gegend steht ihr zu Gebote: der Hafen, die Stadt und einige begraf′te Mittelgründe, mit Gebüsch unterbrochen, sind Alles. Und welch ein
Vgl. Norbert Christian Wolf, Streitbare Ästhetik, 204: „Die große, nachgerade epochale Bedeutung von Goethes säkularisierter >Kunstreligion< für die Entstehung moderner, autonomer Kunst geht daraus hervor, daß in der […] Auseinandersetzung um kulturelle Legitimität noch heute eine grundlegende stillschweigende Übereinkunft jenseits aller Konkurrenz vonnöten ist […]“ Zur Ablehnung der Kunstreligion durch Schleiermacher in den Reden vgl. Richard Janus,Wenn der Konzertsaal zur Kirche wird, 171. Zu den Beziehungen von religiöser und ästhetischer Erfahrung vgl. Ulrich Barth, Religion und ästhetische Erfahrung. Interdependenzen symbolischer Erlebniskultur, in: Ders., Religion in der Moderne, Tübingen 2003, 235 – 262. Ulrich Barth, Ästhetisierung der Religion – Sakralisierung der Kunst. Wackenroders Konzept der Kunstandacht, in: Ders., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 255. Vgl. Theodor Schwarz, Erwin von Steinbach I, 387.
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Reichthum großer Ideen weiß sie aus den einfachen Mitteln zu entfalten! Ist es doch ein göttlicher Geist, der hier musizirt und mit Licht und Schatten, Farben und Formen wundersam spielt!“³⁸ Diese Schilderung der Stadt und die sie umgebenden Landschaft erweckt in den Lesenden das Bild eines Friedrich-Gemäldes. Die verschiedenen klassischen Elemente eines Friedrichs sind hier verdichtet: Kirchtürme, ein Hafen mit Schiffsmasten, der wogende Nebel und das Licht etc. Die Landschaft, wie sie Erwin und Kaspar hier begegnet, ist inspiriert durch einen göttlichen Geist, der gestalterisch tätig ist. Die Anklänge an eine Physikotheologie wie an pantheistische Vorstellungen liegen auf der Hand. Die Wirkung der Landschaft, die den Maler in ihren Bann schlägt, nötigt ihn zum Malen. Ein paar Seiten später erklärt Kaspar die Grundprinzipien seiner Bildgestaltung: „>Du magst es mit Recht ein Drängen nennen,< versetzte Kaspar lebhaft, >denn Alles drängt und treibt mich, wenn ich ein Bild mache, erst in einer gewissen geometrischen Figur meine Gedanken zu fassen, und rein,wie der Mathematiker, sie zu construiren. Ich habe nicht früher Ruhe, bis ich eine solche rhythmische Form gefunden habe, die freilich oft sehr versteckt liegt und nur dem Kunstsinn offenbar wird, doch kühl und klar abgewogen werden muß, wie der Rhombus und das Polygon, bevor man an Ausschmückungen denken darf. Fehlt diese Grundform in einem Bilde, so fehlt die Kunst, und es ist bei allen sonstigen Verdiensten nichts als ein naturalisirender Versuch, ein üppiges Convolut, ohne Haltung und Wahrheit.“³⁹ Für den Landschaftsmaler Kaspar sind die geometrischen Formen und die Struktur in der Bildgestaltung zentral. Er konstruiert seine Bilder. Seine Gemälde bilden die Wirklichkeit nicht einfach mimetisch ab, sondern werden erst durch ihre Konstruktion zur Kunst. Das Wesentliche ist also nicht das Abgebildete, vielmehr ist es der Bildausschnitt und die Anordnung. Im ersten Romanzitat bedient sich Schwarz der Musik als Metapher: „Musik der Landschaft“. In Bezug auf die Bildgestaltung greift er aber nicht auf die musikalische Ebene zurück, dann müsste er von Bild-Komposition reden, sondern wählt die mathematische Ebene und spricht von der Konstruktion. Das entspricht den sonstigen Vorstellungen Schwarzens, der in Beziehung auf die Malerei nur der Landschaftsmalerei das gleiche Vermögen wie der Musik zubilligte: „Der Mensch fühlt die Ewigkeit seines Sein!“⁴⁰ Jedoch wären die Aussagen ebenso angemessen für die Architektur, die nicht die Natur nachbildet, sondern nach der dem
Theodor Schwarz, Erwin von Steinbach 1, 63 f. Vgl. auch III, 347: „Kaspar theilte es mit ihm, und wenige Worte waren genug, um die tieffsten Anschauungen über Kunst und Leben, Natur und Menschheit unter ihnen zu verständigen. Trugen sie doch den Schlüssel dazu im Herzen und waren selbst ein bewußter Theil diese heiligen Natur geworden, welcher nichts als eine fortlaufende Offenbarung des ewigen Weltgeistes ist, und uns nach dem innern Gehalt der wahrnehmenden Seele in einer höheren Potenz erscheint. So schaut der Mensch das Glück seines Lebens in die Natur hinein und löset gleichsam ihre Zunge, da Mensch und Natur, aus einer Wurzel gewachsen, zur gegenseitigen Enthüllung sich dienen sollen.“ Theodor Schwarz, Erwin von Steinbach 1, 66 f. Erika Maskow, Theodor Schwarz, 88.
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menschlichen Geist entsprungenen Konstruktion Gebäude errichtet. Für Schwarz stammt die Baukunst aus der Unendlichkeit.⁴¹ Der Drang, etwas hervorzubringen, ist ein Motiv, das in der damaligen Zeit weitverbreitet ist und seinen Ursprung in der platonischen Philosophie hat. So kann auch Schleiermacher am Beginn der ersten Rede seiner Reden „Über die Religion“ feststellen: „Dies alles weiß ich, und bin dennoch von einer innern und unwiderstehlichen Nothwendigkeit, die mich göttliche beherrscht, gedrungen zu reden […]“.⁴² Für die kunstgeschichtliche wie theologische Annäherung an Friedrich dürfte es ein Gewinn sein, wenn man die verschiedenen Sujets auf ihre Inspiration durch schleiermacherische Gedanken analysierte und die Gruppen benennte, auf die dieser Einfluss zuträfe. Damit ließe sich auch die Stellung dieser Bilder im Oeuvre Friedrichs bestimmen und eine zeitliche Einordnung vornehmen. Im Zusammenhang unserer Fragestellung ist ein bestimmter Bildtypus bei Friedrich interessant. Dies sind diejenigen Bilder, bei denen ein oder mehrere Menschen zentral im Bild positioniert, den Betrachtenden abgewandt sind, zumeist auf dunklen Felsen stehen und in die von Helle bestimmte Ferne blicken. Archetypisch ist in dieser Hinsicht das Bild „Der Wanderer über dem Nebelmeer“, das um 1818 entstanden ist. Der Mensch steht hierbei im Scheitelpunkt zwischen Himmel und Welt. Das Unendliche über ihm, das Endliche unter ihm. Bei dieser Bildanlage kommt der Hyperbel eine wichtige Funktion zu. Werner Busch ist von der Verwendung der Hyperbel als Symbol der Unendlichkeit vollends überzeugt: „Eine überzeugendere Metapher für Unendlichkeit scheint es nicht zu geben.“⁴³ Friedrich setzt die Hyperbel aber auch ein, wenn er die Endlichkeit darstellen will. Beim Wanderer werden durch den in der Mittelachse des Bildes stehenden Menschen als Hyperbelmittelpunkt die Kurven der Endlichkeit als Felsformation und der Unendlichkeit als Himmel gespiegelt. Die Konstruktion ist symmetrisch. Dass die Aussagen im Erwin-Roman authentische Aussagen über die Malweise von Friedrich sind, postuliert Busch: „So müssen wir davon ausgehen, daß Schwarz sich bemüht hat, die komplexen strukturellen Gesetze Friedrichs der Nachwelt zu überliefern, und ferner davon, daß Friedrich sie ihm ungeschützt und ohne Vorbehalte mitgeteilt hat.“⁴⁴ So enthält Schwarzens Erwin-Roman die ungeschriebenen Lehren der Bildphilosophie des Caspar David Friedrich. Schleiermacher selbst hat an verschiedenen Orten seines Werkes auf die Hyperbel als eine Metapher aufmerksam gemacht. Bekannt sind die Stellen aus den „Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre“ von 1803. Dort gibt er an, dass „das höchste Gut einer Hyperbel zu vergleichen ist“⁴⁵. Damit wären hyperbolische Formen in der Konstruktion von Gemälden Friedrichs ein Anknüpfungspunkt für einen möglichen Einfluss durch Schleiermacher.
Vgl. Erika Maskow, Theodor Schwarz, 90. KGA I/2, 190. Werner Busch, Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion, München 2003, 123. Werner Busch, Caspar David Friedrich, 138. KGA I/4, 122.
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Im Schleiermacherischen Wissenschaftssystem erweist sich die Dialektik als Grund und Mitte. Entsprechend hat er auch beim Projekt der Übersetzung der Werke des Platon diejenigen Dialoge als älter charakterisiert, die „von den Möglichkeiten und den Bedingungen des Wissens“⁴⁶ handeln. In seiner Einleitung zum Dialog Phaidros kommt er zu dem Schluss, dass die Aufgabe dieser Schrift „nichts andres ist, als der Inbegriff jener höheren Gesetze, nämlich die Kunst des freien Denkens und des bildenden Mitteilens oder die Dialektik.“⁴⁷ Im Protagoras wird die Dialektik weiterentwickelt, in dem sie dort als „die Lehre von richtiger Einteilung der Begriffe“⁴⁸ bestimmt wird. Im Parmenides geht es dann um die Verknüpfung der Begriffe. Nach dem, was Schleiermacher als Einleitung in die Dialoge des Platon schreibt, ist klar, dass der Dialektik eine besondere Stellung zukommt, da sie epistemologische Funktion hat. Es geht nicht nur um die Einheit des Wissens, sondern auch um die Bedingungen, welche überhaupt die Einzelwissenschaften ermöglichen. Seit den frühromantischen Kontakten hat sich Schleiermacher mit der Einheit von Denken und Darstellen beschäftigt.⁴⁹ Wissenschaftstheoretisch ist die Dialektik für Schleiermacher Grundlage und Mitte seines Systems: sie ist die Theorie, wie auch die Metatheorie. Theorie ist die Dialektik, insofern sie eben die Bedingungen des Wissens thematisiert und Metatheorie ist sie, indem sie die Idee des Wissens zu ihrem Gegenstand macht und daraus die Wissenschaften deduziert.⁵⁰ Das Wissen an sich beinhaltet sowohl die Vorstellung des höchsten Gegensatzes, mit dem die Ähnlichkeit zwischen dem Wissen und dem Sein begründet wird, als auch die Möglichkeit der Produktion von Wissen vermittels des doppelten relativen Gegensatzes. Es mag nun nicht verwundern, wenn sich Schleiermacher auch in seiner Lehrtätigkeit wiederholt der Dialektik zugewandt hat und hier aus der langen und intensiven Beschäftigung mit Platon schöpfen konnte. In der Vorlesung von 1814/15 unterschiedet er die beiden Weisen für die Hervorbringung von Wissen: Sie werden mit den Begriffen „Konstruktion“ und „Kombination“ bezeichnet. Christian Albrecht fasst dies folgendermaßen zusammen: „In dem Zusammenwirken von Konstruktion und Kombination realisiert sich die Übereinstimmung von der Vielfalt abbildenden Idee der Welt und der die Einheitlichkeit abbildenden Idee des transzendentalen Grundes in der Idee des Wissens.“⁵¹ Schleiermachers Denken wird geprägt von der Vorstellung von Gegensätzen. In folgendem Zitat aus der „Ausarbeitung zur Dialektik (1814/15)“ zeigt sich die Grundoperation des schleichermacherischen Denkens in paradigmati-
Friedrich Schleiermacher, Über die Philosophie Platons, Hamburg 1996 (PhB), 67. Friedrich Schleiermacher, Über die Philosophie Platons, 78. Friedrich Schleiermacher, Über die Philosophie Platons, 130. Vgl. Eilert Herms, Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt, 189. Vgl. Christian Albrecht, Schleiermachers Theorie der Frömmigkeit. Ihr wissenschaftlicher Ort und ihr systematischer Gehalt in den Reden, in der Glaubenslehre und in der Dialektik, Berlin 1994 (SchlA 15), 19 (Zum isometrischen Aufbau des Systems der Wissenschaften nebst der Zentralposition beachte die Darstellung auf S. 98). Christian Albrecht, Schleiermachers Theorie der Frömmigkeit, 31 f.
