Der Herr der Zeit: Ein Ewigkeitsmodell im Anschluss an Schellings Spätphilosophie und physikalische Modelle. Dissertationsschrift 9783161557842, 9783161557859, 3161557840

Gottes Ewigkeit ist Gottes Macht über die Zeit und über seinen eigenen Bezug zur Zeit. Er kann seinen Bezug zur Zeit änd

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German Pages 297 [312] Year 2018

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Titel
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Sigel
Abbildungsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Ewigkeit als Macht über die eigene Zeit?
1.2 Gliederung der Arbeit
1.3 Die traditionellen Ewigkeitsmodelle
1.3.1. Gegenwart aller Zeiten
1.3.2. Zeitlosigkeit
1.3.3. Zeitlichkeit
1.4 Gott und Dynamik
1.4.1. Die biblische Rede von der Ewigkeit Gottes
1.4.2. Gott, der Herr der Geschichte
1.4.3. Gott im Dialog
1.4.4. Gott begleitet die Schöpfung
1.4.5. Gottes Ewigkeit und Inkarnation
1.4.6. Der lebendige, dreifaltige Gott
1.4.7. Gott und Zeit
2. Zeit und Ewigkeit in der neueren Theologie
2.1 Ewigkeit als Explikation der Gotteslehre – Wolfhart Pannenberg
2.1.1. Die theologischen Voraussetzungen
2.1.2. Zeit und Ewigkeit
2.1.3. Die Relevanz des Ewigkeitsbegriffs für Schöpfung und Vollendung
2.1.4. Zusammenfassung
2.2 Die Zeit der Hoffnung – Jürgen Moltmann
2.2.1. Die Zeit in der Theologie der Hoffnung
2.2.2. Die verschränkten Zeiten der Geschichte
2.2.3. Zeit und Ewigkeit
2.2.4. Christi Zeit für die Toten
2.2.5. Zusammenfassung
2.3 Die Ewigkeit der Trinität – Ingolf Dalferth
2.4 Schlussfolgerungen
3. Die Zeit der Physik
3.1 Einleitung
3.1.1. Voraussetzungen des Dialogs
3.1.2. Vorgehensweise
3.2 Die Zeit in der klassischen Physik
3.2.1. Implikationen der klassischen Physik
3.2.2. Die absolute Zeit Newtons
3.2.3. Die relationale Zeit in Leibniz’ Deutung
3.2.4. Zusammenfassung
3.3 Relativistische Zeit und Kosmologie
3.3.1. Raum und Zeit in der Raumzeit
3.3.2. Gekrümmte Zeit
3.3.3. Kosmologie
3.3.4. Zusammenfassung
3.4 Zeit und Quanten
3.4.1. Zufall und Offenheit der Zukunft
3.4.2. Die Reversibilität der Quantenmechanik
3.4.3. Zeit und interne Symmetrien
3.4.4. Scharfe und unscharfe Zeit
3.4.5. Die Zeitmessung
3.4.6. Zusammenfassung
3.5 Irreversibilität und Reversibilität der Zeit in der statistischen Physik
3.5.1. Boltzmanns statistischer Ansatz
3.5.2. Gibbssche Ensembles
3.5.3. Die Entropie und andere Zeitpfeile
3.5.4. Zusammenfassung
3.6 Quantisierte Zeit?
3.6.1. Die kanonische Quantengravitation
3.6.2. Der Anfang der Zeit: Imaginäre Zeit?
3.6.3. Zeit als kausale Ordnung
3.6.4. Zusammenfassung
3.7 Zeit als Struktur gesetzlicher Zusammenhänge
3.7.1. Mathematische Strukturen und Realismus
3.7.2. Die Realität abgeleiteter Größen
3.7.3. Was ist Zeit in der Physik?
3.7.4. Die Vielfalt der Zeiten und die Konsequenzen für die Diskussion über die Ewigkeit
4. Zeit als Dynamik der Potenzen – Schellings Spätphilosophie
4.1 Die Potenzenlehre
4.1.1. Die Struktur der emphatischen Aussage
4.1.2. Das reine Denken
4.1.3. Das rein Seinkönnende
4.1.4. Das rein Seiende
4.1.5. Das Seinsollende
4.1.6. Die Einheit der Momente und das Unvordenkliche
4.1.7. Freiheit und Prädikation
4.2 Die Dynamik der Potenzen
4.2.1. Der unvordenkliche Beginn und die Möglichkeit der Weltschöpfung
4.2.2. Der Naturprozess
4.2.3. Der Sündenfall, die Mythologie und die Offenbarung
4.3 Zeit und Ewigkeit
4.3.1. Die absolute Ewigkeit und die Einheit Gottes
4.3.2. Die vorweltliche Ewigkeit und der Beginn der Zeit
4.3.3. Die wahre Zeit
4.3.4. Die arretierte Zeit
4.3.5. Die absolute Freiheit Gottes
4.4 Zeit aus Dynamik
5. Gottes Macht über seine Zeiten
5.1 Die Grundlage der Macht Gottes über die Zeiten
5.1.1. Hintergrundunabhängigkeit
5.1.2. Dynamik
5.1.3. Handlungsfreiheit
5.2 Der Spielraum der freien, hintergrundunabhängigen Dynamik
5.2.1. Zeitlinien
5.2.2. Zeitnetze
5.2.3. Vergegenwärtigung aller Zeiten
5.2.4. Übergänge zwischen den Zeitformen
5.3 Trinität und Zeit
5.4 Ewiges Leben für den Menschen
5.5 Der Ewigkeitsbegriff
6. Zusammenfassung
Literaturverzeichnis
Personenregister
Sachregister
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Der Herr der Zeit: Ein Ewigkeitsmodell im Anschluss an Schellings Spätphilosophie und physikalische Modelle. Dissertationsschrift
 9783161557842, 9783161557859, 3161557840

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Collegium Metaphysicum

Herausgeber/Editors Thomas Buchheim (München) · Friedrich Hermanni (Tübingen) Axel Hutter (München) · Christoph Schwöbel (Tübingen) Beirat/Advisory Board Johannes Brachtendorf (Tübingen) · Jens Halfwassen (Heidelberg) Johannes Hübner (Halle) · Anton Friedrich Koch (Heidelberg) Michael Moxter (Hamburg) · Friedrike Schick (Tübingen) Rolf Schönberger (Regensburg) · Eleonore Stump (St. Louis)

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Jan Schole

Der Herr der Zeit Ein Ewigkeitsmodell im Anschluss an Schellings Spätphilosophie und physikalische Modelle

Mohr Siebeck

Jan Schole, geboren 1984; 2004–2011 Studium der Ev. Theologie und Physik; 2017 Promotion; seit 2016 Softwareentwickler.

Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – 404449577. ISBN 978-3-16-155784-2 eISBN 978-3-16-155785-9 ISSN 2191-6683 (Collegium Metaphysicum) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. D as g ilt i nsbesondere f ür V ervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von le-tex in Leipzig aus der MinionPro gesetzt, von Laupp & Göbel in Gomaringen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden.

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2016/17 von der EvangelischTheologischen Fakultät der Universität Tübingen als Dissertation angenommen. Für die Drucklegung wurde sie leicht überarbeitet. Den Gutachtern der Arbeit, Prof. Dr. Friedrich Hermanni und Prof. Dr. Christoph Schwöbel, danke ich für Hinweise zur Überarbeitung. Ermöglicht wurde die Dissertation durch ein Stipendium des Evangelischen Studienwerks Villigst. Die Veröffentlichung wird durch eine Publikationsbeihilfe der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert. Das Thema der Arbeit wurde durch zwei Seminare zu Theorien der Zeit (und auch Ewigkeit) angeregt, die Prof. Dr. Friedrich Hermanni und Prof. Dr. Anton Friedrich Koch in Kooperation angeboten haben. Dazu beigetragen haben auch Prof. Dr. Friedrich Hermannis Seminare zu Schellings Philosophie der Offenbarung, in der Ewigkeit und (wahre) Zeit von zentraler Bedeutung sind. Für die Basis, die in diesen Seminaren gelegt wurde, und die Anregungen, die ich in fruchtbaren Diskussionen gewonnen habe, bin ich beiden sehr dankbar. Für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe „Collegium Metaphysicum“ danke ich den Herausgebern, Prof. Dr. Thomas Buchheim, Prof. Dr. Friedrich Hermanni, Prof. Dr. Axel Hutter und Prof. Dr. Christoph Schwöbel. Besonders danke ich auch meiner Frau Sophie, die meine Arbeit an der Dissertation mitgetragen und bei der Korrektur geholfen hat. St. Leon-Rot, im März 2018

Jan Schole

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sigel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

V XI

1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

1.1 Ewigkeit als Macht über die eigene Zeit? . . . . . . . . . . . . . . .

1

1.2 Gliederung der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

1.3 Die traditionellen Ewigkeitsmodelle 1.3.1. Gegenwart aller Zeiten . . . . 1.3.2. Zeitlosigkeit . . . . . . . . . . 1.3.3. Zeitlichkeit . . . . . . . . . .

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1.4 Gott und Dynamik . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1. Die biblische Rede von der Ewigkeit Gottes 1.4.2. Gott, der Herr der Geschichte . . . . . . . 1.4.3. Gott im Dialog . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.4. Gott begleitet die Schöpfung . . . . . . . . 1.4.5. Gottes Ewigkeit und Inkarnation . . . . . . 1.4.6. Der lebendige, dreifaltige Gott . . . . . . . 1.4.7. Gott und Zeit . . . . . . . . . . . . . . . .

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12 13 18 22 28 32 34 35

2. Zeit und Ewigkeit in der neueren Theologie . . . . . . . . . . . . . .

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2.1 Ewigkeit als Explikation der Gotteslehre – Wolfhart Pannenberg 2.1.1. Die theologischen Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . 2.1.2. Zeit und Ewigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3. Die Relevanz des Ewigkeitsbegriffs für Schöpfung und Vollendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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39 40 42

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47 49

2.2 Die Zeit der Hoffnung – Jürgen Moltmann . . 2.2.1. Die Zeit in der Theologie der Hoffnung . 2.2.2. Die verschränkten Zeiten der Geschichte 2.2.3. Zeit und Ewigkeit . . . . . . . . . . . . .

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50 51 53 57

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VIII

Inhaltsverzeichnis

2.2.4. Christi Zeit für die Toten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59 60

2.3 Die Ewigkeit der Trinität – Ingolf Dalferth . . . . . . . . . . . . . .

62

2.4 Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

64

3. Die Zeit der Physik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

3.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1. Voraussetzungen des Dialogs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2. Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67 69 71

3.2 Die Zeit in der klassischen Physik . . . . . . 3.2.1. Implikationen der klassischen Physik . 3.2.2. Die absolute Zeit Newtons . . . . . . . 3.2.3. Die relationale Zeit in Leibniz’ Deutung 3.2.4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . .

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73 74 76 79 80

3.3 Relativistische Zeit und Kosmologie . 3.3.1. Raum und Zeit in der Raumzeit 3.3.2. Gekrümmte Zeit . . . . . . . . 3.3.3. Kosmologie . . . . . . . . . . . 3.3.4. Zusammenfassung . . . . . . .

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81 83 97 111 115

3.4 Zeit und Quanten . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1. Zufall und Offenheit der Zukunft . . . . 3.4.2. Die Reversibilität der Quantenmechanik 3.4.3. Zeit und interne Symmetrien . . . . . . . 3.4.4. Scharfe und unscharfe Zeit . . . . . . . . 3.4.5. Die Zeitmessung . . . . . . . . . . . . . 3.4.6. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . .

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116 117 124 126 128 129 131

3.5 Irreversibilität und Reversibilität der Zeit in der statistischen Physik 3.5.1. Boltzmanns statistischer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.2. Gibbssche Ensembles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.3. Die Entropie und andere Zeitpfeile . . . . . . . . . . . . . . 3.5.4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

132 134 137 138 139

3.6 Quantisierte Zeit? . . . . . . . . . . . . . . 3.6.1. Die kanonische Quantengravitation . 3.6.2. Der Anfang der Zeit: Imaginäre Zeit? 3.6.3. Zeit als kausale Ordnung . . . . . . . 3.6.4. Zusammenfassung . . . . . . . . . .

140 141 144 148 153

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IX

Inhaltsverzeichnis

3.7 Zeit als Struktur gesetzlicher Zusammenhänge . . . . . . . 3.7.1. Mathematische Strukturen und Realismus . . . . . . 3.7.2. Die Realität abgeleiteter Größen . . . . . . . . . . . . 3.7.3. Was ist Zeit in der Physik? . . . . . . . . . . . . . . . 3.7.4. Die Vielfalt der Zeiten und die Konsequenzen für die Diskussion über die Ewigkeit . . . . . . . . . . . . . .

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153 154 158 163

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169

4. Zeit als Dynamik der Potenzen – Schellings Spätphilosophie . . . . .

173

4.1 Die Potenzenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1. Die Struktur der emphatischen Aussage . . . . . . 4.1.2. Das reine Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3. Das rein Seinkönnende . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.4. Das rein Seiende . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.5. Das Seinsollende . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.6. Die Einheit der Momente und das Unvordenkliche 4.1.7. Freiheit und Prädikation . . . . . . . . . . . . . .

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175 179 181 183 186 189 190 193

4.2 Die Dynamik der Potenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1. Der unvordenkliche Beginn und die Möglichkeit der Weltschöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2. Der Naturprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3. Der Sündenfall, die Mythologie und die Offenbarung

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196

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198 200 203

4.3 Zeit und Ewigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1. Die absolute Ewigkeit und die Einheit Gottes . . . 4.3.2. Die vorweltliche Ewigkeit und der Beginn der Zeit 4.3.3. Die wahre Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.4. Die arretierte Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.5. Die absolute Freiheit Gottes . . . . . . . . . . . .

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205 206 214 218 231 234

4.4 Zeit aus Dynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

237

5. Gottes Macht über seine Zeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

241

5.1 Die Grundlage der Macht Gottes über die Zeiten 5.1.1. Hintergrundunabhängigkeit . . . . . . . . 5.1.2. Dynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.3. Handlungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . .

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242 243 246 251

X

Inhaltsverzeichnis

5.2 Der Spielraum der freien, hintergrundunabhängigen Dynamik 5.2.1. Zeitlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2. Zeitnetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3. Vergegenwärtigung aller Zeiten . . . . . . . . . . . . . . 5.2.4. Übergänge zwischen den Zeitformen . . . . . . . . . . .

. . . . .

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253 255 257 258 261

5.3 Trinität und Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

266

5.4 Ewiges Leben für den Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

269

5.5 Der Ewigkeitsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

271

6. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

275

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

279 293 295

Sigel Die übrigen Abkürzungen richten sich nach S. M. Schwertner, IATG3 – Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete. Zeitschriften, Serien, Lexika, Quellenwerke mit bibliographischen Angaben, Berlin/Boston 3. Aufl. 2014. DNP

F. W. J. von Schelling, Darstellung des Naturprocesses, in: Ders., Sämmtliche Werke, Bd. X, hrsg. von K. F. A. Schelling, Stuttgart/Augsburg 1861, 301–390. KdrV I. Kant, Kant’s gesammelte Schriften. Erste Abteilung: Werke, Bd. III: Kritik der reinen Vernunft. Zweite Auflage 1787, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1904. PhdM1 F. W. J. von Schelling, Sämmtliche Werke, Bd. XI: Einleitung in die Philosophie der Mythologie, hrsg. von K. F. A. Schelling, Stuttgart/Augsburg 1856. PhdM2 F. W. J. von Schelling, Sämmtliche Werke, Bd. XII: Philosophie der Mythologie, hrsg. von K. F. A. Schelling, Stuttgart/Augsburg 1857. PhdO1 F. W. J. von Schelling, Sämmtliche Werke, Bd. XIII: Philosophie der Offenbarung. Erstes und zweites Buch, hrsg. von K. F. A. Schelling, Stuttgart/Augsburg 1858. PhdO2 F. W. J. von Schelling, Sämmtliche Werke, Bd. XIV: Philosophie der Offenbarung. Drittes Buch, hrsg. von K. F. A. Schelling, Stuttgart/Augsburg 1858. SW F. W. J. von Schelling, Sämmtliche Werke, hrsg. von K. F. A. Schelling, XIV Bde., Stuttgart/Augsburg 1856–1861. WA I F. W. J. von Schelling, Die Weltalter. Druck I 1811, in: Ders., Schellings Werke, Nachlaßbd.: Die Weltalter. Fragmente, hrsg. von M. Schröter, München 1946, 1–107. WA II F. W. J. von Schelling, Die Weltalter. Druck II 1813, in: Ders., Schellings Werke, Nachlaßbd.: Die Weltalter. Fragmente, hrsg. von M. Schröter, München 1946, 109–184. WA III F. W. J. von Schelling, Die Weltalter. Bruchstück (1814/1815), in: Ders., Sämmtliche Werke, Bd. VIII, hrsg. von K. F. A. Schelling, Stuttgart/Augsburg 1861, 195–344.

Abbildungsverzeichnis 3.1 Die Relativität der Gleichzeitigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 (a) Lichtkegel. (b) Konstitution der Raumzeit-Topologie durch zeitartige Kurven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Die Zeitmodi in der speziellen Relativitätstheorie . . . . . . . . 3.4 Zur zeitlosen Deutung der Minkowski-Raumzeit . . . . . . . . 3.5 Imaginäre Zeit und der Anfang des Universums . . . . . . . . . 3.6 Beispiel eines kausalen Netzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7 Beispiele für Zeitformen und -verläufe . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Folge von Momenten ohne Verzweigungen . . . . . . . . . . . . 5.2 Zeitlinien mit Verzweigungen und Verschmelzungen. . . . . . . 5.3 Regelmäßiges Netz aus Zeitpunkten . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Zeitlinie mit Vergangenheit aller Zeiten und Zukunft aller Zeiten 5.5 Zeitlinie mit Gegenwart aller Zeiten . . . . . . . . . . . . . . . 5.6 Beispiel für Verknüpfungen verschiedener Zeitformen . . . . . Alle Abbildungen sind eigene Darstellungen.

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85 87 91 92 146 150 152 255 256 257 259 259 262

1. Einleitung 1.1. Ewigkeit als Macht über die eigene Zeit? Gott ist Herr der Zeit. Er herrscht nicht nur über die Zeit der Schöpfung, sondern insbesondere auch über seine eigene Zeit. Sein Bezug zur Zeit ist Gott also nicht vorgegeben. Er selbst konstituiert seinen Bezug zur Zeit, bestimmt die Verlaufsform seiner eigenen Zeit und setzt sich in Beziehung zu anderen Zeiten, wie der Zeit der Schöpfung. Gottes Ewigkeit ist nichts anderes als diese Macht über die Zeit, so die hier vertretene These. Nach dieser These ist Gott nicht auf einen Bezug zur Zeit eingeschränkt. Er kann vielmehr seinen Bezug zur Zeit, zum Beispiel Zeitlichkeit oder Gegenwart aller Zeiten, selbst bestimmen. Dieser Ewigkeitsbegriff kann mit Gottes Unendlichkeit begründet werden: Wäre Gott auf einen speziellen Bezug zur Zeit eingeschränkt, wäre er als endliches Wesen gedacht. Verdeutlicht werden kann dies anhand Hegels Begriff der Unendlichkeit. Unendlichkeit ist die Negation der Endlichkeit. Endlich ist dasjenige, das im Gegensatz zu anderem definiert wird und diese Begrenzung in seinem Wesen enthält.1 Wäre nun der unendliche Gott im Gegensatz zum Endlichen zu denken, wäre er nach dieser Definition ebenfalls endlich, wie Hegel herausgestellt hat. Denn er hätte im Endlichen seine Grenze, wäre dadurch bestimmt, dass er vom Endlichen geschieden ist. Jeder Versuch, Gottes Unendlichkeit durch simple Negation der endlichen Eigenschaften der Schöpfung zu denken, muss daher scheitern. Der Gedanke des unendlichen Gottes impliziert, dass er nicht im Gegensatz zum Endlichen gedacht werden darf.2 Der unendliche Gott muss also in irgendeinem Sinne das Endliche in sich aufnehmen oder in das Endliche eingehen können. Dieser Unendlichkeitsbegriff ist von der mathematischen Unendlichkeit zu unterscheiden, die aus einer endlosen Aneinanderreihung endlicher Teile besteht.3 Diese mathematische Unendlichkeit ist zwar ohne Ende, aber nicht unendlich in dem eben dargestellten, qualitativen Sinne. Wenn Gott nicht endlich gedacht werden soll, darf der Gottesbegriff also nicht im Gegensatz zum Endlichen konzipiert werden. Das bedeutet insbesondere für jede 1 Vgl. zum Begriff des Endlichen G. W. F. Hegel, Gesammelte Werke, Bd. 21: Wissenschaft der Logik. Erster Teil. Die objektive Logik. Erster Band. Die Lehre vom Sein (1832), hrsg. von F. Hogemann/ W. Jaeschke, Hamburg 1985, Seitenangaben nach der Ausgabe von 1832, 127. 2 Siehe ebd., 138–159, insbesondere 142–144 und 148–150. 3 So zu Recht W. Pannenberg, Systematische Theologie, 3 Bde., Göttingen 1988–1993, Bd. 1, 430.

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1. Einleitung

der Eigenschaften Gottes, dass sie nicht als Gegenteil der entsprechenden endlichen Eigenschaft aufgefasst werden darf. Die menschliche Zeitlichkeit ist ohne Zweifel endlich und beschränkt. Das Leben ist begrenzt. Zudem steht in jedem Moment die Zukunft aus und die vorherigen Zeiten sind vergangen. Gottes Ewigkeit wäre nun aber ebenfalls endlich, wenn sie nur die Negation dieser Zeitlichkeit wäre. Damit Gottes Ewigkeit kein endlicher Begriff ist, darf sie die Zeitlichkeit also nicht ausschließen. Er muss zumindest die Möglichkeit haben, Zeitlichkeit zu erfahren, inklusive des Ausstehens einer Zukunft, die sich von seiner Gegenwart unterscheidet. Dies gilt jedoch nicht nur für die Zeitlichkeit, sondern auch für andere Zeitbezüge. Denn in jedem der Zeitbezüge, Zeitlichkeit, Zeitlosigkeit oder Gegenwart aller Zeiten, wäre Gott in einer bestimmten Beziehung zur Zeit gefangen,4 wenn er auf diesen einen Bezug zur Zeit eingeschränkt wäre. Ein rein zeitlicher Gott könnte das Entstehen und Vergehen der Zeitmomente nicht aufhalten, sondern müsste von Moment zu Moment fortschreiten. Weder könnte er die Zeit anhalten noch vergangene Zeiten zurückholen. Er könnte nicht aus dem Verlauf der Zeit ausbrechen. Analog wäre ein Gott, dem alle Zeiten zwangsweise gegenwärtig sind, Gefangener der Gegenwart. Er hätte nicht die Möglichkeit, etwas vergehen zu lassen oder etwas zu schaffen, das noch nicht da ist. Ein zeitloser Gott wäre erst recht in seiner Beziehungslosigkeit zur Zeit gefangen. Er könnte ebenfalls den Verlauf der Zeiten nicht erfahren und könnte sich zusätzlich keine Zeiten vergegenwärtigen. Jeder der Zeitbezüge hat für sich allein seine Beschränkungen. Wäre Gottes Ewigkeit die Einschränkung auf einen dieser Bezüge, wäre sie eine endliche Eigenschaft. Ebenso wenig darf sie jedoch als Negation einer dieser Zeitbezüge gedacht werden, da sie dann ebenfalls eine endliche Eigenschaft wäre. Gottes Ewigkeit darf also keinen der Zeitbezüge ausschließen. Die verschiedenen Zeitbezüge können jedoch nicht simultan realisiert sein. Gott kann nicht zugleich eine ausstehende Zukunft haben und alle Zeiten in seiner Gegenwart umfassen, da dies ein logischer Widerspruch wäre. Entweder gibt es Zeiten, die für ihn erst eintreten müssen, oder diese Zeiten sind für ihn gegenwärtig. Daher wird angenommen, dass Gott die verschiedenen Zeitbezüge in unterschiedlichen Momenten erfahren kann, indem er zwischen den Zeitbezügen wechseln kann. Er konstituiert Zeit mitsamt ihrer Verlaufsform und setzt sich in Beziehung zu ihr und wählt5 damit auch seinen Zeitbezug. Er hat die Möglichkeit, seinen Bezug zur Zeit zu ändern und selbst zu bestimmen. So kann er die Einschränkungen jedes der oben genannten Zeitbezüge aufheben und keiner der Zeitbezüge ist von Gottes Ewigkeit 4

Richard Swinburne bezeichnet diese Variante der Kritik am zeitlichen Gott als „God as time’s prisoner“. Vgl. R. Swinburne, The Christian God, Oxford u. a. 1994, 138. 5 Der Begriff der Wahl impliziert noch keine Festlegung bezüglich des Begriffs von Gottes Freiheit. Selbst vor dem Hintergrund eines kompatibilistischen Freiheitsbegriffs kann auf den Begriff der Wahl nicht verzichtet werden, da Gott ansonsten kein Wille zugeschrieben werden könnte. Die Wahl, die Gott trifft, ist in diesem Fall lediglich determiniert, beispielsweise durch Gottes Wesen.

1.2. Gliederung der Arbeit

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ausgeschlossen. Je nach Bedarf setzt er sich in einen anderen Bezug zur Zeit. So ergibt sich das Bild eines höchst dynamischen Gottes. Er handelt nicht nur in der Zeit, sondern erschafft sich seine Zeiten. Die Dynamik der Menschen vollzieht sich unter den Einschränkungen ihrer Zeit. Gottes Dynamik kennt dagegen keine derartigen Einschränkungen, da er Zeit und Zeitbezüge frei wählen kann. Diese Ausgangsidee soll im Laufe der Arbeit zu einem Modell ausgebaut werden. Denn es ist keineswegs selbstverständlich, dass diese Idee konsistent und sinnvoll denkbar ist. Je nach vorausgesetztem Zeitverständnis könnte man einen derartigen Wechsel des Zeitbezugs als unmöglich ansehen. Insbesondere könnte man sich fragen, ob jeder Übergang zwischen Zeitbezügen nicht bereits Zeitlichkeit voraussetzt. In dieser Arbeit wird ein Modell entwickelt, das eine solche Macht über die Zeit beschreibt und damit denkbare Einwände entkräften soll. Denn ein Beispiel, wie diese Macht realisiert sein könnte, reicht aus, um die Konsistenz dieses Ewigkeitsverständnisses zu erweisen. Ziel der Arbeit ist es also nicht, eine allgemeine Theologie der Zeit oder einen allgemeinen Ewigkeitsbegriff zu formulieren, sondern ein Ewigkeitsmodell für den christlichen Gott zu entwickeln. Andere Aspekte einer Theologie der Zeit, wie die Differenz von alter und neuer Zeit und die Zeitlichkeit des Menschen, können hier nicht behandelt werden.6 Andere Ewigkeitsbegriffe als die Ewigkeit Gottes können in dieser Arbeit ebenfalls nicht gewürdigt werden. Philosophische Konzepte, die sich nicht konkret auf die Ewigkeit Gottes beziehen, wie die Ewigkeit platonischer Ideen, bleiben daher unberücksichtigt.

1.2. Gliederung der Arbeit Um die Frage nach der logischen Konsistenz der eingangs geschilderten Grundidee zu beantworten, soll in Kap. 5 ein Modell entwickelt werden, das genau dies erlaubt: Verschiedene Zeitformen7 und -bezüge sowie Übergänge zwischen ihnen. Um Ideen und Ansätze für das Modell zu sammeln, werden in zwei Kapiteln die Zeitbegriffe der Physik und der Spätphilosophie Schellings analysiert. Mehrere Ansätze der Physik im zwanzigsten Jahrhundert haben neue Zeitverständnisse hervorgebracht, die für das Modell nützlich sein könnten. Insbesondere die Relativitätstheorie hat das Zeitverständnis verändert. Auch aus der Quantenmechanik sollen nach Ansicht einiger Philosophen und Physiker Konsequenzen für ein neues Zeit6 Die Möglichkeit, Grenzen und Gestalt einer Theologie der Zeit diskutieren A. Jackelén, Zeit und Ewigkeit. Die Frage der Zeit in Kirche, Naturwissenschaft und Theologie, Neukirchen-Vluyn 2002, insbesondere 249–313 und K. H. Manzke, Ewigkeit und Zeitlichkeit. Aspekte für eine theologische Deutung der Zeit, FSÖTh 63, Göttingen 1992. 7 Um eine knappe Bezeichnung der verschiedenen Zeitbezüge und Verlaufsformen zu ermöglichen, wird der Begriff „Zeitform“ in dieser Arbeit häufig allgemein gebraucht, um alle Existenzweisen in Bezug auf die Zeit zu bezeichnen. Auch die Gegenwart aller Zeiten ist in diesem Sinne eine extreme Variante einer „Zeit“-form.

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1. Einleitung

verständnis folgen. Nicht zuletzt wurden zahlreiche neue Ansätze entwickelt, die zum Ziel haben, Relativitätstheorie und Quantenmechanik zu vereinen oder zumindest einen Schritt in diese Richtung vorzubereiten. In der Analyse der Zeitbegriffe der Physik soll daher zweierlei erarbeitet werden: Was kann die Physik mit großer Sicherheit über die geschöpfliche Zeit aussagen? Welche Konzepte der Zeit sind in der Physik über den aktuellen Stand der Forschung hinaus denkbar? Letztere Frage schützt die Analyse davor, einen allzu engen Zeitbegriff zu entwickeln, der sich nur am jetzigen empirischen Kenntnisstand orientiert. Stattdessen soll der Fokus darauf gelegt werden, einen möglichst allgemeinen Zeitbegriff zu entwickeln, der viele Phänomene erfassen kann, die allein die Gemeinsamkeit haben, dass sie von Lebewesen in entsprechenden Welten als Zeit erfahren werden. Zu diesem Zweck werden auch zwei spekulative Theorien betrachtet, um aufzuzeigen, welche Zeitbegriffe in der Physik denkbar sind. Ziel dieser Analyse ist es, einen flexibleren Zeitbegriff zu gewinnen, der einen möglichst großen Spielraum erlaubt. Dieser Spielraum wird benötigt, um wirkliche Übergänge zwischen den Zeitformen formulieren zu können. Schellings Spätphilosophie wird im Anschluss untersucht, da er einen Übergang von Ewigkeit zu Zeit bereits beschrieben hat. Daher müssen in der Schelling-Interpretation die Fragen geklärt werden, wie Schelling diesen Übergang erklärt und von welchen Voraussetzungen er dafür in seinen Zeit- und Ewigkeitsbegriffen ausgeht. Dazu werden seine Zeit- und Ewigkeitsbegriffe einer eingehenden Untersuchung unterzogen. Denn die Möglichkeit für einen Übergang zwischen Zeit und Ewigkeit muss im Ewigkeitsbegriff und im Zeitverständnis angelegt sein. In diesem Kontext wird auch auf seine Potenzenlehre eingegangen. Denn Zeit erweist sich bei Schelling als Dynamik der Potenzen. Eine ausführliche Interpretation der Potenzenlehre Schellings kann in dieser Arbeit jedoch nicht geleistet werden. Am Anfang der Untersuchung soll in einem weiteren Kapitel eine Auswahl an Ansätzen zur Ewigkeit Gottes aus der neueren Theologie dargestellt werden. Ewigkeitsmodelle werden häufig in Bezug auf andere Teilgebiete der Dogmatik entwickelt. Daher soll untersucht werden, welche Interessen die ausgewählten Autoren mit ihrem Ewigkeitsmodell verfolgt haben, um die theologischen Anliegen auch im hier zu entwickelnden Modell aufnehmen zu können. In den oben geschilderten Ansatz sind bereits einige Voraussetzungen über das Gottesbild eingeflossen. Es wird angenommen, dass Gott nicht endlich gedacht werden darf. Für die These, dass Gott Zeitlichkeit und damit Dynamik nicht fremd sein können, lassen sich auch weitere Argumente finden. An seinen Werken als Schöpfer ist ersichtlich, dass er einen Bezug zur Zeit der Schöpfung hat und nicht unbeteiligt neben der Zeit existiert. Er begleitet seine Schöpfung, handelt in ihr und reagiert auf seine Geschöpfe. In Beziehung zu dieser Zeit kann Gott nur Herr der Zeit sein. Dazu muss er selbst zu einer Form von Dynamik fähig sein. Neben dem obigen Argument könnte man also auch von einem dynamischen Gott ausgehen und fragen, welche Verlaufsformen seine Dynamik annehmen kann. Einige Argumente, die für

1.3. Die traditionellen Ewigkeitsmodelle

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einen dynamischen Gott sprechen, werden in der Einleitung diskutiert. Diese Argumente werden keine Entscheidung zwischen den klassischen Ewigkeitsmodellen erlauben. Sie sprechen aber im Resultat für einen dynamischen Gott, der handeln und reagieren kann und die Möglichkeit hat, zeitlich zu sein. In diesem Kontext wird auch auf die Allmacht Gottes eingegangen. Es wird angenommen, dass Gott, sofern er Zeit erschafft, nur Herr über diese Zeit sein kann. Die weitere Diskussion steht ausdrücklich im Kontext christlicher Traditionen und nimmt dabei Bezug auf traditionelle Ewigkeitsmodelle. Jedes dieser Modelle kann nach dem obigen Argument nicht allein die Ewigkeit Gottes beschreiben, da Gott sonst in einem festen Zeitbezug gefangen wäre. Doch beschreiben diese Modelle je einen Zeitbezug, den das hier vorgeschlagene Modell als Möglichkeit umfassen soll. Im folgenden Abschnitt werden diese Ewigkeitsmodelle skizziert.

1.3. Die traditionellen Ewigkeitsmodelle Die traditionellen Ewigkeitsentwürfe lassen sich in drei Typen unterteilen, die sich in Gottes Bezug zur Zeit unterscheiden.8 Die Klassifizierung wird nicht allen Ewigkeitsmodellen vollständig gerecht. Doch hilft sie, einen Überblick zu erlangen und die bisherigen Ewigkeitsmodelle einzuschätzen. In den Modellen, die eine Zeitlichkeit Gottes annehmen, erlebt Gott ebenfalls eine Zeit wie die Menschen. Es sind lediglich die geschöpflichen Grenzen der Lebenszeit aufgehoben. In Modellen, die eine Zeitlosigkeit Gottes postulieren, wird seine Ewigkeit als Negation der geschöpflichen Zeit definiert. Was Zeitlosigkeit daher konkret bedeutet, ist auch vom zugrunde gelegten Zeitbegriff abhängig. Als Mittelweg zwischen Zeitlosigkeit und Zeitlichkeit Gottes wird von einigen Autoren die Gegenwart aller Zeiten angesehen.9 Sie betonen in der Regel den Bezug Gottes zur Zeit, der darin besteht, dass ihm alle Zeiten zugleich präsent sind. Diese drei Modelltypen werden im Folgenden anhand einzelner Vertreter betrachtet. Dabei wird zuerst auf die Gegenwart aller Zeiten eingegangen, damit im folgenden Abschnitt Augustins Ewigkeitsverständnis, das zumeist als Zeitlosigkeit bezeichnet wird, mit diesem Modell verglichen werden kann. Zuletzt werden einzelne neuere Ansätze, die eine Zeitlichkeit Gottes annehmen, betrachtet. Die folgenden Darstellungen sollen und können keine ausführlichen Interpretationen der jeweiligen Ewigkeitsmodelle sein. Sie sollen allein dazu dienen, einzelne wesentliche Charakteristika des Modelltyps herauszustellen. Kritik an den Ewigkeitstypen wird nicht an dieser Stelle, sondern im weiteren Verlauf der Arbeit entwickelt. 8 Zur Unterscheidung dieser Typen vgl. M. Mühling, „Ewigkeitsauffassungen. Die Aporien der exemplarischen Verhältnisbestimmungen von Zeit und Ewigkeit bei Augustin, Boethius und Swinburne und trinitarische Lösungswege“, NZSTh 47 (2005), 154–172, hier 154–168. 9 Vgl. beispielsweise Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, 437–441; E. Stump/N. Kretzmann, „Eternity“, JPh 78 (1981), 429–458, hier 430; Mühling, „Ewigkeitsauffassungen“, 161.

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1. Einleitung

1.3.1. Gegenwart aller Zeiten Plotin und Boethius haben in klassischer Weise die Ewigkeit als reine Gegenwart beschrieben. In ihren Modellen steht für das Ewige nichts aus, sondern es umfasst alles in einer Gegenwart. Nach Plotins Definition ist Ewigkeit „LEBEN, das im Selben verharrt, da es immer das Ganze gegenwärtig hat, nicht jetzt dieses, dann ein Anderes, sondern Alles zugleich, und nicht jetzt Anderes und dann wieder Anderes, sondern teillose Vollendung“.10 Die Motivation für diesen Ansatz liegt im Gedanken der Vollkommenheit des Ewigen. Das Ganze ist vollendet, so dass ihm nichts fehlt. Daher kann für das Ganze auch keine Zukunft ausstehen und keine Zeit vergangen sein. Sonst fehlte ihm das, was erst sein wird oder gewesen ist.11 Dem Ganzen muss folglich alles gegenwärtig sein. Die Ewigkeit ist dabei zugleich das Urbild der Zeit.12 In der Zeit wird alles nacheinander erlebt, während in der Ewigkeit alles simultan gegenwärtig ist.13 Die Ganzheit und Einheit der Ewigkeit spiegelt sich dabei in der Einheit der Zeit durch den Zusammenhang der Zeitmomente.14 Zugleich strebt die Zeit auf die ursprüngliche Ganzheit zu. Diese Ganzheit hätte die Zeit erlangt, wenn sie das Ganze, also alle Zeitpunkte durchlaufen hat. Daher steht ihr die Ganzheit als letzte Zukunft aus.15 Boethius definiert Ewigkeit in ähnlicher Weise als „vollständige[n] und vollendete[n] Besitz unbegrenzbaren Lebens“.16 Er kontrastiert es mit dem zeitlich Endlosen, das weder Anfang noch Ende hat, aber nicht alle Zeiten zugleich. Ewig kann nach Boethius nur dasjenige heißen, das alles Leben gleichzeitig hat, dem keine Zukunft aussteht und keine Zeiten vergangen sind.17 In diesem Sinne ist auch Gottes Wissen unveränderlich gegenwärtig. Er nimmt alle Zeiten der Welt zugleich in seiner einfachen Gegenwart wahr.18 Boethius verwendet diesen Ewigkeitsbegriff, um zu begründen, dass Gottes Wissen um zukünftige Ereignisse nicht die menschliche Freiheit einschränkt. Gott sieht nach Boethius das ganze Geschehen der Welt. Er sieht also auch, wie sich die Menschen entscheiden. Doch so wie Menschen nicht die Freiheit anderer Menschen 10 Plotinus, Über Ewigkeit und Zeit. Enneade III,7, übers., komm. und mit einer Einl. vers. von W. Beierwaltes, Frankfurt a. M. 4. Aufl. 1995, 3, Z. 16–19 (98): „ζωὴν μένουσαν ἐν τῷ αὐτῷ ἀεὶ παρὸν τὸ πᾶν ἔχουσαν, ἀλλ’ οὐ νῦν μὲν τόδε, αὖθις δ’ ἕτερον, ἀλλ’ ἅμα τὰ πάντα, καὶ οὐ νῦν μὲν ἕτερα, αὖθις δ’ ἕτερα, ἀλλὰ τέλος ἀμερές“. Übersetzung nach ebd., 99. 11 Ebd., 4, Z. 12–16 und 6, Z. 37–47 (100 und 108). 12 Vgl. ebd., 11 (124–128). 13 Ebd., 11, Z. 54 f. (130). 14 Ebd., 11, Z. 52–54 (130). 15 Ebd., 11, Z. 55 f. (130). 16 A. M. S. Boethius, Trost der Philosophie – Consolatio Philosophiae, Lateinisch und deutsch, hrsg. und übers. von E. Gegenschatz/O. Gigon, Düsseldorf/Zürich 5. Aufl. 1998, V, 6p, Z. 9–11 (262): „Aeternitas igitur est interminabilis vitae tota simul et perfecta possessio“. Übersetzung nach ebd., 263. 17 Ebd., V, 6p, Z. 12–38 (262–264). 18 V, 6p, Z. 61–73 (266) ebd.

1.3. Die traditionellen Ewigkeitsmodelle

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einschränken, wenn sie sehen, wie sie sich entscheiden, so schränkt auch Gottes Wahrnehmung der Entscheidungen nicht ihre Freiheit ein.19 Die Ewigkeitsdefinition des Boethius wird von einigen Autoren als Mittelweg zwischen Zeitlosigkeit und Zeitlichkeit angesehen.20 Im Gegensatz zur Zeitlichkeit ist Gott in der Gegenwart aller Zeiten nicht dem Wandel der Zeiten unterworfen. Er hat jedoch über den Modus der Gegenwart einen positiven Bezug zur Zeit. In der Zeitlosigkeit ist ebenfalls die zeitliche Sukzession negiert. Allerdings wird auf einen positiven Bezug zwischen Ewigkeit und Zeit verzichtet. Mit diesen beiden Eigenschaften der Gegenwart aller Zeiten, die Sukzessionslosigkeit bei positivem Bezug zur Zeit, sollen die Vorzüge der beiden anderen Modelle aufgenommen werden. 1.3.2. Zeitlosigkeit Augustin gilt als der klassische Vertreter des Ewigkeitstypus der Zeitlosigkeit. An seinem Beispiel lässt sich jedoch veranschaulichen, dass es von der Definition der Zeit abhängen kann, ob ein Modell als Zeitlosigkeit zu bezeichnen ist. Augustin entwickelt seinen Zeitbegriff ausgehend von der ontologischen Frage, was Zeit ist.21 Dabei stellt sich ihm das Problem, dass Vergangenheit und Zukunft eigentlich nicht existieren, weil Vergangenes und Zukünftiges nicht mehr beziehungsweise noch nicht existieren.22 Dennoch kennt der Mensch Vergangenheit und Zukunft. Augustins Lösung besteht darin, den Gegenwartsbezug der Zeitmodi zu betonen: Die Vergangenheit ist in Form der Erinnerung gegenwärtig, die Zukunft in Form der Erwartung und die Gegenwart als Anschauung. Zeit ist also im Geist des Menschen. In diesem Sinne ist nach Augustin auch die Rede von einem Sein der Vergangenheit und Zukunft zu verstehen.23 Am Problem der Zeitmessung verdeutlicht Augustin, was dieser Zeitbegriff für die menschliche Seele bedeutet. Denn bei der Zeitmessung wird eine Ausdehnung bestimmt. Doch Vergangenheit und Zukunft existieren eigentlich nicht und die Gegenwart besitzt keine Ausdehnung. Nur im menschlichen Geist, im Erinnern und Erwarten, sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zugleich gegenwärtig, so dass den Zeiten eine Ausdehnung zugeschrieben werden kann. Zeit ist daher die Ausdehnung des Geistes.24 Diese Ausdehnung beurteilt Augustin negativ als Zerteilung oder Zersplitterung.25 Gottes Ewigkeit besteht daher in der exakten Nega19

Ebd., V, 6p, Z. 74–97 (266–268). Zum Beispiel Stump/Kretzmann, „Eternity“, 430; Mühling, „Ewigkeitsauffassungen“, 159 und 161; Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, 437–441. 21 So Mühling, „Ewigkeitsauffassungen“, 155. 22 K. Flasch, Was ist Zeit? Augustinus von Hippo. Das XI. Buch der Confessiones. Historisch-philosophische Studie, Text – Übersetzung – Kommentar, Frankfurt a. M. 2. Aufl. 2004, XIV.17, Z. 12–14 (250). 23 Ebd., XX.26, Z. 3–10 (258). 24 Ebd., XXVI.33–XXVIII.38 (268–274). 25 Ebd., XXIX.39 (276). 20

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1. Einleitung

tion dieses Zeitbegriffs, der Ablehnung jeglicher Ausdehnung. Gottes Handeln ist nicht zerteilt in die Zeitmodi.26 Daher kann Augustins Ewigkeitsbegriff zu Recht als Zeitlosigkeit, als Negation seines Zeitbegriffs, gelten. Doch auch Augustin kann behaupten, dass in der Ewigkeit „das Ganze gegenwärtig [ist]“.27 In diesem Punkt deckt sich sein Ewigkeitsbegriff mit der Gegenwart aller Zeiten nach Boethius. Tatsächlich besteht der Sache nach wohl kein Unterschied zwischen Augustins Verständnis der Ewigkeit und Boethius’ Ansatz. Denn auch Augustin hält fest, dass Gott alles in einer Weise präsent ist, die über das menschliche Erinnern und Erwarten weit hinausgeht.28 Alles ist ihm unmittelbar und ohne Zerteilung bewusst. Übernimmt man also nicht Augustins Zeitdefinition, könnte man auch Augustins Ewigkeitsverständnis als Gegenwart aller Zeiten bezeichnen. Der Unterschied zwischen Augustin und Boethius liegt also im zugrunde gelegten Zeitbegriff, aber auch in der verfolgten Intention. Boethius legt in seinem Ewigkeitsbegriff den Fokus auf die Integration aller Zeiten zu einer Gegenwart allen Lebens. Damit will er die Kompatibilität menschlicher Freiheit mit Gottes Kenntnis der Zukunft begründen. Augustin versteht unter Zeit jedoch die Ausdehnung und Zerteilung des Geistes und unter Ewigkeit das exakte Gegenteil. Aus seiner Argumentation wird dabei deutlich, dass ihm der Gegensatz zwischen Schöpfer und Geschöpf sowie Gottes Erhabenheit wichtig sind.29 In der neueren Theologie hat Paul Helm die Zeitlosigkeit Gottes verteidigt. Er versteht Ewigkeit als Negation aller zeitlichen Relationen. Gott habe weder Dauer noch Simultaneität noch könne seine Ewigkeit mit einem einzigen Zeitpunkt verglichen werden. Jegliche zeitlichen Begriffe sind nach Helm nicht auf Gott anwendbar.30 Auch eine Gegenwart oder Gleichzeitigkeit Gottes mit seiner Schöpfung bestreitet Helm, da er solche Gleichzeitigkeit mit mehreren Zeiten als inkohärent ansieht.31 Seine Gründe, eine Zeitlosigkeit Gottes anzunehmen, sind ähnlich wie bei Augustin Gottes Vollkommenheit sowie der Unterschied von Schöpfer und Geschöpf.32 Zeitlosigkeit ist nach Helm zwar keine Vollkommenheit für sich selbst. Doch wertet er zeitlose Gnade und Allwissenheit als vollkommener als die zeitlichen Varianten. So garantiere beispielsweise die Unveränderlichkeit Gottes die Konstanz seiner Gnade.33

26 Flasch, Was ist Zeit? Augustinus von Hippo. Das XI. Buch der Confessiones. XXXI.41, Z. 10–19 (278). 27 Ebd., XI.13, Z. 9–10 (246): „non autem praeterire quidquam in aeterno, sed totum esse praesens“. Übersetzung nach ebd., 247. 28 Ebd., XXXI.41 (278). 29 Zum Beispiel im Gebet, das sich gegen die Kritiker richtet, die fragen, was Gott vor der Schöpfung machte und im abschließenden Lob. Vgl. ebd., XXX.40 und XXXI.41 (276 und 278). 30 P. Helm, Eternal God. A Study of God without Time, Oxford 2. Aufl. 2010, 23–40. 31 Ebd., 22 f. 32 Ebd., 21 f. 33 Ebd., 16 f. und 268 f.

1.3. Die traditionellen Ewigkeitsmodelle

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Wie bei Augustin ist auch bei Paul Helm Ewigkeit als Negation seines Zeitbegriffs definiert. Aufgrund seines Begriffs der Zeit als geordnete Reihe34 fällt Helms Zeitlosigkeit allerdings anders aus. Helm lehnt jede Übertragung zeitlicher Konzepte auf Gott ab. Damit bleibt die Ewigkeit Gottes jedoch unspezifisch und unbestimmbar. Denn mit der Negation zeitlicher Konzepte ist kein positiver Begriff der Existenzweise Gottes gefunden, sondern lediglich ausgesagt, welche Relationen und Eigenschaften er nicht besitzt.35 1.3.3. Zeitlichkeit In der neueren analytischen Religionsphilosophie wird die Zeitlosigkeit Gottes vielfach abgelehnt. Der Grund liegt häufig im vorausgesetzten Zeitverständnis. Nach J. Ellis McTaggart lassen sich zwei Klassen von Zeittheorien unterscheiden.36 Beide Klassen setzen eine Zeitreihe voraus, das heißt eine Folge von globalen Weltzuständen. Die erste Klasse, die A-Theorien, kennt zudem objektive Zeitmodi, das heißt Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Wodurch die Gegenwart ausgezeichnet ist, variiert von Theorie zu Theorie. In modalen Theorien kann beispielsweise angenommen werden, dass der Zukunft der Modus der Möglichkeit entspricht, während die Vergangenheit festgelegt und daher notwendig ist.37 Die zweite Klasse, die sogenannten B-Theorien, kennen keine objektiven Zeitmodi. Die Zeitreihe ist nur durch Früher- und Später-Relationen sortiert. Jede Rede von Gegenwart oder Zukunft wird daher auf die Früher- und Später-Relationen des redenden Subjekts reduziert. Zukunft zur Zeit 𝑡 ist beispielsweise alles, was später als 𝑡 passiert. Vertreter einer A-Theorie, die eine objektiv unterscheidbare Gegenwart voraussetzt, müssen konsequenterweise auch von einem zeitlichen Gott ausgehen.38 Denn ein allwissender Gott müsste auch wissen, welche Zeit „jetzt“ ist. Da sich die JetztZeit ständig ändert, muss sich auch Gottes Wissen um die Welt ändern, so dass Gott 34 Er geht von einer B-Reihe nach J. Ellis McTaggart aus. Siehe P. Helm, „Divine Timeless Eternity“, Philosophia Christi, 2. Ser. 2 (2000), 21–27, hier 26 f. Vgl. den nächsten Abschnitt zur Unterscheidung der A- und B-Reihe. 35 So ähnlich auch Helm, Eternal God, 55: „In saying that we ought to conclude that if God exists he is outside space and time it is not being claimed that the meaning of such a proposition is clear.“ 36 Zur Unterscheidung der A- und B-Theorie der Zeit siehe J. E. McTaggart, „The Unreality of Time“, Mind 17 (1908), 457–474, hier 458. 37 Eine solche Theorie vertritt zum Beispiel G. Picht, „Die Zeit und die Modalitäten“, in: Ders., Hier und Jetzt. Philosophieren nach Auschwitz und Hiroshima, Bd. 1, Stuttgart 1980, 362–374, hier 368–372. 38 Argumente ähnlich zu den folgenden vertreten beispielsweise W. L. Craig, God, Time, and Eternity. The Coherence of Theism II: Eternity, Dordrecht/Boston/London 2001, 112–133; W. L. Craig, „Timelessness and Omnitemporality“, Philosophia Christi, 2. Ser. 2 (2000), 29–33, hier 30 f.; N. Wolterstorff, „God and Time“, Philosophia Christi, 2. Ser. 2 (2000), 5–10, hier 8–10; A. G. Padgett, „God the Lord of Time. A Third Model of Eternity as Relative Timelessness“, Philosophia Christi, 2. Ser. 2 (2000), 11–20, hier 13–15; G. DeWeese, „Timeless God, Tenseless Time“, Philosophia Christi, 2. Ser. 2 (2000), 53–59, hier 55–59. Auch Paul Helm akzeptiert diese Argumentationslinie und vertritt daher eine B-Theorie der Zeit. Vgl. Helm, Eternal God, 230; Helm, „Divine Timeless Eternity“, 26.

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1. Einleitung

veränderlich und zeitlich sein muss. Umgekehrt kann man argumentieren, dass das Wissen eines zeitlosen Gottes um zeitliches Geschehen nur die Form einer B-Reihe haben kann. Denn er kann alles nur zeitlos und unveränderlich wissen, das heißt, er muss alles Geschehen aller Zeiten zugleich wissen. Unter der Voraussetzung, dass der zeitlose Gott alles weiß, was es zu wissen gibt, kann es also keine ausgezeichnete Gegenwart geben. Auf die Gründe, die für oder gegen eine A-Zeit sprechen, wird hier nicht eingegangen. Im Kontext der Interpretation der Relativitätstheorien werden sowohl die A- als auch die B-Theorien der Zeit modifiziert werden müssen (vgl. Abs. 3.3). Denn ihre gemeinsame Voraussetzung, die Existenz einer Reihe globaler Weltzustände, wird durch die Relativitätstheorien in Frage gestellt. Die Annahme eines zeitlichen Gottes bringt unter anderem zwei Probleme mit sich. Zum einen muss der Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf gewahrt bleiben.39 Zum anderen halten einzelne Autoren eine unendliche Vergangenheit für undenkbar oder zumindest problematisch.40 Diese Probleme können auf unterschiedliche Weise gelöst werden. Alan G. Padgett schlägt eine Unterscheidung zwischen metrischer Zeit und unendlicher und unmessbarer Dauer vor. Nur die metrische Zeit ist geschaffen. Die Dauer ist zwar konzeptuell von Gottes Existenz abhängig, aber ungeschaffen.41 Einen ähnlichen Vorschlag unterbreitet auch Richard Swinburne mit seiner Unterscheidung einer topologischen und einer metrischen Zeit.42 Damit ist der Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf gewahrt. Das Problem der unendlichen Vergangenheit scheint dadurch gelöst zu sein, dass ohne Metrik der Unterschied zwischen einer endlichen und unendlichen Vergangenheit nicht definiert ist.43 Doch kehren die entsprechenden Probleme wieder, wenn man die Handlungen Gottes betrachtet statt einer abstrakten Zeit. Dann könnte Gottes Vergangenheit aus unendlich vielen Handlungen bestehen, die er alle vor dem jetzigen Zeitpunkt ausgeführt haben müsste. In diesem Fall hätte man dasselbe Problem auf einer anderen Ebene. Alternativ könnte Gott aber auch nur endlich viele Handlungen ausgeführt haben. Wenn die erste Handlung mit seinem ersten Zeitpunkt zusammenfällt, müsste man Gott eine endliche Handlungsvergangenheit zuschreiben und müsste daher erklären, warum Gott einfach so mit der Zeit anfängt zu existieren.44 Gibt es jedoch eine Zeit vor der ersten Handlung, stellt sich wieder die Frage, weshalb Gott zu diesem Zeitpunkt anfängt zu handeln und nicht schon früher. Einen anderen Lösungsansatz unterbreitet William Lane Craig. Nach seinem Modell ist Gott zeitlos ohne beziehungsweise vor der Schöpfung. Mit der Schöp39

Dieses Problem sieht Padgett, „God the Lord of Time“, 11 f. Zum Beispiel Craig, God, Time, and Eternity, 260–267; Craig, „Timelessness and Omnitemporality“, 31 f. 41 Padgett, „God the Lord of Time“, 17–19. 42 Swinburne, The Christian God, 140–144. 43 Die Intervalle (−∞; 0] und (−1; 0] enthalten gleich viele Punkte und haben die gleiche Topologie. Ohne Maß, das den Intervallen ihre Länge zuordnet, ist nicht definiert, ob sie unendlich oder endlich sind. Gleiches trifft auf eine topologische Zeit zu, die keine Metrik besitzt. 44 Swinburne scheint hier kein Problem zu sehen. Vgl. Swinburne, The Christian God, 140 f. 40

1.3. Die traditionellen Ewigkeitsmodelle

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fung wird Gott dagegen zeitlich, weil er unter anderem weiß, welcher Zeitpunkt der Schöpfung „jetzt“ ist.45 Unklar bleibt bei diesem Vorschlag, in welcher Relation die Zeitlosigkeit und Zeitlichkeit Gottes stehen.46 Craig selbst sagt, dass Gottes Zeitlosigkeit weder früher noch später als seine Zeit ist, sondern kausal der Zeit vorangeht.47 Doch inwiefern unterscheidet sich dieses kausale Vorangehen von einem temporalen Frühersein? Eine gelungene Terminologie für diesen Ansatz findet sich in Schellings Spätphilosophie (vgl. Abs. 4.3.2). Nach Schelling ist Gott zunächst ewig, nicht zeitlich. Denn er befindet sich in einem Zustand, der für sich genommen keiner Zeitreihe angehört. In dieser Ewigkeit hat er die Wahl, Zeit zu schaffen oder es bleiben zu lassen. Entscheidet er sich für die Zeit, wird durch die Setzung eines zweiten Moments auch die zeitlose Ewigkeit im Nachhinein zum ersten Zeitpunkt der erschaffenen Zeitreihe und zu ihrer Vergangenheit. Gottes anfängliche Zeitlosigkeit wird also zum ersten Moment der Zeit.48 Im Rahmen einer B-Theorie der Zeit ist dieses Modell wenig plausibel. Denn in einer B-Theorie wäre der erste Moment objektiv früher als der immer auch existierende zweite Moment. In einer A-Theorie dagegen existiert der zweite Moment im ersten Moment noch nicht. Während des ersten Moments wäre es auch nicht entschieden, ob ein zweiter Moment folgt. Daher steht Gott während des ersten Moments tatsächlich in keinen zeitlichen Relationen. Erst durch die Schaffung des zweiten Moments gerät auch der erste Moment in Früher-/Später-Relationen und wird damit zeitlich. Die Modelle von Craig und Schelling verdeutlichen, dass alle Ewigkeitstypen noch dahingehend differenziert werden können, ob der jeweilige Zeitbezug Gott notwendig zukommt oder nur faktisch realisiert ist. Während Paul Helm scheinbar von einer notwendigen Zeitlosigkeit ausgeht,49 gesteht Craig Gott eine faktische Zeitlosigkeit zu, die er durch die Schöpfung verlässt. Der Unterschied zwischen 45 Zu diesem Vorschlag vgl. Craig, God, Time, and Eternity, 267–275; Craig, „Timelessness and Omnitemporality“, 31–33. Einen ähnlichen Gedanken beschreibt als hypothetische Möglichkeit auch W. P. Alston, „Divine-Human Dialogue and the Nature of God“, in: Ders., Divine Nature and Human Language. Essays in Philosophical Theology, Ithaca N. Y./London 1989, 144–161, hier 160 f. 46 Vgl. dazu Paul Helms Kritik in Helm, Eternal God, 218–233. Er spielt verschiedene Varianten durch, wie Craigs Modell gemeint sein könnte. 47 Craig, God, Time, and Eternity, 270–273. 48 Vgl. insbesondere F. W. J. von Schelling, Sämmtliche Werke, Bd. XIII: Philosophie der Offenbarung. Erstes und zweites Buch, hrsg. von K. F. A. Schelling, Stuttgart/Augsburg 1858 (= PhdO1), 307; F. W. J. von Schelling, Sämmtliche Werke, Bd. XIV: Philosophie der Offenbarung. Drittes Buch, hrsg. von K. F. A. Schelling, Stuttgart/Augsburg 1858 (= PhdO2), 108–110; F. W. J. von Schelling, Sämmtliche Werke, Bd. XI: Einleitung in die Philosophie der Mythologie, hrsg. von K. F. A. Schelling, Stuttgart/Augsburg 1856 (= PhdM1), 493. 49 Faktisch zeitlose Gnade bietet keinen Unterschied zur zeitlichen Gnade, da sie ebenfalls vergehen könnte, also veränderlich ist. Nur notwendig zeitlose Gnade unterscheidet sich in dieser Hinsicht von zeitlicher Gnade. Vgl. zur Unveränderlichkeit der Gnade Helm, Eternal God, 16 f. und 268 f.

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1. Einleitung

notwendiger und faktischer Zeitlosigkeit liegt also insbesondere im Handlungsspielraum, der Gott zugeschrieben wird. Zwischen den Vorschlägen von Craig und Schelling und der oben beschriebenen Grundidee dieser Arbeit existieren offensichtliche Ähnlichkeiten. Allerdings bleiben diese Vorschläge zu begrenzt. Sie erlauben zwar einen Wechsel zwischen einer Zeitlosigkeit und Zeitlichkeit Gottes. Doch kann dieser Gott beispielsweise nicht alle Zeiten gegenwärtig haben. In der anfänglichen Zeitlosigkeit kann er vielleicht alle kommenden Zeiten vorherwissen oder planen. Aber sie sind ihm nicht gegenwärtig. Gott hat nur die Wahl mit der Zeit der Schöpfung zu gehen oder die Schöpfung zu unterlassen. In dieser Arbeit wird davon ausgegangen, dass die Möglichkeit, zwischen Zeitformen und Zeitbezügen zu wechseln, umfassender gedacht werden muss. Gott kann unabhängig von der Schöpfung alle erdenklichen Zeitbezüge durchleben.

1.4. Gott und Dynamik Im Rahmen dieser drei Ewigkeitstypen scheint jedes Argument für einen dynamischen Gott immer zugleich für einen zeitlichen Gott im Sinne des dritten Typs zu sprechen. Daher wird den folgenden Argumenten der Hinweis vorangestellt, dass hier in erster Linie für einen dynamischen Gott argumentiert wird. Die Argumente, die für eine Zeitlichkeit Gottes sprechen, beziehen sich stets auf spezielle Situationen, in denen Gott zeitlich handelt. Aus ihnen folgt also nicht, dass Gott nur zeitlich wäre, sondern allein, dass Gott für spezielle Handlungen zeitlich wird. Dynamisch ist er dagegen auch, wenn er beispielsweise aus der Gegenwart aller Zeiten heraus handelt. Der Sinn dieser Unterscheidung von Dynamik und Zeitlichkeit wird sich in diesem Abschnitt folglich darin erweisen, dass auch Vertreter der Zeitlosigkeit Gottes ihm Handlungen zuschreiben müssen und können, die man intuitiv nur dynamischen Akteuren zugesteht. In den weiteren Kapiteln wird sich diese Unterscheidung bewähren. Es wird sich herausstellen, dass Dynamik Zeit nicht zur Voraussetzung hat. Gegen einen rein zeitlichen Gott wurde zudem schon das Argument vorgebracht, dass Gott nicht in der Zeit gefangen sein kann. Ein analoges Argument, dass Gott Gefangener der Dynamik sei, ist dagegen nicht überzeugend. Denn die Möglichkeit zur Dynamik erlegt ihm keine Einschränkungen auf. Er könnte auf die Möglichkeiten der Dynamik verzichten, indem er sämtliche Handlungen unterlässt. Es existieren vielfältige Gründe, von einem dynamischen Gottesbild auszugehen. Viele sind nicht überzeugend oder können widerlegt werden. Eine vollständige Diskussion dieser Gründe würde den Rahmen dieser Arbeit übersteigen und wäre auch nicht angebracht. Hier wird eine Auswahl an Argumenten diskutiert, die plausibel erscheinen. Zu Beginn wird auf die Rede von Ewigkeit in der Bibel eingegangen. Es wird sich jedoch zeigen, dass die Bibel keine Präferenz für ein bestimmtes Ewigkeits-

1.4. Gott und Dynamik

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modell aufweist. Im Anschluss werden einige Argumente betrachtet, die insbesondere von der Beziehung Gottes zu den Menschen ausgehen. Das stärkste Argument bezieht sich auf die Begleitung der Schöpfung durch Gott. Doch auch die Inkarnation und das innertrinitarische Leben geben Anlass zu der Annahme, das der dreifaltige Gott nicht einfach statisch gedacht werden kann, sondern auch selbst Zeit erfahren hat. Gesammelt werden diese Überlegungen in der abschließenden Frage, was Gott ohne Zeit und ohne Dynamik fehlt beziehungsweise ob ihr Fehlen denn überhaupt eine Einschränkung für Gott bedeutet. In diesem Kontext wird auch das Thema der Allmacht Gottes aufgenommen. 1.4.1. Die biblische Rede von der Ewigkeit Gottes Im Alten Testament werden keine abstrakten Ewigkeitskonzeptionen beschrieben. Spätere Modelle wie Zeitlosigkeit oder Gegenwart aller Zeiten oder selbst endlose Zeit werden an keiner Stelle ausgeführt. Es fehlen reflexive Kontexte, in denen explizit reflektiert wird, was Ewigkeit ist, welche Eigenschaften sie hat oder warum Gott ewig ist.50 Die Übersetzung einzelner hebräischer Worte mit „ewig“ oder „Ewigkeit“ steht daher stets in Gefahr, Assoziationen an spätere Ewigkeitsvorstellungen in den hebräischen Text einzutragen.51 Es existieren zwar einige Vokabeln, die häufig Sachverhalte andeuten, die im deutschen mit dem Wort „ewig“ ausgedrückt werden können. Die Bedeutung dieser Vokabeln muss allerdings unabhängig von Assoziationen an philosophische Konzepte eruiert werden und selbst eine ursprüngliche Bedeutung dieser Worte, sofern sie überhaupt rekonstruierbar ist, darf nicht als ein Ewigkeitskonzept missverstanden werden. Im Allgemeinen muss auch damit gerechnet werden, dass ein Wort für unterschiedliche Konzepte gebraucht werden kann. Wörter und Konzepte sind in der Regel nicht deckungsgleich.52 Wenn im Folgenden daher Stellen betrachtet werden, die zumindest Aspekte einer Ewigkeitsvorstellung andeuten, muss stets beachtet werden, was die Stellen explizit aussagen. Um diesen Punkt zu verdeutlichen, wird zuvor kurz der Gebrauch der entsprechenden Vokabeln rekapituliert. Als Synonyme, die im Deutschen mit „ewig“ oder „Ewigkeit“ übersetzt werden können, kennt das biblische Hebräisch ‫עַד‬, ‫נֵצַח‬, ‫ דּוֹ ר ו ָדוֹ ר‬und vor allem ‫עוֹ לָם‬.53 ‫ עַד‬kann als „immerwährende Fortdauer“ verstanden werden. ‫ נֵצַח‬kann in synonymer Bedeutung zu ‫ עַד‬auftreten. ‫ דּוֹ ר ו ָדוֹ ר‬bezeichnet ebenfalls eine lange Gültigkeit oder Beständigkeit eines Sachverhalts, der über Generationen andauert (vgl. Dtn 32,7). Diese Vokabeln können die Bedeutung von „ewig“ annehmen, wobei un50

So zu Recht J. Barr, Biblical Words for Time, SBT 33, London 2. Aufl. 1969, 138 und 155–158. Davor warnen unter anderem E. Jenni, Art.: ‫עוֹ לָם‬, in: THAT, Bd. 2 (1976), 228–243; H. Mathys, Art.: Zeit. III. Altes Testament, in: TRE, Bd. 36 (2004), 520–523, hier 520. 52 Darauf weist insbesondere Barr, Biblical Words for Time, 110–116 und 122 hin. 53 E. Jenni, Art.: ‫עַד‬, in: THAT, Bd. 2 (1976), 207–209, hier 207; Jenni, ‫עוֹ לָם‬, 231 f. 51

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1. Einleitung

ter ewig dann die Konstanz des beschriebenen Sachverhalts über lange Zeiträume zu verstehen ist.54 ‫ עוֹ לָם‬wird im Anschluss an Ernst Jenni oft55 als „fernste Zeit“, sowohl in Richtung Vergangenheit als auch in Richtung Zukunft, übersetzt.56 Unter fernster Zeit darf dabei kein spezieller Zeitraum verstanden werden, wie etwa ein urzeitlicher Äon. ‫ עוֹ לָם‬ist keine Zeitspanne, sondern dient als „äußerste[r] denkbare[r] terminus a quo“ beziehungsweise „ad quem“.57 Dies spiegelt sich unter anderem darin, dass ‫ עוֹ לָם‬selten als unabhängiges Nomen auftritt (Koh 1,10 und 3,11), sondern fast nur in Kombination mit ‫מִן‬, ‫ עַד‬und ְ‫ל‬, in Konstruktusverbindungen oder als Richtungsakkusativ. In diesen Verbindungen bedeutet ‫עוֹ לָם‬, dass der genannte Sachverhalt schon seit unvorstellbar langer Zeit besteht oder unveränderlich bestehen wird. Wie lange diese Zeiten tatsächlich zurückliegen oder andauern werden, ist kontextabhängig. Insofern dient insbesondere auch ‫ לְעוֹ לָם‬häufig als Ausdruck der Beständigkeit.58 Diesen Sinn hat ‫ עוֹ לָם‬nicht nur in religiösem Kontext, sondern auch in Rechtstexten oder Verträgen.59 An keiner Stelle der Bibel wird explizit ausgeführt, was ‫ עוֹ לָם‬ist oder welche Eigenschaften es hat. Niemals wird ‫ עוֹ לָם‬in einem reflexiven Kontext diskutiert und nirgends wird ein Konzept von Ewigkeit entwickelt.60 Aus dem Übersetzungsvorschlag „fernste Zeit“ ist daher kein spezielles Ewigkeitsmodell abzuleiten. Aus einzelnen Stellen, in denen ‫ עוֹ לָם‬auf Gott bezogen wird, lassen sich dennoch Konsequenzen für das Gottesbild ziehen. Dabei ist zu beachten, dass diese Schlussfolgerungen nur Geltung für die jeweilige Traditionslinie beanspruchen können, in der die betrachteten Stellen stehen. Die Vielfalt der Traditionen, die in der hebräischen Bibel gesammelt wurden, wird zwar durch viele gemeinsame Tendenzen vereint, sie bietet jedoch kein in jeder Hinsicht einheitliches Gottesbild.61 Daher sind die im Folgenden betrachteten Stellen als Auswahl zu verstehen, mit der bewusst an bestimmte Traditionen angeschlossen wird, insbesondere der Erhabenheit Gottes über die Zeiten der Welt. Gottes Erhabenheit über die Zeiten der Welt wird sehr prägnant in Ps 90 ausgedrückt. In V. 2 wird die Präexistenz Gottes vor der Schöpfung behauptet und in 54

Siehe Jenni, ‫עַד‬, 207 f. So H. D. Preuß, Art.: ‫עוֹ לָם‬, in: ThWAT, Bd. 5 (1986), 1144–1159, hier 1145; Mathys, Zeit. III. Altes Testament, 520. 56 E. Jenni, „Das Wort ʿōlām im Alten Testament“, ZAW 64 (1952), 197–248, insbesondere 201 f., 221 f. und 246; Jenni, ‫עוֹ לָם‬, 229 f. Vgl. Preuß, ‫עוֹ לָם‬, 1144 f. zu einer Übersicht anderer Vorschläge. 57 Jenni, „Das Wort ʿōlām im Alten Testament (1952)“, 225 und 233. 58 Jenni, „Das Wort ʿōlām im Alten Testament (1952)“, 246 f.; Jenni, ‫עוֹ לָם‬, 230; Preuß, ‫עוֹ לָם‬, 1147 und 1149. 59 Vgl. die Beispiele in Jenni, „Das Wort ʿōlām im Alten Testament (1952)“, 214; Barr, Biblical Words for Time, 125. 60 So Barr, Biblical Words for Time, 138 und 155–158; Helm, Eternal God, 5 f. 61 Zur Vielfalt gegenüber der Einheit der Traditionen vergleiche Barr, Biblical Words for Time, 170–174. 55

1.4. Gott und Dynamik

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V. 4 die Unvergleichbarkeit von menschlicher Zeitlichkeit und göttlichem Zeitbezug. Die Aussage der Präexistenz in V. 2 ist sehr eindeutig: „Ehe die Berge geboren wurden und du Erde und Erdkreis hervorbrachtest, von Ewigkeit zu Ewigkeit bist du, El (Gott)!“62

Ewigkeit ist auch hier nur eine Behelfsübersetzung für ‫ עוֹ לָם‬und darf nicht mit speziellen Ewigkeitsmodellen assoziiert werden. Gott existiert ‫מֵעוֹ לָם עַד־עוֹ לָם‬, mit Jennis Übersetzungsvorschlag von den fernsten vergangenen Zeiten bis zu den fernsten zukünftigen Zeiten. Wie weit in die Vergangenheit ‫ עוֹ לָם‬hier reicht, verdeutlicht die vorangehende Präzisierung: Noch vor Bergen, Erde und Erdkreis existiert Gott. Hier wird eine „äußerste Grenzaussage“63 vorgenommen, die nicht weiter überbietbar ist. Eine analoge Aussage der Unvergänglichkeit Gottes findet sich in Ps 102,28. Zuvor wird in den V. 26–27 die Vergänglichkeit der Erde und des Himmels geschildert, die in V. 28 mit der Unvergänglichkeit Jahwes kontrastiert wird: „Du aber bleibst, der du bist, und deine Jahre enden nie.“64

Im Gegensatz zu allem Weltlichen, das vergeht, bleibt Jahwe bestehen und überdauert die Welt. Damit ist die Unvergänglichkeit Jahwes beschrieben, aber nicht zwingend auch eine Zeitlosigkeit oder Unwandelbarkeit.65 Der zweite Halbvers könnte zwar im Anschluss an Augustin im Sinne einer unveränderlichen Gegenwart verstanden werden, so dass jedes einzelne Jahr Gottes nicht vergeht.66 Ebenso kann die Aussage jedoch auch auf die Gesamtheit der Jahre Gottes bezogen werden, so dass Gott unendlich viele Jahre lebt. Diese Stellen konstatieren also die Präexistenz und Unvergänglichkeit Gottes, dürfen darüber hinaus jedoch nicht überinterpretiert werden. In Ps 90,2 wird ‫עוֹ לָם‬ verwendet, um die Existenz Gottes vor allem anderen auszudrücken. Mehr lässt sich aus dieser Stelle nicht folgern.67 Dass ‫„ עוֹ לָם‬hier überhaupt keine Größe von

62 Ps 90,2: „‫ב ֑ל וּמֵעוֹ לָם עַד־עוֹ לָם אַתָּה אֵל׃‬ ֵ ֵ‫ “בְּטֶרֶ ם ה ִָרים יֻלָּדו ּ וַתְּחוֹ לֵל אֶרֶ ץ וְת‬Übersetzung nach F. Hossfeld/E. Zenger, Psalmen 51–100, HThKAT, Freiburg 2000, 602. 63 So zu Recht M. Köckert, „Zeit und Ewigkeit in Psalm 90“, in: R. G. Kratz/H. Spieckermann (Hrsg.), Zeit und Ewigkeit als Raum göttlichen Handelns. Religionsgeschichtliche, theologische und philosophische Perspektiven, BZAW 390, Berlin 2009, 155–185, hier 168. Ähnlich auch J. Schnocks, Vergänglichkeit und Gottesherrschaft. Studien zu Psalm 90 und dem vierten Psalmenbuch, BBB 140, Berlin/Wien 2002, 159. 64 Ps 102,28: „‫ “וְאַתָּה־ה֑ו ּא וּשְׁנוֹ תֶיךָ לאׁ יִתָּמּו ּ׃‬Übersetzung nach F. Hossfeld/E. Zenger, Psalmen 101–150, HThKAT, Freiburg 2008, 38. 65 Eine Interpretation als Unveränderlichkeit scheint ebd., 48 zu vertreten. 66 Flasch, Was ist Zeit? Augustinus von Hippo. Das XI. Buch der Confessiones. XIII.16, Z. 5–11 (248). Auf diese Interpretation verweist Schnocks, Vergänglichkeit und Gottesherrschaft, 161. 67 Auch Paul Helm sieht, dass sich aus dieser Stelle kein spezielles Ewigkeitsmodell folgern lässt. Vgl. Helm, Eternal God, 3.

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1. Einleitung

Raum und Zeit [ist], die ja beide an die erschaffene Welt gebunden sind“,68 wäre nur richtig, wenn man voraussetzen könnte, dass es nach der Vorstellungswelt dieses Psalms keine Zeit vor der Schöpfung gibt. Als Indiz in dieser Richtung führt Johannes Schnocks Interpretationen des priesterlichen Schöpfungsberichts Gen 1,1–2,4a an, die in der Trennung von Licht und Finsternis beziehungsweise der Schaffung der Gestirne die Erschaffung der Zeit sehen wollen.69 In der Tat werden mit den Gestirnen auch gewisse Zeitmaße geschaffen und die Abfolge von Licht und Finsternis gliedert die Zeiten zu Tagen. Eine Erschaffung der Zeit muss damit jedoch nicht zwingend gemeint sein.70 Das würde voraussetzen, dass die Autoren überhaupt einen entsprechenden abstrakten Zeitbegriff gekannt hätten.71 Die Erschaffung der Zeitmaße kann auch als Strukturierung einer zuvor chaotischen und lebensfeindlichen Zeit interpretiert werden, der ohne Unterteilung in Tage und Jahre wichtige Voraussetzungen für das Leben fehlten.72 Ob der priesterliche Schöpfungsbericht eine Erschaffung der Zeit erzählt oder impliziert, hängt daher vom vorausgesetzten Zeitkonzept ab: Besteht Zeit nur aus den strukturgebenden Einheiten wie Tagen und Jahren oder ist Zeit diesen Maßeinheiten vorgegeben und von ihnen unabhängig? Zeittheorien werden in der hebräischen Bibel jedoch ebenso wenig ausgeführt wie Ewigkeitsmodelle. In der hebräischen Bibel finden sich nur tendenzielle Ansätze einer systematischen Reflexion der Zeit.73 Jede Konzeption, die über die Darstellung dieser Tendenzen hinausgeht, hat daher ihr Recht im Rahmen der dogmatischen Reflexion im Anschluss an biblische Traditionen, darf aber nicht behaupten, das israelitische Zeitverständnis rekonstruiert zu haben.74 Da explizite Zeitkonzepte in der hebräischen Bibel nicht diskutiert werden, können sie für die Aussagen über Gottes Ewigkeit nicht vorausgesetzt werden. Folglich kann aus der Prä- und Postexistenz Gottes nicht auf eine Gegenwart aller Zeiten geschlossen werden, da dieser Schluss nur unter Voraussetzung bestimmter Zeitkonzepte gültig ist.75 Viel eher

68

So Köckert, „Zeit und Ewigkeit in Psalm 90“, 169. Vgl. Schnocks, Vergänglichkeit und Gottesherrschaft, 162. 70 Gegen I. Willi-Plein, „Zeit, Zeitlichkeit und die Geschichte der Zeit in der Bibel“, BiKi 54 (1999), 150–155, hier 153 f. 71 J. Assmann sieht den abstrakten Begriff der Zeit als Schöpfung der griechischen Philosophie an. Vgl. J. Assmann, Art.: Zeit. I. „Vorgriechische“ Zeit (Alter Orient; Altägypten), in: HWPh, Bd. 12 (2004), 1186–1190, 1186 und 1189. 72 Zur Interpretation der Schöpfung als Überwindung des Chaos, allerdings ohne Bezug auf die Zeit, siehe J. Blenkinsopp, Creation, Un-Creation, Re-Creation. A Discursive Commentary on Genesis 1–11, London/New York 2011, 30–33; B. Janowski, Art.: Schöpfung. II. Altes Testament, in: RGG4 , Bd. 7 (2004), 970–972; B. Janowski, Art.: Chaos. II. Biblisch. 1. Altes Testament, in: RGG4 , Bd. 2 (1999), 103–104. 73 So L. Schwienhorst-Schönberger, Art.: Zeit. III. Biblisch-theologisch, in: LThK3 , Bd. 10 (2001), 1409–1411, hier 1410. 74 Ähnlich in Bezug auf das Verhältnis von Exegese und Dogmatik auch O. Cullmann, Christus und die Zeit. Die urchristliche Zeit- und Geschichtsauffassung, Zürich 3. Aufl. 1962, 22–24. 75 Gegen Köckert, „Zeit und Ewigkeit in Psalm 90“, 182. 69

1.4. Gott und Dynamik

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lässt sich der Sinn von Ps 90,2 und Ps 102,26–28 darin ausdrücken, dass Jahwe die Zeiten der Schöpfung umfasst. Über die Prä- und Postexistenz hinaus wird in Ps 90,4 der Bezug Gottes zur Zeit thematisiert: „Denn / ja tausend Jahre in deinen Augen sind wie ein gestriger Tag, wenn er vorbeigegangen ist, und (wie) eine Wache in der Nacht.“76

Hier wird die längste Zeiteinheit mit den kleinsten der hebräischen Sprache kontrastiert. Schon dadurch wird klar, dass hier die Unvergleichbarkeit zwischen göttlichem und menschlichem Bezug zur Zeit dargestellt wird und nicht nur die Unterschiede in den Proportionen.77 Interessant ist auch, dass die tausend Jahre mit einem Tag verglichen werden, der gerade eben vergangen ist. Die Eindrücke sind also noch frisch und mehr oder weniger unmittelbar vorhanden. Den eben vergangenen Tag kann man vollständig überblicken. Über die tausend Jahre dagegen wird nicht gesagt, ob sie vergangen sind, noch andauern oder zukünftig sind. Bei aller Unvergleichbarkeit der göttlichen und menschlichen Zeitbezüge, die hier festgestellt wird, lässt sich dieser Stelle daher kein spezielles Ewigkeitsmodell entnehmen.78 Gott könnte zeitlich endlos mit unfehlbarem Gedächtnis gedacht sein oder aber allen Zeiten gegenwärtig. Wie in Ps 90,2 und 102,28 übersteigt Gottes Zeitbezug alle geschöpfliche Zeitlichkeit, doch es ist nicht klar, auf welche Weise er der menschlichen Zeitlichkeit überlegen ist. Über die biblischen Texte hinaus kann man sich natürlich fragen, was die Autoren der Texte geantwortet hätten, wenn man sie fragen könnte, ob es eine Zeit vor der Schöpfung gab oder ob die Zeit an die Schöpfung gebunden ist. Man muss sich jedoch bewusst sein, dass schon allein die Konfrontation mit solchen Fragen die Gedankenwelt der Autoren verändert hätte. Es wäre etwas Neues entstanden, neue Gedankenkonstrukte und neue Fragestellungen, die von ihnen einfach nicht thematisiert wurden. Man beschreitet mit solchen Gedankenspielen also neue Wege, die zwar an die biblischen Traditionen anschließen, aber über sie hinausgehen. Jedes der Ewigkeitsmodelle, die in Abs. 1.3 skizziert wurden, kann von sich behaupten, in diesem Sinne eine Weiterführung der Gedanken von Ps 90 und 102 zu sein.

