119 93 14MB
German Pages 155 Year 1988
Beiträge zum Parlamentsrecht
Band 14
Der Machtverlust der Landesparlamente Historischer Rückblick, Bestandsaufnahme, Reformansätze Von
Dr. Hermann Eicher
Duncker & Humblot · Berlin
HERMANN EICHER
Der Machtverlust der Landesparlamente
Beiträge zum Parlamentsrecht Herausgegeben von Norbert Achterberg t
Band 14
Der Machtverlust der Landesparlamente Historischer Rückblick, Bestandsaufnahme, Reformansätze
Von Dr. Hermann Eicher
Duncker & Humblot . Berlin
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Eicher, Hermann: Der Machtverlust der Landesparlamente: histor. Rückblick, Bestandsaufnahme, Reformansätze / von Hermann Eicher. Berlin: Duncker u. Humblot, 1988 (Beiträge zum Parlamentsrecht; Bd. 14) Zugl.: Mainz, Univ., Diss., 1987 ISBN 3-428-06403-8 NE:GT
Alle Rechte vorbehalten © 1988 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: Klaus-Dieter Voigt, Berlin 61 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3-428-06403-8
Meiner Mutter zum Dank, meinem Vater zum Gedenken
Vorwort Die Idee zu dieser Arbeit wurde in der Zeit geboren, als ich als Rechtsreferendar im wissenschaftlichen Dienst beim Landtag Rheinland-Pfalz die vielfältigen Problemfelder rund um das Thema "Länderparlamentarismus" kennenlernen durfte. Daß gerade der rheinland-pfälzische Landtag eine "Vorreiterrolle" in bezug auf die Stärkung der Kompetenzen der Landesparlamente übernommen hat, hängt sicherlich mit dem unermüdlichen Wirken des ehemaligen Landtagspräsidenten Albrecht Martin zusammen, der sich auch in seiner Funktion als Minister für Bundesangelegenheiten diese Thematik zu einem persönlichen Anliegen gemacht hat. Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 1986/87 vom Fachbereich Rechts- und Wirtschaftswissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz als Dissertation angenommen. Inniger Dank gilt meinem unvergessenen Vater, ohne dessen vielfältige Hilfe und Unterstützung diese Arbeit nicht hätte entstehen können. Mein besonderer Dank gilt dem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. iur. Litt. D. h. c. Peter Schneider für die Betreuung der Arbeit und dem Zweitberichterstatter, Herrn Prof. Dr. Christoph Trzaskalik, der die Arbeit während meiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an seinem Lehrstuhl durch wertvolle Hinweise gefördert hat. Ich danke Herrn Landtagsdirektor Walter P. Becker und Herrn Ministerialdirigenten Dr. Paul Georg Schneider stellvertretend für den gesamten wissenschaftlichen Dienst beim Landtag Rheinland-Pfalz für die mir gewährte Unterstützung. Herrn Prof. Dr. Norbert Achterberg bin ich für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe "Beiträge zum Parlamentsrecht" zu Dank verbunden. Schließlich danke ich meinem ehemaligen Assistentenkollegen Michael Hann für die unermüdliche moralische Unterstützung. Mainz, im Juli 1987
Hermann Eicher
Inhaltsverzeichnis Einführung
19
Teil 1
Die historische Entwicklung A. Die Entwicklung im Deutschen Reich von 1871 ........................ I. Die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Reich und
22 22
Ländern und ihre Entwicklung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
23
II. Die Stellung der Landtage im Rahmen der Finanzverfassung des Reiches
25
IH. Die Beteiligung der Landtage an der einzelstaatlichen Einflußnahme auf den Reichswillen ..........................................
27
IV. Die Präjudizierung der Landtage durch interföderale Absprachen
29
B. Die Entwicklung in der Weimarer Republik von 1919 ................... I. Die Stellung der Landesparlamente nach Einführung der parlamenta-
rischen Demokratie
30
...........................................
30
II. Die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Reich und Ländern und ihre Entwicklung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
31
IH. Die Stellung der Landtage im Rahmen der Finanzverfassung der Weimarer Republik ...............................................
34
IV. Die Beteiligung der Landtage an der einzelstaatlichen Einflußnahme auf den Reichswillen ..........................................
35
V. Die Präjudizierung der Landtage durch interföderale Absprachen
37
C. Die Landesparlamente im Dritten Reich (1933 - 1934) ..................
38
D. Die Landesparlamente in der Nachkriegszeit (1946 - 1949) ..............
40
E. Die Gründungsphase der Bundesrepublik Deutschland und ihre Bedeutung für die Stellung der Landesparlamente ...............................
42
I. Die Einsetzung des Parlamentarischen Rates ......................
42
II. Die Arbeit des Parlamentarischen Rates ... . ......................
43
10
Inhaltsverzeichnis
Teil 2 Die Landesparlamente im System des GG A. Fragestellung
46
....................................................
46
B. Die Landesparlamente und das bundesstaatliche Prinzip .. . ....... . .. . ..
47
I. Die Gliederung des Bundes in Länder ............................
47
1. Die Existenz mehrerer Entscheidungszentren ...................
47
2. Die Staats qualität von Zentralstaat und Gliedstaaten ............
48
3. Mindestbestand an Gesetzgebungskompetenzen als Essentiale der Staatlichkeit ..............................................
49
11. Die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung . . . ..
49
1. Die Garantie eigener Gesetzgebung
49
2. Abweichende Auffassung ............... . .... . .... . .. . .. . ....
50
III. Der Landtag und das Gesetzgebungsrecht
50
IV. Ergebnis .................................................... .
51
C. Der Stellenwert der Landesparlamente unter gewaltenteilenden Aspekten .
51
I. Die Verschränkung von horizontaler und vertikaler Gewaltenteilung ..
51
11. Das Problem der Kompetenzkompensation ....................... .
52
III. Gewaltenteilung und parlamentarisches Regierungssystem ......... .
54
1. Der Einfluß des von den politischen Parteien getragenen parlamentarischen Regierungssystems auf die Stellung der Landesparlamente
55
2. Die Auswirkungen der Gewaltenverschränkung auf die Stellung der Landesparlamente ......................................... .
58
IV. Ergebnis .................................................... .
60
D. Standort und Stellenwert der Landesparlamente im Rahmen des Demokratieprinzips ................................................... .
61
I. Die Landtage und das Spannungsverhältnis von bundesstaatlicher Ord-
nung und Demokratieprinzip .................................. .
61
1. Die Auswirkungen der unitarisch-zentralistischen Tendenzen .... .
61
2. Die Auswirkungen der unitarisch-kooperativen Tendenzen
63
a) Die stärkere demokratische Legitimation des Parlaments ..... .
64
b) Die Öffentlichkeitsfunktion des Parlaments
66
................ .
c) Die Kontrollfunktion der Landesparlamente
67
11. Die Landtage und die positiven Wechselwirkungen von bundesstaatlicher Ordnung und Demokratieprinzip .......................... .
70
1. Der Geltungsbereich des Art. 79 Abs. 3, 3. HS .................. .
70
Inhaltsverzeichnis
11
2. Der Sinngehalt der bundesstaatlichen Ordnung .................
70
a) Der Erhalt der geschichtlichen Individualität der Einzelstaaten .
71
b) Das Subsidiaritätsprinzip .................................
71
c) Ergänzung und Verstärkung der Elemente der Demokratie .....
72
d) Ergebnis ...............................................
74
E. Zusammenfassung .. . .............................................
74
Teil 3
Die verlorene "Macht" der Landesparlamente
76
A. Machtverlust durch eine Verschiebung der Kompetenzen im Verhältnis Bund/Länder ....................................................
76
1. Verlagerung der Gesetzgebungszuständigkeiten .. . . . . . . . . . . . . . . . . ..
76
11. Exemplarische Betrachtung der weiteren, für den Machtverlust der Landesparlamente relevanten Faktoren im Bereich der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern .............................
77
1. Der Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung .................
77
2. Der Bereich der Rahmengesetzgebung .........................
78
3. Die Entwicklung der Finanzverfassung und ihre Auswirkung auf die Stellung der Landesparlamente ...............................
79
a) Die Entwicklung bis zur großen Finanzreform im Jahre 1969 ...
79
b) Die Entwicklung nach der großen Finanzreform im Jahre 1969
80
4. Völkerrechtliche Verträge des Bundes über Gegenstände der Landesgesetzgebung ..............................................
82
B. Machtverlust durch eine Verschiebung der Kompetenzen im Verhältnis Europa/Länder ...................................................
83
1. Die Eingriffe in Bereiche der Landesgesetzgebung durch Regelungen derEG ......................................................
83
11. Ausblick auf den Verfassungsentwurf einer Europäischen Union und dessen Auswirkung auf die Stellung der Landtage . . . . . . . . . . . . . . . . ..
84
C. Machtverlust durch eine Verschiebung der Kompetenzen im Verhältnis Regierung/Parlament ..............................................
86
I. Die Mitwirkungsbefugnis an höherstufigen Entscheidungsprozessen ..
86
1. Die Gründe für die Machtverschiebung zwischen Regierung und Parlament ....................................................
86
2. Die Notwendigkeit einer Beteiligung der Landesparlamente .......
87
12
Inhaltsverzeichnis 11. Die höherstufigen Entscheidungsprozesse im einzelnen
88
1. Die Regierungen als Mitwirkende im Bundesrat .................
88
a) Die normative Regelung nach Art. 51 GG ....................
88
b) Die mittelbare Einschaltung der Landesparlamente ...........
88
2. Die Landesregierung als Beteiligte an Entscheidungen auf EGEbene ....................................................
89
a) Normative Regelung nach § 85 a GGO 11 ....................
89
b) Die mittelbare Beteiligung der Landesparlamente ............
90
3. Die Landesregierung als Beteiligte beim Abschluß völkerrechtlicher Verträge ..................................................
91
a) Die Regelung nach dem Lindauer Abkommen ... . ............
91
b) Die Beteiligung der Landtage
.............................
91
4. Die Landesregierung als Beteiligte bei bundesgesetzlichen Verordnungsermächtigungen nach Art. 80 Abs. 1 GG ..................
92
5. Die Präjudizierung der Landtage im Bereich der Entscheidungen des kooperativen Föderalismus ..................................
93
a) Die Kooperation auf der "Dritten Ebene" ................... aal Staatsverträge der Gliedstaaten untereinander ........... bb) Fachministerkonferenzen und andere Koordinationsgremien
94 94 96
b) Die Kooperation auf der "Vierten Ebene" ................... aal Bund-Länder-Abkommen ............................. bb) Bund-Länder-Gremien ............. . .................
97 97 98
111. Die Wahrnehmung der Staatsaufgabe Planung
....................
1. Die Gründe für die Machtverschiebung zwischen Regierung und Par-
98
lament ....................................................
98
2. Die Notwendigkeit einer Beteiligung der Landesparlamente ... . . ..
99
3. Die Mitwirkung der Landesparlamente am Beispiel der Rahmenplanung nach Art. 91 a GG ..................................... 100
Teil 4 Die Gründe für die zentripetale Entwicklung der bundesstaatlichen Ordnung
102
A. Fragestellung .................................................... 102 B. Die Auswirkung egalitärer Tendenzen auf die bundesstaatliche Struktur .. 103 I. Die Vereinheitlichung der Lebensverhältnisse ..................... 103 1. Das Sozialstaatsprinzip
..................................... 103
2. Grundrechtsschutz gegen bundesstaatliche Vielfalt .............. 104
Inhaltsverzeichnis
13
11. Zentralisierung als Effizienzsicherung
105
111. Sachliche Unitarisierung als administrative Abwehrstrategie ........ 106 C. Die Nachgiebigkeit der Verfassung gegenüber egalitären Tendenzen ...... 107 I. Das Verfahren der Verfassungsänderung im Bereich der Gesetzgebungskompetenzen ................................................. 107 11. Art. 72 Abs. 2 GG als Ursache egalitärer Tendenzen .... . ........... 108 III. Ergebnis ..................................................... 109
Teil 5 Reformansätze
111
A. Die maßgeblichen Initiatoren der Reformvorschläge
111
B. Die verschiedenen Reformansätze ................................... 112 1. Die Beteiligung der Landesparlamente an höherstufigen Entscheidungsprozessen .................................................... 113 1. Die Praxis in den einzelnen Bundesländern ......... . ........... 113
a) Staatsverträge und Verwaltungsabkommen ...... . ........... 113 b) Gemeinschaftsaufgaben ................... . .. . .... . ...... 115 aal Rahmenpläne nach Art. 91 a GG ....................... 115 bb) Vereinbarungen nach Art. 91 b GG ..................... 116 c) Bundesratsangelegenheiten ............................... 116 d) Koordinationsgremien der Regierungen, insbesondere Fachministerkonferenzen ......................................... 119 e) Angelegenheiten der Europäischen Gemeinschaften, soweit Kompetenzen der Länder berührt werden ....................... 120 2. Abschließende Bewertung der Unterrichtungsregelungen ......... 121 11. Stärkung der Landesparlamente durch den Einbau von Sicherungen in das Grundgesetz .............................................. 122 1. Die Beteiligung der Landesparlamente am Verfahren der Verfas-
sungsänderung ............................................. 122
2. Die Beteiligung der Landesparlamente bei Übertragung von Hoheitsrechten der Länder durch den Bund nach Art. 24 Abs. 1 GG ....... 123 3. Neufassung der Bedürfnisklausel des Art. 72 Abs. 2 GG
.......... 124
4. Neufassung des Begriffs Rahmengesetzgebung .................. 126 5. Verlängerung der Frist für die Stellungnahme des Bundesrates im Gesetzgebungsverfahren ..................................... 127
14
Inhaltsverzeichnis 6. Gesetzgebungsrecht der Landesparlamente bei bundesgesetzlichen Verordnungsermächtigungen zugunsten der Landesregierungen gemäß Art. 80 Abs. 1 GG ...................................... 128 III. Stärkung der Landesparlamente durch Aufgabenneuverteilung ...... 129 1. Revision des Gesetzgebungskatalogs des GG .................... 129
2. Abbau des kooperativen Föderalismus ......................... 131 a) Überregionale Koordinationsgremien ....................... 131 b) Staatsverträge der Gliedstaaten untereinander ............... 132 c) Gemeinschaftsaufgaben und Mischfinanzierungen ............ 133 3. Die Beteiligung der Landesparlamente an staatsleitenden Entscheidungen ................................................... 134
c.
Ergebnis
........................................................ 136 Schlußbetrachtung
137
Schrlfttumsverzeichnis
139
Abkürzungsverzeichnis a.A.
anderer Ansicht
a.a.O.
am angegebenen Ort Abgeordneter
Abg. Abs.
Absatz
AK-GG
Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (Alternativ-Kommentar zum ßrundgesetz)
Anm.
Anmerkung
AöR
Archiv des öffentlichen Rechts
ARGEBAU
Arbeitsgemeinschaft der für das Bau-, Wohnungs- und Siedlungswesen zuständigen Minister
Art.
Artikel
Auf!. BayVBl.
Auflage Bayerische Verwaltungsblätter
BBesG
Bundesbesoldungsgesetz
Bd.
Band
BesVNG
Gesetz zur Vereinheitlichung und Neuregelung des Besoldungsrechts in Bund und Ländern
BGBL
Bundesgesetzblatt
Bo-Ko
Kommentar zum Bonner Grundgesetz (Bonner Kommentar)
BR BRD
Bundesrat Bundesrepublik Deutschland
BT
Bundestag
BVerfGE
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
BW
Baden-Württemberg
bzw. ders.
beziehungsweise
d.h.
das heißt
derselbe
Diss.
Dissertation
DJZ
Deutsche Juristenzeitung
DÖV
Die öffentliche Verwaltung
Drucks.
Drucksache
DVBl.
Deutsches Verwaltungsblatt
EEAG EG EuGRZ
Gesetz zur Einheitlichen Europäischen Akte Europäische Gemeinschaften Europäische Grundrechte-Zeitschrift
16
Abkürzungsverzeichnis
EvStL
Evangelisches Staatslexikon
EWG
Europäische Wirtschaftsgemeinschaft
f., ff.
folgende (Seite), folgende (Seiten)
FAZ
Frankfurter Allgemeine Zeitung
FG
Festgabe
Fn.
Fußnote
FS
Festschrift
GG
Grundgesetz
GGOII
Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien, Besonderer Teil i. d. F. v. 15.10.1976
GMBl.
Gemeinsames Ministerialblatt
GO
Geschäftsordnung
GS GVBl.
Gedächtnisschrift
HA
Hauptausschuß des Parlamentarischen Rates
HchE
Herrenchiemseer Entwurf
HdbDStR
Handbuch des Deutschen Staatsrechts
HGrG
Gesetz über die Grundsätze des Haushaltsrechts des Bundes und der Länder
h.L.
herrschende Lehre
h.M.
herrschende Meinung
Gesetz- und Verordnungsblatt
hrsg.
herausgegeben
HS
Halbsatz
i.d.F.
in der Fassung
i.S.
im Sinne
i.V.m.
in Verbindung mit
JuS
Juristische Schulung
JöR
Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart
JW
Juristische Wochenschrift
JZ
J uristenzei tung
LPIG
Landesplanungsgesetz
LS
Landessatzung
LT
Landtag
LV
Landesverfassung
ME
Musterentwurf
m.w.N.
mit weiteren Nachweisen
Nds.
Niedersachsen
NJW
Neue Juristische Wochenschrift
Nr.
Nummer
NRW NVwZ
Nordrhein -Westfalen Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht
Abkürzungsverzeichnis o.a.
oben angeführt
OLG
Oberlandesgericht
PolG
Polizeigesetz
PVS
Politische Vierteljahresschrift
RaumOG
Raumordnungsgesetz
Rdnr.
Randnummer
RGBl. Rhl.-Pf.
Reichsgesetzblatt Rheinland-Pfalz (rheinland-pfälzisch)
Rspr.
Rechtsprechung
RV
Reichsverfassung
RVO Rz
Rechtsverordnung
S.
Seite Schleswig-Holstein
SH
17
Randziffer
SL
Saarland
sog.
sogenannt
Sp.
Spalte
StabG
Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft
Sten. Ber.
Stenographische Berichte
Tz.
Textziffer
Verf. VerwArch
Verfassung
vgl.
vergleiche
Verwaltungsarchiv
VVDStRL
Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer
WaffG
Waffengesetz
W.-B.
Württemberg-Baden
WeinG W.-H.
Weingesetz
z.B.
zum Beispiel
ZfP
Zeitschrift für Politik
Ziff.
