Der Mensch als Homo Viator: Existenzphilosophische Perspektiven 9783495825426, 9783495492192


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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Marc Röbel / Werner Schüßler: Das Wege-Motiv als Paradigma der menschlichen Selbst- und Weltdeutung
Werner Schüßler: »Unser Wesen ist Auf-dem-Wege-Sein«
1. Existenz als Seinkönnen
2. Selbstwerden in Grenzsituationen
3. Selbstwerden in existentieller Kommunikation
4. Selbstwerden durch existentielle Bezüge zur Transzendenz
5. Fazit
Berthold Wald: Berthold Wald: Viatorische Existenz
1. Status viatoris als »Auf-dem-Wege-Sein«
a) In-der-Welt-Sein
b) Ontologie des Noch-nicht-Seins
c) Zeitlichkeit der Existenz
2. Begriff der Hoffnung
a) Hoffnung als Antwort auf die Existenzsituation
b) Die eine Hoffnung und die vielen Hoffnungen
c) Tod und Verzweiflung
3. Viatorische Gelassenheit des Hoffenden
Marc Röbel: »En Route«
1. Werkbiographischer Horizont
a) Wust als philosophischer Pilger in Paris
b) Auf westfälischen Denk-Wegen
2. Das Weg-Motiv als werkgeschichtlicher Indikator
3. Das ›in-via-Sein‹ als existenzphilosophische Metapher
a) Die Metapher des Raumes
b) Die Metapher des Lichts
c) Der Weg als Metapher
4. Theologische Koordinaten: Pilgerschaft und Heimkehr
Florian Mittl: Unterwegs im Lichte einer »Hoffnung, die Gründe nennt«.
1. Vorbemerkungen
2. Vom Haben zum Sein
a) Der Körper als Zugang zur Welt
b) Problem und Geheimnis
c) Abstraktion und présence
3. Hoffnung als Kulminationspunkt
4. Conclusio
Renate Brandscheidt: Leben ist Pilgern
1. Pilgern unter der Last der Vergänglichkeit
a) Adam und Eva
b) Kain
2. Zur Glaubenswanderschaft berufen – Abraham
3. Pilgern unter Gottes Führung – Israels Exodus aus Ägypten
4. Als Volk der Erwählung auf dem Weg – der Wallfahrtspsalter (Ps 120–134)
5. Eine segensreiche Weggemeinschaft für Israel und die Völker – Noomi und Rut
6. Der neue Weg zu Gott – Jesus Christus
a) Jesus als Pilger
b) Pilgern in der Nachfolge Jesu
Dennis Schilling: »Losgelöst wie ein treibendes Boot«
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Herausgeber- und Autorenverzeichnis
Personenregister
Sachregister
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Der Mensch als Homo Viator: Existenzphilosophische Perspektiven
 9783495825426, 9783495492192

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Marc Röbel, Werner Schüßler (Hg.)

Der Mensch als »homo viator« Existenzphilosophische Perspektiven

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495825426

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B

Marc Röbel / Werner Schüßler (Hg.) Der Mensch als »homo viator«

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495825426 .

https://doi.org/10.5771/9783495825426 .

Marc Röbel / Werner Schüßler (Hg.)

Der Mensch als »homo viator« Existenzphilosophische Perspektiven

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495825426 .

Marc Röbel / Werner Schüßler (eds.) The human being as »homo viator« Existential philosophical perspectives The human being as »homo viator« is a topos that can be found in literature and philosophy, but also in various religious traditions of different eras. The present anthology focuses on the this image of man on the way through modern existential philosophy, namely Karl Jaspers, Josef Pieper, Peter Wust and Gabriel Marcel. The volume is enriched by two contributions to the biblical and Chinese tradition, since here too existential philosophical perspectives can be found. Even if one does not have to agree with all theses, it is the fundamental questions that precede this way of thinking that will continue to challenge us also in the 21st century.

The editors: Marc Röbel, Dr. theol. habil., since 2007 director of the Catholic Academy Stapelfeld; research areas: philosophy of existence (Peter Wust), metaphysics (inter alia Paul Tillich), philosophy of language (inter alia Ludwig Wittgenstein) and Augustine Research Werner Schüßler, Dr. phil. habil. Dr. theol., since 1999 Professor of Philosophy at the Theological Faculty of Trier; research areas: metaphysics, philosophy of religion (especially Paul Tillich), philosophy of existence (Karl Jaspers, Peter Wust), philosophical anthropology (inter alia Viktor E. Frankl), Theodicy and Disability Studies

https://doi.org/10.5771/9783495825426 .

Marc Röbel / Werner Schüßler (Hg.) Der Mensch als »homo viator« Existenzphilosophische Perspektiven Der Mensch als »homo viator« ist ein Topos, der sich in der Literatur und Philosophie, aber auch in diversen religiösen Traditionen unterschiedlicher Epochen finden lässt. Der vorliegende Sammelband konzentriert sich auf die Thematisierung dieses Bildes vom Menschen, der auf dem Wege ist, durch das moderne Existenzdenken. Zu Wort kommen Karl Jaspers, Josef Pieper, Peter Wust und Gabriel Marcel. Bereichert wird der Band durch zwei Beiträge zur biblischen und chinesischen Tradition, lassen sich doch auch hier existenzphilosophische Perspektiven ausfindig machen. Selbst wenn man sich nicht allen Einzelthesen anschließen muss, so sind es doch die grundlegenden Fragen, die diesem Denken vorausgehen, die uns auch im 21. Jahrhundert noch mit diesen Positionen verbinden.

Die Herausgeber: Marc Röbel, Dr. theol. habil., seit 2007 Geistlicher Direktor der Katholischen Akademie Stapelfeld; Forschungsschwerpunkte: Existenzphilosophie (Peter Wust), Metaphysik (u. a. Paul Tillich), Sprachphilosophie (u. a. Ludwig Wittgenstein) und Augustinus-Forschung Werner Schüßler, Dr. phil. habil., Dr. theol., seit 1999 Professor für Philosophie an der Theologischen Fakultät Trier; Forschungsschwerpunkte: Metaphysik, Religionsphilosophie (bes. Paul Tillich), Existenzphilosophie (Karl Jaspers, Peter Wust), Philosophische Anthropologie (u. a. Viktor E. Frankl), Theodizee sowie Disability Studies

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© VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2021 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49219-2 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82542-6

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

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Marc Röbel / Werner Schüßler: Das Wege-Motiv als Paradigma der menschlichen Selbst- und Weltdeutung. Ein hinführender Essay . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Werner Schüßler: »Unser Wesen ist Auf-dem-Wege-Sein.« Zu einem Grundthema der Existenzphilosophie von Karl Jaspers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

Berthold Wald: Viatorische Existenz. Grundlegung einer Philosophie der Hoffnung bei Josef Pieper .

49

Marc Röbel: »En Route.« Das Homo-viator-Motiv im Existenzdenken Peter Wusts . . . . . . . . . . . . . . . .

74

Florian Mittl: Unterwegs im Lichte einer »Hoffnung, die Gründe nennt.« Der »Homo viator« bei Gabriel Marcel . . . . . . . . . . . . 104 Renate Brandscheidt: Leben ist Pilgern. Der Mensch als Homo viator im Zeugnis der Heiligen Schrift . 127 Dennis Schilling: »Losgelöst wie ein treibendes Boot.« Die Existenzphilosophie des xiāoyáo im Buch Zhuāng zǐ . . . . 157 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Sachregister

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 7 https://doi.org/10.5771/9783495825426 .

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Vorwort

Das Bild der urbanen Zivilisationen im 21. Jahrhundert ist weltweit von Mobilität geprägt. Als die Ausbreitung der durch Covid-19 verursachten Pandemie im Frühjahr 2020 zu massiven Kontaktbeschränkungen und an vielen Stellen zum Lockdown führte, trafen diese Einschränkungen der Beweglichkeit einen Lebensnerv der Gesellschaft. In der »liquiden Moderne« (Zygmunt Bauman) ist das Unterwegssein geradezu ein Sinnbild für das Menschsein. Im 19. Jahrhundert konnte Novalis, der Dichter der deutschen Romantik, bekanntlich noch formulieren: »Wo gehen wir denn hin? Immer nach Hause.« Inzwischen sind immer mehr Zeitgenossen im übertragenen Sinne unterwegs zu Hause. Das Menschsein im Bild des Unterwegsseins zu deuten, ist kein Novum. Der Mensch als »homo viator« ist ein Topos, der sich in der Literatur und Philosophie, aber auch in diversen religiösen Traditionen unterschiedlicher Epochen finden lässt. Der vorliegende Sammelband konzentriert sich vor allem auf die Thematisierung dieses Bildes durch das moderne Existenzdenken. Zu Wort kommen dezidiert christliche Autoren wie Peter Wust, Gabriel Marcel und Josef Pieper, aber auch Karl Jaspers, der der Offenbarungsreligion kritisch gegenübersteht. Sie alle partizipieren auf ganz eigene Weise am Traditionsstrom der abendländischen Philosophie und der biblisch-christlichen Überlieferung, die sie in ihr Denken hinein adaptiert haben. Welche Aufschlüsse sie daraus für ihre eigene Selbst- und Weltdeutung gewonnen haben, ist das Thema der einzelnen Beiträge. Bereichert wird die Sammlung durch fachkundige Einblicke in die biblische sowie die chinesische Tradition. Auch in diesen Traditionslinien lassen sich existenzphilosophische Perspektiven ausfindig machen. Selbst wenn man sich nicht allen Einzelthesen anschließen muss, so sind es doch die grundlegenden Fragen, die diesem Denken vorausgehen, die uns auch im 21. Jahrhundert noch mit diesen Positionen verbinden.

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Vorwort

Dem Menschen als »homo viator« bleibt nämlich die Frage von Novalis aufgegeben: »Wo gehen wir denn hin?« Dieser Band ist aus einer Veranstaltungsidee hervorgegangen, die mit dem philosophischen Programm der Katholischen Akademie Stapelfeld verbunden ist. Unser Dank gilt der Autorin und den Autoren, die sich jeweils von ihrer fachwissenschaftlichen Warte aus dem Homo-viator-Thema angenähert und aufschlussreiche Perspektiven eröffnet haben. Danken möchten wir auch Angela Borgmann, Alfons Reinkemeier, Christina Saal, Katharina Wilwers und Pauline Adams für die Mithilfe beim Korrekturlesen sowie Dr. Martin Hähnel vom Verlag Karl Alber für die gute Zusammenarbeit. Schließlich sind wir dem Bischöflich-Münsterschen Offizialat in Vechta sowie dem Bistum Trier für die Gewährung namhafter Druckkostenzuschüsse zu Dank verpflichtet. Stapelfeld und Trier März 2021

Marc Röbel Werner Schüßler

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Marc Röbel / Werner Schüßler

Das Wege-Motiv als Paradigma der menschlichen Selbst- und Weltdeutung Ein hinführender Essay

Mit Blick auf ihren philosophischen Lehrer Karl Jaspers formuliert Hannah Arendt im Rahmen einer Laudatio eine aufschlussreiche Beobachtung: »In den Werken der großen Autoren kann man fast immer eine durchgehende Metapher finden, die nur diesem Autor eigentümlich ist und in der sich das ganze Werk wie in einem Brennpunkt vereinigen läßt.« 1 Das Motiv des Weges, das in diesem Band im Mittelpunkt des Interesses steht, war nicht für alle hier behandelten philosophischen Autoren die »durchgehende Metapher« im Sinne Arendts, wohl aber eine existenzerhellende »Daseinsmetaphorik«, wie man im Anschluss an Hans Blumenberg sagen könnte. 2 Die philosophische Thematisierung des Menschseins als Unterwegssein verbindet Karl Jaspers, Peter Wust, Gabriel Marcel und Josef Pieper, die jeweils auf ihre eigene Weise dem modernen Existenzdenken mehr oder weniger nahe standen, mit der biblischen Tradition sowie mit der antiken chinesischen Literatur und Philosophie, die ebenfalls in zwei Darstellungen zu Wort kommen. Bei aller Unterschiedlichkeit der Denkstile und der weltanschaulich-religiösen Beheimatung stimmen die genannten Autoren darin überein, dass sie den Menschen explizit als »homo viator« auffassen bzw. den viatorischen Aspekt des Menschseins herausarbeiten. Damit bringen sie nicht nur ein Spezifikum des modernen Existenzdenkens zur Sprache, stehen sie doch mit der Adaption dieses Topos darüber hinaus auch in einer großen philosophiegeschichtlichen Tradition. Die Einordnung dieser Aneignung in ein umfassendes historisches Panorama, das die Wirkungsgeschichte dieser Denkfigur im Ganzen nachzeichnet, würde den Rahmen dieser Hinführung sprengen. Der Stellenwert, den das Homo-viator-Thema in anderen Denkepochen und -konzepten einH. Arendt, Laudatio auf Karl Jaspers, in: Dies., Menschen in finsteren Zeiten, hrsg. von U. Ludz, München 52019, 90–100. 2 Vgl. H. Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer, Frankfurt/M. 52012, 9. 1

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Marc Röbel / Werner Schüßler

nimmt, wurde bereits in anderen Publikationen beleuchtet. 3 Einige markante wirkungsgeschichtliche Stationen seien aber in aller Kürze genannt, 4 bevor die einzelnen Beiträge des Sammelbandes skizziert werden sollen. Bereits in der griechischen Antike, namentlich in der vorsokratischen Tradition, deuten sich Versuche an, das Wege-Motiv als Paradigma der menschlichen Selbst- und Weltdeutung zu nutzen. 5 Der philosophiegeschichtlich vermutlich erste relevante Beleg für einen solchen Versuch lässt sich schon in den Fragmenten Heraklits aus dem 6./5. Jahrhundert v. Chr. ausfindig machen, die bereits Anklänge einer anthropologischen Orientierung aufweisen: »Der Seele Grenzen kannst du nicht entdecken gehn, auch wenn du jeden denkbaren Weg begehst, so unerschöpflich ist, was sie zu erklären hat.« 6 Diese prinzipielle Unauslotbarkeit der menschlichen Seele wird von Heraklit an anderer Stelle mit dem Epitheton »unwegsam« verbunden. 7 Dass in philosophischen Erörterungen die jeweils in Rede stehenden Denkwege auch in die Unwegsamkeit der logisch-diskursiven Sackgassen führen können, hat wenige Generationen später der Maieutiker Sokrates im Rahmen seiner ars interrogandi demonstriert. In der literarischen Fassung, die sein Schüler Platon diesen Dialogen gegeben hat, wird das Bild des Weges zu einer Erkenntnismetapher, die oftmals auch die Ausweglosigkeit bestimmter Denkannahmen, die sogenannte A-porie, kenntlich macht. Umgekehrt ist Platon derjenige, der den Terminus »Methode« (griech. μέθ-οδος) als Ausdruck für ein zielgerichtetes, systematisches Suchen in den philosophischen Vgl. M. Heide-Münnich, Homo Viator. Zur geistlichen Dichtung Rudolf Alexander Schröders (= Christliche deutsche Autoren des 20. Jahrhunderts, Bd. 4), Frankfurt/M. 1996; G. H. Tucker, Homo Viator. Itineraries of Exile, Displacement and Writing in Renaissance Europe (= Travaux d’humanisme et renaissance), Genève 2003; T. Jung, Homo viator. Vom Gehen und den Gehenden, Berlin 2020. 4 Vgl. S. Rauschenbach, Art. »Weg«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12, hrsg. von J. Ritter, K. Gründer und G. Gabriel, Darmstadt 2004, Sp. 341–342; D. Westerkamp, Art. »Weg«, in: R. Konersmann (Hrsg.), Wörterbuch der philosophischen Metaphern, Darmstadt 2014 (= ND der 3. erw. Aufl. 2011), 524–551. 5 In der griechischen Dichtung ist das Thema bereits im 7. Jh. v. Chr. bei Hesiod präsent, der das menschliche Handeln im Bild des Weges thematisiert. Von großer wirkungsgeschichtlicher Bedeutung ist auch die von dem Sophisten Prodikos erzählte Fabel vom Scheideweg des Herakles als Sinnbild für die Crux der lebensgeschichtlichen Entscheidungen. Vgl. dazu S. Rauschenbach, Art. »Weg« (s. Anm. 4), 341. 6 Heraklit, Fragm. 97, in: Die Vorsokratiker I. Milesier, Pythagoreer, Xenophanes, Heraklit, Parmenides. Griechisch/Deutsch. Auswahl der Fragmente. Übersetzung und Erläuterungen von J. Mansfeld, Stuttgart 1999. 7 Vgl. D. Westerkamp, Art. »Weg« (s. Anm. 4), 528. 3

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Das Wege-Motiv als Paradigma der menschlichen Selbst- und Weltdeutung

Diskurs einführt. 8 In der Spätantike fließt die Philosophie eines Plotin, der das Wege-Motiv für die Explikation seiner Ontologie nutzt, ebenso in die systematischen wie autobiographischen Reflexionen Augustins ein wie die reichhaltige Verwendung des besagten Bildes als Reise- oder Wandermetapher, die der Philosoph und Theologe des 4./5. Jahrhunderts der paganen epischen Literatur und den biblischen Schriften entnimmt. Auf den ersten Blick scheint sich bei der Lektüre der »Confessiones« das Bild des »unruhigen Herzens« als Hauptmetapher dieses komplexen Werkes zu empfehlen, was sich vom Proömium und der leitmotivischen Verwendung der Herzens- und Unruhe-Thematik her nahelegt. 9 Von ähnlich großem Gewicht für die Gesamtkomposition des Werkes ist das Wege-Thema als geheimes architektonisches Strukturprinzip, mit dessen Hilfe Augustinus seine gesamte Darstellung organisiert und entscheidende Inhalte plausibilisiert. So zeichnet er nicht nur in autobiographischer Absicht die Abwege und Irrwege seines eigenen Lebens nach. Der Weg wird auch zum Schlüsselthema seiner philosophisch-theologischen Selbstund Weltdeutung. Die Irrwege des Denkens und auch der persönlichen Lebensorientierung bezeichnet der Kirchenvater rückblickend mit dem Topos der »via terrena« und hält seine eigene Erfahrung als »homo viator« mit den Worten fest: »Sie aber kennen nicht den Weg, dein Wort, durch das du das gemacht hast, worüber sie Berechnungen anstellen.« 10 Als biblische Hintergrundfolie für diese theologisch inspirierte Wegbeschreibung kann das Jesus-Wort aus dem JohannesEvangelium (Joh 14,6) gelten: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.« 11 Doch ist die Entdeckung dieses Weges für Augustinus nicht im Äußeren der sinnlichen Erfahrungswelt zu finden, sondern einzig introspektiv. Seine »Confessiones« sind eine Art Kartographie jenes inneren Weges, der ihn zu dem bekannten Ausruf inspiriert: »Du [Gott] warst mir innerlicher als mein Innerstes und höher als mein Höchstes.« 12 Die Introspektion ist damit keine subjektivistische Nabelschau, sondern zielt auf die Erkenntnis des Menschen und der Welt im Ganzen, die wiederum mit der Gotteserkenntnis verbunden ist. Was sich ad hominem gesprochen auf dem Wege der IntrospektiVgl. S. Rauschenbach, Art. »Weg« (s. Anm. 4), 341. Vgl. A. Maxsein, Philosophia cordis. Das Wesen der Personalität bei Augustinus, Salzburg o. J. [1966]. 10 Augustinus, Confessiones, V, 3, 5. 11 Vgl. dazu ebd., VII, 17, 24. 12 Ebd., III, 6, 11. 8 9

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Marc Röbel / Werner Schüßler

on erreichen lässt, ist die Entdeckung des inneren Menschen. Dessen lebenslange Suchbewegungen werden von Augustinus als »peregrinatio«, d. h. als Wanderschaft bzw. Pilgerschaft bezeichnet. 13 Diese suchende und wandernde Denkbewegung schlägt auch in der Gesamtkomposition der »Confessiones« zu Buche: Die ersten neun Bücher haben die Erinnerung an die äußeren Lebensstationen Augustins bis zu seiner entscheidenden Lebenswende zum Thema. Dazu gehören neben den erinnerten Höhen und Tiefen dieser Lebensreise auch die persönlichen Abstürze und die Entdeckung, dass der Mensch in dieser Bewegung sich selbst als »Abgrund« erfährt. Das zumindest dem Umfang nach reichhaltigste zehnte Buch thematisiert den Ort dieser Erinnerung, die memoria. Im elften Buch analysiert Augustinus die Verlaufsform dieses erinnerten Lebens, und er stellt hier seine berühmte Frage nach der Zeit. Letztere wiederum wird schöpfungstheologisch als von Gott geschaffene Zeit in der Wahrheit der Offenbarung verankert, die das Ewige im Zeitlichen aufscheinen lässt. Augustinus denkt nicht nur an das Ende der Zeiten, wenn er das ultimative Ziel des Menschen zur Sprache bringt. Es finden sich bei ihm Ansätze zu einer präsentischen Eschatologie, die den Menschen auf dem Wege für die Erscheinungsweisen des Göttlichen im Irdischen sensibilisieren wollen. 14 Erst auf diesem Kurs wird der Lebensweg des Menschen nach Augustinus zu einer vita beata, zu einem geglückten Leben. Der Epoche und dem Denkstil nach unterscheidet sich ein mittelalterlicher Denker wie Thomas von Aquin mit seinem Philosophieund Theologieansatz zwar erheblich vom existentiellen Stimulus der augustinischen »Confessiones«. Dennoch bleibt auch in den stark formalisierten Quaestiones und Articuli eines Thomas der Wege-Charakter des Denkens an entscheidenden Stellen erhalten. So spricht er in der Summa Theologiae bekanntlich nicht von definitiven Gottesbeweisen, sondern von den »quinque viae«, den fünf Wegen. 15 Thomas geht es um den Nachweis, dass Glaube und Vernunft sich nicht ausschließen, sondern aufeinander bezogen sind. Der gemeinsame Bezugspunkt wird dabei im Bild des Weges vorgestellt: Philosophische Argumentation und der Glaube als Leben aus und mit der Offenbarung sind für ihn unterschiedliche Wege, die aber dasselbe Ziel an13 14 15

Vgl. ebd., XII, 11, 13. Vgl. dazu J. Kreuzer, Augustinus zur Einführung, Hamburg 2005, 144–158. Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae I, q. 2, a. 3.

14 https://doi.org/10.5771/9783495825426 .

Das Wege-Motiv als Paradigma der menschlichen Selbst- und Weltdeutung

visieren. An dieser Stelle bringt Thomas den Homo-viator-Topos in den Diskurs ein, wenn er feststellt: »In diesem Sinne werden wir Menschen viatores genannt, weil wir nach Gott streben, der das höchste Ziel unserer Glückseligkeit ist« (»Ex hoc enim dicimur esse viatores quod in Deum tendimus, qui est ultimus finis nostrae beatitudinis.«). 16 Thomas übernimmt hier das metaphorologische Motiv aus der antiken griechischen Dichtung und der biblischen Tradition. Für ihn erschließt sich das menschliche Wahrheitsverhältnis erst im Horizont des Wege-Motivs. Auch der Mensch, der sich dem christlichen Offenbarungsdenken verpflichtet weiß, ist damit nicht schon im Besitz der Wahrheit, sondern nur unterwegs zu ihr. Dass »die« Scholastik alles andere als eine uniforme Denkströmung war, lässt sich an so unterschiedlichen Konzepten beobachten, wie sie von Bonaventura, einem Zeitgenossen des Aquinaten, oder in der Spätscholastik von Ockham vertreten wurden. Dennoch stimmen die drei genannten mittelalterlichen Denker bei aller systematischen Diversität zumindest in dem Punkt überein, dass der Mensch als »homo viator« aufzufassen sei. Für Bonaventura geht es dabei ähnlich wie bei Augustinus um die Beschreibung eines inneren mystischen Erfahrungsweges. Seine Affinität gegenüber der Wege-Metapher kommt bereits in den Buchtiteln zum Ausdruck. In seinem Werk De triplici via legt er dar, dass die Annäherung an Gott auf drei Wegen erfolgen könne: durch Meditation, Gebet und Kontemplation, die ihrerseits durch subtile Binnendifferenzierungen charakterisiert sind. Programmatisch ist in dieser Hinsicht auch der Titel des 1259 erschienenen mystisch-theologischen Werkes aus der Feder des Franziskanergelehrten, das Itinerarium mentis in Deum, das den inneren Weg des Menschen zu Gott als einen Pilgerweg beschreibt. Dass dieses Werk in hohem Maße schöpfungstheologisch inspiriert ist, wird durch den Aufbau der Schrift markiert: Analog zum sechstägigen Schöpfungswerk der Genesis werden die sechs von Bonaventura behandelten Erkenntnisweisen (Sinn, Einbildungskraft, Verstand, Vernunft, Einsicht und höchste Seelenkraft) als weisheitliche Wegetappen in je einem Kapitel behandelt. Eine aus heutiger Sicht vielleicht überraschend moderne und »ganzheitliche« Perspektive des Menschseins entfaltet die Ordensfrau Hildegard von Bingen als Theologin, Mystikerin, Visionärin und Pionierin der Naturmedizin in ihrer Schrift Scivias (»Wisse die 16

Ebd., II/II, q. 24, a. 4.

15 https://doi.org/10.5771/9783495825426 .

Marc Röbel / Werner Schüßler

Wege«). In den darin festgehaltenen sechsundzwanzig mystischen Visionen geht es nicht nur um die Frage, wie der Mensch und der Kosmos »Heil« und in einem umfassenden Sinne »Heilung« finden können. Innovativ darin ist, dass Hildegard beispielsweise die Sakramente nicht nur als äußere Heilsmittel sieht, die dem Menschen äußerlich verabreicht werden. Sie nimmt vielmehr die geschöpflichen Kräfte im Menschen ernst und verbindet die Sorge um Seele und Leib miteinander. Aber in der mittelalterlichen Tradition findet sich das Wege-Motiv nicht nur als Beschreibung, das von einem epistemischen Optimismus getragen ist. Aus der mystischen Tradition eines Dionysius Areopagita, Meister Eckhart und Johannes Tauler ist das Prinzip der via negationis bekannt. Der Weg zu höchster Gottes- und Selbsterkenntnis kann hiernach nicht direkt beschrieben werden. Zudem kann die mystische Vereinigung mit Gott auch nicht forciert werden, da sie sich nicht im Zugriff erschließt, sondern bildlich gesprochen die Gelassenheit der geöffneten Hände voraussetzt. Diese epistemische und spirituelle Selbstbeschränkung wirkt sich über die Spätscholastik bis weit in die Neuzeit und Moderne aus. Wilhelm von Ockham und andere Vertreter des sogenannten Nominalismus stehen für diese »via moderna«, die den äußeren Denk- und Erkenntniswegen zunehmend misstraut. Auf dieser Linie liegt die große wirkungsgeschichtliche Ausprägung der Wege-Thematik in der Philosophie der Neuzeit, wie sich an zwei Beispielen illustrieren lässt: In seinem »Discours de la méthode« greift René Descartes die Reisemetapher als Sinnbild der intellektuellen Selbstverständigung des philosophierenden Subjektes in immer unüberschaubarer werdenden Zeiten auf. Seiner Leserschaft empfiehlt sich der französische Philosoph durch ein dezidiert methodisches Vorgehen. Seine Empfehlung lautet, sich an den Reisenden, die im Wald die Orientierung verloren haben, ein Beispiel zu nehmen. Der zweite Beleg für die erhebliche Relevanz des Reisemotivs für die neuzeitliche Philosophie ist das Werk Georg Wilhelm Friedrich Hegels. In dessen »Phänomenologie des Geistes« werden acht Stationen aufgezeigt, die der Geist in seiner »dialektischen Unruhe« durchläuft. Welche wirkungsgeschichtlichen Konturen zeigt das Bild des »homo viator« in der Moderne? In der in den Jahren 1939 bis 1944 von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno verfassten Textsammlung, die unter dem Titel »Dialektik der Aufklärung« in den Kanon der modernen Klassiker Eingang gefunden hat, wird die Wege-Metaphorik in Gestalt des Odysseus-Motivs für eine philo16 https://doi.org/10.5771/9783495825426 .

Das Wege-Motiv als Paradigma der menschlichen Selbst- und Weltdeutung

sophische Erörterung des Begriffs der Aufklärung fruchtbar gemacht. Der Rückgriff auf das dem homerischen Epos entnommene mythologische Material dient dem Aufweis, dass die Geschichte der bürgerlichen Aufklärung bereits im Weg des listenreichen Odysseus, der die Sirenen auf findige Weise ausmanövriert, vorgezeichnet ist. Gleichzeitig werden die möglichen Irrwege und die bleibende Gefährdung der instrumentellen Vernunft zivilisationskritisch analysiert. In ideologiekritischer Absicht setzen sich beide Autoren auch von derjenigen philosophischen Strömung ab, die im Fokus der hier vorliegenden Publikation steht. Insbesondere an Martin Heidegger kritisiert Adorno den »Jargon der Eigentlichkeit«, wobei die Polemik den sachlichen Gehalt der Auseinandersetzung oftmals überdeckt. 17 Heidegger und Jaspers können zweifellos als die beiden Wegbereiter der modernen Existenzphilosophie betrachtet werden, die von den späten zwanziger Jahren an und dann wiederum seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis weit in die sechziger Jahre hinein die moderne Philosophie, aber auch das kulturelle Klima Europas und der westlichen Hemisphäre inspiriert haben. Es ist vor allem diese Denkrichtung, die sich das hier in Rede stehende Schlüsselmotiv zu eigen macht. Im »Historischen Wörterbuch der Philosophie« wird unter dem Eintrag »homo viator« nur auf Gabriel Marcels entsprechendes Buch mit diesem Titel, das in der französischen Originalausgabe erst 1944 erschienen ist, verwiesen. 18 Der Begriff wird hier mit »der Mensch als Pilger« wiedergegeben. Doch taucht der Terminus des »homo viator« bereits bei Josef Pieper (1935) und Peter Wust (1937), der sich auf Pieper bezieht, explizit auf. Für Heidegger gehört die Metapher des Weges sogar zu den »orphischen Urworten« der Philosophie. 19 Auch wenn Hannah Arendt in besagter Laudatio nicht die Thematik des Weges, sondern die »Helle« als die eigentliche Schlüsselmetapher im Denken ihres Lehrers Jaspers interpretiert, so zeigt sich dieser selbst von der Bedeutung dieses Bildes für sein eigenes Werk überzeugt. In seiner letzten Vorlesungsreihe »Die Chiffern

Vgl. T. W. Adorno, Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie, Frankfurt/ M. 1964. 18 Vgl. Ch. Grawe, Art. »Homo viator«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, hrsg. von J. Ritter, Darmstadt 1974, Sp. 1179. 19 Vgl. dazu D. Westerkamp, Art. »Weg« (s. Anm. 4), 547: »Im Grunde wird das gesamte reife Denken Heideggers von der Wege-Metapher regiert (›Kehre‹, ›Holzwege‹, ›Feldweg‹), ihren systematischen Ort erhält sie aber innerhalb seines Sprachdenkens.« 17

17 https://doi.org/10.5771/9783495825426 .

Marc Röbel / Werner Schüßler

der Transzendenz« aus dem Sommersemester 1961 zitiert er – nicht zum ersten und einzigen Mal – einen mittelalterlichen Spruch: »Ich komme, ich weiß nicht woher, Ich bin, ich weiß nicht wer, Ich sterb’, ich weiß nicht wann, Ich geh’, ich weiß nicht wohin, Mich wundert’s, dass ich fröhlich bin.« 20 Jaspers will mit diesem Zitat belegen, dass die vom modernen Existenzdenken aufgenommenen Fragen der menschlichen Selbst- und Weltverständigung weitaus mehr sind als die Themenfelder einer Modephilosophie. Die hier in poetischer Form artikulierten mittelalterlichen Orientierungsfragen stellen sich in wechselnden philosophischen Horizonten neu. Die alten Fragen bleiben dem philosophischen Denken auch in späteren Zeiten aufgegeben. Man kann mit Blick auf die wissenschaftliche Fachphilosophie die Frage stellen, ob die Existenzphilosophie »lebendig oder tot« sei. 21 Nicht aus der Welt geschafft ist damit die Frage nach dem Woher und Wohin des Menschen, vor allem aber die Frage nach der Existenzverwirklichung. Das Bild des »homo viator« ist eine metaphorische Version dieses genuin existenzphilosophischen Themas. * * * In seinem Beitrag »›Unser Wesen ist Auf-dem-Wege-Sein.‹ Zu einem Grundthema der Existenzphilosophie von Karl Jaspers« arbeitet Werner Schüßler die genannte Frage nach der Existenzverwirklichung heraus. Vom Wege-Charakter des menschlichen Lebens spricht Jaspers ein erstes Mal in seiner Schrift »Die geistige Situation der Zeit« von 1932. In seiner »Einführung in die Philosophie« von 1950 heißt es dann explizit, dass Menschsein »Menschwerden« und unser Wesen »Auf-dem-Wege-Sein« bedeute. Der Topos des »Auf-dem-WegeSeins« ist bei Jaspers eng verbunden mit seinem existenzphilosophischen Ansatz, dem zufolge der Mensch nicht nur ein festzustellendes Dasein als Bestand ist, sondern darin Möglichkeit durch Freiheit. K. Jaspers, Die Chiffern der Transzendenz. Mit zwei Nachworten hrsg. von A. Hügli und H. Saner, Basel 2011, 13. 21 Vgl. F. Heinemann, Existenzphilosophie – lebendig oder tot?, Stuttgart 1954. 20

18 https://doi.org/10.5771/9783495825426 .

Das Wege-Motiv als Paradigma der menschlichen Selbst- und Weltdeutung

Oder anders ausgedrückt: Existenz ist »Sein-Können«, weil sie über ihre Wirklichkeit immer erst noch entscheidet und weil sie nie »eigentlich« zur Wirklichkeit kommt. Das heißt, die Selbstwerdung ist für den Menschen eine bleibende Aufgabe und umfasst nach Jaspers drei Aspekte. Erstens: In den für den Menschen unumgänglichen Grenzsituationen von Tod und Leiden, Kampf und Schuld erweist sich das Dasein überall als in sich brüchig. In diesem Sinne führt das bewusste Eintreten in die Grenzsituationen zum »Erwachen« des Menschen. Zweitens: Existenz ist notwendig verwiesen auf andere Existenz, ist der Mensch doch per se ein dialogisches Wesen. Aber im Gegensatz zur Daseinskommunikation geht es bei der existentiellen Kommunikation nicht um Macht oder Interessen, sondern um einen »liebenden Kampf« und restlose Offenheit. Drittens: Freiheit ist nicht aus sich selbst oder aus der Welt heraus zu begreifen, sondern wird nur aus ihrem Bezug auf Transzendenz hin verständlich. In diesem Sinne vertritt Jaspers einen »philosophischen Glauben«, dem zufolge der Einzelne vor Gott steht. Auch hier zeigt sich wiederum der Wege-Charakter des Menschen, steht der philosophische Glaube doch unter den Polaritäten von Glaube und Zweifel sowie Trotz und Hingabe, die nie völlig aufzulösen sind. Ohne Zweifel hat Jaspers mit diesem Ansatz einen entscheidenden Einfluss auf die christlichen Existenzphilosophen Peter Wust und Gabriel Marcel ausgeübt. Ein traditionsverbundener Denker, der Grundfragen der klassischen Metaphysik mit den Impulsen der modernen Existenzphilosophie zu verbinden wusste, war Josef Pieper. Von ihm ist, so Berthold Wald in seinem Beitrag, auch in postmetaphysisch gestimmten Zeiten zu lernen: Wer behauptet, das Leben des Einzelnen wie die Menschheit insgesamt habe ein Ziel, macht starke metaphysische Annahmen darüber, was denn Leben und Geschichte dem Grunde nach sind. Dies gilt nicht weniger für die entgegengesetzte Behauptung, wonach alles, was ist, zwar ein Ende hat, aber kein Ziel. Das Faktum, dass jedes menschliche Leben bereits mit der Geburt unterwegs ist auf sein Ende hin, bedarf einer Deutung aus der Natur dieses Lebens selbst. Die von Josef Pieper vorgelegte Deutung setzt bei dem aus der christlichen Theologie übernommenen Gedanken des status viatoris und dem zugehörigen Begriff des status comprehensoris an. Leben bedeutet für den Menschen wesenhaft »Auf-dem-Wege-Sein« (viator) zu einem Ziel, das die innere Dynamik dieses UnterwegsSeins bestimmt und als Erfüllung (comprehensio) doch jenseits dieses Weges liegt. Die Frage, ob und wie diese zentrale Konzeption christ19 https://doi.org/10.5771/9783495825426 .

Marc Röbel / Werner Schüßler

licher Selbstdeutung philosophisch einholbar ist, bringt Pieper unmittelbar in eine Konfrontation mit der Position Martin Heideggers, der alle nicht aus dem Vollzug des Daseins gewonnenen Deutungen kategorisch ausschließt. Pieper hält dem entgegen, dass sich der volle Sinn des »In-der-Welt-Seins« erst aus der Konvergenz zwischen der christlichen Deutung des status viatoris und der Analyse des Daseinsvollzugs erschließt. Heideggers Beschränkung auf die phänomenologische Perspektive der Daseinsanalyse lässt nicht bloß Wesentliches aus, sondern verfälscht das Phänomen, wie Wald im Anschluss an Pieper herausstellt. Was in Heideggers Bestimmung des Daseins als »Sein zum Tode« vor allem ausgeklammert wird, ist Pieper zufolge das Phänomen der Hoffnung. Selbst wenn es philosophisch keinen Beweisgrund für erfüllte Hoffnung jenseits des Todes geben sollte, verlangt das Phänomen selbst nach einer sorgfältigen Analyse in Abgrenzung von den Gestalten der Hoffnungslosigkeit. Piepers philosophisches Projekt, den Status der »viatorischen Existenz neu zu begreifen«, verteidigt die Hoffnung als die dem status viatoris angemessene »Tugend des ›Noch-nicht‹«. Die Bedeutung, die dem Homo-viator-Motiv in der Werkbiographie und Philosophie des christlichen Existenzdenkers Peter Wust zukommt, arbeitet Marc Röbel in seinem Beitrag »›En Route‹. Das Homo-viator-Motiv im Existenzdenken Peter Wusts« heraus. Der Aufsatztitel »En Route« spielt auf den von Joris-Karl Huysmans verfassten Roman an, den Wust rezipiert und auf seinen eigenen Lebensweg und seine Denkentwicklung bezogen hat. Wie der Romanheld Durtal, so hat sich auch der deutsche Philosoph als Vertreter eines modernen Denkens betrachtet, der sich zeitweise vom christlich-metaphysischen Wurzelgrund der abendländischen Tradition entfernt hat und auf Umwegen und unter neuen philosophischen Vorzeichen wieder zu ihr zurückgekehrt ist. Der Aufsatz sondiert zunächst im ersten Kapitel den werkbiographischen Horizont und skizziert einen mehrmonatigen Paris-Aufenthalt des noch jungen Philosophen im Jahre 1928, dem Todesjahr Max Schelers. Wust hat sich nicht zuletzt von diesem Nestor der modernen philosophischen Anthropologie dazu anregen lassen, sich von dieser Denkströmung aus auf eine philosophische Pilgerreise zu begeben, die ihn nicht nur Urfragen der klassischen Metaphysik wiederentdecken lässt, sondern auch die Kirche. Sein Weg führt ihn 1930 nach Münster, wo er bis zu seinem Tod 1940 einen Lehrstuhl für Philosophie innehat. Dass sich das Wege-Motiv als werkgeschichtlicher Indikator nutzen lässt, 20 https://doi.org/10.5771/9783495825426 .

Das Wege-Motiv als Paradigma der menschlichen Selbst- und Weltdeutung

der auch die Denkbewegungen des Philosophen anschaulich macht, verdeutlicht das zweite Kapitel. Das dritte Kapitel nimmt die letzte Werkphase Wusts in den Blick, die von seiner Annäherung an das moderne Existenzdenken geprägt ist. Das zeigt sich vor allem in seinem 1937 erschienenen Hauptwerk »Ungewißheit und Wagnis«, das dem »›in-via‹-Sein« des Menschen metaphorologisch und existenzphilosophisch nachgeht. Wust wendet sich mit seinem Ansatz gegen alle reduktionistischen, naturalistischen und dezidiert atheistischen Konzepte innerhalb der modernen Philosophie und Wissenschaft, die den Wege-Charakter der menschlichen Selbst- und Weltdeutung mit vermeintlich »gesicherten« Erkenntnissen zu unterlaufen versuchen. Wust hingegen macht auf die bleibende »Ungesichertheit« auf allen Ebenen des Menschseins aufmerksam. Das schließt auch seine eigene weltanschauliche Position und die theologischen Koordinaten seines philosophischen Denkens ein, die im vierten Kapitel angeleuchtet werden. Wust kann für religiöse und religiös distanzierte Menschen gleichermaßen inspirierend sein. Seine philosophische Thematisierung des »homo viator« zeigt auch heute noch Auswege aus ideologischen »Gehäusen« (Jaspers) und Sackgassen des Denkens sowie der Lebensdeutung auf. Auch für Gabriel Marcel ist der Mensch wesentlich ein »homo viator«. Dies zeigt sich, wie Florian Mittl in seinem Beitrag darlegt, nicht nur in dessen gleichnamiger Schrift aus dem Jahre 1944, die den Untertitel trägt »Prolegomena zu einer Metaphysik der Hoffnung«, sondern auch in seinem eigenen Lebensweg sowie in seinem gesamten Werk. Der genannte Untertitel macht auch schon die zentrale Stoßrichtung dieses Ansatzes deutlich, geht es Marcel doch in seinem Denken entscheidend um »eine Hoffnung, die Gründe nennt« und auf diese Weise letztlich in einen vernünftigen Glauben führt, der in Gott das »absolute Du« erkennt. Diese Erkenntnis zeigt sich dem Menschen aber erst im Durchwandern seines Lebens, d. h. in der viatorischen Existenz, die ihn vom Haben zum Sein führt, wobei das Haben für die Ordnung des Positivismus der Wissenschaft steht, in der das Subjekt entpersonalisiert wird und in der nur partikulare Wahrheiten erkannt werden können. Das Sein steht demgegenüber für eine Ordnung, der es um die Ganzheitlichkeit des Menschen geht, wie sie sich auf ganz besondere Weise im Phänomen der Liebe zeigt. Die Unterscheidung von Haben und Sein erfährt noch einmal eine Vertiefung durch die Begriffspaare Problem und Geheimnis sowie Abstraktion und Gegenwärtigkeit. Auf diese Weise gleitet Marcels 21 https://doi.org/10.5771/9783495825426 .

Marc Röbel / Werner Schüßler

Denken auch insgesamt viatorisch von einem Begriff zum anderen, während dem Ganzen aber ein Grundmotiv zugrunde liegt, nämlich das Verlangen des Menschen nach Transzendenz. Ein Charakteristikum der christlich orientierten Philosophie Marcels ist darin zu sehen, dass in ihrem Horizont das besagte Transzendenzverlangen mit dem Tod nicht abreißt. In seinen Werken entfaltet Marcel vor dem Hintergrund persönlicher Verlusterfahrungen eine Phänomenologie des Trauerns, deren Grundimpuls von dem häufig zitierten Diktum ausgeht: »Einen Menschen lieben, heißt sagen: du wirst nicht sterben.« Marcel zufolge ist in diesem Sinne die Erfahrung der Liebe für den »homo viator« eine mögliche Wegweisung über den Tod hinaus. In ihrem Beitrag »Leben als Pilgern. Der Mensch als Homo viator im Zeugnis der Heiligen Schrift« arbeitet Renate Brandscheidt verschiedene Formen einer Pilgerexistenz coram Deo vornehmlich anhand von Texten des Alten Testamentes heraus. Ausgehend von Aussagen der Urgeschichte, nach denen das lebenslange Pilgern des Menschen unter der Last der Vergänglichkeit als Folge des Sündenfallgeschehens allein aufgrund der Selbstbindung Gottes an die von ihm erstellte Schöpfung zu einem Weg der Hoffnung auf Heilung wird, weist die Verfasserin auf folgende Pilgerwege zu diesem von Gott beschlossenen Ziel hin: auf den unter der Verheißung und dem Segen Gottes stehenden Weg Abrahams, der dem Gott der Führung die Initiative überlässt; auf den Exodus Israels aus Ägypten, bei dem Israel die grundlegende Erfahrung als »Jahwes Volk auf dem Weg« macht; auf den Wallfahrtspsalter (Ps 120–134), der die Wallfahrt nach Jerusalem zu einer Einübung in den Glauben an die Vollendung der Führung Gottes mit seinen Erwählten gestaltet; auf die segensreiche Weggemeinschaft von Rut und Noomi, die Gott zum Anfang eines neuen Weges für Israel und die Völker werden lässt. Der Schluss des Beitrages blickt, ausgehend vom Gedanken der Universalität des Heiles im Alten Testament, auf den Pilgerweg Jesu im Neuen Testament, dessen Auferstehung demjenigen, der ihm nachfolgt, die Glaubensgewissheit schenkt, dass das letzte Ziel der menschlichen Pilgerschaft das Ankommen in der neuen Schöpfung ist. Stand in den bisherigen Beiträgen die abendländische Tradition im Vordergrund, so stellt Dennis Schilling in seinem Beitrag ein markantes Beispiel aus der asiatischen, genauer aus der chinesischen Tradition vor: »Die Existenzphilosophie des xiāoyáo im Buch Zhuāng zǐ.« Ausgehend vom Buch Zhuāng zǐ aus dem 4. Jh. v. Chr. wird das 22 https://doi.org/10.5771/9783495825426 .

Das Wege-Motiv als Paradigma der menschlichen Selbst- und Weltdeutung

»hin- und hergehende Verweilen« (xiāoyáo) an einem Ort zum Ausdruck einer freien, sich von den weltlichen Zwängen befreiten Existenz. In der chinesischen Tradition entwickeln die Entwürfe zu der existentiellen Bedeutung des xiāoyáo eine eigene Richtung existenzphilosophischen Denkens. Während die antike Philosophie eine Spekulation zur Überwindung der Grenzen von Leben und Tod mit xiāoyáo verbindet, sehen Denker im Mittelalter darin die Erfüllung des Daseins gegeben, die entweder immanent als freie Entfaltung der Natur oder transzendent als Erhebung des Geistes über die natürliche Bedingtheit verstanden werden kann. Auch findet die Spekulation des xiāoyáo Eingang in die buddhistische Philosophie. Die Existenzphilosophie des xiāoyáo beruht auf wesentlichen Grundansichten der Philosophie des Zhuāng zǐ. Das Dasein des Menschen vollzieht sich unter der Maßgabe der »Wandlung« von Existenz in Nicht-Existenz und Nicht-Existenz in Existenz ohne Kontinuität zwischen den einzelnen Manifestationen. Vertrauen in die existentielle Verfassung des Menschen liegt in dem »Selbst-Vergessen«, das einer Philosophie der Hoffnung diametral gegenübersteht. Anthropologische Definitionsversuche hat es in nahezu allen Epochen der Philosophiegeschichte gegeben. Der Mensch wurde bekanntlich seit der Antike als »animal rationale« bezeichnet. Neuere Entwürfe charakterisieren ihn darüber hinaus auch wesentlich als »homo ludens« (Johan Huizingas), »homo absconditus« (Helmuth Plessner), »homo compensator« (Odo Marquard), »homo pictor« (Hans Jonas) oder »animal symbolicum« (Ernst Cassirer). Denkansätze, die im engeren oder weiteren Sinne existenzphilosophisch orientiert sind, betonen explizit oder implizit das Viatorische des Menschseins. Wer den Menschen als »homo viator« versteht, bewahrt sich einen Sensus dafür, dass der Aufschluss über das Menschliche des Menschen nicht allein über eine Definition zu gewinnen ist und Mensch-Sein immer auch das Mensch-Werden mit umfassen muss. Will der Mensch erkennen, was oder wer er ist, muss er sich auf den Weg machen. Diese Einsicht im Horizont der Leitmetapher des »homo viator« zu vertiefen, ist das Anliegen der vorliegenden Beiträge.

23 https://doi.org/10.5771/9783495825426 .

Werner Schüßler

»Unser Wesen ist Auf-dem-Wege-Sein« Zu einem Grundthema der Existenzphilosophie von Karl Jaspers »Als Schauspiel für andere kann ein Leben den Charakter eines vollendeten haben, als wirkliches hat es ihn nicht. Im Leben bleibt Spannung und Ziel, Inadäquatheit und Unvollendung.« Karl Jaspers 1

Augustinus hat bekanntlich gesagt, dass es ihm letztlich nur darum ginge, Gott und die Seele zu kennen. 2 Karl Jaspers (1883–1969), neben Martin Heidegger die bedeutendste Gestalt der modernen Existenzphilosophie, 3 bekennt sich in einem autobiographischen Text mit Ph II, 228 – Die Schriften von Karl Jaspers werden wie folgt abgekürzt: Einf Einführung in die Philosophie. Zwölf Radiovorträge, Zürich 1950 (29. Aufl. München 1991). PhGl Der philosophische Glaube. Gastvorlesungen, München 1948 (9. Aufl. 1988). GPN Die großen Philosophen. Nachlaß, 2 Bde. Bd. I: Darstellungen und Fragmente; Bd. II: Fragmente – Anmerkungen – Inventar, hrsg. von H. Saner, München 1981. GSZ Die geistige Situation der Zeit, Berlin 1931 (13. Aufl. 1979). KlSch Kleine Schule des philosophischen Denkens, München 1965 (12. Aufl. 1991). NPL Nachlaß zur Philosophischen Logik, hrsg. von H. Saner u. M. Hänggi, München 1991. PGO Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, München 1962 (3. Aufl. 1984). Ph Philosophie, 3 Bde. Bd. I: Philosophische Weltorientierung; Bd. II: Existenzerhellung; Bd. III: Metaphysik, Berlin 1932 (5. Aufl. München 1991). PsW Psychologie der Weltanschauungen, Berlin 1919 (6. Aufl. 1971; Neuausgabe München 1985). RA Rechenschaft und Ausblick. Reden und Aufsätze, München 1951 (Neuausgabe 1958). UZG Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München 1949 (9. Aufl. 1988). VdW Von der Wahrheit. Philosophische Logik. Erster Band, München 1947 (4. Aufl. 1991). 2 Vgl. Augustinus, Soliloquia I, 2, 7: »Deum et animam scire cupio. Nihilne plus? Nihil omnino.« 3 Zur Einführung vgl. W. Schüßler, Jaspers zur Einführung, Hamburg 1995. 1

24 https://doi.org/10.5771/9783495825426 .

»Unser Wesen ist Auf-dem-Wege-Sein«

dem Titel »Über meine Philosophie« von 1941 entschieden zu dieser Selbstaussage Augustins. In Jaspers’ Terminologie heißt dies: Transzendenz und Existenz. 4 Diese sind für ihn die eigentlichen Gegenstände der Philosophie, die aber selbst »ungegenständlich« sind, weil sie aus dem Themenbereich der Einzelwissenschaften herausfallen: Dass es Transzendenz gibt, ist einzelwissenschaftlich weder zu beweisen noch zu widerlegen; das gleiche gilt auch für Existenz, die Jaspers wesentlich als Freiheit bestimmt. Das Sein ist mit dem Weltsein nicht erschöpft. Das Gegenständliche ist nicht alles Sein. Seele und Gott bzw. Existenz und Transzendenz sind nicht im selben Sinne wie die Dinge in der Welt, und doch sind sie nicht nichts. Existenz und Transzendenz »erscheinen« als Dasein, werden als dieses Dasein gegenständlich, fassbar, objektiv, sind aber nicht dieses Dasein. Und doch bedeutet Dasein für Existenz das Medium ihrer Verwirklichung und für Transzendenz das Medium ihrer Gegenwart. Damit sind wir auch schon mitten im Thema, ist der Mensch für Jaspers doch immer mehr, als er einzelwissenschaftlich von sich weiß. In diesem Sinne können Biologie, Psychologie und Soziologie immer nur partikulare Erkenntnisse über den Menschen gewinnen, aber nicht das, was er wesentlich ist, nämlich »Existenz«: »Der Mensch […] ist nicht, was er ein für allemal ist, sondern er ist Weg; nicht nur ein festzustellendes Dasein als Bestand, sondern darin Möglichkeit durch Freiheit, aus der er noch in seinem faktischen Tun entscheidet, was er ist.« 5 In diesem Sinne versteht Jaspers die Existenzphilosophie als »die Philosophie des Menschseins, welche wieder über den Menschen hinauskommt«. 6 Jaspers will damit die essentialistischen Analysen der philosophischen Anthropologie keineswegs herabsetzen, wie sie in verschiedenen Definitionsversuchen des Menschen zum Ausdruck kommen. In seiner »Kleinen Schule des philosophischen Denkens« heißt es dazu: »Das Wesen des Menschen wurde bestimmt als das Lebewesen, das Sprache hat und denkt (zoon logon echon) – als das Lebewesen, das durch Handeln seine Gemeinschaft als Stadt – polis – unter Gesetzen aufbaut (zoon politikon) –, als das Wesen, das Werkzeuge hervor4 5 6

Vgl. RA 344. GSZ 135 f.; vgl. ebd., 150. GSZ 138.

25 https://doi.org/10.5771/9783495825426 .

Werner Schüßler

bringt (homo faber), mit Werkzeugen arbeitet (homo laborans), seine Daseinsversorgung durch gemeinsame Wirtschaft beschafft (homo oeconomicus).«

Und er kommentiert dazu: »Jede dieser Bestimmungen trifft etwas Kennzeichnendes. Aber das Entscheidende fehlt: Der Mensch ist nicht als ein Sosein zu fassen, das in diesen Typen seines Seins immer wiederkehrt. Vielmehr ist das Wesen des Menschen in Bewegung.« 7 Im Folgenden soll es darum gehen, diese Bewegung oder Unruhe, die mit dem Menschsein als solchem verbunden ist, näher in den Blick zu nehmen. Das soll auf drei Ebenen geschehen: erstens in Bezug auf die Existenz, zweitens in Bezug auf den Anderen sowie drittens in Bezug auf die Transzendenz. Doch zuvor soll in einem ersten Abschnitt geklärt werden, was es heißt, dass es sich bei der Existenz nicht um ein faktisches, sondern um ein fakultatives Sein handelt.

1.

Existenz als Seinkönnen

In bewusster Anlehnung an Kierkegaard 8 versteht Jaspers die Existenz als »das Selbst, das sich zu sich selbst verhält und darin sich auf die Macht bezogen weiß, durch die es gesetzt ist«. 9 Zwei Momente werden hier genannt: erstens, dass ich mich zu mir selbst verhalte, und zweitens, dass ich einen Bezug zum Grund meines Seins habe. Beide Aspekte sind für Jaspers’ Existenzbegriff von entscheidender Bedeutung: Der Mensch erfährt sich als Freiheit, und Freiheit erfährt sich als abhängig von der Transzendenz. Durch den letzteren Aspekt unterscheidet sich Jaspers von jedem Existentialismus, der meint, ohne Gott auskommen zu können, wie das bei Jean-Paul Sartre oder Albert Camus der Fall ist. Nach Jaspers bin ich zwar immer auch ein »Ich überhaupt« als der Punkt, auf den alles Wissbare bezogen ist, aber ich erschöpfe mich nicht darin. Ebenso wenig bin ich mit meinen verschiedenen IchAspekten identisch, wie dem Körper-Ich, dem sozialen Ich, dem Leistungs-Ich oder dem Erinnerungs-Ich. »In solchen Gegenständlichkeiten als Aspekten meiner selbst«, schreibt Jaspers, »werde ich mir beKlSch 59. Vgl. dazu auch unten Anm. 25. Vgl. S. Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 8, Jena 1932, 10. 9 PGO 118. 7 8

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»Unser Wesen ist Auf-dem-Wege-Sein«

wußt wie in Spiegeln. In keinem sehe ich mich ganz und gar, sondern in Teilen; ich erblicke Seiten meines Seins, identifiziere mich partiell mit ihnen, aber ohne ganz und gar identisch mit mir in ihnen zu werden. Denn was ich auch in solchen Gegenständlichkeiten als Faktizitäten mir bin, es bleibt ihnen gegenüber das Bewußtsein dessen, was, weil möglich, auch hätte werden können.« 10 Ich-Aspekte treffen immer nur partikulare Tatbestände, aber nicht das, was ich eigentlich bin. Zwar kann ich mich gegenständlich in diesen verschiedenen Ich-Aspekten erfassen, aber jedes Mal mache ich die Erfahrung, dass ich diese Ich-Aspekte nicht ganz bin. »Das so Objektgewordene kommt nicht zur absoluten Identität mit mir selbst«. 11 Mein eigentliches Sein liegt diesen Erscheinungen zugrunde. Aber in seiner Totalität wird es mir nicht gegenständlich. Es bleibt dabei: »Ich bin noch anderes«. 12 Und doch entsteht Jaspers zufolge durch diese Überlegungen ein indirektes Wissen um mich, wenn es auch kein Wissen von mir ist, nämlich: »Das Selbst ist mehr als alles Wißbare«. 13 Gegenüber diesen objektiven Fixierungen bleibt ein Rest, der nicht objektivierbar ist: ich selbst oder ich als Existenz, wie Jaspers auch dazu sagt. Existenz ist für Jaspers wesentlich ausgezeichnet durch Freiheit, so wesentlich, dass es auf den ersten Blick fast scheinen könnte, als ob Existenz und Freiheit identisch wären. Zu einer Totalidentität will es Jaspers aber doch nicht kommen lassen; denn Existenz ist die die Freiheit übergreifende Wirklichkeit. 14 Das heißt, Existenz ist auch noch durch andere Momente bestimmt, 15 wenn auch Freiheit ihr wesentliches Kennzeichen ist. Wie ist diese Freiheit genauer zu charakterisieren? Wenn man von politischer, persönlicher, wirtschaftlicher oder religiöser Freiheit, von Gewissens-, Denk-, Presse- oder Versammlungsfreiheit spricht, dann handelt es sich Jaspers zufolge noch nicht um den philosophischen Begriff der Freiheit, der als das »eigentliche Sein und Tun des Menschen« zu gelten hat; 16 wobei die verschiedenen genannten ForPh II, 27. Ph II, 32. 12 Ph II, 34. 13 Ebd. 14 Vgl. NPL 205. 15 Vgl. Ph II, 255–291 (»absolutes Bewusstsein); 292–335 (»unbedingte Handlungen«). 16 UZG 195. 10 11

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Werner Schüßler

men der Freiheit in Letzterer fundiert sein müssen, werden sie doch ansonsten »äußerlich und verkehrt«. 17 In der erkennbaren Natur kommt diejenige Freiheit, um die es Jaspers hier wesentlich geht, nicht vor. Biologie, Psychologie und Soziologie haben ein Bild vom Menschen, in dem die Freiheit keinen Platz hat. 18 Und doch »erscheint« Freiheit in gegenständlicher Form. Jaspers nennt drei solcher Erscheinungsweisen: Freiheit ist erstens objektiv die Freiheit des Handelns »im Gegensatz zum Gezwungenwerden durch körperliche Fesseln, durch seelische Erpressung, Bedrohung, durch körperliches Foltern«. Freiheit ist zweitens objektiv »die Freiheit des Sichaussichselbstentfaltens, Aussichselbstbewegens im Gegensatz zur Beschränkung durch soziologische und politische Gegebenheiten und durch die bestimmten Situationen«. Und Freiheit ist drittens objektiv »die Freiheit des Wollens als Wahlfreiheit im Gegensatz zur Unfreiheit etwa durch geistige Erkrankung (als psychologische Willensfreiheit im Sinne des Strafgesetzbuchs […])«. 19 Aber diese objektiven Begriffe der Freiheit erschöpfen den philosophischen Begriff der Freiheit nicht. Die Freiheit, um die es Jaspers wesentlich geht, ist gegenüber diesen objektiven Formen »weder beweisbar noch widerlegbar«. 20 »Freiheit ist wirklich in einem anderen Sinne als die empirische Wirklichkeit. Sie ist in der empirischen Wirklichkeit sich gewiß, aber sie ist nicht als empirische Wirklichkeit aufzeigbar.« 21 Die Frage, ob Freiheit sei, ist nichtig als Frage des »Bewußtseins überhaupt«. Denn Freiheit ist nicht als ein Dasein zu beweisen. »Soweit Erkenntnis reicht, gibt es noch keine Freiheit«. 22 So kann ich Freiheit immer auch psychologisch und soziologisch erklären und begreifbar machen. 23 Freiheit ist Gegenstand, »sofern sie psychologisch als Willkür, soziologisch als politische Freiheit, psychopathologisch als Beraubung der freien Willensbestimmung gegenständlich wird; sie ist kein GegenEbd. Vgl. dazu W. Schüßler, Unfreiheit als Fiktion. Zum Menschenbild in der Existenzanalyse Viktor E. Frankls und seiner Bedeutung für die gegenwärtige Diskussion um die Hirnforschung, in: E. J. Bauer (Hrsg.), Freiheit in philosophischer, neurowissenschaftlicher und psychotherapeutischer Perspektive, München 2007, 89–106. 19 PGO 356. 20 Ph II, 169. 21 NPL 282. 22 Ph II, 177. 23 Vgl. dazu W. Schüßler, Freiheit als Illusion? Anmerkungen zur aktuellen Diskussion um die Hirnforschung, in: Trierer Theologische Zeitschrift 115/2 (2006) 85–98. 17 18

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»Unser Wesen ist Auf-dem-Wege-Sein«

stand in der Welt, auch nicht für die Psychologie, wenn sie als eigentliche, als existentielle Freiheit unbestimmbar gemeint wird.« 24 Das Entscheidende der existentiellen Freiheit liegt nach Jaspers nämlich nicht darin, dass ich etwas wähle, also Objektivitäten, sondern dass ich mich wähle, wenn dieses Wählen auch nur durch die Objektivitäten hindurch realisiert werden kann: Ich wähle mich. In freier Entscheidung schaffe ich mein eigenes Wesen in geschichtlicher Kontinuität. Ich selbst bin nicht nur Ursprung meiner Handlungen, sondern durch diese hindurch auch Ursprung meines eigenen Wesens. Jaspers spricht in diesem Zusammenhang sogar von »Selbstschöpfung«. 25 Doch handelt es sich hierbei nicht um eine absolute Selbstschöpfung. Das wird schon durch den Begriff des »Sich-geschenkt-Werdens« deutlich, von dem noch zu sprechen sein wird. »Sage ich zu mir: ›Ich bin frei‹, so heißt das: was ich werde, liegt auch an mir; ich werde, was ich bin, durch das, was ich in der Welt mit mir tue«. 26 Diese Freiheit, die Jaspers auch die existentielle oder ursprüngliche Freiheit nennt, ist jeder Vergegenständlichung und Verallgemeinerung entrückt. »Existenz kann ich nicht geradezu wollen […]. Wollen kann ich nur das schlechthin Gegenständliche«. 27 Existenz aber ist ungegenständlich. Das heißt, Existenz kann ich nur verwirklichen durch mein Handeln in der Welt: Was ich bin, das werde ich durch meine Entscheidungen. In diesem Sinne erfasst sich Freiheit »nur an dem Getanen, nicht an sich selbst«. 28 Die existentielle Freiheit ist also nicht vom Modell des Wählens im Bereich des Gegenständlichen her zu begreifen. Das Existentielle der Wahl besteht gerade darin, dass mögliche Existenz sich selbst wählt. Es geht hier nicht um die Wahl von Objektivitäten, es geht

PGO 162. Ph II, 195. 26 PGO 354. – Der Psychiater, Psychotherapeut und Philosoph Viktor E. Frankl bringt diesen Sachverhalt sehr schön zum Ausdruck, wenn er schreibt: »Ich handle nicht nur gemäß dem, was ich bin, sondern ich werde auch gemäß dem, wie ich handle.« Von daher hält er die These »agere sequitur esse« nur für die halbe Wahrheit; die zweite Hälfte lautet ihm zufolge »esse sequitur agere« (ders., Logotherapie und Existenzanalyse. Texte aus fünf Jahrzehnten. Mit einer Einführung von G. Guttmann, München 1987, 97 u. Anm. 1). Hieran wird auch deutlich, dass eine rein existentialistische Haltung problematisch ist. 27 Ph II, 162. 28 NPL 206. 24 25

29 https://doi.org/10.5771/9783495825426 .

