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German Pages 320 Year 2020
Paul Danler Der klassische Populismus Lateinamerikas
Lettre
Paul Danler (Dr. Dr. phil.) ist Romanist, Amerikanist und Politikwissenschaftler und lehrt und forscht als Professor für romanische Sprachwissenschaft an der Universität Innsbruck.
Paul Danler
Der klassische Populismus Lateinamerikas Politolinguistische Perspektiven auf Argentinien, Brasilien und Mexiko
Zu danken habe ich in erster Linie Prof. Dr. Dr. Günther Pallaver und Prof. Dr. Reinhold Gärtner für die fachliche Begleitung auf politikwissenschaftlicher Ebene. Für die Hilfe bei der Klärung kniffliger sprachlicher Fragen danke ich vor allem Dr. Uta Maley sowie Mag. Isabel Arranz Sanz. Die Formgebung der Arbeit verdanke ich Michael Gastl, BA. Allen Genannten sei außerdem für ihre kritischen und konstruktiven Anmerkungen gedankt. Großer Dank gebührt auch den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der Biblioteca Nacional Mariano Moreno in Buenos Aires, der Fundação Getúlio Vargas in Rio de Janeiro, der Biblioteca Central der UNAM in Mexiko-Stadt sowie des Lateinamerika Instituts in Berlin für die engagierte und hoch professionelle Unterstützung, die sie mir bei meiner Arbeit vor Ort angedeihen ließen. Für die freundliche Subvention der Drucklegung des vorliegenden Buches sei abschließend herzlich gedankt:
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Inhalt
1.
Einleitung................................................................................. 7
2. 2.1 2.2 2.3
Diskursanalyse, Rhetorik und Politolinguistik ............................................ 13 Sozio-historische vs. kritische vs. linguistische Diskursanalyse ............................ 13 Rhetorik: Ethos, Pathos, Logos ............................................................ 21 Politolinguistik .......................................................................... 28
Die politisch-historische Dimension .................................................... 33 Argentinien.............................................................................. 33 3.1.1 Der Peronismus aus politisch-historischer Perspektive ............................ 33 3.2 Brasilien ................................................................................. 61 3.2.1 Der Vargismus aus historisch-politischer Perspektive .............................. 61 3.3 Mexiko .................................................................................. 95 3.3.1 Der Cardenismus aus historisch-politischer Perspektive ........................... 95
3. 3.1
4. 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5
Die Frage des Populismus...............................................................125 Was ist Populismus? .....................................................................125 Die Merkmale des Populismus........................................................... 132 Die Geschichte des Populismus und die Bedeutung der historischen Situierung........... 138 Der klassische Populismus Lateinamerikas ............................................... 141 Perón, Vargas, Cárdenas – die klassischen Populisten Lateinamerikas..................... 144
Die linguistische Diskursanalyse als integraler Bestandteil der Politolinguistik ......... 149 Morphosyntax ........................................................................... 149 5.1.1 Syntaktische Valenz, semantische Valenz und die Frage der Aktantenrealisierung ..150 5.1.2 Die Diathesen und die Veränderung der Valenzpotenz..............................154 5.1.3 Die deverbalen Substantive ...................................................... 158 5.1.4 Der attributive Gebrauch des Partizips Perfekt ....................................159 5.1.5 Die Tiefenkasus ..................................................................159 5.2 Lexikologie und lexikalische Pragmatik...................................................160 5.2.1 Schlagwörter .....................................................................162
5. 5.1
5.2.2 Euphemismen ....................................................................166 5.2.3 Die lexikalische Pragmatik ........................................................166 5.3 Kognitive Semantik ...................................................................... 173 5.3.1 Die Prototypentheorie ............................................................ 176 5.3.2 Die Stereotypentheorie ........................................................... 178 5.3.3 Die Scenes-and-frames-Semantik................................................ 180 5.3.4 Die Metapher und die Metonymie ..................................................182 5.4 Kognitive Pragmatik .................................................................... 186 5.4.1 Satzbedeutung vs. Äußerungsbedeutung ......................................... 186 5.4.2 Die Frage der Relevanz........................................................... 188 5.5 Informale Logik als Logos der Rhetorik .................................................. 193 5.5.1 Informale Logik vs. formale Logik ................................................ 193 5.5.2 Das Wesen des Arguments ........................................................196 5.5.3 Die Doppelfunktion der Topoi ..................................................... 197 5.5.4 Argumenttypologien ............................................................. 198 5.5.5 Das Wesen der Argumentation ................................................... 205 5.5.6 Präsumtive Argumente und Trugschlüsse ........................................ 208 6.
Exemplarische sprachliche Analysen historischer Reden von Juan Perón, Getúlio Vargas und Lázaro Cárdenas............................................................ 211 6.1 Juan Perón: 31. August 1955 – Plaza de Mayo in Buenos Aires: »Cuando uno de los nuestros caiga, caerán cinco de ellos.« ............................. 212 6.1.1 Inhalt der Rede ................................................................... 212 6.1.2 Sprachliche Analyse .............................................................. 213 6.2 Getúlio Vargas: 1. Mai 1951 – Estádio do Vasco da Gama in Rio de Janeiro: Discurso no Dia do Trabalho............................................................. 230 6.2.1 Inhalt der Rede .................................................................. 230 6.2.2 Sprachliche Analyse ............................................................. 233 6.3 Lázaro Cárdenas: 22. Dezember 1935 – Plaza de la Constitución (Zócalo) in Mexiko-Stadt: Discurso a los trabajadores del país .................................................... 255 6.3.1 Inhalt der Rede .................................................................. 255 6.3.2 Sprachliche Analyse ............................................................. 258 7.
Konklusion............................................................................. 283
Literaturverzeichnis aus Geschichts- und Politikwissenschaften............................. 291 Reden ....................................................................................... 299 Literaturverzeichnis aus Sprachwissenschaft, Rhetorik und Argumentationstheorie ........ 301
1. Einleitung
Der Titel der vorliegenden Studie Der klassische Populismus Lateinamerikas. Politolinguistische Perspektiven auf Argentinien, Brasilien und Mexiko weckt im Idealfall gleich doppeltes Interesse einerseits aufgrund des Untersuchungsgegenstandes andererseits wegen der Untersuchungsmethode. Der Untersuchungsgegenstand ist also der klassische Populismus Lateinamerikas, und zwar speziell in Argentinien, Brasilien und Mexiko. Die Untersuchungsmethode ist die Politolinguistik, doch eins nach dem anderen. Der Populismus im Allgemeinen ist ein alles andere als leicht handhabbares bzw. einzuordnendes politisches Phänomen, doch hier interessiert uns in erster Linie ja der klassische Populismus Lateinamerikas. Jener klassische oder historische Populismus Lateinamerikas, der an sich ja auch schon komplex und widersprüchlich ist, umfasste insgesamt in etwa die Zeitspanne von den dreißiger bis zu den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, obwohl es je nach Land große Unterschiede gab. Betroffen waren davon in erster Linie die besonders großen, bevölkerungsreichen1 und wirtschaftlich potenten Länder, die damals auch schon im internationalen Kontext eine wichtige Rolle spielten, nämlich Argentinien, Brasilien und Mexiko.2 Die klassischen Populisten als Protagonisten unserer Studie sind mithin Juan Perón, Getúlio Vargas und Lázaro Cárdenas. Unsere Untersuchung zielt also nicht darauf ab, die klassischen Populisten zu ermitteln, was im Laufe der Jahre und Jahrzehnte durch eine Vielzahl von verschiedenen Untersuchungen in den betroffenen Ländern selbst, aber auch in Nordamerika und Europa3 bereits geschehen ist und worüber es tatsächlich weitgehenden Konsens gibt. Es soll in dieser Studie vielmehr erfasst werden, was den klassischen Populismus Lateinamerikas kennzeichnet und wodurch Perón, Vargas und Cárdenas letztlich zu den klassischen Populisten Lateinamerikas wurden. 1
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Heute hat zwar Kolumbien mehr Einwohner als Argentinien, zur Zeit des klassischen Populismus war es aber umgekehrt, sodass damals Brasilien, Mexiko und Argentinien tatsächlich die bevölkerungsreichsten Länder Lateinamerikas waren. Das vierte Land, das in diesem Zusammenhang ebenso öfters genannt wird, ist Ecuador, und zwar das Ecuador unter José María Velasco Ibarra, der gleich fünf Mal Präsident war und erst 1972 endgültig gestürzt wurde. In unserer Untersuchung beschränken wir uns jedoch auf Argentinien, Brasilien und Mexiko. Siehe dazu entsprechende Referenzen aus Geschichts- und Politikwissenschaften.
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Der klassische Populismus Lateinamerikas
Die Geschichte des Populismus reicht bis in das neunzehnte Jahrhundert zurück. Es waren die US-amerikanischen populists und die russischen narodniki, von narod Volk, die sozusagen den Grundstein für die Populismusbewegungen, allerdings im Sinne von Volksbewegungen, legten. Der US-amerikanische und der russische Populismus des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts hatten aber beide eine ganz andere Bedeutung als der klassische Populismus Lateinamerikas ab den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts. Doch damit nicht genug der Verwirrung, denn der Populismus ist ja auch heute wieder sehr en vogue. Es passiert sogar relativ rasch, dass ein Politiker als Populist bezeichnet oder zumindest populistischer Strategien oder Taktiken bezichtigt wird, ohne dass man jedoch den Eindruck hätte, dass es eindeutige Kriterien dafür gäbe. Außerdem gibt es nun neben den Rechtspopulisten, die ja bereits ihre Geschichte haben, auch noch Linkspopulisten und zudem sind mancherorts sogar sogenannte Neopopulisten in Erscheinung getreten, was zusätzlich für Konfusion sorgt. Summa summarum scheint es so, als ob es den Populismus schlechthin gar nicht gäbe und tatsächlich kann man wohl nicht von einem allgemein gültigen Populismuskonzept ausgehen. Mit anderen Worten, der Populismus ist immer zeit- und kontextabhängig zu untersuchen, weil sich hinter der Etikette Populismus ganz Unterschiedliches verbirgt. Um also einen Einblick in das Wesen des klassischen Populismus Lateinamerikas zu gewinnen und um die politischen Manöver der genannten klassischen Populisten Lateinamerikas nachvollziehen zu können, bedarf es zunächst einer genauen Analyse der politischen Ereignisse in jenen Ländern zu jener Zeit. Des Weiteren bedarf es aber auch einer präzisen sozial- und wirtschaftspolitischen Situierung jener Geschehnisse in einem breiten Gesamtkontext. Doch auch das reicht noch nicht aus. Um den klassischen Populismus Lateinamerikas wirklich zu verstehen, genügt es nämlich noch lange nicht, allein die Zeit der Präsidentschaften Peróns, Vargasʼ und Cárdenasʼ zu beleuchten, sondern es müssen auch jene Jahrzehnte unter die Lupe genommen werden, die für den Peronismus, Vargismus und Cardenismus wegbereitend waren. Die Erfolge des Peronismus, Vargismus und Cardenismus waren keine Zufallsprodukte, sondern es waren vielmehr die Früchte jener Zeit, die aber eben über Jahre und Jahrzehnte gereift waren. Auch Perón, Vargas und Cárdenas fielen nicht vom Himmel, sondern sie waren ebenso Kinder ihrer Zeit. All die anzustellenden bzw. durchzuführenden geschichts- und politikwissenschaftlichen Überlegungen und Analysen sind im Rahmen unserer Untersuchung allerdings nur eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist die sprachlich-kommunikative. Was uns nämlich tatsächlich als konkreten Untersuchungsgegenstand interessiert, ist der durch das gesprochene Wort, d.h. der durch die authentische Rede vermittelte klassische Populismus Lateinamerikas und damit sind wir auch schon bei unserer Untersuchungsmethode angekommen, nämlich bei der Politolinguistik. Die Politolinguistik wollen wir nicht als eine im Grunde doch negativ konnotierte Bindestrich-Linguistik verstanden wissen, zumal sie außerdem gar keinen Bindestrich hat. Wir wollen die Politolinguistik vielmehr als einen interdisziplinären Forschungsansatz verstanden wissen, der sich zum einen aus der Politikwissenschaft und zum anderen aus der Sprachwissenschaft speist. Die Politolinguistik ist somit neben der Soziolinguistik, der Ethnolinguistik, der Ökolinguistik oder u.a. auch der Wirtschaftskommunikation sowohl in den Sozial- als auch in den Geisteswissenschaften angesie-
1. Einleitung
delt. Auf die Politolinguistik an sich wird vor allem im Kapitel 2 noch näher eingegangen, trotzdem scheint es angebracht, ganz Grundsätzliches dieses interdisziplinären Forschungsansatzes gleich vorabzu klären. Wenn der politolinguistische Ansatz zugleich ein politik- und ein sprachwissenschaftlicher ist, dann gilt es zunächst, den Skopus dieses Ansatzes abzustecken. Es ist, mit anderen Worten, in Erinnerung zu rufen, welches die eigentlichen Themen der Politikwissenschaft und welches die Themen der Sprachwissenschaft sind. Heruntergebrochen auf einen Minimalnenner könnte man sagen, dass es in der Politikwissenschaft im Prinzip um die Erforschung der Regelungen des menschlichen Zusammenlebens geht,4 bzw. etwas enger gefasst, um die Erforschung der Regelungen des menschlichen Zusammenlebens in der Öffentlichkeit, wobei hier mit Öffentlichkeit eben die staatliche im Gegensatz zur nicht-staatlichen der Zivilgesellschaft gemeint ist. Konkret geht es dabei um Fragen der Macht- und Kompetenzverteilung, um Entscheidungsfindungsprozesse sowie um die Entstehung, die Entfaltung und den Erhalt gesellschaftlicher Strukturen.5 Als grundlegende Dimensionen der Politikwissenschaft kann man polity, politics und policy verstehen. Polity steht für das Institutionelle bzw. Strukturelle, politics für das Prozesshafte und policy für die zu verhandelnden Inhalte. In allen drei Dimensionen geht es aber eben um die genannten Regelungen des menschlichen Zusammenlebens (in der Öffentlichkeit). Der weite Politikbegriff reicht in sehr viele, wenn nicht gar in alle gesellschaftlichen Bereiche, in denen es im weitesten Sinn um Macht, Einfluss und Kontrolle geht. Ginge man von diesem Politikbegriff aus, dann wäre das Feld der Politikwissenschaft schier grenzenlos. In der Folge wäre auch eine Politolinguistik, die auf diesem Poltikbegriff beruhte, thematisch nicht mehr einzugrenzen, doch mehr dazu in Kapitel 2. Wie dem auch sei, jede Form von politischer Entscheidungsfindung, Machtausübung, Einflussnahme und Kontrolle geschieht durch die Sprache. Politik ist also ohne Sprache nicht vorstellbar, Politik ist ohne Sprache gar nicht machbar. Die Sprache, sowohl gedacht als auch artikuliert, ist also das Primärwerkzeug der Politik und schon vor diesem Hintergrund ist das Verstehen des Funktionierens von Sprache eine geradezu zwingende Voraussetzung dafür, Politik zu verstehen. Um das Funktionieren der Sprache wirklich zu erfassen, bietet es sich offensichtlich geradezu an, sich auch ein wenig in die Sprachwissenschaft zu versenken. Worum geht es eigentlich in der Sprachwissenschaft? Analog zur Politikwissenschaft geht es auch in der Sprachwissenschaft um Strukturelles, Inhaltliches und Prozessuales. Es geht nämlich synchron und diachron um sprachliche Strukturen, um die Inhalte von Morphemen, Wörtern, Syntagmen, Sätzen und Texten sowie um den Sprachgebrauch, den Spracherwerb, die Sprachverarbeitung und alles, was dazu gehört.6 Die verschiedenen interdisziplinären 4
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Es kommt also nicht von ungefähr, dass sich der Terminus Politik aus dem griechischen Polis ableitet, denn das war der Stadtstaat im antiken Griechenland, in dem sich die freien Bürger Gesetze für das geordnete Zusammenleben gaben. Diese Fragen werden dann in den verschiedenen Bereichen der Politikwissenschaft genauer beleuchtet. Dazu zählen in erster Linie die Geschichte der politischen Ideen, die Lehre der politischen Systeme, die vergleichende Politikwissenschaft und die internationale Politik, wobei durchaus noch weitere Felder miteinbezogen werden können. Sowohl in der Politik- als auch in der Sprachwissenschaft unterscheidet man i.d.R. zwischen zentralen und peripheren Bereichen. Ganz im Zentrum stehen einerseits die politische Theorie, die
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Der klassische Populismus Lateinamerikas
Ansätze mit entweder linguistischer Basis oder linguistischem Anteil werden in der Regel der angewandten Linguistik zugeordnet. Dazu würde man etwa die Soziolinguistik, die Psycholinguistik, die klinische Linguistik, die forensische Linguistik und eben auch die Politolinguistik zählen. Um seriös Soziolinguistik zu betreiben, bedarf es soziologischer Kenntnisse, um seriös Psycholinguistik zu betreiben, bedarf es psychologischer Kenntnisse, um seriös klinische Linguistik zu betreiben, bedarf es medizinischer Kenntnisse, um seriös forensische Linguistik zu betreiben, bedarf es kriminologischer und juridischer Kenntnisse und in Analogie dazu bedarf es politologischer Kenntnisse, um seriös Politolinguistik zu betreiben. Das scheint auf der Hand zu liegen. In Bezug auf die Politolinguistik und somit auch in Bezug auf unsere Untersuchung scheint die Gretchenfrage zu sein, welche Linguistik oder wie die Linguistik mit der Politikwissenschaft kompatibel ist, mehr noch, welche Linguistik oder wie die Linguistik zur Politikwissenschaft als komplementär zu betrachten ist. Diese Frage gilt es zu vertiefen. Inger Rosengren schrieb im Einladungsschreiben zum 5. Lunder Symposium über Sprache und Pragmatik: Es scheint mir, dass wir uns nun schon sehr viele Jahre damit beschäftigt haben, zu beweisen, dass die Sprache bzw. das Sprachsystem keine von seiner Anwendung isolierte Erscheinung ist, dass im Gegenteil sprachliche Äußerungen […] auch von Regeln außerhalb des sprachlichen Systems gesteuert werden. Während dieser Aufbauzeit haben wir uns m.E. nicht immer ausreichend darum bemüht, die Rückkoppelung zum Sprachsystem zu finden. Wir haben z.B. Strategien aufgedeckt, die sich aus dem kommunikativen Ziel des Senders erklären, ohne gleichzeitig systematisch nach der sprachlichen Realisierung dieser Strategien zu fragen […]. Es gibt heute, glaube ich, eine Tendenz, sich von der pragmatischen Wende wieder abzuwenden […]. Wenn es sich aber nun so verhält, […] müsste es doch jetzt unsere Aufgabe sein, die Beziehung zwischen Handlungssystem und Sprachsystem [weiter] aufzudecken (zitiert in Helbig 1986, 405). Besagtes Symposium liegt gute dreißig Jahre zurück, doch Inger Rosengrens Mahnung hat nichts an Aktualität eingebüßt. Aus diesem Grund ist es unser Ziel, die Bedingtheit der Politik durch Sprache sowie die Bedingtheit der Sprache durch Politik mittels Rekurses auf das Sprachsystem als Voraussetzung für die Analyse des Sprachgebrauchs deutlich(er) zu machen. Perón, Vargas und Cárdenas gelten, wie gesagt, als die klassischen Populisten Lateinamerikas und der Peronismus, Vargismus und Cardenismus prägten Lateinamerika in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Ausgehend davon wollen wir in der vorliegenden Untersuchung Antworten auf vier Leitfragen finden. Erstens, was machte Perón, Vargas und Cárdenas zu den klassischen Populisten Lateinamerikas? Zweitens, welches waren die Voraussetzungen bzw. was war wegbereitend für den Peronismus,
politischen Systeme und internationale Politik und andererseits die Syntax, Semantik, Morphologie, Lexikologie, Phonologie und Phonetik, wobei es sich weder im einen noch im anderen Fall um einen rigiden Kanon handelt. Als peripher könnten etwa zum einen die politische Ökonomie, die politische Soziologie oder beispielsweise auch die Geschlechterforschung zählen, zum anderen Spezialgebiete wie die Diskurslinguistik, die Ökolinguistik, die forensische Linguistik und andere mehr.
1. Einleitung
den Vargismus und den Cardenismus? Drittens, welches war die Sprache der klassischen Populisten Lateinamerikas? Und schließlich viertens, inwiefern ergänzen sich der politologische und der linguistische Blickwinkel und fördern als interdisziplinärer politolinguistischer Ansatz Neues zu Tage? In unserer Suche nach Antworten auf diese Fragen wollen wir folgendermaßen vorgehen. Nach der kurzen Einleitung soll im zweiten Kapitel auf die Politolinguistik eingegangen und diese in Bezug zu Diskursanalyse und Rhetorik gesetzt werden. Das dritte Kapitel behandelt dann ausführlich jene politisch-historischen Dimensionen Argentiniens, Brasiliens und Mexikos, die für das Verständnis des klassischen Populismus ausgeleuchtet werden müssen. Zunächst wird erhoben, was für den Peronismus, Vargismus und Cardenismus wegbereitend war, dann wird minutiös erfasst, was sich unter der Regentschaft der drei klassischen Populisten tatsächlich ereignet hat und abschließend sollen auf der Grundlage all der in diesem Kapitel gewonnenen Einsichten noch möglichst tiefgründige Porträts der drei großen klassischen Populisten Lateinamerikas gezeichnet werden. Auf dieses Kapitel zu Geschichte und Politik muss ein viertes zur Kernfrage des Populismus an sich folgen. Es soll geklärt werden, was Populismus wirklich ist, welches die Merkmale des Populismus sind, wie der Populismus entstanden ist und wie er sich entwickelt hat, was genau unter dem klassischen Populismus Lateinamerikas zu verstehen ist und wie sich Perón, Vargas und Cárdenas schließlich dort einordnen. Im Anschluss daran wenden wir uns im fünften Kapitel der sprachlichen Analyse zu. Wir werden zunächst ein breit gefächertes Instrumentarium zu entwickeln haben, das es erlaubt, die von den klassischen Populisten Lateinamerikas verwendete Sprache möglichst gesamthaft und im Detail in Blick zu nehmen. Die Palette unserer linguistischen Untersuchungsmethoden besteht aus fünf großen Bereichen, die dann noch je nach Bedarf und Möglichkeiten mehr oder weniger ausgeprägt untergliedert werden. Der erste Bereich ist die Morphosyntax, der zweite die Lexikologie und lexikalische Pragmatik, der dritte die kognitive Semantik, der vierte die kognitive Pragmatik und der fünfte die informale Logik als Logos der Rhetorik. Im sechsten Kapitel wird dann je eine historische Rede der drei klassischen Populisten Lateinamerikas gemäß den Schritten des im vorangehenden Kapitel entwickelten Analyseverfahrens unter die Lupe genommen und im Detail auf allen Ebenen untersucht. Die konkreten Resultate der Teiluntersuchungen werden bereits in diesem Kapitel abgebildet. Im siebenten und letzten Kapitel wird schließlich darüber Rechenschaft abzulegen sein, ob es gelungen ist, auf die vier vorab gestellten Leitfragen dieser Untersuchung Antworten zu finden.
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2. Diskursanalyse, Rhetorik und Politolinguistik
In diesem Kapitel werden zunächst die verschiedenen Formen der Diskursanalyse beleuchtet, dann wird der Frage nachgegangen, welchen Beitrag die drei Säulen der Rhetorik, nämlich Ethos, Pathos und Logos, zur Analyse politischer Reden leisten können und als Drittes ist schließlich näher auf das Wesen der Politolinguistik an sich sowie auf deren Bezug zu Diskursanalyse und Rhetorik einzugehen.
2.1
Sozio-historische vs. kritische vs. linguistische Diskursanalyse
Diskurs ist ein polysemer und infolgedessen auch schon ein problematischer, mittlerweile aber wohl mehr oder weniger ausdiskutierter Begriff. Deshalb wollen wir hier auch nur kurz auf diese Diskussion eingehen. Die Textlinguistik bzw. discourse analysis im anglophonen und analyse du discours im frankophonen Bereich sind relativ junge Disziplinen, die ihren ersten Höhepunkt in den 1970er Jahren feierten. Von moderner Diskurslinguistik im heutigen Verständnis war damals noch lange nicht die Rede. In verschiedenen Ländern entwickelten sich unterschiedliche Schulen der Textlinguistik und discourse analysis, ohne dass auch nur jemals der Versuch unternommen wurde, einen Konsens über ihre Terminologie und Begrifflichkeit zu finden. Mitunter wurde Diskurs als konkrete Realisierung des abstrakten Textes verstanden. Der Diskurs war somit auf der Ebene der parole angesiedelt, der Text auf jener der langue. Allerdings kam auch genau das Gegenteil vor, d.h. der Text wurde als konkrete Realisierung des abstrakten Diskurses verstanden, wodurch plötzlich der Text auf der Ebene der parole platziert war und der Diskurs auf jener der langue (cf. Danler 2012). In der Zwischenzeit hat es sich zumindest im deutschsprachigen Raum durchgesetzt, unter Diskurs im Gegensatz zum Text ein über den Einzeltext hinausgehendes, sich auf thematische Einheit gründendes sprachliches Phänomen zu verstehen. In den romanischen Sprachen, die dann für unsere Untersuchungen ja von zentralem Interesse sind, bedeutet das Wort Diskurs zunächst in der Regel [Rede] im Sinne von Ansprache, wie etwa prononcer un discours auf Französisch, fare un discorso auf Italienisch, dar/pronunciar un discurso auf Spanisch, proferir/pronunciar/fazer um discurso auf Portugiesisch oder etwa auch a ține un discurs auf Rumänisch. In diesem Sinne hat Diskurs mit
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Der klassische Populismus Lateinamerikas
Kommunikation zu tun und ist entsprechend auch auf der Grundlage von Kommunikationsmodellen zu untersuchen. Die zweite zentrale Bedeutung von Diskurs ist die des oben erwähnten einzeltextübergreifenden, sozio-kulturellen sprachlichen Phänomens. Häufig wird Diskurs im Sinne eines gesellschaftlichen Phänomens quasi als Sammelbecken aller zu einem bestimmten Thema existierenden Meinungen verstanden. Es scheint jedoch, dass vor allem dann von einem gesellschaftlichen Diskurs die Rede ist, wenn dieser die in einer gegebenen Gesellschaft zu einer gegebenen Zeit vorherrschenden Positionen zu einem Thema widerspiegelt. Diese müssen aber nicht notwendigerweise mainstream sein, sondern können auch top-down vorgegeben werden und sich erst in der Folge allmählich verbreiten. Wann immer es um Diskursanalyse geht, und zwar weder im Sinne der Einzelanalyse einer politischen Rede noch im Sinne der feinmaschigen linguistischen Diskursanalyse, auf die wir weiter unten einzugehen haben, sondern im Sinne der Analyse des Diskurses als gesellschaftliches Phänomen, dann meldet sich Foucault zu Wort, und sein Wort hat nach wie vor großes Gewicht. Aus diesem Grund werden wir uns als nächstes daran zu erinnern haben, was Diskurs zumindest ansatzweise bei Foucault bedeutet, wenngleich es alles andere als einfach ist, das foucaultsche Diskurskonzept auf komprimierte Weise in den Griff zu bekommen.1 Nach Foucault hat Diskurs nichts mit kommunikativer Interaktion zu tun (cf. Foucault 1979, 1981, 8 2001, 2005a, 2005b etc.). Der Diskurs wird überhaupt nicht als Teil eines Kommunikationsmodells mit Sender, Empfänger und Botschaft verstanden. Foucaults Diskurs hat mit Macht sowie mit sozialer und institutioneller Praxis zu tun (cf. Ruffing 2008, 27; Fink-Eitel 1989, 57; Warnke 2007). Nach Foucault geht es nicht darum, diskursiv die Wahrheit zu finden, sondern es geht darum zu zeigen, dass diskursiv Macht ausgeübt wird. Foucault sieht den Diskurs ganz generell und unabhängig von jedweder Ideologie als Machtinstrument (cf. Ruffing 2008, 55). Der Diskurs interessiert nicht als sprachliches Phänomen. Aus diesem Grund wird der Diskurs nach Foucault auch nicht Gegenstand der linguistischen Analyse (cf. Parr 2014, 234; Lorey 1999, 88). Es lässt sich nun aber scheinbar leichter sagen, was nach Foucault kein Diskurs ist, schwieriger ist es jedoch, den Diskurs positiv zu definieren. Als Diskurs kann nach Foucault überhaupt die Gesamtheit aller Äußerungen bezeichnet werden, was eine sehr breite, unter analytischem Gesichtspunkt aber nicht sehr hilfreiche Definition darstellt. Unter Diskurs versteht Foucault aber auch eine Gruppe konkreter Äußerungen, die nach dem Kriterium der sogenannten Formation2 erfasst werden, die die Äußerungen nach sozialen, politischen oder institutionellen Gesichtspunkten bilden. Es sind jedenfalls erneut die expliziten Äußerungen im Sinne von Wissenselementen, die die Formationssysteme bilden. Der Diskurs wird darüber hinaus aber auch als regulierte Praxis verstanden, die ein ganzes Feld von Äußerungen produziert. In letzterem Sinn steht Diskurs für die 1
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Der folgende Abschnitt über die sozio-historische Diskursanalyse wurde vom Autor für die vorliegende Arbeit geschrieben, er ist mittlerweile aber auch Teil des Aufsatzes Danler (2018). Inhaltlich ähnliche Passagen gibt es in einem weiteren Aufsatz, nämlich in Danler (2016b). »Diskursive Formationen heben sich vom Diskurs durch eine größere Strukturalität (Diaz-Bone 2006, 78) bzw. Regelmäßigkeit oder Gesamtheit der ihnen zugrunde liegenden Äußerungen ab« (Huke 2010, 12).
2. Diskursanalyse, Rhetorik und Politolinguistik
Gesamtheit der Bedingungen, die eine bestimmte Praxis möglich machen (cf. Foucault 1981; Parr 2014, 234). Wie dem auch sei, der Ausgangspunkt für Foucaults Diskursbegriff ist stets die konkrete Äußerung bzw. eine definierte Gruppe von Äußerungen. Es interessiert weder, was sich unter den expliziten Äußerungen verbirgt, noch, was aus ihnen abgeleitet werden kann. Der Diskurs ist das materiell realisierte Instrument, das soziale Objekte wie beispielsweise Normalität oder Wahnsinn hervorbringt. Der Diskurs ist also einerseits eine Gedanken- und Sprachpraxis, die jene Objekte systematisch produziert, um die es dann andererseits im Diskurs selbst geht (cf. Parr 2014, 234). Die diskursiven Praxen sind so gesehen die anonymen Regeln, die der Hervorbringung von Äußerungen, welche dann gemeinsam besagte Formationssysteme bilden, zugrunde liegen. Gesellschaftlicher Sinn wird durch den Diskurs nicht repräsentiert, sondern konstituiert (cf. Bublitz et al. 1999, 13). Der Diskurs spricht nicht über Objekte, der Diskurs schafft Objekte (cf. Lorey 1999, 89). Der Diskurs ist aber eben nicht die individuelle Manifestation des (kritisch) denkenden Subjekts (cf. Sarasin 2008, 114), sondern die Gesamtheit der Äußerungen einer Gesellschaft zu einem Thema. Der Diskurs dient nicht der Kommunikation oder der leichteren Verständigung. Der Diskurs schafft das Wissen, das in einer gegebenen Gesellschaft zu einer gegebenen Zeit Gültigkeit hat. Auf diese Weise wird der Diskurs gleichzeitig zum Machtfaktor, weil er nämlich zum Machtträger wird. Wo es Wissen gibt, das genutzt und vor allem be-nutzt werden kann, dort gibt es Macht. Betrachten wir als nächstes die drei Säulen der foucaultschen Diskursanalyse, nämlich Archäologie, Genealogie und Kritik. Archäologie bedeutet im gegebenen Kontext Ausgrabung der Gesamtheit der relevanten Äußerungen (cf. Foucault 1981; Kammler 2014). Auf die Ausgrabung folgt die genaue Erfassung, Beschreibung und Katalogisierung der Objekte (cf. Parr 2014, 235). Die archäologische Ausgrabung bedeutet aber auch das Aufdecken der stillen Ordnung, die dem Denken einer gegebenen Gesellschaft zur gegebenen Zeit zugrunde liegt (cf. Foucault 1981). Jene stille Ordnung wird als Episteme von der Gesellschaft nicht in Frage gestellt. Es handelt sich dabei um die historischen a priori, die das Wissen einer Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit bedingen und strukturieren (cf. Sarasin 2008, 71ff.). Dank der Aufdeckung jener stillen Ordnung werden die Beziehungen zwischen den Formationen der diskursiven und nicht diskursiven Bereiche sichtbar gemacht, was ein Hauptanliegen der foucaultschen Diskursanalyse darstellt (cf. Foucault 1981). Geht es in der Archäologie um die Aufdeckung und Katalogisierung der Äußerungen als Objekte, so versucht die Genealogie die historischen Bedingungen zu erfassen, die einen bestimmten Diskurs in einer gegebenen Gesellschaft zu einer gegebenen Zeit möglich machen. Die Genealogie untersucht mit anderen Worten die Genese des Diskurses (cf. Sohn 1999, 214ff.). Archäologie und Genealogie beschäftigen sich also mit der Entstehung und dem Werden des Diskurses. In der Archäologie geht es um die Frage der materiellen Realisierung des Diskurses, in der Genealogie um die sozio-historischen Bedingungen der Entfaltung des Diskurses. Die dritte Säule der Diskursanalyse nach Foucault ist die Kritik. Sie bezieht sich nicht auf die Kriterien der positiven Realisierung des Diskurses, sondern auf die Bestimmung dessen, was überhaupt geäußert werden darf. Es geht darum zu reglementieren, was Teil des Diskurses werden darf und was nicht (cf. Sohn 1999, 216). Die drei Kontrollmechanismen sind Begrenzung, Einschränkung und Ausschließung. Begrenzt wird, was zum Diskurs gehören darf; eingeschränkt
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werden Tiefe und Ausdehnung des Diskurses; ausgeschlossen wird, wer keinen Zugang zum Diskurs haben darf. Begrenzung, Einschränkung und Ausschließung als Komponenten der Kritik sind keine intrinsischen, sondern extrinsische Kontrollmechanismen (cf. Parr 2014, 235). Widmen wir uns nun als nächstes wiederum in gebotener Kürze den Etappen und Zielen der foucaultschen Diskursanalyse. Foucault hat sich wiederholt dezidiert gegen eine linguistisch sezierende Diskursanalyse ausgesprochen. Ein linguistischer Ansatz sei dann vorstellbar und fruchtbar, wenn in der Analyse das strukturalistische Prinzip der Opposition zum Tragen komme. Dies sei der Beitrag, den die Linguistik zur Diskursanalyse leisten könnte (cf. Foucault 2001). Foucault legte stets großen Wert auf die Darlegung historischer Objekte, allerdings immer in positivistischer Manier (cf. Ruffing 2008, 37), in der es in erster Linie eben um die Erhebung und Erfassung der Fakten bzw. Objekte und nicht um die Interpretation derselben geht. Foucault schlägt keine konkreten Schritte der Diskursanalyse vor. Trotzdem kann versucht werden, auch die foucaultsche Diskursanalyse in einzelne Schritte zu zerlegen. Ein solcher Versuch könnte folgendermaßen aussehen: Erstens geht es darum, die für den aktuellen Diskurs relevanten Äußerungen zu erfassen. Zweitens sind diese Äußerungen im jeweils entsprechenden Kontext zu verankern. Drittens gilt es, die Beziehungen zwischen dem Diskurs und den entsprechenden institutionellen Praxen aufzudecken, wodurch vor allem ein sehr starkes kritisches Moment zum Tragen kommt (cf. Parr 2014, 236). Ziele der foucaultschen Diskursanalyse lassen sich durchaus fest- bzw. ausmachen, wenngleich sie sich in Foucaults Œuvre so klar wohl nie herauskristallisieren. Als erstes kann die Entdeckung des Algorithmus genannt werden, der dafür verantwortlich ist, dass bestimmte Äußerungen im Diskurs vorkommen und andere eben nicht (cf. Sarasin 2008, 108ff.; Lorey 1999, 88). Das zweite ist das Sichtbar-Machen davon, dass Wahrheiten historisch erfunden und konstruiert werden (cf. Bublitz et al. 1999, 13). Als drittes gilt es herauszustellen, welche Äußerungen Handlungen nach sich ziehen, fördern oder auch verhindern (cf. Kerchner/Schneider 2006, 18). Ein viertes Ziel besteht im Aufspüren jener Regeln, die ein Zusammenwirken bestimmter Äußerungen im Diskurs ermöglichen (cf. Kerchner 2006, 159). Als fünftes kann die Erforschung dessen gelten, wer zu welchem Zweck vom Diskurs profitiert (cf. Ruffing 2008, 105). Das sechste und vorläufig letzte Ziel in unserem Katalog ist das Offenlegen der Beziehungen zwischen diskursiven und nicht diskursiven Praxen (cf. Fink-Eitel 1989, 57). Wie dem auch sei, selbst wenn man versucht, ein System in den foucaultschen Ansätzen zu entdecken (oder auch eines hineinzubringen), muss man erkennen, dass dies ein gewagtes Unterfangen ist. Lemke (1995, 29), ein prominenter Analyst politischer Texte, meinte, »it is not possible to know in terms of linguistic features of texts exactly how to interpret many of Foucault’s theoretical principles«. Aber bei allem Respekt vor Foucault ist auch das altbekannt. Widmen wir uns nun nach diesem kurzen Abriss über einige wesentliche Grundzüge der sozio-historischen Diskursanalyse3 nach Foucault in gebotener Kürze der kriti3
Wir wollen die foucaultsche Diskursanalyse als sozio-historische Diskursanalyse bezeichnen, da sie gesellschaftliche Strukturen, Phänomene und Entwicklungen aus diachroner Perspektive plausibel macht.
2. Diskursanalyse, Rhetorik und Politolinguistik
schen Diskursanalyse, die von sich behauptet, zentrale inhaltliche Anliegen mit Foucault zu teilen und folglich bei ihm auch gewichtige Anleihen zu nehmen. Die kritische Diskursanalyse gibt es nicht in Bezug auf den Untersuchungsgegenstand und schon gar nicht hinsichtlich einer Methode. Sie ist so vielfältig oder facettenreich wie die zahllosen Autoren, die sich auf dem Terrain der kritischen Diskursanalyse tummeln. Dennoch gibt es wohl gerade in Bezug auf die inhaltlichen Anliegen der Vertreter der kritischen Diskursanalyse einen gemeinsamen Nenner und genau diesen verstehen sie als Verbindungsglied zwischen ihrer sogenannten kritischen Diskursanalyse und der sozio-historischen Diskursanalyse nach Foucault. Kurz und bündig geht es dabei um die Kritik an bestimmten Machtstrukturen, und zwar in Verbindung mit bestimmten Ideologien. Mit einer solchen Mutmaßung auch in Richtung Foucault täte man diesem allerdings unrecht, sie wäre nämlich viel zu kurz gegriffen. Busse (2013, 71) hielte sie für eine »problematische Banalisierung der foucaultschen Diskursanalyse, die deren analytisches Potential um Längen unterschreitet«. Wodak/Fairclough (1998, 258) betrachten den Diskurs im Allgemeinen als »constitutive both in the sense that it helps to sustain and reproduce the social status quo, and in the sense that it contributes to transforming it [and] since discourse is so socially influential, it gives rise to important issues of power«.4 Durchaus analog zu Foucault geht es darum, im Diskurs jenes Potential zu entdecken und zu analysieren, das gesellschaftliche Macht begründet und perpetuiert. Gemeinsam hat die kritische Diskursanalyse mit Foucault das Ziel, diese Machtstrukturen aufzudecken und die Machthaber zu entlarven. Die Konstruktion und der Missbrauch von Macht sind historische Phänomene und daher auch diachron zu untersuchen (cf. Wodak 2001, 3), was Foucault als Historiker naheliegenderweise ebenso gesehen hatte. Macht ist ein sehr komplexes Phänomen. Um das komplexe Phänomen der Macht auf möglichst breiter Ebene zu untersuchen, speist sich die kritische Diskursanalyse als höchst interdisziplinärer Ansatz (cf. Dijk 2001, 352; Fairclough 2 2003, 225; Wodak 2002, 6 etc.) aus einer ganzen Palette von Disziplinen. Wodak/Meyer (2 2009, 1) stellen fest, »the manifold roots of CDA lie in Rhetoric, Text linguistics, Anthropology, Philosophy, Socio-Psychology, Cognitive Science, Literary Studies and Sociolinguistics, as well as in Applied Linguistics and Pragmatics«, und wahrscheinlich wären sogar noch weitere Disziplinen zu nennen, die zum einen als Quellen und zum anderen als wissenschaftliche Ansätze für die kritische Diskursanalyse angeführt werden. Foucault hatte explizit festgestellt, dass seine Diskursanalyse keine linguistische sei. Die Critical Discourse Analysis (CDA) versteht sich offensichtlich auch nicht als vorrangig linguistischen Analyseansatz. Die linguistische Diskursanalyse hingegen beschäftigt sich, wie wir weiter unten sehen werden, sehr wohl mit sprachlichen Daten, und zwar auf deskriptive Weise, und hat das Ziel, wissenschaftlich objektiv zu sein. In der linguistischen Diskursanalyse geht es nicht um Ideologiekritik. Grundlegend anders ist das in der CDA. Es gibt stets bestimmte Themen, die für die CDA von Interesse sind, etwa ein (vermeintlich) schiefes Machtgefüge und damit verbundene Ungerechtigkeit in einer Gesellschaft, Sexismus, Rassismus usw. (cf. Kress 1990). »CDA may be defined 4
Vergleiche hierzu auch Danler (2005). In diesem Aufsatz werden einige prinzipielle Fragen der kritischen Diskursanalyse unter die Lupe genommen, die hier wiedergegeben werden.
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as fundamentally concerned with analyzing opaque as well as transparent structural relationships of dominance, discrimination, power and control«, so Wodak (2001, 2). Die CDA versteht den Diskurs in erster Linie als soziale Praxis (cf. Fairclough/Wodak 1997, 258) und eben nicht als sprachliche Praxis. Die CDA will sich als »form of critical social research« verstanden wissen, die, wie gesagt, der »poverty, deprivation, misery, and insecurity in people’s lives« auf den Grund gehen und sie so erklären will (Fairclough 2003, 202). Im Gegensatz zur linguistischen Diskursanalyse, auf die wir in der Folge eingehen werden, will die CDA gar nicht objektiv sein, »CDA sees itself not as dispassionate and objective social science but as engaged and committed. It is a form of intervention in social practice and social relationships […]« (Fairclough/Wodak 1997, 258).5 Allerdings gibt es, wie bereits festgestellt, auch in der kritischen Diskursanalyse unterschiedliche Positionen und Ansätze. Jäger (3 2001; 6 2012), der von Anfang an den foucaultschen Ansatz mit sprachanalytischen Untersuchungen der linguistischen Diskursanalyse kombiniert hat, erklärt, dass es einer Analyse, die per definitionem kritisch ist, natürlich das zentrale Anliegen sein müsse, die conditio humana zu verbessern. Jäger ist aber durchaus bewusst, dass die aus der kritischen Analyse resultierenden Vorschläge für die Verbesserung der Welt wiederum nach ethisch-moralischen Kriterien von Menschenhand bzw. aus Menschengeist stammen und insofern ebenso nach menschlichem Ermessen erstellt werden. Infolgedessen bestünden erneut alle Risiken und Gefahren, die die menschliche Subjektivität eben in sich berge. Ein weiterer prominenter Vertreter der kritischen Diskursanalyse, doch nicht nur dieser, sondern der Diskursanalyse ganz allgemein, der in zahlreichen Büchern und Aufsätzen unterschiedliche Ansätze innerhalb der kritischen Diskursanalyse, vor allem aber auch den linguistischen sowie in jüngerer Vergangenheit den argumentationsanalytischen vorgestellt und geradezu modellhaft angewandt hat, ist Norman Fairclough (1992; 2 2001, 2003; Fairclough/Fairclough 2012; und andere). In Bezug auf Foucault sagt er u.a., »for Foucault, discourse analysis is not to be equated with linguistic analysis […]. Discourse analysis is concerned […] with specifiying sociohistorically variable ›discursive formations‹ […], systems of rules which make it possible for certain statements, but not others, to occur at particular times, places and institutional locations« (Fairclough 1992, 40). Dies haben wir im vorhergehenden Abschnitt auf ähnliche Weise festgehalten. Fairclough präzisiert dann jedoch seine ureigene Position innerhalb der CDA und der Diskursanalyse ganz allgemein, indem er sagt, »there is a major contrast here between textually- (and therefore linguistically-)oriented discourse analysis […] such as mine, and Foucault’s more abstract approach« (Fairclough 1992, 37). Faircloughs Ansatz innerhalb der kritischen Diskursanalyse ist also auch in seinem eigenen Verständnis ein primär sprachorientierter (cf. Danler 2016b). Nachdem wiederholt von der linguistischen Diskursanalyse die Rede war, soll nun auch kurz auf diese eingegangen werden, um festzustellen, wo sie neben der soziohistorischen und der kritischen Diskursanalyse einzuordnen ist und welche Rolle sie 5
Da sei allerdings schon angemerkt, dass eine Wissenschaft, die das Ziel der Objektivität verfolgt, keinesfalls leidenschaftslos und unengagiert ist, wie hier implizit suggeriert wird, das Gegenteil ist der Fall.
2. Diskursanalyse, Rhetorik und Politolinguistik
möglicherweise im Idealfall als Hilfswissenschaft für andere Disziplinen spielen kann oder bereits spielt (cf. Gardt 2007, 41; Warnke/Spitzmüller 2008). Es ist klargeworden, dass Foucaults Diskursanalyse außerhalb der Sprachwissenschaft anzusiedeln ist, was Foucault bereits selbst dezidiert festgestellt hatte (cf. Busse 2013, 51). Infolgedessen wäre es ja geradezu paradox, wenn man sich für diese Diskursanalyse von Foucault ein sprachanalytisches Instrumentarium erwarten würde. Doch auch abgesehen davon macht Foucault dem an Foucault Interessierten das diskursanalytische Herangehen alles andere als leicht, zumal er in seinem Œuvre längst nicht immer konsistent und widerspruchsfrei ist, manches im Dunkeln lässt und insgesamt nicht gerade benutzer- bzw. anwenderfreundlich erscheint. Der kritischen Diskursanalyse bzw. CDA, die sich einerseits ja immer wieder auf Foucault beruft, andererseits, wie oben dargelegt, gar nicht objektiv sein will, haftet hingegen die bereits erwähnte präskriptive Herangehensweise in Verbindung mit ideologisch verbrämter Voreingenommenheit an, sodass ihre Ansätze mit einer wissenschaftlichen Analyse, die deskriptiv und möglichst objektiv sein will, auch nicht in Einklang zu bringen sind.6 Die Objektivität ist aber sehr wohl ein Ziel der linguistischen Diskursanalyse, die erstmals in den 1990er Jahren erblühte (cf. Bendel Larcher 2015, 33). Mittlerweile hat sie sich jedoch als »Erweiterung oder Ergänzung der Textlinguistik als eine eigene Subdisziplin etabliert« (Wengeler 2011, 35). Die linguistische Diskursanalyse ist zwar kein »homogenes sprachwissenschaftliches Programm« (Spitzmüller/Warnke 2011, 4), versteht sich prinzipiell
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Blommaert (2005, 51) stellte dazu fest: »Thus, in much CDA work, a priori statements on power relations are being used as perspectives on discourse (e.g. ›power ist bad‹, ›politicians are manipulators‹, ›media are ideology-reproducing machines‹), and social-theoretical concepts and categories are being used in off-hand and seemingly self-evident ways (e.g. ›power‹, ›institutions‹, also the ›leading groups in society‹, ›business‹, and so on). This leads to highly simplified models of social structures and patterns of action – politicians always and intentionally manipulate their constituencies; doctors are by definition and always the powerful party in doctor-patient relations etc. – which are then projected onto discourse samples. Power relations are often predefined and then confirmed by features of discourse (sometimes in very questionable ways […].« Wengeler (2011, 37) hinterfragt das Anliegen der kritischen Diskursanalyse bzw. CDA auf kritische Weise und sagt: »Sobald wir nicht mehr nur beschreiben, sondern explizit kritisieren (Sprache bzw. Diskurse), bewegen wir uns nicht mehr auf dem Feld/im Diskurs der Wissenschaft, auf deren Dignität wir uns dann auch nicht mehr berufen können, sondern in einem anderen Feld bzw. Diskurs. Ist die explizite Kritik mit dem Anspruch auf wissenschaftliche Erkenntnis vereinbar, machen wir damit nicht das eigene (politische) Interesse zum Ausgangspunkt unserer Analysen, gefährden wir damit nicht die Möglichkeit eines erkenntnisorientierten wissenschaftlichen Diskurses?« Auch Busse (2008, 63-4) äußert sich gegenüber den Kritikern der deskriptiven Diskursanalyse, die sich obendrein auf Foucault berufen, sehr kritisch, indem er sagt: »Insbesondere spätberufene Adepten der Diskursanalyse, welche ihre vormals fromm marxistische Gesellschaftskritik in den neunziger Jahren in das dann angesagtere Gewand einer ›kritischen Diskursanalyse‹ transformiert haben, engagieren sich hier mit der bei Konvertiten üblichen Inbrunst. (Sie übersehen dabei geflissentlich den antimarxistischen Gestus bei Foucault, der auch nicht dadurch widerlegt werden kann, dass der Philosoph akademischer Schüler des besten französischen Marx-Kenners war.) Vor allen Dingen übersehen die scharfen Kritiker einer deskriptiven Verwendung des Diskurs-Konzepts, dass Foucault selbst nie Politiker und nur Macht-Kritiker war, sondern dass in seinem Werk und seiner Haltung das deskriptive, auf Erkenntnisgewinn ausgerichtete Moment stets die Oberhand behalten hat (zum Glück, wie man sagen kann).«
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vom Ansatz her aber als deskriptive »transtextuelle Sprachanalyse« (Niehr 2014a, 29). Die oben beschriebenen gesellschaftlichen Diskurse manifestieren sich in erster Linie, wenn auch nicht ausschließlich, sprachlich. Die sprachliche Oberfläche ist jedoch nur insofern von Interesse, als sie über »die den Texten zugrunde liegenden Denkschemata, Denkmuster, Wissensbestände, Mentalitäten« (Bendel Larcher 2015, 34) Aufschluss gibt. Ziel der linguistischen Diskursanalyse ist es also nicht, die Sprache der Diskurse an sich quasi als Selbstzweck zu beschreiben und zu analysieren, sondern rekurrente Schemata des Diskurses aufzuspüren und zu interpretieren sowie das Musterhafte an den Einzeltexten des Diskurses zu entdecken (cf. Gardt 2007, 43). Dies bezieht sich auf alle sprachlichen Facetten von der Morphologie und Syntax über Lexikalisches und Pragmatik bis zu den Argumentationsstrukturen. Im Streben nach Verständnis wird die linguistische Diskursanalyse zu einer hermeneutischen Wissenschaft, die nämlich verstehen will, wie die Sprache im Sinne der diskursiven Praxis (cf. Spitzmüller 2013, 61) funktioniert und auf welche Weise durch die diskursive Erschaffung kollektiven Wissens Wirklichkeit konstruiert wird (cf. Wengeler 2011, 40). Die Hermeneutik macht jedoch zunächst einmal klar, dass es »schlechthinniges Verstehen« überhaupt nicht gibt, wie Hermanns (2007, 199) sagt. Busse (2007, 81) betont, dass das »in sprachlicher Form gegebene Material stets ernst zu nehmen« sei, allein, die systemorientierte Sprachwissenschaft reiche für das Verstehen und Interpretieren nicht mehr aus. Hintergrundwissen (cf. Niehr 2014a, 58), Weltwissen (cf. Hermanns 2007, 205) bzw. Kontextualisierung sind für das Verstehen und Interpretieren des Diskursiven unerlässlich, wodurch die linguistische Diskursanalyse in erster Linie zu einer »semantisch gerichteten linguistischen Diskursanalyse« (Busse 2007, 96) wird. Die Einzeltexte des Diskurses setzen sich zunächst aus den Formen der sprachlichen Zeichen zusammen, denen erst einmal ein Sinn zugeschrieben werden muss, und nun geht es darum, das Wissen zu explizieren, das benötigt wird, um jene Formen mit Sinngehalt zu füllen, es geht also um die »Explikation des jeweils verstehensrelevanten Wissens in seiner Gesamtheit« (Busse 2013, 58). Die linguistische Diskursanalyse wird dadurch immer auch zu einer Erkundung der Bedingungen und Strukturen der Episteme (cf. Busse 2013, 55), die wir vorsichtig als Wissensformationen verstehen wollen. Das Ziel der linguistischen Diskursanalyse bestehe darin, dass sie »die semantischen Voraussetzungen, Implikationen und Möglichkeitsbedingungen erfassen will, die für einzelne Aussagen charakteristisch sind« (Busse/Teubert 2013, 25). Mittels linguistischer Diskursanalyse müssen die Wissensvoraussetzungen für das in den Aussagen des Diskurses in Erscheinung Tretende expliziert werden, es gehe um die Explikation von Wissensvoraussetzungen (cf. Busse 2013, 54). Wir haben oben die Formen der sprachlichen Zeichen erwähnt, die einer Bedeutung bzw. eines Sinns bedürfen, um überhaupt erst ganze sprachliche Zeichen zu sein. Genau diese Bedeutung bzw. dieser Sinn ist aber alles andere als im traditionellen Sinn klar und eindeutig fassbar. Weder eine Semanalyse noch die generative oder die kognitive Semantik können das leisten, denn es geht um die soeben dargestellte Explikation der Wissensvoraussetzungen. Busse (2008, 65-66) erklärt, dass Fillmore 1971 den »Limes der traditionellen Linguistik und logischen Sprachphilosophie« überschritt, als er klarmachte, dass die Frage »was ist die Bedeutung dieser Form?« durch die Frage »was muss ich wissen, um eine sprachliche Form angemessen verwenden zu können
2. Diskursanalyse, Rhetorik und Politolinguistik
und andere Leute zu verstehen, wenn sie sie verwenden?« zu ersetzen sei. Diese LimesÜberschreitung bezeichnet Busse als epistemologische Wende. Es gehe nicht mehr länger um die Wahrheitsbedingungen der logischen Semantik, sondern um die Glückensbedingungen der Pragmatik, d.h. um die »Bedingungen der angemessenen Benutzbarkeit eines Wortes«. Es sind letztlich die Präsuppositionen, die das ›verstehensrelevante Wissen‹ darstellen (cf. Busse 2008, 66). Wortbedeutungen sind also keinesfalls als fest umrissene Sememe zu verstehen, sondern vielmehr als Evokationspotenziale (Busse 2008, 74). Sprachliche Zeichen evozieren Frames, d.h. Wissensrahmen (cf. Busse 1987; 2012), sie aktivieren Wissen und »stellen […] die Interpretation der jeweiligen Zeichen […] in einen bestimmten epistemischen/kognitiven Kontext« (Busse 2013, 59). Der rote Faden der linguistischen Diskursanalyse ist die Semantik, so auch Thomas Niehr (2014a, 46). Es geht in erster Linie um das Verstehen und um die Verstehens- und Wissensbedingungen. Der Ausgangspunkt jeder Diskursanalyse ist, wie bereits mehrfach in Erinnerung gerufen, das sprachliche Material, weshalb Diskursanalyse zunächst notwendigerweise Sprachanalyse ist, wenngleich das Ziel dieser Analysen weder strukturalistischer noch generativistischer, sondern eben epistemologischer Natur ist (cf. Busse 2013, 63). Aus diesem Grund ist in einem ersten Schritt auch jede linguistische Methode von der Analyse der Morpheme und Syntagmen bis zu jener der Argumente recht. Es darf nur nicht das Globalziel der linguistischen Diskursanalyse aus den Augen verloren werden: das Erfassen der Wirklichkeitskonstitution durch Sprachgebrauch (cf. Niehr 2014a, 63). Für den Erfolg einer Rede sind rhetorische Kompetenzen des Redners eine unerlässliche Voraussetzung. Um das nachzuvollziehen, wollen wir als nächstes einen Blick auf die Rolle von Ethos und Pathos werfen. Auf den Logos wollen wir im Kapitel 5, Unterkapitel 5.5. über die informale Logik genauer eingehen.
2.2
Rhetorik: Ethos, Pathos, Logos
Maximal verkürzt kann man sagen, dass das Wesen der Rhetorik (und Argumentation) darin besteht, die Sprache möglichst effizient zum Zwecke der Persuasion zu nutzen (cf. Danler 2016a). Dieses Ziel ist erreicht, sobald es dem Redner gelungen ist, aus einem einzelnen, nämlich dem eigenen Standpunkt, einen allgemein gültigen zu machen (cf. Ueding/Steinbrink 5 2011, 1ff.).7 In der Persuasion wird also versucht, die Zuhörerschaft dazu zu bewegen, die eigene Position zugunsten jener des Redners aufzugeben (cf. Breton 2000, 79; 2008, 9; Danblon 2005, 13). Im Gegensatz zu Befehlen funktioniert die Persuasion aber indirekt. Dem Adressaten wird nicht etwas angeordnet, sondern er wird quasi zu seiner eigenen Einsicht hingeführt und erkennt schließlich selbst, dass es das Beste ist, dem Redner zu folgen. Er gibt seine persönliche Ansicht auf, und schließt sich stattdessen jener des Redners an und hat dabei außerdem noch den Eindruck, sich frei und selbständig dafür entschieden zu haben. Es sind aber nicht nur einzelne Prämissen, die der Redner dem 7
Analog zu moderneren Kommunikationsmodellen wird die Rhetorik als Dreieck mit dem Redner als Sender, der Zuhörerschaft als Empfänger und der Rede als Botschaft dargestellt.
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Der klassische Populismus Lateinamerikas
Auditorium sozusagen stillschweigend unterschiebt, damit dieses dann zu Schlussfolgerungen kommt, die der Redner quasi vorherbestimmt hat, sondern es ist die Rede als Gesamttext, die die Zuhörerschaft auf jene Fährten führt, die der Redner für sie vorgezeichnet hat (cf. Plantin 1996). Nachdem die Zuhörer dem Redner stillschweigend (oder auch applaudierend) zugestimmt haben, integrieren sie die neue Information in die in ihnen bereits vorhandene Information, welche entsprechend an die neue angepasst werden muss. Der kognitive Status der Zuhörer hat sich eo ipso verändert. Neues Wissen ist hinzugekommen und Bestehendes muss gegebenenfalls modifiziert oder gar als obsolet angesehen werden.8 Wie dem auch sei, um Persuasion geht es dann, wenn der Redner bewusst und absichtlich die Haltung der Zuhörer auf bestimmte Weise zu ändern trachtet. Wenn dies allerdings nicht vorsätzlich erfolgt, würde man eher von unbewusster Beeinflussung sprechen. Diese Trennung kann freilich in der Praxis nicht immer so klar vorgenommen werden, zumal gerade die unbewusste Beeinflussung ein willkommener diskreter Deckmantel für Persuasion als bewusste Manipulation sein kann. Das Herzstück der Persuasion ist nach Danblon (2006, 145) genau jene Strategie, so zu tun, als ob alles offensichtlich und eindeutig wäre, und zwar gerade dann, wenn dies überhaupt nicht zutrifft. Sobald etwas als offensichtlich dargestellt wird, tut sich das Publikum nämlich schwer, dies in Frage zu stellen, ja es widerspräche geradezu dem gesunden Menschenverstand abzulehnen, was offensichtlich ist, und darauf basiert der persuasive Diskurs. Ein Hauptgrund dafür, dass das scheinbar Offensichtliche nicht abgelehnt werden kann, ist die Tatsache, dass der Redner vom Publikum als respektabel und vertrauenswürdig erachtet wird, was aus dem Nimbus resultiert, den sich der Redner selbst durch seine ureigene Konstruktion des Ethos gezimmert hat (cf. Danler 2013a).9 Das Ethos ist neben dem Pathos und dem Logos eine der drei pisteis als Grundpfeiler der klassischen Rhetorik, die wir als nächstes unter die Lupe nehmen wollen.
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Diese drei Veränderungen des kognitiven Status werden in der kognitiven Pragmatik als positive kognitive Effekte bezeichnet, worauf später noch näher einzugehen ist (cf. Sperber/Wilson 2 2001). Das Thema des Ethos als eine der drei zentralen pisteis der Rhetorik wurde detailliert in Danler (2013a) behandelt. Danler (2013a) dient als Grundlage für das hier Dargestellte.
2. Diskursanalyse, Rhetorik und Politolinguistik
Aristoteles unterscheidet in der klassischen Rhetorik10 zunächst zwischen natürlichen und künstlichen pisteis im Sinne von Persuasionsweisen oder -verfahren.11 Zu ersteren zählen etwa Zeugenaussagen, Protokolle und Dokumente, zu letzteren hingegen eben die Künste des Ethos, Pathos und Logos. Auf ihre Rollen in der Rhetorik und auf ihre Verquickung untereinander sowie auf die Frage, wie Rhetorik und Argumentation zueinander stehen, soll nun Schritt für Schritt eingegangen werden. Für Aristoteles sind einerseits die rationale Argumentation und andererseits das Gefühl die tragenden Säulen der guten Rede. Die Argumentation vor allem in Form von Enthymemen und Beispielen ist das Feld des Logos.12 Ethos und Pathos hingegen teilen sich die Welt des Gefühls. Interessanterweise spielten nach Aristoteles Ethos, Pathos und Logos im Persuasionsverfahren mehr oder weniger gleich wichtige Rollen, obwohl dann später der Argumentation tendenziell eine wesentlich größere Bedeutung beigemessen wurde als den Gefühlen. Ethos und Pathos wurden in der griechischen Antike quasi als die zwei Seiten des Phänomens Gefühl betrachtet. Jedoch definierte auch Quintilian Ethos und Pathos als die zwei Seiten der Affektivität: die eine ruhig, kontrolliert und zurückhaltend, die andere stürmisch, aufbrausend, gewaltsam (cf. Reboul 3 1998, 60). In diesem Sinne beschreibt Molinié (2008, 59) das Gefühl dann als graduelle Abstufung der emotionalen Stabilität von sehr stabil bis sehr labil. In der klassischen Rhetorik schrieb sich der Redner gemäß dem Prinzip der ethè eine ganze Reihe von positiven Charakterzügen zu, um dann eben insgesamt vertrauenswürdig und positiv zu erscheinen. Durch Besonnenheit, bisweilen sogar Sanftmut, Rücksicht und Verlässlichkeit sollte sich der Redner ein attraktives Ethos konstruieren. Er sollte stets phronesis, praktische Weisheit, eunoia, Wohlwollen bzw. guten Willen und arétè, Tugend, ausstrahlen (cf. Maingueneau 1991, 183; Ueding/Steinbrink 5 2011, 281; Wisse 1989, 32). Danblon (2002, 69ff.; 2005, 34ff.) übersetzt Ethos sogar gesamthaft mit dem Charakter des Redners. Die Konstruktion des Ethos als durch und durch positiver Charakter ist Voraussetzung dafür, dass die Zuhörerschaft dem Redner vertraut und
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Ganz kurz zum Wesen der klassischen Rhetorik: In der klassischen Rhetorik wurde gelehrt, wie Reden je nach Umständen und Erwartungen zu verfassen sind. Die drei Redegattungen oder genera orationis waren das genus iudicale für Reden vor dem Gericht, das genus deliberativum für Vorbereitungen auf politische Entscheidungen und das genus demonstrativum für alle Arten von Lobreden. Der Redner musste im Vorhinein genau wissen, wie er das Thema anzugehen hatte. Dazu war es unerlässlich, den status orationis richtig zu bestimmen und zu entscheiden, wie die Rede aufgebaut werden sollte, was jeweils von den abstrakten Fragen abhing, auf die während der Rede einzugehen war. Das wirklich entscheidende Ziel, das es in jeder Rede zu erreichen galt, war eben die oben besprochene Persuasion der Zuhörerschaft, für deren Gelingen das Zusammenspiel von Ethos (conciliare & delectare), Pathos (movere & concitare) und Logos (docere & probare) Voraussetzung war. Jede Rede bestand traditionellerweise aus einer Abfolge von fünf Teilen, den partes artis. In der inventio wurden die Themen gesucht und bestimmt, in der dispositio angeordnet, in der elocutio wurden Ausdruck und Formulierung erarbeitet, in der Phase der memoria wurde die Rede auswendig gelernt und in der pronuntiatio ging es schließlich um das Vortragen selbst (cf. Danler 2004a, 596). Jede der drei pisteis sei etwas »that persuades or may persuade« (Wisse 1989, 28) und analog dazu spricht Reboul (3 1998, 48) von den »trois types de preuves« bzw. »moyens de persuader«. Auf die Argumentation gehen wir dann detailliert im Kapitel 5, Unterkapitel 5.5. Die informale Logik als Logos der Rhetorik ein.
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Der klassische Populismus Lateinamerikas
ihm aus diesem Grund quasi blind Gefolgschaft leistet. Dies ist deshalb von entscheidender Bedeutung, weil die Zuhörer oft gar keine Zeit für Abwägungen und Reflexionen haben, sondern schnell und spontan zu etwas ja oder nein sagen müssen und genau solche Entscheidungen werden letztlich auf der Grundlage des Vertrauens zum Redner bzw. Politiker gefällt (cf. Groarke/Tindale 3 2004, 359).13 Die diskursive Konstruktion des Ethos sollte aber keine explizite sein, indem sich der Redner vielleicht sogar selbst lobt und erhöht (cf. Maingueneau 1987, 31). Dies stünde sogar im Widerspruch zu den als attraktiv geltenden Eigenschaften, die der Redner verkörpern soll. Das Ethos als künstliche Konstruktion im Sinne einer schönen Maske ist aber nur eine Sicht der Dinge. Seit der griechischen Antike und dann vor allem seit der Blütezeit der Römer wurde nämlich auch gefordert, dass das Ethos eben keine schöne Maske sein dürfe, sondern den wahren Charakter des Redners widerspiegeln müsse. Besonders Isocrates und später Quintilian und Cicero plädierten dafür (cf. Amossy 1999, 19). Um zwischen den beiden Konzepten von Ethos formal zu unterscheiden, spricht Amossy im ersten Fall von ethos discursif, im zweiten von ethos prédiscursif oder ethos préalable (Amossy 2 2006, 79).14 Wie dem auch sei, unabhängig davon, wie man es im Laufe der Geschichte bezeichnet hat, ist und war das Ethos für jeden politischen Redner von großer Bedeutung.15 Politische Reden gibt es seit Jahrtausenden, und zwar in den verschiedensten Kulturkreisen. Es ist naheliegend, dass nicht zu allen Zeiten und in allen Kulturkreisen das gleiche Set an Charaktereigenschaften als ideal und vor allem für Politiker als erstrebenswert gegolten hat. Das Ethos ist sozusagen kein zeitloses Merkmalbündel, sondern es unterliegt dem Wandel der Zeit. Das Ethos ist abhängig von Religion, Ideologie, Kultur, philosophischen Trends und von Zeitgeist. Daraus resultiert jeweils die Frage, welches Ethos sich der Politiker zu konstruieren hat. Der Politiker muss Gefallen finden, um die Zuhörerschaft von sich zu überzeugen. Andernfalls wird sie ihm letztlich, wie oben erwähnt, auf seiner Argumentationslinie nicht folgen. Als Grundlage für die Konstruktion des Ethos haben, wie oben dargelegt, die zu einer bestimmten Zeit in einer gegebenen Gesellschaft geltenden Werte zu dienen, was im aristotelischen Sinn der Doxa als Meinung der Mehrheit der weisen und wissenden Männer entspricht (cf. Amossy 2002a, 11). Da die Meinung der Mehrheit dieser weisen und wissenden Männer gerne als die in der gegebenen Gesellschaft vorherrschende Meinung angesehen wurde, galt sie, vereinfacht ausgedrückt, als die Allgemeinmeinung (cf. Maingueneau 1991, 233). Die zunächst abstrakten Werte der Doxa nahmen dann jeweils in Bezug auf die kultur- und zeitabhängigen Topoi konkrete Formen an und wurden dadurch substantiell (cf. Maingueneau 1991, 232; Perelman/Olbrechts-Tyteca 5 1992). Die Topoi stehen hier
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In den Worten der Autoren: »[…] ethotic considerations often play an important role in reasoning. They can arise in circumstances in which we do not have the time, the means or the ability to investigate a question in sufficient detail to decide the proper answer to it« (Groarke/Tindale 3 2004, 359). Žmavc (2012, 187) spricht dann davon, dass die griechische Rhetorik tendenziell als rhetoric of quarrel und im Gegensatz dazu die römische Rhetorik als rhetoric of consensus gesehen werden kann. Maingueneau (2002, 79) geht davon aus, dass vor allem das diskursive Ethos für den Erfolg der Rede wichtig sei und nicht so sehr jenes, das die Zuhörer auf der Grundlage anderer Quellen konstruieren (cf. Maingueneau 1999, 75). Dies sei hier zwar in Frage gestellt, allerdings nicht weiter diskutiert.
2. Diskursanalyse, Rhetorik und Politolinguistik
allerdings für die pragmatischen Topoi als Gemeinplätze und nicht etwa für die leeren Schemata als Formate für konkrete Äußerungen im Sinne von Aristoteles oder auch Perelman/Olbrecht-Tytecas (cf. Amossy 2002a, 15ff.; 2002b, 166ff.).16 Auf den Punkt gebracht halten wir also fest, dass die sich aus den Topoi herauskristallisierende Doxa als von Sender und Empfänger akzeptierte ethische Wertekonstellation den Ausgangspunkt für die jeweilige Argumentation darstellen muss, wenn die Rede erfolgreich sein soll. Oben sprachen wir von Ethos und Pathos als den zwei Seiten der Affektivität. Wir haben ebenfalls festgehalten, dass im Falle der Projektion der drei pisteis auf ein modernes Kommunikationsmodell das Ethos dem Sender entspricht, das Pathos dem Empfänger und der Logos der Botschaft. Es ist überdies mittlerweile klar geworden, dass die Funktion des Ethos im Grunde darin besteht, dass der Zuhörer als Empfänger zum Redner als Sender möglichst blindes Vertrauen haben soll und schon deshalb bereit sein möge, ihm zu folgen. Doch es sei daran erinnert, dass auch Pathos und Logos im Persuasionsverfahren strategische Funktionen innehaben. Pathos17 bedeutet zunächst Gefühl und Leidenschaft (cf. Wisse 1989, 68). Es geht hier aber nicht um irgendwelche Gefühle oder Leidenschaften, sondern um jene, die der Persuasion in der Rede dienlich sind. Es geht nach Aristoteles genau um jene Gefühle, die von Schmerz oder Freude begleitet sind und dazu führen, dass die Zuhörer Urteile anders fällen als in einem Zustand, in dem jene Gefühle nicht erweckt worden sind (cf. Wisse 1989, 67). Prinzipiell wird zwar zwischen positiven und negativen Gefühlen unterschieden, eine absolute oder objektive Klassifikation derselben gibt es aber nicht, zumal auch hier kulturelle und ideologische Faktoren bis zu einem gewissen Grad eine Rolle spielen. Entscheidend für die Beurteilung der verschiedenen Gefühle ist jedenfalls stets das Ausmaß an Freude bzw. Schmerz infolge der unterschiedlichen Gefühlszustände (cf. Wisse, 1989, 288ff.; Wörner 1981, 67). Für den Redner ist es auf alle Fälle unerlässlich, die Zuhörerschaft soweit zu kennen oder zumindest einschätzen zu können um zu wissen, was ihr Freude oder aber eben auch Schmerz bereitet und abhängig davon wird die Rede zu gestalten sein (cf. Charaudeau 2008, 49). Der Redner wird also Szenarien ansprechen oder gar konstruieren, mittels derer bei den Zuhörern die gewünschten Gefühle ausgelöst werden. Der Zweck davon ist einerseits Empathie mit dem Redner und infolgedessen Identifikation mit dessen Position und andererseits die kategorische Ablehnung des diskursiv konstruierten gemeinsamen Feindes (cf. Ueding/Steinbrink 5 2011, 276ff.). Pathos als Persuasionsstrategie bedeutet also Beeinflussung der Zuhörerschaft im Entscheidungsfindungsprozess durch emotionale Manipulation, und zwar in dem Sinne, dass sie sich im Augenblick der crisis, d.h. im Augenblick der Entscheidung, zur Position des Redners bekennt (cf. Charaudeau 2008, 50; Kraus 2003, 693; Wisse 1989, 67ff.). Dies macht deutlich, dass mit Pathos eben nicht generell Gefühl oder Leidenschaft gemeint ist, sondern dass es beim Pathos in der Rhetorik darum geht, dass der Redner gezielt jene Gefühle in der Zuhörerschaft auszulösen versucht, die letztlich
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Auf die verschiedenen Bedeutungen von Topoi werden wir im Unterkapitel zur informalen Logik genauer eingehen. Das Thema des Pathos in der politischen Rede hat der Autor in Danler (2017a) und Danler (2017c) ausgearbeitet. Diese beiden Arbeiten dienen als Grundlage für das hier Dargestellte.
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Der klassische Populismus Lateinamerikas
dazu führen, dass sie dem vom Redner vorgezeichneten Weg folgt (cf. Amossy 3 2010, 157ff.). Schon die Gefühle eines einzelnen sind komplex, sodass die Gefühlswelt einer ganzen Zuhörerschaft wohl nicht wirklich erfasst werden kann. Daher ist beim Versuch, Gefühle auszulösen, wohl höchste Vorsicht geboten, um nicht kontraproduktiv zu sein. Der Redner muss sich zumindest ein relativ klares Bild von den Erwartungen, Sorgen und Wünschen seiner Zuhörerschaft machen, um dementsprechend das Pathos richtig einsetzen zu können (cf. Wisse 1989, 251ff.). Schon Aristoteles war außerdem klar, dass ein Redner mit dem Wesen der verschiedenen Gefühle bestens vertraut zu sein hat, um in diesem delikaten Bereich keine Fehler zu machen. Erstens muss der Redner wissen, in welchem emotionalen Zustand der Zuhörerschaft es überhaupt möglich ist, bei ihr bestimmte Gefühle auszulösen. Weiters muss er geklärt haben, gegen wen sich provozierte negative Gefühle der Zuhörerschaft richten sollen. Absolut notwendig ist, dass der Redner darüber Bescheid weiß, was in einer bestimmten Zuhörerschaft die erwünschten Gefühle auslöst (cf. Amossy 3 2010, 157ff.; Wisse 1989, 65ff.). Im zweiten Buch der Rhetorik definiert und analysiert Aristoteles genau jene Gefühle, die er für die persuasiven Ziele als relevant erachtet. Dabei handelt es sich um Zorn vs. Milde, Liebe/Freundschaft vs. Feinseligkeit und Hass, Angst vs. Furchtlosigkeit, Scham vs. Schamlosigkeit, guter Wille vs. Mangel an gutem Willen, Mitleid vs. Entrüstung und Neid, Wetteifer vs. Verachtung (cf. Aristoteles 2010, 76ff.; Wisse 1989, 66ff.).18 Es scheint in diesem Zusammenhang durchaus erwähnenswert, dass die Abhandlung der Gefühle in Aristotelesʼ Rhetorik keineswegs aus psychologischen Gründen, sondern aus rein politischen Absichten erfolgt. Aristoteles geht es hier nicht darum, in die Tiefen der menschlichen Psyche vorzudringen, sondern die Gefühle verständlich und möglichst transparent zu machen, sodass sie eben für politische Zwecke genutzt werden können. Was aus Aristotelesʼ Rhetorik nicht klar hervorgeht ist, ob Pathos argumentativ oder auf andere Weise erzeugt werden soll.19 Ferner bleibt unklar, ob die entsprechenden Gefühle benannt werden sollen oder nicht. Es scheint aber so, als ob die Beschreibung von bestimmten Ereignissen oder Situationen besser geeignet wäre, Gefühle auszulösen als deren konkrete Benennung. Was außerdem nicht übersehen werden darf, ist, dass der sprachliche Stil selbst schon Gefühle auslösen kann.20 Auch lexikalische Einschübe seitens des Redners können pragmatische Effekte im Sinne der Auslösung von Gefühlen haben (cf. Amossy 3 2010, 173; Charaudeau 2008, 51ff.; Kraus 2003, 690; Ueding/Steinbrink 5 2011, 282ff.).21
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Ciceros Analyse der Emotionen, die für das Pathos relevant sind, unterscheidet sich doch beträchtlich von jener des Aristoteles. In seinem zweiten Buch fasst er sie in drei Gruppen zusammen. Diese sind: 1. Liebe, Hass, Zorn, 2. Neid und Mitleid und 3. Hoffnung/Erwartung, Freude, Furcht, Kummer (Cicero 2006, 2, 206-211a; Wisse 1989, 283ff.). Darauf wollen wir hier aber nicht näher eingehen. Tatsächlich ist Aristotelesʼ Rhetorik diesbezüglich sogar widersprüchlich (cf. Aristoteles 2010, 76ff.; Wisse 1989, 21ff.). Man denke an den Unterschied zwischen einem klaren, minimalistischen und einem schwülstigen, überladenen Stil. Warum um Himmels Willen hast du das getan? löst wahrscheinlich andere Gefühle aus als Warum hast du das getan?
2. Diskursanalyse, Rhetorik und Politolinguistik
Die dritte der drei pisteis ist nach Ethos und Pathos nun der Logos. Ethos und Pathos spielen, wie oben gesagt, zum Zwecke der Persuasion mit dem Gefühl, der Logos spielt hingegen mit der Vernunft. Das Spiel des Logos mit der Vernunft findet im Rahmen der Argumentation statt, was erneut die Frage aufwirft, in welchem Verhältnis denn nun Rhetorik und Argumentation zueinander stehen. Doch eins nach dem anderen. Ein beinahe moderner Klassiker unter den sehr allgemeinen Definitionen von Argumentation ist zumindest in der frankophonen Welt jene von Anscombre/Ducrot (3 1997), die besagt, dass man für oder gegen etwas argumentiert, wenn man eine oder mehrere Äußerungen macht, die dazu dienen, eine weitere zuzulassen.22 Bei der Argumentation als Manifestation des Logos geht es im Prinzip darum, dass der Zuhörer auf der Grundlage von expliziten oder impliziten Prämissen, die der Redner – maximal strategisch denkend – ausgewählt hat, genau zu jenen Konklusionen gelangt, die das persuasive Ziel des Redners darstellen. Die Zuhörerschaft muss a priori die Prämissen akzeptieren, um bei der vom Redner gewünschten Konklusion anzukommen, wobei aber der geschickte Redner dem unachtsamen und vielleicht noch beschränkt kritischen Zuhörer durchaus auch Prämissen unterjubeln kann. Die Argumentation besteht im Großen und Ganzen aus Enthymemen und Beispielen. Die Argumentationsstruktur scheint also auf Anhieb eher löchrig, doch das ist kein Zufall, denn die Leerstellen in der Argumentation haben eine Funktion (cf. Maingueneau 1991, 234). Der Zuhörer ist gefordert, sein Wissen zu aktivieren, um die Leerstellen zu füllen und so für sich ein kohärentes und vollständiges Argument zu haben. Der Zuhörer wird dadurch sogar zum Ko-Autor (cf. Eco 1983, 50ff.) und übernimmt Verantwortung für eine Konklusion, die vorab vielleicht gar nicht seine eigene gewesen wäre (cf. Maingueneau 2002, 40; Walton 2007, 186). Dies ist in jedem Fall ein ganz wesentlicher Schritt im Persuasionsverfahren. Die Argumentation werden wir im Detail im Unterkapitel der informalen Logik behandeln, weshalb wir uns an dieser Stelle nur noch kurz mit der Frage nach dem Verhältnis zwischen Rhetorik und Argumentation auseinanderzusetzen haben. Die Argumentation als informale Logik wird in der Regel im Gegensatz zur Demonstration als formale Logik gesehen (cf. Boniolo/Vidali 2011, 7; Maingueneau 1991, 228), doch auch darauf werden wir im Kapitel zur informalen Logik näher eingehen. Die Argumentation wird manchmal im Gegensatz zur Rhetorik gesehen, manchmal aber sogar als Synonym für Rhetorik verwendet. Ducrot (2004, 18) versteht unter argumentation rhétorique ganz generell jene sprachliche Aktivität, die gesetzt wird, um jemanden etwas glauben zu lassen, d.h. um jemanden von etwas zu überzeugen. Perelman/Olbrecht-Tytecas Klassiker der Argumentationstheorie Traité de l’argumentation trägt den Untertitel La Nouvelle Rhétorique (5 1992) und ruft damit unmissverständlich Aristotelesʼ Konzept von Rhetorik und Argumentation in Erinnerung, wonach die beiden, damals noch Rhetorik und Dialektik, austauschbar waren (cf. Amossy 2 2006, 4; Meyer 2008, 12).23
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»Un locuteur fait une argumentation lorsqu’il présente un énoncé E1 (ou un ensemble d’énoncés) comme destiné à en faire admettre un autre (ou un ensemble d’autres) E2. Notre thèse est qu’il y a dans la langue des contraintes régissant cette présentation« (Anscombre/Ducrot 3 1997, 8). Diese Diskussion hat der Autor in Danler (2013b) abgebildet.
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Der klassische Populismus Lateinamerikas
Wir wollen Rhetorik und Argumentation in der Folge nicht als Synonyme verwenden, sondern die Argumentation im Sinne der informalen Logik tatsächlich als die dritte der drei pisteis im größeren Gesamtrahmen der Rhetorik mit dem Globalziel der Persuasion, bestehend eben aus Ethos, Pathos und Logos, verstanden wissen. Diskursanalyse und Rhetorik liefern notwendige tools für die Analyse politischer Reden, um die es hier als Teil der Politolinguistik letztendlich ja geht. Es ist nun aber hoch an der Zeit, auf unseren Untersuchungsansatz, d.h. auf die Politolinguistik an sich einzugehen, die wir, wie schon gesagt, als Junktimierung von Politik- und Sprachwissenschaft verstanden wissen wollen.
2.3
Politolinguistik
Der Terminus Politolinguistik ist ein relativ moderner (cf. Klein 2014), den Armin Burkhardt 1996 in und mit seinem Aufsatz Politolinguistik. Versuch einer Ortsbestimmung (Burkhardt 1996) geprägt hat.24 In der Politolinguistik wird grundsätzlich davon ausgegangen, »dass Sprache das wichtigste Instrument politischen Handelns ist. Mit Hilfe von Sprache werden politische Handlungen vorbereitet, legitimiert und argumentativ ausgehandelt« (Girnth/Hofmann 2016, 7). Doch was wird nun genau unter politisch, und davon abhängig, unter politolinguistisch verstanden bzw. was sollte darunter verstanden werden? In der Einleitung wurde bereits darauf verwiesen, dass es oft heißt, es sei ohnedies alles, was man sagt oder tut, in gewissem Sinne politisch. Dies entspräche wohl der weitest möglichen Auffassung von Politik überhaupt. Alles kann nun aber auch nicht der Untersuchungsgegenstand der Politolinguistik sein, wie in der Einleitung schon angemerkt wurde. Burkhardt (1996, 81) schlägt als Untersuchungsgegenstand der Politolinguistik die politische Sprache vor. Dazu gehöre das Sprechen über Politik, die politische Mediensprache sowie die Politiksprache, die sich ihrerseits in Politikersprache und Sprache in der Politik gliedert. Thomas Niehr (2013, 76) stellt fest, dass die Politolinguistik »inhaltlich durch die Beschäftigung mit – im weitesten Sinne – politischen Sprachgebrauchsphänomenen charakterisierbar« sei. Erneut stellt sich dann allerdings die Frage, was denn nun wirklich politisch bedeute und so wird man wohl oder übel um eine Definition des Politischen als Vorgabe für die Politolinguistik nicht herumkommen. Niehr schlägt dann in seiner Einführung in die Politolinguistik als schlanke Definition von Politik (als Untersuchungsgegenstand der Politolinguistik) auch vor, »dass unter politischem Handeln das Handeln von Individuen oder Gruppen zu verstehen ist, das staatlich oder auf den Staat bezogen ist« (Niehr 2014b, 16). Dies deckt sich weitgehend mit der vorhin vorgeschlagenen Definition von Politik als Regelungen des menschlichen Zusammenlebens in der Öffentlichkeit, die wir in diesem Zusammenhang eben als staatliche Öffentlichkeit verstehen. Was jedoch den Gegenstand der Politolinguistik betrifft, würden wir die oben genannte enge Perspektive erweitern bzw. etwas präzisieren wollen. In der Politolinguistik kann es nicht um die Untersuchung der isolierten Sprache an sich gehen, sondern Thema der Politolinguistik ist eben die Untersuchung der Sprache im Zusammenhang mit 24
Die reduzierte Grundlage für diesen Abschnitt findet sich in (Danler 2018).
2. Diskursanalyse, Rhetorik und Politolinguistik
Politik und somit geht es mittelbar notwendigerweise auch um die Untersuchung von Politik. Dies setzt seitens des Untersuchenden in der Folge nicht nur sprachwissenschaftliche, sondern auch gewisse politikwissenschaftliche Kompetenzen voraus. Analog dazu müssen etwa ein Soziolinguist soziologische Kenntnisse und ein Psycholinguist psychologische haben, um überhaupt sorgfältige und kompetente Analysen auf ihrem Gebiet machen zu können.25 Betrachten wir nun aber als nächstes, nach welchen Untersuchungskriterien Politolinguisten vorgehen sollen und welches ihre Methoden sind bzw. sein können. Die Politolinguistik kann in keiner Weise trennscharf sein (cf. Niehr 2013, 75). Obwohl sie sich über den Gegenstand bestimmt, ist dieser trotz allem nicht eineindeutig zu definieren. Andererseits können die sprachanalytischen Ansätze, die sich entweder auf textlinguistischem oder aber auf diskurslinguistischem Gebiet befinden, semantisch-lexikalischer, morphosyntaktischer, kognitivistischer, pragmatischer oder wohl auch noch anderer Natur sein. Armin Burkhardt, gleichsam der Vater der Politolinguistik, liefert selbst bereits einen breiten Überblick über die linguistischen Methoden der Politolinguistik (cf. Burkhardt 1996). Es gehe erstens um lexikalisch-semantische, zweitens um satz- und textsemantische sowie drittens um pragmatisch-textlinguistische Verfahren. Thomas Niehr, der Autor der ersten monographischen Einführung in die Politolinguistik (Niehr 2014b), führt u.a. ins Treffen, dass es in der Politolinguistik keinesfalls allein um Wortanalyse gehen könne, schon gar nicht aus etymologischer Perspektive, weil diese die Rolle des Sprachwandels vernachlässige. Damit hat er absolut recht. Nichtsdestotrotz ist die Wortanalyse ein wichtiger Teil der Politolinguistik, was er aber ja auch nicht in Abrede stellt. Weiters sei es bedeutend, Wörter und Aussagen aus dem Blickwinkel der Frame-Semantik zu betrachten, da diese aufschlussreiche Einsichten in Nicht-Expliziertes gebe. Natürlich spiele die Frage der Begriffsbesetzungen, ein Klassiker der Wortanalyse, nach wie vor eine große Rolle. Ein m.E. weiterer wichtiger Aspekt, dem die Politolinguistik ebenso Rechnung zu tragen hat, ist die Frage der Argumentation. Allein das ist aber schon ein hochkomplexes Thema, in dem es u.a. um die zentralen Fragen Demonstration vs. Argumentation, Argument vs. Trugschluss oder überhaupt um die Frage nach der den politolinguistischen Forschungszielen am besten entsprechenden Argumentationstheorie und –praxis geht (cf. Niehr 2014b). Niehr (2013, 75) spricht von einem ganzen »Arsenal linguistischer Methoden«, die Anwendung finden können. Andererseits gibt es aber eben keine rein politolinguistisch spezifischen. Worauf politolinguistische Untersuchungen allerdings größten Wert legen, ist, dass unabhängig von der konkreten Untersuchungsmethode diese jedenfalls stets deskriptiv und in höchstem Ausmaß objektiv zu sein hat. »Man kann nicht die Ideologie wissenschaftlich mit Ideologie bekämpfen […], denn politische Meinung kann nicht die Basis wissenschaftlicher Forschung sein. Das gilt auch für die Linguistik«, so Burkhardt (1996, 84). Analysen, in denen Ideologien mit Ideologien bekämpft werden, sind im Grunde zirkulär (cf. Niehr 2013, 79). Burkhardt (2011, 107) betont die Bedeutung der
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Ein politikwissenschaftlich kompetenter Untersuchender würde dann beispielsweise im Verlauf der Analyse der Sprache des Faschismus nicht Repräsentanten einer Vielzahl von Ideologien mit hineinnehmen, die bei genauerem Hinsehen überhaupt nicht faschistisch im eigentlichen Sinn sind. Der sprachlichen Untersuchung vorgelagerte Probleme könnten dann besser gelöst werden.
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Der klassische Populismus Lateinamerikas
ideologischen und parteipolitischen Neutralität der Analyse, indem er sagt: »Als wissenschaftliche Tätigkeit hat sie [die Politolinguistik] sich um das zu bemühen, was der sonstigen öffentlichen oder privaten Sprachkritik nur selten gelingt: um ideologische und parteipolitische – nicht aber um moralische – Neutralität« und Niehr (2013, 82) folgert, dass die Politolinguistik als »deskriptive linguistische Disziplin« mit der »sich ›kritisch‹ nennenden Variante der Diskursanalyse nur schwer vereinbar zu sein« scheint und auch darin kann ihm nur Recht gegeben werden. Wie oben erwähnt, sieht speziell die CDA ihre Wurzeln in einer Vielzahl von Disziplinen von der Philosophie bis zur Psychologie und von der Anthropologie bis zu den Literaturstudien. Sie versteht sich als höchst interdisziplinär und bedient sich einer Vielzahl von Methoden. Auch die Politolinguistik zeichnet sich durch Methodenvielfalt aus, doch stets im Rahmen einerseits der Politikwissenschaft und andererseits der Linguistik. Auf unsere Palette linguistischer Untersuchungsmethoden, die in Kapitel 5 detailliert ausgearbeitet und in Kapitel 6 konsequent angewandt werden sollen, haben wir bereits in der Einleitung hingewiesen. Als nächstes wollen wir aber die historischen und politischen Dimensionen unseres Untersuchungsgegenstandes, also des klassischen Populismus Lateinamerikas, näher betrachten. Aus diesem Grund werden wir uns nun im Detail mit den tiefgreifenden politischen und wirtschaftlichen Veränderungen in Argentinien, Brasilien und Mexiko während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu beschäftigen haben, und zwar, wie gesagt, aus geschichts- und politikwissenschaftlicher Perspektive und im Anschluss daran werden wir uns auf den linguistischen Teil unserer Untersuchung konzentrieren. Um dieses Kapitel abzurunden, scheint es aber vielleicht doch noch angebracht, die Politolinguistik als eigenständige linguistische Disziplin kritisch zu hinterfragen. Wie den genannten praktischen Analysemethoden der Politolinguistik zu entnehmen ist, handelt es sich dabei um jene, derer sich sowohl die linguistische Text- als auch die linguistische Diskursanalyse bedienen. Wird beispielsweise die Sprache der Werbung analysiert, kommen zumindest großteils genau jene Methoden zum Zug, die auch in der Politolinguistik Anwendung finden. In der Ökolinguistik verhält es sich ähnlich. Aus diesem Grund erschiene es nur konsequent, die Politolinguistik wie eben etwa die Ökolinguistik oder die Analyse der Werbesprache gleich als eine weitere Subdisziplin der linguistischen Text- bzw. gegebenenfalls Diskursanalyse zu betrachten. Dies hieße wiederum, dass es eben in allen Subdisziplinen der linguistischen Textbzw. Diskursanalyse darum geht, die Verwendung der Sprache im jeweiligen Fachgebiet unter morphosyntaktischen, lexikalisch-semantischen sowie argumentativ-pragmatischen Aspekten zu betrachten.26 Allein, wenn der politikwissenschaftliche Ansatz Teil des politolinguistischen ist, so wie der soziologische Teil des soziolinguistischen
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Selbstverständlich gibt es zahlreiche andere Bereiche der angewandten Linguistik, die anders zu betrachten sind als etwa die Politolinguistik, die Ökolinguistik oder die Analyse der Werbesprache, und zwar eben deshalb, weil sie keine Subdisziplinen der linguistischen Diskursanalyse sind. Die Ziele und daher auch die Methoden beispielsweise der Psycholinguistik, der Neuro- oder Patholinguistik, aber auch der forensischen Linguistik sind andere und müssen das auch sein. Dies ist aber nicht das Thema, auf das hier einzugehen ist.
2. Diskursanalyse, Rhetorik und Politolinguistik
ist bzw. sein soll oder vielleicht sogar sein muss, was unserer Überzeugung entspräche, dann ist die Daseinsberechtigung der Politolinguistik als relativ selbständige Subdisziplin der angewandten Linguistik wohl außer Frage gestellt. Darüber jedoch soll letztendlich erst in der Konklusion ein Urteil gefällt werden.
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3. Die politisch-historische Dimension Argentinien, Brasilien und Mexiko in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Eine Jahrhundertwende erscheint auf der Zeitachse als markante Zäsur, ist deshalb aber noch lange kein Einschnitt oder gar Wendepunkt in der politischen oder ökonomischen Entwicklungsgeschichte eines Landes oder gar eines Kontinents. Dies gilt auch für das Lateinamerika der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, das nämlich bereits seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in die von Europa und den Vereinigten Staaten dominierte Weltwirtschaft integriert werden sollte (cf. Bernecker 2007, 55) bzw. sich darein integrieren wollte. Der Platz, den Europa und die USA Lateinamerika im internationalen Wirtschaftssystem zugedacht hatten, war vor allem jener des Lieferanten von Bodenschätzen und Agrarprodukten. Mit dem beginnenden 20. Jahrhundert fing Lateinamerika jedoch an, diese Rolle kritisch zu beleuchten und die Frage nach der eigenen Identität, Eigenständigkeit und Originalität zu stellen (cf. Werz 2 2008, 137).
3.1
Argentinien
3.1.1
Der Peronismus aus politisch-historischer Perspektive
3.1.1.1
Die Wegbereiter des Peronismus
Ganz im Sinne des oben Gesagten stellt die Jahrhundertwende auch für Argentinien nicht den Beginn einer neuen Ära dar. Eine neue Ära begann in Argentinien wie in etlichen anderen lateinamerikanischen Ländern schon etwas früher, nämlich während der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts.1 Die zu jener Zeit in Argentinien einsetzenden wirtschaftlichen und politischen Veränderungen waren im lateinamerikanischen 1
An dieser Stelle sei allerdings bereits angemerkt, dass sich Argentinien selbst lange Zeit überhaupt nicht lateinamerikanisch fühlte und in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts aus wirtschaftlicher und kultureller Perspektive tatsächlich mehr Ähnlichkeiten mit Frankreich oder Großbritannien aufwies als mit anderen lateinamerikanischen Ländern. Im Laufe der Zeit wurde Argentinien aber immer lateinamerikanischer (cf. Halperin Donghi 1996, 18ff.).
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Der klassische Populismus Lateinamerikas
Gesamtrahmen gesehen wohl von einmaliger Intensität (cf. Zanatta 2012, 89). Die Zeit von etwa 1880 bis 1930 wird mitunter sogar als das goldene Zeitalter Argentiniens angesehen (cf. Waldmann 1974, 36).2 1874, also kurz vor Beginn jenes goldenen Zeitalters, ging der sogenannte PAN, der Partido Autonomista Nacional, aus der Fusion des Partido Autonomista und des Partido Nacional hervor. Diese autoritäre Partei, die in erster Linie die Interessen der Oligarchen vertrat, welche sich durch den Export von Agrarprodukten schwer bereicherten, sollte dann bis 1916 ununterbrochen an der Macht bleiben. General Julio Argentino Roca, Präsident von 1880 bis 1886 und von 1898 bis 1904, sowie Roque Saénz Peña, Präsident von 1910 bis 1914, zählen zu jenen Präsidenten des goldenen Zeitalters, die für die weitreichenden politischen und ökonomischen Veränderungen hauptverantwortlich waren. General Julio Argentino Roca wird vor allem im Zusammenhang mit der conquista del desierto, der sogenannten Wüsteneroberung, in Verbindung gebracht, in der weite Teile der Pampa und Patagoniens für Argentinien erobert wurden. Die ausgedehnten Gebiete stellten für die weitere landwirtschaftliche Nutzung einen unermesslichen Reichtum dar. Die dort lebende indigene Bevölkerung, vor allem Angehörige der Mapuche und Tehuelche Stämme, wurde massenhaft vertrieben, deportiert, getötet.3 Die argentinische Wirtschaft erlebte einen immensen Aufschwung, konzentrierte sich jedoch fast ausschließlich auf die Exportmärkte in Übersee. Von 1880 bis 1916 gab es ein extrem starkes Wachstum nach außen (cf. Waldmann 1996, 889). Die wirtschaftliche bzw. industrielle Entwicklung im Lande sowie die Bedürfnisse der eigenen Bevölkerung wurden jedoch weitgehend vernachlässigt. Es gab seitens der Oligarchen zunächst weder ein Interesse daran, die abhängigen Arbeiter durch höhere Löhne weniger abhängig zu machen, noch die eigene luxuriöse Lebenshaltung zugunsten höherer Investitionen im wirtschaftlichen bzw. technischen Bereich einzuschränken (cf. Beyhaut 16 2004, 115). Ein Land mit besonders florierender Wirtschaft zieht immer Menschen aus anderen Ländern an, vor allem jene, die sich gerade in einer wirtschaftlich schwierigen Situation befinden. Dies galt für das Argentinien um die Jahrhundertwende, jedoch auch danach, zumindest bis zur Weltwirtschaftskrise 1929. General Roca sah sich infolgedessen mit tiefgreifenden Veränderungen in der argentinischen Gesellschaft konfrontiert. Zwischen 1880 und 1914 kam es geradezu zu einer Masseneinwanderung. Ungefähr sechs Millionen Einwanderer in erster Linie aus südeuropäischen Ländern, speziell aus Italien und Spanien, suchten ihr Glück in Argentinien (cf. Waldmann 1996, 893). Der auf breiter Einwanderung basierende Aufschwung nahm weiter zu, ausländische Investitionen, vor allem aus Großbritannien, setzten ein. Es ging zunächst um die Verbesserung des Transportwesens, speziell um den Ausbau des Eisenbahnnetzes, weiters um die Entwicklung und Errichtung von Kühlvorrichtungen und Kühlhäusern vor allem für das zu exportierende Fleisch. Die Liberalen sahen im primär auf ausländischen Investitionen basierenden Aufschwung die große Chance für Fortschritt in Argentinien, während den Nationalisten genau diese Form der Prosperität ein Dorn
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Der Abschnitt von 1930 bis 1944 wird von Munck (1987, 106ff.) dann in die Übergangsperiode von 1930 bis 1935, die Phase der Arbeiterbewegungen von 1935 bis 1942 und die Zeit der Neuausrichtung von 1943 bis 1944 eingeteilt. Die Frage, ob die begangenen Gräueltaten offiziell als Genozid zu bezeichnen sind oder nicht, scheint immer noch nicht endgültig geklärt zu sein.
3. Die politisch-historische Dimension
im Auge war (cf. Waldmann 1996, 890). Die Einwanderer ließen sich vorzugsweise in den Städten nieder, in erster Linie in Buenos Aires. Es waren jedoch nicht nur die Einwanderer, sondern auch die Binnenmigranten, die scharenweise die ländlichen Gegenden verließen, in denen die Arbeit knapp geworden war, um in den Städten Arbeit zu suchen. So kam es in Argentinien zu massiver Verstädterung mit all den Problemen, die damit einhergehen. Die städtische Bevölkerung wurde zusehends heterogener und es bildete sich allmählich eine Art Mittelstand heraus (cf. Waldmann 1974, 36). Dieser wachsende Mittelstand vertrat eine zunehmend kritische Haltung gegenüber den Oligarchen, die in erster Linie ihre eigenen Partikularinteressen vertraten. Diese politische Strategie bzw. das Verharren der Oligarchen in der Vergangenheit zusammen mit der wachsenden wirtschaftlichen Abhängigkeit des Landes vom Ausland machten das System als Ganzes zusehends krisenanfälliger (cf. Waldmann 1974, 37). Unmut begann sich an mehreren Fronten zu regen. Einerseits entstand ein gewisser antiimperialistischer Nationalismus (cf. Bernecker 2007, 23), und zwar speziell als Reaktion auf den empirisch ausgerichteten Liberalismus und Positivismus. Diese Form des Nationalismus, typisch für das Lateinamerika des beginnenden 20. Jahrhunderts, wandte sich aber primär gegen die kapitalistische ausländische Dominanz und galt aus diesem Grund durchaus als progressive Ideologie (cf. Werz 2 2008, 136ff.). Andererseits begann sich auch eine wachsende Unzufriedenheit in der breiten Bevölkerung zu artikulieren, die einerseits durch die eklatante wirtschaftliche Ungleichheit und Ungerechtigkeit und andererseits durch die Unmöglichkeit der politischen Partizipation ausgelöst wurde. Der Partido Autonomista Nacional regierte quasi unumschränkt. Der Partido Socialista und die Unión Cívica Radical waren die stärksten oppositionellen Parteien, die in der politischen Realität jedoch praktisch chancenlos waren, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil Wahlbetrug und Wahlfälschungen an der Tagesordnung waren. Präsident Roque Sáenz Peña sah sich letztlich mehr oder weniger gezwungen, auf den herrschenden Unmut zu reagieren, um noch massiveren und aggressiveren Protestaktionen vorzubeugen (cf. Vázquez/Martínez Díaz 3 2009, 167). 1912 wurde schließlich ein Gesetz für eine Wahlrechtsreform beschlossen, das als Ley Sáenz Peña in die Geschichte eingehen sollte. Dieses Gesetz hatte in erster Linie den Zweck, den Konservativen eine breitere Legitimation zu sichern (cf. Waldmann 1996, 898), führte dann aber zu dramatischen politischen Veränderungen, welche zum damaligen Zeitpunkt in dem Ausmaß noch nicht erwartet wurden. Die Ley Sáenz Peña sah erstens die Bereinigung der Wählerlisten vor, zweitens die verpflichtende schriftliche und geheime Wahl für Männer und drittens enthielt sie eine Klausel, wonach der stärksten Oppositionspartei ein Drittel der Sitze in beiden Kammern zustehen sollte (cf. Waldmann 1996, 898). Die Ley Sáenz Peña ermöglichte auf diese Weise in Argentinien den Übergang vom oligarchischen zum demokratischen System (cf. Zanatta 2012, 107). Vor den Wahlen 1916 führten die Radikalen Gespräche mit den Gewerkschaften, um zu verhindern, dass diese den Sozialisten Gefolgschaft leisten würden. Was außerdem den Radikalen zugute kam, war die Tatsache, dass sich die Konservativen für die Wahl 1916 auf keinen gemeinsamen Kandidaten geeinigt hatten (cf. Waldmann 1996, 903ff.). Inhaltlich propagierten sie den Schutz der Ressourcen vor ausländischem Zugriff bis hin zur Verstaatlichung des Erdöls und außerdem weitgehende Neutralität in den damals aktuellen internationalen Konflikten. Bei den Wahlen 1916 wurde dann tatsächlich die Unión Cívica Radical stärkste Partei und
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Der klassische Populismus Lateinamerikas
Hipólito Yrigoyen neuer Präsident. In der Folge gab es von 1916 bis 1930 eine durch die Unión Cívica Radical bestellte und somit von der Volksmehrheit getragene Regierung unter dem neuen Präsidenten (cf. Waldmann 1974, 55). Ab 1918 hatte die Unión Cívica Radical die absolute Mehrheit im Parlament (cf. Waldmann 1974, 36). Vorher gab es allerdings schon massive Einbrüche in der argentinischen Wirtschaft und in der Folge gravierende gesellschaftliche Veränderungen. Während des ersten Weltkriegs waren die für Argentinien lebensnotwendigen Handelsströme von und nach Europa weitgehend zum Erliegen gekommen. Konsumgüter und Maschinen konnten aus Europa nicht mehr geliefert werden, das Kapital für Investitionen blieb ebenso aus und die Agrarprodukte aus Argentinien fanden in Europa nicht mehr den gewohnten Absatz. In manchen Bereichen führte dies zu Importsubstitution und war der Entwicklung der argentinischen Industrie mittelbar sogar insofern förderlich, als sich dadurch Argentinien eine Chance bot, sich bis zu einem gewissen Grad aus der Importabhängigkeit zu befreien (cf. Waldmann 1996, 899). Andererseits verschlechterten sich die terms of trade beträchtlich und es kam zu steigender Inflation, wachsender Arbeitslosigkeit und sinkenden Reallöhnen, was zu Protesten und Streiks führte. In Buenos Aires kam es 1919 schließlich zu einem Generalstreik, nachdem revoltierende Metallarbeiter von der Polizei erschossen worden waren. Die zweite Januarwoche des Jahres 1919, in der dies passierte, ging als semana trágica in die argentinische Geschichte ein. Bald nach dem ersten Weltkrieg stieg in Europa wieder die Nachfrage nach argentinischen Produkten, was die argentinische Exportwirtschaft erneut beflügelte und die Gesellschaft gewissermaßen beruhigte (cf. Waldmann 1996, 909). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stammten ca. 60 % der ausländischen Investitionen in Argentinien aus Großbritannien (cf. Waldmann 1996, 893). In den 20er Jahren investierten die USA allerdings bereits dreimal so viel in Argentinien wie Großbritannien. Außerdem lieferten die USA genau jene Gebrauchs- und Industriegüter, an denen Argentinien interessiert war. Als ein Hauptproblem der rein wirtschaftlichen Beziehungen zu den USA entpuppte sich die Tatsache, dass die USA selbst jene Produkte exportierten, die Argentinien am Weltmarkt abzusetzen trachtete und deshalb als Absatzmarkt keine großen Chancen bot. Argentinien folgte so dem Prinzip, bei den eigenen Kunden zu kaufen und hatte ohnedies hohe Rückzahlungen an Großbritannien zu leisten (cf. Waldmann 1996, 901).4 In politisch-ideologischer Hinsicht zeichnete sich in den 20er Jahren eine neue Tendenz ab. Zunächst hatte die Verfassung noch bis Anfang des 20. Jahrhunderts eine relativ begrenzte Wirkungskraft, zumal sich die Oberschicht nur bedingt an sie hielt und eine breite Mittelschicht erst gar nicht gegeben war. Der Staat im Sinne eines Nationalstaates war noch nicht im Bewusstsein der Bevölkerung verankert, zumal die caudillos als Identifikationsfiguren noch weitgehend präsent waren (cf. Werz 2 2008, 286). Die neue politische Strömung ging nun aber in Richtung Recht und Ordnung und Autoritarismus (cf. Waldmann 1996, 911). Die Unión Cívica Radical war in sich uneins und dem bereits über 70 Jahre alten Präsidenten Hipólito Yrigoyen fehlte die Autorität, um seine Linie durchzusetzen. Es war vor allem die Oberschicht, die alles daran setzte, Yrigoyen zu Fall zu bringen, der sich ihrer Ansicht nach vor allem für die Mittelschicht und für die 4
Dies wurde 1929 explizit im Oyhanarte-D’Abernon-Abkommen festgehalten (cf. Waldmann 1996, 901).
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Arbeiter stark gemacht hatte und insofern eine viel zu progressive Politik betrieb. Als dann 1929 mit dem New Yorker Börsenkrach die Weltwirtschaftskrise ausbrach, bedeutete dies zudem auch für Argentinien Wirtschaftsabschwung und somit Exportrückgang, Inflationsanstieg und insgesamt ein Absinken des Lebensstandards, was bald zu Unzufriedenheit in der Bevölkerung führte (cf. Vázquez/Martínez Díaz 3 2009, 170). Arbeitslosigkeit und Landflucht waren weitere Folgen (cf. Dabène 2000, 73ff.). Der Glaube an den Wirtschaftsliberalismus war insgesamt und nicht nur in Argentinien schwer erschüttert, »halbwegs demokratische Regierungen« (Rey 2006, 16) wurden durch uniformierte Diktatoren ersetzt. So war nun auch für Yrigoyens Gegner der Moment gekommen, das demokratische Experiment zu beenden (cf. Zanatta 2012, 100). Am 6. September 1930 stürmten die Aufständischen unter General Uriburu den Regierungssitz, wo sie kaum auf Widerstand stießen. Dieses Ereignis, el trágico trauma der argentinischen Geschichte, stellt den Beginn des endemischen Militarismus in Argentinien dar, wie Zanatta (2009, 24) sagt.5 General Uriburu löste den Kongress auf und ließ sich am 10. September vom Obersten Gerichtshof als Präsidenten der Nation anerkennen. Das Land sollte jedoch nun nach der Krise von 1929 und dem Sturz des demokratischen Präsidenten Yrigoyen auch in wirtschaftlicher Hinsicht eine andere Richtung einschlagen (cf. Rock 1991, 3ff.). Es erfolgte eine Abkehr vom Freihandel und neuer Protektionismus sollte die heimische Wirtschaft schützen (cf. Waldmann 1974, 39). Die wirtschaftliche Lage war insgesamt vor allem aufgrund der schlechten Exportbedingungen kritisch. 1932 waren die Exportpreise um 64 % niedriger als 1928 (Waldmann 1996, 914). Die Probleme wurden weitgehend auf die Arbeiter abgewälzt (cf. Waldmann 1974, 50). Die Gewerkschaften schlossen sich in der Folge zusammen, hatten jedoch aufgrund der relativ hohen Arbeitslosigkeit keine starken Druckmittel zur Verfügung und mussten sich vorerst mit ihrer relativen Rechtlosigkeit abfinden.6 Die wirtschaftliche Lage sollte sich in Argentinien jedoch schon bald bessern. 1935 wurde die argentinische Zentralbank gegründet (Waldmann 1996, 915) und zu der Zeit begann sich auch die argentinische Wirtschaft schon wieder merklich zu erholen. Am Ende des Jahrzehnts stand Argentinien wirtschaftlich wieder so gut da wie in der Blütezeit der 20er Jahre (cf. Rock 1991, 4ff.), was erneut zu Immigration und Binnenmigration führte, wodurch sich die Gesellschaft wiederum spürbar zu ändern begann. Sie wurde heterogener und dynamischer. Es war der Beginn des Massenzeitalters in Argentinien (cf. Zanatta 2009, 19ff.). Groppo (2009, 151) spricht von der dislocación de identidades políticas, der Verschiebung oder Verlagerung der politischen Identitäten, der jedoch nicht gebührend Rechnung getragen wurde. Die sich organisierende Masse entwickelte sich allmählich zu einem neuen Machtfaktor in der Gesellschaft, was die Oligarchie lange Zeit nicht wahrhaben wollte. Gleichzeitig wurde das politische Klima durch die neue Politik immer antiliberaler und antidemokratischer. Antiliberalismus und Nationalismus breiteten sich nicht zuletzt nach den diversen europäischen, scheinbar mit Erfolg gekrönten Vorbildern zunehmend aus. Der Liberalismus war das agnostische, individualistische und materialistische Feindbild, das
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Die damit einsetzenden Gewaltakte der 30er Jahre förderten laut Dolkart (1993, 71) massiv die Bildung rechter und rechtsextremer Organisationen. Es gab etwa weder Krankenversicherung noch Urlaubsanspruch.
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geradezu als anachronistisch angesehen wurde und die argentinische Identität zu gefährden schien. Die Modernität schien gesamthaft die homogene Nation zu bedrohen. Stattdessen waren nun Hispanismus und Latinität angesagt. Kommunismus, Freimaurertum, aber auch angelsächsischer Kapitalismus bzw. Materialismus galten fortan als die Feinde der Nation. Der neue Nationalismus in seinen verschiedenen Ausprägungen wie der konservativen, der populistischen, der klerikalen, der aristokratischen oder auch der wirtschaftlichen sollte den Liberalismus überwinden. Dieser Nationalismus der 30er Jahre verachtete Parteienvielfalt, Demokratie und ideologischen Pluralismus. Er sollte schließlich die Nation gesamthaft umfassen und erfassen. Parteien- und Gedankenvielfalt waren demzufolge eine contradictio in adiecto (cf. Zanatta 2009, 233ff.). Die Nation sollte quasi als organisches Gebilde stets harmonisch fungieren, was keine Widersprüche zulasse bzw. Widersprüche eben von vornherein ausschließen müsse. Der Korporatismus schien das Ideal im Gegensatz zum Antimodell des pluralistischen Liberalismus. Das Militär sollte die Gesellschaft vom unmoralischen Liberalismus und kapitalistischen Egoismus befreien. Der internationale eucharistische Kongress 1934 in Buenos Aires sollte bereits zur katholischen Renaissance in Argentinien beitragen (cf. Skidmore/Smith 5 2001, 86ff.; Zanatta 2009, 31ff.). Am 8. November 1931 wurde General Agustín Pedro Justo zum Präsidenten gewählt. Gestützt wurde er vom konservativen Sammelbecken concordancia7 , das erst im selben Jahr durch die Zusammenführung des Partido Demócrata Nacional, der Unión Cívica Radical Antipersonalista und des Partido Socialista gegründet worden war.8 Während des gesamten Jahrzehnts kam es zu Wahlfälschungen und antidemokratischen Praktiken. Es herrschten willkürlicher Autoritarismus und wirtschaftliche Ausbeutung (cf. Waldmann 1974, 55ff.), weshalb auch von der década infame gesprochen wird. 1933 kam es zur Unterzeichnung des Roca-Runciman-Vertrages, in dem Argentinien die sehr schlechten britischen Bedingungen akzeptierte, zu denen argentinisches Fleisch in Großbritannien verkauft werden sollte. Dies löste öffentliche Proteste aus. Kurz darauf begann in Buenos Aires der argentinische colectivo, der Kleinbus, der in britischen Händen befindlichen Straßenbahn Konkurrenz zu machen, doch es war wiederum letztere, die von der argentinischen Regierung geschützt wurde. Die argentinischen Wirtschaftstreibenden waren von Anfang an gegen die von der neuen Regierung unternommenen Veränderungen sowie gegen den sich immer deutlicher abzeichnenden Korporatismus. Der Roca-Runciman-Vertrag, die Bevorzugung der in britischen Händen befindlichen Straßenbahn gegenüber dem argentinischen colectivo sowie die Tatsache, dass es seitens der Regierung kaum eine Industrialisierungspolitik gab, erhöhten den Widerstand vor allem seitens der nationalistischen Opposition gegen die Regierungspolitik beträchtlich (Waldmann 1974, 47ff.; 1996, 918). Es gab immer mehr Staatsinterventionismus zugunsten der Oligarchen, d.h. die Regierung bediente sich immer mehr der Ressourcen, um
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1931 wurde die Federación Nacional Democrática als Koalition der Konservativen, der Sozialisten und der Anti-Personalisten gegründet. Das Experiment war von kurzer Dauer, doch damit war das Prinzip der concordancia vorweggenommen. Dies war außerdem der erste Versuch, nach 1930 eine politische Koalition zu schaffen (cf. Groppo 2009, 138ff.). Das größte Versagen der Sozialisten war, dass es nicht gelungen war, die Arbeiterschaft zu mobilisieren (cf. Groppo 2009, 144).
3. Die politisch-historische Dimension
die Oligarchen zufrieden zu stellen (cf. Waldmann 1974, 59; 1996, 919), ohne entsprechend auf die Bedürfnisse der anderen Bevölkerungsschichten einzugehen. 1938 wurde Roberto María Ortiz zum Präsidenten gewählt und er gab nun tatsächlich wieder Hoffnung auf wahre demokratische Verhältnisse. Sein reaktionärer und autoritärer Nachfolger, Ramón Castillo, suchte jedoch sogleich wieder Rückendeckung beim Militär (cf. Waldmann 1996, 914). Castillos Machtstreben nahm immer bizarrere Formen an, was zu großem Unmut in der Opposition führte, die sich nun ausgerechnet mit den Sozialisten und Kommunisten zu einigen trachtete, um Castillo eine breite und starke Front zu bieten. Dies wiederum versetzte das Militär in Alarmbereitschaft. Als Castillo für die Wahl 1943 obendrein noch Robustiano Patrón Costas vorschlug, war der Skandal perfekt. Patrón Costas stammte aus Oligarchenkreisen in Salta und galt als korrupt und betrügerisch (cf. Feinmann 2010, 48ff.; Sidicaro 2 2010, 52; Walter 1993, 99ff.; Waldmann 1996, 921). Die Oligarchen waren insgesamt auf der Seite der Alliierten (cf. Feinmann 2010, 30), was ein weiteres Alarmsignal für das Militär war. Es bestand die Möglichkeit, dass Patrón Costas die Neutralität im zweiten Weltkrieg aufgeben könnte, was absolut nicht im Sinne der Nationalisten und achsenfreundlich Gesinnten im Militär war (cf. Waldmann 1996, 920ff.). Um all diesen drohenden Gefahren vorzubeugen, kam es schließlich am 4. Juni 1943 zum Militärputsch. Es war ein Putsch der Offiziere, der allerdings äußerlich kein spektakulärer war. Eine Militärkolonne unter General Arturo Rawson nahm die Casa Rosada ein, den Regierungssitz in Buenos Aires, ohne dass auch nur ein Schuss gefallen war. Präsident Ramón Castillo war schon verschwunden (cf. Zanatta 2009, 41). General Rawson war sowohl mit dem Militär als auch mit der Marine gut vernetzt, weshalb es ihm gelungen war, beide gegen Castillo zu mobilisieren. Kurz nachdem er das Präsidentenamt übernommen hatte, wurde er allerdings auch schon wieder von den eigenen Militärkollegen abgesetzt und durch seinen ehemaligen Kriegsminister Pedro Ramírez ersetzt.9 Dieser hatte hervorragende Kontakte zum GOU, dem Grupo de Oficiales Unidos,10 einer inoffiziellen Gruppe jüngerer, unterer und mittlerer, stark nationalistischer Offiziere, die sich erst 1943 mit dem Ziel der Absetzung der oligarchischen Regierung Castillos formiert hatte.11 Der Druck auf die argentinische Regierung aus dem Ausland, mit den Achsenmächten endlich zu brechen, wurde immer größer. Die USA legten es darauf an, Argentinien aufgrund seiner achsenfreundlichen Gesinnung weiter zu isolieren. Ramírez sympathisierte durchaus mit den Alliierten (cf. Halperin Donghi 3 2000, 38) und hatte vor, die diplomatischen Beziehungen mit den Achsenmächten abzubrechen. Dies löste im Militär Entrüstung aus und führte dazu, dass er im Februar 1944 aus dem Amt gejagt wurde (cf. Rock 1991,
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Als konkreter Auslöser für den Putsch wird mitunter auch angegeben, dass Castillo ebendiesen Ramírez ersucht hatte abzudanken, weil er befürchtete, dass letzterer auf Geheiß der Radikalen Umsturzpläne ausheckte, was Castillo hingegen zu unterbinden suchte (cf. Cattaruzza 2009, 182). Mitunter findet man als Entschlüsselung des Akronyms GOU auch Grupo Obra de Unificación, wobei i.d.R. Grupo de Oficiales Unidos als die adäquate angegeben wird. Der GOU beschwor zwar in erster Linie die Gefahr des Kommunismus, in zweiter Linie aber auch jene, die von den Juden, den Freimaurern, aber auch von den Rotariern ausgehe (cf. Rock 1991, 52). Perón spielte keine bedeutende Rolle beim Putsch, gehörte aber der GOU an (cf. Werz 2010, 179).
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61). Er wurde durch General Edelmiro Farrell ersetzt (cf. Waldmann 1996, 921).12 Nach dem Sturz von Ramírez löste sich der GOU auf, für Perón selbst hingegen bedeutete der Sturz dieses Präsidenten einen beachtlichen Karrieresprung, was allerdings bereits von vielen mit großem Argwohn beobachtet wurde (cf. Cattaruzza 2009, 190). Wie dem auch sei, der Militärputsch entfesselte eine geradezu nationalistische Revolution, zu deren obersten Zielen es gehörte, erstens mit den Imperialisten zu brechen, zweitens die industrielle Entwicklung, vor allem die der Waffenindustrie, staatlich zu fördern und zu steuern sowie drittens ein autoritäres politisches System zu begründen, um sowohl den Liberalismus als auch den Kommunismus auszumerzen (cf. Rock 1991, 5ff.). Für uns stellt sich aber spätestens an dieser Stelle die Frage, wie Juan Perón die politische Bühne betrat, wie er die weitere politische Entwicklung des Landes beeinflusste und welche politischen Ereignisse andererseits seinen Werdegang bestimmten. Nach dem Putsch im Juni 1943 wurde Perón im Militär bald zu einer Art Leitfigur (cf. Rock 1991, 64), aber nicht nur dort.13 Zum Zeitpunkt des Putsches war Perón Sekretär des damaligen Kriegsministers Edelmiro Farrel (cf. Zanatta 2009, 51), ab Ende Oktober 1943 wurde er mit der Leitung des Departamento Nacional de Trabajo y de Previsión betraut, welches jedoch nicht sonderlich einflussreich war. Im Februar 1944 hingegen wurde Perón Kriegsminister und im Juli bereits Vizepräsident (cf. Halperin Donghi 3 2000, 41). Farrell wurde Präsident (cf. Dabène 2000, 82). Es war also der Putsch von 1943, mit dem Peróns rasanter Aufstieg begann (cf. Groppo 2009, 168). Entweder hatte Perón den Machtfaktor Arbeiterschaft erkannt und verstanden, diesen gezielt für sich zu nutzen, oder aber die Arbeiter leisteten ihm quasi dank seines womöglich uneigennützigen Engagements für sie, auf das in der Folge kurz einzugehen sein wird, von sich aus Gefolgschaft. Wie oben erwähnt, hatte es in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine massive Immigration und eine sehr starke Binnenmigration gegeben. Die ehemaligen Landarbeiter standen einst großteils in Quasi-Abhängigkeitsbeziehungen zu den caudillos. Die vielen Einwanderer hatten überhaupt alles hinter sich gelassen. Sowohl die einen als auch die anderen mussten sich neu orientieren und praktisch organisieren, um zunächst einmal ihr Überleben zu sichern. Von einer Organisation der Arbeiter konnte noch kaum die Rede sein, was mit sich brachte, dass diese keine Chance hatten, gegen massive soziale Ungerechtigkeiten zu protestieren oder gar Rechte einzufordern. Seitens der Mittel- und Oberschicht gab es kein Interesse, die Arbeiter gesellschaftlich zu integrieren (cf. Waldmann 1974, 59). Als Vorstand des Departamento Nacional de Trabajo sollte aber Perón die Arbeiterschaft gewerkschaftlich organisieren (cf. Rock 1991, 56). Zu der Zeit waren kaum 20 % der Arbeiter Mitglieder einer Gewerkschaft (cf. Zanatta 12
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Was abgesehen vom unpopulären konservativen Kandidaten Patrón Costas tatsächlich das auslösende Moment für den Putsch gewesen sein konnte, ist nach wie vor nicht restlos geklärt. Es muss nicht notwendigerweise, wie oben erwähnt, die Befürchtung des Militärs der Beendigung der von Castillo betriebenen Neutralitätspolitik durch Patrón Costas gewesen sein, nach der Argentinien die Linie der Alliierten übernommen hätte, sondern es hätte auch das Bestreben des Militärs sein können, wieder zur Demokratie zurückzukehren (cf. Cattaruzza 2009, 182ff.). Die Rolle Peróns im Putsch 1943 ist umstritten. Manche sprechen davon, dass er als GOU-Mitglied eine durchaus wichtige Funktion innehatte, andere sprechen ihm diese kategorisch ab (cf. Zanatta 2009, 51).
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2009, 22). Perón fürchtete zutiefst den sozialistischen Einfluss in der Arbeiterschaft, zumal das Schreckgespenst der kommunistischen Revolution in anderen Ländern bereits umging bzw. sich sogar schon niedergelassen hatte. Die Kapitalisten müssten Kompromisse schließen, so Perón, um einer Arbeiterrevolution vorzubeugen. Der Nationalismus brauchte die richtige Dosis Sozialismus und der Wohlfahrtsstaat war Peróns Meinung nach die beste Prävention gegen eine Arbeiterrevolution. Ende 1943 wurde obengenannter Departamento zur Secretaría de Trabajo y Bienestar Social, wodurch Perón als deren Vorstand in die Regierung kam (cf. Rock 1991, 59ff.), was sich für die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates als sehr vorteilhaft erwies. In der Folge kam es zum Abschluss von Hunderten von Verträgen zwischen den Gewerkschaften und Unternehmen, wofür stets die Secretaría de Trabajo zuständig war (cf. Cattaruzza 2009, 188). Es war klar, dass mehr Rechte und mehr Wohlstand für die Arbeitnehmer den Arbeitgebern, d.h. den Unternehmern, den Industriellen sowie den Großgrundbesitzern, Zugeständnisse abverlangen würden. Eine Regierung musste sich jedoch laut Perón im ureigensten Interesse sozial engagieren und zugleich stets darauf bedacht sein, die Kontrolle über die Arbeiterschaft zu behalten. Dies entsprach im Übrigen dem korporatistischen Prinzip der Gesellschaft als organisch gewachsenem Ganzen. Um die Kontrolle über die Arbeiterschaft zu bewahren und eventuellen sozialistischen bzw. kommunistischen Einfluss hintanzuhalten, mussten die Gewerkschaften zunächst geeint, nationalisiert und vom Marxismus befreit werden (cf. Zanatta 2009, 54ff.). Weiters durften sie keinesfalls losgekoppelt vom Staat existieren. Ende 1944 verhandelte die Secretaría bereits nur noch mit jenen Gewerkschaften, die die personería gremial, d.h. den von der Regierung übertragenen Rechtsstatus, besaßen (cf. Rock 1991, 65). Perón wusste allerdings nur zu gut, dass für die Arbeiter in erster Linie die praktischen, konkreten und materiellen Verbesserungen entscheidend waren. In diesem Sinne sorgte er auch bald für Lohnerhöhungen und entsprechende Pensionen, Familienlöhne für Staatsbedienstete und Kollektivverträge für Arbeiter, Unfall-, Arbeits- und Krankenversicherungen, Mutterschutz, Ferienlager und anderes mehr (cf. Zanatta 2009, 55). Ab 1945 gab es bezahlten Urlaub und den sogenannten aguinaldo, d.h. den 13. Monatslohn (Cattaruzza 2009, 189). Im Dezember 1943 war es obengenannter Secretaría bereits gelungen, bei der Unión Ferroviaria Lohnzuschläge für die Arbeiter herauszuholen, was seit 1929 unmöglich gewesen war. Perón wurde dafür von den Arbeitern gefeiert. Zu Weihnachten desselben Jahres schlug Perón den Unternehmern vor, den Arbeitern freiwillig Weihnachtsgeld auszuzahlen, wodurch er erneut zum Helden der Arbeiter wurde (cf. Rock 1991, 59ff.). Perón setzte sich also sehr für die Arbeiter als wichtigen Bestandteil des argentinischen Staates ein, ohne jedoch das Gesamtinteresse des Staates jemals aus dem Auge zu verlieren. Der Staat sollte im Idealfall das Vermögen verwalten, die Politik steuern, die sozialen Beziehungen in Harmonie pflegen (cf. Zanatta 2009, 45) und nicht zuletzt auch darauf achten, dass Argentinien eine wahrhaft christliche Nation bleiben bzw. wieder werden sollte. Der katholische Autoritarismus gerade der iberischen Halbinsel schien in dieser Hinsicht vorbildlich.14 14
Gleichzeitig schien Perón kein Interesse daran gehabt zu haben, die Korruption der politischen und wirtschaftlichen Elite zu bekämpfen oder gegen Handelsmonopole vorzugehen (cf. Halperin Donghi 3 2000, 41).
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Mit dem Putsch 1943 hatte sich für Peróns politische Karriere sehr viel verändert. Sehr viel verändert hatte sich aber auch für die Entwicklung des gesamten Landes. Im Dezember 1943 wurden per Dekret alle politischen Parteien aufgelöst, die Pressezensur wurde verschärft, Schulen und Universitäten wurden gesäubert und erhielten neue nationalistische Lehrpläne, viele Kommunisten kamen ins Gefängnis, Verhaftungen und Folter nahmen zu, die Versammlungsfreiheit wurde stark eingeschränkt (cf. Halperin Donghi 3 2000, 38ff.). Auch bei den bestehenden Gewerkschaften griff der Staat hart durch. Dies führte dazu, dass Perón regen Zulauf aus allen Gewerkschaften hatte und dass sich allmählich eine peronistische Massenbasis bildete. Die bestehenden Gewerkschaften hatten quasi die Wahl zwischen dem Konfrontationskurs mit der Militärregierung und der Zusammenarbeit mit Perón. Perón setzte sich weiter für die Sache der Arbeiter ein,15 wodurch ihm zusehends Widerstand seitens der Oligarchen, der Geschäftsleute sowie der Großgrundbesitzer entgegenschlug. Die Unternehmerverbände versuchten vehement, sich Peróns Lohn- und Sozialpolitik zu widersetzen (cf. Waldmann 1996, 922ff.). 1945 war Argentinien letztlich zweigeteilt: auf einer Seite die Arbeiter, für die sich Perón massiv eingesetzt hatte und denen er große Hoffnungen machte und auf der anderen Seite die politische, militärische und wirtschaftliche Elite, die Perón weiterhin vor Arbeiteraufständen warnte und von denen er infolgedessen Unterstützung und Zugeständnisse verlangte. Sowohl die Regierung selbst als auch die wirtschaftliche Elite sowie das Heer zeigten sich jedoch in Bezug auf Perón immer zurückhaltender und skeptischer. Hinzu kam der wachsende Druck aus dem Ausland. Die USA sahen in Argentinien einen lästigen autoritären und faschistischen Überrest, dem nicht zu trauen war und den es zu beseitigen galt. Das Militär zeigte sich im Laufe der Zeit den zivilen Forderungen gegenüber etwas aufgeschlossener und Farrell versprach auch weiterhin die Rückkehr zur echten Demokratie. Allein, das politische Handeln Argentiniens überzeugte noch nicht vollends, obwohl Argentinien im Februar 1945 den Chapultepec Akt für interamerikanische Zusammenarbeit in Verteidigung und Handel unterzeichnete (cf. Rock 1991, 66) und im März desselben Jahres unter großem ausländischen Druck den Achsenmächten den Krieg erklärte. Dies bestärkte andererseits wiederum die achsenfreundliche Opposition in ihrer Skepsis und in ihrem wachsenden Widerstand gegenüber der Regierung (cf. Waldmann 1996, 923) und ganz speziell gegenüber dem Duo Farrell – Perón. Für die USA war die Causa Argentinien trotz scheinbaren Einlenkens der Regierung noch lange nicht erledigt und so wurde der zutiefst von der US-amerikanischen Ideologie geprägte Spruille Braden, ein scharfer Kritiker der argentinischen Neutralitätspolitik und des politischen Systems des Landes, das er im Grunde für den verlängerten Arm des europäischen Faschismus hielt (cf. Halperin Donghi 3 2000, 52), im Mai 1945 US-Botschafter in Argentinien. Braden ging es im Grunde darum, den faschistischen Dämon, dem er nach wie vor nicht traute, zu besiegen und so wurde Braden quasi zum Symbol der Opposition gegen die Regierung (cf. Zanatta 2009, 67). Die Opposition erhielt außerdem zunehmend Unterstützung, und zwar von den Studenten, den wiederauferstandenen Parteien, den Sozialisten, den Kommunisten, den Industriellen, dem Handel und der Landwirtschaft, aber auch von 15
Der sogenannte aguinaldo, der dreizehnte Monatslohn für Arbeiter, wurde z.B. verpflichtend (cf. Rock 1991, 64), was Perón immer mehr Zustimmung seitens der Arbeiterschaft einbrachte.