Ziffer
ZParl
Zeitschrift für Parlamentsfragen
ZRP
Zeitschrift für Rechtspolitik
2 Eicher
Württemberg-Hohenzollern
Einführung "Die Dauerkrise der Landesparlamente"l-, "Sind die Parlamente nur noch Ratifikationsämter?" 2 -, "Schwindendes Ansehen der Landesparlamente beklagt"3-, "Die Auszehrung der Landtage"4 -, "Hat der Landtag genug zu tun?"5_, "Die Krankheit der Landesparlamente"6-, "Die Landtage sollen sich besinnen"7-, "Mehr Kompetenzen für die Landtage gefordert"8-, "Die Aushöhlung der Landtage"9-, "Was haben die Landtage noch zu sagen?" 10 -, "Landtage wollen mehr Macht"ll-, "Länderparlamente wollen mehr Kompetenzen im föderalen System"12-. Diese Überschriften aus der Tagespresse, die beliebig vermehrt werden könnten, signalisieren ein Problem, das mit der Zeit immer deutlicher zutage tritt: den Kompetenz- bzw. Machtverlust der Landesparlamente 13 . Für die zunehmende Bedeutungslosigkeit der Landtage sollen vor allem folgende Faktoren ausschlaggebend sein: Der politische Gestaltungsspielraum der Länder wird durch eine fortwährende Kompetenzverlagerung zum Bund imme~ kleiner. Damit einher geht eine Verschiebung der GewaltenteiSüddeutsche Zeitung vom 27.10.1978. Frankfurter Rundschau vom 17. 2.1978. 3 Frankfurter Rundschau vom 6. 3. 1980. 4 FAZ vom 18. 10. 1981. 5 FAZ vom 2. 1. 1982. 6 Süddeutsche Zeitung vom 29.6. 1982. 7 FAZ vom 10. 2. 1983. 8 Die Welt vom 23. 3. 1983. 9 Die Welt vom 7.4.1983. 10 FAZ vom 11. 5. 1984. 11 Mainzer Allgemeine Zeitung vom 10. 1. 1985. 12 FAZ vom 10. 1. 1985. 13 Böckenförde, FS Schäfer, S. 166 spricht von einer Tendenz zur Entparlamentarisierung. 1
2
2'
20
Einführung
lung innerhalb der Länder, weil die Landesregierungen über ihr Wirken im Bundesrat einen Machtzuwachs erfahren. Vor diesem Hintergrund wäre es ungenau, von einem generellen Kompetenzverlust "der Länder" zu sprechen, ohne noch genauer nach den einzelnen Gewalten zu unterscheiden und zu erkennen, daß gerade die Landesparlamente betroffen sind 14 • Auch die immer perfekter werdende interföderale Kooperation 15 spielt sich auf Regierungsebene ab und eröffnet den Parlamenten keine Mitentscheidungskompetenzen und faktisch nur schwache Einfluß- und Kontrollmöglichkeiten. Ebenso verhält es sich mit der weitgehend im Exekutivbereich angesiedelten politischen Planung. Schließlich wird das substantielle Gewicht der Landesparlamente auch durch die Übertragung von Landeskompetenzen auf die Europäischen Gemeinschaften im Rahmen des Art. 24 GG erheblich gemindert. Nach dem im Februar 1984 vorgelegten Verfassungsentwurf für eine Europäische Union 16 , soll diese Kompetenzverlagerung gerade in Bereichen bisheriger Landesdomänen noch erheblich ausgedehnt werden. Zwar wird die These von der Entmachtung der Landesparlamente von fast allen Politikern und Wissenschaftlern geteilt 17 , aber die Stellung der Landesparlamente und die Vorschläge zu ihrer Stärkung sind bisher - soweit ersichtlich - noch nicht hinreichend wissenschaftlich aufgearbeitet worden18 • Es fehlt insbesondere an einer über punktuelle Ansätze hinausgehenden Gesamtschau der negativen Entwicklung, die aus der Summe der - je für sich gesehen - rechtspolitisch zulässigen Entscheidungen den Blick auf die verfassungsrechtliche Dimension der Problematik erst freigibt. Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit ist die Analyse ähnlicher Entwicklungen in der deutschen bundesstaatlichen Entwicklungsgeschichte von 1879 bis 1949, aus der sich auf strukturelle Mängel der Bundesstaatskonstruktion schließen läßt, die bis heute fortwirken. Diesen Gedanken hebt Leisner, DÖV 1968, S. 368 hervor . Der Begriff des "kooperativen Föderalismus" hat in die verfassungsrechtliche Auseinandersetzung in der Bundesrepublik Eingang gefunden durch die Kommission für die Finanzreform, Gutachten (sog. Troeger Gutachten), Tz. 73 - 77, S. 19 ff. 16 Vgl. dazu BT-Drucks. 10/1423 und Das Parlament 1984, Nr. 11, S. 18. 17 Vgl. statt vieler Stern, Staatsrecht I, S. 755 mit Fn. 681; Herbert Schneider, S.129; Klatt, Parlamentarisches System, S.10; ders., Reform und Perspektiven, S. 7 f.; Linck, DÖV 1979, S. 117; Lemke, FS Schäfer, S. 201; Eicher, Das Parlament 1982, Nr. 16, S. 7. 18 Eine monographische rechtswissenschaftliche Arbeit über die Landesparlamente fehlt gänzlich. Aus politologischer Sicht geschrieben sind die Arbeiten von Herbert Schneider, Länderparlamente in der Bundesrepublik, und die mehrere Arbeiten vereinigende Schrift von Friedrich, Landesparlamente in der Bundesrepublik. Einen sozialwissenschaftlichen Ansatz hat die Arbeit von Gleitmann, Der bayerische Landtag - Eine Funktionsanalyse unter besonderer Berücksichtigung der Gesetzgebung in der 7. Wahlperiode (1970 - 74). 14
. 15
Einführung
21
Daran knüpft die Frage an, ob die Landesparlamente konstitutiver Bestandteil eines funktionierenden bundesstaatlichen, rechtsstaatlichen und demokratischen Systems i. S. des GG sind. Dem Ergebnis dieser Untersuchung wird sodann das gegenwärtige "Krankheitsbild" der Landtage gegenüberzustellen sein 19 . Es wird sodann zu erörtern sein, inwieweit Verfassungswirklichkeit und Verfassungsanspruch sich noch decken 2o , und welche Ursachen für die sich immer weiter öffnende Schere zwischen Normativität und Faktizität verantwortlich sind. Schließlich werden Vorschläge zu einer Verbesserung der Lage der Landesparlamente daraufhin zu untersuchen sein, ob sie aus dem Dilemma tatsächlich herausführen oder ob es sich bei ihnen lediglich um "untaugliche Kosmetik"21 handelt. Wie aktuell das vorliegende Thema geworden ist, zeigt sich an den vielfältigen Initiativen zur Wiederbelebung und Stärkung des Landesparlamentarismus in jüngster Zeit 22 .
19 20
Vgl. dazu auch die "Bestandsaufnahme" bei Stober, S. 15 ff.
Rupp, FG Gesellschaft für Rechtspolitik, S.377 spricht vom "Ist-Befund des
bundesdeutschen Föderalismus", der "bekanntlich in umgekehrtem Verhältnis zum verfassungsnormativen Soll-Zustand" stehe. 21 Böckenförde, FS Schäfer, S. 186. 22 Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang eine Entschließung der 56. Konferenz der Präsidenten der deutschen Landesparlamente vom 14. Januar 1983 unter Federführung von Rheinland-Pfalz (abgedruckt in LT Rhl.-Pf. Drucks. 10/22) und die Konstituierung einer interfraktionellen Arbeitsgruppe "Kompetenzen der Landtage" unter Vorsitz des damaligen rheinland-pfälzischen Landtagspräsidenten Martin am 29. 11. 1983 in Mainz (vgl. dazu Staatszeitung Rhl.-Pf. 1983, Nr.48, S. 5), die ihre Tätigkeit mit einer Entschließung am 30.11. 1984 beendet hat (abgedruckt in LT Rhl.Pf. Drucks. 10/1150). Ferner sind zu nennen: Tagung der deutschen Vereinigung für Parlamentsfragen zum Thema "Zur Lage des parlamentarischen Systems in den Bundesländern - Chancen und Grenzen der Länderparlamente" am 19. 3. 1984 in Mainz (vgl. dazu ZParl1984, S. 333 ff.) und eine Tagung des Arbeitskreises Christlich Demokratischer Juristen in Rheinland-Pfalz zum Thema "Die Stärkung der Eigenstaatlichkeit der Länder: Ein Auftrag zur Erhaltung der bundesstaatlichen Ordnung" am 17. 11. 1983 in Mainz. Schließlich fand am 26./27. 6. 1986 in Pass au ein Symposion des Bayerischen Landtags und der Universität Passau zum Thema "Das Selbstverständnis des Landesparlamentarismus" statt.
TEIL 1
Die historische Entwicklung A. Die Entwicklung im Deutschen Reich von 1871
Bei einem Rückblick in die deutsche bundes staatliche Entwicklungsgeschichte zeigt sich, daß die zunehmende Entmachtung der Landesparlamente kein Phänomen der Nachkriegszeit ist, sondern daß mit der Gründung des Deutschen Reiches im Jahre 1871 auch das Thema der staatsrechtlichen Depossedierung 1 der Landtage 2 geboren war. Mit der Gründung eines deutschen Bundesstaates 3 im Jahre 1871 begann nämlich der Kampf zweier entgegengesetzter Strömungen, der jedem Bundesstaat immanent ist: Der Kampf zwischen Föderalismus und Unitarismus 4 • Im folgenden sollen daher die unitarischen Tendenzen aufgezeigt werden, die seit der Reichsgründung die Landtage in ihrer Stellung als politische Machtzentren einschränkten, reichs spezifische Besonderheiten 5 einmal ausgenommen. Vier Bereiche, die auch heute zu den neuralgischen Punkten zählen, verdienen nähere Aufmerksamkeit: Die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Reich und Ländern, die Stellung der Landtage im Rahmen der Finanzverfassung, die Beteiligung der Landtage an der einzelstaatlichen Einflußnahme auf den Reichswillen und die Präjudizierung der Landtage durch interföderale Absprachen. 1 Diesen Begriff verwandte Bilfinger, S. 108 bereits im Jahre 192~: In neuerer Zeit ist dieser Begriff für das angesprochene Phänomen von Lenz, DOV 1977, S.158, Hesse, Bundesstaat, S. 20 und Lemke, FS Schäfer, S. 201 gebraucht worden. 2 Terminologisch wurden früher nur die Zusammenkünfte der Ständeversammlung bzw. der Kammern als "Landtag" bezeichnet (vgl. z.B. §§ 21, 26 Bayerische Verfassung von 1818; Art. 84, 85, 91, 101 Hessische Verfassung von 1820; §§ 115,118 Sächsische Verfassung von 1831; § 127 Württembergische Verfassung von 1819). Nachdem aber im Jahre 1848 die Kammern der Abgeordneten in den Ländern eine veränderte Zusammensetzung erhalten hatten, wurde der Ausdruck Ständeversammlung nicht mehr gebraucht und nur noch vom "Landtag" gesprochen. Vgl. insoweit auch Bluntschli/Brater, S. 277; v. Seydel, Staatsrecht, S. 50 Anm. 2; Meyer/Anschütz, S. 329. 3 Zur rechtlichen Qualifikation als Bundesstaat vgl. Meyer/Anschütz, S. 224 ff. mit umfassenden Literaturangaben, S. 224 Fn. 2, auch den für einen Staatenbund sprechenden. 4 Vgl. Triepel, Unitarismus, S. 10. 5 So vor allem die unitarischen Tendenzen, die aus der Hegemonialstellung Preußens resultierten.
A. Die Entwicklung im Deutschen Reich von 1871
23
I. Die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Reich und Ländern und ihre Entwicklung
Betrachtet man die Reichsverfassung von 1871 in ihrer ursprünglichen Anlage, so stellt man fest, daß die Gesetzgebungskompetenzen eher föderalistisch verteilt waren. Das Selbstbestimmungsrecht der Einzelstaaten war grOß6. Dies hatte seinen Grund vor allem darin, daß die Verfassung von der Zustimmung aller Einzelstaaten getragen wurde 7 und die Reichsgründung auch dadurch erleichtert wurde, daß sich Bismarck im Spätherbst des Jahres 1870, als die Verhandlungen mit den süddeutschen Staaten über den Anschluß an den Bund auf einem toten Punkt angelangt zu sein schienen, zu weiteren Zugeständnissen an die Einzelstaaten bereit fand 8 . Der ausschließlichen Gesetzgebung des Reiches war nur ein sehr kleiner Katalog von Zuständigkeiten zugewiesen: Die Zölle und die für die Zwecke des Reiches zu verwendenden Steuern 9 , das Militärwesen und die Kriegsmarine 10 , das Post- und Telegrafenwesen ll , und die Organisation eines Schutzes des deutschen Handels und der deutschen Schiffahrtl 2 • Darüber hinaus fielen nur noch diejenigen Materien in die ausschließliche Zuständigkeit des Reiches, die schon ihrer Natur nach nicht der Machtsphäre eines einzelnen Staates unterlagen, sondern die Verbindung der Einzelstaaten zu einer höheren Einheit, dem Reich, voraussetzten 13 • Auf allen anderen der in Art. 4 RV aufgezählten Gebiete, konkurrierte die Gesetzgebung des Reiches mit der der Einzelstaaten. Im übrigen stand die Gesetzgebung hinsichtlich aller nicht in der RV aufgeführten Gegenstände ausschließlich den Ländern ZU 14 • Hinzu kamen noch die im Rahmen der Reichsgründung einzelnen Ländern zugestandenen Reservatrechte. Es handelte sich um Sonderkompetenzen unter DurchbreVgl. Anschütz, VVDStRL 1, S. 16; Triepel, Unitarismus, S.17. Zu den Verträgen des Jahres 1870, die Grundlage für die ReichsgrÜlldung im Jahre 1871 waren, wurde sowohl vom norddeutschen Reichstage, als auch von den Kammern der süddeutschen Staaten die Zustimmung zur Ratifikation erklärt. Dies geschah in Baden, Hessen und Württemberg mit großer Mehrheit (vgl. Huber III, S. 748 f.), während in Bayern die Verträge nur mit 2 Stimmen über der notwendigen 2/3 Mehrheit angenommen wurden (vgl. Huber 111, S. 749 f.). 8 Triepel, Unitarismus, S. 29; es handelte sich dabei vorwiegend um Reservatrechte, also um Sonderkompetenzrechte der Länder (dazu im einzelnen noch später). 9 RV Art. 35, Art. 4 Ziff. 2. 10 RV Art. 53, 57 bis 68, Art. 4 Ziff. 14. 11 RV Art. 48 und Art. 50, Art. 4 Ziff. 10. 12 RV Art. 54 und Art. 56, Art. 4 Ziff. 7. 13 Vgl. insoweit die erschöpfende Aufzählung bei Laband 11, S. 121. 14 Zwar fehlte eine ausdrückliche Verankerung der Gesetzgebungszuständigkeit der Länder, da das Reich jedoch durch die Länder gegründet wurde, hielt man es für selbstverständlich, daß die Länder ihr Gesetzgebungsrecht behielten, soweit es nicht durch die Verfassung auf Organe des Reiches übertragen worden war. 6
7
Teil 1: Die historische Entwicklung
24
chung des Grundsatzes der Gleichheit aller Bundesglieder, die den Ländern Bayern, Württemberg und Baden zustanden 15 . Von der ursprünglichen Anlage der RV aus betrachtet, blieb den einzelnen Ländern demnach ein großer Anteil an Gesetzgebungskompetenzen erhalten, insbesondere solange das Reich von seinem Recht zur konkurrierenden Gesetzgebung der in Art. 4 RV aufgezählten Gebiete noch nicht umfassend Gebrauch gemacht hatte. Dadurch war auch die Stellung der Landtage entsprechend stark16 . Allerdings war die Verfassung von 1871 nicht statisch, unveränderbar angelegt, sondern im Gegenteil, sie wurde von den Gründern mit der Möglichkeit verfassungsmäßiger Weiterentwicklung ausgestattet. Eine solche Entwicklung - in unitarischer Richtung - fand auch statt: Die Zuständigkeit des Reiches wurde auf Kosten der einzelstaatlichen Zuständigkeit erweitert, indem dem Reich solche Tätigkeitsgebiete bzw. Angelegenheiten im Sinne des Art. 4 RV zugewiesen wurden, die seiner Kompetenz bis dahin völlig entzogen waren 17 . Die Erweiterung der Zuständigkeiten des Reiches auf Kosten der Länder bzw. der Landtage erfolgte aber nicht nur offen, im Wege der Änderung einzelner Verfassungsbestimmungen 18 , sondern vielfach auch verdeckt, indem einfache Gesetze verabschiedet wurden, die Verfassungsbestimmungen nicht ausdrücklich, aber stillschweigend aufhoben, modifizierten, oder für den betreffenden Fall außer Anwendung setzten 19 . Voraussetzung dafür war lediglich; daß das Gesetz nicht gegen die Bestimmung des Art. 78 Abs. 1 RV verstieß, also nicht gegen 14 Stimmen im Bundesrat beschlossen wurde 2o . Aber nicht nur auf dem Wege der Verfassungsänderung wurde der Zuständigkeitsbereich der Landtage immer weiter eingeschränkt. Fast noch wichtiger war es, daß das Reich von seinem Recht zur konkurrierenden Gesetzgebung "überreichen Gebrauch"21 machte. Vgl. dazu im einzelnen Huber III, S. 807; Meyer/Anschütz, S. 266. Es soll hier nicht näher auf die damals im Rahmen der konstitutionellen Monarchie generell schwächere Position der Landtage eingegangen werden, die lediglich als Mitwirkungsfunktion an der Gesetzgebung ausgestaltet war (vgl. Meyer/ Anschütz, S.331). 17 Als Beispiel sei hier die Ausdehnung der Gesetzgebungskompetenz des Reiches auf das gesamte bürgerliche Recht (Änderung des Art. 4 Nr. 13 RV) durch Reichsgesetz vom 20. 12. 1873 (RGBl. 1873, S. 379) genannt. 18 Die Zulässigkeit der Betätigung als verfassungsändernde Gewalt, die auch als "Kompetenz-Kompetenz" bezeichnet wird, ergab sich aus Art. 78 Abs. 2 RV. 19 Meyer/Anschütz, S. 690 spricht in diesem Zusammenhang von einer Änderung des Verfassungsrechts, ohne Änderung des Verfassungstextes. Als Beispiele seien hier genannt: Das Jesuitengesetz vom 4. 7. 1872 (RGBl. 1872, S.253) und das Gesetz betreffend Einführung einer einheitlichen Zeitbestimmung vom 12. 3. 1893 (RGBl. 1893, S. 93). 20 Dieses Verfahren war gewohnheitsrechtlieh anerkannt, so jedenfalls die h.M.: Laband II, S. 39 ff.; Haenel, S. 258; Triepel, Unitarismus, S. 37; v. Seydel, Kommentar, S. 418; a.A. v. Rönne, S. 31 ff.; Zachariae, S. 46. 21 Triepel, Unitarismus, S. 53. 15 16
A. Die Entwicklung im Deutschen Reich von 1871
25
Insbesondere durch die Reichsjustizgesetze 22 , die Gewerbe- und Konkursordnung, das Strafgesetzbuch und das Handels- und Bürgerliche Gesetzbuch wurden die Landtage in ihrer Legislativfunktion getroffen. Es gab schließlich kaum noch ein Gebiet aus dem Katalog des Art. 4 RV, auf dem das Reich nicht umfassend legislatorisch tätig gewesen wäre 23 • Triepel 24 formulierte das so: "Jede der gesetzgeberischen Taten des Reiches legte in die entsprechende Kompetenz der Gliedstaaten eine neue und tiefe Bresche." Darüber hinaus kam es sogar zu Übergriffen in den Bereich ausschließlicher Landesgesetzgebung, die ihre Ursache in der teilweisen Überlappung der Reichs- und Landeskompetenzen hatten 25 . Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die in bezug auf die Gesetzgebungskompetenzen anfangs recht föderalistisch ausgestaltete Verfassung von 1871 sehr bald ihre "unitarische Motorik" entwickelte und so die Landtage im Rahmen der bundes staatlichen Ordnung - gleichsam programmgemäß - an Bedeutung verloren. 11. Die Stellung der Landtage im Rahmen der Finanzverfassung des Reiches
Ein wesentlicher Indikator für den Stellenwert der Landtage zur Zeit des Deutschen Reiches von 1871 ist dessen Finanzverfassung26 • Denn das Etatbzw. Budgetrecht27 der Landtage enthielt in seinem Schwerpunkt das Recht der Steuerbewilligung28 , das aber nur so weit reichte, wie den Ländern 22 Darunter versteht man die am 1. 10. 1879 gleichzeitig in Kraft getretenen grundlegenden Gesetzgebungswerke, die Verfassung und Verfahren der Gerichte regelten: das Gerichtsverfassungsgesetz vom 27. 1. 1877 (RGBl. 1877, S. 41), die Zivilprozeßordnung vom 30. 1. 1877 (RGBl. 1877, S. 83) und die Strafprozeßordnung vom 1. 2. 1877 (RGBl. 1877, S. 253). 23 Triepel, a.a.O., S. 54 nennt nur noch drei wichtige, vom Reich im Jahre 1907 noch nicht in Anspruch genommene Kompetenzen: die Fremdenpolizei, das Eisenbahnwesen und das Gebiet des öffentlichen Vereinsrechts. 24 Triepel, Unitarismus, S. 54; vgl. auch die Formulierung des Abg. Kreth in der Reichstagssitzung vom 3. 5. 1912, 13. Wahlperiode, 54. Sitzung, Steno Ber., S. 1683, der von einem "Abpflügen" der Kompetenzen der Länder durch den Zentralstaat sprach. 25 Vgl. insoweit die Beispiele bei Triepel, Unitarismus, S. 55/56. 26 Der Begriff der "Finanzverfassung" ist erst nach 1949 gebräuchlich geworden; das staatsrechtliche Schrifttum zur Reichsverfassung von 1871 verwendete diesen Begriff ebensowenig wie das zur Weimarer Reichsverfassung (vgL insoweit die Nachweise bei Stern, Staatsrecht II, S. 1057 Fn. 43 und 45). Unter dem Begriff Finanzverfassung soll "die in der jeweiligen Verfassung geregelte Grundordnung der staatlichen Finanzhoheit, ihrer bundesstaatlichen Aufteilung und ihrer kommunalen Gewährleistung sowie des Steuerwesens" verstanden werden. So die Definition bei Stern, Staatsrecht II, S. 1061. 27 VgL dazu V. Seydel, Staatsrecht, S. 179; Heckel, HdbDStR II, S. 358 ff. 28 Nur in bezug auf die Steuern stand den Landtagen ein wirkliches Bewilligungsrecht, also eine beschließende Mitwirkung zu; die übrigen Staatseinnahmen sowie die Staatsausgaben wurden von den Landtagen nur "geprüft", d.h. einer Kritik und Erörterung unterzogen. VgL Meyer/Anschütz, S. 882.