Werner Schüßler

um die Wahl meines Selbst. Freiheit ist in diesem Sinne diese Wahl meines Selbst. Freiheit bezieht sich also in ihrem innersten Kern nach innen, nicht nach außen. In der Richtung auf ein Außen wird gleichzeitig das Innen »aus-gerichtet«, ja »ge-richtet«. Bloße Wahl erscheint nur als eine Wahl zwischen Objektivitäten; Freiheit aber ist als die Wahl meines Selbst. Ich kann darum nicht noch einmal gegenübertreten und zwischen mir selbst und dem Nicht-ichselbst-sein wählen, als ob Freiheit nur ein Werkzeug von mir wäre. Sondern: indem ich wähle, bin ich; bin ich nicht, wähle ich nicht. Was ich selbst sei, ist zwar noch offen, weil ich noch entscheiden werde: insofern bin ich noch nicht. 29

Dem heute so abgegriffenen Wort von der Selbstverwirklichung gibt Jaspers damit eindeutig den Abschied: »Ich finde nicht, indem ich mich umsehend suche.« 30 Wo aber Freiheit ist, da ist auch Verantwortung, und wo Verantwortung ist, da gibt es auch Schuld. Ich bin in diesem Sinne wesentlich meine Wahl und meine damit verbundene Verantwortung. 31 Selbstwerden heißt aber nicht, alle Autorität über Bord werfen. Jaspers spricht von einer Scheu, ja sogar Pietät gegenüber der Überlieferung. Der zu sich selbst gekommene Mensch wirft keine Fessel leichten Herzens ab, denn er will treu sein im Übernehmen und nicht vergessen. Wer sich der vollen Unabhängigkeit bewußt geworden ist, wagt sie in stiller Entschlossenheit, ergreift sie nicht in blindem Jubel. Er hat den entschiedensten Sinn für Überlieferung und Autorität, deren mögliches Maximum festzuhalten er gesonnen ist. 32

Diese Überlegungen laufen allen Bestrebungen zuwider, Schuld und Verantwortung zu verharmlosen oder gar zu verleugnen. 33 Demgegenüber hält Jaspers unerbittlich an der Einsicht fest: Wir entscheiden uns und sind verantwortlich, das können wir im Ernste nicht leugnen. Einem Leugner von Schuld und Verantwortung hält er entgegen:

Ph II, 182. Ph II, 183. 31 Vgl. ebd. 32 Ph I, 311. 33 Vgl. dazu R. M. Bonelli, Selber schuld! Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen, München 2016. 29 30

30 https://doi.org/10.5771/9783495825426 .

»Unser Wesen ist Auf-dem-Wege-Sein«

Als ein Angeklagter vor Gericht seine Unschuld damit begründete, daß er so geboren sei und nicht anders könne, daher nicht haftbar zu machen sei, antwortete der gut gelaunte Richter: das sei ebenso richtig wie die Auffassung vom Handeln des ihn strafenden Richters: nämlich auch dieser könne nicht anders, da er nun einmal so sei und notwendig nach den gegebenen Gesetzen so handeln müsse. 34

Nun entsteht aber die weitere Frage: Wenn ich frei bin, bin ich dann frei durch mich? Ich kann mir ausbleiben. Und dann: Ich kann nicht allein durch meinen Willen meine Freiheit erfüllen. Was ich bin, bin ich nicht durch mich. Ich werde in meiner Freiheit, im Freisein selber und seiner Erfüllung, mir geschenkt. 35

Was meint dieses »Sich-geschenkt-Werden«? Denn ich bin es doch, der für mich verantwortlich ist. Ich bin es doch, der sich selbst wollen kann und auch will. Und doch werde ich mir selbst immer auch geschenkt, »weil dieses Sichselbstwollen noch eines Hinzukommenden bedarf«. 36 Hier scheint so etwas wie ein Analogon zum religiösen Begriff der Gnade durch. Wenn Jaspers in diesem Zusammenhang den Gnadenbegriff zwar ablehnt, so muss dies dem keineswegs widersprechen; denn er kritisiert hier ein verzerrtes Gnadenverständnis, wonach die Freiheit geleugnet wird zugunsten des allein wirkenden göttlichen Willens. 37 Dies ist ein für Jaspers’ Denken charakteristischer Zug: Auf der einen Seite werden überlieferte christliche Begriffe zumeist verzerrt dargestellt und abgelehnt, auf der anderen Seite weisen aber viele Begriffe seines eigenen Denkens eine innere Nähe zu diesen überlieferten religiösen Glaubensgehalten auf. Wenn Arnold Gehlen meint, dass in den Schriften von Heidegger durch eine neue philosophische Terminologie christliche Bestände in Bewegung gesetzt werden, 38 so trifft das zum Teil auch auf Jaspers zu. 39 Einf 50 f. PGO 354 f. 36 Ph II, 45. 37 Vgl. Ph II, 198. 38 Vgl. A. Gehlen, Philosophische Anthropologie und Handlungslehre, in: Ders., Gesamtausgabe, hrsg. von K.-S. Rehberg, Bd. 4, Frankfurt/M. 1983, 205. 39 Vgl. dazu auch die folgenden Selbstaussagen von Jaspers: »Dass in meiner Philosophie ein Heimweh spreche nach einem Verlorenen, dass in ihr ein Echo widerklinge der Religion, würde ich nicht leugnen. Aber ich glaube dieses Heimweh in aller Philosophie zu spüren, die im Schatten Platons und Kants steht, dieser aus so grossem Heimweh Suchenden und Erinnernden. Wer möchte nicht im innersten Herzen, dass der leibhaftige Gott zu ihm wie zu einem Kinde spräche, selbst wenn wir wissen, dass 34 35

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Aber zuerst einmal meint Jaspers mit dem Begriff des »Sichgeschenkt-Werdens« wohl, dass ich die »Existenz-Werdung« nicht »machen« kann, nicht »planen« kann, nicht herbeizwingen kann aufgrund eines bestimmten Rezeptes oder eines bestimmten Tuns. Ein bestimmtes Tun ist zwar hier Voraussetzung, also notwendige, aber doch keine hinreichende Bedingung. Ich werde Existenz oder ich werde es nicht. Und wenn ich es werde, erlebe ich es wie ein Geschenk. Diese Struktur weist auch gewisse Ähnlichkeiten zu der unio mystica auf, für die man sich zwar zurüsten, die man aber auch nicht herbeizwingen oder erwirken kann. Wissen wir nun, was Freiheit ist? Jaspers verneint diese Frage mit der folgenden Begründung: Das liegt am Wesen der Freiheit. Gegen den Vorwurf, man habe durch alle die Sätze nicht erfahren, was sie sei, ist bewußt zu machen: Freiheit ist kein Gegenstand. Sie hat nicht ein Dasein, das in der Welt vorkommend erforschbar wäre. Für wissenschaftlich-gegenständliche Welterkenntnis gibt es keine Freiheit. Daher ist Freiheit nicht in einem definierten Begriff vor Augen zu stellen. Was ich aber nicht gegenständlich erkenne, dessen kann ich doch denkend innewerden, in Denkbewegung zur begrifflichen Gegenwärtigkeit bringen, – und dann von Freiheit sprechen, als ob sie da sei. Aber es ist unvermeidlich, daß darin ein Knäuel von Mißverständnissen liegt. 40

Jetzt wird auch verständlich, warum Jaspers immer nur von möglicher Existenz spricht oder davon, dass Existenz eigentlich ein »Seinkönnen« ist. »Menschsein ist Menschwerden« 41; »unser Wesen ist Auf-dem-Wege-Sein« 42, denn ich weiß nie endgültig, was ich bin, weil es noch immer nicht entschieden und auch nicht übersehbar ist. Erst die Zukunft wird es zeigen, erst in der Wirklichkeit meines Lebens erfahre ich, was ich eigentlich bin und sein kann.

die Gottheit gerade dadurch, dass sie uns dieses versagte, uns erst als Menschen in unserer Freiheit möglich macht (Kant).« Und: »Die Theologie betreffend: Was ich ursprünglich als wahr erfahre, bleibt wahr, auch wenn ich nachträglich begreife, dass es ohne Christentum geschichtlich kaum in meine Seele gekommen wäre.« (Karl Jaspers Gesamtausgabe, Bd. I/8, hrsg. von D. Kaegi, Basel 2018, 165 [Brief an Jean Wahl vom 30. 01. 1938]) 40 UZG 199. 41 Einf 57. 42 Einf 99; vgl. 13; PGO 471.

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»Unser Wesen ist Auf-dem-Wege-Sein«

»Das Selbst ist kein Dasein, kein Sosein, kein Gegenstand, nicht etwas, das ich habe und als das ich so bin, wie ich bin.« 43 »Das Selbst ist nicht, es ist im Werden«. 44 Das heißt, Existenz steht ständig in der Wahl, zu sein oder nicht zu sein. Ich erfahre mich als der, der er selbst sein kann, aber auch nicht er selbst sein kann. Dadurch verhalte ich mich zu meiner eigenen Möglichkeit: Existenz ist nicht ein Sein, sondern ein Seinkönnen. 45 Existenz ist also Möglichkeit, weil sie über ihre Wirklichkeit immer erst noch entscheidet. Und sie ist Möglichkeit, weil sie nie eigentlich zur Wirklichkeit kommt. Der Mensch ist im Dasein »mögliche Existenz«. Während Dasein da ist oder auch nicht da ist, tut Existenz, weil sie möglich ist, Schritte zu ihrem Sein oder von ihm weg ins Nichts durch Wahl und Entscheidung. Diese Schritte zu ihrem Sein geschehen aber immer nur in Identität mit Dasein. »Nur in der Erscheinung, nicht außer ihr in einem imaginären, losgelösten Selbstsein […] ist der Gehalt meines Wesens gegenwärtig«. 46 Jaspers nennt diese Einheit meiner Existenz mit meinem Dasein als Erscheinung »Geschichtlichkeit«, 47 und unter »geschichtlichem Bewußtsein« versteht er das Innewerden dieser Einheit. 48 Der Verlust dieser Einheit bedeutet zwar den Untergang des Daseins, nicht aber den der Existenz. Das Selbst, die Existenz, scheint für Jaspers »unsterblich« zu sein, jedenfalls insofern es es selbst wird. 49 Wobei Jaspers aber über die Art und Weise dieser Unsterblichkeit nichts Genaueres aussagt, was von seinen Voraussetzungen her nur konsequent ist. 50 Mit der Freiheit ist gleichzeitig ein Transzendenzbewusstsein gegeben: Wenn wir frei entscheiden und erfüllt vom Sinn unser Leben ergreifen, so sind wir uns bewußt, uns nicht uns selbst zu verdanken. […] GPN I, 465. GPN I, 468. 45 Vgl. VdW 77, 621. 46 Ph II, 121. 47 Vgl. Ph II, 122. 48 Vgl. Ph II, 119. 49 Vgl. Ph III, 92. 50 Vgl. Karl Jaspers Gesamtausgabe, Bd. II/1, hrsg. von B. Weidmann, Basel 2019, XVI Anm. 44, wo ein Gespräch von Jaspers mit seinem Vater über Unsterblichkeit (vom 02. 10. 1927) auszugsweise dokumentiert wird, wo es u. a. heißt: »Der Schmerz der Vergänglichkeit und des Abschieds ist unaufhebbar. Aber trotzdem sind wir uns doch bewusst, dass unser Sein mit diesem zeitlichen Ablauf nicht erschöpft ist, wenn auch über die Grenze unserer Erscheinung kein Blick geht.« 43 44

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Je mehr der Mensch eigentlich frei ist, desto gewisser ist ihm Gott. Wo ich eigentlich frei bin, bin ich gewiß, daß ich es nicht durch mich selbst bin. 51

Freiheitsbewusstsein und Gottesbewusstsein scheinen bei Jaspers somit in eins zu fallen. »Wo ich ganz ich selbst bin, bin ich nicht mehr nur ich selbst«. 52 Ein solcher Satz mutet schon fast wie ein Gottesbeweis an. Die Freiheit des Menschen, die dem Existentialismus eines Sartre gerade als ein Argument gegen die Möglichkeit der Existenz Gottes gilt, wird für Jaspers so geradezu zur intensivsten Vergewisserung darüber, dass Gott ist. 53

2.

Selbstwerden in Grenzsituationen

Das menschliche Leben weist nach Jaspers Unstimmigkeiten und Brüchigkeiten auf, die uns aus der unbefragten Selbstverständlichkeit herausreißen und die Ruhe eines positivistisch geschlossenen Weltbildes erschüttern. Auf diese Weise erwecken sie zu eigentlichem Menschsein. In den sogenannten Grenzsituationen wie Tod und Leiden, Kampf und Schuld werden diese Unstimmigkeiten auf eine ganz besondere Weise offenbar. Was ist unter diesem Begriff der »Grenzsituation« genauer zu verstehen? Eine erste Annäherung gelingt hier durch seine Kontrastierung zum Begriff der »Situation«: »Situation heißt eine nicht nur naturgesetzliche, vielmehr eine sinnbezogene Wirklichkeit, die weder psychisch noch physisch, sondern beides zugleich als die konkrete Wirklichkeit ist, die für mein Dasein Vorteil oder Schaden, Chance oder Schranke bedeutet.« 54 Derlei Situationen können Gegenstand verschiedener Wissenschaften sein. So untersucht z. B. die Biologie die Umwelt der Tiere oder die Volkswirtschaftslehre die Situationsgesetzmäßigkeiten von Angebot und Nachfrage. Als Dasein befinde ich mich stets in Situationen: In ihnen handle ich, in ihnen lasse ich mich treiben. Situationen aber sind keine unwandelbaren, starren Schemata. Vielmehr bestehen sie, indem sie 51 52 53 54

Einf 51. Ph II, 199. Vgl. VdW 980; Einf 37. Ph II, 202.

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»Unser Wesen ist Auf-dem-Wege-Sein«

sich wandeln. Es gibt Situationen, die ich zwar als Gegebenheit erleiden muss, aber ich muss dies nicht schlechthin. Ich kann mich ihnen entziehen. Ich kann aber auch berechnend bestimmte Situationen herbeiführen. Dasein ist in diesem Sinne ein Sein in Situationen. Ich kann zwar aus einer bestimmten Situation heraustreten, ich kann dies aber nur in der Weise, dass ich in eine andere eintrete. Das »InSituation-Sein« kann ich aber nicht aufheben. 55 Nun gibt es aber auch Situationen, die sich nicht wandeln. So – dass ich nicht ohne Kampf und ohne Leiden leben kann; dass ich unvermeidlich Schuld auf mich nehme; dass ich sterben muss. Solche Situationen nennt Jaspers »Grenzsituationen«. Grenzsituationen wandeln sich als solche nicht, sie wandeln sich nur in ihrer Erscheinung. Auf unser Dasein bezogen sind Grenzsituationen endgültig. »Sie sind nicht überschaubar«, schreibt Jaspers, »in unserem Dasein sehen wir hinter ihnen nichts anderes mehr. Sie sind wie eine Wand, an die wir stoßen, an der wir scheitern. Sie sind durch uns nicht zu verändern, sondern nur zur Klarheit zu bringen […]. Sie sind mit dem Dasein selbst«. 56 Wir können den Grenzsituationen nicht ausweichen. Was wir tun können, ist, unsere Augen vor ihnen zu verschließen. Wir können aber auch offenen Auges in sie eintreten. Dann werden wir »wir selbst«, wie Jaspers sagt. 57 Das bewusste Eintreten in die Grenzsituationen ist es auch, das nach Jaspers Philosophie in Gang bringt. Und wenn man bedenkt, dass für ihn Philosophie nichts anderes ist als dieses Erwachen zum Menschsein, so wird deutlich, dass es die Grenzsituationen sind, die einen erster Schritt zum Selbst- oder Menschwerden darstellen. Dieses Selbstwerden ereignet sich Jaspers zufolge in drei Sprüngen. In einem ersten Sprung erfahre ich in den Grenzsituationen, dass ich mehr bin als Dasein, erfahre ich mich als Existenz. In diesem Sinne ist für Jaspers das Erfahren der Grenzsituationen identisch mit dem »Existieren«. In einem zweiten Sprung geschieht die Erhellung. Das Dasein macht sich die Grenzsituationen als Möglichkeiten philosophierend deutlich. Jedoch ist die denkende Erhellung der Grenzsituationen selbst noch keine existentielle Verwirklichung. »Wenn wir die Grenzsituationen erörtern, so tun wir es nicht als Existenz […], sondern als mögliche Existenz, nur in Sprungbereitschaft, nicht im 55 56 57

Ph II, 203. Ebd. Ph II, 204.

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Sprunge.« 58 Denn die erhellende Betrachtung ist selbst nur Möglichkeit, nicht Wirklichkeit; Wissen und Sein sind zu unterscheiden. Zwar kann man die Grenzsituationen auch objektiv erfassen wie andere Situationen. Aber zu eigentlichen Grenzsituationen werden sie erst »durch einen einzigartigen umsetzenden Vollzug im eigenen Dasein, durch welchen Existenz sich ihrer gewiß und in ihrer Erscheinung geprägt wird«. Indem ich als Existenz in der Grenzsituation selbst stehe, ereignet sich der dritte und eigentliche Sprung, »in dem mögliche Existenz zur wirklichen wird«. 59 Jaspers erörtert im zweiten Band seiner »Philosophie« die Grenzsituationen von Tod und Leiden, Kampf und Schuld; in anderen Schriften nennt er zuweilen als eine weitere den Zufall. Ich will mich hier auf die Grenzsituation des Todes beschränken, um zu verdeutlichen, wie diese den Menschen auf den Weg des Selbstwerdens bringen kann. Analoges gilt auch für die anderen Grenzsituationen. »Der Tod als objektives Faktum des Daseins ist noch nicht Grenzsituation«, schreibt Jaspers. Für das Tier, das nichts vom Tode weiß, ist sie nicht möglich. Der Mensch, der weiß, daß er sterben wird, hat dieses Wissen als Erwartung für einen unbestimmten Zeitpunkt; aber solange der Tod für ihn keine andere Rolle spielt als nur durch die Sorge, ihn zu meiden, solange ist auch für den Menschen der Tod nicht Grenzsituation. 60

Zwar leide ich am Tod geliebter Menschen, aber schnell vergesse ich wieder die Unausweichlichkeit meines eigenen Todes. Als Grenzsituation ist der Tod nicht etwas Allgemeines. Nur als objektives Faktum ist er allgemein. In der Grenzsituation wird der Tod demgegenüber geschichtlich: entweder als der Tod des Nächsten oder als mein Tod. »Er wird nicht durch eine allgemeine Einsicht überwunden, durch keinen objektiven Trost, der meine Vergeßlichkeit durch scheinbare Gründe schützt, sondern nur in der Offenbarkeit eines sich gewiß werdenden Existierens.« 61 Der Tod des Nächsten bedeutet einen tiefen Schnitt. Ich muss mein Leben angesichts des Todes führen und prüfen. Die Gegenwart der Grenzsituation des Todes muss für mich bedeuten: »Was angesichts des Todes wesentlich bleibt, ist existierend getan; was hinfällig 58 59 60 61

Ph II, 206. Ebd. Ph II, 220. Ph II, 221.

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»Unser Wesen ist Auf-dem-Wege-Sein«

wird, ist bloß Dasein.« 62 Angesichts des Todes erfahre ich, was wichtig ist – und was bloßer Schein des Augenblicks ist. In diesem Sinne fordert Jaspers, den Tod in die Existenz aufzunehmen »als Bewährung ihrer selbst und als Relativierung bloßen Daseins«. 63 Der Tod als Bewährung des Gehaltes der Existenz! Diese Bewährung ist er nicht mehr, wenn die Existenz eine eindeutig gradlinige Haltung zu ihm gewinnt. Neben der Möglichkeit, dem Tod als Grenzsituation durch Vergesslichkeit auszuweichen – mein Tod ist zeitlich unbestimmt, und das lässt mich die Situation ertragen –, gibt es Jaspers zufolge zwei grundsätzliche Möglichkeiten des Ausweichens: die »harte Ataraxie« und die Weltverneinung. Die Ataraxie entzieht sich der Grenzsituation »durch die Starre eines nicht mehr betroffenen punktuellen Selbstseins«; die Weltverneinung tröstet sich »mit den Phantasien eines anderen jenseitigen Lebens«. 64 In beiden Haltungen wird der Sinn des Todes als Grenze umgeformt: So kann ich mir etwa einreden, die Angst vor dem Tode beruhe auf einem bloßen Irrtum, der durch richtiges Denken aufgehoben werden könne. Sie beruhe auf Vorstellungen von einem qualvollen Sein nach dem Tode, das es nicht gebe, oder auf der Angst vor dem Vorgang des Todes, der als solcher ganz unmerklich sei, da ja aller Schmerz dem Lebenden zukomme, und es keinen Schmerz gebe, aus dem nicht Rückkehr zum Leben möglich gewesen sei. Es komme darauf an, sich klarzumachen: wenn ich bin, ist mein Tod nicht, und wenn mein Tod ist, bin ich nicht; darum geht mein Tod mich gar nichts an. 65

Wenn auch jeder dieser Gedanken richtig ist, so vermag doch keiner das Schaudern vor dem Gedanken des Nichtseins aufzuheben. Diese Gedanken »scheinen zwar dem Tode ins Auge zu blicken, bewirken aber nur eine um so tiefere Vergeßlichkeit im Wesentlichen«. Denn es wird nach Jaspers hier beiseite geschoben, »daß sich mir immer wieder ein Bewußtsein des Seins als bloßen Daseins aufdrängt, das durch die Vorstellung des absoluten Endes sinnlos wird«. 66 Ich kann der Grenzsituation des Todes auch ausweichen »in der Vorstellung der sinnlichen, zeitlichen Unsterblichkeit«, nach der ich 62 63 64 65 66

Ph II, 223. Ebd. Ph II, 223 f. Ph II, 224. Ebd.

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eine andere Daseinsform erlange, »in der ich fortführe, was begonnen war«. Hierhin gehören nach Jaspers auch die Bemühungen um Beweise für die Unsterblichkeit. Aber alle diese Beweise sind »fehlerhaft und hoffnungslos«, ja »sinnwidrig«. 67 Demgegenüber fordert Jaspers dem Tod gegenüber die Haltung der Tapferkeit: »wahrhaft zu sterben ohne Selbsttäuschungen«. 68 Weder aus der Ataraxie noch aus der Weltverneinung heraus kann mir nach Jaspers die Gewissheit der wahren Existenz werden, »die in der Zeit erscheint, aber nicht zeitlich ist«. 69 Diese kann mir nur aus der Angst »im Schaudern vor dem Nichtsein« erwachsen. 70 Aber es handelt sich hierbei nicht um die Angst vor dem vitalen Nichtdasein, sondern um die Angst existentiellen Nichtseins, die ganz anderer Qualität ist. Demgegenüber gilt es, zur existentiellen Seinsgewissheit zu gelangen, die die Lebensgier beherrschen und zur Gelassenheit führen kann. Nicht darf die Lebensgier die existentielle Angst relativieren, denn dann würde Existenz vernichtet, sondern umgekehrt: Die existentielle Seinsgewissheit muss die Lebensgier relativieren. Dann wird die Tapferkeit erreicht, von der Jaspers spricht. Aber diese Tapferkeit ist nicht von stabiler Dauer. Der Gipfel ist nicht der Alltag. Zurück kehrt darum immer wieder die Todesangst und die Lebenslust. Aber es kehrt auch zurück die Seinsgewissheit; sie gilt es immer wieder neu zu erwerben. Eine wichtige Rolle spielt hierbei die Erinnerung, nämlich die Erinnerung daran, dass ich einmal auf dem Gipfel stand, und diese Erinnerung kann mir einen Ruck geben, um die Tapferkeit neu wiederzugewinnen. 71 In den genannten Grenzsituationen erweist sich das Dasein überall als in sich brüchig. Es hat »antinomische Struktur«, wie Jaspers dies auch ausdrückt. 72 Was ist damit gemeint? Es gibt verschiedene Gegensätze: den logischen (bejahendes und verneinendes Urteil), den realen (Leben und Tod) und den Wertgegensatz (nützlich und schädlich). Der logische Gegensatz ist gekennzeichnet durch den Widerspruch. Der reale Gegensatz kann verschiedene Formen annehmen: So kann er eine bloße Verschiedenheit bedeuten (blau und 67 68 69 70 71 72

Ebd. Ph II, 225. Ph II, 226. Ph II, 225. Vgl. Ph II, 226 f. PsW 230.

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grün); er kann eine Polarität meinen (dunkel und hell); schließlich kann er auch einen Widerstreit entgegenstehender Kräfte bedeuten (z. B. sich bekämpfende Triebe). Nicht alle diese Gegensätze sind Antinomien. Logische Gegensätze sind Antinomien, wenn sie unlösbar sind, wenn sie an der Grenze des Erkennens und Denkens stehen. Als auflösbare wären sie Scheinantinomien oder Irrtümer. Reale Gegensätze sind Antinomien, wenn sie als etwas Letztes aufgefaßt werden, das vom Standpunkt des Wertens aus als wesentlich und fragwürdig erscheint, und wenn die Existenz als im Letzten in Gegensätze entzweit erfaßt wird, so daß alles einzelne Dasein nur dann besteht, wenn diese gegensätzlichen Kräfte oder Erscheinungen sich zusammenfinden. 73

Die Grenzsituationen von Tod und Leid, auch diejenigen von Kampf und Schuld zeigen solche einzelnen Antinomien. So bedeutet der Tod den Widerspruch des Lebens usw. In diesen Grenzsituationen »sieht man das Wertvolle gebunden an Bedingungen, die selbst wertnegativ sind. Überall ist etwas in Kauf zu nehmen, was nicht gewollt ist. Die Gegensätze gehören so zueinander, daß ich die eine Seite, welche ich bekämpfe und aufheben möchte, nicht loswerden kann, ohne die ganze Polarität und also auch das, was ich als Wirklichkeit will, zu verlieren.« 74

Es gibt hier kein allgemeines Entweder-Oder überhaupt. Eine solche Lösung ist die Utopie. »Utopien haben das Gemeinsame, daß sie die antinomische Struktur des Daseins ignorieren«. 75 Die Utopie ist darum immer nur »eine momentane Lösung im Schein«, oder sie ist Glaube, nämlich ein vermeintliches »Wissen von dem, wie es recht und richtig wäre, wenn die Menschen nur wollten«. 76 Zwar kann dieser Glaube an Utopien die Aktivität auf das Höchste erregen, aber eine solche Aktivität ist unlebendig, weil sie gradlinig ist. Jaspers sagt dazu: »Der utopiengläubige Mensch ist selbst ein toter, wenn auch betriebsamer Mensch; und wo er wirkt, zerstört er, da alles Lebendige nicht in die Utopie passt.« 77 Menschsein ist demgegenüber notwendig dynamischer Natur, es kommt nie zu einer endgültigen Ruhe: »Ruhe als Dauer in der Zeit ist dem Menschen nicht vergönnt. Sie wäre das 73 74 75 76 77

PsW 232. Ph II, 250. PsW 242. Ebd. PsW 242 f.

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Ende der Zeit. Der Augenblick der Ruhe in der Welt kann als Vollendung nicht bleiben.« 78

3.

Selbstwerden in existentieller Kommunikation

Existenz ist aber kein solipsistischer Punkt, der in sich ruht, sondern sie ist notwendig verwiesen auf andere Existenz. Die zentrale Aussage lautet hier: »Ich kann nicht selbst werden, ohne in Kommunikation zu treten.« 79 Dieser Gedanke verbindet Jaspers mit der Dialogphilosophie eines Martin Buber. 80 Dabei unterscheidet Jaspers näherhin vier verschiedene Formen der Kommunikation, die in seiner »Periechontologie«, der Lehre des Umgreifenden, fundiert sind: die Kommunikation des Daseins, des »Bewusstseins überhaupt« (oder des Verstandes), des Geistes sowie der Existenz. Bei der Beziehung von Dasein zu Dasein geht es allein um die Durchsetzung eigener Interessen, denen der Andere untergeordnet wird. Das aber bedeutet, dass der Andere »als Sache« behandelt wird. Hier liegt somit keine persönliche Beziehung vor. Ist eine solche Beziehung gegenseitiger Natur, so entsteht ein Kampf darum, wer den Anderen beherrschen kann. 81 Bei der Beziehung von Verstand zu Verstand geht es um ein »gemeinsames Verstehen einer objektiven Sache als eines Denkinhaltes«, wie es z. B. in einer wissenschaftlichen Diskussion, im Idealfall bei einer mathematischen Frage der Fall ist. Im praktischen Bereich wird es in einer solchen Beziehung immer um eine MittelZweck-Relation gehen, über die man in der Regel objektiv zu entscheiden vermag. Gemeinsam ist aber auch solchen Beziehungen bzw. Gemeinschaften, dass sie »unpersönlich« sind. Jaspers sagt dazu: »In ihnen ist jedes Ich trotz seiner formalen Eigenständigkeit

KlSch 65 f.; vgl. Ph II, 249. – Der dritte Band von Jaspers’ »Philosophie« endet zwar mit einem Abschnitt, der überschrieben ist mit »Ruhe in der Wirklichkeit«; aber auch hier wird deutlich, dass diese Ruhe immer nur »in verschwindendem Augenblick möglich« ist (Ph III, 236). 79 Ph II, 61. 80 Vgl. dazu W. Schüßler, »Alles wirkliche Leben ist Begegnung.« Martin Bubers Philosophie des Dialogs als Antwort auf die Beziehungslosigkeit des modernen Menschen«, in: Trierer Theologische Zeitschrift 129/1 (2020) 70–81. 81 Ph II, 52. 78

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durch ein anderes Ich im Prinzip vertretbar, alle Ichpunkte auswechselbar.« 82 Nun ist der Mensch aber nicht schon mit seinem Dasein oder mit seinem Verstand identisch, das heißt, er geht weder in seiner Vitalität, noch in seinem Sein als formalem Ich auf. Darüber hinaus geht es dem Menschen auch immer um »Ganzheiten«, an denen er teilhat. Hier hat der Begriff des »Sinns« seinen Ort; der Einzelne findet sich hier »zur Welt erweitert […], an die sich hinzugeben ihn erfüllt«. 83 Das ist z. B. bei einem Staat der Fall, aber auch bei einer Familie, einer Universität, einem Beruf usw. Gemeinschaft entsteht hier jeweils in Bezug auf die »Idee eines Ganzen«. Nach Jaspers liegt damit, gegenüber den beiden ersten Formen, erstmals »eine gehaltvolle Kommunikation« vor, sind solche Bindungen doch nicht kausaler, sondern ideeller Natur. Da es aber um eine »Kommunikation in der Idee« geht, wird deutlich, dass das »ich selbst« vom anderen Selbst letztlich aber auch hier immer noch getrennt bleibt. 84 Diese drei Weisen der Kommunikation, die zumeist auch ineinander verschlungen sind, können soziologisch und psychologisch untersucht werden, da sie einen objektiven Charakter besitzen. Damit ist nach Jaspers aber noch nicht die entscheidende Kommunikation getroffen, die er als »existentielle Kommunikation« bezeichnet. Gegenüber den drei objektiven Kommunikationsweisen ist diese aber »ohne Sichtbarkeit«, weil sie nur in der Existenz selbst erfahrbar ist. 85 In Bezug auf die drei objektiven Formen der Kommunikation bleibt immer ein »Ungenügen« zurück: »Ich war nur in einer bestimmten Richtung, als bloßes Dasein, als Ich überhaupt, als Funktion eines ideellen Ganzen, als dieser Charakter engagiert, nicht als ich selbst.« 86 Diese »Erfahrung des Ungenügens der Kommunikation« markiert für Jaspers geradezu den Beginn der »Existenzerhellung«. 87 Und hier ist es besonders das Ungenügen an der Daseinskommunikation, das der Stachel ist, der einen »zur tieferen, existentiellen Kommunikation erweckt«. 88

82 83 84 85 86 87 88

Ebd. Ph II, 53. Ph II, 53 f. Ph II, 55. Ebd. Ebd. Ph II, 58.

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Für die existentielle Kommunikation gilt: »Ich selbst« werden kann ich immer nur, wenn auch der Andere er selbst wird; frei werden kann ich nur, wenn auch der Andere frei wird. Das heißt, es liegt weder allein an mir noch allein am Anderen, ob Kommunikation gelingt. »Erst im gegenseitigen Anerkennen erwachsen wir beide als wir selbst.« 89 Damit wird deutlich, dass existentielle Kommunikation in Freiheit zu ergreifen ist. Objektiv bleibt sie immer »unbegreiflich«. 90 Jaspers spricht in Bezug auf die existentielle Kommunikation auch von »kämpfender Liebe«, die »hellsichtig« ist, im Gegensatz zu einer »blinden Liebe«: Kämpfende Liebe »stellt in Frage, macht schwer, fordert, ergreift aus möglicher Existenz die andere mögliche Existenz«. 91 Von daher kann Jaspers auch sagen: »In unserer Liebe sind wir, was wir eigentlich sind. Alles, was in uns Gewicht hat, ist im Ursprung Liebe.« 92 Warum »liebender Kampf«? Es geht hier um den »Kampf des Einzelnen um Existenz«, wobei es zugleich um einen Kampf um die eigene wie auch um die andere Existenz geht. Geht es im Daseinskampf allein um Interessen, so im liebenden Kampf um »restlose Offenheit«. Diese ist aber nur möglich unter Ausschaltung jeder Macht und Überlegenheit. »In diesem Kampf wagen beide rückhaltlos sich zu zeigen und infragestellen zu lassen.« 93 Jaspers warnt in diesem Zusammenhang aber davor, die »Unmittelbarkeit des Kontaktes« für »echte Kommunikation« zu halten. Das heißt, es geht nicht um »bloße Sympathien und Antipathien«. Eine solche Unmittelbarkeit kann in einem vitalen Miteinander, in erotischer Spannung, in einem Angesprochensein durch den Habitus eines Menschen fühlbar werden. Und doch geht es dabei noch nicht um eine »Gegenseitigkeit in der Bewegung des eigentlichen Selbst«. 94 »Ohne Inhalt bleibt jeder unmittelbare Kontakt leer.« 95 Das alles kann zwar »eine spezifische Befriedigung im Augenblick des Erlebens« geben; aber letztlich bleibt doch eine »notwendige Unbefriedigung« zurück. Liebe »kann nicht in direkter Kommunikation ohne die Medien

89 90 91 92 93 94 95

Ph II, 57. Ph II, 58. Ph II, 65. KlSch 145. Ph II, 65. Ph II, 67 f. Ph II, 68.

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»Unser Wesen ist Auf-dem-Wege-Sein«

des relevanten Weltdaseins in der Zeitfolge existentiell bleiben«, das heißt, bei der Liebe geht es nicht um eine »reine Innerlichkeit«. 96 Ausgehend von den vier verschiedenen Weisen der Kommunikation entwickelt Jaspers in seiner Schrift »Von der Wahrheit« auch vier verschiedene Weisen der Wahrheit. Denn »Wahrheit ist, was uns verbindet – und: in der Kommunikation hat Wahrheit ihren Ursprung.« 97 Für die Wahrheit des Daseins heißt dies: »Wahr ist, was Dasein (Leben) fördert, was nützt.« 98 Die Wahrheit des Bewusstseins überhaupt verwirklicht sich vornehmlich in den Einzelwissenschaften; hier geht es wesentlich um »zwingende Richtigkeit«. 99 Für die Wahrheit des Geistes gilt: »Wahr ist, was Ganzheit der Idee bewirkt.« 100 Die Wahrheit der Existenz hat demgegenüber ihren geschichtlich je einmalig bestimmten Gehalt. Sie ist unübertragbar und nicht vertretbar. Geht es bei der wissenschaftlichen Wahrheit um »Erkennen«, so bei der existentiellen Wahrheit um »Bekennen«. 101 »Die« Wahrheit ist also in Vollendung nicht da. Daraus folgt, dass für Jaspers die Bewegung zu ihr hin selber die Form ist, »in der ihre Vollendung im Zeitdasein gelingen muß«. »Es ist die Idee eines großen und hohen Lebens«, schreibt Jaspers, »in der Bewegung der Wahrheit das Vieldeutige zu ertragen und zu durchleuchten; es auszuhalten im Unsicheren; lieben und grenzenlos hoffen zu können.« 102 Also auch in Bezug auf den Begriff der Wahrheit ist der Mensch immer in Bewegung, er ist und bleibt zeitlebens ein »homo viator«.

Ebd. PhGl 40. 98 VdW 608. 99 VdW 606 f. 100 VdW 610. 101 Vgl. VdW 618–624; dazu das instruktive Beispiel von Jaspers in Bezug auf Sokrates/Bruno auf der einen Seite und Galilei auf der anderen, in: VdW 651: »Die radikale Verschiedenheit des Wahrheitssinns zeigt sich eindringlich an dem Unterschied der Wahrheit, deren Bestand mein Wesen nicht betrifft, die ich zwar mit meinem Verstand anerkenne, die aber zu bekennen sinnwidrig wäre, und der Wahrheit, die nur ist, wenn ich ihr durch mein Leben entspreche, die ich ›bekenne‹, wenn sie meine Wahrheit ist, und die mit dem Ausbleiben des Bekennens verschwindet […]. Galilei stellt nicht die Richtigkeit seiner astronomischen Einsicht in Frage, wenn er unter Zwang sie verleugnete, wie er umgekehrt durch ein Bekenntnis sie nicht wahrer gemacht hätte. Sokrates und Bruno starben für ihre philosophische Wahrheit, weil sie mit ihnen identisch war: durch ihren Tod ist eine Wahrheit vollendet worden.« 102 VdW 961. 96 97

43 https://doi.org/10.5771/9783495825426 .

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4.

Selbstwerden durch existentielle Bezüge zur Transzendenz

Es steht für Jaspers außer Frage, dass es Transzendenz gibt; das erschließt sich ihm aus dem Bewusstsein menschlicher Freiheit, die auf die raumzeitliche Dimension nicht reduziert werden kann und sich als geschenkte versteht. In diesem Sinne steht für ihn der Einzelne immer schon vor der Transzendenz, die Jaspers zufolge aber absolut verborgen ist. 103 Damit ist auch schon implizit eine klare Absage an jede Form von Offenbarungsreligion erteilt. Explizit wendet sich Jaspers gegen die Religion mit der Begründung, dass eine Offenbarung auf der einen Seite Gott verendliche und auf der anderen menschliche Freiheit vernichte, da sie Gehorsam verlange. Dazu wäre Kritisches zu sagen, was aber an dieser Stelle nicht das Thema ist. 104 Trotz dieser scharfen Kritik an der Religion ist aber für Jaspers der innerste Personkern des Menschen, den er mit dem Begriff der Existenz bezeichnet und der für ihn wesentlich durch Freiheit charakterisiert ist, immer schon per se auf Transzendenz bezogen. In diesem Sinne vertritt Jaspers einen »philosophischen Glauben«, der aber nicht mit der natürlichen Religion der Aufklärung zu verwechseln ist, bei der es sich um eine Rationalisierung christlicher Glaubensinhalte handelt. Der philosophische Glaube drückt sich nach Jaspers in Chiffern oder Symbolen aus. Diese sagen aber letztlich nichts über die Gottheit aus, sondern nur über die Existenz. Dabei ist es aber ein Unterschied, ob ich mir die Chiffer vom personalen Gott zueigen mache oder beispielsweise die Chiffer einer absoluten Willkürmacht. Zwischen den Zeilen scheint Jaspers zwar auch an einigen unhintergehbaren Eigenschaften Gottes – wie seiner Ungeschichtlichkeit, Unveränderlichkeit und Ewigkeit – festzuhalten, sind doch nicht alle Chiffern von gleicher Gültigkeit. Aber aufgrund seines Prinzips, dass die Transzendenz absolut verborgen ist, kann er diese nicht im Sinne objektiver Aussagen verstehen, was aber eine gewisse Selbstwidersprüchlichkeit impliziert, denn es stellt sich dann die Frage: Wie kann ich am »Dass«

103 Vgl. dazu W. Schüßler, Der absolut transzendente Gott. Negative Theologie bei Karl Jaspers? in: Jahrbuch der Österreichischen Karl-Jaspers-Gesellschaft 5 (1992) 24–47. 104 Vgl. dazu W. Schüßler, Philosophischer und religiöser Glaube. Karl Jaspers im Gespräch mit Paul Tillich, in: Theologische Zeitschrift 69 (2013) 24–52.

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Gottes festhalten, wenn ich letztlich nichts über sein »Was« weiß. Oder anders gefragt: Muss ich nicht doch irgendeine Kenntnis seines »Was« haben, um das »Dass« Gottes behaupten zu können? 105 Aber lassen wir dieses Problem hier einmal beiseite und wenden wir uns Jaspers’ Begriff des philosophischen Glaubens zu. Der Glaube ist für Jaspers notwendig gebunden an den Zweifel: »Durch den Zweifel wird der zunächst selbstverständliche Glaube in Frage gestellt; erst der darin sich behauptende Glaube ist eigentlich Glaube.« 106 Und er gibt dazu die folgende Erklärung: Hört im Glauben der Unglaube auf, so verschwindet der Stachel; Glaube, der sich nicht mehr bewähren muß, schlummert ein; nur der Glaube, der es vermag, den Unglauben zu sehen, so daß dieser für ihn selbst Möglichkeit bleibt, ist wirklich. Ebenso sinkt der Unglaube, der keinen Glauben mehr bekämpft, in die Dumpfheit des Bewußtseins zurück, wo die fraglosen Daseinsselbstverständlichkeiten herrschen, die Spannung von Glaube und Unglaube aufhört. Glaube und Unglaube sind die Pole des Selbstseins. 107

Es besteht somit nur die Alternative, entweder die Spannung von Glauben und Unglauben auszuhalten oder »unklar in Glaubenslosigkeit« dahinzuleben, 108 womit aber Jaspers zufolge dem Menschsein nicht Genüge getan wird. 109 Dahinter steht die Überzeugung: »Das menschliche Bewußtsein kann nicht umhin, etwas absolut zu setzen, auch wenn es nicht will. Es gibt sozusagen einen unausweichlichen Ort des Absoluten für mich. Streiche ich etwas als absolut für mich, so tritt automatisch 105 Vgl. dazu W. Schüßler, Chiffer als Sprache der Transzendenz. Ist Karl Jaspers ein »Negativer Theologe«?, in: Ders. (Hrsg.), Wie läßt sich über Gott sprechen? Von der negativen Theologie Plotins bis zum religiösen Sprachspiel Wittgensteins, Darmstadt 2008, 235–255. 106 Ph I, 246. 107 Ph I, 247. – Was Jaspers hier über den »philosophischen Glauben« sagt, gilt aber auch für den religiösen Glauben, den Jaspers allerdings mit Autorität, Gehorsam und Unterwerfung in Verbindung bringt, was aber eine Verzerrung der Bedeutung des religiösen Glaubens darstellt, selbst wenn es diese Form historisch gegeben hat bzw. immer noch geben mag. Vgl. dazu P. Tillich, Dynamik des Glaubens. Neu übersetzt, eingeleitet und mit einem Kommentar versehen von W. Schüßler, Berlin/Boston 2020, bes. 33–39. 108 Ph I, 255. 109 Vgl. dazu W. Schüßler, Glaube und existentieller Zweifel als Pole des Menschseins, in: H.-G. Gradl / M. Schaeidt / J. Schelhas / W. Schüßler, Glaube und Zweifel. Das Dilemma des Menschseins, Würzburg 2016, 11–54, hier 17–24.

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ein anderes an seine Stelle.« 110 Diese Überlegungen haben eine recht große Nähe zu Paul Tillichs bekannter Definition des Glaubens als »das, was uns unbedingt angeht«. 111 Das Problem von Glaube und Unglaube wird besonders in Bezug auf das sogenannte Theodizeeproblem virulent, das Jaspers im dritten Band seiner »Philosophie« unter der Überschrift »Trotz und Hingabe« erörtert. »Der Lauf der Dinge scheint beliebig,« schreibt Jaspers hier, »keine Gerechtigkeit herrscht in der Welt, wahllos geht es dem Gutwilligen und Böswilligen, dem Edlen und Gemeinen schlecht und gut. In den Grenzsituationen wird die Vernichtung von allem offenbar.« 112 Das führt letztlich zur Empörung gegen die Transzendenz und zum Trotz. Aber der Trotz bietet letztlich auch keine Ruhe; am Ende stände hier nämlich nur der Selbstmord. Den einzigen Ausweg sieht Jaspers in dem Gedanken, »daß ich mich nicht selbst geschaffen habe«. Hierin liegt »die Unruhe im Trotz und seine Bedrohung«. 113 Indem der Mensch sich aufgrund dieser Einsicht an die Transzendenz hingibt, wird er er selbst. »Hingabe ist Bereitschaft zum Leben, wie es auch sei, es auf sich zu nehmen, wie es auch kommt.« 114 Für die Vernunft gibt es nach Jaspers auf die Theodizeefrage aber keine zwingende Antwort, genauso wenig wie auf die Frage nach dem »Was« Gottes. Es kann hier allein darum gehen, »die Unbegreiflichkeit zu begreifen«. 115 In dieser Einsicht von Jaspers spiegelt sich letztlich auf philosophische Weise die Position Hiobs. 116 Auch von der Grenzsituation her begründet Jaspers seine diesbezügliche Haltung: 110 Ph I, 250; vgl. Einf 62: »Der Mensch kann nicht anders als etwas absolut nehmen, mag er es wollen und wissen oder nicht, mag er es zufällig und wechselnd oder entschieden und kontinuierlich tun. Für den Menschen gibt es gleichsam den Ort des Absoluten. Dieser Ort ist für ihn unumgehbar. Er muß ihn ausfüllen.« – Ähnlich hat es auch schon Max Scheler formuliert: »Keine ›Wahl‹ ist dem Menschen gelassen zwischen ›Göttern‹ und ›Götzen‹ ! Er hat notwendig Götzen, so er nicht Götter hat – und sei es nur den Götzen des Nichts und der Nichtigkeit wie der ›Agnostiker‹, der keinen faith zu haben vermeint […]. Der Glaube an einen Götzen aber heißt ›Aberglaube‹. Und so gilt auch: Wo Unglaube, da notwendig Aberglaube. Und wieder gibt es keine mögliche ›Wahl‹.« (Ders., Schriften aus dem Nachlaß, Bd. I, hrsg. von M. S. Frings, Bern/München 31986, 226) 111 Vgl. dazu P. Tillich, Dynamik des Glaubens (s. Anm. 107), 14–32. 112 Ph III, 71. 113 Ph III, 75. 114 Ebd. 115 Ph III, 78. 116 Vgl. dazu W. Schüßler, Hiob und die philosophische Frage nach Unheil und Bösem. Immanuel Kant – Karl Jaspers – Viktor E. Frankl, in: Ders. / M. Röbel (Hrsg.),

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Würde uns eine einsichtige Lösung der Frage, woher Schuld, Kampf und Übel seien, so wäre die Grenzsituation aufgehoben, die Möglichkeit der Existenz um ihre ursprüngliche Erfahrung gebracht. Daß es keine Lösung für das bloße Wissen gibt, ist gerade der Grund, daß wir, von unseren Situationen als Grenzsituationen ausgehend, den jeweils geschichtlichen Aufschwung des Einzelnen in Kommunikation ergreifen müssen. Das Mißlingen jeder Theodizee wird Appell an die Aktivität unserer Freiheit, die zu Trotz und Hingabe die Möglichkeit behält. 117

In der Hingabe vertraue ich mich der Transzendenz an. Dieses Vertrauen, das auf kein Wissen gegründet ist, bedeutet für Jaspers das »Wagnis des Lebens«. 118 Aber weder kann der Trotz zu einem »Wissen« von der Nichtexistenz Gottes gelangen, noch kann die Hingabe zur Überzeugung »von der Harmonie des Ganzen« kommen, denn in diesem Fall gäbe sie sich »Illusionen« hin und wäre keine »echte Hingabe« mehr. Sie würde dann »verdecken«, »woraus der Trotz entsprang«. »Die Gottheit will nicht blinde Hingabe, sondern Freiheit, die trotzen und erst aus dem Trotz wahre Hingabe erreichen kann.« 119 Das bedeutet, dass es das Schicksal des Menschen ist, in der Spannung von Trotz und Hingabe leben zu müssen und diese Spannung als eine nichtauflösbare auszuhalten: »Hingabe bewahrt ihren Ursprung im Trotz; Vertrauen hebt die Frage nicht auf. Ein endgültiges Einswerden ist im Zeitdasein unmöglich; es wäre unwahre Antizipation. Existenz kann nur in geschichtlicher Erscheinung ihre Wahrheit aus dieser Spannung für sich finden.« 120 In diesem Sinne dokumentiert sich selbst im Trotz für Jaspers immer auch noch eine »Ergriffenheit von der Transzendenz«. 121

HIOB – transdisziplinär. Seine Bedeutung in Theologie und Philosophie, Kunst und Literatur, Lebenspraxis und Spiritualität (= Herausforderung Theodizee: Transdisziplinäre Studien, hrsg. von W. Schüßler und H.-G. Janßen, Bd. 3), Münster/Berlin 2013, 65–94, hier 77–86. 117 Ph III, 78. 118 Ph III, 79. 119 Ebd. 120 Ebd. 121 Ebd.

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5.

Fazit

In seiner »Einführung in die Philosophie« schreibt Jaspers unter der Überschrift »Philosophische Lebensführung«: »Unsere Zustände sind nur die Erscheinung des ständigen Bemühens unserer Existenz oder ihres Versagens. Unser Wesen ist Auf-dem-Wege-Sein. Wir möchten durchstoßen durch die Zeit. Das ist nur in Polaritäten möglich.« 122 Wir haben einige dieser Polaritäten und Spannungen kennengelernt. Diese sind prinzipiell nicht auflösbar, sondern müssen ausgehalten werden. Das macht nach Jaspers die viatorische Existenz des Menschen aus. Eine Isolierung der Pole, ganz gleich, ob diese in deren Übersteigerung oder in deren Abgleiten besteht, 123 ist keine Option, da auf diese Weise das Selbstwerden nicht vorangebracht, sondern – ganz im Gegenteil – verhindert wird. Zweifellos hätte der Mensch gerne auf seine ersten bzw. letzten Fragen eindeutige Antworten. Diese darf es nach Jaspers aber nicht geben, weil sonst seine Freiheit vernichtet würde. In seiner Schrift »Von der Wahrheit« heißt es dazu: »Das unwahr werdende Leben […] will Sicherheit, begehrt das Feste, das Eindeutige. Im Endlichen zwar gibt es unter Voraussetzung bestehender Zustände im Ganzen, etwa durch technische Planung, durch juristische Fixierung, ein hohes Maß von Sicherheit. Das sich versagende Leben will überall Sicherheit des Endgültigen, will pochen auf Besitz und Bestand. Das eigentliche Leben wagt. Es ist ein Leben in der Höhe, mit dem unbedingten Anspruch und der größten Gefahr. Das Wahrsein der Existenz kommt, ausgesetzt dem Äußersten, erst vor ihre entscheidenden Entweder-Oder. Vor ihnen muß sie sich erfüllen oder in den Abgrund sinken.« 124

122 123 124

Einf 99. Vgl. Ph III, 80. VdW 961. – Herv. von mir!

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Viatorische Existenz Grundlegung einer Philosophie der Hoffnung bei Josef Pieper

Einer Nachbemerkung vom Herbst 1979 zu seiner erstmals 1950 gedruckten Schrift »Über das Ende der Zeit« ist zu entnehmen, dass Josef Pieper dieses Thema in besonderer Weise beschäftigt hat, »vor allem unter dem Aspekt von Hoffnung und Verzweiflung, aber auch unter dem einer Standortbestimmung der gegenwärtigen Zeit.« 1 Was »Ende« heißen kann, kommt für ihn von zwei Seiten in den Blick: in geschichtsphilosophischer Perspektive als »Ende der Zeit« und wiederum in existenzphilosophischer Perspektive als »Ende des Lebens«. 2 Beide Male gilt sein Interesse der Frage, ob es angesichts des Endes Grund zur Hoffnung gibt – für den Einzelnen wie für die Menschheit insgesamt. »Ende« ist allerdings ein doppelsinniges Wort. Es kann bedeuten »Schlusspunkt« (terminus), aber auch »Ziel« (finis). Schon die Festlegung auf eine der beiden Bedeutungen bringt unvermeidlich eine Gesamtkonzeption der Wirklichkeit ins Spiel. Wer behauptet, das Leben des Einzelnen wie die Menschheit insgesamt habe ein Ziel, macht starke metaphysische Annahmen darüber, was denn Leben und Geschichte dem Grunde nach sind. Dies gilt nicht weniger für die entgegengesetzte Behauptung, wonach alles, was ist, zwar ein Ende hat, aber kein Ziel. Das Faktum, dass jedes menschliche Leben bereits mit der Geburt unterwegs ist auf sein Ende hin, bedarf einer Deutung aus der Natur dieses Lebens selbst. Die von Josef Pieper vorgelegte Deutung setzt an bei dem aus der christlichen Theologie übernommenen Gedanken des status viatoris und dem zugehörigen Begriff des status comprehensoris. Leben bedeutet für den Josef Pieper, Über das Ende der Zeit. Eine geschichtsphilosophische Betrachtung (1950), in: Ders., Werke in acht Bänden (= W) mit zwei Ergänzungsbänden (= EB), hrsg. von Berthold Wald, Hamburg 1995–2005, W 6, 286–374, 374. 2 Ablesbar auch an den angeführten Titeln seiner Schriften: Sur l’Espérance des Martyrs (1951); Die Verborgenheit von Hoffnung und Verzweiflung (1955); Wo stehen wir heute? (1960); Hoffnung und Geschichte (1967); Über die Kunst, nicht zu verzweifeln (1972). 1

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Menschen wesenhaft »Auf-dem-Wege-Sein« (viator) zu einem Ziel, das die innere Dynamik dieses Unterwegs-Seins bestimmt und als Erfüllung (comprehensio) doch jenseits dieses Weges liegt. Die Frage, ob und wie diese zentrale Konzeption christlicher Selbstdeutung philosophisch einholbar ist, bringt Pieper unmittelbar in eine Konfrontation mit der Position Martin Heideggers, der alle nicht aus Vollzug des Daseins gewonnenen Deutungen kategorisch ausschließt. Pieper setzt dem entgegen, dass der volle Sinn des status viatoris sich erst aus der Konvergenz zwischen christlicher Deutung und Daseinsvollzug erschließt. Heideggers Beschränkung auf die phänomenologische Perspektive der Daseinsanalyse lässt jedoch nicht bloß Wesentliches aus, sondern verfälscht das Phänomen. Was in Heideggers Bestimmung des Daseins als »Sein zum Tode« 3 vor allem ausgeklammert wird, ist das Phänomen der Hoffnung. Selbst wenn es philosophisch keinen Beweisgrund für erfüllte Hoffnung jenseits des Todes geben sollte, verlangt das Phänomen selbst doch nach einer sorgfältigen Analyse im Zusammenhang mit der Frage, was das »Auf-dem-Wege-Sein« aus existenzphilosophischer Perspektive für den Menschen bedeutet. Diese Frage stellt sich ebenfalls in geschichtsphilosophischer Perspektive als Frage nach dem Ende der Zeit. Welches Ende dieses »Aufdem-Wege-Sein« der Menschheit einmal nehmen wird, ist eine nur theologisch beantwortbare Frage, weil Gewissheit über eine endgültige Zukunft nicht auf dem Weg der Prognose, sondern allenfalls auf dem Weg der Prophetie zu erreichen ist. Seit der Geschichtsphilosophie der Aufklärung sind es vor allem Ernst Bloch und Teilhard de Chardin gewesen, die behaupten, dass wissenschaftlich gesicherte Aussagen über das Ende der Zeit möglich sind – bei Bloch als Folge des »Prinzips Hoffnung« 4 und bei Teilhard als Folge der »kosmischen Evolution«. 5 Piepers Versuch einer philosophisch standhaltenden Grundlegung der Hoffnung gerät damit unvermeidlich zu einer nun allerdings explizit geführten Auseinandersetzung mit den beiden zeitgenössischen Formen einer philosophischen Missdeutung der

Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1972. Vgl. dort im Zweiten Abschnitt das ganze Erste Kapitel (§§ 46–53), dessen Überschrift lautet: »Das mögliche Ganzsein des Daseins und das Sein zum Tode«. 4 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt a. M. 1959. 5 Pierre Teilhard de Chardin, Le phénomène humain, Paris 1955; deutsch: Der Mensch im Kosmos, München 1959. 3

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Hoffnung. Dieser vor allem kulturphilosophisch bedeutsame Teil seiner Philosophie der Hoffnung wird hier nicht weiter ausgeführt. 6 Der Fokus der nachfolgenden Untersuchung liegt allein auf dem Zusammenhang von Hoffnung und viatorischer Existenz. Piepers philosophisches Projekt, den Status der »viatorischen Existenz neu zu begreifen« 7 mit Blick auf die Hoffnung als »eigentliche Tugend des ›Noch-nicht‹«, 8 lässt sich in zwei Gedankenkreisen entfalten. Die existenzphilosophische Bestimmung des status viatoris (1) ist grundlegend für den Begriff der Hoffnung (2). Den Abschluss (3) macht eine versuchsweise Deutung der autobiographischen Aufzeichnungen Piepers als Selbstzeugnis der Hoffnung – als ein kunstvoll-erzählerischer Kontrapunkt zu dem notwendig abstrakt-allgemeinen Diskurs über die viatorische Existenz. Zusammengenommen ergibt sich so ein noch einmal deutlicher konturiertes Bild von der Grundlegung einer Philosophie der Hoffnung bei Josef Pieper. 9

1.