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immer größer werdenden Teilen des Militärs, die besonders in Perón ein Hindernis für den geordneten Rückzug aus der Macht sahen (cf. Waldmann 1996, 924), der von Farrell ja immer wieder angekündigt worden war. Die Opposition gegen die Regierung wuchs also sowohl aus strategisch-ideologischen als auch aus wirtschaftlichen Gründen (cf. Zanatta 2009, 68ff.). Am 19. September 1945 forderten tausende Gegner der Regierung auf der Marcha de la Constitución y la Libertad den Rückzug der Militärs in die Kasernen und die Rückgabe der Macht an die Corte Suprema bis zu freien Wahlen.16 Perón nannte sie einen Haufen Reaktionäre und Plutokraten. Sie verlangten seinen Kopf (cf. Zanatta 2009, 70ff.). Das Militär war gespalten, das Ansehen der Offiziere mittlerweile schlecht, die Regierung war uneins. Möglicherweise musste Perón geopfert werden, um den Schaden zu begrenzen (cf. Eickhoff 1999, 144). Dies schien die Strategie der Marine und großer Teile des Militärs zu sein. Tatsächlich wurde Perón am 9. Oktober 1945 von General Eduardo Ávalos gezwungen abzudanken (cf. Cattaruzza 2009, 191). Perón wurde all seiner Ämter enthoben, was einen großen Tumult in den Gewerkschaften auslöste. Die Gewerkschaftsführer und die Perón nahestehenden Militärs reagierten prompt und so wurde von der CGT, der Confederación General del Trabajo, am 16. Oktober für den 18. Oktober ein Generalstreik ausgerufen (cf. Cattaruzza 2009, 191ff.). Bereits am 17. kam es jedoch zu großangelegten Protestbewegungen und zur Besetzung des Zentrums von Buenos Aires. Es war ein Protest gegen Peróns Verhaftung, aber auch Ausdruck der Angst vor Verlust der erworbenen Rechte. Zahlreiche Arbeiter mit offenen Hemden waren dabei, zahlreiche Arbeiter ohne Hemden, gewissermaßen die Prototypen der legendären descamisados, die noch eine wichtige Rolle spielen sollten. Was jedoch wirklich nach der Verhaftung Peróns passierte und vor allem, warum es passierte, lässt sich nicht rekonstruieren. Ausgehend von bestimmten Fakten wird allerdings in verschiedene Richtungen gemutmaßt. Der britische Botschafter bezeichnete jedenfalls all das, was im Zusammenhang mit Peróns Verhaftung und Wiederfreilassung passierte, als eine incredible comedy (Rock 1991, 67). Alles schien daraufhin angelegt, Perón zu zerstören, doch dann gab es die große Wende. Perón, der heimliche Chef der Diktatur, war nun urplötzlich zum Opfer der Diktatur und so zum Märtyrer geworden. Vielleicht sollte ihm gerade durch dieses in den Augen vieler unverdiente und schändliche Ende eine triumphale Wiederkehr möglich werden. Kurioserweise wurde ihm jedenfalls erlaubt, sich noch hochoffiziell vom Arbeitsministerium zu verabschieden und dann noch zu den Menschen zu sprechen, die sich vor dem Arbeitsministerium eingefunden hatten. Die Rede wurde sogar im Rundfunk übertragen, was vorher außerdem noch ausgiebig angekündigt worden war. Perón rief die Menschen auf, die Secretaría zu verteidigen. Zwei Tage lang war Perón dann noch auf freiem Fuß, ehe er verhaftet und auf die Insel Martín García gebracht wurde. Die Insel Martín García hatte insofern Symbolcharakter, als 15 Jahre zuvor der oben erwähnte äußerst populäre Präsident Hipólito Yrigoyen ebenfalls dorthin verbannt worden war. Am 14. Oktober fuhr Hauptmann Miguel Ángel Mazza,
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Es war eine Einheitsfront gegen die Regierung, die sich aus Kommunisten, Konservativen, Sozialisten, Nationaldemokraten und Radikalen zusammensetzte. Zugleich war es aber auch eine Demonstration der Oligarchen gegen die Regierung. Dieses heterogene Bündnis sollte sich dann bei den Wahlen gegen Perón stellen (cf. Eickhoff 1999, 142ff.).
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Peróns Arzt, auf die Insel und erhielt von Perón Briefe für Farrell, Ávalos und andere. Am 16. 10. stand in der Zeitung, dass Perón in das zentrale Militärspital eingeliefert werden sollte. Bis zum Morgen des 17. musste Perón auf der Insel bleiben. Im Laufe des 17. versammelten sich immer mehr Menschen auf der Plaza de Mayo vor der Casa Rosada. Es wurden Lautsprecher installiert und Peróns Rückkehr wurde groß vorbereitet. Perón verhandelte mit Farrell und Ávalos noch die Bedingungen seines Auftritts. Ávalos und Vernengo Lima traten schließlich von ihren Regierungsämtern zurück. Perón erschien auf dem Balkon der Casa Rosada, neben ihm Farrell, beide in zivil (cf. Eickhoff 1999, 163ff.) und dann sprach Perón zur versammelten Menge. Der 17. Oktober wurde im Anschluss daran als Geburtstag des Peronismus gefeiert, als Día de la Lealtad, als Tag der Loyalität. In der Folge wurden von der Regierung für den 24. Februar 1946 allgemeine Wahlen angekündigt. Trotz der spektakulären, sich überschlagenden Ereignisse bis zum 17. Oktober hielt kaum jemand einen Wahlerfolg der bisher Amtierenden im Februar 1946 für möglich. Zum einen waren faschistische und faschismusähnliche Ideologien in Europa gescheitert, sodass nun auch in ganz Amerika das demokratische Gedankengut neuen Aufwind bekam. Zum anderen schien die Opposition, d.h. die UD, die Unión Democrática, schier unbesiegbar, zumal sie von der gewichtigen Unión Cívica Radical, den Sozialisten, den Kommunisten sowie vom PDP, dem Partido Demócrata Progresista, unterstützt wurde. Weitere Konservative wollten sich der UD anschließen, was die Radikalen aber ablehnten. Der Kandidat der UD war José P. Tamborini, der allerdings nicht sehr überzeugte. Perón hatte zunächst nur die Unterstützung der Gewerkschaften und schließlich auch wieder jene des Militärs, das letztlich nur in ihm einen Verteidiger der eigenen Ideale sah. Es wurde allerdings klar, dass die konsequente Zusammenführung und parteimäßige Organisation der Arbeiter unerlässlich war, um den Regierenden eine minimale Chance auf den Wahlsieg zu sichern. Bereits am 24. Oktober 1945 wurde demzufolge der Partido Laborista, die Arbeiterpartei, gegründet, in dem sich die Gewerkschafter zusammengefunden hatten (cf. Werz 2010, 180). Hauptanliegen des Partido Laborista waren durchzuführende Verstaatlichungen sowie die gerechtere Verteilung des Einkommens. Diese Partei machte dann Perón auch zum Präsidentschaftskandidaten (cf. Waldmann 1996, 924). Die zweite Partei, die Perón unterstützen sollte, war eine abgespaltene Fraktion der UCR, nämlich die Junta Renovadora. Weitere Unterstützung erhielt Perón von der nationalistischen Jugend der FORJA, der Fuerza de Orientación Radical de la Joven Argentina, sowie von der Alianza Libertadora Nacionalista, d.h. von dem, was vom argentinischen Faschismus übrig geblieben war. Für sie alle war Perón der wahre Verteidiger der nationalen Identität sowie der nationalen Interessen. Perón stellte die bevorstehende Wahl als Richtungswahl dar. Gemäß Perón hatte sich Argentinien entweder für das Volk oder für die Oligarchie zu entscheiden. Die Unión Democrática sah es naturgemäß anders. Ihrer Auffassung nach war es eine Entscheidung zwischen Demokratie und Faschismus. Spruille Braden wollte auch noch seinen Beitrag zum Wahlerfolg der Unión Democrática leisten und veröffentlichte am 11. Februar 1946 den sogenannten Libro azul, um Perón zu diskreditieren. In diesem Libro azul wurden Perón engste Kontakte zu den europäischen Nationalsozialisten nachgesagt. Perón reagierte sehr schnell und sehr schlau. Als Antwort auf den verunglimpfenden Libro azul gab es sogleich den Libro azul y blanco, das blau-weiße Buch, das natürlich
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unmittelbar an die Farben der argentinischen Nationalflagge erinnert und das die Botschaft enthielt, Braden o Perón, Braden oder Perón. Die Unión Democrática wurde nun als Trojanisches Pferd dargestellt, mit dem die USA in Argentinien Einzug halten würden, was bei der Bevölkerung gar nicht gut ankam. Am 24. Februar 1946 wurden schließlich die Wahlen abgehalten. Perón erhielt 1.527.231 Stimmen, die Opposition 1.207.155 (Halperin Donghi 3 2000, 61). Das schier unmöglich Scheinende war wahr geworden, Perón war neuer Präsident (cf. Cattaruzza 2009, 191ff.; Halperin Donghi 3 2000, 59ff.; Zanatta 2009, 75ff.).17
3.1.1.2 Peróns Präsidentschaft Bei der Analyse des Peronismus bietet es sich an, entweder erstens vorrangig das politische Programm und dessen Umsetzung zu betrachten oder zweitens den politischen Führungsstil Peróns unter die Lupe zu nehmen (cf. Waldmann 1974, 133) oder aber drittens im Rahmen des Möglichen beidem die gebührende Aufmerksamkeit zu schenken. Vollständig kann aus offensichtlichen Platzgründen weder Ersteres noch Zweiteres erfasst werden.18 Darum geht es hier auch nicht. In dem von uns abgesteckten Rahmen soll das jeweils Wesentliche erkannt und erhoben werden, weshalb hier nur die dritte Option anvisiert wird. Peróns Regentschaft bis 1955 lässt sich grosso modo in zwei Abschnitte untergliedern, die sich innenpolitisch und ideologisch graduell, wirtschaftlich und außenpolitisch aber qualitativ voneinander unterscheiden. Die Zäsur geschah 1949.19 Die drei strategischen Grundprinzipien, die zwar von Anfang an Peróns Politik prägten, im Laufe der Jahre aber immer deutlicher spürbar wurden, waren Gleichschaltung, Säuberung und Straffung mit dem ultimativen Ziel der maximalen Kontrolle der Gesellschaft (cf. Waldmann 1974, 88-89). Unter Gleichschaltung ist zu verstehen, dass die verschiedenen Institutionen und Organisationen gewissermaßen auf die gleiche Schiene gebracht werden sollten. Der Pluralismus als Prinzip wurde zunächst ausgedünnt und schließlich abgeschafft. Es gab letztlich kein Ab- und Auseinanderdriften von verschiedenen Positionen mehr, sondern nur noch eine Marschrichtung. Das erste unmissverständliche und richtungsweisende Signal setzte Perón bereits vor seinem Amtsantritt als Präsident. Er benötigte sowohl die laboristas, die Anhänger der Arbeiterpartei, als auch die Radikalen der Junta Renovadora, die ihn beide in der Wahlallianz unterstützt hatten. Keinesfalls wollte er riskieren, dass die eine oder andere Partei möglicherweise nach der Wahl abtrünnig würde. Um dies zu verhindern, ordnete er noch vor Amtsantritt die Auflösung der Parteien der Wahlallianz und die Bildung einer neuen Einheitspartei an (cf. Cattaruzza 2009, 205). Dies war der Partido Único de la Revolución, der bald zum Partido Peronista werden sollte.
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Im Februar 1944 gab es ein verheerendes Erdbeben in der Provinz San Juan im Westen des Landes. Perón engagierte sich unverzüglich für Hilfsaktionen. Auch dies machte ihn berühmt und populär. Außerdem gibt es ja ohnedies bereits zahlreiche teilweise auch umfassende Werke, die sich mit der Person Juan Perón beschäftigen. Siehe die Auswahlbibliographie. Natürlich gibt es keine klare Abgrenzung zwischen den beiden Abschnitten, zumal sowohl Peróns politische Ideologie als auch seine Wirtschaftspolitik sehr wechselhaft, d.h. alles andere als durchgehend kohärent waren.
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Die Arbeiterpartei, die 70 % der Stimmen für Perón lieferte, wollte aber ihre Unabhängigkeit wahren. Der Gründer und wohl prominenteste Anführer jener Partei, der sich dem Diktat nicht beugen wollte, war Cipriano Reyes. Seine Unbeugsamkeit bezahlte er mit dem Gefängnis. Es hieß plötzlich, dass er Perón nach dem Leben getrachtet hätte. Artikel 31 der Statuten des Partido Peronista, die dann im Dezember 1947 approbiert wurden, erlaubte dem Präsidenten dann ganz generell, alle von der Partei getroffenen Entscheidungen nach seinem Gutdünken abzuändern (cf. Zanatta 2009, 108; Torre/Riz 1991, 74ff.), was offensichtlich eine deutliche Machtausweitung für den Präsidenten bedeutete. Um Gleichschaltung ging es ebenso in der sich realiter verändernden Kompetenzverteilung zwischen Legislative und Exekutive bereits ab 1946, als sich nämlich zeigte, dass das neu einberufene Parlament, in dem Perón eine satte Mehrheit hatte, faktisch zum »Anhängsel der Exekutive« wurde. Die zentrale Aufgabe des Parlaments bestand zusehends darin, die Gesetzesinitiativen der Regierung abzusegnen (cf. Waldmann 1996, 929).20 Das Parlament musste berechenbar sein und durfte sich keinesfalls dem Präsidenten widersetzen.21 Einen noch offensichtlicheren Fall von Gleichschaltung gab es mit der Reorganisation der Gewerkschaften. Reorganisation bedeutete hier tatsächlich Parallelschaltung der Gewerkschaften. Zur CGT, der Confederación General del Trabajo, sollten 1952 die CGE, die Confederación General Económica, die CGP, die Confederación General de Profesionales sowie die Unión de Estudiantes Secundarios parallel geschaltet dazu kommen (cf. Werz 2010, 184). Auch dieses Bestreben löste Widerstand aus. Luis Gay war 1946 zum Generalsekretär der CGT gewählt worden und keinesfalls bereit, die Unabhängigkeit aufzugeben, was aber nicht geduldet wurde. In der Presse wurde er als Verräter an der Sache dargestellt und daraufhin entmachtet (cf. Zanatta 2009, 106ff.). Die Unión Industrial Argentina, gewissermaßen die argentinische Industriellenvereinigung, wollte ebenso auf ihrer Unabhängigkeit bestehen, jedoch war auch diesen Bestrebungen letztlich kein Erfolg beschieden (cf. Torre/Riz 1991, 82). Die Säuberung als politische Strategie zum Zwecke der Uniformität lässt sich in etlichen Bereichen beobachten, von denen hier drei ganz besonders betroffene exemplarisch herausgegriffen werden sollen: der Oberste Gerichtshof, die Bildungsinstitutionen und die Presse. 1947 erfolgte bereits eine erste große Einschränkung der Pressefreiheit, als nämlich bedeutende politische Wochenzeitschriften eingestellt wurden (cf. Halperin Donghi 3 2000, 65). 1949 gab es nur noch zwei bedeutende Tageszeitungen, von denen letztlich allein La Nación als (relativ) unabhängige Zeitung bis zu Peróns politischem Ende erscheinen konnte (cf. Waldmann 1974, 95). 1951 wurde La Prensa, eine der traditionsreichsten Tageszeitungen Argentiniens, verstaatlicht und der CGT übertragen und somit von der Regierung kontrolliert. Die neue Leitung der Prensa musste verlässlich und linientreu sein und so wie die anderen staatlich kontrollierten Zeitungen ständig Peróns Anschauungen verbreiten, wodurch sie im Grunde alle zu Propagandablättern 20 21
Dies erinnert freilich an den parlamentarischen Klubzwang, der einem de jure existierenden freien Mandat entgegensteht. Es schien außerdem auffallend viele Kongressabgeordnete zu geben, die weder erfahren noch brillant waren. Sie waren sich darüber im Klaren, dass sie ihr Parlamentarier-Dasein allein Perón verdankten, und die Dankbarkeit seitens der Parlamentarier sollte ebenso Unvorhersehbarem im Parlament vorbeugen (cf. Zanatta 2009, 101).
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verkamen. Die Verstaatlichung der Prensa war ein mehr als deutliches Warnsignal an alle Medien, doch de facto war ohnedies bereits ein staatliches Medienmonopol im Entstehen begriffen. Dementsprechend wurde auch das Radio auf Linie gebracht (cf. Torre/Riz 1991, 77; Werz 2010, 184). Heftiger Widerstand gegen das drohende Ende des Pluralismus und den sich immer deutlicher abzeichnenden peronistischen Monopolismus regte sich vor allem an den Universitäten, woraufhin Tausende von aufmüpfigen Dozenten durch konformistische ersetzt wurden. Im Obersten Gerichtshof kam es unter dem Vorwand geradezu bizarr anmutender Anschuldigungen zu einer radikalen Säuberung, und zwar schon im September 1946. Vier der fünf Richter wurden angeklagt und bereits 1947 entlassen.22 Der groteske Vorwurf, der ihnen gemacht wurde, war, dass sie 1930 und 1943 Regierungen als legitim anerkannt hatten, die durch einen Putsch an die Macht gekommen waren, wo ihre Hauptaufgabe doch jene gewesen wäre, über die Verfassung zu wachen (cf. Torre/Riz 1991, 77; Zanatta 2009, 102). In der Folge wurden auch die der Richterebene untergeordneten Ebenen entsprechenden Säuberungsaktionen unterzogen. Unter Straffung wird generell die Hierarchisierung und Zentralisierung der Gewalten verstanden. Die Tendenz, die Institutionen zu reduzieren und zu straffen entsprach aber durchaus der argentinischen Tradition. Diese Straffung vollzog sich dadurch, dass relativ unabhängige Gremien unmittelbar der Regierung unterstellt wurden. Dies betraf sowohl den Kongress als auch die Gerichte sowie die Provinzregierungen (cf. Waldmann 1974, 89f.). Bis 1950 war die staatliche Verwaltung den parteipolitischen Organisationen übergeordnet. Nach 1950 war die Parteipolitik allem und so auch der Administration übergeordnet. So wie alles andere wurden die Behörden in die Partei eingegliedert, Nicht-Peronisten verloren konsequenterweise ihre Ämter und frei gewordene Stellen wurden durch Peronisten besetzt (cf. Waldmann 1974, 96ff.). Die Ministerien waren nun weisungsgebunden und die Zuständigkeiten des Präsidentialamtes nahmen stetig zu, wodurch die Ministerien ohnedies stark an Bedeutung verloren (cf. Waldmann 1974, 102). Diese Art von Straffung führte zu maximaler Machtkonzentration. Nach der knappen Betrachtung der strategischen Grundprinzipien der Gleichschaltung, Säuberung und Straffung zum Zwecke der Machtkonzentration beim Präsidenten wollen wir uns als Nächstes dem Werden und der Ausbreitung des Peronismus in verschiedenen politischen Kernbereichen des Landes, wie etwa der Innen- und Außenpolitik, der Wirtschaft, dem Militär und der Kirche während Peróns Amtszeiten als Präsident von 1946 bis 1955 widmen. Diese Sichtung soll chronologisch erfolgen. Durch Verstaatlichung wird Privateigentum in staatliches übergeführt bzw. gelangen private Aufgaben in die Verantwortung des Staates. Verstaatlichung bedeutet insofern also auch Machterweiterung des Staates. In autoritären und semiautoritären Staaten gibt es eine ausgeprägte Identifikation des Staatsoberhauptes mit dem Staat selbst. Es gilt in gewissem Sinne das absolutistische Prinzip l’état c’est moi. Schon vor seinem Amtsantritt erreichte Perón die Verstaatlichung des Finanzwesens mitsamt der Zentralbank, dem Banco Central, sowie die Schaffung des IAPI, des Instituto Argentino
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Der einzige Höchstrichter, der nicht entlassen wurde, war der streng katholische Tomás Casares, der mit dem Konzept des neuen Argentiniens durchaus einverstanden war (cf. Zanatta 2009, 102).
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de Promoción del Intercambio, jener Institution, die letztlich den argentinischen Außenhandel steuern und von diesem beträchtliche finanzielle Abschöpfungen zugunsten des Staates möglich machen sollte. Der Staat begann massiv die Wirtschaft zu steuern, auf die Handelsbeziehungen Einfluss zu nehmen sowie die Entscheidungen bezüglich größerer und großer Investitionen zu treffen. Die totale Abkehr vom Liberalismus war endgültig vollzogen. Verstaatlichungen gab es nach dem zweiten Weltkrieg auch in Europa, und zwar im Bereich des Bank- und Versicherungswesens, der Gas- und Elektrizitätsunternehmen, der Kohlewerke und der Eisenbahn, sodass die Verstaatlichung an sich nicht etwas völlig Außergewöhnliches war (cf. Cattaruzza 2009, 207ff.). Ab 1946 wurden dementsprechend auch in Argentinien sukzessive das Telefonnetz, die Fluglinien und vor allem die Straßen- und Eisenbahn verstaatlicht, wobei gerade die Übernahme der sich in einem eher desolaten Zustand befindenden englischen Bahnen ein kostspieliges Unterfangen war (cf. Torre/Riz 1991, 79; Werz 2010, 181). 1946 war Argentinien ein im internationalen Vergleich gesehen sehr wohlhabendes und wirtschaftlich erfolgreiches Land. Argentinien war eine Gläubigernation mit hohen Gold- und Devisenreserven, bei der gerade Großbritannien hohe Verbindlichkeiten hatte. Durch die Repatriierung der Auslandsschulden und die Verstaatlichung des öffentlichen Dienstes (cf. Sidicaro 2 2010, 85) schmolzen die ehemals beträchtlichen finanziellen Reserven jedoch dahin. Diese Formen der Verstaatlichung brachten zwar ein weiteres Stück Unabhängigkeit, gingen Argentinien finanziell aber doch sehr an die Substanz. Ob sie letztlich sinnvoll waren, kann nicht eindeutig geklärt werden, wird jedoch ernsthaft bezweifelt (cf. Waldmann 1996, 925ff.). Auf parteipolitischer Ebene hingegen schien nichts und niemand Perón aufhalten zu können. Bei den Wahlen 1946 waren 109 der 158 Abgeordneten der Cámara de Diputados Peronisten. Es gab weiters 44 Radikale und einige wenige Abgeordnete anderer Parteien. Im Senat herrschte bald Einstimmigkeit. Zwischen 1946 und 1955 erlangten die Peronisten bei den diversen Wahlen im Schnitt ca. 60 %, die Radikalen ca. 30 % (cf. Cattaruzza 2009, 203). Diese Ergebnisse konnte Perón zu Recht als großen Vertrauensbeweis interpretieren, was ihn nur darin bestärkte, seine politische Ideologie und speziell auch seine Wirtschaftspolitik zu intensivieren und fortzusetzen. Von 1946 bis 1949 gab es ein starkes Wirtschaftswachstum, ganz besonders in der Industrie. Losgesagt vom Liberalismus, glaubte man nun primär an den Staatsinterventionismus. Der Staat bediente sich seiner Investitionsmechanismen und betrieb expansive Geld- und Kreditpolitik. Es wurden staatlich garantierte Kredite zur Verfügung gestellt, deren Zinssätze unter der Inflationsrate lagen. Importsubstitution war ein wichtiges wirtschaftliches Ziel. Anstatt technische Geräte zu importieren, wurde der Aufbau der eigenen Industrie gefördert und somit auch der Binnenmarkt angekurbelt. Die Produktion von Elektrogeräten erhöhte sich innerhalb kurzer Zeit um 390 % (cf. Sidicaro 2 2010, 75ff.; Waldmann 1996, 925ff.). Die Börse florierte. Argentinien hatte lange Zeit vor allem Getreide und Fleisch nach Europa exportiert, andererseits aber selbst nach und nach Importbeschränkungen eingeführt (cf. Cattaruzza 2009, 208). Die Wirtschaft blühte, die Reallöhne nahmen in jenen Jahren um 40 % zu (cf. Torre/Riz 1991, 79ff.; Werz 2010, 181), in den Städten sogar bis zu 60 % (cf. Waldmann 1996, 927). Der Lebensstandard stieg merklich. Die anfänglich skeptischen Unternehmer gaben angesichts des wirtschaftlichen Erfolges nach und nach ihren Widerstand auf. Gleichzeitig wurden aber auch die Gewerkschaften auf Perón eingeschworen und für sein Programm
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gewonnen. Ab 1946 gab es nun unter der neuen Regierung Kollektivvertragsverhandlungen, Pensionen für Arbeiter und Angestellte, bezahlten Urlaub, Arbeitslosengeld (cf. Torre/Riz 1991, 82), Kündigungsschutz, Krankenversicherung und Familienzuschüsse (cf. Waldmann 1996, 927). Aufgrund dieser Sozialleistungen wurde Perón selbst immer mehr zum Ansprechpartner für die Bedürftigen der gesellschaftlichen Unterschichten, die sich nach und nach in den Gewerkschaften formierten und organisierten bzw. zum Zwecke der Unterstützung der peronistischen Linie formiert und organisiert wurden. Die sozialistische Partei war so gut wie bedeutungslos geworden. Die gewerkschaftliche Organisation verdoppelte sich beinahe allein von 1946 bis 1948, d.h. die Mitgliederzahl stieg von 880.000 auf 1.550.000 (cf. Cattaruzza 2009, 212). Innerhalb kurzer Zeit war die Gewerkschaft so zu einem bedeutenden Machtfaktor in der Gesellschaft geworden. Zwischen 1946 und 1948 schnellten auch die Investitionsraten und infolgedessen ebenso die Wachstumsraten in der Konsumgüterindustrie in die Höhe. Die überdurchschnittlich hohen Investitionen waren allerdings eine kurzfristige beschäftigungspolitische Maßnahme und nicht so sehr eine längerfristige wirtschaftspolitische. Um auch das Militär zufrieden zu stellen, wurden große Mengen von Militärgütern importiert (cf. Waldmann 1996, 925ff.). Argentinien blickte hoffnungsvoll in die Zukunft. Europa lag in Trümmern, sodass man in Argentinien damit rechnete, dass es großen Bedarf an landwirtschaftlichen Produkten und möglicherweise auch an anderen Gütern geben würde. Außerdem zeichnete sich durch den aufflammenden Ost-West-Konflikt ein neuer globaler Krieg, d.h. ein dritter Weltkrieg, ab, den man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erwartete und von dem man wirtschaftlich wiederum erheblich zu profitieren hoffte (Waldmann 1996, 925ff.). 1947 gab es den ersten Plan Quinquenal in Argentinien, den ersten Fünfjahresplan, in dem hauptsächlich wirtschaftliche Ziele hinsichtlich Import und Export definiert wurden. Daran hatten sich dann vor allem Industrie und Landwirtschaft zu orientieren. Laut Regierung sollte es weitere Lohnerhöhungen geben, um dadurch die Nachfrage zu erhöhen. Die staatliche Wirtschaftspolitik wurde unmittelbar mit der Sozialpolitik verquickt, da Perón erkannt hatte, dass eine gute Sozialpolitik der Vergrößerung seiner Anhängerschaft nur dienlich sein konnte. In diesem Sinne wurden staatliche Preiskontrollen eingeführt, vor allem in Bezug auf Mieten, von denen in erster Linie die Arbeiter- und Mittelschicht profitierten. 1947 gab es dann noch Eva Peróns Initiative für die Einführung des Frauenwahlrechts, das die Anzahl der Wahlberechtigten schlagartig verdoppeln würde. Erneut sollte Juan Perón der Nutznießer sein (cf. Cattaruzza 2009, 208ff.). 1951 war es dann tatsächlich soweit. Mit dem Erfolg auf der wirtschaftlichen und politischen Ebene schlich sich jedoch auch immer mehr Autoritarismus in das System ein (cf. Halperin Donghi 3 2000, 64).23 Am 1. Mai 1948 wurde die Idee lanciert, dass die oben erwähnten neuen Sozialprinzipien einer nueva Argentina auch in der Verfassung verankert werden sollten, weshalb eine Verfassungsreform notwendig schien. Die Opposition vermutete sofort einen anderen Grund für die geplante Verfassungsreform. Gemäß Artikel 77 der Verfassung von 1853, die immer noch in Kraft war, durfte ein Staatspräsident nicht wiedergewählt werden. Man ahnte, dass dieser Artikel modifiziert werden sollte, um die Wiederwahl Peróns zu ermöglichen (cf. Zanatta 2009, 129ff.). 1949 kam die Verfassungs23
Er verweist diesbezüglich vor allem auf die Einschränkung der Pressefreiheit zu dieser Zeit.
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reform, doch schon vorher kündigte sich ein markanter wirtschaftlicher Abwärtstrend an. Die Gold- und Devisenreserven schienen endgültig zusammengeschmolzen. Die terms of trade hatten sich inzwischen deutlich verschlechtert. 1947 hatte Großbritannien die Inkonvertibilität des Pfund Sterling erklärt. Es flossen auch keine Dollar nach Argentinien, weil der Marshall-Plan aufgrund der unverändert anhaltenden politischen Spannungen zwischen den USA und Argentinien für den Wiederaufbau Europas keine argentinischen Lebensmittel oder Waren vorsah (cf. Waldmann 1996, 927). In der Verfassungsreform von 1949 wurden analog zur mexikanischen Verfassung die Energieressourcen als Staatseigentum deklariert. Tatsächlich wurde aber auch die unbegrenzte direkte Wiederwahl des Staatspräsidenten in der neuen Verfassung möglich gemacht (cf. Cattaruzza 2009, 204; Torre/Riz 1991, 83). Außerdem wurden die Kompetenzen des Kongresses wesentlich beschnitten, dem Kongress wurde de facto das Kontrollrecht gegenüber der Regierung genommen, wodurch er quasi zu einem weiteren ausführenden Organ der Regierung verkam. In der Folge gab es auch immer weniger Untersuchungsausschüsse und selbst die verbleibenden konnten nicht mehr seriös arbeiten (cf. Waldmann 1974, 91ff.). Dem Staat wurde durch die Verfassungsreform weiters explizit die Planungsfunktion in wirtschaftlicher Hinsicht zugewiesen. Artikel 39 und 40 sahen sogar die Einrichtung einer wirtschaftlichen Organisation im Dienste der Gemeinschaft vor (cf. Sidicaro 2 2010, 96). Dies war eine weitere dezidierte Absage an den Liberalismus, dem Perón von Anfang an den Kampf angesagt hatte und den er durch die staatliche Wirtschaftspolitik zu ersetzen trachtete. In der Präambel zur Verfassung wurde andererseits bereits als allgemeines und grundlegendes Ziel genannt: »constituir una nación socialmente justa, económicamente libre y políticamente soberana.«24 Der Arbeiter hatte nun ein quasi verbrieftes Recht auf faire Entlohnung, auf eine angemessene Wohnung, auf Sozial- und Gesundheitsversicherung, sowie auf Erholung. Nicht enthalten war in der neuen Verfassung jedoch das Streikrecht (cf. Cattaruzza 2009, 212). Revolutionär hingegen war die Satzung in Artikel 38, wonach Privateigentum eine soziale Funktion zu erfüllen und in diesem Sinne dem Gemeinwohl zu dienen habe. Dies schien nun doch ein expliziter Angriff auf die bürgerliche Auffassung von Macht und Liberalismus zu sein (cf. Feinmann 2010, 117ff.). Die laut neuer Verfassung geänderten Besitzverhältnisse in Bezug auf Grund, Boden und Bodenschätze sowie das festgestellte neue Wirtschaftsprinzip der Vorrangigkeit der sozialen Funktion von Privateigentum konnten von den Oligarchen nichts Gutes erwarten lassen. Tatsächlich aber, so Dabène und nicht nur dieser, hatte Perón aber wohl niemals vor, jene wohlhabende und einflussreiche oligarchische Oberschicht wirklich zu bedrohen oder gar zu zerstören (cf. Dabène 2000, 85). Perón war es aber sehr wohl von Anfang an ein Hauptanliegen, die sogenannten unteren Schichten für sich zu gewinnen, was er mit seinem autoritär-plebiszitären Führungsstil zu erreichen versuchte. Zusätzlich zu den neuen Sozialleistungen für die breite Bevölkerung gab es weitere arbeitsfreie Tage und vor allem immer wieder Massenveranstaltungen mit stark propagandistischem Charakter, an denen Hunderttausende teilnahmen, um ihren Führer zu sehen und zu hören. Juan Perón und seine Frau Eva Duarte wussten sich und ihre Geschichte zu inszenieren. Sie verstanden es, ihren relativ bescheidenen familiären Hintergrund für 24
»eine sozial gerechte, wirtschaftlich freie und politisch souveräne Nation zu schaffen.«
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ihre politischen Zwecke einzusetzen und aus ihrer attraktiven und zugleich gewinnenden Erscheinung politisches Kapital zu schlagen. Evita gab sich klassenkämpferisch, Juan Perón vor allem paternalistisch. Juan Perón setzte außerdem stets auf die Karte der Simplifizierungstechnik, d.h. auf sein Vermögen, dem Volk schwierige Sachverhalte auf einfache Weise zu erklären und genauso einfache Lösungen vorzuschlagen. Dadurch wurde er als volksnah wahrgenommen, was wiederum zu seinem Erfolg beitrug. Peróns jahrelange erfolgreiche Selbstinszenierung führte besonders ab 1949 nicht zuletzt auch durch die Machtausweitung für den Präsidenten gemäß der neuen Verfassung regelrecht zu einem Führerkult, der ja ebenso inszeniert sein will (cf. Waldmann 1974, 138ff.). Zu dieser Zeit gab es aber bereits wirtschaftliche Einbrüche. Eine handfeste Rezession hatte eingesetzt. Die terms of trade hatten sich weiter verschlechtert, die Arbeitslosigkeit war ein ernstes Problem geworden. 1947 betrug sie 3,6 %, 1949 bereits 23,2 %, was mit stetig wachsenden öffentlichen Ausgaben verbunden war (cf. Torre/Riz 1991, 87). Verschärft wurde die Krisensituation in der Folge noch zusätzlich durch massive Dürreperioden, die zu schweren Missernten führten. Die Exporte waren stark rückläufig, was wiederum gravierende Auswirkungen auf die Leistbarkeit von Importen hatte (cf. Cattaruzza 2009, 216; Waldmann 1996, 927ff.). Argentinien konnte die zugesagten landwirtschaftlichen Produkte nicht mehr liefern, wodurch es als Handelspartner international Vertrauen einbüßte (cf. Zanatta 2009, 145). Desgleichen ging auch der Absatz industrieller Produkte zurück, die Produktion sank und die Reallöhne fielen bis zu 25 % innerhalb von zwei Jahren. Subventionen erfolgten nur noch für den Export (cf. Waldmann 1996, 928). Es gab seitens des Staates ständig die Aufforderung, mehr landwirtschaftliche Güter zu produzieren, was auch finanziell abgegolten werden sollte. Gleichzeitig drohte aber Enteignung, falls nicht ausreichend produziert würde. Dies war Teil der Politik von Zuckerbrot und Peitsche und löste zudem ständig existentielle Unsicherheiten aus. Derartige Sorgen konnten wiederum politisch ausgenutzt werden, indem Gefälligkeiten im weitesten Sinne verlangt wurden (cf. Sidicaro 2 2010, 72). Nach der Verfassungsreform gab es nur noch Peronisten und Anti-Peronisten. Wer nicht für Perón war, war sein Feind. Bis 1949 mussten die Staatsbeamten dem Staat gegenüber loyal sein, ab 1949 hatten sie diese Loyalität dem Präsidenten gegenüber unter Beweis zu stellen. Alle politischen Veränderungen liefen nun auf die »›Peronisierung‹ des politischen Systems« (Waldmann 1974, 96) hinaus. Die Mittel wurden knapper, die Ausgaben selektiver und so wurden fortan auch nur noch Peronisten damit bedient (cf. Waldmann 1974, 85), um dem Peronismus weitere Attraktivität zu verleihen. Durch die Einrichtung des oben erwähnten IAPI, des Instituto Argentino de Promoción del Intercambio, konnte die Regierung außerdem einen beträchtlichen Teil der Exporteinkünfte abschöpfen und nach eigenem Gutdünken verteilen (cf. Werz 2010, 184). Der Korruption waren Tür und Tor geöffnet. Die Gewerkschaft, das Militär und die Kirche zählten bislang zu Peróns wichtigsten Stützen, doch nun gab es auch dort überall Anzeichen von Kritikbereitschaft und Widerstand. Der heftigste Gegenwind blies Perón zunächst aber von Teilen der höher gebildeten Schichten ins Gesicht, speziell aus den Universitäten. »Alpargatas sí, libros no«, lautete ein damals weit verbreiteter Slogan, »Hanfschuhe ja, Bücher nein« (cf. Werz 2010, 184). Damit sollte Basissolidarität gegen jene gefördert und zum Ausdruck
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gebracht werden, die ihre Zeit mit Büchern verbrachten, anstatt im Schweiße ihres Angesichts zu arbeiten. Der sprichwörtliche kleine Mann bzw. die braven (arbeitenden) Leute sollten den vermeintlichen Schmarotzern den Kampf ansagen. 1950 gab es aber auch die ersten Spannungen mit der bislang hofierten und treuen Amtskirche, nachdem es die Regierung abgelehnt hatte, den eucharistischen Kongress in Buenos Aires abhalten zu lassen. Außerdem nahmen Perón und seine Frau angeblich an einer spiritistischen Veranstaltung im Luna Park teil. Bei den Wahlen 1951 siegten die Peronisten klar. Die Radikalen erhielten dennoch ungefähr halb so viele Stimmen wie die Peronisten, bekamen letztlich aber aufgrund der Wahlrechtsreform nur eine verschwindend kleine Anzahl von Abgeordneten. Ganze vierzehn waren es, die der Opposition zustanden und der Senat war rein peronistisch bzw. eben peronistisch rein. 1951 erfolgte der erste Putschversuch, doch am 4. Juni 1952 gelang es Perón, das zweite Mandat anzutreten. Die wirtschaftliche Lage war äußerst angespannt. Im Militär begann sich nun Unmut ob Peróns geradezu totalitaristischer Anwandlungen zu regen. Evitas wachsender Einfluss wurde ebenso wenig goutiert wie der gewerkschaftliche Vorschlag vor den Wahlen, Evita möge als Vizepräsidentschaftskandidatin ins Rennen gehen. Perón war aber die Unterstützung des Militärs letztlich doch zu wichtig, als dass er durch die Kandidatur Evitas etwas riskieren wollte (cf. Cattaruzza 2009, 218ff.; Halperin Donghi 3 2000, 81ff.; Waldmann 1996, 930ff.). 1952 erhob der Kongress die peronistische Ideologie unter der Etikette justicialismo zur nationalen Doktrin. Laut neuer Lebensphilosophie galt es, einfach, praktisch, bodenständig, christlich und humanistisch zu sein. Die Hauptziele waren das Glück des Volkes und die Größe der Nation. Erreicht werden sollten sie durch die Praxis sozialer Gerechtigkeit, wirtschaftlicher Unabhängigkeit und politischer Souveränität sowie durch das Respektieren spiritueller Werte und individueller Rechte, die stets im Einklang mit den Anforderungen der Nation zu stehen hatten (Torre/Riz 1991, 84ff.). 1952, im Jahr der Wiederwahl, war wirtschaftlich ein Tiefpunkt erreicht. Die Streiks häuften sich und wurden gewaltsam unterdrückt. Sowohl Produktion als auch Handel waren stark abgeflaut. Doch auch das politische Handeln nahm neue Züge an, die zunehmend Unbehagen auslösten. Peróns Herrschaftsanspruch schien grenzenlos. Repression und Kontrolle nahmen weiter zu. Die Korruptionserscheinungen rund um den Personenkult des Präsidenten erreichten Ausmaße, die zu immer größerer Ablehnung Peróns führten. Die Oppositionsparteien waren jedoch mit den Zwistigkeiten untereinander so sehr beschäftigt, dass sie keine attraktiven Alternativen bieten konnten. In dieser Situation wurde immer häufiger auf das Militär geschielt, in der Hoffnung, dass dieses letztlich der politischen und wirtschaftlichen Pattstellung ein Ende bereiten würde (cf. Waldmann 1996, 931ff.). In der Marine hatte die Ablehnung gegenüber Perón tatsächlich seit 1952 massiv zugenommen. Perón hatte begonnen, seine ausgrenzende Haltung gegenüber den Vereinigten Staaten zu überdenken und in Betracht gezogen, in den USA um Investitionen im Bereich der Erdölförderung anzusuchen. Er schien also angesichts der wirtschaftlichen Zwangslage bereit, das preiszugeben, was er stets als politische Souveränität bezeichnet und um jeden Preis verteidigt hatte. Bei den argentinischen Nationalisten, allen voran jenen in der Marine, löste dies allerdings die reinste Empörung aus. Was der Marine ebenso missfiel, war der zu eskalieren drohende Konflikt zwischen Perón und der katholischen Kirche, wobei bis heute nicht geklärt ist, was wirklich dafür ausschlaggebend war (cf. Werz 2010, 185ff.). Da es keinen Ausweg aus
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der vor allem wirtschaftlich misslichen Lage zu geben schien, verkündete Perón am 18. Februar 1952 das In-Kraft-Treten des Plan de Emergencia, des Notfallplans: Zwei Jahre lang sollten Preise, Löhne und Gebühren auf dem damals aktuellen Stand eingefroren und die hehren Prinzipien des justicialismo sollten durch das Gebot der maximalen Produktion ersetzt werden (cf. Zanatta 2009, 148ff.). Dieser Kurswechsel sollte baldige wirtschaftliche Erfolge zeitigen und so präsentierte Perón bereits Ende 1952 den zweiten Fünfjahresplan. Dieser fokussierte in erster Linie den Ausbau der Schwerindustrie und Petrochemie (cf. Cattaruzza 2009, 219). Die Überlegung, gar ausländische Investoren einzuladen, wurde, wie oben gesagt, jedoch heftigst kritisiert und rundweg abgelehnt. 1952 wurde ferner politische Bildung als Fach an den Universitäten verpflichtend. Zwischen Dezember 1952 und August 1953 wurde, wie bereits erwähnt, die CGE, die Confederación General Económica geschaffen, um dem Staat möglichst überall und durchgängig den unmittelbaren Zugriff zu ermöglichen (cf. Cattaruzza 2009, 221). Die CGE umfasste die Unternehmerverbände sowie die Confederaciones Rurales Argentinas, die Sociedad Rural Argentina, die Cámara Argentina del Comercio, die Börse, also die Bolsa de Comercio de Buenos Aires, und schließlich auch die Kammern der UIA, der Unión Industrial Argentina. Die CGE wurde zum treuen Verbündeten Peróns, speziell bei Regierungsinitiativen. Sie sorgte weiter für erhöhte Produktion, für die Verbesserung der Industrie und nicht zuletzt auch für entspanntere Beziehungen mit dem Ausland (cf. Sidicaro 2 2010, 88ff.). Ein schwerer Schlag für Perón und für das ganze Land jedoch war der Tod Evitas am 26. Juli 1952. Allmählich begann sich die Wirtschaft wieder zu erholen. 1953 war die Inflation wieder bei 4 %, 1954 war sie auf 3,8 % gesunken. Die Reallöhne stiegen, die Außenhandelsbilanz war wieder positiv, die landwirtschaftliche Produktion stieß sogar an ihre Grenzen (cf. Torre/Riz 1991, 90ff.). Mit den USA gab es eine leichte Entspannung, im Lande selbst hingegen nahmen Kontrolle, Zensur und Repressionen jeder Art weiter zu. Die Opposition war kaum noch präsent (cf. Cattaruzza 2009, 221ff.). Am 9. April 1953 wurde Evas Bruder Juan Duarte, der außerdem Juan Peróns Privatsekretär war, tot aufgefunden. Er sollte angeblich in Spekulationen und Schwarzmarktgeschäfte verwickelt gewesen sein (cf. Cattaruzza 2009, 222). Bald kursierten Gerüchte, wonach die Regierung mit seinem Tod zu tun hatte, der aber nie wirklich aufgeklärt wurde. Am 15. April detonierten dann während einer Rede Peróns Bomben auf der Plaza de Mayo. Als Reaktion darauf gingen die Parteisitze der Opposition sowie der Jockey Club in Flammen auf. Massenhafte Festnahmen von Oppositionellen waren die Folge (cf. Halperin Donghi 3 2000, 81ff.). Es war klar geworden, dass die politische Atmosphäre äußerst spannungsgeladen und der soziale Friede nur noch hauchdünn war. Als ob all dies noch nicht gereicht hätte, ließ Perón 1953 eine politische Schülerorganisation ins Leben rufen, die Unión de Estudiantes Secundarios, was für die Kirche ein handfester Skandal war, zumal sie diese als Konkurrenzorganisation zu ihren eigenen Jugendorganisationen betrachtete. Weiters sollte sogar eine christlich-demokratische Partei gegründet werden, der Partido Demócrata Cristiano, was die Kirche als weitere Provokation wertete. Bei den Wahlen 1954 erhielten die Peronisten zwar 62 % der Stimmen, doch die Kirche hielt nun ihre massive Kritik an Perón nicht mehr länger zurück, woraufhin sich die Spirale der Aggressivität und Gewalt, zunächst verbal, bald aber auch physisch, weiterzudrehen begann. Im Dezember 1954 wurden die Subventionen für die katholischen
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Schulen gestrichen. Die Tageszeitung El Pueblo wurde geschlossen. Zahlreiche Priester wurden verhaftet und inhaftiert. Der Religionsunterricht an Schulen wurde eingestellt. Das Scheidungsrecht wurde eingeführt und 1955 wurden schließlich noch die religiösen Feiertage reduziert. Der Plan war, fortan den Staat vollständig von der Kirche zu trennen. Perón wurde exkommuniziert (cf. Zanatta 2009, 201). Die katholischen Aktivisten wurden nun von der Opposition unterstützt. Die Fronleichnamsprozession am 11. Juni 1955 geriet zur politischen Demonstration, an der sich Sozialisten, Kommunisten, Radikale sowie auch Konservative beteiligten. Hunderttausende gingen auf die Straße. Fünf Tage darauf versuchte die Marine einen Staatsstreich. Die Plaza de Mayo wurde vom eigenen Militär bombardiert, um Perón zu beseitigen. 300 Menschen kamen dabei ums Leben, zahlreiche andere wurden verletzt. Perón konnte sich retten. In der darauffolgenden Nacht zündeten Peronisten in Buenos Aires Kirchen an. Polizei und Feuerwehr schauten zu (cf. Zanatta 2009, 202). Perón änderte in einem letzten Aufbäumen seine Taktik. Gerade jetzt hob er den seit geraumer Zeit andauernden und oftmals kritisierten Ausnahmezustand auf und lud sogar die Oppositionellen ein, im Radio zu sprechen. Diese suchten jedoch keinen Kompromiss mehr, die Fronten waren endgültig verhärtet (cf. Cattaruzza 2009, 225ff.). Solano Lima, der Vertreter der Konservativen, rief alle auf, die Regierung zu stürzen. Indirekt galt dieser Appell auch dem Militär. Arturo Frondizi, Chef der Radikalen, versprach, die lang angekündigte und nie wirklich in Angriff genommene wirtschaftliche und soziale Revolution endlich durchzuführen. Peróns Kollaborateuren versprach er die Amnestie. Damit war nun auch für Perón der Waffenstillstand beendet. Hatte er vorher noch dem Partido Peronista und der CGT angeboten, um des Friedens willen aus der Regierung auszusteigen, was zu den erwarteten und wohl auch intendierten Demonstrationen für ihn geführt hatte, so forderte er nun seine Anhänger auf, mit Gewalt auf Gewalt zu reagieren. Für einen toten Peronisten sollten fünf Gegner sterben (cf. Halperin Donghi 3 2000, 85ff.).25 Am 16. September 1955 brach die entscheidende Militärrevolte aus und fünf Tage danach war immer noch nicht klar, welche Seite des Militärs den Sieg davontragen würde. Perón wollte verhandeln, aber nicht abdanken. In der ausweglosen Situation suchte er dann letztlich doch Zuflucht in der paraguayischen Botschaft. Bei General Strössner war er herzlich willkommen. Das eigene Militär hatte ihn aufgegeben, der Klerus feierte seinen Fall, enttäuschte Unternehmer und verunsicherte Oligarchen blieben ratlos zurück. Die noch verwirrten Arbeiter sollten ihn bald vermissen (cf. Zanatta 2009, 204), doch am 23. September drängte die Menge bereits erneut auf die Plaza de Mayo, diesmal um General Lonardi als Interimspräsidenten zu begrüßen (cf. Torre/Riz 1991, 92ff.).
3.1.1.3 Das Wesen des Peronismus Versuchen wir nun auf der Grundlage des bisher Dargelegten zu erfassen, was unter Peronismus zu verstehen ist. Die wesentlichen, mit dieser Erörterung verknüpften Fragen sind folgende: Erstens: Wer war Juan Perón tatsächlich, was tat er und welche Absichten verbargen sich möglicherweise hinter seinem Tun? Zweitens: Wie stand er wirklich zu den Arbeitern und was bedeutete ihm die Oberschicht? Drittens: Wo und warum gab es trotz des zunehmend autoritärer werdenden Regimes immer noch Freiräume? 25
Siehe dazu die Analyse der Rede Peróns im Kapitel 6.
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Viertens: Welches Ideal der Gesellschaft schwebte ihm vor bzw. strebte er tatsächlich an? Fünftens: Wo positionierte er sich und Argentinien im Weltgeschehen bzw. was war die angestrebte tercera posición? Sechstens: Welche Rolle spielte der justicialismo als Quintessenz der peronistischen Ideologie? Siebtens: Wie und warum wurde Perón zum (lebenden) Mythos? 3.1.1.3.1 Peróns Sein und Schein Weiten Teilen Lateinamerikas war der caudillismo bestens vertraut. Der caudillo war einerseits der militärische (An-)Führer,26 andererseits aber auch der Großgrundbesitzer, in dessen Abhängigkeit der (Land-)Arbeiter stand. Der (Land-)Arbeiter diente dem caudillo, der caudillo sorgte dafür im Gegenzug für den (Land-)Arbeiter, sodass zumindest dessen Existenz gesichert war. Auf diese Weise bestand eine Gegenabhängigkeit zwischen caudillo und (Land-)Arbeiter. Betrachtete Perón sich nun als caudillo, als Befreier oder gar als Revolutionär? Er sah sich formell am ehesten als conductor. Dadurch setzte er sich deutlich von den umstrittenen caudillos ab, brachte aber dennoch seinen Führungsanspruch zum Ausdruck. Implizit verstand er sich desgleichen als Befreier, nämlich als Befreier der Arbeiter und quasi leibeigenen Bauern. Natürlich sah er sich gerade auch als Revolutionär, zumal er seinen Aufstieg in das Präsidentenamt als Revolution feierte, obwohl er das Ergebnis regulärer Wahlen war. Perón war also Präsident, der sich in caudillistischer Manier um seine von ihm selbst auf quasi revolutionäre Weise befreiten Arbeiter kümmerte (cf. Dabène 2000, 79), im Gegenzug von diesen aber die volle Unterstützung erwartete. Perón war also Präsident, der sich als Held der Arbeiter, als Retter der argentinischen Nation sowie als Verteidiger des bedrohten Christentums zelebrierte. Sein massiver Einsatz für die Selbständigkeit der Bauern und Arbeiter, für eine weit über das eigene Land hinausstrahlende Argentinität und für das Erstarken der katholischen Kirche führte auch zu Abschottung und Ausgrenzung, ja sogar zu Überlegenheitsgebärden anderen gegenüber. In Bezug auf Abschottung und Ausgrenzung hatte Peróns Ideologie wohl durchaus faschistoide, wenn nicht faschistische Züge. Bestärkt wird diese Vermutung durch die Tatsache, dass zahlreiche Faschisten und Nationalsozialisten nach dem Zweiten Weltkrieg bei Perón Unterschlupf fanden (cf. Feinmann 2010, 30; Werz 2010, 175). Nicht zuletzt deshalb wird es letztlich immer ungeklärt bleiben, wie Peróns Selbstverständnis und wo seine politische Linie einzuordnen sind. Mit den bekannten Kategorien wird man schwer das Auslangen finden; denn er und seine Politik scheinen bei verschiedenen und vor allem bei gegensätzlichen Ideologien und Strömungen Anleihen genommen zu haben. Etiketten wie Arbeiteremanzipation, Nationalismus, sozialer Katholizismus oder gar Kreolenfaschismus (cf. Cattaruzza 2009, 181) bzw. argentinischer Faschismus (cf. Zingoni 2009, 14) sind plakativ und können die Vielschichtigkeit der peronistischen Ideologie nicht wiedergeben. Falls überhaupt von einer Ideologie die Rede sein kann, ist diese eine hybride. Möglicherweise handelt es sich aber dann sogar eher um eine Ideologie des flexiblen Pragmatismus statt kohärente Politik, um jederzeit und allerorts Zustimmung zu erhalten (cf. Zanatta 2009, 58).
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So bezeichnete sich auch Francisco Franco als Caudillo.
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3.1.1.3.2 Balanceakte zwischen den Schichten Perón war es ein großes Anliegen, den Arbeitern zu ihren Rechten und zu einem gewissen Wohlstand zu verhelfen (cf. Feinmann 2010, 57). Sein Argument dafür war die drohende Gefahr einer revoltierenden Arbeiterschaft im Falle ihrer anhaltenden Unterdrückung und Ausbeutung. Perón legte es jedoch nicht darauf an, bei den Arbeitern ein Klassenbewusstsein zu fördern, sondern es war eher ein anti-patronales Bewusstsein, das sich in der Arbeiterschaft entwickeln sollte. Perón wollte den Arbeitern Macht geben, aber keinesfalls die Übermacht (cf. Feinmann 2010, 58ff.). Perón agierte auf der Grundlage der privaten Interessen der Arbeiter, nicht auf jener der ideologischen (cf. Groppo 2009, 31), wohl eben um weder Klassenbewusstsein zu fördern noch ideologische Gegenentwürfe zu den bestehenden zu beflügeln. Er gebärdete sich als Held der Arbeiterschaft, der diese aus der Quasi-Versklavung führen würde. Gleichzeitig war offensichtlich, dass er niemals die bestehenden Privilegien der Oligarchen und Großunternehmer bekämpfen oder gar zerstören wollte (cf. Zanatta 2009, 175ff.; Feinmann 2010, 62). Im Grunde trachtete Perón danach, die Oligarchie aufrechtzuerhalten und dabei die Arbeiterschaft so in diese zu inkorporieren, dass der soziale Friede nicht gefährdet würde. Dafür erntete Perón erwartungsgemäß heftige Kritik von der Linken. Die politische Bewusstseinsbildung der Arbeiterschaft erfolgte quasi von oben, d.h. durch den Staat. Sie war eine von Perón initiierte und gesteuerte, während sie in der Regel sonst aufgrund bestimmter sozioökonomischer Verhältnisse entsteht. D.h. im Normalfall, so es diesen gibt, formiert sich politisches Bewusstsein in der Arbeiterschaft, daraus erwachsen gewerkschaftliche Organisationen und diese werden dann zu Massenparteien (cf. Hobsbawm in Feinmann 2010, 55ff.). Perón war zwar der Fürsprecher der Arbeiter und Rechtlosen, wollte umgekehrt aber jenen, die mehr Rechte oder eben Vorrechte hatten, nur wenige von diesen streitig machen. Er gewann die mehr oder weniger uneingeschränkte Unterstützung der Arbeiterschaft, ohne jedoch die der Oligarchen und Unternehmer im großen Stil einzubüßen. Ob Peróns Handeln dem Ziel sozialer Gerechtigkeit entstammte oder rein politisches Kalkül war, war damals nicht klar und ist nach wie vor umstritten. 3.1.1.3.3 Autoritarismus mit Freiräumen Wie bereits dargelegt, wurde Perón demokratisch in das Präsidentenamt gewählt. Die tragenden Säulen seiner Präsidentschaft waren von Anfang an das Militär, die Kirche und die Arbeiterschaft. Das Militär erhoffte sich allein durch ihn, einflussreich zu bleiben. Argentinien war das lateinamerikanische Land mit dem größten Militärbudget (cf. Zanatta 2009, 104). Der Kirche gefiel Peróns Anti-Liberalismus (cf. Torre/Riz 1991, 77), seine Identifikation mit der katholischen Soziallehre sowie seine Begeisterung für die päpstlichen Sozialenzykliken (cf. Zanatta 2009, 71) und die Arbeiterschaft erwartete sich durch Perón zu Rechten und Wohlstand zu kommen. Der Staat investierte in Seminare und katholische Schulen. Es war ihm ein Anliegen, Argentinien nach der liberalen Ära quasi zu rechristianisieren (cf. Zanatta 2009, 153). Sowohl die Kirche als auch das Militär genossen besonders bis 1949 gewisse Freiräume. Perón wusste, dass er sich diese seine fundamentalen Stützen bei Laune halten musste und war ihnen darüber hinaus für ihre Unterstützung zu Dank verpflichtet (cf. Zanatta 2009, 190). Nach der Wiederwahl 1951
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gab es für die treuen Weggefährten zunächst verstärkt Privilegien, Gehaltserhöhungen, Beförderungen und sogar ausländische Autos, was allerdings nicht sehr lange anhielt. Schleichend wurde Perón immer autoritärer und vor allem seit der Verfassungsreform von 1949, durch die er tatsächlich an die Spitze der Macht gekommen war (cf. Zanatta 2009, 134), standen ihm, wie oben besprochen, Tür und Tor für Gesetzesänderungen offen. Die Medien wurden immer direkter vom Staat kontrolliert. Perón strebte das absolute Machtmonopol an, was zur Unterordnung sowohl des Militärs als auch der Kirche führen sollte, womit er großen Unmut auf sich zog. Kirche und Militär wollten nämlich die Schutzfunktion über die Nation nicht aufgeben (cf. Zanatta 2009, 198). Das Militär lehnte es ab, der Regierung unterstellt zu sein. Weiters lehnte es sowohl den Evita-Kult als auch die Glorifizierung Peróns ab (cf. Zanatta 2009, 152). Die Kirche widersetzte sich ebenfalls Peróns Machtansprüchen. Daraufhin wurde Perón zunehmend kirchenkritischer und berief sich immer unmittelbarer auf Jesus selbst und dessen Soziallehre. Er wurde nicht müde zu betonen, wie weit sich die Kirche von dieser entfernt habe. Der Kirche wurden die Subventionen gestrichen, Widerstand leistende Priester kamen ins Gefängnis (cf. Cattaruzza 2009, 224ff.), Kirche und Staat sollten letztlich vollständig voneinander getrennt werden. Auch in politischen Bereichen wurden die Säuberungen immer systematischer (cf. Feinmann 2010, 62). Politische Gegner wanderten geradewegs ins Gefängnis (cf. Waldmann 1974, 82). Durch Folter wurden Geständnisse erzwungen (cf. Zanatta 2009, 175ff.). Es gab Versammlungsverbot (cf. Zanatta 2009, 200). Die politische Opposition wurde systematisch ausgeschaltet (cf. Werz 2010, 77) und die Diktatur schien nicht mehr fern (cf. Zanatta 2009, 139). Das Militär stand letztlich im Loyalitätskonflikt zwischen Perón und der Kirche, entschied sich dann aber gegen ihn. Die Freiräume waren immer kleiner geworden und letztlich zugunsten des Autoritarismus ganz verschwunden. Letzten Endes gab es dann jedoch keinen Raum mehr für Perón, der quasi als Opfer seines eigenen Autoritarismus das Weite suchen musste. 3.1.1.3.4 Der Korporatismus oder die Gesellschaft als organisches Ganzes Perón war, wie oben gesagt, durch Wahl an die Macht gekommen, gerierte sich in der Folge jedoch als heldenhafter Tribun, der vom Volk quasi durch Revolution an die Spitze des Staates gehievt worden war. Er sah dadurch sein Tun und Handeln als doppelt legitimiert und nahm sich gerade in der politischen Gestaltung des Landes entsprechende Freiheiten heraus. Ohne formale Veränderungen nahmen die Institutionen, Gremien, Verbände und Vereine nach und nach korporatistische Züge an (cf. Zanatta 2009, 100). Auch jene, die wie oben festgestellt, bis 1949 gewisse Freiräume genossen hatten, also Militär, Kirche und Arbeiterschaft, wurden immer straffer organisiert (cf. Zanatta 2009, 141). Es sollte jedoch die amorphe Gesellschaft als Ganze organisiert und die Randgruppen unter Kontrolle gebracht werden (cf. Waldmann 1974, 80). Gleichschaltung, Säuberung und Straffung nannten wir oben die strategischen Prinzipien, die Peróns Politik von Anfang an charakterisierten. Potentiell oder real Auseinanderdriftendes wurde, wie bereits dargelegt, gleichgeschaltet, oppositionelle Elemente wurden entfernt und die Strukturen gestrafft. All das diente dem Zweck des Ausbaus korporatistischer Strukturen, an deren Spitze der Präsident stehen sollte (cf. Waldmann 1996, 930). Der Staat wurde als ein quasi organisches Gebilde betrachtet (cf. Zanatta 2009, 134). Alle Bestand-
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teile seien naturgemäß auf das Wohlergehen des Ganzen, d.h. des Staates, ausgerichtet. Aus diesem Grund seien unterschiedliche Parteien auf jeder Ebene überflüssig, kontraproduktiv, schädlich und für das Ganze sogar zerstörerisch (cf. Torre/Riz 1991, 84; Waldmann 1996, 930ff.). Der Interventionsstaat stellte zweifellos den idealen Rahmen für das peronistische Experimentierfeld dar (cf. Sidicaro 2 2010, 55), war aber damals bereits nicht mehr zeitgemäß. Konflikte waren nicht mehr zu lösen, indem man sie als pathologisch einstufte (cf. Zanatta 2009, 174). Das Auslöschen bestimmter staatlicher Strukturen und das Einfrieren anderer lähmte jede Entwicklung, die naturgemäß gerade aus der Reibung der sozialen Kräfte erwächst. Konflikte sind eben nicht pathologisch. Der Korporatismus war mit dem modernen Staat schon damals nicht mehr vereinbar (cf. Zanatta 2009, 174). Perón verabsäumte es bis zum Schluss, dem Staat durch wirklich demokratische Strukturen eine Chance zu geben. Stattdessen wurde er immer autoritärer, wofür er letztlich mit seinem Abgang zu bezahlen hatte (cf. Waldmann 1996, 928). 3.1.1.3.5 Die Unparteilichkeit der tercera posición Die tercera posición bzw. der dritte Weg scheint geradezu ein Wesensmerkmal des Peronismus zu sein, und zwar nicht nur in Bezug auf die Außenpolitik, aus der die Haltung als solche ursprünglich hervorging. Ungeachtet des eigenen ideologischen Wertemaßstabs wollte sich Argentinien schon im zweiten Weltkrieg weder auf die Seite der Achsenmächte noch auf jene der Alliierten schlagen. Der westliche, auf geradezu prototypische Weise durch die USA vertretene Liberalismus und demokratische Kapitalismus (cf. Zanatta 2009, 121) wurden nicht minder verachtet als die aus dem Osten drohende totalitäre kommunistische Gefahr. Der von Argentinien vorgeschlagene dritte Weg sollte die gute Alternative zu jenen beiden Übeln darstellen. Argentinien wollte sich damit als dritter global player ins Spiel bringen, als Spitze des lateinischen Blocks unter vatikanischer Schirmherrschaft (cf. Zanatta 2009, 121). Für die USA war Argentinien ein Fremdkörper in der westlichen Sphäre, die möglichst geschlossen gegen die Sowjetunion auftreten sollte. Sie versuchten Perón dazu zu bewegen, seine Position aufzugeben, was zunächst aber misslang. Argentinien verlor zwar immer mehr Freunde in Lateinamerika, die sich durchaus den US-amerikanischen Zielen verschrieben hatten (cf. Zanatta 2009, 184ff.) und auch entsprechend davon profitierten, und geriet durch seine Neutralität zunehmend in Isolation (cf. Waldmann 1974, 69). Dennoch rückte Argentinien aber nicht von der eigenen Position ab, ganz im Gegenteil, die tercera posición wurde sogar zu einem Druckmittel für Perón gegenüber den USA. Quasi erst im letzten Augenblick erklärte Argentinien kurz vor Kriegsende Deutschland aus den oben dargelegten Gründen den Krieg. Der dritte Weg charakterisierte jedoch Peróns politische Haltung ganz grundsätzlich. Vielleicht war es aber in Wirklichkeit kein dritter Weg, sondern bloß ein unentschlossenes Lavieren zwischen markanten Positionen. Perón kämpfte zwar für die Sache der Arbeiter und Bauern, war andererseits hingegen weit davon entfernt, die Privilegien der Oligarchen und Großunternehmer anzutasten. Er frönte der unangefochtenen Machtposition an der Spitze des Staates, machte für Unzulänglichkeiten jeder Art, die ihm durchaus gelegen kamen, dann jedoch die Administration verantwortlich. Im
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Militär sah Perón den Garanten der Aufrechterhaltung seiner Ordnung, wollte es dann aber trotzdem seiner Politik unterordnen. Auf der internationalen Bühne wollte Perón wichtig sein, gleichzeitig jedoch die absolute Unabhängigkeit wahren (cf. Zanatta 2009, 121). In Bezug auf die Kirche war es eher so, dass Perón nach außen hin nicht zugleich zwei Positionen einnahm, sondern dass er eine nach der anderen anscheinend aus voller Überzeugung vertrat. Er unterstützte jahrelang aus ganzer Kraft die katholische Kirche und verstand sich quasi als oberster Missionar Lateinamerikas. Praktisch ohne jeden plausiblen Grund machte er jedoch plötzlich kehrt und bekämpfte die katholische Kirche mit der gleichen Vehemenz, mit der er sich vorher für sie eingesetzt hatte. Daraus ergibt sich rückblickend die Frage, wie glaubwürdig sein Einsatz für die katholische Kirche war. Lavierte Perón möglicherweise auch in der Frage der Kirche von Anfang an zwischen zwei Positionen und verteidigte je nach Bedarf und Gewinnaussicht entweder die eine oder die andere? Dies scheint angesichts seines abrupten Richtungswechsels gut möglich. Wie dem auch sei, Perón spielte mit allen und spielte alle gegeneinander aus. Er versuchte mit dem Sprung von der »lógica de la diferencia« zur »lógica de equivalencia« die Quadratur des Kreises (cf. Groppo 2009, 136ff.), die eine Illusion bleiben musste. Perón fuhr stets auf der Schiene des maximalen Pragmatismus und nicht auf jener der kohärenten Ideologie bzw. Politik und wurde letztlich ein Opfer seiner eigenen Doppelbödigkeit (cf. Zanatta 2009, 58). 3.1.1.3.6 Der justicialismo als explizierte Ideologie Die Veinte Verdades Peronistas, die Zwanzig peronistischen Wahrheiten, die als Doktrin des justicialismo in die Geschichte eingegangen sind, verlas Perón am 17. Oktober 1950, dem fünften Jahrestag des Día de la Lealtad, vom Balkon der Casa Rosada. Diese Wahrheiten sind sehr allgemein gehalten und aus diesem Grund auch dehnbar und vielseitig interpretierbar. Zu den Kernaussagen zählen folgende: Die Regierung habe ausschließlich die Interessen des Volkes zu vertreten. Dem Peronismus gehe es im Wesentlichen um das Volk. Ein Peronist arbeite nur für den Movimiento, d.h. die peronistische Bewegung. Für den Peronisten gebe es bloß eine Klasse von Menschen, jene die arbeiten. Arbeit sei ein Recht für alle. Das Beste, das es für einen Peronisten gebe, sei ein weiterer Peronist. Auf der Werteskala des Peronisten befinden sich an oberster Stelle das Vaterland, dann der Movimiento und an dritter Stelle die Menschen. Die Politik diene nur dem Wohl des Vaterlandes. Die zwei Arme des Peronismus seien soziale Gerechtigkeit und soziale Unterstützung. Die einzigen Privilegierten des Landes seien die Kinder. Eine Regierung ohne Doktrin sei wie ein Körper ohne Seele. Der justicialismo sei die neue Lebensphilosophie des einfachen, zutiefst christlichen und humanistischen Lebens. Wirtschaft und Kapital haben der sozialen Gerechtigkeit und dem wirtschaftlichen Wohlstand zu dienen. Anzustreben sei ein sozial gerechtes, wirtschaftlich freies und politisch souveränes Argentinien. Eine zentralisierte Regierung, ein organisierter Staat und ein freies Volk seien die Grundpfeiler des Landes und das Beste des Landes überhaupt sei das Volk. Der justicialismo wurde zur neuen Religion, die Perón nicht erklärte, sondern predigte (cf. Zanatta 2009, 139). Aufgrund der Vagheit jener Wahrheiten gab es für den Interpreten bzw. Prediger des justicialismo jederzeit genügend Spielraum, die Wahrheiten entsprechend zu deuten.
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3.1.1.3.7 Der Mythos Perón Was machte Perón und seine Frau Evita – vielleicht schon von Anfang an – zum Mythos? Es gelang Perón, sich als Quasi-Revolutionär feiern zu lassen, was wahrscheinlich eher dem unerwarteten Wahlausgang 1946 und mehr noch seiner der Wahl vorangehenden Verhaftung, Deportation und späteren Freilassung geschuldet war als der demokratischen Wahl, die er für sich entschied. Er zeigte sich im Hemd und gab sich auch hemdsärmelig, was dem damaligen Klischee vom Politiker (noch) nicht entsprach. Das war neu und ungewohnt. Perón wollte, wie oben gesagt, nicht caudillo, sondern conductor sein (cf. Werz 2010, 181), um das vergilbte Bild des Führers loszuwerden. Er versprach allen alles und löste immer nur teilweise ein, ließ dafür liebend gern alle im Ungewissen. Dies verlieh ihm die Aura des Wohlmeinenden und Gönners, der nach Möglichkeiten verteilte. Seine Politik von Zuckerbrot und Peitsche war Nervenkitzel und hatte zugleich auch etwas Geheimnisvolles. Es war nie ganz klar, was Perón bot und vor allem, was er verlangte, doch man war ihm ausgeliefert. Die Unsicherheit wurde durch das omnipräsente Zugriffsrecht des Staates gemäß Verfassung ‘49 Art. 40 (cf. Sidicaro 2 2010, 85) noch gesteigert, wodurch Perón zwar gefürchtet, in erster Linie aber als Allmächtiger wahrgenommen wurde. Einen ganz wesentlichen Anteil am Mythos Perón hatte seine Frau Eva Duarte, die als Evita in die Geschichte einging. Sie war geradezu Wahrzeichen des justicialismo und jefa espiritual (Zanatta 2009, 159). Für viele war sie eine Ikone, eine mediadora divina, beinahe in der Nähe der Virgen María (cf. Zanatta 2009, 117). Sie war aber auch diejenige, die lauthals Gerechtigkeit verlangte und die Reichen anklagte. Gleichzeitig war sie die Diva, die gönnerhaft den Bedürftigen zusteckte, wo immer sich die Gelegenheit dazu bot. Ihr früher Tod tat das Übrige zur Mythosbildung rund um die Mutter der Nation. Letztendlich schien Perón der Realität immer mehr entfliehen zu wollen. Eskapismus machte sich bemerkbar. Es war gerade so, als ob er geahnt hätte, dass sein exzessiver Machtanspruch, seine Willkür, sein Triumphalismus und seine Selbstherrlichkeit (cf. Zanatta 2009, 193) letztlich in der Praxis einer Realitätsverweigerung gleichkamen und sein Scheitern besiegelten. Auf Peróns Rückkehr aus dem Exil 1973 und auf seine kurze dritte Amtszeit als Präsident nach 1946 und 1951 bis zu seinem Tod 1974 ist hier nicht mehr einzugehen.
3. Die politisch-historische Dimension
3.2
Brasilien
3.2.1
Der Vargismus aus historisch-politischer Perspektive
3.2.1.1
Die Wegbereiter des Vargismus
Auch im Falle Brasiliens beginnt Ende des 19. Jahrhunderts eine wahrlich neue Ära. Es war nämlich erst im Jahre 1889, als in Brasilien das Kaiserreich durch einen Putsch beendet wurde.27 Die Republikaner hatten bei Marschall Manuel Deodoro da Fonseca militärisches Engagement im Kampf gegen die Monarchie gesucht und gefunden.28 Deodoro da Fonseca stürzte schließlich am 15. November 1889 die Regierung und zugleich den Kaiser, Pedro II., der auch gar keinen Widerstand mehr leistete. Noch im selben Jahr ging der abgesetzte Kaiser, der seit 48 Jahren im Amt gewesen war (cf. Cammack 1996, 1059), mit seiner Familie nach Portugal ins Exil. 1891 starb er in Paris (cf. Rinke/Schulze 2013, 113). Es war im Grunde ein äußerlich unspektakulärer Übergang von der Monarchie zur Republik, der sich allerdings bereits seit geraumer Zeit abgezeichnet hatte, wie wir jetzt zeigen werden. 1822 erklärte Dom Pedro I. aus dem Hause Braganza29 die Unabhängigkeit Brasiliens und noch im selben Jahr wurde er Kaiser dieses Großreiches (cf. König 2014, 165). Schon während der gesamten Kolonialzeit war Brasilien in erster Linie Exporteur von landwirtschaftlichen Erzeugnissen und Bodenschätzen gewesen. Seit Beginn der Kolonialzeit bis Anfang des 19. Jahrhunderts war es vor allem der Zucker, der von den Kolonialherren angebaut und nach Europa exportiert wurde. Im 18. Jahrhundert setzte der Goldrausch ein. Nun wurde vor allem abgebaut, das Ziel der wertvollen Ware war jedoch nach wie vor Europa. Letztlich war es aber dann der Kaffee, der ab dem 18. Jahrhundert in Brasilien angebaut wurde und als Exportware alles andere bei Weitem überflügelte. Er war von minderer Qualität, daher billiger als etwa jener aus Kolumbien oder Jamaica und aus diesem Grund in Europa leichter absetzbar als der vergleichsweise teure aus anderen Ländern. In den 1880er Jahren war Kautschuk nach Kaffee das zweitwichtigste Exportprodukt. Der Zucker erlebte Ende des 19. Jahrhunderts ein Revival, doch auch der brasilianische Kakao zählte in Europa zu den begehrten Kolonialwaren (cf. Dean 1986, 694ff.; Fausto 1986, 783ff.). In Brasilien hatte es aufgrund der Ausfuhr all dieser Waren zumindest für eine sehr dünne Schicht einen großen wirtschaftlichen Aufschwung gegeben, der allerdings weitestgehend nur dank der in diesem Lande bereits seit dem 16. Jahrhundert bestehenden Sklaverei möglich gewesen war.30 Die Sklaverei war also 27
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Zur Erinnerung sei erwähnt, dass Ende November 1807 der gesamte portugiesische Königshof auf der Flucht vor den napoleonischen Truppen Portugal verließ, um in Brasilien Schutz und Sicherheit zu finden. Anfang März 1808 kam er in Rio de Janeiro an. 1884 gab es Spannungen zwischen dem Militär und der Regierung (questão militar). Offizier Antônio de Sena Madureira war wegen politischer Aktivitäten nach Rio Grande do Sul strafversetzt worden. General Deodoro da Fonseca protestierte aber erfolgreich dagegen (cf. Rinke/Schulze 2013, 112). Die portugiesische Schreibweise ist Bragança. Um 1890 gab es in Brasilien ca. 600 Unternehmen vor allem im Bereich der Nahrungsmittel-, Kleidungs-, Möbel- und Metallindustrie mit insgesamt 50.000 Arbeitern. Zu jener Zeit gab es auch bereits 9.000 km Eisenbahnlinien, für deren Herstellung und Inbetriebnahme vor allem Großbritannien verantwortlich zeichnete (cf. Teixeira 2 2006, 173ff.).
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ein, wenn nicht der Schlüsselfaktor für den großen Wohlstand einiger weniger. Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Druck, die Sklaverei endlich abzuschaffen, im Inland und ebenso aus dem Ausland immer größer, zumal sie ja auch in den USA schon seit einiger Zeit aufgehoben worden war. Der Kaiser selbst war kein Befürworter der Sklaverei, doch die Großgrund- und Plantagenbesitzer hatten genug Macht, um ihn daran zu hindern, die Frage der Sklaverei friedlich und im Sinne der Sklaven zu lösen. 1871 wurde zunächst die Lei do Ventre Livre, das Gesetz der freien Geburt, verabschiedet. Demzufolge konnten die Sklavenhalter die Kinder von Sklaven sofort gegen staatliche Entschädigung freilassen, andernfalls hatten sie für diese bis zum 21. Lebensjahr zu sorgen (cf. Vidal Luna/Klein 2014, 18ff.). 1885 gab es einen weiteren Schritt in Richtung Abschaffung der Sklaverei, indem nämlich die Lei dos Sexagenários in Kraft trat, wonach fünfundsechzigjährige Sklaven die Freiheit erhielten. 1888 kam es schließlich zur Beendigung der Sklaverei, als Prinzessin Isabel während einer Europareise ihres Vaters, des Kaisers, die Lei Áurea, das Goldene Gesetz, unterzeichnete. Dieses besiegelte die endgültige Aufhebung der Sklaverei in diesem Land. Auf einen Schlag kamen 700.000 Sklaven frei (cf. Chanu 2 2014, 95), die allerdings fast alle im Reich blieben und von denen sogar nicht wenige auf den Fazendas weiterarbeiteten bzw. auf diese zurückkehrten, obschon nun als Lohnarbeiter (cf. Rodrigues Aurélio 2009, 19ff.). Das Ende der Sklaverei war letztlich einer der ausschlaggebenden Faktoren für das Ende der Monarchie. Die Oligarchen, Großgrundbesitzer und Kaffeebarone sahen ihre Interessen durch den Kaiser verraten, weshalb es für sie keinen Grund mehr gab, diesen weiterhin zu unterstützen (cf. Teixeira 2 2006, 190). Es wurden nun verstärkt europäische Einwanderer angeworben, die als Lohnempfänger die Arbeit der befreiten Sklaven verrichten sollten.31 Senator Vergueiro hatte bereits in den 1840er und 50er Jahren angeregt, sich in Europa nach willigen Auswanderern umzusehen und diese durch attraktive Angebote für Brasilien zu gewinnen.32 Er erreichte schließlich, dass den Auswanderern von der Regierung die Überfahrt bezahlt wurde. Zwischen Staat und Unternehmern wurde zum Zwecke der Anwerbung von Einwanderern ein eigenes Kontrakt-System etabliert und es wurde jährlich bekannt gegeben, für wie viele Einwanderungen es tatsächlich staatliche Subventionen geben würde (cf. Beyhaut 16 2004, 111ff.). Die Einwanderung in wirklich großem Stil begann um 1870 und während der letzten drei Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts kamen mehr als 1,5 Millionen europäischer Einwanderer nach Brasilien (cf. Teixeira 2 2006, 173). Viele von ihnen blieben allerdings in den Küstenstädten und arbeiteten daher nie auf den großen Plantagen (cf. König 2014, 199), was freilich nicht im Sinne der Oligarchen war. Seit den 1870er Jahren wurde im Amazonasbecken verstärkt Kautschuk gewonnen und dies löste vor allem eine Binnenmigration aus dem Nordosten aus (cf. Fausto 1986, 785).
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In São Paulo bevorzugte man schon lange vor Ende der Sklaverei die italienischen Einwanderer, die gute Arbeit garantierten und bei denen man nicht ständig Angst haben musste, dass sie von den Feldern flohen oder gar Aufstände organisierten (cf. Fausto 1986, 781). Vorzugsweise wurde versucht, ganze Familien aus Europa zur Auswanderung zu bewegen, um das Risiko der Rückreise nach Europa möglichst gering zu halten (cf. Beyhaut 16 2004, 112). Die Überfahrt war für eine Person natürlich wesentlich weniger aufwändig und vor allem viel eher erschwinglich als für mehrere.
3. Die politisch-historische Dimension
Seit den 1870er Jahren war in Teilen Lateinamerikas und besonders in Brasilien der positivistische Fortschrittsglaube nach europäischem Vorbild im Vormarsch, für dessen Ausbreitung und Umsetzung die Monarchie in jedem Fall ein Hindernis darstellte. Positivismus und Abolitionismus bedingten und verstärkten den Republikanismus und verhalfen diesem letztlich zum Durchbruch. Die erste republikanische Partei wurde bereits 1870 in Rio gegründet, der Clube Republicano. Es folgten 1873 der Partido Republicano Paulista und 1882 der Partido Republicano Rio-Grandense (cf. Rinke/Schulze 2013, 108ff.). Die republikanischen Strukturen entwickelten sich also bereits während der Monarchie. Ein weiteres wichtiges Moment, das die Beendigung der Monarchie vorantrieb, war die starke Rolle des brasilianischen Militärs während des Tripel-Allianz-Krieges, der Guerra do Paraguai, von 1864 bis 1870 und die damit verbundene Frage, wie mit der Neupositionierung und dem neuen Selbstverständnis des Militärs nach dem Krieg umzugehen sein sollte.33 Das brasilianische Militär war bis dahin alles andere als schlagkräftig und hatte in den politischen Entscheidungsfindungsprozessen des Landes nur eine marginale Rolle gespielt. Jedoch genau dieser vermeintlich schwache »exército dos pés descalços« (Teixeira 2 2006, 193) zeigte sich im genannten militärischen Konflikt überraschend stark und ging schließlich siegreich daraus hervor. Dieser Erfolg förderte das Selbstbewusstsein des Militärs und führte in der Folge seinerseits zu größeren Erwartungen und höheren Ansprüchen in Bezug auf Ausstattung und Ansehen, die aber unerfüllt blieben. Das Budget für das Militär wurde sogar noch gekürzt. Einmal mehr wurde dem Militär seine Nebenrolle bewusst, mit der es sich aber nicht mehr länger abfinden wollte. Das Offizierskorps war allerdings sehr heterogen, was für einen konzertierten Widerstand nur nachteilig sein konnte. Es zeichneten sich vor allem zwei Gruppierungen mit unterschiedlichen Interessen und Vorstellungen ab. Auf einer Seite die sogenannten tarimbeiros, die arrivierten Offiziere im vorgerückten Alter, denen es primär um die Ehre und das Ansehen ihres Standes ging, und auf der anderen Seite die jungen, intellektuellen und positivistisch orientierten, die tiefgreifende Reformen gleich auf mehreren Ebenen des Landes forderten (cf. Fausto 1986, 798ff.; König 2014, 203). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es das Zusammenspiel verschiedener Faktoren war, das letztlich am 15. November 1889 im Militärputsch zum Zwecke der Absetzung des Kaisers gipfelte: Positivismus, Abolitionismus und Republikanismus gemeinsam und überdies genährt von tiefgehender Unzufriedenheit der Bevölkerung und des Militärs machten den Paradigmenwechsel möglich. Betrachten wir als nächstes, welches Paradigma nun tatsächlich mit dem Kaiserreich untergegangen war und welches sich zukünftig entfalten sollte. In der Kolonialzeit war Brasilien von Portugal weniger unterjocht als es die spanischen Kolonien von Spanien waren (cf. Hofman 2000, 9). Nach der Unabhängigkeit von Portugal 1822 entwickelte Brasilien zunächst seine eigenen politischen Strukturen. Es wurde, wie oben dargestellt, Kaiserreich und erhielt 1824 zur konstitutionellen Monarchie eine liberale Verfassung. Fünfundsechzig Jahre lang sollte dieses originär brasilianische System im Großen und Ganzen Bestand haben, bevor 1889 durch den nächsten 33
Dieser Krieg gilt als der blutigste Lateinamerikas überhaupt. Paraguay führte zunächst gegen Brasilien Krieg. Am 1. Mai 1865 wurde dann aber in einem Geheimvertrag die Tripel-Allianz zwischen Brasilien, Argentinien und Uruguay beschlossen, um gemeinsam gegen Paraguay vorzugehen.
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Putsch ein neuer Systemwechsel angesagt war. Das Kaiserreich war zentralistisch organisiert, was sich in der Republik grundlegend ändern sollte. Die Republik war nun nicht mehr zentralistisch, sondern ausgeprägt föderalistisch. Die Provinzen wurden zu Bundesstaaten, die als solche viel mehr Autonomie hatten als die Provinzen zur Zeit des Kaiserreiches. Die neue Flagge zeigte 21 Sterne für die damals 20 Bundesstaaten und den Distrito Federal (cf. König 2014, 208). Das Sagen hatten in den neuen Bundesstaaten die wirtschaftlich Mächtigen, d.h. die Latifundisten bzw. Oligarchen. Es gab aber nicht nur innerhalb der Bundesstaaten eine nach wirtschaftlichen Kriterien etablierte Hierarchie. Auch auf der Ebene der Staaten war keine Rede von Gleichrangigkeit. Die wirtschaftlich dominanten hatten die Vorherrschaft und bestimmten die Nationalpolitik. Diese dominanten Bundesstaaten waren São Paulo, Minas Gerais und schließlich auch Rio Grande do Sul. Insgesamt war sowohl der Übergang von der Kolonie zum Kaiserreich 1822 als auch jener vom Kaiserreich zur Republik 1889 durch wirtschaftliche und soziale Kontinuität gekennzeichnet (cf. Bethell 2008, 4; Cammack 1996, 1049; Dean 1986, 686). Institutionell hat sich allerdings durch die neue Verfassung von 1891 sehr wohl Wesentliches geändert. Brasilien war nach US-amerikanischem Vorbild zur República dos Estados Unidos do Brasil geworden, in der der Präsident für vier Jahre und die Deputierten der Abgeordnetenkammer, deren Anzahl von der Einwohnerzahl des jeweiligen Staates abhängig war, für drei Jahre gewählt wurden. Pro Staat bzw. Distrito Federal wurden außerdem drei Senatoren für neun Jahre in den Senat gewählt.34 In der neu entstandenen Republik war der Präsident wichtiger Bestandteil der Legislative und der Exekutive. Die Abgeordnetenkammer und der Senat bildeten die Legislative, der Oberste Gerichtshof, der aus auf Lebenszeit gewählten Richtern bestand, stellte die judikative Gewalt dar. Die vierte Gewalt, d.h. der Kaiser als poder moderador, war natürlich verschwunden (cf. König 2014, 208ff.). Es wurde nun aber tatsächlich auch ein Großteil der Macht an die Bundesstaaten abgegeben. Sie erarbeiteten eigene Verfassungen und bauten eigene Verwaltungen mitsamt diversen Organen auf. Sie waren die Eigentümer aller Bodenschätze und natürlichen Ressourcen. Sie konnten Exportsteuern einheben, Auslandskredite aufnehmen und sogar eigene Milizen bzw. Staatsarmeen unterhalten, welche oft wesentlich besser ausgerüstet waren als die nationale Armee. Festgesetzt wurde in der neuen Verfassung auch die Trennung zwischen Kirche und Staat (cf. Bethell 2008, 5; König 2014, 209ff.; Levine 1999, 77ff.). Es dauerte dann nicht länger als ein Jahrzehnt, bis die Oligarchen die jeweiligen Staaten tatsächlich unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Auf Bundesebene arbeiteten die Oligarchen über Gouverneure mit dem Präsidenten zusammen. Es kam zu einer oligarchischen Paktpolitik zwischen den Oligarchen und den Gouverneuren, die eben im Namen des Präsidenten agierten. Diese Art von Paktpolitik hatte zur Folge, dass die Arbeiter sowie die später zaghaft wachsende Mittelschicht von der Politik der nationalen Interessen stets ausgeklammert blieben (cf. Cammack 1996, 1052). Diese durch die Verfassung von 1891 geschaffenen rechtlichen und damit implizit auch politischen Strukturen, die sich im Großen und Ganzen bis zur Machtübernahme
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In der Monarchie wurde früher nur die Abgeordnetenkammer gewählt (cf. Bethell 2008, 5).
3. Die politisch-historische Dimension
1930 durch Getúlio Vargas hielten, ermöglichten im Grunde trotz systemischer Veränderungen wirtschaftliche und soziale Kontinuität zwischen dem Kaiserreich und der gesamten Ersten Republik, auf die wir als Nächstes näher einzugehen haben, um Vargasʼ Aufstieg nachvollziehen und den sich daraus entfaltenden Vargismus verstehen zu können. Wie eingangs dargestellt, wurden am 15. November 1889 die sich im Amt befindende Regierung und der Kaiser vom Militär unter Marschall Deodoro da Fonseca gestürzt. Bereits am 16. November stand Deodoro da Fonseca an der Spitze der provisorischen Regierung (cf. König 2014, 207), die die verfassungsgebende Versammlung einberief. Es gab zwar Spannungen zwischen dem zivilen und dem militärischen Flügel der Republikaner, doch Deodoro da Fonseca, der der militärischen Elite des Landes angehörte, wurde schließlich im Februar 1891 zum ersten Präsidenten der Republik gewählt (cf. Rinke/Schulze 2013, 115). Dem Republikanismus gegenüber war er allerdings von Anfang an misstrauisch (cf. Cammack 1996, 1060ff.). Deodoro da Fonseca fiel es schwer, sich mit dem neuen politischen System zu identifizieren, weshalb er letztlich wohl nicht als effizienter Präsident galt (cf. Levine 1999, 78).35 Am 3. November 1891 löste er per Dekret den Kongress auf, was heftigen Widerstand hervorrief. Es drohte ein Bürgerkrieg, den er selbst jedoch nicht wollte. Es fehlte ihm nun aber auch die Unterstützung des Militärs, weshalb er am 23. November 1891 zurücktrat und die Präsidentschaft an Marschall Floriano Peixoto übergab, der die Auflösung des Kongresses sogleich rückgängig machte (cf. Donato 2000, 343; König 2014, 211). Peixoto, bekannt auch als Marechal de Ferro, galt als besonders kompromisslos und aggressiv (cf. Levine 1999, 79). Er versuchte bereits den Einfluss der Großgrundbesitzer zurückzudrängen, war dann aber bald gleich an mehreren Fronten herausgefordert: einmal von der Flottenrevolte, der Revolta da Armada, in der die Marine ihren Widerstand gegen Peixoto zum Ausdruck brachte, dann von der Revolução Federalista, der föderalistischen Revolution, einem bürgerkriegsähnlichen Konflikt zwischen Föderalisten und Republikanern in Rio Grande do Sul sowie von den Aufständen in Desterro (Santa Caterina) und Canudos (Bahia). In der Revolta da Armada von Rio de Janeiro 1893 bis 1894 äußerte die von Monarchisten unterstützte Marine (cf. Teixeira 2 2006, 200) ihren Unmut darüber, dass Peixoto nach dem Rückzug Deodoro da Fonsecas die diesen unterstützenden Gouverneure abgesetzt hatte. Sie manifestierte ferner Unzufriedenheit wegen ihres geringen Prestiges im Vergleich zu jenem der Armee und befürchtete weiters auch den verstärkten Einzug und Aufstieg ziviler Politiker. Die Revolução Federalista von 1893 bis 1895 in Rio Grande do Sul gilt als der blutigste Bürgerkrieg Brasiliens überhaupt (cf. Donato 2000, 344). Die politische Situation jenes Bundesstaates war für das damalige Brasilien schon insofern außergewöhnlich, als es außer der republikanischen Partei überhaupt noch eine weitere gab. Dabei handelte es sich um den Partido Federalista do Rio Grande do Sul, der
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Unter Deodoro da Fonseca kam es allerdings sehr wohl zu bedeutenden Neuerungen: Die lebenslängliche Amtsdauer der Senatoren, Adelsbriefe, Ehrentitel und andere Privilegien wurden abgeschafft, Kirche und Staat getrennt, Religionsfreiheit wurde gewährt, die zivile Ehe eingeführt, die Friedhöfe wurden säkularisiert, verschiedene Feiertage eingeführt, die Provinzen wurden in Staaten umgewandelt und 1890 gab es ein neues Strafgesetzbuch (cf. Donato 2000, 341).
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von den ehemaligen Liberalen des Kaiserreiches und von Dissidenten des PRR (Partido Republicano Rio-grandense) gegründet worden war (cf. Fausto 1986, 796ff.). Der PRR unter Júlio de Castilhos war aber die wichtigste Partei des Staates. Sie vertrat eine positivistische Linie und einen autoritären Führungsstil und genoss daher auch Peixotos ideologische und militärische Unterstützung (cf. Rinke/Schulze 2013, 116). Peixoto griff äußerst hart durch (cf. Donato 2000, 344) und so gingen die Republikaner unter Júlio de Castilhos letztlich siegreich aus dem Bürgerkrieg hervor. Der Konflikt hatte aber auch auf den angrenzenden Staat Santa Caterina und dessen Nachbarstaat Paraná übergegriffen. Vor allem die schweren Konflikte zwischen Föderalisten und Republikanern in Desterro, Santa Catarina gingen in die Geschichte ein. Peixoto ließ dort zahlreiche föderalistische Staatsfeinde erschießen, um den Widerstand der Rebellen zu brechen. Die Stadt Desterro wurde im Anschluss an die Niederschlagung des Aufstandes zu Ehren Floriano Peixotos in Florianopolis umbenannt (cf. Levine 1999, 88ff.), was freilich einer zynisch bis makabren Note nicht entbehrt. Auf harten Widerstand stieß Peixoto weiter in Canudos, Bahia, wenngleich er davon als Präsident nur dessen Anfang erlebte. Unter Antônio Vicente Mendes Maciel, der sich bezeichnenderweise Antônio Conselheiro36 nannte, kam es 1893 in Canudos im kargen Hinterland von Bahia, dem Sertão, zu einer Art messianischer Bewegung. Es ging u.a. auch um den Weltuntergang und das bevorstehende Jüngste Gericht (cf. Levine 1999, 80ff.). Man würde jedoch die Sache verkennen, wollte man darin nur religiösen Wahn oder Fanatismus sehen. Vor allem im Norden und Nordosten Brasiliens gab es schon damals erhebliche wirtschaftliche und soziale Missstände. Außerdem waren durch die radikale politische Veränderung seit dem Ende der Monarchie für viele die ideologischen Grundfesten verloren gegangen und noch durch nichts ersetzt worden. Es waren Zeiten des Umbruchs, des Wandels und der Unsicherheit, also Zeiten, in denen Menschen ganz besonders für derartige Bewegungen empfänglich sind. Innerhalb weniger Jahre war die Bewegung auf 25.000 Menschen angewachsen, die in 5.000 Lehmhütten wohnten und sich weigerten, die republikanischen Gesetze anzuerkennen. Dies löste bei den politischen Eliten große Unruhe, wenn nicht sogar Panik, aus. Es wurde befürchtet, dass Canudos Schule machen könnte, auch wenn Conselheiro nicht im Geringsten zur Gewalt aufrief. Conselheiros Aktivitäten wurden freilich selbst aus religiöser Sicht äußerst kritisch beäugt und letztlich kategorisch abgelehnt. Er verwendete die apokalyptische Missão Abreviada, die der portugiesische Priester Manuel José Gonçalves Couto einst für Ungläubige geschrieben hatte.37 Erst in einer vierten Militärexpedition, die im Oktober 1897 endete und an der tausende Soldaten mit schwerer Artillerie teilgenommen hatten, gelang es, den Widerstand in Canudos zu brechen. Die Siedlungen wurden allesamt zerstört, die Bevölkerung wurde ermordet (cf. Fausto 1986, 805; König 2014, 217ff.; Levine 1999, 80ff.). Weiteren massiven Widerstand gegen die Staatsgewalt und Engagement für materielle Gleichberechtigung gab es bereits seit den 1890er Jahren seitens der cangaços, die in cangaceiros versammelt gegen soziale Missstände und die staatlich verwaltete Ungerech-
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Conselheiro bedeutet Berater oder Ratgeber. Der genaue Titel lautet Missão abreviada para despertar os descuidados, converter os peccadores e sustentar o fructo das missões.
3. Die politisch-historische Dimension
tigkeit kämpften.38 Sie überfielen nicht selten Landgüter sowie Lebensmitteldepots und agierten mehr oder weniger in Robin-Hood-Manier. Die cangaceiros verschwanden erst in den 1930er Jahren (cf. Beyhaut 16 2004, 145).39 Peixoto wurde einerseits als Retter der Republik gefeiert, andererseits führte er die Republik wie eine Kaserne, wie eine »ditadura militar, maldisfarçada e até exacerbada pela exaltação jacobinista« (cf. Teixeira 2 2006, 199-200). 1894 wurde sowohl in Rio Grande do Sul als auch in Bahia immer noch gekämpft und das Problem der cangaceiros war alles andere als gelöst. Peixoto gab aber dem Druck aus São Paulo und Minas Gerais nach und ließ 1894 die fälligen Wahlen durchführen, aus denen der erste zivile Präsident, der Paulista Prudente de Morais, siegreich hervorging (cf. Cammack 1996, 1061). São Paulo war wirtschaftlich der erfolgreichste Staat, wovon quasi unausgesprochen der Anspruch auf die Präsidentschaft abgeleitet wurde. São Paulo wurde aufgrund des Kaffeeexports in großem Stil immer noch reicher und mächtiger. Dies führte allmählich auch zu einer ersten Industrialisierung. Es gab Arbeit und dies führte dazu, dass immer mehr Einwanderer und auch Binnenmigranten nach São Paulo kamen (cf. Levine 1999, 79). Abgesehen von der Verfolgung wirtschaftspolitischer Interessen war es Prudente de Morais jedoch auch ein großes Anliegen, nach den starken politischen Turbulenzen während der ersten Jahre der Republik wieder Ruhe und Versöhnung zu stiften, weshalb er sowohl bei den einst rebellischen Föderalisten als auch in der noch kurz zuvor meuternden Marine weitgehende Amnestie walten ließ (cf. Donato 2000, 344). Auf Prudente de Morais folgte wieder ein Paulista, nämlich Manuel Ferraz de Campos Sales, der 1898 gewählt wurde. Es war misslungen, eine republikanische Partei auf Bundesebene zu gründen. Nach und nach entstanden die republikanischen Parteien in den einzelnen Bundesstaaten, die dann im Grunde zu Wahlkampfapparaten (Cammack 1996, 1061) in den Händen der jeweiligen Gouverneure wurden. Campos Sales institutionalisierte dann geradezu die política dos governadores, die Politik der Gouverneure, die im Grunde zu einem Wesensmerkmal der Ersten Republik wurde. Dabei handelte es sich quasi um ein Geschäft zwischen der Bundesregierung und den Bundesstaaten. Der Präsident gestand den Gouverneuren in ihren Staaten weitgehende Freiheiten zu, konnte im Gegenzug aber davon ausgehen, dass er im Kongress auf keinen Widerstand seitens der bundesstaatlichen Repräsentanten stoßen würde (cf. Donato 2000, 345; Fausto 1986, 813; Rinke/Schulze 2013, 119). Dieses System der política dos governadores sollte im Wesentlichen bis 1930 funktionieren.40 Das Militär schien sich nun tatsächlich aus der Politik zurückgezogen zu haben, weshalb sich die zivile Politik fortan in erster Linie um die
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Die cangaceiros wurden jedoch mitunter von den lokalen und regionalen Bossen als Reserveeinheiten gegen den Staat eingesetzt (cf. Fausto 1986, 806). Weiteren und späteren Widerstand gegen die Staatsgewalt gab es etwa in der Guerra do Contestado von 1912 bis 1916 in Santa Catarina und Paraná, als Bauern verlustig gegangene Rechte einforderten oder dann auch in der messianischen Bewegung von Caldeirão de Santa Cruz do Deserto der 30er Jahre, die Vargas beendete. Die drei großen Ziele des Präsidenten Campos Sales waren erstens die Feindseligkeiten zwischen Exekutive und Legislative zu beenden; zweitens die Spannungen zwischen den Bundesstaaten zu beseitigen und drittens, wie oben dargestellt, den Widerstand der Bundesstaaten gegenüber der Bundesregierung zu brechen, wozu besagte política dos governadores dienen sollte (cf. Fausto 1986, 813).
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Wirtschaft kümmern konnte und wollte. Gleich zu Beginn der Ersten Republik wurde die Geldemission per Dekret beträchtlich erhöht, um Investitionen anzukurbeln, was allerdings schon bald zu Spekulation und erhöhter Inflation führte und erste Schritte in Richtung unpopulärer Austeritätspolitik verlangte, die aber eben aufgrund der Politik der Gouverneure kein unüberwindliches Hindernis darstellen sollten. Campos Sales musste vorübergehend sogar die Schuldentilgung im Ausland einstellen und neue hohe Darlehen aufnehmen (cf. Donato 2000, 342ff.; Teixeira 2 2006, 200ff.). 1902 wurde als dritter paulista Präsident in Folge Francisco de Paula Rodrigues Alves gewählt. Unter den Eliten stabilisierte sich die Republik zusehends. Die Städte wurden nach europäischem Vorbild ausgebaut und modernisiert. Es gab eine tiefgreifende Verwaltungsreform, das Eisenbahnnetz wurde kontinuierlich erweitert, die Häfen wurden ausgebaut und auf den neuesten Stand gebracht. Dem Gelbfieber wurde der Kampf angesagt, um keineswegs den Anschein zu erwecken, dass im Land heimtückische Gefahren lauerten (cf. Donato 2000, 346). Brasilien sollte attraktiv sein und die brasilianischen Städte, allen voran Rio de Janeiro, sollten den europäischen Städten in keiner Hinsicht nachstehen. Rodrigues Alves unternahm alles, um europäische Investoren und Einwanderer ins Land zu holen und betonte diesen gegenüber stets, dass Brasilien, ganz im Gegensatz zu den anderen lateinamerikanischen Ländern, durch und durch europäisch sei (cf. Levine 1999, 86). Seit 1902 gab es nun aber ein immer größer werdendes Problem mit dem Kaffeeabsatz. In São Paulo sah man sogar vorübergehend davon ab, weitere Kaffeeplantagen anzulegen, gleichzeitig forderte man aber auch von der Bundesregierung, dass diese große Mengen an geerntetem Kaffee aufkaufen und lagern sollte, bis es wieder Bedarf und Preisstabilität gebe. Rodrigues Alves erkannte die damit verbundenen Risiken für das Bundesbudget und lehnte die Forderungen ab. Der Kongress entschied sich jedoch dafür. Erneut mussten im Ausland große Schulden gemacht werden und anstatt die Kaffeeproduktion zu drosseln, wurde sie durch die neue Wirtschaftspolitik, die im Grunde neuen Fördermaßnahmen gleichkam, sogar noch gefördert. Landesweit wurde diese Wirtschaftspolitik bis 1929 fortgeführt (cf. König 2014, 226).41 Zum Wohle des Landes, aber nicht zuletzt auch im Sinne des Fortbestandes der Oligarchien, wurden nun aber auch zunehmend andere Wirtschaftszweige vor allem im Bereich der Fleischund Milchproduktion gefördert, was in erster Linie Minas Gerais zu Gute kommen und letztlich die República do café-com-leite, also die Kaffee-mit-Milch- oder Milchkaffee-Republik hervorbringen sollte (cf. Teixeira 2 2006, 202), die ein weiteres wesentliches Merkmal der Ersten Republik darstellt.42 1906 wurde Afonso Augusto Moreira Pena (cf. Donato 2000, 347) aus Minas Gerais fast einstimmig zum Präsidenten gewählt, womit die künftige Abfolge der Präsidenten begründet sein sollte. Sie würden fortan abwechselnd aus São Paulo und Minas Gerais, den zwei wirtschaftlich wichtigsten und bevölkerungsreichsten Bundesstaaten kommen.43 Afonso Pena wurde für sein vorwiegend junges 41 42 43
Unter Präsident Bernardes hatte allerdings im gegebenen Fall São Paulo ab 1924 selbst die Lasten dafür zu tragen (cf. König 2014, 226). Die Kaffeeproduktion war der wichtigste Wirtschaftsfaktor in São Paulo, die Milch- und Fleischwirtschaft der wichtigste in Minas Gerais, daher die Bezeichnung café-com-leite. São Paulo und Minas Gerais hatten außerdem die stärksten republikanischen Parteien und zudem die schlagkräftigsten Staatsmilizen. Gemeinsam produzierten sie mehr als die Hälfte der agrarischen und industriellen Produkte und stellten 40 % der Wählerschaft (cf. Bethell 1996, 8).
3. Die politisch-historische Dimension
Kabinett kritisiert, es hieß, er umgebe sich mit einem Jardim da infância, einem Kindergarten. Ziel seiner Politik war die Stärkung der föderalen Regierung. Pena hatte nun die ersten staatlichen Kaffeeankäufe zu übernehmen, die, wie oben dargestellt, noch unter seinem Vorgänger beschlossen worden waren. Am Horizont zeichnete sich aber infolge der sich verschlechternden Arbeitsbedingungen eine schleichende Mobilisierung der Arbeiter ab, die nicht zuletzt auch das Ergebnis der anhaltend starken Einwanderung streikerprobter europäischer Arbeiter war. Afonso Pena starb 1909 noch vor dem Ende seines Mandats, das Nilo Peçanha, sein Vizepräsident, bis 1910 zu Ende führte. 1909, also wie üblich bereits im Jahre vor Ablauf des präsidentiellen Mandats, versuchte man, d.h. versuchten in erster Linie São Paulo und Minas Gerais, einen geeigneten Kandidaten für die Nachfolge Penas bzw. Peçanhas zu finden. Es gab nun auch Bemühungen, einen Kandidaten aus dem aufsteigenden und ohnedies in jeder Hinsicht wichtigen und bevölkerungsstarken Rio Grande do Sul durchzubringen.44 Die Wahl gestaltete sich jedoch dieses Mal auch wegen der neuen Ansprüche aus anderen Staaten schwieriger als bisher45 und die Allianz zwischen São Paulo und Minas Gerais hatte deutliche Risse bekommen. Mehrere Staaten einigten sich schließlich auf den Kompromisskandidaten Marschall Hermes da Fonseca aus Rio Grande do Sul, der außerdem ein Neffe Deodoro da Fonsecas war. Er setzte sich schließlich in einer knappen Wahl gegen Rui Barbosa,46 den von São Paulo und Bahia unterstützten Kandidaten durch. Durch die Wahl des Marschalls wurde das Militär erneut aufgewertet und gewann tatsächlich an politischem Einfluss (cf. Rinke/Schulze 2013, 120). In der Amtsperiode von Hermes da Fonseca fand der politische Entscheidungsfindungsprozess auf drei Ebenen statt: erstens durch die zivilen Oligarchien vor allem von Rio Grande do Sul und Minas Gerais, zweitens durch den Präsidenten selbst und drittens durch eine Gruppe von coronéis oder Obersten, die eine bessere Kontrolle der Macht in den Bundesstaaten verlangten (cf. Fausto 1986, 816). Marschall Hermes da Fonseca ging auch für seinen salvacionismo bzw. für seine política salvacionista in die Geschichte ein. Er intervenierte militärisch in
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Nachdem sich der PRR, der Partido Republicano Rio-Grandense, konsolidiert hatte, entwickelte sich Rio Grande do Sul allmählich zur dritten Großmacht in der oligarchischen Konstellation nach São Paulo und Minas Gerais. Der Einfluss des Senators Pinheiro Machado war groß und unter seinem Einfluss unterstützten die Gauchos, d.h. die Einwohner von Rio Grande do Sul, stets die paulista Präsidenten. Pinheiro gelang es außerdem, die Repräsentanten der schwächeren Bundesstaaten zu kontrollieren. Er schaffte es sogar, eine Art Allianz zwischen Rio Grande do Sul und den kleineren und schwächeren Staaten im Nordosten herzustellen. 1910 sollte diese Allianz quasi institutionalisiert werden, als nämlich eine überstaatliche konservative oligarchistische Partei, der Partido Republicano Conservador, gegründet wurde (cf. Fausto 1986, 814ff.). Wichtige Staaten wie Bahia, Pernambuco, Rio de Janeiro und auch Rio Grande do Sul, immerhin der drittwichtigste Staat in Bezug auf wahlberechtige Männer, hatten sich bislang i.d.R. den Vorschlägen aus São Paulo und Minas Gerais angeschlossen (cf. Bethell 2008, 8ff.). Rui Barbosa hatte zwar die Unterstützung der Oligarchen von São Paulo, ideologisch trat er jedoch für mehr Freiheit, für kulturellen Aufbruch und vor allem gegen das ignorante, oligarchische, autoritäre Brasilien ein. Er kämpfte um die städtische Wählerschaft. Er war für geheime Wahlen und demokratische Prinzipien. Er betonte die Notwendigkeit einer starken zentralen Kraft, war für die Kontrolle der Bundesstaaten in manchen Bereichen, im Grunde jedoch für weitgehende Staatsautonomie und für ein ausgeglichenes Budget (cf. Fausto 1986, 816).
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Bundesstaaten, um Gouverneure abzusetzen und von ihm selbst ausgewählte einzusetzen. Er gab vor, dies zur Rettung der republikanischen Institutionen zu machen, in Wirklichkeit ging es doch wohl um effiziente Machtkontrolle. Hermes da Fonseca war aber auch mit Revolten und diversen Zusammenstößen vor allem in Amazonas, Ceará, Pernambuco und Bahia konfrontiert (cf. Donato 2000, 347). Besonders die Revolta da Chiabata von 1910 machte klar, wie viel Unzufriedenheit es seitens der Arbeiter bzw. im gegebenen Fall seitens der Matrosen gab. Die Revolte wurde niedergeschlagen, etliche Aufständische kamen ums Leben, andere wurden deportiert. Der Anführer João Cândido wurde in eine geschlossene Anstalt eingewiesen. Natürlich war das ein weiteres deutliches Warnsignal für die Eliten. 1914 folgte auf Marschall Hermes da Fonseca der Mineiro Venceslau Brás, wodurch die café-com-leite-Ordnung wiederhergestellt sein sollte. In seiner Amtszeit kostete die spanische Grippe Zehntausenden das Leben (cf. Donato 2000, 348). Politisch und vor allem wirtschaftlich hatte Venceslau Brás in erster Linie mit den Folgen des Ersten Weltkrieges zu kämpfen. Brasilien erklärte dem Deutschen Reich am 26. Oktober 1917 den Krieg, nachdem deutsche U-Boote vier brasilianische Schiffe versenkt hatten. Das Land schickte in der Folge acht Kriegsschiffe nach Europa, die jedoch erst am 11. November 1918, also einen Tag vor dem Waffenstillstand, in Gibraltar ankamen (cf. König 2014, 232; Rinke/Schulze 2013, 129). Es war jedoch ein wichtiges Zeichen der Präsenz, das Brasilien gesetzt hatte, zumal es zu jener Zeit immer im Schatten des so erfolgreichen Argentiniens stand (cf. Levine 1999, 89). Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges hatte von Anfang an schwerwiegende wirtschaftliche Folgen weltweit, besonders auch für Brasilien und ganz Lateinamerika. Der Export speziell von Kaffee (cf. Chanu 2 2014, 95), aber auch von Kautschuk (cf. Dean 1986, 719) nach Europa brach massiv ein und die von dort zu importierenden Güter blieben weitgehend aus. Dies führte zunächst zu massiver Arbeitslosigkeit, die ihrerseits Streiks in großem Stil zur Folge hatte. Die Stabilität der Ersten Republik schien ernsthaft in Gefahr (cf. Fausto 1986, 817). Bald aber löste der Einbruch in den Handelsbeziehungen mit Europa eine massiv erhöhte Inlandsnachfrage aus und führte schließlich zur Importsubstitution, was letztendlich für die heimische Industrie von Nutzen war (cf. Cammack 1996, 1068; Levine 1999, 84).47 1918 wurde Francisco de Paula Rodrigues Alves für eine zweite Amtszeit gewählt, er erlag jedoch noch vor Amtsantritt der spanischen Grippe, weshalb der Mineiro Delfim Moreira da Costa Ribeiro interimsmäßig das Präsidentenamt bis 1919 übernahm. Auf ihn folgte Epitácio Pessoa aus Paraíba, der bis November 1922 im Amt bleiben sollte. Pessoa war von Minas Gerais unterstützt worden, was von vielen als klarer Ausdruck von Spannungen zwischen São Paulo und Minas Gerais in der cafécom-leite-Allianz verstanden wurde.48 Am Ende seiner Amtszeit, genauer gesagt am 5. Juli 1922, kam es noch zu ersten massiven Ausschreitungen der tenentes in Rio de Janei-
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Diesbezüglich gibt es allerdings verschiedene Theorien. Skidmore (1999, 95) geht davon aus, dass die dramatische Einschränkung der Maschinenimporte die weitere Industrialisierung des Landes erheblich verzögerte. Es gab aber auch die Interpretation, dass nach dem Ableben von Rodrigues Alves eben ein Kandidat zum Zug kommen sollte, der weder aus São Paulo noch aus Minas Gerais stammte.
3. Die politisch-historische Dimension
ro,49 was für die restlichen Jahre der Ersten Republik symptomatisch werden sollte. Die tenentes waren junge, in positivistischer Manier ausgebildete Offiziere, die großteils in ärmeren Bundesstaaten und dort meist nicht gerade aus den höheren Schichten rekrutiert worden waren. Der tenentismo war eine durch und durch militärische Bewegung, die allerdings politisch und ideologisch eher diffus agierte und sich nicht in bestehende Kategorien einordnen ließ (cf. Costa Faria/Barros 9 2001, 25; Fausto 1970, 57). Das herrschende oligarchische System, das der café-com-leite-Allianz zugrunde lag und für die großen Ungerechtigkeiten einerseits zwischen den Staaten und andererseits zwischen den herrschenden Offizieren, den coronéis, und der Bevölkerung innerhalb der Staaten verantwortlich war, missfiel den tenentes sehr, weshalb sie alles daran setzten, diesem ein Ende zu setzen (cf. Cammack 1996, 1071; König 2014, 235ff.). Die tenentes waren für die Modernisierung der Strukturen im Sinne eines korporatistischen Systems mit starker Zentralregierung. Sie waren auch für geheime Wahl, um den bestehenden Abhängigkeiten des im Grunde nach wie vor bestehenden Patronagesystems Abhilfe zu schaffen (cf. Rodrigues Aurélio 2009, 31). Sie waren zwar für die Gewaltenteilung, keinesfalls aber für das allgemeine Wahlrecht (cf. Fausto 1970, 64ff.). Sie waren gegen den Liberalismus und für Staatsinterventionismus sowie für Land- und Sozialreform im Sinne einer nachhaltigen Armutsbekämpfung (cf. Bethell 2008, 10). Die tenentes waren außerdem betont standesbewusst, weshalb es auch innerhalb des Militärs zwischen ihnen, den jüngeren Offizieren der mittleren Ränge, die kaum Aufstiegschancen hatten, und deren Befehlshabern zu einer tiefen Spaltung gekommen war (cf. Fausto 1986, 821ff.). Sie waren auch nationalistisch und strikt gegen den Ausverkauf des Landes (cf. Levine 1999, 92). Am 5. Juli 1922 hätten Offiziere an etlichen Forts nach einem Kanonenschuss aus dem Fort der Copacabana die Revolte starten sollen, doch die Antwort blieb aus. Das Fort der Copacabana gab aber nicht auf. Es wurde allerdings sogleich von Kriegsschiffen beschossen und aus der Luft bombardiert. Das Gemetzel auf der Copacabana überlebten letztlich zwei Offiziere, nämlich Siqueiro Campos und Eduardo Gomes (cf. Dulles 1967, 22). Die Revolta do Forte de Copacabana stellt eine Zäsur in der tenentista-Bewegung dar, zumal die Bewegung nach jener Revolte bis zur Coluna Prestes immer stärker und kohärenter wurde. Die tenentes verstanden sich als Retter der Nation. Sie sahen ihre Bewegung allerdings nicht als Volksbewegung, sondern vielmehr als eine Bewegung im Namen des Volkes. Das Militär sollte nicht das Volk vertreten oder diesem zur Seite stehen, es sollte ihm vielmehr vorangehen (cf. Fausto 1970, 57ff.). Ab November 1922 war der Mineiro Artur Bernardes Präsident, die Frage der tenentes sollte jedoch noch für Jahre virulent bleiben. Er war der von Minas Gerais und São Paulo vorgeschlagene Kandidat, die café-com-leite-Allianz schien intakt. Sein Gegenkandidat, Nilo Peçanha, unterstützt von Rio Grande do Sul, Rio de Janeiro, Pernambuco und Bahia, hatte keine Chance, obwohl das Militär gegen Bernardes war. Rio Grande do Sul befürchtete eine Verfassungsänderung unter Bernardes, die Einschränkungen für die Bundesstaaten zur Folge haben könnte. Der Clube Militar wurde daraufhin geschlossen, was einen Aufstand auslöste. Eine ernsthafte politische Krise war die Folge. Die café-com49
Jene Ausschreitungen vom 5. Juli 1922, a Revolta do Forte de Copacabana, markieren eigentlich den Beginn der tenentes-Bewegung (cf. Levine 1999, 92). Sie wurden gewissermaßen zum Gründungsmythos der tenentista-Bewegung hochstilisiert (cf. Rinke/Schulze 2013, 122).
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leite-Allianz schien zwar intakt, aber die Kluft zwischen einerseits derselben und andererseits dem Block der anderen Staaten schien mittlerweile unüberbrückbar (cf. Fausto 1986, 817ff.; Rinke/Schulze 2013, 121). Während der vierjährigen Amtszeit von Bernardes, die gewissermaßen vom Faktum gewordenen Gründungsmythos der tenentista-Bewegung eingeläutet worden war, galt fast durchgehend der Belagerungszustand, o estado de sitio, der dem Militär weitreichende Sonderrechte einräumte (cf. Donato 2000, 349). Es war eine Zeit strenger Zensur und Repression, eine Zeit der Unterdrückung nicht offizieller Organisationen, eine Zeit, die letztlich für viele Gefängnis oder Exil bedeutete (cf. Teixeira 2 2006, 247). Die tenentistas blieben aber trotz allem und auch nach der blutigen Niederschlagung ihrer Revolta do Forte de Copacabana präsent. Ganz deutlich machten sie genau zwei Jahre nach der Revolta do Forte de Copacabana erneut auf sich aufmerksam, als sie am 5. Juli 1924 versuchten, Bernardes zu stürzen (cf. König 2014, 237). Es handelte sich um eine Rebellion, die von São Paulo und Rio Grande do Sul ausging und wesentlich besser vorbereitet war als jene zwei Jahre zuvor in Rio de Janeiro. Über 4.000 Männer belagerten 23 Tage lang die Stadt São Paulo. Bernardes griff jedoch hart durch. Er ließ die Stadt bombardieren, es gab Artilleriefeuer und Plünderungen. Die Zivilisten wurden schließlich aufgefordert, die Stadt zu verlassen, sodass mit aller Konsequenz und Härte gegen die Rebellen hätte vorgegangen werden können. Es drohte die Zerstörung der Stadt. Die tenentistas erkannten letztlich die Ausweglosigkeit ihrer Situation und zogen sich aus der Stadt zurück. Ihr nächstes und letztes großes Aufbäumen danach sollte der Prestes Zug, a coluna Prestes, sein, ein vom Oktober 1924 bis Februar 1927 dauernder 25.000 km langer Marsch quer durch acht Bundesstaaten Brasiliens unter der Anführung von Luís Carlos Prestes, der damit die Aufwiegelung der Bevölkerung gegen das herrschende System bezweckte (cf. Donato 2000, 349ff.; Dulles 1967, 29ff.). Luís Carlos Prestes wurde zwar für viele Bauern und Arbeiter zum Cavaleiro da Esperança, insgesamt gelang es den tenentistas dann aber doch nicht, die Massen zu beflügeln und für ihre Sache zu gewinnen (cf. Rodrigues Aurélio 2009, 33). Der letzte Präsident der Ersten Republik war der paulista café-com-leite-Kandidat Washington Luís Pereira de Sousa, der von 1926 bis 1930 seines Amtes waltete. Die zwanziger Jahre waren bislang unruhige Zeiten der Unterdrückung und Spannungen gewesen (cf. Teixeira 2 2006, 243). Neben der politischen Repression gab es harte Bedingungen in der Arbeitswelt. In der Metallurgie, in der Holzproduktion und in der Textilindustrie existierten mächtige Kartelle mit Quotenregelungen und Preisabsprachen, was einerseits den Druck auf die Arbeiter immens erhöhte (cf. Dean 1986, 721ff.) und andererseits auch für die Konsumenten belastend war. In der Folge kam es verstärkt zu gewerkschaftlichen Aktivitäten und Streiks.50 Die Gewerkschaften wurden aber von den Eliten pauschal als kommunistisch, subversiv und daher als brandgefährlich abgestempelt, weshalb die Arbeiterbewegung am besten gleich im Keim erstickt werden sollte (cf. Levine 1999, 91ff.; Vidal Luna/Klein 2014, 77). Es kam zu Repressionen jeglicher Art, zu Folter und nicht selten zu Deportationen jener streikender Arbeiter, die aus Europa
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Große Streiks gab es bereits 1904 in Rio de Janeiro, 1906 in Porto Alegre, 1914 nach der hohen Inflation (cf. Levine 1999, 85ff.) und 1917 in São Paulo (cf. Teixeira 2 2006, 231). Besonders stark wurde die Arbeiterbewegung wieder nach 1917 und in der Folge begannen die Arbeiter sich immer besser zu organisieren (cf. Fausto 1986, 808ff.).
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eingewandert waren und wohl schon von dort anarchistisches und kommunistisches Gedankengut mitgebracht hätten (cf. Teixeira 2 2006, 239). Die Arbeiter wurden zwar zunehmend als stark präsenter gesellschaftlicher Akteur erkannt, doch wurde nichts unternommen, um sie auch gesellschaftlich zu integrieren. Sie wurden viel eher als notwendiges Übel in Kauf genommen und maximal ausgebeutet. Vor allem sollten sie von der Macht ferngehalten werden (cf. Cammack 1996, 1064). Die Kluft zwischen Arm und Reich war unvermindert groß, den Eliten ging es gut, während sich für das gemeine Volk in all den Jahren der Ersten Republik bislang kaum etwas zum Positiven geändert hatte. Die Schulbildung lag nach wie vor im Argen, weshalb zum einen die politische Partizipation der Bevölkerung auf ein Minimum reduziert blieb51 und zum anderen auch die gesellschaftlichen Aufstiegschancen und wirtschaftlichen Verbesserungsmöglichkeiten äußerst gering blieben (cf. Levine 1999, 83). Für den Großteil der Bevölkerung hatte sich infolgedessen die gelebte politische Alltagsrealität während der gesamten Ersten Republik kaum gebessert. Ferner war in all den Jahren auch nie der Versuch unternommen worden, das Militär gesellschaftlich zu integrieren und ihm eine gesellschaftlich angemessene Position zu geben, was die anhaltende Enttäuschung und Frustration auch in dessen Reihen nicht minderte (cf. Fausto 1986, 798). Nach all diesen Jahren großer Entbehrungen, anhaltender Spannung und Frustration und einem mittlerweile doch schon lange andauernden Belagerungszustand unter Bernardes brachte Washington Luís allen so etwas wie Hoffnung auf Beruhigung, mehr Freiheit, gesellschaftlichen Aufstieg und wirtschaftlichen Aufschwung. Die Kommunisten nützten diese Chance sofort, um wieder aktiv zu werden, lösten dadurch aber bei den Konservativen umgehend große Angst aus, woraufhin ihre Organisation sofort wieder verboten wurde (cf. Teixeira 2 2006, 247). Der Börsenkrach und die anschließende Weltwirtschaftskrise von 1929 bereiteten dann aber auch allen Hoffnungen auf wirtschaftliche Erholung und soziale Besserstellung ein jähes Ende. Die Kaffeebarone, die in erster Linie immer an ihre eigenen Interessen dachten, verlangten vom Präsidenten ein Schuldenmoratorium, das er ihnen jedoch nicht gewährte. Dadurch verwirkte er aber genau jene politische Unterstützung seitens der Oligarchen, die für ihn letzten Endes (über)lebensnotwendig gewesen wäre. Selbst sein großes Engagement für den Ausbau der Infrastruktur des Landes und des Gesundheitswesens konnte ihn politisch nicht mehr retten. Als er nämlich verlangte, dass der ihm sehr vertraute Paulista Júlio Prestes seine Nachfolge antreten sollte, um sein Werk in den neuerdings schwierigen Zeiten fortzusetzen, bekam er die Rechnung präsentiert. Das ungeschriebene Gesetz besagte, dass nach ihm ein Mineiro für das Präsidentenamt an der Reihe war. Washington Luís wollte sich darüber hinwegsetzen und beharrte überdies noch auf seinem Vorschlag. Er agierte nun also gegen Minas Gerais und hatte die Unterstützung der Oligarchen eingebüßt. Seine Unnachgiebigkeit war dann letzten Endes der Funke im Pulverfass bzw. die berühmte góta d’agua, die das Fass zum Überlaufen brachte (cf. Costa Faria/Barros 9 2001, 25; Donato 2000, 349ff.). Washington Luís rechnete zwar damit, dass sein Plan in Minas Gerais keine großen Chancen hatte und ließ deshalb Getúlio Vargas, dem damaligen Gouverneur von Rio Grande do Sul, über den Abgeordneten José Antônio Flores da Cunha ausrichten, er möge einen gaucho-Kandidaten parat haben, falls Minas Gerais 51
Analphabeten durften bekanntlich nicht wählen.
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Júlio Prestes blockierte. Nun zeichnete sich ab, dass Rio Grande do Sul eine Schlüsselrolle in der Wahl des neuen Präsidenten zukommen sollte. Vargas wusste, dass Antônio Carlos Ribeiro de Andrada, der Gouverneur von Minas Gerais, Júlio Prestes ablehnen würde. Vargas war in der Zwickmühle, da er einerseits eine große Chance witterte, andererseits aber auch seine guten Beziehungen zur föderalen Regierung nicht gefährden wollte. Minas Gerais konnte sich keine allzu großen Hoffnungen auf bundesweite Unterstützung machen. Im Mai 1929 wurde die Präsidentennachfolge im Nationalkongress behandelt und Vargas ließ den Präsidenten wissen, dass dieser auf die Unterstützung von Rio Grande do Sul zählen könnte (cf. Brandi 1983, 34ff.). Antônio Carlos Ribeiro de Andrada und auch andere Gouverneure waren aber absolut dagegen, dass Júlio Prestes der offizielle Präsidentschaftskandidat sein sollte. Um sich in dieser Angelegenheit der Unterstützung von Rio Grande do Sul zu versichern, schlug Ribeiro de Andrada vor, dass nicht er selbst, sondern Getúlio Vargas, der Gouverneur von Rio Grande do Sul, der außerdem unter Washington Luís bereits Finanzminister und zuvor schon Mitglied des brasilianischen Nationalkongresses gewesen war, der Oppositionskandidat sein sollte (cf. Bethell 2008, 11). João Pessoa aus Paraíba sollte der Kandidat für die Vizepräsidentschaft sein, wodurch auch der Nordosten in Vargasʼ Kandidatur eingebunden gewesen wäre. Gleich mehrere gesellschaftliche Schichten und Gruppierungen fühlten sich mittlerweile durch die oligarchisch geprägte café-com-leite-Allianz, die sich vehement gegen Neuerungen wehrte und keine neuen gesellschaftlichen Gruppierungen aufkommen ließ, nicht mehr vertreten. Dazu gehörten in erster Linie das Militär, die neu entstehende Mittelklasse in den Städten, aber auch die Eliten von Rio Grande do Sul. Am 17. Juni 1929 gab es einen Geheimpakt zwischen Minas Gerais und Rio Grande do Sul, den sogenannten Pacto do Hotel Glória, in dem vereinbart wurde, dass Júlio Prestes abgelehnt und ein gaucho-Gegenkandidat ernannt werden sollte (cf. Brandi 1983, 36).52 Nachdem sich am 30. Juli 1929 der Partido Republicano Mineiro einstimmig für die Kandidatur von Vargas-Pessoa ausgesprochen hatte, schlossen sich in Rio Grande do Sul der Partido Libertador (PL) und der Partido Republicano Rio-grandense (PRR) zur Frente Única Gaúcha (FUG) zusammen. Anfang August formierte sich dann auf nationaler Ebene gewissermaßen als Koalition der unzufriedenen Opposition (cf. König 2014, 238; Rinke/Schulze 2013, 134) die Aliança Liberal, die in sich aber wiederum verschiedene ideologische und politische Gruppierungen versammelte. São Paulo ausgenommen, beteiligten sich alle wichtigen Staaten (cf. Donato 2000, 350) und selbst dort wurde die Aliança Liberal von den Demokraten unterstützt. In erster Linie zählten zu dieser Allianz die oben genannte Frente Única Gaúcha, die republikanischen Parteien von Minas Gerais und Paraíba, die bislang genauso wie der PRR mit den anderen Republikanern verbündet gewesen waren, der, wie bereits erwähnt, 1926 in São Paulo gegründete Partido Democrático,53 der Partido Democrático des Distrito Federal, die Aufstän52
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Der Gegenkandidat konnte zum damaligen Zeitpunkt noch entweder Getúlio Vargas oder Antônio Augusto Borges de Medeiros sein, der immerhin 25 Jahre lang Gouverneur von Rio Grande do Sul gewesen war (cf. Brandi 1983, 36). Allein schon die Gründung des Partido Democrático (PD) in São Paulo erschütterte die Grundfesten des oligarchischen Systems schwer (cf. Fausto 1986, 819). Außerdem führten seit 1927 die unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Forderungen verstärkt zu Rissen in der café-com-leite-Allianz und lösten generelles »mal-estar«, also Unbehagen, aus (cf. Rodrigues Aurélio 2009, 45).
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dischen aus den Jahren 1922 bzw. 1924 sowie eine Vielzahl prominenter brasilianischer Persönlichkeiten wie etwa Virgílio Alvim de Melo Franco, João Batista Luzardo oder Osvaldo Euclides de Sousa Aranha, die zwar den alteingesessenen Eliten angehörten, nichtsdestotrotz aber eine gesellschaftliche Öffnung und Veränderung für unerlässlich hielten (cf. Brandi 1983, 36ff.; Costa Faria/Barros 9 2001, 25ff.). Am 12. September 1929 wurde die Kandidatur von Júlio Prestes und Vital Soares, dem Gouverneur aus Bahia, als dessen Stellvertreter offiziell bekannt gegeben. Acht Tage später kündigte die Aliança Liberal die Kandidatur von Vargas-Pessoa an und stellte beider Programm vor. Es sollten sehr wohl die Interessen der Mittel- und Oberschicht gewahrt bleiben, aber keinesfalls vorrangig jene der Kaffeebarone und Oligarchen. Die Wirtschaft sollte gesamthaft angekurbelt, die ständige künstliche Subventionierung des Kaffees hingegen eingestellt werden. Es sollte Arbeiterrechte geben, Frauen und Kinder müssten geschützt werden. Die Wahlen müssten geheim sein und die seit der Revolte von 1922 Verfolgten sollten amnestiert werden (cf. Brandi 1983, 37ff.). Im Oktober 1929 kam es jedoch plötzlich zu einer Spaltung des Partido Republicano Mineiro (PRM), die für die Aliança Liberal hätte bedrohlich sein können. Es spaltete sich nämlich der konservative Flügel als Concentração Conservadora von der Partei ab und unterstützte sogar die Kandidatur von Júlio Prestes. Vargas bot erneut den Rückzug an, falls Washington Luís in seinem Wahlvorschlag zu Konzessionen bereit wäre. Washington Luís lehnte aufs Neue ab. Ende 1929 zog der radikale Flügel der Aliança Liberal, besonders João Neves, Osvaldo Aranha und Virgilio di Melo Franco, bereits einen bewaffneten Aufstand in Betracht, falls die Wahl 1930 für Vargas-Pessoa schlecht ausgehen sollte.54 Erneut wurde der Kontakt zu den revolutionserprobten tenentes vertieft, obwohl manche innerhalb der Aliança Liberal deren Radikalität auch fürchteten.55 Vargas war nach wie vor unentschlossen. Im Dezember 1929 gab es schließlich ein Geheimabkommen zwischen Washington Luís und Getúlio Vargas, in dem vereinbart wurde, dass Vargas ausschließlich in Rio Grande do Sul Wahlpropaganda betreiben würde und dass beide den Wahlausgang anerkennen wollten, wie immer dieser auch aussehen sollte. Noch im selben Monat verletzte Vargas jedoch das mit Washington Luís geschlossene Abkommen und reiste nach Rio de Janeiro, um am 2. Januar 1930 auf der Esplanada do Castelo in aller Öffentlichkeit gemeinsam mit João Pessoa vor einer großen und begeisterten Menschenmenge sein Programm anzupreisen.56 Im Anschluss daran zogen sie weiter nach São Paulo und Santos, wo ihnen ebenfalls ein stürmischer Empfang bereitet wurde. Ende Februar machte Vargas Osvaldo Aranha interimsmäßig zum Präsidenten von Rio Grande do Sul. Mittlerweile kam es zwischen
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Der junge, engagierte Flügel der Aliança Liberal war die ala moça (cf. Bethell 2008, 14). Luis Carlos Prestes lehnte letztlich auch die Teilnahme an einem wie immer gearteten Putsch der Aliança Liberal gegen das herrschende System ab, weil dieser Wider- bzw. Aufstand seines Erachtens im Grunde doch sehr bourgeois war. Es kämpfte eine Bourgeoisie gegen eine andere. Er hingegen hatte bereits Vorstellungen von einer kommunistischen Revolte, was mit Vargasʼ Plänen völlig unvereinbar war. Die Aliança Liberal bemühte sich nun auch um die Arbeiter im rückständigen Hinterland und übte ganz generell Sozialkritik. Das paternalistische System müsste reformiert werden, die Intellektuellen sollten aus dem Elfenbeinturm herauskommen, die Werte von Familie und Arbeit wurden hochgehalten, und der Nationalstolz wurde angepriesen (cf. Levine 1998, 10ff.).
