Der junge Hebbel: Zur Entstehung und zum Wesen der Tragödie Hebbels [Reprint 2019 ed.] 9783110822694, 9783110002218


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German Pages 321 [324] Year 1969

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Einleitung. Forschungsprobleme
I. Der tragische Nihilismus
II. Die Methode
A. Schiller, das Vorbild Wesselburen 1813—1835
I. „Horizontale" und „vertikale" Weltansicht Germanische und christliche Voraussetzungen 1813—28
II. Das Jenseits. 1828/29
III. Vorstoß auf das Diesseits 1830, erste Hälfte
IV. Das Diesseits 1830, zweite Hälfte
V. Zwischen Jenseits und Diesseits 1831/32
VI. Die Zweiheit des Göttlichen 1833/34
Zusammenfassung
B. Schiller, der Gegner
I. Hamburg 1835 - Hamburg 1840
II. Aufbruch gegen den Idealismus Schillers
III. Natur und Gott, Mensch und Geschichte
IV. Das Problem des Tragischen
V. Das Wesen des Tragischen
C. „Judith": eine Anti-,Jungfrau"
I. Die Forschungslage
II. Das Verhältnis zwischen Mann und Frau
III. „Judith" als „Anti-Jungfrau" Hebbels Selbstauslegung
IV. Judiths Schuld Die Hauptszene der Dichtung
V. Die Motive der Tat und ihre dramatische Verknüpfung
VI. Die Vorbereitung der Tat und ihrer Einschätzung
VII. Die Bedeutung der Tat
Schluß
Literaturverzeichnis
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Der junge Hebbel: Zur Entstehung und zum Wesen der Tragödie Hebbels [Reprint 2019 ed.]
 9783110822694, 9783110002218

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Wolfgang Wittkowski Der junge Hebbel

Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker

Begründet von Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer

Neue Folge Herausgegeben von Hermann Kunisch Stefan Sonderegger und Thomas Finkenstaedt 29 (153)

Walter de Gruyter & Co vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung — J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit & Comp. Berlin 1969

Der junge Hebbel Zur Entstehung und zum Wesen der Tragödie Hebbels

von

Wolfgang Wittkowski

Walter de Gruyter & Co vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung — J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit & Comp. Berlin 1969

ArchiY-Nr. 433068/4

© Copyright 1969 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J . Göschen'sche Verla gshandlung — J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J . Trübner — Veit & Comp. — Printed in Germany. Alle Rechte des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, der Herstellung von Mikrofilmen, auch auszugsweise, vorbehalten. Satz und Druck: Walter de.Gruyter & Co., Berlin

Nicolai Hartmann und Kurt May zum Angedenken

Vorwort Es ist mehr als ein Dutzend Jahre her, seitdem im Kellerlabor der Universität Frankfurt erstmals eine Dissertation photomechanisdi vervielfältigt wurde. Das Experiment fiel nicht gerade glanzvoll aus. Immerhin erleichterte es den Zugang zu seinem Gegenstand, der ersten Fassung dieses Buches. Die Ergebnisse, die sie enthielt und zu denen sie hinführt, konnte ich seitdem in verschiedenen Untersuchungen vorlegen, vor allem in vier Studien zu Hebbel, von denen zwei über den jungen Hebbel (über „Judith" und „Genoveva") an repräsentativer Stelle wiederabgedruckt wurden. Den „Judith"-Teil des Buches habe ich nun nochmals umgeschrieben, und zwar habe idi die theologische Problematik eingehender behandelt. Vielleicht konnte ich damit genauer meine Konzeption umreißen, derzufolge Hebbel als Ethiker anzusehen wäre, der sich vom christlichen Theismus distanziert. Hebbel als Glied der europäischen Prometheus-Bewegung — ein solches, derart positiv akzentuiertes Bild widerstreitet, wie der Kundige weiß, vollständig den Ansichten, die lange herrschten, in der Forschung noch heute eine Rolle spielen und in der öffentlichen Meinung noch immer dominieren: ich meine die Deutungen, die Hebbel — nicht ohne Genugtuung — als Kronzeugen und Vorläufer gewisser Gegenwartsströmungen betrachten, nämlich als Repräsentanten von Relativismus und Nihilismus, von Wertezertall und tragischem Transzendenzverlust. Mit dem Widerspruch zu aUedem steht mein Beitrag am äußersten Flügel einer Gruppe von Arbeiten, denen er sich schon auf Grund des Verfahrens anschließt. Allerdings waren sie mir unbekannt, als ich mich 1953 an die erste Niederschrift machte. Ihre Verfasser — Helmut Kreuzer, Wolfgang Liepe, Joachim Müller, Friedrich Sengle — verzichten durchweg darauf, ihren Gegenstand mit metaphysichem und existenzphilosophischem Tiefsinn zu aktualisieren. Statt dessen begnügen sie sich, die Texte in ihrem eigenen Zusammenhang sowie im Rahmen ihres historischen Werdens zu verstehen. Zum letzten Punkt möchte der Anfangsteil des Buches eine Art innerer Biographie des jungen Hebbel beisteuern, die ich nur äußerlich leicht überarbeitete. Ein Vorläufer dieser Gruppe und gleichzeitig der energische Initiator der polemischen Kritik am Gegenlager war Kurt May. Die Kritik, die auch zwischen ihm und mir zuweilen bitter wurde, hat meine Unter-

Vili

Vorwort

suchung entscheidend gefördert und — beinahe vereitelt. Einem Teil der Kontroverse begegnet der Leser gleich auf den ersten Seiten. May hat die Stelle damals gelten lassen, u n d ich behielt sie bei, nicht zuletzt als Zeugnis für sein wahrhaft bewundernswertes Verhalten. Der Dank, den ich ihm dafür, f ü r seine Geduld und f ü r sein Vertrauen schulde ist nicht abzuschätzen. Ich widme das Buch seinem Andenken. U n d ich > widme es dem Andenken Nicolai H a r t m a n n s , dessen Kategorien zum existentiellen Grundverhältnis zwischen Meich u n d Werten mir bei dieser wie bei allen meinen Arbeiten die größte H i l f e boten. U n t e r all denen, die das Erscheinen des Buches in dieser neuen Gestalt ermöglichten, habe ich vor allem zu danken dem Herausgeber der Schriftenreihe, H e r m a n n Kunisch, u n d dem W. de G r u y t e r Verlag; ferner der Graduate School der Ohio State University in C o l u m b u s , dem Chairman des dortigen G e r m a n Departments, Dieter Cunz, und last not least — den Gelehrten, deren abweichende oder sogar gegensätzliche Hebbel-Konzeptionen mich immer wieder — und nun abermals — zur Auseinandersetzung verlockten. Columbus/Ohio, August 1968 Wolfgang Wittkowski

Inhalt Einleitung Forschungsprobleme I. Der tragische Nihilismus 1. Der geistesgeschiditliche Rahmen des heutigen Hebbelbildes 2. Die Inhalte und Wert der Tragödie Hebbels in geistesgeschiditlicher Sicht 3. Der idealistische Pantheismus a) b) c) d)

Die Die Die Die

Paradoxie des Pantheismus Unwahrheit des Pantheismus Würdelosigkeit des Pantheismus historische und subjektive Realität des Pantheismus

4. Die Unverbindlichkeit des Nihilismus II. Die Methode 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

3 3 5 9 9 10 10 12

15 18

Die dichterische Praxis und die Theorie des Dichters Die Persönlichkeit des Dichters Die Ideologien und die Werte. Metaphysik und Anthropologie Das Drama Das Tragische Die Geistesgeschichte. Religion und Ethik Immanente und korrektive Interpretation

18 21 23 26 28 29 33

A. Schiller, das Vorbild Wesselburen 1813—1835 I. „Horizontale" und „vertikale" Weltansicht Germanische und christliche Voraussetzungen 1813—28 1. Die Gesellschaft. Der materielle Wohlstand und der Werte des Menschen 2. Die Religion. Gott des Gerichts und Gott der Erlösung 3. „Horizontale" und „vertikale" Weltansicht. Alttestamentlich-germanische und neutestamentlich-idealistische Voraussetzungen

39 43

45

X

Inhalt

II. Das Jenseits. 1828/29 1. Aus der äußerlichen Wirklichkeit in die sittliche Innerlichkeit 2. Aus dem Diesseits ins Traumparadies 3. Traumparadies und sittlich-schöne Innerlichkeit III. Vorstoß auf das Diesseits. 1830, erste Hälfte 1. Ein Wert des Diesseits: die Liebe 2. Vom Ethos des Diesseits: Treue und Rache. Judithmotiv a • • 3. Ein Wesensbereich des Diesseits: die Natur IV. Das Diesseits. 1830, zweite Hälfte 1. Gott und N a t u r : das Wesen 2. Der Mensch: das Maß der Dinge 3. Der ethisch-metaphysische Dualismus. „Mirandola". Golomotiv a a) Gomatzina und die Brüder Moor b) Der Konflikt zwischen Sittlichkeit und Sinnlichkeit c) Die „vertikale Dimension der Alternative und ihre Umdeutung zu einer „horizontalen" d) Das objektive und das subjektive Sittliche. Auswertung des Unterschiedes zugunsten des Subjekts e) Die Treue und die Leidenschaft. Zwiespalt innerhalb des Wesens

V. Zwischen Jenseits und Diesseits. 1931/32 1. Verschlossenheit des Diesseits und des Jenseits. 1831 2. Das Idyll zwischen dem Paradies und der Natur. 1832 3. Ordnung des Jenseits und Ordnung des Diesseits. Judithmotiv b und Golomotiv b VI. Die Zweiheit des Göttlichen. 1833/34

48 48 53 58 61 61 64 67 70 70 72 76 76 78 81 83 85

89 89 92 96 102

1. Gottnatur und Mystik. 1833 102 2. Gottperson und Sittlichkeit. Judithmotiv c und Golomotiv c 105 3. Gottperson und Gottnatur. Sittlichkeit und Mystik. 1834 •• 109 Zusammenfassung 1. Das metaphysische Problem. Vom Jenseitsparadies zum Seinsgrund der Natur. Gottperson und Gottnatur 113 2. Das ethische Problem. Werte des christlich-idealistischen, naturhaften, germanischen Empfindens. Der Widerstreit im Objektiven 114 3. Das tragische Problem. Wirklichkeit und Wesen. N a t u r und Gott. Die alte und die neue Alternative 116

Inhalt

XI

B. Sdiiller, der Gegner I. Hamburg 1835 — Hamburg 1840

123

II. Aufbruch gegen den Idealismus Schillers 1. Protest gegen Schillers Erkenntnisoptimismus. Die Grenzen der Erkenntnis 2. Protest gegen Schillers idealistische Poesie. Das Natürliche. Der Realismus 3. Protest gegen Schillers metaphysischen Idealismus. Der Dualismus 4. Verbundenheit im Stillen

128

133 135

III. Natur und Gott, Mensch und Geschichte 1. Natur und Gott 2. Christliche und autonome Sittlichkeit 3. Gott und Mensch 4. Gott und der Mensch zwischen Geschichte und Natur

138 138 140 145 148

128 130

IV. Das Problem des Tragischen 156 1. Der Dualismus innerhalb des Wesens 156 2. Der Dualismus im subjektiven Ethos und in der objektiven Wertordnung 164 3. Gestaltungen der Dualismen 167 V. Das Wesen des Tragischen 173 1. Hebbel über das Verhältnis von Theorie und Praxis bei Schiller 173 2. Das subjektive Ethos und die Rangordnung der Werte 177 3. Der Dualismus der Wertordnung und des Ethos. Höhe und Stärke. Formalismus 181

C. „Judith": eine Anti-,Jungfrau" I. Di; Forschungslage

197

II. Dis Verhältnis zwischen Mann und Frau

204

III. „Judith" als Anti-„Jungfrau". Hebbels Selbstauslegung

214

IV. Judiths Schuld. Die Hauptszene

226

V. Die Motive der Tat und ihre dramatische Verknüpfung 1. Die Holofernes 2. Judiths Verhältnis zu N a t u r und Gott 3. Die Berufung

233 233 240 246

XII

Inhalt

VI. Die Vorbereitung der Tat und ihrer Einschätzung

254

VII. Die Bedeutung der Tat

261

1. Die Volkszenen und der Prophet. Die Alternative zwischen Religion und Ethik 2. Die Ermordung des Holofernes: Auftrag Gottes und sittliche Schuld vor der Natur 3. Die Autonomie des Menschen und der Dualismus zwischen Gott und der Natur 4. Gegenprobe: Das Zeugnis der Theaterfassung 5. Der Gott der „Judith"

261 270 275 286 289

Schluß

298

Literaturverzeichnis

301

Einleitung Forschungsprobleme

I. Der tragische Nihilismus 1. Der geistesgeschichtliche Rahmen des heutigen Hebbelbildes Die neuzeitliche Geschichte des Geistes und der Dichtung wird seit Jahrzehnten gern unter dem Gesichtspunkt der Säkularisierung betrachtet — eine Betrachtungsweise, die der Theologie und Existenzphilosophie kräftige Impulse verdankt. Beide Geistesströmungen berühren sich gerade hier, in der Geschichtsbetrachtung, eng miteinander und mit der Literaturgeschichtsschreibung. Der Literaturhistoriker und ehemalige Theologe Gerhard Fridte z . B . sagt: „Die geistige Geschichte der Neuzeit kann letzthin nur begriffen werden als die Geschichte . . . der religiösen Gewißheit." Anfang des 19. J a h r h u n derts versank der Glaube, der die schöpferische Goethezeit getragen hatte. „Alle nachgoethische Dichtung des 19. Jahrhunderts . . . erwächst immer erneut aus dem trotzigen, zweifelnden oder verzweifelnden Ringen des einzelnen um die Verteidigung der überkommenen und unaufgebbaren Werte, um die R e t t u n g und Bewahrung seines innersten Wesens, um Erhaltung oder Begründung eines Sinns inmitten eines sinnberaubten Daseins". 1

Ganz entsprechend erklärt Martin Heidegger, maßgeblicher Repräsentant der deutschen Existenzphilosophie: D e r „Gang der abendländischen Geschichte" ist „das H e r a u f k o m m e n und die Entfaltung des Nihilismus". D e r Nihilismus entspringt daraus und besteht darin, daß der Mensch „sich aus der Verbindlichkeit der christlichen Offenbarungswahrheit und der kirchlichen Lehre zu der sich auf sich selbst stellenden Gesetzgebung für sich selbst

befreit".2

Die Geschichte der deutschen Tragödie wird heute gleichfalls weithin unter existenzphilosophischem und theologischem Aspekt gesehen, und das heißt auch hier: unter dem Aspekt der Säkularisierung. Dazu bekennen sich ausdrücklich die heute führenden Historiker des deutschen Dramas, Benno v. Wiese 3 und Klaus Ziegler 4 . Sie folgten darin 1

2 3

4

D e r religiöse Sinn der Klassik Schillers, 1927, S. 3 6 7 ; Geschichte der deutschen Dichtung, 1951, S. 2. Holzwege, 1950, S. 194, 99. Die deutsche Tragödie von Lessing bis Hebbel, 1948, Bd. I, S. 8, V o r w o r t (zit. Tragödie). Mensch und Welt in der Tragödie Friedrich Hebbels, 1938 (zit. M u W ) v S. 13 f.

4

Der tragische Nihilismus

Gerhard Fricke und schlössen sich, v. Wiese mehr der Existenztheologie, Ziegler mehr der Existenzphilosophie an. Die neuere Geistesgeschichte erscheint danach vornehmlich als „Aushöhlung und Zersetzung der christlichen Glaubenstraditionen" 5 und die Tragödie des 19. Jahrhunderts einzig als Ergebnis und als Ausdrucksform des Nihilismus, „des modernen Abfalls von Gott" 8 . Die Tragödie steht schon außerhalb des christlichen Glaubens. Sie steht jedoch nicht außerhalb der christlichen Erwartungen. Auch „im Unglauben", sagt v. Wiese, „auch in dem Hineingehaltenwerden in das Nichts geht es der echten Tragödie um den undeutlich gewordenen oder entschwundenen Gott, den sie aus größter Herzensnot heraus beschwören und herbeirufen will". „Eine vollkommene, vom Sinn", „von Gott durchdrungene Welt" befindet sich noch diesseits des Tragischen, eine „völlig chaotische, sich ins Sinnlose verlierende Welt" befindet sich bereits jenseits davon. „Wer will hier entscheiden, wo das Christentum aufhört, wo die Tragödie beginnt?" Eher schon läßt sich entscheiden, wo die Tragödie aufhört. Sie hört nach Hebbel auf, weil nach ihm „die religiöse Fragestellung des Tragischen völlig verstummt" 7 . Ziegler bestimmt den geistesgeschichtlichen Ort der Tragödie allgemein metaphysisch, doch unter besonderer Berücksichtigung der religiösen Problematik und in strenger Analogie zu ihr. Er kennzeichnet den Standort der Tragödie mit Jaspers als die spannungsvolle Sphäre „zwischen dem Nicht-mehr traditioneller Christlichkeit und dem Nochnicht extrem moderner Glaubenslosigkeit". Gläubigkeit befindet sich diesseits des Tragischen, Glaubenslosigkeit jenseits davon. Jenseits des Tragischen befindet sich der radikale Nihilimus des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts. Denn „da man aufgehört hat, nach einem inneren Wert und Sinn des Lebens zu verlangen, gibt es auch kein tragisches Leiden, kein tragisches Scheitern an seiner Wert- und Sinnlosigkeit, gibt es also überhaupt keine Tragik und keine Tragödie mehr" 8 . Fricke führt diese Entwicklung beispielsweise an dem Motiv der Jungfrau von Orleans vor, wie es gestaltet wurde von Schiller, dann von Hebbel in der „Judith" und schließlich in der „Heiligen Johanna" 5 6 7 8

K. Ziegler: Das deutsche Drama der "Neuzeit, Sp. 1130. Wiese: Tragödie, Bd. 2, S. 476. Ibid., Bd. 1, S. 28, 33, 16, 2 4 ; Bd. 2, S. 478. K . Ziegler: Wandlungen des Tragischen, H.-Jb. 1951, wiederabgedruckt in: Hebbel in neuer Sicht (H.i.n.S.), ¡hrsg. Helmut Kreuzer, 1963, danach zit. Wandlungen S. 22; derselbe: Friedrich Hebbel und die Krise des deutschen Geistes, Hebbel-Jb. 1949/50 (Krise), S. 19.

Der geistesgeschichtlidie Rahmen des heutigen Hebbelbildes

5

Shaws. „Der Weg, den dies Motiv von Schiller über Hebbel zu Shaw genommen hat, macht den tiefen Wandel der geistigen Welt sichtbar, der sich in diesen hundert Jahren vollzogen hat." Schiller glaubt noch; Hebbel und Shaw glauben nicht mehr. Schiller und Hebbel haben immerhin noch „die religiöse Frage, das religiöse Bedürfnis" gemeinsam; „aber die religiöse Antwort, der Glaube Schillers", ist bei Hebbel schon geschwunden. „Wohl empfand Hebbel die Frage nach der Gottheit nodi in voller Schwere. Aber er vermochte Schillers A n t w o r t nicht m e h r zu teilen." Shaw wiederum steht ebenso wie Hebbel außerhalb von Schillers Glauben. Doch im Gegensatz zu Hebbel teilt er nicht einmal mehr die Frage Schillers, wird er „von der religiösen Wahrheitsfrage nicht mehr ernsthaft beunruhigt" 9 . Soviel von dem geistesgeschichtlichen Rahmen, in welchen man das Hebbelbild von heute eingefaßt hat. Dieser Rahmen ist im weiteren Sinne der Vorgang der Säkularisierung, im engeren Sinn der Ubergang, der sich im 19. Jahrhundert vom christlichen Idealismus zum Nihilismus hin vollzieht. Hebbels Tragödie steht da, wo allein geschichtlich die Tragödie möglich ist f ü r den deutschen Geist des 19. Jahrhunderts, nämlich da, wo die Werte des christlichen Idealismus zwar noch ersehnt werden, wo aber andererseits auch schon die verzweiflungsvolle Einsicht gilt: diese Werte sind auf Erden nicht verwirklidit und womöglich überhaupt nicht zu verwirklichen. 2. Die Inhalte und Werte der Tragödie Hebbels in geistesgeschichtlicher Sicht Aus dem geistesgeschichtlichen Rahmen des modernen Hebbelbildes ergibt sich, welches die Inhalte und Werte der Tragödie Hebbels sind. Ihre Werte sind solche des christlichen Idealismus. Ihr Inhalt ist, daß jene Werte nicht verwirklidit, sondern nur ersehnt werden und daß die Vergeblichkeit des Sehnens zu tragischer Verzweiflung f ü h r t . Zuerst hat das Ziegler dargelegt. Aus der „Nothaftigkeit des menschlichen Daseins" heraus machen Hebbel und seine Helden sich immer von neuem auf, die Werte der Liebe, der Macht, der Geschichte, des Volkes, des Staates zu verwirklichen. Doch nicht auf diese Werte k o m m t es letztlich an. Sie bilden n u r die Brücke zu dem, worauf es a n k o m m t . Das ist die „Einung des Vernünftigen und des Wirklichen, der ideellen Ordnungen ethisch-metaphysischer Wert- und Sinnhaftigkeiten mit den faktischen Ordnungen der realen Kausalität, des Göttlichen mit dem Irdischen" 10 . 9

10

G. Fricke: Gedanken zu Hebbels „Judith", HJb. 1953, S. 10—13, in: Studien und Interpretationen, 1956, S. 311—313. MuW, S. 30; Krise, S. 21.

6

Der tragische Nihilismus

Weit hinaus also über die ethischen Werte des christlichen Idealismus wird da ein metaphysischer Sachverhalt erster Ordnung angestrebt: die vollkommene Realität des Ideals. Es ist ein idealistisches Verlangen, das auf eine „wesenhaft pantheistische Struktur des Daseins" zielt. Es ist dem romantischen Pantheismus zuzuordnen, den Hebbel als existentielle Haltung übernahm 1 1 . Solches Streben nach vollkommener Realisierung des Ideals erweist sich aber immer wieder als vergeblich, „als nichtig. Es mündet stets in die Vernichtung ein, in das Nichts", in die „Nothaftigkeit des menschlichen Daseins", aus welcher es hervorging und immer wieder neu hervorgeht, wie es immer wieder in ihr endet. „So scheitert der Pantheismus bei Hebbel im Nihilismus"; und er scheitert immer wieder, in einem unaufhörlichen, „verhängnisvollen Zirkel" 1 2 . Der Pantheismus scheitert also, weil die Wirklichkeit ihm nicht entspricht. Trotzdem wird festgehalten an den pantheistischen Erwartungen und von ihnen her die Wirklichkeit bewertet. Folgerichtig erscheint die Welt dann als vollkommen nichtig. So schlägt der idealistische Pantheismus ständig um in den Nihilismus. U n d der Nihilismus ergibt sich zwangsläufig und zugleich ausschließlich aus solchen pantheistischen Erwartungen. Er bleibt dem Idealismus unlösbar verhaftet. Er ist enttäuschter Idealismus. Deshalb kann man statt von Nihilismus auch von einem „skeptischpessimistisch gebrochenen Idealismus" reden, wie K u r t May es tat. D a erscheinen „das Sein und das Sollen auseinandergerissen . . I d e e und Wirklichkeit in tragisch-paradoxem Verhältnis der Unvereinbarkeit", das Sollen, die Idee „als das zugleich Aufgegebene und doch nicht ZuVerwirklichende" 1 3 . Das Resultat ist dasselbe wie bei Ziegler. Der metaphysische Sachverhaltswert einer Verbindung von Wirklichkeit und Wesen bleibt unerfüllt — diesmal aber nicht, weil bestimmte Werte als Sachverhaltswerte unverwirklicht bleiben, sondern weil ein bestimmtes Ethos nicht realisiert wird: weil der Mensch sich nicht so verhält, wie er sich verhalten soll. Mariamne etwa steht zwar unter dem christlich-idealistischen Ethos der Liebe; doch sie handelt „gerade umgekehrt in schneidendstem Kontrast zu jeder christlichen Liebesethik" 1 4 . 11 12 13

14

Krise, S. 20 f. Krise, S. 22 f.; MuW, S. 30; Krise, S. 23. Hebbels „Herodes und Mariamne", H - J b . 1949/50, S. 57. In der Buchfassung von 1957 sind diese Formulierungen gestrichen. Vgl. Kurt M a y : F o r m und Bedeutung, 1957, S. 310 f. Ibid.; auch diese Formulierung erscheint in der späteren Version nicht mehr.

Inhalt und W e r t e der Tragödie Hebbels in geistesgeschiditlicher Sicht

7

Darin liegt die tragische Diskrepanz von Wirklichkeit und Wesen, von Sein und Sollen, von unchristlicher Realität und christlichem Ideal. Mariamne ist der Ethik des christlichen Idealismus so fern wie irgend möglich. Darin sieht May das Entscheidende. Von hier aus, also vom christlichen Idealismus aus, deutet und verurteilt er Mariamne. Von hier aus wird für ihn das Drama zur Tragödie. May stellt nun aber seine Deutung selbst in Frage. E r sagt nämlich, Mariamne könne überhaupt „gerade im Hinblick auf den christlichen Seelengedanken nicht verstanden" und „ja nur in einem eigenen abstrakt spekulativen Zusammenhang oberhalb und außerhalb der poetisch dramatischen Gestaltung auf die christliche Idee bezogen werden" 1 5 . May denkt dabei an Josef Körner, der Mariamne vom christlichen Idealismus her positiv beurteilt 1 6 . Es gilt aber genauso, wenn man sie von dorther negativ beurteilt, wie May es tut. E r sagt selbst: „Das christliche Gebot der Vergebung und Uberwindung durch überlegene Liebesmacht gilt auf einem anderen Stern" 1 7 . Dann aber verbietet es sich eben, das Verhalten der dramatischen Figuren von dorther auszulegen. Eine Auslegung von dorther wäre eben eine Auslegung von einem andern Stern her; und die tragische Antinomie zwische Wirklichkeit und Wesen bestünde womöglich gar nicht innerhalb des Werkes, sondern zunächst nur zwischen der Wirklichkeit des Dramas und der Wertwelt, die der Interpret als Wesen deutete und von sich aus an das Werk herantrüge. Letzteres bleibt dem Interpreten gewiß immer unbenommen, sofern es ihm um ein persönliches Werturteil zu tun ist. Ja, man nimmt heute sogar an, daß Hebbel selbst durch die Dreikönigsszene das Verhalten der Figuren vom Standpunkt der kommenden christlichen Epoche her verurteile. Der Dichter täte dann nichts anderes als May: er relativierte eine Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und Wesen, falls sie sich im Hauptgeschehen ausgebreitet hätte, historisch. O b er ihr damit nun den absoluten, antinomischen Charakter nähme oder nicht 1 8 — in jedem 15

Ibid., S. 5 2 ; K . M a y : Friedrich Hebbels opus metaphysicum „ G e n o v e v a " , E u p h o r i o n 1950, S. 363.

18

Josef K ö r n e r : Friedrich Hebbels H a u p t w e r k , J b F D H , 1928. Hebbels „Herodes und M a r i a m n e " , a.a.O., S. 57. L a w r e n c e R y a n (Hebbels „Herodes u n d M a r i a m n e : Tragödie und G e schichte", in H . K r e u z e r : Hebbel in neuer Sicht, 1963, S. 265), differenziert s o : „Diese Szene — wie in einem weiteren Sinne das ganze D r a m a — soll eine vergangene Epoche geschichtlich relativieren, ohne jedoch die übergeschichtliche Gegebenheit der v o n dieser Epoche geprägten menschlichen Verhaltensweise in Frage zu stellen." J o a c h i m Müller ( Z u Struktur und M o t i v i k in Hebbels „Herodes und M a r i a m n e " , H . - J b . 1966, S. 57) versteht Hebbels Absicht ebenso, äußert aber keinen Zweifel am Gelingen dieser

17 18

8

Der tragische Nihilismus

Falle dürften wir mit einer solchen Diskrepanz nur rechnen, wenn in der Welt des Dramas das christliche oder aber ein anderes, dem christlichen womöglich unterlegenes, Ethos postuliert und nicht erfüllt würde. Der Interpret hätte also zunächst danach zu fragen, ob da ein Ethos postuliert wird, welches es ist und ob es verwirklicht wird. May umgeht diese Fragen keineswegs. Er biegt sie nur vorschnell um in sein moralisch-metaphysisches Werturteil. Die positive christlichidealistische Auslegung des Dramas lehnt er ab. Seine eigene, negative aber will er im Zeichen der alttestamentlichen Metaphysik verstanden wissen. Danach erfährt der Hebbel des Meisterwerks genau wie schon der „ganz junge Hebbel" „die Nichtigkeit alles Irdischen" unter dem „Bild Gottes" als „des zornigen Gottes, der Gottheit im Zorn über die Bösheit der Menschen" 19 . Ein solches Weltbild verkündet nun aber durchaus keine Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und Wesen, sondern im Gegenteil ein sehr massives Einwirken des Wesens auf das Wirkliche. Dieses Weltbild steht zum christlichen nicht wie das Sinnlos-Nichtige schlechthin zum Sinn und Wesen, sondern wie ein älteres und niederes Weltbild zu einem jüngeren und höheren. Der Rangunterschied beruht auf ethischer Differenzierung; die Menschen des Alten Testaments besaßen ebenfalls ein Ethos, ein Wesen, und allerdings ein kräftig realisierbares. Wenn May von Mariamnes „Rachsucht" spricht 20 , handelt er von nichts anderem als von dem Ethos, das in der dort vorgegebenen Welt postuliert und auch erfüllt wird. Das freilich kann May nicht anerkennen. Er hält das christlich-idealistische Ethos hier für allein verbindlich; er fragt nur, ob Mariamne „dem echten Liebesgeist näher" oder ferner steht; und er muß folgerichtig zu dem Ergebnis kommen, daß sie „Verrat am Wesen, an der Liebe" übt, daß da „eine große Liebende in einer Entartung ihrer Liebe, in zunehmender tragischer Entfremdung vom reinen Sinn und Wesen ihrer Liebe einmalig konkret dramatisch verlebendigt wird": eine Liebende, die „in der Abwehr sich zwingen läßt in eine zunehmende Verselbstung, Verhärtung, Verkümmerung, absolute Erschöpfung ihrer Liebeskraft hinein. In der Abwehr der Vergewalti-

19 20

Intention, wie Ryan das tut, und zwar m. E. ohne schlüssige Begründung (ibid. S. 264 f.). Allzu konstruiert erscheint mir auch Ryans Versuch, die übergesdiichtlidien Verhaltensweisen von Hebbels Existenzschuld-Lehre abzuleiten. Diese Theorie, ein Ableger romantischer Spekulation, dürfte dach wähl nur die akademisch-prätentiöse Aufmachung von Gegebenheiten sein, die viel einfacher, elementarer — und dramaturgisch brauchbarer sind. Vgl. unten B. I V : Das Problem des Tragischen Friedrich Hebbels . . . „Genoveva", a.a.O., S. 363. Hebbels „Herodes und Mariamne", a.a.O., S. 57.

Der idealistische Pantheismus

9

gung des Wesens ist sie von ihrer N a t u r her bestimmt, darüber selbst das Wesen des Wesens zu v e r l e r n e n " 2 1 . May sieht Mariamnes Racheethos n u r in dem negativen Licht, das sich vom christlichen Idealismus her ergibt. N u r dessen E t h o s will er gelten lassen; und da er es nicht vorfindet, findet er hier überhaupt kein Ethos, kein Wesen. So ist seine Auslegung das Ergebnis nicht eines kritischen Verstehens, sondern der fordernden Frage: W i r d hier christlicher Idealismus verwirklicht oder nicht? Sie ist das Egebnis nicht eine Frage nach dem B e f u n d ; sondern die Folge davon, daß jene geistesgeschichtliche Konzeption angewendet wurde, die das Hebbelbild in den R a h m e n des zusammenbrechenden Idealismus einfaßte.

3. Der idealistische

Pantheismus

a) Die Paradoxie des Pantheismus Nach Ziegler k o m m t der tragische Kreislauf von Pantheismus und Nihilismus bei Hebbel dadurch in Bewegung, daß aus der N o t des Daseins heraus versucht wird, bestimmte Werte, und damit wiederum das Wesen zu verwirklichen. „Wesen" ist dabei „die ins Positive projizierte Negativität des Ichs": das Göttliche, V o l l k o m m e n e , das All oder das Nichts. V o n ihm erwartet man „Nirvanaseligkeit". Sie bringt die N o t des Daseins „zum Schweigen und zur A u f h e b u n g " . Sie erlöst von der Nichtigkeit des Daseins zur V o l l k o m m e n h e i t des „Nicht- bzw. Allseins, das eben als Aufhebung des Daseins m e h r als nur E r f ü l l u n g " z. B . „der Liebe, das im Gegensatz zum Wirklichen das Wesen schlechthin bedeutet" 2 2 . Was Wesen bedeutet, wird da nur negativ gesagt. Es ist die Aufhebung des Daseins. Sie soll wertvoller sein als jede positive Werterfül-

21

22

Ibid. S. 56 f. Rainer Gruenter (Hebbel: Herodes und Mariamne, in: Das deutsche Drama, 1958, Bd. 2, S. 132) fragt dagegen treffend: „Sollte ihre Liebe sie nicht die Einsicht lehren können, daß man einem Verzweifelten Vertrauen einflößen muß und nicht abverlangen darf, daß man ihn sicher machen, sein zerstörtes Vertrauensvermögen durch Vertrauen wiederherstellen muß?" Andererseits berücksichtigt Gruenter so wenig wie May das Ethos der Ehre, das für Hebbels Menschen grundlegend wichtig ist. Es hemmt Mariamnes Entgegenkommen grundsätzlich und im besonderen Zusammenhang mit der Ermordung ihres Bruders, dem immerhin ihre letzten Worte gelten. Joachim Müller hingegen bemüht sich streng, von Hebbels eigenem Standpunkt her zu deuten und hält folgerichtig Liebe und Ehre ( = Menschheit, Sittlichkeit) auseinander. Vgl. unten C. II: Mann und Frau. MuW, S. 38.

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D e r tragische Nihilismus

lung innerhalb des Daseins, z. B. in der Liebe. Solche Werte bilden nicht selbst das Wesen. Sie bilden nur die Brücke zu ihm hin; und auch das nur, wenn sie einerseits verwirklicht und wenn andererseits ihre Verwirklichung und eben das Dasein ihres Trägers wieder aufgehoben werden. Wie man das Du nicht liebt um seinetwillen, „aus Liebe", sondern nur um der Liebe willen, so begehrt man auch die Liebe wiederum nur, um „das All im Du, das Nichts (die Aufhebung des Daseins) in einem Etwas (der realen Liebesvereinigung)" zu gewinnen 23 . — Ein solches Streben läßt sich allerdings nicht dauerhaft verwirklichen, es sei denn im Tod. Tatsächlich heißt es von Golo, er suche im Tod letztlich „das Gleiche wie im Liebestod: die Aufhebung des Ichs als des Quells ewiger N o t und ewigen Schmerzes, die Erlösung vom Fluch, von der Last des blinden, leeren, äußerlichen Daseins, die Geborgenheit jenseits aller Unrast und aller Gegensätze in der absoluten Stille des Nichts, des fühl- und wandellosen Nichtseins" 24 . Die Erwartungen des Pantheismus sind nicht positiv im Hier und Jetzt erfüllbar. Sie scheitern. Ziegler führt das zurück auf die Paradoxie jenes Versuchs, „das All im Du, das Nichts . . . in einem Etwas" zu gewinnen, und versichert, „daß es sich bei dem zuletzt entfalteten Widerspruch um keinen subjektiven .Irrtum' und zufälligen ,Fehler', sondern um eine objektiv-unvermeidliche, eben wahrhaft ,tragische' Notwendigkeit handelt" 25 . Prüfen wir indessen diese Notwendigkeit etwas genauer. Gewiß ist es unausweichlich notwendig, daß Erwartungen scheitern, die so hochgespannt sind und auf so paradoxe Weise verwirklicht werden wollen, wie das von den pantheistischen Sehnsüchten behauptet wird. H a t man einmal so begonnen, wird man so enden müssen. Tragischer Rang kommt der Notwendigkeit solchen Scheiterns jedoch wohl nur zu, wenn das Beginnen, das unausweichlich scheitern muß, selbst einigen Gehalt an Wahrheit und Würde besitzt und mehr ist als Irrtum und Fehler. Dieser entscheidend wichtigen Frage weicht Ziegler aus, indem er allein das notwendige Scheitern des pantheistischen Beginnens hervorhebt, den Wertgehalt des letzteren dabei aber ganz offen läßt. b) Die Unwahrheit des Pantheismus Der Pantheismus, wie er hier entworfen wird, möchte, daß auf dem Wege über die Werte das Wesen realisiert und so die N o t des Daseins aufgehoben werde. Stets aber endet er damit, daß die Wertverwirklichung und zuletzt das Dasein selber aufgehoben werden. Dem Lebenden und Überlebenden bleibt also die N o t des wesenlosen Daseins, aus der die pantheistischen Erwartungen erst hervorgehen, als 23

Ibid., S. 52.

24

Ibid., S. 40.

25

Ibid., S. 40.

Der idealistische Pantheismus

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die erste und die letzte, die wahre, nihilistische Erfahrung. Ihr gegenüber nimmt der Pantheismus sich als falsche Hypothese aus, als mißglücktes Experiment, als eine Ideologie, die ständig widerlegt wird durch die Wirklichkeit, durch die Erfahrung „von der grundsätzlichen Unvereinbarkeit des Göttlich-Vollkommenen mit der Unvollkommenheit des Irdischen" — eine Erfahrung, die nach Ziegler ständig wiederkehrt und „mit dem Leben selbst gesetzt erscheint": wo immer pantheistische Erwartungen auftauchen, werden sie vom Leben schnell ad absurdum geführt 2 6 : „ . . . wer pantheistisch allen Wert und Sinn des Lebens in die innerweltliche Verwirklichung des Göttlichen setzt — dem muß die Welt darum schließlich radikal wert- und sinnlos werden. E r muß in grenzenloser Enttäuschung und Verzweiflung enden — eben im Nihilismus" 2 7 . E r huldigt einem „anspruchsvollen T r a u m " 2 8 ; und das ist in unserem Zusammenhang nichts anderes als ein Fehler, ein Irrtum. Der Pantheismus ist als Lehre unwahr. c) Die Würdelosigkeit des Pantheismus So gesehen verliert nun aber nicht allein der Pantheismus, sondern auch der Nihilismus, sofern er sich aus dem Pantheismus ergibt, sofern er l wie wir sagten, enttäuschter Idealismus ist. Der Mensch dieses tragischen Nihilismus begnügt sich ja nicht damit, die Unwahrheit des Idealismus zu enthüllen und die Wahrheit, d. h. die Diskrepanz von Wirklichkeit und Wesen, festzustellen. Vielmehr gerät er darüber auch noch in Verzweiflung, darüber nämlidi, daß die Erwartungen, die er mit dem Pantheisten teilt, enttäuscht wurden. Sind jene aber überspannt, unwahr, illusionär, dann ist die Verzweiflung über die Enthüllung dieses Charakters schwerlich frei von Torheit, Überspanntheit, von Würdelosigkeit — ein Eindruck, der sich noch verstärkt, wenn man den „anspruchsvollen Traum" des Pantheismus von seiner ethischen Seite her betrachtet. E r verlangt ja nichts Geringeres als die Wirklichkeit des Ideals, die reale Macht des Ideellen „über den Kausalitätsmechanismus der äußeren Welt" und des Ideellen „eindeutig offenbare Gegebenheit innerhalb der menschlichen Erkenntnis- und Wahrheitssphäre" 2 9 . E r fordert ein Nirvana, ein Paradies auf Erden. D e r Pantheismus lehnt die Komplexität des Lebens ab, vor der die Menschen sich erst als erkennende und sittliche Wesen konstituieren. E r lehnt die fundamentalen Funktionen und Aufgaben menschlichen Daseins ab. E r nimmt es nicht mit ihnen auf. E r hat wohl Wünsche, aber keine Würde. Wenn ihm überhaupt tragische Notwendigkeit, Wahrheit, Legimität zukommen, so sind sie 28

Krise, S. 24

27

Ibid., S. 23.

28

Ibid., S. 45.

29

Wandlungen, S. 22.

12

Der tragische Nihilismus

nach alledem jedenfalls außerhalb der eigentlichen Wahrheitssphäre und außerhalb des Ethischen zu suchen. Tatsächlich findet Ziegler sie denn auch in einer anderen Sphäre: in der geschichtlichen. d) Die historische und subjektive Relativität des Pantheismus Ziegler rechnet mit einem bestimmten geschichtlichen Abschnitt, in dem der Idealismus umschlage in den Nihilismus, und es mache Hebbels „eminent geschichtliche Situation" aus, daß er in jenem Abschnitt stehe, nämlich „im Niemandsland zwischen Gläubigkeit und Glaubenslosigkeit", daß er unfähig sei, „in und mit wie außerhalb einer ideellen Sinn- und Wertordnung und ohne sie zu existieren" 30 . Die Notwendigkeit und, wie sich näher zeigen wird, damit auch der Rang des idealistischen Pantheismus werden also hergeleitet von der Tatsache, daß der Idealismus geschichtlich einmal dagewesen ist. Sie werden letztlich hergeleitet von der Voraussetzung, jede geschichtliche Tatsache habe in sich selber Wahrheit, Würde und Notwendigkeit. Wahrheit, Würde und Notwendigkeit des Pantheismus werden also begründet mit der Wahrheit, Würde und Notwendigkeit, wie man sie der Geschichte, unbekümmert um die Phänomene, in metaphysischer Spekulation zugesprochen hat, etwa im Sinne des Hegelwortes, alles Vernünftige sei wirklich und alles Wirkliche vernünftig. Das heißt, der Pantheimus wird relativiert auf die Geschichte. Er wird betrachtet und bewertet im Zeichen des historischen Relativismus, des Historismus. Ziegler nannte den Pantheismus auch einen „anspruchsvollen Traum". Dieses von einem absoluten Maßstab her gefällte Urteil färbt sich in seiner überwiegend historischen Sicht aber dahingehend um, daß der Pantheismus die letzte positive Weltanschauung überhaupt war. Er habe zu gelten als das weltanschauliche Geschick nicht allein Hebbels, sondern der gesamten nachidealistischen Zeit, also auch der Gegenwart. Und seine Gebrochenheit im Nihilismus sei Ausdruck „der zu ewiger weltanschaulischer Unbehaustheit verurteilten Krisensituation des modernen Geistes" 31 . Nimmt man das zusammen mit dem anderen und ganz andersartigen Urteil, daß sich von absolutem Maßstab her ergab, so kommt ein Widersinn heraus. Ein anspruchsvoller Traum wäre dann das letzte Positivum, das der moderne Geist hervorbrachte und mit dem er sich noch heute auseinandersetzt. Ein unwahres und würdeloses Phantasiegebilde wäre weltanschauliches Geschick der abendländischen Neuzeit 30

Ibid., S, 21.

31

Krise, S. 44 f.

Der idealistische Pantheismus

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und der Gegenwart. Ziegler selbst zieht solche Konsequenzen freilich nicht. Er stellt den idealistischen Pantheismus seinem geschichtlichen und absoluten Rang nach als hochbedeutsam hin. Er tut das gegen besseres Wissen — man wird vermuten dürfen, auf Grund einer persönlichen Nahstellung, bestünde sie auch wesentlich in einer Ratlosigkeit dem nachidealistischen Denken gegenüber. Im Zusammenhang damit dürfte sich das Gewicht der existenzphilosophischen und theologischen Geschichtskonzeption der Säkularisierung auswirken. Ähnliches galt von May und gilt von Fricke, der seine „Judith"-Interpretation mit folgenden Sätzen beschließt: „Wie Hebbel . . . die Frage nach Möglichkeit, Wahrheit, Gewißheit der Religion stellt und tragisch verneint" — das enthüllt die „Situation des Dichters selber. So gesehen aber ist Hebbel nicht nur ein Mann des vorigen Jahrhunderts, sondern steht «r in seiner zentralen Frage wie in seiner Antwort noch mitten unter uns" 3 2 . Desgleichen sieht von Wiese in dem „umfassenden, religiösen Problem der ,Säkularisation'" einen Vorgang, der „bis heute unsere geistige Situation entscheidend mitbestimmt" 3 3 . Das geschichtliche Problem fällt für diese Forscher mit ihrem eigenen zusammen, der relative Maßstab geschichtlichen Verstehens mit dem absoluten des persönlichen Urteils. Dementsprechend deuten sie Hebbel und das 19. Jahrhundert „mit Bewußtsein und Selbstgefühl aus dem .Geist unserer Zeit'", teils aus dem „Geist der Existenztheologie und -philosophie von vor 1930", teils — nach 1945 — „zusammen mit der Tendenz zum Rückanschluß an den christlichen Glauben" 34 . Die Distanz, die dem geschichtlichen Thema gegenüber geboten sein dürfte, ist hier nicht bloß gefährdet, sondern bewußt preisgegeben — weil eine geschichtliche Distanz gar nicht gesehen wird und vielleicht auch weil der Subjektivität des Standpunktes auf seiten des Gegenstandes, wie man ihn sieht, ein verwandtes Phänomen entspricht: die Auffassung der Geschichte als Geistesgeschichte, als einer Aufeinanderfolge von Weltanschauungen. Hinter diesem Aspekt treten andere Fragen zurück: die nach Welt und Leben, wie sie beschaffen sind und sein sollten, wie die Weltansichten sich von ihnen und untereinander an Wahrheit und Würde unterscheiden. Nur mit den Welt- und Lebensanschauungen haben wir zu tun, also mit Gebilden, in denen Welt und Leben auf ihre subjektiven Spiegelungen und auf deren historische Aufeinanderfolge relativiert und reduziert sind. Historischer, subjektiver und Wertrelativismus sind vereint. 32

34

Gedanken zu Hebbels „Judith", in: Studien und Interpretationen, 1956, 3 3 Tragödie, Bd. 1, S. 8. S. 326. M a y : Hebbels „Herodes und Mariamne", a.a.O., S. 52, 49 über Ziegler; Hebbels . . . „Genoveva", a.a.O., S. 346 über v. Wiese.

.4

D e r tragische Nihilismus

Eine derartige Relativierung der Welt auf die subjektiven Weltinschauungen und deren Geschichte vertritt z. B. Heidegger, der so großen Einfluß auf die Hebbelforscher nahm: „Der Grundvorgang der Neuzeit ist die Eroberung der W e l t als Bild." „Das Seiende gilt erst als seiend, sofern es und soweit es in diesem Leben ein- und zurückbezogen, d. h. er-lebt und Er-lebnis wird." „Das Sein des Seienden wird in der Vorgestelltheit des Seienden gesucht und gefunden." I m Weltbild „kämpft der Mensch u m die Stellung, in der er dasjenige Seiende sein kann, das allem Seienden das Maß gibt und die Richtschnur zieht". „Entscheidend ist, daß der Mensch diese Stellung eigens als die von ihm ausgemachte selbst bezieht, sie willentlich als die von ihm bezogene innehält und als den Boden einer möglichen Entfaltung der Menschheit sichert." „Weil diese Stellung sich als Weltanschauung sichert, gliedert und ausspricht, wird das neuzeitliche Verhältnis zum Seienden in seiner entscheidenden Entfaltung zur Auseinandersetzung von Weltanschauungen".35

Heideggers Betrachtung der Geschichte als einer Abfolge von Ideologien entspricht, wenngleich mit umgekehrtem Richtungs-Vorzeichen, der Metaphysik des Hegeischen Historismus. Karl Löwith sagt: „Im Prinzip sind . . . Hegels konstruktiver Fortschritt und Aufstieg und Heideggers destruktiver Rückschritt und Abstieg nicht verschieden. Beide bewegen sich in derselben modernen Verstiegenheit eines metaphysischen Historismus, indem sie das Absolute des Geistes, beziehungsweise des Seins, historisieren." Im Anschluß an G . Krüger stellt Löwith fest: Heidegger k o m m t „Hegels metaphysischem Historismus so nahe, daß die Seinsgeschichte von Hegels Geschichte des absoluten Geistes kaum mehr unterscheidbar i s t " . 3 6

Treffend formuliert von Wiese, was Hegels Geschichtsauffassung auf dem Gebiet der Kunst bedeutet; und man erkennt diese Konzeption, mit Heideggersdiem Vorzeichen versehen, leicht wieder in dem oben gekennzeichneten geistesgeschichtlichen Rahmen, den von Wiese im Gefolge Frickes und Zieglers dem Bilde Hebbels wie der gesamten deutschen Tragödie erstellte. E r spricht von der „Bewegung des Geistes selbst in seinen weltgeschichtlichen Entfaltungen, die dem Künstler schon im voraus die Stelle anweist, die er nach den Voraussetzungen der Weltzustände jeweils einzunehmen h a t " 3 7 . Ob eine derartige Determination zu Recht angenommen wird oder nicht, sie änderte in keinem Falle etwas daran, daß der Zusammenbruch des Pantheismus die Richtigstellung eines Fehlers wäre und daß der enttäuschte Pantheist und also tragische Nihilist seine Verzweiflung bloß seinen würdelosen, verstiegenen Ansprüchen zuzuschreiben hätte. Über35 36 ST

Holzwege, S. 8 2 — 8 4 , 86 f. M. Heidegger. D e n k e r in dürftiger Zeit, Die Neue Rundschau, 1952, S. 4. B. von Wiese: Das Problem der Versöhnung bei Schiller und Hegel, J b . d. dts. Schillergesellschaft 1965, S. 179.