Status viatoris als »Auf-dem-Wege-Sein«

a)

In-der-Welt-Sein

Zu den grundlegenden Themen im Gesamtwerk von Josef Pieper gehört die Bedeutung der Zeitlichkeit für die menschliche Existenz in der Welt. Wiederkehrende Kennzeichnungen dafür sind das »Aufdem-Wege-Sein« und das »Noch-nicht-Sein« als begriffliche Umschreibungen dessen, was seit den Kirchenvätern und noch bei Thomas von Aquin der status viatoris des Menschen genannt wird. Piepers Intention geht dahin, diesen zentralen Begriff theologischer Anthropologie durch eine philosophisch begründete Rechtfertigung zu stützen. Der Anlass dazu ist ein doppelter. Da ist zum einen »die gegenwärtige ›Existenzphilosophie‹, die das menschliche Dasein als ›Sein zum Tode‹ ausschließlich in seiner Zeitlichkeit in den Blick Vgl. meine kurze Darstellung dieses Punktes: Berthold Wald, Wann kommt das Ende der Welt?, in: Zukunft CH 6/1 (2013) 14–15. 7 Josef Pieper, Hoffnung und Geschichte (1967), in: W 6, 375–440, 418. 8 Josef Pieper, Über die Hoffnung (1935), in: W 4, 256–295, 262. 9 Ein Versuch in diese Richtung liegt vor in dem Buch von Bernhard N. Schumacher, Rechenschaft über die Hoffnung. Josef Pieper und die zeitgenössische Philosophie, Mainz 2000. 6

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nimmt«. 10 Zum anderen hat »eine Art pastoraler Melodramatik« (in der Rede »vom Menschen als ›Erdenpilger‹, von der ›Pilgerschaft‹ des irdischen Lebens«) dazu geführt, dass der ursprüngliche Sinn des status viatoris »von mancherlei unverbindlich-ästhetischen Beiklängen überwuchert« ist, »deren falsche Sentimentalität dem heutigen Menschen, vor allem der jungen Generation und vielleicht just den Besten darunter, geradezu die Lust verdirbt, zu der in jenem Worte letztlich gemeinten Wirklichkeit vorzustoßen.« 11 Schwerer als die pastorale Behinderung des Verstehens wiegt allerdings die philosophische Missdeutung der menschlichen Existenzsituation. Pieper gesteht zwar zu, dass Heideggers Philosophie »gegen eine idealistische Lehre vom Menschen« im Recht ist, »in welcher der status viatoris seinswidrig in eine zeitlose Gottähnlichkeit verkleidet erscheint«. 12 Das zeigt sich vor allem in der Entwirklichung des Todes, der in Anlehnung an Platon als Erlösung von der irdischen Existenz und als Übergang in ein glückseliges Leben missdeutet wird. 13 Gegen eine solche Verharmlosung des Todes lässt Heideggers »Analyse des alltäglichen Daseins« keinen Zweifel daran, dass zu den Grundbestimmungen des menschlichen Daseins »die ständige Beunruhigung über den Tod« 14 gehört. »Aber soweit diese ›Existenzphilosophie‹ das Dasein des Menschen als wesenhaft und ›im Grunde seines Seins zeitlich‹ (Heidegger) auffasst, verfehlt auch sie den wahren Charakter ihres Gegenstandes.« 15 Eine wesenhafte Zeitlichkeit des Menschen würde ja gleichfalls bedeuten, »den ›Weg‹-Charakter des status viatoris, seine Richtung auf die Erfüllung jenseits der Zeit«, zu verkennen und mithin auch den »Sinn des innerzeitlichen Daseins selbst«. 16 Gegen Heidegger und

Josef Pieper, Über die Hoffnung (s. Anm. 8), 260. Ebd., 257. 12 Ebd., 260. 13 In Tod und Unsterblichkeit (1967) zitiert Pieper die Schluss-Strophe aus dem überaus populären Gedicht »Urania« von 1801: »Du winkst, wenn mir die letzte Trän’ entfließet / Mich zur Vergötterung hinauf / Ein Mensch, ein müder Pilger schließet / Ein Gott beginnet seinen Lauf.« (W 5, 280–397, 376) Pieper verweist darauf, dass die dahinterstehende rationalistische Platon-Deutung wegen der Auslassung des Gerichts nach dem Tod irreführend ist. Sokrates (im Phaidon) sagt ausdrücklich: »Für den, der nicht das Gute will, ist Unsterblichkeit eine furchtbare Gefahr.« (Ebd., 382) 14 Martin Heidegger, Sein und Zeit (s. Anm. 3), 253. 15 Josef Pieper, Über die Hoffnung (s. Anm. 8), 260. 16 Ebd. 10 11

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mit Thomas von Aquin hält Pieper daran fest: »Die menschliche Existenz ist nur als status viatoris zeitlich.« 17 Die sachliche Rechtfertigung dieser These wird später eigens thematisiert 18 und soll hier noch zurückgestellt bleiben. Überhaupt geht es Pieper nicht primär darum, Heidegger zu »widerlegen«. Was er beabsichtigt, gerade in dieser frühen Schrift Über die Hoffnung, ist eine zutreffende und überzeugende Darlegung der überlieferten Lehre vom status viatoris. Dabei nutzt er bisweilen auch das philosophisch etablierte Vokabular Heideggers für die eigene Deutung der Phänomene. 19 Zunächst ist zu sagen: Der status viatoris gehört »zu den Fundamenten des christlichen In-der-Welt-Seins« und »den Grundbegriffen aller christlichen Lebenslehre«. 20 Dieses »In-derWelt-Sein« wird ausdrücklich bezeichnet als »die innerste Zone geschöpflicher Existenz«, die dadurch bestimmt ist, »dass der Mensch bis zu seinem Tode in statu viatoris, im Zustand des Auf-dem-WegeSeins ist.« 21 Der explizite Bezug auf das Geschaffensein des Menschen markiert dabei einen wichtigen sinnhaltigen Unterschied zu Heideggers agnostischer Daseinsanalyse. Denn zum Sinn des geschöpflichen Auf-dem-Wege-Seins gehört der Gegenbegriff des status comprehensoris. Er lässt die Richtung dieses Weges erkennen im Vorblick auf die Erfüllung jenseits der Zeit und meint die noch ausstehende Seinsverfassung ewiger Glückseligkeit. 22 »Auf dem Wege, viator sein, heißt: ausschreiten auf die Glückseligkeit zu; umfangen haben, comprehensor sein, heißt: die Glückseligkeit besitzen.« 23 Das Faktum, »dass wir gleichermaßen […] auf den Tod hin existierende

Ebd. Siehe unten unter Abschnitt 1.c). 19 »Pieper findet Anregung in der Ontologie Heideggers, von der er einige Kategorien übernimmt, er distanziert sich aber von ihr, insofern er die These vertritt, dass der der Struktur des Daseins eingezeichnete Zweck die zeitliche Begrenztheit transzendiert.« (Bernhard N. Schumacher, Rechenschaft über die Hoffnung [s. Anm. 9], 58) 20 Josef Pieper, Über die Hoffnung (s. Anm. 8), 257. 21 Ebd. 22 Pieper verweist auf die biblische Wurzel des Begriffs der comprehensio bei Paulus (ebd.): »Brüder, ich bilde mir nicht ein, das Ziel erreicht zu haben (comprehendisse)« (Phil 3, 13). Martin Heidegger (Sein und Zeit [s. Anm. 3], 248) lehnt einen solchen Vorblick ausdrücklich ab: »Die diesseitige ontologische Interpretation des Todes liegt vor jeder ontisch-jenseitigen Spekulation.« 23 Josef Pieper, Über die Hoffnung (s. Anm. 8), 257. 17 18

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Menschen sind«, 24 erhält damit einen anderen Sinn. Zwar führt der Weg des Menschen unausweichlich »in den Tod als in sein Ende, nicht aber als in seinen Sinn. Der Sinn des status viatoris ist der status comprehensoris.« 25 Gibt es für diesen theologisch notwendigen Zusammenhang eine Rechtfertigung aus der Sache selbst? Wir werden es noch sehen im Anschluss an diese mehr summarische Benennung der begrifflichen Elemente des status viatoris. Der entscheidende Punkt des christlich verstandenen In-derWelt-Seins ist die genauere Bestimmung der Seinsverfassung des Auf-dem-Wege-Seins, das »Noch-nicht« der Erfüllung, und das angemessene Verhalten dazu. Dieses Noch-nicht-Sein »bezeichnet ziemlich genau die innere Bauform unserer hiesigen Existenz«. 26 Als Kreatur ist der Mensch »ein Werdender, einer, der bis an die Schwelle des Todes unterwegs ist«. 27 »Werden« meint nicht einfachhin Veränderung, Anders-Werden, nicht so bleiben, wie man gerade ist. In der Seinsweise des Werdens ist bereits mitgedacht, dass das noch ausstehende Sein mit dem schon gegebenen Sein in einer dynamischen Beziehung steht und sich daraus ergibt. Eine solche Beziehungseinheit von Sein als Noch-nicht-Sein und Künftig-geworden-Sein hat im Bereich des Lebendigen die Form einer organischen Entwicklung, im Bereich des Daseins aber die einer Entscheidung im Vorgriff auf das zukünftige Sein. Was wir noch nicht sind, werden wir sein können durch die Hoffnung auf Vollendung. »Die Tugend der Hoffnung ist die erstlich zugeordnete Tugend des status viatoris; sie ist die eigentliche Tugend des ›Noch nicht‹.« 28 Auch was »Hoffnung« besagt, wird noch zu klären sein. Es genügt hier zu sagen: In der Hoffnung antizipieren wir unser zukünftiges Sein und überschreiten die Schwelle des Todes im Vertrauen auf Gott. Der Tod als Übergang vom status viatoris in den status comprehensoris markiert zwar eine Grenze, aber keinen Bruch der Identität. Im Tod entscheidet sich, wie wir sein werden. Doch solange der Mensch auf dem Weg ist und den »status comprehensoris ›noch nicht‹ erreicht hat, bleibt der willentliche Abfall von Gott ›ganz und gar möglich‹«. 29 Soweit eine erste Josef Pieper, Kreatürlichkeit. Bemerkungen über die Elemente eines Grundbegriffs (1974), in: W 2, 441–464, 453. 25 Josef Pieper, Über die Hoffnung (s. Anm. 8), 260. 26 Josef Pieper, Glauben – Hoffen – Lieben (1981), in: W 8/1, 307–338, 324. 27 Ebd. 28 Josef Pieper, Über die Hoffnung (s. Anm. 8), 262. 29 Ebd., 293. 24

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summarische Bestimmung des status viatoris und seiner zugehörigen begrifflichen Elemente.

b)

Ontologie des Noch-nicht-Seins

Das Noch-nicht-Sein als fundamentale Seinsbeschaffenheit ist nicht auf die Daseinsverfassung des Menschen beschränkt. Alles Geschaffene ist nicht einfach nur Bestand, sondern geschehendes Sein. Pieper erinnert in seiner späteren Auseinandersetzung mit Ernst Bloch daran, dass in »der großen abendländischen Ontologie und Anthropologie […] der ›geschlossen-statische Seinsbegriff‹ gleichfalls niemals Gültigkeit gehabt hat«. 30 Insofern trifft der von Bloch eingeführte Begriff einer »Ontologie des Noch-nicht-Seins« 31 sehr genau den Gesamtcharakter des welthaften Seins, der sich noch einmal tiefer in der Analyse menschlicher Daseinsvollzüge erschließt. Die kosmische Evolution wie die biologische Entwicklung, aber auch Ethik und Wahrheitserkenntnis sind Regionen dieser Ontologie. So verweist Pieper in einer nahezu alles Seinsgeschehen einschließenden Sicht auf die allem Seienden eigentümliche Bewegtheit. Die moderne Astronomie neigt dazu, das Universum der Weltkörper als in einer ungeheuren Explosion begriffen zu denken. So aber muss die Wirklichkeit insgesamt gedacht werden: als geschehendes Sein, als eine Werde-Welt, die in dem Ur-sprung des Schöpfungsaktes ihren Impuls empfangen hat, von dem her nun alle Werdensbewegung, aller Lebensdrang, alles Streben, alle Dynamik – auch das Wollen des Menschen! – sich speist; die Schöpfungswirklichkeit kann nicht verstanden werden als ein statischer Bestand, sie ist ›Sein auf dem Wege‹, ›Sein unterwegs‹, auf dem Wege von der potentia zum actus, vom SeinKönnen zum Wirklichsein. 32 Josef Pieper, Hoffnung und Geschichte (s. Anm. 7), 418, Anm. 137. Bloch reklamiert für sich Originalität für seine These von der »Unmöglichkeit eines rein ›statischen Seinsbegriffs‹«. Vgl. Josef Pieper, ebd., mit Bezug auf Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung (s. Anm. 4), 17. 31 Ernst Bloch, Zur Ontologie des Noch-Nicht-Seins (Philosophische Grundfragen I), Frankfurt a. M. 1961. 32 Josef Pieper, Über das Gute und das Böse. Vier Vorlesungen (Thomas-Interpretationen) (1949), in: W 2, 1–57, 31 f. In der Einleitung zu Die Wirklichkeit und das Gute (1929/1931) erläutert Pieper den Wirklichkeitsbegriff von Thomas her in der Doppelheit seines Sinnes von realis und actualis. »Das eine leitet sich her von res-Sache, das andere von actus-Wirken«; Gegenbegriff zu res ist das ens rationis, das nur gedachte 30

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Unmittelbar einsichtig ist diese dynamische Verfassung der Schöpfungswirklichkeit im Bereich des Lebendigen und seiner Entwicklung. Leben unterscheidet sich durch die von innen her auf sein Ziel hindrängende Werdensbewegung von dem, was kein Leben hat. »Leben heißt auf dem Wege sein zur selbsteigenen Wirklichkeit.« 33 Dabei geht das schon Verwirklichte in das zukünftig Wirkliche ein und bleibt darin gegenwärtig wirksam auf die noch ausstehende Gestalt des Lebens hin. Schon biologisches Leben hat als geschehendes Sein nicht bloß »Geschichte«, sondern kann auch nur vom Ziel des Weges, seinem verwirklichten Sein-Können her, verstanden werden. Diese schon zum Leben gehörige »Wesensseite des Geschichtlichen […] findet seine volle Verwirklichung im Bereich des Geistigen.« 34 Auch dafür ist die Spannung von ens in potentia und ens in actu, also der Weg vom Sein-Können hin zum verwirklichten Sein, grundlegend. Natürlich weiß Pieper, dass diese Sicht nicht von allen geteilt wird, insbesondere nicht von denen, die wie Jean-Paul Sartre bestreiten, dass die Dinge mit Einschluss des Menschen überhaupt eine Natur besitzen. Doch hat eine Bestreitung naturgegebener Ziele des Menschen weitreichende Konsequenzen, insbesondere für das Verständnis des sittlichen Sollens. Wer nicht anerkennt, dass der Mensch auf völlig andere Weise homo sapiens ›ist‹, als das Wasser gleich H2O ›ist‹ ; dass vielmehr der Mensch erst werden muss, was er ist (und es also nicht schon eo ipso ›ist‹ !), dass man von allen Wesen sonst in der Welt im Indikativ sprechen kann, in simplen Aussagesätzen, vom Menschen aber, wenn man sein Eigentliches treffen will, nur im Imperativ – wer das nicht sieht oder nicht wahrhaben will, für den hat es begreiflicherweise gar keinen vertretbaren Sinn, vom ›Sollen‹ überhaupt zu sprechen und also eine Sollenslehre eigens darzulegen, sei dies nun die Tugendlehre oder etwas anderes dieser Art. 35

Auch die Tugendethik gründet so in der Seinsverfassung des Aufdem-Wege-Seins und Noch-nicht-Seins. »Tugend meint das volle

Sein, während ens in actu das verwirklichte Sein-Können meint im Unterschied »zur bloßen Möglichkeit, die selber gleichwohl real ist« (W 5, 48–98, 49). 33 Josef Pieper, Strukturseiten der Sozial-Wirklichkeit. Einleitung zur Vorlesung »Spielregeln« (1947), in: EB 1, 405–415, 414. 34 Ebd., 415. 35 Josef Pieper, Die Aktualität der Kardinaltugenden: Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Maß (1976), in: W 8/1, 287–306, 289 f.

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Wirklichsein des Guten im Menschen im Hinblick auf das Äußerste dessen, was einer sein kann«. 36 Eine weitere Konkretion und Bestätigung der Ontologie des Noch-nicht-Seins zeigt sich in der wesenhaften Zeitlichkeit des menschlichen Geistes. »Aktualität« einer Erkenntnis etwa gibt es nur für einen endlichen Geist, der nicht im Vollbesitz der ganzen Wahrheit ist. »Für Gott und für den reinen Geist überhaupt kann es nicht etwas ›Aktuelles‹ geben – weil alles aktuell ist.« 37 Aktualität ist eine Folge der Geschichtlichkeit des menschlichen Erkennens, worin die Wahrheit schrittweise und in Abhängigkeit von den sich wandelnden Umständen der Erkenntnis ans Licht kommt, wobei anderes wiederum – das jeweils nicht Aktuelle – aus dem Blickfeld gerückt wird. Voranschreiten auf dem Weg der Erkenntnis geschieht darum nicht linear »in stetiger Entfaltung, wie eine Pflanze«, sondern »wie in Rede und Gegenrede«. 38 Weil es den Zugleichbesitz der ganzen Wahrheit nicht geben wird, bleibt auch das philosophierende Verlangen nach umfassender Erkenntnis in letzter Hinsicht (noch) unerfüllt. Pieper spricht darum von der »Hoffnungsstruktur des Philosophierens«. 39 Dem Philosophierenden ist »Wesenserkenntnis und Erkenntnis des Allgesamt der Dinge« nur gewährt »auf Hoffnung hin«. 40 Die Eröffnung und Begrenzung menschlicher Wahrheitserkenntnis durch das Unterwegssein bedeutet weder Agnostizismus noch skeptische Resignation, sondern »das will sagen: jegliche Erkenntnisbemühung wird zwar positives Ausschreiten auf dem Wege sein, ohne prinzipielle Vergeblichkeit; aber sie wird auch stets ein neues Nochnicht zur Frucht haben. ›Unser Geist spannt sich, indem er etwas erkennt, ins Grenzenlose aus‹.« 41 Die Ausrichtung auf dieses Grenzenlose als Folge des gegenwärtigen Noch-nicht-Seins manifestiert sich am deutlichsten im Verlangen nach erfülltem Sein. Pieper erinnert daran, dass die Alten »die Ebd., 294 (als Übersetzung von ultimum potentiae, worin Thomas von Aquin der aristotelischen Bestimmung gefolgt ist). Siehe zur Grundlegung der Tugendethik: Josef Pieper, Tugendlehre als Aussage über den Menschen (1962), in: W 8/1, 242–247. 37 Josef Pieper, Was heißt Aktualität? (1953), in: W 8/1, 230–233, 230. 38 Ebd. 39 Josef Pieper, Verteidigungsrede für die Philosophie (1966), in: W 3, 71–155, 151 (und weiteren Stellen des Gesamtwerks). 40 Josef Pieper, Wahrheit der Dinge. Eine Untersuchung zur Anthropologie des Hochmittelalters (1947), in: W 5, 99–179, 174. 41 Ebd. Das Thomas-Zitat lautet: Intellectus noster intelligendo aliquid in infinitum extenditur (Summa contra Gentiles 1,43). 36

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ganze Energie der menschlichen Natur als Hunger verstanden« haben. Deshalb könne auch »die Rede vom Hunger nicht wörtlich und drastisch genug verstanden« werden: »Er [sc. der Mensch] hungert nach dem ›Ganzen‹, nach der Fülle schlechthin.« 42 Dieses Verlangen ist real, aber gilt das auch für das, worauf es sich richtet? Anders gefragt: Wenn Sein für den Menschen bedeutet, Zeit seines Lebens auf dem Weg und also ein Werdender zu sein, gibt es dann ein wie auch immer geartetes Wissen davon, dass der Weg des Menschen über die hiesige Existenz hinaus nicht im Nichts endet? In einem Vortrag über das Wesen der Musik erinnert Pieper an Arthur Schopenhauer, der von der Musik als einem exercitium metaphysices occultum der Seele gesprochen hat. »Was die Musik vor allem immer wieder in das Gesichtsfeld des Philosophierenden bringt, das ist ihre ganz unterscheidende Nähe zur menschlichen Existenz.« 43 Und dieses Unterscheidende ist von so unterschiedlichen Geistern wie C. S. Lewis und Ernst Bloch in ganz ähnlicher Weise darin gesehen worden, dass die durch die Musik hervorgerufenen Empfindungen ein Korrelat in der Wirklichkeit haben, das einstweilen als das ganz Andere noch unbestimmt bleiben muss. 44 Bloch nennt dieses noch verborgene Andere »unsere geheime Herrlichkeit«. 45 Das Erleben von Musik verbindet uns unmittelbar mit jener größeren Welt, der wir angehören. »Denn die menschliche Seele umspannt alles, auch das Drüben, das noch nicht ist.« 46

c)

Zeitlichkeit der Existenz

Wir hatten zuletzt schon umrisshaft gesehen, was Sein für den Menschen bedeutet: »Des Menschen Existenzform ist ›noch-nicht-seienJosef Pieper, Glück und Kontemplation (1957), in: W 6, 152–216, 189. Josef Pieper, Über die Musik. Ansprache während eines Bach-Abends (1952), in: W 8/2, 429–435, 429. 44 C. S. Lewis ist der Ansicht, dass Gefühle immer etwas Abgeleitetes und Zweites sind. Es kann sie nur geben – auch und gerade die überschwänglichen Hochgefühle – durch den intentionalen Bezug auf die zugehörigen Korrelate. »It seemed to me selfevident that one essential property of love, hate, fear, hope, or desire was attention to their object.« (Ders., Surprised by Joy, London 1955, 174) Das Gefühl ist nur »Anzeige« von etwas anderem: »All said, in the last resort, ›It is not I. I am only a reminder. Look! Look! What do I remind you of?‹« (Ebd., 176) 45 Ernst Bloch, Der Geist der Utopie, Frankfurt a. M. 1985, 443. 46 Ebd. 42 43

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des-Sein‹.« 47 Und dieses »›Noch nicht‹ des status viatoris schließt ein Negatives und ein Positives in sich: das Nichtsein der Erfüllung und die Richtung auf die Erfüllung.« 48 Doch gehört zu dem Auf-demWege-Sein des Menschen nicht allein das Noch-nicht der ersehnten Erfüllung, sondern ebenso die Beunruhigung durch den Tod. In dieser widerstrebigen Erfahrung von Sehnsucht und Angst erschließt sich ein bislang noch nicht thematisierter Aspekt des status viatoris: »die Ausgespanntheit des geschöpflichen ›Werdeseins‹ (Przywara) zwischen den Ufern des Seins und des Nichts«. 49 Was bedeutet nun dieser Bezug auf das Nichts, der sich in der Erfahrung der Angst erschließt? Zunächst erweist sich daran, dass der Mensch zwar Sein hat, aber nicht Sein ist, eben weil er sich vor dem Nicht-Sein ängstigen kann und nicht »durch sein Wesen glückselig« ist. 50 Pieper spricht von der »gegenstrebig gefügten Struktur des Menschen als eines nicht-absoluten Wesens«. 51 Insofern kann »Kreatursein« durchaus bedeuten: »Hineingehaltenheit in das Nichts«, wie Pieper Heidegger zustimmend zitiert. 52 Aber ist es so, wie Pieper gleichfalls mit Bezug auf Heidegger fragt, dass sich im Dasein als »Sein zum Tode« zeige, dass der Mensch »im Grunde seines Seins zeitlich« und das heißt »wesenhaft« ins Nichts gestellt ist? 53 Aus der Verbindung von Daseinsanalyse und dem theologischen Konzept der Kreatürlichkeit gewinnt Pieper eine Perspektive, die mehr Licht in diese Frage bringt und zu einer besser begründeten Auffassung von der Zeitlichkeit des Daseins führt. Es ist und bleibt zwar wahr:

Josef Pieper, Welt und Umwelt (1950), in: W 5, 180–206, 197. Josef Pieper, Über die Hoffnung (s. Anm. 8), 258. 49 Ebd., 261. Bei Erich Przywara hatte Pieper nach 1925 drei jährlich stattfindende philosophisch-theologische Intensivkurse besucht und war so schon vor seiner Promotion 1928 in Berührung gekommen mit den damals »aktuellsten Kontroversen – über Phänomenologie, über Sigmund Freud, über die dialektische Theologie.« (Josef Pieper, Noch wußte es niemand. Autobiographische Schriften I [1976], in: EB 2, 26– 231, 81) 50 Josef Pieper, Glück und Kontemplation (s. Anm. 42), 163. »Nichts anderes ist ja der Sinn des Begriffes ›status viatoris‹. Als Mensch existieren heißt ›auf dem Wege‹ sein und also nicht-glückselig« (ebd., 164). 51 Josef Pieper, Welt und Umwelt (s. Anm. 47), 197. 52 Josef Pieper, Über die Hoffnung (s. Anm. 8), 261 mit Bezug auf Martin Heidegger, Was ist Metaphysik? (1929), Frankfurt a. M. 2007, 38. 53 Vgl. Piepers Bezugnahme auf die »gegenwärtige ›Existenzphilosophie‹« (Über die Hoffnung [s. Anm. 8], 260). 47 48

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Kreatursein heißt durchaus ›Hineingehaltenheit in das Nichts‹ (Heidegger); noch mehr aber bedeutet Kreatursein die Gegründetheit im absoluten Sein und die existentielle Richtung auf das Sein, auf das eigene Sein und auf das göttliche Sein zugleich. 54

Wie man leicht sieht, ist das zentrale Argument gegen Heideggers Deutung des Todes als Index wesenhafter Zeitlichkeit des Daseins nicht dem theologischen Deutungskontext der Kreatürlichkeit entnommen, sondern unmittelbar aus der menschlichen Seinserfahrung gewonnen. Heideggers Wort vom »Sein zum Tode« ist zwar eine wahre Aussage über die Endlichkeit des Seins, aber keine zutreffende Richtungsangabe im Dasein selbst, das auf das eigene Sein gerichtet ist. »Die Richtung ins Nichts ist nicht die Eigenbewegung des natürlichen Seins, die immer auf ein Gut sich richtet.« 55 Diese Eigenbewegung, die sich im Noch-nicht-Sein als Verlangen nach Sein bemerkbar macht, ist »auf das eigene Wirklichsein« gerichtet und zwar so, »dass das Sein, als ein Gut, als ein finis, auch durch das Seiende selber gewollt wird«. 56 Wenn Pieper diese Eigenbewegung mit Thomas von Aquin noch einmal zurückführt auf die Wirksamkeit des Schöpfers im Sein der Kreatur, so ist er – gegen Heidegger – durch das BeimWort-Nehmen der innersten Seinsneigung auf der Seite des atheistischen Philosophen Ernst Bloch. Dieser Verweis auf die seinsgerichtete Intentionalität der viatorischen Existenz bestimmt auch Piepers spätere Auseinandersetzung mit Heidegger in seinem Buch Tod und Unsterblichkeit. Wenn Sterben heißt, »den Weg beenden, wie auch das Unterwegs-sein selbst«, dann kann gleichwohl nicht gesagt werden, dass »die in dieser viatorischen Existenz eingekörperte Erwartung formell auf das bloße Vorübersein des Wanderns, und nicht vielmehr allein auf das Eintreffen am Ziel« gerichtet ist. »Anders gesagt: nicht auf den Tod selber und nicht auf das Totsein richten sich die Erwartungen, aus welchen, in der Tat, das menschliche Leben gemacht ist.« 57 Blicken wir von hier aus zurück auf die Abgrenzung von Heidegger in Piepers früher Schrift Über die Hoffnung. Deren Ergebnis lässt sich in zwei Thesen zusammenfassen:

54 55 56 57

Ebd., 261. Ebd., 262. Josef Pieper, Über das Gute und das Böse (s. Anm. 32), 32. Josef Pieper, Tod und Unsterblichkeit (1967), in: W 5, 280–397, 372.

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[1] Der ›Weg‹ des Menschen führt in den Tod als sein Ende, nicht aber als in seinen Sinn. Der Sinn des status viatoris ist der status comprehensoris. Die menschliche Existenz ist nur als status viatoris zeitlich. 58 [2] Die Ausgespanntheit der kreatürlichen Existenz zwischen Sein und Nichts kann also niemals so verstanden werden, als sei die Beziehung zum Nichts der Beziehung zum Sein einfachhin gleichen Ranges zugeordnet oder gar vor- und übergeordnet. Der ›Weg‹ des homo viator, des ›Menschen auf dem Wege‹, ist nicht ein richtungsloses Hin und Her zwischen Sein und Nichts; er führt in die Verwirklichung und nicht in die Vernichtung, obwohl die Verwirklichung ›noch nicht‹ erfüllt und obwohl der Abfall ins Nichts ›noch nicht‹ unmöglich ist. 59

2.

Begriff der Hoffnung

a)

Hoffnung als Antwort auf die Existenzsituation

Wenn Leben heißt, auf einem Weg sein, der unausweichlich in den Tod führt, dann ist die existentiell entscheidende Frage, wie sich der Mensch zu dem sicher bevorstehenden Ende seines Lebens verhält. Er kann versuchen, den Gedanken daran zu verdrängen. Lässt er ihn zu, wird er sich zu seinem Tod verhalten müssen. Hier sind mehrere Möglichkeiten denkbar, auf die wir noch zu sprechen kommen werden. Eine dieser Möglichkeiten ist die Hoffnung, dass mit dem Tod etwas Neues anfängt. Darin »ist immer schon vorausgesetzt, dass die Erwartung des Menschen, genauer gesagt, seine Hoffnung, sich auf etwas richte, dessen er zwar nicht anders als sterbend teilhaftig wird, das aber jenseits des Todes liegt und also über ihn hinaus besteht.« 60 Was nun eigens in den Blick zu nehmen ist, ist die Frage, wie sich die Hoffnung zur Existenzsituation des Menschen verhält und was Hoffnung im genauen Wortsinn meint. Innerhalb des christlichen Deutungskontextes beruht der Existenzbezug der Hoffnung auf einer zweifachen Anerkennung: Das erste ist, dass man anerkennt, als Kreatur ein Werdender zu sein, und dass man dem Faktum nicht ausweicht, bis an die Schwelle des Todes das Ziel, das Heil, gerade nicht zu erreichen. Das zweite ist zu akzeptieren, dass es angesichts des 58 59 60

Josef Pieper, Über die Hoffnung (s. Anm. 8), 260. Ebd., 262. Josef Pieper, Tod und Unsterblichkeit (s. Anm. 57), 372.

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Todes für ihn »nur eine gemäße Antwort« gibt: »die Hoffnung«. 61 »In der Tugend der Hoffnung vor allen anderen versteht und bejaht der Mensch sich darin, Kreatur zu sein, ein Geschöpf Gottes.« 62 Pieper erinnert an Pascals Wort, worin dieser Zusammenhang zwischen der menschlichen Existenzsituation des Noch-nicht-Seins und der Hoffnung kurz und überzeugend formuliert ist: »Wir sind nicht, wir hoffen zu sein.« 63 Was aber heißt »Hoffnung«, was gehört zur Struktur des Begriffs Hoffnung unabhängig davon, worauf sie sich bezieht? Hoffen ist ein zweistelliger Begriff, d. h. ein Begriff, der strukturell zwei Leerstellen hat, die inhaltlich gefüllt sein müssen. Darin unterscheidet er sich von anderen Begriffen wie wünschen, erwarten, ersehnen, die zwar gleichfalls zukunftsbezogen sind, aber nicht in gleicher Weise. Hoffen im eigentlichen Sinn meint stets: etwas von jemandem erhoffen, das noch nicht ist, aber künftig sein soll. Wir sehen das sofort, wenn wir darauf achten, wie das Wort »Hoffnung« allein sinnvoll zu verwenden ist. Da ist immer ein Inhalt, etwas Künftiges, das wir erhoffen, und da ist immer jemand, auf den wir unsere Hoffnung setzen. Mit diesem jemand kann nur ein anderer gemeint sein, keinesfalls aber wir selbst. Wir erhoffen, was uns nicht selber möglich ist. Was wir selber können, das erhoffen wir nicht. So zu reden, macht keinen Sinn. Wir hoffen also nicht auf uns, sondern auf jemand anders, dem wir zutrauen, unsere Hoffnung zu erfüllen. Er allein ist der Grund unserer Hoffnung, nicht wir selbst! Das gehört einfach zur sinnvollen Verwendung des Begriffs Hoffnung dazu. Außerhalb des christlichen Deutungskontextes ist nun zwar die begriffliche Struktur der Hoffnung dieselbe. Aber es steht damit nicht fest, ob es Grund zur Hoffnung gibt, weil es gegenüber dem kontingenten Faktum der Existenz der Welt und des In-der-Welt-Seins philosophisch gesehen zwei mögliche Einstellungen gibt, die Pieper auch für die einzig möglichen hält: »Sein« ist »entweder ›absurd‹ oder ›mystisch‹, […] entweder ›Ekel‹-erregend oder liebenswert«. 64 Von dorther gesehen gibt es nur eine mögliche Antwort auf die Frage: »Wann ist es sinnvoll, einen Weg weiterzugehen? Wenn ein Grund

Josef Pieper, Glauben – Hoffen – Lieben (s. Anm. 26), 325. Josef Pieper, Über die Hoffnung (s. Anm. 8), 262. 63 Josef Pieper, Welt und Umwelt (s. Anm. 47), 197. 64 Josef Pieper, Kreatürlichkeit (s. Anm. 24), 453 (unter Hinweis auf die Alternative: Sartre oder Wittgenstein). 61 62

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zur Hoffnung besteht! Hoffnung worauf? Dass der Weg – behutsam gesagt – nicht in die Vergeblichkeit führt.« 65 Wenn es dann konkret wird und wir fragen, ob etwa auch die Sterbenden Grund zur Hoffnung haben und ob es Hoffnung für die bereits Gestorbenen gibt, dann ist völlig klar: Wir kommen nicht darum herum zu sagen, auf wen wir hoffen und dass nur Gott im Stande sein wird, das Erhoffte zu leisten. Wer nicht glauben kann, dass Gott jedem Menschen die Fülle des Lebens schenken will, der kann auch nicht darauf hoffen. Pieper hat diese unausweichliche Konsequenz deutlich gemacht mit Bezug auf die Hoffnung der Märtyrer: 66 Für den Menschen in der Situation des Blutzeugnisses gibt es, weltlich gesprochen, keine Hoffnung mehr; er ist, wie wir sagen, in einer schlechthin aussichtslosen Lage; er hat einen verzweifelten Stand. 67 Wenn nämlich ›die‹ Hoffnung von solcher Art wäre, dass sie in der Situation des Blutzeugnisses nicht standzuhalten vermöchte – dann gäbe es letztlich überhaupt keine Hoffnung; dann gäbe es keinen Grund zur Hoffnung, das heißt, dann gäbe es nicht jenes entscheidende Gelingen der menschlichen Existenz, das seit je ›das Heil‹ genannt worden ist; dann wäre, anders gesagt, das Leben heillos und hoffnungslos. 68

Schließlich wäre auch zu fragen: Wenn es allein der Glaube ist, der Grund zur Hoffnung gibt, was heißt dann Glauben? Pieper sagt dazu vor allem dies: Glauben beruht zuerst auf dem begründeten Vertrauen in den Zeugen und nicht auf der schon von sich her einleuchtenden Glaubwürdigkeit des Sachverhalts. Gleichwohl ist es der Sachverhalt, den der Glaubende in solchem Vertrauen als wahr und wirklich akzeptieren soll. Wer noch zweifelt, glaubt nicht! »Ich glaube zwar, aber ich bin nicht völlig sicher«: »wer so spricht, meint entweder Glauben in uneigentlicher Bedeutung, oder er redet Unsinn.« 69 Christlicher Glaube an die Erschaffung der Welt, die Menschwerdung Gottes in Josef Pieper, Selbstgespräch über die Hoffnung (1951), in: W 8/2, 549–553, 549. Erstmals als Vortrag »Sur l’Espérance des Martyrs«, gehalten auf der Pariser »Semaine des Intellectuels Catholiques« im Mai 1951 unter dem Thema »Espoir Humain et Espérance«. Zu den Vortragenden gehörten Gabriel Marcel, Jean Daniélou und Yves Congar. 67 Josef Pieper, Hoffen – der Hoffnung verborgener Kern (1987), in: W 8/2, 589–591, 590. 68 Josef Pieper, Glauben – Hoffen – Lieben (s. Anm. 26), 322. 69 Josef Pieper, Über den Glauben. Ein philosophischer Traktat (1962), in: W 4, 198– 255, 208. 65 66

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Jesus Christus und seine sakramentale Gegenwart bis er wiederkommt am Ende der Zeit umspannt das Verhältnis von Gott und Mensch in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Jede dieser drei Dimensionen ist unverzichtbar für die Vernünftigkeit des Glaubens wie der Hoffnung. Wenn Hoffnung auf Vertrauen beruht in der unabänderlichen Situation des Noch-nicht-Seins und des noch ausstehenden Todes, dann gehört zur Grundlegung einer Philosophie der Hoffnung über die Ontologie des Noch-nicht-Seins hinaus eine Ontologie der Personalität. So wie der Glaubende sagt, ich glaube an Dich, so sagt auch der Hoffende, ich hoffe auf Dich.

b)

Die eine Hoffnung und die vielen Hoffnungen

Zu hoffen ist so nicht irgendein Kennzeichen der menschlichen Existenz, sondern auf eine besondere Weise mit dem Wesen des Menschen verbunden. Der Mensch ist als Mensch ein Hoffender, so scheint es, weil sein Leben zeitlich und endlich ist. Von Natur ein geschichtliches Wesen, das um seine Endlichkeit weiß, kann er, solange er lebt, aus dieser Spannung zwischen Gegenwart und Zukunft nicht heraustreten. In jedem Moment seines Lebens geht es ihm um sein künftiges Leben. Um zu überleben, nimmt er lebensbedrohliche Risiken auf sich. Wir sehen es täglich, Menschen fliehen aus tödlicher Gefahr und riskieren dabei ihr Leben, weil sie hoffen. »Ein Mensch hofft, solange er lebt«, bedeutet so: Die Hoffnung ist eine elementare Antriebskraft des Lebens, das sein will und sich vor dem Nicht-Sein fürchtet. Diese Zusammengehörigkeit von Hoffnung und Leben wird noch einmal deutlicher durch den Nachsatz: »erst die Toten hoffen nicht mehr.« Der Tod ist darum nicht Teil des Lebens, wie des Öfteren zu hören ist, sondern sein Gegensatz. Mit dem Tod enden natürlicherweise das Leben und die Hoffnung auf Leben. Aber ist das wahr, ist der Tod wirklich eine absolute Grenze des Lebens und der Hoffnung? Und hofft der Mensch nur, weil er Angst davor hat, nicht mehr zu sein? Muss man nicht unterscheiden zwischen verschiedenen Arten von Hoffnung? Josef Pieper hat dazu auf Untersuchungen des Heidelberger Mediziners Herbert Plügge an unheilbar Kranken und Sterbenden verwiesen. Bei diesen, zunächst rein empirisch-phänomenologisch ansetzenden Untersuchungen tritt dem, anscheinend selber überraschten Beobach-

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ter eine ganz ›andere‹ Hoffnung vor den Blick, anders als das, was man durchschnittlich sonst unter ›Hoffnung‹ versteht. Plügge bezeichnet diese ›andere‹ Hoffnung als die ›echte‹, die ›fundamentale‹ Hoffnung, (von der er – wiederum! – nur im Singular spricht), während er die normalerweise zunächst so benannten Hoffnungen (Plural!) etwas abschätzig, allzu abschätzig, finde ich, ›gemeine‹ Hoffnungen, ›Alltagshoffnungen‹ nennt. 70

Das erstaunlichste Ergebnis ist dabei, dass erst im Zusammenbruch aller anderen Hoffnungen (auf Weiterleben, Heilung, Rückkehr ins normale Leben) »diese ›andere‹, die fundamentale Hoffnung am überzeugendsten erfahren werde«. 71 Die Enttäuschung aller Hoffnungen ist hier die Voraussetzung für das Bemerken der einen Hoffnung. Gabriel Marcel, für den, wie Pieper schreibt, »die Hoffnung lebenslang das ›Thema Nummer Eins‹ gewesen ist«, scheint dasselbe Phänomen zu meinen, wenn er sagt: »Vielleicht sind wir zur Hoffnung befähigt einzig in dem Maße, als wir uns zuvor als Gefangene erkannten – wobei die Gefangenschaft die verschiedensten Formen annehmen mag, von der Krankheit bis zur Verbannung.« 72 Diese empirisch festzustellende Unterscheidung der vielen Hoffnungen von der einen Hoffnung findet noch von anderer Seite eine Bestätigung. Im Französischen ist der Unterschied auch sprachlich deutlich: »espoir« kann im Plural stehen und meint dann die vielen Hoffnungen, während »espérance« nur im Singular vorkommt und die eine Hoffnung bezeichnet. Wenn aber mit dem Verlust der Hoffnungen auf Dinge wie Gesundheit, Anerkennung, Reichtum, Frieden, nicht alle Hoffnung verloren ist, können wir fragen, »welche Hoffnung, die Hoffnung auf was müsste einer verloren haben, damit von ihm mit Fug gesagt werden könnte und dürfte: er hat keine Hoffnung mehr, er ist schlechthin verzweifelt?« 73 Der Gegensatz von Hoffnung und Verzweiflung führt auf ganz neue Weise an das Wesen der Hoffnung heran. Vieles von dem, was wir zu Recht erhoffen dürfen, kann unerfüllt bleiben und verloren gehen, ohne dass wir »die« Hoffnung verlieren. Die den Menschen am meisten kennzeichnende Hoffnung ist nicht auf vieles gerichtet, sondern auf eines: »dass es ›gut ausgehe‹ mit uns selbst; hoffen heißt: ein glückliches Ende er70 71 72 73

Josef Pieper, Über die Hoffnung der Kranken (1977), in: W 7, 357–367, 362 f. Ebd., 363. Ebd. Josef Pieper, Glauben – Hoffen – Lieben (s. Anm. 26), 317.

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warten.« 74 Mit »Ende« ist hier offenkundig nicht das Aufhören des Lebens gemeint, sondern das Ziel und die Erfüllung des Lebens. Die erhoffte Erfüllung ist mehr als das Gegenteil von »Nicht-Sein«, auch mehr als die unendliche Dauer des Lebens. Erhofft wird mit der ganzen Sehnsucht des menschlichen Herzens die Fülle des Lebens, welche die Menschen zu allen Zeiten als »das Heil« bezeichnet haben. Der Kern der Hoffnung besteht also darin, bis in den Tod hinein offen zu sein für die noch ausstehende Erfüllung des Heilsverlangens und weder die Erfüllung noch die Nicht-Erfüllung vorwegzunehmen. Darum hat auch der Verlust der Hoffnung eine doppelte Gestalt: Verzweiflung als »seinswidrige Vorwegnahme der Nicht-Erfüllung« und Vermessenheit als »seinswidrige Vorwegnahme der Erfüllung«. 75 »Seinswidrig« nennt Pieper Vermessenheit und Verzweiflung darum, weil »beide den Weg-Charakter des menschlichen Daseins im status viatoris zerstören. Beide heben das echte Werden auf. Das ›Noch nicht‹ wird wirklichkeitswidrig umgedeutet entweder in das ›Nicht‹ oder in das ›Schon‹ der Erfüllung.« 76 Als »voreilige und falsche Sicherheit« ist Vermessenheit eine typische Versuchung des Glaubenden, der meint, durch den Glauben seines Heils schon jetzt gewiss zu sein, während Verzweiflung eher die Folge menschlicher Schwachheit ist, sich auf das Wagnis der Hoffnung einzulassen. Den Anfang und die Wurzel der Verzweiflung sieht Pieper mit Thomas von Aquin in der acedia, der darunter »eine Art von Traurigkeit (species tristitiae)« versteht, für die Kierkegaard das Wort von der »Verzweiflung der Schwachheit« geprägt hat: »dass einer ›verzweifelt nicht er selbst sein will‹.« 77 Traurigkeit befällt den Menschen paradoxerweise angesichts des göttlichen Gutes in ihm selbst, worauf in der Weise der Hoffnung zu antworten ihn »lähmt, beschwert, entmutigt«. In solcher Traurigkeit des Herzens, in der Verzweiflung der Schwachheit also, die sich nach außen durch rastlose Aktivität und schallenden Optimismus zu maskieren sucht, sieht Pieper »eine Vorstufe der eigentlichen Verzweiflung«, 78 die wiederum mit Kierkegaard gesprochen in der reflektierten »Verzweiflung der Selbstbehauptung« besteht. 79 Ebd. Josef Pieper, Über die Hoffnung (s. Anm. 8), 275. 76 Ebd. 77 Ebd., 280 f. 78 Ebd. 79 Josef Pieper, Die Verborgenheit von Hoffnung und Verzweiflung. Ein Diskussionsbeitrag (1955), in: W 7, 330–340, 332. 74 75

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c)

Tod und Verzweiflung

Bekanntlich hat Martin Heidegger wie kein anderer Philosoph im 20. Jahrhundert in der Einstellung zum eigenen Tod das zentrale Unterscheidungskriterium zwischen der eigentlichen und uneigentlichen Weise menschlicher Existenz gesehen. Sein Ansatzpunkt beim Selbstverhältnis des Daseins, dem es »in seinem Sein um dieses Sein selbst geht«, 80 führt ihn zur Explikation von Strukturmomenten des Daseins, als deren grundlegendstes sich die Zeitlichkeit des Daseins erweist. »Die Analyse des Todes bleibt insofern rein ›diesseitig‹, als sie das Phänomen lediglich daraufhin interpretiert, wie es als Seinsmöglichkeit des jeweiligen Daseins in dieses hereinsteht.« 81 Von Hoffnung und Verzweiflung angesichts des Todes ist bei ihm nicht die Rede, wohl aber vom Standhalten in der Nichtigkeit des Daseins. Das alltägliche Dasein ist »eine ständige Flucht vor ihm« 82 und damit für Heidegger eine Flucht vor sich selbst. Eine solche Haltung lässt »den Mut zur Angst vor dem Tode nicht aufkommen« und »entfremdet das Dasein« von sich selbst. Umgekehrt wird »in der Angst vor dem Tode […] das Dasein vor es selbst gebracht«. 83 Das Gegenteil der »Flucht vor dem Tod« nennt Heidegger ein »Vorlaufen« zum eigenen Tod, »in dem alles Sein bei dem Besorgten [worum es sich täglich sorgt] und jedes Mitsein mit Anderen versagt«. 84 In dieser antizipierten Unterbrechung aller Bezüge des In-der-Welt-Seins, in dieser äußersten Einsamkeit, ist das Dasein einzig auf sich selbst gestellt im Wissen darum, »dass ihm als äußerste Möglichkeit der Existenz bevorsteht, sich selbst aufzugeben«. 85 Eben diese Möglichkeit wird »im Vorlaufen zum unbestimmt gewissen Tode« als »ständige Bedrohung« 86 erschlossen und vor dem Vergessen bewahrt durch die Befindlichkeit der Angst. Darin enthüllt sich »die das Sein des Daseins ursprünglich durchherrschende Nichtigkeit« als »Sein zum Tode«. 87 Diese Nichtigkeit gilt es auszuhalten, wenn das Dasein das sein will, was es ist: in seinem Vollzug ganz es selbst und nichts sonst. Das ist 80 81 82 83 84 85 86 87

Martin Heidegger, Sein und Zeit (s. Anm. 3), 12. Ebd., 248. Ebd., 254. Ebd. Ebd., 263. Ebd., 264. Ebd., 265. Ebd., 306.

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gemeint mit dem ungeheuerlichen Satz: »Dasein kann nur eigentlich es selbst sein, wenn es sich von ihm selbst her dazu ermöglicht.« 88 Deshalb kann Heidegger schließlich sagen, dass nur im Vorlaufen zum Tod »das Dasein sein eigentliches Ganzseinkönnen gewinnt«. 89 Dieses Ganzseinkönnen besteht darin, »sein eigenstes Sein von ihm selbst her und aus ihm zu übernehmen«. 90 Mir scheint, dass damit ziemlich genau das unterscheidende Merkmal vollendeter Verzweiflung beschrieben ist, die Kierkegaard die »Verzweiflung der Selbstbehauptung« genannt hat als den allerdings vergeblichen Versuch des Menschen, sich ganz auf sich selbst zu gründen. Was soll für das Dasein damit gewonnen sein, ohne Hoffnung zu leben und auf jeden Halt zu verzichten, um »sein eigenstes Sein von ihm selbst her und aus ihm zu übernehmen«? 91 Dieses »eigenste Sein« ist für Heidegger ja ausdrücklich kein substantielles Sein, sondern nur das Sein eines Vollzugs, worin sich das Dasein »entschlossen« noch einmal zum bevorstehenden Nichtsein verhält. Heidegger selbst bezeichnet denn auch dieses »existential mögliche Sein zum Tode existentiell [als] eine phantastische Zumutung«. 92 Es mutet in der Tat »phantastisch« an, dem Sterben-Müssen dadurch den Charakter des Schlimmen nehmen zu wollen, dass wir den Tod in heroischer Entschlossenheit als unsere »eigenste und äußerste Möglichkeit« wählen. Die von Heidegger propagierte »Entschlossenheit«, angesichts des Todes ohne Verzweiflung zu leben, ist nur die Kehrseite einer tiefen Resignation, »nach dem Tod Gottes« ohne alle Hoffnung zu leben. Ein Leben ohne Hoffnung scheint mir die eigentliche »Zumutung« an Heideggers Versuch, das Phänomen des Todes »rein ›diesseitig‹« zu verstehen. Pieper sieht Heideggers Kritik an der »Ignorierung des Todes« 93 durchaus im Recht gegen Fluchtversuche wie »das Sich-blind-stellen, das Nicht-wahr-haben-wollen, die vorschnelle Harmonisierung«. 94 Doch im Grunde ist auch die von Heidegger geforderte Einstellung zum Tod, jene »angeblich dem Menschen in Wahrheit allein anstehende Haltung der ›Entschlossenheit‹, die ›sich‹, frei für den Tod, 88 89 90 91 92 93 94

Ebd., 263. Ebd., 308. Ebd., 264. Ebd. Ebd., 266. Josef Pieper, Tod und Unsterblichkeit (s. Anm. 57), 344. Ebd., 345.

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Viatorische Existenz

ihm selbst […] übereignet«, 95 die Folge einer bewussten Ignoranz. Pieper hat Heideggers zwiespältige Abwehr der Flucht vor dem Tod in einem fiktiven inneren Dialog so beschrieben: Da ohnehin über der Welt ein blindes und düsteres Schicksal waltet, und da es mir anderseits zuwider ist, mich zu beklagen, nehme ich das nun einmal Unvermeidliche, ohne irgendwelchen Versuch der beschönigenden Deutung und ohne mir seinen Anblick durch die Flucht in die Narkose erträglicher zu machen, in voller Freiheit hin; nein, ich nehme es nicht hin, sondern ich wähle es, ich nehme es mir selbst und setze so meine eigene Souveränität gegen die angemaßte Souveränität dessen, der, wie man sagt, jenes Übel als Strafe verhängt hat. 96

Die Ignoranz gilt hier der religiös-christlichen Deutung des Todes, deren Ernst Heidegger zwar zu bewahren sucht im »Aufruf zu heroischem Trotz« 97 und dabei der Illusion verfällt, als könne das eigentlich Schlimme des über den Menschen verhängten Todes auf solche Weise erträglich werden. Existentiell und rational nachvollziehbar ist für Pieper dagegen die von Heidegger ausgeklammerte Deutung, worin der Tod als Verlust und zugleich als möglicher Übergang zu vollendetem Leben erscheint. Wer es nicht fertig bringt, an den Zusammenhang von Schuld und Tod und, wovon eigens zu reden wäre, an den Zusammenhang von Tod und Erlösung zu glauben, der ist ganz im Recht, den Tod absurd zu finden. Nicht umsonst hat Pieper in nüchterner Anerkennung der nicht zu beschönigenden Widersinnigkeit des Todes seinem Buch Tod und Unsterblichkeit drei paradigmatische Sätze vorangestellt: »Es ist absurd, dass wir geboren werden; es ist absurd, dass wir sterben.« »Ich bedaure nur eines: geboren zu sein. Sterben ist eine so lange, mühselige Sache, fand ich immer.« »Jeder Tag ist ein guter Tag, geboren zu werden. Jeder Tag ist ein guter Tag, zu sterben.« 98 Ebd., 347. Ebd., 346 f. 97 Ebd., 347. 98 Die ungenannten Autoren der drei Vorsprüche sind Jean-Paul Sartre, Samuel Beckett, Papst Johannes XXIII. – Der originale Wortlaut ist folgender: »Il est absurde que nous soyons nés, il est absurde que nous mourions.« (J.-P. Sartre, L’Être et le Néant, Paris 1949, 631) – »All I regret is having been born, dying is such a long tiresome business I always found.« (S. Beckett, From an abandoned work, Frankfurt 95 96

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Der letzte Vorspruch ist von gleicher Radikalität. Er beruht gleichfalls auf einer Gesamtdeutung des Daseins, jedoch aus christlicher Perspektive als die »einzig ehrliche und lautere Möglichkeit, einerseits nichts von dem Skandal des Todes hinweg zu deuten und anderseits doch die Revolte gegen die Schöpfung zu vermeiden.« 99 Allerdings ist darin vorausgesetzt, »dass man es zustande bringt, den Tod als Strafe zu verstehen und anzunehmen; wiederum den Tod nicht als ›Idee‹ und generelles Phänomen, sondern unseren eigenen Tod und den Tod derer, die wir lieben.« 100 Damit wäre zugleich eine Antwort an die Adresse Martin Heideggers gegeben, die er sehr wohl kennt. Doch indem er versucht, diese Antwort in den Kontext einer »rein diesseitigen« Betrachtung des Todes herüber zu holen, hat er sie im Kern verfälscht und zu einer »phantastischen Zumutung« gemacht. Hingegen könnte durch die bewusste Akzeptierung der christlichen Antwort »in Wahrheit genau das geschehen, was die sich verweigernde, ausdrücklich nicht ›annehmende‹, revoltierende ›Freiheit zum Tode‹ […] zustande zu bringen vorgibt. […] Es könnte, kurz gesagt, das Verfügte und Verhängte [Heidegger: »die Geworfenheit in den Tod«], das zunächst rein zu Erleidende wahrhaftig umgewandelt werden in ein, soweit es menschenmöglich ist, dennoch Frei-Gewähltes – nun aber ohne all den Grimm und die Düsternis eines falschen Heroismus.« 101

3.

Viatorische Gelassenheit des Hoffenden

Im zweiten Band seiner autobiographischen Aufzeichnungen berichtet Josef Pieper in einer »Nachbemerkung« von der »Verwunderung«, die der Titel des ersten Bands, Noch wusste es niemand, unter seinen Freunden hervorgerufen hat. »›Was, zum Teufel, wusste noch niemand?‹ – Solche Verwunderung hat wiederum mich immer neu überrascht.« 102 Waren nicht alle Ereignisse, von denen er rückblickend a. M. 1966, 16) – »Ogni giorno è buono per nascere; ogni giorno è buono per morire.« (Discorsi, Messaggi, Colloqui del Santo Padre Giovanni XXIII., Vol. V, Roma 1964, 310) 99 Josef Pieper, Tod und Unsterblichkeit (s. Anm. 57), 345. 100 Ebd. 101 Ebd., 351. 102 Josef Pieper, Noch nicht aller Tage Abend. Autobiographische Schriften II (1979), in: EB 2, 232–496, 495.

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berichtet, unvorhersehbar in einer »sich von einem Augenblick zum anderen unerwartet verändernden Welt«? 103 Was sollte also so merkwürdig sein an dem Titel, der ja nur die »Jedermannserfahrung« ausdrückt, »dass wir doch einfach nicht ahnen, was der morgige Tag uns bringen wird.« 104 Also kein Grund zur Verwunderung, oder doch? Im Weiterlesen ist von der »Heiterkeit des Nicht-wissen-Könnens« die Rede und davon, dass auch der Titel des nun vorliegenden zweiten Bands, Noch nicht aller Tage Abend, nur eine »unabweisbare Einsicht«, ja »schlichthin eine Binsenweisheit« ist, die beides befeuern kann: »die Hoffnung wie die Furcht«. 105 Das Stichwort »Hoffnung« lässt aufhorchen und wird sogleich konkretisiert durch den Bezug auf die Auskunft der »abendländischen Theologie«, welche »besagt, der Siebente Tag, der Tag der Gottesruhe wie auch des Menschen Ruhe in Gott, habe wohl einen Morgen, einen Abend jedoch nicht.« 106 Halten wir noch einen Augenblick zurück mit der Verwunderung über die (bloß gespielte?) Verwunderung des Autobiographen und achten auf den Titel des dritten Teils seiner Aufzeichnungen Eine Geschichte wie ein Strahl. Auch hier zunächst die Abwehrgeste aller tiefgründigen Vermutungen. Gemeint ist etwas »eher Nüchtern-Exaktes«, nämlich dass »die vielleicht ja erst nach meinem Tode ans Licht kommende Darstellung der Begebenheiten […] notwendig unvollendet bleiben« werde. 107 Doch dann, im letzten Satz des Vorworts Wo endet der Strahl?, erhalten wir darauf zur Antwort, »dass der ›Strahl‹ des gelebten Lebens zwar nicht durch einen ›Punkt b‹ begrenzt sein, wohl aber an sein Ende kommen wird in dem, was einer den ›Punkt Omega‹ genannt hat – welcher aber für uns ein, solange wir leben, unergründliches Mysterium bleibt.« 108 Nehmen wir nun einfach mit gleicher Nüchternheit zur Kenntnis, dass im Rückblick auf das nicht im Voraus Wissbare des eigenen Lebens mit Bezug auf sein Ende (den »Abend« aller Tage) von Hoffnung und Furcht die Rede ist und dass dieses Ende (durch den Tod) »nicht begrenzt« ist, sondern das Leben vielmehr auf ein »unergründliches Mysterium« zuläuft. Fällt das, was hier nur verschlüsselt mitgeteilt wird, nicht exakt unter den Begriff der viatorischen 103 104 105 106 107 108

Ebd. Ebd. Ebd., 496. Ebd. Josef Pieper, Eine Geschichte wie ein Strahl (1987), in: EB 2, 497–672, 497 f. Ebd.

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Existenz? Dann wäre es zu lesen als ein konkretes Zeugnis der Hoffnung. Und dies mag auch der Grund gewesen sein, überhaupt über das eigene Leben und seine wundersamen Fügungen zu berichten. Vor diesem Hintergrund ist die Frage nun doch nicht mehr so verwunderlich, ob da wirklich niemand war, der wusste und wissen konnte, welchen Weg dieses Leben nehmen wird. Die Antwort gibt Pieper selbst in seinem letzten autobiographischen Text, den er krank und geschwächt nicht mehr öffentlich vortragen konnte. 109 Inhaltlich geht es darin um »die dramatischen Umstände«, »unter denen ich die jetzt in einem Bande wohlgeordneten Traktate über die Tugenden niedergeschrieben habe«. 110 Der Titel dieses letzten Rückblicks lautet: Planen oder geplant sein? Geplant hatte der junge Pieper etwas ganz anderes, nämlich den Weg sozialwissenschaftlicher Studien fortzusetzen, den er sehr erfolgreich mit seiner Einführungsschrift in die päpstliche Sozial-Enzyklika Quadragesimo anno (1931) Die Neuordnung der menschlichen Gesellschaft (1932) begonnen hatte. Doch dann, nach weiteren Buchveröffentlichungen, darunter die Grundformen sozialer Spielregeln (1933), kam mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten das völlig unerwartete plötzliche Ende dieses Weges, und es ging anders weiter, als geplant. Das ist der biographische Hintergrund für die, wie Pieper eingangs sagt, »schwer beantwortbare« und »vielleicht seltsam erscheinende Frage« Planen oder geplant sein? Diese Frage erfährt ganz zuletzt folgende Antwort: Durch die politische Macht daran gehindert zu werden, die eigenen Pläne zu realisieren, ist zwar eine schmerzliche Erfahrung. Aber ahnen zu dürfen, mit dem, was zu tun man sich dann genötigt sieht, einem ungleich größeren Plan zu folgen und vielleicht sogar selber ›geplant‹ zu sein, ist eine Glückserfahrung, die aller Realisierung eigener Pläne versagt geblieben wäre. 111

Jetzt, am Ende des Lebens, wird die im ersten Teil seiner autobiographischen Aufzeichnungen immerhin angedeutete »durch Schweigen ausgesparte, formgebende Mitte« 112 seiner Lebensberichte in einer 109 Band 4 der Werke von Josef Pieper mit dem Titel Schriften zur Philosophischen Anthropologie und Ethik. Das Menschenbild der Tugendlehre (Hrsg. Berthold Wald), Hamburg 1996, war gerade erschienen und sollte auf einer Akademie-Tagung im Franz-Hitze-Haus in Münster im Beisein von Josef Pieper vorgestellt werden. 110 Josef Pieper, Planen oder Geplant-sein? (1996), in: W 8/2, 699–700, 694. 111 Ebd., 698. 112 Josef Pieper, Noch wußte es niemand (s. Anm. 49), 27.

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Viatorische Existenz

Weise benannt, die keinen Zweifel daran lässt, was der Leser wenigstens erahnen soll: dass da jemand ist, der im Voraus immer schon um unser Leben weiß. Daraus spricht die Gelassenheit des Hoffenden, der sich der Führung Gottes anvertraut hat. In solchem Vertrauen alle Hindernisse und Widrigkeiten des Lebens anzunehmen, ist ein beeindruckendes Zeugnis viatorischer Existenz.

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»En Route« Das Homo-viator-Motiv im Existenzdenken Peter Wusts »Der Mensch ist in der Natur niemals ganz zu Hause […]. Der Geist macht ihn heimatlos, rastlos, ruhelos in dieser Welt. Er kann nirgends bleiben, er muß weiter und weiter.« Peter Wust 1

1.

Werkbiographischer Horizont

Zu den intensivsten Lektüreerfahrungen des Philosophen Peter Wust (1884–1940) gehört seine Begegnung mit dem autobiographisch gefärbten Konversionsroman »En Route«. Das Werk entstammt einem Romanzyklus, in dem der französische Autor Joris-Karl Huysmans seine spirituelle Suchbewegung literarisch verarbeitet hat. 2 Im Motiv des »Unterwegsseins« spiegelt sich auch Wusts eigene Lebens- und Denkentwicklung wider: Der Philosoph war seinerseits zeitlebens en route. Dabei hat seine philosophische Entwicklung unterschiedliche Stationen und sogar Transformationen durchlaufen. Je mehr sich Wust auf das moderne Existenzdenken zubewegt hat, desto bedeutsamer wurde für ihn das Motiv des »Homo viator« oder, 3 in seiner Terminologie ausgedrückt, das menschliche »›in-via‹-Sein« 4.