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den Anhängern der beiden Lager in Staaten wie Minas Gerais, Pernambuco und Paraíba immer häufiger zu heftigen Zusammenstößen. Am 1. März 1930 wurde endlich gewählt und erwartungsgemäß ging der Sieg an Júlio Prestes. Wie all die Jahre zuvor gab es auch dieses Mal wieder Wahlbetrug im großen Stil, und zwar auf beiden Seiten, so erhielt Vargas etwa in Rio Grande do Sul 298.000 Stimmen, Prestes ganze 982. Insgesamt kam Prestes offiziell auf ca. 1.100.000 Stimmen, Vargas auf 737.000.57 Borges de Medeiros war bereit, das Wahlergebnis anzuerkennen, was hingegen für Osvaldo Aranha, João Neves und Flores da Cunha nicht in Frage kam. Borges de Medeiros trat zurück, um die Spaltung des PRR zu verhindern. Seitens der Aliança Liberal wurde die Revolution als Antwort auf jene Wahl immer aktueller und Ende März war auch Vargas dazu bereit und beauftragte Osvaldo Aranha mit ihrer Vorbereitung. Die tenentes sollten in vorderster Front für die Revolution kämpfen, Juárez Távora im Norden, João Alberto und etliche andere im Süden und der äußerst hartnäckige und kampferprobte Siqueira Campos sollte für den schwierigsten Part, nämlich São Paulo Stadt, zuständig sein. Oberster Koordinator der Revolution und Generalstabschef sollte nun der Karriereoffizier Pedro Aurélio de Góis Monteiro sein (cf. Bethell 2008, 15ff.). Am 3. Mai 1930 nahm der Kongress seine Arbeit wieder auf. Der Partido Republicano Mineiro (PRM) hatte vierzehn Abgeordnetensitze an die Concentração Conservadora und alle Kommissionsvorsitze verloren, Rio Grande do Sul kam ungeschoren davon. Ende Mai erklärte der Kongress Júlio Prestes zum neu gewählten Präsidenten. Am 1. Juni verurteilte Vargas in einem Manifest die Säuberung der mineiro-Reihen im Kongress und sprach sich für eine entsprechende Richtigstellung aus, aber eben eine »necessária retificação […] dentro da ordem«. Osvaldo Aranha hielt diese Gangart für feige und legte sein Amt zurück. Der erste Versuch, die Revolution zu beginnen, war gescheitert und es schien, als ob nun alles wieder seinen gewohnten Lauf nehmen würde. Am 26. Juli ereignete sich jedoch etwas völlig Unerwartetes. Vargasʼ designierter Stellvertreter João Pessoa wurde in Recife ermordet. Obwohl klar war, dass der Mord überhaupt nicht politisch motiviert war, machte die Aliança Liberal sofort die föderale Regierung dafür verantwortlich. Antônio Carlos Ribeiro de Andrada wollte sofort ein Manifest herausgeben, um Washington Luís öffentlich dafür anzuklagen, doch Vargas war dagegen. Die Revolution hatte dadurch jedoch wieder starken Aufwind bekommen und Aranha wurde beauftragt, die Vorbereitungen wiederaufzunehmen. Am 11. September erklärten Góis Monteiro und Aranha, dass die notwendigen Vorbereitungen getroffen worden wären und der Revolution nichts mehr im Wege stünde. Vargas und Aranha beschlossen nun, die Revolution am 3. Oktober zugleich in Minas Gerais, in Rio Grande do Sul und in den Bundesstaaten des Nordostens zu beginnen. Die Revolution begann tatsächlich am 3. Oktober in Belo Horizonte und Porto Alegre, im Nordosten jedoch irrtümlicherweise erst am 4. Oktober. Mitte Oktober war fast das ganze Land unter der Kontrolle der Revolutionäre, die föderale Regierung hielt nur noch São Paulo, Rio de Janeiro, Bahia und Pará. Washington Luís wurde zum Rücktritt aufgefordert, doch er lehnte ab. Der Präsidentenpalast wurde schließlich vom Militär umzingelt, der Präsident abgesetzt und durch eine provisorische Junta ersetzt. Am 28. Oktober erklärte die Junta, dass die Regierungsmacht fortan in Vargasʼ Händen läge. Auf dem Weg nach Rio de Janeiro machte Vargas in São 57
Insgesamt waren nur 5,7 % der Bevölkerung wahlberechtigt (cf. Rodrigues Aurélio 2009, 49).
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Paulo Halt, wo er einstweilen den tenente João Alberto als Militärdelegierten der Revolution postierte. Am 31. Oktober kam Vargas mit 3.000 gaucho-Soldaten in Rio de Janeiro an; am 3. November übernahm er die provisorische Regierung (cf. Bethell 2008, 11ff.; Brandi 1983, 34ff.; Costa Faria/Barros 9 2001, 25ff.; Fausto 1986, 823ff.; Fausto 2006, 36ff.; Hentschke 2010, 220ff.; Levine 1999, 96ff.; Rodrigues Aurélio 2009, 43ff.). Teixeira (2 2006, 252ff.) wertete diese Revolution als Drama in vier Akten mit komischen Elementen: Erster Akt: Im Sommer 1929 wird die Aliança Liberal geschmiedet und Vargas zu ihrem Präsidentschaftskandidaten auserkoren. Zweiter Akt: Die Wahl an sich, die mit dem Karneval zusammenfällt. Dritter Akt: 26. Juli 1930: João Pessoa wird in einer Confeiteria in Recife ermordet und löst dadurch indirekt die Revolution aus. Vierter Akt: 3. Oktober 1930: Vargas beginnt die Revolution in Porto Alegre.
3.2.1.2
Vargas Präsidentschaft
Der Putsch bzw. die Revolution von 1930 wurde in weiten Teilen Brasiliens mit Wohlwollen aufgenommen, weil eine drohende Machtzementierung der Paulistas vielen ein Dorn im Auge gewesen war (cf. Levine 1999, 98). Façamos a revolução antes que o povo a faça, machen wir die Revolution, bevor das Volk sie macht, hatte einst der mineiro-Gouverneur Antônio Carlos gewarnt und damit unmissverständlich ausgedrückt, dass es höchste Zeit für Veränderungen war. Hentschke (1996, 376) bezeichnet jene Revolution von 1930 als »eine ›unvollendete‹ politische Revolution ›von oben‹, die eine konservative Modernisierung à la Castilhos58 (conservar melhorando) einleitete«. Nach Vargasʼ Machtübernahme wurden dementsprechend umgehend die legislativen Organe, d.h. der Kongress, die Bundesstaatslegislativen sowie die Gemeinderäte aufgelöst. Der Oberste Gerichtshof wurde vergrößert und von Vargasʼ Getreuen besetzt. Die Gouverneure der Bundesstaaten wurden durch sogenannte Interventoren ersetzt, die der Präsident selbst erwählte.59 Diese Interventoren, von denen die Hälfte aus dem Militär stammte, sollten Schlüsselpositionen im neuen System einnehmen. Der Staat sollte zentralistisch geführt werden, interventionistisch agieren und nationalistisch bis nativistisch geprägt sein. Nach und nach sollte er sich von Demokratie und Wirtschaftsliberalismus verabschieden (cf. Prutsch 1996, 162). Die Macht der Bundesstaaten wurde sogleich eingeschränkt. Den Bundesstaaten wurde es untersagt, eigene Truppen aufzustellen und Auslandskredite durften sie nur noch mit Erlaubnis der Bundesregierung aufnehmen (cf. Rinke/Schulze 2013, 135). Legislative und Exekutive waren somit mehr oder weniger in den Händen des Interimspräsidenten Getúlio Vargas (cf. Bethell 2008, 18ff.), zumal es gleich nach dem Putsch per Dekret zu besagten tiefgreifenden strukturellen Veränderungen gekommen war, die die föderalistischen Prinzipien der Verfassung von 1891 aufheben und die Rückkehr der Oligarchen verhindern sollten. Um diese Veränderungen zu untermauern und zu stabilisieren, ergriff Vargas, abgesehen von der grundlegenden Systemveränderung, weitere folgenschwere Maßnahmen. Zu den wichtigsten zählten einerseits die Aufwertung des Militärs und andererseits die
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Júlio Prates de Castilhos war 1891 und von 1893 bis 1898 Gouverneur von Rio Grande do Sul. Seine positivistisch geprägte Politik hinterließ tiefe Spuren in Vargasʼ politischer und wirtschaftlicher Ideologie und beeinflusste ganz maßgeblich die Grundstrukturen des Estado Novo ab 1937. Benedito Valadares in Minas Gerais verlor sein Amt nicht (cf. Skidmore 1999, 109).
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allmähliche Einflechtung der städtischen Arbeiterschaft in die Institutionen des Staates (cf. Cammack 1996, 1074ff.). Vargas war durch das Militär an die Macht gekommen und schon aus diesem Grund fühlte er sich ihm gegenüber verpflichtet und wertete es dementsprechend auf (Bethell 2008, 20). Die Einbindung der städtischen Arbeiterschaft seit der Revolution war ein bedeutender Schritt in Richtung Korporatismus. Es sollte aber symmetrische Beziehungen zu städtischen Arbeitern und Angestellten geben und auf diese Weise sollten beide Gruppen immer mehr in den Einfluss- und Kontrollbereich des Staates gelangen (cf. Skidmore 1999, 93ff.). Zu diesem Zwecke gründete Vargas bereits im November 1930 das Arbeitsministerium, o Ministerio do Trabalho, Industria e Comercio, dessen vorrangiges Ziel es war, die Arbeiterschaft gewerkschaftlich zu organisieren. Das Arbeitsministerium sollte dann als Vermittler zwischen Regierung und Arbeiterschaft fungieren, letztlich aber vor allem die volle Kontrolle über die im Grunde entpolitisierten Einheitsgewerkschaften bewahren (cf. König 2014, 248). Wirtschaftlich spürbar war vor allem die Krise von 1929 mit all den bekannten Folgen. 1930 war das Land bankrott (cf. Prutsch 1996, 164). Dringend mussten neue Kredite aufgenommen werden, um die oben erwähnte Valorisierungspolitik des Kaffees zu finanzieren und gleichzeitig in die Industrie zu investieren. Für Vargas war klar, dass Brasilien eine Industrienation zu werden hatte. In der Folge wurde für die Produktion sowohl landwirtschaftlicher als auch industrieller Güter eine Reihe von Instituten geschaffen, die auch den wirtschaftlichen Bereich straff organisieren und kontrollieren sollten. Zu jenen Instituten gehörten u.a. der Instituto do Açúcar e do Alcool und der Conselho Nacional do Café (cf. Donato 2000, 351; Prutsch/Rodrigues-Moura 2013, 127). Für den brasilianischen Normalbürger jener Zeit waren die Umwälzungen infolge der Revolution allerdings kaum spürbar. Weder in den Eigentumsverhältnissen noch im Bereich der Arbeitsbedingungen gab es gröbere Veränderungen. Das Land schien weiterhin von Großgrundbesitzern, Kaufleuten, Bankern und den nun allmählich hinzukommenden Industriellen kontrolliert (cf. Skidmore 1999, 108). Die Krise von 1929 lieferte aber Vargas einen willkommenen Grund, seine Zentralregierung zum Wohle des Volkes zu stärken, um dieses nämlich künftig vor derart desaströsen wirtschaftlichen Entwicklungen zu bewahren. Vargasʼ größte Sorge war jedoch weder der Kaffee noch die Banken, sondern die Paulistas selbst (cf. Hentschke 2006, 7), zählten doch die mächtigen republikanischen Parteibosse aus São Paulo, die Júlio Prestes unterstützt hatten, zu den wahren Verlierern der Revolution von 1930 (cf. Skidmore 1999, 108). Die Paulistas waren sich von Anfang an sicher, dass Vargas die Macht nicht mehr abgeben würde und sich sogar an São Paulo rächen wollte. Der Gipfel war allerdings, dass Vargas João Alberto Lins de Barros, der gar kein Paulista war, offiziell zum Interventor von São Paulo bestellte (cf. Skidmore 1999, 109).60 Umso schneller wollten die paulista Elite, Kaffeebarone, Industrielle sowie die urbane Mittel- und Oberschicht, zur konstitutionell legitimierten Regierung zurückkehren. Im Februar 1931 setzte Vargas tatsächlich eine Kommission für eine Wahlrechtsreform ein. Es sollte nun auch das Wahlrecht für Frauen geben und die Wahlen sollten außerdem geheim sein. Neu war vor allem auch das korporatistische Element in der 60
João Alberto Lins de Barros war ein radikaler tenente aus Pernambuco, der Miguel Costa, den ehemaligen Anführer des Aufstandes von 1924, zu seinem Sicherheitschef machte. 1931 musste Vargas dann aber doch beide absetzen (cf. Cammack 1996, 1078).
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Abgeordnetenkammer, in der es fortan 40 Vertreter verschiedener Berufsgruppen und Institutionen geben sollte. São Paulo traute Vargas aber nicht und wollte vor allem endlich die Fremdbestimmung und gefühlte Okkupation loswerden. Im Februar 1932 schlossen sich in São Paulo der Partido Democrático (PD) und der Partido Republicano Paulista (PRP) zusammen, um mit vereinten Kräften gegen Vargasʼ tenentista Politik vorzugehen (cf. Rinke/Schulze 2013, 135). Außerdem sah sich São Paulo vor allem in Minas Gerais und in Rio Grande do Sul nach Unterstützung im Kampf gegen Vargas um. Im März 1932 kam es tatsächlich zu einem Abkommen zwischen der Frente Única Gaúcha (FUG) und der Frente Única Paulista (FUP), um den Konstitutionalismus noch irgendwie zu retten (cf. Bethell 2008, 25ff.; Hentschke 1996, 377). Mittlerweile begann es sich zudem abzuzeichnen, dass Vargas auch dort die Politiker zugunsten einer starken Zentralregierung schwächen wollte, was überhaupt nicht goutiert wurde. Im Mai 1932 kündigte Vargas an, dass die Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung am 3. Mai 1933 stattfinden würden, allein, man traute ihm nicht und so kam es am 9. Juli 1932 zum Aufstand, der als Revolução Constitucionalista in die Geschichte einging (Bethell 2008, 27; Cammack 1996, 1078). Es war ein Bürgerkrieg zwischen den Paulistas und der Bundesarmee. Minas Gerais und Rio Grande do Sul verhielten sich aber letztlich Vargas gegenüber doch loyal (cf. König 2014, 244). Obwohl große Teile der Mittelschicht und der Arbeiterschaft für den Aufstand mobilisiert werden konnten (cf. Hentschke 2010, 223),61 jenen Aufstand, der gerade unter den Paulistas als Konterrevolution gegen die durch die Revolution von 1930 geschaffenen Verhältnisse verstanden wurde (cf. Hentschke 2006, 23), stand São Paulo letztlich den 60.000 gut ausgebildeten und trainierten Regierungssoldaten unter dem Oberbefehl des erfahrenen Generals Góis Monteiro allein gegenüber.62 Der Bürgerkrieg spielte sich vor allem in den Außenbezirken der Stadt ab. Das Stadtzentrum wurde folglich anders als 1924 nicht mehr bombardiert (cf. Skidmore 1999, 109).63 Trotzdem gab es zahlreiche Tote auf beiden Seiten. Anfang Oktober kapitulierte São Paulo bedingungslos (cf. Bethell 2008, 29). Der letzte separatistische Versuch São Paulos war gescheitert (cf. Prutsch 1996, 163). São Paulo hatte somit nach der politischen Niederlage von 1930 nun auch eine schwere militärische erlitten. Längerfristig gesehen, konnte es sich Vargas aber keinesfalls leisten, mit São Paulo auf Kriegsfuß zu stehen. Nach der doppelten Niederlage, die er São Paulo beigebracht hatte, war es strategisch zweifelsohne klug, sich jetzt großzügig und geradezu solidarisch zu zeigen. Vargas griff São Paulo sogar finanziell unter die Arme, indem er verschiedene Wirtschaftsprogramme zugunsten der Kaffeeproduzenten und -exporteure unterstützte (cf. Bethell 2008, 29) und selbst die Hälfte der finanziellen Last der Rebellen übernahm (cf. Skidmore 1999, 109). São Paulo erhielt außerdem nun endlich einen Paulista als Interventor (cf. Donato 2000, 353), nämlich Pedro Manuel de Toledo. Erneut betonte Vargas, dass im Mai 1933 die Wahl einer 214 Mitglieder starken Versammlung abgehalten würde. Der Zweck der
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In São Paulo wurde jene Gegenrevolution regelrecht als demokratische Volksrevolution hochstilisiert (cf. Hentschke 2010, 223). Die Bevölkerung lieferte zigtausende Goldringe und Juwelen ab, sodass mit dem Erlös des Verkaufs derselben Waffen gekauft werden konnten (cf. Levine 1999, 102). Bethell (2008, 29) hingegen spricht sehr wohl von schweren Bombardements und Kämpfen in der Stadt.
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Wahl war jedoch keinesfalls eine Kampfabstimmung, sondern viel mehr das wohl vorbereitete Schaffen einer Legitimationsgrundlage für die neuen politischen Verhältnisse. Vargas machte sich sogleich daran, seine Anhängerschaft zu vergrößern und zu organisieren, was ihm in Rio Grande do Sul oder Minas Gerais nach wie vor wesentlich leichter gelang als in São Paulo. Die Registrierung war komplizierter geworden, was dazu führte, dass es 1933 letztlich nur 1,5 Millionen Wahlberechtigte gab, während 1930 bereits 1,9 Millionen Brasilianer zur Wahl gegangen waren. Am 3. Mai wählten schließlich 1,2 Millionen Brasilianer die konstituierende Versammlung. Die Wahl unter der Aufsicht der Justiça Eleitoral war geheim und verlief korrekt, was ein absolutes Novum darstellte (cf. Skidmore 1999, 110). Die etablierten Parteien feierten einen großen Erfolg, während die tenentes weit unter ihren Erwartungen zurückblieben. Neben den republikanischen Parteien und dem Partido Democrático gab es nun aber auch neue Parteien, von denen vor allem die sich am europäischen Faschismus orientierende Ação Integralista Brasileira (AIB) unter Plínio Salgado herausstach (cf. Rinke/Schulze 2013, 136). Die ideologische Radikalisierung fand aber ebenso in der entgegengesetzten Hemisphäre statt, erlebte doch auch der schon 1922 gegründete und unter dem Einfluss des Comintern stehende Partido Comunista Brasileiro (PCB), in dem sich nun viele Anarchisten und Anarchosyndikalisten wiederfanden, einen Aufschwung. Vor allem in den großen Städten wie São Paulo, Rio de Janeiro, Recife oder Porto Alegre war der PCB präsent, gerade um den aufkeimenden Faschismus zu bekämpfen (cf. Skidmore 1999, 110). Die Arbeiter wandten sich zunächst aber nicht so sehr dem PCB zu, sondern viel mehr Luís Carlos Prestes. Als dieser jedoch nach seiner Rückkehr aus dem Exil in Moskau Parteimitglied wurde, gewann die Partei an Profil und auch an Anhängern, zunächst jedoch vor allem aus dem Militär und aus den Kreisen der Intelligenzija. Die kommunistische Partei entwickelte sich allmählich von einer klassenkämpferischen zu einer wirtschaftsnationalistischen, ohne jedoch das Ziel des Umsturzes der bestehenden Ordnung aus den Augen zu verlieren (cf. Cammack 1996, 1080ff.). Im Juni 1933 wurden noch 40 korporative Abgeordnete indirekt gewählt: 18 aus den Arbeitergewerkschaften, 17 aus den Angestelltenorganisationen, drei aus den freien Berufen und zwei aus der Beamtenschaft (cf. Bethell 2008, 30ff.; König 2014, 245). Am 15. November 1933 trat die Versammlung zum ersten Mal zusammen und acht Monate später, also am 16. Juli 1934, gab es tatsächlich eine neue Verfassung (cf. Bethell 2008, 32; Rinke/Schulze 2013, 137). Diese neue Verfassung war in erster Linie immer noch das Ergebnis der Verhandlungen zwischen den Repräsentanten der führenden Bundesstaaten und deshalb nach wie vor föderalistisch geprägt sowie markant von den Interessen der Oligarchen beeinflusst (cf. Cammack 1996, 1079). Sie war eine Mischung aus politischem Liberalismus und sozioökonomischem Reformismus (cf. Skidmore 1999, 110). Teilweise war diese neue Verfassung eine Neuauflage jener von 1891, teilweise gab es aber sehr wohl wichtige und grundlegende Neuerungen. So galt nun das Wahlrecht ab 18 für alle, die des Lesens und Schreibens mächtig waren. Für Männer und Frauen bis 60, die im öffentlichen Dienst tätig waren, war das Wählen sogar zwingend vorgesehen. Grundlegende bürgerliche Freiheiten sowie die Freiheit und Autonomie der Gewerkschaften wurden verfassungsmäßig garantiert. Neu war in der 1934er Verfassung weiters die Einführung des Mindestlohns, der geregelten Arbeitszeit, des bezahlten Urlaubs, des Schutzes für Frauen und Kinder sowie der Schulpflicht, andererseits auch, dass Was-
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ser und Bodenschätze Staatseigentum waren. Es war ganz offensichtlich, dass der Arbeiterschaft nun ein neuer gesellschaftlicher und vor allem wohl auch politischer Stellenwert zugeschrieben wurde. Die Rechte der Bundesstaaten waren hingegen deutlich eingeschränkt worden (cf. Bethell 2008, 31ff.; Donato 2000, 353; Rinke/Schulze 2013, 136ff.), wodurch viel Macht an das Zentrum zurückging (cf. Skidmore 1999, 109). Von den zukünftig 300 Abgeordneten sollten 250 gewählt werden, 50 sollten nun Vertreter der verschiedenen Verbände sein (cf. Bethell 2008, 34). Der Sonderfall São Paulo erhielt allerdings in gar manchen Bereichen einen Autonomiestatus (cf. Levine 1999, 102). 1938 würden die direkten Wahlen des Präsidenten und der Staatsgouverneure stattfinden. Bis dahin sollten die indirekten Präsidentschaftswahlen durch die Versammlung abgehalten werden und so wurde Vargas bereits am 17. Juli 1934 mit 175 Stimmen und 59 Gegenstimmen zum konstitutionellen Präsidenten von Brasilien gewählt (cf. Bethell 2008, 32; König 2014, 246). Vargas stand der neuen Verfassung von Anfang an sehr kritisch bis ablehnend gegenüber. Seiner Meinung nach war sie viel zu liberal und die Macht des Präsidenten war zu sehr eingeschränkt. Die Bundesstaaten hingegen genossen seines Erachtens immer noch viel zu viele Vorrechte und Freiheiten. Die Unmöglichkeit der Wiederwahl des Präsidenten war ihm außerdem von Anfang an ein Dorn im Auge. Sein großes Zentralisierungsprojekt schien unter diesen Umständen kaum durchführbar. Konsequent durchdacht konnte dies allerdings auch bedeuten, dass dieser Verfassung keine allzu lange Lebensdauer beschieden sein sollte (cf. Bethell 2008, 32).64 Es war allerdings nicht nur Vargas, der insgesamt sehr unzufrieden war. Auch die Kommunisten lehnten jene Verfassung ab, wenngleich aus ganz anderen Gründen. Die Kommunisten verstanden es aber, einerseits die Enttäuschung und den Unmut vieler tenentes zu nützen, andererseits auch die weitverbreitete Angst vor dem aufkeimenden Faschismus, der gerade durch die oben erwähnte Ação Integralista Brasileira (AIB) ein neues Gesicht zu bekommen schien. Am 23. März 1935 wurde die vorher angesprochene Aliança Nacional Libertadora (ANL) als Volksfront der progressiven Kräfte gegen den Kapitalismus, Faschismus und Imperialismus gegründet, die durchaus auch für die urbane Mittelschicht attraktiv schien. In der ANL fanden sich außer den Kommunisten des Partido Comunista Brasileiro (PCB) (cf. Prutsch 1996, 164) auch viele Sozialdemokraten wieder. Ehrenpräsident wurde der einstweilen noch in Moskau lebende Luís Carlos Prestes, der aber schon im April heimlich nach Brasilien zurückkehrte und sogleich Mitglied der ANL wurde. Die ANL wollte sich für eine Landreform, die Verstaatlichung ausländischer Unternehmen, den Ausbau des Sozialstaates, den freien Bildungszugang sowie für die Beendigung der ihrer Meinung nach für Brasilien sehr unvorteilhaften Beziehungen zu Großbritannien und den USA stark machen (cf. Bethell 2008, 38ff.; Rinke/Schulze 2013, 137; Skidmore 1999; 110). Das ultimative Ziel der ANL war jedoch eine revolutionäre Volksregierung (cf. Hentschke 2006, 13). Am 5. Juli gab die ANL bereits ein Manifest heraus, das zum Aufstand zugunsten einer derartigen revolutionären Volksregierung aufrief. Am 11. Juli bereitete
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Hentschke (2010, 223) bezeichnet die Verfassung von 1934 als »janusköpfig«, weil sie eben einerseits den ins Parlament zurückkehrenden liberal-konstitutionalistischen Oligarchen entsprechen sollte, andererseits aber sehr wohl die Interventionsrechte des Bundes ausweitete und ein starkes korporatistisches Element einführte.
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Vargas dem Treiben der ANL schon ein jähes Ende. Der Druck war dadurch jedoch in keiner Weise von der großen Masse der Unzufriedenen, Enttäuschten und Aufbegehrenden genommen, ganz im Gegenteil, er suchte sich viel mehr ein anderes Ventil, das er auch prompt finden sollte. Die kommunistischen Offiziere entschieden sich für einen Putsch mit der Unterstützung des Partido Comunista Brasileiro (PCB) und der Comintern, in deren beider Interesse nicht zuletzt auch die Stärkung der Position der Sowjetunion im Westen war. Allein, es sollte eine proletarische Revolution ohne Proletariat werden (cf. Skidmore 1999, 112), was offensichtlich für die angepeilte Revolution verhängnisvoll sein musste. Im November 1935 kam es auch schon zu jenem Putschversuch gegen Vargas, für den Luís Carlos Prestes gemeinsam mit Sowjetagenten die Vorbereitungen im Büro der Comintern in Montevideo getroffen hatte (cf. Levine 1999, 104). Dieser Putschversuch wurde insgesamt aber erdenklich schlecht organisiert, koordiniert und ausgeführt und scheiterte daher kläglich. In den Geschichtsbüchern wird er dementsprechend als Intentona Comunista geführt. Im Grunde handelte es sich dabei um mehrere kleine Aufstände vor allem in Natal und Recife sowie auf der Praia Vermelha von Rio de Janeiro. Es blieb aber sowohl die Unterstützung der Arbeiter als auch jene der Bauern aus, die für eine erfolgreiche Sozialrevolution unerlässlich gewesen wäre. Die Niederschlagung des Aufstandes war für die Regierungstruppen ein Leichtes und wer letzten Endes wirklich von der Intentona Comunista profitierte, waren Vargas selbst und das Militär. In der Folge kam es nämlich zu radikalen Säuberungen. Über hundert Offiziere und über tausend Soldaten wurden entlassen, viele von ihnen wurden eingesperrt (cf. Bethell 2008, 41). Prestes und viele seiner Gefährten wurden für lange Zeit hinter Schloss und Riegel unschädlich gemacht.65 Prestesʼ schwangere Frau Olga Benario, deutsche Jüdin und Kommunistin, wurde 1936 an Deutschland ausgeliefert, wo sie 1942 in der Tötungsanstalt von Bernburg vergast wurde.66 Ab Januar 1936 war die Comissão Nacional de Repressão ao Comunismo unter dem fanatischen Präsidenten Adalberto Correia installiert, die aber nicht nur Kommunisten, sondern auch Sozialisten, Anarchisten, Trotzkisten und all deren Sympathisanten verfolgte. Es war förmlich eine Hexenjagd auf alles Sozialistisch-Kommunistische vom Zaun gebrochen worden. Tausende verloren ihre Arbeitsplätze, wurden eingesperrt, viele von ihnen gefoltert, nicht wenige sogar bis zum Tod (cf. Levine 1999, 104). Für Vargas war der gescheiterte Putsch ein äußerst willkommener Anlass, seine Macht auszubauen und die Zentralisierung voranzutreiben. Er ließ sich mit einer Reihe von Sondervollmachten ausstatten, die angeblich absolut notwendig waren, um die Ordnung wiederherzustellen und die Kontrolle wiederzuerlangen. Vargas wurde vom Parlament sogar das Recht zuerkannt, notfalls die Verfassung außer Kraft zu setzen, um bei gröberen Unruhen den Kriegs- bzw. Ausnahmezustand ausrufen zu können. Dies bedeutete einen immensen Ausbau seiner Macht. Von diesem Recht machte Vargas in der Folge tatsächlich ausgiebig Gebrauch, wurde doch bis März 1937 der Kriegszustand 65
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Im September 1936 wurde vom Parlament ein Gesetz verabschiedet, das die Einrichtung des Tribunal de Segurança Nacional (TSN), also eines Tribunals für die nationale Sicherheit vorsah. Verurteilt werden sollten dort in erster Linie die Anführer des fehlgeschlagenen Putsches. Prestesʼ Urteil lautete auf 16 Jahre Haft (Cammack 1996, 1081). Ihre damals kleine Tochter Anita Leocádia Prestes überlebte den Holocaust. Sie ist Historikerin und verfasste eine Biographie ihres Vaters.
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immer wieder um drei Monate verlängert (cf. Cammack 1996, 1081ff.; Skidmore 1999, 112). Vargas hatte die Generäle gebraucht, um den Aufstand niederzuschlagen. Nun stand er in ihrer Schuld. Die Armee brauchte aber auch Vargas weiterhin, weil ihr sonst der Rückhalt für eine Militärdiktatur fehlen würde (cf. Hentschke 2010, 224). 1936 wurde allmählich die Frage der präsidentiellen Nachfolge aktuell, zumal Vargas laut Verfassung 1934 nicht wiedergewählt werden konnte. Es schien allerdings nur schwer vorstellbar, dass er ohne Weiteres auf die Fortführung der Präsidentschaft verzichten würde. Gefahr drohte von links und von rechts und auch die Oligarchen warteten nur auf die passende Gelegenheit, um wieder die Macht zu ergreifen. Die Ziele von 1930 lagen nach wie vor in weiter Ferne und um sie später doch noch zu erreichen, gab es für Vargas im Grunde nur zwei Optionen: entweder die Erweiterung seines Mandats durch Verfassungsänderung oder einen Putsch. Vargas war davon überzeugt, dass das Militär sowohl die eine als auch die andere Variante unterstützen würde. Es stellte sich aber heraus, dass die Gouverneure der bedeutendsten Bundesstaaten, die zwar alle auf Vargasʼ Seite standen, klar dagegen waren, dass er die Macht behalten sollte. Vargas selbst wurde nicht müde zu beteuern, dass es planmäßig Wahlen geben sollte, der Wahlkampf dafür aber nicht vor Januar 1937 beginnen dürfte (Bethell 2008, 42ff.). Vargas umgab sich bereits mit Generälen und Ministern, die einem autoritären System durchaus zugeneigt waren, darunter besonders prominente wie Pedro Aurélio de Góis Monteiro und Eurico Gaspar Dutra. Sie hatten klare Sympathien für die Militärgeschichte Deutschlands und für die politischen Entwicklungen in Italien. Góis Monteiro war Kriegsminister in den Jahren 1934 und 1935,67 Dutra von 1936 bis 1945. Für die Wahlen 1938 kristallisierten sich drei Kandidaten heraus: Armando Sales de Oliveira, José Américo de Almeida und Plínio Salgado. Sales de Oliveira war Paulista und von Vargas 1933 als Interventor in São Paulo eingesetzt worden, was als strategisch-diplomatischer Schachzug zu werten war. Sales de Oliveira war für umfassendere Staatsautonomie und gegen straffe Zentralisierung. Viele Bundesstaaten zögerten, ihn zu unterstützen, weil mit ihm erneut die Vormacht São Paulos drohte. De Almeida war der Regierungskandidat, der außer in São Paulo und Rio Grande do Sul überall breite Unterstützung genoss, ganz besonders im Norden.68 Obwohl er Regierungskandidat war, war seine Position im Machtgeflecht keine eindeutige, fehlte ihm doch gerade Vargasʼ Unterstützung. Vargas selbst unterstützte überhaupt keinen Kandidaten, da er im Grunde wohl keinen wollte und nur sich selbst in der Präsidentenrolle sah. De Almeida war Mittel zum Zweck, sollte er doch in erster Linie die Position von Sales de Oliveira unterminieren.69 Plínio Salgado, der Anführer der Integralisten, präsentierte sich schließlich als dritter Kandidat.
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Góis Monteiro saß als Generalstabschef des Heeres ab 1937 an den wichtigen Schaltstellen des Militärs (cf. König 2014, 251). Als Schriftsteller war José Américo de Almeida auch der Favorit vieler Intellektueller. In São Paulo und Rio Grande do Sul hatte er zumindest die Unterstützung der Opposition (cf. Bethell 2008, 44ff.). De Almeida gerierte sich als Demokrat, war zugleich aber radikal populistisch. Er war für die Gewaltentrennung sowie für die Garantie politischer Rechte und Freiheiten für alle. Er kritisierte Sales de Oliveira als konservativ und elitär, betrachtete ihn als Kandidaten der paulista Plutokratie und Sklaven ausländischer Herren. Sich selbst zeichnete er als den Fürsprecher der Armen und Vergessenen (cf. Bethell 2008, 46).
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Nach der Intentona Comunista rückte Vargas nun auch offiziell immer weiter nach rechts. Die indirekte Bedrohung durch die Sowjetunion, den Marxismus und den Sozialismus schien dies zu rechtfertigten, sie schien dies sogar notwendig zu machen: Antikommunismus, Antisozialismus, Antiliberalismus, Nationalismus und Zentralismus waren die Devise für die eigene Sicherheit und Wohlfahrt. Nichts war wichtiger als ein starker Staat, um den überall lauernden Gefahren zu trotzen. Weder Sales de Oliveira noch de Almeida passten Vargas aber wirklich in das Konzept. Der im Grunde föderalistisch denkende Sales de Oliveira würde in erster Linie die Interessen São Paulos vertreten und de Almeida versprach, sich vorrangig für die Armen und Rechtlosen einzusetzen. Ein großes, erfolgreiches und international angesehenes Brasilien brauchte weder das eine noch das andere, was Vargas wohl nicht mehr daran zweifeln ließ, dass im Grunde nur er selbst sein eigener Nachfolger sein konnte. Im September 1937 enthüllten Góis Monteiro und Dutra den Cohen Plan,70 einen Geheimplan für einen politischen Umsturz und eine kommunistische Revolution, der jedoch eine Fälschung war71 und scheinbar dazu dienen sollte, jegliche Maßnahme gegen kommunistische Agitatoren im Keime zu ersticken (cf. König 2014, 251; Rinke/Schulze 2013, 138). Im Oktober wurde daher wieder der Kriegszustand hergestellt, der nach 18 Monaten erst im Juni aufgehoben worden war. Am 24. Oktober traf Vargas den Justizminister Macedo Soares, den Arbeitsminister Agamenon Magalhães, den Gouverneur von Minas Gerais Benedito Valdares Ribeiro und die Generäle Dutra und Góis Monteiro sowie den Integralisten Newton Cavalcanti, um eine Verfassungsreform zu beschließen, die Campos bereits von langer Hand geplant hatte. Die Staatsgouverneure wurden nur noch informiert. De Almeida hatte verstanden und zog sich zurück. Salgado nahm sich ebenfalls aus dem Rennen, wenngleich aus anderen Gründen. Er tat es aus Solidarität mit Vargas und dem Militär im Kampf gegen den Kommunismus und die anarchistische Demokratie. Es blieb also nur noch Sales de Oliveira, der ein letztes Mal an das Militär appellierte, doch die Demokratie in Brasilien zu retten. Die Folge davon war aber lediglich, dass der Putsch vom 15. auf den 10. November vorverlegt wurde. Der Kongress wurde von der Militärpolizei unter Filinto Müller eingeschlossen, Vargas erklärte im Radio die Jännerwahlen für abgesagt und machte klar, dass er selbst auch der zukünftige Präsident sein würde. Über Sales de Oliveira wurde Hausarrest verhängt, später ging er ins Exil, zunächst nach Frankreich, dann in die USA und schließlich nach Argentinien. Durch den Putsch vom 10. November 1937, der ein golpe silencioso ohne ernsthaften Widerstand war und auf das Wohlwollen des Militärs, der Integralisten, der katholischen Kirche sowie der Wirtschaftseliten und Großgrundbesitzer stieß, hielt sich Vargas tatsächlich an der Macht. Die Revolution von 1930 erfüllte sich letztlich im Putsch von 1937 (cf. Camargo et al. 1989, 9). Vargas hielt sich aber nicht nur an der Macht, sondern er begründete ein neues System im Sinne eines neuen Staates, nämlich des Estado Novo, in dem er jene politischen Ideale umzusetzen trachtete, die ihm bereits 1930 vorgeschwebt
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Es war kein Zufall, dass jener fingierte Geheimplan einen jüdischen Namen trug. Antisemitische Vorurteile wurden dadurch bestärkt und der Antisemitismus insgesamt beflügelt (cf. Cammack 1996, 1085). Der Fälscher war Kapitän Olímpio Mourão Filho. Dieser war Stabschef in den Reihen der Integralisten und Organisator von paramilitärischen Einheiten (cf. Bethell 2008, 49).
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waren (cf. Bethell 2008, 46ff.; Cammack 1996, 1082ff.; Skidmore 1999, 112ff.). Die von Francisco Campos ausgearbeitete Carta des Estado Novo, die am Tage des Putsches veröffentlicht wurde, war eher ein Dekret als eine Verfassung. Der Kongress wurde aufgelöst, Wahlen wurden abgesagt, demokratische Institutionen ausgeschaltet, politische Ämter mit engen Vertrauten besetzt. Oppositionelle wurden verhaftet, gefoltert oder ins Exil geschickt. Am 2. Dezember 1937 wurden per Dekret alle politischen Parteien abgeschafft, allein die Ação Integralista Brasileira (AIB) durfte als Kulturzentrum fortbestehen, ihre Zeitung wurde jedoch eingestellt.72 Der Präsident wurde ermächtigt, per Dekret zu regieren. Er repräsentierte nun die zentrale Exekutive. In den Artikeln 175 bis 187 wurde dem Land der Notstand auferlegt, der bis zum Ende des Estado Novo auch nicht mehr aufgehoben wurde. Während des Estado Novo, der bis 1945 dauerte, gab es nur wenige Kabinettsveränderungen: Francisco Campos war bis 1942 Justizminister, Osvaldo Aranha bis 1944 Außenminister, Alexandre Marcondes Filho bis 1945 Arbeitsminister, Dutra bis 1945 Kriegsminister und Góis Monteiro bis 1944 Heeresstabschef. Das Heer, dessen Größe sich während des Estado Novo mehr als verdoppelte, übte vor allem über den Conselho Nacional de Segurança, den Nationalen Sicherheitsrat, entscheidenden Einfluss auf die Politik aus. Hier war von besonderer Bedeutung, dass das Konzept der nationalen Sicherheit eine immense Ausdehnung erfuhr, sodass Wirtschaftliches genauso wie Politisches darein eingingen und Interventionen in diesen Bereichen infolgedessen mit dem Argument der nationalen Sicherheit möglich wurden. Wie nach der 1930er Revolution regierten von Vargas persönlich eingesetzte Interventoren die 20 Bundesstaaten. Es waren Verwandte, altgediente Militärs und andere politische Verbündete (cf. Bethell 2008, 54ff.; Rinke/Schulze 2013, 139). Zum Zwecke der straffen Organisation des Staates, die den unmittelbaren Zugriff auf alle Ebenen garantieren sollte, gab es nach und nach immer mehr Räte, Kommissionen, Agenturen und Dienste.73 Da die Industrialisierung des Landes ein vorrangiges Ziel von Vargas war, gründete er bereits 1937 Räte für die Rohstoffgewinnung und –verarbeitung, für die Energiegewinnung und für den Bergbau (cf. König 2014, 257). Am 30. Juli 1938 wurde eine Art Superministerium geschaffen, der Departamento Administrativo de Serviço Público (DASP). Es unterstand direkt dem Präsidenten und war für alle Personalfragen der Regierung zuständig. Jeder Bundesstaat hatte seine eigene politische Polizei, den sogenannten Departamento de Ordem Política e Social (DOPS). Die DOPS waren zwar schon 1924 gegründet worden, doch sie waren dann erst im Estado Novo von zentralem Interesse und von fundamentaler Bedeutung (cf. Bethell 2008, 58ff.). Seit 1933 gab es bereits die CIB, die Confederação das Indústrias
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Die Integralisten wollten allerdings nicht akzeptieren, dass sie nicht an der Regierung beteiligt sein sollten und unternahmen deshalb am 11. Mai 1938 einen Putschversuch. Mehrere Dutzend Integralisten überfielen den Präsidentenpalast mit der Absicht, Vargas zu töten. Der Angriff konnte abgewehrt werden. Er lieferte somit nur einen weiteren Grund, hart gegen Oppositionelle vorzugehen. Dieser Putschversuch hatte laut Skidmore (1999, 114) erneut etwas durchaus Komödiantisches an sich, heißt es doch, dass Vargas beim Überfall schlief, seine 23jährige Tochter Alzira aber an das Fenster stürmte, auf die Putschisten feuerte und somit entscheidend zur Putschabwehr beitrug (cf. Cammack 1996, 1075ff.; Rinke/Schulze 2013, 141ff.; Skidmore 1999, 113ff.). Derartige Räte gab es bald für viele Wirtschaftsbereiche wie jene des Kaffees, des Alkohols, des Handels ganz allgemein, der Industrie usw. Daneben existierten Agenturen für Energie, Transport, Bodenschätze und weitere andere (cf. Bethell 2008, 57).
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do Brasil, die ab 1938 Confederação Nacional da Indústria hieß und von Euvaldo Lodi geführt wurde. Es war der Spitzenverband der Interessensvertretung der Industrie. 1945 wurde die Handelskammer, die Confederação Nacional do Comércio (CNC) gegründet, der João Daudt de Oliveira vorstand (cf. Cammack 1996, 1092ff.). Per Dekret wurde 1939 weiters der Departamento de Imprensa e Propaganda (DIP) gegründet, der nicht nur insgesamt die Propagandamaschinerie in Gang setzte und kontrollierte, sondern vor allem für die strenge Zensur verantwortlich war (cf. Levine 1999, 105). Ebenso per Dekret schuf Vargas 1942 den Serviço Nacional de Aprendizagem Industrial (SENAI), der zwar auf Geheiß der Regierung konstituiert wurde, sich dann jedoch privat finanzieren musste. Er sollte für eine ausgewogene soziale Entwicklung des Landes Sorge tragen. Tatsächlich waren aber offensichtlich 1945 die Reichen viel reicher geworden und die Armen viel ärmer (cf. Levine 1999, 105).74 Neben all diesen Organisationen war es aber ganz besonders die gewerkschaftliche Erfassung der Arbeiter, durch die die Gesellschaft gesamthaft strukturiert und organisiert werden sollte. Die zukünftige Macht der Arbeiterschaft schien sich abzuzeichnen oder war zumindest erahnbar, weshalb die Arbeiter durch eine zunehmend wohlwollende Gewerkschaftspolitik für Vargasʼ Linie gewonnen werden sollten. Die Arbeiter sollten keinesfalls mehr politische Rechte erhalten, stattdessen aber soziale, gab es doch nun den festgesetzten Mindestlohn, gleichen Lohn für Mann und Frau, Pensionen, Versicherungsschutz und sogar Vergünstigungen für die Mitglieder, um den Gewerkschaftsbeitritt schmackhaft zu machen. Die Gewerkschaften wurden gestärkt, gleichzeitig gelangten sie aber auch immer mehr unter die staatliche Kontrolle. Sie waren nun hierarchisch organisierte Einheitsgewerkschaften, an deren Sitzungen Vertreter der Behörden teilnahmen. Pro Industrie und Lokalität durfte es nur noch eine Gewerkschaft, den sindicato único, geben, der außerdem staatlich genehmigt werden musste.75 Andererseits war es sehr wohl untersagt, eine einheitliche Gewerkschaft auf nationaler Ebene zu bilden, wie es etwa in Argentinien und Mexiko der Fall war.76 Zu große gewerkschaftliche Organisationen stellten nämlich ein Gefahrenpotential für die Regierung dar. Streiks wurden verboten, eine Gewerkschaftssteuer, der imposto sindical, eingeführt, der von den Arbeitgebern zu entrichten war, wodurch diese nun wiederum verstärkt mit dem Staat verflochten waren. Im Grunde sollten die Gewerkschaften eine Stütze des Staates sein und mit diesem vor allem zusammenarbeiten (cf. Bethell 2008, 62ff.; Cammack 1996, 1091ff.; Rinke/Schulze 2013, 141ff.). Der Estado Novo war vom Militär gestützt und bedeutete fast unbeschränkte Macht für Vargas. Im Estado Novo gab es de facto keine Gewaltenteilung mehr (cf. König 2014, 253), er verkörperte das Prinzip des l’État c’est moi (cf. Rose 2000, 150). Der Estado Novo verfolgte als Interventionsstaat primär die Ziele der Industrialisierung und der Zentra-
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Der Serviço Social da Industria (SESI) wurde dann 1946 vom damaligen Präsidenten Eurico Gaspar Dutra gegründet. Die Verfassung von 1934 erlaubte sehr wohl noch den Gewerkschaftspluralismus. 1940 gab es allerdings wieder einen Kompromiss, der das Fortbestehen bestimmter privater Gewerkschaften erlaubte (cf. Cammack 1996, 1091ff.). In Argentinien war es die Confederación General del Trabajo (CGT), in Mexiko die Confederación de Trabajadores de México (CTM).
3. Die politisch-historische Dimension
lisierung77 sowie der Entwicklung des Hinterlandes und dafür war quasi jedes Mittel Recht. Er verstand die Nation als organisches Ganzes (cf. Levine 1999, 104), war autoritär und bürokratisch, antiliberal und antikommunistisch, korporatistisch und nationalistisch (cf. Rinke/Schulze 2013, 138ff.).78 Das Nationale wurde befördert und beflügelt, um Identitätsbewusstsein zu schaffen und zu forcieren. Die brasilidade war ein großes Thema des Estado Novo (cf. Hentschke 2006, 9), zu der etwa Fußball, Karneval und Samba als markante Merkmale gehören sollten (cf. Skidmore 1999, 118). Fremdsprachen verschwanden immer mehr aus der Öffentlichkeit und im Gegenzug dazu wurde sowohl in der Schule als auch in der Presse nur noch das Portugiesische gefördert bzw. später erlaubt (cf. Bethell 2008, 59; Prutsch 1996, 165). Im zweiten Weltkrieg versuchte Brasilien zunächst die Neutralität zu wahren. Die USA durften zwar im Nordosten Brasiliens Militärbasen errichten, gleichzeitig unterhielt Brasilien aber wichtige Handelsbeziehungen mit Deutschland. Deutschland war an den brasilianischen Rohstoffen interessiert und lieferte im Gegenzug Waffen, die Brasilien zur Absicherung gegen den Erzfeind Argentinien zu benötigen glaubte.79 Nach dem Überfall Deutschlands auf Polen kam es jedoch zum großen Einbruch und 1942 war der Handel mit Deutschland auf Null geschrumpft (cf. Cammack 1996, 1088). Nachdem deutsche U-Boote aber brasilianische Schiffe angegriffen hatten, erklärte Brasilien Deutschland am 22. August 1942 den Krieg. 25.000 brasilianische Soldaten bekämpften den im fernen Europa wütenden Nationalsozialismus und Faschismus. Die Força Expedicionária Brasileira verlor bis Januar 1945 zehn Schiffe und hatte hunderte Tote und tausende Verwundete zu beklagen (cf. Bethell 2008, 59ff.; Donato 2000, 355ff.). Die groteske Widersprüchlichkeit zwischen dem Kampf für Demokratie in Europa und der gleichzeitigen Aufrechterhaltung des autoritären Systems zu Hause wurde für Brasilien aber zur immer größer werdenden Belastung. Unter dem Vorwand der Verwicklung in den großen europäischen Krieg verschob Vargas jedoch immer wieder die Rückkehr zur Demokratie. Er versprach allerdings, nach dem Krieg freie Wahlen abzuhalten, die auch das Militär nachdrücklich einforderte. Der Termin für die Präsidentschafts- und Kongresswahlen war dann der 2. Dezember 1945, die Gouverneurs- und Bundesstaatswahlen sollten 1946 stattfinden. Eiligst wurden 1945 nun wieder Parteien gegründet: der Partido Social Democrático (PSD), die União Democrática Nacional (UDN) und der Partido Trabalhista Brasileiro (PTB). Der PSD und die UDN vertraten die herrschenden Schichten, ersterer unter Dutra, letztere unter Gomes. Auch der Partido Comunista Brasileiro (PCB) versuchte wieder, die Arbeiter zu mobilisieren.80 Ab 1. Mai 1945 gab es dann noch
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Einen Monat nach dem Putsch von 1937 wurden im Zentrum von Rio de Janeiro feierlich die Flaggen der einzelnen Bundesstaaten verbrannt (cf. Bethell 2008, 57; Hentschke 2010, 24). Der Estado Novo verfügte andererseits aber über keine Massenpartei und auch über keine paramilitärischen Formationen und er betrieb auch keine Expansionspolitik. Er war auch nicht faschistisch im klassischen Sinn. Antisemitisch war er allerdings in Bezug auf die Einwanderung (cf. Bethell 2008, 65ff.). Bis 1939 gab es weiterhin neue Verträge mit deutschen Unternehmen wie etwa Krupp (cf. Cammack 1996, 1088). Eine weitere Arbeiterbewegung unter kommunistischem Vorzeichen war der Movimento Unificador dos Trabalhadores (MUT), der unabhängige Gewerkschaften, freie Lohnverhandlungen, das Streikrecht und viele soziale Verbesserungen forderte (cf. Bethell 2008, 76).
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eine neue Bewegung unter dem Motto Queremos Getúlio, Wir wollen Getúlio, die immer stärker wurde. Auf den Veranstaltungen dieser queremistas war der Slogan Getúlio diz não ser candidato, mas o povo o quer, Getúlio sagte, er werde nicht kandidieren, aber das Volk will es.81 Die Wahlen schienen unaufhaltsam zu sein, auch das Militär und die USA machten Druck. In dieser angespannten Lage kam es plötzlich zu einem politischen Tauwetter. Prestes wurde enthaftet, die Zensur fiel weg und die Repressionen gegen die Opposition wurden aufgehoben. Vargas hofierte nun förmlich die Arbeiter und drängte sie, ihn über den Partido Trabalhista Brasileiro (PTB) zu unterstützen. Auch die queremistas setzten auf die Arbeiter und hofften, dass diese gewissermaßen in Analogie zu Argentinien Vargas retten würden. Vargas zählte außerdem noch auf die Unterstützung der ihm getreuen Interventoren. Die Alarmglocken läuteten jedoch wieder allseits, als Vargas seinen eigenen Bruder Benjamim Vargas zum Polizeichef machen wollte, was Góis Monteiro rundwegs ablehnte. Am 29. Oktober 1945 war es dann auch Góis Monteiro, der Vargas schließlich im Namen des Militärs ein Ultimatum stellte. Sollte er nicht abdanken, würde er aus seiner Position entfernt werden. Gleichzeitig teilte er Vargas mit, dass bereits Militäraktionen gegen ihn im Gange wären, woraufhin Vargas zurücktrat. Der Vorsitzende des Bundesgerichtshofes José Linhares trat an seine Stelle. Er ersetzte viele Interventoren durch Richter, enthob die Bürgermeister ihrer Ämter, löste den Sicherheitsrat auf, formierte ein neues Kabinett, installierte wieder den Senat und verfügte, dass der neue Kongress innerhalb von 60 Tagen nach seiner Wahl als verfassungsgebende Versammlung zusammentreten müsste. Am 2. Dezember 1945 fanden die Wahlen statt, an denen 6,2 Millionen teilnahmen. Dutra, der als Vorsitzender des PSD im Grunde den Estado Novo vertrat, gewann mit 43 %, die UDN erhielt 26 %, der PTB 10 %. Vargas kehrte nach Rio Grande do Sul zurück (cf. Bethell 2008, 83ff.; Cammack 1996, 1096ff.; König 2014, 263; Rinke/Schulze 2013, 146ff.; Skidmore 1999, 124ff.). Knapp fünf Jahre später, am 3. Oktober 1950, stellte sich Vargas der Präsidentschaftswahl. Für die UDN kandidierte Eduardo Gomes, für den PSD Cristiano Machado. Vargas war Kandidat des PTB und des Partido Social Progressista (PSP) und erhielt mit 48,7 % beinahe die absolute Mehrheit. Am 31. Januar 1951 trat Vargas als gewählter Präsident sein Amt an. Er drängte auf Reformen und genoss die Unterstützung der Gouverneure wichtiger Staaten wie Minas Gerais, Rio Grande do Sul und Pernambuco. Vargas stellte sich ein sehr erfahrenes Kabinett zusammen, das ihm zunächst die Unterstützung wichtiger ausländischer Akteure sowie der einheimischen Eliten für sein Programm der nationalen Wirtschaftsentwicklung sicherte. Als jedoch der Wirtschaftsnationalismus spürbar wurde, kam Widerstand sowohl von der in- als auch von der ausländischen Opposition.82 1952 erlitt Brasilien bereits ein schmerzhaftes Exportdefizit. Die Inflation stieg, das Zahlungsbilanzdefizit wuchs, Vargasʼ Popularität schrumpfte. Im März 1953 kam es zu einer bedeutenden Streikwelle in São Paulo. Wegen der Inflation forderten die Arbeiter höhere Löhne, doch Vargas bestand auf seinem Stabilisierungsprogramm. Er bildete wiederholt das Kabinett um und holte sich letztlich vertraute und bewährte Verbündete. João Goulart aus dem PTB wurde Arbeitsminister, 81 82
Wie sehr Vargas selbst hinter der queremista-Bewegung stand, ist schwer auszumachen. Siehe hierzu im Kapitel 6 die Analyse der von Vargas am 1. Mai 1951 im Estádio do Vasco da Gama in Rio de Janeiro gehaltenen Rede.
3. Die politisch-historische Dimension
Osvaldo Aranha Finanzminister, Vicente Rao Außenminister sowie Tancredo Neves Justizminister. Vargas hoffte, durch Goulart vor allem die Arbeiterschaft beruhigen und für sich gewinnen zu können. Im Oktober 1953 startete Vargas ein weiteres umfassendes Stabilisierungsprogramm und attackierte dabei zugleich das imperialistische Gehabe und die zerstörerische Gier des Auslandes. Er hatte versprochen, die Regierungsausgaben zu kürzen, was aber nicht passierte (Skidmore 2007 [1967], 124). Goulart setzte sich für die Forderungen der Arbeiterschaft ein, doch das Militär war strikt gegen Lohnerhöhungen und auch Vargas wollte keinen Deut von seinem Stabilisierungsprogramm abweichen. Goulart gab nicht nach und verlangte im Februar 1954 die Verdoppelung des Mindestlohnes, woraufhin er von Vargas kurzerhand entlassen wurde. Die Opposition versuchte, das Militär zum Eingreifen zu bewegen, was aber nicht gelang. Vargas war klar, wie prekär die Lage war, und verkündete in der Folge am 1. Mai 1954 tatsächlich eine hundertprozentige Lohnerhöhung. Dies führte zu massiven Protesten seitens der Industriellen und der Mittelschicht. Der Außenhandel geriet zunehmend ins Stocken, die Finanzprobleme nahmen zu. Es kursierten immer wieder Gerüchte über ein militärisches Eingreifen. Vargasʼ Ende wurde letztlich jedoch durch einen skurrilen Anschlag besiegelt, der dem Oppositionspolitiker und Journalisten Carlos Lacerda galt.83 Auf einer Anti-Vargas-Veranstaltung des 5. August 1954 sollte auf Lacerda ein Attentat verübt werden, das allerdings misslang. Das Attentat wurde zwar verübt, Opfer wurde aber Lacerdas Leibwächter, Mayor Rubens Vaz. Als sich herausstellte, dass die Urheberschaft des Attentats in Vargasʼ engstem Umkreis zu finden war, wurde es für Vargas eng. Ein Teil des Militärs war höchst beunruhigt und verlangte seinen unverzüglichen Rücktritt. Vargas sah keinen Ausweg mehr und erschoss sich am 24. August jenes Jahres (cf. Cammack 1996, 1107ff.; Donato 2000, 356; König 2014, 266ff.; Rinke/Schulze 2013, 157ff.). Vizepräsident Café Filho übernahm sein Amt.
3.2.1.3
Das Wesen des Vargismus
Wir haben nachgezeichnet, wie es zum Umsturz bzw. zur Revolution von 1930 kam, um verständlich zu machen, was den Weg für Vargasʼ Aufstieg bereitete. Im Anschluss daran haben wir gesehen, welchen Verlauf Vargasʼ Politik nahm und wie es Vargas 1937 schaffte, ein autoritäres System zu installieren, das immerhin bis 1945 hielt. 1950 stellte sich Vargas der Wahl und gewann überlegen. 1954 wählte er den Freitod, um nicht erneut mit einer politischen Niederlage zurande kommen zu müssen. Es stellen sich nun auch hier die Fragen, wie Vargas als Mensch agierte, wie er all die Spagate schaffte, um erfolgreich zu sein, welches im Grunde sein politisch-ideologisches Profil war, was eigentlich den Vargismus ausmachte und wie Vargas letztlich zum Mythos wurde. 3.2.1.3.1 Vargas’ Ursprung und dessen Einfluss auf seinen Werdegang Getúlio Vargas wurde 1882 in São Borja in Rio Grande do Sul geboren. São Borja liegt an der argentinischen Grenze. Die paraguayische ist auch nicht weit entfernt. Diese geopolitischen Koordinaten sind insofern von Bedeutung, als Argentinien von Brasilien sehr lange als der übermächtige und bedrohliche Nachbar betrachtet und lange Zeit 83
Lacerda übte in der Zeitung Tribuna da Imprensa höchst pointierte Kritik an Vargas und betrieb auf diese Weise effiziente Anti-Vargas-Propaganda (Skidmore 2007 [1967], 124).
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auch gefürchtet wurde. In Bezug auf Paraguay ist von Bedeutung, dass São Borja während des oben erwähnten Tripel-Allianz-Krieges (1864-1870) eine Zeit lang von Paraguay besetzt wurde. Dies war augenscheinlich vor Getúlio Vargasʼ Geburt, doch Emotionales und Atmosphärisches bleiben lange bestehen und werden weiter übertragen, selbst nachdem sich die Sachlage geändert hat. Der ausgeprägte Wunsch nach einem politisch uniformen, unerschütterlichen und freien sowie wirtschaftlich mächtigen und unabhängigen Brasilien wurde Vargas somit quasi in die Wiege gelegt. Vargas wurde aber noch eine weitere Sehnsucht in die Wiege gelegt. Seine Eltern, Manuel do Nascimento Vargas und Cândida Francisca Dornelles Vargas, gehörten den verschiedenen politischen Lagern an. Getúlios Vater war Republikaner, seine Mutter Föderalistin. Getúlio musste diese Spannung in sich aushalten und irgendwie für sich lösen. Seine ideologische Flexibilität bzw. Unverbindlichkeit werden mitunter durch diesen seinen Ursprung erklärt. Rodrigues Aurélio (2009, 23) erklärt den konzilianten Charakter Getúlios genau durch den fundamentalen politisch-ideologischen Antagonismus in seiner Familie, der ständiger Versöhnung bedurfte. In der Schule war Getúlio eher ein Außenseiter. Er war nicht sonderlich beliebt und wurde von den anderen Kindern als xuxu gehänselt.84 Es ist bekannt, dass Kindheitstraumata nicht spurlos vorübergehen. In der Kindheit traumatisierte Menschen versuchen später oft alles, um zu beweisen, dass auch sie es zu etwas bringen.85 Des Weiteren ist nicht außer Acht zu lassen, dass Getúlio in der im Grunde gewaltbereiten Gaucho-Gesellschaft groß geworden ist. Durchsetzung hatte dort sehr viel mit Gewalt zu tun und insofern war Gewalt nicht einfach kategorisch schlecht oder verpönt (cf. Levine 1998, 13ff.). 1898 schlug Getúlio die Militärlaufbahn ein, 1903 verließ er sie aber wieder. 1904 begann er in Porto Alegre das Jurastudium (Fausto 2006, 22ff.). Besonders prägend war für ihn der zu seiner Jugendzeit in Rio Grande do Sul vorherrschende castilhismo. Wie oben angedeutet, war Júlio Prates de Castilhos im Jahre 1891 und dann wieder von 1893 bis 1898 Gouverneur von Rio Grande do Sul. Ideologisch gesehen war der castilhismo ausgesprochen konservativ, gleichzeitig setzte er sich aber für tiefgreifende wirtschaftliche Reformen ein und genoss dementsprechend die Unterstützung des städtischen Industriebürgertums.86 Castilhos war für Getúlio zugleich Patriarch, Heiliger und Steuermann der Nation. Gewissermaßen in Analogie dazu war auch Getúlios Geist von der Milieutheorie und von der Evolutionsphilosophie sowie vom Positivismus und vom Szientismus nachhaltig geprägt (cf. Hentschke 2010, 220). Von Vargas wird niemals als charismatischem oder stattlich ansehnlichem Politiker berichtet, das Gegenteil ist vielmehr der Fall. Genau aus diesem Grund wurde er aber oftmals unterschätzt, was er wiederum politisch auszunutzen verstand (cf. Bethell 2008, 65; Hentsche 2010, 226; Levine 1999, 107; Skidmore 1999, 114). Er wirkte einfach, lebte auch einfach und legte keinen Wert auf persönliche Bereicherung (cf. Hentschke 2010, 232), was an sich schon ungewöhnlich und daher schwer einzuordnen war. Gleichzeitig gerierte er sich aber auch als Volksheld, der sich gegen den ausländischen
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Die Chayote oder Xuxu ist ein birnenförmiges Gemüse. Die Folgen von Kindheitstraumata können ganz unterschiedlicher Natur sein, worauf hier nicht einzugehen ist und worauf hier auch nicht eingegangen werden kann. Hentschke (2010, 220) bezeichnet den castilhismo als eine »autoritäre Interpretation Comtes«.
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Imperialismus und für ein starkes Brasilien engagierte (cf. Levine 1999, 107), was offensichtlich gut ankam. Ideologisch war er stark von den damals in Europa vorherrschenden Strömungen beeinflusst (cf. Bethell 2008, 53). Für Tucci Carneiro (2001, 185) ist Vargas »uma das personalidades políticas mais controvertidas e questionadas de nossa história«, also höchst umstritten und in Frage gestellt. Bezeichnend für Vargas war die »sensibilidade […] que sempre soube captar as correntes e as contracorrentes de opinião pública« (Tucci Carneiro 2001, 186). Er erfasste also den jeweiligen Zeitgeist und orientierte sich an diesem. Vargas schien aus diesem Grund oft inkohärent und inkonsistent, war es aber längst nicht immer. 3.2.1.3.2 Worte und Taten Vargas war in der Tat zögerlich und unschlüssig, allerdings nicht immer und keinesfalls ausschließlich. Mehr als die Inkohärenz und Inkonsistenz im Tun ist es jedoch wohl die Kluft zwischen Vargasʼ Worten und Taten, die wie ein roter Faden seine Biographie durchzieht. Symptomatisch dafür war sein Verhalten vor der Revolution von 1930. Wie oben ausgeführt, bot Vargas, nachdem er sich durchgerungen hatte zu kandidieren, Washington Luís noch kurz vor der Wahl seinen Rückzug an, falls dieser auf die Kandidatur von Júlio Prestes verzichten würde. Im Geheimabkommen mit Luís Washington vom Dezember 1929 versprach Vargas weiters, dass er nur in Rio Grande do Sul Wahlauftritte machen und auf alle Fälle das Wahlergebnis anerkennen würde, unabhängig davon, wie es ausfallen sollte. Schon kurz darauf brach er sowohl das eine als auch das andere Versprechen. Noch kurz vor der Revolution unternahm Vargas alles, um die Senatoren irrezuführen und dadurch sein Engagement zu verschleiern und somit den Präsidenten zu täuschen (cf. Brandi 1983, 37ff.). Vargas strebte von Anfang an die Entmachtung der Eliten an, um die Macht bei sich selbst zu konzentrieren. Gleichzeitig hofierte er diese aber, weil er sie stets im Kampf gegen die Radikalen brauchte (cf. Cammack 1996, 1077). Er propagierte die Ausweitung des Wahlrechts und sogar die geheime Wahl, obwohl ihm an beiden überhaupt nichts gelegen war. Es war jedoch ein sichtbares Zeichen der Solidarität mit dem Volk (cf. Fausto 1986, 38; Hentschke 2010, 228). Er propagierte die Gleichberechtigung für Mann und Frau, tat aber alles, um das patriarchale System aufrechtzuerhalten und den Platz der Frau im Heim und am Herd einzuzementieren. Die Gesetzgebung unter Vargas war farbenblind, d.h. dieselbe für alle, doch die Unterschicht war nicht sehr weiß (cf. Levine 1999, 114ff.). Es gab eine democracia racial (cf. Rinke/Schulze 2013, 148), die aber eher dem Wunschdenken einiger weniger entsprach. Die Juden wurden zwar nicht pauschal verfolgt, trotzdem gab es einen sogenannten funktionalen Antisemitismus (cf. Tucci Carneiro 2001, 183). Den Juden wurde die Einwanderung mitunter unmöglich gemacht oder zumindest erschwert und als die, wie oben erwähnt, aus Deutschland stammende kommunistische Jüdin Olga Benario, Luís Carlos Prestesʼ Frau, in der Zeit des Nationalsozialismus nach Deutschland ausgewiesen wurde, war Vargas klar, dass sie in einem Konzentrationslager ermordet werden würde. Zur Schau getragener Antisemitismus sicherte Vargas die Sympathie Deutschlands (cf. Levine/Crocitti 1999, 152). Vargas ließ sich als pai dos pobres feiern und es gab auch keine offizielle Segregation. In Wahrheit wurden die Kinder dieses vermeintlichen Vaters der Armen aber ganz unterschiedlich behandelt (cf. Levine 1999, 101). Vargas gab vor, die
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Sozialpolitik sehr ernst zu nehmen und das Proletariat gesellschaftlich zu integrieren, um den Menschen ihr Leben zu verbessern, doch die Kluft zwischen Arm und Reich bestand 1945 genauso wie vorher (cf. Hentschke 2010, 228). Vargas lobte die Lehrer über alles und zollte ihnen großen Respekt wegen ihrer so wichtigen Arbeit, zahlte ihnen jedoch miserable Gehälter, von denen sie kaum leben konnten (cf. Levine/Crocitti 1999, 152). 3.2.1.3.3 Pragmatisch, janusköpfig oder einfach inkonsistent und widersprüchlich? Dass Vargas teilweise inkonsistent und widersprüchlich agierte, haben wir soeben dargelegt. Es scheint durchaus so, als ob diese Widersprüchlichkeit manchmal strategisch gewesen wäre, wohl aber nicht immer. Die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie die Gleichwertigkeit der Rassen als Forderung zu artikulieren, klingt allemal gut (cf. Levine 1999, 114). Wenn die tatsächliche Umsetzung davon dann aber nicht eingefordert wird, kann dies unter Umständen als Versehen verstanden werden, an dem wiederum ganz andere Personen schuld sein können. Am Ende steht Vargas dagegen für das hehre Ziel der Gleichberechtigung, die er aber eigentlich gar nicht will und die auch nicht umgesetzt wird. Der sehr pragmatische Vargas wird auf diese Weise zum doppelten Sieger. Wie wir oben gesehen haben, reagierte Vargas äußerst großmütig auf die Revolução Constitucionalista von 1932. Anstatt das feindliche São Paulo ausbluten zu lassen, unterstützte und förderte er die Stadt nach dem gescheiterten Putsch gegen ihn. Das war aus pragmatischer Perspektive ein kluger Schachzug, durch den er nur gewinnen konnte. Wie oben ausgeführt, ließ Vargas Olga Benario an Nazi-Deutschland ausliefern, wo sie im Konzentrationslager ermordet wurde. In Brasilien hingegen ließ er die Juden weitestgehend frei gewähren. Die Tatsache, dass jemand Jude war, war also Grund genug, um ihn oder sie loszuwerden, wenn er oder sie unliebsam war. Die Tatsache allein, dass er oder sie Jude war, war jedoch nicht wirklich der Grund, ihn oder sie loswerden zu wollen. Am Fall Olga Benario wird klar, wie opportunistisch, berechnend und unberechenbar (cf. Levine/Crocitti 1999, 150) Vargas wirklich war. Ein Maximum an Pragmatismus und der Verzicht auf ein letztes Minimum an ideologischer Verbindlichkeit zeigten sich wohl an Brasiliens Haltung vor und im Zweiten Weltkrieg. Vargas pflegte so lange wie möglich intensive wirtschaftliche Beziehungen mit Deutschland und war gleichzeitig bemüht, die Kontakte zu den USA zu erweitern und zu vertiefen. Ideologische Diskrepanzen standen dem in keiner Weise im Wege. Während des Krieges kämpfte Brasilien gegen den Totalitarismus und Autoritarismus in Europa und unterhielt derweil ein autoritäres System zu Hause. Diese Doppelstrategie konnte aber nicht lange gut gehen. Ein letzter Punkt soll die Palette komplettieren und damit seinen Pragmatismus bzw. seine Janusköpfigkeit veranschaulichen. Im Wissen über die wichtige Rolle der Kirche im Volke setzte Vargas alles daran, zu dieser gute Kontakte zu pflegen. 1934 machte er die 1891 eingeführte Trennung von Kirche und Staat sogar wieder rückgängig und dies, obwohl er selbst deklarierter Agnostiker war (cf. Levine 1998, 17). Summa summarum fällt es schwer, von Vargas ein klares Bild zu zeichnen. Er wird nach wie vor als simpático und zugleich desagradável, als Retter und Dämon (cf. Donato 2000, 354ff.) gehandelt, sodass es im Grunde gar nicht möglich sein kann, von ihm ein eindeutiges Bild zu zeichnen.
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3.2.1.3.4 Korporatismus und Autorität Der Föderalismus war Vargas von Anfang an ein Dorn im Auge. Er strebte nach einem autoritären, zentralistisch regierten Bundesstaat, in dem die Rechte der einzelnen Bundesstaaten möglichst eingeschränkt sein sollten. Den Autoritarismus legitimierte er dadurch, dass die Grundlage seiner Regierung ohnedies der Wille des Volkes sei (cf. Rinke/Schulze 2013, 139ff.). Sogar die Revolutionen müssten von oben kommen, weil das Volk weder verstehe, dass diese notwendig seien, noch über Möglichkeiten zur Durchführung verfüge (cf. Hentschke 2006, 13; Levine 1998, 20). Wie oben dargestellt, wurden nach und nach die verschiedenen Wirtschaftsbereiche durch Institute, Räte und Dienste an die Regierung gebunden. Ähnliches galt sowohl für die Arbeitgeber als auch für die Arbeitnehmer, von denen als erstes die städtischen Arbeiter in Einheitsgewerkschaften organisiert, kontrolliert und manipuliert werden sollten (cf. Levine 1999, 100ff.). Ein weiteres starkes korporatistisches Element war, dass bald nach der Revolution von 1930 vierzig Vertreter verschiedener Berufsgruppen und Institutionen in der Abgeordnetenkammer sitzen sollten. Ab 1934 sollten von den zukünftig 300 Abgeordneten 250 gewählt werden und sogar fünfzig Vertreter der verschiedenen Verbände sein (cf. Bethell 2008, 34). Die repräsentative Macht wurde auf diese Weise zusehends konstruiert, manipuliert und ausgehöhlt (cf. Camargo et al. 1989, 14). Eine der wichtigsten Säulen des Zentralismus und Autoritarismus war freilich, dass Vargas die Gouverneure bzw. Interventoren nach seinem eigenen Gutdünken bestellte und wieder entließ. Sie waren sein verlängerter Arm in alle Bundesstaaten. Vargasʼ Autoritarismus war keine harte, sondern eine sanfte Diktatur. Viele verehrten ihn, viele mochten ihn auch nicht, doch nicht allzu viele fürchteten ihn (cf. Bethell 2008, 66). Sein autoritäres System wird aus diesem Grund mitunter auch als ditabranda, aus ditadura & branda, d.h. milde Diktatur, bzw. democradura, aus democracia & ditadura, bezeichnet. 3.2.1.3.5 Der Wert der brasilidade Auch in Brasilien ist von der ursprünglichen Bevölkerung nicht sehr viel übrig geblieben, was tatsächlich als zynischer Euphemismus zu lesen ist. Obwohl die ersten Kontakte zwischen den Europäern und der indigenen Bevölkerung in Brasilien verhältnismäßig friedlich waren, überlebten sehr viele Indigene diese Kontakte nicht, vor allem weil sie gegen die eingeführten Krankheiten keine Abwehrkräfte hatten. Später wurde allerdings die indigene Bevölkerung versklavt und dadurch unterjocht und ausgebeutet. Wie in ganz Amerika wurde letztendlich also auch in Brasilien die Ursprungsbevölkerung dezimiert. Im Zuge des großen landwirtschaftlichen Aufschwungs wurden dann schwarzafrikanische Sklaven importiert, die immer mehr für eine Neuformierung des brasilianischen Volkes sorgten. Später kamen die Millionen von Immigranten aus verschiedenen Ländern und Kontinenten dazu, wodurch das brasilianische Volk immer bunter im Sinne von heterogener wurde. Diese Geschichte erklärt, warum die brasilidade, d.h. die Brasilianität, wenn überhaupt, dann nur äußerst schwer zu erheben bzw. zu definieren ist. Die unter Vargas ausgerufene und hochgehaltene brasilidade ist im Grunde viel mehr eine Konstruktion als eine gewachsene und autochthone Eigenheit. Patriotismus und Nationalismus wurden unter Vargas hochgepriesen und bedurften
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gerade deshalb auch einer manifesten Symbolik. Aufmärsche zu Ehren der brasilianischen Flagge (cf. Rinke/Schulze 2013, 139ff.) und die Hochstilisierung volkskultureller Besonderheiten wie etwa des Sambas oder des Karnevals sowie des Volkssports Fußball (cf. Skidmore 1999, 118) stifteten durchaus brasilianische Identität. Die Kreation von Idealtypen trug ein Weiteres zur brasilianischen Identitätsfindung bei. So repräsentierte etwa der Gaucho den rio-grandense-Idealtyp, während der Sertanejo den typischen Bewohner des Hinterlandes im Nordosten verkörperte (cf. Rinke/Schulze 2013, 147). In Bezug auf die Rassenfrage war die Situation Brasiliens (natürlich) auch keine eindeutige. Neben dem Glauben an den Wert der Aufweißung des Landes vor allem, aber nicht nur in der Ersten Republik und dem funktionalen, doch nicht nur funktionalen Antisemitismus, gab es durchaus auch Vertreter der democracia racial, die nicht nur die Gleichwertigkeit der Rassen vertrat, sondern diese sogar als ganz besonderes Merkmal der brasilidade erachtete. 3.2.1.3.6 Im Namen des Volkes Den Anspruch auf die autoritäre Führung des Landes leitete Vargas daraus ab, dass er ja für das Volk und im Namen des Volkes regierte. Er hielt sich für den líder iluminado (D’Aranjo 2 2004, 8), den das Land im damaligen Zustand seiner Meinung nach dringend brauchte. In der Ersten Republik wurde das Volk an sich tatsächlich für unreif und unmündig erachtet und daher im Grunde ignoriert. Vargas hingegen verstand es, dem Volk das Gefühl zu geben, dass es wichtig war, dass die Anliegen der Menschen seine ureigensten Anliegen waren, dass er sich um das Volk sorgte und alles für dessen Zufriedenheit zu tun bereit war.87 Auf diese Weise gab er dem Volk zumindest verbal die Würde zurück, die ihm durch die Nichtbeachtung genommen worden war (cf. Levine/Crocitti 1999, 153). Allein dadurch erhielt Vargas vom Volk einen großen Vertrauensvorschuss, aus dem er schloss, dass er ungefragt und unbeauftragt im Namen des Volkes handeln konnte. Das Bild, das Vargas von dem Volk hatte bzw. das er sich wohl aus strategischen Gründen von dem Volk, als ob es das Volk gäbe, zurechtgezimmert hatte, war bis zum Schluss jenes des einfachen, arbeitsamen, aber eben auch kindlichen, fügsamen und unmündigen Volkes (cf. Levine 1999, 113ff.). Ein kindliches und unmündiges Volk braucht einen Vater und so schien es mehr als legitim, dass er sich als Vater der Bedürftigen, pai dos pobres, gebärdete und für diese Armen und Bedürftigen die Entscheidungen traf. Er wurde dadurch nicht nur zum Vater der Armen, sondern zugleich zur Hoffnung der Armen (cf. Levine 1998, 23) und schon allein deshalb quasi zu einem mythischen Helden. Vargas zielte aber nicht allein auf Erfolg durch seine eigene Mythisierung ab. Als sich die zukünftige Macht der Arbeiter abzuzeichnen begann, verstand er es, diese strategisch zu kanalisieren. Er gewährte der städtischen Arbeiterschaft nach und nach immer mehr soziale Rechte und Ansprüche, ohne sie aber tatsächlich politisch einzubinden. Dies passierte letztlich erst gegen Ende des Estado Novo, als er den Arbeitern das Engagement im Partido Trabalhista Brasileiro (PTB) nahelegte (cf. Hentschke 2010, 225ff.).
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Um diesen Eindruck nicht zu trüben, wurde der Presse beispielsweise bei Strafe verboten, über Armut, Unterernährung oder Analphabetismus zu berichten (cf. Levine 1999, 114).
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3.2.1.3.7 Märtyrer und Mythos Seine eigene Mythisierung war ein Projekt, das Vargas wohl schon zeitlebens verfolgte. Es war sein Ziel, als pai dos pobres, Vater der Armen, geliebt, verehrt und vor allem politisch respektiert und gewählt zu werden. Sein Auftreten in der Gaucho-Ausstattung verlieh ihm etwas Erdverbundenes, Ursprüngliches und Zeitloses. Sein Ziel war es nicht nur, die politischen Strukturen des Landes zu verändern. Er bemühte sich vielmehr, im Brasilianer und in der Brasilianerin als Bürger und Bürgerin eines starken, unabhängigen und selbstbewussten Landes ein neues Selbstverständnis zu begründen (cf. Hentschke 2006, 9). Ganz in diesem Sinne sorgte er mittels strenger Zensur auch dafür, dass die Presse nichts Unschönes über Brasilien berichtete. Vargas selbst verstand sich als Symbol dieses starken, unabhängigen und selbstbewussten Landes und ließ dementsprechend an öffentlichen Orten sein Abbild anbringen. Helden bleiben noch heldenhafter in Erinnerung, wenn sie frühzeitig und tragisch aus dem Leben scheiden. Ein frühzeitiger und tragischer Tod ist jedenfalls nach einem bemerkenswerten Leben eine gute Voraussetzung für Mythisierung. Vargas trug das Seinige dazu bei, indem er 1954 den Freitod wählte, um den politischen Misserfolg der Absetzung nicht erneut er-leben zu müssen. Die Darstellung in seinem Abschiedsbrief ist naturgemäß eine andere.88 Er sah sich als verratener, christusähnlicher Leidender, der letztlich den Märtyrertod starb.
3.3
Mexiko
3.3.1 3.3.1.1
Der Cardenismus aus historisch-politischer Perspektive Die Wegbereiter des Cardenismus
Lázaro Cárdenas war Präsident der República Mexicana von 1934 bis 1940. Mit seiner Präsidentschaft setzte in Mexiko ein tiefgreifender Wandel auf der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Ebene ein. Die Zeiten vor Cárdenasʼ Präsidentschaft waren in Mexiko äußerst turbulent. Es gab Bürgerkriege, wechselnde Allianzen, miteinander konkurrierende und sich bekämpfende caudillos, Revolutionsführer und Präsidentschaftskandidaten. Politische Problemfälle sollten häufig einfach durch Morde gelöst bzw. aus der Welt geschafft werden. Die wirklich tiefe Zäsur vor Cárdenasʼ Präsidentschaft ereignete sich in Mexiko im Jahre 1910, als nämlich das Porfiriat zu Ende ging und die mexikanische Revolution begann. Unmittelbar wegbereitend für den Cardenismus als wesentlichen Bestandteil der spätrevolutionären Reformpolitik bis 1940 (cf. Mols 2 1983, 77; Tobler 1992, 365) war de facto der ihr vorangehende kriegerisch-militärische Abschnitt der Revolution. Aus diesem Grund ist es aufschlussreich, zunächst den Ursprüngen und dem Wesen der mexikanischen Revolution nachzugehen. Zumindest schlaglichtartig wollen wir vorher aber noch einen Blick auf die Meilensteine der mexikanischen Geschichte des 19. Jahrhunderts werfen, zumal diese mittelbar ja ebenso für die Bestrebungen und Befürchtungen der Mexikaner während der Revolution von Bedeutung waren. 88
Es sind zwei Abschiedsbriefe erhalten, ein kürzerer hand- und ein längerer maschinenschriftlicher.
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1810 erklärte Mexiko seine Unabhängigkeit von Spanien, doch diese Unabhängigkeit wurde erst 1821 nach über zehn Jahren Krieg in den Verträgen von Córdoba (Veracruz), den Tratados de Córdoba, besiegelt.89 Es folgten zwei Jahre Kaiserreich und dann gab es von 1824 bis 1864 die Erste Republik. Besonders traumatisch war für Mexiko die Intervención estadounidense en México, der Mexican-American War, von 1846 bis 1848, in dem Mexiko die Hälfte seines Territoriums an die USA verlor. Jenes für Mexiko verloren gegangene Land war zwar dünn besiedelt und schien auch nicht besonders reich, der Schock saß aber allemal tief (cf. Bazant 1977, 57). Von 1864 bis 1867 gab es unter Maximilian I., dem Bruder des österreichischen Kaisers Franz Josef, der von Napoleon III. eingesetzt worden war, das Zweite Kaiserreich. Im Jahre 1867 wurde Maximilian I. exekutiert und daraufhin begann die Zweite Republik. Von 1877 bis zum Ausbruch der Revolution war es Porfirio Díaz, der mit Unterbrechungen Präsident einer »konstitutionellen Diktatur – ein[es] despotisch[en] Regimes [war], das hinter einer Fassade der Legalität funktionierte« (Ruhl/Ibarra García 2 2007, 157). Es ging ihm in positivistischer Manier um orden y progreso, um Ordnung und Fortschritt. Er verfügte über eine relativ kleine Armee, es standen ihm aber die rurales, eine Art Landpolizei, zur Verfügung, die Aufgaben der Armee übernahmen. Divide et impera und pan y palo, Brot und Stock, also Zuckerbrot und Peitsche, zählten zu den Grundprinzipien seiner politischen Machtausübung (cf. Benítez 2011 [1978], 21ff.; Mols 2 1983, 57). Weitere wichtige Stützen des porfiristischen Regimes waren die katholische Kirche und vor allem die regionalen caciques, die Anführer indigener Gruppen, die Porfirio Díaz bei der Zentralisierung des Landes unterstützten.90 Durch die Zentralisierung des Landes hatten die Regionen naturgemäß an Autonomie eingebüßt, was erwartungsgemäß nicht überall mit Zufriedenheit zur Kenntnis genommen wurde.91 Zwei Drittel der Bevölkerung waren damals in der Landwirtschaft tätig, 73 % der Bevölkerung waren Analphabeten. Stark ausgebaut wurde unter Porfirio Díaz das Eisenbahnnetz, nämlich von 700 auf 20.000 Kilometer. Auch der Bergbau wurde intensiviert, wobei vor allem Silber und Kupfer abgebaut wurden. Die Erdölförderung begann im Golf von Mexiko um 1900 und nahm in der Folge rasch zu. Die tiefgreifende Modernisierung war nur dank ausländischer Investitionen im großen Stil möglich (cf. Tobler 1996, 265ff.), was aber durchaus im Einklang mit der Ideologie der científicos, der mexikanischen Positivisten, stand. Um die Landwirtschaft anzukurbeln, wurden die Indigenen gezwungen, ihren Grund und Boden an die hacendados, die Großgrundbesitzer, abzutreten. 11.000 hacendados verfügten über die Hälfte des mexikanischen Territoriums, während 70.000 Landgemeinden mit 1 % des nutzbaren Bodens das Auslangen finden mussten. In den Städten entstand allmählich, wenn auch nur in kleinem Rahmen, ein Industrieproletariat, das ausgebeutet und misshandelt wurde. So gab es für die Industriearbeiter keinen Sonn- oder Feiertag, keine bezahlten Überstunden, keinen Urlaub, keine Fürsorge bei Krankheit, keine Versicherung. Die Lage der peones, der abhängigen Landarbeiter, von denen es
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Gemäß Vertrag sollte Mexiko nun eine konstitutionelle Monarchie sein, wobei der Monarch aber durchaus nicht aus einem europäischen Herrscherhaus stammen musste (cf. Bazant 1977, 28). Porfirio Díaz selbst hatte mixtekische Vorfahren. Tatsächlich wird die nachhaltige Festigung der mexikanischen Nation mittels Zentralisierung der Macht als Verdienst Porfirio Diazʼ gewertet (cf. Mols 2 1983, 56).
3. Die politisch-historische Dimension
zwei Kategorien gab, nämlich die peones acasillados, jene, die immer auf der hacienda arbeiteten, und die peones apareceros, die Saisonarbeiter, war genauso schlecht. Die hacendados verfügten außerdem oft über eigene Gefängnisse und eine Privatpolizei, was die Repressionen zusätzlich erleichterte. Trotz aller Modernisierung hatte sich auf der sozialen Ebene in all den Jahren kaum etwas verändert, das oligarchische System des Porfiriats wurde nach und nach einzementiert. Aus diesem Grund spricht man im Falle der Modernisierung Mexikos zu jener Zeit von einer konservativen Modernisierung (cf. Tobler 1996, 265). 1910 waren es dann aber doch schon 860.000 Arbeiter, die versuchten, durch Streiks ihre Lage zu verbessern. Streiks hatte es trotz Streik- und Organisationsverbot seit Jahrzehnten gegeben. Zwischen 1881 und 1911 waren es insgesamt immerhin 250. Es wurden allmählich aber auch Stimmen im bürgerlichen Lager laut, die auf Porfirio Díazʼ Ablösung drängten. Als Schwäche des porfiristischen Systems stellte sich nun heraus, dass es keine eigene Regierungspartei und keine starken und schlagkräftigen Interessensverbände gab. Die Ordnung und Fortschritt fordernden científicos hingegen wurden immer stärker. Sie waren es auch, die zum Zwecke des Fortschritts ausländische Investitionen suchten, womit sie allerdings den national bzw. nationalistisch Denkenden in die Quere kamen (cf. Bernecker/Pietschmann/Tobler 2 2016, 251ff.). Besonders gut zu hören waren die kritischen Stimmen der Brüder Ricardo und Jesús Flores Magón, die die Oppositionszeitung Regeneración mitbegründet hatten. Zu den skizzierten Missständen kamen dann noch eine Wirtschaftskrise hinzu, die Abwertung des Silbers, Inflation und Arbeitslosigkeit, sodass sich diese Wirtschaftskrise schließlich zu einer Staatskrise ausweitete. In einem Interview mit dem US-amerikanischen Journalisten James Creelman kündigte Porfirio Díaz 1908 an, dass er bei den folgenden Wahlen nicht mehr kandidieren und der Demokratie den Weg freimachen würde. Es schien nun tatsächlich der Moment für einen grundlegenden Wechsel und Wandel gekommen. Diese Vermutung war allerdings weit gefehlt, denn noch im selben Jahr gab Porfirio Díaz entgegen seiner Ankündigung seine neuerliche Kandidatur bekannt (Ruhl/Ibarra García 2 2007, 157ff.). Das war nun aber wohl doch zu spät, denn nach seiner ersten Ankündigung bildeten sich sogleich oppositionelle Parteien. Besonders hervorstach der von Francisco I. Madero 1909 gegründete Partido Nacional Antirreeleccionista. Eine weitere besonders prominente Persönlichkeit, die sich neben Madero ins Spiel brachte, war Bernardo Reyes, ehemaliger Kriegsminister und Gouverneur von Nuevo León. Er war dezidierter Gegner der científico-Plutokratie und galt daher für viele als Kandidat des Volkes. Er wollte für das Amt des Vizepräsidenten kandidieren, was ihn zum logischen Nachfolger von Porfirio Díaz gemacht hätte. Dieser war jedoch dagegen und der überaus loyale Bernardo Reyes ließ sich auch prompt auf Auslandsmission schicken (cf. Tobler 1992, 123). Die Revolution war aber nicht mehr aufzuhalten. Die Wirtschaft wurde schwächer, die Auslandsabhängigkeit immer größer, Löhne und Lebensstandard sanken, die Arbeitslosigkeit nahm zu. Vor allem die Unterschichten litten stark. Kleinbauern und Kleinpächter wurden zunehmend verdrängt und dadurch unaufhaltsam proletarisiert (cf. Tobler 1996, 270). Mittlerweile gab es offensichtlich eine Vielzahl von Gründen für die Revolution. Porfirio Díaz war im Grunde ein Despot, er war der Anführer einer »Entwicklungsdiktatur« (Mols 2 1983, 57). Die Arbeiterorganisationen, deren Widerstand sich immer deutlicher zeigte, wurden nicht wirklich toleriert. Die damals bestehenden Latifundi-
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en waren selbst im lateinamerikanischen Vergleich extrem groß und umgekehrt war auch die Zahl der Landlosen exorbitant. Die Indigenen, die in manchen lateinamerikanischen Ländern fast ganz verdrängt bzw. ausgelöscht worden waren, gab es in Mexiko noch, doch sie mussten mit allen Mitteln für ihre Rechte kämpfen (cf. Garciadiego Dantan 6 2005, 20ff.). Aufgrund all dieser sozialen Ungleichgewichte und wirtschaftlichen Unausgewogenheiten, über die sich Unmut zu regen begann, der zu Protestaktionen führte, wird die mexikanische Revolution auch immer wieder als die erste Sozialrevolution des zwanzigsten Jahrhunderts dargestellt. Trotz aller Anstrengungen für mehr Gerechtigkeit ist die mexikanische Revolution insgesamt aber doch eher als Machtkampf zu sehen, in dem sich verschiedene revolutionäre Gruppen gegenseitig bekämpften und in dem sich diese auch gegen das Ancien Régime sowie gegen das ausländische Wirtschaftsdiktat stark machten (cf. Womack Jr. 1986, 81ff.). Wie dem auch sei, insgesamt war die mexikanische Revolution äußerst komplex und enthielt zugegebenermaßen sehr wohl auch eine starke sozialrevolutionäre Seite, wie in der Folge zu sehen sein wird. Innerhalb der Revolution gab es Rebellionen, Bürgerkriege und interne Revolutionen. Es gab völlig verschieden strukturierte und sozialisierte Bevölkerungsgruppen, sehr heterogene Truppen bzw. Armeen, die zum Teil Söldner, zum Teil aber auch Freiwillige waren und schon deshalb ganz unterschiedliche Ziele verfolgten (cf. Meyer 1986, 155ff.). Neben Verhandlungen und Diplomatie gab es vor allem aber sehr viel Blutvergießen und zigtausende Tote. Trotz aller Wirrnisse lässt sich dennoch eine doppelte Grundstruktur der mexikanischen Revolution ausmachen. Zum einen kann man, wie eingangs erwähnt, chronologisch gesehen, grob zwischen der zunächst primär kriegerisch-militärischen Phase und der darauffolgenden vorrangig reformorientierten Spätphase der Revolution unterscheiden (cf. Ruhl/Ibarra García 2 2007, 167). Zum anderen sind aufgrund großer wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Unterschiede zwischen Nord und Süd, die zu einem jeweils ganz eigenen Selbstverständnis führten, die Revolution des Nordens und die des Südens auseinanderzuhalten.92 Um die chronologische Einteilung noch etwas zu verfeinern, wollen wir mit verschiedenen Autoren den ersten und kriegerisch-militärischen Abschnitt der mexikanischen Revolution als Abfolge von vier Phasen verstehen (cf. Bernecker/Pietschmann/Tobler 2 2016, 251ff.; Tobler 1996, 274; Tobler 1992, 137ff.): erstens die Erhebung Maderos und dessen darauffolgende Präsidentschaft von 1910 bis 1913; zweitens der Bürgerkrieg zwischen einerseits den Revolutionstruppen des Nordens und Südens und andererseits dem General José Victoriano Huerta, der Madero absetzen und ermorden ließ und selbst zum Usurpator wurde; drittens der darauffolgende Bürgerkrieg zwischen den Lagern der siegreichen Truppen des vorangehenden Bürgerkrieges von 1915 bis 1916, also zwischen Konstitutionalisten und Konventionisten; und viertens die Etappe von 1916 bis 1920, in der die Konstitutionalisten siegten, die Verfassung von 1917 verabschiedeten und in der Carranza die Präsidentschaft innehatte.
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Vereinfacht dargestellt wird unter der Revolution des Südens die zapatistische verstanden und unter der des Nordens jene mit den zwei Zentren in Chihuahua und Sonora (cf. Ruhl/Ibarra García 2 2007, 172).
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Nachdem Bernardo Reyes, wie oben erwähnt, der Anti-científico-Bewegung abhandengekommen war, bedurfte diese eines neuen Steuermannes und da kam Francisco I. Madero, der für die Präsidentschaft kandidierte, gerade recht (cf. Meyer 2010 [1973]; Tobler 1996, 272ff.).93 Damit sind wir auch schon bei der ersten der vier Phasen des kriegerisch-militärischen Abschnitts der mexikanischen Revolution angekommen: die Erhebung und die darauffolgende Präsidentschaft Maderos. Madero wandte sich gegen die Vetternwirtschaft der científicos. Er war für demokratische Prinzipien, für unabhängige Gerichte, für Pressefreiheit und gegen die Wiederwahl hoher Funktionäre. All das klang besonders für viele Gebildete und Intellektuelle nach einer sehr attraktiven Alternative zu dem versteinerten, die Ungerechtigkeiten perpetuierenden System des Langzeitdiktators Porfirio Díaz. Obwohl Madero am meisten Unterstützung von der urbanen Mittelschicht erhielt (cf. Tobler 1992, 125), wollten auch die Arbeiter und Studenten, die Morgenluft witterten, eine sich abzeichnende Chance für Veränderung nicht ungenutzt vorbeiziehen lassen. Bei den Wahlen im Sommer 1910 erhielt Porfirio Díaz knapp 99 % und Madero gut 1 % der Stimmen. Dies war wieder einmal ein klarer Fall von Wahlfälschung. Madero wurde nun trotz allem von der Machtelite als Gefahr wahrgenommen und infolgedessen verhaftet. Es gelang ihm jedoch die Flucht nach Texas, von wo er zum Widerstand aufrief. Gemeinsam mit anderen Antireelektionisten entwarf Madero den Plan von San Luis Potosí,94 in dem ein großer Aufstand für den 20. November angesagt wurde. Madero versprach bereits damals nicht nur demokratische Wahlen, sondern auch die Rückgabe von Grund und Boden an jene Bauern, die diesen einst an die haciendas abtreten hatten müssen. Derweil erklärte sich Madero zum provisorischen Präsidenten der mexikanischen Republik (cf. Tobler 1996, 273ff.; Womack Jr. 1986, 83ff.). Die Maderisten, darunter unabhängige Anführer wie Pascual Orozco und Francisco »Pancho« Villa, trafen sich im nördlichen, an die USA angrenzenden Bundesstaat Chihuahua. Orozco war dort der Anführer des Aufstandes, doch viele schlossen sich auch dem ehemaligen Banditen Francisco »Pancho« Villa an. Die Aufstände griffen auf die angrenzenden Bundesstaaten Sonora, Sinaloa und Coahuila über, doch auch im Süden, vor allem in den Bundesstaaten Morelos und Guerrero, gab es erste Rebellionen der Bauern, die das ihnen geraubte Land, das einst ihre Vorfahren bebaut hatten, von den hacendados zurückforderten. Der Anführer des Aufstandes im Süden war der Pferdehändler und Kleinbauer Emiliano Zapata (cf. Ruhl/Ibarra García 2 2007, 169). Madero hatte seine Forderungen jedoch bereits relativiert und war bemüht, die aufständischen Bauern auf Landreformen in der Zukunft zu vertrösten, womit diese allerdings gar nicht einverstanden waren. Es gab mittlerweile schon 25.000 Revolutionäre, die Städte eroberten und Land besetzten. Am 10. Mai 1911 nahmen die Aufständischen die Grenzstadt Ciudad Juárez ein. Am 21. Mai wurde von Madero sowie von Regierungsvertretern der Tratado de Ciudad Juárez unterzeichnet, der sowohl die Absetzung des Präsidenten
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Francisco I. Madero galt als der apóstol de la democracia, hatte er doch bereits 1908 eine Schrift mit dem Titel La sucesión presidencial en 1910 verfasst, in der er sich für freie Wahlen aussprach (cf. Mols 2 1983, 67). Dieser Plan war eigentlich in San Antonio, Texas, entstanden, wurde aber nach dem mexikanischen Ort benannt, wo Madero vor seiner Flucht in die USA im Gefängnis gesessen hatte.
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und Vizepräsidenten als auch die Abhaltung von Neuwahlen vorsah (Ruhl/Ibarra García 2 2007, 170). Am 25. Mai traten Porfirio Díaz und sein Vizepräsident Ramón Corral zurück und Díaz ging in das Exil nach Frankreich. Am 7. Juni zog Francisco I. Madero in Mexiko-Stadt ein (cf. Meyer 2010 [1973], 42). Nach dem Rücktritt des Präsidenten und Vizepräsidenten übernahm der Außenminister interimsmäßig die Geschäfte und ordnete die Durchführung der Neuwahlen an. Die Gerichte, zahlreiche staatliche Institutionen und sogar die Armee blieben personell weitgehend unverändert bestehen, wofür Madero von seinen eigenen Leuten schon bald heftig kritisiert wurde.95 So wie er sich aber von der Landreform distanziert hatte, war für ihn auch eine Sozialreform in weite Ferne gerückt, weshalb es ihm wohl vorteilhaft erschien, mit dem bestehenden Funktionärsapparat weiterzuarbeiten. Im November 1911 wurde Madero zum Präsidenten gewählt, doch von Anfang an musste er infolge seiner halbherzigen Reformpolitik gegen harte Fronten ankämpfen. Die Bauern und Arbeiter erwarteten sich ein engagiertes Vorgehen des Präsidenten für Landreform und soziale Gerechtigkeit, die hacendados hingegen verabscheuten auch nur jeden Ansatz von Landreform und das Militär hatte Sorge, an Macht und Einfluss zu verlieren (cf. Mols 2 1983, 67ff.; Ruhl/Ibarra García 2 2007, 170). Außerdem fehlte Madero von Anfang an die Unterstützung der Banken und Unternehmer, die der positivistischen Ideologie der científicos verpflichtet blieben (cf. Womack Jr. 1986, 85). Um den internen Widerstand niederzuschlagen, schickte Madero General Huerta nach Morelos und so kam es innerhalb der noch kurze Zeit zuvor für eine gemeinsame Sache Kämpfenden zur Eskalation, die den zweiten Abschnitt der oben skizzierten Chronologie darstellt. Die enttäuschten und wütenden Menschen unter Zapata schlugen zurück. Unterdessen wurden die Kongresswahlen von 1912 vorbereitet und der Partido Progresista sowie der Partido Católico brachten sich in Stellung. Mit der Wirtschaft ging es bergauf, was den Gewerkschaften Auftrieb gab, sich noch besser zu organisieren und vor allem Forderungen zu stellen. Angespornt durch Arbeitsniederlegungen in den Bergwerken, wurde etwa auch die Gangart der UMM (Unión de Mecánicos Mexicanos), der SMDT (Sociedad Mutualista de Despachadores y Telegrafistas) oder etwa auch der UCMGF (Unión de Conductores, Maquinistas, Garroteros y Fogoneros) deutlich aggressiver. 1912 folgte in Chihuahua vor allem wegen der säumigen Sozialreformen ein weiterer Aufstand gegen Madero. Die USA unter Präsident Taft mobilisierten ihre Truppen an der Grenze, was von den gegen Madero auftretenden Rebellen zurecht so interpretiert wurde, dass der neue mexikanische Präsident auch von den USA kritisch beäugt wurde. Madero schickte General Huerta nun auf eine Expedition in den Norden, wo dieser dann auch die Orozquisten, d.h. die Anhänger Pascual Orozcos, schlug (cf. Tobler 1992, 176ff.; Womack Jr. 1986, 87ff.). In Morelos sagte sich Zapata von Madero los, weil dieser die Bauern in ihren Forderungen im Stich gelassen hatte. Die föderalen Truppen gingen mit äußerster Brutalität vor, legten ganze Dörfer in Schutt und Asche und schlugen den Aufstand nieder. Dies schweißte die Bevölkerung aber erst recht zusammen. Am 25. November 1911 aberkannten die Zapatisten Madero in ihrem Plan de Ayala jeden Führungsanspruch und begründeten ihre eigene Revolution des Südens (cf. Tobler 1992, 184). Madero wurde aber noch weiter geschwächt, weil sich innerhalb seiner Anhängerschaft 95
Dies wird mitunter sogar als Kapitalfehler Maderos erachtet (Ruhl/Ibarra García 2 2007, 170).
3. Die politisch-historische Dimension
zwei konkurrierende Linien abzeichneten, eine progressive und eine konservative. Die Aufstände waren zwar niedergeschlagen, die Probleme aber noch nicht gelöst. Am 9. Februar 1913 erhoben sich nun unter den Generälen Bernardo Reyes und Felix Díaz96 Teile der föderalen Truppen gegen Madero, für den erneut General Victoriano Huerta in die Bresche zu springen hatte. Es folgte ein zehntägiges Blutbad, la decena trágica, in dem besonders viele Zivilisten ums Leben kamen. Fatal war in der Folge jedoch für Madero, dass sich Felix Díaz mit Victoriano Huerta verbündete, um ihn mit der Zustimmung der USA zu stürzen. Madero wurde sogleich am 18. Februar verhaftet, zum Rücktritt gezwungen und alsbald ermordet (cf. Bazant 1977, 137; Tobler 1992, 191ff.; Tobler 1996, 279). Nach diesem Putsch setzte sich Huerta selbst an die Spitze des Staates. Zunächst wurde Huerta als provisorischer Präsident sowohl vom Kongress als auch vom Obersten Gerichtshof, von fast allen Gouverneuren und ebenso von den meisten Staatsregierungen akzeptiert. Sein Regierungsstil wurde jedoch sehr bald diktatorisch, sodass oppositionelle Meinungen nicht länger geduldet wurden. Seines einstigen Verbündeten Felix Díaz entledigte sich Huerta, indem er ihn auf eine Mission nach Japan schickte. Der Süden ließ Huerta einstweilen seines Amtes walten, während sich im Norden unter Venustiano Carranza bald Widerstand gegen den Putschisten und Usurpator formierte. Das Ziel jener Widerstandskämpfer war, die konstitutionelle Ordnung gemäß der Verfassung von 1857 wiederherzustellen (cf. Ruhl/Ibarra García 2 2007, 174), weshalb jene Widerstandskämpfer als Konstitutionalisten bezeichnet werden. Am 26. März 1913 beschuldigte Carranza in seinem Plan de Guadalupe Huerta des Verrats an Madero und erklärte sich selbst zum Anführer der Konstitutionalisten (cf. Mols 2 1983, 71; Tobler 1996, 280; Womack Jr. 1986, 95ff.). Die mächtigsten und wichtigsten Generäle des Nordens, Álvaro Obregón und Pablo González, schlossen sich Carranza an (cf. Bernecker/Pietschmann/Tobler 2 2016, 267ff.). In Sonora, wo die Föderalen große Gebiete erobert hatten, gelang es, diese nun wieder zurückzudrängen und damit auch die wichtigen Zoll- und Steuereinnahmen des Grenzstaates für die Konstitutionalisten zu sichern. In Chihuahua war der ehemalige Viehdieb, Bandit und spätere kleine Geschäftsmann Francisco »Pancho« Villa der unangefochtene Anführer der Anti-Huerta-Revolutionsbewegung. Die Kämpfer schlossen sich ihm zu Tausenden an. Trotz unterschiedlicher Partikularinteressen der verschiedenen Bundesstaaten im Norden, speziell in Sonora, Chihuahua und Coahuila, formierten sich schließlich doch starke gemeinsame Truppen, die die Revolution des Nordens machen sollten. Carranza selbst führte jene Truppen an, die sich in Richtung Pazifik aufmachten. Heeresführer im Nordosten wurde Obregón und die verbleibenden Truppen unterstanden Pablo González. Francisco »Pancho« Villa wurde zunächst in die Truppen des Nordwestens inkorporiert, später organisierte er dann jedoch die Norddivision und wurde zu deren Anführer. Auch im Süden wuchs der Widerstand gegen das diktatorische Regime Huertas, ausgelöst allerdings erneut vor allem durch die unverändert missliche Lage der Bauern. Die sich nun ebenso gegen das Huerta-Regime entwickelnde Revolution des Südens gestaltete sich jedoch anders als jene des Nordens.97 Sie war im Wesentlichen eine 96 97
Felix Díaz war Porfirio Díazʼ Neffe. Wie eingangs erwähnt, gab es grundlegende Unterschiede zwischen der Bevölkerungsstruktur sowie den Lebensumständen und Arbeitsmöglichkeiten des Nordens und des Südens. Im Norden
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Bauernerhebung in Morelos unter Emiliano Zapata.98 Die Zapatisten bildeten keine durchorganisierte Armee, sondern sie waren im Grunde Guerillakämpfer, die auf die Unterstützung der Bevölkerung angewiesen waren und in erster Linie für Landreformen kämpften (cf. Tobler 1996, 284), mit deren Umsetzung sie sogleich begannen (cf. Bernecker/Pietschmann/Tobler 2 2016, 268). Trotz der starken konstitutionalistischen Truppen im Norden und der schlagkräftigen zapatistischen Partisanen im Süden, die von beiden Seiten versuchten, Huerta zu stürzen, gelang es diesem, sich bis 1914 zu halten. Dann aber widerfuhr Huerta obendrein noch Widerstand von innen. Um sich zu retten, löste er den Kongress auf und weigerte sich außerdem zunächst, die von den USA geforderten freien Wahlen abzuhalten, woraufhin Wilson ein Waffenembargo anordnete.99 Huerta bestellte daher die Waffen kurzerhand aus Europa und Japan. Für den 26. Oktober 1913 wurden schließlich doch Wahlen vorgesehen, und zwar zugleich die Präsidentschafts- und die Kongresswahlen (cf. Womack Jr. 1986, 97ff.). Der Widerstand gegen das korrupte und willkürlich agierende Regime wurde aber sowohl von außen als auch von innen immer größer und so konnte Huerta schließlich dem Druck der Konstitutionalisten im Norden und der Zapatisten im Süden nicht mehr standhalten. Obregón gelang es letztendlich, an der Pazifikküste in den Süden vorzustoßen und dadurch war Huertas Regime bald am Ende. Huerta trat am 15. Juli 1914 zurück und ging in das Exil. Die föderale Armee kapitulierte am 13. August und am 15. August marschierten die konstitutionalistischen Truppen unter Álvaro Obregón bereits in die Hauptstadt ein (cf. Tobler 1996, 285ff.). Carranza folgte am 20. August (cf. Womack Jr. 1986, 106). Der gemeinsame Feind Huerta war den so unterschiedlich ausgerichteten revolutionären Stoßrichtungen, die die Revolution des Nordens bzw. die Revolution des Südens ausmachten, abhandengekommen, was ihnen nun aber die Möglichkeit bescherte, ihren Verschiedenheiten Gestaltungsraum zu geben. Diese Verschiedenheiten entfalteten sich aber immer mehr, woraus sich innerhalb kurzer Zeit ein massives Konkurrenzproblem ergab. Es stellte sich nämlich bald die Frage, welche denn nun eigentlich die wahre Revolution sei (cf. Bazant 1977, 145). Wie dem auch sei, vordergründig ging es zwar sehr wohl um den Gegensatz zwischen der Revolution des Nordens unter Carranza und jener der zapatistischen Bauernbewegung des Südens, doch handelte es sich bei der Frage nach der wahren Revolution zunächst einmal um die Optionen Carranza oder Villa, die ja beide im Norden agierten. Die aus Bergregionen stammenden Villisten waren sozial sehr heterogen (cf. Ruhl/Ibarra García 2 2007, 173), rural geprägt und alles andere als zentralistisch ausgerichtet, während die Carranzisten durchaus urban und national dachten (cf. Tobler 1996, 287). Villa lehnte es ab, auf die großen Ländereien zu verzichten, die er sich im Laufe der Zeit zu eigen gemacht hatte, was für Carranza inakzepta-
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wurde von oben rekrutiert, während es im Süden die betroffenen Bauern selbst waren, die für Veränderung kämpften und so den Aufstand von unten organisierten (cf. Tobler 1996, 276ff.). Es gab im Süden pueblos libres, in denen die Bauern eigenständig ihrer Arbeit nachgehen konnten, es gab aber auch die peones acasillados, jene Bauern, die auf den haciendas geknechtet waren (cf. Tobler 1996, 283). Als Wilson dann aber die Hafenstadt Veracruz blockierte, um Mexiko vom Waffenimport abzuschneiden, stellten sich sogar Regimegegner wie Carranza hinter Huerta, weil sie die USIntervention kategorisch ablehnten (cf. Tobler 1996, 285).
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bel war. Dann legte sich Carranza aber auch noch mit Zapata an, von dem er wiederum verlangte, die Verteilung von Grundstücken aus hacienda-Besitztümern an Kleinbauern einzustellen (cf. Ruhl/Ibarra García 2 2007, 174). Zum Eklat kam es schließlich, als sich die gescholtenen Revolutionsführer Villa und Zapata auf der Convención de Aguascalientes im Oktober 1914 gegen Carranza verbündeten und diesen in der Folge nicht mehr länger als Regierungschef anerkannten, sondern Eulalio Gutiérrez zu ihrem eigenen neuen Präsidenten wählten (cf. Benítez 2011 [1978], 235ff.). Das neue Bündnis zwischen Villa und Zapata, das sich fortan von den Konstitutionalisten klar abgrenzte, war also jenes der Convención de Aguascalientes, deren Bündnispartner entsprechend als Konventionisten bezeichnet werden. Es sollte nicht lange dauern, bis es zwischen den ehemals verbündeten Konstitutionalisten unter Álvaro Obregón und den Konventionisten zum Bürgerkrieg kam, womit der dritte Abschnitt der oben angeführten Chronologie beginnt. Ende November 1914 besetzten Villas und Zapatas Truppen die Hauptstadt. Obregón befehligte eine Divison von 12.000 Soldaten, mit der er am 15. Januar 1915 Puebla einnahm und in der Folge den Einmarsch in die Hauptstadt vorbereitete. Im März 1915 kämpften 160.000 Soldaten im blutigen Bürgerkrieg: 80.000 Carranzisten gegen 10.000 Villisten, 20.000 Zapatisten und 10.000 andere. Am 1. Juni 1915 begann die entscheidende Schlacht: 100.000 Carranzisten kämpften gegen 40.000 Villisten und 20.000 Zapatisten. Carranzas Übermacht zeichnete sich jedoch bald deutlich ab. Den USA unter Präsident Wilson blieb im Grunde nichts mehr anderes übrig, als Carranza anzuerkennen. Die Villisten und Zapatisten, d.h. also die Konventionisten, galten fortan nur noch als Rebellen und spielten in der Revolution keine entscheidende Rolle mehr (cf. Ruhl/Ibarra García 2 2007, 174ff.; Tobler 1992, 265ff.; 1996, 286ff.; Womack Jr. 1986, 116ff.).100 Die nationale Politik wurde fortan von den Konstitutionalisten gemacht, die gewissermaßen über eine doppelte Speerspitze verfügten, nämlich über eine progressive unter Álvaro Obregón und über eine konservative unter Venustiano Carranza. Bevor nun allerdings der weitere Verlauf der politischen Geschichte Mexikos unter den Konstitutionalisten beleuchtet wird, soll vorerst ein Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung des Landes während des ersten Halbjahres 1915 (zurück)geworfen werden, um Verständnis für die weitere politische und wirtschaftliche Entwicklung zu schaffen. Die Zapatisten hatten in Morelos schon vor der Ankunft der Konstitutionalisten eine tiefgreifende Landreform durchgeführt. Ab dem 6. Januar 1915 war dann aber das konstitutionalistische Agrargesetz in Kraft, das sich deutlich von den zapatistischen Parametern unterschied. Die hacendados mussten nur noch unter jener Bedingung Grund und Boden an die Dörfer abtreten, dass diese Dörfer während des Porfiriats die rechtmäßigen Eigentümer desselben waren, d.h. also, dass ihnen der Grund und Boden geraubt worden war. Die Gunst der Bauern hatten sich die Konstitutionalisten durch diese Politik offensichtlich verwirkt, weshalb sie sich dann verstärkt um jene der städtischen
100 Die Konventionisten werden mitunter auch als Konventionalisten bezeichnet (cf. Ruhl/Ibarra García 2 2007).
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Arbeiter bemühten.101 Am 17. Februar 1915 hatten die Konstitutionalisten mit der Casa del obrero mundial einen Pakt geschlossen, der auch eine militärische Komponente enthielt, hatten sich doch die Arbeiter dazu verpflichtet, Arbeiterbataillone, batallones rojos, für den Kampf gegen die Konventionisten aufzustellen. Damit hatte sich die Arbeiterbewegung allerdings klar in den Einfluss- und Machtbereich des Staates begeben (cf. Tobler 1996, 288ff.). Carranza war, wie oben erwähnt, sozialkonservativ und lehnte dementsprechend das gewerkschaftliche Engagement an sich ab (cf. Bernecker/Pietschmann/Tobler 2 2016, 267ff.).102 Das Bündnis zwischen den Konstitutionalisten und der Casa del obrero mundial hatte also auf keiner soliden Basis gestanden und war folglich zum alsbaldigen Scheitern verurteilt, was tatsächlich bereits 1916 geschah. Die roten Bataillone wurden rasch wieder aufgelöst. Im selben Jahr verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage dramatisch. Die Arbeitslosigkeit nahm zu, die Inflation stieg, die Löhne fielen, die sozialen Spannungen erhöhten sich. Am 1. August 1916 riefen die Gewerkschaften schließlich einen Generalstreik aus, was Carranza jedoch partout nicht duldete. Es kam zur Verhaftung der Streikführer und in der Folge sogar zur Auflösung der Casa del obrero mundial (cf. Tobler 1996, 291). Gemäß der oben dargelegten Chronologie umfasst der vierte Abschnitt nun die Verabschiedung der Verfassung von 1917 sowie die Regentschaft Carranzas. Im Dezember 1916 und Januar 1917 tagte in Querétaro der Verfassungskonvent mit 200 Abgeordneten. Carranza verlangte, dass die neue Verfassung bis 31. Januar verabschiedet sei. In der Ausarbeitung der Verfassung zeigten sich jedoch erneut zwei konträre Positionen: Carranzas konservative und statusbewahrende im Gegensatz zu Obregóns progressiver, die durchaus wirtschaftliche und soziale Reformen in die Verfassung schreiben wollte. Letztendlich gab es einen Kompromiss. Carranza erhielt die von ihm verlangte gestärkte Präsidentschaft und für Obregón wurden neue soziale und wirtschaftliche Bestimmungen in die Verfassung aufgenommen. Die im Allgemeinen als wichtigste Artikel geltenden waren jedoch andere, nämlich Art. 3 und Art. 130 sowie Art. 27 und Art. 123. In ersteren ging es um die Beschneidung der Rechte der Kirche. So durfte es etwa keinen Religionsunterricht mehr geben und Priestern war es generell untersagt, die Verfassung oder die Regierung zu kritisieren.103 Gemäß Art. 27 wurde der Grundbesitz einerseits eingeschränkt und andererseits war Bodenzuweisung an Bauern vorgesehen. Die Bodenschätze waren fortan Eigentum des Staates. Art. 123 hingegen schrieb soziale Rechte wie das Streikrecht, das Recht auf Gewerkschaftsbildung und auf den Achtstun-
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Seit dem Sommer 1914 hatten einige Militärgouverneure bereits Sozialreformen angekündigt, wie etwa die Einführung des Mindestlohns, des Acht-Stunden-Tages oder auch die Beendigung der Schuldknechtschaft der peones. Allein, all das schien zu wenig, um sich tatsächlich der verlässlichen Unterstützung der breiten Arbeiterschaft sicher sein zu können (cf. Tobler 1992, 269ff.). 102 Landumwidmungen unterstützte Carranza außerdem auch nicht zugunsten der Bauern, sondern zugunsten der Revolutionselite (cf. Bernecker/Pietschmann/Tobler 2 2016, 267ff.). 103 Weiters wurden Mönchsorden verboten, die Kirche hatte ihren kompletten Besitz aufzugeben, die Zahl der Priester wurde begrenzt. Andererseits wurde das Aushandeln von Tarifverträgen ermöglicht, es wurde ein Ruhetag pro Woche angeordnet und Frauen und Männern wurde für die gleiche Arbeit der gleiche Lohn zugesagt. Im Bereich des Arbeitsrechts war Mexiko damals das fortschrittlichste Land überhaupt (cf. Ruhl/Ibarra García 2 2007, 175f.).
3. Die politisch-historische Dimension
dentag sowie auf einen Mindestlohn fest (cf. Tobler 1992, 306ff.; 1996, 291ff.; Womack Jr. 1986, 128ff.). Am 11. März 1917 gab es Präsidentschafts- und Kongresswahlen. Venustiano Carranza gewann 197.000 von 213.000 Stimmen. Álvaro Obregón und Pablo González teilten sich den bescheidenen Rest. Alle Sitze im Kongress gingen an den Partido Liberal Constitucionalista (PLC). Ein neuer mexikanischer Staat war somit in Erscheinung getreten (cf. Womack Jr. 1986, 131-2). Carranza tat alles, um die politische und wirtschaftliche Lage unter Kontrolle zu bringen. Er konsultierte die US-Amerikaner in Bezug auf wirtschaftliche Verbesserungen und verstimmte dadurch Deutschland, was er in Kauf nahm. Den Oligarchen restituierte er immer mehr Gründe und den ausländischen Investoren versicherte er, dass sie sich keine Sorgen wegen allfälliger Enteignungen machen müssten. Obregón war Kriegsminister, doch Carranza veranlasste, dass er am 30. April abdankte und sich zumindest vorübergehend um seine eigenen großen landwirtschaftlichen Geschäfte kümmerte. Es sollte allerdings nicht allzu lange dauern, bis Obregón wieder in der Politik mitmischte. Die Wirtschaft flaute erneut ab und Carranza brauchte dringend Geld, weshalb er die Ölindustrie besteuerte, was wiederum die US-Amerikaner schwer traf und ihnen naturgemäß überhaupt nicht gefiel. Zunächst kamen nur scharfe Warnungen aus den USA, bald aber schon ein Handelsembargo (cf. Womack Jr. 1986, 132ff.).104 Um sich zumindest in der Arbeiterschaft etwas Spielraum zu verschaffen, gewährte Carranza im Mai 1918 die Neubildung einer umfassenden Gewerkschaft, nämlich der Confederación Regional de Obreros Mexicanos (CROM), gegen die er allerdings nach zunehmender Streiktätigkeit bereits 1919 wieder energisch vorging. Als ob dies alles nicht genug gewesen wäre, hatte Carranza immer noch gegen villistische und zapatistische Truppen zu kämpfen, die sich wieder erholt hatten. Zapata wurde dann in eine Falle gelockt und am 10. April 1919 ermordet.105 Das Problem des Südens war damit aber nicht gelöst, denn nun trat Felix Díaz wieder auf den Plan. Wirklich schicksalshaft war für Carranza aber letztlich der Kampf um seine Nachfolge. Nicht nur die beiden erzkonservativen Generäle Álvaro Obregón und Pablo González bemühten sich darum, sondern auch der zivile Ignacio Bonillas, den Carranza letzten Endes favorisierte. Obregón erhielt die Unterstützung des Partido Liberal Constitucionalista PLC und außerdem näherte er sich sowohl über die CROM als auch über den von dieser gegründeten Partido Laborista Mexicano PLM der Arbeiterschaft an. Carranza versuchte jedoch alles, um Obregón zugunsten Bonillas auszuschalten. Obregón blieb vorerst nur die Flucht, er setzte sich aber sogleich an die Spitze einer Anti-Carranza-Bewegung. Carranza hatte die Regierung von Sonora für abgesetzt erklärt, um Obregón zu schikanieren. Dieser wurde dann jedoch zum Fürsprecher und Verteidiger der Verfassungsmäßigkeit, was dazu führte, dass immer mehr Generäle zu ihm überliefen. Letztendlich war es nun Carranza, der die Flucht ergreifen musste (cf. Bernecker/Pietschmann/Tobler 2 2016, 276) und so zog Obregón bereits am 9. Mai mit Pomp und Gloria in die Hauptstadt
104 Obregón stieg groß in den Kichererbsenhandel in Sonora ein, Pablo González in den Getreidehandel (cf. Womack Jr. 1986, 133). 105 Der konstitutionalistische Kavallerieoberst Guajardo bot Zapata an, zu ihm überzutreten, was allerdings die Falle war, in die Zapata tappte und was ihm das Leben kostete (cf. Tobler 1992, 349; 1996, 294).
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ein.106 Carranzas Kolonne hingegen wurde in Puebla aufgehalten und er selbst wurde am 21. Mai ermordet (cf. Bazant 1977; 154ff.; Ruhl/Ibarra García 2 2007, 176ff.; Tobler 1992, 356; 1996, 295,ff.). Die Präsidentschaftswahlen folgten am 5. September 1920; aus ihnen ging Obregón als strahlender Sieger hervor. Am 1. Dezember wurde Obregón als Präsident angelobt. Hill war Kriegsminister, Calles Innenminister, de la Huerta Finanzminister und Villarreal Landwirtschaftsminister. Es begann nun eine fünfzehnjährige Vorherrschaft der Sonorenser (cf. Womack Jr. 1986, 153) und dies war dann die reformorientierte Spätphase der Revolution. Zunächst folgte eine vierjährige Präsidentschaft unter Álvaro Obregón und dann eine weitere vierjährige unter Plutarco Elías Calles. Auf die unglückliche Rückkehr und die Ermordung Obregóns am 17. Juli 1928, dem Tag nach seiner Wiederwahl, folgte der sechsjährige Maximato unter den drei aufeinanderfolgenden Präsidenten Emilio Portes Gil, Pascual Ortiz Rubio und Abelardo Luján Rodríguez, die jedoch im Grunde Exekutivorgane des jefe máximo Plutarco Elías Calles waren. Alsdann kam Lázaro Cárdenas. Der Abschnitt vor Cárdenasʼ Präsidentschaft sei als nächstes wiederum kurz und bündig, aber dennoch möglichst so dargestellt, dass sich im Anschluss daran Cárdenasʼ Politik als Folge aus der Vorgeschichte bzw. als Antwort darauf erkennen lässt. Die sonorensischen Revolutionsgeneräle, allen voran Obregón und Calles, waren insgesamt von 1920 bis 1934 vorrangig um die Konsolidierung bzw. Modernisierung von Staat und Gesellschaft bemüht. Der darauffolgende Lázaro Cárdenas hingegen ist für seine tiefgreifenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Reformen in die Geschichte eingegangen (cf. Tobler 1996, 296ff.). Obregón hatte verstanden, dass stabile politische Verhältnisse im Lande eine Regierung auf einer breiten Basis voraussetzte. Infolgedessen suchte er über die Gewerkschaft Zugang zu den Arbeitern, gewann schließlich mittels gefälliger Agrarpolitik und daraus resultierenden Wohlwollens des Partido Nacional Agrarista die Unterstützung der Bauern und veranlasste große loyale Parteien, oppositionelles Gedankengut an den Rand zu drängen. Auch die Armee hatte der inneren Sicherheit und Stabilität zu dienen. Der große gemeinsame Nenner der drei Säulen Gewerkschaft, Bauern und Armee war der Nationalismus. Die Generäle, Gewerkschaftsbosse und Politiker bereicherten sich beachtlich, was aber nicht weiter störte, solange die Legitimität der Regierung nicht angezweifelt wurde. Letztlich war es die römisch-katholische Kirche, die gewissermaßen eine Oppositionsrolle übernahm, was in den späten zwanziger Jahren zu äußerst blutigen Fehden führen sollte (cf. Meyer 1986, 159). Außenpolitisch war Obregón um Entspannung bemüht, naheliegenderweise vor allem mit den USA.107 Schulden wurden beglichen, Entschädigungen für verlorenes Eigentum wurden geleistet. Für die Präsidentschaft von 1924 bis 1928 standen dann der Innenminister Calles und der Finanzminister de la Huerta in der engsten Wahl. De la Huerta wurde schließlich Kandidat der Opposition. Nun erhoben sich aber Teile der Armee gegen die Regierung, woraufhin die USA die Regierung mit Waffen belieferte. 106 Der vom Kongress ernannte Interimspräsident war der Gouverneur von Sonora, Adolfo de la Huerta (cf. Bernecker/Pietschmann/Tobler 2 2016, 276). 107 Im August 1923 wurde das Bucareli-Street-Abkommen unterzeichnet, das die Aussöhnung mit den USA sichern sollte, doch die mexikanischen Zugeständnisse waren sehr hoch. Zu jener Zeit wurde außerdem noch Francisco »Pancho« Villa ermordet, wohl eine Präventivmaßnahme, um neuerliche Proteste zu verhindern (cf. Meyer 1986, 160).
3. Die politisch-historische Dimension
Der Aufstand brach jedoch bald zusammen und Calles wurde neuer Präsident. Obregón war jedoch fest entschlossen, 1928 an die Macht zurückzukehren, obwohl dies rechtlich in keiner Weise vorgesehen war. Derjenige, der einen sehr bedeutenden Beitrag zur Schaffung des neuen Mexikaners im neuen Mexiko leistete, war der Bildungsminister und Philosoph José Vasconcelos. Die Bildung, vor allem die Schulbildung im ganzen Land, war ihm das zentrale Anliegen. Er ließ Bibliotheken errichten und war Förderer der mexikanischen Kunst, der Literatur und vor allem der murales (cf. Meyer 1986, 159ff.; Tobler 1996, 299ff.).108 Calles war in erster Linie fest entschlossen, die wirtschaftliche Entwicklung des Landes wie Obregón nach kapitalistischen und nationalistischen Prinzipien, wohl auch im Stile der científicos, voranzutreiben. Ansehnlicher Landbesitz und großes Kapital störten ihn nicht. Prioritär waren für Calles die Sanierung des Staatshaushaltes, für die er eine angemessene Einkommenssteuer brauchte, weiters eine starke Nationalbank sowie der Ausbau von Straßen, Dämmen und Bewässerungsanlagen (cf. Meyer 1986, 165; Tobler 1996, 301). Ab 1926 stiegen jedoch die Spannungen im Staat dramatisch an, und zwar aufgrund der antiklerikalen Maßnahmen gemäß dem oben erwähnten Artikel in der Verfassung von 1917. Die CROM attackierte die Kirche, was zu einem regelrechten (Kultur-)Kampf zwischen Kirche und Staat führte, in dem sich die bäuerlichkatholische Bevölkerung und der Staat im wahrsten Sinne des Wortes bekriegten. Die Calles-Regierung ließ Klöster schließen, ausländische Priester und Nonnen ausweisen und vieles mehr. Die aus den Revolutionstruppen hervorgegangene Bundesarmee sollte den Aufstand der cristeros,109 die cristiada, niederwerfen, was aber nicht gelang. Die Kämpfe wurden mit größter Brutalität ausgetragen, zehntausende Menschen verloren ihr Leben (cf. Matute 6 2005, 138ff.; Ruhl/Ibarra García 2 2007, 182ff.; Scheina 2003, 29; Tobler 1992, 396ff.; Tobler 1996, 301ff.). Erst unter Präsident Portes Gil, der 1929 über den US-amerikanischen Botschafter als Vermittler mit der Kirche verhandelte, legte sich die schwere Krise. Die relevanten Artikel aus der Verfassung von 1917 sollten möglichst nicht angewandt werden und die Kirche sollte sich mit ihren Forderungen zurückhalten. Doch selbst nach diesem Abkommen wurden noch tausende cristeros ermordet. Calles hatte gleich an mehreren Fronten zu kämpfen. Erstens gab es den andauernden schwelenden Konflikt rund um das Erdöl. Damit im Zusammenhang stand zweitens das angespannte Verhältnis zu den USA. Das dritte Problem, das durchaus Revolten auslösen hätte können, war die Möglichkeit der Wiederwahl, die Obregón Calles abgerungen hatte, außerdem gleich für sechs Jahre und das vierte keineswegs minder dramatische Problem war das große Spannungsverhältnis mit der Kirche. Daneben gab es noch den großen Eisenbahnerstreik und den Aufstand der Yaqui-Indianer in Sonora. Wirtschaftlich ging es insgesamt ab 1926 steil bergab. Der Silberpreis brach ein und Erdöl wurde nun auch in anderen Ländern wie etwa Venezuela gefördert und sogar die Produktion von Mais und Bohnen fiel eklatant zurück. Letzten Endes mussten
108 Der Essay La Raza Cósmica von José Vasconcelos ist eine Hymne auf die fünfte Rasse Amerikas, in der alles kulturelle Erbe der verschiedenen Rassen zusammenfließt. Gegen Ende der 30er Jahre näherte er sich allerdings stark dem Faschismus an und meinte, dass sich auch Mexiko solchen historischen Imperativen beugen müsse (cf. Knight 1990, 54). 109 Die Bezeichnung cristeros stammte von deren Slogan ¡Viva Cristo Rey!