26
Teil 1: Die historische Entwicklung
überhaupt das Recht zur Steuererhebung zustand. Insofern aber trug die RV äußerst föderalistische Züge: Das Reich erhielt lediglich die Zölle und die indirekten Steuern, während die direkten Steuern den Gliedstaaten erhalten blieben. Im übrigen wurde der Finanzbedarf des Reiches durch Matrikularbeiträge der Gliedstaaten gedeckt. Diese beinahe "staatenbündische Finanzverfassung"29 enthielt in Art. 70 RV jedoch den Vorbehalt der Einführung von weiteren Reichssteuern. Man hätte erwarten können, daß von diesem Vorbehalt aus, der sogenannten Miquel'schen Klause13 o, eine unitarische Entwicklung ihren Lauf nehmen und die Kompetenzen der Landtage durch den Aufbau einer reichseigenen Finanzwirtschaft geschmälert würden. Aber es kam anders: Als das Reich im Jahre 1879 zur Schutzzollpolitik überging und die Zölle sowie die Tabaksteuer so stark erhöht werden sollten, daß das Reich damit seine Ausgaben hätte decken können, also finanziell unabhängig von den Ländern geworden wäre, da entwickelte der Zentrumsabgeordnete Freiherr v. Franckenstein 31 eine Initiative, die das verhindern sollte. Er setzte eine später nach ihm benannte Klause13 2 durch, nach der dem Reich die Einnahmen aus den Zöllen und aus der Tabaksteuer nur bis zur Höhe von 130 Millionen Mark verblieben, während der darüber hinausgehende Betrag nach einem bestimmten Schlüssel an die Länder zu überweisen war 33 • Politisch verfolgte Franckenstein damit das Ziel, die Entwicklung einer unabhängigen Finanzgewalt des Gesamtstaates zu verhindern 34 . Rein faktisch hatte die Franckenstein'sche Klausel zur Konsequenz, daß das System der Matrikularbeiträge - von den Verfassungsgebern an sich nur als Provisorium gedacht3 5 - nunmehr zum Definitivum wurde 36 . 29 So Huber UI, S. 946 über das System der Matrikularbeiträge; vgl. auch GerloJf, S.41. 30 Im Art. 66 des Entwurfes der norddeutschen Bundesverfassung, der als Vorlage für Art. 70 RV diente, war dieser Vorbehalt noch nicht enthalten. Er wurde auf Antrag des Abgeordneten Miquel bei der ersten Lesung im verfassungsberatenden Reichstag aufgenommen. 31 Georg Freiherr von und zu Franckenstein (1825 - 1890) war von 1872 bis 1890 Mitglied des Reichstages und einer der Führer der Zentrumspartei. 32 Dies war die sogenannte Franckenstein"sche Klausel in § 8 des Reichsgesetzes betreffend den Zolltarif des deutschen Zollgebietes und den Ertrag der Zölle und der Tabaksteuer vom 15. Juli 1879 (RGBl. 1879, S. 207). 33 Diese Regelung war an sich verfassungswidrig, denn sie stand im Widerspruch zu Art. 38 RV, nach dem der Ertrag der Zölle und sonstigen Reichsabgaben in die Reichskasse zu fließen hatte, und ebenso zu Art. 70 RV, nach dem diese Reichseinnahmen zur Deckung der Reichsausgaben zu verwenden waren (vgl. insoweit Huber UI, S. 952; Laband IV, S. 380). Sie erlangte jedoch Rechtsgültigkeit, da nach h.L. Verfassungsdurchbrechungen durch Gesetze, die den Anforderungen des Art. 78 RV genügten, zulässig waren. Vgl. oben, Teil 1, A. 1. mit Fn. 19,20,21. 34 Vgl. Huber III, S. 952. 35 v. Seydel, Kommentar, S. 389. 36 Huber III, S. 951.
A. Die Entwicklung im Deutschen Reich von 1871
27
Nach einigen Modifikationen der Franckenstein'schen Klause13 7 kam es erst im Jahre 1904 zu einer Reform der Finanzverfassung38 : Neben der Abschaffung der Franckenstein'schen Klausel wurde aber auch die Miquel'sche Klause13 9 aufgehoben, so daß die Matrikularbeiträge nun auch rechtlich dauerhaften Charakt!:"!r gewannen. Ein erster Übergriff in die Steuergesetzgebungshoheit der Gliedstaaten erfolgte im Rahmen der Finanzreform des Jahres 1906 4°: Mit Einführung der Erbschaftsteuer nahm das Reich zum ersten Mal eine direkte Steuer4 1 für sich in Anspruch 42 . Weitere Kompetenzerweiterungen zu Lasten der Länder und damit auch zu Lasten der Landtage erfolgten im Jahre 1913 43 : Die Besitzsteuer (Vermögenszuwachssteuer) und der Wehrbeitrag waren weitere Zugeständnisse an den immer größer werdenden Finanzbedarf des Reiches im Vorfeld des Ersten Weltkrieges. Dennoch war das Reich bei Ausbruch des Krieges hoch verschuldet und durch die unzureichende Ausstattung mit eigenen Steuermitteln den Anforderungen des Krieges nicht gewachsen. Hierfür wurde die unangemessene Verteilung der finanzverfassungsrechtlichen Kompetenzen und die politische Eifersucht der Länder verantwortlich gemacht44 , und das sollte der Grund dafür sein, daß - wie noch zu zeigen sein wird - in der Weimarer Republik eine Neuordnung der Finanzverfassung, mit deutlichen Kompetenzverlusten der Landtage, erfolgen sollte.
m. Die Beteiligung der Landtage an der einzelstaatlichen Einflußnahme auf den Reichswillen Eine staatsrechtliche unmittelbare Beteiligung der Landtage an der einzelstaatlichen Einflußnahme auf den Reichswillen gab es nicht 45 • Die Vertretung der Gliedstaaten im Bundesrat erfolgte durch die von den Regierungen 46 instruierten Bevollmächtigten47 • Die Landtage konnten die Instruk37 So z. B. die nach dem Zentrums abgeordneten Ernst Maria Lieber benannte "Lex Lieber"; siehe dazu Deuerlein, S. 143. 38 Reichsgesetz vom 14. Mai 1904 (RGBl. 1904, S . 169). 39 Siehe dazu oben, Teil 1, A. I. Fn. 30. 40 Finanzreformgesetz vom 3. Juni 1906 (RGBl. 1906, S. 620 ff.) . 41 Man versuchte jedoch wenigstens scheinbar die hergebrachte Abgrenzung einzuhalten, indem man die Erbschaftsteuer steuertechnisch als indirekte Steuer ausgab, was jedoch tatsächlich nicht der Fall war. Vgl. insoweit Laband IV, S. 383 . 42 Allerdings führte das Reich eine bestimmte Quote des Ertrages an die Länder ab, vgl. Huber III, S. 954. 43 Siehe dazu das Vermögenszuwachssteuergesetz vom 3. Juli 1913 (RGBl. 1913, S . 524) und das Reichsgesetz über einen einmaligen außerordentlichen Wehrbeitrag vom 3. Juli 1913 (RGBl. 1913, S. 505). 44 Deuerlein, S. 144. 45 Bilfinger, S . 103. 46 In den monarchisch regierten Staaten ging die Instruktion vom Monarchen, in den Freien Städten von den Senaten aus ; insoweit handelten die Monarche und Se-
28
Teil 1: Die historische Entwicklung
tionserteilung nicht direkt beeinflussen48 und fühlten sich daher mehr und mehr bei einer Vielzahl von Lebensfragen des Landes von der staatsrechtlichen Mitwirkung ausgeschlossen, weil Kompetenzen - wie oben ausgeführtauf das Reich übergegangen waren 49 . Weil nur die Regierungen an der Bildung des Reichswillens beteiligt waren 50 , mußten die Landtage versuchen, über sie mittelbar Einfluß auf die Reichspolitik zu gewinnen 51 • Dazu wurden sie auch eindringlich von Bismarck aufgefordert 52 . Allerdings stellte sich schon damals das Problem der rechtzeitigen Unterrichtung der Landtage in Bundesratsangelegenheiten. Konstruktive Kritik und Kontrolle, die noch rechtzeitig auf die Instruktion der Bevollmächtigten hätte einwirken können, hätte nämlich eine umfassende, vorherige Information der Landtage zur Voraussetzung gehabt 53 . Eine solche Unterrichtung war schon mit Rücksicht auf den Grundsatz geheimer Beratung im Bundesrat problematisch54 • Die Vormachtstellung Preußens verschärfte die Situation: Sogar die Regierungen - namentlich die der süddeutschen Einzelstaaten - beklagten ein Informations- und Entscheidungsdefizit55 . Häufig wurden nämlich Gesetzentwürfe für den Bundesrat von der preußischen Regierung ausgearbeitet und die übrigen Regienate als Vertreter ihrer Staaten und die näheren Modalitäten der Instruktionserteilung regelten sich nach den Vorschriften des Landesrechts über Regierungshandlungen. Vgl. dazu Meyer/Anschütz, S. 485. 47 In der Auswahl der Bundesratsbevollmächtigten waren die Landesregierungen frei. Vgl. dazu im einzelnen Huber 111, S. 856 und Deuerlein, S. 139. 48 Von einem "formellen Recht auf Beeinflussung" konnte keine Rede sein; so jedoch Max Weber, S. 407 f. 49 Bilfinger, S. 104. 50 Laband I, S. 248, sprach in diesem Zusammenhang von einem "wichtigen Regierungsrecht", das "aufzuopfern die Landesherrn kaum geneigt sein werden". 51 Auf die zur damaligen Zeit höchst umstrittene verfassungsrechtliche Frage, ob die Stellungnahme des Einzelstaates gegenüber dem Reich durch Gesetz von der Zustimmung des Landtags abhängig gemacht werden kann, soll hier nicht näher eingegangen werden, denn jedenfalls hatten solche Überlegungen in der Praxis keine Chance. Vgl. dazu die Beispiele aus dem bayerischen und württembergischen Landtag bei Hänel, S. 217 ff.; Westphal, S. 71 ff. und Kalisch, S. 44 ff. 52 Ein entsprechendes Zitat von Bismarck findet sich bei Hofmann 111, S. 21 f. 53 Dies hat auch Bismarck erkannt, der betonte: "Es muß darauf gedrungen werden, daß die Absichten der Reichspolitik in solchen wichtigen Fragen rechtzeitig kundgegeben werden, so daß sich die Landtage der Einzelstaaten ebenso wie die verschiedenen berufenen Korporationen und die Presse dazu äußern können." So Bismarck bei Hofmann 111, S. 30 f. 54 Insoweit dachte Bismarck wohl an eine Verfassungsänderung, von deren Durchsetzbarkeit er allerdings nicht überzeugt schien. Vgl. dazu das Zitat Bismarcks bei Poschinger V, S. 365: " ... eine starke Teilnahme der öffentlichen Meinung des deutschen Volkes an den Verhandlungen des Bundesrats ... kann zunächst und ohne Verfassungsänderung nur durch eine stärkere Beschäftigung der deutschen Landtage mit der Reichspolitik angestrebt werden, denn zur Herstellung der Öffentlichkeit der Bundesratsverhandlungen würde eine Verfassungsänderung notwendig sein, von der wir nicht wissen, ob sie erreichbar ist." 55 Vgl. dazu die Beispiele bei Poschinger 11, S. 148 f. und Poschinger V, S. 372 ff.
A. Die Entwicklung im Deutschen Reich von 1871
29
rungen dann im Bundesrat angesichts viel zu kurzer Beratungszeit vor vollendete Tatsachen gestellt. Diese "Überrumpelung einzelstaatlicher Opposition"56 hatte daher nicht nur die Ausschaltung der Regierungen, sondern erst recht die der Landtage zur Folge. So kam es zu einem von Württemberg formulierten Ersuchen an den Reichskanzler, "die Ausarbeitung der Entwürfe zu Reichsgesetzen in der Weise herbeizuführen, daß regelmäßig die Regierungen von dem Bevorstehen einer Vorlage Kenntnis und vor Feststellung des Entwurfs zur Geltendmachung ihrer Anschauungen Gelegenheit erhalten" 57. Diesem Ersuchen kam der Reichskanzler dann auch insoweit entgegen, als die Regierungen fortan "durch Rundschreiben und Besprechungen besser in das Vorbereitungsstadium der Bundesratsarbeit einbezogen wurden"58. Auch die Landtage erhielten in Bundesratsangelegenheiten von ihren Regierungen nun häufiger Informationen, obwohl diese eine Rechtspflicht zu verantwortlicher Darlegung ihrer Haltung nicht anerkannten59 und zudem eine parlamentarische Stellungnahme primär dann begehrten, wenn es der Verwirklichung eigener politischer Ziele im Bundesrat dienlich war 60 . Dennoch blieb der Einfluß der Landtage auf die Reichspolitik durch Einwirkung in Bundesratsangelegenheiten gering, nicht zuletzt deshalb, weil vor allem die oben angesprochenen tatsächlichen Probleme, mehr noch als die rechtlichen, ungelöst blieben. IV. Die Präjudizierung der Landtage durch interföderale Absprachen
Unitarische Tendenzen verschafften sich auch auf "föderalistischen Umwegen"61 Geltung: Das Bedürfnis nach einheitlichen Lebensbedingungen war in vielen Bereichen so groß, daß vor allem die einzelnen Verwaltungszweige der Länder den Weg der zwischenstaatlichen Vereinbarung beschritten62. Aufgrund seiner Zusammensetzung konnte der Bundesrat als Forum für Absprachen unter den Gliedstaaten genutzt werden. Es wurden dort nach den Vorschriften der Geschäftsordnung Beschlüsse gefaßt, die der Materie nach gar nicht in die Zuständigkeit des Bundesrates fielen 63 . Bilfinger, S. 15. Wiedergegeben bei Poschinger II, S. 373. 58 Bilfinger, S. 15. 59 Bilfinger, S. 106. 60 Bilfinger, S. 106. 6! Triepel, Unitarismus, S. 72. 62 Vgl. dazu die Beispiele bei Triepel, Unitarismus, S. 73. 63 Vgl. dazu die Beispiele bei Triepel, Reichsaufsicht, S. 381 f. und die Ausführungen bei Jagemann, S. 36. 56
57
30
Teil 1: Die historische Entwicklung
In vielen Fällen ließen diese Absprachen die Kompetenzen der Landtage unberührt, weil es sich um Materien handelte, die allein von der Exekutive im Wege von Verordnungen und Verwaltungsvorschriften geregelt werden konnten 64 . Ja sogar Staatsverträge konnten in bestimmten Fällen geschlossen werden, ohne daß dazu die Zustimmung der einzelnen Landtage notwendig gewesen wäre 65 . Es gab jedoch Fälle, in denen Absprachen der Regierungen 66 gesetzgeberische Entscheidungen der Landtage erheblich präjudizierten. So wurde z.B. im Jahre 1880 nach Coburg eine Art vorberatender Finanzbundesrat einberufen 67 . Unter dem Vorsitz des preußischen Finanzministers einigten sich die Leiter der Finanzverwaltungen der einzelnen Länder als Vertreter ihrer Regierungen darauf, die Mehreinnahmen aus in Aussicht genommenen Reichsbesteuerungsgegenständen unverkürzt der Verminderung der Steuerlast in den einzelnen Staaten zu widmen und nach Maßgabe ihrer verfassungsmäßigen Befugnisse auf deren Verwendung zu diesem Ziele hinzuwirken. Zwar konnte ein derartiger Beschluß an der originären Mitwirkungsbefugnis des Landtages 68 bei der Steuerbewilligung nichts ändern, rein faktisch jedoch war die Entscheidung der Landtage durch eine solche Vereinbarung der Exekutiven präjudiziert. Durch diese Praxis wurden die Landtage um ein weiteres Stück freier Entscheidungsbefugnis beraubt und zu "staatsnotariellen Ratifikationsämtern"69 degradiert. B. Die Entwicklung in der Weimarer Republik von 1919 I. Die Stellung der Landesparlamente nach Einführung der parlamentarischen Demokratie
Mit dem Übergang von der konstitutionellen Monarchie 70 zur republikanischen Staatsform71 in der Weimarer Reichsverfassung 72 wurden zunächst die Landesparlamente gestärkt. Von diesem Zeitpunkt an repräsentierten die Landtage nämlich selbst den Träger der Landesstaatsgewalt, "während die früheren Landtage mit Ausnahme der Bürgerschaften der drei freien 64 So z.B. die Abmachungen über gleichmäßige Polizeiverordnungen: zur Bekämpfung der Cholera im Jahre 1883 und zum Verkehr mit Kraftfahrzeugen und mit Fahrrädern im Interesse der Sicherheit auf öffentlichen Wegen und Plätzen im Jahre 1906 (vgl. Triepel, Unitarismus, S. 73). 65 Vgl. dazu Meyer/Anschütz, S. 813 mit Fn. 4 bis 6 und die Ausführungen bei Paul Georg Schneider, S. 24 f. 66 Smend, S. 231, sprach in diesem Zusammenhang vom "Kartell der Fürsten und Bürokratien" . 67 Dieses interessante Beispiel findet sich bei Poschinger IV, S. 280 f. 68 Vgl. oben, Teil 1. A. I. Fn. 28. 69 So hat Lenz, DÖV 1977, S. 157 diese Situation beschrieben. 70 Vgl. dazu Stern, Staatsrecht I, S. 579. 71 Vgl. dazu Stern, Staatsrecht I, S. 579 f. 72 In der WRV war nicht nur die Monarchie durch Art. 17 Abs. 1, sondern auch die Scheinrepublik durch Art. 1 Abs. 2 ausgeschlossen.
B. Die Entwicklung in der Weimarer Republik von 1919
31
Reichsstädte lediglich den monarchischen Träger der Staatsgewalt verfassungsmäßig in einer begrenzten Reihe einzelner Fälle beschränkten" 73. War demnach der Landtag im Rahmen der konstitutionellen Monarchie nur mitwirkungsbefugt an der Gesetzgebung 74 , so war er mit Einführung der parlamentarisch-demokratischen Republik der alleinige Träger der Legislative. 11. Die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Reich und Ländern und ihre Entwicklung
Wenngleich durch das Ende der Monarchie das Gesetzgebungsrecht der Landtage der Idee nach unbeschränkt wurde, stellte sich ein Kompetenzzuwachs nicht ein, weil die Reichskompetenzen erheblich erweitert wurden. Daß die Weimarer Reichsverfassung - nicht nur hinsichtlich der Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen - stark unitarische Züge enthielt, hing nicht zuletzt auch mit dem Verfahren der Verfassungsgesetzgebung zusammen: Waren an den Verfassungsentscheidungen von 1867 und 1871 auch die Landtage beteiligt75 , so war dies im Jahre 1919 nicht der Fall76 , denn.die alleinige Entscheidungsmacht lag bei der verfassungsgebenden Nationalversammlung 77 . Sie beeinflußte den vom Reichsinnenministerium vorgelegten Entwurf entscheidend: Waren in dem ursprünglichen, von Reichsinnenminister Hugo Preuß verfaßten Entwurf 78 der Reichsverfassung in den Artikeln 3 und 4 nur 17 Gegenstände der Reichsgesetzgebung unterworfen, so waren es in dem der Nationalversammlung vorgelegten Entwurf 79 in den Artikeln 3 bis 9 schon 22, und schließlich enthielt die Reichsverfassung 80 in ihrer endgültigen Ausprägung in den Artikeln 6 bis 11 gar 36 Gegenstände der Reichsgesetzgebung81 . Hatte sich an dem Katalog der ausschließlich dem Reich zugewiesenen Gesetzgebungskompetenzen kaum etwas im Verhältnis zur Verfassung von 1871 geändert82 , so war die Ausweitung der Reichskompetenzen im Bereich So F. Giese, S. 190. Vgl. oben, Teil 1, A. 1. Fn. 16. 75 Vgl. oben, Teil 1, A. 1. Fn. 7. 76 Der Versuch des unabhängig sozialdemokratischen und zugleich ultraföderalistischen bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner, durchzusetzen, daß der "Reichsgründungsvertrag" den Ländern zur Ratifikatikon vorgelegt wurde, scheiterte (vgl. dazu Walter Becker, S. 15). 77 Vgl. zu deren Zusammensetzung die Ausführungen bei Huber V, S. 1066. 78 Vgl. den Entwurf bei Triepel, Quellensammlung Nr. 7. 79 Vgl. den Entwurf bei Triepel, Quellensammlung Nr. 14. 80 Vgl. die Reichsverfassung bei Triepel, Quellensammlung Nr. 24. 81 Vgl. insoweit auch die Denkschrift der bayerischen Staatsregierung aus dem Jahre 1926, S. 4. 82 Neu war lediglich die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz des Reiches für Ein- und Auswanderung sowie Auslieferung, Art. 6 Ziff. 3 WRV. Die Zuständigkeit 73
74
32
Teil 1: Die historische Entwicklung
der konkurrierenden Gesetzgebung um so deutlicher 83 . Wittmayer 84 konstatierte denn auch in diesem Zusammenhang, daß "bei der starken Zunahme der Reichszuständigkeit, diese faktisch zur Regel, die des Landes zur Ausnahme wird, so daß vom Prinzip nur mehr die äußere Form zurückblieb". Die Gesetzgebungsbefugnis der Landtage wurde weiterhin auch durch die sogenannte BedarfsgesetzgebungB5 und die Grundsatzgesetzgebung86 eingeschränkt. Diese Einschränkungen waren deshalb so schwerwiegend, weil sich damit das Reich Kompetenzen im Bereich klassischer Landesdomänen verschaffte: im Polizeirecht87 und im Schulrecht8B . Aber nicht nur aus diesem Grund wurde gegen Bedarfs- und Grundsatzgesetzgebung heftige Kritik angemeldet und deren Beseitigung gefordert89 , vielmehr warf man der Reichsgesetzgebung auf dem Gebiet der Grundsatzgesetzgebung Verfassungsbruch vor90 , weil das Reich verschiedentlich nicht nur Grundsätze aufstellte, die den Landesgesetzgeber binden sollten, sondern Gesetze verabschiedete, deren Rechtssätze sich unmittelbar an die Bürger wandten 91 . Die Landtage sahen sich indessen völlig von der Gesetzgebungskompetenz ausgeschlossen, denn das Reich hatte von der Gesetzgebungskompetenz der Artikel 10 und 11 verschiedentlich "den gleichen Gebrauch gemacht, als ob die dort aufgeführten Gesetzgebungsgegenstände in Artikel 6 oder 7 der Reichsverfassung aufgeführt wären" 92. An der Bedarfsgesetzgebung wurde vor allem kritisiert, daß es sich dabei um eine "Kautschukbestimmung"93 handele und die Frage, ob ein Bedürfnis im Sinne des Art. 9 RV vorliege, nur vom Gesetzgeber zu entscheiden und der Nachprüfung durch die Gerichte entzogen sei 94 . des Reiches für die Beziehungen zum Ausland und das Kolonialwesen (Art. 6 Ziff. 1 und 2) lag in der Natur der Sache. Staatsangehörigkeit, Freizügigkeit und Münzwesen (Art. 6 Ziff. 3 und 5) waren durch verfassungsänderndes Reichsgesetz schon vor 1919 erschöpfend geregelt. 83 Abweichend vom früheren Recht waren der konkurrierenden Reichsgesetzgebung durch Art. 7 zehn neue Bereiche unterworfen (Art. 7 Ziff. 5, Ziff. 7 bis 10, Ziff. 12 und 13, Ziff. 15 und 16 und Ziff. 19). 84 Wittmayer, S. 179 mit Anm. 57. 85 Art. 9 WRV. 86 Art. 10, 11 WRV. 87 Art. 9 Ziff. 2 WRV. 88 Art. 10 Ziff. 2 WRV. 89 Vgl. in diesem Sinne Anschütz, VVDStRL 1, 25: " ... ich würde unter Umständen keine Bedenken tragen, auf die ganze sog. Bedarfs- und Grundsatzgesetzgebung Art. 9 und 10 zu verzichten, ... "; ebenso Triepel, ZfP 1924, S. 216 f. und Baumgartner, S. 32. 90 Vgl. Denkschrift 1926, S. 3; Poetzsch-HeJfter, JöR 13, S. 35; Franke, S. 31 ff. 91 Vgl. dazu die Beispiele bei Poetzsch-HeJfter, JöR 13, S. 35. 92 Denkschrift 1926, S. 3. 93 Pohlandt, S. 78. 94 Anschütz, Verfassung, S.85; Wittmayer, S.203; a.A. nur Poetzsch-HeJfter, Handkommentar, Art. 9 Anm. 8, S. 116.