76 Ps 90,4: „‫ל ּיְלָה׃‬ ָ ַ‫שׁנ ִים בְּעֵינ ֶיךָ כְּיוֹ ם אֶתְמוֹ ל כִּי יַעֲבֹ֑ר וְאַשְׁמו ּרָ ה ב‬ ָ ‫ “כִּי אֶלֶף‬Übersetzung nach Hossfeld/Zenger, Psalmen 51–100, 602. 77 Hier ist Köckert, „Zeit und Ewigkeit in Psalm 90“, 172 zuzustimmen. Anders K. Seybold, „Zu den Zeitvorstellungen von Psalm 90“, in: Ders., Studien zur Psalmenauslegung, Stuttgart 1998, 147– 160, hier 151 f. 78 Gegen Köckert, „Zeit und Ewigkeit in Psalm 90“, 172 f., der von „permanenter Gegenwart“ und „Negation von Zeit und Raum“ redet. Auch Schnocks, Vergänglichkeit und Gottesherrschaft, 157 und 160 sieht diese Stelle als Negation der Zeit an. Seybold, „Zu den Zeitvorstellungen von Psalm 90“, 152 dagegen interpretiert diese Stelle im Sinne einer Zeiterfahrung, die der menschlichen grundsätzlich gleich ist.

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1. Einleitung

Zwei weitere Aspekte zum Zeitbezug Gottes äußern sich in Ps 90,13–16.79 Es wird erstens mit einem Wandel in Gott gerechnet: Jahwe soll umkehren (Ps 90,13: „‫)“שׁוּבָה י ְהו ָה‬. Vertreter der Ewigkeitsmodelle Zeitlosigkeit und Gegenwart aller Zeiten könnten dies natürlich als metaphorische oder anthropomorphe Rede interpretieren. Doch für sich genommen ist es erstmal ein Indiz für ein dynamisches Gottesbild, solange es von anderer Seite keine guten Gründe gibt, von einem statischen Gottesbild auszugehen. Es wird erwartet, dass Jahwe seine Einstellungen und Handlungen ändern kann. Zweitens wird damit gerechnet, dass Jahwe die Macht hat, die Situation der Beter zu ändern. Auf die hier angedeutete Macht über die Geschichte wird im Folgenden noch ausführlicher eingegangen. Wie im Alten Testament finden sich auch im Neuen Testament keine Reflexionen über die Ewigkeit Gottes.80 Während im Alten Testament jedoch doxologische und prophetische Texte Gottes Transzendenz und Herrschaft über die geschöpfliche Zeitlichkeit ausdrücken können, wird im Neuen Testament hauptsächlich die Zeit der Geschöpfe thematisiert. Doch verzichtet es dabei nicht auf einen Bezug zur Ewigkeit Gottes. Gott handelt in der Welt, tritt in Kommunikation zu den Menschen, hört ihr Klagen, ihre Gebete und geht auf sie ein. Die geschöpfliche Zeit wird im Kontext der Ewigkeit Gottes betrachtet, als Zeit, die ausgehend von Gottes Handeln verstanden wird und auf Gottes Ewigkeit ausgerichtet ist.81 Belege für ein spezielles Ewigkeitsmodell lassen sich jedoch aufgrund dieses Fokus auf die geschöpfliche Zeit aus dem Neuen Testament nicht entnehmen. 1.4.2. Gott, der Herr der Geschichte Die Beter in Ps 90 haben erwartet, dass Jahwe die Macht hat, ihr Geschick zu ändern. Eine solche Macht wird Jahwe nicht nur in den Psalmen zugeschrieben, sondern auch bei Deuterojesaja, in der Konzeption der Geschichtswerke und in weiteren prophetischen Texten. Bei Deuterojesaja wird in mehreren Streitreden dargelegt, wie Jahwe über die Völker herrscht und Könige ein- und absetzt. Eng verbunden mit der Darstellung Jahwes als dem Lenker der Geschichte ist auch die Argumentation für einen strengen Monotheismus, der die Existenz anderer Gottheiten ablehnt (Jes 45,5). Im Gegensatz zur Ewigkeit ist die Macht Jahwes über die Geschichte ein 79 Nach einigen Exegeten sind Ps 90,13–17 einer anderen Schicht zuzuordnen als V. 2 und V. 4. Vgl. Hossfeld/Zenger, Psalmen 51–100, 607–609. Das bedeutet, dass die Erwartung eines Wandels Gottes möglicherweise einer anderen Traditionslinie entstammt. 80 So auch Oscar Cullmann in seinem Vorwort zur dritten Auflage von „Christus und die Zeit“. Vgl. Cullmann, Christus und die Zeit, 22. Ob es darum gerechtfertigt ist, unter dieser Voraussetzung von einer linearen Zeit zu sprechen, die die Verfasser des Neuen Testaments allein vorausgesetzt hätten, erscheint allerdings zweifelhaft. 81 Vgl. T. Söding, „Der Kairos der Basileia. Die Geschichte Jesu als Ende und Wende“, in: R. G. Kratz/H. Spieckermann (Hrsg.), Zeit und Ewigkeit als Raum göttlichen Handelns. Religionsgeschichtliche, theologische und philosophische Perspektiven, BZAW 390, Berlin 2009, 233–252, hier 251 f.

1.4. Gott und Dynamik

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Konzept, das in Deuterojesaja explizit entwickelt wird. Deswegen sollte ein Ewigkeitsmodell, sofern man sich der Traditionen Deuterojesajas anschließt, mit diesem Konzept vereinbar sein. In einer Disputationsrede (Jes 40,12–31)82 wird Jahwe als ‫( אֱלֹהֵי עוֹ לָם‬Jes 40,28) bezeichnet. In den Versen zuvor wird Jahwes Weisheit, Geschichts- und Schöpfermacht herausgestellt. Er benötigt keine Ratgeber (V. 13–14), Völker sind wie Staub vor ihm (V. 15), er lässt die Herrscher der Welt vergehen (V. 23–24) und hat alles erschaffen (V. 25–26). Diese Beschreibung von Gottes Macht findet ihre Klimax in der Strophe V. 27–29. Im Zentrum dieser Strophe wird behauptet, dass Jahwe ‫ אֱלֹהֵי עוֹ לָם‬und ‫ בּוֹ רֵ א קְצוֹ ת הָאָרֶ ץ‬ist. Im zweiten Teil dieser Aussage wird die Schöpfermacht Gottes wiederaufgenommen. Es ist daher plausibel, dass ‫ אֱלֹהֵי עוֹ לָם‬seine Macht über die Geschichte umfassen soll. ‫ עוֹ לָם‬bleibt auch an dieser Stelle in erster Linie ein Zeitbegriff. Er bezeichnet die fernsten Zeiten, sowohl in Richtung Zukunft als auch in Richtung der Vergangenheit, und somit die ganze Erstreckung der Zeiten. Karl Elliger ist darin zuzustimmen, dass diese Zeiten keine abstrakten, leeren Zeiten sind. „[D]ie mit Geschichte gefüllte Zeit“83 ist in diesen Zeiten sicherlich enthalten. Insofern ist ‫אֱלֹהֵי עוֹ לָם‬ nicht einfach der ewige Gott, sondern der Gott aller Zeiten und der Geschichte, das heißt der Herr über die Geschichte und der Gestalter aller Zeiten.84 Allerdings sollte man auch an dieser Stelle ‫ עוֹ לָם‬nicht mit der „Welt als Geschichte“85 identifizieren. ‫ עוֹ לָם‬bleibt die fernste, gefüllte Zeit, die sicherlich die ganze Geschichte der Welt umfasst. Doch ob sie auf diese Welt begrenzt ist, wird in Jes 40,12–31 nicht thematisiert. Das Verständnis Jahwes als einzigen Herrscher über die Geschichte setzt sich in Jes 41 fort. Jahwe erweckt einen Helden, vermutlich Kyros,86 und lässt ihn die Völker unterwerfen. Jahwe bestimmt also das Geschick der Völker, handelt in der Geschichte, beruft die großen Herrscher und sorgt für Recht. Kyros ist dabei nur ein Instrument Gottes.87 In dieser Macht über die Geschichte erweist sich nach dem Argumentationsgang von Jes 41,1–7 die alleinige Göttlichkeit Jahwes.88 Gott wird nicht erst in Jes 40–55 als Lenker der Geschichte skizziert. Bereits Jes 19,1–4 rechnet mit einem Handeln Jahwes, das die Völkerlandschaft verändert und dem die Völker 82 Zur Abgrenzung, Gliederung und Gattungsbestimmung von Jes 40,12–31 vgl. U. Berges, Jesaja 40–48, HThKAT, Freiburg 2008, 124–128. 83 K. Elliger, Deuterojesaja, 1. Teilband: Jesaja 40,1–45,7, BKAT XI/1, Neukirchen-Vluyn 1978, 98. 84 So auch E. Jenni, „Das Wort ʿōlām im Alten Testament“, ZAW 65 (1953), 1–35, hier 16 f.; Elliger, Jesaja 40,1–45,7, 98 und im Anschluss an Elliger Berges, Jesaja 40–48, 159. ‫ עוֹ לָם‬als Ausdruck der „continuity with the past“ aufzufassen, bleibt dagegen weit hinter seiner Bedeutung zurück, gegen J. Blenkinsopp, Isaiah 40–55, AncB 19A, New York 2002, 194. 85 Diesen Weg scheint Elliger, Jesaja 40,1–45,7, 98 zu gehen. 86 So Berges, Jesaja 40–48, 180. 87 Vgl. ebd., 180–182. 88 Elliger, Jesaja 40,1–45,7, 123–125.

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1. Einleitung

nichts entgegenzusetzen haben.89 Doch in der Einsetzung des persischen Großkönigs (Jes 45,1) erweist sich Jahwe in besonderer Weise als einziger Herr über die Völker. Als Konsequenz der Alleinherrschaft Jahwes wird er auch als der einzige Gott (Jes 45,5) verehrt, dessen Handeln in der Geschichte als Schöpfungshandeln verstanden wird.90 Deuterojesajas Gottesbild des einzigen, alleinherrschenden Gottes steht in einer breiten Tradition, die den Machtbereich, der Jahwe zugeschrieben wird, stetig erweitert hat. Er herrscht über Israel, die anderen Völker, den Großkönig, die Natur und auch über das Totenreich.91 Diese Tendenz läuft konsequent auf das Postulat einer Allmächtigkeit Jahwes zu, auch wenn sie in der Bibel nur mittels seiner unvergleichlichen Taten umschrieben wird.92 Unter Macht wird hier stets konkrete Macht verstanden, wie die Herrschaft über einen spezifischen Bereich der Welt. Die Allmacht Jahwes ist in diesem Sinne ein Grenzbegriff, der sich ergibt, indem man sukzessive die Herrschaft über alle Bereiche Jahwe zuschreibt. Die Erwartung, dass Jahwe die Geschichte lenkt, zeigt sich nicht nur in der Prophetie Deuterojesajas. Dieselbe Überzeugung spiegelt sich in der Geschichtskonzeption der Geschichtswerke. In der Geschichte erfüllt sich Jahwes Wort, das Heil oder Unheil ankündigt. Darum wird das Geschick Israels als zielgerichteter, von Jahwe gesteuerter Ablauf geschildert:93 „Der Gesamtzusammenhang von Gen – Mal, also Tora und Prophetenbüchern, bildet so einen Dreischritt von alter Heilsgeschichte (Gen – Jos), Unheilsgeschichte (Ri – 2Kön) und neuer Heilsgeschichte (Jes – Sach/Mal). In dieser Perspektive haben die Rezipienten des Großen Geschichtswerks das Gericht aus 2Kön 25 im Rücken und blicken voraus auf die ausstehende Heilszeit.“94

Sowohl in Deuterojesaja als auch in den Geschichtswerken wird Gott als Herr der Geschichte und Lenker der Geschicke der Könige und Völker gezeichnet. Ob ein 89

Darauf weist Berges, Jesaja 40–48, 185 hin. So K. Schmid, „Hintere Propheten (Nebiim)“, in: J. C. Gertz (Hrsg.), Grundinformation Altes Testament. Eine Einführung in Literatur, Religion und Geschichte des Alten Testaments, Göttingen 4. Aufl. 2010, 313–412, hier 343–345. 91 So steht die Hoffnung auf Leben nach dem Tod in der Konsequenz dieser Machtausweitung Jahwes. Vgl. A. Meinhold, „Zur ‚Ewigkeits‘-Perspektive des zeitlichen Menschen im alten Israel“, in: J. Kotjatko-Reeb u. a. (Hrsg.), Nichts Neues unter der Sonne? Zeitvorstellungen im Alten Testament, FS E.-J. Waschke, BZAW 450, Berlin/Boston 2014, 21–35, hier 27–33. 92 Vgl. T. Pröpper, Art.: Allmacht Gottes, in: LThK3 , Bd. 1 (1993), 412–417, hier 412 f. 93 H. Schmitt, Art.: Zeit. II. Antike. C. Altes und Neues Testament, in: HWPh, Bd. 12 (2004), 1196–1207, 1207 f. Nach Hans-Christoph Schmitt drückt die Grundschrift der Priesterschrift Gottes Geschichtsmacht besonders deutlich durch den „strengen zeitlichen Zusammenhang“ aus. Siehe H. Schmitt, „Die Jahwenamenoffenbarung in Ex 6,2–9* und die zwei Zeiten der Landgabe. Zum Ende der Priesterschrift und zu ihrem Zeitverständnis“, in: J. Kotjatko-Reeb u. a. (Hrsg.), Nichts Neues unter der Sonne? Zeitvorstellungen im Alten Testament, FS E.-J. Waschke, BZAW 450, Berlin/Boston 2014, 137–155, hier 151. 94 J. C. Gertz, „Tora und Vordere Propheten“, in: J. C. Gertz (Hrsg.), Grundinformation Altes Testament. Eine Einführung in Literatur, Religion und Geschichte des Alten Testaments, Göttingen 4. Aufl. 2010, 193–311, hier 219. 90

1.4. Gott und Dynamik

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solches Handeln in der Geschichte eine gewisse Zeitlichkeit voraussetzt, hängt in erster Linie davon ab, wie das Handeln Gottes im Detail verstanden wird. Vertreter der Zeitlosigkeit Gottes müssen sein Wirken als zeitlosen Akt beschreiben, in dem alles in einem Akt hervorgebracht wird. Eine absolute Geschichtsmacht, die sich in strengen zeitlichen Zusammenhängen zeigt,95 lässt sich problemlos mit einem zeitlosen Gott vereinbaren. Nach diesem Ansatz gibt es keine Abweichungen von dem Heilsplan. Der gesamte Geschichtsablauf entspricht einem vollständig durchgeführten Plan Gottes. Er könnte als zeitloser Wille aufgefasst werden, der zeitlos umgesetzt wird. Ebenso kann er jedoch auch als Plan eines zeitlichen Gottes interpretiert werden, dessen Treue und Konstanz sich darin äußert, dass er sich an strenge zeitliche Rhythmen hält, die er vorausgeplant hat. Ein unveränderlich und ungehindert umgesetzter Heilsplan ist also sowohl mit einem zeitlichen als auch mit einem zeitlosen Gott vereinbar. Zumindest eine Traditionslinie setzt allerdings voraus, dass Gott auf die Schöpfung reagiert. In den deuteronomistisch geprägten Geschichtsbüchern96 wird eine Ätiologie des Exils entwickelt. Das Exil wird als Folge des Zornes Gottes interpretiert und der Zorn Gottes mit dem wiederholten Bundesbruch durch Israel beziehungsweise Juda und seinen Königen legitimiert.97 Geschichte findet also im Wechselspiel, in einer dialogischen Struktur zwischen Gott und Mensch statt. Gott reagiert auf den Unglauben und das Scheitern Israels mit Gericht oder Zorn. Um dies mit einem zeitlosen Handeln Gottes vereinbaren zu können, müsste man annehmen, dass Gott in seiner Zeitlosigkeit in einem Moment zugleich den Bundesschluss beschließt, das Scheitern wahrnimmt und als Reaktion darauf das Gericht vollzieht. Als zeitloses Geschehen ist das durchaus denkbar (vgl. auch Abs. 1.4.3). Damit schließt auch die deuteronomistische Geschichtsinterpretation eine Zeitlosigkeit Gottes nicht zwingend aus. Doch setzt es eine gewisse Dynamik voraus, nämlich ein Agieren und Reagieren, die üblicherweise mit zeitlichem Geschehen assoziiert wird. Beim deuteronomistischen Geschichtsverständnis liegt ein reflektiertes Konzept vor. Es wird zwar nicht in einem explizit reflexivem Kontext dargelegt. Doch ist es 95 Der Priesterschrift könnte ein Konzept einer absoluten Geschichtsmacht Gottes zugrunde gelegt sein, dessen Zuverlässigkeit sich in den strengen zeitlichen Rhythmen zeigt. So interpretiert Hans-Christoph Schmitt seine Rekonstruktion der priesterlichen Grundschrift. Vgl. Schmitt, „Die Jahwenamenoffenbarung in Ex 6,2–9* und die zwei Zeiten der Landgabe“, 151. 96 Noths These zum Deuteronomistischen Geschichtswerk wird in abgewandelter Form noch vielfach vertreten, doch werden auch alternative Entstehungsgeschichten der vorderen Propheten entwickelt, so dass nicht von einem breiten Konsens gesprochen werden könnte. Vgl. für einen Überblick Gertz, „Tora und Vordere Propheten“, 212–217 und 286–289; G. Braulik, „Theorien über das Deuteronomistische Geschichtswerk (DtrG) im Wandel der Forschung“, in: E. Zenger u. a., Einleitung in das Alte Testament, Stuttgart 6. Aufl. 2006, 191–202, hier 195–200. 97 So Braulik, „Theorien über das Deuteronomistische Geschichtswerk (DtrG) im Wandel der Forschung“, 201 f. Vgl. auch Gertz, „Tora und Vordere Propheten“, 307. Auch in spätdeuteronomistischen Schichten anderer Bücher findet sich dieses Konzept. Vgl. zu Num 27,12–23 beispielsweise Schmitt, „Die Jahwenamenoffenbarung in Ex 6,2–9* und die zwei Zeiten der Landgabe“, 153.

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1. Einleitung

als Gestaltungskonzept in vielen Büchern von Dtn bis 2 Kön deutlich erkennbar und findet sich auch in anderen Büchern.98 Es muss also davon ausgegangen werden, dass dieses Konzept in gewissen Kreisen reflektiert und als Grund für das Exil akzeptiert wurde. Ein dynamisches Gottesbild von einem Gott, der in der Geschichte handelt und auf die Geschichte reagiert, war also unter den Israeliten verbreitet. 1.4.3. Gott im Dialog Die deuteronomistische Ätiologie des Exils setzt also voraus, dass Gott auf seine Geschöpfe reagiert. Diese Voraussetzung wird auch angenommen, wenn man davon ausgeht, dass Gott Dialoge mit Menschen führt. Dialoge zwischen Gott und Mensch werden in einzelnen biblischen Überlieferungen erzählt. Aber auch im Gebet wird erwartet, dass Gott auf das Gebet reagieren kann.99 Das Gebet als Wort, das an Gott gerichtet wird, setzt in seiner Praxis voraus, dass Gott dieses Gebet überhaupt wahrnehmen und sich dazu verhalten kann.100 Dass Gott Dialoge mit Menschen führen kann, lässt sich direkt mit seiner Unendlichkeit begründen. Denn wollte man annehmen, dass Gott zu einem Dialog oder auch nur zu einer bestimmten Form des Dialogs nicht fähig wäre, hätte man Gott wiederum im Gegensatz zu etwas Endlichem konzipiert und damit Gott selbst verendlicht. Allenfalls könnte man vermuten, dass Gott einige Formen des Dialogs nicht verwendet, weil er bessere Möglichkeiten zur Verfügung hat. In diesem Abschnitt soll daher nicht die Möglichkeit oder Unmöglichkeit des Dialogs selbst diskutiert werden. Es soll betrachtet werden, ob aus den Dialogen Gottes mit seinen Geschöpfen ein unabhängiges Argument für einen bestimmten Zeitbezug Gottes gewonnen werden kann, insbesondere ob Dialoge mit einem zeitlosen oder allen Zeiten gegenwärtigen Gott prinzipiell möglich sind. Dialog wird in diesem Abschnitt im allgemeinsten denkbaren Sinne verwendet. Ein Dialog, in dem der Mensch hörbar spricht und eine Antwort hört, die er Gott zuordnet, ist nur ein Spezialfall. Der Mensch kann sein Gebet hörbar sprechen, lautlos denken oder gar gänzlich unartikuliert lassen. Auch ein Gefühl, das man gedanklich vor Gott legt, kann schon ein Beitrag zu einem Dialog sein. Dazu muss Gott ledig98 Zum Beispiel Jes 42,24–43,7 und öfters. Gerichtsprophetie, die als Reaktion auf Unrecht dargestellt wird, findet sich vielfach, wie in Am 3,9–4,13 und Hos 13,4–8 99 Diesen Ausgangspunkt wählt Dirk Ansorge zur Begründung der Zeitlichkeit Gottes. Vgl. D. Ansorge, „Der Ursprung der Zeit im dreifaltigen Gott. Theologische Reflexionen zum Verhältnis von Freiheit, Zeit und Ewigkeit in Christentum, Judentum und Islam“, ThPh 88 (2013), 211–235, hier 211–213. 100 Zur Bedeutung des Betens zu und des Redens mit Gott in der christlichen Praxis vgl. M. Beintker/M. Heimbucher (Hrsg.), Mit Gott reden — von Gott reden. Das Personsein des dreieinigen Gottes, Ein Votum des Theologischen Ausschusses der Union Evangelischer Kirchen (UEK) in der EKD, Evangelische Impulse 3, Neukirchen-Vluyn 2011, insbesondere 23–35; W. Eisele, „Schwierigkeit und Notwendigkeit des Bittgebetes. Zur Einführung“, in: W. Eisele (Hrsg.), Gott bitten? Theologische Zugänge zum Bittgebet, QD 256, Freiburg 2013, 7–17, hier 7–14.

1.4. Gott und Dynamik

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lich die Fähigkeit zugeschrieben werden, diese unartikulierten Gedanken wahrzunehmen.101 Gottes Antworten können ebenfalls ein weites Spektrum umfassen. Ein bestimmtes Gefühl, ein Bild, ein Eindruck verbunden mit dem Gefühl starker Überzeugung, passende Ereignisse, die auf ein Gebet hin geschehen und eine Antwort zu liefern scheinen, Worte, die man in Gedanken oder akustisch hört, all diese Phänomene können als Antwort Gottes auf Anliegen der Menschen interpretiert werden. Jedes Ereignis, das von Gott intendiert ist und von einem Menschen als Antwort oder Reaktion interpretiert werden kann, kann als Dialogbeitrag Gottes angesehen werden. Einzige Voraussetzung dafür ist, dass Gott und Mensch unterschieden sind. Ob Gott die Schöpfung im Sinne eines Panentheismus umfasst oder eine Welt außerhalb seiner selbst geschaffen hat, ist dafür nicht relevant. Auch der Gott, der den Menschen umfasst, kann ihm Informationen zukommen lassen, die der Mensch in seiner Endlichkeit aus eigenem Vermögen nicht hätte. Der Dialog fände in diesem Fall zwischen etwas in Gott und Gott als Ganzem statt. In diesem Abschnitt soll diesbezüglich keine Position bezogen werden, sondern lediglich untersucht werden, ob Dialog Zeit voraussetzt oder auch Dialog mit zeitlosen oder allen Zeiten gegenwärtigen Entitäten möglich ist. Welche Konsequenzen sich aus anderen Eigenschaften Gottes für die Möglichkeit der Dialoge ergeben, steht in diesem Abschnitt nicht zur Diskussion. Ein echter Dialog unter Menschen entsteht, wenn sich beide Seiten des Dialogs auf ihr Gegenüber einlassen und auf ihn eingehen. Das Ergebnis des Dialogs muss in gewissem Sinne von beiden Seiten abhängig sein und darf nicht einseitig gesteuert werden.102 Von daher kann der Eindruck entstehen, dass Dialog für beide Dialogpartner eine Abfolge von Zeitmomenten voraussetzt. Denn unter Menschen ist die Offenheit des Dialogs dadurch gewährleistet, dass alle Beteiligten vor der Äußerung des anderen nicht wissen, was dieser sagen wird. Deshalb ist der Fortgang des Dialogs von beiden Seiten abhängig. Ihre Antwort müssen die Dialogpartner stets in Reaktion auf die Äußerung des anderen, das heißt in der nachfolgenden Zeit, entwerfen und aussprechen. Nicht zuletzt können die Äußerungen des Dialogpartners eine Änderung der eigenen Meinung in Gang setzen. Bei einem Gott, der keine Zeitfolge kennt, scheint all dies auf den ersten Blick nicht denkbar zu sein. Dabei ist es irrelevant, ob ihm alle Zeiten gegenwärtig sind oder er absolut zeitlos ist. Ohne Abfolge von Zeitmomenten kann Gott seine Meinung nicht ändern und er kennt die Äußerungen, Gedanken und Gefühle der Menschen und den Ausgang des Dialogs simultan mit allem anderen. Dennoch ist ein Dialog mit einem nicht-zeitlichen Gott in gewissem Sinne möglich. Die Offenheit 101

Einen Ansatz, der dies gewährleistet, hat Linda Zagzebski entwickelt. Sie denkt Gott als maximal empathisches Wesen, das alle mentalen Eindrücke und Eigenschaften der Geschöpfe unmittelbar nachempfinden kann. Vgl. L. T. Zagzebski, Omnisubjectivity. A Defense of a Divine Attribute, AqL 2013, Milwaukee Wisc. 2013, insbesondere 25–35. 102 Diese Kriterien setzt William Alston an. Vgl. Alston, „Divine-Human Dialogue and the Nature of God“, 148 f. und 157 f.

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1. Einleitung

des Dialogs kann allerdings nicht durch eine temporale Abfolge gewährleistet werden. Im Folgenden werden zwei Ansätze dargestellt, die einen Dialog, der von beiden Seiten abhängig ist, ermöglichen. Damit wird zum einen gezeigt, dass Zeitlosigkeit einen Dialog nicht verhindert. Zum anderen wird deutlich, dass die konkrete Gestalt, wie man den Dialog auffasst, von den zugrunde liegenden theologischen Überzeugungen abhängt. Der erste Ansatz geht davon aus, dass auch der zeitlose oder allen Zeiten gegenwärtige Gott durch zeitliches Geschehen beeinflusst wird. Der zweite setzt voraus, dass Gott die beste aller Welten erschafft. Der zwischenmenschliche Dialog ist ein kausales Wechselspiel. Mit jedem Austausch im Dialog beeinflusst man den anderen, indem man ihn mit der Aussage konfrontiert und zu einer Antwort auffordert. Bei Menschen erfolgt die Reaktion jeweils zeitlich später, so dass der kausale Einfluss offensichtlich ist. Nach dem ersten Ansatz wird auch Gott durch die Aussagen oder Gedanken der Menschen beeinflusst, jedoch nicht in einer zeitlichen Abfolge.103 Dieser Einfluss besteht in Gottes zeitlosem Wissen, das vom zeitlichen Geschehen abhängt.104 Nach dieser These weiß Gott zeitlos, was der Mensch denkt oder sagt, weil der Mensch genau dieses 103

Zum folgenden Argument vgl. Alston, „Divine-Human Dialogue and the Nature of God“, 152–160. Alston geht noch detaillierter auf die Kriterien ein, unter denen eine Aktion als Antwort gelten kann. 104 Diese These hat zuletzt Johannes Grössl kritisiert. Er behauptet, dass diese These einen Zirkel konstitutiver Abhängigkeiten impliziert, da die Welt konstitutiv von Gottes Schöpfungsentschluss abhängt, Gottes Wissen wiederum konstitutiv vom Verlauf der Welt abhängt, so dass sein Schöpfungsentschluss von der geschaffenen Welt abhängig sein könnte. Konstitutive Relationen seien jedoch antisymmetrisch, so dass der Zirkel und mit ihm der „rezeptive Äternalismus“, wie er ihn nennt, inkonsistent sei. Vgl. J. Grössl, „Schöpfung, Ewigkeit und Allwissenheit. Eine Antwort auf Thomas Schärtl“, ThPh 89 (2014), 200–214, hier 205–211. Dieses Argument lässt sich auf zwei alternative Weisen entkräften. Zum einen ist zu untersuchen, ob die Relation konstitutiver Abhängigkeiten tatsächlich antisymmetrisch ist, zum anderen, ob sie die Abhängigkeit der Welt von Gottes Schöpfungsentschluss und zugleich die Abhängigkeit des Wissens vom Verlauf der Schöpfung angemessen beschreiben kann. Abhängigkeitszirkel sind für sich genommen jedenfalls nicht logisch inkonsistent. Es lassen sich zwar Zirkel konstruieren, die selbstwidersprüchlich sind. Doch konsistente Zirkel sind ebenso denkbar, wie die Möglichkeit geschlossener zeitartiger Kurven in der allgemeinen Relativitätstheorie zeigt (vgl. Abs. 3.3.2). Diese geschlossenen zeitartigen Kurven erlauben gewissermaßen „Zeitreisen“ in die eigene Vergangenheit und damit zirkuläre Abhängigkeitsverhältnisse. Jede Lösung der allgemeinen Relativitätstheorie, die geschlossene zeitartige Kurven enthält, ist deshalb ein Beleg für die Konsistenz zirkulärer Abhändigkeitsverhältnisse. Also sind Abhängigkeitszirkel nicht widersprüchlich, so dass die Welt in ihrer Existenz von Gott und Gottes zeitloses Wissen und Entscheidungen von der Welt abhängig sein könnten. Wenn Grössl den Widerspruch erst dadurch erhält, dass er die Abhängigkeit als konstitutive Abhängigkeit näher bestimmt, lässt dies die beiden oben angedeuteten Alternativen zu: Entweder ist mindestens eine der beiden Abhängigkeiten keine konstitutive Abhängigkeit oder konstitutive Abhängigkeit ist keine antisymmetrische Relation. Grössl versteht den Begriff der konstitutiven Abhängigkeit so allgemein, dass bereits eine konstitutive Abhängigkeit besteht, wenn etwas nur irgendeinen Teil am anderen beeinflussen kann, also Macht über einen Teil des anderen hat. Aufgrund dieser allgemeinen Definition erscheint es zwingend, die Antisymmetrie der konstitutiven Abhängigkeit fallen zu lassen. Denn beim erwähnten Beispiel der geschlossenen zeitartigen Kurven könnte ein Kind in die früheren Zeiten seiner Eltern reisen. Dann wären sowohl das Kind von seinen Eltern als auch die Eltern vom Kind konstitutiv abhängig.

1.4. Gott und Dynamik

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sagt. Würde der Mensch etwas anderes sagen, wüsste Gott es auch. Aber es wäre inhaltlich etwas anderes. Selbst wenn Gott unvordenklich alle möglichen Welten kennt, wäre das Wissen darum, welche der möglichen Welten realisiert ist, immer noch von der tatsächlich realen Welt abhängig. Dieser Ansatz entspricht Boethius’ Lösung des Problems der menschlichen Freiheit angesichts der Allwissenheit Gottes. Nach Boethius stehen für Gott keine Zeiten aus und sind auch keine vergangen. Sie sind ihm alle gegenwärtig. Darum nimmt er die Entscheidungen der Menschen wahr, ohne sie festzulegen.105 Implizit wird dabei vorausgesetzt, dass Gottes Wissen von den Handlungen der Menschen abhängt. Dementsprechend kritisiert Zagzebski an diesem Modell zu Recht, dass die Ablehnung der Zeitlichkeit Gottes nicht ausreicht, um die Freiheit der Menschen zu gewährleisten. Es muss zusätzlich angenommen werden, dass Ewiges von Zeitlichem beeinflusst werden kann, die Ewigkeit also nicht im gleichen Sinne feststeht wie die Vergangenheit.106 Umgekehrt folgt jedoch auch, dass die Freiheit der Menschen durch Gottes zeitloses Wissen allein nicht unmöglich wird. Es sind allenfalls andere Eigenschaften wie eine denkbare Unbeeinflussbarkeit des Zeitlosen,107 die eine Freiheit der Geschöpfe unmöglich erscheinen lassen. Gottes Antworten sind in diesem Sinne von den Aussagen der Menschen abhängig. Er entwirft seine Antworten zwar auf zeitlose Weise. Doch sagt der Mensch etwas anderes, fällt auch Gottes Antwort entsprechend anders aus. Somit ist der Verlauf und Ausgang des Dialogs durch beide Seiten bestimmt. Er ist nicht in einem temporalen Sinne offen, aber doch in einem kontrafaktischen Sinne.108 Verträte 105 Siehe Boethius, Trost der Philosophie – Consolatio Philosophiae, V, 6p, Z. 6–37 und V, 6p, Z. 61– 97 (262–264 und 266–268). 106 Vgl. L. T. Zagzebski, „Eternity and Fatalism“, in: C. Tapp/E. Runggaldier (Hrsg.), God, Eternity, and Time, Farnham/Burlington 2011, 65–80, hier 72–76; L. T. Zagzebski, „Recent Work on Divine Foreknowledge and Free Will“, in: R. Kane (Hrsg.), The Oxford Handbook of Free Will, Oxford u. a. 2002, 45–64, hier 52. Friedrich Hermanni kritisiert an Boethius’ Modell darüber hinaus auch, dass Gott nur dann alle Zeiten zeitlos präsent haben könne, wenn alle Zeitpunkte deterministisch durch die Gegenwart bestimmt seien. Vgl. F. Hermanni, Metaphysik. Versuche über letzte Fragen, Collegium Metaphysicum 1, Tübingen 2011, 95 f. Dieses Argument greift jedoch zu kurz. Denn Gott wäre nach diesem Argument noch zeitlich, weil es eine Gegenwart gibt, die Gott kennt und unmittelbar aus ihr auf alle anderen Zeiten folgern kann. Boethius’ Modell ist so aufzufassen, dass Gott auch bei einer indeterministischen Welt alle Zeiten simultan gegenwärtig hätte. Denn er nimmt alle Zeiten unmittelbar wahr unabhängig von den gesetzlichen Zusammenhängen zwischen den Zeitpunkten. Boethius diskutiert diesen Einwand selbst und führt sein Modell gerade als Lösung für das Wissen um eine indeterminierte Zukunft ein. Vgl. Boethius, Trost der Philosophie – Consolatio Philosophiae, V, 4p, Z. 63–72 und V, 5p, Z. 40–57 (250 und 258–260). 107 Diese These diskutiert beispielsweise L. T. Zagzebski, The Dilemma of Freedom and Foreknowledge, New York u. a. 1991, 60–63. 108 Eine kontrafaktische Abhängigkeit des Vorauswissens Gottes von zukünftigen Handlungen wird häufig von ockhamistischen Lösungen des theologischen Freiheitsproblems postuliert. Vgl. Zagzebski, „Recent Work on Divine Foreknowledge and Free Will“, 54. Doch auch in der boethianischen Lösung muss zumindest eine kontrafaktische, wenn nicht gar eine kausale Abhängigkeit des zeitlosen Wissens Gottes vom zeitlichen Geschehen angenommen werden.

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1. Einleitung

der Mensch beziehungsweise Gott andere Positionen, verliefe auch das Gespräch anders.109 Nach diesem Ansatz wird ein Dialog, der mehr ist als ein Gespräch eines Bauchredners mit seiner Handpuppe,110 dadurch ermöglicht, dass der Mensch eine beschränkte Freiheit hinsichtlich seiner Gebete und alltäglicher Dinge hat.111 Daher darf Gott die Aktionen der Menschen nicht vollständig determinieren, damit dieser Ansatz funktioniert. Der zweite Ansatz erlaubt es jedoch unter einer Voraussetzung, auch bei einem Gott, der alles determiniert, von Dialog zu sprechen. Wenn Gott sich entscheidet, die beste aller Welten zu erschaffen, bestimmt er implizit jedes Detail dieser Welt, auch die Charaktere und Handlungen der Menschen. Doch hat er unter Voraussetzung dieser Entscheidung keine weitere Wahl bezüglich der einzelnen Details. Er findet gewissermaßen in der besten aller Welten die Charaktere der Menschen so vor, wie sie sind. Entscheidet er sich, die beste zu nehmen, muss er auch die Menschen dieser Welt akzeptieren.112 Der Verlauf der Dialoge hängt damit von den Charakteren der Menschen ab. Gott entscheidet nicht einzeln über jeden Dialog. Er wählt diese Welt, weil sie die beste ist, und übernimmt als Konsequenz den jeweiligen Charakter des Menschen, der dann den Dialog mitbestimmt. Nur wenn Gott über jeden Aspekt des Dialogs im Einzelnen entschiede, wäre die Analogie des Bauchredners gerechtfertigt. Man könnte nun behaupten, dass Gott auch seine Antworten an die Menschen in der besten aller Welten vorgegeben sind. Doch dürfte es wohl als Minimalkriterium für die beste aller Welten gelten, dass Gottes Handeln in ihr seinem Wesen entspricht, so dass er genau die Antworten in der besten aller Welten vorfindet, die er ohnehin in der jeweiligen Situation gäbe. In einen Dialog zwischen Gott und Mensch gehen daher zwei Seiten ein: Gott und der Mensch, wie er in der besten aller Welten ist. Auch in diesem Fall ist der Dialog daher von beiden Seiten abhängig. Diese beiden Ansätze zeigen, dass Dialog mit einem zeitlosen Gott und Reaktionen eines zeitlosen Gottes auf seine Schöpfung grundsätzlich denkbar sind. Es sind andere Eigenschaften Gottes, die darüber entscheiden, ob Gott auf Zeitliches reagieren kann. Wie schon zu den Konzeptionen der Geschichtswerke bemerkt wurde, enthält die Vorstellung eines reagierenden Gottes Aspekte, die gewöhnlich nur 109

Diesen Punkt sieht Paul Helm nicht. Er scheint davon auszugehen, dass ein zeitloser Gott seine Dialogbeiträge unvordenklich und unabhängig vom Geschöpf vorgefasst haben müsste. Siehe P. Helm, „The Problem of Dialogue“, in: G. E. Ganssle/D. M. Woodruff (Hrsg.), God and Time. Essays on the Divine Nature, Oxford 2002, 207–219, 211–214 und 216–218. 110 Diese Analogie verwendet Alston, „Divine-Human Dialogue and the Nature of God“, 148. 111 Die Frage nach der Freiheit, sich für oder gegen den Glauben zu entscheiden, wäre davon gesondert zu diskutieren. In diesem Punkt ist mit Luther davon auszugehen, dass der Mensch keine Freiheit besitzt. Vgl. F. Hermanni, „Luther oder Erasmus? Der Streit um die Freiheit des menschlichen Willens“, in: F. Hermanni/P. Koslowski (Hrsg.), Der freie und der unfreie Wille. Philosophische und theologische Perspektiven, München 2004, 165–187, hier 165 und 167–170. 112 Darauf beruht in Kombination mit einem kompatibilistischen Freiheitsbegriff auch eine Lösung des Dilemmas, warum Gott manche Menschen dazu determiniert, moralisch verwerflich zu handeln. Vgl. ebd., 186 f.

1.4. Gott und Dynamik

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dynamischen Akteuren zugeschrieben werden. Gott kann das Verhalten endlicher Akteure registrieren, verarbeiten und darauf reagieren. Zumindest im ersten Ansatz handelt es sich dabei um Reaktionen auf zeitliches Geschehen, das Gott erst wahrnehmen muss. Selbst wenn Gott zeitlos ist, wird man ihn also nach diesem Ansatz doch als dynamisch bezeichnen müssen. Im zweiten Ansatz muss Gott immerhin die beste aller Welten mitsamt seiner Handlungen in dieser Welt präsent haben. Ob dies gänzlich ohne jede innere Dynamik Gottes möglich ist, ist zumindest fraglich. Es erscheint plausibel, dass auch der zweite Ansatz ähnliche kausale Wechselspiele erfordert wie der erste, auch wenn sie allein in Gott stattfinden. Dass Dialog theoretisch möglich ist, heißt noch nicht, dass jeder Dialog, wie er zwischen Menschen stattfinden kann, mit einem zeitlosen Gott denkbar ist. Denn ein zeitloser Gott kann beispielsweise nicht seine Meinung ändern. Selbst wenn Gottes Wissen und Meinungen kausal von den Dialogen mit den Menschen abhängig sind, heißt das nicht, dass er zunächst die eine Meinung und dann eine andere hätte. Es heißt vielmehr, dass er zeitlos eine andere Meinung hätte, wenn die Dialoge anders verliefen. Aber er kann nicht verschiedene Meinungen nacheinander haben. Genau solche Dialoge werden jedoch in der Bibel geschildert. Abraham überredet Gott Zug um Zug, Sodom wegen immer weniger Gerechten zu verschonen (Gen 18,23–33). Mose bittet für das Volk, nachdem es das Stierbild angebetet hat, und Gott verschont nicht nur das Volk, sondern bereut auch die ursprünglich geplante Auslöschung (Ex 32,7–14).113 Hiskia bittet um sein Leben, nachdem Gott ihm seinen baldigen Tod angekündigt hat, und Gott gewährt seine Bitte (Jes 38,1– 8).114 In jedem dieser Beispiele ändert Gott eine zuvor geäußerte Absicht auf die Bitte eines Menschen hin, dass heißt er scheint seine Meinung zu ändern. Nach Paul Helms Interpretation beabsichtigt Gott zeitlos, Hiskia auf sein Gebet hin weiter leben zu lassen, indem er ihm zuvor seinen Tod ankündigt in dem Wissen, dass Hiskia um sein Leben bitten wird.115 Dies erscheint jedoch kaum befriedigend. Denn dann würde Gott zum Schein Hiskias Tod ankündigen, um ihm das entsprechende Gebet zu entlocken. In Anlehnung an die obigen Ausführungen könnte man überlegen, ob Hiskia das Gebet sprechen muss, damit Gott überhaupt zu der Absicht kommt, ihn länger leben zu lassen. Dann würde Gott Hiskia zuerst die Absicht mitteilen, die er hätte, falls Hiskia nicht betete, um ihm danach die Absicht mitzuteilen, die er tatsächlich hat. Analog könnte man auch die anderen Stellen interpretieren. Doch auch mit dieser Interpretation wäre die zu Beginn des Gesprächs dargestellte Absicht nur Schein. Um die Bitte der Menschen zu motivieren, wäre es schon ausreichend, die Möglichkeiten darzustellen, zwischen denen Gott entscheiden muss. Stattdessen konfrontiert Gott die Menschen mit einem gefassten Entschluss. Wenn der Dialog und die darin geäußerte Meinungsänderung nicht nur 113

Auf diese beiden Beispiele verweist Ansorge, „Der Ursprung der Zeit im dreifaltigen Gott“,

211. 114 115

Dieses Beispiel diskutiert Helm, „The Problem of Dialogue“, 209 f. So in ebd., 210.

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1. Einleitung

Schein sein soll, muss davon ausgegangen werden, dass Gott seine Meinung ändern kann. Jede Meinungsänderung impliziert jedoch eine temporale Abfolge. Nun könnte man dagegen einwenden, dass es nur die Autoren dieser Texte seien, die in dieser Weise von Gott reden. Ihre eigentliche Absicht liege auch nicht darin, Gott als veränderlich darzustellen. In Ex 32,7–14 beispielsweise ist die theologisch relevante Aussageintention, dass Gottes Verheißungen an Abraham als Garant für Gottes Treue zu Israel schwerer wiegen als alles Unrecht, das Israel begehen kann. Die Meinungsänderung im Dialog könnte als dramaturgisches Mittel aufgefasst werden, das nur dazu dient, diesen Punkt zu verdeutlichen. Daher erlauben selbst diese Dialoge keinen zwingenden Schluss auf einen zeitlichen Gott. Dennoch bleibt festzuhalten, dass diese Autoren kein Problem damit hatten, von Gott zu reden, als ob er veränderlich sei. Sie beschreiben Gott als zeitlich dynamisch agierend. Das ist ein schwerwiegendes Indiz dafür, dass sie Veränderungen in Gott nicht ausgeschlossen haben. Da explizite Aussagen einer Veränderlichkeit oder Unveränderlichkeit Gottes fehlen, stehen nicht mehr als solche Indizien zur Verfügung. Diese Indizien können zwar nicht als letztgültige Argumente gegen Vertreter der Zeitlosigkeit verwendet werden. Aber sie deuten doch ein dynamisches Gottesbild an, das nicht mit der Vorstellung eines rein zeitlosen Gottes vereinbar ist. Zumindest ein Teil der biblischen Traditionen scheint also von einem zeitlich agierenden Gott auszugehen. 1.4.4. Gott begleitet die Schöpfung In den Geschichtskonzeptionen der alttestamentlichen Geschichtswerke zeigt sich die Überzeugung, dass Gott Israel begleitet und treu bleibt. Auch wenn theoretisch ein zeitloser Gott ebenfalls auf zeitliche Ereignisse reagieren kann, stellt sich die Frage, ob ein zeitlicher Gott dies nicht besser könnte. Denn ein zeitloser Gott kennt Zeit, Werden und Vergehen nicht aus eigener Anschauung. Inwiefern könnte er seine Geschöpfe verstehen, deren ganzes Leben und Denken sich in diesen Kategorien vollzieht? Noch deutlicher stellt sich diese Frage bezüglich des Gebets. Im Gebet wird Gott nicht nur gelobt oder gebeten. Der Beter vertraut sich Gott an. Er tritt mit seiner Situation, seinen Problemen, Sorgen, Hoffnungen und Ängsten vor Gott. Dieses Anvertrauen ist nur sinnvoll, wenn Gott irgendeine Möglichkeit hat, den Menschen in seiner Situation zu verstehen. Andernfalls könnte Gott vielleicht die gemurmelten Äußerungen der Menschen wahrnehmen und verarbeiten. Sein Verständnis der Menschen selbst bliebe allerdings abstrakt, auf eine Außenperspektive beschränkt, in der ihm alle physikalischen Informationen über den Menschen zugänglich sind, aber nicht das Wissen, wie der Mensch seine Situation erlebt. Als Mensch kann man sich anderen Menschen anvertrauen, weil man davon ausgeht, dass sie die Welt ähnlich erfahren wie man selbst. Auch wenn man nicht weiß, wie es ist, jemand anderes zu sein, erlebt man doch ähnliche Situationen, erfährt Trauer und Glück. Das ist die

1.4. Gott und Dynamik

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Grundvoraussetzung für das Vertrauen, dass der andere einem Empathie entgegenbringen kann. Der Sinn des Gebets, des Sich-Anvertrauens an Gott, wäre erheblich in Frage gestellt, wenn Gott Grunderfahrungen des menschlichen Lebens wie die Zeitlichkeit gänzlich unzugänglich wären. Er könnte dann die Menschen nicht als Menschen verstehen. Im Gebet setzt man daher voraus, dass Gott die Zeit zumindest soweit zugänglich ist, dass er verstehen kann, wovon die Menschen reden, dass er ihnen Empathie entgegenbringen kann und mit ihnen fühlen kann.116 Dazu muss er eine gewisse Vorstellung davon haben, wie es in der Zeit ist.117 Die Zeitlichkeit des Menschen äußert sich darin, dass er seine Zukunft nicht kennt, weil sie noch aussteht, und dass alle seine Zeit in die Vergangenheit übergeht. In diesen Aspekten der Zeitlichkeit liegen viele Grunderfahrungen des Menschen begründet. Ohne Vergänglichkeit bräuchte es keine Verlustängste geben, müsste der Mensch sich nicht bemühen, Erreichtes zu erhalten. Ohne ausstehende Zukunft gäbe es keinen Grund zur Hoffnung, keinen Anlass, zu planen und vorzusorgen. Ein zeitloser Gott hat weder Zukunft noch Vergangenheit. Er weiß zwar sachlich, dass der Mensch seine Zukunft nicht kennt und die Zeit durchleben muss. Aber er kennt diese Situation nicht aus eigener Erfahrung.118 Die Intuition, dass Gott Zeit aus eigener Erfahrung kennen müsste, um zu wissen, wie es sich als zeitliches Wesen lebt, lässt sich ähnlich zu Frank Jacksons Gedankenexperiment mit Mary begründen.119 Mary lebt in einem Raum, in dem alles schwarz oder weiß ist. Über einen Computer mit Schwarz-Weiß-Bildschirm kann sie alles über die Außenwelt erfahren, auch dass es Farben gibt und alle physikalischen, biologischen und andere in Worte fassbare Informationen über Farben und Farbwahrnehmung. Sie bekommt aber keine Farben zu sehen. Wenn sie nun den Raum verlässt und zum ersten Mal Farben sieht, erfährt sie dann etwas Neues? Analog könnte man fragen, ob ein allwissender, zeitloser Gott etwas Neues erfährt, das er sich vorher nicht vorstellen konnte, wenn er durch irgendeinen Effekt zeitlich wird. Im Beispiel von Mary scheint die Sachlage eindeutig. Keine Beschreibung von Farben kann einem Menschen das Wissen vermitteln, wie es ist, Farben zu sehen. 116

Die Bedeutung der Empathie Gottes für das Gebet betont auch Linda Zagzebski in ihrem Ansatz der totalen Empathie. Vgl. Zagzebski, Omnisubjectivity, 20 f. und 25–35. Dass Gott „sich vom Zeitlichen eben als einem Zeitlichen berühren […] lassen“ will, sieht auch Ansorge, „Der Ursprung der Zeit im dreifaltigen Gott“, 223. 117 Soweit stimmt sogar Helm, Eternal God, 24 zu: „More than this, not only does God enter into relations with things in time but we must also suppose that he has some concept of time. For instance, he knows what it means for A to exist in time, or for it to occur before B and C.“ 118 Zu unterscheiden von dieser Fragestellung ist die abstrakte Frage, ob Gottes Allwissenheit indexikalisches Wissen umfasst, insbesondere das Wissen, welcher Zustand „jetzt“ ist. Diese Frage diskutieren beispielsweise Helm, Eternal God, 41–55; Helm, „Divine Timeless Eternity“, 23 f.; Wolterstorff, „God and Time“, 6–9; Craig, God, Time, and Eternity, 112–133; Craig, „Timelessness and Omnitemporality“, 30. 119 Er verwendet dieses Gedankenexperiment neben anderen, um zu begründen, dass Physikalismus nicht alles Wissen erfassen kann. Vgl. F. Jackson, „Epiphenomenal Qualia“, PhQ 32 (1982), 127–136, hier 130; F. Jackson, „What Mary Didn’t Know“, JPh 83 (1986), 291–295, hier 291.

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1. Einleitung

Man muss es selbst erfahren. Selbst wenn man behauptet, dass die Wahrnehmung von Farben keine neuen Sachinformationen über Farben liefert, muss man doch eingestehen, dass keine Beschreibung der Farben das Wissen vermitteln kann, wie Farben aussehen. Die Erfahrung von Zeit ist dagegen nicht so einfach zu benennen wie eine Farbe. Es gibt keine spezielle Quale „Zeit“, die man beständig wahrnimmt. Bei Zeiterfahrungen handelt es sich vielmehr um komplexe Bündel von Erfahrungen, die vielfach zusammenhängen. Doch der wesentliche Punkt lässt sich auch an einem Beispiel, der Erfahrung von Wandel, beschreiben. Als Mensch befindet man sich in einem Zustand und weiß, dass andere Zustände folgen werden. Man kann sie erwarten, antizipieren, aber kennt sie noch nicht. Wenn diese zukünftigen Zustände gegenwärtig werden, sind die früheren vergangen und nur ein Eindruck im Gedächtnis bleibt von ihnen zurück. Wenn Gott nur wüsste, dass für den Menschen verschiedene Zeiten aufeinander folgen, hätte er noch lange keinen Wandel erfahren. Wenn Gott sich Wandel auch nicht vorstellen könnte, dann könnte man kaum behaupten, dass Gott weiß, wie Zeit für seine Geschöpfe ist. Denn ein Nachempfinden oder Verstehen einer Situation impliziert bis zu einem gewissen Grad immer die Vorstellung dieser Situation, ein Hineinversetzen in den anderen. Von einem Gott, dem Zeit unvorstellbar ist, müsste man sagen, dass ihm die Zeit auch gänzlich unzugänglich ist. Denn wenn er sich nicht ausmalen kann, wie es ist, Ereignisse zu antizipieren oder als vergangen zu betrachten, kennt er die wesentlichen Grunderfahrungen der Zeitlichkeit nicht. Man muss daher vermuten, dass Gott sich den Wandel wenigstens vorstellen kann, so dass er weiß, wie es ist, ihn zu durchleben. Wenn Gott also Wandel nachvollzieht, so wird er sich eine Reihe von Zuständen vergegenwärtigen. In jedem dieser Zustände müsste er sich vorstellen, dass die späteren Zustände noch nicht real sind und die früheren vergangen sind. Nimmt man an, dass Gott sich dies vollkommen ausmalen könnte, hätte man eine Reihe von Zuständen, die sich in nichts von einer temporalen Reihe unterscheidet.120 Denn ein mögliches „simul“, das man fordern könnte, dürfte sich in den vorgestellten Zuständen gerade nicht äußern. Sonst hätte Gott eine Grunderfahrung der Zeitlichkeit, das Ausstehen der Zukunft, nicht reproduziert. Gott hätte also in sich eine Zeitreihe konstituiert und damit bereits seine Zeitlosigkeit überstiegen. Anders als Mary könnte Gott also das Wissen in Erfahrung bringen. Aber dazu würde er in sich Zeit erschaffen. Man könnte annehmen, dass Gott dabei seine Zeitlosigkeit in gewissem Sinne beibehält, indem er die Zeitreihe sowohl aus der zeitlosen Außen- als auch der zeitlichen Innenperspektive wahrnimmt. Aber dennoch hätte er etwas wie Zeit in sich, wäre nicht mehr rein zeitlos. Zeit wird Gott also dadurch zugänglich, dass er Zeit in sich erschafft, um die Innenperspektive der Zeit kennenzulernen. Ein Gott, der Menschen in ihrer Zeitlichkeit verstehen will, wird deswegen zeitlich werden. Ein Gott, der zeitlos bleibt, kann dagegen die Innenperspektive der Zeit nicht nachvoll120

Zumindest eine B-Reihe wäre es. Vgl. Abs. 1.3.3 zur Unterscheidung der A- und B-Reihe.

1.4. Gott und Dynamik

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ziehen. Er könnte zwar wissen, wie sich Menschen in der Zeit verhalten und wie sie darüber reden. Aber er wüsste nicht, wie es ist, eine ausstehende Zukunft zu haben. Auf ähnliche Weise kann man argumentieren, wenn man annimmt, dass Gott sich die Zeit nicht vorzustellen braucht, sondern unmittelbar die Innenperspektive der Menschen inklusive aller Qualia wahrnimmt. Ein solches Modell totaler Empathie entwickelt Linda Zagzebski.121 Sie vertritt die These, dass Gottes Wahrnehmung des zeitlichen Verlaufs eines Menschen noch keine Zeit Gottes impliziert: „My own suggestion is that a timeless being can know what it is like to experience temporal duration the same way he knows what it is like to smell roses. He does not smell the roses himself, but he permeates the consciousness of a being who smells roses. Similarly, even if he is not in time, he permeates the consciousness of beings who experience temporal duration, and empathically gets what temporal duration is like.“122

Zeitlich ausgedehnte Erfahrungen wie Warten und Langeweile kann Gott auf einen Punkt komprimiert wahrnehmen und braucht nach Zagzebski daher keine Zeit.123 Doch hinkt dieses Argument an der entscheidenden Stelle. Auch wenn Gott die Rose nicht selbst riecht, impliziert der empathische Nachvollzug des Riechens doch eine Vorstellung des Geruchs, also die Vorstellung der entsprechenden Qualia. Dies sieht auch Zagzebski selbst: „One cannot grasp what it is like to see red without seeing red in imagination, and seeing red in imagination is very much like seeing red.“124 Dies gilt jedoch nicht nur für Qualia, sondern für alle Aspekte der Innenperspektive des menschlichen Geistes. Zu dieser Innenperspektive gehört auch seine Zeitlichkeit. Dementsprechend impliziert die Vorstellung des zeitlichen Wandels unter anderem auch die Vorstellung des Ausstehens der Zukunft. Nähme Gott die verschiedenen Zustände nur einfach zugleich wahr, hätte er gerade den Aspekt der Zeitlichkeit nicht aus der Perspektive der Menschen wahrgenommen. Um die Innenperspektive der Menschen vollkommen und unmittelbar wahrzunehmen, muss er sie also als zeitliche, das heißt als Reihe von Momenten mit je ausstehender Zukunft und vorübergegangener Vergangenheit, wahrnehmen. Dies ist jedoch nicht unterscheidbar von einer Zeitreihe. Gott erschafft sich also Zeit, um die Zeitlichkeit der Menschen nachzuvollziehen. Der obige Argumentationsgang impliziert, dass Gott nicht nur Zeit, sondern auch weitere menschliche Eigenschaften kennen muss. Damit Gott die Menschen verstehen kann, sollten ihm die menschlichen Eigenschaften und Erfahrungen vorstellbar sein. Einige Eigenschaften und Erfahrungen, wie die Zeitlichkeit, sind von der Art, dass Gott sie dann auch real besitzt oder real wahrnimmt. Dazu gehören neben der Zeit, wie schon angedeutet, Qualia und andere Aspekte des 121

Vgl. Zagzebski, Omnisubjectivity, 25–35. Ebd., 41. 123 Siehe ebd., 42 f. 124 Ebd., 46. 122

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1. Einleitung

menschlichen Geistes. Vorgestellte Rottöne sind als Eindruck ebenso real wie wahrgenommene. Denn ihre Realität besteht allein im subjektiven Eindruck als Rotton. Dasselbe trifft auf Emotionen und andere subjektive Empfindungen zu. Eine vorgestellte Körperlichkeit braucht dagegen keine reale Körperlichkeit zu sein. Zwar wird sich Gott vollkommen vorstellen können, wie es sich mit Körper lebt. Dazu muss er jedoch nur die Wahrnehmungen und Empfindungen, die zur Körperlichkeit gehören, reproduzieren. Er muss keinen echten Körper zu diesem Zweck annehmen. Der obige Argumentationsgang impliziert also, dass Gott alles reproduzieren kann, was zur Innenperspektive des Menschseins gehört. Die äußerlichen Eigenschaften braucht er dafür jedoch nicht zwingend. Zur Begleitung der Schöpfung gehört neben der Empathie für die Zeitlichkeit der Geschöpfe ein weiterer Aspekt, der für Gottes Beziehung zur Zeit relevant ist: Es ist davon auszugehen, dass Gott seinen Geschöpfen nahe sein will, und zwar allen Geschöpfen gleichermaßen. Dies kann auf unterschiedliche Weise umgesetzt sein. Gott könnte allen Geschöpfen in allen Zeiten gegenwärtig sein im Sinne einer Gegenwart aller Zeiten. Er könnte ebenso alle Zeiten der Schöpfung als Zeiten nachvollziehen. In jedem Fall sollten die verschiedenen Zeiten der Schöpfung nicht in unterschiedlicher Beziehung zu Gott stehen. Ansonsten könnten bestimmte Zeiten in ihrer Gottesbeziehung bevorzugt sein und andere andere benachteiligt. Dieser Aspekt wird in Bezug auf die Vielfalt der relativistischen Zeiten relevant sein (vgl. Abs. 3.7.4). 1.4.5. Gottes Ewigkeit und Inkarnation Gottes Begleitung und Treue zur Schöpfung äußert sich in unüberbietbarer Weise in seiner Menschwerdung. In der Inkarnation wird Gott wahrer Mensch. Zum diesseitigen menschlichen Leben gehört auch die Existenz in der Zeit. Folglich, so argumentiert Karl Barth, nimmt Gott mit der menschlichen Natur auch die Zeitlichkeit des Menschen an.125 In Jesus hat er alle Aspekte der Zeit kennengelernt. Gottes Ewigkeit muss daher die Möglichkeit umfassen, in Zeit einzugehen. Argumente dieser Art lassen sich mit einer Unterscheidungs- oder Trennungschristologie umgehen.126 In Trennungschristologien wird eine strenge Unterscheidung zwischen göttlicher und menschlicher Natur in Christus getroffen. Somit kann Gott unberührt von allen menschlichen Eigenschaften bleiben. In diesem Sinne hat in neuerer Zeit Brian Leftow eine mereologische Christologie vorgebracht, um 125

K. Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. II.1, Zürich 6. Aufl. 1982, 694–696. Zu den Begriffen der Unterscheidungs- und Trennungschristologie und der Geschichte der Christologie der antiochenischen Schule, insbesondere den Versuchen eine Einheit Christi trotz strenger Trennung göttlicher und menschlicher Natur zu formulieren, vgl. A. Grillmeier, Jesus der Christus im Glauben der Kirche, Bd. 1: Von der Apostolischen Zeit bis zum Konzil von Chalcedon (451), Sonderausgabe der 3. Auflage von 1990, Freiburg/Basel/Wien 2004, 296–299, 506–515, 550– 553, 622–632, 652–660 und 692–726. 126

1.4. Gott und Dynamik

33

die Zeitlosigkeit Gottes angesichts der Inkarnation zu verteidigen:127 Christus besteht nach Leftow aus der zweiten göttlichen Person, einem Körper und eventuell einer menschlichen Seele. Die göttlichen und menschlichen Anteile Christi werden durch kausale Verbindungen zu einem Ganzen vereint. Insbesondere determiniert die zweite Person der Trinität die Personalität Christi, so dass die menschlichen Anteile keine vierte Person zur Trinität beisteuern.128 Dabei bleibt jedoch der göttliche Anteil zeitlos und nur der menschliche Anteil existiert in der Zeit. Mit dieser Christologie kann Leftow in der Tat die Zeitlosigkeit Gottes von der geschöpflichen Zeitlichkeit trennen.129 Fraglich ist jedoch, ob er alle Anliegen der Christologie aufnehmen kann. Dass Christus Gott und Mensch ist, kann Leftow rekonstruieren. Doch Gott bleibt in diesem Modell allein Gott und geht lediglich in ein größeres Ganzes ein, das auch noch menschliche Teile umfasst. In diesem Ganzen existieren Gott und die menschlichen Anteile kausal verbunden nebeneinander. In Leftows Modell erscheinen die Teile daher höchst separabel, so dass die Einheit Christi wie schon in den klassischen Trennungschristologien nicht überzeugend dargestellt werden kann. Nur wegen dieser starken Trennung und Unterscheidung der göttlichen und menschlichen Teile kann Leftow die Zeitlosigkeit Gottes vor jedem Eingang in die Zeit bewahren. Gott muss als Gott, als Person und als Entität in Christus von allen menschlichen Anteilen klar unterscheidbar bleiben, damit sich die Zeit der menschlichen Teile nicht auch auf die göttlichen Teile erstreckt. Inkarnation kann und sollte jedoch auch als Menschwerdung 130 beschrieben werden und sollte als Menschwerdung für Gott nicht nur äußerlich bleiben.131 Das setzt voraus, dass göttliche und menschliche Natur eine stärkere Einheit eingehen, als Leftow annimmt. Denn dann ist Gott Mensch und ist Träger menschlicher Eigenschaften.132 Leftow muss diese Aussage reduzieren zu „(2a) the person who is Jesus Christ = God the Son“.133 Nach dieser Aussage wäre Gott nicht Mensch, sondern Christus vereint göttliche und menschliche Teile in sich und die Person Christus ist die zweite Person der Trinität, das heißt, der Grund seiner Personalität ist allein den göttlichen Anteilen zuzurechnen. 127 Vgl. B. Leftow, „A Timeless God Incarnate“, in: S. T. Davis/D. Kendall/G. O’Collins (Hrsg.), The Incarnation. An Interdisciplinary Symposium on the Incarnation of the Son of God, Oxford 2002, 273–299, insbesondere 287–291. Auch Paul Helm stimmt diesem Ansatz zu. Vgl. Helm, Eternal God, xv f. 128 Vgl. Leftow, „A Timeless God Incarnate“, 285–287 und 294. 129 Die Details seiner Argumentation können hier übersprungen werden. Es ist klar, dass sich Zeitlosigkeit und Zeit in Christus trennen lassen, wenn man dieser Christologie zustimmt. Zu seinen ausführlichen Argumenten siehe ebd., 292–299. 130 So zum Beispiel Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. II.1, 694 f. 131 So zu Recht Ansorge, „Der Ursprung der Zeit im dreifaltigen Gott“, 216. 132 Dass Leftow diesen Aspekt der Christologie nicht reproduzieren kann, sieht auch R. Cross, „The Incarnation“, in: T. P. Flint/M. C. Rea (Hrsg.), The Oxford Handbook of Philosophical Theology, Oxford u. a. 2009, 452–475, hier 461 f. 133 Leftow, „A Timeless God Incarnate“, 294.

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1. Einleitung

Eine angemessene Diskussion der Christologie kann hier nicht folgen.134 Doch lässt sich mit Hegels Unendlichkeitsbegriff 135 schnell zeigen, dass die Anliegen der Trennungschristologien verfehlt sind. Sie versuchen, die Gottheit vor den Niederungen des Endlichen und Geschöpflichen zu bewahren, indem sie Gott im Gegensatz zu den Eigenschaften des Endlichen denken und in der Christologie die Trennung von Gott und Endlichem durch die Trennung von Gott und Mensch aufrechterhalten. Durch diesen Schritt wird Gott jedoch allein als Gegenteil des Endlichen bestimmt und somit selbst endlich gedacht. Der wahrhaft unendliche Gott darf nicht allein im Gegensatz zum Endlichen gedacht werden, denn „indem das Unendliche vom Endlichen rein und entfernt gehalten werden soll, [wird] es nur verendlicht […].“136 Um Gottes wahrhaftiger Unendlichkeit gerecht zu werden, muss ihm daher zumindest die Möglichkeit zugeschrieben werden, auch endliche Eigenschaften annehmen zu können, wenn es nicht sogar seinem Wesen entspricht, dies zu tun. Insbesondere gibt es keine sinnvolle Motivation, das Endliche und Zeitliche von Gott fernzuhalten. Es ist im Gegenteil naheliegend, dass Gott in die endliche Welt eingeht. Da Gott sich nun in Christus offenbart hat und Mensch geworden ist, bleibt als einzig plausibler Schluss, dass Gott tatsächlich die Endlichkeit angenommen hat und unter anderem zeitlich geworden ist. Damit erweist er seine wahre Unendlichkeit in seiner Offenbarung. Da Trennungschristologien folglich mit gutem Grund abzulehnen sind, folgt aus der Inkarnation, dass Gott zumindest als inkarnierter Sohn Zeitlichkeit erfahren hat. 1.4.6. Der lebendige, dreifaltige Gott Die zweite Person der Trinität wird in Christus Mensch und steht so in dialogischer und lebendiger Beziehung zu den Menschen. Ebenso müssen auch die innertrinitarischen Beziehungen als Dialog und Leben aufgefasst werden. Jesus betet zum Vater, sendet den Geist und ist an der Schöpfung beteiligt. Zwischen den trinitarischen Personen gibt es also im weitesten Sinne Absprachen, Dialoge und Interaktionen. Es könnte naheliegen, aus diesem dialogischen Geschehen zu folgern, dass Gott auch zeitlich verfasst sein müsste.137 Doch in Abs. 1.4.3 wurde gezeigt, dass theoretisch auch Dialog und Interaktion mit zeitlosen Dialogpartnern denkbar sind. Dies trifft ohne Zweifel auch auf die klassischen innertrinitarischen Relationen zu. Die Zeugung des Sohnes kann als nicht-zeitliche Verursachung oder Abhängigkeit interpretiert werden, ebenso wie die Hauchung des Geistes.138 Es kann 134 Im Rahmen klassischer Christologien müsste man allgemein das Verhältnis göttlicher und menschlicher Eigenschaften diskutieren. 135 Vgl. zum Unendlichkeitsbegriff Hegel, Wissenschaft der Logik I/1, 138–159. 136 Ebd., 139. 137 So argumentiert beispielsweise Ansorge, „Der Ursprung der Zeit im dreifaltigen Gott“, 225– 227. 138 So Helm, Eternal God, 284–286.

1.4. Gott und Dynamik

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aus dem innertrinitarischen Leben daher nicht auf eine Zeitlichkeit Gottes geschlossen werden. Auch der Begriff des Lebens selbst erlaubt nicht diesen Schluss. Zwar ist das geschöpfliche Leben zeitlich verfasst. Das impliziert jedoch nicht, dass alles Leben zeitlich sein muss. Sicherlich ließe sich der Begriff des Lebens auf eine Weise definieren, so dass Leben Zeit voraussetzt. Doch Vertreter einer Zeitlosigkeit Gottes werden ebenso einen Begriff von Leben entwickeln können, der ohne Zeit auskommt. Eine solche Definition ist insbesondere wünschenswert, da das ewige Leben, auf das die Menschen hoffen dürfen, nicht einfach eine Verlängerung der irdischen Lebenszeit sein kann. Wie in Abs. 1.4.3 bemerkt wurde, enthalten jedoch selbst zeitloser Dialog und zeitlose Interaktion Aspekte, die einem dynamischen Geschehen entsprechen und nicht einem statischen Zustand. Der Dialog vollzieht sich in Aktion und Reaktion auf den Dialogpartner. Insbesondere reagiert Gott auf seine Geschöpfe. Auch die nicht-zeitliche Zeugung des Sohnes ist nicht als rein logische Abhängigkeit, sondern als Geschehen oder als Verursachung zu verstehen. Dasselbe trifft auf alle Werke zu, die die Personen der Trinität gemeinsam und in Absprache umsetzen. Selbst wenn man die These vertreten wollte, dass Gott die Welt plane und in einem zeitlosen fiat ins Sein rufe und dabei ohne Dynamik auskomme, ließe sich dies von den trinitarischen Relationen nicht behaupten. Die Interaktionen zwischen den trinitarischen Personen sind ohne Zweifel als dynamische Relationen aufzufassen. Häufig wird Dynamik mit einem Geschehen in einer Zeitreihe gleichgesetzt. Für die trinitarischen Relationen ist jedoch keineswegs offensichtlich, ob sie sich in einer Zeit ereignen oder eher zeitlos sind. Insofern stellt sich also die Frage, ob ein Begriff von Dynamik denkbar ist, der keine Zeitreihe als Voraussetzung hat. Eine Beschreibung solcher Dynamik deutet sich in der Weise an, wie Vertreter der Zeitlosigkeit Gottes über seine Werke reden müssen. Zeitloses Verursachen und Reagieren implizieren kausale wechselseitige Relationen, in denen Gott anderes erschafft und auf es eingeht. Zumindest das Hervorbringen von etwas, das sonst nicht existierte, sei es als Zeugung oder als Erschaffung, kann man kaum mit dem Begriff der Statik erfassen. Auch wenn sich dieses Geschehen in keine Zeitreihe einordnen lässt, erscheint es also plausibel, es als dynamisch zu bezeichnen. Der Ewigkeitsbegriff Gottes sollte daher in einer Weise formuliert werden, die diese Dynamik angemessen erfasst. 1.4.7. Gott und Zeit Kennt Gott also nun Zeit? Erfährt er Zeit und was fehlte ihm, wenn ihm Zeit fremd wäre? Das biblische Zeugnis ist unterdeterminiert und erlaubt keine eindeutigen Schlussfolgerungen,139 außer dass Gottes Zeitbezug den menschlichen übersteigt. Es bleibt allerdings festzuhalten, dass einige biblische Autoren von Gott in zeitli139

Das vermutet zu Recht auch Barr, Biblical Words for Time, 159.

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1. Einleitung

chen Kategorien reden und ihm auch deutlich zeitliche Fähigkeiten wie Meinungsänderungen zuschreiben. Gott steht im Dialog zur Schöpfung, reagiert auf seine Geschöpfe und steht auch in lebendigen dialogischen Beziehungen innerhalb der Trinität. Gott ist also zu einer Form von Dynamik in der Lage. Er kann anderes hervorbringen und sich auf es beziehen und eingehen. Ein weiteres Argument gegen eine reine Zeitlosigkeit Gottes ergab sich aus der Begleitung der Schöpfung. Wenn Gott verstehen will, wie seine Geschöpfe Zeit erleben, muss er sie soweit nachvollziehen, dass er eine Zeit in sich konstituiert. Wenn Gott die Zeit nicht kennt, fehlt ihm also die Erfahrung einer bestimmten Existenzweise und insbesondere ein tieferes Verständnis seiner eigenen Geschöpfe. Die Erfahrungen von Neuem und von Vergänglichkeit wären ihm fremd. Die Inkarnation schließlich impliziert eine Zeitlichkeit der zweiten Person der Trinität. Gott wird Träger menschlicher Eigenschaften und damit zeitlich. Insgesamt ergibt sich, dass Gott nicht statisch und nicht rein zeitlos zu denken ist, sondern dynamisch und lebendig. Das stärkste Argument dafür, dass Gott Zeit nicht fremd ist, bleibt jedoch Gottes Unendlichkeit. Der unendliche Gott kann nicht als Gegensatz des Endlichen gedacht werden, da er sonst im Endlichen seine Grenze hätte und selbst endlich wäre. Dem unendlichen Gott darf folglich auch die Möglichkeit zur Zeitlichkeit nicht abgesprochen werden. Auch die Dynamik und das Leben Gottes werden durch seine Unendlichkeit näher bestimmbar als unendliches und unbegrenzbares Leben. Wirklich unbegrenzbar ist Gottes Leben jedoch nur, wenn kein Zeitbezug und keine Verlaufsform dieses Lebens ausgeschlossen wird. In der Bezugnahme auf Gottes Unendlichkeit ähnelt dieser Ansatz Boethius’ und Plotins Verständnis von Gottes Vollkommenheit. Gott darf nichts fehlen. Ihr Modell der Gegenwart aller Zeiten kann allerdings nur dann die Vollkommenheit beschreiben, wenn man sich auf die Inhalte der Zeiten beschränkt und die Form des Erlebens als nichtig erachtet. Denkt man diesen Begriff der Vollkommenheit jedoch konsequent zu Ende, darf Gott auch die Erfahrung der Zeitlichkeit nicht fehlen. Gott sollte nicht nur alle Zeiten ihrem Inhalt nach kennen, sondern auch die Existenzweise der Zeitlichkeit. Analog müssen ihm alle anderen Existenzweisen offenstehen, damit ihm nichts verwehrt ist. Denn Gott wäre die Erfahrung der Gegenwart aller Zeiten fremd, wenn er rein zeitlich verfasst wäre. Gott kann nur alle Existenzweisen kennen, wenn er sie sich vorstellen und damit in gewisser Weise auch realisieren kann. Nur dann muss er auf keine Erfahrungsweise verzichten.140 Damit Gott die Kenntnis keiner Existenzweise verschlossen ist, sollte er also alle Existenzweisen selbst konstituieren können. Erst dann wäre er in Bezug auf die Zeit wahrhaft unendlich. Hier ergibt sich jedoch ein Konflikt im Vollkommenheitsbegriff. Denn einem Subjekt, das auch nur vorübergehend zeitlich ist, sind in der Zeit eben nicht alle 140 Nach Paul Helm müsste man abwägen, ob man in Bezug auf Gottes Allwissenheit eher auf das Wissen, was jetzt ist, oder auf die Kenntnis aller Zeiten verzichtet. Siehe Helm, Eternal God, 94.

1.4. Gott und Dynamik

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Zeiten präsent, das heißt, es fehlen ihm nach Boethius Vergangenheit und Zukunft. Einem Subjekt, das nur in der Gegenwart aller Zeiten existiert, fehlen jedoch die anderen Existenzweisen. Der Vollkommenheitsbegriff, nach dem Gott alle Zeiten gegenwärtig sein müssen, und der Vollkommenheitsbegriff, nach dem Gott alle Existenzweisen zur Verfügung stehen, schließen sich gegenseitig aus. Der letztere Vollkommenheitsbegriff umfasst jedoch die Gegenwart aller Zeiten als eine Möglichkeit. Auch wenn dieser Zustand nur eine der Existenzweisen ist und Gott auch andere Existenzweisen wählen kann, ist folglich der letztere Vollkommenheitsbegriff dem ersteren in gewissem Sinne überlegen. Daher wird der zweite Vollkommenheitsbegriff hier bevorzugt. Die Fähigkeit zum Wechsel der Existenzweisen sollte Gott auch aufgrund seiner Allmacht besitzen. Unter Allmacht wird hier die Herrschaft über alle Bereiche der Welt und darüber hinaus verstanden. Dieser Allmachtsgedanke steht in der Tradition der Geschichtsmächtigkeit Gottes. In der Entwicklung alttestamentlicher Traditionen wurde der Machtbereich Jahwes stetig erweitert, bis er auch den persischen Großkönig einsetzen und über das Totenreich herrschen konnte. Dahinter steckt nicht ein Gedanke abstrakter Allmacht, sondern die Vorstellung ganz konkreter Herrschaft über alle Gebiete der Natur, Geschichte und darüber hinaus (vgl. Abs. 1.4.2). In diesem Sinne soll in diesem Modell der angenommene Herrschaftsbereich Gottes vergrößert werden, indem er als Herr seiner eigenen Verlaufsform angenommen wird. Denn wenn Gott prinzipiell nur zeitlich existieren könnte oder nur alle Zeiten gegenwärtig haben könnte, wäre er in seiner Allmacht eingeschränkt. Er wäre in gewisser Weise in der Zeit beziehungsweise in der reinen Gegenwart gefangen.141 Es stellt sich also die Frage, ob und wie Übergänge zwischen verschiedenen Zeitformen und Zeitbezügen widerspruchsfrei denkbar sind. Zur Vorbereitung auf die Klärung dieser Frage werden nun einige Positionen aus der neueren Theologie, die Zeitbegriffe der Physik und die Zeit- und Ewigkeitsbegriffe der Spätphilosophie Schellings untersucht.

141

In Anlehnung an Swinburne, The Christian God, 138.

2. Zeit und Ewigkeit in der neueren Theologie Im zwanzigsten Jahrhundert ist das Interesse an den Themen Zeit und Ewigkeit in der Theologie neu entfacht. Vielen Ansätzen ist gemeinsam, dass Ewigkeit nicht als Gegensatz der Zeit verstanden werden soll.1 Ewigkeit muss in einen positiven Bezug zur Zeit gesetzt werden, damit eine Beziehung des ewigen Gottes zur zeitlichen Welt denkbar bleibt. Wenn Ewigkeit nur als Negation aller zeitlichen Relationen definiert wird, ist dieser Bezug Gottes zur Welt unklar. Die im Folgenden skizzierten Ansätze diskutieren das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit stets mit Bezug auf andere dogmatische Themen. Sie verwenden ihren Ewigkeitsansatz also, um Anliegen, die sich aus anderen Fragestellungen ergeben, gerecht zu werden. Diese Anliegen entstammen der Eschatologie,2 der Gotteslehre und auch trinitätstheologischen Erwägungen. Ziel dieses Kapitels ist es, diese Anliegen herauszuarbeiten, um sie nach Möglichkeit im Modell, das entwickelt werden soll, aufnehmen zu können. Es kann hier nur eine kleine Auswahl an Theologen behandelt werden.3 Bei der Auswahl wurde darauf geachtet, dass jeder der Theologen einen anderen Ansatz verfolgt. Pannenbergs Ewigkeitsmodell richtet sich nach der Ewigkeitsdefinition Plotins und Boethius’. Moltmann versucht eine Theologie zu begründen, die Hoffnung auf Neues und Verheißungen ermöglicht. Dazu verwendet er zeitliche Begriffe. Dalferth schließlich entwirft einen trinitarisch differenzierten Ewigkeitsbegriff.

2.1. Ewigkeit als Explikation der Gotteslehre – Wolfhart Pannenberg Pannenbergs Diskussion von Zeit und Ewigkeit bewegt sich im Spannungsfeld von Anthropologie, Gottesverständnis und Eschatologie. In seiner Anthropologie versucht er, der atheistischen Religionskritik zu begegnen und eine sichere Grundlage für die theologische Rede von Gott finden. Mit seinem Gottesbegriff schließt er an 1

Karl Barth sprach besonders bezeichnend von „der babylonischen Gefangenschaft des abstrakten Gegensatzes zum Zeitbegriff “, aus der der Ewigkeitsbegriff befreit werden müsse. Siehe Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. II.1, 689. 2 Das Thema Eschatologie ist insbesondere in den 1960er Jahren wiederaufgelebt und hat die Frage nach der Zukunft in den Fokus gerückt. Vgl. C. Schwöbel, „Last Things First? The Century of Eschatology in Retrospect“, in: D. Fergusson/M. Sarot (Hrsg.), The Future as God’s Gift. Explorations in Christian Eschatology, Edinburgh 2000, 217–241, hier 227. 3 Vgl. zu einer anderen Auswahl an Theologen Manzke, Ewigkeit und Zeitlichkeit.