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scher Weise: „Wir sind nicht befugt ein anderes Verhältniß zwischen Gott und der Welt zu sezen als das des Zusammenseins beider[.] Denn eben so wenig wie wir einen Gegensaz beider construiren können können wir auch eine Identität beider construiren, weil in ihrem Sein in uns beide Ideen verschieden sind, auf der anderen Seite wir sie aber an sich nicht abgesondert von einander denken können. Wir schweben also zwischen dem einen und dem anderen und können auch mit Besonnenheit nicht anderes erwarten. Das Sezen einer Identität und eines Gegensazes zwischen beiden ist auf gleiche Weise ein Hinausgehen aus dem realen Denken und ist doch nicht wie alles wahrhaft transcendente sein muß zugleich innere nothwendige That, folgt auch nicht aus der Art wie beide Ideen in uns transcendente Principien sind.“⁵² Die Ideen von Gott und Welt sind für ihn „correlata“⁵³. Hier geht es eben darum,wie Endlichkeit und Unendlichkeit zusammen zu denken sind. Beide sind unterschiedlich und können auch in ihrer Spezifik beschrieben werden. Dennoch lassen sich beide zur Deckung bringen und sind damit identisch. Das Gegensatzpaar also schwebt in seinem eigenen Zwischenraum. An anderer Stelle bezeichnet Schleiermacher diesen Zustand auch als Oszillieren. Die Setzung von Identität bzw. Gegensatz entspringt freilich daraus, sodass etwas Verbindendes zwischen den beiden Polen gedacht werden muss. Diese Denkoperation zeigt sich auch in Aussagen aus der zweiten Auflage der Reden wie dieser: „das Eine in Allem und Alles in Einem.“⁵⁴ Damit wird der Oszillationsraum zwischen dem Gegensatzpaar von Einheit und Allheit eröffnet. Die Aufhebung dieses Gegensatzes wäre freilich Gott.⁵⁵ Neben der Affinität zu Platon hatte Schleiermacher aber auch mathematische Ambitionen.⁵⁶ Wird die Hyperbel als Kegelschnitt dargestellt, erinnert das an die figura paradigmatica des Nikolaus von Kues. Im Jahr 1970 hat Wolfgang Sommer auf die Beziehungen zwischen Cusanus und Schleiermacher vermittels der beiden Vorstellungen „der docta ignoratia und des principium individuationis“⁵⁷ aufmerksam gemacht. Diese Spurensuche ist dann von Michael Eckert fortgesetzt worden.⁵⁸ Auch das Denken in Gegensätzen ist im cusanischen System von entscheidender Bedeutung. In seiner Schrift De docta ingnoratia entwickelt er die Vorstellung der coincidentia oppositorum, des Zusammenfalls der Gegensätze. „Gott und Welt sind als vereinte unvereinbar, es besteht eine ursprünglich geeinte Differenz (oder differente Einung) zwischen beiden.“⁵⁹ – wie Werner Schulze schreibt. Im Docta ignorantia hört sich das so an: KGA II/10.1, 150. KGA II/10.1, 147. KGA I/12, 20. Vgl. Inken Mädler, Kirche und bildende Kunst der Moderne, 202. Vgl. Inken Mädler, Kirche und bildende Kunst der Moderne, 230 ff. Wolfgang Sommer, Cusanus und Schleiermacher, in: NZSTh 12 (1970), 101 Michael Eckert, Identität und Individualität. Spuren cusanischer Philosophie bei Schleiermacher, in: Günter Meckenstock (Hg.), Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums, Berlin 1991 (TBT 51), 349 – 368. Werner Schulze, Zahl Proportion Analogie. Eine Untersuchung zur Metaphysik und Wissenschaftshaltung des Nikolaus von Kues, Münster 1978 (BCG 7), 42.
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„Oportet enim in divinis simplici conceptu, quantum hoc possible est, complecti contradictoria ipsa antecedenter praeveniendo. Puta non oportet in divinis concipere distinctionem et indistinctionem tamquam dua contradicentia, sed illa ut in principio suo simplicissimo antecedenter, ubi non est aliud distinctio quam indistinctio.“⁶⁰ Im Hinblick auf einen möglichen Einfluss der Vorstellungen Schleiermachers auf Friedrich kann ein Zusammenhang über die mathematische Figur der Hyperbel gefunden werden. Freilich ist Schleiermacher, in seinem Bemühen Endlichkeit und Unendlichkeit zusammen denken zu können, vermittels der Rezeption der platonischen Dialektik noch einen Schritt weiter gegangen. Ob die hier dargestellte Grundoperation Schleiermachers in ihrer cusanischen Aufladung Eingang in die Bilder eines Caspar David Friedrich gefunden hat, lässt sich nicht eindeutig beantworten und führt in den Bereich der Annahmen.
IV. Einbahnstraße oder Symphilosophie? Erwägungen zur Wirkung Schleiermachers Im Verhältnis von Schleiermacher und Friedrich ist die Richtung klar, sie geht von Berlin nach Dresden. Eine gegenläufige Bewegung ist nirgends zu erkennen. Das führt zur Frage danach, in welcher Weise nicht nur die Rezeptionsgeschichte Schleiermachers auf Friedrich zu schreiben ist, sondern wie überhaupt eine Wirkung von anderen auf Schleiermacher festgestellt werden kann. In diesem Zusammenhang ist nach Schul- und Studienzeit auf die Berliner Wohngemeinschaft zwischen Friedrich Schlegel und Schleiermacher hinzuweisen, die sich für beide als eine recht fruchtbare Zeit dargestellt hat.⁶¹ Betrachtet man die Ansichten der Kommunarden genauer, dann sieht man, dass die Systeme beider schon in dieser Zeit ausgeprägt sind und in vielen Punkten differieren. Schlegels Denken umkreist Vorstellungen und Begriffe wie Ironie, Transzendentalphilosophie oder Unverständlichkeit. Mit dem Ironiekonzept kann Schleiermacher freilich nichts anfangen, bei ihm findet sich zu dieser Zeit nur das Wort „Scherz“. Im Wissenschaftssystem wird die Dialektik grundlegend und hermeneutisch geht Schleiermacher vom Missverständnis aus. An der Frage nach dem Kern der Platondeutung zeigen sich die Unterschiede.⁶² Beim Charite-Prediger und Verfasser der Reden liegen die Grundlinien seines Systems vor, die Schleiermacher im Laufe seines Leben entfaltet. In philosophischer Hinsicht konnte er in Aufnahme und Ab Cusanus, De doct. ign. I, 19. Vgl. dazu Andreas Arndt, Ein literarische Ehe. Schleiermachers Wohngemeinschaft mit Friedrich Schlegel, in: Ders. (Hg.) Wissenschaft und Geselligkeit. Friedrich Schleiermacher in Berlin 1796 – 1802, Berlin, 3 – 14. Vgl. dazu Richard Janus, Über den Werth des Sokrates als Philosophen: Einige Anmerkungen zu Schleiermacher und Kierkegaard, in: Niels Jørgen Cappelørn u. a. (Hg.), Schleiermacher und Kierkegaard. Subjektivität und Wahrheit. Akten des Schleiermacher-Kierkegaard-Kongresses in Kopenhagen, Oktober 2003, Berlin 2006 (SchlA 21), 733 – 740.
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grenzung zu Kant, Spinoza und Platon sein Denken formen. Aufgenommen wird freilich nur, was sich in dieses Konzeption integrieren lässt. Dem gegenüber steht die Wirkung, die Schleiermacher auf viele Bereich von Kunst, Kultur und Wissenschaft hatte. Hier ist er jedoch der Impulsgeber, der Anregende.
Christian Neddens / Saarbrücken
Ästhetik des Kreuzes. Zur Theologie des Bildes bei Caspar David Friedrich – auch im Blick auf Schleiermachers ‚Reden‘ Immer wieder ist die These eines Abhängigkeitsverhältnisses zwischen Caspar David Friedrich (1774– 1840) und Friedrich Schleiermacher vertreten worden. Nur Schleiermachers ‚Reden‘ – so der Berliner Kunsthistoriker Werner Busch – haben Friedrich veranlassen können, in seiner eigentümlichen Weise „Kunst und Religion zu verbinden, ja Kunst religiös zu betreiben.“¹ Friedrich als Schleiermacherianer – diese Vorstellung ist verlockend, personifiziert sie doch die romantische Idee von Kunst und Religion als zwei seelenverwandter Schwestern.² Buschs Strukturanalysen Friedrichscher Gemälde sind vorbildlich. Seiner Hauptthese jedoch folge ich nicht. Für Friedrichs Bildprogramm halte ich eine andere Quelle für maßgeblicher, aus der Friedrich durch Bild und Wort sowohl Impulse für seine Frömmigkeit als auch für die Gestaltung seiner metaphorischen Landschaftsmalerei empfing. Von dieser Quelle her ergibt sich eine neue Sicht auf die Spezifik seines Bildverständnisses. Ich werde zunächst – darum kommt man nicht herum – den Tetschener Altar als Manifestbild Friedrichs unter einer,wie ich hoffe, neuen Perspektive analysieren (denn wenn Schleiermacher stilprägend für Friedrich ist, dann muss sich das schon hier zeigen!) und werde in einem zweiten Schritt nach der Quelle fragen, die sowohl für die Theologie dieses Manifestbildes als auch für seine formale Gestaltung entscheidende Impulse lieferte. Von hier aus werfen wir einen Blick auf Friedrichs Ästhetik des Kreuzes anhand weiterer Bildbeispiele und fragen zum Schluss, was all dies für die Gewichtung der Parallelen zwischen Friedrichs Kunst und Schleiermachers Theologie zu bedeuten hat.
Werner Busch: Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion, München 2003, 161. Vgl. ders.: Protestantische Frömmigkeit und bildende Kunst. Friedrich Schleiermacher im Gespräch mit Caspar David Friedrich, in: Andreas Arndt, Ulrich Barth und Wilhelm Gräb (Hg.): Christentum – Staat – Kultur. Akten des Kongresses der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft in Berlin im März 2006, Berlin / New York 2008, 253 – 270; ders.: Schleiermacher als Inspiration für Caspar David Friedrich, in: Christoph Dohmen / Christoph Wagner (Hg.): Religion als Bild – Bild als Religion, Regensburg 2012, 287– 304. Vgl. bereits Klaus Lankheit: Caspar David Friedrich und der Neuprotestantismus, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 24 (1950), 129 – 143, 134: „Friedrichs Gemälde sind wie eine Interpretation der beiden frühen Hauptschriften Schleiermachers.“ Vgl. auch Werner Hofmann: Caspar David Friedrich. Naturwirklichkeit und Kunstwahrheit, München 2000, 50 – 52. DOI 10.1515/9783110464573-040
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Abb. 1: Caspar David Friedrich, Das Kreuz im Gebirge (Tetschener Altar), 1807/08, Öl auf Leinwand, 115 × 110 cm, Staatliche Kunstsammlungen, Albertinum / Galerie Neue Meister, Gal.-Nr. 2197 D, Dresden, Foto: Hans-Peter Klut
1. Der Tetschener Altar als Manifestbild Friedrich hatte lange an dem sogenannten „Tetschener Altar“ gearbeitet. Mehrere Vorstudien sind bekannt. Im Oktober 1808 schrieb ihm seine Schwester: „Hast Du das Altarstück fertig? Ich möchte es wohl sehen, ich glaube es wird viel Eindruck machen.“³ Diese Formulierung war weit untertrieben: Als Friedrich über die Weihnachtstage das Werk in seinem Dresdner Atelier in sakraler Inszenierung ausstellte,
Hermann Zschoche (Hg.): Caspar David Friedrich. Die Briefe, Hamburg 22006, 44.