Die Unverbindlidikeit des Nihilismus

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haupt aber wäre seine Art von Interesse, von Orientierung an der Welt und ihrer Beschaffenheit prinzipiell verkehrt. Auf die Welt als tertium comparationis käme es ja gar nicht an, wenn ihre subjektiven Spiegelungen, die Ideologien, einander nach eigener Gesetzlichkeit ablösten. Uber solchen Wechsel zu verzweifeln, könnte in den Augen derer, die den Prozeß durchschauen, nur Zeichen historischer Befangenheit sein. Wäre man nicht seiner Weltstunde und der zugehörigen Weltanschauung verpflichtet, dürfte man ja mit allen Ideologen sympathisieren: mit Idealismus und Nihilismus, mit Glauben und Unglauben. Und tatsächlich kommt ein derart relativistisches Schwanken der Position zu, die Ziegler als tragischen Nihilismus bezeichnet und die man Hebbel zugesprochen hat. 4. Die Unverbindlidikeit

des

Nihilismus

Ziegler schwankt in seiner Einschätzung von Pantheismus und Nihilismus. Indem er jenen als anspruchsvollen Traum brandmarkte, setzte er beide herab. Und er setzt beide wieder herauf, indem er dem Nihilismus eine hohe Moral zuspricht: freilich nur dem tragischen Nihilismus, nicht dem radikalen. Dieser läßt ja die schönen Wahngebilde fahren, ohne ihnen nachzutrauern. Darin sieht Ziegler nichts als „den zynischen Trieb, sich im Sinnlosen möglichst wohnlich einzurichten" 38 . Die Alternative ist offenkundig überspitzt, ungerecht, parteiisch. Sie wirkt wie ein Bumerang, sobald man bedenkt, daß der tragische Nihilist gegen besseres Wissen an entlarvten Illusionen festhält; daß er sie festhält als den wahren Sinn, obwohl er gar nicht an sie glaubt; daß also auch und gerade die Haltung des tragischen Nihilisten zynisch ist. Nach Ziegler sind Hebbel und überhaupt die Menschen seiner Zeit „von der Nichtswürdigkeit des Lebens überzeugt". Trotzdem halten sie „den Glauben an eine objektiv gültige, objektiv wirksame Sinn- und Wertordnung wenigstens mittelbar in der Form eines Postulates fest: als leidenschaftliche Sehnsucht oder (nach dem Erweis ihrer Vergeblichkeit) als leidenschaftliche Verzweiflung" 39 . Ein solcher tragischer Nihilismus repräsentiert deutlich die historische Relativität und Unverbindlidikeit der historistisch verstandenen Ideologien. Ist nämlich die vollkommene Nichtigkeit des Daseins das wahre und, wenn einmal erfahren, das unmittelbare primäre, das existentielle Grunderlebnis, so kann ein Glaube an eine objektive Wert- und Sinnordnung in jedem Falle nur theoretisch mittelbar und sekundär sein. Er ist dann ein Glaube, den man als eine formulierte Weltanschauung unter anderen kennt, den man ersehnen, annehmen, ablehnen mag — aber er ist kein echter Glaube, den man eben „hat". 38

Krise, S. 19.

39

Ibid.

16

Der tragische Nihilismus

Ziegler findet ein tragisches Dilemma also zwischen Weltanschauungen, die ganz subjektiv, ganz theoretisch sind, die allerdings mit historischer Gesetzmäßigkeit aufeinander folgen sollen. Nicht glauben, trotzdem glauben wollen und eben doch nicht glauben können — „solche qualvolle Zerrissenheit des Erlebens macht ja das Drama überhaupt erst zu einer Tragödie" 4 0 . Eine solche Tragödie käme demnach zustande, wenn einer etwas glauben wollen müßte, von dessen Unwahrheit er überzeugt wäre. Ziegler hat offenkundig diese Schwierigkeit gespürt und dem tragischen Nihilismus über die positive Moral des Glaubenwollen-Müssens hinaus auch positive Inhalte zugesprochen. Dabei wird unvermeidlich der Nihilismus aufgehoben; und wenn Ziegler ihn zuletzt doch wiederherstellt, gibt er ihm auch die alte Unverbindlichkeit und Künstlichkedt zurück: „Agnes Bernauer" soll erweisen, daß der tragische Nihilismus gar keine so negative Ideologie ist. Hier durchbreche Hebbel sogar den Kreislauf von Pantheismus und Nihilismus (obwohl Ziegler diesen Kreislauf eigentlich als objektiv-unvermeidlich und tragisch-notwendig verstanden wissen will!). Wohl sind in diesem Drama Gott in die äußerste Transzendenz entrückt und das Irdische einer äußersten Nichtigkeit überantwortet. Hebbel begegnet diesem Dilemma mit Herzog Emsts vorbildlicher Haltung eines religiösen Realismus. Der Mensch fühlt sich von Gott berufen, „das Irdische gerade in seiner Nichtigkeit" liebevoll zu bejahen und der Forderung des Tages nachzukommen. Damit scheint der Nihilismus aufgehoben. Tatsächlich aber werden die Berufung und Gott selber „ganz bewußt als illusionärer Wahn betrachtet" und nur wegen ihrer Lebensnützlichkeit als provisorisches „als ob" fingiert. Diese „Lebenslüge" durchbricht in Wahrheit nicht „den verhängnisvollen Zirkel von Pantheismus und Nihilismus", wie Ziegler will und May ihm zugesteht 4 1 . Derartiges behaupten, heißt vielmehr die Grenzen verwischen: die Grenzen zwischen einer existentiell-unmittelbaren und einer konstruiert-theoretisch-mittelbaren Haltung, zwischen wahr und unwahr, objektiv und subjektiv, zwischen Sein und Vorgestelltsein. Der Eindruck solcher Grenzverwischung bestätigt sich vollends, wenn Ziegler versucht, nach dem einen Drama auch Hebbels verzweiflungsvollen Nihilismus durchweg als positive Weltanschauung hinzustellen. Hebbels Menschen, meint er, „scheitern am Mißverhältnis der Empirie zu dem sich ihr verweigernden Absoluten". Das aber zeugt für das Göttliche: „eben damit, daß in seiner Ungreifbarkeit jede Möglichkeit der menschlichen Existenz überhaupt ungreifbar wird, erweist 40 41

Ibid. Ibid., S. 26 f., 41 ff.; May: Hebbels . . . Genoveva, a.a.O., S. 364.

Die Unverbindlichkeit des Nihilismus

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es sich hintergründig doch wiederum als der im Letzten allein tragfähige Grund, als das in der Tiefe allein erhellende Licht, als die im Wesentlichen allein nährende und bergende Mitte des Seins" 4 2 . Das Göttliche soll sich demnach als tragende, erhellende, nährende und bergende Macht erweisen, ausgerechnet dadurch, daß es in Mißverhältnis zur Wirklichkeit steht, daran den Menschen scheitern läßt, folglich gerade nicht trägt, nicht erhellt, nicht nährt, nicht birgt. Wenn der Mensch aber deshalb scheitert, weil ihn nichts trägt, und wenn allein das Göttliche ihn tragen könnte — so erweist das Göttliche sich hier als unwirksam, als unerkennbar. U n d Hebbels Menschen zeugen durch das Scheitern ihrer Existenz nicht für das Göttliche, sondern gerade gegen seine Existenz. Mit seiner Beweisführung vermag Ziegler schwerlich den Nihilismus wieder loszuwerden, den er erst umständlich auf dem Wege über den Pantheismus beschwor. Der tragische Nihilismus bleibt Nihilismus; und er bleibt fragwürdig — fragwürdig nach seinem Charakter als „Lebenslüge" und als bloße Enttäuschung eines unwahren, überspannten, unwürdigen Idealismus; fragwürdig als angebliches indirektes Zeug nis für das Göttliche; fragwürdig als eine nur subjektiv-ideologische, mittelbar-theoretische, als eine unverbindliche, nicht unmittelbarexistentielle, verbindliche Konzeption; fragwürdig schließlich als eine Konzeption, die erkenntnismäßig, moralisch und gehaltlich offenbar „gerettet" zu werden verlangt, aber nicht gerettet werden kann. 42

i

Wandlungen, S. 21.

Wittkowski, Hebbel

II. Die Methode 1. Die dichterische Praxis und die Theorie des Dichters Geisteswissenschaftliche Beweisführungen gewinnen gewöhnlich um so mehr an Uberzeugungskraft, je mehr sie sich berufen können auf das Zeugnis bestimmter Korrektive. In Hebbels Fall empfehlen sich dazu die zahlreichen Äußerungen des Dichters speziell über seine eigenen Dichtungen wie über Dichtung allgemein. Nie freilich spricht er von der ideologischen Enttäuschung, die man doch als den Kern des Tragischen in seinen Dramen ansehen zu müssen glaubte. Hier fand sich zwischen Hebbels Theorie und Praxis keine Brücke. Die Theorie war unbrauchbar als Korrektiv; und man suchte die Ursache bei dem Dichter, nicht etwa bei der Interpretation. Die Ansicht, „daß die Subjektivität des dichterischen Bewußtseins und das objektive Sein des Gedieh teten selbst bei Hebbel einander inkommensurabel sind", war um 1930 zwar nicht neu, gewann damals aber durch Ziegler geradezu die Geltung eines Dogmas. 1951, nachdem v. Wieses monumentale „Tragödie" erschienen war, konnte der einflußreiche Hebbelforscher befriedigt feststellen: „ . . . die These, daß Hebbels reflexiv-spekulative Deutung des Tragischen gerade den tiefsten und wichtigsten Erlebnisgehalten seiner Tragödien durchaus nicht unmittelbar kommensurabel ist — diese These stellt ein gegenwärtig kaum mehr umstrittenes Gemeingut der literaturwissenschaftlichen Forschung dar" 4 3 . Wie so oft, widerspricht Ziegler allerdings auch diesmal seiner eigenen These. Anderswo erklärt er nämlich umgekehrt: Wie das Scheitern des Pantheismus im Nihilismus „zu verstehen sei — darauf hat unser Dichter in seiner Theorie des Tragischen hingewiesen". Dieselbe Theorie, die mit der Praxis inkommensurabel sein sollte, soll diese nun also doch bestätigen — und damit die neue Interpretation des Tragischen. U n d zwar beruft Ziegler sich besonders auf den „unheilvollen Widerspruch zwischen dem Ganzen der Welt, dem All der N a t u r einerseits und den besonderen Einzelerscheinungen andererseits" 44 . So verstand auch noch Paul Sickel den berühmten „Dualismus": nämlich als „Gegen-

43 44

MuW., S. 10; Wandlungen, S. 15. Krise, S. 22 f.

Die diichterisdie Praxis und die Theorie des Dichters

19

satz zwischen Allgemeinem und Besonderem" 4 5 U n d wie Ziegler setzt auch v. Wiese beim „Kampf des Individuellen mit dem Universum" an 4 6 . Heute freilich wird der Hebbelsche Gedanke vom Widerspruch zwischen Individuum und Universum merklich aus dem Geiste unserer Zeit heraus verwandelt, nämlich vom Sein zum Vorgestelltsein, vom Dualismus des objektiven Seins zur Paradoxie der subjektiven Dialektik: „Das All . . . , das Absolute ist jeder individuellen Existenz inkommensurabel, ihr transzendent. Niemals ist es ihr unmittelbar-positiv, sondern stets allein mittelbar-negativ gegeben: immer nur als verneinende Grenze, immer nur im Untergang ihrer selbst. In solcher Hinsicht sind demnach ,tragischer' und nihilistischer' Lebensaspekt für Hebbel weithin miteinander identisch. Immer geht es um die Vernichtung, die Nichtigkeit des empirischen Einzeldaseins als den eigentlichen wesenhaften Kern seiner Existenz. Immer geht es darum, daß sich in der Bedingtheit des Irdischen das Unbedingte nicht leben läßt." Diese Wahrheit spiegelt „Hebbels Theorie des Tragischen ebenso wie seine tragische Dichtung" 4 7 . Damit war zweierlei gewonnen: erstens die Inkommensurabilität von Theorie und Praxis, die, wie wir noch näher sehen werden, den Verzicht auf Korrektive und damit eine immanente, energisch auf unsere Zeit bezogene Interpretation zu rechtfertigen schien; und zweitens überdies die Rechtfertigung solchen Vorgehens durch das vollkommene Entsprechen von Theorie und Praxis. Ähnlich paradox argumentiert v. Wiese. Bevor er die Tragödien einzeln deutet, stellt er die Theorie des Tragischen ausführlich dar, in dem „Bestreben, auch die theoretischen Äußerungen Hebbels aus einer zur Schablone erstarrten Auslegung zu befreien, sie wieder grundsätzlich ernst zu nehmen und von ihrem religiösen Ursprung her zu erschließen" 48 . Seinem theologischen Ansatzpunkt gemäß zielt er dabei auf den tragisch in die Welt verstrickten Gott ab, von dem Hebbels Tagebücher gelegentlich und aphoristisch sprechen. Diese Bilder einer spekulativen Mystik waren von Denkern wie Schelling, Schubert, Solger in Umlauf gesetzt worden. Ob man nun in ihnen den Kern von Hebbels Theorie des Tragischen erblicken darf oder nicht — v. Wieses Versuch, die Anwendung auf die Tragödien zu machen, scheiterte. Von Wiese vermochte den verborgenen Gott der Theorie in den Dramen

45 46 47 48



Paul Sickel: Friedrich Hebbels Welt- und Lebensanschauung, 1912, S. 35. Tragödie, Bd. 2, S. 354; ebenso 5 1961, S. 552. Krise, S. 23 f. Tragödie 1961, S. 697 A n m . 21.

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Die Methode

selbst nicht aufzufinden. Das schien (an sich nicht ganz streng logisch) die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis zu erhärten und der Nihilismus-Interpretation den Weg zu ebnen. Ohne Mühe ließ sich freilich zeigen, daß G o t t z. B. in „Genoveva" sehr wohl gegenwärtig ist, und zwar ziemlich unverborgen: im Bewußtsein Golos 4 9 wie in der Rettung Genovevas durch den Irren 5 0 . Die Inkommensurabilitätsthese beruht also bei v. Wiese auf einem ganz unzutreffenden Verständnis der Dichtung. U n d was bürgt überhaupt für die Richtigkeit seines Theorieverständnisses, das offenkundig der theologischen Wurzel seiner spekulativen Geschichtskonzeption entsprungen ist 5 1 ? Wenn aber sowohl Theorie als Praxis vermutlich nicht zutreffend gedeutet sind, was bürgt dann noch für die Richtigkeit der These, beide seien bei Hebbel inkommensurabel? Früher dachte man gerade umgekehrt. Man glaubte sich sogar befugt, die Werke von der Theorie aus, wie man sie verstand, zu deuten. Damit wurde man der Dichtung sicher nicht gerecht. Später sagte man daher: Weg mit der Theorie! Man wollte also methodisch genauso radikal mit der Tradition brechen wie bei der Frage nach dem ideologischen Gehalt, wo man den einst beanspruchten Idealismus Hebbels durch einen Nihilismus moderner Prägung zu ersetzen suchte. Hier wie dort also verfiel man von einer entschieden-eindeutigen Position auf die entgegengesetzte, von einem Extrem ins andere; und indem man das offenbar empfand und zu vertuschen suchte, verstrickte man sich in Widersprüche; ja, man kehrte zu Anschauungen zurück, die man selbst hatte erschüttern helfen. Hebbels angeblich so moderner Nihilismus entpuppte sich bei näherem Zusehen als Enttäuschung eines überspannt und antiquiert anmutenden Idealismus — überdies seitens der Forschung konzipiert im Rahmen einer auf Hegel zurückgehenden, im Prinzip überholten Geschichtsmetaphysik, so daß es zuletzt wieder

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May: Hebbels . . . „Genoveva", a.a.O., S. 362. Wittkowski: „Genoveva". Zum Ursprung der Tragödie Hebbels, H . - J b . 1958, S. 102; auch H.i.n.S., S. 187. Ebenso Kreuzer: Hebbels Tragödien, Diss. Tübingen 1956, S. 19, und jetzt Ilse Brugger: Das prophetische W o n des Stummen, H . - J b . 1966, S. 50 f. (Selbst Ziegler gibt zu, daß in „Genoveva" (Dragos Geist) und in „Herodes und Mariamne" (Drei Könige) „die sittliche Weltidee . . . ganz unanzweifelbar gegenwärtig ist." („Judith" in: Das Deutsche Drama, Bd. II, S. 109). Peter Michelsen (Friedrich Hebbels Tagebücher, 1951, 2 1 9 6 6 , S. 86) und Helmut Kreuzer (Die Tragödien Friedrich Hebbels, S. 22) haben von Wieses Vorgehen im einzelnen kritisiert. Michelsen bemängelt das Verfahren, Hebbels W o r t „Idee" einfach durch „ G o t t " zu ersetzen, wo dodi eher das Umgekehrte berechtigt wäre. Kreuzer betont die experimentelle, ja antireligiöse Ausdrucksweise der Tagebuchnotiz 1971, die von Wiese zur Grundlage seiner Konzeption macht.

Die Persönlichkeit des Dichters

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heißen konnte, die Tragödie Hebbels setze „die Identitätsphilosophie des romantischen Pantheismus ins Dramatische u m " 5 2 . Die so eifrig b e t o n t e Inkommensurabilität zwischen Theorie und Praxis wird von Ziegler am Ende wieder geleugnet; und bei v. Wiese schrumpft sie zu einer gradweisen Abstufung zusammen; zu einem radikalem Nihilismus in der Praxis, einem gemäßigten in der Theorie. D i e Einheit des H e b belbildes scheint sich, nach so gründlicher Zerstückelung, wieder herzustellen. N u r m u ß man wohl fragen: Entspringt diese Einheit einer wirklich erfaßten Einheit v o n Dichter und Denker, oder nicht vielm e h r dem System der geschichtsspekulativen Konzeption, welche die Einheit selbst der widersprüchlichsten Teilresultate fordert und gewährleistet? 2. Die Persönlichkeit des Dichters Trotz allem, was sie selbst dagegen vorbringen, bestehen die lange maßgeblichen Forscher bei Hebbel noch heute auf einem Mißverhältnis zwischen Dichter und Denker. Hebbel erscheint danach als Person ohne Einheit und Mitte. E r gilt als Schnitt- und T r e f f p u n k t aller „entscheidenden geistigen Strömungen seiner Epoche". Sein „denkerisches und noch m e h r sein dichterisches W e r k " sollen „die großgewölbte geistesgeschichtliche Entwicklung des vorigen J a h r h u n d e r t s " zusammenfassen, „jene Entwicklung, die von dem optimistischen Idealismus seiner klassisch-frühromantischen Anfänge zu dem dunkel überschatteten Realismus, Pessimismus, Nihilismus seines Ausgangs f ü h r t " . Das sei „ein Zeugnis für die Weite seines Geistes" 5 3 . Dabei soll ihm eigentümlich sein, sich keiner jener Positionen anschließen zu können, „unfähig, in und m i t wie außerhalb einer ideellen Sinn- und Wertordnung und ohne sie zu existieren" 5 4 . Keine jener Positionen ist demnach für ihn verbindlich. E r umfaßt sie alle nur im Theoretischen, nur im B e w u ß t sein, nicht existentiell. Bei dieser Lage der Dinge war es für Peter Michelsen eine verantwortungsvolle und dankbare Aufgabe, Hebbels Tagebücher zu untersuchen. Ausgehend v o m Menschen und dem, was ihn unmittelbar beschäftigte, hätte sich vielleicht eine M i t t e finden lassen, die den Blick auf eine Wertwelt der Person eröffnete; eine Mitte, auf die der Dichter und der D e n k e r zur Einheit hingeordnet werden k ö n n t e n . Allein, Michelsen versucht nur, das Hebbelbild seines Lehrers Ziegler logischphilosophisch zu erhärten. D e r Bruch zwischen Dichter, Mensch und D e n k e r wird nachdrücklich b e t o n t und auf die F o r m e l einer durchgehenden Paradoxie ge52

Krise, S. 21.

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Krise, S. 1.

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Wandlungen, S. 22

22

Die Methode

b r a c h t . H e b b e l d e n k t d a n a c h i n G e g e n s ä t z e n , sagt z u allem ja u n d nein zugleich. E r ist Subjektivist, g e w i n n t alle E i n s i c h t n u r d u r c h w i l l k ü r liche S e t z u n g , h ä l t die reale

Welt für

Schein, v e r l a n g t jedoch

nach

R e i b u n g m i t i r g e n d w e l c h e n W i d e r s t ä n d e n u n d t r a n s p o n i e r t z u diesem Z w e c k d e n i n n e r e n F e i n d nach außen, u m sich d a n n z u r e i b e n a n den selbst e r z e u g t e n F i k t i o n e n 5 5 . G i l t i h m die reale W e l t als Schein, so die ideale w o m ö g l i c h als n o c h w e n i g e r . Bei seiner V o r s t e l l u n g v o n h a n d e l t es sich n i c h t „ u m einen real u n d

als P e r s o n e r l e b t e n

Gott Gott,

s o n d e r n lediglich u m eine M e t a p h e r f ü r eine i r r a t i o n a l e , d u n k l e A l l g e m e i n h e i t " , u m eine H y p o t h e s e . D i e leidenschaftlichen

Gottesanrufun-

gen w ä h r e n d Elises lebensgefährlicher E r k r a n k u n g sind d a n n nichts als „ K o n z e s s i o n e n gegen die B e q u e m l i c h k e i t i m persönlichen L e b e n " 5 6 .

55

38

Das Paradoxe als G r u n d s t r u k t u r Hebbelsdien Denkens, wieder abgedruckt i n : Hebbel in neuer Sidit, S. 98. Vgl. folgende A n m . Friedrich Hebbels Tagebücher, 1951, S. 114, 243. Das ist ein Beispiel dafür, wie Midieisens intelligente Arbeit Richtiges und Falsches mischt. Die 2. A. verzichtet, wenn ich richtig lese, auf die zuletzt zitierte Bemerkung zu den Gottesanrufungen. Was aber hat es dann mit ihnen auf sich? Ich teile Michelsens Mißtrauen gegen die Substantialität des Hebbelschen G ö t testbegriffs und halte ihn auf weite Strecken ebenfalls f ü r eine A r t Metapher, s . u . B. I V , 1) — aber erstens eben nicht in jedem Falle; und zweitens lehnt sich H e b b e l gegen G o t t oft zu leidenschaftlich auf, als daß da von einem Kampf gegen eine Metapher gesprochen werden dürfte: viel eher meint er wohl den G o t t , an welchen viele Menschen glaubten und an den zu glauben, als eine A r t moralischer Verpflichtung galt — eine T a t sache, die Hebbels erkenntnismäßigen und ethischen Rigorismus ebenso herausfordern mußte, wie es die gängigen Moralvorstellungen taten. „Wie soll die Liebe zum Echten sich äußern, wenn nicht im H a ß gegen das Schlechte?" Das ist übertrieben; und man findet bei Hebbel durchaus direkte Belege für seine Liebe zum Echten, also für seinen Glauben an Werte. Tatsächlich aber äußert sich dieser sein Glaube überwiegend in F o r m von Angriffen auf oberflächliche Wertvorstellungen. Michelsen macht m. E. den Fehler, solche Angriffe als Angriffe Hebbels auf dessen eigene Werte anzusehen — woraufhin er freilich leicht von totaler Relativierung sprechen kann. D a ß er andererseits allzu vertrauensselig Hebbels Wahrhaftigkeitsbeteuerungen für bare Münze hält, liegt auf derselben Ebene. Zum Beispiel n i m m t er auch die Einschränkung, die G o t t und N a t u r in der Tagebuchnotiz 1011 erfahren, ganz vordergründig als Relativierung dieser G r ö ßen (S. 110; s. u. B. I I I , 4, Anm. 5 4 ) , d. h. er versteht sie wie alle übrigen Relativierungen gehaltlich, anstatt daß er sie als ein Spannungsverhältnis erkennt, das bloß den absoluten, uneingeschränkten Vorrang der einen vor der anderen aufhebt, ohne indessen den Absolutheitscharakter beider G r ö ß e n für sich selbst als letzter, unabgeleiteter Wertpositionen zu bestreiten. Michelsen hat vielleicht Recht, wenn er erklärt, Hebbel trage den Dualismus in die W e l t hinein. Aber kann man diesen Vorgang als bloß subjektiv-psychologische Eigenheit eines Universalskeptikers abtun? H e b bels Dualismus ist, wie es der Ausdruck selbst besagt und wie H e l m u t

Die Ideologien und die Werte

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All das trifft nicht nur die Weltanschauung, sondern auch Rang und Würde des Menschen. Von ihm heißt es folgerichtig, er gebe sich in „gar nicht liebenswerter Weise" und entbehre „aller Vorbildlichkeit, aller beispielgebenden K r a f t " . Doch dürfe man Hebbel nicht moralisch aburteilen, weil ihm, der „mitten im Prozeß der Wertezersetzung" sich befinde, „ein Wertgebäude, gegen das er verstoßen könnte, ja gerade fehlt". Vielmehr ist es ihm ja erst „mit einem geradezu fiebrigen Ernst um die Konstituierung eines absoluten Maßstabes zu t u n " 5 7 . Sein Dichten und Denken bleibt paradox und unverbindlich. Eine Weltanschauung ist „nicht vorhanden. Es handelt sich immer nur um die experimentale Annahme einer solchen, die je nach Bedarf und Stimmung ausgewechselt wird". Immer bleibt sie theoretisch, mittelbar; nie wird sie verbindlich, existentiell; und Hebbel selber war „im tiefsten ohne Mitte"68. Das ist genau die Konsequenz, die sich aus den Resultaten der existenzphilosophisch und -theologisch orientierten Deutungen ergibt. Der Mensdi wird je „bestimmt, ist in seinem Grundwesen allein definierbar durch sein Verhältnis zu den Werten", durch „sein Verhältnis zu der Welt, in der er steht. 5 9 . H a t Hebbel aber, wie jene Interpreten meinten, gar keine absoluten Werte und gar keine objektive Welt, so läßt sich eben auch nichts sagen von seinem Grundwesen; und von seiner „Mitte" läßt sich dann in der T a t nur sagen, daß es sie nicht gibt. 3. Die Ideologien und die Werte. Metaphysik und Anthropologie Die Ansicht, daß Hebbel ohne Mitte, ohne Werte sei, ergab sich für die betreffenden Forscher allerdings aus Prämissen, die für die vorliegende Untersuchung nicht gelten. 1. Man folgerte jenes Ergebnis aus der Annahme, Hebbel habe keine eigentliche Weltanschauung gehabt. Man stellte also das IdeologiKreuzer es betont (Die Tragödien Friedrich Hebbels, Anhang; ebenso: Die paradoxen Bildskizzen in Hebbels Tagebüchern, in: Augenblick 1960), ein Struktur-Phänomen, das gewiß psychologische Voraussetzungen und gehaltliche Konsequenzen hat — aber eben weder Subjektivierung noch Relativierung bedeutet, sondern umgekehrt Spannungen, Kontraste, Kollisionen akzentuiert, wie sie in solcher Stärke nur zwischen Polen auftreten können, die für objektive, unaufhebbare, unabgeleitete, insofern absolute Größen gehalten werden. 57 58 59

Das Paradoxe . . . , S. 80, 98. Friedrich Hebbels Tagebücher, 1951, S. 245, 192. Nicolai H a r t m a n n : Ethik, 1949, S. 198; ders: Das Problem des geistigen Seins, 1949, S. 175.

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Die Methode

sehe und dessen Hauptgegenstand, das Metaphysische, als primär, die konkreten ethischen Werte dagegen als sekundär hin. 2. Man setzte das Ideologische oder Metaphysische gleich mit dem „eigentlichen" Sein und das wieder mit dem vorgestellten Sein, mit der „Vorgestelltheit des Seienden" 6 0 . Das ist, wie Ziegler am Beispiel Hebbels definiert, Subjektivismus eben in jenem Sinne „einer Relativierung aller ideellen Ordnungen zu bloßen Bewußtseinsinhalten und Bewußtseinsspiegelungen des menschlichen Subjekts" 6 2 . 3. Man fragte — was an Mays Deutung von „Herodes und Mariamne" zu zeigen war — nicht danach, welche Bewußtseinsinhalte bei Hebbel bzw. bei seinen Figuren anzutreffen seien, sondern danach, ob sich bestimmte Weltanschauungen vorfanden: Christentum (von May mit den sittlichen Werten des Neuen Testamentes gleichgesetzt), Idealismus, Pantheismus, Nihilismus. Das heißt, man rechnete von vornherein bei Hebbel mit der begrenzten Zahl bestimmter Ideologien, die man auf Grund eines spekulativen Historismus Hegelscher Provenienz für die damalige Zeit in Betracht zog und prüfend an Hebbel herantrug. Die Subjektivierung und Historierung des Denkens nun waren dem weltanschaulichen Denken der Autoren eingestandenermaßen eng verbunden und dem Denken Heideggers verwandt. Aber gerade deshalb waren sie weder weltanschaulich noch methodisch eigentlich modern, sondern eher Zeugen für das zähe Fortbestehen von Denkmethoden und Gedanken des 19. Jahrhunderts. So umstürzend die mit ihrer Hilfe hervorgebrachten Hebbel-Thesen wirkten — von dem derartig gesehenen Hebbel und von den Urhebern jenes Hebbelbildes m u ß doch gelten, was Löwith von dem Denker sagt: „Wie alle radikalen Kritiker des 19. Jahrhunderts denkt Heidegger am äußersten Rande einer nur eben noch bestehenden Überlieferung, die er von Grund aus in Frage stellt. Zugleich bewegt sich aber sein Denken doch ausschließlich innerhalb ihrer" 6 3 . 60

61 63

Diese Einstellung dominiert unter den deutschen Literaturhistorikern nidit nur im Falle Hebbels, sondern ganz allgemein; gerade bei Dichtern der Humanitätsepodie und des 19. Jahrhunderts hat sie zu argen Fehldeutungen geführt; vgl. W. Wittkowski: Friedrich Schiller 1962—65. Ein Literaturbericht, Jb. d. dts. Schillergesellschaft 1966, bes. S. 416 f.; Prometheus. Kleists „Amphitryon" zwischen Molière und Giraudoux, in: Kleist und Frankreich, hrsg. Walter Müller-Seidel, 1968. Einen Parallelfall bietet die amerikanische Hemingway-Kritik, vgl. W . Wittkowski: Gekreuzigt im Ring. Zu Hemingways „The Old M a n and the Sea", BVJS. 1967. 6 2 Wandlungen, S. 17. Heidegger, vgl. oben zu Anm. 35. L ö w i t h : M. Heidegger, a.a.O., S. 3.

Die Ideologien und die Werte

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Für diese Untersuchung sollen andere Prämissen gelten. Die ideologischen Bewußtseinsinhalte sollen nicht allein beachtet werden und ihre gesetzmäßig vorgegebene Abfolge vollends soll auf sich beruhen. Zugleich kehrt sich der Primat des Weltanschaulichen vor dem Ethischen um. Eine ideologische Theorie ist Sache der Kontemplation, der intellektuellen Reflexion. Elementarer ist das emotionale Welterlebnis. Es mag die empirisch-existentielle Grundlage für Weltanschauungen sein, genau wie sich umgekehrt die existentielle Verbindlichkeit der Weltanschauung für ihren Träger daran erweist, wie dieser sich in bestimmten Situationen bestimmten Werten seiner Ideologie gemäß verhält und sie damit konkret verwirklicht. So oder so ist man also stets auf den in der Situation sich verhaltenden Menschen angewiesen, wenn man wissen will, wie das Innerste des Menschen aussieht. So nämlich vollzieht sich ja das Leben der Person: als „eine einzige, ununterbrochene Kette von Situationen, in denen sie sich durchfinden muß . . . im bloßen Einnehmen einer Stellung, im Wahren der Haltung oder im tätigen Eingreifen". „Die Person sucht sich die Situationen nicht aus, sie gerät in sie." Dem Menschen „erscheint alles, was ihn in der Welt irgendwie angeht, wertbezogen — wertvoll oder wertwidrig". Sein Hindurchfinden durch die Situation, seine Aktivität ist folglich „wertbedingt", „wertgerichtet". Die Situation stellt ihn vor die „Wahl zwischen Wert und W e r t " , vor das „Problem des Wertvorzuges", vor die „Frage, welches der vordringliche Wert sei". Sie läßt ihm die Freiheit zur Entscheidung innerhalb des gegebenen Spielraumes; „sie nötigt ihn nur überhaupt zur Entscheidung", zur Entscheidung zwischen Wert und Wert 6 4 . Von diesem sich konkret an bestimmten Werten orientierenden Menschen drängt es die ideologisch-metaphysisch deutenden Autoren zu rasch in den abstrakten Raum universaler Weltauslegungen. Sie zeigen uns Christen, Idealisten, Pantheisten, Nihilisten, Mischungen aus solchen und endlich Subjekte, die weder dies noch jenes sind: in keinem Fall jedoch den konkreten, individuellen, den existierenden Menschen und so etwas wie dessen Mitte. Auf diesen Menschen zielt die anthropologisch-ethische Methode. Sie begnügt sich nicht damit, zu fragen: R e präsentiert der Mensch diese oder jene Ideologie, dieses oder jenes Ethos? Vielmehr fragt sie: Welche Ideologie, welches Ethos, welche Werte werden da gedacht, verletzt, erstrebt, verwirklicht? Sie wird nicht so leicht, wie May es im Falle Mariamnes unter Hinweis auf Wallenstein tat, antworten: die Person handelt „aus Mangel an Idee" 6 5 . 64

65

N . H a r t m a n n : Das Problem des geistiges Seins, S. 133, 156, 158 f., 1 6 2 ; Gerda von Bredow: Sittlicher Wert und Realwert, 1947, S. 24. H.-Jb. 1949/56, S. 58 (nicht mehr in der 2. Fassung).

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Die Methode

Vielmehr würde es hier heißen: Sie handelt aus Rache für gekränkte Ehre wie Wallenstein aus Ehrgeiz, Machtverlangen usw. Da sind Werte involviert, die sich nicht so schnell zu ganzen Weltanschauungen erweitern lassen. Insofern greift die anthropologisch-ethische Methode zunächst kürzer; dafür erfaßt sie konkrete, existentiell-elementare Inhalte. Sie vermag durchaus fortzuschreiten zum Weltanschaulichen. Doch sie erfaßt den Menschen zunächst so, wie ihn die Grenzsituationen des Lebens und wie ihn das Drama vor uns hinstellt: als einen, der sich in konkreter Situation so oder so verhält, der sich entscheidet, und der sich dabei an bestimmten Werten orientiert.

4. Das Drama, Das anthropologisch-ethische Verfahren, das man nach dem Gesagten wohl auch das existentielle nennen könnte, versudit den Mensdien zu erfassen im Zentrum seiner Subjektivität, zugleich in seiner realen Situation und zusammen mit den ihrer N a t u r nadi idealen Werten, mit denen er sich auseinandsetzt. Ich nenne das die primäre, die existentielle Dimension. Sie mag überlagert werden durch die sekundäre, durch die Dimension der ideologischen Reflexion, der totalen Weltauslegung. Diese Dimension ist zunächst nur subjektiv und reicht ihrem Anspruch nach zugleich doch über die Einzelsituationen wie über die Subjektivität hinaus. Für sie allein interessiert sich die metaphysisch-historistische Methode. Ihre Vertreter berufen sich auf Existenzphilosophie und -theologie, verfehlen aber gerade die existentielle Dimension, die von der ideologischen ja schon überlagert, überformt wird. Beide Dimensionen dürften nochmals überlagert oder, in einem andern Bild, rechtwinklig getroffen werden von der Subjektivität des Dichters. Sie hat jene beiden zum O b j e k t und objektiviert sich künstlerisch in ihnen. Sie letzten Endes ist der Gegenstand der Dichtungswissenschaft. Doch sie läßt sich durchaus nicht unbesehen gleichsetzen mit der Subjektivität der einzelnen Figuren. Diese spiegeln ja die Welt, die der Dichter objektiviert, in ganz verschiedener Weise wider, je nadi dem Standpunkt und dem Stellenwert, die ihnen zugewiesen und die ihnen eben dadurch zugewiesen werden. Die metaphysisch-ideologische Methode schenkt diesem Unterschied nicht viel Beachtung. Sie ist interessiert am Subjektiven und erwartet, daß die dramatische Figur gleich einem Sprachrohr die Weltanschauung des Dichters und der Zeit ausdrückt. Oskar Walzel hat schon früher diesen Fehlschluß streng gerügt 6 6 . 66

Vom Wesen des Tragischen, Eurphorion 1933, S. 25 f.

Das Drama

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Die anthropologisch-ethische Methode hingegen setzt voraus, daß das objektive Sein des Menschen keineswegs zusammenfällt mit dem Bewußtsein: weder mit seiner Weltanschauung (2. Dimension), noch mit den Werten, die er primär intendiert (1. Dimension). Zu seinem Sein gehören vielmehr auch die Werte, die an ihm, an seinem Stellungnehmen, Sichentscheiden, Handeln wirklich und erkennbar werden; Werte, die er selbst nicht zu bemerken und nicht direkt auszusprechen braucht, die jedoch der Dichter sieht und schafft, die also Gegenstand der dichterischen Subjektivität sind und daher etwas, vielleicht etwas Wichtiges aussagen über das, was für den Dichter wertvoll ist oder wertwidrig. Solche Werte des Verhaltens, die A k t - oder Personwerte, sind ethische Werte. Sie erscheinen an Akten, die auf Sachverhaltswerte sittlicher wie sittlich neutraler Natur gerichtet sind. Sie selbst jedenfalls lassen sich nicht in direktem Streben realisieren. W o ihre Verwirklichung zustande kommt, ist sie „nicht intendiert, sondern wird nur mitvollzogen — und zwar wird sie unabhängig davon vollzogen, ob die intendierte Realisation überhaupt zustande kommt (also die Realität des intendierten Sachverhalts)" 6 7 . Daraus folgt ein weiterer Einwand gegen das Verfahren, alles Gewicht zu legen auf die metaphysischen Sachverhalte, die Hebbel und seine Figuren angeblich intendieren und erkennen. Die verzweiflungsvolle Resignation, die man ihrem tragischen Nihilismus zuspricht, gehört zwar zu jenen sittlichen Werten, die nach Max Schelers berühmtem Wort „auf dem Rücken der Aktie erscheinen. Aber sie würden da nur an den theoretisch-reflexiven Akten der sekundären Dimension erfaßt, nicht an den Akten der primären, der existentiellen Dimension. Das erst ist jedoch die Sphäre, in welcher der Dramatiker die Vielfalt jener Werte gestaltet, die den Zuschauer emotional beeindrucken. Es sind ethische Werte, direkt intendierte und solche, die sich an derartigen Intentionen realisieren. Diese Sphäre — und nicht bloß die der ideologischen Reflexion auf metaphysische Sachverhalte — muß stärkstens mitbeachtet werden, will man mit Recht von Wertnihilismus reden, wie man das bei Hebbel so gern getan hat. Andererseits kann eine Interpretation auch nicht bei den Werten stehenbleiben, die auf dem Rücken der Akte erscheinen. Vornehmlich hat sie diese Akte selber und ihr Ziel, also die Wertintention und ihre Verwirklichung, die Absichten, Motive und die Handlungen der Personen zu betrachten, stets freilich auch die begleitenden Aktwerte emotional-sittlicher Natur und die reflexiv-weltanschaulichen Voraussetzungen oder Folgerungen.

67

Hartmann: Ethik, S. 266; vgl. auch ibid. 262, 269.

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Die Methode

5. Das Tragische Nach alledem wird es vielleicht nicht mehr genügen, das Tragische als eine Angelegenheit der weltanschaulichen Theorie zu betrachten: als ideologisch-metaphysische Erwartung, Enttäuschung oder Uberzeugung. Es betrifft ja vielmehr den Menschen in seiner Stellung unmittelbar zur Welt und zu den Werten. D e r Mensch erlebt die Werte ja als solche, die objektiv und unabhängig von seinem Dafürhalten vorhanden sind und gelten. In jeder Situation des Daseins sieht er sich vor die Notwendigkeit gestellt, zwischen Werten zu entscheiden. E r hat es dabei aber nicht nur m i t den W e r t e n selbst zu tun, sondern auch mit ihrem Rangverhältnis. „Alles lebendige Wertgefühl" ist „ein komplex relationales W e r t g e f ü h l " . U n d zwar „geht diese Relationalität des Fühlens" „gerade nur auf das Werthöhenverhältnis als solches". Es ist also „mit dem Gegebensein zweier W e r t e auch das Höhersein des einen oder des anderen bzw. das Gleichgestelltsein beider mitgegeben" 6 8 . „Liegen die beiden W e r t e in sehr verschiedenen Höhenlagen", so ergibt sich die Entscheidung ohne weiteres. „Liegen sie aber auf annähernd gleicher oder auch n u r vergleichbarer H ö h e , so ist der Wertkonflikt gegeben." „Wo W e r t gegen Wert steht in einer Situation, da gibt es den schuldlosen Ausgang nicht. Denn auch sich der Entscheidung entziehen kann der Mensch nicht. Das eben heißt ,in der Situation stehen': wählen müssen um jeden Preis." „Der Mensch also ist in W i r k lichkeit beständig vor die Situation gestellt, Wertkonflikte zu lösen, sich so zu entscheiden, daß er die Schuld verantworten kann. D a ß er der Schuld nicht ganz entgehen kann, ist sein Geschick" 8 9 . W o „Pflichten und Bindungen, die im gewöhnlichen Leben durchaus harmonieren, in Widerstreit geraten", da entstehen „die tragischen Verwicklungen, . . . die den Menschen doppelt unglücklich machen, weil der Konflikt nicht im Wesen der sittlichen W e r t e liegt", und wo also „der Mensch ganz auf sich selbst gestellt, als Einzelner, den Konflikt durchstehen m u ß " 7 0 . Scheler meinte noch, das Tragische sei „durchaus kein spezifisch Menschliches . . . , sondern ein universales P h ä n o m e n " 7 1 ; der tragische Konflikt herrsche zwischen den Werten selbst. Tatsächlich erfahren wir ihn aber n u r in bestimmten Situationen, in denen sich anderswo friedlich vereinte W e r t e nicht harmonisch verbinden lassen wollen. D e r tragische Konflikt entsteht „erst im Zusammenhang v o n Situation und Wertgegensatz" 7 2 . 68 70 71 72

6 0 Ibid., S. 576, 295. Ibid., S. 286, 283. Bredow: a.a.O., S. 22. Max Sdieler: Zum Phänomen des Tragischen, S. 314. Hartmann: Ethik, S. 296.

Die Geistesgeschichjte

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Für das Tragische der Situation bedarf es nicht notwendig audi eines tragischen Bewußtseins im Subjekt, wie bei der Tragik des ideologischen Zusammenbruchs. Das Tragische besteht da vielmehr ganz unabhängig davon, was der Mensch sich dabei denkt. Das gilt freilich nicht für den tragisch-ethischen Rang des Menschen. Hier kommt es gerade darauf an, daß ein Konfliktbewußtsein vorhanden ist. Denn der „des Konflikts Unfähige ist auch der Tragik unfähig" 73 . Beruht nun das Tragische primär auf dem Konflikt von Werten, nicht bloß von Ideologien, so kann es auch nicht allein in ideologischen Krisenzeiten, sondern zu allen Zeiten auftreten. Sein Auftreten ist nicht, wenigstens nicht nur, an die Weltanschauungen gebunden, an historische, subjektive Gebilde, sondern vor allem auch an Werte, die als ewig und objektiv empfunden werden, an die Situation, in welcher Werte einander widerstreiten, und an das subjektive Wertempfinden der Person. 6. Die Geistesgescbichte. Religion und Ethik Auch in geistesgeschichtlicher Hinsicht wird diese Untersuchung anders fragen als die ideologisch-metaphysische Methode. Es geht ihr weniger darum, ob Hebbel diese oder jene formulierte Weltauslegung übernimmt, als vielmehr darum, welche Werte er bevorzugt unter welchen Wertmaßstäben er die Menschen und die Welt beurteilt. Der Blick soll dabei offen bleiben auch für solche Werte, die womöglich anderen Weltanschauungen sich zuordnen als nur solchen wie Christentum, Idealismus, Pantheismus, Nihilismus. Gelegentlich soll Hebbels Wertwelt dann verglichen werden mit derjenigen anderer Geister. Dadurch wird vielleicht auch Licht fallen auf „das geschichtliche Wandern des Wertblicks", „das nicht Umwertung der Werte, wohl aber Umwertung und Umorientierung des menschlichen Lebens ist" 74 . Gleich zu Anfang wird sich innerhalb von Hebbels Weltbild eine Gegensätzlichkeit ergeben, die genau dem Unterschied entspricht, der zwischen idier metaphysischen Methode und der ethischen ztu machen war. Das ist nicht verwunderlich. Sind doch die ethische und die metaphysische Fragestellung im Leben fast eines jeden Menschen miteinander 73

Ibid., S. 405. Bei Golo empfiehlt es sidi m. E., zu unterscheiden zwischen seiner (potentiell) tragischen Situation, leidenschaftlich zu erglühen für eine verheiratete Frau, und seinem untragischen, weil moralisch schwächlichen, egoistischen und allzu elastisch-unverbindlichen Verhalten. Vgl. Wittkowski: Hebbels „Genoveva", H.i.n.S., S. 203.

74

Ibid., S. 158.

30

Die Methode

verbunden. Das Ethische orientiert sich gern an metaphysischen Instanzen; doch es bestimmt auch oft seinerseits, welche unter ihnen ausgewählt oder welche Form ihnen gegeben wird. N i m m t man an, daß der eine Mensch mehr dieser Fragestellung zuneigt, der andere Mensch jener, so ergeben sich zwei Lebenseinstellungen, deren eine mehr metaphysisch und deren andere mehr ethisch ausgerichtet ist. Ihr Unterschied erhellt am besten aus der Antwort, die sie auf die Frage nach den Werten und nach dem Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Wesen geben, also auf die spezifisch ethische und die spezifisch metaphysische Frage. Wobei gleich zu bemerken ist, daß die ethische Frage nach den Werten das metaphysische Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Wesen als schon geklärt voraussetzt, während die metaphysische Frage annimmt, die ethische sei schon erledigt oder werde doch zugleich mit der metaphysischen beantwortet. Die Einstellung vornehmlich auf das Ethische hat es zu tun mit der Mannigfaltigkeit der Werte. Sie versteht die Werte insgesamt als „Wesen", d. h. als allgemein und ewig gültig. Das Problem ist nur, welche Werte im Hinblick auf die Wirklichkeit, auf die konkrete Situation aktuell sind und in welcher Rangordnung sie zueinander stehen. Danach wird sich die Entscheidung zwischen ihnen auszurichten haben. Dabei ist bereits vorausgesetzt: das Wesen verwirklicht sich zwar nicht von selbst; grundsätzlidi ist es aber wohl realisierbar, und zwar durch den Menschen, den „Vermittler" der Werte „an die reale Welt" 7 5 . Für die Einstellung vornehmlich auf das Metaphysische ist die Frage nach den Werten schon weitgehend geklärt. N u r bestimmte, höchste Werte sind dem Wesen zugeordnet. Die übrigen sind Werte des bloß Wirklichen. Die eigentlichen Werte, die des Wesens, enthalten kein Problem, keinen Konfliktstoff, was ihr Verhältnis untereinander angeht. Konfliktgeladen ist nur das Problem, wie die Wesenswerte insgesamt sidi zur Wirklichkeit verhalten. Die reale Macht des Ideellen „über den Kausalitätsmchanismus der äußeren Welt", und zwar unmittelbar, ohne Vermittlung durch den Menschen 79 ; „die Einung des Vernünftigen und des Wirklichen, der ideellen Ordnungen ethisch-metaphysischer Sinnhaftigkeiten mit den faktischen Ordnungen der realen Kausalität, des Göttlichen mit dem Irdischen" 7 7 : eine ideale Welt, ein Paradies auf Erden wird hier ersehnt. Es soll sich verwirklichen ohne Zutun des Menschen. Die Wesenselemente sind da keine idealen axiologischen Prinzipien, sondern „ontologische Kategorien" und „als solche schlechter75 76 77

Ibid., S. 170. Ziegler: Wandlungen, S. 21. Ziegler: Krise, S. 21.