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Der klassische Populismus Lateinamerikas
deshalb die Zinszahlungen auf Auslandsschulden wiedereingestellt werden. Vielleicht erklärt gerade diese polylaterale Konfliktsituation, die etwas von Ausweglosigkeit an sich hatte, Callesʼ Kompromisslosigkeit und Brutalität im Kampf gegen die revoltierenden katholischen campesinos (cf. Meyer 1986, 166ff.). Insgesamt geriet Calles an seine Grenzen, was letztendlich aber wahrscheinlich Obregón zugutekam. – Bei aller Verschiedenheit lässt sich aber sagen, dass sowohl Obregón als auch Calles alles dafür taten, die wirtschaftliche und politische Macht wiederum in den Händen des Präsidenten zu konzentrieren. Prioritär war für beide der Aufbau einer modernen nationalen und kapitalistischen Wirtschaft, in dem der Staat eine ganz wesentliche Rolle spielen sollte.110 Darüber gab es ein ganz grundsätzliches Einverständnis zwischen den Politikern, den Industriellen, den Unternehmern, den Bankern, den ausländischen Investoren sowie den Gewerkschaften (cf. Meyer 1986, 193). Die Rolle der ausländischen Investoren sollte insgesamt jedoch zurückgedrängt werden (cf. Tobler 1996, 305). Am 1. September 1928 verkündete Calles sein politisches Testament, demgemäß die Ära der caudillos ein für alle Mal vorbei sein und jene des institutionalisierten Staates beginnen sollte. Dementsprechend wurde sogleich der Partido Nacional Revolucionario (PNR) gegründet, der der Vorläufer des Partido de la Revolución Mexicana (PRM) und des sich daraus ergebenden Partido Revolucionario Institucional (PRI) war. Als Hauptaufgabe der Partei war allerdings die Unterstützung der Regierung konzipiert und insofern war diese Partei als »monopolistisches Regierungsinstrument« zu verstehen (cf. Tobler 1996, 307). Für die Präsidentschaftswahl nach dem Mandatende von Calles gab es zunächst drei Kandidaten: Arnulfo Gómez, Francisco Serrano und, wie gesagt, Álvaro Obregón. Sowohl Arnulfo Gómez als auch Francisco Serrano wurden 1927 ermordet und so blieb nur noch Obregón, der zwar gewählt wurde, den aber, wie oben erwähnt, am Tag nach seiner Wiederwahl das gleiche Schicksal wie seine Mitbewerber ereilte.111 Am 17. November 1929 kam es deshalb dann zu außertourlichen Präsidentschaftswahlen, bei denen all jene kandidieren konnten, die von vornherein gegen Obregóns Wiederwahl aufgetreten waren. Es übernahmen, wie oben ausgeführt, jeweils für einige wenige Monate zuerst Emilio Portes Gil, dann Pascual Ortiz Rubio und schließlich Abelardo Luján Rodríguez das Präsidentenamt. Portes Gil stellte den Religionsfrieden wieder her, machte die Universität unabhängig und setzte die Landzuweisungen fort, denen Calles ja sehr skeptisch gegenübergestanden war. Im Anschluss daran baute die Armee ihre Macht wieder aus und in der Agrar- und Sozialpolitik gab es eine streng konservative Wende. Wer jedoch wirklich in jenen sechs Jahren die Politik bestimmte und somit Geschichte schrieb, war Plutarco Elías Calles. Er war der jefe máximo und seine Regentschaft war el maximato (cf. Meyer 1986, 170ff.; 2010 [1973], 140ff.; Tobler 1992, 407ff.; 1996, 302ff.). Neuerliche Präsidentschaftswahlen waren für den 1. Juli 1934 anberaumt worden. In der Zeit davor wurde deutlich spürbar, dass sich die Bevölkerung zusehends von den konservativen Positionen des jefe máximo abwandte. Der Staat bedurfte einer grundlegenden Erneuerung, die man wohl am ehesten Lázaro Cárdenas, dem ehemaligen Gou110 111
Der Staat sollte ein »estado empresarial« (Tobler 1996, 305) sein. Es gab den starken Verdacht, dass Calles persönlich hinter dem Mord an Obregón stand (cf. Meyer 1986, 168).
3. Die politisch-historische Dimension
verneur von Michoacán, zutraute und so wurde er zumindest offiziell mit über 98 % der abgegebenen Stimmen zum Präsidenten gewählt. Noch ahnte allerdings niemand, wie bald er Calles, den jefe máximo und damaligen politischen Übervater der Nation, der zugleich sein Mentor gewesen war, in die Schranken weisen und tiefgreifende Reformen angehen würde (Ruhl/Ibarra García 2 2007, 185).
3.3.1.2
Cárdenas’ Präsidentschaft
Am 1. Dezember 1934 war es dann so weit, dass Lázaro Cárdenas als glühender Verfechter der Revolutionsideale sein sechsjähriges Mandat als Präsident von Mexiko antrat.112 Seit Jahren hatte es mittlerweile Präsidenten gegeben, die zwar allesamt Anhänger der Revolutionsideale gewesen waren und dennoch sollte Cárdenas nun so ganz anders als seine Vorgänger sein. Einerseits war Cárdenas der erste Präsident seit Beginn der Revolution 1910, der nicht aus dem Norden, sondern aus dem zentralen Hochland stammte (cf. Tobler 1992, 568).113 Andererseits hatte es sich aber ja bereits im Laufe der Jahre immer wieder herausgestellt, dass die Helden der Revolution zwar gemeinsam das eine oder andere Ziel verfolgten, sich dann aber auch genauso gut gegenseitig bekämpften und sogar ans Messer lieferten, was einmal mehr zeigt, dass es sich bei ihnen um sehr unterschiedliche Persönlichkeiten handelte. Lázaro Cárdenasʼ sechsjähriges Mandat lässt sich grosso modo in drei zweijährige Abschnitte einteilen: erstens Konsolidierung durch Organisation, zweitens tiefgreifende Reformen und drittens Stagnation bzw. sogar Ende der Revolution und im Zuge dessen wieder allmähliches Aufflammen und Erstarken konservativer Gegenpositionen (cf. Knight 1990; Tobler 1992; 1996 etc.). Die Grenzen zwischen den drei Abschnitten sind natürlich fließend, was sich besonders deutlich an der Bildung des Partido de la Revolución Mexicana (PRM) zeigt, wie weiter unten zu sehen sein wird. Sie kann wohl als ein Höhepunkt der Machtkonsolidierung und Massenorganisation betrachtet werden, fand aber erst 1938 statt, wobei jedoch die Zeit des ersten Drittels der cardenistischen Präsidentschaft als unerlässliche Vorbereitungsphase für die Gründung des PRM anzusehen ist. Bei Cárdenasʼ Amtsantritt feierte die Revolution beinahe ihr fünfundzwanzigjähriges Jubiläum. Viel hatte sich in den Jahren in und für Mexiko geändert, wie im vorangehenden Teilkapitel zu sehen war. In der Folge wollen wir uns zunächst einmal eine überblicksmäßige Bestandaufnahme der geänderten Verhältnisse bei Cárdenasʼ Amtsantritt verschaffen. In präcardenistischer Zeit war das Land mehrfach gespalten. Es war klerikal und antiklerikal-laizistisch. Es gab Latifundisten und eine Vielzahl von Landlosen (cf. Maihold 2010, 251).114 In politisch-institutioneller Hinsicht war es eine Zeit der Dyarchie im Sinne eines institutionellen und machtpolitischen Dualismus zwischen Regierung und 112 113
114
Warum die Präsidentschaftsmandate nun sechsjährig sein sollten, werden wir weiter unten im Zuge der Diskussion des Parteitages von Querétaro 1933 sehen. Wir haben oben beschrieben, dass es in Bezug auf die Mentalität, die Ideologie und die Lebensweise der Menschen im Großen und Ganzen doch wesentliche Unterschiede zwischen dem Norden und dem Zentrum bzw. auch dem Süden gab. Dies hatte vor allem damit zu tun, dass der Norden in viel direkterem Kontakt mit den Vereinigten Staaten stand. 1930 waren nur ungefähr 9 % des Landes ejidos (cf. Knight 1990, 4).
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Der klassische Populismus Lateinamerikas
Partei (cf. Eickhoff 1999, 25ff.). Die Revolution war gewissermaßen bereits durch den Partido Nacional Revolucionario (PNR) institutionalisiert worden. Plutarco Elías Calles, der jefe máximo, hingegen hatte sich aber auch ein persönliches Machtzentrum aufgebaut. Die Industrie war kaum entwickelt, der Boden wurde von ausländischen Großunternehmen ausgebeutet, die Agrarreform verlangsamte sich und drohte überhaupt zu versiegen. Die Arbeiterbewegung war alles andere als stark und dynamisch, weil weder die Confederación Regional de Obreros Mexicanos (CROM) noch die Confederación General de Trabajadores (CGT), geschweige denn die Confederación Sindical Unitaria de México (CSUM) schlagkräftige Gewerkschaften waren (cf. Dios González Ibarra 1988, 61)115 und von einem gemeinsamen Kampf der Gewerkschaften schon überhaupt keine Rede sein konnte.116 Infolge der nationalen und internationalen Wirtschaftskrise herrschte sowohl bei den Arbeitern als auch bei den Bauern große Unzufriedenheit, was zu Streiks und Protesten führte (cf. Medin 2003 [1973], 38). Nachdem Obregón 1928 ermordet worden war, schien es zudem erneut aussichtslos, dass Mexiko jemals aus dem Teufelskreis des Mordens und Blutvergießens herauskommen würde, weshalb die Gewalt für eine konstruktive Zukunft des Landes tatsächlich ein ernsthaftes Hindernis darzustellen schien (cf. Aibar 2009, 92). Mexiko war vor Cárdenasʼ Präsidentschaft wörtlich und im übertragenen Sinn ausgeblutet, geschwächt und in jeder Hinsicht traumatisiert. Es gab eine Sehnsucht nach starken sozialen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen, weil man sich offensichtlich nur noch von einer rigideren Institutionalisierung der politischen und wirtschaftlichen Einrichtungen versprach, jemals dem Chaos zu entkommen (cf. Ianni 1977, 25). Vom 3. bis zum 6. Dezember 1933 wurde in Querétaro die zweite Convención Nacional Ordinaria, der zweite Parteitag oder Nationalkonvent, des Partido Nacional Revolucionario (PNR) abgehalten, auf dem vor allem drei große Themen diskutiert wurden: erstens eine fundamentale Reorganisation des PNR, zweitens die Präsidentschaftskandidatur für die Wahlen 1934 und drittens die Einführung des Sechsjahresmandats für den Präsidenten in Verbindung mit der Entwicklung eines umfassenden Sechsjahresplans für das Land. In Bezug auf die Reorganisation ging es um eine bessere Abbildung der Gesellschaft durch die Partei sowie um die Frage der Zentralisierung. Hinsichtlich der anstehenden Kandidatur war bald klar, dass Lázaro Cárdenas aufgrund all seiner Erfahrungen und Erfolge bei den Präsidentschaftswahlen 1934 für die Partei kandidieren sollte (cf. León 6 2005, 222ff.). Was das Sechsjahresmandat für den Präsidenten anbelangte, hatte Obregón schon geklagt, dass vier Jahre nicht ausreichen würden, um größere Projekte zu verwirklichen. Wenn es außerdem während des Mandats noch Rebellion oder Bürgerkrieg gäbe, wäre es geradezu unmöglich, ein Land in so kurzer Zeit weiterzuentwickeln (cf. León y González 2010, 28). Der letztlich verabschiedete Sechsjahresplan war ein Triumph der Revolutionsprinzipien (cf. Córdova 1997 [1974], 45), die seit ihrer Satzung in der Verfassung von 1917 de facto totes Recht geblieben waren. Der Sechsjahresplan stellte unter anderem fest, dass die Mexikaner die Bodenschätze selbst zu verwalten hätten, dass es Mindestlöhne und Kollektivverträge geben müsse und dass 115 116
Auch die 1930 von Vicente Lombardo Toledano gegründete CGCOM hatte keine überwältigende Schlagkraft. Nach der Ermordung Obregóns 1928 drohte die CROM sich sogar aufzulösen (cf. León 6 2005, 220).
3. Die politisch-historische Dimension
die Agrarreform vorrangig zu behandeln wäre (cf. Knight 1990, 9ff.). Die tragenden Säulen des Sechsjahresplans, der von der Regierung selbst und nicht etwa von der Partei entworfen worden war, bildeten die Massenpolitik und die Staatspartei (cf. Eickhoff 1999, 34ff.).117 Die Regierung garantierte durch die Partei die Transformation der Gesellschaft. Dabei hatte sie relativ freie Hand, weil sie das Interventionsrecht hatte. Die Regierung war de facto eine Interventionsregierung, ein agente activo (cf. Córdova 1997 [1974], 47ff.). Die organisierten Massen spielten andererseits insofern eine doppelt wichtige Rolle, als sie nicht nur die Basis des Staates, sondern zugleich Motor und Ziel der Veränderung waren.118 Die Veränderung der Gesellschaft sollte durch die Massen für die Massen stattfinden (cf. Aibar 2009, 98ff.), wobei die Massen aber stets Instrument und nicht Entscheidungsträger sein sollten. Cárdenas strebte nämlich von Anfang an eine maximale Machtkonzentration bei sich selbst und davon ausgehend eine institutionalisierte Machtausübung (cf. Maihold 2010, 245) durch sich selbst an. Der in Querétaro verabschiedete Sechsjahresplan, der, wie oben dargelegt, endlich die bereits 1917 verfassungsmäßig festgelegten Revolutionsideale umsetzen sollte, war das große Thema auf Cárdenasʼ ausgedehnter Wahlkampftour, die ihn auf nie dagewesene Weise in die entferntesten Winkel des ganzen Landes führen sollte.119 Sie dauerte ein halbes Jahr und Cárdenas legte in dieser Zeit mit dem Flugzeug, mit dem Schiff und mit der Eisenbahn, aber auch hoch zu Ross oder zu Fuß insgesamt 27.611 km zurück (León y González 2010, 30).120 Diese weiten und durchaus beschwerlichen Reisen ermöglichten Cárdenas einerseits den unmittelbaren Kontakt zu vielen Menschen, die von der großen Politik stets vernachlässigt worden waren, andererseits lernte er auf diese Weise die harte Realität großer Bevölkerungsgruppen kennen. All dies führte ihm noch deutlicher vor Augen, wie notwendig die Umsetzung der Revolutionsideale war. Es heißt, dass es sogar seine legendäre Wahlkampftour gewesen sei, die ihn bis zu einem gewissen Grad radikalisiert habe. Durch das manifeste Interesse an den Lebensumständen der gente humilde löste Cárdenas bei jenen Menschen umgekehrt auch sehr hohe Erwartungen aus, versprach er doch ejidos,121 Schulen und nicht zuletzt auch Gehör im Zentrum der Macht (cf. Eickhoff 1999, 38ff.; Knight 1990, 11ff.). Wie oben dargestellt, wurde Lázaro Cárdenas am 1. Juli 1934 für sechs Jahre zum Präsidenten gewählt. Am 1. Dezember desselben Jahres erfolgte sein Amtsantritt. Den 117
Der Sechsjahresplan war aber im Grunde nicht ein Regierungsprogramm, sondern viel eher ein ideologisches Programm in Form von Forderungen (cf. Córdova 1997 [1974], 46). 118 Es hieß im Sechsjahresplan: »El Partido Nacional Revolucionario reconoce que las masas obreras y campesinas son el factor más importante de la colectividad mexicana« (cf. Córdova 1997 [1974], 47). 119 Auf seiner Wahlkampftour wurde Cárdenas zum »más encendido propagandista de la organización de las masas« (cf. Córdova 1997 [1974], 53), zum feurigsten Propagandisten der Organisation der Massen. 120 Es heißt, dass er sich auch nicht davor scheute, durch Flüsse zu schwimmen, wo es keine Brücken mehr gab (cf. Knight 1990, 11). 121 Die ejidos sind Grundstücke, die traditionell von mehreren Personen für die gemeinsame Nutzung besessen werden, ohne dass diese Personen jedoch die Eigentümer davon sind. Das System der ejidos gab es schon bei den Azteken. Ejidos gab es zunächst auch für Einzelpersonen, die ejidos colectivos für mehrere Personen nahmen unter Cárdenas jedoch auf Kosten der ersteren im Laufe der Zeit stark zu.
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ersten der drei zweijährigen Abschnitte von Cárdenasʼ Präsidentschaft stellten wir unter das Heading Konsolidierung durch Organisation, was nun etwas genauer zu betrachten ist. Das größte Hindernis für die Konsolidierung durch Organisation, das Cárdenas zunächst überwinden musste, war der latente, aber auch manifeste Widerstand seitens Calles. Cárdenas war gewissermaßen durch Callesʼ Gnaden an die Macht gekommen, zumal Calles, wie oben erwähnt, während des Maximato weiterhin auch personell die wichtigen Fäden in der Politik gezogen hatte. Bei seinem Amtsantritt sah sich Cárdenas deshalb inmitten einer Gruppe starker callistischer Minister, die in erster Linie Calles gegenüber loyal waren und dessen Politik machen wollten. Am 14. Juni 1935 entließ Cárdenas in einem ersten Befreiungsschlag dieses Kabinett, um drei Tage später sein neues vorzustellen.122 Cárdenas fehlte außerdem auch noch die Kontrolle über die Bundesstaaten (cf. Tobler 1992, 572), was sich dringend ändern musste. Calles wollte auf seine Macht nicht verzichten und fand so stets neue Gründe, Cárdenas zu kritisieren, um diesen öffentlich in die Schranken zu weisen, damit er nicht zu mächtig werden würde. So kritisierte er Cárdenas immer vehementer wegen dessen Arbeiterpolitik. Er prangerte die Zunahme an Streiks an und hielt die einst beschlossene Agrarreform für im Grunde obsolet. Calles behauptete sogar, dass er von Cárdenas aufgefordert worden sei, sich gegen die Streikaktivitäten der Gewerkschaften auszusprechen, damit dieser selbst dann als Held der Arbeiter dastünde (cf. Eickhoff 1999, 58). Cárdenas hingegen betrieb anfänglich ohnedies die Politik seines Mentors Calles. Sowohl der PNR als auch der Sechsjahresplan mussten ja Callesʼ Wohlwollen haben, um bis dahin überhaupt bestehen zu können. Tatsache ist auch, dass Cárdenas selbst ebenso wie Calles den allzu großen Streikaktivitäten skeptisch gegenüberstand. Offiziell hingegen hielt er die Streiks allerdings nicht nur für legitim, sondern er befeuerte sie sogar, wodurch er seine Unterstützung in der Arbeiterschaft massiv ausbauen konnte. Calles erklärte schließlich aber die revolutionäre Agrarreform, die aus Cárdenasʼ Sicht ein, wenn nicht überhaupt das zentrale Anliegen der Revolution war, als Fehler und deren bisherige Ergebnisse als Misserfolg (cf. Knight 1990, 9ff.), weshalb Cárdenas in Calles immer mehr einen für sich selbst und für das Land gefährlichen Konterrevolutionär sah (cf. Córdova 1997 [1974], 41), den es loszuwerden galt, um nicht selbst unterzugehen.123 Vicente Toledano Lombardo, der 1923 in die CROM aufgenommen wurde, die er allerdings 1932 wieder verließ und 1936 die Confederación de Trabajadores de México (CTM) gründete, zeichnete ein immer düstereres Bild einer callistischen Verschwörung. Die Callisten hätten sich mit dem Klerus, der Industrie und den Großgrundbesitzern verbündet, weshalb den Arbeitern und Bauern große Gefahr drohte. Er forderte, dass die Gewerkschaften geschlossen hinter Cárdenas stehen müssten, um dem callistischen Imperialismus Einhalt zu gebieten (cf. Eickhoff 1999, 68ff.). Anfang April 1936 explodierte eine Bombe im Zug von Mexiko-Stadt nach Veracruz. Umgehend wurde Calles beschuldigt, Drahtzieher dieses Attentats gewesen zu sein, das viele Menschenleben gefordert hatte. Durch diesen dramatischen Vorfall
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Calles wusste sich der Presse geschickt zu bedienen, um für sich und gegen Cárdenas Stimmung zu machen. Cárdenas brachte kurzerhand das bis dahin private Monopol der Papiererzeugung für die Presse unter staatliche Hoheit. Somit kontrollierte er auch die Presse, woraufhin die Meldungen über Calles immer spärlicher und kürzer wurden (cf. Eickhoff 1999, 54ff.). Siehe hierzu die Analyse der Rede Cárdenasʼ im Kapitel 6.
3. Die politisch-historische Dimension
bekam nun jedenfalls auch Cárdenas die Chance, offen gegen Calles vorzugehen, um ihn letztendlich loszuwerden. Calles, Morones und den restlichen führenden Callisten blieb schließlich nichts mehr anderes übrig, als noch im selben Monat das Land zu verlassen (cf. Eickhoff 1999, 69ff.; Ianni 1977, 49ff.; Knight 1990, 18ff.; Maihold 2010, 245). Nach der Säuberung des Landes von Calles und den Callisten wurde es für Cárdenas wesentlich einfacher, die gesellschaftlichen und politischen Strukturen im Lande aufbzw. umzubauen und zu konsolidieren sowie die Massen zu organisieren. Die Gewerkschaften sind die wichtigste Waffe der Arbeiter (cf. Medin 2003 [1973], 59) und im Idealfall auch der Bauern. Durch die gewerkschaftliche Organisation der Arbeiter und/oder Bauern bietet sich aber auch dem geschickt manövrierenden Staat eine große Chance, nämlich die, auf die Arbeiter und/oder Bauern direkt zugreifen zu können, um diese zu lenken. Ist allerdings die gewerkschaftliche Landschaft zersplittert, so wird der staatliche Zugriff bzw. die staatliche Lenkung der entsprechenden Massenorganisationen erschwert oder sogar unmöglich. Sind die Massenorganisationen andererseits aber zu monolithisch, so wird zum einen der Zugriff auf die Einzelorganisationen als Teilkomponenten des großen Ganzen schwierig, zum anderen besteht aber auch die Gefahr, dass sich die Massenorganisation emanzipiert und verselbständigt und so für den Staat sogar unberechenbar wird. Die Massenorganisation ist also einerseits für die Konsolidierung des Staates unerlässlich, andererseits entpuppt sie sich aber als sensible Gratwanderung zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig. Sowohl das eine als auch das andere können für die Konsolidierung der staatlichen Strukturen gefährlich sein. In diesem Sinne ist die Frage der gewerkschaftlichen Organisation für den ersten Zweijahresabschnitt der cardenistischen Präsidentschaft ganz zentral, weshalb sie genauer zu beleuchten ist. Die wichtigsten Gewerkschaften vor Cárdenasʼ Präsidentschaft waren, wie oben erwähnt, die 1918 gegründete Confederación Regional de Obreros Mexicanos (CROM), die 1921 gegründete Confederación General de Trabajadores (CGT) und die 1929 gegründete Confederación Sindical Unitaria de México (CSUM) (cf. Dios González Ibarra 1988, 61). Bereits Ende der zwanziger Jahre zeigte die CROM infolge ideologischer Spannungen massive interne Strukturprobleme, weshalb sich auch schon bald Zerfallserscheinungen abzeichneten.124 1933 kam es tatsächlich zu einer Spaltung. Um Luis Morones formierte sich das konservative Lager, Vicente Lombardo Toledano hingegen führte den linken Flügel an, der noch im selben Jahr die Confederación General de Obreros y Campesinos Mexicanos (CGOCM) hervorbrachte und dieser schloss sich bald die Mehrheit der Einzelgewerkschaften der sich in Auflösung befindlichen Confederación Regional de Obreros Mexicanos (CROM) an (cf. Knight 1990, 14ff.; León y González 2010, 41). Die CGOCM entwickelte sich zu einer sehr engagierten Gewerkschaft. Im Bewusstsein ihrer gesellschaftlichen Verantwortung suchte sie anfangs auch klare Distanz zu Cárdenas und dessen Regierung. Nachdem sich jedoch Calles immer deutlicher gegen die gewerkschaftlichen Aktivitäten aussprach und zusehends in das rechte bis rechtsextreme Lager abdriftete, be-
124 Ein massives Problem war für viele cromistas, dass der CROM nun auch Revolutionsoligarchen angehörten (cf. Medin 2003 [1973], 75), die sich auf Kosten der Bauern selbst bereichert hatten. Dies war für viele geradezu ein Verrat an der Revolution. Außerdem wurde die CROM ja immer wieder beschuldigt, für die Ermordung Obregóns zumindest mitverantwortlich gewesen zu sein.
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trachtete es die CGOCM schließlich aber sogar als ihre vorrangige Aufgabe, Cárdenas zu unterstützen. In dieser bedrohlichen Lage schlossen sich die wichtigsten Gewerkschaften mit der CGOCM in einem Comité Nacional de Defensa Proletaria zusammen. Vom 26. bis 29. Februar 1936 wurde ein konstituierender Kongress abgehalten, auf dem 4.000 Gesandte 600.000 Arbeiter vertraten (cf. Medin 2003 [1973], 77). Das Comité Nacional de Defensa Proletaria brachte kurz darauf den neuen Gewerkschaftsdachverband Confederación de Trabajadores de México (CTM) hervor (Knight 1990, 36; Tobler 1992, 576ff.), dem sich dann aber weder die CROM noch die CGT anschloss (cf. Medin 2003 [1973], 77). Die CTM forderte beharrlich eine einzige repräsentative Organisation und dies nicht nur für alle Arbeiter, sondern für alle Arbeiter und Bauern. Cárdenas selbst erlaubte aber weder den Bauern noch den Beamten, sich gewerkschaftlich in die CTM einzugliedern (Knight 1990, 37; Medin 2003 [1973], 85). Dieser Fall illustriert zum einen die oben erwähnte schwierige Gratwanderung zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig an Massenorganisation, zum anderen zeigt sich hier aber zugleich Cárdenasʼ Sorge, der absoluten Loyalität der Bauern verlustig zu gehen, sobald diese nämlich in einem größeren Verband möglicherweise auch auf andere, nicht regierungsfreundliche Gedanken kämen. Dass Cárdenasʼ Sorge nicht unberechtigt war, erkennt man am wachsenden Machtstreben Lombardo Toledanos. Lombardo Toledano hatte gar nicht vor, sich damit zu begnügen, dass die CTM auf unabhängige Weise alle Arbeitnehmer vertreten würde. Er wollte aus der CTM einen Machtfaktor auf nationaler Ebene machen. Cárdenas aber hatte die Strategie wohl durchschaut und erstickte die sich bislang nur schemenhaft abzeichnende Gefahr durch seine regulierenden und beschneidenden Schachzüge im Keim (cf. Knight 1990, 37ff.; Medin 2003 [1973], 81ff.). Im November 1926 wurde für die armen Bauern die Liga Nacional Campesina (LNC) ins Leben gerufen. Sie vertrat allerdings eine sehr radikale Linie (cf. Tobler 1992, 551), weshalb es auch schon bald zu einem Riss in der Organisation kam. Ab 1933 hatten sich die Bauern dann entweder für die oben genannte Confederación General de Obreros y Campesinos Mexicanos (CGOCM) oder für die Confederación Campesina Mexicana (CCM) zu entscheiden, die wie die CGOCM 1933 gegründet wurde.125 Während die CGOCM Cárdenas zunächst sehr skeptisch gegenüberstand, wurde er von der CCM hingegen seit deren Anfang entschlossen unterstützt (Medin 2003 [1973], 89ff.). 1934 wurde dann der Departamento de Asuntos Agrarios y Colonización für die weitere Zentralisierung der für den agrarischen Bereich zu treffenden Entscheidungen eingerichtet (cf. Ianni 1977, 88; Mirón Lince 6 2005, 242). Ab 1938 gab es schließlich als tragfähige und repräsentative Organisation für die Bauern die Confederación Nacional Campesina (CNC). Cárdenas untersagte aber die Verschmelzung von CTM und CNC. Die CTM wäre wohl sehr mächtig geworden, was zu den bekannten Risiken hätte führen können. Die Bauern als treue Unterstützer der Cárdenas-Regierung sollten andererseits keinesfalls durch irgendwelche Arbeiterideen korrumpiert werden. Erneut zeigte sich, wie schwer es war, das rechte Maß an Massenorganisation zu treffen (cf. Ianni 1977, 49ff.; Medin 2003 [1973], 95ff.; Tobler 1992, 378). Nach der Stabilisierung des Systems und der möglichst guten Organisation der Arbeiter und Bauern im ersten Drittel von Cárdenasʼ Präsidentschaft 125
Mirón Lince (6 2005, 244) spricht davon, dass die Regierung das Land erobert hatte, wodurch die Bauern endgültig zum Werkzeug der Regierung wurden.
3. Die politisch-historische Dimension
sollten im zweiten Drittel derselben die wirklich tiefgreifenden Reformen im agrarischen Bereich, in der Industrie und auch in der Erziehung durchgeführt werden, was jetzt genauer zu betrachten ist. Cárdenasʼ dringlichstes Anliegen war wohl von Anfang an, ganz besonders aber von 1936 bis 1938 (cf. Knight 1990, 18), die Agrarreform im Sinne der Schaffung von ejidos für individuelle, doch vor allem für kollektive Nutzung (cf. Benítez 2004 [1978], 60ff.). Dabei ging es allerdings nicht nur um eine gerechtere Landaufteilung, sondern gleichwohl um die Bereitstellung der Infrastruktur im weitesten Sinn, die notwendig war, um den Boden überhaupt nutzen zu können (cf. Maihold 2010, 253ff.). Dazu gehörten Straßen, Eisenbahnen und Bewässerungsanlagen genauso wie der Zugang zu Krediten. Die erste spektakuläre, weil wirklich große Landreform unter Cárdenas war die LagunaEnteignung 1936. Drei Viertel des bewässerten und ein Viertel des nicht bewässerten Bodens des besagten Gebietes wurden in 300 ejidos colectivos aufgeteilt und dann 30.000 campesinos zugewiesen. Enteignet wurden vor allem ausländische Unternehmen, aber auch neureiche Generäle. Die campesinos teilten sich Grund und Boden, benutzten gemeinschaftlich die Geräte und erhielten im Kollektiv Kredite. Auf den ejidos colectivos gab es dann noch Schulen, Gesundheitseinrichtungen sowie Erholungsmöglichkeiten für die campesinos (cf. Knight 1990, 21ff.).126 Ein paar Zahlen geben Aufschluss über die Dimension der cardenistischen Agrarreform: 1930 waren 13,4 % allen Ackerlandes ejido-Land, 1940 waren es 47,7 % (cf. Ianni 1977, 92ff.; Knight 1990, 20; Tobler 1992, 587; 1996, 312). 1935 wurden 11 Millionen Hektar auf 7.049 ejidos aufgeteilt, 1940 waren es 27 Millionen Hektar, die auf 14.525 ejidos verteilt worden waren (cf. Maihold 2010, 255). Aus diesen Zahlen lässt sich auch schließen, dass die Größe der Parzellen beträchtlich zugenommen hatte. Auf Cárdenasʼ Initiative hin wurde im Februar 1937 ein Pakt zwischen dem PNR, der CTM, der CCM und der kommunistischen Partei geschlossen, was aber nur den Auftakt zur weiteren Institutionalisierung einer großen Massenorganisation bedeutete (cf. Medin 2003 [1973], 104ff.). Diese ließ dann auch nicht lange auf sich warten. Bereits 1938 wurde die Staatspartei Partido Nacional Revolucionario (PNR) zum Partido de la Revolución Mexicana (PRM).127 Bei der Namensänderung handelte es sich aber in der Tat nicht nur um eine kosmetische Operation an der Oberfläche, sondern es erfolgten ganz wesentliche strukturelle Veränderungen, indem nämlich die Massen zusehends in das Regime eingebunden wurden (cf. Tobler 1996, 314). Es wurden die Confederación de Trabajadores de México (CTM), die Gewerkschaft der campesinos, d.h. die Confederación Campesina Mexicana (CCM), aus der im selben Jahr noch die Confederación Nacional Campesina (CNC) wurde, das Militär sowie ein sogenannter sector popular, der die Beamten, Angestellten sowie Kleinunternehmer erfasste, in die Staatspartei integriert. Dieser Schritt der umfassenden Integration war wohl der Meilenstein in der Massenorganisation (cf. Eickhoff 1999, 74; Knight 1990, 50ff.). Worin lag nun aber der große Unterschied zwischen dem PNR und dem neuen PRM? Im PNR waren die Parteien und caudillos mehr oder weniger lose versammelt, während sich im neuen PRM alle durch die vier Sektoren 126 127
Insgesamt handelte es sich um ungefähr 500.000 Hektar Anbaugebiet in Coahuila und Durango (cf. Tobler 1992, 588). Ab 1946 hieß die Staatspartei dann Partido Revolucionario Institucional (PRI).
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Vertretenen, d.h. die CTM, die CNC, das Militär sowie der sector popular, der Staatsräson zu beugen hatten. Der PNR stammte aus callistischer Zeit und die Callisten waren ja gegen die cardenistischen Reformen. Sie hatten massive Vorbehalte gegenüber den Arbeitern und Bauern und stellten die Massenpolitik an sich in Frage (cf. Mirón Lince 6 2005, 259ff.). Im PNR ging es im Grunde noch um den Einzelnen, im PRM hingegen um die Massen (cf. Aibar 2009, 97). Die neue Partei hatte in erster Linie eine Integrationsfunktion. Die gesellschaftlichen Kräfte wurden integriert und durch diese Integration vor allem auch diszipliniert, was eine Hauptfunktion des korporatistischen Staates darstellt (cf. Ianni 1977, 43ff.). Auch die Unternehmer wurden organisiert. Ab 1936 mussten sie entweder Mitglied der Confederación de Cámaras Industriales (CONCAMIN) oder der Confederación de Cámaras Nacionales de Comercio (CONCANACO) sein, also entweder der Industrie- oder der Handelskammer (cf. Tobler 1996, 314). Das Ergebnis der Integration und Disziplinierung der vier Sektoren war offensichtlich eine erhebliche Machtkonzentration beim Präsidenten. Um jedoch zur Frage der wirtschaftlichen Reformen zurückzukehren, bleibt neben der bereits skizzierten Agrarreform vor allem noch die Verstaatlichung der Eisenbahn sowie die Enteignung der Petroindustrie zu beleuchten. Zwischen 1936 und 1938 kam es zu heftigen Protestaktionen und Streiks der Arbeiterschaft, bei denen für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne gekämpft wurde. Zu der Zeit sorgten außerdem noch die sinarquistas, eine kirchliche, antikommunistische und nationalistische Bewegung, die an die cristero-Bewegung anknüpfte, für Unruhe.128 Die Ruhe war aber bald wieder hergestellt (cf. Maihold 2010, 252). Am 18. Mai 1936 war es zum größten Eisenbahnerstreik überhaupt gekommen (cf. Medin 2003 [1973], 82) und am 24. Juni 1937 wurde die Eisenbahn verstaatlicht, was aber weit weniger Aufsehen erregte als die anschließende Enteignung der Petroindustrie (cf. González y González 1997, 149ff.). Die Verstaatlichung der Eisenbahn wurde damit gerechtfertigt, dass ihr optimales Funktionieren für den Fortschritt des Landes prioritär sei (cf. Ianni 1977, 35). Spektakulär war die staatliche Übernahme aber deshalb nicht, weil die Eisenbahn bereits seit 1908 im staatlichen Mehrheitsbesitz war (cf. Tobler 1996, 312). Außerdem waren ihre Instandhaltung und Sanierung sehr teuer, sie hatte hohe Schulden und war in einem sehr schlechten Zustand (cf. Knight 1990, 39). Die Eisenbahn war also durchaus keine unentwegt sprudelnde, vielversprechende Geldquelle wie etwa das Erdöl, das als nächstes verstaatlicht werden sollte. Die Verstaatlichung des Erdöls und der Petroindustrie war keineswegs von langer Hand geplant. Ausgelöst wurde der Konflikt zwischen der erdölfördernden bzw. -verarbeitenden Industrie und dem Staat durch Protestaktionen des Sindicato de Trabajadores Petroleros de la República Mexicana (STPRM), einer Gewerkschaft der CTM (cf. Gilly 2001 [1994], 57ff.; Maihold 2010, 253). Diese Gewerkschaft galt als besonders unabhängig. Sie verlangte die Mexikanisierung der Arbeiterschaft, die Besetzung wichtiger Stellen durch Gewerkschaftsmitglieder, höhere Löhne, bessere Sozialleistungen und eine 40-Stunden-Woche. Die Erdölin-
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Die Unión Nacional Sinarquista (UNS) entstand 1937 als katholische Massenbewegung, die die Revolution, den Liberalismus, den Sozialismus, den Klassenkampf, aber auch den Materialismus ablehnte und stattdessen Werte wie Religion, Familie, Privateigentum und soziale Solidarität hochhielt (cf. Knight 1990, 54).
3. Die politisch-historische Dimension
dustrie war zu 98 % in ausländischer Hand und diese ausländischen, in erster Linie USamerikanischen, aber auch britischen Unternehmen reagierten überhaupt nicht auf die gewerkschaftlichen Forderungen. Nun musste Mexiko reagieren. Man konnte entweder klein beigeben oder die Erdölindustrie vorübergehend übernehmen und als dritte Option blieb die sofortige Enteignung. Als die Unternehmen merkten, dass die Lage ernst wurde, schlugen sie einen Kompromiss vor, doch das war bereits zu spät. Am 18. März 1938 verkündete Cárdenas die Enteignung der ausländischen Erdölfirmen, die im Grunde ja bereits durch den Artikel 27 der Verfassung von 1917 vorgesehen war (cf. Gilly 2001 [1994], 141ff.; González y González 1997, 158ff.; Ianni 1977, 111; Knight 1990, 41ff.; Tobler 1992, 598). Im Lande erhielt Cárdenas für diesen gewagten Schritt breite Unterstützung und sogar euphorischen Applaus. Die US-amerikanischen und britischen Reaktionen fielen erwartungsgemäß anders aus. Die USA verlangten hohe Entschädigungen, die Mexiko nicht zahlen konnte und/oder wollte. Daraufhin bewerkstelligten die Vereinigten Staaten den Boykott des mexikanischen Erdölverkaufs auf dem internationalen Markt, blieben aber zumindest mit Mexiko in Kontakt. Großbritannien hingegen brach die Beziehungen zu Mexiko überhaupt ab. Angesichts des drohenden Krieges in Europa kam aber eine Intervention in Mexiko für keinen der Beteiligten in Frage, da man zu der Zeit alles andere als eine weitere offene Front brauchen konnte. In Mexiko wurden die staatliche Ölgesellschaft Petróleos Mexicanos (PEMEX) gegründet und die Erschließung weiterer Ölfelder vorbereitet. Entgegen der weitverbreiteten Erwartung schaffte es Mexiko, die Erdölindustrie ohne ausländische Hilfe souverän weiterzubetreiben. Allein, es fehlte der Absatzmarkt, weshalb vorübergehend sogar mit den Achsenmächten gehandelt wurde. Ein großer Teil des Erdöls wurde aber im Inland abgesetzt und trieb die eigene Entwicklung voran (cf. Knight 1990, 41ff.). Für Mexiko hatte die Verstaatlichung des Erdöls eine dreifache Bedeutung. Erstens wurde der Auftrag aus der Verfassung von 1917 erfüllt. Zweitens wurde ein deutliches Zeichen der Souveränität des Landes gesetzt und drittens floss Geld in die Staatskassen, das das Land dringend für die verschiedenen Sozialprojekte benötigte (cf. Aibar 2009, 136ff.). Verstaatlicht wurden auch andere Industriebetriebe, jedoch in wesentlich kleinerem Rahmen, weshalb darauf an dieser Stelle nicht näher eingegangen wird. Ein letzter wirklich bedeutender Reformbereich, der zumindest noch kurz beleuchtet werden muss, ist das Schulwesen. Unter Cárdenas wurden die Lehrer zu den neuen Aposteln der Revolution (cf. Eickhoff 1999, 46). Sie hatten viele Aufgaben zu übernehmen. Neben der Alphabetisierung sollten sie praktische Fähigkeiten vermitteln, besonders auch den Revolutionsgeist verbreiten und gegen Kapitalismus und Imperialismus ankämpfen.129 Allein die Alphabetisierung bedeutete aber schon Mexikanisierung, weil die mexikanische Kultur und Identität, die eigene Geschichte und das Nationalbewusstsein ja nur denjenigen verschriftlicht vermittelt werden, die des Lesens mächtig sind. In der cardenistischen Bildungsreform ging es vorrangig um die Schulen auf dem Land, wo die Bevölkerung so lange vernachlässigt worden war. Die Hochschulen hingegen wertete Cárdenas prinzipiell als
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Bereits Ende 1934 zogen 50.000 Menschen durch die Straßen von Mexiko-Stadt, um für eine sozialistische Erziehung zu demonstrieren. Dies wurde allerdings von der breiten Öffentlichkeit nicht geschätzt, sondern als eine unerwünschte, aufgesetzte und sogar blasphemische Aktion verurteilt (cf. Knight 1990, 29).
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Bastion der privilegierten Mittel- und Oberschicht (cf. Knight 1990, 28ff.). Durch die Ausweitung der Schulbildung sollte ein weiteres Revolutionsideal verwirklicht werden (cf. Meade 2010, 204). Dementsprechend musste der Unterricht allgemein zugänglich, laizistisch und demokratiefördernd sein. Folgende Zahlen illustrieren wiederum den ideologischen Wandel hinsichtlich der Schulen: 1930 wurden 11,2 % des Staatshaushaltes für Bildung ausgegeben, 1940 waren es 16,5 %. 1935 gab es 31.000 Lehrer und 1.511.000 Schüler, 1940 gab es 40.000 Lehrer und 2.112.000 Schüler. Eine wichtige Funktion der Schule war die Integration. Zum einen ging es darum, wie oben dargestellt, die campesinos in die mexikanische Gesellschaft zu integrieren, zum anderen sollten vor allem auch die Indigenen ein integraler Bestandteil der Gesellschaft werden (cf. Ianni 1977, 96ff.). Die Indigenen, deren sozio-ökonomische Lage erbärmlich war, sollten keine separate Sonderbehandlung erfahren, sondern ganz im Gegenteil in der mexikanischen Gesamtheit geschützt und gefördert werden, ohne jedoch Gefahr zu laufen, ihre ureigene Identität zu verlieren (cf. Medin 2003 [1973], 61). Nach der Machtkonsolidierung, der Massenorganisation und den tiefgreifenden Reformen im landwirtschaftlichen, industriellen und bildungspolitischen Bereich hatte Cárdenas, wie oben skizziert, quasi ein neues Mexiko, einen nuevo Estado (cf. Mirón Lince 6 2005, 247) geschaffen, der sich sehr deutlich von dem unterschied, den er übernommen hatte. Es war ihm gelungen, die Wurzeln des alten Regimes auszureißen, die wirtschaftliche Struktur des 19. Jahrhunderts auszumerzen und dadurch Mexiko zwar auf der Grundlage der gewachsenen kulturellen Identität, aber doch neu zu erfinden (cf. Durán 2000 [1972], 11). Wie allerdings oben angeklungen ist, verstärkte sich gegen Ende der cardenistischen Präsidentschaft der Widerstand gegen all diese Neuerungen und Reformen. Besonders deutlich zeigte sich der Widerstand nach der oben beschriebenen Verstaatlichung der Ölfirmen, die tatsächlich das Ende der reformorientierten Phase der Revolution bedeutete (cf. Bernecker/Pietschmann/Tobler 2 2016, 298). Der Widerstand gegen Cárdenas wuchs bei den Revolutionsveteranen, bei der Confederación de la Clase Media, bei der Acción Revolucionaria Mexicana, beim Partido Socialdemócrata, bei der Confederación de Partidos Independientes, bei der Asociación Española Anticomunista y Antieuropea de México sowie beim Militär. Man hatte einerseits Angst vor den wirtschaftlichen Folgen des Boykotts, andererseits aber auch vor weiteren sozialistischen Reformen. 1938 kam es unter General Saturnino Cedillo dann noch zu einem Aufstand gegen Cárdenas, dem einerseits vorgeworfen wurde, durch seine Agrarreform die wahren Revolutionsideale verraten und andererseits die Religionsfreiheit aufgegeben zu haben. Die Arbeiter und Bauern blieben Cárdenas aber treu, weshalb der Aufstand binnen kürzester Zeit niedergeschlagen wurde (cf. Mirón Lince 6 2005, 255ff.). Cedillo wurde 1939 von den Regierungstruppen erschossen (cf. Tobler 1992, 600). Es wurde aber immer deutlicher, dass sich die Stimmung im Lande allmählich änderte. Die Beziehungen zu den USA entspannten sich und 1938 wurde sogar ein Vertrag über Entschädigungen unterzeichnet (cf. Ianni 1977, 90). Auch die sozialistische Erziehung konnte die kapitalistische Gesellschaft nicht nachhaltig verändern. So wurden ab 1938 als ideologisch linksradikal gewertete Unterrichtsmaterialien eingezogen und auch die Privatschulen waren wieder im Kommen (cf. Knight 1990, 34). Die Landenteignungen im großen Stil à la Laguna waren ebenso Geschichte. Wirtschaftlich zeichnete sich zudem ein Umschwung ab. Inflation und Preise waren wieder im Steigen begriffen und allmählich flaute nun auch
3. Die politisch-historische Dimension
das Engagement der Arbeiter für Cárdenas ab. Die konservative und katholische Opposition gewann neuerlich an Einfluss, die Streiks nahmen wieder allerorts zu. 1940 war es bereits so, dass sich viele Arbeiter nach Alternativen zu Cárdenas umsahen (cf. Knight 1990, 51ff.). Am 7. Juli 1940 kam es zu Neuwahlen. Francisco Múgica schien der logische Nachfolger von Cárdenas. Es kam aber anders, denn Präsident wurde der gemäßigte Manuel Ávila Camacho, der beispielsweise auf die Frage nach seiner Haltung zur Kirche knapp antwortete: Yo soy creyente, was ein richtungsweisendes Signal sein sollte.
3.3.1.3
Das Wesen des Cardenismus
Im ersten Teil dieses Kapitels wurde gezeigt, auf welche Weise extrem turbulente, ja geradezu mörderische Zeiten Cárdenas den Weg bereitet hatten. Im zweiten Abschnitt wurde Cárdenasʼ Präsidentschaft nachgezeichnet, und zwar indem diese als Abfolge von drei zeitlich ungefähr gleich großen aufeinanderfolgenden Perioden in Blick genommen wurde, wobei die Grenzen zwischen den Abschnitten natürlich fließend sind. Im dritten Teil dieses Kapitels geht es wieder darum, aus dem Gesagten, aber auch aus weiteren Quellen herzuleiten, wofür Cárdenas nun letztendlich steht und was den Cardenismus ausmachte. Es wird erstens ein Blick auf Cárdenasʼ Kindheit und Jugend zu werfen sein. Zweitens wird der Erfahrungsschatz des politischen shooting stars als Kapital für seinen Werdegang zu betrachten sein. Drittens werden wir Cárdenas unter dem Aspekt des Revolutionärs und Großreformers Revue passieren lassen und viertens wird der organische Staat noch einmal als Ergebnis tiefgreifender Reformen beleuchtet werden. Fünftens werden wir Cárdenas in seiner Rolle als Tata Lázaro betrachten, sechstens auf die Frage nach einem dritten Weg in Mexiko eingehen und siebentens wiederum die Frage nach dem Mythos Cárdenas stellen. 3.3.1.3.1 Eine Kindheit um die Jahrhundertwende in Jiquilpan, Michoacán Lázaro Cárdenas wurde am 21. Mai 1895 im sehr ländlichen Jiquilpan de Juárez, Michoacán, geboren. Er besuchte dort nur wenige Jahre die Grundschule, bevor er in verschiedene Dienste eintrat. Es war allerdings bereits ein Privileg, überhaupt zur Schule gehen zu können, da nicht einmal die Kinder der freien, geschweige denn jene der abhängigen Bauern jemals die Gelegenheit dazu hatten (cf. Krauze 2002 [1987], 7; Townsend 1979, 14). Lázaros Lehrer Fajardo unterrichtete für ein äußerst bescheidenes Gehalt 300 Kinder in vier Klassen. Er verstand es offensichtlich sehr gut, den Kindern die Faszination der mexikanischen Geschichte zu vermitteln und sie auf diese Weise stolz darauf zu machen. Außerdem brachte er ihnen die Wunder der Natur näher, was bei den Kindern Freude und Neugierde auslöste. Fajardo war nicht antiklerikal, aber er ersetzte dennoch die Heiligen durch die Helden der mexikanischen Geschichte, wie es so schön heißt (cf. Benítez 1996 [1977], 17). Zunächst half Lázaro seinem Großvater auf den Feldern und Äckern und bekam auf diese Weise sehr früh einen Einblick in das harte Leben der campesinos. In den ländlichen Gegenden war man damals sehr religiös, was auch auf Jiquilpan zutraf. In Lázaros Fall war es allerdings in erster Linie die Mutter, Doña Felicitas, die praktizierende Katholikin war. Lázaros Vater, Don Dámaso, war ein durch und durch Liberaler, der für seinen Sohn keinesfalls eine geistliche Laufbahn
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ins Auge gefasst hätte. Lázaro erlebte aus diesem Grund von Anfang an die Spannung zwischen einerseits Religiosität und Klerikalismus und andererseits antiklerikalem Laizismus (cf. Benítez 1996 [1977], 14ff.). 1909 begann Lázaro in einem lokalen Steueramt, einer Oficina de Rentas, als Schreibkraft zu arbeiten, wenig später als Lehrling in der Druckerei La Económica. 1913 erreichte die Revolution auch Jiquilpan, was alles veränderte. In der Druckerei La Económica waren Plakate gedruckt worden, die zum Widerstand gegen Huerta aufriefen. Als die Huertisten darauf stießen, konfiszierten sie alles politisch Einschlägige und verbrannten das Archiv. Für Lázaro war es nun höchste Zeit, die Flucht zu ergreifen (León y González 2010, 15ff.). Lázaro hatte durch seinen Großvater sehr früh gelernt, was es bedeutete, in einer sehr kargen Gegend campesino zu sein. Er hatte erfahren, dass der auch noch so bescheidene Schulbesuch schon ein Privileg war, das der großen Menge der Kinder der peones vorenthalten blieb. Er spürte sehr früh die Spannungen zwischen Klerikalismus und Laizismus und musste auch da seinen eigenen Weg finden. Als dann noch die Huertisten die Druckerei stürmten, in der er seine Lehre absolvierte, war er irgendwie auch noch in den Bürgerkrieg hineingezogen worden, woraufhin er sich dann aber ganz bewusst auf den Weg zur Revolution machte. 3.3.1.3.2 Der Erfahrungsschatz des politischen shooting stars Im Juli 1913 nahm General Guillermo García Aragón Lázaro Cárdenas in seine Dienste und betraute ihn zunächst mit seiner Korrespondenz. Cárdenasʼ erste militärische Erfahrungen gegen Huertas Truppen waren allerdings ernüchternd, weshalb er erneut untertauchen musste, doch bereits im Sommer 1914 schloss er sich wieder den konstitutionalistischen Truppen an. Schon bald wurde Cárdenas zum Major befördert. Nach der oben beschriebenen Spaltung der siegreichen Truppen in Konstitutionalisten und Konventionisten schloss sich Cárdenas Obregón und Carranza an und wurde nach Sonora verlegt, wo Calles gerade gegen die Villisten kämpfte, um Agua Prieta zu verteidigen. Bei dieser Gelegenheit lernte Cárdenas, der mittlerweile zum Oberst befördert worden war, seinen zukünftigen Mentor General Plutarco Elías Calles kennen. 1920 erhob sich Agua Prieta gegen Carranza und Cárdenas zog als Anführer der ersten Brigade von Sonora los, um sich an der Niederschlagung jener Militärerhebung zu beteiligen. Zur Belohnung wurde er bereits mit 25 Jahren zum Brigadegeneral befördert. 1928 wurde er bereits Divisionsgeneral und war somit in den höchsten mexikanischen Dienstgrad befördert worden (cf. Tobler 1992, 569ff.). Cárdenas hatte also im Militär schon in sehr jungen Jahren eine steile Karriere gemacht. Dies waren zweifellos äußerst wertvolle Erfahrungen für seine politische Zukunft. Besonders wichtig waren diese Erfahrungen aber für den zukünftigen Gouverneur und Präsidenten vor allem insofern, als er bestens im Militär vernetzt war (cf. Aibar 2009, 96). Der zweite Bereich, in dem Cárdenas unbezahlbare Erfahrungen für seine Präsidentschaft sammeln konnte, war das Experiment Michoacán. Von 1928 bis 1932 war er nämlich Gouverneur von Michoacán und konnte so politisch und wirtschaftlich experimentieren. Cárdenas war ein radikaler Gouverneur, der viele Ämter innehatte (cf. Knight 1990, 11). Zunächst einmal war er jedoch mit der Misere des Landes konfrontiert, was ihm massiven Auftrieb gab, die Revolutionsideale endlich umzusetzen. Bald war Cárdenas klar, dass alles mit der Mobilisierung der Ar-
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beiterschaft beginnen musste (cf. Córdova 1997 [1974], 63) und so wurde bereits 1929 die Confederación Revolucionaria Michoacana del Trabajo gegründet (cf. León y González 2010, 20). In seiner Zeit als Gouverneur von Michoacán wurden 141.663 ejidatarios mit Land versorgt, die Infrastruktur und das Verkehrsnetz ausgebaut, Schulen im ganzen Bundesstaat errichtet und mit der Kirche wurden Kompromisse gesucht (cf. Aibar 2009, 90ff.). Cárdenas versuchte die hacendados in die Reformen einzubinden und mit den cristeros Verhandlungen zu führen. Die Agrar-, Sozial- und Bildungspolitik, die Cárdenas in Michoacán umsetzte, war außergewöhnlich, mutig und kühn. Doch sie war erfolgreich und sollte Cárdenas künftig in seiner Präsidentschaft eine Orientierungshilfe sein. Der dritte Bereich, der sich für Cárdenas als extrem lehrreich herausstellte, war seine Wahlkampagne vor der Präsidentschaftswahl, worauf oben schon hingewiesen wurde. Jene Wahlkampagne erlaubte Cárdenas, Einblicke in die verborgensten Winkel des Landes zu gewinnen. Hierbei wurde ihm eine Realität vor Augen geführt, die er ohne den zurückgelegten Wahlkampfmarathon nie entdeckt hätte und die es für ihn in der Zeit seiner Präsidentschaft dringend zu verändern galt. 3.3.1.3.3 Lázaro Cárdenas – der Revolutionär und Großreformer Die mexikanische Revolution, wie sie im ersten Abschnitt dieses Kapitels skizziert wurde, ist auch die Geschichte einer Million Toter (cf. Aibar 2009, 157). Mit Calles und dann speziell mit Cárdenas hat die Revolution eine neue Wendung genommen, weshalb man diese Zeit auch als die reformorientierte Phase der mexikanischen Revolution bezeichnet. Knight (1990, 7) wertet die cardenistische Zeit als »radical nationalist project which fundamentally affected Mexican society, and which represented the last, great reforming phase of the Mexican Revolution«. Die Revolutionsideale, die ja bereits in die Verfassung von 1917 eingeschrieben worden waren, hatten für Cárdenas einen sehr hohen Stellenwert, weshalb er alles daran setzte, diese zu verwirklichen. Auch nación und patria waren für Cárdenasʼ ideologische Grundkonzeption von fundamentaler Bedeutung. Die Souveränität des Landes war für ihn zweifellos sehr wichtig. Das internationale standing des Landes war aber nicht wichtiger als die nationale Befindlichkeit. In diesem Sinne erklärte Cárdenas: »La patria no es una simple eclosión de entusiasmo, sino más bien, y sobre todo, el disfrute en común de las riquezas de un territorio« (Cárdenas in Medin 2003 [1973], 53-54; Muñoz 1976, 12). Er lehnte den Liberalismus ab, weil dieser den individualistischen Egoismus und die Machtkonzentration befördere und befürwortete hingegen den Staatsinterventionismus. Dieser hätte dafür Sorge zu tragen, dass Erträge, Gewinne und alle erdenklichen Leistungen allen zugutekämen. Dies wurde in den oben bereits relativ ausführlich dargestellten Reformen im Agrarbereich, in der Industrie und in der Bildung deutlich. Durch das ejido-System wurden die ejidatarios zwar Besitzer, ohne jedoch Eigentümer zu sein. Das verstaatlichte Erdöl wurde zunächst für die Verbesserung der Sozialleistungen für alle verwendet und der Schulbesuch musste ebenso für alle möglich sein. Cárdenasʼ Reformen als Formen der Revolution kamen sämtlich von oben. Wären sie nicht von oben gekommen, wären die Widerstände unüberwindbar gewesen. Zudem fehlte dem Volk wohl die nötige Erfahrung, um von sich aus organisiert und erfolgreich für die eigenen Rechte zu kämpfen. Die zwangsweise Organisation der Massen war gemäß Cárdenasʼ Überzeugung die unerlässliche
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Voraussetzung für deren wirtschaftliche Besserstellung. »Política y economía deben ser una y misma cosa«, erklärte Cárdenas, womit er genau das ausdrückte (Cárdenas in Medin 2003 [1973], 56). Die Revolution war für Cárdenas ein mexikanisches Gemeinschaftsprojekt, in dem es viele Reformen durchzuführen galt und das daher Jahre dauern musste. Vor dem Parteitag in Querétaro erklärte er am 5. Dezember 1933: »La Revolución y las instituciones de ella emanadas, son obra de las distintas generaciones que en 1910 sacudieron la dictadura de treinta años; que en 1913 reivindicaron la soberanía nacional e iniciaron las reformas sociales, y que en 1928 instauraron el régimen institucional a cuyo influjo estamos aquí reunidos« (Cárdenas in Muñoz 1976, 14). Eine, wenn nicht die Hauptfunktion der Regierung sah Cárdenas dementsprechend in der »función unitaria en la que deben aunarse cabalmente los recursos humanos del país, particularmente los obrero-campesinos, los representantes populares, los mandatarios locales y federales« (Cárdenas in Muñoz 1976, 18). Die Regierung habe die Gesellschaft zu reformieren, indem zunächst die Massen organisiert werden. Cárdenasʼ Rolle als Revolutionär war nicht mehr die, mit dem Schwert in die Schlacht zu ziehen, wiewohl er das auch noch in seiner Jugend tun musste, sondern durch viele tiefgreifende Reformen gegebene Strukturen zurückzurollen, um neu zu beginnen. Nichts anderes bedeutet revolutio. 3.3.1.3.4 Der organische Staat Der organische Staat ist zentral von oben organisiert und durchstrukturiert. Partikularinteressen und individuelle Ambitionen werden dem Wohl des Staates hintangestellt, weil das Wohl des Staates letztlich das Wohl aller bedeute. Der Staatsapparat verschmilzt mit der Partei und den Gewerkschaften. Die Revolutionspartei Partido Nacional Revolucionario (PNR) wurde 1938 zur umfassenden Staatspartei Partido de la Revolución Mexicana (PRM), die, wie oben ausgeführt, den Agrarsektor, den Industriesektor, das Militär und den sector popular umfasste. Die Massen wurden unter einem Dach vereinigt, um die Revolution, d.h. die Umsetzung der Revolutionsideale, zu fördern (cf. Córdova 1997 [1974], 49ff.). Durch die Organisation der Massen im Sinne des organischen Staates erhielten diese ein Gesicht und eine Stimme. Sie durften sich jedoch nicht der Macht ermächtigen. Der Präsident war stets darauf bedacht, diese nicht aus der Hand zu geben. Innerhalb der Staatspartei blieb den Sektoren eine gewisse Autonomie erhalten, wodurch andererseits der Zugriff auf sie erleichtert wurde. Die Klassen sollten jedenfalls in den Massen aufgehen (cf. Ianni 1977, 107ff.; Knight 1990, 50ff.; Mirón Lince 6 2005, 237ff.), so wie die Indigenen zumindest rechtlich in der Masse der Mexikaner aufgehen sollten. Sie durften nicht benachteiligt werden, sollten aber auch nicht durch irgendeinen Sonderstatus aus der Masse herausgehoben werden. Die Staatsorgane, die Partei und die Gesellschaft sollten aufs Engste miteinander verschränkt sein, wobei dem Staat die Rolle des líder de masas zufiel. Einerseits wurde die Gesellschaft verstaatlicht, andererseits wurde aber auch der Staat vergesellschaftet (cf. Aibar 2009, 130).130
130 Aibar (2009, 130) spricht von der estatización de la sociedad und von der societización del Estado.
3. Die politisch-historische Dimension
3.3.1.3.5 Tata Lázaro – der überzeugte Revolutionär, harte Arbeiter und gewiefte Politiker Wie oben beschrieben, war Cárdenas schon in frühen Lebensjahren von der Revolution überzeugt. Als Gouverneur von Michoacán konnte er dann bereits vor seiner Präsidentschaft erproben, wie die Revolutionsideale am besten umgesetzt werden können. Cárdenas war von Anfang an ein harter Arbeiter, der zielstrebig, hartnäckig und geradezu programmatisch sein Revolutionsprojekt anging (cf. Eickhoff 1999, 34). Aufgrund seines Engagements und seiner Kompetenz machte er, wie oben ausgeführt, schon früh Karriere im Militär (cf. Medin 2003 [1973], 54). Es war ihm dabei aber auch nachher wichtig, sich immer wieder als Erbe und Träger der Revolution zu präsentieren (cf. Ianni 1977, 25), was deutlich aus seiner Rhetorik herauszuhören ist. Cárdenas war ausgeglichen und überlegt, bescheiden und heiter, berechenbar und loyal, ehrlich und glaubwürdig (cf. Aibar 2009, 89; Knight 1990, 11), weshalb er in weiten Kreisen der Bevölkerung großes Vertrauen und hohes Ansehen genoss. Sowohl für viele Indigene als auch für viele mittellose Bauern war Cárdenas einfach Tata Lázaro, also auch er ein Vater der Armen und Benachteiligten. Er ging zu den Armen und Benachteiligten, hörte ihnen zu und schaffte es, ihnen ihre Würde wieder zurückzugeben (cf. Ianni 1977, 58; Mirón Lince 6 2005, 244). Cárdenas war aber nicht nur loyal und berechenbar, empathisch und bescheiden. Er wusste, wo seine Loyalität zu Calles ein Ende haben musste, um das Größere der Revolution nicht zu verraten. Calles hatte wohl auch nicht damit gerechnet, dass Cárdenas auf seine Anschuldigungen mit so schweren Geschützen auffahren, ihn letztlich zum Volksfeind erklären und des Landes verweisen würde. Cárdenas verstand es nebenbei auch sehr gut, bei aller ihm zugestandenen Ehrlichkeit geschickt die Karte des Mitfühlenden auszuspielen, um dafür Zuspruch und Unterstützung zu erhalten (cf. Eickhoff 1999, 74ff.). Aibar (2009, 102) spricht von Cárdenasʼ racionalidad instrumental, die in gewisser Hinsicht doch auch etwas von Verschlagenheit hatte. 3.3.1.3.6 Ein dritter Weg in Mexiko? Wenn von einem dritten Weg die Rede ist, dann werden ein erster und ein zweiter stillschweigend präsupponiert. Erneut bedarf es des historisch-politischen Kontexts, um zu wissen, welche Wege gemeint sind. Tatsächlich sind es wiederum der kapitalistischliberale und der sozialistisch-kommunistische. Weiter oben war wiederholt davon die Rede, dass Land enteignet und in ejidos umgewandelt wurde. Es wurde weiter die Verstaatlichung der Eisenbahn, diverser Industriebetriebe und vor allem jene der Petroindustrie behandelt. All das klingt doch irgendwie nach rigoros sozialistischen Maßnahmen. Aber der Schein trügt; denn all diese Unterfangen müssen differenziert und vor allem im Kontext gesehen werden. Dass Cárdenas angesichts unzähliger quasi versklavter, mittelloser Bauern die unermesslich großen Latifundien, auf denen sie gehalten wurden, auflöste, um diesen Bauern Grundstücke zur kollektiven Nutzung bereitzustellen, erinnert in erster Linie vielleicht eher an die Abschaffung der Sklaverei und an die Schaffung eines Mindestmaßes an sozialer Gerechtigkeit, zumal Cárdenas keineswegs beabsichtigte, das Privateigentum grundsätzlich abzuschaffen. Keinesfalls sollte der sowjetische Kommunismus, aber eben genauso wenig der klassische Liberalismus die sozioökonomische Matrix für das Land sein (cf. Maihold 2010, 244; Tobler 1996, 315).
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Der klassische Populismus Lateinamerikas
Es ging viel mehr darum, ein Gleichgewicht der Kräfte herzustellen (cf. Bernecker/Pietschmann/Tobler 2 2016, 298; Tobler 1992; 595). De facto gab es einen ökonomischen Pluralismus, der auch als socialismo mexicano (cf. Medin 2003 [1973], 60) bezeichnet wurde.131 Der Staat sollte nicht für eine Klasse regieren, für welche auch immer, sondern für die ganze Nation in ihrer Komplexität (cf. Medin 2003 [1973], 81ff.). Cárdenas war ein glühender Verfechter des Antiimperialismus, aber auch des Panamerikanismus (cf. Maihold 2010, 256), vorausgesetzt, dass kein amerikanisches Land irgendwelche politischen, militärischen oder ökonomischen Interventions- oder Hegemoniebestrebungen im Schilde führte. Diese Einschränkungen zielten in erster Linie offensichtlich auf die USA ab. Cárdenasʼ Weg für Mexiko sollte sich tatsächlich an keinem europäischen Modell orientieren. Mexiko sollte seinen eigenen Weg gehen, auf dem durch den Staat eine mexikanische Nation entstehen sollte (cf. Aibar 2009, 43). 3.3.1.3.7 Der Mythos Cárdenas Lázaro Cárdenas ist als Befreier von ausländischen Herren im ökonomischen Sinn, als Kämpfer für soziale Gerechtigkeit und Schöpfer einer mexikanischen Nation in die (mexikanische) Geschichte eingegangen. Er setzte sich für Bildung an öffentlichen Schulen für alle ein und verhalf den Indigenen zu ihren Rechten. Er machte den US-amerikanischen und britischen Ölfirmen klar, wer in Mexiko das Sagen hatte. Seine Haltung den Latifundisten gegenüber war ebenso klar, wenngleich er diese nicht einfach eliminieren, sondern in den mexikanischen Evolutionsprozess einbinden wollte. Den Klerus, der in weiten Gebieten des streng katholischen Mexikos sehr viel Macht hatte, wies er ebenso in die Schranken, ohne ihm jedoch das Gespräch zu verweigern oder auf Kompromisse einzugehen. Persönliche Bereicherung lag ihm fern, Eitelkeiten kannte er nicht. Er lebte, was er predigte, und hatte Mexiko für immer verändert und so wurde er tatsächlich zu einem mexikanischen Mythos, wenngleich er gelegentlich als letzter Utopist Mexikos bezeichnet wird (cf. Maihold 2010, 240).
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Im Grunde wurde aber nicht der Kommunismus beflügelt, sondern doch viel eher ein gemäßigter Kapitalismus.
4. Die Frage des Populismus
Bevor wir uns dem klassischen Populismus Lateinamerikas im Speziellen zuwenden, wollen wir zunächst den in den letzten Jahren geradezu wieder in Mode gekommenen Begriff des Populismus im Allgemeinen näher betrachten und kritisch hinterfragen. Vorweg stellt sich gleich die ganz grundsätzliche Frage, was denn unter dem Phänomen Populismus eigentlich verstanden wird bzw. zu verstehen ist. Im Anschluss daran soll versucht werden, die tatsächlichen oder vermeintlichen Merkmale des Populismus zu erfassen. Auf die Frage Was ist Populismus? folgt also die Frage Wie ist der Populismus? In der Folge werden dann die Geschichte des Populismus nachgezeichnet und die Bedeutung der historischen Kontextualisierung der populistischen Etappen hervorgehoben und begründet, bevor im Anschluss daran auf den klassischen Populismus Lateinamerikas im Detail eingegangen wird. Am Ende dieses Kapitels, d.h. im Unterkapitel 4.5., werden Perón, Vargas und Cárdenas schließlich unter die Lupe des dann hoffentlich wohl erläuterten klassischen Populismus Lateinamerikas genommen.
4.1
Was ist Populismus?
Bereits Ende der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts fragten Ionescu/Gellner, ob man im Falle des Populismus überhaupt von einem einzelnen Phänomen sprechen könne (Ionescu/Gellner 1969; cf. Priester 2012, 33). Im viel zitierten Klassiker Populism aus dem Jahr 1981 resümierte dann die Autorin Margaret Canovan: One thing is certain: if the notion of ›populism‹ did not exist, no social scientist would deliberately invent it; the term is far too ambiguous for that. It would be far preferable to invent different words to describe the different phenomena included within it. However, the term does exist: there it is, firmly ensconced in a number of languages, constantly used by scholars and journalists alike. We cannot get rid of it […] (Canovan 1981, 301). Es sei überaus schwierig, den Populismus in einer einzigen konzeptuellen Kategorie unterzubringen und zu behandeln, denn, so Canovan (1981, 298), Populismen »are not just different varieties of the same kind of thing: they are in many cases different sorts
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Der klassische Populismus Lateinamerikas
of things, and not directly comparable at all«. Zu einem ähnlichen Schluss kamen 1984 Ian Roxborough (1984) und 1998 auch Jens Hentschke, der meinte »[…] unser Plädoyer geht vielmehr dahin, den Populismus-Begriff zu den Akten zu legen. Er ist, ähnlich wie ›Oligarchie‹ (Herrschaft der Wenigen) kein Explikandum, sondern nur ein untaugliches Vehikel zur Erfassung einer äußerst komplexen Situation, die jeweils in Raum und Zeit konkret-historisch beschrieben werden sollte« (Hentschke 1998, 8). Karin Priester (2007, 39) spricht von der Überdehnung des Populismusbegriffs und dies ist wohl tatsächlich eine Meinung, die im Großen und Ganzen alle Populismusforscher teilen. Insgesamt sei der Begriff, so das Fazit von Karin Priester, leer, schwammig, nichtssagend und trotz allem stark emotionalisiert (cf. Priester 2007, 12). Ernesto Laclau sieht es ähnlich, wenngleich er betont, dass zumindest intuitiv gewusst würde, wovon die Rede sei, wenn es um Populismus gehe.1 Pelinka (2012, 10) spricht vom naiven Verständnis von Volk, das dem Populismus zu eigen sei. Die Existenz des Volkes werde einfach vorausgesetzt. Sánchez Guerrero (2008) sieht den Populismus als ein Produkt der Krise, das sozialer, politischer oder wirtschaftlicher Natur sein könne, womit allerdings über das Wesen des Populismus noch nichts ausgesagt ist. Der Populismus trage die Krise aber auch in sich, so Sánchez Guerrero weiter, und zwar genau wegen des vagen und heterogenen Konzeptes, das auf den mangelnden ideologischen bzw. sogar theoretischen Unterbau zurückzuführen sei. Als Ausgangspunkt des Populismus macht er Emotion und Enthusiasmus aus, als Ersatz für eine Ideologie hingegen ein Konglomerat aus diskursiven Elementen (cf. Sánchez Guerrero 2008, 44ff.).2 Was immer wieder klar zum Ausdruck kommt, ist die große Bedeutung des historisch-politischen Kontexts, in dem der Populismus zu analysieren sei, und das ist auch schon der zweite Punkt, in dem weitgehend Konsens herrscht.3 Nur wenn gewährleistet ist, dass die entsprechenden politisch-historischen Rahmenbedingungen erfasst werden, können die Besonderheiten der einzelnen populistischen Phänomene richtig erkannt und interpretiert werden (cf. Aibar 2008, 25; Prado 1981, 11; Rolim Capelato 2001, 132).4
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»Populismo es un concepto a la vez elusivo y recurrente. Pocos conceptos han sido más ampliamente usados en el análisis político contemporáneo, y, sin embargo, pocos han sido definidos con menos precisión. Sabemos intuitivamente a qué nos referimos cuando calificamos de populista a un movimiento o a una ideología, pero encontramos las mayores dificultades en traducir dicha intuición en conceptos« (Laclau zit. in Sala de Touron 1983, 7). Was die Analyse des Populismus grundsätzlich anbelange, sei vorweg zwischen generalisierenden und partikularisierenden Studien zu unterscheiden. Bei generalisierenden Studien werden Gemeinsamkeiten der Populismen gesucht, bei partikularisierenden Untersuchungen geht es um Populismen als spezifische historische Phänomene in jeweils singulären Kontexten (cf. Rolim Capelato 2001, 139ff.). Rolim Capelato geht im Grunde insofern über die reine Unterscheidung zwischen generalisierenden und partikularisierenden Untersuchungen hinaus, als sie die Frage aufwirft, ob Populismus nun ein historisches Phänomen oder vielmehr eine analytische Kategorie sei (cf. Rolim Capelato 2001, 139ff.). Wir hatten in unseren Untersuchungen von Anfang an großen Wert genau darauf gelegt und deshalb die politisch-historische Analyse der für uns relevanten Jahrzehnte entsprechend breit angelegt, um dadurch einen möglichst umfassenden Einblick in Werden und Sein des Peronismus, Vargismus und Cardenismus zu gewähren. Auch Jan-Werner Müller betont die Unerlässlichkeit eines profunden Geschichtsverständnisses als Voraussetzung für eine seriöse Populismusanalyse (cf. Müller 2016, 15).
4. Die Frage des Populismus
Unbeantwortet bleibt allerdings nach wie vor die eingangs gestellte Frage, was denn nun Populismus überhaupt sei. Ist Populismus eine Form von Politik, ein Regierungsstil, eine Ideologie, ein Wirtschaftsprojekt, eine Art Diskurs (cf. Freidenberg 2007, 17)? Oder kann Populismus je nach Kontext das eine oder das andere oder beides oder vielleicht noch etwas ganz anderes sein?5 Nach Canovan (1981) gibt es keinen gemeinsamen Nenner für die unterschiedlichen Formen des Populismus, daher könne es auch nicht eine einzige Definition von Populismus geben (cf. Mackinnon/Petrone 1998, 41).6 Die große Gefahr beim Definitionsversuch von Populismus scheint der Zirkelschluss zu sein. Man zieht vermeintlich populistische Phänomene heran und erklärt anhand dieser, was Populismus nun wirklich sei. Dies impliziert jedoch, dass man a priori bereits weiß, was Populismus ist und dafür lediglich Bestätigungen sucht (cf. Laclau 2005; Taggart 2000).7 Ob Populismus nun tatsächlich entweder eine Form von Politik, ein Regierungsstil, eine Ideologie, ein Wirtschaftsprojekt, eine Art Diskurs oder vielleicht noch etwas ganz anderes ist, lässt sich nicht nach dem Kriterium der Ausschließlichkeit bestimmen.8 Das heißt, dass sowohl die Politik im Sinne von politischem Agieren ganz allgemein als auch ein Regierungsstil, eine Ideologie, ein Wirtschaftsprojekt sowie ein Diskurs populistisch sein können. Was das konkret bedeutet, wollen wir in der Folge erarbeiten. Allein schon definieren zu wollen, was Politik bedeutet, ist, wie sich bereits herausgestellt hat, ein schwieriges Unterfangen. Im eng(er)en Sinn geht es in der Politik, wie gesagt, darum, verbindliche Entscheidungen in Bezug auf Agenden aus dem Ge-
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Es gibt freilich noch andere Paletten an Phänomenen, die als Ausprägungen des Populismus gehandelt werden. Von Bedeutung ist etwa jene von Carlos de la Torre (2 2010, 2ff.): 1. Populismus als soziopolitische Mobilisierung, 2. als soziale Bewegung mehrerer Klassen, 3. als historische Phase, 4. als nationalistische Politik, 5. als politische Partei, 6. als politischer Diskurs, 7. als Versuch, die Modernisierung zu kontrollieren, 8. als politischer Stil. Weffort (1978) hingegen bringt den Populismus mit politischem Stil, mit Ideologie, mit sozialen Bewegungen, mit Entwicklungsphasen und mit neuen Varianten des Personalismus bzw. Caudillismus in Verbindung. Canovans grundsätzliche Unterscheidung zwischen agrarischem und politischem Populismus wurde außerdem wiederholt zu Recht kritisiert (Priester 2012, 33; Taggart 2000, 18). Es bleibt nämlich ungeklärt, inwiefern der agrarische Populismus ein apolitischer sein sollte. Auf die Anfänge des Populismus und somit auch auf den von Canovan angesprochenen agrarischen werden wir im Unterkapitel 4.3. über die Geschichte des Populismus zurückkommen. Panizza (2005, 2ff.) geht beispielsweise so vor und stellt drei Ansätze zur Diskussion, um dem Phänomen des Populismus näherzukommen: erstens empirische Untersuchungen zur Erfassung von Merkmalen zwecks Erstellung von Typologien; zweitens die historizistische Perspektive, die eine bestimmte Epoche als populistisch qualifiziert und drittens symptomatische Analysen. Hier wird allerdings a priori bereits gewusst, was Populismus ist, weshalb es sich dabei genau um den oben erwähnten Zirkelschluss handelt. Freidenberg (2007, 21ff.) nennt drei Strategien, um den Begriff Populismus zu erfassen: Akkumulation, Addition und Neudefinition. Im Falle der Akkumulation muss ein Phänomen eine Reihe vordefinierter Merkmale aufweisen, um als populistisch zu gelten. Der Additionsansatz sieht vor, dass nicht alle vordefinierten Merkmale gegeben sein müssen, damit ein Phänomen als populistisch anerkannt wird. Es ist dann eben, analog zur Prototypentheorie, mehr oder weniger populistisch. Als dritte Strategie zur Klärung des Populismusbegriffs schlägt sie eine Neudefinition desselben vor.
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meinwesen zu treffen. Der Bereich der Politik im eng(er)en Sinn ist also die (staatliche) Öffentlichkeit und diese gilt es zu gestalten.9 Die Frage, die sich in der Folge stellt, ist, wo oder wie Politik populistisch sein kann. Populistische Politik im weitesten Sinne muss jedenfalls auf irgendeine Weise die Macht des Volkes im Visier haben. Politik kann etwa als politische Praxis populistisch sein. In diesem Fall besteht der Populismus aus bestimmten politischen Strategien zum Zwecke der Manipulation. Das kann einerseits bedeuten, dass die Herrschenden das Volk als die Beherrschten manipulieren bzw. zu manipulieren versuchen, andererseits aber auch, dass die Beherrschten kollektiven Druck auf die Herrschenden ausüben (cf. Weffort in Mackinnon/Petrone 1998, 47ff.). Die Herrschenden nehmen zum Zweck des Machterhalts auf die Beherrschten Einfluss, die Beherrschten hingegen entwickeln Strategien, um diese Hegemoniebestrebungen zu unterlaufen (cf. Moscoso Perea 1990, 159ff.). Müller (2016, 13-14) fragt, ob der Populismus nicht sogar urdemokratisch sei, zumal die Populisten doch genau das ansprechen, was dem demos, dem Volk, wirklich am Herzen liege.10 Das Volk als Masse vermittelt so gesehen den Herrschenden unmittelbar, was es will, die Herrschenden hätten nur die Stimme des Volkes einzufangen und zu verstehen. – Populismus als politische Strategie ist auch die durchgängige Konstruktion des Anderen als Feind. Sowohl die Identität des eigenen Volkes als auch jene des feindlichen Anderen sind strategische Konstruktionen, die ein klares politisches Ziel verfolgen (cf. Panizza 2005, 3ff.), nämlich Abschottung gegen außen und Blickrichtung nach innen. Neben der politischen Praxis kann aber auch eine politische Bewegung populistisch sein (cf. Mudde/Rovira Kaltwasser 2012, 3ff.). Dies ist dann der Fall, wenn es darum geht, von oben die Massen in dem Sinne zu instrumentalisieren, dass eine Bewegung ausgelöst wird oder aber umgekehrt, wenn von unten die Masse in Bewegung Druck auf oben macht. Politik kann weiter insofern populistisch sein, als sie eine politische Logik verfolgt, der zufolge innerhalb der Gesellschaft diskursiv bzw. logisch-argumentativ zwei Blöcke konstruiert werden, die sich unversöhnlich gegenüberstehen und jeweils der eigenen Logik folgend danach trachten, das Gegenüber auszuschalten.11 So wie Populismus nicht pauschal mit Politik gleichgesetzt werden kann, ist Populismus auch kein Regierungsstil, wenngleich dieser populistische Züge annehmen kann, was etwa auf den Messianismus und den Caudillismus zutrifft, die gerade in Lateinamerika oft verschmelzen (cf. Malamud 2010, 97). Das Volk spielt in diesen beiden wieder die entscheidende Rolle. Ersterer gibt vor, das Volk vom Joch der Unterdrückung zu erlösen, letzterer beansprucht vor allem, dies gerade durch die ausgeprägte Führerschaft auch umsetzen zu können, was ein besonders typisches Merkmal des Populismus ist.12 Populismus kann also weder als Politik schlechthin noch als Regierungsstil definiert werden. In der Regel wird Populismus auch nicht als Ideologie verstanden, obwohl es
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Im Gegensatz dazu bezieht sich Politik im weit(er)en Sinn gemäß unseren Ausführungen in der Einleitung auf alles Zwischenmenschliche, das mit Macht, Einfluss und Kontrolle zu tun hat. Der Populismus ist in Wahrheit alles andere als demokratisch, er ist sogar antidemokratisch, weil er jede Form von Pluralismus ablehnt (cf. Müller 2016, 14ff.), doch dazu weiter unten. Laclau sieht den Populismus aber dezidiert nicht als Bewegung (cf. Sala de Touron 1983, 14ff.). Gärtner (2009, 13) verweist explizit darauf, dass Populismus bedeute, »den Eindruck zu erwecken, man wisse nicht nur, was für alle das Beste sei, sondern man könne dies auch umsetzen«.
4. Die Frage des Populismus
diesbezüglich keine Einhelligkeit gibt.13 Ideologie kommt von idea und logos, also von Ideenlehre im Sinne von Weltanschauung. Die Etymologie eines Wortes erklärt aber zugegebenermaßen nicht seine aktuelle Bedeutung, zumal dem Bedeutungswandel gebührend Rechnung zu tragen ist. Dennoch ist unter Ideologie auch heute in gewissem Sinne Weltanschauung zu verstehen. Zanatta (2013, 15) betrachtet den Populismus dementsprechend ganz allgemein als eine »visione del mondo«, also eben doch als Weltsicht bzw. Weltanschauung. Der Populismus als Ideologie bzw. Weltanschauung favorisiert häufig einen dritten Weg zwischen den beiden traditionellerweise am häufigsten beschrittenen, nämlich einerseits dem kapitalistisch-liberalen und andererseits dem sozialistischen (cf. Hentschke 1998, 30).14 Freilich gehört zum Populismus als Ideologie oder Weltanschauung genauso, dass sich das edle Volk stets gegen korrupte Eliten zur Wehr zu setzen habe (cf. Müller 2016, 42). Auch die immer wieder ins Treffen geführte prinzipielle Anti-Status-quo-Haltung des Populismus ist Bestandteil der populistischen Weltanschauung, Weltsicht oder eben Ideologie.15 Selbst wenn dem Populismus nun aber konzediert wird, etwas Ideologisches an sich zu haben, so wird er in der Regel nicht als breite ideologische Strömung wahrgenommen, sondern eher als schmale Theorie, als ein Primärphänomen, un fenómeno primario (Sánchez Guerrero 2008, 37), das aus anthropologischer oder psychologischer Perspektive zu analysieren sei und nicht aus ideengeschichtlicher. Mudde/Rovira Kaltwasser (2012, 9) sprechen vom Populismus als dünner Ideologie, die aufgrund der dünnen Substanz leicht mit anderen, wohl dicken Ideologien, kombinierbar sei. Genau diese beliebige Kombinierbarkeit der dünnen Theorie des Populismus mit mehr oder weniger jeder anderen Theorie, wie von Taguieff (1995) vorgeschlagen, wird von Priester vehement abgelehnt. Durch die beliebige Kombinierbarkeit des Populismus als dünner Theorie bleibe letztlich von der Eigenständigkeit des Populismus nichts mehr übrig. Abzulehnen sei aus demselben Grund auch ein abstrakter Charakter des Populismus, der diesen ebenso mit verschiedenen Ideologien kompatibel mache (cf. Priester 2007, 39ff.). Auf Politik, Regierungsstil und Ideologie folgte oben das Wirtschaftsprojekt als potentieller Kandidat für die Realisierung des Populismus. Immer wieder wird festgestellt, dass gerade die Modernisierungsverlierer, die über den modernisierten Status quo alles andere als glücklich sind, für Populismus anfällig seien (cf. Dubiel 1986b, 48; Hentschke 1998, 31ff.). Oben wurde bereits darauf hingewiesen, dass der Populismus im Allgemeinen durch eine grundsätzliche Anti-Status-quo-Haltung gekennzeichnet ist. Dies bedeutet sehr oft vorrangig den Wunsch nach Rückkehr zu einem vermeintlich viel besseren wirtschaftlichen Status quo ante. Dem Volk wird in diesem Fall durch das Zurückdrehen der Zeit eine wirtschaftliche Verbesserung versprochen. So gesehen hat der Populismus durchaus auch eine wirtschaftliche Seite, was folglich bedeutet, dass auch ein Wirtschaftsprojekt populistische Züge haben kann. 13
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Tella (1965) stellt den Enthusiasmus des Führers und des Volkes in das Zentrum des Populismus, das Ideologische weit hintan, während andere durchaus das Ideologische im Zentrum des Populismus sehen. Hentschke (1998, 30) erwähnt hier aber neben dem Gegensatz zwischen Kapitalismus und Kommunismus auch jenen zwischen Individualismus und Kollektivismus, der für den Populismus insgesamt von großer Bedeutung ist, wie weiter unten zu sehen sein wird. Auch darauf soll im Abschnitt über die Merkmale des Populismus näher eingegangen werden.
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Auf einer abstrakten Ebene wird Populismus schließlich speziell bei Laclau als »diskursiver Modus der Artikulation, Kombination und Aggregation von Forderungen zwecks Forderung kollektiver Identitäten verstanden« (Priester 2012, 45). Hier gebe es noch keine Ideologie, diese werde erst konstruiert.16 In der eingangs aufgeworfenen Frage, ob Populismus nun eigentlich eine Form von Politik, ein Regierungsstil, eine Ideologie, ein Wirtschaftsprojekt oder eine Art Diskurs sei, wird letztlich offen gelassen, ob Populismus nicht vielleicht noch etwas ganz anderes sein könnte. In diesem Sinne ist auch den im Laufe der Jahre angestellten Überlegungen nachzugehen, ob Populismus eventuell ein Denkstil, eine Mentalität, eine Organisationsform der Macht, demagogische Dramatisierung oder einfach ein politisches Syndrom sein könnte. Es ist wiederum Karin Priester, die anregt, den Populismus als Denkstil nach Karl Mannheim oder aber als Mentalität nach Theodor Geiger zu verstehen. Ein Denkstil ist den Inhalten übergeordnet, Mentalitäten sind »formlos-fließend mit stark affektivem, atmosphärischem Gehalt« (Priester 2012, 41). Weffort (1998 [1967], 136ff.) betont, dass es viel zu kurz gegriffen sei, den Populismus einfach als Manipulation abzutun. Er sieht im Populismus vorrangig einerseits die Organisationsform der Macht der herrschenden Schicht und andererseits, quasi als komplementäre Seite, den politischen Ausdruck der aufsteigenden, bislang von jeder Form von Macht ausgeschlossenen Schichten. In eine ähnliche Kerbe schlägt Werz (2003a, 9), indem er daran erinnert, dass traditionellerweise unter Populismus durchaus gleichzeitig die demagogische Dramatisierung der Politik von oben und die Protestbewegungen und Verweigerungsstrategien von unten verstanden werden. Vivian Trías (1994, 541) greift den Vorschlag von Peter Wiles auf, den Populismus zunächst einmal als Syndrom, jedoch keinesfalls als Strategie oder gar als Doktrin zu sehen. Ein Syndrom ist ein Komplex von Symptomen, die in der Regel zugleich auftreten. Damit ist aber nur die strukturelle Komplexität des Populismus diagnostiziert, mehr nicht. Bislang scheint klar geworden zu sein, dass Populismus viel mehr ist als einfach nur Manipulation der Massen (cf. Torre 2015, 7ff.). Populismus kann eine Form von Politik oder politischer Strategie genauso wie ein Regierungsstil sein. Populismus kann aber auch ideologisch oder wirtschaftspolitisch interpretiert oder definiert werden und man kann Populismus ebenso als Diskurs verstehen. Populismus kann, wie wir zuletzt gesehen haben, auch als Denkstil oder Mentalität gesehen werden, als Organisationsform der Macht, als demagogische Dramatisierung oder einfach als politisches Syndrom, ohne dass vorerst auch nur genauer gewusst werden will, was sich dahinter verbirgt. Bevor wir uns als nächstes im Detail den einzelnen Merkmalen des Populismus bzw. der soeben besprochenen einzelnen populistischen Phänomene widmen, wollen wir uns abschließend aber doch noch einige prominente, zum Teil prägnante und pointierte, zum Teil aber ebenfalls ausführliche Definitionsversuche des Populismus vergegenwärtigen. Laut Pelinka (2012, 9) ist Populismus der allgemeine Protest, der sich gegen die Kontrollmechanismen richtet, die eine direkte Herrschaft des Volkes vermeiden sollen. Am Anfang des modernen Populismus
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Auf die Kritik an dieser Sichtweise wurde bereits oben eingegangen.
4. Die Frage des Populismus
steht ein radikales Verständnis von Demokratie als Regierung des Volkes, für das Volk und durch das Volk; eine Volksherrschaft jenseits der Unterscheidung zwischen Mehrheit und Minderheit, jenseits aller Begrenzungen, die das Volk als Souverän einschränkt. Gino Germani sieht im Populismus eine rund um einen charismatischen Führer herum organisierte Mehrklassenbewegung (cf. Mudde/Rovira Kaltwasser 2012, 5). Jan-Werner Müller (2016, 42) schreibt: »Populismus, so meine These, ist eine ganz bestimmte Politikvorstellung, laut der einem moralisch reinen, homogenen Volk stets unmoralische, korrupte und parasitäre Eliten gegenüberstehen – wobei diese Art von Eliten eigentlich gar nicht wirklich zum Volk gehören.« Carlos de la Torre (2 2010, 4) versteht unter Populismus a style of political mobilization based on strong rhetorical appeals to the people and crowd action on behalf of a leader. Populist rhetoric radicalizes the emotional element common to all political discourses. It is a rhetoric that constructs politics as the moral and ethical struggle between el pueblo and the oligarchy. Populist discourse transmutes politics into a struggle for moral values without accepting compromise or dialogue with the opponent. Populist politics is based on crowd action. Crowds directly occupy public spaces to demand political participation and incorporation. At the same time, these crowds are used by their leaders to intimidate adversaries. Mass meetings become political dramas wherein people feel themselves to be true participants in the political scene. Populist politics includes all these characteristics. It is an interclass alliance based on charismatic political leadership, a Manichaean and moralistic discourse that divides society into el pueblo and oligarchy; clientelist networks that guarantee access to state resources; and forms of political participation in which public and massive demonstrations, the acclamation of leaders, and the occupation of public spaces in the name of a leader are perceived as more important than citizenship rights and the respect for liberal democratic procedures. In einem späteren Werk fasst Carlos de la Torre (2015, 8) den Populismus als Politik der kulturellen und symbolischen Anerkennung der einst verachteten Unterschichten zusammen. Flavia Freidenberg (2007, 25) hingegen definiert den Populismus als estilo de liderazgo, caracterizado por la relación directa, carismática, personalista y paternalista entre líder-seguidor, que no reconoce mediaciones organizativas o institucionales, que habla en nombre del pueblo y potencia la oposición de éste a los otros, donde los seguidores están convencidos de las cualidades extraordinarias del líder y creen que gracias a ellas, a los métodos redistributivos y/o al intercambio clientelar que tienen con el líder (tanto material como simbólico), conseguirán mejorar su situación personal o la de su entorno. Torres Ballesteros (1987, 171) schlägt als allgemeine Definition von Populismus sinngemäß eine politische Bewegung vor, die auf der Mobilisierung der Massen beruht, und zwar infolge besonders emotionaler und autoaffirmativer Rhetorik. Im Zentrum dieser Bewegung befinde sich immerzu das Volk, das stets für Gerechtigkeit und Moral stehe und einem charismatischen Führer folge, der auf der Grundlage seiner eigenen
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Der klassische Populismus Lateinamerikas
Ehrlichkeit und Integrität sowie seines persönlichen Engagements garantiere, dass die Wünsche des Volkes in Erfüllung gingen. Schließlich noch einmal ein Verweis auf Laclau, der im Populismus den Ausdruck einer sozialen Klasse sieht, der sowohl eine Bewegung als auch eine Ideologie charakterisiere. Das Konzept des Populismus sei aber inhaltsleer und könne erst anhand einer konkreten populistischen Manifestation analysiert werden (cf. Sala de Touron 1983, 11).17 Populismus wird allein in diesen Definitionsversuchen bzw. Interpretationshilfen von Anton Pelinka im Grunde als Protestbewegung, von Gino Germani als Mehrklassenbewegung, von Jan-Werner Müller als bestimmte Politikvorstellung, von Carlos de la Torre als politische Mobilisierung, Rhetorik, Diskurs, aber auch als spezielle Form der Politik, von Flavia Freidenberg als Führungsstil, von Sagrario Torres Ballesteros als politische Bewegung und von Ernesto Laclau als strukturelles, allerdings inhaltsleeres Diskurskonzept verstanden. Die Vielseitigkeit bzw. Polyfunktionalität des Populismus ist einmal mehr deutlich geworden, womit sich bestätigt hat, dass stets präzisiert werden muss, was gemeint ist, wenn von Populismus die Rede ist. Im nächsten Abschnitt soll nun erhoben werden, welches die konkreten Merkmale des Populismus in seinen verschiedenen Manifestationen sind.
4.2
Die Merkmale des Populismus
Der Terminus Populismus leitet sich aus lateinisch populus, das Volk, ab und im Zentrum des Populismus steht auch, wenig verwunderlich, das Volk selbst. Das Volk wird hochstilisiert, ohne dass jedoch jemals genau definiert wird, was das Volk ist, d.h. wer dazu gehört und wer nicht (cf. Altman 1983, 92). Es wird unter Bedachtnahme auf alle möglichen opportunen Vagheiten diskursiv konstruiert (cf. Panizza 2005, 6ff.). Nicht selten wird dabei auf Reminiszenzen an die gute alte Zeit bzw. sogar auf eine mythisch geschlossene und harmonische Vergangenheit zurückgegriffen.18 Das Volk entsteht aber auch, in dem das Anti-Volk diskursiv erschaffen wird. Das Anti-Volk ist der Andere, nicht der Gegner, sondern der Feind, vor dem das wahre Volk bewahrt und beschützt werden muss (cf. Torre 2015, 1ff.).19 Der Feind, also das Anti-Volk, muss eliminiert werden, wodurch sich der Populismus als antipluralistisch und somit als das Gegenteil von Demokratie herausstellt (cf. Sánchez Guerrero 2008, 47). Die gesamte Gesellschaft wird zweigeteilt: Auf der einen Seite steht das wahre Volk, dem bislang Ungerechtigkeiten widerfahren sind und das leiden musste, obwohl es der Sitz jeder Form von Tugendhaftigkeit ist (cf. Torres Ballesteros 1987, 171ff.), also ein geschlossenes und homogenes 17
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Die These der Inhaltsleere des Populismus wurde allerdings von verschiedenen Seiten scharf kritisiert, weil Inhaltsleere des Populismus Distanz von jeder ideologischen Dimension bedeuten würde. Aus diesem Grund wird der Populismus mitunter auch als rückwärtsgewandte Utopie verstanden (Priester 2012, 33). Priester (2012, 44) spricht dementsprechend von der inkludierenden und der exkludierenden Funktion des Populismus, die komplementär sind und zugleich stattfinden. Menschen werden in die Volksgemeinschaft eingeschlossen, andere werden ausgeschlossen (cf. Priester 2012, 44).
4. Die Frage des Populismus
Bollwerk, ein monolithischer Block (cf. Zanatta 2013, 20) an moralischer Unbestechlichkeit und tapferer Leidensfähigkeit. Das wahre Volk ist stets großartig, hat immer recht und muss deshalb dringend vom Joch der Unterdrückung befreit werden.20 Auf der anderen Seite steht all das, was eben nicht zum Volk gehört, was jedoch, wie gesagt, nicht durchgängig explizit abgegrenzt wird. Es genügt allerdings, nur einen geringen Zweifel an der Reinheit und Souveränität des hehren und wahren Volkes zu hegen, um nicht mehr zu ihm gehören zu können. Dieses dergestalt konzipierte Volk tritt gewissermaßen aus der Anonymität heraus, es wird »von einem Phantom zum empirischen Gespenst« (Dubiel 1986b, 35), es wird zum politischen (Haupt)akteur und bekommt eine Stimme. Das Volk wird interessant, es wird umworben, es soll an der Politik teilnehmen (cf. Horváth 1998, 17ff.; Mackinnon/Petrone 1998; 45), ja, es soll sogar als Hauptakteur Politik machen, und zwar vor allem in dem Sinn, dass die vermeintlich verloren gegangene Einheit und Reinheit des Volkes wiederhergestellt wird (cf. Zanatta 2013, 22). Das sieht zunächst durchaus nach Demo-kratie, also nach Volks-herrschaft aus. Allein, die Rolle, die das Volk in dieser Inszenierung zu spielen hat, ist ihm vorgegeben, und zwar von der Führerfigur. Das Volk wird in Opposition zu den bisherigen Machteliten positioniert, von wo aus es Widerstand leisten muss. Das Volk hat der Führerfigur zu lauschen, ihr öffentlich auf den Plätzen zu huldigen und, wenn nötig, für sie zu marschieren. Die Massen werden jedenfalls ständig auf mehr oder weniger subtile Weise aktiviert, mobilisiert, instrumentalisiert und dadurch manipuliert (cf. Prado 1981, 9, 75). Für Sánchez Guerrero (2008, 42ff.) handelt es sich dabei um eine Inszenierung liturgischer Art mit allen entsprechenden Ritualen, oder anders gesagt, das Volk spielt eine Komödie, dessen Libretto ihm unbekannt sei. Es wird jedenfalls auf diese Weise im Volk eine Widerstandsbewegung gegen vermeintliche Unterdrückung und vor allem gegen vermeintliche Unterdrücker aufgebaut, die ja eigentlich gar nicht Teil des so homogenen und edlen Volkes sein können (cf. Moscoso Perea 1990, 159). Der Diskurs der Führerfigur ist ein manichäischer, der keinen Spalt für eine Nuance zwischen Gut und Böse offenlässt (cf. Torre 2015, 9; Zanatta 2013, 25) und somit für absolute Klarheit sorgt. Da das Volk so homogen sei, könne und dürfe es keinen Pluralismus geben. Wer nicht der Volksnorm entspricht, die allerdings nur mehr oder weniger intuitiv besteht, gehört nicht wirklich zum Volk. Tatsächlich ist der Populismus im Grunde also antipluralistisch und deshalb zutiefst undemokratisch. Populisten verlangen durchwegs, dass alle Macht dem Volk zurückgegeben werden müsse; schon das allein impliziert, dass die aktuell Mächtigen das Volk der ihm gebührenden Macht beraubt hätten. Alle Macht dem Volk heißt alle Macht der Führerfigur, die nämlich vorgibt, das Volk zu repräsentieren, ja sogar zu personifizieren und folglich auch dessen Sprachrohr zu sein. Dies bedeutet konsequenterweise, wer gegen die Führerfigur ist, ist gegen das Volk (cf. Torre 2015, 3ff.; Zanatta 2013, 26ff.) und das erklärt auch die große Bedeutung der unmittelbaren Beziehung zwischen Volk und Führerfigur. Das Volk sollte sich in erster Linie nicht selbst organisieren und dabei möglicherweise sogar auf den Geschmack einer gewissen Unabhängigkeit oder Selbständigkeit kommen, sondern vielmehr die direkte Beziehung zur Führerfigur kultivieren (cf. 20
Was genau damit gemeint ist, soll weiter unten erläutert werden.
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Amaral 2009, 29; Taggart 2000, 62; Weffort 1998 [1967], 147). Das Volk und die angeblich das Volk abbildende Führerfigur sind die Hauptakteure des politischen Geschehens. Die Führerfigur könne eben deshalb das Volk abbilden, weil dieses so uniform, homogen und gleichgeschaltet sei. Aufgrund der Homogenität des Volkes wäre es geradezu unlogisch, wenn es eine Meinungsvielfalt gäbe. Es kann nur eine einzige Volksmeinung geben, die es zu erfassen gilt, und niemand anders ist dazu besser imstande als die Führerfigur selbst, die ja gewissermaßen das ganze Volk verinnerlicht hat. Volk und Führerfigur sind quasi durch ein magisches Band miteinander verbunden (cf. Müller 2016, 46ff.; Torres Ballesteros 1987, 176)21 und der Führerfigur selbst werden ebenso geradezu magische Kräfte und prophetische Fähigkeiten zugesprochen. Die Führerfigur, die im Idealfall selbst aus einfachen Verhältnissen kommt, gibt stets vor, das Leid des unterdrückten Volkes zu verstehen und zu wissen, wie dieses daraus befreit werden könne. Sie muss ihre Empathie zur Schau stellen und stets aufrichtig wirken. Auf diese Weise wird sie gewissermaßen zum Retter der Nation oder, um bei der liturgisch-religiösen Terminologie zu bleiben, geradewegs zum Erlöser (cf. Conniff 2 2012a, 5ff.). Oben wurde bereits erläutert, dass es keine populistische Ideologie gibt bzw. geben kann. Rechtfertigung und Kraft für das populistische Engagement stammen infolgedessen aus einer anderen Quelle und diese Quelle ist die Führerfigur selbst (cf. Ianni 1975, 43). Es gehen die Meinungen darüber auseinander, ob die Führerfigur charismatisch sein muss oder nicht. Ianni (1975, 40) geht noch davon aus, dass die gesamte Beziehung zwischen Führerfigur und Volk auf Charisma und Demagogie beruht.22 Mittlerweile wird dies aber bezweifelt bzw. verneint. Zunächst wäre es wohl wieder eine große Herausforderung, Charisma zu definieren, wenn auch nur im politischen bzw. politikwissenschaftlichen Sinne.23 Wir wollen aber einfach die Frage stellen, wie ein charismatischer Politiker wahrgenommen wird. Hat er eine bestimmte Ausstrahlung? Hat er Charme? Wirkt er sympathisch? Übt er eine gewisse Faszination aus? Sollte das alles der Fall sein, dann wären diese Wahrnehmungen aber wohl, zumindest bis zu einem gewissen Grad, subjektiver Natur. Wie dem auch sei, laut Müller (2016, 49) ist die Überzeugungsfähigkeit entscheidend, nicht das Charisma und Priester erinnert daran, dass im Frankreich des 20. Jahrhunderts sowohl Charles de Gaulle als auch Pierre Poujade äußerst populär waren.24 Allein, de Gaulle war sehr wohl eine außergewöhnliche Persönlichkeit mit Ausstrahlung und starker Präsenz, während Poujade der kleine Durchschnittsbürger von der Straße schien. Dennoch genossen sie beide große Popularität (cf. Priester 2007, 30ff.). Die Erklärung dafür, dass sich auch der vermeintlich kleine Mann von nebenan
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Margaret G. Hermann unterscheidet zwischen folgenden leadership-Typen: a) Der Rattenfänger von Hameln: Er betont das Charisma und die Verführungskunst des leaders. b) Der Verkäufer: Er erkennt die verborgenen Wünsche der Kunden bzw. der Gefolgschaft und macht entsprechende Angebote. c) Die Marionette: Sie ist Spielball der Gefolgschaft und tut, was diese von ihr verlangt. d) Der Feuerwehrmann: Er ist in der Krisensituation schnell zur Stelle, um Probleme zu lösen (cf. Freidenberg 2007, 25). Hier sei angemerkt, dass Demagogie in der Antike zunächst durchaus positiv konnotiert war und tatsächlich wörtlich Volks-Führung bedeutete. Der Demagoge war also ein angesehener Redner und Volks-Führer. In Theologie und Soziologie wären die Bedeutungen noch einmal ganz andere. Heute noch spricht man sowohl vom gaullisme als auch vom poujadisme.
4. Die Frage des Populismus
großer Beliebtheit erfreuen und politisch sehr erfolgreich sein kann, ist die, dass es leichter fällt, sich mit letzterem zu identifizieren als mit ersterem. Kleine Schwächen oder Fehler machen überdies menschlich, genauso wie einfache oder sogar schlechte Reden volksnäher wirken und deshalb oft erfolgreicher sind als elaborierte Rhetorik.25 Sogar das Kokettieren mit der niederen Herkunft oder dubiosen Vergangenheit kann zu Pluspunkten führen. Die gefühlte Kluft zwischen Poujade und jedem kleinen französischen Bürger war wohl zu jeder Zeit weit weniger groß als jene zwischen de Gaulle und demselben. Jedoch nicht nur de Gaulle, sondern eben auch Poujade hatte es zu etwas gebracht und dies wirkte offensichtlich auf den Durchschnittsbürger sympathisch und vielversprechend.26 Der Erfolg der Führerfigur beim Volk ist in jedem Fall nicht allein auf der irrationalen Ebene zu erklären. In der Beziehung zwischen Führerfigur und Volk geht es tatsächlich um einen zweiseitigen sozialen Prozess. Die Führerfigur macht sich einerseits selbst zum Helden, wird andererseits aber auch vom Volk hochstilisiert und in der Heldenhaftigkeit bestätigt. Die Identifikation zwischen Volk und Führerfigur ist groß. Dies rührt daher, dass einerseits die Führerfigur vorgibt, das Volk zu sein, und dass andererseits das Volk mit der Erfüllung seiner sehr hohen Erwartungen an die Führerfigur rechnet. Die Führerfigur ist das Volk und tut den Willen des Volkes und deshalb traut das Volk ihr auch alles zu (cf. Prado 1981, 75; Sánchez Guerrero 2008, 46; Torre 2 2010, 1ff.). In der Folge erwartet sich das Volk aber dann auch alles von ihr. Umso schlimmer für sie, wenn sie versagt. Es ist deutlich geworden, dass die Beziehung zwischen Volk und Führerfigur weitgehend als Beziehung der Identifikation konzeptualisiert wird, und zwar von beiden Seiten. In diesem Zusammenhang stellt sich freilich die Frage nach der Rolle des Staates und der Nation. Die Führerfigur steht, wie bereits mehrfach betont, für das angeblich so homogene Staatsvolk, welches wiederum nicht nur für den entsprechenden Staat steht, sondern gerade aufgrund seiner vermeintlichen Homogenität auch eine Nation bildet, wenngleich diese selbst nur eine imaginierte ist (cf. Aibar 2008, 18; Altman 1983, 85). Der Staat hat sich den neuen Bedingungen, die gegebenenfalls von der Führerfigur gestellt werden, anzupassen (cf. Cavarozzi 1994, 352), behält aber unter allen Umständen die Entscheidungshoheit und bleibt Hauptakteur der gesellschaftlichen Veränderungen (cf. Bravo Ahúja Ruiz/Michel 1994, 315; Rolim Capelato 2009a, 55). Wie oben ausgeführt, verlangen populistische Führerfiguren, dass dem Volk seine Rechte zurückgegeben werden, und zwar von allen Obrigkeiten, egal ob diese staatlicher, privatwirtschaftlicher oder sonstiger Natur sind. Dennoch ist es gerade der Interventionsstaat, der für populistisch geprägte Regierungsformen typisch ist. Der Interventionsstaat greift jederzeit und überall ein (cf. Vilas 1994, 135). Es ist ein starker Staat, der gefordert wird, um sich um die Kleinen kümmern zu können (cf. Puhle 1986, 14). Als Regulator und Verwalter ist der starke Staat letztlich für Aussöhnung und soziale Harmonie verantwortlich (cf. Vilas 1994, 136ff.). Er bilde ja ohnedies wieder das Staatsvolk als Ganzes ab, weshalb jeder
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Hier denke man beispielsweise an die Rhetorik von Donald Trump. Studien zeigen, dass viele Populisten weder sonderlich charismatisch noch tyrannisch waren. Um erfolgreich zu sein, mussten sie in erster Linie ein ausgesöhntes Volk vertreten (cf. Panizza 2005, 19).
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Eingriff seitens des Staates logischerweise im Sinne des Staatsvolkes sei. Das Staatsvolk als Ganzes, repräsentiert durch die Führerfigur, sei der wahre Souverän. Nicht die Individuen seien wichtig, sondern das Staatsvolk als Ganzes, in dem sich die Individuen sozusagen auflösen (Moscoso Perea 1990, 50; Werz 2003b, 50; Zanatta 2013, 17). Das Ganze sei (wesentlich) mehr, als die Summe der Einzelteile. Typisch für den populistischen Interventionsstaat ist außerdem seine korporatistische Struktur, die angeblich für Gleichheit und Aussöhnung sorgt, in jedem Fall aber der Führerfigur permanent den einfachen Durchgriff und zielgerichteten Zugriff ermöglicht. Nachdem bislang unter dem Blickwinkel der Populismusmerkmale vor allem die Rolle des Volkes, das Wesen der Führerfigur, die Beziehung zwischen Volk und Führerfigur sowie die Konzepte von Staat und Nation unter die Lupe genommen worden sind, soll als nächstes eher punktuell, taxonomisch und gewissermaßen zusammenfassend noch auf weitere Charakteristika des Populismus eingegangen werden, wobei auch die bereits erwähnten der Vollständigkeit halber ergänzend an dieser Stelle noch einmal genannt seien. Die jeweils aktuelle Lage wird als Leidenszustand kommuniziert (cf. Torres Ballesteros 1987, 172), der zu Unrecht bestehe und beendet werden müsse. Das Volk müsse vom Joch der Unterdrückung befreit werden. Dabei geht es nun um die typische bereits erwähnte Anti-Status-quo-Haltung, die im Grunde gegen die da oben gerichtet ist, seien es Institutionen, politische oder wirtschaftliche Eliten, Vertreter der Internationalisierung und Globalisierung oder sonstige Autoritäten (cf. Barco 1983, 20; Müller 2016, 19, 34; Panizza 2005, 3; Prado 1981, 11; und andere). Die Lösungen sind stets einfach (cf. Sánchez Guerrero 2008, 55) und bestehen grundsätzlich in der Rückkehr zum Idealzustand einer harmonischen Vergangenheit eines homogenen und unabhängigen Volkes, die es allerdings in dieser Form niemals gab, weshalb es tatsächlich angebracht ist, von einer utopischen Vergangenheit bzw. von einem verlorenen mythischen Paradies zu sprechen (cf. Priester 2012, 33; Torres Ballesteros 1987, 174ff.). Kritisiert wird der Individualismus auf Kosten der (Volks-)Gemeinschaft (cf. Delsol 2015, 84). Es wird suggeriert, dass die individuellen Ansprüche zugunsten der Gemeinschaft zurückzustecken seien. Es gehe um Solidarität mit den Nächsten, die offensichtlich Teil der Kerngemeinschaft sein müssen, um überhaupt als Nächste zu gelten. Ziel ist wiederum die Schaffung eines solidarischen, homogenen und monolithischen Blocks. Der Populismus ist, wie gesagt, antipluralistisch. Das homogene Volk habe eine gemeinsame Meinung, was den Alleinvertretungsanspruch der entsprechenden Volksvertreter rechtfertige. Nie ist es der Fall, dass sich das Volk gesamthaft zu einem Thema artikuliert. Dann erklären jedoch die Volksvertreter, ohnedies das zu sagen, was die berühmte schweigende Mehrheit denke und dies liefere ein weiteres stichhaltiges Argument für ihren Alleinvertretungsanspruch (cf. Delsol 2015, 90ff.; Müller 2016, 20, 44ff., 58ff.; und andere). Der Populismus ist personalistisch, paternalistisch, moralistisch, aber nicht programmatisch. Vor politischen Institutionen müsse man sich in Acht nehmen und politischen Parteien sei im Grunde auch nicht zu trauen.27 Auch das rührt aus dem Dogma, 27
Eine populistische Partei hat laut Müller (2016, 54) mehr oder weniger die Funktion eines Gefolgschaftsverbandes.
4. Die Frage des Populismus
dass die Volksvertreter ohnehin für das Volk das Beste wollen, sich um ihre Kinder bzw. Schäfchen fürsorglich kümmern. Deshalb sei jede Form von zwischengeschalteter Organisationsebene im Grunde überflüssig. Der Parteienpluralismus sei selbstverständlich ein Unfug, zumal es ja, wie bereits mehrfach erwähnt, nur einen richtigen Weg geben könne, nämlich den der das Volk Vertretenden. Diese Volksvertreter können zwischen Gut und Böse unterscheiden und treffen infolgedessen die richtigen Entscheidungen für das Volk (Mudde/Rovira Kaltwasser 2012, 8ff.; Müller 2016, 70; Sánchez Guerrero 2008, 37; Torres Ballesteros 1987, 171ff.). Mit dem soeben Dargelegten hängt auch der Antiintellektualismus als für den Populismus durchaus typisches Merkmal zusammen (cf. Sala de Touron 1983, 11; Torres Ballesteros 1987, 174; Werz 2003b, 50). Kritische Meinungsbildung und Freigeisterei können offensichtlich gar nicht im Sinne des Populismus sein, da die populistische Führerfigur ja von vornherein wisse, was zu tun und was zu unterlassen sei, was gut und was schlecht sei und deshalb für das Volk die Entscheidungen treffe und keiner Kritik bedürfe. Im vorangehenden Abschnitt wurde u.a. die Frage aufgeworfen, ob der Populismus (auch) als Ideologie zu werten sei. Diffus, eklektisch, inkohärent, heterogen, kaum eine Doktrin, Collage sind nur einige der Schlagwörter, die mit etwaigen ideologischen Konzepten des Populismus in Verbindung gebracht werden (Barco 1983, 21; Dubiel 1986b, 37; Mudde/Rovira Kaltwasser 2012, 8; Priester 2007, 26; Sánchez Guerrero 2008, 53; und andere). Der Begriff sei impressionistisch und schillernd und beziehe sich auf links und auf rechts bzw. sogar auf beides (cf. Puhle 1986, 12-13). Die problematische oben erwähnte Dehnbarkeit des Begriffs führt auch Freidenberg (2007, 17) ins Treffen, indem sie hervorhebt, dass der Populismus eine rurale oder urbane, eine progressive oder konservative, eine kapitalistische oder antikapitalistische, eine sozialistische oder faschistische Ausrichtung haben könne und sowohl die Massen als auch die Eliten betreffe.28 Horváth (1998, 17ff.) erinnert aber zu Recht daran, dass der Populismus, der per definitionem beansprucht, das ganze Volk anzusprechen und abzubilden, eben genau aus diesem Grund gar kein klares und eindeutiges Profil haben könne, sondern eklektisch sein müsse und sich so heterogen darzustellen habe, wie das Volk selbst es sei. Dem Populismus wird nun je nach Perspektive entweder vorgeworfen oder aber hoch angerechnet, extreme Gegensätze in Einklang zu bringen (cf. Mackinnon/Petrone 1998, 15). Dementsprechend verwundert es auch nicht, dass Populisten bis zu einem gewissen Grad sprunghaft, unberechenbar oder aber eben fortwährend für Überraschungen gut sind. Sie wollen ja möglichst populär sein und deshalb eingedenk der Tatsache, dass das Volk eben doch nicht so homogen ist, verschiedene Ansprüche bedienen. Es wurde bereits erklärt, warum der Populismus im Grunde anti- oder undemokratisch ist. Jede Form von Pluralismus ist ihm ein Dorn im Auge bzw. ein Stolperstein in seiner Strategie. Es interessiert nicht wirklich die politische Partizipation des Volkes mit offenem Ausgang, sondern allein dessen Akklamation der vordefinierten Wertigkeiten (Mudde/Rovira Kaltwasser 2012, 17; Müller 2016, 14ff.; Werz 2003b, 50). Es ist aus diesem Grund naheliegend, dass der Populismus stets ein angespanntes Verhältnis
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Linguisten würden wohl von der Polysemie des Terminus sprechen.
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zur (freien) Presse hat, die ihn, den alleinigen, legitimen Repräsentanten des Volkswillens, zu kritisieren beabsichtigt. Nicht nur die Pressefreiheit, sondern ganz generell die Meinungs- und Versammlungsfreiheit stellen für den Populismus ein Risiko dar und werden deshalb in der Regel streng beobachtet und gegebenenfalls eingeschränkt (cf. Müller 2016, 56, 75ff.). Nicht zu übersehen ist außerdem die zu treffende Unterscheidung zwischen autoritärem und demokratischem Populismus. Im autoritären spielen hochrangige Militärs eine bzw. die entscheidende Rolle, im demokratischen eher Karrierepolitiker sowie Intellektuelle (cf. Hentschke 1998, 29ff.). Weiters muss auch zwischen dem Populismus der Herrschenden und dem der Beherrschten unterschieden werden, worauf Ernesto Laclau wiederholt hingewiesen hat. Der Populismus der Herrschenden appelliere an die Massen, um die eigene Hegemonie zu sichern. Der Populismus der Beherrschten hingegen sei darauf bedacht, den Antagonismus zwischen Herrschenden und Beherrschten auszuweiten, um daraus Kapital zu schlagen und letztlich die Hegemonie der Herrschenden zu brechen (cf. Moscoso Perea 1990, 160).29 Dass der Populismus ferner weder raum- noch zeitgebunden ist (cf. Mackinnon/Petrone 1998, 39), wird deutlich, wenn man sich seine Geschichte und Ausdehnung über die Jahrhunderte bzw. Kontinente vergegenwärtigt.30 Zuletzt sei noch einmal auf den diskursiven Stil des Populismus hingewiesen, den Priester (2007, 12) treffend als hemdsärmelig, marktschreierisch und deftig bezeichnet. Es handelt sich in der Regel um eine direkte, einfache und vereinfachende und, wenn man will, sehr bodenständige Diktion, die beim Volk gut ankommen soll. Strukturell ist der populistische Diskurs manichäisch und steht somit im Dienste der Bipolarisierung. Rhetorisch ist er häufig feurig bis radikal, um die entsprechende Begeisterung auszulösen. – Im nächsten Abschnitt wollen wir nun der Geschichte des Populismus nachgehen.
4.3
Die Geschichte des Populismus und die Bedeutung der historischen Situierung
Die Schwierigkeit, das Konzept des Populismus zu klären, hat mehrere Gründe. Als ersten wollen wir die Tatsache nennen, dass der Begriff des Populismus von Anfang an verschiedene Bedeutungen hatte. Der zweite ist der, dass sich im Laufe der Zeit mancherorts die Bedeutung des Begriffs Populismus gewandelt hat, aber eben nicht überall. Außerdem hat sich der Bedeutungswandel dort, wo er stattgefunden hat, nicht überall auf die gleiche Weise vollzogen. Der dritte Grund scheint uns die inflationäre Verwendung des Begriffes zu sein, die zu seiner großen semantischen Unschärfe, Verzerrtheit und Inkonsistenz geführt hat. Betrachten wir all das etwas näher. Am Beispiel des Bedeutungswandels von Demagogie haben wir oben gezeigt, dass die Etymologie eines Wortes längst nicht immer dessen aktuelle Bedeutung erklären kann.
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Diese Ansicht steht wohl im Einklang mit Foucaults Einschätzung der Macht der Beherrschten. Nicht nur die Herrschenden hätten Macht, auch die Beherrschten und auch sie könnten diese zielführend einsetzen (cf. Foucault 2005a; 2005b). Darauf soll im Abschnitt über die Geschichte des Populismus näher eingegangen werden.
4. Die Frage des Populismus
Ein weiteres schlagendes Beispiel dafür ist das Wort Demokratie, d.h. Volksherrschaft. Wer bestimmt tatsächlich in einer Demokratie? Wer gehört zum demos? Das Wahlrecht ist in der Regel doch an verschiedene Kriterien gebunden. Zu diesen können das Alter, das Geschlecht, der soziale Stand, kognitive Fähigkeiten wie Lesen und Schreiben und weitere andere gehören. Das Demokratieverständnis war im antiken Griechenland, in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik DDR, aber auch in manchen Kantonen der Schweiz bis weit ins 20. Jahrhundert ein anderes als etwa jenes des heutigen Österreichs. Einmal mehr wird klar, dass es unerlässlich ist, den zeitlichen Rahmen und den historischen Kontext der zur Diskussion stehenden Etappe klar zu definieren bzw. zu erläutern, um die verwendete Terminologie richtig zu verstehen und die entsprechenden Begriffe korrekt handzuhaben (cf. Ianni 1975, 16; Weffort 1998 [1967], 135). Die Ursprünge des Populismus gehen, wie bereits in der Einleitung angedeutet, auf Bewegungen in den USA und im Russland des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts zurück. Trotz der zeitlichen Koinzidenz und etlicher gemeinsamer Ziele waren die zwei Bewegungen voneinander allerdings fundamental verschieden. Beide damaligen Populismen bekämpften die Industrialisierung, die Urbanisierung, die Zentralisierung sowie die hierarchischen Strukturen. Beide stemmten sich gegen den grassierenden Kapitalismus und die damit einhergehende Zerstörung des kleinen Grund- und Bodenbesitzes. Beide waren agrarische Populismen, beide verherrlichten das Volk und beiden schwebte als Ideal die gesellschaftliche Kontrolle von unten, d.h. durch das Volk, vor. Der große Unterschied zwischen ihnen war jedoch der, dass die US-amerikanischen populists eine starke soziale und politische Landarbeiterbewegung bildeten, die sich sozusagen aus einer grassroots-Ideologie speiste und tatsächlich vom Volk ausging, während das russische narodnicestvo bzw. die russischen narodniki, wie gesagt, aus der städtischen Intelligenzija stammten. Der US-amerikanische Populismus forderte stets die Beibehaltung des Privatbesitzes, während der russische Kooperativen favorisierte. Die US-amerikanischen populists, die sich 1891 in der Populist Party organisierten, die offiziell die People’s Party war und schließlich nur bis 1908 existierte, kämpften vor allem deshalb gegen die Übermacht der wirtschaftlichen Monopole, Banken und Trusts, weil ihnen diese existenzbedrohende Bedingungen stellten. Die Farmer des Südens und Südwestens waren von der Eisenbahn abhängig, um ihre Produkte an die Kunden zu bringen. Die Eisenbahn nutzte die Monopolstellung zunehmend aus und verlangte immer höhere Frachttarife, die für die Farmer eine förmlich unerträgliche Bürde wurden. Im Bankwesen wiederholte sich das für die Farmer unwürdige Spektakel, weil sie, auf Kredite angewiesen, den Banken ebenso ausgeliefert waren. In der Folge forderten die Farmer prinzipiell überschaubare Einheiten und Farmen als Familienbesitz. Sie verlangten weiters aber auch die Direktwahl der Senatoren, das Frauenwahlrecht, die Einführung von Vorwahlen und die mögliche Abwahl von Amtsträgern. Als politisches Ideal schwebte ihnen die Rückkehr zu einer ursprünglichen Form der Demokratie vor, was sie in ihrer politischen Haltung durchaus als reaktionär erscheinen lässt. Was die russischen narodniki anbelangt, gibt es vorweg gleich zwei verschiedene Bedeutungen. Die erste erwächst vor allem aus einer demütigen und respektvollen Haltung gegenüber den Landarbeitern und verlangt deshalb von der Intelligenzija, dass nicht sie selbst den Anspruch auf Volksführung stellen dürfe, sondern sich der Bauern-
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Der klassische Populismus Lateinamerikas
schaft ein- bzw. unterzuordnen habe und dieser die Führerschaft überlassen müsse. In der zweiten Bedeutung geht es im Grunde darum, dass das narodnicestvo als agrarischer Sozialismus tatsächlich postulierte, dass sich Russland die Phase des Kapitalismus ersparen und direkt zum Sozialismus übergehen könnte. Die narodniki träumten tatsächlich von einer ländlichen Idylle sowie von der Rückkehr zu archaischen agrarischen Traditionen. Sie waren zugleich reaktionär und romantisierend und bekämpften gleichzeitig den Kapitalismus und das Zarentum (cf. Dubiel 1986a, 7; Dubiel 1986b, 35ff.; Hentschke 1998, 10ff.; Mackinnon/Petrone 1998, 17ff.; Priester 2007, 25ff.; Puhle 1986 15ff.; Werz 2003b, 47). Der Populismus als populism des farmersʼ movement und auch als narodnicestvo, falls sowohl das eine als auch das andere überhaupt mit Populismus übersetzt werden kann bzw. darf, ist trotz der dargestellten Unterschiede in beiden Fällen gleichermaßen vergangenheitsorientiert (cf. Freidenberg 2007, 17) wie auch auf Befreiung von vermeintlichen Unterdrückern und Ausbeutern im weitesten Sinne ausgerichtet (cf. Hentschke 1998, 9). Dieser Aspekt muss aber noch vertieft werden.31 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es vor allem in Europa, aber auch in den Vereinigten Staaten von Amerika große gesellschaftliche Veränderungen. Der Imperialismus und die Industrielle Revolution mit allen sich daraus ergebenden Folgen, insbesondere jene der Verstädterung, lösten einerseits tiefgreifende strukturelle Veränderungen, andererseits aber auch große persönliche Unsicherheiten, Existenz- und Verlustängste aus, aber auch hohe Erwartungen. In Europa und in den USA war dies die Zeit der Vermassung der Gesellschaft. Das Individuum ging immer mehr in der Masse auf, die Sozialstruktur war alles andere als gefestigt, die ehemalige Kastengesellschaft im metaphorischen Sinn mit mehr oder weniger klar abgegrenzten sozialen Gruppierungen transformierte sich allmählich in eine Klassengesellschaft.32 Die mit der Verstädterung und Industrialisierung einsetzende Massengesellschaft war aber noch keine Konsum-, sondern eine Mangelgesellschaft (cf. Weffort in Hentschke 1998, 21ff.),33 in der es immer größere Erwartungen gab. Tella spricht sogar von der Revolution der Erwartungen (cf. Tella 1965, 53). Die zusehends in der Masse aufgehenden Individuen, die sich nun eben en bloc, d.h. als Masse, entwickelten und gemeinsam mobilisierbar wurden, wollten nun nach all den lange Zeit erlittenen Entbehrungen alles, und zwar sofort. Diese neue Gesellschaft befand sich in einem instabilen Zustand und der Staat war einstweilen ein Kompromissstaat (cf. Mackinnon/Petrone 1998, 31). Ein instabiler Zustand ist nichts anderes als eine Krise, in der bereits (irgend)eine entscheidende Wendung angelegt ist. Die Krise scheint nun aber gerade die ideale Brutstätte für den Populismus zu sein (cf. Moscoso Perea 1990, 121; Panizza 2005, 11; Priester 2007, 28; Sánchez Guerrero 2008, 44),
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Puhle (1986, 19) beschreibt den ursprünglichen US-amerikanischen Populismus als dezidiert janusköpfig: fundamentalistisch, rassistisch, antisemitisch, konservativ und zugleich progressiv, sozialreformerisch und basisdemokratisch. Mackinnon/Petrone (1998, 21) sprechen im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Veränderungen in Lateinamerika vom Übergang der kolonialen Kastengesellschaft in die Klassengesellschaft. Eine Kastengesellschaft ist im metaphorischen Sinn eine Gesellschaft mit hierarchischer Struktur und streng abgegrenzten gesellschaftlichen Gruppen. Im ursprünglichen Sinn von Kaste ist das Abgrenzungskriterium ein religiöses. Das im Zuge der Industriellen Revolution und Verstädterung entstehende Elend ist ein Hauptthema der naturalistischen Literatur in Europa und in den USA.
4. Die Frage des Populismus
d.h., der Populismus gedeiht am besten in Zeiten des Übergangs und der Neuordnung (cf. Ianni 1975, 16; Prado 1981, 10, 75). In den instabilen Zeiten des Übergangs neigt man dazu, sich an die guten alten Zeiten zu erinnern, die Vergangenheit zu verklären und das vielleicht nur aus Legenden bekannte verlorene Paradies herbeizusehen. Man ist gegen den Status quo und träumt von einem vielleicht nicht einmal persönlich erlebten Status quo ante (cf. Sánchez Guerrero 2008, 43). Man wünscht sich klare Strukturen mit wenigen Grauzonen, man will sich auf das Vertraute verlassen und auf nichts Unbekanntes einlassen. Alles Fremde will man fernhalten und sich in der ach so reinen Volksgemeinschaft in Sicherheit wiegen. Im Großen droht man verloren zu gehen, das Kleine und Schnuckelige verspricht Geborgenheit. Eine glaubhafte Führerfigur hat es in Zeiten wie diesen nicht allzu schwer. Nach dem Gesagten drängt sich nun jedoch förmlich die Frage auf, wann sich eine Gesellschaft denn in einer Krise befindet und wann nicht. Jede Zeit ist eine Übergangszeit, zu jeder Zeit gibt es Krisen aller Art. Trotzdem scheint es Krisen unterschiedlicher Intensität und Tragweite zu geben. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts trat der Kapitalismus bzw. der Finanzkapitalismus in eine Phase, in der Banker und Financiers zunehmend an Bedeutung gewannen und Monopole und Kartelle immer mächtiger wurden. Dies hatte weitreichende negative Folgen für die breite Bevölkerung in Form aufkommender Existenzängste und Ratlosigkeit angesichts des drohenden Machtverlusts. Just in jener Zeit entstanden sowohl der US-amerikanische populism als auch das russische narodnicestvo, in dem, wie oben dargestellt, die russische Intelligenzija vor allem vor den aus dem Westen drohenden Veränderungen warnte. Wenn in solchen Zeiten versprochen wird, dem Volk die Macht zurückzugeben, so fällt dies auf fruchtbaren Boden (cf. Torre 2015, 7). Im vorangehenden Kapitel ist deutlich geworden, welch gravierende Umbrüche es in Lateinamerika seit Beginn des 20. Jahrhunderts gegeben hatte. Die Weltwirtschaftskrise markierte eine weitere tiefe Zäsur, nach der in gewissem Sinne von einem neuen Zeitalter zu sprechen ist und worauf wir als nächstes einzugehen haben. Das populistische Paradoxon scheint im Grunde darin zu bestehen, dass sich das Individuum, wie oben dargestellt, zunächst aus den traditionellen Beziehungen emanzipiert, dann gewissermaßen im Volk als Masse aufgeht, sich mobilisieren und zur politischen Partizipation animieren lässt, um letztlich jedoch das Heft aus der Hand zu geben34 und sich wieder beherrschen zu lassen (cf. Vobruba 1986, 225; Weffort 1978).
4.4
Der klassische Populismus Lateinamerikas
Der klassische oder historische Populismus Lateinamerikas, der häufig als die bedeutendste politische Kraft Lateinamerikas des 20. Jahrhunderts überhaupt bezeichnet wird (cf. Hentschke 1998, 31), ist grosso modo und wie schon eingangs angedeutet, in der Zeitspanne zwischen 1930 und 1960 anzusiedeln, wobei es dann abhängig vom jeweiligen
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Ein linguistisches Detail am Rande: Das Heft bedeutet auch Griff des Schwertes, was die Redewendung verständlich macht.