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erregte es erhebliches Aufsehen, spaltete die Dresdner Öffentlichkeit und machte „Friedrich mit einem Schlag […] zu einer Art frühromantischer Identifikationsfigur“.⁴
1.1 Ramdohrs Kritik Das Aufsehen um Friedrichs Altarbild ist als Ramdohr-Streit in die Kunstgeschichte eingegangen. Der preußische Kammerherr Wilhelm Basilius von Ramdohr (1757– 1822) hatte wie kein anderer die innovative Schubkraft dieses Gemäldes gespürt und sich dem Geist entgegengestemmt, dem es seiner Ansicht nach entsprang. „[E]s ist eine wahre Anmaßung,“ so seine bekannte Polemik, „wenn die Landschaftsmalerei sich in die Kirchen schleichen und auf Altäre kriechen will.“⁵ Ramdohrs ausschweifende Gedankenführung verdunkelte, wo sein Schmerzpunkt in Wirklichkeit lag. Er tadelte Fehler in der Perspektive und Lichtführung, kritisierte eine vermeintliche Allegorisierung der Landschaft. Was Ramdohr aber der Romantik im Allgemeinen und Friedrich im Besonderen vorwarf, war „Mysticismus“, d. h. eine Verwirrung des Verhältnisses zwischen Kunst, Religion und der „wirklichen Natur“⁶. Ramdohr befürchtete, dass die Landschaft künstlich mit religiöser Deutung aufgeladen wird, selbst aber nicht mehr zur Geltung kommt.⁷ Damit würde die Natur nicht mehr aus sich heraus das schöpferische Handeln Gottes bezeugen, sondern müsste symbolisch vertieft werden. Aber nicht nur die Natur, auch die Kunst würde ihre herkömmliche Rolle, als freies Spiel mit Stimmungen und Assoziationen, verlieren. Denn als Zeugnis religiöser Anschauungen würde sie dem Ernst von Letztgeltungsansprüchen verfallen.⁸ Und auch die Religion würde in Mitleidenschaft gezogen. Nicht mehr das in der Schrift bezeugte Handeln Gottes in seiner Geschichte mit den Menschen, sondern die künstlerische Naturkomposition würde fortan auf den Altären verehrt werden. Ohne Zweifel: Ramdohr deutete Friedrichs Kreuzlandschaft im Kontext frühromantischer „Kunstreligion“⁹: „wie ist es möglich,“ klagte er, „den Einfluß zu verkennen, den ein jetzt herrschendes System auf Herrn Friedrichs Komposition gehabt hat!“¹⁰ Friedrich hingegen fühlte sich komplett missverstanden. Er unterstellte
Werner Busch: Caspar David Friedrichs ‚Tetschener Altar‘, in: Marek J. Siemek (Hg.), Natur, Kunst, Freiheit. Deutsche Klassik und Romantik aus gegenwärtiger Sicht, Amsterdam 1998, 263 – 280, 263. Sigrid Hinz (Hg.): Caspar David Friedrich in Briefen und Bekenntnissen, Berlin 21974, 149 f. Hinz, Friedrich (s. Anm. 5), 149. Vgl. Hinz, Friedrich (s. Anm. 5), 146 – 150. Vgl. Friedrichs Aphorismus: „Die Kunst mag ein Spiel sein, aber sie ist ein ernstes Spiel“ (Hinz, Friedrich (Anm. 5), 83). Vgl. etwa Wilhelm Heinrich Wackenroder: Herzergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders, Berlin 1797, 166: „Ich vergleich den Genuß der edleren Kunstwerke dem Gebet.“ Zum Konzept der Kunstreligion vgl. Albert Meier / Allesandro Costazza / Gérard Laudin (Hg.): Kunstreligion. Ein ästhetisches Konzept der Moderne in seiner historischen Entfaltung. Bd. 1: Der Ursprung des Konzepts um 1800, Berlin u. a. 2011. Hinz, Friedrich (s. Anm. 5), 150.
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Ramdohr, dieser habe gerade den christlichen Gehalt seines Bildes nicht begriffen: „F.verzeiht dem Heiden, dass er den Christlichen Gegenstand fehlerhaft findet.“¹¹ Aber hatte v. Ramdohr nicht recht? Haben nicht auch spätere Interpreten im Tetschener Altar das Ende der christlichen Ikonographie (Busch), „negative Dialektik“ (Eimer), „negative Theologie“ (Hoeps) und sogar tiefgreifenden Nihilismus (M. Frank) zu sehen vermeint?
1.2 Analyse der Bildstrukturen Die Motivik des Tetschener Altars ist – abgesehen von dem ungewöhnlich aufwendigen Rahmen – extrem sparsam. Ein felsiger Gipfel, der im Gegenlicht der unter- oder aufgehenden Sonne fast wie ein planes, schwarzes Dreieck wirkt, bestanden von einigen Tannen und gekrönt mit einem hohen efeuumrankten Gipfelkreuz, darüber eine rotglühende Wolkenformation. Alles fehlt, was nach zeitgenössischem Verständnis ein gelungenes Landschaftsbild ausmacht: der Blick in einen abwechslungsreich gestalteten Raum, der perspektivisch erschlossen, spannungsreich aufgebaut und kontrastreich ausgeleuchtet ist. Auch die ‚Luftperspektive‘ ist nicht berücksichtigt, also die mit der Entfernung zunehmende Unschärfe des Dargestellten. Stattdessen sind die Details der Tannen und des Kreuzes so präzise gezeichnet, dass eine Distanzabschätzung unmöglich wird. Zusammen mit der Unzugänglichkeit des Bildraums führt das dazu, dass der Betrachter über seinen Standort im Unklaren bleibt. „Der Maler hat gar keinen Standpunkt angenommen oder auch annehmen können, um dasjenige auszudrücken, was er ausdrücken wollte“, ätzte der Kammerherr.¹² Genau das war aber von Friedrich beabsichtigt: Denn die planimetrische Komposition war aufs Genaueste kalkuliert.¹³ Der Korpus des Gekreuzigten und der Fuß des Kreuzes liegen genau auf den Kreuzungen der Linien, die das Bild nach dem goldenen Schnitt teilen. Der Berg selbst gibt eine Dreiecksstruktur wieder, die die geometrische Figur des Gottessymbols auf der Predella wiederholt. So ließe sich detailreich fortfahren. Die Durchkomponiertheit bezieht sich allerdings nicht – wie in der Malerei bisher üblich – auf den dargestellten Landschaftsraum, sondern auf die Oberfläche des Bildes, auf das Arrangement der Farbflächen, der Formen und Kontraste. Scheinbare Ungeschicktheit in der räumlichen Darstellung und exakte Kalkulation der Bildstruktur gehen Hand in Hand. Auch das Zusammenspiel von Bild und Rahmen verstärkt diese Widersprüchlichkeit.Während das Bild zunächst eine Landschaftsansicht suggeriert, erzwingt der auffällige Rahmen mit seinen Putten und Palmzweigen, mit Stern und Strahlensymbol in der Bildachse, mit Ähren und Reben eine ganz andere Betrachterhaltung und fordert zur symbolischen Deutung heraus. Zschoche, Friedrich (s. Anm. 3), 53. Hinz, Friedrich (s. Anm. 5), 141 f. Die Einsicht in die Struktur ist insbesondere Busch zu verdanken. Vgl. ders., ‚Tetschener Altar‘ (s. Anm. 4).
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Abb. 2: A. A. Bautitz nach J. G. Lehmann: Stadtplan von Dresden, Altstadt und Neustadt, 1825, Sammlung Theodor Bienert (sächsische und böhmische Topographie, Ende 16. Jh. – Anfang 20. Jh.), Inventarnummer A 1995-1981, Kupferstich-Kabinett, Staatliche Kunstsammlungen Dresden
So stehen sich im Gesamteindruck verschiedene Modi der Wirklichkeit gegenüber: ein irrealer Realraum einer Landschaftsansicht innen und ein klassisches Symbolsystem außen – und das als Altarblatt, das traditionell nach einer Historiendarstellung verlangt, die die Vergangenheit vergegenwärtigt. Der Betrachter steht vor der Aporetik, ob er kognitiv mit der Entzifferung des Zeichencodes reagieren, ob er sich affektiv von einer Stimmung im Gebirge ergreifen lassen, ob er fromm die heilsgeschichtliche Bedeutung des Kreuzestodes Jesu im Herzen bewegen oder intellektuell reflektierend in all dem eine Chiffre für den Zustand seiner Gegenwart erahnen soll. „Kein Modus der Betrachtung kann allen Vorgaben des Bilds gleichermaßen gerecht werden“,¹⁴ urteilt zurecht Johannes Grave. Im Zentrum dieser irritierenden Gleichzeitigkeit steht zu allem Überfluss das Kruzifix, das zugleich Teil einer Landschaft, Darstellung eines historischen Ereignisses und Zeichen einer bestimmten Gottes- und Selbsterfahrung ist.
Johannes Grave: Caspar David Friedrich. Glaubensbild und Bildkritik, Zürich/Berlin 2011, 39.
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2. Hintergründe zur inhaltlichen und formalen Gestaltung Was hat Friedrich zu dieser ungewöhnlichen Bildkomposition veranlasst – die er über Monate hinweg bis ins Detail konzipierte, für die er dann – erstmalig – das große Format in Öl wählte und für die er noch dazu einen kostspieligen Schnitzrahmen anfertigen ließ? Ich möchte dazu zwei Quellen zugänglich machen, die in der Friedrichforschung bisher nicht oder nicht hinreichend wahrgenommen wurden.
2.1 Das Kruzifix im Realraum Es ist viel gerätselt worden, wo Friedrich die Landschaft des Tetschener Altars gesehen haben könnte. Die Antwort ist: Er hat sie überhaupt nicht gesehen, jedenfalls nicht in einem Realraum. Wie viele seiner Arbeiten ist der Tetschener Altar eine Komposition aus peniblen Detailstudien und deren wohlüberlegter Collage.
Abb. 3: Caroline Bardua, Porträt Caspar David Friedrichs, 1839, Öl auf Leinwand, 77 × 36 cm. Inv. Nr. 229, Anhaltische Gemäldegalerie Dessau (akg-images)
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Das Motiv des vergoldeten Kruzifixes auf dem Fels ist erstaunlich leicht zu identifizieren. Das ist meine erste Quelle. Friedrich brauchte nämlich nur aus dem Fenster seines Ateliers in der Pirnaischen Vorstadt zu schauen, um es auf der Augustusbrücke im Glanz der Abendsonne zu betrachten (Abb. 2). Friedrichs langjährige Wegbegleiterin Caroline Bardua hat diese Ansicht 1840 in einem Porträt eindrücklich festgehalten (Abb. 3). Dabei gibt die Ansicht nicht die realistische, sondern eine Bedeutungsperspektive wieder. Die Brücke befand sich tatsächlich in viel größerer Entfernung zu Friedrichs Wohnung. Und das Kruzifix konnte man überhaupt nur von Friedrichs Lehnstuhl aus, nicht aber aus der Perspektive des Betrachters sehen. Der abendliche Lichtglanz ist festgehalten, der von Westen her auf das auf einem felsartigen Sockel befindliche Kreuz fiel und dessen Reflexionen auf dem vergoldeten Korpus von Friedrichs Fenster aus als schmaler Lichtstreifen zu sehen gewesen sein dürften.¹⁵ Im Vergleich mit dem Tetschener Altar fällt die identische Proportion der Kreuzbalken auf (Abb. 4). Selbst der Titulus ist in der entsprechenden Höhe angedeutet. Dieselbe Darstellungsform mit dem hohen Kreuzesstamm, den schmalen Balken und den nach links abgewinkelten Beinen begegnet auch beim Kruzifix in Friedrichs Morgen im Riesengebirge von 1810/11. Die Translozierung des Brückenkreuzes in eine Gebirgslandschaft ist bei Friedrich nichts Ungewöhnliches, wenn man etwa an die diversen Landschaftsszenerien denkt, in die er die Ruine Eldena versetzt. Umso dringlicher stellt sich die Frage, was Friedrich mit der Komposition dieses Kruzifixes zu einem insgesamt irritierenden Bild-Ensemble bezweckte.