Die Geistesgeschichte

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dings realisiert" — oder eben überhaupt nicht vorhanden 7 8 ; oder man denkt sie sich als ohnmächtig, als unwirksam — auf Grund einer Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und Wesen. Ethische Werte hingegen gibt es auch, wenn sie nicht verwirklicht sind. So setzt die ethische Einstellung voraus, daß Wirklichkeit und Wesen zwar verschiedene Seinsweisen sind, daß sie aber grundsätzlich überall und immer vom Menschen verbunden werden können. Die metaphysische Einstellung dagegen ist auf Sachverhaltswerte aus, darauf, ob sie realisiert sind oder nicht. Wenn es heißt, Hebbel erfahre, daß Wirklichkeit und Wesen unvereint, ja unvereinbar seien; dennoch aber halte er, wenn auch verzweifelt, den Glauben fest, daß es Wesen gebe, wenigstens in der absoluten Transzendenz, so handelt es sich da um die existenztheologisch zugespitzte Form der ursprünglichen christlichen Grundüberzeugung. Von dieser geht Hebbels weltanschauliche Entwicklung aus, also von der Überzeugung, daß Gottes Transzendenz nicht absolut sei, daß sie vielmehr in der Offenbarung und dann immer wieder im A k t der Gnade oder des Gerichts überbrückt wurde und wird. So bleibt dem Gläubigen der Ausblick auf ein Wesensreich, in welchem alles gut, vollkommen und harmonisch ist; und ihm bleibt die Hoffnung, durch die Gnade einst befreit, erlöst zu werden von der N o t des Irdischen, von dem Widerstreit des Wirklichen. Allerdings, es geht da nicht allein um Sachverhaltswerte, um den Eingang in das Paradies. Dazu wird hier meist vorausgesetzt, daß der Mensch sich mühe, dem Widerstreit des Wirklichen auf eine Weise zu begegnen, die den Forderungen des göttlichen Richters entspricht. Das Wesen ist demnach in christlich-religiöser Sicht nicht allein das Paradies, ein Sachverhaltswert, sondern auch das Reich der wesentlichen sittlichen Werte. Zu deren Gunsten soll der Mensch entscheiden, wo immer er entscheiden muß. Man könnte meinen, das sei einfach; sie seien ja als die wesentlichen klar von den irdisch-wirklichen Werten abgesetzt. Die Erfahrung lehrt jedoch, daß die Dinge nicht so einfach liegen. Ein großer Teil der Werte ist hier dem niederen Bereich des Wirklichen, bloß Irdischen zugewiesen. Zwischen ihnen und den Wesenswerten fällt die Entscheidung leicht, ja bedarf es gar nicht der Entscheidung. So scheint es jedenfalls zunächst. Tatsächlich aber haben die Werte des bloß Wirklichen für den Menschen häufig ein Gewicht, das jenem Rangverhältnis widerstreitet und die Entscheidung schwierig macht. Darüber hinaus kommt es auch vor, daß der Mensch sich zu entscheiden hat zwischen Werten, die ihm bis dahin beide als Wesens78

H a r t m a n n : Ethik, S. 168.

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Die Methode

werte galten. Der Zwang zur Entscheidung führt da zum schweren sittlichen Konflikt, ja zu metaphysischer Problematik. Es kommt hier offenkundig darauf an, wo man die Grenze zwischen Wirklichkeits- und Wesenswerten zieht. J e enger man das Wesen faßt, um so mehr Werte von Gewicht schiebt man der Gegenseite zu; man provoziert Konflikte zwischen Wirklichkeits- und Wesenswerten — und zugleich erleichtert man ihre Lösung eben durch die Zuordnung zu den beiden Sphären. Faßt man hingegen das Wesen weiter, so kommt es um so leichter zu Konflikten innerhalb der Werte dieser einen Sphäre, die doch dem Gläubigen als einhellig, harmonisch gilt. Hier muß die metaphysisch-religiöse Einstellung haltmachen, will sie sich nicht selbst aufheben. Daher mißt sie dem Ethischen auch nur sekundären Rang bei. Es dient nur als Mittel, als Medium zum Paradies. Seiner Eigengesetzlichkeit darf kein freier Lauf gelassen werden; trüge es den Widerstreit der Werte dodi in das Wesen selbst hinein. Der Blick darf nicht die Wertordnung bis auf den Grund durchforschen. E r soll sich in verstärktem Maß dem Jenseits und der Hoffnung auf Erlösung zuwenden. Im Falle Hebbels, auf den diese Ausführungen zugeschnitten sind, kommt es nun auf zweierlei an. Erstens auf den Unterschied der Spannung zwischen Werten verschiedener Sphären, d. h. zwischen Wirklichkeits- und Wesenswerten, und der Spannung zwischen Werten ein und derselben Sphäre, d. h. zwischen Wesenswerten. Hier ist die Spannung größer. Während die Werte nämlich dort sozusagen eindeutig überund untereinander geordnet sind, liegen sie hier auf etwa gleicher Stufe. D o r t steht die metaphysische Spannung von Wirklichkeit und Wesen dahinter; und wie diese, so verläuft auch die Dimension von Wirklichkeits- und Wesenswert sozusagen vertikal. Hier dagegen, innerhalb der einen, der Wesensphäre, verläuft die Spannung gewissermaßen horizontal. D o r t sollte die Entscheidung leicht sein, hier dagegen schwierig. N u r hier kann sie tragisches Gewicht erlangen. Zweitens. Hebbels Christentum vereint, wie sich gleich zeigen wird, in seiner metaphysisch-ethischen Konzeption die beiden Spannungsebenen, die vertikale und die horizontale. Und zwar stehen sie in dialektischem Verhältnis zueinander. Das Metaphysisch-Religiöse steigert das sittliche Bewußtsein, indem es Lohn und Strafe verheißt. Andererseits schließt es die Werte des bloß Wirklichen von den Wesenswerten aus und prätendiert die Harmonie der Wesenswerte. Es verneint die Wesenhaftigkeit der Werte des bloß Wirklichen und den radikalen Wertkonflikt, vor den der Mensch sich damit jedoch nur um so deutlicher gestellt fühlt. So treibt es ihn immer wieder in die ethische Ausweglosigkeit und steigert sein Bedürfnis nach Erlösung.

Immanente und korrektive Interpretation

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Dazu kommt es sicherlich nidit immer. Es mag ausbleiben, wo das ethische Empfinden schwach, und wo es umgekehrt so stark ist, daß es sich auch den letzten Widersprüchen stellt. In solchen Grenzen wird man sagen können: je strenger das ethische Empfinden, umso stärker auch die Sehnsucht nach Erlösung und umgekehrt. Diese Dialektik kann sich allerdings so weit entfalten, daß man schließlich von der Einsicht in die ethische Ausweglosigkeit nicht mehr zur Hoffnung auf Erlösung springen kann und umgekehrt. Dann eben ist der Punkt erreicht, wo man entweder ausschließlich auf die metaphysisch-religiöse Lösung baut oder sich zu einer Weltansicht bekennt, die dem Widerstreit der Werte innerhalb des Wesens Rechnung trägt. Die anthropologisch-ethische Einstellung wird demnach der ideologisch-metaphysischen im folgenden nicht bloß methodologisch entgegentreten, sondern auch am Gegenstand der Untersuchung selbst: an Hebbels Auseinandersetzung mit „vertikaler" und „horizontaler" Weltansicht. Dabei wird es gleich zu Anfang darum gehen, ob er mit dem ethischen Problem, der horizontalen Perspektive, der Frage nach den Werten, wirklich ernst macht; oder ob er doch zurückschreckt vor der Ausweglosigkeit, die sich ihm dort auftut, und lieber im Rahmen des vertikalen Weltbildes aufs Jenseits-Paradies und auf Erlösung hofft. Nur auf dem ersten Wege tritt er in den Kreis des Tragischen. So wird die Frage, ob die horizontal-ethische oder die vertikal-metaphysische Einstellung in ihm zum Siege kommt, gleichbedeutend mit der Frage, ob seine Einstellung zu Welt und Leben sich dem Tragischen öffnet oder nicht. 7. Immanente oder korrektive

Interpretation

Für die Aufgabe der Untersuchung und für die Art, wie sie erfüllt werden soll, hat die Forschung wenig Vorarbeit geleistet. Mays Beiträge zur Religiosität (Genoveva) und Soziologie (Maria Magdalena) des jungen Hebbel legten nur frei, was gar zu tief verschüttet war. Horst Oppel verwies auf geradezu barbarisch ursprungshafte Züge an der Gesamterscheinung Hebbels, was wenig paßt zu deren sonst erstrebter Modernisierung. Wolfgang Liepe schließlich entdeckte Feuerbach und Schubert als die Lehrmeister in Wesselburen. Das alles geht nicht auf den ganzen Denker oder Dichter, nicht auf seine ganze Weltanschauung oder deren Kern, sondern nur auf ein paar Züge. Was die metaphysischideologische Methode mittlerweile beigesteuert hat, hat mehr verdunkelt als erhellt. Es muß von vorn angefangen werden. Und das soll hier geschehen in doppeltem Verstand: in kritischer Distanz zu allen früheren wie neueren Versuchen und von Hebbels Kindheit an. 3

Wittkowski, Hebbel

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Die Methode

Die Geschichte und die Werke seiner Frühzeit wurden niemals gründlich dargestellt. Die Werke werden hier zum erstenmal geordnet und zusammenhängend ausgelegt, zugleich als Beitrag zur Biographie. Eine gute Hilfe bieten hier allein die neuen Studien Liepes und die älteren von Bornstein. Alles andere ist fast unbrauchbar. Die Deutungen der alten Arbeiten sind überholt. Doch auch die Zusammenstellungen und biographischen Beschreibungen sind nidit viel nütze. Erfolgten sie doch selbst schon unter deutenden Gesichtspunkten, die heute nicht mehr ohne weiteres gelten. „Die biographischen Partien der alten literarhistorischen Werke sind ebenso veraltet wie die dichtungswissenschaftlichen" 79 . Ein langer Weg führt bis zum Ziel des Unternehmens, der Interpretation der „Judith". Der innere Werdegang des Dichters wird ausführlich dargestellt an Hand der ersten Produktionen und außerkünstlerischen Zeugnisse. Diese nehmen später sehr stark zu und werden deshalb immer mehr auch mit herangezogen zur „Erspürung des zentralen Ansatzes und Gesamtgewichts" 8 0 der „Judith". Darum hat man sich jahrzehntelang nicht mehr bemüht. Vielmehr proklamierte man ein immanentes, und das sollte heißen: „ein unvoreingenommenes Analysieren" von Hebbels Dramen 8 1 . Es sollte gewährleistet werden dadurch, daß man absah von der Theorie und von der Selbstdeutung des Dichters. Dafür drängten sich freilich, wie wir sahen, der Geist der Zeit, die ideologische Thematik des Existentialismus und der dialektischen Theologie samt ihrer spekulativen Geschichtsmetaphysik selbstherrlich in den Vordergrund. So hatte man mit der sogenannten immanenten Interpretation gerade den Voraussetzungen, die man selbst mitbrachte, Tür und Tor geöffnet — und das um so rückhaltloser, je fester man von der Voraussetzungslosigkeit, der Wissenschaftlichkeit des Verfahrens überzeugt war. Doch auch abgesehen davon, daß sie leicht die hemmungslose Freisetzung persönlicher Voraussetzungen sanktioniert, hat die immanente Interpretation ihre grundsätzliche Problematik. Gewiß bleibt die Begegnung mit dem Werk das erste und das letzte. Sie ist jedoch nicht alles. Sie allein „bekommt, eben weil sie nur das Einzelne betrachtet, das Einzelne in seiner Art und seinem Wert nidit in den Blick" 8 2 . Eigenart und Wert des Einzelteils erfaßt man erst, wenn man die Stellung und den Stellenwert des Einzelteils im Gesamtzusammenhang erfaßt. Das gilt für das Kunstwerk und offenbar auch für das Verhält7a

80

Friedrich Sengle: Zum Problem der modernen Dichterbiographie, D V J S . 1952, S. 106. 8 1 Ziegler: MuW, S. 10. 8 2 Sengle: a.a.O., S. 107. Ibid., S. 105.

Immanente und korrektive Interpretation

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nis zwischen dem Einzelwerk und der Geisteswelt des Dichters. Was daher den Einzelteil, das Einzelwerk zur Verdeutlichung umrahmen sollte, das ist die geistige Umwelt des Gegenstandes — und nicht die Weltanschauung des Interpreten. Diese Einsicht macht sich heute wieder geltend, nachdem lange Zeit die „Trennung von Leben und Werk" oberstes Prinzip gewesen ist 83 . Im Falle Hebbels waren die Folgen besonders schlimm. Der Dichter, Mensch und Denker ist als Einheit nicht mehr greifbar. Deshalb soll hier anders vorgegangen werden. Das Leben, die geistige Gesamtentwicklung, also auch die außerkünstlerischen Zeugnisse sowie die Selbstdeutungen, werden mit herangezogen, um das Werden und das Wesen die Tragödie Hebbels zu erschließen und um dieses Verständnis möglichst breit zu fundieren. Dabei bietet sich für Hebbel noch ein weiteres Korrektiv an: sein Verhältnis zu Schiller. Schiller begleitete ihn von den Anfängen bis hin zur „Judith", zuerst verehrt als Freund und Führer, dann bekämpft als Konkurrent und Gegner, stets jedoch geachtet als der große Andere. Hebbels Schillerbild mit seinen Wandlungen zieht sich wie ein roter Faden durch jenen Abschnitt seiner geistigen Entwicklung. Es wird selbst erst im Zusammenhang jener Entwicklung einsichtig; und es hilft seinerseits deren Ablauf klären und ebenso auch deren End- und Höhepunkt, die „Judith". Unter den bemühten Korrektiven ist Hebbels Schillerbild das wichtigste. Wie es damals den roten Faden seines geistigen Werdens bildete, so bildet es den roten Faden dieser Untersuchung. Deren Gang soll so sein: Teil A beschreibt an Hand der ersten dichterischen Versuche die Wesselburener Zeit. Er ist vorwiegend chronologisch angelegt und bringt viel Material. Teil B behandelt die Jahre 1835—40 und ist vorwiegend systematisch angelegt. Er diskutiert Probleme, die sich aus Teil A ergaben. Dabei zieht er auch die Selbstzeugnisse und die Theorie heran, deren Quellen von da an reichlich fließen. Daß ihre Untersuchung überhaupt nottut, wurde schon angedeutet. Außerdem gewinnen die außerkünstlerischen Zeugnisse heute ein „ganz anderes Gesicht, und zwar — durch die Interpretation", der auch sie eben unterzogen werden müssen 84 . Teil C vereinigt wieder Theorie und Praxis: die Auseinandersetzung mit Schillers „Jungfrau" und die „Judith". Die außerkünstlerischen Korrektive werden dabei oft den entsprechenden Partien des Dramas zugeordnet. Dadurch geht dessen künstlerische Einheit zwar dem Eindruck nach verloren. Ganz ist sie aber ohnehin nicht einzufangen. Es 83

5'

Ibid., S. 104.

84

Ibid., S. 106.

36

Die Methode

gibt stets „nur Linien der Interpretierbarkeit", sagt Karl Jaspers 85 . Wo indessen „die Deutung klare Linien herausarbeiten kann, steigert sie die Ergreifbarkeit aus der Tiefe der ungedeuteten, von keiner Deutung zu erschöpfenden Anschauung". In diesem Sinne soll es hier um klare Linien gehen. 85

Von der Wahrheit, 1947, S. 926.

A. Schiller, das Vorbild Wesselburen 1813—35

I. „Horizontale" und „vertikale" Weltansicht Germanische und christliche Voraussetzungen 1 8 1 3 — 2 8 1. Die Gesellschaft. Der materielle Wohlstand und der Wert des Menschen Die Bewohner der Küstenlandschaft Dithmarsdien lebten zu Hebbels Zeit in einer streng gestuften Gesellschaftsordnung 1 . Eifersüchtig wachte man darüber, daß jeder Stand seine Pflichten erfülle und vor allem seine Rechte wahre. Auf dem Lande nahm man es damit noch genauer als in der Stadt, bei den niederen Schichten mehr als bei den höheren. Aufstieg in die oberen Klassen und Behauptung gegen die unteren: das war zum guten Teil Sinn und Inhalt des Daseins. Abstieg nach unten aber bedeutete den Ruin. Hebbels Vater war Kätner und besaß ein kleines Grundstück. So gehörte er zwar den niederen Ständen an, hatte jedoch noch welche unter sich. Dementsprechend nahm auch der kleine Krischan unter den Besuchern von Susannas Klippschule ein verhältnismäßig geachtete Stellung ein. Das änderte sich mit einem Schlag. Der Vater mußte das verschuldete Haus aufgeben, kleidete sich und die Seinen „feierlich als Hungerleider" ein, bannte jeden Frohsinn aus den verhaßten neuen vier Wänden und nahm gegen sein Unglück einen Kampf auf, der ebenso verbissen wie vergeblich war und dem er bald erlag. — Entsprechend erging es wiederum dem Jungen. Hohnvoll ließen ihn die Mitschüler die Veränderung der Lage fühlen. Sogar die Waisenkinder, die man mit ihren grauen Kitteln mied wie Aussätzige, wagten nun, sich ihm zu nähern. Gesellschaf dich ging es mit ihm abwärts; und er konnte nichts dagegen tun. Denn der Maßstab, nach welchem ihm ein Platz in der Gesellschaft zugewiesen wurde, war der materielle Wohlstand, und nicht der Wert des Menschen. Jenes Martyrium spielte sich schon nicht mehr unter Susannas Augen ab, sondern in der Elementarschule. Dorthin war Friedrich aus eigener Kraft aufgestiegen. Zur gleichen Zeit, als er wehrlos dem sozia1 Zum Folgenden vgl. Hebbel: Aufzeichnungen aus meinem Leben. W 80 ff.

VIII

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.Horizontale" und „vertikale" Weltansicht

len Abstieg verfiel, lernte er sein geistig-menschliches Vermögen kennen und schätzen. Freilich mußte er zugleich erfahren, daß er damit nichts ausrichten konnte gegen sein gesellschaftliches Schicksal. Denn der innermenschliche Wert war eben nicht der Maßstab für die soziale Einstufung. Indessen, Friedrich fand sich nicht mit seiner Lage ab. Früher hatte er sich zu Hause geborgen gefühlt und deshalb unter all der Brutalität, Heuchelei, Hinterlist und gemeinen Klugheit in der Klippschule geduldig ausgehalten „wie Adam und Eva . . . unter den wilden Tieren". Damals hatte man ihn weidlich ausgenutzt als hilflosen Gegenstand tückischer Neckereien 2 . Das hörte nun auf. Es war vorbei mit dem Träumerdasein. Schnell eroberte er sich in der Schule den ersten Platz. Während des Unterrichts hockte er meist abseits über Gedichten und Theaterstücken. N u r hin und wieder, wenn aus der Klasse gar nichts Vernünftiges herauszubekommen war, sprang er mit der richtigen Antwort ein 3 . Das demonstrierte eindrucksvoll die geistig-menschliche Rangordnung. U n d war es mit dem Geiste nicht getan, so half gelegentlich die Faust nach 4 . Es galt eben, so oder so sich den Respekt der U m welt zu verschaffen und die äußere Rangordnung zur Übereinstimmung zu bringen mit der geistig-menschlichen. So oder so blieb dieses Bemühen allerdings vergeblich. Friedrich machte sich und anderen darüber auch nichts vor. Er beschönigte nicht im geringsten seine gesellschaftliche Stellung. Im Gegenteil. Während seine Kameraden nur gelegentlich auf sie anspielten, kehrte er sie immerfort hartnäckig hervor. Dasselbe tat der Vater und wird Meister Anton tun. Wie sie weist Friedrich darauf hin, daß seine gesellschaftliche Einstufung seinem menschlichen Wert bei weitem nicht entspricht. Das ist Anklage. Sie geht aus von der Voraussetzung, der gesellschaftliche Rang müsse dem rein menschlichen entsprechen. So gesehen, ist die Gesellschaft im Unrecht, erscheint der Kläger als der ungerecht Geschädigte. U n d das soll aller Welt eindringlich vorgehalten werden. Deshalb behauptet noch der reife Dichter, die andern Jungen hätten ihn gemieden; dabei war er derjenige, der sich zurückzog 5 . Er, sein Vater und der Meister Anton isolieren sich absichtlich, 2 3

5

W VIII 93. Hebbels Persönlichkeit, hrsg. P. Bornstein, 2 Bde., 1924 (zit. H . P.), Bd. I, 4 W VIII 115. S. 4. H P Bd. I, S. 7; W VIII 114 f. Was im folgenden zum Kult des Leidens ausgeführt wird, ist im wesentlichen der Figur Meister Antons abgelesen. Vielleicht liefert es die, am Drama gewonnene, Bestätigung und E r klärung für den „positiven" Aspekt der Enge, den Martin Stern später indirekt, von Hebbels außerkünstlerischen Äußerungen her, f ü r „Maria

Die Gesellschaft

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um sinnfällig zu machen, wie die Gesellschaft sie verstößt und isoliert, wie sie ihnen vorenthält, was ihnen doch zusteht auf Grund ihres menschlich hohen Ranges. Sie wollen aller Welt vor Augen halten, wie bitter Unrecht sie erleiden — und wie heroisch sie es tragen. Das eben ist ihr — freilich zweifelhafter — Trost: sie dramatisieren ihr soziales Mißgeschick zu einer Katastrophe von „tragischem" Format. So genießen sie sich selbst als Gegenstände „tragischen" Mitleids, und zwar Selbstmitleids. Das sind die Selbstgerechtigkeit und die Wollust des Gegen-sich-selber-Wütens, die Hebbel sich selbst zusprach und die er künstlerisch gestaltete an Meister Anton und an Golo. Hier wird übertrieben. Die Übertreibung zeigt jedoch, wie ungeheuer wichtig es da ist, von der Gesellschaft anerkannt zu werden. Zugleich tat solche Übertreibung notwendig der Gegenseite, der Gesellschaft, durchaus Unrecht. Hebbel, sein Vater und der Meister Anton setzen voraus, die soziale Rangordnung müsse der menschlichen entsprechen. Sie werfen der Umwelt vor, sie stufe sie so niedrig ein, weil sie sie menschlich niedrig einschätze und also unterschätze. Das aber trifft nicht zu. Man weiß, wie Meister Anton allenthalben seine Tugenden hervorkehrt und damit doch nur offene Türen einrennt. Die Wesselburener wußten auch, daß Hebbels Vater als ein ehrenwerter Mann einem Kriminellen weichen mußte. Und daß sie Friedrich niedrig eingeschätzt hätten, darüber ist nichts Schlüssiges bekannt. Alles, was wir wissen, deutet auf das Gegenteil. Hier wird also an der Gesellschaft vorbeigeredet. Der Grund dafür liegt einfach darin, daß die Voraussetzung, von der die Kläger ausgehen, von der Gesellschaft nicht geteilt wird. Sicher gab es wechselseitige Beziehungen zwischen dem rein menschlichen und dem sozialen Rang. Grundsätzlich aber waren beide Maßstäbe getrennt; man konnte sozial viel und menschlich wenig gelten oder umgekehrt. Denn f ü r die gesellschaftliche Stellung war nicht das Menschliche entscheidend, sondern nur der materielle Wohlstand. An ihm gemessen, gehörte Hebbel durchaus an das untere Ende der sozialen Stufenleiter. Man würde nun erwarten, daß er diesen Maßstab ablehnte. Das tat er aber keineswegs, so wenig wie sein Vater, der die Seinen „feierlich als Hungerleider" einkleidete, und so wenig wie der Meister Anton, der kein Bier mit den Gendarmen trinken will. Dem entspricht es, daß

Magdalena" erschlossen hat. „Im Unterschied" zum Drama findet Stern in einem Brief etwa, daß der Dichter die „Bedrängnis" nicht flieht und sie sogar genießt „mit einer ans Widernatürliche grenzenden Lust". (Das zentrale Symbol in Hebbels „Maria Magdalene", Wirkendes Wort 1959; wiedergedruckt H.i.n.S., S. 240).

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„Horizontale" und „vertikale" Weltansicht

Friedrich mit Waiserkindern nichts zu schaffen haben wollte. Er orientierte sein Verhalten damit selbst am Wohlstand, und nicht an dem rein Menschlichen. Dieses bildete den Maßstab, wenn er nach oben sah, hingegen jener, wenn er nach unten sah. Auf das Menschliche berief er sich, wenn er vor dem Maßstab des materiellen Wohlstandes übel abschnitt. So steht hinter seiner Hochschätzung des Menschenwertes viel soziales Ressentiment. Worauf für Friedrich eben alles ankommt, das ist sein Verhältnis zur Gesellschaft, ist ihr Urteil über ihn. Nicht, daß er dem Urteil der Gesellschaft vorbehaltlos unterworfen gewesen wäre. Es führt irre, wenn May den Meister Anton, für den das alles ja genauso zutrifft, von Heideggers modernem Verfallensein an das Man her zu verstehen sucht 6 . Weder von dem Meister noch von Friedrich gilt: „Sein Wert vor sich selbst gründet im Urteil der anderen." Beide sind sich vielmehr ihres Wertes durchaus sicher. Dieser ihr Wert tut ihnen aber kein Genüge, wenn nicht die Wertschätzung durch die anderen hinzukommt. Sie sind sich ihrer persönlichen Ehre voll bewußt; doch sie genügt ihnen nicht ohne die gesellschaftliche Ehre. Deshalb kämpfen beide so verbissen um gesellschaftliche Anerkennung. Ebensowenig wie von dem absoluten Primat des Man, der Gesellschaft, kann umgekehrt von dem Primat des einzelnen, des Ich, oder überhaupt davon die Rede sein, das „Grund- und Urerlebnis des früheren Hebbel" sei gewesen: „der Mensch ist wesentlich einzelner, vereinzelter, vereinsamter Mensch" 7 . Hebbels Verhältnis zur Gesellschaft ist nicht einseitig nach dieser oder jener Seite hin. Es ist vielmehr polar. „Die Polarität des Ichbewußtseins und des Gemeinschaftsgefühls" ist hier nicht zu verstehen von der Moderne her, sondern wahrscheinlich als germanisches Geisteserbe. Dazu sagt Jan de Vries 8 : „Geld- und Grundbesitz bestimmen des Mannes Ehre nicht weniger ausschlaggebend als ein heldenhaftes Betragen. Die Ehre ist nicht die Reinheit und Hoheit der Gesinnung, die Weise, wie der Mensch in den verschiedenen Lebenslagen sich verhält; sie ist vielmehr die Anerkennung der persönlichen und gesellschaftlichen Ehre des Mannes. Das eine ist mit dem andern engstens verknüpft; man erwartet von dem Mann, daß er sich seiner sozialen Stellung gemäß auch betragen wird. Die Ehre fordert von dem König eine andere Gesinnung als vom K ä t n e r ; jeder hat seine eigene Ehre."

D a eben lag der Zwiespalt, den Friedrich nicht ertrug. E r war der Sohn eines zugrunde gerichteten Kätners und wurde auch als solcher 6

7

Hebbels Maria Magdalena im Zusammenhang der jUngsten H e b b e l f o r sdiung, Dichtung und Volkstum 1943, S. 42 ff. 8 Die geistige Welt der Germanen, 1945, S. 53. Ziegler: MuW, S. 15.

43

Die Religion

eingeschätzt. Er aber fühlte sich im Keime schon als das, als was sich dann der reife Dichter wirklich fühlen sollte: als König. Und er ruhte nicht, bis die Könige ihm wie einem König Ehrerbietung zollten; bis Selbsteinschätzung und gesellschaftliches Ansehen einander entsprachen. Er ruhte nicht, bis seine Ehre hergestellt war. Denn wie für den Germanen, so galt auch für ihn: „Die Ehre bildet das Herzstück des menschlichen Daseins. Ohne Ehre kann ein Mann nicht leben" 9 .

Gott

2. Die Religion. des Gerichts und Gott der

Erlösung

Das empfindliche Ehrgefühl des jungen Dithmarsdien und seine enge Bindung ans Gesellschaftliche entspringen einer Lebenseinstellung, die stark diesseitig orientiert ist. Ja, die Art, wie Hebbel einmal auf den Menschenwert und einmal auf den Wohlstand pocht, mag abstoßen. Scheint er doch den innerlichen Menschenwert vornehmlich aus sozialem Ressentiment hochzuhalten und sich seiner nur zu bedienen, um gesellschaftlich emporzusteigen. Der Funktion nach ist der Menschenwert bei ihm insofern relativiert auf die Gesellschaft und bleibt damit im Rahmen des diesseitsgerichteten germanischen Empfindens. Andererseits handelt es sich hier jedoch um einen Wert, der Friedrichs Einschätzung und Einstufung durch die Gesellschaft gerade nicht bestimmt. Friedrich fordert ja erst, daß man sein Urteil über ihn an jenem Maßstab orientiere. Diesen Maßstab selber hat er eben nicht von der Gesellschaft, sondern anderswoher. Die Art, wie er den Menschenwert versteht, nämlich geistig-innerlich, stammt nicht aus germanischem Empfinden. Hier wirken vielmehr 1000 Jahre Christentum. In seinem Zeichen wurde Friedrich erzogen. In seinem Zeichen galten materieller Wohlstand und geistig-innerlicher Wert nicht als gleichermaßen wesenhaft, als wesenhafte Werte. Wesenhaft waren hier allein der religiöse Wert und das innerliche Streben danach. Materieller Wohlstand, ebenso gesellschaftliche Stellung sowie das Verlangen nach beiden waren bloß natürlich-irdische, bloß Wirklichkeitswerte. Im Konfliktfall hatte die Entscheidung ohne weiteres gegen sie zu fallen. Diese Rangordnung von innerem Wert und äußerem Wohlstand setzte Friedrich überhaupt erst in die Lage, den innerlichen Menschenwert zu fordern als sozialen Maßstab neben dem des Wohlstandes. Daß er ihn neben diesen stellt, und vor allem, daß er ihn auf seine gesellschaftliche Ehre bezieht, ist wiederum nicht christlich. Doch die Rangordnung, von der er dabei ausgeht, ist eben die des Christentums, auch wenn sie so nicht rein erhalten bleibt. 9

Ibid., S. 25.

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„Horizontale" und „vertikale" Weltansicht

Friedrichs Einstellung zur Gesellschaft war demnach zwar primär die des weltlichen Menschen germanischer Tradition. Zugleich wirken jedoch darin die „vertikale" Metaphysik und Wertordnung des Christentums. Sie wirken sich hier ethisch aus, indem sie das sittliche Empfinden in gewissen Grenzen umorientieren und verfeinern. Es findet also statt, was in der Einleitung grundsätzlich ausgesprochen wurde: die Religion schärft das sittliche Empfinden. Ohnehin hatte das Moralische in Friedrichs Christentum erhebliches Gewicht, gemäß der großen Rolle, die das Alte Testament darin spielte. Das tat es bereits bei dem religiösen Urerlebnis des Fünfjährigen. Ein furchtbares Unwetter brach damals über Wesselburen nieder. In seiner Herzensnot vernahm der kleine Krischan da den Schrei: „Der liebe Gott ist bös!" Und damals war es dann geschehen: „ . . . ich hatte den Herrn aller Herren kennen gelernt, seine zornigen Diener Donner und Blitz, Hagel und Sturm hatten ihm die Pforten meines Herzens weit aufgetan, und in seiner vollen Majestät war er eingezogen." Es war der Jehovah des Alten Testaments. Und hinfort übten seine großartigen Lakonismen im Katechismus ihre unbedingte Autorität über Friedrich aus, wuchtig unterstützt durch Luthers vorausgedrucktes Asketenantlitz und sein donnerndes „Was ist das?" 10 Je fragloser ihm diese Instanz galt, um so heftiger beunruhigte es seinen kritischen Geist, daß er selber dennoch häufig gegen sie verstieß und daß auch jene Menschen gegen sie verstießen, die ihn zum Gehorsam dagegen erziehen sollten. Früh ergab sich ihm auch die ernüchternde Einsicht, daß sittliches Verhalten oft von materiellen Voraussetzungen beeinflußt wird 11 . Der Religion und ihren Forderungen gegenüber erfuhr er also Ähnliches wie gegenüber der Gesellschaft und ihren Wertmaßstäben: es war nicht leicht, ihnen zu genügen; und man konnte darüber am eigenen Wert, am eigenen Vermögen zweifeln, ja verzweifeln. So steigerte die Ethik des Alten Testaments mit dem sittlichen Empfinden zugleich auch die Last des sittlichen Problems. Deshalb suchte Friedrich immer wieder Zuflucht bei der Erlösungsreligion des Neuen Testaments. Zutiefst rührte den Kleinen die Leidensgeschichte des Erlösers; und es war seine heimliche Wonne, sie unter Strömen von Tränen zu lesen. Doch einmal, erzählt Hebbel, „bemerkte ich zu meinem Entsetzen, daß mein Gemüt ziemlich ruhig blieb", und das „drückte mir wie die größte Sünde das Herz ab" 1 2 . Der ethische Rigorismus schlug also wieder durch — charakteristisch für Hebbels dialek10 11

W VIII 92, 104. Ibid. 82 f., 89, 93.

12

T 983.

„Horizontale" und „vertikale" Weltansicht

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tisches Schwanken zwischen alttestamentlichem Moralismus und neutestamentlicher Erlösungssehnsucht. 3. „Horizontale" und „vertikale" Weltansicht. Alttestamentlich-germanische und neutestamentlich-idealistische Voraussetzungen Zu den christlichen Faktoren und der dialektischen Spannung zwischen ihnen gesellte sich nun, wie wir sahen, bei Hebbel ein heftiges Interesse am Diesseits, und zwar zunächst an der gesellschaftlichen Ehre. Sie galt als wesenhafter Wert, solange nicht gerade die religiöse Perspektive vorherrschte und auf Kosten weltlicher Ambitionen das entschiedene Übergewicht von Jenseitswerten forderte oder die Erlösung verhieß. So vereinten sich in Friedrichs Weltbild die religiöse Perspektive samt ihrer „vertikalen" Über- und Unterordnung von Wirklichkeits- und Wesenswerten mit jener anderen, am Diesseits orientierten Perspektive, die nur zwischen Wirklichkeit und Werten unterscheidet, die also offen ist für „horizontal" gelagerte Konflikte zwischen Werten innerhalb des Wesens. Beide Aspekte verbanden sich harmonisch. Denn schwerlich konnten dem jungen Menschen die latenten Spannungen zwischen ihnen schon bewußt werden. Zudem wirkte das Alte Testament mit seiner religiösen Ethik gleichsam als Vermittler zwischen der christlich-„vertikalen" und der ethisch-,.horizontalen" Einstellung. So stand das Ethische für Hebbel selbstverständlich unter dem Zeichen der Religion. Damit war allerdings grundsätzlich die Möglichkeit gegeben, daß die Religion einmal auch solche Werte heiligte, die zwar ethisch gesehen als wesenhafte galten, tatsächlich aber nicht mehr christlich waren. Die Dialektik zwischen ethischem Wertempfinden und religiöser Erlösungshoffnung drängte ja schon über den christlichen Bereich hinaus, wo die Religion als Ausweg aus der sozialen Misere diente. Die Religion war da weitgehend Ersatz — und konnte also ihrerseits auch einmal ersetzt werden durch eine andere Konzeption. Eine solche bot sich damals in den mehr oder weniger populären Legierungen von christlichem mit aufklärerisch-idealistischem Geistesgut an, die vom 18. Jahrhundert überkommen waren und hier summarisch bezeichnet sein mögen als christlicher Idealismus. Seinem Einfluß hat der junge Hebbel sich so wenig wie irgend ein anderer Bildungsbeflissener seiner Generation entziehen können. Damit haben wir wichtige Momente beisammen, die Hebbels geistige Entwicklung in ihren Anfängen bestimmten. Bevor wir diesen Prozeß näher betrachten, sei kurz daran erinnert, wie der reife Dichter

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.Horizontale" und „vertikale" Weltansicht

über seine weltanschaulichen Voraussetzungen und über den Werdegang seines Denkens urteilte: Sein Verhältnis zum christlichen Idealismus tut er mit Verachtung ab. Er ist heilfroh, sich von ihm gelöst zu haben. Den neutestamentlichen Erlösungsglauben erwähnt er kaum. U m so häufiger verweist er auf die Gegenseite, auf die primär ethische Einstellung aus germanischem Empfinden heraus, und auf die metaphysische, sofern sie sich im Alten Testament eng mit der ethischen verbindet. Er hat sich und sein Werk positiv allein durch diese zwei Voraussetzungen gekennzeichnet: durch „dies beklommen-düsterbiblische und dies trotzige gestaltenkühne dithmarsche Element" 1 3 . Und unter diesen zwei Momenten lag das Schwergewicht wieder beim germanischen, bei dem ichbewußten Geltungsstreben, der Bindung an das Ganze und der polaren Spannung zwischen beiden. Zeitlebens und stets zunehmend verehrte er, wenn nicht genau dem Inhalt, so doch dem Geiste nach, die „drakonisch strenge[n] Gesetze, die mit römischer Unerbittlichkeit durchgeführt wurden", z . B . die „heiligste Pflicht", die „Blutrache"; oder den „Gebrauch, ein Mädchen, das sich verging, lebendig zu begraben" 1 4 . Ohne Frage sind die Verhältnisse in dieser Rückschau perspektivisch stark verschoben. Der christliche Idealismus und die Hoffnung auf Erlösung spielten eine große Rolle für den jungen Hebbel und besonders für den Anfang seines dichterischen Schaffens. Nicht zuletzt sie waren es, die seiner poetischen Betätigung eine erlösungsartige Funktion verliehen — während auf der Ebene des praktischen Daseins das Streben nach gesellschaftlichem Ansehen sich verschärfte und immer schmerzlicher scheiterte. Kampf um gesellschaftliche Geltung! das war hier die Parole. Vom Maurerhandwerk des Vaters wollte Friedrich nichts wissen. Kirchspielvogt wollte er werden, er, der Maurerssohn. Das erschien vermessen. Immerhin, durch ein Geburtstagsgedicht für Mohr errang er sich das Privileg, bei der Vogtei Laufburschendienste tun zu dürfen. Und der vierzehnjährige Primus vollends zog als Schreiberlehrling in das Haus des höchsten Kirchspielbeamten ein — unfehlbarer Beweis, daß der Kätnersohn zu hoch hinaus wollte 1 5 . Er hingegen glaubte, er habe noch alles vor sich. Ein Unterlehrer ließ sich von ihm die Dinge klären, vor denen sein Mentor kapitulierte. Zu jenem jungen Mann sagte Friedrich: „ D u büs arm un ick bün arm, un keener deiht wat vor uns. Wie möt an uns sülm arbeiden un sehn, dat wie wieder kamt" 1 6 . 13 15

B VIII 18 f.; vgl. B V 40. H P I, S. 5, 6.

14 16

B VIII 32 ff.; vgl. B V 93 f. Ibid., S. 5.

„Horizontale" und „vertikale" Weltansicht

47

Freilich, der junge Schreiber verkrampfte sich durchaus nicht in ein ausschließliches Streben nach sozialem Rang. Stets war er aufgelegt zu Scherzen und spielerischen Unternehmen, besonders zum Verfassen und Aufführen von Theaterstücken. Er war fröhlich, zumindest in Gesellschaft, wo er auch später im N u die schwersten Depressionen überwand. Trotz seines starken Selbstgefühls blieb er bescheiden. Klaus Groth und ein Jugendfreund haben an dem eckigen Dithmarschen sogar einen weiblich anmutenden Charme bemerkt. Kurz, Friedrich war ein liebenswerter und beliebter Junge, genau wie früher, als er noch der kleine Krischan war 1 7 . Dazu kam der Respekt vor seinen Geistesgaben, die sich zunehmend entfalteten. Er selber sah in ihnen seine stärkste, seine einzige Waffe, um gesellschaftlich voranzukommen. Nicht zuletzt audi deshalb förderte er sie mit leidenschaftlicher Energie. Doch der äußere Erfolg blieb ihm lange Zeit versagt. U n d je mehr er geistig sich entwickelte, um so unerträglicher erweiterte sich ihm die Kluft zwischen seinem inneren Wert und seinem äußeren, sozialen Rang. Immer schmerzlicher peinigte ihn die Demütigung, seinen Platz ganz unten, buchstäblich am Gesindetisch einnehmen zu müssen. So wurde er von Augenblicken heimgesucht, in denen er daran verzweifelte, jemals sich durch geistige Leistung eine gesellschaftlich geachtete Stellung zu erringen. In solchen Augenblicken geschah es, daß er sich abwandte von dieser Welt, daß es ihn forttrieb von der Wirklichkeit, von der Erde, und hinaus, hinauf ins Paradies, ins Jenseits, in eine schöne, bessere Welt, wie die Religion sie bot und wie sie mannigfach erschien in säkularisierter F o r m : in der norddeutschen Pastorenlyrik, in volkstümlichen Darstellungen des christlichen Idealismus, bei Klopstock, den Idyllikern; endlich bei dem, der alles andre turmhoch überragte an geistigem Format und dichterischer Formkraft: bei Friedrich Schiller. 17

Ibid., S. 15, 38.

II. Das Jenseits 1828/29 1. Aus der äußerlichen Wirklichkeit in die sittliche Innerlichkeit Schon vor seiner Konfirmation hat Hebbel Schiller gelesen und verehrt: „Friedrich Schiller! wenn ich Torf trug" 1 8 . Für den fünfzehnjährigen Schreiberlehrling bezeugt Freund Hedde eine lebhafte Beschäftigung mit dem Klassiker 19 . Hedde war es auch, der ihn damals (1828) um ein paar Verse bat für ein Ringreiten, ein Kinderfest im benachbarten Neuenkirchen. Der offenbar vielgefragte Autor lieferte auch promt das Verlangte, ersuchte jedoch im Interesse seines Rufes um Wahrung der Anonymität. Er habe nämlich im zuletzt eilig hingeworfenen Part ganz und gar keine Gedanken . . . anbringen" können 20 . Gedanken eben waren es, was der jugendliche Autodidakt bei Schiller suchte und auch reichlich fand. Und Gedanken sind es, was jener Ringreiter-Zyklus vor allem enthält, abgesehen von den notwendigen Floskeln zur Begrüßung und Aufmunterung der Teilnehmer. Diese Floskeln fallen allerdings recht kümmerlich aus. Mit lehrhafter Skepsis und sauersüßem Hurra-Pathos gehen sie auf den festlichen Anlaß ein 21 . Der Verfasser ist offensichtlich nicht mit dem Herzen dabei. — Ganz anders da, wo er in Anlehnung an Schillers „Glocke" vom Besonderen aufs Allgemeine kommt: „Freiheit und Gleichheit — Man hört's wohl schallen", so fängt eine der Partien an, und in der „Glocke" steht: „Freiheit und Gleichheit hört man schallen." Aus „Das Ideal und das Leben" oder gar aus „Anmut und Würde" ist der folgende Gedanke übernommen: 18 \ v X V 8, Z. 41. 19 20

21

Emil Kuh: Biographie Friedrich Hebbels, 1877, 1 Bd., S. 120. B I 1. Vgl. dagegen Liepe (Beiträge, S. 356), der das Gedicht auf 1829 ansetzt. Die 3 anonym erschienenen Gedichte, die Liepe dort für Hebbel in Anspruch nimmt, behandle idi hier nicht, da mir Hebbels Autorschaft doch nicht ausreichend gesichert zu sein scheint. W VII 4 ff., v. 1—27, 80—104, 123, 152.

Aus der äußerlichen Wirklichkeit in die sittliche Innerlichkeit

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„Die wahre Freiheit trägt in der Brust, Wer dem Gesetze folget mit Lieb' und Lust, Wer die Fesseln der Sinnlichkeit kühn zersprengt, Und in's Reich des Ideales hinaus sich drängt." Das ist idealistischer Aufschwung z u m Wesen, zu einer wesensgemäßen Haltung. E r k o m m t hier allerdings n u r selten vor. Fast durchweg herrscht der Wirklichkeitspessimismus, wie ihm auch Schiller huldigt, z.B. in der „Glocke": „Weh, wenn . . . Das Volk, zerreißend seine Kette, Zur Eigenhilfe schrecklich greift!" Der Schreiberlehrling macht daraus: „ . . . der Mensch ist zum Friedestören geneigt, Wie's die Historie deutlich zeigt . . Schiller: „Der Gute räumt den Platz dem Bösen, Und alle Laster walten frei." Hebbel: „Unter hundert will kaum einer das Gute, Neunundneunzig trotzen mit frechem Mute." Schiller: „Heil'ge Ordnung . .., Die herein von den Gefilden Rief den ungeselPgen Wilden, Eintrat in der Menschen Hütten, Sie gewöhnt zu sanften Sitten . ." Hebbel: „Ordnung zeigt ihre Segensspuren In der rohen, und in Menschennaturen — Ordnung muß auch beim Vergnügen sein." Bei einem Kinderfest derart den pedantischen Griesgram h e r v o r kehren, das ist denkbar unpassend u n d philiströs. Es ist nicht zu erklären v o n dem Anlaß, dem Gegenstand oder dem Vorbild her, sondern n u r von der Person des Sprechers. H i e r spricht dessen Meister A n t o n N a t u r . Sie drängt ihn, seinen kleinen H ö r e r n ihr harmloses Vergnügen als fatales Abbild des irdisch-frevlen Lebens vorzuhalten: „ . . . wer auf jeglichem Pferde satteln kann Im wirklichen Leben, so geht's wohl an: Versteht er gut, den Nacken zu biegen, Kratzfüße zu machen, sich geduldig zu schmiegen, . . . tüchtig zu schmeicheln, . . recht fein zu heucheln, — Dem kann's nicht fehlen, der wird schon siegen." Wird der gute Reiter schlechtgemacht, so k o m m t der schlechte u m so besser weg: „Und wer's nicht kann, der heißt der Blinde, Weil er nicht hängt den Mantel nach dem Winde —" 4

Wittkowski, Hebbel

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Das Jenseits „ D a schaut der Tor in die blaue Weite, U n d die Folge ist — er wird listig betrogen."

Ihm bleibt nur eines: der idealistische Aufschwung zum Wesen, der Rückzug auf die sittliche Innerlichkeit: „Doch, falls er nur festen Schrittes geht, So hat er die hödiste Majestät; U n d hat er gleich nicht die irdische Lust, Er trägt den Frieden in seiner Brust, U n d kann er nicht Ehre und R u h m sich erjagen, So braucht er sie nicht mit Unrecht zu tragen."

Als ob Ehre und R u h m verabscheuungswürdig wären, ausgerechnet für den Verfasser dieser Zeilen! Der ersehnt in Wahrheit ja nichts mehr als Ruhm und Ehre, als die Anerkennung der Gesellschaft! Das alles blieb ihm aber vorenthalten. U n d so sucht er Trost in einer Art U m wertung der Werte. Früher wurde schon davon gesprochen, wie er, sein Vater und Meister Anton ihrer Umwelt vorwarfen, sie schätze sie nicht ihrem Menschenwert entsprechend ein, bringe also die soziale Rangordnung nicht zur Übereinstimmung mit der rein menschlichen. Hier geht Friedrich entschieden weiter. Er behauptet, beide Rangordnungen stimmten grundsätzlich nicht überein. Grundsätzlich sei der Gute verurteilt zu Mißerfolg und Mißachtung; nur der Böse sei erfolgreich und geachtet. Diese Anschauung entstammt dem christlichen Bereich. Doch sie wird hier nicht aus Uberzeugung ausgesprochen, aus einem primären Wertgefühl. Vielmehr widerspricht sie gerade dem primären Wertempfinden Hebbels; sie soll nur verschleiern und beschönigen, daß Hebbels tiefster Sehnsucht die Erfüllung versagt blieb. Wer nicht vermag, sein Verhältnis zu der Welt so zu gestalten, wie es seinem Wertgefühl entspräche, der ist schnell bei der Hand mit Vorwürfen gegen die böse Welt. Den schönsten Trost gewährt es dann, das eigene Versagen als Tugend auszulegen, die Tüchtigkeit des Erfolgreichen dagegen als unmoralisch anzuprangern. Nietzsche nannte das die Umwertung der Werte aus dem Ressentiment der Schwäche heraus. U n d solches Ressentiment ist es nicht zuletzt, was hinter Hebbels Rückzug auf die sittliche Innerlichkeit steht. A n dieser verkrampften Grundhaltung ändert sich auch nichts, wo dann das Reiterlied beginnt. Abrupt genug wird es an das Vorangegangene angeschlossen: „Jedoch Kameraden, die Stunde ist da, Die Bahn ist offen — das Ziel ist n a h ! "

Benutzte der redselige Sprecher bisher die Knittelverse des Kapuziners aus „Wallensteins Lager", so geht er jetzt über zu Rhythmen-

Aus der äußerlichen Wirklichkeit in die sittliche Innerlichkeit

51

und Strophenformen des Reiterliedes, mit dem das „Lager" endet. Die hier gewöhnlich hervorgehobene Ähnlichkeit ist nur äußerlich. Das Maulen und Nörgeln bisher fiel schon erheblich ab gegen das hitzige Pathos des Kapuziners. Von dem männlichen Schwung des Soldatenliedes vollends ist so gut wie nichts zu spüren. Enger sind hingegen die Beziehungen zu den Gedichten „Hoffnung", „Die Worte des Glaubens" und „Die Worte des Wahns". Alle drei teilen die Vers- und Strophenform des Reiterliedes. Bei Hebbel klingen sie in Wort und Sinn an. Ja, hier finden wir geradezu das Motto zu seinen besprochenen Einleitungsversen. „ . . . das buhlende Glück . . . Dem Schlechten folgt es mit Liebesblick, Nicht dem Guten gehöret die E r d e . " 2 2

Bei Hebbel erscheint Ähnliches als ressentimentgeladener Pessimismus. Er herrscht auch in seinem Reiterlied. Er verbindet sich hier mit einem weinerlichen Rückzug auf die sittliche Innerlichkeit — „Wer nicht freudig opfert den höchsten Glanz, Nie schmückt den würdig des Glückes K r a n z ! ! ! "



ferner mit Verunglimpfung der Wirklichkeit und ihrer Werte, mit einer spießbürgerlichen Philosophie des Mittelmaßes — „Gewiß der Höhe vermählt sich Gefahr — Sdiön bleibt der Mittelweg immerdar." —

und nur sehr, sehr mühsam mit dem Ton der Schillerschen Reiter: „ N u r mutvoll gerungen und kraftvoll gestritten, So folgt euch der Sieg mit beflügelten Schritten."