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Der klassische Populismus Lateinamerikas
Land doch bedeutende Unterschiede gibt.35 Es fällt auf, dass der Anfang dieser Etappe quasi mit dem Beginn der Weltwirtschaftskrise zusammenfällt. Wie sich jedoch im vorangegangenen Kapitel gezeigt hat, reichen die Ursachen für die tiefgreifenden Veränderungen in mehreren lateinamerikanischen Gesellschaften zu jener Zeit, speziell in Argentinien, Brasilien und Mexiko,36 viel weiter zurück als nur bis 1929. Die Krise und das Ende der Oligarchien, die Industrialisierung mit der damit zusammenhängenden Binnenmigration, Immigration und Urbanisierung, die Proletarisierung der Arbeiter sowie die Politik, die sich neuerdings als Massenphänomen gestaltete,37 waren die eigentlichen Wegbereiter des klassischen Populismus in Lateinamerika (cf. Mackinnon/Petrone 1998, 49; Rolim Capelato 2009a, 55). Ein weiterer Faktor, der die Herausbildung des klassischen Populismus in Lateinamerika begünstigte, war die Tatsache, dass sich erst relativ spät eine Mittelschicht herausbildete, die sich fortan im Widerstreit zur Oberschicht nach oben zu kämpfen trachtete und vom starken Staat, vertreten durch den starken Mann, in ihrem Ansinnen Unterstützung erhoffte bzw. erwartete (cf. Germani 2003, 121ff.). Argentinien, Brasilien und Mexiko befanden sich, wie oben ausführlich dargestellt, bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in einer schweren politischen Krise im Sinne eines tiefgreifenden Umbruchs, der durch die Weltwirtschaftskrise der 1920er und speziell 1930er Jahre zu einer vielschichtigen globalen Krise wurde. Jede politische und wirtschaftliche Stabilität war dahin. Eine alles bedrohende Krise löst häufig, wie bereits erläutert, eine massive Anti-Status-quo-Haltung aus, die nicht selten dazu führt, dass schließlich mangels nicht vorstellbarer besserer Alternativen ein möglicherweise auch nur imaginierter Status quo ante herbeigesehnt wird. In Lateinamerika wurde allerdings nicht ein vorindustrielles Zeitalter herbeigesehnt, das ohnedies kaum vergangen war, sondern ganz im Gegenteil eine Besserstellung durch breit angelegte Industrialisierung. Wie dem auch sei, in der Krise hat der starke Mann – und gegebenenfalls auch die starke Frau – allemal gute Chancen, dass ihm seine Versprechungen von Verbesserung und Stabilität von offensichtlich auf self fulfilling prophecies Hoffenden abgenommen werden (cf. Horváth 1998, 8ff.). Mit der Weltwirtschaftskrise war nun in jedem Fall klar geworden, dass eine Zeit des Übergangs bereits im Gange war (cf. Ianni 1975, 15). Es war ebenso klar geworden, dass es sich dabei um einen markanten Übergang von der agrarischen Gesellschaft zur Industriegesellschaft handeln würde. Wie sich allerdings die politische Entwicklung gestalten sollte, war zu jenem Zeitpunkt noch weit weniger 35
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Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, dass der klassische Populismus Lateinamerikas ein nationalistischer und kein wirtschaftsliberaler, sehr wohl aber ein kapitalistischer war (cf. Germani 2003, 122ff.). Bravourös vereinigte er die sozialistische Rhetorik mit den kapitalistischen Wirtschaftsprinzipien (cf. Bravo Ahúja Ruiz/Michel 1994, 316). Zu nennen wäre neben Argentinien, Brasilien und Mexiko an dieser Stelle – wie schon gesagt – noch Ecuador unter José María Velasco Ibarra. Germani (2003, 124) identifiziert sechs Stadien der zunehmenden politischen Partizipation: 1. Revolutionen, Befreiungskriege und die daraus resultierende Unabhängigkeit; 2. Bürgerkriege, caudillismo und Anarchie; 3. Autokratien; 4. repräsentative Demokratien mit beschränkter Partizipation wie Oligarchien; 5. repräsentative Demokratien mit breiter Partizipation und 6. absolute Partizipation in drei möglichen Formen: 6.1. repräsentative Demokratie mit Stimmabgabe; 6.2. populistische Regime mit charismatischem Führer und 6.3. autoritärer Sozialismus mit charismatischem Führer.
4. Die Frage des Populismus
klar. Der sich herauskristallisierende Populismus war letztlich jedoch eindeutig eine Reaktion auf die instabilen Verhältnisse der Zeit. Jahrzehntelang ging man gemäß der Modernisierungstheorie davon aus, dass die Massen an Neuankömmlingen in der Stadt, welche auf dem Lande einst in den traditionellen caudillo-peón-Abhängigkeitsbeziehungen lebten, durch die neuen Freiheiten in der städtischen Arbeitswelt überfordert waren.38 Aus diesem Grund nahm man an, dass ihnen eine starke populistische Führerfigur, die in mancher Hinsicht dem caudillo gar nicht so unähnlich war, Sicherheit und Vertrauen einflößte, wofür die Arbeiter ihrerseits gern bereit waren, eben diesem starken Mann Gefolgschaft zu leisten. Es wurde also von einer gewissen Naivität und Hilflosigkeit des neuen städtischen Proletariats ausgegangen, welche die Populisten auszunutzen verstanden, um sich eine breite Anhängerschaft zu sichern.39 Das neue Proletariat wurde gemäß jener Theorie durchwegs als unkritisch und förmlich unfähig erachtet, die politischen Machtspiele zu durchschauen. Seit den 1980er, vor allem aber seit den 1990er Jahren wird diese Theorie aber stark kritisiert. Der Populismus wird zunehmend als primär soziales und weniger als vorrangig politisches Phänomen erachtet (cf. Rolim Capelato 2001; 2009a; 2009b). Das heißt, dass der Populismus – und in diesem Fall speziell der klassische Populismus Lateinamerikas – gewissermaßen als Verhandlungsdialog zwischen Führer und Gefolgschaft verstanden wird, in dem es um Geschäft und Gegengeschäft geht bzw. ging (cf. Ferreira 2001, 78ff.). Dementsprechend wird die in den Städten neu angekommene Arbeiterschaft nun gar nicht mehr als so naiv und blauäugig angesehen, sondern ganz im Gegenteil als beinhart kalkulierender Verhandlungspartner, der nur aufgrund für ihn hochprofitabler Geschäfte zu Gegengeschäften bereit war.40 Die Geschäfte mit dem Populismus waren für das arbeitende Volk in zweifacher Hinsicht lukrativ. Zum einen erfuhr es tatsächlich materiell eine merkliche Besserstellung. Das war jedoch längst nicht alles. Es wurde bereits erwähnt, dass das Volk aus der Anonymität herausgetreten war. Das Volk war deshalb aus der Anonymität herausgetreten, weil es eingeladen wurde, am öffentlichen, d.h. am politischen Leben teilzuhaben. Unabhängig davon, dass es unbestrittenerweise damals in jenen Ländern keine optimal entwickelte demokratische Parteienlandschaft gab, lieh aber jetzt jemand dem Volk als Masse zum ersten Mal überhaupt sein Ohr, um ihm dann eine Stimme zu geben. Der Profit, den das Volk also aus besagten Geschäftsbeziehungen mit der populistischen Führerfigur schlug, war einerseits materieller und andererseits symbolischer Natur (cf. Ferreira 2001, 86ff.; Rolim Capelato 2001; 2009a; 2009b). Der klassische Populismus Lateinamerikas war also nicht nur demokratisch in dem Sinne, dass das Volk tatsächlich zum ersten Mal in die politischen Prozesse miteinbezogen wurde, sondern er war auch identitätsstiftend, und zwar indem er das Volk zunächst einmal wahrnahm, ihm eine Stimme zukommen ließ und
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Francisco Weffort, Gino Germani und viele andere mehr haben zahlreiche Arbeiten dazu verfasst, auf die hier aber nicht eingegangen zu werden braucht. Dieses Konzept der Führer-Anhängerschaft-Beziehung bezeichnet Müller (2016, 32) als das Rattenfängerkonzept, wie wir es auch schon bei Hermann in Freidenberg (2007, 25) kennengelernt haben. Bestätigt wird diese Hypothese vor allem auch dadurch, dass die Gewerkschaften den Arbeitern zunächst sehr wohl unabhängig von eventuellen Anordnungen oder Empfehlungen von oben Anregungen gaben und erst mit der Zeit an Autonomie einbüßten (cf. Rolim Capelato 2001, 2009a).
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Der klassische Populismus Lateinamerikas
ihm dadurch vor allem seine Würde zurückgab (cf. Mackinnon/Petrone 1998, 22; Panizza 2005, 14). Gemäß der Modernisierungstheorie war man davon ausgegangen, dass es für Lateinamerika ohnedies nur eine einzige gute und erfolgversprechende Entwicklungsrichtung gab, nämlich jene, an deren Ziel der europäisch-US-amerikanische Kapitalismus stand (cf. Taggart 2000, 13-14, 66ff.). Im Laufe der Zeit begann man, dies differenzierter und kritischer zu sehen. Es sollten die positiven volkswirtschaftlichen Entwicklungen, die Demokratisierung und die Wahrung der nationalen Hoheit – im Gegensatz zum Ausverkauf an das Ausland (cf. Trías 1994, 558ff.) – im Zentrum des Interesses der Reformer stehen.41 Vor allem der aus den kapitalistischen Systemen importierte Liberalismus und mancherorts auch der aus Europa importierte Positivismus wurden zusehends kritisch hinterfragt und, wie im vorangehenden Kapitel ausführlich dargestellt, als Zielsetzung immer vehementer durch einen jeweils autochthonen dritten Weg auf der Grundlage ausgeprägter korporatistischer Strukturen zwischen Kapitalismus und Sozialismus ersetzt (cf. Werz 2003b, 49ff.). Die Devise von höchster Stelle lautete, dass es keine Alternative zur nationalen bzw. innerstaatlichen Harmonie gäbe, die nicht zerstörerisch wäre. Der Arbeiterschaft wurde das Schreckgespenst der aggressiven und skrupellosen Industriellen an die Wand gemalt, den Industriellen hingegen jenes des alles bedrohenden Aufstandes des Proletariats (cf. Vilas 1994, 136ff.). Auf diese Weise wurde der klassische Populismus Lateinamerikas durchaus zu einem regionalen Spezifikum, das es, wie sich herausgestellt hat, aus wissenschaftlicher Perspektive immer wieder neu zu entdecken gilt. Nach der Ergründung des Populismus im Allgemeinen und des klassischen Populismus Lateinamerikas im Besonderen wollen wir abschließend wiederum zu Juan Perón, Getúlio Vargas und Lázaro Cárdenas zurückkehren, um von ihnen unter dem Aspekt des klassischen Populismus Lateinamerikas zusammenfassende Kurzporträts zu erstellen und dabei abzuklären, inwieweit sie die oben erläuterten Merkmale des klassischen Populismus Lateinamerikas tatsächlich aufweisen.
4.5
Perón, Vargas, Cárdenas – die klassischen Populisten Lateinamerikas
Juan Perón war zweifellos ein charismatischer Politiker und unter charismatisch wollen wir hier schlicht und einfach begeisterungsfähig, rhetorisch gewandt, überzeugend und attraktiv verstehen (cf. Horowitz 2 2012, 30), ohne die Diskussion über die Bedeutung von Charisma neu zu eröffnen. Ideologisch und ideell war Perón eklektisch. Der Peronismus war so heterogen, wie Perón selbst komplex und sogar widersprüchlich war (cf. Borja 1990, 13ff.). Perón war progressiv, indem er die Arbeiterschaft unterstützte, um diese aber letztlich zu kontrollieren und sich deren Unterstützung zu sichern. Er sorgte für Lohnerhöhungen und Verbesserungen der Sozialleistungen und im Gegenzug gelang es ihm, die Arbeiterschaft sukzessive in sein System einzuordnen und die Opposition 41
Es darf allerdings nicht übersehen werden, dass die zunächst populistischen und allmählich zumindest semi-autoritär werdenden Regierungen (cf. Wynia 1990, 220) nicht vor Repression, Folter und Mord zurückschreckten, um ihre Ziele zu erreichen (cf. Trías 1994, 553).
4. Die Frage des Populismus
allmählich zu eliminieren. Gleichzeitig warnte er die Unternehmerschaft vor der drohenden Gefahr des Proletariats, um letztlich auch von ihr sowie von der Mittelschicht Zugeständnisse und Zeit zu bekommen (cf. Rolim Capelato 2001, 152). Der Staat, die Politik und die Zivilgesellschaft gingen immer mehr ineinander über und korporatistische Strukturen breiteten sich aus. Perón verstand sich insgesamt als conductor (cf. Amaral 2009, 30; Freidenberg 2007, 83). Er schien progressiv und kollegial, war aber eben auch repressiv und autoritär und strebte danach, letztlich das einzige Machtzentrum des Staates zu sein (cf. Horowitz 2 2012, 34; Prado 1981, 68; Rolim Capelato 2001, 145ff.). Peróns Politik war eine Politik von Zuckerbrot und Peitsche. Es war ihm stets wichtig, eine unmittelbare Beziehung zum Volk herzustellen und dadurch die oben erwähnten magischen Bande zwischen Volk und Führerfigur zu knüpfen. Perón verstand es, die Massen zu organisieren, in ihnen einerseits durch seine manichäisch-moralistische Rhetorik ein Wir-Gefühl aufzubauen und andererseits durch die diskursive Konstruktion des Anderen, der nicht dazu gehört, klare Feindbilder zu schaffen (cf. Freidenberg 2007, 80ff.).42 Perón sicherte der Arbeiterschaft die oben erläuterten materiellen und symbolischen Werte, verlangte dafür jedoch von ihr konsequente und absolute Solidarität. Gerade für Perón war es kennzeichnend, dass er den Arbeitern sein Ohr lieh und ihnen eine Stimme gab, um aber im Gegenzug ihre Unterstützung zu erhalten (cf. Skidmore 1994, 229ff.). Für das Ehrgefühl der Nation war es wichtig, dass Perón die Auslandsschulden zurückkaufte, immer mehr Verstaatlichungen durchführte und auf diese Weise zumindest scheinbar die absolute Unabhängigkeit von ausländischen Mächten erreichte und auch entsprechend zur Schau stellte (cf. Skidmore 1994, 242ff.). Perón beschritt den mittlerweile schon oft zitierten dritten Weg zwischen Sozialismus und Kapitalismus, der sich im Grunde aber jeder klaren Definition entzieht (cf. Taggart 2000, 64). Er gerierte sich als Märtyrer und Erlöser, der für sein Land und Volk bereit war, jedes Opfer zu bringen. Nach wie vor spaltet Perón die (argentinische) Gesellschaft in diejenigen, die ihn tatsächlich als Heilsbringer und Erlöser verehren und in jene, die ihn als skrupellosen, autoritären, machtbesessenen und gewalttätigen Faschisten ablehnen (cf. Prado 1981, 37). Zwischen Getúlio Vargas und Perón gibt es zahlreiche Parallelen, was angesichts der Tatsache, dass Perón bei Vargas vermutlich – wenn nicht gar offensichtlich – viele Anleihen nahm, nicht verwundert. Dennoch gibt es auch wesentliche Unterschiede. Auch Vargasʼ Programm war eklektisch und stellte gewissermaßen einen dritten Weg dar. Auch er trachtete danach, die nun zur Arbeiterschaft gewordene ehemalige Landbevölkerung in sein System zu integrieren, um sich ihre Anhängerschaft zu sichern; und auch für Vargas galt die Devise: alles für das Proletariat, aber ohne Proletariat (cf. Castello 2007, 155ff.). Das heißt, dass sich Vargas mit dem Proletariat solidarisch zeigte (cf. Conniff 2 2012b, 52), dessen politische und gesellschaftliche Rolle aber bereits vorab von oben bestimmt hatte.
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Vergleiche dazu die Analyse der Rede Peróns in Kapitel 6.
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Der klassische Populismus Lateinamerikas
Vargas hatte im Unterschied zu Perón nicht wirklich eine militärische Vergangenheit, dennoch war letztlich auch sein Regime zunächst ein semiautoritäres und schließlich sogar ein absolut autoritäres (cf. Freidenberg 2007, 74). Er war nicht der charismatische Politiker wie Perón, doch auch er verstand es, den direkten Kontakt zum Volk herzustellen und zu pflegen, sich zu inszenieren und ins Rampenlicht zu setzen. Er genoss die Huldigung, wenngleich der spontane Massenzulauf tendenziell doch etwas zögerlicher vonstatten ging als bei Perón (cf. Amaral 2009, 41). Wie dem auch sei, gerade Vargas präsentierte sich auf äußerst paternalistische Weise als Vater der Armen und versprach außerdem wiederholt, nach dem Krieg zur Demokratie zurückzukehren, nämlich so, als ob er wegen seines autoritären Regimes doch so etwas wie ein schlechtes Gewissen hatte (cf. Conniff 2 2012b, 52). Vargas hatte bereits als Diktator zum einen für die materielle Besserstellung der Arbeiter gesorgt und ihnen zum anderen ihre Würde zurückgegeben, indem er sie zunächst einmal wahrnahm und dann ihre Teilnahme am politischen Geschehen förderte. Es hatte also schon damals zwischen dem populistischen Führer und dem Volk etwas Ähnliches wie einen ungeschriebenen Vertrag bzw. Geschäft und Gegengeschäft gegeben, d.h. Lohnerhöhung und soziale Besserstellung einerseits und die Unterwerfung der Arbeiterschaft unter das herrschende System andererseits (cf. Rolim Capelato 2009a, 53ff.). Bereits während seiner Amtszeit war Vargas darauf bedacht, seine Opferrolle zur Schau zu stellen. Die Krönung seines selbst inszenierten Märtyrertums gelang ihm jedoch zum Abschluss mit seinem Selbstmord, den er geradezu als Opfertod zelebrierte. Vargas wird heute noch vom Volk als größter Brasilianer aller Zeiten, zugleich aber auch als skrupelloser und selbstherrlicher Diktator gesehen, dem in Wahrheit am Volk nicht allzu viel gelegen war. Auch das hat er mit Perón gemeinsam. Lázaro Cárdenas verfolgte viele wirtschaftliche und politische Ziele, die ebenfalls wesentlicher Bestandteil sowohl des Peronismus als auch des Vargismus waren. Auch viele seiner strategischen Manöver, die wir als typisch für den klassischen Populismus Lateinamerikas bezeichnet haben, finden sich bei Perón und Vargas. Und dennoch scheint Cárdenas irgendwie doch so ganz anders gewesen zu sein als Perón und Vargas. Zu Cárdenasʼ vorrangigen politischen Zielen zählten, wie oben dargestellt, die wirtschaftliche und politische Unabhängigkeit des Landes, eine grundlegende Landreform sowie eine umfassende Bildungsreform. Ebenso wie Perón und Vargas strebte auch Cárdenas einen starken, korporatistischen Staat als unerlässliche Voraussetzung für die Erreichung seiner Ziele an (cf. Prado 1981, 31). Der Interventionsstaat mit einer möglichst starken Staatspartei sowie die korporatistischen Strukturen (cf. Basurto 2 2012, 86) stellen somit strukturelle Ähnlichkeiten zwischen dem cardenistischen Mexiko, dem peronistischen Argentinien und dem vargistischen Brasilien dar. In allen drei Fällen ging es im Grunde doch um eine Art Neugründung der Nation, wenngleich Tradition und Geschichte ihren hohen Stellenwert behielten (cf. Ricupero 2009, 243). Die Importsubstitution, Verstaatlichungen sowie eine Landreform als wirtschaftspolitische Maßnahmen sind in ihrer Umsetzung dann allerdings je nach Land bereits unterschiedlich stark ausgeprägt (cf. Prado 1981, 26ff.). Verblüffend sind die Ähnlichkeiten der politischen Strategien dieser drei großen Populisten. Cárdenas war es genauso wie Perón und Vargas ein zentrales Anliegen, die ländliche bzw. ehemals ländliche Bevölkerung nun als Volksmasse unterzuordnen bzw.
4. Die Frage des Populismus
in sein politisches System einzuordnen (cf. Rolim Capelato 2001, 159). Der Präsident stand eigentlich nicht mehr an der Spitze des Staates, sondern er stand über dem Staat (cf. Altman 1983, 53ff.). Es wurde vorher bereits ausführlich abgehandelt, was Cárdenas alles unternahm, um in direkten Kontakt mit der Bevölkerung zu treten, was ein weiteres populistisches Merkmal ist, das auch Perón und Vargas kennzeichnet. Ferner beschritt Cárdenas wie Perón und Vargas einen dritten Weg, wenngleich sich dieser vom peronistischen und vargistischen insofern deutlich unterschied, als er im Gegensatz zu Perón und Vargas seine Landreform aus tiefster Überzeugung vorantrieb. Wie dem auch sei, trotz sozialistischer Rhetorik und trotz sozialistischer Einzelmaßnahmen hielt auch Cárdenas im Grunde am kapitalistischen System fest (cf. Bravo Ahúja Ruiz/Michel 1994, 316ff.). Cárdenas unternahm zwar großangelegte Wahlkampagnen, war aber nicht der charismatische, feurige Redner. Er blieb bescheiden, zurückhaltend und aufrecht, verringerte sich sein eigenes Gehalt und verzichtete auf Pomp, Prunk und Palast (cf. Basurto 2 2012, 87; Freidenberg 2007, 58). Sehr wohl aber mobilisierte und politisierte Cárdenas die Massen in großem Stil. Populistisch im peronistisch-vargistischen Sinn war dabei auf alle Fälle auch die von Cárdenas angewandte Geschäft-Gegengeschäft-Strategie gegenüber dem Volk, die bereits ausführlich erläutert worden ist (cf. Rolim Capelato 2001, 154). Einen kapitalen Unterschied zwischen Peronismus, Vargismus und Cardenismus gibt es in der jeweiligen Chronologie des Populismus. Anders als in Argentinien und in Brasilien kam es in Mexiko 1910 zum Bruch mit der Oligarchie, also schon am Beginn der mexikanischen Revolution. Insofern gründete der mexikanische Populismus bereits auf der mexikanischen Revolution (cf. Prado 1981, 72), deren Versprechungen Cárdenas ja einzulösen beabsichtigte. Im Gegensatz zu Argentinien und Brasilien gab es in Mexiko außerdem schon lange vor dem Populismus eine breite Arbeiterschaft, sodass die Modernisierungstheorie allein schon deshalb das Phänomen des Populismus nicht wirklich zu erklären vermag. Wie auch immer, in allen drei Ländern spielte die direkte Beziehung zwischen Führerfigur und Volksmasse eine ganz entscheidende Rolle, obzwar die Führerfigur nicht in allen drei Fällen gleich charismatisch war. In allen drei Ländern existierte zwischen Führerfigur und Volk eine unmittelbare Geschäft-Gegengeschäft-Beziehung und in allen drei Ländern gab es einen starken, korporatistisch durchstrukturierten, semiautoritären bis autoritären Interventionsstaat, der jederzeit und überall eingreifen konnte, um eventuelle Störungen in der gesamtstaatlichen Harmonie sofort zu reparieren. Perón und Vargas erträumten sich möglicherweise eine Dauerpräsidentschaft bis zum Ende ihrer Tage. Für Cárdenas hingegen war von Anfang an klar, dass er sein sechsjähriges Mandat von 1934 bis 1940 ausüben und keinen Tag länger im Amt bleiben würde. Auch dies mag eine Vielzahl von strategischen Unterschieden zwischen einerseits dem Peronismus und dem Vargismus und andererseits dem Cardenismus erklären.
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5. Die linguistische Diskursanalyse als integraler Bestandteil der Politolinguistik
In diesem Kapitel wollen wir die Funktionsweisen wichtiger morphosyntaktischer, lexikalischer, semantischer, pragmatischer und argumentativer Strategien der politischen Rede beleuchten, um im Anschluss daran für den linguistischen Teil der politolinguistischen Analyse gerüstet zu sein.
5.1
Morphosyntax
Sehr oft wird bei der sprachlichen Analyse politischer Texte im Allgemeinen und politischer Reden im Besonderen das Hauptaugenmerk entweder auf die Wort- oder aber auf die Argumentationsanalyse gelegt. Dies geschieht nicht zufällig, denn wie zu sehen sein wird, sind diese tatsächlich zwei vielversprechende und ergiebige Ansätze. Wie dem auch sei, die Grundstruktur jeder realisierten Äußerung, in der einzelne Wörter oder auch Argumente betrachtet werden können, ist die morphosyntaktische. Die Morphosyntax umfasst zum einen die Morphologie1 und zum anderen die Satzstruktur und betrachtet die beiden aus derselben Perspektive. Morphosyntax könnte man folglich als das Miteinander von Wortbau und Satzbau verstehen, die sich gegenseitig bedingen, was weiter unten deutlich werden wird. Bei der Satzanalyse beginnt man traditionellerweise mit der Bestimmung der Satzart. Es stellt sich die Frage, ob es sich um einen einfachen oder um einen zusammengesetzten Satz handelt, um eine Satzreihe oder um ein Satzgefüge und ob etwa in letzterem Fall die Gliedsätze implizit oder explizit sind.2 Im Anschluss daran bestimmt man auch schon das Subjekt. Nominativ oder gar erster Fall klingt zugegebenermaßen bereits sehr nach Vorrangstellung dieser speziellen syntaktischen Funktion. Hat man erst
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Morphologie bedeutet [Form & Wort] bzw. [Form des Wortes] und leitet sich aus altgriechisch μορφή (Form, Gestalt) und λόγος (Wort, Rede, Sinn, Vernunft) ab. Als explizite Gliedsätze bezeichnet man vor allem in der italianistischen Linguistik Gliedsätze mit finitem Verb, als implizite hingegen bezeichnet man Gliedsätze mit infiniten Verbformen wie etwa Infinitiv-, Partizipial- oder Gerundivkonstruktionen.
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einmal das Subjekt identifiziert, werden dann die Funktionen der weiteren Satzglieder bestimmt. Diese Herangehensweise ist aber nicht die einzig mögliche. Eine diskursanalytisch verheißungsvolle Alternative dazu ist die Valenztheorie.3 In der Folge wollen wir deshalb zunächst die Grundprinzipien dieser Theorie darstellen und die wesentlichen Unterschiede zwischen ihr und der traditionellen vom Subjekt ausgehenden Konstituentenanalyse herausarbeiten. Im Anschluss daran werden wir aus der Perspektive der Valenztheorie einige morphosyntaktisch bedingte diskursive Strategien beleuchten, die für die linguistische Diskursanalyse besonders vielversprechend sind. Dabei geht es um die Aktanten- und Zirkumstantenrealisierungen, um die verschiedenen Diathesen, die gewählt werden, um eine bestimmte Perspektive auf eine Handlung oder ein Geschehen einzunehmen, um die diskursstrategische Nutzung der deverbalen Substantive, um den strategischen attributiven Gebrauch des Partizips Perfekt und schließlich um die markierte Zuweisung von Tiefenkasus.
5.1.1
Syntaktische Valenz, semantische Valenz und die Frage der Aktantenrealisierung
Lucien Tesnière, der Autor der Éléments de Syntaxe Structurale (2 1965), gilt gemeinhin als der Vater der modernen Valenztheorie.4 Die Valenztheorie ist vordergründig eine Syntaxtheorie, der die semantische Komponente jedoch von Anfang an quasi als Rückseite der Medaille eingeschrieben ist.5 Der Grundunterschied zwischen einerseits den Syntaxtheorien von Aristoteles bis Chomsky und andererseits der Valenz- bzw. Dependenztheorie ist der, dass bei letzteren eben nicht das Subjekt die ausgezeichnete Stellung einnimmt (cf. Welke 1988, 168), sondern das verbale Prädikat, und zwar deshalb, weil es von Anfang an die Satzstruktur in sich trägt. Es enthält also in nuce die »virtuelle Sachverhaltsdarstellung« (cf. Koch 1991, 301). Das kann man sich so vorstellen, dass das verbale Prädikat Leerstellen eröffnet, die besetzt werden müssen, um die Wohlgeformtheit des Satzes zu sichern. Vergleichen wir die drei folgenden Sätze: 1. Der Präsident tobt. 2. Der Präsident kritisiert die Kanzlerin. 3. Der Präsident verspricht den Partnern Unterstützung. Die drei verbalen Prädikate dieser Sätze sind tobt, kritisiert bzw. verspricht. tobt verlangt lediglich ein Subjekt und der Satz ist komplett. kritisiert eröffnet hingegen zwei Leerstellen, nämlich eine für das Subjekt und eine für das direkte Objekt, die beide besetzt werden müssen, um einen grammatikalisch richtigen Satz zu bilden. Das Prädikat verspricht regiert schließlich drei Satzglieder, nämlich eines im Nominativ, eines im Dativ und eines im Akkusativ, d.h. ein Subjekt, ein indirektes und ein direktes Objekt, die alle
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Zur Valenz und deren praktischer Anwendung in der Text- bzw. Diskursanalyse hat der Autor 2007 eine Monographie veröffentlicht (Danler 2007c). Auf dieser Monographie gründen die hier dargelegten, für die aktuelle Analyse relevanten Ausführungen zum Thema. Einen guten Überblick über die Geschichte der Valenztheorie bietet beispielsweise Ágel (2000, 13ff.). Dementsprechend heißt es bei Tesnière (2 1965, 42ff.) : »[…] le plan structural et le plan sémantique sont indépendants l’un de l’autre. Mais cette indépendance n’est qu’une vue théorique de l’esprit. […], on peut formuler le parallélisme en disant que le structural exprime le sémantique.« Die Form bringe also den Inhalt zum Ausdruck.
5. Die linguistische Diskursanalyse als integraler Bestandteil der Politolinguistik
drei vorhanden sein müssen, damit von einem grammatikalisch richtigen Satz gesprochen werden kann. In Abhängigkeit von der Anzahl der eröffneten Leerstellen, d.h. der Stelligkeit, spricht man dann von ein- zwei- bzw. dreiwertigen Verben.6 Allein, in der Valenztheorie spricht man nicht mehr von Subjekt, indirektem und direktem Objekt, sondern von Erst-, Zweit- und Drittaktanten.7 In einem informelleren Kontext sind nun allerdings auch andere als die genannten Äußerungsvarianten vorstellbar. Auf die Frage Was macht dieser Präsident denn die ganze Zeit? sind auch Antworten wie Er kritisiert oder Er verspricht vorstellbar. Bei derartigen Antworten handelt es sich dann allerdings nicht mehr um punktuelle, sondern um generische Aussagen.8 Wenn nun, wie in diesem Fall, bestimmte Ergänzungen weggelassen werden können, ohne dass der Satz seine Grammatikalität einbüßt, so handelt es sich bei diesen im Gegensatz zu den oben genannten obligatorischen Ergänzungen um fakultative Ergänzungen. Die klassischen Beispiele dafür sind Sie singt ein Lied vs. Sie singt, oder etwa auch Sie isst einen Apfel vs. Sie isst. Die Nennung oder Nicht-Nennung dieser Ergänzungen, d.h. die Aktantenrealisierung bzw. Aktantennullrealisierung in Abhängigkeit vom jeweiligen Kontext ist Thema der sogenannten pragmatischen Valenz (Nikula 2003),9 die für unsere Untersuchungen durchaus eine wichtige Rolle spielt. Zu klären gilt jedoch als nächstes, was bei der Aktantenrealisierung, die, wie oben dargestellt, gegebenenfalls eben auch unterbleiben kann, kognitiv im Sender und/oder Adressaten passiert.10 Wenn wir zu obigen Beispielen Der Präsident kritisiert die Kanzlerin vs. Der Präsident kritisiert bzw. Der Präsident verspricht den Partnern Unterstützung vs. Der Präsident verspricht zurückkehren, dann fällt als erstes auf, dass in beiden Fällen der jeweils erste Satz formal expliziter ist als der zweite. Aus semantischer Perspektive ist der jeweils zweite Satz zumindest tendenziell generisch.11 Im Falle der generischen Verwendung von kritisieren bzw. versprechen wird also lediglich der Erstaktant X expliziert: Der Präsident kritisiert bzw. Der Präsident verspricht. Obwohl es nun in beiden Sätzen nur einen realisierten Aktanten, nämlich den Erstaktanten gibt, ist davon auszugehen, dass es zumindest auf der semantischen Ebene doch noch ein zweites bzw. ein zweites und ein drittes Argu-
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Im Falle von Verben wie beispielsweise wechseln oder übersetzen spricht man gegebenenfalls auch von vierwertigen Verben, wenn das Verb tatsächlich vier Ergänzungen regiert, wie etwa in Er übersetzte das Buch vom Italienischen ins Deutsche. Diese Terminologie sollte wohl dazu dienen, die Vorrangstellung des Subjekts auszulöschen (oder zu verschleiern?), was de facto aber ja nicht wirklich gelang, denn Erstaktant klingt nicht unbedingt nach downgrading des ersten Falls. Es gibt auch die Ansicht, dass es sich bei X kritisiert Y im Gegensatz zu X kritisiert oder bei X verweigert Y Z im Gegensatz zu X verweigert um verschiedene Verben handelt. Der Unterschied liege da aber rein in der Generizität, nicht aber in der Intension, d.h. nicht im semantischen Gehalt der Verben, was etwa sehr wohl im Gegensatzpaar Er trinkt Wasser vs. Er trinkt der Fall ist. Dieser Terminus ist allerdings zu hinterfragen, weil sich ja nicht wirklich die Valenz, d.h. die Wertigkeit der Verben ändert, sondern nur die Realisierung der Argumente. Wenn es darum geht, die kognitiven Strukturen des Senders und/oder Empfängers zu erfassen, spricht man auch von kognitiver Valenz (cf. Gansel 2003). Das muss aber nicht so sein. Vorstellbar ist auch eine Äußerung wie Ich mache einen guten Vorschlag und was macht er? Er kritisiert. In diesem Fall kann sich sein Kritisieren durchaus auch punktuell auf meinen konkreten guten Vorschlag beziehen.
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ment gibt.12 Das heißt im Umkehrschluss, dass auf der semantischen Ebene das verbale Prädikat als verbaler Funktor sehr wohl über Leerstellen für Argumente verfügt. In unseren Beispielen eröffnen die genannten verbalen Funktoren also Leerstellen für folgende Argumente: x tobt; x kritisiert y; x verspricht z y und so wird etwa Der Präsident kritisiert als [Der Präsident kritisiert alles/jeden/das Ausland/die internationalen Organisationen/den Vertrag/den Wahlausgang etc.] verstanden. Bei der Transposition der semantischen Strukturen auf die syntaktische Ebene müssen nun aber eben nicht notwendigerweise alle Argumente als Aktanten realisiert werden, ohne dass diese allerdings einfach verschwinden. Dies führt dann eben von den Argumentstrukturen x kritisiert y bzw. x verspricht z y zu den reduzierten Aktantifizierungen X kritisiert bzw. X verspricht. Aus dem Gesagten ergibt sich, dass die Unterscheidung zwischen semantischer Argumentstruktur und syntaktischer Aktantifizierung für die linguistische Diskursanalyse höchst relevant ist, zumal die Aktantennullrealisierung einerseits dem Sender ungeahnte Möglichkeiten des Verschweigens und andererseits dem Empfänger einen immensen Gestaltungsraum für Interpretationen gewährt. Im Kernbereich der Valenztheorie gibt es eine grundlegende Unterscheidung zwischen den oben dargestellten Aktanten und den noch vorzustellenden Zirkumstanten.13 Es wurde festgehalten, dass die obligatorischen Aktanten zwecks grammatischer Wohlgeformtheit des Satzes notwendigerweise zu setzende Satzkonstituenten sind.14 Sätze wie *Der Präsident kritisiert oder *Der Präsident verspricht sind, wie oben erläutert, gemäß der Norm ungrammatisch, weil die verbalen Funktoren kritisiert bzw. verspricht verlangen, dass weitere Argumente aktantiell realisiert werden. Außer den besprochenen Aktanten gibt es nun aber noch andere Konstituenten, nämlich die Zirkumstanten, die möglicherweise aus kommunikativen Gründen sogar wichtiger sind als so mancher Aktant, die aber gemäß dem Kriterium der Grammatikalität nicht realisiert werden müssen.15 Dies sei an der Erweiterung unseres Beispiels veranschaulicht. Der oben genannte Satz Der Präsident kritisiert die Kanzlerin kann durchaus etwa zu Der Präsident kritisiert heute Nachmittag in seiner Residenz die Kanzlerin scharf, um ihr sein Unbehagen über ihre Vorgangsweise klarzumachen erweitert werden. Zum Minimalsatz, der erforderlich ist, um das Prinzip der Grammatikalität zu wahren, gesellt sich nun eine Reihe von Zirkumstanten, um Angaben über die Zeit, den Ort, die Art und Weise sowie die Finalität der thematisierten Handlung zu machen. Die Tatsache, dass bestimmte Angaben gemacht werden, andere jedoch nicht, lässt schon auf die kommunikative Bedeutung der realisierten Zirkumstanten schließen, zumal sie ja unter dem Aspekt der Grammatikalität des Satzes entbehrlich sind. Die Zirkumstanten sind also Angaben über die Umstände,
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Es gibt aber, wie oben gesagt, auch die Meinung, dass es bei der generischen Verwendung der Verben tatsächlich auch auf semantischer Ebene nur ein Argument gibt. In der deutschsprachigen Terminologie verwendet man für Aktant auch Ergänzung und für Zirkumstant Angabe. Auf die Frage der fakultativen Aktanten wurde oben kurz eingegangen. Nicht näher diskutieren wollen wir hier die Frage der Bezeichnung der notwendigen Umstandsangaben, wie etwa in Die Residenz befindet sich hinter dem Park. Hinter dem Park ist hier eine obligatorische Satzkonstituente, die entweder als Aktant oder aber auch als obligatorische Angabe bzw. als obligatorischer Zirkumstant bezeichnet worden ist.
5. Die linguistische Diskursanalyse als integraler Bestandteil der Politolinguistik
die aus kommunikativen, nicht aber aus formalsyntaktischen Gründen gemacht werden. Die Aktantennullrealisierung wird bei der Analyse jeweils im morphosyntaktischen Abschnitt Thema sein, die Zirkumstantennullrealisierung hingegen in den Kapiteln zur kognitiven Semantik bzw. zur kognitiven Pragmatik. Werfen wir als nächstes einen Blick auf die verschiedenen morphosyntaktischen Möglichkeiten, die Argumente der semantischen Ebene in Aktanten der syntaktischen Ebene zu verwandeln, weil dies für die linguistische Diskursanalyse durchaus von Bedeutung ist. Nehmen wir die einfache Funktorenstruktur x schreibt y, die wir sogleich aktantiell als X schreibt Y bzw. Er schreibt ein Buch realisieren wollen. Im Französischen heißt es analog zum Deutschen Il écrit un livre. Im Spanischen und Portugiesischen hingegen, den für unsere Analysen relevanten Sprachen, lauten die entsprechenden unmarkierten Varianten Escribe un libro bzw. Escreve um livro. Da fällt sogleich auf, dass der pronominale Erstaktant er des Deutschen bzw. il des Französischen weder im Spanischen noch im Portugiesischen abgebildet ist. In beiden letzteren Sprachen heißt es übersetzt einfach *Schreibt ein Buch. Das verbale Prädikat escribe bzw. escreve enthält den Erstaktanten und kennzeichnet diesen ausschließlich morphologisch durch die Verbendung. Wird jedoch im Spanischen oder Portugiesischen das entsprechende Pronomen verwendet, so bedeutet das bereits die Hervorhebung des Erstaktanten, wie etwa in Él escribe un libro bzw. Ele escreve um livro. Diese markierten Realisierungen entsprechen der französischen Realisierung Lui, il écrit un livre. Der Erstaktant erfährt in diesem französischen Satz eine Dreifachrealisierung: eine primäre durch die Verbendung, eine sekundäre durch das unbetonte Pronomen il und eine tertiäre durch das betonte Pronomen lui. Es kann aber durchaus noch weitere Realisierungen geben. Obiger Satz könnte auch lauten Lui, le grand professeur de Sciences Po, il écrit un livre und somit wäre eine vierte, d.h. eine quartäre nominale Realisierung dazugekommen. Schließlich gibt es noch die syntaktische Realisierung von Argumenten, die wir als quintäre bezeichnen wollen (cf. Danler 2007c). Wir zählen sowohl Qui trouve un ami, trouve un trésor als auch Celui qui trouve un ami, trouve un trésor dazu. Im ersten Fall haben wir einen Gliedsatz mit Subjektfunktion, im zweiten ein Demonstrativpronomen mit darauffolgendem Relativsatz, die gemeinsam ebenso die Subjektfunktion übernehmen. Die formal unterschiedlichen Aktantenrealisierungen sind aus pragmatischer Perspektive für die linguistische Diskursanalyse vor allem deshalb von nicht zu unterschätzender Bedeutung, weil sie großteils für die Hervorhebung sowie für das Ausblenden von an Handlungen bzw. an Geschehen Beteiligten verantwortlich sind.16 Betrachten wir als nächstes die Frage der Diathesen aus valenztheoretischer Perspektive, und zwar wiederum unter dem Blickwinkel ihrer Relevanz für die linguistische Diskursanalyse.
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Hier stellen wir exemplarisch nur die fünf Realisierungsvarianten des Erstaktanten dar. Weitere Ausführungen zu den Realisierungsvarianten der anderen Aktanten sowie der Zirkumstanten finden sich in Danler (2007c).
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Der klassische Populismus Lateinamerikas
5.1.2
Die Diathesen und die Veränderung der Valenzpotenz
Unter Diathese versteht man die sprachliche Abbildung der Art und Weise, wie die Beteiligten an einer Handlung oder an einem Geschehen teilnehmen. Das heißt, es geht um die Inblicknahme, um die Sichtweise, um die Perspektivierung eines Sachverhaltes, einer Handlung oder eines Geschehens. Unter diesem Aspekt interessieren uns die Passivdiathese, die Rezessivdiathese und die SE-Diathese. Die beiden Sätze Der Präsident kritisiert die Kanzlerin und Die Kanzlerin wird vom Präsidenten kritisiert perspektivieren dieselbe Handlung, aber aus unterschiedlichen Blickwinkeln. In der Passivdiathese wird die Objektkonstituente des entsprechenden Aktivsatzes thematisiert 17 bzw. im gegebenen Fall wird der Zweitaktant der Aktivdiathese zum Erstaktanten der Passivdiathese und der Erstaktant der Aktivdiathese verliert überhaupt den Status des obligatorischen Aktanten (cf. Berruto 1985, 74; Gutiérrez Ordóñez 2004, 150). Die Valenzpotenz hat sich verändert. Veränderung der Valenzpotenz bedeutet nichts anderes, als dass ein verbaler Funktor seine oben beschriebene, für den von ihm ausgehenden Satzbauplan bestimmende Stelligkeit verändert. Anders gesagt heißt das, dass sich die Anzahl der vom Funktor eröffneten Leerstellen für Argumente und daraus resultierende (obligatorische) Aktanten verringert oder gegebenenfalls auch erhöht. Ein Beispiel reicht aus, um das Gesagte zu veranschaulichen. Die Argumentstruktur des zweiwertigen Verbs unterzeichnen lautet x unterzeichnet y. Die daraus resultierende Aktantenrealisierung ergibt X unterzeichnet Y bzw. Der Präsident unterzeichnet das Dekret. Wird jedoch unterzeichnen im Passiv als unterzeichnet werden verwendet, dann hat dies zur Folge, dass sich die Valenzpotenz verändert. Auf der semantischen Ebene heißt die Funktorenstruktur dann x wird unterzeichnet, auf der syntaktischen leitet sich daraus X wird unterzeichnet bzw. Das Dekret wird unterzeichnet ab. Man kann natürlich von Y bzw. vom Präsidenten hinzufügen, allein, diese Konstituente hat den Status des obligatorischen Aktanten verloren, weil der Satz Das Dekret wird unterzeichnet im Gegensatz zu *Der Präsident unterzeichnet ein vollständiger ist. Es liegt auf der Hand, dass das Ausblenden von Aktanten im politischen Diskurs eine sehr interessante Option darstellt, gerade wenn es darum geht, dass das Agens nicht in Erscheinung treten soll. In der Folge sollen die verschiedenen Diathesen etwas genauer beleuchtet werden, zumal sie für die linguistische Diskursanalyse politischer Texte sehr relevant sind. Es geht dabei um die Aktiv- und die Passivdiathese, um die Kausativ- und die Rezessivdiathese sowie um die SE-Diathesen.
5.1.2.1
Die Passivdiathese
Wie bereits dargestellt, erfolgt durch die Passivierung eines Aktivsatzes eine aktantielle Reduktion. Der Präsident kritisiert die Kanzlerin wird zu Die Kanzlerin wird kritisiert und Der Präsident verspricht den Partnern Unterstützung wird zu Den Partnern wird Unterstützung versprochen. In beiden Fällen verschwindet das Agens zumindest von der Oberfläche. Aus diesem Grund wird die Passivdiathese als Mittel der De-Agentivierung oder auch De-Aktivierung verstanden. Es gehe darum, einen »von Haus aus agentivischen Sachverhalt unter Absehen von jeglicher Aktivität darzustellen« (Engel 1995, 59). La Fauci (1985, 17
Thema wird hier im Sinne der funktionalen Satzperspektive als Gegensatz zu Rhema verstanden.
5. Die linguistische Diskursanalyse als integraler Bestandteil der Politolinguistik
329) erachtet die Passivdiathese im Gegensatz zur Aktivdiathese als »modo del fatto più che del fare« und auch Eroms (2001, 22) folgt dieser Argumentationslinie, wenn er die Passivkonstruktionen als »Konstruktionen, die agenshaltige Konstruktionen vermeiden helfen« beschreibt. Tatsächlich wird in weiten Kreisen davon ausgegangen, dass in pragmatischer Hinsicht der Hauptgrund für die Verwendung der Passivdiathese darin besteht, dass das Subjekt (oder eben der Erstaktant) der entsprechenden Aktivdiathese getilgt werden soll, d.h. in der Oberflächenstruktur nicht mehr sichtbar sein soll (cf. Blume 1993, 51; Cinque 1976, 20ff.; Ineichen 1998, 37; La Fauci 1985, 334; Nikula 1978, 38 etc.). Die möglichen Gründe dafür, dass ein agentives Subjekt bzw. ein agentiver Erstaktant von der Oberfläche verschwinden soll, sind vielfältig. Vielleicht ist das agentive Subjekt unbekannt, vielleicht soll es aber auch nicht bekannt gemacht werden. Vielleicht ist es aber auch allen bekannt, soll aber nicht in Erinnerung gerufen und auf diese Weise allmählich ausgeblendet werden. In der Formulierung Der Präsident baut eine Mauer rückt der Präsident kraft seiner Agentivität irgendwie in das Zentrum der Botschaft, was in der entsprechenden Passivdiathese Eine Mauer wird gebaut natürlich völlig anders aussieht.
5.1.2.2
Die Rezessivdiathese
Wir beschrieben oben die Diathese als sprachliche Abbildung der Art und Weise, wie die Beteiligten an einer Handlung oder an einem Geschehen teilnehmen. Die unterschiedlichen sprachlichen Abbildungen zeigen sich in Form verschiedener syntagmatischer Strukturen, in denen den syntaktischen Funktionen verschiedene semantische Rollen zugewiesen werden (cf. Danler 2007c, 205). Im Aktivsatz Der Präsident baut eine Mauer ist der Erstaktant (das Subjekt) Agens. Im entsprechenden Passivsatz Eine Mauer wird gebaut ist der Erstaktant (das Subjekt) hingegen (effiziertes) Patiens,18 was für die linguistische Diskursanalyse nicht unerheblich ist. Eine aus semantischer Perspektive ähnliche Rollenverschiebung gibt es von der faktitiven oder kausativen zur rezessiven oder anti-kausativen Diathese.19 Kausativa (Faktitiva) und Rezessiva (Anti-Kausativa) sind die komplementären Seiten der ergativen Verben. Das bedeutet, dass diese Verben ohne formale Markierung entweder kausativ oder rezessiv verwendet werden können20 und das bedeutet in vielleicht gängigeren Kategorien wiederum, dass sie entweder als transitive oder als intransitive Verben eingesetzt werden. Welke (2002, 220) kommentiert, dass es bei den ergativen Verben um jene intransitiven geht, die sich aus originär transitiven ableiten. Der aus valenztheoretischer Perspektive interessante Aspekt ist wiederum der, dass bei der Transformation der kausativen in die anti-kausative oder rezessive Varian-
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Das effizierte Patiens entsteht neu, das affizierte Patiens ist eines, das eine Veränderung erfährt. In Sie bauen eine Mauer ist das Patiens Mauer effiziert, in Sie streichen die Mauer ist es hingegen affiziert. Tesnière (2 1965, 272) sagt dazu : »À l’inverse de la diathèse factitive, la diathèse récessive diminue d’une unité le nombre des actants.« Tesnières Beispiele dazu werden wir erst in der Rubrik SEDiathesen behandeln. Herslund (2001, 36) bezeichnet jene Verben, die ohne formalen Unterschied kausativ oder rezessiv verwendet werden, als verbes symétriques.
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te eine Valenzreduktion stattfindet,21 weil die Agentivität wiederum in den Untergrund verschwindet. Ein Beispiel reicht aus, um klarzumachen, worum es geht. Der Präsident beginnt seine Rede ist kausativ, hingegen Die Rede beginnt ist rezessiv oder eben anti-kausativ, und zwar deshalb, weil das Agens ausgeblendet ist. Es ist gerade so, als ob die Rede eine intrinsische Kraft besäße, um von sich aus zu starten. Beginnen als transitives Verb ist zweiwertig, die ihm inhärente Argumentstruktur lautet x beginnt y. Beginnen als intransitives Verb ist einwertig und die entsprechende Argumentstruktur lautet x beginnt. Warum auch die Rezessivdiathese für die linguistische Diskursanalyse interessant ist, liegt auf der Hand. Erneut ist es möglich, die Agentivität auszublenden. Die Relevanz für den politischen Diskurs zeigt sich in der Gegenüberstellung der beiden Sätze San Escobar begann den Krieg vs. Der Krieg begann.22 Im ersten Satz ist, wenn auch nur synekdochisch, das für den Kriegsbeginn verantwortliche Land identifiziert, im zweiten ist davon keine Rede. – Der dritte und letzte für unsere Untersuchungen relevante Bereich aus dem Gebiet der Diathesen, den wir hier betrachten werden, ist jener der SE-Konstruktionen.
5.1.2.3
Die SE-Diathese
Ohne hier näher auf die in streng linguistischen Arbeiten lange und kontrovers geführte Diskussion über das Wesen der SE-Konstruktionen23 eingehen zu wollen, seien davon an dieser Stelle zumindest einige ganz grundlegende Merkmale sowie die für unsere Zwecke relevanten Punkte genannt.24 In beiden für unsere Untersuchungen relevanten Sprachen, also im Spanischen und im Portugiesischen, sind die SE-Konstruktionen sehr geläufig.25 Se trabaja, se lucha im Spanischen sind trabalha-se bzw. luta-se im Portugiesischen, man arbeitet, man kämpft im Deutschen. Se hacen ciertos trabajos bzw. se hace cierto trabajo im Spanischen und fazem-se certos trabalhos bzw. faz-se certo trabalho im Portugiesischen entsprechen dem deutschen gewisse Arbeiten werden gemacht oder man macht gewisse Arbeiten bzw. eine gewisse Arbeit wird gemacht oder man macht eine gewisse Arbeit. Der offensichtliche Unterschied zwischen dem ersten und dem zweiten Typus der SEKonstruktionen ist der, dass im ersten Fall ein intransitives Verb im Singular auf das se folgt, während im zweiten Fall auf ein transitives verbales Prädikat ein Nominalsyntagma folgt, wobei der Numerus des verbalen Prädikats vom Numerus genau dieses 21
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Ágel (2000, 122ff.) schlägt vor, solche Verben, die transitiv und intransitiv zu verwenden sind, als polyvalente Verben zu betrachten. Aus einem Systemvalenzträger ließen sich dann primäre, sekundäre und neutrale Normvalenzträger ableiten. Das Land San Escobar gibt es natürlich nicht. Der polnische Außenminister Witold Waszczykowski berichtete jedoch allen Ernstes in New York, Vertreter des Karibikstaates San Escobar getroffen zu haben. (http://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5152771/Polens-Aussenminister-traeumt-von-San-Escobar) (12.01.2017) Das SE steht je nach Sprache entweder für se oder für si, z.B. spanisch se hace und portugiesisch fazse, das im Deutschen entweder durch wird gemacht oder man macht wiedergegeben wird. Italienisch heißt es si fa. Siehe etwa Arruda (2000, 99); Danler (2007c, 214ff.); Gutiérrez Ordóñez (2004, 154); HundertmarkSantos Martins (2 1998, 102); Salvi/Vanelli (1992, 35ff.); Sánchez López (2002, 16); Schwarze (2 1995, 328); Serianni (5 1999, 426); Wehr (1993; 1995) und viele mehr für eine ausführliche Diskussion des Themas. Das Gleiche gilt übrigens für das Italienische und weitere romanische Sprachen.
5. Die linguistische Diskursanalyse als integraler Bestandteil der Politolinguistik
Nominalsyntagmas abhängig ist. Dies ist wiederum ein klares Indiz dafür, dass dieses Nominalsyntagma die Subjektfunktion in diesem Satztyp innehat und daraus erklärt sich wohl auch, warum diese Konstruktion im Spanischen als pasiva refleja und im Portugiesischen als passiva sintética bezeichnet wird.26 In Bezug auf die unpersönlichen SE-Konstruktionen wie Se trabaja mucho bzw. Trabalha-se muito oder Se lucha mucho bzw. Luta-se muito steht allerdings ebenso fest, dass auch hier das se nicht die Subjektfunktion innehat. Das se entspricht also weder dem deutschen man noch dem französischen on. Folglich stellt sich berechtigterweise die Frage nach dem Subjekt in diesen Sätzen und es ist wohl tatsächlich so, dass der unpersönlichen SE-Konstruktion das Oberflächensubjekt abhandengekommen ist. Das se ist in diesen Konstruktionen auch kein Reflexivum, sondern einfach ein Platzhalter. Das Subjekt (bzw. der Erstaktant) wird blockiert, es fehlt und doch haben diese Sätze eindeutig die Eigenschaften aktiver Konstruktionen (Albrecht 1993, 263; Danler 2007c, 219ff.; Koch 1994, 50; 1995, 132; Ulrich 1989, 37ff. etc.).27 Bevor wir uns jedoch der diskursanalytischen Relevanz dieser Konstruktionen zuwenden, machen wir einen Schritt zurück, um kurz nach dem Ursprung dieser Konstruktionen zu fragen. Kemmer (1993, 179) hat herausgefunden, dass die SEKonstruktionen in den romanischen Sprachen seit dem dreizehnten Jahrhundert belegt sind und dass sie ursprünglich nur in Verbindung mit transitiven verbalen Prädikaten verwendet wurden. Erst später wurden davon ausgehend SE-Konstruktionen auch ausgehend von intransitiven verbalen Prädikaten gebildet.28 Coseriu (1987, 139) betont jedenfalls, dass alle SE-Konstruktionen eine gemeinsame grammatische Bedeutung haben, nämlich die Umkehrung der Transitivität. In Bezug auf die diskursstrategische Kraft der SE-Konstruktionen lässt sich aus dem Gesagten folgendes schließen: In SE-Konstruktionen mit transitivem verbalen Prädikat gibt es einen klar identifizierbaren Erstaktanten bzw. ein klar identifizierbares Subjekt, welches allerdings häufig nicht gerade agentive Kraft zu haben scheint. Zur Erinnerung: In Se leen muchos libros ist muchos libros Erstaktant bzw. Subjekt. Das heißt, dass auch in derartigen Konstruktionen das tatsächliche Agens ausgeblendet wird. In SE-Konstruktionen mit intransitivem verbalen Prädikat ist der Erstaktant auf der Satzoberfläche überhaupt getilgt oder blockiert, sodass man gar nicht in Versuchung kommt, danach zu suchen. Es hat sich also herausgestellt, dass die SE-Konstruktionen eine weitere Möglichkeit darstellen, Argumente geschickt auszublenden, indem sie aktantiell ausgelöscht werden. Der dritte Bereich, den wir auf der Grundlage der Valenztheorie unter dem Blickwinkel der diskursiven Strategie betrachten wollen, ist jener der deverbalen Substantive.
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Im Italienischen entspricht diese Konstruktion dem si-passivante: Si fanno certi lavori … Unbeantwortet muss vorerst aber wohl die Frage bleiben – so sie gestellt wird –, welches Argument durch die Endung der dritten Person Singular des verbalen Prädikats realisiert wird. Quesada (1997, 72) und Sánchez López (2002, 123) gehen davon aus, dass die SE-Konstruktionen ursprünglich Reflexivität ausdrückten. Auch sie bestätigen jedoch, dass diese Konstruktionen zunächst in Verbindung mit transitiven und erst später mit intransitiven Verben entstanden.
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Die deverbalen Substantive
Die deverbalen Substantive sind jene Substantive, die sich aus Verben ableiten und im Vergleich zum Basisverb eine morphologische Veränderung erfahren.29 Der substantivierte Infinitiv, den bereits Tesnière (2 1965, 418) als »catégorie mixte, un terme médian entre deux catégories« bezeichnet hat und der auch nach Díaz Hormigo (1993, 482ff.) sowohl über einen nominalen als auch über einen verbalen Wert verfügt,30 gehört also nicht dazu.31 Bei der Nominalisierung von Verben gibt es im Großen und Ganzen einen Valenzverlust, den Wiegand (1996, 138) geradezu als »das Wesentliche bei der Substantivierung von Verben« betrachtet. Helbig (1976, 136) spricht nicht von Valenzverlust, sondern er sieht im Falle der Substantivierung von Verben eine Veränderung des Aktantenstatus, und zwar in dem Sinne, dass die Aktanten der deverbalen Substantive in der Regel fakultativ zu setzende sind. Motsch (1999, 152) argumentiert entlang derselben Linie, indem er sagt: »1. Die Argumentstellen der semantischen Repräsentation von Verben mit den zugehörigen semantischen Rollen bleiben bei der reinen Nominalisierung erhalten; 2. Notwendigkeit und Art der sprachlichen Realisierung verändern sich mit der Nominalisierung.« Auch Motsch betont also den aktantiellen Statuswechsel im Zuge der Nominalisierung von Verben. Das Entscheidende aus pragmatischer Sicht ist die Tatsache, dass fakultative Ergänzungen gesetzt werden können, aber eben nicht gesetzt werden müssen. Zumindest tendenziell scheint es aber in Bezug auf die Veränderung des aktantiellen Status der Argumente der nominalisierten Verben einen Unterschied zu geben, je nachdem ob sie sich einerseits aus einwertigen oder andererseits aus zwei- bzw. drei- oder sogar vierwertigen Ausgangsverben ableiten. Abhängig von der Semantik des Verbs ist es mitunter unerlässlich, den aus dem Erstaktanten des einwertigen Verbs resultierenden genitivus subjectivus zu spezifizieren, wie aus den folgenden Beispielen hervorgeht. Ansteigen und abstürzen sind einwertige Verben.32 Als Beispiele seien die Sätze Die Inflation steigt an. Der Kurs stürzt ab gebildet. Anstieg und Absturz sind die aus diesen Verben resultierenden Nominalisierungen. Jedoch sowohl *Der Anstieg gefährdet den Wirtschaftsaufschwung als auch *Der Absturz gefährdet den Wirtschaftsaufschwung sind keine wirklich sinnvollen Aussagen. Die Spezifizierung des genitivus subjectivus ist in beiden Fällen unerlässlich, wodurch die Valenzreduktion allerdings ausbleibt. Dies führt dann zu Der Anstieg der Inflation gefährdet den Wirtschaftsaufschwung bzw. zu Der Absturz der Kurse gefährdet den Wirtschaftsaufschwung. Anders sieht es bei den zwei- und mehrwertigen Verben aus, im Zuge deren Nominalisierung durchaus der Erstaktant des Ausgangsverbs unspezifiziert bleiben kann, wie in den folgenden Beispielen zu sehen ist. Aus der Nominalisierung der zweiwertigen verbalen Prädikate der Sätze Die Direktion spart 29 30 31
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Eine ausführliche Diskussion des Themas findet sich wiederum in Danler (2007c). Díaz Hormigo (1993, 482) spricht dabei von »derivación impropia«. Wir können auch hier nicht auf die gesamte, schon lange andauernde Diskussion über die deverbalen Substantive eingehen, sondern werden davon nur die für unsere Untersuchungen relevanten Aspekte beleuchten. In X steigt von Y auf Z an bzw. X stürzt von Y auf Z ab sind Y und Z höchstens als fakultative Aktanten zu werten.
5. Die linguistische Diskursanalyse als integraler Bestandteil der Politolinguistik
Stellen ein. Die Parlamentarier genehmigen den Vorschlag. Die Steuern belasten die Kaufkraft ergeben sich die Einsparung der Stellen, die Genehmigung des Vorschlags und die Belastung der Kaufkraft. Davon ausgehende Sätze könnten lauten: Die Einsparung der Stellen provozierte heftige Kritik. Die Genehmigung des Vorschlags ist eine Frage der Zeit. Die Belastung der Kaufkraft wird unerträglich. In allen drei Beispielen ist das erste Argument der Ausgangsverben spurlos verschwunden und genau das ist ein diskursstrategisches Mittel, das unerwünschte Information von der Textoberfläche verschwinden lässt. Abschließend sei noch auf die durchaus nützliche Klassifizierung in nomina agentis, nomina actionis und nomina acti verwiesen, in denen es ebenso um das Agens, die Handlung bzw. das Resultat geht, worauf an dieser Stelle aber nicht näher eingegangen werden muss (cf. Danler 2007c, 254).
5.1.4
Der attributive Gebrauch des Partizips Perfekt
Eine weitere Möglichkeit der Nullrealisierung von an und für sich obligatorischen Aktanten bietet die attributive Verwendung des Partizips Perfekt, was am folgenden Beispiel veranschaulicht sei. Im Satz Die verwundeten Demonstranten zogen ab wird das Partizip Perfekt verwundet attributiv gebraucht. Das Verb verwunden ist aber zweiwertig, seine Argumentstruktur lautet x verwundet y. Beim attributiven Gebrauch des Partizips muss das Agens des Verwundens jedoch nicht expliziert werden, wodurch sich also eine neue Möglichkeit eröffnet, das Agens auszublenden.
5.1.5
Die Tiefenkasus
Abschließen wollen wir dieses Unterkapitel mit einem kurzen Blick auf die Tiefenkasus oder semantischen Rollen, der freilich genauso gut in der folgenden Semantikdiskussion Platz finden könnte. Da wir aber diesen Blick auf die Eigenschaften der valenzmäßig programmierten Argumente bzw. Aktanten richten, was in der traditionellen Diktion ja nichts anderes als Inblicknahme der syntaktischen Funktionen heißt, wollen wir ihn hier platzieren. Die Tiefenkasus oder semantischen Rollen bezeichnen die Rollen der Partizipanten einer Handlung oder eines Geschehens in Abhängigkeit vom Situationskern (cf. Danler 2017b; Lehmann). Sie sind Teil der konzeptuellen Struktur (cf. Jackendoff 1990) und formieren gemeinsam eine Rollenkonstellation, die ihrerseits die semantische Struktur gesamthaft abbildet (cf. Jackendoff 1983, 188). Die Tiefenkasus oder semantischen Rollen werden folglich erfasst, indem die syntaktisch-semantischen Relationen analysiert werden. Das bedeutet, dass es zu untersuchen gilt, welche semantischen Funktionen, oder eben Rollen, den syntaktischen Funktionen zugeordnet sind, bzw. welche semantischen Rollen die einzelnen syntaktischen Funktionen spielen. Es gibt nun völlig unterschiedliche Auffassungen davon, welche und wie viele semantische Rollen überhaupt anzusetzen sind, was für unsere Untersuchung aber gar nicht entscheidend ist
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Der klassische Populismus Lateinamerikas
(cf. Dowty 1991, 547; Fillmore 1977c, 72; Wotjak 2004, 3).33 Die Aktanten bzw. syntaktischen Funktionen spielen naturgemäß immer irgendeine semantische Rolle, d.h. sie haben naturgemäß immer irgendeine semantische Funktion. Diese Funktionen werden den Ergänzungen nämlich vom Valenzträger als Valenzeigenschaften oder eben Rollencharakteristika übertragen (cf. Dowty 1991; Fillmore 1968, 1977c; Jackendoff 1983, 1990, 2002; Primus 2012; Rauh 1988, Welke 2000, 620 etc.). Ein Beispiel genügt, um dies zu veranschaulichen. Das Verb geben ist, wie gesagt, dreiwertig. x gibt z y > X gibt Z Y > Der Kanzler gibt den Pensionisten einen Hunderter. X (der Kanzler) ist Agens, Y (einen Hunderter) ist Patiens, Z (den Pensionisten) ist Benefizient. Sollte es nun synekdochisch heißen Der Staat gibt den Pensionisten einen Hunderter, so erscheint plötzlich der Staat als (wohlwollendes) Agens, was diskursanalytisch nicht unbedeutend ist. Die Tiefenkasus oder semantischen Rollen können also aus diskursstrategischem Interesse metaphorisch, metonymisch oder eben synekdochisch neu bzw. markiert verteilt werden. Durch Metaphorisierung, Metonymisierung oder Synekdochisierung tauchen plötzlich Personen, Gegenstände oder auch Abstrakta auf, die möglicherweise überraschende Rollen spielen. Allein, das scheint wohl seinen diskursstrategischen Grund zu haben, wie zu sehen sein wird.
5.2
Lexikologie und lexikalische Pragmatik
Die Lexikologie ist jene Subdisziplin der Sprachwissenschaft, die sich mit der Beschreibung und Erforschung des Wortschatzes der Sprache beschäftigt. Beschreibung und Erforschung des Wortschatzes setzen zunächst voraus, dass geklärt wird, was eigentlich ein Wort ist. In vielen Fällen erscheint diese Klärung wahrscheinlich unproblematisch, aber eben längst nicht in allen. Frosch ist ein Wort, Mann ist ein Wort, aber ist auch Froschmann ein Wort? Ist es vor allem auch dann ein Wort, wenn man es getrennt schreibt, wie etwa im Italienischen, Portugiesischen oder Spanischen, wo es uomo rana, wörtlich *Mann Frosch (oder aber auch sommozzatore), homem rã bzw. hombre rana heißt? Oder macht es bereits einen Unterschied, wenn Frosch und Mann durch Bindestrich verbunden bzw. getrennt sind, wie etwa im französischen homme-grenouille, wörtlich *Mann-Frosch? Und wie ist es, wenn ein Wort wie mitkommen oder aufpassen plötzlich imperativisch verwendet wird und es dann Komm mit! bzw. Pass auf! heißt? Teilt sich dann ein Wort in zwei, denn mitkommen bzw. aufpassen zählen ja wohl eher jeweils als ein Wort? Und wie ist es bei Verbalperiphrasen und Phraseologismen? Komplexe Ausdrücke wie im Begriff sein etwas zu tun, französisch être sur le point de faire quelque chose, italienisch stare per fare qualcosa, portugiesisch estar prestes a fazer alguma coisa, spanisch estar a punto de hacer algo oder auch englisch to be about to do something versprachlichen jeweils ein Konzept, nämlich allein die Aktionsart der Inchoativität, d.h. des Beginnens. Sind es dann trotzdem jeweils sechs bis acht Wörter? Bei der Definition des Wortes geht es offensichtlich wieder einmal darum, sich gemäß funktionaler oder auch nur 33
Fillmore (1968, 24) geht von einer Einteilung in Agens, Instrumental, Dativ, Faktitiv, Lokativ und Objekt aus. Lehmanns Klassifizierung hingegen sieht beispielsweise Agens, Patiens, Rezipient, Adressat, Experiens, Komitativ, Instrument, Locus, Ursprung, Ziel, Thema und Benefizient vor.
5. Die linguistische Diskursanalyse als integraler Bestandteil der Politolinguistik
rein formaler Kriterien auf etwas Bestimmtes festzulegen, weshalb es eben auch unterschiedliche Definitionen gibt. Für unsere Zwecke sind derartige Diskussionen jedoch nicht von primärer Relevanz. Grosso modo erachten wir all jene sprachlichen Einheiten als Wörter, die in einer natürlichen Sprache eine eigenständige Bedeutung haben. Folglich ist Frosch ein Wort, Mann ist ein weiteres und Froschmann ein drittes. Für unsere Analysen ist es wichtig zu erheben, welche Funktionen die verschiedenen Wörter im Diskurs übernehmen. Das Wort an sich ist weder gut noch schlecht. Wörter werden verwendet, um etwas als gut oder schlecht, positiv oder negativ darzustellen. Freundschaft und Feindschaft bezeichnen jeweils verschiedene soziale Beziehungen. Eine damit verbundene Wertung ist ideologischer, ethisch-moralischer und vielleicht noch religiöser Natur. Der politische Diskurs ist nun gerade nicht neutral, sondern sehr wohl wertend, weshalb wertende Kategorien zum Zwecke der Typologisierung der in den Reden verwendeten Wörter sinnvoll und hilfreich sind. In jenem Aufsatz, in dem ich die folgende Klassifizierung der Schlagwörter ausarbeitete (Danler 2014), sprach ich von den Potjemkinschen Dörfern in der politischen Rede, womit ich mich offensichtlich nicht auf architektonische, sondern auf lexikalische Konstruktionen zum Zwecke der diskursiven Schönung bezog.34 Schlagwörter dienen also unter anderem auch der rhetorischen Fassadenmalerei. Aus dem lexikalischen Blickwinkel werden wir also versuchen, die in den Reden verwendeten Schlagwörter, Syntagmen und gegebenenfalls Phrasen nach diskursfunktionalen Kriterien zu klassifizieren. Schöne sprachliche Fassaden in Analogie zu den Potjemkinschen Dörfern finden sich in vielen Kommunikationsbereichen. Prototypisch dafür sind die diversen Formen des persuasiven Diskurses, in dem es meist in erster Linie um Manipulation und oft erst in zweiter Linie um Information geht. Werbebotschaften und politische Slogans und Reden sind Paradebeispiele dafür. Allerdings sind das Schön-Reden, Beschönigen und Hochstilisieren sowie das Verharmlosen und Schlecht-Machen genauso integraler Bestandteil der Alltagskommunikation, zumal diese nicht weniger interessengeleitet (cf. Burkhardt 2003) ist als der prototypisch persuasive Diskurs der politischen Rede oder auch der Werbung. Kommunikation ist an sich interessengeleitet, zumal in jeder Form von Kommunikation ein Ziel verfolgt wird, sei es auch noch so klein und scheinbar unbedeutend. Die kognitive Pragmatik bestätigt dies durch Sperber/Wilsons Relevanztheorie. Das Relevanzprinzip besagt: »every act of ostensive communication communicates a presumption of its own optimal relevance« (Sperber/Wilson 2 2001, 158; cf. Schmid 2012). In der Folge wird zwischen dem kognitiven und dem kommunikativen Relevanzprinzip unterschieden. Dem kognitiven Relevanzprinzip gemäß ist die menschliche Kognition prinzipiell auf Relevanzmaximierung ausgerichtet. Gemäß dem kommunikativen Relevanzprinzip lösen Äußerungen hingegen »general expectations of relevance« (Wilson 2003, 283) aus. Das heißt zum einen, dass ich, sobald ich etwas
34
Den Ausdruck Potjemkinsche Dörfer gibt es in vielen Sprachen, von den Potyomkin villages bis zu den Потёмкинские деревни. Der Günstling Katharinas der Großen, Feldmarschall Grigori Alexandrowitsch Potjomkin, ließ der Legende nach entlang des Weges, auf dem Katharina nach Neurussland kommen sollte, schöne Fassaden errichten, um vor ihr die Armut des Landes und der Bevölkerung zu verheimlichen (cf. Danler 2014).
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artikuliere und damit bereits kommuniziere, für das Kommunizierte Relevanz beanspruche. Zum anderen heißt es aber auch, dass sich der Adressat, an den das von mir Kommunizierte ergeht, erwartet, dass die Botschaft relevant ist. Dies bedeutet in der Terminologie der Relevanztheorie, dass das Kommunizierte notwendigerweise positive kognitive Effekte hat. Da Sprache in Gebrauch interessengeleitet ist, ist sie stets als strategisches Mittel zu verstehen, dessen man sich bedient, um außersprachliche Ziele zu erreichen. Der Sprachbenutzer kann bzw. muss in der Regel zwischen einer Vielzahl von lexikalisch-pragmatischen, morphosyntaktischen sowie rhetorisch-argumentativen Möglichkeiten wählen, um seine Interessen zu kommunizieren, d.h. um diese an den Adressaten zu richten. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn er sich bewusst mit den verschiedenen sprachlichen Umsetzungsmöglichkeiten der semantischen Inhalte bzw. Konzeptualisierungen beschäftigt, d.h., wenn er bei der Versprachlichung der Konzepte bewusst onomasiologisch vorgeht. Text und Diskurs sind jeweils etwas Verflochtenes oder Verwobenes, das abhängig von Geschmack und Interesse schön oder auch weniger schön gestaltet werden kann. Das ästhetische Kriterium der Schönheit liegt nun ja bekanntlich im Auge des Betrachters. Wie kann man nun aber wissen, was der Empfänger als schön, ansprechend und gefällig erachtet? Vielleicht ist es umgekehrt leichter anzunehmen, dass für den Textempfänger all das nicht gefällig oder ansprechend ist, was ihn irritiert, provoziert, verunsichert, beleidigt oder vielleicht auch nur ganz einfach langweilt. Wir werden als nächstes eine Klassifizierung der Schlagwörter vornehmen, die auf markante Weise bestimmte Textfunktionen wahrnehmen. Es geht hierbei konkret um Hochwert- und Unwertwörter, Fahnen- und Stigmawörter, Vexier-, Schmäh- und Schimpfwörter, um Programm- und Zeitgeistwörter sowie um Nominationen und Euphemismen.35
5.2.1
Schlagwörter
Schlagwörter sind ein wichtiger Bestandteil des politischen Diskurses (cf. u.a. Niehr 2017, 151ff.). Es sind sogar gerade die Schlagwörter, die der Rede eines Politikers oder ganz generell dem politischen Diskurs eines Lagers, einer Ideologie oder auch einer Partei das Spezifische verleihen, das ihn handhabbar oder klassifizierbar macht. Die Schlagwörter besitzen einen gewissen Wiedererkennungseffekt, lenken die Aufmerksamkeit auf sich und wirken inmitten des Unbekannten vertraut. Das Schlagwort macht die Textoberfläche zur Fassade mit einer bestimmten Stilrichtung, um im Jargon zu bleiben, wobei es naheliegend ist, dass es letztlich mehrere Fassaden mit ähnlicher Dekoration geben wird. Was ist nun aber ein Schlagwort? Schlagwörter sind nach Bachem, dem Autor einer kleinen Standardeinführung in die politische Sprache, »solche Ausdrücke […], die eine politische aktuelle Tendenz, ein Problem, einen Lösungsvorschlag oder irgendeine politische Gegebenheit schlaglichtartig charakterisieren und subjektiv
35
Die hier abgebildete Klassifizierung von den Schlagwörtern bis zu den Euphemismen entstammt Danler (2014, 264-268). Für jenen Beitrag wurde sie von mir ausgearbeitet und dann mit einer Fülle von Textbeispielen bestückt, die hier allerdings nicht wiedergegeben werden. Die Grundlage dieser Klassifizierung bildet allerdings Burkhardt (2003).
5. Die linguistische Diskursanalyse als integraler Bestandteil der Politolinguistik
bewerten« (Bachem 1979, 63). Weiters hält er fest, »sie simplifizieren, sind einprägsam und mobilisieren durch ›assoziativen Appell‹« (Bachem 1979, 63). Auch Schröter betont den simplifizierenden Charakter der Schlagwörter, da diese oft ein ganzes Programm kondensieren und in der Folge transportieren. Eine kognitive Hauptfunktion der Schlagwörter sei, komplexe Sachverhalte so zu umreißen, dass diese in der Kommunikation jeweils durch ein Wort bezeichnet werden können (Schröter 2009, 20ff.). Inhaltlich geht es bei den Schlagwörtern in erster Linie um jeweils Aktuelles (cf. Felbick 2003, 3). Auf komprimierte Weise würden politische Einstellungen ausgedrückt, was allerdings nicht selten zu inflatorischer Verwendung der Schlagwörter führe, nicht zuletzt deshalb, weil die Grenzen der ihnen zugrundeliegenden Konzeptualisierungen wohl an Schärfe verlieren und die semantische Komponente der Schlagwörter dadurch Gefahr läuft, zusehends vager zu werden. Es entsteht wohl nicht ganz unberechtigterweise der Verdacht, dass Schlagwörter, die ganze Programme kondensieren und diese dann noch in verschiedenen Kontexten transportieren, letztlich in erster Linie schöne Worthülsen oder ungefährliche Leerformeln darstellen, wenngleich betont wird, dass trotz des großen semantischen Spielraums, den sie schaffen (cf. Schröter 2009, 23), bzw. dass trotz der Elastizität der politischen Wörter (Fischer et al. 1986, 85) aufgrund einer bestimmten Vorverständigung (Fuhs 1987, 27) in Bezug auf den semantischen Gehalt der Schlagwörter von gewissen Abstraktionen je zu konkretisierender Inhalte ausgegangen werden kann. Schlagwörter stehen, wie oben erwähnt, nicht nur für Programmatisches, sondern sie repräsentieren häufig sogar mehr oder weniger komplexe Argumentationen (cf. Klein 1989, 13). Da aber die komplexe Argumentation im einzelnen Schlagwort gerade nicht ausgeführt werden kann, entsteht erst recht die Gefahr der impliziten Trugschlüsse, der fallacies, und somit der eklatanten Manipulation (cf. Klein 1989, 14). Klein (1989, 11) bezeichnet die Schlagwörter als »Hauptwaffe der politischen Auseinandersetzung«, zumal sie drei zentrale Funktionen im politischen Diskurs erfüllen: Sie beschreiben, sie bewerten und sie appellieren (cf. Klein 1989,12), wobei Appell und Bewertung bei zahlreichen Autoren in der sogenannten deontischen Funktion zusammenfließen (cf. Hermanns 1989 etc.). Nach alldem, was soeben, wenn auch nur kursorisch, über die Schlagwörter gesagt wurde, bleibt zu Recht der Verdacht bestehen, dass es sich bei den Schlagwörtern trotz allem um eine recht heterogene Gruppe von Wörtern handelt. Außerdem werden mitunter andere Bezeichnungen als Synonyme oder Quasi-Synonyme für Schlagwörter verwendet, wie etwa Schlüsselwörter als Kern- bzw. Kennwörter bestimmter Ideologien oder Doktrinen (cf. Bachem 1979, 63) oder auch Symbolwörter, die allerdings laut Girnth (2002, 53) im Gegensatz zu den Schlagwörtern einen »historisch gewachsenen Orientierungspunkt« darstellen. Eine annähernd klare Vorstellung über das Wesen der Schlagwörter wird dadurch nicht gerade erleichtert. Römer (6 1980) identifizierte als ganz allgemeines Merkmal von Schlüsselwörtern, dass diese »eine Schlüsselstellung im Gedanken- und Sprachfeld« der jeweiligen Gruppen einnehmen. Lieberts dynamisches Konzept von Schlüsselwörtern beruht analog dazu auf dem soziologischen Prinzip der Gruppenidentität. Soziale Gruppen wollen wissen, wer sie sind, woher sie kommen und wohin sie gehen und Wörter, die auf dergestalt existentielle Fragen Antworten geben, seien für die entsprechenden Gruppen folglich Schlüsselwörter (cf. Liebert 2003). Prin-
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zipiell schließen wir uns in unseren Analysen dieser Meinung an. Außerdem sei festgehalten, dass Schlüssel- bzw. Schlagwörter keinesfalls nur Substantive und auch nicht notwendigerweise nur einzelne Wörter sind, sondern ganz im Gegenteil oft erst im Verbund mit anderen Wörtern gewissermaßen Schlüsselsyntagmen bzw. Schlüsselausdrücke bilden. Nichtsdestotrotz werden wir der Einfachheit halber durchwegs von Schlagwörtern bzw. Schlüsselwörtern und eben nicht –syntagmen oder –ausdrücken sprechen. Versuchen wir nun zur besseren Handhabung der Schlüssel- oder Schlagwörter als markante Fassadenversatzstücke des politischen Diskurses eine Unterteilung derselben zumindest in die größeren und wichtigeren Untergruppen.
5.2.1.1
Hochwertwörter vs. Unwertwörter (Miranda vs. Anti-Miranda)
Hochwertwörter bzw. Miranda bringen generell positiv Bewertetes zum Ausdruck, und zwar ideologieübergreifend, wenngleich die konkrete Bedeutung eines bestimmten Hochwertwortes dann doch ideologieabhängig ist (cf. Bachem 1979; Girnth 2002; Schröter 2009). Fairness und Gerechtigkeit sind zwei Beispiele dafür. Kaum eine Ideologie wird Fairness oder Gerechtigkeit an sich schlecht finden. Was dann in einem bestimmten System allerdings konkret als fair bzw. gerecht gilt, ist eine andere Frage. Unbestritten bleibt, dass gerade Hochwertwörter erheblich zur Verschönerung der Potjemkinschen Fassaden beitragen. Durch das häufige Einflechten von plakativen Hochwertwörtern kann quasi en passant ständig über Friede, Gerechtigkeit, Fairness, Glück und Liebe gesprochen werden, ohne dabei ausführen zu müssen, a) was darunter verstanden wird und b) wie dies erreicht werden soll. Unwertwörter bzw. Anti-Miranda stellen – wenig überraschend –, genau das Gegenteil davon dar. Sie verkörpern pauschale Negativurteile und werden offensichtlich dazu verwendet, den Gegner zu charakterisieren bzw. zu brandmarken. Privilegien, Ungerechtigkeit, Hass oder etwa Profitgier sind Beispiele hierfür und es gilt erneut, dass durch die Verwendung solcher Unwertwörter der Gegner erheblich getroffen werden kann, ohne dass wiederum spezifiziert werden muss, was diese Unwertwörter im konkreten Text bedeuten (cf. Bachem 1979; Girnth 2002). Um in unserem Jargon zu bleiben, werden durch die Unwertwörter die feindlichen Fassaden beschmutzt, wodurch sich die eigenen Fassaden noch besser abheben und immer noch strahlender erscheinen.
5.2.1.2
Fahnenwörter vs. Stigmawörter
Im Gegensatz zu den Hochwert- und Unwertwörtern sind Fahnen- und Stigmawörter gruppen- bzw. ideologiegebunden. Es geht hier um den Ausdruck des von der eigenen Ideologie positiv Bewerteten, das von der gegnerischen als negativ erachtet wird. Das Fahnenwort der eigenen Ideologie wird so zum Stigmawort der gegnerischen Ideologie. Sozialismus, sozialistisch und sozial werden traditionellerweise von der Linken als Fahnenwörter verwendet, von der Rechten hingegen als Stigmawörter in Bezug auf die Linke. Das Adjektiv und somit wohl auch die außersprachliche Eigenschaft sozial hat es mittlerweile jedoch geschafft, auch von der Rechten als positiv konnotiert akzeptiert zu werden. Ob es inzwischen als allgemeines Hochwertwort gelten kann, sei einstweilen dahingestellt, denn vor allem wirtschaftsliberale Parteien werden es wohl nach wie
5. Die linguistische Diskursanalyse als integraler Bestandteil der Politolinguistik
vor eher mit Zurückhaltung als positiv konnotiert verwenden, doch man sieht, dass die Kategorien nicht starr, sondern bis zu einem gewissen Grad durchlässig sind. In Bezug auf die Fassadenmalerei gilt für Fahnen- und Stigmawörter Ähnliches wie für die Hochwert- und Unwertwörter. Fahnenwörter tragen wesentlich zur Verschönerung der eigenen Textfassade bei, ohne dass sie jedoch im Grunde über ihre Daseinsberechtigung Zeugnis ablegen müssen. Die Stigmawörter, durch die der Gegner degradiert wird, rücken erneut die eigene schöne Fassade ins Rampenlicht, während die des Gegners massiv beschädigt wird. Eigennamen-Schlagwörter sind in diese Kategorie einzuordnen, wohl ebenso die davon abgeleiteten Bezeichnungen, wie etwa jene der Maoisten, Marxisten, Leninisten, Frankisten usw.
5.2.1.3
Vexierwörter, Schmähwörter, Schimpfwörter
Die Kategorie Vexierwörter enthält jene Schlagwörter, die »bewusst dazu gebraucht werden, Absichten zu verschleiern und Adressaten zu täuschen, indem sie mit einer anderen Bedeutung als der etablierten verwendet werden« (Teubert 1989, 52). Als ein Beispiel hierfür wird die Subvention genannt, die im Grunde eine Abweichung vom gesellschaftlichen Regelsystem darstellt. So gesehen, liegt es in der Natur der Vexierwörter, Sachverhalte zu beschönigen und dadurch die sprachliche Fassade zu verschönern. Schmähwörter übernehmen nach Bachem (1979, 66) die »sozialpsychologische Funktion der Groborientierung und Abkapselung des Bewusstseins gegen andere Gruppen«. Oft sind dies durch und durch rassistische Bezeichnungen wie etwa die Schwarzen, oft beziehen sie sich auf die Herkunft, wie beispielsweise die Ossis, die Wessis oder aber auch die Ösis, und oft beziehen sie sich auch auf ideologische Identifikationen, wie etwa die Sozis. Als Schimpfwörter werden hingegen jene negativ konnotierten Schlagwörter bezeichnet, die eine Darstellungsfunktion ausüben (Bachem 1979, 71), wie etwa Ausbeuter oder Kriegshetzer.36
5.2.1.4
Programmwörter und Zeitgeistwörter
In Burkhardts Typologie der Schlagwörter finden sich ferner Programmwörter und Zeitgeistwörter (Burkhardt 2003). Programmwörter wie etwa Beschäftigungsoffensive oder Gesundheitsreform enthalten Handlungskonzepte, die in diesen Fällen wiederum sehr attraktiv sind, ohne jedoch erneut ins Detail gehen zu müssen, um Erklärungen oder Rechtfertigungen zu liefern. Dadurch gibt es wiederum wunderbaren Aufputz auf der Textfassade. Nicht minder beeindruckend sind die Zeitgeistwörter, die der Textfassade einen modernen und peppigen Anstrich verleihen. Die Aktualität dieser Wörter ist stets an einen bestimmten Zeitabschnitt gebunden (cf. Burkhardt 2003).
5.2.1.5
Nominationen
Als separaten Typus von Schlagwörtern können weiters die Nominationen geführt werden, deren Funktion es ist, aus der Warte des Autors bzw. Senders die Referenz schlag36
Bei den Analysen der Reden in Kapitel 6 werden wir von der Kategorie der Vexierwörter absehen, die Schmäh- und Schimpfwörter hingegen werden wir in einer etwas breiter gefassten Kategorie Schimpfwörter zusammenfassen.
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Der klassische Populismus Lateinamerikas
lichtartig und möglichst knackig zu bewerten. Im Nominationsakt werden, so Girnth (2002, 56), »Referenz und Wertung miteinander verknüpft«. Girnth führt u.a. als ein Beispiel die Bezeichnung »Kalte-Kriegs-Armee« (Girnth 2002, 56) an. Durch die Nominationen wird die Textfassade wieder um etliche bunt schillernde Mosaiksteinchen reicher.37
5.2.2
Euphemismen
Euphemismen können gegebenenfalls zentrale Elemente der Textfassadenverschönerung sein, zumal es geradezu das Wesen der Euphemismen ausmacht zu entschärfen und zu beschönigen, wodurch einerseits Tabuisiertes thematisierbar und wenig Attraktives attraktiv gemacht wird. Nach formalen Gesichtspunkten wird zwischen syntaktischen und semantischen Euphemismen unterschieden (cf. Burkhardt 2003). In den syntaktischen Euphemismen wird satz- oder phrasenartig umschrieben, was nicht mit dem eigentlich dafür bestimmten Wort benannt werden darf. Die lexikalischen Euphemismen hingegen sind Einzellexeme oder gegebenenfalls auch Syntagmen, die einen gegebenen Sachverhalt aus einer Perspektive beleuchten, die möglichst wenig irritiert oder provoziert, womit wir wieder beim Ziel der schönen, glatten Textoberfläche sind, an der sich niemand verletzt. Die Euphemismen und Dysphemismen werden aber erst im folgenden Unterabschnitt ausführlich mitbehandelt. Die Bedeutung der genannten Schlagwörter und Euphemismen ist offensichtlich nur im jeweiligen Kontext zu erfassen, womit wir beim zweiten Abschnitt dieses Kapitels angekommen sind, nämlich bei der lexikalischen Pragmatik.
5.2.3
Die lexikalische Pragmatik
Wenn man eine inhaltlich nicht zu spezielle politische Rede, die für das große Publikum bestimmt ist, hört oder die entsprechende Textversion davon liest, versteht man in der Regel, worum es geht, andernfalls hätte sie wohl auch eindeutig das Ziel verfehlt. Dabei ist man sich aber wohl meist gar nicht darüber im Klaren, wie viel Arbeit man selbst leisten muss, um überhaupt etwas zu verstehen. Eine andere Frage ist dann noch, wie man einen Text eigentlich versteht bzw. was man wirklich davon versteht oder verstanden hat. Genau um diese Kluft zwischen dem tatsächlich Gesagten und dem individuell Verstandenen soll es im folgenden Abschnitt gehen. Die Kluft zwischen tatsächlich Gesagtem und individuell Verstandenem betrifft alle sprachlichen Ebenen der Kommunikation. Uns interessiert hier allerdings wiederum speziell die lexikalische Ebene. Betrachten wir vorweg ein fiktives Beispiel: Ein Politiker beginnt seine Rede mit den folgenden Worten: Ich bin dankbar dafür, nach all den erbrachten Opfern nun endlich von diesem denkwürdigen Ort aus das Wort an Euch richten zu dürfen. Es wird weder gesagt, wem der Dank gebührt, wer welche Opfer gebracht hat, worauf sich der durch das endlich implizit zum Ausdruck gebrachte lange Vorlauf bezieht, um welchen Ort es geht, war-
37
Der Vollständigkeit halber wurde die Kategorie hier genannt, bei den Untersuchungen der drei Reden von Perón, Vargas bzw. Cárdenas in Kapitel 6 spielt sie allerdings keine Rolle.
5. Die linguistische Diskursanalyse als integraler Bestandteil der Politolinguistik
um dieser ein denkwürdiger ist, noch für wie viele Worte das eine angesprochene Wort steht. Durch die Betrachtung eines einzigen Satzes bzw. einer einzigen Äußerung wird bereits klar, dass die Sprache kein Kode ist und dass das Äußerungsverständnis kein Prozess des Kodierens und Dekodierens, sondern ein Prozess des Ableitens ist, der technisch als Inferenz (von inferre) bezeichnet wird.38 Abzuleiten ist jedoch nicht nur das implizit, sondern auch das explizit Vermittelte. Das heißt, dass nicht nur die Implikaturen, sondern eben auch die Explikaturen ableitend zu ermitteln sind. Mit dieser Erkenntnis befinden wir uns nun bereits im Herzen der lexikalischen Pragmatik (cf. Sperber/Wilson 2 2001). Verschaffen wir uns in der Folge zunächst einmal einen kurzen Überblick darüber, was es mit der lexikalischen Pragmatik auf sich hat, deren Gegenstand im Grunde die Opposition zwischen einerseits der lexikalischen Bedeutung und andererseits dem aus dem Sprachgebrauch hervorgehenden Sinn ist. Im Anschluss daran werden wir uns mit dem Thema der daraus resultierenden notwendigen Bedeutungsanpassung, die von Recanati (cf. 2004, 131)39 als Modulation bezeichnet wird, auseinanderzusetzen haben, um unter diesem Aspekt die Reden neu lesen zu können.40
5.2.3.1
Das lexikalische Konzept, Bedeutung und Sinn
Vorteil und Nachteil der Wörter zugleich ist die hinlänglich bekannte Tatsache, dass dieselben Wörter in verschiedenen Kontexten verwendet werden können. Der Vorteil ist folglich ein ökonomischer. Es wäre schier unvorstellbar, wenn mit jeder einzelnen noch so kleinen Sinnänderung eine Änderung des Signifikanten einherginge. Ein und derselbe Signifikant findet also in verschiedenen Umgebungen seinen Platz, wodurch es für besagte sprachliche Formen zu mehr oder weniger komplexen Distributionen kommen kann. Hiermit sind wir allerdings auch schon beim Nachteil der Mehr- bzw. Vielfachverwendung von Wörtern bzw. Signifikanten angelangt. Der Signifikant ist konstant, nicht so die Bedeutung, wobei streng genommen aber bereits an dieser Stelle von dem aus der jeweiligen Distribution resultierenden Sinn zu sprechen wäre.41 Betrachten wir drei Beispiele. (1) Wenn wir einen sauren Fruchtgummi kauen, dann schmeckt uns dieser gut, so wir etwas für diese Art von Süßigkeiten übrig haben. Wenn wir saure Milch trinken, also sauer gewordene Milch und nicht Sauermilch, dann schmeckt uns diese sicher nicht. (2) Wenn wir ein Fenster, ein Buch und eine Dose öffnen, dann haben wir es im Grunde doch mit drei sehr verschiedenen Tätigkeiten zu tun. Trotzdem wird in den drei Fällen geöffnet. (3) » Das Land der 122.279 Präsidenten », so titelte die Presse.com am 19. März 2016. Es gebe in Österreich zwar nur einen Bundespräsidenten, aber eben
38 39
40 41
Wäre die Sprache ein Kode, dann müsste jedes Wort genau eine Bedeutung haben. Recanati macht darauf aufmerksam, dass entgegen der weitverbreiteten Meinung in erster Linie nicht die syntagmatische Wortkombination für die Bedeutung der einzelnen Wörter verantwortlich ist, sondern viel mehr das Außersprachliche. Er illustriert dies einerseits am Beispiel to get a virus, was sich anstecken oder aber auch einen Virus (für experimentelle Zwecke) einfangen bedeuten kann. Nur der Kontext kann darüber Aufschluss geben (Recanati 2004; 2010). Die Abschnitte Die lexikalische Pragmatik: das lexikalische Konzept, Bedeutung und Sinn sowie Das Wesen der lexikalischen Pragmatik stammen aus Danler (2019c). Der Sinn ist im Gegensatz zur Bedeutung des Wortes kontextabhängig (cf. Braisby/Franks/Hampton 1994, 56).
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122.279 Präsidenten. Hierbei handelt es sich um Präsidenten und wohl auch Präsidentinnen aller möglichen Vereine, Organisationen und Institutionen. Der jeweilige Weg dorthin sowie Befugnisse, Macht, Amtsdauer und Entlohnung sind für die 122.279 Präsidenten und Präsidentinnen offensichtlich völlig unterschiedlich. Trotzdem handelt es sich aber eben jeweils um Präsidenten und Präsidentinnen. Ein Adjektiv, ein Verb und ein Substantiv haben stellvertretend deutlich gemacht, dass sich Signifikanten im Gegensatz zu Signifikaten durch relative Umgebungsresistenz auszeichnen. Hier stellt sich allerdings bereits eine erste Gretchenfrage, ob man nämlich überhaupt von einer Art Standardsignifikat ausgehen kann, das sich an die jeweilige Umgebung anpasst. Vielleicht sollten ein Signifikat und dessen Realisierungen analog zum Phonem als virtuelle Einheit mit allophonen Materialisierungen gesehen werden. Franks (1995, 441ff.) bezeichnet die stabile Information, die den gemeinsamen Nenner der an die jeweiligen Umgebungen angepassten Signifikate darstellt, als lexikalisches Konzept. Der Sinn ist demzufolge eine Funktion des lexikalischen Konzepts (cf. Franks 1995, 451), das dann in jeder Umgebung den gleichen Beitrag zur Sinnkonstitution zur Verfügung stellt (cf. Blutner 2004, 492).42 Die Kenntnis des lexikalischen Konzepts wird somit zur Grundvoraussetzung für das Wortverständnis in jedweder Umgebung. Dementsprechend besteht laut Cruse (3 2011, 53) das Wesen des Konzepts darin, »that it enables to treat a range of objectively different experiences as being instances (or ›tokens‹) of one and the same type of experience«. Barsalou (1987, 120) hingegen sieht das Konzept nicht als invariante Struktur, sondern viel eher als temporäres, jeweils aktualisiertes Konstrukt. Konzepte entstammen laut Barsalou dem Langzeitgedächtnis und gelten für bestimmte lexikalische Einheiten als Kategorien, die allerdings keine diskreten Grenzen haben, weil es nämlich in unserem Wissen keine diskreten Grenzen gibt. Nach Barsalou sind es die mehr oder weniger prototypischen Eigenschaften, die die Konzepte ausmachen,43 die aber eben bereits umgebungssensitiv sind. Konkret vorstellen könnte man sich das dann wohl so, dass es für Amsel und Pinguin eben zwei unterschiedliche Konzepte gäbe und nicht ein einheitliches Vogelkonzept. Die tatsächlich invarianten Bedeutungselemente der jeweils aktualisierten Sinnkonstellationen wären dann als semantische Primitiva zu betrachten,44 falls der Komponentenanalyse im semantischen Bereich trotz aller bekannter Kritik und Schwierigkeiten etwas abgewonnen werden kann.45 Kommen wir aber auf unsere drei oben genannten Beispiele zurück 42
43
44
45
Dies entspricht dem Prinzip der semantischen Kompositionalität, nach dem das lexikalische Konzept distributionsunabhängig semantischer Bestandteil jeder einzelnen Okkurrenz ist (cf. Blutner 1998, 117). Für das Konzept Musikinstrument nennt Barsalou (1987, 121) beispielsweise Merkmale wie »played while sitting, requires lessons, makes music for dancing, rewarding to learn, and requires care.« Hier stellt sich aber zugegebenermaßen sehr wohl die Frage, warum makes music for dancing prototypisch sein sollte. Semantische Primitive wurden typischerweise etwa für die Bezeichnungen von Verwandten erhoben. Wir können an dieser Stelle nicht auf die doch breite Kritik an der Komponentenanalyse des Signifikats in Semanteme bzw. auf die Erhebung der genannten semantischen Primitive eingehen. Bei Anna Wierzbicka (1992; 1996) sind allerdings die Termini Konzepte, semantische Primitiva und invariante Bedeutungselemente weitgehend austauschbar. Es handelt sich dabei grosso modo um nicht mehr weiter zerleg- oder definierbare Bedeutungskonstanten, die dann Bestandteile anderer komplexer Konzepte sind. Say erachtet sie etwa als ein semantisches Primitivum wie auchIoder
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und versuchen zumindest eine rudimentäre Dekomposition: Präsident/Präsidentin als relationaler Term lässt sich noch recht gut zerlegen in (Mann/Frau) + (habere höchste Funktion einer Organisation/Institution/etc.). Das Verb öffnen könnte segmentiert werden in (Fläche/Objekt/etc. esse geschlossen) > CAUS (Fläche/Objekt/etc. non esse geschlossen).46 Das problematischste unserer Beispiele ist freilich das Adjektiv sauer, das sofort die breite Bedeutungspalette hinter dem Signifikanten bewusst macht. Gemeinsame semantische Primitive von sauer in saurem Apfel, in saurer Milch und vielleicht noch im metaphorischen sauren Lächeln zu finden, ist wohl eher aussichtslos. Beim Versuch, die Bedeutung bzw. den Sinn derartiger Adjektive zu erfassen, kann nicht mehr die Komponentenanalyse, sondern bestenfalls noch die Prototypentheorie weiterhelfen. Deutlich geworden ist in diesen kurzen Ausführungen, dass im Zuge des Äußerungsverständnisses der Verarbeitungsprozess von Wörtern mitunter ein sehr aufwändiger ist, zumal sich eben hinter ein und demselben Signifikanten viel Unterschiedliches verbergen mag, das es erst zu enthüllen gilt. Die lexikalische Pragmatik setzt sich genau mit dieser Problematik auseinander.
5.2.3.2
Das Wesen der lexikalischen Pragmatik
Unabhängig davon, ob von einer lexikalischen Grundbedeutung, von invarianten Bedeutungselementen oder von semantischen Primitiven ausgegangen wird, Tatsache ist, dass es in der Kommunikation eine Lücke zwischen kodierter und kommunizierter Bedeutung gibt. Die kommunizierte ist spezifischer und präziser als die kodierte, die kodierte ist semantisch unterdeterminiert (cf. Blutner 1998, 115; 2011, 101ff.). Die sprachlich kodierte Bedeutung ist nicht mehr als ein Anhaltspunkt für die Interpretation des sprachlichen Zeichens (cf. Blutner 2011, 107), um durch Inferenz die jeweils aktuelle Bedeutung zu ermitteln. Um ein aktualisiertes Signifikat zu erfassen, bedarf es bestimmter Informationsergänzungen. Diese erfolgen teilweise durch die Vergegenwärtigung konzeptuellen Wissens47 und teilweise durch das Einbeziehen kontextueller Bedingungen. Die Vergegenwärtigung konzeptuellen Wissens erklärt zum Beispiel, dass eine braune Kuh, die durchaus auch nicht braune Stellen wie etwa das Euter, Teile der Augen und des Mauls usw. aufweist, als braune Kuh durchgeht (cf. Blutner 1998, 118). Dem Konzept von brauner Kuh entsprechend muss braun die dominante, aber nicht die
46 47
this. Say sei dann etwa in ask, demand, apologise, curse, scold, persuade etc. enthalten (cf. Wierzbicka 1992, 11). Bei der Transkription der Funktorenstruktur lehnen wir uns an Wotjak (etwa 1994) an. Eine Standardauffassung von Konzept liefert Schmöe (2 2000, 378). Es sei die »mentale Informationseinheit im Langzeitgedächtnis, in der bzw. über die Menschen ihr Wissen über die Welt abspeichern, organisieren und kategorisieren«. Das Konzept ist »damit ein elementarer Baustein der Kognition. Die reale Welt wird in mental repräsentierte Konzepte übersetzt, indem von individuellen Objektmerkmalen abstrahiert wird und gemeinsame Merkmale von Objekten ausgefiltert werden«. Das Konzept von Schaf wäre etwa (SÄUGETIER; BLÖKT; PFLANZENFRESSER; GIBT MILCH; LIEFERT WOLLE). Lexikalische Einträge oder Wörter ganz allgemein bzw. deren Signifikanten lösen Assoziationen mit konzeptuellen Inhalten aus (cf. Cruse 3 2011, 119). Umgekehrt könnte man sagen, dass Wörter kodierte Konzepte enthalten (cf. Bianchi 2009, 135). Diese Konzepte sind zunächst generische Pro-Konzepte (cf. Sperber/Wilson 2011, 149) und werden bei zunehmender Bedeutungsspezifizierung zu Ad-Hoc-Konzepten (cf. Bianchi 2009, 135ff.; Clark 2011, 134; Wilson 2003, 281).
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ausschließliche Farbe sein. Die Klärung der kontextuellen Bedingungen hingegen begründet beispielsweise die Nachvollziehbarkeit von he cut the grass and she cut the cake (cf. Blutner 2011, 106), ohne dass explizit auf die unterschiedlichen Schneidetechniken eingegangen werden muss. Durch die Vergegenwärtigung konzeptuellen Wissens und die Miteinbeziehung kontextueller Gegebenheiten werden die Wahrheitsbedingungen konkret und verständlich. Die Interpretation der Äußerung ist letztlich jedenfalls nicht Ergebnis des Dekodierens, sondern der Ableitung aus einer semantischen Basis in Verbindung mit konzeptuellem Wissen und kontextuellen Bedingungen. Es kommt dabei, wie oben ausgeführt, zu einer Interaktion zwischen lexikalischer Semantik und Pragmatik (cf. Blutner 2004, 491ff.) und genau diese Interaktion bezeichnet das Wesen der lexikalischen Pragmatik. Es geht also in der lexikalischen Pragmatik darum zu erfassen, worin die modifizierende Anpassung der sprachlich kodierten Bedeutung in Abhängigkeit vom jeweils aktuellen Gebrauch eines Wortes besteht (cf. Wilson 2003, 273ff.). Betrachten wir in der Folge eine Reihe bedeutsamer sprachlich-kommunikativer Konstellationen,48 in denen dies der Fall ist.49 Ein roter Apfel hat eine rote Schale und weißes Fruchtfleisch. Eine rote Grapefruit hingegen hat eine gelbe Schale, aber rotes Fruchtfleisch. Die aktuelle Bedeutung von rot ergibt sich im dargestellten ersten Beispiel aus den entsprechenden innersyntagmatisch-syntaktischen Beziehungen auf der Grundlage enzyklopädischen Wissens. Anders sieht es im zweiten Beispiel aus. Das schöne Buch in der Vitrine gefällt optisch, während das schöne Buch, das ich gelesen habe, inhaltlich angesprochen hat. In diesem Fall werden die syntagmatischen Grenzen überschritten. Hier ist es der kognitive Rahmen oder frame als mentale Repräsentation einer stereotypen Handlung bzw. eines stereotypen Objektes, der klar macht, dass sich schön in Verbindung mit (Buch) lesen auf den Inhalt bezieht, wohingegen schön im Zusammenhang mit (in/hinter der) Vitrine auf das Äußere rekurriert. Eine dritte Standardbedeutungsanpassung ist die Näherung, die auf Englisch unter approximation bekannt ist. Als Näherung könnte man einerseits in Bezug auf Numerisches das Auf- bzw. Abrunden und andererseits generell die Toleranz der Abweichung vom explizierten Idealtypus bezeichnen. Hättest du fünf Minuten Zeit heißt dementsprechend hättest du kurz oder allenfalls ungefähr fünf Minuten Zeit. Facciamo due passi bedeutet, dass sicherlich mehr als nur zwei Schritte vorgeschlagen werden, insgesamt sollte der Spaziergang aber kurz ausfallen. 20.000 Leute nahmen an der Demonstration teil, heißt sehr wahrscheinlich, dass ungefähr 20.0000 Menschen daran teilnahmen. Idealtypischerweise bedeutet flach [ohne (jedwede) Erhöhung]. Dennoch sagt man ungeachtet all der tatsächlichen Erhöhungen durchaus, dass die Niederlande ein flaches Land seien (cf. Wilson 2003, 275). Die Flunder betrachtet man als flachen Fisch, obwohl auch sie Erhöhungen hat. Oval ist eine Figur idealtypischerweise, wenn sie einem Ei (< ovum)
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Hiermit soll allerdings keineswegs suggeriert werden, dass mit den genannten Konstellationen das Thema erschöpfend behandelt ist. Valenzbedingte, diathetisch bedingte sowie tiefenkasusbedingte Bedeutungsänderungen wie erstens a trinkt b vs. a trinkt, zweitens c beginnt d vs. d beginnt bzw. drittens e (der Lenker) hält den Wagen an vs. f (der Polizist) hält den Wagen an werden hier allerdings nicht thematisiert, weil wir diese Phänomene dem Bereich der Morphosyntax und nicht jenem der lexikalischen Pragmatik zuordnen.
5. Die linguistische Diskursanalyse als integraler Bestandteil der Politolinguistik
gleich oder ähnlich symmetrisch rund und konvex ist. Rund bedeutet idealtypischerweise [kreisrund]. Nichtsdestotrotz spricht man von einem ovalen oder auch von einem runden Gesicht. Idealtypisches sowie auf- und abgerundete Zahlen fungieren gewissermaßen lediglich als Orientierungshilfe im Klassifizierungsprozess, der sowohl im Denken als auch in der Kommunikation ein permanent aktiver ist. Die Annäherung an die idealtypische Bedeutung eröffnet der missbräuchlichen sehr subjektiven Verwendung von Wörtern Tür und Tor. Ich bezeichne jemanden als großzügig, weil ich ihn persönlich für großzügig halte. Ich nenne jemanden einen Volksfeind, weil ich sein Verhalten als volksfeindlich einstufe, ich beschimpfe jemanden als kriminell, weil er meiner Meinung nach kriminell ist. Persönliche Meinungen dieser Art werden bar jeder Argumentation diskursiv kolportiert, als ob es sich um Wahrheiten handeln würde. Für Kritik oder Streitgespräche gibt es sehr oft keinen Platz, wodurch persönliche Meinungen unangefochten stehen bleiben. Die Hyperbel als starke Übertreibung, deren Bedeutung sich inferenziell bzw. argumentationsanalytisch eruieren lässt, impliziert einen vierten Typus von Bedeutungsanpassung. Sie ist insofern Thema der Bedeutungsanpassung, als das zum Ausdruck gebrachte Extrem immer relativ ist. Wer blitzschnell ist, ist extrem schnell, weil die Blitzgeschwindigkeit vom Menschen als extrem schnell wahrgenommen wird. Dennoch macht es unter dem Aspekt der absoluten Geschwindigkeitsmessung einen Unterschied, ob die Arbeit blitzschnell erledigt wurde, ob der Läufer blitzschnell die Ziellinie passierte oder ob der Meteorit blitzschnell vom Himmel fiel. Wenn man sagt, heutzutage gebe es gute Filme wie Sand am Meer, so bedeutet dies, dass es so viele gibt, dass man sie nicht mehr zählen kann. Vielleicht kann man sie ja wirklich nicht zählen, trotzdem gibt es sicher nicht so viele wie Sand am Meer. Die Hyperbel ist wiederum Ausdruck persönlicher, höchst kontextsensitiver Bedeutungswahrnehmung. Die Bedeutungsverengung ist ein weiteres und in unserer Reihe das fünfte Phänomen der Bedeutungsanpassung, das zunächst jedoch vor allem in der Entwicklung der Wortbedeutungen zu beobachten ist. Deer, in Altenglisch noch deor, bedeutete einst [Tier], im modernen Englisch bedeutet es [Reh] (cf. etymonline). Fowl, in Altenglisch noch fugel, bedeutete einst [Vogel] (cf. etymonline), im modernen Englisch hingegen bedeutet es [Geflügel]. In beiden Fällen ist die Wortbedeutung im Laufe der Zeit spezifischer oder eben enger geworden. In der lexikalischen Pragmatik ist unter Bedeutungsverengung jedoch etwas anderes zu verstehen. Es geht nämlich um die Erfassung der dem Kontext gemäß zu aktivierenden Seme, die an und für sich aber gar nicht notwendigerweise im Signifikat des Wortes enthalten sein müssen. Wenn es beispielsweise heißt, die fünfunddreißigjährige Diana ist auf der Suche nach einem Junggesellen, dann soll dies sehr wahrscheinlich nicht irgendein Junggeselle sein (cf. Carston 2002b, 27). Er sollte vermutlich eine bestimmte Altersgrenze nicht über- oder unterschreiten und höchst wahrscheinlich sollte er heterosexuell orientiert sein. Alter und sexuelle Orientierung sind aber im Semem [Junggeselle] nicht als restringierende Seme enthalten. Ein homosexueller Neunundneunzigjähriger kann durchaus auch Junggeselle sein. Möglicherweise wird Diana aber eher nicht an ihn gedacht haben. Wenn man sagt, man habe Lust auf einen Stadtbummel, dann ist damit eher nicht an das Spazieren durch die Wohnbezirke der äußersten Stadtviertel oder durch eher verwahrloste Gegenden einer Stadt gedacht, sondern wohl eher an das Flanieren durch die belebte und bunte Innenstadt. Es
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gibt auch ganz unterschiedliche Arten des Glücklich- oder Traurig-Seins, die wiederum kontextabhängig auszuloten und zu erfassen sind (cf. Carston 2002a, 137ff.). Ständiges Regenwetter kann auf eine Art traurig machen, der Verlust eines geliebten Menschen auf eine andere. Als sechsten Fall von Bedeutungsanpassung betrachten wir die Bedeutungserweiterung. Auch sie ist zunächst Gegenstand der historischen Semantik. Untersucht werden Fälle wie die Entwicklung von engl. dog aus altenglisch docga (cf. etymonline), das [eine Art Dogge] bedeutete oder auch von engl. bird aus altenglisch bridd (cf. etymonline), das einst [im Nest lebender Jungvogel] bedeutete. In beiden Fällen erfolgte eine Bedeutungserweiterung. Die Bedeutungserweiterung, mit der sich die lexikalische Pragmatik beschäftigt, hat allerdings wiederum weniger mit der diachronen Entwicklung zu tun. Sie setzt sich vielmehr mit Bedeutungen von Wörtern auseinander, die synchron über das sprachlich Kodierte hinausgehen. Wenn es etwa heißt, dass nach der Party viele leere Flaschen auf dem Boden standen, so waren diese wahrscheinlich gar nicht alle ganz leer im wahrsten Sinne des Wortes, sondern enthielten noch gewisse Reste, wenngleich es vielleicht nur Tropfen oder sonstige Rückstände waren (cf. Wilson/Carston 2007, 234). Wenn Ramón sagt, dass er in Madrid lebe, dann kann es sich dabei auch um einen Vorort oder gar um einen Ort in der Nähe von Madrid handeln, vor allem dann, wenn Ramón davon ausgeht, dass sich der/die Gesprächspartner/in dort geographisch nicht so gut auskennt. In Madrid bedeutet in diesem Fall also auch [in der Nähe von Madrid]. Erneut ist es der Kontext oder Kotext, der über die exakte Bedeutung Aufschluss geben kann (cf. Sperber/Wilson 2012, 89). Ein weiteres Beispiel für die Bedeutungserweiterung ist das berühmte rohe Steak, über das sich der Gast im Restaurant beklagt. Roh bedeutet im gegebenen Fall nämlich nicht [roh], sondern [zu wenig durch] (cf. Hall 2013, 124). Metapher und Metonymie funktionieren ebenso auf der Grundlage der Bedeutungsanpassung und stellen die siebente bzw. achte Klasse davon dar. Von ihnen wird allerdings ausführlich erst im Kapitel zur Semantik die Rede sein. Wir haben bisher gesehen, dass sich die aktuelle Bedeutung aus einem jeweils anderen Zusammenspiel ergibt. Exemplarisch sind wir bislang auf acht Konstellationen eingegangen. Die jeweils aktuelle Bedeutung von Attributen ergibt sich erstens insofern aus syntagmatischen Beziehungen und Weltwissen, als die Bedeutung des Determinans vom Determinatum als syntagmatischem Nukleus abhängig ist (roter Apfel vs. rote Grapefruit). Die aktuelle Bedeutung von Attributen ergibt sich zweitens aus der Abhängigkeit des entsprechenden Syntagmas von der Bedeutung des regierenden verbalen Prädikats (ein schönes Buch sehen vs. ein schönes Buch lesen). Drittens ergibt sich die aktuelle Bedeutung aus dem Phänomen der Näherung oder Approximation (100.000 erwarteten den Papst heißt nicht, dass es genau 100.000 waren), viertens aus der Verwendung einer Hyperbel (wir sind ihnen Lichtjahre voraus), fünftens aus der Bedeutungsverengung (Wenn Auslandserfahrung Anstellungsbedingung ist, dann wird dafür eine Woche am Strand von Jesolo nicht ausreichen, wenngleich man sicher auch dort viele Auslandserfahrungen sammeln kann), sechstens aus der Bedeutungserweiterung (einfach einmal nichts tun wollen bedeutet sicher nicht [(gar) nichts tun], denn man wird weiterhin essen, trinken, schlafen etc.), siebentens aus der Metapher, die allerdings mitunter auch in die Kategorie der Bedeutungserweiterung eingeordnet wird (um die Häuser ziehen, bedeutet nicht einfach
5. Die linguistische Diskursanalyse als integraler Bestandteil der Politolinguistik
[um Häuser gehen]) und achtens aus der Metonymie (Die Niederlande haben die Europameisterschaft gewonnen). Als neunte bzw. zehnte Kategorie der kontextuellen Bedeutungsmodulation oder -adaptation betrachten wir die Fälle des Euphemismus bzw. Dysphemismus. Unabdingbares qualitatives Grundmerkmal des Euphemismus ist die positive Konnotation, das des Dysphemismus hingegen die negative Konnotation. Entscheidend ist jedoch, dass die Konnotation in die jeweilige Bedeutung einfließt. Betrachten wir beispielsweise das Engagement so mancher Systemgegner in der ehemaligen DDR. Sie wurden aufgrund ihrer Aktivitäten von einer Seite euphemistisch als Freiheitskämpfer gefeiert und von der anderen Seite gleichzeitig dysphemistisch als Terroristen verurteilt.50 Wenn die Berliner Mauer als antifaschistischer Schutzwall bezeichnet wurde, so war ganz offensichtlich eine ideologische Wertung in diese Bezeichnung selbst eingeflossen. Weitere klassische Beispiele für Euphemismen sind das bekannte Freisetzen mit der Bedeutung von [entlassen + positive Konnotation] oder auch das Entschlafen mit der Bedeutung von [sterben + positive Konnotation]. Wenn andererseits heute populistische, aber trotz alledem demokratisch gewählte Präsidenten Europas mitunter als Diktatoren bezeichnet werden, so setzt sich die aktuelle Bedeutung von Diktator aus [demokratisch gewählter, autoritär agierender Präsident + negative Konnotation] zusammen. Penner bedeutet [Obdachloser + negative Konnotation], Saftschubse [Flugbegleiterin + negative Konnotation]. Die semantische bzw. semische Erfassung von Obdachloser bzw. Flugbegleiterin ist aufgrund der transparenten Bezeichnungen unproblematisch. Problematischer ist es bei opakeren Bezeichnungen wie etwa bei jenen von Volksheld oder Volksfeind. Ein Volksheld vollbringt Heldenhaftes für das Volk, ein Volksfeind unternimmt Feindseliges gegen das Volk. So weit, so gut. Aber was ist nun tatsächlich heldenhaft und was ist feindselig? Im konkreten Fall ist wiederum der Kontext für die Sinnerfassung unerlässlich, die Bedeutung muss also erneut kontextabhängig aktualisiert werden. Mit einem mehr oder weniger großen und relativ stabilen Wortschatz wird nun über alle erdenklichen Situationen gesprochen. Dies funktioniert nur deshalb, weil, wie oben erwähnt, die Sprache kein Kode und die Bedeutung des sprachlichen Zeichens infolgedessen keine Konstante sind, sondern, wie soeben dargestellt, von Fall zu Fall adaptiert bzw. erhoben werden muss.
5.3
Kognitive Semantik
Wenn wir sprechen, dann weisen wir unseren Äußerungen Bedeutungen zu und wenn wir zuhören oder lesen, dann glauben wir in der Regel, die Bedeutung des Gesagten oder Geschriebenen erfasst zu haben. Das alles funktioniert scheinbar automatisch, ist im Grunde aber sehr komplex und kompliziert. Die Bedeutung eines einzelnen Wortes ist eine Sache, die eines Syntagmas eine andere, die eines ganzen Satzes eine dritte und jene einer in einem bestimmten Kontext eingebetteten Äußerung eine vierte. Die Wortbedeutung ist im mentalen Lexikon abgespeichert und wird nach Bedarf abgerufen (cf. 50
Das gleiche gilt für viele andere, wie etwa die Uiguren in der chinesischen Provinz Xinjiang, die Kurden in der Türkei, lange Zeit wohl auch für die Basken in Spanien und viele andere mehr.
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Schwarze 2001, 1), doch selbst dies läuft üblicherweise nicht einfach und geradlinig ab. Wir glauben etwa, das Wort Rad zu verstehen, ebenso das Syntagma ein Rad im Uhrwerk, genauso wie den Satz Die Kinder fahren gerne Rad und wohl auch die Äußerung Auch du bist eben nur ein kleines Rad im Getriebe. Sogleich wird aber auch schon klar, dass die Polysemie, die Homonymie sowie die Metapher die Erfassung einer vermeintlich klaren Bedeutung verkomplizieren. Die Semantik untersucht die Bedeutung sprachlicher Einheiten und Strukturen.51 Dabei geht es um die Untersuchung der Bedeutung von Morphemen, den kleinsten bedeutungstragenden sprachlichen Einheiten, von Wörtern, Syntagmen, Phrasen, Sätzen und ganzen Texten. Insofern ist auch die Semantik eine ganz wesentliche Teildisziplin der Linguistik. Viele isolierte Wörter haben sowohl eine lexikalische als auch eine grammatische Bedeutung, wie etwa Verben und Substantive. So ist zum Beispiel die lexikalische Bedeutung des Wortes schreibt jene der entsprechenden Tätigkeit, die grammatische die der Person, des Tempus und des Modus. Die lexikalische Bedeutung von Tische ist jene des entsprechenden Möbels, die grammatische jene des Genus und Numerus, d.h. männlich und Plural. Die Menschen werden sich wohl immer schon Gedanken darüber gemacht haben, was ihre Wörter und Sätze zum einen bedeuten und zum anderen, wie sie ihre geistigen Konzepte versprachlichen können. Wenn man von einer sprachlichen Form ausgehend die entsprechende Bedeutung sucht, spricht man von Semasiologie. Wenn man umgekehrt von einem mentalen Konzept ausgehend nach der entsprechenden sprachlichen Form Ausschau hält, dann spricht man von Onomasiologie. Die mit der ersteren zusammenhängende Frage lautet was bedeutet das?, die letztere wie sag ich’s bloß? Als wissenschaftliche Disziplin hat die Semantik bereits eine jahrtausendlange Geschichte, in der es verschiedene Ansätze und Methoden sowie Trends und Moden gegeben hat.52 Im 20. Jahrhundert hat der Strukturalismus in vielen Bereichen die Forschungsmethoden revolutioniert, so auch in der Semantik, und so wurde die strukturelle Semantik entweder als Ausgangspunkt für oder auch als Kontrapunkt zu weiteren Entwicklungen zum Meilenstein in der Semantikforschung. In der strukturellen Semantik wurde nicht mehr länger versucht, die Bedeutung eines isolierten Wortes absolut zu erfassen, sondern man sah die sprachliche Einheit zunächst als Teil einer größeren Struktur. Infolgedessen wurde die Bedeutung der sprachlichen Einheit nun relational ermittelt. Das heißt, dass man fortan davon ausging, dass sich eine individuelle Bedeutung am besten durch Oppositionen ermitteln lässt. Auf diese Weise sollten die jeweiligen Merkmalsunterschiede zum Vorschein kommen. Die individuellen Bedeutungen wurden sonach als Bündel von Merkmalen oder Semen erfasst, weshalb man auch von Merkmal- oder Komponentialsemantik spricht (cf. Schwarz/Chur 2 1996, 37ff.). Das jeweilige Gesamtpaket der Seme ist dann das Semem. So weit, so gut. Die strukturelle Semantik hat zweifellos neue Einblicke in die Bedeutung der sprachlichen Zei51 52
Wenn es um jede Form von Zeichen geht, nicht nur um sprachliche, dann ist die Forschungsdisziplin die Semiotik. Es geht hier allerdings nicht um die verschiedenen Ansätze innerhalb der Semantik, sondern vielmehr darum, jene herauszuarbeiten, die für unsere politolinguistische Untersuchung besonders aufschlussreich und daher relevant sind. Wir werden deshalb weder auf die formale noch auf die generative Semantik eingehen.
5. Die linguistische Diskursanalyse als integraler Bestandteil der Politolinguistik
chen und Strukturen gewährt. Speziell politolinguistischen Untersuchungen sollte jedoch der dann erst später stattfindende Paradigmenwechsel zur kognitiven Linguistik neue und vielversprechende Analyseinstrumente an die Hand geben, weshalb wir uns als nächstes dieser zuwenden wollen. Unter Kognition versteht man zunächst einmal »alle geistigen Strukturen und Fähigkeiten, über die ein Mensch verfügt« (Schwarz/Chur 2 1996, 220). Die kognitive Linguistik, die in den 1970er Jahren aufkam und bald einen großen Aufschwung erlebte, betrachtet die Sprache in der Folge nicht nur strukturell-repräsentational, sondern vor allem prozedural (cf. Schwarz 1994, 14). Gemäß der kognitiven Linguistik ist die Sprache folglich auch keine autonome Kompetenz. Das sprachliche Wissen ist konzeptuell strukturiert und die Repräsentation dieses sprachlichen Wissens funktioniert gleich wie jene anderer konzeptueller Strukturen.53 Die kognitive Linguistik beschäftigt sich im Wesentlichen mit der Konzeptbildung infolge von Welterfahrung und mit der Versprachlichung derselben (cf. Blank 2001, 35; Evans/Green 2006, 156). Die sprachliche Bedeutung wird nun als Ausdruck von konzeptuellen Strukturen verstanden. Die den Forschungsarbeiten der kognitiven Semantik dienlichen Untersuchungsmodelle, die in den Bereichen der Erinnerung, der Wahrnehmung sowie der Klassifizierung Anwendung finden, stammen aus der kognitiven Psychologie und es sind genau diese Modelle, die letztlich die semantischen Konzeptualisierungsprozesse erklären können bzw. zumindest zu erklären versuchen (cf. Croft/Cruse 2004, 2ff.).54 Die kognitive Semantik ergründet in erster Linie den mentalen Charakter semantischer Phänomene, und zwar vor allem die kognitiven Operationen, die die geistigen Repräsentationen begründen bzw. verändern (cf. Schwarze 1994, 10). Im Prinzip fragt die kognitive Semantik danach, wie das semantische Wissen im Gedächtnis organisiert und repräsentiert ist und wie es dann situationsabhängig abgerufen und aktiviert werden kann. Die zwei Seiten der kognitiven Fähigkeiten sind also einerseits die repräsentationale und andererseits die prozedurale. Das heißt, zum einen geht es um die Abbildung oder Darstellung von Kenntnis, zum anderen um die Aktivierungs- und Verarbeitungsprozeduren (cf. Schwarze 1994, 13). Die kognitive Semantik beschäftigt sich also vorrangig mit der Entstehung und Veränderung geistiger Repräsentationen. Im prozeduralen Sinn geht es um die Entstehung von Bedeutung, im repräsentationalen Sinn um die Abbildung derselben. Sowohl die Darstellung als auch die Entstehung und Veränderung von Bedeutung haben in der politischen Kommunikation einen immens wichtigen Stellenwert. Infolgedessen ist diesen Phänomenen die gebührende Aufmerksamkeit zu schenken. Als Analyseinstrumente der kognitiven Semantik haben sich dementsprechend folgende
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Unter konzeptuellen Strukturen versteht man die verschiedenen geistigen Erfahrungen wie Begriffe, Eindrücke, Gedanken, Vorstellungen und Bilder, seien diese nun vorsprachlich oder versprachlicht. Zunächst sind die konzeptuellen Strukturen aber sprachunabhängig (cf. Lang 1994, 28). Gibbs Jr. (2007) weist nachdrücklich auf die Notwendigkeit empirischer Untersuchungen hin, macht aber in diesem Zusammenhang gleichzeitig auf die Grenzen derselben sowie auf diverse andere Schwierigkeiten aufmerksam.
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Ansätze als besonders aufschlussreich erwiesen: die Stereotypen- und Prototypentheorie, die Scenes-and-Frames-Semantik sowie die konzeptuelle Metapher und Metonymie. In einem nächsten Schritt ist deshalb genauer auf diese Ansätze einzugehen. Sobald der Mensch etwas wahrnimmt, d.h. etwas sieht, etwas hört oder auf sonstige Weise von etwas Kenntnis nimmt, möchte er wissen, womit er es zu tun hat, d.h. in welche seiner kognitiven Kategorien er das Erfahrene einordnen kann. Nicht Einzuordnendes verunsichert, verwirrt, ist mitunter sogar bedrohlich. Das Kategorisieren und Typologisieren erfolgt also quasi intuitiv, um die Ordnung im Wahrgenommenen zu sichern bzw. wiederherzustellen. Die Kategorisierung der strukturellen Semantik beruht auf den aristotelischen Prinzipien der Kombination von binären notwendigen und hinreichenden Merkmalen sowie der diskreten, d.h. absoluten Kategorienbegrenzung. Außerdem herrscht innerhalb der Kategorie Äquivalenz in Bezug auf die Repräsentativität. Die Zerlegung der oben erwähnten vollständigen Merkmalsbündel, also der Sememe, macht jedoch deutlich, dass eine eindeutige Zuweisung in eine Kategorie längst nicht immer möglich ist, womit die diskrete Kategorie als solche nicht nur in Frage gestellt, sondern bereits obsolet geworden ist. Pioniere in der Erkundung neuer Möglichkeiten der Kategorisierung waren in der Folge vor allem die Psychologin Eleanor Rosch (1973, 1974, 1975a, 1975b, 1977, 1978, Rosch et al. 1976, Rosch/Mervis 1975), der Philosoph Hilary Putnam (1975, 1978) und der Sprachwissenschaftler Charles Fillmore (1968, 1975, 1977a, 1977b, 1982). Sie alle haben auf ihre Weise die Bedeutungserfassung und damit einhergehend auch die semantische Analyse revolutioniert. Die Ergebnisse dieser Revolutionen sind die Prototypentheorie(n), die Stereotypentheorie und die Scenesand-Frames-Semantik, die wir als nächstes kurz vorstellen wollen.
5.3.1
Die Prototypentheorie
Die Prototypentheorie,55 die mehrfach geändert und ergänzt wurde und die nach wie vor als Grundlage für Untersuchungen in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen Anwendung findet, ist im Kern jene, die in den 1970er Jahren von Eleanor Rosch entwickelt wurde. Die Geschichte der Prototypentheorie kann in drei Phasen eingeteilt werden.56 Jene Phase, die für uns relevant ist, ist die zweite, die zwischen 1973 und 1975 angesiedelt wird, in der die Theorie an sich ihren Ursprung nahm, um sich schließlich jedoch vom Ursprünglichen weg und wiederum in etwas Neues zu entwickeln (cf. Danler 2007a; 2007b; 2009). Kleiber (1990) stellte wohl zu Recht fest, dass die Entwicklung
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Die Prototypentheorie geht von lexikalischen Strukturen aus, die durch horizontale und vertikale Ebenen gekennzeichnet sind. Die horizontale Ebene ist die kohyponymische und betrifft die Gliederung zwischen den Kategorien, also etwa Hund vs. Katze vs. Vogel. Sie stellt zumindest bis zu einem gewissen Grad den Versuch dar, doch noch Grenzen zwischen den Kategorien einzuziehen, wenngleich diese sehr schwach sein mögen. Die vertikale Ebene ist die hyponymische, auf der Tier vs. Vogel vs. Rotkehlchen unterschieden werden (cf. Blank 2001, 49ff.). Die drei Phasen sind erstens jene von 1971 bis 1973, in der vor allem im Bereich der Wahrnehmungspsychologie empirische Vorarbeiten geleistet wurden, zweitens jene zwischen 1973 und 1975, in der die Theorie tatsächlich erarbeitet wurde und drittens jene ab 1977, als die Theorie den letzten Schliff erhielt und in einen größeren kognitiven Kontext gestellt wurde (cf. Mangasser-Wahl 2000, 55ff.).