B. Die Entwicklung in der Weimarer Republik von 1919
33
Schließlich bereitete eine auch bereits früher bekannte Praxis, die Kompetenz der Konnexität 95 den Landtagen Sorge: Immer häufiger machte das Reich von einer ihm an sich zustehenden Gesetzgebungskompetenz Gebrauch, regelte im Zusammenhang mit dem Hauptgegenstand aber gleichzeitig Fragen, die an sich der Gesetzgebung der Länder unterworfen waren 96 . Die weitere Entwicklung im Bereich der Gesetzgebungszuständigkeiten war gekennzeichnet von einem immer weiteren Vordringen der Reichsgesetzgebung97 . Dies entsprach auch den Absichten, die der Reichstagsabgeordnete Dr. Koch im Jahre 1920 in seiner damaligen Eigenschaft als Reichsinnenminister in einer Denkschrift98 zum Ausdruck brachte: Ganz unverhüllt sprach er davon, daß die Entstaatlichung der Länder erwünscht sei und schlug das "System der inneren Aushöhlung" vor, um dieses Ziel zu erreic;hen. Die Entmachtung der Länder sollte dadurch bewirkt werden, daß "das Reich, ohne den Ländern vorzeitig Titel und Würden zu nehmen und in aller Ruhe, um sie nicht kopfscheu zu machen, immer weitere Zuständigkeiten an sich nimmt, so daß ihre staatliche Form gar nicht zerbrochen zu werden braucht, sondern von selbst zerfällt"99. Am deutlichsten wurde die "Gesetzeshamsterei" des Reiches an den ohne Verfassungstextänderung beschlossenen, verfassungsändernden Reichsgesetzen 100 . Dabei handelte es sich um die fünf Ermächtigungsgesetze der Jahre 1919 bis 1923 10 1, das Gesetz über den Staatsgerichtshof für das deutsche Reich 102 , das Republikschutzgesetz 103 und das Gesetz über die Straffreiheit 104 . Weder die insgesamt fünf Denkschriften der bayerischen Staatsregierung 105 , noch die im Jahre 1928 einberufene Länderkonferenz 106 , die sich mit dem verfassungsrechtlichen Verhältnis zwischen Reich und LänVgl. oben, Teil 1, A. 1. Fn. 25. Vgl. dazu die Beispiele bei Poetzsch-HeJfter, JöR 13, S. 36. 97 Vgl. dazu die näheren Ausführungen bei Poetzsch-HeJfter, JöR 17, S. 13. 98 Diese Denkschrift wurde bis zum Jahre 1924 geheimgehalten und erst im Oktober 1924 in der Presse veröffentlicht. Der Text ist in seinen wesentlichen Passagen wiedergegeben bei Schwend, S. 124 f. 99 So Koch, wiedergegeben bei Schwend, S. 124 f. 100 Vgl. zu der von der Weimarer Staatsrechtslehre für zulässig erachteten Verfassungsdurchbrechung Huber VI, S. 421 mit Fn. 13; sogar das Reichsgericht hielt es für die Wirksamkeit einer Verfassungsänderung nicht für erforderlich, "daß sie vom Gesetzgeber ausdrücklich als solche bezeichnet oder gar in die Verfassung selbst aufgenommen wird" (vgl. JW 1927, S. 2199). 101 Vgl. dazu Huber VI, S. 439 ff. 102 Gesetz vom 9. Juli 1921 (RGBl. 1921, S. 905). 103 Gesetz vom 21. Juli 1922 (RGBl. 1922, S. 585). 104 Gesetz vom 14. Juli 1928 (RGBl. 1928 I, S. 195). 105 Diese Denkschriften erschienen in den Jahren 1924, 1926, 1928, 1929 und 1931. 106 Die Arbeiten der Länderkonferenz wurden im Juni 1930 eingestellt, ohne daß es zu einer verbindlichen Richtlinie für eine Reichsreform gekommen wäre. 95
96
3 Eicher
34
Teil 1: Die historische Entwicklung
dem befaßte und den Charakter einer Enquete-Kommission trug, konnten diese Entwicklung bremsen oder gar umkehren: Die Landesparlamente sahen sich auf dem Gebiet der Gesetzgebungskompetenzen zunehmend entmachtet.
m. Die Stellung der Landtage im Rahmen der Finanzverfassung der Weimarer Republik Die Neugestaltung der Reichsfinanzen wurde von zwei Faktoren bestimmt: Zum einen hatte die Verteilung der Aufgaben zwischen Reich und Ländern durch die neue Verfassung eine starke Verschiebung im unitarischen Sinne erlebt, so daß die gleiche Entwicklung auch in bezug auf die Verteilung der Mittel die notwendige Folge war. Zum anderen brachte der Verlust des Weltkrieges für das Reich so hohe Lasten mit sich, "daß es all seine Kraft zusammennehmen mußte, um den völligen wirtschaftlichen und finanziellen Zusammenbruch abzuwenden" 107. In der WRV fand dies seinen Niederschlag in Artikel 8: Das Reich hatte freie Hand, alle Abgaben und sonstigen Einnahmen, die es brauchte, für seine Zwecke in Anspruch zu nehmen 108 . Damit war der Weg frei für einen Zugriff auf die bisherigen Landessteuern, also vor allem auch auf die direkten Steuern. Standen dem Reich vor 1919 diesbezüglich nur die Besitzsteuer und die Erbschaftsteuer ZU 109 , so waren es nach der neuen Verfassung zehn direkte Steuern, die das Reich in seinen Zuständigkeitsbereich übernahm, darunter so wichtige Steuern wie die Einkommen-, Körperschaft-, Grunderwerb- und Kraftfahrzeugsteuer llO . Mehr als Programms atz und gut gemeinte Mahnung war die in Art. 8 Abs. 2 WRV aufgestellte Forderung zu sehen, auf die Erhaltung der Lebensfähigkeit der Länder Rücksicht zu nehmen. Die Organe des Reiches jedenfalls sind über diese Bestimmung hinweggegangen, "als ob diese Verfassungsbestimmung nicht bestünde"I11. Die schärfste Einschnürung des Landesrechts stellen jedoch die auf Grund des Artikels 11 der WRV erlassenen Reichsgesetze ll2 dar ll3 . In diesen Gesetzen wurden die Länder zunächst auf die Erhebung bestimmter direkBühler, HdbDStR I, S. 323. Darin lag eine Erweiterung der Zuständigkeit in Beziehung auf Art. 4 Ziff. 2 RV von 1871. 109 Vgl. oben, Teil 1, A. 11. mit Fn. 40 und Fn. 43. 110 Vgl. dazu die genaue Übersicht bei Bühler, HdbDStR I, S. 330. 111 So die Denkschrift 1926, S. 9. 112 Dabei handelte es sich um das Landessteuergesetz vom 30. März 1920 (RGBl. 1920, S. 402); abgeändert durch das Finanzausgleichsgesetz vom 23. Juni 1923 (RGBl. 1923, S. 494) in der Fassung des Gesetzes über den Finanzausgleich zwischen Reich, Ländern und Gemeinden voin 27. April 1926 (RGBl. 1926 I, S. 203). 113 Vgl. dazu auch die Ausführungen bei Baumgartner, S. 40 ff. 107
108
B. Die Entwicklung in der Weimarer Republik von 1919
35
ter Steuern beschränkt, ferner durften sie keine den Reichssteuern gleichartige Steuer erheben, und schließlich waren Zuschläge zu Reichssteuern nur auf Grund reichsgesetzlicher Ermächtigung möglich. Die Länder waren nunmehr in Umkehrung der Verhältnisse vor 1919 zu "Kostgängern des Reiches"114 geworden. Darüber hinaus klang in der bayerischen Denkschrift von 1926 noch eine weitere Befürchtung an: Da die Länder zur Deckung ihres Finanzbedarfes auf Überweisungen des Reiches angewiesen seien, so werde das Reich "Unterlagen über die Höhe des Bedarfes und die Notwendigkeit oder Zweckmäßigkeit der Ausgaben fordern"115. Daß dadurch aber das Budgetrecht der Landtage erheblich eingeschränkt wurde, liegt auf der Hand. Schließlich wurden die Landtage auch noch auf folgende Weise in ihren Kompetenzen durch das Reich eingeschränkt: Im Reichshaushalt wurden Mittel für Aufgaben eingestellt, deren Erfüllung verfassungsgemäß nicht dem Reich, sondern ausschließlich den Ländern zustand. Diese "Fondsverwaltung"116 führte dazu, daß das Reich an die Ausschüttung dieser Mittel Bedingungen und Auflagen knüpfte und sich so Einfluß auf ureigenste Länderangelegenheiten verschaffte. Durch die unmittelbare Zuwendung dieser Mittel durch Reichsministerien, vor allem für die Zwecke der Kultur- und Wohlfahrtspflege, wurde "in den Länderparlamenten das Verlangen ausgelöst, nun auf diesem Gebiete Entsprechendes zu tun und in gleicher Weise vorzugehen, da ja die Länder auf diesem Gebiet zuständig sind"117. Auf diese Weise wurde eine eigenständige, sparsame Ausgabenpolitik der Landtage erheblich erschwert. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die Finanzhoheit der Länder gebrochen und das Etat- und Budgetrecht der Landtage fast völlig ausgehöhlt war. Die bayerische Denkschrift von 1926 meinte sogar feststellen zu können, daß den Ländern im Bereich des Finanzwesens "nicht einmal mehr die Stellung von Selbstverwaltungskörperschaften zukomme" 118. IV. Die Beteiligung der Landtage an der einzelstaatlichen Einflußnahme auf den Reichswillen
Die Einflußnahme der Länder auf den Reichswillen erfolgte in der Weimarer Republik über den Reichsrat. Allerdings hatte dieser erheblich an Macht eingebüßt. War der Bundesrat im Kaiserreich noch Träger der souveränen Reichsstaatsgewalt und Gesetzgeber im eigentlichen Sinne des 114 Diese vielzitierte Formel findet sich z.B. bei Deuerlein, S. 144 und 177; Baumgartner, S. 43; Nawiasky, Bundesstaat, S. 29. 115 Denkschrift 1926, S. 9. 116 VgL dazu die Denkschrift 1926, S. 7 und 10. 117 So die Denkschrift 1926, S. 10. 118 Denkschrift 1926, S. 9.
3*
Teil 1: Die historische Entwicklung
36
Wortes, so hatte der Reichsrat der WRV an der Reichssouveränität keinen Anteil mehr1l9 . Auch in den Reichsrat wurden die Landesbevollmächtigten von den Landesregierungen entsandt1 20 . Eine direkte Einflußnahme der Landtage auf die Bildung des Reichswillens gab es also auch unter der WRV nicht. Um so wesentlicher wurde die Frage nach den indirekten Einwirkungsmöglichkeiten der Landtage auf das Abstimmungsverhalten der Regierungsvertreter im Reichsrat, nachdem das Gegengewicht des monarchischen Willens weggefallen war und die Regierung allein vom Vertrauen des Landtags abhängig war. Es tauchte die Formel vom "Parlamentsabsolutismus"121 auf, ja es wurde sogar die Auffassung vertreten, die Länderregierungen seien lediglich Vollzugsausschüsse und Bevollmächtigte der aus den allgemeinen Volkswahlen hervorgegangenen einzelstaatlichen Parlamen te 122 . Die Richtigkeit dieser These unterstellt, wäre die Regierung lediglich ein Ausführungsorgan der Volksvertretung gewesen. Das Parlament hätte dann durch "sein Kabinett" und nach "seinem Programm"123 regiert und ein bestimmender Einfluß auf das Abstimmungsverhalten der LänderbevollIl}ächtigten im Reichsrat wäre die logische Folge gewesen. Mit guten Argumenten jedoch sind diese Thesen widerlegt worden l24 . Biljinger125 hat zu Recht auf eine "gewisse Freiheit der Entschließung seitens der Regierung" hingewiesen: "Bevor nämlich die Landtagsmehrheit auch da, wo sie Bedenken gegen die Einflußpolitik der Regierung am Reiche hegt, ,ihre' Regierung desavouiert, wird sie sich dies aus eigenem parteitaktischen Interesse wohl überlegen." Und er fährt fort: "So kann hier zuweilen eine Regierung gewissermaßen ,ihren' Landtag beherrschen, indem sie ihn vor vollendete Tatsachen stellt, zumal in Reichsangelegenheiten, deren Dasein und Akten sie doch besser kennt als der Landtag und in welchen eine Rückgängigmachung des getanen Schrittes in der Regel nicht mehr möglich ist I26 ." Natürlich versuchten die Landtage sich gegen diese politische Abhängigkeit zu wehren und so gab es weit häufiger als in der Zeit vor 1919 Land119
F. Giese, S. 153; Stier-Somlo, S. 64l.
120 Ein Vorschlag des Abgeordneten DelbTÜck im Verfassungs ausschuß der Natio-
nalversammlung, daß zu den Vertretern der Landesregierungen in Gesetzgebungsangelegenheiten von den Einzellandtagen gewählte Abgeordnete hinzutreten sollten, konnte sich nicht durchsetzen. Vgl. dazu im einzelnen das Protokoll Verfassungsausschuß, S. 121 f.; vgl. zu dieser Frage auch Preuß, S. 412 f. 121 Koellreutter, S. 8 und 13; StolI, S. 85; Doornkaat-Koolman, S. 38. 122 So Baumgartner, S. 21; Anschütz, VVDStRL 1, S. 30; vgl. auch die bei Schanze, AöR 42, S. 260 wiedergegebenen Äußerungen der sächsischen Abgeordneten Lipinski und Nitzsche. 123 So Schelcher, AöR 41, S. 313; im gleichen Sinne v. Blume I, S. 339 ff. und 342. 124 Vgl. dazu die Ausführungen bei Schanze, AöR 42, S. 257 ff.; ebenso Anschütz, Verfassung, S. 136. 125 Bilfinger, S. 107. 126 Bilfinger, S. 107 f.
B. Die Entwicklung in der Weimarer Republik von 1919
37
tags debatten über die Einflußnahme der Regierung auf den Reichswillen. Es wurde versucht, den eigenen Machtverlust durch mittelbare Einflußnahme auf die Einflußpolitik der Regierung auszugleichen 127 , wenngleich sich das aus o. a. Gründen bei weitem nicht in der Form abspielte, daß die Landesregierungen als bloße "Befehlsempfänger" die Wünsche der Volksvertretung zu erfüllen gehabt hätten 128 . Rechtlich bindende Weisungen in Reichsratsangelegenheiten konnten die Landtage demnach auch nach Einführung der parlamentarischen Demokratie nicht erteilen. Lediglich die politische Abhängigkeit zwischen Regierung und Parlament war größer geworden. Daher wurde nunmehr von den Landesregierungen verstärkt gefordert, wenigstens in "den großen und lebenswichtigen ,hochpolitischen' Fragen ... ihre Einflußpolitik am Reiche in vorgängiger Übereinstimmung mit den Landtagen" zu führen 129 . Dies warf zwar politische Probleme auf 130 , auf der anderen Seite hatte sich die Situation aber insofern verändert, als das Abstimmungsverhalten im Reichsrat nunmehr im wesentlichen von den Parteien bestimmt wurde. Da nun aber die Parteiführer regelmäßig sowohl in den Landtag des Heimatlandes, wie in den Reichstag gesandt wurden 131 , wurde "der Länderparlamentarismus durch die Parteipolitik im Reiche gewissermaßen überschnitten" 132. Die Parteien waren daher gezwungen, für einen Ausgleich der in den verschiedenen Parteiorganisationen der Länder bestehenden, voneinander abweichenden Wünsche zu sorgen 133 .
v.
Die Präjudizierung der Landtage durch interföderale Absprachen
Die interföderale Kooperation mit ihren negativen Auswirkungen auf die Landtage erfolgte in der Weimarer Republik vor allem in den sogenannten "Länderkonferenzen ". Darunter wurden regelmäßige, nicht öffentliche Zusammenkünfte der Ministerpräsidenten oder Ressortminister der Länder Vgl. dazu v. Blume III, S. 79; Bilfinger, S. 108. In diesem Sinne Nawiasky, Verfassungsrecht, S. 189. 129 Bilfinger, S. 108 f. 130 Da den Ländern durch Art. 17 WRV das parlamentarische Regierungssystem vorgeschrieben war, war die Möglichkeit einer parlamentarischen Krise vorgezeichnet: Wurde nämlich eine Landesregierung bezogen auf einen Beschluß des Landtags im Reichsrat majorisiert, so stand sie hinsichtlich der Durchführung des Reichswillens vor der Alternative, entweder gegen den ausdrücklich geäußerten Willen des Landtags handeln zu müssen, oder aber den Beschluß des Reichsrates mißachten zu müssen. Vgl. dazu Bilfinger, S. 109. 131 v. Blume IU, S. 79. 132 Bilfinger, HdbDStR I, S. 559. 133 Vgl. v. Blume IU, S. 79, der in diesem Zusammenhang auf die Notwendigkeit der Durchorganisation der Parteien auf Reichsebene hinweist, weil sonst der gegenüber partikularen Interessen bestehende Ausgleichsmechanismus nicht mehr funktioniert. 127 128
Teil 1: Die historische Entwicklung
38
verstanden, an denen auch der Reichskanzler bzw. die jeweils zuständigen Reichsminister teilnahmen. Schon damals trafen sich aber auch die Referenten der gleichen Sachgebiete in den Reichs- und Landesressorts 134 . Ziel war auch hier - neben der Diskussion aktueller politischer Themen - die Vereinheitlichung der Ländergesetzgebung135 . C. Die Landesparlamente im Dritten Reich (1933 - 1934)
Vom Tage der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 bis zum vorläufigen Ende des Länderparlamentarismus in Deutschland dauerte es auf den Tag genau ein Jahr: Am 30. Januar 1934 wurde in Art. 1 des Gesetzes über den Neuaufbau des Reiches 136 die Aufhebung der Volksvertretungen der Länder verkündet. Dieses Ende war die logische Konsequenz der nationalsozialistischen Ziele (Führerstaat und Einheitsstaat). Der rasche Bedeutungsverfall der 17 deutschen Landesparlamente läßt sich am besten in chronologischer Darstellung der historischen Ereignisse aufzeigen. Im Gegensatz zur Weimarer Republik stand am Anfang der nationalsozialistischen Herrschaft keine neue Verfassung, vielmehr war Reichskanzler Hitler davon überzeugt, daß eine "weitergehende Reform des Reiches sich nur aus der lebendigen Entwicklung wird ergeben können"137. So wurde das Staatsrecht des Dritten Reiches geprägt von den sogenannten Staatsgrundgesetzen138 , die aufeinander aufbauend den staatsrechtlichen Zustand im nationalsozialistischen Sinne fortschrieben. Für das Schicksal der Landesparlamente war zunächst das erste Gleichschaltungsgesetz 139 vom 31. März 1933 von wesentlicher Bedeutung: Darin wurde die Landesregierung ermächtigt, Gesetze zu beschließen 140, und das Parlament verlor somit seinen Hauptwirkungsbereich 141 . Zwar wurde durch Schaffung des "vereinfachten Gesetzgebungsweges" die entsprechende Zuständigkeit der Landtage zum Erlaß von Gesetzen keineswegs aufgehoben, aber die Beseitigung des Gesetzgebungsmonopols mußte in der Praxis dazu führen, daß der einfachere Weg der Gesetzgebung Vgl. Medicus, JöR 20, S. 19. Vgl. dazu die Beispiele bei Poetzsch-HeJfter, JöR 21, S. 49 f. 136 RGBl. 1934 I, S. 75. 137 So Hitler in seiner Reichstagsrede am 23. 3. 1933, Reichstag, 8. Wahlperiode, 2. Sitzung, Steno Ber. S. 27. 138 Vgl. dazu Frank, S. 332 und 335 ff. 139 RGBl. 1933 I, S. 153. 140 Es wurden damit auf Landesebene der Exekutive die gleichen Möglichkeiten gegeben, wie auf Reichsebene der Reichsregierung durch das sog. "Ermächtigungsgesetz" vom 24. März 1933 (RGBl. 1933 I, S. 141). 141 Zur Begründung dieses Gesetzes vgl. Poetzsch-HeJfter, JöR 22, S. 143 ff. 134 135
C. Die Landesparlamente im Dritten Reich (1933 - 1934)
39
durch die Landesregierung dem umständlicheren Weg über den Landtag vorgezogen wurde. Außerdem wurden die Landtage (und Bürgerschaften) aufgelöst und ohne Neuwahl auf der Grundlage des Reichstagswahlergebnisses vom 5. März 1933 neu gebildet 142 . Dabei blieben die kommunistischen Stimmen unberücksichtigt, und nacbdem infolge der Gleichschaltung die nationalen Parteien überall die Mehrheit besaßen, entfielen am 7. Juli 1933 auch noch die Mandate der SPD143. Schließlich wurde im ersten' Gleichschaltungsgesetz das Schicksal des Reichstages mit dem der Landesparlamente untrennbar verbunden, indem die Auflösung des Reichstages ohne weiteres die Auflösung der Volksvertretungen in den Ländern zur Folge hatte und eine selbständige Auflösung der Landtage verboten war. Nur eine Woche nach dem ersten Gleichschaltungsgesetz wurde mit dem zweiten Gleichschaltungsgesetz vom 7. April 1933 144, das auch unter der Bezeichnung "Reichsstatthaltergesetz" bekannt wurde, ein weiterer Schlag gegen den Länderparlamentarismus geführt. Die Landesregierungen wurden von der Abhängigkeit gegenüber den Volksvertretungen durch Beseitigung des Mißtrauensvotums befreit und damit der von Art. 17 WRV geforderte "Primat der Volksvertretung"145 abgeschafft. Dahinter stand das Bestreben, das Neben- und Gegeneinander von verschieden zusammengesetzten Landesregierungen, das aus der Verschiedenheit der Zusammensetzung der Landesparlamente resultierte, zu beseitigen 146 . Dazu diente auch, die Ernennung und Entlassung des Vorsitzenden der Landesregierung sowie auf dessen Vorschlag die der übrigen Regierungsmitglieder in die Hand eines Vertrauensmannes des Reichskanzlers, nämlich eines Reichsstatthalters, zu legen und diesen zur Auflösung des Landtags zu ermächtigen. Danach waren die Landtage nur noch ein Schatten ihrer selbstI 47 , und earl Schmitt J48 beschrieb die Konsequenzen des Reichsstatthaltergesetzes so: "Eine der schlimmsten Fehlkonstruktionen der Weimarer Verfassung, das Nebeneinander von Reichs- und Länderparlamentarismus, ist jetzt beseitigt. "
142
ten.