Bei Schiller hatte das so geklungen: „Drum frisch, Kameraden, den Rappen gezäumt, Die Brust im Gefechte gelüftet! Die Jugend brauset, das Leben schäumt, Frisch auf, eh der Geist noch verdüftet! U n d setzet ihr nicht das Leben ein, Nie wird euch das Leben gewonnen sein!"

Zwei Welten, so scheint es. Und doch, die Soldaten singen auch dies: „Die Falschheit herrschet, die Hinterlist Bei dem feigen Mensdiengeschlechte."

Schiller vereint eben vieles: die pessimistische Kritik an der Wirklichkeit, den Rückzug auf die sittliche Innerlichkeit, den Aufsdiwung zum Ideal, die männliche Behauptung in der Welt. Das letzte vermag der Fünfzehnjährige nicht mitzuvollziehen. Auch den Aufschwung zum Ideal bringt er nur in äußerlichen Ansätzen zuwege. Im Vordergrunde 22

Die Worte des Wahns.

52

Das Jenseits

stehen bei ihm — freilich sentimental verwässert und philiströs verengt — die ersten zwei Momente: der Protest gegen die böse Wirklichkeit und der Rückzug auf die sittliche Innerlichkeit. Das soll eine Haltung sein, die positiv-idealistisch sich aufs Wesen richtet. Tatsächlich ist sie jedoch mehr negativ, nämlich Abkehr von der Wirklichkeit und deren Werten. Hier glaubt Friedrich leer auszugehen. Darum macht er aus der N o t eine Tugend: er feiert die Abwendung vom Irdischen und die Zuwendung zur innerlichen Sittlichkeit. Man hat Hebbels ersten Produktionen die persönliche N o t e abgesprochen 23 . Doch wohl zu Unrecht. Der Anfänger schließt sich nur einigen Tendenzen seines Vorbildes an, und zwar in sehr charakteristischer Weise. Die philiströse Verflachung, die der klassische Stil dabei erfährt, hängt gewiß zusammen mit der Unreife des Autors, ebenso aber auch mit seiner persönlichen Eigenart, mit seiner Meister AntonN a t u r und mit seinem sozialen Ressentiment. Daß die Ringreiterverse eine durchaus persönliche N o t e haben, beweist der Umstand, daß sie ihrem Zweck und Anlaß völlig unangemessen sind. Bei rein äußerlicher Nachahmung hätte Hebbel sich auch den äußeren Gegebenheiten anzupassen und gemäßere Anleihen bei Schiller zu machen gewußt. Was aber sollte bei einem Kinderfest die sauertöpfische Moralpredigt gegen die böse Welt? Friedrich empfand selbst die Zwiespältigkeit seines Unterfangens. Er schließt mit den Worten: „Bin ich denn nicht zierlich. Bin idi nicht manierlich — Einen Vorzug hab idi — ich bin natürlich!"

Man meint zunächst, nicht recht zu sehen. U n d doch, es ist etwas Wahres daran. Das Publikum hatte von ihm ein „gemütlich Wörtlein" erwartet (Z. 141). Statt dessen war es gründlich mores gelehrt worden, hatte es eine private Weltanschauung vorgesetzt bekommen, die dem Geiste des in Frage stehenden Unternehmens völlig zuwiderlief. Hebbel sagte eben nicht, was der Gelegenheit entsprochen hätte, sondern das, was ihn ganz subjektiv erfüllte. Zeitlebens war es seine Art, wenig Rücksicht auf seine Zuhörer zu nehmen und sie vielmehr zu betrachten als die Wand, gegen die er redete, um mit sich selbst ins reine zu kommen 2 4 . Insofern also hatte er sich in der Tat ganz natürlich, seiner Natur gemäß, geäußert. Bis in die Beziehung zum Publikum hinein kennzeichnet dieses frühest überlieferte Gedicht seinen Autor, sein Verhältnis zu der Welt 23

24

Zuletzt Dorothea C r o m e : Hebbels Verhältnis zu Schiller, 1925, S. 3, Kuh, a.a.O. S. 129, als Ausnahme dagegen nicht. H P I, S. 69.

Auj dem Diesseits ins Traumparadies

53

und damit ihn selbst als Menschen. Es preist den Rückzug vor der bösen Welt auf die sittliche Innterlidikeit — gewiß audi aus der Hochschätzung rein innerlicher Werte heraus, wie das Christentum und der christliche Idealismus sie verkündeten; zugleich und in hohem Maße jedoch aus Ressentiment, als Ersatz für den heiß ersehnten und schmerzlich vermißten, gesellschaftlichen Erfolg. Der Rückzug auf die sittliche Innerlichkeit soll das Ausbleiben von R u h m und Ehre rechtfertigen als moralisches Verdienst und den irdischen Erfolg als unmoralisch denunzieren. Hebbel leugnet demnach sein eigenes primäres Wertempfinden, ja er verunglimpft es. E r argumentiert gewaltsam; und seine Gewaltsamkeit ist spürbar bis in sein Verhältnis zu den Hörern. E r argumentiert gewaltsam gegen andere und gegen sich. E r quält sich und genießt sich dabei selbst. Wollüstig wütet er gegen andere und gegen sich: gegen die Erfolgreichen und ebenso gegen seine eigene Misere wie gegen seinen Erfolgshunger. So weist Hebbel sich von Anfang an als einen Menschen aus, dem offenbar nach außen wie nach innen „ein gewisses gegen den Strom schwimmen Natur war" 2 5 .

2. Aus dem Diesseits ins

Traumparadies

Der ressentimentgeladene, idealistisch verbrämte Wirklichkeitspessimismus des Ringreiter-Zyklus findet sich auch (1829) in einem Gedicht mit dem bezeichnenden Titel: „An die Unterdrückten": „Gern mag die Welt den Tugendhaften kränken, Gern übt sie Rache an dem Biedermann, Weil sie nach ihrem Willen ihn nicht lenken, Zu ihrem Dienst ihn nicht bewegen k a n n . " 2 6

Ähnlich seufzt Hebbel in dem Prosastück „Treue Liebe" „über die Betrüglichkeit der menschlichen Hoffnungen" und beschreibt den Lauf der Welt wie eben: „Die Dummköpfe kamen mit ihrer Dummheit fort; die Einsichtsvollen wurden verfolgt 2 7 . Wiederum hat Friedrich den bekannten Trost zur Hand, es seien wenigstens die eigenen V o r züge, über die man stolpere und stolpern müsse. Jedenfalls sollen wohl nur die Tugendhaften gemeint sein, wenn es — allerdings etwas verdächtig allgemein — heißt: „Erzittert nicht! Noch keinem ist's gelungen, Den eig'nen Weg ganz ungestört zu gehn."

Die christlich-idealistische Konsequenz aus solchem Wirklichkeitspessimismus wird nachdrücklicher als je zuvor gezögen in dem Gedicht 26 28 2T

Kuh: a.a.O., S. 122. W VII 12. Liepe: Beiträge, S. 299.

54 „An die

Das Jenseits

Tugend": „Alles Große . . . Schwingt sich f o r t mit G ö t t e r k r a f t Auf den Flügeln der Gedanken . . . " „Was der Mensch als G o t t gesdiaffen, Stempelt eines Gottes Hand." „Zwar vergeht die morsche Hülle, Doch der Geist schwebt himmelan, Freien ist Gesetz ihr Wille, Den kein Tod zernichten kann —, Das Gesetz mag Sklaven binden, Denn dem Sinn erliegt ihr Geist; Aber — dem muß es verschwinden, Der die Leidenschaft zerreißt." 2 8

Es geht da um die sittliche Innerlichkeit, um den inneren Aufschwung zum Wesen, wie der Idealismus es versteht; zum Reich des Ideals, der idealen Gesinnung; zu dem Reich, in dem die sittliche Innerlichkeit zu Hause ist. Das alles spielt in der vertikalen Dimension von Wirklichkeit und Wesen. Deren spezifisch religiöse Form eines Dualismus zwischen Diesseits und Jenseits begegnet in der Erzählung „Der Traum". Aber im Unterschied zu der idealistischen Version bleibt dem Menschen hier kein triumphaler Aufschwung zum Wesen, bleibt ihm nichts von seiner Gottähnlichkeit. Der Erzähler fühlt sich vielmehr als einen, „der nichts ist und in nichts zerfließt . . . am Tage des Gerichts". „.. . die ganze Welt schläft, ist erstorben, ist erfroren." Alles liegt unter einer „dünnen Winterdecke, das ganze kindische, spielende, tändelnde Geschlecht der Menschen". „ . . . alles, was ich war, ist gewesen, gewesen, um nie wieder zu werden . . . Und meinte doch etwas zu sein im Leben . . . ich hatte so vieles im Sinn, mein Tichten und Trachten war so eitel, mein Streben und Mühen so nichtig" 29 . Als völlig nichtig erscheinen das Diesseits und der Mensch darin. So erwartet man zumindest dessen Versuch, sich trostsuchend dem Jenseits zuzuwenden. Aber das geschieht nicht. Die ganze Problematik zerspringt wie eine Seifenblase. Als nämlich den Einsamen Angst und Verzweiflung ergreifen — da wird er aufgeweckt; er zieht sich die „Decke wieder über die Ohren", dreht sich wohlig „auf die andre Seite" und denkt bei sich zufrieden: „ . . . das Leben ein Traum!" Im Traum also, buchstäblich in der Schlaf- und Traumkammer endet die Abkehr vom Diesseits. Die erwartete Hinwendung zum Jenseits bleibt aus. 28 29

W VII 14 f. Liepe: Beiträge, S. 300 f.; vgl. ibid., S. 275 ff.

Aus dem Diesseits ins Traumparadies

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Die Schlaf- und Traumkammer erscheint nun immer wieder, zusammen mit dem Jenseits und immer mehr mit ihm verschmelzend, als das erstrebte oder auch faktische Ziel des Daseins, letzteres als der Bereich, in den man nach dem Tode eingeht. Sagt doch in „Treue Liebe" die alte Frau zu dem tot wiedergefundenen Bräutigam: „Nun schlafe wohl, Geliebter, gehe nur voran ins Schlafkämmerlein, ich komme dir bald nach" 30 . Da steht die Schlaf- und Traumkammer wohl für das Jenseits; doch sie besagt zugleich, wie das Jenseits vorgestellt, ersehnt wird, eben als ein Bereich, in dem man schlafen, träumen kann. Diese Seite am Jenseits steht so sehr im Vordergrund, daß sein eigentliches Wesen dahinter ganz verschwindet. Vor allem fallen auch seine Transzendenz weg und ebenso der sittliche Anspruch, der ursprünglich mit ihm verbunden war. Was übrigbleibt, ist ein Idyll. Es läßt sich gut verbinden mit dem idealistischen Reich der idealen Gesinnung, der sittlichen Innerlichkeit — wenn nämlich dieses Reich verweichlicht und verharmlost wird zu einem Land der idealisch-schwärmerischen Gesinnung und der schönen Innerlichkeit, mithin gleichfalls zum Idyll. Insofern steht das Symbol der Schlaf- und Traumkammer nicht mehr für das Jenseits, sondern für ein Idyll, und zwar in merklichem, wenn auch in verhohlenem und ungewolltem Widerspruch zum Jenseits des christlichen Idealismus. Als solch Idyll gestaltet Hebbel die Wesenssphäre in „Erinnerung" 31 . Er läßt alles ethisch-metaphysische Beiwerk fort und entwirft eine Traumlandschaft, die er mit lieblichen Bildern vergangener Wonnen bevölkert. In dieses ätherische Wunderland läßt er sich hineinsinken aus den tosenden Wassern des Lebensstromes, um sich von dem balsamischen Halbdunkel in himmlischen Frieden einlullen zu lassen. Vorbild nach Sprachgebung und allgemeiner Stimmungslage sind, wie für die meisten Gedichte jener Zeit, Schillers „Hoffnung", „Die Worte des Glaubens" und „Die Worte des Wahns", ferner gerade für das Motiv der Erinnerung, C. A. Tiedges „Urania" 32 , eine weit verbreitete christliche Popularisierung des Kantischen Idealismus. Diesen Meistern folgend sowie unter dem Einfluß E. T. A. Hoffmanns, dessen „Bergwerke zu Falun" neben Hebels Geschichte als Vorlage zu „Treue Liebe" gedient haben mögen, schwärmt Hebbel z. B. eben auch in diesem Stück von dem Zustand, „wo uns die Phantasie verlorne Gebilde der Vergangen-

30 31 32

Ibid, S. 299. W II 12. Urania. U b e r Gott, Unsterblichkeit und Freiheit. Ein logisch-dialektisches Gedicht in sechs Gesängen, 1801; vgl. Liepe: Unbekannte und unerkannte Frühprosen Hebbels, in: Beiträge, S. 260 ff.

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Das Jenseits

heit vorgaukelt und unser Herz in eine sanfte Melancholie versetzt, die . . . unser Leben wie durch Mondschein erhellt" 33 . Im „Traum" wurde die harte Wirklichkeit zum bösen Traum verharmlost, in „Erinnerung" das Wesen als schöner Traum verstanden. Beides läuft hinaus auf eine Flucht aus der Wirklichkeit in den Traum. Immer wieder sind es Schlaf und Traum, die die Wesenssphäre repräsentieren. Sofern sie allerdings gleichzeitig für das Jenseits stehen sollen, enthüllen sie doch nur, daß mit dem Jenseits und dessen sittlichem Anspruch ebensowenig ernstgemacht wird wie mit der Wirklichkeit. Das kommt besonders klar heraus, wo das sittliche Problem behandelt wird. „Kains Klage"34 klingt an Klopstock, Matthisson und Hölty an, vor allem aber an den zerknirschten Sünder Franz Moor und an die „Elegie auf den Tod eines Jünglings". Schiller trauert hier um den Verlust des schönen Erdenlebens und jubelt gleichzeitig über den Himmelsflug des Geistes. Er ruft dem Diesseits ein Ja zu und ebenso dem Jenseits. Das Rangverhältnis zwischen beiden steht zwar letzten Endes außer Frage; dennoch herrscht zwischen ihnen starke Spannung. Mit solcher Spannung nimmt Hebbel es nicht auf. Er entwertet das Diesseits und stellt den Menschen wiederum in seiner ganzen Nichtigkeit zur Schau. Keineswegs erscheint jedoch deshalb das Jenseits in um so strahlenderem Licht. Vielmehr ergibt sich zunächst nur jene „düster-biblische" Ansicht vom Menschen, den seine Schuld zu Boden drückt: „Und du hoffst auf Gottes Huld? Niemals wird er dir vergeben, Denn zu groß ist deine Schuld."

Hier kommt einmal der strenge Moralismus heraus zusammen mit dem furchtbaren Gott des Gerichts und der Rache. Doch mit beiden wird nicht ernstgemacht. Es tritt vielmehr der dialektische Umschlag zur Erlösung ein: aber eben nicht zum Jenseitsparadiese selbst, sondern zu dem, was hier am wichtigsten für Friedrich ist: zum bergenden Dunkel des Schlafs, der alle Not und alles Schuldbewußtsein wohltuend umhüllt und auslöscht: „Inn'res Auge, o erblinde! Decke es mit dunkler Binde, Gottes Vaterhuld!"

Die sittliche Problematik löst sich also auf in inneres Dunkel, eine Art Schlaf. Sie mündet nicht etwa ins Jenseitsparadies mit dem Erlösergott. Beide treten nur hervor, wo Schuld und Gericht gerade kein Problem darstellen, wo also das Jenseits ohne Mühe zum Paradiesidyll 33 34

Liepe: Beiträge, S. 299. W VII 10 f.

Aus dem Diesseits ins Traumparadies

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gemacht werden kann. In dem Gedicht „An die Unterdrückten"3S z.B. gibt es nur die himmlisch-schöne Preisverteilung an bewährte Unschuld. Der H e r r g o t t führt sie „ . . . in sein Siegesland Und windet ihr, zum wohlverdienten Lohne, Ums Haupt der Duldung schöne Palmenkrone." Das Paradies ist hier christlich-idealistisch zum Reich der idealistischschwärmerischen Gesinnung, der schönen Innerlichkeit geworden und darüber hinaus zum traumartig erlösenden Idyll. Ähnliches gilt von dem Gedicht „Der Quell"36, mit dem die jüngste Entwicklung nun rasch ihren Gipfelpunkt erreicht. Es steht Schillers Gedichten „Elysium" und „Der Pilgrim" nahe. Außerdem vermitteln die Idylliker und Klopstods, ferner die protestantische Erbauungslyrik der norddeutschen Pastoren. Bornstein sagt: „Neben der Trivialisierung Schillerscher Rhetorik bildet die Verwässerung von Motiven der Idylliker ein wesentliches Kennzeichen holsteinischer Pastorenlyrik. Der wallende Pilger, der fromme Greis am Pilgerstabe mit ihrer Verachtung irdischen Treibens und ihrer blassen Sehnsucht nach dem Jenseits gehören zum eisernen Bestand dieser Dichtung. Typisch für sie und den jungen Hebbel . . . ist auch der über Schiller und die Idylliker letztenendes auf Klopstock zurückgehende Apparat der Siegesfahnen, Friedenspalmen und Überwinderkronen, der Harfen- und Sphärenklänge, der Blumenauen, fächelnden Weste und Balsamdüfte, der Seraphim und Cherubim, Gottes oder des Heilands auf dem Thron, aller dieser ständigen Attribute zur Ausstaffierung der Gefühle der Seligen." 37 Solch weltflüchtiger Idyllik also frönt der 16/17jährige Hebbel. Fischer spricht im Hinblick auf den „Quell" treffend von einfachem „Hinwegtäuschen über den Schmerz durch Vorgaukeln schöner romantischer Bilder in der Art, wie eine Mutter ihr weinendes Kind in den Schlaf (!) singt" 3 8 . „Walle, Pilger, walle Sonder Weile zu! Suche, du wirst finden Wundersüße Himmelsruh! Laß es dich nicht ängsten, Ob das Leben stürmt, . . . Sieh, es folgt ein Morgen Auf die dickste Nadit . . . Auch durchs Erdgefilde Rinnt ein Himmelsquell" — 35 38 37 38

Ibid., 13. Ibid., 16 ff. Der junge Hebbel, II., S. 242. Studien zu Hebbels Jugendlyrik, 1910, S. 63.

58

Das Jenseits

— das ist die schöne Innerlichkeit, die nun auch den Freundschaftskult umfaßt: „In dem A r m der Freundschaft Schläft man ruhig ein — Lieblich wird das Träumen, Schön ja schön der Morgen sein . . . Auf der Nächte Dunkel Folgt das Morgenrot, Auf ein stürmisch Leben Folgt ein frommer, sanfter Tod . . . Leg' getrost dich nieder, Schlummre, Pilger, ein, Lieblich wird dein Träumen, Dein Erwachen himmlisch sein."

Wieder ist ein erlösendes Versinken in Schlaf und Traum das Hauptmoment. Wieder zeigt sich, daß Hebbel seine Vorstellung vom Jenseits hauptsächlich in Analogie zum erlösenden Versinken in Schlaf und Traum gewinnt. Deshalb lassen seine idyllischen Gedichte das Jenseits als ein erträumtes, in Traum erahntes, als ein Traumparadies erscheinen. 3. Traumparadies und sittlich-schöne Innerlichkeit Im Zuge seiner idyllisierenden Tendenz klammert Hebbel also den strengen Moralismus seiner alttestamentlidien und germanischen Voraussetzungen weithin aus; und die sittliche Innerlichkeit macht darum weithin einer bloß schönen Innerlichkeit Platz. Das Sittliche verschwindet dabei aber nicht vollständig. So sehr es aufgeweicht und sentimentalisiert wird, es bleibt doch unlösbar von Hebbels Lebensgefühl. Besonders eben zu seiner Vorstellung vom Jenseits gehört — als dessen Element und als Brücke zu ihm — eine sittlich-schöne Innerlichkeit. Das war ja die herkömmliche Auffassung; poetisch dargestellt war sie bei Klopstock, den Idyllikern, bei den Pastoren und bei Schiller. Hebbel fand sie vor als weltanschauliches und literarisches Erbgut. Dennoch konnte er dieses Erbe nicht einfach übernehmen. Bei seinen starken Voraussetzungen für das Moralische ließ sich die sittliche Innerlichkeit doch nicht so glatt verbinden mit dem bloß schönen Gefühl. In der Verbindung mit dem christlichen Jenseits war das Sittliche nidit Selbstzweck, sondern Mittel, nicht autonom, sondern heteronom. Auf den ersten Blick scheinen einige Sentenzen davon abzuweichen: „Das Laster sättigt sidi im Überdrusse, U n d Gift wird sein Genuß schon im Genüsse." „Bieder, schön und edel wandeln, Reicht sich selber den G e w i n n ! " 3 0 39

An die Unterdrückten, An die Tugend, W VII 12, 16.

Traumparadies und sittlich-schöne Innerlichkeit

59

Im Zusammenhang der Traumparadiesdichtung verschafft die sittliche Innerlichkeit solchen Gewinn in sich selbst allerdings, wenn überhaupt bereits im Diesseits, so doch nur im Hinblick auf das ersehnte Jenseits. Von idealistisch-autonomer Ethik wie bei Schiller kann hier keine Rede sein. Geht es nicht primär um das Sittliche und wird das Sittliche zudem gefühlvoll aufgeweicht zu einer sittlich-schönen Innerlichkeit, so kommt es auch nicht auf strenge Unterscheidung und sdilüssige Verbindung seiner Elemente an. Das zeigt die Maxime: „Groß wie Götter laßt uns handeln, Still bescheiden sei der Sinn." 4 0

Hebbel hat dabei wohl eine gewisse Polarität im Auge. Sie läuft jedoch auf eine Verbindung des psychisch Unvereinbaren hinaus. Dergleichen erinnert an die idealistischen Helden des jungen Sdiiller. Sie vereinen ja ebenso unpsychologisch männliche Größe mit reiner Innerlichkeit. Freilich steht dahinter etwas anderes, als Hebbel wohl meinte, nämlich die stürmische Begeisterung für jede Art von moralischem Affekt und für mitreißende Affekt-Kontraste. Hebbel hingegen mochte hier Begeisterung für jede Art von Tugend sehen, für Tugend überhaupt, für die sittliche Idee. Und das Ideal dachte er sich zwangsläufig als eines, als einheitlich und einhellig: als Wesen in der metaphysisch-,,vertikalen" Dimension. Diese Sehweise zwingt oft zu Inkonsequenzen. Manchmal widerstreiten einander auch Werte, die allesamt dem Wesen zugeordnet zu seien scheinen. Dann muß einer, und zwar der jeweils niedere, eben doch der Wirklichkeit zugewiesen werden. Dadurdi werden von Fall zu Fall die Einheit und Geschlossenheit des Wesens gesprengt und wieder hergestellt. Die ursprüngliche Wesenhaftigkeit des nunmehrigen Wirklichkeitswertes klingt aber noch in der Spannung nach, die zwischen ihm und dem Wesenswert besteht und die nicht bestehen könnte zwischen hohen und ausgesprochen niederen Werten oder gar zwischen Wert und Unwert. Hebbel nun verficht fast krampfhaft den Primat des einen Wesens samt der dazugehörigen sittlich-schönen Innerlichkeit vor dem Diesseits, vor (dem Dasein auf der Erde und allem irdischen Verlangen. Und es zeigt sich auch bei ihm, daß das nicht so einfadi geht. „Freundschaft. An L." hat manche Äußerlichkeit gemeinsam mit Schillers „Triumph der Liebe" 4 1 . Schiller feiert hier, in „Die Freundschaft" und anderen Gediditen der Anthologie die Sympathie als kos40 41

An die Tugend, ibid., 16. W VII 21 ff.

60

Das Jenseits

mische Urkraft. Hebbel hingegen fragt nach dem Verhältnis der Sympathie zur Tugend im engeren Sinne. Deren Antipode ist diesmal nicht die schlechte Welt, sondern der Satan persönlich. Er verführt und mordet „ . . . den schönen Glauben . . . An Menschenwert und G o t t und Ewigkeit"

und inspiriert den Verfasser zu folgendem Finale: „O hör, o hör es, unerfahrne Jugend, — Nicht ohne Glauben, ohne Tugend Grünt dir der Freundschaft Segenspalme nicht — Und linderte dein Freund dir tausend Schmerzen, Vermag er frevelnd mit dem Heiligsten zu scherzen O flieh ihn, flieh ihn, eh' das H e r z dir bricht!"

Das ist schulmeisterlich und philiströs. Wie sehr, zeigt der Vergleich gerade mit dem jungen Schiller. Der glaubt an die sieghafte Gewalt des guten Gefühls. Tugend folgt aus der Freundschaft, einfach weil diese selber Tugend ist. Hebbel macht es umgekehrt. Zuerst kommt Tugend im streng moralischen Sinn. Freundschaft steht auf einem andern Blatt. Hier gibt es kein „Seid umschlungen, Millionen!" Solch edlen Gefühlsüberschwang vermag Hebbel nicht nachzuvollziehen. Er übernimmt davon nur die Sentimentalität, die zu seinem Traumparadies paßt. Es ist bezeichnend, daß er nach dem Vorbild von „An die Freude" ein Gedicht verfaßt mit dem Titel „An die Tugend" und es im Rhythmus der Hymne so beginnt: „Tugend, Tochter beßrer Welten, Schmückend mit dem schönsten Lohn . . , " 4 2

Wo Sdiiller Freude und Freundschaft besingt, da spricht Hebbel von Tugend. Wo für Schiller die Einheit des Ideals gesichert ist im schönen Gefühl, da hebt Hebbel den moralischen Zeigefinger und verweist pedantisch auf den Unterschied zwischen der bloß schönen, der diesseitigzwischenmenschlich orientierten Tugend und der eigentlich sittlichen, der göttlich-jenseitsorientierten. Er unterscheidet zwischen Diesseits- und Jenseitswert, zwischen Wirklichkeits- und Wesenswert. Ihre Rangordnung ist klar, ein Konflikt zwischen ihnen leicht möglich und doch eindeutig zu lösen. Die „vertikale" Dimension zwischen Wirklichkeit und Wesen im Sinne des christlichen Idealismus ist erstellt, und zwar von der sittlichen Innerlichkeit her am bündigsten. Letztere ist ein zentrales Element des Jenseits und die Brücke zu ihm. Das Jenseits selbst aber fungiert hauptsächlich als Paradies des Schlafs und Traums. Hier droht ihm die Gefahr, verfälscht, nämlich psychologisiert, entmoralisiert, säkularisiert zu werden. 42

Ibid. 14.

III. Vorstoß auf das Diesseits 1830, erste Hälfte 1. Ein Wert des Diesseits:

die

Liebe

Die sittlich-schöne Innerlichkeit birgt im Umkreis ihrer Möglichkeiten von vornherein das Motiv der sentimentalen, idealischen Liebe. Dieses Motiv greift Hebbel nunmehr auf. Freilich gestaltet er es unerotisch. In der Nachbarschaft von Produktionen wie dem „Quell" ist das nicht anders zu erwarten. Und dem letzteren vollkommen ebenbürtig ist die „Elegie am Grabe eines Jünglings"*3. So wenig wie bei den übrigen Gedichten von Ende 1829 gibt es hier die Spannung zwischen Diesseits und Jenseits, die Schillers „Elegie auf den Tod eines Jünglings" durchwaltet. Weiterhin bleibt der Blick ausschließlich auf das Jenseits gerichtet, erscheint das Jenseits als Bereich des tröstlichen Vergessens in Schlaf .und Traum. Nur eins ist neu. Dem frommen, schönen Engel, der da emporfliegt zu den Gefilden der Seligen — ihm weint ein holdes Mägdlein heiße Tränen nadi; ein Mägdlein, das es kaum erwarten kann, dem Entschwundenen nachzuschweben. War das der Weg, der Hebbels Art entsprach? Sein erster Versuch mit dem Liebesmotiv war völlig anders ausgefallen. Wie bei dem Lauradichter wimmelt es in „Sehnsucht. An L." nur so von Welten und Ozeanen, führt die kühne Fahrt den Liebenden durch Nacht und Nebel, Himmel und Hölle. Aber das stolze Pathos verpufft, erweicht sich zu kläglichem Flehen um Erhörung, sammelt sich wieder zur Kundgebung des handfesten Wunsches, am Busen der Angebeteten erwarmen zu dürfen,- um endlich wie aus Angst vor der eigenen Courage von neuem sich zu flüchten in kosmische Bilder von extremen Dimensionen 44 . Der Schreiberlehrling vermag Schillers männlich-sieghaftes Pathos nicht durchzuhalten. Er gleitet aus, einerseits in weichliche, andererseits in konkret-massive Töne. Er fühlte selbst, daß das mißlungen war. Und so entstand das nodi am ehesten lesenswerte unter all den angeführten

43

Ibid. 2 2 .

44

Ibid. 9.

62

Vorstoß auf das Diesseits

Machwerken, nämlich die ergötzliche Selbstkritik 45 : „Copia der hoch-wohl-sehr-widitigen Sehnsucht an L. . . . Gar jämmerlich und anmutig zu lesen. Auf absonderliches Anverlangen neu aufgetischt, und mit raren Anmerkungen vermehret vom unterzeichneten, liebeglühenden, sehnsuchtbrennenden Verfasser derselben."

Diese Selbstironie, so literarisch sie sich gibt, ist doch ganz persönlich gemeint. Sie dient dem Schreiber — und das ist das Aufschlußreiche — als willkommener Vorwand zu erotischen Eindeutigkeiten. Aber die künstlerische Kritik steht doch voran. Sie schließt mit der „Nutzanwendung: Knabe sah einen Irrwisch und rief: Vater, welch ein Stern!" Der 15jährige hatte seine wahre Einstellung zum anderen Geschlecht nicht ausgedrückt. Einerseits verfuhr er zu gespreizt und andererseits zu grob. So also ging es nicht. Bei „Freundschaft. An L." verfuhr er dann auch behutsamer. Desgleichen vermied die „Elegie" peinlich jeden Stilbruch. Das ging aber wiederum auf Kosten alles Erdhaften, Natürlichen. Hebbels Eigenart entsprach das offenkundig nicht. Jedenfalls kommen die weiteren Gestaltungen des Liebesmotivs allmählich doch dem Natürlichen, der Erde, dem Diesseits näher. Einen erheblichen Schritt in dieser Richtung bedeutet „Laura"46, entstanden wohl um die Wende 1829/30. Die bisher durchweg herrschenden Versmaße Schillers und des Kirchenliedes weichen volkstümlichen Formen, wie Heine sie kultivierte. Die gefühlvollen Deklamationen werden aus ihrer früheren Statik befreit und um ein schlichtes Geschehen herum geordnet. Die dick aufgetragene Jenseitsmetaphorik von einst weicht einfachen Bildern aus der Natur. Noch freilich trägt die himmelzugewandte Sentimentalität den Hauptakzent; und die Freundin, die auch hier dem Verblichenen nachtrauert, ist genauso blutarm wie ihr Gegenstück in der „Elegie". Dennoch, „Laura" bietet auch in gehaltlicher Hinsicht Neues. Das zurückbleibende Mädchen härmt sich jetzt tatsächlich zu Tode, aus Sehnsucht nach dem Geliebten und aus Sehnsucht nach dem Jenseits. Bei45 48

W X I V 297. W VII 19.

Ein Wert des Diesseits: die Liebe

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des ging schon in der „Elegie" zusammen. Dabei war die Hauptsache das Jenseits, galt der Tod als Durchgang zum ewigen Heil. Das wird in „Laura" anders. Der Tod gilt jetzt als wild trennendes Schicksal. N u r er macht das Diesseits zum Jammertal. Zugleich erscheint das Jenseits zwar als erstrebenswert, doch nur als die Sphäre, in der die Trennung wieder aufgehoben wird, in der es ein Wiedersehen gibt: „ U n d sterb ich, senkt die Hülle Bei ihm, o Bruder, ein — Des Daseins schönste Fülle Bei ihm ist sie allein."

Damit ist heraus, was von Anfang an hinter Hebbels Jenseitsvorstellung steckte. Erfüllung ist im Grunde zu erwarten nur von Diesseitswerten und im Diesseits. Erst und nur, wenn daraus nichts wird, wendet Hebbel sich dem Jenseits zu. Und dort sucht er nichts spezifisch Jenseitiges, sonder nur Vergessen des unerfüllten Irdischen, Trost, Ersatz für die irdischen Enttäuschungen. Und zwar sucht er das alles nadi wie vor in der Form von Schlaf und Traum: „Ihr Leib ruht ihm zur Seite, U n d schlummert engelsüß."

Deutlich zeigt sich nun, daß Hebbels Jenseitsvorstellung kein echtes Jenseits meint: den Gegenpol zum Diesseits, das ganz Andere, die Transzendenz. Gemeint ist vielmehr ein potenziertes Diesseits, ein Paradies, in welchem Diesseitswerte wie die Liebe vollkommen verwirklicht und andere wie R u h m und Ehre auf traumhaft schöne Weise ersetzt sind. Der Tod, der den Eintritt in dieses Reich gewährt, sowie Schlaf und Traum, die den Eintritt in jenes Reich vorwegerleben lassen: sie liefern zugleich die Hauptattribute dieses Paradieses. Es ist ein Jenseits von Gnaden des Diesseits und diesseitiger Sehnsüchte. Gleichwohl bleibt es seiner Aufmachung nach das christliche Jenseits: jenes Modell von Paradies und Traumwelt, das Hebbel in Religion und Dichtung fertig vorfand. Wie seine Vorstellung vom Jenseits bisher die eines Traumparadieses war, so war seine poetische Welt bisher ein Reich des schönen Sdieins. Und wie das Liebesmotiv an seiner Jenseitsvorstellung die Verankerung im Diesseits aufzeigt, so verschafft es auch der künstlerischen Welt des schönen Scheins mehr Wirklichkeitsnähe, thematisch wie formal. Insofern leitet „Laura" die erste Wende in Hebbels dichterischer Entwicklung ein. Bisher suchte der junge Schreiber bei Schiller nur Gedanken. Seine poetischen Versuche boten dementsprechend auch hauptsächlich Reflexionen. Einmal versuchte er, mit dem Itzehoer Wochenblatt Verbindung aufzunehmen. Als der Redakteur wünschte, die Gedidite sollten sich auf bestimmte Gegenstände beziehen, wies Hebbel die Zumutung entrüstet

64

Vorstoß auf das Diesseits

ab: er könne doch nicht Sand und Steine besingen! 47 Das wird anders. Wenn schon nicht Sand und Steine, so ziehen doch die Dinge Natur und mit ihnen echte Stimmungsmomente in Hebbels Verse Und auch thematisch macht die Natur sich geltend, durch das Motiv Liebe.

nun der ein. der

Die Liebe zwischen Mann und Frau ist ein ausgesprochener Diesseitswert, für Hebbel aber ein zentraler Wesenswert. Er ordnet die Liebe daher dem Jenseitsparadies zu, das ihm als die Wesenssphäre gilt. Und es wird einmal darum gehen, ob er die Liebe dort herausnimmt, um ein reines Jenseits zu gewinnen, oder ob er umgekehrt eine Wesenssphäre konzipiert, der auch Diesseitswerte angehören. Zwar wird das Wesen hier noch als Jenseits aufgemacht und als Bezug zum Jenseits. Seinen Gehalt jedoch hat es bereits vom Diesseits. Es soll den Wert der Liebe irgendwie vollenden oder auch ersetzen. So oder so ist es relativ aufs Diesseits, ist es verankert auf der Erde.

2. Vom Ethos des Diesseits: Treue und Rache. Judithmotiv a Nach alledem könnte es fraglich werden, ob es noch Sinn hat, bloße Wirklichkeit mit Diesseits und Wesen mit Jenseits gleichzusetzen. Die herkömmliche vertikale Dimension von Wirklichkeits- und Wesenswerten geriete andernfalls freilich durcheinander. Einheit und Einhelligkeit des Wesens würden problematisch. Und die möchte keiner gerne preisgeben, der bisher an sie glaubte. Der Diesseitswert der Liebe braucht diese Schwierigkeiten nicht heraufzubeschwören, solange er verbunden bleibt mit der sittlich-schönen Innerlichkeit, die dem Jenseits als wesentlicher Inhalt beigelegt ist. Anders wird das, wenn die Liebe wirklicher, lebendiger erscheint, im Zusammenhang mit Werten, die ausgesprochen irdisch-diesseitig sind und den christlichen Jenseitswerten deutlich widerstreiten. Hebbel will und kann das Problem noch nicht wahrhaben. Er sieht den Bruch nicht; doch er spürt ihn offenbar zuweilen. Dann trachtet er geflissentlich, die Harmonie und Einheit des christlich verstandenen Wesens aufrechtzuerhalten und seine poetische Welt intensiver zu verklären, zu idyllisieren. Mehr und mehr hat er sich ja auch die Mittel dazu angeeignet. Weiterhin liefert sie der Apparat des Paradieses. Außerdem lernte Hebbel aber auch von E. T. A. Hoffmann und Heine, wie man Stimmungen erzeugt. Mit solcher Technik, die gelegentlich schon virtuos anmutet, verschafft der 17jährige sich eine überlegene Distanz zu seinen Gegenständen und Problemen. Möglich, daß ihn gerade das auch wiederum verlockte, nun ein47

HP I, S. 11.

Vom Ethos des Diesseits: Treue und Rache

65

mal mehr zu wagen als bisher. Das Gedicht „Er und ich'"18 läßt die Katastrophe der Liebenden bereits in trostlosem Grauen enden, ohne Ausblick auf Erlösung, auf das Jenseits-Wesen. Die „Romanze" geht noch weiter 4 9 . Erstmalig behandelt sie das Problem der sittlichen Beziehung zwischen Mann und Frau. Ein hoffnungsvolles Mädchendasein endet in Verzweiflung und Selbstmord. Ursache ist die Treulosigkeit des Verführers. Mildernd wirkt nur das Naturgeschehen, das kunstvoll wechselt mit den menschlich-sittlichen Vorgängen. Vom Himmel ist erst ganz zuletzt die Rede. Er ist hier nicht das Paradies, sondern der Thron des Richtergottes, die sittliche Instanz. Seine Funktion ist allerdings nur sekundär. An der entscheidenden Stelle nämlich wird nicht an seine Gerechtigkeit appelliert; vielmehr ruft die Verlassene dem fernen Ungetreuen zu: „Und hast du gebrochen die heiligste Pflicht, Dort oben, dort oben entgehst du mir nicht!"

Damit mag Gottes Richterspruch gemeint sein. Doch auf ihn kommt es nicht an. Er gewährt dem Menschen nur die verlangte Rache. Vorchristliches Racheethos bricht da mächtig durch die christlich religiöse Außenschicht hindurch. Es ist dasselbe Ethos, das Mariamne vom Christentum trennt (vgl. Einleitung). Den bedeutsamsten Schritt in der eingeschlagenen Richtung tut Hebbel dann mit „Rosa"s0 — und wohl auch gerade deshalb fällt er da zugleich in eine übersteigerte Idyllik zurück. Weh, vom A r m des falschen Manns umwunden, Schlief Luisens Tugend ein. Friedrich Schiller

Dieses Motto aus der „Kindsmörderin" weist auf das Thema und auf das benutzte Vorbild hin. Formale Unterschiede gibt es viele zwischen beiden Stücken. Schiller läßt die Unglückliche alle 120 Verse selber sprechen, pathetisch die Kette von Leiden, Rachezorn, Untat und reuiger Sühne abwickeln samt der gefühlvollen Moral am Schluß. Anders Hebbel. Er setzt alles um in Bewegung und Geschehen. Dessen herbe Konturen mildert er mit stimmungsvollen Naturbildern. Einmal wird dieser sanfte Schleier allerdings zerrissen, und zwar von einer schwülen Realistik, die noch massiver ausfällt als seinerzeit in „Sehnsucht": „ ,Komm, laß uns in die Laube gehn . . ,Nein, Herrmann, nein — ich muß zurück' — ,Ach Rosa, kaum ein Augenblick' Und sträubend geht sie mit ihm fort."

48

;

W VII 24. Wittkowski, Hebbel

49

Ibid. 26.

B0

Ibid. 28.



66

Vorstoß auf das Diesseits

Das geht zu weit. Und prompt setzt fortissimo die Jenseitsmusik ein, wie um den Lapsus zu übertönen. Himmel, Hölle, Engel, Teufel, Harfen, Seraphim, zarte Blümlein und linde Weste bevölkern die Bühne des Geschehens wie einst. Das ist der erste Rückfall ins Idyllische. Die Handlung nimmt ein paar Motive aus Schillers „Kindsmörderin" auf und entwickelt sie bis dahin, wo Schillers Mädchen ruft: „Ha, Verräter! auf entfernte Meilen Jage dir der grimme Schatten nach, Mög' mit kalten Armen dich ereilen . . . , Geißle dich v o m Paradies zurück."

Hier nun scheiden sich die Wege. Bei Schiller kommt es zu Vergebung, Reue und begeisterter Sühne der eigenen Schuld. Nicht dagegen bei Hebbel. Wie das Mädchen der „Romanze" ruft auch Rosa: „Dort, Herrmann, dort — im Weltgericht — "

U n d nun wird getan, was dort nur angedeutet wurde: Die Betrogene vollzieht höchstselber das Gericht, die Rache. Mit Geisterarm ergreift sie aus dem Grabe „ H a ! " den Bösewicht und reißt ihn triumphierend zu sich in die Tiefe. Nichts ist vernehmlich von Sündengefühl oder Reue. Dabei hat diese Frau doch im Gegensatz zu Schillers Mädchen nicht bloß ihr Kind getötet, sondern auch den Mann und sich selbst. Ihr Sündenregister ist weit größer, wenigstens unter christlichem Aspekt. Das ist aber offenbar nicht der Aspekt Hebbels. Ausdrücklich nämlich nennt er die Rächerin unschuldig; ja er feiert ihre Rache als göttliches Gericht. Dabei trat G o t t auch diesmal gar nicht wirksam in Erscheinung! U n d das Ethos, dem er hier sein Siegel leihen soll — es ist im christlichen Verstände ja gerade widergöttlich! G o t t war nun aber für den jungen Hebbel nicht allein der G o t t der Rache, sondern auch der G o t t der Erlösung, der Fürst des Jenseitsparadieses. Deshalb ist es hier möglich, daß die Rächerin nicht nur den Beifall Gottes findet, sondern ihre Seele auch von „Engelskindlein, sanft und mild, des jungen Jesu Ebenbild", mit Sphären- und Posaunenklang empor ins Paradies getragen, daß ihr Leib schließlich gebettet wird zu süßem Schlummer: „So schlafe denn dein Staub hier süß, Sei selig du im Paradies."

Alles ist zuletzt in bester Ordnung. Die harmonische Geschlossenheit des christlichen Weltaspektes bleibt gewahrt. Das neutestamentliche Erlöserparadies wird in Tönen beschworen wie letzthin selten. Es ist, als forciere Hebbel die harmonisierenden Tendenzen seines Weltbildes, um den Zwiespalt zu überbrücken, der sich darin auftut, und zum

67

Ein Wesensbereich des Diesseits: die N a t u r

Ausgleich für die harte Ethik, die sich da zu Worte meldet und die Disharmonie des Daseins schroff hervorhebt. Dieser Ausgleich fiel nicht schwer. Vereinte doch das Christentum, wie er es übernahm, bereits die so verschiedenartigen Tendenzen des Alten und des Neuen Testaments. Dazu k o m m t freilich, daß die Gerechtigkeit hier nicht die Sache Gottes allein ist, sondern auch Aufgabe und Werk des Menschen. Solches Racheethos ist genau wie das der Treue, gegen deren Verletzung es sich wendet, ein Ethos ohne Gott, ein Ethos, das im Diesseits wurzelt: altjüdisches, germanisches Ethos. Nur äußerlich kann der Zwiespalt zwischen christlichem und unchristlichem Weltgefühl hier überdeckt bleiben. Als es um Tugend oder Freundschaft ging, entschied Hebbel für die Tugend. Das sah damals aus wie die Entscheidung für den Jenseitswert, zugleich wie Entscheidung für das Sittliche im strengen Sinn. Das muß nicht notwendig zusammengehen. Es kann daraus auch die E n t scheidung für das Sittliche schlechthin werden, unabhängig von der Transzendenz, gleichgültig gegen sie oder gar im Gegensatz zu ihr. „Rosa" repräsentierte dann ein Zwischenstadium auf dem Weg dorthin. Wird hier doch — freilich ohne Wissen oder Wollen — aus einem sittlichen Gefühl heraus gehandelt, das mit dem Jenseits und dem G o t t des Christentums nicht mehr vereinbar ist. Es wird gehandelt aus demselben Ethos, aus welchem Judith sich dann rächt an Holofernes. Im Unterschied zum „Judith"-Dichter aber glaubt der Hebbel von 1830 offenkundig, das alles sei noch christlich. 3. Ein Wesensbereich

des Diesseits: die

Natur

Das Liebesmotiv erweiterte Hebbels poetische Welt nach der Seite des Diesseits und des Realismus hin. Thematisch führte es das un- und außerchristliche Ethos von Treue und Rache ein, stilistisch die stimmungschaffenden NatunbiLder. Der Apparat des Jenseitsparadieses und die Hinwendung zum Idyll, zum Paradies von Schlaf und Traum, traten freilich nur vorübergehend in den Hintergrund. Gerade in „Rosa", wo Hebbel sich auf jenem neuen Weg am weitesten vorwagte, kehrten zugleich die alten Themen und Kunstmittel wieder. Sie lassen sich nun regelmäßig vernehmen 5 1 . Zentralthema aber bleibt das Geschehen zwischen Mann und Frau. Und dazu gesellt sich noch ein weiteres Motiv aus dem Bereich des Irdischen, Natürlichen: das Motiv von Mutter und Kind. Zuerst tritt es auf in dem Gedicht „An einen Verkannten"52. Hier dient es freilich nur dazu, Gedanken zu symbolisieren, die der Titel. 51

Die Nacht, Herakles' Tod, Liebe. W VII 26, 34, 36.

52

W VII 40.

68

Vorstoß auf das Diesseits

bereits andeutet und die uns von Anfang an begegneten: Die böse Welt verkennt den Tugendhaften. Das Jenseits verheißt ihm Seligkeit. Der Tod wird ihm ein ruhig Lager bereiten zu lindem Schlaf und lieblichem Traum. Hebbels Stellung zur gesellschaftlichen Wirklichkeit hat sich offenbar in nichts geändert. Verständlich also, daß er weiter vor ihr flieht in eine bessere Welt. Ob diese allerdings das Jenseits bleiben wird, das Paradies, scheint fraglich angesichts der Entwicklung auf das Diesseits zu und angesichts der Tatsache, daß es ja nie um das Jenseits selber ging, sondern primär immer nur um eine Schlaf- und Traumkammer, für die sich bloß kein andrer Ort anbot und die vom Jenseits ihre Legitimität entlieh. Einen wichtigen Schritt bedeutet das Gedicht „Der erste und der letzte Kuß"63. Das Motiv von Mutter und Kind hat hier erstmals tragende Bedeutung. Zugleich tut sich wieder einmal die Not des Daseins offen kund. Der Tod entreißt den Eltern das neugeborene Kind. Namenloser Schmerz ergreift die Mutter: „Da gräbt sie die Lippe, erblichen und kalt, . . . Noch einmal in des Lieblings Leiche."

Das ist der erste und zugleich der letzte Kuß. Die finstern Schicksalsmächte treiben da ein sinnlos-grausames Spiel mit den Menschen. Trost- und hilfeheischend sucht der Blick nach einem Ausweg, nach einer besseren Welt. Da ist wie stets das Jenseitsparadies des Christentums. Doch nur mit Anstrengung erhebt der rettungsuchende Blick sich zu ihm empor: „Drum fest den Blick zu Sternenhöhn! Hier wohnt nur Unvollkommenheit, Von dort, wo Friedenspalmen wehn, Winkt uns des Geistes Seligkeit!"

Aber jetzt ist da noch ein andres Reich. Und mühelos, voll Schwung und Wärme, erfolgt die Hinwendung zu ihm: „Wir sehn uns wieder! ruft die Natur, So tönt es im eig'nen Herzen."

Es ist das Reich, dessen konkrete Erscheinungsformen kürzlich einzogen in Hebbels Lyrik und dessen Mächte sich inhaltlich verkörperten in dem Motiv der Liebe und zuletzt in dem von Mutter und Kind. Es ist ein Reidi, das nicht im transzendenten Jenseits liegt; es ist ein Reich von dieser Welt: ein Reich, zu welchem „Rosas" diesseitsorientierte Ethik besser paßt als zu dem Himmelsparadies. Weithin und wenigstens nach außen gibt Hebbels Weltbild sich wohl noch als christ53

Ibid. 241.