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der ursprünglichen Theorie, also der Standardtheorie, in eine mehr oder weniger neue Theorie mündete, die mit derjenigen, aus der sie hervorgegangen ist, nicht mehr allzu viel gemeinsam hat. Darauf werden wir am Ende dieses Abschnitts einzugehen haben. Der wesentliche Punkt der Standardtheorie, der auch für unsere Analyse der entscheidende ist, ist die Tatsache, dass sich jede Kategorie um ein zentrales Element, nämlich um den besten Repräsentanten der Kategorie, bildet. Alle Referenten einer Kategorie teilen ein oder mehrere Merkmale mit diesem besten Vertreter der Kategorie, d.h. mit dem Prototyp. Der Prototyp ist also jener Vertreter der Kategorie, der am meisten der typischen Merkmale in sich vereinigt. Der Weg zur Bestimmung des Prototyps ist ein onomasiologischer. Vom Konzept maximaler Typikalität ausgehend fragt man nach dessen Bezeichnung. Anders formuliert, heißt das nichts anderes als danach zu fragen, welches zum Beispiel in einer Region der typische Vogel oder die typische Frucht ist. Auf die Politiker eines Landes umgelegt, wäre analog dazu vorstellbar, danach zu fragen, wer denn von den Ministern der typischste Politiker ist.57 Allzu oft hört man auch typisch deutsch, typisch italienisch, typisch österreichisch und in der neuen Welt typisch argentinisch, typisch brasilianisch oder typisch mexikanisch. Es scheint hie wie dort stereotype Merkmale zu geben, die gebündelt den Prototyp bilden. Die Erhebung des Prototyps erfolgt empirisch. Es sind die Mitglieder einer Sprach- und Kulturgemeinschaft, die darüber entscheiden, wer oder was der beste Vertreter einer Kategorie ist. Das Zugehörigkeitskriterium zu einer Kategorie ist im Gegensatz zur Komponentialsemantik nicht mehr das Vorhanden-Sein notwendiger und/oder hinreichender Merkmale, sondern die Familienähnlichkeit. Die Sichtweise ist im Gegensatz zur Merkmalsemantik nicht mehr analytisch, sondern holistisch. Ein Vogel muss also nicht mehr notwendigerweise fliegen können, um ein Vogel zu sein, sondern er muss insgesamt vogelähnlich sein, um als Vogel zu gelten. Das heißt, dass die Referenten einer Kategorie dem besten Vertreter dieser Kategorie mehr oder weniger ähnlich sind, wodurch sich die Repräsentativität der einzelnen Mitglieder der Kategorie als graduell herausstellt. Man kann sich die Mitglieder der Kategorie auf konzentrischen Kreisen vorstellen, in deren Zentrum sich der Prototyp befindet. Je näher die Mitglieder der Kategorie dem Prototyp sind, desto repräsentativer sind sie. Die Distanz zwischen dem Prototyp und den anderen Referenten der Kategorie wird durch die sogenannte cue validity der Eigenschaften der einzelnen Mitglieder der Kategorie bestimmt. Je mehr Merkmale ein Element der Kategorie mit dem Prototyp teilt und je weniger es mit den Elementen aus anderen Kategorien gemeinsam hat, desto typischer ist es. Wie dem auch sei, das Modell des konkreten Prototyps als bester Repräsentant der Kategorie wurde schließlich durch das erweiterte Modell ersetzt, in dem anstatt des konkreten Prototyps ein Bündel prototypischer Merkmale im Zentrum steht.58 Auf diese Weise ist eine kognitive Konstruktion zum Prototyp ei-
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Man hört und sagt ja immer wieder »typisch Politiker«. Infolgedessen muss es auch Merkmale geben, die für Politiker als mehr oder weniger typisch gelten. Diese Entwicklung lässt sich wohl damit erklären, dass es einerseits oft mehrere Repräsentanten gibt, die als beste Vertreter in Frage kommen, andererseits wird der erwählte Prototyp mitunter auch über Merkmale verfügen, die gar nicht als prototypisch gelten. Sollte etwa der Spatz als prototypischer Vogel gelten, wie es oft heißt, dann würde das Piepen generell typischer sein als etwa das Singen der Amsel (cf. Kleiber 1990).
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ner Kategorie geworden (cf. Kleiber 1990).59 Als wesentlicher Unterschied zwischen der Standardtheorie und der erweiterten Theorie gilt folglich die Tatsache, dass erstere über einen konkreten Prototyp verfügt, während letztere nur noch von prototypischen Effekten ausgeht.60 Der Ausgangspunkt der Konzeptualisierung einer Kategorie ist in der erweiterten Theorie nicht mehr eine »klar abgrenzbare Gruppe von Referentenklassen oder von Weltwissensaspekten, sondern das entsprechende Wort einer Einzelsprache! Die prototypische Strukturierung eines Konzepts weicht der Darstellung aller mit einem Wort verbundenen Konzepte und Verwendungen« (Blank 2001, 50-51).61 Der erweiterten Theorie ist der konkrete Mittelpunkt als Ausgangspunkt für die Kategorienbildung abhanden gekommen, wodurch sie im Gegensatz zur monosemischen Standardtheorie zu einer multikategoriellen Theorie wurde, die im Grunde auf Polysemie ausgerichtet ist (cf. Kleiber 1990). Unseren Zwecken wird die Standardtheorie dienlicher sein als die erweiterte Theorie.
5.3.2
Die Stereotypentheorie
Was die Analyse der Stereotypen anbelangt, muss zunächst zwischen der sozio-psychologischen und der linguistischen Sicht unterschieden werden (cf. Danler 2007a; 2007b; 2009). Erstere ist im sprachwissenschaftlichen Bereich u.a. auch Ausgangspunkt für soziolinguistische und konversationsanalytische Studien, letztere gehört in den größeren Rahmen der lexikalischen Semantik (cf. Klein 1998). Wenngleich das soziale Stereotyp62 zunächst als Summe vorgefasster Meinungen einer Kulturgemeinschaft ohne spezielle Wertung gilt, so gibt Allport (1954) doch zu bedenken, dass das Stereotyp in der Regel sehr wohl eine eher negative Konnotation enthält. Diese negative Konnotation erhält das Stereotyp allerdings erst in dem Augenblick, in dem eine a priori neutrale Kategorie eine Wertung erfährt. Die Sicht, die hingegen für unsere Untersuchungen interessant ist, ist die linguistisch-philosophische, die auf den Philosophen Hilary Putnam (1975; 1978) zurückgeht. Gemäß Putnam sind es in der Regel gerade die stereotypen Kenntnisse von den Dingen, die das Funktionieren der Alltagskommunikation gewährleisten. Auch wenn sie oberflächlich sind und mitunter so gar nicht der Realität entsprechen, leisten gerade die Stereotype einen entscheidenden Beitrag zur erfolgreichen Alltagskommunikation, da diese oft erst gerade dank der kollektiven Stereotypenkenntnisse möglich wird. Das Stereotypenwissen steht in diametralem Gegensatz zum Expertenwissen. Wichtig ist jedoch, dass die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft tatsächlich über das gleiche Stereotypenwissen verfügen (cf. Reiß 1997, 52ff.).
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In dieser Darstellung ähnelt der Prototyp bereits dem putnamschen Konzept des Stereotyps, das in der Folge besprochen werden soll. Demzufolge spricht man dann anstatt vom Prototyp vom Grad der Prototypikalität. Die Familienähnlichkeit bezieht sich auch nicht mehr ausschließlich auf die Ähnlichkeit unter den Mitgliedern einer Kategorie und dem jeweiligen Prototyp, sondern auch auf die Ähnlichkeit unter den einzelnen Mitgliedern. Fermer in fermer la porte (die Tür schließen) sei demzufolge prototypischer als fermer les yeux sur qc. (ein Auge zudrücken) (cf. Blank 2001, 51). Es wurde nachgewiesen, dass man schon in sehr jungen Jahren Stereotype lernt und übernimmt. Dies dauert dann auch das ganze Leben an (cf. Plous 2003).
5. Die linguistische Diskursanalyse als integraler Bestandteil der Politolinguistik
Putnams Konzeptualisierung der Bedeutung war gerade deshalb revolutionär, weil sie das Stereotypenwissen miteinbezog. Die Bedeutung setzt sich nach Putnam aus vier Gruppen von relevanten Bestandteilen zusammen: erstens den syntaktischen Markern, zweitens den semantischen Markern, drittens den Stereotypen und viertens der Extension.63 Die Bedeutung ist nach Putnam gewissermaßen ein Verhandlungsergebnis, zumal das Stereotypenwissen durch die menschliche Kommunikation und Interaktion fortbesteht und gegebenenfalls auch Veränderungen erfährt. Die Bedeutung von X zu kennen impliziert bzw. präsupponiert auch, dass man das in einer bestimmten Sprach- und Kulturgemeinschaft in Bezug auf X bestehende Stereotypenwissen teilt. Die semantischen Marker gehören als semantische Invarianten zum stabilen Bedeutungskern von X, die Stereotype hingegen repräsentieren die in der Sprach- und Kulturgemeinschaft gängigen Meinungen.64 Das in einer Sprach- und Kulturgemeinschaft konventionalisierte Stereotyp entstammt jedenfalls der Sicht der Mitglieder jener Gemeinschaft und nicht etwa jenen Eigenschaften von X, die faktisch und objektiv ermittelbar sind (cf. Harras et al. 1991, 28ff.). Es ist allerdings so, dass nicht nur die oben genannten semantischen Marker stabil sind, sondern dass sich auch die Stereotype als ziemlich beständig erweisen (cf. Mangasser-Wahl 2000, 146ff.). Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, dass das Stereotyp ein Merkmalbündel ist, das mit der Variablen X üblicherweise assoziiert wird. Schwarze (2001, 31) definiert es auch in diesem Sinne, indem er das Stereotyp quasi als Default-Eigenschaftskonfiguration bezeichnet.65 Obwohl das Konzept des Stereotyps im Gegensatz zu jenem des Prototyps nicht strukturiert ist, gibt es offensichtlich starke Ähnlichkeiten zwischen den beiden, vor allem zwischen dem Konzept des Prototyps der erweiterten Theorie und jenem des Stereotyps. Der empirisch erhobene Prototyp spiegelt das typische Wissen der Mitglieder einer Sprach- und Kulturgemeinschaft wider, das Stereotyp versammelt konventionalisierte Bestandteile der Bedeutung. Man könnte durchaus Unterschiede zwischen dem Prototyp der erweiterten Theorie und dem Stereotyp ausmachen, und zwar dahingehend, dass der Prototyp der erweiterten Theorie auch die semantischen Marker aus Putnams Bedeutungskonzeptualisierung enthalten mag, die in Putnams Modell gesondert neben dem Stereotyp stehen. Schwarze (2 2000, 718) hingegen bezeichnet das Stereotyp als Summe der Eigenschaften, die den Prototyp ausmachen, um so den Prototyp (der Standardtheorie) als Referenten des Stereotyps zu definieren: »Ein Stereotyp […] sei die Menge der Eigenschaften, die einen Prototyp definieren« (Schwarze 1982, 3).
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Putnam (1975) illustriert dies am Beispiel: die Bedeutung von ›Wasser‹. Die syntaktischen Marker besagen in diesem Fall unzählbar und konkret, die semantischen natürlich und flüssig, das Stereotyp transparent, farblos, geschmacklos, gegen den Durst, die Extension H2 O. Ein semantischer Marker von Tiger ist z.B. /Tier/ (cf. Mangasser-Wahl 2000, 150), ein Stereotyp wäre wohl /gefährlich/. Schwarze (2001, 31) sagt wörtlich : »Un stéréotype est une configuration de propriétés dans laquelle figurent des valeurs par défaut.« Den Default-Wert definiert er zuvor als Wert, »qui, associée à un attribut donné, définit une propriété non nécessaire mais typique, à laquelle on conclut en l’absence d’information contraire« (Schwarze 2001, 30).
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Der klassische Populismus Lateinamerikas
Für unsere Untersuchungen scheint dies ein sehr brauchbarer Ansatz zu sein und so werden wir in der Analyse der Reden in Kapitel 6 versuchen, die jeweiligen Prototypen durch Assemblage stereotyper Eigenschaften zu ermitteln.
5.3.3
Die Scenes-and-frames-Semantik
Grosso modo geht es in der Prototypentheorie also um die Kategorisierung von Referenten, in der Stereotypentheorie um das Einbeziehen individueller Bedeutungen von Merkmalen in die Konzeptualisierung, die in erster Linie durch Konvention mehr oder weniger allgemeingültig geworden sind und in der Scenes-and-frames-Semantik um die Speicherung komplexer Konzepte von einzelnen Szenen bis zur Abfolge von mehreren Szenen, die gemeinsam gewissermaßen ein Drehbuch bilden (cf. Blank 2001, 54ff.).66 Bereits in den 1930er Jahren erfolgten wichtige Vorarbeiten für die Scenes-andframes-Semantik, wie wir sie seit den 1970er Jahren kennen. Bartlett (1932) beschäftigte sich mit schematischer Konzeptualisierung vor allem im Zusammenhang mit interessengeleiteter Erinnerung. Mit zeitlicher Distanz werden Erinnerungen abstrakter und schematischer. Die schematische Erinnerung kommt dann letztlich durch das Abstrahieren und Kondensieren von abgespeichertem Material zustande, wobei das Interesse des Erinnernden nicht zu unterschätzen ist.67 Die Schemata verfestigen sich und werden zu Wissensstrukturen, die ihrerseits in der Folge Erinnerungen konditionieren (cf. Busse 2012, 314ff.). Ende der 1960er und vor allem in den 1970er und 1980er Jahren waren es dann zunächst vor allem Fillmore (1968; 1971; 1975; 1977a; 1977b; 1982) und Minsky (1975), die die Wege für die Scenes-and-frames-Semantik ebneten.68 Minsky (1975, 212) umreißt bereits 1975 klar sein Frame-Konzept, indem er sagt: »Here is the essence of the theory: When one encounters a new situation […] one selects from memory a substantial structure called a frame. This is a remembered framework to be adapted to fit reality by changing details as necessary.« Dann ergänzt er: »A frame is a datastructure for representing a stereotyped situation, like being in a certain kind of living room, or going to a child’s birthday party. Attached to each frame are several kinds of information. Some of this information is about how to use the frame. Some is about what one can expect to happen next« (Minsky 1975, 212). Schank/Abelson gehen dann auf zwei Arten von Wissen ein, das allgemeine Wissen und das spezielle Wissen,69 bevor sie im Detail eine Script-Theorie ausarbeiten, die sie dann am Restaurant-Script illustrieren (Schank/Abelson 1977, 42ff.).
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Wir sprechen hier von Drehbuch in Analogie zum im Englischen üblichen script und zum im Spanischen gebräuchlichen guión. Aus der Psychologie ist bekannt, dass die Erinnerung sehr selektiv ist und dass es im Erinnerungsprozess mitunter zu groben Verzerrungen des tatsächlich Stattgefundenen kommt (cf. Wittmann 2013). Ziem (2008) widmet sich ausführlich der Geschichte des frame und seines Einzugs in die Linguistik durch Fillmore. Das allgemeine Wissen lässt uns andere Menschen ganz einfach deshalb verstehen, weil sie und wir als Menschen Gemeinsamkeiten haben. Unabhängig davon, wer uns um ein Glas Wasser bittet, kann man annehmen, wozu er es braucht. Das spezielle Wissen erwerben wir, indem wir bestimmte Situationen durchleben (Schank/Abelson 1977, 37).
5. Die linguistische Diskursanalyse als integraler Bestandteil der Politolinguistik
In der Linguistik (Fillmore 1975) wird dann recht bald insofern zwischen frame und scene unterschieden, als sich der frame auf in einer Sprach- und Kulturgemeinschaft übliche sprachliche Strukturen bezieht, während die scenes auf außersprachliches Erfahrungswissen rekurrieren. Frames und scenes gemeinsam geben dem Wissen Struktur, weil durch die frames und scenes Bedeutung als System von Bedeutungsbeziehungen konzeptualisiert wird. Die Bedeutung von Restaurant ist die Summe einer Vielzahl von Bedeutungsbeziehungen, genauso wie die Bedeutung von Revolution, Krieg oder Frieden die Summe einer Vielzahl von Bedeutungsbeziehungen ist.70 Sei es nun eine scene, ein script oder ein memory organization package (MOP),71 es geht stets darum, die semantisch-kognitive Umgebung des jeweiligen Terminus miteinzubeziehen, um die Bedeutung in ihrer Gesamtheit zu erfassen. Um etwa die Bedeutung von Streik zu erheben, müssen die Akteure des Streiks, die Streikgründe, die Streikmethoden, die Ziele des Streiks, die Streikbedingungen, die zeitlichen und örtlichen Aspekte des Streiks usw. in die entsprechende Konzeptualisierung Eingang finden. Das Grundprinzip der Scenes-and-frames-Semantik ist also die Kontiguität. Das heißt, dass für die Erfassung der Bedeutung von Streik im Sinne einer kognitiven Szene alle das Phänomen Streik determinierenden Faktoren herausgearbeitet und miteinbezogen werden müssen. Nach dieser Blitzeinführung in die scenes-and-frames stellt sich die Frage nach ihrer Relevanz für unsere Analysezwecke. Heringer (1984, 49) beschrieb einst die Verbbedeutung mit klarem Blick auf die Valenzpotenz folgendermaßen: »Ein Verb, das ist so, wie wenn man im dunklen Raum das Licht anknipst. Mit einem Schlag ist das Grundgerüst des Satzes da.« Das trivalente Verb anordnen impliziert dementsprechend, dass jemand X jemandem Z etwas Y anordnet. Außerdem ist noch den entsprechenden Umständen bzw. Zirkumstanten wie Grund, Zweck, Bedingung etc. Rechnung zu tragen. Schank/Abelson (1977) hatten Ähnliches anhand ihres Restaurant-Scripts gesagt. Man hört das Wort Restaurant und denkt quasi automatisch an das Platz-Nehmen, die Speisekarte, den Kellner, das Essen, das Bezahlen usw. In beiden Fällen evoziert ein einziges Wort eine (kognitive) Szene, wenn nicht gar ein Drehbuch. Die in den Reden behandelten Themen lösen Wiedererkennungseffekte aus, wodurch zum einen Vertrautheit geschaffen wird und zum anderen sprachökonomische Vorteile genutzt werden können. Da vieles zwar im Konkreten unbekannt, im Allgemeinen jedoch bekannt ist, können in der Rede viele Einzelheiten ausgespart bleiben. Dies hat Vorteile, birgt aber eben auch große Risiken bzw. bietet große Chancen. Der Redner suggeriert, der Zuhörer komplettiert und glaubt womöglich, dies im Sinne des Redners zu tun, der dann dafür aber keine Verantwortung übernehmen muss. Bestimmte Situationen können hervorgehoben, andere in den Hintergrund gerückt werden (cf. Matthes 2007, 18). Es gibt nun also ein Ereignis wie beispielsweise den vorhin erwähnten Streik. Das Wort Streik eröffnet Leerstellen im kognitiven Bild des Zuhörers, die dieser füllt. Die Füllung ist aber eine vom Redner geleitete. Das Drehbuch wird Zug um Zug besetzt
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Das Herstellen semantischer Beziehungen bedeutet dann Schema-Instanzbeziehungen zu realisieren (cf. Ziem 2008, 255). Gemäß Busse (2017, 199) machen gerade die Leerstellen und deren Füllungen „den Charme, die Besonderheit und den wesentlichen Kern der Frame-Theorien“ aus. Als Oberbegriff für die verschiedenen Formen von Wissensstrukturen schlägt Karcher (1988) den Terminus Schema vor.
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und die Handlung erfährt eine Wertung. Die Struktur des Drehbuchs ist also aufgrund des kollektiven Wissens und der kollektiven Erfahrung vorgegeben, die wertende Rollenbesetzung obliegt dem Redner. Die Streikenden können die Guten oder die Bösen sein. Die Verantwortlichen der bestreikten Unternehmen können die Guten oder die Bösen sein. Der Streikgrund kann als gerechtfertigt oder als ungerechtfertigt dargestellt werden. Sowohl die Streikmaßnahmen als auch die Forderungen können als angemessen oder aber auch als überzogen dargestellt werden und vieles mehr. Es geht bei der Textanalyse dann also in erster Linie darum, Leerstellen in den kognitiven Szenen aufzuspüren. Wir haben oben festgestellt, dass die stereotypen Eigenschaften den Prototyp kreieren. Sie kreieren ihn aber nicht als Porträt oder Standbild, sondern der Prototyp entsteht in Situationen, Prozessen und Handlungen. Durch sein Denken, Fühlen und Tun, das jemand erst im Rahmen eines Drehbuchs realisieren kann, wird er zum prototypischen Helden oder auch Antihelden. In diesem Sinne sollen die Prototypentheorie, die Stereotypentheorie sowie die Scenes-and-frames-Semantik Helden und Antihelden als kognitive Konstrukte entlarven.
5.3.4
Die Metapher und die Metonymie
Wir haben oben festgehalten, dass sich die kognitive Semantik in erster Linie mit den kognitiven Operationen beschäftigt, die mentale Repräsentationen begründen bzw. verändern. Metapher und Metonymie sind genau daraufhin ausgerichtet und eben das wollen wir uns in der Folge genauer ansehen.72 Warum heißt es, dass ein Bild mehr als tausend Worte sagt? Das wird wohl damit zu tun haben, dass ein Bild, das man in einem Augenblick wahrnimmt, punktuell sogar komplexe Inhalte vermitteln kann. Im Falle der Metapher und der Metonymie sind wir ebenso in der Welt der Bilder, wir sind, genauer gesagt, in der Welt der bildlichen oder figürlichen Sprache.73 Aus diesem Grund gelingt es auch der Metapher und der Metonymie, Inhalte effizienter zu kommunizieren als vielen Worten. Sagt man beispielsweise über seinen Freund, dass er ein Engel sei, so heißt das viel mehr als eine lange Reihe von Attributen wie etwa liebenswert, hilfsbereit, selbstlos usw. Das Bild des Engels bringt gesamthaft die Wahrnehmung und Konzeptualisierung des Freundes zum Ausdruck. Wenn man weiters metonymisch sagt, dass ein Dorf 2000 Seelen habe, so bedeutet es ebenso etwas anderes, als wenn man von 2000 Einwohnern spricht. Die Bezeichnung 2000 Seelen sagt wiederum etwas über die Konzeptualisierung der Dorfbewohner aus. Zwei Beispiele genügen, um zu zeigen, dass Metapher und Metonymie semantische Prädikate kondensieren (cf. Cuvardic García 2004, 62) bzw. verdichten. Eine einzelne Metapher oder Metonymie kann durch ein Wort ein ganzes Konzept zusammenfassen. In den Kognitionswissenschaften sagt man auch, dass die Metapher bzw. Metonymie gar nicht sprachlicher, sondern konzeptueller Natur sei (cf. Lakoff 2006; Lakoff/Johnson 1980). Indem die Metapher bzw. Metonymie auf eine neue Weise ein komplexes Konzept vermittelt, schafft sie eine neue konzeptuelle Kategorie und modifiziert dadurch 72 73
Das Thema wurde inhaltlich vom Autor bereits in Danler (2019b) ausgearbeitet. Die Metonymie basiert nicht auf Analogie, sondern auf Kontiguität.
5. Die linguistische Diskursanalyse als integraler Bestandteil der Politolinguistik
die mentalen Strukturen der Kommunizierenden. In den oben genannten Beispielen sind es jene des metaphorischen Engels und der metonymischen Seelen. Metaphern und Metonymien ziehen neue Grenzen zwischen bestehenden Konzepten, die jene Kategorien be-grenzen, in denen sich die neuen Bedeutungserschließungen ergeben. Betrachten wir zunächst grosso modo den Werdegang von Metapher und Metonymie. Bereits Aristoteles beschäftigte sich eingehend mit Metapher und Metonymie. Nach Aristoteles (1984, 2332) besteht eine Metapher »in giving the thing a name that belongs to something else«. Lange Zeit wurden Metapher und Metonymie allerdings primär als stilistische Figuren betrachtet, deren Hauptfunktion es war, die Sprache zu verschönern. Im Grunde wurde davon ausgegangen, dass Metapher und Metonymie gewöhnlichere sprachliche Ausdrücke ersetzen (sollten) (cf. Lakoff 2 1993, 202; Rolf 2005, 21; Vilela 2002, 64). Später entwickelte sich abhängig davon, ob der Blickwinkel ein formaler, semantischer, funktionaler oder pragmatischer war, eine Vielzahl von Metapherntheorien.74 Wie dem auch sei, in der Zwischenzeit ist man zur Einsicht gelangt, dass Metapher und Metonymie keine abweichenden Formen oder Zweitformen darstellen, die ursprüngliche Formen oder Erstformen ersetzen sollten (cf. Kienpointner 1999, 67). Es war klar geworden, dass selbst wenn man Metapher und Metonymie als abgeleitete Formen betrachten würde, ihre semantischen Inhalte niemals mit jenen der vermeintlichen Erstformen identisch wären, gerade weil es sich um unterschiedliche Konzeptualisierungen handelt. Wenn man jemanden als seinen Schatz bezeichnet, dann ersetzt man damit nicht etwa bloß den Signifikanten mein Lieber, mein Geliebter oder mein Freund durch mein Schatz und behält das Signifikat von Lieber, Geliebter oder Freund bei, sondern man vermittelt mit dem neuen Signifikanten auch eine neue Bedeutung. Metapher und Metonymie haben in verschiedenen Bereichen eine Vielzahl von Funktionen. So zeigt etwa die Sprachgeschichte die Omnipräsenz der Metapher (cf. Danler 2008; Llamas Saíz 2005)75 genauso wie die Tatsache, dass das Denken ohne Metapher überhaupt nicht vorstellbar ist (cf. Feng 2003, 55). Gibbs Jr. (2002, 122) hält die Metapher sogar für die ursprüngliche Form des Denkens. Um jedoch wieder zur Politik zurückzukehren, erinnern wir an Musolff (2004), der dahingehend argumentiert, dass die Politik notwendigerweise metaphorisch wahrgenommen werden muss, weil sich all unsere sozialen Erfahrungen, zu denen auch die Politik gehört, metaphorisch organisieren. Es wird sogar behauptet, dass die Metaphern die sozialen Phänomene etikettieren (Cuvardic García 2004, 62),76 was der Neukategorisierung gleichzusetzen wäre, von der wir oben gesprochen haben. Diese neuen Kategorien stellen das Ergebnis der Fusion zweier Bereiche dar (cf. Charteris-Black 2004, 8ff.; Jäkel 2003, 23), die traditionellerweise separat betrachtet wurden. Wenn etwa ein Krieg als Kreuzzug bezeichnet wird und die darunter leidenden Menschen auf Erlösung warten, so wird bewusst oder unbewusst das Thema des Krieges mit jenem der Religion verquickt, was im persuasiven Diskurs eine gewichtige Rolle spielen dürfte.
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Zu den bedeutenderen gehören etwa jene der Analogie, der Anapher, der Absurdität, der Rekonzeptualisierung oder der Verdoppelung des Referenten (cf. Rolf 2005). Man denke etwa an die Präpositionen in über etwas sprechen, an etwas denken, von etwas abhängen, die ursprünglich alle eine lokale bzw. direktionale Bedeutung hatten. Cuvardic García (2004, 62) spricht von »etiquetar los fenómenos sociales«.
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Nichtsdestotrotz stimmt es auch, dass Metapher und Metonymie mitunter sehr starke Gefühle auslösen bzw. auslösen sollen. Dies geschieht möglicherweise gerade dadurch, dass sich zwei Wahrnehmungsdimensionen, die zwei Seiten der menschlichen Erfahrung darstellen, nämlich Emotion und Kognition, durch die Metapher vereinigen. In gewissem Sinne könnte man auch sagen, dass Metapher und Metonymie zwischen diesen beiden vermitteln. Wenn man beispielsweise einen Mann als Löwen bezeichnet und eine Frau als Diva oder einen Mann als Diva und die Frau als Löwin oder wenn man etwa vom Feuer spricht, das im Herzen lodert, dann löst dies zunächst Gefühle aus, die erst im Laufe der geistigen Auseinandersetzung mit dem Thema kognitive Strukturen erstehen lassen. Die Gefühle wurzeln im Unterbewusstsein (cf. Charteris-Black 2014, 160) und transformieren sich quasi im Aufsteigen in Bewusstseinsinhalte. Metapher und Metonymie sind vielschichtige und polyfunktionale Phänomene, sodass es zu kurz gegriffen wäre, sie ausschließlich als stilistische oder konzeptuelle Hilfsmittel zu bezeichnen (cf. Beer/Landtsheer 2004, 6ff.; Bowdle/Gentner 2005; CharterisBlack 2004, 7ff.). Für das Verständnis des politischen Diskurses ist es wichtig zu erkennen, dass sich die durch Metapher und Metonymie ausgelösten Gefühle abhängig von der politischideologischen Haltung immer klar auf bestimmte Gruppen beziehen.77 Auf metaphorische Weise gelingt es etwa hervorragend, den Status der in-group zu erhöhen oder jenen der out-group zu senken (cf. Drommel/Wolff 1978). Das heißt, auf diese Weise werden die diskursiv explizit oder implizit Angesprochenen bewertet. Chilton (1996, 13) macht aber klar, dass Metapher und Metonymie nicht nur Teil des politischen Diskurses sind, sondern dass sie Politik machen und so zu Werkzeugen der Persuasion werden. Metapher und Metonymie machen es möglich, ein Thema bzw. einen Gegenstand mit den Begriffen eines anderen zu besprechen, wodurch positive Aspekte hervorgehoben und negative ausgeblendet werden können (cf. Semino 2008, 85ff.). Dies ist eine starke Form der Manipulation und gehört, ob man will oder nicht, zur Politik. Charteris-Black (2005, 22ff.) hebt hervor, dass sich Metaphern auch hervorragend eignen, Mythen zu transportieren. Mythen zeichnen das Unerklärliche, vor allem wenn es um den Ursprung, den Verlauf und das Ziel des Weltenganges sowie um essenzielle Fragen der menschlichen Existenz geht. Geschichten und Bilder erklären oft auf einfache Weise, was man nicht wirklich sagen kann, soll oder darf. Halten wir noch einmal resümierend fest: Metapher und Metonymie dienen dem Denken, verbinden Emotion und Kognition, vermitteln verschlüsselt Positives und Negatives und bringen das Unsagbare zum Ausdruck. Es stellt sich nun aber die Frage, wie dies funktioniert. Wenden wir uns also als nächstes der konzeptuellen Metapher und ihrer Klassifizierung zu, um dem näher zu kommen. Eine der revolutionären Einsichten der kognitiven Linguistik der 1980er Jahre war, dass die Metapher nicht sprachlich, sondern konzeptuell ist und dass die sprachlichen Metaphern konzeptuellen Metaphern entstammen (cf. Degani 2015; Lakoff/Johnson 1980; Llamas Saíz 2005, 112; Vilela 2002, 70ff.). Die Hauptfunktion der konzeptuellen Metapher ist, wie oben gesagt, durch das Domänen-Crossing Zugang zu sonst Un77
So erklärt Lakoff (1991), wie auf der Grundlage von Metaphern der Golfkrieg gerechtfertigt wurde (cf. Charteris-Black 2005, 13ff.).
5. Die linguistische Diskursanalyse als integraler Bestandteil der Politolinguistik
verständlichem oder Unsagbarem zu finden. Verstehen heißt aber nicht einfach Kenntnis von etwas nehmen. Verstehen heißt, Zugang zu einer Welt zu finden bzw. auf neue Weise in einer bestimmten Welt zu sein. Nach Johnson (1987, 137) geht es in erster Linie um Verkörperung (cf. Beer/Landtsheer 2004, 16ff.). Da die körperliche Erfahrung die erste und daher grundlegende des Menschen ist, von der dann alle weiteren ausgehen, scheint es auch durchaus plausibel, dass der Körper und alles, was damit zusammenhängt, der Ausgangspunkt für die Reflexion ist. Aus diesem Grund ist die Reflexion auch auf körperliche Weise strukturiert (cf. Lakoff/Johnson 1980, 52). Das erste Ziel einer konzeptuellen Metapherntheorie im Rahmen der Diskursanalyse ist das Herausarbeiten der verschiedenen Ableitungen. Grady (2007, 191) veranschaulicht dies am Beispiel des Dampf-Ablassens. Es ist das Gesamtbild des Dampf-Ablassens, das viel besser als jedes isolierte Wort das entsprechende Gesamtkonzept vermittelt. Es wurde zwischen drei Typen von konzeptuellen Metaphern unterschieden (cf. Lakoff/Johnson 1980): strukturelle Metaphern, ontologische Metaphern und Richtungsmetaphern. Im Falle der strukturellen Metapher ist die Zieldomäne in den Begriffen der Ursprungsdomäne strukturiert. Die Ursprungsdomäne stellt eine komplexe Wissensstruktur für die Organisation der Zieldomäne zur Verfügung. Charteris-Black (2005) hat eine ganze Reihe von strukturellen Metaphern in verschiedenen politischen Reden identifiziert und analysiert, wie zum Beispiel die Bürgerrechtsbewegung ist eine spirituelle Reise, der politische Kampf ist eine unwirtliche Landschaft (Martin Luther King), die konservative Politik ist Medizin, der Staat ist Diener (Margaret Thatcher) oder moralische Handlungen sind finanzielle Transaktionen (George Bush Jr.). Die Ursprungsdomäne der ontologischen Metapher ist einfacher strukturiert als jene der strukturellen Metapher. Sie ist rudimentärer. Die Ursprungsdomäne sind Gegenstände, Substanzen, Behälter. Der Ausgangspunkt ist das Bewusstsein, in einem Körper zu sein, der begrenzt ist und sich zu anderen Dingen in Beziehung setzt. Die Ursprungsdomäne der Richtungsmetapher ist noch reduzierter. Im Grunde ist sie auf die drei Dimensionen beschränkt. Ein Merkmal der Metapher und Metonymie ist besonders wichtig im Hinblick auf die Analyse des politischen Diskurses. Der Transfer von Aspekten aus der Ursprungsdomäne in die Zieldomäne ist niemals komplett. Das heißt, dass sich die Merkmalstrukturen der beiden Domänen niemals völlig decken. Es werden folglich nur bestimmte Merkmale der Ursprungsdomäne in Betracht gezogen. Dies geschieht offensichtlich nicht zufällig, sondern ist ein äußerst selektiver Prozess. Die Ursprungsdomäne wird auf bestimmte Weise in den Blick genommen und dieser Blick wird auf die Zieldomäne übertragen. Es ist offensichtlich, dass auch die Selektion der zu übertragenden Merkmale äußerst manipulativ ist, weshalb Metapher und Metonymie über ein hohes kreatives Potenzial verfügen, das genutzt, benutzt oder ausgenutzt werden kann, um ein bestimmtes Bild von einer Person oder Situation zu zeichnen.
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5.4
Kognitive Pragmatik78
Die linguistische Diskursanalyse beschäftigt sich, wie bereits wiederholt hervorgehoben, mit den verschiedenen sprachlichen Dimensionen eines authentischen Textes innerhalb des weiten Feldes des sozio-historischen Diskurses. Diese Dimensionen können morphologischer, syntaktischer, semantischer oder lexikalischer Natur sein. Was jedoch hinsichtlich des Blickwinkels entscheidend ist, ist die Tatsache, dass dieser der pragmatische ist, weil es sich eben um Sprache im Gebrauch handelt. In Bezug auf die Bedeutung heißt das in der Folge, dass sich die Pragmatik mit der Bedeutung der sprachlichen Einheiten im Gebrauch beschäftigt. Wenn sich nun also die Pragmatik mit der Bedeutung der Sprache im Gebrauch beschäftigt, so grenzt sie sich von der Semantik insofern ab, als sich letztere im Gegensatz zu ersterer primär mit der Bedeutung isolierter sprachlicher Einheiten auseinandersetzt. Traditionellerweise beschäftigte sich die Semantik in erster Linie mit der Bedeutung einzelner Wörter. Die Erfassung der Satzbedeutung gehörte zumindest zunächst in den Bereich der Grammatik (cf. Polenz 2 1988, 49ff.), was sich allerdings im Laufe der Zeit geändert hat. Aus der Perspektive der Pragmatik sind isolierte Sätze – im Gegensatz zu konkreten Äußerungen – künstliche Konstrukte; die Satzbedeutung ist im Gegensatz zur Äußerungsbedeutung eine konventionelle und kontextfreie (cf. Lyons 1981; Recanati 2004, 5ff.). Die Semantik untersucht also die langue, die Pragmatik hingegen die parole. Die kognitive Pragmatik analysiert schließlich im Rahmen des sprachlichen und außersprachlichen Kontexts die mentalen Bedingungen, die gegeben sein müssen, damit die Bedeutung einer Äußerung überhaupt erst erfasst werden kann.
5.4.1
Satzbedeutung vs. Äußerungsbedeutung
Aus der Perspektive der Wahrheitsbedingungen-Semantik wird das Anliegen der Satzsemantik als Bestreben verstanden, die Bedeutung »in terms of the conditions under which a sentence would be true« (Palmer 1976, 24) zu erfassen. Gemäß der Wahrheitsbedingungen-Semantik heißt einen Satz verstehen nichts anderes als zu wissen, was passiert, wenn der Satz wahr ist. Einen Satz zu verstehen bedeutet, anders gesagt, zu wissen, wie die Welt aussieht, in der die durch den Satz bezeichnete Handlung bzw. das durch den Satz bezeichnete Ereignis stattfindet. Natürlich ist es möglich, einen Satz zu verstehen, ohne zu wissen, ob die bezeichnete Handlung oder das bezeichnete Ereignis tatsächlich stattgefunden haben. Davon ist die Wahrheitsbedingungen-Semantik unabhängig. Die Wahrheitsbedingungen-Semantik ist durch das Prinzip der Kompositionalität gekennzeichnet, nach dem die Bedeutung eines komplexen Ausdrucks eine Funktion der Bedeutungen seiner Einzelteile und der entsprechenden Satzverbindungen ist. Die konzeptuelle Semantik stattet die logischen Formen mit Konzepten aus, während die
78
Das Thema der angewandten kognitiven Pragmatik habe ich ausführlich im englischsprachigen Beitrag Danler (2016a) behandelt, der die Grundlage für die hier abgebildeten Betrachtungen darstellt.
5. Die linguistische Diskursanalyse als integraler Bestandteil der Politolinguistik
prozedurale Semantik angibt, wie die Konzepte zu verarbeiten sind (cf. Carston 2002b, 376).79 Bei der Analyse der politischen Rede geht es offensichtlich nicht um kontextfreie Sätze oder Texte, sondern ganz im Gegenteil um Äußerungen und authentische, kontextuell gebundene Texte.80 Äußerungen sind sprachliche Einheiten, d.h. Wörter, Phrasen, vollständige oder unvollständige Sätze, die Bestandteil in kommunikative Kontexte eingebetteter kommunikativer Akte, also Sprechakte, sind. Die Äußerungsbedeutung erschließt sich infolgedessen notwendigerweise anders als die Satzbedeutung. Die Äußerungsbedeutung erschließt sich dadurch, dass logische Formen mit sprachlich kodierter Bedeutung auf kognitive Strukturen abgebildet werden, die ihrerseits aber eben nicht isoliert für sich bestehen (cf. Carston 2002a, 135), sondern sich vielmehr aus der Gesamtheit der zum Thema gesammelten Informationen zusammensetzen. Es liegt auf der Hand, dass die Wahrheitsbedingungen-Semantik, die mit kontextungebundenen Einheiten operiert, bei der Analyse politischer Reden nicht wirklich weiterhilft, weil die Bedeutung der Äußerung eben immer auch kontextuell determiniert ist. Die in der Äußerung kodierte Bedeutung ist weiters immer unvollständig. So lang kann eine Äußerung gar nicht sein, dass ihre Bedeutung vollständig kodiert sein könnte. Da die kodierte Äußerungsbedeutung nun aber eben immer unvollständig ist, muss das, was für das Verständnis notwendig ist, aber fehlt, durch pragmatische Inferenzen (cf. Hall 2013, 99), d.h. Ableitungen aus dem Kontext (cf. Evans/Green 2006, 364), erhoben werden. Und dennoch ist die Satzsemantik für das Äußerungsverständnis alles andere als überflüssig. Wie vorher ausgeführt, beschäftigt sich die Satzsemantik mit der wörtlichen Bedeutung, während es in der pragmatisch zu erfassenden Äußerungsbedeutung um das tatsächlich Kommunizierte und eben nicht nur um das wörtlich Gesagte geht. Wie dem auch sei, das Verstehen einer Äußerung präsupponiert, dass zunächst der ihr zugrundeliegende Satz verstanden wird. Der Output der semantischen Analyse ist nämlich der Input für die pragmatische Analyse (cf. Levinson 1983).81 Es ist klar geworden, dass Semantik und Pragmatik unterschiedliche Ziele verfolgen. Ersterer geht es um die Bestimmung der Bedeutung von kontextunabhängigen sprachlichen Einheiten, während letztere zunächst darauf abzielt, die Äußerungspropositionen in all ihrer Unvollständigkeit und Unterdeterminiertheit zu erfassen, um dann auf dieser Grundlage mittels notwendiger Inferenzen die Äußerungsbedeutung gesamthaft zu erkennen. Der Ausgangspunkt für diese Entschlüsselungsprozedur ist die Satzbasis. Semantik und Pragmatik sind also gewissermaßen komplementär. Von zentraler Bedeutung für die Semantik sind Referenz und Wahrheit, für die Pragmatik
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Auch die konzeptuelle Semantik beschäftigt sich mit der Bedeutung einzelner Wörter im Allgemeinen. Authentische, kontextuell gebundene Texte werden mitunter als Diskurse bezeichnet, um diese von konstruierten Texten zu unterscheiden. Die Terminologie ist jedoch alles andere als kohärent, weshalb wir von dieser Unterscheidung absehen wollen (cf. Danler 2012). Das Thema Text vs. Diskurs wurde außerdem kurz in Kapitel 2 angerissen. Die Proposition der Äußerung muss außerdem mit dem Potential der Satzsemantik kompatibel sein (Recanati 2010, 2), was ebenso darauf verweist, dass es keine Pragmatik ohne Semantik geben kann.
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Der klassische Populismus Lateinamerikas
hingegen sind es Illokution (cf. Weigand 1993, 255ff.) und Implikatur (cf. Recanati 2004, 2ff.).82 Nachdem nun die für unsere Analysen wichtigen Oppositionen, nämlich Satz vs. Äußerung, Satzbedeutung vs. Äußerungsbedeutung und ganz generell Semantik vs. Pragmatik umrissen worden sind, wollen wir uns als nächstes gezielt der kognitiven Pragmatik zuwenden, die für die Analyse der politischen Rhetorik von besonderer Bedeutung ist.
5.4.2
Die Frage der Relevanz
In der kognitiven Pragmatik geht es im Grunde um die Relevanz in der Kommunikation. Sperber/Wilsons Buch Relevance: Communication and Cognition, das 1986 erschienen ist, begründete tatsächlich einen Paradigmenwechsel in der Pragmatik. Es geht zwar auch in diesem Buch um die klassischen Themen der Pragmatik, von der Rolle des Senders und Empfängers bis hin zu Präsupposition, Implikatur und Explikatur, aber – und das war das Neuartige – stets unter dem Blickwinkel der Relevanz, weil diese nämlich in den Augen der Autoren für das Funktionieren der Kommunikation eine ganz entscheidende Rolle spielt. Es war in der Tat die Relevanz, die in der Pragmatik die kognitive Wende auslöste. Zwei fiktive Situationen sollen vorerst klar machen, warum die Relevanz in der Kommunikation ganz generell eine so wichtige Rolle spielt: Uta ist in Begleitung von Ekkehard. Plötzlich wendet sie sich zur Seite und zeigt in die Richtung, in die sie schaut. Ekkehards Blicke folgen suchend Utas Zeigefinger. Gerburg sitzt an der Bar und starrt Thimo mit gerunzelter Stirn an. Thimo schaut sie fragend an. Dies sind zwei durchaus alltägliche Situationen, in denen Kommunikation stattfindet. Doch was passiert darin genau? Uta teilt Ekkehard mit, dass sie möchte, dass er etwas in einer bestimmten Richtung sieht. Daraufhin versucht Ekkehard herauszufinden, was es sein könnte. Gerburg teilt Thimo mit, dass sie möchte, dass er weiß, dass sie über eine Sache ernste Gedanken hegt. Thimo rätselt darüber, was es sein könnte und möglicherweise auch darüber, was diese Gedanken ausgelöst haben könnte. Ekkehard sieht zahllose Dinge in der von Uta angezeigten Richtung und für Gerburg wird es wohl verschiedene Gründe geben, plötzlich die Stirn zu runzeln. Sowohl Ekkehard als auch Thimo werden versuchen, die jeweilige non-verbal vermittelte Botschaft zu verstehen, indem sie dem Relevanzprinzip folgen. Was bedeutet das? Das bedeutet zunächst, dass Ekkehard Utas Zeigen in einen größeren Kontext stellen muss, erstens um zu erkennen, dass er in die von ihr angezeigte Richtung schauen soll und zweitens um zu verstehen, was er nun dort genau ins Visier zu nehmen hat. Er muss also zum einen verstehen, wie er sich verhalten und zum anderen, was er auf Utas Vorschlag in den Blick nehmen soll, oder anders gesagt, erkennen, welches das relevante Ziel ist. Thimo wird im Eiltempo einen oder sogar mehrere Filme vor seinem geistigen Auge ablaufen lassen, um auch nur zu erahnen, was ihm Gerburg mitteilen wollte und woher die von ihr zur Schau gestellte Haltung kommen könnte. Die von beiden Senderinnen stammenden kommunikativen Zeichen sind alles andere als eindeutig. Wollen die Empfänger diese dennoch verstehen, so müssen sie sie interpretieren, was einer gewissen Anstrengung nicht entbehrt, wie 82
Grice (1989) machte bereits klar, dass die Inferenz für das Aufdecken von Implikaturen unerlässlich ist.
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bereits klar geworden ist. Die Empfänger sind jedoch bereit, diese Anstrengung auf sich zu nehmen, weil sie die gesandten kommunikativen Zeichen entschlüsseln wollen, d.h., weil sie die Absichten der jeweiligen Senderin hinter den gesandten kommunikativen Zeichen erkennen wollen. Manifeste Kommunikation, d.h. geäußerte Botschaften sind immer und notwendigerweise bruchstückhaft. Aus diesem Grund muss der Adressat die ihm kommunizierte explizierte fragmentarische Information durch zusätzliche aus dem Kontext stammende implizite Informationen anreichern. Er muss also das explizit Dargestellte komplettieren. Wie soll das aber vonstatten gehen? Der Mensch ist imstande, sich bis zu einem gewissen Grad in den Geist des anderen zu versetzen. Aus diesem Grund kann sich der Empfänger Meta-Repräsentationen der geistigen Konstellation des Senders konstruieren, aus denen er einen wichtigen Teil der impliziten Information bezieht, die er für die Interpretation der expliziten Information benötigt (cf. Carston 2002a, 133; 2002b, 42).83 Der Sender möchte verstanden werden, was bedeutet, dass es sein Ziel ist, dass der Empfänger die Intentionen hinter dem kommunikativen Akt erfasst.84 Diese Intention des Senders kann nun vom Empfänger erkannt werden, indem er die oben genannten geistigen Repräsentationen des Senders konstruiert und in der Folge nachvollzieht. Da der Empfänger damit rechnen kann, dass der Sender will, dass seine kommunikativen Absichten verstanden werden – man denke an das Gricesche Kooperationsprinzip sowie an die Griceschen Konversationsmaximen –, kann er davon ausgehen, dass die fragmentarische explizite Botschaft des Senders maximal relevant ist, da für den Empfänger nur relevante Information verarbeitungswürdig ist (cf. Sperber/Wilson 2 2001, 35ff.). Dementsprechend besagt das kognitive Relevanzprinzip, dass das kognitive System des Menschen insgesamt auf die Maximierung von Relevanz ausgerichtet ist (cf. Carston 2002b, 45). Das kommunikative Relevanzprinzip hingegen besagt, dass Äußerungen stets die Erwartung auslösen, relevant zu sein (cf. Carston 2002b, 45; Clark 2011, 129ff.; Sperber/Wilson 2 2001, 158). Wäre dies nicht der Fall, würde es sich gar nicht lohnen, sie zu verarbeiten. Der Empfänger schreibt also a priori den kommunizierten Botschaften Relevanz zu, da er im gegenteiligen Fall nicht einmal davon ausginge, dass sich der Sender befleißigen würde, sie zu verschicken. Äußerungen provozieren also per se die Erwartung, relevant zu sein (cf. Wilson 2003, 283). Außerdem ist es gemäß dem kognitiven Relevanzprinzip eine menschliche Fähigkeit, intuitiv das maximal Relevante eines kommunikativen Akts zu erfassen. Man denke nur daran, wie oft man beim Zuhören gespannt auf die Pointe wartet bzw. diese sucht oder den Gesprächspartner sogar auffordert, es auf den Punkt zu bringen, was genau ein Indiz dafür ist.
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Gemäß den Repräsentationstheorien des Geistes bestehen geistige Repräsentationen aus einer Kette von Gedanken, die Handlungen, Ereignisse und Situationen darstellen, die tatsächlich oder aber auch nur fiktiv existieren oder existierten, welche tatsächlich erlebt wurden oder aber eben nicht (cf. Allott 2013, 69ff.). Es wurden zwei Typen von Intentionen unterschieden: die informative Intention gegenüber der kommunikativen Intention. Wenn der Sender den Empfänger über etwas informiert, dann entspringt dies der informativen Intention. Will der Sender dem Empfänger auch seine informative Intention offenbaren, dann entstammt das hingegen der kommunikativen Intention (cf. Allott 2013, 60; Sperber/Wilson 2 2001; 2011, 154).
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Sperber/Wilson sagen (2 2001, 39), dass manche Dinge sichtbarer sind als andere und diese wären die relevanten. Uta zeigt auf etwas in der Ferne, das ihre Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hat. Es war sichtbarer für sie als alles andere. Auf der Grundlage der mentalen Repräsentationen, die Ekkehard auf Uta projiziert, wird er dann abzuleiten versuchen, was ihr ins Auge gesprungen ist (cf. Allott 2013, 62), d.h., was für sie in dem Augenblick relevant ist. Gerburg könnte nachdenklich, gestresst, besorgt oder wütend sein. Auch Thimo wird auf der Grundlage des kommunizierten Zeichens in Verbindung mit den von ihm konstruierten mentalen Repräsentationen versuchen, die Intention hinter dem Zeichen zu ergründen. Die Relevanztheorie ist kein Kodemodell, sondern ein Inferenzmodell. Die Kommunikation erfolgt also nicht, indem Botschaften kodiert und dekodiert werden, sondern indem mentale Repräsentationen konstruiert werden und daraus die Illokution abgeleitet und interpretiert wird (cf. Sperber/Wilson 2 2001, 2ff.). Die nächste Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist, wie die Relevanz griffig als pragmatisches Konzept definiert werden kann. Der pragmatische Begriff Relevanz entspricht nicht dem allgemeinsprachlichen Begriff Relevanz, der ja [wichtig] und [zur Sache gehörig] bedeutet. In der Pragmatik ist die Relevanz ein relationales Konzept der Kosten-Nutzen-Rechnung zwischen Anstrengung und Effekt.85 Es besagt zum einen, dass die Relevanz (der Äußerung) umso größer ist, je größer die kognitiven Effekte sind.86 Zum anderen besagt es, dass die Relevanz (der Äußerung) ebenso umso größer ist, je weniger Anstrengung erforderlich ist, um eine gegebene Äußerung zu interpretieren (cf. Sperber/Wilson 2 2001). Möglichst große kognitive Effekte in Verbindung mit möglichst geringer kognitiver Anstrengung garantieren also optimale Relevanz. Die nächste Schlüsselfrage, der nachgegangen werden muss, ist offensichtlich die, was unter den kognitiven Effekten zu verstehen ist (cf. Clark 2011, 130). Kognitive Effekte verändern die mentale Repräsentation des Empfängers auf drei verschiedene Weisen (cf. Allott 2013, 71). Die mentale Repräsentation des Empfängers wird entweder durch neues Wissen angereichert, oder sie wird durch Korrektionen modifiziert, oder aber sie wird gar reduziert, weil sich herausstellt, dass bestehende Wissenseinträge aus der mentalen Repräsentation des Empfängers überhaupt gelöscht werden müssen. Kurz zusammengefasst, könnte man also sagen, dass die Relevanz einer Äußerung umso größer ist, je informativer sie ist und je weniger geistige Anstrengung ihre Verarbeitung erfordert. Da stellt sich natürlich gleich die Frage, was für die Größe des Aufwands der Informationsverarbeitung verantwortlich ist. Die Verarbeitung von langen und komplexen Äußerungen, nicht gebräuchlichen Wörtern (cf. Allott 2013, 66) sowie von Hyperonymen scheint eindeutig aufwändiger und daher anstrengender zu sein als die Verarbeitung von kurzen und einfachen Äußerungen, geläufigen Wörtern und Hyponymen (cf. Franks 1995, 445ff.). Was aber wahrscheinlich noch wesentlich wichtiger für die glatte Informationsverarbeitung ist als das soeben Dargestellte, das ist das Vorhandensein einer entsprechenden Wissensbasis im Empfänger, 85 86
In Allott (2013, 57) wird die Relevanz quasi als trade-off between effort and effect verstanden. Ursprünglich wurden die kognitiven Effekte als kontextuelle Effekte bezeichnet.
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an die die neue Information andocken kann.87 Kann der Empfänger nämlich relevante Erinnerungen aktivieren, so gelingt es ihm, die neue Information in bestehende Wissensstrukturen zu integrieren, was für die Verarbeitung des neuen Inputs von entscheidender Bedeutung ist (cf. Bianchi 2009, 114). Nachdem wir oben gesehen haben, wie in der nonverbalen Kommunikation die relevante Information erfasst, entschlüsselt und interpretiert wird, betrachten wir als nächstes, wie dies in der verbalen Kommunikation vonstatten geht. Im nonverbalen Kommunikationsakt ist bereits deutlich geworden, dass für das Verständnis der Äußerung sowohl die explizite als auch die implizite Information erforderlich ist. Es wurde weiters gezeigt, dass die implizite Information aus den kontextuellen Bedingungen stammt, die entweder rekonstruiert oder aus den mentalen Repräsentationen des Senders abgeleitet werden. Wir werden nun sehen, dass das Verständnis der verbalen Kommunikation analog zu jenem der nonverbalen Kommunikation funktioniert. In beiden Fällen sind es kommunikative Zeichen, die zur Ableitung komplexer Bedeutungskonstellationen führen. In der Analyse der verbalen Kommunikation muss zunächst zwischen Explikatur und Implikatur unterschieden werden. Die Explikatur ist das, was explizit artikuliert wird, die Implikatur ist das implizit oder eben unausgesprochen Vermittelte.88 Vor dem Boom der kognitiven Pragmatik wurde in der Regel davon ausgegangen, dass nur die Implikaturen, nicht aber die Explikaturen abgeleitet werden müssten. Die kognitive Pragmatik hat jedoch klar gemacht, dass eben nicht nur die Implikaturen, sondern genauso die Explikaturen dekodiert und vor allem abgeleitet werden müssen. Die zwei Quellen, die gemeinsam jene Information zur Verfügung stellen, die für das Verständnis der Explikatur notwendig ist, sind der semantische Inhalt und der diesen konditionierende Kontext (cf. Carston 2002b, 117ff.; 2003). Den deiktischen Elementen müssen die entsprechenden Referenzen zugewiesen werden und der Sinn, nicht nur die Bedeutung der sprachlichen Ausdrücke, muss auf der Grundlage des entsprechenden Kontexts erfasst werden. Grice unterschied zwischen zwei Arten von Implikaturen, nämlich zwischen den konventionellen und den konversationellen.89 In der kognitiven Pragmatik gibt es aber keine konventionellen Implikaturen. Was einst die konventionellen Implikaturen waren, sie gelten in der kognitiven Pragmatik als procedural constraints (cf. Carston 2002b, 134), die im Grunde den Ableitungsprozess erleichtern (cf. Carston 2002b, 162). Wie dem auch sei, in der kognitiven Pragmatik gibt es ebenfalls zwei Arten von Implikaturen bzw. impliziten Botschaften, nämlich implizierte Prämissen und implizierte Konklusionen (cf. Sperber/Wilson 2 2001, 195; Allot 2013, 76).90 Wiederholt wurde darauf hingewiesen, dass jede Äußerung notwendigerweise fragmentarisch ist, was im Grunde bedeutet, dass eine Explikatur niemals eine gesamte 87 88 89
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Neues wird bekanntlich immer dadurch gelernt, dass neue Dimensionen von Bekanntem ausgehend erschlossen werden. Hall (2013, 103) definiert die Explikatur als die pragmatisch entwickelte logische Form. Blakemore (1987) beschreibt die Natur der konventionellen Implikaturen wie but, after all usw. als Filter und Signale. Außerdem wird ja noch zwischen speziellen und allgemeinen Implikaturen unterschieden (cf. Carston 2002b, 303ff.), worauf wir hier aber nicht näher einzugehen haben. Sperber/Wilson (2 2001, 56) stellen fest, dass implizit Kommuniziertes i.d.R. viel vager ist als explizit Kommuniziertes. Es stellt sich die Frage, ob dies tatsächlich pauschal behauptet werden kann.
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Proposition versprachlichen kann.91 Abgesehen davon kann es aber gar nie das Ziel eines sprachlichen Ausdrucks sein, eine Proposition gesamthaft zu explizieren, weil dies dem Ökonomieprinzip der Sprache im Gebrauch zuwiderlaufen würde. Eine vollständig explizierte propositionale Form ist überflüssig und wäre außerdem unökonomisch (cf. Hall 2013, 104). Ein weiteres fiktives Beispiel soll veranschaulichen, dass das Verständnis der Äußerung keinesfalls die vollständige Materialisierung einer propositionalen Form erfordert. Indem Walther sagt, dass es regne und dass Hildegunde einen grünen Mantel trage, macht er eine höchst unterdeterminierte Äußerung. Nichtsdestotrotz wird der Empfänger vermuten, dass es an dem Ort regnet, an dem sich Walther befindet, und dass nicht etwa allein das Futter oder der Saum von Hildegundes Mantel grün sei, sondern dass grün die dominierende sichtbare Farbe darstelle. Dieser Fall belegt, dass das Kommunizierte viel präziser ist, als das Explizierte (cf. Levinson 2011, 88ff.). Der Empfänger möchte die Botschaft möglichst schnell, d.h. ohne große Verarbeitungskosten verstehen (cf. Franks 1995, 453) und das genannte Äußerungsverständnis wird wohl jenes sein, das sich trotz der semantischen Unterdeterminiertheit bei Walther als erstes einstellt. Die semantische Unterdeterminiertheit ist ein wesentliches Merkmal der verbalen Kommunikation (cf. Hall 2013, 103). Dementsprechend ist die Versprachlichung der kommunikativen Botschaft als minimal clue, d.h. als Minimalschlüssel, zur mentalen Repräsentation des Senders zu verstehen (cf. Evans/Green 2006, 366). Indem der Sender auf der Grundlage der Griceschen Maxime der Quantität dem Prinzip der Minimierung folgt, sagt er so wenig wie notwendig. Daraufhin ergänzt der Empfänger gemäß der Anreicherungsregel den Inhalt der Botschaft des Senders (cf. Levinson 2011, 88), um zu einer seiner Meinung nach möglichst adäquaten Interpretation des explizit Mitgeteilten zu gelangen. Was er dafür allerdings braucht, ist ein klarer Stimulus, der die Intention des Senders möglichst eindeutig enthüllt (cf. Sperber/Wilson 2011, 152). Dank dieses Stimulus kommt der Inferenzprozess richtig in Gang (cf. Carston 2002b, 15). Oben wurde bereits darauf verwiesen, dass jedem manifesten Kommunikationsakt der Anspruch auf Relevanz inhärent ist (cf. Bianchi 2009, 104ff.), was seitens des Empfängers zu entsprechenden Erwartungen führt. Dem Empfänger geht es nämlich darum, die relevante Botschaft zu erschließen, die aus den kommunikativen bzw. kommunikativen und informativen Intentionen des Senders resultiert. Dieses Erschließungsbzw. Ableitungsverfahren besteht aus verschiedenen Etappen. Der Ausgangspunkt für den Inferenzprozess ist offensichtlich der manifeste Kommunikationsakt und erst in einem zweiten Schritt des Ableitungsprozesses wird entschlüsselt, was nicht zeichenhaft kodiert wurde.92 Jeder Kommunikationsakt schickt zunächst einmal den Anspruch auf Aufmerksamkeit voraus (cf. Sperber/Wilson 2012, 87), was sich durch das kommunikative Relevanzprinzip erklärt. Das im Kommunikationsakt Vermittelte ist ein Set teilweise präziser und teilweise vager Thesen (cf. Sperber/Wilson 2 2001, 56ff.). Der Kommunikationsakt selbst besteht aus zwei komplementären Kommunikationsarten, nämlich der kodierten und der inferenziellen (cf. Sperber/Wilson 2 2001, 63). Der Empfänger 91 92
Dies entspricht dem kommunikativen Prinzip der partiellen Information. Der terminus technicus ostensive-inferential communication spiegelt genau diese beiden ersten Etappen des Ableitungsprozesses wider (cf. Allott 2013, 71; Sperber/Wilson 2 2001, 59).
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muss beide Kommunikationsarten in sein Entschlüsselungsprogramm miteinbeziehen, um letztlich davon ausgehend sein Verständnis der Botschaft konstruieren zu können (cf. Sperber/Wilson 2 2001, 65). Sperber/Wilson (2012, 87) bezeichnen das Resultat des Kommunikationsaktes als »controlled modification […] of the audience’s mental landscape«. Mehrfach ist nun gesagt worden, dass das Äußerungsverständnis das Resultat eines Ableitungsprozesses ist, der nur dank mentaler Meta-Repräsentationen möglich ist (cf. Bianchi 2009, 106; Carston 2002b, 42). Äußerungen sind stets stark unterdeterminiert und selbst nach der Disambiguierung und Referenzzuweisung (cf. Carston 2002b, 22) sind sie immer noch lediglich bruchstückhaft spezifiziert. Das Äußerungsverständnis wird, wie gesagt, in Etappen gewonnen. Die Explikaturen werden analysiert, die Implikaturen müssen zunächst erhoben und dann analysiert werden (Clark 2011, 133). Die Äußerungsbedeutung ergibt sich am Ende infolge dreier Bedeutungsanalysen auf verschiedenen Ebenen: Die erste Ebene ist jene der explizierten Formen, die zweite jene der bereits referentiell bestimmten und die dritte ist schließlich die Ebene der entschlüsselten Intention.93 Im Ableitungsprozess gibt es theoretisch Raum für Kreativität (cf. Allott 2013, 79). Auf der Suche nach Relevanz (cf. Wilson/Carston 2007, 244) ist der Empfänger in erster Linie aber doch darauf bedacht, herauszufinden, inwiefern die noch so fragmentarische und unterdeterminierte Äußerung manifestes Zeichen der Intention des Senders ist und dies bestätigt einmal mehr, was Grice mit dem Kooperationsprinzip zum Ausdruck brachte.
5.5
Informale Logik als Logos der Rhetorik
Bei Nicht-Eingeweihten mag allein schon die Bezeichnung informale Logik Verwunderung, wenn nicht gar Unverständnis auslösen. Was ist also unter informaler Logik zu verstehen? Die informale Logik hat offensichtlich irgendwie mit Logik zu tun, wenngleich durch das attributive informal zum Ausdruck gebracht wird, dass diese Form von Logik in diametralem Gegensatz zur gängigen Auffassung von Logik steht, die nämlich jene der formalen Logik ist. Werfen wir also kurz einen Blick zurück auf die Wurzeln der formalen Logik, um dann vor diesem Hintergrund der informalen Logik nachzugehen.
5.5.1
Informale Logik vs. formale Logik
In der formalen Logik geht es um richtiges Schlussfolgern und um auf diese Weise entstehende gültige Aussagen. Aus wahren Prämissen folgt notwendigerweise eine wahre Konklusion. In der Regel handelt es sich dabei um formale Beziehungen, nicht um Inhalte, die außerdem üblicherweise formalisiert notiert werden. Modus ponens und modus
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Um eine Äußerung wie Ich bin seit damals nicht mehr in Buenos Aires gewesen zu verstehen, bedarf es dementsprechend zunächst einer lexikalisch-semantischen Analyse, dann der referentiellen Bestückung aller deiktischen Ausdrücke und schließlich noch der Erhebung dessen, was der Sender im Grunde damit wirklich sagen will.
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tollens sind klassische Beispiele, die als Grundvarianten gegebenenfalls folgendermaßen aussehen können: A → B; A; also: B beziehungsweise A → B; ¬B; also: ¬A. Zu den Kernthemen der Logik gehören bereits seit der Antike die Grundstrukturen der Argumentation. Argumentationstheoretiker greifen dementsprechend auch immer wieder auf Aristotelesʼ Triumvirat der Logik, Dialektik und Rhetorik zurück (cf. Tindale 2004, 4), das zentrale Bereiche seines Organons darstellt (cf. Tindale 1999, 2).94 In der produktorientierten Logik geht es um die Hervorbringung valider Argumente, in der prozessorientierten Dialektik um regelgeleitete Konfliktlösung und in der Rhetorik um die kommunikationsbedingte Publikumseroberung, oder, wie Michel Meyer sagt, um die Verhandlung der Distanz zwischen zwei Parteien in einer bestimmten Angelegenheit (cf. Meyer 2008, 11).95 In den hochmittelalterlichen Universitäten war dann die formale Logik – als Dialektik – zwischen Grammatik und Rhetorik das zweite Element des Triviums.96 Die rhetorische Argumentation, die für unsere Untersuchung von zentraler Bedeutung ist, unterscheidet sich allerdings grundlegend von der logischen Argumentation, worauf etwas näher einzugehen ist. Aristoteles betrachtete die Rhetorik als Kunst (technè) der Persuasion. Sie war quasi das Gegenstück zur wissenschaftlichen Demonstration, welche das Ziel der Wahrheitsfindung verfolgte. Die Rhetorik hatte sich im Gegensatz dazu mit Alltäglichem zu beschäftigen, das auf relativen Wahrheiten, Meinungen und Wahrscheinlichkeiten beruht. Die Wahrheit war Sache der Wissenschaft, die Wahrscheinlichkeit jene der Rhetorik (cf. Danblon 2005, 33). Die Rhetorik als Kunst der Persuasion zum Zwecke der Publikumseroberung bedient sich gemäß Aristoteles zweier Arten von Beweisführung, einer technischen und einer nicht-technischen (cf. Reboul 3 1998, 61). Als nichttechnische gelten Zeugenaussagen, Schriftstücke und alle weiteren Formen von Indizien. Die technische Beweisführung hingegen ist jene der Argumentfindung bzw. –konstruktion. Ethos, Pathos und Logos stehen in der aristotelischen Rhetorik bezüglich der Bedeutung für das Erreichen des Ziels der Publikumseroberung mehr oder weniger gleichrangig nebeneinander (cf. Danblon 2002, 69), wenngleich trotz alledem die QuasiDemonstration als Schlussfolgerung das Herzstück der rhetorischen Argumentation zu sein scheint. Aristoteles unterscheidet zwei Arten von Schlussfolgerungen, nämlich das Enthymem und das Beispiel (cf. Breton/Gauthier 2000, 25ff.). Von entscheidender Bedeutung ist, dass bereits Aristotelesʼ rhetorische Argumentation einerseits auf wahrscheinlichen Prämissen aufbaut (cf. Kienpointner 2002, 121) und andererseits, im Gegensatz zur formalen Logik, stets situationsgebunden ist (cf. Maingeneau 1991, 232). Dadurch wird in der rhetorischen Argumentation dem Kontext und insofern auch der Zuhörerschaft implizit große Bedeutung beigemessen.
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Aristotelesʼ Organon ist eine Sammlung von Schriften, die sechs philosophische Bereiche abdecken: die Lehre von den Grundbegriffen, die Hermeneutik, die Lehre vom Schluss, die Lehre vom Erkennen, die Topik und sophistische Widerlegungen. Jeder einzelne Bereich besteht aus mehreren Büchern bzw. Kapiteln (cf. Barnes (ed.) 1984). »La rhétorique est la négociation de la distance entre les individus à propos d’une question« (Meyer 2008, 11). Daneben gab es das Quadrivium der mathematischen Fächer Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie.
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Um in linguistischen Kategorien zu sprechen, kann man sagen, dass sich die formale Logik mit syntaktischen und semantischen Merkmalen beschäftigt, die informale Logik hingegen, um nach diesem kurzen Rückblick zur Ausgangsfrage zurückzukehren, mit pragmatischen (cf. Johnson 2012 [2000], 177). Die Bezeichnung informale Logik ist durchaus umstritten. Wenn die Logik als dem Wesen nach formal betrachtet wird, erscheint informale Logik tatsächlich als eine contradictio in adiecto (cf. Blair 2009, 50). Hitchcock (2007, 101) spricht von einer unglücklichen Wortwahl bzw. von einem Oxymoron. Ganz so ist dem allerdings nicht notwendigerweise, wenn der Sachverhalt differenzierter gesehen wird. Versuchen wir es Schritt für Schritt. Auch die informale Logik ist gewissermaßen ein Kind ihrer Zeit. Im Zuge der geistigen Umwälzungen und Prioritätenneusetzungen der 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts forderten Studierende vor allem an amerikanischen, aber auch an europäischen Universitäten, dass unter anderem praxisbezogene und alltagsrelevante Inhalte praxisferne, abgehobene Themen aus dem Elfenbeinturm ersetzen sollten (cf. Groarke 2011 [1996], 2; Johnson 2012 [2000], 2). Konkret ging es etwa darum, die Logik bzw. eben Argumentation der Berichterstattung der Massenmedien besser zu verstehen (cf. Johnson/Blair 1985, 181). Für die Logik hieß dies, dass kontextfreies Schlussfolgern mit abstrakten Variablen durch kontextzentriertes Schlussfolgern mit konkreten Inhalten abgelöst werden sollte (cf. Cummings 2005, 186). Bereits etwas früher begannen schon die Warschauer Schule bzw. die Lemberg-Warschau-Schule in den verschiedenen Bildungseinrichtungen die kognitiven Fähigkeiten des logischen Schlussfolgerns im konkreten Kontext zu fördern. In jenen Kreisen sprach man aufgrund der kontextkonditionierten, wenn nicht gar kontextdeterminierten Logik von logischer Pragmatik bzw. von pragmatischer Logik (cf. Ajdukiewicz 1974). Mitunter ging es auch dort konkret darum, die Logik der Alltagskonversation zu erfassen (cf. Koszowy 2010, 37). Manche Formallogiker zweifeln daran, dass es sich bei der informalen Logik überhaupt um Logik handelt und würden eher von angewandter Epistemologie sprechen (cf. Tindale 1999, 25), während andere die informale Logik mangels Rigorosität rundweg ablehnen. Genau diese angebliche mangelnde Rigorosität gilt es zu erheben und zu benennen, um gegebenenfalls Missverständnisse auszuräumen. Geht es in der formalen Logik um die allgemeine Gültigkeit bzw. Wahrheit von Konklusionen, die aus gültigen bzw. wahren Prämissen abgeleitet werden, so kann in der informalen Logik dieser Absolutheitsanspruch nicht erhoben werden, zumal die Prämissen in der informalen Logik der natürlichen Sprache nur wahrscheinlich bzw. plausibel sind (cf. Groarke 2011 [1996], 9). Das heißt, die informale Logik orientiert sich strukturell sehr wohl an der formalen Logik (cf. Blair 2009, 50), sie beruht sogar auf den abstrakten normativen Modellen derselben (cf. Walton 1990, 417). Das Wesen der Prämissen ist allerdings ein anderes, sodass in der Folge auch die Natur der Konklusion eine andere sein muss. In der informalen Logik geht es weder um strenge deduktive Logik noch um absolute Validität (cf. Johnson/Blair 2000, 94). Es geht vielmehr um die Stärke eines Arguments (cf. Tindale 1999, 28). Dennoch hat die informale Logik eben sehr wohl mit Logik zu tun. Sie ist keinesfalls das Gegenteil der formalen Logik, sondern sie hat die formale Logik an die Bedingungen der natürlichen Sprache angepasst, weil die formale Logik ihrerseits keinen tauglichen Rahmen für die Analyse der Argumente der natürlichen Sprache bietet (cf. Groarke 2011 [1996], 9). Die Wahrscheinlichkeit der Gültigkeit von aus plausiblen
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Prämissen deduzierten Konklusionen ist von den deduktiven über die induktiven bis zu den abduktiven (oder anfechtbaren) Ableitungen unterschiedlich stark, sodass Jacquette (2007, 132) von einem Kontinuum zwischen formaler und informaler Logik spricht. Tindale (1999, 40) bezeichnet die formale Logik als rational, also mathematisch-rational, die informale hingegen als reasonable im Sinne von vernünftig, plausibel, nachvollziehbar. Auf den Punkt gebracht, geht es in der informalen Logik also um die Untersuchung des alltäglichen Begründens (Tindale 2013, 9), um die logischen Gedankengänge im Argument (cf. Walton 1990, 417), das heißt um die Analyse der Argumentation in der natürlichen Sprache. Argument- bzw. Argumentationsstruktur, zunächst Themen der Logik, sind nun im Lichte der informalen Logik zu betrachten und dies sei unser nächster Schritt.
5.5.2
Das Wesen des Arguments
Das Argument in der natürlichen Sprache ist zunächst ein kommunikativer Akt,97 wie es etwa auch das Versprechen oder die Entschuldigung sind.98 Das Ziel dieses kommunikativen Aktes ist die Überzeugung des Adressaten (cf. Blair 1992, 203). Zum Zwecke der Überzeugung werden Gründe vorgebracht, die eine bestimmte Proposition untermauern bzw. erst glaubhaft machen (cf. Cavender/Kahane 11 2010, 7ff.; Copi 1986, 12; Cummings 2005, 164; Thomas 4 1997, 8). Es ist in der Tat sogar so, dass die vorgebrachten Gründe die neu entstandene Proposition erst legitimieren bzw. möglich machen (cf. Reboul 3 1998, 61). Die vorgebrachten Gründe sind die Prämissen, die untermauerte, aus den Prämissen resultierende Proposition ist die Konklusion (cf. Hitchcock 2007, 101; Johnson 2012 [2000], 150; Walton 1987, 329; 1990, 408). Insofern wird das Argument minimalistisch als Zusammenspiel von Prämissen und Konklusion verstanden. In einer etwas expliziteren Form könnte ergänzt werden, dass man mittels Schlussregel von der Prämisse bzw. den Prämissen zur Konklusion gelangt. Groarke/Tindale (3 2004, 134) vergleichen das Argument mit einer Reise von einem Ort zu einem anderen. Sie betrachten die Prämisse als Vehikel, das den Adressaten zur Konklusion führt. Vorstellbar wäre es wohl auch, die Prämissen und die Konklusion als die angesprochenen Ausgangs- bzw. Zielorte und die Schlussregel als Vehikel zu erachten. Allerdings gibt es keine vorgegebene Fahrtrichtung. Es können zunächst die Prämissen expliziert werden und dann die Konklusion oder aber eben umgekehrt (cf. Copi 1986, 13). Oben war bereits vom aristotelischen Triumvirat der Logik, Dialektik und Rhetorik die Rede, auf das Argumentationstheoretiker deshalb immer wieder zurückgreifen, weil das Wesen des polyfunktionalen Arguments ein logisch-rhetorisch-dialektisches ist. Das Argument hat Anteile an der Logik, weil es um die Gültigkeit der Prämissen bzw. der Konklusion geht. Es ist dialektisch, weil es dialogisch in der Spannung zwischen Sender und Adressat steht und es ist rhetorisch, weil es entscheidend zur Effizienz der Persuasion beiträgt (cf. Fairclough/Fairclough 2012, 52ff.; Tindale 2004, 4ff.). Infolge dieser komplexen Struktur sind Argumente von unterschiedlicher Qualität. Es
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Dieser Gedanke wurde bereits in Danler (2019a) ausgearbeitet. Johnson (2012 [2000], 168) betrachtet das Argument sogar als Diskurs, der die Überzeugung des Adressaten zum Ziel hat. Die Frage nach dem Wesen des Diskurses wurde im Kapitel 2 diskutiert.
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gibt also mehr oder weniger gute Argumente. Doch wie misst man die Güte eines Arguments? Groarke/Tindale (3 2004, 134) betrachten jene Argumente als stark, die sich aus akzeptablen Prämissen ableiten. Govier (7 2014, 87) erhebt die Güte eines Arguments mittels einer Art ARG-Faktor der Prämissen. A steht für acceptable, R für relevant und G für good grounds für die Konklusion. Gute Argumente (cf. Walton/Reed/Macagno 2008, 34) haben demzufolge akzeptable, relevante und für die Konklusion hinreichende Prämissen.99 Zu unterscheiden gilt es weiter vor allem die stichhaltigen von den nur validen Argumenten. In validen Argumenten folgt die Konklusion aus den Prämissen, die allerdings nicht wahr sein müssen. Stichhaltigkeit hingegen bedeutet Folgerichtigkeit und Wahrheit der Prämissen (cf. Kienpointner 1987, 275). Nach dem kurzen Wesenscheck der Argumente, in dem sowohl die Frage der Polyfunktionalität als auch jene der Güte der Argumente angesprochen wurde, stellt sich eine weitere ganz grundlegende Frage zum Sein der Argumente. Es geht um das Argument als Doppelwesen. Das heißt, dass mit Argument sowohl Inhalt als auch Form gemeint werden (Breton/Gauthier 2000, 40).100 Dies ist allerdings nicht neu, sondern verweist viel mehr direkt auf die Topoi der Antike, die bei Aristoteles die grundlegenden Bausteine der Logik101 waren (cf. Walton/Reed/Macagno 2008, 5) und denen wir folglich kurz unsere Aufmerksamkeit zu schenken haben.
5.5.3
Die Doppelfunktion der Topoi
Die Bezeichnung Topos wird unterschiedlich verwendet, was immer wieder zu Verwirrung führt. Einerseits werden Inhalte als Topoi bezeichnet, andererseits die logischen bzw. quasi-logischen strukturellen Beziehungen, die die Argumente an sich ausmachen (cf. Gardes-Tamine 1996, 73). Dies rührt möglicherweise daher, dass es schon bei Aristoteles keine klare Definition von Topos gibt. Doch damit nicht genug. Es kann im aristotelischen Werk insgesamt auch keine eindeutige Bedeutung des Begriffes Topos ausgemacht werden. In Aristotelesʼ Rhetorik 1.4-14 werden sogenannte Kategorien wie etwa Sicherheit, Reichtum, Glück, Tugend usw. als Topoi behandelt, in 2.2-17 dann menschliche Befindlichkeiten bzw. gegebenenfalls auch Charakterzüge wie beispielsweise Zorn, Furcht, Scham, Mitleid usw. In beiden Abschnitten geht es zum einen um die inhaltliche Komponente, zum anderen aber auch um die strukturell-formale, die syllogistisch ausgedrückt werden kann, wie etwa: Wer glücklich ist, hat ein langes Leben, oder wer viele Freunde hat, ist glücklich. Formalisiert notiert heißt das dann: »falls p, dann q.« Auch in den acht Büchern der Topik, in denen es u.a. um die Topoi zum Akzidens, zum Guten, zur Gattung und zum Eigentümlichen geht, werden die argumentativen Beziehungen und Zusammenhänge anhand konkreter Themen behandelt. Die aristotelischen Topoi dienen neben der Analyse der jeweiligen Themen an sich vor allem der Suche bzw. dem Finden von Argumenten. Und auch hier geht es wieder um Inhalt und Struktur. In der
99
Parteiische und daher weniger gute Argumente lassen den größeren, globalen Kontext außer Acht (cf. Kienpointner/Kindt 1997, 555). 100 Bei Breton/Gauthier (2000, 40) heißt es : »L’usage courant du terme ›argument‹ désigne presque toujours un contenu donné en même temps que la mise en forme dont il est l’objet.« 101 In Aristotelesʼ Diktion handelte es sich dabei bekanntlich um die Dialektik.
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aristotelischen Rhetorik gibt es eine Unterscheidung zwischen allgemeinen und besonderen Topoi. Der Übergang ist allerdings ein fließender und es wäre zu einfach (oder zu schön), wenn die besonderen Topoi vielleicht die inhaltlichen und die allgemeinen die formal-strukturellen wären, was allerdings mancherorts behauptet wird. Die besonderen befinden sich im ersten Buch der Rhetorik, die allgemeinen im zweiten. Die allgemeinen sind die überall anwendbaren Inferenzprinzipien. Die besonderen hingegen sind jene, die in bestimmten Bereichen kraft ihres Ausdrucks gemeinhin akzeptierter Meinungen und Wertvorstellungen das Bindeglied zwischen Prämissen und Konklusion darstellen (cf. Garssen 2001, 82; Marafioti 2005, 50). Die Topoi waren also bereits in der Antike gewissermaßen janusköpfig und diese Janusköpfigkeit hat sich erhalten. Das heißt, dass auch aktuell unter Topoi zum einen kollektive Sichtweisen bzw. Wertvorstellungen verstanden werden, zum anderen aber eben auch logisch-diskursive Schemata oder Formate im Sinne leerer Formen (cf. Maingueneau 1991, 232), in die die jeweiligen Inhalte gegossen werden, um sich dadurch in Argumente zu verwandeln (cf. Amossy 2002a, 13ff.; 2002b, 166; 2 2006, 14).102 Die Topoi im Sinne abstrakter Schemata werden also durch Inhalte aktualisiert bzw. konkretisiert. Einzelaussagen, die sich auf den jeweiligen Inhalt beziehen, werden zu Argumenten verbunden (cf. Amossy 2 2006, 17), in denen aus struktureller Sicht der Topos die oben erwähnte Reise von der Prämisse zur Konklusion möglich macht (cf. Danblon 2005, 128). Kienpointner spricht bei der Doppelfunktion der Topoi seit Aristoteles einerseits von der Suchformel und andererseits von der Beweisformel von Argumenten (cf. Kienpointner 2000, 609). Es gehe einerseits um besagtes Finden von Argumenten (cf. auch Walton 2 2008, 26), andererseits um die Garantiefunktion der Passage von der Prämisse zur Konklusion (cf. Kienpointner 1987, 280).
5.5.4
Argumenttypologien
Wenn wir vorübergehend von konkreten Inhalten absehen und die Topoi in einem nächsten Schritt allein als leere Formeln bzw. Schemata betrachten, die die Argumentstrukturen von den Prämissen über die Schlussregel zur Konklusion konstituieren, stellt sich in der Argumentationstheorie die Kernfrage, wie viele Argumenttypen zu unterscheiden sind (cf. Govier 1987, 13) und wie eine entsprechende Typologie zu erstellen ist (cf. Kienpointner 1987, 275).103 Vorweg sind noch die Pro- von den Kontra-Argumenten zu unterscheiden, die deskriptiven von den normativen,104 die kontextabhängigen von
102 Die Schemata können dann entweder deskriptiv oder normativ verwendet werden (cf. Blair 1992, 215). 103 Die folgenden Abschnitte bis hin zu den Lücken im Syllogismus, in denen es vor allem um die Argumenttypologie nach Kienpointner geht, stammen aus Danler (2019a). 104 Normativ sind die Argumente dann, wenn sie zum Ausdruck bringen, was wünschenswert und deshalb zu tun ist. Durch das normative Argument wird quasi erst eine Norm begründet (cf. Bayer 2 2007, 53ff.). Normative Argumente sind also präskriptive Argumente.
5. Die linguistische Diskursanalyse als integraler Bestandteil der Politolinguistik
den kontextunabhängigen sowie die faktischen von den fiktiven105 (cf. Kienpointner 1987, 285). Auf der Grundlage dieser dichotomischen Unterscheidungen gilt es dann, die Argumente nach dem Kriterium der Schlussregel zu erheben und zu klassifizieren.106 Die Klassifizierung und Typologisierung der Argumente ist ein schwieriges Unterfangen. Dementsprechend gibt es auch verschiedene Versuche mit unterschiedlichen Schwerpunkten, aber auch Stärken und Schwächen. Wir werden hier nur einen flüchtigen Blick auf das von Toulmin/Rieke/Janik in An Introduction to Reasoning (1979) vorgestellte Modell werfen, uns dann ebenso kurz dem modernen Klassiker von Perelman/Olbrechts-Tyteca Traité de l’argumentation (5 1992) widmen, bevor wir uns jenes Modell genauer ansehen, das Kienpointner in seiner Alltagslogik (1992a) bzw. in Vernünftig Argumentieren (1996) entwickelt hat und das uns in gestraffter Form für unsere praktische Analyse dienen soll.107 Daneben gibt es natürlich noch etliche andere Vorschläge,108 die Argumentschemata zu klassifizieren, worauf an dieser Stelle allerdings nicht näher einzugehen ist, zumal es hier nicht darum geht, die Fülle dieser Typologien zu präsentieren oder gar in allen Einzelheiten zu diskutieren. Das Modell von Toulmin (2003 [1958]) bzw. Toulmin/Rieke/Janik (1979) ist ein logisches Modell, in dessen Zentrum das Argument als Produkt steht (cf. Tindale 1999, 25). Neben den Prämissen und der Konklusion geht Toulmin vor allem auf die Modalisatoren, Restriktionen und Argumentverstärker in der Argumentstruktur ein. In Toulmin/Rieke/Janik (1979, 147ff.) findet sich eine relativ bescheidene Argumentklassifizierung, die allerdings sehr wohl auch auf der Verschiedenheit der Schlussregeln gründet. Die Autoren erheben explizit keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Analogie, Generalisierung, Zeichen, Kausalbeziehung, Autorität, Dilemma, Klassifizierung, Gegensatz und Abstufung sind die Kriterien der schlussregelbedingten Argumenttypologie.109 Das wie Toulmins The Uses of Argument ebenfalls 1958 erschienene Werk von Perelmann/Olbrechts-Tyteca, Traité de l’argumentation, das den Untertitel La nouvelle rhétorique trägt und als absolutes Standardwerk der Argumentationstheorie und Rhetorik gilt, indiziert in der Logik einen klaren Bruch mit der Demonstration, indem es nämlich für eine informale, argumentative Logik plädiert (cf. Breton/Gauthier 2000, 35). Die Autoren sprachen sich für eine informale, kontextabhängige Logik aus. Indem die 105 ›Wenn – dann‹-Argumente bezeichnet Govier (7 2014, 20) gar nicht als Argumente, sondern als conditional claims. Scriven (1976, 61) präzisiert, dass es sich dabei um hypothetical claims handle, die darauf verwiesen, dass zwischen den Termen, etwa p und q, eine Beziehung bestehe. Durch den hypothetical claim werde die Inferenz expliziert. 106 Toulmin (2003 [1958]) und Toulmin/Rieke/Janik (1979) untersuchen die Argumentationsschemata auch in Abhängigkeit von der jeweiligen inhaltlichen Domäne. 107 Minimalzusammenfassungen der Modelle von Toulmin (2003 [1958]) bzw. Toulmin/Rieke/Janik (1979), Perelmann/Olbrechts-Tyteca (5 1992), Kienpointner (1992a; 1996), Eemeren/Grootendorst (2004), Eemeren/Grootendorst (et al.) (2009 [1996]) bzw. Eemeren/Houtlosser (2004) und Eemeren/Houtlosser (et al.) (2008) sowie von Walton/Reed/Macagno (2008) befinden sich u.a. in Danler (2013b). 108 Zu nennen wären m.E. in erster Linie die Argumentation Schemes (2008) von Walton/Reed/Macagno, die gegen Ende sogar noch taxonomisch 60 Schemata auflisten. 109 Gerade im Vergleich zu Kienpointner fällt auf, dass in Toulmin/Rieke/Janik (1979) das gesamte Spektrum der Subklassifizierung fehlt.
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Autoren die Argumentation aus der Logik herausholten, griffen sie auf die aristotelische Rhetorik zurück (cf. Johnson 2013, 535). Eine, wenn nicht die entscheidende Rolle kommt im Argumentationskonzept von Perelman/Olbrecht-Tyteca dem Adressaten, also der Zuhörerschaft zu. Die Argumentation wird sogar als Funktion der Zuhörerschaft verstanden. Das ultimative Ziel der Argumentation sei schließlich die möglichst starke Bindung der Zuhörerschaft an den Sender. Dieses Ziel soll u.a. auch durch die aktive Einbindung der Zuhörerschaft in die Komplettierung des oberflächlich unvollständigen Diskurses gelingen (cf. Johnson 2013, 533ff.; Tindale 1999, 16ff.). Durch die Rekonstruktion der Prämissen wird der Zuhörer am Geschehen aktiv beteiligt (cf. Amossy 2 2006, 164; Danblon 2005, 22ff.). Entscheidend für die Bindung der Zuhörerschaft an den Sender ist aber in erster Linie, dass am Ende der Argumentation Konklusionen stehen, die vom Publikum akzeptiert werden (cf. Cummings 2005, 171). Perelman/Olbrechts-Tytecas Werk liefert eine strukturelle Grundlage für den argumentativen Diskurs, in dessen Zentrum eindeutig die Schemata der Argumentationstypen stehen (cf. Amossy 2002b, 155; 2 2006, 15). Mehr als die Hälfte des Buches ist der Ausarbeitung dieser Schemata gewidmet (cf. Kienpointner 1987, 283; 1992a, 187), die wir hier allerdings nur taxonomisch vorstellen wollen. Perelman/Olbrechts-Tyteca unterscheiden zunächst vier große Klassen von argumentativen Strukturen. Die erste Klasse ist die Gruppe jener quasi-logischen Argumente, die sich entweder erstens aus Widerspruch und Unvereinbarkeit, zweitens aus Identität, Definition oder Tautologie, drittens aus Gerechtigkeit oder Reziprozität, viertens aus Transitivität oder Inklusion, fünftens aus der Teilung des Ganzen in seine Teile, sechstens aus einem Opfer oder siebentens aus einem Vergleich ableiten. Die Argumente der zweiten Klasse sind jene, die auf den Strukturen des Realen gründen und erstens entweder eine Relation der Sukzessivität, zweitens der Koexistenz, drittens der Hierarchie oder viertens der Rangordnung abbilden. Die Argumente der dritten Klasse sind diejenigen, die die Strukturen des Realen begründen. Dazu zählen erstens das Beispiel, zweitens die Illustration, drittens das Modell und Antimodell, viertens die Analogie und die Metapher. Geht es in diesen drei Klassen jeweils um Assoziation, so handelt die vierte und letzte vom Gegenteil, nämlich von der Dissoziation, d.h. es geht darum, Terme auseinanderzubringen (Perelman/Olbrechts-Tyteca 5 1992, 259ff.).110 Kienpointner erhebt gar nicht erst den Anspruch darauf, durch sein Modell Neuartiges zu schaffen (cf. Kienpointner 1992a, 231), obwohl es gerade ihm auf einzigartige Weise gelingt, das über Jahrhunderte, ja sogar über Jahrtausende Erarbeitete so zu analysieren und zu systematisieren, dass dadurch sehr wohl ein absolut kohärentes Novum auf dem Gebiet der Argumenttypologie entsteht. Nicht umsonst wird es von Walton/Reed/Macagno (2008, 7) als ein key-work der Argumentationstheorie bezeichnet. Zunächst wird der Argumenttypologie eine mehrfach dichotomische Gliederung vorangestellt. Ziel davon ist, wie oben erwähnt, die Unterscheidung von deskriptiven und normativen, von realen und fiktiven (cf. auch Kienpointner 2011, 528) sowie von Pro-
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Als Kritikpunkte werden bei allem Respekt von Kienpointner zum einen vorgebracht, dass die Belege durchwegs aus älteren und zudem eher philosophischen Fachtexten stammen, wobei es doch um die Illustration der Alltagssprache gehen sollte. Der zweite Kritikpunkt ist die mangelnde Homogenität der Großklassen (cf. Kienpointner 1992a, 193ff.).
5. Die linguistische Diskursanalyse als integraler Bestandteil der Politolinguistik
und Kontra-Argumenten (cf. Kienpointner 1992a, 241). Dann geht es darum, viele Formen übersichtlich in relativ wenigen Formaten zusammenzufassen, um damit der Analyse ein nützliches tool zur Verfügung zu stellen (Kienpointner 1996, 73). Es gibt in der Folge drei Großklassen von Argumenttypen: erstens schlussregelbenützende, zweitens schlussregeletablierende und drittens weder schlussregelbenützende noch –etablierende (Kienpointner 1992a, 243ff.). Die Argumenttypen der ersten Gruppe sind aber nicht deduktiv im engeren Sinne, weil die Argumente der Alltagslogik eben weder formal valide sind noch von universell wahren Prämissen ausgehen. Bei normativen Formaten könne man übrigens ja überhaupt nicht von Wahrheit sprechen. In der Alltagsargumentation handle es sich außerdem auch nicht wirklich um induktive Argumente, zumal oft sehr wenige beispielhafte Okkurrenzen für die vermeintliche Induktion reichen müssen (cf. Kienpointner 1992b, 181). Die erste Großklasse, also jene der schlussregelbenützenden Argumentschemata, unterteilt sich in die vier Untergruppen der Einordnungs-, Vergleichs-, Gegensatz- und Kausalschemata.111 Die zweite Großklasse war jene der schlussregeletablierenden Argumentschemata und das ist im Grunde die induktive Beispielargumentation. Die dritte Großklasse wird von Argumentschemata gebildet, die wie gesagt, weder die Schlussregeln aus der ersten Großgruppe benützen noch solche wie in der zweiten etablieren. Dies sind erstens die illustrative Beispielargumentation, zweitens die Analogieargumentation und drittens die Autoritätsargumentation. Die minutiös erarbeiteten und nach klaren Kriterien systematisierten Argumentformate der Alltagslogik präsentiert der Autor 1996 auf sehr anwenderfreundliche Weise im Büchlein Vernünftig argumentieren. 30 anschaulich erklärte und illustrierte Bausteine der Alltagsargumentation sind neun Großklassen zugeordnet. Trotz der straffen Strukturierung ergeben sich immerhin noch 30 Bausteine, weil die einzelnen Argumentschemata durch die positiven bzw. negativen Vorzeichen bereits gedoppelt werden.112 Da wir genau diese Systematisierung dank ihrer Klarheit, Straffheit und Anwendungsfreundlichkeit dem argumentationsanalytischen Teil unserer Studie zugrunde legen werden und weil das Büchlein außerdem schon lange vergriffen ist, sei sie in der Folge auch in ihrer Vollständigkeit abgebildet (Kienpointner 1996, 83ff.), bevor wir im Anschluss daran auf die Frage der Argumentation an sich einzugehen haben: Definitionen: inhaltliche Äquivalenz 1
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Was für die Definition gilt, gilt auch für das Definierte und umgekehrt. X gilt für die Definition. Also: X gilt auch für das Definierte.
Zu den Einordnungsschemata zählen Definition, Genus-Spezies, Ganzes-Teil; zu den Vergleichsschemata Gleichheit, Ähnlichkeit, Verschiedenheit, a maiore-a minore; zu den Gegensatzschemata kontradiktorisch, konträr, relativ und inkompatibel und zu den Kausalschemata Ursache, Wirkung, Grund, Folge, Mittel und Zweck (Kienpointner 1992a, 246ff.). So wird z.B. Schema 14 durch Schema 15 gedoppelt: Schema 14: Wenn die Ursache A vorliegt, folgt die Wirkung B. Die Ursache A liegt vor. Also: Die Wirkung B folgt (Außer es gibt noch andere Nebenwirkungen). Schema 15: Wenn die Ursache A nicht vorliegt, folgt die Wirkung B nicht. Die Ursache A liegt nicht vor. Also: Die Wirkung B folgt nicht. (Außer es liegen andere Ursachen vor) (Kienpointner 1996, 133).
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Was für die Definition nicht gilt, gilt auch nicht für das Definierte und umgekehrt. X gilt nicht für die Definition. Also: X gilt auch nicht für das Definierte.
Art–Gattung: Unter- und Überordnung 3
Wenn X einer Art Y angehört, gehört X auch der zugehörigen Gattung Z (und allen übergeordneten Gattungen Zʼ) an. X gehört der Art Y an. Also: X gehört der zugehörigen Gattung Z an.
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Wenn X einer Art Y angehört, gehört X auch der zugehörigen Gattung Z (und allen übergeordneten Gattungen Zʼ) an. X gehört der zugehörigen Gattung Z nicht an. Also: X gehört der Art Y ebenfalls nicht an.
Teil–Ganzes: Enthalten–Sein und Einschließen 5
Was für das Ganze gilt, gilt auch für die Teile und umgekehrt (außer: Ganzes und Teile sind qualitativ verschieden). X gilt für das Ganze. Also: X gilt für die Teile/den Teil Y.
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Was für das Ganze gilt, gilt auch für die Teile und umgekehrt (außer: Ganzes und Teile sind qualitativ verschieden). X gilt für die Teile/den Teil Y. Also: X gilt für das Ganze.
Vergleiche: Ähnlichkeiten und Unterschiede 7
›Gerechtigkeitsschema‹: Wenn die Gegenstände/Personen A und B hinsichtlich Eigenschaft X ähnlich oder gleich sind, sind sie ähnlich oder gleich zu bewerten bzw. zu behandeln. Gegenstände/Personen A und B sind hinsichtlich X ähnlich oder gleich. Also: A und B sind ähnlich oder gleich zu bewerten/zu behandeln.
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Wenn Gegenstände/Personen A und B sich hinsichtlich Eigenschaft X unterscheiden, sind sie unterschiedlich zu bewerten/zu behandeln. Gegenstände/Personen A und B unterscheiden sich hinsichtlich X. Also: A und B sind unterschiedlich zu bewerten/zu behandeln.
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Wenn P der Fall ist und Q eher (wahrscheinlicher) der Fall ist als P, ist Q erst recht der Fall. P ist der Fall.
5. Die linguistische Diskursanalyse als integraler Bestandteil der Politolinguistik
Also: Q ist erst recht der Fall. 10 Wenn sogar P nicht der Fall ist und Q eher nicht (weniger wahrscheinlich) der Fall ist als P, ist Q erst recht nicht der Fall. P ist nicht der Fall. Also: Q ist erst recht nicht der Fall.
Gegensätze: Widersprüche und Alternativen 11 Wenn X die Eigenschaft Y aufweist, kann X nicht zugleich und im selben Zusammenhang die entgegengesetzte Eigenschaft Yʼ aufweisen. X weist die Eigenschaft Y auf. Also: X kann nicht zugleich und im selben Zusammenhang Yʼ aufweisen. 12 Entweder A oder B (C, D …) ist der Fall. B (C, D …) ist nicht der Fall/ist unwahrscheinlich. Also: A ist der Fall. 13 Entweder A oder B (C, D …) ist positiv zu bewerten/zu tun. B (C, D …) ist nicht akzeptabel. Also: A ist positiv zu bewerten/zu tun.
Ursachen und Wirkungen, Mittel und Zwecke 14 Wenn die Ursache A vorliegt, folgt die Wirkung B. Die Ursache A liegt vor. Also: Die Wirkung B folgt. (Außer es gibt noch andere Nebenwirkungen.) 15 Wenn die Ursache A nicht vorliegt, folgt die Wirkung B nicht. Die Ursache A liegt nicht vor. Also: Die Wirkung B folgt nicht. (Außer es liegen andere Ursachen vor.) 16 Wenn die Wirkung B vorliegt, ging die Ursache A voraus. Die Wirkung B liegt vor. Also: Die Ursache A ging voraus. (Außer B hat andere Ursachen.) 17 Wenn die Wirkung B nicht vorliegt, ging die Ursache A nicht voraus. Die Wirkung B liegt nicht vor. Also: Die Ursache A ging nicht voraus. (Außer es liegen andere Wirkungen von A vor.) 18 Handlung A führt zu Folge B. B ist positiv zu bewerten.
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Also: Handlung A ist positiv zu bewerten/zu vollziehen. (Außer A hat andere negative Folgen.) 19 Handlung A führt zu Folge B. B ist negativ zu bewerten. Also: Handlung A ist negativ zu bewerten/zu unterlassen (Außer A hat andere positive Folgen.) 20 Wenn X Ziel A (nur) durch Mittel B erreichen kann, soll X Mittel B benützen. X kann A (nur) durch B erreichen. Also: X soll B benützen (Außer B ist ethisch inakzeptabel.)
Beispiele: Verallgemeinern und Illustrieren 21 In Beispiel 1 hat X Eigenschaft Y. In Beispiel 2 hat X Eigenschaft Y. In Beispiel 3 hat X Eigenschaft Y. …. In Beispiel n hat X Eigenschaft Y. Also: Alle/die meisten/viele X haben Eigenschaft Y. 22 In Beispiel 1 ist X positiv zu bewerten/ist X zu tun. In Beispiel 2 ist X positiv zu bewerten/ist X zu tun. In Beispiel 3 ist X positiv zu bewerten/ist X zu tun. …. In Beispiel n ist X positiv zu bewerten/ist X zu tun. Also: X ist immer/meistens/in vielen Fällen positiv zu bewerten/zu tun. 23 In Beispiel 1 ist X negativ zu bewerten/ist X zu unterlassen. In Beispiel 2 ist X negativ zu bewerten/ist X zu unterlassen. In Beispiel 3 ist X negativ zu bewerten/ist X zu unterlassen. …. In Beispiel n ist X negativ zu bewerten/ist X zu unterlassen. Also: X ist immer/meistens/in vielen Fällen negativ zu bewerten/zu unterlassen. 24 Wenn das Argument zutrifft, folgt daraus die Wahrheit (oder zumindest Wahrscheinlichkeit) der These. Das Argument trifft zu. In ähnlichen Fällen (Beispiel 1, 2, 3, …, n) folgt aus dem Argument auch die Wahrheit (oder Wahrscheinlichkeit) der These. Also: Die These ist wahr/wahrscheinlich. 25 Wenn das Argument zutrifft, folgt daraus die Richtigkeit der normativen These. Das Argument trifft zu.
5. Die linguistische Diskursanalyse als integraler Bestandteil der Politolinguistik
In ähnlichen Fällen (Beispiel 1, 2, 3, …, n) folgt aus dem Argument auch die Richtigkeit der normativen These. Also: Die normative These ist richtig. Autoritäten: Fachleute und Respektspersonen 26 Was die Autorität X über den Sachverhalt Y sagt, stimmt. X sagt, dass Y wahr/wahrscheinlich ist. Also: Y ist wahr/wahrscheinlich. 27 Was die Autorität X über die normative These Y sagt, stimmt. X sagt, dass Y anzunehmen/abzulehnen ist. Also: Y ist anzunehmen/abzulehnen.
Analogien: indirekte Vergleiche 28 Wenn A Eigenschaft B aufweist, hat analog auch C Eigenschaft D. A weist Eigenschaft B auf. Also: C hat Eigenschaft D. 29 Wenn As Eigenschaft B positiv zu bewerten ist, ist analog auch Cs Eigenschaft D positiv zu bewerten. As Eigenschaft B ist positiv zu bewerten. Also: Cs Eigenschaft D ist positiv zu bewerten. 30 Wenn As Eigenschaft B negativ zu bewerten ist, ist analog auch Cs Eigenschaft D negativ zu bewerten. As Eigenschaft B ist negativ zu bewerten. Also: Cs Eigenschaft D ist negativ zu bewerten.
5.5.5
Das Wesen der Argumentation
Es wurde bereits festgehalten, dass das Argument in der natürlichen Sprache aus pragmatischer Sicht als kommunikativer Akt113 mit dem Ziel der Persuasion bzw. der Publikumseroberung zu verstehen ist.114 Ebenso wurde schon auf die Grundstruktur des Arguments, bestehend aus Prämissen, Schlussregel und Konklusion, eingegangen. Es wurde weiters darauf hingewiesen, dass die Prämissen, die die Konklusion untermauern, diese streng genommen erst legitimieren bzw. ermöglichen (cf. Anscombre/Ducrot 3 1997, 8; Danblon 2005, 13). So weit, so gut. Was bei der Diskussion der Argumentation nicht 113 114
Oft, aber eben längst nicht immer, ist die Argumentation als Sprechakt auch sprachlich indiziert (cf. Ducrot 2004, 28). In diesem Sinne wird die Argumentation als Teil der linguistischen Pragmatik verstanden (cf. Cummings 2005, 172).
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genug betont werden kann, ist die Tatsache, dass die Argumentation in der einen oder anderen Form integraler Bestandteil der natürlichen Sprache überhaupt ist und dass jede Aussage im Sinne eines kontextgebundenen statement oder énoncé – im Gegensatz zu einem kontextfreien Satz, sentence oder phrase – in gewisser Hinsicht argumentativ ist (cf. Amossy 2 2006, 26ff.).115 Der Adressat soll in einem fiktiven, vom Sender konstruierten Dialog davon überzeugt werden, der Konklusion zu folgen. Die Konklusion ist das Neue, d.h., das neue Wissen, das aus Altbekanntem und Vertrautem geschaffen wird (cf. Copi 1986, 2ff.; Danblon 2006, 142; Scriven 1976, 57), nämlich aus den Prämissen, die den accord préalable, d.h. das gemeinsame Einverständnis, darstellen (cf. Gardes-Tamine 1996, 69ff.; Hitchcock 2007, 105). Das Reden ist nicht ziellos, es zielt vielmehr auf Einflussnahme ab (cf. Cavender/Kahane 11 2010, 4). Dem Sender gelingt es genau dann, auf das Publikum Einfluss zu nehmen, wenn dieses die von ihm explizit präsentierte oder auch nur implizit suggerierte Konklusion akzeptiert (cf. Maingueneau 1991, 228).116 Aristoteles unterscheidet im Grunde zwischen zwei Argumentstrukturen. Die eine ist das Enthymem, d.h. der auf wahrscheinlichen Prämissen beruhende Syllogismus, die andere ist das Beispiel. Erstere funktioniert in Analogie zur Demonstration deduktiv, letztere induktiv (cf. Amossy 2 2006, 146; Danblon 2005, 35; Govier 1987, 37; Groarke 2011 [1996], 9; Reboul 3 1998, 60; Tindale 1999, 8). Betrachten wir nun etwas genauer zum einen, wie die aus der Demonstration stammende Deduktion und Induktion in der Argumentation Anwendung finden und zum anderen, was unter konduktiver und präsumtiver Argumentation zu verstehen ist. Wie bereits mehrfach angedeutet, kann in den natürlichen Sprachen kaum von echter Deduktion oder Induktion gesprochen werden. Die nicht gegebene formale Validität einerseits und die i.d.R. nicht universell wahren Prämissen andererseits sind die Hauptgründe dafür (cf. Kienpointner 1992b, 181). Ein Argument ist allerdings dann valide, wenn die Schlussregel richtig angewendet wird (cf. Cavender/Kahane 11 2010). Das heißt, wie bereits erwähnt, dass ein Argument auch trotz falscher Prämissen valide sein kann. Die Relevanz davon ist für die natürlichen Sprachen jedoch zu relativieren, zumal es in der natürlichen Sprache in erster Linie weder um formale Gedankenspiele noch um Validität statt Wahrheit geht. Trotzdem spricht man auch im informellen Kontext von guten deduktiven Argumenten, und zwar dann, wenn sich aus plausiblen Prämissen plausible Konklusionen ableiten (Groarke 2011 [1996], 9). Die Deduktion der Demonstration ist syllogistisch und die Syllogismen beruhen auf den oben behandelten Topoi (cf. Amossy 2 2006, 129). Das Analogon dazu in der Argumentation ist das Enthymem und das Enthymem ist ein lückenhafter Syllogismus (cf. Amossy 2 2006, 129; Danblon 2005, 35). Die natürliche Sprache ist allerdings immer lückenhaft, weil in der natürlichen Sprache viel Information, d.h. aus argumentationstheoretischer Sicht vie-
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Man denke an die kognitiven Effekte, wie sie aus der Sicht der kognitiven Pragmatik definiert werden. Eine Äußerung hat dann kognitive Auswirkungen oder eben Effekte, wenn sie den Wissensstand des Adressaten verändert. Der pragma-dialektische Ansatz sieht in der Argumentation den Versuch, im Rahmen einer komplexen Konfliktlösungsstrategie die jeweiligen Positionen durchzusetzen (cf. Eemeren/Houtlosser 2004, 45ff.; Eemeren/Grootendorst/Snoeck Henkemans 2009 [1996], 24).
5. Die linguistische Diskursanalyse als integraler Bestandteil der Politolinguistik
le Prämissen, entweder implizit vorausgesetzt oder auch implizit vermittelt werden.117 Die Lücken im Syllogismus können sich sowohl durch nicht explizierte Prämissen als auch durch nicht explizierte Konklusionen ergeben. Selbst nachdem fehlende Prämissen oder auch die fehlende Konklusion rekonstruiert und expliziert worden sind, bleibt das Enthymem als solches bestehen, weil in der natürlichen Sprache eben immer noch Relevantes unausgesprochen bleibt (cf. Govier 1987, 93). Die Induktion basiert auf dem Prinzip learning from experience. Das heißt also, dass von bestimmten Beispielen oder Erfahrungen ausgehend abstrahiert wird (Cavender/Kahane 11 2010, 10). Die Induktion ist die Grundlage für die ganz normalen menschlichen Erwartungen und Sicherheiten. Wir gehen beispielsweise über die Brücke, weil sie (bisher) immer gehalten hat. Wir nehmen ein Taxi, weil es uns (bisher) immer an den von uns gewünschten Ort gebracht hat und wir essen ein Eis, weil es (bisher) immer süß und cremig war (cf. Govier 7 2014, 255). Erfahrungen und Beispiele haben zu unserem Wissen beigetragen und, wie schon gesagt, das Beispiel ist die zweite Säule der aristotelischen Argumentation (cf. Amossy 2 2006, 146). Gerade bei der Induktion geht es um fast messbare Stärke der Argumente. Wenn ich sage, dass ich dreimal nach Paris gereist bin und das Wetter immer schön war, habe ich ein Argument, das mich berechtigt zu glauben, dass auch beim vierten Mal das Wetter schön sein wird. Wenn ich sage, dass ich hundert Mal in Sevilla war und dabei immer schönes Wetter hatte, habe ich allerdings ein stärkeres Argument, das mich berechtigt zu erwarten, dass dort auch beim hundertersten Mal gutes Wetter herrschen wird. Der höhere Erfahrungswert bzw. die größere Beispieldichte stehen in diesem Fall für besseres Argument. Konduktive Argumentation bedeutet, dass verschiedene, nicht zusammenhängende Prämissen die Konklusion ermöglichen bzw. legitimieren. Mir erscheint beispielsweise das Mieten oder der Kauf einer Wohnung interessant, weil sie erstens für mich günstig liegt, zweitens umweltfreundlich errichtet ist und funktioniert, drittens von der Größe her entspricht, viertens sonnig und hell ist und fünftens nicht gar zu viel kostet. Wenn all das als positiv erachtet wird und im normativen Argument gemäß der entsprechenden Schlussregel folglich so vorzugehen ist, dass das Positive verwirklicht wird, werde ich die Wohnung mieten oder kaufen. Die konduktive Argumentation ist eine, die angeblich besonders im juridischen Bereich häufig vorkommt. Eine Person wird etwa für schuldig befunden, weil sie erstens ein Motiv hatte, zweitens kein Alibi vorweisen kann, drittens nach der Tat in der Nähe des Tatortes gesehen wurde und obendrein viertens noch geleugnet hatte, überhaupt dort gewesen zu sein (Fairclough/Fairclough 2012, 40; Govier 7 2014, 88; Groarke 2011 [1996], 11). Es findet auf diese Weise quasi eine Addition von Prämissen statt, die dann gesamthaft die Konklusion möglich machen oder eben legitimieren. Es ist nun allerdings genau dieses letzte Beispiel, das deutlich macht, dass der arme für schuldig Befundene trotz aller Indizien noch lange nicht schuldig sein muss. Es wird lediglich gemutmaßt, dass er schuldig ist. Möglicherweise ist aber die gesamte Argumentationslinie trugschlüssig. Die Kategorie der mutmaßenden bis trugschlüssigen Argumentation 117
Schon Aristoteles erachtete es als selbstverständlich, dass allgemein Bekanntes nicht expliziert wird (cf. Amossy 2 2006, 130).
207
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Der klassische Populismus Lateinamerikas
muss offensichtlich noch etwas genauer unter die Lupe genommen werden, was als nächstes geschehen soll.
5.5.6
Präsumtive Argumente und Trugschlüsse
Jene Argumente, die nur auf Mutmaßungen gründen und sich deshalb letztlich auch ohne Weiteres als fehlerhaft herausstellen können, werden dementsprechend als präsumtive Argumente bezeichnet und unterscheiden sich somit doch klar von den konduktiven Argumenten. Es gibt nun aber auch Argumente, die gleich auf den ersten Blick fehlerhaft erscheinen bzw. die sich spätestens bei genauerem Hinsehen als eindeutig fehlerhaft erweisen. Fehlerhafte Argumente werden traditionellerweise als Trugschlüsse und im Englischen als fallacies bezeichnet. Der Klassiker der fallacies ist wohl unbestrittenerweise Hamblins Œuvre mit dem gleichnamigen Titel Fallacies aus dem Jahre 1970. Hamblin (1970, 12) stellt dazu eingangs fest: »A fallacious argument, as almost every account from Aristotle onwards tells you, is one that seems to be valid but is not so.« Es gibt nun allerdings wiederum keine klare Definition von Trugschluss. In der Logik bezieht sich der Trugschluss auf einen Fehler in der Schlussfolgerung (cf. Copi 1986, 100). In der informalen Logik der natürlichen Sprache gibt es aber abgesehen davon noch etliche weitere Fehlerquellen. Sehr oft besteht jedenfalls in der natürlichen Sprache Unsicherheit darüber, ob ein bestimmtes Argument gut oder schlecht, valide oder trugschlüssig ist. Aristoteles unterscheidet zwischen sprachabhängigen und sprachunabhängigen Trugschlüssen, d.h. zwischen jenen in dictione und jenen extra dictionem (cf. Woods 2012, 520). Für uns sind die primären Unterscheidungskriterien aber andere. Es kann natürlich sehr wohl Fehler in der Schlussfolgerung geben. Es kann aber auch Fehler in den Prämissen geben, was folgenschwer sein kann. Es kann auch sein, dass wichtige Prämissen bewusst verschwiegen oder schlicht nicht beachtet worden sind118 und es kann weiters sein, dass die Prämissen für die Konklusion nicht relevant sind, wobei hier zwischen epistemischer und kausaler Relevanz zu unterscheiden ist (cf. Hitchcock 1992, 254ff.).119 Tatsache ist jedenfalls, dass es keine Theorie der Trugschlüsse gibt (cf. Grootendorst 1987, 335) und dass es mitunter schwierig ist, valide von trugschlüssigen Argumenten klar zu unterscheiden (cf. Eemeren/Houtlosser 2004, 56). Es ist mittlerweile auch klar geworden, dass Argumentationsschemata, die einst als typisch trugschlüssig galten wie etwa ad hominem, ad populum, ad misericordiam usw. längst
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In der Pragmadialektik rührt der Trugschluss aus der Verletzung von Regeln der kritischen Diskussion (cf. Eemeren/Grootendorst/Snoeck Henkemans 2009 [1996], 74) und Tindale (2007, xv) beschreibt den Trugschluss als »breakdown of the norms of reasoning«, Walton (1987, 323) hingegen spricht von einem »unsound step in reasoning«. Govier (7 2014, 154) betrachtet den Trugschluss als »common mistake in arguing« und meint darüber hinaus: »Fallacious arguments are often deceptive in the sense that we may think they are cogent, even when they are not.« Der bekannte Tatbestand, dass ein Wachhund nicht bellte, als der Einbrecher kam, woraus zu schließen war, dass der Wachhund den Einbrecher kannte, ist (womöglich) eine für den Schuldspruch epistemisch relevante Prämisse. Und wenn ein Kläger das Vorleben des Angeklagten als erschwerend in den Prozess einbringen will, kann und wird dies, abhängig von der Rechtslage und Kultur des jeweiligen Landes, wahrscheinlich als epistemisch irrelevant abgewiesen werden (cf. Hitchcock 1992).
5. Die linguistische Diskursanalyse als integraler Bestandteil der Politolinguistik
nicht immer trugschlüssig sein müssen (cf. Kienpointner 2002, 124). Das heißt, nicht alles, was bislang unter Trugschluss lief, ist tatsächlich ein solcher.120 Oft handelt es sich vielmehr um schwache als um trugschlüssige Argumente (cf. Walton 1987, 326ff.). Es können also in der natürlichen Sprache die validen oder sogar stichhaltigen von den trugschlüssigen Argumenten nicht pauschal und kategorisch getrennt werden, zumal jedes Mal dem Kontext gebührend Rechnung zu tragen ist (cf. Kienpointner 2009, 69). Statt einer dichotomischen Unterscheidung zwischen einerseits validen bzw. stichhaltigen und andererseits trugschlüssigen Argumenten bietet sich vielleicht einmal mehr ein Kontinuum-Modell (cf. Kienpointner 2002, 126) von mehr oder weniger akzeptablen bis zu mehr oder weniger trugschlüssigen Argumenten an. Um also nicht voreilig und im Vorhinein eine lange Reihe von Argumenten als trugschlüssig abzuqualifizieren bzw. zu disqualifizieren, ziehen wir es vor, derweil von präsumtiven121 Argumenten, anstatt von Trugschlüssen zu sprechen. Die Konklusionen der präsumtiven Argumente werden vorläufig akzeptiert, können aber gegebenenfalls zurückgenommen werden (cf. Walton/Reed/Macagno 2008, 2ff.).122 Es wurde oben festgehalten, dass es weder eine Theorie noch eine Definition von (informalem) Trugschluss gibt. Analoges gilt offensichtlich für die von uns dem informalen Trugschluss gegenüber präferierte Kategorie der präsumtiven Argumente, sodass es auch nicht möglich ist, mit einer vollständigen Liste jener Argumente aufzuwarten. Es wäre auch nicht sinnvoll, eine solche anzustreben, zumal sich eben kontextabhängig individuell herausstellen muss, ob die Konklusion des gegebenen präsumtiven Arguments letztlich hält oder fällt. Auf die Liste der ehemaligen informalen Trugschlüsse, die wir eben lieber als präsumtive Argumente sehen, gehörten etwa die zahlreichen ad-Argumente wie beispielsweise ad populum, ad hominen, ad misericordiam, ad ignorantiam, ad baculum etc. sowie das Argument der schiefen Ebene (slippery slope), das Strohmann-Argument (strawman), das rote-Hering-Argument (red herring), das Teufelskreis-Argument (begging the question) und viele mehr (cf. Amossy 2 2006, 138ff.; Cavender/Kahane 11 2010, 44ff.; Copi 1986, 100ff.; Govier 7 2014, 133ff.; Walton 2 2008, 18ff.; und andere).
120 Hier geht es natürlich nicht um die formalen Trugschlüsse, die aufgrund eines logischen Fehlers zustande kommen. 121 Präsumtive Argumente werden im Englischen auch als defeasible arguments bezeichnet, was so viel heißt wie anfechtbare Argumente (cf. Walton/Reed/Macagno 2008, 10). 122 Eine leicht modifizierte Version dieses Absatzes steht in Danler (2019a).
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6. Exemplarische sprachliche Analysen historischer Reden von Juan Perón, Getúlio Vargas und Lázaro Cárdenas
In Kapitel 5 ist ein umfassendes Instrumentarium erarbeitet worden, mithilfe dessen im Rahmen der politolinguistischen Gesamtuntersuchung der Hebel der linguistischen Diskursanalyse angesetzt wird. Je nach den sprachlichen Gegebenheiten der zu analysierenden Rede sind für die konkreten Untersuchungen die erforderlichen Ansätze aus den abgebildeten großen Bereichen der Morphosyntax, der Lexikologie, der kognitiven Semantik, der kognitiven Pragmatik sowie der informalen Logik heranzuziehen. Für die exemplarischen Analysen ist von jedem der drei porträtierten klassischen Populisten Lateinamerikas, Juan Perón, Getúlio Vargas und Lázaro Cárdenas, eine besonders prominente Rede ausgewählt worden. Alle drei sind aus historischer und politischer Perspektive bedeutsame Reden und jede für sich ist in die Geschichte des jeweiligen Präsidenten eingegangen. Um die Vergleichbarkeit der Reden zu gewährleisten, wurde darauf geachtet, dass alle drei für ein vergleichbares Publikum bestimmt waren und so handelt es sich in der Tat um drei öffentliche Reden, die vor dem breiten Volk für das breite Volk gehalten wurden. Die Reden wurden von Juan Perón am 31. August 1955 auf der Plaza de Mayo in Buenos Aires, von Getúlio Vargas am 1. Mai 1951 im Estádio do Vasco da Gama in Rio de Janeiro und von Lázaro Cárdenas am 22. Dezember 1935 auf der Plaza de la Constitución, auch Zócalo genannt, in Mexiko-Stadt gehalten. Diese drei Reden unterscheiden sich zwar in Bezug auf die Länge, was jedoch am Analysemodell nichts ändert. Juan Peróns Rede besteht aus ca. 1.300 Wörtern, Lázaro Cárdenasʼ ist ungefähr doppelt so lang und Getúlio Vargasʼ ist in etwa sogar dreimal so lang wie die Peróns. Den sprachlichen Untersuchungen der Reden sind jeweils relativ detaillierte inhaltliche Wiedergaben vorangestellt.
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Der klassische Populismus Lateinamerikas
6.1 6.1.1
Juan Perón: 31. August 1955 – Plaza de Mayo in Buenos Aires: »Cuando uno de los nuestros caiga, caerán cinco de ellos.« Inhalt der Rede
Perón erklärt, dass es sein großer Wunsch war, auf diesen geschichtsträchtigen Balkon zu gelangen, um in einem so wichtigen und historischen Augenblick sein Wort an die Argentinier zu richten. Er erklärt, dass er gemeinsam mit den Zuhörern eine nationale Bewegung mit klaren Zielen bilde und dass wohl niemand behaupten könne, dass diese peronistische Bewegung Schändliches im Schilde führe. Er erinnert daran, dass kurze Zeit zuvor die Plaza de Mayo Zeuge einer weiteren Schandtat der Volksfeinde geworden sei, im Zuge derer zweihundert Unschuldige ihr Leben verloren hätten. Geduld und Großzügigkeit seitens der Peronisten habe jedoch dazu geführt, dass sie nicht Rache suchten, sondern ganz im Gegenteil eine pazifistische Haltung eingenommen hätten. Es sei ein weiteres Brandopfer des Volkes an das Vaterland gewesen. Sie, die Peronisten, hätten Vergebung angeboten und sich im Gegenzug von den Verrätern zumindest Verständnis erwartet, doch nicht einmal das sei ihnen gewährt worden. Sie hätten den Verbrechern die Hand ausgestreckt, doch diese hätten mit nackter Gewalt, beleidigenden Reden, Heuchelei und Pamphleten geantwortet. Es sei klar, was die Volksfeinde nicht wollten, nämlich den Frieden. Dies bedeute für die Regierung, dass sie Vergeltungsmaßnahmen zu treffen habe, und für das Volk, dass es gegen derartige Gewaltexzesse entsprechend kämpfen müsse. Daher antworte er, Perón, wie schon 1945: auf Gewalt müsse jetzt noch größere Gegengewalt folgen. Die ursprüngliche Toleranz der Bewegung legitimiere nun die gewaltsame Niederschlagung derartiger Aufstände. Fortan gelte, wer sich den Behörden zur Wehr setze, Gesetz oder Verfassung missachte, könne von jedem Argentinier getötet werden. Dies betreffe außerdem nicht nur die Täter, sondern auch Verschwörer und Aufwiegler. Die Regierung, die politischen Instanzen und das Volk selbst müssten nun wieder Ruhe und Ordnung herstellen. Jeder Argentinier habe den Auftrag, auf Gewalt mit noch mehr Gewalt zu reagieren. Für jeden Peronisten, der getötet werde, würden fünf Feinde ihr Leben lassen. Die Bewegung habe hinlänglich Vorsicht und Zurückhaltung bewiesen, jetzt gehe es an, Schlagkraft zu zeigen. Jeder Peronist müsse nun die Rechte und Errungenschaften des argentinischen Volkes verteidigen, selbst wenn das Leben aller Feinde auf dem Spiel stünde. Es müsse nun gekämpft und gesiegt werden, um die erreichten Errungenschaften zu konsolidieren, andernfalls würden die Oligarchen wieder alles zerstören. Sie, die Feinde, hätten verschiedene Vorwände, wie z.B. Freiheit, Gerechtigkeit oder Religion, um ihre Ziele zu erreichen. Was sie aber in Wirklichkeit wollten, sei die Rückkehr zur Lage von 1943. Um diese Schande und diesen Verrat zu verhindern, müssten die Peronisten nun gemeinsam kämpfen. Den Frieden wollten die Feinde nicht, jetzt sollten sie den Kampf haben, und zwar bis zum bitteren Ende. Die Devise laute nun Kampf und es werde gekämpft werden, bis die Feinde ausgelöscht seien. So wie er, Perón, vorher immer zu Ruhe, Gelassenheit und Vorsicht geraten habe,
6 Exemplarische sprachliche Analysen historischer Reden
rate er nun zum totalen Kampf. Die beste Waffe der Peronisten sei die Vernunft und um diese zu stützen, hätten sie darüber hinaus noch das Gesetz auf ihrer Seite. Um jeden Preis müsse die Ruhe wiederhergestellt werden und deshalb brauche er jetzt die Zusammenarbeit mit dem Volk. Was die Nation am dringendsten brauche, sei Friede und Ruhe, damit gut gearbeitet werden könne. Dies verlange die Wirtschaft und dies sei auch von Di Pietro bestätigt worden. Falls das nicht verstanden werde, sei es eben mit Gewalt durchzusetzen. Die Heimat habe schon viele Opfer bringen müssen. Wenn es nun an den Peronisten liege, für das Vaterland Opfer zu bringen, dann sei dem eben so. Es werde sich herausstellen, ob die Feinde die Botschaft verstanden hätten. Wenn nicht, dann seien sie jetzt schon zu bedauern. Um jeden Preis müsse verhindert werden, dass die Ordnung auf den Kopf gestellt werde. Er, Perón, bitte nun noch das Volk, Hüter der Ordnung zu sein und, falls nötig, vor äußerster Gewalt nicht zurückzuschrecken. Dies seien nun der letzte Appell und die letzte Warnung an die Volksfeinde. Von nun an würden nur noch Taten folgen. Abschließend erinnert er die anwesenden Peronisten noch einmal daran, dass die Sache des Volkes nun allein auf ihren Schultern laste und sie sich deshalb voll und ganz dafür einzusetzen hätten.
6.1.2
Sprachliche Analyse
Im Rahmen der sprachlichen Analyse wird die Rede nun sukzessive den in Kapitel 5 ausgearbeiteten Ansätzen entsprechend unter die Lupe der Morphosyntax, der Lexikologie, der kognitiven Semantik, der kognitiven Pragmatik sowie der informalen Logik genommen.
6.1.2.1
Morphosyntax
Aus der Perspektive der Morphosyntax interessieren vor allem die aktantiellen Nullrealisierungen, der Einsatz der verschiedenen Diathesen, der Gebrauch von deverbalen Substantiven, die attributive Verwendung des Partizips Perfekt sowie die Funktion der Tiefenkasus. 6.1.2.1.1 Aktantennullrealisierungen In diesem ersten Abschnitt geht es darum, aufzuspüren, wie in Kapitel 5 detailliert erläutert, welche Argumente der semantischen Ebene morphologisch nicht spezifiziert werden und warum dem so ist, bzw. warum dem so sein könnte: Esta conducta […] no solamente va dirigida contra los que ejecuten, sino también contra los que conspiren o inciten. (Diese Maßnahmen […] gelten nicht nur jenen, die ausführen, sondern auch jenen, die sich verschwören oder aufwiegeln). Man führt immer etwas Konkretes aus, man verschwört sich gegen jemanden und man wiegelt auch jemanden auf. Das heißt, die Verben ejecutar, conspirar und incitar regieren zwei obligatorische Ergänzungen oder Aktanten. Hier ist jedoch nur der Erstaktant realisiert, wohl um möglichst vage und allgemein zu bleiben und um auf breiter Front einzuschüchtern. […] hemos dado suficientes pruebas de nuestra prudencia. Daremos ahora […] de nuestra energía. ([…] Wir haben genügend Beweise unserer Zurückhaltung und Vorsicht geliefert (gegeben).
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Der klassische Populismus Lateinamerikas
Jetzt werden wir […] Beweise unserer Kraft liefern (geben)). Geben ist dreiwertig, d.h., man gibt jemandem etwas. Hier wird nicht konkret genannt, wem sie die Beweise geliefert oder gegeben haben bzw. liefern oder geben werden. Der Drittaktant bleibt unrealisiert. Der Zweck ist wiederum Generizität und Vagheit. Niemand Konkretes sollte es in Frage stellen können. […] o luchamos y vencemos para consolidar las conquistas […]. ([…] entweder wir kämpfen und siegen, um die Eroberungen zu sichern […]). Man kämpft gegen jemanden oder gegen etwas, so wie man über jemanden oder über etwas siegt. Weder das eine noch das andere wird hier expliziert, um möglichst generisch, aber auch unverbindlich zu bleiben. […] no me cansé de […] aconsejar calma y tranquilidad […]. (Ich wurde nicht müde […], Ruhe und Besonnenheit zu empfehlen […]). Auch hier wird nicht genannt, an wen die Empfehlung erging, um die Formulierung möglichst allgemein zu halten und um nicht auf irgendetwas Konkretes festgenagelt werden zu können, was möglicherweise nicht bewiesen werden könnte. […] hemos de conseguir persuadiendo. ([…] wir müssen es schaffen zu überzeugen). Es wird immer jemand von irgendetwas überzeugt, doch es wird hier offen gelassen, wer wovon zu überzeugen ist. Veremos si […] nuestros enemigos comprenden. (Wir werden sehen, ob unsere Feinde verstehen). Verstehen ist zweiwertig, d.h. man versteht immer etwas. Was verstanden werden soll, bleibt allerdings hier unspezifiziert, um nichts erklären oder definieren zu müssen. 6.1.2.1.2 Diathesen Wenn es darum geht, sprachlich vage zu bleiben und sich nicht festzulegen, dann spielen neben den Aktantennullrealisierungen die Passiv-Diathese, die Rezessiv-Diathese und die SE-Diathese eine wichtige Rolle, weshalb diese als nächstes anzusehen sind. Die Passiv-Diathese Die Passiv-Diathese, die es ermöglicht, das Agens der entsprechenden Aktiv-Diathese auszublenden, ist im Spanischen generell wesentlich weniger üblich als etwa in anderen romanischen Sprachen und dementsprechend finden sich hier auch nur wenige Beispiele: Esta conducta […] no solamente va dirigida contra los que ejecuten, sino también contra los que conspiren o inciten. (Diese Maßnahmen […] gelten nicht nur jenen, die ausführen, sondern auch jenen, die sich verschwören oder aufwiegeln). Es muss dank dieser Formulierung nicht spezifiziert werden, wer genau diese Maßnahmen agentiv vorschreibt, d.h., quien dirige la conducta. […] nuestra patria […] ha debido ser sometida muchas veces a un sacrificio. (Unserem Vaterland musste oft ein Opfer abverlangt werden). Die Passivkonstruktion gestattet es zu verschweigen, wer dem Vaterland die Opfer abverlangt hat, quien ha sometido la patria muchas veces a un sacrificio. Die Rezessiv-Diathese Die Rezessiv-Diathese ist die anti-kausative Sichtweise, wodurch erneut das Agens im
6 Exemplarische sprachliche Analysen historischer Reden
Dunkeln bleibt. Kausativ X begann die Kampfhandlungen wird zu rezessiv Die Kampfhandlungen begannen, gerade so, als ob sie aus sich selbst heraus begännen: […] esta lucha que iniciamos no ha de terminar hasta que no los hayamos aniquilado […]. ([…] dieser Kampf, den wir begannen, wird nicht enden, solange wir sie nicht ausgelöscht haben […]). Der Kampf wird dargestellt, als ob er von sich aus aufhören würde, como si terminara aus intrinsischer Kraft. Die kausative Variante wäre wir beenden den Kampf, wodurch die Handelnden expliziert würden, was in der Rede aber eben nicht der Fall ist. […] hoy comienza para todos nosotros una nueva vigilia de armas. ([…] heute beginnt für uns alle eine neue bewaffnete Wache (Waffenwache)). Die Wache scheint sich von selbst einzustellen, sie beginnt aus sich heraus, ohne dass sie jemand Konkretes beginnen müsste. Kausativ hieße es Wir beginnen heute eine neue bewaffnete Wache. Dies ist erneut ein Indiz für Vagheit, Unpersönlichkeit und Unverbindlichkeit. Die SE-Diathese Unabhängig davon, ob es sich um ein se-impersonal oder um eine pasiva refleja handelt, die, wie in Kapitel 5 vermerkt, ohnedies auf denselben Ursprung zurückgehen, fehlt bei der Inblicknahme durch die SE-Diathese in jedem Fall ein kausativer Erstaktant. Das seimpersonal regiert keinen Erstaktanten und in der pasiva refleja wird der Zweitaktant der entsprechenden Aktiv-Diathese zum Erstaktanten: […] se ha visto que hay gente que ni aun reconoce […] la grandeza de los demás. ([…] es wurde sichtbar, dass es Leute gibt, die die Größe der anderen nicht anerkennen können). Absolute Unpersönlichkeit bleibt gesichert. 6.1.2.1.3 Deverbale Substantive Deverbale Substantive führen als Ergebnis von Nominalisierungen zu Valenzreduktion, wodurch wiederum Argumente nicht spezifiziert werden müssen. Im Satz Der Präsident änderte die Gesetze nachhaltig verlangt das Verb ändern ein Agens und ein Patiens. Im Nominalsyntagma die Änderung der Gesetze entfällt die Notwendigkeit, das Agens zu spezifizieren: […] no quieren la pacificación […]. (Sie wollen die Wiederherstellung des Friedens nicht). Das deverbale Substantiv pacificación erlaubt es im Gegensatz zum zweiwertigen Verb pacificar zu verschweigen, wer den Frieden wiederherstellen wollte oder sollte. los procedimientos subversivos […]. (das subversive Vorgehen […]). Es muss hier nicht präzisiert werden, wer subversiv vorgeht, der Erstaktant von proceder bleibt verborgen. […] todo intento de alteración de orden. ([…] jeder Versuch der Änderung der Ordnung). Dieses Syntagma enthält gleich drei substantivierte Verben, nämlich intento von intentar, alteración von alterar und orden von ordenar. Die Nominalisierungen erfolgten freilich auf unterschiedliche Weisen, allein, das spielt hier keine Rolle. Alle drei Verben sind zweiwertig: X intenta Y, X altera Y, X ordena Y. Der Erstaktant fehlt in allen drei Fällen. Der Zweitaktant von intentar wäre alterar Y, jener von alterar wäre orden und jener von ordenar fehlt auch. Das heißt, es kann verschwiegen werden, wer etwas versucht, wer etwas ändert, wer etwas anordnet und auch was angeordnet wird, was beträchtlich zu Vagheit und Unverbindlichkeit beiträgt.