Dies galt nicht für Preußen, wo am 12. März 1933 Neuwahlen stattgdunden hat-
RGBl. 1933 I, S. 462. RGBl. 1933 I, S. 173. 145 Anschütz, Verfassung, S. 136. 146 Frank, S. 350. 147 Bilfinger, AöR 63, S. 142 f. meinte dazu: "Die Stellung des Landtags gegenüber der Exekutive ist relativ schwächer als selbst die analoge Position der Gemeindevertretung gegenüber dem Gemeindevorstand nach Maßgabe des zur Zeit noch geltenden preußischen Kommunalrechts. " 148 Schmitt, Reichsstatthaltergesetz, S. 19. 143
144
40
Teil 1: Die historische Entwicklung
Schließlich ging aber die politische Entwicklung auch über die gleichgeschalteten Landtage hinweg. "Der Nationalsozialismus wollte nämlich keinen gleichgeschalteten Parlamentarismus, sondern er lehnte den Parlamentarismus überhaupt ab I49 ." Als daher der Reichstag am 14. Oktober 1933 aufgelöst wurde 150 und dies gemäß § 11 des ersten Gleichschaltungsgesetzes zwangsläufig auch die Auflösung der Landtage in den Ländern zur Folge hatte, richtete am 16. 10. 1933 der Reichsinnenminister Frick an sämtliche Reichsstatthalter ein Telegramm, in dem er diese im Auftrag des Reichskanzlers ersuchte, von der Anordnung einer Neuwahl, wie sie in § 1 Ziff. 2 des Reichsstatthaltergesetzes vorgesehen war, einstweilen abzusehen l51 . Bestanden demnach ab diesem Zeitpunkt bereits de facto keine Länderparlamente mehr, so wurde dieser Zustand am 30. 1. 1934 durch Art. 1 des Gesetzes über den Neuaufbau des Reiches 152 sanktioniert: Die Volksvertretungen in den Ländern wurden aufgehoben, der Länderparlamentarismus war ausgemerzt. Die Begründung der Nationalsozialisten für diese Maßnahme verdeutlicht ein Aufsatz der Deutschen Juristen Zeitung vom Februar des Jahres 1934 153 : "Das politische Eigenleben hatten die Länder bisher vor allem durch die Landtage. Nicht nur im Reichstag, sondern auch in den Länderparlamenten tobte sich das politische, demokratische Leben der letzten Jahre aus. Alle möglichen politischen Mächte, wie der Marxismus, der Liberalismus, der Ultramontanismus und andere mehr bemächtigten sich über die Länderparlamente der relativ selbständigen Ländergewalten als Bastionen, von denen aus die Reichspolitik angegriffen und lahmgelegt werden konnte. Es war daher vor allem notwendig, die Landtage verschwinden zu lassen. " D. Die Landesparlamente in der Nachkriegszeit (1946 - 1949)
Nachdem zunächst auf kommunaler Ebene der deutschen Bevölkerung die Möglichkeit gegeben worden war, in freien Wahlen ihrer politischen Überzeugung Ausdruck zu verleihen - zum ersten Male seit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten -, wurden in den Jahren 1946 und 1947 in den neu entstandenen Bundesländern Landtagswahlen abgehalten l54 • Huber, Verfassungsrecht, S. 323. Vgl. dazu die Verordnung über die Auflösung des Reichstages (RGBl. 1933 I, S. 729). 151 Der Inhalt dieses Telegramms ist wiedergegeben bei Poetzsch-Heffter, JöR 22, S. 153 f. 152 Vgl. dazu die Ausführungen oben, Teil 1, C. mit Fn. 136. 153 Nicolai, DJZ 1934, S. 234. 154 Es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, wenn hier die Entstehungsgeschichte aller deutschen Landesparlamente untersucht würde; Entstehung und Entwicklung der neuen deutschen Länderparlamente soll daher exemplarisch am Land Rheinland-Pfalz aufgezeigt werden. 149
150
D. Die Landesparlamente in der Nachkriegszeit (1946 - 1949)
41
In Rheinland-pfalz 155 hatte die vom Gouverneur berufene vorläufige Landesregierung am 24. März 1947 eine Landesverordnung über die Wahl zum ersten Landtag von Rheinland-Pfalz erlassen i56 . Vom Zonenbefehlshaber wurde sodann der Wahltag auf den 18. Mai 1947 festgesetzt1 57 und damit auch die Abstimmung über die von der beratenden Landesversammlung beschlossenen Verfassung verbunden. Mit der Annahme der Verfassung 158 war Rheinland-Pfalz zur parlamentarischen Demokratie geworden. Der Landtag konstituierte sich am 4. Juni 1947 und nahm in seiner 2. Sitzung am 12. Juni 1947 eine Erklärung des Generalgouverneurs entgegen 159 , in der "die Übertragung eines bestimmten Umfanges von Rechten und Zuständigkeiten, von Verpflichtungen und Verantwortungen aus der Hand der Militärregierung an die aus freier und geheimer Wahl hervorgegangene Volksvertretung"160 enthalten war. Zwar war die Ausübung der vollen staatlichen Souveränität in gewissem Umfange beschränkt bzw. gehemmt, weil Regierung und Parlament gehalten waren, die Kontrollratsgesetze und die vom Zonenbefehlshaber erlassenen Vorschriften 161 zu respektieren, in die im einzelnen aufgezählten Vorbehaltsgebiete nicht einzudringen und im übrigen die ordnungsgemäß zustande gekommenen Landesgesetze zur förmlichen Genehmigung vorzulegen. Andererseits war der Grundstein für eine neue gesamtstaatliche Repräsentation der Deutschen gelegt. Die Länder verstanden sich nämlich von Anfang an als Gliedstaaten Deutschlands 162 , obwohl "die staatsrechtliche und politische Realisierung eines künftigen Deutschlands noch keineswegs vorausgesehen werden konnte"163. Mit Ausnahme der bereits oben angesprochenen Beschränkungen stellten sich bis zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland am 23. Mai 1949 keine kompetenzrechtlichen Probleme.
155 Die Schaffung dieses Landes geht auf die Verordnung Nr. 57 des Zonenbefehlshabers Koenig vom 30. August 1946 zurück (Text dieser Verordnung bei Michaelis/ Schraepler, Bd. 24, S. 240). 156 GVBl. 1947, S. 65. 157 Verordnung Nr. 87 des Zonenbefehlshabers Koenig (GVBl. 1947, S. 165). 158 Bei der Abstimmung waren 53 % der abgegebenen gültigen Stimmen für die Annahme der Verfassung. 159 Landtag Rheinland-Pfalz, 1. Wahlperiode, 2. Sitzung, Steno Ber. S. 10 ff. 160 So Landtagspräsident Diel, a. a. 0., S. 10. 161 Es handelte sich dabei insbesondere um die Verordnung Nr. 95 (LT Rhl.-Pf., 1. Wahlperiode, 2. Sitzung, Steno Ber. S. 11 und die Verordnung Nr. 218 vom 10. Juni 1947. 162 LV Bremen Art. 64; LV Hessen Art. 64; LV Rhl.-Pf. Art. 74; LV Bayern Art. 178; Verf. W.-B. Art. 43; Verf. W.-H. Art. 1; Verf. Baden Art. 50. 163 Eicher, DÖV 1959, S. 370.
Teil 1: Die historische Entwicklung
42
E. Die Gründungsphase der Bundesrepublik Deutschland
und ihre Bedeutung für die Stellung der Landesparlamente I. Die Einsetzung des Parlamentarischen Rates
Die Militärgouverneure der westlichen Besatzungszonen wiesen mit der Übergabe der sogenannten "Frankfurter Dokumente"164 am 1. Juli 1948 an die Ministerpräsidenten der Länder den Weg für ein neues, von einer verfassungsgebenden Versammlung zu erarbeitendes Staatsgrundgesetz. Den Besatzungsmächten war daran gelegen, die Entwicklung einer starken Zentralgewalt zu verhindern, und so ließen sie bereits im Dokument Nr. 1165 deutlich erkennen, daß die künftige Verfassung eines westdeutschen Staates nur auf der Grundlage der Staatsidee des Föderalismus denkbar sei1 66 . Dem Zeitplan der Frankfurter Dokumente folgend trat am 1. September 1948 in Bonn der Parlamentarische Rat zusammen. Seine Mitglieder167 waren nicht vom Volk gewählt, sondern von den Landesparlamenten bestimmt worden. Zwar bestand im Parlamentarischen Rat wohl grundsätzlich Übereinstimmung darüber, die Vorgaben der Besatzungsmächte zu erfüllen und mit dem GG "ein Gebilde föderalistischen Typs"168 zu schaffen, aber auf der anderen Seite entbrannte damit erneut der Kampf zwischen Unitarismus und Föderalismus 169 , der in seinem Kern vor allem die Stellung der Landesparlamente berührt. Beinahe wäre daran sogar das Zustandekommen des GG überhaupt gescheitert 17o . Abgedruckt bei Michaelis/Schraepler, Bd. 26, S. 148 ff. A. a. 0 ., S. 148 f . 166 Im Dokument Nr. 1 heißt es dazu: "Die verfassungsgebende Versammlung wird eine demokratische Verfassung ausarbeiten, die für die beteiligten Länder eine Regierungsform des föderalistischen Typs schafft, die am besten geeignet ist, die gegenwärtig zerrissene deutsche Einheit schließlich wieder herzustellen und die Rechte der beteiligten Länder schützt, eine angemessene Zentralinstanz schafft und Garantien der individuellen Rechte und Freiheiten enthält. 167 Der Parlamentarische Rat setzte sich zusammen aus 27 Abgeordneten der CDU/ CSU, 27 Abgeordneten der SPD, 5 Abgeordneten der FDP, 2 Abgeordneten der KPD, 2 Abgeordneten der DP und 2 Abgeordneten des Zentrums. Dazu kamen 5 Abgeordnete mit beratender Stimme aus Berlin. 168 So der Abgeordnete Carlo Schmid, Steno Ber., Parlamentarischer Rat, S . 16. 169 Dies ahnte wohl auch der Abg. Carlo Schmid, als er auf der 2. Sitzung des Parlamentarischen Rates (Sten. Ber., S . 16) ausführte: "Es ist für uns kein Zweifel, daß die deutschen Länder die Grundlage des Gebietes sein müssen, das wir jetzt organisieren und daß sie eigene Verfassungs- und Organisationshoheit haben müssen, eigene Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung und eine vom Bund getrennte Finanzwirtschaft - alles dies im Rahmen der Bestimmungen des Grundgesetzes. Weiter ist es für uns kein Zweifel, daß eine Bundesgewalt geschaffen werden muß, die nicht die Summe der Ländergewalten ist, sondern eine eigenständige Gewalt, die im Rahmen des Grundgesetzes den Vorrang vor den Ländergewalten haben muß .. .. Schwieriger wird es sein, das Verhältnis zu bestimmen, in dem auf beiden Stufen die ausführenden Gewalten zueinander stehen sollen." 170 Vgl. dazu unten, Teil 1, E. II. 164 165
E. Gründungsphase der BRD und Landesparlamente
n.
43
Die Arbeit des Parlamentarischen Rates
Weder in der Reichsverfassung von 1871 noch in der WRV war eine ausdrückliche Verankerung der Gesetzgebungszuständigkeit der Länder enthaltenl7l . Auch im Parlamentarischen Rat hielten einige Abgeordnete eine solche Bestimmung für überflüssig 172 . Dennoch wurde eine solche Bestimmung - im späteren Art. 70 Abs. 1 GG - in das GG aufgenommen. Diese Bestimmung wurde unterschiedlich gewertet: "Von Föderalisten mehr im politischen Sinne als Betonung des Eigengewichts der Länder ... und von Unitaristen als nur nüchtern-rechtstechnische Zuständigkeits abgrenzung, die als Selbstverständlichkeit auch gestrichen werden könnte l73 ." Der Katalog ausschließlicher Gesetzgebungszuständigkeiten, der auf Art. 35 des HchE zurückging und sich weitgehend an Art. 6 der WRVI74 orientierte, umfaßte schließlich elf Ziffern l75 und wurde im Parlamentarischen Rat ohne größere Auseinandersetzung verabschiedet. Weitaus schwieriger gestaltete sich die Einigung in bezug auf den Katalog und die Voraussetzungen der konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit. Insbesondere die heute in Art. 72 Abs. 2 GG enthaltene Bedürfnisklausel war zwischen Parlamentarischem Rat und den Militärgouverneuren heftig umstritten. Gegen die auf Art. 34 HchE basierende Formulierung, wonach im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung "der Bund nur das regeln soll, was einheitlich geregelt werden muß", nahmen die Alliierten in einem Memorandum vom 2. 3. 1949 176 Stellung und schlugen selbst eine wesentlich länderfreundlichere Regelung vor. Danach sollten die Länder auf den im heutigen Art. 74 GG genannten Gebieten das Recht der Gesetzgebung behalten, "außer wenn es für ein einzelnes Land offensichtlich unmöglich ist, wirksame Gesetze zu erlassen, oder wenn solche Gesetze die Rechte oder Interessen anderer Länder beeinträchtigen würden" 177. Erst als in vierter Lesung des Hauptausschusses eine Neufassung l78 des Allgemeinen Redaktionsausschusses vorlag, der die bisherige Sollvorschrift durch eine Anweisung an den Bundesgesetzgeber ersetzte, die diesem nur in drei bestimmten Fällen das Recht gab, von seiner Gesetzgebungsbefugnis Gebrauch zu machen, ließen die Alliierten in ihrer am 22.4. Vgl. dazu oben, Teil 1, A. I. mit Fn. 14. Vgl. Abg. Dehler, HA, Steno Ber., S. 350. 173 Herrfahrdt, Bo-Ko Art. 70, Arun. 11. 2. 174 Vgl. dazu oben, Teil 1, B. H. Fn. 82. 175 Vgl. zur Entstehungsgeschichte der einzelnen Ziffern JöR 1, S. 471 ff. 176 Abgedruckt bei Michaelis/Schraepler, Bd. 26, S. 268 ff. 177 Zitiert nach Michaelis/Schraepler, Bd. 26, S. 269. 178 Abgedruckt in JöR 1, S. 466. 171
172
44
Teil 1: Die historische Entwicklung
1949 übergebenen Mitteilung 179 Kompromißbereitschaft erkennnen. In der "Frankfurter Besprechung" vom 25. 4. 1949 zwischen den Militärgouverneuren und einer Abordnung des Parlamentarischen Rates wurde dann Einigung über die endgültige Formulierung erzielt1 8o .
Ebenso schwierig gestaltete sich die Abfassung des Katalogs der konkurrierenden Gesetzgebung, der sich im wesentlichen ebenfalls an den Katalog des Art. 7 WRV anschloß181. In ihrem Memorandum vom 22.11.1948 182 forderten die Militärgouverneure eine Beschränkung der Bundeszuständigkeiten und stellten in einem weiteren Memorandum vom 2. 3. 1949 183 fest, daß diese Forderung nicht hinreichend erfüllt worden sei und "die Zuständigkeiten der Bundesregierung, wie sie jetzt in Art. 36 184 niedergelegt sind, nicht klar genug definiert sind, um die Stellung der Länder in einem föderativen System angemessen zu wahren". Darüber hinaus legten sie einen eigenen Entwurf185 vor, der einige Streichungen im Bereich der Kultur und auf dem Gebiet der öffentlichen Fürsorge enthielt. Dieser Katalog wurde dann mit unwesentlichen redaktionellen Änderungen beibehalten. Des weiteren wurde in Art. 75 GG dem Bund das Recht zur Rahmengesetzgebung186 eröffnet, eine Grundsatzgesetzgebungskompetenz ergab sich lediglich aus Art. 140 GG i. V. m. Art. 138 Abs. 1, S. 2 WRV. In den Beratungen des Parlamentarischen Rates zu Fragen der Finanzverfassung wurde einmal mehr deutlich, daß es sich dabei um ein "Kernproblem des Bundesstaates"187 handelt. Im Zentrum der Diskussion stand das Problem der Verteilung der Steuern zwischen Bund und Ländern. Eine völlige Auf teilung nach Steuerquellen zwischen Bund und Ländern, so daß der Steuergesetzgebung des Bundes einerseits und der Länder andererseits jeweils bestimmte Steuern unterliegen sollten, und demgemäß auch das Aufkommen dieser Steuern dem Bund bzw. den Ländern zufallen sollte, diese vom Chiemseer Konvent vorgeschlagene Lösung 188 , konnte sich nicht durchsetzen. Im Parlamentarischen Rat befürchtete man, daß damit die Rechts-, Wirtschafts- und Währungseinheit nicht in ausreichendem Maße gewahrt würde 189 . Abgedruckt in Bo-Ko, Art. 72 Anm.1. Die endgültige Formulierung deckte sich mit der heutigen Bedürfnisklausel des Art. 72 Abs. 2 GG. 181 Vgl. dazu oben, Teil 1, B. II. mit Fn. 83. Wesentliche Abweichungen ergaben sich nur im Bereich der inneren Verwaltung und des Kulturwesens, die künftig Länaeraufgaben sein sollten. Vgl. dazu JöR 1, S. 486. 182 Abgedruckt bei Michaelis/Schraepler, Bd. 26, S. 194 ff. 183 Abgedruckt bei Michaelis/Schraepler, Bd. 26, S. 268 ff. 184 Art. 36 entspricht dem heutigen Art. 74 GG. 185 Abgedruckt bei Michaelis/Schraepler, Bd. 26, S. 268 f. 186 Vgl. zu dem Terminus "Rahmengesetzgebung" , der an Stelle der ursprünglichen Formulierung "Grundsätze für ... " eingeführt wurde, JöR 1, S. 553. 187 Gerloft, S. 28. 188 Vgl. Art. 38 RchE, abgedruckt in JöR 1, S. 749. 189 Vgl. dazu JöR 1, S. 749. 179 180
E. Gründungsphase der BRD und Landesparlamente
45
Die im Finanzausschuß des Parlamentarischen Rates gefundene Lösung, nach der es eine Bundesfinanzmasse (Zölle, Erträge der Finanzmonopole, Verbrauchsteuern), eine Länderfinanzmasse (Einkommen-, Körperschaft-, Umsatzsteuer) geben sollte, stieß jedoch auf den erbitterten Widerstand der Militärgouverneure. In ihren Memoranden vom 22. 11. 1948 190 und vom 2. 3. 1949 191 machten die Militärgouverneure deutlich, daß den Ländern weitergehende "unabhängige Einnahmequellen" zugestanden werden müßten, weil ansonsten die Finanzhoheit der Länder erheblich beeinträchtigt sei. Erst nach äußerst schwierigen Verhandlungen 192 wurde ein Komprorniß darin gefunden, die gemeinsame Finanzmasse aufzuteilen, so daß die Umsatzsteuer dem Bund und die Einkommen- und Körperschaftsteuer den Ländern zukommen sollte. Allerdings war diese formelle Zuteilung bereits mit der Hypothek belastet, daß im Bedarfsfall der Bund am Ertrag dieser Steuern beteiligt werden konnte, wie dies ab dem Jahr 1951 dann ja auch der Fall sein sollte. Unter dem Einfluß der Alliierten, die vor dem Hintergrund der geschichtlichen Ereignisse die Entwicklung einer starken Zentralgewalt verhindern wollten, trug das GG vom 23.5.1949 sowohl was die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen, als auch was die Finanzverfassung anging, recht föderalistische Züge. Allerdings war der Grundstein für eine unitarische Entwicklung der Verfassung - mit der Folge eines Machtverlustes der Landesparlamente - bereits erneut gelegt, wie später noch zu belegen sein wird.
190 191 192
Vgl. oben, Teil!, E. H. Fn. 182. Vgl. oben, Teil!, E. II. Fn. 183. Vgl. dazu JöR 1, S. 785 ff.