2.2 Emblematik und Landschaftsaltar Tatsächlich gibt es eine Quelle, mit der Friedrich höchstwahrscheinlich vertraut war und in der auf eigentümliche Weise Bildtheologie und Bildinventionen des Tetschener Altars zusammenkommen: Und zwar ist dies die illustrierte Ausgabe von Johann Arndts Wahrem Christentum. Diese Schrift war mit allein 97 Auflagen bis 1800 das erfolgreichste Andachtsbuch Deutschlands und im gesamten nordischen Raum weit verbreitet. Auch für Schwedisch-Pommern ist eine intensive Arndt-Rezeption verbürgt.¹⁶ Und sie entspricht der
Das hochragende, metallene Kruzifix auf der Augustusbrücke stammte aus dem Jahr 1670. Es wurde 1732 vom dritten (vom Altstadtufer her gesehen) auf den fünften, stärksten und höchsten Pfeiler der Brücke verrückt, mit einem gewaltigen felsartigen Sockel aus Pirnaer Sandstein versehen und schließlich vergoldet. Nachdem die französische Armee den vierten Pfeiler 1813 gesprengt hatte, wurde das Kruzifix 1845 bei einem hochwasserbedingten Teileinsturz des fünften Pfeilers fortgerissen und ist seither verschollen. Vgl. Max Foerster, Die Geschichte der Dresdner Augustusbrücke, Dresden 1902. Vgl. Volker Gummelt: Johann Arndt-Rezeption und -Reaktion in den schwedischen Provinzen Deutschlands, in: Johann Arndt, Rezeption und Reaktion im Nordisch-Baltischen Raum (Hilding Pleijel-Symposium III), hg.v. Anders Jarlet, Lund 1999, 131– 142; Martin Brecht: Die Aufnahme von J.A.s ›Vier Bücher von wahrem Christentum‹ im deutschen Luthertum, in: Hans Otte / Hans Schneider (Hg.):
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Abb. 4: Das Kruzifix auf der Augustusbrücke, in: Bruno Krause: Die geschichtliche Entwicklung der Königl. Haupt- und Residenzstadt Dresden vom sorbischen (wendischen) Dorfe an bis zur heutigen Großstadt, Heft 2, Dresden 1895, 132
lutherisch-innerlichen Frömmigkeit im Hause Friedrich im spätorthodoxen Greifswald.¹⁷ Dass Friedrich in seinen Motiven verschiedentlich auf die Emblematik des Barock zurückgriff, ist bekannt. Dass Friedrich auch mit den Emblemen in Arndts Bücher vom wahren Christentum vertraut war, ist nicht nur sehr wahrscheinlich.¹⁸ Es gibt dafür eine
Frömmigkeit oder Theologie. Johann Arndt und die ‚Vier Bücher vom wahren Christentum‘. Göttingen 2007, 231– 262. Vgl. Johannes Grave: Caspar David Friedrich, München 2012, 84– 87, sowie Heinrich Assel: „Prophetische Bürger einer spätern Welt“. Theologisch-ästhetische Netzwerke in Greifswald und auf Rügen 1799 – 1833, in: Matthias Schneider (Hg.): Die Buchholz-Orgel im Greifswalder Dom St. Nikolai, Schwerin 2013, 77– 98. 1678/79 erschien erstmals eine mit Emblemen versehene Ausgabe des Buches. Bis 1800 erfolgten allein 96 weitere illustrierte Druckauflagen, deren Embleme inhaltlich weitgehend identisch blieben. Von besonderem Interesse für uns ist der seit 1712 begegnende Illustrationstyp, der bei zahlreichen
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Abb. 5: Caspar David Friedrich, Eiche im Schnee, ca. 1827/28?, Öl auf Leinwand, 44 × 34,5 cm, Wallraff-Richartz-Museum Köln (zeno.org)
Reihe von Hinweisen, von denen einer beispielhaft angeführt sei: das von Friedrich mehrfach gemalte Sujet der „Eiche im Schnee“ (Abb. 5). Die Details der Darstellung von 1827/28 entsprechen bis in die Verästelungen hinein exakt einer naturalistischen
Editionen in Berlin, Stockholm, Halle, Züllichau und Leipzig – also in dem für uns relevanten geographischen Raum – Verwendung findet. Kennzeichnend für diesen Typ ist die auffällige altarähnliche Rahmenform der Embleme. Die Ziffern im Text beziehen sich im Folgenden auf die Ausgabe: Des Hocherleuchteten Sel. Johann Arndts, General-Superintendentens des Fürstenthums Lüneburg, Fünff Geistreiche Bücher, vom wahren Christenthum, Welche handeln von heilsamer Busse, hertzlicher Reue und Leid über die Sünde, und wahren Glauben […] : Anietzo aufs neue zum funffzehenden mal aufgeleget […], Welchen noch beygefüget Drey andere kleine Bücher, welchen zu Des sel. Johann Arndts wahren Christenthum gehörig […] , Leipzig,Verlag Johann Samuel Heinsius, 1740; Digitalisat: https://ca talog.hathitrust.org/Record/100318898. Zur Rolle der Emblematik im Erbauungsbuch vgl. Martin Greschat: Die Funktion des Emblems in Johann Arndts ‚Wahrem Christentum‘, in: ZRGG 20 (1968), 154– 174; Elke Müller-Mees: Die Rolle der Emblematik im Erbauungsbuch, aufgezeigt an Johann Arndts ‚4 Bücher vom wahren Christenthum‘, Köln /Düsseldorf 1974; Dietmar Peil: Zur ‚angewandten Emblematik‘ in protestantischen Erbauungsbüchern, Heidelberg 1978.
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Baumstudie von 1806, sowie der Studie zweier Asttrümmer von 1809. Wie bei anderen Bildfindungen auch verband Friedrich diese realistischen Detailstudien zu einer neuen Bildkomposition, die Ausdruck einer Idee war und nicht eine konkret erlebte Landschaftssituation abbildete. Die Idee zur „Eiche im Schnee“ – nicht die Darstellung selbst – hat eine nahe Entsprechung in einem Emblem aus Arndts Erbauungsbuch, das mit dem Lemma versehen ist: „Das Mindern mehrt“ (Abb. 6).¹⁹ Wie hier sind es auch beim Tetschener Altar nicht die Details der Darstellung, sondern die kompositorischen Ideen, die Friedrich auf der Grundlage der Embleme entwickelt.²⁰ Eine gewisse Besonderheit besteht beim Tetschener Altar darin, dass diese Ideen aus verschiedenen Emblemen des Arndtschen Erbauungsbuchs kompiliert sind. Das erklärt vielleicht den extrem langwierigen Entstehungsprozess dieses Gemäldes.
(1) Landschaft und Altar Besonders auffällig und in der Emblematik ungewöhnlich ist zunächst die gleichbleibende Grundstruktur der Arndt-Embleme. Über einer Predella oder einem Altarblock ergibt sich, von einem Rahmen begrenzt, die Durchsicht auf eine Landschaft. D. h. auch hier ist schon die Landschaft zur Ehre des Altars erhoben worden, wenn auch für die private Frömmigkeit. Für Friedrichs Verbindung von Andacht und Natur muss also keineswegs Ludwig Kosegarten, Hirschfeldsche Gartenkunst oder Ludwig Tieck bemüht werden. Zur Einsicht in den Sinn des Emblems ist aber – gut lutherisch –
Im Epigramm heißt es: „Des Glaubens Eigenschafft / Ist, daß er unsre Hertzen reinigt, / Und durch seine Krafft / Mit Gott verbindet und vereinigt. / Er hemmt und mindert / Des Fleisches geilen Trieb; / Er tilget was den lüstern Augen lieb, / Und was des neuen Menschen Wachsthum hindert“ (Arndt, Christenthum (s. Anm. 18), III/4, 778). Wird gewöhnlich die Erhabenheit des bizarren Solitärs in Friedrichs Bild betont, so könnte von Arndt her eine andere Deutung näher liegen: Der Glaube verlangt eine Selbstrücknahme – auch wenn eine solche Amputation den Augen nicht „lieb“ ist, also dem ästhetischen Kunstverlangen widerspricht. Im Blick darauf, „Was wahre Busse sey, und das rechte Creutz und Joch Christi“, heißt es dementsprechend bei Johann Arndt: „das ist, die Welt verschmähen mit ihrer Ehre und Herrlichkeit, seine eigene Weisheit und Vermögen für nichts achten, sich auf nichts und auf keine Creatur verlassen, sondern bloß und allein auf Gott: Sein eigen Leben hassen, das ist, die fleischlichen Lüste und Begierden (also Hoffart, Geiz,Wollust, Zorn, Neid) tödten, keinen Wohlgefallen an ihm selbst haben, und alles sein Thun für nichts achten […], der Welt absterben, das ist, der AugenLust, des Fleisches Lust, dem hoffärtigen Leben, der Welt gecreutziget werden, Gal. 6 V. 14“ (Arndt, Christenthum (s. Anm. 18), I/4, 21). Konfrontiert mit dem Kreuz Christi soll der Glaubende „hertzliche, gründliche, innerliche Demuth“ (ebd.) verspüren und als Lebenshaltung einüben. Auch Friedrich hat diesen Habitus der Demut in seinen schriftlichen Äußerungen immer wieder besonders betont. Nach dem Vorbericht zur Ausgabe Züllichau 1739 gehen die Sinnbilder auf „Herrn Dunt“ (Diedrich von Dunte), „Königl. Schwedis. Commissario“, zurück, die Verse dazu seien „aus der Feder des Herrn Meyers, Königl. Schwedischen Secretairs bey der Kirchen-Commission zu Dörpte, geflossen“. Vgl. Dietmar Peil, Zur Illustrationsgeschichte von Johann Arndts ‚Vom wahren Christentum‘. Mit einer Bibliographie, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 18 (1977), 963 – 1066, 967 f.
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Abb. 6: Emblem aus J. Arndt, Fünff Geistreiche Bücher vom wahren Christenthum, Leipzig 1740, 943
das Lemma, also das äußere Wort, notwendig. Bei Friedrich hingegen fehlen Lemma und Epigramm und überhaupt jeder erklärende Text. Das unterscheidet übrigens den Tetschener Altar von Friedrichs späteren Altarentwürfen von 1817/18, die in ihrer formalen Struktur frappierend den Emblemen aus dem Wahren Christentum ähneln. Hier ist das Gottessymbol bzw. Kreuz nach oben gerückt und gibt auf der Predella Platz frei für einen erläuternden Text, also ein Lemma (Mt 11,28). Die radikale Verunsicherung des Betrachters vor dem Altar hat Friedrich später also zurückgenommen (Abb. 7).
(2) Differenz der Zeiten Von Ramdohr hatte Friedrichs Gemälde als erhabene Morgenstimmung interpretiert, während Friedrich selbst es als melancholische Abendstimmung beschreibt.²¹ Bild
Hinz, Friedrich (s. Anm. 5), 137; Zschoche, Friedrich (s. Anm. 3), 53.
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Abb. 7: C. D. Friedrich, Altarentwurf 1817, Germanisches Nationalmuseum Nürnberg (akg-images)
und Rahmen geben in der Tat keine eindeutige Sichtweise vor. Auch der Stern in der Rahmenspitze ließe sich natürlich als Morgen- oder Abendstern deuten. Es ist aber kaum vorstellbar, dass Friedrich diese Zweideutigkeit in der Zuordnung der Tageszeit nicht beabsichtigt haben sollte. Die Festlegung der Tageszeit auf den Abend in Friedrichs eigener Deutung ist deshalb als bewusste Konfrontation mit v. Ramdohr zu interpretieren, um dessen Deutung als Fehlinterpretation zu überführen. Zieht man das Emblem „Eine andere obwol dieselbe“ (Abb. 8) zu Rate, dann zeigt sich, dass eben die Ambivalenz der Phänomene Thema dieses Emblems ist. Das Lemma bezieht sich auf die Morgensonne, die – so die kurze Erläuterung auf der Rückseite – mit der Abendsonne identisch ist. Die Einsicht in die tatsächlichen Verhältnisse liegt in der Deutung des Betrachters.
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Abb. und : Embleme aus J. Arndt, Fünff Geistreiche Bücher vom wahren Christenthum, Leipzig , und
(3) Differenz der Räume Unter den Illustrationen zum Wahren Christentum findet sich ein Emblem, das eine dunkle und vor allem planimetrische und dem Betrachter frontal gegenüber aufragende Bergsilhouette zeigt (Abb. 9). Die Ähnlichkeit zum Tetschener Altar, bis hin zur Form der Bergspitze und zum bewegten Wolkenbild, ist gut zu erkennen. Ramdohr hatte darauf hingewiesen, dass bei derart niedrigem Stand der Sonne der Gekreuzigte von deren Strahlen gar nicht erreicht werden könne. Tatsächlich macht es den merkwürdigen Anschein, als würden die Sonnenstrahlen aus dem Fels selbst hervorbrechen. Diese Beobachtung findet ihre Entsprechung in dem Emblem, bei dem – so das Epigramm – „das ewig unerschaffne Licht“ im Innern des Glaubenden leuchtet, obwohl äußerlich wenig davon wahrzunehmen ist. Damit ist die Dialektik von Verborgenheit und Sichtbarkeit der Gottespräsenz im Bild thematisch, verzahnt mit
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derjenigen von Innen- und Außenraum, was für Arndt und Friedrich von elementarer Bedeutung ist.²²
(4) Differenz des Sehens Das Emblem der Camera obscura mit dem Lemma „Verfinstert und verkehrt“ (Abb. 10) bezieht sich auf die Augen des Unglaubens, die alle Dinge in verkehrter Perspektive wahrnehmen. Es steht im Bezug zu einem Gebet Arndts, in dem es heißt: „[…] Richte du in mir wieder auf dein verlohrnes Ebenbild; […] Laß mich hie in dieser Zeit anfangen zu tragen das Bild des himmlischen Adams, bis ich dich endlich schauen werde, wenn ich erwache nach deinem Bilde“.²³ Die Undefinierbarkeit der Bildgattung des Tetschener Altars, die Diskrepanz von Detailgenauigkeit und Ferne, die Unbestimmbarkeit der tiefliegenden Lichtquelle, die Abgewandtheit des Christuskorpus, die Spannungen zwischen Landschaft und Rahmen – all dies wirkt wie eine Metapher für den Verlust der Ebenbildlichkeit durch die Sünde, durch die die Erkenntnis der Geschöpfe Gottes entzogen, auf den Kopf gestellt ist. Die gläubige Seele wünscht darum, das Bild Christi in und an sich zu tragen und so im Innern wieder zum Spiegel des göttlichen Lichts zu werden. Dieser Gedanke findet sich im Emblem des Sonnenspiegels wieder (Abb. 11). Der Spiegel auf der Altarmensa auf der Grenze von Innen und Außen dient als metaphorisches Hilfsmittel, damit der Heiland selbst seinen Weg durch die Augen in die Seele finde.²⁴ An seine Stelle tritt bei Friederich das Kruzifix als spiegelndes Artefakt mit derselben Bedeutung. Ein weiteres Emblem, das in diesem Zusammenhang relevant ist, zeigt ein Fernglas vor Nachthimmel. Mit dem Lemma „Entfernet und doch zugegen“ (Abb. 12) bezieht es sich auf die Ferne Gottes, die im Glauben überwunden wird. Erkennbarkeit ist keine Frage der Distanz, sondern der Perspektive.²⁵
„O Wunder-Krafft! / Die Gottes Geist, die reine Himmels-Flamme, / In seinen Kindern würckt und schafft, / Die würdig sich verhalten ihrem Stamme: / Die sich mit heissen Thränen / Nach GOTT, dem höchsten Gut, und seinem Anblick sehnen“ (Arndt, Christenthum (s. Anm. 18), III/19, 817). Arndt, Christenthum (s. Anm. 18), I/1, 7. Vgl. auch Christian Scholl: Romantische Malerei als neue Sinnbildkunst. Studien zur Bedeutungsgebung bei Philipp Otto Runge, Caspar David Friedrich und den Nazarenern, München 2007, 311. Die Hoffnung, so heißt es im Epigramm, „sieht durchhin / Durch dieses grosse Welt-Gerüst / Auf das, was keines Menschen Herz noch Sinn / Gesehen und erkannt; Und siehet unverwandt / Auf Gott, als ihren Gegenwurff, gerichtet. / Sie schätzt und hält / Die Freud und Güter dieser sichtbarn Welt / Betrüglich, wie sie sind, / falsch, eitel und erdichtet. / Wohin kein fleischlich Auge sich erstrecket, / Was der Vernunfft verdecket, / Das Stellet sie mit aller feiner Zier / Ganz lebhafft dem Gemüthe für“ (Arndt, Christenthum (s. Anm. 18), II/1, 639).