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6.1.2.1.4 Der attributive Gebrauch des Partizips Perfekt Auch das attributiv gebrauchte Partizip Perfekt erlaubt eine Valenzreduktion. So kann etwa in der Konstruktion dieses häufig gelesene Buch ausgeblendet werden, wer die Leser sind: Esos doscientos cadáveres destrozados fueron […]. (Diese zweihundert zerstörten (verstümmelten) Leichen waren […]). X destroza Y, doch X fehlt. Es wird nicht mehr präzisiert, wer die Leichen verstümmelte, wohl auch, um die Gräueltaten pauschal allen Anti-Peronisten zuzuschreiben. […] para consolidar las conquistas alcanzadas […]. ([…] um die erzielten Eroberungen zu sichern […]). X alcanza Y, doch X fehlt, d.h. wer jene Eroberungen erzielte, kann dank der Verwendung des Partizips Perfekt verschwiegen werden. Dadurch kann niemand für etwas Konkretes belangt werden. 6.1.2.1.5 Tiefenkasus Durch die Neuordnung der Tiefenkasus ergeben sich neue Handlungskonstellationen, was für die linguistische Diskursanalyse durchaus relevant ist: […] esta Plaza de Mayo ha sido testigo de una infamia más […]. ([…] diese Plaza de Mayo wurde Zeuge einer weiteren Schandtat […]). Hier geht es nicht um eine Zeugenaussage, denn in diesem Fall wäre der Zeuge Agens. Hier wird der Platz im Sinne eines Patiens als Zeuge perspektiviert, denn die Schandtat hat sich auf ihm zugetragen, und dadurch wurde er auf metaphorische Weise Zeuge. Die Anti-Peronisten schrecken also nicht einmal davor zurück, die quasi heiligen Plätze der Nation zu entweihen. […] nuestra inmensa paciencia y nuestra extraordinaria tolerancia hicieron que […] nos mordiéramos y tomáramos una actitud pacífica […]. ([…] unsere grenzenlose Geduld und unsere außergewöhnliche Toleranz […] ließen uns schweigen und eine friedliche Haltung einnehmen […]). Geduld und Toleranz werden als starke Kräfte dargestellt, die Handlungen nach sich ziehen. […] surge una conclusión […]. ([…] eine Schlussfolgerung taucht auf (ergibt sich) […]). Die Schlussfolgerung ist eine intrinsische Kraft, wenn nicht gar Agens. Niemand zieht Schlüsse, sondern die Konklusion drängt sich quasi von selbst auf. […] donde esté un peronista estará una trinchera que defienda los derechos de un pueblo. ([…] wo es einen Peronisten gibt, wird es einen Schützengraben geben, der die Rechte des Volkes verteidigen möge). Der Schützengraben ist Agens, er hat die Rechte des Volkes zu verteidigen. […] la economía […] y el trabajo argentino imponen la necesidad de la paz y de la tranquilidad. ([…] die Wirtschaft […] und die argentinische Arbeit verlangen dringend Frieden und Ruhe). Hier sind nun die Wirtschaft und die Arbeit tatsächlich Agenzien, die eine Forderung stellen. Es sind nicht einzelne Menschen, sondern die Wirtschaft und die Arbeit gesamthaft, die bestimmen, was zu tun ist, was entsprechend wuchtig klingt und über kleine persönliche Anliegen weit hinausgeht. […] han de venir acciones […]. (Taten müssen folgen (kommen) […]). Die Taten können entweder als Agens oder als Kraft verstanden werden. Die Taten kommen jedenfalls von sich aus. Erneut befindet man sich jenseits des menschlichen Spiels oder Kalküls, wodurch die Handlungsdimension eine viel größere wird.
6 Exemplarische sprachliche Analysen historischer Reden
6.1.2.1.6 Ergebnisse Die dargestellten morphosyntaktischen Strukturen stehen im Dienste der Generizität und Anonymität. Die Aussagen sind unverbindlich, weil nicht überprüfbar. Die Verantwortung wird ausgeblendet, niemand Konkreter kann mehr für irgendetwas belangt werden. Es können große Worte geschwungen werden, ohne dass der Autor letztlich dafür einzustehen hat.
6.1.2.2
Lexikologie
In diesem Unterkapitel wird versucht, durch das Identifizieren und Erfassen der in der Rede verwendeten Hochwert-, Unwert-, Fahnen-, Stigma-, Schimpf- und Programmwörter das peronistische Selbstverständnis dem Porträt des Anti-Peronisten gegenüberzustellen. Die anschließende Perspektive der Bedeutungsverengung, der Bedeutungserweiterung sowie der Näherung oder Approximation wird einen Einblick in die Strategien der sprachlichen Vereinfachung geben. 6.1.2.2.1 Hochwertwörter Hochwertwörter bringen, wie bereits in Kapitel 5 dargestellt, all das zum Ausdruck, was über die Grenzen einzelner Ideologien hinweg als positiv erachtet wird. Die Hochwertwörter beziehen sich hier wenig überraschend durchwegs auf die peronistischen Werte: la grandeza de los demás (die Größe der anderen (anerkennen)); […] hemos ofrecido […] nuestra paz ([…] wir haben (unseren) Frieden […] angeboten); […] tranquilidad entre el gobierno, sus instituciones y el pueblo […] ([…] Ruhe zwischen der Regierung, ihren Institutionen und dem Volk […]); prueba de […] prudencia, […] prueba de nuestra energía (Beweis […] unserer Zurückhaltung und Vorsicht, […] Beweis unserer Kraft); justicia (Gerechtigkeit); la razón (die Vernunft); calma (Ruhe); paz y tranquilidad (Friede und Ruhe). 6.1.2.2.2 Unwertwörter Unwertwörter bringen all das zum Ausdruck, was über die Grenzen einzelner Ideologien hinweg als negativ wahrgenommen wird und beziehen sich folglich in der vorliegenden Rede durchwegs auf die Haltung und das Tun der Anti-Peronisten: infamia de los enemigos del pueblo (Schandtat der Volksfeinde); afrenta al pueblo (Volksbeleidigung); voluntad criminal (verbrecherischer Wille); discursos superficiales e insolentes (oberflächliche und dreiste Reden); hipocresía (Heuchelei); procedimientos subversivos (subversives Vorgehen); violencia (Gewalt); los que conspiren o inciten (jene, die sich verschwören oder aufwiegeln); una acción violenta (Gewalthandlung); […] infamia, […] insidia y […] traición ([…] Schandtat, […] Hinterhältigkeit und […] Verrat). 6.1.2.2.3 Fahnenwörter Fahnenwörter bezeichnen ideologiespezifisch positiv Bewertetes. In der gegebenen Rede beziehen sie sich auf die peronistischen Werte und auf die peronistische Politik: un movimiento nacional (eine nationale Bewegung); paciencia y […] tolerancia (Geduld und Toleranz); una actitud pacífica (eine pazifistische Haltung); ofreciendo […] perdón (Verzeihung anbieten); una represión ajustada a los procedimientos subversivos (dem subversiven Vorgehen
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angemessene Sanktionen); […] contestar con una violencia mayor (mit größerer Gewalt antworten); orden de las autoridades constituidas (die Anordnung der Behörden); libertad (Freiheit); lucha (Kampf). Auffallend ist hier, dass sowohl Friede und Pazifismus als auch Kampf und Gewalt zu den Fahnenwörtern gehören, was sich allerdings aus dem Kontext erklärt: Die AntiPeronisten waren wohl mit den Friedensbedingungen der Peronisten nicht einverstanden, lehnten also deren Friedensangebot ab, weshalb die Peronisten dann zu einem Maximum an Gewalt gegen die Anti-Peronisten aufriefen. 6.1.2.2.4 Stigmawörter Stigmawörter sind also jene Wörter, die ideologiespezifisch negativ Bewertetes bezeichnen. In der vorliegenden Rede findet sich nur eines, nämlich oligarquía (Oligarchie). Alles andere negativ Konnotierte fällt in die Kategorie der Unwertwörter. 6.1.2.2.5 Schimpfwörter Die Verwendung von Schimpfwörtern dient der Verunglimpfung der gegnerischen bzw. feindlichen Seite, welche hier die anti-peronistische ist. Ihr wird zugeschrieben: los enemigos del pueblo (die Volksfeinde); los traidores (die Verräter); los victimarios (Mörder); hombres criminales (Verbrecher); los instigadores (die Aufwiegler); los alteradores del orden (die Umstürzler). 6.1.2.2.6 Programmwörter Programmwörter bringen Handlungskonzepte zum Ausdruck. Hier geht es um Handlungen bzw. Vorhaben der Peronisten: […] la pacificación que les hemos ofrecido ([…] der Friedensschluss, den wir ihnen angeboten haben); […] la colaboración del pueblo ([…] die Zusammenarbeit des Volkes); […] la demonstración (die Zurschaustellung [der eigenen Position und Werte]); la última advertencia (die letzte Mahnung). 6.1.2.2.7 Bedeutungsverengung Bedeutungsverengung heißt, wie im fünften Kapitel erläutert, dass die vermittelte Bedeutung spezifischer ist als die sprachlich kodierte. Sagt etwa eine Mutter zu ihrem fünfjährigen Sohn ich brauche deine Hilfe, dann sind die bezeichneten Hilfemöglichkeiten des Sohnes begrenzt und die Mutter wird sich wahrscheinlich von ihrem kleinen Sohn auch keine Schützenhilfe in einem Konflikt mit der Schwiegermutter erwarten. Sagt sie hingegen zu ihrem Mann ich brauche deine Hilfe, dann wird etwas ganz anderes gemeint sein und könnte sich durchaus auf eine Notlage in Verbindung mit der Schwiegermutter beziehen. Das heißt also, dass in der Kommunikation die gemeinte Bedeutung in der Regel wesentlich spezifischer ist als die sprachlich kodierte. Die Fragen, die auf die Zitate folgen, weisen auf die jeweilige Einschränkung hin: […] hemos ofrecido […] nuestra mano y nuestra paz ([…] wir haben unsere Hand ausgestreckt und unseren Frieden angeboten – Frage: Friede zu welchen Bedingungen?); Daremos […] pruebas de nuestra energía (Wir werden Beweise für unsere (Schlag)kraft liefern – Frage: welche Form von Kraft/Energie?); […] hemos de defender los derechos […] del pueblo (wir müssen die
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Rechte des Volkes verteidigen – Fragen: wie verteidigen?); […] aunque tengamos que terminar con todos ellos ([…] auch wenn wir sie alle erledigen müssen – Frage: auf welche Weise?); necesito la colaboración del pueblo (ich brauche die Zusammenarbeit des Volkes – Frage: Wie soll das Volk zusammenarbeiten?); nuestra nación necesita paz y tranquilidad (unsere Nation braucht Friede und Ruhe – Frage: welche Dimension der Nation? welche Art von Friede? zwischen wem? welche Art von Ruhe?); nuestra patria […] ha debido ser sometida muchas veces a un sacrificio (unser Vaterland […] hat oft ein Opfer bringen müssen – Frage: auf welche Weise?). 6.1.2.2.8 Bedeutungserweiterung Im Falle der Bedeutungserweiterung geht es auch um die Relativierung vordefinierter Bedeutungen, wie im vorangehenden Kapitel zu sehen war. Hier wird die aktualisierte Bedeutung aber im Vergleich zur Standardbedeutung nicht mehr verengt, sondern eben erweitert. Wenn jemand ein rundes Gesicht hat, so ist dieses sicher nicht kreisrund und auch ein aufgewecktes Kind wird manchmal müde. Die Bedeutungserweiterung dient also ebenfalls der Vereinfachung der sprachlichen Kategorien. Die auf die Textpassagen folgenden Fragen machen die Bedeutungserweiterung der verwendeten Wörter deutlich: Nosotros representamos un movimiento nacional (Wir stellen eine nationale Bewegung dar – Frage: wirklich eine Bewegung der ganzen Nation bzw. in der gesamten Nation? Reichen tatsächlich ein paar gemeinsame Merkmale, um von einer nationalen Bewegung zu sprechen?); nuestra inmensa paciencia y nuestra extraordinaria tolerancia […] (unsere grenzenlose Geduld und unsere außergewöhnliche Toleranz – Frage: War das Ausbleiben der Reaktion tatsächlich Folge von Geduld und Toleranz im eigentlichen Sinn oder nicht doch eher von Unentschlossenheit und Zögerlichkeit? Dann fallen nämlich Unentschlossenheit und Zögerlichkeit in die Kategorien Geduld und Toleranz); Esos doscientos cadáveres destrozados fueron un holocausto más (diese zweihundert verstümmelten Leichen waren ein weiteres Brandopfer – Frage: Ein Brandopfer im eigentlichen Sinn wird bewusst dargebracht, was hier nicht der Fall war; was blieb also vom ursprünglichen Gedanken des Brandopfers, wenn hier von Brandopfer gesprochen wird?); Hemos vivido dos meses en una tregua (Wir haben zwei Monate im Waffenstillstand gelebt – Frage: Peronisten und Anti-Peronisten führten nicht wirklich Krieg; sind ungefähr zwei Monate relativer Gewaltlosigkeit tatsächlich als Waffenstillstand zu bewerten?); […] hemos dado suficientes pruebas de nuestra prudencia (wir haben genügend Beweise für unsere Vorsicht/Zurückhaltung gegeben – Frage: War das Ausbleiben der Reaktion Folge von Vorsicht/Zurückhaltung im eigentlichen Sinn oder vielleicht eher von Unentschlossenheit und Zögerlichkeit? Dann wird Zögerlichkeit als Vorsicht verkauft.); Pero yo pido al pueblo que sea él también un custodio (Aber ich bitte das Volk, dass es auch Wächter sei – Frage: Das Volk sollte darauf achten, dass die peronistischen Prinzipien beachtet werden, doch wie sollte es darüber wachen? Wird man durch ein wenig Achtsamkeit bereits zum Wächter?). 6.1.2.2.9 Näherung (Approximation) Von Näherung oder Approximation sprechen wir, wenn der Referent trotz sprachlicher Indizierung nicht absolut betroffen ist. Wenn es heißt, jeder Argentinier wisse, dass Buenos Aires die argentinische Hauptstadt ist, dann stimmt das schon deshalb nicht,
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weil auch jedes argentinische Kleinkind Argentinier ist, und wenn man liest, dass 60 % der Paraguyaner zweisprachig sind, dann ist das sicher eine auf- oder abgerundete Zahl. So schafft also auch die Näherung künstlich klare und markante Grenzen. Die Fragen verdeutlichen wiederum das zur Diskussion stehende Phänomen: […] hemos vivido dos meses en una tregua (wir lebten zwei Monate in einem Waffenstillstand – Frage: genau zwei Monate?); Esta conducta que ha de seguir todo peronista (Dieses Verhalten, das sich für jeden Peronisten geziemt – Frage: wirklich für jeden?); […] caerán cinco de ellos ([…] dann werden fünf von ihnen fallen – Frage: jedes Mal genau gezählte fünf?); […] quiero terminar estas palabras recordando […] a todo el pueblo argentino […] (ich möchte diese Rede abschließen, indem ich das gesamte argentinische Volk daran erinnere – Frage: wirklich das gesamte argentinische Volk?); Pero una sola cosa es lo que ellos buscan […] (Es gibt nur eine Sache, die sie wollen […] – Frage: wirklich nur eine einzige?); Para que ello no suceda estamos todos nosotros […] (Damit das nicht eintritt, stehen wir alle bereit – Frage: wirklich alle?); […] la lucha se la vamos a hacer por todas partes y en todo lugar ([…] bekämpfen werden wir sie von allen Seiten und an jedem Ort – Frage: wirklich von allen Seiten und an jedem Ort?); Pero yo pido al pueblo que sea él también un custodio (Ich bitte das Volk, dass es Wächter sei – Frage: das ganze Volk?); […] hoy comienza para todos nosotros una nueva vigilia de armas ([…] heute beginnt für uns alle eine neue bewaffnete Wache – Frage: für alle Peronisten?); Cada uno de nosotros debe […] ofrecer todos los días en todos los actos, la decisión necesaria para salvar esa causa del pueblo (Jeder von uns muss jeden Tag und in jeder Handlung jene Entscheidung treffen, die die Sache des Volkes rettet – Frage: wirklich jeder, jeden Tag und in jeder einzelnen Handlung?). 6.1.2.2.10 Ergebnisse Durch die Wortkategorisierung kristallisiert sich die Polarisierung heraus, die in der Rede vermittelt wird. Die Peronisten stehen für die Anerkennung der Größe auch der anderen, für Friede, Ruhe, Vorsicht, Zurückhaltung, Kraft, Gerechtigkeit und Vernunft. Sie sind nationalistisch, geduldig, tolerant, pazifistisch, freiheitsliebend, kämpferisch, aber auch gehorsam, streng und rachsüchtig. Auf Gewalt antworten sie mit noch mehr Gewalt. Mit den Anti-Peronisten werden Schandtaten, Volksbeleidigungen, Verbrechen, Verrat, Mord, Aufwiegelei und Umsturz in Verbindung gebracht, die Anti-Peronisten selbst werden als oberflächlich, dreist, heuchlerisch, subversiv, gewalttätig, verschwörerisch, reaktionär und verräterisch dargestellt. Die Bedeutungsverengung, die Bedeutungserweiterung und die Näherung dienen der vereinfachten Darstellung von komplexen Sachverhalten. Viel mitgedachte Bedeutung fließt in der Kommunikation in die Standardbedeutung von Wörtern hinein, die der Sender aber für sich behält und so dafür nicht belangt werden kann. Die Fronten scheinen auf diese Weise klar, es scheint keinen Diskussionsbedarf zu geben.
6.1.2.3
Kognitive Semantik
In diesem Abschnitt wird erstens erhoben, wie Perón einerseits das Volk, el pueblo, und andererseits die Rolle des Präsidenten, also seine eigene, konzeptualisiert. Zweitens werden auf der Linie der scenes-and-frames-Semantik bedeutende Szenen aus der Rede
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herausgelöst und unter dem Blickwinkel der Explizitheit der Umstände betrachtet. Des Weiteren interessiert die Verwendung von Metaphern und Metonymien in der Rede. 6.1.2.3.1 Die Erschaffung des prototypischen Volkes sowie des prototypischen Präsidenten mittels Zusammenführung stereotyper Eigenschaften Im Laufe der Rede äußert sich Perón immer wieder hinsichtlich des Volkes und auch des Präsidenten, wodurch gewissermaßen mittels vieler Pinselstriche auf pointillistische Weise Gesamtbilder einerseits des argentinischen Volkes und andererseits des Präsidenten selbst entstehen: Das Volk – el pueblo […] nosotros representamos un movimiento nacional cuyos objetivos son bien claros (wir stellen eine nationale Bewegung dar, deren Ziele ganz klar sind); nuestra inmensa paciencia y nuestra extraordinaria tolerancia (unsere unermessliche Geduld und außergewöhnliche Toleranz); una actitud pacífica y tranquila (eine friedliebende und gelassene Haltung); un holocausto más que el pueblo ofreció a la patria (ein weiteres Opfer, das das Volk dem Vaterland darbrachte); ofreciendo nuestro perdón (in dem wir Verzeihung anbieten); hemos ofrecido […] nuestra paz (wir haben unseren Frieden angeboten); a la violencia le hemos de contestar con una violencia mayor (auf Gewalt müssen wir mit größerer Gewalt antworten); nos hemos ganado el derecho de reprimirlos violentamente (wir haben das Recht erworben, sie gewaltsam zu unterdrücken); aquel que […] intente alterar el orden […], puede ser muerto por cualquier argentino (wer versucht, die Ordnung umzustürzen, kann von jedem Argentinier getötet werden); hemos de restablecer la tranquilidad (wir müssen die Ruhe wiederherstellen); La consigna […] es contestar a una acción violenta con otra más violenta (Die Devise ist […], auf Gewalt mit noch mehr Gewalt zu antworten); cuando uno de los nuestros caiga, caerán cinco de los de ellos (wenn einer der Unseren fällt, werden fünf von ihnen getötet werden); Daremos ahora suficientes pruebas de nuestra energía (Wir werden jetzt genügend Beweise für unsere Schlagkraft geben); hemos de defender los derechos y las conquistas del pueblo (wir müssen die Rechte und die Errungenschaften des Volkes verteidigen); luchamos y vencemos para consolidar las conquistas alcanzadas (wir kämpfen und siegen, um die erzielten Errungenschaften zu sichern); cuando nosotros nos decidimos a luchar, luchamos hasta el final (wenn wir beschließen zu kämpfen, kämpfen wir bis zum Schluss); tenemos […] el arma más poderosa, que es la razón (wir haben die stärkste Waffe, nämlich die Vernunft); la ley en nuestras manos (das Gesetz in unseren Händen); hemos de imponernos en cualquier acción y hemos de imponernos cualquier sacrificio para lograrlo (wir müssen immer überlegen sein und wir müssen jedes Opfer bringen, um erfolgreich zu sein); la causa del pueblo está sobre nuestros hombros (die Sache des Volkes liegt auf unseren Schultern). Der Präsident – el presidente […] quiere […] llegar al corazón de cada uno de los argentinos (möchte das Herz jedes einzelnen Argentiniers erreichen); a la violencia […] hemos de contestar con una violencia mayor (auf Gewalt müssen wir mit größerer Gewalt antworten); le digo [al pueblo] que cada uno se prepare de la mejor manera para luchar (ich sage dem Volk, dass sich jeder bestmöglich auf den Kampf vorbereiten möge); necesito la colaboración del pueblo (ich brauche die Zusammenarbeit des Volkes); pido al pueblo que sea él también un custodio (ich bitte das Volk, auch Wächter zu sein).
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6.1.2.3.2 Scenes-and-frames Hier werden schlaglichtartig Schlüsselszenen aus der Rede in den Blick genommen, um diese dann auf die Explizitheit der Akteure und Umstände hin neu zu beleuchten, wodurch zum Vorschein kommt, dass kommunikativ wichtige Informationen häufig vor der Zuhörerschaft verborgen bleiben. Zur Szene in der Arztpraxis gehören im weiteren Sinn etwa Arzt und Patient, aber auch Grund des Arztbesuchs, Ziel des Arztbesuchs, Art und Ort der Behandlung, Bedingungen der Behandlung usw.: Nosotros representamos un movimiento nacional cuyos objetivos son bien claros […] (Wir stellen eine nationale Bewegung dar, deren Ziele klar sind […]): Es stellt sich die Frage, auf welche Weise die Anwesenden eine Bewegung darstellen und inwiefern die Ziele wirklich klar sind. Weder das eine noch das andere werden präzisiert. […] esperábamos ser comprendidos […] (wir hofften, verstanden zu werden): Warum hofften sie, verstanden zu werden und vor allem wie hätten sie verstanden werden sollen? Das bleibt offen. No quieren la pacificación (Sie wollen nicht die Wiederherstellung des Friedens): Zu welchen Bedingungen wurde der Friede angeboten? Auf die Bedingungen wird nicht eingegangen. Con nuestra tolerancia exagerada nos hemos ganado el derecho de reprimirlos violentamente (Unsere übergroße Toleranz berechtigt uns, sie gewaltsam zurückzuschlagen): Warum sollte Toleranz Gewalt legitimieren? Hier fehlt die Begründung. […] aquel que […] intente alterar el orden […] en contra de la ley o de la Constitución, puede ser muerto por cualquier argentino ([…] wer versucht, die Ordnung gegen das Gesetz oder gegen die Verfassung zu ändern, kann von jedem Argentinier getötet werden): Es wird nicht spezifiziert, wie ein derartiger Versuch der Ordnungsänderung auszusehen hätte, der einen Mord rechtfertigen würde und es wird auch nicht erklärt, warum der Versuch der Ordnungsänderung einen Mord rechtfertigen sollte. Hemos de restablecer la tranquilidad […] (Wir müssen die Ruhe wiederherstellen […]): Es wird nicht geklärt, auf welche Weise die Ruhe wiederherzustellen ist. Daremos ahora suficientes pruebas de nuestra energía (Wir werden jetzt genügend Beweise für unsere Kraft liefern): Auch hier stellt sich die Frage, wie die Kraft unter Beweis gestellt werden wird. […] hemos de defender los derechos y las conquistas del pueblo argentino aunque tengamos que terminar con todos ellos ([…] wir müssen die Rechte und die Errungenschaften des argentinischen Volkes verteidigen, selbst wenn wir sie alle auslöschen müssen): In dieser Ansage wäre interessant zu wissen, wie alle Anti-Peronisten gegebenenfalls ausgelöscht werden sollten. Hemos de imponer calma a cualquier precio […] (Wir müssen um jeden Preis die Ruhe durchsetzen): Auf welche Weise sollte die Ruhe erzwungen werden? […] nuestra nación necesita paz y tranquilidad […] y eso es lo que hemos de conseguir persuadiendo […] ([…] unsere Nation braucht Friede und Ruhe […] und das müssen wir erreichen, indem wir überzeugen […]): Die Frage ist, auf welche Weise überzeugt werden soll. 6.1.2.3.3 Metapher und Metonymie Wie in Kapitel 5 dargelegt, sind Metaphern und Metonymien bildlich verdichtete Ausdrucksformen, die nicht einfach ein anderes, vermeintlich primäres oder ursprüngli-
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ches Wort ersetzen. Komplexe Konzepte werden durch scheinbar einfache Bilder vermittelt. Sie vereinigen eine kognitive und eine emotionale Komponente. In der Regel erzielen Metaphern und Metonymien gerade aus diesem Grund bedeutende rhetorische Effekte: […] quiero […] llegar al corazón de cada uno de los argentinos ([…] ich möchte zum Herzen jedes Argentiniers vordringen): Wenn man am Herzen ankommt, wörtlich, metaphorisch oder metonymisch, ist man mitten im Zentrum gelandet. Perón verweist also darauf, dass es um das Ganze geht. […] esta Plaza de Mayo ha sido testigo de una infamia más de los enemigos del pueblo (diese Plaza de Mayo ist Zeuge einer weiteren Schandtat der Volksfeinde geworden): Die Plaza wird personifiziert, die Plaza steht metonymisch für die darauf stehenden Menschen, doch als Person steht die Plaza plötzlich auf Augenhöhe mit den zuhörenden Peronisten, die mit der Plaza rückblickend quasi mitfühlen. Esos doscientos cadáveres destrozados fueron un holocausto más que el pueblo ofreció a la patria (Diese zweihundert verstümmelten Leichen waren ein weiteres Brandopfer, das das Volk dem Vaterland darbrachte): Brandopfer werden vorsätzlich auf rituelle Weise einer Gottheit oder einer metaphysischen Kraft dargebracht. Die Opfer eines Attentats mittels struktureller Metapher als Brandopfer zu bezeichnen, rückt den Vorfall in die Nähe einer religiösen Dimension und die Opfer selbst in die Nähe von Märtyrern. Cuando uno de los nuestros caiga, caerán cinco de los de ellos (Wenn einer der Unseren fällt, werden fünf der Ihrigen fallen): Gefallen wird im Krieg als Soldat. Das Verhältnis zwischen Peronisten und Anti-Peronisten wird durch eine weitere strukturelle Metapher einem Kriegszustand gleichgesetzt. […] donde esté un peronista estará una trinchera que defienda los derechos de un pueblo ([…] wo immer ein Peronist sein wird, wird es einen Schützengraben geben, der die Rechte des Volkes verteidigen möge): Der Schützengraben ist Teil der strukturellen Kriegsmetapher, die den martialischen Ton erhöht. […] habrá razones de libertad, de justicia, de religión o de cualquier otra cosa, que ellos pondrán por escudo para alcanzar los objetivos que persiguen ([…] es wird Gründe der Freiheit, der Gerechtigkeit, der Religion oder sonst etwas geben, das sie als Vorwand [Schild] verwenden werden, um die Ziele zu erreichen, die sie verfolgen): Mit der Verwendung des Schildes als strukturelle Metapher für Vorwand befindet sich der Redner nach wie vor in der Kriegs- oder Kampfesrhetorik, um Unnachgiebigkeit zu signalisieren. Para que ello no suceda estamos todos nosotros, […], nuestros pechos y nuestras voluntades (Damit sich das nicht ereignet, stehen wir alle bereit, […], unsere Brust und unser Wille): Die Brust steht metonymisch für die kampfbereite Frontstellung der peronistischen Soldaten. […] esta lucha que iniciamos no ha de terminar hasta que no los hayamos aniquilado y aplastado ([…] dieser Kampf, den wir begonnen haben, darf nicht enden, solange wir sie nicht ausgelöscht und plattgedrückt haben): Auch das Auslöschen und das an Ungeziefer erinnernde Plattdrücken als strukturelle Metaphern gehören zur Gewalt- und Kampfesrhetorik, die weiter einschüchtern soll. Tenemos para esa lucha el arma más poderosa, que es la razón (Wir haben für diesen Kampf die mächtigste Waffe, nämlich die Vernunft): Mit der Vernunft als mächtigste Waffe wird das Repertoire der strukturellen Kriegsführungsrhetorik um ein weiteres Element erweitert.
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[…] la causa del pueblo está sobre nuestros hombros […] ([…] die Sache des Volkes liegt auf unseren Schultern): Durch den bildlichen Ausdruck der Metonymie wird zum Ausdruck gebracht, wie unmittelbar spürbar die Last der Verantwortung ist. 6.1.2.3.4 Ergebnisse Das konstruierte prototypische argentinische Volk denkt national, ist geduldig und tolerant, pazifistisch, ruhig, opferbereit, es verzeiht, es ist gesetzestreu, verantwortungsbewusst und vernünftig, es ist aber auch unnachgiebig und gewaltbereit im Fall, dass ihm Unrecht zugefügt wird. Der Präsident ist volksnah, beteuert, das Volk zu brauchen, er ist ferner weise und voraussichtig und kann deshalb dem Volk sagen, was gut ist und welche Aufgaben ihm zukommen. Die Beleuchtung bzw. Ausleuchtung der Schlüsselszenen aus der Rede macht klar, dass es sich um sprachlich nur rudimentär abgebildete Szenen handelt, in denen viele Komponenten fehlen, die zwar syntaktisch nicht notwendig, kommunikativ aber durchaus relevant sind. Im Falle ihrer Sichtbarkeit könnte sich die Haltung der Zuhörerschaft gegenüber dem Gehörten aber durchaus ändern. Der Großteil der Metaphern und Metonymien stammt aus dem Kampfes- oder Kriegsumfeld, wodurch die scheinbar unmittelbar drohende Gefahr auf rationaler und auf emotionaler Ebene in den Vordergrund rückt, was zweifellos der Absicht des Redners entspricht.
6.1.2.4
Kognitive Pragmatik
In der kognitiven Pragmatik geht es, wie bereits erläutert, um das Erfassen der Illokution oder Sprecherintention mittels Inferenz. Nachdem die Satzbedeutung ermittelt und die referenziellen Zuweisungen vorgenommen worden sind, werden aus dem Gesamtkontext die Äußerungsbedeutung und deren Relevanz bestimmt.1 Es gilt, (die) Schlüsselstellen der Rede herauszufiltern und diese auf den drei genannten Ebenen zu betrachten, um letztlich deren Sinn zu erfassen: 6.1.2.4.1 Analyse He querido llegar hasta este balcón, ya para nosotros tan memorable, para dirigirles la palabra en un momento de la vida pública, y de mi vida, tan trascendental y tan importante, porque quiero de viva voz llegar al corazón de cada uno de los argentinos que me escuchan. 1
Satzbedeutung: [Der Sprecher wollte auf den für ihn und die Zuhörerschaft denkwürdigen Balkon gelangen, um in einem wichtigen und transzendentalen Augenblick des öffentlichen und seines persönlichen Lebens durch seine Worte die Herzen aller Argentinier, die ihm zuhörten, zu erreichen].
1
Minutiöse Semanalysen einzelner Bedeutungen zum Zweck der Erfassung der Satzbedeutung sind im Rahmen der vorliegenden Studien nicht erforderlich; die Äußerungsbedeutung ergibt sich im Sinne der kognitiven Pragmatik, wie gesagt, durch Ableitung. Das Gleiche gilt offensichtlich für die Analysen der Reden von Getúlio Vargas und Lázaro Cárdenas.
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Referenzbestimmung: Der Sprecher ist Perón. Este balcón ist der Balkon der Casa Rosada. Nosotros bezieht sich auf den Sprecher und die Zuhörer, euch in um das Wort an euch zu richten bezieht sich auf die Zuhörer. Mi vida ist Peróns Leben. Intention/Relevanz der Äußerung: Um die Gesamtillokution zu erfassen, müssen mehrere implizite Prämissen erläutert werden. Der Balkon ist deshalb memorable, denkwürdig, weil sich auf ihm Außergewöhnliches abgespielt hat. Es sei etwa an Peróns Auftritt auf dem Balkon der Casa Rosada am 17. Oktober 1945 erinnert, der fortan als Geburtstag des Peronismus gefeiert wurde. Auch um von einem wichtigen und sogar transzendentalen Augenblick sprechen zu können, muss man es mit einem sehr außergewöhnlichen zu tun haben und außergewöhnlich ist er wohl deshalb, weil das Schicksal Peróns auf der Kippe steht. Eine implizite Konklusion ist die, dass es Perón nun durch das Sprechen zu den Massen vom Balkon der Casa Rosada aus möglich geworden ist, die Herzen der Menschen zu erreichen. Er wollte ja auf den Balkon gelangen, um ihre Herzen zu erreichen. Er ist nun tatsächlich auf den Balkon gelangt, wodurch ihm das Erreichen der Herzen möglich geworden ist. Die Intention der Äußerung ist es wohl, die Zuhörerschaft einerseits auf das Naheverhältnis zwischen ihr selbst und Perón und andererseits auf die außergewöhnliche Bedeutung des Augenblicks aufmerksam zu machen.
Hace poco tiempo esta Plaza de Mayo ha sido testigo de una infamia más de los enemigos del pueblo. 1 2
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Satzbedeutung: [Vor kurzer Zeit wurde diese Plaza de Mayo Zeuge einer weiteren Schandtat der Volksfeinde]. Referenzbestimmung: Hace poco tiempo, vor kurzer Zeit, muss kontextuell dekodiert werden. Es scheint eindeutig um den 16. Juni zu gehen, als auf der Plaza de Mayo die Bomben explodierten. Die Plaza de Mayo als Zeuge steht metonymisch für die Menschen, die sich darauf befanden. Una infamia más, eine weitere Schandtat, bezieht sich auf die Aktivitäten der Anti-Peronisten und los enemigos del pueblo, die Volksfeinde, sind die Anti-Peronisten selbst. Intention/Relevanz der Äußerung: Una infamia más, eine weitere Schandtat, präsupponiert erstens, dass es schon andere Schandtaten gegeben hat und zweitens, dass diese Volksfeinde grausam und skrupellos sind. Die Bezeichnung Volksfeinde erweckt außerdem den Eindruck, dass die Anti-Peronisten gegen das Volk sind, nicht gegen das System. Die Anti-Peronisten als Volksfeinde haben gemäß dieser Äußerung schon eine Geschichte der Schandtaten und Grausamkeiten und scheinen schier unverbesserlich.
La consigna para todo peronista, esté aislado o dentro de una organización, es contestar a una acción violenta con otra más violenta. Y cuando uno de los nuestros caiga, caerán cinco de los de ellos. 1
Satzbedeutung: [Die Devise für jeden Peronisten, egal ob er allein oder in einer Organisation ist, heißt stets, dass auf Gewalt mit noch größerer Gewalt zu antworten
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ist. Wenn einer aus der Gruppe, der der Sprecher angehört, fällt, fallen fünf aus einer anderen Gruppe]. Referenzbestimmung: Mit Organisation ist höchst wahrscheinlich eine der korporatistischen Staatsorganisationen gemeint. Los nuestros sind die Unseren, los de ellos sind die der anderen. Erstere sind die Peronisten, letztere die Anti-Peronisten. Intention/Relevanz der Äußerung: Gewalt kann gegen Unterschiedliches gerichtet sein. Die hier angesprochenen gewaltsamen Handlungen können sowohl Menschen als auch Güter betreffen. Eine implizite Präsupposition für das Fallen der anderen ist, dass sie von den Peronisten zu Fall gebracht, d.h. getötet werden. Peróns Auftrag lautet also, von nun an keine Toleranz mehr walten zu lassen, sondern maximale Gewalt gegen gewaltsame Anti-Peronisten anzuwenden.
Hemos ofrecido la paz. No la han querido. Ahora, hemos de ofrecerles la lucha, y ellos saben que cuando nosotros nos decidimos a luchar, luchamos hasta el final. 1
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Satzbedeutung: [Der Sprecher und eine Gruppe von Personen haben den Frieden angeboten. Eine Gruppe anderer Personen wollte den Frieden nicht. Jetzt müssen erstere letzteren den Kampf ansagen und letztere wissen, dass erstere bis zum Ende kämpfen, wenn sie sich für den Kampf entscheiden]. Referenzbestimmung: Die Peronisten sind die erste Gruppe, die Anti-Peronisten die zweite. Ahora, jetzt, steht für fortan und hasta el final steht für hasta el final del conflicto, bis zum Ende des Konfliktes. Intention/Relevanz der Äußerung: Das Friedensangebot bzw. die Ablehnung desselben präsupponiert Friedensbedingungen, die hier allerdings nicht expliziert werden. Die implizite Konklusion ist, dass von nun an gekämpft wird, weil das Friedensangebot ja bereits abgelehnt worden ist. Es handelt sich um eine kompromisslose Kampfansage ohne Bereitschaft, über irgendwelche Bedingungen zu verhandeln.
Tenemos para esa lucha el arma más poderosa, que es la razón; y tenemos también, para consolidar esa arma poderosa la ley en nuestras manos. 1
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Satzbedeutung: [Der Sprecher und eine Gruppe anderer Menschen haben die mächtigste Waffe in einem bestimmten Kampf und diese Waffe ist die Vernunft. Der Sprecher und eine Gruppe anderer Menschen haben außerdem das Gesetz in ihren Händen, um eine bestimmte mächtige Waffe zu unterstützen]. Referenzbestimmung: Der Sprecher und die genannte Gruppe sind die Peronisten, esa lucha, dieser Kampf, ist der Kampf gegen die Anti-Peronisten, esa arma poderosa, diese mächtige Waffe, ist die Vernunft. Intention/Relevanz der Äußerung: Wenn die Vernunft die stärkste Waffe ist, dann bricht sie notwendigerweise jeden Widerstand, allein, es wird hier nicht präzisiert auf welche Weise. Die Vernunft präsupponiert weiters eine bestimmte Logik, doch auch diese bleibt im Dunkeln. Der Zweck der Äußerung ist, die Botschaft der Unbesiegbarkeit zu vermitteln.
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Hemos de imponer calma a cualquier precio, y para eso es que necesito la colaboración del pueblo. 1 2 3
Satzbedeutung: [Der Sprecher und eine Gruppe von Menschen müssen um jeden Preis Ruhe durchsetzen und dafür brauchen sie die Zusammenarbeit mit dem Volk]. Referenzbestimmung: Die erste Person Plural steht wieder für die Peronisten und die erste Person Singular für Juan Perón. Intention/Relevanz der Äußerung: Die Tatsache, dass der Friede wiederhergestellt werden muss, präsupponiert, dass Perón so weiterregieren will wie bisher und den Anti-Peronisten keinen Raum zu geben bereit ist. Perón macht dem Volk klar, dass der Sieg über die Anti-Peronisten für alle absolut prioritär sein muss.
6.1.2.4.2 Ergebnisse Aufgabe der kognitiven Pragmatik ist es also, die Kernaussagen aus den Explikaturen und Implikaturen herzuleiten. In dieser Rede macht Perón der Zuhörerschaft klar, dass der aktuelle Augenblick ein für die Nation alles entscheidender ist, da die Zukunft des Landes auf dem Spiel stehe. Er warnt vor den Anti-Peronisten, die alles zunichte zu machen drohen. Jeder Peronist habe deshalb eine große Verantwortung für die Nation und müsse die Anti-Peronisten bis aufs Blut bekämpfen. Die Anti-Peronisten wollen den Krieg, doch die Peronisten würden kämpfen bis zum Sieg, was einer Ansage und einem Auftrag gleichkommt. Außerdem hätten die Peronisten ja die Vernunft und das Gesetz auf ihrer Seite, welche die wichtigsten Waffen seien. Die Mitarbeit des Volkes in diesem Kampf sei für den lebenswichtigen Sieg entscheidend, wodurch Perón dem Volk unmissverständlich mitteilt, was es zu tun habe.
6.1.2.5
Informale Logik
Der fünfte Abschnitt der sprachlichen Analyse betrifft Peróns Argumentationslinien in dieser Rede. Indem wir auf die in Kapitel 5 abgebildete Argumenttypologie von Manfred Kienpointner zurückgreifen, wollen wir einen Überblick darüber geben, wie Perón inhaltlich und formal argumentiert, um das Publikum zu überzeugen. 6.1.2.5.1 Analyse Ein wichtiges Argument basiert auf dem zwölften Schema: (A) oder (B) (C, D). B (C, D) ist nicht der Fall, also: (A) ist der Fall: Entweder Gewaltanwendung (A) oder Zurückhaltung, Vorsicht und Ruhe sind zielführend (B). (B) ist nicht mehr zielführend, also: (A) Gewaltanwendung ist zielführend. Einem weiteren bedeutenden Argument liegt die dreizehnte Struktur zugrunde: (A) oder (B) (C, D) sind positiv. (B) (C, D) = negativ, also: (A) = positiv: Entweder wir kämpfen und siegen, um die Errungenschaften zu sichern (A), oder die Oligarchen werden diese zerstören (B). (B) = negativ, also: (A). Die Peronisten werden kämpfen und siegen. Mehrere Argumente fußen auf der vierzehnten Argumentstruktur: Wenn (A), dann folgt (B). (A) liegt vor, also: (B) folgt:
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Wenn man sehr tolerant ist (A), dann hat man das Recht, die Feinde mit Gewalt zu unterdrücken (B). Die Peronisten sind tolerant, also haben sie das Recht, die Feinde zu unterdrücken. Wenn die Volksfeinde Gewalt ausüben (A), dann folgt mehr Gewalt seitens der Peronisten (B). Die Volksfeinde üben Gewalt aus, also werden die Peronisten noch mehr Gewalt ausüben. Wenn Zurückhaltung nicht honoriert wird (A), dann folgt Gewalt seitens der Peronisten (B). Zurückhaltung wird nicht honoriert, also wird Gewalt seitens der Peronisten folgen. Wenn das Friedensangebot nicht angenommen wird (A), dann folgt Gewalt (B). Die Anti-Peronisten haben das Friedensangebot der Peronisten nicht angenommen, also folgt Gewalt seitens der Peronisten. Wenn man die Vernunft auf seiner Seite hat (A), dann folgt der Sieg (B). Die Peronisten haben die Vernunft auf ihrer Seite, also werden sie siegen. Die meisten Argumente haben die normative Struktur achtzehn: wenn (A) dann (B), (B) = positiv, also (A): Wenn die Regierung repressiv ist (A), dann werden die Volksfeinde in die Knie gezwungen (B); (B) = positiv, also: Die Regierung soll repressiv sein. Wenn das Volk die Volksfeinde bekämpft (A), dann werden die Volksfeinde besiegt (B); (B) = positiv, also: Das Volk muss die Volksfeinde bekämpfen. Wenn die Gewalt der Peronisten größer ist als die Gewalt der Anti-Peronisten (A), dann werden die Anti-Peronisten besiegt (B); (B) = positiv, also: Die Gewalt der Peronisten muss größer sein als die Gewalt der Anti-Peronisten. Wenn Friede und Ruhe durchgesetzt werden (A), dann wird die Wirtschaft gedeihen (B); (B) = positiv, also: Friede und Ruhe müssen durchgesetzt werden. Wenn sich die Peronisten durchsetzen (A), dann ist der Schutz des Vaterlandes gesichert (B); (B) = positiv, also: Die Peronisten müssen sich unbedingt durchsetzen. Wenn bestimmte Opfer gebracht werden müssen (A), dann rettet das die Größe des Vaterlandes (B); (B) = positiv, also: Es müssen bestimmte Opfer gebracht werden. Auch die Argumentstruktur neunzehn ist in der Rede vertreten: wenn (A) dann (B), (B) = negativ, also nicht (A): Wenn man die bestehende Ordnung stören will (A), kann man von jedem Argentinier getötet werden (B); (B) = negativ, also: Man darf die bestehende Ordnung nicht stören. Wenn ein Peronist getötet wird (A), dann werden fünf Volksfeinde getötet werden (B); (B) = negativ, also: Man darf keinen Peronisten töten. Auch das zwanzigste Schema dient mehreren Argumenten als formale Struktur: Wenn X Ziel (A) (nur) durch Mittel (B) erreichen kann, soll X Mittel (B) benützen. X kann (A) (nur) durch (B) erreichen, also: X soll (B) benützen: Wenn die Peronisten X erreichen können, dass die Situation nicht auf 1943 zurückgesetzt wird (A), indem sie die Volksfeinde bekämpfen (B), sollen sie die Volksfeinde bekämpfen. Die Peronisten können erreichen, dass die Situation nicht auf 1943 zurückgesetzt wird, indem sie die Volksfeinde bekämpfen, also: Die Peronisten sollen die Volksfeinde bekämpfen.
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Wenn Perón X die Ruhe im Land wiederherstellen kann (A), indem das Volk mit ihm zusammenarbeitet (B), dann soll das Volk mit ihm zusammenarbeiten. Perón kann die Ruhe im Land wiederherstellen, wenn das Volk mit ihm zusammenarbeitet, also: Das Volk soll mit Perón zusammenarbeiten. Wenn das Volk X die Aufrechterhaltung der Ordnung (A) nur durch maximale Gewaltanwendung sicherstellen kann (B), dann soll das Volk maximale Gewalt anwenden. Das Volk kann die Aufrechterhaltung der Ordnung nur durch maximale Gewaltanwendung sicherstellen, also: Das Volk soll maximale Gewalt anwenden. Ergänzender Exkurs: Ethos und Pathos Im zweiten Kapitel wurden Ethos und Pathos gewissermaßen als die affektive Komplementärseite des rationalen Logos dargestellt. Mittels Ethos präsentiert sich der Redner als moralisch tadellos sowie vertrauens- und glaubwürdig, um sich den möglichst bedingungslosen Zuspruch der Zuhörerschaft zu sichern: Niemand könne ernsthaft behaupten, dass Perón und seine Anhänger Schändliches im Schilde führen, (sondern nur Konstruktives); er sei geduldig, tolerant, friedliebend; er war bereit, den Übeltätern zu verzeihen (großmütig); er biete Friede an (friedvoll); er habe nun das legitime Recht, die Gegner zu schlagen und so antwortet er auf große Gewalt mit noch größerer Gewalt (kompromisslos, wenn es um edle Prinzipien geht, er sei also auch prinzipientreu); er sei vorsichtig und zurückhaltend, um dem Frieden eine Chance zu geben, aber rigoros im Durchgreifen, wenn der Friede abgelehnt werde; er wolle Frieden und Ruhe durchsetzen, um dem Land und seiner Wirtschaft gute Bedingungen zu sichern (Weitblick); er wolle überzeugen und hoffe, dass die Feinde zur Einsicht kämen (zieht gewaltfreie Lösung der Gewalt vor); dies sei die letzte Warnung und der letzte Aufruf, um die Volksfeinde zur Räson zu bringen. Das Pathos dient dazu, wie im zweiten Kapitel erläutert, die Zuhörerschaft emotional aufzuwühlen, sodass sie für die Botschaften des Redners empfänglich wird: Perón möchte das Herz der Zuhörer erreichen; die Feinde hätten eine Schandtat begangen, in der sie 200 Unschuldige töteten; die Antwort der Volksfeinde auf Peróns Friedensangebot sei Gewalt gewesen; auf den Straßen hätten die Volksfeinde auf Polizisten geschossen, die ja die Hüter der Ordnung seien; die Volksfeinde wollten alles zerstören, was das Volk erreicht habe; die Volksfeinde stünden für Schandtaten, Ungerechtigkeit und Verrat; die dramatische Lage verlange von den Peronisten Opfer und äußerste Wachsamkeit, es gehe schließlich um die Sache des Volkes selbst. 6.1.2.5.2 Ergebnisse Formal wurden in diesem Abschnitt eine ganze Reihe verschiedener Argumentstrukturen identifiziert, derer sich Perón bedient. Inhaltlich argumentiert er dafür, dass Gewalt zielführend sein könne, dass die Peronisten ein Recht auf Gewalt hätten, dass die Regierung repressiv sein müsse, dass die Peronisten nicht anders könnten als die Volksfeinde zu bekämpfen und dass ihr Sieg aus diesem Kampf hervorgehen würde. Er argumentiert auch dafür, dass die bestehende Ordnung erhalten werden müsse, dass Opferbereitschaft angesagt sei und dass sich die Zusammenarbeit zwischen Präsident und Volk als unerlässlich herausstelle. Was positiv und was negativ ist, was konstruktiv und was zerstörerisch ist, wird vom Redner bestimmt und großteils als implizite Prämisse in die Argumentation eingeführt.
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Es ist das von ihm präsupponierte stillschweigende Einverständnis, l’accord préalable, auf das er seine Thesen baut und daraus ergeben sich die genannten Konklusionen. Unter dem Blickwinkel des Ethos zeichnet sich Perón selbst als konstruktiv, geduldig, tolerant, friedliebend und großmütig, aber auch als kompromisslos, wenn es um wichtige Prinzipien geht. Er erscheint vorsichtig und umsichtig mit Weitblick und Sinn für das große Ganze der Nation. Er zieht die Gewaltlosigkeit vor, schreckt jedoch vor Gewalt nicht zurück, falls die eigenen Interessen anders nicht durchgesetzt werden können, wodurch er geradlinig und selbstsicher wirkt. Pathos setzt Perón ein, um die Zuhörerschaft maximal gegen die Anti-Peronisten, die er als Volksfeinde bezeichnet, aufzubringen. Diese begingen Schandtaten, seien Gewalttäter und Mörder, die nicht einmal davor zurückschrecken würden, Polizisten, die Hüter der öffentlichen Ordnung, zu erschießen und sie würden skrupellos die Errungenschaften des Volkes zerstören wollen. Er, Perón, wolle dem Herzen des Volkes nahe sein und müsse allen klar machen, dass es Zeit für Wachsamkeit und Opferbereitschaft sei, zumal die Sache des ganzen Volkes auf dem Spiel stehe.
6.2 6.2.1
Getúlio Vargas: 1. Mai 1951 – Estádio do Vasco da Gama in Rio de Janeiro: Discurso no Dia do Trabalho Inhalt der Rede
Vargas hebt zunächst hervor, dass er nach sechs Jahren der Absonderung vom Volk, einer Zeit, in der er niemals aufhörte, an die Gemeinschaft und Verbundenheit mit dem Volk zu denken, nun endlich wieder mit dem Volk vereint sei, um die legitimen Interessen des Volkes zu vertreten und sich dafür einzusetzen, dass die Maßnahmen ergriffen würden, um das Wohlergehen der Arbeiter zu sichern. Dieser 1. Mai habe Symbolcharakter, weil es das erste Treffen der neuen Regierung mit den Arbeitern sei, ein Treffen, bei dem die Regierung wie schon früher mit dem Volk als Freund in einer deutlichen und klaren Sprache spreche. Vargas lobt die Arbeiter für ihre Treue, ihre Loyalität und für ihren Altruismus. Immer hätten sie sich für das Kollektiv eingesetzt, nie für egoistische Einzelinteressen. Er dankt den Arbeitern dafür, dass sie ihn nicht vergessen hätten, als er nicht mehr an der Macht war. Auch er habe in all dieser Zeit sehr wohl um ihre Nöte und Hoffnungen gewusst. Nun sei er wieder zurück und möchte mit den Arbeitern das neue Brasilien aufbauen. Am 3. Oktober wurde er wiedergewählt und das habe eine große Bedeutung für Brasilien. Es bedeute nämlich, dass das Volk an der Regierung teilnehmen wolle. Es sei auch das erste Mal in der Geschichte Brasiliens gewesen, dass wirklich das Volk seinen Präsidenten fernab von den lokalen, regionalen und auch parteilichen Einflüssen gewählt habe, weil er ja nicht wirklich ein Parteikandidat gewesen sei. Er sei nämlich ein Kandidat des Volkes gewesen, ein Kandidat der Arbeiter. Er verspricht, mit dem Volk zu regieren und sich maximal für das Volk einzusetzen. Eindringlich teilt er den Zuhörern mit, dass ihre Unterstützung für die Vollendung der großen Erneuerung des Landes unerlässlich sei. Er habe allerdings auch schon festgestellt, dass es gegen die Erneuerungspolitik der Regierung Widerstand gebe. Wie
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dem auch sei, er sei an diesem Tag gekommen, um ganz offen darüber zu sprechen und Empfehlungen abzugeben, wie die legitimen Wünsche der Arbeiter erfüllt werden könnten. Er sei sich der Sorgen des Volkes bewusst, er wisse um das Elend, die Not und die viel zu niedrigen Löhne, er kenne ihren Kampf gegen Schmerz und Krankheit, ihre Sehnsüchte, Wünsche und Hoffnungen, eines Tages ihr Leben zu verbessern. Um all das wolle er sich kümmern und versuchen, Lösungen zu finden. Derzeit habe die Regierung aber noch nicht die rechtlichen Möglichkeiten, die Volkswirtschaft zu schützen und zu verbessern. Es sei unerlässlich, dass sich das Volk organisiere, um seine Interessen zu verteidigen, aber auch um der Regierung die notwendige Unterstützung zu geben. Deshalb sei er gekommen, um an sie zu appellieren. Vargas versichert ihnen, dass er sie brauche, so wie sie ihn brauchen würden. Sie müssten sich gewerkschaftlich organisieren, um die Regierung zu unterstützen, damit diese die Arbeiterinteressen weiterbringe und nicht den Spekulanten und Profiteuren ausgeliefert sei, damit nicht egoistische Einzelinteressen, die die Interessen der Regierung bedrohen, alles zunichte machen würden. Es sei notwendig, dass sich die Arbeiter in den Gewerkschaften vereinigen, denn dadurch könne ihre Freiheit nicht mehr länger eingeschränkt werden. Die Gewerkschaft sei dann ihre Festung und ihre Waffe. Derzeit könne keine Regierung ihre Programme ohne die Unterstützung der Arbeiter umsetzen oder auch nur existieren. Durch die Gewerkschaften oder Kooperativen könnten die Arbeiter auf die Regierung Einfluss ausüben. Vargas wünscht sich, dass die Gewerkschaften nicht nur politische Funktionen ausüben, sondern auch Krankenanstalten, Banken, günstige Kooperativen, Schulen, rechtliche Beratungsstellen, Erholungszentren etc. zur Verfügung gestellt bekommen. Über die Gewerkschaft solle eine kollektive Erfassung von Interessen und Wünschen ermöglicht werden, wodurch dann jeder einen Arbeitsplatz, den entsprechenden Lohn sowie die notwendigen Sozialleistungen erhalten möge. Dadurch könne letztlich jeder am Reichtum teilhaben. Um die Ziele zu erreichen, sei es notwendig, dass sich die Arbeiter als starker Block rund um die Regierung organisieren. Nur so könne das nationale Wirtschaftsprogramm der Regierung umgesetzt werden und dies sei die einzige Möglichkeit für das Volk, sich vor Ausbeutung zu schützen. Auf diese Weise könnten die Arbeiter der Regierung helfen, die negativen Elemente der Gesellschaft, die für das Volk so schädlich seien, abzuwehren. All jene, die ehrlich zur Größe und zum Wohlstand des Landes beitrügen, hätten nichts zu befürchten. Nicht toleriert würden Missbrauch, Spekulation, Zinswucher, Verbrechen, Ungerechtigkeit, Betrügerei, Gewinnsucht, Gier. Es dürfe nicht sein, dass manche alles haben, andere nichts. In der Gesellschaft müsse es Gerechtigkeit und Harmonie geben. Es müsse Gesetze geben, die dafür sorgen, dass Programme zur Herstellung von Gerechtigkeit umgesetzt werden und dass diese dann auch garantiert sei. Ein derartiges Programm sei in Brasilien ja bereits in Ausarbeitung, allein, es sei noch weit von der Fertigstellung entfernt. Diesem Programm habe er, Vargas, sein ganzes Leben gewidmet. Für die Fertigstellung und Umsetzung des Programms brauche er nun das Volk, und zwar in erster Linie in organisierter Form, nämlich als Gewerkschaft. In der Arbeiterklasse wolle er, Vargas, seine wahren Freunde finden, die ihm bei der Erneuerungsarbeit der Regierung zur Seite stünden. Diese Freunde sollten ihm immer offen ihre Bedürfnisse mitteilen, ohne sich irgendwie zu verstellen und ohne irgendetwas
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zu verheimlichen. Mithilfe der Arbeiter wolle er die Ausbeuter und Feinde des Volkes besiegen, die für die wirtschaftliche Not und die Geldentwertung verantwortlich seien. Die gewerkschaftliche Organisation allein genüge aber noch nicht. Sie müsse durch die Organisation von Konsumgesellschaften ergänzt werden, die an sich sehr viele Vorteile für das Volk brächten. Vargas erklärt, dass seine Regierung entdeckt habe, dass die Verwendung der Gewerkschaftsgelder nicht mehr den ursprünglichen Zielen entspreche. Dies müsse umgehend geändert werden. Es gebe auch schon strenge Prüfungen, um zu verhindern, dass diese Gelder zweckentfremdet investiert würden. Millionenfach seien Schulbücher verteilt worden und das solle der erste Schritt seiner Regierung zur Volkserziehung sein. Schulbildung müsse gratis sein, damit die Brasilianer die Möglichkeit zur schulischen und beruflichen Aus- und Weiterbildung hätten. Ein wesentlicher Punkt des Regierungsprogrammes sei die Ausdehnung der Vorteile der Arbeitergesetzgebung auf die Landarbeiter, vor allem was die medizinische Versorgung, die Erziehung und die Unterbringung der Kinder, den Mindestlohn, Entschädigungszahlungen, Arbeitsverträge etc. anbelange. Die Regierung zähle auf die Zusammenarbeit mit den Bauern und Viehzüchtern, die ihrerseits ja davon profitieren sollten. Die Organe müssten reformiert werden, doch man könne auch schon Fortschritte beobachten wie zum Beispiel im Bereich der Vermittlung von Arbeitslosen. Das Eigenheim für die Arbeiter sei ein wichtiges Anliegen und dafür müsse es entsprechende Finanzierungsmöglichkeiten und Versicherungen geben. Wenn alle von der Präfektur bis zu den Banken zusammenarbeiten, werde es möglich sein, im D.F. 30.000 leistbare Eigenheime für die Arbeiter zu bauen. Dann sollten auch in anderen Bundesstaaten derartige Programme umgesetzt werden. Eine weitere zu ergreifende Maßnahme sei die Erhöhung des Mindestlohns im ganzen Land. Studien dazu würden im Arbeitsministerium durchgeführt. In manchen Regionen werde der neue Mindestlohn das Dreifache des bisherigen ausmachen. Sehr nachteilig für die Arbeiterinteressen sei der bisherige Umgang mit den Renten und Pensionsgeldern gewesen. Die meisten Institute hätten ihr Vermögen in großen Investitionen angelegt, die mit dem eigentlichen Verwendungszweck der Gelder nichts zu tun hatten. Diesbezüglich seien groß angelegte Untersuchungen veranlasst worden, um die Verantwortung dafür zu klären. Man habe auch Aufsichtsmaßnahmen getroffen, um die Pensionskassen zu kontrollieren. Unregelmäßigkeiten sollten öffentlich bekannt gemacht werden. Dies werde die Antwort der Regierung auf das Tun der Saboteure und Betrüger sein. Er, Vargas, wolle und werde nicht Personen kritisieren, sondern nur jene Politik, die dem brasilianischen Volk schade. Jene, die Vargas und seine Regierung kritisieren, täten aber so, als ob sie das nicht verstünden. Die Reaktionen auf seine Rede vom 7. April würden das bestätigen. Die Tatsachen, auf die er in jener Rede das Volk aufmerksam habe machen wollen, seien von seinen Gegnern einfach nicht zur Kenntnis genommen worden. Das einzige, das sie hervorgehoben hätten, sei der letzte Satz seiner Rede gewesen, in dem er von der Not des Volkes gesprochen habe. Man habe ihm vorgehalten, dass seine Rede zu Aufruhr anstachele, dabei habe er nur hinlänglich Bekanntes angesprochen, wie etwa die Wirtschaftskrise oder die Sorgen des Volkes, die durch die
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immer höher werdenden Lebenshaltungskosten ausgelöst würden. All dies seien außerdem nicht nur brasilianische Probleme, sondern universelle. Auf der Konferenz in Washington sei kürzlich von den lateinamerikanischen Vertretern gesagt worden, dass die Gründe für die politische Krise in Lateinamerika die prekären Lebensumstände und die wirtschaftliche Unsicherheit seien. Der Marshallplan in Europa diene dazu, den Lebensstandard zu heben, Arbeitsplätze zu sichern und stabile Arbeitsbedingungen zu schaffen, damit keine gesellschaftlichen Auflösungserscheinungen Platz griffen. Und darum gehe es: alles zu tun, damit die Übel und Gefahren der Sozialanarchie aufhörten. Die unnachgiebigen Reaktionäre müssten ein für alle Mal wissen, dass in der aktuellen Phase der sozialen und wirtschaftlichen Demokratie, die Grundbedürfnisse des Volkes zu stillen seien und dass dies Priorität habe. In Europa, Asien und Amerika hätten genau die wirtschaftlichen Probleme soziale Unruhen ausgelöst, daher müsse da Abhilfe geschaffen werden, bevor das Volk selbst Gerechtigkeit schaffe. Er, Vargas, glaubte damals, ein Problem angesprochen zu haben, das allgemein bekannt war, doch seine Gegner, die Volksfeinde, sahen das nicht so. Sie fanden seltsam, was Vargas selbstverständlich schien. Vargas wollte immer Harmonie zwischen den Klassen und Gerechtigkeit bei der Verteilung der Güter. Es sei nicht notwendig, dass er, Vargas, das Volk aufhetze. Das Volk wisse stets selbst am besten, wann es reagieren und gegen wen es sich erheben müsse. Man höre, dass das Volk nun nach drei Monaten der neuen Regierung seine Enttäuschung und Niedergeschlagenheit nicht mehr verheimlichen würde. Leute, die so etwas behaupteten, würden das Volk nicht kennen und wüssten auch nicht um die enge Verbindung zwischen Regierung und Volk. Sie würden über das Volk reden, ohne jemals aus ihren eigenen vier Wänden herausgekommen zu sein. Diese Leute würden bequem auf ihren Sofas sitzen, wo sie die Stimmen der Bedrückten, die für ihr tägliches Brot hart kämpfen müssten, gar nicht hörten. Nur diejenigen könnten für das Volk sprechen, die den Kontakt mit ihm suchten, sich mit ihm träfen und mit ihm über seine Probleme sprächen. Er, Vargas, vertrete nicht eine Partei, sondern eine Volksbewegung. Er sei nicht in der Abgeschiedenheit gesucht worden, um jemanden abzulösen oder um schlichtweg die Tapeten zu wechseln. Seine Wahl habe eine viel größere Bedeutung gehabt. Das Volk begleite ihn in seiner Hoffnung, statt einer rein politischen Demokratie, die keine soziale Gleichheit kenne, eine wahre wirtschaftliche und soziale Demokratie zu errichten. Es sei illusorisch zu glauben, dass er vom Volk getrennt werden könne. Das Volk und Vargas seien eins, im Leiden und in der Freude. Gemeinsam würden sie ein besseres Brasilien aufbauen, in dem es wirtschaftliche Sicherheit, mehr soziale Gerechtigkeit, bessere Lebensmöglichkeiten und höheren Wohlstand für das gute und großzügige brasilianische Volk geben werde.
6.2.2
Sprachliche Analyse
In der Reihenfolge der in Kapitel 5 ausgearbeiteten Analyseinstrumente wird die Rede nun wiederum durch die verschiedenen linguistischen Linsen betrachtet.
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6.2.2.1
Morphosyntax
Die zu untersuchenden sprachlichen Phänomene dieses Unterkapitels sind die in Kapitel 5 besprochenen Aktantennullrealisierungen, die Diathesen, die deverbalen Substantive, der attributive Gebrauch des Partizips Perfekt sowie die Tiefenkasus. 6.2.2.1.1 Aktantennullrealisierungen In diesem Abschnitt geht es wiederum darum zu erheben, welche (semantischen) Argumente aktantiell nicht realisiert worden sind und welche plausiblen Gründe sich dafür finden lassen: […] voltei a fim de defender os interesses mais legítimos do povo […]. (Ich kam zurück, um die legitimsten Interessen des Volkes zu verteidigen). Voltar a würde bedeuten irgendwohin zurückkehren, doch der Ort wird hier nicht expliziert. Er würde heißen an die Macht zurückkehren, doch das klänge unbescheiden. An die Macht ist ein fakultativer Aktant, der hier nicht realisiert wird. […] o governo fala ao povo […]. (Die Regierung spricht zum Volk). Falar sobre/de heißt über etwas sprechen, was hier allerdings nicht präzisiert wird. Auch dieser fakultative Aktant wird ausgespart, um in der Vagheit zu bleiben. Der Kontakt mit dem Volk steht im Vordergrund, nicht der kommunizierte Inhalt. […] governarei […] com esse povo […]. (Ich werde mit diesem Volk regieren). Governar esse povo würde dieses Volk regieren heißen, doch der Redner zieht den Komitativ mit diesem Volk dem fakultativen Zweitaktanten (governar) esse povo vor, um Solidarität zu signalisieren und keinesfalls den Eindruck von Autorität zu erwecken. […] lutar […] contra os que não colaboram, os que prejudicam, […]. ([…] zu kämpfen gegen jene, die nicht zusammenarbeiten, die schaden, […]). Es wird weder präzisiert, mit wem diese Leute zusammenarbeiten müssten, noch wem sie schaden. Diese zwei Aktanten fehlen. Ausgespart wird im ersten Fall die konkrete Form der Zusammenarbeit, im zweiten führt das Fehlen des Zweitaktanten zu Generizität. 6.2.2.1.2 Diathesen In diesem Abschnitt geht es um die strategische Verwendung der in Kapitel 5 ausführlich erläuterten Passiv-, Rezessiv- und SE-Diathese: Die Passiv-Diathese In der Passiv-Diathese verliert der Erstaktant der entsprechenden Aktiv-Diathese seinen Status als obligatorische Ergänzung. Aktiv heißt es Ramón bügelt die Wäsche, passiv reicht hingegen Die Wäsche wird gebügelt, um einen grammatikalisch richtigen Satz zu bilden, ohne dass das Agens spezifiziert wird, was allerdings kommunikativ vielleicht sehr wichtig wäre. […] a obra gigantesca de renovação […] não pode ser levada a bom termo […]. (Das gigantische Erneuerungswerk kann zu keinem guten Ende gebracht werden). Es heißt X leva Y, doch passiv reicht Y é levado. Durch die Passivkonstruktion wird ausgeblendet, wer letztlich die Verantwortung dafür trägt, dass das Werk zu keinem guten Ende gebracht werden kann.
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Medidas já foram tomadas para moralizar essa aplicação […]. (Maßnahmen wurden getroffen, um dieses Vorgehen nach moralischen Kriterien zu gestalten). X toma Y lautet die aktive Struktur, passiv genügt wiederum Y são tomadas. Es wird unterlassen festzustellen, wer die Maßnahmen ergriffen hat, um strenge Autoritäten auszublenden. A reforma dos orgãos […] deverá ser feita […]. (Die Reform der Organe wird durchgeführt werden müssen). X faz Y ist die aktive Struktur, Y é feito die passive. Bei einer Reform gibt es meistens auch Verlierer, weshalb es besser ist, X zu verschweigen, d.h. zu verschwiegen, wer der Autor der Reformen sein wird. So kann niemandem Schuld zugewiesen werden. […] irão sendo atendidos outros centros populosos dos vários estados […]. (Weitere dicht bevölkerte Gebiete anderer Staaten werden bedient werden). Das aktive X atende Y wird zu passiv Y é atendido. Es wird nicht präzisiert, wer dafür zuständig sein soll, um niemanden zur Verantwortung ziehen zu können, sollte das Versprechen letztlich nicht eingelöst werden. […] prejudicial […] era a orientação que vinha sendo seguida em vários Institutos de Aposentadorias e Pensões. (Schädlich war der Weg, der bei verschiedenen Pensionskassen und Einrichtungen der Altersversorgung eingeschlagen wurde). X segue Y wird in der Passivdiathese zu Y é seguido bzw. X vinha seguindo Y wird in der Passivdiathese zu Y vinha sendo seguido. Erneut wird davon abgesehen, Schuldige zu benennen, zumal diese ja öffentlich Bedienstete sind und somit indirekt doch die staatlich Bediensteten in ein schiefes Licht geraten könnten, weshalb X ausgeblendet wird. Já foram ordenadas sindicâncias para apurar responsabilidades bem como medidas enérgicas para mais eficiente fiscalização das várias Caixas […]. (Untersuchungen wurden schon angeordnet, um die Verantwortung sowie die Maßnahmen im Zusammenhang mit besseren Kontrollen verschiedener Kassen zu klären). Aktiv heißt es X ordena/ordenou Y, passiv Y é/foi ordenado. Die Untersuchungen wurden angeordnet, doch niemand scheint persönlich für diese Anordnung verantwortlich zu sein. Es sollte niemand Konkretes für generelles Misstrauen stehen, weshalb X auszublenden war. As irregularidades encontradas serão oportunamente levadas ao conhecimento público. (Die entdeckten Unregelmäßigkeiten werden der Öffentlichkeit bekannt gegeben werden). Aktiv X leva/levará Y wird passiv zu Y é/será levado. Es wird kein Verräter bzw. Ankläger benannt, d.h., X wird verschwiegen, aber die drohende Gefahr, an den Pranger gestellt zu werden, wenn man sich nicht an Vargasʼ Spielregeln hält, ist omnipräsent. Die Rezessiv-Diathese Die Kausativ-Diathese fokussiert das Agens, das in der entsprechenden RezessivDiathese nicht mehr realisiert wird. Kausativ Ángel beginnt das Lied wird rezessiv zu Das Lied beginnt. […] firmar as condições de estabilidade do trabalhador, para que não medrem as ideias dissolventes no seio das sociedades. ([…] die Bedingungen des Arbeiters zu stabilisieren, damit nicht im Herzen der Gesellschaften die Auflösungserscheinungen zunehmen). Medrar als transitives und kausatives Verb bedeutet [wachsen/gedeihen lassen], als intransitives hingegen [wachsen, gedeihen]. Die Auflösungserscheinungen werden demzufolge hier nicht verursacht, sie gedeihen quasi von sich aus. Es droht wieder eine große anonyme Gefahr,
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vor der man sich nur schützen kann, wenn man Vargas folgt und seine Politik unterstützt. Gefahren und Ängste sollen das Volk auf Vargasʼ Weg zurückführen. […] para que cessem os males e perigos da anarquia social. ([…] damit die Übel und Gefahren der Sozialanarchie aufhören). X cessa Y bedeutet [X beendet Y], X cessa hingegen [X hört auf]. Wenn man Vargas folgt, dann enden diese Übel also von selbst, man müsse sie nicht von außen beenden. Die SE-Diathese Auch die SE-Diathese ermöglicht das Ausblenden des Erstaktanten, und zwar sowohl in Form des se impessoal als auch in der passiva sintética, wie etwa in Precisa-se de bons professores (Man braucht gute Lehrer) oder in Vejam-se os exemplos (Man sehe die Beispiele): […] esse programa, que se iniciou no Brasil com a legislação trabalhista […]. ([…] dieses Programm, das in Brasilien mit der Arbeiterlegislatur begann, […]). Die Initiatoren des Programms werden nicht benannt, um die Verantwortung nicht punktuell festzumachen. A reforma dos órgãos […] também deverá ser feita em futuro próximo, já se notando atividade proveitosa num dos seus setores – o do encaminhamento de desempregados […]. (Die Reform der Organe wird in nächster Zukunft gemacht werden müssen, aber man sieht ja schon nützliche Aktivitäten in einem der Sektoren, nämlich in jenem der Vermittlung von Arbeitslosen […]). Die SE-Konstruktion in já se notando bedeutet, dass der Nutzen allgemein sichtbar ist, d.h., dass der Erfolg dieser Politik nicht geleugnet werden kann. […] conforme se vê das listas de convocação publicadas […]. ([…] wie auf den Anfragelisten zu sehen ist […]). Auch hier wird durch die unpersönliche Konstruktion se vê klargestellt, dass das Gesagte gar nicht zu hinterfragen sei und einfach der Wahrheit entspreche. Haja vista o que se disse e propalou a respeito do meu último discurso do dia 7 de abril. (Das erklärt, was man bezüglich meiner letzten Rede vom 7. April sagte und verbreitete). Auch hier drückt das se in o que se disse wieder Generizität aus und bedeutet, dass es eine Front gegen Vargas gebe, weshalb er zu unterstützen sei. Fez-se abstenção dos atos concretos que relatei, da desorganização financeira do país e do estado de coisas encontrado pelo meu governo […] (Nicht zur Kenntnis genommen wurde, worüber ich sprach, das finanzielle Chaos und der Zustand im Land, den meine Regierung vorgefunden hat […]). Vargas übt scharfe Kritik, aber durch die Verwendung der SE-Konstruktion kritisiert er eben niemanden persönlich, sondern er kritisiert ganz allgemein, um so unanfechtbar zu bleiben. 6.2.2.1.3 Deverbale Substantive Nominalisierungen haben Valenzreduktion zur Folge. Das Verb retten ist zweiwertig, d.h., jemand rettet jemanden und so heißt es etwa Die NGOs retten Flüchtlinge. Im Nominalsyntagma die Rettung der Flüchtlinge wird das Agens ausgeblendet: Depois de quase 6 anos de afastamento […] eis-me outra vez aqui […]. (Nach beinahe sechs Jahren der Absonderung […] bin ich wieder hier […]). Das Verb afastar ([jemanden, etwas] entfernen, absondern) impliziert, dass jemand jemanden oder etwas entfernt bzw. absondert. Durch die Substantivierung entfällt die Notwendigkeit, den Handelnden zu benennen. Es wird nicht gesagt, wer für Vargasʼ Verschwinden verantwortlich war.
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[…] retorno ao vosso convívio nesse ambiente de regozijo […]. ([…] ich komme in diese freudvolle Atmosphäre eurer Gemeinschaft zurück […]). Regozijar-se (sich freuen) verlangt eine nähere Bestimmung dessen, der sich freut und auch dessen, worüber man sich freut, was aber durch die Substantivierung nicht mehr notwendig ist, wodurch die große Vagheit möglich wird. […] nas horas […] de sofrimento e de perseguições […]. ([…] in den Stunden des Leidens und der Verfolgung […]). Sofre-se de alguma coisa bzw. alguém persegue alguém, jemand leidet an etwas bzw. jemand verfolgt jemanden. Durch die Substantivierungen Leiden bzw. Verfolgung müssen weder der Grund des Leidens noch der Verfolger benannt werden, was wiederum die Unverbindlichkeit möglich macht. Abgesehen davon kann auch verschwiegen werden, wer die Leidenden bzw. die Verfolgten sind. Pleitearam […] pelo reconhecimento dos seus direitos, pela melhoria das suas condições de vida […]. (Sie verlangten […] die Anerkennung ihrer Rechte, die Verbesserung ihrer Lebensbedingungen […]). Jemand müsste die Rechte anerkennen und jemand müsste die Lebensbedingungen verbessern. Durch die Substantivierungen müssen die Agenzien allerdings nicht mehr spezifiziert werden, daher ist wiederum die Vagheit möglich. Es bleibt ungenannt, wer die Rechte anerkennen sollte und wer für die Verbesserung der Bedingungen zuständig ist. […] a obra gigantesca de renovação que o meu governo está começando […]. ([…] das gigantische Erneuerungswerk, das meine Regierung gerade beginnt […]). Das Verb renovieren bzw. erneuern verlangt neben dem Erstaktanten auch einen Zweitaktanten, d.h., es wird immer etwas Bestimmtes renoviert bzw. erneuert. Spricht man von der Erneuerung, so kann offenbleiben, worum es konkret gehen sollte. […] (d)as vossas mais justas aspirações […]. ([…] eure(r) absolut gerechtfertigten Wünsche […]). Man wünscht sich etwas, aspira-se a alguma coisa, und in diesem Fall muss das Objekt der Begierde benannt werden. Ist allerdings von dem Wunsch die Rede, dann entfällt diese Notwendigkeit und es bleibt vage. […] nos ingentes esforços pela elevação dos salários […]. ([…] bei den immensen Anstrengungen in Bezug auf Lohnerhöhungen […]). Elevar, erhöhen, verlangt wieder einen Erst- und einen Zweitaktanten. Der Zweitaktant wäre os salários, die Löhne. Verschwiegen werden kann aber im vorliegenden Fall dank der Substantivierung, wer die Löhne erhöhen muss und wieder herrscht Unverbindlichkeit. O que a lei não protege nem tolera é o abuso […]. (Was das Gesetz weder schützt noch toleriert ist der Missbrauch […]). Abusa-se de alguém/alguma coisa, jemand missbraucht jemanden oder etwas. Durch die Substantivierung kann man aber von Missbrauch sprechen, ohne dass Agens bzw. Patiens bzw. Malefizient zu benennen sind. […] determinaram a criação das organizações securitárias […]. ([…] sie beschlossen die Bildung (Schaffung) von Versicherungsanstalten […]). Jemand bildet/schafft etwas, alguém cria alguma coisa. Dank der Substantivierung criação von criar muss nicht spezifiziert werden, wer jene Anstalten ins Leben zu rufen hat, wodurch niemand verpflichtet wird. […] para mais eficiente fiscalização das varias Caixas […]. ([…] für eine effizientere Aufsicht der Kassen […]). Fiscalizar, kontrollieren, verlangt wieder einen agentiven Erst- und einen patientiven Zweitaktanten. Patientiver Zweitaktant ist im vorliegenden Fall as varias Caixas, doch der agentive Erstaktant wird ausgeblendet. Es soll nicht gewusst werden, wer Kontrollorgan ist.
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6.2.2.1.4 Der attributive Gebrauch des Partizips Perfekt Auch das Partizip Perfekt erlaubt, wie oben erläutert, eine Valenzreduktion. Dividir ist zweiwertig, jemand spaltet etwas, doch in sociedade dividida, gespaltene Gesellschaft, ist der agentive Erstaktant ausgeblendet und so entsteht Anonymität: o eco distante […] dos vossos direitos conspurcados. (das ferne Echo […] eurer besudelten Rechte). X conspurca Y, doch X bleibt unspezifiziert, d.h., es bleibt offen, wer die Rechte besudelt hat. não é posível manter a sociedade dividida […]. (es ist nicht möglich, die Gesellschaft gespalten zu halten […]). X divide Y, doch X wird nicht mehr realisiert. Wer die Gesellschaft spaltet, wird nicht präzisiert. na vossa força coletiva organizada. (in eurer organisierten kollektiven Stärke). Alguém organiza alguma coisa, doch wer die Stärke organisiert, bleibt offen. […] o meu governo achou o fundo sindical desvirtuado dos seus fins […]. ([…] den zweckentfremdeten Gewerkschaftsfonds […]). Das erste Argument von desvirtuar bleibt unspezifiziert, d.h., es wird nicht genannt, wer ihn zweckentfremdet hat. […] para determinadas regiões […] poderá elevar-se a duas ou três vezes mais o salário mínimo atual. ([…] in bestimmten Regionen […] kann sich der Mindestlohn auf das Zwei- oder Dreifache des aktuellen erhöhen). Alguém determina alguma coisa, doch die Verwendung des Partizips ermöglicht die Ausblendung des agentiven Erstaktanten von determinar. Wer jene Regionen bestimmen oder auswählen wird, wird verschwiegen. […] o seu patrimônio dilapidado em vultosas inversões […]. ([…] ihr in großen Investitionen verschwendetes Vermögen […]). X dilapida Y, doch X kann dank des Partizips ausgespart bleiben. Niemand Konkretes wird somit der Verschwendung bezichtigt. […] anunciei senão verdades sabidas […]. ([…] ich verkündete nur bekannte Wahrheiten […]). Alguém sabe alguma coisa, doch in verdades sabidas wird der Erstaktant von saber erneut ausgeblendet. Wer die Wahrheiten also kannte, bleibt im Dunkeln. 6.2.2.1.5 Tiefenkasus Durch das Jonglieren mit den Tiefenkasus oder semantischen Rollen entstehen neue Handlungskonstellationen: […] os sufrágios do povo me reconduziram ao poder […]. ([…] die Volkswahl führte mich zurück an die Macht […]). Die Volkswahl wird als Agens konzipiert, die Volkswahl ist sozusagen Handelnder. […] calam-me […] o desamparo, a miséria, a carestia da vida, os salários baixos, […], a luta contra a doença, o desespero dos desvalidos da fortuna […]. ([…] die Hilflosigkeit, das Elend, der Mangel, die niedrigen Löhne, […], der Kampf gegen Krankheit, die Verzweiflung der vom Glück Verlassenen […] lassen mich verstummen […]). Der mehrgliedrige Erstaktant, der die triste Lage der Arbeiter bezeichnet, ist eine Kraft, die sprachlos macht. Nicht Handelnde werden kritisiert, sondern ein Zustand steht im Fokus. Vargas selbst war viele Jahre an der Macht und deshalb Handelnder, weshalb es klüger scheint, die Handelnden aus dem Spiel zu lassen und den (tristen) Zustand quasi als (intrinsische) Kraft darzustellen. É profundo, sincero e incansável o meu esforço para […] achar solução para essas dificuldades que vos afligem. (Meine Anstrengung ist groß, ehrlich und unermüdlich […] eine Lösung für die Schwierigkeiten zu finden, die euch bedrücken). Die Schwierigkeiten sind wie eine intrinsi-
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sche Kraft gezeichnet, die auf die Arbeiter drückt. Nicht irgendwelche Politiker aus der Vergangenheit oder Gegenwart werden für die Belastung verantwortlich gemacht, sondern es sind die Schwierigkeiten, die von sich aus bedrückende Kraft ausüben, und niemand Konkretes wird zur Verantwortung gezogen. […] (d)os interesses egoístas, que, de todos os lados, tentam impedir a livre ação do meu governo. ([…] die egoistischen Interessen, die von allen Seiten versuchen, der Handlungsfreiheit meiner Regierung Einhalt zu gebieten). In diesem Fall werden die egoistischen Interessen, jedoch nicht die Personen selbst als Handelnde dargestellt. Die Interessen sind somit die Agenzien. O trabalho ora concluído está pronto para receber as últimas modificações. (Die nun fertig gestellte Arbeit kann die letzten Veränderungen erfahren). Es ist die vollbrachte Arbeit als Benefizient, die noch Verbesserungen erhält. Das Resultat wird nicht als interessengeleitetes Ergebnis menschlicher Arbeit perspektiviert, sondern einfach als Empfänger. O próprio Plano Marshall […] não visa senão […] firmar as condições de estabilidade do trabalhador, para que não medrem as ideias dissolventes no seio das sociedades. (Selbst der Marshall Plan […] zielt […] darauf ab, […] die Arbeitsbedingungen stabiler zu gestalten, damit sich nicht im Herzen der Gesellschaften Auflösungserscheinungen zeigen). Die genannten Auflösungserscheinungen werden wiederum als Kraft abgebildet, die ein Eigenleben führt und plötzlich von sich aus spürbar werden kann. […] as dificuldades econômicas são germes constantes da inquietação social […]. ([…] die wirtschaftlichen Schwierigkeiten sind stets Keime sozialer Unruhen […]). Hier werden nun tatsächlich die Schwierigkeiten als Keime im Sinne einer intrinsischen Kraft bezeichnet. 6.2.2.1.6 Ergebnisse Resümierend lässt sich festhalten, dass im Bereich der Morphosyntax die Aktantennullrealisierungen, die Passiv-, Rezessiv- und SE-Diathese, die deverbalen Substantive, der attributive Gebrauch der Partizipien sowie die nicht standardmäßige Zuweisung von Tiefenkasus im Grunde durchwegs dem sprachlichen Ausblenden all dessen dienen, worauf die Zuhörerschaft nicht aufmerksam gemacht bzw. woran sie nicht erinnert werden soll. Dazu zählen vor allem Machtgelüste, Autoritätsstreben, Verantwortung für fragwürdige Entscheidungen, Unrühmliches bzw. Zweifelhaftes aus der Vergangenheit und generell alle nicht publikumswirksamen politischen Ziele. Die dargestellten morphosyntaktischen Strategien dienen also der Verschleierung von Inhalten, die nicht preisgegeben werden sollen.
6.2.2.2
Lexikologie
In diesem Unterkapitel geht es um die Erfassung von in der Rede verwendeten Wörtern und Syntagmen, die im Sinne der politolinguistischen Diskursanalyse aufschlussreich sind. Das Klassifikationsschema ist das in Kapitel 5 erarbeitete und die uns hier interessierenden Kategorien sind folgende: Hochwertwörter, Unwertwörter, Fahnenwörter, Stigmawörter, Schimpfwörter, Programmwörter sowie die Konzepte der Bedeutungsverengung, Bedeutungserweiterung und Näherung oder Approximation:
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6.2.2.2.1 Hochwertwörter Die Hochwertwörter bezeichnen, wie bereits erklärt, was ideologieunabhängig als positiv erachtet wird. In der vorliegenden Rede beziehen sich die Hochwertwörter stets auf den Stil, die Prinzipien und Zielsetzungen von Vargas, seinen politischen Gefährten und seiner Bewegung insgesamt: (falar) com a familiaridade amiga (mit freundschaftlicher Vertrautheit); (indispensáveis ao) bem-estar dos trabalhadores (Wohlergehen der Arbeiter); ambiente de regozijo (freudvolle Atmosphäre); (maior soma possível de) conforto, segurança, e bem-estar (Komfort, Sicherheit und Wohlstand); (vive) na esperança (in der Hoffnung); (a) lealdade (que vos acostumastes a esperar de mim) (Loyalität); (a) sinceridade (com que me empenho) (Ehrlichkeit); a grandeza e prosperidade nacional (die Größe und der Wohlstand der Nation); solidariedade […] igualdade social (Solidarität und soziale Gleichberechtigung); (um Brasil melhor, onde haja) mais segurança econômica, mais justiça social, melhores padrões de vida e um clima novo de prosperidade e bem-estar (mehr wirtschaftliche Sicherheit, soziale Gerechtigkeit, bessere Lebensmodelle und ein neues Klima von Wohlstand und Wohlergehen). 6.2.2.2.2 Unwertwörter Die Unwertwörter bezeichnen ideologieübergreifend Negatives und beziehen sich hier pauschal auf Vargasʼ Gegner bzw. auf die von diesen verschuldete kritische Lage des Landes und der Bevölkerung, die Vargas von Grund auf zu verändern verspricht: o desamparo, a miséria, a carestia da vida, os salários baixos, […], (a luta contra) a doença, o desespero dos desvalidos da fortuna (die Hilflosigkeit, das Elend, der Mangel an Lebensnotwendigem, die niedrigen Löhne, […], der Kampf gegen Krankheit, die Verzweiflung der vom Glück Verlassenen); os sabotadores, […] especuladores, […] gananciosos (die Saboteure, […] Spekulanten, […] Profiteure); os autores das fraudes, os sabotadores, os exploradores do povo (die Betrüger, die Saboteure, die Ausbeuter des Volkes); o abuso, […], a usura, o crime, a iniquidade (der Missbrauch, […], der Wucher, das Verbrechen, die Ungerechtigkeit); as castas de favoritos, […] todos os tipos de traficantes (die Kasten der Günstlinge, […] alle Arten von Betrügern); o fardo das privações e dos sofrimentos (die Last der Entbehrungen und Leiden); pretensões egoísticas (egoistische Ansprüche); a desvalorização do vosso dinheiro (die Entwertung eures Geldes); o desperdício […] das rendas sindicais (die Verschwendung der gewerkschaftlichen Einnahmen); (d)a desorganização financeira (finanzielles Chaos); crise econômica (Wirtschaftskrise); inquietação das massas […], aumento desproporcional do custo da vida […] (Beunruhigung der Bevölkerung […], der unverhältnismäßige Anstieg der Lebenshaltungskosten); a crise política […] o mal-estar social […] (pel)a insegurança econômica (die politische Krise, die soziale Malaise, […] die wirtschaftliche Unsicherheit). 6.2.2.2.3 Fahnenwörter Die Fahnenwörter bezeichnen, zur Erinnerung, was ideologieabhängig als positiv erachtet wird. Hier geht es um die Explizierung vargistischer Werte: a livre ação do meu governo (die Handlungsfreiheit meiner Regierung); uma integração coletiva de vontades e interesses (eine kollektive Integration von Wünschen und Interessen); equidade e cooperação (Gleichheit und Zusammenarbeit); a obra de instrução e difusão populares (das Werk der Volkserziehung und deren Verbreitung); a assistência médico-social, moradia e educação dos filhos, salário mínimo, direito à indenização e estabilidade no emprego (sozial-medizinische Versor-
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gung, Unterkunft und Erziehung der Kinder, Mindestlohn, Recht auf Entschädigungszahlungen und auf einen festen Arbeitsplatz); democracia econômica e social […] (wirtschaftliche und soziale Demokratie); o equilíbrio social, a harmonia dos interesses entre classes produtoras e classes trabalhadoras, a concórdia política e a justiça na distribuição dos bens e das riquezas […] (das soziale Gleichgewicht, Interessensausgleich zwischen produzierenden und arbeitenden Klassen, politische Eintracht und Gerechtigkeit in der Verteilung der Güter und Reichtümer […]). 6.2.2.2.4 Stigmawörter Die Stigmawörter bezeichnen, wie vorher dargestellt, was ideologieabhängig als negativ erachtet wird. Bei den hier aufgelisteten geht es um die Verweise darauf, wie Vargasʼ Gegner sind, wofür sie verantwortlich sind bzw. was sie im Schilde führen: os salários baixos (die niedrigen Löhne); (pel)a onda reacionária dos interesses egoístas (die reaktionäre Welle der egoistischen Interessen); cercear a vossa liberdade (eure Freiheit einschränken); a especulação (die Spekulation); a sociedade dividida (die gespaltene Gesellschaft); a anarquia social (die soziale Anarchie); os reacionários intransigentes (die unnachgiebigen Reaktionäre). 6.2.2.2.5 Schimpfwörter Schimpfwörter werden benutzt, um den Gegner bzw. Feind durch negativ konnotierte Bezeichnungen zu diskreditieren: os elementos negativos da sociedade (die negativen Elemente der Gesellschaft); os inimigos do povo (die Volksfeinde); os cúmplices da improbidade (die Komplizen der Unredlichkeit); os meus agressores (meine Angreifer); açambarcadores (Monopolisten). 6.2.2.2.6 Programmwörter Die Programmwörter stehen für Handlungskonzepte. Hier stehen sie für die Handlungskonzepte der vargistischen Regierung und sind dementsprechend positiv konnotiert und vielversprechend: a obra gigantesca de renovação (das gigantische Erneuerungswerk); a cooperação quotidiana (die tägliche Zusammenarbeit); a realização dos seus propósitos (die Verwirklichung ihrer Vorhaben); realizações sociais (gesellschaftliche Verwirklichungen); a recuperação econômica (die wirtschaftliche Gesundung); a sindicalização das classes trabalhadoras […] (pel)a sadia organização das cooperativas do consumo (die gewerkschaftliche Organisation der Arbeiterklassen […] die gesunde Organisation der Konsumgesellschaften); a decretação da gratuidade do ensino (die Verordnung des kostenlosen Unterrichts); (d)o aprimoramento cultural e (d)o aperfeiçoamento profissional (die kulturelle Vervollkommnung und berufliche Verbesserung); (d)o encaminhamento de desempregados (die Vermittlung von Arbeitslosen). 6.2.2.2.7 Bedeutungsverengung Im Falle der Bedeutungsverengung ist die kommunizierte Bedeutung enger als die Standardbedeutung. Wenn man sagt, man wolle Paris besuchen, denkt man wahrscheinlich an bestimmte Viertel in der Innenstadt, nicht aber an die Industriebezirke der Stadt. Es gibt auch viele Formen, jemanden zu unterstützen. Wenn man etwa die Unterstützung der Arbeiter fordert, denkt man wahrscheinlich eher an die gewerkschaftliche Unterstützung in Form von Protesten und Streiks oder aber auch an die
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Unterstützung bei Wahlen, ohne dies jedoch explizieren zu müssen, was bis zu einem gewissen Grad einer Verschleierung gleichkommt. Es geht hier also um durch Versprachlichung vermittelte generalisierte und daher reduzierte Konzepte. Fragen stellen erneut die Bedeutungsverengung im Sinne von Bedeutungsspezifizierung der verwendeten Wörter klar: defender os interesses […] do povo (die Interessen des Volkes verteidigen – Frage: wie verteidigen?); promover as medidas indispensáveis ao bem-estar dos trabalhadores (die unentbehrlichen Maßnahmen für das Wohlergehen der Arbeiter fördern – Frage: wie fördern?); (pel)os que me festejavam (jene die mich feierten – Frage: wie feierten?); reconstruir o Brasil (Brasilien wiederaufbauen – Frage: wie/was wiederaufbauen?); proporcionar a maior soma possível de conforto, segurança, e bem-estar (das Maximum an Komfort, Sicherheit und Wohlstand ermöglichen – Frage: wie/wodurch ermöglichen?); o apoio dos trabalhadores (die Unterstützung der Arbeiter – Frage: wie unterstützen?); dar ao governo o ponto de apoio (der Regierung die Unterstützung geben – Frage: wie unterstützen?); a vossa união (eure Einheit – Frage: wie gestaltet sich diese Einheit?); a colaboração de agricultores e pecuaristas (die Zusammenarbeit der Landwirte und Viehzüchter – Frage: wie gestaltet sich diese Zusammenarbeit?); um convite à desordem (eine Einladung zu Aufruhr – Frage: wie sieht diese Form von Aufruhr aus?); o povo que me apoia (das Volk, das mich unterstützt – Frage: wie unterstützt?); fazer mera substituição de pessoas (einen einfachen Austausch von Personen vornehmen – Frage: wie sieht der Austausch aus?). 6.2.2.2.8 Bedeutungserweiterung Wie bereits erläutert, geht es bei der Bedeutungserweiterung darum, dass ein Wort im konkreten Gebrauch nicht die Standardbedeutung hat. Diese muss erweitert werden, um im gegebenen Kontext Sinn zu ergeben. Ein volles Glas muss nicht randvoll sein, ein leeres nicht bis auf den letzten Tropfen geleert. Sich als vergessen zu bezeichnen, wenn man nicht mehr die ständige Aufmerksamkeit des Volkes hat, fällt wohl auch in diese Kategorie, denn auch ohne ständige Aufmerksamkeit muss man nicht unbedingt vergessen sein. Auch hier geht es um die Reduktion der Anzahl sprachlicher Ausdrücke für eine breite Palette an Konzepten. Hier weisen die gestellten Fragen darauf hin, dass die vermittelte Bedeutung viel weiter gefasst ist, als die, die den Wörtern im Kontext tatsächlich zukommt: longo convívio (lange Gemeinschaft – Frage: Gemeinschaft im ganz generellen Sinn?); me retirei da vida pública (ich zog mich aus dem öffentlichen Leben zurück – Frage: aus gar allen Bereichen des öffentlichen Lebens?); passei anos esquecido […] (vergessen verbrachte ich Jahre […] – Frage: wirklich von allen vergessen?); não chegam as vozes livres (die freien Stimmen kommen nicht an – Frage: verhallen alle freien Stimmen?); juntos estamos e juntos estaremos (zusammen sind wir und zusammen werden wir bleiben – Frage: Zusammensein immer und überall?). 6.2.2.2.9 Näherung (Approximation) Im Falle der sogenannten Näherung ist die bezeichnete Referenz nicht gesamthaft fokalisiert. Wenn es heißt, die Schweiz ist ein gebirgiges Land, dann stimmt dies, aber eben nur für einen Teil der Schweiz und wenn man jemanden um zwei Minuten für
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eine kurze Unterredung bittet, dann werden es sehr wahrscheinlich nicht genau 120 Sekunden sein, die man gerne dafür hätte. Auch die Näherung dient also der kategoriellen Vereinfachung, was durch die folgenden Fragestellungen deutlich wird: nunca me saíram do pensamento a imagem e a lembrança (niemals gingen mir das Bild und die Erinnerung aus dem Sinn – Frage: wirklich niemals?); o governo fala […] na linguagem simples (die Regierung spricht […] in einer einfachen Sprache – Frage: ist sie immer einfach?); nunca me esquecestes (ihr habt mich nie vergessen – Frage: wirklich niemals?); […] para vos falar com a franqueza habitual ([…] um mit der üblichen Offenheit zu euch zu sprechen – Frage: wird immer offen gesprochen?); A esse programa […] tenho dedicado toda a minha vida pública (diesem Programm […] habe ich mein ganzes öffentliches Leben gewidmet – Frage: wirklich das ganze öffentliche Leben?); os amigos verdadeiros e independentes (die wahren und unabhängigen Freunde – Frage: absolut wahr und unabhängig?); atos prejudiciais à coletividade brasileira (für das brasilianische Kollektiv schädliche Handlungen – Frage: für das gesamte Kollektiv?); um fato conhecido por todos (ein Faktum, das alle kennen – Frage: wirklich alle?); […] é de todas as nações e de todos os continentes ([…] es betrifft alle Länder und Kontinente – Frage: wirklich alle Länder und Kontinente?); no mundo inteiro (in der ganzen Welt – Frage: wirklich in der ganzen Welt?). 6.2.2.2.10 Ergebnisse Zusammenfassend ist festzuhalten, dass aus der lexikalischen Perspektive zunächst die Konstruktion der positiven Eigenidentität und der negativen Fremdidentität interessiert. Erstere wird durch die Hochwert-, Fahnen- und Programmwörter abgebildet, letztere durch die Unwert-, Stigma- und Schimpfwörter. Die Bedeutungsverengung, die Bedeutungserweiterung sowie die Näherung oder Approximation helfen komplexe Inhalte sprachlich wesentlich zu vereinfachen und häufig zu entschärfen. Werfen wir hier noch einmal einen synthetisierenden Blick zurück auf die Konstruktion der Eigenbzw. der Fremdidentität: Die Eigenidentität als Bild der Vargisten wird als freundschaftlich, sozial eingestellt und engagiert, freudvoll, hoffnungsvoll, loyal, ehrlich, patriotisch, freiheitsliebend, egalitär, kooperativ, demokratisch, um Harmonie bemüht, gerecht, empathisch und nächstenliebend gezeichnet. Angestrebt werden Erneuerung, Zusammenarbeit, wirtschaftliche Gesundung, gewerkschaftliche Organisation, Verfügung des kostenlosen Unterrichts, kulturelle und professionelle Perfektionierung sowie die Vermittlung von Arbeitslosen. Der feindlichen Fremdidentität der Anti-Vargisten werden Elend, Mangel, niedrige Löhne, fehlende medizinische Versorgung, Betrügerei, Profitgier, Missbrauch, Wucher, Verbrechen, Ungerechtigkeit, Aggressivität, Spekulation, Günstlingswirtschaft, Entbehrungen, Geldentwertung, Geldverschwendung, finanzielles Chaos, Wirtschaftskrise, politische Krise, soziale Malaise, soziale Anarchie, Egoismus und Monopolismus zugeschrieben. Durch die Bedeutungsverengung, die Bedeutungserweiterung und die Näherung werden komplexe und nuancierte Konzepte in starre und daher vereinfachende Wortkorsette gezwängt. Dies gestattet dem Redner, einen Großteil der Informationen, die er gar nicht preisgeben will, zu verheimlichen und auf diese Weise eindeutige Bilder mit klaren Konturen zu zeichnen.
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6.2.2.3
Kognitive Semantik
Auf der Grundlage des in Kapitel 5 Ausgearbeiteten wollen wir in der Folge dem nachgehen, wie das Volk, der Arbeiter und der Präsident durch die Komposition stereotyper Eigenschaften diskursiv als Prototypen kreiert werden, welche kognitiven Frames durch Wörter oder Syntagmen evoziert werden und zumindest einer imaginären Komplettierung bedürfen, um ein kohärentes Gesamtbild zu ergeben und welche Rolle in der vorliegenden Rede den Metaphern und Metonymien zukommt. 6.2.2.3.1 Die Konstruktion von Prototypen mittels Assemblage stereotyper Eigenschaften In der Rede werden die Prototypen als jeweils beste Exemplare durch die Nennung der entsprechenden stereotypen Eigenschaften rekonstruiert: Das Volk – o povo os sufrágios do povo me reconduziram ao poder (die Wahl des Volkes führte mich an die Macht zurück); o povo escolheu verdadeiramente o seu presidente (das Volk wählte wirklich seinen Präsidenten); que o povo se organize (das Volk müsse sich organisieren); que […] o povo se organize […] em volta do governo (das Volk müsse sich um die Regierung herum organisieren); Jamais devem recear a força do povo os que trabalham com o povo e para o povo (Jene, die mit dem Volk und für das Volk arbeiten, müssen niemals die Macht des Volkes fürchten); […] dentro da sociedade, onde tudo deve ser harmonia, equidade e cooperação para o bem comum […] (in der Gesellschaft, wo alles Harmonie, Gleichheit und Zusammenarbeit sein muss […]); o povo sempre sabe quando deve reagir e contra quem deve fazê-lo (das Volk weiß immer, wann es reagieren muss und gegen wen es sich erheben muss); um movimento empolgante e irresistível das massas populares (eine enthusiastische und unwiderstehliche Bewegung der Volksmassen); o povo me acompanha na esperança […] (das Volk begleitet mich in der Hoffnung […]). Die Arbeiter – os trabalhadores os trabalhadores foram sempre fiéis, desinteressados e valorosos (die Arbeiter waren immer loyal, uneigennützig und mutig); os trabalhadores nunca me decepcionaram (die Arbeiter haben [Vargas] nie enttäuscht); pleitearam sempre para a coletividade (sie forderten immer für das Kollektiv); trabalhadores do Brasil, meus amigos (Arbeiter Brasiliens, meine Freunde); […] que vos organizeis solidamente em sindicatos […] para lutar contra os sabotadores […] ([…] auf dass ihr euch fest in Gewerkschaften organisiert […], um gegen die Saboteure zu kämpfen); uni-vos todos nos vossos sindicatos (vereinigt euch alle in euren Gewerkschaften); que os trabalhadores […] se organizem em volta do governo (auf dass sich die Arbeiter rund um die Regierung organisieren); […] que o trabalhador tenha um salário razoável […] que dê para sustentar a família, educar os filhos, pagar a casa e tratar-se nas doenças ([…] auf dass der Arbeiter einen angemessenen Lohn bekomme, der ausreiche, um die Familie zu erhalten, die Kinder zu erziehen, die Wohnung zu bezahlen und medizinische Versorgung in Anspruch zu nehmen); Quero encontrar em vós, trabalhadores, […] os amigos verdadeiros e independentes (Ich möchte in euch, Arbeiter, die wahren und unabhängigen Freunde finden). Der Präsident – o presidente lembrança do grato e longo convívio […] convosco (Erinnerung an die dankenswerte und lange
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Gemeinschaft mit euch); falar com a familiaridade amiga de outros tempos (mit der freundschaftlichen Vertrautheit von früher sprechen); estou novamente ao vosso lado (ich bin wieder an eurer Seite); fui um candidato do povo, um candidato dos trabalhadores (ich war ein Kandidat des Volkes, ein Kandidat der Arbeiter); […] envidarei sempre todos os esforços para lhe [ao povo] proporcionar a maior soma possível de conforto, segurança, e bem-estar ([…] ich werde die größten Anstrengungen machen, um ihm [dem Volk] ein Maximum an Komfort, Sicherheit und Wohlergehen zu ermöglichen); para vos falar com a franqueza habitual e vos aconselhar o melhor caminho (um mit der üblichen Offenheit mit euch zu sprechen und euch den besten Weg zu empfehlen); É profundo, sincero e incansável o meu esforço (meine Anstrengung ist groß, ehrlich und unermüdlich); a lealdade que vos acomstumastes a esperar de mim (die Loyalität, die ihr gewohnt wart, von mir zu erwarten); Auguro […] que os sindicatos obreiros […] terão a sua clínica […], as suas cooperativas […], escolas […], orgãos jurídicos […], caixas de empréstimo […], lugares de recreação […], sítios de cura e repouso […] (Ich wünsche […] dass die Arbeitergewerkschaften […] ihre Klinik […], ihre Konsumgesellschaften […], Schulen […], rechtlichen Organe […], Banken für Darlehen […], Orte für Erholung und Kuren haben werden); […] sou eu que preciso contar convosco (ich bin es, der euch braucht); Não faço campanha contra pessoas. Critico apenas os métodos […] (Ich führe keinen Feldzug gegen Personen. Ich kritisiere nur die Methoden […]); […] falei na miséria do povo, na carestia da vida, na atividade nociva dos açambarcadores […] ([…] ich sprach über das Elend des Volkes, über die Entbehrungen des Lebens, über das schädliche Tun der Monopolisten […]); Só podem falar em nome do povo os que buscam o seu contato […]; (Nur jene können im Namen des Volkes sprechen, die den Kontakt mit ihm suchen […]); Juntos estamos e juntos estaremos sempre […] e juntos haveremos de reconstruir um Brasil melhor […] (Wir sind eins und wir werden immer eins sein […] und vereint werden wir ein besseres Brasilien aufzubauen haben […]). 6.2.2.3.2 Scenes-and-frames Es werden Szenen evoziert, in denen verschiedene Partizipanten oder Umstände verschwiegen werden, weshalb über diese nur gemutmaßt werden kann. Die verschwiegenen Partizipanten oder Umstände spielen allerdings mitunter in den evozierten Szenen wichtige Rollen, sodass es tatsächlich relevant wäre, sie zu kennen: […] estarei convosco (ich werde bei euch sein): Hier stellt sich die Frage, auf welche Weise er beim Volk sein wird. Im Grunde ist es ein schön klingendes, aber leeres Versprechen. É preciso que o povo se organize (es ist notwendig, dass sich das Volk organisiert): Der Redner expliziert nicht, wie sich das Volk zu organisieren habe, wohl, um nicht autoritär zu wirken. […] sou eu que preciso contar convosco […] com a força da vossa organização coletiva (Ich bin es, der euch […] mit der Kraft eurer gemeinschaftlichen Organisation braucht): Die gewerkschaftliche Kraft könnte etwa im Parlament stark eingesetzt werden oder aber auch Streiks organisieren. Allein, der Redner sagt nicht, warum bzw. wozu er die Organisation braucht. Critico apenas os métodos, processos e atos prejudiciais à coletividade (Ich kritisiere nur die Methoden, Prozesse und Handlungen, die der Gemeinschaft schaden): Die Frage ist, wie und warum er kritisiert, ob er Gegenvorschläge hat und wenn ja, welche es sind. Doch das wird nicht präzisiert.
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[…] firmar as condições de estabilidade do trabalhador […] (die Bedingungen des Arbeiters zu stabilisieren […]): Hier ginge es darum zu klären, wie und wann die Bedingungen verbessert werden, doch der Redner bleibt eine Antwort schuldig. […] é preciso remediá-las [as dificuldades econômicas] em tempo oportuno […] ([…] es ist notwendig, sie [die wirtschaftlichen Schwierigkeiten] rechtzeitig auszuräumen […]): Der Redner erklärt nicht, wie oder wann die wirtschaftlichen Schwierigkeiten ausgeräumt werden können. 6.2.2.3.3 Metapher und Metonymie Auch Metapher und Metonymie wurden in Kapitel 5 ausführlich besprochen. Was sich bei der Verwendung von Metaphern und Metonymien in der politischen Rede wohl auch ändert, ist die Art des Appells. Die bildliche Darstellung ist, wie gesagt, kondensierter, unmittelbarer und daher effektvoller. Das tägliche Brot anstatt den Lebensunterhalt verdienen ist ein Beispiel für eine effektvolle Metonymie, in der Arbeit untergehen, anstatt mit der Arbeit nicht fertig werden, ist eines für eine ausdrucksstarke Metapher: […] não me chegava apenas o eco distante dos vossos anseios […] mas também o apelo dos vossos corações (Ich hörte nicht nur das entfernte Echo eurer Wünsche […], sondern auch den Ruf eurer Herzen): Die Metonymien klingen poetisch, die Aussage wird aber vor allem persönlich, emotional und daher eindringlich. […] preciso que formeis um bloco forte e coeso ao lado do governo […] (Es ist notwendig, dass ihr einen starken und einheitlichen Block neben der Regierung bildet […]): Der Block ist eine ontologische Metapher, die der erforderlichen Kompaktheit Nachdruck gibt. O sindicato é a vossa arma de luta, a vossa fortaleza defensiva […] (Die Gewerkschaft ist eure Waffe, eure schützende Festung […]): Die strukturellen Metaphern evozieren den Kampf oder sogar den Krieg und machen die Notwendigkeit starker Gewerkschaften damit umso deutlicher. […] impedir que os seus países se afoguem no mar revolto das rebeliões das massas ([…] verhindern, dass ihre Länder im stürmischen Meer der Massenrevolten untergehen): Die strukturelle Metapher des Untergangs im stürmischen Meer verdeutlicht die Gefahr der Massenrevolten ungemein. Pretendem falar em nome do povo sem saírem das quatro paredes onde vivem refestelados em cômodas poltronas […] (Sie wollen im Namen des Volkes sprechen, ohne aus ihren vier Wänden herauszukommen, in denen sie zufrieden in bequemen Lehnsesseln sitzen […]): Die strukturellen Metaphern der Abgeschiedenheit in den vier Wänden und der Bequemlichkeit des Lehnsessels bringen die Distanz zwischen Vargasʼ Gegnern und dem Volk zum Ausdruck. […] lutam pelo pão quotidiano ([…] sie kämpfen für das tägliche Brot): Auch diese Metonymie ist emotional und dadurch kraft- und wirkungsvoll. 6.2.2.3.4 Ergebnisse Unter dem Blickwinkel der kognitiven Semantik wurden, kurz und bündig zusammengefasst, das idealtypische Volk, der idealtypische Arbeiter sowie der idealtypische Präsident aus der Rede herausgeschält. Die durch virtuelle Zirkumstanten angereicherten scences-and-frames geben darüber Aufschluss, was vor der Zuhörerschaft verborgen bleiben
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soll. Die Metaphern und Metonymien dienen aufgrund ihrer Bildhaftigkeit als effektvolle, weil unmittelbar wirkende diskursstrategische Waffen. Besonders wichtig scheint im semantischen Bereich die Genese der genannten Prototypen des Volkes, des Arbeiters und des Präsidenten: Das Volk wählt den Richtigen zum Präsidenten und führt diesen an die Macht. Es organisiert sich, um schlagkräftig zu sein und um den Präsidenten zu unterstützen. Das Volk ist gerecht und um Harmonie bemüht. Es hat immer recht, weiß, wogegen es ankämpfen muss und gegen wen es sich zu erheben hat. Der Arbeiter ist loyal, uneigennützig, mutig und will sich organisieren. Er ist ein Freund des Präsidenten, der seinerseits wiederum loyal, volksnah und dem Volk verpflichtet ist. Der Präsident engagiert sich stets für das Volk, er ist offen, ehrlich, empathisch, fair und sachlich.
6.2.2.4
Kognitive Pragmatik
In Kapitel 5 ist im Abschnitt über die kognitive Pragmatik klar geworden, dass es in der linguistischen Diskursanalyse nicht um das Erfassen der abstrakten Satzbedeutung, sondern um das der konkreten Äußerungsbedeutung geht. Es geht infolgedessen auch nicht um abstrakte und isolierte Wortbedeutungen, sondern um den Sinn der im jeweiligen Kontext aktualisierten sprachlichen Zeichen. Wie bereits ausgeführt, ist die Äußerungsbedeutung das Resultat dreier aufeinanderfolgenden Analysen: jener der expliziten Form, d.h. der Lokution, jener der referentiell determinierten Form und jener der kommunikativen Botschaft bzw. Intention, d.h. der Illokution, weil ja mit jeder Äußerung dem Adressaten etwas mitgeteilt werden will. Für die Analyse der Rede unter diesem Blickwinkel empfiehlt es sich, die inhaltlichen Schwerpunkte der Rede zu ermitteln und Schlüsselstellen darin auf den drei genannten Ebenen zu beleuchten: 6.2.2.4.1 Analyse […] os trabalhadores foram sempre fiéis, desinteressados e valorosos. […] os trabalhadores nunca me decepcionaram. Nunca se aproximaram de mim para pleitear interesses particulares ou favores pessoais. Pleitearam sempre para a coletividade a que pertencem […]. 1
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Satzbedeutung: [Die Arbeiter waren immer treu, uneigennützig und mutig. Die Arbeiter enttäuschten den Sprecher niemals. Sie näherten sich dem Sprecher niemals, um Eigeninteressen durchzusetzen oder persönliche Gefallen zu verlangen. Sie forderten immer für das Kollektiv, dem sie angehören]. Referenzbestimmung: Die Arbeiter sind die Arbeiter Brasiliens. Immer bedeutet die Zeit, zu der Vargas Präsident war. Sie sind die Arbeiter, der Sprecher (ich, mir, mich) ist Vargas. Das Kollektiv ist die Arbeiterschaft oder auch die Gewerkschaft. Intention/Relevanz der Aussage: Die Botschaft des Lobes der Arbeiter für ihre Treue und Uneigennützigkeit ist wohl die, dass sie weiterhin loyal und uneigennützig sein sollen, um Vargas auch zukünftig nicht zu enttäuschen.
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Porque eu não fui estritamente um candidato de partido: fui um candidato do povo, um candidato dos trabalhadores. Governarei, portanto, com esse povo que me elegeu e envidarei sempre todos os esforços para lhe proporcionar a maior soma possível de conforto, segurança, e bem-estar. 1
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Satzbedeutung: [Der Sprecher war streng genommen nicht der Kandidat einer Partei. Er war ein Kandidat des Volkes, ein Kandidat der Arbeiter. Er wird deshalb mit diesem Volk, das ihn gewählt hat, regieren und immer all seine Kräfte darein investieren, ihm das Maximum an Komfort, Sicherheit und Wohlergehen zu ermöglichen]. Referenzbestimmung: Der Sprecher ist Vargas. Streng genommen nicht der Kandidat einer Partei heißt in Wirklichkeit, dass er der Kandidat zweier Parteien war, (was er hiermit aber wohl nicht sagen möchte). Das Volk ist das brasilianische Volk, die Arbeiter sind die Arbeiter Brasiliens. Das kausale deshalb bezieht sich auf seine von ihm genannte Volkskandidatur im Gegensatz zur Parteikandidatur und mit dem Volk regieren heißt nichts anderes, als den demokratischen Gepflogenheiten entsprechend zu regieren. Alle Anstrengungen steht für das Versprechen des politischen Engagements. Intention/Relevanz der Aussage: Partei klingt verkrustet und altbekannt, Kandidat des Volkes, der Arbeiter hingegen klingt neu und dynamisch. Mit dem Volk regieren klingt bedeutend volksnäher und egalitärer als das Volk regieren. Ein kollegiales bis freundschaftliches Verhältnis soll zum Ausdruck gebracht werden. Der Einsatz all seiner Kräfte für die Anliegen der Arbeiter ist sicher maßlos übertrieben und soll den Arbeitern wohl auch nur eine Gegenleistung für ihre Loyalität in Aussicht stellen.
É preciso, pois, que o povo se organize não só para defender os seus próprios interesses, mas também para dar ao governo o ponto de apoio indispensável à realização dos seus propósitos. 1
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Satzbedeutung: [Jemand findet, dass sich das Volk organisieren muss, um seine eigenen Interessen zu verteidigen und um der Regierung die unerlässliche Hilfe zu gewähren, damit sie ihre Vorhaben umsetzen kann]. Referenzbestimmung: Vargas findet, dass sich das Volk organisieren muss. Mit dem Organisieren ist das gewerkschaftliche Organisieren gemeint. Das Volk ist das brasilianische Volk und seine eigenen Interessen sind die wirtschaftlichen Interessen des brasilianischen Volkes. Die Regierung ist die brasilianische Regierung und ihre Vorhaben sind die Vorhaben der brasilianischen Regierung. Intention/Relevanz der Aussage: Den Arbeitern und dem Volk, als dessen Kandidat sich Vargas präsentiert, das er ferner pauschal als Freund bezeichnet und das ihn zum Präsidenten gemacht hat, macht er klar, dass die gewerkschaftliche Organisation im ureigensten Interesse des Volkes sei, aber auch im Interesse der Regierung und somit indirekt wieder im Interesse des Volkes, weil die Regierung ja nichts anderes mache, als für das Volk da zu sein. Er bringt also die doppelte Legitimation der gewerkschaftlichen Organisation zum Ausdruck.
6 Exemplarische sprachliche Analysen historischer Reden
Queiram ou não queiram ouvir-me os inimigos do povo, continuarei proclamando em voz alta que não é possível manter a sociedade dividida em zonas de miséria e zonas de abundância; em que uns dispõem do supérfluo e a outros falta o indispensável para a subsistência […]. 1
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Satzbedeutung: [Egal, ob es die Volksfeinde hören wollen oder nicht, der Sender wird weiterhin verkünden, dass die in Arm und Reich gespaltene Gesellschaft, in der manche jeden Luxus haben, während andere des Lebensnotwendigsten entbehren, nicht bestehen kann]. Referenzbestimmung: Der Sender ist wiederum Vargas. Sie sind die Volksfeinde, die Volksfeinde sind die Oppositionellen, die Gesellschaft ist die brasilianische Gesellschaft. Intention/Relevanz der Aussage: Regierung und Bevölkerung müssen alles daran setzen, um Homogenität, Gleichberechtigung und wirtschaftliche Zufriedenheit im Volk herzustellen. Dadurch sollte einerseits innenpolitischen Spannungen vorgebeugt und andererseits der Regierung ein unmittelbarer Zugriff auf das ganze Volk möglich gemacht werden.
Não faço campanha contra pessoas. Critico apenas os métodos, processos e atos prejudiciais à coletividade brasileira. Isso, infelizmente, é o que simulam não entender os cúmplices da improbidade administrativa quando atacam as medidas moralizadoras da minha administração. 1
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Satzbedeutung: [Der Sender kritisiert nicht Menschen, sondern nur jene Methoden, Verfahren und Handlungen, die der brasilianischen Gemeinschaft schaden. Indem die Komplizen der behördlichen Unmoral die moralischen Maßnahmen der Regierung des Senders angreifen, geben sie vor, dies nicht zu verstehen]. Referenzbestimmung: Der Sender ist Vargas. Die Methoden, Verfahren und Handlungen beziehen sich auf die Politik der Opposition. Die brasilianische Gemeinschaft ist hier ein Teil der Brasilianer. Dies bezieht sich auf Vargasʼ Kritik an den Methoden und Verfahren. Die Komplizen der behördlichen Unmoral sind jene Oppositionelle, die Vargas wegen seiner Kritik an ihrer Politik angreifen. Meine Regierung ist Vargasʼ Regierung. Intention/Relevanz der Aussage: Vargas betont, nicht Menschen, sondern nur Methoden und Ansätze zu kritisieren. Das bedeutet auch, dass jeder eingeladen ist, Vargas zu folgen. Er übe nicht persönliche, sondern nur sachliche Kritik. Die Komplizen der Unmoral hätten dies ja verstanden, deshalb tun sie nur so, als ob dies nicht zu verstehen wäre. Das heißt, niemand leugne wirklich, dass Vargas recht habe, denn diejenigen, die es leugnen, sind ja unehrlich. Wenn man ehrlich ist, könne man gar nicht anders, als Vargas zu folgen.
Disseram que o meu discurso era um convite à desordem e à reação popular. Entretanto, não anunciei senão verdades sabidas, focalizando problemas conhecidos de todos: a crise econômica em que nos debatemos, a inquietação das massas, provocada pelo aumento desproporcional do custo da vida e pelo monopólio dos gêneros de primeira necessidade.
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Satzbedeutung: [Menschen sagten, dass die Rede des Senders eine Einladung zu Chaos und Volkswiderstand gewesen sei. Der Sender sagte aber nur bekannte Wahrheiten und beleuchtete Themen, die allen geläufig sind: die Wirtschaftskrise, mit der der Sender und andere Menschen ringen, die Sorgen der Massen, die durch die unverhältnismäßig hohe Steigerung der Lebenshaltungskosten sowie durch die Monopolstellungen im Bereich der Grundnahrungsmittel ausgelöst seien]. Referenzbestimmung: Die Menschen, die Besagtes behaupteten, sind Vargasʼ Gegner. Der Sender ist Vargas. Der Widerstand sollte ein Widerstand gegen Vargasʼ Opposition sein. Die bekannten Wahrheiten sind die Wahrheiten aus Vargasʼ Perspektive. Probleme, die alle kennen, sind Probleme, von denen ein Teil der Bevölkerung weiß. Das wir in wir ringen mit der Wirtschaftskrise bezieht sich auf den Sender und einen Teil der brasilianischen Bevölkerung. Die besorgten Massen sind ein großer Teil der brasilianischen Bevölkerung. Die unverhältnismäßig hohe Steigerung drückt einen nicht näher bestimmten Vergleich aus. Intention/Relevanz der Aussage: Vargas wirft der Opposition vor, dass sie die Wahrheit verschleiere und ihn wegen seiner Prinzipien der Ehrlichkeit und Transparenz gegenüber der Bevölkerung diskreditieren wolle. Vargasʼ Intention ist, das Volk durch seine vermeintliche Aufdeckungsstrategie für sich zu gewinnen.
Não preciso incitar o povo à reação nem açular à violência porque o povo sempre sabe quando deve reagir e contra quem deve fazê-lo. 1
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Satzbedeutung: [Der Sender muss das Volk nicht zu Widerstand oder Gewalt aufrufen, weil das Volk immer weiß, wann es reagieren und gegen wen es sich erheben muss]. Referenzbestimmung: Der Sender ist Vargas. Das Volk ist ein Teil des brasilianischen Volkes, mit Widerstand und Gewalt sind Widerstand und Gewalt gegen die Obrigkeit gemeint. Intention/Relevanz der Aussage: Ich muss nicht zu Widerstand und Gewalt aufrufen präsupponiert, dass Widerstand und Gewalt, ohnedies vom Volk ausgehend, stattfinden und folglich auch gerechtfertigt sind. Dem Volk wird die absolute Autorität zugesprochen, das Volk hat immer recht. Implizit wird ferner vermittelt, dass sich Vargas und das Volk diesbezüglich ohnehin einig sind.
Só podem falar em nome do povo os que buscam o seu contato, os que não se arreceiam de se defrontar com ele ao ar livre, em espaços abertos, à luz do sol […] como neste imenso e inconfundível espetáculo que estamos presenciando. 1
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Satzbedeutung: [Nur jene dürfen im Namen des Volkes sprechen, die den Kontakt mit ihm suchen, die sich nicht davor scheuen, ihm im Freien unter der Sonne gegenüberzutreten wie in diesem großen und einzigartigen Spektakel, dem der Redner und andere Menschen gerade beiwohnen]. Referenzbestimmung: Das wir in estamos presenciando bezieht sich auf den Redner und die Anwesenden und dieses Spektakel ist die Rede, die Vargas vor dem Volk hält.
6 Exemplarische sprachliche Analysen historischer Reden 3
Intention/Relevanz der Aussage: Ohne es explizit zu sagen, macht Vargas deutlich, dass er für sich das Recht beansprucht, im Namen des Volkes zu sprechen und dass er genau dieses Recht der Opposition, die nicht aus ihren vier Wänden herauskommt, abspricht. Er erklärt sich somit zum legitimen Volksvertreter.
6.2.2.4.2 Ergebnisse Unter dem Aspekt der kognitiven Pragmatik interessiert, wie sich herausgestellt hat, letzten Endes die Illokution, d.h. die Intention der Äußerung. Es stellt sich also stets die Frage, inwiefern eine Äußerung im Rahmen der Rede relevant ist und ein Ziel verfolgt. So ist davon auszugehen, dass die Arbeiter nicht um des Lobes willen gelobt werden, sondern damit sie weiterhin treu bleiben. Vargas präsentiert sich als Kandidaten des Volkes, um die unmittelbare Nähe zu diesem auszudrücken und um im Gegenzug wieder dessen Unterstützung zu bekommen. Die gewerkschaftliche Organisation wird den Arbeitern als prioritär ans Herz gelegt, weil sie dem Volk selbst diene, aber eben auch dem Präsidenten. Das Volk müsse interne Spannungen abbauen, wohl um dem Präsidenten interne Probleme zu ersparen. Vargasʼ Kritik gelte stets der Politik, niemals den Menschen, was ihn schließlich als Menschenfreund erscheinen lässt, der aber von seinen Freunden nicht im Stich gelassen werden will. Der Opposition wirft er Heuchelei vor; denn sie tue nur so, als ob sie nicht verstünde, dass er recht hat. Dem Volk schreibt er die absolute Autorität zu, das Volk habe nämlich immer recht. Er selbst, nicht die Oppositionellen, sei der legitime Volksvertreter, weil er mit dem Volk im Kontakt stehe, die Opposition hingegen nicht.
6.2.2.5
Informale Logik
Im fünften Abschnitt der Analyse widmen wir uns gemäß dem im fünften Kapitel ausgearbeiteten Instrumentarium den in der Rede vorgebrachten Argumenten. Diese seien zunächst in resümierter Form argumentationsstrukturell abgebildet und abschließend kommentiert: 6.2.2.5.1 Analyse Einigen wenigen Argumenten liegt die siebente Argumentationsstruktur gemäß dem Schema von Manfred Kienpointner zugrunde: Wenn (A) und (B) hinsichtlich X gleich sind, sind (A) und (B) gleich zu behandeln: Industriearbeiter und Landarbeiter haben die gleichen Bedürfnisse, Nöte und Wünsche, also: Sie müssen die gleichen Rechte erhalten. In Europa, Asien und Teilen Amerikas werden wirtschaftliche Probleme in Angriff genommen, um politische zu lösen, also: Die wirtschaftlichen Probleme ganz Amerikas – somit auch jene Brasiliens – müssen in Angriff genommen werden, um politische Probleme zu lösen. Mindestens ein Argument basiert auf dem dreizehnten Schema: (A) oder (B) (C, D) sind positiv. (B) (C, D) = negativ, also: (A) = positiv: Entweder Ungerechtigkeit, niedrige Löhne, Elend werden bekämpft (A) oder Ungerechtigkeit, niedrige Löhne, Elend werden akzeptiert (B). (B) = negativ, also: Ungerechtigkeit, niedrige Löhne, Elend müssen bekämpft werden.
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Der klassische Populismus Lateinamerikas
Die Argumentstruktur vierzehn lautet: Wenn (A), dann folgt (B). (A) liegt vor, also: (B) folgt. Darauf beruht folgendes Argument: Wenn Politiker das Volk treffen (A), dann können sie auch etwas über das Volk sagen (B), also: Vargas trifft das Volk, dann kann er auch etwas über das Volk sagen. Die Struktur fünfzehn ist analog, aber mit negativen Vorzeichen: Wenn (A) nicht vorliegt, dann folgt (B) nicht: Wenn Politiker das Volk nicht treffen (A), dann dürfen sie nichts über das Volk sagen (B), also: Die Volksfeinde treffen das Volk nicht, dann dürfen sie auch nichts über das Volk sagen. Die Argumentstruktur sechzehn lautet: Wenn (B) vorliegt, dann ging (A) voraus. (B) liegt vor, also: (A) ging voraus. Hierfür gibt es ein hypothetisches und ein faktisches Argument: Wenn das brasilianische Volk den Aufstand proben würde (B), dann hätte es dafür selbst die Entscheidung getroffen (A). Die Situation ist nicht aktuell, also liegt (B) derzeit nicht vor, aber wenn es einen Volksaufstand gäbe, dann hätte das Volk selbst die Entscheidung dafür getroffen. Ein Kandidat wird gewählt (B), wenn er glaubhaft eine positive Erneuerung für das Volk versprochen hat (A). Vargas wurde gewählt, also: Er hat eine Erneuerung versprochen (und er wird sie durchführen). Die mit Abstand am häufigsten vorkommende Argumentationsstruktur ist die achtzehnte: wenn (A) dann (B), (B) = positiv, also (A). Inhaltlich besonders wichtig sind folgende: Wenn sich das Volk organisiert (A), dann kann es seine eigenen Interessen durchsetzen (B); (B) = positiv, also: Das Volk soll sich organisieren. Wenn sich das Volk organisiert (A), dann kann es die Regierung unterstützen (B); (B) = positiv, also: Das Volk soll sich organisieren. Wenn das Volk den Präsidenten unterstützt (A), dann kann die Regierung die Probleme des Volkes lösen (B); (B) = positiv, also: Das Volk soll den Präsidenten unterstützen. Wenn sich die Arbeiter vereinigen (A), dann haben sie Schlagkraft (B); (B) = positiv, also: Die Arbeiter sollen sich vereinigen. Wenn die Arbeiter die Regierung unterstützen (A), dann kann die Regierung bestehen (B); (B) = positiv, also: Die Arbeiter sollen die Regierung unterstützen. Wenn sich die Arbeiter rund um die Regierung organisieren (A), dann kann ihnen die Regierung verbesserte Sozialleistungen ermöglichen (B); (B) = positiv, also: Die Arbeiter sollen sich rund um die Regierung organisieren. Wenn sich die Arbeiter rund um die Regierung organisieren (A), dann können sie nicht ausgebeutet werden (B); (B) = positiv, also: Die Arbeiter sollen sich rund um die Regierung organisieren. Wenn sich die Arbeiter organisieren (A), dann können sie die Regierung im Kampf gegen die negativen Elemente unterstützen (B); (B) = positiv, also: Die Arbeiter sollen sich organisieren. Wenn man mit dem Volk und für das Volk arbeitet (A), dann braucht man keine Angst vor dem Volk zu haben (B); (B) = positiv, also: Man soll mit dem Volk und für das Volk arbeiten.