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2. Zeit und Ewigkeit in der neueren Theologie

traditionelle Denkansätze von Descartes, Schleiermacher und Hegel an. Dieser Gottesbegriff geht Hand in Hand mit seiner Wahrnehmungs- und Erkenntnislehre und bestimmt so auch seine Position zu subjektiven Zeittheorien. Seine prägnantesten Thesen zum Verständnis der Zeit lassen sich nur unter diesen Voraussetzungen verstehen. Im Vorfeld werden daher Pannenbergs anthropologischer Ansatz und sein philosophischer Gottesbegriff skizziert. Was eine Theorie von Zeit und Ewigkeit leisten muss, wird auch in der Bedeutung des Ewigkeitsverständnisses für Pannenbergs Eschatologie deutlich, so dass auf diese Aspekte im Anschluss an die Darstellung seiner eigentlichen Lehre von der Ewigkeit eingegangen wird. In der Ausführung lehnt sich Pannenbergs Grundthese stark an Plotin und Boethius an. Die Ewigkeit ist das Ganze der Zeit, also die Gegenwart aller Zeitmomente im Leben Gottes, oder, spiegelbildlich formuliert, Zeit ist das Auseinanderfallen des Ganzen in einzelne Momente, die aus der endlichen Perspektive nacheinander erlebt werden. 2.1.1. Die theologischen Voraussetzungen Pannenbergs Thesen zu Zeit und Ewigkeit lassen sich ausgehend von seinen Positionen in der Anthropologie, der Erkenntnistheorie und der Metaphysik verstehen. Seine Auseinandersetzung mit der Anthropologie zielt auf die Entwicklung einer theologischen Anthropologie, die unter anderem der atheistischen Religionskritik entgegen treten soll. Er geht davon aus, dass im Laufe der Philosophiegeschichte erkannt worden sei, dass eine Erkenntnis Gottes über die Natur nicht möglich sei, so dass alle Begründungen des Gottesglaubens anthropologischer Art sein müssten.4 Die Religionskritik argumentiert allerdings ebenfalls anthropologisch: Religion sei eine Täuschung, Projektion oder ein Irrweg, der nicht notwendigerweise zum Menschen gehöre, sondern als Phase der Geschichte überwunden werden müsse. Nach Pannenberg ist „[d]ie eigentlich strittige Frage […] dabei nicht, ob der Gottesgedanke ein Produkt des menschlichen Geistes ist, sondern ob er ein unwesentliches Produkt des menschlichen Geistes ist“,5 das für ein vollständiges Verstehen des Menschen entbehrlich ist. Den Weg der dialektischen Theologie, sich dieser Kritik anzuschließen und die Subjektivität des Glaubens zu betonen, lehnt Pannenberg ab, da die Theologie auf diese Weise über ein bloßes Behaupten nicht hinauskomme.6 Pannenberg will daher eine Anthropologie entwerfen, die aufzeigt, dass der Gottesgedanke zum Sein des Menschen gehört, in dem Sinne, dass der Mensch nicht vollwertig verstanden werden kann ohne den Gottesbegriff, ohne das Bestreben, über das Endliche hinaus nach dem unendlichen tragenden Grund zu fragen.7 Damit versucht er zu widerlegen, dass der Gottesglaube als vorübergehende Erschei4

W. Pannenberg, Gottesgedanke und menschliche Freiheit, Göttingen 1972, 11. Ebd., 16. 6 Ebd., 16 f. 7 Ebd., 18. 5

2.1. Ewigkeit als Explikation der Gotteslehre – Wolfhart Pannenberg

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nung überwunden werden könne. In einer Argumentation, die diesen Zweck erfüllen soll, nimmt er dazu aus der Anthropologie das Konzept der „Weltoffenheit“8 auf, mit dem der Mensch vom Tier unterschieden wird. Während die Tiere auf ihre Umwelt angewiesen sind und, nach diesem Verständnis, nur den Ausschnitt der Welt wahrnehmen, der für ihre Triebe bedeutsam ist, können die Menschen ihre Weltsicht erlernen und damit auch verändern und übersteigen. Es gibt daher keine bestimmte Welt, die wie die Umwelt der Tiere die passende Weltsicht des Menschen darstellen würde, da der Mensch jede konkrete Weltsicht hinterfragen kann. Die Triebe der Tiere setzen einen Gegenstand in der Umwelt voraus, auf den sie sich richten. Die Ausrichtung des Menschen über alle Welterfahrung hinaus ist nach Pannenberg ebenfalls nur sinnvoll, wenn ihr ein Gegenüber entspricht, das alle Welterfahrung übersteigt. Im Hinausfragen über die Welt ist jeder Mensch auf ein solches Gegenüber angewiesen, das er voraussetzen muss, ob er es reflektiert und sich dessen bewusst wird oder nicht.9 Pannenbergs Verständnis von Begriffen scheint einen weiteren Versuch darzustellen, den Gottesgedanken als Voraussetzung für das Verstehen des Menschen zu erweisen. Unter Bezug auf Descartes und Schleiermacher geht er davon aus, dass die Begriffe von endlichen Objekten stets nur im Gegensatz zu allem anderen definiert werden. So sind endliche Gegenstände durch ihren Unterschied zu anderen endlichen Gegenständen festgelegt. Begriffe sind Begrenzungen, die einen Teil des Ganzen vom Rest abtrennen. Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass durch die Begrenzung zugleich etwas jenseits der Grenze vorausgesetzt wird. Dies kann ein anderes Endliches sein oder das Gegenteil des Endlichen, also das Unendliche, wenn über die Endlichkeit als solche reflektiert wird. Der Gedanke des einzelnen endlichen Objekts impliziert damit den Gedanken des unendlichen Ganzen. Descartes und Schleiermacher gehen über diese Folgerung hinaus, indem sie annehmen, dass alles Endliche das Unendliche zur Voraussetzung hat: Alle Vorstellungen von Endlichem werden durch Einschränkung des Unendlichen gebildet. Pannenberg präzisiert diesen Gedanken dahingehend, dass nicht der explizite Gedanke des Unendlichen, sondern nur die unthematische Intuition des Unendlichen Voraussetzung aller Vorstellungen ist.10 Das Absolute oder Unendliche ist deshalb nach Pannenberg der geeignete philosophische Gottesbegriff. Denn in jedem Begriff und jeder Wahrnehmung eines endlichen Objekts ist nach dieser Sichtweise das Absolute, das Unendliche als Voraussetzung seiner Denkbarkeit bereits impliziert. Gott als der Unendliche wird daher von jedem Menschen unreflektiert und vage in jedem Begriff mitgedacht. Dieses unreflektierte Bewusstsein von Gott wird jedoch erst auf der Basis eines anderweitig 8 W. Pannenberg, Was ist der Mensch? Die Anthropologie der Gegenwart im Lichte der Theologie, Göttingen 1962, 9. 9 Ebd., 7–11. 10 Siehe W. Pannenberg, Metaphysik und Gottesgedanke, Göttingen 1988, 21–23.

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2. Zeit und Ewigkeit in der neueren Theologie

erlangten Gottesbewusstseins als solches erkannt.11 Die Unendlichkeit Gottes nach diesem Verständnis muss deutlich von der mathematischen Unendlichkeit abgehoben und im Sinne von Hegels Unendlichkeitsbegriff verstanden werden. Im mathematischen Sinne unendlich ist etwas, das aus der endlosen Aneinanderfügung endlicher Elemente entsteht, wie die Reihe der Zahlen. Die mathematische Unendlichkeit ist daher rein quantitativ unendlich. Das qualitativ Unendliche ist jedoch das, was dem Endlichen als solches entgegengesetzt ist. Nach der Definition des Endlichen bedeutet dies, dass das Unendliche nicht mehr im Gegensatz zu etwas anderem definiert sein darf. Damit dies möglich ist, darf es allerdings auch dem Endlichen nicht entgegengesetzt sein. Das Unendliche muss also sowohl transzendent als auch immanent sein. Es muss das Endliche übersteigen, darf aber nicht von ihm ausgeschlossen sein oder das Endliche von sich ausschließen.12 Diesen Zusammenhang sieht Pannenberg vor allem im Begriff der Heiligkeit Gottes ausgedrückt. Per Definition ist das Heilige dem Profanen entgegengesetzt, so dass Gott und die Welt getrennt sind. Allerdings belässt Gott es nicht bei diesem Gegensatz, sondern er geht durch sein Erlösungs- und Vollendungshandeln selbst in die profane Welt hinein, nimmt sie mit auf und heiligt sie, so dass der Gegensatz zwischen Heiligem und Profanem aufgebrochen wird und das Heilige das Profane umgreift.13 Ausgehend von diesem philosophischen Gottesbegriff und der anthropologischen Grundlegung lassen sich die Besonderheiten des Zeit- und Ewigkeitskonzepts Pannenbergs einordnen. Es ist auf der einen Seite eine Konkretion des Verhältnisses des Endlichen zum Unendlichen.14 Auf der anderen Seite muss Pannenberg auch die subjektive Zeitwahrnehmung gegen Kant in der Ewigkeit begründen, damit der Gottesbegriff als das Absolute Voraussetzung aller endlichen Wahrnehmung bleiben kann. 2.1.2. Zeit und Ewigkeit Pannenbergs Verständnis der Ewigkeit richtet sich in jeder Hinsicht nach seinem Unendlichkeitsbegriff. Genau wie das Unendliche darf die Ewigkeit seinem endlichen Pendant nicht einfach entgegengesetzt sein, sondern muss es umfassen. Pannenberg versucht daher in seinem Ansatz, sowohl den Unterschied von Zeit und Ewigkeit zu erklären als auch den Zusammenhang zu beschreiben. Einfache Modelle, wie Ewigkeit als Zeitlosigkeit oder Ewigkeit als endlose Zeitfolge, lehnt er daher ab. Im ersten Fall wäre Ewigkeit als Gegensatz der Zeit definiert, so dass Ewigkeit 11

Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, 127–129; Pannenberg, Metaphysik und Gottesgedanke, 24 f. 12 Vgl. Pannenberg, Metaphysik und Gottesgedanke, 28 f.; Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, 430. 13 Siehe Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, 432 f. 14 Vgl. ebd., Bd. 1, 441.

2.1. Ewigkeit als Explikation der Gotteslehre – Wolfhart Pannenberg

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als Negation der Zeit selbst endlich wäre. Im zweiten Fall wäre Gottes Gegenwart durch die ausstehende Zukunft und die Vergangenheit begrenzt und daher ebenfalls endlich.15 Ein Konzept, das diese Kriterien erfüllt, findet Pannenberg bei Plotin und Boethius. Ewigkeit ist nach Plotin die Gegenwart des ganzen Lebens und damit der ganzen Zeit. Demnach sind in der Ewigkeit alle Zeiten gleichermaßen gegenwärtig und bilden eine ungeteilte Einheit. In der Zeit ist diese Einheit nicht mehr zugänglich und das Ganze ist zerfallen in die einzelnen Momente, die einzelnen Zeitpunkte. So wie in Pannenbergs Ansatz das Unendliche das Endliche umgreift und damit die Einheit des Ganzen konstituiert, umfasst auch die Ewigkeit alle Zeiten in einer einzigen Gegenwart. Die Zeit ist Abbild der Ewigkeit, in dem Sinne, dass auch die Zeit noch einen Zusammenhang der verschiedenen Zeitpunkte kennt, der ohne die Ewigkeit nach Pannenberg nicht denkbar wäre.16 Als Unterschied zwischen Zeit und Ewigkeit sieht Pannenberg daher nicht ihren Inhalt, das heißt die Ereignisse in ihr, sondern den Bezug zu diesem Inhalt. Während die Ewigkeit die ungeteilte Einheit des Ganzen gegenwärtig hat, ist in der Zeit nur ein je eingeschränkter Abschnitt gegenwärtig.17 Wie bei Plotin und Boethius funktioniert dieser Ansatz einer Explikation des Unendlichen jedoch nur hinsichtlich des Inhalts der Zeit (vgl. Abs. 1.3.1 und Abs. 1.4.7). Gottes Ewigkeit umfasst nach diesem Modell alle Zeitpunkte mitsamt ihrem Inhalt in seiner Gegenwart. Der Bezug des Ewigen zum Inhalt und seine Erfahrungsweise bleiben der Zeitlichkeit allerdings entgegengesetzt. Das Auseinanderfallen der Zeitinhalte und ihre Erfahrung als zeitliche Abfolge wird nicht vom Ewigen umfasst. Pannenbergs Ewigkeit umfasst nicht die Zeit als Verlaufsform, sondern nur ihren Inhalt. Um den Unendlichkeitsbegriff konsequent zu denken, müsste Gott die Zeitinhalte sowohl in der Existenzweise der Gegenwart aller Zeiten als auch der Zeitlichkeit erfahren können. Einen Ansatz in dieser Richtung rezipiert Pannenberg in der Tat: Er übernimmt von Karl Barth die Begriffe der Vorzeitlichkeit, Überzeitlichkeit und Nachzeitlichkeit und bemerkt auch, dass angesichts der Inkarnation eher von „Inzeitlichkeit“ zu sprechen sei.18 Dieser Gedanke scheint in der restlichen Diskussion um den Ewigkeitsbegriff jedoch keine weiteren Konsequenzen zu haben. Eine Zeitlichkeit Gottes in dem Sinne, dass Gott eine von seiner Gegenwart unterschiedene Zukunft hat, lehnt Pannenberg ab.19 „Wenn Gott ist, dann muß ihm sein ganzes Leben und damit auch alles von 15

Vgl. ebd., Bd. 1, 438 und 441. Vgl. W. Pannenberg, „Das Verhältnis unserer Begriffe von Raum und Zeit zum Gedanken der Ewigkeit“, in: O. Reinke (Hrsg.), Ewigkeit? Klärungsversuche aus Natur- und Geisteswissenschaften, Göttingen 2004, 102–109, hier 105–107; Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, 436 f.; W. Pannenberg, „Eternity, Time, and Space“, Zygon 40 (2005), 97–106, hier 102 f. 17 Pannenberg, Was ist der Mensch?, 52 f. 18 So Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, 439. 19 Vgl. ebd., Bd. 1, 443. 16

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2. Zeit und Ewigkeit in der neueren Theologie

ihm Geschaffene gleichzeitig gegenwärtig sein.“20 Dabei wäre Gottes Ewigkeit nur dann, wenn sie die Zeitlichkeit auch als Verlaufsform umfasst, tatsächlich in keiner Weise im Gegensatz zum Endlichen definiert. Hier ergibt sich jedoch der Konflikt, der in der Einleitung geschildert wurde (vgl. Abs. 1.4.7): Wenn Gott notwendig alle Zeiten gegenwärtig sein müssen, kann er sie nicht als Zeit erfahren. Wenn er sie auch nur partiell als Zeit erfährt, hat er in diesen zeitlichen Momenten nicht alle Zeiten gegenwärtig. Wie in der Einleitung dargestellt, scheint es sinnvoll, die zweite Option vorzuziehen. Denn selbst wenn Gott nicht in jedem Moment alle Zeiten gegenwärtig hat, kann er sie sich nach dieser Variante jederzeit vergegenwärtigen. Pannenberg hält seine Bestimmung von Zeit und Ewigkeit für notwendig, damit Gott gemäß dem biblischen und philosophischen Gottesverständnis als Ursache aller Dinge gedacht werden kann. In seiner Unendlichkeit müssen ihm alle Geschöpfe gegenwärtig sein und er darf selbst keine Zukunft und keine Vergangenheit außer sich haben, da er andernfalls begrenzt wäre. Eine solche Gegenwart des Vielen in einer differenzierten Einheit sieht er schon durch die Trinitätslehre gegeben. Im Anschluss an Barth geht er davon aus, dass in Gottes Heilshandeln durch Schöpfung, Erlösung und Vollendung die ganze Zeit der Geschöpfe Gott gegenwärtig ist.21 Zudem deckt sich dieses Ewigkeitsverständnis nach Pannenberg mit der urchristlichen Verkündigung, in der Zeit und Ewigkeit in der apokalyptischen Tradition verschränkt sind, wie es sich insbesondere in Visionen äußert. Das Offenbarsein des apokalyptisch Geschauten ist auf der einen Seite zukünftig und für den gegenwärtigen Menschen nicht zugänglich. Im Verborgenen geschieht es jedoch schon jetzt, ist schon gegenwärtig, aber nur im Glauben zu schauen. Dem entspricht eine wichtige Analogie im Verständnis des Handelns Jesu. Im Wirken Jesu ist die Gottesherrschaft schon gegenwärtig, aber verborgen und nur für den Glaubenden sichtbar. In der eschatologischen Zukunft wird Gottes Herrschaft auch allen offenbar werden. Diese Zukunft ist allerdings für den Glaubenden schon gegenwärtig, so dass nicht nur für Gott Gegenwart und Zukunft verschränkt sind, sondern auch für den Gläubigen.22 Das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit ist damit eine Konkretion des Unendlichen. Alle Aspekte folgen für Pannenberg unmittelbar daraus, dass die Ewigkeit der Zeitbezug Gottes, dem Absoluten, ist. Damit gelingt es Pannenberg, mehrere Aspekte zu erklären: Die Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf ist eindeutig gewahrt. Ein Handeln Gottes in der Zeit ist ermöglicht. Mit dem Abbildverhältnis zwischen Ewigkeit und Zeit nach Plotins Modell ist sowohl ein Unterschied als auch ein Zusammenhang zwischen Zeit und Ewigkeit gegeben. Der Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf ist durch den unterschiedlichen Bezug zur Zeit gegeben, da der Schöpfer auf der Seite der Unendlichkeit 20

Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, 438. Vgl. ebd., Bd. 1, 438 f. 22 W. Pannenberg, „Zeit und Ewigkeit in der religiösen Erfahrung Israels und des Christentums“, in: Ders., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Bd. 2, Göttingen 1980, 189– 206, hier 200–202. 21

2.1. Ewigkeit als Explikation der Gotteslehre – Wolfhart Pannenberg

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das Ganze ungeteilt gegenwärtig hat. Den endlichen Geschöpfen ist dagegen nur ein Ausschnitt gegenwärtig. Die Bedeutung dieses Unterschieds wird zusätzlich dadurch deutlich, wie Pannenberg die Gegenwart mit den Handlungsoptionen verbindet. Als Gegenwart versteht er das, worüber noch Entscheidungen getroffen werden können. Vergangen ist, worauf der Mensch keinen Einfluss mehr nehmen kann. Was noch unvorhersehbar aussteht, ist zukünftig. Damit wird die Gegenwart zu einem ausgedehnten Phänomen, das aus allem Andauerndem besteht, das Einfluss auf den Menschen hat oder das der Mensch beeinflussen kann. Die Gegenwart aller Zeiten vor Gott bedeutet daher, dass sich Gottes Macht auf alle Zeiten erstreckt und jenseits des Zeitflusses ist. Nur deshalb kann er auch Schöpfer des ganzen Universums sein und in allen Zeiten handeln.23 Das Abbildverhältnis zwischen Ewigkeit und Zeit äußert sich nach Pannenberg darin, dass nur die ungeteilte Einheit der Ewigkeit erklären kann, warum es einen Zusammenhang zwischen den einzelnen Zeitpunkten gibt. Die gesamte Einheit ist in der Zeit zwar nicht zugänglich, aber sie ist nicht gänzlich verloren, da die Augenblicke nicht für sich stehen, sondern aufeinander bezogen bleiben.24 Aus Sicht der Physik ist dies eine provokante These. Denn in der Naturwissenschaft wird der Zusammenhang der Zeiten über die Naturgesetze beschrieben (vgl. Abs. 3.7). Damit kann die Physik den Zusammenhang der Zeiten zwar nicht erklären, sondern nur beschreiben. Pannenbergs These hätte aber zur Folge, dass allein durch die Ewigkeit Gottes Naturgesetze ermöglicht wären. Als tieferes Abbild der Ewigkeit in der Zeit sieht Pannenberg die Dauer beziehungsweise die zeitübergreifende Gegenwart, die Augustin begründet hat. Auch Vergangenheit und Zukunft sind in Form von Erinnerung und Antizipation in eingeschränkter Weise gegenwärtig. Dadurch ist die Gegenwart nicht ein einzelner Punkt, sondern in gewissem Sinne ausgedehnt. Im Gegensatz zur Ewigkeit sind zwar Vergangenheit und Zukunft nicht unmittelbar gegenwärtig, aber dennoch kann diese zeitüberbrückende Gegenwart als Ahnung der Ewigkeit gelten.25 Auch die Wahrnehmung der Zeiten durch das menschliche Subjekt will Pannenberg in der Ewigkeit begründen. So ist nach Pannenberg das Ich selbst wie alles andere Endliche nur als Einschränkung des Unendlichen denkbar.26 Auf die Seite des Unendlichen gehört auch die Ewigkeit, so dass die Zeiten ebenso als Einschränkung ihres unendlichen Pendants, der Ewigkeit, wahrgenommen werden können. Kants Analyse der Zeitwahrnehmung widerspricht er dabei in einem wesentlichen Aspekt: Die Einheit der ganzen, unendlichen Zeit kann nicht in der Selbstanschauung im transzendentalen Subjekt begründet werden. Denn die Einheit von etwas 23 24

Pannenberg, Was ist der Mensch?, 51–54. Siehe Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 2, 114; Pannenberg, „Eternity, Time, and Space“,

103. 25 Pannenberg, Metaphysik und Gottesgedanke, 58 f.; Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 2, 112 f.; Pannenberg, „Eternity, Time, and Space“, 103 f. 26 Siehe Pannenberg, Metaphysik und Gottesgedanke, 60.

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2. Zeit und Ewigkeit in der neueren Theologie

Unendlichem wie Zeit oder Raum kann nicht aus einem endlichen Subjekt abgeleitet werden. Nach Pannenbergs Wahrnehmungslehre ist eine spezielle Wahrnehmung nur als Einschränkung des Unendlichen möglich. Jede Wahrnehmung endlicher Zeitabschnitte setzt also die ganze, unendliche Zeit voraus, die bei Messungen unterteilt wird, so dass keine Zeitspanne ohne das Ganze der Zeit denkbar ist. Das Subjekt müsste daher selbst unendlich sein, damit es die unendliche Zeit enthalten könnte, um die Einheit der Zeitanschauung im Subjekt verankern zu können. Da das Subjekt nicht das Ganze der Zeit enthalten kann, muss die Wahrnehmung der Zeiten also in der unendlichen Ewigkeit begründet werden, indem die Wahrnehmung der Zeiten als Einschränkung der Ewigkeit gedacht wird, ebenso wie das Ich als Einschränkung des Unendlichen gedacht wird.27 Die Plausibilität dieser Argumentation hängt davon ab, ob man das vorausgesetzte Verständnis von Begriffen und Wahrnehmung als Einschränkung des Unendlichen teilt. Es ist zwar richtig, dass mit einer gewissen Logik das Unendliche als Gegenteil im Begriff eines jeden Endlichen impliziert wird. Aber wie real ist eine logische Implikation, die nicht gedanklich entfaltet wird? In der Wahrnehmung scheint es jedenfalls nicht so zu funktionieren, dass eine gegebene ganze Zeit eingeteilt wird. Es ist stets perspektivisch ein begrenzter Zeitabschnitt präsent. Die Menschen können zwar darüber reflektieren, dass jeder Zeitabschnitt nur Ausschnitt eines Ganzen der Zeit ist. Aber als Voraussetzung der Zeitwahrnehmung erfahren sie das Ganze der Zeit nicht. Sie erleben die einzelnen Zeiten mit ihren Zusammenhängen und können umgekehrt von diesen Zusammenhängen auf das Ganze schließen. Daher ist es im Gegensatz zu Pannenbergs These auch denkbar, dass das Ganze der Zeit von den Zusammenhängen der einzelnen Zeitpunkte abhängt und nicht ihre Voraussetzung ist. Da Pannenberg die Zeit in jeder Hinsicht ausgehend von der Ewigkeit verstehen will, stellt sich in seiner Theologie besonders die Frage nach der Relevanz der Zeitmodi. Für Gott selbst kann es keine Zukunft beziehungsweise Vergangenheit außerhalb seiner Gegenwart geben, denn eine solche Zukunft würde seine Gegenwart begrenzen und zu etwas Endlichem einschränken. Dies widerspräche der Absolutheit Gottes. Daher können für Pannenberg die Zeitmodi in der Ewigkeit nur eine Einheit bilden, so dass Gott Zukunft seiner selbst ist.28 Fraglich bleibt hierbei allerdings, wie dies gedacht werden kann, ohne dass eine solche Zukunft ihren Unterschied zur Gegenwart verliert, so dass die Zeitmodi in der Ewigkeit Gottes hinfällig wären.

27 Vgl. Pannenberg, „Das Verhältnis unserer Begriffe von Raum und Zeit zum Gedanken der Ewigkeit“, 102–104 und 107; W. Pannenberg, „Die Frage nach Gott als Schöpfer der Welt und die neuere Kosmologie“, in: H. A. Müller (Hrsg.), Kosmologie. Fragen nach Evolution und Eschatologie der Welt, RThN 2, Göttingen 2004, 197–208, hier 207; Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 2, 115 f.; Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 3, 645; Pannenberg, „Eternity, Time, and Space“, 100; Pannenberg, Metaphysik und Gottesgedanke, 60 f. 28 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, 443.

2.1. Ewigkeit als Explikation der Gotteslehre – Wolfhart Pannenberg

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In der Zeit behalten die Modi dagegen ihre Bedeutung. Endliche Wesen müssen nach Pannenberg zwar nicht notwendigerweise der Zeit unterworfen sein. Denn auch in der Vollendung bleiben die Menschen endlich, haben aber an der Ewigkeit teil. Zeit ist allerdings Voraussetzung für die Selbständigkeit der Menschen gegenüber Gott, da sie nur in ihrem zeitlichen Leben sich definieren und ihr eigenes Leben organisieren können.29 Die Modi selbst stehen in einem eigentümlichen Verhältnis zur Ewigkeit. Unmittelbar einsichtig ist dies für die Zukunft: In der Zeit ist das Ganze in die einzelnen Zeitpunkte zerfallen, so dass das Ganze, die Ewigkeit, nicht mehr direkt zugänglich ist. Es kann aber nach Pannenberg noch als Zukünftiges erhofft werden, da in der Entwicklung der Zeit das Ganze immer mehr realisiert wird. Insofern ist die Zukunft auf das Ganze und damit die Ewigkeit ausgerichtet.30 Dies lässt sich insbesondere an Pannenbergs Verständnis des Wesens alles Endlichen verstehen, das Pannenberg mit dem Konzept der „Antizipation“ ausdrückt. Demnach ist das Wesen jedes Endlichen nur in der Vollendung in der Ewigkeit gegeben. Das heißt, was etwas ist, kann nur ausgehend von der ganzen Zeit, in der es existiert hat, ausgesagt werden. Während es in der Zeit existiert, also eine Zukunft vor sich hat, ist sein Wesen noch nicht vollständig gegeben. Aber es ist bereits teilweise zugänglich und kann daher als Zukünftiges antizipiert werden. Statt von statischen Begriffen redet Pannenberg daher von Antizipationen, die sich erst in der Zukunft noch erweisen müssen und nur in der Ewigkeit vollständig geklärt sind. So ist das ewige Wesen der Dinge durch die Gesamtheit ihrer zeitlichen Ereignisse konstituiert. In der Zeit kann ihr Wesen nur antizipiert werden. Gleiches gilt auch für die Personen, deren Personalität erst in der Ewigkeit gegeben ist und jetzt nur als zukünftig antizipiert werden kann.31 Die anderen Modi der Zeit stehen vor allem über die zeitübergreifende Gegenwart in der Dauer in einem Abbildverhältnis zur Ewigkeit.32 2.1.3. Die Relevanz des Ewigkeitsbegriffs für Schöpfung und Vollendung In diesem Abschnitt sollen die Konsequenzen und die Relevanz von Pannenbergs Ewigkeitsverständnis für seine Diskussion zweier Teilgebiete der Dogmatik skizziert werden. In der Schöpfungslehre und der Eschatologie hat die Verhältnisbestimmung von Ewigkeit und Zeit unmittelbare Konsequenzen. Denn der Bezug Gottes zur geschaffenen Zeit bestimmt die Rahmenbedingungen für Gottes Handeln in Schöpfung und Vollendung. 29

Siehe Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 2, 116 f.; Pannenberg, „Eternity, Time, and Space“, 104. 30 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, 441 f. 31 Siehe dazu Pannenberg, Metaphysik und Gottesgedanke, 63 f. und 75 f.; W. Pannenberg, „Zukunft und Einheit der Menschheit“, EvTh 32 (1972), 384–402, hier 396 f.; W. Pannenberg, „Person und Subjekt. Zur Überwindung des Subjektivismus im Menschenbild und im Gottesverständnis“, NZSTh 18 (1976), 133–148, hier 143 f. 32 Siehe Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, 442 f.

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2. Zeit und Ewigkeit in der neueren Theologie

Die Schöpfung In der Schöpfungslehre vertritt Pannenberg entsprechend seinem Ewigkeitsmodell den Gedanken einer ewigen Schöpfung, das heißt eine Erschaffung aller Zeiten durch Gott. Eine ewige Schöpfung ist die plausibelste Option, wenn Gott allen Zeiten gegenwärtig sein soll. Denn unter dieser Voraussetzung gibt es keine Sukzession in Gott. Also erschafft Gott die Zeit mitsamt all ihren Momenten in seiner Gegenwart. Pannenberg begründet seine Schöpfungslehre allerdings nur an wenigen Stellen direkt mit seinem Ewigkeitsmodell.33 Einen anderen Grund für dieses Schöpfungsmodell diskutiert Pannenberg im Anschluss an Augustin ausführlicher: Die Schöpfung könne selbst nicht als Akt in der Zeit vorgestellt werden, da es sonst möglich wäre, nach einer Zeit vor der Schöpfung zu fragen. Daher müsse die Zeit selbst im Schöpfungsakt erschaffen werden und damit auch alle Zeitpunkte. Mit der Erschaffung der Zeit liegt Gottes Schöpferhandeln allem anderen Handeln zugrunde und durchdringt die ganze Zeit und Schöpfung.34 Nur in zeitlicher Perspektive wird dieses Schöpferhandeln an allen Zeiten in anfängliche Schöpfung und Erhaltung beziehungsweise creatio continua unterteilt. Der Anfang wird in besonderem Maße mit der Schöpfung assoziiert, die Erhaltung dagegen mit der Kontinuität des Bestehenden.35 Pannenberg diskutiert auch die Frage nach einem Anfang der Zeit.36 Doch behandelt diese Frage nur einen Aspekt der Schöpfungslehre. Da die Schöpfung ein ewiges Handeln Gottes ist, hat „[j]edes einzelne Geschöpf, sogar jedes neue Ereignis, jeder Augenblick, […] seinen ‚Anfang‘ in Gottes Schöpfung“.37 Resultate, die eine creatio continua plausibler erscheinen lassen, haben sich nach Pannenberg auch im Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaft ergeben. In der Quantenmechanik und der Chaostheorie des zwanzigsten Jahrhunderts sei die Kontingenz der Naturereignisse wiederentdeckt worden. In seinen Untersuchungen von dissipativen Systemen habe zudem Ilya Prigogine die Möglichkeit der Entstehung von Neuem herausgestellt. In beiden Fällen wird das mechanistische Weltbild, das Pannenberg auf Descartes Interpretation der Trägheit zurückführt, überwunden, da die Natur nicht mehr in Analogie zu einem ablaufenden Uhrwerk verstanden werden kann. Kontingente Ereignisse und die Entstehung von neuen Lebensformen erlauben stattdessen eine erneute Übernahme des Gedanken der creatio continua, da Gott die Möglichkeit erhält, zu jeder Zeit auf die Welt einzuwirken.38 33

Vgl. zum Beispiel Pannenberg, „Die Frage nach Gott als Schöpfer der Welt und die neuere Kosmologie“, 204 f. 34 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 2, 52–56 und auch Pannenberg, „Die Frage nach Gott als Schöpfer der Welt und die neuere Kosmologie“, 201 f. 35 Siehe Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 2, 58 f. 36 Siehe ebd., Bd. 2, 172–188. 37 Ebd., Bd. 2, 59. 38 Vgl. W. Pannenberg, „Problems between Science and Theology in the Course of their Modern History“, Zygon 41 (2006), 105–112, 106 f. und 110 f.; Pannenberg, „Die Frage nach Gott als Schöpfer der Welt und die neuere Kosmologie“, 202 f.

2.1. Ewigkeit als Explikation der Gotteslehre – Wolfhart Pannenberg

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Die Eschatologie In der Eschatologie versucht Pannenberg zu begründen, dass die Zeit endlich sein muss und es einen letzten Zeitpunkt gibt.39 Das Ende der Zeit selbst bestimmt er als Übergang in die Ewigkeit, der mit der Auferstehung der Toten verbunden ist. Die Ewigkeit der endlichen Menschen beschreibt er dabei in Analogie zur Ewigkeit Gottes als die Gegenwart aller irdisch gelebten Zeitpunkte. Auf diese Weise kann Pannenberg die Identität der Auferstandenen mit den irdischen Menschen mit seinem Konzept der Antizipation und dem Wesen der Dinge beziehungsweise mit seinem Personenverständnis begründen. Für ihn sind das ewige Wesen der Dinge und ihre eschatologische Zukunft identisch, so wie auch die Person erst die eschatologisch vorhandene, jetzt noch ausstehende Gesamtheit des ganzen Lebens des Menschen ist (vgl. Abs. 2.1.2). Im jetzigen Leben ist diese Person noch nicht voll entwickelt, aber schon teilweise vorhanden. Die Vollendung der Person steht noch aus und kann als zukünftig erhofft werden. Durch die graduelle Vervollständigung der Person wird die Kontinuität zwischen irdischem Leben und Auferstehung gewährleistet.40 2.1.4. Zusammenfassung Pannenberg richtet sich in seinem Ewigkeitsverständnis nach Plotins und Boethius’ Definitionen der Ewigkeit als simultane Gegenwart des ganzen Lebens. Im Anschluss an diese Positionen kann er sowohl den Unterschied als auch den Zusammenhang zwischen Ewigkeit und Zeit im Abbildverhältnis ausdrücken. Damit gelingt es ihm gegenüber den problematischen Auffassungen der Ewigkeit als Zeitlosigkeit oder als endlose Zeit eine Alternative stark zu machen, in der Zeit und Ewigkeit weder zusammenfallen noch getrennt sind. Im Zusammenhang seiner Theologie sind insbesondere seine Anthropologie und sein philosophischer Gottesbegriff sowie die Schöpfungslehre und die Eschatologie von Bedeutung. Mit seiner theologischen Anthropologie versucht Pannenberg einen verlässlichen Grund für die Rede von Gott zu entwickeln, mit dem er der atheistischen Religionskritik begegnen will. Zentral für diese Anthropologie ist die zu beweisende These, dass das Wesen des Menschen ohne Gottesbegriff nicht vollständig verstehbar ist. Pannenberg verfolgt unter anderem den Ansatz, dass der Gottesgedanke als Voraussetzung allen begrifflichen Denkens in jedem Menschen angelegt ist und dass analog die Ewigkeit als das Ganze der Zeit die Voraussetzung aller Bestimmung von Zeiten ist. Aus der Schöpfungslehre ergibt sich, dass das Zeitverständnis Platz für Gottes Wirken und die Entstehung von Neuem lassen muss, falls der Schöpfungsgedanke 39

Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 3, 623–625, 632 f. und 636–638. Siehe Pannenberg, „Zukunft und Einheit der Menschheit“, 396 f.; Pannenberg, „Person und Subjekt“, 143 f.; Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 3, 647–652. 40

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2. Zeit und Ewigkeit in der neueren Theologie

nicht auf einen anfänglichen Akt reduziert werden soll. In neueren Ergebnissen der Physik sieht Pannenberg diese Bedingung vor allem in der Wiederentdeckung der Kontingenz in der Natur gegeben. In der Eschatologie verwendet er das Konzept der Antizipation des Wesens, um die Identität des verstorbenen und auferstandenen Menschen zu begründen. Das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit stellt eine Konkretion des Verhältnisses Gottes als des Unendlichen zum Endlichen dar. In diesem Sinne ist seine Ewigkeitslehre Explikation der Gotteslehre. Dies sollte auch Voraussetzung jedes anderen theologischen Entwurfs zu Zeit und Ewigkeit sein. Denn die jeweilige Definition der Ewigkeit spiegelt den Gottesbegriff, den der Autor hat, und die Auffassungen über die Ewigkeit haben jeweils Konsequenzen für das Gottesbild. Der philosophische Gottesbegriff des Unendlichen, den Pannenberg vertritt, muss zwar stets ergänzt werden um die theologischen Inhalte, bleibt aber als Kriterium der Rede von Gott von bleibender Bedeutung. Darum muss ein Grundcharakteristikum von Pannenbergs Ewigkeitslehre auch beibehalten werden: Ewigkeit kann der Zeit nicht nur entgegengesetzt sein, sondern muss sie vielmehr umfassen, so dass Gott auch in der Geschichte handeln kann. In der Einleitung wurde bereits argumentiert, dass der unendliche Gott die Zeit nicht nur ihrem Inhalt nach, sondern auch als Verlaufsform umfassen muss. In diesem Punkt muss mit Pannenbergs Gottesbegriff über seinen Ewigkeitsbegriff hinausgegangen werden.

2.2. Die Zeit der Hoffnung – Jürgen Moltmann Moltmanns Reflexionen über Zeit und Ewigkeit richten sich stets nach den Anliegen seiner Eschatologie. In seiner „Theologie der Hoffnung“41 bestimmt Moltmann die Bedingungen, unter denen Hoffnung auf Neues und Erlösung möglich ist. Dazu gehören einige Bedingungen, die er in zeitlichen Kategorien ausdrückt und die daher die Bedeutung der Zeitmodi betreffen. Diese ersten Ansätze werden in einer nachfolgenden Kritik des modernen Geschichtsbegriffs verfeinert und zu einer Theorie der Zeit ausgebaut, in der die Interessen aus Moltmanns „Theologie der Hoffnung“ gewahrt bleiben. Einen anderen Aspekt des Verhältnisses von Zeit und Ewigkeit führt Moltmann mit seiner Auseinandersetzung um den „eschatologischen Augenblick“42 ein. In den Überlegungen zu den Übergängen der Zeit aus und in die Ewigkeit entwirft er ein Konzept mit drei Zeit-/Ewigkeitsebenen, das Gottes absolute Ewigkeit, eine reversible Zeit und die vergängliche Zeit unterscheidet. Aus den Übergängen folgert 41 J. Moltmann, Theologie der Hoffnung. Untersuchungen zur Begründung und zu den Konsequenzen einer christlichen Eschatologie, BEvT 38, München 8. Aufl. 1969. 42 J. Moltmann, „Der ‚eschatologische Augenblick‘. Gedanken zu Zeit und Ewigkeit in eschatologischer Hinsicht“, in: J. Rohls/G. Wenz (Hrsg.), Vernunft des Glaubens. Wissenschaftliche Theologie und kirchliche Lehre, FS W. Pannenberg, Göttingen 1988, 578–589.

2.2. Die Zeit der Hoffnung – Jürgen Moltmann

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Moltmann, dass auch Gott in seiner Ewigkeit Veränderung kennen muss, also nicht einfach nur zeitlos sein kann. Diese drei Stufen seiner Reflexionen werden im Folgenden durchgegangen und die wesentlichen theologischen Pointen herausgestellt. 2.2.1. Die Zeit in der Theologie der Hoffnung In seiner „Theologie der Hoffnung“ stellt Moltmann das Programm auf, die Theologie aus der Perspektive der Eschatologie neu zu verstehen. Der Grund dafür ist in der eschatologischen Ausrichtung der Botschaft Jesu gegeben. Zentral für die christliche Eschatologie ist, dass Hoffnung auf Neues möglich ist. Ausgehend von dieser These entwickelt Moltmann die Voraussetzungen für die Möglichkeit von unableitbar Neuem.43 Die wesentlichen Bestimmungen Moltmanns, die die Zeit betreffen, lassen sich ausgehend vom Begriff der Verheißung verstehen. Als Kernpunkt der Verheißung sieht er, dass Neues angekündigt wird, das noch nicht da ist und die gegenwärtige Realität in Frage stellt und überbietet. Damit tritt die verheißene Zukunft in Widerspruch zur gegenwärtigen Realität. Die Verheißung kündigt etwas Neues an, das aus der Gegenwart nicht erwartbar ist. Dadurch wird der Gültigkeitsanspruch der unheilvollen Realität abgewiesen und Hoffnung auf das zukünftige Neue ermöglicht. Diese Differenz zwischen Zukunft und Gegenwart ist nach Moltmann der treibende Motor der Geschichte: Es gibt Entwicklung, solange es eine von der gegenwärtigen Welt unterschiedene Zukunft gibt. Auch in der geschichtlichen Erfüllung der Verheißungen bleibt ein Überschuss der Verheißung gegenüber der Erfüllung, da die Fülle der Verheißung Gottes gegenüber jeder erfahrbaren Wirklichkeit überlegen bleibt. Würde die verheißene Zukunft zur Gegenwart, weil die Verheißung im vollen Sinne einträte, so wäre dies das Ende der Geschichte.44 Diesen Grundgedanken verdeutlicht Moltmann am Beispiel der Auferstehung Jesu, der Grunderfahrung der christlichen Religion. Die Gegenwart ist hier geprägt durch die Realität des Todes, der die Menschen der Gegenwart unterworfen sind. Mit dem Tod ist jedes Leben beendet und unwiderruflich verloren. Die Auferstehung Jesu widerspricht dieser Gegenwart in eklatanter Weise und zeigt damit, dass der Tod nicht das letzte Wort haben muss. Damit weckt sie die Hoffnung auf eine neue Zeit, eine Zukunft ohne Tod, in der das Verlorene wieder eine Zukunft hat. Dieses Neue ist aus der gegenwärtigen Realität in keiner Weise ableitbar, sondern erst das Handeln Gottes in Jesu Auferstehung lässt dieses Neue erhoffen. Die Auferstehung der Toten ist in der Auferstehung Jesu latent angelegt, wie Moltmann es bezeichnet. Die Gegenwart wird für diese Zukunft, die tatsächlich noch aussteht und nicht bloß verborgen ist, geöffnet. Moltmann charakterisiert Verheißungen daher zutreffend als „Stachel im Fleische jeder Gegenwart“.45 Voraussetzung der Hoff43

Vgl. Moltmann, Theologie der Hoffnung, 31–34 und 81–84. Siehe ebd., 92–95, 178 f. und 204 f. 45 Ebd., 78. 44

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2. Zeit und Ewigkeit in der neueren Theologie

nung ist, dass die Welt als nicht abgeschlossen wahrgenommen wird, sondern offen für Veränderungen durch Gott ist, dass also Neues geschehen kann.46 Die Stärke dieses Ansatzes ist, dass er über die Verheißungen und die Auferstehung Jesu unmittelbar an das Zentrum der christlichen Botschaft anknüpft und deren Relevanz mit Hilfe des Begriffs „Zukunft“ ausdrückt. Dies hat die Konsequenz, dass die Zeitmodi ausgehend von einem geschichtlichen Ereignis, der Auferstehung Jesu, expliziert werden und nicht durch die Scheidung der Zeit durch den Jetztpunkt, wie in der klassischen Zeitlehre.47 Die Gegenwart ist dadurch bestimmt, dass in ihr die Vergänglichkeit, die Macht des Todes herrscht. Seinen Gesetzen ist alles unterworfen. Die Zukunft Jesu ist die Auferstehung der Toten, die in seiner eigenen Auferstehung angelegt ist. In ihr ist die Macht des Todes gebrochen, so dass seine Gesetze nicht mehr gelten werden. Durch Jesu Auferstehung ist schon die jetzige Gegenwart auf diese Zukunft hin geöffnet worden. Der Zukunftsbezug der Gegenwart ist die Hoffnung auf diese Auferstehung der Toten, die in der Auferstehung Jesu latent angelegt ist. Dies drückt Moltmann als Gegenwart Jesu mit dem Begriff der Parusie aus. Zwar ist die Zukunft Jesu noch nicht angebrochen, aber als Kommende hat sie über die Erwartungen schon jetzt Einfluss auf die Wirklichkeit. Dies bedeutet einen Abbruch mit der Vergangenheit und einen Aufbruch zur Zukunft Jesu, so dass es zur Geschichte kommt, zur Entwicklung, die von der Offenheit für Gottes Zukunft geprägt ist.48 Zur Formulierung der Zusammenhänge von Hoffnung und Verheißung bedient sich Moltmann also der Zeitmodi, insbesondere der Zukunft. Diese Verwendung der Zeitmodi unterscheidet sich deutlich von der philosophischen Zeitlehre beispielsweise des Aristoteles, die sich stark an Naturabläufen und der Bewegung orientiert49 und nicht an einem geschichtlichen Ereignis. Sie steht jedoch nicht in direkter Konkurrenz zu diesen Zeittheorien. Moltmann verwendet die „Zukunft“ als Bezeichnung für eine noch ausstehende Realität, in der andere Gesetzmäßigkeiten gelten als in der vergänglichen Welt. Ihre Berechtigung erhält Moltmanns Sprachgebrauch aus der biblischen Redeweise über die Verheißungen der Auferstehung. Auch im alltäglichen Sprachgebrauch können sich die verschiedenen Definitionen der Zeitmodi überlagern. Je nach Situation kann unter Zukunft eine erwartete oder erhoffte inhaltliche Veränderung gemeint sein oder einfach die Menge der Zeitpunkte, die auf den jetzigen Zeitpunkt folgen. Nicht selten sind beide Aspekte des 46

Vgl. Moltmann, Theologie der Hoffnung, 75–78, 81 f. und 205–207; J. Moltmann, „Kosmos und Theosis. Eschatologische Perspektiven auf die Zukunft des Universums“, in: E. Angehrn u. a. (Hrsg.), Der Sinn der Zeit, Weilerswist 2002, 53–66, hier 53 f. 47 Siehe Moltmann, Theologie der Hoffnung, 193. 48 Siehe ebd., 79 und 207–209. 49 Aristoteles, Aristotelis Physica, hrsg. von W. D. Ross, SCBO, Oxford 1950, nachgedruckt mit Verbesserungen 1960, IV, 10–14, 217b29–224a17, insbesondere 10, 217b32–218a11; 11, 219a1–10; 11, 219a22–219b2; 13, 222a10–11.

2.2. Die Zeit der Hoffnung – Jürgen Moltmann

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Zukunftsbegriffs miteinander verschränkt. Somit muss in jedem Kontext neu überlegt werden, welche Bedeutung der Zeitmodi angebracht ist. Als Anfrage an Moltmanns „Theologie der Hoffnung“ bleibt allerdings das Problem, dass ein möglicher positiver Wert der Vergangenheit unberücksichtigt bleibt. Es ist zwar richtig, dass zur Eschatologie auch die Hoffnung auf Erlösung gehört und dies bereits eine höhere Wertung der Zukunft impliziert. Dennoch gehört zur Vergangenheit auch der Schöpfungsakt Gottes. Als Ergänzung zu Moltmanns Reflexionen müsste daher überprüft werden, ob nicht im Anschluss an die Schöpfungslehre ein positives Verständnis der Vergangenheit entwickelt werden müsste, um ein Ungleichgewicht im Zeitverständnis zu vermeiden. Ein erster Ansatz einer positiven Würdigung der Vergangenheit findet sich in späteren Arbeiten Moltmanns, indem er die Hoffnungen der Vergangenheit als vergangene Zukunft aufnimmt und Erinnerungen und Traditionen als Vergangenheit wertschätzt. Dieser Ansatz findet sich in seiner Ausarbeitung der verschränkten Zeiten. 2.2.2. Die verschränkten Zeiten der Geschichte Auch in der weiteren Entwicklung seines Zeitverständnisses achtet Moltmann darauf, dass Hoffnung und damit christliche Eschatologie nicht nur denkbar bleiben, sondern in seinem Zeitbegriff unmittelbar verankert sind. Eine wesentliche Präzision erhält sein Ansatz durch seine Kritik des modernen Geschichtsbegriffs. Demnach wird Geschichte als Fortschritt verstanden, als ob der Mensch auf einer Geraden fortschreite. Hinter ihm liegt die Vergangenheit, vor ihm die Zukunft. Die Gegenwart markiert die aktuelle Position und besteht nur im Übergang zwischen Vergangenheit und Zukunft. Im steten Übergang auf sein Ziel kann der Mensch die Gegenwart nicht genießen.50 Zwei Punkte kritisiert Moltmann an diesem Geschichtsverständnis. Zum einen sieht er es als Herrschaftsinstrument der jeweils gegenwärtigen Generation gegenüber den anderen. Zum anderen sei es eng mit dem „Experiment“ verknüpft, eine Welt zu schaffen, die nur vom Menschen bestimmt ist, so dass sich die menschliche Kultur von der Natur getrennt habe und die Rhythmen der Natur der linearen Zeit unterworfen worden seien.51 Die Zeitmodi werden in diesem Geschichtsverständnis nach Moltmann auf die lineare Folge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft reduziert. Da diese reine Abfolge der Zeitpunkte keine Hoffnung bieten kann, erweitert Moltmann die Modi durch die verschränkten Zeitmodi beziehungsweise Mehrfachmodalisierungen in Anlehnung an Georg Picht, A. M. Klaus Müller, Niklas Luhmann und Erich 50 Vgl. zu diesem Bild J. Moltmann, Gott in der Schöpfung. Ökologische Schöpfungslehre, Gütersloh 4. Aufl. 1993, 135; J. Moltmann, „Verschränkte Zeiten der Geschichte. Notwendige Differenzierungen und Begrenzungen des Geschichtsbegriffs“, EvTh 44 (1984), 213–227, hier 213. 51 So Moltmann, Gott in der Schöpfung, 135 und 137 f.; Moltmann, „Verschränkte Zeiten der Geschichte“, 213–216 und 224 f.

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2. Zeit und Ewigkeit in der neueren Theologie

Jantsch.52 In Moltmanns Modell hat jeder Zeitpunkt seine eigene Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit.53 Damit ist nicht die jeweils spätere beziehungsweise frühere Zeit gemeint, sondern die Erwartungen und Hoffnungen beziehungsweise die Erinnerungen, durch die jedem Zeitpunkt auch die anderen Zeiten in eingeschränkter Weise gegenwärtig sind. So kann Moltmann von verschränkten Zeiten reden. Dieser Begriff soll bezeichnen, dass je zwei Zeitmodi kombiniert werden, zum Beispiel zur vergangenen Zukunft und zukünftiger Vergangenheit, so wie Augustin schon die gegenwärtige Vergangenheit beziehungsweise Zukunft kannte. Mit vergangener Zukunft sind Hoffnungen und Erwartungen früherer Zeiten gemeint und mit zukünftiger Vergangenheit die Erinnerungen und Traditionen zukünftiger Zeiten. In Zügen überwindet Moltmann hier selbst die einseitige Betonung der Zukunft. In Moltmanns Modell besteht die Zeit aus einem Netz dieser verschränkten Zeiten. Aus der gegenwärtigen Zukunft realisiert sich jeweils eine Möglichkeit als zukünftige Gegenwart. Aus gegenwärtiger Gegenwart des ersten Zeitpunktes wird dabei die gegenwärtige Vergangenheit, die Erinnerung des nächsten Zeitpunkts. Bezogen auf den ursprünglichen Zeitpunkt ist dies die zukünftige Vergangenheit. So entsteht eine Reihe von Zeiten, die je ihre eigenen verschränkten Zeiten haben.54 Der Möglichkeitsraum eines Zeitpunktes und die realisierten späteren Ereignisse müssen streng unterschieden werden. Jenseits dieses Netzes steht die eschatologische Zukunft. Unter ihr versteht Moltmann die Zukunft jenseits aller Zeit, die nie geschichtlich wird, nie zur Gegenwart wird und die Zukunft der Geschichte als Ganzes ist. Die Differenz zwischen dieser eschatologischen Zukunft und aller geschichtlichen Zeiten hält nach Moltmann die Geschichte am Laufen. Kommt diese Zukunft zur Erfüllung, bedeutet dies das Ende der Zeit, weil es dann keine Zukunft mehr gibt, die der Gegenwart noch entgegensteht.55 52 Georg Picht diskutiert die Bedeutung einiger verschränkter Zeitmodi. Vgl. G. Picht, Vorlesungen und Schriften, Von der Zeit, hrsg. von C. Eisenbart/E. Rudolph, mit einer Einl. von K. Lorenz, Stuttgart 1999, 658 f., 673 und 689. A. M. Klaus Müller entwickelt in Anlehnung an Picht eine Matrix der verschränkten Zeiten. Siehe A. M. K. Müller, Wende der Wahrnehmung. Erwägungen zur Grundlagenkrise in Physik, Medizin, Pädagogik und Theologie, München 1978, 136–150 und 143. Niklas Luhmann bezeichnet die verschränkten Zeitmodi als Mehrfachmodalisierung beziehungsweise reflexive Modalisierung und beschreibt eine Zeitreihe von Gegenwarten mit je eigener Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit. Vgl. N. Luhmann, „Weltzeit und Systemgeschichte. Über Beziehungen zwischen Zeithorizonten und sozialen Strukturen gesellschaftlicher Systeme“, in: Soziologische Aufklärung, Bd. 2: Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, Wiesbaden 5. Aufl. 2005, 128–166, hier 139–146. Erich Jantsch erweitert die verschränkten Zeiten um eine Verschränkung mit dem Raum. Siehe E. Jantsch, Die Selbstorganisation des Universums. Vom Urknall zum menschlichen Geist, mit einem Vorw. von P. Feyerabend, München/Wien 1979, 316–322. 53 Vgl. zu den verschränkten Zeiten Moltmann, Gott in der Schöpfung, 137–140; Moltmann, „Verschränkte Zeiten der Geschichte“, 216–218. 54 Insofern ähnelt Moltmanns Modell besonders Luhmanns Diskussion der Mehrfachmodalisierungen. Vgl. Luhmann, „Weltzeit und Systemgeschichte“, 139–146. 55 Vgl. Moltmann, „Verschränkte Zeiten der Geschichte“, 217 f.; Moltmann, Gott in der Schöpfung, 139 f.

2.2. Die Zeit der Hoffnung – Jürgen Moltmann

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Der Sprachgebrauch, der hinter dem Konzept der verschränkten Zeiten steht, lässt sich kritisieren. Es gibt keinen Grund, warum man nicht verständlicher von vergangenen Möglichkeiten und Hoffnungen reden könnte statt von vergangener Zukunft. Der Sache nach nimmt Moltmann allerdings einige wichtige Aspekte auf. So erläutert er die befreienden Konsequenzen dieses Zeitmodells am Beispiel der geschichtlichen Forschung. Durch die Unterscheidung der gegenwärtigen Vergangenheit in Form von Traditionen, Überlieferungen und Erinnerungen von der vergangenen Gegenwart, also den tatsächlichen Ereignissen früherer Zeiten, kann die Bedeutung der Überlieferungen relativiert werden, so dass die Herrschaft der Vergangenheit über die Gegenwart gebrochen wird. Die Traditionen müssen nicht zwingend den früheren Zeiten entsprechen, sie sind geschichtlich kontingent entstanden und deshalb können sie keine absolute Bedeutung beanspruchen. Aber auch die Herrschaft der Gegenwart über die anderen Zeiten wird gebrochen. Denn die gegenwärtige Gegenwart ist nicht die vergangene Zukunft. Die vergangenen Möglichkeiten wurden in der Gegenwart nicht ausgeschöpft und bei weitem nicht alle Hoffnungen wurden erfüllt. Unerfüllte Hoffnungen bestimmen aber weiterhin die Gegenwart und halten auch so den Motor der Geschichte am Laufen. Eine Geschichtsforschung, die vergangene Zukunft ernst nimmt, kann beispielsweise Dogmen relativieren und zugleich die Hoffnungen und Zielsetzungen hinter den Dogmen wieder aufnehmen für die eigene Zukunft.56 Im Gegensatz zur „Theologie der Hoffnung“ hat Moltmann hier ein deutlich präziseres und erweitertes Verständnis der Zeitmodi entwickelt. Er verwendet es weiterhin dazu, die Anliegen seiner „Theologie der Hoffnung“ umzusetzen. Die Zukunft hat hierbei mehrere Bedeutungen gewonnen. Das „zukünftig“ in „zukünftiger Gegenwart“ bezeichnet die folgenden Zeitpunkte ähnlich wie der Zukunftsbegriff im kritisierten linearen Zeitverständnis. Die „Zukunft“ in „gegenwärtiger Zukunft“ bezeichnet die Hoffnungen, Erwartungen und Möglichkeiten. Die eschatologische Zukunft beziehungsweise die Zukunft der Geschichte bezieht sich auf den Überschuss der Hoffnungen, die in der Geschichte nie Realität werden, und hat damit eine ähnliche Bedeutung, wie der Begriff „Zukunft“ in der „Theologie der Hoffnung“ gehabt hat. Auffällig ist, dass Moltmann anders als in der „Theologie der Hoffnung“ die Zeitmodi nun am Jetzt-Punkt der Gegenwart unterscheidet und nicht an einem geschichtlichen Ereignis. Daran ändert auch die Verschränkung der Zeitmodi nichts. Dies stellt jedoch eine Ergänzung gegenüber der „Theologie der Hoffnung“ dar und keine Veränderung. Der frühere Zukunftsbegriff bleibt in Form der eschatologischen Zukunft erhalten. Er wird ergänzt um eine Differenzierung der geschichtli56

Vgl. Moltmann, Gott in der Schöpfung, 140–143; Moltmann, „Verschränkte Zeiten der Geschichte“, 218–220; J. Moltmann, Das Kommen Gottes. Christliche Eschatologie, Gütersloh 1995, 318 f.; J. Moltmann, „Was ist die Zeit und wie erfahren wir sie?“, GlDe 12 (1999), 139–153, hier 149 f.

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2. Zeit und Ewigkeit in der neueren Theologie

chen Zeiten, in der die Zukunft in der Geschichte und die Zukunft der Geschichte zueinander in Beziehung gesetzt werden. Dieser Zukunftsbegriff schlägt sich vor allem in Moltmanns Differenzierung der Zukunft in Futurum und Adventus wieder. Wird Zukunft als Futurum aufgefasst, ist sie bloß das, was aus der Gegenwart wird und daher als ihre Fortsetzung verstanden werden muss. Dabei werden nach Moltmann die Machtverhältnisse der Gegenwart in die Zukunft extrapoliert und alternative Möglichkeiten ausgeblendet, so dass dieses Zukunftsverständnis selbst dem Machterhalt dient. Denn an einer Extrapolation, die suggeriert, dass es keinen Wandel geben könne, haben nur die Mächtigen Interesse. In dieser Extrapolation kann Moltmann keine Hoffnung entdecken.57 Adventus bezeichnet die Zukunft, die von außen auf die Menschen zukommt. Aus dieser Sicht ist die Zukunft eben nicht durch die Gegenwart bestimmt. Zukunft ist nicht als Extrapolation der Gegenwart zu verstehen, sondern als Neues, das vom momentanen Zeitpunkt allenfalls antizipiert, erhofft oder befürchtet werden kann. Zugleich ist es nicht zwingend zum Vergehen verdammt wie das Extrapolierte. Denn alle Zukunft, die aus der Gegenwart extrapoliert wird, ist eine spätere Gegenwart, die selbst wieder vergehen wird und keinen Bestand hat. Die Hoffnungen auf das Kommende beziehen sich jedoch auf das, was die Menschen im Innersten betrifft. In ihnen zeigt sich stets auch die eschatologische Zukunft, die als Kommendes jenseits aller geschichtlichen Zeiten steht. Sie wird nicht geschichtlich werden und vergehen. Wirkliche Hoffnung wird daher nur möglich, wenn die kommende Zukunft aller Zeiten von der je gegenwärtigen Zukunft unterschieden wird.58 Mit dieser Unterscheidung gelingt Moltmann eine differenzierte Betrachtung der Zukunft. Denn die Beziehung des Menschen zur Zukunft umfasst stets beide Aspekte. Die Gegenwart wird einerseits in die Zukunft fortgesetzt, andererseits wird die Aufhebung von Ungerechtigkeiten erhofft. Auch wenn Neues geschieht, passiert dies nicht unter dem totalen Abbruch des Alten, sondern als Transformation des Alten zu etwas Neuem. Damit ist das Neue zwar unerwartbar, aber dennoch in Kontinuität zum Alten.59 Moltmanns Analyse der Geschichtszeit liefert einen differenzierten Blick auf die verschiedenen Zeitmodi und ihre Wechselwirkungen und Verschränkungen. Sein Ziel bleibt es dabei, die Grundvoraussetzungen der Eschatologie angemessen auszudrücken. Dazu gehört im Wesentlichen, dass Neues und Hoffnung möglich sind und dass die Welt offen für dieses Neue ist. Mit seinem vielfältigen Zukunftsbegriff gelingt es ihm, sowohl die lineare Zeitfolge als auch die Hoffnung und die eschatologische Zukunft aufzunehmen. 57 Vgl. Moltmann, „Verschränkte Zeiten der Geschichte“, 220–223; Moltmann, Gott in der Schöpfung, 143–145; Moltmann, Das Kommen Gottes, 42–44. 58 Vgl. Moltmann, „Verschränkte Zeiten der Geschichte“, 221; Moltmann, Gott in der Schöpfung, 143–145; Moltmann, Das Kommen Gottes, 43 f. 59 Siehe Moltmann, Das Kommen Gottes, 44–47.

2.2. Die Zeit der Hoffnung – Jürgen Moltmann

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2.2.3. Zeit und Ewigkeit In seiner Analyse der Ewigkeit und ihrer Beziehung zur Zeit setzt Moltmann seine Ausrichtung fort, die Bedingungen auszuloten, unter denen die eschatologische Hoffnung möglich ist. Dementsprechend sind der Ausgangspunkt seiner Reflexionen die Erfahrungen, die Hoffnung auf Ewigkeit wecken, und das Ende der Zeit am „Tag des Herrn“, das heißt der Übergang der Zeit in die Ewigkeit. Die Reflexion über die Ewigkeit muss nach Moltmann bei den Erfahrungen der „Gegenwart der Ewigkeit“ beginnen. Als erste und schwächste Form dieser Erfahrungen sieht er das Ergebnis der Augustinischen Zeitanalyse: Vergangenheit und Zukunft sind via Erinnerung und Erwartung auch in der Gegenwart präsent, so dass im Geist des Menschen ein Abbild der Ewigkeit existiert, in dem die drei Zeitmodi in abgeschwächter Form gleichzeitig präsent sind. Dies bezeichnet Moltmann auch als „vergegenwärtigte Ewigkeit“, während der eigentlichen Ewigkeit, der „ewigen Gegenwart“, alle Zeiten gleichermaßen vollkommen präsent sind.60 Eine höhere Form der Gegenwartserfahrung der Ewigkeit findet Moltmann im „erfüllten Augenblick“. Damit bezeichnet er eine Erfahrung der höchsten Erfüllung. Die Erfahrung dieses Augenblicks kommt der Definition der Ewigkeit nach Boethius als vollen und gleichzeitigen Besitz des ganzen Lebens sehr nahe, da das Leben so intensiv erfahren wird, dass der Fluss der Zeit von der Zukunft in die Vergangenheit unterbrochen zu sein scheint. Es ist das als vollkommen erfahrene Leben, das mit seiner augenblicklichen Bestimmung übereinstimmt. Diesen Augenblick interpretiert Moltmann als ein Hineinreichen der aionischen Ewigkeit (siehe unten) in die vergängliche Zeit. Er kann ihn auch als „gegenwärtige Ewigkeit“ bezeichnen. Der erfüllte Augenblick weckt das Verlangen nach der „ewigen Gegenwart“, dem ewigen Leben.61 Diese Erfahrungen müssen nach Moltmann den Ausgangspunkt für die Reflexionen über die Ewigkeit und die Zeit bilden. Philosophen, die vom Tod und seiner Antizipation ausgehen, hält er vor, dass sie nur negative Theorien der Zeit entwickeln können. Indem Moltmann den „erfüllten Augenblick“ in das Zentrum der Überlegungen stellt, will er Hoffnung auf eine Vollendung der erfahrenen Ewigkeit denkbar werden lassen.62 Die Hoffnung auf „ewige Gegenwart“, die nach Moltmann durch den „erfüllten Augenblick“ geweckt wird, spiegelt sich in seiner Annahme einer dritten Ebene neben absoluter Ewigkeit und vergänglicher Zeit, die er als aionische Ewigkeit beziehungsweise aionische Zeit bezeichnet. Die absolute Ewigkeit Gottes ist allein unendlich. Sie umfasst und begrenzt alle geschöpfliche Zeit. In der Zeit zeigt sie sich als 60 Siehe Moltmann, Das Kommen Gottes, 316 f.; Moltmann, „Was ist die Zeit und wie erfahren wir sie?“, 147–149; J. Moltmann, „‚Zeit der Ewigkeit‘“, in: M. Hattstein u. a. (Hrsg.), Erfahrungen der Negativität, FS M. Theunissen, Hildesheim 1992, 291–296, hier 292 f. 61 Vgl. Moltmann, Das Kommen Gottes, 319–320; Moltmann, „Was ist die Zeit und wie erfahren wir sie?“, 150–152; Moltmann, „‚Zeit der Ewigkeit‘“, 293 f. 62 Siehe Moltmann, Das Kommen Gottes, 320 f.; Moltmann, „Was ist die Zeit und wie erfahren wir sie?“, 152.

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2. Zeit und Ewigkeit in der neueren Theologie

Macht der Zukunft. Die Schöpfung dagegen ist in zwei Welten unterteilt. Die Zeit der unsichtbaren Welt ist die aionische Ewigkeit. Sie ist reversibel und hat weder Anfang noch Ende. Es gibt in ihr keinen Tod, aber dennoch ist sie endlich. Moltmann vergleicht sie mit dem Zeitkreis. Im Gegensatz dazu ist die Zeit der vergänglichen Welt irreversibel und asymmetrisch, das heißt, sie fließt unumkehrbar von der Zukunft in die Vergangenheit und ist vom ständigen Vergehen und Entstehen geprägt. Sie ist die Zeit der Vergänglichkeit und Verheißung zugleich.63 Angesichts des ewigen Lebens, das im Glauben erhofft wird, erscheint die Annahme einer dritten Ebene zwischen absoluter Ewigkeit und Zeit plausibel. Denn die Ewigkeit des ewigen Lebens muss von der absoluten Ewigkeit Gottes unterschieden sein und kann auch nicht die vergängliche Zeit dieser Welt sein. Die Zusammenhänge dieser drei Ebenen von Zeit und Ewigkeit diskutiert Moltmann anhand des Anfangs und Endes der Zeit, dem „ursprünglichen“ und „eschatologischen Augenblick“. Die beiden Augenblicke sieht Moltmann als spiegelbildliche Entsprechungen an. Im Anschluss an die augustinische Frage, ob der Anfang der Zeit in der Zeit oder außerhalb von ihr liegt, entwickelt Moltmann ein Modell, in dem der Anfang der Zeit in zwei Augenblicke auseinandertritt. Im Schöpfungsratschluss entschließt sich Gott zur Schöpfung und wählt damit eine seiner Möglichkeiten und schränkt sich auf diese ein. Diese Einschränkung bedeutet eine Veränderung in Gott, die er als „ursprünglichen Augenblick“ bezeichnet. Im Anfang der Zeit, dem „anfänglichen Augenblick“, geht entsprechend dem Ratschluss Gottes die Zeit aus der Ewigkeit hervor.64 Moltmann kann das Hervorgehen der Zeit also nur als Folge einer Veränderung in Gott denken. Dies hat die Konsequenz, dass Gott nicht einfach zeitlos sein kann, auch wenn Moltmann nicht weiter diskutiert, wie die Veränderung in Gott zu denken ist. In diesem Punkt betont er lediglich, dass Ewigkeit Gottes und Zeit nicht als Gegensätze verstanden werden dürfen und dass seine Ewigkeit durch eine „Selbstverschränkung“ Gottes, eine Einschränkung seiner Ewigkeit, der Schöpfung Zeit gewährt.65 Wie die absolute Ewigkeit Gottes selbst verstanden werden könnte, führt Moltmann dabei nicht aus. Er formuliert aber den Bezug zur geschöpflichen Zeit als „Zeitmächtigkeit“ und „Macht der Zukunft“.66 Als Macht über die Zeit und insbesondere als Macht der Zukunft ist seine Ewigkeit nicht identisch mit der geschöpflichen Zeit. Sie ist aber auch nicht einfach eine andere Form des Zeitbezugs, sondern vielmehr der schöpferische Ursprung der Zeit. Auf diese Weise kann Gott zugleich der Grund der Hoffnung sein und ist der Zeit als ihr Schöpfer überlegen.

63 Vgl. zu den drei Ebenen der absoluten Ewigkeit, aionischen und vergänglichen Zeit Moltmann, „Kosmos und Theosis“, 61–63; Moltmann, Das Kommen Gottes, 308 und 311–313; J. Moltmann, Der Weg Jesu Christi. Christologie in messianischen Dimensionen, München 1989, 354–356. 64 Vgl. Moltmann, Das Kommen Gottes, 309–311; Moltmann, „‚Zeit der Ewigkeit‘“, 294 f. 65 Vgl. Moltmann, Das Kommen Gottes, 309 f. 66 Moltmann, „Kosmos und Theosis“, 62.

2.2. Die Zeit der Hoffnung – Jürgen Moltmann

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Analog zum Anfang unterteilt Moltmann auch das Ende der Zeit in zwei Augenblicke. Im Erlösungsratschluss beschließt Gott, die vergängliche Welt zu erlösen, das heißt, sich selbst wieder zu entschränken und die Schöpfung auszufüllen und sie an seiner Ewigkeit teilhaben zu lassen. Diese Teilhabe an der Ewigkeit ist Ende und Vollendung der Schöpfung und daher auch der Austritt aus der Zeit in die Ewigkeit, also der „letzte Augenblick“. In diesem Augenblick wird nach Moltmann die ganze Schöpfung wiedergebracht und die Zeiten werden verwandelt in die aionische Ewigkeit aufgenommen. Im neuen Aion werden Zeit und Ewigkeit durch eine Perichorese göttlicher und kosmischer Eigenschaften verbunden sein als „ewige Zeit“ und „zeiterfüllte Ewigkeit“.67 Der wesentliche Ausgangspunkt für Moltmanns Diskussion über Zeit und Ewigkeit ist also wieder die Hoffnung auf die eschatologische Zukunft. Die Erfahrung der gegenwärtigen Ewigkeit soll die Hoffnung auf das ewige Leben begründen und im Zentrum der Überlegungen stehen. Die Existenz einer aionischen Ewigkeit und die Veränderungen in Gott in Form der Ratschlüsse sind die Voraussetzungen, unter denen nach Moltmann der „Tag des Herrn“ und ewiges Leben möglich sind. 2.2.4. Christi Zeit für die Toten Im Entwurf einer personalen Eschatologie ergänzt Moltmann seine Beiträge über die Zeit und Ewigkeit um die Annahme einer Zwischenzeit zwischen Tod und ewigem Leben. Er betont, dass die Eschatologie drei Ebenen der Hoffnung beibehalten muss. Nach der Reihenfolge ihrer Bedeutung sind dies die Hoffnung für Gottes Herrlichkeit, für die Neuschöpfung der Welt und für das persönliche Heil.68 Insbesondere die Hoffnung auf Erneuerung der Welt und auf das Leben nach dem Tod wurden jedoch häufig gegeneinander ausgespielt. Als Reaktion auf die einseitige Predigt der persönlichen Erlösung hat Moltmann die „Theologie der Hoffnung“ geschrieben, um die Bedeutung der christlichen Gestaltung der Welt herauszustellen. Die personale Eschatologie hält er jedoch entgegen einseitigen Leseweisen seiner „Theologie der Hoffnung“ für genau so wichtig. Denn beide Hoffnungen bedingen sich einander. Die Hoffnung auf die Auferstehung lässt den Gläubigen auch dieses Leben lieben, so dass er versuchen muss, es von Ausbeutung und Ungerechtigkeit zu befreien. Wegen der Liebe und dem Kampf um Gerechtigkeit hofft er auf eine Erlösung, in der Tod und Sünde keine Macht mehr haben.69 Moltmann geht davon aus, dass die Verstorbenen nach ihrem Tod nicht unmittelbar erlöst und vollendet sind, sondern zeitlich ihre Vollendung und Erlösung als 67

Siehe Moltmann, Das Kommen Gottes, 323–325; Moltmann, Der Weg Jesu Christi, 353 f. Siehe J. Moltmann, „Liebe – Tod – Ewiges Leben. Entwurf einer personalen Eschatologie“, in: H. Becker/B. Einig/P. Ullrich (Hrsg.), Im Angesicht des Todes. Ein interdisziplinäres Kompendium, Bd. II, PiLi 4, St. Ottilien 1987, 837–854, hier 839. 69 Vgl. ebd., 837–840. 68

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2. Zeit und Ewigkeit in der neueren Theologie

Prozess miterleben. Damit wendet er sich gegen die Vorstellung Luthers vom Schlaf der Toten bis zum Jüngsten Gericht, aber vor allem gegen den Gedanken, dass das Leben nach dem Tod eine Verewigung des irdischen Lebens sei. Zugleich ermöglicht dies Moltmann von einer Gemeinschaft der Lebenden und Toten in Christus auszugehen.70 Den Zeitraum zwischen Tod und Auferstehung begründet er mit dem „eschatologischen Vorbehalt“: Die Macht der Sünde ist bereits gebrochen, aber der Tod herrscht noch. Christus ist schon auferstanden, die anderen Toten noch nicht. Darin sieht Moltmann eine „Zwischenzeit“ zwischen der Auferstehung Jesu und der Auferstehung aller Toten gegeben. Obwohl die Toten und Sterbenden noch nicht auferstanden sind, haben sie nach biblischer Tradition dennoch Gemeinschaft mit Christus. Diese Gemeinschaft interpretiert Moltmann als ein Zeit-Nehmen Gottes für die Toten, so dass auch die Toten in diesem Sinne Zeit haben, in der sie die rettenden Möglichkeiten Gottes wahrnehmen können.71 In einem weiteren Argument für diese Zeit und Entwicklung nach dem Tod verweist Moltmann auf gescheitertes oder sehr früh abgebrochenes Leben. Die Gerechtigkeit zwischen Wohlhabenden, die ein langes Leben führen konnten, und früh verstorbenen Kindern oder Opfern von Gewalt erfordert es, dass letztere auch die Möglichkeit erhalten zu leben. Moltmann geht davon aus, dass Gott dem abgebrochenen Leben die Vollendung gewähren will und dass er sich dabei nicht von einem gewaltsamen Tod hindern lässt. Er denkt hier an ein Leben in einem Zwischenzustand, der noch nicht das Reich Gottes oder das erfüllte ewige Leben ist, sondern eine Zeit, in der ein Mensch seine Vollendung erreichen kann, in der er abschließend zur Ruhe kommen kann. Diesen Zwischenzustand grenzt er deutlich von der Lehre vom Fegefeuer und von Reinkarnationslehren ab. Er sieht diese Zeit als Lebensraum an, in dem sich das abgebrochene Leben frei entfalten kann.72 Ob eine solche Zwischenzeit notwendig ist, hängt vom genauen Verständnis der Vollendung ab. Soll die Vollendung auch die weitere freie Entfaltung abgebrochenen Lebens und damit Hoffnung auf Vollendung für dieses Leben beinhalten, wie dies Moltmann fordert, so impliziert dies in der Tat eine zeitliche Entwicklung nach dem Tod. Aus der Perspektive der Hoffnung ist dieser Entwurf daher sehr sympathisch. 2.2.5. Zusammenfassung Moltmanns Beiträge zum theologischen Verständnis von Zeit und Ewigkeit lassen sich gut zu einem Gesamtbild vereinen. In all ihren Facetten kann Moltmanns Dis70 Moltmann, „Liebe – Tod – Ewiges Leben“, 847 f. und 853 f.; J. Moltmann, „Is There Life After Death?“, in: J. Polkinghorne/M. Welker (Hrsg.), The End of the World and the Ends of God. Science and Theology on Eschatology, Harrisburg, Pennsylvania 2000, 238–255, hier 251 f. 71 Vgl. Moltmann, „Liebe – Tod – Ewiges Leben“, 850–852. 72 Vgl. Moltmann, „Is There Life After Death?“, 251–253.

2.2. Die Zeit der Hoffnung – Jürgen Moltmann

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kussion von Zeit und Ewigkeit ausgehend von den Grundanliegen der Eschatologie verstanden werden. Dies hat zur Folge, dass seine Zeit- und Ewigkeitstheorien die Hoffnung auf Neues und Vollendung zulassen und ernst nehmen. Dazu gehört die Möglichkeit der Hoffnung sowohl auf innerweltliche Verbesserungen als auch auf eine eschatologische Vollendung. Die Umsetzung umfasst als wesentliche Elemente die drei Ebenen der Ewigkeit, aionischen Zeit und vergänglichen Zeit und den Zwischenzustand der Toten vor der Auferstehung: – Die absolute Ewigkeit kommt nur Gott zu und ist allein unendlich. Sie ist durch den Schöpfungsratschluss auf die Zeit hin geöffnet und damit die Macht der Zukunft. Als solche kann sie nicht der Zeit als Zeitlosigkeit entgegengesetzt werden. Mit den Ratschlüssen Gottes kennt sie auch Veränderungen. Neues in der Zeit und am Ende der Zeit kann nur erhofft werden, wenn man es von der Macht der Zukunft erwartet. – Die aionische Zeit gehört zur Schöpfung und ist daher endlich. Im Gegensatz zur Zeit der Welt ist sie allerdings reversibel und nicht vergänglich. Zu dieser aionischen Zeit gehört die eschatologische Zukunft, auf die in der vergänglichen Welt als Vollendung gehofft werden kann. In sie wird die vergängliche Welt am „Tag des Herrn“ eingehen. – Dagegen ist die vergängliche Zeit irreversibel und vom Vergehen und Tod geprägt. Ihre Struktur bestimmt Moltmann im Detail als verschränkte Zeiten. Den Zukunftsbegriff der vergänglichen Welt unterscheidet Moltmann in Futurum und Adventus, die das Wechselspiel von extrapolierbarem Werden und von unerwartbar Neuem ausdrücken. Damit zeigt er auf, dass auch in der vergänglichen Welt schon Hoffnung auf Verbesserungen möglich ist. – In einer Zwischenzeit nach dem Tod können nach Moltmann die abgebrochenen Möglichkeiten des Lebens vollendet werden, bevor die Toten mit der Auferstehung in die aionische Zeit eingehen. Eine besondere Rolle spielt für Moltmann der Zukunftsbegriff. Er bezeichnet sowohl die eschatologische Zeit der Vollendung in der Ewigkeit sowie die innerzeitlichen Kategorien des Futurum und des Adventus. Jeder neue Entwurf eines Ewigkeitsverständnisses muss ebenso die Hoffnung auf Neues und insbesondere auf eschatologische Vollendung ermöglichen, um der christlichen Eschatologie gerecht zu werden. Das heißt, es müssen sowohl die persönliche Vollendung als auch die Erlösung und Vollendung der ganzen Schöpfung denkbar sein. Ob dazu die Begrifflichkeiten der verschränkten Zeiten verwendet werden müssen, darf dahingestellt bleiben. Zumindest die Annahme einer weiteren Zeit zwischen vergänglicher Zeit und Gottes Ewigkeit dürfte notwendig sein. Denn die Ewigkeit der eschatologischen Vollendung ist von Gottes Ewigkeit zu unterscheiden. Hinsichtlich der Ewigkeit Gottes ist Moltmann darin zuzustimmen, dass sie nicht gänzlich zeitlos sein kann, sondern als Macht der Zeit verstanden werden muss.

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2. Zeit und Ewigkeit in der neueren Theologie

2.3. Die Ewigkeit der Trinität – Ingolf Dalferth Ingolf Dalferth entwickelt einen trinitarisch differenzierten Ewigkeitsbegriff. Jede Person der Trinität hat ihr eigenes Verhältnis zur Zeit, so dass Gottes Zeitbezug differenziert ist in die Bezüge der Zeitlosigkeit, Vielzeitigkeit und Zeitlichkeit. Für seinen trinitarischen Entwurf erarbeitet Dalferth einige grundlegende Annahmen über das Verhältnis Gottes zur Zeit, die er seinem eigentlichen Entwurf voranstellt. Die erste dieser Voraussetzungen seines Entwurfes ist die Ablehnung zweier traditioneller Verständnisse der Ewigkeit, in der er der theologischen Diskussion des zwanzigsten Jahrhunderts in den wesentlichen Positionen zustimmt: Gott kann einerseits nicht zeitlos gedacht werden, da sonst kein Handeln Gottes möglich wäre, Gott nicht lebendig sein könnte und ein zeitloser Gott auch nicht dem exegetischen Befund im Alten und Neuen Testament entspricht. Andererseits darf Gott ebenso wenig einfach zeitlich gedacht werden, da dies wiederum andere Probleme hervorruft.73 Die zweite Voraussetzung, die Dalferth richtig benennt, ist die unumgängliche Vielfalt der Zeiten. Die Zeiten der Physik, der Biologie, die subjektive Zeitwahrnehmung und andere Zeitkonzepte können nicht auf eine einheitliche Zeit reduziert werden. Sie bezeichnen jeweils eigene Aspekte der Zeit beziehungsweise verschiedene Zeiten, die parallel existieren. Schon allein die Relativitätstheorie kennt unendlich viele Bezugssysteme, von der jede ihre Eigenzeit hat (vgl. Abs. 3.3.1). Daher muss der Bezug Gottes zur Vielfalt der Zeiten reflektiert werden.74 Die dritte Voraussetzung sind die Zeitgestaltungen, die der Mensch verwendet, um sich in der Welt zu orientieren. Als Beispiel erläutert er die geläufige Gestalt, die zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterscheidet. Diese Zeitmodi bezeichnen, welche Ereignisse menschlichem Einfluss unterliegen beziehungsweise Relevanz für die Lebensgestaltung haben. Vergangene Ereignisse sind abgeschlossen und werden von unseren Handlungen nicht mehr beeinflusst. Gegenwärtiges und Zukünftiges dagegen steht noch Entscheidungen gegenüber offen. Vergangenes und Gegenwärtiges ist bereits erkennbar, Zukünftiges noch nicht. Auch Festtagskalender und andere Zeiteinteilungen sind Gestaltungen der Zeit, die dem Menschen bei der Orientierung helfen und so ein sinnvolles Leben überhaupt erst ermöglichen.75 Als Grundlage seines Entwurfes will Dalferth daher von den spezifischen Zeitgestalten des Christentums ausgehen. Dies sind insbesondere die Unterscheidungen zwischen Ewigkeit und Zeit und die Unterscheidung von Alter und Neuer Zeit. Die Differenz zwischen Ewigkeit und Zeit erfüllt nach Dalferth die Aufgabe, den Schöpfer von den Geschöpfen zu unterscheiden. So wird vor allem von Augustin 73 Vgl. I. U. Dalferth, „Gott und Zeit“, in: D. Georgi/M. Moxter/H. Heimbrock (Hrsg.), Religion und Gestaltung der Zeit, Kampen 1994, 9–34, hier 10–13. 74 Vgl. ebd., 14–16. 75 Vgl. ebd., 16 f.