E i n Wesensbereidi des Diesseits: die N a t u r

69

lieh, als jenseitsorientiert. Daneben aber fängt das Diesseits an, sich ethisch-metaphysisch zu emanzipieren. Eine offene Problematik bricht deshalb nicht aus. Sie braucht es nicht, weil Hebbel offenbar mit keiner anderen Weltanschauung als der christlichen rechnete und gar nicht daran dachte, daß etwas, was er für wertvoll hielt, die Grenzen des Christentums überschreiten könnte. Immerhin, wenn sich gerade jetzt die Paradiesidyllik wiederum bei ihm verstärkte, so vielleicht doch eben darum, weil er latente Spannungen empfand und übertönen wollte.

I V . Das Diesseits 1830, zweite Hälfte 1. Gott und Natur:

das Wesen

Die Spannungen in Hebbels Weltbild blieben indessen auf die Dauer nicht latent. Zu einer ersten Auseinandersetzung kommt es in zwei Erzählungen. Sie sind beide Traumvisionen. Die Problematik im Verhältnis zwischen Diesseits und Jenseits wird dadurch zwar etwas abgeschwächt, andererseits jedoch auch nicht geklärt. Was „Holion" bietet, darauf bereiteten schon „Laura" und der „Kuß" mit ihrer Anklage gegen das sinnlos-wilde Schicksal vor 54 . Der Mensch ist der grausamen Vernichtungsgewalt und brutalen Willkür einer personalen Macht ohnmächtig ausgeliefert: „Nun will ich dich recht quälen, . . . du armes Menschenkind, das ist dein Geschlecht, aus Nichts entstehend, um Nichts kämpfend, zu Nichts kehrend."

Man fragt sich, ob da nicht Gott selber sprechen soll. Wie dem auch sei, der Mensch muß die fürchterlichsten Qualen über sich ergehen lassen. Zuletzt entringt sich ihm der Schmerzensschrei: „Vernichtung, Allerbarmer, Vernichtung!" Eine Paradoxie, die den inneren Widerspruch in Hebbels Vorstellung vom Einen Gott des Wesens aufdeckt. Der Allerbarmer soll vernichten! Mit „Des Greises Traum" kehrt Hebbel die Perspektive von „Holion" um 55 . Betrachtet dieser die Jenseits-Diesseits-Dimension vom Diesseits her, so der Greis vom Jenseits. Dabei ergibt sich, daß die Marterung der Menschen keiner Gelegenheitswillkür entspringt. Sie hat vielmehr System. Alle bekommen ihr Teil, je nach Art und Schwere der Versündigung. Aus sicherer Höhe, an der Hand eines freundlichen Engels, schaut der fromme Greis dem gräßlichen Schauspiel zu. Franz Moors Vision vom Jüngsten Gericht klingt an. Dort heißt es, eine Locke des getöteten Vaters bringe die Wagschale der Sünden zum Sinken gegen diejenige der Versöhnung. Hebbel sagt: „Eine Träne der Unschuld, gelegt in die Wagschale des allgerechten Richters, und Millio54 55

W VIII 3. Vgl. Liepe: Beiträge, S. 288 ff. J H II, S. 36 ff. Vgl. Liepe: Beiträge, S. 293 ff.

G o t t und N a t u r : das Wesen

71

nen Welten wiegen sie nicht auf." Das klingt sehr ähnlich. Beide Male tritt die Erlösung zurück hinter dem Gericht. Aber die Verbrechen, die gerichtet werden sollen, sind jedesmal ganz andre. In den „Räubern" sind es Verbrechen am Vater und am Bruder: Vatermord und Brudermord. Hebbel spricht hingegen nicht von Vater oder Bruder. Wo er hier überhaupt von einem Vater spricht, da nur von einem Rabenvater (auf welchen späterhin zurückzukommen ist). Ihm geht es um etwas anderes, nämlich wie in „ R o s a " und „Romanze" am Vergehen im Zusammenhang des Geschehens zwischen Mann und Frau. „Treubrüchige und Verführer" sind die Verworfensten. Für sie „ist keine Erlösung; Himmel und Erde, Gott selbst kann sie nicht retten". „ G o t t selbst kann sie nicht retten." Das Ethische führt da zu ungeahnten Konsequenzen — wenn die Autonomie des Racheethos in „ R o s a " und „Romanze" Derartiges noch nicht ahnen ließ. Gottes Allmacht ist offenbar keine absolute. Die sittlichen Gesetze wenigstens bestehen unabhängig von ihm und bilden eine Ordnung sui generis. Gott ist lediglich der Richter, der ihre Befolgung zu überwachen und ihre Überschreitung zu bestrafen hat. Das geht entschieden hinaus über Christentum und Altes Testament. Die sittliche Ordnung ist keine gottgesetzte mehr. Sie ist autonom. Sie ist göttlich durch sich selber. Autonom und göttlich ist auch das sittliche Vermögen. Es kommt darauf an, sich zu besinnen auf den „göttlichen Funken" in sich selbst, auf die K r a f t zur Tugend: Tugend ist die „Harmonie zwischen Neigung und Pflicht", die Herrschaft über den Augenblick. „Der Augenblick kann euch zum G o t t erheben, aber auch zum Teufel stürzen. Daher ist euer ganzes Sittengesetz: seid Herren des Augenblicks oder seid N a t u r ! Tugend ist eure Bestimmung, und diese Bestimmung ist, weil N a t u r sie gegeben hat, N a t u r . Folgt der N a t u r ! Ihr könnt, was ihr wollt. H a b t den Willen, N a t u r zu sein, und ihr seid es, und seid ihr ganz N a t u r , so habt ihr eure Bestimmung ganz erreicht."

N a t u r ! In dem Gedicht „Der erste und der letzte Kuß" tauchte sie neben dem Jenseitsparadies als metaphysisches Wesensreich des Diesseits auf. Sie hatte auch zu der diesseitsorientierten Ethik der Treue und der Rache aus „ R o s a " und „ R o m a n z e " gepaßt. U m Treue und um Bestrafung der Untreue geht es auch jetzt. Ausdrücklich wird dabei Gott die höchste Zuständigkeit abgestritten. N a t u r ist das Prinzip des Sittlichen und zugleich der Seinsgrund, der das Sittliche als Vermögen in den Menschen legt. Die Sittlichkeit trägt hier Schillersche Züge, allerdings nur äußerlich. Es geht ja einzig um die Harmonie zwischen Pflicht und Neigung. Vom Ernst der sittlichen Entscheidung ist nicht die Rede. Damit läuft die prätendierte Harmonie der Neigung mit dem Moralgesetz auf dessen Bagatellisierung, also gerade nicht auf Tugend, son-

72

D a s Diesseits

dern auf Erweichung des Moralischen hinaus — wie das ja bei Hebbels Kult der schönen Innerlichkeit schon stets der Fall gewesen war. Wichtiger sind die Veränderungen im Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Wesen. Die vertikale Dimension bleibt unberührt. N u r verschiebt sie sich von der Polarität zwischen Jenseits und Diesseits zu der rein diesseitigen zwischen Natur und Wirklichkeit. Das hat nicht zuletzt Konsequenzen für den Anteil, den der Mensch an dem höheren Seinsbereich hat. „Die himmlidien Teile des Menschen sind stark mit Stoffen der Erde geschwängert, und diese Stoffe sind nur zu läutern im überirdischen Feuer der Tugend." Tugend ist aber Bestimmung durch Natur. Die himmlischen Teile und das überirdische Feuer hier beziehen sich demnach, ebenso wie vorhin die potentielle Bestimmung des Menschen zur Gottähnlichkeit, auf die Natur- Die N a t u r erhält die Attribute, die bisher allein dem Jenseits zugeschrieben wurden. Sie tritt neben und an die Stelle des Jenseits. Sie teilt und übernimmt dessen Funktionen. Sie steht über der Erde. Daher bleibt die „vertikale" Dimension von Wirklichkeit und Wesen. Das Wesen liegt jedoch nicht mehr im Jenseits, sondern in der Welt — wenn man so will, nicht über der Erde, sondern unter ihr, etwa als Naturgrund oder Urgrund der Natur, wie Hebbel später sagen wird. Waren es unter christlichem Aspekt Gott und das Jenseits, die die Wesenssphäre bildeten, so gilt das nunmehr von Gott und der Natur. Dort war Gott jedoch der Schöpfer. Er stand über dem Diesseits und über dem Jenseits. Hier dagegen steht Gott zwar über der Erde, nicht aber über der Natur. Und er regiert die Erde nach Maßgabe der Natur. Dort war Gott das Höchste; hier stehen Gott und N a t u r auf gleicher Höhe, ja die N a t u r ist vielleicht das Höhere. Sie wird es sein, wenn sie auch als die schöpferische Macht erscheint. Ansatzweise tut sie das bereits, indem sie den Menschen auf das Sittliche hin anlegt. Charakteristisch für das „Wesen" im christlichen Verstände ist die „vertikale" Überordnung Gottes auch über das Jenseits. Beide befinden sich in vollendeter Einheit, Einhelligkeit und Harmonie. Gott und Natur stehen jetzt aber nebeneinander und befinden sich durchaus nicht eo ipso in Harmonie und Einheit. Wie zwischen Gott, Jenseits und Diesseits herrscht auch hier die „vertikale" Dimension von Wirklichkeit und Wesen, nämlich zwischen Gott, N a t u r einerseits und Wirklichkeit andererseits. Außerdem aber tut sich dabei noch eine „horizontale" Spannung innerhalb des Wesens auf, nämlich zwischen Gott und der Natur. Denn offenbar stimmt Gott der Ordnung der N a t u r nicht immer bei, und er kann sich dann nicht immer gegen sie behaupten. Während also dort nur eine Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und

Der Mensdi: das Maß der Dinge

73

Wesen herrscht, zeichnet sich hier neben jener auch noch eine innerhalb des Wesens selbst ab. Keineswegs löst also bei Hebbel die primär „horizontale" Weltansicht die primär „vertikale" ab. Diese besteht vielmehr neben und in jener fort. Die mannigfachen Analogien zwischen ihnen verbergen ihre Antithetik. D e r Vergleich m i t Schiller zeigte denn ja auch, daß Hebbel die Problematik des Sittlichen nicht sonderlich schwer n i m m t , ohne Hemmungen an sie herangeht und leichthin mit der schönen Harmonie v o n Pflicht und Neigung rechnet. Nichts scheint er zu bemerken von den Spannungen in seinem Weltbild, und wahrscheinlich um so weniger, als Schiller selber die N a t u r sehr o f t als in sich einhelliges Prinzip des Geistes und der Sittlichkeit gefeiert hat. Das „Punschlied" spricht gar v o n der schöpferischen Spaziergang"

Kraft

der lebendig

preist die natürliche

bildenden N a t u r .

Ordnung.

Die

„Der

Unmenschlichkeit

König Philipps und des Großinquisitors gipfelt darin, daß beide sich vergehen an den sittlichen Gesetzen der N a t u r : König: Ich frevle An der Natur . . . Großinquisitor: Vor dem Glauben Gilt keine Stimme der Natur. Das ist sogar K r i t i k am Christentum, zumindest an der Kirche. Dergleichen zeigt sich demnächst auch bei Hebbel. So viel jedenfalls ist sidier: W e n n Hebbel das Natürliche verherrlicht, sogar heiligt, so bedeutet das doch keine Absage an Schiller. Es kann vielmehr sogar den Klassiker zum Vorbild haben. D a ß dem weitgehend so ist, bestätigen die Anklänge an ihn. So hat Schiller selbst den jungen Schreiber mit vorangeführt auf einem Weg, der die Grenzen des christlichen Idealismus überschreiten mußte. H i e r war die G o t t h e i t nahezu identisch, jedenfalls ganz einhellig verbunden m i t der sittlichen Idee oder N a t u r . Gelegentlich ist das Verhältnis sogar pantheistisch. So ist es bei Hebbel nicht. G o t t und N a t u r sind bei ihm scharf geschieden. N a t u r ist die ewige O r d n u n g ; sie ist „göttlich" absolut. U n d die Gottperson ist nicht m i t ihr identisch, sondern ihr richterlicher H ü t e r . So ist die Wesenssphäre bei H e b b e l dualistisch angelegt. Sie birgt die Möglichkeit zu Widersprüchen und Konflikten. 2. Der Mensch:

das Maß der

Dinge

Wie gesagt, Hebbel spürte das nicht deutlich. E r spann sich sogar in eine traumhaft schöne H a r m o n i e . Fand er solche H a r m o n i e doch auch bei denen, die ihm Bestätigung und V o r b i l d waren. Das war seit jeher

74

Das Diesseits

Schiller. Kürzlich kamen aber noch zwei andere hinzu, wie Wolfgang Liepe nachgewiesen hat. — Der eine war Gotthilf Heinrich Schubert. E r überhöhte Schellings Naturmonismus durch die christliche Transzendenz, blieb also bei dem traditionellen Dualismus von Natur und Geist. Der Geist behielt den Vorrang, auch wenn die Geltung der Natur beträchtlich zunahm. Letzten Endes gab Schubert seinem Weitaspekt eine schöne Harmonie, und zwar in Hebbels Augen ganz besonders dadurch, daß er dem Traum ungeheure Bedeutung beimaß 5 6 . Der andere war der junge Ludwig Feuerbach, Schüler Schellings und Hegels, damals noch romantisch-idealistischer Mystiker, jedoch bereits ganz diesseitig orientiert 6 7 . Seine „Gedanken über T o d und U n sterblichkeit . . . " 5 8 las Hebbel schon im Erscheinungsjahre 1830. Da steht auf Seite 8 folgendes: „Vollkommen und vollendet kann nur sein . . . das Allgemeine . . . , würde das Individuum sein Ziel erreichen, würde es selbst vollkommen sein, so würde es eben damit aufhören Individium, Person zu sein . . . , würde das Maß seiner Vollkommenheit voll, so ertränke es, wie Glaukon im Honigfaß, in dem überströmenden Born der Vollkommenheiten."

Jetzt erhärtet sich, was zu „Des Greises T r a u m " zu sagen war. Wenn Hebbel dort Natur als diesseitige sittliche Instanz proklamierte, so geschah das nicht aus einem echten sittlichen Impuls, sondern aus einem leichtfertigen Optimismus heraus. Die Erfüllung sittlicher Gebote wurde gar nicht ernst genommen, gar nicht am Ideal gemessen, sondern an dem, was dem Menschen möglich ist. V o r dem absoluten Maßstab des Ideals ist der Mensch stets unvollkommen. V o r dem menschlich-immanenten Maßstab seiner eigenen Möglichkeiten ist er das nicht. Dem kann er genügen, und vollkommen. An ihm gemessen, steht der Mensch vollkommen da. Zuversichtlich darf er die Wirklichkeit betraditen als den Bereich, in welchem er sich häuslich niederlassen darf, ohne dauernd aufgestört zu werden von dem unerbittlichstrengen Maßstab des Moralischen. Dessen Anspruch wird zwar nicht bestritten. Doch man stößt sich nicht daran, wenn man ihn nicht erfüllt. Daß Maß der Dinge ist nicht mehr das Ideal, sondern der Mensch. Die zweite Hälfte des Jahres 1830 steht im Zeichen solcher Uberlegungen. Die traumselige Lyrik hört um die Jahresmitte auf. An ihre 56

67

68

Liepe: Der Schlüssel zum Weltbild Hebbels: G. H . Schubert. Beiträge, S. 139 ff. Liepe: Hebbel zwischen G. H . Schubert und L. Feuerbach, Beiträge, S. 158 ff. . . . aus den Papieren eines Denkers, nebst einem Anhang theologischsatirischer Xenien, hrsg. von einem seiner Freunde, anonym, Nürnberg 1830. Von hier das folgende Zitat bei Liepe: Beiträge, S. 169.

Der Mensdi: das Maß der Dinge

75

Stelle tritt die weltanschaulich-ethische Reflexion im „Greis", in aphoristischen Sentenzen und im ersten dramatischen Versuch. Die „Fragmente"™, eine Sammlung sententiöser Distichen, und die Prosa„Aphorismen"60 bieten wie der „Greis" noch viel v o n der Ethik Schillers und des Christentums: Sittliche Anstrengung läßt den Menschen dereinst dieses Jammertal vertauschen mit „des Friedens P o r t " , dem Himmel. Sittliches Ziel ist die „Harmonie zwischen Neigung und Pflicht, Vereinigung des Gesetzes mit dem Willen", — „ganz aber erfliegt er dies unendliche Ziel nicht". Damit beginnt das Neue. „Hoch wohl kann der Weise sich erheben In das wonnereiche beßre Leben, Doch nicht ganz fällt ihm die Hülle ab; Will er ganz hinüberschweben, Setzt der Staub ein Ziel des Geistes Streben." U n d mehr noch. Wie es keine vollendete Tugend gibt, so audi keine vollendete Sündhaftigkeit. Im „Greis" hieß es noch: „Der Augenblick kann euch zum G o t t erheben, aber auch zum Teufel stürzen." Mit solcher spannungsvollen Alternative ist es jetzt vorbei. „Ganz ein Gott kann keiner werden, Doch kein Teufel wandelt auch auf Erden." „Keiner kann den Adel ganz verlieren Keinen kann die Hölle ganz entführen: Denn . . . " „Mensch bleibt er immer, . . . nicht fähig ist der größte Bösewicht, ein Teufel zu werden." Doch „nie wird der Tugendhafte ganz ein Gott . . . nicht weicht die Neigung zur Sünde." U n d nun die kühne Konsequenz, zu der Feuerbach den Siebzehnjährigen verführt: „eben diese Neigung 61 kettet den Menschen an den Menschen, eben diese Neigung ist das Zentrum der vernünftigen Welt, und wie alles ersterben, veröden und vergehen würde in der physischen Natur, wenn nicht die allbelebende Sonne freundlich und hehr ihre Strahlen sendete, ebenso würde die vernünftige Welt zertrümmern, wenn diese Neigung aufhörte zu wirken im Menschen. Wäre ein Mensch ganz tugendhaft . . . , er würde sich baden im Meere der Unendlichkeit, er würde entfliehen dem Treiben der Welt und dem Handeln der Menschen . . . Aber da kommt die Leidenschaft mit ins Spiel und bringt den entflohenen Geist zurück zur Erde." Danach scheint es angebracht, Verständnis und Toleranz auch dem besonders unvollkommenen Menschen entgegenzubringen: „So sollte man auch keinen Menschen aufgeben, . . . auch dann nicht, wenn er nicht einmal mehr Gefühl für Ehre und Scham hat; er hat doch Augenblicke, und wenn in zehn Jahren auch nur zehn Minuten, wo ihn 59 61

W VII 38. 6 0 W I X 3. Die „Neigung zur Sünde" wohlgemerkt, die Feuerbach zum „Zentrum der vernünftigen Welt" erklärt! Vgl. Liepe: Beiträge, S. 168 f.

76

Das Diesseits das Gefühl ergreift: Du bist ein Mensch . . . und hätten sie ihn nur eine Minute zurückgehalten, das Schlechte zu vollbringen wäre das nicht schon eine Belohnung, die nicht von Kronen aufgewogen werden könnte?"

Der Rigorismus des Sittlichen, das sich einst am Jenseits und an einem absoluten Maßstab orientierte, hat sich hier tiefgreifend gelokkert. Ganz ist er zwar nicht verstummt. Wenige Zeilen nach dem Aufruf zur Toleranz folgt der lapidare Satz: „Dem höchsten Frevel ziemt die höchste Strafe." Aber das ist periphär im Ganzen. Die Haupttendenz geht eindeutig auf moralischen Relativismus, ja auf Immoralismus. So ertönt Mitte 1830 ein entschlossenes „Carpe diem" 6 2 : „ . . . eh's der Sturm von hinnen reißt, N e h m t der Stunde Blümchen hin."

Gewiß, das ist eine Abkehr von Schillers ethischem Idealismus. Eine völlige Abkehr von Schiller aber ist es nicht. Ruft doch auch der Dichter der Anthologie 63 : „Brich die Blume in der schönsten Schöne!"

3. Der ethisch-metaphysische „Mirandola". Golomotiv

Dualismus a

a) Gomatzina und die Brüder Moor Meist ist Schiller Vorbild, wenn es um poetische Gestaltung geht. So war es, als Hebbel sich dem Jenseits und der sittlich-schönen Innerlichkeit zuwandte. So ist es jetzt, da er zum Diesseits und zum Immoralismus umschwenkt. Das Zwischenglied in dieser Entwicklung war der „Greis". Dort wurde die Natur zum metaphysischen Grund des Diesseits und der Sittlichkeit erhöht, das moralische Pathos zu leichtfertiger Genügsamkeit entspannt. Äußerlich standen Schillers „Räuber" nahe. Und das gilt nun auch von „Mirandola". Abgesehen von den äußeren Ähnlichkeiten 64 hat das dramatische Fragment mit den „Räubern" die ethich-psychologische Fragestellung gemein: Wie kann ein guter Mensch zum Verbrecher werden? Nach dem letzten Stand der Dinge ahnt man schon, daß die Antwort hinauslaufen wird auf eine Apologie des Verbrechers, ähnlich wie bei Schiller, und wahrscheinlich radikaler. Die Personen sind zunächst denjenigen der „Räuber" nachgebildet: Mirandola dem Karl, Gomatzina dem Franz. Schillers Brüder sind einer wie der andere Verbrecher. Doch die Motivierung und die Anteil62 64

Lied, W . V I I 34. 6 3 Melancholie, an Laura. Vgl. Albert Fries: Vergleichende Studien zu Hebbels Fragmenten, 1903.

D e r ethisch-metaphysische D u a l i s m u s

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nähme des Verfassers heben Karl vorteilhaft von Franz ab. Hebbel interessiert sich nur für den Hauptübeltäter, also für das Nachbild von Franz, für Gomatzina. Der gewinnt durch solche Anteilnahme, wie Karl Moor bei Schiller. U n d er soll auch durdh die Motivierung seines Tuns gewinnen. So rückt er an Karl Moor heran. Das zeigt folgender Vergleich. Franz Moors Nachbild Gomatzina seufzt: „Seligkeit — dahin, dahin — unwiederbringlich v e r l o r e n ! . . . o, einst war's g a n z anders. D a war m e i n L e b e n eine reizende A u . . . " e s

U n d so klagt Karl Moor: „ o ihr T a g e des Friedens! . . . ihr g r ü n e n schwärmerischen T ä l e r ! . . . d a h i n ! d a h i n ! unwiederbringlich! — "

In Gomatzina fließen Karl und Franz zusammen. Mirandola, der tugendhafte Gegenspieler, muß darum zu einer langweiligen Idealität verklärt werden. Er verliert jegliches Profil und wird ganz überflüssig. Gemäß der Konzeption des Vorbilds müßte er der Räuber werden. Er bricht auch noch in die Verheißung aus, er werde einer, ein Teufel, eine Geißel der Menschheit: „ H a , Welt, w o z u hast du mich g e m a c h t ! A b e r du selbst sollst f ü h l e n , w o z u du mich gemacht h a s t . " 6 6

Er singt auch noch ein Räuberlied. Aber die Räuberhandlung kommt nicht mehr in Gang. Mirandola hätte sie tragen müssen. Doch all den Weltschmerz, den er zuletzt ausspricht und der ihn zum Verbrecher machen sollte, hat bis dahin gar nicht er, sondern einzig Gomatzina ausgesprochen. Folglich hätte eher dieser zum Räuber werden müssen. Tatsächlich wollte Hebbel es so machen 67 . Dann wären zwei Personen dagewesen, die jede für sich gegen die Welt gewütet hätten, und zwar nicht mit so verschiedenen Motiven und Methoden wie die Brüder Moor, sondern mit gleichartigen. Die Handlung hätte sich verdoppelt. Eine hätte die andere aber nicht ergänzt, nicht in Spannung zu ihr gestanden, sondern sie bloß gespiegelt. Hier brach das Drama auseinander. Die herkömmliche These, Hebbel habe Uhlands Dichtung kennengelernt, sei dadurch ernüchtert und zum Abbruch seines Dramas bewogen worden, braucht also nicht bemüht zu werden. Hebbel wäre schon am Technischen gescheitert. Vielleicht war er aber auch gar nicht auf eine großangelegte Racheaktion gegen die ganze Welt aus. Vielleicht ergab sich dazu gar kein Übergang und Anlaß mehr, nachdem die ethische Problematik einmal entfaltet war. es 66 67

w

y 20.

Ibid. 29. W X I V 10, letzte Zeile.

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Das Diesseits b) Der Konflikt zwischen Sittlichkeit und Sinnlichkeit

Der Ausgangspunkt, v o n welchem her das ethisch-psychologische Problem entfaltet wird, ergibt sich daraus, wie Hebbel Schillers „ R ä u b e r " sah, und zwar besonders das Verhältnis zwischen dem alten M o o r und seinen Söhnen. D a ist zunächst die sittliche Beziehung. D a s Furchtbarste f ü r den Sohn ist der väterliche Fluch. So empfinden, jeder auf seine Weise, Karl und Franz. So empfindet der Alte. Man denke an seine leidenschaftliche Selbstanklage: „Mein Fluch ihn gejagt in den T o d . " U n d so empfindet auch Mirandola. Aus den Armen der Braut eilt er an das ferne Sterbebett des Vaters, um „den schrecklichsten Fluch" v o n seinem H a u p t e abzuwehren, den „Vaterfluch" 6 8 . Die sittliche Beziehung zwischen Sohn und Vater wird bei Hebbel jedoch nur am R a n d e sichtbar. Vollends eine Zuneigung wie zwischen Karl und seinem Vater bleibt bei ihm aus dem Spiel. Ihn fesselt etwas anderes. Im „Greis", der gleichfalls den „ R ä u b e r n " nahestand, sprach er v o n einem „Rabenvater, der seine eigenen Kinder an Galgen und R a d verschacherte"® 9 . Karl u n d Franz verdienen schließlich R a d und Galgen. Dahin k o m m e n beide, so meint Hebbel offenbar, weil sie sidi v o m Vater ungerecht behandelt, dadurch von der menschlichen Gesellschaft ausgestoßen fühlen und weil sie dafür Rache nehmen sollen. Hier fand Hebbel ein Grunderlebnis seines Daseins wieder. U n d er verstand die „ R ä u b e r " von diesem Grunderlebnis her: von dem Gefühl, ungerechterweise ausgeschlossen zu sein von der Gesellschaft. Dementsprechend sind ihm nicht so sehr Karl, nicht einmal F r a n z als Schuldige erschienen, sondern der Vater und überhaupt die Umwelt. Karl und besonders Franz werden da v o n ihrem Interpreten allzusehr entlastet, mehr jedenfalls als Schiller wollte. Immerhin, auch Schiller wollte es. D a s zeigt schon seine Vorrede. „ J e d e m " , heißt es dort ähnlich wie bei dem Schüler Feuerbachs, „auch dem Lasterhaftesten, ist gewissermaßen der Stempel des göttlichen Ebenbildes augedrückt." Schiller schwärmt von den „Vollkommenheiten", „die auch dem Bösesten nie ganz fehlen". E r verweist auf die unglücklichen „ K o n j u n k t u r e n " , die f ü r den Schicksalsweg entscheidend sein können. Allerdings gesteht er zu, der edle R ä u b e r M o o r vermöchte wohl den Leser — wie offensichtlich auch den A u t o r selbst — in einige Verlegenheit zu bringen. F o r d e r e er doch in gleicher Weise Verehrung und Verurteilung heraus. V o n Wiese nennt den Anwalt Karl Moors treffend „einen moralisch argumentierenden Immoralisten" 7 0 . U n d etwas Ähnliches ist auch der A n walt Gomatzinas. 08

W V 14.

69

J H II, S. 38.

™ »Tragödie, S. 173.

Der ethisch-metaphysisdie Dualismus

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Es ist schwer, sich immer sittlich richtig zu entscheiden. Die Ursachen, die zum Versagen führen, sind o f t einfach nicht zu meistern. Bevor man also ein Versagen aburteilt, gilt es, dessen Ursachen zu verstehen. „Alle Sünden sind als Schwachheiten zu vergeben" — diese Konsequenz zieht Gomatzina 7 1 . Diese Konsequenz sowie die Problemstellung, aus der sie sich ergibt, das ist es, worum es Hebbel geht und worin er sich bestätigt fühlt vom Räuberdichter. Der gestaltet dieses Problem auf jener Ebene des Gesellschaftlichen, auf welcher es für Hebbel gleichfalls aktuell war. Noch aktueller aber war es für ihn auf der Ebene, der er sich letzthin zuwandte, auf der des Geschehens zwischen Mann und Frau. U n d hier gestaltet er es nach dem Vorbild Schillers. Ausgangspunkt ist ebenso wie auf der Basis des Gesellschaftlichen das Gefühl des Ausgeschlossenseins — nur, jetzt nicht von der Gesellschaft, sondern von der geschlechtlichen Erfüllung. Das Geschlechtliche, das Vital-Natürliche am Geschehen zwischen Mann und Frau, trat bisher nur gelegentlich hervor, meist in abgeschmackter Form und nie unmittelbar verbunden mit dem sittlichen Problem der Treue, demgegenüber es im Hintergrunde blieb. Hebbels Wendung zur Natur, in deren Rahmen die Wendung zum Geschehen zwischen Mann und Frau erfolgte, ergab ja noch keine Heiligung des Natürlichen im engeren Sinn des Vital-Geschlechtlichen, sondern eine Heiligung der Natur nur als sittlich-metaphysischen Prinzips, analog und antithetisch zum Jenseits. Das Natürliche selbst verband sich noch nicht unmittelbar mit jener Natur. Seine ethisch-metaphysisdie Begründung und Einschätzung standen noch aus. Sie mußten aber irgendwie geleistet werden, sobald das' Natürliche zum Problem wurde, sobald es beispielsweise mit der Sittlichkeit und deren Fundament sich nicht vertrug: mit der Natur. Das ist in „Mirandola" der Fall. Das Geschehen zwischen Mann und Frau wird hier bestimmt zugleich vom Wert der Treue und dem Wert der Liebesleidenschaft. Beide geraten miteinander in Konflikt. Die Treue verbietet es, in Liebesleidenschaft zur Braut des Freundes zu entbrennen und die Erfüllung solchen Verlangens zu erstreben. Das wäre ein Vergehen gegen die sittliche Ordnung der N a t u r und auch gegen die christliche Moral. Das Sittliche, ob es nun transzendent im Jenseits oder immanent in der Natur begründet ist, gilt doch in jedem Fall als auf den Richtergott bezogen. So oder so führt also jenes Vergehen zum Konflikt mit einer Ordnung, die von Gott behütet wird. Es führt zum Konflikt mit Gott.

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W X I V 19.

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Das Diesseits

Der Gegenpol zur Liebesleidenschaft ist hier die Treue, und zwar vor allem die Treue zwischen Freund und Freund. So spielt die Problematik des dramatischen Fragments schon zwischen einer Frau und zwei Männern, in jenem Dreieck, das charakteristisch ist für Hebbels spätere Dramatik. Träger des Problems ist Gomatzina. E r wurde von der Natur nicht stiefmütterlich ausgestattet wie Franz Moor. E r ist wie Karl ein edler, schöner Jüngling, ein „ G o t t " , heldisch und keusch. „. . . der Mensch muß suchen, H e r r über sich zu sein, und eben da muß er sich am meisten beherrschen, wo es ihm am schwersten fällt, Meister seines Triebs zu werden" 7 2 . Das ist die Maxime Gomatzinas. Es ist dieselbe, die der „Greis" im Namen der Natur verkündete. Gomatzina besucht seinen Freund Mirandola und dessen Braut Flamina, die er noch nicht kennt. Bei der Begrüßung fallen sich alle mehrmals wechselseitig um den Hals. Augenblicklich steht der Unerfahrene in hellen Flammen. U n d augenblicklich traut der bisher U n geprüfte sich so Schlimmes zu, daß er, als Mirandola überraschend an das ferne Sterbebett des Vaters eilen muß, den Schutz der Schönen erst nicht übernehmen will und es schließlich nur aus Pflichtgefühl dem Freunde gegenüber tut. E r bleibt also da und lernt sich fühlen als einen „Verdammten", „der stündlich den Himmel offen sehen muß und doch nicht hinein darf!" E r fühlt sich ausgeschlossen von der Lebensfülle und läßt keinen Zweifel, was er damit meint. E r sieht Flamina nach und seufzt: „ . . . welche Gestalt! O, wer sie umarmen dürfte" 7 3 . Auch Franz M o o r will Amalia umarmen. Doch im Gegensatz zu ihm befallen Gomatzina ernste Skrupel: „ fort, gräßlicher Gedanke " ; „diese Liebe vergiftet die Quellen des Lebens, zerstört den werdenden Keim in seinen innersten Tiefen". 7 4

Das deutet voraus auf den Grafen Siegfried. Der glaubt, Genoveva habe Ehebruch begangen, und er sei verpflichtet, sie dafür zu töten: die vergifteten Quellen des Lebens zu verstopfen 7 5 . Denn der verbotenen Leidenschaft nachgeben, die Quellen des Lebens vergiften, das heißt Gottes Strafgericht herausfordern. Was der „Greis" im Anschluß an Franz Moors Vision vom Jüngsten Gericht lehrte, das weiß und wiederholt auch Gomatzina 7 6 : „ . . . eine Träne der Unschuld, gelegt auf die Wagschale des ewigen Richters, und Millionen Welten wiegen sie nicht auf. Himmel und Erde verwischen nicht das kleinste Brandmal der Schuld!"

Und dort, im „Greis", galt als die größte Schuld, was jetzt Gomatzina zu tun versucht ist: „Treubrüchige und Verführer" sind die Verwor72

W V 11.

73

Ibid. 20, 18.

74

Ibid. 19.

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W I 224.

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W V 20.

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fensten. Für sie „ist keine Erlösung; Himmel und Erde, G o t t selbst kann sie nicht retten". Gomatzina weiß, daß seine Sinnlichkeit im Konflikt steht mit der Sittlichkeit, also mit G o t t und der Natur. E r weiß, wie er zu entscheiden hätte. Doch er will so nicht entscheiden. c) Die „vertikale" Dimension der Alternative und ihre Umdeutung zu einer „horizontalen" Gomatzinas Verlangen steht im Widerspruch zur Treuepflicht und damit auch im Widerspruch zu G o t t und der Natur. Die Treue hat hier eindeutig den Vorrang vor der Leidenschaft. Die Ansprüche der beiden Werte befinden sich in „vertikaler" Rangordnung. Die Alternative zwischen ihnen ist redlich nur nach einer Seite lösbar. Die Lösung mag schmerzlich, doch sie kann nicht fraglich sein. Gomatzina stellt sie denn auch nicht in Frage. E r stellt sie vielmehr als bereits gefallen hin. Aber — nicht zum Guten, sondern zum Bösen; zugunsten nicht der Treue, sondern der Leidenschaft: „O, daß ich geflohen wäre! Himmel und Hölle hingen an meinem E n t schluß! Ich zögerte, bis es zu spät war, und die Hölle war mein Teil! Ja, mein ewiges T e i l ! " 7 7

Die Hölle — das wäre hier die Verdammnis für etwas, was er noch gar nicht getan hat und was zu tun er auch keineswegs gezwungen ist. Himmel und Hölle hängen noch immer an seinem Entschluß. Wenn er das leugnet, so deshalb, weil er weder faktisch gegen seine Leidenschaft noch offen für sie entscheiden will. E r will sich vor der Entscheidung drücken. Deshalb tut er so, als sei sie schon gefallen, als habe er sie schon ungewollt heraufbeschworen, zwar in bester Absicht, aber eben doch zugunsten des Bösen; und das sei nun unabwendbar. Jetzt könne er nicht mehr zurück, nicht mehr entscheiden für oder wider. Es sei zu spät. Das ist Spiegelfechterei, Betrug, ist Selbstbetrug. Gomatzina argumentiert gewissermaßen hinter dem Rücken seines eigenen Gewissens. Das zeigt, wie laut vernehmlich sein Gewissen spricht, und zugleich, wie unaufrichtig vor sich selbst er ist. Das ist das Resultat von Hebbels jüngst entwickelter Neigung zu Immoralismus und Relativismus. Läßt er seinen Gomatzina schon nicht immoralistisch fühlen, so läßt er ihn doch relativistisch argumentieren. Gomatzina behauptet ja: es geht nicht anders, denn ich kann nicht anders. Dahinter steckt die Lehre Feuerbachs, es sei der Mensch das Maß der Dinge. Nicht das Sittliche schlechthin, sondern das beschränkte sittliche Vermögen jedes Menschen sei der Maßstab zur Beurteilung von sittlichem Verhalten: „Alle Sünden sind als Schwachheiten zu verge77

6

Ibidem. Wittkowski, Hebbel

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Das Diesseits

ben" 7 8 : diese Konsequenz hat Gomatzina ziehen sollen. Hebbel strich sie freilich wieder. Er brauchte das nur einmal hinzuschreiben, um sofort zu sehen: das war ein schlechtes Argument. Dann wäre ja sein Held ein Schwächling, ein moralischer Versager. U n d gleich fiel ihm eine bessere Lösung ein. Er drehte den Spieß um. Er bemühte einen Widerstand, der der Entscheidung zum Guten entgegensteht und der so groß ist, daß selbst der Stärkste unterliegen muß und also — das ist das Wichtigste — auch unterliegen darf. Freilich, der Widerstand muß wirklich unbesiegbar sein. Und Hebbel ist denn auch nicht kleinlich in der Wahl: Kein Geringerer als Gott soll Gomatzina den Weg zum Guten verlegt und ihn dem Bösen überliefert haben: „Herr G o t t im Himmel! Zernichte meine Seele . . . sie steht im Begriff, die Festen der Menschheit zu zerstören! Gott, G o t t — was habe ich verschuldet, daß D u mich so schwer s t r a f s t ! " 7 0

Gomatzinas Schuld soll also darin bestehen, daß er Böses tun, daß der eine objektive Schuld auf sich laden muß, ohne doch subjektiv schuldig zu sein. Er unterstellt, Gott selbst mache hier die Treue, die Selbstbeherrschung unmöglich. Er, das höchste Wesen, verletze also selbst das Gute, das Wesen. Damit stelle er den Menschen vor das rein nicht lösbare, vor das tragisch-paradoxe, ja ungeheuerliche Problem: der Leidenschaft und Gott gehorchen und damit die ewige sittliche Ordnung verletzen zu müssen. So stehen hier Wert und Wertverletzung nicht mehr „vertikal" über- und untereinander, sondern „horizontal" nebeneinander: als sittlicher Wert und als gottgewollter Wert innerhalb des Wesens. Daß die Dinge tatsächlich so lägen, wie Gomatzina will, ist allerdings nicht einzusehen. Die Umbiegung der lösbaren „vertikalen" in eine nicht rein lösbare „horizontale" Alternative wird vielmehr, soweit wir sehen, vom Kläger unterstellt. Sie wird nur subjektiv behauptet, nur von ihm, der, genau wie später Golo, sich der Ordnung, die er vorfindet, nicht unterwerfen will. Deshalb behauptet er, die Ordnung, das Wesen, widerspreche sich da selbst. Gott selber dränge ihn in eine Lage, die er zwar nicht anerkenne, aber auch nicht ändern könne. Gott schließe ihn, und ihn allein vom Leben, von menschlicher Gemeinschaft aus. Ja, er stürze ihn, den Unschuldigen, in ewiges Verderben. Er, Gomatzina, wolle wohl das Gute tun; Gott selber aber hindere ihn daran. Der Zweck solcher Spekulationen aber kann nur sein: das Gewissen soll entlastet werden auf Kosten der objektiven, göttlichen Gegeninstanz. Die Verantwortung soll dem Menschen abgenommen und Gott zugeschoben werden. 73

W X I V 19.

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W V 28.

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d) Das objektive und das subjektive Sittliche. Auswertung des Unterschiedes zugunsten des Subjekts In diese Auffassung und Pseudolösung des Problems hat Gomatzina und hat sich Hebbel so verbissen, daß beide, der Held und sein Dichter, offenbar nicht merken, wie das Problem sich ganz von selbst und ganz harmonisch aufzulösen scheint. Es ist Pater Gonsula, der diesen Schein hervorruft. Er ist das Nachbild Domingos aus dem „ D o n Carlos" und bedeutet ebenso wie dieser einen Angriff auf die Kirche. Dramaturgisch übernimmt er teilweise Franz Moors Funktionen und drängt Gomatzina dadurch noch mehr in die Rolle Karls. Wie Franz fädelt er mit Hilfe gefälschter Briefe die Intrige ein. Die Briefe sollen Gomatzina vorspiegeln, Mirandola und Flamina hätten einander die Treue gebrochen und warteten nur auf den Augenblick, wo Gomatzina seine Chance nütze. Man meint, der werde sich nicht lange bitten lassen und schleunigst auf das Ziel seiner Wünsche losmarschieren, zumal er nunmehr glauben kann, es auch tun zu dürfen. Tatsächlich glaubt er, er komme seinem Ziele näher. Das entspricht dem Trugbild, welches Pater Gonsula entwirft. Zugleich glaubt Gomatzina aber auch, Gott treibe ihn nur schneller in die Schuld. Das entspricht dem Trugbild, das Gomatzina selber sich zurechtgedichtet hatte. Eigentlich würde es durch jenes neue überflüssig gemacht. Gomatzina aber hält an beiden fest, als wären sie gleichzeitig möglich: das Bild der tragischen Schuldverstrickung und das der schuldfreien Leidenschaftserfüllung. Letzteres müßte ihm so hochwillkommen sein, daß er jenes erste erleichtert preisgeben sollte. Das aber tut er keineswegs. Vielmehr hält er gegen jene Illusion seine nun doch eigentlich überholte und überflüssige Zurechtlegung des Wirklichen fest — gegen jede logische und psychologische Folgerichtigkeit, gegen alle dramaturgischen Gesetze. Damit eben weist er jenen Sophismus als das eigentliche, unter allen Umständen aufrechterhaltene Anliegen seines Autors aus: jenen Sophismus nämlich, daß Gott Gomatzina ins Verderben treibe und daß — ein zusätzlicher Sophismus — Mirandola und Flamina noch ihre Hand dazu reichten: daß gewissermaßen alles gegen ihn verschworen sei — und ihn dem Ziel seiner Wünsche zutreibe. Hier wird das Subjekt, das Ich gerechtfertigt, entlastet auf Kosten der Gegenseite. Darum ging es Hebbel auf gesellschaftlicher Basis. Und darum geht es Gomatzina-Hebbel jetzt im Sittlichen. Der Grund dafür ist jedesmal, daß sie leiden unter dem Mißverhältnis zur Gegenseite und daß sie die Verantwortung dafür anderen zuschieben wollen. Damit beschönigen sie keineswegs das Mißverhältnis, d. h. bei Gomatzina: die 6»

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objektive Schuld. Das Mißverhältnis, hier die objektive Schuld, wird vielmehr ausdrücklich hervorgehoben. Dadurch soll das Leiden des Subjekts, bei Gomatzina außerdem das sittliche Empfinden des Subjekts, in hellstes Licht gerückt werden — und selbst dieser ethisch so fragwürdig konstruierte Fall offenbart doch Hebbels ethische Grundorientierung, indem das größte Leiden das Leiden unter einer Schuld sein soll. Das scheint der Grund zu sein, weshalb Gomatzina die objektive Schuld nicht leugnet und sie auch bei anderen verurteilt: bei Mirandola und Flamina. Das wiegt besonders schwer, weil deren angeblicher Treuebruch ihm auch willkommen sein könnte — wenn nicht als völlige Legitimierung seiner Absichten, was er ja merkwürdigerweise verkennt, so doch als moralische Entlastung des Treuebruchs, den er selbst begehen zu müssen vorgibt. Doch auch eine derartige Entlastung weist er ab: „Flamina wäre eines Treubruchs fähig?" — „Mirandola! So hättest du midi und deine Braut belogen! Wärest ein Schurk' der Schurken. Unmöglich! —" „Und wenn es wäre — — Wenn er Teufel wäre, hätte ich das Recht auch einer zu sein? Privilegiert meiner Nächsten Schurkerei die meinige?" 80

Hebbel unterstreicht Gomatzinas moralisches Pathos noch durch den Kontrast zu Gonsulas moralischer Sophisterei. Dabei übersieht er allerdings, daß Gomatzinas Pathos selbst Sophisterei ist. Es soll ja ein durchaus unmoralisches Wollen verschleiern; es soll ihm ja seine subjektive Schuld abnehmen und sie der Gottheit zuschieben. Ja, man darf geradezu sagen: er gibt seine objektive Schuld so lautstark zu, um den Verdacht der subjektiven Schuld von sidi weg und auf Gott lenken zu können. Gomatzina-Hebbel mißt demnach der subjektiven Schuld, dem subjektiven Sittlichen, viel Gewicht bei und im Vergleich zur objektiven Schuld, zum objektiven Sittlichen, das größere Gewicht. Insofern steht sein Denken dem ethischen Idealismus nahe. Kant lehrte ja, daß nichts „ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden als allein ein guter Wille" 81 . Vom Tun, vom objektiven Sittlichen, könne man dergleichen nidit behaupten. Müsse ihm doch die Gesinnung, die dahinter stehe, keineswegs entsprechen. Allein auf diese kommt es an. Entsprechend argumentiert auch Gomatzina-Hebbel, wenn er auf die Unterscheidung zwischen Tat und Absicht pocht, wenn er seine gute Absicht als Entschuldigung ausspielt und sein Leiden 80 81

Ibid. 24. 27. K a n t : Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, hrsg. Theodor Fritzsch, 1944, S. 21.

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unter seiner objektiven Schuld als eindrucksvolles Zeichen seines sittlichen Empfindens, seiner subjektiven Sittlichkeit hinstellt. Andererseits rückt er vom ethischen Idealismus auch wieder ab. Vom Idealismus, weil er die objektive Schuld als Verletzung eines objektiven Wertes auffaßt, als eine Schuld, an der es objektiv gar nichts zu rütteln gibt und nach welcher er von Gott gerichtet wird; weil er also das objektive Sittliche ganz ernst nimmt. Vom Ethischen, vom Sittlichen schlechthin, rückt er aber deshalb ab, weil er die sittliche Entscheidung und Verantwortung von sich zu wälzen sucht, weil er seine subjektive Schuld zu unterschlagen und zu beschönigen sucht. Er benutzt das Moralische dazu, um etwas Unmoralisches zu tarnen. Sein Moralismus ist verbrämter Immoralismus. Im „Greis" entsprang die Steigerung des moralischen Pathos dem leichtfertigen Optimismus, mit dem Anspruch des Sittlichen schon irgendwie fertig zu werden. In „Mirandola" entspringt sie umgekehrt der Erfahrung, daß das gerade nicht so leicht ist; und sie dient hier zur Tarnung des Bestrebens, dem drückenden Anspruch des Moralischen sich zu entziehen. Die objektive Schuld wird ernstgenommen und betont, aber eben zu dem Zweck, das subjektive sittliche Gefühl dafür ins hellste Licht zu setzen und damit abzulenken von der subjektiven Schuld — und um also das objektive böse Tun zu rechtfertigen. e) Die Treue und die Leidenschaft. Zwiespalt innerhalb des Wesens Gomatzina will die Alternative zwischen Treue und Leidenschaft, Sittlichkeit und Sinnlichkeit auflösen zugunsten der Sinnlichkeit, der Leidenschaft, und zugleich sich vor dem Wertanspruch der Treue, der Sittlichkeit, rechtfertigen. Die Entscheidung soll bereits gefallen sein. Sie soll aber auch einer Alternative gelten, die nicht „vertikal", sondern „horizontal", die also gar nicht rein zu lösen sei. So fadenscheinig Gomatzinas Argumente dafür sind, sie sind doch nicht bloß Willkür und Sophismus. Vielmehr steckt hinter ihnen eine Hochschätzung der Liebesleidenschaft, die jener „vertikalen" Rangordnung von Sittlichkeit und Sinnlichkeit genau zuwiderläuft. Sie ist durchaus nicht künstlich, gemacht, sondern ursprünglich, einfach gegeben. Das gilt aber nicht minder von jener Hochschätzung des Sittlichen. Und das ist der Grund, weshalb Gomatzina beide Rangordnungen nicht schlüssig vereinen kann. Für Hebbel war es schon von den archaisch-germanischen Voraussetzungen seines Empfindens her klar, daß Treue höher steht als:

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Leidenschaft. Vor allem stimmte dazu die einzige offiziell gültige Auffassung, die Auffassung des Christentums, wonach die Leidenschaft ein Wert der bloßen Wirklichkeit ist und die Wesenswerte allesamt sich mit ihr nicht vertragen. Hebbel hatte nichts, womit er demgegenüber seine umgekehrte, ebenso unumstößliche Anschauung des Rangverhältnisses hätte rechtfertigen können. Wenn er es dennoch versuchte, so folgte er damit einem echten Grunderlebnis, auch wenn er eine gültige, in sich schlüssige und seinem Erleben voll gemäße Antwort noch nicht fand. Daß nämlich in dem einen Falle Gomatzinas die Gottheit willkürlich einträte für etwas, was sie sonst verurteilte, und daß sie dadurch in Widerstreit mit sich selbst geriete — das wäre im Zusammenhang des Stückes unhaltbar. Sinnvoll und hier anwendbar wäre allenfalls die Ansicht, Gott billige prinzipiell die Leidenschaft als einen Wert höchster Lebenssteigerung und müsse sie im Falle Gomatzinas nur deshalb verurteilen, weil sie hier auf einen Treuebruch hinausliefe. U m des Wesens willen entschiede er gegen das Wesen. Damit geriete das Wesen mit sich selbst in Widerstreit. Die Alternative wäre „horizontal" gelagert; der Mensch müßte den einen Wert verletzen, indem er für den anderen entschiede. Eine solche Anschauung aber liegt, wie gesagt, nicht im Bereich von Hebbels ideologischen Möglichkeiten. Dazu kommt, daß es mit der „Horizontalen" hier doch seine Schwierigkeiten hätte. Bei allem Gewicht und Wert der Liebesleidenschaft läge das Übergewicht des Sollens doch zweifellos und eindeutig bei der Treueforderung. So ist es verständlich, daß Hebbel beim Versuch, dem Verhältnis in seiner wahren Gewichtsverteilung gerecht zu werden, im Negativen steckenbleibt, in der gewalttätigen Umdeutung und Umfälschung der Perspektive, die ihm bis dahin geläufig war. Trotz allem Sophismus und aller Willkür enthält indessen das „Mirandola"-Fragment Strukturen und Formulierungen, die keimhaft Hebbels Konzeption des Tragischen vorzeichnen. Da ist die Betonung der sittlichen Pflicht. Gomatzina weiß genau, was Treuebruch bedeutet, dasselbe nämlich wie im „Greis": „Treubruch — " ruft er sich selbst zu, „— hör es, Frevler, er keimt auf Laster und Bosheit, sein Anhauch vergiftet jedwede Tugend, er nährt sich v o m Herzblut der Unschuld, H o h n , Schande und Verachtung sind sein Erbteil, Wut, Fluch und Verzweiflung sein Nachlaß, die Verdammnis aller Verdammten ist sein L o h n ! — — H ö r es Gomatzina, und zittre audi dein L o h n ! " 8 2 82

W V 25.