TEIL 2
Die Landesparlamente im System des GG A. Fragestellung
Will man sich über Standort und Stellenwert der Landtage im Rahmen der staatlichen Ordnung der Bundesrepublik klar werden, so ist zunächst das im GG angelegte Modell eines deutschen Föderalismus l auf seine Aussagekraft zu dieser Frage zu untersuchen. Die politische Idee des Föderalismus hat im GG ihre staatsrechtliche Ausprägung in der bundesstaatlichen Ordnung (Art. 20 Abs. 1,79 Abs. 3 GG) gefunden. Ausgehend von der Frage nach den typusbestimmenden Merkmalen dieser bundesstaatlichen Ordnung, ist zu untersuchen, ob die Landtage - ausgestattet mit substantiellen Entscheidungsbefugnissen - konstitutiver Bestandteil derselben sind; dann wären dem Machtverlust der Landesparlamente unter dem Blickwinkel des Art. 79 Abs. 3 GG Grenzen gesetzt. Da die Bundesstaatlichkeit als komplementäres Element der Demokratie und des sozialen Rechtsstaates zu sehen ist 2 , wird ein weiterer Ansatzpunkt bei der Frage nach dem Stellenwert der Landtage der Aspekt der Gewaltenteilung sein. Es wird dabei zu prüfen sein, inwieweit eine Verschiebung der Gewaltenteilung innerhalb der Länder - die Tendenz zur "Entparlamentarisierung"3 und der Trend zum "Regierungenbundesstaat"4 - zulässig ist. Schließlich wird die Ausschaltung der Landtage im Hinblick auf das Demokratieprinzip zu untersuchen sein. Soll das Problem des Machtverlustes der Landesparlamente unter bundesstaatlichen, rechtsstaatlichen und demokratischen Aspekten beleuchtet werden, so ist das nicht so zu verstehen, daß diese verschiedenen Ansatzpunkte streng voneinander zu trennen wären. Vielmehr müssen gerade die innere Verflochtenheit, die Gemeinsamkeiten und Überschneidungen, die wechselseitigen Ergänzungen und Bedingtheiten, aber auch die Spannun1 Das GG ist insoweit in der Entwicklungslinie deutscher bundesstaatlicher Verfassungen des Kaiserreiches und der Weimarer Republik zu sehen. Denn wie im historischen Teil untersucht, war trotz völlig unterschiedlicher politischer Ausgangslagen, der bundesstaatliche Aufbau einheitlich konzipiert. 2 Vgl. in diesem Sinne Hesse, AöR 98, S. 12. 3 So Böckenförde, FS Schäfer, S. 186. 4 Vgl. dazu M. Hofmann, Die Bundesrepublik Deutschland - ein gouvernementaler Bundesstaat?
B. Die Landesparlamente und das bundesstaatliche Prinzip
47
gen für das hier vorliegende Problem deutlich werden. Es soll zwar die unterschiedliche Akzentuierung der Problematik deutlich werden, aber dies kann immer nur vor dem Hintergrund des Grundsatzes der Einheit der Verfassung 5 erfolgen 6 • Nun haben sich seit Inkrafttreten des GG die faktischen Voraussetzungen, insbesondere durch Anwachsen der leistungs staatlichen Aufgaben, stark gewandelt. Dennoch muß zunächst geprüft werden, welche Stellung den Landtagen nach dem System des GG zukommen sollte, denn nur von daher kann man versuchen, einen eventuellen Widerspruch von Normativität und Faktizität zu beschreiben und zu problematisieren. B. Die Landesparlamente und das bundesstaatliche Prinzip Art. 79 Abs. 3 GG konkretisiert das in Art. 20 Abs. 1 GG normierte Bundesstaatsprinzip und nennt die beiden Grundstrukturen des Bundesstaates grundgesetzlicher Prägung, die für unabänderlich erklärt wurden: Die Gliederung des Bundes in Länder und die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung. Nur wenn die Landesparlamente unverzichtbarer Baustein des so konkretisierten Bundesstaatsprinzips sind und sich der Bundesstaat des GG nicht ohne Landesparlamente denken läßt, werden diese als Organe mit substantiellen Entscheidungsbefugnissen von der Unabänderlichkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG mitumfaßt. I. Die Gliederung des Bundes in Länder
1. Die Existenz mehrerer Entscheidungszentren Hinter der von der "pouvoir constituant" für unabänderlich erklärten Gliederung des Bundes in Länder steht die Vorstellung von der Existenz einer Mehrzahl von Zentren demokratisch legitimer politischer7 Entscheidung8 . Es soll damit eine "regionale Gliederung der politischen Leitungsgewalt"9 erreicht werden, "kraft deren die Länder in eigener Verantwortung Leitungsaufgaben wahrzunehmen haben"lo. Dafür ist wesentlich, daß nicht nur der Bund, sondern auch die Länder in der Lage sein müssen, "über die Vgl. dazu BVerfGE 1, 14 (32); 19,206 (220); 30, 1 (19). So vor allem Hesse, AöR 98, S. 10; ders., Grundzüge S. 106. 7 Vgl. zum Begriff des "Politischen": Schmitt, Der Begriff des Politischen; Sternberger, Das Wort Politik und der Begriff des Politischen, PVS 1983, S. 6 ff.; Scheuner, FG Smend, S. 225 ff. S Vgl. Scheuner, DÖV 1962, S. 649; Hesse, AöR 98, S. 14. 9 Vgl. zum Begriff der politischen Leitungsgewalt Hempel, S. 155 mit Fn. 57. 10 So Hempel, S.202; vgl. auch Enquete-Kommission Verfassungsreform, Zur Sache 2/77, S. 54 f. 5 6
Teil 2: Die Landesparlamente im System des GG
48
Durchführung politisch vorgeformter oder weithin unpolitischer Aufgaben hinaus Entscheidungen zu treffen, die als richtungsweisend für das Zusammenleben in der staatlichen Gemeinschaft empfunden werden und deshalb einen tiefgreifenden Prozeß demokratischer Meinungs- und Willensbildung auszulösen vermögen, im Landesparlament, in der Tagespresse, in Versammlungen und im Versuch der Interessenten und ihrer Verbände auf die zuständigen Landesorgane einzuwirken"11.
2. Die Staatsqualität von Zentralstaat und Gliedstaaten Zentren demokratisch legitimer politischer Entscheidungen sind jedoch nicht auf der Ebene von Selbstverwaltungskörpern möglich, sondern nur auf der Ebene der Staatlichkeit denkbar 12 . Auch das BVerfG hat bereits in seinem ersten Urteil1 3 ein wesentliches Merkmal bundesstaatlicher Ordnung des GG darin gesehen, daß nicht nur der organisierte Staatenverband, also der Zentralstaat, sondern auch die teilnehmenden Gliedstaaten Staatsqualität besitzen 14 . Es konstatiert den Ländern "eigene, wenn auch gegenständlich beschränkte, nicht vom Bund abgeleitete, sondern von ihm nur anerkannte staatliche Hoheitsmacht" 15. Diese Sicht der Länder als Staaten mit einem unentziehbaren Kern eigener Aufgaben, die den Ländern als "Hausgut" erhalten bleiben müssen, zieht sich wie ein roter Faden durch die Rechtsprechung des BVerfG16 und ist auch in der Literatur nahezu unstreitig 17 . Freilich trägt die Staatsqualität der Länder ganz spezifische Züge, "die sich sowohl von der vollkommenen Staatsqualität des souveränen Zentralstaates, als auch von der einfachen Gebietshoheit eines innerstaatlichen autonomen Gemeinwesens unterscheidet" 18.
So Bullinger, DÖV 1970, S. 761 f. Dazu mit eingehender Begründung Hempel, S. 201 ff. 13 BVerfGE 1, 14 (34). 14 Es wird hier und im folgenden vom zweigliedrigen Bundesstaatsaufbau ausgegangen. Die Terminologie "Zentralstaat" für den Bund und "Gliedstaaten" für die ,Länder folgt Maunz-Dürig-Herzog, Art. 20 IV, Rdnr. 16. 15 BVerfGE 1, 14 (34); 14,221 (234). 16 BVerfGE 3, 58 (158); 4, 178 (189); 6, 309 (346 f.); 11,77 (88); 22,267 (270); 36, 342 (360 f.); DÖV 1982, 591 (594). 17 Vgl. statt vieler Maunz-Dürig-Herzog, Art. 20 IV, Rdnrn. 2 ff., m.w.N.; zuletzt Barschel, S. 167 f.; a.A. z.B. W. Weber, S. 67, Jahrreiß, S. 542. 18 So Eichenberger, FS Hans Huber, S.165; in diesem Sinne auch Giacometti, S. 30 f., der die schweizer Kantone nur als" unechte Staaten", als Staaten im politisch-soziologischen Sinne bezeichnet. 11
12
B. Die Landesparlamente und das bundesstaatliche Prinzip
49
3. Mindestbestand an Gesetzgebungskompetenzen als Essentiale der Staatlichkeit Bei der Frage, was nun zu den Essentialia dieser Staatlichkeit gehört und was die auf dieser Ebene ausgeübte regionale politische Leitungsgewa1t1 9 der Länder ausmacht, wird der Standort der Landesparlamente im bundesstaatlichen Ordnungsgefüge sichtbar: An erster Stelle muß den Ländern nämlich ein Mindestbestand ausschließlicher Gesetzgebungskompetenzen zustehen 20 , denn "die Staatsqualität der Länder zeigt sich weniger in der Existenz von Regierungen - solche gibt es auch auf der Ebene von Verwaltungsbezirken -, sondern vor allem in der Kompetenz der gewählten Volksvertretung zur Gesetzgebung"21. Gerade der Bereich der Gesetzgebung ist ein wesentlicher Wirkungskreis für demokratisch legitime politische Entscheidungen. Daher steht den Ländern auch nicht nur "irgendein Rest Gesetzgebungszuständigkeit" zu, vielmehr ist ein nennenswerter Bestand eigener Rechtsetzung22 konstitutiver Bestandteil ihrer Staatlichkeit23 und damit auch der bundes staatlichen Ordnung. 11. Die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung
1. Die Garantie eigener Gesetzgebung Auch der zweite Bestandteil der föderalen Bestandsgarantie, der die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung schützt, garantiert nach überwiegender Auffassung einen Mindestbestand an ausschließlichen Gesetzgebungskompetenzen der Länder24 . Dies wird vorwiegend damit begründet, daß Art. 79 Abs. 3 GG nur von "Gesetzgebung" und nicht wie in Art. 50 GG von "Gesetzgebung des Bundes" spricht. "Die Gesetzgebung" LS. des Art. 79 Abs. 3 GG wird nach dieser Auffassung als Vgl. dazu Hempel, S. 177 ff., 202 ff. BVerfGE 6, 346; 34, 9 (20); Maunz-Dürig-Herzog, Art. 79 IV, Rdnr. 33; !.farbich, S. 127; Klein, DVBl. 1981, S. 664; Konow, DOV 1966, S. 368 f.; Bullinger, DOV 1970, S. 767; Hempel, S. 208 f.; Hesse, AöR 98, S. 17; Scheuner, DÖV 1966, S. 517; Lerche, Verfassungsfragen, S. 46; Bartholome, Der Landkreis 1983, S. 504, der auf die unbefriedigenden Gesetzgebungsbefugnisse der Länder der Bundesrepublik im Vergleich zu denen der schweizer Kantone hinweist, obwohl diese oft nicht einmal die Größe der deutschen Landkreise erreichen. 21 Voigt, BayVBl. 1977, S. 97. 22 Zum Umfang des heutigen Bestandes vgl. Hans Schneider, Gesetzgebung, S. 104, Rz 168. 23 Darüberhinausgehend Klein, DVBl. 1981, S. 664, der die Entscheidung des BVerfG 34, 9 (20) so interpretiert, daß der Bereich eigener Rechtsetzung über das hinausgehen muß, was zur Sicherung der "schieren Staatsqualität" notwendig ist. 24 So Maunz-Dürig-Herzog, Art. 79, Rdnm.36, 37; Herzog, JuS 1967, S.196; Scheuner, DÖV 1966, S. 513; Zinn, AöR 75, S. 299; Hempel, S. 208. 19
20
4 Eicher
Teil 2: Die Landesparlamente im System des GG
50
die Bund und Ländern gemeinsam zustehende Gesetzgebung verstanden, so daß auch die landeseigene Gesetzgebung gesichert wäre.
2. Abweichende Auffassung Dagegen wird insbesondere von Hesse 25 geltend gemacht, es sei sinnwidrig von einer "Mitwirkung" der Länder bei ihrer eigenen Gesetzgebung zu sprechen, obwohl sie dort die entscheidenden Akte selbst setzten. Vor allem Elgeti 26 hat diese Auffassung mit Argumenten aus der Entstehungsgeschichte des Art. 79 Abs. 3 GG untermauert. Es kann jedoch dahinstehen, ob den Argumenten der einen oder anderen Auffassung zuzustimmen ist, in jedem Fall folgt die Garantie der landeseigenen Gesetzgebung aus der Gliederung des Bundes in Länder.
m.
Der Landtag und das Gesetzgebungsrecht
Zwar gehört die Gesetzgebung zum konstitutiven Bestandteil effektiver Länderstaatlichkeit, damit steht jedoch noch nicht fest, daß sie ohne weiteres dem Funktionsträger Landesparlament zugeordnet werden kann 27 . Auch wenn die Landesverfassungen diese Zuweisung in eindeutiger Weise vornehmen 28 , würde man bei einer vorbehaltlosen Gleichstellung von Parlament und "Gesetzgeber" unterschlagen, daß auch den Landesregierungen - im Bereich des Haushaltsgesetzes sogar nur diesen 29 - das Gesetzesinitiativrecht zusteht, diese also neben dem Parlament am Gesetzgebungsverfahren beteiligt sein können 3o . Dennoch sind die Regierungen für den Teil der politischen Führungsaufgabe, der in ein Gesetzgebungsprogramm umgesetzt werden muß31, auf die Mitwirkung der Landesparlamente angewiesen 32 • Vor allem im Hinblick auf Hesse, AöR 98, S. 18. Elgeti, S. 67 f. 27 Vgl. zur Unterscheidung zwischen der Frage nach der Funktion als solcher und der richtigen Zuordnung dieser Funktion zu einem Funktionsträger grundlegend Kägi, Entstehung, S. 54 ff. 28 Vgl. z.B. Art. 107 b) LV Rhl.-Pf.; Art. 116 b) LV Hessen; Art. 5 Abs. 1 LV Bayem; Art. 9 Abs. 1 LS SH; Art. 27 Abs. 2 LV BW; Art. 3 Abs. 2 LV Nds. 29 Vgl. z.B. Art. 118 LV Rhl.-Pf., der ausdrücklich vom "Entwurf der Landesregierung" spricht. 30 Dennoch wurden unter dem Einfluß der Gewaltenteilungslehre traditionell die Begriffe Parlament und Gesetzgeber synonym verwandt. Vgl. dazu Ellwein-Görlitz, S. 32 und Draht, S. 28 ff. 31 Dies ist in den Bereichen der Fall, in denen die Lehre vom Vorbehalt des Gesetzes greift. Vgl. dazu Rupp, Grundfragen, S. 104 ff.; Krebs, Jura 1979, S. 304 ff.; Kisker, NJW 1977, S. 1313 ff. 32 Herbert Schneider, S. 47. 25
26
c. Landesparlamente und Gewaltenteilung
51
das Erfordernis demokratischer Legitimation kommt den Landesparlamenten bei der Aufstellung abstrakt genereller Normen eine entscheidende Funktion ZU33 . Als Ergebnis kann daher festgehalten werden, daß die Legislativfunktion in ihrem Kern den Parlamenten zugewiesen ist3 4 . IV. Ergebnis
Aus dem Bundesstaatsprinzip läßt sich über die Forderung nach der Eigenstaatlichkeit der Länder deren Anspruch auf einen Mindestbestand an eigenen Gesetzgebungsbefugnissen ableiten. Da die Gesetzgebung in ihrem Kern Aufgabe der Landesparlamente ist, gehören auch diese unmittelbar zum konstitutiven Bestandteil bundesstaatlicher Ordnung. C. Der Stellenwert der Landesparlamente unter gewaltenteilenden Aspekten Das Bundesstaatsprinzip ist mit anderen Verfassungsprinzipien des Art. 20 Abs. 1 und 2 GG eng verflochten. Das wird besonders deutlich, wenn man die Funktion der Landesparlamente unter gewaltenteilenden Aspekten35 betrachtet. I. Die Verschränkung von horizontaler und vertikaler Gewaltenteilung
Üblicherweise werden die horizontale 36 und die vertikale Gewaltenteilung 37 unterschieden. Zunächst mag es den Anschein haben, daß beide Formen der Gewaltenteilung unverbunden nebeneinander stehen, zumal das Prinzip der horizontalen Gewaltenteilung aus dem Rechtsstaatsprinzip, das der vertikalen Gewaltenteilung aus dem Bundesstaatsprinzip abgeleitet wird 38 . So kann man sich sicherlich abstrakt einen Rechtsstaat auch ohne Vgl. dazu näher unten, Teil 2, D. 1. 2. a). Sternberger, PVS 1960, S. 27 stellt fest, daß das Parlament jedenfalls die "vorherrschende" legislative Gewalt sei; Hesse, Grundzüge, S. 193, ist der Auffassung, die Gesetzgebung in der demokratischen Ordnung des GG sei "unlösbar mit dem Parlament verbunden". 35 Vgl. zur "Problematik der Gewaltenteilung im Rechtsstaat der Gegenwart" grundlegend Peter Schneider, Recht und Macht, S. 171 ff. 36 Darunter soll im folgenden das Verhältnis von Gesetzgebung, vollziehender Gewalt und Rechtsprechung verstanden werden. 37 Darunter soll die Machtgliederung durch die bundesstaatliche Ordnung in eine Zentralstaatsgewalt und Gliedstaatsgewalten verstanden werden; vgl. zu den Bedenken, in diesem Zusammenhang von Gewalten "teilung " zu sprechen, Achterberg, S.I11. 3B Vgl. dazu Lerche, VVDStRL 21, S. 84. 33
34
4'
52
Teil 2: Die Landesparlamente im System des GG
bundesstaatliche Gliederung und einen Bundesstaat ohne horizontale Gewaltenteilung auf der Zentralstaats- und Gliedstaatsebene denken 39 . In dem Augenblick jedoch, in dem die beiden gewaltenteilenden Aspekte von der Verfassung institutionell garantiert werden, wird deutlich, daß "klassische" und "föderative" Gewaltenteilung sich wechselseitig ergänzen: Die Auf teilung staatlicher Macht auf einen Zentralstaat und auf Gliedstaaten wird sofort von einem zweiten Raster - der horizontalen Gewaltenteilung - erlaßt. Gerade aus der Verknüpfung von Zuweisung politischer Leitungsgewalt an die Gliedstaaten und der auf Gliedstaatenebene erfolgenden Aufteilung und Zuweisung an verschiedene Funktionsträger folgt die Garantie einer selbständigen, für die politische Leitungsgewalt relevanten Funktion der Landtage. Während über das Bundesstaatsprinzip die Notwendigkeit eines Mindestbestandes eigener Gesetzgebungskompetenzen garantiert wird, sichert das Rechtsstaatsprinzip in seiner gewaltenteilenden Ausprägung die Existenz des die Kompetenz wahrnehmenden Organs. ß. Das Problem der Kompetenzkompensation
Hinter der Mitwirkung der Länder an der Gesetzgebung des Bundes im Bundesrat steht die Idee der vertikalen Gewaltenteilung40 , auch wenn der Bundesrat zugleich als Institution zur Ergänzung und Verstärkung der horizontalen Gewaltenteilung des Zentralstaates verstanden werden muß 41 • Man könnte nun auf den Gedanken kommen, daß zwischen den bei den Formen vertikaler Gewaltenteilung - der regionalen und der funktionalen Gliederung politischer Leitungsgewalt - die Möglichkeit äquivalenter kompensatorischer Verlagerung 42 besteht. In neuerer Zeit war es vor allem Bökkenförde43 , der sich zum Vertreter dieser These gemacht hat: Er meint, daß das "was den Ländern an Eigenständigkeit und politischer Selbstentscheidung verloren ging, kompensiert wurde durch vermehrte Beteiligung an der politischen Willensbildung bzw. staatlichen Tätigkeit des Bundes selbst, die dadurch gewissermaßen in sich föderalisiert wurde". Die Verlagerung von gesetzgeberischer zu exekutivischer Kompetenz, die Entwicklung der Landesregierungen "von einer reinen Landesgewalt zu einer Zwischengewalt zwischen dem Land, dem Bund und anderen Ländern"44 vollzog sich nach Vgl. Achterberg, S. 11l. Stern, Staatsrecht I, S. 170. 41 Vgl. zur vertikalen und horizontalen Komponente des Bundesrates MaunzDürig-Herzog, Art. 20 IV, Rdnr. 75. 42 Vgl. zu dieser Problematik grundlegend Klein, Die Kompetenz- und Rechtskompensation, DVBl. 1981, S. 661 ff. 43 Bäckenfärde, FS Schäfer, S. 184 f.; ebenso Eschenburg in einem Interview der "Südwest Presse", Schwäbisches Tagblatt vom 13. Mai 1986. 39 40
c. Landesparlamente und Gewaltenteilung
53
Böckenförde nicht als Ausschaltung, sondern im Rahmen der bundesstaatlichen Ordnung.