6 Exemplarische sprachliche Analysen historischer Reden
Wenn die Gewerkschaften den Präsidenten unterstützen (A), dann kann dieser das Land erneuern (B); (B) = positiv, also: Die Gewerkschaften sollen den Präsidenten unterstützen. Wenn die Gewerkschaften den Präsidenten unterstützen (A), dann kann dieser die Ausbeuter besiegen (B); (B) = positiv, also: Die Gewerkschaften sollen den Präsidenten unterstützen. Wenn die Gewerkschaften den Präsidenten unterstützen (A), dann hat dieser die Kraft, die Arbeiterinteressen zu verteidigen (B); (B) = positiv, also: Die Gewerkschaften sollen den Präsidenten unterstützen. Wenn Konsumgesellschaften geschaffen werden (A), dann gereicht dies den Arbeitern zum Vorteil (B); (B) = positiv, also: Konsumgesellschaften sollen geschaffen werden. Wenn man auf die wahren Probleme des Volkes hinweist (A), dann können diese gelöst werden (B); (B) = positiv, also: Man soll auf die wahren Probleme des Volkes hinweisen. Wenn die wirtschaftlichen Probleme angegangen werden (A), dann werden auch die politischen gelöst (B); (B) = positiv, also: Man muss die wirtschaftlichen Probleme angehen. Etliche Argumente basieren auch auf dem neunzehnten Argumentschema der konsultierten Klassifikation: wenn (A) dann (B), (B) = negativ, also nicht (A). Die wichtigsten sind folgende: Wenn Missbrauch, Spekulation, Wucher etc. betrieben werden (A), wird dies durch das Gesetz geahndet (B); (B) = negativ, also: Man soll nicht Missbrauch, Spekulation, Wucher etc. betreiben. Wenn Reichtum angehäuft und andere ausgebeutet werden (A), dann spaltet dies die Gesellschaft (B); (B) = negativ, also: Man soll keinen Reichtum anhäufen und andere nicht ausbeuten. Wenn ignoriert wird, was für das Volk schlecht ist (A), dann wird es dem Volk weiterhin schlecht gehen (B); (B) = negativ, also: Man darf nicht ignorieren, was für das Volk schlecht ist. Wenn die wirtschaftlichen Probleme ignoriert werden (A), dann führt dies zu Unruhe und Selbstjustiz (B); (B) = negativ, also: Die wirtschaftlichen Probleme dürfen nicht ignoriert werden. Auch das zwanzigste Schema dient mehreren Argumenten als Grundstruktur: Wenn (A) nur durch (B) erreicht werden kann und (A) positiv ist, dann (B): Die Erneuerung Brasiliens durch die Regierung (A) geht nur mit der Unterstützung der Arbeiter (B); (A) = positiv, also: Die Arbeiter sollen die Regierung unterstützen. Die effiziente Verwaltung der Pensionskassen (A) geht nur mit strengen Kontrollen (B); (A) = positiv, also: Die Verwaltung der Pensionskassen muss streng kontrolliert werden. Saboteuren und Betrügern kann nur das Handwerk gelegt werden (A), wenn man strenge Kontrollen durchführt (B); (A) = positiv, also: Es müssen strenge Kontrollen eingeführt werden. Auch das Autoritätsargument gemäß Struktur sechsundzwanzig kommt zum Zug: Was (A) über (B) sagt, stimmt. (A) sagt, dass (B) stimmt (wahrscheinlich ist), also: (B) stimmt (oder ist wahrscheinlich):
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Die Statistiken (A) bestätigen, dass Wirtschaftskrisen für soziale und politische Unruhen verantwortlich sind (B). Also: Wirtschaftskrisen sind für soziale und politische Unruhen verantwortlich. Eine breite Bewegung (A), nicht nur eine Partei, hat Vargas das Votum gegeben. Also: Die Bewegung hatte recht, Vargas zum Präsidenten zu wählen. Ergänzender Exkurs: Ethos und Pathos Das Gegenstück zur rationalen Seite des Logos bzw. der informalen Logik ist, wie in Kapitel 2 ausführlich dargestellt, die affektive Seite des Ethos und Pathos, die hier zusammenfassend und taxonomisch, d.h. also nicht mehr argumentationsstrukturell, dargestellt wird. Zunächst zum Ethos: Was unternimmt Vargas, um von sich ein ethisch hochstehendes Bild zu zeichnen, um beim Volk glaubhaft zu sein? In sechs Jahren Abwesenheit hörte Vargas nie auf, an das Volk zu denken, (loyal); nun zurück, um die Interessen des Volkes zu verteidigen (altruistisch); spricht als Freund zum Volk (freundschaftlich); in einfacher Sprache und verständlich (Begegnung auf Augenhöhe); schätzt die Selbstlosigkeit der Arbeiter (selbstlos ist tugendhaft); verspricht, sich für das Volk einzusetzen (engagiert); spricht offen (offenherzig und geradlinig); ständig werde er für das Volk kämpfen (unermüdlich); kümmert sich um Wohlergehen der Arbeiter (empathisch); stets für Gerechtigkeit und Harmonie (gerecht und ausgleichend); Einsatz des ganzen Lebens für das Volk (ausdauernd, beharrlich); fordert Klarheit bei Finanzierung (transparent); gibt Millionen von Gratisschulbüchern (großzügig); Ausdehnung der Rechte der Industriearbeiter auf die Landarbeiter (gerecht und empathisch); kritisiert nicht Menschen, sondern deren Methoden (sachlich und fair); sucht Kontakt zum Volk (volksnah); identifiziert sich mit dem Volk (fühlt sich als legitimer Volksvertreter). Die Rolle des Pathos ist es, wie vorhin ausgeführt, in der Zuhörerschaft emotionale Aufnahmebereitschaft für die Kernbotschaften auszulösen: Die Hilferufe des Volkes treffen Vargas in der Seele; das Elend, die Not, die niedrigen Löhne; das Volk darf nicht länger ausgebeutet werden; die negativen Elemente, Saboteure, Betrüger müssen ausgeschaltet werden; das Gesetz immer gegen Misswirtschaft, Spekulation, Wucher, Betrug an der einfachen Bevölkerung; die gespaltene Gesellschaft, in der die Reichen die Armen ausnutzen, überwinden; Überfluss und Mangel Seite an Seite in der Gesellschaft; Ächtung der Komplizen von Unredlichkeit; klagt die Heuchler an, die ihm durch ihre Falschheit schaden wollen. 6.2.2.5.2 Ergebnisse In diesem Abschnitt der informalen Logik ist nun also erhoben worden, wie Vargas für seine Politik argumentiert, und zwar sowohl auf formaler als auch auf inhaltlicher Ebene. Auf formaler Ebene geht es um die genannten Argumentationsmuster, auf inhaltlicher Ebene um die Gültigkeit seiner Argumente. Er argumentiert u.a. dafür, dass die Landarbeiter die gleichen Rechte zu bekommen hätten wie die Industriearbeiter, dass in Brasilien die wirtschaftlichen Probleme gelöst werden müssten, dass Ungerechtigkeit zu bekämpfen sei, dass er allein berechtigt sei, das Volk zu vertreten, dass das Volk immer recht habe und der absolute Souverän sei, dass er das Land erneuern müsse, dass sich die Arbeiter gewerkschaftlich zu organisieren hätten, dass die Gewerkschaften den Präsidenten unterstützen müssten, dass Wucher, Spekulation und Gier schlecht seien,
6 Exemplarische sprachliche Analysen historischer Reden
dass die Probleme des Volkes angesprochen werden müssten, dass Ämter und Behörden strengstens zu kontrollieren seien und dass das Volk das einzig Richtige getan habe, als es ihn zum Präsidenten wählte. Was ethisch vertretbar sei und demgemäß der Doxa seiner Zeit entspreche, bestimmt wiederum der Redner und auf diese Weise schafft er auch implizite Prämissen als Grundlage für seine Argumentation. Um ein überzeugendes Ethos zur Schau zu stellen, zeichnete sich Vargas selbst als loyal, altruistisch, freundschaftlich, respektvoll, selbstlos, engagiert, offenherzig, geradlinig, empathisch, gerecht, ausgleichend, ausdauernd, beharrlich, großzügig, sachlich und volksnah. Pathos wird geschaffen, wie oben dargelegt, um die Zuhörerschaft emotional auf die Aufnahme seiner Botschaften vorzubereiten. In diesem Sinne spricht er ihr Mitgefühl, ihren Sinn für Gerechtigkeit, ihr Herz für die Bedürftigen sowie ihr Solidaritätsgefühl an, und zwar durch seinen Hinweis auf die unerträglichen Missstände der Ausbeutung und der Verelendung.
6.3 6.3.1
Lázaro Cárdenas: 22. Dezember 1935 – Plaza de la Constitución (Zócalo) in Mexiko-Stadt: Discurso a los trabajadores del país Inhalt der Rede
Eingangs erklärt Cárdenas der Zuhörerschaft, dass er sich dringend an das ganze Volk wenden müsse, weil eine Gruppe von Fanatikern aus egoistischen Gründen mit Lügen und Intrigen das ganze Land aufwiegeln wolle. Die Nöte der Mexikaner seien allgemein bekannt. Auf seiner Reise durch das Land habe er, Cárdenas, immer wieder auf die Bedürfnisse der Bauern und Arbeiter sowie auf die prekäre Lage vieler Dörfer hingewiesen. Angesichts dieser Situation müsse die »Regierung gewordene Revolution« nun endlich umsetzen, was man dem Volk auf dem Schlachtfeld versprochen hätte. Dies sicherzustellen sei eine seiner Aufgaben als Präsident. Das Volk wisse aber, dass jeder Reformversuch auf den Widerstand der Konservativen stoße, weshalb es nicht verwundere, dass es nun erneut zu Intrigen und Perfidie komme. Angriffe auf das Volk und auf die Nation kämen aber nicht nur von den Konservativen, sondern es seien oft auch andere, die ihr persönliches Glück witterten und sich von dubiosen Ausbeuterklüngeln mitreißen ließen und dabei das Leid und die Not jener vergäßen, zu denen sie einst selbst gehört hätten. Sie hätten die Revolutionsideale längst aufgegeben und würden sich nun mit den ewigen Feinden der Revolution verbünden, um den Arbeitern all das streitig zu machen, wofür diese so hart und mutig gekämpft hätten. Das mexikanische Volk und vor allem die Arbeiterorganisationen dürften sich nicht wundern, dass es wieder Angriffe auf die Regierung gebe, zumal die anstehenden Reformen sehr wohl verschiedene Interessensgruppen sowie bestehende Grund- und Bodenbesitzverhältnisse beträfen. Es gehe nämlich um eine gerechtere Aufteilung. Es sei also nicht verwunderlich, dass jene, die vor Kurzem noch an der Macht waren und einst mehr Rechte für das Volk forderten, heute die Arbeit der Regierung für das Volk boykottierten.
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Ganz Mexiko wisse, dass der Angriff auf die Regierung mit der Bildung einer politischen Partei zu tun habe und dass jene, die diese stark machen wollen, das ganze Land bereisen um zu versuchen, aktuell politisch Verantwortliche sowie ehrenhafte Angehörige des Militärs zu bestechen, indem sie diesen weismachen wollten, dass man sich vor den Arbeiterorganisationen schützen müsse, weil diese nämlich die Zersetzung der Regierung im Schilde führten. Und so fragt Cárdenas das Publikum, ob denn die Arbeiter im Lande Anarchie ausgelöst, oder ob sich etwa die Bauern nicht an die Vorgaben der Regierung gehalten hätten. Es sei doch naheliegend, dass die Bauern verstanden hätten, dass all das, was man zwischen 1915 und 1934 verabsäumt habe, nun im laufenden Jahr umgesetzt worden sei, und zwar indem die Regierung 20 Millionen Pesos für Ejidoskredite bereitgestellt habe. Es sei also offensichtlich, dass die Regierung zum Wohle der Nation arbeite. Worin bestehe also die angebliche Zersetzung oder Auflösung? Der Regierung gehe es immer mehr darum, die Institutionen zu stützen, den Revolutionsgeist zu stärken und die Arbeiterrechte umzusetzen. Zur Seite stehe der Regierung dabei ein gut organisiertes, loyales Militär, das sich außerdem voll und ganz mit der Sache der Arbeiter identifiziere. Die außerhalb jeder Klüngelei stehende Regierung sei bestrebt, die Revolutionsideale voll und ganz umzusetzen. Wenn man dann die trostlose Lage vieler Indigener sowie die Not zahlloser Arbeiter und Bauern sieht, dann könne man gar nicht anders, als dieser Politik treu zu bleiben. Egoistische Interessen der Privilegierten könnten da keine Rolle spielen. Weiters beteuert Cárdenas, dass es in den Arbeiter- und Bauernorganisationen überhaupt keine Zersetzungsabsichten gebe. Demonstrationen seien legitimer Ausdruck des Leidens. Die Arbeiter und Bauern seien aber sehr verantwortungsvoll und wüssten sehr genau, wie weit man gehen könne. Sie wüssten auch, dass Geduld notwendig sei, bis die Ziele der Revolution, in der sie selbst gekämpft hatten, erreicht werden könnten. Im ganzen Land sei nichts von der Zersetzung zu spüren, von der jene Elemente gesprochen hatten. Jene Elemente würden nur aus Eigeninteresse handeln, um wieder zu ihren Privilegien zu kommen. Aber das Volk wüsste ohnedies genau, wie diese Leute einzuschätzen seien. Diese Leute müssten endlich zur Kenntnis nehmen, dass ihre Zeit vorbei und der neuen Generation Platz zu machen sei, damit das breite Volk endlich das ihm Zustehende bekomme. Aus den genannten Gründen sei sich die Regierung aber bewusst, dass sie die volle Unterstützung der organisierten Arbeiterschaft, ja, des ganzen Volkes im Kampf gegen jene Elemente habe, die aus rein egoistischen Motiven handelten. Cárdenas beschwichtigt und rät dem Volk zu Ruhe und Gelassenheit, denn er als Präsident werde stets dafür Sorge tragen, dass die Interessen der Nation und speziell der Arbeiterschaft gewahrt blieben. In Puebla habe er in der Vergangenheit wiederholt die Volksgerichte angerufen, weil diese durchaus imstande seien, öffentlich Bedienstete in ihrer Arbeit zu überprüfen. Und nun wiederhole er, was er damals schon gesagt habe, dass nämlich die organisierte Arbeiterschaft und das ganze mexikanische Volk den Mexiko vorsätzlich zugefügten Schaden aufzeigen und anprangern müssten. Ehrlichkeit in den öffentlichen Ämtern sei unerlässlich und um die Einheit des mexikanischen Volkes zu erhalten, müsse vorbildlich regiert werden. Von den hochgehaltenen Idealen dürfe nicht abgewichen werden
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und das versprochene Programm sei umzusetzen. Sollte die Regierung versagen, dann möge das Volksgericht das Urteil über sie fällen und die Verantwortlichen entlassen. Sollte die Regierung mehr als notwendig bzw. vorgesehen der Staatskasse entnehmen, dann möge sich das Volk 1940, am Ende des cardenistischen Mandats, alles unrechtmäßig Entnommene zurückholen. Cárdenas bedauert, dass Zeit und Energie in so unnötige Dinge wie diese Machenschaften investiert werden müssten, wo es doch so viel Konstruktives zu tun gebe. Alle Welt möge aber wissen, dass dem Feind, der die legitime Regierung zu verjagen beabsichtige, entsprechend geantwortet werden müsse. Cárdenas bedauert weiters, dass jene, die zwar einst an vorderster Front für das Volk gekämpft hätten, nun gedemütigt werden müssten, doch sie seien eben Verräter der Revolution und der Nation. Der Aufruhr dieser Elemente, der in verschiedenen Teilen des Landes festgestellt worden sei, habe sich unter dem Mäntelchen einer sogenannten politischen Partei zu verstecken versucht, die vorgab, den Arbeiter- oder Regierungsinteressen überhaupt nicht zuwiderhandeln zu wollen. Allein, das Volk glaube dies keinesfalls, da es ja wisse, wer dahinterstehe. Diese feindlichen Elemente hätten der ausländischen Presse erklärt, dass sich die Bewegung in Mexiko auflöse, dass deren Interessen zutiefst kommunistische seien und dass die Regierung jede Kontrolle über die entfesselten Massen verloren habe, dass Anarchie herrsche, die den nationalen Interessen großen Schaden zufüge. Hierbei handle es sich nun tatsächlich um Verrat am Vaterland. Es stelle sich die Frage, warum das Ausland, das seine eigenen Probleme habe, überhaupt desinformiert werde. Man frage sich ganz grundsätzlich, warum das Ausland einen scheelen Blick auf Mexiko werfen solle, wo doch die mexikanische Regierung nicht müde werde zu versichern, dass es im Lande keine wie auch immer gearteten Auflösungserscheinungen gebe. Cárdenas erinnert daran, dass das Aktionsprogramm der Regierung sehr umfangreich sei, jedoch gleich zu Beginn der Umsetzung meldeten die neuen Reaktionäre ihre Ansprüche an. Allen müsse aber klar sein, dass es ihnen niemals gelingen werde, die sozialen Leistungen der Revolution zurückzuschrauben, die Republik gar zu beherrschen oder das Ausland irgendwie zu beeinflussen, weil dieses ja jene üblen Mexikaner kenne und wisse, dass sie nur egoistische Ziele verfolgten. Die USA würden jedenfalls nie in die mexikanische Innenpolitik eingreifen, weil sie zum einen die Souveränität der anderen Staaten anerkennen und zum anderen mit ihren eigenen Problemen beschäftigt seien. Das ganze mexikanische Volk müsse überhaupt wissen, wie es zu diesem Angriff gegen die Revolutionsregierung gekommen sei. Cárdenas erklärt, dass seine Regierung gemäß den Revolutionsidealen die Lokalitäten des Lasters und der Ausbeutung schließen wollte. Wer die Betreiber derselben waren, müsse ohnedies nicht mehr gesagt werden. Es sei ganz sicher nicht die Regierung gewesen. Dann sei die Löschung der Insassenversicherung gekommen, die einen Überschuss von einer Million Pesos mit sich gebracht habe und wiederum sei es ganz offensichtlich, wer in den Genuss dieses Vermögens gekommen sei, es war jedenfalls nicht die Regierung. Dann sei die im Einklang mit dem Gesetz stehende Agrarreform in Angriff genommen worden. So galt es, die Hacienda von Guaracha der Familie des Schwiegersohns von General Calles aufzuteilen. Außerdem sei General Tapia von der öffentlichen Wohl-
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fahrt zu entfernen gewesen, weil er für den desaströsen Zustand dieser Institution verantwortlich zeichnete. Wenn sich solche Leute dann in ihren egoistischen Interessen beschnitten fühlen, sähen sie eben keinen anderen Ausweg mehr, als der Regierung Inkompetenz und Ziellosigkeit vorzuwerfen. Ihre Verleumdungen würden nur aus dem Missmut herrühren, den die Revolution in ihnen durch die geplanten tiefgreifenden Reformen ausgelöst habe. Ferner habe es übermäßigen Holzschlag in Michoacán gegeben. Er selbst, Cárdenas, sei in die Berge von Ocuilan gefahren und habe dort die Rodungen einstellen lassen. Die Regierung habe weiters die Rückgabe der Ländereien an die Dörfer der Indigenen in Mezquital im Staat Durango verfügt, wo im Widerspruch zum Artikel 27 der Verfassung die Lokalexekutive 190.000 Hektar Wald zur Tilgung der Schulden der Dörfer, die sich auf 28.000 Pesos beliefen, versteigert hatte. Der Expräsident der nationalen Eisenbahn habe sich mit anderen dorthin begeben, um die ihm übertragenen Rechte der Waldnutzung in Anspruch zu nehmen, doch die Regierung hatte diesen Wald ja bereits Monate zuvor an die rechtmäßigen Eigentümer, die dort ansässigen Indigenen, zurückgegeben. Aus diesem Grund würden sich besagte Herrschaften nun in ihren Rechten beschnitten fühlen. Einige Tage zuvor habe man dem Unternehmen Nieto y Melchor Ortega, das seit Jahren in den Wäldern von Michoacán Holz fällte, die Erlaubnis dafür entzogen und es sei sogar aus dem Staat vertrieben worden, weil es die Interessen der Indigenen unablässig mit Füßen getreten habe. Es sei kein Wunder, dass diese Elemente nun die Regierung bekämpften. Cárdenas erklärt zum Schluss dem mexikanischen Volk, dass niemand des Landes verwiesen oder im Ausland eingesperrt werden müsse. General Calles und seine Freunde seien weder für die Regierung noch für die Arbeiterschaft ein Problem. Es müsste sogar darüber eine Übereinkunft getroffen werden, dass diese Elemente, unabhängig davon, ob sie Delinquenten oder Überläufer der Revolution seien, im Lande zu bleiben hätten, um die selbst verschuldete Schmach zu spüren und die Bürde der Verantwortung zu tragen.
6.3.2
Sprachliche Analyse
Auch die dritte Rede wird in der Folge, analog zur ersten und zweiten, unter dem Blickwinkel der Morphosyntax, der Lexikologie, der kognitiven Semantik, der kognitiven Pragmatik sowie der informalen Logik untersucht.
6.3.2.1
Morphosyntax
In morphosyntaktischer Hinsicht interessieren auch hier die Frage der Aktantennullrealisierung, die verschiedenen Inblicknahmen von Handlungen bzw. Geschehen, d.h. also die verschiedenen Diathesen, die Nominalisierungen und die attributive Verwendung des Partizips Perfekt sowie die Funktion markiert zugewiesener Tiefenkasus. 6.3.2.1.1 Aktantennullrealisierungen Ein drittes Mal stellt sich die Frage, was durch die Nullrealisierung von Argumenten im Zuge der Aktantifizierung aus der Kommunikation ausgeblendet wird. Es folgen die entsprechenden Schlüsselstellen aus der Rede:
6 Exemplarische sprachliche Analysen historischer Reden
[…] un ejército […] que está dando muestras de verdadera lealtad […]. ([…] ein Heer […], das Beweise wahrer Loyaltität liefert […]). Dar, geben, ist ein dreiwertiges Verb, weil man immer jemandem etwas gibt, d.h., X da Y a Z. Hier fehlt der Drittaktant als Benefizient, es wird nicht expliziert, wem die Beweise geliefert werden, was zu einer generischen Aussage führt. Das Heer beweise quasi ständig seine Loyalität. […] todo el país sabe también cómo los individuos que quieren integrarlo [el llamado partido político] han estado recorriendo la República tratando de sobornar a los encargados del poder público […]. ([…] das ganze Land weiß auch, wie jene Leute, die sie [diese sogenannte politische Partei] einführen wollen, die Republik bereisten und die politisch Verantwortlichen zu bestechen versuchten […]). Es heißt integrar algo en algo, etwas wird in etwas integriert: X integra Y en Z. Das bedeutet, dass integrieren bzw. einführen ein dreiwertiges Verb ist. Hier wird nicht expliziert, worein die Partei integriert bzw. eingeführt werden soll. Dadurch bleibt der Aussage eine gewisse Unverbindlichkeit erhalten. Hemos repetido […] que tratamos de cumplir con las obligaciones que la Revolución ha contraído con el pueblo mexicano […]. (Wir haben wiederholt [gesagt], dass wir versuchen, die Verpflichtungen zu erfüllen, die die Revolution dem mexikanischen Volk gegenüber eingegangen ist […]). Das Verb repetir hat einen fakultativen Drittaktanten, weil es durchaus heißen kann: X repite Y a Z.2 Durch den fehlenden (fakultativen) Drittaktanten besteht aber auch hier eine gewisse Unverbindlichkeit. […] es indispensable gobernar con el ejemplo, ser sinceros con nuestras convicciones […]. ([…] es ist unerlässlich, mit gutem Beispiel zu regieren, den Überzeugungen treu zu bleiben […]). X gobierna Y heißt X regiert Y, X regiert etwa ein Land. So gesehen ist gobernar zweiwertig. Hier fehlt allerdings der Zweitaktant, was dazu führt, dass von keiner spezifischen Autorität die Rede ist, wodurch möglicherweise Zurückhaltung zum Ausdruck kommt. 6.3.2.1.2 Diathesen Die verschiedenen Inblicknahmen von Handlungen und Geschehen ermöglichen ebenso, Partizipanten hervorzuheben oder eben auszublenden. In diesem Sinne gilt es wiederum, die Rede unter dem Aspekt der Passiv-, Rezessiv- bzw. SE-Diathese zu betrachten: Die Passiv-Diathese Durch die Transformation der Aktiv- in die Passivdiathese wird der obligatorische Erstaktant der Aktivdiathese zu einem fakultativen Aktanten in der Passivdiathese: Der Autor signiert das Buch > Das Buch wird (vom Autor) signiert. Im Spanischen gibt es wie im Deutschen einen formalen Unterschied zwischen Vorgangs- und Zustandspassiv, der in der Verwendung von ser bzw. estar liegt: La ventana es abierta (por Isabel). (Das Fenster wird (von Isabel) geöffnet.) vs. La ventana está abierta. (Das Fenster ist geöffnet.): ¿Acaso la misma clase campesina no está enterada de que lo que no se pudo hacer de 1915 a 1934 […]? (Ist die Bauernschaft vielleicht nicht darüber informiert, was zwischen 1915 und 1934 nicht gemacht werden konnte?). Enterar a alguien de algo heißt jemanden über etwas informieren, also X entera a Y de Z. Der Erstaktant X aus der Aktivdiathese ist im Zustandspassiv Y está
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Ein Beispiel wäre: Lo he repetido mil veces a mis alumnos; auf Deutsch eher: Ich habe es meinen Schülern tausendmal gesagt.
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enterado de Z von der Oberfläche verschwunden. Damit ist niemand Konkretes für das Informieren der Bauernschaft verantwortlich zu machen. […] entonces, en 1940, cuando el pueblo trabajador de México esté más organizado […]. ([…] wenn dann 1940 die Arbeiterschaft Mexikos besser organisiert sein wird […]). X organisiert die Arbeiterschaft wird zum Zustandspassiv die Arbeiterschaft wird organisiert sein. Der agentive Erstaktant aus der Aktivdiathese ist von der Oberfläche getilgt. Kommunikativ ist somit niemand Konkretes mit der Organisation der Arbeiterschaft beauftragt. […] declararon a los corresponsales de la prensa extranjera que […] las masas están desenfrenadas; ([…] sie erklärten den Korrespondenten der ausländischen Presse, dass […] die Massen entfesselt sind). Desenfrenar a alguien heißt jemanden entfesseln/entzügeln. Es handelt sich also um ein zweiwertiges Verb. Im Zustandspassiv fehlt wiederum der agentive Erstaktant der entsprechenden Aktivdiathese, wodurch niemand Konkretes des Entfesselns der Massen angeklagt wird. Die Rezessiv-Diathese Die Kausativ-Diathese expliziert den agentiven Erstaktanten, der in der Anti-Kausativoder eben Rezessiv-Diathese getilgt ist, wodurch dem patientiven Zweitaktanten der Kausativ-Diathese in der entsprechenden Rezessiv-Diathese quasi intrinsische Kräfte zugeschrieben werden: Die Feinde beginnen die Attacke > Die Attacke beginnt: […] mi gobierno viene recomendando a todos los sectores de la República que […] mantengan su confianza en que la responsabilidad que yo tengo como jefe del Ejecutivo Federal sigue en pie velando por los intereses de toda la nación […]. ([…] meine Regierung empfiehlt allen, Vertrauen darein zu haben […], dass meine Verantwortung als Regierungschef für die Interessen der ganzen Nation aufrecht ist […]). X sigue Y heißt X führt/setzt Y fort, während X sigue soviel heißt wie X dauert an/besteht fort. Seguir en pie betont das zukünftige Bestehen-Bleiben oder Gelten. Es ist also die Verantwortung als solche, die bestehen bleibt oder sich quasi intrinsisch erhält. Y si, al terminar mi misión […], algunos de los funcionarios […] hemos sacado de las arcas del erario cantidades mayores de las que nos corresponden […], en 1940, cuando el pueblo trabajador de México esté más organizado, seguramente que no se detendrá para posesionarse de todas las propiedades y de todo aquello que hayamos robado a la nación. (Und wenn 1940, […] am Ende meiner Mission, einige Beamte mehr der Staatskasse entnommen haben, als ihnen zusteht, dann wird das zu dieser Zeit sicher schon besser organisierte mexikanische Arbeitervolk nicht zögern, sich all das zu holen, was wir der Nation gestohlen haben). Al terminar mi misión heißt hier wohl beim Enden meiner Mission.3 Die Mission wird also von niemandem beendet, sondern sie endet von sich aus, was darauf verweist, dass Cárdenas die Spielregeln befolgen und keine künstliche Verlängerung anstreben wird. Deploro también que se denigre a los hombres que estuvieron al frente de las masas […], que sus nombres figuren en leyendas ofensivas, que se ridiculicen sus figuras en cartelones […]. (Ich bedauere zutiefst, dass jene Männer gedemütigt werden, die die Massen anführten […], dass ihre Namen in offensiven Märchen auftauchen, dass sie auf Plakaten lächerlich gemacht werden […]). Das
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In einem anderen Kontext kann al terminar mi misión allerdings auch bedeuten: Wenn/als ich meine Mission beende/beendete, […]. In diesem Fall gibt es ein agentives Subjekt.
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transitive figurar bedeutet [darstellen/imitieren],4 das intransitive hingegen [auftauchen/aufscheinen]. Die Autoren der üblen Märchen werden nicht namentlich genannt, wohl um einen Rest an Unverbindlichkeit zu erhalten und um niemanden persönlich dafür verantwortlich zu machen, zumal es ja die Cardenisten sind, die die Callisten berechtigterweise lächerlich machen. Vino después la cancelación del Seguro del Pasajero, ¿quiénes recibieron las utilidades […] que montaron a más de un millón de pesos […]? (Dann erfolgte die Auflösung der Insassenversicherung und wer erhielt den Gewinn […], der sich auf über eine Million Pesos belief […]?). Montar algo heißt etwas aufstellen, algo monta a hingegen heißt etwas beläuft sich auf. Wiederum erlaubt die Rezessivdiathese eine gewisse Unverbindlichkeit, um niemanden anzuklagen und um keinen Schuldigen benennen zu müssen, der sich dann ja auch zur Wehr setzen könnte. Die SE-Diathese Wichtige Stellen aus der Rede führen vor Augen, wie durch die SE-Diathese erneut die Agentivität ausgeblendet wird: ¿Acaso la misma clase campesina no está enterada de que lo que no se pudo hacer de 1915 a 1934, en el año en curso se ha realizado al entregar veinte millones de pesos para el crédito de lo ejidos? (Vielleicht ist selbst die Bauernschaft nicht darüber informiert, dass das, was zwischen 1915 und 1934 nicht gemacht werden konnte, im laufenden Jahr geschehen ist, indem 20 Millionen Pesos für Ejidokredite zur Verfügung gestellt wurden?). Durch no se pudo hacer und se ha realizado ist in beiden Fällen die Agentivität ausgeblendet, wodurch niemand Konkretes verantwortlich gemacht werden kann. […] ¡si se lastiman intereses, eso no nos importa! (Wenn Interessen verletzt werden, dann stört uns das nicht!). Dank der pasiva refleja muss nicht genannt werden, wer die Interessen verletzen würde. […] que sean los trabajadores […] que vengan a señalar […] todo el daño que intencionalmente se haga o se trate de hacer en perjuicio de los intereses nacionales. ([…] die Arbeiter mögen auf den Schaden hinweisen, der den nationalen Interessen vorsätzlich zugefügt wird bzw. den man versucht, den nationalen Interessen zuzufügen […]). Auch hier werden die möglichen Übeltäter nicht beim Namen genannt. Es wird polarisiert, aber auf unverbindliche Weise, um nicht wirklich angreifbar zu sein. Das gleiche gilt für das Demütigen und LächerlichMachen im folgenden Zitat: Deploro también que se denigre a los hombres que estuvieron al frente de las masas […], que sus nombres figuren en leyendas ofensivas, que se ridiculicen sus figuras en cartelones […]. (Ich bedauere zutiefst, dass jene Männer gedemütigt werden, die die Massen anführten […], dass ihre Namen in offensiven Märchen auftauchen, dass sie auf Plakaten lächerlich gemacht werden […]). […] se reparte la hacienda de Guaracha […]. ([…] Die Hacienda von Guaracha wird aufgeteilt […]). Auch hier wird der dafür Zuständige nicht genannt. Es wird polarisiert, ohne aber die Anonymität zu verlassen. […] la necesidad de sanear el ambiente, para que el programa que se ha formulado pueda tener simpatías […]. ([…] die Notwendigkeit, das Umfeld instandzusetzen, damit das Programm, das festgesetzt wurde, gut ankommt […]). Es geht um das cardenistische Programm, das im 4
Ein Beispiel hierfür wäre: Estas líneas figuran las vallas del parque: Diese Linien stellen die Umzäunung des Parks dar.
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Gegensatz zu den Vorstellungen der Feinde steht, doch der konkrete Autor wird nicht genannt. Wieder ist der Zweck die Wahrung der Anonymität und das Gleiche gilt für das letzte Zitat: […] se libraron órdenes para que a la Nieto y Melchor Ortega, sociedad que explotaba los bosques de los indígenas de Michoacán desde hace muchos años, se les cancelaran los permisos correspondientes […]. ([…] Befehle wurden erlassen, damit der Gesellschaft Nieto y Melchor Ortega, die seit vielen Jahren die Wälder der Indigenen von Michoacán nutzt, die dafür notwendige Erlaubnis entzogen würde […]). 6.3.2.1.3 Deverbale Substantive Wie aus den vorangehenden Kapiteln hervorgeht, führt die Nominalisierung von Verben u.a. dazu, dass die Argumente der Verben nicht mehr realisiert werden müssen. Es ist ungrammatisch zu sagen, *Sie wollen verbessern, weil das Verb verbessern einen obligatorischen Zweitaktanten regiert. Man kann aber durchaus sagen, Ihr Wunsch nach Verbesserungen ist legitim, wenngleich Präzisierungen kommunikativ erforderlich erscheinen mögen: […] tengo la obligación de dirigirme a todos los habitantes de mi patria, para expresarles a qué se debe esta acometida. ([…] ich habe die Verpflichtung, mich an alle Einwohner meines Vaterlandes zu wenden, um ihnen zu mitzuteilen, wie sich dieser Angriff erklärt). Obligar, verpflichten, ist dreiwertig: X verpflichtet Y zu Z, doch in der Nominalisierung wird der agentive Erstaktant des Verbs nicht mehr realisiert. Man erfährt nicht, wer Cárdenas dazu verpflichtet. Acometer algo heißt etwas angreifen, das Verb regiert einen obligatorischen Zweitaktanten, was beim entsprechenden Nomen nicht der Fall ist. Der Angriff wird ganz einfach genannt, ohne dass präzisiert werden muss, was angegriffen wird. In beiden Fällen geht es wieder darum, unverbindlich zu bleiben. […] llegan a olvidar los sufrimientos de la clase a la que pertenecieron […]. ([…] es gelingt ihnen, die Leiden der Klasse, der sie selbst angehörten, zu vergessen […]). Man leidet immer an/unter etwas Bestimmtem, aber wenn man von den Leiden spricht, kann die Ursache des Leidens ausgeblendet werden. […] se solidarizan con los eternos enemigos […] para combatir los beneficios alcanzados por los trabajadores en sus luchas emancipadoras y ahogar los justos anhelos de mejoramiento […]. ([…] sie solidarisieren sich mit den ewigen Feinden, […] um die Rechte zu bekämpfen, die die Arbeiter in ihren emanzipatorischen Kämpfen erworben haben und um die legitimen Wünsche nach Verbesserungen auszulöschen […]). Das Verb mejorar, verbesseren, verlangt immer einen Zweitaktanten, d.h., man verbessert immer etwas Bestimmtes, doch genau das muss im Falle der Nominalisierung nicht mehr spezifiziert werden, womit wieder der Fall der Unverbindlichkeit eintritt. […] ha tomado como pretexto […] la formación de un llamado partido político […]. ([…] als Vorwand haben sie […] die Bildung einer politischen Partei genommen). X forma Y, also X bildet Y, doch im Zuge der Nominalisierung kann X entfallen, es muss nicht mehr spezifiziert werden, wer die politische Partei gegründet hat, also ein weiterer Fall von Unverbindlichkeit. […] son los hombres nuevos, los que tienen que venir […] para que las masas puedan recibir el beneficio de orientaciones producidas por hombres […] que no se hayan acostumbrado al hala-
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go, al poder o a la comodidad. ([…] die neuen Menschen müssen kommen […], damit die Massen von den Vorgaben derjenigen profitieren können […], die nicht an Schmeichelei, Macht oder Bequemlichkeit gewöhnt sind). Halago, Schmeichelei, entsteht durch die Konversion des Verbs halagar, schmeicheln. Der Erstaktant des Verbs verschwindet auf dem Weg der Nominalisierung von halagar zu halago, wodurch wiederum Anonymität und Unverbindlichkeit entstehen. […] el pueblo sabe quiénes son los que provocan esta nueva agitación. ([…] das Volk weiß, wer diese neue Agitation auslöst). Agitar, aufwiegeln, ist zweiwertig, jemand wiegelt jemanden oder etwas auf. In diesem Fall der Substantivierung sind sowohl der Erst- als auch der Zweitaktant des Verbs nullrealisiert. Es bleibt offen, wer aufwiegelt und es bleibt offen, wer oder was aufgewiegelt wird. Es handelt sich um einen weiteren Fall von Unverbindlichkeit. Ya es necesario que el pueblo de México vea en todo esto una traición a la patria. (Das mexikanische Volk muss in all dem einen Verrat am Vaterland sehen). Traicionar, verraten, ist zweiwertig, jemand verrät jemanden oder etwas, doch durch die Substantivierung entfällt der Erstaktant, wodurch die direkte Schuldzuweisung ausgeblendet wird. […] no tienen otro camino más que […] demonstrar al gobierno que no tiene […] control […]. ([…] Sie haben keine andere Möglichkeit mehr […] als zu zeigen, dass die Regierung keine Kontrolle mehr hat […]). Controlar, kontrollieren, ist zweiwertig, X controla Y, doch im Zuge der Nominalisierung von controlar werden dessen obligatorische Argumente nicht mehr realisiert. Von kommunikativer Bedeutung ist, dass der Regierung auf diese Weise kein konkreter Kontrollverlust mehr vorgeworfen wird. Die Folge ist Generizität und Unverbindlichkeit. 6.3.2.1.4 Der attributive Gebrauch des Partizips Perfekt Durch den attributiven Gebrauch des Partizips Perfekt werden wie bei den Nominalisierungen Argumente der entsprechenden finiten Formen nullrealisiert. In einem Satz wie Der verschüttete Wein kostete ein Vermögen wird ausgeblendet, wer ihn verschüttet hat, obwohl verschütten zweiwertig ist. In der politischen Rede wird es noch brisanter, wenn nämlich z.B. von abgeworfenen Bomben oder abgeschossenen Flugzeugen die Rede ist und somit geflissentlich ungesagt bleibt, wer dafür verantwortlich ist: […] un grupo apasionado pretende agitar al país […]. ([…] eine begeisterte Gruppe beabsichtigt, das Land aufzuwiegeln […]). Etwas begeistert jemanden, algo apasiona a alguien, doch im Falle des attributiv gebrauchten Partizips Perfekt muss eben nicht mehr spezifiziert werden, was die Begeisterung ausgelöst hat, wodurch der Redner unangreifbar bleibt. […] la Revolución hecha gobierno […]. ([…] die zur Regierung gemachte Revolution […]). Jemand machte also die Revolution zur Regierung, doch dank der gegebenen Konstruktion wird nicht präzisiert, wer die Revolution zur Regierung gemacht hat. Anonymität sichert die Unantastbarkeit. […] toda acción que pueda afectar los intereses creados […], tiene […] que encontrar serios obstáculos en su camino. ([…] jede Handlung, die die Eigeninteressen betrifft […], muss […] auf ernsthafte Hindernisse stoßen). Die Eigeninteressen sind also die kreierten Interessen, doch dank der vorliegenden Struktur wird nicht benannt, wer diese kreiert bzw. geschaffen hat. Vordergründig könnte dies nach Diskretion aussehen, eher ist aber wieder das Ziel der
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Unverbindlichkeit der Grund für diese morphosyntaktische Wahl, denn auf diese Weise bleibt der Redner unangreifbar. […] muchos de los elementos […] son de sobra conocidos. ([…] viele dieser Herrschaften […] sind sattsam bekannt). Kennen, conocer, ist zweiwertig, aber dank der attributiven Verwendung des Partizips kann verschwiegen werden, wer jene dubiosen Elemente mehr als zur Genüge kennt. Ein weiteres Beispiel für Unverbindlichkeit. Para seguir con nuestra obra, ¿no contamos con un ejército debidamente organizado […]? (Haben wir nicht ein gut organisiertes Heer, um unsere Arbeit fortzuführen […]?). Organizar ist wiederum zweiwertig, doch hier muss nicht mehr expliziert werden, wer das Heer organisiert hat, möglicherweise, um nicht die eigene Macht und Autorität zu sehr zu betonen. […] un pretendido partido político […]. ([…] eine so genannte politische Partei […]). Der Erstaktant des Nennens ist wieder ausgeblendet, man weiß also nicht, wer jene politische Organisation als politische Partei bezeichnet. Die Funktion der Konstruktion ist die Unverbindlichkeit zu sichern. Außerdem wird durch diese Formulierung Geringschätzung ausgedrückt. Viene luego nuestra acción definida y concreta […]. (Dann kommt unsere konkrete und (wohl) definierte Aktion […]). Das Definieren verlangt einen agentiven Erstaktanten, doch in der gegebenen Konstruktion wird verschwiegen, wer das Mastermind der cardenistischen Politik ist. Die Anonymität bleibt gewahrt. 6.3.2.1.5 Tiefenkasus Wie sich bei vorangehenden Analysen herausgestellt hat, eröffnen sich durch die markierte Verlinkung der Oberflächen- mit den Tiefenkasus diskursstrategisch hoch interessante Möglichkeiten, denen nun auch hier nachzugehen ist: […] era indispensable que la Revolución hecha gobierno, de una vez por todas, cumpliera con los compromisos que había contraído en los campos de batalla. ([…] es war unerlässlich, dass die zur Regierung gemachte Revolution ein für allemal die Verplichtungen erfüllte, die sie auf dem Schlachtfeld eingegangen war). Die Revolution selbst als Agens hat nun die Dinge in die Hand zu nehmen. Es handelt sich um eine Personifizierung und dadurch um eine Metonymisierung. Las nuevas reformas que lesionan los intereses creados […] tienen que traer forzosamente esas reacciones. (Die neuen Reformen, die die Eigeninteressen […] verletzen, bringen notwendigerweise diese Reaktionen mit sich). Die neuen Reformen scheinen ebenso agentiv. Daher ist es gerade so, als ob sie selbst, die neuen Reformen, nicht jedoch diejenigen, die sie durchführen, die Eigeninteressen verletzten. […] las obligaciones que la Revolución ha contraído con el pueblo mexicano […]. ([…] die Verpflichtungen, die die Revolution dem mexikanischen Volk gegenüber eingegangen ist […]). Auch hier tritt die Revolution metonymisch als Agens in Erscheinung und wird so zu der die mexikanische Geschichte bestimmenden Kraft. […] la sinceridad […] nos hace ver el panorma social tal cual es […]. ([…] die Ehrlichkeit […] lässt uns das soziale Panorama so sehen, wie es ist […]). Die Ehrlichkeit ist eine tugendhafte Kraft, die Möglichkeiten zur Verfügung stellt. […] que la Revolución […] pueda realizar integralmente el programa que permita mejorar las condiciones económicas, culturales del pueblo mexicano. ([…] auf dass die Revolution jenes Pro-
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gramm vollständig umsetze, das es erlaubt, die wirtschaftlichen und kulturellen Bedingungen des mexikanischen Volkes zu verbessern). Und wiederum ist die metonymisch für die Revolutionäre stehende Revolution Agens und nimmt in der Wahrnehmung den entsprechend prominenten Platz ein. 6.3.2.1.6 Ergebnisse Die morphosyntaktischen Strukturen dienen auch Cárdenas als diskursstrategische Waffen, die dem foregrounding, dem backgrounding oder überhaupt dem Ausblenden von Informationen im Kommunikationsakt dienen. Die zentralen hier untersuchten diskursstrategischen Waffen sind, wie in den vorher analysierten Reden, die Aktantennullrealisierung, die Passiv-, die Rezessiv- und die SE-Diathese, der Einsatz von deverbalen Substantiven, der Gebrauch des attributiv verwendeten Partizips Perfekt sowie die markierte Zuweisung von Tiefenkasus oder semantischen Rollen, um neue Handlungskonstellationen entstehen zu lassen. Durch die Nullrealisierung von Argumenten entsteht mitunter der Eindruck von Generizität. Nicht der Einzelfall sei relevant, sondern das Prinzip. Durch das Fehlen der Agenzien bleiben auch die konkrete Schuldzuweisung bzw. die Übertragung von Verantwortung aus, wodurch eine gewisse Unverbindlichkeit der Aussage entsteht, aufgrund derer der Redner letztlich aber unangreifbar bleibt. Die Polarisierung kann stattfinden, ohne dass die Antihelden genau benannt werden. Zweifelhafte Ursachen und unsichere Quellen sind besser im Dunkeln zu belassen. Stimmung kann genauso gut in einer gewissen Vagheit gemacht werden. Das Ausblenden von Handlungspartizipanten kann andererseits aber auch vornehme Zurückhaltung des Redners sein, vor allem, wenn es um eigene Leistungen geht. Das Sich-nicht-in-Szene-Setzen kann unter dem Blickwinkel des Ethos durchaus positiv vermerkt und infolgedessen honoriert werden, was dann ja wieder dem Redner zugutekommt.
6.3.2.2
Lexikologie
Aus lexikologischer Perspektive interessiert wiederum, inwiefern Identitäten auf lexikalische Weise konstruiert bzw. dekonstruiert werden. Es werden in der Folge wie bei den vorangehenden Analysen die Hochwert-, Unwert-, Fahnen-, Stigma-, Programmund Schimpfwörter erhoben. Im Anschluss daran werden erneut die Phänomene der Bedeutungsverengung und Bedeutungserweiterung sowie jenes der Näherung oder Approximation betrachtet. Abschließend werden die Ergebnisse kommentiert. 6.3.2.2.1 Hochwertwörter Bei den Hochwertwörtern handelt es sich, wie bereits erklärt, um jene Wörter, die ideologieübergreifend positiv konnotiert sind: los intereses nacionales (die nationalen Interessen); el progreso de la nación (der Fortschritt der Nation); verdadera lealtad (wahre Loyalität); responsabilidad (Verantwortung); sinceridad (Aufrichtigkeit); serenidad (heitere Gelassenheit); [estar] tranquilo (Ruhe bewahren); confianza (Vertrauen); honestidad (Ehrlichkeit); la unidad del pueblo (die Einheit des Volkes); la soberanía (die Souveränität); política del buen vecino (Politik der guten Nachbarschaft).
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6.3.2.2.2 Unwertwörter Das Negativpendant zum Hochwertwort ist, wie bereits ausgeführt, das allseits negativ konnotierte Unwertwort: la intriga, la mentira (die Intrige, die Lüge); una acometida de intrigas, tortuosidades y perfidias (ein Angriff aus Intrigen, Krummheiten und Niedertracht); sobornar (bestechen); halago (Schmeichelei); en perjuicio de los intereses nacionales (zum Schaden der nationalen Interessen); la agitación (die Aufwiegelei); traición a la patria (Verrat am Vaterland); los centros de explotación (Zentren der Ausbeutung); calumnias (Verleumdungen). 6.3.2.2.3 Fahnenwörter Die Fahnenwörter sind, wie bereits erläutert, jene Wörter, die ideologieabhängig positiv konnotiert sind: trabajadores de la República (Arbeiter der Republik); la Revolución (die Revolution); luchas emancipadoras (Kämpfe für Gleichstellung/Gleichberechtigung); las nuevas reformas (die neuen Reformen); la distribución de la riqueza (die Aufteilung des Reichtums); crédito de los ejidos (Ejidokredit); el espíritu revolucionario (der Revolutionsgeist); un ejército debidamente organizado (ein ordnungsgemäß organisiertes Heer); trabajadores organizados (organisierte Arbeiterschaft); el gobierno de la Revolución (die Revolutionsregierung); dignificar la Revolución (Würdigung der Revolution); restitución de las tierras (Landrückgabe). 6.3.2.2.4 Stigmawörter Als Negativpendant zu den Fahnenwörtern sind die Stigmawörter nun ideologieabhängig negativ konnotiert: los intereses creados (die Eigeninteressen); la anarquía (die Anarchie); la restauración de privilegios (das Wiedererlangen von Privilegien); la finalidad personalista (egoistische Ziele); tendencias comunistas (kommunistische Tendenzen); las masas desenfrenadas (entfesselte Massen); los nuevos reaccionarios (die neuen Reaktionäre); los centros de vicio (die Orte des Lasters); los tránsfugas de la Revolución (die Überläufer der Revolution). 6.3.2.2.5 Schimpfwörter Schimpfwörter sind Negativbezeichnungen für Feinde und Gegnerisches. Die Feinde bzw. deren Tun werden beschimpft: en su necia aventura (in ihrem törichten Abenteuer); bastardas ambiciones (widerwärtiges Machtstreben), camarillas de explotadores (Klüngel von Ausbeutern); los eternos enemigos (die ewigen Feinde); esa perversa aventura (dieses perverse Abenteuer); estos elementos (jene Elemente/Herrschaften); estos malos mexicanos (diese üblen Mexikaner). 6.3.2.2.6 Programmwörter Die Programmwörter bezeichnen laufende oder geplante Handlungen. Hier werden wichtige cardenistische Programmwörter aufgelistet: la distribución de la riqueza (die Aufteilung des Reichtums); la dotación de la tierra (die Landvergabe); consolidar las instituciones (das Festigen der Institutionen); afianzar los derechos [de los trabajadores] (die Rechte [der Arbeiter] untermauern); el desplazamiento [de políticos corruptos]
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(die Entfernung [korrupter Politiker]); la restitución de las tierras de los pueblos indígenas (die Landrückgabe an die Indigenen). 6.3.2.2.7 Bedeutungsverengung Bedeutungsverengung heißt, wie bereits erklärt, nichts anderes, als dass in der Kommunikation eine implizite Bedeutungsspezifizierung stattfindet. Spricht man etwa davon, dass ein Haus saniert wird, so ist die Bedeutung von sanieren eine ganz spezielle. Wird hingegen ein Unternehmen saniert, so bedeutet sanieren etwas anderes, und wenn die Wirtschaft eines Landes saniert wird, dann fällt die Bedeutungsspezifizierung noch einmal anders aus. Die Fragen zielen wiederum auf die Hervorhebung der Bedeutungsspezifizierung ab: agitar al país (das Land aufwiegeln – Frage: Auf welche Weise wird das Land aufgewiegelt?); realizar las obligaciones (die Verpflichtungen erfüllen – Frage: Auf welche Weise werden die Verpflichtungen erfüllt?); afectar los intereses creados (die Eigeninteressen betreffen – Frage: Wie werden die Eigeninteressen betroffen?); conductores de las masas (Führer der Massen – Frage: Wie führten sie die Massen?); mejorar las condiciones económicas, culturales (die wirtschaftlichen und kulturellen Bedingungen verbessern – Frage: Wie werden die Bedingungen verbessert?); exterminar los centros de explotación (die Zentren der Ausbeutung auslöschen – Frage: Wie werden die Zentren ausgelöscht?); afectar las […] propiedades del país (die Besitzverhältnisse im Lande ändern – Frage: Wie werden die Besitzverhältnisse geändert?); sanear el ambiente (das Umfeld sanieren – Frage: Wie soll das Umfeld saniert werden?); […] sociedad que explotaba los bosques de los indígenas de Michoacán ([…] die Gesellschaft, die die Wälder der Indigenen von Michoacán nutzte/ausbeutete – Frage: Auf welche Weise nutzten sie die Wälder/beuteten sie die Wälder aus?). 6.3.2.2.8 Bedeutungserweiterung Die Bedeutung eines Wortes muss hier weit gefasst werden, damit sie überhaupt Gültigkeit hat. Es sei an die leere Flasche erinnert, die nicht wirklich ganz leer ist oder auch an das runde Gesicht, das nicht wirklich rund ist. Trotzdem spricht man eben von der leeren Flasche bzw. dem runden Gesicht. Die Fragen dienen wieder der Verdeutlichung der Problematik: nuestro programa es integral (unser Programm ist allumfassend – Frage: Wie kann ein Programm allumfassend sein? Es kann vieles, aber nicht alles umfassen); mantener la unidad del pueblo (die Einheit des Volkes erhalten – Frage: Durch welche Dimension werden die Menschen in einem Volk (allumfassend) vereint? Nicht in jeder Hinsicht wird es Einheit geben); el señor general Tapia […], un elemento desorganizado (der General Tapia […], ein unorganisiertes Wesen – Frage: in welcher Hinsicht unorganisiert? wohl nicht in jeder); el gobierno no tiene control (die Regierung habe keine Kontrolle – Frage: In welchen Bereichen hat sie keine Kontrolle? Bestimmte Bereiche wird sie sehr wohl kontrollieren); el gobierno va a arruinar al país (die Regierung werde das Land ruinieren – Frage: ruinieren in wirklich jeder Hinsicht? Manche Bereiche werden wohl intakt bleiben).
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6.3.2.2.9 Näherung (Approximation) Der indizierte Referenzbereich ist größer als der tatsächliche. Wenn es heißt, das Volk wolle das, so ist eben keinesfalls das gesamte Volk gemeint, zumal zum Volk auch dessen Säuglinge gehören. Die Fragen verdeutlichen die angesprochene Diskrepanz: […] tengo la obligación de dirigirme a todos los habitanes de mi patria ([…] ich habe die Verpflichtung, mich an alle Einwohner meines Vaterlandes zu wenden – Frage: wirklich an alle?); […] las necesidades del pueblo son […] conocidas por todos ustedes (die Bedürfnisse des Volkes […] sind Ihnen allen bekannt – Frage: wirklich allen?); el pueblo mexicano sabe (das mexikanische Volk weiß – Frage: das ganze Volk?); todo el país sabe (das ganze Land weiß – Frage: das ganze Land?); el pueblo no cree esto (das Volk glaubt das nicht – Frage: das ganze Volk glaubt das nicht?); Conviene […] que todo el pueblo de México sepa […] (Das ganze mexikanische Volk soll wissen […] – Frage: wirklich das ganze Volk?). 6.3.2.2.10 Ergebnisse Die Hochwertwörter, Fahnenwörter und Programmwörter werden wiederum durchwegs verwendet, um die Cardenisten zu beschreiben. Ihnen gehe es um nationale Interessen, um den Fortschritt der Nation sowie um die Anerkennung dessen, dass auch andere die Souveränität eines Landes respektieren und um gute Nachbarschaft bemüht sind. Was sie auszeichne sei Loyalität, Verantwortungsgefühl, Aufrichtigkeit, heitere Gelassenheit, Ruhe, Vertrauen, Ehrlichkeit sowie Respekt vor der Arbeiterschaft. Sie stünden zur Revolution, ließen den Revolutionsgeist und die Revolutionsregierung hochleben, sie seien für die Gleichberechtigung der Klassen, für Reformen, für die Aufteilung des Reichtums, für Kreditvergabe an die Bedürftigen, für Landrückgabe und für die Entfernung korrupter Politiker. Die Unwert-, Stigma- und Schimpfwörter beziehen sich auf die Anti-Cardenisten als ewige Feinde und üble Mexikaner. Diese stünden für Intrige, Lüge, Krummheiten, Bestechung, Schmeichelei, Aufwiegelei, Verrat, Verleumdung, Ausbeutung und Lasterhaftigkeit. Ihnen gehe es um Eigeninteressen und Privilegien, sie seien Egoisten und Reaktionäre, die sich in törichten und perversen Abenteuern verstrickt hätten. Die Bedeutungsverengung, Bedeutungserweiterung und Näherung dienen wiederum der radikalen Vereinfachung des sprachlichen Ausdrucks. Abstufungen und Nuancierungen, Differenzierungen und sprachliche Genauigkeit haben keinen Platz in der Rede. Es geht darum, ganz klar das eigene vom feindlichen Lager abzugrenzen. Es gibt weiß und schwarz, für Grautöne dazwischen ist kein Platz vorgesehen, da diese Verwirrung stiften und eventuell sogar zum Nachdenken anregen könnten.
6.3.2.3
Kognitive Semantik
In diesem Abschnitt interessieren erstens die Erschaffung der Prototypen des Volkes, des Arbeiters und des Bauern sowie des Präsidenten mitsamt seiner Regierung durch die Erhebung und Zusammenfügung der laut Redner typischen Eigenschaften derselben, zweitens die Analyse von Schlüsselstellen der Rede hinsichtlich der Frage, inwiefern kommunikativ Wichtiges nicht versprachlicht wurde und drittens die Rolle von Metapher und Metonymie.
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6.3.2.3.1 Die Kreation der Idealbilder bzw. der Prototypen des Volkes, des Arbeiters und des Bauern bzw. des Präsidenten mitsamt seiner Regierung In der Rede findet sich eine Vielzahl von Merkmalen, mittels derer Cárdenas sich selbst mit seiner Regierung, das mexikanische Volk als Ganzes sowie die Arbeiter und Bauern charakterisiert. Durch die Zusammenführung dieser typischen bzw. stereotypen Merkmale entstehen die Idealbilder oder Prototypen des Präsidenten, des Volkes sowie der Arbeiter- und Bauernschaft. Das Volk – el pueblo […] el pueblo mexicano sabe que toda reforma, toda acción que pueda afectar los intereses creados o los intereses conservadores, tienen que encontrar serios obstáculos […] ([…] das mexikanische Volk weiß, dass jede Reform, jeder Schritt, der Eigeninteressen oder konservative Interessen betrifft, auf grobe Hindernisse stoßen kann […]; ¿Qué de extraño tiene, entonces, que el pueblo mexicano esté presenciando hoy una acometida de intrigas, tortuosidades y perfidias? (Was wundert es dann eigentlich, dass das mexikanische Volk gerade einen Angriff aus Intrigen, Krummheiten und Niedertracht erlebt?); ¿El mismo pueblo no está enterado de la acción integral que tratamos de llevar a cabo para el progreso de la nación? (Als ob das Volk nicht verstanden hätte, dass unser gesamtes Handeln dem Fortschritt der Nation dient); Ya el pueblo sabe lo que [esos hombres] […] dieron de sí (Das Volk weiß schon, was diese Leute von […] sich selbst gaben); […] cuando el pueblo […] esté más organizado, seguramente que no se detendrá para posesionarse de todas las propiedades y de todo aquello que hayamos robado a la nación ([…] wenn das Volk dann […] besser organisiert ist, wird es sich alles holen, was wir ihm gegebenenfalls gestohlen haben werden); […] el pueblo sabe quiénes son los que provocan esta nueva agitación ([…] das Volk weiß, wer diesen neuen Aufruhr ausgelöst hat); el pueblo mexicano debe saber que no podrán hacer retroceder la obra social de la Revolución (das mexikanische Volk muss wissen, dass sie die sozialen Errungenschaften der Revolution niemals zurückdrehen können); Conviene también que todo el pueblo de México sepa por qué ha venido esta acometida contra el gobierno de la Revolución (Das mexikanische Volk muss wissen, warum diese Attacke gegen die Revolutionsregierung gekommen ist). Die Arbeiter- und Bauernschaft – los trabajadores y campesinos […] beneficios alcanzados por los trabajadores en sus luchas emancipadoras ([…] Erfolge, die die Arbeiter in ihren Kämpfen um Gleichberechtigung erzielt haben); ¿Acaso existe en el país una anarquía producida por los trabajadores? (Gibt es im Land vielleicht eine von den Arbeitern ausgelöste Anarchie?); ¿Acaso el elemento campesino no ha sido consecuente atendiendo a las indicaciones del gobierno cuando éste le ha dicho: esperen […]? (Haben die Bauern vielleicht jemals nicht genau die Anweisungen der Regierung befolgt, als diese sagte: wartet […]?); ¿Acaso la misma clase campesina no está enterada de que lo que no se pudo hacer de 1915 a 1934, en el año en curso se ha realizado […]? (Hat dieselbe Bauernschaft etwa nicht verstanden, dass das, was zwischen 1915 und 1934 nicht gemacht werden konnte, im laufenden Jahr schon geschehen ist […]?); […] la miserable condición que guardan muchos núcleos de campesinos […] ([…] die schlechten Bedingungen, die viele Bauernsiedlungen nach wie vor haben […]); Es mentira que haya labor disolvente de los obreros y campesinos organizados (Es stimmt nicht, dass Arbeiter oder Bauern an der Zersetzung arbeiten); […] si hay manifestaciones […], éstas no son más que expresiones del dolor que se encuentra entre las masas obreras y campesinas ([…] wenn es Kundgebungen gibt […], dann sind sie
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nur Ausdruck des Schmerzes, den man bei den Arbeitern und Bauern findet); […] los trabajadores y campesinos […] tienen conciencia de su responsabilidad […] ([…] die Arbeiter und Bauern […] sind verantwortungsbewusst); [los trabajadores y campesinos] saben asimismo que hay necesidad de esperar a que el propio régimen […] pueda realizar integralmente el programa que permita mejorar las condiciones económicas […] ([die Arbeiter und Bauern] wissen auch, dass es notwendig ist zu warten, bis die Regierung […] das Programm umsetzen kann, das es ermöglichen wird, die Lebensbedingungen zu verbessern […]); […] la fuerza de los trabajadores, […] la fuerza moral que representamos nos da la suficiente base para poder reprimir a estos elementos […] ([…] die Kraft der Arbeiter, […] unsere moralische Stärke gibt uns die Grundlage dafür, dass wir diese Elemente besiegen können […]). Der Präsident – el presidente Cuando un grupo apasionado pretende agitar al país […] tengo la obligación de dirigirme a todos los habitantes de mi patria […] (Wenn eine sich ereiferte Gruppe das Land aufwiegeln will […], habe ich die Verpflichtung, mich an alle Einwohner meines Vaterlandes zu wenden […]); […] mi misión […] no es otra que realizar sus obligaciones [las de la Revolución] ([…] mein Auftrag […] ist kein anderer als ihre Verpflichtungen zu erfüllen [die der Revolution]); […] el gobierno de mi cargo no ha tenido necesidad de usar medidas drásticas […] porque sabe […] que la fuerza moral que representamos nos da la suficiente base para poder reprimir a estos elementos […] ([…] meine Regierung hat keine drastischen Maßnahmen ergreifen müssen […], weil sie weiß […], dass uns unsere moralische Stärke die Grundlage dafür gibt, diese Elemente zu besiegen […]); […] mi gobierno viene recomendando a todos los sectores de la República que estén tranquilos, que guarden serenidad, que mantengan su confianza en que la responsabilidad que yo tengo como jefe del Ejecutivo Federal sigue en pie velando por los intereses de toda la nación […] ([…] meine Regierung empfiehlt allen Bereichen der Republik, dass sie die Ruhe und Gelassenheit bewahren und das Vertrauen darein haben mögen, dass meine Verantwortung als Chef der Exekutive stets den Interessen der ganzen Nation gelten wird […]); La administración que presido […] quiso ante todo exterminar los centros de explotación, los centros de vicio (Die Regierung, der ich vorsitze […], wollte vor allem die Brutstätten der Ausbeutung und des Lasters auslöschen); […] vamos a afectar las distinas propiedades del país de acuerdo con la ley ([…] wir werden uns gemäß dem Gesetz die Besitztümer des Landes vornehmen). Viene también, por el gobierno, el desplazamiento del señor general Tapia de la Beneficencia Pública […] (Dann kommt die Entfernung des Generals Tapia aus der öffentlichen Wohlfahrt durch die Regierung […]); […] visité los montes de Ocuilan, Méx., que pertenecen a dieciocho pueblos y suspendí alli mismo las explotaciones […] ([…] ich besuchte die Berge von Ocuilan, die achtzehn Dörfern gehören, und stellte dort gleich die Ausbeutung [der Wälder] ein); Decretamos la restitución de las tierras de los pueblos indígenas de Mezquital (Wir verordneten die Landrückgabe an die Dörfer der Indigenen von Mezquital). 6.3.2.3.2 Scenes-and-frames Ein Blick auf eine vollständige Szene gibt also darüber Aufschluss, welches die Partizipanten oder Aktanten und welches die Umstände oder eben Zirkumstanten sind. Die für die Analyse wichtige Frage ist dann, ob diese explizit oder nur implizit vermittelt bzw. vorhanden sind:
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[…] toda reforma, toda acción que pueda afectar los intereses creados […] tienen que encontrar serios obstáculos […] ([…] jede Reform, jede Handlung, die die Eigeninteressen betreffen kann […], muss auf große Hindernisse stoßen […]): Warum? Der Grund wird nicht genannt. En toda la historia hemos observado agresiones semejantes […] (In der ganzen Geschichte haben wir ähnliche Aggressionen gesehen […]): Wann genau sind sie gesehen worden? No debe extrañar que los hombres que estuvieron al frente del poder […] traten hoy de poner un dique […] a la labor organizada que tratamos de realizar en beneficio de los intereses nacionales […] (Es darf nicht verwundern, dass die Männer, die an der Macht waren […] heute versuchen, einen Damm […] gegen die organisierte Arbeit zu bauen, die wir zugunsten der nationalen Interessen durchführen […]): Warum darf das nicht verwundern? […] todo el país sabe cómo […] han estado recorriendo la República tratando de sobornar a los encargados del poder público […] ([…] das ganze Land weiß, […] wie sie durch die ganze Republik gereist sind, um jene, die an der Macht sind, zu bestechen […]): Warum würden das alle wissen? Wann haben jene Leute das Land zum genannten Zweck bereist? […] son de sobra conocidos ([…] sie sind mehr als bekannt): Warum sind sie so bekannt? Wo sind sie so bekannt? […] la acción integral que tratamos de llevar a cabo para el progreso de la nación […] (das ganze Tun, das wir für den Fortschritt der Nation zu Ende führen […]): Auf welche Weise wird es zu Ende geführt? […] afianzamos cada vez más los derechos que les corresponden a las gentes que trabajan […] ([…] wir festigen die Rechte der Arbeiter immer mehr […]): Auf welche Weise werden sie gefestigt? […] es preciso seguir adelante ([…] es ist notwendig, weiterzumachen): Auf welche Weise wird weitergemacht werden? […] realizar […] el programa que permita mejorar las condiciones económicas […] ([…] das Programm umsetzen […], das es erlauben möge, die wirtschaftlichen Bedingungen zu verbessern […]): Auf welche Weise sollen sie verbessert werden? […] son los hombres que ya han cumplido su misión histórica ([…] es sind die Männer, die ihre historische Mission schon erfüllt haben): Wie und wann haben sie sie erfüllt? […] la fuerza moral que representamos nos da la suficiente base para poder remprimir a estos elementos […] ([…] die moralische Kraft, für die wir stehen, gibt uns die ausreichende Grundlage, um jene Elemente zu besiegen […]): Auf welche Weise gibt die moralische Kraft diese Grundlage? […] es indispensable gobernar con el ejemplo […] ([…] es ist unerlässlich, vorbildlich zu regieren […]): Wie wird vorbildlich regiert? […] cuando debiéramos todos dedicar nuestro tiempo a la labor constructiva […] ([…] wo wir doch alle unsere Zeit der konstruktiven Arbeit widmen sollten […]): Auf welche Weise sollte die Zeit der konstruktiven Arbeit gewidmet werden? […] quieren seguir lucrando a su alrededor ([…] sie wollen weiterhin ihre Umgebung ausnutzen): Auf welche Weise wollen sie sie ausnutzen? […] el pueblo […] sabe quiénes son los que provocan esta nueva agitación ([…] das Volk […] weiß, wer diesen neuen Aufruhr auslöst […]): Wie wird er ausgelöst? […] declararon a los corresponsales de la prensa extranjera […] que el gobierno no tiene absolutamente ningún control […] ([…] sie erklärten den Korrespondenten der ausländischen Presse […],
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dass die Regierung überhaupt keine Kontrolle mehr hätte […]): Wann fand das statt? Warum würden sie das der ausländischen Presse mitteilen? […] los […] países extranjeros […] saben que pretenden una finalidad personalista […] ([…] das Ausland […] weiß, dass sie egoistische Ziele verfolgen): Warum bzw. woher weiß es das Ausland? […] es aquí, en territorio nacional, donde deben quedar esos elementos […] para que sientan la vergüenza y el peso de sus responsabilidades históricas ([…] hier, auf nationalem Territorium, müssen diese Elemente bleiben […], damit sie die Schande und das Gewicht ihrer historischen Verantwortung spüren […]): Inwiefern lässt sie das nationale Territorium die Schande und Verantwortung spüren? 6.3.2.3.3 Metapher und Metonymie Metapher und Metonymie verbinden als bildliche Ausdrücke, wie bereits erläutert, die rationale mit der emotionalen Seite. Metapher und Metonymie ersetzen aber, wie gesagt, nicht einfach Wörter, sondern vermitteln entsprechend neue und vielschichtige Konzepte. Einen Damm gegen aufkommende Tendenzen errichten beweist, wie komplex die Bedeutung einer Metapher sein kann, und die Revolution setzt das Handlungsprogramm um zeigt, dass auch die Bedeutung der Metonymie keine einfach gestrickte ist. Die hohe rhetorische Wirksamkeit beider steht aus den genannten Gründen und vielleicht doch auch wegen einer gewissen poetischen Note außer Zweifel. In Cárdenasʼ Rede kommen etliche Metonymien und vor allem strukturelle Metaphern vor: Cuando la intriga y la mentira constituyen la única arma que esgrimen en su necia aventura […] (Wenn die Intrige und die Lüge die einzige Waffe sind, die sie in ihrem verrückten Abenteur schwingen […]): Die Gegner kämpfen mit den schäbigsten und niederträchtigsten Waffen, was gegen sie selber sprechen möge. […] era indispensable que la Revolución hecha gobierno […] cumpliera con los compromisos que había contraído ([…] es war unerlässlich, dass die zur Regierung gemachte Revolution […] die Verpflichtungen erfüllte, die sie eingegangen war): Die Revolution wurde erst zur Regierung gemacht und diese hat zu handeln. […] toda reforma, toda acción […] tienen que encontrar serios obstáculos en su camino ([…] jede Reform, jede Handlung […] muss auf ihrem Weg auf ernsthafte Hindernisse stoßen): Das Auf-dem-Weg-Sein ist die strukturelle Metapher, die Hindernisse als Objekte auf dem Weg sind eine ontologische. […] para […] ahogar los justos anhelos de mejoramiento […] ([…] um die legitimen Sehnsüchte nach Verbesserungen zu ersticken […]): Das metaphorische Ersticken bringt das gewaltsame Ende der Sehnsüchte deutlich zum Ausdruck. […] que traten hoy de poner un dique a la acción integral, a la labor organizada que tratamos de realizar en beneficio de los intereses nacionales ([…] dass sie heute versuchen, einen Damm gegen das gesamte Vorgehen zu bauen, gegen die organisierte Arbeit, die wir zugunsten der nationalen Interessen verrichten wollen […]): Der metaphorische Dammbau drückt den künstlichen Widerstand aus, der aber wohl aussichtslos ist. […] que la Revolución […] pueda realizar integralmente el programa que permita mejorar las condiciones económicas, culturales del pueblo mexicano. ([…] auf dass die Revolution […] jenes Programm umsetzen kann, das es erlaubt, die wirtschaftlichen und kulturellen Bedingungen des
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mexikanischen Volkes zu verbessern): Auch hier ist die Revolution wieder metonymisch aktiv tätig und auf diese Weise allemal imposant. Si los componentes de mi gobierno – y yo mismo en lo personal – […] llegáramos a efectuar negocios particulares con detrimento de los intereses de la nación, que sea este tribunal del pueblo el que se encargue de señalar su nombre para que ese individuo vaya a la calle (Wenn wir, die Mitglieder meiner Regierung – und ich ganz persönlich – […], Geschäfte zum Nachteil der nationalen Interessen tätigen würden, dann sollte dieses Volksgericht den Namen nennen, damit diese Person vor die Tür gesetzt wird): Que vaya a la calle, dass sie vor die Tür gesetzt werde, ist eine eindrückliche Metapher für die Entlassung. […] que lo entienda el pueblo mexicano, que lo entiendan los países extranjeros, que nosotros no hemos llamado a la puerta: es el enemigo el que ha venido a tratar nuevamente de lanzarnos a la calle ([…]das mexikanische Volk möge es verstehen, das Ausland möge es verstehen, dass nicht wir angeklopft haben, sondern dass es wieder der Feind war, der von neuem versucht hat, uns hinauszuwerfen): Das bildliche llamar a la puerta, das Anklopfen, drückt nicht nur die Anwesenheit des Anklopfenden aus, sondern vor allem auch, dass er etwas will. Das metaphorische lanzar a la calle, hinauswerfen, hingegen ist die Wiederaufnahme des starken Bildes des Sich-Entledigens einer Person. […] todavía estos elementos, seducidos por el canto de las sirenas, declararon a los corresponsales de la prensa extranjera […] que el gobierno no tiene absolutamente ningún control […] ([…] und immer noch erklärten diese Elemente, verführt vom Gesang der Sirenen, den Korrespondenten der ausländischen Presse […], dass die Regierung absolut keine Kontrolle mehr hätte […]): Der metaphorisch mythische Sirenengesang bezieht sich wohl auf die Chance, die Macht mit allen Privilegien wiederzuerlangen. […] aparecen los nuevos reaccionarios con sus apetitos insaciables ([…] es erscheinen die neuen Reaktionäre mit ihrem unstillbaren Hunger): Der unstillbare Hunger ist der unstillbare Machthunger, der gesamthaft klar das Nie-genug-Bekommen vermittelt. […] el gobierno norteamericano seguramente no va a intervenir ([…] die nordamerikanische Regierung wird sicher nicht intervenieren): Die Regierung steht wieder metonymisch für die Regierungsmitglieder, das so entstehende Bild ist aber kompakter und stärker, als wäre von einzelnen Personen die Rede. […] no tienen otro camino más que […] demostrar al gobierno […] que no tiene control, que […] va a arruinar al país ([…] sie haben keinen anderen Weg mehr als […] der Regierung zu zeigen, […] dass sie keine Kontrolle mehr habe, dass sie […] das Land ruinieren würde): Das Sich-auf-einemWeg-Befinden erinnert an die bekannte strukturelle Reisemetapher. Hier bedeutet die eingeschlagene Richtung, dass es keine Alternativen mehr gibt. Die Feinde haben sich quasi dem von ihnen eingeschlagenen Weg verschrieben. Y todas estas calumnias no tienen otro origen que el escozor que les causan los latigazos que han recibido de la propia Revolución […] (Und diese Verleumdungen haben keinen anderen Ursprung als den Groll, den ihnen die Peitschenhiebe der Revolution verpasst haben […]): Die Revolution steht metonymisch wieder für jene, die für die Revolutionsideale gekämpft haben und das Verpassen der Peitschenhiebe symbolisiert auf kraftvolle Weise den Entzug von Macht und Privilegien.
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6.3.2.3.4 Ergebnisse In diesem Abschnitt wurden also zunächst die diskursiven Schöpfungen der Prototypen des mexikanischen Volkes, des mexikanischen Arbeiters bzw. Bauern sowie des mexikanischen Präsidenten mitsamt seiner Regierung aus der beleuchteten Rede herausgelöst. Das Volk ist weise und kann das aktuelle Geschehen richtig einschätzen und beurteilen. Es ist Zeuge der niederträchtigen Attacken von außen, versteht aber sehr gut, was wirklich im Gange ist. Dem Volk ist auch klar, dass allein die cardenistische Politik im Interesse der Nation ist. Es weiß, was rechtens ist und kann sehr gut zwischen den Guten und den Bösen unterscheiden. Das Volk ist auf dem Laufenden zu halten, denn es hat jedes Recht, über die aktuellen Vorgänge informiert zu werden. Arbeiter und Bauern kämpfen für ihre Rechte. Sie sind aber keineswegs anarchistisch und streben unter keinen Umständen die Zersetzung der nationalen Einheit an. Sie sind verantwortungsvoll und moralisch stark und vertreten daher auch Recht und Ordnung und befolgen geflissentlich die Anweisungen der Regierung. Leider leben sie immer noch unter schlechten Bedingungen und das daraus resultierende Leid kommt bei mehr als legitimen Kundgebungen immer wieder zum Ausdruck. Wie dem auch sei, die Arbeiter und Bauern haben erkannt, dass die aktuelle Regierung effizient arbeitet, weshalb sie auch bereit sind, weiterhin geduldig zu sein. Der Präsident ist dem Volk gegenüber verantwortlich und kümmert sich dementsprechend in erster Linie um die Interessen der Nation. Er trachtet danach, die Revolutionsideale umzusetzen und versteht es, die dafür notwendigen Maßnahmen richtig zu dosieren. Aufgrund der Größe und der moralischen Stärke des Volkes kann er davon absehen, drastische Mittel zum Erreichen dieser Ziele anzuwenden. Der Präsident besucht die leidende Bevölkerung vor Ort und sieht zu, dass sie zu ihren Rechten kommt, dass ihr gestohlenes Land zurückgegeben wird, dass die Ausbeutung ein Ende findet und unfähige Beamte aus ihren Ämtern entfernt werden. Selbst in turbulenten Zeiten, die aber das Volk ja sehr wohl richtig einschätzen kann, rät er diesem, selbst Ruhe und Gelassenheit zu bewahren und Vertrauen in ihn zu haben. Der scharfe Blick auf Schlüsselszenen in der Rede lässt erneut erkennen, dass vor allem die Umstände sehr mangelhaft beschrieben sind. Das heißt, dass häufig die Gründe für Handlungen, die Art und Weise, wie etwas zu tun ist, der Ort, wo etwas stattgefunden haben soll und die Zeit, zu der sich etwas zugetragen habe, nicht genannt werden. Es werden also Behauptungen aufgestellt, ohne jene Informationen zu liefern, die notwendig wären, um die Stichhaltigkeit der Behauptungen überhaupt erst überprüfen zu können. All das führt wieder zu jener Unverbindlichkeit, die ebenso durch die bereits mehrfach besprochenen morphosyntaktischen Mittel erzielt wird. Metonymisch kommen vor allem die Revolution und die Regierung zum Einsatz. Das Metaphernarsenal ist im Falle der cardenistischen Rede besonders breit gefächert. Es spannt den Bogen von den Peitschenhieben bis zum Sirenengesang, lässt aber keine klaren thematischen Schwerpunkte erkennen. Insgesamt hinterlässt Cárdenasʼ figurativer Ausdruck aber allemal einen tiefen Eindruck.
6 Exemplarische sprachliche Analysen historischer Reden
6.3.2.4
Kognitive Pragmatik
Aus vorangehenden Verweisen auf die kognitive Pragmatik ging hervor, dass deren Kernanliegen das Erfassen der Illokution bzw. der Relevanz der Aussagen ist. Es geht nicht um die Bedeutung einzelner sprachlicher Einheiten, sondern um den Sinn der Aussage, der durch Ableitungen ermittelt wird. In der Folge soll wieder jeweils in drei Schritten vorgegangen werden. Erstens gilt es die Satzbedeutung zu ermitteln, zweitens allfällige Referenzfragen zu klären und drittens, gegebenenfalls im erweiterten Kontext, die Intention, Illokution oder eben kommunikative Relevanz der ausgewählten Äußerungen zu bestimmen: 6.3.2.4.1 Analyse El pueblo mexicano y en particular las organizaciones de trabajadores, no deben sorprenderse de esta última acometida. Las nuevas reformas que lesionan los intereses creados, […], los esfuerzos porque la distribución de la riqueza sea más equitativa, tienen que traer forzosamente esas reacciones. 1
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Satzbedeutung: [Das mexikanische Volk und vor allem die Arbeiterorganisationen dürfen sich nicht über diese letzte Attacke wundern. Die neuen Reformen, die Eigeninteressen beschneiden, […], die Anstrengungen für eine gleichmäßigere Verteilung des Reichtums müssen notwendigerweise bestimmte Reaktionen mit sich bringen]. Referenzbestimmung: Las organizaciones de trabajadores sind die gewerkschaftlichen Organisationen der mexikanischen Arbeiter. Der letzte Angriff, die última acometida, ist das koordinierte Zusammenspiel von Drohungen, Verleumdungen und Falschinformationen, um Cárdenasʼ Regierung zu diskreditieren. Las nuevas reformas sind die von Cárdenas umgesetzten sozialen und wirtschaftlichen Reformen zur Stärkung der Arbeiter- und Bauernschaft. Los intereses creados sind die Eigeninteressen der zum Gegenschlag gegen Cárdenas ausholenden Callisten. La distribución de la riqueza […] más equitativa bezieht sich auf die Aufteilung des Großgrundbesitzes und die Verstaatlichung von Großkonzernen. Esas reacciones sind die Angriffe der Callisten. Intention/Relevanz der Aussage: No deben sorprenderse, dürfen sich nicht wundern, impliziert, dass mit den Attacken zu rechnen war. Esta última acometida präsupponiert zunächst, dass es vorher schon Attacken gab. Las nuevas reformas, die neuen Reformen, präsupponieren möglicherweise, dass es schon vorher Reformen gab, möglicherweise steht neu aber auch dafür, dass es neuerdings Reformen gibt. Die Callisten bekämpfen die Reformen, also stehen die Callisten für Ungerechtigkeit. Durch diese Klarstellung beabsichtigt Cárdenas, das Volk auf seine Seite zu bringen.
Hemos repetido en distintas ocasiones que nuestro programa es integral, que tratamos de cumplir con las obligaciones que la Revolución ha contraído con el pueblo mexicano […], y si la sinceridad de nuestros propósitos nos hace ver el panorama social tal cual es, […] debemos robustecer nuestra convicción de que es preciso seguir adelante.
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Satzbedeutung: [Der Sprecher und andere Personen haben zu verschiedenen Gelegenheiten erklärt, dass ihr Programm ein umfassendes ist, dass sie versuchen, die Verpflichtungen, die die Revolution den Mexikanern gegenüber eingegangen ist, zu erfüllen und wenn sie erkennen, dass die soziale Lage tatsächlich so ist, wie sie sich darstellt, dann müssen sie noch überzeugter kämpfen]. Referenzbestimmung: Der Sprecher ist Cárdenas, die anderen Personen sind wohl die Regierungsmitglieder oder zumindest enge Mitarbeiter von Cárdenas. Die Revolution ist die mexikanische Revolution, die eingegangenen Verpflichtungen sind wohl die durch die Verfassung von 1917 eingegangenen. El panorama social tal cual es, die soziale Lage, so wie sie ist, ist eben die sehr ungleiche und triste für die Arbeiter und Bauern im Mexiko der dreißiger Jahre. Seguir adelante, weitermachen, bedeutet, weiterhin alles daran setzen, dass die Verfassung von 1917 umgesetzt und dadurch wesentlich mehr Gerechtigkeit erreicht wird. Jene, die weitermachen müssen, sind die Cardenisten. Intention/Relevanz der Aussage: Das Engagement für Gerechtigkeit im Land, zu dem sich die Revolutionäre verpflichtet haben, präsupponiert vorher bestehende Ungerechtigkeit, die tatsächlich eklatant war. Der ehrliche Blick auf die Lage gestattet, diese eklatante Ungerechtigkeit wahrzunehmen. Folglich gibt es für die Cardenisten keine andere Wahl, als für die Revolutionsziele weiterzukämpfen. Diese Aussage ist ein impliziter Aufruf dazu.
En todo el país no he advertido esa labor disolvente que quieren hacer aparecer los elementos que ayer estuvieron al lado de ustedes: se trata únicamente de un propósito de restauración de privilegios y de una organización defensora de los poderosos intereses creados. 1
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Satzbedeutung: [Der Sprecher hat keine Auflösungserscheinungen im Land feststellen können. Bestimmte Leute, die sich am Vortag bei den Zuhörern befanden, sprechen aber davon. Dies ist ein Vorwand, um Privilegien zurückzugewinnen und mächtige Eigeninteressen zu schützen]. Referenzbestimmung: Der Sprecher ist Cárdenas. Das ganze Land ist Mexiko. Esa labor disolvente, die Auflösungserscheinungen, bezieht sich darauf, dass die Regierung Mexikos keine Kontrolle mehr über das Land hätte. Jene Elemente oder Leute, die am Tag vor der Rede bei den Zuhörern waren, sind die Callisten. Intention/Relevanz der Aussage: Die Rückgewinnung von Privilegien und der Schutz von Eigeninteressen präsupponiert, dass es einst Privilegien gab und dass Eigeninteressen bedient wurden. Dies hat aber offensichtlich irgendwann ein Ende gefunden. Die Intention der Aussage ist, dass die Zuhörer auf die Falschheit der Callisten aufmerksam gemacht und eo ipso vor diesen gewarnt werden.
Ustedes mismos conocen quiénes están empeñados en esa perversa aventura: son los hombres que ya han cumplido su misión histórica. Ya el pueblo sabe lo que pudieron hacer […]. 1
Satzbedeutung: [Der Redner behauptet, die Zuhörer wüssten, wer hinter einem gewissen perversen Abenteuer steht. Es sind Männer, die ihre Mission bereits erfüllt haben. Das Volk weiß, was sie erreichten […]].
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Referenzbestimmung: Der Redner ist Cárdenas, die Zuhörer sind die auf dem Zócalo versammelten Menschen. Esa perversa aventura ist der callistische Versuch, die cardenistische Regierung zu diskreditieren. Die genannten Männer, los hombres, sind Calles und seine Anhänger. Die misión histórica war das Maximato. El pueblo ist das mexikanische Volk. Intention/Relevanz der Aussage: Die Aktion der Callisten bezeichnet Cárdenas als perverses Abenteuer. Pervers bedeutet [abartig, verkehrt, verdreht, unnatürlich]. Das impliziert wiederum, dass der natürliche und richtige Werdegang des Landes jener ist, der im Gegensatz zum callistischen steht und das ist der cardenistische. Sie haben ihre Mission erfüllt impliziert, dass ihre Zeit vorbei ist. Dass die Mission eine historische war, kann durchaus bedeuten, dass Calles zu seiner Zeit auch wichtige politische Schritte setzte, Cárdenas stand ihm ja lange zur Seite. Lo que pudieron hacer, was sie bewerkstelligten, ist nicht eindeutig zu interpretieren, scheint sich aber doch darauf zu beziehen, dass Calles, trotz durchaus wichtiger und anerkennenswerter Schritte vor allem in den ersten Jahren des Maximato, letztlich aber immer weiter davon abrückte, die Revolutionsideale umzusetzen. Er wurde sogar immer reaktionärer. Indem Cárdenas außerdem – ganz suggestiv – sagt, dass das Volk ohnedies wisse, wer diese Leute seien, geht er schon davon aus, dass das Volk auf seiner Seite ist.
El pueblo mexicano debe saber que no podrán hacer retroceder la obra social de la Revolución, que no podrán dominar la situación de la República. 1
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Satzbedeutung: [Das mexikanische Volk muss wissen, dass eine gewisse Gruppe von Menschen das soziale Werk der Revolution nicht zurückfahren kann, dass eine gewisse Gruppe von Menschen nicht die Lage der Republik beherrschen kann]. Referenzbestimmung: Besagte Gruppe von Menschen sind die Callisten, das angesprochene soziale Werk der Revolution bezieht sich auf die in der Verfassung von 1917 festgelegten, anzustrebenden sozialen Verbesserungen. Intention/Relevanz der Aussage: Die Aussage dient der Beruhigung des Volkes. Was er allerdings sagt, ist, was er vermutet. Er sagt zwar das Volk müsse wissen, el pueblo debe saber, liefert dann aber nur seine Meinung, jedoch keine Fakten oder Argumente.
Yo digo al pueblo mexicano, a los grupos organizados: no hay por qué decretar la expulsión del país de ninguna persona; no hay por qué ir a pedir su prisión al territorio extranjero; el general Calles y sus amigos no son un problema ni para el gobierno ni para las clases trabajadoras. Y que éstas convengan en que es aquí, en territorio nacional, donde deben quedar esos elementos, ya sean delincuentes o tránsfugas de la Revolución, para que sientan la vergüenza y el peso de sus responsabilidades históricas. 1
Satzbedeutung: [Der Redner sagt dem mexikanischen Volk, den organisierten Gruppen, dass niemand des Landes verwiesen werden sollte und dass für niemanden im Ausland eine Gefängnisstrafe beantragt werden dürfte. Calles und seine Freunde sind kein Problem, weder für die Regierung noch für die Arbeiterschaft,
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und diese möge damit einverstanden sein, dass jene Elemente, unabhängig davon, ob sie Straftäter oder Revolutionsüberläufer sind, im Land bleiben sollen, um die Schande und die historische Verantwortung zu spüren]. Referenzbestimmung: Der Redner ist Cárdenas, die organisierten Gruppen sind die gewerkschaftlich oder sonst korporatistisch organisierten Gruppen, Mexiko ist das Land, aus dem niemand ausgewiesen werden soll. Aquí, en el territorio nacional ist Mexiko, esos elementos, jene Elemente, sind Calles und dessen Anhänger, die die cardenistische Politik und Regierung diskreditieren. Intention/Relevanz der Aussage: Das Nicht-Ausweisen von Landsleuten zeugt einerseits von Größe, da Cárdenas offensichtlich die Möglichkeit hätte, sie auszuweisen, andererseits sollten die Straftäter und Revolutionsüberläufer aber gerade durch das Verbleiben im Lande Schande und historische Verantwortung zu spüren bekommen. Das Im-Lande-Bleiben der Straftäter und Revolutionsüberläufer impliziert also, dass diese indirekt bestraft werden. Das könnte durch den Groll der Mexikaner passieren oder möglicherweise auch durch die eigene Einsicht, falsch gehandelt zu haben. Cárdenas macht jedenfalls klar, dass er von Gewalt absieht und selbst in bedrohlichen Situationen eine gewisse Noblesse wahrt, was für ihn und gegen die Feinde spricht. Er will aber auch nicht allein entscheiden, sondern möchte die Arbeiterschaft in den Entscheidungsfindungsprozess miteinbeziehen. Das Volk hat schließlich immer recht und er ist der Menschenfreund.
6.3.2.4.2 Ergebnisse Die Kernfrage der kognitiven Pragmatik ist, wie bereits mehrfach abgehandelt, welche Intention bzw. Relevanz einer Äußerung sich aus den Ableitungen der Explikaturen und Implikaturen herauskristallisiert. Durch die hier abgebildeten Schlüsselaussagen beabsichtigt der Redner, dem Volk klar zu machen, dass es bereits auf seiner Seite sei und dort auch bleiben möge. Ferner beabsichtigt er, das Volk aufzurufen, weiterhin für die Revolutionsideale zu kämpfen, es eindringlich vor den reaktionären Feinden zu warnen, es aber auch zu beruhigen und ihm klar zu machen, dass es selbst der Souverän sei und daher stets mitentscheiden müsse.
6.3.2.5
Informale Logik
Im fünften und letzten Abschnitt der Analyse wird wiederum die Argumentstruktur der Rede betrachtet, um herauszufinden, auf welche Weise der Redner sein Publikum argumentativ zu überzeugen trachtet. Die in der Rede verwendeten Argumentstrukturen werden erhoben und die darauf basierende Argumentation wird abgebildet und erläutert. Die verwendete Argumenttypologie ist wieder die von Manfred Kienpointner ausgearbeitete. Cárdenasʼ Argumentationsstruktur unterscheidet sich insofern wesentlich von derjenigen Peróns und Vargasʼ, als ein Großteil seiner Argumente implizit bleibt. So teilt er etwa merklich entrüstet dem Publikum mit, dass die Feinde nicht einmal vor dem Versuch zurückschreckten, die politischen Machthaber zu bestechen. Hier kommt die in Kapitel 2 diskutierte Doxa ins Spiel, die gesellschaftlich gemeinhin akzeptierte Werte als Argumentationsgrundlage etabliert. Für den konkreten Fall heißt das, dass Be-
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stechung inakzeptabel ist und dass diejenigen, die bestechen oder auch nur versuchen zu bestechen, moralisch verwerflich handeln. Die Argumentstruktur entspricht der vierzehnten aus der Typologie: Wenn die Ursache (A) vorliegt, folgt die Wirkung (B). Die Ursache (A) liegt vor. Also: Die Wirkung (B) folgt: Wenn jemand besticht bzw. zu bestechen versucht, dann folgt daraus, dass man ihm nicht vertrauen kann. Dies wird allerdings nicht expliziert, dennoch ist das die klare Botschaft. 6.3.2.5.1 Analyse Die genannte vierzehnte Argumentstruktur lautet also: Wenn (A), dann folgt B. (A) liegt vor, also: (B) folgt: Wenn eine Gruppe von Menschen das Land aufzuwiegeln versucht (A), dann muss der Präsident dem Volk erklären, was los ist (B). Die Callisten versuchen das Land aufzuwiegeln, also muss Cárdenas dem Volk erklären, was vor sich geht. Wenn das Volk belogen und gegen das Volk intrigiert wird (A), dann muss der Präsident dem Volk erklären, was los ist (B). Die Callisten belügen das Volk und intrigieren gegen das Volk, also muss Cárdenas dem Volk erklären, was vor sich geht. Wenn die Lage der Dörfer prekär ist (A), dann müssen die Verpflichtungen aus der Revolution eingegangen werden (B). Die Lage der Dörfer ist prekär, also müssen die Verpflichtungen aus der Revolution eingegangen werden. Wenn die Lage der Dörfer prekär ist (A), dann muss Cárdenas die Revolutionsideale umsetzen (B). Die Lage der Dörfer ist prekär, also muss Cárdenas die Revolutionsideale umsetzen. Wenn Reformen die Eigeninteressen der Privilegierten beschneiden (A), dann leisten diese Widerstand (B). Reformen beschneiden die Eigeninteressen der Privilegierten, also leisten diese Widerstand, das heißt, damit war zu rechnen. Wenn jemand bemüht ist, die Versprechen der Revolution zu erfüllen (A), dann kann man ihm vertrauen (B). Die Cardenisten sind bemüht, die Versprechen der Revolution zu erfüllen, also kann man ihnen vertrauen. Wenn man die triste Realität der Bauern sieht (A), dann kann man nicht anders, als auf dem Reformkurs zu bleiben (B). Die Cardenisten sehen die triste Realität der Bauern, also können sie nicht anders, als auf dem Reformkurs zu bleiben. Wenn sich jemand seiner Verantwortung bewusst ist (A), dann kann man ihm vertrauen (B). Die Bauern und Arbeiter sind sich ihrer Verantwortung bewusst, also kann man ihnen vertrauen. Wenn jemand geduldig ist (A), dann kann man ihm vertrauen (B). Die Bauern und Arbeiter sind geduldig, also kann man ihnen vertrauen. Wenn man seine Aufgabe erfüllt hat (A), dann soll man Platz für die Nächsten machen (B). Die Callisten haben ihre Aufgabe erfüllt, also sollen sie Platz für die Nächsten machen. Wenn man viel moralische Kraft hat (A), dann kann man die Feinde schlagen (B). Die Cardenisten haben viel moralische Kraft, also können sie die Feinde schlagen. Wenn sich ein Präsident um die Interessen der ganzen Nation kümmert (A), dann kann das Volk beruhigt sein (B). Cárdenas kümmert sich um die Interessen der ganzen Nation, also kann das Volk beruhigt sein.
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Das Negativpendant zur vierzehnten Argumentstruktur ist die fünfzehnte: Wenn die Ursache (A) nicht vorliegt, folgt die Wirkung (B) nicht. Die Ursache (A) liegt nicht vor. Also: Die Wirkung (B) folgt nicht: Wenn jemand die Anarchie nicht anstrebt (A), dann muss man ihm nicht misstrauen (B). Die Arbeiter streben die Anarchie nicht an, also muss man ihnen nicht misstrauen. Wenn jemand die Anweisungen der Regierung nicht ablehnt (A), dann muss man ihm nicht misstrauen (B). Die Bauern lehnen die Anweisungen der Regierung nicht ab, also muss man ihnen nicht misstrauen. Wenn jemand nicht übersieht, dass im laufenden Jahr all das gemacht worden ist, was zwischen 1915 und 1934 verabsäumt wurde (A), dann muss man ihm nicht misstrauen (B). Die Bauern haben nicht übersehen, dass im laufenden Jahr all das gemacht worden ist, was zwischen 1915 und 1934 verabsäumt wurde, also muss man ihnen nicht misstrauen. Wenn jemand nicht übersieht, dass die Regierung für die ganze Nation arbeitet (A), dann muss man ihm nicht misstrauen (B). Das Volk übersieht nicht, dass die Regierung für die ganze Nation arbeitet, also muss man ihm nicht misstrauen. Wenn eine Regierung eines guten Heeres nicht entbehrt (A), dann muss man ihr nicht misstrauen (B). Die mexikanische Regierung entbehrt nicht eines guten Heeres, also muss man ihr nicht misstrauen. Wenn jemand keine Vetternwirtschaft betreibt (A), dann muss man ihm nicht misstrauen (B). Die Cardenisten betreiben keine Vetternwirtschaft, also muss man ihnen nicht misstrauen. Wenn jemand die Zersetzung der eigenen Regierung nicht anstrebt (A), dann muss man ihm nicht misstrauen (B). Die Bauern und Arbeiter streben die Zersetzung der eigenen Regierung nicht an, also muss man ihnen nicht misstrauen. Einige Argumente fußen auf der sechzehnten Argumentstruktur: Wenn die Wirkung (B) vorliegt, ging die Ursache (A) voraus. Die Wirkung (B) liegt vor. Also: Die Ursache (A) ging voraus: Wenn jemand von offizieller Seite lächerlich gemacht wird (B), hat er – z.B. – die cardenistische Politik diskreditiert (A). Die Callisten wurden von offizieller Seite lächerlich gemacht, also haben sie – z.B. – die cardenistische Politik diskreditiert. Wenn jemand die ausländische Presse belügt (B), gehört er zu den bösen Mexikanern (malos mexicanos) (A). Die Callisten haben die ausländische Presse belogen, also sind sie böse Mexikaner. Wenn jemand die eigene Regierung schlecht macht (B), gehört er zu den bösen Mexikanern (malos mexicanos) (A). Die Callisten haben die eigene Regierung schlechtgemacht, also sind sie böse Mexikaner. Wenn jemand egoistische Ziele verfolgt (B), gehört er zu den bösen Mexikanern (malos mexicanos) (A). Die Callisten haben egoistische Ziele verfolgt, also sind sie böse Mexikaner. Wenn Ausbeutung und Prostitution betrieben wurden (B), dann standen dahinter böse Kräfte (A). Die Callisten haben Ausbeutung und Prostitution betrieben, also stellen sie böse Kräfte dar. Wenn andere finanziell übervorteilt wurden (B), dann standen dahinter böse Kräfte (A). Die Callisten haben andere finanziell übervorteilt, also stellen sie böse Kräfte dar.
6 Exemplarische sprachliche Analysen historischer Reden
Die achtzehnte Argumentstruktur diente auch Cárdenas gleich mehrfach als Grundlage für argumentatives Überzeugen. Sie lautet: Wenn (A) dann (B), (B) = positiv, also (A): Wenn das Revolutionsprogramm umgesetzt wird (A), dann bleibt die Einheit der Nation erhalten (B); (B) = positiv, also: Das Revolutionsprogramm soll umgesetzt werden. Wenn man dem Volk die Attacken der Callisten erklärt (A), dann wird es deren Unrechtmäßigkeit erkennen (B); (B) = positiv, also: Man soll dem Volk die Attacken der Callisten erklären. Wenn der Großgrundbesitz aufgeteilt wird (A), dann führt das zu mehr Gerechtigkeit (B); (B) = positiv; also: Man soll den Großgrundbesitz aufteilen. Wenn inkompetente Beamte entfernt werden (A), dann führt das zu Effizienz und Ordnung (B). (B) = positiv, also: Inkompetente Beamte sollen entfernt werden. Wenn das Revolutionsprogramm umgesetzt wird (A), dann gibt es mehr Gerechtigkeit (B). (B) = positiv, also: Man soll das Revolutionsprogramm umsetzen. Wenn das einst konfiszierte Land wieder zurückgegeben wird (A), dann gibt es mehr Gerechtigkeit (B). (B) = positiv, also: Man soll das einst konfiszierte Land wieder zurückgeben. Wenn man die Genehmigung zu exzessiver Holzschlägerung zurücknimmt (A), dann gibt es mehr Gerechtigkeit (B). (B) = positiv, also: Man soll die Genehmigung zu exzessiver Holzschlägerung zurücknehmen. Wenn man die Verbrecher nicht ausweist (A), dann werden sie sich noch deutlicher ihrer Schuld bewusst (B). (B) = positiv, also: Man soll Verbrecher nicht ausweisen. Das Negativpendant zur Argumentstruktur achtzehn ist die neunzehnte: Wenn (A) dann (B), (B) = negativ, also: (A) ist negativ bzw. zu unterlassen: Wenn jemand gegen die Interessen der Nation handelt (A), dann soll er entlassen werden (B). (B) = negativ, also: Man soll nicht gegen die Interessen der Nation handeln. Auch die Verallgemeinerung gemäß Schema 21 dient als Argumentstruktur: In Beispiel 1, 2, 3 etc. hat X die Eigenschaft Y. In Beispiel n hat X die Eigenschaft Y, also: Alle bzw. die meisten bzw. viele X haben die Eigenschaft Y: In der gesamten Geschichte haben eigeninteressenverletzende Reformen zu Widerstand geführt. Aktuell führen die eigeninteressenverletzenden Reformen der Cardenisten zu Widerstand seitens der Callisten. Das heißt also, dass dies der normale Verlauf der Dinge ist. Ergänzender Exkurs: Ethos und Pathos Abschließend sei noch ein Blick auf Cárdenasʼ diskursive Konstruktion von Ethos und Pathos geworfen. Durch das Ethos stellt er sich selbst als glaub- und vertrauenswürdige Person dar, durch das Pathos fördert er seitens der Zuhörerschaft auf emotionaler Ebene die Bereitschaft, seiner Argumentation zu folgen. Zunächst zum Ethos: Cárdenas ist es wichtig, das Volk umfassend über die Vorgänge zu informieren, das Volk ist ein gleichwertiger Partner (demokratisch); er nimmt die Bedürfnisse des Volkes ernst (demokratisch und empathisch); es ist ihm ein zentrales Anliegen, die Revolutionsideale umzusetzen (integer, verlässlich); er ist für Landaufteilung (gerecht); er arbeitet konsequent für das Land und erreicht in einem Jahr, was von 1915 bis 1934 nicht erreicht wurde (effizient, konsequent); er vergibt Eji-
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dokredite (sozial); er stärkt immer mehr die Arbeiterrechte (sozial); er ist gegen Vetternwirtschaft (unbestechlich); er lehnt egoistische Eigeninteressen ab (altruistisch); er hat immer die Interessen der ganzen Nation im Blick (verantwortungsvoll); Ehrlichkeit ist ein Grundprinzip (ehrlich); er will Ausbeutung und Prostitution beenden (empathisch); inkompetente Beamte werden entfernt (fair, für Transparenz). Was die Konstruktion des Pathos anbelangt, sind vor allem folgende Passagen hervorzuheben, weil sie die Gefühle der Zuhörerschaft ansprechen: Er macht dem Volk klar, dass es gerade Opfer von Intrigen und Niederträchtigkeit wird; viele einst Mächtige vergessen das Leid der Bevölkerung und denken nur noch an sich; die einst Mächtigen denken nur noch an sich; die Egoisten machen das Land schlecht und verleumden die Bauern und Arbeiter; die Lage der Bauern und vieler Indigener ist trist; stattfindende Kundgebungen drücken das Leid und den Schmerz der Arbeiter und Bauern aus; er bedauert, dass Bauern und Arbeiter Zeit und Energie wegen der unverschämten Callistenaktivitäten verlieren; das Volk wisse selbst, was zu tun und was rechtens sei; die Callisten verunglimpfen die eigene Regierung und das eigene Volk; die Callisten machen Mexiko im Ausland schlecht; die Callisten stehen für Ausbeutung, Prostitution, Ungerechtigkeit; die Callisten sind habgierig und skrupellos. 6.3.2.5.2 Ergebnisse Auch Cárdenas entwickelt seine Argumente nach verschiedenen formalen Mustern. Auffällig ist jedoch, dass auch er auf der Grundlage der Doxa wesentliche Bestandteile der Argumentation nicht expliziert. Was gut und was schlecht ist, wird nicht diskutiert, sondern implizit präsupponiert und so als Prämisse etabliert. Inhaltlich argumentiert Cárdenas dafür, dass dem Volk zu erklären sei, was vor sich geht, dass die Verpflichtungen aus der Revolution erfüllt werden müssten, dass es nicht verwunderlich sei, dass die Privilegierten Widerstand leisten würden, dass die Callisten moralisch verwerflich handeln würden, dass die Cardenisten glaub- und vertrauenswürdig seien, dass der Reformkurs beizubehalten sei, dass die Cardenisten durchaus die Feinde schlagen könnten, dass das Volk beruhigt sein könne, dass die Arbeiter und Bauern sowie das ganze Volk vertrauenswürdig seien, dass die bösen Callisten lächerlich zu machen seien, dass das Revolutionsprogramm umgesetzt werden müsse, dass der Großgrundbesitz aufzuteilen sei, dass inkompetente Beamte entfernt werden sollten, dass konfisziertes Land zurückzugeben sei, dass die Wälder nicht länger ausgebeutet werden dürften, dass niemals gegen die Interessen der Nation zu handeln sei und dass es nicht verwundere, dass eigeninteressenverletzende Reformen auf Widerstand stoßen. Um ethisch überzeugend zu sein, stellt sich Cárdenas selbst als demokratisch und fair, integer, verlässlich, gerecht, effizient und konsequent, sozial und unbestechlich, empathisch und altruistisch dar. Das Pathos wird vor allem schlagend, wenn er davon spricht, dass das Volk nun Opfer von Intrigen und Niederträchtigkeit, von Verleumdungen und Verunglimpfungen, von Ausbeutung und Skrupellosigkeit sei. Die feindlichen Callisten würden aus reinem Egoismus handeln, um ihre Ungerechtigkeiten, Habgier und Privilegienritterei von einst wiederaufzunehmen und fortzusetzen. All das sollte nun Stimmung gegen die Feinde und für Cárdenas machen, der sie aus dieser Gefahr herauszuholen verspricht.
7. Konklusion
Vor vielen Überlegungen, zahllosen Untersuchungen und einer stattlichen Anzahl von Seiten formulierten wir als Ziel dieser Arbeit, Einsicht darein zu gewinnen, wie erstens Perón, Vargas und Cárdenas zu den klassischen Populisten Lateinamerikas wurden, was zweitens dem Peronismus, dem Vargismus und dem Cardenismus den Weg bereitete, welches drittens die Sprache der klassischen Populisten Lateinamerikas war und inwiefern sich viertens der politologische und der linguistische Blickwinkel ergänzen und gemeinsam als interdisziplinärer politolinguistischer Ansatz Neues zu Tage fördern. Nach den ausführlichen Darstellungen und Diskussionen der genannten Fragestellungen sollen nun noch möglichst kompakte und resümierende Antworten auf diese implizit ja bereits hinlänglich erörterten Fragen den Schlusspunkt der Studie bilden. Perón, Vargas und Cárdenas gelten als die prototypischen Vertreter des klassischen Populismus Lateinamerikas, weil sich in ihrer Politik zunächst tatsächlich alles um das Volk drehte, was in Argentinien, Brasilien und auch in Mexiko ein absolutes Novum war. Das Volk wurde von der Politik entdeckt, und zwar in jeder Hinsicht. Es wurden die Bedürfnisse des Volkes gesehen und gehört, das Volk selbst wurde gesehen und gehört und dem Volk wurde eine Stimme gegeben. Die potentielle Macht des Volkes wurde erkannt und so wurden Strategien entwickelt, um das Volk zu zähmen, zu kontrollieren und zu instrumentalisieren. Für alle drei, Perón, Vargas und Cárdenas, galt im Grunde die Devise alles für das Volk, nichts durch das Volk. Das Volk erhielt sehr wohl Rechte, die ihm bislang immer vorenthalten worden waren und es gab auch, manchmal vereinzelt, manchmal in großem Stil, finanzielle und materielle Aufbesserungen. Allein, das alles hatte seinen Preis. Jedwede Form von Besserstellung kam von oben und es gab sie stets im Gegenzug für Loyalität. Geschäft und Gegengeschäft war die gängige Praxis, Zuckerbrot und Peitsche das Prinzip. Perón, Vargas und Cárdenas suchten den direkten Kontakt zum Volk, in dem sie jedoch zuvörderst stets dessen Einfachheit, Unmündigkeit und Bedürftigkeit wahrnahmen, was umso mehr nicht nur ihr paternalistisches Gehabe, sondern vor allem ihre Bevormundung des Volkes rechtfertigte, ja, ihrer Überzeugung nach sogar verlangte. Als Befreier des Volkes inszenierten sie sich als conductores, als Volksführer, aber auch als Volkshelden und legitime Volksvertreter mit Ausschließlichkeitsanspruch. Perón und Vargas ließen sich feiern und suhlten sich geradezu in der Huldigung der Massen. Cárdenas legte darauf keinen Wert. Das Volk
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sollte im Grunde ermächtigt werden, durch seine eigene Gefolgschaft die Macht des jeweiligen Präsidenten auszubauen. Dem Volk sollte aber nicht wirklich Macht gegeben werden, über die es letztlich vielleicht frei und unkontrolliert verfügen würde. Das Volk bzw. die Macht des Volkes sollte möglichst in das jeweilige politische System integriert werden, sei es in Form einer starken Regierungspartei, einer möglichst konzentrierten Gewerkschaft oder auch durch beides. Das jeweilige politische System war straff durchorganisiert und als organisches Ganzes konzipiert, das von einer, nämlich der präsidentiellen Schaltstelle aus gut zu managen sein musste. Alle drei Präsidenten beteuerten, dass Bildung für die gesellschaftliche Entwicklung notwendig sei, allein, das Bekenntnis zu Bildung war mehr als halbherzig. Man erinnere sich an den peronistischen Slogan alpargatas sí, libros no, Hanfschuhe ja, Bücher nein, an die miserablen Gehälter, die in der vargistischen Ära den angeblich so unentbehrlichen und hochverdienten Lehrern bezahlt wurden oder aber auch an das cardenistische Plädoyer für Schulbildung, das zwar der Grundschulausbildung, keinesfalls aber der Hochschulausbildung galt. Bildung ja, aber nur nicht zu viel, um ja nicht die Kontrolle über dann möglicherweise kritisch Denkende zu verlieren; so schien die unterschwellig vorhandene ideologische Grundeinstellung in allen drei Fällen. Perón, Vargas und Cárdenas waren durch Wahlen an die Macht gekommen, umgaben sich aber gern mit der Aura des Revolutionärs entweder, weil dies das Bild des Volkstribuns noch kantiger machte oder aber, besonders im Falle Cárdenas, weil er aus tiefster Überzeugung den Idealen der mexikanischen Revolution verhaftet war. Alle drei verstanden sich gewissermaßen als Retter ihrer Nationen. Aufgrund des Wendepunktes, den sie ja tatsächlich in der Geschichte ihres jeweiligen Landes setzten, verstanden sie sich in gewisser Hinsicht aber auch als Neubegründer ihrer Nationen. Die argentinidad, die brasilidade und die mexicanidad erlebten unter ihnen einen großen Aufschwung. Die Rückbesinnung auf das Eigene beschränkte sich aber keineswegs auf Ethnisches oder gar Folkloristisches. Alle drei schlugen nämlich so etwas wie einen dritten Weg vor und ein, der eine Alternative zum kapitalistisch-liberalen und zum sozialistischkommunistischen sein sollte. Der dritte Weg sollte eine Abkehr von importierten Ideologien sein, wenngleich auch diese Wende wieder nur eine halbherzige war. Im Grunde bestand der dritte Weg in allen drei Fällen erstens in der Beibehaltung kapitalistischer Prinzipien, durchaus gespickt mit sozialistischen Ambitionen für das arbeitende Volk, ohne in diesem jedoch gefährliches Klassenbewusstsein aufkommen zu lassen; zweitens im Ideal eines starken Interventionsstaates, der jederzeit und überall eingreifen konnte sowie drittens in einer eklektischen, inkohärenten und oftmals geradezu widersprüchlichen Ideologie, die einem durch und durch manichäisch-moralistischen Gesellschaftskonzept zugrunde lag. Bei Perón und Vargas sind immer wieder starke Affinitäten zum europäischen Faschismus und Nationalsozialismus zu erkennen, nicht so bei Cárdenas. Die Abkehr von den Oligarchen fand statt, allerdings keineswegs durchgehend. Nach wie vor wurde nämlich um ihre Gunst gebuhlt. Kompromissloser war auch in dieser Hinsicht Cárdenas, vor allem was die durchgreifenden Landreformen anbelangte, wenngleich auch er stets um möglichst einvernehmliche Lösungen bemüht war. Die Kirche war für alle drei ein Machtfaktor, mit dem man sich irgendwie arrangieren musste. Perón war derjenige, der sich zunächst geradezu als Hüter des lateinamerikanischen Christentums und der katholischen Kirche aufspielte, um dieser dann
7. Konklusion
jedoch den totalen Kampf anzusagen. Vargas und Cárdenas bemühten sich eher einfach darum, die Kirche(n) im Dorf zu lassen. Allen dreien, Perón, Vargas und Cárdenas, ist gemeinsam, dass sie sich als Väter der Nation inszenierten und dabei zusehends autoritärer wurden. Die Opposition wurde mehr und mehr an den Rand gedrängt, kritische Stimmen wurden zum Schweigen gebracht. Perón und Vargas schreckten letztlich auch vor Gewalt nicht mehr zurück, um sich durchzusetzen und ihre Ziele zu erreichen. Die Väter der Nation(en) waren also durchaus der autoritären Erziehung verpflichtet. Sie bestimmten, wie viel Freiraum es für ihre Kinder geben durfte und sie gaben letztlich auch die Marschroute vor. In der zweiten Leitfrage ging es um den Weg zum Peronismus, Vargismus und Cardenismus. Perón, Vargas und Cárdenas setzten, wie oben in Erinnerung gerufen, tatsächlich einen Wendepunkt in der Geschichte ihres jeweiligen Landes. Für die Zeit nach einer tiefen Zäsur, in den vorliegenden Fällen also die Zeit des Peronismus, Vargismus und Cardenismus, ist auch die Zeit vor der betreffenden Zäsur eine ganz entscheidende, weshalb wir sie in den entsprechenden Kapiteln, nämlich Die Wegbereiter des Peronismus (3.1.1.1.), die Wegbereiter des Vargismus (3.2.1.1.) bzw. die Wegbereiter des Cardenismus (3.3.1.1.), ausführlich behandelten. Es stellt sich die Frage, warum es in den drei von uns in Blick genommenen Ländern, Argentinien, Brasilien und Mexiko, plötzlich oder vielleicht auch eher allmählich eine große Sehnsucht nach Veränderung gab. Was war es wirklich, das die Bereitschaft zu einem tiefgreifenden Wandel in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik trotz all der damit verbundenen hohen Risiken und großen Unbekannten ausgelöst hatte? Dies zu erkennen, ist wichtig, um die Ereignisse richtig einzuordnen, um die Erwartungen, die an Peróns, Vargasʼ bzw. Cárdenasʼ Amtsantritt geknüpft waren, zu verstehen und um deren Erfolge nachvollziehen zu können. Was die Bereitschaft für einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel wirklich ausgelöst hatte, ist nicht schwer zu ergründen. Ende des 19. Jahrhunderts war das Volk in den drei Ländern, Argentinien, Brasilien und Mexiko, irgendwie einfach da, ohne aber im Bewusstsein der politisch Verantwortlichen wirklich präsent zu sein. Das heißt, in der Politik wurde vom Volk nicht allzu viel Notiz genommen. Zu jener Zeit kam es dann in diesen Ländern allmählich zu einem wirtschaftlichen Aufschwung, von dem aber nur sehr wenige profitierten, keinesfalls jedoch das breite Volk. Die kleinen Bauern auf dem Land hatten genauso wenig davon wie das langsam entstehende Industrieproletariat in den Städten. Wurde Unzufriedenheit artikuliert, so gab es sofort Repressionen. Im Zuge der damaligen Immigration und der einsetzenden Binnenmigration kam es dann nach und nach zur Konzentration von Lohnabhängigen, die sich in der Folge zu organisieren begannen. Es war das einsetzende Massenzeitalter, dessen Sprengkraft von den Oligarchen lange Zeit völlig unterschätzt und in ihrer Ignoranz und Selbstzentriertheit auch gänzlich übersehen worden war. Die Zeichen des aufziehenden Sturms wurden also nicht erkannt. Es sei an dieser Stelle etwa an Yrigoyen erinnert, der von der Oberschicht zu Fall gebracht werden sollte, weil er ein Ohr für die Arbeiter- und Mittelschicht hatte und infolgedessen progressive Politik betrieb. In Brasilien arbeiteten die Oligarchen über die Gouverneure der Bundesstaaten mit dem Präsidenten zusammen, wobei Arbeiter und Bauern gar nichts zu sagen hatten. In Mexiko waren es die Latifundisten, die landund rechtlose Bauern in quasi leibeigenschaftsähnlichen Verhältnissen hielten und nur die Vergrößerung ihres eigenen Reichtums im Sinn hatten. Arbeiter und Bauern wur-
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den in ihrer Existenz nicht wahrgenommen und wenn sie wahrgenommen wurden, dann nur im Zuge von Ausbeutung und Repression. Arbeiter und Bauern lebten also unsichtbar am Rande der Gesellschaft, sie waren ein Faktor, der von der Oberschicht eher in Kauf genommen als anerkannt wurde. Als die Arbeiter und Bauern aber im einsetzenden Massenzeitalter allmählich ihrer potentiellen Macht gewahr wurden und dann noch plötzlich zu hören bekamen, dass sie sehr wohl Rechte und Ansprüche hätten, änderte sich ihr Selbstverständnis und damit ihr Blick auf die Welt grundlegend. Sie, die einst Unsichtbaren, wurden wahrgenommen und erhielten ihre Würde zurück. Den zuvor Rechtlosen wurden nun Rechte zugesprochen und eine wirtschaftliche Besserstellung in Aussicht gestellt. Sie, denen Bildung weitgehend vorenthalten worden war, sollten nun zur Schule gehen, um am politischen Leben teilzuhaben. Mit Perón, Vargas und Cárdenas schien für viele Arbeiter und Bauern tatsächlich ein neues Zeitalter anzubrechen. Die Arbeiter und Bauern hatten hohe Erwartungen und waren auch zu einem hohen Einsatz bereit. Zu verlieren gab es für sie ohnedies nicht viel. Die dritte Leitfrage bezog sich auf die Sprache der klassischen Populisten. Welches war also ihre Sprache? In Kapitel 5 haben wir ein breit gefächertes Instrumentarium für die sprachliche Analyse der Reden ausgearbeitet. Da die linguistische Analyse tatsächlich einen integralen Bestandteil der Politolinguistik darstellt, ist bei der Untersuchung zumindest den linguistischen Kernbereichen nach Möglichkeit Rechnung zu tragen.1 Unser sprachanalytisches Instrumentarium stammt dementsprechend aus der Morphosyntax, der Lexikologie, der Semantik, der Pragmatik und der informalen Logik.2 In den fünf genannten Abschnitten der rein sprachlichen Untersuchung galt es herauszufinden, erstens wozu die ganze Palette an morphosyntaktischen Strategien eingesetzt wird; zweitens inwiefern die Wortkategorisierung hinsichtlich ideologischer Positionierungen aufschlussreich ist; drittens auf welche Weise das idealtypische Volk und der idealtypische Präsident diskursiv konstruiert werden, welche möglicherweise kommunikativ gefährlichen Bestandteile der in der Rede vermittelten kognitiven Szenen ausgeblendet werden und worin die Kraft der Metapher und Metonymie besteht; viertens wie sich die Äußerungsbedeutung konstituiert und worin die Intentionen der Aussagen bestehen und fünftens wie, wofür bzw. wogegen argumentiert wird und auf welche Weise Ethos und Pathos diskursiv konstruiert und instrumentalisiert werden. Die untersuchten morphosyntaktischen Strategien dienen in erster Linie dazu, auf der Textoberfläche all das nicht erscheinen zu lassen, wodurch erstens Verbindlichkeiten entstünden, was zweitens möglicherweise an unrühmlich Wahrgenommenes erinnern würde und womit drittens der Eindruck allzu autoritärer Positionen entstehen könnte. Anonymität, Generizität und Unverbindlichkeit sind das erzielte Ergebnis der Anwendung genannter morphosyntaktischer Strategien, die in erster Linie die Ausblendung der Agenzien verfolgen.
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Nicht berücksichtigt wurden hier aus den Kernbereichen der Linguistik die Phonetik und Phonologie, die bei der Untersuchung der gesprochenen Sprache aber durchaus auch eine bedeutende Rolle spielen würden. Die informale Logik würde man wohl nicht zu den Kernbereichen der Linguistik zählen, sie stellt aber für jede Form von Text- bzw. Diskursanalyse einen sehr wichtigen, weil aufschlussreichen Ansatz dar.
7. Konklusion
Im lexikalischen Bereich stellt sich heraus, wie durch die Verwendung von gewissen Wörtern (und Syntagmen) durchgängig ein überaus positives Wir einem durch und durch negativen Sie gegenübergestellt wird. Polarisierung ist das Ziel und Polarisierung ist auch das Ergebnis. Zwischen Freund und Feind gibt es ganz klare Fronten und keine Grauzonen. Auch die Bedeutungsverengung, die Bedeutungserweiterung und die Näherung tragen zu vermeintlicher Klarheit, zu sprachlicher Vereinfachung und dadurch zu künstlicher Eindeutigkeit bei. Das Volk steht stets im Brennpunkt der Populisten, aus welchen Gründen auch immer, und der Präsident ist in Personalunion Volksheld, Volksbefreier, Volksanführer und nicht zuletzt auch der im Grund einzig legitime Volksvertreter. Im dritten sprachanalytischen Bereich wurde demzufolge erhoben, welches tatsächlich die Merkmale des idealen Volkes und des idealen Präsidenten sind, das heißt, auf welche Weise das idealtypische Volk und der idealtypische Präsident diskursiv gezeichnet werden. In allen drei Fällen ist das Volk loyal, verantwortungsbewusst, geduldig und es hat vor allem immer recht. Der Präsident ist gerecht, nur dem Volk verpflichtet und der Nation gegenüber verantwortlich. Bei der Betrachtung der kognitiven Szenen, die auf dem Weltwissen beruhen, wurde wiederum klar, dass Fragwürdiges und u.U. Delikates ausgeblendet werden und was die kognitive Metapher anbelangt, wurde einmal mehr deutlich, welch effektvolles Redemittel sie aufgrund der Kombination des Rationalen mit dem Emotionalen darstellt. Im vierten Bereich, jenem der kognitiven Pragmatik, geht es, wie gesagt, darum, die Intention der Rede zu erfassen. Zu diesem Zweck müssen sowohl die Implikaturen als auch die Explikaturen abgeleitet werden, was deutlich macht, dass die Äußerungsbedeutung nur im jeweiligen Kontext zu erfassen ist. Und welches sind schließlich die primären Äußerungsbedeutungen oder Illokutionen der drei Reden? In allen drei Reden geht es darum, das Volk auf die vorgegebene Ideologie einzuschwören, es vor allem vor den inneren Feinden zu warnen und in ihm das Vertrauen auf den Präsidenten zu festigen. Im fünften Abschnitt der sprachlichen Analyse geht es dann noch um die Argumentation. Es wurde einerseits erhoben, welche Argumenttypen vorrangig in den Reden verwendet wurden und andererseits auch, wofür und wogegen argumentiert wurde. So wurde u.a. dafür argumentiert, dass die Volksfeinde und deren Ideologie zu bekämpfen seien, dass das Volk opferbereit sein müsse, dass es stets mit dem Präsidenten zusammenzuarbeiten habe und dass die politischen Ziele, die ja alle im Interesse des Volkes stünden, gemeinsam vom Präsidenten und vom Volk verfolgt werden müssten. Die Konstruktion des Ethos steht im Dienste der diskursiven Erschaffung des loyalen, selbstlosen, großmütigen, empathischen und gerechten Präsidenten als Volksanführer, jene des Pathos dient der Emotionalisierung der Zuhörer, um diese letztlich für die Botschaften des Redners empfänglich zu machen. Zu diesem Zweck weisen die Redner ausführlich auf alle Schand- und Gräueltaten der Volksfeinde hin, sodass diese an Niederträchtigkeit und Skrupellosigkeit scheinbar nicht mehr zu übertreffen sind. Vor diesem Hintergrund möge die Zuhörerschaft dem Präsidenten möglichst blind vertrauen und ihm absolute Gefolgschaft leisten. Die vierte und letzte Leitfrage betrifft den politolinguistischen Ansatz an sich. Es geht darum zu hinterfragen, inwiefern sich Politik- und Sprachwissenschaft nun tat-
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Der klassische Populismus Lateinamerikas
sächlich ergänzen und als interdisziplinärer Ansatz Neues zu Tage fördern. Eingangs wurde festgehalten, dass sich die Politikwissenschaft im weitesten Sinn mit der Erforschung der Regelungen des menschlichen Zusammenlebens (in der Öffentlichkeit) beschäftigt, die Sprachwissenschaft hingegen mit den Strukturen und Funktionen der Sprache(n). Es wurde auch festgehalten, dass die Sprache das Primärwerkzeug der Politik darstellt. Das Kommunizierte ist ferner als Ergebnis eines gesellschaftlichen Prozesses im weitesten Sinne immer auch politisch. Dies bedeutet nichts anderes, als dass Sprache und Politik im Grund nicht zu trennen sind. Unsere Frage ist jedoch, inwiefern sich die politik- und die sprachwissenschaftlichen Perspektiven ergänzen und gemeinsam einen innovativen und interdisziplinären Forschungsansatz ergeben. In den geschichts- und politikwissenschaftlichen Kapiteln 3 und 4 ging es im Wesentlichen darum, aus der großen erhobenen, abgebildeten und besprochenen Datenmenge zur Epoche des klassischen Populismus Lateinamerikas das Wesen des Peronismus (3.1.1.3.), des Vargismus (3.2.1.3.) und des Cardenismus (3.3.1.3.) herauszuarbeiten. In jeweils sieben Unterabschnitten dieser drei Unterkapitel sowie im Unterkapitel (4.5.), Perón, Vargas, Cárdenas – die klassischen Populisten Lateinamerikas, sind facettenreiche Porträts der drei Präsidenten als der klassischen Populisten Lateinamerikas entstanden. Sie erwiesen sich als Volkshelden, für die sich immer alles um ihr Volk drehte. Sie setzten sich für die Rechtlosen und Unterdrückten ein, für den braven Arbeiter, den armen Bauern, den kleinen Mann von der Straße. Sie waren aber auch bemüht, zur Oberschicht ein gutes Verhältnis aufrechtzuerhalten. Kurz: Sie wollten es allen recht machen, um von allen recht zu bekommen. Eine straff organisierte korporatistische Staatsstruktur sollte die Kontrolle über alles und jeden sicherstellen. Zunehmender Autoritarismus und wachsende Machtkonzentration, Unterdrückung der Opposition, Abschottung gegen außen, Blickrichtung nach innen, Nationalismus und Erdverbundenheit bis Folklorismus, ein originärer dritter Weg zwischen den althergebrachten Lagern sowie Antiintellektualismus kennzeichneten zusehends das Schalten und Walten der populistischen Präsidenten. Möglichst einfache Antworten auf komplexe Fragen, klare Hierarchien mit einem allmächtigen Präsidenten an der Spitze, ein manichäisches Weltbild sowie Zuckerbrot und Peitsche bildeten das strategische Rüstzeug ihres flexiblen Pragmatismus. Welchen zusätzlichen Beitrag kann nun die linguistische Analyse zur Erfassung des klassischen Populismus Lateinamerikas leisten? Es hat sich vor allem durch die morphosyntaktischen Analysen der Reden gezeigt, dass der Autoritarismus, die Machtkonzentration sowie das Postulat der strengen Hierarchie im Diskurs durchgängig ausgeblendet werden, wodurch der Präsident zweifellos volksnäher und oft sogar jovial erscheint. Das oben erwähnte manichäische Weltbild wird durch die lexikalische Analyse nicht nur bestätigt, sondern unendlich verfeinert. Die Positivität der Wir-Identität und die Negativität der Sie-Identität werden in allen Facetten und Nuancen beschrieben, wodurch die erwähnte Polarisierung erst mit Leben erfüllt wird. In der semantischen Analyse kristallisieren sich die Grundpfeiler des klassischen Populismus, nämlich das Volk, die Arbeiter und der Präsident, ebenso heraus, indem sie nämlich in allen Einzelheiten besprochen werden. Das Volk, die Arbeiter und der Präsident sind dadurch nicht mehr länger abstrakte Einheiten, sondern sie werden diskursiv zu einzigartigen und daher unverwechselbaren Figuren. In der kognitiven Pragmatik geht es, wie gesagt, um die Ableitung der Implikaturen und Explikaturen sowie um die kontextuellen
7. Konklusion
Referenzidentifikationen, um die Illokutionen der Aussagen zu erfassen. Wenn zum Beispiel nicht bekannt ist, was am 16. Juni 1945 auf der Plaza de Mayo in Buenos Aires passierte oder wenn auch nur die Aktivitäten der Anti-Peronisten nicht im Detail bekannt sind, dann erfolgt die Analyse der Rede quasi im luftleeren Raum und kann infolgedessen den wahren Sinn der Rede gar nicht erfassen. Analog dazu ist es unerlässlich, die Geschichte und die Bedeutung der brasilianischen Gewerkschaften zu kennen, um in der analysierten Rede von Getúlio Vargas tatsächlich das historische Gewicht zu erahnen, das sie hatten. Sollte man weiters nicht im Detail mit dem Maximato des Generals Plutarco Elías Calles sowie mit den Zielen der daraus hervorgehenden Callisten vertraut sein, dann wird man große Mühe haben, die historische, auf dem Zócalo am 22. Dezember 1935 von Cárdenas gehaltene und hier analysierte Rede wirklich zu erfassen. In der Pragmatik geht es um die Sprache im Gebrauch. Präsident bedeutet dann eben nicht mehr einfach [Staatsoberhaupt], sondern vielmehr [Geschichte, Werden und Sein des argentinischen, brasilianischen oder mexikanischen Präsidenten] sowie Volk nicht mehr einfach [Volk], sondern vielmehr [Geschichte des argentinischen, brasilianischen oder mexikanischen Volkes] bedeutet. Die informale Logik erfasst schließlich die Argumentationsmuster und die Argumentationslinien in den Reden. Diese Perspektive ist insofern aufschlussreich, als die politischen Ziele der Präsidenten nicht mehr isoliert als apodiktische Werte im Raum stehen, sondern durch Prämissen und gegebenenfalls auch durch Schlussregeln zumindest logisch nachvollziehbar werden. Die Politolinguistik als Fusion von Politik- und Sprachwissenschaft hat somit insgesamt bewiesen, dass sie als innovativer und interdisziplinärer Forschungsansatz in Fülle Neues zu Tage fördert und daher sowohl in den Sozial- als auch in den Sprachwissenschaften ihren legitimen Platz haben muss.
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Literaturverzeichnis aus Geschichts- und Politikwissenschaften
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Sascha Pöhlmann
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Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Literaturwissenschaft Thorsten Carstensen (Hg.)
Die tägliche Schrift Peter Handke als Leser 2019, 386 S., kart. 39,99 € (DE), 978-3-8376-4055-7 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4055-1
Wolfgang Johann, Iulia-Karin Patrut, Reto Rössler (Hg.)
Transformationen Europas im 20. und 21. Jahrhundert Zur Ästhetik und Wissensgeschichte der interkulturellen Moderne 2019, 398 S., kart., 12 SW-Abbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4698-6 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4698-0
Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)
Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 10. Jahrgang, 2019, Heft 2: Poetiken des Übergangs 2019, 190 S., kart., 2 SW-Abbildungen 12,80 € (DE), 978-3-8376-4460-9 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4460-3
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