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G o t t wird den Treuebruch bestrafen. E r wird für den W e r t der Treue eintreten. Gegebenenfalls aber m u ß er sich damit gegen Tugenden und W e r t e wenden, die er gewöhnlich gutheißt. D a t r i t t das Wesen mit sich selbst in Widerstreit. U n d eben das beansprucht G o m a t z i n a für seine Liebe zu der B r a u t Mirandolas. Einerseits ist Treuebruch verdammlich. Andererseits jedoch: „ . . . wenn das verdammlich ist, Flamina zu lieben, so hat der Herrgott sich selbst die Verdammnis zuzuschreiben"83. Zweifellos ist Gomatzinas Liebe zu Flamina verdammlich. D e r W i derstreit der beiden Werte ragt somit ins Wesen selbst hinein. E r bet r i f f t sogar den H ü t e r und Bewahrer der ewigen Ordnung selbst, er betrifft den Richtergott. So oder so: das Wesen m u ß verletzt werden. E i n e reine Lösung des Konfliktes ist ausgeschlossen. D e r Mensch wird schuldig, wird verdammt, wohin er sich auch wendet. Das wäre tragisch. U n d das will Gomatzina-Hebbel, genau wie später G o l o - H e b b e l , letzten Endes ja herausbekommen bei dem verzweifelten und vergeblichen Bemühen, die vertikale Rangordnung v o n Leidenschaft und Treue in eine horizontale umzubiegen. D e r Schuldige soll dadurch nicht nur von der subjektiven Schuld befreit, sondern auch noch mit dem düsteren Glanz des Tragischen umwoben werden. Doch so wie Gomatzina-Hebbel das versucht, ist es eben Willkür, Sophismus, Gewalttätigkeit, ist es immoralistische Selbstgerechtigkeit. Es ist weder sittlich gediegen noch von imponierender G r ö ß e , noch kontrastiert das zu erwartende Resultat erschütternd mit dem menschlichen Rang. M . a. W., Gomatzinas Verhalten und sein Los sind nicht tragisch — und Gleiches wird für G o l o gelten. Das letzte Zitat über den hohen W e r t der Liebe wurde wohl einer Stelle aus „Fiesko" nachgebildet. D o r t r u f t ein Verehrer der Gräfin: „Wenn meine Leidenschaft Sünde ist, so mögen die Enden von Tugend und Laster ineinander fließen und Himmel und Hölle in eine Verdammnis gerinnen." (II, 4.) Das ist Übertreibung. Es hat nicht das Gewicht, das es scheinbar beansprucht. U n d auch später findet sich bei Schiller nichts Gültiges, was in dieser Richtung läge. V o n Hebbels W o r t e n gilt dasselbe, was ihre Bedeutung für „Mirandola" angeht. Schaut m a n aber in die Zukunft, so stellt sich heraus, daß hier — ganz nebenher und nahezu versehentlich — die Dialektik in die G o t t h e i t selbst geworfen wird, wie H e b b e l später sagt. H i e r kündigt sich das Neue an, das Hebbel in die tragische D r a m a t i k eingeführt hat. Aber, bis dahin ist es noch ein langer Weg. D e n n er f ü h r t in eine Richtung, in welcher Hebbel augenS3

Ibid. 11.

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Das Diesseits

blicklich nur mit Hilfe fadenscheiniger Argumente vorzudringen vermag, weit davon entfernt, dem Ziele •wirklich nahezukommen. Bei alledem muß zugestanden werden, daß Hebbels sittliches Gefühl nicht etwa aufgehoben, sondern nur gestört ist, und zwar durch das Gewicht, das sein Wertempfinden dem Natürlichen, auch gerade im Sinne des Vital-Geschlechtlichen, zuerkennt. Er fühlt, daß das Natürliche, herkömmlich ein Wert der bloßen Wirklichkeit, gleichfalls Teil des Wesens ist, als weldies allein das Jenseits und ein kleiner Kreis geistiger Werte galten. Noch immer aber ist er außerstande, das sittliche Prinzip (die gottbehütete sittliche Ordnung der N a t u r ) und das natürliche Prinzip ideologisch zu verbinden. Müßte das doch eine Ordnung ergeben, die einen Widerstreit in sich selbst vertragen könnte. Doch auch die herkömmliche Unterscheidung, wonach das Sittliche dem Himmel zugehört, das Sinnliche der Hölle, kann Hebbel nicht mehr teilen. Das ganze Stüde zeigt, wie er sich dagegen auflehnt. An der Unzulänglichkeit des alten wie des neuen unausgereiften Aspekts sowie an ihrer Unvereinbarkeit hätte „Mirandola" schon scheitern müssen, auch wenn Hebbel das Technische gemeistert hätte. Und noch in „Genoveva", der Spätform seines ersten dramatischen Gedankens aus der Wesselburener Zeit 84 , hat er das Problem nicht gültig lösen können: Zeichen dafür, wie schwer die Aufgabe war. 84

So schreibt Hebbel 1858 an Dingelstedt (B VI 144). Vgl. Wittkowski: Genoveva. Zum Ursprung der Tragödie Hebbels, H.-Jb. 1958, umgearb. in H.i.n.S.; sowie Herbert K r a f t : Zwischen Tat und Begebenheit. Über Hebbels „Genoveva", H.-Jb. 1966. Die Kritik, die K r a f t an mir übt, t r i f f t m. E. die Schwächen einzelner Argumente, nicht aber die Grundlinien der Interpretation. Dazu bleiben seine eigenen Bemerkungen zu skizzenhaft. V o r allem gehen sie ganz an Golos komplizierter und hinterhältiger Dialektik vorbei. Wenn K r a f t mir v o r w i r f t , ich hätte „nicht eine Person als vom Dichter geschaffene Gestalt in ihrer Funktion innerhalb des Dramas untersucht, sondern eher eine Charakteristik eines Menschen geschrieben" (S. 153), so möchte ich dem entgegenhalten: Hebbels Golo ist allerdings eine Charakterstudie. W e r sich nicht eingehend mit ihr befaßt, kann über den Sinn des Dramas nichts und über dessen Form nur Äußerliches sagen. So scheint mir denn auch K r a f t die ästhetischen Gewiditsverhältnisse des Stückes eigentümlich zu verkennen, indem er etwa das Obergewicht der Golo-Figur in Abrede stellt (S. 151 f.).

V. Zwischen Jenseits und Diesseits 1831/32 1. Verschlossenheit

des Diesseits

1831

und des

Jenseits

Das irdische Leben m i t seiner Fülle und N o t läßt den nun 18jährigen nicht mehr los. Doch wie Gomatzina, so redet auch Friedrich sich ein, n u r die N o t sei ihm zuteil geworden und von der Fülle sei er ausgeschlossen. Heroisch resignierend habe er sich damit abzufinden und im übrigen zu sehen, was sich dennoch aus dem eigenen D a sein machen lasse. Das ist wiederum nicht wenig. Fühlt Hebbel sich doch seiner U m welt turmhoch überlegen. Dementsprechend steckt er sich das Ziel nicht k u r z : er will Dichter werden. E r ist fest entschlossen, unbeirrbar loszugehen auf dieses Ziel und kämpfend durchzuhalten, ob nun der Erfolg oder der Untergang am Ende stehe. Das schlägt sich nieder in Gedichten wie „Fragment", „Mein V o r s a t z " , „Dichterlos", „Mein Glück", „Selbstvertrauen", „Künstlerstreben" 8 5 . Wie ein Gefesselter ringt Hebbel um Befreiung aus der geistigen Enge seiner H e i m a t . E r versucht, Schauspieler zu werden — und erlebt ein Fiasko 8 6 . E r fleht U h l a n d u m Hilfe an — und wird m i t W o r t e n abgespeist 8 7 . „Der arme V o g e l " , der ins Freie strebt und an den Stäben seines Zwingers sich zu T o d e flattert — er ist, „ O H e r z , dein eigen B i l d ! " 8 8 Das alles geht auf Hebbels Ringen um die ersehnte literarische und damit soziale Geltung. Daneben findet auch das andere Ausdrude: das Gefühl, ausgeschlossen zu sein von der Fülle des vitalen Lebens. Freund Heddes Liebesglück veranlaßt Hebbel, sich als das zu ironisieren, als was G o m a t z i n a sich ernsthaft fühlen durfte, als Tantalus: „die goldenen Früchte, aber für mich ist keine gereift . . . Eine Minute (sagt Schiller 8 9 ) gelebt im Paradiese, wird nicht zu teuer 85 86 88 89

W VII 53, 58 f., 71. B I 9. 8 7 B VIII 1. W VII 81. Don Carlos I, 5. Hebbel zitiert ungenau und fügt selbst den zweiten Satz hinzu, der sich ähnlich in Gomatzinas Munde findet, W V 20.

Zwischen Jenseits und Diesseits

90

mit dem T o d gebüßt. Aber, wer den H i m m e l offen sieht und nicht hinein k o m m t , der hat Hölle, und ob ihn Blumen umduften und Weste umfächeln" 9 0 . Der entdeckungsfrohe Vorstoß auf das Diesseits hat kein reines Glück beschert. Hebbel glaubt, das wahre, volle Leben nur erblickt zu haben, u m zu lernen, daß es ihm verschlossen sei, daß er niemals durch Gefahr und N o t hindurch zu ruhigem Genuß gelangen werde. So k o m m t es, daß er sich wieder umschaut nach einer besseren Welt, wo es auf andre A r t so etwas wie Erfüllung gibt, vor allem aber R u h e und Vergessen. Ein solches L a n d des Schlafs und Traums war anfänglich das Jenseits, dann ein Reich, das teils als Jenseits, teils als N a t u r verstanden wurde, ein sentimentalisches Idyll zwichen H i m m e l und Erde. Darauf greift Hebbel nun zurück, nachdem er sich ein halbes J a h r zuversichtlich dem Diesseits zugewandt hatte. Mit künstlerischen Mitteln, die er jetzt Uhland entlehnt, schafft er in „ R o m a n z e " , „Der Zauberer", „Der R i n g " und anderen Gedichten eine Welt von Schwermut, Müdigkeit, Betäubung und Vergessen 9 1 . Wie bei allen Produktionen seit 1830 geht es u m das Geschehen zwischen Mann und Frau, Mutter und Kind. Einmal führen diese Motive, wie in den älteren Stücken „ R o m a n z e " , „ R o s a " und „Mirandola", weiter auf das Schuldproblem. Daran war „Mirandola" gescheitert, weil der Schuldige da nicht als unschuldig gelten konnte. Anders ist das in der „Kindesmörderin"92. Genau wie „ R o s a " , das erste Gegenstück zu Schillers „Kindsmörderin", endet auch dieses zweite in Verklärung, aber nicht mehr im Idyll des Jenseits, sondern dort, w o ja auch damals schon der eigentliche Zielpunkt lag: in der Ruhe, im Vergessen, in Schlaf und T r a u m , im Grabe. Ferner gibt es diesmal keine Rache, sondern nur Verzweiflung. Selbst die Liebe bleibt. Die Vernichtungstat richtet sich nicht gegen das D u , sondern gegen das eigene Ich, das mit objektiver Schuld beladen ist. Die verlassene Mutter schließt mit dem Leben ab und stößt dem Kind ein Messer in das Herz. Tatsächlich war der Mann jedoch nicht treulos. Vielmehr bereitete er alles f ü r die Eheschließung vor. N u r u m einen Augenblick kehrt er zu spät zurück. Ein Irrtum, ein gräßliches Versehen f ü h r t zur Katastrophe, wie bei Kleist. Subjektiv ist niemand ernsthaft schuldig. T r o t z d e m machen beide Eltern ihrem D a sein selbst ein Ende. Zu schwer wiegt eben doch die objektive Schuld, die beide auf sich laden: der Kindesmord. 90

B I 8.

91

W. VII 42, 51, 59.

92

Ibid. 68.

Verschlossenheit des Diesseits und des Jenseits

91

Anders als der sittliche Idealismus legt Hebbel das Hauptgewicht auf die objektive Schuld. Freilich, diese Schuld wird nicht getragen. Das gesteigerte Bewußtsein für die Schuld verstärkt auch das Bedürfnis, von der Schuld befreit zu werden. So finden sich denn schließlich alle drei zu Ruhe und Vergessen unter der Erde wieder zusammen: „O Engel des Todes, bewahre sie gut." Die einzige Verklärung gibt der Tod. Und sie besteht allein in Schlaf und Ruhe. Ein Jenseitsparadies taucht nicht mehr auf. „Der Brudermorda93 kündet abermals von dem Gefühl, ausgeschlossen zu sein vom Leben: „der Frühling . . . mir . . . ist er ungenossen vorüber gezogen mit all seiner Wonne."

Im übrigen berichtet die Erzählung nach geläufigen Vorbildern knapp davon, wie einer zufällig eine verlorene Braut befreit und in deren Entführer seinen Bruder tötet. Er wollte es nicht. Er ist subjektiv nicht schuldig. Und doch, die objektive Schuld wiegt schwer genug, so schwer, daß er und die Geliebte sich ermorden. „Der Vatermord"B4 ist eine dramatische Skizze. Sie ergänzt den „Brudermord" im Hinblick auf die Nachfolge der „Räuber", denen diese beiden Sünden ja als Hauptvergehen galten. — Treulosigkeit soll gutgemacht werden. Doch es ist zu spät, wie in der „Kindesmörderin". Vater, Mutter, Sohn stürzen sich gegenseitig ins Verderben, ohne es zu wissen und zu wollen. Ohne Wissen und Wollen wird abermals ein objektiver sittlicher Bezug verletzt: der Vater wird vom Sohn ermordet. Der sucht verzweifelt seine Schuld von sich zu wälzen. Nicht daß er wie Gomatzina auf seine subjektive Unschuld pochte. Die steht diesmal außer Frage. Er versucht jedoch wie Gomatzina, den wahren objektiven Sachverhalt willkürlich umzudeuten. Genauer, er verlangt von seiner Mutter, es zu tun. Sie soll dem Toten die Verzeihung nicht gewähren, sondern ihm als dem Verführer ihrer Unschuld fluchen. Das soll bewirken, daß er, der Sohn, nicht seinen Vater, den Gatten seiner Mutter, tötete, sondern einen Fremden strafte, der sich an seiner Mutter schuldig machte. Das ist Sophismus, Spiegelfechterei; und der Sohn weiß es. Er kann die Last der objektiven Schuld nicht von sich wälzen. Daß er sich so angestrengt darum bemüht, zeigt immerhin, wie schwer hier das Gewicht des objektiven Sittlichen empfunden wird, schwerer übrigens als von Gomatzina. Und herber als dort ist jetzt die Erbitterung, daß Gott selbst den Menschen mit objektiver Schuld belädt, der sub93

W VIII 6.

94

W V 31.

92

Zwischen Jenseits und Diesseits

jektiv nicht schuldig ist; überhaupt daß Gott den Menschen mit grausamer Willkür behandelt und nicht nach Verdienst. Diesmal drückt Hebbel solche Erbitterung, solche Zweifel an der Allgerechtigkeit unverhohlen aus. Die Mutter nimmt sich das Leben. Vorher ruft sie dem Pater noch zu: „ . . . . siehe, wie du die Ehre deines Gottes retten magst". Und selbst der Pater stöhnt zum Schluß: „Gott, ich bete dich an im Staube, aber mein Auge ist zu schwach, dem Faden deiner Weisheit zu folgen." Das also ist das Resultat von Hebbels Vorstoß auf das Diesseits. Das Verlangen nach dem vollen Leben blieb unerfüllt, genauso wie das Streben nach sozialer Geltung. Aber auch die Rückwendung zum Jenseits und zu Gott ist nicht mehr ohne weiteres vollziehbar. Man kann die N o t des Daseins idyllisch überhöhen; sie läßt sich dadurch nicht beseitigen. Man kann dem sittlichen Problem auszuweichen suchen oder wenigstens die Schuld vom Subjekt nehmen; das sittliche Problem, die objektive Schuld bleibt doch. Warum? 2. Das Idyll zwischen dem Paradies und der 1832

Natur

Für Hebbel hat das Dasein sich 1831 mehr und mehr verdüstert. Das war schon Ende 1830 so gewesen, als der erste Vorstoß auf das Diesseits mit dem „Mirandola"-Fragment zum Stehen und zum Scheitern kam. Darauf war Anfang 1831 für kurze Zeit das Pendel nach der andern Seite ausgeschlagen: zum Idyll. Und das geschieht auch jetzt, Anfang 1832, nach der Verdüsterung im Vorjahr. Von neuem macht sich Hebbel auf, ein Reich des seligen Vergessens zu entwerfen: als Paradies im Jenseits, als Natur im Diesseits, als dichterisches Reich des schönen Scheins. Schon die formalen Elemente der betreffenden Gedichte sind zwiespältig. Einmal stammen sie aus Uhlands Naturlyrik und zielen auf eine diesseitsverhaftete romantische Daseinsverklärung. Zum andern stammen sie aus Schillers sentimentalischer Lyrik und zielen auf eine jenseitsgerichtete Verklärung. Ein Reich der Verklärung, des schönen Scheins soll es in jedem Falle sein. Ob es ein Paradies im Jenseits oder im Diesseits sein soll, ist nicht deutlich. Doch auf diese Unterscheidung kommt es Hebbel eben auch nicht an. Schon bei der Jenseitsidyllik von 1829 kam es ihm auf das Paradies als eine Sphäre bloß des Schlafes und Traumes an. 1830/31 stattete er diese Sphäre immer mehr mit irdischen Motiven aus. Solche Motive kehren 1832 wieder. Sie behandeln weiterhin das Geschehen zwischen Mann und Frau, Mutter und Kind. Noch mehr als 1831 kreisen sie jedoch um das.

Das Idyll zwischen dem Paradies und der N a t u r

93

Todesthema, besonders um den Tod des Kindes, um den Schmerz über dessen Verlust — und um den Trost über dessen Eingehen in eine bessere Welt 9 5 . Solche Rückwendung zu einem sentimentalen Idyll soll offenbar vom Druck des Erdendaseins erlösen. Stellvertretend offenbart das der Untertitel eines Gedichtes: „Ein W o r t der Beruhigung für stürmende Herzen in stürmischer Zeit." Und programmatisch offenbart es das Gedicht „Musik"96. Musik senkt sich „freundlich-milde aufs Herz, wenn es im Sturm erbebt". Sie erschließt dem Herzen „Erinnerung und Hoffnung", zwei „göttliche Schwestern" 9 7 . Zu ihnen nimmt Hebbel seine Zuflucht wie 1829, während der ersten Phase seiner Jenseitsidyllik: „Und sicher verbirgt sich dann unter Dies kühlige, schirmende Dach Der Gegenwart flammenversengter U n d Stürmen erliegender Tag."

Es entspricht der neuen Wendung zum Idyll, wenn „Die drei großen Tage" neben Schöpfung und Weltende zwar das Jüngste Gericht feiern, aber als den Tag nicht des Gerichts, sondern der allgemeinen Vergebung 9 8 . An der Beziehung zum Jenseits ist nicht das Jenseits die Hauptsache, sondern der idyllische Charakter dieser Beziehung. Zum Idyll braucht man aber überhaupt nicht unbedingt das Jenseits. In Hebbels Ausfällen gegen die Kirche bereitet sich schon so etwas wie eine Ablehnung des Jenseits vor. In den „Glaubensstreitern" lehnt er bereits die Theologie der Konfessionen ab; den Gehalt der Religion könne man auch unmittelbar ergreifen 99 . Auf welche Weise, das lehrt das „Lied der Geister"100. Mit ungelenken allegorischen Analogien spricht es davon, wie die Naturgeister im Menschen wirken und wie sie allnächtlich zurückkehren „in ihr düsteres Gemach, wo tönet kein Jubel, kein Weh und kein Ach!" Es ist dasselbe Gemach des Schlafs und Traums, das allenthalben den melancholischen Trost ewiger Ruhe bescherte. N u r liegt dieses Paradies jetzt deutlich nicht im Jenseits, sondern im Schöße der Natur. Freilich ist es ein Unterschied fast nur dem Namen nach. Schlaf und R u h e in der Tiefe sind die Hauptsache, ob nun im Jenseits oder im Naturgrund. Bedenkt man allerdings, daß Hebbel herkommt von dem traditionellen Jenseitsglauben, so ist das Vorrücken auf die Metaphysik des Naturgrundes ganz unverkennbar. Ein Vorrücken zwar, das den Weg quer durch die Wirk-

95 96 97

W VII 76, 66, 7 8 ; J H II, S. 181. Das Kind, W VII 7 4 ; J H II, S. 174. 9 8 Ibid. 62. 9 9 Ibid. 65. W VII 65.

100

Ibid 63.

94

Zwischen Jenseits und Diesseits

lichkeit des Diesseits vermeidet, nachdem es hier schon einmal Schiffbruch litt, und statt dessen nur vorsichtig den Bereich des SpekulativIdeologischen erweitert, wo alles vage bleibt und der Zusammenhang mit der christlichen Ausgangsbasis notfalls immer wieder herzustellen ist. Andererseits gehen Himmel und Natur bei Hebbel lange schon ineinander über. Und im ganzen sieht es doch so aus, als sollte der metaphysische Seinsgrund sozusagen vom Himmel unter die Erde verlegt werden. „Gott" der Allmächtige und Allgütige wird vernommen durch die Stimmungen der Natur 1 0 1 . Die Gottheit ist hier erstmals Gottperson und Gottnatur zugleich. Das ist pantheistisch. Dem entspricht der mystische Schluß: „Da sauge ich, wie eine Biene A m Blumenkelch, an G o t t dem H e r r n . "

Das ist wohl dem Einfluß Schuberts zuzuschreiben 102 . Ihm verdanken die letztgenannten zwei Gedichte überhaupt sehr viel. Sie suchen Gott in der Natur und suchen das Natürliche zu heiligen. Darauf ist Hebbel ja seit langem aus. In „Mirandola" versuchte er's auf ethischem Gebiet. Metaphysisch konnte er das damals und auch 1831 nicht begründen. Jetzt, 1832, steht er im Begriff, eine derartige Begründung zu entwerfen. 1832 beginnt Hebbels Naturmetaphysik. Freilich bestimmt sie nicht sein ganzes Schaffen, sondern nur jene zwei Gedichte. Die andern haben immer noch sehr viel von Schiller, von Paradiesidyllik und von der Transzendenz des reinen Geistes. Die ses letzte Element will Hebbel einmal ganz für sich zum Ausdruck bringen, in der Erzählung „Der Maler"103. Ein alter Künstler wurde früher von seiner Frau betrogen und läßt nun an der Tochter seinen Weltschmerz aus. Hier wird Meister Anton erstmals vorgeformt. Der Alte lehrt, man könne nur einem dienen: der Kunst oder dem Leben, dem Geist oder dem Staub. Das entspricht dem Dualismus des Idealisten Schiller. Mit einer derartigen Spannung nahm Hebbel es bislang nicht auf. E r schloß sich Schillers Dualismus stets nur an, um desen Spannung aufzulösen zugunsten des Jenseits, des Geistes, des Idylls und auf Kosten des Diesseits, des Daseins, der Wirklichkeit, denen er entfliehen wollte. — Wie also mag er jene Lehre umsetzen in die Praxis? Der junge Raphael scheint ihr genau zu folgen. Er widmet sich der Kunst, entsagt dem Irdischen. Aber — er tut es unfreiwillig. Und er bleibt auch nicht dabei. Vielmehr verliebt er sich in seines Meisters Töchterlein. Ja schließlich soll gerade diese Liebe ihm den Preis des 101

Ibid. 77.

102

Liepe: Beiträge, S. 150.

103

W VIII 8.

Das Idyll zwischen dem Paradies und der Natur

95

Himmels sichern. Und der Preis des Himmels soll wieder der Besitz der Liebsten sein. Des Meisters Theorie einer scharfen Scheidung zwischen Geist und Leben wird also in der Praxis nicht befolgt. Hebbel wünscht ein Reich von paradiesischer Vollkommenheit, wo der entschädigt wird, der leer ausgeht auf Erden. Er beschwört dieses Reich als ein Reich des schönen Scheins, aber als ein Reich, das nochi weniger als früher seinen Hauptgehalt vom Jenseits entlehnt. Vielmehr ist es jetzt noch mehr als sonst ein potenziertes Diesseits, ein Reich von Gnaden des Natürlichen. Gleichwohl bleibt es ein Idyll. Der Zug zur Immanenz und zum Naturgrund ist ja durchaus kein Zug zur Wirklichkeit. Ihr weicht der Schreiber gerade aus. Zum Ideal vermag er sich nicht aufzuschwingen, doch mit der Wirklichkeit nimmt er es genausowenig auf. Er flüchtet in den schönen Schein. D o r t gibt es weder ideale Forderungen noch die N o t des Wirklichen. Schiller stellte sich gemeinhin beiden. Gelegentlich aber suchte er ihnen ebenfalls in seiner Dichtung zu entfliehen. So gibt „Das Ideal und das Leben" die Positionen Hebbels mit ihrer inneren Dynamik ganz entsprechend wieder, wenn die innere Haltung auch entschieden nicht die gleiche ist. „Wollt ihr schon auf Erden Göttern gleichen, Frei sein in des Todes Reichen, Brechet nicht von seines Gartens Frucht! An dem Scheine mag der Blick sich weiden; Des Genusses wandelbare Freuden Rächet schleunig der Begierde Flucht."

Das lehrt auch Hebbels Maler. Doch er macht wohl mehr aus der N o t eine Tugend, aus dem Getrenntsein von der Lebensfülle ein Ethos der Entsagung, angeblich um des Geistes willen. Dazu ist er aber gar nicht fähig, so wenig wie sein Schöpfer. Der müßte eher tun, was Schiller dann in zweiter Linie einräumt: „Wenn der Menschheit Leiden euch umfassen, . . . Da empöre sich der Mensdi! Es schlage An des Himmels Wölbung seine Klage U n d zerreiße euer fühlend H e r z ! Der N a t u r furchtbare Stimme siege . . . U n d der heil'gen Sympathie erliege Das Unsterbliche in euch!"

Doch auch der notvollen Begegnung mit dem Wirklichen weicht Hebbel aus. Er flieht, wie zuletzt Schiller in dem Gedicht, in ein Reich des schönen Scheins, in die „ . . . heiteren Regionen, Wo die reinen Formen wohnen." Dort „Rauscht des Jammers trüber Sturm nicht mehr . . .

96

Zwischen Jenseits und Diesseits Auf der Donnerwolke duft'gen Tau Schimmert durch der Wehmut düstern Schleier Hier der Ruhe heit'res Blau."

Genau darum geht es Hebbel: um ein Idyll, um eine Fluchtburg. Ob die legitim ist vor dem Jenseits oder dem Diesseits, vor Transzendenz oder Immanenz, vor dem Paradies oder der Natur — das ist nicht so wichtig. Hebbel will die Scheidung und die Unterscheidung ja sogar vermeiden. Er sucht beide Gegenpole zu umfassen und gelangt dabei zu einem Reich des schönen Scheins, das metaphysisch nicht zum Paradies gehört und nicht zur Natur, das vielmehr zwischen beiden schwebt, eben als ein Reich des wesenlosen Scheins, als ein Idyll.

3. Ordnung des Jenseits und Ordnung des Judithmotiv b und Golomotiv b

Diesseits.

Solch großzügige Vereinigung des Unvereinbaren ist möglich nur als ideologische Konstruktion. Anders ist es, wenn man ausgeht von der konkret-realen Situation des Menschen. Sie zwingt zur ethischen Entscheidung. Und die ethische Entscheidung wird gegebenenfalls zur metaphysischen Entscheidung; dann nämlich, wenn sie getroffen werden soll als Entscheidung zwischen Jenseitswert und Diesseitswert, nach der Ordnung entweder des Jenseits oder des Diesseits. So ist die Alternative beschaffen in der patriotischen Freiheitsdichtung „Die Schlacht bei Hemmingstedt°104. Genauer handelt es sich um das Dilemma zwischen Gottes Auftrag und der Stimme der Natur, um das Dilemma, vor dem auch Schillers Jungfrau steht und später Hebbels Judith. Jetzt steht davor ein Mädchen, das laut Uberlieferung im Dienste Gottes die Dithmarschen zu Sieg und Freiheit führte 105 . Hebbel erfindet, daß dieses Mädchen, die Fahne in der Hand, an der Spitze des Heeres gegen die Feinde zieht. Ein Jüngling rettet es vor tödlicher Gefahr und läßt selbst dabei sein Leben. Sterbend erst bekennt er seine Liebe. Darauf geschieht etwas sehr Uberraschendes. Die Jungfrau, die sich Gott geweiht hat zur Befreiung ihrer Heimat, senkt die Fahne der Gemeinschaft zum Zeichen ihrer ganz privaten Trauer und ihres sehr irdischen Kummers. Sie kehrt um und weint sich aus. Sie überläßt das Heer sich selbst. Sie kümmert sich weder um die Schlacht noch um die Freiheit noch um Gottes Auftrag. Sie tut, was sie zu tun hat als weibliches Wesen, was sie hier zu tun hat nicht von Gott aus, sondern von Natur. 104

w

V I I

9 0

105

w

X I V

3 1 1

Ordnung des Jenseits und Ordnung des Diesseits

97

I m G r u n d e fällt da eine E n t s c h e i d u n g v o n beträchtlichem Gewicht. D i e D i c h t u n g läßt das freilich f a s t vergessen. Sie m a c h t d a v o n kein A u f h e b e n s . Sie geht d a r ü b e r schlicht h i n w e g u n d r ä u m t d e m M o t i v b l o ß episodischen R a n g ein. G e r a d e die Selbstverständlichkeit, m i t welcher es v e r w e n d e t wird, u n d ebenso die Selbstverständlichkeit, m i t der das M ä d c h e n sich v o n G o t t e s A u f t r a g l o s s a g t u n d z u der N a t u r bek e n n t — sie beweisen, wie die R a n g o r d n u n g der hier in F r a g e stehend e n W e r t e u n d ihrer m e t a p h y s i s c h e n I n s t a n z e n sich f ü r H e b b e l ausn i m m t . Sie n e h m e n der D i c h t u n g die religiöse Weihe, die ihr t h e m a tisch z u k o m m t . Ähnliches geschieht auch sonst. U r s a c h e des Sieges ist nicht der religiöse F a k t o r , s o n d e r n d e r herrische Sinn, die K r a f t , die T a p f e r k e i t der M ä n n e r u n d F r a u e n D i t h m a r s c h e n s . H e b b e l s p ü r t o f f e n b a r nicht i m geringsten, daß er hier f ü r die N a t u r u n d d a m i t gegen G o t t entscheiden läßt, daß er selber da eine r e v o l u t i o n ä r e E n t s c h e i d u n g m i t v o l l z i e h t . E s ist g e n a u s o wie in „ R o s a " . A u c h d o r t v e r s t a n d es sich v o n selbst f ü r H e b b e l , daß d e r E r l ö s e r g o t t das sittlich G u t e billige, selbst w e n n es n u r e i n e m E m p f i n d e n g e r m a nischer P r o v e n i e n z als g u t galt u n d christlichem E m p f i n d e n gerade widerstritt. Entsprechend, nur noch tiefergreifend, läßt er nun einen Menschen k l a r u n d selbstverständlich f ü r ein E t h o s des N a t ü r l i c h e n u n d gegen G o t t e s A u f t r a g sich entscheiden — o h n e d a ß d a m i t irgendein K o n f l i k t h e r a u f b e s c h w o r e n w ü r d e . G o t t e s Beifall w a r d e m G e schehen ja l a u t Ü b e r l i e f e r u n g gewiß. D e n W i d e r s p r u c h d a z u , den H e b b e l selber erst in das Geschehen legt, h a t er offensichtlich nicht e m p f u n d e n . D o c h u m s o klarer h a t er a u s g e d r ü c k t , wie er i m G r u n d e z u den beiden P o l e n seiner W e l t a n s c h a u u n g s t a n d . D a s g e h t auch aus der Räuberbraut h e r v o r 1 0 6 . H i e r gilt z w a r , d a ß der V e r t r e t e r des N a t ü r l i c h e n den Beifall G o t t e s nicht hat, v i e l m e h r sich G o t t e s Z o r n zuzieht — jedoch n u r deshalb, weil er das N a t ü r l i c h e in einem S i n n verficht, der auch g e r a d e der O r d n u n g der N a t u r z u w i d e r l ä u f t , i m Sinne des leidenschaftlichen V e r l a n g e n s nämlich nach einer F r a u , die er nicht b e r ü h r e n d a r f , also i m S i n n e G o m a t z i n a s u n d später G o l o s . Wie diese b e i d e n m a c h t auch G u s t a v der W e l t o r d n u n g u n d G o t t d a r a u s einen V o r w u r f , d a ß sein V e r l a n g e n nicht e r f ü l l t w i r d . Wie G o m a t z i n a g i b t er die A l t e r n a t i v e zwischen Sittlichkeit u n d S i n n lichkeit als eine „ h o r i z o n t a l e " aus, die rein nicht l ö s b a r , also tragisch sei. In der „Schlacht bei H e m m i n g s t e d t " k a m der G e g e n s a t z zwischen der N a t u r u n d G o t t innerhalb des Wesens g a n z v o n selbst z u s t a n d e , o h n e daß seine tragische S p a n n u n g b e m e r k t u n d beabsichtigt w o r d e n wäre. G u s t a v dagegen b e m ü h t sich wie G o m a t z i n a u n d d a n n G o l o v o r xoe 7

w

v f f l

16

ff-

Wittkowski, Hebbel

98

Zwischen Jenseits und Diesseits

sätzlich und krampfhaft darum, eine soldie Spannung innerhalb des Wesens, zwischen den in Frage stehenden Wertpositionen, zu konstruieren, um sein verbotenes Verlangen zu legitimieren. Der Versuch scheitert auch hier. Aber während Hebbel solches Scheitern bei Gomatzina nur indirekt, nämlich im Fragmentbleiben des Stückes, zugibt, gesteht er es bei Gustav offen ein. Die Erzählung hat neben den „Räubern" noch Schillers „Verbrecher aus verlorener Ehre" zum Vorbild. Da geht es um einen Menschen, der ungeschickt und ungerecht behandelt wird und dadurch in Opposition zur Gesellschaft gerät. Wie schon mit den „Räubern" will Schiller hier Verständnis wecken für die Motive und das Schicksal eines Unglücklichen, Verstoßenen, der wie Karl Moor als Hauptmann einer Räuberbande an der Welt sein Radiewerk vollzieht, sich schließlich aber unterwirft. Es mußte Hebbel aus der Seele gesprochen gewesen sein, wie hier die Umwelt angeklagt, wie der Übeltäter psychologisch verstanden und entschuldigt wird, wie er ausgeschlossen ist von der Gesellschaft und vom Leben, und wie er gegen sich selber wütet: „Alle Menschen hatten mich beleidigt, denn alle waren besser und glücklicher als ich. Ich betrachtete mich als den Märtyrer des natürlichen Rechts." „Das Andenken alles Ungemachs, aller Verfolgungen . . . erwachte . . . , alle Wunden bluteten wieder, alle Narben gingen auf . . . es erquickte mich im voraus, meine Feinde durch meinen plötzlichen Anblick in Schrecken zu setzen, und ich dürstete jetzt ebenso sehr nach neuer Erniedrigung, als ich ehemals davor gezittert h a t t e . " 1 0 7

Das Geschehen spielt bei Hebbel wieder im Dreieck zwischen einer Frau und zwei Männern. Der abgewiesene Gustav will sich und das Mädchen vernichten. Er ist ein Nachfolger Gomatzinas und ein Vorläufer Golos. Jene beiden hat Hebbel mehr entschuldigt als verurteilt. Einzig diesen Gustav kritisiert er so, wie dieser und wie die andern zwei es auch verdienen: „Gustav war . . . ein sehr leidenschaftlicher Mensdi, eine von denjenigen Naturen, die gut geblieben sind, weil keine Umstände sie schlecht gemacht haben und deren Tugend u m deswillen auf Sand gebaut ist." Seine Werbung wird abgewiesen. „ D a — und bei seinem Mangel an Grundsätzen mußte er es — zerfiel er im Innersten mit sich selbst; Selbstmord war sein erster, Rache gegen das Mädchen sein zweiter Gedanke. ,Eine Hölle ist mir zuteil geworden — ich -will sie verdienen!'" 1 0 8

Selbstmord- und Rachegedanken bewegen auch Schillers Verbrecher. U n d der sagt auch dieses: „Ich wollte mein Schicksal verdienen" 1 0 9 , ein Argument, das später wieder Golo vorbringt. — Gustav ist mit der 107

Schiller: Sämtliche Werke V, S. 18 f.

108

W VIII 21.

Ordnung des Jenseits und Ordnung des Diesseits

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Welt zerfallen. Er tritt einer Räuberbande bei. Zu spät erfährt er, daß Viktorin, sein glücklicher Rivale, die Bande führt. Das ist der technische Ausweg, der dem „Mirandola" hätte weiterhelfen können und der die „Räuberbraut" zu einer Art Fortsetzung des Fragmentes macht. Ohnehin ist Gomatzina ja zusammen mit Franz Moor das Vorbild Gustavs, wie Mirandola mit Karl dasjenige Viktorins. Auch Viktorin ist mit der Welt zerfallen, und zwar weil er „die mehr als eben nötig fruchtbare Mätresse des Fürsten" ausschlug. Von fern erinnert das an „Kabale und Liebe", weit eher an das Angebot, das der ehrenwerte Kirdispielvogt seinem Schreiber machte 110 . Im übrigen wimmelt es von Parallelen zu „Mirandola", zum „Vatermord", den ja das Motiv der verlorenen Ehre an die Novelle Schillers knüpft, und zu den „Räubern". Wie Spiegelberg gegen Karls Edelräubertum opponiert, so Gustav gegen Viktorins. Wie Gomatzina seinem Nebenbuhler Treue schwört, so Gustav Viktorin. Wie Karl sich durch den Mord an Amalie von der Horde losmacht, so löst Gustav sich von seinem Hauptmann, indem er einen andern totschlägt. Er rettet damit Viktorin das Leben und läßt sich zum Lohn dafür von seinem Eid entbinden — um keinen Meineid zu begehen, wenn er den Verhaßten nun erdolcht. Dieser sophistische Formalismus ähnelt dem des Vatermörders. Die objektiv-sittlichen Bezüge sollen umgedeutet werden zugunsten des Subjekts. Das ist unredlich, zeugt andererseits jedoch vom lastenden Druck der objektiven Ordnung. An die gekränkte Ehre des Vatermörders und des Schillersdien Verbrechers erinnert es, wenn Gustav dem Sterbenden noch höhnisch eine frühere Beleidigung ins Gedächtnis ruft, die nun gerächt sei. Wie Franz Moor den Tod des Bruders zu erweisen sucht, indem er dessen angeblichen Degen vorzeigt, so bringt Gustav der unglücklich Geliebten den Kopf des ermordeten Gatten. Und wie Franz Moor Amalie Gewalt zu tun versucht, so Gustav der begehrten Frau. Die entzieht sich seiner Nachstellung und endigt ihr ohnehin zerstörtes Dasein durch einen Sprung aus dem Fenster. Gustav aber „ballte die Hand gegen den Himmel und stürzte sich" nach. Auch diesmal wird Gott angeklagt als derjenige, der an allem schuld ist. Doch diesmal wird kein Hehl daraus gemacht, daß der Kläger selbst auf die Anklagebank gehört. Damit fällt ein Lidit auch auf die übrigen Kläger. Sie alle ziehen die sinnvolle Weltordnung ja nur in Zweifel, um böses Wollen zu beschönigen. „Die Räuberbraut" endet also, wie die Ordnung es erheischt. Der Gegner Gottes wird vernichtet. Doch Hebbel 109

7*

Schiller: a.a.O., S. 21

110

B V 175.

100

Zwischen Jenseits und Diesseits

interessiert sich wie in jenen anderen Fällen nur für den Gegner Gottes, für den Vorkämpfer des Natürlichen. Der hat sein Recht, auch wenn er gegen G o t t steht. Hier meldet abermals die Rangordnung, die der herkömmlichen widerstreitet, ihren Anspruch an. U n d wie bei allen Gestaltungen des Golomotivs ist Hebbel sich des Widerspruchs vollauf bewußt, will er dem Anspruch auch der neuen Rangordnung gerecht werden. Zwar gibt er der gottbezogenen Sittlichkeit das Ihre; er läßt Gottes Ordnung siegen — zumal sie ja zugleich die ewige Ordnung der Natur ist. Andererseits zollt er aber auch dem Anspruch des Natürlichen Tribut. E r fühlt nahezu ausschließlich mit dem Gegner Gottes und des Sittlichen. Diesen inneren Konflikt läßt er hier allerdings nicht so offen ausbrechen wie in „Mirandola". E r fühlt, daß die Position des Natürlichen zu schwach ist. Bei Gomatzina war der Fehler, daß er auch vor der Natur sich schuldig machte. Nachdem Hebbel diesen Fehler dann mehrfach gemeistert hat, tritt er ihm bei Gustav um so deutlicher vor Augen. E r kann nicht anders, als den Konflikt auf die hergebrachte Weise zu entscheiden. Dennoch ist es offenbar, daß die Spannung seines Weltbildes, die Spannung zwischen Jenseits und Diesseits, zwischen Himmel und Natur, ungelöst bestehenbleibt. Gelegentlich setzt er sich mit dieser Spannung offen auseinander, mit der Diskrepanz zwischen dem Gegebenen und der Jenseitsideologie und fortan auch mit der Diskrepanz zwischen realistischer und idyllischer Betrachtungsweise. So feiert er Erinnerung nicht nur als Weg zu seligem Vergessen, sondern lehnt sie auch ab als böse Fei, die den Wanderer auf jene Weise gerade ins Verderben lockt 1 1 1 . Die Vertröstung auf die Jenseitsfreuden, von denen „Musik" zu melden wußte, weist er glatt ab, ja er entlarvt sie als Ablenkungsmannöver der politisch Mächtigen 1 1 2 . So schwankt Hebbel hin und her zwischen Jenseits und Diesseits, zwischen Paradies und Naturgrund, zwischen Schein und Wirklichkeit. Mit Schubert betrachtet er den Menschen noch als einen Vogel, der zum Jenseits zieht. Doch mit Feuerbach erhebt er schon die bange Frage: „Und reine Luft Und süßer Duft — Sie wurden wirklich sein G e w i n n ? " 1 1 3

Das Jahr endet mit einem trostlosen Fazit: das Leben zerstört die Hoffnungen des jungen Menschen. Es „gleicht der Sphinx . . . sein Rätsel kannst du nicht verstehen. U n d in des Zweifels Molocharme legt 111 113

W VII 68. 1 1 2 Ibid. 79. Der Glaube. Das Fragezeichen mit J H II, S. 252, nach dem Erstdruck. Vgl. Liepe: Beiträge, S. 175.

Ordnung des Jenseits und Ordnung des Diesseits

101

es dich hinein . . . " 1 1 4 . Liepe sagt: „Das Jahr 1832 ist in der inneren Entwicklung Hebbels das Jahr des Zweifels. Schritt um Schritt werden wir Zeugen seines Hin-und-her-geworfen-Werdens zwischen der alten und der neuen Wahrheit", zwischen „Transzendenz" und „Immanenz", zwischen „Schubert und Feuerbach" 115 . An Schubert und Feuerbach orientiert sich die Auseinandersetzung aber nicht allein. Was die dichterische Gestaltung angeht, so ist neben Uhland nach wie vor das maßgebliche Vorbild Schiller, und zwar für die neue Wahrheit ebenso wie für die alte. Will man Hebbels Ringen 1832 mit Namen umreißen, so kann man es also ebensogut kennzeichnen als Hin und Her zwischen Schiller und Schiller, zwischen Schiller, dem Idealisten und Idylliker, und Schiller, dem Realisten und Immoralisten. 114 115

A n einen Jüngling, W VII 81. Liepe: Beiträge, S. 173 f.

VI. Die Zweiheit des Göttlichen 1833/34 1. Gottnatur und 1833

Mystik

1833 verstärken sich die Spannungen in Hebbels Weltbild. Auf beiden Wegen, die er eingeschlagen hat, stößt er weiter vor. Er begehrt auf gegen die „vertikale" Rangordnung von Sittlichkeit und Sinnlichkeit, wie sie herkömmlich auf Gott bezogen ist. Er schaut sich um nach einem Reich des Schlafs, des Traums, der Ruhe, des Vergessens. Eine solche Welt sudite er einst im Jenseitsparadies, später auch in der Natur, 1832 in beiden, gemeinhin ohne den Unterschied und Gegensatz zwischen ihnen zu bemerken oder wenigstens, ohne ihn hervorzuheben. N u r zuweilen meldete sich das Wissen um die lauernden Konflikte. 1833 nun erwacht es vollends. Hebbel tritt entschlossen in die Auseinandersetzung mit den beiden Dimensionen seines Weltbildes, wobei das Pendel öfter nach der Seite der Natur ausschlägt, manchmal aber auch nadi der des Jenseits. Mit der Naturmetaphysik begann er im vergangenen Jahr. Jetzt sucht er sie noch zu vertiefen. Naturalismus (später „Der Mensch" 116 ) formuliert eingangs die Alternative: Ist der Mensch „ein neues schönres Leben", das seinen Gipfelpunkt in Gott erreicht? Oder ist er aus „der dunklen Kraft" des schöpferischen Naturgrundes hervorgegangen, ist er ein Wesen wie die Dinge der Natur? Den Autor scheint die zweite Möglichkeit zu faszinieren. Freudig überläßt er sich der Vorstellung, der Mensch sei „von jedes Lebens reinster Flut aufs innigste durchdrungen". Dasselbe sei es, was seine Brust als Seele fülle, das Pferd zu stolzem Laufe treibe, zu süßem Lied die Nachtigall. Wäre dem so, dann würde gelten, was das „Lied der Geister" lehrte, daß nämlich menschliches Dasein auf der Wirkung von Naturkräften beruhte: „Natur, als Schwester dürft' ich dich alsdann im Herzen tragen." Der Mensch wäre „in die Natur verwoben", mit ihr verwandt wie mit einer leiblichen Schwester. Wenn er stürbe, würde er im Schoß der ii« w VII 107.

Gottnatur und Mystik

103

Schwester ruhen — die eben nidit bloß Schwester wäre, sondern auch Mutter. Der scheinbare Widerspruch ist leicht zu lösen. Unter der Schwester hat man wohl die konkreten Einzelerscheinungen der Natur zu verstehen, deren eine der Mensch darstellt, unter der Mutter die dunkle schaffende Kraft, die alles einzelne hervorbringt: das kosmische Ganze mit seiner wirkenden Gesetzlichkeit; den Naturgrund. Um ihn vor allem geht es hier, um den metaphysischen Bereich des Diesseits, um die göttliche Natur. Liepe legte dar, wie Hebbel sich hier abmüht, Feuerbachs mit Schuberts Weltbild zu vereinen, wie die Immanenz des ersten sich zunehmend durchsetzt gegen die Transzendenz des zweiten 117 . Freilich, die Alternative zwisdien beiden Positionen wird nur der Möglichkeit nach aufgelöst zugunsten der Natur. Verstandesgemäß-ideologisch hat Hebbel sich noch nicht entschieden. Klar ist nur, wohin ihn Gefühl und Neigung ziehen. Übrigens mag Schiller auch diesmal Vorbild sein, nicht bloß was den reflexionspoetischen Charakter des Gedichts angeht, sondern auch im Hinblick auf die Verherrlichung der Natur. Heißt es doch in den „Idealen": „So schlang idi midi mit Liebesarmen U m die N a t u r mit Jugendlust, Bis sie . . . meines Herzens Klang verstand; Da lebte mir der Baum, die Rose, Mir sang der Quellen Silberfall, Es fühlte selbst das Seelenlose Vor meines Lebens Widerhall."