Die beiden Formen vertikaler Gewaltenteilung stehen aber nicht unverbunden oder austauschbar nebeneinander, sondern bedingen sich gegenseitig: Das den Ländern über Art. 50 GG gewährte und über Art. 51 GG den Landesregierungen zugewiesene Recht einer Mitwirkung an der Bundeswillensbildung ist ohne eine hinreichende Zuweisung eigenverantwortlicher Aufgabenerfüllung auf Landesebene, die soweit "wesentliche" Entscheidungen zu treffen sind, im Kern den Landesparlamenten zugewiesen ist, nicht denkbar 45 . Nur weil die Länder im eigenen Bereich politische Leitungsgewalt ausüben, "können ihre Interessen und Initiativen für den Gesamtstaat als so gewichtig angesehen werden, daß sie bei der Ausübung der zentral wahrgenommenen Leitungsaufgaben zu berücksichtigen sind"46. Dem entspricht auch die Begründung des Bundesratsprinzips im Parlamentarischen Rat, nach der die Bundesländer "reale Machtfaktoren" seien, die an der "Mitverantwortung im Bundesstaat beteiligt werden müßten"47. Mit dem Schwinden hinreichend selbständiger Gestaltungsmöglichkeiten auf Landesebene bleibt der Aspekt der vertikalen Gewaltenteilung insgesamt mehr und mehr auf der Strecke, weil proportional dazu das "politischlegitime Gewicht der Landesregierungen und damit die Chance politisch einflußreicher Entscheidungen des Bundesrates"48 schwindet. Lediglich die Funktion einer Ergänzung und Verstärkung der horizontalen Gewaltenteilung des Zentral staates würde erfüllt, der Sinngehalt des Bundesstaatsprinzips jedoch um einen entscheidenden Aspekt verkürzt 49 . Hinzu kommt, daß der Bundesrat ein nach Mehrheitsbeschlüssen agierendes Bundesorgan ist, so daß einzelne Landesinteressen durch die Möglichkeit der Majorisierung im Hinblick auf die getroffene Sachentscheidung unberücksichtigt bleiben können 5o . Bei einer Ersetzung von eigenverant44 Leisner, DÖV 1968, S. 392. 45 A. A. offensichtlich Jahrreiß, GS Peters, S. 545, der die Landtagswahlen lediglich
als "Elektorenwahlen für den Bundesrat" ansieht und bei den Landtagswahlkämpfen der Bundes(rats)politik normativ den Vorrang vor den Landesangelegenheiten einräumt. 46 Hempel, S. 205. 47 So Abg. Süsterhenn, Steno Ber. über die Plenarsitzung des Parlamentarischen Rates, 2. Sitzung vom 8. 9. 1948, S. 24. 48 Lerche, Verfassungsfragen, S. 41; vgl. in diesem Sinn auch Konow, DÖV 1966, S. 373 und Herzog, ZfP 1963, S. 154 Anm. 40. 49 In diesem Sinne auch Klein, DVBl. 1981, S. 664; a.A. anfänglich Hesse, Bundesstaat, S. 27 und 32; Scheuner, DÖV 1962, S. 646 weist zu Recht darauf hin, daß bei einem solchen Verständnis "der dezentralisierte Einheitsstaat innerlich schon sehr nahe rückt" . 50 Vgl. Lerche, Verfassungsfragen, S. 42; Klein, DVBl. 1981, S. 664; Hesse, AöR 98, S. 37; Bullinger, DÖV 1970, S. 767.
54
Teil 2: Die Landesparlamente im System des GG
wortlicher Aufgabenerfüllung durch Mitwirkung der Länder im Bundesrat ist Gleichwertigkeit auch deshalb nicht gegeben, weil die Länder nicht als jeweils "homogener Typ"51 betrachtet werden dürfen, für den die Frage einer damit verbundenen Funktionenverschiebung zwischen Parlament und Regierung unbeachtlich wäre. Vielmehr zeichnet das GG in den Art. 28 Abs. 1, 20 Abs. 2 S. 2 GG das Leitbild einer gewaltenteilenden Gliederung auch innerhalb der Länder, so daß Parlamentsfunktionen prinzipiell nicht durch Regierungsfunktionen ersetzt werden können 52 . Das hat auch die vom BVerfG zur Gewaltenteilung entwickelten These vom Schutz eines Kernbereiches einer jeden Gewalt5 3 deutlich gemacht. Danach darf in diesen Kernbereich nicht in der Form eingegriffen werden, daß eine Gewalt ein von der Verfassung nicht vorhergesehenes Übergewicht über eine andere Gewalt erhält, und keine Gewalt darf der zur Erfüllung ihrer verfassungsmäßigen Aufgaben erforderlichen Zuständigkeiten beraubt werden. Gesetzgeberischer Kompetenzverlust läßt sich daher mit exekutivischem Kompetenzgewinn nicht adäquat 54 ausgleichen 55, weil sich die bundesstaatliche Ordnung ansonsten zu einer "Regierungsautokratie"56 entwickeln würde, die dem GG nicht entspricht 57 . So hat selbst Hesse, der zunächst auch den Autonomieverlust der Länder durch ihre Beteiligung im Bundesrat als kompensiert ansah 58 und auf dieser Ebene das Bild vom "unitarischen Bundesstaat" entworfen hat, später zugestanden, daß die Konzeption eines Bundesstaates, "an dessen Entscheidungen lediglich die vollziehenden Gewalten beteiligt sind, nicht die des GG sein kann "59.
m.
Gewaltenteilung und parlamentarisches Regierungssystem
Das Gebot eines ausgewogenen Stärkeverhältnisses zwischen Parlament und Regierung wurde aus dem in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG60 verankerten Darauf verweist Leisner, DÖV 1968, S. 389. Hesse, AöR 98, S. 30. 53 Vgl. BVerJGE 3,225 (247); 7, 183 (188); 9, 268 (279); 22, 106 (111); 34, 52 (53 f.); 49, 89 (124); vgl. dazu auch Leisner, DÖV 1969, S.409, der allerdings die Kernbereichsthese auf die Gewaltenteilung nicht für anwendbar hält. 54 Auf eine möglicherweise "das Verdikt der Verfassungswidrigkeit hinausschiebende Bedeutung" verweist Klein, DVBI. 1981, S. 664. 55 Gleicher Auffassung und die These äquivalenter Kompetenzkompensation ablehnend: RudolJ, FG Bundesverfassungsgericht H, S.238; Kisker, Kooperation, S. 300 ff.; W. Weber, S. 89 ff.; Bothe, S. 146; Heubl, BayVBI. 1968, S. 416; Lerche, Verfassungsfragen, S. 40 f.; Halstenberg, S. 146; Klatt, Reform und Perspektiven, S. 8. 56 Insoweit bestehen auch Bedenken gegen einen "Regierungen-Bundesstaat", den BöckenJörde, FS Schäfer, S. 186 für verfassungsgemäß hält; vgl. auch Kisker, Kooperation, S. 3, der von einem "oligarchischen Bundesstaat" spricht. 57 Stern, Staatsrecht H, S. 543. 58 Hesse, Bundesstaat, S. 23. 59 Hesse, AöR 98, S. 20; ders., FS Müller, S. 154. 51 52
C. Landesparlamente und Gewaltenteilung
55
Gewaltenteilungsprinzip abgeleitet. Gegen die Tragfähigkeit dieser Aussage könnte eingewandt werden, daß das Prinzip der Gewaltenteilung nicht als Dogma, als formalistischer Rechtssatz begriffen werden darf61, sondern in jeder konkreten historischen Situation neu auf seine Aussagekraft hin überprüft werden muß62. Zwar gilt die Idee, nach der eine Aufteilung der staatlichen Verfügungsmacht unter mehrere Entscheidungsträger für die Mäßigung der Macht, zum Schutz gegen Gewaltmißbrauch und zum Schutz individueller Freiheit63 von entscheidender Bedeutung ist, heute unverändert fort. Gewaltenteilung begreift sich insoweit nach wie vor als "Ausdruck für eine aufs Höchste entwickelte, voll differenzierte Staats aktivität "64. Allerdings ist diese Differenzierung nicht mehr nach einer strikten Trennung inhaltlicher Funktionen vorzunehmen, sondern unter Einbeziehung anderer Einrichtungen der Verfassungsordnung ist "die verfassungsrechtliche Aufgaben- und Organzuordnung nach den Maßstäben der Organadäquanz und der Funktionsgerechtigkeit"65 vorzunehmen. Hinsichtlich der Stellung der Landesparlamente sind es vor allem zwei Faktoren, die prägend auf den "Idealtyp der Gewaltenteilung" eingewirkt haben: Der Einfluß des von den politischen Parteien getragenen parlamentarischen Regierungssystems und - damit zusammenhängend - die vielfältigen gewaltenverschränkenden Durchbrechungen.
1. Der Einfluß des von den politischen Parteien getragenen parlamentarischen Regierungssystems auf die Stellung der Landesparlamente Die bisherigen Ausführungen haben das Parlament in seiner Gesamtheit im Auge gehabt, dem im Rahmen der Aufteilung staatlicher Macht eine spezifische Funktion zukommt. Vor dem Hintergrund der von den politischen Parteien getragenen parlamentarischen Demokratie stellt sich jedoch die Frage, ob die "Teilung" der 60 Über die Homogenitätsklausel des Art. 28 Abs. 1 GG hat dieser Verfassungsgrundsatz auch in den Verfassungen der Gliedstaaten (vgl. z.B. Art. 77 LV Rhl.-Pf.) seinen Niederschlag gefunden. 61 Darauf verweist vor allem Kägi, FS Hans Huber, S. 161 f. 62 Hesse, Grundzüge, S. 184; ähnlich auch Ossenbühl, DÖV 1980, S. 545, der auf die "zeitgebundene und sozialabhängige" Komponente der Gewaltenteilung verweist. 63 Vgl. dazu den anschaulichen Vergleich bei v. Hippel, S. 10, der die Grundidee der Gewaltenteilung als "Mittel der Freiheitssicherung des Bürgers" mit der Sicherheit des tapferen Schneiderleins verglichen hat, der die Riesen gegeneinander brachte und so selber unbeachtet und unbehelligt blieb. 64 Peter Schneider, Recht und Macht, S. 172 f. 65 Magiera, S. 257.
56
Teil 2: Die Landesparlamente im System des GG
Staatsgewalt - jedenfalls was das Verhältnis von Parlament und Regierung anbelangt - nicht von dem Wirken ein und derselben Parteien, die unter verschiedenen Bezeichnungen die angeblich geteilten Staatsgewalten ausüben, überdeckt wird 66 . So mehren sich die Stimmen, die von einer monistischen Betrachtungs~ weise 67 ausgehen und "die beiden unabhängigen Machtträger Kabinett und Parlament zu einem einzigen Mechanismus zusammengeschmiedet"68 sehen 69 . Stattdessen wird eine "neue Frontstellung"70 ausgemacht, die zwischen Regierung und Parlamentsmehrheit auf der einen und der Opposition auf der anderen Seite verlaufe 7l . Die Richtigkeit dieser These einmal unterstellt, könnte man in all den Bereichen, in denen eine Machtverschiebung vom Parlament auf die Regierung zu verzeichnen ist 72 , nicht mehr von einem "Machtverlust der Landesparlamente" , sondern nur noch von einem solchen der parlamentarischen Opposition sprechen. Bei näherem Hinsehen läßt sich jedoch die These vom fehlenden Spannungsverhältnis zwischen Regierung und Parlament nicht aufrechterhalten 73 . Der "Organdualismus" ist vom "Parteiendualismus"74 nicht abgelöst worden, sondern beide Modelle überschneiden sich 75 . Gewaltenverbindende Tendenzen können vor dem Hintergrund, daß die Parteien immer mehr zu den entscheidenden sozialen Funktionsträgern76 im demokratischen Rechtsstaat des GG geworden sind, nicht in Abrede gestellt werden 77 • 66 Vgl. dazu auch Fromme, FAZ vom 4.3.1980, der besorgt die Frage aufwirft: "Was wird aus der Gewaltenteilung?" 67 Vgl. dazu Gehrig, DVBl. 1971, S.633 mit Fn. 18, Oppermann, VVDStRL 33, S. 64; auch bereits Thoma, HdbDStR H, S. 117. 68 Gehrig; DVBl. 1971, S. 634. 69 Stein, S. 68 spricht in diesem Zusammenhang von einer" bloßen Fiktion", zu der die Gewaltenteilungslehre wird; ebenso W. Weber, S. 141, 160 f.; vgl. auch Gehrig, S. 87 ff.; Herzog, Staatslehre, S. 235; Hans Peter Schneider, AöR 105, S. 14. 70 Stern, Staatsrecht I, S. 1022. 71 Vgl. statt vieler eingehend m. w.N. Gehrig, S. 233 f. 72 Vgl. dazu unten, Teil 3, C. 73 Vgl. in diesem Sinne auch BVerfGE 10, 4 (17). 74 So die Terminologie bei Magiera, S. 228 ff. 75 In diesem Sinne auch Magiera, S. 230 ff.; Eschenburg, S.677; Sternberger, Lebende Verfassung, S. 140 ff.; bestätigt wird dies auch in dem interessanten und ausführlichen Einblick in den "parlamentarischen Alltag" eines Mitglieds der Mehrheitsfraktion in einem Landtag bei Leeb, S. 60 ff. 76 Schelsky, S. 33 verweist darauf, daß das Prinzip der Gewaltenteilung nur dann greift, wenn "soziologisch die Machtmittel und Möglichkeiten der Herrschaftsausübung auf verschiedene Gesellschaftsgruppen verteilt sind". 77 Es ist daher zu überlegen, ob auf diese Entwicklung - zur Stärkung der Funktion des Gesamtparlaments - nicht auch mit einer Stärkung der Rechte der Oppositi()n reagiert werden sollte. Vgl. zu den diesbezüglichen Entwicklungen in den einzelnen Bundesländern, Hans Peter Schneider, Parlamentarische Opposition, S. 261 ff.; Echternach, ZParl1975, S. 3 ff., Herben Schneider, S. 99 ff.; sehr aufschlußreich sind in
c. Landesparlamente und Gewaltenteilung
57
Aber auch wenn das Spannungsverhältnis von Parlament und Regierung nicht mehr auf soziale Gegensätze zurückgeführt werden kann, wie das noch vor 1919 unter dem monarchisch-konstitutionellen System der Fall war, dürfen Parlamentsmehrheit und Regierung nicht als Einheit betrachtet werden. Eine Gleichsetzung begegnet nicht allein deshalb Bedenken, weil nur etwa 10 bis 15 Prozent der Abgeordneten der Mehrheitsfraktion(en) tatsächlich der Regierung angehören 78 , sondern weil zumindest bei Koalitionsregierungen auch die unterschiedliche Parteizugehörigkeit zu Differenzen von Regierung und den sie tragenden Fraktionen führt. In diesem Zusammenhang sei auf die Beratung von Gesetzentwürfen hingewiesen, bei denen die Regierung auf Druck der sie tragenden Fraktion(en) ihre Entscheidung korrigieren mußte 79 . So ist es häufig Ziel der Oppositionsfraktion(en) gerade auf das Spannungsverhältnis von Regierung und Parlamentsmehrheit einzuwirken, "nicht nur um unterschiedliche Auffassungen im gegnerischen Lager sichtbar zu machen, sondern auch um Lösungen in ihrem Sinne herbeizuführen"80. Parlamentarische Entscheidungen sind demnach das Ergebnis rationaler Entscheidungsprozesse81, an denen das ganze Parlament beteiligt ist und nicht gleichzusetzen mit der Durchsetzung "dezisionistischer Machtansprüche der Regierungsmehrheit"82. Die Abgeordneten der Mehrheitsfraktion(en) sind darüber hinaus weder verfassungsrechtlich auf eine Rolle der Akklamation festgelegt, noch können sie durch Kritiklosigkeit ihre Wiederwahl sichern oder gar Karriere machen. Vielmehr werden die Mitglieder der Regierungsfraktion(en) - insbesondere wenn die "eigentliche" Opposition nur schwache Arbeit leistetauch unter dem Druck der öffentlichen Meinung in eine Gegenposition zur Regierung gedrängt. Schließlich ist hinzuweisen auf eine Erscheinung, die man mit dem Terminus "Parlamentsbewußtsein des ganzen Hauses" gegenüber der Regierung beschreiben könnte. Gerade der Machtverlust der Landesparlamente hat diesem Zusammenhang auch die Ausführungen von Wirth, S. 77 ff. zum fehlenden Beweiserzwingungsrecht der Opposition in parlamentarischen Untersuchungsausschüssen. 78 Magiera, s. 116 spricht in diesem Zusammenhang von einer "personellen Verengung" der Regierung gegenüber der Parlamentsmehrheit. 79 Diesen Gedanken hebt auch Meyer, VVDStRL 33, S. 112 hervor. 80 Paul Georg Schneider, S. 124. 81 A. A. Schmitt, Politische Theologie, S. 11, für den als Vertreter einer dezisionistischen Entscheidungslehre allein der den Entscheidungsvorgang beendende Entscheidungsakt zählt. Vgl. dazu Peter Schneider, Ausnahmezustand und Norm, S. 259 ff. 82 Vgl. dazu mit sorgfältiger Begründung Krebs, Kontrolle, S. 132 ff.
58
Teil 2: Die Landesparlamente im System des GG
dieses Bewußtsein aktiviert83, was sich auch am Einsatz der Parlamentspräsidenten zeigt, die einer alten Tradition folgend immer von der stärksten und damit meistens von der Regierungsfraktion gestellt werden 84 . Zusammenfassend läßt sich daher feststellen, daß sich der alte Dualismus von Regierung und Parlament nicht darstellt als "überholter und auszumerzender Überrest konstitutioneller Staatlichkeit, der nur noch als ,formales' Verfassungsrecht fortlebt"85. Vielmehr entfaltet der Organdualismus auch heute noch seine - wenn auch durch den Parteiendualismus - abgemilderte Wirkung, so daß die Frage nach dem Machtverlust der Landesparlamente ihre verfassungsrechtliche Bedeutung nicht eingebüßt hat.
2. Die Auswirkungen der Gewaltenverschränkung auf die Stellung der Landesparlamente Das in Art. 20 Abs. 2 GG verankerte Prinzip der Gewaltenteilung geht grundsätzlich von der Trennung der staatlichen Funktionen aus 86 . Hinter diesem Trennungsmodell stand aber schon bei Montesquieu nicht die Vorstellung einer absoluten Scheidung der Gewalten, sondern gerade auch die Vorstellung von deren Verschränkung, in einem System der "Checks and balances"87. Entscheidend ist allein, daß durch die Verteilung staatlicher Macht auf verschiedene Organe diese sich gegenseitig hemmen. Die Ausweisung verschiedener Teilaufgaben und ihre Zuordnung zu verschiedenen Organen muß daher so erfolgen, "daß nicht eine Gewalt" ein von vornherein jede Hemmung überspielendes Übergewicht hat"88. Gerade diese Gefahr droht aber, wenn man die Aufgabenzuweisung streng an abgegrenzte Verfahrensabschnitte knüpfen und völlig voneinander isolieren würde. Bei einer Arbeitsteilung, die nach dem Muster erfolgt, die Vorbereitungshandlungen der Regierung, die Beschlußfassung dem Parlament, die Ausführung der Regierung und eine sich daran anschließende Kontrolle dem Parlament zuzuweisen, bleiben die Wechselwirkungen dieser Phasen unberücksichtigt 89 . "Entscheidungen" der Parlamente können durch 83 Vgl. dazu beispielsweise die gemeinsame Entschließung des LT Rhl.-Pf. Drucks. 9/2897. 84 Vgl. zur Problematik eines solchen Einsatzes die Äußerungen des rhl.-pf. Landtagspräsidenten Martin auf einer Tagung der Deutschen Vereinigung für Parlamentsfragen vom 19.3.1984, Protokoll, S. 128: "Ich weiß, jedes Stückchen Recht, das ich für das Parlament der Regierung abringe, ist primär etwas zugunsten der Opposition; und das ist für den Parlamentspräsidenten ... innerhalb seiner eigenen Fraktion nicht immer so ganz leicht." 85 Magiera, S. 231; so jedoch wohl Herzog, EvStL, Sp. 1769. 86 Vgl. zur vorrangigen Zuweisung der Funktion der Gesetzgebung an das Parlament oben, Teil 2, B. III. 87 Stern, Staatsrecht 11, S. 529 f.; Kägi, Entstehung, S. 53 f. 88 Kewenig, Staatsrechtliche Probleme, S. 22. 89 Vgl. dazu Leisner, DÖV 1969, S. 411.