P. Wust, Der Mensch und die Philosophie. Einführung in die Hauptfragen der Existenzphilosophie. Neu herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von Werner Schüßler (= Edition Peter Wust. Schriftenreihe der Peter-Wust-Gesellschaft, hrsg. von H. Hoffmann u. W. Schüßler, Bd. 6), Berlin 2014, 78. 2 Vgl. J.-K. Huysmans, Unterwegs. Aus dem Französischen von M. von KillischHorn, hrsg. von M. Farin u. M. von Killisch-Horn, München 2019. 3 Die existenzphilosophisch interessierte Verwendung des Homo-viator-Motivs verbindet ihn mit Gabriel Marcel und Josef Pieper. Vgl. dazu M. Röbel, Staunen und Ehrfurcht. Eine werkgeschichtliche Untersuchung zum philosophischen Denken Peter Wusts (= Edition Peter Wust [s. Anm. 1], Bd. 3), Berlin 2009, 358 Anm. 864. 4 P. Wust, Ungewißheit und Wagnis. Neu hrsg. im Auftrag der Peter-Wust-Gesellschaft von W. Schüßler und F. W. Veauthier. Einleitung und Anmerkungen von 1

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»En Route«

a)

Wust als philosophischer Pilger in Paris

Als Wust 1928 die Gelegenheit zu einem mehrmonatigen Parisaufenthalt erhält, führt einer seiner ersten Wege in die Kathedrale Notre-Dame de Paris. Dort bewegt er sich in der Spur Paul Claudels, den er als einen Weggefährten im Geiste betrachtet. 5 Der junge deutsche Intellektuelle sucht in dem berühmten geistlichen Bauwerk genau die Säule auf, wo Claudel einige Jahrzehnte zuvor während eines Weihnachtsgottesdienstes den entscheidenden Impuls für eine fundamentale religiöse Lebenswende empfangen hat. Die kleine Wallfahrt Wusts macht den tieferen Sinn deutlich, den sein Frankreichaufenthalt für ihn hat: Er ist nicht allein zu Studienzwecken nach Paris gekommen; schon gar nicht, um als Großstadtflaneur die flirrende Metropole zu durchstreifen. Er ist auf einer inneren Entdeckungsreise und will das geheime, das mystische Paris erkunden. Wenige Jahre nach dem Notre-Dame-Erlebnis wendet er sich in einem Brief an Claudel, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Dichter und christlicher Dramatiker mit Theaterstücken wie »Der seidene Schuh« Erfolge feiern konnte: Am 1. Mai 1928 betrat ich zum ersten Mal Notre-Dame und stand, in tiefes Nachdenken versunken, an jener Säule, an der Sie 1886 standen (ich war damals erst zwei Jahre alt, als dieses Ereignis Ihnen begegnete), also: wo Sie damals standen und beim Gesang des ›Adeste fideles‹ den Stoß der Gnade verspürten. 6

Wust sieht biographische Parallelen. Das Motiv des »Weges« deutet die geistige Verwandtschaft an: Auch ich war Ihren Weg gegangen. Am 28. August 1884 im Saargebiet geboren (bei Merzig, nicht weit von Saarlouis an der lothringischen Grenze), war ich als Kind armer, aber frommer katholischer Eltern aufgewachsen. Erst 1900 kam ich zu dem so heiß ersehnten Studium ans Gymnasium nach Trier (die alte Stadt der Heiligen und Märtyrer). Aber bald verlor ich mich im pelagianischen Humanismus

W. Schüßler (= Edition Peter Wust [s. Anm. 1], Bd. 1), Münster 52019, 179. – Im Folgenden abgekürzt: UW mit Seitenzahl. 5 Zum biographischen Kontext vgl. W. Vernekohl, Peter Wust. Biographische Notizen, in: Peter Wust, Gesammelte Werke, hrsg. von W. Vernekohl u. a., 10 Bde., Münster 1963–1969, Bd. VIII, 5–148, hier: 60–68. – Im Folgenden abgekürzt: GW mit Band- und Seitenangabe. 6 GW VII, 390.

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Marc Röbel

Goethes (wie sonderbar, daß mein Geburtstag Augustin und Goethe verbindet!), und bald versank ich dann sogar in der Skepsis. 7

Die genaueren philosophischen Koordinaten seiner bisherigen intellektuellen Lebensreise übergeht Wust in diesem Zusammenhang: Zu erwähnen wären hier seine zeitweilige Beheimatung im Neukantianismus, sein Interesse an der Lebensphilosophie und vor allem seine Begegnung mit der von Max Scheler vertretenen modernen Philosophischen Anthropologie. 8 Die erneute Hinwendung zum katholischen Glauben, die Wust in seinem Brief an Claudel beschreibt, wurde nicht zuletzt durch den persönlichen Umgang mit Scheler inspiriert, seinem wohl wichtigsten philosophischen Gesprächspartner. 9 Wust ist auch nach seiner Rückkehr zu seinen katholischen Wurzeln ein homo viator geblieben. Das macht die literarische Anspielung in seinem Schreiben an Claudel deutlich: Von 1919 ab lernte ich durch die Schriften von Hermann Platz und Ernst Robert Curtius zum ersten Mal sehen, daß es einen ›Renouveau Catholique‹ in Frankreich gab; ich kam zu Ihren Schriften insbesondere zur ›Art Poétique‹, ich kam zu Huysmans ›En route‹, und bald fand ich mich, ein zweiter Durtal, ›auf dem Wege‹. 10

Die Romanfigur Durtal, auf die sich Wust bezieht, ist für ihn zeitweise zur Identifikationsfigur geworden. Diese intensive psychologische Gleichsetzung hat besonders Ekkehard Blattmann herausgestellt, der die literarischen Motive in Wusts Denken thematisiert und die Zusammenhänge zwischen Biographie und Philosophie akribisch untersucht hat. Für ein auffälliges Merkmal dieser »Verschmelzung« hält er Wusts Angewohnheit, dass er nicht nur häufig brieflich

Ebd. Vgl. GW VIII, 37–43. – Zur genaueren Analyse der werkgeschichtlichen Entwicklung Wusts vgl. M. Röbel, Staunen und Ehrfurcht (s. Anm. 3), 200–206; W. Meiers, Zwischen klassischer Metaphysik und Existenzdenken. Eine werkgeschichtliche Analyse der philosophischen Gotteslehre Peter Wusts (= Edition Peter Wust [s. Anm. 1], Bd. 7), Berlin 2015, 18–22. 9 Vgl. GW VII, 391: »Es ging in Etappen zwischen 1918 und 1923: Ostern 1923 fand ich mich eines Abends im Hohen Dom zu Köln vor dem Gitter eines Beichtstuhls, und seitdem war der Stachel des Intellekts wie abgebrochen: seit 1923 habe ich nie mehr eine Versuchung gegen die hohen Geheimnisse des Glaubens verspürt. Und ich erlebte dann von da ab eine so beglückende Klarheit im Denken aus dem Glauben heraus, daß ich seitdem wie gebannt dastehe vor diesem Rätsel der Seele.« 10 GW VII, 390 f. 7 8

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und in Gesprächen auf seinen Romanhelden eingeht, sondern sogar etliche Briefe mit dem Namenszug »Durtal« unterschrieben hat. 11 Sein persönliches Verhältnis zu dieser Romanfigur reflektiert der Philosoph nicht nur in seiner privaten Korrespondenz, sondern bis in seine »Pariser Rechenschaft« hinein. 12 Durtal wird für ihn zur emblematischen Figur eines modernen Europas, das er in der Gefahr einer tiefgreifenden kulturellen und religiösen Entwurzelung sieht. 13 Dabei ist Wust tief davon überzeugt, dass auch sein eigenes »Leben fast symbolisch ist für diese ganze Zeitspanne« 14. Die Parallelen zwischen Literatur und Leben sind für ihn offenkundig: Und dabei habe ich in aller Stille fast den Weg gemacht, den Durtal in Huysmans ›En route‹ zurücklegt – ich opfere auch gern alle diese Kämpfe Gott auf und betrachte sie als ein von ihm gewolltes Fegefeuer, in dem er mich läutern will. 15

Dass er hierbei nicht ausschließlich sein persönliches »Unterwegssein« vor Augen hat, führt er in der »Pariser Rechenschaft« noch deutlicher aus, wenn er mit Blick auf den deutsch-französischen Kulturraum formuliert: Wir jedoch, wir katholischen Rheinländer, die wir doch auch noch immer ›en route‹ waren, immer noch unterwegs nach der alten Heimat, immer noch unterwegs von Gnosis, Kulturfreude und Formliebe zur wahren Wirklichkeit des Glaubens, des Gebetes, der Gnade, der eigentlichen übernatürlichen Realität, wir entbehrten eines solchen gütigen und verständnisvollen Abbé Gèvresin, der uns geduldig auf unserem schweren Wege zum Ziel, zum letzten Ziel geführt hätte.

Vgl. E. Blattmann, Peter Wust als Denker und Leser des Bösen, Frankfurt a. M. 1994, 216. 12 Vgl. Wusts aus dem Jahr 1929 stammende Beiträge »Pariser Rechenschaft« (GW VII, 166–179) und »Nochmals: ›Pariser Rechenschaft‹« (GW VII, 180–188), die als öffentliche intellektuelle Nachlese der Frankreicherfahrungen gedacht sind. 13 Vgl. GW VII, 170 f.: »Aber dieser arme Gottsucher hatte wenigstens festen und uralten Traditionsboden unter seinen Füßen. Und vor allem, an seiner Seite ging, immer geduldig zuwartend und Hilfe leistend, jener unvergleichlich gütige, verständnisvolle Abbé Gèvresin, der Seelsorger voll pädagogischer Weisheit gerade für diejenigen, die nun einmal zwischen sich und der Welt des Glaubens immer zunächst die Barriere der Gnosis und der Kultur des Geistes stehen sehen, mit all jener verlockenden Pracht, die natürlich für das tiefste Innere des Glaubens eine stetige Gefahr bedeuten muß.« 14 GW X, 407. 15 Ebd. 11

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Und auch unter uns selbst gewannen wir keine rechte Ellbogenfühlung. 16

Mit Abbé Gèvresin ist eine weitere wichtige Schlüsselfigur genannt, für die es ebenfalls ein reales Vorbild gab, nämlich den im Paris des Fin de Siècle hochgeschätzten Abbé Arthur Mugnier, einen geistlichen Chronisten der dortigen Salons. Wust sucht den Abbé persönlich auf und lässt sich von ihm intensiver in Durtals Welt einführen. 17 Das lockt ihn auf seiner Pilgerreise durch Paris zu all den liturgischen und spirituellen Orten, die er aus Huysmans Schilderungen kennt. Unvergeßlich aber sind mir vor allem die Zusammenkünfte […] in der kleinen Benediktinerinnenkapelle der Rue Monsieur, wo wir gewöhnlich an den Sonntagen und Donnerstagen gemeinsam das feierliche Hochamt besuchten. Huysmans hat in ›En Route‹ den überirdischen Zauber dieser kleinen Kapelle und die Zartheit des liturgischen Gesanges in diesem Heiligtum in ergreifender Weise geschildert. Hier war es also, wo Durtal vor vielen, vielen Jahren seinen Frieden mit Gott suchte. 18

Zu den von ihm nahezu täglich aufgesuchten Stationen gehören neben der genannten Kapelle vor allem Notre-Dame, Saint-Sulpice, Saint-Séverin sowie Notre-Dame de Victoires. Aber Wust will nicht nur in die Atmosphäre bestimmter mystischer Orte eintauchen. Er ist auf der Suche nach Weggefährten. Die sucht und findet er im Umfeld der geistigen Erneuerungsbewegung Renouveau Catholique. 19 Seine wichtigsten Kontakte knüpft er in dem »katholischen Intelligenzzirkel«, der sich um Charles Du Bos und Jacques Maritain gesammelt hat. 20 Als weitere Gesprächspartner sind hier Lucien Laberthonniere, GW VII, 171. Vgl. GW VII, 175: »Hier war es denn nun auch, wo ich eines Tages meinen lieben Abbé Gèvresin, Durtals gütigen Führer, leibhaftig antraf, in der Gestalt des greisen Abbé Mugnier, wie er in Wirklichkeit heißt. Ach ja, welche Güte strahlte doch aus von diesem Greis, der sofort mit mir von seinem Liebling Goethe zu reden begann, um mir dann hinterher auch so manches Besondere von seinem ehemaligen Schützling Huysmans zu erzählen. Nun verstand ich erst recht die Atmosphäre von ›En route‹. Und nun verstand ich auch, warum Durtal, dieser so schwerblütige Zweifler und Sucher, schließlich alle Schwierigkeiten seiner Seele überwinden mußte, um endlich zur Ruhe in Gott zu kommen. 18 GW VII, 176 f. 19 Vgl. GW IX, 413. – Zum Einfluss dieser Bewegung auf Wust vgl. GW VIII, 60–68; O. Weiss, Kulturkatholizismus. Katholiken auf dem Weg in die deutsche Kultur 1900–1933, Regensburg 2014, 113 f. 20 Vgl. E. Blattmann, Peter Wust als Denker und Leser des Bösen (s. Anm. 11), 215. 16 17

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Henri Bremond, Maurice Blondel und vor allem Gabriel Marcel zu nennen. 21 Sie alle stehen auf ihre Weise für ein philosophisches bzw. theologisches Denken, das sich auf innovative Weise den Wurzelgrund der abendländischen Tradition neu anzueignen sucht – im Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne. Eine besondere Nähe entwickelte sich vor allem zwischen Wust und Marcel. 22 Ihr gemeinsamer Bezugspunkt sollte die moderne Existenzphilosophie werden, die sie beide unter einem christlichen Vorzeichen vertreten wollten. Doch ist damit bereits eine werkbiographische Etappe übersprungen, denn zu diesem Zeitpunkt versteht sich Wust noch als Vertreter einer anthropologisch gewendeten Metaphysik, die er im Gefolge Schelers entwickelt hat. 23 Marcel wiederum hat erst um das Jahr 1929 herum Gedanken entwickelt, die in der Sphäre des Existenzdenkens zu verorten sind – und das zu einer Zeit, »da Sartre noch mit Holzreifen spielte« 24.

b)

Auf westfälischen Denk-Wegen

Nach seiner Pariser Zeit kehrt Wust mit neuen philosophischen Impulsen nach Deutschland zurück – und bleibt »en route«. Das bedeutet geographisch und beruflich: An der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster übernimmt er von 1930 an bis zu seinem Tod einen Lehrstuhl für christliche Philosophie. Als erfolgreicher philosophischer Schriftsteller war er geübt darin, sich an ein breiteres Publikum zu wenden. Diese Fähigkeit kam ihm auch in seiner akademischen Lehrtätigkeit zugute. Der »Philosoph von Münster« füllt mit seinen

Vgl. auch den Briefwechsel zwischen Wust und Marcel in: GW XI, 334–353. Vgl. dazu S. Foelz, Das heimkehrende Denken und die zweite Reflexion. Zugänge zum konkreten Philosophieren bei Peter Wust und Gabriel Marcel, in: E. Blattmann (Hrsg.), Peter Wust. Aspekte seines Denkens. F. Werner Veauthier zum Gedächtnis (= Edition Peter Wust [s. Anm. 1], Bd. 2), Münster 2004, 143–157; zur Verwendung des Homo-viator-Motivs bei Marcel vgl. ebd., 148. – Vgl. G. Marcel, La piété selon Peter Wust (1935); dt. Die Pietät nach Peter Wust, in: Ders., Sein und Haben, Paderborn 1954, 233–258. – Vgl. Marcels eigene Hinweise auf die inhaltliche Nähe der beiden philosophischen Positionen in: GW XI, 345 u. 349. 23 Vgl. M. Röbel, Peter Wust als christlicher Existenzdenker, in: E. Blattmann (Hrsg.), Peter Wust. Aspekte seines Denkens (s. Anm. 22), 63–85. 24 Zit. nach: F. Manthey, Künder und Deuter menschlicher Existenz, Osnabrück 1966, 119. 21 22

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Veranstaltungen die Hörsäle und zieht Studierende aus allen Fakultäten an. 25 Er betreibt sein Fach nicht als »reine Wissenschaft«, die auf exakte Ergebnisse und vermittelbares Prüfungswissen setzt. Er will seine Hörerschaft durch intellektuelle Anstöße auf einen inneren Denkweg führen. Kurz nach Beendigung des ersten Semesters als Ordinarius für Philosophie schreibt Wust an seinen Freund Franz Xaver Münch: Nun, wenn ich jetzt in etwa drei Wochen dieses ›erste‹ Semester beschließe, dann darf ich doch wohl sagen: mit Gottes Hilfe habe ich mich nun auch in diesen neuen Beruf eingelebt. […] Und schon sehe ich auch eine gewisse Freiheit wieder winken für eigene Arbeiten, obwohl ja doch auch die Arbeit an den jungen Menschen selbst nicht wenig zu bedeuten hat. Denn schon manche Seele glaube ich in die christliche Unruhe hineingestoßen zu haben, die Vorbedingung ist für die spezifisch christliche Ruhe in Gott. 26

Damit ist ein klassisches Motiv seiner eigenen Denkentwicklung genannt: Die »Unruhe« ist ein Thema, das den augustinischen Hintergrund seiner Philosophie markiert. 27 Zugleich ist der hier genannte Topos ein Indikator für die werkgeschichtliche Wende, die sich in den Münsteraner Jahren vollzieht: Wust tastet sich an das moderne Existenzdenken heran, das ihm in den Werken eines Martin Heidegger und Karl Jaspers begegnet, wobei er sich dem Letztgenannten deutlich stärker verpflichtet weiß. Mit den »eigenen Arbeiten«, auf die Wust in seinem Schreiben an Münch anspielt, sind Aufsätze und vor allem sein Hauptwerk »Ungewißheit und Wagnis« gemeint. Diese Arbeiten entstehen nicht ausschließlich am Schreibtisch, sondern buchstäblich »auf dem Wege«. Das Unterwegssein hat für sein Philosophieren nämlich eine lebenspraktische Bedeutung. Wust kommt als Denker gleichsam lauDiese Bezeichnung »Philosoph von Münster« wurde Wust nach Auskunft Vernekohls erstmals von seinem Kollegen Heinrich Scholz zugesprochen (vgl. GW VIII, 74). – Vgl. dazu H. Scholz, Erinnerungen an Peter Wust, in: W. Vernekohl (Hrsg.), »Ich befinde mich in absoluter Sicherheit«. Gedenkbuch der Freunde für Peter Wust, Münster 1950, 29–42. 26 P. Wust, Briefe und Aufsätze. Mit einer biographischen Einleitung hrsg. von W. Vernekohl, Münster 1958, 226. 27 Vgl. M. Röbel, Mit Scheler zurück zu Augustinus. Peter Wust als Vertreter der modernen philosophischen Anthropologie, in: W. Schüßler / M. Röbel / W. Meiers, Der Mensch als Ausgangspunkt der Philosophie. Einführung in die Hauptwerke Peter Wusts (= Edition Peter Wust [s. Anm. 1], Abt. Beihefte, Bd. 3), Berlin 2015, 49–96. 25

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fend zu sich selbst. Er kann im übertragenen Sinne ein »Peripatetiker« genannt werden, dem sich Zusammenhänge und Formulierungen im Gehen erschließen. 28 Die Wanderungen des »Philosophen von Münster« gelten bald als Institution. 29 Für viele Studierende gehörte der »Samstagsspaziergang mit Wust nach Mecklenbeck« zu den Glanzlichtern ihrer Universitätsjahre. 30 Das gemeinsame Unterwegssein hatte dabei eine geradezu metaphorische Bedeutung, wie Augenzeugen berichten. 31 Den Weg nach Mecklenbeck und zurück ging Wust soweit möglich täglich, vor allem in der Entstehungszeit seines Buches »Ungewißheit und Wagnis«. Ein wichtiger Gesprächspartner war für ihn dabei der Mecklenbecker Pfarrer. Dazu Wust in seiner Autobiographie: In den Sommerferien des Jahres 1936 habe ich in den Monaten Juli, August und September fast jeden Morgen nach der Vorlesung zu diesem befreundeten Pfarrer einen Spaziergang gemacht. Es war die glückliche Zeit, wo ich täglich über das damals im Entstehen begriffe-

Bekanntlich wird mit dem Schlagwort »Peripatos« die von Aristoteles gegründete Schulrichtung bezeichnet, die sich mit der Zeit von der platonisch-akademischen, der stoischen und der epikureischen Schule absetzen wollte. Dass es sich im Wortsinn um eine Gruppe umher wandelnder Philosophen gehandelt habe, dürfte auf eine »aitiologische Legende« neuplatonischer Prägung zurückgehen. Vgl. dazu M. Kranz, Art. »Peripatetisch«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Völlig neubearb. Auflage des »Wörterbuchs der Philosophischen Begriffe« von R. Eisler, hrsg. von K. Gründer / J. Ritter / G. Gabriel, 12 Bde. sowie ein Ergänzungsband mit Register, Darmstadt 1971 ff., Bd. 7, 261–262, hier: 261. 29 Vgl. dazu Wusts eigene Darstellung in seiner Autobiographie »Gestalten und Gedanken«, in: GW V, 7–257, hier: 256. 30 Vgl. W. Rest, Der Philosoph Peter Wust und Mecklenbeck, in: K. Pötter (Hrsg.), Mecklenbeck. Von der Bauernschaft zum Stadtteil, Münster 1979, 388–395, hier: 390. 31 Vgl. ebd., 390 f.: »Die Teilnehmer versammelten sich gegen 14 Uhr vor dem Hause des Philosophen auf dem Straßburger Weg und wanderten dann in lockeren Grüppchen, weit auseinandergezogen, von der ›Geist‹ via Steinburg nach Lohmann. Wir alle hatten wenig Geld und bestritten die nächsten drei Stunden in der Regel mit einer Tasse Kaffee. Auch die Rückkehr vollzog sich ganz aufgelockert. Ich beschreibe das so genau, weil dieser modus procedendi wichtig war: Bar jeden Zwanges und aller Förmlichkeit. Die Wust-Schüler bildeten keine Formation, sie waren ›Einzelne‹, wie Wust selber nie daran gedacht haben mag, eine ›Schule‹ zu begründen. Er selber war auf sich konzentriert, und diese Konzentration strahlte aus und steckte an. Da saß man nun in dem Privatzimmer bei Lohmann hinter der Theke drei Stunden beisammen, ohne jedes Programm oder festes Thema. Aber eine einmalige Gelegenheit, miteinander zu sprechen.« 28

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ne Buch ›Ungewißheit und Wagnis‹ mit dem Freunde Dr. Vorholt die fruchtbarsten Aussprachen hatte. 32

Dieser von Wust geschätzte geistliche Gesprächspartner sollte auch zu den letzten Weggefährten des Philosophen gehören: Sein priesterlicher Freund leitete die Beisetzung Wusts auf dem Mecklenbecker Friedhof und wurde später auch neben ihm begraben. Weitere maßgebliche Weggefährten der Münsteraner Jahre waren zweifellos Edith Stein sowie Josef Pieper, der wie so viele andere Denkfiguren auch das Homo-viator-Motiv aus der klassischen Denktradition aufnimmt und dieses ähnlich wie Wust mit Fragestellungen des modernen Existenzdenkens verbindet. 33

2.

Das Weg-Motiv als werkgeschichtlicher Indikator

Die Frage, ob Wust ein statisches oder im besten Sinne ein bewegliches Denken vertreten hat, das sich durch eine Anschlussfähigkeit an die moderne Philosophie auszeichnet, hat kritische Interpreten seines Werkes immer wieder beschäftigt. Winfried Kuckartz, einer der schärfsten Wust-Kritiker, 34 wendet das Weg-Motiv auf die Denkform Wusts an, wenn er zu dem wenig schmeichelhaften Ergebnis kommt: »Der Fehler Wusts ist überall der, den Gehlen allgemein rügt: daß er ›immer schon‹ im Absoluten zu sein glaubt, ohne wirklich gelaufen zu sein.« 35 Als erfolgreicher philosophischer Schriftsteller sei Wust zwar zeitweise en vogue, als systematischer Denker aber niemals wirklich en route gewesen. Daher das ernüchternde Fazit: »Seine [sc. Wusts] Philosophie ist im Grunde noch die Platons und Augustins.« 36 Diese Kritik ist aus der Sicht einer differenzierten werkgeschichtlichen Analyse des Gesamtwerks als unterkomplex zu betrachten. Wust muss zweifellos als Vertreter einer metaphysischen Konzeption gelesen werden, die jedoch bestimmte Theoreme nicht einfach rekapituliert, sondern unter den Rahmenbedingungen der Moderne reforGW V, 256. – Vgl. auch K. Pötter, Eine markante Persönlichkeit: Dr. Vorholt, 1878 bis 1954, in: Ders. (Hrsg.), Mecklenbeck (s. Anm. 30), 396–405. 33 Zur Parallele zwischen Pieper und Wust in dieser Hinsicht vgl. W. Meiers, Zwischen klassischer Metaphysik und Existenzdenken (s. Anm. 8), 199 f. 34 Vgl. W. Kuckartz, Philosophie und Pädagogik oder die Idee einer metaphysischen Begründung der Pädagogik nach Wust, in: GW VIII, 411–460. 35 GW VIII, 432. 36 GW VIII, 438. 32

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muliert. Mit Blick auf Wusts Œuvre kann ein entwicklungsgeschichtliches Interpretationsverfahren zeigen, dass es sich sehr wohl um das Werk eines philosophierenden homo viator handelt, der bestimmte Grundfragen in immer neuen Denkanläufen angeht. Einige Aspekte deute ich im Folgenden an. Das Programm einer »kommenden Metaphysik« hatte sich 1922 in dem ersten Hauptwerk »Die Auferstehung der Metaphysik« angekündigt. Wust unterzieht darin die neuzeitlich-moderne und vor allem zeitgenössische Metaphysikkritik ihrerseits einer Kritik. Damit stellt er sich allen zeitgenössischen Philosophen in den Weg, die im Namen einer Voraussetzungslosigkeit des Denkens die moderne Philosophie von allen angeblichen metaphysischen Überfrachtungen befreien wollen. Dagegen bringt Wust ein anthropologisches Postulat in Stellung, das den »ganzen Menschen« zum Thema und Ausgangspunkt des Denkens erklärt. 37 So ist sein programmatisches Plädoyer für die Rehabilitierung der Metaphysik zu verstehen: »Denn die Metaphysik kann niemals aussterben, weil der Wesensdrang der Menschheit aus der menschlichen Natur nicht ausgetilgt werden kann.« 38 Damit wird ein Unruhemoment zur Sprache gebracht, das eng mit dem Weg-Charakter verbunden ist, der für Wusts spätere Anthropologie und Existenzphilosophie kennzeichnend sein wird: vom »metaphysischen Gravitationsgesetz der Seele« 39, über den »Oszillationscharakter« 40 des menschlichen Geistes bis hin zur Insecuritas-Thematik in »Ungewißheit und Wagnis«. 41 In »Naivität und Pietät«, seinem zweiten Hauptwerk, thematisiert Wust als kulturphilosophisch interessierter Zeitdiagnostiker und Vertreter der Philosophischen Anthropologie eine kulturanthropologische Variante des Weg-Motivs: den Fortschritt. Was bedeuten

M. Röbel, Der »ganze Mensch«. Der anthropologische Grundimpuls im Denken Peter Wusts, in: W. Schüßler / M. Röbel (Hrsg.), »Die Unruhe des Menschenherzens.« Einblicke in das Werk Peter Wusts (= Edition Peter Wust [s. Anm. 1], Bd. 5), Berlin 2013, 45–55. 38 GW I, 34. 39 GW VI, 445. 40 GW II, 119. 41 Die klassische Hintergrundfolie dieses Unruhe-Motivs im Denken Wusts stellt die augustinische Philosophie dar. Vgl. dazu M. Röbel, Mit Scheler zurück zu Augustinus (s. Anm. 27), 49–96. – Zum weiteren Rückgriff Wusts auf die philosophische Tradition in dieser Hinsicht vgl. W. Meiers, Zwischen klassischer Metaphysik und Existenzdenken (s. Anm. 8), 47–68. 37

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die unbestreitbaren technologischen Innovationen der Moderne, aber auch die fortschreitenden Erkenntnisse der Wissenschaften auf allen Gebieten für das menschliche Selbst- und Weltverständnis? Ist diese Entwicklung als aufsteigende Linie zu betrachten, die alle Kulturleistungen früherer Epochen hinter sich lässt? Sind die philosophischen Innovationen eines Aristoteles oder Augustinus durch die Einsichten Kants oder des Neukantianismus obsolet geworden? Im Zeitalter der digitalen Informationsgesellschaft haben Fragen wie diese noch an Dringlichkeit gewonnen: Gibt es vielleicht ein unerbittliches Vorwärts des Geistes, das kein Rückwärts mehr zuläßt zum Anfangsstadium schöner, unschuldiger Naivität, etwa zur kindlich-reinen Welt Homers und der Bibel, wenn einmal die Reflexionshöhe Kants und Hegels erklettert ist? 42

Bedeutet Fortschritt in diesem Sinne, dass nach Erreichen eines bestimmten Reflexions- und Informationsstandes die maßgeblichen Quellen der abendländischen Tradition als überholt zu gelten haben? Wust wehrt sich vor allem aus kulturanthropologischen Gründen gegen derartige Traditionsabbrüche eines nur technokratisch verstandenen Fortschritts. 43 »Naivität« und »Pietät« als spezifisch menschliche Phänomene sind nicht als bewusstseinsgeschichtliche Ausgangspunkte eines beklagenswerten Anfangsstadiums des Menschseins zu verstehen. Sie sind Ursprungsphänomene, die der Mensch nicht hinter sich lassen sollte, sondern die es immer wieder zurückzugewinnen gilt. Dies nennt Wust auch die »dialektische Bewegungskurve des Menschengeistes« 44, zu der auch die Begegnung mit den eigenen philosophischen, kulturellen und religiösen Traditionen gehört. Denn diese überliefern ein Lebenswissen, das in einem bloßen Informationstransfer nicht zu vermitteln ist. Der Mensch ist nämlich etwas anderes als eine Rechenmaschine, so wie Denken und Fühlen als spezifisch menschliche Akte zu unterscheiden sind vom Rechnen. Aus solchen Fundamentalunterscheidungen ergibt sich der Weg-Charakter des Menschseins in anthropologischer Hinsicht: Der Mensch als Mensch

GW II, 46. Vgl. M. Röbel, Das »Andere der Vernunft«. Staunen und Ehrfurcht bei Peter Wust, in: W. Schüßler / M. Röbel (Hrsg.), »Die Unruhe des Menschenherzens« (s. Anm. 37), 73–83. 44 GW II, 185. 42 43

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ist sowohl individuell als auch kulturell gar nicht anders zu verstehen als ein »homo viator«, der Herkunft und Zukunft miteinander ins Gespräch bringt: Das aber ist dann der Punkt, wo wir das wundervolle Ineinanderspielen von Renaissance und Dekadenz im historischen Leben am besten beobachten können. Der Weg hinauf und der Weg hinab gehören im geistigen Leben immer zusammen; jeder Aufstieg bringt schon die Gefahr des Abstiegs, und umgekehrt hat jeder Abstieg auch wieder das Moment oder die Tendenz des Aufstiegs in seinem Wesen, als eine Möglichkeit, die Hoffnung, Sehnsucht, Wiedergeburtswillen auslösen kann. 45

Auch das dritte Hauptwerk Wusts, sein 1928 erschienenes Buch »Die Dialektik des Geistes«, sieht den Menschen prinzipiell »en route«. Wust ist wie viele Philosophen seiner Zeit daran interessiert, die Aufund Abschwünge der menschlichen Kultur und Geschichte, die Epochenwechsel und Stilumbrüche auf der Basis einer philosophischen Kulturanthropologie zu interpretieren. 46 In der »Dialektik des Geistes« nimmt er den systematischen Faden seines zweiten Hauptwerkes auf und verbindet diesen mit dem Topos des Unterwegsseins. So ist er davon überzeugt, dass einzig der Mensch »in statu viatoris« in der Lage ist, »alle Grenzzonen des Negativen wie des Positiven zu begehen«. 47 Das führt Wust im Bild der Wanderschaft weiter aus: Als Kind tritt er [sc. der Mensch], der schönen Harmonie eines Naturwesens vergleichbar, mit dem Doppelhabitus von Naivität und Pietät in diese Welt ein. Und er kann nun, so ausgerüstet, sein Menschentum bis zu solchem Grade verklären, daß bereits diesseits der Ewigkeitsschwelle der milde und wunderbare Glanz der jenseitigen Welt auf seinem Antlitz aufzuleuchten beginnt. In der Verbindung von Weisheit und Heiligkeit kann er schon auf dieser irdischen Wanderschaft die Lichtzone des Himmels mit seinem Wesen berühren. Aber auch

GW II, 323. Zu Wusts Auseinandersetzung mit der Kulturphilosophie seiner Zeit vgl. M. A. Colluto, Peter Wust: La Crisi dell’uomo e la filosofia ne processo civilizzatorio della modernità, in: E. Blattmann (Hrsg.), Peter Wust. Aspekte seines Denkens (s. Anm. 22), 213–230; A. Lohner, Peter Wust: Gewißheit und Wagnis. Eine Gesamtdarstellung seiner Philosophie, Paderborn 21995, 367–43, F. W. Veauthier, Kulturkritik als Aufgabe der Kulturphilosophie. Peter Wusts Bedeutung als Kultur- und Zivilisationskritiker, Heidelberg 1998. 47 GW III/1, 160. 45 46

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nach der entgegengesetzten Richtung kann er ausschreiten, bis unmittelbar an die Finsterniszone des ewigen Inferno. 48

Mit diesem dem Umfang nach opulentesten Werk nähert er sich bereits dem Ende seiner mittleren Schaffensphase: Die metaphysische Anthropologie wechselt allmählich über in einen existentiellen Modus des philosophischen Denkens. Es ist bezeichnend für Wusts Arbeitsweise, dass die Augustinus-Referenz ihr Kennzeichen bleibt, das heißt, dass der Bezug zur metaphysischen Tradition konstant ist, während die zeitgenössischen philosophischen Gesprächspartner wechseln. Die philosophische Tonlage, die Wust anschlägt, ist unüberhörbar existenzphilosophisch gestimmt, worauf das Begriffsfeld eines zutiefst beunruhigten Unterwegsseins hinweist: Da ist von »metaphysischer Heimatlosigkeit«, von der »Selbsttranszendierung« des Menschen und von einer Wanderung, die »vorwärts« oder »rückwärts« führt, vom »unendlichen Weg« und vom Menschen als einem »Fremdling« die Rede. 49 Die biblische Parabel vom Suchweg des »verlorenen Sohnes« (Lk 15), die hier anklingt, führt ebenso wie die genannten Begriffe in die existenzphilosophische Wegbeschreibung des Menschseins, die Wust in »Ungewißheit und Wagnis« entfaltet – dem Schlüsselwerk seiner existenzphilosophischen Schaffensphase. 50

Ebd. – Herv. von mir! Vgl. GW III/1, 211. – Das vollständige Zitat lautet: »Nachdem einmal die natürliche Einheit aufgesprengt und der ›unendliche Weg‹ der Selbsttranszendierung beschritten war, stellte sich sofort auch das Bewußtsein einer vollkommenen metaphysischen Heimatlosigkeit und eines unaufhebbaren Heimweh- und Unruhetriebes ein, ohne daß jemals wieder an ein Ende dieser Leiden des Geistes zu denken war. Der glücklich-unselige Entdecker des Intellektinstruments mußte vorwärts schreiten und wollte doch wieder rückwärts wandern, dorthin, von wo er einst so stolz ausgezogen war, dieser ›verlorene Sohn‹ der Natur, dieser ewige Fremdling, der er durch das Geschenk des Geistes geworden war.« 50 Vgl. dazu W. Meiers, Von der klassischen Metaphysik zum Existenzdenken. Zur Entwicklung der Philosophie Peter Wusts anhand einer werkgeschichtlichen Analyse seiner philosophischen Gotteslehre, in: W. Schüßler / M. Röbel (Hrsg.), »Die Unruhe des Menschenherzens« (s. Anm. 37), 28–31. 48 49

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3.

Das ›in-via-Sein‹ als existenzphilosophische Metapher

Wust reiht sich mit seinem Existenzdenken in die Tradition neuzeitlich-moderner Philosophien ein, welche spätestens seit Nietzsche die Sinnfrage mit dem individuellen Schicksalsweg des Menschen verknüpft haben. 51 Dazu gehören neben Nietzsche, Kierkegaard und Schelling als Vordenker der modernen Existenzphilosophie vor allem Jaspers und Heidegger. Mit Sartre und Camus als den maßgeblichen Vertretern des französischen Existentialismus konnte sich Wust aufgrund seines frühen Todes im Jahre 1940 nicht mehr auseinandersetzen. Für die deutschsprachige Philosophie ergibt sich ein aufschlussreicher Zusammenhang zwischen einem sinnbezogenen Existenzdenken und dem Topos des homo viator, nämlich die sprachgeschichtliche Verbindung des Weg-Motives mit der Sinnthematik. Von der althochdeutschen Ausgangsbedeutung her klingt in dem Verb sinnan der Aspekt des Richtung-Nehmens, des Reisens und Unterwegsseins an. 52 Im mittelhochdeutschen Sprachgebrauch kommt als zusätzliche Bedeutung von sin die Richtung der sinnlichen Wahrnehmung, also das Zusammenspiel der fünf Sinne, aber auch der innere, d. h. geistige Sinn hinzu. Der sprachgeschichtliche Konnex zwischen »Weg« und »Sinn« lässt es noch plausibler erscheinen, dass Philosophen wie Wust oder Pieper die Sinnfrage mit dem Homo-viator-Motiv verbinden. 53 Mit Pieper macht Wust das Menschsein »in statu viatoris« zum Thema und Standort seines eigenen Philosophierens. 54 Das kommt ihm auch Vgl. H. D. Rauh, Im Labyrinth der Geschichte. Die Sinnfrage von der Aufklärung zu Nietzsche, München 1990; C. Sedmak, Die Sinnfrage als Movens philosophischer Reflexion, in: D. Batthyány / O. Zsok (Hrsg.), Viktor Frankl und die Philosophie, Wien 2005, 41–56. 52 Vgl. H. Weddige, Mittelhochdeutsch. Eine Einführung, München 72007, 127. 53 Zum philosophisch qualifizierten »Begriff des Auf-dem-Wege-Seins« vgl. J. Pieper, Über die Hoffnung, in: Ders., Werke in acht Bänden, Bd. 4, Schriften zur Philosophischen Anthropologie und Ethik: Das Menschenbild der Tugendlehre, hrsg. von B. Wald, Hamburg 1996, 256–295, hier: 287. – Piepers Ausführungen zur Denkfigur des »homo viator« beziehen auch den für Wust wesentlichen Aspekt der Ungesichertheit ein. Vgl. ebd.: »Absolute Sicherheit ist dem homo viator nicht erreichbar, auch nicht ›im Prinzip‹.« 54 Vgl. dazu den Hinweis des Philosophen im Vorwort zu »Ungewißheit und Wagnis«, in: UW 29. – Vgl. J. Pieper, Über die Hoffnung (s. Anm. 53), 257: »Die [Wirklichkeit des menschlichen Unterwegsseins] aber gehört zu den Fundamenten des christlichen In-der-Welt-Seins; der Begriff des status viatoris gehört zu den Grund51

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insoweit entgegen, als die Metaphernbildung zu den methodischen und stilistischen Charakteristika seiner gesamten Philosophie gehört. Ekkehard Blattmann hat aus literaturwissenschaftlicher Sicht die metaphorologische Facette als eine besondere Stärke dieses Denkens herausgearbeitet. 55 Mit dem Homo-viator-Motiv eng verbunden sind in Wusts Konzept über die Weg-Metapher hinaus auch die geometrische Analogie des Raumes und die Lichtmetaphorik.

a)

Die Metapher des Raumes

Im Horizont der Weg-Metapher erschließt Wust das prinzipielle Unterwegssein des »ursinnfragenden« Menschen, 56 aber auch den viatorischen Charakter der Philosophie. Weitere systematische Differenzierungen erfolgen mit Hilfe der Metapher des Raumes. Die Raum-Metapher bestimmt den Duktus des Hauptwerkes »Ungewißheit und Wagnis« von 1937. Darin nimmt Wust eine Systemskizze auf, die er sieben Jahre zuvor in seinem Aufsatz »Ungewißheit und Wagnis als metaphysische Lebenskategorien« entworfen hat. 57 Die anthropologische Grundbestimmung, die im Menschen das animal insecurum sieht, wird auf diese Weise metaphorologisch ausgeleuchtet, indem Wust drei Räume der Insecuritas unterscheidet. 58 Anders gesagt: Auf drei Ebenen sieht er den Menschen durch die InsecuritasSituation bestimmt: nämlich lebenspraktisch-vital (unterste Ebene), geistig-intellektuell (mittlere Ebene) sowie geistlich-religiös (oberste Ebene). 59 Diesen Ebenen entsprechen drei Formen von Insecuritasbegriffen aller christlichen Lebenslehre.« – Pieper rekurriert mit dem Topos des »Inder-Welt-Seins« hier indirekt auf Heideggers Terminologie. 55 Vgl. E. Blattmann, Aufgähnender Abgrund, Wetzen der Messer, Marneschlacht. Über Peter Wusts bildhafte und metaphorische Welt, in: W. Schüßler / M. Röbel (Hrsg.), »Die Unruhe des Menschenherzens« (s. Anm. 37), 139–152, hier: 139: »Wust ist in der Tat nicht ein Philosoph, der gnadenlos stringent von einer quasi-mathematisch logischen Definition zur nächsten Conclusio fortschreitet. Wusts Schriften folgen vielmehr der Meinung, dass das Unbegriffliche und A-Logische gleichwohl metaphorisch zu sagen sei.« 56 P. Wust, Der Mensch und die Philosophie (s. Anm. 1), 81. 57 GW VI, 463–487. – Der Aufsatz erschien erstmals in: Augsburger Postzeitung, Sonntagsbeilage Nr. 5 vom 1. 2. 1930, 17–18 und Sonntagsbeilage Nr. 7 vom 15. 2. 1930, S. 29 f. 58 Vgl. UW 63. 59 Vgl. UW 68: »Diese drei Ebenen werden uns sichtbar, wenn wir die Hauptwerte ins

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Nöten, nämlich die Existenznot auf der Ebene des vitalen Sicherungsund Glücksstrebens, die Wissensnot auf der mittleren und die Heilsnot auf der religiösen Ebene. Alle drei Ebenen stehen für Wust in einem engen sachlichen und sogar metaphysischen Zusammenhang: Schon auf der untersten Ebene, die vom vitalen Sekuritätsstreben gekennzeichnet ist, stellt sich dem Menschen die »Selbstsinnfrage« 60. Er hat als Geistwesen im »Spielraum« 61 der Insecuritas die Wahlfreiheit. Denn als relatives Geistwesen kann er zu Situationen und auch zu seinen Möglichkeiten und Grenzen Stellung nehmen. Während das Tier seinen Instinkten folgt, muss der Mensch als »instinktreduziertes Mängelwesen« (Gehlen) wählen. Je höher der einzelne Mensch geistig und sittlich steht, um so bedrängender wird die Wahl. Schon hier, auf der Ebene der bürgerlichen Existenz, zeigt sich der Mensch als »homo naturaliter philosophus« 62. Denn es stellt sich ihm nolens volens die Wahrheitsfrage. Er will ja richtig wählen, eine gute und sichere Wahl treffen. Damit aber ist schon fast der zweite Raum betreten, um bei diesem Schema zu bleiben: der Raum der »Wahrheitsforschung«. Denn nach Wahrheit und sicherer Erkenntnis strebt die Wissenschaft, allen voran die Philosophie. Aber auch sie bleibt wesentlich ungesichert – und muss es bleiben. Der Mensch als wesentlich freier soll ja wählen, das Wagnis eingehen. Darum sind – in dieser Logik – die Erstprinzipien der Philosophie auch niemals im mathematischen Sinne beweisbar. Dem Philosophen wie dem Wissenschaftler stellt sich die Vertrauensfrage in die »Durchgeordnetheit des Seins« 63. Diese Frage ergibt sich auch für den obersten Raum der Insecuritas, den »religiösen Bereich« 64. Denn wer oder was soll diese Ordnung (und somit einen letzten und tiefsten Sinn von allem) verbürgen, wenn nicht Gott? An diese höchste Instanz nun kann der Mensch laut Wust mit guten Gründen glauben, bis zur »letzten Gewißheit« 65, mit einer Auge fassen, die der Mensch jeweilig gegen die Gefährdung zu sichern versucht, die ihm von seinem ›Insecuritas‹-Schicksal her droht. Sichern will nämlich der Mensch zunächst seine vitale Existenz, dann seine geistige Existenz als wahrheitssuchendes Vernunftwesen und schließlich seine übernatürliche Existenz als ein Wesen, das nach Erlösung verlangt.« 60 P. Wust, Der Mensch und die Philosophie (s. Anm. 1), 46. 61 UW 52. 62 Vgl. P. Wust, Der Mensch und die Philosophie (s. Anm. 1), 48. 63 GW VI, 478. 64 GW VI, 481. 65 GW VI, 482.

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»vollen Evidenz« 66. Doch trägt auch hier nicht die Logik die Last der Entscheidung, sondern der einzelne Mensch. Er muss wählen zwischen dem letzten »Ja« oder »Nein« 67. Nicht als Marionette, 68 sondern in relativer, d. h. geschöpflicher Freiheit soll er zur Gottesfrage Stellung nehmen. Wust hält grundsätzlich an der prinzipiellen Bedeutung der natürlichen Gotteserkenntnis fest, betont aber den notwendigen Entscheidungsspielraum. Einer mathematischen Wahrheit kann sich niemand allen Ernstes entziehen. In der Gottesfrage hingegen bleibt für Wust ein notwendiger Spielraum: »Es darf für Gottes Dasein keine Beweise von exakt-mathematischer Evidenz geben.« 69 Die Spielräume, die sich daraus ergeben, werden lichtmetaphorisch weiter ausgeleuchtet.

b)

Die Metapher des Lichts

Wust greift auf die Metapher des »Halbdunkels« zurück, um auf die Mittelstellung des Menschen aufmerksam zu machen, die er auf allen Ebenen der menschlichen Existenz nachzuweisen sucht. Der Mensch ist für ihn »das Wesen zwischen zwei Absolutsituationen der Gesichertheit, zwischen der Gesichertheit des Tieres und der Gesichertheit des reinen Geistes«. 70 Kritiker wie Delahaye hingegen machen immer wieder auf die metaphysischen Eckdaten aufmerksam, die für Wusts Seinsphilosophie bestimmend sind. 71 Doch ist damit gewissermaßen nur die Tagseite seiner Philosophie genannt. Wust versteht GW VI, 483. Vgl. GW VI, 478. 68 Vgl. GW VI, 485. 69 GW VI, 484. – Vgl. P. Wust, Der Mensch und die Philosophie (s. Anm. 1), 118: »Insbesondere bleibt bei den Gottesbeweisen trotz ihrer prinzipiellen Vernunftgewißheit immer noch ein gewisser, wenn auch noch so minimaler Spielraum übrig, in dem das Erkenntniswagnis sich mitentfalten kann.« 70 UW 154. 71 Vgl. K. Delahaye, Die Philosophie Peter Wusts als christliche Anthropologie. Eine Einführung in sein Denken (unter Mitarbeit von W. Kuckartz), in: GW VIII, 153–410 (als Sonderdruck erschienen unter: Ders., Christliche Anthropologie. Eine Einführung in das Denken Peter Wusts, Münster 1967), hier: 169: »Gott als Apriori des Seins wie des Denkens, die Positivität, Intelligibilität und Bonität des Seins werden anerkannt, die analogia entis wird in Anspruch genommen, die Identität von Sein und Denken behauptet, die Gottesebenbildlichkeit des Menschen angesetzt, die Teilhabe des menschlichen am göttlichen Erkennen behauptet.« 66 67

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sich nicht als philosophischer Deuter einer metaphysisch restlos durchschauten Welt; er hat sich einen Sensus für die Nachtseite des Denkens bewahrt: für die Rätselhaftigkeit des Daseins und den »unsagbaren Rest«, der jedem Menschen innewohnt. 72 Theologisch bringt er dies mit dem Bild des sich enthüllenden und zugleich verhüllenden Gottes zur Sprache. In anthropologischer Hinsicht entspricht diese Perspektive exakt der von Wust oft beschriebenen »Mittelstellung« des Menschen, die sich im Raum der Offenbarung und der persönlichen Gottesbeziehung sogar noch zuspitzt, da »der Mensch gerade in dieser Frage seiner persönlichen Heilsgewißheit den Kulminationspunkt seiner ›Insecuritas‹-Gesetzlichkeit« erreicht. 73 Auch die Heiligen und Mystiker mit ihrer Erfahrung der »Dunklen Nacht« und der inneren »Leere« sind davon nicht ausgenommen. 74 Daher rücken die Überschriften der letzten Kapitel von »Ungewißheit und Wagnis« bestimmte geistlich-theologische Aspekte in das besagte »Halbdunkel«: die »religiöse Gottesgewißheit«, die »Offenbarungsgewißheit«, die »Heilsgewißheit«. 75 In einem eigenen Kapitel wendet sich Wust dem »mystischen Weg« des Menschen zu und nimmt damit explizit das semantische Potential des Homo-viator-Motivs auf.

c)

Der Weg als Metapher

Für den Existenzdenker Wust hat nicht nur das Menschsein prinzipiell einen viatorischen Charakter, sondern auch die Philosophie. Das »›in-via‹-Sein« der Philosophie geht einher mit der »dialektischen Natur des Menschen« 76. Wust spielt auf ein biblisches Weg-Motiv an, das er auf die Philosophie anwendet: Nicht nur beruhigen soll die Philosophie den menschlichen Geist, sondern auch tief beunruhigen soll sie ihn, und auch in diesem Falle kann es dann so sein, daß der dem Vaterhaus den Rücken kehrende Sohn in GW II, 226. UW 154. 74 Vgl. UW 162 ff. 75 Zur Verwendung der Lichtmetapher in diesem Kontext vgl. M. Röbel, »Ungesicherte Katholizität?« Zum Kirchenbild des Philosophen Peter Wust, in: Trierer Theologische Zeitschrift 122/3 (2013) 203–323; ders., Zwischen Traum und Trauma. Kirchenerfahrungen des katholischen Philosophen Peter Wust, in: Trierer Theologische Zeitschrift 125/3 (2016) 223–234. 76 P. Wust, Der Mensch und die Philosophie (s. Anm. 1), 80. 72 73

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der unendlich tiefen Oekonomie des geistigen Gesamtlebens eine größere Rolle zu spielen hat, als der demütig gehorsam daheimgebliebene Sohn sie jemals zu spielen fähig ist. 77

Metaphorisch ausgedrückt geht es um den »abenteuernden« und den »heimkehrenden« Pol des Denkens. Diese Unterscheidung verdankt Wust seiner produktiven Auseinandersetzung mit dem Schweizer Religions- und Kulturphilosophen Oskar Bauhofer. 78 Wust wie Bauhofer stehen für zwei Denkwege innerhalb der neuzeitlich-modernen Philosophie, deren Verläufe sich im metaphorischen Spannungsfeld des abenteuernden und heimkehrenden Philosophierens vollzogen haben. In Briefen, die Wust Anfang der dreißiger Jahre an Maritain schreibt, geht er auch auf den »gemeinsamen lieben Freund Oskar Bauhofer« ein. 79 Dabei unterstreicht er den paradigmatischen Charakter, den die bevorstehende Konversion des Schweizers in seinen Augen hat: Es ist ein Advent des abendländischen Menschen, was wir jetzt durchleben. Wir sollen durch die Not wieder heimgeführt werden. Eine Zeit des ›heimkehrenden Denkens‹ ist angebrochen, um mit unserem lieben Oskar Bauhofer zu sprechen, den ja auch Sie kennen. Er ist inzwischen (am Osterdienstag) in die Kirche heimgekehrt. Ich bewundere den Weg dieses Mannes, den Weg von Calvin zum hl. Franz von Sales. Alle diese Heimwege einzelner Menschen in dieser Zeit sind die ganz großen übernatürlichen Geschehnisse, die Integrale eines einzigen großen Gesamtgeschehens. 80

Das Wechselspiel zwischen dem abenteuernden und dem heimkehrenden Denken hat enorme Auswirkungen auf das Philosophieverständnis Wusts insgesamt: Beide Tendenzen in der Philosophie, nämlich das antwortgebende heimkehrende Denken und das fragende abenteuernde Denken in der Philosophie haben etwas in sich, was die Philosophie schließlich vernichten muß, wenn diese Tendenzen absolut gesetzt werden. 81 GW VI, 234. Vgl. GW VI, 242: »Aufs Ganze hingesehen, ist es tatsächlich so, daß die Philosophie in ihrer Gesamtbewegung ohne die permanente Spannung zwischen der ›abenteuernden Skepsis‹ und dem ›heimkehrenden Denken‹, wie es Oskar Bauhofer genannt hat, nicht gedacht werden kann.« – Vgl. dazu O. Bauhofer, Das Metareligiöse. Eine kritische Religionsphilosophie, Leipzig 1930. 79 GW IX, 203. 80 GW VI, 206 f. 81 P. Wust, Der Mensch und die Philosophie (s. Anm. 1), 81. 77 78

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Nicht nur der Mensch als philosophierender ist ein homo viator, sondern auch die Philosophie als spezifisch menschliches Unternehmen einer Selbst- und Weltverständigung muss auf dem Weg bleiben. Umgekehrt ist nach Wust zu betonen: Eine Philosophie, die sich stattdessen vollends dem Erkenntnisideal der exakten Erfahrungswissenschaften und ihren evidenzbasierten Datenerhebungen verschreibt, hört auf, Philosophie zu sein und verwechselt ihren eigenen epistemischen Anspruch mit einem szientifischen Konzept von Wissenschaft. Wust verdeutlicht sein eigenes Philosophieverständnis mit Hilfe weiterer metaphorischer Vergleiche. So ist der »Königsweg der Philosophie« im Unterschied zur »gradlinig voranschreitenden Wissenschaft« dadurch gekennzeichnet, 82 dass »der menschliche Geist in der philosophischen Ideenbildung einen solchen ›zementierten Kanal‹ der ein für allemal gefundenen Wahrheit nicht verträgt« 83. Das szientifische Moment innerhalb der Philosophie tendiert zur Systembildung eines rationalen Sekuritätsdenkens, das existentielle Moment lässt sich durch die ersten und letzten Fragen der Philosophie beunruhigen. Wust teilt die antike und mittelalterliche Vorstellung der prinzipiellen Unabschließbarkeit der Philosophie und drückt auch dieses Verständnis im Horizont des Homo-viator-Motivs aus: Diese menschliche Weisheit ist deshalb auch von Sokrates mit Recht als die Liebe zur Weisheit bezeichnet worden. Ihr eigentliches Wesen liegt also gerade in dem bloßen ›in-via‹-Sein und in der ehrfurchtvollen Bejahung dieses beständigen Unterwegsseinmüssens. 84

Grundsätzlich gilt für die Philosophie nach Wust: Sie ist »mit keinem Ergebnis endgültig fertig. Jedes ihrer Ergebnisse untersteht der Gefahr einer prinzipiellen Anfechtbarkeit, trotz rationaler Evidenz. Sogar der Satz des Widerspruches ist davon nicht ausgenommen.« 85 Werner Schüßler fasst dieses vom modernen Existenzdenken geprägte Philosophieverständnis wie folgt zusammen: »Philosophisches Wissen darf also nach Wust nicht zwingend gewiß sein – um des Menschen willen. Philosophisches Wissen darf – ebenso wenig wie der religiöse Glaube – nicht bezwingen, darf nicht ›nezessitieren‹,

82 83 84 85

GW VI, 227. GW VI, 226. UW 179. P. Wust, Der Mensch und die Philosophie (s. Anm. 1), 38.

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sondern immer nur ›sollizitieren‹, damit Raum bleibt für die Selbstentscheidung des Menschen.« 86 Dies schließt nach Wust die religiöse Sphäre nicht aus. Vielmehr bezieht er diese in die Anwendung der Weg-Metapher ausdrücklich ein. Denn auch der Mensch als homo religiosus bleibt ein homo viator – was nach Wust nicht zuletzt für den »mystischen Weg« gilt. Dass der Philosoph überhaupt ein solches Themenfeld in einem philosophischen Schlüsselwerk beschreitet, mag sein Denken dem Verdacht aussetzen, eine Weltanschauungsphilosophie zu vertreten. Diese Kritik geht aber an der eigentlichen Pointe der Untersuchung vorbei. Der »mystische Weg« wird von Wust deshalb thematisiert, weil auch dieser zu den Anwendungsgebieten seines Haupttheorems gehört, d. h. zu den »verschiedenen Gestalten der ›Insecuritas humana‹«. 87 Wenn in diesem Zusammenhang von einem mystischen Weg die Rede ist, stehen ihm dabei Mystiker wie Johannes Tauler oder Franz von Sales vor Augen. Dass er eine besondere Nähe zur spanischen Mystik einer Teresa von Avila und eines Johannes vom Kreuz entwickelt hat, dokumentiert auch sein Briefwechsel mit Edith Stein, an deren Übergang »von Husserl zum Karmel« er regen Anteil genommen hat. 88 Der Versuch einer systematischen Entfaltung des mystischen Weges in »Ungewißheit und Wagnis« ist vor allem durch die Arbeiten Evelyn Underhills inspiriert. Für die anglokatholische Religionsphilosophin und Theologin waren eigene kontemplative Erfahrungen der Anlass, sich im Gespräch mit den klassischen Autoren der christlichen und außerchristlichen Traditionen dem Themenfeld der Mystik zuzuwenden. 1911 erschien ihr Werk »Mysticism«, das seit 1928 auch in deutscher Übersetzung weite Verbreitung gefunden hat. 89 Wust nutzt die Lektüre immer wieder für seine philosophischen

W. Schüßler, Zwischen Weisheit und Wissenschaft. Zur Frage nach der Eigenständigkeit der Philosophie, in: M. Koßler / R. Zecher (Hrsg.), Von der Perspektive der Philosophie. Beiträge zur Bestimmung eines philosophischen Standpunkts in einer von den Naturwissenschaften geprägten Zeit (= Boethiana. Forschungsergebnisse zur Philosophie, Bd. 56), Hamburg 2002, 39–54, hier: 49. 87 UW 166. 88 Vgl. dazu Wusts Beitrag »Von Husserl zum Karmel« (1934), in: GW VII, 298–301. – Wust hat diesen Text als intellektueller und geistlicher Weggefährte Edith Steins anlässlich ihrer ewigen Gelübde als Schwester des Kölner Karmels verfasst. – Vgl. A. Huning (Hrsg.), Edith Stein und Peter Wust. Von der Philosophie zum Glaubenszeugnis, Münster 1969. 89 Vgl. GW IV, 450 Anm. 24; UW 201 Anm. 103. 86

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Arbeiten. 90 Sein Interesse besteht nicht zuletzt darin, einen Beitrag zur philosophischen Rehabilitierung mystischer Erfahrungen zu leisten. 91 Die Systematik Underhills übernimmt Wust, doch geht es ihm nicht um den letztgültigen dogmatischen Anspruch einer bestimmten Mystik-Konzeption. 92 Ihn beeindruckt vor allem die größere phänomenologische Präzision dieser »feinen Interpretin der mystischen Welt« 93. Bei der von ihr vorgeschlagenen »fünffachen Gliederung dieses mystischen Weges« kommt es Wust darauf an, dass diese »den inneren Tatsachen am meisten entspricht« 94. In den von Underhill herausgearbeiteten fünf Stadien sieht er jedoch »nur ungefähre Meilensteine auf dem wechselreichen Wege des mystischen Vollendungsprozesses«. 95 Zu diesen »inneren Tatsachen« gehört für ihn gegen Ende seines Hauptwerkes »Ungewißheit und Wagnis« die »Periodizität von Gottesnähe und Gottesferne«. 96 Dazu gehört die geistlichmystische Erfahrung, »daß auch der einzelne auf seinem Heilswege begriffene Mensch in dem Maße tiefer in das Halbdunkel des übernatürlichen Bereiches hineingelangt, je näher er an das Ziel seiner inneren Vollendung herankommt.« 97 Als temporäre Symptome zählt Wust »depressive Abspannungsreaktionen« sowie das »Phänomen tiefster seelischer Niedergeschlagenheit« auf. 98 Mit dieser Einsicht tritt Wust den Projektionstheoretikern unter den Religionskritikern entgegen: Glaube und Mystik sind keine eskapistischen Ausflüchte in eine illusionäre Geborgenheit. Im Gegenteil: Auf dem mystischen Vgl. den Brief Wusts an den Publizisten und Hochland-Herausgeber Carl Muth, in: GW X, 412 f. 91 Vgl. GW VII, 86: »Wenn man überhaupt heute solche Bücher, wie das von Joseph Bernhart oder das von Evelyn Underhill über die Mystik liest, dann will einem die Schamröte zuweilen ins Gesicht steigen über die erschreckende Werterblindung dieses Zeitalters, das sich nicht genug tun konnte in langen Debatten über das Wesen der Realität und doch eigentlich in all diesen so wortreichen Diskussionen nur leeres Stroh gedroschen hat, weil es das Realitätsgebiet der großen Mystiker ganz ruhig unter dem Schutt der Aufklärung begraben sein ließ.« 92 Vgl. GW VII, 108: »Man hat sich viel über die Einzelstadien dieses mystischen Weges hin und her gestritten. Und dabei konnte man sich nie über die Zahl der Stufen einigen, die hier zu unterscheiden sind. Die einen nahmen drei Stufen, andere sieben, gewisse östliche Mystiker, die dem Pantheismus zuneigten, sogar acht Stufen.« 93 Ebd. 94 Ebd. 95 UW 160. 96 UW 158 f. 97 UW 158. 98 UW 162. 90

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Weg verschärft sich die Erfahrung der Ungeborgenheit. Diese besteht darin, dass dem Menschen »aller Grund und Boden überhaupt unter den Füßen weggezogen zu werden scheint«. Der mystische Weg führt nicht zur schnellstmöglichen Vertröstung, sondern auf den Umweg der abgründigen Erfahrung, »sich völlig im Leeren und Grundlosen zu befinden« 99. Umgekehrt ist der »mystische Weg« aus seiner Sicht weder eine Einbahnstraße noch eine Sackgasse, sondern eine Erfahrung der Transzendenz, in der die Subjekt-Objekt-Spaltung überwunden wird. Andere Konzepte verwenden dafür den Terminus »Meditation«. Wust beschreibt solche Erfahrungen mit dem Schlüsselbegriff der Stille und unterstreicht mit dem letzten Satz seines Hauptwerkes das »von einer tiefen Erfahrung zeugende Wort Goethes: ›Wenn du stille wirst, wird dir geholfen.‹« 100 Für den Menschen als homo viator ist die Stille der entscheidende Torweg, 101 der zur inneren Mitte führt. 102

4.