2.3. Die Ewigkeit der Trinität – Ingolf Dalferth

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die Ewigkeit des Schöpfers der zeitlichen Existenz der endlichen Geschöpfe gegenüber gestellt.76 Die Differenz zwischen Alter und Neuer Zeit stellt den Prozess der Erlösung inmitten der noch unerlösten Welt heraus. In Christus ist die Neue Zeit schon angebrochen und die Macht der Alten Zeit besiegt und ihr Ende besiegelt. Dennoch dauert die Alte Zeit noch an, auch wenn die Neue Zeit schon jetzt beginnt, sich durchzusetzen.77 Dalferth versucht, die Differenz von Alter und Neuer Zeit in seinen Reflexionen in den Vordergrund zu stellen. Daraus ergibt sich für ihn die Konsequenz, dass der Zeitbezug Gottes trinitarisch verstanden werden muss, da sich Gott in Jesus trinitarisch offenbart hat. Um auch den Gegensatz zwischen Schöpfer und Geschöpf weiterhin angemessen beibehalten zu können, will er die Zeitlosigkeit Gottes dabei nicht aufgeben. Dementsprechend beginnt er seine Erläuterungen des Zeitverhältnisses Gottes mit der Zeitlosigkeit des Vaters. Den Schöpfungsprozess stellt er sich als ein zeitloses fiat vor, in dem der Vater kraft seines schöpferischen Wortes alles in seine Präsenz ruft, was er will. Alles Geschaffene ist somit dem Vater kopräsent, allerdings auf zeitlose Weise. In der zeitlosen Kopräsenz sollen nach Dalferths Verständnis die Relevanz der zeitlichen Ordnungen der Schöpfung bewahrt werden. Gott will jedoch nicht nur Schöpfer der Welt sein, sondern auch von ihr als solcher anerkannt werden. Deshalb bleibt Gott nach Dalferth nicht in seiner Zeitlosigkeit, sondern vollzieht die Vielzahl der Zeiten nach, die in der Welt existieren, um die Geschöpfe auf Gott hinzuweisen und auf seine Anerkennung hinzuarbeiten. Als Geist ist er daher allen Zeiten nahe und erhält und vollendet die Schöpfung, so dass sein Zeitbezug als Vielzeitigkeit zu bezeichnen ist. Für die Offenbarung und Anerkennung der Liebe Gottes reicht dies jedoch nicht aus. Dazu ist es auch notwendig, dass Gott in Jesus in die Geschichte eintritt und das Wesen Gottes als Liebe verdeutlicht und die Mühen des Geistes offenbart. Im Sohn nimmt Gott also auch die menschliche Zeiterfahrung an. Der Zeitbezug Gottes ist in Dalferths Ewigkeitsentwurf also die Gesamtheit dieser drei Zeitbezüge, so dass Gottes Ewigkeit nur in dieser trinitarischen Differenzierung zu verstehen ist.78 Vor dem Hintergrund der Trinitätslehre und den Werken der Personen besitzt diese trinitarische Differenzierung der Zeitbezüge Gottes eine hohe Plausibilität. Sollen die Personen der Trinität ihre jeweiligen Werke vollziehen, müssen sie den jeweiligen Bezug zur Zeit haben. Dalferth reflektiert diesen Zusammenhang zwar nicht ausführlich, aber er verwendet ihn zur Ableitung der Zeitbezüge der trinitarischen Personen. Sein Ansatz expliziert daher im Wesentlichen den Zeitbezug, der im heilsgeschichtlichen Wirken Gottes bereits impliziert ist. Hierin liegt die besondere Stärke dieses Ansatzes. Allerdings bleibt ungeklärt, ob die Personen der Trinität ihren jeweiligen Zeitbezug notwendigerweise besitzen oder ob sie ihn für ihr Werk wählen. Dalferths Ewigkeitsbegriff deutet eher in Richtung der ersten Alterna76

Vgl. ebd., 22 f. Vgl. ebd., 20–22. 78 Vgl. zum trinitarischen Zeitbezug ebd., 31 f. 77

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2. Zeit und Ewigkeit in der neueren Theologie

tive, da er unter Ewigkeit den trinitarisch differenzierten Zeitbezug verstehen will, der alle drei Zeitbezüge umfasst. Dieser Ewigkeitsbegriff wäre nicht sinnvoll, wenn die Personen ihren Zeitbezug nur kontingenterweise besäßen. Denn dann wäre seine Ewigkeit als Einheit der drei Zeitbezüge ebenfalls eine kontingente Eigenschaft Gottes, die davon abhängt, ob die Personen den richtigen Zeitbezug wählen. Dalferths Formulierungen in der Ableitung der Zeitbezüge klingen dagegen teilweise so, als ob die trinitarischen Personen den Zeitbezug für das jeweilige Werk annehmen.79 Nach dem Ansatz aus der Einleitung (Abs. 1.1) ist für die zweite Alternative zu plädieren, damit Gott seinen Zeitbezug wirklich frei gestalten kann. Dann ist jedoch unter Ewigkeit nicht der trinitarisch differenzierte Bezug zur Zeit, sondern die Macht über die Zeit zu verstehen. Fraglich bleibt meines Erachtens auch, ob sich die Zeitlosigkeit des Vaters angesichts Dalferths eigener Argumente halten lässt. Dalferth selbst verweist auf Positionen der analytischen Religionsphilosophie, die betonen, dass Gott zeitlich sein muss, um überhaupt handeln, wissen oder wollen zu können.80 Die Frage, wie die Handlungsfähigkeit des Vaters beibehalten werden kann oder ob diese Resultate der analytischen Religionsphilosophie zu korrigieren sind, bleibt in Dalferths Entwurf unbeantwortet. Die Voraussetzungen, von denen Dalferth ausgeht, weisen jedoch allesamt in die richtige Richtung. Gott darf weder als zeitlos noch als zeitlich endlos gedacht werden. Seine Ewigkeit muss in Bezug zur Vielfalt der Zeiten formuliert werden. Die Werke der trinitarischen Personen sprechen für bestimmte Zeitbezüge.

2.4. Schlussfolgerungen Als Auswahl aus der neueren Theologie wurden hier die Ansätze zu den Themen Ewigkeit und Zeit von Pannenberg, Moltmann und Dalferth betrachtet. Pannenberg hat sich in seinem Ewigkeitsmodell an Plotin und Boethius angelehnt. Moltmann geht in seinen Entwürfen von den Anliegen der Eschatologie aus. Er entwickelt Zeit- und Ewigkeitsmodelle, die Hoffnung auf Neues und auf Erlösung ermöglichen. Dalferth entwirft einen trinitarisch differenzierten Ewigkeitsbegriff, der seine Grundlage in der trinitarischen Differenzierung der Werke Gottes hat. Wichtige Anregungen für die weitere Diskussion über den Ewigkeitsbegriff finden sich in allen betrachteten Ansätzen. Ausgehend von Pannenberg ist zu berücksichtigen, dass der Ewigkeitsbegriff stets Explikation der Gotteslehre zu sein hat. Im Ewigkeitsbegriff spiegelt sich der Gottesbegriff. Mit dem Ewigkeitsbegriff werden daher stets auch das Gottesbild und weitere Eigenschaften Gottes reflektiert. Pannenberg geht vom philosophischen Gottesbegriff des Absoluten und Unendlichen aus, der auch das Endliche umfasst. Analog muss die Ewigkeit die Zeit um79 80

Siehe Dalferth, „Gott und Zeit“, 31 f. Siehe ebd., 11.

2.4. Schlussfolgerungen

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fassen. In der Einleitung wurde für das Bild eines ebenfalls unendlichen, aber auch lebendigen und dynamischen Gottes plädiert, der auch Zeitlichkeit erfahren kann. Diese andere Akzentsetzung gegenüber Pannenberg muss sich im Ewigkeitsbegriff niederschlagen. Von Moltmanns Ansätzen erscheint der Gedanke der Zeitmächtigkeit dem in der Einleitung beschriebenen Ansatz entgegenzukommen. Wenn Gott fähig sein soll, seine eigenen Zeiten zu konstituieren und die Verlaufsformen seiner Zeiten zu wählen, wird er zu Recht zeitmächtig genannt werden. Als Zeitmächtiger wird Gott auch für die eschatologische Vollendung eine passende Zeit bereit halten können. Ob diese Zeit als dritte Ebene zwischen Gottes Ewigkeit und der vergänglichen Zeit die Form einer reversiblen, aionischen Zeit hat, ist dabei weniger relevant. Sie muss jedoch geschöpfliche Zeit sein und zugleich von der vergänglichen Zeit unterschieden werden, damit sie die Zeit der eschatologischen Vollendung sein kann. Dalferths trinitarischer Ewigkeitsansatz enthält den wichtigen Punkt, dass durch die unterschiedlichen Werke der trinitarischen Personen auch unterschiedliche Zeitbezüge nahegelegt werden. Damit hat Dalferth die Vielfalt der Zeitbezüge zu der Vielfalt der Zeiten sinnvoll umgesetzt. Im Rahmen der Ausformulierung des Modells sollen diese Anregungen aufgenommen werden. Zunächst werden noch weitere Ideen aus der Interpretation physikalischer Theorien und der Spätphilosophie Schellings gesammelt.

3. Die Zeit der Physik 3.1. Einleitung In jedem Ewigkeitsbegriff spiegeln sich zugleich Aspekte des zugrunde liegenden Zeitbegriffs. Es ist daher unmöglich über Ewigkeit zu reden, ohne Aussagen über die Zeit vorauszusetzen. Zeit ist für die Geschöpfe eine unhintergehbare Größe, die ihr Leben in eine kausal geordnete Reihenfolge gliedert. Ewigkeit wurde in den in Abs. 1.3 dargestellten Modellen stets als die analoge Eigenschaft Gottes verstanden, so dass die verschiedenen Konzeptionen als Gottes Beziehung zur Zeit beschrieben wurden: Zeitlosigkeit, Präsenz aller Zeiten oder endlose Zeit. Zugrunde lag diesen Beschreibungen der jeweilige Zeitbegriff. Augustin bestimmte die Zeit als distentio animi, so dass er Ewigkeit als Negation dieser Ausdehnung auffasste (vgl. Abs. 1.3.2). Paul Helm versteht unter Zeitlosigkeit die Unanwendbarkeit aller zeitlichen Begriffe und Analogien auf Gott, so dass Gott weder in Früher-/Später-Relationen steht noch in einem Moment existiert noch Dauer besitzt. Gott ist allen Zeiten koexistent, aber nicht gegenwärtig oder auf andere zeitliche Weise präsent. Als Konsequenz dieses Ewigkeitsmodells vertritt er eine B-Theorie der Zeit (vgl. Abs. 1.3.2). William Craig dagegen geht davon aus, dass Zeit nur einer A-Theorie entsprechen kann, so dass Gott zeitlich sein muss, sobald er die zeitliche Welt erschafft (vgl. Abs. 1.3.3). Schon an diesen wenigen Positionen zeigt sich, dass Zeit- und Ewigkeitsverständnis nicht unabhängig voneinander betrachtet werden können. Für das Zeitverständnis sind wiederum die vertretene Naturphilosophie beziehungsweise die Interpretationen physikalischer Theorien relevant. Denn das Zeitverständnis sollte mit den physikalischen Theorien vereinbar sein. So muss William Craig darlegen, inwiefern seine A-Theorie der Zeit nicht den Relativitätstheorien widerspricht.1 Der revolutionäre Aspekt der Relativitätstheorien war, dass eine absolute Zeit abgelehnt wurde und im mathematischen Formalismus folglich keine Entsprechung fand. Darüber hinaus sind zahlreiche Lösungen der allgemeinen Relativitätstheorie bekannt, die sich tatsächlich in keine absolute, globale Zeit einbetten lassen (vgl. Abs. 3.3.2). Vertreter einer A-Theorie müssen daher solche Lösungen der Einsteinschen Gleichungen ausschließen. Vermittelt durch Zeitverständnis

1 Das ist die Intention des Buches W. L. Craig, Time and the Metaphysics of Relativity, PhStS 84, Dordrecht/Boston/London 2001.

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3. Die Zeit der Physik

und Interpretation stehen physikalische Theorien und Zeitbegriffe also durchaus mit dem Ewigkeitsverständnis in wechselseitiger Beziehung. Dieser Zusammenhang zwischen Ewigkeitsbegriff und Naturphilosophie hat einen guten Grund. Nach christlicher Überzeugung muss Gottes Ewigkeit auch Gottes Beziehung zur geschöpflichen Zeit, das heißt zur naturwissenschaftlich erforschbaren Zeit, umfassen. Streng genommen müsste darum der Zeitbegriff aller Wissenschaften untersucht werden, da der jeweilige Bezug der Ewigkeit zum entsprechenden Zeitbegriff geklärt werden sollte. Dies wäre jedoch ein viel zu umfangreiches Unterfangen für eine einzelne Arbeit. Hier wird allein die Zeit in der Physik untersucht.2 Denn die Physik hat im zwanzigsten Jahrhundert radikale Veränderungen im Zeitverständnis erfahren.3 Die gravierendsten Veränderungen hängen mit den Relativitätstheorien zusammen, die explizit die physikalische Zeit zum Gegenstand haben. Trotz aller erzielten Fortschritte bleibt jedes physikalische Verständnis der Zeit vorläufig und unvollständig. Die Physik kann keine endgültige Charakterisierung der Zeit liefern. Denn jede neue Theorie könnte den jeweils etablierten Zeitbegriff erneut herausfordern. Man könnte daher versucht sein, einen theologischen Zeitbegriff zu entwickeln, der unabhängig von den Veränderungen der physikalischen Theorien sein soll. Doch auch ein solcher theologischer Zeitbegriff steht in Gefahr implizit von Voraussetzungen der gängigen Naturphilosophie auszugehen und käme nicht umhin, Aussagen über Verlaufsformen zu implizieren. Er wäre also keineswegs immun gegen die Kritik durch neue physikalische Theorien. Es ist folglich sinnvoller, das große Potential für den Dialog über die Zeit- und Ewigkeitsbegriffe gerade darin zu sehen, dass neue Theorien neue Zeitbegriffe hervorbringen können. Neue Erkenntnisse über die Zeit heben zugleich Einschränkungen des alten Zeitbegriffs auf, die möglicherweise auch in den entsprechenden Ewigkeitsbegriff Eingang gefunden haben. Die Aufnahme neuerer Ansätze aus den Naturwissenschaften kann also helfen, eng gefasste Gottesbilder zu erweitern.4 Die Vorläufigkeit aller naturwissenschaftlichen Forschung erinnert daran, dass solche Impulse und 2 Einen Überblick über einige Zeitbegriffe und einen Ansatz zur Systematisierung liefert K. Gloy, Zeit. Eine Morphologie, München 2006. 3 Die Zeit der Physik war darum wiederholt Thema theologischer Reflexion. Vgl. beispielsweise Jackelén, Zeit und Ewigkeit, 165–248; D. Evers, Raum – Materie – Zeit. Schöpfungstheologie im Dialog mit naturwissenschaftlicher Kosmologie, HUTh 41, Tübingen 2000, 283–380; Craig, Time and the Metaphysics of Relativity; P. E. Hodgson, Theology and Modern Physics, Aldershot/Burlington 2005, 93–113; J. Polkinghorne, Science and Providence. God’s Interaction with the World, London 4. Aufl. 1994, 77–84. Ein tripolares Zeitgefüge, das die Bezüge des Menschen auf die Zeiten der Welt, der Religion und auf seine eigene Zeit differenziert umfassen soll, entwickeln W. Achtner/S. Kunz/ T. Walter, Dimensionen der Zeit. Die Zeitstrukturen Gottes, der Welt und des Menschen, Darmstadt 1998, Philosophische und Theologische Reaktionen auf die Relativitätstheorie diskutiert A. Benk, Moderne Physik und Theologie. Voraussetzungen und Perspektiven eines Dialogs, Mainz 2000, 59– 170. 4 Mary B. Hesse verweist als Beispiel auf das neue Verständnis der Schöpfung als ein dynamisch entwickelndes System statt eines rein mechanischen. Vgl. M. B. Hesse, „Physics, Philosophy, and

3.1. Einleitung

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Korrekturen auch in Zukunft zu erwarten sind und stets neu die Beschränkungen menschlicher Gottesbilder verdeutlichen können. In diesem Sinne bieten auch Ansätze, die sich noch nicht als allgemein anerkannte Theorie durchgesetzt haben, eine Möglichkeit, die Voraussetzungen der alten Zeitbegriffe in Frage zu stellen und weitere Horizonte zu eröffnen.5 Darum ist es lohnenswert, die Möglichkeiten auszuloten, die sich aus spekulativen Modellen ergeben. Auch sie liefern nützliche Analogien und können Einschränkungen des Gottesbildes aufheben.6 In jedem Fall kann das Modellrepertoire der Theologie auf diese Weise erweitert werden. Dies ist auch die Hauptintention dieses Kapitels. Neben der Untersuchung, welche Aussagen die Physik über die Zeit gesichert treffen kann, sollen Anregungen gesammelt werden, die aufzeigen, welche weiteren alternativen Möglichkeiten existieren, Zeit zu verstehen. Die Erwartung hinter dieser Suche ist, dass einige dieser Möglichkeiten für die Formulierung neuer Ewigkeitsmodelle nützlich sein könnten. 3.1.1. Voraussetzungen des Dialogs Um einen Dialog zwischen zwei so verschiedenen Disziplinen wie Theologie und Physik zu versuchen, müssen verschiedene Voraussetzungen angenommen werden, damit der Dialog überhaupt sinnvoll begonnen werden kann. Zudem muss berücksichtigt werden, welcher Art die Ergebnisse der jeweiligen Disziplin sind und wie sie interpretiert werden müssen. Darum soll hier das Vorverständnis in diesen Fragen grob skizziert werden. Dieser Ausgangspunkt dient als Standpunktbestimmung, dessen Angemessenheit sich in der Anwendung erweisen und zum Schluss des Kapitels reflektiert werden muss.7 Grundannahme eines jeden Dialogversuchs ist, dass es einen Forschungsbereich gibt, der Gegenstand beider Disziplinen unter dem jeweiligen Fokus ist, oder dass es zumindest Nahtstellen zwischen einzelnen Bereichen beider Disziplinen gibt. So kann beispielsweise die Natur von Seiten der Physik mit ihren Methoden analysiert werden und zugleich von Seiten der Theologie als Schöpfung Gottes thematisiert werden. Beide Disziplinen beziehen sich auf dieselbe Wirklichkeit, wenn auch mit unterschiedlichem Fokus. Dies hat zur Folge, dass sich in den Fällen, in denen Theologie und Naturwissenschaft über das Gleiche reden, eine Konsonanz erMyth“, in: R. J. Russell/W. R. Stoeger/G. V. Coyne (Hrsg.), Physics, Philosophy, and Theology. A Common Quest for Understanding, Vatican City State 1988, 185–202, hier 191. 5 Neuere physikalische Modelle wurden bisher selten im Rahmen der Ewigkeitsmodelle diskutiert, beispielsweise von Jackelén, Zeit und Ewigkeit, 224–229. 6 Hesse, „Physics, Philosophy, and Myth“, 191. 7 In diesem Sinne teilt der hier vollzogene Ansatz einige Aspekte der postmodernen Kritik am Foundationalism, der in sicherer Grundlage und Methode die Objektivität der Wissenschaft zu begründen suchte. Vgl. als Überblick D. R. Stiver, „Theological method“, in: K. J. Vanhoozer (Hrsg.), The Cambridge Companion to Postmodern Theology, Cambridge 2003, 170–185, hier 172–176.

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3. Die Zeit der Physik

geben sollte8 oder der Dialog sogar zur Erhellung einzelner Sachaspekte führen kann. So könnten empirische Ergebnisse Fragen der Theologie beantworten und Konzepte der Theologie neue Interpretationen physikalischer Theorien anregen.9 In dieser Arbeit wird darum angenommen, dass Physik und Theologie mit Zeit Komplexe von Phänomenen bezeichnen, die sich zumindest teilweise überlappen. Die Zeit- und Ewigkeitsbegriffe der Theologie sollten also nicht im Widerspruch zu physikalischen Erkenntnissen stehen. Derartige Widersprüche sind jedoch nur möglich, wenn in der Theologie Aussagen über mathematisierbare Verlaufsformen getroffen werden. Ziel dieses Kapitels ist es in erster Linie, Anregungen für neue Formulierungen von Ewigkeitsmodellen zu finden. Diese können nicht nur aus etablierten, sondern auch aus spekulativen Theorien gewonnen werden. Spekulative Theorien werden in der weiteren Forschung höchstwahrscheinlich falsifiziert. Doch auch aus ihnen können theologische Einsichten gewonnen werden. So sieht sich R. J. Russell durch Hartles und Hawkings Arbeit über den Beginn des Universums veranlasst, die Endlichkeit der Vergangenheit und die Existenz eines ersten Zeitpunkts zu unterscheiden. Für eine creatio ex nihilo reicht die Endlichkeit der Vergangenheit aus. Ein erster Zeitpunkt wäre eine zusätzliche Forderung. Diese theologisch relevante Erkenntnis bleibt bestehen, auch wenn Hartles und Hawkings Vorschlag sich nicht bewahrheiten sollte.10 Solche Spekulationen können also einerseits zu Verfeinerungen der Begrifflichkeiten führen, deren Geltung unabhängig von der Geltung der Theorie ist, durch die sie motiviert wurde. Zusätzlich können Modelle häufig auch in Gebieten verwendet werden, die in keinerlei Abhängigkeit mit dem ursprünglichen Anwendungsfall des Modells stehen. Die Anwendbarkeit des Modells muss dabei stets nach den Kriterien der Disziplin des anvisierten Anwendungsbereiches entschieden werden. Ob die Modelle für ein Ewigkeitsmodell zu gebrauchen sind, 8 Konsonanz im Dialog streben zum Beispiel an E. McMullin, „How Should Cosmology Relate to Theology?“, in: A. R. Peacocke (Hrsg.), The Sciences and Theology in the Twentieth Century, Notre Dame Ind. 1981, 17–57, hier 51 f.; T. Peters, „Theology and Science: Where are we?“, Zygon 31 (1996), 323–343, hier 328 und 331. Ian G. Barbour vertritt eine Position, die er „Theology of Nature“ nennt. Nach dieser Position haben Religion und Naturwissenschaft unterschiedliche Grundlagen. In einigen Bereichen müssen jedoch religiöse Überzeugungen an neue Erkenntnisse der Naturwissenschaften angepasst werden. Er erkennt jedoch auch im Modell der Unabhängigkeit von Theologie und Naturwissenschaft eine gewisse Berechtigung und nimmt Anregungen von Autoren auf, die für eine Integration der Disziplinen plädieren. Vgl. I. G. Barbour, Religion and Science. Historical and Contemporary Issues, A Revised and Expanded Edition of Religion in an Age of Science, San Francisco 1997, 100 f. und 105; I. G. Barbour, Naturwissenschaft trifft Religion. Gegner, Fremde, Partner?, übers. von R. Kather, Göttingen 2010, 53. 9 Solche Interpretationen der Theologie sollten nach Huyssteen Elemente in der Konstruktion eines umfassenden Weltbildes sein, siehe J. W. van Huyssteen, Essays in Postfoundationalist Theology, Grand Rapids Mich. 1997, 224. 10 R. J. Russell, „Finite Creation without a Beginning. The Doctrine of Creation in Relation to Big Bang and Quantum Cosmologies“, in: R. J. Russell/N. Murphy/C. J. Isham (Hrsg.), Quantum Cosmology and the Laws of Nature. Scientific Perspectives on Divine Action, Vatican City State/Berkeley Calif. 1993, 293–329, 295 und 325.

3.1. Einleitung

71

entscheidet sich daher allein anhand theologischer Kriterien. Daher ist es auch nicht relevant, ob sich diese Modelle in der zukünftigen Physik bewähren. Gottes Zeit und Ewigkeit kann theoretisch gänzlich anders verfasst sein als die Zeit der Schöpfung. Selbst wenn die hier betrachteten spekulativen Ansätze sich in der Physik nicht durchsetzen, kann die Theologie also ihre Ideen und Modelle nutzen, sofern sie nach theologischen Kriterien angemessen sind. Auch für etablierte Theorien ist zu beachten, dass ihre Ergebnisse stets vorläufiger Natur sind. Bei allem Bemühen um Konsonanz darf nicht vergessen werden, dass nachfolgende Theorien jeden einzelnen Aspekt der heutigen Theorien ändern könnten. Spezielle Details der Theorien sollten darum nicht einfach in die Ewigkeitsmodelle eingebaut werden, weil sie gerade den aktuellen Theorien entsprechen, sondern nur wenn sie sich auch theologisch motivieren lassen. Für den Bezug zwischen Schöpfer und Schöpfung dagegen sind insbesondere die physikalischen Ansätze zu berücksichtigen, die als gesichert gelten könnnen. Auf welche Erkenntnisse dies zutrifft, muss in jedem Fall einzeln beurteilt werden. Die Vorläufigkeit hat die Physik mit der Theologie gemeinsam. Beide Disziplinen können die Realität nur unvollkommen und vorläufig erfassen. Daran hat auf Seiten der Physik beispielsweise das Auftreten der neuen Theorien im zwanzigsten Jahrhundert erinnert. In der Theologie ist das Bilderverbot eine bleibende Mahnung, dass der Mensch Gott nie erfassen kann. Jedes Ewigkeitsmodell kann deshalb nur vorläufig sein und wird durch zukünftige Reflexionen wieder korrigiert werden, ebenso wie jeder Zeitbegriff. Doch beide Disziplinen können nicht auf den Anspruch verzichten, dass ihre Aussagen sich in ihrer Unvollkommenheit auf die Realität beziehen und zumindest einen Aspekt an ihr erfasst haben. Diese Annahmen decken sich mit den Grundmotiven des kritischen Realismus.11 Ob eine Variante des kritischen Realismus als gemeinsame Grundlage des Dialogs zwischen Naturwissenschaften und Theologie dienen kann, muss sich in der konkreten Ausarbeitung zeigen und wird zum Schluss dieses Kapitels nochmals beleuchtet werden. Doch zumindest die beiden Motivationen des kritischen Realismus erscheinen sehr plausibel: Alle Beschreibungen der Realität sind unvollkommen und behalten trotzdem den Anspruch, etwas an der Realität erfasst zu haben. 3.1.2. Vorgehensweise Mit den angedeuteten Zielen, die Zeitbegriffe der Physik zu erhellen und neue Modelle für das Repertoire der Theologie zu gewinnen, soll also die Zeit im Kontext 11

Vgl. zum Begriff K. van Kooten Niekerk, „Critical Realism“, in: J. W. V. van Huyssteen u. a. (Hrsg.), Encyclopedia of Science and Religion, Bd. 1, New York u. a. 2. Aufl. 2003, 190–193, hier 190 f.; A. R. Peacocke, „Natur und Gott. Für eine Theologie im Zeitalter der Wissenschaft“, in: G. Fuchs/ H. Kessler (Hrsg.), Gott, der Kosmos und die Freiheit. Biologie, Philosophie und Theologie im Gespräch, Würzburg 1996, 170–187, hier 173; Huyssteen, Essays in Postfoundationalist Theology, 42– 45.

72

3. Die Zeit der Physik

der Physik untersucht werden. Dazu bietet es sich an, die Untersuchung nach den verschiedenen physikalischen Theorien zu gliedern. Dieses Vorgehen hat zwar den Nachteil, dass einige Eigenschaften der Zeit in jedem der Theoriekontexte erneut betrachtet werden müssen anstatt einmalig gebündelt. Doch kann nur so gewährleistet werden, dass die Analyse jedem einzelnen Theoriekomplex gerecht wird. Denn den Theorien liegt keineswegs derselbe Zeitbegriff zugrunde, sondern jede behandelt die Zeit auf ihre Weise. Bevor versucht wird, die verschiedenen Ansätze zu einem Gesamtbild zu integrieren, muss daher die Zeit jeweils unter Rücksicht der einzelnen Theoriekomplexe untersucht werden. Für jede einzelne Theorie sollen dazu die grundlegenden Konzepte dargestellt werden, soweit sie Konsequenzen für den Zeitbegriff haben. Auf Formeln wird dabei weitgehend verzichtet, um den Text auch für Fachfremde lesbar zu halten. Vor dem Hintergrund dieser Konzepte wird die Plausibilität unterschiedlicher Interpretationen abgewogen. Der Schwerpunkt muss dabei auf weit verbreitete oder besonders interessante Interpretationen gelegt werden, um den Umfang zu begrenzen. Der Fokus wird, soweit möglich, auf die abgeschlossene Formulierung der Theorien gelegt.12 Gedanken, die zu ihrer Entstehung geführt haben, werden in den Fällen erwähnt, in denen sie dem Verständnis dienen. Doch teilweise kann die Entstehungsgeschichte einer Theorie die Interpretationsmöglichkeiten auch verdunkeln. So war der Relationalismus Machs eine Motivation für die Entwicklung der allgemeinen Relativitätstheorie, kann angesichts dieser Theorie aber nicht in seiner ursprünglichen Form aufrecht erhalten werden.13 Die historische Entwicklung der Theorien wird darum in der Regel übergangen. In vielen Bereichen existiert jedoch keine abgeschlossene Theorie, so dass auf die Interpretationsmöglichkeiten der vorläufigen Forschungsergebnisse und -ansätze eingegangen werden muss. Die zwei bedeutendsten Theorien des zwanzigsten Jahrhunderts waren die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik. Beide haben die Sicht der Natur auf ihre Weise revolutioniert. Die Relativitätstheorien thematisieren die Zeit dabei unmittelbar als Teil der Raumzeit. In Bezug auf die Relativierung der Gleichzeitigkeit und die Krümmung von Raum und Zeit soll untersucht werden, welche Konsequenzen sich für die Diskussionen um die Absolutheit, Relationalität, Dynamik oder Statik der Zeit ergeben. Da ein Ewigkeitsmodell entwickelt werden soll, das Zeit und Dynamik in Gottes Ewigkeit integriert, ist es von besonderem Interesse, ob und in welchem Sinne dynamische Interpretationen der allgemeinen Relativitätstheorie möglich sind. Die Quantenmechanik behandelt Zeit nicht direkt wie die Relativitätstheorien, sondern behält sie als Hintergrund bei. Dennoch wurde teils versucht, aus 12 Dafür plädiert auch H. Reichenbach, „Die philosophische Bedeutung der Relativitätstheorie“, in: P. A. Schilpp (Hrsg.), Albert Einstein als Philosoph und Naturforscher, Braunschweig/Wiesbaden 1979, 188–207, Unveränd. Nachdr. der Ausgabe Stuttgart 1955, hier 191. 13 Vgl. zum Beispiel R. DiSalle, Understanding Space-Time. The Philosophical Development of Physics from Newton to Einstein, Cambridge 2006, 120–151.

3.2. Die Zeit in der klassischen Physik

73

der Quantenmechanik Konsequenzen für die Zeit zu folgern, beispielsweise die Asymmetrie der Zeit aus dem Messprozess herzuleiten. Zum einen muss darum die Plausibilität dieser Versuche beurteilt werden. Zum anderen erhellt auch das Problem der Zeitmessung in der Quantenmechanik einzelne Aspekte der Zeit. Für den Zeitbegriff ebenfalls relevant sind die Thermodynamik und die Statistische Mechanik. Denn diese Theorien versuchen, mit der Irreversibilität zumindest einen Aspekt der Asymmetrie der Zeit zu formulieren beziehungsweise zu erklären. Beispielhaft soll an zwei Ansätzen von Boltzmann und Gibbs überprüft werden, inwiefern dies gelingt. In den letzten Jahrzehnten wurden einige spekulative Theorien entwickelt, die neue Sichtweisen von Raum und Zeit verwenden. Die möglichen Richtungen dieser weiteren Theorien sollen an zwei Beispielen, den kanonischen Versuchen einer Quantisierung der Gravitation und den Causal Set Theories, verdeutlicht werden. In der Reihenfolge der Untersuchung bietet es sich an, mit einem kurzen Überblick über die klassische Physik zu beginnen, damit im Folgenden erklärt werden kann, wovon sich die neuen Theorien jeweils abgrenzen. Da die spezielle Relativitätstheorie von den Quantenfeldtheorien vorausgesetzt wird, werden die Relativitätstheorien vor der Quantenmechanik behandelt. Im Anschluss wird die Thermodynamik untersucht und zum Abschluss die spekulativen Theorien.

3.2. Die Zeit in der klassischen Physik Eine Analyse des Zeitbegriffs der klassischen Physik steht immer schon im Schatten der neuen Theorien des zwanzigsten Jahrhunderts. Wenn die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik wesentliche Voraussetzungen der klassischen Physik in Frage gestellt und widerlegt haben, weshalb sollte man sich dann mit der Zeit in der klassischen Physik aufhalten? Sicherlich wird heute niemand aus Newtons Gesetzen Folgerungen für das Wesen der Zeit ableiten wollen. Dennoch kann auf eine Behandlung der klassischen Physik nicht verzichtet werden. Die wesentlichen Neuerungen der Relativitätstheorie und der Quantenmechanik wurden jeweils in Abgrenzung zur klassischen Physik formuliert. Ohne Kenntnis der klassischen Positionen ist es daher nicht möglich, zu verstehen, wogegen sich die neuen Konzepte abgrenzen und was ihre Bedeutung ist. Zudem haben sich schon an der klassischen Physik philosophische Diskussionen entzündet, die noch die Interpretatoren der heutigen Theorien beschäftigen. In diesem Sinne ist die Analyse der Zeit in der klassischen Physik nur eine Vorbereitung für die Behandlung der späteren Theorien. Als solche aber ist sie notwendig. Eine genaue Abgrenzung des Beginns der klassischen Physik ist schwierig, da der Begriff vor allem in Abgrenzung zu den neuen Theorien, Relativitätstheorie und Quantenmechanik, gebraucht wurde. Üblicherweise wird darunter jedoch die newtonsche Physik verstanden inklusive der späteren Neuformulierungen zum Beispiel

74

3. Die Zeit der Physik

durch Hamilton, insbesondere also der Stand der Physik im 19. Jahrhundert. Da die wesentlichen Eigenheiten des Zeitverständnisses durch die newtonsche Physik geprägt worden sind, wird diese hier skizziert werden. Im ersten Abschnitt sollen die Folgen aus dem Formalismus der klassischen Physik für das klassische Zeitverständnis erläutert werden. Im zweiten und dritten Abschnitt werden zwei Deutungen der Zeit vorgestellt, die den Interpretationsspielraum andeuten, den der mathematische Formalismus der klassischen Physik offen lässt. 3.2.1. Implikationen der klassischen Physik Die bekannteste Formulierung der klassischen Physik ist Newtons eigene Variante. Sie besteht aus drei Axiomen: 1. „Jeder Körper beharrt in seinem Zustande der Ruhe oder der gleichförmigen geradlinigen Bewegung, wenn er nicht durch einwirkende Kräfte gezwungen wird, seinen Zustand zu ändern.“ 2. „Die Aenderung der Bewegung ist der Einwirkung der bewegenden Kraft proportional und geschieht nach der Richtung derjenigen geraden Linie, nach welcher jene Kraft wirkt.“ 3. „Die Wirkung ist stets der Gegenwirkung gleich, oder die Wirkungen zweier Körper auf einander sind stets gleich und von entgegengesetzter Richtung.“14

Die ersten beiden Bewegungsgesetze lassen sich in moderner Notation in der Bewegungsgleichung 𝐹⃗ = 𝑚𝑎 ⃗

(Gl. 3.1)

zusammenfassen, mit der Kraft 𝐹,⃗ der Masse 𝑚 und der Beschleunigung 𝑎.⃗ Das ⃗ ⃗ dritte Gesetz 𝐹Actio = 𝐹Reactio schränkt darüber hinaus die möglichen Kraftgesetze ein. Als Bewegung versteht Newton die Geschwindigkeit multipliziert mit der Masse 𝑚𝑣 ⃗ und deren Änderung ist die Beschleunigung multipliziert mit der Masse 𝑚𝑎.⃗ Die Kraft 𝐹⃗ ist proportional zu dieser Änderung und zusätzlich wirkt auf die Ursache dieser Kraft eine gleich große Kraft in entgegengesetzter Richtung. Die drei Bewegungsgesetze enthalten explizit keine Aussagen über Zeit. Man kann eine analoge Bewegungsgleichung auch für die spezielle Relativitätstheorie formulieren, die zumindest die ersten beiden Axiome und im Fall von lokalen Stößen auch das dritte erfüllt. Das Zeitverständnis ist durch diese Axiome also noch 14 I. Newton, Philosophiae Naturalis Principia Mathematica. The Third Edition (1726) with Variant Readings, hrsg. von A. Koyré/I. B. Cohen, 2 Bde., Cambridge Mass. 1972, Leges Motus 13, Z. 5–7: „Corpus omne perseverare in statu suo quiescendi vel movendi uniformiter in directum, nisi quatenus illud a viribus impressis cogitur statum suum mutare.“ Leges Motus 13, Z. 16 f.:„Mutationem motus proportionalem esse vi motrici impressæ, & fieri secundum lineam rectam qua vis illa imprimitur.“ Leges Motus 14, Z. 2–4: „Actioni contrariam semper & æqualem esse reactionem: sive corporum duorum actiones in se mutuo semper esse æquales & in partes contrarias dirigi.“ Übersetzung nach I. Newton, Mathematische Prinzipien der Naturlehre, hrsg. und übers. von J. P. Wolfers, Unveränderter fotomechanischer Nachdruck der Ausgabe Berlin 1872, Darmstadt 1963, 32 (Kursiv nach der Übersetzung).

3.2. Die Zeit in der klassischen Physik

75

nicht auf die klassische Zeit festgelegt. Newton selbst setzt Raum, Zeit, Bewegung und Ort als selbstverständliche Begriffe voraus, die er nicht definiert. Das vorausgesetzte Zeitverständnis schlägt sich dennoch in der mathematischen Notation der Bewegungsgleichung nieder. In Gl. 3.1 ist mit der Beschleunigung 𝑎⃗ ein Vektor bezeichnet, der drei Komponenten 𝑎𝑥 , 𝑎𝑦 , 𝑎𝑧 enthält, je eine für jede Raumrichtung. Dahinter steckt die Annahme, man könne die räumlichen Dimensionen unabhängig von der Zeit betrachten. Dies spiegelt sich in einer Invarianz dieser Gleichung unter den sogenannten Galilei-Transformationen: 𝑥′⃗ = 𝑅𝑥⃗ + 𝑣𝑡⃗ + 𝑐 ⃗ , 𝑡′ = 𝑡 + 𝑐𝑡 .

(Gl. 3.2)

Diese Transformationen umfassen alle Drehungen 𝑅, Verschiebungen 𝑐 ⃗ und Geschwindigkeitsänderungen 𝑣 ⃗ in der klassischen Physik. Die Transformation der Ortskoordinaten 𝑥, 𝑦, 𝑧 ist dabei sowohl von Rotation und Verschiebung als auch von der Geschwindigkeitsänderung abhängig. Die Zeitkoordinate 𝑡 kann dagegen höchstens verschoben werden. Dies hat zur Folge, dass Zeit und Raum bei allen Transformationen getrennt behandelt werden und daher als unabhängig voneinander betrachtet werden können. In der speziellen Relativitätstheorie wird genau diese Voraussetzung der klassischen Physik aufgehoben. Die verschiedenen Koordinatensysteme, die durch die Galilei-Transformationen ineinander überführt werden, heißen Inertialsysteme. Sie können sich mit einer konstanten Geschwindigkeit gegeneinander bewegen und um einen festen Winkel gedreht sein. Zusätzlich ist in den Galilei-Transformationen vorausgesetzt, dass Raum und Zeit flach sind. Das bedeutet für die Zeit, dass sie stets gleichförmig verläuft und nicht unterschiedlich schnell an verschiedenen Orten. Es lässt sich zeigen, dass die Energieerhaltung an diese Bedingung gekoppelt ist. Eine weitere Implikation der klassischen Physik ist der Determinismus der Gesetze in der Kombination von Bewegungsgleichung Gl. 3.1 und den Kraftgesetzen wie der Gravitationskraft. Kennt man den Zustand der Welt zu einem Zeitpunkt perfekt bis ins letzte Detail, das heißt den Ort und die Geschwindigkeit aller Teilchen, so legt die Bewegungsgleichung zusammen mit einem Gesetz für die Kräfte die Zustände zu allen anderen Zeitpunkten davor und danach fest. Betrachtet man also zwei Zeitpunkte 𝑎 und 𝑏, dann bilden die klassischen Gesetze eine eindeutige Abbildung zwischen diesen beiden Zeitpunkten. Jeder Zustand zum Zeitpunkt 𝑎 wird auf genau einen Zustand zur Zeit 𝑏 abgebildet und umgekehrt. Erst die Quantenmechanik erlaubt eine nicht-deterministische Interpretation, indem sie einem Zustand zur Zeit 𝑎 nur Wahrscheinlichkeiten für die Zustände zur Zeit 𝑏 zuordnet. Die Chaostheorie hat darüber hinaus gezeigt, dass selbst in deterministischen Systemen kleinste Ungenauigkeiten in den Größen zu großen Abweichungen im zeitlichen Verlauf führen können. Den Möglichkeiten zur Vorausberechnung der Zukunft sind daher praktisch sehr enge Grenzen gesetzt.

76

3. Die Zeit der Physik

Zuletzt sind die newtonschen Gesetze invariant gegenüber einer Zeitumkehr. Das bedeutet, dass bei einer Umkehr aller Geschwindigkeiten alle Bewegungen exakt rückwärts abliefen, so dass sich keine objektive Richtung des Zeitlaufs im Rahmen dieser Theorie angeben ließe. Der Unterschied von Vergangenheit und Zukunft und damit die Richtung der Zeit hat also keine Entsprechung in der newtonschen Physik. Zu den implizierten Eigenschaften der Zeit gehören also die Unabhängigkeit vom Raum, ihre Gleichförmigkeit und der Determinismus sowie die Invarianz unter Zeitumkehr und Verschiebungen. Darüber, wie der ontologische Sachgehalt der beiden letzten Eigenschaften zu interpretieren ist, bestand in der Philosophiegeschichte jedoch keine Einigkeit (vgl. Abs. 3.2.3). Diese Implikationen bleiben in den verschiedenen Formulierungen der klassischen Mechanik, zum Beispiel durch Lagrange oder Hamilton, unverändert und bilden damit die entscheidenden Merkmale klassischer Physik, die sie von den späteren Relativitätstheorien und der Quantenmechanik unterscheiden. 3.2.2. Die absolute Zeit Newtons Zu unterscheiden von diesen Implikationen ist Newtons eigene Deutung von Raum und Zeit, die über diese recht allgemeinen Voraussetzungen hinausgeht. Er selbst erklärt es zwar zu seiner Methode, sich nur von Experimenten oder anderen sicheren Wahrheiten leiten zu lassen.15 In seiner Deutung von Raum und Zeit wird er diesem Anspruch auf dem ersten Blick jedoch nicht gerecht. Er fordert sogar: „in der Naturlehre hingegen muss man von den Sinnen abstrahiren“.16 Newton erklärt Raum und Zeit in seinen sonstigen Ausführungen zu Beginn der mathematischen Prinzipien nicht, da er sie als bekannt voraussetzt. Er führt allerdings eine Unterscheidung „in absolute und relative, wahre und scheinbare, mathematische und gewöhnliche“17 Zeit ein, mit der er einige Vorurteile beseitigen will, die durch die sinnliche Wahrnehmung entstehen können. Damit scheint er sich gegen Descartes zu wenden und Henry Mores Ideen eines absoluten Raums aufzunehmen.18 Er unterscheidet zwischen der gleichförmigen Zeit, wie sie in der klassischen Physik verwendet wird, und den Zeitmaßen: 15 I. Newton, Opticks. A Treatise of the Reflections, Refractions, Inflections & Colours of Light, New York 1952, 404. 16 Newton, Philosophiae Naturalis Principia Mathematica, Definitiones 8, Z. 26: „in philosophicis autem abstrahendum est a sensibus.“ Übersetzung nach Newton, Mathematische Prinzipien der Naturlehre, 27. 17 Newton, Philosophiae Naturalis Principia Mathematica, Definitiones 6, Z. 16 f.: „in absolutas & relativas, veras & apparentes, mathematicas & vulgares“. Übersetzung nach Newton, Mathematische Prinzipien der Naturlehre, 25. 18 So A. Koyré, Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum, Frankfurt a. M. 1969, 147–150.

3.2. Die Zeit in der klassischen Physik

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„I. Die absolute, wahre und mathematische Zeit verfliesst an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig, und ohne Beziehung auf irgend einen äussern Gegenstand. Sie wird so auch mit dem Namen: Dauer belegt. Die relative, scheinbare und gewöhnliche Zeit ist ein fühlbares und äusserliches, entweder genaues oder ungleiches, Maass der Dauer, dessen man sich gewöhnlich statt der wahren Zeit bedient, wie Stunde, Tag, Monat, Jahr“.19

Analog unterscheidet Newton einen absoluten und relativen Raum. Der absolute Raum ruht unbeweglich und bildet damit ein absolutes Bezugssystem. Relative Räume sind Teilräume, die sich gegenüber dem absoluten Raum bewegen können. Absoluter und relativer Ort sowie absolute und relative Bewegung sind jeweils dadurch unterschieden, ob sie sich auf absoluten oder relativen Raum beziehen.20 Die Unterscheidung dieser absoluten und relativen Größen sieht Newton als moralische Forderung, die sich aus Respekt gegenüber der Heiligen Schrift, Philosophie und Mathematik ergibt.21 Einen theologischen Grund gibt Newton im später hinzugefügten General Scholium an: Gott dauert immer und ist überall gegenwärtig und konstituiert so Zeit und Raum.22 Die mathematische Formulierung der klassischen Physik gibt allerdings das Postulat eines solchen absoluten Raumes, dessen Orte unbewegt sind, nicht her. Denn die Invarianz der Bewegungsgleichungen unter den Galilei-Transformationen (Gl. 3.2) bedeutet, dass die physikalischen Gesetze in Bezugssystemen, die sich nur durch eine konstante, gleichförmige Bewegung unterscheiden, ihrer Form nach gleich sind. Die Auszeichnung eines dieser Bezugssysteme als absolut ist rein willkürlich. Dennoch fordert Newton, dass ein solcher absoluter Raum existiert und sich der relative Raum von diesem unterscheiden lässt. Er gesteht zwar ein, dass es schwer ist, die wahren Bewegungen von den scheinbaren zu unterscheiden. Aber er versucht mit den Scheinkräften eine Möglichkeit der Unterscheidung aufzuzeigen.23 Wenn man zwei Kugeln, die mit einem Faden verbunden sind, rotieren lässt, wird der Faden unter Spannung stehen. Daraus kann die Geschwindigkeit der Drehbewegung berechnet werden, wie Newton richtig feststellt. Dass diese Methode aber nur für Rotationsbewegungen funktioniert und nicht für geradlinig, gleichförmige Bewegungen, erwähnt er nicht. Letztere lassen sich von Ruhe nicht unterscheiden, so dass sich Ruhe und Bewegung nur relativ zu einem Bezugspunkt, 19 Newton, Philosophiae Naturalis Principia Mathematica, Definitiones 6, Z. 18–23: „I. Tempus absolutum, verum, & mathematicum, in se & natura sua sine relatione ad externum quodvis, æquabiliter fluit, alioque nomine dicitur duratio: Relativum, apparens, & vulgare est sensibilis & externa quævis durationis per motum mensura (seu accurata seu inæquabilis) qua vulgus vice veri temporis utitur; ut hora, dies, mensis, annus.“ Übersetzung nach Newton, Mathematische Prinzipien der Naturlehre, 25. 20 Newton, Philosophiae Naturalis Principia Mathematica, Definitiones 6 f. 21 Ebd., Definitiones 11, Z. 16–20. 22 Ebd., Liber III, 528, Z. 25 f.: „Durat semper, & adest ubique, & existendo semper & ubique, durationem & spatium constituit.“ 23 Siehe ebd., Definitiones 11 f.

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3. Die Zeit der Physik

das heißt relativ zu einem anderen Körper, feststellen lassen. Die Annahme eines absoluten Raumes, der ein ruhendes System definiert, entbehrt also jeder erfahrbaren Realität und jedes Anhaltspunktes in den mathematischen Gleichungen und ist damit willkürlich, aber auch nicht ausgeschlossen. Dieselben Argumente treffen auf die Zeit zu. Die Galilei-Transformationen erlauben Verschiebungen in der Zeit, so dass die Zeit gleichförmig sein muss. Zugleich verdeutlichen sie damit aber auch, dass es keinen beobachtbaren Unterschied zwischen Zeitpunkten gibt, sondern allein relative Zeitbestimmungen experimentell relevant sind. Newtons Hauptmerk bei der Unterscheidung absoluter und relativer Zeit liegt dementsprechend auf der Ungenauigkeit der Maße. So verweist er auf die Tage als Zeitmaß, die nicht stets gleich lang sind. Aber auch wenn er die Möglichkeit einräumt, dass vermutlich keine gleichförmige Bewegung existiert, nach der die genaue Zeit gemessen werden könnte, geht Newton von der Existenz der absoluten Zeit aus, die für alle Bewegungen und alle Dinge gleich ist.24 Dies hat zur Konsequenz, dass jeder Zeitmesser als korrekturbedürftig erscheint, da er die absolute Zeit stets nur näherungsweise angibt. Deshalb ist die absolute Zeit, wie auch der absolute Raum, nicht erfahrbar, ein reines Postulat, da „die Theile jenes unbeweglichen Raumes […] nicht sinnlich erkannt werden können.“25 Eine alternative, relationale Deutung der Zeit wird im nächsten Abschnitt vorgestellt. Der wesentliche Grund für Newtons Annahme einer absoluten Zeit und eines absoluten Raums scheint ein theologischer zu sein. In seinen Queries führt Newton die komplexen Organe der Lebewesen auf den Gestaltungswillen Gottes zurück, „who being in all Places, is more able by his Will to move the Bodies within his boundless uniform Sensorium […] than we are by our Will to move the Parts of our own Bodies.“26 Gott konstituiert also den Raum als sein endloses, gleichförmiges Sensorium, in dem sich die Objekte bewegen können. Somit könnte Newton angenommen haben, dass Gottes Wahrnehmung die absolute Ruhe beziehungsweise Bewegung festlegt, und damit den absoluten Raum bestimmt. Gegenüber dem Pantheismus grenzt er sich jedoch mit der Korrektur ab, dass der Raum weder als Körper noch als Seele Gottes zu verstehen sei. Newtons Sensorium darf nicht als Sinnesorgan missverstanden werden. Er bezeichnet damit die unmittelbare Wahrnehmung aller Orte durch seine Gegenwart. Der theologische Charakter dieser Auffassung des Raums als Sensorium Gottes scheint seiner experimentalistischen Ausrichtung zu widersprechen.27 Newton liefert jedoch direkt zuvor eine Art physikotheologischen Gottesbeweis, indem er die geordneten Bahnen der Planeten und die sinnvoll gestal24

Vgl. Newton, Philosophiae Naturalis Principia Mathematica, Definitiones 7 f. Newton, Philosophiae Naturalis Principia Mathematica, Definitiones 11, Z. 22–24: „propterea quod partes spatii illius immobilis […] non incurrunt in sensus.“ Übersetzung nach Newton, Mathematische Prinzipien der Naturlehre, 30. 26 Newton, Opticks, 403. 27 So E. A. Burtt, The Metaphysical Foundations of Modern Physical Science. A Historical and Critical Essay, Nachdr. der 2. Auflage 1932, London 1967, 243. 25

3.2. Die Zeit in der klassischen Physik

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teten Organe als Hinweis auf die Weisheit und die handwerkliche Fertigkeit Gottes interpretiert.28 Dieser physikotheologische Beweis geht eindeutig von experimentellen Tatsachen aus, so dass Newton seine Aussagen über Gott durchaus als empirisch belegt betrachtet haben könnte. Newtons Deutung der Zeit formuliert also in Aspekten Konsequenzen seiner Physik, zum Beispiel die Gleichförmigkeit, Umkehrinvarianz, den Determinismus und die Unabhängigkeit gegenüber dem Raum. Darüber hinaus bietet er jedoch auch eine theologische Deutung des Raumes, den er als Sensorium Gottes auffasst, so dass die Absolutheit des Raumes durch Gottes Präsenz und Wahrnehmung konstituiert wird. Da Gottes Existenz auch die Dauer konstituiert,29 lässt sich vermuten, dass analog auch die absolute Zeit durch Gottes Wahrnehmung festgelegt sein soll. An diesem Punkt entzündet sich die Debatte zwischen Clarke und Leibniz über den Bezug Gottes zu Raum und Zeit und damit auch über die Absolutheit von Raum und Zeit. 3.2.3. Die relationale Zeit in Leibniz’ Deutung Im Vordergrund des Briefwechsels zwischen Leibniz und Clarke steht das Verständnis von Gottes Vollkommenheit. Leibniz versteht Newtons Bezeichnung des Raumes als Sensorium Gottes in dem Sinne, dass der Raum als Sinnesorgan Gottes bezeichnet werde, als ob er ein Mittel bräuchte, um die Geschöpfe wahrzunehmen. Zudem wirft er Newton vor, dass er behaupte, dass Gott von Zeit zu Zeit in die Welt eingreifen müsse, um sie zu reparieren. Leibniz selbst geht davon aus, dass Gott die Welt in seiner Weisheit so vollkommen geschaffen hat, dass sie ohne weiteres Eingreifen nach den Naturgesetzen und der prästabilisierten Ordnung ablaufen kann.30 Die weitere Diskussion kreist daher im Wesentlichen um die Vollkommenheit Gottes und wie sie in Bezug auf sein Wirken zu verstehen ist.31 Im Folgenden soll der Schwerpunkt auf Leibniz’ Verständnis der Zeit gelegt werden, das sich in dieser Diskussion äußert. Darauf geht Leibniz im dritten Schreiben an Clarke ein.32 Er kritisiert Newtons Auffassung des Raums als ein absolutes und reales Seiendes, das dann ewig und unendlich sein müsse. Nach seinem Verständnis sind Raum und Zeit rein relationale Größen. Der Raum ist „eine Ordnung der Koexistenz“ der gleichzeitig existie28

Newton, Opticks, 402 f. Newton, Philosophiae Naturalis Principia Mathematica, Liber III 528, Z. 19–26. 30 G. W. Leibniz, Philosophische Schriften, Bd. V.2: Briefe von besonderem philosophischen Interesse. Die Briefe der zweiten Schaffensperiode, hrsg. und übers. von W. Wiater, Darmstadt 1989, 358. 31 Vgl. zum Beispiel die Darstellungen der Diskussion in Koyré, Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum, 211–245; Jackelén, Zeit und Ewigkeit, 181–187; Manzke, Ewigkeit und Zeitlichkeit, 86–98; und auch die Aufnahme von Clarkes Raum- und Zeitbegriff in Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 2, 108 f. 32 Leibniz, Briefe von besonderem philosophischen Interesse, 370–377. 29

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3. Die Zeit der Physik

renden Dinge und die Zeit „eine Ordnung der Sukzession“.33 Den Beweis für seine Definition führt er auf der Basis des Satzes vom zureichenden Grund und der impliziten Voraussetzung, dass der Raum unendlich ist: Wenn es einen absoluten Raum gibt, der aus Orten besteht, die sich in nichts unterscheiden, dann gibt es keinen Grund, weshalb Gott die Welt nicht anders in diesem Raum hätte platzieren sollen, zum Beispiel durch Vertauschung von Osten und Westen, weil es keinen Unterschied zwischen diesen verschiedenen Möglichkeiten gibt, der irgendwelche Konsequenzen hätte. Nach seinem relationalen Raumverständnis gäbe es diese verschiedenen Möglichkeiten nicht, weil sie dieselben relativen Abstände aufweisen und damit identisch sind. Analog begründet er auch die Relationalität der Zeit: Gäbe es eine absolute Zeit, dann könnte Gott alles ein Jahr früher oder später erschaffen haben, da sich die einzelnen Zeitpunkte in nichts unterscheiden und nur die Ordnung der Dinge relevant ist. Ist die Zeit nichts anderes als die Ordnung der Abfolge, stellt sich diese Frage nicht, weil der Anfang immer gleich ist.34 Der Sache nach verwendet auch Leibniz hier die Relativität der Bezugssysteme unter den Galilei-Transformationen Gl. 3.2. Wird alles gleich weit im Raum oder in der Zeit verschoben, ergibt sich kein Unterschied und die Bewegungsgleichungen gelten in gleicher Weise weiter. Mit Leibniz’ Argumentation kann man sich daher auf den Standpunkt stellen, dass nur die relativen Bestimmungen der Orte und Zeiten real sind. Die Symmetrietransformationen lassen sich daher mit Leibniz als Hinweis verstehen, dass mit der Formulierung der Physik in absoluten Koordinaten dieselben physikalischen Zustände vielfach ausgedrückt werden können und die Symmetrietransformationen anzeigen, welche dieser Zustände ununterscheidbar und damit eigentlich identisch sind.35 Nach Newton dagegen sind diese Zustände ontologisch unterschieden, auch wenn der Unterschied den Menschen nicht zugänglich ist. Die klassische Physik erlaubt aufgrund der Galilei-Transformationen keine Entscheidung zwischen den Interpretationen Newtons und Leibniz’. 3.2.4. Zusammenfassung Mit Newtons und Leibniz’ Deutungen der Zeit als absolutes, eigenständig Existierendes oder als relative Ordnung der Dinge sind bereits die beiden wesentlichen Interpretationsmöglichkeiten der Zeit in der klassischen Physik benannt. Beide sind ausgehend vom mathematischen Formalismus denkbar und teilen daher auch wesentliche Eigenschaften, wie den Determinismus, die Gleichförmigkeit der Zeit und die getrennte Betrachtung der Zeit vom Raum. Unterschiedlich interpretiert wird 33 Leibniz, Briefe von besonderem philosophischen Interesse, 370: „[…] je tenois l’Espace pour quelque chose de purement relatif, comme le Temps; pour un ordre des Coexistences, comme le temps est un ordre de successions“. 34 Ebd., 372–374, 384–386 und 428. 35 Ebd., 384: „Car deux etats indiscernables sont le même etat“.

3.3. Relativistische Zeit und Kosmologie

81

die Bedeutung der Symmetrietransformationen. Die Zeit betreffend sind dies die Verschiebungen und die Zeitumkehr, die nach Leibniz’ Interpretation keinen realen Sachverhalt widerspiegeln, weil die Zeit nur die relative Ordnung der Sukzession ist. Nach Newtons Deutung sind sie reale Symmetrieeigenschaften einer Zeit, die unabhängig von den Objekten in ihr existiert. Geschichtlich wurde vor allem der Determinismus wirksam. Im Kontext mechanistischer Weltbilder36 bot Newtons deterministische Physik Argumente, die für die These verwendet werden konnten, die Natur sei rein mechanisch erklärbar. Newton selbst hat zwar noch mit der Möglichkeit eines beständigen Wirkens Gottes gerechnet. Doch fiel es Vertretern des Mechanismus leicht, sich für ihre Position auf Newtons Resultate zu berufen.37 Mit der Beschreibung der Deutungsmöglichkeiten und Konsequenzen der Zeit in der klassischen Physik ist der Grund gelegt, um die Bedeutung der Veränderungen in den physikalischen Theorien des zwanzigsten Jahrhunderts zu verstehen. In den folgenden Kapiteln wird aufgezeigt, wie wesentliche Charakteristika des klassischen Zeitverständnisses mit den neuen Theorien aufgehoben werden.

3.3. Relativistische Zeit und Kosmologie Die Grundannahmen der klassischen Physik, die auch das Zeitverständnis betreffen, wurden in der Physik erst Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in Frage gestellt. Einstein hat mit den Relativitätstheorien die Unabhängigkeit der Zeit vom Raum aufgehoben und gezeigt, dass Zeit und Raum bei Beschleunigungen nur zusammen betrachtet werden können. In der allgemeinen Relativitätstheorie überbot er noch diese Relativierung der Zeit, indem er die Gravitation geometrisch als Krümmung der Raumzeit interpretierte. Raum und Zeit konnten also nicht mehr absolute Größen sein, die unabhängig vom „Inhalt“ als Container existieren. Die Neuerungen der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie gegenüber der klassischen Physik werden in zwei getrennten Abschnitten diskutiert werden. Beide Theorien haben das Verständnis der Zeit unwiderruflich verändert. Nach den Theorien werden in einem dritten Abschnitt die Konsequenzen für die Kosmologie dargestellt, da die Kosmologie eines der Hauptanwendungsgebiete der allgemeinen Relativitätstheorie ist. Im Rahmen der Kosmologie stellen sich unter anderem die klassischen Fragen nach Anfang und Ende der Zeit. Im Abschnitt zur speziellen Relativitätstheorie muss zunächst dargestellt werden, wie aus der Relativität der Gleichzeitigkeit die Untrennbarkeit und zugleich der Unterschied von Raum und Zeit folgt. Das Zusammenspiel von Raum und Zeit in den 36 Vgl. zum Problem des göttlichen Wirkens in mechanistischen Weltbildern zur Zeit Newtons J. H. Brooke, Science and Religion. Some Historical Perspectives, Cambridge u. a. 1991, 117–144. 37 Vgl. Brooke, Science and Religion, 144–151; Burtt, The Metaphysical Foundations of Modern Physical Science, 260 f.

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3. Die Zeit der Physik

Lorentz-Transformationen liefert hierfür die wesentlichen Argumente. Neben dem Verhältnis von Zeit und Raum hat dies auch Konsequenzen für die philosophische Frage nach den Modalitäten der Zeitmodi.38 Ob Vergangenheit und Zukunft andere Modalitäten haben können als die Gegenwart, wurde aufgrund der Relativität der Gleichzeitigkeit in Frage gestellt.39 Auch die Zuordnung der Ereignisse zu den Zeitmodi muss angesichts der relativistischen Kausalstruktur überdacht werden. Im Kontext der Quantenmechanik wird die Frage nach den Modalitäten der Zeitmodi wiederkehren, da sich einige Interpretationen der Relativitätstheorie und der Quantenmechanik in diesem Punkt widersprechen. Eine Diskussion, die im Anschluss an Newton und Leibniz weitergeführt wurde, ist die Frage nach der eigenständigen Existenz der Raumzeit. Auf dieses Thema haben sich viele Beiträge der jüngeren Zeit konzentriert.40 Die spezielle Relativitätstheorie lässt diese Frage unentschieden. Erst im Abschnitt über die allgemeine Relativitätstheorie kann sie abschließend geklärt werden, da die Krümmung der Raumzeit der entscheidende Beitrag ist, der die eigenständige Existenz der Raumzeit belegt. Mit dem Thema der Realität des Raumes verwandt ist Einsteins ursprüngliche Absicht, eine relationale Theorie der Bewegung im Sinne Machs zu formulieren. Dies wurde in mehreren Werken ausführlich untersucht.41 Da Einstein selbst eingesehen hat, dass ihm dies nicht gelungen ist, wird es nur am Rande thematisiert werden. In beiden Abschnitten zu den Relativitätstheorien wird zudem diskutiert werden, ob die Relativitätstheorien eine zeitlose oder zeitliche Interpretation des Universums nahelegen. Es wird gezeigt werden, dass prinzipiell beide Interpretationen möglich bleiben. Die mögliche Reduktion der Raumzeitstruktur auf allein zeitartige Kurven scheint jedoch eine dynamische Interpretation zu begünstigen. Dazu muss allerdings der Begriff von Dynamik an die relativistischen Begebenheiten angepasst werden. 38 Dies diskutieren vor allem H. Putnam, „Time and Physical Geometry“, JPh 64 (1967), 240– 247; H. Stein, „On Einstein-Minkowski Space-Time“, JPh 65 (1968), 5–23; L. Sklar, Philosophy and Spacetime Physics, Berkeley Calif./Los Angeles/London 1985, 289–304. 39 Unter anderem von Putnam, „Time and Physical Geometry“. 40 Vgl. zum Beispiel die Beiträge J. Earman/J. Norton, „What Price Spacetime Substantivalism? The Hole Story“, British Journal for the Philosophy of Science 38 (1987), 515–525; J. Norton, „The Hole Argument“, PSA: Proceedings of the Biennial Meeting of the Philosophy of Science Association (1988): Bd. 2: Symposia and Invited Papers, 56–64; J. Earman, World Enough and Space-Time. Absolute versus Relational Theories of Space and Time, Cambridge Mass./London 1989, 175–208; J. Stachel, „The Meaning of General Covariance. The Hole Story“, in: J. Earman u. a. (Hrsg.), Philosophical Problems of the Internal and External Worlds. Essays on the Philosophy of Adolf Grünbaum, Konstanz/Pittsburgh Pa. 1993, 129–160; T. Maudlin, „Buckets of Water and Waves of Space: Why Spacetime is Probably a Substance“, PhilSci 60 (1993), 183–203; C. Hoefer, „The Metaphysics of Space-Time Substantivalism“, JPh 93 (1996), 5–27; G. Nerlich, „Space-Time Substantivalism“, in: M. J. Loux/D. W. Zimmerman (Hrsg.), The Oxford Handbook of Metaphysics, Oxford 2003, 281– 314. 41 Vgl. zum Beispiel L. Sklar, Space, Time, and Spacetime, Berkeley Calif. u. a. 1977, 210–221; DiSalle, Understanding Space-Time, 120–151.

3.3. Relativistische Zeit und Kosmologie

83

Besondere Auswirkungen hatte die allgemeine Relativitätstheorie für die Kosmologie. Das Bild von der makroskopischen Struktur des Universums hat sich mit den Lösungen, die sich aus den Einsteinschen Gleichungen ergaben, drastisch verändert. Es wurde möglich, das Universum sowohl als endlich und in sich geschlossen als auch als unendlich und offen sowie wahlweise mit Anfang und/oder Ende der Zeit zu denken. Raum und Zeit sind keine statischen Größen mehr, sondern haben selbst eine kontingente Geschichte. 3.3.1. Raum und Zeit in der Raumzeit Die spezielle Relativitätstheorie war die erste der neuen Theorien des zwanzigsten Jahrhunderts, die grundlegende Annahmen der klassischen Physik in Frage gestellt haben. Ihr wesentliches Merkmal ist, dass die absolute Gleichzeitigkeit der klassischen Physik durch einen relativen Gleichzeitigkeitsbegriff ersetzt wird, der zur Folge hat, dass Raum und Zeit eine Einheit als Raumzeit bilden. Bevor die Konsequenzen der speziellen Relativitätstheorie für den Zeitbegriff dargelegt werden, soll ein kurzer Abriss ihrer Grundlagen vorangestellt werden.42 Auf eine Darstellung der historischen Entwicklung des Elektromagnetismus und der Äther-Theorien des neunzehnten Jahrhunderts wird an dieser Stelle verzichtet und allein die Resultate benannt, aus denen sich die spezielle Relativitätstheorie folgern lässt.43 Maxwells Theorie des Elektromagnetismus vereint alle Phänomene der elektrischen und magnetischen Felder sowie ihre Wechselwirkungen. Eine ihrer Lösungen ist die Lichtwelle. Sie ist eine Welle aus schwingenden elektrischen und magnetischen Feldern, die sich mit einer festen Geschwindigkeit ausbreitet, der Lichtgeschwindigkeit. Diese Geschwindigkeit ist durch die Maxwellschen Gleichungen festgelegt und unabhängig vom gewählten Bezugssystem. Darin widerspricht sie den Galilei-Transformationen der klassischen Physik. Die Galilei-Transformationen (siehe Gl. 3.2) implizieren, dass jede Geschwindigkeit nur relativ zu einem Bezugssystem bestimmt ist. Bei einem Übergang in ein anderes Inertialsystem44 ändern sich alle Geschwindigkeiten um denselben Vektor. Keine Geschwindigkeit dürfte folglich in jedem Inertialsystem denselben Wert haben.45 Die Lichtgeschwin42 Ausführlichere, allgemeinverständliche Darstellungen der Grundlagen der speziellen Relativitätstheorie gibt es heute vielfach, zum Beispiel P. Mittelstaedt, Philosophische Probleme der modernen Physik, Mannheim/Wien/Zürich 7. Aufl. 1989, 16–31. 43 Zur Entwicklung der Äther-Theorien und der Experimente vgl. A. I. Miller, Albert Einstein’s Special Theory of Relativity. Emergence (1905) and Early Interpretation (1905–1911), Reading Mass. u. a. 1981, 11–86. 44 Ein Inertialsystem ist ein Bezugssystem, das nicht beschleunigt ist. Verschiedene Inertialsysteme können sich also nur mit konstanter Geschwindigkeit gegeneinander bewegen. 45 Verschiedene Äther-Theorien haben versucht, dieses Problem zu vermeiden, indem sie annahmen, das die Maxwell-Gleichungen nur im Ruhesystem eines Äthers gültig seien. Für eine Diskussion dieser Äther-Theorien und der mit ihnen verbundenen Theorien zu elektromagnetischen Effekten vgl. E. Whittaker, A History of the Theories of Aether and Electricity, Bd. 1: The Classical

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3. Die Zeit der Physik

digkeit ist jedoch in allen Bezugssystemen gleich. Dieses Resultat wurde durch eine Reihe von Experimenten in den 1880er Jahren bestätigt, deren bekanntestes das Michelson-Morley-Experiment von 1887 war.46 Spätere Experimente haben dieses Ergebnis mit jeweils gesteigerter Präzision verifizieren können.47 Dieses Resultat nahm Einstein zum Ausgangspunkt für seine spezielle Relativitätstheorie.48 Die Annahme, dass alle Naturgesetze in allen Inertialsystemen die gleiche Form haben und daher die Maxwell-Gleichungen in jedem Inertialsystem dieselbe Lichtgeschwindigkeit ergeben, führte ihn zur Relativität der Gleichzeitigkeit.49 Einsteins Überlegungen konzentrierten sich dabei auf die Methoden, mit denen Längen, Geschwindigkeiten und Zeiten gemessen werden, und welche Rolle die Lichtgeschwindigkeit dabei spielt. Als Ergebnis erhielt er die Lorentztransformationen. Einstein folgerte aus ihnen die Längenkontraktion und Zeitdilatation. Systematisieren lassen sich diese Resultate in der Zusammenfassung von Raum und Zeit in der sogenannten Raumzeit nach Minkowski, in der Raum und Zeit eine untrennbare Einheit bilden (vgl. zum Beispiel Abb. 3.1). Die Zeit erscheint als vierte Koordinate. Sie geht in die Gleichungen vollkommen analog zu den Raumkoordinaten ein, mit dem Unterschied, dass Abstände in der Zeitrichtung mit negativen Zahlen gemessen werden und im Raum mit positiven Zahlen (oder umgekehrt).50 Diese Reformulierung der Lorentztransformationen zu einer Symmetrie einer vierdimensionalen Raumzeit ist nicht nur eine mathematische Äquivalenz. Sie veranschaulicht, welches Verständnis von Raum und Zeit der speziellen Relativitätstheorie nach Einsteins eigenem Anspruch zugrunde liegt.51 Denn die Lorentz-Transformationen mit der resultierenden Relativität der Gleichzeitigkeit, LängenkontraktiTheories, The History of Modern Physics 7.1, [Los Angeles Calif.] 1987, Nachdruck der Ausgabe London / New York 1951, 279–303 und 386–428. 46 Vgl. für eine Skizze und kurze Beschreibung des Experimentaufbaus Miller, Albert Einstein’s Special Theory of Relativity, 22 f. 47 Vgl. für eine Auflistung der Experimente C. Møller, „Triumphs and Limitations of Einstein’s Theory of Relativity and Gravitation“, in: F. D. Finis (Hrsg.), Relativity, Quanta, and Cosmology in the Development of the Scientific Thought of Albert Einstein, Bd. 2, New York 1979, 473–492, hier 477 f. 48 Veröffentlicht in A. Einstein, „Zur Elektrodynamik bewegter Körper“, Annalen der Physik 322 (1905), 891–921, die bekannte Äquivalenz von Energie und Masse hat Einstein in einem zweiten Artikel publiziert: A. Einstein, „Ist die Trägheit eines Körpers von seinem Energieinhalt abhängig?“, Annalen der Physik 323 (1905), 639–641. 49 Dieser Gedankenweg ist angegeben in A. Einstein, Mein Weltbild, hrsg. von C. Seelig, Frankfurt a. M. 1983, 132. 50 Eingeführt wurde diese mathematische Schreibweise in H. Minkowski, „Raum und Zeit“, Physikalische Zeitschrift 10 (1909), 104–111; H. Minkowski, „Die Grundgleichungen für die elektrodynamischen Vorgänge in bewegten Körpern“, Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Mathematisch-Physikalische Klasse (1908), 53–111, hier 56 f. Einstein hat sie vor allem für die Formulierung der allgemeinen Relativitätstheorie übernommen. Vgl. A. Einstein, Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie, in: The Collected Papers of Albert Einstein, Bd. 6: The Berlin Years: Writings, 1914-1917, hrsg. von A. J. Kox/M. J. Klein/R. Schulmann, Princeton N. J. 1996, 420–539, hier 462 f. 51 So zu Recht DiSalle, Understanding Space-Time, 117.

85

3.3. Relativistische Zeit und Kosmologie

𝑡′

𝑡

𝑥′ 𝑝2 Δ𝑡

𝑥

Δ𝑥′ 𝑝1

Δ𝑥

Abbildung 3.1: Darstellung zweier Koordinatensysteme für die Minkowski-Raumzeit und die Orts- und Zeitdifferenzen zweier Punkte 𝑝1 und 𝑝2 in den beiden Koordinatensystemen, (Δ𝑡 > 0, Δ𝑥) und (Δ𝑡′ = 0, Δ𝑥′ ).

on, Zeitdilatation sowie Messungen von Längen und Zeit finden in Minkowski-Diagrammen eine natürliche Darstellung. Der Zusammenhang zwischen Raum und Zeit ist schon durch die Lorentz-Transformationen erzwungen und kein Artefakt der Minkowski-Diagramme. Die Untrennbarkeit von Raum und Zeit Anhand dieser Minkowski-Diagramme sollen im Folgenden die Kernpunkte der Relativitätstheorie, die das Zeitverständnis betreffen, dargestellt werden. Alle Konsequenzen aus der speziellen Relativitätstheorie lassen sich auf das Relativitätsprinzip und die Invarianz der Lichtgeschwindigkeit und die daraus folgende Relativität der Gleichzeitigkeit zurückführen. Beobachter, die sich relativ zueinander mit einer Geschwindigkeit 𝑣 bewegen, haben nicht nur wie in der klassischen Physik eine unterschiedliche Perspektive darüber, was sich nacheinander am gleichen Ort befindet, sondern auch darüber, was sich zu gleicher Zeit ereignet. In Abb. 3.1 sind die Koordinatenachsen zweier Inertialsysteme abgebildet. In jedem Inertialsystem sind jeweils die Ereignisse als gleichzeitig definiert, die auf einer Parallelen zur Ortsachse 𝑥 beziehungsweise 𝑥′ liegen. Da die Ortsachsen gegeneinander geneigt sein können, ist mit jedem Inertialsystem eine andere Einteilung der Raumzeit in Ebenen gleicher Zeit verknüpft. Die Ereignisse 𝑝1 und 𝑝2 sind für den einen Beobachter (gestrichelte Linien) gleichzeitig, für den anderen (durchgezogene Linien) dagegen nicht. Am gleichen Ort sind jeweils die Ereignisse, die auf einer Parallelen zur Zeitachse 𝑡 beziehungsweise 𝑡′ liegen. Die Lorentztransformationen beschreiben die möglichen Wechsel zwischen solchen Koordinatensystemen, die verschiedene Beschreibungen derselben Raumzeit sind. Wie sich an Abb. 3.1 erkennen lässt, zeigt sich dabei die enge Verknüpfung von Raum und Zeit. Was für den einen Beobachter eine Zeitdifferenz zwischen zwei Er-

86

3. Die Zeit der Physik

eignissen am selben Ort ist, ist für den anderen eine längere Zeitdifferenz zwischen Ereignissen an unterschiedlichen Orten. Was für den einen ein räumlicher Abstand Δ𝑥′ zwischen gleichzeitigen Ereignissen (Δ𝑡′ = 0) ist, ist für den anderen ein größerer Ortsabstand Δ𝑥 und ein Zeitabstand Δ𝑡 zwischen ungleichzeitigen Ereignissen (in Abb. 3.1 Δ𝑡 > 0).52 Rein räumliche und rein zeitliche Abstände transformieren in raumzeitliche. Die Koordinaten von Raum und Zeit können also in eingeschränktem Maße bei diesen Transformationen ineinander übergehen und dürfen daher nicht getrennt voneinander betrachtet werden. Die verschiedenen Bezugssysteme unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich ihrer Definition von Gleichzeitigkeit. Sie nehmen auch die Geschwindigkeit, mit denen die Prozesse ablaufen, unterschiedlich wahr. Die kürzeste Dauer misst ein Beobachter, für den Anfang und Ende des Prozesses am gleichen Ort sind. Alle anderen messen eine größere Dauer, abhängig von ihrer Geschwindigkeit relativ zum betrachteten Prozess. Das trifft insbesondere auch auf die eigene Zeit zu, die für den jeweiligen Beobachter vergeht. Solange ein Beobachter sich ohne jede Beschleunigung bewegt, ruht er in seinem eigenen Bezugssystem. Er misst also für seine eigene Zeit die kürzeste Dauer. Beobachter, die sich relativ zu ihm bewegen, sehen ihn jedoch bewegt und derselbe Zeitabschnitt dauert nach ihren Koordinaten länger. Wenn sie ihre Uhren vergleichen, kämen sie zu dem Schluss, dass die Uhr des ersten Beobachters langsamer läuft. Dies gilt jedoch auch umgekehrt. Jeder Beobachter sieht daher die Zeit anderer, bewegter Beobachter langsamer als seine eigene ablaufen. Da nach dem Relativitätsprinzip keine dieser Zeiten bevorzugt werden darf, existiert eine unendliche Vielzahl gleichwertiger Zeitmaße. Diese Zeitmaße sind das einzige Maß für zeitliche Dauer. Jedem Objekt kann eine eigene Zeit zugeordnet werden, die Zeit, mit der das Objekt während seiner Bewegung durch die Raumzeit altert. Die Bewegung jedes Objekts durch die Raumzeit wird dazu durch eine Linie angenähert. Die Minkowski-Metrik definiert die „Länge“ dieser Linie. Sie ist genau die Zeitspanne, die eine Uhr misst, die der Beobachter mit sich mitführt. Da sich jedes Objekt anders bewegt, hat jedes Objekt seine eigene Weltlinie und seine eigene Zeit, seine Eigenzeit.53 Ein anderes bewegungsunabhängiges Maß der Dauer existiert nicht. Die Bezugssysteme im Minkowski-Raum lassen sich theoretisch auch ohne subjektive Beobachter definieren. In jedem Bezugssystem wird dasselbe physikalische System mit einer anderen Definition der Koordinaten beschrieben. Die Relativität der Zeit und des Raumes darf also nicht subjektivistisch missverstanden werden,54 sondern beschreibt die Freiheit bei der Wahl des Bezugssystems. Die Relativität der Gleichzeitigkeit bedeutet dann, das es eine Vielfalt an gleichwertigen Möglichkeiten gibt, Querschnitte „gleicher Zeit“ durch die Raumzeit zu legen. 52

Vgl. zum Beispiel Einstein, Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie, 462. Vgl. Einstein, Mein Weltbild, 132. 54 In diesem Punkt ist Reichenbach, „Die philosophische Bedeutung der Relativitätstheorie“, 193 f. zuzustimmen. 53

87

3.3. Relativistische Zeit und Kosmologie

(a)

(b)

𝑡

𝑡

𝑐 𝑑

𝑓

𝑑

𝑝

𝑥

𝑐 𝑏

𝑥

𝑒 𝑎

𝑏

𝑎

Abbildung 3.2: (a) Lichtkegel (dargestellt durch die Diagonalen) zum Ereignis 𝑝 mit Ereignissen 𝑎, 𝑏, 𝑐, 𝑑, die einen zeitartigen Abstand zu 𝑝 haben und 𝑒, 𝑓, die einen raumartigen Abstand zu 𝑝 haben. (b) Rein räumliche Abstände zwischen verschiedenen Ereignissen (gestrichelte Linien) sind nicht direkt zugänglich, sondern werden durch zeitliche Prozesse (durchgezogene Linien) bestimmt und lassen sich daher aus der Gesamtheit aller zeitartigen Kurven in Kombination mit dem Volumenmaß folgern.