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Abb. – : Embleme aus J. Arndt, Fünff Geistreiche Bücher vom wahren Christenthum, Leipzig , , und
2.3 Grundzüge der Bildtheologie Johann Arndts Aber nicht nur die emblematische Ausgestaltung der Schrift Arndts, auch deren theologische Grundzüge erleichtern die Entschlüsselung von Friedrichs Bildinventionen. Das wird am Christusbild besonders deutlich: In all seinen Kreuzlandschaften rückt Friedrich den Christus-Korpus in weite Ferne oder lässt ihn ganz weg. Man hat diesen Umstand als Abwendung von der christlichen Ikonographie gewertet. Aber man hat darin auch einen tief pessimistischen, ja nihilistischen Zug, einen abgründigen Zweifel sehen wollen. Vor dem Hintergrund der Arndt-Lektüre stellt sich dieser Sachverhalt anders dar. Bereits in seiner „Ikonographia“ von 1597 hatte Arndt betont, dass alle äußeren Bilder, insbesondere das Christusbild, die Aufgabe haben, innere Bilder wachzurufen. Und diese inneren Bilder dienen der Wiederherstellung der ‚imago Dei‘: das göttliche Bild in der menschlichen Seele, die Einwohnung Christi, restituiert den Menschen als Gottes Ebenbild. Allein in dieser hinführenden, propädeutischen Funktion haben die Bilder für Arndt ihre Berechtigung.²⁶ Wie Gott zu erkennen und einzubilden ist, hat Arndt dann in seinen Büchern vom Wahren Christentum 1610 dargestellt. Gleich zu Beginn seines ersten Buches entwickelt er die Grundzüge seiner Bildtheologie: Wie ein verunreinigter Spiegel ist der sündige Mensch nicht mehr in der Lage, Gottes Ebenbild
Vgl. Inge Mager: Johann Arndts Bildfrömmigkeit, in: Klaus Fitschen/ Reinhard Staats (Hg.): Grundbegriffe christlicher Ästhetik. Beiträge des V. Makarios-Symposiums Preetz 1995,Wiesbaden 1997, 101– 118, 117.
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zu sein, in seinem Denken und Wollen Gottes Glanz zu spiegeln. Deshalb muss der alte Mensch täglich sterben und an seiner Stelle das von Christus wiederhergestellte Ebenbild Gottes treten, das sich im Glauben der Seele einbildet. Drei Grundgedanken sind dabei im Blick auf das Christusbild zentral: Das Interesse Arndts liegt ganz bei der Gegenwart Christi im Glaubenden, auf Christi lebendigem Bild in der Seele. Bleibt Christus „ausser dir; ausser deinem Glauben, Hertz und Geist“, so „wird er dir nicht helffen, sondern in dir will er lebendig seyn, trösten und selig machen.“²⁷ Die Gegenwart Christi im Glaubenden ist die Gegenwart des Gekreuzigten. Hier wird die Größe der Liebe Gottes offenbar. Hier aber zeigt sich auch die Größe der menschlichen Schuld. Das Kreuz macht, dass der Mensch seinen Standpunkt und seine Mitte verliert, um sie neu zu empfangen: „Da must du täglich mit Christo sterben, und dein Fleisch creutzigen“.²⁸ Der Glaubende, der kraft des Hl. Geistes zum Bild Christi wird, sieht nun auch mit neuen, geistlichen Augen auf die Natur. Ihm gehen die Augen dafür auf, „wie die Schrifft, CHristus, Mensch und gantze Natur übereinstimme, und wie alles in den einigen, ewigen, lebendigen Ursprung, welcher GOtt selbst ist, wieder einfliesse“.²⁹
2.4 Friedrichs Kommentar zum Tetschener Altar vor dem Hintergrund der Bildtheologie Johann Arndts Provoziert vom heftigen Angriff v. Ramdohrs hatte Friedrich eine eigene Deutung seines Altarbildes verfasst und an seinen Freund Johannes Schulze geschickt. Obwohl der Text aus der direkten Auseinandersetzung heraus entstanden war und offensichtlich die Intention verfolgte, Ramdohrs kränkende Spekulationen zur Entstehung des Bildes zu widerlegen, ist davon auszugehen, dass Friedrich sich die Sätze genau überlegt hatte, da er über eine Veröffentlichung seiner Replik nachdachte.³⁰ Nach einer kurzen Beschreibung von Rahmen und Gemälde heißt es dort: „Wohl hat das Bild eine Deutung,wenn sie gleich dem C. [Kammerherrn] undeutlich ist! Wohl ist es beabsichtigt das Jesus Christus, ans Holz geheftet, hier der sinkenden Sonne zugekehrt ist, als das Bild des ewigen allbelebenden Vaters. Es starb mit Jesu Lehre eine alte Welt, die Zeit, wo Gott der Vater unmittelbar wandelte auf Erden; wo er sprach zu Cain: Warum ergrimmest du, und warum verstellen sich deine Gebärden? Wo er unter Donner und Blitz die Gesetztafeln gab: Wo er sprach zu Abrahm [Mose]: Zeuch deine Schuhe aus; denn es ist heilig Land, wo auf du stehest! Diese Sonne sank, und die Erde vermochte nicht mehr zu fassen das scheidende Licht. Da leuchtet, vom reinsten edelsten Metall, der Heiland am Kreuz, im Gold des Abendroths, und wiederstrahlet so im gemilderten Glanz auf Erden. Auf einem Felsen steht aufgerichtet das Kreuz – unerschütterlich
Arndt, Christenthum (s. Anm. 18), I/6, 35. Arndt, Christenthum (s. Anm. 18), I/6, 35. Arndt, Christenthum (s. Anm. 18), III/Vorrede, 715. Vgl. Grave, Glaubensbild (s. Anm. 14), 56.
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fest, wie unser Glaube an Jesum Christum. Immer grün durch alle Zeiten während stehen die Tannen ums Kreuz, gleich unserer Hoffnung auf ihn, den Gekreuzigten.“³¹
(1) Die sinkende Sonne: Die Logik dieser kurzen Textpassage ist nicht ganz stringent. Der Heiland am Kreuz wird als Bild des „ewigen allbelebenden Vaters“ eingeführt, zugleich aber auch als Spiegel des abendlichen Sonnenglanzes. Offensichtlich ist Gott und Sonne zu identifizieren, so dass mit der Sonne die unmittelbare Präsenz Gottes auf Erden gemeint ist. Das Verschwinden des Lichts ist deshalb meist als Entzug oder Verlust Gottes verstanden worden.³² Das ist aus neuprotestantischer Perspektive, etwa der ‚Reden‘ Schleiermachers, durchaus plausibel, weil hier die Erfahrung göttlicher Nähe an sich schon das Bewusstsein seiner Gnade ist.³³ Das ist in der Tradition lutherischer Dialektik von Gesetz und Evangelium – und auch bei Friedrich – anders. Die Beispiele von Kain und Mose (die Erwähnung Abrahams beruht auf einer Verwechslung) rufen das Bild eines Gottes wach, der die Sünde und ihre Folgen schonungslos aufdeckt, der in der Souveränität seiner Macht Gesetze vorschreibt und auf das Einhalten der Grenze zwischen Gott und Mensch Acht gibt. Es ist ein erhabener, ehrfurchtgebietender und strafender Herr, den Friedrich hier als Gott des Alten Testaments zeichnet. Damit sich dieses Verhältnis von Gott und Mensch wandeln kann, ist nicht nur ein neuer Einsatz Gottes, sondern auch eine neue, von Sünde befreite Existenz des Menschen notwendig. Gelegentlich ist Friedrichs Selbstinterpretation mit einem Wort aus Novalis′ Heinrich von Ofterdingen verglichen worden, wo Heinrichs Vater konstatiert: „In dem Alter der Welt, wo wir leben, findet der unmittelbare Verkehr mit dem Himmel nicht mehr statt.“³⁴ Friedrich hätte dem vermutlich nicht zugestimmt, weil der unmittelbare Verkehr sich nach seiner Einschätzung nur verändert hat: vom Schöpfer zum Erlöser, vom Gesetz zur Gnade, von der Erhabenheit zur Liebe. (2) Die Lehre Jesu: Ausdrücklich mit der „Lehre“ Jesu – nicht mit der Inkarnation oder seinem Sterben und Auferstehen – ging jene Zeit der Unmittelbarkeit des Vaters dem Ende entgegen. Wieso ausgerechnet mit seiner „Lehre“? Gedacht ist hier offensichtlich an einen bestimmten Zusammenhang seiner Verkündigung. Tatsächlich begegnet die Frage der Gottesunmittelbarkeit in expliziter Weise in Joh 4, dem Gespräch Jesu mit der Samariterin am Brunnen. Auf deren Frage, ob Zion oder Garizim
Zschoche, Friedrich (s. Anm. 3), 53. Vgl. zu Friedrichs Interpretation Scholl (s. Anm. 24), 170 – 177; Grave, Glaubensbild (s. Anm. 14), 56 – 61, dort auch zur Entstehung des Bildes und seiner möglicherweise Gustav IV. Adolf zugedachten Bestimmung. Nicht nur N. Schneider hat dabei an das Verschwinden Gottes durch die aufklärerische Religionskritik gedacht. Vgl. ders.: Natur und Religiosität in der deutschen Frühromantik. Zu Caspar David Friedrichs ‚Tetschener Altar‘, in: Hinz u. a. (Hg.), Bürgerliche Revolution und Romantik. Natur und Gesellschaft bei Caspar David Friedrich, Gießen 1976, 111– 143. Vgl. Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), KGA I/2, 224: „Den Weltgeist zu lieben und freudig seinem Wirken zuzuschauen, das ist das Ziel unserer Religion, und Furcht ist nicht in der Liebe.“ Novalis,Werke und Briefe, hg.v. Alfred Kelletat, München 1968, 147, zitiert bei Werner Hofmann, Das irdische Paradies, München 21974, 3; Busch, ‚Tetschener Altar‘ (s. Anm. 4), 275.