Theologische Koordinaten: Pilgerschaft und Heimkehr

Dass Wust das Orientierungsbedürfnis des homo viator mit den Deutungsangeboten der christlichen Tradition verbindet, ist von verschiedenen Seiten als Absage an die Ansprüche eines genuin philosophischen Denkens kritisiert worden. So beanstandet der Wust-Schüler Karl Delahaye an der Metaphorologie seines Lehrers, dass in ihr die

UW 162. UW 190. 101 Vgl. M. Röbel, »Überall habe ich Fiasko gemacht.« Hiob als Schlüsselfigur zur Biographie und Philosophie Peter Wusts, in: W. Schüßler / M. Röbel (Hrsg.), Hiob – transdisziplinär. Seine Bedeutung in Theologie und Philosophie, Kunst und Literatur, Lebenspraxis und Spiritualität (= Herausforderung Theodizee: Transdisziplinäre Studien, hrsg. von W. Schüßler und H.-G. Janßen, Bd. 3), Berlin 2013, 277–300. 102 Wust gebraucht nicht den Terminus »Meditation«. Seine Schilderungen sind gleichwohl mit den »Übersetzungsversuchen« Dürckheims vergleichbar, der die westliche und die asiatische Tradition verbinden wollte. Vgl. K. Graf Dürckheim, Weg der Übung. Geschenk der Gnade. Frankfurter Vorträge Bd. 1, mit einem Vorwort von H. M. Enomija-Lassalle, hrsg. von C. Well, Aachen 1988, 99. – Dürckheim nimmt die Spur Meister Eckharts in seine Reflexionen auf, für den Meditation etwas anderes meint als eine Konzentrations- oder Entspannungsübung. Vgl. ebd., 189: »Wir müssen immer wieder sagen: Meditation kommt von meditari, d. h. zur Mitte hingegangen werden. Man kann nicht nur sagen: Ich meditiere etwas. Man müsste auch sagen: Ich werde von etwas meditiert.« 99

100

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»angebotene eigene Lösung« vorweggenommen werde. 103 Als Beispiele dafür nennt er für Wust typische Formulierungen wie »heimatlos« oder »Sehnsucht«, die ja die »Heimat« bzw. die »Erfüllung« der Sehnsucht zumindest implizieren. 104 Ist Wusts Philosophie noch eine Anwältin des »ursinnfragenden Denkens« des Menschen? 105 Oder vertritt der »Philosoph von Münster« einen christlichen Standpunkt, der aufgrund einer vermeintlichen Offenbarungsgewissheit von vornherein alles weiß? An dieser Stelle sei die Gegenfrage erlaubt: Macht die Thematisierung der menschlichen Heimatsuche, die zum homo viator gehört, einen Philosophen bereits zum christlichen Apologeten? Es könnte einem an dieser Stelle Ernst Bloch in den Sinn kommen, dem man Tendenzen dieser Art wohl kaum wird nachsagen können. Bloch lässt seine Untersuchung »Das Prinzip Hoffnung« mit dem vielzitierten Satz ausklingen: »Hat er [sc. der Mensch] sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.« 106 Die unterschiedlichen weltanschaulichen Prämissen bei Bloch und Wust sind in diesem Zusammenhang nicht so entscheidend wie der gemeinsame Bezugspunkt: die Suchbewegung des metaphysisch obdachlos gewordenen homo viator. Bei aller Grenzoffenheit seiner Philosophie für die Antworten der christlichen Offenbarungstheologie hält Wust konsequent am Weg-Charakter des Denkens fest: Sogar im Raum der Gottesfrage bleibt bei aller metaphysischen Evidenz ein letzter »Rest von Ungewißheit« 107. Der Mensch als animal insecurum ist auch als homo religiosus das »Sucherwesen überhaupt« 108, das »Pilgerwesen schlechthin« 109. Mit dem Bild der Pilgerschaft nimmt Wust einen Topos der christlichen Spiritualität auf, der auch in anderen Traditionen in einer großen wirkungsgeschichtlichen Linie steht. Dazu einige grundsätzliche Bemerkungen: In seine »kleine Philosophie des Gehens« hat

GW VIII, 126. Ebd. 105 P. Wust, Der Mensch und die Philosophie (s. Anm. 1), 81. 106 E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung. In fünf Teilen, Kap. 43–55, in: Ders., Gesamtausgabe in 16 Bänden, Bd. 5, Frankfurt a. M. 1977, 1628. 107 GW VI, 483. 108 GW VI, 150. 109 Ebd. 103 104

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Frédéric Gros auch eine Besinnung über das Pilgern aufgenommen. 110 Er übersetzt den klassischen Begriff der »peregrinatio« mit »der Ausländer, der Mitbürger« und leitet daraus die Einsicht ab: »Der Pilger ist ursprünglich nicht jemand, der an einen bestimmten Ort (Rom, Jerusalem und so weiter) geht, sondern in erster Linie einer, der da, wo er umherzieht, nicht zu Hause ist.« 111 Der Pilger, wie Gros ihn zu Recht charakterisiert, ist in religionsgeschichtlicher Perspektive »eine konkrete, historische Gestalt mit einem bestimmten Status«. Aber er ist zugleich eine »Metapher für die Conditio humana«. 112 Das gilt sowohl für die philosophische als auch die geistliche Pilgerschaft Wusts. Mit dem Bild des Pilgerns begibt sich Wust als Verfasser von »Ungewißheit und Wagnis« auf das Feld der religiösen Erfahrung, ohne den philosophischen Ausgangspunkt aus dem Blick zu verlieren. Wust ist kein Existenzdenker, der seine eigene Glaubensüberzeugung mit philosophischen Ornamenten garniert. Vielmehr ist umgekehrt auch sein Selbstverständnis als gläubiger katholischer Christ durchdrungen von der Grundeinsicht seiner Existenzphilosophie, die das bleibende Unterwegssein des Menschen und auch der Kirche betont. Das unterscheidet ihn wohltuend von der dogmatischen Selbstgewissheit der neuscholastischen Apologetik seiner Zeit, aber auch von fundamentalistischen und traditionalistischen Strömungen in unterschiedlichen religiösen Kulturen des 21. Jahrhunderts: Eine Religionsgemeinschaft, die sich selbst am Ziel wähnt, hat den homo religiosus als homo viator verfehlt. Wust zufolge bleibt der Mensch auch im Raum des Glaubens und der Kirchlichkeit bei aller Offenbarungsgewissheit prinzipiell ungesichert. Oder positiv gewendet: Er bleibt auf »dem Wege der Pilgerschaft« 113. Damit war Wust aus katholisch-theologischer Sicht seiner Zeit voraus. Der Philosoph kann vielleicht nicht im expliziten Sinne ein Vordenker des Zweiten Vatikanischen Konzils genannt werden, doch sollte der von 110 Vgl. F. Gros, Unterwegs. Eine kleine Philosophie des Gehens. Übers. von U. Schäfer u. M. Bayer, München 2010, 117–130. 111 Ebd., 117. 112 Ebd., 120. – Gros präzisiert diesen Status am Beispiel der mittelalterlichen Frömmigkeit: »Im gesamten Mittelalter war der Pilger bekanntlich eine konkrete, eigene Figur. Er hatte einen bestimmten rechtlichen Status. Man nahm diesen offiziell, rituell, öffentlich an, bei einer sehr feierlichen Messe, nach der der Bischof die traditionellen Attribute des Wallfahrers [sc. den Pilgerstab, den Pilgerbeutel aus Tierhaut, den breitkrempigen Pilgerhut] segnete.« 113 UW 151.

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ihm betonte Aspekt der Pilgerschaft auch die Terminologie dieses Pastoralkonzils prägen. Das Konzil überträgt die biblische Vorstellung der Pilgerschaft des Menschen wie des ganzen Gottesvolkes 114 auf die Kirche. 115 Die Aussagen sind wohl auch als Ergänzung zu jenem Kirchenverständnis zu lesen, das Pius XII. mit der Enzyklika »Mystici Corporis« 116 grundgelegt hatte. Wurde dort eher die Fülle der Gottesgegenwart in der sichtbaren Kirche betont, kommt im Bild der pilgernden Kirche 117 ergänzend ein dynamischer Aspekt zum Ausdruck: Die Kirche ist eine pilgernde Fragegemeinschaft, die als »das neue Israel, das, in der gegenwärtigen Zeit einherziehend, die kommende und zwar bleibende Stadt sucht.« 118 Ein Schlüsselsatz aus »Ungewißheit und Wagnis« liest sich beinahe wie eine Vorwegnahme solcher Konzilsaussagen, die das Unterwegssein der Kirche und des Menschseins betonen: Der lebendige Glaube an das Ewige Wort, an Christus und die Kirche mag noch so felsenfest sein, er wird trotzdem niemals die Seele auf ihrem inneren Wege zu Gott von den Anfechtungsmöglichkeiten befreien, die nun einmal zum Schicksal der irdischen Pilgerschaft gehören. 119

Wusts Hinweis darauf, dass die bleibenden »Anfechtungsmöglichkeiten« auch im Raum der Religion zum Unterwegssein des Menschen gehören, belegen den existentiellen Stimulus seiner gesamten Philosophie, seiner christlichen Weltsicht und seines Kirchenbildes. Die Suchbewegung, das »beständige Unterwegssein« 120, hört auch für diejenigen nicht auf, die eine Beheimatung in der christlichen Tradition oder einer anderen Offenbarungsreligion gefunden haben. Das sei abschließend mit einer letzten literarischen Rückblende verdeutVgl. Gen 12,1 ff., Ex 3,7 ff., Dtn 26,5 ff. Vgl. Dogmatische Konstitution »Lumen Gentium« (= LG), in: H. Denzinger, Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum. Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. LateinischDeutsch, erweitert, übers. u. hrsg. von P. Hünermann, Freiburg i. Br. 402005 (= DH), 4101–4179, hier: 4121 = LG 8. 116 Vgl. Papst Pius XII., Enzyklika »Mystici Corporis« vom 29. Juni 1943, in: DH 3800–3822. 117 Zum Begriff der »pilgernden Kirche« vgl. LG 14 (DH 4136–4138), LG 21 (DH 4145). 118 LG 9 (DH 4124). 119 UW 147. 120 UW 177. 114 115

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licht: Wusts Einsichten decken sich auch in dieser Hinsicht mit den beinahe schon phänomenologisch zu nennenden literarischen Analysen Huysmans. Der Autor von »En Route« hat sich mit seinem eingangs erwähnten Protagonisten Durtal, der Zentralfigur seiner Roman-Tetralogie, ein literarisches alter ego geschaffen, an dem sich glaubensbiographische Spannungsbögen ablesen lassen. Dass es sich bei Durtals Bekehrung trotz ihrer Plötzlichkeit nicht um ein punktuelles Ereignis handelt, wird an der Architektur des Romanzyklus deutlich. Durtals Hinwendung zur Kirche wird nicht als ein ein für allemal erreichtes Ziel beschrieben, sondern als ein labyrinthischer Weg mit etlichen Stationen. Am Anfang steht das Staunen Durtals über den eigenen Perspektivenwechsel: Wie war er wieder katholisch geworden, wie war es so weit mit ihm gekommen? Und Durtal gab sich die Antwort: Ich habe keine Ahnung, alles, was ich weiß, ist, dass ich, nachdem ich jahrelang ungläubig gewesen war, plötzlich glaube. 121

Doch ist damit die innere Reise des Neubekehrten noch längst nicht an ihr Ende gekommen. Niklas Bender skizziert die oszillatorischen Ausschläge dieser Suchbewegung in einer Rezension folgendermaßen: Durtal hat erst satanistische Tendenzen (›Tief unten‹, 1891), konvertiert dann zum Katholizismus (›Unterwegs‹, 1895), zweifelt jedoch weiter (›Die Kathedrale‹, 1898), bis er zu einem gottergebenen, halb mönchischen Leben findet (›Der Oblate‹, 1903). 122

Zurück zu Wust: Was könnten die Reflexionen des Philosophen und bekennenden Katholiken Wust in der heutigen Kirchensituation bedeuten? Der tschechische Priester, Philosoph und Soziologe Tomáš Halík verwendet ähnlich wie Wust das Motiv der Pilgerschaft für 121 J.-K. Huysmans, Unterwegs (s. Anm. 2), 32. – Vgl. dazu die autobiographische Schilderung Wusts in: K. Pfleger, Dialog mit Peter Wust. Briefe und Aufsätze, Heidelberg 1949, 84: »Ich war wie verwandelt. Aber erst in den Ostertagen von 1923 trieb es mich eines Abends in die Nähe des Domes, dann in den Dom. Und auf einmal (ich weiß selbst nicht wie) kniete ich vor einem Beichtgitter […]. Und seit jenem Abend war alle Skepsis wie weggeblasen. Im Gegenteil: ich griff jetzt mit Freuden zu allen möglichen Dogmatikern und drang immer tiefer ein in jene Welt, die mir so lange verschlossen gewesen war. Seit jenem Abend habe ich nie mehr eine Versuchung gegen den Glauben erlebt.« 122 N. Bender, Auf verstörende Weise überzeugend, in: F.A.Z. Nr. 196 vom 24. August 2019.

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seine ekklesiologischen Standortbestimmungen. Er versucht das Bild einer pilgernden Kirche in den Kontext der postchristlichen Moderne zu übersetzen. Dazu Halík: Vielleicht bedeutet dies [sc. die heutige Situation] auch, dass der andere, sei es ein ›Andersgläubiger‹, ein ›Heide‹, oder ein ›Atheist‹, für mich nicht nur ein ›Objekt meiner Mission‹ ist, dem ich Christus und den Glauben als etwas übergeben kann, was ich – im Unterschied zu ihm – bereits vollständig ›besitze‹. Vielleicht kommt auch in demjenigen, der auf anderen Wegen als ich schreitet, der für mich ein ›fremder Pilger‹ ist, Christus zu mir. 123

Das spannungsvolle Verhältnis zwischen Pilgerschaft und Heimkehr, das sich bei Wust andeutet, findet sich auch in Halíks Kirchenbild: Ohne Zweifel ist die Kirche verpflichtet, zu predigen, zu taufen, Sakramente zu spenden, das zu verschenken, was sie bereits von Christus bekam. Gleichzeitig ist sie aber auch dazu verpflichtet, immer wieder Christus zu suchen, ihn in den anderen zu suchen, ihm wie einem fremden Pilger zu begegnen, unaufhörlich über seine unaussprechliche Größe und über den unerschöpflichen Reichtum zu staunen, der sich in so vielen Inkognitos verbirgt – wir müssen unaufhörlich seine Jünger werden. 124

Für Halík wie für Wust stellt sich die Frage nach der Religionszugehörigkeit und der aktiven Kirchenmitgliedschaft im Horizont ihres existenzphilosophisch geprägten Denkens. Das Hauptthema dieser Denkströmung lässt sich im Anschluss an einen Aufsatztitel Wusts in einem Wort zusammenfassen: Menschwerdung. 125 Wust stellt dieses Stichwort zunächst in einen autobiographischen Rahmen: »Menschwerdung – das ist, man sieht es, schon für einen jeden einzelnen von uns eine Sache, bei der man uralt werden kann, ohne damit fertig werden zu können.« 126 Aber mit weitausholendem Blick auf die antike Tradition des griechischen Dichters Menander oder eines Augustinus, mit Blick auf Michelangelo und Goethe bis zu den eigenen philosophischen Denkbewegungen innerhalb der modernen

123 T. Halík, Theater für Engel. Das Leben als religiöses Experiment, Freiburg i. Br. 2019, 142 f. 124 Ebd., 143. 125 Vgl. P. Wust, Menschwerdung und Menschheitsentwicklung (1930), in: GW VI, 553–559. 126 GW VI, 554.

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Marc Röbel

Philosophie arbeitet Wust die Menschwerdung als epochenübergreifende thematische Konstante der Kultur-, Philosophie- und Religionsgeschichte heraus. Wust fasst die Frage der Menschwerdung nicht nur historisch auf, sondern existentiell: Menschwerdung, ewige Menschwerdung! Es ist ein Thema, für das ich alle meine Lebensjahrzehnte bis jetzt geopfert habe. Zuerst versuchte ich es mit der grenzenlosen Wißbegier, und dann stürzte ich aus der Nacht des anfänglichen Kinderglaubens in die so ganz andere Nacht des Zweifels. Ich wurde Philosoph, um Mensch zu werden. Aber eines Tages entdeckte ich dann, daß man erst Mensch werden müsse, um überhaupt Philosoph werden zu können. Welch unseliger Zirkel also: Wie aber wird man Mensch? 127

Mit der zuletzt zitierten Frage ruft er ein Thema auf, das geradezu die Hauptfrage der Existenzphilosophie genannt werden kann. Als Christ ist er davon überzeugt »Gott selbst habe das Menschwerdungsthema vollendet.« 128 Aber damit ist die Frage nach der Menschwerdung als individuelle oder kulturaufbauende Aufgabe nicht abschließend beantwortet – und auch nicht für eine Kirche, die nach Wusts fester Überzeugung auf den Mensch gewordenen Gottessohn gegründet ist. Das »Urthema der Menschwerdung« haben auch Christen und Christinnen mehr als 2000 Jahre nach Christi Geburt nicht hinter sich, sondern stets vor sich. Diese Einsicht hat an Aktualität und Brisanz keineswegs eingebüßt. Denn in Zeiten abnehmender Ambiguitätstoleranz nimmt die Sehnsucht nach eindeutigen und oft auch eindimensionalen Grundhaltungen und finalen Positionen zu. 129 Für Wust jedoch ist das »›in-via‹-Sein« des Menschen nicht etwa ein anthropologisches Defizit, das abzustellen wäre. Im Gegenteil: Dass der Mensch ein homo viator ist, zeichnet ihn aus. Zwar wird dadurch der Mensch das Wesen der möglichen Umwege, Abwege, Irrwege. Aber es ist eigenartig, daß gerade der Mensch der vielen Umwege und Abwege und Irrwege manchmal in so ganz anderer, in viel tieferer Weise Mensch wird als derjenige Mensch, der immer nur auf dem graden Weg voranschreitet. 130

GW VI, 558. GW VI, 557. 129 Vgl. dazu T. Bauer, Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Stuttgart 2018. 130 P. Wust, Der Mensch und die Philosophie (s. Anm. 1), 80. 127 128

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Das haben an Wusts persönlichem Unterwegssein auch Zeitgenossen schätzen gelernt, die seinem christlichen Denkhabitus mit Ablehnung oder kritischer Sympathie begegnet sind. So lässt etwa Eduard Spranger die fachlichen Gräben und Kontroversen hinter sich und wendet sich mit einigen Gedichtzeilen an den sterbenskranken Peter Wust – kurz bevor dieser sich anschickt als homo viator seine letzte Reise anzutreten: Dank für dein Bild und für Dein Sein. Dein Leid schlägt meinem Herzen tiefe Wunden; Glaube macht es still und ehrfurchtsvoll. Du gehst den Weg, den Er vor Dir gefunden, Den schwersten, den der Mensch vollenden soll. So auserwählt und so gequält – vertraue: Ein stiller Segen quillt aus deiner Not. Das Dunkel senkt sich tief; doch ich erschaue Mit Dir erschüttert Ew’ges – Morgenrot. 131

131 Zit. nach: W. Szostak / E. Blattmann, Eduard Spranger, in: E. Blattmann (Hrsg.), Philosophenbriefe von und an Peter Wust (= Edition Peter Wust [s. Anm. 1], Bd. 4), Berlin 2013, 481–524, hier: 518.

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Florian Mittl

Unterwegs im Lichte einer »Hoffnung, die Gründe nennt«. Der »Homo viator« bei Gabriel Marcel 1.

Vorbemerkungen

In dem Stück Le Palais de Sable muss sich der erfolgreiche Regionalpolitiker Roger Moirans, der sich trotz seines oberflächlichen, auf schöne Symbole reduzierten Glaubens zum Anwalt des Christentums berufen fühlt, schlussendlich die Substanzlosigkeit seines Glaubens eingestehen und fragt seine Tochter Clarisse: »Ich erkenne nun mein damaliges Denken wieder. Aber warum empfinde ich es als so fremd?« Woraufhin ihm Clarisse zur Antwort gibt: »Weil es das Leben durchwandert hat.« 1 Hinter dieser Antwort steht die einerseits banale und andererseits oft vernachlässigte Einsicht, dass Erkenntnis, will sie nicht abstrakt und daher unrealistisch bleiben, nur in der aktiven, dialogischen Zuwendung zu Welt und Mitmenschen geschehen kann. Nur im Durchwandern des Lebens kann die Philosophie Schlüsse ziehen, die dem Menschen in seiner Ganzheitlichkeit gerecht werden und ihn an die Schwelle des Glaubens führen. Der Mensch ist für Marcel wesentlich ein homo viator 2, und seine Philosophie versucht, den Menschen für die ihn transzendierenden Erlebnisse zu sensibilisieren. Auf seiner ständigen Wanderschaft begegnet der Mensch in allem, worauf er »Je reconnais maintenant ma sagesse de jadis; d’où vient qu’elle n’a plus le même regard? – C’est qu’elle a traversé la vie.« (Gabriel Marcel, Le Palais de Sable; zit. nach: Ders., La dignité humaine et ses assises existentielles, Paris 1964, 54) 2 »Unser Los ist letztlich, Wanderer zu sein, die schlechthin nur vermöge einer Fiktion stillstehen können, gegen die jedoch in der entschlossensten Weise anzukämpfen dem philosophischen Denken eigen ist.« (Gabriel Marcel, Geheimnis des Seins. Nachwort von Leo Gabriel, Wien 1952, 183) Das Unterwegssein gehört für Marcel zu den Wesensvollzügen des Menschen, bleibt aber unbestimmt. Er umschreibt mit diesem Begriff die (positive) Grundbefindlichkeit des sich nie selbst Einholenkönnens. Wanderschaft ist Auseinandersetzung mit sich selbst im anderen in jeglicher Form und bedeutet ein unabschließbares Infragestellen und permanentes Offensein auf Transzendenz und Geheimnis (siehe dazu mystère und problème in Kap. 2). 1

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Unterwegs im Lichte einer »Hoffnung, die Gründe nennt«

trifft, letztendlich sich selbst, und diese Begegnung mit sich selbst in seinem jeweiligen So- und Anderssein wird als co-esse wahrgenommen und führt zur Reflexion. Während Marcel zu Beginn seines Schaffens noch vom deutschen Idealismus beeinflusst ist, merkt er bald, dass jegliches Systemdenken zu Abstraktionen führt und der Realität des Lebens nicht gerecht wird. Er weigert sich daher vehement gegen eine Kategorisierung seines Denkens als »Ismus« und gibt nur den Hinweis, dass sein Denken unter dem Zeichen von Sokrates stehe. 3 Marcel bleibt Zeit seines Lebens Suchender und Wandernder, seine Philosophie entwickelt sich langsam und vorsichtig und wird von keinen illegitimen Prämissen vorangetrieben. Diese epistemologische Entscheidung hat zur Folge, dass sein Werk fragmentarisch bleibt und in einer Art »geistigen Landkarte« aufgeschlüsselt werden muss. Sehr schnell tritt jedoch das Ziel dieser Landkarte bzw. der Kulminationspunkt von Marcels Philosophie hervor: die Hoffnung, genauer »eine Hoffnung, die Gründe nennt« 4 und die implizit in seinem ganzen Denken vorhanden ist. So überrascht es auch nicht, dass einer der am häufigsten zitierten Sätze Marcels die etwas eigenartige Formulierung ist: »Einen Menschen lieben, heißt sagen: du wirst nicht sterben.« 5

»Mais enfin, s’il fallait à tout prix se résigner à chercher une étiquette, c’est celle de néosocratisme ou de socratisme chrétien que, pour des raisons évidentes, l’auteur adopterait en fin de compte.« (Gabriel Marcel, Le Mystère de l’Être. I. Réflexion et mystère, Paris 1951, 5) Marcel ist ein existentieller Denker, aber kein Existentialist; das Existentielle ist für ihn wesentlich Intersubjektivität. »Und so würde ich sagen, daß ich wahrscheinlich der existentiellste Denker aller heutigen Philosophen bin, insofern, als für mich das Drama die Existenz wirklich offenbart, d. h. der Andere zur Sprache kommt.« (Gabriel Marcel, Mein philosophisches Testament, in: Siegfried Foelz / Peter Grotzer [Hg.], Gabriel Marcel. Werkauswahl, Bd. III: Unterwegssein, Paderborn u. a. 1992, 324) Im selben Artikel bezeichnet sich Marcel als »Philosophen der Schwelle«, »wandernden Philosophen« und »Wächter« (ebd., 326). – Bei Friedrich Nietzsche findet sich ein ähnliches Ressentiment gegenüber jeglichem Systemdenken: »Ich misstraue allen Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg. Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit.« (Ders., Götzen-Dämmerung, in: Ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bden., hg. von Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Bd. 6, Leipzig 1999, 64) 4 Vgl. die Magna Charta der Fundamentaltheologie in 1 Petr 3,15: »Haltet in eurem Herzen Christus, den Herrn, heilig! Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort [logos im Urtext] zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die euch erfüllt.« 5 Marcel, Geheimnis des Seins (s. Anm. 2), 472. Das Zitat stammt ursprünglich aus: 3

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Als entschiedener Gegner positivistischer Philosophie konzentriert sich Marcel auf die Ebene des Subjekts und sucht im Menschen Spuren und Schnittstellen letzten Sinns. Weit davon entfernt, in einen unbegründeten, freischwebenden Subjektivismus abzudriften, ist für Marcel nur eine stringente Analyse des Subjekts imstande, das subiectum, d. h. das den Dingen Zugrundeliegende, freizulegen. Marcel widmet sich diesem Zugrundeliegenden im Rahmen einer innovativen Phänomenologie 6, welche gerade über teilweise banal erscheinende Beispiele aus dem Alltag die ontologischen Implikationen menschlichen Daseins herausfiltert. Ausgehend von seiner grundsätzlichen Unterscheidung von Haben und Sein entwickelt Marcel weitere Begriffspaare, die im Folgenden kurz erläutert werden sollen, um abschließend zu zeigen, inwiefern diese phänomenologisch erhobenen Begriffspaare in die Schlüsselkategorie der Hoffnung münden. Hoffnung kann idealerweise erfahren werden als Akt, der in seiner schöpferischen Kraft die Gegenwart auf Zukunft hin verändert.

2.

Vom Haben zum Sein

a)

Der Körper als Zugang zur Welt

Vor dem Hintergrund des homo viator ist der Ausgangspunkt von Marcels Denken ein »Bewegungselement«, nämlich der Leib bzw. die Leiblichkeit. Im Leib kann auf eindrucksvolle Weise gezeigt werden, dass – im Gegensatz zum Befund der »Reflexionsphilosophie« des 19. und frühen 20. Jahrhunderts – Subjekt und Objekt vereint und nicht scharf getrennt sind.

Gabriel Marcel, La Mort de demain, in: Ders., Trois Pièces: Le Regard neuf, Le Mort de demain, La chapelle ardente, Paris 1931, 161. 6 Marcel hat seine Philosophie in ihren wesentlichen Zügen eigenständig entwickelt. Wichtig für sein Denken waren vor allem Henri Bergson sowie die anfängliche Auseinandersetzung mit dem deutschen und englischen Idealismus. Durch Gemeinsamkeiten mit dem Werk personalistischer Philosophen wie Martin Buber sowie mit den Ansätzen von Søren Kierkegaard, Martin Heidegger und Karl Jaspers fühlt er sich bestätigt und gleichzeitig herausgefordert. Seine Grundeinsichten hat er jedoch weitgehend unabhängig von diesen Denkern formuliert. Vgl. Vincent Berning, Das Wagnis der Treue. Gabriel Marcels Weg zu einer konkreten Philosophie des Schöpferischen, Freiburg/München 1973, 134–150 u. 326–373.

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Marcel versteht das spezifische In-der-Welt-Sein des Menschen als Inkarnation 7, die zunächst als Paradox daherkommt: Der Körper ist kein Objekt, über das man beliebig verfügen kann, aber er ist auch nicht vollständig kongruent mit dem Selbst. Der Körper kann verobjektiviert und mit anderen Körpern verglichen werden, aber er wird immer ein spezifischer Körper bleiben. Er reagiert manchmal nicht so, wie man will, kann trainiert werden und dadurch neue Fähigkeiten entwickeln, reagiert mit Reflexen auf seine Umwelt etc. Der Körper ist weder Instrument noch Entität und befindet sich daher zwischen den beiden Dimensionen des Habens und des Seins. Inkarnation: Situation eines Wesens, das sich leibhaftig erscheint. Eine Gegebenheit, in sich selbst undurchsichtig: Opposition zum cogito. Von diesem Körper kann ich weder sagen, ob er mein Ich ist, noch ob er nicht mein Ich ist, noch ob er für mich ist (Objekt). Mit einem Schlag ist hier der Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt transzendiert. 8

Wird der Körper als Objekt, als Ding unter anderen betrachtet, erhebt sich das Problem der Verbindung des Ich mit seinem konkreten Körper – die Intimität geht verloren, der Körper wird reduziert auf etwas, über das man verfügen kann; er dient als Instrument. Wer besitzt aber in diesem Fall »meinen« Körper? Letztlich ist sich das Selbst nicht transparent; zwar verfüge ich über eine gewisse Befehlsgewalt über meinen Körper, allerdings ist der Ausführende meiner Handlungen wiederum mein Körper bzw. mein Selbst als Einheit von Körper und Geist. Die Lösung für dieses banal erscheinende aber aussagekräftige Problem liegt laut Marcel im besonderen Eingebettetsein des Menschen in die Welt. Die Vernunft stößt angesichts des fundamentalen Paradoxons von angestrebter Einheit bzw. Autonomie und wahrgenommener Differenz an ihre Grenzen. Um diesem Subjekt-ObInkarnation hat bei Marcel keine theologische Konnotation, sondern beschreibt als Anthropinum das Faktum, auf mannigfache Weise an der wiederum vielfältigen Realität teilzuhaben. »Es geht hier nicht um das In-die-Welt-Kommen unseres Herrn, sondern um den unendlich geheimnisvollen Akt, durch den eine Wesenheit Leib wird, um jenen Akt, um den bereits die Meditation eines Platon sich kristallisiert, und den die modernen Philosophen nur darum nicht mehr ihrer Aufmerksamkeit würdigen wollen, weil sie die wesentliche Gnade der Intelligenz, nämlich die des Staunens, verloren haben.« (Gabriel Marcel, Homo Viator. Philosophie der Hoffnung, Düsseldorf 1949, 90) 8 Gabriel Marcel, Sein und Haben, Paderborn 21968, 12. 7

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jekt-Gegensatz zu begegnen, entscheidet sich Marcel für einen pathischen Zugang zur Welt über das Phänomen der Inkarnation. Der Körper ist gleichzeitig etwas, das ich habe, und etwas, das ich bin; er ist eine Art Objekt, über das ich sprechen kann und das sich instrumentalisieren lässt, aber er ist auch intrinischer Bestandteil meines Selbst. Es ist demnach weder richtig zu sagen »Ich habe einen Körper«, noch: »Ich bin mein Körper« – ich bin stets mehr als mein Körper. 9 Der Körper als Zugang zur Welt ist nie bloß passives Instrument, sondern der Nexus, der das Selbst mit der Welt verbindet. In Bezug auf den Prozess der Wahrnehmung heißt das, dass diese keinen objektiven Ablauf darstellt, in dem eine Information von einem Sender (dem Objekt) zu einem Empfänger (das Selbst) geschickt und von diesem übersetzt wird, sondern stets ein Akt ist. Marcel schlägt vor, vom »nicht-mediatisierbaren Unmittelbaren« 10 zu sprechen. Wäre der Körper bloß Instrument der Mediation einer objektiven Botschaft, würde er sich gewissermaßen zwischen das Subjekt und die Welt schieben und wäre somit Ausdruck essentieller Passivität. Wahrnehmung transzendiert jedoch die gewöhnliche Opposition von Passivität und Aktivität, da sie beides zugleich ist. Die Welt, an der ich teilhabe, kreiert mich gleichzeitig, insofern sie mich berührt und auf mich einwirkt. Das Selbst ist niemals gegeben, sondern muss in der ständigen Auseinandersetzung mit Alterität in verschiedenster Form dechiffriert werden. Die Reflexion der »hybriden« Existenz des Körpers zwischen Haben und Sein, zwischen Innen und Außen gibt den Weg frei für ein Feld von Begriffspaaren 11, welches wesentlich zwei Ordnungen erkennen lässt, nämlich eine triadische und eine dyadische. Die triadische Ordnung ist jene des Positivismus, der Verifizierbarkeit und der Austauschbarkeit. Laut dieser Ordnung kann dann von Objektivität bzw. Wahrheit gesprochen werden, wenn ein Subjekt A, das eine bestimmte Aussage über ein Objekt X tätigt, von einem Subjekt B »Und hiermit werden wir auf den Körper und auf die Körperlichkeit zurückgeworfen. Das primäre Objekt, das typische Objekt, mit dem ich mich identifiziere, und das sich mir dennoch entzieht, ist mein Körper. Es ist, als ob wir hier gleichsam im geheimsten und tiefsten Verließ des Habens ständen. Der Körper ist der typische Fall für das Haben. Und dennoch …« (Marcel, Sein und Haben [s. Anm. 8], 175). 10 Vgl. Marcel, Geheimnis des Seins (s. Anm. 2), 154. 11 Die zwei wesentlichsten Begriffspaare als Folge der primären Unterscheidung von Haben und Sein sind die im Folgenden beschriebenen problème – mystère und abstraction – présence. 9

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ersetzt werden kann, welches die Aussagen von Subjekt A bestätigt (bzw. gegebenenfalls widerlegt). Diese Technik der Austauschbarkeit führt folgerichtig zur Entpersonalisierung des Subjekts. Das Subjekt bedarf stets des Urteils eines anderen, welches im Kontext exakt gleicher (objektiver) Parameter gefällt werden kann. Die triadische Form des Denkens ist das »Denken überhaupt […], in der Sprache Heideggers: das Man.« 12 Das »Denken überhaupt« funktioniert jedoch nicht in Domänen, die sich nicht von objektiven Konstituenten beschreiben lassen; ist der Mensch in seiner Ganzheitlichkeit betroffen (wie etwa im Bereich der Liebe), scheitert der Austausch. Ein Subjekt kann in diesem Fall nicht von einem anderen ersetzt werden und ist nicht von dieser Situation zu trennen, denn »das Wesen des Menschen [ist es], in der Situation zu sein« 13. Während das triadische Denken nur partikulare Wahrheiten erkennen kann, öffnet sich dem dyadischen Denken die Wahrheit als integrales Phänomen. »Nicht durch bloßes Schauen, sondern durch Teilhabe empfange ich das Geschenk der Seinsfülle.« 14 Ist das Subjekt emotional ergriffen, ereignet sich existentieller Lebensvollzug. Die Wahrheit, von der Marcel als »ExistenzMarcel, Geheimnis des Seins (s. Anm. 2), 300. Gabriel Marcel, Schöpferische Treue, Paderborn 1963, 85. Es ist zwar auch im Bereich der Liebe der Fall vorstellbar, dass eine Person Ratschläge bezüglich des »Objekts« seiner Liebe erhält, allerdings werden diese Ratschläge immer auf einer anderen Ebene wahrgenommen werden, da zunächst der existentielle Vollzug der Liebe dominiert und Kategorien enthält, die nicht vermittelt werden können – man kann einer dritten Person nicht erklären, warum man eine Person liebt, trotz aller »offensichtlich unakzeptablen« Probleme und Schwierigkeiten, die diese konkrete Person eventuell mit sich bringt. Die Idee des In-der-Situation-Seins des Menschen ist der eidetischen epoché Husserls diametral entgegengesetzt. »D’abord, et fondamentalement, l’être impliqué exclut la prise de distance caractéristique de la réduction et la promotion d’un ›spectateur désintéressé‹, qui serait le sujet même de la phénoménologie. […] L’opposition du dehors et du dedans perd d’un seul coup sa signification; et, avec cette opposition, un trait fondamental de l’intentionnalité husserlienne, la corrélation même du noématique et du noétique, est remise en question.« (Paul Ricœur, Gabriel Marcel et la phénoménologie, in: Jeanne Parain-Vial / Paul Ricœur [Hg.], Entretiens autour de Gabriel Marcel, Neuchâtel 1976, 58) 14 Vincent Berning, G. Marcel: Die Metaphysik der schöpferischen Treue, in: Josef Speck (Hg.), Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie der Gegenwart V, Göttingen 1982, 213–253, 217. Die Kategorie der Teilhabe (participation) spielt eine große Rolle im Marcelschen Denken. Ursprünglich von Platons im Dialog Sophistes entwickelten und auf eine Symbiose von Herakliteismus und Eleatismus abzielenden Dialektik inspiriert, übersteigt Marcel diese »zu rationalistische« Sicht der Teilhabe mithilfe der Kategorie der Intersubjektivität. Vgl. Berning, Das Wagnis der Treue (s. Anm. 6), 53–56. 12 13

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philosoph« spricht, macht nur Sinn, wenn sie Existenz berührt und verändert. Es geht Marcel daher um die Rückbesinnung auf das Bewusstsein über eine deskriptive Analyse des Erlebens. Diese Rückführung dient laut Marcel dem Aufweis wiederum unrückführbarer emotionaler Gegebenheiten, die für das Subjekt konstitutiv sind. Marcel nennt seine Methode auch »hyperphänomenologisch« 15, da sie im Aufzeigen des Unrückführbaren im Menschen für die Möglichkeit eines transzendierenden Rufes sensibilisieren will. Das existentiell-konkrete Denken Marcels will seine Leser zur Verinnerlichung ihrer Existenz führen; über das Verstehen abstrakter Begriffe hinaus geht es um ein emotionales Erfassen im Denken, das in weiter Folge auch zum Glauben führen kann. Glaube spielt sich auf subjektiver (nicht subjektivistischer) Ebene ab – es ist empirisch nicht nachprüfbar, ob und wie der Glaubende glaubt und wie das Verhältnis zu der Wahrheit, die ihn in seiner Lebenspraxis bestimmt, aussieht.

b)

Problem und Geheimnis

Die Unterscheidung von Haben und Sein mündet in jene von Problem und Geheimnis (mystère). Mit dem Begriff des mystère betont Marcel das Faktum der nicht vollständig zu versprachlichenden Partizipation des Menschen an der ihn umgebenden Welt. Dem steht das »Problem« als Hindernis gegenüber, welches dem Menschen äußerlich bleibt und gelöst werden muss. Unterscheidung zwischen Mysterium und Problem. Das Problem ist etwas, auf das man stößt, das einem den Weg versperrt. Es steht mir in seiner Ganzheit gegenüber. Im Gegensatz dazu ist das Mysterium etwas, bei dem ich mich selbst engagiert fühle; sein Wesen steht mir folglich nicht restlos gegenüber. Es ist, als ob in dieser Zone die Unterscheidung des in mir und vor mir ihre Bedeutung verlieren würde. 16

Es liegt in der Natur der positivistischen Wissenschaften, sich mit Problemen auseinanderzusetzen. »Ein wissenschaftliches Problem erhebt sich in einem bestimmten Augenblick der Forschung; es ist Marcel, Sein und Haben (s. Anm. 8), 152. Hans Urs von Balthasar denkt ähnlich, wenn er in Anlehnung an Peter Henrici davon spricht, dass die »Meta-physik« von einer »Meta-anthropologie« abgelöst worden ist. Vgl. Hans Urs von Balthasar, Prüfet alles, das Gute behaltet. Ein Gespräch mit Angelo Scola, Freiburg/Br. 22001, 24. 16 Marcel, Sein und Haben (s. Anm. 8), 108. 15

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etwas, gegen das der Geist stößt wie der Fuß gegen einen Stein.« 17 Probleme werden in sich selbst gesehen und vom Gesamtzusammenhang des Lebens abstrahiert, während der Mensch im mystère gleichzeitig auch selbst engagiert ist. Die Unterscheidung zwischen einem »in mir« und einem »vor mir« hat hier keinen Sinn mehr. Das mystère übersteigt die Ordnung des Problematischen; es ist das »Metaproblematische« 18. Das Metaproblematische setzen, heißt den Primat des Seins vor der Erkenntnis denken, und zwar, wie Marcel ausdrücklich unterscheidet, nicht den Primat des von mir bejahten Seins, sondern des Seins, das sich bejaht. Die Erkenntnis ist in das Sein eingetaucht, und wurzelt in einer präobjektiven Teilhabe, die nicht zu verifizieren ist, denn sie ist ein Mysterium, so wie die Totalität von Leib und Seele in ihrer nur fühlbaren Einheit ein der Analyse widerstrebendes Mysterium ist. In ihm drückt sich die Gegenwart meiner selbst mir gegenüber aus. 19

Das griechische Präfix »my« (staunen) 20 verweist auf die besondere Dimension des mystère und stellt dem Kontrollierbarkeitswahn des Habens (in der Diktion Nietzsches: des Willens zur Macht) die (ontologische) Demut als angemessene Haltung gegenüber. Das mystère bleibt immer unfassbar, kann aber ein Stück weit partizipativ miterfahren werden. Die sich vor dem Horizont des mystère ereignende Erfahrung der Intersubjektivität führt zum Bewusstwerden der ontologischen Teilhabe, welche Erkenntnis produziert. Das Wesen der Geschöpfe ist ihr Mitgeborensein aus dem einen Sein; Empfinden ist wesentlich Kommunikation. 21 Für Marcel liegt der privilegierte Einfallsort der Transzendenz an der Schnittstelle zwischen Problem und mystère. Der Mensch, der sich sogar selbst immer ein wenig fremd bleibt, Ebd., 110. Ebd., 121. 19 Berning, Das Wagnis der Treue (s. Anm. 6), 250. Vgl. auch Gabriel Marcel, Positions et approches concrètes du mystère ontologique, Louvain 1949, 57: »Un mystère c’est un problème qui empiète sur ses propres données, qui les envahit et se dépasse par là même comme simple problème.« 20 »Die Wurzel my meint das Schließen der Augen oder des Mundes: Reaktion auf eine Erfahrung, die sich dem diskursiven Denken entzieht, mit Worten nicht formulierbar ist.« (Franz-Josef Nocke, Allgemeine Sakramentenlehre, in: Theodor Schneider [Hg.], Handbuch der Dogmatik, Bd. 2, Düsseldorf 32006, 188–225, 190) 21 In der Diktion Paul Claudels: »connaissance est co-naissance« (Ders., Mémoires improvisés. Récueillis par Jean Amrouche, Paris 1954, 195) 17 18

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muss sich eingestehen, an etwas Größerem Teil zu haben – das Verlangen nach Transzendenz äußert sich hier aufs Intensivste und wandelt sich zum Anruf, der von jenseits des Kreises ergeht, den ich mit Menschen meinesgleichen bilde, denen ich diesseits jeder Reflexion das Recht zubilligen zu können vermeinte, über mich zu urteilen. Mit einem Satze stehen wir am äußersten Rande des Gegenstandes […]. Dieser Anruf ist super-empirisch, er ergeht jenseits aller Erfahrung an den Einen, der nur als absolutes Du betrachtet werden kann, als letzte Zuflucht für den ruhelosen Menschengeist. 22

Verständnis ist nur von Anderen her möglich; das konkrete und vollständige Selbstbewusstsein ist nicht heauto-zentrisch, sondern hetero-zentrisch 23 und kann an die Schwelle zum absoluten Du Gottes führen.

c)

Abstraktion und présence

Die nächste Stufe auf Marcels Weg ist die Gegenüberstellung von Abstraktion und présence 24 (Gegenwärtigkeit). Présence zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass sie nicht in den Kategorien von Raum und Zeit zu verstehen ist – unter Umständen kann eine Person, die sich mit einem anderen Menschen im selben Raum befindet, diesem viel weniger gegenwärtig sein als eine dritte Person, die sich etwa im Ausland aufhält oder sogar bereits verstorben ist. Gegenwärtigkeit ist spürbar und bereichert; eine Beziehung oder ein bloßes Gespräch, in dem die Dimension der Gegenwärtigkeit fehlt, gleicht einem bloßen Austausch von Informationen von Sender A zu Empfänger B und umgekehrt. Was verstehe ich also hier unter Gegenwärtigkeit, die dem im Zimmer Anwesenden mangelt? […] Die grobstoffliche Verbindung von ihm zu mir ist sichergestellt, allerdings nur diese, durchaus vergleichbar jener, die zwischen zwei Stationen hergestellt werden kann, einem Sender und einem Empfänger. Und doch – das Wesentliche fehlt. Es ließe sich Ebd., 206 f. Vgl. Marcel, Geheimnis des Seins (s. Anm. 2), 303. 24 Vgl. ebd., 263 ff. Gleichzeitig muss man jedoch aufgrund der wesentlichen Unhintergehbarkeit des mystère immer wieder auf die Ordnung des Problematischen zurückgreifen, um in der Annäherung fortschreiten zu können. 22 23

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sagen: eine Verbindung ohne Verbundensein – und damit eben eine wesenlose Verbindung. Der andere vernimmt unzweifelhaft die Worte, die ich spreche, mich selber aber vernimmt er nicht. Und ich kann sogar den äußerst peinlichen Eindruck haben, mich in meinen Worten, wie er sie mir wiedergibt, wie sie sich in ihm spiegeln, nicht wiederzuerkennen. Zufolge eines seltsamen Phänomens schiebt sich der andere so zwischen mich und meine eigene Wirklichkeit, er entfremdet mich gewissermaßen mir selbst, ich bin nicht wahrhaft ich, wenn ich mit ihm bin. Hingegen kann es zufolge eines umgekehrten Phänomens geschehen, daß mich der andere innerlich sozusagen erneuert, wenn ich ihn gegenwärtig fühle. Solche Gegenwärtigkeit macht mich mir selber offenbar, denn sie macht mich reicher, als ich ohne sie wäre. 25

Gegenwärtigkeit kann nicht besessen oder begriffen, sondern nur angenommen und willkommen geheißen werden. Wo sie sich ereignet, hat sie erkenntnistheoretischen Wert (»sie macht mich mir selber offenbar«); in ihrer Karrikatur jedoch, wenn ich bewusst oder unbewusst missverstanden werde, »entfremdet sie mich gewissermaßen mir selbst«. Der Versuch des »Denkens überhaupt«, d. h. das Operieren mit Begriffen mit Allgemeingültigkeit, welche in den positiven Wissenschaften stets gesucht werden, hat für den Philosophen keinen Wert, da er immer von Erfahrungen auszugehen hat, die nicht beliebig (etwa in einer Laborsituation) wiederholt werden können. Dass présence immer einen wesentlich intersubjektiven Charakter hat, expliziert Marcel weiter anhand der Musik 26: Das Hören einiger Takte einer bestimmten Musik kann zum begeisterten Ausruf »Das ist Fauré!« führen. Auch wenn das Stück selbst für den Zuhörer neu ist, führt die von Fauré erzeugte und bekannte (da bereits mehrmals erfahrene) Gegenwärtigkeit sofort zu einer Vertrautheit zwischen dem Künstler und seinem Publikum – der Künstler ist diesem selbst über den Graben von Raum und Zeit hinweg präsent. Obwohl nie ein Treffen stattgefunden hat und Fauré den weitaus größten Teil der seiner Musik Zugetanen nicht einmal zu Lebzeiten wahrgenommen hat, kann für diese doch das Gefühl entstehen, ihn zu »kennen«. Gänzlich anders stellt sich jedoch der Sachverhalt bei dem Versuch dar, diese Gegenwärtigkeit anderen (mit Fauré nicht vertrauten PerMarcel, Geheimnis des Seins (s. Anm. 2), 273 f. Vgl. Gabriel Marcel, Présence et Immédiat. Extrait d’une lettre de Gabriel Marcel à Jeanne Parain-Vial, in: Gabriel Marcel, Le mystère de l’Être. II. Foi et réalité, Paris 1997, 245–247.

25 26

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sonen) zu vermitteln. Es ist klar, dass das einfache Sprechen über die Musik nicht ausreicht, um dritten Personen ein Gefühl für das Werk Faurés zu geben. Man kann die Musik nur vorspielen und hoffen, dass sie in den zuhörenden Personen eine ähnliche Reaktion wie in einem selbst auslöst. Solche Schlüsselerlebnisse machen bewusst, dass man Teil eines Netzes ständiger Kommunion ist, dessen Realität man ernst nehmen muss, um nicht in sterilen und allgemeinen Definitionen und Dimensionen zu verbleiben. Eine banale Einfallsmöglichkeit für présence im Alltag bietet die Situation eines Behördengangs. Sowohl der fragende Beamte als auch die die Fragen beantwortende Person fühlen sich im Moment des Fragens in gewisser Weise sich selbst entfremdet, da sie auf ihre Tätigkeit im Rahmen des amtlichen Frage- und Antwortspiels reduziert werden. Alles ändert sich, sobald eine Gemeinsamkeit zwischen den beiden Personen entdeckt wird – gleicher Geburtsort, ähnliche gemeinsame Erlebnisse, ein von beiden gelesenes und geschätztes Buch etc. Plötzlich ändert sich die Stimmung im Raum, ein Lächeln taucht plötzlich auf den Gesichtern auf, eine gewisse Form von Vertraulichkeit entsteht. Die beiden Personen werden sich plötzlich gegenseitig sympathisch 27, und unter Umständen kann aus einer zufälligen Begegnung am Bahnsteig, beim Arzt, auf dem Amt etc. sogar eine tiefe Freundschaft entstehen. Ein Blick, ein Wort, eine Geste kann die Die Etymologie von sympathisch ist aufschlussreich: Bestehend aus sym, also »mit«, und patheo, »empfinden, leiden«, beschreibt dieses Wort treffend die neu entstandene Situation. Der andere wird plötzlich interessant, die beiden Seienden entdecken ihre Gemeinsamkeiten, die über die bloße Zugehörigkeit zur Gattung Mensch hinausgehen. Sein wird als Mitsein empfunden; das Wir ersetzt das Ich und Er; auf der Ebene der Metaproblematik verlieren die Begriffe »Selbst« und »Anderer« ihre Bedeutung. Marcels Intersubjektivitätstheorie weist starke Ähnlichkeiten mit jener Martin Bubers auf, allerdings haben sich die beiden Denker unabhängig voneinander entwickelt und sind sich nur einmal kurz begegnet. »Je suis heureux qu’il me soit donné d’évoquer ici la pensée d’un homme que j’admire profondément. Je ne l’ai malheureusement rencontré qu’une seule fois […]. Cette rencontre fut brève; je pense que nous n’avons pas parlé plus d’une heure. Mais je fus tout de suite profondément impressionné par la grandeur, la grandeur authentique de cet homme qui m’apparaissait vraiment comme comparable aux grands patriarches de l’Ancien Testament. […] Je sais que Martin Buber avait cru quelque temps que j’avais commis une sorte de plagiat envers lui; il a su ensuite qu’il y avait eu simplement rencontre. Une de ces rencontres qui, pour lui comme pour moi, jouent un rôle si essentiel dans la vie et dont le philosophe ne peut, en aucune manière, faire abstraction.« (Gabriel Marcel, L’anthropologie philosophique de Martin Buber, in: Anne Marcel [Hg.], Présence de Gabriel Marcel. 14. Fraternité philosophique, Paris 2004, 5–23, 5)

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Mauer, die jeder unbewusst um sich herum errichtet, zum Wackeln und Einstürzen bringen. Einen interessanten Zusammenhang zwischen mystère und présence zeigt Marcel anhand eines schlafenden Kindes. 28 Letzteres erscheint völlig wehrlos und möglicher Gewalt hilflos ausgeliefert. Im Sinne des mystère liegt jedoch gerade in seiner wehrlosen Gegenwärtigkeit sein größter Schutz. Gerade weil es sich offensichtlich nicht verteidigen kann, scheint es gegen Unheil gefeit und beinahe geheiligt zu sein. Ein Bruch seiner Unverletzbarkeit würde einen enormen Frevel bedeuten. Marcel spricht in der Folge von der »Metaphysik der Gastfreundschaft« 29, die in beinahe allen Kulturen spürbar ist. 30 Die wesenhafte Unmöglichkeit, den Begriff des mystère genau einzugrenzen, legt die Versuchung nahe, eine solcherart bestimmte Philosophie als bloße Flucht vor dem Unerklärbaren abzuwerten. Genau an dieser Stelle aber wird der Unterschied zwischen der objektiven Welt des Habens, der Welt der Wissenschaft und der Probleme auf der einen und der Welt des Seins und des mystère auf der anderen Seite markiert. Während erstere Ordnung jegliche Grenze des Erkennbaren als negativ betrachten muss, die entweder in Zukunft (mithilfe neu akkumulierten Wissens) überschritten werden wird oder aber als unhintergehbar und daher unwichtig beiseite gelassen werden kann, ist das Denken der zweiten Ordnung von einem wesentlich positiven Zugang zum mystère gekennzeichnet, da es in der Tatsache, dass die in ihm enthaltene Wahrheit nicht integral entschlüsselt und genau bestimmt werden kann, ein befreiendes Moment sieht: Wie man sieht, und das ist fundamental in meinem ganzen Denken, wird das Mysterium nicht wie bei den Agnostikern als eine Lücke des Erkennens interpretiert, als eine Leere, die man füllen muß, sondern im Gegenteil, als eine Fülle, ja ich möchte sogar sagen: als der Ausdruck eines Willens, einer Forderung, die so tief ist, daß sie sich selbst nicht erkennt, daß sie sich unaufhörlich verrät, indem sie sich falsche Gewißheiten schmiedet, ein ganz illusorisches Wissen, mit dem sie Vgl. Marcel, Geheimnis des Seins (s. Anm. 2), 288 f. Ebd., 289. 30 Vgl. z. B. Lev 19,34: »Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen.« – Gerade in den Kulturen der Nomaden und Halbnomaden, in welchen prinzipiell nur der eigene Stamm Schutz bot, bedeutete die Gastfreundschaft eine Art Universalrecht, denn man konnte jederzeit in eine Situation gelangen, in welcher man selbst auf fremde Hilfe angewiesen war. 28 29

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sich jedoch nicht zufrieden geben kann und das sie dadurch zerbricht, indem sie die Schwungkraft verlängert, der sie gewichen ist, um diese Gewißheiten zu erfinden. In dieser Anerkenntnis des Mysteriums transzendiert sich eher jener Trieb zum Wissen, als daß er sich befriedigt, jener Wissensdrang, der die Wurzel unserer Größe und auch unseres Elends ist. 31

Der die Fülle des Mysteriums anerkennende Mensch darf denn auch hoffen, dass es mehr gibt als die rein sinnlich zugängliche Welt.

3.

Hoffnung als Kulminationspunkt

Für Marcel findet »reine« Hoffnung im christlichen (und auch im streng philosophischen) Sinn stets im Horizont einer anderen, umfassenderen, ewigen Wirklichkeit statt. Der Mensch, der auf etwas Konkretes (die Genesung eines geliebten Menschen, das Ende eines kriegerischen Konfliktes etc.) hofft und enttäuscht wird, sieht ein, dass die wahre, voraussetzungslose Hoffnung nicht auf einzelne »Genüsse« und Wünsche abzielen kann, sondern immer das Ganze im Blick haben muss. Authentische Hoffnung versteift sich daher nicht auf Heilung, sondern strebt das Heil selbst an, da sie ahnt, dass nicht alles verloren sein kann, wenn die Heilung ausbleibt. Das »Ich hoffe« ist also dem »Ich hoffe, dass …« vorzuziehen, da letztere Einstellung ein konkretes Ziel, eine konkrete Forderung in sich trägt und daher Berechnungen durchführt. 32 Marcel, Schöpferische Treue (s. Anm. 13), 146. Das Phänomen der Autosuggestion des Kranken, der sich einredet, wieder zu gesunden, was mitunter auch tatsächlich geschieht, ist für Marcel eine Form des Begehrens. Marcel streitet ihre Wirksamkeit nicht ab, sieht sie aber nur als einen Schritt auf dem Weg zur Heil(ung), der von authentischer Hoffnung zu trennen ist. Letztlich gehört die Autosuggestion der Welt des Habens an und ist daher mit Vorsicht zu genießen – sie kann im Kranken ein Gefühl des absoluten Scheiterns und des eigenen Ungenügens auslösen. Ein reines Verlassen auf ihre Wirksamkeit käme einem Vertrauen auf eine Art »Automystifikation« gleich und ist in den meisten Fällen zum Scheitern verurteilt. Die Autosuggestion kreiert wieder neue Abhängigkeiten und widerspricht dem offenen Charakter der authentischen Hoffnung. »Die Autosuggestion besteht im großen und ganzen darin, eine bestimmte Vorstellung zu umkrampfen, wir können sie kaum anders fassen denn als Seelenlähmung [das im Original verwendete »contracture psychique« erscheint mir besser gewählt]. Wogegen die Hoffnung alle Merkmale einer Entspannung aufweist. Sie setzt ein Moment der Offenheit im Gegensatz zum Moment der Geschlossenheit der zusammengezogenen Seele voraus.« (Marcel, Geheimnis des Seins [s. Anm. 2], 482).

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Über den Modus des »Ich hoffe« gelangt Marcel auch zu der zunächst bizarr anmutenden Formulierung: »Einen Menschen lieben, heißt sagen: du wirst nicht sterben.« 33 Treue ist dann wahre Treue, wenn sie über die vom Tod ausgehende Herausforderung triumphiert. Die présence einer Person erweist sich dann als authentisch, wenn sie auch nach dem Tod dieser Person noch für die sie Liebenden gegeben ist; der Tod kann das Innerste eines Menschen, d. h. jenes Element, das diesen Menschen zur Person macht, nicht zerstören. 34 In der Liebe wird das Sein des anderen bekräftigt, und dieses Sein überwindet jenen Abgrund, den der Tod aufreißt. Dabei geht es Marcel nicht um das unpersönliche Sein des Idealismus, sondern um die konkrete Person. Das »Du wirst nicht sterben« wird im Horizont des prophetischen Charakters der Hoffnung ausgesprochen – das Versprechen der Liebe zielt auf Ewigkeit ab und kann von keinerlei »Hindernissen« zerstört werden. Denn würde gleichzeitig mit dem Tod der Person das Gefühl der im co-esse verankerten Verbundenheit verschwinden, wäre diese Person auf ein bloßes Objekt reduziert. Selbstsein wird aber gerade als co-esse in der Liebe erfahren; die endgültige Selbstübereignung an einen anderen Menschen kann durch dessen Tod unmöglich abgebrochen werden. »Ich hoffe auf dich für uns« 35, schreibt Marcel und bringt damit zum Ausdruck, dass die Beziehung zwischen einem »Ich« und einem »Du« in die wechselseitige, gemeinsame Teilhabe des Wir mündet. Dieses Wir erweist sich sodann als ontologisches Band, welches die Würde der Person erst ausmacht und Anlass zur Hoffnung gibt. Das Marcelsche Verlangen nach Unsterblichkeit entspringt keinem maximal potenzierten Solipsismus, sonEbd., 472. Das Zitat stammt ursprünglich aus: Gabriel Marcel, Le Mort de demain, in: Ders., Trois Pièces (s. Anm. 5), 161. 34 Vgl. Marcels berührende Hommage an seinen Freund Robert Garric: »Peut-être d’ailleurs est-ce à lui pour une bonne part que je dois d’avoir, dans mes écrits, accordé une place centrale à la présence. Ce mot simple, mais chargé d’harmoniques, vise en réalité l’inépuisable. L’inépuisable. Effectivement, on n’avait jamais épuisé cette richesse perpétuellement jaillissante qui était celle de notre ami. Et là est sûrement la raison secrète pour laquelle à le revoir, à le ré-entendre après une absence, après une courte séparation, on éprouvait un tel réconfort. Réconfort spirituel? Sans doute, mais aussi étrangement physique, dû à la qualité de son regard et de sa voix. De quelle nature était ce réconfort? Ne consistait-il pas dans le fait qu’il passait à travers lui une assurance dont il était le lieu plutôt que le sujet?« (Gabriel Marcel, Hommage à Robert Garric; zit. nach: Pierre Colin, Gabriel Marcel, philosophe de l’espérance, Paris 2009, 21) 35 Marcel, Homo Viator (s. Anm. 7), 76. 33

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dern ist Resultat erfahrener zwischenmenschlicher Liebe. Pierre Colin schlägt vor, dem »Du wirst nicht sterben« einen Folgesatz zur Seite zu stellen: »Jemanden lieben, heißt ihm sagen: Ich werde nicht sterben, sondern ich werde immer für [dich] und mit dir leben.« 36 Die angestrebte Ewigkeit ist eine ewige Liebe, die die simple Biologie übersteigt. In Homo Viator nennt Marcel das Bewusstsein als entscheidendes Kriterium und bemerkt, dass es unmöglich sei, dessen absolutes Verschwinden als Tatsache zu behandeln. Die mit Bewusstsein ausgestatte Person ist nie »diese Sache da« 37. Den vergänglichen Körper als letzten Horizont zu sehen, hieße, ihn aus der Verbindung mit dem Subjekt zu lösen. Ich möchte sehr gerne behaupten, daß das Bewußtsein nicht der Ecceität fähig ist; was bestimmbar ist, das ist niemals es, sondern etwas (dieser Leib da), das vielleicht mit ihm eine Summe von derart unentwirrbaren Beziehungen unterhält, daß sie im äußersten Falle sich selbst als Beziehungen verleugnen. 38

Die vom Tode ausgehende Zerstörung, die physisch sichtbar ist, kann nicht jenes Merkmal treffen, welches die geliebte Person zur Person macht und welches das Ziel der Liebe ist. Dieses Merkmal reduziert sich aber nicht etwa auf eine Unterscheidung zwischen einer als phainomenon gesehenen Hülle und einem unzerstörbaren noumenon, das selbst letztlich wiederum bloßes Objekt wäre, sondern auf das Band, das beide Personen verbindet. 39 Das intersubjektive und ontologische Band ist so stark, dass kein Ereignis das Versprechen der Ewigkeit, welches im Versprechen der gegenseitigen Liebe enthalten ist, hinfällig machen könnte. Das Leben lässt sich nicht auf die bloße Existenz im Sinne von Anwesenheit zu einer bestimmten Zeit und in einer bestimmten Form reduzieren. Das Wort »existieren« meint mehr als nur die bloße Anwesenheit zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Form. Wieder einmal dient der nichtobjektivierbare Körper als Modell:

Colin, Gabriel Marcel (s. Anm. 34), 112. »Aimer un être, c’est lui dire: je ne mourrai pas, mais je serai toujours vivant pour toi et avec toi.« 37 Vgl. Marcel, Homo Viator (s. Anm. 7), 206. 38 Ebd. »Körper« anstelle von »Leib« ist an dieser Stelle wohl angebrachter. 39 Vgl. Marcel, Sein und Haben (s. Anm. 8), 474. 36

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Unter solchen Umständen wirft der Gebrauch der Wendung ›nicht mehr existieren‹ ein schwieriges Problem auf. Gewiß existiert das zerstörte, zerstückelte oder zu Staub gewordene Ding nicht mehr. Hat es freilich im tiefsten Sinne dieses Wortes jemals existiert? Ließe sich nicht letztlich mit gutem Grunde sagen, es sei das Schein-Existierende, nämlich das Ding, das eben nur Ding ist, das meinem Körper in irreführender Weise angeglichen wurde – das allein nicht mehr zu existieren vermag? 40

Der Tod beendet nur die »Brauchbarkeit« des Menschen. Der in der Dimension des Habens allzu oft auf ein Bündel von Funktionen reduzierte Mensch verschwindet, aber das, was an ihm zum Sein gehört, bleibt. Das materialistische Postulat, welches den Tod als bloßes Vergehen eines Objektes behandelt, ist in dieser Situation nicht anwendbar. Spricht man wie Heidegger vom ›Sein zum Tode‹ oder ›Sein auf den Tod hin‹, so redet man in Wirklichkeit einem existentiellen Solipsismus das Wort, gleichgültig, ob er es merkt oder nicht, weil man den Tod des Anderen behandelt, als wäre er ein Ereignis, dem ich beiwohne, und das selbst, wenn es mich etwas angeht, mich nicht im lebendigen Sinne des Wortes trifft. 41

Der konkrete Tod unterscheidet sich vom Tod im Allgemeinen, der »niemanden im besonderen trifft und den man daher bequem auf allen Ebenen abhandeln kann, von den Präzisierungen der Biochemie bis zu den Gemeinplätzen einer gewissen Moralphilosophie« 42. Demgegenüber steht der Tod, »der hic et nunc so konkretes Leben verwüstet, jene Liebe zerstört, diese Gemeinschaft brutal auseinanderbricht« 43. Dieser Tod erscheint in seiner beinahe obszönen Nacktheit Marcel, Geheimnis des Seins (s. Anm. 2), 323 f. Gabriel Marcel, Auf der Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit. Vorträge in Deutschland, hg. von Wolfgang Ruf, Frankfurt/M. 1964, 77. 42 Gabriel Marcel, Tragische Weisheit. Zur gegenwärtigen Situation des Menschen, Wien 1974, 158. 43 Ebd. Vgl. auch eine interessante Passage aus Rome n’est plus dans Rome, in welcher Marc-André begründet, warum er die Petition seiner marxistischen Freunde gegen die weitere Entsendung von Truppen nach Indochina nicht unterschreibt: »Je ne m’intéresse pas à l’Indochine, je crois que la colonisation est néfaste, peut-être criminelle, et je pense que nous aurions dû partir en 45. Mais j’ai reçu il y a quelques jours une lettre d’un camarade qui est là-bas dans l’armée. […] Ils vivent dans l’attente de renforts. Retarder d’une heure le départ de ces renforts, c’est peut-être tuer mon camarade est ses compagnons […]. Non, ça je ne le ferais pas.« (Gabriel Marcel, Rome n’est plus dans Rome, Paris 1951, 77 f.) Die présence des Kameraden wird für Marc40 41

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als Skandal; er kann nur überwunden werden, wenn er in Liebe aufgenommen wird. Die Liebe erweist sich demnach als epistemologisch; sie sensibilisiert (über die Seienden) für das Sein und führt zu reeller, zum Absoluten führender Erkenntnis. 44 Mittels eines freien Aktes akzeptiert der Mensch das ihn übersteigende Prinzip, welches ihn kreiert, in der Existenz hält und empfänglich macht, oder aber er lehnt es ab. Der die Existenz erhellende Tod erweist sich somit als »Sprungbrett einer absoluten Hoffnung. In einer Welt, in der es keinen Tod gäbe, würde die Hoffnung nur im Larvenzustand existieren.« 45 Die Bedingungen der Möglichkeit von Hoffnung und Hoffnungslosigkeit stimmen paradoxerweise bis zu einem gewissen Grade überein. Der Tod ist der Ort der ultimativen Herausforderung, aber auch der ultimativen Treue. Marcel bezeichnet daher auch »das Problem der Unsterblichkeit der Seele« als »Angelpunkt der Metaphysik« 46. In der Auseinandersetzung mit dem Tod als Gegebenem interessiert sich Marcel für den Einfluss, den dieser auf die Beziehungen der Menschen hat. Insbesondere zwei Erfahrungen sind es, die ihn zu diesen Reflexionen veranlassen: Zum einen der Tod seiner Mutter, der ihn im Alter von nur vier Jahren trifft, mit der er sich jedoch auf geheimnisvolle Weise Zeit seines Lebens verbunden fühlt. Zum anderen begegnet ihm der Tod während seines freiwilligen Engagements beim Vermisstensuchdienst des Roten Kreuzes im Ersten Weltkrieg. Während dieser Tätigkeit wird er zum ersten Mal sensibel für eine die alltägliche Welt übersteigende Transzendenz. Die Karteikarten-Registratur wird der individuellen Person nicht gerecht; der Mensch ist ein komplexes Wesen und übersteigt jegliche reduzierende EinordAndré zum Appell: »Je ne sais pas si cela peut s’appeler du courage. C’est plutôt de l’obéissance, quelque chose au fond de moi m’a interdit de signer cet appel, quelque chose qui venait d’ailleurs, peut-être du fond de ce que nous appelons la mort […]. Je ne crois pas que je croie en Dieu, mais je pense continuellement aux morts. C’est peutêtre parce qu’ils me tirent à eux tout le temps, que je résiste si passionnément, que je veux si éperdument survivre.« (Ebd., 79 f.) 44 »Die Liebe, insoweit sie von der Begierde verschieden ist, insoweit sie den Gegensatz zur Begierde bildet, insoweit sie Unterordnung des Selbst unter eine höhere Realität ist – welche in meinem Inneren mehr ich selbst ist, als ich selbst es bin – insoweit sie mit der Spannung bricht, welche das Selbst an den anderen knüpft, ist in meinen Augen das, was man die wesentliche ontologische Gegebenheit nennen könnte.« (Marcel, Sein und Haben [s. Anm. 8], 179) 45 Ebd., 100 f. 46 Ebd., 11.