Die Rede von Beobachtern hat jedoch ihre Rechtfertigung darin, dass für jeden tatsächlichen Beobachter, diejenigen Bezugssysteme ausgezeichnet sind, in denen er ruht. Das bedeutet, dass die Richtung der Koordinatenachse seiner Zeitkoordinate mit seiner Bewegungsrichtung im Minkowski-Raum übereinstimmt. Die Koordinatenachsen der Ortskoordinaten stehen „senkrecht“ im Sinne der Minkowski-Metrik zu seiner Zeitachse. Die mit diesen Bezugssystemen verbundene Gleichzeitigkeitsdefinition ist dadurch ausgezeichnet, dass sie sich für diesen Beobachter als Grenzfall für beliebig langsamen Uhrentransport ergibt.55 Somit besitzt jeder Beobachter seine natürliche Gleichzeitigkeitsdefinition. Der Unterschied von Raum und Zeit Der Unterschied von Raum und Zeit ist mit ihrer Untrennbarkeit nicht gänzlich aufgehoben. Er besteht fort in den Kausalitätskegeln, die durch die Lichtgeschwindigkeit gegeben sind. Die Lichtgeschwindigkeit ändert sich unter Lorentztransformationen nach der Voraussetzung der Relativitätstheorie nicht. In Abb. 3.2a sind die Bahnen des Lichts, das auf ein Ereignis 𝑝 zuläuft beziehungsweise von ihm ausgeht, dargestellt. Alle Geschwindigkeiten, die kleiner sind als die Lichtgeschwindigkeit, bleiben bei jeder Lorentztransformation kleiner. Wenn sich ein Objekt für einen Be55 Vgl. G. Nerlich, What spacetime explains. Metaphysical essays on space and time, Cambridge u. a. 1994, 18–20 und 115–118.

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3. Die Zeit der Physik

obachter langsamer als das Licht bewegt, ist es also für alle Beobachter langsamer als das Licht. Die Lichtgeschwindigkeit bildet eine natürliche Grenze für Objekte, die sich mit Unterlichtgeschwindigkeit fortbewegen. Tachyonen, hypothetische Objekte, die sich schneller als das Licht fortbewegen, können dagegen aus geeigneten Koordinatensystemen als rückwärts in der Zeit fliegend wahrgenommen werden, so dass die Kausalität verletzt wäre. Daher werden Geschwindigkeiten größer als Lichtgeschwindigkeit in der Regel als unmöglich angesehen. Wenn sich nun alle Wirkungen maximal mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten, dann kann ein einzelnes Ereignis 𝑝 nur durch solche vergangene Gegebenheiten beeinflusst werden, die innerhalb eines kegelförmigen Raumzeitgebiets liegen, dessen Grenzen durch die Ausbreitung des Lichts gegeben sind (wie die Ereignisse 𝑎 und 𝑏 in Abb. 3.2a). Liegen Ereignisse außerhalb dieses Kegels, müssten sich die Wirkungen mit Überlichtgeschwindigkeit ausbreiten, um 𝑝 zu erreichen. Ebenso kann ein Ereignis nur solche zukünftigen Ereignisse beeinflussen, die innerhalb eines analogen, zukunftsgerichteten Kegels liegen (vgl. die Ereignisse 𝑐 und 𝑑 in Abb. 3.2a). Diese Kegel sind unabhängig vom gewählten Bezugssystem, da ihre Grenzen allein durch die invariante Lichtgeschwindigkeit bestimmt sind. Die Lichtkegel bilden also eine natürliche Grenze, die solche Gebiete, die in kausaler Wechselwirkung mit einem Ereignis 𝑝 stehen, von anderen Gebieten trennen. Damit bieten die Lichtkegel ein Kriterium, zeitartige Richtungen von raumartigen zu unterscheiden. Denn Wirkungszusammenhänge sollten intuitiverweise in Richtung der Zeit bestehen. Liegt ein Ereignis 𝑎 im Lichtkegel eines anderen Ereignisses 𝑏, nennt man den Abstand von 𝑎 und 𝑏 also „zeitartig“, weil es eine kausale Beziehung zwischen den Ereignissen geben kann. Im anderen Fall kann keine kausale Beziehung zwischen den Ereignissen bestehen und der Abstand wird „raumartig“ genannt (wie bei 𝑒 und 𝑓 in Abb. 3.2a). Bei allen Lorentztransformationen kann ein zeitartiger Abstand nie in einen raumartigen übergehen und umgekehrt. Durch die Lichtkegel bleibt also ein wesentlicher Unterschied zwischen Raum und Zeit bestehen, der sich als Unterschied zwischen raum- und zeitartigen Richtungen äußert. Im Gegensatz zur klassischen Physik sollte die Zeit also nicht mehr als eine Folge von globalen Weltzuständen aufgefasst werden. Denn nach den Relativitätstheorien ist keine Gleichzeitigkeitsdefinition ausgezeichnet. Die Wahl einer der möglichen Unterteilungen der Raumzeit in Folgen globaler Zustände wäre rein willkürlich. Vielmehr ist die Zeit in der Raumzeit dadurch gekennzeichnet, dass es zeitartige Richtungen und zeitartige Kurven gibt, entlang derer Wirkungszusammenhänge bestehen können. Die Modi der Zeit In der klassischen Physik waren die Zeitmodi durch die absolute Zeit definiert. Da die Relation der Gleichzeitigkeit eindeutig und absolut war, konnten alle Ereignisse, die gleichzeitig passieren, als ein globaler Weltzustand zusammengefasst werden.

3.3. Relativistische Zeit und Kosmologie

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Die Zeit entspricht nach dem klassischen Bild also einer Folge von Weltzuständen. Einer dieser Zustände ist als „Jetzt“ ausgezeichnet. Vergangenheit ist die Menge aller früheren Weltzustände und Zukunft die Menge aller späteren. Nach der speziellen Relativitätstheorie existieren unendlich viele gleichwertige Gleichzeitigkeitsdefinitionen. Jede definiert eine andere Unterteilung der Raumzeit in Ebenen gleicher Zeit. Es stellt sich daher die Frage, wie die Zeitmodi zu definieren sind, wenn es keine eindeutige Unterteilung in Weltzustände gibt. Ein Ansatz wäre, sie in derselben Weise relativ zu verstehen, wie die Gleichzeitigkeit. Dann wäre die Gegenwart mit der relativen Gleichzeitigkeit gleichgesetzt. Vergangenheit und Zukunft wären die Zeiten vor und nach der Gleichzeitigkeitsebene. Dies hätte jedoch den Nachteil, dass es von der Geschwindigkeit eines Beobachters abhinge, was für ihn vergangen oder zukünftig ist. Für eine Zuordnung von Modalitäten zu den Zeitmodi hätte dies ernsthafte Einschränkungen, da die Modalitäten ebenfalls von der Geschwindigkeit abhängig sein müssten. Zudem hätte diese Definition der Zeitmodi keinen Anhaltspunkt in der Kausalstruktur der Relativitätstheorie. Vergangenheit würde nicht nur die Ereignisse umfassen, die einen beeinflussen können, sondern auch Ereignisse, in keinerlei kausaler Beziehung zu einem stehen. Sinnvoller erscheint es daher, die Zeitmodi ausgehend von den Lichtkegeln zu bestimmen, da die Lichtkegel die Kausalstruktur der speziellen Relativitätstheorie widerspiegeln. Für jedes Ereignis 𝑝 erstreckt sich der volle Lichtkegel in zwei Richtungen, besteht also aus zwei Kegeln, deren Spitzen sich berühren (siehe Abb. 3.2a). Die Ereignisse innerhalb der Kegel stehen in einer kausalen Verbindung mit 𝑝. Die Ereignisse des einen Kegels können (Teil-) Wirkung von 𝑝 sein, die Ereignisse des anderen (Teil-) Ursache von 𝑝. Deshalb lässt sich der eine Kegel mit der Vergangenheit und der andere mit der Zukunft identifizieren.56 Nach den heute etablierten relativistischen Theorien lassen sich dabei Vergangenheit und Zukunft stets vertauschen. Eine Lösung der Gleichungen der Theorie bleibt auch dann eine korrekte Lösung, wenn man die zeitliche Bewegung vollständig umkehrt und gegebenenfalls noch den Raum spiegelt und die Ladung umkehrt. Daher ergeben die Gleichungen kein Kriterium dafür, welche der beiden Richtungen als Vergangenheit beziehungsweise als Zukunft zu bezeichnen ist. Unter den heute etablierten Theorien enthält nur die Thermodynamik mit dem zweiten Hauptsatz ein Gesetz, das eine Asymmetrie der Zeit formuliert. Die restlichen Punkte der Raumzeit außerhalb des Lichtkegels von 𝑝 können in keiner kausalen Beziehung zu 𝑝 stehen. Daher ist auch die zeitliche Ordnung dieser Ereignisse in Relation zu 𝑝 nicht definiert. Fasst man alle Ereignisse außerhalb des Lichtkegels als „gleichzeitig“ zu 𝑝 auf, bedeutet Gleichzeitigkeit von 𝑎 und 𝑏 nichts anderes, als dass es keinen kausalen Zusammenhang zwischen den Ereignissen gibt. Ob diese Form der Gleichzeitigkeit bereits ein geeignetes Kriterium für 56 Vgl. zu dieser Definition beispielsweise S. W. Hawking/G. F. R. Ellis, The Large Scale Structure of Space-Time, Cambridge 1973, 182 f.

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3. Die Zeit der Physik

den Zeitmodus der Gegenwart ist, erscheint jedoch fraglich. Das Adjektiv „gleichzeitig“ kann durchaus die Bedeutung haben, dass keine Beeinflussungsmöglichkeit zwischen den gleichzeitigen Ereignissen besteht.57 Wenn etwas für 𝑝 „gegenwärtig“ ist, dann gibt es jedoch einen solchen Zusammenhang. Was gegenwärtig ist, kann einen beeinflussen oder auch von einem selbst beeinflusst werden.58 Der Zeitmodus Gegenwart und Gleichzeitigkeit beziehungsweise die Punktmenge außerhalb des Lichtkegels dürfen also nicht einfach identifiziert werden.59 Betrachtet man die Möglichkeit gegenseitiger Beeinflussung als Kriterium für Gegenwart, wäre allerdings nur das gegenwärtig, was am selben Raumzeitpunkt geschieht.60 Eine Gegenwart, die einen größeren räumlichen Bereich umfasst, erhält man nur, wenn eine längere Periode an Eigenzeit als Gegenwart definiert wird.61 Diesen Ansatz könnte man unter anderem damit begründen, dass die Prozesse im menschlichen Gehirn bestimmte Zeitspannen brauchen, um die Ereignisse zu verarbeiten. Wenn ein Lichtsignal ein entferntes Ereignis in dieser Zeitspanne erreichen und (reflektiert) wieder zurückkehren kann, zählt dieses Ereignis als gegenwärtig zum Ausgangspunkt. Er kann innerhalb der Gegenwartsspanne von diesem beeinflusst werden und ihn wiederum beeinflussen. Die ausgedehnte Gegenwart ist daher die Schnittmenge zweier Lichtkegel. Sie umfasst die Raumzeitpunkte, die zugleich im zukunftsgerichteten Kegel des Anfangs einer Gegenwartsspanne und im vergangenheitsgerichteten Kegel des Endes liegen.62 Diese Gegenwart unterscheidet sich von der klassischen Gegenwartsdefinition darin, dass die Relation der Gegenwärtigkeit weder transitiv noch symmetrisch ist. Sie ist nicht symmetrisch, da die Größe der Gegenwart von der Länge der gewählten Gegenwartsspanne abhängt. Ist von zwei Weltlinien eine deutlich kürzer, erstreckt sich ihre Gegenwart auch deutlich weniger weit im Raum. Die kürzere Weltlinie kann also der längeren gegenwärtig sein, ohne selbst die längere gegenwärtig zu haben. Die Transitivität gilt offensichtlich nicht, da sich zwei Gegenwartsbereiche überschneiden können, ohne deckungsgleich zu sein. Mit dieser Definition gewinnt 57 So H. Reichenbach, Gesammelte Werke, Bd. 2: Philosophie der Raum-Zeit-Lehre, hrsg. von A. Kamlah/M. Reichenbach, Braunschweig 1977, Seitenangaben beziehen sich auf die Originalausgabe, 171. 58 Eine entsprechende Definition wird zum Beispiel in I. Kant, Kant’s gesammelte Schriften. Erste Abteilung: Werke, Bd. III: Kritik der reinen Vernunft. Zweite Auflage 1787, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1904 (= KdrV), B259 verwendet. 59 Gegen Mittelstaedt, Philosophische Probleme der modernen Physik, 30 f. 60 Dafür plädiert zum Beispiel Stein, „On Einstein-Minkowski Space-Time“, 15. Zuvor versuchte schon Alfred A. Robb eine Formulierung der speziellen Relativitätstheorie zu entwickeln, die ohne Simultaneität an verschiedenen Orten auskommt, so dass nur Ereignisse am gleichen Ort simultan sein können. Vgl. A. A. Robb, A Theory of Time and Space, Cambridge 1914, 2–3; A. A. Robb, Geometry of Time and Space, Cambridge 1936, 12. 61 Diesen Vorschlag unterbreitete R. T. Arthur, „Minkowski Spacetime and the Dimensions of the Present“, in: D. Dieks (Hrsg.), The Ontology of Spacetime, Philosophy and Foundations of Physics 1, Amsterdam 2006, 129–155, hier 146–151. 62 Vgl. ebd., 148 f.

3.3. Relativistische Zeit und Kosmologie

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Zukunft Gegenwart

Vergangenheit

Abbildung 3.3: Die Zeitmodi in der speziellen Relativitätstheorie. Mit einer zeitlich ausgedehnten Gegenwartsspanne ergibt sich eine räumlich ausgedehnte aber beschränkte Gegenwart. Vergangenheit und Zukunft umfassen die Ereignisse in den entsprechenden Lichtkegeln.

der Gegenwartsbegriff einen Aspekt räumlicher Nähe, der durchaus dem alltäglichen Sprachgebrauch entspricht. Verdeutlichen lässt sich dies insbesondere an kosmischen Distanzen. Den Menschen gegenwärtig sind keineswegs die Sterne, wie sie „jetzt“ mehrere Milliarden Lichtjahre entfernt sind. Denn über sie ist nichts bekannt außer ihrer Vergangenheit, die durch die endliche Lichtgeschwindigkeit jetzt auf der Erde sichtbar ist. Gegenwärtig ist dagegen das Geschehen in der Nähe, mit dem man in wechselseitiger Beziehung steht. Die Relativitätstheorie spricht somit für einen Gegenwartsbegriff, der auch räumliche Nähe impliziert und damit intuitiver ist als der klassische Begriff im Sinne einer universumsumfassenden Gleichzeitigkeit. Mit diesem Ansatz erhält man also lokale Definitionen der Zeitmodi, die jeweils auf ein Ereignis bezogen sind. Absolute, globale Zeitmodi wären dagegen nur möglich, indem eine absolute Zeit wieder eingeführt wird. Zeitlose oder zeitliche Welt? Die Unmöglichkeit globaler Zeitmodi deutet bereits an, dass die Relativitätstheorien auch Konsequenzen für die Diskussion um die Realität von Vergangenheit und Zukunft haben können. Die Relativitätstheorie bietet ein Argument gegen den Präsentismus und gegen Growing Block Models, nach denen nur die Gegenwart beziehungsweise nur Gegenwart und Vergangenheit real sind, die Zukunft jedoch irreal oder ein Raum der Möglichkeit. Ziel dieser Zeitinterpretationen ist es, einen „echten“ Zeitfluss zu erhalten, der nicht als perspektivische Einschränkung eines statischen Ganzen verstanden werden kann. Das Problem des Präsentismus oder der Growing Block Models angesichts der Relativitätstheorie besteht darin, dass sie eine objektive Abfolge globaler Weltzustände formulieren. Denn die Modalitäten sind für jeden Raumzeitpunkt festgelegt. Die Ereignisse an jedem Punkt sind entweder real, irreal oder möglich. Wenn beispielsweise die Vergangenheit real und die Zukunft möglich sein soll, legt die Scheidewand zwischen den Modalitäten eine objektive, globale Jetzt-Zeit fest. Ana-

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3. Die Zeit der Physik

𝑡

𝑡′ 𝑐 𝑏

𝑎

𝑥 𝑥′

Abbildung 3.4: Für jede Kombination von zeitartig getrennten Ereignissen 𝑎 und 𝑐, lässt sich ein Beobachter 𝑏 finden, so dass relativ zu 𝑎 𝑏 und 𝑎 gleichzeitig sind und relativ zu 𝑏 𝑐 und 𝑏 gleichzeitig sind.

log definiert im Modell des Präsentismus die Realität eine ebenso globale Gegenwart. Die spezielle Relativitätstheorie kennt jedoch keine ausgezeichnete Gleichzeitigkeitsebene, die diese Rolle übernehmen könnte. Sie wäre ein zusätzliches Postulat, eine Theorie hinter der speziellen Relativitätstheorie. Kombiniert man Aspekte dieser klassischen Theorien einer dynamischen Zeit mit der speziellen Relativitätstheorie, kann man zu dem Schluss kommen, dass die ganze vierdimensionale Raumzeit zugleich und daher zeitlos existieren muss.63 Aus den klassischen Theorien übernimmt man dazu zwei Aspekte: Erstens, für einen Beobachter ist real, was gleichzeitig zu ihm existiert. Zweitens, real für jemanden zu sein, ist eine transitive Relation. Wenn 𝐴 für 𝐵 real ist und 𝐵 für 𝐶 real ist, muss also auch 𝐴 für 𝐶 real sein. Aus der speziellen Relativitätstheorie übernimmt man die Relativität der Gleichzeitigkeit. Unter diesen Bedingungen können 𝑎 und 𝑏 unterschiedliche Geschwindigkeiten und unterschiedliche Gleichzeitigkeitsebenen haben. Es kann für 𝑏 etwas gleichzeitig sein, das für 𝑎 noch zukünftig ist, auch wenn 𝑏 für 𝑎 gleichzeitig ist. Da Real-Sein-Für eine transitive Relation sein soll, muss alles, was für 𝑏 real ist, auch für 𝑎 real sein, das heißt auch die Ereignisse, die in der Zukunft von 𝑎 liegen (vgl. Abb. 3.4). Da man mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Abständen von 𝑏 zu 𝑎 die ganze Raumzeit mit alternativen Gleichzeitigkeitsebenen abdecken kann, ist folglich die ganze Raumzeit zugleich real für 𝑎. Die klassischen Vorstellungen dynamischer Zeittheorien werden daher durch die Relativität der Gleichzeitigkeit konterkariert. Oder in anderen Worten: Jeder Versuch, eine absolute Zeit zu formulieren, die darin besteht, dass eine Folge von globalen Zuständen nacheinander real werden, ist mit der Relativität der Gleichzeitigkeit nicht vereinbar. Denn es gibt keine bevorzugte Einteilung in solche Schichten gleicher Zeit.64 Lawrence Sklar schlägt ei63

Zu dem folgenden Argument vgl. Putnam, „Time and Physical Geometry“, 242 f. K. Gödel, „Eine Bemerkung über die Beziehungen zwischen der Relativitätstheorie und der idealistischen Philosophie“, in: P. A. Schilpp (Hrsg.), Albert Einstein als Philosoph und Naturforscher, Braunschweig/Wiesbaden 1979, 406–412, Unveränd. Nachdr. der Ausgabe Stuttgart 1955, hier 407. 64

3.3. Relativistische Zeit und Kosmologie

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nige Möglichkeiten vor, die Irrealität von Vergangenheit und Zukunft beizubehalten. Zum einen könnte die „real für“-Beziehung als genauso intransitiv und relativ verstanden werden wie die Gleichzeitigkeit. Dann hinge es von der Geschwindigkeit des Beobachters ab, welche Ereignisse real und nicht vergangen oder zukünftig sind. Ein anderer Vorschlag betrachtet nur das Gegenwärtige als real, also den eigenen Raumzeitpunkt oder bei ausgedehnter Gegenwart den entsprechenden Bereich, der durch die Gegenwartsspanne festgelegt wird. Möglich für einen Beobachter ist nach diesem Vorschlag alles, was nicht im vergangenheitsgerichteten Kegel liegt. Diese Vorschläge können jedoch kaum dem ursprünglichen Interesse an einem „echten“ Zeitfluss gerecht werden, wie Sklar selbst bemerkt,65 ganz zu schweigen vom Interesse an einem objektiven Realsein des Gleichzeitigen. Ein Realsein in diesem Sinne wäre abhängig vom Beobachter und kein Kriterium für einen globalen Zeitablauf. Beschränkt man sich auf klassische Theorien dynamischer Zeit, wie Präsentismus oder Growing Block Models, ist eine dynamische Interpretation der relativistischen Zeit also nicht möglich. Um zu sehen, wie eine dynamische Interpretation dennoch denkbar ist, bietet es sich an, nicht Modalitäten, sondern Beobachtertypen zu betrachten. Das Grundproblem dieser Diskussion lässt sich darauf zurückführen, dass ein spezieller Beobachtertyp in der Relativitätstheorie undenkbar geworden ist. In der vorrelativistischen Physik war es möglich, drei verschiedene Beobachtertypen zu denken: Der erste ist der lokalisierte Beobachter, der nur wahrnimmt, was zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Punkt passiert. Daneben wäre ein delokalisierter Beobachter denkbar, der alles wahrnimmt, was zu einer bestimmten Zeit passiert. Der dritte Beobachter wäre der zeitlose Beobachter, dem alle Ereignisse in einem einzigen Wahrnehmungsakt präsent sind. Je nachdem, welche Position als die objektiv richtige oder als die göttliche angesehen wird, ergeben sich unterschiedliche Interpretationen über die Realität. Die letztere suggeriert eine zeitlose Wirklichkeit, auch schon in der vorrelativistischen Physik. Die zweite dagegen legt einen „echten“ Zeitfluss nahe. In Anlehnung an diese Position wurden auch die klassischen Begriffe der Zeitmodi entwickelt. Die erstere Position wurde vorrelativistisch vorwiegend als Ergebnis der menschlichen Einschränkungen gedeutet. Die Relativitätstheorie besagt unter anderem nun, dass der zweite Beobachtertyp gar nicht möglich ist, weil er eine absolute Zeit voraussetzen würde. Dies lässt nun die beiden Interpretationen zu, dass die Realität entweder zeitlos ist oder jeweils lokales Werden die Dynamik bestimmt. Den ersten, lokalisierten Beobachter als den objektiven zu deuten, scheint den Befürwortern einer zeitlosen Deutung der Relativitätstheorie zu abwegig zu sein.66 65

Sklar, Philosophy and Spacetime Physics, 296–304; Howard Stein will dennoch an diesen Definitionen von Realsein festhalten, um ein „becoming determined“ zu ermöglichen. Vgl. Stein, „On Einstein-Minkowski Space-Time“, 15. 66 Diese Analyse des Diskussionsstands bietet R. D. Sorkin, „Relativity Theory Does Not Imply that the Future Already Exists: A Counterexample“, in: V. Petkov (Hrsg.), Relativity and the Dimensionality of the World, Fundamental Theories of Physics 153, Dordrecht 2007, 153–161, hier 158.

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3. Die Zeit der Physik

Nur wenn man diesen als objektiv ansieht und Perspektiven von außerhalb der Raumzeit als unphysikalisch ablehnt, wäre es möglich Zukunft und Vergangenheit andere Modalitäten zuzuordnen als der Gegenwart. Diese Modalitäten wären jedoch allein relative Angaben wie „möglich für“ oder „faktisch für“, da jeder lokale Beobachter eine andere Vergangenheit und Zukunft hat. Die Form der Zeitlichkeit, die durch den lokalisierten Beobachter nahegelegt wird, unterscheidet sich deutlich vom Präsentismus oder von Growing Block Models, indem auf einen global einheitlichen Zeitverlauf verzichtet wird. Für eine dynamische Interpretation spricht der Vorrang zeitlicher Relationen in der speziellen Relativitätstheorie. Denn räumliche Abstände sind nach der Relativitätstheorie der Messung nicht direkt zugänglich. Entfernungen werden über die Zeit gemessen, die das Licht für den Weg von 𝑎 nach 𝑏 und zurück benötigt.67 Dabei wird vorausgesetzt, dass es eine Möglichkeit gibt, Zeit über die Periodizität von Ereignissen zu messen, ohne dass für die Zeitmessung wieder auf den Raum zurückgegriffen werden muss. Entsprechend besteht das Gefüge von relativen Bestimmungen, mit denen die Raumzeit vermessen wird, allein aus kausalen und damit zeitlichen Bezügen. In Abb. 3.2b sind mit den gestrichelten Linien raumartige Abstände und mit den durchgezogenen Linien zeitartige Abstände abgebildet. Die Gesamtheit aller zeitartigen Kurven unter Hinzunahme einer Uhr an jedem Punkt oder eines Volumenmaßes reicht aus, um aus ihr die Struktur der ganzen Raumzeit zu bestimmen.68 Räumliche Abstände erscheinen als abgeleitete Größen, so dass sich die Raumzeit im Wesentlichen als zeitlich interpretieren lässt. Der Vorrang der zeitlichen Dimension in diesem Bild darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch nach dieser Deutung der Grunderkenntnis der Relativitätstheorie zuwider wäre, eine absolute Hintergrundzeit wieder einzuführen. 67

Daran wurde auch das offizielle Längenmaß angepasst. Das Meter ist nun durch die Lichtgeschwindigkeit und die Sekunde definiert. Vgl. Le Système international d’unités (SI), Techn. Ber., Bureau international des poids et mesures, 2006, 22. 68 Mathematisch hat dies David Malament im Anschluss an Hawking u. a. für beliebig gekrümmte Raumzeiten gezeigt. Die Topologie einer Raumzeit-Mannigfaltigkeit ist durch die Gesamtheit der zeitartigen Kurven auf ihr festgelegt. Vgl. S. W. Hawking/A. R. King/P. J. McCarthy, „A new topology for curved space-time which incorporates the causal, differential, and conformal structures“, Journal of Mathematical Physics 17 (1976), 174–181; D. B. Malament, „The class of continuous timelike curves determines the topology of spacetime“, Journal of Mathematical Physics 18 (1977), 1399– 1404, hier 1399. Eine entsprechende philosophische Interpretation der Raumzeit der speziellen Relativitätstheorie als Kausalordnung hat bereits Hans Reichenbach vorgelegt. Er konnte allerdings eine analoge Lichtgeometrie der allgemeinen Relativitätstheorie noch nicht formulieren, sondern hat nur aus der Möglichkeit, einen gekrümmten Raum lokal an einer Stelle als flach anzunähern, gefolgert, dass dieselbe Kausalordnung auch für gekrümmte Raumzeiten gelten sollte. Dass zeitartige geschlossene Kurven möglich sind (siehe dazu Abs. 3.3.2), weiß er, aber er vermutet, dass die Relativitätstheorie in dieser Hinsicht unzureichend ist. Reichenbach, „Die philosophische Bedeutung der Relativitätstheorie“, 201; Reichenbach, Philosophie der Raum-Zeit-Lehre, 196–198, 303, 307 f. und 312 f. Gegen die kausale Deutung der Ergebnisse von Malament wendet sich Nerlich, What spacetime explains, 61 f. In der Tat geht das allgemeinere Ergebnis Malaments von zeitartigen Kurven aus, nicht von kausalen Beziehungen.

3.3. Relativistische Zeit und Kosmologie

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Jede Einteilung der Raumzeit in Ebenen gleicher Zeit ist nach der speziellen Relativitätstheorie gleichberechtigt. Eine willkürliche Wahl einer der Einteilungen als absolute Zeit hätte keinen Anhaltspunkt in der speziellen Relativitätstheorie. Absolut sind nur die Lichtkegel jedes Ereignisses, nicht aber irgendein Konzept von „objektivem Zeitfluss“, das eine bevorzugte Zeitachse voraussetzen würde. Das Gesamtresultat ist daher paradox: Die Relativitätstheorie liefert gute Argumente gegen klassische Kriterien eines dynamischen Zeitverständnisses und beinhaltet zugleich einen Vorrang zeitlicher Relationen. Die plausibelste Lösung dieser Frage besteht darum wohl in der Aufgabe der klassischen Zeitbegriffe und in der Entwicklung eines an die Relativitätstheorie angepassten Begriffs von Dynamik und Zeitlichkeit, der auf dem lokalisierten Beobachtertyp aufbaut. Ein Ansatz in dieser Richtung wird erst in Abs. 3.3.2 entwickelt, um noch weitere Resultate aufnehmen zu können.69 Die Reduzierbarkeit aller räumlichen Relationen auf zeitliche verdeutlicht noch einen wesentlichen Unterschied zwischen Raum und Zeit, der auf den ersten Blick möglicherweise selbstverständlich erscheint: Gesetzliche Zusammenhänge bestehen allein in zeitartigen Richtungen.70 Dies entspricht gänzlich alltäglicher Erfahrung: Verschiedene Objekte wechselwirken miteinander durch zeitliches Geschehen und bewegen sich dabei mit Unterlichtgeschwindigkeit. Denn Wechselwirkungen entlang räumlicher Richtungen wären Wirkungen, die sich mit Überlichtgeschwindigkeit ausbreiten. Angesichts der Interpretationen der Raumzeit als Verräumlichung der Zeit71 muss dieser Aspekt jedoch hervorgehoben werden. Ereignisse an zeitartig getrennten Raumzeitpunkten können sich beeinflussen, so dass unter Kenntnis des Zustands an einem Punkt Einschränkungen für die möglichen Zustände des anderen Punktes möglich sind. Zwischen raumartig getrennten Punkten bestehen solche Zusammenhänge nicht beziehungsweise nur über den Umweg einer gemeinsamen Vergangenheit oder Zukunft. Welcher Art diese Zusammenhänge sind (deterministisch, probabilistisch, symmetrisch oder asymmetrisch, kausal oder akausal), lässt die Relativitätstheorie unbestimmt. Aber sie gelten entlang zeitartiger Kurven.

69 Ansätze in dieser Richtung bieten zum Beispiel Arthur, „Minkowski Spacetime and the Dimensions of the Present“; D. Dieks, „Becoming, Relativity and Locality“, in: D. Dieks (Hrsg.), The Ontology of Spacetime, Philosophy and Foundations of Physics 1, Amsterdam 2006, 157–176, hier 170–175. 70 D. H. Mellor geht von kausalen Zusammenhängen aus. Vgl. D. H. Mellor, „The Direction of Time“, in: R. L. Poidevin u. a. (Hrsg.), The Routledge Companion to Metaphysics, 1. Veröffentlichung als Paperback, London/New York 2012, 449–458, hier 454. Im Gegensatz dazu wird hier der allgemeinere Begriff gesetzlicher Zusammenhänge verwendet. Es ist nicht klar, ob die Zusammenhänge kausaler Natur sind, das heißt, ob sie die Unterscheidung einer Richtung von Ursache und Effekt erlauben. Wenn an anderer Stelle von Kausalität die Rede ist, soll sie daher auch zeitlich symmetrische Zusammenhänge umfassen. 71 So zum Beispiel Pannenberg, Was ist der Mensch?, 52.

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3. Die Zeit der Physik

Absolute oder relationale Raumzeit? Häufig verbunden mit der Debatte um die angeblich implizierte Zeitlosigkeit oder Zeitlichkeit der Raumzeit wird die Debatte um die Absolutheit beziehungsweise Relationalität der Raumzeit. Die Relativität der Gleichzeitigkeit bedeutet zwar das Ende von absoluter Zeit und absolutem Raum für sich. Sie lassen sich nicht mehr getrennt betrachten und es gibt eine Vielfalt an Eigenzeiten von allen möglichen Beobachtern. Aber die Minkowski-Raumzeit selbst kann wiederum als Absolutes interpretiert werden. Sie besteht nicht aus Raumpunkten oder Zeitpunkten, sondern nur noch aus Raumzeit-Punkten, deren Relationen untereinander invariant sind. Daraus resultiert das Bild einer absoluten Raumzeit, auf der jeder Mensch einer Linie folgt. In diesem Bild wird häufig dem Sein der Minkowski-Welt ein Vorrang vor dem Werden zugeschrieben, das nur noch als Resultat einer beschränkten Perspektive erscheint. In der Physik hat sich diese Deutung einiger Popularität erfreut. Einstein selbst hat vielfach diesen Standpunkt vertreten.72 Doch ist diese zeitlose Interpretation nicht zwingend. Die Realität der Raumzeit unabhängig von allen Objekten in ihr und der Vorrang zeitlicher Relationen sind ebenfalls vereinbar. Gegenüber der absoluten Deutung bleibt auch ein Relationalismus analog zu Leibniz möglich. Die Raumzeit der speziellen Relativitätstheorie kann als relative Ordnung verstanden werden. Dann würde die Raumzeit nicht eigenständig als Container aller Ereignisse existieren. Sie wäre nur die Ordnung der relativen Bestimmungen zwischen den Ereignissen, das heißt die Menge der Abstände, die über die Minkowski-Metrik berechnet werden. Da sich all diese Abstände auf zeitartige Relationen reduzieren lassen, hat dies zur Folge, dass das Konzept räumlicher Abstände und damit der ganze Raum auf zeitliche Prozesse und Relationen zurückgeführt wurde. In der relationalen Deutung hat also die zeitliche Interpretation eine höhere Plausibilität, auch wenn eine zeitlose Deutung ebenfalls möglich bleibt. Im Rahmen der speziellen Relativitätstheorie bleiben also die Deutung als absolute, eigenständig existierende Raumzeit und als rein relative Ordnung möglich.73 In der allgemeinen Relativitätstheorie dagegen wird die Frage nach der Absolutheit oder Relationalität der Raumzeit in einer Weise beantwortet werden, die über Newtons und Leibniz’ Deutungen hinaus geht.

72 Einstein, Mein Weltbild, 132. Vgl. auch H. Weyl, Was ist Materie? Zwei Aufsätze zur Naturphilosophie, Berlin 1924, 87. 73 Die philosophischen Argumente zugunsten einer der beiden Argumentationen sollen hier nicht diskutiert werden, da die Folgen aus der Physik im Fokus stehen sollen. Die Probleme, die einer reduktionistischen oder verifikationistischen Motivation einer kausalen Interpretation der Relativitätstheorie zugrunde liegen, diskutiert zum Beispiel Sklar, Philosophy and Spacetime Physics, 249–288.

3.3. Relativistische Zeit und Kosmologie

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3.3.2. Gekrümmte Zeit 1915 stellte Einstein seine allgemeine Relativitätstheorie vor,74 die zunächst als eine Verallgemeinerung des Relativitätsprinzips gedacht war. Während zuvor nur Inertialsysteme gleichwertig waren, sollten jetzt alle denkbaren Bezugssysteme, also auch beschleunigte und rotierende, gleichrangig behandelt werden. In beschleunigten Bezugssystemen treten Scheinkräfte auf, deren Wirkung wie bei Gravitationskräften auf alle Körper gleich ist. Scheinkräfte wirken auf alle Körper gleich, weil sie lediglich ein Effekt der gewählten Koordinaten sind. Sie sind damit unabhängig von der Masse, so dass sie dieselben (Schein-) Beschleunigungen unabhängig von der Art des Körpers ergeben müssen. Aber auch die Beschleunigung im Gravitationsfeld ist unabhängig von der Masse des Körpers. Der tiefere Grund dafür liegt in der Äquivalenz von träger Masse, mit der ein Körper einer Kraft widersteht, und schwerer Masse, die für die gravitative Anziehung verantwortlich ist. Weil beide Massen gleich sind, fallen alle Körper in einem Gravitationsfeld genau gleich. Somit haben Gravitationskräfte eine große Ähnlichkeit mit Scheinkräften. In geeigneten Koordinaten (nämlich im frei fallenden System) verschwinden sie zumindest lokal. So sind ein homogenes Gravitationsfeld und ein beschleunigtes Koordinatensystem nicht unterscheidbar. Wenn die beschleunigten Bezugssysteme und die Inertialsysteme nach dem verallgemeinerten Relativitätsprinzip gleichwertig sein sollen, müssen die Scheinkräfte und die Gravitationskräfte auf die gleiche Weise beschreibbar sein. Mit der Äquivalenz von träger und schwerer Masse folgt aus dem Prinzip der Gleichwertigkeit aller Bezugssysteme also eine Theorie der Gravitation.75 Letzten Endes hat Einstein mit diesem Argumentationsgang sein ursprüngliches Ziel, eine Reduktion aller Bewegung auf Relationen zwischen den Körpern im Sinne Machs zu erlangen, nicht erreicht. Denn durch das frei fallende System ist bereits wieder ein Bewegungszustand ausgezeichnet und Abweichungen von diesem lassen sich eindeutig feststellen. Nicht die Einbeziehung aller denkbaren Koordinatensysteme in der sogenannten kovarianten Formulierung ergibt den eigentlichen physikalischen Gehalt der allgemeinen Relativitätstheorie, sondern das Äquivalenzprinzip von träger und schwerer Masse. Diese Debatte76 soll hier nicht im Vordergrund stehen, da nicht die Relativität beziehungsweise Absolutheit der Bewegung Thema sein soll, sondern allein die Konsequenzen für das Verständnis der Zeit. Die resultierende Geometrie aus Einsteins Überlegungen lässt sich nicht mehr im flachen Raum euklidischer Geometrie formulieren. Denn mit den frei fallenden Bezugssystemen kann es im Gravitationsfeld mehrere Inertialsysteme geben, die gegeneinander beschleunigt sind. In flacher Raumzeit ist dies durch die Definition 74 Abschließend veröffentlicht in A. Einstein, „Die Grundlage der allgemeinen Relativitätstheorie“, Annalen der Physik 354 (1916), 769–822. 75 So argumentiert Einstein, Mein Weltbild, 133 und 136; A. Einstein, Grundzüge der Relativitätstheorie, Berlin/Oxford/Braunschweig 5. Aufl. 1969, 57–63. 76 Diese Diskussion wird ausführlich geführt von DiSalle, Understanding Space-Time, 120–151.

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des Inertialsystems ausgeschlossen.77 Für die Formulierung seiner Theorie verwendete Einstein daher die riemannsche Geometrie, die im Gegensatz zur euklidischen Geometrie auch gekrümmte Räume zulässt. Die Bedeutung der Krümmung lässt sich am Beispiel der Erdoberfläche verdeutlichen. Das Äquivalent gerader Linien auf der Erde sind sogenannte Geodäten, wie man sie abschreiten würde, wenn man auf der Erdoberfläche stets geradeaus läuft. Sind zwei solcher Linien bei einem Breitengrad parallel zueinander (zum Beispiel vom Äquator Richtung Nordpol), können sie sich trotzdem irgendwann schneiden (am Nordpol), weil sie der gekrümmten Erdoberfläche folgen müssen. Ebenso haben Dreiecke, die auf einen Erdglobus gezeichnet werden, aufgrund der Krümmung eine andere Winkelsumme als 180°.78 Die Krümmung der Raumzeit ließe sich theoretisch auf dieselbe Weise bestätigen, indem man die Winkel und Längen großer Dreiecke im Raum vermisst. Im Gegensatz zur Krümmung der Erdoberfläche, die eine gekrümmte Fläche innerhalb eines anderen Raumes ist, darf die ganze Raumzeit jedoch nicht eingebettet in einen Hintergrundraum gedacht werden. Dies ist nicht nur unnötig, sondern könnte auch die möglichen Lösungen einschränken. Trotzdem bilden gekrümmte Flächen, wie sie aus der alltäglichen Anschauung bekannt sind, eine hilfreiche Analogie. Mit den Korrekturen, die sich gegenüber der newtonschen Gravitationslehre ergaben, konnten die Abweichungen der Periheldrehung des Merkur erklärt werden sowie die Krümmung der Lichtstrahlen durch die Gravitation und die gravitative Rotverschiebung vorhergesagt werden.79 In den letzten Jahrzehnten konnten weitere Effekte an Pulsaren mit hoher Genauigkeit bestätigt werden. Unter anderem gelang ein indirekter Nachweis der Gravitationswellen.80 Aufhebung der Parameterzeit Bevor auf die Konsequenzen der Raumkrümmung eingegangen wird, soll zu Beginn eine negative Folgerung aus dem Formalismus der allgemeinen Relativitätstheorie begründet werden: Zeit ist kein Parameter. Wenn alle denkbaren Koordinatensysteme gleichberechtigt sein sollen, müssen die Bewegungsgleichungen in allen Koordinatensystemen die gleiche Form haben. Dies wird die Kovarianz der Gleichungen genannt. Sie impliziert, dass die Wahl der Koordinaten völlig irrelevant für alle physikalischen Fragen ist. Auch wenn in vielen Lösungen ein Parameter verwendet wird, der sich zum Beispiel bei großen Abständen zu einem Schwarzen Loch wie ein 77

DiSalle, Understanding Space-Time, 129. Eine etwas ausführlichere Darstellung der Unterschiede zwischen flacher und gekrümmter Geometrie findet sich in P. G. Bergmann, „The Space-Time Concept in General Relativity“, in: F. D. Finis (Hrsg.), Relativity, Quanta, and Cosmology in the Development of the Scientific Thought of Albert Einstein, Bd. 1, New York 1979, 141–156, hier 147 f. 79 Vgl. Møller, „Triumphs and Limitations of Einstein’s Theory of Relativity and Gravitation“, 488– 490. 80 Einen Überblick über Nachweise an Pulsaren geben M. Kramer/N. Wex, „Präzisionstests mit Pulsaren“, Physik Journal 14.6 (Juni 2015), 31–37. 78

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klassischer Zeitparameter verhält, so hat dieser Parameter keine Relevanz, weil auch jeder beliebige andere gewählt werden könnte. Bei Lösungen zu Schwarzen Löchern kann der gewählte „Zeit“-Parameter an unterschiedlichen Orten sogar seinen Charakter von zeit- zu raumartig wechseln.81 Die Koordinaten haben daher keine eigene Relevanz mehr, sondern können beliebig gewählt werden. Nur die Metrik, die die Krümmung beschreibt, ist physikalisch bedeutsam.82 Darum bleibt als Unterschied zwischen Raum und Zeit allein die Unterscheidung zwischen raum- und zeitartigen Richtungen, die durch die Lichtkegel objektiv festgelegt sind. Zeit als Dauer lässt sich in der allgemeinen Relativitätstheorie nur als Eigenzeit entlang einer Teilchenbahn definieren, also wieder über zeitartige Richtungen. Eine solche Unterscheidung zwischen Parameter und tatsächlicher Zeit lässt sich theoretisch schon in der speziellen Relativitätstheorie oder der klassischen Physik einführen. Doch erst in der allgemeinen Relativitätstheorie wird der kovariante Formalismus unverzichtbar. Hintergrundunabhängigkeit Zu unterscheiden von der Kovarianz der Gleichungen ist die Hintergrundunabhängigkeit der allgemeinen Relativitätstheorie. In der klassischen Physik und der speziellen Relativitätstheorie bildeten Raum und Zeit gewissermaßen die Bühne, auf der sich alles Geschehen abspielt. Sie geben in diesen Theorien den Spielraum des möglichen Geschehens vor. Die Bühne selbst wurde durch das Geschehen jedoch nicht beeinflusst. So bildete sie einen unveränderlichen Hintergrund, der selbst nicht Teil des Geschehens ist, aber den Rahmen des Geschehens bestimmt. In der allgemeinen Relativitätstheorie wird die Raumzeit selbst durch die Materie in ihr gekrümmt. Es existiert also keine Struktur, die unveränderlich vorgegeben wäre. Für alle Größen existieren Gleichungen, die Dynamik und Zusammenhang der Größen beschreiben, und alle Größen werden durch andere beeinflusst:83 Raum wird durch Materie gekrümmt und Materie durch Raum gelenkt. Das Fehlen jeglichen Hintergrunds, das heißt jeglicher unveränderlicher Bühne, bezeichnet man als Hintergrundunabhängigkeit. So intuitiv diese Definition von Hintergrundunabhängigkeit ist, so schwer ist es, die genaue Bedeutung dieser Intuition mathematisch zu fassen. Dass Raum und Zeit in der newtonschen Physik durch das Geschehen in ihr nicht beeinflusst wurden, ist anschaulich klar. Dass in der allgemeinen Relativitätstheorie die Raumzeit durch 81 Dies geschieht zum Beispiel, wenn die Schwarzschild-Metrik Schwarzer Löcher auf Bereiche unterhalb des Ereignishorizontes fortgesetzt wird. Vgl. R. Oloff, Geometrie der Raumzeit. Eine mathematische Einführung in die Relativitätstheorie, Wiesbaden 3. Aufl. 2004, 196 f. 82 So auch Einstein, Mein Weltbild, 137. Dies ist der Grund, weshalb in modernen Formulierungen zunächst die koordinatenunabhängigen Größen eingeführt und erst nachträglich spezielle Koordinatensysteme gewählt werden. 83 So die Kriterien für Hintergrundunabhängigkeit nach D. Rickles, „Who’s Afraid of Background Independence?“, in: D. Dieks (Hrsg.), The Ontology of Spacetime II, Philosophy and Foundations of Physics 4, Amsterdam 2008, 133–152, hier 138–146 insbesondere 144 f.

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die Materie gekrümmt wird und daher kein unveränderbarer Hintergrund, ist zwar weniger anschaulich, aber ausgehend von den Grundpostulaten der allgemeinen Relativitätstheorie einleuchtend. Diesen Unterschied mathematisch exakt zu formulieren, scheint jedoch noch nicht gelungen zu sein. Der Grund für die Probleme mathematischer Definitionen der Hintergrundunabhängigkeit liegt darin, dass sich Theorien mit statischen Hintergründen so umformulieren lassen, dass der Hintergrund scheinbar eine dynamische Größe ist. Die Kriterien müssen also so gewählt werden, dass sie Größen, die nur scheinbar dynamisch sind, zuverlässig von echten dynamischen Größen unterscheiden.84 Trotz dieser mathematischen Schwierigkeiten wird in dieser Arbeit der Begriff der Hintergrundunabhängigkeit verwendet, wie er oben erläutert wurde. Zum einen kann auf den Begriff der Hintergrundunabhängigkeit in der allgemeinen Relativitätstheorie nicht verzichtet werden. Zum anderen ist seine intuitive Bedeutung dennoch verständlich und bezeichnet einen wesentlichen Unterschied zwischen allgemeiner Relativitätstheorie und newtonscher Physik beziehungsweise spezieller Relativitätstheorie. Absolute oder relationale Zeit? Der offensichtlichste Unterschied der Zeit in der allgemeinen Relativitätstheorie gegenüber der speziellen Relativitätstheorie besteht in der Krümmbarkeit. Die Raumzeit ist nicht mehr unveränderlicher, vorgegebener Hintergrund der physikalischen Prozesse, sondern selbst Gegenstand physikalischer Dynamik. Diese Dynamik zeigt sich an der Metrik, die Krümmung und Kausalstruktur der Raumzeit kodiert. Wie die Materie wird auch die Metrik und mit ihr die Krümmung der Raumzeit durch ein Feld beschrieben. Sie reagiert dynamisch auf Einflüsse der Materie85 und ist damit objektiver Gegenstand der physikalischen Beschreibung. Diese Metrik beschreibt etwas eigenständig Existierendes, Dynamisches. Denn zum einen muss dieses Feld eine Eigenschaft von etwas Veränderlichem sein. Zum anderen können die Koeffizienten der Metrik nicht auf die anderen heute bekannten Felder zurückgeführt werden. Die Metrik beschreibt also etwas Zusätzliches neben den Materiefeldern, das aber ebenso dynamisch ist wie diese. Da die Metrik die Längenmaße und die Geometrie auf der Raumzeit definiert, erscheint es zwingend, der Raumzeit diese Dynamik und eigenständige Existenz zuzuschreiben. Somit hat die allgemeine Relativitätstheorie unmittelbare Konsequenzen für die Debatte zwischen absoluter und relationaler Deutung der Raumzeit, auf die im Folgenden eingegangen wird. Wie in der Interpretation als absolute Zeit muss die Raumzeit etwas eigenständig Existierendes beschreiben. Sie kann nicht nur eine rein relative Ordnung sein, 84 Vgl. zu den Problemen der Definition der Hintergrundunabhängigkeit D. Giulini, „Remarks on the Notions of General Covariance and Background Independence“, in: I.-O. Stamatescu/E. Seiler (Hrsg.), Approaches to Fundamental Physics. An Assessment of Current Theoretical Ideas, Lecture Notes in Physics 721, Berlin/Heidelberg 2007, 105–120, hier 109–118. 85 Bergmann, „The Space-Time Concept in General Relativity“, 156.

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wie in Leibniz’ Verständnis. Sie ist eine dynamische Größe, deren Krümmung nach den Gesetzen der allgemeinen Relativitätstheorie durch Materie und kontingente Anfangszustände bestimmt wird und ebenso auf die Materie zurückwirkt. Materie und Raumzeit stehen in beständiger Wechselwirkung miteinander. Die Metrik kann dabei nicht auf Relationen zwischen materiellen Objekten zurückgeführt werden, so dass zumindest die Metrik als ebenso real betrachtet werden muss wie jedes Materiefeld.86 Das hat zur Folge, dass jeder Raumzeitpunkt eindeutig durch seine Vergangenheit bestimmt ist, das heißt durch die Materieverteilung und durch seine Relationen zu den vergangenen Raumzeitpunkten. Die Anfragen, die Leibniz an das Konzept des absoluten Raums beziehungsweise der absoluten Zeit gestellt hat (siehe Abs. 3.2.3), lassen sich also analog zu Leibniz’ relationaler Deutung beantworten: Der erste Zeitpunkt des Universums ist genau dadurch bestimmt, dass er der erste Zeitpunkt ist. Vorher gab es keine Zeit. Es ergibt auch keinen Sinn, das Universum um einen bestimmten Abstand verschieben zu wollen. Denn jeder Punkt des Raumes ist durch seine Krümmung und seinen Kontext, das heißt durch die Metrik und die Materieverteilung, eindeutig bestimmt. Es gibt keinen Hintergrund, vor dem die Raumzeit der allgemeinen Relativitätstheorie nochmals verschoben werden könnte. Das bedeutet, dass die Punkte der Raumzeit relativ zueinander und zur Materie bestimmt sind, weil die Raumzeit oder zumindest ihre Metrik etwas eigenständig Existierendes beschreibt, das als solches krümmbar ist. Dies verdeutlicht auch, dass es nicht die eigenständige Existenz der Raumpunkte ist, die schon Leibniz’ Einwand ermöglicht, sondern die Geometrie gegeben durch die Metrik.87 Nur wenn eine Geometrie vorliegt, die Symmetrien aufweist, werden entsprechende Raumzeitpunkte ununterscheidbar. Im flachen, euklidischen Raum sind daher alle Punkte ununterscheidbar. Im realen Universum dürfte es jedoch keine exakten Symmetrien geben. Weder Newtons noch Leibniz’ Deutung von Raum und Zeit lassen sich also ohne Modifikationen auf die Raumzeit der allgemeinen Relativitätstheorie anwenden. In ihrer Beschreibung der Raumzeit finden sich vielmehr Aspekte beider Deutungen wieder: Die eigenständige Realität der Raumzeit von Newton und die relative Identifizierbarkeit der Raumzeitpunkte durch Materie und Krümmung von Leibniz. Das Hole Argument Die eigenständige Realität der Raumzeit wurde in den letzten Jahrzehnten durch das „Hole Argument“ in Frage gestellt.88 Dieses Argument basiert darauf, dass nur die

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Für diese Sichtweise plädiert auch DiSalle, Understanding Space-Time, 138–149. Darauf weist Nerlich, „Space-Time Substantivalism“, 287 hin. 88 Earman/Norton, „What Price Spacetime Substantivalism?“; Earman, World Enough and SpaceTime, 175–180. Eine Übersicht gibt Nerlich, „Space-Time Substantivalism“, 296–300. 87

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Punkte der Raumzeit mit ihrer Topologie als Raumzeit angesehen werden.89 Die Metrik, in der die geometrischen Eigenschaften der Raumzeit kodiert sind, wird nicht zu dieser gezählt, sondern als ein zusätzliches Objekt in ihr betrachtet. Ausgehend von dieser Voraussetzung ist es offensichtlich, dass eine andere Zuordnung der Metrik und Materie zu den Raumpunkten zu einem Objekt führt, dass sich hinsichtlich aller beobachtbaren Eigenschaften nicht vom ursprünglichen unterscheiden lässt, aber per Definition ein anderes ist. Denn alle Observablen inklusive der Orts- und Zeitmessungen ergeben sich aus den Feldern der Metrik und Materieverteilung und nicht aus den anders zugeordneten Punkten. In der Tat folgt also, dass eine substanzialistische Sicht der Raumzeitpunkte (ohne Metrik) zu einem problematischen Indeterminismus führt, der ähnliche Gegenargumente provoziert, wie sie Leibniz gegenüber Clarke formuliert hat. Für gewöhnlich wird jedoch die Metrik zur Raumzeit und nicht zur Materie gezählt. Unter dieser Voraussetzung ist eine eigenständige Existenz der Raumzeit (mit Metrik) sicher. Denn sie ist nicht auf die Materieverteilung reduzierbar und es existiert ein Einfluss der Metrik auf die Dynamik, wie er in der Krümmung der Lichtstrahlen nachgewiesen ist. Fraglich an dem Hole Argument ist also die Zuordnung der Metrik zu den Materiefeldern. Sie scheint unter anderem aus einem Missverständnis des mathematischen Apparats der allgemeinen Relativitätstheorie zu folgen. Im Folgenden werden zwei zusammenhängende Argumente vorgebracht, die für eine Einbeziehung der Metrik zur Raumzeit sprechen und damit das Hole Argument aushebeln: Im Gegensatz zu Nortons und Earmans Verständnis des RaumzeitSubstanzialismus darf eine abstrakte Mannigfaltigkeit nicht für eine reale Substanz gehalten werden. Denn sie ist eine Abstraktionsleistung. Zweitens lässt sich von einer abstrakten Mannigfaltigkeit ohne Metrik nicht sagen, was sie ist beziehungsweise was ihr in der Natur entspricht. Zum ersten Argument ist auf die Bedeutung des mathematischen Konstrukts der Mannigfaltigkeit einzugehen: Der mathematische Unterbau der allgemeinen Relativitätstheorie basiert auf dem Begriff der differenzierbaren Mannigfaltigkeit. Sie ist eine Menge von Punkten, auf denen neben einer Topologie ein Atlas von Karten, das heißt Abbildungen in reelle Vektorräume, definiert ist.90 Über die Topologie und den Atlas ist festgelegt, wie die einzelnen Punkte ein glattes, zusammenhängendes Objekt bilden, aber nicht welche Maße oder Formen es hat. Der entscheidende Fehler des „Hole Arguments“ ist, dass dem Substanzialisten unterstellt wird, er bezeichne die Menge der Punkte an sich als Raumzeit, an die alle weiteren Objekte der Theorie gleichsam angehängt werden. Dieses Verständnis wird möglicherweise durch die Bezeichnung „Punkt“ und die Definition des Feldes nahegelegt. Ein Feld 89

Vgl. Earman/Norton, „What Price Spacetime Substantivalism?“, 518 f. Dies ist die Standarddefinition nach H. Whitney, „Differentiable Manifolds“, Annals of Mathematics 37 (1936), 645–680, hier 646 f. Eine topologische Mannigfaltigkeit ist bereits zu abstrakt, da dieser Begriff auch diskrete Mengen als nulldimensionale Mannigfaltigkeiten umfasst. Die Definition von Whitney dürfte Norton und Earman daher am meisten entgegenkommen. 90

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ordnet jedem Element der Raumzeit etwas zu. Doch sollten die Begrifflichkeiten der mathematischen Definitionen nicht mit den physikalischen Sachzusammenhängen verwechselt werden. In der mathematischen Beschreibung physikalischer Systeme werden die Gegenstände der Physik durch mathematische Objekte repräsentiert. Auf Seiten der Mathematik lassen sich dabei verschiedene Ebenen der Abstraktion unterscheiden: Mengen beliebiger Elemente können alles mögliche sein. Topologische Mannigfaltigkeiten haben zusätzlich eine Topologie, die beschreibt, wie die Elemente „benachbart“ sind. Differenzierbare Mannigfaltigkeiten haben differenzierbare Karten, die allen Elementen ihre Koordinaten zuordnen. Ist eine Metrik auf der Mannigfaltigkeit definiert, lassen sich die Abstände zwischen den Punkten messen. Diese Abstraktionsebenen dürfen jedoch nicht mit ontologischen Stufen verwechselt werden. Denn alles lässt sich auf die Ebene von Mengen irgendwelcher Elemente abstrahieren, ohne dass man davon ausgeht, dass eigenschaftslose Elemente die Grundsubstanz von allem bilden. Auf den höheren Abstraktionsebenen werden die weitergehenden Eigenschaften lediglich ignoriert, um zu Aussagen zu gelangen, die einen möglichst weiten Anwendungsbereich haben. Bei der Definition des mathematischen Apparats der Relativitätstheorie geht man darum vom Allgemeinsten zum Konkreten vor, ohne dass dies einer ontologischen Hierarchie oder einer Reihenfolge im Schöpfungsprozess entsprechen müsste, auch wenn es sich wie eine Konstruktionsvorschrift lesen mag. Es ist eher mit einem Klassifizierungsprozess vergleichbar. Am Anfang steht nur fest, dass „Etwas“ da ist. In der weiteren Folge wird es mit jeder Eigenschaft etwas genauer bestimmt. Wenn die Raumzeit also die Menge der Punkte einer Mannigfaltigkeit ist, dann ist sie die Menge dieser Punkte mit den weiteren Eigenschaften, von denen in der Definition der Mannigfaltigkeit lediglich abstrahiert wurde. Dies wird im Folgenden mit dem zweiten Argument verdeutlicht: Es gibt nicht nur Mannigfaltigkeiten, die aus Punkten aufgebaut sind, sondern auch solche aus Transformationen, Operatoren und allen anderen denkbaren Objekten. Sie werden in der Definition einer Mannigfaltigkeit alle gleich behandelt. Ein Beispiel sind LieGruppen: Mannigfaltigkeiten, auf denen eine Gruppenmultiplikation definiert ist, können zum Beispiel die Rotationsgruppen oder andere kontinuierliche Symmetriegruppen sein. Jeder „Punkt“ dieser Mannigfaltigkeit ist eine Transformation, die auf einen anderen Raum wirkt. Weitere Beispiele sind die Mannigfaltigkeit der Farben und alle räumlich ausgedehnten Objekte. Auf dieser Abstraktionsebene lässt sich eine Tasse nicht vom Donut unterscheiden,91 ebenso wenig wie die Raumzeit von allen anderen Mannigfaltigkeiten, die zufälligerweise dieselbe Topologie haben und differenzierbar sind. Natürlich sind Tasse und Donut trotzdem unterschieden. Jedes der Elemente der Menge hat weitergehende Eigenschaften, von denen auf die91 Ein gängiger Witz in der Mathematik. Eine einhenklige Tasse und ein Torus haben beide ein „Loch“ und lassen sich darum stetig ineinander überführen. Ohne Informationen, die über die Topologie hinausgehen, sind sie also nicht unterscheidbar.

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ser Beschreibungsebene lediglich abstrahiert wurde. Ohne diese Eigenschaften wären die beiden Objekte aber nicht das, was sie sind. Eine dieser Eigenschaften ist bei der Raumzeit die Metrik. Erst durch diese weitergehende Beschreibung lässt sich die Raumzeit von anderen Mannigfaltigkeiten mit derselben Topologie unterscheiden. Ohne Metrik ließe sich insbesondere nicht unterscheiden ob etwas eine vierdimensionale Raumzeit ist oder ein vierdimensionaler Raum. Deshalb kann nur etwas als Raumzeit bezeichnet werden, das überhaupt eine Metrik hat. Sinnvolle Definitionen der Raumzeit bezeichnen sie daher als vierdimensionale, orientierte und zeitorientierte semi-Riemannsche Mannigfaltigkeit (inklusive Metrik) mit Lorentz-Signatur,92 das heißt eine differenzierbare Mannigfaltigkeit mit einer Metrik, die eine Zeit- und drei Raumdimensionen hat. Da die Metrik messbare Eigenschaften beschreibt und nicht auf andere bekannte Felder reduzierbar ist, ist damit die eigenständige Realität der Raumzeit sicher gestellt. Nur wenn die Metrik exakte Symmetrien aufweist, könnte das Hole Argument mit dieser zusätzlichen Struktur wiederholt werden.93 Denn neben der Metrik (und der Materie) gibt es kein weiteres Feld in der allgemeinen Relativitätstheorie, das die Punkte voneinander unterscheiden könnte. Aber mit einer Metrik ohne Symmetrien ist jeder Punkt durch seine topologische Lage und geometrische Beziehung definiert.94 Damit ist keineswegs gesagt, was die Raumzeit tatsächlich ist. Denn es bleibt unbestimmt, was genau diese „Punkte“ sind, aus denen die Mannigfaltigkeit aufgebaut ist. Es handelt sich immer noch um einen höchst abstrakten Begriff, der vieles offen lässt. Aber es wird die Bedingung an sie gestellt, dass sie eine messbare Eigenschaft hat, die sich mit einer Metrik beschreiben lässt. Die Realität von etwas, das in der allgemeinen Relativitätstheorie als Raumzeit in diesem Sinne modelliert wird, steht daher außer Frage. Norton und Earman gehen davon aus, dass die Metrik auf die Seite der physikalischen Felder, die in Raum und Zeit als ihrem „Container“ definiert sind, gezählt werden sollten, weil Phänomene dieser Metrik wie Gravitationswellen Energie tragen und mit der Materie wechselwirken. Wollte man dagegen die Metrik zur Raumzeit zählen, so wäre nicht mehr klar zwischen „container“ und „contained“ zu unterscheiden.95 Damit benennen sie eine der wichtigsten Konsequenzen der allgemei92 Zum Beispiel Oloff, Geometrie der Raumzeit, 48–49, insbesondere die Definitionen 4.12, 4.13, 4.16. Für eine Einbeziehung der Metrik plädiert mit guten mathematischen Argumenten auch Stachel, „The Meaning of General Covariance“, 135 und 138–141. Weniger überzeugend ist ein entsprechender essentialistischer Ansatz von T. Maudlin, „The Essence of Space-Time“, PSA: Proceedings of the Biennial Meeting of the Philosophy of Science Association (1988): Bd. 2: Symposia and Invited Papers, 82–91, hier 86 f. Auch Hoefer sieht einen Substanzialismus einer Raumzeit mit Metrik als vielversprechenden Ansatz. Vgl. Hoefer, „The Metaphysics of Space-Time Substantivalism“, 24–27. 93 So Norton, „The Hole Argument“, 59–62. 94 Siehe Stachel, „The Meaning of General Covariance“, 138–144, der seine Interpretation relational nennt, auch wenn er die Realität der Metrik und damit der Raumzeit unabhängig von Materie annimmt. 95 Vgl. Earman/Norton, „What Price Spacetime Substantivalism?“, 519.

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nen Relativitätstheorie für eine Philosophie der Zeit, auch wenn sie diese ablehnen: Für alle sinnvollen Definitionen der Raumzeit ist die klassische Unterscheidung zwischen Container (Raumzeit) und Inhalt (Geschehen) erheblich aufgeweicht worden. Es ergeben sich zwei mögliche Interpretationen: Entweder interagiert der Container dynamisch mit seinem Inhalt oder es gibt keine klare Grenze zwischen Container und Inhalt mehr. Mit der Interaktion zwischen Raumzeit und Materie ist die eigenständige Existenz der Raumzeit erwiesen. Dies hat allerdings zur Folge, dass die Raumzeit Eigenschaften übernimmt, die traditionellerweise nur der Materie zugeordnet wurden. Dazu gehören zeitliche Veränderungen und die Beeinflussung durch die Dynamik der Materie. Zugleich dürfen die Unterschiede zwischen Raumzeit und Materie angesichts dieser Annäherung nicht verwischt werden. Robert Rynasiewicz hat die Hypothese aufgestellt, dass sich die Debatte zwischen Clarke und Leibniz nicht auf die moderne Physik fortsetzen lässt, weil die damaligen Kategorien nicht eindeutig in die modernen Begriffe extrapoliert werden können. Die klare Unterscheidung zwischen Raum und Materie sei zunächst im Äther- und schließlich im Feldbegriff aufgehoben worden.96 Tatsächlich wurde der Äther teils materiell, teils als Synonym für Raum verstanden und in der modernen Physik werden gleichermaßen Felder verwendet, um Raumkrümmung und Materie zu beschreiben. Wie das Verhältnis von Raumzeit und Materiefeldern gedacht wird, ist durch die Verwendung von Feldern als Werkzeugen allerdings noch nicht festgelegt. Felder sind zunächst nur Zuordnungen von mathematischen Objekten zu Raumzeitpunkten. Wenn etwas durch ein Feld beschrieben wird, folgt daraus also nur, dass sich seine Eigenschaften über einen raumzeitlichen Bereich erstrecken. Da dies auf fast alles zutrifft, sind Felder ein sehr allgemeines und vielverwendetes Werkzeug. Die ontologische Interpretation und das genaue Verhältnis von Raumzeit und Materie bleiben dabei offen. Trotz gleicher mathematischer Beschreibung können Metrik und Materie grundverschiedene Sachen sein. Zudem zeigen sich in der allgemeinen Relativitätstheorie deutliche Unterschiede zwischen Metrik und Materiefeldern: Die Metrik beschreibt die Geometrie der Raumzeit, das heißt eine Art Winkel zwischen Kurven, die sich kreuzen, und die Längen der Kurven. Die Materiefelder beschreiben dagegen Anregungen in Form von Teilchen, die dieser Geometrie folgen. Die unterschiedliche Bedeutung der verschiedenen Felder zeigt sich an den Positionen, an denen die Felder in den Gleichungen auftauchen. Es bleiben also eindeutige Unterschiede zwischen Materie und Raum, die auch in Kontinuität zu den Unterschieden zwischen Raum und Materie zu Newtons Zeiten stehen. Die grundlegende Frage, ob die Raumzeit 96

Vgl. R. Rynasiewicz, „Absolute Versus Relational Space-Time: An Outmoded Debate?“, JPh 93 (1996), 279–306, hier 293–299 und 306 und im Anschluss an Rynasiewicz auch Rickles, „Who’s Afraid of Background Independence?“, 148. Zweifel an der Unterscheidbarkeit dieser Positionen äußert auch K. Hawley, „Metaphysics and Relativity“, in: R. L. Poidevin u. a. (Hrsg.), The Routledge Companion to Metaphysics, 1. Veröffentlichung als Paperback, London/New York 2012, 507–516, hier 515.

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eine eigenständige Existenz hat oder auf Relationen der Materiefelder reduzierbar ist, bleibt also sinnvoll. Im Rahmen der Relativitätstheorien und Quantenfeldtheorien kann die Metrik nicht auf die Materiefelder reduziert werden und hat messbare Wirkungen. Somit spricht die allgemeine Relativitätstheorie für die eigenständige Realität der Raumzeit. Aber Raumzeit ist nicht mehr die äußere, vorgegebene Form aller Physik, sondern selbst Inhalt und Gegenstand physikalischer Forschung. Kausale Schleifen Die Krümmung der Raumzeit erlaubt extreme Lösungen, die weitere Konsequenzen für eine Philosophie der Zeit haben. Raum und Zeit sind nicht nur so schwach gekrümmt, dass Wellen und kleine Abweichungen auf ihr möglich sind. Sie können sogar in sich geschlossen sein, wie die Erdoberfläche in sich geschlossen ist: Sie ist endlich und hat doch keine Kante, an der sie aufhört. Im Fall des Raums lässt sich dies sehr ähnlich vorstellen: Er könnte in sich geschlossen sein, so dass man wieder an seinem Ausgangspunkt ankommt, wenn man stets geradeaus fliegt. Auch für die Zeit ist dies nicht ausgeschlossen. Die „Kerr-Metrik“ könnte näherungsweise rotierende Schwarze Löcher beschreiben. Eine Untersuchung der Kausalitätsstruktur innerhalb des Ereignishorizontes des Schwarzen Loches ergibt, dass dort geschlossene, zeitartige Kurven existieren. Dies bedeutet, dass die Raumzeit so verzerrt wird, dass es Bahnen gibt, auf denen Teilchen in ihre eigene Vergangenheit fliegen können.97 Andere Lösungen, die geschlossene zeitartige Kurven enthalten, wie rotierende Universen, hat auch Kurt Gödel gefunden.98 Nimmt man diese Lösungen als reale Möglichkeiten ernst, wird damit das traditionelle Konzept der Zeitmodi schwer haltbar. Denn ein objektives „früher“ oder „später“ lässt sich nicht mehr aussagen, da derselbe Zeitpunkt auf der geschlossenen zeitartigen Kurve sowohl früher als auch später als ein anderer sein müsste.99 Alle Ereignisse auf einer geschlossenen zeitartigen Linie können sich also gegenseitig beeinflussen und müssten als eine Gegenwart angesehen werden. Auch eine strenge Kausalordnung wäre durch die Existenz solcher Lösungen widerlegt.100 Darüber hinaus lässt sich in einer Raumzeit mit geschlossenen zeitartigen Kurven keine globale Einteilung in eine Folge von Räumen gleicher Zeit vornehmen, wie sie von klassischen Zeittheorien vorausgesetzt wurde. In der speziellen Relativitätstheorie war die Wahl einer der gleichwertigen Einteilungen lediglich willkürlich. In der Gegenwart von geschlos97 B. Carter, „Global Structure of the Kerr Family of Gravitational Fields“, Physical Review 174 (1968), 1559–1571, hier 1565 f. 98 Siehe Gödel, „Eine Bemerkung über die Beziehungen zwischen der Relativitätstheorie und der idealistischen Philosophie“, 409 f. 99 A. Einstein, „Bemerkungen zu den in diesem Bande vereinigten Arbeiten“, in: P. A. Schilpp (Hrsg.), Albert Einstein als Philosoph und Naturforscher, Braunschweig/Wiesbaden 1979, 493–511, Unveränd. Nachdr. der Ausgabe Stuttgart 1955, hier 510 f. 100 Gegen Evers, Raum – Materie – Zeit, 300, der eine objektive Kausalstruktur von Früher-/Später-Relationen in der Relativitätstheorie als gegeben annimmt.

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senen zeitartigen Kurven müsste ein raumartiger Schnitt durch die Raumzeit, der einmal von einer solchen Kurve geschnitten wird, mindestens ein zweites Mal von ihr geschnitten werden, damit die Kurve geschlossen werden kann. Die Punkte des Schnitts durch die Raumzeit wäre also nicht rein raumartig getrennt. Über die geschlossene zeitartige Kurve existiert auch eine zeitartige Verbindungslinie. Eine globale Folge von Räumen gleicher Zeit lässt sich in Universen mit geschlossenen zeitartigen Kurven nicht definieren,101 so dass schon die erste Voraussetzung für eine absolute Zeit fehlt. Eine Richtung der Zeit kann trotz der kausalen Schleifen existieren. Dazu müssen die Konzepte „früher“ und „später“ durch „vergangenheits-“ und „zukunftsgerichtet“ ersetzt werden. Die Richtung der Zeit wird also nicht mehr durch eine Relation zwischen verschiedenen Raumzeitpunkten definiert, die besagen würde, welcher der Punkte früher oder später ist. Stattdessen wird an jedem einzelnen Punkt eine der beiden Zeitrichtungen als zukunfts- und die andere als vergangenheitsgerichtet bezeichnet.102 Diese Richtungszuordnung ist auch in kausalen Schleifen möglich, so dass ein Teilchen, das sich stets in Richtung Zukunft bewegt, wieder am selben Zeitpunkt ankommen kann. Zwischen kausalen Schleifen mit zeitlicher Orientierung und Bereichen, die keine kausalen Schleifen enthalten, sind auch stetige Übergänge möglich, wie das Beispiel der rotierenden Schwarzen Löcher zeigt. Eine globale Richtung der Zeit ist daher durchaus mit kausalen Schleifen kompatibel. Es existieren jedoch auch Lösungen der allgemeinen Relativitätstheorie, in denen sich keine globale Zeitrichtung definieren lässt.103 Das sind Lösungen, in denen ein Beobachter entlang bestimmter Bahnen nicht nur in seine eigene Vergangenheit gelangen kann, sondern seine Vergangenheit dann auch noch rückwärts ablaufen sieht. Die Zeitpfeile, die der Beobachter vor und nach der Reise entlang dieser Bahn hat, sind entgegengesetzt. Es lässt sich also keine einheitliche Zeitrichtung definieren. Möglich bleibt jedoch die Definition lokaler Zeitrichtungen.104 Diese wären nur in bestimmten Bereichen gültig. Zwischen Bereichen mit unterschiedlichen Zeitpfeilen müssten Gebiete liegen, in denen keine Richtung der Zeit erkennbar ist. Nach allen bis heute gesammelten Erkenntnissen über das Universum besitzt es eine eindeutige Richtung der Zeit. Es könnte also sein, dass diese Zeitrichtung 101

S. Savitt, „Time Travel and Becoming“, The Monist 88 (2005), 413–422, hier 418. Ein ähnliches Argument vertritt ohne Bezug auf geschlossene zeitartige Kurven auch D. Lehmkuhl, „On Time in Spacetime“, PhN 49 (2012), 225–237, hier 231–234. 103 Derartige Lösungen lassen sich als mathematische Spielerei leicht konstruieren. Die flache Raumzeit der speziellen Relativitätstheorie löst die Einstein-Gleichungen, wenn keine Materie vorhanden ist. Die Einstein-Gleichungen legen jedoch nur die lokalen Zusammenhänge fest, nicht die globale Topologie. Einen Raum, auf dem sich keine globale Zeitrichtung definieren lässt, kann man deshalb konstruieren, indem man aus einem flachen Raum ein Stück herausschneidet, so dass es zwei räumliche Grenzen hat, und diese Grenzen verdreht zusammenfügt. So erhält man eine Art Möbius-Band mit zwei zusätzlichen räumlichen Dimensionen. 104 Darauf weist Lehmkuhl, „On Time in Spacetime“, 232 f. hin. Er ist mit dieser Lösung jedoch unzufrieden. 102

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fundamental105 ist und eine zukünftige Theorie der Gravitation diese Richtung beschreiben müsste. Die allgemeine Relativitätstheorie kennt jedoch keine fundamentale Zeitrichtung. Ihr Zeitbegriff geht wie die klassische Physik von einer prinzipiell symmetrischen Zeit aus. Das zeigt die Möglichkeit der Lösungen, in denen eine globale Zeitrichtung unmöglich ist, aufs Deutlichste. Daher muss damit gerechnet werden, dass die Richtung der Zeit ein Phänomen ist, das erst auf einer höheren Ebene entsteht. Die lokalen Zeitpfeile müssten durch andere Theorien beschrieben werden, zum Beispiel durch die Thermodynamik. Inwiefern lokale, nicht fundamentale Zeitpfeile als real angesehen werden können, wird daher in Abs. 3.7 diskutiert werden, wenn auch die Thermodynamik miteinbezogen werden kann (vgl. Abs. 3.7.2). Dynamische Zeit Schon die spezielle Relativitätstheorie hat klassische Kriterien eines objektiven Zeitflusses in Frage gestellt. Mit geschlossenen zeitartigen Kurven und Lösungen ohne Möglichkeit einer globalen Zeitrichtung geht die allgemeine Relativitätstheorie darüber hinaus. Dennoch existieren auch Gründe, die Zeit der allgemeinen Relativitätstheorie als dynamisch zu charakterisieren. Genau wie in der speziellen Relativitätstheorie ist es möglich, die Topologie und die Metrik bis auf einen Faktor, der dem Volumen entspricht, auf die zeitartigen Kurven zurückzuführen.106 Die raumartigen Relationen können folglich auf die zeitartigen Zusammenhänge reduziert werden. Außerdem breiten sich Wirkungen allein in zeitartigen Richtungen aus. Diese beiden Eigenschaften können als Anzeichen eines Vorrangs der Zeit gegenüber dem Raum interpretiert werden. Da klassische Modelle dynamischer Zeit in der allgemeinen Relativitätstheorie jedoch nicht möglich sind, muss ein neues, an die Relativitätstheorien angepasstes Verständnis dynamischer Zeit entwickelt werden. Dazu muss auf das klassische Verständnis vom „Fließen“ einer absoluten Zeit verzichtet werden. Ein Ansatz wurde bereits in Abs. 3.3.1 angedeutet: Der lokalisierte Beobachtertyp müsste als fundamental angesehen werden und der zeitlose Beobachter als Fiktion. Dies führt zu einem Konzept von lokalem Zeitfluss und Werden. Diese Dynamik ließe sich nicht in einer absoluten Zeit einordnen, sondern wäre wie die allgemeine Relativitätstheorie hintergrundunabhängig. Dieser Ansatz übernimmt nicht alle Aspekte der klassischen dynamischen Zeitmodelle. So wird insbesondere auf eine globale Abfolge von Zeiten verzichtet. Eine dynamische Interpretation, die von diesem Ansatz ausgeht, soll im Folgenden dargestellt werden. Dabei wird an dieser Stelle zunächst da105 Das Wort „fundamental“ wird hier im Sinne fundamentaler Theorien gebraucht. Wenn die physikalischen Theorien geordnet werden nach ihren Abhängigkeiten untereinander, dann sind fundamentale Theorien diejenigen Theorien, die sich aus keiner anderen ableiten lassen. Fundamentale Phänomene sind folglich die Phänomene, die durch diese fundamentalen Theorien beschrieben werden. 106 Vgl. Malament, „The class of continuous timelike curves determines the topology of spacetime“, 1399.

3.3. Relativistische Zeit und Kosmologie

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von ausgegangen, dass die Raumzeit zeitlich orientierbar ist, also eine globale Zeitrichtung definiert werden kann. Ob diese Interpretation auch möglich ist, wenn die Richtung der Zeit erst auf einer höheren Ebene hervorgeht und nur lokal definiert ist, wird vor dem Hintergrund der Thermodynamik in Abs. 3.7 diskutiert werden. Ein traditionelles Kriterium für eine dynamische Welt ist die fundamentale Realität der Zeitmodi.107 Ein Weltbild wird dann statisch genannt, wenn die Zeitmodi nur das Resultat der Einschränkung der menschlichen Wahrnehmung auf eine Perspektive innerhalb eines Blocks sind, der das Ganze der Zeit beschreibt. Die klassischen dynamischen Weltbilder beschreiben die Welt darum im Sinne einer A-Reihe nach McTaggarts Schema:108 Es gibt eine Abfolge globaler Zustände, von denen einer objektiv als das „Jetzt“ ausgezeichnet ist und Vergangenheit und Zukunft unterscheidet. Die objektive Auszeichnung der weltumfassenden Gegenwart gewährleistet die Realität der Zeitmodi. Nach den Relativitätstheorien existiert keine solche Folge globaler Zeitpunkte. Selbst eine B-Reihe im strengen Sinne, eine globale Abfolge ohne ausgezeichnetes „Jetzt“, ist demnach nicht mehr möglich. Zur B-Reihe existiert jedoch ein natürliches Äquivalent: Wenn die Raumzeit zeitlich orientierbar ist, lassen sich global zwei Richtungen der Zeit unterscheiden. Trotz dieser Orientierbarkeit ist beim Vergleich zweier Punkte nicht in jedem Fall definiert, welcher im klassischen Sinne früher oder später ist. Die Punkte können raumartig getrennt sein oder auf einer zeitartig geschlossenen Kurve liegen. Aber an jedem Punkt lässt sich einer der Lichtkegel als zukunfts- und der andere als vergangenheitsgerichtet bezeichnen. Man muss also von der klassischen Definition der Zeitrichtung über Früher- und Später-Relationen zwischen den Zeitpunkten absehen und den allgemeineren Begriff der Orientierbarkeit verwenden. Ein entsprechendes Äquivalent der A-Reihe müsste die Zeitmodi als fundamentaler als die Früher-/Später-Relationen beziehungsweise das Blockbild betrachten. Da sich die Zeitmodi jeweils in Bezug auf einen Punkt der Raumzeit definieren lassen (vgl. Abs. 3.3.1), wäre der natürlichste Ansatz eine Ontologie, die den einzelnen Raumzeitpunkten oder Ereignissen einen Vorrang vor der Gesamtheit der Raumzeit einräumt. Wie Richard Arthur, Dennis Dieks und Steven Savitt vorgeschlagen haben, sollte das Wesen eines Ereignisses in der Raumzeit gerade darin liegen, dass es wird.109 Es ist das Geschehen, das Werden eines Ereignisses und seine Relationen zu vorangehenden und nachfolgenden Prozessen, die einem Ereignis seinen Platz in der Raumzeit zuweisen. Die fundamentalen Elemente der Ontologie wären also die einzelnen Ereignisse der Raumzeit mitsamt ihren Eigenschaften und Relationen untereinander, wie Metrik und zeitliche Orientierung. Die Raumzeit als Ganzes 107 E. T. Olson, „The Passage of Time“, in: R. L. Poidevin u. a. (Hrsg.), The Routledge Companion to Metaphysics, 1. Veröffentlichung als Paperback, London/New York 2012, 440–448, hier 444. 108 Vgl. zur Definition der A- und B-Zeit Abs. 1.3.3 und McTaggart, „The Unreality of Time“, 458. 109 Vgl. Arthur, „Minkowski Spacetime and the Dimensions of the Present“, 151; Dieks, „Becoming, Relativity and Locality“, 170–175; Savitt, „Time Travel and Becoming“, 416–420.