Das klingt ähnlich wie bei Hebbel. Doch es herrscht hier stürmische Bewegung auf die Natur hin, aktive Belebung dessen, was an sich kein Leben hat. Hebbel empfindet da eben doch ganz anders: „Natur, als Sdiwester dürft' idi dich Alsdann im Herzen tragen, Ich würde, Sdiwester, midi durch didi U n d dich durdi mich verstehen . . . Da war' mir jeder West ein Gruß, Womit du mich entzücktest, U n d jeder kühle Trank ein Kuß, Womit du midi entzücktest, Und Luft und Duft ein süßer Haudi Aus deinem Schwestermunde, U n d jeder blütenvolle Strauch Von deiner Huld' ein' Kunde."

Natur steht hier viel höher als bei Schiller. Nicht sie gewinnt durch den Menschen, sondern umgekehrt der Mensch durch sie. Hebbel will 11T

Liepe: Beiträge, S. 181 ff.

104

Die Zweiheit des Göttlichen

nicht die Natur beleben, sondern sich von ihr durchfluten lassen, um erst zu echtem Leben zu erwarmen. Heilig ist ihm die Natur. Andächtig, demütig steht er vor ihr, nicht gebend, sondern empfangend. Sein Verhalten ist nicht einseitig aktiv. Es ist aktiv und passiv zugleich. Es ist in solchem Sinne mystisch. Wie die meisten Gedichte des jungen Hebbel endet auch „Naturalismus" mit einem tröstlichen Hinweis auf die Sphäre der Ruhe, des Vergessens. Sie war ja immer schon neben dem potenzierten Diesseitscharakter das Wichtigste an Hebbels besserer Welt, an dem Idyll, das einst als Jenseitsparadies zu denken war und später als Naturgrund. 1833 wird es in der letzten Richtung weiter ausgestaltet; und auch die Medien zu dieser besseren Welt werden eingehender behandelt: Tod und Schlaf, Traum und Kunst. Der Traum macht höchste Schönheit sichtbar. Er wirkt genauso wie die Kunst. Wesenhaft gesteigertes Dasein ist wie ein Traum oder wie ein Kunstwerk 118 . Im Kunstwerk verweben sich „in ein zaubrisch Gefild der Himmel und die Erde". Und zwar so, daß der Himmel überflüssig wird. Verwandelt sich im Kunstwerk doch die Zeitlichkeit des Daseins schon zur Ewigkeit des objektiven Geistes: „Und eines Himmelreichs bedarf sie nicht — Sie hat in deinem ewigen Gedicht Das zweite, sdiönre Leben schon genossen." 1 1 9

Genauso verzichten audi die „Toten" auf das Jenseitsparadies120. Sie „ . . . liegen hier unten In kühler Nacht . . ., Nicht brauchend den Himmel, Den Gott . . . verhieß".

Die bessere Welt ist hier verlegt vom Jenseits in das Diesseits, vom Himmel in die Erde. Tod und Schlaf, Traum und Kunst führen zu ihr hin: „Schläft es sich auf dir so süß, Erde, wie sollte nicht süß auch in dir der Schlummer s e i n ! " 1 2 1 „Wenn der Mensch schläft, so ist er wieder, was er sein soll, das Meisterstück der Natur, . . . der ewigen Mutter, . . . (die) mit der Gottheit korrespondiert." 1 2 2 „O Musik, heilige Stimme der Natur, . . . du führst den Geist in schwindelndem Fluge bis an seine Grenze, aber nur weil diese Grenze der Anfang Gottes i s t . " 1 2 3

118

119 120 121 122 123

Der Traumgott, W VII 9 6 ; Bei Betrachtung einer schönen Statue, J H II, S. 194; Endymion, der ewig Schlummernde, J H II, S. 194. An L. Uhland, W VII 99, Vgl. Liepe: Beiträge, S. 176 ff. J H II, S. 163, Vgl. Liepe: Beiträge, S. 175 f. Ein Mittag, W VII 101 Die einsamen Kinder, J H II, S. 83. Ibid. S. 89.

Gottperson und Sittlichkeit

105

Das entspricht der Konzeption, die schon „Des Greises Traum" enthielt. Gott ist nicht die göttliche Natur. Er steht neben ihr, doch so, daß sie zwischen ihm und dem Menschen steht. Die Gottnatur steht dem Menschen also näher, näher als die Gottperson. 2. Gottperson und Sittlichkeit. Judithmotiv c und Golomotiv c Hebbels Naturmetaphysik und -mystik entwickeln sich nicht selbstherrlich in einem gewissermaßen luftleeren ideologischen Bereich, sondern im Zusammenhang mit den beiden Tendenzen, die Hebbels Dasein hauptsächlich bestimmt haben: mit der Sehnsucht nach dem Leben und mit der ängstlichen Flucht vor den Problemen dieser Welt. Der zweiten Tendenz gehören sie insofern an, als sie der Flucht in eine bessere Welt ebenso dienen, wie es von Anfang an die Jenseitsidyllik tat. Zur ersten Tendenz gehören sie, indem sie der herkömmlichen ideologischen Überhöhung des Lebens durch eine bessere Welt gerade widersprechen und mit zunehmendem Nachdruck der Heiligkeit des Irdisch-Natürlichen das Wort reden: damit aber auch der Autonomie des Menschen und einer illusionslosen, kritisch-realistischen Daseinsbetrachtung. Beide Tendenzen — zur Weltflucht und zur Wirklichkeitsbejahung — streiten auch während der weiteren Entwicklung miteinander. Hebbel will seinem Hang zu idyllisierender, verklärender Ästhetisierung mit einem klaren „Lebewohl" begegnen124. Man soll die Menschen nicht mit einem schönen, falschen Schein umgeben, sondern sie sehen, wie sie sind. Noch liegt das Ziel in weiter Ferne. So erscheint die Liebe einmal als ätherische Anbetung, dann wieder unter spöttischem Protest dagegen als Streben nur nach leiblicher Vereinigung125. Wer um die Not des Daseins weiß und trotzdem entschlossen ist, das Wirkliche zu nehmen, wie es ist, der hält auch etwas von sich selbst. Hebbel erklärt das Selbstgefühl zur Mitte der Existenz 126 . Das tut sich auch kund, wenn er sich beschwert, die Freunde vernachlässigten ihn: „Du kennst mich und weißt, wie leicht ich in dieser Hinsicht verletztlich bin" 127 . Nach wie vor fühlt er sich bestimmt zum Dichter, will er um jeden Preis dieses Ziel erreichen, sehnt er sich nach anderen Verhältnissen, um seine Kräfte voll entfalten zu können 128 . Erneut strengt er sich an, 124 w 125 126 127 128

VII

97

Die Jungfrau, Die Liebhaber, W VI 199, VII 101. Widmungsgedidit, W V I I 107. B I 21. Entschuldigung!, W VII 87.

106

Die Zweiheit des Göttlichen

von Wesselburen fortzukommen. Er, der spöttisch herzieht über die Titeljäger 129 , weiß diese menschliche Schwäche doch geschickt f ü r sich zu nutzen. Gründlich informiert er sich über die Titel und sonstigen Eitelkeiten Oehlensdilägers, um sein Bittgesuch an ihn möglichst wirkungsvoll abfassen zu können 130 . Kommt es doch im Leben darauf an, die jeweils gegebene Situation dem eigenen Interesse nutzbar zu machen mit den Mitteln, die dazu zur Verfügung stehen 131 . Wer die Welt realistisch sieht, der weiß sich nicht bloß auf sie einzustellen. Vielmehr erkennt er darüber hinaus an, daß das Leid, welches er zu dulden hat, nicht von der Welt allein verursacht wird, sondern auch von eigenem Versagen. Und er weiß auch, daß das Leid dem Leben Größe und Substanz verleihen kann. So r u f t das Sonett „Was midi quält"132 dem zwiespältigen Dasein ein freudigtrotziges Ja entgegen. Beständiges Glück wäre sogar „das gräßlichste Geschick". N u r das eine quält den Sprecher: Er kann kein Glück eigentlich haben — nicht weil es das grundsätzlich nicht gäbe, sondern weil er alles verzehren muß mit seiner hemmungslosen Leidenschaft. Wer geredit ist gegen die Welt, wird sein Unglück nicht mit der Spekulation einer Antinomie von Wirklichkeit und Wesen rechtfertigen wollen. Der weiß z. B., daß Untreue dem grundsätzlichen Anspruch und Wert von Treue keinen Abbruch tut, sondern bloß mit der Unzulänglichkeit des betreffenden Menschen steht und fällt: „— und bist du audi betrogen, So war's das Mäddien nur, die Liebe nidit, die trog".

Wer so bewußt und selbstbewußt einer realistischen Lebensbetrachtung huldigt, der kann auch mancherlei Enttäuschungen herunterschlucken. Und er kann sich selber sagen: Wenn zuletzt du darfst „zu Bette gehn", so könnte „ . . . Gott selbst dir einen Himmel bieten, Du — hast nidit Lust, ihn anzusehn!" 133

Das ist 1833 die dritte ausdrückliche Abkehr von Gott. Sie gibt sich stark und sicher. Doch sie ist es nicht. Wie Hebbel denn mit seinem Realismus überhaupt nicht weit kommt und immer wieder Zuflucht sucht bei den verklärungschaffenden Elementen seiner Naturmetaphysik und sogar bei der Jenseitsidyllik. Da heißt es einmal, wie schon früher, Gott werde dem toten Geliebten einst die Dulderkrone geben. Immerhin wird das nun abhängig gemacht von der Haltung des im Diesseits zurückbleibenden 129 131 132

Titel und Tittel, W VII 96. Bild der Freiheit, W VII 87. Ibid. 98. 1 3 3 Ibid. 98.

130

B I 22 f.

Gottperson und Sittlichkeit

107

Mädchens 134 . Wie noch 1832 rufen die Aphorismen die Erinnerung an. Als trostreicher Engel umhüllt sie das rauhe Hier und Jetzt mit dem Schleier der Vergangenheit und löst alles auf ins milde „Grau der Dämmerung" 1 3 5 . Nach alledem hat Hebbel durchaus noch nicht Posto gefaßt im Diesseits. Die Naturmetaphysik und -mystik bieten keinen Halt. Bieten sie doch gleichfalls ein Idyll, das von der Wirklichkeit und ihrer Problematik letzten Endes absieht, besonders vom Problem des Sittlichen. Das Sittliche bleibt auch 1833 noch ganz unproblematisch, sofern es auf der Linie des Judithmotivs erscheint, obwohl hier — wie schon in „Rosa" und der „Schlacht bei Hemmingstedt" — ein Empfinden vorchristlich-germanischer Provenienz herrscht, ein Empfinden, das mit der Moral des Christentums nicht zu vereinen ist. Das gilt von „Ritter Fortunat"136. Hier bringt die Frau den ungetreuen Mann dazu, erst sie zu töten und dann selbst vor Gram zu sterben. Dieser Racheakt wandelt das Juidithmotiv in Richtung auf Mariamne hin ab. Wie Rosas Rache verstößt er gegen die Moral des Christentums. Doch wiederum versteht es sich von selbst f ü r Hebbel, daß solches Racheethos gut ist und den Beifall Gottes, des Richtergottes hat. Ist G o t t ihm doch die Autorität f ü r das Sittliche schlechthin, also auch f ü r seine vor- und widerchristliche Moral des Racheethos. Andererseits wird nun die Autorität der Gottperson wie überhaupt die Gottperson doch problematisch. U n d zwar taucht solche Problematik da auf, wo auch das Sittliche als Problem bewußt wird. Das galt bisher von den Gestaltungen des Golomotivs. So auch jetzt. Doch diesmal geht es dabei nicht so sehr um das Sittliche. Die beiden Rangordnungen, wonadi das Sittliche einmal über, das anderemal unter der Sinnlichkeit stand, erwiesen sidi als unvereinbar. Die Orientierung an der einen brachte Golos Vorläufer immer wieder in Schuld vor der anderen, in die Sünde vor Gott. Das wird jetzt bereits vorausgesetzt, wie ja auch „Die Räuberbraut" darauf verzichtete, die Berechtigung der Rangordnungen zu diskutieren. Es k o m m t auf das an, was in „Mirandola", im „Vatermord" und in der „Räuberbraut" erst nach dem sittlichen Problem kam: auf den Protest gegen Gott, ja sogar auf die Problematik Gottes selbst, die eben mit dem feindseligen Abrücken vom Jenseits zunehmend ins Blickfeld kommen mußte. Das ist kein Thema f ü r ein Kindermärchen. „Die einsamen Kinder"13T sind denn auch genauso unkindlich wie der Ringreiterzyklus von 1828. Ihr Ansatzpunkt ist wieder einmal das Gefühl, 134

Romanze, Ibid. 106.

136 W y n

88

136

Aphorismen, W IX 16.

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59

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108

Die Zweiheit des Göttlichen

ausgeschlossen zu sein von der Gesellschaft und vom Leben. Träger des Geschehens ist ein Brüderpaar. Wilhelm ist der Kompliziertere, ist Nachfolger Gomatzinas und Gustavs, ist Vorläufer Golos. Ihn bedrückt, daß Theodor vorgezogen wird, zuerst von den Eltern, dann von einer Frau, die sich der Waisen annimmt 1 3 8 , und schließlich überhaupt vom Leben. Glaubt er sich doch sagen zu müssen: „Ihm (Theodor) wird alles Schöne zuteil werden, und du mußt ewig darben!" 1 3 9 Es ist das bekannte, sentimentale Wüten gegen sich selbst, gegen das eigene, unglückliche Dasein. Es treibt ihn allerlei Versuchungen in die Arme. Wie bei den Gomatzina, Gustav, Golo steigern sich aber mit dem Grade des Verstricktseins auch die Gewissensskrupel, das Entsetzen vor der eigenen Verunreinigung — womit sich wiederum der selbstquälerische Wille zum Bösen verstärkt: „ . . . es wurde ihm klar, daß er immer die K r a f t in sich getragen hatte, den unheimlichen Blend- und Zauberwerken . . . zu widerstehen, und das Bewußtsein", diese „nicht in heiligem Ernst von sich gestoßen, sondern sich" den „Verlockungen willig hingegeben zu haben und um das Hödiste des Lebens aus Trotz und Eitelkeit freventlich gespielt zu haben, zermalmte ihn". 1 4 0

Er fühlt sich mit Gott zerfallen. Deshalb läßt er den Bruder für sich ibeten wie Franz Moor den alten Daniel und Judith die Mirza. Deshalb haßt er seinen reingebliebenen Bruder und weiß doch, daß das nur neues Unrecht ist: „Hieraus entsprang wieder eine grenzenlose Verachtung seiner selbst, und aus dieser jene gänzliche Erschlaffung, die sich vorzugsweise einer starken, kräftigen Natur bemeistert und sie bis in ihre innersten Tiefen hinein zerstört . . . — Jetzt . . . taumelte er dem Abgrund entgegen; Wonne war es f ü r ihn, hinein zu stürzen; er strengte sich an, das Bild des Mädchens" (hier Inbegriff der Schönheit) „hervorzurufen; kurz, er verübte jene gräßliche A r t des Selbstmords, die aus jeder Minute eine Pistole und aus jedem Gedanken oder Gefühl eine vergiftete Kugel macht." 1 4 1

Das Ende enthüllt die kritische Situation des Verfassers. Im Laufe des Geschehens steigerten sich wechselseitig die Macht des Bösen und das Verantwortungsbewußtsein gegenüber Gott 142 . Schließlich hat die letzthin so häufig bemühte Musik den Sünder mürbe gemacht. Er meint, der Himmel selber spreche zu ihm. Da lenkt der Satan seinen Blick auf die vorübergehenden Musikanten und höhnt: „Siehe, Knabe, das sind deine Götter!" 1 4 3 Damit bricht das Märchen „für Kinder" ab. Ein Nachwort versichert, es sei dann alles in beste Ordnung gekommen. Wilhelm sei sich der sittlichen Freiheit bewußt geworden. Die Erinnerung an das 138 142

Ibid. 62, 81 f., 87. Ibid., S. 82, 89.

139 143

Ibid., S. 88. Ibid., S. 90.

140

Ibid. S. 89.

Gottperson und Gottnatur

109

Durchgemachte sei ihm fürderhin Stab und Stütze geblieben auf dem Pfade des Guten 1 4 4 . Ist die N o t am größten, greift Hebbel also zurück auf Schiller. Aber hier ist das ganz äußerlich, nur Ideologie. Uberhaupt verblaßt der Stern des bisherigen Vorbildes, dessen Vielschichtigkeit dem Schreiber ohnehin mehr Schwierigkeiten bereitete, als dieser meistern konnte. Hebbel macht sich jedoch auch selbständiger. Mit den „einsamen Kindern" hat die Gestaltung des Golomotivs sich frei gemacht von dem Muster der „Räuber" und noch mehr persönliche Züge des Autors gewonnen. Was will es da noch besagen, wenn Hebbel begeistert eine Schillerausgabe als Geschenk entgegennimmt 1 4 5 . Viel schwerer wiegt, daß die Kantate, „das Weltgericht betitelt" und sicherlich in Schillers Stil geplant, nicht mehr zustande k o m m t 1 4 6 . Hebbel findet also weiter nirgends rechten Halt, nicht am Jenseits, an der Gottperson, an der Ethik von Christentum und Idealismus; nicht am Naturgrund, der Gottnatur, der natürlichen Moral oder gar am Immoralismus. Das Alte ist erschüttert, das Neue noch nicht reif. So ist 1833, genau wie 1832 und noch mehr, ein Jahr des Zweifels, des Hin und Her. Der G o t t des Kinderglaubens und Schillers ideale Transzendenz, sie reichen beide nicht mehr hin. Trauernd und immerhin im sentimentalen Stil Karl Moors blickt der 20jährige „auf die schönen Wahngebilde der Phantasie zurück, die einst den Lenz unseres Lebens verschönten. . . . Ach, eine andere Sonne ist es, an der unsere Träume zur Reife gedeihen sollen" 1 4 7 . Doch auch die andere Sonne scheint ihm noch nicht. Es ist wie mit der Raupe. Sie wird zum „Schmetterling" 1 4 8 . Der schwingt sich kühn hinauf zu unerforschten Höhen. Der Sturm aber zerzaust die zarten Flügel und stürzt ihn hinab auf jene Blätter, von denen einst die Raupe sich ernährte. N u r — von Blättern kann ein Schmetterling nicht leben.

3. Gottperson und Gottnatur. Sittlichkeit und Mystik U m die Wende 1833/34 wird Hebbel zunehmend erfaßt von innerer Erschöpfung. „ . . . ich bin 21 Jahr alt und für die Aufgabe meines Lebens ist nichts geschehen . . . Der langjährige Kampf mit den Verhältnissen hat midi . . . abgemattet . . . nur noch ein Jahr, und meine Kraft ist gebrochen . . . Meine Seele verliert ihre Spannkraft; die Lage zerstört den Mensdien, wenn der Mensch die Lage nicht zerstören k a n n " 1 4 9 .

144

"8

Ibidem.

w

V I

196

143 149

B I 21. B I 25 f.

146

B

j 24.

147

W I X 15.

110

Die Zweiheit des Göttlichen

Das ist schlimm. D o c h es ist nicht ganz so schlimm, wie es klingt — und offenbar auch klingen soll. D e r Sprecher genießt ja auch den K a m p f , der v o n ihm (angeblich) das Letzte fordert. E r bespiegelt, heroisiert, genießt sich selbst. Es überrascht daher nicht gar zu sehr» daß er gerade damals „eine Menge . . . Lustspiele" v e r f a ß t 1 5 0 . I m m e r h i n , es steht schon schlimm genug um ihn. Anfang 183+ k a n n er noch seinen „Geist m i t einem einzigen W o r t skizzieren: Will e n " 1 5 1 . W ü t e n d b ä u m t er sich auf gegen sein Schicksal. Doch bald erlahmen seine Kräfte. „Des Menschen Kraft reidit eben aus Zum Kämpfen, nicht zum Siegen." Solche Resignation ist n o d i heroisch. Gleich aber n i m m t sie eine völlig andere Färbung an: „Doch wenn uns dies das Herz beschwert, Naht der ersehnte Schlummer, Und ward der letzte Wunsch gewährt, Wem macht der erste Kummer?" 1 5 2 Das ist die hinreichend vertraute Wendung zur Schlaf- und T r a u m kammer. Sie tritt 1834 ganz besonders stark hervor. U n d es m u ß wirklich ziemlich schlimm um ihn bestellt sein, beschwört er doch dabei das Jenseits und das idealische Idyll weit öfter noch als den metaphysischen Bereich des Diesseits: den Naturgrund. V o n einem gestorbenen K n a b e n heißt es da z. B . : „Der liebe Gott . . . Läßt früh ihn schlafen gehn, Damit er einst am Jüngsten Tag Kann fröhlich auferstehn!" 153 So werden 1834 alle Gedichte idyllisierend aufgeweicht. U n e n t wegt behandeln sie die alten T h e m e n — den T o d v o n M u t t e r , Kind, geliebtem Mädchen; sie ergehen sich in Erinnerung, platonischer L i e b e und weinerlichem Gefühlskult. Soweit dabei das Jenseits v o r k o m m t , ist es so wenig wie zuvor die Hauptsache. Das sind vielmehr seine A t tribute, sofern sie geeignet sind, den E r n s t der Dinge und die N o t des Daseins zu verschleiern. Verschleiern und T r o s t spenden, das sollen alle diese Gedichte. H e b b e l übt und entwickelt dabei sein Gestaltungsvermögen. D e r subjektive Ausdrucksimpuls lebt sich nicht unmittelbar aus, sondern H e b bel schaltet da m i t v o r g e f o r m t e m Material — souverän, ja virtuos* und gleichzeitig in Distanz zum Ichzentrum, ja sozusagen hinter des-

150 152

B I 29. Morgen und Abend, W VI 264.

151 153

B I 29. Der Knabe, W VII 116.

Gottperson und Gottnatur

111

sen Rücken. Um so leichter gewinnen die anspruchslosen Gebilde eine runde Form. Und das war künstlerisch durchaus einmal von Nutzen. Als Beispiel diene „Vogelleben", das aufs schroffste kontrastiert mit den Vogelgedichten der Verzweiflung und des Zweifels von 1831/32 154 : „Du blicktest in Geduld, Gehüllt in dein Gefieder, Vom kahlen Zweig hernieder, Vom Sturm nodi eingelullt. Und ruhig trankst du auch, Im Sterben noch zufrieden, Den dir ein Gott besdiieden, Den letzten kühlen Hauch!"

Das sind keine Schillerschen Klänge mehr. Immerhin, die sentimental-idyllische Tonart ist geblieben. Charakteristisch, daß selbst der Sturm noch einlullt — eben weil Hebbel mitten im Leben die Augen schließt und sich zurücksinken läßt in die mystischen Tiefen von Tod, Traum und Schlaf. Das ist der Punkt, an dem die Jenseitsidyllik übergeht in mystische Naturmetaphysik. Von den Gedichten des Jahres 1834 weisen allerdings nur zwei in diese Richtung. Das eine variiert den Gedanken, der Mensch werde im Schlaf umfangen von der Mutter Natur 155 . Das andere ist „Proteus" oder besser „Das höchste Lebendige"156. Es feiert „die kosmischen Momente", in denen die Weltkraft des Seinsgrundes die Natur und den Menschen durchdringt. Hebbel hat den jungen Schubert gelesen. Mit ihm erweitert er sein Weltbild. Gott ist Schöpfervater. Er läßt durch die Mutter Natur das All entstehen und Gestalt gewinnen. Er ist das höchste Lebendige. Als Urkraft unterströmt er die erstarrten Formen, ergreift und lockert sie von unten her, von dem, was unter dem Bewußtsein liegt. Am großartigsten offenbart er sich in der Natur und im Dichter. So wird Hebbel dichterisches Schaffen und schöpferisches Tun schlechthin von nun an immer deuten. Der Mensch hat sein höchstes Vermögen nicht „von oben", vom Geiste, sondern „von unten". Das bedeutet ein Abrücken von Schillers Idealismus und dem transzendierenden Weltbild des Christentums. Hebbel ist dem Pantheismus hier sehr nahe. Erscheint doch die Gottheit als kosmische Urkraft, die in allem Dasein, von Fall zu Fall dem Grade nach verschieden, als wesenhafte Substanz wirksam und gegenwärtig ist. Dabei bleibt Ibid. 120. Frage an die Seele, Ibid. 121. 156 ^r v i 253. Vgl. Liepes neue, grundlegende Interpretation: Beiträge, S. 141 ff. 154

155

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Die Zweiheit des Göttlichen

sie freilich klar unterschieden von der eigentlichen Natur. Es bleibt bei der bisherigen Zweiteilung der Sphären und des Göttlichen. Denn Gott als Person, als Schöpfer und als Richter — und Gott als mystisch-pantheistischer Seinsgrund der Natur: das war und das ist zweierlei. Beide sind vereint in dem Gedicht „Das Abendmahl des Herrn"15T. Auf den ersten Blick scheint es endlich eine spezifisch christliche Wendung zum Jenseits zu nehmen. Sucht Hebbel hier doch Trost, wo er ihn einst gefunden, bei Leib und Blut des Heilands. Aber das andere, der mystische Pantheismus, ist zu übermächtig. Er schlägt selbst und gerade hier durch, im Mysterium der Eucharistie: „Und auch ich, in brünstigem Verlangen, Aß und trank, von Wehmut unbewußt." „Ja, Du selbst, Du selber wirst gegeben, Heiland, Du, Dein ganzes, ganzes Sein, Sagt mir's nicht dies ahnungsvolle Leben?" „Zuckt es nicht von Dir in jedem Tropfen Meines Bluts, das ungestümer fleußt? Nicht von Dir in meines Herzens Klopfen, Das von Wonne fast zerreißt? Ist nicht Dein die flammende Empfindung, Die midi selig macht und doch zersprengt, Und, in unerforsdilicher Verbindung, Midi und Didi zusammendrängt?"

Hier wird nicht das Irdische preisgegeben zugunsten des Uberirdischen, sondern das Überirdische hereingenommen ins Irdische. Das Göttliche durchwaltet alles Irdische, die Gottnatur das Diesseits. Alle Spannung, alle Ferne zwischen Wirklichkeit und Wesen sind hier aufgehoben. Aber sie sind augenblicklich da, sobald das sittliche Problem hervortritt: „Ja, dies Mahl — es geht auf Tod und Leben, Nie empfängt's, wer hier nicht Heil gewann; Nicht, weil Gott dem Sünder es nicht geben — Nein, weil er's nicht fassen k a n n ! "

Vom Wesen trennt sich selbst, wer im Sittlichen versagt. Der Mensch ist autonom. Es liegt bei ihm, ob Wirklichkeit und Wesen auseinanderklaffen oder nicht. Dabei ist Wesen hier das Sittliche, bezogen auf die Gottperson. Nicht berührt wird davon die Verwirklichung des Wesens, sofern es Gottnatur ist und sich in den kosmischen Momenten offenbart. Davon handelt der erste Teil dieses Gedichtes, das beide Formen des Göttlichen verherrlicht: Gottperson und Gottnatur. 157

W VII 122.

Zusammenfassung 1. Das metaphysische Problem. Vom Jenseitsparadies zum Seinsgrund der Natur. Gottperson und Gottnatur Die weltanschauliche Entwicklung des jungen Hebbel paßt in einer Hinsicht zu dem geistesgeschichtlichen Rahmen, den man seiner tragischen Dichtung heute gibt: der christliche Glaube wird f ü r ihn problematisch. — Das Jenseitsparadies fand er als legitime Ideologie schon vor, und er brauchte es. Er brauchte es als den Bereich, von dem er Trost, Ersatz, ja Rechtfertigung seiner Enttäuschungen auf Erden hoffen durfte. Zunächst kam es ihm nämlich auf Diesseitswerte an, auf gesellschaftliche Geltung und geschlechtliche Erfüllung. Erst und n u r sofern das Bemühen um sie fehlschlug, suchte er an einem Orte Zuflucht, wo er sein Leid vergessen, wo er ausruhen u n d von E r füllung träumen konnte. Als solchen O r t bot sich seiner Phantasie das Jenseitsparadies an. Das Jenseitsparadies bot ihm jedoch nicht stets Genüge. U n d zwar dann nicht, wenn er den M u t fand, sich zu jenen Diesseitswerten zu bekennen. Auch dann freilich und vielleicht gerade dann, verlangte ihn nach einer Macht, die diese Werte und das Bemühen um sie rechtfertigte. Es mußte eine Macht sein, die der Erde näher stand, als das vom Jenseits galt. Doch wollte sie womöglich in gleicher Weise Zuflucht bieten, falls abermals Resignation die Oberhand gewann. Deshalb suchte Hebbel den Bereich des Wesens und zugleich der Ruhe, des Vergessens, des Schlafes und des Traums im Diesseits selber auf und fand ihn im Seinsgrund der N a t u r . Der Übergang vollzog sich ganz allmählich und unter manchen Rückschlägen. Noch zuletzt, 1834, wußte Hebbel sich nicht anders zu helfen als mit einem Rückgriff auf das Idyll des Jenseitsparadieses. Andererseits wurde ihm der Ubergang erleichtert dadurch, daß sein Christentum sentimental erweicht und mit idealistischem Bildungsgut von Aufklärung, Romantik, Biedermeier durchsetzt war. Außerdem nahm er an der ideologischen Gegenbewegung gegen Christentum u n d Idealismus teil, an Feuerbachs Verherrlichung des Diesseits. In Hebbels weltanschaulicher Entwicklung wirkten demnach geschichtliche Voraussetzungen und persönlich-individuelles Verlangen zusammen, und zwar eben dergestalt, daß der Bereich des Wesens sich vom Jenseitsparadies zum Seinsgrund der N a t u r verlagerte. 8

Wittkowski, Hebbel

114

Zusammenfassung

Es war unvermeidlich, daß sich dabei auch die Gottesvorstellung wandelte. Die Gottperson blieb; aber ihre Stellung innerhalb der Wesenssphäre und zum Menschen verschob sich tiefgehend. Es gibt bei Hebbel den Protest, den Aufstand gegen G o t t . Das fällt aus dem christlichen Bereich heraus und erklärt sidi nur aus hetrogenen Elementen in seinem Christentum. Was da im Spiele ist, wird sich zeigen. Ferner herrscht nicht durchweg Einigkeit, Einhelligkeit zwischen G o t t und Wesen. Sie herrschen nicht m e h r ohne weiteres, sofern der Seinsgrund der N a t u r als Wesen gilt, als das Reich der Lebensmächte, als die Macht, die dem Menschen all sein Vermögen, sein künstlerisches und sein sittliches V e r m ö g e n gibt; und sofern die N a t u r als die sittliche Ordnung selber gilt. D a n n wird die N a t u r selbst göttlich; und G o t t als Weltenlenker, Weltenrichter v e r f ä h r t nach Maßgabe der N a t u r , gegebenenfalls sogar gegen seine eigenen Wünsche, v o r allem gegen seinen Wunsch zur Vergebung. H i e r , in Verbindung m i t der autonomen sittlichen Ordnung, wird vielleicht der wichtigste heterogene Zug an Hebbels christlichem Gottesbilde sichtbar. Gottperson und G o t t n a t u r stehen als die beiden metaphysischen F a k t o r e n innerhalb des Wesens einander gegenüber. Diese Konzeption setzt sich zwar, wie teilweise noch zu zeigen sein wird, aus geschichtlich vorgegebenen M o m e n t e n zusammen, ist als Ganzes aber individuell, originell und neu.

2. Das ethische Problem. Werte des christlich-idealistischen, naturhaften, germanischen Der Widerstreit im Objektiven

Empfindens.

Die Werte, die H e b b e l zunächst offen anerkannte und allein zu preisen wagte, sind die v o n Christentum und Idealismus. E r faßte sie zusammen als weltflüchtige sittliche Innerlichkeit, die zu leben ihm am vollkommensten im schönen Idyll des Jenseicsparadieses möglich schien. Tatsächlich ging es ihm um diese Jenseitswerte aber erst in zweiter Linie, nämlich dann, wenn er die primär erstrebten Diesseitswerte nicht erlangen k o n n t e und dafür T r o s t , Ersatz, Rechtfertigung brauchte. Die sittlich-schöne Innerlichkeit hatte andererseits so verschwommene K o n t u r e n und enthielt so viele Elemente der sentimentalischen Kultur, daß Hebbel sich m i t dem Geschehen zwischen M a n n und Frau weithin befassen konnte, ohne deshalb jenen Wertbereich offenkundig zu verlassen — bis er unversehens das vital-sinnliche Verlangen auf den Schild erhoben hatte und sich auf der Gegenseite, auf der Seite des N a t u r h a f t e n , der Diesseitswerte, fand.

Das ethische Problem

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Die Alternative zwischen Sittlichkeit und Sinnlichkeit war für ihn fortan nicht mehr so klar zu entscheiden wie für Christentum und Idealismus. Für ihn lag sie nicht mehr in der „vertikalen", sondern in der „horizontalen" Dimension. Sie erschien ihm als Konflikt — wenn schon zwischen Diesseitswert und Jenseitswert, so doch nicht zwischen Wirklichkeits- und Wesenswert, sondern zwischen Wert und Wert innerhalb des Wesens. Erschien ihm doch ein Wirklichkeits-, ein Diesseitswert zugleich als Wesenswert, sofern er auch ein Wert des Seinsgrunds der N a t u r war. So sah er den vitalen Wert der Liebe und die Werte des spezifisch Sittlichen. Wie vom Metaphysischen, ergab sich also auch vom Ethischen, daß dem Wesen jene Einigkeit und Einhelligkeit abgingen, die von Christentum und Idealismus her zu erwarten standen. Eben deshalb konnte Hebbel das neu gesehene Verhältnis gedanklich noch nicht meistern. Neben den Werten des Natürlichen tauchten als weitere heteronome Elemente innerhalb seines christlich-idealistischen Weltbildes, aber wieder ohne offenbaren Bruch mit diesem, Werte des germanischen Empfindens auf. So die Treue und das Racheethos in „Ritter Fortunat" und „Rosa". Hebbel verkannte den Widerspruch zu seinem ideologischen Weltbild, weil er glauben mochte, das Racheethos sei vom Alten Testament her legitim. Wobei er übersah, daß die Rache dort Gottes und nicht des Menschen Sache ist oder wenigstens sein soll. Wie Christentum und Idealismus es tun, so legt auch Hebbel viel Gewicht auf die subjektive, willensmäßige Seite von Schuld und Unschuld. Doch mindestens genauso schwer wiegt bei ihm die objektive Seite, die Verletzung oder NichtVerletzung eines objektiven Wertes, eines sittlichen Bezuges, ob das Subjekt sie nun beabsichtigte oder nicht. Das fällt wiederum heraus aus dem Bereich des Idealismus und wenigstens des protestantischen Christentums, in welchem Hebbel aufwuchs. Auch das erklärt sich nur aus heteronomen Elementen seines christlichidealistischen Weltbildes. Welche es sind, hat sich schon mehrfach angekündigt. Der Ethik germanischer Tradition und der Naturgläubigkeit der deutschen Bewegung entnimmt Hebbel die Werte oder Wertakzente, die sein Verhältnis zum Diesseits tatsächlich bestimmen. Die christlich-idealistischen Werte beherrschen zwar nach außen hin das Bild, sind aber weithin nur tradierte Konvention, bestenfalls Ersatzwerte, in beiden Fällen also sekundär. Sofern sie primär Bedeutung haben, erscheinen sie auch in der Ordnung der Natur, ohne christliches Gewand. Gelegentlich erscheinen die widersprechenden Faktoren nebeneinander, ohne daß Hebbel den Widerspruch bemerkt — und dann bevorzugt er den germanischen 6»

116

Zusammenfassung

(„Rosa", „Ritter Fortunat") oder den naturhaften Wert („Die Schlacht bei Hemmingstedt"). Manchmal aber wird der Widerspruch ihm deutlich, und zwar an dem Konflikt von Sittlichkeit und Sinnlichkeit. Er faßt ihn im herkömmlichen Sinne auf, das heißt, er rechnet mit seiner „vertikalen" Struktur, also mit seiner eindeutigen Lösbarkeit. Er bezieht die Lösung, den Sieg des Sittlichen, auf Gott, zumal die Natur dasselbe fordert. Zugleich heiligt die Natur jedoch das Sinnliche. Deshalb opponiert er heimlich gegen jene „vertikale" Dimension und gegen jene Lösung, die er selbst vollzieht in der „Räuberbraut" und den „einsamen Kindern", die er aber nicht vollzieht in „Mirandola", wo er sogar durchstoßen will zu einer tragischen, „horizontalen" Dimension des Widerstreits — allerdings vergeblich. 3. Das tragische Problem. Wirklichkeit und Wesen. Natur und Gott. Die alte und die neue Alternative Hebbels Konzeption des Tragischen — findet sie sich vorgebildet in seiner frühesten weltanschaulichen Entwicklung? Die repräsentative Forschung könnte, genau besehen, nur einen Zug als Vorstufe dazu betrachten: das Verlangen, vor aller N o t des Daseins zu entfliehen in das Reich paradiesischer Vollkommenheit, und zwar in ein Reich, in dem das Dasein aufgehoben ist samt seiner Not, ein Reich des Schlafs, des Traums, des Todes, der Ruhe, des Vergessens. Wie Golo denn nach Ziegler mit dem Tode nichts erstrebt als „die Aufhebung des Ichs als des Quells ewiger N o t und ewigen Schmerzen, die Erlösung vom Fluch, von der Last des blinden, leeren, äußerlichen Daseins, die Geborgenheit jenseits aller Unrast und aller Gegensätze, in der absoluten Stille des Nichts, des fühl- und wandellosen Nichtseins", des Alls, des Wesens 158 . Keine Frage, Hebbel folgte solchen oder ähnlichen Tendenzen. Sie haben aber nicht den Rang, der ihrer Enttäuschung wiederum den Rang des Tragischen verleihen könnte (vgl. das in der Einleitung Gesagte). Kann schon nicht Hebbels Sehnsucht nach dem Paradies, nach der Schlaf- und Traumkammer, als Vorstufe des Tragischen betrachtet werden, so auch nicht die Problematik, die sich seines Christenglaubens bemächtigt. Es ist ja keineswegs so, wie man heute annimmt, daß Gott für Hebbel problematisch würde und nachher nichts mehr übrig bliebe. Vielmehr wird Gott ihm problematisch im Zusammenhang mit der Natur. Es geht für ihn nicht darum: Gott oder nicht Gott, Gott oder 158

M u W , S. 39.

Das tragische Problem

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das Nichts; sondern darum: Gott oder die Natur. Diesen Gegenpol zu Gott und Christentum hat man verkannt. Man meinte allenfalls, Hebbel sähe da den Zwiespalt zwischen Wirklichkeit und Wesen, zwischen Welt und Gott. N a t u r ist für ihn aber gleichfalls Wesen. Und er sieht einen Zwiespalt innerhalb des Wesens, zwischen Gott und der Natur. Gewiß, auch das Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Wesen spielt für den jungen Hebbel eine Rolle. Es enthält aber keine solchen Spannungen wie das Verhältnis zwischen Gott und der Natur. Vielmehr nimmt Hebbel in sittlicher Beziehung an: Wesen kann und soll verwirklicht werden. In ontologischer Beziehung setzt Hebbel das Entsprechende voraus. N a t u r ist der metaphysische Bereich des Diesseits, ist diesem immanent, nicht wie das Jenseits transzendent. Sie liegt zwar gleichfalls über das Wirkliche hinaus, aber nicht nach „oben" hin, sondern nach „unten". Die metaphysisch-«vertikale" Dimension von Wirklichkeit und Wesen bleibt also gewahrt. „ N u r verlegt Hebbel die Grenze, die in der christlichen Religion naturhafte Immanenz und übernatürliche Transzendenz voneinander scheidet, in die N a t u r selber hinein." 1 5 9 Anders ausgedrückt: Hebbel verlegt die Grenze in die Immanenz, ins Diesseits, zwischen Natur und Wirklichkeit. Und nichts deutet darauf hin, daß Hebbel — wie Ziegler will — jene Grenze sieht ingestalt einer „tief spannungsvollen, beinah schroff dualistischen Kluft, durch die er den absoluten Grund der ,Natur', ihres ,Alls' und seiner ,Idee* von den empirisch-individuellen Emanationen des Daseinsgrundes trennt". Das trifft bisher nicht zu. Zwar gibt es Sein mit mehr und Sein mit weniger Gehalt an Wesen. Doch grundsätzlich wird alles Sein getragen von den Wesenskräften der Natur, auch wenn diese nur in besonderen Momenten gesteigerten Daseins, in den kosmischen Momenten, rein hervortreten. Weder die Metaphysik des Ethischen noch die des Ontischen ergibt bei Hebbel eine prinzipielle Antinomie zwischen Wirklichkeit und Wesen. Soweit ein metaphysischer Dualismus bei ihm auftaucht, ist er nicht prinzipiell, nicht radikal. Er erscheint als eine Zweiheit, deren Pole sich vertragen, allerdings auch widerstreiten können. Eine Kluft in der „vertikalen" Dimension zwischen Wirklichkeit und Wesen ist vielleicht beklagenswert. Erst die Spannung innerhalb des Wesens, in der „Horizontalen", kann antinomisch, kann Grundlage von Tragik sein. Das ist die Spannung zwischen Gottperson und Gottnatur. Diesen Dualismus konzipierte Hebbel, weil er Ideologien begegnete, die einesteils Gott, andernteils die N a t u r heiligten. Die Konzeption entsprach seinem Glauben an die Gottperson und zugleich seiner 159

Krise, S. 24.

118

Zusammenfassung

starken Neigung zum Naturhaften. Und von hier aus konnte er audi protestieren gegen Gott, nämlidi im Namen der Natur. Anlaß und Ausgangspunkt für die Konzeption einer rein nidit lösbaren, einer tragischen Spannung zwischen Gott und der Natur sind konkrete ethische Probleme. Im Anschluß an Schillers „Räuber" versucht Hebbel es mit den Gestaltungen des Golomotivs. Hier, an der Alternative zwischen Sittlichkeit und Sinnlichkeit will er seinem Wertgefühl entsprechend zeigen, daß die Liebesleidenschaft, die Sinnlichkeit von Gnaden der Natur genauso wesenhaft sei wie die Treue, wie die Selbstbeherrschung, wie die Sittlichkeit. Er will die herkömmlich „vertikale", also eindeutig lösbare Struktur der Alternative zwischen ihnen umbiegen zu einer „horizontalen", zu einer tragischen, die nicht rein lösbar wäre, und daher mit einiger Berechtigung auch zugunsten der Sinnlichkeit gelöst werden dürfte. Das mißlang. Setzte Hebbel doch bei einer Alternative an, die nicht nur herkömmlich als „vertikale" konzipiert war, sondern auch seinem Wertgefühl als „vertikal" erschien. Audi sein Gomatzina hat mit der Liebesleidenschaft einerseits und der Treue andererseits eine Alternative vor sich, deren Pole „vertikal" geordnet sind und die gültig nur nach „oben" hin zu lösen ist. Die umgekehrte Lösung kann Hebbel nicht auf die Natur basieren. Heiligt die Natur doch nicht nur das Natürliche, sondern auch das Sittliche. Und Gomatzinas Liebesleidenschaft verstößt eben gegen die natürlich-sittliche Verbindung von Mirandola und Flamina sowie gegen die Treue zu dem Freund, also gleichfalls gegen die Natur. Ob Hebbel sich also an der herkömmlichen christlich-idealistischen oder an der neuen Naturordnung orientierte — der Konflikt verlangte immer die Entscheidung f ü r das Sittliche. Diese Lösung aber war es ja gerade, was Hebbel nicht anerkennen, sondern ändern wollte. Weil das jedoch nicht ging, weil die Heiligung des Sinnlichen keineswegs automatisch die widersittliche Entscheidung zuließ: deshalb bricht „Mirandola" vorzeitig ab. Deshalb versucht Hebbel bei der „Räuberbraut" und den „einsamen Kindern" gar nicht erst, seine Lösung, die Entscheidung gegen das sittliche Gebot, durchzukämpfen; vielmehr hält er sich an die hergebrachte Lösung des Konflikts und begnügt sich damit, heimlich gegen sie zu protestieren. Immerhin macht er, dort offener, hier versteckt, erstmals den Versuch, die „vertikale" Dimension der Alternative umzubiegen in die „horizontale", in einen Dualismus innerhalb des Wesens, in einen tragischen Zwiespalt, der in die Gottheit selbst hineinragt. Allemal erwies sich das jedoch als vergeblich, als gewaltsame, forcierte Konstruktion. Vielleicht war Hebbel eben letzten Endes doch zu rechtschaffen, als daß

Das tragische Problem

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es ihm hätte ohne Rest gelingen können, widersittliches Wollen zu rechtfertigen und zu heiligen. Hebbel wollte sein Wertgefühl samt der „horizontalen", tragischen Alternative am G o l o m o t i v demonstrieren. Doch das gelang nicht, weil er polemisch ansetzte bei der herkömmlichen „vertikalen" Alternative zwischen Sinnlichkeit und Sittlichkeit — bei einer Alternative, deren herkömmlich „vertikale" Struktur auch bei Heiligung des Sinnlichen sich als unantastbar erwies. D a f ü r war Hebbel anderswo erfolgreich, wo er gar nicht darauf aus war, wo er gar nicht z u m tragischen Problem durchstoßen wollte und wo er auch nicht merkte, wie nahe er an es herankam. Es sind die Gestaltungen des Judithmotivs, an welchen H e b bels Wertgefühl sich durchsetzt und seine Konzeption des Tragischen sich schon latent entfaltet. U n d das ist offenkundig eben deshalb möglich, weil Hebbel hier gar kein Problem erkennt, weil er keine alte Konzeption entkräften und keine neue durchsetzten will — weil er hier völlig unbefangen ist. Ferner kann sein Wertgefühl sich da ganz ungestört entfalten, weil sein christlich-idealistisches Weltbild so viele heteronome Elemente in sich einschließt. D e m Anschein nach bleibt es einheitlich, geschlossen, auch wenn jene Elemente einmal klar hervor und eigentlich bereits in Widerspruch zum Ganzen treten. D a s ist der Fall in „ R o s a " . D o r t wird die Rache f ü r gebrochene Treue, wird der M o r d a m Kind, am Manne, an sich selbst gerechtfertigt und geheiligt durch das Siegel Gottes, des Erlösers. „Ritter F o r t u n a t " feiert abermals u n d mit unbefangener Selbstverständlichkeit ein unerbittlich hartes germanisches Racheethos. In der „Schlacht bei H e m m i n g s t e d t " endlich k o m m t es sogar zu einer Alternative u n d zu einer Entscheidung. Es ist dieselbe Alternative, v o r welcher Schillers J u n g f r a u steht und später Hebbels Judith. Hier hat sich eine dithmarsische Freiheitsheldin mit ihr auseinanderzusetzen, mit der Alternative: Gottes A u f t r a g oder Bestimmung durch N a t u r . Das Mädchen entscheidet genau umgekehrt wie Schillers Jungfrau, also f ü r die N a t u r und gegen G o t t , genauer f ü r die ewige O r d n u n g der N a t u r und gegen Gottes einmaligen, der weiblichen N a t u r widerstreitenden A u f t r a g . Ihre Entscheidung erscheint ganz selbstverständlich und ganz richtig. Ein Problem wird nicht bewußt. Es ist aber da. Es ist der Widerstreit zwischen G o t t und der N a t u r . Ein Widerstreit innerhalb des Wesens, der nicht rein lösbar und sehr wohl geeignet ist, den Menschen einer tragischen Situation zu überantworten. Judith wird das spüren. Aber wie wird sie entscheiden? Im Sinne der alten Alternative Schillers oder im Sinn der neuen, die hier eindeutig vorgebildet, allerdings zu eindeutig, zu unproblematisch durchgeführt ist?

B.