C. Landesparlamente und Gewaltenteilung
59
die Vorbereitungshandlungen der Regierung so vorgeprägt sein, daß sie keine eigenständige Bedeutung mehr entfalten und nur noch den Charakter einer Ratifizierung tragen 90 . Die vielfältigen faktisch-politischen Bindungswirkungen zu negieren und allein den Entscheidungsakt in den Mittelpunkt der Betrachtung zu stellen, hieße, sich auf eine dezisionistische Betrachtungsweise zurückzuziehen, die mit dem Machthemmungszweck der Gewaltenteilung nicht in Einklang zu bringen ist. Die Abgeordneten eines Parlaments ließen sich sonst bei der Abstimmung mit einer Figur vergleichen, die Thomas Mann in seinem Roman "Königliche Hoheit" präzise porträtiert hat 91 : Dort gibt es einen Mann, der am Bahnsteig die Hand hebt, wenn der Zug abfährt und sich einbildet, er sei es gewesen, der den Zug zum Fahren gebracht hätte. Wenn daher die von den Exekutiven getroffenen Entscheidungen von den Landesparlamenten unverändert umgesetzt werden, so wäre es zu vordergründig, einen Machtverlust bloß deshalb zu verneinen, weil der Formalakt der endgültigen Entscheidung weiterhin den Landtagen obliegt. Willensbildung und Entscheidung sind vielmehr als einheitlicher Prozeß zu betrachten92 , in dessen Rahmen einseitige Gewichtsverschiebungen dazu führen, daß sich Parlament und Regierung nicht mehr gewaltenhemmend, sondern vielmehr gewaltenblockierend gegenüberstehen. Ähnlich stellt sich die Problematik im Verhältnis von Entscheidung, Vollziehung und Kontrolle dar: Befreit man den Begriff der Kontrolle von seiner Verengung auf eine negative, ablehnende Kritik und versteht darunter eher eine Hilfe zur Erzielung sachrichtiger Entscheidung93 , so greift ein Kontrollbegriff, der bloß nachträgliche Kontrolle zuläßt, zu kurz. Vielmehr muß es dem Parlament möglich sein, seine politischen Vorstellungen bereits in den Entscheidungsprozeß der Regierung einzubringen 9 4, so daß sich a-posteriori-Kontrolle in a-priori-Mitarbeit umwandelt 95 • Insgesamt läßt sich daher festhalten, daß nach heutigem Gewaltenteilungsverständnis einzelne Phasen der Entscheidungsfindung nicht jeweils einer Gewalt zugeordnet sein müssen, sondern vielmehr auch eine gleichgerichtete Zusammenarbeit von Parlament und Regierung möglich sein muß 96 • 90 Oberreuter, Parlamentarismus, S. 78 weist ebenfalls auf die den Parlamenten teilweise fehlende Chance zur Mitsteuerung hin, "so daß die parlamentarische Ratifizierung bürokratischer Politik nur ein zerschlissenes Mäntelchen demokratischer Legitimation umhängt". Vgl. zum Problem fehlender demokratischer Rückbindung auch unten, D. 1. 2. c) mit Fn. 160. 91 Dieser treffende Vergleich findet sich bei Dichgans, ZParl1969/70, S. 240. 92 Kewenig, Staatsrechtliche Probleme, S. 41. 93 Krebs, Kontrolle, S. 134; Magiera, S. 263 ff. 94 Friauf, Gutachten, S. 679; Scheuner, DÖV 1974, S. 438. 95 Leisner, DÖV 1969, S. 409; Stern, Rationale Infrastrukturpolitik, S. 79. _ 96 Vgl. in diesem Sinne auch Magiera, S. 257 ff.; Kewenig, Staatsrechtliche Probleme, S. 22; Stern, Rationale Infrastrukturpolitik, S. 77; Loewenstein, Verfassungslehre, S. 107 ff.
60
Teil 2: Die Landesparlamente im System des GG
Für die Stellung der Landesparlamente folgt daraus, daß diesen ein Machtquantum zukommen muß, das sie in die Lage versetzt, im Rahmen der notwendigen Kooperation der pouvoirs als gleichstarker Partner aufzutreten 97 . IV. Ergebnis
Aus der Verschränkung von vertikaler und horizontaler Gewaltenteilung resultiert die Garantie einer selbständigen, für die politische Leitungsgewalt der Gliedstaaten relevante Funktion der Landtage. ßesetzgeberische Kompetenzverluste auf Landesebene lassen sich nicht äquivalent mit exekutivischem Kompetenzgewinn durch vermehrte Beteiligung an der politischen Willensbildung des Bundes selbst kompensieren: Ein dadurch nach und nach entstehender "Regierungen-Bundesstaat"98 wäre mit der auf Gewaltenteilung angelegten bundesstaatlichen Ordnung unvereinbar. Auch unter den besonderen Voraussetzungen des parlamentarischen Regierungssystems ist weiterhin von einem Organdualismus von Parlament und Regierung auszugehen, wenngleich vor allem von den Parteien gewaltenverbindende Tendenzen ausgehen. Schließlich begreift sich Gewaltenteilung heute gerade auch als gleichgerichtetes Zusammenwirken von Regierung und Parlament, so daß zur gesetzgebenden Funktion der Landesparlamente über eine dezisionistische Betrachtungsweise hinaus nicht "lediglich das nackte Recht der Beschlußfassung ... , sondern auch die Chance, im Rahmen dieser Beschlußfassung eine autonome politische Entscheidung zu treffen"99, gehört. Ebenso gehört es zur Kontrollfunktion der Landesparlamente, nicht nur nachträglich korrigierend, sondern im Wege präventiver, bzw. mitlaufender Kontrolle auch politisch gestaltend_zu agieren 100 . Auch unter gewaltenteilenden Aspekten läßt sich daher feststellen, daß die Verfassung die Existenz und Funktionsfähigkeit von Landesparlamenten mit substantiellen Entscheidungsbefugnissen unabänderlich voraussetzt.
97 Leisner, DÖV 1969, S. 409 spricht in diesem Zusammenhang davon, daß Gewaltenteilung mehr "quantitativ als qualitativ" zu begreifen sei. 98 Böckenförde, FS Schäfer, S. 186. 99 Friauf, Gutachten, S. 675. 100 Vgl. zur näheren Begründung auch Bäumlin, S. 244 f., der als erster den Zusammenhang zwischen Kontrolle und Mitwirkung hergestellt hat.
D. Landesparlamente und Demokratieprinzip
61
D. Standort und Stellenwert der Landesparlamente im Rahmen des Demokratieprinzips Das Prinzip demokratischer Staatsorganisation (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG) gilt über die Homogenitätsklausel des Art. 28 Abs. 1 GG auch in den Bundesländern 101 und gehört ebenso wie das Bundesstaatsprinzip und das Rechtsstaatsprinzip zu den Grundsätzen, die gemäß Art. 79 Abs. 3 GG jeder Verfassungsänderung entzogen sind. Die Frage, welche Aussagen sich aus dem Demokratieprinzip für die Stellung der Landesparlamente ableiten lassen, kann von zwei verschiedenen Ansatzpunkten her beantwortet werden: Die konkrete Ausformung des Bundesstaates grundgesetzlicher Prägung mit ihren stark unitarisch-zentralistischen und unitarisch-kooperativen Tendenzen, die eine Ausschaltung der Landesparlamente zur Folge haben 102 , läßt sich auf ihre Auswirkungen im Hinblick auf demokratische Grundstrukturen untersuchen. Daraus lassen sich Rückschlüsse auf die für das Demokratieprinzip wesentlichen Funktionen der Landesparlamente ziehen. Auf der anderen Seite ist zu fragen, ob die bundesstaatliche Gliederung nicht selbst ein Element demokratischer Ordnung ist, so daß den Landesparlamenten im Hinblick auf die Erfüllung dieses Sinngehaltes besondere Bedeutung zukommt. I. Die Landtage und das SpannungsverhäItnis von bundesstaatlicher Ordnung und Demokratieprinzip
1. Die Auswirkungen der unitarisch-zentralistischen Tendenzen Durch die starken unitarisch-zentralistischen Tendenzen, die sich in einer Verlagerung der Gesetzgebungszuständigkeiten von den Ländern auf den Bund bemerkbar gemacht haben, ist der Bundesrat mehr und mehr zum entscheidenden Bezugspunkt für die Einflußnahme der Länder auf die zu treffenden politischen Entscheidungen geworden. Das System klar abgegrenzter Kompetenzbereiche zwischen Bund und Ländern wurde abgelöst durch ein weit ausgreifendes Beteiligungssystem der Länder am und im Bund 103 . Dieser Strukturwandel ging einseitig zu Lasten der Landesparlamente, weil die Landesregierungen über ihr Wirken im Bundesrat an den politischen Entscheidungen beteiligt blieben. Damit einher ging - fast unbemerkt -ein Abbau demokratischer Struktur: Zwar ist es richtig, daß auch die Mitglieder des Bundesrates mittelbar als Vertreter 101 102
103
VgL z.B. Art. 74 LV RhL-Pf. VgL dazu im einzelnen unten, Teil 3 der Arbeit. VgL dazu auch schon oben, Teil 2, C. H.
62
Teil 2: Die Landesparlamente im System des GG
der parlamentarisch verantwortlichen Regierungen demokratisch legitimiert sind. Der Bezugspunkt dieser demokratischen Legitimation ist jedoch die Aktivbürgerschaft des jeweiligen Bundeslandes, die sich insoweit nicht etwa durch Addition in eine Legitimation durch die Aktivbürgerschaft des Bundes umwandeln läßt 104 . Denn "Volk in den Ländern und Volk im Bund sind im bundesstaatlichen System voneinander unabhängige, je originäre und staatsrechtlich nicht vermittelte Legitimationskörper" 105. Die Beteiligung des Bundesrates an der Ausübung der Bundesstaatsgewalt beinhaltet daher eine demokratiefeindliche Fremdbestimmung 106 , weil dessen Mitglieder nicht in einem Legitimationszusammenhang zur Aktivbürgerschaft des Bundes stehen 107 . Zwar ist dieses Defizit an demokratischer Struktur im Parlamentarischen Rat bewußt akzeptiert worden, denn insoweit kommt das Moment der "gemischten Verfassung"108 zum Tragen, das den Bundesrat primär als föderatives und erst sekundär als demokratisches Organ sieht. Es mag jedoch mehr als zweifelhaft erscheinen, ob man dieses Defizit an demokratischer Struktur auch hingenommen hätte, wenn man damals schon den Umfang der Beteiligung vor Augen gehabt hätte, der heute erreicht istl° 9 • Das ursprüngliche Regel-Ausnahme-Verhältnis (grundsätzlich entscheidet der Bundestag, nur ausnahmsweise ist die Zustimmung des Bundesrates erforderlich) hat sich nämlich dahin verkehrt, daß heute kaum noch eine wesentliche Entscheidung des Bundestages gegen den Willen des Bundesrates durchgesetzt werden kann llO . Mit zunehmender Entmachtung der Landesparlamente im Rahmen immer weiter fortschreitender zentralisierender Unitarisierung ist das Spannungsverhältnis von bundesstaatlicher und demokratischer Ordnung daher immer größer geworden. Vor allem wenn man in Extrempositionen denkt 111 , werden die Grenzen eines Ersatzes eigenstaatlicher Aufgabenerfüllung durch Mitwirkung im 104 So jedoch offensichtlich Stern, Staatsrecht I, S. 737, der den bundesstaatlich reduzierten Willen des Volkes "in seiner Summe mit dem der Gesamtheit gleichsetzt". Bedenken gegen diese Auffassung ergeben sich vor allem daraus, daß die Stimmverteilung im Bundesrat nicht der Bevölkerungszahl der einzelnen Bundesländer entspricht. Vgl. zu diesem Problemkreis auch Enquete-Kommission Verfassungsreform, Zur Sache 3/76, S. 210 ff. und Sondervotum Schäfer, ebenda, S. 226 ff. 105 Böckenförde, FS Schäfer, S. 190 mit Fn. 52. 106 Vgl. dazu näher Kisker, Kooperation, S. 117 ff. 107 Böckenförde, FS Schäfer, S. 190 mit Fn. 54 weist zu Recht darauf hin, daß dies im Schlußbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform völlig übersehen wird. 108 Vgl. dazu Stern, Staatsrecht I, S. 735 f.; Schmitt, Verfassungslehre, S. 202 ff. 109 Vgl. Lange, FS Stein, S. 195 mit Fn. 62. 110 Nach Ansicht des Vorsitzenden der Vereinigung für Parlamentsfragen Porzner sind 90 % der Gesetze von wesentlicher Bedeutung Zustimmungsgesetze. Vgl. Tagung der Deutschen Vereinigung für Parlamentsfragen vom 19. 3. 1984, Protokoll, S. 94. III Vgl. etwa die Anfrage zur Weiterentwicklung des föderalistischen Systems, BTDrucks. 5/3099 (neu) S. 3, in deren Begründung die Frage aufgeworfen wird, ob nicht "eine Erweiterung der Bundeszuständigkeiten durch eine gleichberechtigte Beteili-
D. Landesparlamente und Demokratieprinzip
63
Bundesrat unter demokratischen Aspekten 112 deutlich: Verfassungspolitischer Funktionswandel würde umschlagen in verfassungsrechtlich bedeutsamen Funktionsverlust.
2. Die Auswirkungen der unitarisch-kooperativen Tendenzen Neben den oben beschriebenen zentralistisch-unitarischen Tendenzen werden die Landesparlamente vor allem durch die unitarisch wirkende Selbstkoordination der Länder untereinander (sog. Dritte Ebene), aber auch durch die Bund-Länder-Kooperation (sog. Vierte Ebene) negativ betroffen. Instrumente des kooperativen Föderalismus sind staatsvertragliehe Regelungen 1l3 , Verwaltungsabkommen l1 4, Empfehlungen der Konferenz der Ministerpräsidenten und der Ressortminister der Länder115 sowie eine fast unüberschaubare Anzahl von gemeinsamen Kommissionen und Ausschüssen auf seiten der Exekutive von Bund und Ländern 116 • Entscheidungen von politischem Gewicht werden also in vielen Fällen nicht mehr auf einzelstaatlicher Ebene, sondern vielmehr in einem schwierigen Willensbildungsund Abstimmungsprozeß auf gemeinsamer Ebene der Länder bzw. der Länder und des Bundes getroffen. Die Aufgabe der Koordination und Kooperation fällt insoweit ausschließlich den Exekutiven von Bund und Ländern zu 117 , während den Landtagen nur noch die Möglichkeit verbleibt, den gefundenen Lösungen zuzustimmen oder sie in toto zu verwerfen. Da der Parlamentsmehrheit aus parteipolitischen Gründen oftmals der Wille fehlen wird, die von "ihrer" Regierung vorbereiteten Entscheidungen zurückzuweisen, bleibt den Landesparlamenten nur die Ratifikation der von den Exekutiven erarbeiteten Lösungen. gung des Bundesrates an allen Gesetzgebungsmaßnahmen eine den Bedürfnissen unserer Zeit entsprechende Form der Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung darstellen würde". 112 An dieser Stelle werden die Wechselwirkungen zwischen Demokratie- und Gewaltenteilungsprinzip deutlich: unter beiden Aspekten kommt man zum selben Ergebnis. Vgl. oben, Teil 2, C. II. 113 Vgl. dazu Paul Georg Schneider, der die Frage der "Beteiligung der Landesparlamente beim Zustandekommen von Staatsverträgen und Verwaltungs abkommen der Bundesländer" einer sehr eingehenden Prüfung unterzogen hat. 114 Vgl. dazu Grawert, Verwaltungsabkommen zwischen Bund und Ländern in der Bundesrepublik Deutschland und Paul Georg Schneider, a.a.O. 115 Vgl. dazu Knoke, Die Kultusministerkonferenz und die Ministerpräsidentenkonferenz und Hirschmüller, Die Konferenzen der Ministerpräsidenten und Ressortminister. 116 Vgl. dazu Große Anfrage der SPD-Fraktion, LT Rhl.-Pf. Drucks. 7/3146 mit Antwort Drucks. 7/3314; Kleine Anfrage, LT Rhl.-Pf. Drucks. 8/3476 mit Antwort Drucks. 8/3560; Große Anfrage der SPD-Fraktion, LT Rhl.-Pf. Drucks. 9/226 mit Antwort Drucks. 9/359; Große Anfrage der CDU-Fraktion, LT Hessen Drucks. 9/4964 mit Antwort Drucks. 9/5854. 117 Kisker, Kooperation spricht insoweit von einem "Kontaktprivileg der Regierungen". Vgl. zur näheren Begründung dieses Faktums unten, Teil 3, C. L 1.
Teil 2: Die Landesparlamente im System des GG
64
Dies gilt um so mehr, als die Präjudizierung der Landtage nicht etwa nur als notwendiges Übel in Kauf genommen wird, sondern vielmehr Voraussetzung für das Funktionieren des kooperativen Föderalismus überhaupt ist. Würden die Landesparlamente nach Abschluß der von den Exekutiven ausgehandelten Kompromisse für Änderungen eintreten, so würde man sie als "systemwidrige Störfaktoren"118 bezeichnen. Ähnlich verhält es sich mit der Bewegungsfreiheit der Landtage im Rahmen des ihnen formell zustehenden Budgetrechts: Ein Landesparlament wird sich kaum weigern, die in den Verhandlungen der Planungsausschüsse zur Erfüllung der Gemeinschaftsaufgaben getroffenen Entscheidungen haushaltsrechtlich abzusegnen. Welche Bedeutung in diesem Zusammenhang der "normativen Kraft des Faktischen" zukommt, beweist auch das Gutachten der Kommission für die Finanzreform, in dem davon ausgegangen wird, daß "die Macht der Verhältnisse ... groß genug sein wird, um die Parlamente zur Bewilligung der finanziellen Mittel für die Ausführung der Gemeinschaftsaufgaben zu veranlassen" 119. Die durch die Arbeitsweise des kooperativen Föderalismus hervorgerufene Gewichtsverschiebung zwischen Parlament und Regierung steht nicht nur im Gegensatz zu dem oben unter gewaltenteilenden Aspekten entworfenen Bild vom Zusammenwirken zweier gleich starker Partner 120 , vielmehr führt der in diesem Zusammenhang zu verzeichnende Machtverlust der Landesparlamente auch zum Abbau demokratischer Grundstrukturen. Dies wird deutlich, wenn man nach den für das Demokratieprinzip spezifischen parlamentarischen Funktionen fragt. a) Die stärkere demokratische Legitimation des Parlaments Ausgangspunkt der Überlegungen ist die unterschiedliche Qualität demokratischer Legitimation12 1, die Parlament und Regierung aufzuweisen haben: Zwar ist institutionell die Exekutive nach Art. 20 Abs. 2 GG ebenso demokratisch legitimiert wie das Parlament. Das Parlament verfügt aber über eine unmittelbare personelle demokratische Legitimation durch volksgewählte Vertreter, die weder der Exekutive noch der Judikative eigen ist1 22 . So Hirsch, S. 18l. Kommission für die Finanzreform, Gutachten, Tz. 160. 120 Vgl. dazu oben, Teil 2, C. 111. 2. mit Fn. 97. 121 Vgl. zum Begriff demokratischer Legitimation Steffani, S. 123; Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften, S. 196 ff. 122 Vgl. zur Unterscheidung von institutioneller und personeller Legitimation Ossenbühl, a.a.O., S. 197 ff. 118
119
D. Landesparlamente und Demokratieprinzip
65
Daraus läßt sich nun zwar nicht der Schluß ziehen, diese höhere demokratische Rangstufe innerhalb einer demokratischen Gesamtverfassung bilde die Grundlage für eine möglichst umfassende Kompetenz im Sinne eines Totalvorbehalts 123 für das Parlament. Dies ist aber auch in diesem Zusammenhang nicht die entscheidende Fragestellung: Es geht nicht um die Frage, wie groß der "Maximalkompetenzbereich" der Landesparlamente zu sein hat, sondern vielmehr darum, welche Grenzen einer fortdauernden Aushöhlung der Kompetenzen gesetzt sind. Zu dieser Frage läßt sich jedoch aus dem Überhang an demokratischer Legitimation der Parlamente ableiten, daß die Grenze einer Gewichtsverlagerung zwischen Legislative und Exekutive dort zu ziehen ist, wo die grundlegenden und tragenden Gemeinschaftsentscheidungen nicht mehr im Parlament fallen l24 . Dies hat seinen Grund darin, daß das GG mit seiner Entscheidung für eine repräsentative Demokratie nicht nur eine Absage an unmittelbare Formen demokratischer Herrschaft erteilt hat, sondern zugleich auch Front gegen ein immer weitergehendes Abrücken "von der Basis" macht1 25 . Nun sind sicherlich die Abgeordneten der Landesparlamente "weder selbst Basis l26 , noch können sie von der Basis her durch rechtlich verbindliche Weisungen dirigiert werden, sie stehen aber in jedem Fall der Basis näher als Bürokratie und Regierung"127.
123 So jedoch Jesch, S. 171 ff. und S. 205, der mit der gewandelten Verfassungsstruktur argumentiert: Im Rahmen der konstitutionellen Monarchie habe sich der Monarch und die von ihm abhängige Verwaltung einen Teil ihrer absoluten Befugnisse erhalten. In der modernen parlamentarisch-demokratischen Staatsordnung dagegen müsse jegliches Verwaltungshandeln durch die gewählte Volksvertretung auf eine gesetzliche Grundlage zurückzuführen sein. Dies wird zu Recht abgelehnt bei Böckenfärde, Organisationsgewalt, S. 81 und Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften, S. 207 f., die auf die mittelbare demokratische Legitimation der Verwaltung hinweisen und deshalb demokratische Bedenken gegegen eine gewisse Eigenständigkeit der Verwaltung zurückweisen. Rupp, Grundfragen, S. 135 und S. 145 f. ist einer der wenigen Autoren, der seine Lehre vom Totalvorbehalt gerade nicht aus dem Demokratieprinzip herleitet. 124 So hat das BVerfG in seiner Rspr. zum Vorbehalt des Gesetzes die sog. "Wesentlichkeitstheorie" entwickelt. Vgl. z.B. BVerfGE33, 125 (159): "In einem Staatswesen, in dem das Volk die Staatsgewalt am unmittelbarsten durch das von ihm gewählte Parlament ausübt, ist vor allem das Parlament dazu berufen, im öffentlichen Willensbildungsprozeß unter Abwägung der verschiedenen, unter Umständen widerstreitenden Interessen über die von der Verfassung offen gelassenen Fragen des Zusammenlebens zu entscheiden"; ebenso BVerfGE 8, 51 (63); 20, 56 (97 und 113); 29, 154 (164 f.). Vgl. zur Frage des Vorranges des Parlaments gegenüber den anderen Gewalten auch Linck, DÖV 1979, S. 165 ff. 125 Kisker, Kooperation S. 120 ff. spricht insoweit von "basisferner Herrschaft". 126 In diesem Zusammenhang ist auf die oft beklagte Tatsache aufmerksam zu machen, daß in den Parlamenten keine "Vertreter des Volkes" mehr sitzen, die dieseii tatsächli