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der authentische Ort der Gottespräsenz sei, antwortet Jesus: „es kommt die Zeit und ist schon jetzt, in der die wahren Anbeter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit“ (Joh 4,23). Johann Arndt, für dessen spiritualisierende Zuspitzung des Luthertums dieser Vers eine herausragende Rolle spielte, ergänzte: „innerlich in Geist und Wahrheit“.³⁵ Die Gottespräsenz verlagert sich bei Arndt und Friedrich also nicht vom Diesseits ins Jenseits, sondern von außen nach innen, von den steinernen Tafeln ins menschliche Herz. Johann Arndt beschreibt diesen Wechsel der Zeiten so: „Summa: Gott hat die gantze heilige Schrifft in den Geist und Glauben gelegt, und muß alles in dir geistlich geschehen. […] Daher gehöret das gantze Mosaische äusserliche Priesterthum mit dem Tabernackel, mit der Lade des Bundes, mit dem Gnaden-Stuhl: Das muß alles in dir geistlich seyn, durch den Glauben mit dem Opffern, Räuchern, Beten. Dein Herr Christus muß das alles in dir seyn; Er hats alles zusammen gefasset in dem neuen Menschen, und in dem Geist, und wird alles in dem Glauben vollbracht […] Denn die gantze Bibel fleust zusammen in ein Centrum oder Mittel-Punct in dem Menschen, gleichwie auch die gantze Natur. Also, was ist das Neue Testament dem Buchstaben nach anders, denn ein äusserlich Zeugniß, daß es alles im Menschen also muß im Glauben geschehen?“³⁶ (3) Gewissheit – nicht Eindeutigkeit: Friedrichs Nähe zur lutherischen Tradition der Kreuzestheologie ist in der Forschung zurecht wahrgenommen worden. Die Pointe dieser Tradition wurde aber eher nicht getroffen. Werner Busch meinte als deren Kennzeichen ausmachen zu können, dass „der Gläubige auf Erden ohne Gewißheit“
Arndt, Christenthum (s. Anm. 18), I/21, 127. Arndt, Christenthum (s. Anm. 18), I/6, 33. In einem nicht eindeutig zu datierenden Brief schreibt Friedrich um 1830: „Jetzt arbeite ich wieder an ein großes Gemählde, das größte so ich je gemacht: 2 Ell 12 Zoll hoch und 2 Ell 12 Z breit. Es stellt ebenfalls, wie daß in meinem letzten Brief erwehnte Bild: daß innere einer zerfallenen Kirche dar. Und zwar hab ich den schönen noch bestehenden und gut erhalten Dom zu Meißen zum Grunde gelegt. Aus den hohen Schutt der den jnneren Raum anfüllt ragen die mächtigen Pfeiler mit schlanken zierlich Säulen hervor, und tragen zum theil noch die hoch gespannte Wölbung. Die Zeit der Herrlichkeit des Tempels und seiner Diener ist dahin, und aus den zertrümmerten Ganzen eine andere Zeit [Randnotiz: und anderes Verlangen nach Klahrheit und Wahrheit] hervor gegangen. Hohe schlanke immer grüne Fichten sind dem Schutte entwachsen; und auf morschen Heiligen bildern, zerstöhrten Altären und zerbrochenen Weihkeßsseln, steht mit der Biebel in der linken Hand und die rechte aufs Herz gelegt an den … Überresten eines Bischschöflichen Denkmahl gelent ein evangelischer Geistlicher die Augen zum blauen Himmel gerichtet, sinnend die lichten leichten Wölkchen betrachtend“. (Caspar David Friedrich, Äußerungen bei Betrachtung einer Sammlung von Gemählden von größtenheils noch lebenden und unlängst verstorbenen Künstlern, bearb. von Gerhard Eimer in Verbindung mit Günter Rath, Frankfurt am Main 1999, 59. Zur Datierung vgl. a.a.O. 17.) Friedrichs eigenhändige Ergänzung „und anderes Verlangen nach Klahrheit und Wahrheit“ erinnert wieder an Joh 4,23: die Ablösung des äußeren Tempelkults durch den inneren Glauben in Geist und Wahrheit. Friedrichs Bezeichnung des Doms als „Tempel“ gibt eine typisch protestantische Identifikation von Judentum und katholischer Kirche zu erkennen, denen die jesuanische und reformatorische Erneuerung als Vergeistigung und Verinnerlichung des Glaubens gegenübergestellt wird. Bezeichnend ist, dass statt des Tempels nun die Natur als Schau- und Klangraum des omnipräsenten göttlichen Wirkens in den Vordergrund tritt.
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bleibe, weil die ontische und noetische Distanz zwischen Gott und Mensch unüberbrückbar sei.³⁷ Friedrich Gross spitzte noch ein Stück weiter zu und entdeckte in Friedrichs Tetschener Altar „düstere Melancholie“, „ein problematisches ‚Dennoch‘ des christlichen Glaubens“ am „Rand elegischer Selbstaufgabe“.³⁸ Und auch die kluge Friedrich-Interpretation Graves deutet die Pointe der Kreuzestheologie als eine Denkfigur der Entzogenheit Gottes.³⁹ Auch wenn diese Denkfigur auf den ersten Blick der Kreuzestheologie in der Tradition Luthers und Arndts ähnlich sieht, entspricht sie doch eher der in der Moderne breit rezipierten negativen Theologie, die für Luther und seine Erben nur begrenzt geltend gemacht werden kann.⁴⁰ Gott selbst ist ja in Christus als seinem wahrhaften Ebenbild gegenwärtig, wie Johann Arndt im Wahren Christentum von Hebr 1 und 11 her erläutert. Glaube ist nicht Ungewissheit, sondern im Gegenteil „eine ungezweifelte wahrhafftige Zuversicht derer Dinge, die man hoffet, und eine Überzeugung deß, so man nicht siehet.“⁴¹ Wie ist eine solche Gewissheit aber mit der offensichtlichen Dialektik im lutherischen Gottesbild zu vermitteln? Diese Dialektik setzt – das ist für neuzeitliches Denken nur schwer vermittelbar – auch ein dialektisches Menschenbild voraus: Der Mensch muss sterben und völlig neu geschaffen werden, um Gott erkennen zu können. Und eben dies geschieht im Glauben. Mit Johann Arndt: „Das Licht kan man ohne das Licht nicht sehen; Also kan man GOtt ohne GOtt, ohne CHristo, ohne den heiligen Geist nicht erkennen.“⁴² „Ein rechter Christ muß täglich untergehen“⁴³, um im Geist Gottes neu geboren zu werden. Kehren wir zu der Tatsache zurück, dass Friedrich die dargestellte Tageszeit aller Wahrscheinlichkeit nach bewusst verschleiert, dann lässt sich der Tetschener Altar als eine Art Vexier- oder Kippbild betrachten: die sinkende Abend- kann für den Betrachter zur aufgehenden Ostersonne, die Venus im Spitzbogen zum Morgenstern werden.⁴⁴ Dann liegt die Ambivalenz lediglich im Bild, nicht aber im Auge des Be-
Busch, Friedrich (s. Anm. 1), 38. Friedrich Gross: Fremde Natur. C. D. Friedrichs Landschaften gestern und heute, in: Caspar David Friedrich, Winterlandschaften, hg.v. Kurt Wettengl (Katalog Dortmund), o.O. 1990, 7– 19, 11. Grave, Glaubensbild (s. Anm. 14), 60; ders., Friedrich (s. Anm. 17), 100. Eine Interpretation des ‚Tetschener Altars‘ unter dem Vorzeichen negativer Theologie hatte aus katholischer Perspektive Reinhard Hoeps vorgelegt. Vgl. ders.: Caspar David Friedrichs Tetschener Altar. Zum Problem der Form des christlichen Bildes nach der Aufklärung, in: Alex Stock (Hg.): Wozu Bilder im Christentum? Beiträge zur theologischen Kunsttheorie, St. Otilien 1990, 233 – 247. Arndt, Christenthum (s. Anm. 18) I/1, 26. Ulrich Kuder hat das deutlich gesehen und markiert in ders.: Die Wiederkehr des Emblems in der Moderne, in: Anthony J. Harper / Ingrid Höpel / Susan Sirc (Ed.): Emblematic Tendencies in the Art and Literature of the Twentieth Century (Glasgow Emblem Studies 10), Glasgow 2005, 1– 24, 18. Arndt, Christenthum (s. Anm. 18) IV/1, 859. Vgl. Athina Lexutt: Der Mensch – natürlich. Schöpfer, Mensch und Natur im Denken Johann Arndts. In: Leben. Verständnis, Wissenschaft, Technik. Kongreßband des XI. Europäischen Kongresses für Theologie 15. – 19. September 2002 in Zürich, hrsg. von Eilert Herms. Gütersloh 2005, S. 352– 368, 357. Arndt, Christenthum (s. Anm. 18) I/1, 1. Vgl. Johann Gerhard: Postilla (1613), 490 f., zitiert nach Johann Anselm Steiger: Ästhetik der Realpräsenz. Abendmahl, Schöpfung, Emblematik und mystische Union bei Martin Luther, Philipp
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trachters, der entweder im Glauben oder im Unglauben schaut, oder – wie Friedrich anlässlich eines anderen, späteren Gemäldes schreibt: „denen so es sehn ein Trost, denen so es nicht sehen ein Kreutz.“⁴⁵ Dazu Johann Arndt: „Die aber Christum gesehen haben im Glauben, die haben diesen schönen Morgenstern gesehen, ja das Wort des Lebens selbst, und habens mit ihren Händen getastet, Joh 1. V. 1.“⁴⁶
3. Friedrichs religiöse Ästhetik 3.1 Ästhetik der Realpräsenz und Ästhetik des Kreuzes Friedrichs Aphorismen, Tagebuchnotizen, Briefauszüge und Gedichte geben eine tiefe Frömmigkeit in lutherisch-innerlicher Prägung zu erkennen.⁴⁷ Johann Anselm Steiger hat die weltanschaulichen Grundstrukturen der lutherischen Konfessionskultur treffend als „Ästhetik der Realpräsenz“ gekennzeichnet. Wesentliche Züge dieser Ästhetik – in der mystischen Zuspitzung Arndts – lassen sich auch bei Friedrich wiederentdecken. Ihr Ausgangspunkt liegt in Luthers Christologie der Abendmahlstheologie, derzufolge aufgrund der communicatio idiomatum und der unio hypostatica die Ubiquität Gottes Eigenschaft auch der menschlichen Natur Christi wird, sodass „in, mit und unter“ Brot und Wein Christi Leib und Blut wahrhaft gegenwärtig sind. Der Gedanke zieht die Konsequenz nach sich, dass Christus nicht nur im Abendmahl, sondern auch beim Glaubenden, ja in der ganzen Schöpfung leiblich präsent ist.⁴⁸ Diese Gegenwart bleibt freilich den leiblichen Augen verborgen, sie ist nur im Glauben an den zu fassen, der sich unter Leiden und Kreuz verborgen offenbart
Nicolai, Valerius Herberger, Johann Saubert und Johann Michael Dilherr, in: Grundbegriffe christlicher Ästhetik, Beiträge des V. Makarios-Symposiums Preetz 1995, hg.v. Klaus Fitschen und Reinhart Staats, Wiesbaden 1997, 78 – 100, 91: „Wie die Sonne schrecklich verfinstert wurde / vnnd gleichsam ein schwartz Trawerkleid anlegte / als Christus am Stam des Creutzes sterben wollte / Also hat Christus hinwiderumb mit dem frölichen Auffgang der Sonnen wollen aufferstehen / vnd hat sich hiermit erwiesen als die rechte Sonne der Gerechtigkeit“. Zschoche, Friedrich (s. Anm. 3), 96 f. Arndt, Christenthum (s. Anm. 18) I/37, 237. Vgl. Friedrichs Brief an seinen Bruder Heinrich und an Joachim Praeffke, ca. 1803: „Ich trat ins offene Gotteshaus / Voll Rührung und Andacht im Herzen, / Blieb vor des Altars Stufen stehn / Zum Gebet die Hände gefaltet“ (Zschoche, Friedrich (s. Anm. 3), 29). Vgl. Steiger, Ästhetik (s. Anm. 44), 80: „Christus geht zwar nicht in panentheistischer Weise in der Natur auf, aber gerade weil er als Schöpfer in die Schöpfung eingegangen ist und die humanitas angenommen hat, ist er überall in der Natur gegenwärtig.“. Vgl. ders.: Die communicatio idiomatum als Achse und Motor der Theologie Luthers. Der ‚fröhliche Wechsel‘ als hermeneutischer Schlüssel zur Abendmahlslehre, Anthropologie, Seelsorge, Naturtheologie, Rhetorik und Humor, in: NZSTh 38 (1996), 1– 28.