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3. Die Zeit der Physik

existiert nicht für sich, sondern ergibt sich erst sekundär durch die Zusammenhänge der benachbarten Ereignisse. Die tatsächlich existierenden Perspektiven dürften also nur die jeweils lokalen sein, die je für sich als ein lokales Werden zu betrachten sind. Die scheinbar zeitlose Gesamtsicht der Raumzeit ist dagegen eine Konstruktion, für die die einzelnen Raumzeitpunkte entsprechend ihrer Relationen zusammengefügt werden. Diese zeitlose Perspektive ist nach dieser Interpretation jedoch keine real verfügbare Perspektive. Sie ist reine Konstruktion des menschlichen Geistes. In dieser Ontologie wären die Zeitmodi fundamentaler als das Blockbild der Raumzeit. Denn die Zeitmodi sind durch lokale Topologie, Metrik und zeitliche Orientierung definiert, also durch genau die Relationen, über die sich die gesamte Raumzeit aus den einzelnen Raumzeitpunkten zusammensetzen lässt. Jeder Punkt der Raumzeit hat so seine eigenen, lokalen Zeitmodi, seine je eigene Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.110 Der Begriff des Werdens muss ebenso lokal verstanden werden. Jedes Ereignis gehört zur Raumzeit, weil es geschieht. Dabei geht es aus seiner eigenen, unmittelbaren Vergangenheit hervor und ist an der Konstitution seiner unmittelbaren Zukunft beteiligt. Global können sich dabei kausale Schleifen ergeben. Doch lokal könnte die Richtung des Hervorbringens dennoch definiert sein. Die Dynamik ist darum das Primäre, der Gesamtzusammenhang davon abgeleitet. Insbesondere ist die zeitlose Perspektive von außerhalb nur eine gedankliche Konstruktion.111 Der Unterschied zwischen statischer und dynamischer Interpretation kann bildlich veranschaulicht werden: In statischer Interpretation ist das Universum ein solider Block, als Ganzes gegeben, auf dem sich nachträglich einzelne Punkte unterscheiden lassen. Die objektiv richtige Sicht ist der Blick von außen auf den Block, in dem der ganze Block auf einmal sichtbar ist, das heißt „the view from nowhen“.112 Da diese Perspektive abstrakt stets denkbar ist, bleiben statische Deutungen zu jedem dynamischen Bild möglich. Im dynamischen Bild besteht das Universum aus lauter kleinen Bausteinen, den Ereignissen beziehungsweise den Perspektiven des „Now-Here“. Sie haben zwei Verbindungsseiten, die sich als vergangenheits- und zukunftsgerichtet unterscheiden lassen. Aus diesen Ereignissen lässt sich ein ganzes Universum zusammensetzen, indem die Ereignisse jeweils so verbunden werden, dass jedes Ereignis an seiner vergangenheitsgerichteten Seite mit der zukunftsgerichteten Seite mehrerer anderer Ereignisse verbunden ist und umgekehrt. Das einzige objektiv Existierende sind diese Ereignisse und ihre jeweiligen Verknüpfungen, also das jeweils lokale Werden. Der Gesamtzusammenhang ist ebenfalls real, 110 Insofern ähnelt das hier entwickelte Bild den Zeitnetzen Moltmanns (vgl. Abs. 2.2.2). Die Zeitmodi sind allerdings auf die physikalischen Zusammenhänge eingeschränkt und umfassen nicht die gegenwärtige Vergangenheit (Erinnerungen) und Zukunft (Hoffnungen) Moltmanns. 111 Eine vergleichbare Ontologie mit fundamentalem Zeitpfeil ist beispielsweise in den Causal Set Theories zugrunde gelegt. Vgl. Abs. 3.6.3 112 So nennt Huw Price diese Perspektive. Vgl. H. Price, Time’s Arrow & Archimedes’ Point. New Directions for the Physics of Time, New York/Oxford 1996, 4.

3.3. Relativistische Zeit und Kosmologie

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aber abgeleitet aus den lokalen Zusammenhängen der Ereignisse. Dieser Begriff von Dynamik wäre sogar mit kausalen Schleifen kompatibel.113 Eine Perspektive von außerhalb, die alles zugleich im Blick hätte, existiert in dieser Interpretation nicht. Auch die allgemeine Relativitätstheorie erlaubt also neben der statischen eine dynamische Interpretation. Dieser Interpretation fehlt mit der globalen Abfolge von Zuständen zwar ein Kriterium klassischer dynamischer Zeitvorstellungen. Doch sie unterscheidet sich von statischen Weltbildern darin, dass die lokalen Zeitmodi fundamentaler sind als der Gesamtzusammenhang der Raumzeit. Daher kann sie mit gutem Recht als dynamisches Weltbild eingeordnet werden. Eine passende Bezeichnung für diese Interpretation scheint der Begriff „hintergrundunabhängige Dynamik“ zu sein. Er vereint die beiden wesentlichen Aspekte dieser Interpretation. Sie beschreibt eine Dynamik, die sich jedoch nicht vor dem Hintergrund einer absoluten Zeit vollzieht, sondern sich hintergrundunabhängig entwickelt. (vgl. auch die Darstellung der Causal Set Theories in Abs. 3.6.3). 3.3.3. Kosmologie Moderne kosmologische Modelle bauen grundlegend auf Lösungen der allgemeinen Relativitätstheorie auf. Da einige Themen der Kosmologie auch für die Zeitthematik relevant sind, soll hier kurz auf die Konsequenzen der Relativitätstheorien für die Kosmologie eingegangen werden. Mit der Krümmung von Raum und Zeit ist auch eine Geschichte des Universums möglich. Es gibt Lösungen, die einen Anfang und ein Ende der Zeit voraussetzen, ebenso wie Lösungen, die eine unendliche Vergangenheit beziehungsweise Zukunft implizieren oder gar zeitlich geschlossene Universen beschreiben. Die Konsequenzen der allgemeinen Relativitätstheorie für die Frage nach einem Anfang oder Ende der Zeit, sind vor allem durch die Beobachtung der Ausdehnung des Universums ins öffentliche Bewusstsein gedrungen.114 Das Auseinanderdriften aller Galaxien voneinander hat auf die sogenannten Urknallmodelle geführt. Ihre wesentliche Gemeinsamkeit ist, dass sie den Prozess der Ausdehnung rückwärts extrapolieren bis zu einem hypothetischen, punktförmigen Anfangszustand unendlicher Dichte. Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Varianten, insbesondere den Modellen inflationärer Universen, sollen hier nicht betrachtet werden, da sie nicht zu verschiedenen Zeitverständnissen führen. Die Frage nach diesem Anfang der Zeit ist jedoch interessant, da er zu weiterführenden Ansätzen geführt hat. Das 113

Ähnlich auch Savitt, „Time Travel and Becoming“, 418–420. Die Zuordnung der Rotverschiebung der Sterne zu ihrem Abstand von der Erde wurde von Edwin Hubble beschrieben. Vgl. E. Hubble, „A Relation between Distance and Radial Velocity among Extra-Galactic Nebulae“, Proceedings of the National Academy of Sciences 15 (1929), 168– 173, hier 170–173. G. Lemaître hat bereits vorher ein Urknallmodell vorgeschlagen. Vgl. G. Lemaître, „Un univers homogéne de masse constante et de rayon croissant, rendant compte de la vitesse radiale des nébuleuses extra-galactiques“, Annales de la Société scientifique de Bruxelles A47 (1927), 49–59. 114

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3. Die Zeit der Physik

Problem aller Urknallmodelle im strengen Sinne115 ist die unendliche Dichte und die Punktförmigkeit des Universums zu Beginn. Die allgemeine Relativitätstheorie kennt zwar Lösungen wie die Friedmann-Modelle, die eine solche Singularität zu Beginn haben. Innerhalb dieser Modelle lässt sich auch von der späteren Ausdehnung auf die anfängliche Singularität zurückrechnen. Aber umgekehrt kann man nicht von der Singularität zu Beginn des Universums ausgehen und daraus die weitere Entwicklung berechnen. Denn an der unendlichen Dichte versagen die mathematischen Methoden. Mit Singularitäten lässt sich nicht rechnen. Deshalb wurden zahlreiche Urknallmodelle im weiteren Sinne entwickelt, die ohne Anfangssingularität auskommen sollen. Penrose und Hawking haben jedoch gezeigt, dass die Feldgleichungen Einsteins für viele kosmologische Modelle Singularitäten erfordern.116 Ein Modell, das die Anfangssingularität vermeidet, wird in Abs. 3.6.2 diskutiert werden. Es umgeht das Problem, indem es wie auch andere Modelle davon ausgeht, dass eine Quantengravitation keine Singularitäten mehr enthalten wird. Es hat gegenüber einigen anderen Modellen den Vorzug, dass es nicht eine unendliche Vergangenheit einführen muss. Mit besonderem Interesse wird momentan erforscht, wie sich das Universum in Zukunft entwickeln wird.117 Die Friedmann-Modelle sind einfache Modelle, die die Entwicklung des Universums annähern. Der Verlauf der Ausdehnung des Universums hängt nach diesen Modellen insbesondere von zwei Faktoren ab, dem Wert der kosmologischen Konstante und der Form des Universums, ob es geschlossen oder offen ist.118 Dabei gibt es mehrere Modelle, nach denen sich das Universum endlos ausdehnt, und mehrere andere Modelle, nach denen es nach endlicher Zeit in einer Singularität zusammenfällt. Die Grenzmöglichkeit, dass sich das Universum einer konstanten Größe annähert, bedarf erheblichen Feintunings. Neueste Messungen an Supernovae haben gezeigt, dass sich die Ausdehnung des Universums nach einer anfänglichen Phase der Abbremsung momentan beschleunigt.119 Die Friedmann-Modelle erlauben einen solchen Verlauf, wenn die kosmolo-

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Das sind alle Modelle, die tatsächlich von einer Anfangssingularität ausgehen. Vgl. Bergmann, „The Space-Time Concept in General Relativity“, 153 f., der ausführlicher auf das allgemeine Problem der Singularitäten eingeht. 117 Für einen populärwissenschaftlichen Überblick über den aktuellen Stand der Kosmologie und den Weg der Forschung dorthin vgl. J. P. Ostriker/S. Mitton, Heart of Darkness. Unraveling the Mysteries of the Invisible Universe, Princeton N. J./Oxford 2013. 118 Vgl. für einen Überblick über die möglichen Verläufe R. d’Inverno, Introducing Einstein’s Relativity, Oxford 1992, 335–337; Hawking/Ellis, The Large Scale Structure of Space-Time, 134–142, besonders 138; C. W. Misner/K. S. Thorne/J. A. Wheeler, Gravitation, San Francisco 1973, 733– 750. 119 Vgl. die Ergebnisse von A. G. Riess u. a., „Observational Evidence from Supernovae for an Accelerating Universe and a Cosmological Constant“, The Astronomical Journal 116 (1998), 1009– 1038; A. G. Riess u. a., „Type Ia Supernova Discoveries at 𝑧 > 1 from the Hubble Space Telescope: Evidence for Past Deceleration and Constraints on Dark Energy Evolution“, The Astrophysical Journal 607 (2004), 665–687. 116

3.3. Relativistische Zeit und Kosmologie

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gische Konstante einen positiven Wert hat.120 Dieses Resultat hat neben zahlreichen anderen Hinweisen dazu geführt, dass das sogenannte ΛCDM-Modell heutzutage favorisiert wird. Es beschreibt ein Universum, das neben der sichtbaren Materie kalte dunkle Materie besitzt (CDM) und eine positive kosmologische Konstante (Λ).121 Stimmt dieses Modell, wird sich das Universum nicht wieder zusammenziehen, sondern endlos ausdehnen, so dass es kein Ende der Zeit gäbe. Das Modell lässt einige zentrale Fragen offen.122 So ist bis heute unklar, aus was die dunkle Materie besteht und was die Ursache der kosmologischen Konstante ist. Zumeist wird davon ausgegangen, dass eine bisher unbekannte „dunkle Energie“ den Wert der kosmologischen Konstanten bestimmt. In verschiedenen Modellen wird sie mit diversen postulierten Teilchen identifiziert.123 Dieses Modell scheint die Frage nach Anfang und Ende des Universums und damit auch der Zeit zu beantworten. Es hat einen Anfang in einer Singularität, aber kein Ende. Bedeutsamer ist jedoch, dass sich der Charakter dieser Frage deutlich verändert hat. Auch in zukünftigen Theorien wird die Frage nach Anfang und Ende der Zeit lediglich die Frage sein, welche der möglichen Lösungen der Theorien de facto realisiert ist. Ob das Universum einen Anfang hatte kann insbesondere nicht a priori entschieden werden, sondern bestenfalls experimentell. In einem weiteren Sinne bleibt die Frage nach dem Anfang auch konzeptuell interessant: Wie könnte eine physikalische Beschreibung des Anfangens beziehungsweise Endens der Zeit aussehen? In der allgemeinen Relativitätstheorie wird allein beschrieben, wie sich eine Eigenschaft der Raumzeit, die Metrik, mit der Zeit ändern kann. Warum sie anfangen oder enden kann, bleibt ungeklärt und wird nicht thematisiert. In einer weitergehenden Theorie von Raum und Zeit jedoch könnte die Antwort auf die Frage, wie ein Anfangen oder ein Enden der Zeit möglich ist, das Wesen der Zeit erhellen. Neben Anfang und Ende der Zeit taucht auch in der Kosmologie wieder die Frage nach der Universalität der Zeit auf. Seit der Entwicklung kosmologischer Modelle gab es einige Versuche, über die Kosmologie eine universelle Zeit zu definieren. Denn einige kosmologische Modelle enthalten einen Zeitparameter, der für alle Orte gleichmäßig abläuft, wie das Volumen des Universums. Auf ähnliche Weise lassen sich verschiedene Zeitparameter definieren, die jeweils interne Größen des Uni-

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Siehe d’Inverno, Introducing Einstein’s Relativity, 335. Zu einer genaueren Beschreibung des Modells und einer Auflistung der erfolgreichen Vorhersagen aus diesem Modell vgl. Ostriker/Mitton, Heart of Darkness, 220–228 und 240–252. 122 Diese Fragen skizziert beispielsweise ebd., 253–262. 123 Vgl. P. J. E. Peebles/B. Ratra, „The cosmological constant and dark energy“, Reviews of Modern Physics 75 (2003), 559–606, hier 584–595 für eine Zusammenfassung der experimentellen Belege für dunkle Materie und dunkle Energie sowie 578–580 und 597–599 für einen Überblick über mögliche Skalarfeldtheorien der dunklen Energie. Zu aktuellen Messungen des Anteils der Dunklen Energie vgl. D. N. Spergel u. a., „Three-Year Wilkinson Microwave Anisotropy Probe (WMAP) Observations: Implications for Cosmology“, The Astrophysical Journal Supplement Series 170 (2007), 377–408, insbesondere 397 f. 121

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3. Die Zeit der Physik

versums sind.124 Polkinghorne kommt aufgrund eines Zeitparameters, der durch die Hintergrundstrahlung ausgezeichnet ist, zu dem Schluss, dass die Relativitätstheorien die Annahme einer ausgezeichneten Zeit nicht ausschließen. Diese Zeit könnte Gottes Zeit sein und für Gott feste Vergangenheit und unbekannte Zukunft unterscheiden.125 Ein ähnliches Argument geht von der Beobachtung aus, dass im materieerfüllten Universum diejenigen Bezugssysteme ausgezeichnet sind, die dem mittleren Materiefluss folgen. Auf der Skala mehrerer Galaxien lässt sich damit eine bevorzugte Zeitdefinition wählen. Über das ganze Universum lassen sich diese Zeiten eventuell zu einer Gesamtzeit kombinieren, die als objektiv angesehen werden könnte. Auch Whitrow nimmt eine solche kosmische Zeit als Legitimation für eine „echte“, irreduzible Zeit an, die einen echten Übergang von Zukunft über Gegenwart zur Vergangenheit beinhalten soll.126 Gegenüber ähnlichen Ansätzen wendet Kurt Gödel ein, dass es kosmologische Lösungen gibt, die keine solche Definition einer absoluten Zeit zulassen wie zum Beispiel rotierende Universen. In diesen Universen wären alle Zeitdefinitionen zwangsweise relativ.127 Nicht alle kosmologischen Modelle erlauben also eine solche universelle Zeit. Darüber hinaus wäre die Wahl einer absoluten Zeit nicht auf befriedigende Weise mit den Grundannahmen der Relativitätstheorie vereinbar. Denn die Metrik und mit ihr die globale Struktur der Raumzeit ist von kontingenten Ereignissen wie der Materieverteilung abhängig.128 Wenn es noch einzusehen ist, dass aus den Gesetzen Konsequenzen für das Wesen und die Realität der Zeit folgen können, so können solche Folgerungen aus speziellen Lösungen der Gesetze nicht unmittelbar überzeugen. Warum sollte das ganze Wesen der Zeit davon abhängig sein, wie die Materie verteilt ist?129 Die Form, die die Zeit kontingenterweise besitzt, erlaubt keine Schlüsse auf das Wesen der Zeit. Nur aus der Gesamtheit aller möglichen Formen der Zeit lassen sich Aussagen über ihr Wesen folgern. Ob es möglich ist, dass Zeit anfängt oder in sich geschlossen ist, ist die entscheidende Frage. Nach der allgemeinen Relativitätstheorie gehören zu dieser Gesamtheit auch Lösungen, die geschlossene zeitartige Kurven besitzen oder keine globale Richtung der Zeit erlauben. Da124

Vgl. zum Beispiel C. J. Isham, „Quantum Theories of the Creation of the Universe“, in: R. J. Russell/N. Murphy/C. J. Isham (Hrsg.), Quantum Cosmology and the Laws of Nature. Scientific Perspectives on Divine Action, Vatican City State/Berkeley Calif. 1993, 49–89, hier 61–63. 125 Vgl. Polkinghorne, Science and Providence, 82 f.; J. Polkinghorne, Exploring Reality. The Intertwining of Science and Religion, New Haven Conn./London 2005, 116 f. und auch J. R. Lucas, „The Temporality of God“, in: R. J. Russell/N. Murphy/C. J. Isham (Hrsg.), Quantum Cosmology and the Laws of Nature. Scientific Perspectives on Divine Action, Vatican City State/Berkeley Calif. 1993, 235–246, hier 238. 126 G. J. Whitrow, The Natural Philosophy of Time, London/Edinburgh 1961, 256–261 und 310 f. Ähnlich auch Craig, Time and the Metaphysics of Relativity, 202–241. 127 Siehe Gödel, „Eine Bemerkung über die Beziehungen zwischen der Relativitätstheorie und der idealistischen Philosophie“, 409. 128 Ebd., 411 f. 129 In diesem Punkt ist auch der Kritik von Craig Bourne zuzustimmen. Vgl. C. Bourne, „Becoming Inflated“, British Journal for the Philosophy of Science 55 (2004), 107–119, hier 116.

3.3. Relativistische Zeit und Kosmologie

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mit lässt sich die Annahme der Absolutheit eines kosmologischen Zeitparameters nicht zwingend widerlegen. Denn sie könnte als ein zusätzliches Postulat angesehen werden, das in letzter Konsequenz bedeutet, dass die allgemeine Relativitätstheorie eine Näherung an eine fundamentalere Theorie sein müsste, die wieder eine nicht-relativistische Zeit besitzt. Dass im beobachtbaren Universum möglicherweise eine kosmologische Zeit definierbar ist, könnte dann als Folge dieser postulierten absoluten Zeit angesehen werden. Vor dem Hintergrund allein der allgemeinen Relativitätstheorie jedenfalls erscheint eine absolute kosmologische Zeit wenig plausibel und aus einer relativistischen Kosmologie ableiten lässt sie sich definitiv nicht. 3.3.4. Zusammenfassung Gegenüber der newtonschen, absoluten Zeit, die unabhängig vom Raum war, verbinden die Lorentz-Transformationen in den Relativitätstheorien Zeit und Raum zu einer untrennbaren Einheit. Trotzdem existieren objektive Unterschiede zwischen Raum und Zeit. Die Lichtkegel trennen für jeden Raumzeitpunkt raum- und zeitartige Richtungen voneinander. Nur in zeitartigen Richtungen können sich Wirkungen ausbreiten. Die räumlichen Abstände können auf die Gesamtheit aller zeitartigen Kurven reduziert werden. Dies spricht für einen Vorrang der Zeit vor dem Raum. Es wäre daher unangemessen angesichts dieser Deutungsmöglichkeit, der Relativitätstheorie ein verräumlichtes Zeitverständnis zu unterstellen. Die Unterschiede zum klassischen Zeitverständnis zwingen eher dazu, den Begriff vom Werden neu als stets lokales Werden zu verstehen. Auch die Definitionen der Zeitmodi müssen an die relativistischen Gegebenheiten angepasst werden. Sie können nur relativ auf ein Ereignis angegeben werden, ebenso wie eventuelle Modalitäten, die den Zeitmodi zugeordnet werden sollen. Der einheitliche Zeitverlauf wird durch eine Vielheit an einzelnen Zeiten ersetzt: Jede zeitartige Kurve hat ihre eigene Eigenzeit, die von der jeweiligen Bewegung abhängig ist. Die Parametrisierungen der Zeit verlieren damit ihre Relevanz, da sie rein willkürlich sind. Ein objektives Zeitmaß ist allein die Eigenzeit unter Angabe der verwendeten Bahn. Nicht nur durch die Vielfalt der resultierenden Eigenzeiten ist die Zeit nicht mehr absolut. Sie unterliegt auch physikalischen Gesetzen, kann je nach Materieverteilung von Ort zu Ort langsamer oder schneller verlaufen. Sie ist ebenso eine dynamische Größe wie die Materiefelder. Die klassische Unterscheidung zwischen starrem Container und dynamischen Inhalt kann nicht aufrecht erhalten werden. Zugleich ist dadurch nachweisbar, dass die Raumzeit eine Realität unabhängig von den Dingen in ihr besitzt: Die Raumzeit muss etwas eigenständig Existierendes sein, weil sie verformbar ist und sich nicht auf die Materiefelder reduzieren lässt. Die relationale Deutung im Sinne von Leibniz behält insofern Recht, dass die Identität der Raum-

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3. Die Zeit der Physik

zeitpunkte durch Relationen definiert sind, aber eben durch Relationen der Metrik, das heißt durch interne Relationen der Raumzeit selbst. Unmittelbare Konsequenzen hat die Dynamik der Raumzeit für ihr Verhältnis zur Ewigkeit. Da die Raumzeit zur kontingenten Natur gehört und ebenso wie die Materie messbar und beeinflussbar ist, muss sie mit der Schöpfung geschaffen worden sein. Die den Menschen zugängliche Zeit kann nicht unabhängig vom Rest der Natur existieren. Zunächst scheint dies ein Hinweis auf die Zeitlosigkeit Gottes zu sein. Denn wäre diese Zeit auch die Zeit Gottes, so müsste Gott den Gesetzen, denen diese Zeit gehorcht, ebenso unterworfen sein. Aber es folgt zunächst nur, dass Gott nicht dem geschöpflichen Raum und der geschöpflichen Zeit unterworfen ist. Dies lässt die Möglichkeit einer anderen Zeit, einer Zeit Gottes, die von der Zeit der Welt zu unterscheiden ist, offen. Gottes Zeit kann als Urbild geschöpflicher Zeit angenommen werden, auch wenn sie grundlegend von der geschöpflichen Zeit unterschieden sein muss, um nicht selbst eine Form von Vergänglichkeit zu sein.

3.4. Zeit und Quanten Teils parallel zur Entwicklung der Relativitätstheorien ereignete sich ein zweiter großer Umbruch in der Physik, die Entwicklung der Quantenmechanik. In der Atomphysik zeigte sich, dass die klassische Mechanik im mikroskopischen Bereich versagte. Es mussten neue Konzepte entwickelt werden, um die Bewegung der kleinsten Teilchen zu verstehen. Die Quantenmechanik wurde durch Beiträge vieler Wissenschaftler erarbeitet, die jeweils einen kleinen Schritt auf dem Weg zu den neuen Konzepten lieferten. Denn im Gegensatz zur Relativitätstheorie gab es kein neues Prinzip, das mathematisch ausgearbeitet werden konnte. Die Äquivalenz von träger und schwerer Masse und die Gleichberechtigung aller Bezugssysteme erlaubten es Einstein, die allgemeine Relativitätstheorie ohne große experimentelle Grundlage zu entwickeln. In der Quantenmechanik dagegen wurden die einzelnen Ergebnisse in Auseinandersetzung mit den jeweils neuen Experimenten gewonnen. Eine Interpretation wurde erst entwickelt, als wesentliche mathematische Gleichungen bereits bekannt waren.130 Die Quantenmechanik bietet vielfachen Anlass zu philosophischen Untersuchungen131 über die Grundfragen der Ontologie, Epistemologie und weiteren philosophischen Fragestellungen. Diese Diskussion darzustellen, ist an dieser Stelle 130

Die Schwierigkeiten der Anfänge der Quantenmechanik zeigt ausführlich W. Heisenberg, „50 Jahre Quantentheorie“, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. C I, hrsg. von W. Blum, München/Berlin 1984, 354–360. 131 Eine Auswahl an philosophischen Themen behandeln Mittelstaedt, Philosophische Probleme der modernen Physik, 100–218; C. F. von Weizsäcker, Die Tragweite der Wissenschaft, Stuttgart 6. Aufl. 1990, 336–404; C. F. von Weizsäcker, Aufbau der Physik, München/Wien 1985, 287–378

3.4. Zeit und Quanten

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nicht möglich. Die Interpretation der Quantenmechanik muss auf die Aspekte beschränkt werden, die für das Zeitverständnis in der Physik relevant sind. Da die Quantenmechanik keine Theorie von Raum und Zeit selbst ist, ergeben sich die Konsequenzen für das Zeitverständnis nicht unmittelbar aus der Behandlung der Zeit in der Quantenmechanik. Die Zeit als Parameter in der Quantenmechanik ist vielmehr als Hintergrundzeit aus der newtonschen beziehungsweise der relativistischen Mechanik übernommen und eben nicht quantenmechanisch behandelt. Es müssen also die Aspekte der Quantenmechanik ausgewählt und behandelt werden, die möglicherweise Konsequenzen für die Zeitthematik haben könnten, auch wenn nicht unmittelbar von der Zeit die Rede ist. Einer der wichtigsten Aspekte, der auch in der Theologie rezipiert wurde,132 ist, dass die Quantenmechanik lediglich Wahrscheinlichkeiten für zukünftige Ereignisse liefert und keine gewissen Vorhersagen. Inwiefern dies eine Offenheit der Zukunft ermöglicht, muss unter Berücksichtigung der Relativitätstheorien diskutiert werden. Ein weiterer Aspekt der Zeit, für den eine Antwort aus der Quantenmechanik erhofft wurde, ist die Asymmetrie zwischen Vergangenheit und Zukunft. Auf das noch nicht gänzlich gelöste Problem, wie eine quantenmechanische Beschreibung der Zeitmessung aussehen kann, wird zuletzt eingegangen. Da eine vollständig quantenmechanische Behandlung der Zeit noch nicht gelungen ist, können die Ergebnisse natürlich nur den vorläufigen Stand der physikalischen Forschung beschreiben.133 In Abs. 3.6 wird auf einen spekulativen Ansatz eingegangen, der eine solche Quantenmechanik der Raumzeit annähern soll. Trotz dieser Vorläufigkeit können auch auf dem jetzigen Stand der Forschung vereinzelte Zwischenergebnisse für das Zeitverständnis gezogen werden. 3.4.1. Zufall und Offenheit der Zukunft In der philosophischen und theologischen Rezeption der Quantenmechanik hat insbesondere die sogenannte Reduktion der Wellenfunktion und der Indeterminismus eine große Aufmerksamkeit erhalten. Daher soll das sogenannte orthodoxe Verständnis der Quantenmechanik kurz dargestellt werden. Anschließend wird die These diskutiert, dass die Quantenmechanik eine „offene“ Zukunft impliziere. Dabei wird in Bezug auf die Relativitätstheorie klarzustellen sein, auf welche Weise die Offenheit der Zukunft zu verstehen ist. Auf die Diskussion alternativer Formalisund insbesondere 489–566 und 572–580; Benk, Moderne Physik und Theologie, 194–210; L. Sklar, Philosophy of Physics, Boulder Colo./San Francisco 1992, 157–226. 132 Zum Beispiel in U. Beuttler, „Die allgegenwärtige Zeit. Strukturen und Verhältnisse von Zeit, Ewigkeit und Naturgesetzen“, in: M. Petzoldt (Hrsg.), Theologie im Gespräch mit empirischen Wissenschaften, VWGTh 35, Leipzig 2012, 170–197, hier 194 f.; C. Link, Schöpfung, Bd. 2: Schöpfungstheologie angesichts der Herausforderungen des 20. Jahrhunderts, HST 7/2, Gütersloh 1991, 447. 133 Vgl. zum Beispiel für einige neuere Ansätze den Aufsatzband J. G. Muga/R. S. Mayato/I. L. Egusquisa (Hrsg.), Time in Quantum Mechanics, Lecture Notes in Physics 734, Berlin/Heidelberg 2. Aufl. 2008.

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3. Die Zeit der Physik

men, wie der Pfadintegral-Darstellung, wird an dieser Stelle nicht eingegangen. Sie liefern keine neuen Erkenntnisse zum Thema Zeit. Messungen in der Quantenmechanik Die wesentlichen Grundregeln des sogenannten orthodoxen Formalismus der Quantenmechanik134 lassen sich an dem klassischen Beispiel des Doppelspaltexperiments verdeutlichen. Ein Partikel, zum Beispiel ein Elektron, Photon oder Atomkern, wird von einer Quelle in Richtung eines Hindernisses mit zwei Spalten ausgesendet. Hinter dem Hindernis befindet sich ein Schirm, der die Position des Partikels feststellt, sobald es dort ankommt. Heutzutage können bereits Teilchenquellen konstruiert werden, die innerhalb der Zeit, die ein Partikel von der Quelle bis zum Schirm braucht, nur ein einziges Partikel aussenden. Wechselwirkungen zwischen mehreren Partikeln können also vernachlässigt werden. Nach der klassischen Physik würde man folgende Resultate erwarten: Die Teilchen treffen nacheinander ein und werden jeweils an einem speziellen Punkt registriert. Sind ausreichend Teilchen angekommen, ergibt sich eine Verteilung 𝐴, die den Wahrscheinlichkeiten entspricht, dass ein Teilchen am jeweiligen Ort ankommt. Die Verteilungen, wenn man einen der beiden Spalte offen lässt, heißen im Folgenden 𝐴 1 beziehungsweise 𝐴 2 . Öffnet man beide Spalte, beobachtet man die Summe dieser beiden Verteilungen 𝐴 1 + 𝐴 2 . Misst man, welchen Spalt ein Teilchen nimmt, ändert dies nichts an der Verteilung 𝐴 1 + 𝐴 2 . Verwendet man Wellen statt Teilchen, könnte man keine einzelnen Positionen am Schirm bestimmen, sondern nur das Wellenmuster zu jedem Zeitpunkt. Sind beide Spalte offen, ergeben sich dabei Interferenzen. An einigen Stellen wird sich das Medium, in dem sich die Wellen ausbreiten, gar nicht bewegen, weil sich Wellenberge und -täler von den beiden Spalten exakt ausgleichen. Betrachtet man die Amplituden 𝐴 der Wellenmuster, sind an einzelnen Stellen also Nullstellen. Die Amplituden der Wellenmuster addieren sich nicht einfach auf. Quantenmechanische Partikel verhalten sich nach keiner dieser klassischen Erwartungen. Das Partikel hat in der orthodoxen Beschreibung der Quantenmechanik keinen festen Ort, sondern nur Aufenthaltswahrscheinlichkeiten, das heißt Wahrscheinlichkeiten, das Partikel bei einer Messung am jeweiligen Ort vorzufinden. Diese werden durch eine Wellenfunktion beschrieben. Im Gegensatz zu klassischen Wahrscheinlichkeitsverteilungen wird die Wellenfunktion durch komplexe Zahlen ausgedrückt. Die wichtige Konsequenz dieses Unterschieds ist, dass die Wellenfunktion Interferenzen erlaubt, wie sie bei klassischen Wellen auftreten. Bei klassischen 134 Vgl. zu den im Folgenden beschriebenen „orthodoxen“ Rechenvorschriften zum Beispiel E. P. Wigner, „The Problem of Measurement“, in: J. A. Wheeler/W. H. Zurek (Hrsg.), Quantum Theory and Measurement, Princeton N. J. 1983, 324–341, hier 326 f. Detailliert begründet wird sie in J. von Neumann, Mathematische Grundlagen der Quantenmechanik, Die Grundlehren der mathematischen Wissenschaften 38, Berlin 1932, 110–114 und 186.

3.4. Zeit und Quanten

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Interferenzen heben sich Wellenberge und -täler gegenseitig auf oder addieren sich auf. In der Quantenmechanik passiert dasselbe mit Wahrscheinlichkeitsamplituden. Im Experiment wird das Partikel von einer Quelle ausgesendet, so dass die Wellenfunktion anfangs auf die Quelle konzentriert ist. Mit der Zeit entfernt es sich von der Quelle. Dies wird durch die Ausdehnung der Wellenfunktion des Partikels beschrieben. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, es an einem anderen Ort als der Quelle zu detektieren. Am Doppelspalt kann es lediglich die beiden Spalte passieren. Der Doppelspalt funktioniert daher effektiv wie eine Ortsmessung. Es entspricht der Messung, ob das Partikel einen der beiden Spalte passiert, ohne zu überprüfen, welchen der Spalte es nimmt. Wenn das Partikel den Doppelspalt passiert, kann es sich also nur an einem der beiden Spalte befinden. Dieses Wissen muss folglich in die Wellenfunktion aufgenommen werden, da sie die Aufenthaltswahrscheinlichkeiten beschreiben soll. Deshalb wird die Wellenfunktion auf diese beiden Spalte reduziert. Im Anschluss kann das Partikel sich von den Spalten entfernen. Dies wird wiederum beschrieben durch die Ausdehnung der Wellenfunktion. Die Anteile der Wellenfunktion von beiden Spalten werden sich dabei überlagern und ein Interferenzmuster bilden. Dabei wird sich wie bei klassischen Wellen an manchen Orten eine Amplitude 0 ergeben, so dass das Partikel mit Sicherheit nicht an diesen Orten gemessen wird. Am Schirm wird schließlich das Partikel an einem punktuellen Ort gemessen werden, wie man es von einem klassischen Teilchen erwartet. Da man anschließend genau weiß, wo sich das Partikel befand, könnte man die Wellenfunktion nun auf einen Punkt reduzieren. Die Wahrscheinlichkeit für den Ort wird durch die Wellenfunktion vor der Ortsmessung beschrieben. Wird das Experiment also häufig genug wiederholt, so werden die Punkte der einzelnen Partikel zusammen schließlich das Interferenzmuster der Wellenfunktion abbilden, wie es von Wellen bekannt ist. Das ständige Wechselspiel zwischen den klassischen Analogien, Teilchen und Welle, wird häufig als TeilchenWelle Dualismus bezeichnet. Um Missverständnisse zu vermeiden sollte man jedoch von etwas ausgehen, das weder Teilchen noch Welle ist, sondern etwas drittes, das je nach physikalischer Situation durch Welle oder Teilchen angenähert werden kann. Irreführenderweise wird dieses Dritte meist jedoch auch Teilchen genannt. Versucht man zu bestimmen, durch welchen der beiden Spalte das Partikel sich nun bewegt hat, nimmt man eine weitere Ortsmessung an den Spalten vor. Diese hat zur Folge, dass nach der orthodoxen Beschreibung die Wellenfunktion auf den Spalt reduziert werden muss, an dem das Partikel gemessen wurde. Durch diese Reduktion überlagern sich nicht mehr zwei Anteile der Wellenfunktion, so dass auch das Interferenzmuster, das eine Folge dieser Überlagerung war, nicht mehr auftritt.135

135 Dieses Resultat wurde vielfach bestätigt. Vgl. in jüngerer Zeit V. Jaques u. a., „Experimental Realization of Wheeler’s Delayed-Choice Gedanken Experiment“, Science 315 (2007), 966–968.

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Zufall oder Unwissen? Die Quantenmechanik ordnet den verschiedenen Messergebnissen also allein Wahrscheinlichkeiten zu. Dies allein ist nichts Revolutionäres. Denn die Wahrscheinlichkeiten könnten als Ausdruck des Unwissens des Experimentators interpretiert werden. Erst die Kombination mit den Interferenzen zwischen verschiedenen Anteilen der Wellenfunktion erzwingt eine Revision der intuitiven klassischen Deutung. Um dies zu verdeutlichen, wird kurz beschrieben, welche Implikationen eine klassische Deutung von Wahrscheinlichkeiten für das Doppelspalt-Experiment hätte. Die Annahme hinter einer klassischen Interpretation ist, dass das Partikel eine feste Bahn mit präzise bestimmbarem Ort und Geschwindigkeit hat. Der Experimentator kennt diese Bahn allerdings nicht und verwendet Wahrscheinlichkeitsfunktionen, um sein Unwissen über die Bahn auszudrücken. Es ist jedoch ohne Weiteres möglich, ein wenig von dem Unwissen zu klären, ohne die sonstigen Ergebnisse zu beeinflussen. Die zusätzliche Information, die sich am einfachsten gewinnen lässt, ist, welchen Spalt das Partikel passiert hat. Die Experimente zeigen jedoch, dass eine Bestimmung des Spalts den Ausgang des Experiments entscheidend beeinflusst: Das Interferenzmuster verschwindet. Diese Verletzung klassischer Erwartungen hat zur Entwicklung der Kopenhagener Deutung geführt:136 Die Wellenfunktion drückt nicht nur das Unwissen des Experimentators aus, sondern auch etwas an der Natur der Partikel. Die Frage nach einer klassischen Bahn, die das Teilchen eigentlich nähme, ist unangemessen. Eine einfache, exakte Erklärung, was die Kopenhagener Deutung ist, scheint angesichts der unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen von Bohr und Heisenberg nicht möglich zu sein.137 Einig sind sich jedoch beide, dass die simultane Angabe aller Größen, die nach der klassischen Mechanik notwendig sind, um eine Bahn zu bestimmen, also Ort und Impuls, nicht möglich ist. Nach Bohr kann auf die klassischen Begriffe von Ort und Impuls zur Beschreibung des Systems in der Quantenmechanik nicht verzichtet werden. Allerdings werden beide Begriffe als komplementär138 zu einander betrachtet. Beide Observablen können nicht zugleich angewendet werden, liefern jedoch einander ergänzende Beschreibungsweisen. Heisenberg legt dagegen den Schwerpunkt auf seine Unschärferelation. Derzufolge kann das Produkt der Ungenauigkeiten in der Kenntnis von Ort und Impuls einen mi136 Eine Darstellung der geschichtlichen Entwicklung, die zur Kopenhagener Deutung geführt hat, findet sich in W. Heisenberg, „Die Entwicklung der Deutung der Quantentheorie“, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. C I, hrsg. von W. Blum, München/Berlin 1984, 434–449, Seitenangaben nach der Erstveröffentlichung: Werner Heisenberg, „Die Entwicklung der Deutung der Quantentheorie“, Physikalische Blätter 12 (1956), 289–304, hier 289–293. Zu einer Kurzzusammenfassung der Kopenhagener Deutung vgl. K. M. Meyer-Abich, Art.: Kopenhagener Deutung, in: HWPh, Bd. 4 (1976), 1093 f. 137 Vgl. dazu K. Baumann/R. U. Sexl (Hrsg.), Die Deutungen der Quantentheorie, Braunschweig/ Wiesbaden 3. Aufl. 1987, 16–19. 138 Vgl. zum Komplementaritätsbegriff K. M. Meyer-Abich, Art.: Komplementarität, in: HWPh, Bd. 4 (1976), 933 f.

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nimalen Wert nicht unterschreiten. Bestimmt man also den Ort genauer, verliert man Kenntnisse über den Impuls und umgekehrt. In beiden Fällen ist damit ausgeschlossen, dass die Wellenfunktion als Ausdruck einer Unkenntnis über einen „eigentlichen“, klassischen Pfad interpretiert wird, die zumindest hypothetisch beseitigt werden könnte.139 Dass keine Wellenfunktion zugleich scharfen Ort und Impuls hat, spiegelt stattdessen eine prinzipielle Unbestimmtheit der Natur. Sie macht eine exakte Vorhersage der Zukunft unmöglich.140 Die Naturgesetze scheinen daher die Zukunft nicht vollständig festzulegen, sondern nur Wahrscheinlichkeiten für verschiedene Möglichkeiten zu bestimmen. Die Messergebnisse sind zufällig, weil die natürlichen Ereignisse zufällig sind. Es wurden auch Interpretationen der Quantenmechanik vorgelegt, die wieder deterministisch sind, wie die Relative State-Deutung (=Viele Welten Interpretation) von Hugh Everett und die Bohmsche Mechanik.141 Um den Determinismus zu halten, müssen sie andere Voraussetzungen der klassischen Physik aufgeben. In der Relative State-Deutung „spaltet“ sich das Universum bei jeder Messung in unzählige parallele Universen, die sich in den Messergebnissen unterscheiden. Da stets alle Verläufe, die in der Wellenfunktion enthalten sind, parallel realisiert werden, ist diese Interpretation deterministisch. Denn es erfolgt keine Reduktion der Wellenfunktion, dem nach der orthodoxen Beschreibung zufälligen Element der Quantenmechanik. Die Bohmsche Mechanik beschreibt eine Welle, die das eigentliche Teilchen lenkt. Beide, die Welle und das Teilchen, verhalten sich streng deterministisch. Gegenüber der newtonschen Zeit liefern diese Interpretationen jedoch keine Neuerungen. In beiden Fällen erhält man eine deterministische Entwicklung in newtonscher Zeit. Offenheit der Zeit Wenn die Wellenfunktion also nicht allein Unkenntnis eines eigentlich scharfen Pfades ausdrückt, sondern eine prinzipielle Unschärfe gegenwärtiger Zustände und damit eine Unbestimmtheit der Zukunft, dann stellt sich die Frage, welchen ontologischen Status die Zukunft hat und was insbesondere die Reduktion der Wellenfunktion bei Messungen bedeutet. Im Gefolge und parallel zu der Quantenmechanik wurden daher philosophische und theologische Deutungen entwickelt, die den Zeitmodi unterschiedliche Qualitäten zuordnen und die Offenheit der Zukunft betonen. 139 Vgl. zu den Positionen von Bohr und Heisenberg Baumann/Sexl, Die Deutungen der Quantentheorie, 16–19. 140 So T. Görnitz, „Zeit und Ewigkeit aus Sicht der Physik“, in: O. Reinke (Hrsg.), Ewigkeit? Klärungsversuche aus Natur- und Geisteswissenschaften, Göttingen 2004, 65–79, hier 72 f. 141 Die grundlegenden Arbeiten sind H. Everett, „‚Relative State‘ Formulation of Quantum Mechanics“, in: J. A. Wheeler/W. H. Zurek (Hrsg.), Quantum Theory and Measurement, Princeton N. J. 1983, 315–323; D. Bohm, „A Suggested Interpretation of the Quantum Theory in Terms of ‚Hidden‘ Variables, I and II“, in: J. A. Wheeler/W. H. Zurek (Hrsg.), Quantum Theory and Measurement, Princeton N. J. 1983, 369–396.

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Carl Friedrich von Weizsäcker begründet seine Zuordnung der Modalitäten mit dem allgemeinen Sprachgebrauch beziehungsweise mit seiner zeitlichen Logik. Sie hängt aber eng mit den Interpretationen der Quantenmechanik im Sinne der Kopenhagener Deutung zusammen. Die Vergangenheit bezeichnet das Wirkliche, das Faktum. Sie besteht aus Tatsachen, die nicht mehr verändert werden können. Die Zukunft ist die Gesamtheit der Ereignisse, die unter Voraussetzung der Tatsachen als mögliche künftige Ereignisse erscheinen.142 Diese Bestimmung der Zeitmodi sieht Weizsäcker nicht als Folge der physikalischen Theorien, sondern als Voraussetzung, Physik überhaupt betreiben zu können. Da Wahrscheinlichkeiten sich stets auf Möglichkeiten beziehen, können sich die Wahrscheinlichkeiten der Quantenmechanik auch nur auf die Möglichkeiten der Zukunft beziehen. Die Wellenfunktion beschreibt daher den Möglichkeitsraum zukünftiger Ereignisse.143 Die Quantenmechanik hat nach Weizsäcker auf die Existenz der Quantenlogik und die Logik zeitlicher Aussagen aufmerksam gemacht, auch wenn sie eigentlich „eine Vorbedingung aller Erfahrung formuliert“.144 In ähnlicher Weise ordnet Georg Picht der Vergangenheit die Notwendigkeit und der Zukunft die Möglichkeit zu. Er sieht die Physik zumindest als Anstoß für ein neues Überdenken der Zeitmodi in der Philosophie.145 Die Offenheit der Zukunft für Neues, die in diesen philosophischen Zeittheorien angelegt ist, wurde in der Theologie vielfach rezipiert. Im Anschluss an Weizsäcker und Picht versteht zum Beispiel Christian Link die Zukunft in der Quantenmechanik als ein „Feld von Möglichkeiten“.146 In der Diskussion der Relativitätstheorien wurde bereits gezeigt, dass die Relativität der Gleichzeitigkeit unmittelbar die Bestimmung der Zeitmodi betrifft (siehe Abs. 3.3.1). Auch in der relativistischen Quantenmechanik lassen sich diese Konsequenzen nicht umgehen. Jede Zuordnung von Modalitäten und jede nähere Bestimmung der Offenheit der Zukunft muss den Prinzipien der Relativitätstheorien genügen. An der Frage nach den Wahrheitswerten für Aussagen über die Zukunft lässt sich dies exemplarisch verdeutlichen. Relativ zu einem Beobachter 𝑏 können alle Ereignisse, die in seinem in die Vergangenheit gerichteten Lichtkegel liegen, einen definitiven Wahrheitswert haben. Alle Ereignisse im Lichtkegel Richtung Zukunft können als offen angenommen werden. Fraglich sind die Ereignisse außerhalb des Lichtkegels. Diese Ereignisse stehen in keinem kausalen Zusammenhang mit dem 142 Siehe Weizsäcker, Die Tragweite der Wissenschaft, 325–331; C. F. von Weizsäcker, Zeit und Wissen, München 1992, 219 f. und 226–228. 143 Vgl. C. F. von Weizsäcker, „Zeit, Physik, Metaphysik“, in: C. Link (Hrsg.), Die Erfahrung der Zeit. Gedenkschrift für Georg Picht, Stuttgart 1984, 17–34, hier 23 f. 144 C. F. von Weizsäcker, „Die Quantentheorie“, in: Ders., Die Einheit der Natur, München 1971, 223–275, hier 243. 145 Vgl. Picht, „Die Zeit und die Modalitäten“, 367 f. und 370–372; Picht, Von der Zeit, 673. 146 Link, Schöpfungstheologie angesichts der Herausforderungen des 20. Jahrhunderts, 447. Vgl. unter anderem auch Beuttler, „Die allgegenwärtige Zeit“, 194 f.

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Beobachter. Da er Wahrheitswerte erst überprüfen kann, wenn diese Ereignisse in seinen Vergangenheitskegel eintreten, könnte man ihnen mit gutem Recht erst dann einen Wahrheitswert zugestehen. Diese Bestimmungen für die Existenz von Wahrheitswerten ist jedoch allein relativ zu einem Beobachter vorgenommen. Wenn zwei Beobachter raumartig voneinander getrennt sind, sie also nach irgendeiner relativen Wahl „gleichzeitig“ sind, können sie dennoch unterschiedlicher Meinung darüber sein, ob die Frage nach einem Ereignis überhaupt einen Wahrheitswert hat.147 Analoge Probleme ergeben sich mit den Zuordnungen von Modalitäten. Wollte man eine objektive, das heißt nicht relative Bestimmung dessen haben, was faktisch und was möglich ist, müsste man entweder entgegen der Relativitätstheorie eine absolute Zeit wiedereinführen oder annehmen, dass alle Ereignisse, auch die zukünftigen, bereits faktisch sind. Denn die Scheidewand zwischen faktischen und möglichen Ereignissen definiert eine absolute Gegenwart und mit ihr eine absolute Zeit (siehe Abs. 3.3.1). Will man jedoch die Offenheit der Zukunft beibehalten und kompatibel zur Relativitätstheorie bleiben, muss man die Offenheit einschränken auf eine Offenheit, die relativ auf das jeweilige Hier und Jetzt bezogen ist. Für die meisten theologischen Anliegen reicht dies aus. Damit genuin Neues für Menschen möglich ist, muss das Neue unbekannt, möglich und unverfügbar148 für diejenigen sein, die es noch nicht erlebt haben, nicht aber für diejenigen, die es schon erfahren haben. Damit Zukunft für den einzelnen Menschen offen ist, reicht es aus, wenn sie nicht durch das jeweilige Heute festgelegt ist. Von einem Werden relativ zu einem Beobachter lässt sich auch reden, wenn der Übergang stets nur punktuell auf ein Ereignis bezogen wird und nicht auf eine ganze Welt. Diese relativen Positionen, die durch ein Hier und ein Jetzt charakterisiert sind, sind die lokalen Perspektiven, die die Relativitätstheorien zulassen (siehe Abs. 3.3.1). Mit der Frage, ob die Ereignisse der Zukunft bereits jetzt einen Wahrheitswert haben, auch wenn sie möglicherweise nicht durch das Heute determiniert sind, versucht man eine Position jenseits der Zeit einzunehmen. Diese Position ist in keiner physikalischen Theorie vorgesehen und bleibt theologisch gesehen Gott vorbehalten. Die relative Offenheit der Zukunft für die Menschen bleibt dennoch bestehen. Sie lässt sich mit den Begriffen der Relativitätstheorie so ausdrücken: Wählt man zwei raumartige Schnitte durch die Raumzeit, die sich nicht schneiden, so legen die Ereignisse auf dem einen Schnitt nur Wahrscheinlichkeiten für die Ereignisse auf dem anderen Schnitt fest. Die zeitliche Entwicklung ist also nicht durch einen wie auch immer gewählten Anfangszustand festgelegt, sondern in diesem Sinne offen und ein Raum der Möglichkeiten. 147

Stein, „On Einstein-Minkowski Space-Time“, 13–15; Sklar, Philosophy and Spacetime Physics,

299 f. 148 Die Unverfügbarkeit sieht Beuttler, „Die allgegenwärtige Zeit“, 196 f. als entscheidendes Merkmal der Zukunft.

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3.4.2. Die Reversibilität der Quantenmechanik Die Reduktion der Wellenfunktion im orthodoxen Formalismus scheint eine Richtung der Zeit festzulegen. Zum Zeitpunkt der Messung wird die Wellenfunktion reduziert und aus dieser reduzierten Funktion lässt sich der vorherige Zustand nicht mehr berechnen. Alle anderen bekannten Gesetze der Elementarteilchen sind dagegen invariant gegenüber der Zeitumkehr. Auch die Entwicklung der Wellenfunktion zwischen verschiedenen Messungen folgt Gleichungen, die im Wesentlichen ihre Form nicht verändern, wenn die Richtung der Zeit umgekehrt wird. Dies bedeutet, dass es eine analoge Wellenfunktion gibt,149 die dieselbe Entwicklung in zeitlich umgekehrter Folge beschreibt und ebenfalls die Bewegungsgleichungen löst. Allein die Reduktion der Wellenfunktion scheint diese Symmetrie zu durchbrechen. Es gab daher Versuche, die Reduktion mit der Entropiezunahme der Thermodynamik und dem thermodynamischen Zeitpfeil in Verbindung zu bringen.150 Im Gegensatz zu diesen Deutungen haben Aharonov, Bergmann und Lebowitz gezeigt, dass auch eine zeitsymmetrische Formulierung der quantenmechanischen Messungen möglich ist, in der nicht allein der Anfangszustand, sondern auch der Endzustand festgelegt wird. Die Vorhersagen der Quantenmechanik für alle Messungen zwischen Anfangs- und Endzustand sind in dieser Formulierung vollkommen symmetrisch gegenüber der Zeit. Die Wahrscheinlichkeiten hängen in gleicher Weise von Anfangs- und Endzustand ab. Zudem erscheint die orthodoxe Darstellung der Reduktion der Wellenfunktion als willkürlich. Die Annahme, dass die Wellenfunktion zwischen zwei Messungen durch die nachfolgende Messung bestimmt wird, ist genau so möglich, wie die übliche Festlegung der Wellenfunktion durch die vorangehende Messung. Den üblichen Formalismus erhält man aus dieser Variante, indem man über alle möglichen Endzustände summiert. Dadurch wird erreicht, dass der Endzustand beliebig sein kann, so dass die Vorhersagen nur noch vom Anfangszustand abhängen. Durch Summation über alle möglichen Anfangszustände ergibt sich ein analoger, zeitlich gespiegelter Formalismus, in dem die Wahrscheinlichkeiten in Abhängigkeit vom Endzustand berechnet werden. Die scheinbare Asymmetrie durch die Reduktion der Wellenfunktion folgt also aus der Unkenntnis des Endzustands.151

149 Die Zeitumkehr entspricht der komplexen Konjugation der Wellenfunktion. Um eine vollständige Symmetrie zu erhalten, müssen zusätzlich der Raum und die Ladung gespiegelt werden. 150 Vgl. Neumann, Mathematische Grundlagen der Quantenmechanik, 191–212, insb. 202. David Bohm dagegen nahm an, dass irreversible makroskopische Prozesse vorausgesetzt werden müssen, damit sie bei einer Messung die Phasenrelationen der Wellenfunktion zerstören können. Vgl. D. Bohm, Quantum Theory, New York 1989, Unveränderte Wiederveröffentlichung der Ausgabe Englewood Cliffs N.J. 1951, 608 f. 151 Y. Aharonov/P. G. Bergmann/J. L. Lebowitz, „Time Symmetry in the Quantum Process of Measurement“, in: J. A. Wheeler/W. H. Zurek (Hrsg.), Quantum Theory and Measurement, Princeton N. J. 1983, 680–686.

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Ausgehend von der Pfadintegraldarstellung der Quantenmechanik ist dieses Ergebnis keineswegs überraschend. Im Pfadintegral wird die Wahrscheinlichkeit für den Übergang zwischen zwei Zuständen berechnet, indem allen klassischen Pfaden, die die beiden Zustände verbinden, eine komplexe Amplitude zugeordnet wird und diese aufsummiert werden. Die verwendeten Pfade sind klassisch in dem Sinne, dass komplementäre Variablen zugleich exakt definiert sind, aber sie erfüllen keinerlei Gesetze. Allein die Zuordnung der komplexen Amplituden zu den Pfaden unterliegt Gesetzen und bestimmt die resultierenden Wahrscheinlichkeiten. Diese Formulierung ist ebenso symmetrisch gegenüber der Zeit wie der Ansatz von Aharonov, Bergmann und Lebowitz. Die Quantenmechanik enthält in ihren fundamentalen Regeln also keine Asymmetrie der Zeit. Die Reduktion der Wellenfunktion scheint deshalb asymmetrisch zu sein, weil der Experimentator gezwungenermaßen in seiner Zeit experimentiert. Die Präparation der Zustände muss vor den Messungen erfolgen. Denn in der Präparation eines Anfangszustands wird der Zustand erst gemessen und dann gezielt verändert oder gefiltert, um den gewünschten Ausgangszustand zu erhalten. Diese Abfolge von Messung und Manipulation erfolgt aber in der Zeitrichtung, in der auch der Experimentator handelt beziehungsweise die Geräte, die er verwendet, funktionieren.152 Also kann der Experimentator nur die Zustände kontrollieren, die in seiner Zeitrichtung auf die Präparation folgen. Um Endzustände präparieren zu können, müsste der Experimentator den Prozess der Präparation schon zeitlich umgekehrt ablaufen lassen können. Da also stets Anfangs- und nicht Endzustände bekannt sind, ist es naheliegend, wenn auch nicht zwingend, die Wellenfunktion ausgehend vom Anfangszustand zu berechnen. Die Messungen selbst laufen ebenfalls in der Zeit des Physikers ab. Im quantenmechanischen Formalismus spiegelt sich dies interessanterweise nicht. Dort werden Messungen als instantan angenommen. Die Wahrscheinlichkeiten werden über eine Projektion berechnet, die nicht zwischen Anfangs- und Endzustand unterscheidet, so dass keine Zeitrichtung der Messapparatur eingeht. Erst wenn das Messgerät selbst in die quantenmechanische Beschreibung mit einbezogen werden soll, müsste die Zeitrichtung des Messapparats in seiner Beschreibung explizit eingeführt werden. In einer vollen Beschreibung wiederum müssten alle Geräte des Physikers durch die fundamentalen Gesetze der Quantenfeldtheorien beschrieben werden, die keine Zeitrichtung festlegen. Woher die Zeitrichtung stammt, kann die Quantenmechanik also nicht erklären. Insofern ist Weizsäckers Analyse,153 dass in der orthodoxen Formulierung der Quantenmechanik die Zeitrichtung des Physikers eingeht, korrekt. Aber dennoch kann diese Antwort alleine den Physiker nicht zufriedenstellen. Wenn bisher in den Naturgesetzen keine Bevorzugung einer Rich152 So auch Y. Aharonov/L. Vaidman, „The Two-State Vector Formalism: An Updated Review“, in: J. G. Muga/R. S. Mayato/I. L. Egusquisa (Hrsg.), Time in Quantum Mechanics, Lecture Notes in Physics 734, Berlin/Heidelberg 2. Aufl. 2008, 399–447, 433 f. und 437 f. 153 Weizsäcker, „Zeit, Physik, Metaphysik“, 23.

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tung der Zeit gefunden werden konnte, so stellt sich die Frage, warum der Physiker, der selbst diesen Gesetzen unterliegt, dennoch eine unumkehrbare Zeitrichtung erfährt. Auf diese Frage muss auch die Physik eine Antwort bieten. Eine weitere Folge der Symmetrie der Zeit in der Quantenmechanik ist, dass eine Zuordnung unterschiedlicher Modalitäten zu den Zeitmodi nicht mit der Quantenmechanik begründet werden kann. Streng genommen müsste die Vergangenheit als ebenso offen wie die Zukunft angenommen werden. Denn auch für die Vergangenheit lassen sich mit der Quantenmechanik nur Wahrscheinlichkeiten aus der Gegenwart berechnen. Dies widerspricht offensichtlich der menschlichen Welterfahrung, nach der die Vergangenheit festliegt. Aber solange die Zeitrichtung nicht auf fundamentale Gesetze zurückgeführt werden kann,154 muss jede Zuordnung von unterschiedlichen, objektiven Modalitäten zu den Zeitmodi als willkürlich erscheinen.155 3.4.3. Zeit und interne Symmetrien In den vorhergehenden Überlegungen wurde stets festgehalten, dass die Quantentheorien keine eindeutige Zeitrichtung festlegen. Dennoch sind sie nicht gänzlich symmetrisch unter Zeitumkehr. Die vollständige Symmetrie ist die 𝐶𝑃𝑇-Invarianz, die aus drei Operationen besteht: Vertauschung von Teilchen und Antiteilchen (𝐶), Spiegelung des Raumes (𝑃) und Umkehr der Zeit (𝑇).156 Eine Verletzung dieser kombinierten Symmetrie wurde bis heute nicht beobachtet157 und wäre ein eindeutiges Zeichen für Physik, die über die heutigen Quantenfeldtheorien hinausgeht.158 Die einzelnen Symmetrien sind dagegen verletzt. Ein System, in dem allein die Zeit umgekehrt wird, ließe sich daher aufgrund der Teilcheneigenschaften von der realen Welt unterscheiden. Allerdings gäbe es für diese Welt ebenfalls passende Naturgesetze, die alle Prozesse beschreiben könnten. Eine Richtung der Zeit, die eine „reale“ Reihenfolge der Ereignisse definiert, lässt sich aus diesen Unterschieden nicht ableiten, da sich aus ihnen keine Zunahme der Entropie oder andere Effekte 154 Ein Versuch findest sich in B. Misra/I. Prigogine/M. Courbage, „Lyapounov Variable: Entropy and Measurement in Quantum Mechanics“, in: J. A. Wheeler/W. H. Zurek (Hrsg.), Quantum Theory and Measurement, Princeton N. J. 1983, 687–691, scheint aber nicht bis zu experimentell überprüfbaren Aussagen entwickelt worden zu sein. Vgl. für eine etwas leichtere Darstellung auch I. Prigogine, Vom Sein zum Werden. Zeit und Komplexität in den Naturwissenschaften, München 4. Aufl. 1985, 190–196. 155 Vgl. auch Abs. 3.5 zur weiteren Diskussion über die Asymmetrie der Zeit 156 Für eine detaillierte Diskussion der einzelnen und kombinierten Symmetrien vgl. S. Weinberg, The Quantum Theory of Fields, 3 Bde., 1. Ausgabe als Paperback, Cambridge u. a. 2005, Bd. 1, 124– 134. 157 Eine Verletzung der 𝐶𝑃𝑇-Invarianz wäre stets mit Verletzungen der Lorentz-Invarianz verbunden, die bis heute nicht beobachtet wurden. Siehe V. A. Kostelecký/N. Russell, „Data tables for Lorentz and CPT violation“, Reviews of Modern Physics 83 (2011), 11–31, hier 11 f. 158 Eine Darstellung des 𝐶𝑃𝑇-Theorems, das besagt, dass alle relativistischen Quantenfeldtheorien 𝐶𝑃𝑇-invariant sind, findet sich beispielsweise in Weinberg, The Quantum Theory of Fields, Bd. 1, 244–246.

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begründen lassen, die mit der erfahrenen makroskopischen Asymmetrie der Zeit zusammenhängen. Zusammen mit „compensating symmetry operations“ lässt sich außerdem jedem Prozess ein zeitlich umgekehrter zuordnen, der ebenfalls die Bewegungsgleichungen löst.159 Die „compensating symmetry operations“ beschreiben, welche weiteren Veränderungen neben der Zeitumkehr vorgenommen werden müssen, um eine exakte Symmetrie zu erhalten. Hier handelt es sich also um die Transformationen 𝐶𝑃 (vgl. auch Abs. 3.5). Auch wenn der zeitlich umgekehrte Prozess nicht die Bewegungsgleichungen erfüllt, existiert also ein analoger Prozess, in dem zusätzlich Materie durch Antimaterie ersetzt und alles räumlich gespiegelt ist, der die Bewegungsgleichungen löst. Wenn sich beispielsweise im ursprünglichen Prozess Gase ausbreiten, existiert eine analoge Lösung, in der sich Antigase zusammenziehen. Die Verletzung der reinen 𝑇-Symmetrie könnte allerdings ein Hinweis darauf sein, dass die Zeit nicht nur mit dem Raum, sondern auch mit den internen Symmetrien, die den Teilcheneigenschaften zugrunde liegen, eng verbunden sein könnte. Die verwendete Hintergrundraumzeit ist für sich genommen exakt symmetrisch unter 𝑃 und 𝑇. Die Verletzungen der Symmetrien rühren daher, dass die schwache Wechselwirkung nur mit den linkshändigen Anteilen und nicht mit den rechtshändigen Anteilen der Teilchen wechselwirkt,160 das heißt, die Verletzung wird durch das Schema der fundamentalen Teilchen beschrieben, nicht durch die Hintergrundraumzeit selbst.161 Welche Bedeutung das haben könnte, hängt eng mit der Frage nach der Realität der Hintergrundraumzeit zusammen. Der ideale Charakter der Hintergrundraumzeit in den Quantenfeldtheorien ist bereits dadurch offensichtlich, dass in der Regel seine Krümmung vernachlässigt wird und eine quantenmechanische Beschreibung der Raumzeit bisher noch nicht gelungen ist. Selbst eine gekrümmte Hintergrundraumzeit dürfte daher mit hoher Sicherheit den tatsächlichen Raum nur annähern. Experimentell zugänglich sind Raum, Zeit und die internen Symmetrien allein über die Teilchen, mit deren Hilfe sie ausgemessen und bestimmt werden. Man könnte also versuchen, Raum und Zeit als nicht real anzunehmen und auf die möglichen 159 Vgl. H. D. Zeh, The Physical Basis of the Direction of Time, Berlin/Heidelberg 5. Aufl. 2007, 3 f.; Weinberg, The Quantum Theory of Fields, Bd. 1, 133 und 149. 160 Wenn ein Teilchen keine Masse besitzt und sich daher mit Lichtgeschwindigkeit bewegt, fällt seine „Händigkeit“ mit seiner Helizität zusammen und rechts- und linkshändige Teilchen lassen sich eindeutig unterscheiden. Dann beschreibt die Händigkeit, welchen Drehsinn das Teilchen gegenüber seiner Bewegungsrichtung hat. Besitzt das Teilchen jedoch eine Masse, gehen die rechts- und linkshändige Anteile über den Massenterm ineinander über. Es lassen sich zwar die Anteile noch unterscheiden, aber es gibt keine rein rechts- oder rein linkshändige Teilchen mit Masse. Vgl. H. G. Dosch, „The Standard Model of Particle Physics“, in: I.-O. Stamatescu/E. Seiler (Hrsg.), Approaches to Fundamental Physics. An Assessment of Current Theoretical Ideas, Lecture Notes in Physics 721, Berlin/Heidelberg 2007, 21–50, hier 31. 161 Einen kurzen Überblick über die elektroschwachen Wechselwirkungen im Standardmodell der Teilchenphysik liefert Dosch, „The Standard Model of Particle Physics“, 34–37. Für eine tiefergehende Darstellung vgl. Weinberg, The Quantum Theory of Fields, Bd. 2, 305–316.

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3. Die Zeit der Physik

Teilchenzustände zurückzuführen. Falls dagegen von einer eigenständigen Realität der Raumzeit ausgegangen wird, wie es von der allgemeinen Relativitätstheorie nahe gelegt wird, erscheint es plausibel, dass die Eigenschaften des Teilchenspektrums Eigenschaften der noch nicht beschriebenen Kombination von Raumzeit und internen Symmetrien selbst spiegeln. Erst eine Theorie, die sowohl Raum und Zeit als auch die fundamentalen Teilchen beschreibt, wird in diese Zusammenhänge mehr Licht bringen können. 3.4.4. Scharfe und unscharfe Zeit Die Unschärferelationen Heisenbergs sind eines der bekanntesten Ergebnisse der Quantenmechanik. Wie in Abs. 3.4.1 dargelegt, spiegeln sie eine prinzipielle Unbestimmtheit der Natur, die die Genauigkeit aller Messversuche begrenzt. In Analogie zur Unschärferelation zwischen Ort und Impuls lässt sich auch eine Unschärferelation zwischen Zeit und Energie formulieren. Die Bedeutung dieser Relation und ihre Implikationen waren jedoch eine Zeit lang umstritten. So existieren teils Interpretationen, die aus ihr eine Unschärfe der Zeit in der Quantenmechanik folgern wollen. Dies ist eng verbunden mit dem Problem der Zeitmessung in der Quantenmechanik. Im direkten Vergleich zur Orts- und Impulsmessung kann das Problem am einfachsten verdeutlicht werden. Die Wellenfunktion vor der Messung beschreibt die Wahrscheinlichkeiten für die Orte, an denen ein Teilchen vorgefunden werden kann. Durch die Messung wird die Wellenfunktion reduziert auf den gemessenen Ort. Ist die Messung nicht perfekt, sondern wird mit einer Ungenauigkeit Δ𝑥 ausgeführt, so spiegelt auch die resultierende Wellenfunktion diese Ungenauigkeit darin, dass sie eine entsprechende Breite aufweist. Da im mathematischen Formalismus der Quantenmechanik keine Wellenfunktionen formulierbar sind, deren Breiten im Orts- und Impulsraum die Unschärferelation Δ𝑥 ⋅ Δ𝑝 ≳ ℏ verletzen, folgt aus der Reduktion der Wellenfunktion unmittelbar, dass die Wahrscheinlichkeitsverteilung für eine folgende Messung des Impulses mindestens die Breite Δ𝑝 ≳ ℏ/Δ𝑥 aufweisen muss. Da unter Vertauschung der Reihenfolge von Orts- und Impulsmessung dieselben Einschränkungen gelten, können Ort und Impuls eines Teilchens nur im Rahmen der Unschärferelation bestimmt werden. Der zentrale Grund dafür ist, dass es keine Wellenfunktionen gibt, die zugleich im Orts- und im Impulsraum scharf lokalisiert sind. Eine analoge „Breite“ existiert auch in der Zeit: die Lebensdauer eines Zustandes. Daraus folgt die richtige Interpretation der Unschärferelation von Energie und Zeit, die schon Mandelstamm und Tamm vorgelegt haben:162 Es gibt keine Zustände in der Quantenmechanik, deren „Breiten“ in Zeit und Energie die Unschärferelation verletzen. Dies bedeutet, dass kurzlebige Zustände eine hohe Energieunschärfe ha162 L. Mandelstam/I. Tamm, „The Uncertainty Relation Between Energy and Time in Non-Relativistic Quantum Mechanics“, Journal of Physics (U.S.S.R.) 9 (1945), 249–254.

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ben und langlebige Zustände eine geringe Energieunschärfe. Zustände mit scharfer Energie dürften sich nie ändern. Im Gegensatz zu früheren Annahmen163 verletzen Messungen zu scharfen Zeiten dagegen keineswegs die Unschärferelation, wie Aharonov und Bohm gezeigt haben.164 In den aktuellen Formulierungen der Quantenmechanik wird daher die newtonsche Zeit beziehungsweise die Minkowskische Raumzeit als Hintergrund beibehalten. 3.4.5. Die Zeitmessung Eine einfache Anwendung der Unschärferelationen auf Zeitmessungen führt also in die Irre. Das liegt auch daran, dass Zeitmessungen nicht durch einen einfachen Zeitoperator ausgedrückt werden können, wie es bei anderen Messungen in der Quantenmechanik üblich ist. Denn ein solcher Zeitoperator würde implizieren, dass es Zustände mit beliebig niedriger Energie gäbe.165 In Analogie zur Orts- und Impulsmessung würde man einen Zeitoperator 𝑇 erwarten, der den Kommutator [𝐻, 𝑇] = 𝑖ℏ mit dem Hamiltonoperator 𝐻 erfüllt, und damit einer entsprechenden Zeit-Energie-Unschärferelation unterliegt. Operatoren haben jedoch zwei Funktionen. Zum einen sind sie Observablen, das heißt, sie definieren die möglichen Messgrößen. Zum anderen beschreiben sie Transformationen der konjugierten Größe, in diesem Fall der Energie. Ein Zeitoperator, der die obige Gleichung erfüllt, würde neben der Zeitmessung also auch die Verschiebung der Energie beschreiben. Gäbe es diesen Operator, wäre es möglich jeden Eigenzustand |𝐸 > des Energieoperators nach exp 𝑖𝑇𝜖|𝐸 >= |𝐸 + 𝜖 > in der Energie zu verschieben und mit negativem 𝜖 Zustände mit beliebig niedriger Energie zu erzeugen. Um stabile Zustände zu erhalten, ist es jedoch notwendig, dass das Energiespektrum nach unten begrenzt ist, da sonst jeder Zustand in weitere mit niedrigerer Energie zerfallen könnte. Also kann es keinen solchen Operator 𝑇 geben. In der Praxis spielte die Zeit in der nicht-relativistischen Quantenmechanik daher die Rolle eines Parameters und keiner Observablen. Diese Beschreibung muss jedoch unzureichend sein, da offensichtlich Zeit mit Uhren gemessen werden kann, die allesamt aus quantenmechanisch beschreibbaren Teilchen aufgebaut sind. Außerdem muss in der relativistischen Quantenmechanik die Zeit auf gleicher Ebene mit dem Raum behandelt werden, der in der nicht-relativistischen Quantenmechanik durch Operatoren beschrieben wird. In den Quantenfeldtheorien wird 163

Zum Beispiel Neumann, Mathematische Grundlagen der Quantenmechanik, 187 f. Y. Aharonov/D. Bohm, „Time in the Quantum Theory and the Uncertainty Relation for Time and Energy“, in: J. A. Wheeler/W. H. Zurek (Hrsg.), Quantum Theory and Measurement, Princeton N. J. 1983, 715–724. 165 So ein Argument von Pauli. Vgl. zum Folgenden J. G. Muga/R. S. Mayato/I. L. Egusquiza, „Introduction“, in: J. G. Muga/R. S. Mayato/I. L. Egusquisa (Hrsg.), Time in Quantum Mechanics, Lecture Notes in Physics 734, Berlin/Heidelberg 2. Aufl. 2008, 1–30, hier 5 f. 164

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das letztere Problem dadurch behoben, dass auch die Ortskoordinaten zu Parametern werden. Die dynamischen Größen der Quantenfeldtheorien sind die Felder. Ein klassisches Feld ist dadurch definiert, dass es an jedem Raumzeitpunkt einen definitiven Wert hat. Ein quantenmechanisches Feld gibt für jede denkbare Feldkonfiguration eine Wahrscheinlichkeit an. Die Ortskoordinaten und die Zeit parametrisieren die Raumzeitpunkte, sind selbst aber keine Größen mehr, die durch die Dynamik beschrieben werden. Die Operatoren und damit die messbaren Größen in den Quantenfeldtheorien sind allein die Feldoperatoren. Jedoch lassen sich aus diesen Feldoperatoren wieder Operatoren zusammensetzen, die den Ort eines Teilchens bestimmen lassen, aber keinen Operator, der analog die Zeit bestimmen könnte. Die Frage der Zeitmessung ist in den Quantenfeldtheorien also nicht einfacher zu klären. Die Parameterzeit kann als externe Zeit166 bezeichnet werden, da sie der klassischen Zeit entspricht, die mit den Uhren außerhalb des betrachteten Systems gemessen wird. Darum kann für diese Zeit auch keine Unschärferelation gelten. Eine quantenmechanische Betrachtung der Zeit müsste jedoch von solchen Hintergrundzeiten absehen und die Bestimmung der Zeit anhand quantenmechanisch beschriebener Objekte vornehmen. In der Dynamik quantenmechanischer Systeme gibt es zahlreiche verschiedene intrinsische Zeiten, die sich jeweils an den Veränderungen der einzelnen Zustände ablesen lassen. Die Grenzen dieser intrinsischen Zeit gibt die charakteristische Zeit an, die die Zeitspanne beschreibt, die ein System benötigt, um sich beobachtbar zu verändern. Die charakteristische Zeit kann daher zum Beispiel die mittlere Lebensdauer eines Zustands sein, so dass diese intrinsischen Zeiten mit der Energie des Zustands eine Zeit-Energie-Unschärfe erfüllen. Die Zeit-Energie-Unschärferelation bestimmt also die kleinsten Zeitintervalle, die mit der jeweiligen intrinsischen Zeit unterschieden werden können. In dieser intrinsischen Zeit erscheint Zeit als allgemeines Charakteristikum der Veränderung, aber nicht als einheitliche Größe, die aller Bewegung zugrunde liegt. Daher muss geklärt werden, ob und wie Zeit als einheitliche Größe Gegenstand von quantenmechanischen Messungen sein kann. Für Zeitmessungen scheinen insbesondere zwei Typen von Messungen relevant zu sein:167 Die Bestimmung der Koinzidenz von zwei Ereignissen oder Zuständen, zum Beispiel der Gleichzeitigkeit der Detektion eines Teilchens und des Stands einer Uhr sowie die Messung der Dauer einer Zeitspanne oder präziser die kontinuierliche Verfolgung der Veränderung einer dynamischen, intrinsischen Variable, die als Zeitmaß gewählt wurde, wie zum Beispiel der Bewegung eines Teilchens. Die letztere Messung wird mit Uhren vollzogen. Im Idealfall wird im Rahmen der Quan166 Vgl. zur Unterscheidung der externen, intrinsischen und observablen Zeit P. Busch, „The Time-Energy Uncertainty Relation“, in: J. G. Muga/R. S. Mayato/I. L. Egusquisa (Hrsg.), Time in Quantum Mechanics, Lecture Notes in Physics 734, Berlin/Heidelberg 2. Aufl. 2008, 73–105, hier 73–76. 167 Vgl. dazu ebd., 89.

3.4. Zeit und Quanten

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tenmechanik damit der Verlauf des Parameters der Hintergrundzeit vermessen. In einer umfassenden Theorie, die Quantenmechanik und allgemeine Relativitätstheorie mit einschließt, müsste dies der Eigenzeit der Uhr entsprechen. Die Eigenzeit ist jedoch durch die Metrik bestimmt, so dass Uhren letzten Endes eine Komponente der Metrik vermessen. Der erstere Typ der Zeitmessungen ist eine Bestimmung, ob etwas am selben Raumzeitpunkt wie etwas anderes passiert. Im Experiment wird also nicht die Zeit selbst gemessen, sondern zum Beispiel ein Teilchen detektiert. Dieses Ereignis wird dann im raumzeitlichen Kontinuum eingeordnet, das unter anderem durch die Laboruhr vorgegeben ist, die wiederum die Metrik vermisst. Zeit selbst taucht darum nicht als unmittelbar messbare Größe auf, sondern bestimmt werden allein Koinzidenzen und die Metrik. Hieran wird deutlich, dass ähnlich wie in der Relativitätstheorie die Auffassung der Zeit als Parameter zu kurz greift.168 3.4.6. Zusammenfassung Die Konsequenzen der Quantenmechanik für die Zeit haben sich aus vor allem aus der Art der gesetzlichen Zusammenhänge zwischen verschiedenen Zeiten oder zwischen verschiedenen raumartigen Schnitten durch die Raumzeit ergeben. Die Quantenmechanik lässt sich indeterministisch interpretieren, woraus die relative Offenheit der Zukunft folgen kann, streng genommen aber auch die Offenheit der Vergangenheit gegenüber der Gegenwart. Beide sind nicht durch den jetzigen Zustand festgelegt, auch wenn durch letzteren Wahrscheinlichkeiten für verschiedene Möglichkeiten gegeben sind. Vertritt man dagegen Interpretationen, die kompatibel zum Determinismus sind, wie die Bohmsche Mechanik oder die Relative-StateInterpretation von Everett, so bleibt die Zeit der Quantenmechanik identisch zur newtonschen Zeit. Eine Richtung der Zeit, die einem objektivem Ablauf entsprechen würde, lässt sich der Quantenmechanik nicht entnehmen. Die Quantenmechanik behält die Zeitumkehrinvarianz der klassischen Physik beziehungsweise der speziellen Relativitätstheorie in modifizierter Form bei. Nach heutiger Kenntnis bieten daher die bekannten fundamentalen Theorien keine Erklärung für die erfahrene Richtung der Zeit. Auch wenn in der Quantenmechanik „Zeit“ zumeist als Parameter behandelt wird, verdeutlicht das Problem der Zeitmessung, dass die Identifizierung von Zeit mit einem Parameter fehlgeleitet ist. In der Zeitmessung werden Koinzidenzen von Ereignissen beobachtet und über die Eigenzeit eine Komponente der Metrik vermessen. Es werden also bereits zwei verschiedene Sachverhalte bestimmt, so dass Zeit nicht eine einfache Messgröße ist. 168 Zu weiteren, vor allem den technischen Problemen, Zeitmessungen in der Quantenmechanik zu beschreiben, und zu neueren Lösungsansätzen vgl. die Aufsätze in Muga/Mayato/Egusquisa, Time in Quantum Mechanics.

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3. Die Zeit der Physik

3.5. Irreversibilität und Reversibilität der Zeit in der statistischen Physik Während die allgemeine Relativitätstheorie die Zeit unmittelbar zum Thema hat, weil sie die Topologie und die Krümmung der Raumzeit beschreibt, ist in der Quantenmechanik die Rolle der Zeit nicht unmittelbar im Formalismus evident. Doch die wesentliche Neuerung der Quantenmechanik gegenüber der klassischen Physik betrifft die Art der Zeitentwicklung, nämlich ob sie deterministisch ist oder nicht. Man könnte erwarten, dass die Thermodynamik keinen neuen Beitrag zur Interpretation der Zeit liefert, weil sie üblicherweise nicht als eine fundamentale Theorie angesehen wird, sondern mit Mitteln der statistischen Physik aus Quantenmechanik beziehungsweise klassischer Physik abgeleitet werden soll. Dennoch ist die Thermodynamik die einzige physikalische Theorie, in der sich die Asymmetrie der Zeit in einem Gesetz, dem zweiten Hauptsatz, spiegelt. Die Ableitung dieses Gesetzes aus den symmetrischen Theorien der Mikrophysik ist darum auch ein relevantes Problem der Zeitthematik in der Physik und betrifft direkt einen zentralen Aspekt des Wesens der Zeit. Von den vielen philosophischen Problemen der Thermodynamik und statistischen Physik169 soll in diesem Abschnitt also nur die Irreversibilität diskutiert werden. Dabei stellt sich zunächst die Frage, was asymmetrisch beziehungsweise irreversibel ist. Die Erfahrungswelt ist bezüglich der Umkehr der Zeit offensichtlich asymmetrisch. Doch ist dies eine Asymmetrie der Zeit selbst oder eine Asymmetrie der Dinge in einer an sich symmetrischen Zeit? Auf physikalischer Seite lassen sich drei Alternativen unterscheiden: Ist die Asymmetrie der Zeit auf die fundamentalen Gesetze zurückführbar, in dem Sinne, dass die Gesetze selbst eine Asymmetrie aufweisen? Unter Voraussetzung eines Raumzeit-Substanzialismus wäre in diesem Fall die Zeit selbst asymmetrisch. Wird von einem Raumzeit-Relationalismus ausgegangen, wäre es eine Asymmetrie der fundamentalen Relationen. Ein zweiter Fall analog zur spontanen Symmetriebrechung würde ebenfalls die Asymmetrie auf die fundamentalen Gesetze zurückführen, aber in dem Sinne, dass die Gesetze selbst symmetrisch sind, aber alle relevanten Lösungen eine Asymmetrie aufweisen.170 Hier ließe sich darüber streiten, ob es eine Asymmetrie der Zeit selbst ist, oder eine Asymmetrie der Lösungen, insbesondere wenn die Dynamik der Raumzeitmetrik selbst asymmetrisch wäre. In einem dritten Fall wären die Gesetze symmetrisch und es gäbe viele Lösungen ohne eindeutigen Zeitpfeil. Allein die Randbedingungen oder zufällige Schwankungen legen eine eventuelle Asymmetrie fest. Dann wäre die Zeit auf der fundamen-

169 Einige diskutiert L. Sklar, Physics and chance. Philosophical issues in the foundations of statistical mechanics, Cambridge 1993. 170 Diesen Ansatz nennt Prigogine, Vom Sein zum Werden, 228–230.