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nung. Hinter dem Aufscheinen eines Namens auf einer Karteikarte verbirgt sich ein erschütternder Ruf, der eine Antwort fordert. In Marcels philosophischer Entwicklung vollzieht sich in dieser Zeit der Übergang vom »er« zum »du«. 47 Angesichts des Todes gibt es drei mögliche Reaktionen: (1) Verzweiflung: Der Tod wird gesehen als endgültiges Faktum; die geliebte Person ist auf immer vergangen. (2) Glauben an eine mögliche Kommunikation mit der geliebten Person. Hier wird das Feld parapsychologischer Erfahrungen betreten, mit welchen sich Marcel während seiner Tätigkeit im Vermisstensuchdienst selbst auseinandergesetzt hat, ohne sie jedoch bis ins Letzte auszureizen. 48 Die Hinterbliebenen klammern sich hier an eine Hoffnung, ohne sagen zu können, ob die Kommunikation wirklich stattfindet oder ob der vermeintlich anwesende Verstorbene nicht vielleicht doch eine bloße Emanation des Unterbewusstseins ist. (3) Hoffnung wider alle Hoffnung: 49 Diese »Je recevais personnellement chaque jour ceux qui venaient nous supplier de projeter quelque lumière dans la nuit où ils se débattaient. Dans ces conditions, la fiche cessait de se réduire à une simple mention abstraite: c’était un appel déchirant auquel j’avais à répondre. C’est donc d’abord selon cette perspective individuelle de destins à éclairer que j’ai vécu personnellement la guerre 14–18; et rien, je suppose, ne pouvait contribuer plus effectivement à m’immuniser contre les puissances d’obnubilation propres à la plupart des termes abstraits qui composent le langage habituel des journalistes et des historiens.« (Marcel, Regard en arrière, in: Ėtienne Gilson [Hg.], Existentialisme Chrétien: Gabriel Marcel, Paris 1947, 291–319, 312) 48 Vgl. ebd., 312–314. Marcel widmet sich dieser Thematik hauptsächlich in seinem dramatischen Werk: In L’Iconoclaste glaubt Jacques, mit seiner verstorbenen Frau Viviane zu kommunizieren. Der Leser erfährt nicht, ob tatsächlich eine Kommunikation stattfindet, aber Vivianes présence und der damit einhergehende Einfluss auf Jacques sowie die anderen Charaktere ist eindeutig. »Die Aufdeckung der dyadischen Struktur solcher metapsychischer Phänomene, wie sie Marcel nennt, wurde für ihn zu einer bedeutsamen Bestätigung des Ansatzes einer positiven Philosophie. Man sollte jedoch die Zurückhaltung nicht übersehen, mit der Marcel alle parapsychologischen Vorgänge beurteilt. Ihm genügte die Erfahrung, daß es unwiderleglich bestimmte Formen des Metapsychischen gibt, an denen die rationale Vergewisserung scheitert, weil es sich um dyadische Bezüge handelt.« (Berning, Das Wagnis der Treue [s. Anm. 6], 228) Marcels Zurückhaltung auf diesem Gebiet entspringt seiner grundsätzlichen Überzeugung, von jeglicher Verdinglichung, Objektivierung, Reduktion etc. abzusehen (die Kategorie des mystère taucht interessanterweise zum ersten Mal im Iconoclaste auf). Metapsychische Erfahrungen können sich einstellen, dienen aber nur einem kurzfristigen Erhellen, welches den bereits erfahrenen intersubjektiven Nexus bestätigt und erweitert. Diese Erfahrungen können nicht kontrolliert werden. 49 Natürlich gibt es noch eine vierte mögliche Reaktion, die in einer gewissen Akzeptanz und Gleichgültigkeit im positiven Sinn besteht und es ermöglicht, mit dem Tod umzugehen, ohne zu verzweifeln, und ohne sich an Hirngespinste zu klammern. Für 47

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Haltung entspricht dem Öffnen für das mystère des Todes, verortet zwischen der Idee des Scheiterns aller Hoffnung und damit der Vorstellung von einer absurden Welt und dem der Kategorie des Habens zugehörigen Wunsch nach aktiver Kommunikation mit den Verstorbenen. Es geht um den im Tod verborgenen Sinn, der – so viel steht fest – nur deutlich werden kann, wenn sich der Mensch einmal mehr von seinem Egozentrismus distanziert und auch den Verstorbenen nicht nur in Abhängigkeit von sich selbst betrachtet. Für das Ich, das erkennt, dass es nur über das Du wirklich Ich ist, übersteigt die in der Liebe erfahrene Unbedingtheit den Tod insofern, als Letzterer keine Grenze mehr darstellen kann – Liebe schöpft nur dann ihre volle Tiefe aus, wenn sie bedingungs- bzw. grenzenlos gegeben und gelebt wird. Der von ihr postulierte »ewige Rahmen« der Zeit wird zur Zeitlosigkeit bzw. transzendierten Zeit. Schließlich sehnt sich das Ich über den anderen nach dem absoluten Du, welches in seiner absoluten Fülle Grund der als Geschenk erfahrenen Liebe und des Lebens selbst ist. Dieses (göttliche) Geschenk ist vom Vergehen ausgenommen – das Wesen des Lebens ist demnach seine Dauer. Der Tod bedeutet einen Abgrund und eine entscheidende Grenzerfahrung, die zwischen absoluter Verzweiflung (aufgrund der Nichtigkeit des Daseins, die nur Leiden hervorruft) und absoluter Hoffnung (auf ein Leben nach dem Tod, das allein dem irdischen Leben Marcel verkennt diese Option jedoch das Wesentliche am Menschsein. »Ehe wir weitergehen, muß festgestellt werden, daß sich die Mehrzahl aller Menschen Zeit ihres Lebens zwischen den Gegebenheiten der eigenen Existenz hindurchtasten, wie man sich in einem dunklen Zimmer Schritt für Schritt durch schwere Möbel findet. Es mag das Tragische ihres Loses gerade darin liegen, ihr Dasein wohl nur deshalb ertragen zu können, weil es sich in solchem Zwielicht abspielt. Es ist so, als hätte sich ihre Sehkraft dem Halbdunkel schließlich angepaßt. Nicht ganz die Lebenslüge, wie sie Ibsen in der ›Wildente‹ dargestellt hat, eher ein Zustand des Nichtsehens, der andererseits wieder mit absoluter Unbewußtheit nichts zu tun hat.« (Marcel, Geheimnis des Seins [s. Anm. 2], 94) Diese prinzipielle Unverfügbarkeit gegenüber dem Sein ist nicht automatisch mit Verzweiflung gleichzusetzen, da dem in der »Tretmühle des Alltags« (»cercle des tâches journalières«) festsitzenden Menschen sein Zustand gar nicht bewusst ist. Die blind durchgeführte Routine genügt ihm, und er stellt keine darüber hinaus gehenden Fragen (vgl. ebd., 480 ff.). Vgl. auch den Kommentar von Friedrich Hoefeld: »Ein objektives allgemeingültiges Denken, das die transzendierende Bindung der Person an den sie konstituierenden Grund ihrer selbst ignoriert, pflegt den Menschen auf einfache Funktionen zu reduzieren, ohne das Geheimnis menschlichen Daseins zu sehen. Das Individuum neigt heute dazu, sich als ein Bündel von vitalen, psychischen und sozialen Funktionen zu betrachten.« (Ders., Der christliche Existentialismus Gabriel Marcels, Zürich 1956, 87)

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Sinn zu geben vermag) verortbar ist. Der Tod kann ontologisch gesehen nicht die letzte Antwort sein. Die Bedeutung des Totenkultes liegt in der Verweigerung des Verrats am Verstorbenen; der Verrat besteht darin, diesen so zu behandeln, als wäre er nicht mehr. »Wenn man sagt: ›Sie sind nicht mehr‹, verleugnet man nicht allein die Toten, sondern auch sich selbst, man vollzieht vielleicht eine absolute Verleugnung.« 50 Die Erinnerung an die geliebte verstorbene Person ist keine Illusion, sondern eine Art neuen Lebens, geprägt von den Erinnerungen. Die Liebe und die in ihr enthaltene Hoffnung nehmen dem Tod den Stachel und entsprechen einer freien Entscheidung. Hoffnung angesichts des Todes fungiert als »ontologisches Gegengewicht« 51 der Verzweiflung. Die in der liebenden Beziehung erfahrene présence des anderen lässt ein Verhältnis entstehen, das die Kategorie des bloßen Objektes oder Gegenübers übersteigt. Aus diesem Grunde ist das Wort Erinnerung, bezogen auf den verstorbenen geliebten Menschen, eigentlich nicht präzise genug – es wäre besser, von présence oder Erinnerung an eine présence zu sprechen. Die présence ermöglicht es, dass sich das Fortleben des anderen eben nicht nur auf Erinnerung reduziert – wäre dies der Fall, käme er wieder nur einem Objekt gleich und sein Sein wäre eine bloße Einbildung. Die Erinnerung allein bezieht sich auf Bilder, die noch dazu mit der Zeit verblassen; die Erfahrung der présence jedoch sieht im Tod immer noch eine Beziehung. Als Schlüsselstelle für die von Marcel immer wieder neu buchstabierten intimen Beziehungen zwischen Hoffnung und Sein, Hoffnung und Intersubjektivität sowie Hoffnung und Transzendenz bietet sich folgende Passage aus Homo Viator an: Die Hoffnung, könnte man sagen, ist von Wesen die Verfügbarkeit einer Seele, die sich in eine Erfahrung der Gemeinschaft innerlich genug eingelassen hat, um gegen den Widerstand des Willens und der Erkenntnis jenen transzendierenden Akt zu verwirklichen, durch den sie die lebendige Dauer bestätigt, für die jene Erfahrung zugleich Unterpfand und Anfang ist. 52

Marcel, Sein und Haben (s. Anm. 8), 105. »Ce contrepoids ontologique de la mort, c’est la présence en moi de ceux qui ont part à moi-même, qui m’ont fait ce que je suis et continuent à me faire.« (Gabriel Marcel, Présence et immortalité, Paris 1959, 97) 52 Marcel, Homo Viator (s. Anm. 7), 87. »Seele« bedeutet für Marcel »das innere 50 51

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In diesem kurzen Text stecken mehrere essentielle Inhalte: Der verfügbare, sich einer incurvatio verweigernde, auf Alterität hin offene Mensch setzt in der empirisch erfahrenen und phänomenologisch erfassten Gemeinschaft den zum Sein führenden Akt. Die Formulierung »gegen den Widerstand des Willens und der Erkenntnis« ist jedoch missverständlich, da sie eine blinde, unbegründete Hoffnung durchklingen lässt. Statt »Wille« scheint mir »Wünschen« oder »Verlangen« angebrachter; es geht um den Ausbruch aus der berechnenden und kontrollierenden Welt des Habens. Auch das französische Original ist missverständlich: Zwar findet sich »connaître« 53 anstelle von Erkenntnis, allerdings wird für »Wille« das etwas unglückliche Wort »vouloir« verwendet, das sowohl Wille als auch Wunsch bedeuten kann. 54 Ausgesagt werden soll, dass die Hoffnung größer ist als bloßes Wünschen und dass sie auch im Wissen (connaître) um die konkrete Situation (z. B. die eines unheilbar Kranken) immer noch das Heil, und nicht ausschließlich die Heilung anvisiert. Der Mensch kann seine konkrete Situation übersteigen, wenn er sich auf sie innerhalb eines Willensaktes einlässt. 55 Solcherart verstandene Hoffnung ist nicht besitzergreifend und egozentrisch, sondern verfügbar und auf Alterität ausgelegt. Die Sicherheit im Fokus auf das Heil erhält der hoffende Mensch aus der zuvor erfahrenen und reflektierten ontoloSich-selbst-Gegenwärtigsein, die Selbstvermählung der Person mit ihrer tiefsten Einheit« (Berning, Das Wagnis der Treue [s. Anm. 6], 321). 53 Vgl. Gabriel Marcel, Homo Viator. Prolégomènes à une métaphysique de l’espérance, Paris 1944, 86. 54 In einer bereits zitierten Passage aus Le Mystère de l’Être geht Marcels Anliegen aus dem Kontext deutlicher hervor: »Erscheine ich mir nicht vornehmlich, wenn nicht gar ausschließlich als frei, wenn ich gegen meinen eigenen Wunsch [contre mon propre désir] zu wollen habe, sofern es sich natürlich nicht um ein bloßes Gelüst [velléité] handelt, sondern das Wollen [vouloir] sich in Akten verkörpert, die sich von selbst der Realität einfügen – wie ich sie nenne. So gesehen ließe sich sagen, der Wille [volonté] erweise sich als Widerstand gegen die Anliegen, denen mich das Wünschen [désir] aussetzt, welche Anliegen sich in Zwang wandeln, wenn ich mich von ihnen treiben lasse.« (Marcel, Geheimnis des Seins [s. Anm. 2], 423) Vgl. ebd., 422: »Wollen [vouloir] ist nämlich nicht wünschen [désirer].« 55 Marcel formuliert daher: »Hoffnung ist offenbar zugleich Geschenk und Verdienst.« (Marcel, Sein und Haben [s. Anm. 8], 85) Vgl. auch einen bemerkenswerten Text von Robert Schneider: »Eine jede Hoffnung ist ohne Sinn. Kein Mensch verfalle auf die Idee, auf die Erfüllung seiner Träume zu sinnen. Vielmehr soll er den Irrsinn des Hoffens begreifen. Hat er ihn begriffen, darf er hoffen. Wenn er dann noch träumen kann, hat sein Leben einen Sinn.« (Ders., Schlafes Bruder, München 1997, 170)

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gischen Intersubjektivität und der damit verbundenen Transzendenzerfahrung. Die erfahrene présence ermöglicht es ihm, der Realität Kredit einzuräumen 56 bzw. sich nicht auf die rein innerweltliche Realität zu versteifen. 57

4.

Conclusio

Die intensive Reflexion des »durchwanderten Lebens« erweckt in Marcel bald eine Sensibilität für die dyadische und (em)pathische Ordnung alles Seins und Seienden. Die Erfahrung von Intersubjektivität und Alterität, von présence und Tod führt ihn auch zum ganz Anderen und damit an die Schwelle des Glaubens. Eine »Hoffnung, die Gründe nennt«, die stets auf Gemeinschaft und auf ein Ziel ausgerichtet ist, wird für ihn zu einem erkenntnistheoretischen Schlüssel und zur Voraussetzung eines authentischen Glaubens. Ein im Horizont dieser Hoffnung lozierter Glaube steht jenseits von Angst und Sorge (Heidegger) und absurder Verzweiflung (Sartre). Er ist weder mit einer bloßen Meinung noch einem unbegründeten und naiven Optimismus, noch mit stoischer Indifferenz gleichzusetzen. Der Glaube als Meinung ist ein fideistischer, realitätsferner, von aller Substanz entleerter Glaube, der keine schöpferische Kraft mehr in sich trägt und dem »Glaubenden« nur noch als Teil seiner geistigen Ausrüstung bzw. als vage Erinnerung und Sehnsucht dient. Glaube als purer Optimismus ist realitätsfern und wird gerade dem konkreten Leiden und dem Stachel des Todes als größter Herausforderung jeder Religion nicht gerecht. Stoische Indifferenz wiederum steht außerhalb jeglichen Glaubens und akzeptiert die Dinge ohne Hoffnung auf Änderung.

Vgl. Marcel, Sein und Haben (s. Anm. 8), 80. Die Kategorien der présence und des mystère beziehen sich nicht nur auf Personen, sondern prinzipiell auf alles, wo eine Form von dyadischen Beziehungen möglich ist, so z. B. auch in Zusammenhang mit Krankheit und Leiden: »Die Krankheit als Geheimnis [mystère] erkennen heißt, sie als Gegenwärtigkeit [présence] erfahren, oder als Veränderung der Gegenwärtigkeit. […] Meine Krankheit wird mir nur insofern gegenwärtig, als ich mit ihr zu leben habe, wie mit einem Gefährten, mit dem ich so gut wie möglich auskommen muß; oder aber im Maße, als diejenigen, die mich pflegen und mir als Du dienen, Mittler sind zwischen mir und ihr.« (Marcel, Geheimnis des Seins [s. Anm. 2], 279 f.)

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Marcels (Existenz-)Philosophie – mit ihrem Fokus auf pathisch erfahrbare présence und mystère, das Hyperphänomenologische und Metaproblematische – ist imstande, gerade angesichts der je eigenen Pathologien von Ratio und Religion an die Schwelle eines vernünftigen Glaubens zu führen, der das Absolute im Kontingenten findet. Eine Hoffnung, die Gründe nennt, kann als im Durchwandern des Lebens erlernbarer Habitus (der das Wünschen dem Willen nachordnet) gesehen werden. Über das Tun gelangt der sich dieser Hoffnung öffnende viatorische Mensch zum Sein und damit zum als absolutes Du erkannten Gott.

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Leben ist Pilgern Der Mensch als Homo viator im Zeugnis der Heiligen Schrift

»Unterwegs sein«, »wandern«, »in der Fremde sein« 1 – all diese Bedeutungen verbinden sich mit dem Vorgang des Pilgerns, der zu allen Zeiten Menschen fasziniert und verändert hat. Dass Pilgern in der Tat ein Lebensthema ist, bringt in tiefgründiger Weise das altlateinische Sprichwort Vita est peregrinatio, »Leben ist Pilgern«, 2 zum Ausdruck, das den Lebensweg zwischen Geburt und Tod sinnbildlich als Pilgerschaft wahrnimmt und den Menschen allein dadurch, dass er Mensch ist, zum ständigen Pilger erklärt. In der Begeisterung für das »Pilgern mit den Füßen«, das im Laufe der Zeit von einer religiös motivierten Reise für Gläubige mehr und mehr zu einem massentauglichen Phänomen geworden ist, hat auch die zeitgenössische Wahrnehmung den Homo viator, den literarischen Topos vom Menschen auf der Wanderschaft, neu für sich entdeckt. Dem Interessierten steht eine Fülle von Erfahrungsberichten über Pilgerschaften zur Verfügung, und eine sich stetig entwickelnde Pilgerforschung stellt Untersuchungen darüber an, wer, warum und wie einer pilgert. 3 War noch der Mensch des Mittelalters wesentlich ein Pilger zu Gott, der auf seiner Pilgerfahrt den Glauben stärken und in einen Reinigungsprozess eintreten wollte, im Wissen darum, dass Das Wort »Pilgern« geht auf das lateinische pergere bzw. per agere »über den Acker« zurück und bedeutet ursprünglich »über den eigenen Acker hinaus gehen«, also den eigenen Acker, die eigene Lebenswelt verlassen und sich in die Fremde begeben. 2 Seneca, De remediis fortuitorum, in: Ders., Opera omnia quae supersunt. Ex recensione F. E. Ruhkopf, Tom. IV, Leipzig 1829, 417–424, 418. 3 Vgl. u. a. R. Jensen, Weit offene Augen. Pilgern gestern und heute, Göttingen 2018; M. Kaminski, Pilgern mitten im Leben. Wie deine Seele laufen lernt, Freiburg u. a. 2016; P. Heiser / Ch. Kurrat (Hg.), Pilgern gestern und heute. Soziologische Beiträge zur religiösen Praxis auf dem Jakobsweg (Soziologie 77), Berlin 2012; D. Lienau, Sich fremd gehen. Warum Menschen pilgern, Ostfildern 2009; Ch. May, Pilgern. Menschsein auf dem Weg (Studien zur systematischen und spirituellen Theologie 41), Würzburg 2004. 1

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er in dieser Welt nur Gast und Fremdling auf dem Weg zur himmlischen Heimat ist (Hebr 11,13 ff.), 4 so sind die Gründe für das Pilgern heute deutlich weniger von religiös-kirchlichen Formen und Inhalten geprägt. 5 Aber auch der moderne Pilger, der in der Regel auf der Suche nach einem spirituellen Abenteuer ist, das ihn mit sich ins Reine kommen lässt, folgt letztlich jener Sehnsucht nach mehr Fülle im Leben, die der gläubige Mensch direkt mit Gott in Verbindung bringt, denn wie ein Augustinus zugeschriebenes Wort sagt: »Im Grunde seines Herzens sucht er ruhelos den ganz Anderen, und alle Wege, zu denen der Mensch aufbricht, zeigen ihm an, dass sein ganzes Leben ein Weg ist, ein Pilgerweg zu Gott.« Betrachtet man diesbezüglich die biblischen Ur- und Vorbilder, so sind diese hinsichtlich der Motivation ihres Unterwegsseins wohl verschieden, verkörpern aber dennoch in je eigener Weise das, was den Kern einer Pilgerexistenz coram Deo ausmacht: dass das Verlangen nach Pilgerschaft nicht allein im Menschen selbst gründet, sondern im Vollzug von Gott initiiert, begleitet und gelenkt wird. Ungeachtet aller Unterschiede gibt es dabei eine Form der Pilgerschaft, die grundlegender Natur ist und die die Menschen nicht nur gleichermaßen betrifft, sondern auch ihre individuell sich ausprägende Sehnsucht nach einem Mehr im irdischen Lebensweg begründet: die mit der Vertreibung des Menschen aus dem Paradies beginnende und sein ganzes Leben umspannende Wanderschaft zu einem neuen Ort unverbrüchlicher Gottesgegenwart. Von diesem Beginn her sollen im Folgenden biblische Formen einer Pilgerschaft in den Blick genommen werden.

Vgl. B. Haupt, Pilgerreisen in Mittelalter und Renaissance (Studia Humaniera / Düsseldorfer Studien zu Mittelalter und Renaissance), Düsseldorf 2006; B. Kötting, Peregrinatio religiosa. Wallfahrten in der Antike und das Pilgerwesen in der alten Kirche, Regensburg / Münster 1950. 5 Vgl. M. Gamper / J. Reuter, Sinnsuche per pedes. Pilgern als körperliche Herausforderung und spirituelles Erlebnis, in: Sozialwissenschaften und Berufspraxis 35 (2012) 36–47; D. Lienau, Sich erlaufen. Pilgern als Identitätsstärkung, in: International Journal of Practical Theology 1 (2009) 62–89. Der Weg des Homo viator kann aber auch ein innerer sein, der sich in Distanz vollzieht: »still, trotzig, abgeschieden, eigenwillig und allein«, so wie der Philosoph Frank Lisson denjenigen sieht, der sich auf der Suche nach den treibenden Kräften hinter den Wirklichkeiten befindet, im Gegensatz zu den totalitären Tendenzen einer von Technik gelenkten Zivilisation, die über den Menschen gewissermaßen hinweggeht. Vgl. F. Lisson, Homo viator. Die Macht der Tendenzen, Schnellroda 2013, 17. 4

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Leben ist Pilgern

1.

Pilgern unter der Last der Vergänglichkeit

a)

Adam und Eva Und Jahwe-Gott sprach: Seht, der Mensch ist geworden wie einer von uns, indem er Gutes und Böses erkennt. Jedoch: dass er jetzt nicht seine Hand ausstrecke und von dem Baum des Lebens nehme, esse und ewig lebe! 23 So schickte Jahwe-Gott ihn fort aus dem Garten Eden, um den Ackerboden zu bebauen, von dem er genommen war. 24 Und er vertrieb den Menschen und ließ östlich vom Garten Eden die Kerubim wohnen und die Flamme des zuckenden Schwertes, um den Weg zum Baum des Lebens zu bewachen. (Gen 3,22–24)

22

Was diese Verse der urgeschichtlichen – d. h. der die maßgebenden und für immer gültigen Anfänge von Mensch und Welt thematisierenden – Darstellung als ein menschheitsgeschichtliches Schicksal festhalten, 6 entspricht nicht der üblicherweise mit dem Aufbruch zu einer Pilgerschaft verbundenen, erwartungsvollen Sehnsucht, Sinnund Lebensfülle zu gewinnen, sondern ist die Frucht eines Unheilsgeschehens. Verursacht ist es durch die Nachahmung jener Auflehnung des Geschöpfes gegen seinen Schöpfer, die, wie sie die Sündenfallerzählung Gen 3,1–7 schildert, kennzeichnend für die dem Menschen vorgelagerte, eigenständige Macht des Bösen ist. Ihr Programm, das als ein gegen Gott gerichtetes Wissen von der Möglichkeit handelt, den Schöpfergott abzusetzen und in absoluter Autonomie Herr des Lebens zu sein (Gen 3,5), 7 eignet sich der Mensch durch das Essen von dem ihm verbotenen Baum in der Mitte des Die biblische Urgeschichte beginnt mit der Erschaffung der Welt und des Menschen durch Gott (Gen 1–2) und thematisiert sodann die Auflehnung des Geschöpfes gegen den von Gott gesetzten Anfang in der so genannten Ursünde (Gen 3) sowie die Auswirkung dessen auf das Zusammenleben der Menschen im Ausbruch der Gewalt (Gen 4). Dieser Tatbestand bringt die ganze Schöpfung in eine Disharmonie, die von ihren eigenen Voraussetzungen her nicht zu beheben ist und die Welt auf ihre Vernichtung zutreiben lässt (Gen 6–8). Allein die Bestätigung der Schöpfung durch Gott, ungeachtet der Tatsache, dass der sündige Mensch sich nicht geändert hat (Gen 8,21– 22; 9,1–17), bewahrt die Schöpfung vor einer Annihilation und stellt zugleich heraus, dass der Fortbestand der Welt nicht selbstverständlich und schon mit der Schöpfungswirklichkeit als solcher gegeben ist. 7 »Denn Gott weiß: Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf und ihr werdet sein wie Gott, erkennend Gut und Böse.« Die Schlange fordert somit den Menschen dazu auf, die ihm als Geschöpf vorgegebenen Ordnungen zu ignorieren, sich selber als Gott zu sehen und sich die Vollmacht zuzugestehen, der Welt Gesetz und Willen aufzuerlegen. 6

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Gartens 8 an (Gen 3,6) und verletzt damit nicht nur die Gott vorbehaltene Hoheitszone, sondern verdunkelt auch die ihm im Gegenüber zu seinem Schöpfer geschenkte Gottebenbildlichkeit (Gen 1,26), mit der er Gott als den bestimmenden Seinsgrund zum Maß erhalten hat. Jedoch bringt das aufsässige Wissen dem Menschen nicht die von der Schlange als Verkörperung der Macht des Bösen verheißene Machtsteigerung, sondern allein die Erkenntnis seiner geschöpflichen Ohnmacht (Gen 3,7), verbunden mit der Angst, dem Wissen, wie man ohne Gott leben kann, nicht gewachsen zu sein (Gen 3,8). Dieser Fall des Menschen, der das frevelhafte Heraustreten aus der gottgewollten Linie seiner Entfaltung bedeutet, ist – wie es Gen 3,23 f. bezeugt – gleichbedeutend mit dem Verlust der urständlichen, paradiesischen Existenzform und zugleich der Beginn eines geschichtlichen Weges, der unumkehrbar ist. Dabei schließt das über den Menschen verfügte Gericht aus, dass dieser aus eigener Kraft das Heilsgut des Lebens erlangt. Die Aussage in Gen 3,22: »dass er jetzt nicht seine Hand ausstrecke und von dem Baum des Lebens nehme, esse und ewig lebe« hat nämlich in schmerzlicher Ironie die Hybris des Menschen im Blick, der das Gottesgericht in seiner Verblendung nicht sehen und an seiner Selbstverabsolutierung festhalten will. Hier weist ihn das mit dem Ausschluss vom Baum des Lebens 9 verfügte Todeslos auf eine für ihn nicht zu überschreitende Insofern die Bäume im Garten Eden ein Bild für Herrschaft und die dem Menschen verliehene Ausstattung sind (vgl. Gen 2,9), ist der »Baum in der Mitte« des Gartens als Inbegriff des ganzen Baumbestandes ein Sinnbild für die Beherrschung des Gartens in einem absoluten Sinn. So jedenfalls hat die Tradition das Bild vom Baum in der Mitte gedeutet, wenn sie es zur Umschreibung der Machtfülle des ägyptischen Pharaos in Ez 31,1–9 oder des babylonischen Herrschers in Dan 4,7 ff. einsetzt. In Gen 3 besteht die Bedeutung des Baumes in der Mitte im Aufweis der Tatsache, dass Jahwe allein ursprünglich und wesenhaft alle Herrschaft in der Schöpfung zukommt und der Mensch seine Herrschaft allein aufgrund der Teilhabe und unter Beachtung der Verfügtheit alles Geschaffenen ausüben kann. Es geht also im Zusammenhang mit dem Baum in der Mitte um die Frage, ob er sein Menschsein vor Gott theonom oder autonom konzipiert. 9 Um die schicksalhafte Bedeutung des Sündenfallgeschehens und seiner Folgen herauszuarbeiten, hat der Verfasser dieser Verse die in Gen 3,3 vorliegende Rede von dem einem Baum in der Mitte des Gartens differenziert in die Zweiheit von Baum der Erkenntnis und Baum des Lebens. Der Baum des Lebens symbolisiert das Ziel der Herrscherstellung des Menschen in der Gemeinschaft mit Gott; der Baum der Erkenntnis weist darauf hin, dass das Heilsgut des Lebens davon abhängig ist, ob der Mensch die Schöpfung als verfügt anerkennt, also die Grenze zwischen Schöpfer und Geschöpf respektiert. Vgl. R. Brandscheidt, »Nun ist der Mensch geworden wie einer 8

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Grenze hin: »Denn Staub bist du, und zum Staub kehrst du wieder zurück« (Gen 3,19). Dass der Mensch aber nicht dem Widergöttlichen, dem er Raum verschafft hat, verhaftet bleibt und dass sein lebenslanges Unterwegssein unter der Last der Vergänglichkeit nicht nur von der mit der Vertreibung eingetretenen Situation des Gerichtes überschattet wird, sondern im Sinn einer Pilgerschaft durchaus auch Hoffnung auf eine nachparadiesische, neue Heimat kennt, hängt mit dem Schöpfergott zusammen. Dieser hat zwar als Richter mit der Vertreibung des Menschen aus dem Edengarten die dem menschlichen Frevel innewohnende Strafe bestätigt, aber weil er bei der Grundlegung des Seins die Liebe, die er in sich selbst ist, auf das von ihm Geschaffene hin erweitert hat (Weish 11,23), ist der Weg zum Baum des Lebens nach Gen 3,24 von der Gerichtserscheinung Gottes (Kerub und Flammenschwert) lediglich blockiert und somit grundsätzlich noch begehbar. Nur kann die Öffnung des Weges nicht das Werk des sündigen Menschen sein. Es bedarf vielmehr einer eigenen Heilsinitiative Gottes, der als Erlöser bereit ist, die Geschichte des sündigen Menschen mitzutragen und Wege zur Überwindung der Unheilssituation dieser Welt zu stiften, was aber auch bedeutet, dass der Mensch auf der Suche nach Heimat bleibend auf Gottes Führung angewiesen ist. Mit dem Ineinander von Schöpfer- und Erlöserhandeln Gottes hängt es zusammen, dass die Heilige Schrift das Ziel des Erlösungsgeschehens und damit auch das Ende der menschlichen Pilgerschaft als »Neue Schöpfung« bezeichnet, die zugleich Vollendung und Überbietung der ursprünglichen Schöpfung ist. 10 Diesbezüglich spricht das Neue Testament davon, dass Gott durch Christus und auf ihn hin die Welt erschaffen hat und kennzeichnet das in ihm inkarnierte Heil direkt mit dem Begriff der Neuen Schöpfung: »Wenn also jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung: Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden« (2 Kor 5,17; vgl. Gal 6,15). Für den Menschen, der sich Christus als dem Urbild, dem man nachfolgt, zuordnet, wird somit der irdische Lebensweg zu einem zielstrebigen Weg, der, auch wenn der Mensch zeit seines irdischen Lebens in der Fremde

von uns« (Gen 3,22). Zur Bedeutung der Bäume im Garten Eden, in: Trierer Theologische Zeitschrift 103 (1994) 1–17. 10 Schöpfung ist damit nicht »ewig gleich bleibende Ordnung, sondern Geschichte, in der Gott sein Heil verwirklicht«. Vgl. R. Feldmeier / H. Spieckermann, Der Gott der Lebendigen. Eine biblische Gotteslehre, Tübingen 2011, 269.

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lebt (Hebr 11,13; Phil 3,20; 1 Petr 2,11), weil das endgültige Bei-GottSein als Heimat noch aussteht, zu einem Pilgerweg wird, dessen Stationen in der Gegenwart Gottes Angeld auf die vollkommene Gemeinschaft mit Gott in der Ewigkeit sind. In eben diesem Sinn führt auch die Predigt Veneranda dies in einem mittelalterlichen Pilgerführer zum Jakobsweg das Unterwegssein des Menschen auf Adam zurück, der trotz seiner Ausweisung aus dem Paradies letztlich einen Weg auf Rettung und Heilung hin beschreitet und macht diesen Sachverhalt auf das Pilgern in der gebrochenen Schöpfung hin transparent: Als erster Pilger gilt Adam, weil er das göttliche Gesetz überschritt, das Paradies verlassen musste und in die Verbannung dieser Welt geschickt wurde, um durch das Blut und die Gnade Christi gerettet zu werden. Ebenso wird der Pilger, der von seinem Wohnort fortgeht, von seinem Priester wegen seiner Vergehen auf Pilgerfahrt und somit gleichsam ins Exil geschickt. 11

b)

Kain

Mit dem Mord Kains an seinem Bruder Abel (Gen 4,1–16) 12 schildert der urgeschichtliche Erzähler den Sündenfall – im Unterschied zu Gen 3, wo das nämliche Geschehen direkt auf Gott ausgerichtet ist – auf der das Verhältnis zum Mitmenschen betreffenden Ebene und zeigt damit eine weitere Seite der aufsässigen Menschheit und zugleich auch eine weitere Facette seines irdischen Pilgerweges auf. Den Startschuss für das Unheilsgeschehen bildet nach Gen 4,1 das mit der geschichtlichen Entfaltung des Menschen erwachende Bewusstsein von der Autonomie der eigenen schöpferischen und gestalterischen Möglichkeiten. Die Funktionalisierung Gottes bei Eva, die sich nach der Geburt ihres Sohnes Kain rühmt, in Gegenwart Gottes und gleichsam in Entsprechung zu seiner Schöpfermacht »einen Mann erschaffen zu haben«, bestimmt auch das Verhältnis ihrer beiDer Jakobsweg. Mit einem mittelalterlichen Pilgerführer unterwegs nach Santiago de Compostela. Ausgew., eingeleitet, übers. und kommentiert von K. Herbers, Tübingen 72001, 80. 12 Vgl. hierzu R. Brandscheidt, Kain und Abel. Die Sündenfallerzählung des Jahwisten in Gen 4,1–16, in: Trierer Theologische Zeitschrift 106 (1997) 1–21; dies., Kain und Abel, in: www.bibelwissenschaft.de/stichwort 23040, abgedruckt in: Meisterwerke der Kunst 65. Quellen und Texte, Stuttgart 2017, 33–37. 11

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den, in Lebensauffassung und Handeln unterschiedlichen Söhne Kain und Abel. Weil Letzterer als Zeichen seiner ganzheitlichen Übereignung an Gott von den Erstlingen seiner Herde als Angeld für das Ganze opfert und folglich ihm allein das uneingeschränkte Wohlgefallen Gottes zuteil wird, regt sich bei Kain, der in seinem Opfer einen entsprechend ganzheitlichen Aspekt der Hingabe an Gott vermissen lässt, der Zorn, der schließlich im tödlichen Angriff auf den Bruder gipfelt und damit die Unheilslinie, die mit der Selbstrühmung der Frau Gott gegenüber begonnen hat, im Ausbruch der Gewalt dem Mitmenschen gegenüber zum Höhepunkt treibt (Gen 4,3–8). Die Antwort Kains auf die schuldaufdeckende Frage Gottes nach dem Bruder ist eine Bestreitung der brüderlichen Gemeinschaft und zeigt damit eine Verhärtung in der eigenen Schuld (Gen 4,9) mit der Folge, dass Kain im göttlichen Strafurteil den Konsequenzen seiner Tat übereignet wird. Nach Art eines Tun-Ergehen-Zusammenhangs wird der vom Bruderblut getränkte Ackerboden ihm künftig die ungebrochene Wachstumskraft verweigern und Kain selbst, der die Gemeinschaft mit dem Bruder durch dessen Ermordung zerstört hat, zu einer gejagten und wurzellosen Existenz 13 verurteilt: Und jetzt: Verflucht bist du vom Ackerboden weg, der seinen Mund aufgetan hat, um das Blut deines Bruders aus deiner Hand anzunehmen. Wenn du den Ackerboden bebaust, soll er nicht fortfahren, dir seine Kraft zu liefern. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden. (Gen 4,11 f.)

Die Tatsache jedoch, dass Gott aufgrund seiner Selbstbindung an die von ihm erstellte Schöpfung auch dem Sünder einen bleibenden Raum für die Umkehr zuweist und dieser somit ein Gegenstand der Führung durch Gott bleibt, führt dazu, dass der Brudermörder Kain nicht mit seiner Tat identifiziert wird. In seiner Welt, die kein Ort der Geborgenheit mehr ist und sich aufgrund seiner Gewalttat zu »Nod«, dem Land der Ruhe- und Heimatlosigkeit gewandelt hat, kann er ein Leben führen, das im Blick auf das von Gott ursprünglich gewollte zwar gebrochen, das aber dennoch von Gott nicht aufgegeben ist und in dem Eden, der Ort ungetrübter Gemeinschaft mit dem Schöpfer, als Zielpunkt sichtbar bleibt (Gen 4,16). 14 Dieser Zirkel der BewahHier finden wir eine Entsprechung zur ursprünglichen Bedeutung des Wortes Pilgern, das vom lateinischen per agere stammt und das Verlassen der Heimat und ihres Schutzes anzeigt. Vgl. Lienau, Sich fremd gehen (s. Anm. 3), 30. 14 Vgl. hierzu R. Brandscheidt, Kein Raum der Geborgenheit mehr. Brudermord und 13

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rung ist das Kainszeichen (Gen 4,15), das Kain anhaftet und das ihm einen Ort in der Gnade Gottes schenkt. Damit aber ist das als Bußstrafe dem kainitischen Menschen auferlegte stetige und flüchtige Umherirren auf seinem notvollen Weg durch die Geschichte zwar nicht aufgehoben, kann aber im Blick auf Gott, der allein über Ende und Ziel dieses Weges verfügt, bewältigt und folglich als ein Pilgerweg gesehen werden, auf dem jeder, der der Gewalt absagt und die Umkehr zu Gott sucht, eine neue Beheimatung in Gott finden kann. Zugleich wird auf der Basis dieser Erfahrung aber auch deutlich, dass die im Zeichen des Sündenfalls gebrochene Erde nicht die wahre Heimat des Menschen ist, dass aber die irdische Pilgerschaft mit jenen Stationen, die man als Ort der Gegenwart Gottes erlebt, zum Ausdruck einer Erwartung auf Erfüllung und Vollendung werden kann und folglich dem aufgrund des Sündenfalls durchkreuzten Leben Orientierung verleiht.

2.

Zur Glaubenswanderschaft berufen – Abraham

Die Abrahamerzählung (Gen 12–25), die im Kontext des Buches Genesis nicht einen für sich stehenden Traditionsblock darstellt, sondern die Urgeschichte über die maßgebenden Anfänge von Welt und Mensch ergänzt, präsentiert den Patriarchen als Normgestalt jenes heilsgeschichtlichen Weges, der im ersten Teil Gen 1–11 als Zeugnis für den Erlöserwillen des Schöpfergottes in Gen 3–4 (3,20 f.24; 4,15) und nicht zuletzt im Noachbund Gen 9,11–17 in Aussicht gestellt wurde, und damit als Urbild des pilgernden Menschen unter der Verheißung Gottes. Der heilsgeschichtliche Weg zur Überwindung der Ursünde und ihrer Folgen für die Menschheit beginnt mit der Berufung Abrahams (Gen 12,1–3), weshalb dessen Aufbruch und Glaubenswanderschaft für das Gottesvolk aller Zeiten Vorbildcharakter besitzt. Insbesondere das Leitwort »gehen«, das in Verbindung mit anderen Verben der Bewegung an die Wurzeln der nomadischen Existenz Abrahams rührt und damit an einen Daseinsvollzug erinnert, der durch ständigen Aufbruch und immer neues Ausschauhalten nach dem, was das Überleben sichert, geprägt ist, verdeutlicht die natürliche Voraussetblutgetränkte Erde in der urgeschichtlichen Darstellung Gen 4,1–16, in: Inspiration 42 (2016) 2–7.

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zung für die Wahrnehmung eines Gottes der Führung und damit jene Disposition, die das Pilgersein des gläubigen Menschen ausmacht: die Bereitschaft, in der Gegenwart Gottes Wege zu gehen und damit einem anderen die Entscheidung zu überlassen, konzentriert auf das Lebensnotwendige und die Wahrheit, die das Leben trägt. An Abraham, dem Antitypos zum urgeschichtlichen Menschen und dem Paradigma des gläubigen und pilgernden Menschen, wird also erstens aufgewiesen, was es für das Gottesvolk bedeutet, unter einer Verheißung zu stehen, die Teil einer die ganze Menschheit betreffenden Planung Gottes ist, und zweitens, in welcher Weise die abrahamische Daseinsform die Glaubenswanderschaft vor und mit Gott vertieft. 15 Folgende Aussagenschwerpunkte hat das Glaubensdenken Israels hierbei als maßgeblich erkannt: 1. Der Blick auf den Daseinsvollzug Abrahams, der als Weg mit Gott erfahren und geglaubt wird, befördert die Einsicht, dass die geschichtliche Existenz des Menschen ein lebenslanges Unterwegssein zu Gott ist und dass derjenige, der Abraham zum Vorbild hat und sich auf das Risiko einer Glaubenswanderschaft einlässt, im Gehen des »ihm zugunsten« 16 gewiesenen Weges seinen Gott bezeugt. Der abrahamische Weg ist also nicht der Entwurf des Menschen Abraham, sondern die Antwort auf einen an ihn ergangenen Ruf Gottes mit der Folge, dass Pilgern zur Lebensaufgabe Abrahams wird. Aus diesem Ruf Gottes an Abraham ist für den Glaubensvollzug generell zu folgern, dass der Mensch, um in die Nähe Gottes zu gelangen, sich fortan je neu nicht nur mit seinen Füßen, sondern mit seinem ganzen Wesen auf den Weg machen, zu dem von Gott angegebenen Ziel aufmachen muss. Diese Ersterfahrung des Abraham bleibt hinfort gültig für die gesamte atl. und ntl. Offenbarungsentwicklung […]. Gehen, Unterwegssein zu Gott wird geradezu die idealtypische Lebensform des Erzvaters und damit der von Gott Erwählten allgemein. In ihm werden Wirklichkeit und Ziel des menschlichen Lebens vor, mit und zu Gott trefflich ausgesagt. 17

Zum Folgenden vgl. R. Brandscheidt, Abraham. Glaubenswanderschaft und Opfergang des von Gott Erwählten, Würzburg 2009, 83 f. 16 In Gen 12,1 ist der Imperativ »geh« durch den Dativus ethicus »für dich« ergänzt, was die Bedeutung des Vorgangs für den Betroffenen unterstreicht. 17 So H. Groß, Zur theologischen Bedeutung von halak (gehen) in den AbrahamGeschichten (Gen 12–25), in: M. Görg (Hg.), Die Väter Israels. Beiträge zur Theologie 15

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2. Die Glaubenswanderschaft Abrahams ist kein ruheloses Umherziehen oder ein Gehen ins Ungewisse; sie ist und bleibt zielbestimmt von dem Land, das Gott ihm zeigen will (Gen 12,1). Dessen territoriale Umschreibung in der Anschauung Kanaans, ohne jedoch den Namen des Landes zu nennen (Gen 12–13), steht ganz im Dienst einer theologischen Kennzeichnung. Gemeint ist nämlich ein Lebensraum, der sich Abraham erst im Zuge seiner Übereignung an Gottes Führung als Frucht seines Glaubensgehorsams erschließt. Darauf bezogen legt das Glaubensdenken Israels die Einsicht nahe, dass der Gott Abrahams die Seinen in eine Zukunft führt, die nicht die Wiederholung oder Bestätigung von bereits Vorhandenem ist, sondern die Setzung von Neuem, das sich demjenigen, der die Nachfolge leistet, als ein Angeld auf dem Weg zeigt (Gen 12,4–9; 13,14–17). 3. Die mit Abraham beginnende Segensgeschichte findet ihre Grenzen nicht an Abraham und seinen leiblichen Nachkommen, sondern kommt unter dem Einschluss aller zum Heil berufenen Menschen zu ihrem Ziel. Eine Konkretisierung dessen, was das Jahwewort Gen 12,3 zugesagt hat, zeigt sich symbolhaft darin, dass Lot, der Sohn des Abrahambruders Haran (Gen 11,27), mit dem Erzvater zieht (Gen 12,4) und seine Ausrichtung an Abraham, insofern Lot der spätere Stammvater der Moabiter und Ammoniter ist (Gen 19,37 f.; Dtn 2,9.19; Ps 83,9), somit auch einen völkergeschichtlichen Sachverhalt beinhaltet. In jedem Fall gilt, dass Gottes Segen für Abraham kein exklusiver Besitz Israels ist, kein Segen für Israel allein, weshalb an den Brennpunkten der Geschichte Israels wiederholt auf den von Abraham-Israel ausgehenden Segen hingewiesen wird. In Sach 8,13 beispielsweise wird den Heimkehrern aus dem babylonischen Exil angekündigt, dass Jahwe ungeachtet der wechselvollen Geschichte Israels mit seinem Gott an der Bestimmung des Bundesvolkes, Modell des Segens für die Völker zu sein, festhält: »Und wie ihr, Haus Juda und Haus Israel, ein Fluch unter den Völkern gewesen seid, so werde ich euch erretten, damit ihr ein Segen seid.« Und Jes 19,24 garantiert dem nachexilischen Gottesvolk das Ziel seiner Segnung, insofern dort Israel zusammen mit Ägypten und Assur, die stellvertretend für die Völkerwelt stehen, den Segen Abrahams in seiner universalen Gel-

der Patriarchenüberlieferungen im Alten Testament (FS J. Scharbert), Stuttgart 1989, 73–82, 75.

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tung erfährt: »An jenem Tag wird Israel als drittes dem Bund von Ägypten und Assur beitreten, zum Segen für die ganze Erde.« 4. Dadurch dass die Nachkommenschaft in die Verheißung einbezogen ist, führt Abrahams Weg zu einer Zukunft, die seinen irdischen Lebensvollzug transzendiert, wodurch Abraham zur normierenden Gestalt für den heilsgeschichtlich gestifteten Weg in das Verheißungsland wird und für die Glaubenshaltung, die den Zugang zu diesem Verheißungsgut eröffnet, nicht aber für dessen Inbesitznahme. Dieser Sachverhalt verlangt nach einem eschatologisch geprägten Glauben, den Israel im Verlauf seiner Führungsgeschichte mit Jahwe immer stärker artikuliert, nämlich dass Gott durch sein Wort die Geschichte lenken und trotz aller Gegenkräfte zu der Vollendung führen wird, die seine Schöpfungs- und Geschichtsplanung vorgesehen hat. Daher hat es Abraham, auch wenn der Weg in das verheißene Land die Abrahamnachkommenschaft durch eine die Weltgeschichte andauernde Zeit des Leides und der Bedrängnis führen wird (Gen 15,13), und Abraham ein im Land umherziehender Fremdling geblieben ist (Gen 23,4), nicht gereut, die Pilgerschaft auf Gottes Ruf hin begonnen zu haben und seiner Bestimmung, auf dem Weg seiner Glaubenswanderschaft ein Segen für andere zu sein (Gen 12,2), zu folgen, denn »er starb in glücklichem Alter, betagt und lebenssatt, und wurde mit seinen Vorfahren vereint« (Gen 25,8). Er vertraute darauf, dass die Erfüllung der Verheißung sich einem eigenen abschließenden Akt der Führung Gottes verdanken wird (Gen 15,6), wohl wissend, dass von Seiten des Menschen das Opfer der Person, also die Bereitschaft zur Ganzhingabe an den Gott der Führung dazu beiträgt, einen Zugang zum verheißenen Land zu gewinnen (Gen 22,1–19). 18

Vgl. hierzu R. Brandscheidt, Das Opfer des Abraham (Genesis 22,1–19), in: Trierer Theologische Zeitschrift 110 (2001) 1–19. Im Hintergrund von Gen 22 steht die Einsicht, dass nicht schon mit der Geburt des verheißenen Nachkommen und Erben, sondern erst mit der Rückgabe des Sohnes der Verheißung an Gott, der allein über Abrahams Zukunft verfügt, dessen Glaubenswanderschaft zu ihrem Höhepunkt gelangt. Eine solche Einsicht setzt nicht nur eine literarisch bereits vorliegende Abrahamtradition voraus, sondern auch einen Offenbarungsstand, in dem Israel auf dem Hintergrund zeitgeschichtlicher Erfahrungen erkannt hat, dass der Gang der Verheißungsgeschichte auf ihre Vollendung zu nicht eine Geschichte triumphaler Bestätigung ist, sondern eine durch Leid und Versuchung gehende Hingabe an den Verheißungsgott wesenhaft mit einschließt.

18

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Der Weg des Menschen nach dem Vorbild Abrahams ist damit nicht nur ein stetiger Weg zwischen Verheißung und Erfüllung und ein Symbol für den Gehorsam im Glauben, sondern auch ein spiritueller Weg, auf dem Abraham gelernt hat, dem Gott der Führung die Initiative zu überlassen und keine selbst gewählten, mit scheinbaren Vorteilen verbundenen Wege zu beschreiten. Der Versuchung nämlich, die Segenswirkung, die Jahwes Verheißung ihm am Ende seines Weges in Aussicht gestellt hat, eigenmächtig voranzutreiben, ist der Lehrerzählung Gen 12,10–20 zufolge auch Abraham erlegen, als er sich infolge einer Hungersnot auf den Weg nach Ägypten machte und am ägyptischen Hof aus der Schönheit seiner Frau Kapital schlug und mittels einer Täuschung vom Pharao begünstigt und mit Geschenken überhäuft wurde. Dass der Weg Abrahams nicht an den Folgen seines Versagens versandet, liegt auch hier wiederum an dem Gott der Führung, der alles daran setzt, um Abraham auf den Weg seiner Glaubenswanderschaft zurück zu führen. Und in der Tat kehrt Abraham um, mit den Füßen, aber auch in spiritueller Hinsicht (Gen 13,1) und zeigt in der darauffolgenden Auseinandersetzung mit Lot um die fruchtbaren Weidegründe, in der er Lot die Wahl überlässt, dass er verstanden hat, dass der Segen, den Gott ihm verheißen hat, nicht machbar ist und ein Pilgerweg unter gewaltsamer Durchsetzung auf Kosten des Anderen versandet (Gen 13,1–13). Aus diesem Grund baut er auch dem Gott, der sich ihm auf dem Weg gezeigt hat, an den entscheidenden Stationen einen Altar (Gen 12,7 f.; 13,8). Damit markiert Abraham nicht nur das Fundament, auf dem seine Pilgerschaft beruht, sondern er bekundet auch und vor allem, dass sein Gehen unter der Verheißung Gottes zielbestimmt ist. Der Topos so mancher heutiger Pilgerführer: »Der Weg ist das Ziel« ist nur insofern richtig, als auch auf dem Weg Ziele gefunden werden; er ist jedoch falsch, wenn das Unterwegssein als solches zur Erfüllung wird. Denn »Unterwegssein als Selbstzweck sucht nichts mehr, hat kein Ziel – sei es konkret oder eschatologisch –, sondern genügt sich selbst. Dieser Pilger lebt als Vagabund, der Angst vor dem Ankommen hat, weil seine Identität im ziellosen Unterwegssein liegt«. 19 Wohl ist auch Abraham in Bewegung und immer wieder zu Aufbrüchen unter der Führung Gottes bereit, aber nicht das Unterwegssein ist das Eigentliche, sondern das Ziel, auf das der Weg zugeht und das bei Gott beschlossen ist. Hier braucht Abraham nichts zu erkämp19

Lienau, Sich fremd gehen (s. Anm. 3), 170.

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fen und muss er auch nicht verzweifeln, wenn scheinbar nicht alles nach Plan verläuft. Denn weil Gott es gegeben hat, kann das Ziel nicht genommen werden.

3.

Pilgern unter Gottes Führung – Israels Exodus aus Ägypten Auch die Söhne Israels waren Pilger, als sie von Ägypten in das Land der Verheißung zogen, geprüft durch verschiedene Mühen und schlimme Kriege. Und so wie jene nach vielen Entbehrungen ins Land der Verheißung zogen, so erlangen die Pilger, um in das den Gläubigen versprochene himmlische Vaterland einziehen zu können, die Gemeinschaft der Heiligen, nachdem sie die unzähligen Betrügereien der Wirte erlitten, Berge bestiegen, in die Täler hinuntergewandert, von Räubern überfallen und verschiedene Gefahren sowie Mühsale auf dem Weg zu den Stätten der Heiligen überstanden haben. 20

Dieser Auszug aus der Predigt Veneranda dies im mittelalterlichen Jakobsbuch trägt mit dem Hinweis auf die Pilgerschaft Israels im Zuge des Exodusgeschehens dem Sachverhalt Rechnung, dass dessen Schilderung in Ex 1–32 mehr als nur eine Flucht der Ahnen Israels aus der Unterdrückung hin zur Freiheit behandelt. Allein die Tatsache, dass das Althebräische keinen eigenständigen Nominalbegriff für Freiheit bzw. Emanzipation besitzt, sondern allein Verben, die Vorgänge des Freiwerdens und der Herausführung aus Abhängigkeitsverhältnissen bezeichnen, warnt vor einer Absolutsetzung des Freiheitsbegriffes als Schlüssel zum Verständnis des Exodusgeschehens. Betrachtet man zusätzlich die Leitworte innerhalb der Darstellung des Exodus: calah hif. »hinaufsteigen lassen, hinaufführen« (Ex 3,8.17; 8,1.3; 13,19), jasa’ hif. »herausgehen lassen, herausführen« (Ex 3,10.12; 6,6 f.26 f.; 7,4 f.; 11,8; 12,31.39.41 f.; 14,11), nasal hif. »herausreißen, retten, befreien« (Ex 2,19; 3,8; 6,6; 12,27) sowie ga’al »aus-, erlösen« (Ex 6,6), die samt und sonders auf ein Retterhandeln Gottes im Horizont einer Führungsgeschichte verweisen und den Auszug aus Ägypten mit dem Einzug in das Land der Verheißung verbinden, so wird deutlich, dass Israel den Ägyptenexodus theologisch als Erlösungsgeschehen verstanden hat, weshalb auch die Rezeption des Exodusgeschehens in der Prophetie diesen eschatologisch zum Neuen Exodus aus Sünde und Gericht überbieten kann (Jes 20

Der Jakobsweg (s. Anm. 11), 26.