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hat. Zur Ästhetik der Realpräsenz gehört eine Ästhetik des Kontrafaktischen, eine Ästhetik des Kreuzes.⁴⁹ Friedrichs Frömmigkeit ist vor dem Hintergrund dieser ineinander verzahnten Ästhetik der Realpräsenz und Ästhetik des Kreuzes zu interpretieren. Kernmerkmale sind nach seinen schriftlichen Zeugnissen eine starke Christuszentrierung⁵⁰, das Ideal eines kindlichen Gottvertrauens,⁵¹ wenngleich die Dimension des göttlichen Zorns nicht relativiert wird,⁵² vor allem aber die damit zusammenhängende Vorstellung eines anthropologischen Dualismus von ‚Fleisch‘ und ‚Geist‘, ‚altem‘ und ‚neuem‘ Menschen, Sünder und Gerechtem.⁵³ Die Natur schließlich ist für Friedrich nicht an sich göttlich, wohl aber Resonanzraum des Schöpfers und Metapher der Einwohnung Christi im Herzen.⁵⁴ Vor diesem Hintergrund kann es bei Friedrich heißen: „Das Göttliche ist überall […], auch im Sandkorn; da habe ich es einmal im Schilfe dargestellt.“⁵⁵
Steiger, Ästhetik (s. Anm. 44), 89: „Das Bild des häßlichen, mit Dornen gekrönten Gottes ist die Bedingung der Möglichkeit für eine neue Ästhetik, die das in Christus überwundene Häßliche kontrafaktisch als Verheißung endzeitlicher Schönheit und Herrlichkeit begreift und empfindet.“ Das zeigt sich etwa in einem Gedicht, das Friedrich 1810/1811 an Amalie von Beulwitz schickt. In der ersten Strophe heißt es: „Ein Wesen wohnt in meinem Innern / Was immer himmelan mich hebt / Hoch über Erd und Weltgetümmel / Nur immer nach dem Lichte strebt. / Mit ganzem Herzen, Seele, Sinn und Leben / Jesum Christum ist ergeben“ (Zschoche, Friedrich (s. Anm. 3), 74). Aus Friedrichs Tagebuch, zitiert nach Hinz, Friedrich (s. Anm. 5), 81: „Sanft sich hebende Hügel hemmen die Aussicht ins Weite; zugleich dem Wünschen und Wollen der Kinder, sie genießen der Gegenwart köstliche Zeit nicht anders, noch wollend, was ferner liegt. Blühende Büsche, nährende Kräuter, duftende Blumen schließen den stillen, klaren Bach ein, in dem sich die reinliche Bläue des unbewölkten Himmels spiegelt, wie in den Seelen der Kinder der Gottheit herrliches Bild. Kinder spielen, küssen und freuen sich, und das eine Kind begrüßt mit frohem Händeklatschen die kommende Sonne.“ In einem Gebet anlässlich der Befreiung Dresdens schreibt Friedrich: „Wir haben in deinem Zorn erkannt, daß du der Allgewaltige bist, lass uns auch in deiner Liebe sehn, daß du der Allgütige bist, und sei uns gnädig, sei uns gnädig, o Herr, und erhöre uns“ (zitiert nach Hinz, Friedrich (s. Anm. 5), 80). Bezeichnend ist v. a. das bereits zitierte Gedicht an Amalie von Beulwitz, in dem Friedrich zunächst den neuen Menschen im Glauben beschreibt („Ein Wesen wohnt in meinem Innern / Was immer himmelan mich hebt“) und dann fortfährt: „Ein Wollen wohnt in meinem Busen / was fest mich an der Erde bannt, / Mich fest in Sünden hält gefangen / Nur immer an den Irdschen hangt. / Dann ist mein Thun mein ganzes Leben / Eitel Thorheit eitles Streben. // So schwank ich zwischen Gut und Bösen / Gleich einem Rohr vom Wind bewegt. / Bald heb ich mich zum Licht empor, Bald sink ich in des Abgrunds Tiefen; / So wies im Herzen from sich regt / Wie sichs im Busen wild bewegt“ (Brief an Amalie von Beulwitz, 1810/11, zitiert nach Zschoche, Friedrich (s. Anm. 3), 74). In einem Brief an seine Frau Caroline vom 10./11. Juli 1822 heißt es: „Die Abende gehe ich aus über Feld und Fluhr, den blauen Himmel über mir, um und neben mir grüne Saat grüne Bäume, und bin nicht allein; denn der so Himmel und Erde schuf ist um mich und seine Liebe schützet mich […]“ (Zschoche, Friedrich (s. Anm. 3), 168). 19. April 1820 (Hinz, Friedrich (s. Anm. 5), 211).
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3.2 Weitere Kreuzlandschaften Kreuz an der Ostsee (1815) Das Kreuz in der Landschaft ist für Friedrich ein Thema, mit dem er zeit seines Lebens, vor allem aber in der ersten Hälfte seines Schaffens, experimentiert.⁵⁶ Besonders anschaulich wird die doppelte Perspektive, die Differenz zwischen leiblichem und geistlichem Sehen, die für ihn mit dem Kreuz ausgedrückt ist, in seinem mehrfach ausgeführten Bild Kreuz an der Ostsee (Abb. 13). Dazu Friedrich: „[…] Am nackten steinigten Meeresstrande steht hoch aufgerichtet das Kreutz, denen so es sehn ein Trost, denen so es nicht sehn ein Kreutz.“⁵⁷ Aller Wahrscheinlichkeit nach hat Friedrich, das ist bekannt, in der Bildidee ein Emblem aus Roemer Visschers ZinnePoppen verarbeitet (Abb. 14). Die pictura zeigt ein hoch aufragendes Seezeichen an felsiger Küste, auf das zwei Schiffe zuhalten. Das Lemma lautet „Intelligentibus“ („Den Verstehenden“) und im Epigramm heißt es: „Die zich hier op verstaet, die ist een groote stut, // Die niet weet wat het is, en doet het oock geen nut“ („Wer sich darauf versteht, dem ist′s eine große Stütze; wer nicht weiß, was es ist, dem ist es auch nichts nütze.“) Friedrichs Gemälde ähnelt nicht nur in seinem formalen Aufbau dem Emblem, auch die Thematik der doppelten, verstehenden oder missverstehenden Wahrnehmung kehrt bei ihm wieder.
Frühe Kreuzlandschaften (ca. 1794 bis ca. 1806) Schon früh macht Friedrich Versuche mit dem Kreuz in der Landschaft. Auf Felsenstudien hatte er 1799 mal akzentuiert, mal versteckt das Kreuzeszeichen eingetragen. Diese naturalistische Verbindung von Naturanschauung und religiösem Sinn erinnert noch stark an ein physikotheologisches oder geognostisches Interesse, nämlich in den Wundern der Schöpfung eindeutige Zeichen der Gottesgegenwart zu entdecken (Abb. 15 und 16).⁵⁸ Aber Friedrich hat diesen Weg nicht weiter beschritten. Einen zweiten Typ stellen Kreuzlandschaften dar, bei denen Wege- oder Grabkreuze als kulturelle Artefakte in einen Landschaftsraum eingebettet sind. Diese Kreuze wirken meist ‚gebraucht‘, verwittert und schief und werden damit als noch greifbare Glaubenszeugen einer vergangenen Zeit kenntlich.⁵⁹ Als Beispiel hier ein
Vgl. insgesamt Grave, Glaubensbild (s. Anm. 14), 33 – 62 und ders., Friedrich (s. Anm. 17), 88 – 109; Hoch, Ikonographie (1990), 71– 74; Scholl (s. Anm. 24), 306 – 315. Brief an Louise Seidler, 9. Mai 1815, zitiert nach Zschoche, Friedrich (s. Anm. 3), 96 f. Vgl. etwa Friedrichs ‚Felsentor im Uttenwalder Grund‘, in: Helmut Börsch-Supan / Karl Wilhelm Jähnig: Caspar David Friedrich. Gemälde, Druckgraphik und bildmäßige Zeichnungen, München 1973, 264 f. (Nr. 77). Vgl. Börsch-Supan, Gemälde (s. Anm. 58), 267 (Nr. 82 und 83).Vgl. Gerhard Eimer: Zur Dialektik des Glaubens bei Caspar David Friedrich, Frankfurt a. Main 1982, 96.
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Abb. 13: C. D. Friedrich, Kreuz an der Ostsee (um 1815), Schloss Charlottenburg, Stiftung Preußische Schlösser und Gärten (akg-images)
relativ unbekanntes Aquarell (Abb. 17), das auf ein emblematisches Motiv zurückgeht und eine Vorstufe des späteren bekannten Gemäldes „Zwei Männer bei Betrachtung des Mondes“ darstellt. Vor Urne, Grabstein und Kreuz scheint ein Kind zu spielen, während ein Mann und eine Frau im Mondlicht einander zugewandt sind. Das Ensemble von Landschaft und Religion wirkt reichlich zusammengewürfelt. Was aber an diesem Beispiel gut zu erkennen ist, ist der Entwicklungsprozess hin zu Friedrichs metaphorischen Landschaften. Friedrich hat den Anstoß, Landschaft und Glaube in eine authentische Form zusammenzubinden, offensichtlich durch seine Auseinandersetzung mit emblematischen Andachts- und Erbauungsbüchern empfangen längst vor Erscheinen der ‚Reden‘ Schleiermachers. In diesem Fall dürfte das Emblem ‚Luna. Monet rubricunda pudoris‘ des Jan Luyken in Christoph Weigels ‚Ethica naturalis‘ als Vorlage gedient haben. Nicht nur das Liebespaar am Wasser unter dem nächtlichen Mondglanz, sondern auch die Kirche, die auf den religiösen Bezug hinweist, ist bereits enthalten (Abb. 18). Bei der Umsetzung der Embleme in reine Malerei stellte sich für Friedrich grundsätzlich das Problem, dass die ‚pictura‘ nunmehr ohne Lemma oder Epigramm auskommen musste. Nun war es aber Zielvorstellung der Emblemkunst, dass die ‚pictura‘ nach Möglichkeit die Alltagsrealität oder zumindest eine potentiell mögliche
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Abb. 14: Emblem in: Roemer Visscher, Zinne-Poppen, Amsterdam 1614, 119 (Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, http://diglib.hab.de/drucke/145-1-eth/ start.htm?image=00265)
Abb. 15: Felsenstudie mit Bäumen, darunter zwei liegende Gestalten, 20. Mai 1799, Feder in Graubraun, laviert, Bleistift, 23,7 x 18,8 cm, © Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Foto: Jörg P. Anders
Alltagsrealität wiedergibt.⁶⁰ Auch Friedrich fühlte sich diesem Ideal verpflichtet. Doch zugleich ist sein Ziel, in die natürliche Landschaft rein mit bildnerischen Mitteln den
Vgl. Albrecht Schöne, Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock, München 19933, 28.33; sowie Thomas Noll: Die Landschaftsmalerei von Caspar David Friedrich. Physikotheologie,Wirkungsästhetik und Emblematik. Voraussetzungen und Deutung, München 2006, 93.
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Abb. 16: Felsenstudie, rechts Stufen, 10./12. August 1799, Feder in Grauschwarz, laviert, Bleistift, 18,8 x 24,1 cm, © Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Foto: Jörg P. Anders
Abb. 17: C. D. Friedrich, Zwei Figuren bei Betrachtung des Mondes, 1794 – 1798, Wasserfarbe, Bleistift, Tinte, 8,9x 12,7 cm, Privatbesitz (wikimedia >> Christies)
Sinn von Lemma und Epigramm zu integrieren und so die Landschaft auf Glaubenseinsichten hin transparent zu machen.
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Abb. 18: Luna, Stich von Jan Luyken, in: Christoph Weigel, Ethica naturalis seu documenta moralia e Variis rerum Naturalium proprietatibus Virtutum Vitiorumque symbolicis imaginibus collecta, o. J. (Digitalisat: https://babel.hathitrust.org/cgi/pt?id=gri.ark:/13960/t0ms4305g;view=1up;seq=11)
Morgennebel im Gebirge (um 1808) Mit den Gipfelkreuzen (zuerst auch einer Gipfelmadonna⁶¹) taucht ab etwa 1804 ein neues Motiv auf, mit dessen Hilfe Friedrich über Erkennbarkeit und Unerkennbarkeit der Glaubenswahrheit und über Nähe und Distanz des Betrachters reflektiert.⁶² Insbesondere in Morgennebel im Gebirge von 1808 (Abb. 18) hat er die Erkennbarkeit des Gipfelkreuzes bis aufs Minimum reduziert. Der Betrachter muss seinen Standort verlassen: nur aus der Distanz lässt sich das Bergmassiv als Ganzes erfassen. Aber nur aus der Nähe ist das winzige Kreuz auf dem lichten Gipfel zu entdecken. Die Entfernung zum Kreuz lässt sich hier unmöglich abmessen. Rastlos sucht das Auge nach Bäumen und Felsen als Anhaltspunkten, die für Momente im Nebel aufzutauchen scheinen.
Blick aus dem Atelier des Künstlers (1805/06) Schließlich noch ein Bildpaar Blick aus dem Atelier des Künstlers, das Friedrich 1805/ 06 zeichnete – zuerst das rechte, dann das linke Bild (Abb. 19 und 20). Es gibt eine ähnliche Reflexion über Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit des Kreuzes in der Alltags-
Börsch-Supan, Gemälde (s. Anm. 58), 280 f. (Nr. 119). Börsch-Supan, Gemälde (s. Anm. 58), 281 f., 291, 300 (Nr. 120; 122; 124; 146; 166).