3.5. Irreversibilität und Reversibilität der Zeit in der statistischen Physik

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talen Ebene symmetrisch.171 Die Asymmetrie der Dinge wäre ein zufälliges Phänomen. Doch ließe sich diskutieren, ob die Asymmetrie den Charakter der Phänomene nicht derart verändert, dass zwei Ebenen unterschieden werden könnten: Die fundamentale, symmetrische Zeit und eine emergente asymmetrische Zeit. Auf diese Weise könnte man der großen Bedeutung, die die Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft für das Zeiterleben hat, und zugleich der Symmetrie der fundamentalen Prozesse gerecht werden. Welcher dieser drei Fälle der Realität entspricht, ist noch nicht abschließend geklärt, auch wenn alle bisherigen Erkenntnisse für die Reversibilität der fundamentalen Gesetze sprechen (vgl. Abs. 3.3.2 und 3.4.2). Zwar wurden Verletzungen der Zeitsymmetrie auf elementarer Ebene beobachtet (vgl. die Ausführungen zur 𝐶𝑃𝑇-Symmetrie Abs. 3.4.3). Doch können diese Verletzungen keine Richtung der Zeit in dem Sinne konstituieren, wie sie im Alltag beobachtbar sind: Die Ausbreitung von Gasen statt eines Zusammenziehens oder der Ausgleich statt des Aufbaus von Temperaturunterschieden. Denn mit der vollständigen 𝐶𝑃𝑇-Symmetrie lässt sich jedem Prozess ein umgekehrt ablaufender zuordnen, auch wenn zusätzlich der Raum gespiegelt und die Ladungen umgekehrt werden müssen. Löst ein sich ausbreitendes Gas die Bewegungsgleichungen, so werden sie auch durch ein sich zusammenziehendes Gas aus räumlich gespiegelter Antimaterie gelöst. Entsprechende Analogien lassen sich stets finden, wenn eine exakte Symmetrie gilt, die Zeitumkehr neben anderen Operationen172 umfasst. Dann existiert zu jedem Prozess ein analoger Prozess, der umgekehrt abläuft, und für Beobachter, die selbst Teil des Systems sind, sind die beiden Prozesse nicht unterscheidbar. Die Irreversibilität der Zeit ist daher nicht identisch mit einer Verletzung der Zeitsymmetrie. Zusätzlich muss die Bedingung gestellt werden, dass keine exakte Symmetrie existiert, die Zeitumkehr als eine der Operationen umfasst.173 Die folgende Diskussion wird dadurch erschwert, dass noch kein allgemein akzeptierter Formalismus für statistische Physik existiert,174 sondern eine Vielfalt von Ansätzen mit unterschiedlicher Erklärungskraft.175 Darum wird nur eine kleine Auswahl der möglichen Ansätze diskutiert. Da keiner dieser Ansätze bisher eine vollständige Erklärung der Irreversibilität liefern kann, sollen auch nicht die Detail171 Diese These vertritt J. North, „Time in Thermodynamics“, in: C. Callender (Hrsg.), The Oxford Handbook of Philosophy of Time, Oxford 2011, 312–350, hier 312. 172 Sogenannte „compensating symmetry operations“ nach Zeh, The Physical Basis of the Direction of Time, 3 f. 173 Siehe für eine detailliertere Erklärung anhand weiterer Beispiele Zeh, The Physical Basis of the Direction of Time, 3 f. Mit dieser Definition erscheint die in North, „Time in Thermodynamics“, 315–317 erwähnte Diskussion über die Reversibilität der klassischen Mechanik überflüssig und der Fokus wird auf die für das alltägliche Zeiterleben relevanten Fragen gelegt. 174 So J. Uffink, „Compendium of the Foundations of Classical Statistical Mechanics“, in: J. Butterfield/J. Earman (Hrsg.), Philosophy of Physics, Amsterdam/Boston u. a. 2007, 923–1074, hier 923– 925. 175 Vgl. Sklar, Physics and chance, 14–89 für einen detaillierten historischen Abriss.

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3. Die Zeit der Physik

probleme bearbeitet werden, sondern der grobe Aufbau der Argumente und jeweils ein oder zwei zentrale Probleme, die alle Ansätze der jeweiligen Art betreffen und noch bewältigt werden müssten. 3.5.1. Boltzmanns statistischer Ansatz Im Rahmen der statistischen Physik wurden viele Ansätze entwickelt, die die Irreversibilität der zeitlichen Prozesse aus den mikroskopischen Gesetzen ableiten wollten. Viele davon folgen dem klassischen Entwurf Boltzmanns, das in grober Darstellung folgendes Schema ansetzt: Die mikroskopischen Gesetze werden als invariant unter Zeitumkehr angenommen. Die zeitliche Entwicklung vieler Teilchen kann praktisch nicht unmittelbar mit diesen Gesetzen berechnet werden. Also müssen statistische Verteilungsfunktionen verwendet werden, die nicht mehr alle Variablen im Detail beschreiben, sondern nur die Wahrscheinlichkeiten für die jeweiligen Konfigurationen. Für diese Verteilungen wird die zeitliche Entwicklung aus den mikroskopischen Gleichungen abgeleitet. Ziel ist es, die Gesetze der Thermodynamik und damit auch den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik als Ergebnis zu erhalten. In einem weiteren Schritt wird angenommen, dass die Asymmetrie aller anderen zeitlichen Phänomene mit dem Entropiezeitpfeil in enger Verbindung steht, sich möglicherweise sogar aus ihr ableiten lässt. Boltzmanns Versuche, über diesen Weg die Thermodynamik herzuleiten, lassen sich historisch in verschiedene Varianten unterteilen, die sich zum Beispiel darin unterscheiden, ob er Verteilungsfunktionen für Teilchen verwendet wie Maxwell oder Ensembles im Phasenraum wie später Gibbs.176 An dieser Stelle sollen nur die bekanntesten Punkte skizziert werden.177 Wie in den meisten Ansätzen der statistischen Physik wird die Gültigkeit der mikroskopischen Physik nicht angezweifelt. Der tatsächliche Zustand der Welt ist durch die mikroskopische Beschreibung aller Geschwindigkeiten und Positionen der Teilchen gegeben. Dieser Zustand lässt sich jedoch praktisch nicht bestimmen, weil es zu viele Teilchen sind. Einfacher zugänglich sind dagegen makroskopische Größen, wie Druck oder Temperatur, die sich aus der kollektiven Bewegung aller Teilchen ergeben. Praktisch können nur solche Zustände unterschieden werden, die sich auch in den makroskopischen Größen unterscheiden. Für die makroskopische Beschreibung wurden insbesondere zwei Ansätze verfolgt: Einmal können Verteilungsfunktionen verwendet werden, die die relative 176 Für eine Überblicksdarstellung siehe zum Beispiel Uffink, „Compendium of the Foundations of Classical Statistical Mechanics“, 952–992. 177 Im Wesentlichen beschrieben in L. Boltzmann, „Weitere Studien über das Wärmegleichgewicht unter Gasmolekülen“, in: Ders., Wissenschaftliche Abhandlungen, Bd. I, hrsg. von F. Hasenöhrl, Leipzig 1909, 316–402; L. Boltzmann, „Über die Beziehung zwischen dem zweiten Hauptsatze der mechanischen Wärmetheorie und der Wahrscheinlichkeitsrechnung respektive den Sätzen über das Wärmegleichgewicht“, in: Ders., Wissenschaftliche Abhandlungen, Bd. II, hrsg. von F. Hasenöhrl, Leipzig 1909, 164–223.

3.5. Irreversibilität und Reversibilität der Zeit in der statistischen Physik

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Häufigkeit von Energien oder Geschwindigkeiten der Teilchen beschreiben. Zum anderen können Ensembles von mikroskopischen Zuständen benutzt werden, die zu makroskopischen Gesamtheiten zusammengefasst werden, weil sie sich makroskopisch nicht unterscheiden lassen. Im letzteren Fall lässt sich die Entropie in Abhängigkeit von der Größe der Makrozustände definieren. Je mehr Mikrozustände zu einem Makrozustand gehören, desto höher ist seine Entropie.178 Der zweite Hauptsatz lässt sich also so verstehen: Jedes System hat die Tendenz, in einen Zustand überzugehen, der wahrscheinlicher ist, weil mehr de facto ununterscheidbare Mikrozustände zu ihm gehören.179 Boltzmann definiert in seinem Aufsatz von 1872 die Entropie in Abhängigkeit von der Verteilungsfunktion und zeigt die Zunahme der Entropie explizit, indem er die zeitliche Entwicklung der Entropie beziehungsweise der analogen 𝐻-Funktion, aus der Entwicklung der Verteilungsfunktion herleitet.180 Nach dieser Rechnung ist die Wahrscheinlichkeit außerordentlich groß, dass sich ein beliebiger Zustand außerhalb des Gleichgewichts für zukünftige Zeiten dem Gleichgewicht, das heißt dem Zustand mit der größten Entropie, annähert. Einige Punkte dieser Herleitung haben zwar ihre Probleme und (teils ungenannten) Voraussetzungen. Für die Diskussion in diesem Abschnitt sei jedoch angenommen, dass Boltzmanns Herleitung ohne Probleme funktioniere, damit ein zentraler Punkt herausgearbeitet werden kann, der alle Versuche betrifft, die die Entropiezunahme ähnlich wie Boltzmann erklären wollen. Denn in einer analogen Rechnung lässt sich zeigen, dass sich für jede Verteilungsfunktion die Entropie auch in Richtung Vergangenheit mit großer Wahrscheinlichkeit dem Gleichgewichtswert annähert. Das zeitliche Bild bleibt insgesamt symmetrisch. Die Quelle der scheinbaren Asymmetrie in den einzelnen Rechnungen ist der Stoßzahlansatz, der im einen Fall von den Geschwindigkeiten vor dem Stoß ausgeht, im anderen Fall von den Geschwindigkeiten nach dem Stoß. Die Richtung der Entropiezunahme ist dadurch gegeben, in welcher Richtung die Geschwindigkeitsverteilung als bekannt vorausgesetzt wird.181 Wollte man unter Voraussetzung der Entropie des gegenwärtigen Zeitpunkts also die wahrscheinlichste Entwicklung für die 178 Das üblicherweise verwendete Maß, mit dem entschieden wird, was mehr ist, ist jedoch bereits das Maß des mikrokanonischen Ensembles, das in der Gibbschen Statistischen Physik auch das Gleichgewicht ist. Mit anderen Maßen erhielte man auch andere Entropien. Vgl. Uffink, „Compendium of the Foundations of Classical Statistical Mechanics“, 1010. 179 Ein Argument dieser Art formuliert Boltzmann schon in Boltzmann, „Über die Beziehung zwischen dem zweiten Hauptsatze der mechanischen Wärmetheorie und der Wahrscheinlichkeitsrechnung respektive den Sätzen über das Wärmegleichgewicht“, 165 und deutlicher in Bezug auf die Maxwellsche Geschwindigkeitsverteilung auch in L. Boltzmann, „Entgegnung auf die wärmetheoretischen Betrachtungen des Hrn. E. Zermelo“, Annalen der Physik und Chemie 293 (1896), 773–784, hier 775 f., während er in früheren Untersuchungen auch Verteilungsfunktionen für die Teilchen verwendet, wie in Boltzmann, „Weitere Studien über das Wärmegleichgewicht unter Gasmolekülen“, insbesondere 321. 180 Boltzmann, „Weitere Studien über das Wärmegleichgewicht unter Gasmolekülen“, 334–346. 181 Vgl. Uffink, „Compendium of the Foundations of Classical Statistical Mechanics“, 974.

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3. Die Zeit der Physik

Vergangenheit und die Zukunft berechnen, so erhielte man nicht einen durchgängig gültigen zweiten Hauptsatz, sondern eine zeitliche Entwicklung, in der die Entropie bis zum vorausgesetzten Jetzt-Punkt abnimmt und danach zunimmt.182 Man kann diese Abweichung vom zweiten Hauptsatz in die Vergangenheit verschieben, indem man nicht die Entropie des jetzigen Zeitpunkts, sondern eines früheren voraussetzt und die Entwicklung ausgehend von diesem berechnet. Doch für die Vergangenheit vor diesem Punkt wird sich stets das Resultat einstellen, dass die Entropie ab- statt zunimmt.183 Boltzmann hat versucht diese Abweichung von der alltäglichen Erfahrung kosmologisch zu erklären. Seine 𝐻-Funktion beschreibt nicht nur die Annäherung an das Gleichgewicht, sondern auch unwahrscheinliche, aber nach genügend langer Zeit auftretende Schwankungen, die für kurze Zeit aus dem Gleichgewicht herausführen. Daraus ergibt sich seine kosmologische Deutung: Das Universum ist die meiste Zeit im Gleichgewicht, dauert aber so unermesslich lang an, dass es sehr selten auch eine Schwankung aufweist, die groß und lang genug ist, um Welten wie die jetzige zu beherbergen.184 Jede dieser Schwankungen hat zwei Flanken, in denen die Entropie einmal in der einen und einmal in der anderen Richtung zunimmt. Nach Boltzmann werden Lebewesen, die in einer der Flanken leben, jeweils die Richtung als Zukunft definieren, in der die Entropie zunimmt,185 eine nicht selbstverständliche These, deren Richtigkeit hier aber angenommen werden soll (vgl. Abs. 3.5.3). Im zwanzigsten Jahrhundert wurde jedoch eine der zentralen Voraussetzungen dieses Modells widerlegt: Die Größe des Universums ist nicht konstant, sondern ändert sich ebenfalls. Es ist auch noch nicht alt genug, um eine Schwankung, die aus dem Gleichgewicht führt, als plausibel erscheinen zu lassen. Will man Boltzmanns statistischen Ansatz nicht aufgeben, so bietet sich eine zweite kosmologische Deutung an: Da das Universum scheinbar einen Anfang hatte, lässt sich der Zeitpunkt, der bei der statistischen Betrachtung als gegeben vorausgesetzt wird, mit dem Anfang identifizieren. Nach dem Anfang nähert sich das Universum in Übereinstimmung mit dem zweiten Hauptsatz dem Gleichgewicht an. Vor dem Anfang gibt es 182

Eine populärwissenschaftliche Darstellung dieses Sachverhalts findet sich in R. Penrose, The Emperor’s New Mind. Concerning Computers, Minds, and The Laws of Physics, New York/Oxford 1989, 315–317. Das Problem an Boltzmanns Ansatz sieht auch North, „Time in Thermodynamics“, 323 f. 183 Ein Resultat, das auch Boltzmann sieht: L. Boltzmann, „On Certain Questions of the Theory of Gases“, Nature 51 (1895), 413–415, hier 414 f. Für moderne Herleitungen ergeben sich ähnliche Ergebnisse. Über die BBGKY-Hierarchie kann eine Gleichung für Ensembles analog zur BoltzmannGleichung hergeleitet werden. Die Asymmetrie dieser Gleichung in dieser Herleitung resultiert aus der Annahme, dass das Gas zu Beginn keine Korrelationen zwischen den Teilchen aufweist. Vgl. Uffink, „Compendium of the Foundations of Classical Statistical Mechanics“, 1034–1038 für eine Herleitung. 184 Siehe Boltzmann, „On Certain Questions of the Theory of Gases“, 415; Boltzmann, „Entgegnung auf die wärmetheoretischen Betrachtungen des Hrn. E. Zermelo“, 773–775. 185 L. Boltzmann, „Zu Hrn. Zermelo’s Abhandlung ‚Ueber die mechanische Erklärung irreversibler Vorgänge‘“, Annalen der Physik und Chemie 296 (1897), 392–398, hier 396.

3.5. Irreversibilität und Reversibilität der Zeit in der statistischen Physik

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keine Zeit, in der etwas anderes gelten könnte.186 In der neueren Kosmologie gibt es auch einige Hinweise darauf, dass sich das Universum zu Beginn in einem Zustand mit sehr gleichmäßiger Materieverteilung befand, ein Zustand, der unter Berücksichtigung der Gravitation sehr niedrige Entropie aufweist.187 Damit wäre die Asymmetrie der Zeit auf die Asymmetrie der Randbedingungen zurückgeführt. Nur lässt sich für diese Asymmetrie im Rahmen der bisherigen Physik keine Erklärung anbieten. Fast alle physikalischen Theorien arbeiten auf der Grundlage, dass sie Gesetze formulieren, die ausgehend von einem Anfangszustand die weitere Entwicklung beschreiben. Für den Anfangszustand selbst gibt es allenfalls Einschränkungen, aber grundsätzlich wird er als frei wählbar angenommen. Eine Theorie, die die Asymmetrie der Randbedingungen erklären wollte, müsste aber eben erklären, warum der Anfangszustand so weit vom Gleichgewicht entfernt ist, das heißt, sie müsste eine Vorhersage für den Anfangszustand liefern. Die heute anerkannten Theorien versuchen dies nicht.188 Im Bereich der Quantengravitation gibt es zwar einzelne Ansätze, die in dieser Richtung weiterdenken, doch sind sie noch nicht weit genug entwickelt, um solche Vorhersagen treffen zu können (vgl. Abs. 3.6.2). Nach dem jetzigen Stand kann dieser Ansatz also die Asymmetrie der zeitlichen Phänomene nicht erklären, sondern nur die Ursache in einen Bereich verschieben, der (noch) jenseits der Aussagekraft der Theorien liegt. Trotzdem sind Boltzmanns Betrachtungen von großem Wert. Sie zeigen zumindest prinzipiell, dass eine asymmetrische Erfahrung der Zeit und symmetrische Naturgesetze nicht unversöhnliche Gegensätze sind. 3.5.2. Gibbssche Ensembles In der modernen statistischen Physik werden neben Boltzmanns Formalismus insbesondere auch die Gibbsschen Ensembles189 verwendet. In diesem Formalismus werden die Makrozustände als Ensembles von Mikrozuständen aufgefasst. Jeder Mikrozustand beschreibt die detaillierte, mikroskopische Konfiguration aller Teilchen. Die Makrozustände ordnen jedem Mikrozustand eine gewisse Wahrscheinlichkeit zu. Mit dieser Beschreibung gelingt es Gibbs mit großem Erfolg die Thermodynamik des Gleichgewichts mit statistischen Methoden abzuleiten. Auch die zeitliche Ent186 Eine Annahme dieser Art halten zum Beispiel Lebowitz und Feynman für unverzichtbar. Vgl. J. L. Lebowitz, „Boltzmann’s Entropy and Time’s Arrow“, Physics Today 46.9 (1993), 32–38, hier 36 f. im Anschluss an R. P. Feynman/R. B. Leighton/M. Sands, The Feynman Lectures on Physics, Bd. I: Mainly Mechanics, Radiation, and Heat, Reading Mass. 1963, 46-8 f. 187 Vgl. North, „Time in Thermodynamics“, 324–327; Penrose, The Emperor’s New Mind, 317–322 und 339–345, insbesondere 322. 188 So lehnt auch Boltzmann jeden Versuch dieser Art ab. Vgl. Boltzmann, „Entgegnung auf die wärmetheoretischen Betrachtungen des Hrn. E. Zermelo“, 780. 189 Ein Überblick über Gibbssche statistische Mechanik findet sich zum Beispiel in Uffink, „Compendium of the Foundations of Classical Statistical Mechanics“, 992–1005.

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3. Die Zeit der Physik

wicklung solcher Ensembles lässt sich berechnen. Dabei ergibt sich das erste Problem, dass in der klassischen Physik das Phasenraumvolumen konstant bleibt, so dass auch die Entropie eines Ensembles konstant bleibt. Diesem Problem lässt sich noch mit einer subjektivistischen Deutung begegnen: Das Ensemble verteilt sich über den zugänglichen Teil des Phasenraums durch zahlreiche kleine Verästelungen, die sich mit grobem Blick nicht vom umgebenden Phasenraum unterscheiden lassen. Daher nimmt das Unwissen vom System zu.190 Das schwerwiegendere Problem betrifft die Deutung dieser Entropie. Da jeder Mikrozustand zu allen möglichen Ensembles gehören kann, lässt sich nach Gibbs nicht aussagen, ob sich ein Mikrozustand im Gleichgewicht befindet, weil eine derartige Aussage gar nicht definiert ist.191 Nur die Makrozustände, das heißt die Ensembles, können im Gleichgewicht sein oder nicht. Jedoch sollen die Mikrozustände die tatsächlich möglichen Zustände abbilden und die Makrozustände das Unwissen über den genauen Zustand. Daher widerspricht dieser Aspekt der Gibbschen Beschreibung der Erfahrung, da den real existierenden Zuständen, und das bedeutet den Mikrozuständen, zugeschrieben wird, ob sie sich im Gleichgewicht befinden oder nicht. Um die Asymmetrie der Entropie-Entwicklung zu erklären, muss also über die Gibbsschen Ensembles hinausgegangen werden.192 3.5.3. Die Entropie und andere Zeitpfeile Die Asymmetrie der Entropieentwicklung erfährt in der philosophischen Zeitdiskussion einige Aufmerksamkeit, weil es sich um den einzigen Zeitpfeil handelt, der im zweiten Hauptsatz der Thermodynamik Niederschlag in ein physikalisches Gesetz erhalten hat. Zudem wurde teils behauptet, dass die anderen Zeitpfeile auf diesen zurückgeführt werden könnten. Auf dieser Vermutung beruhte auch Boltzmanns Versuch, die Asymmetrie der Zeit mit der Entropie zu erklären.193 Als eine alternative Möglichkeit für einen fundamentalen Zeitpfeil wurde der Zeitpfeil der Strahlung diskutiert: Nach Wechselwirkungen von einlaufenden ebenen Wellen an Punktteilchen, können zwar auslaufende Kugelwellen beobachtet werden. Es wird jedoch nie der umgekehrte Fall beobachtet, dass Kugelwellen einlaufen und an einem Punkt mit einem Teilchen wechselwirken. Dasselbe gilt für analoge Wellenphänomene im Wasser und anderen Medien. 190 J. W. Gibbs, Elementary Principles in Statistical Mechanics Developed with Especial Reference to the Rational Foundation of Thermodynamics, in: The Collected Works of J. Willard Gibbs, Bd. II.1, New York/London/Toronto 1928, 143–151. Vgl. auch die Darstellung in Uffink, „Compendium of the Foundations of Classical Statistical Mechanics“, 1001 und I. Prigogine/I. Stengers, Dialog mit der Natur. Neue Wege naturwissenschaftlichen Denkens, München 1981, 215 f., auch wenn Prigogine selbst diese Deutung ablehnt. 191 Uffink, „Compendium of the Foundations of Classical Statistical Mechanics“, 1005. 192 So schätzt auch Lebowitz, „Boltzmann’s Entropy and Time’s Arrow“, 37 f. den Wert der Gibbsschen Ensembles ein. 193 Vgl. Sklar, Physics and chance, 385–411 für eine ausführliche Kritik dieses Programms.

3.5. Irreversibilität und Reversibilität der Zeit in der statistischen Physik

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Der kosmologische Zeitpfeil wiederum bezieht sich auf die Ausdehnung des Universums, die scheinbar ebenfalls in einer vorgegebenen Richtung erfolgt. Man könnte also versucht sein, die Ausdehnung des Universums mit den anderen Zeitpfeilen zu verknüpfen. Dies würde bedeuten, dass die Zeit in der Richtung verläuft, in der das Universum größer wird. Bisher ist jedoch noch kein Argument in Sicht, mit dem sich begründen ließe, wie die Ausdehnung des Universums Einfluss auf das statistische Verhalten lokaler Gase haben könnte, auch wenn es sich nicht vollständig ausschließen lässt: „Time-reversal or not […], even in my dreams I have not yet seen any ‚cosmological arrow of time‘ flying convincingly through the landscape of the 𝐶∗ -algebraic approach developed for QSP [Quantum Statistical Physics, J.S.] […] but neither may such a flight be ruled out as a heretical foray into this formalism“194 Ob sich die anderen Zeitpfeile auf einen dieser drei reduzieren lassen, ist also keineswegs evident. Beispiele für solche Zeitpfeile sind unmittelbar im Alltag zu beobachten:195 Erinnerungen beziehen sich stets auf die Vergangenheit. Ursachen gehen ihren Folgen voraus. Versuche, diese Zeitpfeile miteinander in Verbindung zu bringen, können für ihre Grundgedanken teils gute Plausibilität beanspruchen. Ein stringenter Beweis für eine Verbindung zwischen zwei dieser Zeitpfeile ist bisher jedoch noch nicht erbracht worden.196 Von einer Erklärung der Asymmetrie der Zeit wäre die statistische Physik also noch weit entfernt, selbst wenn sie die Asymmetrie der Entropie oder den Strahlungszeitpfeil erklären könnte. Dennoch bieten die Asymmetrie der Entropieentwicklung, der Strahlungsausbreitung und der kosmologischen Ausdehnung drei physikalisch wohl definierte Phänomene, an denen physikalische Erklärungsversuche ansetzen können. 3.5.4. Zusammenfassung Mit keinem der diskutierten Ansätze ist es bisher gelungen die Irreversibilität der Zeit aus den mikroskopischen Gesetzen abzuleiten. Insbesondere Boltzmann hat zwar wichtige Beiträge zur Klärung dieses Problems beigetragen. Das eigentliche Rätsel bleibt jedoch ungelöst: Warum war das Universum zu Beginn der Zeit so weit vom Gleichgewicht entfernt und nicht immer schon in der Nähe des Gleichgewichts? Für alle anderen Probleme gibt es zumindest Teillösungen und Ahnungen, wie eine Lösung aussehen könnte. Diese zentrale Frage betrifft jedoch alle Erklärungsansätze gleichermaßen, unabhängig davon wie die Zunahme der Entropie verstanden wird. Das zweite ungelöste Problem betrifft die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Zeitpfeilen. Können alle auf die Zunahme der Entropie zurückgeführt werden? Oder müsste die Entropiezunahme durch einen anderen Zeitpfeil erklärt 194 G. G. Emch, „Quantum Statistical Physics“, in: J. Butterfield/J. Earman (Hrsg.), Philosophy of Physics, Amsterdam/Boston 2007, 1075–1182, hier 1169 f. 195 Siehe Sklar, Physics and chance, 385–387 für eine Auflistung einiger Zeitpfeile. 196 Vgl. ebd., 396–404 für eine Skizze einiger Ansätze.

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3. Die Zeit der Physik

werden? Da die betroffenen Phänomene so komplex sind, wird eine Beantwortung dieser Frage noch viel Forschungsarbeit benötigen. Was die Asymmetrie der Zeit betrifft, bleiben also von Seiten der Thermodynamik die meisten möglichen Interpretationen offen.

3.6. Quantisierte Zeit? Nach dem großen Erfolg, den die Quantenmechanik und die allgemeine Relativitätstheorie in ihren jeweiligen Geltungsgebieten erzielten, ist es nur verständlich, dass es eines der bedeutendsten Forschungsziele der heutigen Physik ist, die Grundprinzipien, die beiden Theorien zugrunde liegen, in einer Quantengravitation zu vereinigen. Neben der wissenschaftstheoretischen Prämisse, dass alle Physik in einer Theorie vereinheitlicht werden sollte, sind einige Probleme der bisherigen Theorien weitere Motivationsgründe für die Suche nach einer solchen Vereinigung. So wird erwartet, dass Effekte der Quantengravitation in der Nähe von Singularitäten wie Schwarzen Löchern oder dem Urknall eine wesentliche Rolle spielen. Neben Ansätzen einer Quantisierung der Gravitation wurden auch klassische Modelle entwickelt, die neue Konzepte für Raum und Zeit einführen. Die Causal Set Theories beispielsweise setzen eine diskrete Kausalstruktur an, die sich durch eine Raumzeit annähern lassen soll. Diese Theorien sind noch rein klassische Theorien. Eine Quantisierung ist aber ebenfalls angedacht. Trotz aller Versuche gibt es bisher weder eine allgemein anerkannte Vereinigung von Quantenmechanik und allgemeiner Relativitätstheorie197 noch einen Konsens darüber, welche Struktur von Raum und Zeit zu erwarten ist. Darum müssen die Zeitkonzepte dieser Ansätze mit entsprechender Umsicht rezipiert werden, insbesondere da die verschiedenen Ansätze die Zeit sehr unterschiedlich einordnen können. Die Darstellung einer begrenzten Auswahl dieser Ansätze lohnt sich dennoch, da sie aufzeigen, was für unterschiedliche Phänomene der Zeit zugrunde liegen könnten. Damit öffnen sie den Blick für neue Möglichkeiten, Zeit allgemeiner zu verstehen und auch allgemeinere Ewigkeitsmodelle zu entwickeln. In dieser Arbeit werden zwei Ansätze analysiert, die den Spielraum der möglichen Veränderungen des Zeitbegriffs zu umreißen scheinen: Die kanonischen Versuche einer Quantisierung der Gravitation und die Causal Set Theories. In den kanonischen Quantentheorien der Raumzeit erscheint die Zeit als abgeleitete und Raum als primäre Größe. In den Causal Set Theories verhält es sich genau umgekehrt. Andere Ansätze, die weniger radikale oder ähnliche Konsequenzen für den Zeitbegriff hätten, werden hier bewusst übergangen, da eine Behandlung aller Spekulationen den Rahmen jeder Arbeit sprengen würde. Sogenannte Supersymmetrien, die Stringtheorien oder Prägeometrien werden deshalb außen vor gelassen. 197

Isham, „Quantum Theories of the Creation of the Universe“, 53.

3.6. Quantisierte Zeit?

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3.6.1. Die kanonische Quantengravitation In der Quantisierung klassischer Theorien haben sich einige Standardwege etabliert. Die sogenannte kanonische Quantengravitation versucht, in Anlehnung an einen dieser Wege eine grobe Näherung an eine erhoffte spätere Quantentheorie der Gravitation zu formulieren. Auch wenn dabei Konzepte integriert werden, die höchstwahrscheinlich jede Quantengravitation beinhalten müsste, ist aber noch keineswegs klar, ob dieser Ansatz überhaupt zu Ergebnissen führt, die näherungsweise der späteren Theorie entsprechen. In diesem Ansatz wird eine „Wellenfunktion“ des Raumes entwickelt.198 Wie in der nicht-relativistischen Quantenmechanik die Wellenfunktion eine Funktion von jedem möglichen Zustand des einzelnen Teilchens ist, so ist sie hier eine Funktion von den möglichen gekrümmten dreidimensionalen Räumen. Die Gesamtheit dieser dreidimensionalen Räume wird „Superspace“ genannt. Die klassische Raumzeit der allgemeinen Relativitätstheorie ist ein scharfes Band durch den Superspace. In Analogie zu einem klassischen Teilchen ließe sich eine scharf definierte Bahn erwarten. Doch die Raumzeit kann auf vielfältige Weise in Folgen exakt definierter Räume zerlegt werden. Jede dieser Folgen entspricht einer Unterteilung der Raumzeit in Schichten von dreidimensionalen Räumen, das heißt einer Definition von „Gleichzeitigkeit“. Da stets ein Raumzustand auf den nächsten folgt, bildet jede Folge eine scharfe Bahn im Superspace. Alle möglichen Zerlegungen einer Raumzeit zusammen bilden ein Band. Die Quantenmechanik verbietet jedoch solche scharfen Bahnen oder Bänder. Die Raumkrümmung, die in diesem Ansatz der Ortsvariablen entspricht, und der dazugehörige kanonische Impuls dürfen nach der Unschärferelation nicht zugleich exakt bestimmt sein. Daher beschreibt die Quantengravitation in diesem Modell nicht eine scharf definierte Raumzeit, sondern eine etwas unscharfe Wellenfunktion Ψ(𝑐, 𝑓) durch den Superspace, die allein eine Funktion von verschiedenen dreidimensionalen Räumen 𝑐 und Materiefeldern 𝑓 ist. Die Rekonstruktion einer eindeutigen vierdimensionalen Raumzeit aus dieser Verteilung ist aufgrund der Unschärfe nicht mehr möglich. Ein Problem ergibt sich bei der Berechnung von Wahrscheinlichkeiten und dementsprechend bei der Interpretation der Wellenfunktion. Eine Standardinterpretation im Sinne der traditionellen Quantenmechanik benötigt einen externen Zeitparameter 𝑡, um die Wahrscheinlichkeiten zu einem bestimmten Zeitpunkt angeben zu können. Zur Zeit 𝑡1 hat ein Teilchen eine bestimmte Wahrscheinlichkeitsverteilung über die möglichen Orte und kann bei einer Messung nur an einem Ort zugleich sein. Damit es verschiedene Orte annehmen kann, braucht es verschiedene 198 Eine knappe und möglichst allgemeinverständliche Einführung gibt C. J. Isham, „Creation of the Universe as a Quantum Process“, in: R. J. Russell/W. R. Stoeger/G. V. Coyne (Hrsg.), Physics, Philosophy, and Theology. A Common Quest for Understanding, Vatican City State 1988, 375–408, hier 395–397; Isham, „Quantum Theories of the Creation of the Universe“, 65–67. Eine ausführlichere Darstellung findet sich in Misner/Thorne/Wheeler, Gravitation, 1180–1194.

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3. Die Zeit der Physik

Zeitpunkte. In der Relativitätstheorie gibt es einen solchen externen Zeitparameter jedoch nicht und daher darf auch die Quantengravitation keinen einführen. Wollte man also |Ψ(𝑐, 𝑓)|2 als Wahrscheinlichkeit für die Realisierung des dreidimensionalen Raumes 𝑐 mit den Materiefeldern 𝑓 interpretieren, so hätte dies zur Konsequenz, dass in einem kosmischen Messprozess nur einer dieser Räume real sein könnte, weil die Menge aller Räume als einander ausschließende Alternativen betrachtet würden analog zu den verschiedenen Orten gleicher Zeit beim Teilchen. Das hieße aber, dass nur ein dreidimensionaler Raum ohne Geschichte und Zeit existieren könnte. Was benötigt wird, ist ein Zeitparameter, nach dem die Räume als Möglichkeiten zu verschiedenen Zeitpunkten sortiert werden können, damit unterschiedliche Räume in aufeinander folgenden Messungen bestimmt werden können und so verschiedene Räume als zeitliche Folge möglich werden. Da es keinen externen Zeitparameter 𝑡 geben darf, werden interne verwendet, die durch die Konstellation von Raum und Zeit vorgegeben sind wie das Volumen des Universums.199 Dies ist möglich über sogenannte Korrelationen zwischen Größen, die als Uhr verwendbar sind, und den anderen Ereignissen im Universum. Sie sind im Wesentlichen Aussagen der Art: „Wenn die Uhr 12 anzeigt, hat das Teilchen die Wahrscheinlichkeitsamplitude Ψ𝑎,12 an Ort 𝑎 zu sein, wenn sie 1 anzeigt, die Wahrscheinlichkeitsamplitude Ψ𝑏,1 an Ort 𝑏 zu sein.“200 Es gibt also keine Hintergrundzeit und keinen absoluten Parameter, sondern nur besonders regelmäßige Prozesse, die darum als Hintergrund dienen können, um die Entwicklung der Räume darzustellen. Problematisch an diesem Ansatz ist jedoch die Rekonstruktion einer wesentlichen Eigenschaft der beobachteten Zeit: Weshalb zeigen Uhren (bis auf minimale gravitative Effekte) dieselbe Zeit an? Typischerweise können in einem Universum, in dem die Zeit aus Korrelationen hervorgeht, selbst nahe Uhren unterschiedlich schnell gehen.201 Die Existenz einer einheitlichen Zeit muss also durch spezielle Gesetze sichergestellt werden. Im Resultat ist die Wellenfunktion nicht mehr als Pfad im Konfigurationsraum parametrisiert durch 𝑡 darstellbar, sondern die eine Wellenfunktion Ψ(𝑐, 𝑓) enthält bereits die ganze Geschichte des Universums. Aus der allgemeinen Relativitätstheorie ist der gekrümmte dreidimensionale Raum 𝑐 übernommen. Die Zeit dagegen ist als interne Zeit bereits in jedem Raum selbst kodiert als Volumen oder als eine ähnliche Größe. Raumzeit und Zeit sind in diesem Formalismus nur „secondary ideas“,202 die erst in der klassischen Näherung Sinn ergeben. 199 Vgl. Isham, „Creation of the Universe as a Quantum Process“, 391 f. und 396; Isham, „Quantum Theories of the Creation of the Universe“, 61–63 und 65 f. 200 Eine detailliertere Darstellung findet sich in W. K. Wootters, „Is Spacetime a Bookkeeping Device for Quantum Correlations?“, in: L. M. Roth/A. Inomata (Hrsg.), Fundamental Questions in Quantum Mechanics, New York 1986, 279–290, hier 280–283 201 Wootters, „Is Spacetime a Bookkeeping Device for Quantum Correlations?“, 288; W. K. Wootters, „‚Time‘ Replaced by Quantum Correlations“, International Journal of Theoretical Physics 23 (1984), 701–711, hier 710. 202 So Misner/Thorne/Wheeler, Gravitation, 1183.

3.6. Quantisierte Zeit?

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Die interne Zeit wurde hier wieder als Parameter eingeführt. Nach der Interpretation der Zeit in der allgemeinen Relativitätstheorie und der Quantenmechanik ist Zeit jedoch kein Parameter. Auch jeder interne Parameter kann darum nicht selbst die Zeit sein. Doch als Kriterien für die Einführung eines solchen Parameters werden physikalische Eigenschaften des Systems gewählt, die zugleich Kriterien für die Existenz von Zeit sind. Im Formalismus der kanonischen Quantengravitation sind dies beispielsweise starke Oszillationen in der Wellenfunktion, die den Oszillationen der normalen Wellenfunktion in der Zeitrichtung entsprechen, oder die Korrelationen, die sich in derselben Richtung aufbauen. Ob ein reeller Zeitparameter einführbar ist, der in den Gesetzen eine ähnliche Rolle spielt wie ein Zeitparameter in der nicht-relativistischen Quantenmechanik, kann daher als Indiz dafür gelten, ob das System zeitartiges Verhalten aufweist. Die Probleme in den Ansätzen zu einer Quantenkosmologie sind momentan gewaltig und Grund für enorme Zweifel an der Sinnhaftigkeit, Quantenkosmologie zu betreiben, insbesondere auf dem jetzigen Wissensstand.203 Es gibt keine allgemein anerkannte Theorie einer Quantengravitation, die als Grundlage dienen könnte. Die tatsächliche Quantengravitation, falls sie eines Tages formuliert werden kann, könnte im Extremfall keinerlei Ähnlichkeiten mit den Annahmen aufweisen, die in der heutigen Quantenkosmologie verwendet werden. Nicht zuletzt ist im Rahmen des Messproblems der Quantenmechanik nicht klar, ob die Anwendung der Quantenmechanik auf das ganze Universum überhaupt sinnvoll ist.204 Wie kann aus der Wellenfunktion des Universums, die in der Regel eine Superposition mehrerer möglicher Universumszustände ist, ein spezieller Zustand des Universums hervorgehen, ohne dass es dazu einen kosmischen Beobachter braucht? Oder muss ein Viele-Welten-Modell im Sinne von Everetts Relative State Deutung angenommen werden? Ebenfalls denkbar wäre ein spontaner Kollaps der Wellenfunktion, der sich bisher jedoch experimentellem Zugriff entzieht.205 Insbesondere die Sinnhaftigkeit der Angabe von Wahrscheinlichkeiten für die Realisierung verschiedener Universen lässt sich in Frage stellen:206 Das Universum ist etwas einmaliges, doch Wahrscheinlichkeiten sind nach einer gängigen Definition Vorhersagen von relativen Häufigkeiten wiederholter Ereignisse. Welchen Sinn hätte eine Wahrscheinlichkeitsaussage für ein einzelnes, nicht wiederholbares Ereignis? Welche Ergebnisse der heutigen Quantenkosmologie Bestand haben werden, ist aufgrund dieser Probleme noch vollkommen unklar.

203

Siehe Isham, „Quantum Theories of the Creation of the Universe“, 54 f. und 77–81. Vgl. zu diesen Problemen Isham, „Creation of the Universe as a Quantum Process“, 403 f.; Isham, „Quantum Theories of the Creation of the Universe“, 64 und 78–81. 205 Vgl. zu den Modellen eines realistischen Kollaps und den Aussichten auf experimentelle Verifikation A. Bassi u. a., „Models of wave-function collapse, underlying theories, and experimental tests“, Reviews of Modern Physics 85 (2013), 471–527, hier 481–521. 206 Isham, „Quantum Theories of the Creation of the Universe“, 79 f. 204

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3. Die Zeit der Physik

3.6.2. Der Anfang der Zeit: Imaginäre Zeit? Trotz der oben genannten Probleme der Quantenkosmologie ist Hawkings Ansatz der imaginären Zeit für diese Arbeit interessant. Hawking und Hartle haben versucht, im Rahmen der kanonischen Quantengravitation Lösungen für die Wellenfunktion des Universums zu finden.207 Damit unterliegt ihr Modell ebenso den konzeptionellen Problemen der dargestellten Version einer Quantengravitation. Aber es zeigt zugleich Möglichkeiten auf, die eventuell unabhängig von der konkreten theoretischen Grundlage relevant sein könnten. Hartle und Hawking entwickeln einen Ansatz, wie der Grundzustand des Universums berechnet werden könnte.208 In normalen Systemen ist der Grundzustand der Zustand niedrigster Energie. Auf kosmologischer Ebene lässt sich dieses Kriterium jedoch nicht anwenden. Darum greifen sie auf eine alternative Methode der Quantenfeldtheorie zurück: Wenn im Pfadintegral die Zeit durch eine imaginäre Größe i𝜏 ersetzt wird (durch die sogenannte Wick-Rotation), wird das Integral leichter lösbar und liefert auf elegante Weise den Grundzustand. Auch in der kanonischen Quantengravitation taucht die Zeit noch im Pfadintegral auf, obwohl die Wellenfunktion nur über den dreidimensionalen Räumen definiert ist. Denn es wird stets über die klassischen Zustände integriert, also in diesem Fall über die Raumzeiten. Um den Grundzustand exakt zu definieren, müssen bei dieser Methode die Randbedingungen geklärt werden. Hartle und Hawking wählen eine Bedingung, die sie als „Entstehen aus dem Nichts“ interpretieren: Es wird im Pfadintegral über alle kompakten Universen integriert. Diese Universen besitzen eine endliche Größe, so dass sie aus einem Punkt entstehen müssen.209 In einem stark vereinfachten Modell, das nur Veränderungen im Radius des Universums erlaubt, lässt sich die Wellenfunktion mit diesen Methoden berechnen. Da Zeit und Raumzeit in der kanonischen Quantengravitation sekundäre Größen sind, gibt erst das Verhalten dieser Wellenfunktion Aufschluss darüber, ob das Universum nach dieser Lösung tatsächlich eine Zeit besitzt. Die normale Wellenfunktion, wie sie aus der nicht-relativistischen Quantenmechanik bekannt ist, oszilliert in zeitartigen Richtungen sehr stark. Derartige Oszillationen besitzt die Wellenfunktion, die Hartle und Hawking berechnen, für Räume ab einem festen Radius 𝑟0 . In diesem Bereich lässt sich die Wellenfunktion daher so interpretieren, dass sie eine Zeit aufweist, in der sich das Universum ausdehnt. Für kleinere Radien oszilliert die Wellenfunktion nicht mehr, sondern ist gedämpft. Ein ähnliches Verhalten der nicht-relativistischen Wellenfunktion erhält man, indem man die Zeit 𝑡 durch eine sogenannte 207 J. B. Hartle/S. W. Hawking, „Wave function of the Universe“, Physical Review D 28 (1983), 2960–2975. 208 Vgl. Hartle/Hawking, „Wave function of the Universe“, für eine genaue Ausführung des Vorschlag und eine einfach gehaltene Darstellung in S. Hawking/R. Penrose, The Nature of Space and Time, Princeton N. J. 1996, 75–88 sowie Isham, „Creation of the Universe as a Quantum Process“, 398–401. 209 Hartle/Hawking, „Wave function of the Universe“, 2961.

3.6. Quantisierte Zeit?

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imaginäre Zeit i𝜏 ersetzt. Eine normale Zeit lässt sich der Wellenfunktion in diesem Bereich also nicht mehr zuordnen, sondern lediglich eine imaginäre.210 Der Übergang zwischen den beiden Bereichen ist kontinuierlich. Könnte man den Verlauf der Zeit rückwärts zurückverfolgen Richtung Anfang der Zeit, so würde man beobachten, dass die reelle Zeit allmählich eine imaginäre Komponente hinzubekommt und die reelle langsam schwächer wird, bis schließlich die Zeit rein imaginär ist. Der Vorteil eines solchen Modells liegt in den Eigenheiten der imaginären Zeit begründet. Das Quadrat imaginärer Zahlen ist negativ. In der Berechnung von Längen heben sich damit die Signatur aus der Metrik und das Vorzeichen des Quadrats der imaginären Zeit gerade auf, so dass 𝜏 in gleicher Weise in die Längenberechnung eingeht, wie eine räumliche Koordinate. Da die Metrik also keine Unterscheidung zwischen den räumlichen Richtungen und 𝜏 bietet, gibt es auch keine Lichtkegel mehr, die in der allgemeinen Relativitätstheorie Raum und Zeit unterschieden hatten. Das Proprium der Zeit gegenüber dem Raum ist aufgehoben, das heißt, die imaginäre Zeit verhält sich wie eine vierte Raumkoordinate. Damit existiert zum einen keine eindeutige Zeitordnung mehr und auch keine kausale Ordnung. Insbesondere wäre jede Benennung eines Anfangspunktes rein willkürlich, obwohl die Vergangenheit eindeutig endlich ist. Wie bei einer halbierten Kugeloberfläche ist der Anfangsbereich in sich geschlossen und kennt keinen Anfang (nur die Schnittfläche als Übergang zur normalen Zeit), ist aber dennoch endlich. Man könnte also innerhalb dieses Bereichs von jedem Punkt zu jedem anderen gelangen ohne an einen Rand zu stoßen, der als Anfang gelten könnte. Zum anderen ist damit das Problem der Singularitäten gelöst, denn ohne einen identifizierbaren Anfangszeitpunkt wird auch keine Anfangssingularität mehr benötigt.211 Veranschaulichen lässt sich diese Lösung als Kombination einer halbierten Kugeloberfläche und einem ausdehnenden Universum (siehe Abb. 3.5).212 Das wachsende Universum besitzt eine eindeutig ausgezeichnete Zeit und einen Radius, der in einer Richtung der Zeit wächst. Da die Zeit strikt vom Raum unterschieden ist, könnte das expandierende Universum nur endlich sein, indem es in einem Punkt, also in einer Singularität beginnt. Im Bereich der imaginären Zeit verhält sich die Zeit wie eine Raumdimension, weshalb keine Zeitordnung oder ähnliches berücksichtigt werden muss. Das Universum lässt sich wie eine Kugeloberfläche ohne Rand oder Anfang in sich schließen. Beide Komponenten, das expandierende Universum und die Kugeloberfläche, lassen sich bei geeignetem Radius zusammenfügen, so dass eine der Raumdimensionen der Kugeloberfläche in die Zeit des expandierenden Universums übergeht. In diesem Modell ist Zeit also endgültig eine phänomenolo210

Zum Verhalten der Wellenfunktion vgl. Hartle/Hawking, „Wave function of the Universe“, 2972; Hawking/Penrose, The Nature of Space and Time, 83 f. 211 Vgl. zu diesen Konsequenzen S. W. Hawking, Eine kurze Geschichte der Zeit. Die Suche nach der Urkraft des Universums, übers. von H. Kober, Reinbek bei Hamburg 1988, 170–173; Isham, „Creation of the Universe as a Quantum Process“, 400 f. 212 Vgl. Hawking/Penrose, The Nature of Space and Time, 84–86.

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3. Die Zeit der Physik

Abbildung 3.5: Hawkings und Hartles Modell des Anfangs des Universums. Aus einem Bereich imaginärer Zeit (grau) geht das Universum in einen Bereich mit reeller Zeit (schwarz) über. In der Skizze sind zwei Raumdimensionen nicht eingezeichnet.

gische Größe, die nicht als fundamental angenommen werden kann. Einen Anfang der reellen Zeit gibt es nur als stetigen Übergang zwischen imaginärer und reeller Zeit. Ein sehr ähnliches Modell hat auch Vilenkin213 entwickelt, der andere Randbedingungen für die Wellenfunktion des Universums wählt. Sein Modell vom Anfang des Universums geht von der Beobachtung aus, dass auch im Superspace, der aus den möglichen Raum-/ Materiekonstellationen besteht, klassisch verbotene und klassisch erlaubte Gebiete unterschieden werden können. Analog zum Tunneleffekt, bei dem die Wellenfunktionen in den klassisch verbotenen Bereich hineinragen, hat auch die Wellenfunktion des Universums dort einen nicht verschwindenden Wert. Allerdings oszilliert die Wellenfunktion in klassisch verbotenen Gebieten nicht, sondern fällt exponentiell ab beziehungsweise wächst exponentiell an. Also ist es denkbar, dass die Wellenfunktion in einem klassisch verbotenen Gebiet anwächst, in ein klassisch erlaubtes Gebiet übergeht und dort normal oszilliert. Im Effekt verhält sich die Wellenfunktion so, als ob sie im einen Bereich eine imaginäre Zeitkoordinate und im anderen eine reelle hat. Der Übergang zwischen imaginärer und reeller Zeit ist in der Quantengravitation also problemlos möglich. Die Möglichkeit, den Anfang der Zeit zu beschreiben, ist nur ein Nebenaspekt der eigentlichen Leistung dieser Modelle. Denn sie ermöglichen es Übergänge zwischen Zeit und etwas, das dem Raum ähnlicher ist als der Zeit, zu formulieren. Der Anfang ist nur ein Spezialfall dieser Übergänge. Diese Möglichkeit ergibt sich aus dem 213

Eine gute, allgemeinverständliche Zusammenfassung dieses Ansatzes findet sich in Isham, „Quantum Theories of the Creation of the Universe“, 72–74, eine Darstellung für Physiker in A. Vilenkin, „Quantum cosmology and the initial state of the Universe“, Physical Review D 37 (1988), 888–897.

3.6. Quantisierte Zeit?

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Ansatz der kanonischen Quantengravitation, allein den dreidimensionalen Raum als fundamentale Größe zu behandeln, so dass sich Zeit als interner Parameter der Raum-/Materiekonfigurationen als sekundäre Größe ergibt. Da Zeit keine fundamentale Größe ist, kann auf dieselbe Weise, wie die Zeit entsteht, auch anderes hervorgehen wie eben eine zusätzliche Raumkoordinate. Zeit hat also in diesem Ansatz nicht nur keinerlei unabhängige Existenz vom Raum wie in der Relativitätstheorie, sondern ist aus dem Raum abgeleitet und kann selbst in etwas raumartiges übergehen. Ausgehend von diesem Zeitverständnis scheint auf den ersten Blick für das Universum selbst und für alles außerhalb des Universums allein Zeitlosigkeit als fundamentale Existenzweise denkbar zu sein. Auf den zweiten Blick eröffnet dieses Modell jedoch neue Möglichkeiten, das Miteinander von Zeit und Nicht-Zeit zu denken. Denn auch eine „bloß“ sekundäre Zeit ist nicht weniger real als eine fundamentale Zeit. Für das erlebte Geschehen in der Zeit spielt es praktisch kaum eine Rolle, ob die Zeit emergent ist oder eine fundamentale Kategorie. Zwar geht die zeitlose Formulierung, in der es nur Raum gibt und keine Zeit, in diesen kosmologischen Ansätzen der Einführung der internen Zeit voraus. Doch die wesentlichen Merkmale der Zeit, nämlich der Zusammenhang zwischen den verschiedenen Momenten über die starken Oszillationen und die Korrelationen der Wellenfunktion, sind auch nach diesen Modellen real.214 Wenn also in einem physikalischen Modell tatsächlich Übergänge denkbar sind zwischen Bereichen mit einer effektiven Zeit und Bereichen, die quasi eine vierte Raumkoordinate statt der Zeit haben, dann dürfte auch in der Philosophie und der Theologie die Möglichkeit solcher Übergänge nicht ausgeschlossen werden. Zeit und Nicht-Zeit wären damit keine unvereinbaren Gegensätze. Auf der Basis einer Ontologie, die selbst keine Zeit kennt, könnten Bereiche mit und ohne einer effektiven Zeit existieren. Denn die Konstituenten, auf deren Grundlage Zeit realisiert sein kann, müssen nicht überall auch faktisch Zeit bilden. In der Theologie müsste insbesondere damit gerechnet werden, dass Gott, sofern er nicht der Zeit unterworfen sein soll, beide Seinsweisen kennen kann inklusive Übergängen zwischen beiden. Für dieses Argument ist es weniger relevant, ob Hawkings oder Vilenkins Modell tatsächlich das reale Universum beschreibt oder ob dies ganz anders begonnen hat. Die zentrale Frage ist, ob solche Übergänge zwischen Zeit und Nicht-Zeit widersprüchlich beziehungsweise undenkbar sind. Es reicht deshalb bereits ein Modell aus, in dem solche Übergänge ohne Widersprüche vorkommen. Doch hier liegt das größte Problem dieser quantenkosmologischen Spekulationen. Wie bereits erwähnt wurde, ist es keineswegs klar, ob es sich überhaupt um sinnvolle und konsistente Modelle handelt (siehe Abs. 3.6.1). Im Rahmen der klassischen Ewigkeitsmodelle stellt sich zusätzlich die Frage, ob die imaginäre Zeit, wenn sie als de facto raumartig aufgefasst wird, als Analogie 214

Siehe Abs. 3.7.2 für eine ausführlichere Diskussion des Realitätsstatus sekundärer Größen.

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3. Die Zeit der Physik

der Zeitlosigkeit gelten kann. Sicherlich fehlt in Bereichen mit imaginärer Zeit die reelle Zeit und damit auch die wesentlichen Eigenschaften, die Zeit vom Raum unterscheiden. Allerdings behält die Wellenfunktion im Superspace der Quantenkosmologie die Potentialität für die reelle Zeit bei. Nur deshalb sind die Übergänge von imaginärer zu reeller Zeit möglich. Die imaginäre Zeit ließe sich daher nur als Zeitlosigkeit in einem schwachen Sinne oder als faktische Zeitlosigkeit bezeichnen. Wesensgemäße Zeitlosigkeit im strengen Sinne sollte auch die Potentialität zur Zeit negieren. Ansonsten behielte sie einen engen Bezug zur Zeit, nämlich die Möglichkeit, zur Zeit überzugehen. In der Theologie muss darum stets genau definiert werden, was unter Zeitlosigkeit zu verstehen ist, damit geklärt ist, welche Eigenschaften Gott nach dem jeweiligen Modell tatsächlich zugeschrieben werden. Nur wenn von faktischer Zeitlosigkeit die Rede ist, können die diskutierten Modelle als Analogien eines Übergangs von Zeitlosigkeit zu Zeit gelten. Für den Ewigkeitsbegriff bedeutet diese Unterscheidung, dass auch geklärt werden muss, ob Ewigkeit ein Wesensmerkmal Gottes sein soll oder nur eine Seinsweise unter anderen beschreibt, von denen Gott eine annimmt. Denn nur die wesensgemäße Zeitlosigkeit kann auch als Wesensmerkmal Gottes postuliert werden. Die faktische Zeitlosigkeit beinhaltet die Möglichkeit, dass sie durch eine andere Seinsweise ersetzt werden könnte. Soll letztere als Ewigkeitsmodell dienen, wäre dies eine Ewigkeit, die abgelegt werden kann, um beispielsweise eine zeitliche Existenz anzunehmen. 3.6.3. Zeit als kausale Ordnung Während in der kanonischen Quantengravitation die Raumzeit als klassische Näherung aus einer Wellenfunktion über dreidimensionalen Räumen hervorging, versuchen Causal Set Theories die Raumzeit aus einer kausalen Ordnung herzuleiten. Kausale Theorien der Zeit haben eine lange Geschichte, die mit Leibniz’ relationaler Theorie der Zeit und einer nachfolgenden kausalen Theorie beginnt und bis zu Interpretationen der Relativitätstheorien im Sinne von Kausalordnungen reicht.215 In ihren Details basieren die verschiedenen Theorien auf sehr unterschiedlichen Gesamtsystemen. Doch ihnen ist gemein, dass sie die zeitliche Folge auf kausale Ordnungen zurückführen, das heißt auf ein ausgedehntes Geflecht von UrsacheWirkungs-Relationen. Die Früher-/Später-Relationen werden also auf die Ordnung von Ursache und Wirkung reduziert. Eine gemeinsame Zeit wird durch Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Teilen eines Systems konstituiert. Für Gebiete, zwischen denen keine kausalen Wechselwirkungen bestehen, existiert daher keine gemeinsame Zeit, sondern jedes der Gebiete hat seine eigene Zeit unabhängig von den anderen.216 Während philosophische kausale Theorien der Zeit teils versucht 215 Einen historischen Überblick über verschiedene Positionen liefert H. Mehlberg, Time, Causality, and the Quantum Theory. Studies in the Philosophy of Science, hrsg. von R. S. Cohen, 2 Bde., Dordrecht 1980, Bd. 1, 39–146. 216 Vgl. ebd., Bd. 1, 193–195.

3.6. Quantisierte Zeit?

149

haben, eine Deutung bereits existierender physikalischer Theorien zu liefern, soll hier eine physikalische Theorie betrachtet werden, die neue Effekte vorhersagen soll. In der Physik haben topologische Untersuchungen von Hawking, King, McCarthy und Malament217 die Entwicklung von Causal Set Theories stimuliert. Nach Malaments Theorem lassen sich die Topologie und Metrik einer Raumzeit bis auf einen konformalen Faktor schon durch die Lichtkegel, das heißt durch die Gesamtheit der zeitartigen Kurven, ausdrücken (siehe Abs. 3.3.1). Lehnt man die Möglichkeit geschlossener zeitartiger Kurven ab, sind die zeitartigen Kurven äquivalent zu einer kausalen Ordnung. Das bedeutet, dass der größte Teil der Raumzeit-Struktur, wie räumliches Nebeneinander, zeitliche Abfolge oder wichtige Faktoren der Krümmung des Raumes, möglicherweise nur aus der Kausalordnung abgeleitet ist. Kennt man den kausalen Zusammenhang einer Welt, fehlt allein das Volumen der einzelnen Gebiete, damit die gesamte Geometrie bestimmt ist. Causal Set Theories gehen von diesem Ergebnis aus und versuchen, den fehlenden Faktor durch die Annahme einer diskreten Raumzeit-Struktur zu ergänzen. Die Anzahl der Punkte in einem Gebiet liefert die fehlende Information, das Volumen.218 Als ein Modell für eine Causal Set Theory wird an dieser Stelle das „Classical sequential growth dynamics“-Modell (CSG) vorgestellt,219 da dieses vergleichsweise weit entwickelt ist. An diesem Beispiel lassen sich die wesentlichen Konsequenzen für das Zeitverständnis aufzeigen, die die Causal Set Theories implizieren. Die Grundlage der Causal Set Theories ist die kausale Ordnung, auf die Raum und Zeit reduziert werden sollen. Eine kausale Ordnung lässt sich beschreiben durch die Gesamtheit aller Ursache-Wirkungs-Relationen. Diese Relationen implizieren zumindest teilweise eine Reihenfolge unter den Ereignissen. Für jedes Paar von Ereignissen 𝑎 und 𝑏 lässt sich entscheiden, welche der drei folgenden Alternativen zutrifft: 𝑎 und 𝑏 sind unabhängig von einander, 𝑎 gehört zu den Ursachen von 𝑏 oder 𝑏 zu den Ursachen von 𝑎. Falls 𝑎 eine der Ursachen von 𝑏 ist, wird 𝑎 zur Vergangenheit von 𝑏 gezählt und 𝑏 zur Zukunft von 𝑎. Unter der Vergangenheit eines Ereignisses finden sich einzelne ausgezeichnete Punkte, die unmittelbar vorangehen, die Eltern. Alle anderen Punkte der Vergangenheit gehören zugleich zur Vergangenheit eines der Eltern. Diese Beziehungen lassen sich anschaulich in einem Baumdiagramm darstellen (vgl. Abb. 3.6).

217 S. W. Hawking/A. R. King/P. J. McCarthy, „A new topology for curved space-time which incorporates the causal, differential, and conformal structures“, Journal of Mathematical Physics 17 (1976), 174–181; D. B. Malament, „The class of continuous timelike curves determines the topology of spacetime“, Journal of Mathematical Physics 18 (1977), 1399–1404 218 L. Bombelli u. a., „Space-Time as a Causal Set“, Physical Review Letters 59 (1987), 521–524, hier 521 f. 219 Vgl. zum Folgenden die einfachen Darstellungen in Bombelli u. a., „Space-Time as a Causal Set“; Sorkin, „Relativity Theory Does Not Imply that the Future Already Exists: A Counterexample“, 154 und die ausführlichere Darstellung in D. P. Rideout/R. D. Sorkin, „Classical sequential growth dynamics for causal sets“, Physical Review D 61 (1999), 024002.

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3. Die Zeit der Physik

𝑑 𝑏

𝑐 𝑎

Abbildung 3.6: Ein Beispiel eines kausalen Netzes mit 20 Punkten. Die Vergangenheit von 𝑑 ist mit durchgezogenen Linien gezeichnet, alle anderen Zeiten mit gestrichelten Linien. 𝑏 und 𝑐 sind Eltern von 𝑑. Ob 𝑏 vor, nach oder gleichzeitig mit 𝑐 existiert, ist keine sinnvolle Frage, weil weder 𝑏 noch 𝑐 in der Vergangenheit des jeweils anderen liegen.

In einer physikalischen Theorie müssen den verschiedenen kausalen Ordnungen Wahrscheinlichkeiten zugeordnet werden. Das CSG beschreibt diese Wahrscheinlichkeiten im Sinne eines Wachstumsmodells. Ausgehend von einem existierenden Netz werden die Wahrscheinlichkeiten für jede Möglichkeit, einen weiteren Punkt hinzuzufügen, definiert. Die „Lage“ des neuen Punktes ist dadurch bestimmt, welche Eltern er bekommt. Die Gesamtwahrscheinlichkeit eines kausalen Netzes ergibt sich aus dem Produkt der einzelnen Wahrscheinlichkeiten für das Hinzufügen der jeweiligen Punkte. Dabei muss berücksichtigt werden, dass alle Reihenfolgen, die Punkte hinzuzufügen, die zu demselben kausalen Geflecht führen, physikalisch äquivalent sind. Denn alle raumzeitlichen Verhältnisse sollen durch die UrsacheWirkungs-Relationen und die Anzahl der Punkte ausgedrückt werden, so dass die resultierenden Wahrscheinlichkeiten gleich sein müssen, wenn die Punkte nur in unterschiedlicher Reihenfolge hinzugefügt werden. Diese Regel vermeidet, dass eine absolute, externe Zeit wieder eingeführt wird. Hätte die Reihenfolge, in der die Punkte hinzugefügt werden, über die kausale Relation hinaus eine Relevanz, dann würde diese Reihenfolge eine absolute, externe und bestimmbare Zeit bilden. Die Information über die zeitliche Ordnung soll jedoch allein in den kausalen Relationen enthalten sein. Die Abfolge der Punkte hat deshalb nur in einer Hinsicht eine Bedeutung: Es darf kein Punkt zur Vergangenheit eines bereits existierenden Punktes hinzugefügt werden. Bei Punkten, zwischen denen keinerlei kausale Beziehung besteht, die also räumlich voneinander getrennt sind, muss die Reihenfolge irrelevant sein. In Abb. 3.6 ist dies an den Punkten 𝑎-𝑑 verdeutlicht. 𝑎 liegt in der Vergangenheit und 𝑑 in der Zukunft der Punkte 𝑏 und 𝑐. Zwischen 𝑏 und 𝑐 besteht außer der gemeinsamen Vergangenheit und Zukunft keine weitere Beziehung. Darum lässt sich keine zeitliche Relation zwischen den beiden angeben. Welcher der beiden vor dem anderen entsteht oder ob sie gleichzeitig entstehen, sind keine sinnvollen Fragen in diesem Modell. Sorkin vergleicht dies mit dem Wachstum eines Baumes. An

3.6. Quantisierte Zeit?

151

den Spitzen der Zweige wachsen neue Zweige unabhängig von den anderen Spitzen. Wäre der Baum so groß, dass relativistische Effekte relevant wären, wäre es nicht absolut definiert, welcher der weit entfernten Zweige zuerst wächst. Dennoch wächst der Baum ohne Zweifel an allen Spitzen.220 Das dynamische Wachstums-Modell rechtfertigt darum kein klassisches Verständnis des Werdens im Sinne einer absoluten Zeit. Wie in der allgemeinen Relativitätstheorie ist nur ein jeweils punktuelles Werden denkbar: Jeder Punkt geht aus den vergangenen Raumzeitpunkten hervor. In jeder Perspektive, die das Modell erlaubt, wird darum aktuelles Werden beobachtet. Doch unterscheidet sich dieses Werden von dem klassischen Verständnis darin, dass nur lokale Perspektiven erlaubt sind. Eine objektive Unterteilung des kausalen Netzes in Schichten, die sich einem externen Zeitindex zuordnen ließen, existiert nicht. Es gibt keine Hintergrundzeit, sondern nur die je lokale Dynamik, die ihrerseits die Zeiten konstituiert. Gerade darum sind die Causal Set Theories dynamische Theorien, in denen das Werden und die Zeit Vorrang vor dem Raum haben. Alle räumlichen Beziehungen folgen aus den kausalen. Schon die Relativitätstheorien ließen sich so interpretieren. Die CSG-Modelle liefern zusätzlich eine anschauliche Vorstellung von stetem Wachstum, die den Vorrang des Zeitlichen eindeutig werden lässt. Der ganze Raum samt seiner Dimensionalität, Ausdehnung und Geometrie ist eine abgeleitete Größe und damit Gegenstand der Vorhersagen der Causal Set Theories. Erst durch die Kombination der zeitlichen Bezüge, die raumartig getrennte Punkte zu vergangenen und zukünftigen Punkten haben, können die Topologie und Metrik eines Raumes angegeben werden, in den die Punkte näherungsweise eingebettet werden könnten.221 Analog könnte man argumentieren, dass auch die zeitlichen Beziehungen auf die kausalen zurückgeführt werden.222 Im Gegensatz zum Raum ist das Verhältnis der Zeit zur Kausalität jedoch nicht ohne Zweifel zu bestimmen. Ist die Kausalität in klassischen Modellen etwas, das zusätzlich zur Zeit hinzukommt? Oder wäre Zeit ohne Kausalität gar keine Zeit? Werden in Causal Set Theories also die vielfältigen Eigenschaften der Zeit auf eine Untermenge zeitlicher Eigenschaften zurückgeführt oder auf etwas ganz anderes als Zeit? Die bisherige Diskussion in dieser Arbeit hat ergeben, dass der Unterschied zwischen Raum und Zeit vor allem darin liegt, dass sich in zeitartigen Richtungen Wirkungen ausbreiten und Zusammenhänge bestehen. Diese Zusammenhänge werden klassischerweise unter Kausalität verstanden, so dass es gerechtfertigt erscheint, Kausalität als wesentlichen Teil der Zeit zu betrachten, falls man den Begriff der Kausalität angesichts der Symmetrie der bisher bekannten Naturgesetze nicht aufgeben möchte. 220 So Sorkin, „Relativity Theory Does Not Imply that the Future Already Exists: A Counterexample“, 155. 221 Vgl. ebd., 157. 222 Diese These vertritt in Bezug auf ältere kausale Theorien Sklar, Space, Time, and Spacetime, 319.

152 (a)

3. Die Zeit der Physik

(b)

(c)

Abbildung 3.7: Drei Beispiele für Zeitformen und -verläufe: (a) Lineare Folge von Zeitpunkten. (b) Ausschnitt aus einem Netz von Zeitpunkten. (c) Ausschnitt aus einem Netz, das sich an dieser Stelle trennt in zwei fortan unabhängige Zeitnetze. Zusätzlich wächst eine kurze Zeitlinie aus dem Netz heraus und tritt später wieder in es ein. Die dargestellten Verläufe sind viel zu regelmäßig für realistische kausale Netze. Sie veranschaulichen nur einige grobe Formen, die theoretisch möglich wären.

Zeit wird jedoch nicht allein auf Kausalität reduziert. Auch ein einzelner Punkt, der in keinen kausalen Relationen zu anderen Punkten steht, ist eine mögliche Lösung der Causal Set Theories. Das heißt, es ist denkbar, dass die Gesetze der Kausalität gelten und trotzdem keine konkreten kausalen Relationen existieren. Es wäre kontraintuitiv, diesem einzelnen Punkt eine Zeit zuzuschreiben. Auch wenn eine kausale Relation zwischen nur zwei Punkten bestünde, könnte man kaum von Zeit reden. Zur Zeit gehört auch, dass viele Zeitpunkte aufeinander folgen. Eine kausale Ordnung, der zu Recht eine Zeit zugesprochen wird, sollte darum aus vielen Punkten bestehen, zwischen denen kausale Relationen bestehen, die die Punkte zu längeren Reihen oder Netzen ordnen. Kausalität und längere Abfolge sind also die wesentlichen Eigenschaften der Zeit, auf die die Causal Set Theories die Zeit reduzieren. Wie für alle neueren Modelle der Gravitation ist auch für die CSG-Modelle noch nicht ersichtlich, ob sie überhaupt als Näherung der Quantengravitation in Frage kommen. Darüber hinaus handelt es sich bisher um eine rein klassische Theorie. Wie sie sich quantisieren ließe, ist noch nicht bekannt.223 Im Gegensatz zur kanonischen Quantengravitation haben die Causal Set Theories jedoch nicht das Problem, ob sie überhaupt irgendeinen Sinn ergeben. Es ist nur fraglich, ob sie sich quantisieren lassen und ob sie zu Welten führen, die der realen ähneln. Doch da sie in sich logisch konsistent sind, sollte Gott ähnliche Möglichkeiten wie die Raumzeit in diesen Theorien besitzen. 223 Zu einer Spekulation, wie dies gelingen könnte, vgl. Rideout/Sorkin, „Classical sequential growth dynamics for causal sets“, 13 f.

3.7. Zeit als Struktur gesetzlicher Zusammenhänge

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Die Möglichkeiten der Causal Set Theories liegen insbesondere in der flexiblen Struktur der mathematischen Grundlage. Da es keine Hintergrundzeit gibt, die Einschränkungen für die Dynamik liefern könnte, ist die Verlaufsform der Zeit allein von der Dynamik selbst abhängig, das heißt von den Regeln, nach denen neue Punkte hinzugefügt werden. Diese Dynamik ist freier als in der allgemeinen Relativitätstheorie, da die Punkte keine glatte und zusammenhängende Mannigfaltigkeit bilden müssen. Je nach den Gesetzen für diese Dynamik könnten die Punkte eine einfache Folge bilden oder Raumzeiten oder chaotische Verflechtungen, die sich nicht durch irgendeinen Raum annähern lassen (siehe Abb. 3.7). Selbst ein einzelner Punkt, der in keinerlei Ursache-Wirkungs-Relationen steht, wäre denkbar. In der Regel dürften die Punkte ein chaotisches Geflecht bilden, dem sich nur in grober Näherung eine einheitliche Verlaufsform zuordnen lässt. Auch Übergänge zwischen allen diesen Möglichkeiten sind denkbar. Allein die Möglichkeit der wesensgemäßen Zeitlosigkeit fehlt, da auch jeder einzelne Punkt zumindest die Möglichkeit hat, als Ausgangspunkt eines Geflechts von Dynamik zu dienen. Diese vielfältigen Möglichkeiten können als Analogien für Gottes Möglichkeiten, Zeit zu gestalten, dienen. 3.6.4. Zusammenfassung In diesem Abschnitt wurden zwei spekulative Ansätze für zukünftige Theorien von Raum und Zeit analysiert sowie ein Weg, Wellenfunktionen des Universums herzuleiten. Die Ansätze gehen, was die Natur der Zeit angeht, in entgegengesetzte Richtungen: In der kanonischen Quantengravitation erscheint der Raum als fundamentale Größe und die Zeit ist abgeleitet. Es sind dementsprechend Räume ohne Zeit möglich. In den Causal Set Theories ist die Zeit beziehungsweise die Kausalität fundamental und der Raum muss erst rekonstruiert werden. Daher ist Zeit auch ohne Raum denkbar. Welche der beiden Möglichkeiten sich in zukünftigen Experimenten bewahrheiten wird, falls überhaupt eine der beiden, ist heute noch nicht abzusehen. Beide Ansätze zeigen jedoch auf ihre jeweilige Weise, dass die Eigenschaften der Zeit, wie sie traditionellerweise formuliert werden, keineswegs selbstverständlich sind.

3.7. Zeit als Struktur gesetzlicher Zusammenhänge Die physikalischen Theorien des zwanzigsten Jahrhundert sind in ihren Grundlagen stets abstrakter geworden und zugleich sehr viel präziser. Damit hat sich auch das Verständnis der Zeit von der menschlichen, alltäglichen Anschauung entfernt. Für selbstverständlich gehaltene Überzeugungen mussten aufgegeben werden, um die Physik in anderen Größendimensionen zu verstehen. Möglicherweise könnte auch der menschliche Geist Intuitionen für die neuen Zeitkonzepte entwickeln, wenn er in Umgebungen lebte, in denen relativistische oder quantenmechanische Effekte

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3. Die Zeit der Physik

relevant sind.224 Doch die jetzigen Intuitionen über die Zeit sind geprägt von der menschlichen Umwelt mit langsamen Geschwindigkeiten, niedrigen Raumkrümmungen und mittleren Größen. Wenn die Physik Kenntnisse über die Verhältnisse in anderen Größenordnungen liefert, so bleiben sie doch schwer verständlich und abstrakt. Der Mangel an Intuition führt dazu, dass sich wissenschafts- und erkenntnistheoretische Fragen stärker in den Vordergrund stellen. Bevor versucht wird, die einzelnen Ergebnisse für die Eigenschaften und Wesensmerkmale der Zeit zusammenzutragen, sollen darum zwei wissenschaftstheoretische Fragen reflektiert werden, die für die Interpretation der Zeit relevant zu sein scheinen: Welche Epistemologie ist in der Physik angebracht und wie verhält es sich mit dem Realitätsstatus abgeleiteter Größen? Die erste Frage betrifft direkt die Art der Erkenntnisse über die Zeit, die aus der Physik gewonnen werden können. Die zweite stellt sich insbesondere angesichts des dargestellten Versuchs einer Quantengravitation, der Zeit als sekundäre Größe betrachtet. Im Anschluss an die Ergebnissammlung werden noch einige direkte Konsequenzen aus den Ergebnissen für das Ewigkeitsverständnis gezogen. 3.7.1. Mathematische Strukturen und Realismus In der Einleitung dieses Kapitels wurde bemerkt, dass die Motivationen des kritischen Realismus sehr plausibel erscheinen. Das Ziel des kritischen Realismus ist es, die Vorläufigkeit aller Erkenntnis mit dem Anspruch, von der Realität reden zu können, zu vereinen:225 Der wesentliche Impetus des kritischen Realismus in den Naturwissenschaften liegt in der Annahme, dass erfolgreiche Theorien zumindest etwas an der Realität erfasst haben müssen, da sonst nicht verständlich wäre, warum sie so erfolgreich sind.226 Die Wissenschaften versuchen also, über die Realität zu reden und sie abzubilden.227 Sowohl in den Naturwissenschaften als auch in der Theologie werden dazu Modelle und metaphorische Sprache verwendet. Die Beschreibung der Realität gelingt zwar nur partiell und unvollkommen. Das mindert jedoch nicht den Anspruch, dass die gewonnenen Erkenntnisse in irgendeiner Weise Züge der Realität beschreiben. Zugleich kann der kritische Realismus den soziologischen Einflüssen in der Entwicklung von Theorien Rechnung tragen. In der Theologie kann der kritische Realismus dem Anspruch des Glaubens gerecht wer224 Dies vermutet Reichenbach, „Die philosophische Bedeutung der Relativitätstheorie“, 205 in Bezug auf Lorentztransformationen. 225 Vgl. für eine ausführliche Begründung des kritischen Realismus A. R. Peacocke, Intimations of Reality. Critical Realism in Science and Religion, The Mendenhall Lectures 1983, Notre Dame Ind. 1984, insbesondere 22–34 und 40–50; W. van Huyssteen, Theology and the Justification of Faith. Constructing Theories in Systematic Theology, Grand Rapids Mich. 1989, 126–142; Huyssteen, Essays in Postfoundationalist Theology, 40–52. 226 Vgl. A. R. Peacocke, Theology for a Scientific Age. Being and Becoming – Natural, Divine and Human, London 2. Aufl. 1993, 12. 227 Zu den folgenden Kriterien des kritischen Realismus vgl. ebd., 11–16.

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den, von dem wirklichen Gott zu reden, und zugleich die Unvollkommenheit und Revidierbarkeit der metaphorischen Rede von Gott betonen. So wären zwar nicht alle theologischen Aussagen im Sinne eines kritischen Realismus zu verstehen, zum Beispiel ethische Aussagen oder Interpretationen über den Sinn der Welt, aber doch ein Teil, wie die Bezeichnung Gottes als Schöpfer. Im Unterschied zur Physik ist die Unvollkommenheit der Rede von Gott zum erheblichen Teil auch prinzipieller Natur. Zumindest vor Auferstehung und Vollendung kann der Mensch Gott nicht vollkommen erkennen. Im Gegenstandsbereich der Physik dagegen gibt es möglicherweise keine prinzipielle Grenze im Erkenntnisfortschritt. Viele Varianten des kritischen Realismus scheinen zusätzlich davon auszugehen, dass die Grundbausteine der jeweiligen Beschreibung den tatsächlich existierenden Objekten entsprechen.228 Peacocke führt in diesem Sinne das Argument an, dass die Realität der Elemente einer Theorie sehr überzeugend belegt werden kann, während die Theorie selbst sich radikal verändern kann. So habe die Quantenmechanik nicht zur Aufgabe der Elektronen geführt, auch wenn die theoretischen Grundkonzepte sich stark verändert haben.229 Ein Argument gegen eine solche Version des Realismus wurde schon in der Diskussion des Hole-Arguments entwickelt (siehe Abs. 3.3.2). An den Voraussetzungen dieses Arguments wurde aufgezeigt, dass eine Eins-zu-eins-Übertragung des mathematischen Formalismus nicht zu sinnvollen Ontologien führt. So müssen die Abstraktionsebenen im Formalismus der Theorien von den ontologischen Ebenen unterschieden werden, so dass die eigenschaftslosen Punkte einer topologischen Mannigfaltigkeit nicht mit der Substanz der Raumzeit identifiziert werden dürfen. Ein weiteres Argument gegen diese Art von Realismus lässt sich aus der möglichen mathematischen Äquivalenz verschiedener Formulierungen bilden. Theorien wie die klassische Mechanik und insbesondere die Quantentheorien erlauben mathematisch äquivalente Beschreibungen, die zu unterschiedlichen Deutungen führen, wenn ihre Elemente unmittelbar in eine Ontologie überführt werden. Beispiele wären die unterschiedlichen Beschreibungen von Feldern in Orts-, Impuls-, oder Phasenraum230 sowie die Interpretationen der Quantenmechanik im Sinne der Kopenhagener Deutung, der Bohmschen Mechanik oder Everetts Relative State 228

So Kooten Niekerk, „Critical Realism“, 191. Peacocke, Theology for a Scientific Age, 13 f. 230 Dass die Beschreibung in den verschiedenen Räumen tatsächlich eine unterschiedliche Ontologie suggeriert, kann daran verdeutlicht werden, dass man gänzlich unterschiedliche Ergebnisse erhält, wenn man Krümmung im Orts- oder im Impulsraum betrachtet. Vgl. G. Amelino-Camelia u. a., „Principle of relative locality“, Physical Review D 84 (2011), 084010; G. Amelino-Camelia u. a., „Relative Locality: A Deepening of the Relativity Principle“, International Journal of Modern Physics D 20 (2011), 2867–2873, hier 2870–2872. Auch in flachen Räumen ist darum von einem Unterschied auszugehen, ob der Ort als Raum und der Impuls als Tangentialraum interpretiert wird oder umgekehrt. Damit ergeben sich zwei mögliche Ontologien für Theorien in flachen Räumen. Erst der Übergang zu gekrümmten Räumen erlaubt eine experimentelle Unterscheidung der beiden Ontologien. 229

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Theorie.231 Die Raumzeit im Speziellen lässt sich je nach Anwendungszweck auf der Grundlage von Mannigfaltigkeiten, Twistor Theorie, Einstein Algebras oder geometrischen Algebras formulieren, die jeweils unterschiedliche Konzepte von Raumzeit suggerieren.232 Einige dieser Mehrdeutigkeiten können im weiteren Verlauf der Forschung geklärt werden, da unterschiedliche Ontologien häufig andere Weiterentwicklungen der Theorien motivieren.233 So hat die Intuition, dass die Menschen sich in einem Ortsraum bewegen, die Entwicklung der allgemeinen Relativitätstheorie begünstigt. Da die Krümmung des Ortsraums dank der Erkenntnisse der allgemeinen Relativitätstheorie nun experimentell nachweisbar ist, kann er zumindest nicht mehr als Tangentialraum interpretiert werden, da er hierfür flach sein müsste. Doch jede neue Theorie liefert neue Möglichkeiten für alternative Ontologien, da stets mehrere Darstellungen für dieselben mathematischen Strukturen möglich sind. Auch eine fundamentale Theorie dürfte noch diese Vieldeutigkeit aufweisen. Bestärken lässt sich dieses Argument mit Beispielen aus der historischen Entwicklung physikalischer Theorien: John Worrall und Mary Hesse weisen darauf hin, dass ein substanzieller Realismus unplausibel ist, da in der Geschichte der Physik die jeweilige Identifikation der Substanz mit jeder neuen Theorie ohne jede Kontinuität variieren konnte. Der naturwissenschaftliche Fortschritt kann daher nicht als Grenzprozess der Bestimmung von Substanzen verstanden werden. Als Beispiele werden die Theorien des Lichts bei Faraday, Fresnel und Maxwell genannt, deren mathematische Strukturen trotz radikal unterschiedlicher Ontologien in eindeutiger Kontinuität stehen. Worrall und Hesse plädieren darum für einen Fortschritt von mathematischen Strukturen.234 Doch auch die Strukturen der Theorien könnten sich zumindest prinzipiell ohne jede Kontinuität ändern. Die Beschreibung der elementaren Physik auf der Grundlage von Teilchen, die für sich eingebettet in einem gemeinsamen Raum existieren, und auf der Grundlage von Feldern, als deren Anregungen Teilchen betrachtet werden können, legen meines Erachtens unterschiedliche Grundstrukturen nahe. Auch die jetzt bekannten Strukturen sollten daher vorsichtshalber nicht als Näherungen an eine fundamentale Struktur betrachtet werden, die der „richtigen“ Ontologie inhärent wäre. Dennoch hat der Bezug auf die Strukturen einen wesentlichen Vorteil: Selbst wenn die noch unbekannten, fundamentalen Strukturen gänzlich anderer Art sein sollten als die heute bekannten, so müssen letztere dennoch auf einer höheren Ebe231

Weitere Beispiele für die Vielfalt der möglichen Ontologien in der Physik liefert R. Jones, „Realism about What?“, PhilSci 58 (1991), 185–202. 232 Diese Möglichkeiten sind aufgelistet in J. Bain, „Spacetime Structuralism“, in: D. Dieks (Hrsg.), The Ontology of Spacetime, Philosophy and Foundations of Physics 1, Amsterdam 2006, 37–65, hier 39–61. 233 Darauf weist ebd., 63 hin. 234 Siehe Hesse, „Physics, Philosophy, and Myth“, 188 f. und J. Worrall, „Structural Realism: The Best of Both Worlds?“, Dial. 43 (1989), 99–124, hier 107 f.