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34,16–21; 51,9–11; Ez 20,33–38; 37,12 ff.). Damit bestimmt der Sachverhalt des Exodus das Selbst- und Gottesverständnis Israels in maßgeblicher Form, was sich nicht zuletzt auch darin zeigt, dass die Selbstoffenbarung Jahwes am Sinai (Ex 20,2) in der Prophetie zur kürzesten Definition Jahwes als des Gottes »vom Land Ägypten her« (Hos 12,10; 13,4) geführt hat. Nach Auskunft der Exoduserzählung befreit und erlöst der Exodusgott, indem er Israel auf den Weg schickt. Der Grund ist das Spannungsverhältnis zur ägyptischen Großmacht, die die Erfüllung der den Vätern verheißenen Mehrung (Gen 12,7; 13,16; 15,5; 17,5; 35,11 u. ö.) und damit den göttlichen Plan der Begründung eines Gottesvolkes gefährdet, insofern diese zu Formen der gewaltsamen Unterdrückung bis hin zu existenzgefährdenden Anschlägen auf die Ahnen Israels greift. Die sich darin artikulierende Gottesfeindschaft – aufgewiesen vor allem am Pharao, der in seiner Herzensverhärtung und mit seinen lästerlichen Reden ein Allmachtsgebaren an den Tag legt, das ihn als Antijahwe ausweist (Ex 5) 21 – lässt die Ägypter in Blindheit den wahren Machtverhältnissen gegenüber letztlich selbstzerstörerisch den eigenen Untergang betreiben und zeigt damit theologisch die vor Gott bestehende faktische Ohnmacht der selbstherrlich Mächtigen auf. 22 Mose und dem ihn sendenden Gott stellt sich der im Kontext der Exoduserzählung namenlos bleibende Pharao vorsätzlich entgegen, indem er Israel nicht nur in seiner natürlichen Entwicklung und in der Ausübung seiner Freiheit behindert, sondern darüber hinaus auch in seiner Existenz als auserwähltes Gottesvolk radikal gefährdet, so dass die ganze heilsgeschichtliche Planung Jahwes mit ihrer für alle Menschen gültigen Verheißung illusorisch zu werden droht. Durch diese Konfrontation mit dem Heilsplan Jahwes gewinnt aber die sonst bei dem autokratisch verfassten alten Ägypten nicht ungewöhnliche Machtpolitik des Pharaos eine bemerkenswerte theologische Vertiefung. Der Feind erscheint als Widersacher Jahwes, als »Antijahwe«. Vgl. H. Utzschneider / W. Oswald, Exodus 1–15 (IEKAT), Stuttgart 2013; zum Begriff »Antijahwe« vgl. E. Haag, Das hellenistische Zeitalter. Israel und die Bibel im 4. bis 1. Jahrhundert v. Chr. (BE 9), Stuttgart 2003, 236–244. 22 Dies wird zum Thema in den Plagenerzählungen Ex 7–11, denen es nicht um erzählte Historie, sondern um eine modellhafte Darstellung der Auseinandersetzung zwischen Gott und dem Pharao bzw. zwischen Jahwe und dem Antijahwe geht. Dabei macht die bis zur Verstockung reichende Herzensverhärtung des Pharaos, der in einem komplexen, mehrschichtigen Prozess taktiert, täuscht und wortbrüchig wird, den Zusammenbruch seiner Herrschergewalt unumgänglich. Davon ist in Ex 14, der sog. Meerwundererzählung die Rede, wonach die Feinde der Führungsgeschichte Jahwes mit Israel unter den Wassermassen, denen sie entgegengeeilt sind, begraben werden, Israel aber trockenen Fußes durch das Meer zieht, dessen chaotische Potenz ihm 21

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Die Selbstbindung des Exodusgottes an Israel, das er aus freien Stücken erwählt und zum Medium seiner Herrschaft bestimmt hat, kommt vollends in seiner Selbstoffenbarung als »Jahwe«, als der Gott, der mit seinem Volk ist und seinen Weg lenkt, zum Ausdruck 23 und führt dazu, dass Israel zu einem Volk wird, das sich fortan unter den Vorgaben seines Gottes als ein »wanderndes Gottesvolk«, als ein Volk auf der Pilgerschaft versteht. Die schützende Gegenwart Jahwes für Israel auf dem Weg in das Land der Verheißung wird durch Mittlerinstanzen verkörpert: die Wolken- und die Feuersäule, die weder tags noch nachts vom Volk weichen und als Wegweiser Israels Möglichkeiten der Wanderschaft erweitern: »Der Herr zog vor ihnen her, bei Tag in einer Wolkensäule, um ihnen den Weg zu zeigen, bei Nacht in einer Feuersäule, um ihnen zu leuchten. So konnten sie Tag und Nacht unterwegs sein.« (Ex 13,21 f.; Num 9,17) Wolken- und Feuersäule unterstreichen beide die Festigkeit und Zuverlässigkeit der göttlichen Führung. Dass sie nicht als ein physikalisches Phänomen zu verstehen sind, sondern im Horizont einer Theophanie Gottes Handeln verdeutlichen, lässt sich in Ex 14,19 f.24 auch an dem Sachverhalt ablesen, dass von der Wolke(nsäule) gleichzeitig Licht und Finsternis ausgehen. Für das Jahwevolk erhellt sie die Nacht und versinnbildlicht das schützende Mitsein Jahwes in der Gefahr. Für die Ägypter als Repräsentanten jener Kräfte, die Gottes Führung und damit Israels Weg behindern wollen, verkörpert sie eine undurchdringliche Finsternis und damit den Widerstand Gottes gegenüber allen chaotischen Größen, deren Weg in einer Sackgasse endet. Im Fall Israels kann aber die Größe der Not auch den Vollzug seines Pilgerweges behindern und unfähig machen, sich den Schwierigkeiten auf dem Weg der Rettung zu stellen. So führt beispielsweise die Bedrohung durch das ägyptische Heer, das die flüchtigen Israeliten am Schilfmeer einzuholen droht, bei diesen dazu, dass sich ihr

nichts anhaben kann, und dann seinen von Gott initiierten und begleiteten Weg fortsetzt. 23 Es geht bei der Offenbarung des Namens in Ex 3,14 nicht um eine Erklärung in dem Sinn, dass die Bezeichnung Jahwe etymologisch geklärt würde. Der Gottesname, der als solcher eine vorisraelitische Geschichte hat, ist vielmehr der Aufhänger, um das Wesen des Vätergottes als eines mitseienden Gottes in der Geschichte seines Volkes zur Sprache zu bringen. Vgl. hierzu auch R. Brandscheidt, Jahwe, in: Lexikon für Theologie und Kirche3, Bd. 5, Freiburg 1996, 712 f.

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Kleinmut von einem zunächst an Jahwe gerichteten Notschrei in trotzige Rebellion seinem Gesandten gegenüber wandelt: Zu Mose sagten sie: Gab es denn keine Gräber in Ägypten, dass du uns zum Sterben in die Wüste holst? Was hast du uns da angetan, uns aus Ägypten herauszuführen? Haben wir dir in Ägypten nicht gleich gesagt: Lass uns in Ruhe! Wir wollen Sklaven der Ägypter bleiben; denn es ist für uns immer noch besser, Sklaven der Ägypter zu sein, als in der Wüste zu sterben (Ex 14,11 f.).

Letztlich wird hier der hinter Mose stehende Rettergott als Verderber angesehen, als der eigentliche Verursacher der gefahrvollen Lage für Israel, weshalb der Widerspruch Israels von bitterem Sarkasmus geprägt ist: Gräber gab es in Ägypten genug, argumentiert das Volk, eingedenk der Tatsache, dass Ägypten nun einmal das Land mit dem ausgeprägtesten Totenkult ist. Um unter der Führung Jahwes Tod und Verderben zu erleben, war in den Augen des aufbegehrenden Israel der Weggang aus Ägypten nicht nötig. Diese Rede Israels in Ex 14 präludiert das Murren Israels, das in den Wüstenerzählungen eine tragende Rolle spielt und immer wieder den Gedanken einer Rückkehr nach Ägypten einspielt (Ex 16,3; Num 14,2–4). Hierin spiegeln sich Erfahrungen Israels mit sich selber wider, das in seiner Geschichte als Volk der Erwählung auch eine Linie der Verweigerung dem Gott der Führung gegenüber entdeckt. Denn weil es in der Sorge um die tägliche Nahrung nicht mehr erkennt, welche Heilsgüter ihm innerhalb der Führung mit seinem Gott zuteil werden, will es auf dem Weg umkehren und lieber Sklave Ägyptens sein, als Solidarität mit dem Erlösergott zu üben (Ex 14,12). Dennoch lässt der Exodusgott von seinem Plan nicht ab, so dass zum wiederholten Male deutlich wird, nicht nur wer letztlich die treibende Kraft auf dem Pilgerweg Israels ist, sondern auch, wie Jahwe Israel auf seiner Pilgerschaft die Möglichkeit eröffnet, von falschen Wegen umzukehren, damit es reif wird für das Ziel. Denn auch wenn Gott die Klagen Israels über den Mangel an Wasser (Ex 15,23 ff.; 17,1 ff.; Num 20,1 ff.) oder über den Hunger (Ex 16,1 ff.), die generell elementare Pilgererfahrungen sind, durch ein Wunder beseitigt und mit der Gabe des täglichen Mannas die Belehrung verbindet, dass der Mensch nicht aus sich selbst lebt und letztlich die Gabe des göttlichen Wortes die eigentliche Speise ist (Dtn 8,3), zeigen das wiederholte Aufbegehren und Murren Israels, verbunden mit dem Zurücksehnen nach Ägypten und dem Abfall zum Götzendienst (Ex 32; Num 142 https://doi.org/10.5771/9783495825426 .

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25,1 ff.) in Verbindung mit der Anfechtung selbst des Mittlers Mose 24 eine Widerspenstigkeit, die die Glaubenswanderschaft hemmt und daher der Läuterung bedarf. Das ist der Sinn des Interpretamentes von der vierzigjährigen Wüstenwanderung (Dtn 2,7; 8,2.4; 29,4), die Israel für das Reifen in seiner spirituellen Glaubenswanderschaft braucht, um in der Lage zu sein, den Auszug aus dem Sklavenhaus Ägypten und seinen entwürdigenden Abhängigkeiten mit dem Vertrauen in die Begleitung Gottes auch auf ungewissem und gefährlichem Weg zu verknüpfen. Dass darüber hinaus Pilgern auch ein Mittel der Erinnerung ist, zeigt die Katechese über das Pesachfest am Ende von Ex 12, in der Mose gleichsam eine Metaebene der Betrachtung und Reflexion herstellt, wenn er seine Hörer, die textinternen ebenso wie die textexternen, auffordert, das Pesach zu feiern, wenn das Volk ins verheißene Land kommen wird: »Wenn ihr in das Land kommt, das euch der Herr gibt, wie er gesagt hat, so bewahrt diesen Dienst.« (Ex 12,25) Den dieses Vorgehen kennzeichnenden Begriff »Dienst«, der buchintern an die Dienstbarkeit der Israeliten beim Pharao (Ex 2,23; 5,9; 6,9) erinnert, hat hier kontrastierend dazu die Konnotation des Gottesdienstes. Es geht also darum, die im Land lebenden Generationen vor der Gefahr zu bewahren, das Wissen über den Rettergott Jahwe zu verlieren, dadurch dass die Exodustradition weitergegeben und bewahrt wird. Deshalb ist in Ex 12 die Fiktion eingefügt, dass Mose schon mit Blick auf die »Kinder« – gemeint ist die nachfolgende Generation von Jahwegläubigen – eine Belehrung erteilt habe. Die Exodusgeschichte konserviert also nicht nur ein einmalig historisches Geschehen, sondern will zum lebendigen Gedächtnis für den Pilgerweg des Volkes in der Geschichte werden, das im Exodus seine eigene Befreiung und Erlösung entdeckt. Dass Israel sich durch diese grundlegende Erfahrung als »Jahwes Volk auf dem Weg« entdeckt hat, dessen wahre Heimat letztlich Gott selbst ist, zeigt sich auch in der Einstellung dem späteren Landbesitz gegenüber, dessen Verkauf in Lev 25,23 mit dem Hinweis auf Israels Status als »Fremde und Beisassen« untersagt wird: »Das Land darf

Angesichts der schwierigen Situation der Wüstenwanderung spricht Mose davon, dass die Führung Israels für ihn eine untragbare Last sei, mit deren Aufbürdung Jahwe ihn schlecht behandelt habe, obschon Gott doch infolge der Erwählung Israels gleichsam zu dessen Mutter geworden sei. Darum bittet Mose für den Fall, dass sich die Situation für ihn nicht ändern sollte, um seinen Tod (Num 11,11–15).

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nicht endgültig verkauft werden, denn das Land gehört mir und ihr seid nur Fremde und Beisassen bei mir.« Dieser theologischen Forderung, die nicht die gesellschaftliche Wirklichkeit, in der Familienbesitz die Grundlage wirtschaftlicher Existenz ist, sondern die spirituelle Dimension der Befreiung aus Ägypten festhält, korrespondiert die liturgische Formel in 1 Chr 29,15: »Denn wir sind nur Fremde bei dir, Beisassen, wie alle unsere Väter« (vgl. Ps 39,13; Gen 23,4). Alles in einem weiß Israel von Ägypten her um ein bleibendes Fremdsein in dieser Welt, das es allein im Blick auf Jahwe, den Gott der Führung von Ägypten her, mit dem es sich in der Geschichte auf der Pilgerschaft befindet, bewältigt. Zugleich ist der Gläubige im Bedenken des Exodusgeschehens aufgefordert, sich aus falschen Abhängigkeiten herausrufen zu lassen, getreu der Bitte des Psalmisten in Ps 25,4: »Zeige mir, Herr, deine Wege, lehre mich deine Pfade!«

4.

Als Volk der Erwählung auf dem Weg – der Wallfahrtspsalter (Ps 120–134)

In der nachexilischen Zeit, als das Jahwevolk sowohl im Land als auch in der Diaspora inmitten der Völker lebt und hier seiner Bestimmung, Zeuge Jahwes zu sein (Jes 43,8), eine konkrete Gestalt zu geben versucht, werden im Blick auf die für den frommen Israeliten vorgeschriebene Zionswallfahrt 25 von der Jerusalemer Priesterschaft für Zionspilgergruppen verschiedene Psalmen als Wallfahrtsbüchlein 26 zusammengestellt und dabei zur jetzt vorliegenden Sammlung Ps

Mit dem Vollzug der zu den drei Hauptfesten ausdrücklich gebotenen Wallfahrt nach Jerusalem (Ex 23,17; 34,23; Dtn 16,1–16) praktiziert Israel nicht nur seine Verbundenheit als Glaubensgemeinschaft, sondern versteht sich auch und vor allem als das Volk, das als eine aus dem Exodus lebende Generation mit seinem Gott in der Geschichte auf dem Weg ist. 26 Es spricht vieles dafür, die Überschrift sir hamacalot »Lied für Wallfahrten« als eine Neubildung mit Bezug auf Esr 7,9 zu verstehen, wo die Rückwanderung aus dem Exil als »Hinaufzug« (von calah »hinaufsteigen«) bezeichnet wird, so dass das Wallfahren in das Licht jener großen Wallfahrt der Rückkehrer aus dem Exil tritt. So K. Seybold, Poetik der Psalmen, Stuttgart 2003, 357. Vgl. auch K. Deurloo, Gedächtnis des Exils (Psalm 120–134), in: Texte und Kontexte 15 (1992) 28–34, 34: »So lernt die Gottesgemeinde, die Geschichte nicht zu vergessen, sondern sie sich sogar im wörtlichen Sinn zu eigen zu machen«. 25

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120–134 erweitert. 27 Dabei fügt die Exilswende und Heimkehr der Exulanten zum Zion als dem äußeren Zeichen der Errettung des Gottesvolkes aus dem Gericht dem Wallfahren das Bedenken der erlösenden Gnade Gottes hinzu, die Israel als Volk der Erwählung wiederherstellt und ihm mit der Ankündigung der Sammlung aller Erlösten (Jes 43,1–7) einen Weg in die Heilsvollendung eröffnet. Darauf bezogen geht es im Wallfahrtspsalter nicht in einem vordergründigen Sinn um den Wallfahrtsvorgang als solchen, sondern um den im Horizont einer Wallfahrt reflektierten Lebensweg des offenbarungsgläubigen Menschen, 28 wobei die Anlage der Sammlung sich durchaus auch an den konkreten Situationen einer Wallfahrt orientiert (Aufbruch, Reisesegen, Ankunft in Jerusalem, Abschiedssegen), 29 sie aber für die Lebensführung des Frommen theologisch vertieft hat. Damit ist die Wallfahrt im engeren Sinn, also das Aufsuchen eines heiligen Ortes, zum Pilgerweg im Sinn eines verdichteten Lebensweges geworden 30 und dabei auch ein Zeichen für die Bewegung des Gottesvolkes auf ein eschatologisches Ziel hin. Der Wallfahrtspsalter beginnt mit einem Text, der die spirituelle Pilgerschaft des Jahwegläubigen in der nachexilischen Zeit zu einem eigenen Thema macht. Zwar hatte die Heilsverkündigung Deuterojesajas mit ihrer Ankündigung von der Wiederherstellung Israels als Volk der Erwählung nach dem Exilsgericht und der Verheißung von der Sammlung aller Erlösten (Jes 40,1–11; 43,1–7 u. ö.) eine gewisse heilsgeschichtliche Spannung im Jahwevolk hervorgerufen, jedoch war im Widerspruch zu der bereits erfahrenen Heilszuwendung GotSo u. a. E. Zenger, Exkurs: Die Komposition des sog. Wallfahrtspsalters Ps 120–134, in: F. L. Hossfeld / ders., Psalmen 101–150 (HThK.AT), Freiburg 2008, 400 f. 28 Dies erklärt, warum die Wallfahrtspsalmen nirgendwo irgendwelche Spezifika der großen Wallfahrtsfeste enthalten, was u. a. C. C. Keet, A Study of the Psalms of Ascents. A Critical and Exegetical Commentary upon Psalms CXX to CXXXIV, London 1969, moniert. E. Ballhorn, Zum Telos des Psalters. Der Textzusammenhang des Vierten und Fünften Psalmenbuchs (Ps 90–150) (BBB 138), Berlin 2004, 249 plädiert sogar dafür, die Bezeichnung Wallfahrtspsalter aufzugeben und durch Zion-Psalter zu ersetzen. 29 Vgl. Seybold, Poetik (s. Anm. 26), 357: Hier ist »die einfache Grundidee verwirklicht, dem Pilger und der Pilgerin ein Vademecum zu bieten, aus dem er und sie sich während des Verlaufs der Reise bereichern und erbauen konnten.« 30 Zum Ganzen vgl. R. Brandscheidt, Zum Haus Jahwes wollen wir gehen. Israels Wallfahrt zum Zion im Zeugnis des Wallfahrtspsalters (Ps 120–134), in: K. P. Dannecker (Hg.), Das Gewand Christi. Mit Gott als Mensch unterwegs. Theologische Überlegungen zur Heilig-Rock-Wallfahrt 2012, Trier 2011, 40–65. 27

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tes eine neue Bedrängnis entstanden, die mit der notvollen Situation des Gläubigen inmitten einer anders denkenden und handelnden Gesellschaft zusammenhing. Aus diesem Grund bittet der Psalmbeter, der in der Diaspora als ein Fremder unter Menschen lebt, 31 die ihn mit »Lügenzunge« und »trügerischer Lippe« bekämpfen, weil sie seine Glaubensüberzeugung ablehnen, um Gottes Eingreifen im Gericht, nicht weil er persönlich Vergeltung sucht, sondern weil er die Friedensordnung Gottes als die wahre Möglichkeit für ein gedeihliches Zusammenleben der Menschen untereinander ansieht. Für ihn ist der eigentliche Gegensatz, der Menschen voneinander trennt, nicht deren Herkunft, sondern der Gegensatz zwischen dem Frieden, den Jahwe, der Gott des Zion, schenkt (vgl. Ps 89,15), und der vom Bösen ausgehenden Lüge und Gewalt. Die Intention des Psalms ist es folglich, die Erfahrung der Fremdlingsschaft des Gläubigen in einer andersdenkenden Umwelt im Gebet aufzufangen. Damit erlangt der Psalm Modellcharakter sowohl für die theologische Beschreibung der Ausgangssituation einer Wallfahrt zum Zion als auch für die Bereitschaft, sich in seinem Leben für eine Pilgerschaft coram Deo zu entscheiden und dies im Pilgern zum Zion auch öffentlich zu bekunden. Die Entscheidung zur Pilgerschaft erhält einen zusätzlichen Antrieb, wenn Gleichgesinnte sich anschließen und zu Begleitern auf dem Weg werden. Darauf bezogen setzt Ps 122 mit der Erinnerung an die Freude ein, die das Herz des Beters erfüllte, als der Entschluss zur Wallfahrt im heimatlichen Bereich bekannt gegeben wurde: »Ich freute mich, als sie mir sagten: Zum Haus Jahwes wollen wir gehen!« (V. 1) Der Hinweis auf die Freude spielt die Theologie des Buches Deuteronomium ein, das Israel als Festgemeinde ansieht, die sich in geschwisterlicher Gemeinschaft vor ihrem Gott versammelt und sich in ihrer dankbaren Freude als eine Gemeinschaft erfährt, die zumindest im Gottesdienst alle Klassenbarrieren überwindet. Wenn also der Beter von Ps 122 die Wallfahrt nach Jerusalem als ein gemeinschaftDie Angaben Meschek und Kedar, mit denen der Beter seinen Wohnsitz umschreibt (Ps 120,5), sind nicht wörtlich zu nehmen im Sinn des Wohnens in diesen Gebieten, da diese weit voneinander entfernt liegen. Meschek bezeichnet ein Gebiet im hohen Norden (Gen 10,2), Kedar weist in die Bereiche der südöstlichen Steppe (Gen 25,13 f.). Vielmehr vermitteln die Angaben im Sinn einer theologischen Topografie, wie sich der Beter fühlt und unterstreichen als Merismus zur Umschreibung der heidnischen Welt die starke und bedrängende Empfindung des Fremdseins unter Menschen, für die Gewalt und Krieg ein Mittel zum Zweck der Selbstbehauptung sind: »Allzu lange schon wohnt meine Seele bei dem, der Frieden hasst.« (Ps 120,6)

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liches Unternehmen betrachtet, trägt er der Gegebenheit Rechnung, dass der Bund Gottes mit Israel stets die Gemeinschaft der Erwählten im Blick hat, die sich unter der Führung ihres Gottes in das Schauen auf dessen Pläne und Ziele einübt. Wenn dies geschieht, wird dieser Gott den Weg des Wallfahrers behüten, wobei der Hinweis auf das »Gehen und Kommen« in Ps 121,8 nicht nur auf den Abschied vom Zion und die nächste Ankunft des Wallfahrers im Heiligtum anspielt, sondern diese Aktion auf das letzte Ziel hin transparent macht, insofern einmal der Zeitpunkt kommen wird, wo die Wallfahrt zu Jahwe, dem Zionsgott, das physische Kommen transzendiert. So betrachtet ist das Wallfahren zum Zionstempel auch eine Einübung in den Glauben an die Vollendung der Führungsgeschichte Jahwes mit seinen Erwählten, was Ps 121 mit der Formel »von nun an bis in Ewigkeit« (Ps 121,8) unterstreicht, die eben nicht ein unaufhörliches Wallfahren im Blick hat, sondern auf das Ziel aller Wallfahrt, das Ankommen in der Ewigkeit Gottes, schaut. Letzteres macht Ps 126 zum Thema, der im Blick auf die eschatologischen Aussagen des Joelbuches (Kap. 3–4) ein Vertrauensbekenntnis in eine nicht mehr umkehrbare Heilswende für Zion (Ps 126,1–3) formuliert und damit ein Hoffnungsbild zeichnet, um dessen Realisierung die Pilger dann ausdrücklich bitten (Ps 126,4–6). 32 Wenn aber dieses Ziel verwirklicht ist, werden – so beginnt der Psalm – die Zionsbewohner wie »Träumende« sein (Ps 126,1). Im Hintergrund dieser Qualifizierung steht die Auffassung vom Traum als einem Medium der Offenbarung (vgl. Num 12,6; Ijob 4,12–21; Jer 23,25–32), wobei insbesondere Joel 3,1–2 33 deutlich macht, dass die Die in der Interpretation dieses Psalms strittigen und für das Gesamtverständnis entscheidenden Fragen, ob die Infinitivkonstruktion in V. 1–3 futurisch oder perfektisch aufzufassen ist und ob die parallelisierten Wendungen in V. 1a und 4a (»Wende des Geschicks«) auf ein gleiches oder unterschiedliches Geschehen verweisen, hat R. Mosis, »Mit Jauchzen werden sie ernten.« Beobachtungen zu Psalm 126, in: J. Zmijewski (Hg.), Die alttestamentliche Botschaft als Wegweisung (FS H. Reinelt), Stuttgart 1990, 181–201, eingehend untersucht und dabei nachgewiesen, dass nicht die Heimkehr aus dem Exil und die Neueinweihung des Zweiten Tempels im Blickpunkt des Psalms stehen (perfektische Wiedergabe; so u. a. Zenger, Psalm 126, in: F.-L. Hossfeld / ders., Psalmen 101–150 [s. Anm. 27], 507; K. Seybold, Die Psalmen [HAT I/15], Tübingen 1996, 485 f.; B. Weber, Werkbuch Psalmen II: Die Psalmen 73 bis 150, Stuttgart 2016, 294 f.), sondern das mit diesem Neuanfang von Gott verfügte eschatologische Heil als Fortführung dessen, was Jahwe mit der Gründung Zions begonnen hat. 33 »Danach aber wird es geschehen, dass ich meinen Geist ausgieße über alles Fleisch. Eure Söhne und Töchter werden Propheten sein, eure Alten werden Träume haben, 32

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Bezeichnung Träumende die bleibende Seinsweise der Geretteten dereinst auf dem neuen Zion bzw. die Würde des endgültig mit Gott verbundenen Gottesvolkes umschreibt. Die Wiederherstellung und Vollendung Zions wird nach Ps 126,2 f. Freude und Jubel bei den Betroffenen auslösen mit der Konsequenz, dass auch die Völker aufmerken und in das Rettungsgeschehen einbezogen werden, in dem die Linien der Geschichte Israels und der Völker in eins laufen. Aber noch ist die Gegenwart in einer gebrochenen Schöpfung eine Zeit, in der »unter Tränen gesät« wird, also eine notvolle Zeit, in der Israel, das seine bleibende Bestimmung noch nicht erreicht hat, im Pilgern das erlernte Vertrauen in den Gott der Führung in der Aufbauarbeit am Reich Gottes dokumentieren soll, im Wissen darum, dass diejenigen, die unter Tränen gesät haben, dereinst ihre »Garben unter Jubel« tragen werden, weil Gott ihr Aufbauwerk mitträgt und vollenden wird (Ps 126,5 f.). Denn bei Gott ist, wie es Ps 130,7 formuliert, »Erlösung in Fülle«, weshalb er nicht nur bereit ist, die Sünden der Vergangenheit zu vergeben, sondern Israel, wenn die Zeit der Heilsvollendung gekommen ist, auch aus dem Unheilszusammenhang zu befreien, der die ganze Schöpfung gefangen hält und der die Pilgerschaft zu einem Weg unter der Not der Vergänglichkeit macht. Dass die Geborgenheit bei Gott in dieser Weltzeit fragil bleibt und Pilgern das Fremdsein in dieser Welt nicht aufhebt, bringt das Alte Testament auch an anderer Stelle zum Ausdruck. »Ich bin ein Gast auf Erden« stellt Ps 119,19 fest, und der Patriarch Jakob antwortet dem Pharao auf die Frage nach seinem Alter: »Die Zahl der Jahre meiner Pilgerschaft beträgt 130. Gering an Zahl und unglücklich waren meine Lebensjahre und sie reichen nicht an die Lebensjahre meiner Väter in den Tagen ihrer Pilgerschaft« (Gen 47,9). Ungeachtet dessen ist das Pilgern zum Zion, verbunden mit der Einübung in eine vollendungsorientierte Frömmigkeit, jedoch für Israel eine Kraftquelle, die der Pilgerexistenz des Gläubigen Sinn verleiht und die vor dem Abgleiten in oberflächliche Rituale bewahrt. Mit der regelmäßigen Wallfahrt nach Jerusalem hat also das alttestamentliche Gottesvolk der theologischen Bedeutung des Zion als Haftpunkt des Glaubens Rechnung getragen und eine Antwort auf und eure jungen Männer haben Visionen. Auch über Knechte und Mägde werde ich meinen Geist ausgießen in jenen Tagen.« Durch die Geistausgießung werden alle in eine Existenzweise eintreten, die bisher nur wenigen, nämlich den von Gott berufenen Mittlern, zu eigen war.

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die Offenbarungsgegenwart Gottes in den vielfältigen Stadien seiner mit dem Zion verbundenen Führungsgeschichte gegeben. Das Wallfahren zum Zion bedeutet daher für Israel die Begegnung mit Gott und seinem Erlöserwillen und das Beten der Wallfahrtspsalmen die Einladung, sich mit Jahwe auf den von ihm bereiteten Weg des Heils zu machen. Kein Wunder, dass den alttestamentlichen Frommen die Sehnsucht nach Zion bewegt (Ps 137) und er im Gebet dieses herausragenden Ortes der Offenbarungsgegenwart Jahwes mit Liebe gedenkt: »Herr, ich liebe den Ort, wo dein Tempel steht, die Stätte, wo deine Herrlichkeit wohnt« (Ps 26,8), oder: »Das Herz geht mir über, wenn ich daran denke: wie ich zum Haus Gottes zog in festlicher Schar, mit Jubel und Dank in feiernder Menge« (Ps 42,5).

5.

Eine segensreiche Weggemeinschaft für Israel und die Völker – Noomi und Rut

Einen langen und für Israels Existenz als Gottesvolk segensreichen Pilgerweg schildert die in nachexilischer Zeit entstandene Erzählung des Rutbuches, 34 deren Handlungsgefüge in eine Familiengeschichte eingebunden ist. Diese beginnt mit der Leidensgeschichte der Familie von Elimelech und Noomi, die mit ihren Söhnen aufgrund einer Hungersnot in die Fremde nach Moab auswandern. Nach dem Tod ihres Mannes und ihrer beiden Söhne entschließt sich Noomi jedoch dazu, ihr Leben neu zu ordnen und nach Bethlehem zurückzukehren, nicht zuletzt auch deshalb, weil ihr zu Gehör gebracht wurde, dass Jahwe der landesweiten Hungersnot ein Ende gesetzt hat (Rut 1,6). Dem Auszug Noomis – der Verfasser verwendet hier das Verbum jasa’, den Terminus technicus für den Ägyptenexodus Israels (Ex 13,3 f.; Dtn 4,45 f.) und für den Neuen Exodus aus dem Exilsgericht (Jes 48,20; 52,10; Ez 20,33–38), und deutet damit ein Befreiungs- bzw. Erlösungsgeschehen an – schließen sich ihre moabitischen Schwiegertöchter an. Dass eine gemeinsam erlebte Geschichte aber noch keine tragfähige Verbundenheit der Betroffenen im Blick auf das Wegziel entstehen lässt, zeigt der Dialog Noomis mit ihren Schwiegertöchtern auf dem Weg. Noomi, deren Kraft im Rückblick Vgl. u. a. M. Köhlmoos, Ruth (ATD 9/3), Göttingen 2010, XVI; J. Hausmann, Rut. Miteinander auf dem Weg, Leipzig 2005, 101–107; E. Zenger, Das Buch Ruth (ZBK 8), Stuttgart 1999, 124.

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auf die für sie irreparablen Unglücksfälle, die sie als Folge eines Gerichtsgeschehens versteht und später direkt Gott anlastet (1,20 f.), 35 schwindet, sieht die Zukunft ihrer Schwiegertöchter in deren moabitischer Heimat und fordert sie daher auf, umzukehren, da sie sich eine Einwurzelung der Moabiterinnen in Israel zusammen mit ihr nicht vorstellen kann. Während ihre Schwiegertochter Orpa sich daraufhin für eine Rückkehr nach Moab entscheidet, »hängt« sich die andere Schwiegertochter Rut an Noomi, ein Ausdruck für die feste Entschlossenheit, sich an eine Person, koste es, was es wolle, aus Liebe zu binden. In welcher Weise Rut ihre Entscheidung zur Pilgerschaft mit Noomi innerlich vollzieht, zeigt ihre Antwort auf die wiederholte Aufforderung Noomis zur Rückkehr nach Moab: Dränge mich nicht, dich zu verlassen und umzukehren! Wohin du gehst, dahin gehe auch ich, und wo du bleibst, da bleibe auch ich. Dein Volk ist mein Volk und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe auch ich, da will ich begraben sein. Der Herr soll mir dies und das antun – nur der Tod wird mich von dir scheiden (Rut 1,16 f.).

In diesem umfassenden Bekenntnis Ruts, die damit aus dem Rechtsverband des eigenen Volkes und seines Glaubens heraustritt, wird deutlich, dass die Loyalität gegenüber ihrer Schwiegermutter unwiderruflich mit ihrer Entscheidung für das Land und Volk des Gottes Israels verknüpft ist. Eben diese Haltung macht ihren Weg wahrhaft zu einem Pilgerweg und ordnet sie in die Reihe der biblischen Pilger ein, die sich als Angehörige eines von Jahwe gesegneten Volkes begreifen und darum bereit sind, in der von Jahwe gelenkten Weggemeinschaft ihr Leben einzusetzen. Als Rut in Bethlehem, um das Überleben der beiden Frauen zu gewährleisten, das in Israel geltende Armenrecht der Nachlese (Lev 19,9 f.; 23,22; Dtn 24,19) in Anspruch nimmt, trifft sie – scheinbar zufällig, letztlich aber durch Gottes Fügung – auf den Grundbesitzer Boas, einen Verwandten Noomis, der ihr, ungeachtet der Tatsache, dass sie eine Moabiterin ist und damit zu einem Volk gehört, zu dem Israel im Verlauf seiner Geschichte in einem politisch gespannten Vgl. Rut 1,20 f.: »Nennt mich nicht mehr Noomi, Liebliche, sondern Mara, Bittere; denn viel Bitteres hat der Allmächtige mir getan. Voll (reich) bin ich ausgezogen, aber mit leeren Händen hat der Herr mich heimkehren lassen. Warum nennt ihr mich noch Noomi, da doch der Herr gegen mich gesprochen und der Allmächtige mir Schlimmes angetan hat?«

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Verhältnis stand, 36 wegen ihrer Haltung der Treue und Güte Noomi gegenüber mit Achtung und Großzügigkeit und später mit Liebe begegnet und nach wechselvollen Ereignissen für die beiden Frauen als Löser 37 auftritt und in Verbindung damit Rut im Sinn einer Leviratsehe zur Frau nimmt. 38 Ihre Verbindung, die mit der Geburt eines Sohnes gekrönt wird, baut aber nicht nur die Familie Noomis wieder auf (Rut 4,15), sondern weitet sich zu einer Hoffnungsgeschichte, in die über die familiären Grenzen hinaus das ganze Volk Israel einbezogen wird, denn das Kind, so der Schluss des Buches, ist der Ahnherr Davids und damit letztlich auch der Vorfahre des Messias Jesus, des wahren »Sohnes Davids«. Auf diese Weise wird deutlich, dass Gott nicht nur die Treue und Hingabe von Menschen mit seiner Erlöserliebe verbindet, sondern auch den Pilgerweg von Menschen, die das Gute leben, zum Anfang eines neuen Weges und Teil eines Größeren werden lässt. Die Führung Gottes auf dem Weg zielt somit auf mehr als nur die gütige Gestaltung der Geschichte zweier einsamer und schutzloser Frauen auf ihrem Pilgerweg. Sie dient – der repräsentativen Funktion der Jüdin Noomi und der Heidin Rut eingedenk – letztlich dem Aufbau

Vgl. Köhlmoos, Ruth (s. Anm. 34), 4; Ch. Frevel, Das Buch Rut (NSK.AT 6), Stuttgart 1992, 44–46. 37 Der Begriff Löser bezeichnet einen Verwandten in männlicher Linie, der für nahe Verwandte, die in Bedrängnis geraten sind, in rechtlichen Belangen eintritt. So geht es vor allem um den Schutz vor der völligen Verarmung eines Sippenmitglieds und seiner Familie, aber auch um den Schutz vor dem Verlust von Land für die Sippe, wenn es durch ein verarmtes Sippenmitglied an Fremde veräußert werden musste (vgl. Lev 25,23–25). Vgl. Frevel, Das Buch Rut (s. Anm. 36), 103–107. Zu bedenken ist aber auch, dass in der Prophetie Deuterojesajas der Begriff »lösen« zum theologischen Begriff des Erlösens aus dem Bann des Gerichtes und seiner Folgen geworden ist. Vgl. R. Brandscheidt, Die Frohbotschaft von Gott als Schöpfer und Erlöser nach Jes 43,1–7, in: F. Sedlmeier (Hg.), Gottes Wege suchend. Beiträge zum Verständnis der Bibel und ihrer Botschaft (FS R. Mosis), Würzburg 2003, 131–151. Auch im Buch Rut geht es letztlich um Gottes Löserhandeln (4,14), der mittels der Güte des Boas eine Moabiterin in Israel eingliedert und dadurch auf die Begründung eines neuen Gottesvolkes der Erlösten hinwirkt. 38 Die Leviratsehe (lat. levir »Schwager«) bezeichnet eine Ehe, in der die kinderlose Witwe dem Bruder des verstorbenen Mannes, also ihrem Schwager, anvertraut wird. Der Begriff Levirat greift dabei den Rechtsfall von Dtn 25,5–10 auf. Rut vollzieht jedoch nicht im eigentlichen Sinn eine Schwagerehe, sondern heiratet Boas, einen Verwandten der Familie Elimelechs und Noomis, der aus freien Stücken die Verbindung eingeht. Vgl. H.-P. Richter, Zum Levirat im Buch Rut, in: Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft 95 (1983) 123–126. 36

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der Gottesherrschaft in der Völkerwelt und vollzieht damit eine Neubestimmung der Größe Israels, 39 mit der sich die Verheißung erfüllt, unter der Abraham zu Beginn des von Gott eröffneten heilsgeschichtlichen Weges seine Glaubenswanderschaft angetreten hat: »Durch dich sollen alle Sippen der Erde Segen erlangen« (Gen 12,3). Begonnen hat dies alles mit einer Sehnsucht der Moabiterin Rut, die ihre moabitische Heimat ihr nicht stillen konnte. Daher begründet sie ihre Entscheidung, mit Noomi zu gehen, nicht allein mit Liebe und Treue, sondern mit dem Verlangen, dass Noomis Gott auch der ihrige werden soll und dass sie in dem Land begraben sein will, wo dieser Gott verehrt wird. Gott aber, der sich im Modus der menschlichen Sehnsucht bemerkbar macht, ist nicht nur derjenige, der die Wegziele setzt, sondern auch derjenige, der sich für ihre Erreichung verbürgt. Darum ist die Weggemeinschaft von Rut und Noomi, ungeachtet aller Schwierigkeiten und Anfechtungen, die sie durchleben müssen, durch das stärkste Band verbunden, durch das Menschen verbunden sein können, nämlich durch die Zugehörigkeit zu dem Volk, das Gott in Abraham erwählt und zu einer Glaubenwanderschaft bestimmt hat. Diese aber ist, worauf das Buch Rut hoffnungsvoll hinweist, erst dann vollendet, wenn aus den Völkern der Erde ein einziges und einiges Gottesvolk geworden ist, ein Gedanke, den das Alte Testament an anderer Stelle mit der Hoffnung auf eine allumfassende Völkerwallfahrt zum Zion zum Ausdruck bringt (Jes 2,2–4; 60,1–22; Mi 4,1–5; Hag 2,6–9). Mit diesem Gedanken der Universalität des Heils stehen wir an der Schwelle des Neuen Testamentes, das diesen Sachverhalt in Jesus Christus, dem Sohn Gottes, personifiziert sieht.

Dass im Zuge des göttlichen Erlöserhandelns die Linien der Geschichte Israels und der Völker zusammenlaufen werden, ist die Kernbotschaft Deuterojesajas, dessen Heilsverkündigung wiederholt herausstellt, dass auch die Völker ein Gegenstand der Heilssorge Jahwes sind und sich das neue Gottesvolk aus jenen aufbauen wird, die sich bewusst für das von Gott angebotene Heil entscheiden und die Umkehr vollziehen (Jes 40,3–5; 42,6; 44,5; 49,5 f.; 55,5; vgl. 1 Kön 8,41 f.; Jes 56,6 f.; 60,11–3; Sach 8,23).

39

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Leben ist Pilgern

6.

Der neue Weg zu Gott – Jesus Christus

a)

Jesus als Pilger

Zu den zahlreichen Pilgern, die den Jerusalemer Tempel aufsuchten und damit als gesetzestreue Juden die ab dem vollendeten zwölften Lebensjahr geltende Wallfahrtsvorschrift erfüllten (Ex 23,17; 34,23; Dtn 16,1–16), gehörten auch die Eltern Jesu und mit ihnen Jesus selbst. Bereits die erste Wallfahrt des zwölfjährigen Jesus nach Jerusalem (Lk 2,41–50) lässt aber erkennen, dass sein Verhältnis zum Wallfahrtsort ein sehr besonderes ist. Denn auf die Frage seiner Mutter, die ihn, der ohne Wissen der Eltern im Tempel zurückgeblieben ist, angstvoll gesucht hat, antwortet er: »Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meines Vaters ist?« Also ist nicht der Tempel als Wallfahrtsort entscheidend, sondern das Verhältnis und die Haltung Jesu zu Gott, deren Innigkeit sich in einzigartiger Weise als VaterSohn-Verhältnis darstellt. Bezeichnenderweise wird daher bei den Synoptikern dem Wallfahren Jesu zum Jerusalemer Tempel keine besondere Bedeutung mehr beigemessen, 40 wohl aber dem Weg Jesu nach Jerusalem, der zu seinem Tod im Rahmen des Pessachfestes führt (Mk 10,1; Mt 19,1; Lk 9,51) und den der Evangelist Markus als christologischen Erkenntnisweg gestaltet, insofern sich erst von Jesu Tod und Auferstehung erschließt, wer Jesus Christus ist (Mk 8,29.31; 16,6). 41 Anders das Johannesevangelium, das seine Darstellung des Wirkens Jesu an den Reisen nach Jerusalem anlässlich der jüdischen Feste nachdrücklich in den Fokus stellt. Der Pilgerweg, den Jesus hiernach ohne Wenn und Aber in ganzer Hingabe an alles Gott Zugehörige geht, endet dabei jedes Mal in der Konfrontation mit den Juden, die seinen Anspruch, dass in ihm das Reich Gottes angebrochen ist, ablehnen. Eine der ersten Wallfahrten Jesu nach Jerusalem führt zu einer Aktion im Tempelbereich, der so genannten Tempelreinigung (Joh 2,13–25), bei der es nicht primär um eine Kritik an den untragbaren Zuständen des dortigen Opferbetriebes geht. Wenn Jesus im Eifer für Vgl. H. Langkammer, Der Pilger Jesus Christus und seine Nachfolger, in: Communio 26/3 (1997) 205–213.207. 41 Vgl. D. Sänger, Wallfahrt / Wallfahrtswesen III. Neues Testament, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 35 (2003), 418–421, 419; M. Winter, Jesu Weg und der Weg der Jünger. Zur literarischen und theologischen Bedeutung des Weges im Markusevangelium, in: Wort und Dienst 28 (2005) 73–88. 40

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das Haus Gottes die Verkäufer und Geldwechsler mit einer Geißel aus Stricken verjagt und die Verkaufs- und Wechseltische umstößt, dann geschieht dies zeichenhaft im Hinblick auf ein zunächst rätselhaft erscheinendes Tempelwort. Denn Jesu kündigt an, dass er nach dem Abriss des Tempels diesen in drei Tagen wiederaufbauen werde. Der theologischen Intention des Evangelisten zufolge meint Jesus den Tempel seines Leibes und kündigt damit eine neue Form der Gottesbegegnung an, die ihn zum neuen Tempel und damit zum entscheidenden Ort der Offenbarungsgegenwart Gottes bestimmt. Aber auch wenn Jesus selbst zum Ziel aller Verehrung, zum Heilsort wird, hört er dennoch nicht auf, selbst Pilger zu sein. 42 Eine weitere Wallfahrt Jesu nach Jerusalem (Joh 5,1) führt zur Heilung eines langjährigen Kranken am Teich Betesda (Joh 5,1–15), den Jesus körperlich und auch in seiner Beziehung zu Gott gesund macht. Dieses heilbringende Wirken, das der Selbstbezeugung Jesu als des mit dem Vater zusammenwirkenden Sohnes dient (Joh 5,17), prägt seinen Pilgerweg und macht deutlich, dass Jesus – anders als alle irdischen Pilger – das Heil nicht für sich sucht, sondern sich mit dem Menschen in einer gebrochenen Schöpfung solidarisiert, ja mehr noch: Mit dieser Zuwendung zu den Leidenden, Ausgestoßenen und Armen ragt die neue, geheilte Schöpfung in die alte hinein. Denn weil Jesus »der Sohn« ist, kann und wird er noch »größere Werke« vollbringen (Joh 5,20), die zeigen werden, dass sich in ihm die wahre Lebensmacht manifestiert. 43 Bei der Wallfahrt nach Jerusalem anlässlich des Laubhüttenfestes, wo er bis zum Tempelweihfest bleibt (Joh 7,2; 10,22), wird Jesus von einigen seiner Jünger aufgefordert, sich der Öffentlichkeit zu präsentieren (Joh 7,3–5), womit sie zeigen, dass bei ihnen offenbar nicht die Ehre Gottes und sein Plan die treibende Kraft sind. Verständlicherweise verweigert sich Jesus und zieht heimlich zum Fest nach Jerusalem hinauf. Die dort wiederum einsetzende Auseinandersetzung mit den Juden verschärft sich und zeigt, dass die Front des Unglaubens stärker und härter wird. Jedoch bleibt Jesus von all der Feindschaft, die ihm entgegenströmt, unberührt und geht unbeirrt seinen Weg, auf dem er sich als Quelle des Heiles zu erkennen gibt für alle, die an ihn glauben (Joh 7,37 ff.). Vgl. Langkammer, Der Pilger Jesus Christus (s. Anm. 40), 208. Vgl. R. Schnackenburg, Das Johannesevangelium. Herders Theologischer Kommentar zum Neuen Testament IV/2, Freiburg u. a. 41982, 132 ff.

42 43

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Leben ist Pilgern

Die letzte Wallfahrt Jesu nach Jerusalem (Joh 11,55 ff.) führt ihn in die Passion. Von außen betrachtet mündet sein Pilgerweg damit in eine Katastrophe. In Wahrheit aber hat der Tod ihn nicht halten können. Denn indem Christus als Sündloser und ganz mit Gott Verbundener den menschlichen Tod stirbt und zum Leben mit Gott auferweckt wird, hat er ihn verwandelt; der Tod hat durch ihn seine Herrschaft über den Menschen verloren, nämlich Gericht zu sein, ihn mit der Verfallenheit dieser vergänglichen Welt zu verbinden und von Gott zu scheiden. Zwar ist der Tod noch da, aber machtlos, wenn jemand in Jesus Gemeinschaft mit Gott hat und damit in seinen Tod und in sein Leben hinein stirbt. Deutlich spürt man, dass es dem Evangelisten Johannes nicht um eine Schilderung des biografischen Unterwegsseins Jesu geht, sondern um den Weg Gottes zu den Menschen, den Jesus verkörpert. Denn er ist, mit Joh 14,6 gesprochen, »der Weg, die Wahrheit und das Leben« und folglich kommt niemand zum Vater, außer durch ihn. Wer also vor Gott bestehen will, muss den Weg gehen, den Jesus selbst gelebt und vorgezeichnet hat.

b)

Pilgern in der Nachfolge Jesu

Das Motiv des Weges ist für die ersten Christen so prägend geworden, dass sie als »Anhänger des neuen Weges« (Apg 9,2; 19,23) bezeichnet wurden. Weggemeinschaft ist somit das bleibende Bild für die Christen unterwegs durch die Zeit. Dem Hebräerbrief zufolge wird der erhöhte Christus die Gläubigen zum himmlischen Jerusalem führen, wobei das Kommende im Geiste jetzt schon zugänglich ist. Daher werden die Gläubigen aufgefordert, Jerusalem im Geist von Pilgern, die sich Gott nähern, zu betreten: »Ihr seid vielmehr zum Berg Zion hinzugetreten, zur Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem« (Hebr 12,22). Damit zeigt der neue Weg in der Nachfolge des Pilgers Jesus Christus, dass es ein größeres Ziel gibt als die Ziele dieser Welt, nämlich das Ankommen in der unverbrüchlichen Heimat, der Ewigkeit. Insofern Nachfolge auf dem Pilgerweg Jesu das Mitwirken am Heil beinhaltet, leisten Pilger, die die Verkündigung des Evangeliums (Mt 28,16–20) und einen Lebenswandel im Geist der christlichen Liebe (1 Kor 4,17; 14,1; Phil 2,1 ff.) praktizieren, einen wesentlichen Beitrag zur Ausrichtung von Menschen auf das Reich Gottes. 155 https://doi.org/10.5771/9783495825426 .

Renate Brandscheidt

In aller Deutlichkeit hat uns die Heilige Schrift gezeigt: Pilger ist der Christ nicht nur zeitweilig, sondern sein Leben lang. Der Kirchenlehrer Augustinus hat diesen Gedanken in klaren Worten zusammengefasst: »Du bist tot an dem Tag, da du sprichst: es ist genug! Darum tu immer mehr, gehe immer vorwärts, sei immer unterwegs.« Damit ist keinesfalls Betriebsamkeit gemeint, das Hetzen von einem Wallfahrtsort zum anderen, sondern eine innere Haltung: das Zurücklassen innerweltlicher Lebensbezüge, das Sich-Lösen von der Welt und ihren Versuchungen, das Suchen der Freundschaft mit Jesus. Pilgern wird der Bibel zufolge daher auch zunächst im Herzen praktiziert: »Selig die Menschen, die Kraft finden in dir, die Pilgerwege im Herzen haben« (Ps 84,6). Wenn wir also zu Wallfahrtsorten pilgern, dann im Wissen darum, dass sie uns in der Fremde einen Vorgeschmack auf die vollkommene Gemeinschaft mit Gott in der Ewigkeit bieten. Man erlebt einen Ort der Gegenwart Gottes und erfährt zugleich, dass man dort noch nicht zuhause ist. Mit Augustinus gesprochen: »Die gegenwärtige Welt ist Pilgerschaft, Heimat ist erst die kommende.« 44

44

Augustinus, Enarrationes in psalmos 62,2–3.

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»Losgelöst wie ein treibendes Boot« Die Existenzphilosophie des xiāoyáo im Buch Zhuāng zǐ

1 Xiāoyáo (逍遙, auch 消搖 geschrieben) beschreibt eine Person, die ohne Hast und Eile an einem Ort hin- und hergeht. Selbst im Zustand der Bewegung gleicht ihr Gehen eher einem Verweilen. Auch kann xiāoyáo weniger das Hin- und Hergehen an sich als die darin sich zeigende Leichtigkeit, Zwanglosigkeit und Zufriedenheit bezeichnen. Es ist kein Hin- und Hergehen aus Verzweiflung, Bedrücktheit oder Langeweile; es ist Ausdruck eines sorglosen, unbeschwerten, zuweilen sogar ekstatischen Gemütszustands. 1 Mit den Erzählungen des Buches Zhuāng zǐ (莊子) wird dieses »Hin- und Hergehen« in die philosophische Spekulation eingeführt. 2 Zu relevanten Textstellen des Wortes in der antiken Literatur siehe Fú Dìngyī (符定 一), Liánmián zìdiǎn (聯緜字典; Wörterbuch der Reduplikationsbildungen), Beijing: Zhōnghuá shūjú, 1983, Bd. 3, 94, und Bd. 4, 380–381. 2 Als Autor des Buches Zhuāng zǐ wird der Denker Zhuāng Zhōu (莊周) genannt, der Ende des 4. und in der ersten Hälfte des 3. Jh.s v. Chr. gelebt haben soll. Jedoch kann nicht das ganze Werk von ihm verfasst worden sein. Es ist Gegenstand umfangreicher Zusätze und Umarbeitungen geworden. Eine frühe, heute nicht mehr erhaltene Edition des Buches wird in die Mitte des 2. Jh.s v. Chr. angesetzt. Editionen aus dem 2. und 3. Jh. n. Chr. verzeichnen 52 Kapitel. Ausgaben aus dem 3. Jh. n. Chr. unterteilen das Werk meist in drei Teile, die »Inneren«, »Äußeren« und »Vermischten Kapitel«, wobei die »Inneren Kapitel« weniger Abweichungen als die anderen beiden Teile in den einzelnen Editionen aufweisen sollen. Bis auf einige Fragmente dieser frühen Ausgaben sind nur diejenigen Erzählungen und Überlegungen erhalten, die Guō Xiàng (gestorben 312 n. Chr.) in seine kommentierte und wesentlich auf 33 Kapitel gekürzte Edition aufgenommen hat. Guōs Ausgabe geht auf eine ältere, etwas kürzere, heute nicht mehr erhaltene Edition von Xiàng Xiù (3. Jh. n. Chr.) zurück. In beiden Ausgaben wird eine eindeutige Präferenz auf die sieben »Inneren Kapitel« gelegt, denen ein durchgängiger philosophischer Gedankengang zugesprochen wird, während die »Äußeren« und »Vermischten Kapitel« als zusätzliche Erläuterungen bestimmter Aspekte betrachtet werden. Dieser Präferenz folgen viele spätere Gelehrte; ihre Gültigkeit wird noch heute kontrovers diskutiert. 1

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Xiāoyáo beschreibt dann nicht mehr ein Schlendern vor der Tür oder den ungezwungenen Gang des schmucken Offiziers in den Augen der Geliebten. 3 Es findet nun in imaginären, geradezu paradox anmutenden Vorstellungsräumen statt. Mit xiāoyáo wandert man in »Grauzonen« menschlichen Wissens, an Orten, die von dem Wissen selbst nicht mehr überschaut werden können und wo Wissen an sich keinen rechten Platz mehr besitzt. Man denke an die einleitenden Sätze des 22. Kapitels des Zhuāng zǐ: »Wissen wandert nach Norden zum Dunklen Wasser, besteigt den Hügel ›Verdeckt-Offenlegen‹ […].« 4 Dunkel ist das Wasser durch seine Tiefe, die keinen Grund erkennen lässt, als auch durch seine Transparenz, die erst den Blick in die Tiefe frei gibt. Und auch die Konturen des Hügels lassen Verborgenes ahnen wie sie verdecken. Bei seiner Wanderung in diese Gebiete kommt das Wissen an das Ende seiner Kunst. Auf seine Fragen, anhand welcher Kategorien es sich orientieren kann, erhält es keine Antwort. So bleibt ihm der Weg (dào), der allem Geschehen innewohnende Sinn, verborgen. 5 Das Buch Zhuāng zǐ wird gemeinhin als eines der frühen Werke der Daoistischen Philosophie betrachtet. Diese Sichtweise trägt seiner Wirkungsgeschichte Rechnung, während aus Sicht der Entstehungszeit sie ein Anachronismus darstellt. Eine als daoistisch bezeichnete Denktradition hat sich erst 200 Jahre nach dem Zhuāng zǐ formiert. 3 Siehe Lǐ jì (禮記, »Aufzeichnungen der Riten«), Kap. »Tán gōng A«; siehe Lǐ jì zhèng yì (禮記正義, »Die ›Aufzeichnungen der Riten‹ in ihrer korrekten Bedeutung«), 7. juàn, in: Ruǎn Yuán (阮元) (Hg.), Shí sān jīng zhù shū (十三經注疏; »›Die dreizehn kanonischen Bücher‹ mit Annotationen und ergänzenden Ausführungen«), Nachdruck Běijīng: Zhōnghuá shūjú, 1983, 1283 unten; Shī jīng (»Buch der Lieder«), Lied »Schafpelz« (Gāo qiú, 羔裘) aus den »Landesweisen von Guì« (檜風) [Lied Nr. 146], Edition: Máo Shī zhèng yì (毛詩正義, »Die ›Lieder der Sammlung von Máo‹ in ihrer korrekten Bedeutung«), 7. juàn, 2. Tl. in: Ruǎn Yuán (Hg.), Shí sān jīng zhù shū, 381 Mitte. Meine Lesung folgt der Interpretation von Wén Yīduō (聞一多): Fēng shī lèi chāo (風詩類鈔; »Klassifizierte Auszüge aus den Liedweisen der einzelnen Staaten«), erste Serie, in: Zhū Zìqīng (朱自清) et al. (Hg.), Wén Yīduō quánjí (聞一 多全集, »Gesamtausgabe der Schriften von Wén Yīduō«), Shànghǎi: Kāi míng shūdiàn, 1948), Bd. 4, 16; Chéng Jùnyīng (程俊英), Shī jīng yì zhù (詩經譯注, »›Das Buch der Lieder‹ in Übersetzung und mit Anmerkungen versehen«), Shànghǎi: Gǔjí chūbǎnshè, 1985, 251 f. 4 Guō Qìngfán (郭慶藩) (Hg.), Zhuāng zǐ jí shì (莊子集釋; »Das Buch Zhuāng zǐ mit ausgewählten Kommentaren«), Běijīng: Zhōnghuá shūjú, 1985, Kap. 22, 7. juàn, 2. Tl., 729. Guō Qìngfáns Textauswahl beinhaltet die frühen Kommentare des Zhuāng zǐ, darunter auch den Kommentar von Guō Xiàng. 5 Die drei kategorialen Fragen des Wissens sind: »An was ist zu denken, was zu erwägen, um den Weg zu kennen? Wo ist zu ruhen und was zu befolgen, um sicher auf

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Konkret geht es mit dem Bild des »Schlenderns« um eine Spekulation über eine Leben und Tod in sich schließende Daseinsform. Folgt man dem Buch Zhuāng zǐ, können wir uns in sie hineindenken, auch wenn uns ihre ganze Ausgestaltung verborgen bleibt. Doch erhebt das Buch auch den Anspruch, dass diese Spekulation Bedeutung für unser jetziges Leben besitzt, unsere Sicht auf unser Leben und Tun grundsätzlich zu ändern vermag. Gleichzeitig unterläuft es diesen Anspruch, dass die Vorbilder seiner Verwirklichung Züge einer Karikatur tragen und wohl nie ganz ernst genommen werden können. So bleibt die Spekulation die Möglichkeit ihrer Realisierung schuldig – und wird selbst zu einem »Schlendern« zwischen Skepsis und Verheißung, zwischen philosophischer Überlegung und existentieller Hoffnung. Die Spekulation um xiāoyáo steht nicht isoliert in dem philosophischen Gedankengebäude des Zhuāng zǐ. Ihrer inhaltlichen Konzeption nach hängt sie mit zwei größeren Themenkomplexen zusammen. Zum einen wird xiāoyáo unter dem Aspekt der »Wandlung« (huà, 化) betrachtet, die im Buch Zhuāng zǐ eine Erhöhung als Weltnatur erfährt. Jedes Wesen ist aus der Metamorphose vergangener Wesen entstanden und wird sich in zukünftige Wesen wandeln. Xiāoyáo übernimmt darin die Aufgabe, Existenz und Nichtexistenz in eins zu fassen und Existenz in ihrem Werden zu begreifen. Doch entwickelt diese Philosophie der Wandlung keine abstrakte Vorstellung des Werdens oder des Wandels, auch fragt sie nicht nach den Kräften oder Spannungen, die ihr unterliegen, sondern sie konzentriert sich auf die existentiellen Übergänge Geburt und Tod. Gerade in diesen Übergängen lässt sich »Wandlung« lokalisieren; und die Vorstellung eines xiāoyáo, eines in diesen Übergängen »Herumschlenderns«, bezeichnet dann eine wie immer zu denkende »Seinsform« in diesem unentwegt Tod wie Geburt inszenierenden Prozess. Zu einem anderen Verständnis von xiāoyáo führen dagegen Überlegungen zur Transzendenz der menschlichen Existenz. In ihnen wird xiāoyáo mit dem Gedanken verbunden, dass Transzendenz als eine sich über alle Begrenztheit erhebende Reise (yóu, 遊) zu verstehen und xiāoyáo Ausdruck dieser Transzendenzerfahrung sei. Vor allem die Denker des frühen Mittelalters erkennen in xiāoyáo die Freiheit einer solchen sich transzendental begreifenden Existenz, dem Weg zu bleiben? Wovon ist auszugehen und welcher Weg ist einzuschlagen, um zu dem Weg zu gelangen?«

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die die Mühen und Grenzen der Menschenwelt auf ihren »freien und unbeschwerten Reisen« (xiāoyáo yóu) hinter sich zu lassen weiß. Die sich auf xiāoyáo berufende Existenzphilosophie trägt bei den einzelnen Denkern verschiedene Züge, die in der vorliegenden Studie kurz skizziert werden. Für das Verständnis der Philosophie des Zhuāng zǐ ist es lohnenswert, sich die Vorstellung des xiāoyáo zunächst in ihrer ursprünglichen Fassung zu vergegenwärtigen (Kapitel 2 und 3). In einem zweiten Schritt sind dann die späteren Entwicklungen der Philosophie des xiāoyáo einerseits in ihrer Differenz zu diesem frühen Verständnis herauszustellen und andererseits in ihrer unterschiedlichen Sicht auf die menschliche Existenz voneinander abzuheben (Kapitel 4 bis 6).

2 Zwei Passagen aus den »Inneren Kapiteln« können über das frühe Verständnis des xiāoyáo genauer Aufschluss geben. In einer Erzählung aus dem sechsten Kapitel nimmt der konfuzianische Meister Zǐ Gòng (子貢) an dem seltsamen und provokativen, alle Konventionen sprengenden Verhalten der Freunde des Bundes der Todesverehrer vehement Anstoß. Seine Entrüstung lässt ihn zweifeln, dass es sich bei jenen sich so menschenunwürdig Gebärdenden eigentlich noch um Menschen handle. Ausgerechnet dem bekanntesten Verfechter der überlieferten Ritualordnung, keinem anderen als Konfuzius selbst, kommt nun die Aufgabe zu, diese Verrückten und ihr Gebaren zu entschuldigen: Jene sind gerade dabei, zusammen mit dem Erzeuger der Wesen als Gefährten diesen einen Atemzug von Himmel und Erde zu bereisen (yóu, 遊). Das Leben ist für sie nur eine festsitzende Geschwulst oder hängende Warze, der Tod ein Aufbrechen des Geschwürs und Ablassen des Eiters. […] Achtlos (máng rán, 芒然) wandeln (pánghuáng, 徬 徨) sie außerhalb von Staub und Dreck, schlendern (xiāoyáo) im Werk des Nicht-Tuns herum (wú wéi zhī yè, 無為之業) […]. 6

Zhuāng zǐ jí shì, Kap. 6, 3. juàn, 1. Tl., 268; vgl. A. C. Graham, Chuang-tzŭ: the seven Inner Chapters and other writings from the book Chuang-tzŭ, London: George Allen & Unwin, 1981, 89. Richard Wilhelms Übersetzung dieser Passage ist sehr ungenau, vgl. Dschuang Dsi. Das wahre Buch vom südlichen Blütenland, [Erstausgabe 1912] Jena: Eugen Diederichs Verlag, 1940, 52.