Schiller, der Gegner

I . H a m b u r g 1835 — H a m b u r g 1840 1835 endlich fruchten die poetischen Sendungen nach Hamburg. Amalie Schoppe ruft den werdenden Dichter in die Hansestadt. Der ehemalige Schreiber bringt ein vorzügliches Zeugnis mit. Der gewissenhafte Vogt ergeht sich darin über Hebbels „natürliche Ordnung", „hellen Verstand" und über seine „Anstelligkeit für's praktische Geschäftsleben". Ferner preist er seine „große Sprachgewandtheit", seinen „edlen, einfachen Ausdruck"; er hebt hervor, sein Untergebener habe sich selbständig „einen solchen Grad allgemeiner Bildung angeeignet, daß wenige junge Leute, die sich dem gelehrten Stande zurechnen und ihre Laufbahn vollendet haben, imstande sein dürften, ihre Gedanken und Gefühle auf eine gefälligere Art durch die Feder fließen zu lassen als er" 1 . Mit Respekt gedenkt Mohr der dichterischen Versuche seines Schreibers und wünscht ihm die Ausbildung f ü r „einen höheren, seinen Kräften angemessenen Wirkungskreis". Er versäumt nicht, seiner Vertrauenswürdigkeit, „unbedingten Treue und Redlichkeit zu erwähnen". Er schließt mit den Worten: „Zum Beweis seiner Herzensgüte und edlen Denkart kann ich nicht umhin, noch anzuführen, daß er seinen Verdienst zum größten Teil seiner Mutter hat zufließen lassen, um die Tage ihres Alters gegen Mangel sicherzustellen." Mannigfachen Widersprüchen zum Trotz bestätigt die Überlieferung im ganzen, was Mohr da ausführte. So durfte Hebbel selbstbewußt erklären: „Meine Stellung war bürgerlich gesichert . . . und bei dem allgemeinen Vertrauen, das man mir in öffentlichen Geschäften bewies, bei der Aufmerksamkeit, die ich noch ganz in der letzten Zeit durch einen publizistischen Aufsatz erregte 2 , durfte ich auch f ü r die Zukunft auf ehrenvolle Existenz rechnen." Das alles gab er preis. Denn „es kam mir vor, als wenn der Aktenstaub in mir einen Dichter erstickte, und . . . so hatte ich das Recht, midi unglücklich zu fühlen" 3 . Von diesem Recht machte er ausgiebig Gebrauch, zumal die Erbitterung gegen seinen Vorgesetzten ständig zunahm. Der wußte, wie das 1 2

3

H P I, S. 26 f. „Er ist kein Norderdithmarscher", H P II, S. 99 ff. — ein Aufsatz, in dem Hebbel sidi mit dem Finanzgebaren des Landes vertraut zeigt. B II 42 f.

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Hamburg 1835 — Hamburg 1840

Zeugnis lehrt, recht gut, daß sein Schreiber höher hinaus wollen durfte. Trotzdem wahrte er der Sitte gemäß peinlich die Distanz zu ihm und verschloß ihm so die Möglichkeit, sich gesellschaftliche Formen anzueignen. Zeitlebens hat Hebbel das Mohr vorgeworfen. „Daß ich in Dithmarschen geistig schon so hoch stand . . . und dennoch gesellschaftlich von dem Kirchspielvogt Mohr, der mich erkannte, so niedrig gestellt ward, ist das größte Unglück meines Lebens" 4 . Er glaubte, er habe auf Grund seiner geistigen Fähigkeiten einen Rechtsanspruch darauf, in die höheren Kreise aufgenommen zu werden. Deshalb erlitt er es als Demütigung, „mit Stallknecht und Tagelöhnern", „mit Kutscher und Stallmagd an Einen und denselben Tisch" gesetzt zu werden. Hier äußern sich, mit gleicher Leidenschaft, sozialer Ehrgeiz und ein recht selbstbezogenes Rechtsempfinden. Beide haben aber keineswegs durchweg alle anderen Gesichtspunkte verdrängt, die die Beurteilung der Lage forderte. Zunädist mag Hebbel überhaupt die Zurückhaltung des Vogts als selbstverständlich hingenommen haben. Die sonst gute und auch lehrreiche Behandlung durch ihn hat er ausdrücklich gewürdigt 5 . Und so heftig er gegen seine Verbannung an den Gesindetisch protestierte, so herzlich war er doch befreundet mit dem Kutscher Christoph, seinem Schlafgenossen. Freilich, unmittelbar nach seinem Fortgang von Wesselburen steigerten sich seine Vorwürfe gegen Mohr bis zur Empörung, ja zum Haß. Immer wieder hielt er sich vor Augen, „daß er (Mohr) mich . . . aufs tiefste demütigte und mir oft im eigentlichen Verstände das Blut aus den Wangen trieb, wenn jemand kam und mich so antraf. Nie verwinde ich das wieder, nie: und darum habe ich auch nicht das Recht, es zu verzeihen" 6 . Da sind wieder der soziale Ehrgeiz und das Rechtsempfinden, das sich erstmals ausdrückte in „Des Greises Traum". Dort hatte Gott kein Recht, den schlimmsten Sündern zu verzeihen. Und damit verbindet sich nun auch das Racheethos. Hebbel spricht von jener Demütigung und sagt: „Das Blut tritt mir in die Wangen, wenn ich nur daran denke, und bei Gott im Himmel, ich vergeß' es nicht, und der Mann wird den armen, hilflosen, schnöde gemißhandelten Jüngling über kurz oder lang rächen"1. Dezember 1838, kurz vor der geplanten Rückkehr aus München nach Hamburg, schreibt Hebbel an Elise Lensing: „Nach Dithmarschen gehe ich übrigens auf keinen Fall." Noch ist er nichts geworden, womit er imponieren könnte. Und er ist entschlossen, den Ort, wo er „so viel Unwürdiges erdulden mußte, nur in einer solchen Gestalt wieder zu besuchen . . . , welche den Respekt erzwingt, d. h. als ein anerkannter 4

T 1385.

5

B VIII 2.

6

T 2442.

7

B I 186.

Hamburg 1835 — Hamburg 1840

125

und in der ihm beschiedenen Sphäre hochachtungswerter Schriftsteller, den keiner ignorieren darf, der sich nicht lächerlich machen will" 8 . Die Dichtung soll ihm also dabei helfen, sich gesellschaftlich emporzuarbeiten. Schon aus diesem Grunde wird der Kampf um künstlerische Geltung nun zum Inhalt seines Daseins. Allerdings hat dieser Kampf auch in sich selbst sein Ziel. Es geht dabei um die Bewältigung des Judith- und des Golomotivs. Das Judithmotiv ist für Hebbel ohne aktuelle Problematik und kein Gegenstand bewußten Ringens. Das wird es erst später, wenn Hebbels Weltbild reifer geworden ist. Umgekehrt das Golomotiv. Es wird sehr oft gestaltet, und zwar in Verbindung mit dem Meister-Anton-Motiv. Beide stehen ja von Hause aus einander nahe. Drücken sie doch die aktuellste und zugleich engste Seite an den vielfältigen Problemen dieses jungen Menschen aus: allgemein das Gefühl, ausgeschlossen zu sein von Leben und Gesellschaft; im einzelnen das Gefühl, erdrückt zu werden von den feindlichen Verhältnissen — und zugleich die Lust an pathetischer Dramatisierung seines Leidens; weiter ehrgeiziges Verlangen nach dem höchsten Ruhm — und selbstironisierende, heroische Resignation; Glaube und Zweifel, ja Verzweiflung an sich selbst als Mensch und Künstler; Selbst Verherrlichung — und Selbstanklage; Empfindlichkeit und Härte — und Kampf gegen beides; Wüten gegen sich und andere; radikale Aufrichtigkeit — und Spiegelfechterei; schroffe Einseitigkeit — und allseitiges Verständnis. Solches Ringen um eine gültige Lebenshaltung breitet sich aus in Tagebüchern, Briefen, Gedichten, in Gestaltungen des Golo- und des Meister-Anton-Motivs. Hier sind die Erzählungen zu nennen: „Barbier Zitterlein„Herr Haidvogel und seine Familie" von 1836, „Schnock" und „Der Schneidermeister Nepomuk Schlägel auf der Freudenjagd" von 1837 9 . Dieses Schneiders Freudenjagd ist eine Jagd nach Schmerzenswollust, ist ein einziges Wüten gegen sich selbst, wie Hebbels ganze Golo- und MeisterAnton-Problematik. Das bittere und zuinnerst schmerzliche Lachen dieser humorvoll aufgemachten Geschichten hat Hebbel einmal treffend ausgelegt, als er nicht auf sich, sondern auf einen andern Menschen sah 1 0 : „O, wir kennen es wohl, dies schreckliche Lachen, das sich wider sidi selbst kehrt, wir kennen diesen entsetzlichen Witz, der das eigene Elend 8 8

10

B I 373 f. W VIII. Vgl. jetzt auch Ingrid Kreuzer: Hebbel als Novellist, H . i. n. S., und Fritz Martini: Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus 1848 bis 1898, Abschnitt „Der Erzähler Friedrich Hebbel", S. 6 1 5 — 1 7 . Wilhelm Waiblingen gesammelte Schriften, Rezension im „Telegraph" 49, März 1840, W X I 407 f.

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Hamburg 1835 — Hamburg 1840 zu seinem Abgott macht, diesen grauenhaften H u m o r , der sich stellt, als ob die Todeswunde seine Lebensquelle sei! Aber vergesse niemand, daß dies alles aus einem hohen Stolz entspringt, der sich nur durdi Selbstverleugnung zu retten weiß . . . , daß jenes Lächeln nichts ist als die Schminke, worunter ein Schmerz, der sich seines Ursprungs schämt, sich verbirgt, daß jener Witz . . . mehr kostet als ein Schrei der Verzweiflung, daß jener H u m o r . . . die Last, die er hinweg zu spotten scheint, verdoppelt. Eine edle N a t u r stößt den Pfeil, den sie nicht herauszuziehen vermag, mit aller Kraft tiefer in die Brust hinein und ruft aus: er kam mir eben recht; denn sie will sich schützen vor dem gemeinen M i t l e i d . . . , sie will dem Schicksal eine Schande und der Welt eine Hinrichtungsszene ersparen. Der Kampf um die Existenz . . . ist es . . . , den die Bedeutendsten kämpfen müssen. Für den kümmerlichsten Wicht hat die Gesellschaft einen Platz, aber Genie und Talent sehen sich vergebens nach einem Zufluchtsort um. Im Kampf um die Existenz müssen sie sich aufreiben, und wenn dieser schmähliche Kampf in irgendeinem außerordentlichen Fall einen Erfolg hat, so haben sie noch nichts gewonnen, als was sie gerediterweise nie hätten entbehren sollen. U n d es kann sich ereignen, daß die Kraft des Gefangenen nur eben zum Durchbrechen der Kerkermauern ausreicht und daß er ohnmächtig dahinsinkt, wenn er an die freie Luft k o m m t . "

Hier sind ziemlich vollständig die Themen aufgezählt, die Hebbel in monotonem Wechsel variiert, meist auf der egozentrischen Linie, die er im Anschluß an „Die Räuber" einst beschritt und die ihren Höhepunkt mit Golo und Meister Anton erreichen wird. Noch aber sind die Elemente in ihm allzu ungeklärt, zu sehr durcheinandergewühlt, als daß ihre Distanzierung und Objektivierung zu gültiger Form schon jetzt möglich gewesen wäre, als daß Hebbel gerade mit der subjektiven Selbstaussprache den ersten Schritt zu dichterischer Reife hätte tun können. Den konnte er wohl eher tun, wo das Objekt der Gestaltung nicht er selber war, sondern Welt und Leben waren, wie er sie außer sich ergriff am anderen Geschlecht, an der Gesellschaft, der Geschichte, der Metaphysik. Dieser erste und notwendige Schritt wird mit der „Judith" getan, die Hebbel gegen Schillers „Jungfrau" schreibt. Danach kann auch das Ich sich selbst gestalten, sein Ausgeschlossensein vom Leben an der „Genoveva" unter Nadiwirkung des frühen Einflusses der „Räuber", sein Ausgeschlossensein von der Gesellschaft an „Maria Magdalena", im Widerspruch zu „Kabale und Liebe". Künstlerisch wie menschlich kommt Hebbel endlich da zur vollen Reife, wo beide Linien — die subjektive (Golo, Meister Anton, dazu Holofernes) und die objektive (Judith, dazu Pfalzgraf Siegfried und Klara) — wo beide Linien sich auf höherer Ebene vereinen. Das geschieht in „Herodes und Mariamne", in dem Drama, das die erste Phase des Gesamtwerkes zusammenfaßt, beschließt und krönt.

Hamburg 1835 — Hamburg 1840

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Dabei sieht Hebbel dann von Schiller gänzlich ab. Der Weg dahin ist aber weithin eine Auseinandersetzung mit ihm. Die Kontroverse ist künstlerisch-ideologischer Natur und zugleich Teil des Kampfes um soziale Geltung. Solche Geltung erwartet Hebbel ja vom künstlerischen Erfolg. Und den will er erringen, indem er Schiller, den führenden Dramatiker, das Vorbild seiner Jugendjahre, übertrifft. Er will ihn übertreffen, indem er die „Jungfrau" angreift und widerlegt mit seiner „Judith". Den Kampf, den er mit seiner „Judith" gegen Schillers „Jungfrau" führt, betrachtet Hebbel selbst als die Entscheidungsschlacht um Sein oder Nichtsein, um den „Ruhm oder das Grab" 1 1 . „Dies ist . . . mein Römerzug: mißlingt er, so ist's aus f ü r immer!" 1 2 Der „Römerzug", der Kampf zwischen „Judith" und der „Jungfrau", wird lange vorbereitet. Hebbels Auseinandersetzung mit den widerstreitenden Elementen seiner Weltanschauung, sein Ringen um ein geschlossenes Weltbild und um eine gültige Lebenshaltung: das alles bereitet jenen Kampf mit vor — und das um so mehr, als es zugleich Auseinandersetzung ist mit seiner Vergangenheit, also auch mit dem, der ihm einst Freund und Vorbild war: mit Schiller. 11 12

T 1866. T 1839.

II. Aufbruch gegen den Idealismus Schillers 1. Protest gegen Schillers Erkenntnisoptimismus. Die Grenzen der Erkenntnis Anfang M ä r z 1835 k o m m t H e b b e l nach Hamburg. Ende März beginnt er das Tagebuch. Mitte Mai t r i t t er dem „Wissenschaftlichen Verein v o n 1 8 1 7 " bei, einer Gymnasiastenvereinigung, die hervorging „aus der Begeisterung der Freiheitskriege und der burschenschaftlichen Bewegung" 1 3 . D e m g e m ä ß waren Schiller und K ö r n e r die Lieblingspoeten der Jünglinge. H e b b e l sprach v o r ihnen über beide Dichter. Leider wurde nie bekannt, was er damals über Schillers „Glocke" zu sagen hatte. Doch Körner hat er andernorts schon damals abschätzig beurteilt 1 4 . H e b b e l erwartet damals von der Dichtung, daß sie der Lebenserkenntnis dienen solle. Sie ist Enträtselung des Lebens 1 5 . Den G r u n d des Lebens selbst versteht er weiterhin als Seinsgrund der N a t u r . U n d die Enträtselung des Lebens durch die Dichtung deutet er als zweite O f f e n barung der N a t u r 1 6 . Das ist im Sinne des romantischen Idealismus, zugleich aber auch im Sinne Feuerbachs gemeint, hat also einen Zug zu Immanenz und sogar Materialismus, gegen Transzendenz und Idealismus. Die Opposition bricht offen aus m i t den Tagebuchnotizen unter dem 6. Juli 1 7 . D a wird zunächst das Leben aus B u t t e r und B r o t erklärt. Das Ideal wird abgetan als das, als was H e b b e l es in Wesselburen in W a h r heit feierte: „als verschwundene Realität der Vergangenheit". D a n n wird „Schillers Schule" angegriffen, die des Meisters „ungeheure Subj e k t i v i t ä t " und seine Welt von „philosophischen Ideen" nicht habe übernehmen können, ohne sie gründlich zu verflachen. Überhaupt sei aber für die Dichtung der Gedanke zu verwerfen und alles zu erwarten vom Gefühl. I n diesem Zusammenhang wird n u r Goethe anerkannt, als Gegenpol zu Schiller. Acht Tage später greift Hebbel Schiller direkt an. Dessen Gedichte seien für die Jugend ja recht schön, weil sie eine klar bestimmte Philo13 15 16 17

W IX, S. XII f. W IX 22 f. Ibid. 23. T 38—42.

14

Ibid., S. XIV; 22 f.

Protest gegen Schillers Erkenntnisoptimismus

129

sophie darböten ohne Hintergrund und Problematik 1 8 . Das aber widersprach der romantischen Auffassung von Dichtung, zu der Hebbel sich damals bekannte. Es war die Ansicht: „Die höchste Wirkung der Kunst tritt nur dann ein, wenn sie nicht fertig wird; ein Geheimnis muß immer übrigbleiben." Hiergegen verstoßen das Didaktische, das beschränkte Sittliche, die bestimmte Philosophie, der fixierte Gedanke. Hiergegen verstoßen Körner und Schiller 19 . Das gilt nun keineswegs nur von der Dichtung. Es gilt von allem, was so wie die Dichtung zu tun hat mit Erkenntnis. Jeder vermeintlich klaren Einsicht steht immer eine andere im Wege. Gibt sie sich aus als völlig klar und eindeutig, ist sie im Grunde auch nicht wahr. Denn alle Wahrheit ist nur Teilwahrheit. Die Wahrheit als Ganzes ist subjektiv gespalten. Das ist nicht schlimm. Im Gegenteil. Es ist sogar gut, „weil Welt und Leben nur so möglich sind" 2 0 ; „eine Weltordnung, die der Mensch begriffe, würde ihm unerträglicher sein, als diese, die er nicht begreift. Das Geheimnis ist seine eigentliche Lebensquelle, mit seinen Augen will er etwas sehen, aber nicht alles; sieht er alles, so meint er, er sieht nichts" 2 1 . Den Keim zu derlei Erwägungen legte Feuerbadi schon lange vorher. Bereits im „Greise" heißt es, die geheiligte Natur sei unerkennbar. Das sei jedoch nicht schlimm. Denn es sei letzten Endes einerlei, „zu viel als zu wenig Licht zu haben!" 2 2 Folglich ist es nicht nur unmöglich, sondern auch überflüssig und abwegig, „daß alle Fragen beantwortet werden . . . , wenn sie nur aufgeworfen werden!" „Es gehört schon viel . . . dazu, nur einzusehen, wo das Rätselhafte in manchen Dingen eigentlich sitzt" 2 3 . Man kann ziemlich genau sagen, wann Hebbel beginnt, sich gegen Schillers Erkenntnisoptimismus zu wenden und von den Grenzen menschlicher Erkenntnis zu sprechen. Er beginnt damit schon Juli 1835, in dem Aufsatz „Über Theodor Körner und Heinrich von Kleist"2*. Hier schießt er die ersten öffentlichen Pfeile gegen Schiller ab — wenn sie direkt auch nur den Prügelknaben Körner treffen. Nie wieder wird Hebbel so vorsichtig sprechen wie hier, da er daran geht, „die Begriffe über die K u n s t . . . so weit es möglich ist, festzuhalten", und nochmals betont: „Ich sage absichtlich: ,so weit es möglich ist', denn ein abgeschlossener Begriff der Kunst läßt sich . . . wohl nicht füglich geben" 2 5 . Und ein andermal kommentiert er seine Ausdrucksweise so: „Ich muß dies Wort gebrauchen, da es das Gefühl» welches ich schildern will, am wenigsten schlecht bezeichnet" 26 . i8 T 4 9 19 T 1 0 5 7 20 T 1 5 0 8 e 21

T 1339.

22

J H II, S. 38.

23

T 1171, 862.

24

W I X 31 ff.

25

Ibid. 32.

26

Ibid. 33.

9 Wittkowski, Hebbel

130

Aufbruch gegen den Idealismus Schillers

Daneben, ja darüber herrscht jedoch schon jener, später so berühmtberüditigt gewordene, dogmatisch sichere Ton. Für ihn nennt Hebbel selbst zwei Ursachen: „das größte Vertrauen, soweit es die Sache und ihre Richtigkeit im Allgemeinen betrifft, aber zugleich das größte Mißtrauen im Einzelnen. Jenes gibt mir die Sicherheit, die mich nie verläßt; dieses die Vorsichtigkeit, die mich oft am Weitergehen hindert" 2 7 . Dazu kommt drittens wohl die Neigung des Gefühls- und Willensmenschen, das sachlich Ungesicherte gerade als das Sicherste herauszustreichen. — Die dogmatische Entschiedenheit, deren Hebbel sich gemeinhin befleißigt, geht also hervor sowohl aus seiner Sicherheit als auch aus seiner Unsicherheit im Sachlichen. Mit beidem hat die betont unentschiedene und vorsichtige Ausdrucksweise der Aufsätze von 1835 nichts zu tun. Vielmehr entspringt sie einem Kult, den Hebbel ganz bewußt mit der Unsicherheit allen Erkennens treibt, mit dem „Problematischen", das er eben erst entdeckte und nun triumphierend ausspielt gegen Schiller. Dahin kommt wohl jeder heranreifende Wahrheitssucher einmal. Und angesichts der flaumbärtigen Schüler mußte Hebbel sich geradezu als Weisen fühlen. Fortwährend und pathetisch verkündeten die jungen Leute Schillers Ideale. Hebbel selber hatte Schiller bis dahin keineswegs einseitig gesehen, keineswegs bloß als den Idealisten. Jetzt aber erlebte er, daß Schiller nur gefeiert wurde als der große Idealist; und im Munde der Primaner erschien er ihm höchst oberflächlich, verstiegen, töricht, kindisch. Er konnte nicht verstehen, wie er Schillers Erkenntnisoptimismus einstmals hatte teilen können. So soll die weise Bescheidenheit, die er nun nur Schau trägt, nicht nur die Gymnasiasten eines Besseren belehren, sondern ebenso den Idealismus Schillers kritisieren, übertreffen. 2. Protest gegen Schillers idealistische Poesie. Das Natürliche. Der Realismus An Schiller, und zwar in Distanzierung von Schiller, wurde Hebbel klar: der Mensch hat nicht „absolute Begriffe". Gibt es überhaupt ein absolutes Erkenntnismedium, so kommt es allenfalls den Tieren zu. Die sind nicht angewiesen auf die unsichere Leitung durch den Verstand. Sie dürfen sich verlassen auf den unfehlbaren Instinkt 28 . Hebbels Metaphysik weicht demnach zwar vom idealistischen Apriorismus ab, der ein Apriorismus von der Idee, von „oben" her war. Aber er verfällt deshalb nicht dem Empirismus, Materialismus oder der Milieutheorie. Vielmehr ergibt sich ihm aus der Seinsgrundlehre ein Apriorismus vom Unbewußten, von den Tiefen der Natur, von „unten" her. 27

T 2741.

28

W IX 29 f.

Protest gegen Schillers idealistische Poesie

131

Hebbels naturgegründeter Apriorismus zielt im Gegensatz zum idealistisch-rationalistischen nicht auf eine eindeutig klare, rationale Erkenntnis, die ja niemals wahr sein könnte. Wahre Erkenntnis wurzelt im naturhaften Sein, im Gefühl, im Unbewußten. D a gibt es, aufs Ganze gesehen, nur Halbdunkel und Widerspruch, Ambivalenz. Das bedeutet aber gerade die größtmögliche Nähe zur Sache. U n d sie geht verloren unter dem Schleier der sog. rationalen Wahrheit. Davon war oben schon die Rede. Wie Schuppen fällt es Hebbel von den Augen. Das Gedankliche, Philosophische, Subjektivistische, kurz die „Reflexion", die er bei Schiller kennengelernt und an der Dichtung „bisher für das Höchste gehalten hatte", — die Reflexion verfehlt die Wahrheit und vor allem das Natürliche. Damit ist sie für ihn erledigt 29 . Ungehemmt können Feuerbach und Schubert sich bei ihm durchsetzen mit ihrer Lehre von den natürlichen Urkräften, die am Menschen wirksam sind und in den kosmischen Momenten sichtbar werden. Und zwar wirken sie durch das Medium des Unbewußten, gewissermaßen von „unten" her 3 0 . „Das Bewußtsein hat an allem wahrhaft Großen und Schönen, welches vom Menschen ausgeht, wenig oder gar keinen Anteil; er gebiert es nur, wie eine Mutter ihr Kind" 3 1 . Das gilt vor allem für die Dichtung. Nachdem Schubert und Feuerbach ihn das schon in Wesselburen lehrten, läßt Hebbel es sich nun bestätigen von Goethe, der sein Nachdenken über „Natur, Zusammenhang mit der N a t u r " auch sonst klären hilft. Dichten „ist ein Traumzustand . . . Es bereitet sich in des Dichters Seele vor, was er selbst nicht weiß" 3 2 . H a t das dichterische Schaffen loszukommen von der rationalen Reflexion des Idealismus, so darf es ebensowenig die Reflexion zu seinem Gegenstande machen. „Alles Raisonnement (und dahin gehört doch auch, was Schiller unter der Firma des Sentimentalen in die Poesie einschmuggeln will) ist einseitig und gewährt dem Geist und dem Herzen keine weitere Tätigkeit als die der einfachen Verneinung oder Bejahung. Alles Tatsächliche und Gegenständliche dagegen (und hierher gehören die sog. Naturlaute, in denen sich das Innerste eines Zustandes oder einer menschlichen Persönlichkeit offenbart) ist unendlich 3 3 ." Ebensowenig darf die Dichtung idealisieren. Das ist ja gleichfalls nur möglich durch Reflexion, dadurch, daß das Natürliche gesteigert 29 30 31 33

9*

T 40, 41, 49, 136, 913, 1467, 1539, 1703. Ausführlicher Liepe: Beiträge, S. 143 ff. (Schubert), 172 (Feuerbach). 3 2 Vgl. Liepe: Beiträge, S. 186 ff; T 262, 1585. T 1496, 19 ff. T 887. Der Ausdrude „Naturlaut" bezeugt den Einfluß Heines.

132

Aufbruch gegen den Idealismus Schillers

und sublimiert wird zu etwas, was es gar nicht ist. Das Natürliche aber, die ewigen, die „Fundamentalgefühle" sind es, was adäquat dargestellt werden soll 3 4 : „der dramatische Dichter soll keineswegs idealisieren, . . . er soll . . . nur das echt Menschliche . . . wiedergeben". Er soll nicht bloß zeigen, wie der Charakter „in seiner Kraft abgeschlossen" dasteht — das tut Schiller —, sondern wie er „geworden ist, was er ist" — das tun Kleist und Goethe. Sie zeidinen „die unendlichen Schöpfungen des Augenblicks" nach 35 . Gedanken dürfen also durchaus dargestellt werden. N u r geht es nie allein um das, „was des Helden Seele erfüllt", um den intendierten Wert und dessen Rang. Vielmehr geht es auch und besonders um die Intention selber, um deren Rang und Stärke. „Wie nun dieser Gedanke sei, darauf kommt wenig an, aber daß er wirklich da sei, daß er den ganzen Menschen erfülle, da« ist allerdings notwendig" 3 6 . Das eben sind die Intentionswerte an der Person. Die Person weiß gewöhnlich nicht um sie, wohl aber der Betrachter, der Dichter. Und ihm sind sie das Wesentliche, auch in dem Sinne, daß sie Wesen in der Wirklichkeit bedeuten. Tatsächlich liegt ja in ihnen, und nicht im intendierten Wert, der wesentliche, der spezifisch ethische, der sittliche Wert: „Der sittliche Wert einer Handlung steigt im Allgemeinen nicht mit der Werthöhe des in ihr intendierten Gegenstandes (Sachverhaltes) — so wenig als mit dem Erfolge; wohl aber steigt er mit der Größe des Einsatzes und erreicht eine unüberschreitbare Höhe dort, wo sich die ganze Person rückhaltlos für die erstrebte Sache einsetzt. Dieser Kraftwert gipfelt im Wert des Opfers. Es ist evident, daß das Opfer nicht moralisch geringer wird durch die Minderwertigkeit der Sache, für die es geschieht." „Der sittliche Wert steigt eben nicht mit der Werthöhe des intendierten Sachverhalts, sondern mit der Größe des Einsatzes." 3 7

Schon in der Einleitung wurde erörtert, wie sehr es ankommt auf den Wert der Intention. U n d später wird sich zeigen, wie sehr es dem Dichter auf diesen „Kraftwert" ankommt. Der intendierte Wert wird darum nicht nebensächlich. Er sollte etwas sein, was den Menschen wirklich ganz erfüllen, was seine innersten Kräfte wecken, ursprünglicher, primärer Inhalt der Existenz sein kann. Abstrakt-Ideelles und Ideologisches fällt dafür aus. An Kleists „Prinz von H o m b u r g " verdeutlicht Hebbel, was er meint. Der Held soll denken, wie es seinem Charakter und seiner Situation psychologisch entspricht. Der Held, wenn er ein Held ist, soll nicht „für deutsche Kunst und deutsche Lieder sich niedermetzeln" lassen oder für „ein glücklich Hoffen, eine goldene Zukunft, einen gan34 37

3 5 W I X 48, 52, 56. T 1083. H a r t m a n n : Ethik, S. 350, 362.

36

Ibid. 39 f.

Protest gegen Schillers metaphysischen Idealismus

133

zen Himmel pp pp" — wie Körner es den Sängern seines „Bundesliedes vor der Schlacht" zumutet 3 8 . E r soll nicht für abstrakte Ideen erglühen und sich so vor der Zeit in den Mut hineinraisonnieren 8 9 . Wenn schon erhebende Ideen, „das Ungeheure, Große" — dann soll das „Wunderbare und das Mystische" wie bei Goethe, Kleist und Uhland „an das Einfachste und Nächste geknüpft" und „auf das Einfach-Menschliche" zurückgeführt werden, ohne jede „Willkür und Voraussetzung" 4 0 . Der Mensch soll menschlich, natürlich dargestellt werden, so wie er wirklich ist, wenn das Natürliche ihn auf natürliche Weise bewegt. Daher soll der Mensch sich zeigen nicht als Medium einer Idee, sondern als ein Mensch im Widerspruch; nicht als ideale einhellige Einheit, sondern als lebendige, komplexe; als ein Mensch von Fleisch und Blut, in dem die Wesenskräfte des Natürlichen verwirklicht sind. Deshalb darf der Dichter „sich niemals an die abgesonderte, vereinzelte Erscheinung halten, wenn er nicht den Zusammenhang derselben mit dem Allgemeinen nachweisen kann, wenn sie für ihn nicht ein Fenster ist, wodurch er in die Brust der Natur hinunter sieht" 4 1 . Das geschieht freilich nicht, „wenn wir die Natur in eine ihr nicht gemäße, sog. höhere Region hinüber führen . . . Das geschieht nicht, wenn wir mit Schiller des Menschen Angesicht durch ein Vergrößerungsglas betrachten und den Hintern entweder gar nicht oder durch ein Verkleinerungsglas" 42 . 3. Protest gegen Schillers metaphysischen Der Dualismus

Idealismus.

Hebbel sagte: Alle Wahrheit ist Teilwahrheit. Eine Wahrheit verdeckt die andere. Das ist keine Erkenntnisskepsis. Denn auch den Gegenstand aller Erkenntnis, das Lebendige, versteht er als Einheit im Widerspruch. So ist alle Teilwahrheit tatsächlich wahr. N u r sind ihre Gegenstände ineinander verwoben. Man kann keinen herauslösen, ohne zugleich das Ganze zu verletzen, ohne zugleich jeden anderen und auch den herausgelösten zu beeinträchtigen. So bleibt alles einzelne ebenso wie der Zusammenhang des Ganzen letztlich ein Geheimnis. „Freier Wille, das Ding, Natur, Zusammenhang mit der Natur verbergen sich in einem und demselben Abgrund" 4 3 . Sie mögen ihre Ordnung haben, in jenem Abgrund, dem unerkennbaren Grund des Seins, und in der Wirklichkeit, dem Felde der E r -

38

W I X 36 f.

42 T

538

39

Ibid. 53.

43 T

169

40

Ibid. 38 f.; T 136.

41

Ibid. 57 f.

134

Aufbruch gegen den Idealismus Schillers

kenntnis. Doch diese Ordnung, das Ganze, sein Zusammenhang, sind uns nicht einsichtig. Soweit wir sehen können, laufen die Linien nicht auf einen Punkt hin, der alle Widersprüche löst, etwa auf die Idee, wie der Idealismus sie versteht. Es mag so etwas da sein. Doch wir können also auch nicht sagen, daß es in sich harmonisch, einheitlich und ohne Widerspruch sei. Wir dürfen also nicht die Linien, die auseinandergehen, willkürlich und gewaltsam zusammenbiegen zu einem einhelligen, geschlossenen System. Wir neigen dazu, weil wir das System, die Ordnung wünschen. Doch wir verstellen uns dadurch nur den Blick für das, was vielleicht die Ordnung ausmacht. Soweit wir sehen, kann das System, die Ordnung des Seins in sich nicht harmonisch und einhellig sein; es sei denn, diese Harmonie sei eine Harmonie im Widerspruch. Der Widerspruch ragt aber, von uns aus gesehen, bis in den letzten Grund des Seins hinab. Daher ist die Divergenz der Linien, der Widerstreit, der Dualismus selbst als das Prinzip des Seins und seiner Ordnung anzunehmen. Wir „wollen das Widerstreitende vereinen und machen den Zwiespalt größer" 4 4 . Deshalb muß umgekehrt die Darstellung des Seins alles vermeiden, was „in der Idee den Widerstreit ausschließt" 45 . Denn der „Dualismus geht durch alle unsere Anschauungen und Gedanken, durch jedes einzelne Moment unseres Seins hindurch, und er selbst ist unsre höchste letzte Idee. Wir haben ganz und gar außer ihm keine Grundidee. Leben und Tod, Krankheit und Gesundheit, Zeit und Ewigkeit, wie sich eins gegen das andere abschattet, können wir uns denken und vorstellen, aber nicht das, was als Gemeinsames, Lösendes und Versöhnendes hinter diesen gepaltenen Zweiheiten liegt" 4 6 . Gewiß, das Gemeinsame, Lösende, Versöhnende liegt über das Wirkliche, das Seiende hinaus und jenseits der Erkenntnis. Es liegt aber auch noch über den Bereidi des Wesens, des Seinsgrundes hinaus, soweit er dem Menschen noch gegeben ist. Der Dualismus ragt in diesen Bereich des Wesens, des Naturgrundes, der Idee durchaus hinein. U n d er ist das letzte, er ist das Fundamentalprinzip, das der Mensch erfassen kann. Es ist also keineswegs so, wie man heute annimmt: daß nämlich das Lösende, Versöhnende der Seinsgrund, die Idee, das Wesen sei und zwischen ihm und dem Wirklichen der Dualismus herrsche. Vielmehr waltet das Prinzip des Dualismus im einen wie im andern. Er bedeutet nicht wie beim Idealismus eine Kluft zwischen Wirklichkeit und Wesen. Er verläuft nicht quer zur „Vertikalen", sondern quer zur „Horizontalen". Es spaltet die Wirklichkeit und auch das Wesen, soweit wir es 44

B I 57.

46 T 2197.

45

T 1057.

Verbundenheit im Stillen

135

erkennen, in lauter Zweiheiten auf. Er verläuft durch den Bereich des Wirklichen wie den des Wesens. Ganz zu Anfang würde Hebbel gesagt haben, was die Forschung noch heute annimmt: daß nämlich das Heile mehr wesenhaft sei als das Kranke im weitesten Verstände. Das wandelte sich schon in Wesselburen. Und jetzt meint er gar, die „kranken Zustände" seien „dem Wahren (Dauernd-Ewigen) näher wie die sogenannten gesunden" 47 . Doch das sind nur graduelle Unterschiede. Möglichkeit hat ja in allem Wirklichen nicht nur der Dualismus, sondern auch das Wesen. Die Dichtung freilich hat ihr Augenmerk besonders auf die kosmischen Momente zu lenken, in denen die Wesenskräfte des Seinsgrundes am intensivsten wirken und sich sichtbar offenbaren. Dichtung kann ihre Aufgabe, die „Darstellung des Lebens", nur erfüllen durch „Ergreifung der für eine Individualität oder einen Zustand derselben bedeutenden Momente" 48 , d. h. durch Ergreifen der außerordentlichen, der kosmischen Momente. Die Dichtung und insbesondere auch die tragische wird mithin nur möglich, wo die vertikale Diskrepanz von Wirklichkeit und Wesen überwunden, wo das Wesen wirklich ist. Auf dieser Grundlage kann dann der Dualismus gestaltet werden, auf den es ankommt und der das Tragische ausmacht. Das ist nicht der Dualismus zwischen Idee und Wirklichkeit, mit dem Schiller es anscheinend zu tun hatte und den man in anderer Form heute Hebbel unterstellt. Vielmehr ist es ein Dualismus, der Wirklichkeit und Wesen auf jeder der zwei Seiten hat; ein „horizontaler" Widerstreit und vor allem audi ein „Widerstreit in der Idee", wie Hebbel sagt, wie er ihn konzipiert im bewußten Gegensatz zu Schiller und womit er dessen Idealismus aus dem Sattel heben will.

4. Verbundenheit

im Stillen

Während der Zeit nach dem Verlassen Wesselburens äußert sich Hebbel über Schiller fast nur polemisch. Die schärfsten Hiebe schlägt er im Tagebuch. Die Briefe sind schon milder. Und vollends die Aufsätze befleißigen sich großer Mäßigung. Bei dem über Körner und Kleist wird außerdem der unglückliche Dichter von Leier und Schwert dazwischengeschaltet; damit treffen ihn die Pfeile, die eigentlich auf Schiller zugeschnitten sind. Es ist ja auch ein anderes, ob man im Tagebuch f ü r sich selbst, im Briefe zum vertrauten Du, oder öffentlich sich äußert. Hebbel jeden4T

T 2198.

48

T 126.

136

Aufbruch gegen den Idealismus Schillers

falls beanspruchte für sich diese Unterscheidung 4 9 . In Tagebuch und Briefen überläßt er sich dem Augenblick, der Stimmung und dem Eindruck, wie sie gerade kommen. Im Aufsatz aber wägt er Für und Wider ab, will er nur bringen, was vertretbar ist, hält er zurück, was Ausdruck seiner impulsiven Subjektivität wäre. In den Aufsätzen bleibt seine Einstellung zu Schiller denn auch gleich. Hingegen in Tagebuch und Briefen geht es hin und her. Scharfe Kritik im einzelnen, Ehrfurcht im ganzen, ja auch maßvolle Kritik stürzen den Leser von einer Uberraschung in die andere. Daß Hebbel sich aber überhaupt und fortgesetzt mit Schiller mißt, zeigt, daß er von ihm nicht los kann, daß er mit ihm verbunden ist. Schiller ist ja ein Teil der Vergangenheit, die Hebbel mit sich herumträgt und mit der er sich auseinandersetzt. Schiller ist der Dichter, mit welchem Hebbel schon jetzt, lange vor der „Judith", bewußt den Kampf um die wahre Tragödie antritt. Vielleicht ist Hebbel auch zu sehr ein Mann der Treue, der sich einfach nicht lösen kann von dem, was ihm einst teuer war und dem er viel verdankte. Vielleicht fühlt er sich ihm auch verwandt. Und wahrscheinlich bindet ihn vor allem die Gemeinsamkeit, die so häufig das Ergebnis einer Gegnerschaft von tiefgreifender Dauer ist. Schiller bleibt weiterhin der Maßstab, an dem Hebbel sich selbst mißt. Es tröstet ihn, den Autodidakten, daß auch Schiller die schweren Griechen und Lateiner in Ubersetzungen las 50 . Es hebt sein Selbstgefühl, daß — wie er meinte oder meinen wollte — selbst Schiller den „höchsten Forderungen der Poesie" nicht genügte 5 1 . Die stille, männlich-kämpferische Verbundenheit mit ihm findet schönen Ausdruck in zwei Tagebuchnotizen, die ohne jeden Kommentar Goethes Klage um den toten Schiller festhalten. Dieses Bekenntnis zu dem großen Anderen kennzeichnet Hebbels männlich treue und auch keusche Art sowie sein Verhältnis zu dem Vielgeschmähten, wie es ganz im innersten beschaffen war. Deshalb seien beide Stellen angeführt: Aus Goethes Briefwechsel mit einem Kinde. Bettina erinnert ihn an seine Worte: „Ich denke jetzt an Schiller; ich wollte, er wär' jetzt hier. Sie würden anders fühlen, kein Mensch konnte seiner Güte widerstehen, wenn man ihn nicht so reich achtet und so ergiebig, so war's, weil sein Geist einströmte in alles Leben seiner Zeit, und weil jeder durch ihn genährt und gepflegt war und seine Mängel ergänzt. So war er andern, so war er mir des Meisten, und sein Verlust wird 49

50

B I 163, 213. Michelsen in seinen Arbeiten begeht m. E. den Fehler, diese Unterscheidung nicht zu treffen. 5 1 B I 275. T 1412.

Verbundenheit im Stillen

137

sich nicht ersetzen. — Man berührt nichts umsonst; diese langjährige Verbindung, dieser tiefe, ernste Verkehr, der ist ein Teil meiner selbst geworden, und wenn ich jetzt ins Theater komme und seh' nach seinem Platz und muß es glauben, daß er in dieser Welt nicht mehr da ist, daß diese Augen mich nicht mehr suchen, dann verdrießt mich das Leben und ich möchte auch nicht mehr da sein" 5 2 . Aus Laubes Reisenovellen: „In der Fieberphantasie (¡während der kurzen Krankheit, die seinem Tode vorausging) stand Goethe von seinem Lager auf, und hat, über die Stubenschwelle schreitend, so vor sich hin geredet: ,Was betastet ihr meinen Schiller, meinen Geliebten! Lasset ab von ihm, er ist groß und herrlich! Warum liegen seine Briefblätter da zerstreut am Boden umher!'" 6 3 52

T 426.

53 T

939

_

III. Natur und Gott, Mensch und Geschichte 1. Natur und Gott Jene beiden Tagebuchnotizen über Goethes Klage um den toten Schiller stehen die eine am Anfang, die andere am Ende der ersten Auseinandersetzung mit der „Jungfrau von Orléans" 1837 in München. Ehe auf diese Auseinandersetzung und ihre Frucht, die „Judith", eingegangen wird, muß die Position geklärt werden, von welcher Hebbel seinen Kampf führte. In Wesselburen schwankte Hebbels Gottesauffassung hin und her zwischen Immanenz und Transzendenz, Pantheismus und Gottperson. Dieses Ringen geht nun weiter. Und zwar neigt Hebbel jetzt entschieden einem immanenten Weltverständnis zu — ohne aber deshalb die Vorstellung der transzendenten Gottperson preiszugeben. Die meisten Gedichte setzen die pantheistische Naturmetaphysik und -mystik fort. Sie kreisen weiter um den Schlaf, den Traum, den Tod, die Allverbundenheit mit dem Naturgrund, aus dem entspringt, was menschlich ist, den Menschen trägt und angeht. Göttlich ist die Natur. Das Göttliche hat sich zu bezeugen, indem „es aus der Erde ... in markiger, kräftiger Getalt hervorgeht und sich mit ihr verträgt" 5 4 . „Ich will aufhören an Gott zu glauben, wenn idi sehe, daß ein Baum ein Gedicht macht und ein Hund eine Madonna malt; eher nicht" 55 . Göttlich ist die Natur mit ihrem Reichtum und ihrer Gesetzlichkeit. Beides stammt nicht von Gott, sondern ist der Naur immanent: vor der Schöpfung latent, nach der Schöpfung real. Gott schuf die Welt, indem er die Natur begeisterte, nach ihrem eignen Plan die Welt aus sich hervorgehen zu lassen. In dem Gedicht „Gott über der Welt"56 von Ende 1835 sagt Gott über die Natur: „Ich schaue gern den Wirbeltanz der Wesen, Von dem ich längst in ihrer tiefsten Brust Den Riß gesehen und den Plan gelesen, Eh' sie ihn sdiuf in träumerischer Lust."

Gott nennt jetzt die Natur seine Schwester. In dem Gegenstück „Naturalismus" nannte der Mensch sie so. Schon damals aber stand 64

T 1079.

55

T 1937.

56

W VII 131.

N a t u r und Gott

139

Natur, als Seinsgrund, zum Menschen wie eine Mutter. Das klärt sich nun völlig. Gott und Natur sind etwa väterliches und mütterliches Prinzip. Der Mensdi ist beiden zugeordnet. Gott ist die Instanz des Sittlichen. Doch das Sittliche als solches liegt wie alles Wesenhafte im Seinsgrund der Natur beschlossen. Wie früher also steht Natur dem Menschen näher. Und auch sie ist — Dualismus innerhalb des Wesens — abgerückt von Gott: „Die Wesen . . . ahnen bang und schauernd meine Kraft, Die Sdiwester konnte jauchzend midi erkennen, J e t z t träumt sie tief."

Erst am Ende aller Zeiten mögen sich das Seiende mit der Natur und die Natur mit Gott wiedervereinigen: „Jetzt träumt sie tief, und würde ewig träumen, Doch bald vernimmt sie schlummernd meinen Ruf, Dann wacht sie auf und zieht aus allen Räumen Im ersten Atmen ein, was sie erschuf."

Das sind Gedanken Schuberts 57 . Sie bereiten den Anschluß an die pantheistische Geschichtsmetaphysik Schellings und Hegels vor. Davon wird noch zu sprechen sein. Dieses Weltanschauungsgedicht weist übrigens genau wie seine Vorgänger von 1834 manchen Schillerschen Ton auf: „Reigen von Welten", „Sonnen", „Flammenblick", „Erden", „Wirbeltanz der Wesen", „in aller schwindelndem Gewühl", dazu überhaupt die Personifikation metaphysischer Mächte. Doch das sind nur Relikte. Der Tenor des Ganzen steht Schiller durchaus fern. Er hat das Mystisch-Verschwommene, das an den wenigen Zitaten schon deutlich zutage tritt und dem Sinnieren Gottes über das unbewußte Wirken der Natur im Zeichen von Schlaf, Traum, Ahnen zuzuschreiben ist. Gottperson und Gottnatur stehen in Distanz. Die Natur mit ihrer Ordnung steht dem Menschen näher. Für ihn hat die Immanenz metaphysisch den Primat. Das schlägt zurück gegen den absoluten Geltungsanspruch der christlichen Gottperson. Wenn Hebbel jetzt von Offenbarung spricht, so meint er Offenbarung der Natur, nicht Gottes. Die Offenbarung Gottes in der Bibel und im Christentum lehnt er seit 1835 ab als psychologisch bedingten Anthropomorphismus. Auf eine derartige Konsequenz waren seine letzthin entwickelten Ansichten wohl angelegt. Der offene Ausbruch bringt jedoch Erschütterungen mit sich, die um so heftiger ausfallen, als das Neue dem bisherigen ideologischen Bewußtsein Hebbels schroff zuwiderläuft und andererseits zusammengeht mit seiner feindseligen Abkehr von Schiller. 57

Liepe: Beiträge, S. 186 ff.

140

Natur und Gott, Mensch und Geschichte

Beide Umwälzungen gehören eng zusammen und verstärken einander wechselseitig. Den Gegenpol zur gottbezogenen Sittlichkeit bildeten schon in Wesselburen die Werte des natürlichen Vitalverlangens. Sie sind es, die nun von Gottes metaphysischer Zurücksetzung am meisten profitieren. „Das Abendmahl des H e r r n " entstand 1834 aus naturmystisch aufgelöstem christlichem Geist. Anfang 1836 dichtet Hebbel in Uhlands modernisierten Nibelungenstrophen das Gedicht „ D e r alten Götter Abendmahl"5*, das sich schon im Titel als Analogieantithese zum ersten Ahendmahlsgedicht ankündigt. T h o r und Odin steigen bei S t u r m und Wolkenbruch über das Stadttor, geraten in die Kirche, trinken — freilich ohne Genuß — v o n dem fürs Abendmahl verdünnten Wein und trollen sich, recht unzufrieden mit Wein u n d Welt, wie sie sie vorgefunden. Die Gläubigen jedoch, die anderntags das Sakrament empfangen aus den Kelchen, fühlen sich „Zu aller Lust des Fleisdies gewaltsam aufgeregt . . . Es brauste wild und glühend von Götterkraft und Lust Aus den geweihten Kannen ein Sturm durch ihre Brust!" Ein Analogie- und Kontraststück also z u m ersten Abendmahlsgedicht; die gleiche naturmystische Ergriffenheit, doch nicht mehr im scheinbaren Einklang mit dem Christengott, sondern unter offener Parteinahme f ü r dessen Gegner. Das ist nur folgerichtig. Hebbel wendet sich hier gegen die Abwertung des Natürlichen, wie er sie b e k ä m p f t an Schiller und am Christentum. I m Gegensatz zu ihnen heiligt er das Natürliche und zieht als stellvertretende Symbole d a f ü r die heidnischen Götter heran. Die transzendente Gottperson des Christentums verliert, und das der N a t u r immanente Göttliche gewinnt. 2. Christliche

und autonome

Sittlichkeit

1837 schreibt Hebbel — und nun in direktem Protest gegen den Christengott! — ein drittes Abendmahlsgedicht, Der Priester59. Der Spender des Sakraments versucht G o t t . E r schüttet G i f t in den Wein und reicht seinem Kind den Kelch. D e r T o d tritt sofort ein. Darauf heißt es: „Kalt schaut er auf die Tote, Zornig gen Himmel dann: . . . ,Den Himmel und die Erde, Idi find' sie sdiön genug Für eines Gottes Werde, Und doch ist's Lug und Trug! 68

W VII 132.

69

Ibid. 149.

Christliche und autonome Sittlichkeit

141

Ihr Männer und ihr Frauen, . . . Mit Lust und Reiz und Schimmer Lockt euch ringsum die Welt; Tut, was ihr wollt, nur nimmer, Was eurem Gott gefällt!' An des Erlösers Bilde Haftet sein Auge nun: . . . ,I