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Abb. 19: C. D. Friedrich, Morgennebel im Gebirge, 1808, 71 × 104 cm, Öl auf Leinwand, © Staatliches Museum Heidecksburg, Rudolstadt
gegenwart zu erkennen wie Morgennebel im Gebirge, wenn auch in völlig anderer formaler Gestalt. Johannes Grave hatte formuliert, dass Friedrichs Landschaften erfahrbar machen, wie „jede Präsenz eines Gegenstandes im Bild mit dessen realer Abwesenheit einhergeht“.⁶³ So richtig es ist, dass Friedrich über Abwesenheit und Präsenz nachdenkt, wäre diese Spannung in seinem Sinne doch gerade andersherum zu formulieren: Auch die Abwesenheit des Gegenstandes im Bild kann mit seiner realen Anwesenheit einhergehen, oder genauer: auch die Abwesenheit des Gekreuzigten geht immer mit seiner realen Anwesenheit einher. In der Emblematik verweisen Lemma und Epigramm gewöhnlich auf diese verborgene Anwesenheit. Fehlen sie wie in Friedrichs Gemälden, dann muss die landschaftliche pictura selbst zeigen können, dass in den scheinbar so profanen Abbildern der Wirklichkeit Gottes Gegenwart erkennbar ist.⁶⁴ Einen Versuch in dieser Richtung stellt das besagte Bildpaar dar, die Ansicht der beiden Atelierfenster Friedrichs „An der Elbe 26“. Werner Busch hat in einer hervorragenden formalen Analyse herausgefunden, dass beide Bilder von unterschiedlichen Standpunkten in Friedrichs Atelier aufgenommen sein müssen. Zudem ist die formale Anordnung aller Bildgegenstände exakt nach der geometrischen Struktur von Axialität und Goldenem Schnitt ausgerichtet. Schlüssel und Schere sind sozusagen am Gol Grave, Friedrich (s. Anm. 17), 109. Vgl. Noll, Landschaftsmalerei (s. Anm. 60), 97: „Daraus folgt die Überlegung, ob Friedrichs revolutionäre, von Ramdohr als unzulässige Neuerung gerügte Auf- oder Umwertung der Landschaft zur religiösen Darstellung zuletzt nichts anderes bedeutet als die Übernahme der realistischen Landschaft im ‚Idealtypus des Emblems‘ […] in ein selbständiges Tafelbild.“
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Abb. 20: C. D. Friedrich, Blick aus dem Atelier des Künstlers, um 1805/06, linkes Fenster, 31,2 × 23,7 cm, © Österreichische Galerie im Belvedere, Wien
denen Schnitt aufgehängt, der auch den Spiegel und den auf der linken Fensterbank befindlichen Brief schneidet. Von Friedrichs intensiver Beschäftigung mit dem Erkennen und Verkennen des Kreuzes her ist es mit Sicherheit kein Zufall, dass sich im rechten Fensterflügel das Fensterkreuz in den Innenraum hinein spiegelt. Der säkulare äußere Realraum mit Uferböschung und Booten reflektiert durch eine bestimmte Einstellung des Fensters als der Pforte oder Iris zwischen Außen und Innen ein religiöses Sinnzeichen, das die Wahrnehmung der gesamten Szene orientiert. Das Bild wird so zur Metapher einer Verwandlung der Welt durch den Blick des Glaubens. Findet sich dann auch im linken Fensterbild ein Kreuz? Der Betrachter weiß,was er suchen muss, er hat den Schlüssel, aber er findet das Schloss nicht. Das religiöse Zeichen ist verborgen. Es entbirgt sich jedoch, wenn wir dem Künstler in seiner Bewegung folgen. Er hat sich auf das Fenster zubewegt, um schräg durch es hindurch den Blick auf etwas richten zu können. So zeigt sich ihm die Augustusbrücke. Allerdings wird der Ortskundige das goldene Kruzifix auf dem fünften Brückenbogen vermissen. Tatsächlich ist die Brücke nur halb zu sehen, das Kruzifix, das Friedrich so schätzte, befindet sich – für den Betrachter unsichtbar – direkt unter dem Goldenen Schnitt, wo Fensterlaibung und Rahmen rechtwinklig aufeinanderstoßen. Das Brückenkruzifix ist zwar unsichtbar – für den, der die Örtlichkeiten kennt, ist es aber in der Bedeu-
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Abb. 21: C. D. Friedrich, Blick aus dem Atelier des Künstlers, um 1805/06, rechtes Fenster, 31,4 × 23,5 cm, © Österreichische Galerie im Belvedere, Wien
tungsachse gleichwohl verborgen anwesend. „Selig sind,“ so hatte Friedrich in einer frühen Zeichnung einer alten Frau in ihr Andachtsbuch geschrieben, „die / da glauben, ob sie / gleich nicht sehen“.⁶⁵
4. Friedrich und Schleiermacher Die Anfangsfrage, ob allein Schleiermacher Friedrich veranlasst haben könne, Kunst und Religion auf seine eigentümliche Weise zu verbinden, ist von der Analyse der künstlerischen und religiösen Quellen Friedrichs her zu verneinen. In seinen Bildfindungen schöpfte C. D. Friedrich aus den Glaubens- und Bilderwelten der „alten Tröster“, die abgesehen vom spätorthodoxen Greifswald meist längst aus der Mode gekommen waren. Dabei griff er nicht nur einzelne Motive auf, sondern übersetzte die Bildsprache der Emblematik als Ganzes (also mit ihren textlichen Anteilen) in wirklichkeitsnahe, hochmetaphorische Landschaftsmalerei. Diese eigenwilligen, gewis-
Vgl. die hervorragende Analyse dieser Zeichnung in Grave, Friedrich (s. Anm. 17), 84– 87.
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sermaßen unzeitgemäßen Transformationen, die als solche von seinen Zeitgenossen nicht mehr erkannt wurden, wurden von diesen als genuiner Ausdruck frühromantischer Natur- und Religionsauffassung begeistert aufgenommen. Fast möchte man sagen: die Friedrichbegeisterung der Frühromantik beruhte auf einem Missverständnis, wenn auch einem recht produktiven. Friedrich selbst hat offensichtlich keine Anstalten unternommen, dieses Missverständnis aufzuklären. Im Gegenteil: seine Arbeitsweise hat er konsequent geheim zu halten versucht. Ob die Deutungsoffenheit seiner Werke von Friedrich bewusst angelegt war, ist schwer zu sagen. Friedrich hat sie jedenfalls nicht zurückgenommen. Das entsprach seinem religiösen Wirklichkeitsverständnis. Friedrichs Bilder wollen nicht überzeugen und schon gar nicht überreden.⁶⁶ Wer sieht, der sieht – und wer nicht sieht, sieht nicht, „denen so es sehn ein Trost […]“ Die Analyse der Kreuzlandschaften legt es nahe, dass Friedrich in Bildern dachte und Bildsprache transformierte, nicht dass er Texte in Bilder übersetzte. Eine engere Verbindung zu Schleiermacher oder die intime Kenntnis von dessen ‚Reden‘ ist nicht zwingend notwendig, um die Entstehung von Friedrichs bildlicher Ausdrucksweise und seine spezifische Verbindung von Kunst und Religion zu erklären. Über eine mögliche gegenseitige Wahrnehmung Friedrichs und Schleiermachers wissen wir jedenfalls fast nichts.⁶⁷ Es gibt erhebliche Überschneidungen in den Freundeskreisen und mögliche Vermittlungswege für Ideen oder Texte (Georg Andreas Reimer, Ludwig Tieck, Johannes Karl Hartwig Schulze), aber keine einzige briefliche Erwähnung Schleiermachers bei Friedrich und nur eine einzige Friedrichs bei Schleiermacher. Abgesehen von einem rein hypothetischen Kennenlernen 1798 in Berlin gibt es nur zwei bezeugte Begegnungen des Künstlers und des Theologen am 12. September 1810, sowie am 3.(/4.) September 1818. Während der erste Besuch vielleicht im Zusammenhang mit Friedrichs erstmaliger Beteiligung an der Berliner Akademie-Ausstellung stand, dominierten beim zweiten Besuch im Zusammenhang der Demagogenverfolgung wohl politische Themen. Zwar gab es auf Rügen zwischen etwa 1804 bis 1809 einen theologischen Frühromantikerkreis, der sich um Schleiermacher gruppierte, doch da war Friedrich längst nicht mehr in Greifswald.⁶⁸ Und ob nach 1810, als Schleiermacher in Berlin Karriere machte, noch ein intensiver Kontakt denkbar ist, bleibt fraglich. Werner Busch hatte beim Schleiermacher-Kongress 2006 die These vertreten, dass für Friedrichs „Bildbau“ charakteristische Grundanschauungen Schleiermachers von
Vgl. Helmut Börsch-Supan, Zur Deutung der Kunst Caspar David Friedrichs, in: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst, 3. F. 28 (1977), 200: Sie „zielen nur auf Verständigung mit Gleichgesinnten und gleich Empfindenden“ hin. Zum Folgenden vgl. Busch, Frömmigkeit und ders., Schleiermacher (s. Anm. 1). Weitreichende Spekulationen über die Begegnungen zwischen Schleiermacher und Friedrich finden sich bereits bei Karl-Ludwig Hoch: Caspar David Friedrich – unbekannte Dokumente seines Lebens, Dresden 1985, 42– 47 und 76 – 83. Vgl. Assel, Bürger (s. Anm. 17), 11 und 16.
Ästhetik des Kreuzes
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herausragender Bedeutung gewesen seien: Er nennt insbesondere das „Verhältnis von Einzelnem und Ganzem und die Vorstellung, dass Religiöses nur aus Anschauung und Gefühl resultiert und Kunst und Künstler dabei Mittler sein können.“⁶⁹ Die intensive Reflexion auf das Verhältnis von Einzelnem und Ganzem war jedoch ein Thema, das die Romantiker insgesamt beschäftigte und mit dem sich etwa F. W. J. Schelling auch in seinen Vorlesungen zur Philosophie der Kunst im Winter 1802/03 auseinandersetzte. Aber es war natürlich auch schon Grundgedanke der Emblematik selbst gewesen, dass jedes Einzelne im Glauben durchsichtig für das Ganze werden kann. Zu diskutieren wäre auch die zweite These: Dass Religiöses nur aus Anschauung und Gefühl resultiere, dieser Ansicht hätte Friedrich kaum zugestimmt. Denn ob „im Prozess der vom Gefühl getragenen Anschauung“ eine „Durchsichtigkeit des Gegenstandes“ entsteht,⁷⁰ das hängt für Friedrich – ganz im Sinne des oben erwähnten Arndtschen Emblems der Camera obscura (Abb. 10) – davon ab, inwiefern das Anschauen im Glauben zurechtgebracht und erneuert ist. Zu deutlich zeigen seine Bildgestaltungen, dass das Anschauen selbst einem kritischen Vorbehalt unterliegt.⁷¹ Welche Rolle spielen dann Kunst und Künstler für die religiöse Vermittlung? Sie sind Zeugen einer spezifischen Anschauungsweise, die aus dem Glauben resultiert. In ihr wird sich der Glaubende – hier stimme ich Busch am Ende wieder zu – „angesichts der Natur seiner eigenen Nichtigkeit bewusst“, er „kann nur in staunender Anschauung von Gottes Schöpfung auf die eigene Erlösung hoffen.“⁷² Unmittelbare Spuren einer Abhängigkeit Friedrichs von Schleiermachers theologischem Denken lassen sich kaum feststellen. Und doch besteht zuweilen eine merkwürdige Nähe zwischen Schleiermachers Texten und Friedrichs Bildern.⁷³ Hat Friedrich die Eigentümlichkeit seiner Bildgestaltung weitgehend unabhängig von Schleiermacherschen Einflüssen entwickelt, stellt sich umso dringlicher die Frage nach dem jeweiligen Charakter dieser beiden höchst einflussreichen Transformationsgestalten lutherisch-pietistischer Frömmigkeit in den Medien des Bildes und des Wortes.
Busch, Schleiermacher (s. Anm. 1), 299. Dies sind im Wesentlichen die Punkte, die auch schon Klaus Lankheit ausgemacht hatte. Busch, Schleiermacher (s. Anm. 1), 299. Vgl. Grave, Friedrich (s. Anm. 17), 84– 87. Busch, Schleiermacher (s. Anm. 1), 301. Vgl. Lankheit, Friedrich (s. Anm. 2), 134, für den „Friedrichs Gemälde […] wie eine Interpretation der beiden frühen Hauptschriften Schleiermachers“ wirken.