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Konfuzius zollt den Todesverehrern höchste Ehrfurcht. Diese Menschen feiern in der Todesstunde mit ihrem körperlichen Zerfall das gewaltige Werk der Weltnatur. Mit großem Pathos führt Konfuzius Zǐ Gòng vor Augen, wie das Menschenleben aus Sicht der Existenz eines Wesens »außerhalb des Gevierts der Menschenwelt« erscheinen mag: nicht mehr als ein lästiges Hinauszögern des Umschlags von Bestehendem zu Vergehendem. Dieser Umschlag erfolgt gewiss, denn er unterliegt dem Gesetz der Weltnatur: Was entsteht, vergeht, und Vergehen lässt Neues entstehen. Der Verzug ist umso ärgerlicher, wenn man bedenkt, wie nichtig das Einzelne sich in der endlosen Kette dieser mächtigen, stets Wandlung einfordernden Weltnatur ausmacht. Achtlos, gar blind »umherwandeln« (pánghuáng) und »herumschlendern« (xiāoyáo) erscheinen Konfuzius angemessene Beschreibungen einer zur menschlichen Existenz Abstand haltenden Lebensform zu sein. Denn das menschliche Leben ist nur eine episodische Formation, aus Nichts entstanden, in Kürze vergangen, gefolgt von anderen, gleichsam beliebigen Formationen. »Herumschlendern im Werk des Nicht-Tuns« versinnbildlicht ihre kontingente Natur und bezeugt das Desinteresse, in dieser Formation länger als nötig zu verweilen oder ihr tieferen Sinn zuzusprechen. Das Sich-hinein-Begeben in die Gesetze der Wandlung verspricht keine Erhöhung des Selbst, sondern erfordert dessen Aufgabe, ein »Umherwandeln jenseits von Staub und Dreck«. Ein grundlegendes Gesetz der Wandlung ist, wie es an anderer Stelle heißt, »Differenz« (fēn, 分): Der frei flatternde Schmetterling hat keine Erinnerung mehr an die Verpuppung. 7 Erst die Verneinung des Jetzigen ermöglicht das Anderssein des Künftigen; erst die Distanz zu der Kontingenz der einzelnen Formation setzt die Sinnhaftigkeit des Werdens frei. Xiāoyáo kennzeichnet eine zweifache Zurückhaltung, sowohl gegenüber der individuellen Existenz als auch gegenüber der Wirklichkeit der Wandlung. Erstere ergibt sich schon allein daraus, dass aus Sicht »außerhalb des Gevierts der menschlichen Existenz« das einzelne Leben nur noch als etwas Lästiges erscheint, wenn nicht sogar Hässliches oder Ekliges. Aber die Zurückhaltung gegenüber dem Wandel der Weltnatur hat andere Gründe. Etwas kurios erscheint die Begründung, dass ihr Achtung zu zollen sei – im Tod als Zeitpunkt Zhuāng zǐ jí shì, Kap. 2, 1. juàn, 2. Tl., 112; R. Wilhelm, Dschuang Dsi (s. Anm. 6), 21.

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der Begegnung. Im Sterben Interessen zu verfolgen, die dem Leben dienen, wie die Bitte um weitere Lebensjahre, oder Erwartungen an eine künftige Existenz zu äußern, kämen einer Missachtung ihrer Autorität gleich. Man wäre ein missratenes Stück Eisen, das sich nicht willig der Kunst des Schmiedes fügt, oder ein ungehorsames Kind, das sich dem Befehl seiner Eltern widersetzt. 8 Letztlich besitzt die Unwissbarkeit des Wandels nicht nur eine epistemische Dimension, sondern vorrangig eine ethische. Wissen zu wollen, was zu wissen einem nicht aufgegeben ist, erscheint als Akt der Hybris. Auch der Lehrsatz von dem Vergessen des Selbst, der fast überall im Buch Zhuāng zǐ zu finden ist, spiegelt dieses ethische Gebot wider. Und doch wäre diese Lehre nur schwer zu vertreten, wenn es nicht auf der anderen Seite die Gewissheit gebe, dass gerade Nicht-Wissen und Vergessen einem den richtigen Weg weisen; dass man sich, übertragen gesprochen, in die Untiefe des NichtWissens getrost fallen lassen kann, – denn man wird aufgefangen. »Wenn die Quellen austrocknen und die Fische sich auf dem Trockenen zusammendrängen, die Mäuler einander nähern, um sich Feuchtigkeit zu geben, und mit ihrem Schleim einander netzen, so ist dieser Zustand lange nicht so gut, als wenn sie einander vergessen in Strömen und Seen.« 9 Sind Begrenztheit und Sorgen der Existenz, sowie die Vorstellung des Existierens selbst vergessen, ist man Teil der Weltnatur geworden. Danach lässt sich der Gedanke der Wandlung auch so verstehen, dass die menschliche Existenz diskretes, diskontinuierliches Element des Ganzen ist. Die Weltnatur liegt nicht außerhalb dieser Elemente, sondern in ihnen. Die Perspektive auf die Partikularität legt es wiederum nahe, das Elementare der Existenz nicht nur als Phase oder Atemzug im Wandlungsprozess zu sehen, sondern es seiner Physikalität nach zu betrachten. Das enigmatische Gleichnis von Feuer und Brennholz am Ende des dritten Kapitels lädt gerade dazu ein: Hat das Feuer das eine Holz vernichtet, setzt es sich woanders fort. 10 Von der einzelnen Existenz bleibt nichts übrig, doch die Wandlung, hier als Vernichtung gesehen, besteht. Letztlich spielt die Frage nach der ma-

Zhuāng zǐ jí shì, Kap. 6, 262; R. Wilhelm, Dschuang Dsi (s. Anm. 6), 51. Zhuāng zǐ jí shì, Kap. 6, 242; zitiert wird die Übersetzung von Richard Wilhelm, siehe Dschuang Dsi (s. Anm. 6), 48. 10 Zhuāng zǐ jí shì, Kap. 3, 2. juàn, 1. Tl., 129; R. Wilhelm, Dschuang Dsi (s. Anm. 6), 24. 8 9

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teriellen Auskleidung keine große Rolle in der Wandlungsphilosophie, geht es bei dieser Spekulation eher um das ethische Erfassen ihrer »stets Anderssein« stiftenden Prozessualität. 11 Doch blieb das enigmatische Gleichnis von Feuer und Brennholz oft unverstanden. Mit der Rezeption des Buddhismus hat dieser Satz im Mittelalter zu großen Diskussionen geführt. Es liegt nahe, in dem Feuer nicht nur abstrakt die Lebendigkeit des Wandlungsprozesses, sondern eine sich von dem physischen »Brennholz« unterscheidende psychische Komponente des Lebens zu sehen; während jenes zu Asche wird, ist diese weiteren Wanderungen und Wandlungen unterworfen. 12 Der Diskretheit und Diskontinuität der Existenz sind nicht allein die Permanenz der Vernichtungs- und Entstehungskraft der Wandlung gegenübergestellt, sondern auch der paradox sich zeigende nicht-räumliche Raum, in dem sie sich vollzieht. Wandlung findet an der Grenze statt, die zwischen dem Ende der einen und dem Beginn einer anderen Existenz liegt. Die Grenze zwischen Tod und Leben kann weder Geburt noch Tod zugehören. Auch kann diese Grenze an sich keine Ausdehnung besitzen – es handelt sich bei ihr ja nicht um eine Übergangsphase zwischen zwei Existenzen, da es ja auch nichts gibt, was von der einen in die andere Existenzform übergehen könnte. Hier kommt nun die Bewegungsform des xiāoyáo ins Spiel, das Bewegen als Verweilen und Verweilen als Bewegung denkt. Verweilt die Vorstellung an dieser Grenze, fasst sie Existenz wie NichtExistenz in einem Blick. Dieser Blick »schlendert« von der Seite des Todes zu der Seite des Lebens und wieder zurück und schaut dabei auf das Leben aus Sicht des Todes und auf den Tod aus Sicht des Lebens. Dieses Hin- und Herschlendern lässt die nicht-räumliche Grenze als

Die Auffassung, dass alles aus einem Stoff bestehe und jedes Einzelwesen nur eine temporäre Konstellation dieses Stoffes sei, hat in der chinesischen Philosophie eine sehr bedeutsame Rolle gespielt, doch wurde sie systematisch erst nach dem Zhuāng zǐ entwickelt. Eine wichtige Grundlage bietet jedoch nicht zuletzt eine Passage aus dem Zhuāng zǐ, die meiner Einschätzung nach eine spätere Reflexion wiedergibt. Siehe Zhuāng zǐ jí shì, Kap. 18, 6. juàn, 2. Tl., 614 f.; R. Wilhelm, Dschuang Dsi (s. Anm. 6), 137. 12 Einen Überblick über die Debatte im Mittelalter gibt Walter Liebenthal, The Immortality of the Soul in Chinese Thought, in: Monumenta Nipponica 8, Nr. 1/2 (1952), 327–397. Liebenthals Interpretation der Philosophie des Buddhisten Shì Huìyuǎn (釋慧遠) mit der Seele als Weltseele (332) ist jedoch kritisch zu hinterfragen. 11

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einen Spalt denken, der dem Verstehen den Blick auf das Geschehen der Wandlung öffnet.

3 Ihrer Konzeption nach bildet die Wandlung des Zhuāng zǐ keinen kontinuierlichen Fluss, sondern konstituiert Kontinuität nur diskret als stete Wiederholung von Vernichtung und Entstehen. Ins Leben treten, aus dem Leben scheiden sind zwei Phasen eines Atemzugs ihrer Natur. Das Leben eines Individuums gleicht dem Anhalten des Atems, einer Pause in der Aufführung dieses rhythmischen Geschehens. Doch das soeben abgewertete einzelne Leben scheint sogleich wieder an Wert zu gewinnen: Wie könnte es einen solchen Rhythmus geben ohne die Pausen? Das Leben eines Menschen wird, leicht verächtlich, mit der Wirbelsäule verglichen, die den Kopf als Eintritt ins Leben mit dem Steiß als Austritt zu einem zusammenhängenden Körper verbindet. 13 Die Gestaltung des Rumpfes des Menschen erscheint als Nachbildung der Prinzipien seiner Herkunft. Wie der Körper Anfang und Ende gleichzeitig verbindet wie trennt, trennt wie verbindet er das Geschehen der Wandlung: Lebenseintritt folgt auf Lebensaustritt; die Nicht-Existenz vor der Geburt verknüpft sich mit der Nicht-Existenz nach dem Tod. In einer anderen Erzählung, die in der heutigen Ausgabe das erste Kapitel beschließt, werden die beiden Ausdrücke »umherwandeln« und »herumschlendern« in Zusammenhang mit dem Sinn der Nutzlosigkeit verwendet. Zhuāng Zhōu wendet sich an den Freund der Disputation Huì Shī (惠施), der ihm vorhält, seine Reden haben keinen Nutzen und gleichen einem knorrigen und verwachsenen Baum, dessen Stamm keine Richtschnur messen kann, mit Zweigen so krumm gewunden, dass sie nie Zirkel und Winkelmaß entsprechen werden. Doch gerade Nutzlos-Sein offenbart sich als Zugang zu der Eigenheit der Weltnatur. Nun habt ihr so einen Baum und beklagt, dass er zu nichts nütze sei. Warum pflanzt ihr ihn nicht auf dem Feld »Wüstenweite« im Land »Wo nicht irgendetwas ist«? Da könnt ihr an seine Seite [gelehnt] im

Zhuāng zǐ jí shì, Kap. 6, 3. juàn, 1. Tl., 258; vgl. auch Kap. 22, 7. juàn, 2. Tl., 763; R. Wilhelm, Dschuang Dsi (s. Anm. 6), 50, 167.

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Nicht-Tun wandeln (pánghuáng) oder unter [seinen Zweigen] liegend im Schlaf umherschlendern (xiāoyáo). Nicht durch das Beil noch durch die Axt verfrüht sterben / [Heißt,] nicht Schaden durch andere erleiden. / Wie sollte, was [anderen] nicht Nutzen bringt / Einem [selbst] Kummer und Not bereiten? 14

Mehrere Bilder gehen hier ineinander über. Der Baum wird von Huì Shī als Metapher für Denken und Sprache verwendet, und Zhuāng Zhōu folgt ihm darin, dass er in ihm ein Bild der Weltnatur erkennt. Deren Strukturen sind offen, weit, leer und unbestimmt, wie der kosmische Ort, an dem der Baum steht. Denken und Sprache alltäglicher Rede und Handelns sind hier nicht mehr dienlich, den Ort zu erfassen. Des Baumes scheinbare Nutzlosigkeit öffnet wiederum den Blick auf die Unversehrtheit des Lebens, wenn man Leben nicht mehr in den Grenzen eines einzelnen Lebewesens fasst, sondern als einen über den Wechsel von Leben und Tod hinausgehenden Prozess. Die beiden Ausdrücke »wandeln« und »umherschlendern« werden wie oben nebeneinander geordnet; zusätzlich werden ihnen gegensätzliche, wenn auch miteinander verbundene Orte und Richtungen zugeordnet. An den Seiten des Baumes wandelt man als wachendes, sich im Leben befindliches Wesen, unter den Zweigen des Baumes als schlafendes im Zustand des Todes. Das Dasein in beiden Räumen unterscheidet sich nicht grundsätzlich voneinander. Existenz wie NichtExistenz sind gleichermaßen im Baum der Weltnatur aufgehoben.

4 Die philosophischen Erzählungen des Zhuāng zǐ aus dem 4. und 3. Jh. v. Chr. werfen nur einzelne Lichter auf das »Schlendern« als eine Leben und Tod verbindende Daseinsform. Sie geben keinen konkreten methodischen Zugang vor, noch sind ihre ethischen und metaphysischen Grundlagen hinreichend ausgekleidet. Ideen und Überlegungen, die wir heute als »die Philosophie des Zhuāng zǐ« erkennen, treten erst im Zuge der Rezeption 600 bis 700 Jahre später in größerer Zhuāng zǐ jí shì, Kap. 1, 1. juàn, 1. Tl., 40; Richard Wilhelm (Dschuang Dsi [s. Anm. 6], 7) fasst in seiner Übersetzung die Orte realistisch auf und spricht von einer öden Heide und einem weiten leeren Feld. Als Wüstenweite (guǎng mò, 廣莫) wird auch die weite Landschaft im Norden bezeichnet.

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Deutlichkeit hervor. Den Denkern der aristokratisch geprägten Gesellschaft des chinesischen Mittelalters verdanken wir nicht nur die heute überlieferte Fassung dieses bedeutenden philosophischen Werkes aus der chinesischen Antike, sondern auch wesentliche Zugänge zu seiner Interpretation. Die Edition des Buches Zhuāng zǐ zeichnet dem Verständnis von Leben und Tod neue Linien auf. Xiāoyáo yóu (逍遙遊) – »Wandern in Muße«, so Richard Wilhelms Übersetzung –, lautet der Titel des ersten der sieben sogenannten »Inneren Kapitel« des Werkes. Aus welcher Hand dieser Titel stammt, lässt sich heute nicht mehr bestimmen. Die spätere Rezeption des Werkes greift auf diese anonyme Redaktion gerne zurück und sieht in dem Ideal des »freien und unbeschwerten Wanderns« das zentrale, das ganze Werk Zhuāng zǐ übergreifende Thema. So stellt Richard Wilhelm in seiner Einleitung zu dem Kapitel fest: »Dieses Buch enthält sozusagen die Exposition des Ganzen. Es schildert den Menschen, der sich frei machte von allem Irdischen und in dieser Freiheit die große Ruhe gefunden hat, jenseits des Schicksals in seliger Muße.« Wilhelms Auffassung der Philosophie des Zhuāng zǐ kommt der mittelalterlichen Rezeption näher als der eigentlichen Philosophie des Zhuāng zǐ selbst. 15 Paradigmatisch für die Idee des xiāoyáo yóu wird nun die Wandlung des Riesenfisches Kūn (鯤) in den Riesenvogel Péng (鵬) und sein gewaltiger Flug vom Nordmeer zum Südmeer, mit der das Kapitel einsetzt: Im Nordmeer lebt ein Fisch mit Namen Kūn. Keiner weiß, wie viele tausend Meilen seine Größe misst. Er wandelt sich zu einem Vogel mit Namen Péng. Keiner weiß, wie viele tausend Meilen sein Rücken misst. Wuchtig fliegt er auf, seine Flügel gleichen himmelherabhängenden Wolken. Dieser Vogel ist, so das Meer sich bewegt, gerade dabei, zum Südmeer aufzubrechen. 16

R. Wilhelm, Dschuang Dsi (s. Anm. 6), 3. Eine Studie zur Rezeption der Idee des xiāoyáo yóu unternahm Dèng Liánhé (鄧聯合), Xiāoyáo yóu shìlùn. Zhuāng zǐ de zhéxué jīngshén jí qí duōyuán liúbiàn (逍遙遊釋論—莊子的哲學精神及其多元流 變; »Interpretationen des xiāoyáo yóu. Der Geist der Philosophie des Zhuāng zǐ und seine vielfältige Umformung), Běijīng: Běijīng dàxué chūbǎnshè, 2010. Aber auch Dèngs informative Studie geht in ihren Interpretationen nicht über traditionelle Ansätze hinaus. 16 Zhuāng zǐ jí shì, Kap. 1, 1. juàn, 1. Tl., 2. 15

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In den Augen der Denker des frühen Mittelalters, wie auch für viele ihnen nachfolgende Leser, wird die Überwindung des menschlichen Daseins zum Thema des Eingangskapitels wie des ganzen Buches Zhuāng zǐ und die Reise des Péng ihr bildhafter Ausdruck. Damit rückt das Augenmerk von der Todesspekulation auf die Transformationslehre. Die Deutung der Transformation fällt jedoch unterschiedlich aus. Im vierten Jahrhundert erkennt der buddhistische Mönch Zhī Dùn (支遁; 314–366) Transzendenz als wesentlichen Inhalt der Idee des xiāoyáo yóu. Er wendet sich damit gegen die »existentialistische« Interpretation von Xiàng Xiù (向秀) 17 und Guō Xiàng (郭象; gestorben 312 n. Chr.), die bewusst den Gedanken des Aufstiegs vermeidet und die Überwindung weltlicher Zwänge in der Rückkehr zu der Eigenheit des gegebenen Daseins sieht. Denn nach Guō Xiàng fallen in xiāoyáo Existenz, Freiheit, Eigensein und Natur eines jeden Wesens zusammen, ungeachtet ob es sich dabei um den Riesenvogel Péng oder um eine kleine Wachtel handelt: Zwar sind [die Wesen] ihrer Größe nach verschieden, doch des freien Ausdrucks ihrer Existenz (xiāoyáo) nach gleich. Denn belässt man sie in ihrer Selbständigkeit, dann geben sie sich ihrer Natur (性; xìng) anheim und ihr Tun bemisst sich an ihrem Können, so dass jedes Wesen seinem Los (分; fèn) gerecht wird. Wie könnte es dann unter ihnen ein Besseres oder Schlechteres geben? 18

Zwischen der weltumspannenden Reise eines Péng und dem Hüpfen von Zweig zu Zweig einer Wachtel besteht für Guō Xiàng kein wesenhafter Unterschied. Die eine Lebensweise ist nicht besser oder schlechter als die andere, solange ein Lebewesen seiner von Natur ihm auferlegten Lebensweise nachkommt und diese ohne Einschränkung am passenden Ort entfalten kann. Ausdruck eines solchen gelungenen Daseins ist dann xiāoyáo, das »freie ungebundene Schlendern« in dem Raum, der die natürliche Beschaffenheit eines Lebewesens und seine Umwelt dem Individuum bereithält. Guō Xiàngs und Zhī Dùns Debatte entzündet sich nicht zuletzt an der Frage, welche soziale Implikationen dem xiāoyáo zuzumessen sei. Folgt man Guō Xiàng, so ist jeder Mensch in der Lage, seine Existenz frei und ungebunden zu gestalten, vorausgesetzt die GrundDie Lebensdaten von Xiàng Xiù sind nicht bekannt. Vermutlich hat er sich in den letzten Jahrzehnten des 3. Jh.s n. Chr. der Auslegung des Zhuāng zǐ gewidmet. 18 Zhuāng zǐ jí shì, Kap. 1, 1. juàn, 1. Tl., 1 Anm. 2. 17

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lagen, die seine Existenz stützen (dài, 待), sind ihm in ausreichendem Maß gegeben. So sind die Wesen mannigfaltig in ihrer Art, aber gleich in ihrer Abhängigkeit (suǒ dài, 所待). Erhalten sie das, wovon sie abhängen, wandern sie frei und unbeschwert (xiāoyáo). 19

Dem Ideal des unbeschwerten Wanderns liegt also eine Rechnung zugrunde. Der riesige Vogel Péng konnte seine Reise zum Südmeer erst dann antreten, als 90.000 Meilen hohe Luftschichten seine wolkengleiche, mehrere tausend Meilen spannende Flügel tragen. Ein einziger Flügelschlag ließ Wellen von dreitausend Meilen hoch auftürmen. Ein Beispiel veranschaulicht diese Gesetze der Relativität: Ein Boot fährt ungehindert erst in tieferem Gewässer, während eine Tasse ausgeschütteten Wassers einen Strohhalm frei dahintreiben lässt. 20 Da Existenz Relativität innewohnt, lässt sich Freiheit und Erfüllung auch nur anhand des je eigenen Maßes bemessen – Freiheit ist dann nicht mehr als eine spezifische Ratio zwischen erlebtem Weg und naturgegebener Größe. So gigantisch die Weltreise des Péng auch gewesen sein mag, in Guōs Auslegung schrumpft ihre Bedeutung gewaltig. Sie ist nicht mehr als das Hüpfen eines kleinen Vogels. Nach Guō Xiàng ist xiāoyáo ein ideales Lebensprinzip, das jedem Lebewesen potentiell zukommt. Da jedes Lebewesen Teil der natürlichen Ordnung ist, ist xiāoyáo die Ausfüllung dieses Anteils, die vollkommene Realisierung seines Loses. Dieses Los ist jedem Lebewesen gegeben, bestimmt Inhalt wie Grenzen seiner Existenz. Und doch gibt es auch für Guō eine Ausnahme von diesem allgemeingültigen Gesetz: Allein die Göttermenschen und Gründerväter der menschlichen Kultur (shèng rén, 聖人) können dank ihrer außergewöhnlichen Fähigkeiten die Grenzen ihrer eigenen Existenz und die Differenz zur Existenz des Anderen »verblassen« (míng, 冥) lassen. Das Eigensein ihres Selbst (»Ich«, wǒ, 我) verschwindet zu Unkenntlichkeit und Guō Xiàng wird hier in einem Kommentar von Liú Xiàobiāo (劉孝標; 462–521) zu einem Eintrag des Shì shuō xīn yǔ (世說新語; »Weltgerede und Neuigkeiten«) des Liú Yìqìng (劉義慶; 403–444) zitiert, siehe Yú Jiāxí (余嘉錫), Shì shuō xīn yǔ jiān shū (世 說新語箋疏, »›Weltgerede und Neuigkeiten‹ mit Anmerkungen und weiteren Ausführungen«), Beijing: Zhōnghuá shūjú, 2007, 260. Eine im Sinn ähnliche Passage findet sich in Guōs Kommentar, siehe Zhuāng zǐ jí shì, Kap. 1, 1. juàn, 1. Tl., 20 Anm. 13. 20 Zhuāng zǐ jí shì, Kap. 1, 1. juàn, 1. Tl., 7. Die Passage fehlt in Richard Wilhelms Übersetzung; vgl. A. C. Graham, Chuang-tzŭ (s. Anm. 6), 43. 19

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geht in dem Anderssein (bǐ, 彼) mit auf. 21 Ihr Wirken kommt allen Menschen zugute – über Raum und Zeit hinweg. In Guō Xiàngs Konzept der Erfüllung des Lebensloses gibt es keine soziale Mobilität. Die Grenzlinie zwischen Herrscher und Beherrschten ist klar gezogen, die gesellschaftlichen Positionen und Hierarchien sind in den Gesetzen der Existenz eingebunden. Auch jene Berufenen, auf deren Spuren über die Grenzen ihrer Lebenszeit hinweg alle anderen treten und treten werden, folgen letztendlich, wie jeder andere, doch nur der ihnen auferlegten Bestimmung: ihrer Berufung, Göttermensch zu sein. 22

5 Zhī Dùn dagegen sieht in dem »freien Wandern« nicht eine in den Gesetzen der Natur ruhende, allen Menschen mögliche Daseinserfüllung. Vielmehr erläutere xiāoyáo den Geisteszustand (xīn, 心) eines »vollkommenen Menschen« (zhì rén, 至人) und charakterisiere daher die Identifikation des Menschen mit dem Weg (dào). Ein solcher Geisteszustand ist nur denen vorbehalten, die die Grenzen des menschlichen Daseins bereits verlassen haben. Herr Zhuāng äußert seine Meinung über das große Dào, eingebaut in den Verweis auf den Vogel Péng und die Wachtel. Da Péng die Wege seine Lebensweise zu vollziehen weit offenstehen, fehlt er darin, sich an [die Welt] außerhalb seines Körpers anzupassen. Da die Wachtel sich [nur] dort aufhält, was ihr nahe ist, und über [alles] Ferne lacht, besitzt sie Hochmut und Prahlerei im Innern ihres Herzens. 23

Misst man das Leben eines »vollkommenen Menschen« mit dem Maßstab der Gewöhnlichen, wird die Weltreise zu einem Unterfangen sinnloser Anstrengung, blanker Not und Verzweiflung entsprungen. Péngs Welt ist der Welt der kleinen Vögel nicht vermittelbar und auch nicht mehr mitteilbar. Der Wachtel erscheint ihre im eigenen Zhuāng zǐ jí shì, Kap. 1, 1. juàn, 1. Tl., 20 Anm. 13. Zu den Göttermenschen (shèng rén, 聖人) in der Philosophie von Guō Xiàng, siehe auch Brook Ziporyn, The Penumbra Unbound: The Neo-Taoist Philosophy of Guo Xiang, New York: State University of New York Press, 2003. 22 Zhuāng zǐ jí shì, Kap. 1, 1. juàn, 1. Tl., 20 Anm. 13. 23 Zhī Dùn soll eine Auslegung der »Inneren Kapitel« verfasst haben, von der jedoch nur wenige Fragmente erhalten sind. Dieses Fragment stammt ebenfalls aus dem oben genannten Kommentar von Liú Xiàobiāo. 21

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Revier ausgelebte Virtuosität als höchstes Glück, was – aus höherer Warte betrachtet – sich als Hochmut und Prahlerei entlarvt. Denn jenseits der Grenzen des menschlichen Daseins kann wahres Glück nicht mehr an ein Subjekt gebunden sein, noch den Grenzen von Raum und Zeit unterliegen: Der vollkommene Mensch reitet auf dem Maß des Himmels (tiān zhèng, 天正) erhoben in der Höhe. Sein Wandern ist von unerschöpflicher Freiheit (fànglàng, 放浪); »er macht die Wesen zu Wesen und wird nicht von den Wesen zum Wesen gemacht;« – so weitläufig (yáo rán, 遙然) ist es ganz ohne Selbstbezogenheit. Unbewusst und ohne Absicht ist sein Wirken, ohne Hast schnell am Ort zur rechten Zeit; – ganz unwillkürlich (xiāo rán, 逍然) erfüllt sich alles von selbst. 24

Guō Xiàngs Vorstellung, dass die Erfüllung des Abhängigkeitsverhältnisses, das Ausfüllen des Anteils der Natur, der menschlichen Existenz »Freiheit« geben kann, kann für Zhī Dùn nicht gelten. Erfüllung setzt ein Begehren voraus – und gerade dies ist dem xiāoyáo fern. Selbst jemand, der sich Übungen unterwirft und seine Begierden zurückhält, kann nicht dieser Logik entrinnen. So lehrt Zhī Dùn, dass selbst der Genügsame, der mit einem Bissen und einem Schluck satt ist, nicht den Geschmack aromatischer Speisen und süßen Weins vergessen habe. 25

6 Von Zhī Dùns Zhuāng-zǐ-Interpretation sind nur wenige Fragmente erhalten. Darin zeigt sich, dass Zhī Dùns Idee des xiāoyáo sich an der buddhistischen Vorstellung des Nirvāṇa anlehnt. Er zieht damit auch eine Trennung zwischen der buddhistischen Philosophie und den daoistischen Lehren, die aus seiner Sicht in seiner Zeit nicht mehr in der Lage waren, die grundlegende Transzendenz der menschlichen Existenz, die er auch im Zhuāng zǐ ausgesagt sieht, richtig zu erfassen. Seine Philosophie des xiāoyáo schließt soziale Implikationen mit ein, die in dem Disput um die weltliche Unabhängigkeit des buddhistischen Klosterwesens zum Vorschein kommen. In einem Brief an den Generalfeldmarschall Huán Xuán (桓玄; 369–404), datiert in das Jahr

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Yú Jiāxí, Shì shuō xīn yǔ jiān shū (s. Anm. 19), 260. Ebd.

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399 n. Chr., wird die Eigenständigkeit des religiösen Lebens mit der Ziellosigkeit eines leeren Bootes verglichen: Denn mit seinem Bezug zu der Welt gleicht der śramaṇa (buddhistische Mönch) einem leeren Boot, das einem großen Graben überlassen wurde. Sein Kommen dient keiner Sache, sein Gehen wird von der Fügung gelenkt. Innerhalb der vier Meere (eine Bezeichnung für das chinesische Reich) hat er keine eigene Bleibe. Fällt das Land, in dem er lebt, in Unordnung, geht er allein mit nicht mehr in der Hand als seinen Stab. Wo sich der Weg (auch die Ordnung des politischen Gemeinwesens wird darunter verstanden) einstellt, dort kommt er freudig mit seinen Gefährten zusammen. 26

Das Boot und der große Graben in dem Brief greifen eine berühmte Passage aus dem sechsten Kapitel des Zhuāng zǐ auf: Birgst du ein Boot in einem Graben, eine Reuse im Sumpf, 27 sagst du, es sei sicher. Doch wenn um Mitternacht ein Starker kommt, es schultert und davon trägt, dann wird ein Schlafender nichts davon merken. Kleines in Großem zu bergen mag von Vorteil sein, doch hat es noch Platz zum flüchten. Wenn du das Reich im Reich birgst, dann kann es nirgendwohin flüchten. Das ist die wesentliche Eigenschaft beständiger Dinge. Du freust dich selbst darüber, dass [dir] die Gestalt eines Menschen anheimfällt. Wenn die Gestalt eines Menschen in zehntausend Wandlungen nicht an ihr Ende stößt, so muss dies eine unbeschreibliche Freude sein. Daher wanderten die Göttermenschen dort, woraus kein Ding flüchten vermag und alle aufbewahrt sind. Dass sie zufrieden waren mit dem frühen Tod wie mit dem hohen Lebensalter, den Anfang gut heißen wie das Ende, genügt schon, dass andere sie nachahmen. Um wieviel mehr wäre dies [nachzuahmen], was die zehntausend Dinge verkettet und wovon jede einzelne Transformation abhängt! 28 Shí Jùn (石峻) et al. (Hg.), Zhōngguó Fójiào sīxiǎng zīliào xuǎnbiān (中國佛教思想 資料選編, »Quellensammlung zum chinesischen buddhistischen Denken«), 1. Bd., Beijing: Zhōnghuá shūjú, 1987 [Erstdruck 1981], 65. Der Brief wird einem gewissen Zhī Dàolín (支道林), ein anderer Name von Zhī Dùn, zugeschrieben, doch dem Datum nach kann er erst Jahrzehnte nach Zhī Dùns Tod verfasst worden sein. Zu einer Diskussion der Hintergründe siehe Zenryū Tsukamoto, A History of Early Chinese Buddhism. From his Introduction to the Death of Hui-yüan. Aus dem Japanischen übers. von Leon Hurvitz, Tōkyō: Kodansha, 1985, 828–830. 27 Die Übersetzung folgt der Konjektur von Yú Yuè (俞樾): An dieser Stelle ist nicht shān (山), »Berg«, zu lesen, sondern shàn (汕), »Fischnetz« (zitiert in Zhuāng zǐ jí shì, Kap. 6, 3. juàn, 1. Tl., 244 Anm. 2). 28 Zhuāng zǐ jí shì, Kap. 6, 3. juàn, 1. Tl., 243 f. 26

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Für den Verfasser des Briefes waren gerade die letzten Sätze aus dem Zhuāng zǐ von besonderer Bedeutung, ähneln sie doch der buddhistischen Vorstellung der Wiedergeburt und des karmischen Gesetzes. Das buddhistische Gesetz durchzieht alle Existenzformen, und es nachzuahmen und verehren, heißt, wie ein Boot in einem Fluss zu treiben. Auch wird im Zhuāng zǐ schon der Unterschied zwischen zwei Sichtweisen auf die Existenz getroffen: Die partikulare Sicht betrachtet die menschliche Existenz nur in dieser jetzt gegebenen Gestalt, ohne daran zu denken, dass noch andere folgen werden. Diese eignet sich den Hütern der Welt. Die universale, transzendentale dagegen geht nicht mehr von dem Gebilde selbst aus, sondern von seinem »Konstruktionsverfahren«. Gibt man sich diesem anheim, dann werden die Grenzen, die eine Gestalt von einer anderen abgrenzen, unwichtig. Denn auf die jetzige Gestalt folgt eine zweite und ihr eine dritte. Wie könnten diejenigen, die sich um diese Kette der Transformationen kümmern, sich unter den weltlichen Herrscher, der nur eine ihrer Erscheinungen kennt, stellen? Gerne übernimmt der Verfasser des Briefes den Gedanken der Verschiebung, dass das Begrenzte zu dem gemacht wird, was es begrenzt. Fallen Begrenztes und Begrenzendes in eins, dann verschwinden die Grenzen. Doch fügt er noch einiges aus seiner eigenen Vorstellung hinzu. Für Zhuāng zǐ bedeutet es, dass das Boot seine Form verliert, wenn es ganz den Graben ausfüllt. Für den Verfasser des Briefes ist diese Auflösung nicht mehr notwendig, hat er doch das Boot von seinen Leinen gelöst und ganz der Wasserströmung des Grabens überantwortet, die es stets zu einem neuen Ankerplatz bringen wird.

7 Die Philosophie des Zhuāng zǐ ist keine Philosophie der Hoffnung. Jeglichem Streben schlägt Skepsis gegenüber. Es ist eine Philosophie des »Selbst-Vergessens«. Sie kann sich damit auch nicht auf eine Grunderfahrung berufen, die dem Selbst Ausgangspunkt und Gewissheit bieten kann. Ein Satz wie »ich hoffe«, aus dem sie Vertrautheit gewinnen kann, ist ihr fremd. 29 Ihr Ansatzpunkt ist die gedankInteressanterweise besitzt die Philosophie des »Selbst-Vergessens« eine Brücke zu der Philosophie der Hoffnung in der Idee des Vertrauens. In der Philosophie des

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lich konstruierte Paradoxie, die in der Erfahrungswelt nachgezeichnet und aufgedeckt wird. Das »ich habe mich vergessen« führt unweigerlich zu Verstrickungen, deren Versuch, sie zu entwirren, in fortwährenden Aporien endet. 30 Eine Vermittlung bietet der Gedanke der »Wandlung«, die letztlich ein Nichts ausschließt und stets Existenz einfordert. Vor dem Hintergrund des »Selbst-Vergessens« verlangt »Wandlung« von dieser Existenz jedoch ein unentwegtes Anderssein und verneint mögliche Kontinuität außerhalb der Wiederholung des Aktes des Wandelns selbst. Jede individuelle Existenz ist damit an einen Zeit-Ort gebunden; vor ihr und nach ihr existiert ihr gegenüber Anderes. Die Frage nach der Existenz wird von der Spekulation des xiāoyáo aufgegriffen und zu einem eigenen Ansatz einer existentialistischen Fragestellung weitergeführt. Die existentielle Problematik der »Wandlung« gibt die Grundzüge von Bewegung und Verweilen vor, die die Spekulation des xiāoyáo nun ausfüllt. Die Bewegtheit des xiāoyáo löst die menschliche Existenz aus ihrer Verankerung mit den Bedürfnissen und Zielen des Lebens. Als ein Glied in der langen Kette der Wandlung sind ihr der Tod und alle folgenden Formationen und Vernichtungen von Existenz genauso wie ihre jetzige Ausstattung gegeben. Anders als die Reise kennt xiāoyáo kein Ziel und keine Richtung. Es setzt sich unentwegt fort, geht den gerade gegangenen Weg zurück, um, am Ausgangspunkt angekommen, ihn erneut zu gehen. Auf der anderen Seite muss die Verankerung erst gelöst werden, was einen Entschluss voraussetzt (im Bund der Todesverehrer ist man einander sogar mit Schwur verbunden) 31 und damit eine Bewegung benötigt, dass der »Modus« des xiāoyáo überhaupt erst sich einstellen kann. Mögliche Widersprüche, die sich in dieser ideellen Konstruktion leicht ergeben können, werden in der Philosophie des Zhuāng zǐ durch das Vergessen aufzufangen versucht, das eigentlich kein Streben nach Befreiung ist, aber durch die Kraft der Verneinung die Verankerung zu lösen vermag. »Selbst Vergessens« stellt sich Vertrauen jedoch nicht als eine Kraft der Hoffnung dar; ihr fehlt eine solche psychologische Basis. Das Vertrauen in die »Wandlung« lässt sich besser als ein »Seinsvertrauen« verstehen, das mit jedem Schritt des Selbst-Vergessens bestärkt wird. 30 Diese Aporien werden im zweiten Kapitel des Zhuāng zǐ aufgezeigt. 31 Zhuāng zǐ jí shì, Kap. 6, 3. juàn, 1. Tl., 264; R. Wilhelm, Dschuang Dsi (s. Anm. 6). 50.

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Die existentielle Bedeutung der Spekulation des xiāoyáo fand in der Antike zunächst keine Rezeption. Xiāoyáo wurde vielmehr psychologisch als erstrebenswerter Gleichmut, eine Ataraxie des Geistes, gedeutet. Erst zu Beginn des chinesischen Mittelalters, also im 3. und 4. Jh. n. Chr., stieß die existentielle Bedeutung der Spekulation auf Interesse. Die existentielle Philosophie des xiāoyáo akzentuiert sich dann als ein Gegenmodell zu dem Streben nach Transzendenz in Form der Unsterblichkeit. Guō Xiàng entkleidet die Spekulation um das xiāoyáo – eine Ausnahme stellen seine Überlegungen zu den »Göttermenschen« (shèng rén) dar – von jeglichen transzendenten Vorstellungen. Existenz »wandert« dann nur noch in ihren Grenzen. Selbst Wandlung wird immanent als ein je von jeder Existenz selbst vollzogener Akt gedacht (dú huà, 獨化). Umgekehrt versucht Zhī Dùn gerade das gedankliche Potential der Transzendenz des xiāoyáo herauszustellen, das in seiner ungebundenen und ziellosen Weitläufigkeit (yáo rán) der Bedürfnis- und Strebenatur des Menschen widerspricht – und damit auch den Wunsch nach Unsterblichkeit ausschließt –, als Unwillkürlichkeit (xiāo rán) wiederum der menschlichen Existenz Erfüllung verspricht. Die Bindung von Bewegtheit und Verweilen des xiāoyáo kommt in der Lesung des anonymen Briefschreibers am deutlichsten zur Geltung, wobei seine Interpretation auch den Charakter der »Wandlung« wesentlich ändert. Die konzeptionelle Engführung von Existenz und Wandlung der »Inneren Kapitel« des Zhuāng zǐ wird geweitet. Existenz findet nicht mehr allein als Wandlung statt, sondern in der Wandlung. So ist für den Autor nicht mehr das radikale Anderssein von Bedeutung, sondern das Anderswosein, zu dem ein losgelöstes Boot dann treiben kann.

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Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Renate Brandscheidt, Dr. theol. habil., em. Professorin für Exegese des Alten Testaments an der Theologischen Fakultät Trier; Forschungsschwerpunkte: Urgeschichte (Gen 1–11), Vätergeschichte (Abraham), Weisheit (Kohelet), biblisch-theologische Fragestellungen Florian Mittl, Dr. theol., Ausbildungsleiter im Zentrum der Theologiestudierenden Graz, Pastoralreferent, Mitarbeiter bei Pastoralinnovation; Schwerpunkte: Kirchliche Innovation und Themen aus dem Bereich Theologie – Kultur – Gesellschaft; Dissertation zu Gabriel Marcel Marc Röbel, Dr. theol. habil., Geistlicher Direktor der Katholischen Akademie Stapelfeld; Forschungsschwerpunkte: Existenzphilosophie (Peter Wust), Metaphysik (u. a. Paul Tillich), Sprachphilosophie (u. a. Ludwig Wittgenstein) und Augustinus-Forschung Dennis Schilling, Dr. phil. habil., Professor für chinesische Philosophie an der School of Philosophy der Renmin University of China in Beijing; Forschungsschwerpunkte: Chinesische Metaphysik, Erkenntnistheorie und Anthropologie; philosophische und philologische Studien zu dem »Buch der Wandlungen« (Yì jīng) Werner Schüßler, Dr. phil. habil., Dr. theol., Professor für Philosophie an der Theologischen Fakultät Trier; Forschungsschwerpunkte: Metaphysik, Religionsphilosophie (bes. Paul Tillich), Existenzphilosophie (Karl Jaspers, Peter Wust), Philosophische Anthropologie (u. a. Viktor E. Frankl), Theodizee sowie Disability Studies 175 https://doi.org/10.5771/9783495825426 .

Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Berthold Wald, Dr. phil. habil., em. Professor für Systematische Philosophie an der Theologischen Fakultät Paderborn; Forschungsschwerpunkte: Philosophie der Person, Tugendethik und Rechtsphilosophie; Herausgeber der Werke von Josef Pieper

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Personenregister

Abel 132 Abraham 22, 134–139, 151 Adam 129–132 Adorno, Th. W. 16, 17 u. 17 Amrouche, J. 111 21 Arendt, H 11 u. 1, 17 Aristoteles 81 28, 84 Augustinus 13 u. 10, 14, 15, 24, 25, 76, 80, 82, 83 41, 84, 86, 156 Ballhorn, E. 145 28 Balthasar, H. U. von 110 15 Batthyány, D. 87 51 Bauer, T. 102 129 Bauhofer, O. 92 u. 78 Baumann, Z. 9 Bayer, M. 98 110 Beckett, S. 69 98 Bender, N. 100 u. 122 Bergson, H. 106 6 Bernhart, J. 95 91 Berning, V. 106 6, 109 14, 111 19, 121 48, 124 52 Blattmann, E. 76, 77 11, 78 20, 79 22 u. 23, 85 46, 88 u. 55, 103 131 Bloch, E. 50 u. 4, 55 u. 30 u. 31, 58 u. 45, 60, 97 u. 106 Blondel, M. 79 Blumenberg, H. 11 u. 2 Boas 150, 151 38 Bonaventura 15 Brandscheidt, R. 22, 127, 130 9, 132 12, 133 14, 135 15, 137 18, 141 23, 145 30, 151 37 Bremond, H. 79 Bruno, G. 43 101

Buber, M. 40, 106 6 Calvin, J. 92 Camus, A. 26, 87 Cassirer, E. 23 Chéng Jùnyīng 158 3 Claudel, P. 75, 76, 111 21 Colin, P. 117 34, 118 36 Colli, G. 105 3 Colluto, M. A. 85 46 Congar, Y. 63 66 Curtius, E. R. 76 Daniélou, J. 63 66 Dannecker, K. P. 145 30 David 151 Delahaye, W. 88 u. 71, 96 Dèng Liánhé 166 15 Denzinger, H. 99 115 Descartes, R. 16 Deurloo, K. 144 26 Dionysius Areopagita 16 Du Bos, Ch. 78 Dürckheim, K. Graf 96 102 Eisler, R. 81 28 Elimelech 149, 151 38 Enomija-Lassalle, H. M. 96 102 Eva 129–132 Farin, M. 74 2 Fauré, G. 113, 114 Feldmeier, R. 131 10 Foelz, S. 79 22 Frankl, V. E. 29 26 Franz von Sales 92, 94

177 https://doi.org/10.5771/9783495825426 .

Personenregister Freud, S. 59 49 Frevel, Ch. 151 36 u. 37 Frings, M. S. 46 110 Fú Dìngyī 157 1 Gabriel, G. 12 4, 81 28 Galilei, G. 43 101 Gamper, M. 128 5 Garric, R. 117 34 Gehlen, A. 31 u. 38, 82, 89 Gilson, É. 121 47 Goethe, J. W. von 76, 78 17, 96, 101 Görg, M. 135 17 Gradl, H.-G. 45 109 Graham, A. C. 160 6, 168 20 Grawe, Ch. 17 18 Gros, F. 98 u. 110 u. 112 Groß, H. 135 17 Gründer, K. 12 4, 81 28 Guō Qìngfán 158 4 Guō Xiàng 157 2, 158 4, 167, 168 u. 19, 169 u. 21, 170, 174 Haag, E. 140 21 Halík, T. 100, 101 u. 123 Haran 136 Haupt, B. 128 4 Hausmann, J. 149 34 Hegel, G. W. F. 16, 84 Heidegger, M. 17 u. 19, 20, 24, 31, 50 u. 3, 52, 53 u. 19 u. 22, 59 u. 52, 60, 67 u. 80, 68, 69, 70, 80, 87, 88, 106 6, 109, 119, 125 Heide-Münnich, M. 12 3 Heinermann, F. 18 21 Heiser, P. 127 3 Henrici, P. 110 15 Herakles 12 5 Heraklit 12 u. 6 Herbers, K. 132 11 Hesiod 12 5 Hildegard von Bingen 15, 16 Hiob 46 Hoefeld, F. 122 49 Hoffmann, H. 74 1 Homer 84 Horkheimer, M. 16

Hossfeld, F. L. 145 27, 147 32 Huán Xuán 170 Hügli, A. 18 20 Huì Shī 164, 165 Huizingas, J. 23 Hünermann, P. 99 115 Huning, A. 94 88 Hurvitz, L. 171 26 Husserl, E. 94, 109 13 Huysmans, J.-K. 20, 74 u. 2, 76, 77, 78 u. 17, 100 u. 121 Jakob 148 Janssen, G. 47 116 Jaspers, K. 11, 17, 18 u. 20, 19, 21, 24– 48, 80, 87, 106 6 Jensen, R. 127 3 Jesus Christus 13, 22, 64, 101, 105 4, 131, 151, 152, 153–156 Johannes (Ev.) 155 Johannes vom Kreuz 94 Johannes XXIII. 69 98 Jonas, H. 23 Jung, T. 12 3 Kaegi, D. 32 39 Kain 132–134 Kaminski, M. 127 3 Kant, I. 31 39, 84 Keet, C. C. 145 28 Kierkegaard, S. 26 u. 8, 66, 68, 87, 106 6 Killisch-Horn, M. von 74 2 Köhlmoos, M. 149 34, 151 36 Konersmann, R. 12 4 Konfuzius 160, 161 Koßler, M. 94 86 Kötting, B. 128 4 Kranz, M. 81 28 Kreuzer, J. 14 14 Kuckartz, W. 82 u. 34 Kurrat, Ch. 127 3 Langkammer, H. 153 40, 154 42 Lewis, C. S. 58 u. 44 Liebenthal, W. 163 12 Lienau, D. 127 3, 128 5, 133 13, 138 19

178 https://doi.org/10.5771/9783495825426 .

Personenregister Lisson, F. 128 5 Liú Xiàobiāo 168 19, 169 23 Liú Yìqìng 168 19 Lohner, A. 85 46 Lot 136, 138 Ludz, U. 11 1

Plessner, H. 23 Plotin 13 Plügge, H. 64, 65 Pötter, K. 81 30, 82 32 Prodikos 12 5 Przywara, E. 59 u. 49

Mansfeld, J. 12 6 Manthey, F. 79 24 Marcel, A. 114 27 Marcel, G. 11, 17, 19, 21, 22, 63 66, 65, 74 3, 79 u. 21 u. 22, 104–126 Maritain, J. 92 Markus (Ev.) 153 Marquard, O. 23 Maxsein, A. 13 9 May, Ch. 127 3 Meiers, W. 76 8, 80 27, 82 33, 83 41, 86 50 Meister Eckhart 16, 96 102 Menander 101 Michelangelo 101 Mittl, F. 21, 104 Montinari, M. 105 3 Mose 140 21, 143 u. 24 Mosis, R. 146 32 Mugnier, A. 78 u. 17 Münch, F. X. 80 Muth, C. 95 90

Rauh, H. D. 87 51 Rauschenbach, S. 12 4 u. 5, 13 8 Rehberg, K.-S. 31 38 Rest, W. 81 30 Reuter, J. 128 5 Richter, H.-P. 151 38 Ricœur, P. 109 13 Ritter, J. 12 4, 17 18, 81 28 Röbel, M. 11, 20, 46 116, 74, 76 8, 79 23, 80 27, 83 37 u. 41, 84 43, 86 50, 88 55, 91 75, 96 101 Ruǎn Yuán 158 3 Ruf, W. 119 41 Ruhkopf, F. E. 127 2 Rut 22, 149–152

Nietzsche, F. 87, 105 3, 111 Nocke, F.-J. 111 20 Noomi 22, 149–152 Novalis 9, 10 Odysseus 16, 17 Orpha 150 Oswald, W. 140 21 Parain-Vial, J. 109 13 Pascal, B. 62 Paulus 53 22 Pfleger, K. 100 121 Pieper, J. 11, 17, 19, 20, 49–73, 74 3, 82 u. 33, 87 u. 53 u. 54 Pius XII. 99 u. 116 Platon 12, 31 39, 52 u. 13, 82, 107 7, 109 14

Saner, H. 18 20 Sänger, D. 153 41 Sartre, J.-P. 26, 34, 56, 62 64, 69 98, 79, 87, 125 Schaeidt, M. 45 109 Schäfer, U. 98 110 Scheler, M. 20, 46 110, 76, 79 Schelhas, J. 45 109 Schelling, F. W. 87 Schnackenburg, R. 154 43 Schneider, R. 124 55 Schneider, Th. 111 20 Scholz, H. 80 25 Schopenhauer, A. 58 Schumacher, B. N. 51 9, 53 19 Schüßler, W. 11, 18, 24, 28 18 u. 23, 40 80, 44 103 u. 104, 45 105 u. 109, 46 116, 47 116, 74 1 u. 4, 75 4, 80 27, 83 37, 84 43, 86 50, 88 55, 93, 94 86, 96 101 Scola, A. 110 15 Sedlmeier, F. 151 37 Sedmak, C. 87 51 Seneca 127 2 Seybold, K. 144 26, 145 29, 147 32

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Personenregister Shì Huìyuǎn 163 12 Shí Jùn 171 26 Sokrates 12, 43 101, 52 13, 93, 105 Speck, J. 109 14 Spieckermann, H. 131 10 Spranger, E. 103 Stein, E. 82, 94 u. 88 Szostak, W. 103 131 Tauler, J. 16, 94 Teilhard de Chardin, P. 50 u. 5 Teresa von Avila 94 Thomas von Aquin 14 u. 15, 16, 51, 53, 55 32, 57 36 u. 41, 60, 66 Tillich, P. 45 107, 46 u. 111 Tsukamoto, Z. 171 26 Tucker, G. H. 12 3 Underhill, E. 94, 95 u. 91 Utzschneider, H. 140 21 Veauthier, F. W. 74 4, 85 46 Vernekohl, W. 75 5, 80 25 u. 26 Vorholt, F. 82 Wahl, J. 32 39 Wald, B. 19, 20, 49 u. 1, 72 109, 87 53 Weber, B. 147 32 Weddige, H. 87 52

Weidmann, B. 33 50 Weiss, O. 78 19 Well, C. 96 102 Wén Yīduō 158 3 Westerkamp, D. 12 4 u. 7, 17 19 Wilhelm von Ockham 15, 16 Wilhelm, R. 160 6, 161 7, 162 8 u. 9 u. 10, 163 11, 164 13, 165 14, 166 15, 168 20, 173 31 Winter, M. 153 41 Wittgenstein, L. 62 64 Wust, P. 11, 17, 19, 20, 21, 74–103 Xiàng Xiù 157 2, 167 u. 17 Yú Jiāxí 168 19, 170 24 Yú Yuè 171 27 Zecher, R. 94 86 Zenger, E. 145 27, 149 34 Zhī Dàolín 171 26 Zhī Dùn 167, 169 u. 23, 170, 171 26, 174 Zhū Zìqīng 158 3 Zhuāng Zhōu 157 2, 164, 165 Zǐ Gòng 160, 161 Ziporyn, B. 169 21 Zmijewski, J. 147 32 Zsok, O. 87 51

180 https://doi.org/10.5771/9783495825426 .

Sachregister

Aberglaube 46 110 Abstraktion und Gegenwärtigkeit 21, 112–116 Actus 55 Agere sequitur esse 29 26 Agnostizismus 57 – Agnostiker 115 Alterität 125 Altes Testament 22, 129–152 Analogia entis 90 71 Angst 125 – existentielle 38 Anthropologie, philosophische 25, 76 Antinomie 39 Aporie 12 Ars interrogandi 12 Astronomie, moderne 55 Ataraxie 37, 38, 174 Auferstehung 22, 153 Aufklärung 17, 44, 50, 95 91 Automystifikation 116 32 Autosuggestion 116 32 Bewusstsein 118 – überhaupt 28, 40 – absolutes 27 15 Biologie 25, 28 Böses, Macht des 129 Brudermord 132–134 Buddhismus 163, 170, 172 – s. Philosophie Chiffer(n) 44 Cogito 107

Daoismus 158 2 – Weg (dào) 158, 169 Dasein 18, 34, 41 Daseinsanalyse 20 Differenz 161 Du, absolutes 21, 112, 122, 126 Ende 49, 66 Endlichkeit 64 Ens in actu/potentia 56 u. 52 Ens rationis 55 32 Epoché, eidetische 109 13 Erfüllung 59, 66 Erstprinzipien 89 Eschatologie, präsentische 14 Esse sequitur agere 29 26 Essentialismus 25 Existentialismus 26 – französischer 87 Existenz 19, 20, 23, 25, 27, 33, 110 – Diskretheit/Diskontinuität der 163 – Zeitlichkeit der 58–61 – mögliche 32 – viatorische 49–73 – vitale/geistige/übernatürliche 89 – als Seinkönnen 19, 26–34 – Existenz-Werdung 32 – Existenzerhellung 41 – Existenzverwirklichung 18 – s. Nicht-Existenz Existenzphilosophie 25, 102 – des xiāoyáo 157–174 – moderne 17, 18, 79 Exodus 139–144

181 https://doi.org/10.5771/9783495825426 .

Sachregister Freiheit 18, 25, 26, 27, 28, 30, 31, 32, 47, 48, 159, 166, 167, 168, 170 – existentielle 29 – Freiheitsbewusstsein 34 Gegensatz, logischer/realer 38, 39 Gegenwärtigkeit 112–116, 123, 125 57, 125, 126 – s. Abstraktion und Gegenwärtigkeit Geheimnis 104 2, 125 57, 126 – s. Problem und Geheimnis Gelassenheit, viatorische 70–73 Geschichtlichkeit 33 Glaube 14, 63, 64, 66, 110, 125 – philosophischer 19, 45 u. 107 – religiöser 93 – und Mystik 96 – und Unglaube 46 – und Zweifel 19, 45 – Glaubensgehorsam 136, 138 Glückseligkeit 53 Gnade 31 Gott 33, 57, 63, 89, 91, 127–156 – Tod 68 – Dass/Was 45, 46 – Schöpfergott 129, 131 – Gotteserkenntnis 90 – Gottesfrage 90, 97 – s. Du, absolutes – s. Transzendenz Gottebenbildlichkeit 90 71, 130 Gottesbeweis(e) 14, 90 69 Götze 46 110 Grenzsituation(en) 19, 34–40, 46, 47 Haben und Sein 21, 106–116 Handlungen, unbedingte 27 15 Heil 16, 66, 116 u. 32, 124, 136 – Universalität des 22 Heimatlosigkeit 86 49 Heimkehr 96–103 Herz, unruhiges 13 Hingabe 46 – s. Trotz und Hingabe Hoffnung 20, 21, 22, 23, 49–73, 131, 159, 173 29 – Begriff der 61–70

– die Gründe kennt 104–126 – Philosophie der 172 u. 29 Ich selbst 27 Ich überhaupt 26 Ich-Aspekte 26, 27 Idealismus, deutscher 105 u. 6 – englischer 105 6 In-der-Welt-Sein 20, 51–55, 62, 67, 87 54, 107 Indifferenz, stoische 125 Inkarnation 107 u. 7, 108 Insecuritas 89 – humana 94 – Insecuritas-Gesetzlichkeit 91 – Insecuritas-Schicksal 89 59 – Insecuritas-Situation 88 Intersubjektivität 105 3, 114 27, 123, 125 Introspektion 13 Karma 172 Kirche 98, 99, 101 Kommunikation 19, 40, 111, 121 – existentielle 40–43 Kontingenz 161 Körper 106–110 Kreatürlichkeit 59, 60 Leben 56, 61, 159, 160, 163, 165, 166 – als Pilgern 127–156 Lebenslust 38 Lebensphilosophie 76 Leib 106 Licht, Metapher des 90–91 Liebe 21, 22, 43, 105, 109 u. 13, 117, 118, 120 u. 44, 122, 123, 131 – blinde 42 – kämpfende 19, 42 Logik 89 Märtyrer 63 Meditation 96 u. 102 Memoria 14 Mensch, ganzer 83 – innerer 14 – vollkommener 169, 170

182 https://doi.org/10.5771/9783495825426 .

Sachregister – – – – – – – – –

als animal insecurum 97 als animal rationale 23 als animal symbolicum 23 als homo absconditus 23 als homo compensator 23 als homo faber 26 als homo laborans 26 als homo ludens 23 als homo naturaliter philosophus 89 – als homo oeconomicus 26 – als homo pictor 23 – als homo religiosus 97 – als homo sapiens 56 – als homo viator passim – als zoon logon echon 25 – als zoon politikon 25 – s. Pilgern Mensch-Sein 23 – als Auf-dem-Wege-Sein 18, 19, 24–48, 50, 51–61 Menschwerdung 23, 101, 102 Metanthropologie 110 15 Metaphysik 83, 110 15 – klassische 20 Metaphysikkritik 83 Musik 58, 113, 114 Mystik 15, 94, 95 u. 91 u. 92 – Unio mystica 32 – s. Glaube und Mystik Naivität/Pietät 85 Neues Testament 22, 131, 153–156 Neukantianismus 76, 84 Neuscholastik 98 Nicht-Existenz 163, 164, 165 Nichts 59, 60, 173 Nichtsein, vitales/existentielles 38 Nicht-Tun 160, 161, 164 Nirvana 170 Nominalismus 16 Noumenon 118 Nutzlos-Sein 164, 165 Offenbarung 14 Offenbarungsreligion 44 Optimismus, naiver 125

Periechontologie 40 Personalität, Ontologie der 64 Phainomenon 118 Phänomenologie 106 Philosophie 89, 91, 92, 93 – der Hoffnung 49–73 – der Wandlung 159, 163 – buddhistische 23 – szientifisches/existentielles Moment der 93 – Reflexionsphilosophie 106 – Weltanschauungsphilosophie 94 Pilgern 127–156 – Pilgerschaft 14, 96–103 – Pilgerweg 15 Positivismus 108 Potentia 55 Problem und Geheimnis 21, 110–112 Psychologie 25, 28, 29 Raum, Metapher des 88–90 Religion, natürliche 44 Renouveau Catholique 76, 78 Res 55 32 Satz des Widerspruchs 93 Scholastik 15 Schuld 30, 69 Seele 12, 123 52 Sein 62 – Bonität des 90 71 – Intelligibilität des 90 71 – zum Tode 20, 50, 51, 59, 60, 67, 68, 119 – Noch-nicht-Sein 54, 55–58 – s. Haben und Sein Seinsvertrauen 173 29 Selbst 21, 107, 108 Selbsttranszendierung 86 Selbst-Vergessen 172 u. 29, 173 Selbstwerden 30, 34–47 Sich-geschenkt-Werden 31, 32 Sinn 41, 87 Situation(en) 34, 35, 109 Solipsismus 117, 119 Sollen, sittliches 56 Sorge 125

183 https://doi.org/10.5771/9783495825426 .

Sachregister Soziologie 25, 28 Status comprehensatoris 19, 49, 53 u. 22, 54, 61 Status viatoris 19, 20, 49, 50, 51–61, 88 54 Subjekt 106, 107, 109, 110 Subjekt-Objekt-Gegensatz/Spaltung 96, 107 Sündenfall 129–132 Tapferkeit 38 Teilhabe 109 14, 111 Theodizee 46, 47 Theologie 32 39 Tier 89 Tod 22, 36, 37, 38, 52, 53, 59, 60, 61, 62, 64, 67–70, 71, 117, 119, 120, 121, 122, 123, 125, 159, 160, 161, 163, 165, 166, 173 – Flucht vor dem 69 – Todesangst 38 Transformation 167, 171, 172 Transzendenz 19, 22, 25, 26, 44, 96, 104 2, 111, 112, 120, 123, 159, 167, 174 – existentielle Bezüge zur 44–47 – Transzendenzbewusstsein 33 – Transzendenzerfahrung 125, 159 – s. Gott Traurigkeit 66 Treue 117 Trotz und Hingabe 19, 47 Tugend 56 Tugendethik 56 Tun-Ergehen-Zusammenhang 133 Ungeborgenheit 96 Ungesichertheit 21 Unglaube 45 – s. Glaube und Unglaube Unruhe 26, 80 – Unruhe-Motiv 13 Unsterblichkeit 33 u. 50, 37, 38, 117, 120, 174 Urgeschichte, biblische 129 6

Ursünde 134 Utopie 39 Vaticanum II 98 Vermessenheit 66 Vernunft 14 – instrumentelle 17 Verstand 41 Verzweiflung 49, 65, 66, 67–70, 121, 122, 123, 125 Via moderna 16 Via negationis 16 Via terrena 13 Viator 19, 50 – s. Existenz – s. Gelassenheit – s. Mensch – s. Status viatoris Vita beata 14 Wahl 29, 30 Wahrheit 89 – Weisen der 43 u. 101 Wallfahrt 22 – Wallfahrtspsalter 144–149 Wandlung 159, 162, 163, 164, 173, 174 – Gesetze der 161 Weg, Metapher des 91–96 – Wege-Motiv 11–23 – s. Daoismus Weltnatur 159, 161, 162, 164, 165 Weltseele 163 12 Weltverneinung 37, 38 Wiedergeburt 172 Wille 124 54 Wissenschaft(en) 89, 93 – Positivismus der 21 – positivistische 110 Xiāoyáo 22, 157–174 Zeit 14 Zeitlichkeit 51, 57, 67 Ziel 49, 66

184 https://doi.org/10.5771/9783495825426 .