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ne als emergente Strukturen weiter Geltung besitzen, denn sie wurden auf dieser Ebene experimentell bestätigt. So ergibt sich ein Bild verschachtelter Strukturen: Aufbauend auf feineren Strukturen sind gröbere Strukturen realisiert. Es können auf vergleichbaren Ebenen auch mehrere Strukturen existieren, die sich nicht gegenseitig ausschließen und verschiedene Aspekte desselben beschreiben, ohne dass die Gültigkeit der jeweils anderen Strukturen eingeschränkt würde. Denn jede Struktur beschreibt Regelmäßigkeiten oder Gesetzmäßigkeiten, die gültig sind neben anderen Strukturen. Auch wenn es nicht mehr möglich ist, zu bestimmen, welches die ontologisch fundamentalen Elemente sind oder was sie sind oder auch nur wie viele, so erfassen die Strukturen dennoch wesentliche Aspekte der Realität, wie ihre Gesetzmäßigkeiten. Der Anspruch, von der Realität zu reden, bleibt also bestehen. Bei der Interpretation des mathematischen Formalismus der Theorien muss auch bei einer strukturalistischen Position noch vorsichtig vorgegangen werden. Allein die Strukturen, die experimentelle Relevanz haben, können als real interpretiert werden. Zusätzliche Strukturen, die prinzipiell nicht messbar sind, wie die Beziehung zwischen „Punkten“ einer Raumzeit und auf ihnen definierten Feldern, dürfen nicht als reale Strukturen angenommen werden, es sei denn sie werden in einer Weiterentwicklung der Theorie experimentell zugänglich. Ansonsten sind diese Strukturen vorsichtshalber als Artefakte der menschlichen Formulierung zu betrachten. Auch dürfen die Strukturen selbst nicht als alleinige Bausteine einer Ontologie postuliert werden. Der Bezug auf die mathematischen Strukturen dient einer epistemischen Begrenzung. Allein die Strukturen können beschrieben und experimentell bestätigt werden. Wie die Strukturen realisiert sind, kann nur bestimmt werden, wenn sie aus anderen Strukturen hervorgehen. Wie die fundamentalen Strukturen realisiert sind, ist daher der menschlichen Erkenntnisfähigkeit entzogen. Der Mensch kann weder die Relata fundamentaler Relationen bestimmen noch entscheiden, ob die fundamentalen Relationen unabhängig von irgendwelchen Relata realisiert sind.235 Darum scheint die angemessenste Interpretation der physikalischen Theorien im Anschluss an John Worrall eine Art kritischer struktureller Realismus236 zu sein, der gegenüber dem kritischen Realismus betont, dass nur experimentell zugängliche Gesetzmäßigkeiten durch physikalische Theorien erfasst werden können. Damit wäre ausgeschlossen, dass die Elemente einer Theorie als ontologische Grundbausteine interpretiert werden oder dass Zeit als ontologisch fundamentale Größe vorausgesetzt wird.237 Ob und inwiefern die Physik darum ontologische Aussagen tref235

Einen ontischen strukturellen Realismus begründen beispielsweise J. Ladyman, „What is Structural Realism?“, Studies in History and Philosophy of Science 29 (1998), 409–424, hier 419–421; Rickles, „Who’s Afraid of Background Independence?“, 149 f. 236 Für eine detailliertere Begründung des strukturellen Realismus siehe Worrall, „Structural Realism: The Best of Both Worlds?“, 117–123. In Bezug auf die Raumzeit siehe Bain, „Spacetime Structuralism“, 61–64. 237 Beide Positionen sieht Drees im kritischen Realismus gegeben. Vgl. W. B. Drees, „A Case against Temporal Critical Realism? Consequences of Quantum Cosmology for Theology“, in:

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fen kann, muss im Folgenden noch diskutiert werden. Die wesentliche Position des kritischen Realismus bleibt jedoch erhalten: Die Theorien, Modelle und Metaphern beschreiben in ihrer unvollkommenen und vorläufigen Weise je einen Aspekt, genauer je eine Struktur, der einen Realität. Für den Dialog mit der Theologie bedeutet dies, dass die Theologie die jeweils suggerierten Ontologien nicht als unanfechtbar hinnehmen darf, sondern nach den Strukturen fragen muss, die prinzipiell experimentell zugänglich sind. Aufgrund dieser Strukturen sind zumeist viel freiere Deutungen möglich, von denen einige den Interessen der Theologen mehr entgegenkommen könnten als die Ontologien, die in der Physik üblicherweise kommuniziert werden. Insbesondere wenn man als Theologe selbst Modelle der Naturwissenschaften verwendet oder überträgt, muss im Blick behalten werden, dass die Modelle stets nur Strukturen beschreiben. Dies kann vor Fehlschlüssen bewahren, eröffnet aber vor allem mehr Freiheiten, da Modelle viel weniger festlegen und damit viel allgemeiner sind, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Als Beispiel sei an die Definition der Raumzeit erinnert. Sie legt nur fest, dass einige interne Relationen durch eine spezielle Topologie und Metrik beschreibbar sind. Ansonsten lässt sie vollkommen offen, worum es sich bei Raumzeit oder bei den Punkten überhaupt handelt. 3.7.2. Die Realität abgeleiteter Größen Ein kritischer struktureller Realismus, wie er oben beschrieben wurde, hat auch Konsequenzen für eine Herausforderung, die sich durch die spekulativen Thesen über die Quantengravitation stellt: Wenn Zeit eventuell keine fundamentale Größe ist, wäre sie dann nur eine Illusion? Um diese Frage zu beantworten, muss an dieser Stelle auf das Verhältnis fundamentaler und anderer Größen eingegangen werden. Wie im kritischen Realismus238 lässt sich auch auf der Basis von Strukturen die Realität in verschiedene Ebenen gliedern, die eine Hierarchie bilden. Das Verhältnis dieser Ebenen wurde im zwanzigsten Jahrhundert ausführlich diskutiert mit den Polen Reduktionismus auf der einen und Emergentismus auf der anderen Seite.239 Wie scharf der Gegensatz in dieser Diskussion war, hing vor allem davon ab, welcher Reduktions- beziehungsweise Emergenzbegriff jeweils vorausgesetzt oder unterstellt wurde. Der Emergenzbegriff, von dem in dieser Arbeit ausgegangen wird, R. J. Russell/N. Murphy/C. J. Isham (Hrsg.), Quantum Cosmology and the Laws of Nature. Scientific Perspectives on Divine Action, Vatican City State/Berkeley Calif. 1993, 331–365, hier 331 f. 238 Zum Beispiel von Peacocke, Theology for a Scientific Age, 37–39. 239 Vgl. zur Geschichte des Emergenzbegriffs A. Stephan, „Emergence – A Systematic View on its Historical Facets“, in: A. Beckermann/H. Flohr/J. Kim (Hrsg.), Emergence or Reduction? Essays on the Prospects of Nonreductive Physicalism, Berlin/New York 1992, 25–48; B. P. McLaughlin, „The Rise and Fall of British Emergentism“, in: A. Beckermann/H. Flohr/J. Kim (Hrsg.), Emergence or Reduction? Essays on the Prospects of Nonreductive Physicalism, Berlin/New York 1992, 49–93, zum Emergenzbegriff allgemein vgl. P. Hefner, Art.: Emergenz. I. Theologie und Naturwissenschaft, in: RGG4 , Bd. 2 (1999), 1254.

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ist eine schwache Emergenz, die mit einem Reduktionismus im weitesten Sinne vereinbar ist und auch Supervenienz genannt werden kann:240 Eine Theorie 𝐴 ist dann auf eine Theorie 𝐵 reduzierbar, wenn alle Phänomene und Gesetze von 𝐴 auf irgendeine Weise durch 𝐵 erklärbar sind. Insbesondere impliziert jede Veränderung der Phänomene, die durch 𝐴 beschrieben werden, auch eine Veränderung der Phänomene in 𝐵. Eine Theorie oder ein Phänomen 𝐴 geht dann emergent aus einer Theorie 𝐵 hervor, wenn ihre Phänomene und Gesetze nicht unmittelbar aus 𝐵 ersichtlich sind, aber durch das Zusammenspiel oder die Selbstorganisation zahlreicher Elemente der Theorie 𝐵 entstehen. Mit diesen Reduktions- und Emergenzbegriffen impliziert die schwache Emergenz von 𝐴 aus 𝐵 die Reduzierbarkeit von 𝐴 auf 𝐵. Für die Diskussion in dieser Arbeit ist vor allem relevant, wie der Realitätsstatus der emergenten Ebenen zu beurteilen ist. Die Argumente, die für die Realität dieser Ebenen sprechen, sind zugleich Kriterien von Emergenz.241 Mit dem Reduktionismus wird häufig assoziiert, dass der fundamentalen beziehungsweise niedrigsten Ebene, auf die alle anderen reduziert werden sollen, die eigentliche Realität zukommt. So argumentiert Drees, dass neue Konzepte in den untersten Ebenen Konsequenzen für alle oberen haben, so dass das Verständnis von Raum und Zeit in der Physik stets Auswirkungen hat auf das Zeitverständnis in allen anderen Ebenen, zumindest in der metaphysischen Diskussion. Falls Zeit also keine fundamentale Größe ist, wäre die Realität der Zeit überhaupt in Frage gestellt.242 Analog wirft Karl Popper Ludwig Boltzmann vor, dass dieser mit seiner kosmologischen Deutung des zweiten Hauptsatzes die Richtung der Zeit zur Illusion verkommen lässt.243 McTaggart stellt die Realität der Zeit überhaupt in Frage, sollte die Realität eine C-Reihe, eine Reihe ohne Früher- und Später-Relationen, sein statt einer A-Reihe.244 Doch lässt sich diese Interpretation nicht durchhalten, ohne aller Erfahrungswelt ihre Bedeutung abzuerkennen. Denn selbst wenn die Physik eine vereinheitlichte Theorie der bekannten Phänomene hätte, entzieht es sich ihrer Erkenntnisfähigkeit, ob die Größen dieser Physik fundamental sind oder selbst wiederum nur emergent aus einer zugrunde liegenden Theorie hervorgehen. Entgegen dieser Interpretation ist darum festzuhalten, dass auch abgeleitete Größen und nicht-fundamentale Strukturen wie Temperatur, Druck, Strudel, die Eigenschaften zusammengesetzter Materialien oder das klassische Verhalten makrosko240 Vgl. H. Robinson, „Supervenience, Reduction and Emergence“, in: R. L. Poidevin u. a. (Hrsg.), The Routledge Companion to Metaphysics, 1. Veröffentlichung als Paperback, London/New York 2012, 527–536, hier 528–534 insbesondere die Definitionen 3 und 5 für die Begriffe von Reduktion und Emergenz. 241 Die Kriterien für Emergenz diskutieren zum Beispiel A. Stephan, Emergenz. Von der Unvorhersagbarkeit zur Selbstorganisation, Dresden/München 1999, 14–65; R. M. Francescotti, „Emergence“, Erkenntnis 67 (2007), 47–63, 48–51 und 59–61; R. L. Klee, „Micro-Determinism and Concepts of Emergence“, PhilSci 51 (1984), 44–63, hier 49–62. 242 Vgl. Drees, „A Case against Temporal Critical Realism?“, 359 f. 243 K. Popper, Unended Quest. An Intellectual Autobiography, Glasgow 1976, 160 f. 244 McTaggart, „The Unreality of Time“, 473.

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3. Die Zeit der Physik

pischer Objekte reale physikalische Bedeutung haben. Die Realität der Phänomene höherer Ebenen lässt sich anhand der eben genannten Beispiele verdeutlichen: In den fundamentalen Gesetzen der mikroskopischen Teilchen tauchen Druck, Temperatur oder Strudel nicht auf. Daraus folgt aber nicht, dass diese Phänomene bloße Illusion seien. Denn sie beschreiben sehr reale Erfahrungen. Auch lassen sie sich experimentell messen. Statt fundamentale Größen zu sein, beschreiben sie in zuverlässiger Weise das kollektive Verhalten vieler Teilchen, und sind damit sehr wohl reale, physikalische Phänomene. Ebenfalls zu bedenken ist, dass viele oder vielleicht sogar alle physikalischen Begriffe und Konzepte, die heute verwendet werden, nicht wirklich fundamental sind, sondern genäherte oder abgeleitete Größen, die auf einer bisher unbekannten Physik basieren. Dennoch wird ihre Realität in der Regel nicht in Zweifel gezogen. Häufig sind emergente Phänomene auch nicht davon abhängig, durch welche mikroskopischen Objekte sie gebildet werden. Temperatur und Druck beschreiben Größen in allen Sorten von Materialien unabhängig von den beteiligten Atomsorten. Universale Phänomene wie Turbulenz treten in allen möglichen physikalischen Situationen auf und sind lediglich von einigen Rahmenbedingungen wie der Dimensionalität und den herrschenden Energieflüssen abhängig, nicht aber von der konkreten Mikrophysik. Es sind daher gegenüber den fundamentalen Gesetzen neue Begriffe, die verschiedene Arten charakterisieren, wie sich viele Teilchen kollektiv verhalten können. Mit den möglichen Relationen und typischen Verhaltensmustern, die in Vielteilchensystemen möglich sind, kommt also eine Realitätsebene in den Blick, die in der Betrachtung einzelner Teilchen nicht erfasst werden kann. Diese Phänomene können in gewissem Sinne auch das mikroskopische Verhalten dominieren, haben also realen Einfluss auf die fundamentale Ebene. Es ist nicht nur ein Strudel dadurch definiert, dass die Teilchen der Flüssigkeit eine bestimmte Geschwindigkeitsverteilung haben. Ein einzelnes Teilchen wird auch durch den Strudel getrieben, einer Kreisbahn zu folgen. Diese Form der „downward causation“ ist zwar identisch mit der Wechselwirkung der mikroskopischen Teilchen untereinander. Doch das kollektive Verhalten der anderen Teilchen kann eine einheitliche Wirkung auf ein einzelnes Teilchen entfalten, so dass von einer Wirkung des ganzen Systems auf das Einzelne gesprochen werden kann. In der neueren Physik und Philosophie der Physik findet zudem die These Zuspruch, dass selbst das klassische Verhalten ein emergentes Phänomen ist.245 Teil245 Diese These vertreten beispielsweise W. H. Zurek, „Decoherence, einselection, and the quantum origins of the classical“, Reviews of Modern Physics 75 (2003), 715–775, hier 716–719; J. Halliwell, „How the quantum universe became classical“, Contemporary Physics 46 (2005), 93–104, insbesondere 99–103; D. Dieks, „The Gibbs Paradox Revisited“, in: D. Dieks u. a. (Hrsg.), Explanation, Prediction, and Confirmation, The Philosophy of Science in a European Perspective 2, Dordrecht u. a. 2011, 367–377, hier 373–377; D. Dieks/A. Lubberdink, „How Classical Particles Emerge From the Quantum World“, Foundations of Physics 41 (2011), 1051–1064, hier 1055–1059. Dieks Thesen zum Gibbs’ Paradox lassen sich mit den emergenten Teilchen allein jedoch nicht begründen. Denn die Wellenpakete in einem Gas sind nicht streng genug lokalisiert, um von klar unterscheidbaren Teilchen reden zu können. Für eine kritische Diskussion der These der Emergenz klassischen Ver-

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chen oder auch makroskopische Objekte mit scharf lokalisiertem Ort und Impuls gehen nicht durch eine simple Näherung aus der Quantenmechanik hervor. Der Ort eines einzelnen Teilchen würde nach der Quantenmechanik mit der Zeit unweigerlich unschärfer werden. Nur durch die regelmäßige Wechselwirkung mit anderen Teilchen und der damit verbundenen Dekohärenz erhalten die Teilchen einen einigermaßen scharfen Ort und Impuls, die Voraussetzung für klassische Teilchenbahnen.246 Das klassische Verhalten geht also aus dem Zusammenspiel vieler Teilchen hervor. Streng genommen kann man auf quantenmechanischer Ebene nicht mehr von klassischen Teilchen sprechen. Erst wenn die Wellenpakete, die einzelne Teilchen darstellen, soweit räumlich begrenzt sind, dass sie sich nicht mehr überlappen, kann man von Teilchen im klassischen Sinne sprechen.247 Dasselbe kann auch von makroskopischen Objekten behauptet werden. Wenn es keine anderen Teilchen gäbe, die regelmäßig mit einem makroskopischen Objekt wechselwirken, würde sich auch dessen Wellenfunktion stetig weiter ausdehnen, so dass es keinen Ort im klassischen Sinne hätte. Erst die Wechselwirkung beispielsweise mit Licht oder kleinen Molekülen sorgt für entsprechende Dekohärenz.248 Wenn diese These richtig ist und man weiterhin behaupten wollte, dass abgeleitete Größen nicht real seien, müsste man konsequenterweise die Realität der ganzen unmittelbar wahrgenommenen Welt in Frage stellen. Denn alle Objekte, die Menschen direkt zugänglich sind, verhalten sich klassisch. Dass das klassische Verhalten keine Illusion ist, lässt sich jedoch gerade daran einsehen, dass die makroskopischen Objekte tatsächlich einen ausreichend scharf definierten Ort und Impuls haben. Die Realität klassischen Verhalten liegt darin begründet, dass die Wellenpakete stets neu lokalisiert werden und sich nicht endlos verbreitern. Zusammengenommen zeigen diese Argumente, dass die Realität der Begriffe der höheren Ebenen nicht geringer gewertet werden kann als die einer hypothetischen untersten Ebene. In einer strukturalistischen Interpretation der Naturwissenschaften ist dies noch evidenter als in einem substanziellen Realismus. Ein substanzieller Realismus suggeriert, dass die Objekte der höheren Ebenen nichts anderes als Kombinationen der Elemente niederer Ebenen sind, so dass die Realität der höheren Ebenen aus den niederen Ebenen abgeleitet zu sein scheint. Denn zusätzlich zu den fundamentalen Objekten kommt lediglich eine Struktur hinzu, also etwas von anderer Qualität als die Objekte der Ontologie. Im strukturellen Realismus wird davon ausgegangen, dass gar nicht entscheidbar ist, welches die Elemente einer hypothehaltens, die auf noch ungeklärte Fragen eingeht, vgl. P. Stamp, „The decoherence puzzle“, Studies in History and Philosophy of Modern Physics 37 (2006), 467–497, vor allem 491 f. 246 Eine anschauliche Beschreibung für diesen Prozess liefert Halliwell, „How the quantum universe became classical“, 99. Vgl. M. Schlosshauer, „Decoherence, the measurement problem, and interpretations of quantum mechanics“, Reviews of Modern Physics 76 (2004), 1267–1305, 1273– 1284 für eine ausführlichere Darstellung des Dekohärenz-Programms. 247 So Dieks, „The Gibbs Paradox Revisited“, 375 f. 248 Die Staubteilchen, die Halliwell beschreibt, sind im Sinne der Quantenmechanik bereits makroskopische Teilchen. Vgl. Halliwell, „How the quantum universe became classical“, 99.

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3. Die Zeit der Physik

tischen Ontologie sind, und stets nur mathematische Strukturen erkannt werden können. Da es sich auf allen Ebenen gleichermaßen um Strukturen handelt, wäre es darum nicht plausibel den einen Strukturen einen anderen Realitätsstatus zuzuordnen als den anderen. Zwar können die Strukturen höherer Ebenen als spezielle Lösungsmöglichkeiten der Strukturen der niedrigeren Ebenen abgeleitet werden, deren Realisierung in aller Regel kontingent ist. Sie sind also als Möglichkeiten in den Strukturen niedrigerer Ebenen enthalten. Eine Hierarchie zwischen den Strukturen kann daher nicht geleugnet werden. Ihre faktische Realität ist aber eine zusätzliche Tatsache, die nicht aus den niederen Ebenen ableitbar ist. An einem simplen Beispiel kann dies veranschaulicht werden: Angenommen eine Menge von Punkten weist eine Regelmäßigkeit auf, so dass sie aus einiger Entfernung wie ein Quadrat aussehen. Erst auf einen Blick aus der Nähe zeigt sich, dass sie auf einer feineren Ebene eine weitere Regelmäßigkeit aufweisen: Sie bilden lauter kleine Dreiecke, die zusammengesetzt das Quadrat ergeben. Auch wenn man durch die Detailansicht das grobe Quadrat aus den Augen verlieren kann, hebt die feinere Struktur die gröbere nicht auf. Das Quadrat ist trotz der Dreiecke ebenso da. Insbesondere wäre es auch denkbar, dass dieselbe Grobstruktur auf Basis einer anderen Feinstruktur realisiert sein könnte oder eine andere Grobstruktur auf Basis derselben Feinstruktur. Ein Vertreter eines substanziellen Realismus könnte nun sagen, dass die Realität aller dieser Strukturen abgeleitet aus der Realität der Punkte ist und die einzelnen Punkte darum das einzig Reale sind. Der Strukturalist sieht ein, dass es mathematisch äquivalente Beschreibungen mit gänzlich anderen Elementen gibt (zum Beispiel das fouriertransformierte Bild), so dass nicht die Existenz genau dieser Punkte vorausgesetzt werden kann. Die Strukturen sind aber dennoch real, und zwar feine und grobe gleichermaßen. In Bezug auf die Zeit bedeutet dies, dass ihre Realität nicht dadurch in Frage gestellt würde, wenn sie keine fundamentale Größe wäre.249 Selbst wenn die Superspace-Modelle der kanonischen Quantengravitation Recht haben sollten, wäre Zeit dennoch keine Illusion, so dass man den resultierenden Universen nicht ihre Dynamik absprechen müsste. Die ontologische Interpretation einer solchen hervorgehenden Zeit müsste jedoch anders ausfallen, als dies vor dem Hintergrund der klassischen Physik möglich gewesen wäre. Eine Interpretation wie im Präsentismus oder Growing Block Model wäre undenkbar. Werden und Vergehen wären im gleichen Sinne hervorgehende Phänomene wie die Zeit. Damit sind sie zwar objektive, reale Phänomene. Sie beschreiben dann aber nicht mehr ein ontologisch objektives und damit beobachterunabhängiges Übergehen vom Nichtsein ins Sein, sondern die Zusammenhänge, die zwischen verschiedenen Momenten existieren, also zwi249 Auch wenn McTaggart Recht haben sollte und die A-Reihe in gewissem Sinne inkonsistent ist, lässt sich nicht leugnen, dass sie in irgendeiner Weise für die menschliche Zeitwahrnehmung entsteht. Wenn man McTaggart zugesteht, dass die A-Reihe nicht fundamental sein kann, so der Schluss in McTaggart, „The Unreality of Time“, 473, muss man nach der hier vertretenen These einräumen, dass sie emergent entsteht und als emergentes Phänomen real ist.

3.7. Zeit als Struktur gesetzlicher Zusammenhänge

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schen Ursache des Hervorgehens und dem resultierenden Sein. Bezogen auf einen Beobachter in der Welt bedeutet dies ein relatives Werden, das an jedem Raumzeitpunkt erfahren wird. Bis auf die Annahme, dass die Dynamik aus etwas anderem hervorgeht, ist dies dieselbe Konsequenz, die schon aus der allgemeinen Relativitätstheorie folgt. Auch die Richtung der Zeit bräuchte nicht als Illusion betrachtet werden, wenn sie im Sinne Boltzmanns allein durch die Entropiezunahme begründet wäre. Die Grundlage der Asymmetrie, eben die Änderung der Entropie, wäre ohne Zweifel real, nur als Strukturelement auf einer höheren Ebene statt auf einer fundamentalen. 3.7.3. Was ist Zeit in der Physik? Die wissenschaftstheoretischen Reflexionen in Abs. 3.7.1 haben gezeigt, dass die Physik keine definitive Ontologie liefern kann, da sie nur mathematische Strukturen beschreiben kann. Was die Elemente einer Ontologie sind, bleibt dabei insofern offen, als dass unklar ist, welche der mathematisch äquivalenten Formulierungen als Grundlage der Ontologie gewählt werden soll. Eine Ontologie der Zeit oder der Konstituenten der Zeit, die der Physik entnommen wäre, könnte also nie Gewissheit beanspruchen, das wirkliche Sein zu beschreiben. In Abgrenzung zu klassischen Zeitkonzepten erlauben einige Theorien jedoch eindeutige Aussagen darüber, was Zeit nicht ist. In diesem negativen Sinne können aus physikalischen Theorien tatsächlich Konsequenzen für die Metaphysik und Ontologie folgen.250 Zeit ist zuallererst kein Parameter. Denn alle Parametrisierungen sind rein willkürliche Festlegungen von Koordinatensystemen, die keine physikalische Relevanz haben. Auch wenn dies generell für alle Theorien gilt, ist es erst der allgemeinen Relativitätstheorie zu verdanken, dass sich diese Erkenntnis allgemein durchgesetzt hat. Für die hintergrundunabhängige Beschreibung der Raumkrümmung und der Naturgesetze haben sich koordinatenfreie oder kovariante Formulierungen als nützliches Hilfsmittel erwiesen. Diese mathematischen Fortschritte haben die Irrelevanz aller Parametrisierungen aufgewiesen. Auch an dem Problem der Zeitmessung in der Quantenmechanik hat sich gezeigt, dass Zeit eben nicht der Parameter ist, der aus der newtonschen Physik beziehungsweise aus der speziellen Relativitätstheorie übernommen wurde. Gemessen wird vielmehr zweierlei: Die Koinzidenz von Ereignissen und die intrinsische Zeit eines dynamischen Phänomens, das sich als Maß für eine Komponente der Metrik betrachten lässt. Bei beidem handelt es sich um konkretes Geschehen und nicht um abstrakte Parameter. In der Relativitätstheorie ist Zeit als Dauer durch die Vielfalt der möglichen Eigenzeiten charakterisiert. Nur die Eigenzeiten sind objektiv messbare Zeiten und jeder Pfad in der Raumzeit hat seine eigene Zeit. Statt einer globalen Zeit existiert 250

189.

Entgegen Mary Hesses pessimistischerer Sicht. Siehe Hesse, „Physics, Philosophy, and Myth“,

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eine Gesamtheit unendlich vieler Eigenzeiten. In einigen Lösungen der allgemeinen Relativitätstheorie ist es dennoch möglich, die Welt in beliebig viele, unterschiedliche Abfolgen von globalen Zuständen zu zerlegen, von denen eine willkürlich zur fundamentalen Zeit deklariert werden könnte. In Lösungen, in denen geschlossene zeitartige Kurven auftreten, ist eine solche Zerlegung nicht möglich. Welche Bedeutung und welchen Zusammenhang die Eigenzeiten in zukünftigen Theorien der Gravitation haben werden, kann heute nicht abgeschätzt werden. Was jedoch auch in zukünftigen Theorien höchstwahrscheinlich beibehalten wird, ist die Ablehnung einer global einheitlich verlaufenden Zeit. Es wäre sehr überraschend, falls zukünftige Theorien zu einem vorrelativistischen Zeitverständnis zurückkehren sollten, auch wenn dies nach heutiger experimenteller Lage nicht vollständig ausgeschlossen werden kann. Zeit kann weiterhin nicht losgelöst von Raum und Materie betrachtet werden, sondern ist mit dem Raum in der Raumzeit der Relativitätstheorien und mit der Materie über die Einflüsse der Energie und Masse auf die Krümmung der Raumzeit verbunden. Auch die Verletzung der 𝑇-Symmetrie in der schwachen Wechselwirkung könnte ein Hinweis auf tieferliegende Zusammenhänge zwischen Zeit und Materie sein. Die Unterscheidung von Zeit als Container von ihren Inhalten wird damit zumindest fragwürdig. Entweder muss man einen dynamischen, sich wandelnden Container akzeptieren oder die Unterscheidung von Container und Inhalt ganz aufgeben. Dies ist der wesentliche Inhalt der Hintergrundunabhängigkeit der allgemeinen Relativitätstheorie: Es existieren keine Hintergrundstrukturen, die vor Formulierung der Gesetze vollständig festgelegt sind. Alle Objekte der Theorie müssen eine Dynamik aufweisen, die durch die Gesetze der Theorie selbst bestimmt ist. Insbesondere für die Zeit bedeutet dies, dass ihr Verlauf durch den Inhalt der Zeit beeinflusst wird. Angesichts der Causal Set Theories wird zusätzlich deutlich, dass die Gesetze nicht nur die Krümmung der Zeit, sondern auch ihre Verlaufsform im Allgemeinen bestimmen können. Die Wahrnehmung von Raum und Zeit als unabhängige Container in der klassischen Physik ist nur durch die näherungsweise Konstanz und Flachheit von Raum und Zeit in menschlichen Größenordnungen bedingt. Ein bisher ungelöstes Problem für die Physik bleibt die Asymmetrie der Zeit. Einige Asymmetrien, wie den Strahlungs- und den thermodynamischen Zeitpfeil, kann die Physik zwar gut beschreiben, aber nicht erklären. Es existieren vielversprechende Ansätze, aber noch keine vollständig ausgearbeiteten Lösungen. Die besten Erklärungen können die beobachtete Asymmetrie auf eine Asymmetrie der Randbedingungen zurückführen. Die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Zeitpfeilen sind ebenfalls noch nicht vollständig geklärt. Dass die negativen Aussagen der neueren Theorien über die Zeit tatsächlich die Ontologie betreffen, lässt sich daran erkennen, dass das Fehlen einer absoluten Zeit in der Relativitätstheorie klassische Modelle einer dynamischen Zeit ausschließt. Präsentismus und Growing Block Models sind nur denkbar, wenn es eine globale

3.7. Zeit als Struktur gesetzlicher Zusammenhänge

165

Gegenwart gibt, die zugleich eine absolute Zeit definiert. Zugleich deutet die Raumzeitstruktur jedoch einen Vorrang zeitlicher gegenüber räumlicher Relationen an. Denn die Raumzeitstruktur lässt sich auf die Gesamtheit aller zeitartigen Kurven reduzieren. Darum wurde eine dynamische Interpretation der allgemeinen Relativitätstheorie entwickelt, die ohne globale Zeit auskommt (vgl. Abs. 3.3.2). Nach dieser Interpretation werden die einzelnen Punkte der Raumzeit dynamisch konstituiert und ihr Zusammenhang, die ganze Raumzeit, ergibt sich sekundär aus der lokalen Dynamik. Die einzigen fundamentalen Perspektiven sind nach dieser Interpretation die lokalen Perspektiven mit ihren jeweiligen lokalen Zeitmodi. Die zeitlose Perspektive, in der die ganze Raumzeit simultan betrachtet wird, wäre als abstraktes Konstrukt einzustufen. Nach der statischen Interpretation wäre dagegen die zeitlose Perspektive die objektive Sichtweise und die lokalen Perspektiven wären nur Resultat der subjektiven Beschränkungen. An dieser Unterscheidung zwischen dynamischen und statischen Interpretationen der Zeit ändert sich auch nicht viel, wenn die Dynamik oder wesentliche Aspekte der Zeit wie ihre Richtung nicht fundamental sind, sondern aus etwas anderem hervorgehen. Die emergente Dynamik oder die emergente Richtung der Zeit sind in jedem Fall real, so wie alle emergenten Strukturen real sind. Ob die dynamische oder die statische Interpretation der Zeit zutrifft, hängt in erster Linie davon ab, ob zuerst die lokalen Perspektiven hervorgehen und aus diesen der Gesamtzusammenhang oder ob die lokalen Perspektiven aus dem Ganzen der Raumzeit folgen. Ein Beispiel für eine dynamische emergente Zeit könnte daher so aussehen: Fundamental wären irgendwelche gesetzlichen Zusammenhänge, die weder als dynamisch noch als statisch einzustufen sind. Aus diesen geht die lokale Struktur der Raumzeit hervor, das heißt die Unterscheidung zwischen raum- und zeitartigen Richtungen sowie der Zusammenhang mit benachbarten Zeitpunkten. Auf einer weiteren Ebene könnte der thermodynamische Zeitpfeil hervorgehen. Der Gesamtzusammenhang der Raumzeit, das Blockbild, ergibt sich schließlich als letztes aus den Zusammenhängen der lokalen Strukturen und wäre damit abhängig von der emergenten Dynamik. Eine statische emergente Zeit erhielte man dagegen, wenn in irgendeinem Sinne zuerst der Gesamtzusammenhang der Raumzeit hervorgeht und die lokalen Strukturen aus diesem Gesamtzusammenhang folgen. Dann wäre die emergente „Dynamik“ vom statischen Gesamtbild abhängig. Dass es sich bei diesen Interpretationen nicht nur um verschiedene Redeweisen über dieselbe Realität handelt, zeigt sich anhand der unterschiedlichen Weiterentwicklungen, die sie nahelegen. Die Classical Sequential Growth Models sind plausibel unter Voraussetzung einer Ontologie des lokalen Werdens. In diesen Modellen besteht das Universum aus einer Vielzahl von Ereignissen, die jeweils aus den früheren Ereignissen hervorgehen. Ausgehend vom zeitlos interpretierten Blockuniversum wären dagegen auch Theorien mit holistischen Aspekten plausibel, so dass Lokalität in Raum und Zeit aus dem Ganzen der Raumzeit abgeleitet wären. Es wäre deutlich schwieriger, wenn auch nicht unmöglich, einen Begriff vom Werden plau-

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3. Die Zeit der Physik

sibel einzuführen. Solche holistischen Aspekte könnten möglicherweise durch die Quantenmechanik impliziert sein. In dieser Richtung muss die weitere Forschung, insbesondere eine erhoffte Quantengravitation, abgewartet werden, um entscheiden zu können, in welchem Sinne die scheinbar nicht-lokalen Effekte der Quantenmechanik zu interpretieren sind. In ihrer dynamischen Interpretation kann die Zeit der allgemeinen Relativitätstheorie zusammenfassend als Dynamik ohne Hintergrundzeit beschrieben werden. An jedem Punkt gibt es dynamisches Werden. Weil die Dynamik aber keinen Hintergrund hat, der ihre Formen und Zusammenhänge vorschreibt, sind es allein die Gesetze der Dynamik, die bestimmen, wie die Ereignisse zusammenhängen. Dies hat in den Causal Set Theories die Folge, dass sich die Verlaufsform in gewissen Grenzen ändern kann. Es sind Wechsel zwischen verschiedenen Dimensionalitäten des Raumes und zwischen einfachen Zeitlinien und relativistischen Raumzeitstrukturen denkbar. Damit ist ein erster Ansatz gefunden, wie sich verschiedene Verlaufsformen kombinieren ließen. In der dynamischen Interpretation ist es selbstverständlich, dass Zeit mehr ist als eine zusätzliche Dimension. Aber auch in einer statischen Interpretation unterscheidet sie sich vom Raum dadurch, dass sich Wirkungen in zeitartige (und lichtartige) Richtungen ausbreiten. Zusammenhänge zwischen raumartig getrennten Punkten können nur über den Umweg zeitlicher Kurven zustande kommen, indem sie beispielsweise eine gemeinsame Vergangenheit haben. Mit diesem Punkt ist auch die wichtigste, positive Schlussfolgerung für das Wesen der Zeit benannt. Die gesetzlichen Zusammenhänge scheinen konstitutiv zur Zeit dazuzugehören. Dies gilt für alle Theorien unabhängig davon, ob sie Zeit als fundamentale oder sekundäre Größe enthalten. Denn ohne gesetzliche Zusammenhänge ließe sich Zeit nicht von einer weiteren Raumdimension unterscheiden. In Theorien, die Zeit als sekundäre Größe behandeln, können sich die konkreten gesetzlichen Zusammenhänge ebenfalls als sekundäre Gesetze ergeben. In Theorien mit einer fundamentalen Zeit müssen sie auf fundamentaler Ebene postuliert sein. Die sicheren Folgerungen aus der Physik für das Wesen der Zeit sind also vorwiegend Negationen klassischer Theoreme über die Zeit. Eine der wenigen positiven Aussagen betrifft die Wirkungsausbreitung. Könnte das Wesen der Zeit also in solchen gesetzlichen Zusammenhängen beziehungsweise in der Kausalität bestehen? An den Causal Set Theories lässt sich dies exemplarisch verdeutlichen. Zwischen den einzelnen Punkten werden allein kausale Abhängigkeiten angenommen. Daraus lässt sich eine Ordnung rekonstruieren, die einer relativistischen Raumzeitstruktur sehr ähnlich sein kann. Allein die Dimensionalität des hervorgehenden Raumes muss nicht mit der tatsächlich realen Dimensionalität übereinstimmen, falls sich überhaupt eine Dimensionalität näherungsweise angeben lässt. Doch hätte man an jedem Punkt ein Hervorgehen der neuen Raumzeitpunkte aus den alten. Die entstehende Struktur hätte, abgesehen von der Kontinuität und der Zeitumkehrsymmetrie, fast alle Eigenschaften, die auch in der Relativitätstheorie mit der Zeit

3.7. Zeit als Struktur gesetzlicher Zusammenhänge

167

verbunden werden. Die Kontinuität wird zumeist nicht als wesentliches Kriterium von Zeit erachtet und die Zeitumkehrsymmetrie eher als Manko der physikalischen Theorien betrachtet. Ein bereits in Abs. 3.6.3 erwähnter Unterschied zur relativistischen Zeit muss jedoch noch beachtet werden. Es sind kausale Mengen denkbar, die zum Beispiel nur aus einem Punkt bestehen oder aus lediglich zwei verbundenen Punkten oder aus vielen unverbundenen Punkten. Diesen speziellen Lösungen eine Zeit zuzuordnen, wäre nach den üblichen Kriterien ungewöhnlich. Denn es existiert in diesen Lösungen keine längere Abfolge von Punkten, die sich durch eine lineare Zeitfolge annähern ließe. Zusätzlich zur Kausalität scheint darum ein zweites Kriterium für Zeit zu sein, dass sich eine längere Reihe von Punkten herausbildet, zwischen denen sich die Zustände nur wenig ändern. Erst dadurch ist die Möglichkeit einer Wiedererkennung ähnlicher Zustände gegeben, so dass die Folge der Punkte als äußerer, unveränderlicher Container angenähert werden kann, wie die Zeit in der klassischen oder der speziell-relativistischen Physik erscheint. In den wahrscheinlichsten Lösungen der Classical Sequential Growth Models ist diese Gleichmäßigkeit und Vielzahl der Punkte gegeben. Um einer solchen Struktur die Zeitlichkeit abzustreiten, müsste man also ebenfalls leugnen, dass die Zeit der Relativitätstheorien „echte“ Zeit ist, zum Beispiel, indem man allein den Zeitbegriff des Präsentismus als wahre Zeit akzeptiert. Insofern scheinen Kausalität und die Form einer längeren Reihe oder eines längeren Netzes zusammen ein hinreichendes Kriterium für die Existenz von Zeit zu bilden. Da die heute etablierten Theorien der Elementarteilchen allesamt symmetrisch unter Zeitumkehr sind, bietet sich eine weitere Verallgemeinerung an. Kausalität impliziert eine Richtung der Zeit, die diese Theorien nicht aufweisen. Stattdessen gelten symmetrische gesetzliche Zusammenhänge, die ähnliche Funktionen wie kausale Zusammenhänge übernehmen. Falls man die Asymmetrie und die Unmöglichkeit geschlossener zeitartiger Kurven nicht als notwendig für Zeit betrachtet, dürften statt Kausalität auch beliebige gesetzliche Zusammenhänge neben der längeren Reihe als Kriterium für Zeit ausreichen. Bestünden dagegen keine Zusammenhänge, aber alle anderen Eigenschaften der newtonschen oder relativistischen Zeit blieben erhalten, ließe sich diese „Zeit“ nicht von einem eindimensionalem Raum unterscheiden, in dem alles beziehungslos nebeneinander existiert. Die Existenz von gesetzlichen Zusammenhängen irgendwelcher Art ist also notwendig für die Existenz von Zeit. Somit besteht zumindest ein enger Zusammenhang zwischen Zeit und gesetzlichen Zusammenhängen. Zeit scheint gegeben zu sein, wenn erstens gesetzliche Zusammenhänge bestehen und zweitens diese Zusammenhänge sich so interpretieren lassen, dass verschiedene Zustände eine Folge bilden, und diese Abfolge von Zuständen regelmäßig und in einer ausgezeichneten Richtung erfolgt. Dieser Versuch einer näheren Wesensbestimmung der Zeit steht nicht im Widerspruch zum strukturellen Realismus. Denn das Wesen der Zeit, wie es eben beschrieben wurde, be-

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3. Die Zeit der Physik

steht eben nicht in einer speziellen Ontologie, sondern in einer Struktur, nämlich in gesetzlichen Zusammenhängen zwischen nicht näher spezifizierten Punkten. Dem liegt die Intuition zugrunde, dass jedes Wesen, das in einer Umgebung lebt, die eine ähnliche Struktur aufweist, diese ebenfalls als Zeit identifizieren würde, unabhängig davon, ob diese Struktur fundamental wäre oder was die tatsächliche Ontologie wäre. Auf dem Stand der heutigen Physik erscheint diese Annahme plausibel. Denn in den Ansätzen zu einer Quantengravitation werden unterschiedlichste Ontologien ausprobiert, die teils keinen Aspekt enthalten, der Ähnlichkeiten zu der alltäglich erfahrenen Zeitstruktur aufweist. Trotzdem beanspruchen alle diese Theorien, die bekannte Raumzeitstruktur rekonstruieren zu können. Ein Mensch sollte die Unterschiede zwischen diesen verschiedenen Ontologien folglich nicht wahrnehmen können außer durch sehr ausgeklügelte Experimente. Für das Zeiterleben bedeutet es also keinen Unterschied, wie die niedrigeren Ebenen beschaffen sind, solange die hervorgehende Struktur, die als Zeit identifiziert wird, ähnlich genug bleibt. Der hier vorgeschlagene Zeitbegriff ist daher so allgemein gewählt, dass er sowohl die sekundäre Zeit der kanonischen Versuche der Quantengravitation als auch die Zeit der Causal Set Theories und der allgemeinen Relativitätstheorie umfasst. In dieser Allgemeinheit des strukturellen Zeitbegriffs liegt auch sein größter Vorteil. Er kann nicht nur die physikalischen Zeitkonzepte umfassen, sondern eventuell auch biologische, psychologische und andere Zeitkonzepte.251 Die „Punkte“ dieses Zeitbegriffs brauchen nicht physikalische Raumzeitpunkte zu sein. Es kann sich dabei auch um Zyklen handeln, die einigermaßen gleichmäßig aufeinander folgen, wie Tage, Jahre, Wach-/Schlafrhythmen, die Abfolge von Saat und Ernte und biologische Zyklen aller Art. Jedes System hat daher seine eigene Zeit, die aus einer Abfolge der systemspezifischen Zyklen besteht. Diese Zeiten sind vielfältig miteinander verwoben. Sie können in andere, umfassende Zeiten eingebettet sein. Die Zyklen können aus einer Abfolge kleinerer Zyklen bestehen. Zeiten verschiedener Systeme können sich durch Wechselwirkungen gegenseitig beeinflussen. In diesem Zeitbegriff sind daher auch zyklische und lineare Elemente verbunden. Wiederholungen sind essentiell dafür, dass die Zeit überhaupt als gleichbleibende Form wahrnehmbar ist. Ohne Wiederholungen und Zyklen wäre jeder Moment komplett neu und ohne Ähnlichkeit zu den vorhergehenden. Es muss ein gewisses Maß an gleichbleibenden Aspekten zwischen den Momenten geben, damit ein kontinuierlicher Verlauf wahrnehmbar ist.252 Durch die Abfolge der Zyklen entsteht zumindest lokal eine lineare Folge, in der sich jeder Zyklus vom vorangehenden ein wenig unterscheidet. Ob die Zeit global gesehen zyklisch oder linear ist, lässt dieser Zeitbegriff offen. Das Universum könnte zeitlich in sich geschlossen sein, so dass 251

Vgl. für eine Darstellung einiger anderer Zeiten Gloy, Zeit, 25–161. Vgl. beispielsweise Schellings wahre Zeit, die er als linearen, zielgerichteten Ablauf konzipiert, in dem sich kein Moment wiederholt. Dennoch haben alle Momente Gemeinsamkeiten, die sich gewissermaßen in jedem Moment wiederholen, nämlich die Dynamik, durch den die unterschiedenen Momente überhaupt erst entstehen (vgl. Kap. 4.3.3). 252

3.7. Zeit als Struktur gesetzlicher Zusammenhänge

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sein Ende in seinen Anfang mündet, oder linear sein. Die experimentelle Situation deutet auf eine unendliche Zukunft hin, doch der hier vorgeschlagene Zeitbegriff erlaubt beide Strukturen. 3.7.4. Die Vielfalt der Zeiten und die Konsequenzen für die Diskussion über die Ewigkeit Die Analyse der Zeit in der Physik zielte darauf ab, Anregungen für ein Ewigkeitsmodell und auch Konsequenzen für die einzelnen Zeitbezüge zu sammeln. Einige dieser Konsequenzen und Anregungen wurden bereits während der Analyse erwähnt. Die meisten wurden jedoch noch nicht gebührend diskutiert. An dieser Stelle werden zuerst die direkten Folgen der physikalischen Ergebnisse für die Diskussion um die Ewigkeitsmodelle beschrieben. Dabei werden sich die Konsequenzen nicht allein aus den physikalischen Sachverhalten ergeben, sondern stets im Zusammenspiel von theologischen Argumenten und physikalischen Ergebnissen. Die Anwendungsmöglichkeiten neuer Modelle in der Theologie werden hier schon angedeutet und im späteren Verlauf der Arbeit ausführlicher diskutiert (siehe Kap. 5). Ewigkeit umfasst Gottes Bezug zur geschöpflichen Zeit. Wenn sich die geschöpfliche Zeit also nicht als eine einzige absolute Zeit beschreiben lässt, sondern als Vielfalt von verwobenen Zeiten, wie den vielen Eigenzeiten der Relativitätstheorien und den verschiedenen Zeitbegriffen der unterschiedlichen Ebenen der Realität, wie verhält sich dann die Ewigkeit Gottes zu dieser Vielfalt der Zeiten? Die Alternativen sind, dass Gottes Ewigkeit nur in Bezug zu einer speziellen Zeit oder einer Auswahl spezieller Zeiten zu verstehen ist oder dass Gottes Ewigkeit den Bezug zu allen Zeiten umfasst. Eine Auswahl spezieller Zeiten erscheint nicht nur äußerst willkürlich, sondern wäre auch eine Einschränkung der Allwissenheit und Allgegenwart Gottes. Er könnte den Teilen der Schöpfung, die einer anderen Zeit als den ausgewählten folgen, nicht in derselben Weise nahe sein. Er könnte zwar einige Zeiten der Schöpfung nachvollziehen und begleiten, aber nicht alle. Wenn er jedoch alle Menschen begleiten kann (vgl. Abs. 1.4.4) und zumindest die Möglichkeit hat, die Zeiten und Erfahrungen aller Menschen nachzuvollziehen, muss er dazu in Beziehung zu den verschiedenen Eigenzeiten der Menschen treten können und muss folglich in der Lage sein, in einen gleichartigen Bezug zu allen denkbaren menschlichen Zeiten zu treten. Diese Möglichkeit ist gewährleistet in den Modellen der Gegenwart aller Zeiten (vgl. Abs. 1.3.1) und der Vielzeitigkeit Dalferths (vgl. Abs. 2.3). In diesen Modellen hat Gott denselben Bezug zu allen Zeiten. Im Modell der Zeitlichkeit Gottes dagegen, besitzt Gott eine absolute Zeit. Menschen, die andere Zeiten hätten, stünden in einer anderen zeitlichen Beziehung zu Gott als Menschen, deren Zeit mit Gottes Zeit übereinstimmt. Schon allein deshalb sollte Gottes Ewigkeit nicht auf Zeitlichkeit eingeschränkt sein, sondern mindestens einen der beiden anderen Zeitbezüge umfassen.

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3. Die Zeit der Physik

Aus den Resultaten der Physik ergaben sich als sicherste Aussagen Negationen von Theoremen der klassischen Physik. Damit können einige Ontologien ausgeschlossen werden, zum Beispiel der Präsentismus oder Growing Block Models, weil es keine absolute Zeit gibt. Darüber hinaus unterliegt die Zeit, wie sie sich in der allgemeinen Relativitätstheorie darstellt, physikalisch erforschbaren Naturgesetzen. Ewigkeitsmodelle, die Gottes Zeit mit der Zeit der Welt identifizieren wollen, können daher ausgeschlossen werden. Denn nach solchen Modellen wäre Gott den Naturgesetzen unterworfen. Er wäre nicht nur Gefangener der Zeit (vgl. Abs. 1.1), sondern auch der Natur. Für den Schöpfer des Universums kann eine derartige Einschränkung nicht gelten, insbesondere da die Theorien ebenfalls gezeigt haben, dass die physikalische Zeit eng mit Raum und Materie verwoben ist. Ein Gott, der dieser Zeit unterliegt, könnte also kein Schöpfer sein, der aus dem Nichts erschafft, sondern bestenfalls ein Demiurg, der vorhandene Materie ordnet. Gottes Zeiten müssen daher von den Zeiten der Schöpfung unterschieden werden. Wenn Gott Zeiten kennt, sind dies zuallererst seine eigenen Zeiten, die nicht durch die Zeiten und Gesetze der Schöpfung eingeschränkt sind. Gott kann allerdings seine Zeiten mit den Zeiten der Schöpfung synchronisieren, indem er seine Zeiten benutzt, um in der Schöpfung zu handeln oder die Zeiten der Schöpfung zu begleiten. Durch jede Handlung Gottes in der Schöpfung werden die Zeiten seiner Handlungen mit den Zeiten, in denen er handelt, gleichzeitig. Der Begriff der physikalischen Zeit wurde als struktureller Begriff erklärt. Zeit ist demnach eine Menge von unterscheidbaren Momenten, zwischen denen gesetzliche Zusammenhänge bestehen. Wenn dieser Zeitbegriff auch in Bezug auf Gott verwendet wird, implizieren die Werke Gottes als besondere Wirkzusammenhänge entsprechende Zeiten Gottes. Der eruierte Zeitbegriff ist so allgemein, dass vielen Werken Gottes eine zeitliche Verfasstheit zugeschrieben werden muss, der er nur entkommen könnte, wenn er untätig ruhte. Denn fast jede vorstellbare Handlung bringt eine gewisse Abfolge mit sich, die Ähnlichkeit mit Zeit aufweist. Zumindest für ein wirkliches Verständnis des menschlichen Lebens bedarf es der Wahrnehmung der jeweiligen Situation in der Differenz von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und damit als eine Folge von zusammenhängenden Momenten (vgl. Abs. 1.4.4). Sofern Gott eine Dynamik aufweist und handelt, wird er daher auch Zeiten konstituieren. Die moderne Physik bietet nicht nur Kriterien für ein angemessenes Zeitverständnis, sondern auch neue Modelle und Interpretationen, die allgemeiner sind als der Zeitbegriff der klassischen Physik. Nach dem Ansatz der imaginären Zeit aus der Kosmologie kann Zeit zwischen zwei Zuständen wechseln, der realen Zeit und der imaginären Zeit, die sich eher wie eine weitere Raumkoordinate verhält. Dieser Ansatz könnte als ein Modell für den Übergang von Zeitlosigkeit zu Zeit angesehen werden. Allerdings steht dieser Ansatz vor nicht geringen konzeptuellen Problemen (vgl. Abs. 3.6.1). Zudem stellt er eine dynamische Interpretation der Zeit in Frage. Denn Zeit geht in diesem Modell aus dreidimensionalen Räumen und einer Wellen-

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funktion über den verschiedenen Raumkonstellationen hervor, also aus Raum und etwas globalem und zeitlosem. Da in der Einleitung für die Dynamik Gottes plädiert wurde, wird in dieser Arbeit ein anderer Ansatz weiterverfolgt, die Interpretation der Zeit der allgemeinen Relativitätstheorie als Dynamik ohne Hintergrundzeit. Ohne Einschränkungen durch einen Hintergrund bestimmt allein die Dynamik die Verlaufsformen. Welche Möglichkeiten sich dabei bieten, lässt sich durch die Causal Set Theories ausmalen. Es sind Verlaufsformen denkbar, die einer Zeitlinie oder einer relativistischen Raumzeit entsprechen. Theoretisch wäre auch eine Art Zeitlosigkeit denkbar, wenn der erste Moment keine weiteren Momente hervorbringt. Damit sind erste Beispiele für Wechsel zwischen verschiedenen Zeitformen gefunden. Wenn die Dynamik noch allgemeiner als in den Causal Set Theories gedacht wird, dürften auch weitere Möglichkeiten hinzukommen wie zum Beispiel kausale Schleifen. Inwieweit das Modell der hintergrundunabhängigen Dynamik für den Ewigkeitsbegriff fruchtbar gemacht werden kann, soll in Kap. 5 untersucht werden.

4. Zeit als Dynamik der Potenzen – Schellings Spätphilosophie Die Idee, dass Gott seinen Zeitbezug selbst wählen kann, setzt voraus, dass Übergänge zwischen den verschiedenen Zeitbezügen möglich sind. Einen Übergang zwischen Ewigkeit als Nicht-Zeit und Zeit formuliert Schelling in seiner Spätphilosophie. Schelling geht davon aus, dass Gott zunächst zeitlos existiert, aber mit Beginn der Schöpfung zeitlich wird. In diesem Kapitel werden die konzeptuellen Voraussetzungen herausgearbeitet, die es Schelling ermöglichen, diesen Übergang zu denken. Diese Voraussetzungen sind in Gottes absoluter Ewigkeit und in Schellings Zeitverständnis angelegt. Darum wird nicht nur der Übergang, sondern auch Schellings Verständnis von Zeit und Ewigkeit untersucht. Beide wiederum sind nicht ohne einen Überblick über Schellings Potenzenlehre verständlich. Schelling legt besonderen Wert darauf, diesen Übergang als frei darzustellen. Seit seiner Freiheitsschrift1 ist die Freiheit des Menschen und Gottes Thema seiner Philosophie geblieben. Die Freiheit Gottes zeigt sich insbesondere an diesem Übergang, da Gott die Wahl hat, die Welt mit ihrer Zeit zu schaffen oder in seiner Ewigkeit zu bleiben. Thema dieses Kapitels wird es daher auch sein, zu untersuchen, inwiefern es Schelling gelingt, die Freiheit Gottes plausibel darzustellen. In dieser Arbeit wird vorwiegend auf die Ewigkeits- und Zeitlehre der sogenannten Spätphilosophie Schellings2 eingegangen, das heißt insbesondere der Vorlesungen der „Philosophie der Offenbarung“3 , „Philosophie der Mythologie“4 und „Dar-

1

F. W. J. von Schelling, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände. 1809, in: Ders., Sämmtliche Werke, Bd. VII, hrsg. von K. F. A. Schelling, Stuttgart/Augsburg 1860, 331–416. 2 Walter Schulz bezeichnet als „Spätphilosophie im engeren Sinne“ das System, wie es in der „Philosophie der Offenbarung“ und „Philosophie der Mythologie“ entwickelt wird. Diese Abgrenzung wird hier übernommen. Vgl. W. Schulz, Die Vollendung des Deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings, Pfullingen 2. Aufl. 1975, 13. 3 F. W. J. von Schelling, Sämmtliche Werke, Bd. XIII: Philosophie der Offenbarung. Erstes und zweites Buch, hrsg. von K. F. A. Schelling, Stuttgart/Augsburg 1858; F. W. J. von Schelling, Sämmtliche Werke, Bd. XIV: Philosophie der Offenbarung. Drittes Buch, hrsg. von K. F. A. Schelling, Stuttgart/ Augsburg 1858. 4 F. W. J. von Schelling, Sämmtliche Werke, Bd. XI: Einleitung in die Philosophie der Mythologie, hrsg. von K. F. A. Schelling, Stuttgart/Augsburg 1856; F. W. J. von Schelling, Sämmtliche Werke, Bd. XII: Philosophie der Mythologie, hrsg. von K. F. A. Schelling, Stuttgart/Augsburg 1857 (= PhdM2).

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4. Zeit als Dynamik der Potenzen – Schellings Spätphilosophie

stellung des Naturprocesses“5 . Zum Zeitverständnis Schellings wurden häufig die Weltalter-Fragmente interpretiert.6 In Teilen werden auch in diesem Kapitel die Weltalter thematisiert, jedoch nur an den Stellen, an denen es dem Verständnis der Spätphilosophie dient. Diesem Ansatz liegt die Annahme zugrunde, dass die Entwicklung von Schellings Gedankengut in weiten Teilen kontinuierlich erfolgte und nicht in Brüchen.7 Es wird daher davon ausgegangen, dass die Vorlesungen der Spätphilosophie aus den Gedanken der Weltalter hervorgegangen sind und nicht nur einen späteren, sondern auch einen weiter entwickelten Stand seiner Überlegungen zur Zeit und Ewigkeit bieten. Um die Grundlagen seiner Zeit- und Ewigkeitskonzepte darstellen zu können, müssen einige Elemente seiner Spätphilosophie erläutert werden, wie die Potenzenlehre und der Prozess der Potenzen. Denn Schellings Ausführungen zur Zeit und Ewigkeit und dem Übergang zwischen beidem liegt stets die Dynamik der Potenzen zugrunde. Erst vor diesem Hintergrund können seine Begriffe von Zeit und Ewigkeit so erklärt werden, dass verständlich wird, wie Schelling sich den Übergang denkt. In einem ersten Schritt wird daher seine Potenzenlehre diskutiert. Im zweiten Schritt wird die Dynamik der Potenzen beschrieben, die dem Prozess zugrunde liegt, und das Verhältnis dieses Prozesses zur negativen und positiven Philosophie8 Schellings skizziert. Erst im Anschluss wird sein Verständnis von Zeit und Ewigkeit analysiert.

5 F. W. J. von Schelling, Darstellung des Naturprocesses, in: Ders., Sämmtliche Werke, Bd. X, hrsg. von K. F. A. Schelling, Stuttgart/Augsburg 1861, 301–390 (= DNP). 6 Interpretationen der Zeitthematik in den Weltalter-Fragmenten wurden vielfach vorgelegt. Siehe zum Beispiel W. Wieland, Schellings Lehre von der Zeit. Grundlagen und Voraussetzungen der Weltalterphilosophie, Heidelberger Forschungen 4, Heidelberg 1956; H. Nikolaus, Metaphysische Zeit. Schellings Theorie einer seelischen Zeit, Berlin 1999, 132–154. Als Temporalisierung der Trinität wird die Trinitätslehre in den Weltaltern interpretiert in P. Trawny, Die Zeit der Dreieinigkeit. Untersuchungen zur Trinität bei Hegel und Schelling, Würzburg 2002, 146–164. 7 Diese Sichtweise hat sich in den letzten Jahrzehnten durchgesetzt. Vgl. für eine Zusammenfassung der verschiedenen Forschungspositionen zur Einheit der Spätphilosophie Schellings S. Klingner, „Schwerpunkte der Schellingforschung“, in: R. Hiltscher/S. Klingner (Hrsg.), Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Neue Wege der Forschung, Darmstadt 2012, 9–18, hier 10–12. 8 Die Unterscheidung negativer und positiver Philosophie liegt Schellings Spätphilosophie zugrunde. Das Verhältnis der beiden Zweige der Philosophie und ihre Interpretation thematisieren beispielsweise Schulz, Die Vollendung des Deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings, 21– 94, darin vor allem die Zusammenfassung 83–94; H. Fuhrmans, Schellings letzte Philosophie. Die negative und positive Philosophie im Einsatz des Spätidealismus, Berlin 1940; T. Buchheim, Eins von Allem. Die Selbstbescheidung des Idealismus in Schellings Spätphilosophie, Paradeigmata 12, Hamburg 1992; A. Hutter, „Die positive Wirklichkeit der Person. Zur Kantrezeption in Schellings Spätphilosophie“, in: C. Danz/R. Langthaler (Hrsg.), Kritische und absolute Transzendenz. Religionsphilosophie und Philosophische Theologie bei Kant und Schelling, Scientia & Religio 3, Freiburg/München 2006, 98–114, hier 102–111; F. Hermanni, „Gott und Notwendigkeit. Kants Metaphysikkritik und Schellings Spätphilosophie“, in: F. Hermanni/D. Koch/J. Peterson (Hrsg.), »Der Anfang und das Ende aller Philosophie ist – Freiheit!« Schellings Philosophie in der Sicht neuerer Forschung, Tübingen 2012, 361–382, hier 369–382.

4.1. Die Potenzenlehre

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4.1. Die Potenzenlehre Die Potenzenlehre bildet den Kern der Spätphilosophie Schellings. Die gesamten Ausführungen über Mythologie, Offenbarung, die Begriffe und ihre verschiedenen Wissenschaften handeln direkt oder indirekt stets von den Verhältnissen der Potenzen und den Prozessen, an denen sie beteiligt sind. Auch seine Begriffe von Zeit und Ewigkeit entwickelt Schelling in der „Philosophie der Offenbarung“ und „Philosophie der Mythologie“ an der Dynamik der Potenzen. Um die Zusammenhänge zwischen seinen Zeit- und Ewigkeitsbegriffen plausibel darstellen zu können, müssen die Potenzen und ihre dynamischen Verhältnisse im Überblick vorgestellt werden. Die Darstellung dieser Grundlagen der Spätphilosophie Schellings kann aufgrund der gebotenen Kürze keine umfassende Interpretation leisten.9 Um die Ausführungen verständlich zu halten, muss dennoch auf einige interpretatorische Fragen bei der Potenzenlehre eingegangen werden, da nicht in allen Deutungen die spätere Dynamik der Potenzen plausibel erscheint. Schellings Potenzenlehre kann in heutigen Begriffen als ein Ansatz zu einer „Theory of Everything“ (= TOE) interpretiert werden.10 Schelling versucht, einzelne Grundmomente der Realität und ihre Gesetzmäßigkeiten aufzuweisen, aus denen alle Aspekte der Welt erklärbar sind. Der Anspruch, den er an die Philosophie stellt und den er versucht einzulösen, ist nichts Geringeres, als das Sein zu erklären und im Verlaufe dessen alle Wissenschaften mitsamt ihren Gegenständen zu begründen.11 Inhalt seiner Potenzenlehre ist daher die Idee des Seienden oder der Inbegriff aller Möglichkeit, aus dem prinzipiell alle denkbaren Begriffe ableitbar sind. 9 Verschiedene Interpretationen der Potenzenlehre Schellings liefern unter anderem K. Hemmerle, „Zum Verständnis der Potenzenlehre in Schellings Spätphilosophie“, PhJ 74 (1966/1967), 99–125; E. A. Beach, The Potencies of God(s). Schelling’s Philosophy of Mythology, Albany N. Y. 1994, 116–146; H. Schrödter, „Die Grundlagen der Lehre Schellings von den Potenzen in seiner ‚Reinrationalen Philosophie‘“, ZPhF 40 (1986), 562–585; D. Barbarić, „Schellings Potenzenlehre in seiner Philosophie der Mythologie“, in: F. Hermanni/D. Koch/J. Peterson (Hrsg.), »Der Anfang und das Ende aller Philosophie ist – Freiheit!« Schellings Philosophie in der Sicht neuerer Forschung, Tübingen 2012, 309–330; W. Hogrebe, Prädikation und Genesis. Metaphysik als Fundamentalheuristik im Ausgang von Schellings „Die Weltalter“, Frankfurt a. M. 1989, 71–78; Buchheim, Eins von Allem, insbesondere 116–135; M. Gabriel, Der Mensch im Mythos. Untersuchungen über Ontotheologie, Anthropologie und Selbstbewußtseinsgeschichte in Schellings Philosophie der Mythologie, QuStPh 71, Berlin 2006, 116–145; M. Gabriel, „Nachträgliche Notwendigkeit. Mensch, Gott und Urteil beim späten Schelling“, PhJ 116 (2009), 22–41; D. Sollberger, Metaphysik und Invention. Die Wirklichkeit in den Suchbewegungen negativen und positiven Denkens in F.W.J. Schellings Spätphilosophie, Würzburg 1996, 174–215. 10 Auch Hemmerle sieht die Potenzenlehre als „Inhalt, von dem aus sie [= die Spätphilosophie, J.S.] im Ganzen verständlich wird“. Siehe Hemmerle, „Zum Verständnis der Potenzenlehre in Schellings Spätphilosophie“, 99. Eine ähnliche Einordnung der Potenzenlehre findet sich in Barbarić, „Schellings Potenzenlehre in seiner Philosophie der Mythologie“, 315. Andere Interpretationen im Sinne einer Prädikationstheorie entwickeln beispielsweise Hogrebe, Prädikation und Genesis; Buchheim, Eins von Allem. 11 Vgl. insbesondere PhdM1, 561, aber auch PhdO1, 65 f., 69 und 147–151; PhdM1, 295–297, 360 und 368.

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4. Zeit als Dynamik der Potenzen – Schellings Spätphilosophie

Üblicherweise sind TOEs im Bereich der Naturwissenschaften angesiedelt. Eine TOE müsste eine Auswahl an Gesetzen annehmen, beispielsweise eine physikalische Theorie, und versuchen, möglichst alle Gesetzmäßigkeiten dieser Welt aus ihnen abzuleiten. Schelling geht in gewisser Weise sehr ähnlich vor, mit dem Unterschied, dass er die Prinzipien für seinen Systemansatz nicht aus der Naturwissenschaft, sondern aus einer Theorie des Geistes nimmt. Er selbst stellt das Subjekt-Objekt Fichtes, das das menschliche Bewusstsein beschreiben soll, als Ausgangspunkt für seine Potenzenlehre dar. Das menschliche Subjekt-Objekt hat Schelling zum allgemeinen Subjekt-Objekt erweitert.12 Da man das Subjekt-Objekt nach Schelling nicht direkt denken kann, ohne Subjekt und Objekt vorauszusetzen,13 sind Subjekt, Objekt und Subjekt-Objekt die drei Potenzen, deren Dynamik alles weitere bestimmt. Schelling stellt nicht überall seine Philosophie als Ausarbeitung der Konsequenzen der Potenzenlehre dar. Doch im Gesamtüberblick wird deutlich, dass sich jedes Themengebiet ausgehend von den Zusammenhängen zwischen den Potenzen und den Prozessen unter ihnen verstehen lässt.14 Für ein System oder eine TOE muss Schelling die Prinzipien des Geistes auf die nichtmenschliche Welt übertragen. In dieser Verallgemeinerung nennt Schelling die Einheit der Potenzen auch Idee des Seienden oder Inbegriff aller Möglichkeit. Seine Potenzenlehre muss insbesondere erklären, wie es unterschiedliche Arten von Existierendem geben kann: Wie kann es willenlose, tote Materie geben, obwohl im Geist und in der Natur dieselben Potenzen wirken? Wie können Pflanzen und Tiere auf einem anderen Niveau lebendig und willensfähig sein als der Mensch? Was auch immer den Geist ausmacht, muss also Konstellationen erlauben, in denen Intelligenz und freier Wille suspendiert sind. Neben dieser Minimalanforderung sollte Schellings Potenzenlehre auch erklären, warum die verschiedenen Weisen zu existieren nebeneinander realisiert sind, in welchen Abhängigkeiten sie stehen und warum die Welt so funktioniert, wie sie ist. Im Gesamtblick auf Schellings Spätphilosophie ist erkennbar, dass er versucht hat, genau dies umzusetzen: Mit seiner Potenzenlehre leitet Schelling ab, welche Existenzweisen von toter Materie bis zum freien Geist denkbar sind. Auch seine Erklärungen des Raumes und der Zeit stehen im Kontext des Prozesses, in den die Potenzen eintreten können. Er bemüht sich plausibel zu machen, warum Gott eine Welt schaffen wollte. Die Krönung seines Systems sind gewiss seine Erklärungen der Mythologie und Offenbarung. Die Mythologie ist nach Schellings Interpretation nichts anderes als der Prozess der Potenzen, deren Dynamik sich im menschlichen 12

Vgl. PhdO1, 78; PhdM1, 369–372. PhdO1, 78, 234, 237 und 254 f.; PhdM1, 290 und 312 f. 14 Dies sieht auch Hemmerle, „Zum Verständnis der Potenzenlehre in Schellings Spätphilosophie“, 100. Schelling selbst behauptet, dass die Potenzenlehre zur Erklärung der Mythologie ausreicht. Zur Offenbarung müsse noch die Trinitätslehre hinzugenommen werden. Vgl. PhdO1, 316 f. Allerdings ist auch die Trinitätslehre bei Schelling auf der Basis der Potenzen und ihrer Geschichte beschrieben. 13

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Geist entfaltet. Die Offenbarung schließt sich an den Abschluss dieses Prozesses an. In ihr erfüllt Jesus die Aufgabe des Menschen. Schelling verwendet verschiedene Hinführungen auf das Thema der Potenzen. Er kann mit der Analyse des Begriffs des Existierenden15 oder des Seienden16 beginnen. Als Einleitung zu der relativ knappen Darstellung der Potenzenlehre in der „Philosophie der Offenbarung“ wählt er hingegen eine Diskussion des Begriffs der Philosophie selbst.17 Schelling folgert aus diesem Begriff Kriterien für den Inhalt der Philosophie, die die spätere Herleitung der Potenzen lenken. Darum eignet sich dieser Einstieg, um die Ableitung der Potenzen plausibel darstellen zu können. Schelling übersetzt Philosophie als „Liebe, Streben nach Weisheit“.18 Schelling unterscheidet Weisheit von Klugheit durch ihre Sittlichkeit. Handlungen, die unsittliche Ziele verfolgen oder unsittliche Mittel verwenden, können als klug gelten, nicht jedoch als weise. Die Weisheit beinhaltet in ihrem Begriff also eine Festlegung auf sittliche Ziele und Methoden.19 Als sittlich scheint Schelling Handlungen anzusehen, die das Endziel und damit die gesamte Entwicklung der Geschichte im Blick haben. Denn unsittliche Handlungen, die in Hinsicht auf ein Ziel klug erscheinen mögen, unterscheiden sich von sittlichen darin, dass sie das Endziel verfehlen.20 Im Streben nach Weisheit wird darum vorausgesetzt, dass die Schöpfung und die Geschichte weises Handeln zulässt. Schelling verdeutlicht dies mit dem Bild eines Stromes, der die geschichtliche Entwicklung symbolisiert. Jeder Mensch findet sich zu Anfang seines Denkens in diesem Strom vor und wird von ihm mitgerissen. Er kann versuchen, sich gegen diesen Strom zu stemmen. In der Reflexion über die Handlungsmöglichkeiten des Menschen ergeben sich im Wesentlichen zwei Möglichkeiten: Falls die Welt ziellos und blindlings existiert, ist es das klügste, seine Handlungen an den Strom anzupassen, um sich nicht unnötig zu verausgaben. Ein weises Handeln ist allerdings nicht möglich, da die Schöpfung keinem Ziel entgegenstrebt. Falls die Welt jedoch das Produkt einer freien und weisen Entscheidung ist und eine Bestimmung besitzt, ist es nicht nur klug, sondern auch weise, sein Handeln dieser Bestimmung unterzuordnen.21 Weisheit und weises Handeln sind also nur möglich, wenn die Welt nicht blindlings, ohne Ziel, existiert, sondern selbst Produkt eines freien, weisen Entschlusses ist. Darum setzt Philosophie schon in ihrem Begriff voraus, dass die Welt eine in Freiheit gesetzte sein muss.22 Daraus folgt unmittelbar, dass, was auch immer diese 15

DNP, 303–306. PhdM1, 288–291; PhdO1, 77–79. 17 PhdO1, 199–203. 18 PhdO1, 201. 19 PhdO1, 201 f. 20 PhdO1, 202. 21 Siehe PhdO1, 203. 22 PhdO1, 203. 16

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Welt ins Sein gerufen hat, so verfasst sein muss, dass es zu freien Entschlüssen fähig ist und insbesondere frei ist, das Sein zu setzen. Was vor dem Sein ist, muss daher in der Lage sein, ins wirkliche Sein überzugehen oder es auch zu lassen. Dieses Kriterium erlaubt es Schelling, zu beurteilen, was als das Seiende, als das, was vor dem Sein ist, in Frage kommt. Es muss, um frei das Sein wählen zu können, drei Momente in sich vereinen: Es braucht die Fähigkeit, sein zu können, das heißt, es kann ins Sein übergehen und ist insofern das Seinkönnende. Wenn es durch nichts anderes vom Übergehen abgehalten wird, müsste dieses erste Moment zwangsweise ins Sein übergehen, da es für sich allein nur die Möglichkeit des Übergangs enthält. Zur Freiheit fehlt ihm die Fähigkeit, den Übergang zu unterlassen. Denn die Momente sollen einfache Momente sein, die jeweils nur eine Funktion übernehmen können.23 Also wird ein zusätzliches Moment benötigt, das das erste Moment zurückhält. Diese Funktion übernimmt bei Schelling das rein Seiende. Da beide Momente Aspekte desselben Einen sind, ergibt sich als drittes Moment die Einheit der ersten beiden Momente. Vereint etwas diese drei Momente in sich, hat es durch das erste Moment die Möglichkeit, zu sein, und durch das zweite Moment die Möglichkeit, auf das Sein zu verzichten. Durch das dritte Moment kann es sein, ohne auf das Können verzichten zu müssen.24 Diese drei Momente sind identisch mit den drei Potenzen. Schelling verwendet beide Begriffe.25 Denn die drei Momente werden an einem bestimmten Punkt seiner Philosophie zu reellen Möglichkeiten eines anderen Seins. Dann sind sie erst Potenzen im eigentlichen Sinne. Im Vorgriff können sie jedoch auch vor diesem Punkt schon Potenzen genannt werden. Die Details der Herleitung der Potenzen werden im Folgenden ausgeleuchtet. Dabei wird insbesondere verständlich werden, wie das zweite Moment das erste vom Übergang ins Sein abhalten kann und was unter Sein in diesem Kontext genau zu verstehen ist. Zuvor wird noch auf zwei Themen eingegangen, die für das Verständnis und die Einordnung der schellingschen Potenzenlehre relevant sind. Das erste Thema ist die emphatische Aussage, ein wiederkehrendes Motiv in Schellings Spätphilosophie. Im Gegensatz zur tautologischen Aussage erlaubt die emphatische eine gewisse Freiheit des Subjekts gegenüber seinen Prädikaten: Die Prädikate folgen nicht mit logischer Notwendigkeit aus dem Subjekt, so dass im Subjekt die Möglichkeit angelegt ist, bestimmte Prädikate zu besitzen oder nicht. Dieser Möglichkeitsspielraum ist von zentraler Bedeutung für Schellings Potenzenlehre und damit indirekt auch für die Zeit und ihr Verhältnis zur Ewigkeit. Das zweite Thema ist das reine Denken. Schelling geht davon aus, dass das Grundprinzip der Philosophie im reinen Denken unmittelbar erfahren werden kann. Das Seiende und seine Momente können nach Schelling unmittelbar wahrgenommen 23

PhdM1, 410. Vgl. PhdO1, 204–211 und 233–235. 25 Vgl. beispielsweise PhdM1, 312. Im Begriff des Moments steckt sowohl die Unterscheidbarkeit als Elemente als auch der Aspekt der auslösenden Ursache einer Bewegung. Insofern fasst der Begriff „Moment“ den Sinn der Potenzen besser als der Begriff der Potenzen. 24

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werden, wenn man versucht, das Seiende zu denken. Das reine Denken bietet dafür das Umfeld, einen Bereich, in dem noch nichts Konkretes gedacht wird. Bei den Texten, die hier zugrunde gelegt werden, handelt es sich in erster Linie um Vorlesungen, insbesondere der „Philosophie der Mythologie“ und der „Philosophie der Offenbarung“. Beide enthalten Darstellungen seiner Potenzenlehre. Unter diesen Texten bietet die „Philosophische Einleitung in die Philosophie der Mythologie oder Darstellung der reinrationalen Philosophie“ die letzten Ausführungen zu diesem Thema. Sie musste unvollendet bleiben,26 geht aber auf einzelne Themen präziser und detaillierter ein als die älteren Texte. Schelling hat sich offensichtlich bemüht, Fragen, die in den anderen Vorlesungen offen geblieben sind, gründlich zu behandeln.27 Andere Abschnitte scheinen dagegen nur summarisch und kurz verfasst zu sein. Die „Philosophie der Offenbarung“ hat Schelling abgeschlossen. Leider hat er die Potenzenlehre in diesem Werk vergleichsweise knapp behandelt. Darum wird die „Darstellung der reinrationalen Philosophie“ überall dort bevorzugt rezipiert, wo sie ausführlicher und tiefer in die Thematik einsteigt. 4.1.1. Die Struktur der emphatischen Aussage Die fundamentale Seinsaussage hat nach die Schelling die Form „A ist B“, zum Beispiel: „Dieser Mensch ist gesund.“ Von einem Subjekt A, dem Menschen, wird ein Prädikat B, seine Gesundheit, ausgesagt. Für das Verhältnis von A und B existieren zunächst zwei Möglichkeiten: B könnte bereits in A impliziert sein. Dann würden in der Prädikation nur einzelne Eigenschaften von A durch B hervorgehoben, so dass B keine neuen Informationen über A liefern könnte. Diese Form der Prädikation ist eine reine Tautologie und wird von Schelling nicht als eigentliche Aussage betrachtet. Damit die Aussage wirklichen Inhalt enthält, darf B noch nicht in A impliziert sein. A muss die Möglichkeit bieten, B oder nicht B zu sein, so dass das B-Sein eine neue Information liefert. Durch die Prädikation wären also neue Prädikate von A ausgesagt, die durch A allein nicht festgelegt, sondern nur erlaubt waren. Diese Form der Aussage nennt Schelling die Aussage „cum emphasi“.28 Die emphatische Aussage lässt sich aufschlüsseln in drei Sätze: „[E]rstens A ist = X, zweytens B ist = X und erst hieraus folgend der dritte, A und B sind dasselbe, beyde nämlich dasselbe X.“29 A und B sind beides Begriffe, die auf ein zugrunde liegendes X zutreffen. Das Subjekt A („dieser Mensch“) spezifiziert Prädikate, mit 26

Vgl. die Angaben von Schellings Sohn in PhdM1, v–vii. Ich gehe daher davon aus, dass Schelling in der „Darstellung der reinrationalen Philosophie“ bewusst versucht hat, die Potenzenlehre auszuführen, ein Projekt, das Schelling nach Trawny, Die Zeit der Dreieinigkeit, 112 f. zwar vorhatte, aber nicht mehr umsetzen konnte. 28 PhdM2, 53 f.; PhdO1, 227–229. 29 F. W. J. von Schelling, Die Weltalter. Druck II 1813, in: Ders., Schellings Werke, Nachlaßbd.: Die Weltalter. Fragmente, hrsg. von M. Schröter, München 1946, 109–184 (= WA II), hier II 41. Vgl. auch F. W. J. von Schelling, Die Weltalter. Bruchstück (1814/1815), in: Ders., Sämmtliche Werke, Bd. VIII, hrsg. von K. F. A. Schelling, Stuttgart/Augsburg 1861, 195–344 (= WA III), hier 213 f. 27

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denen das X identifiziert, also aus allem Existierenden herausgesucht werden kann, erfasst aber nicht das X selbst.30 Zusätzlich zum Begriff A wird das Prädikat B (seine Gesundheit) von diesem X ausgesagt. Im Resultat ist dasselbe X A und B. Aus dieser Struktur folgen drei Eigenschaften der emphatischen Aussage, die von zentraler Bedeutung für Schellings Herleitungen sind. Zunächst sind Subjekt und Potenz für Schelling gleichbedeutende Begriffe.31 Unter Potenz versteht Schelling reelle Möglichkeiten, das heißt die Fähigkeit, eine Eigenschaft zu haben oder nicht zu haben. Denn das Subjekt A der emphatischen Aussage muss die Möglichkeit bieten beziehungsweise die Potenz haben, B und nicht B zu sein. Andernfalls wäre B durch A impliziert und die Aussage eine Tautologie. Die Aussage, dass ein Mensch gesund ist, bietet nur einen Informationsgewinn, wenn die Möglichkeit besteht, dass er auch krank sein könnte. Es darf im Begriff Mensch also nicht schon seine Gesundheit impliziert sein.32 Jedes Subjekt muss daher einige Prädikate unbestimmt lassen, so dass es Potenz in Bezug auf diese Prädikate ist. Ansonsten könnte es nicht zum Subjekt einer emphatischen Aussage werden, da eine Aussage in einer weiteren Bestimmung offen gebliebener Prädikate besteht. Diese Potentialität gegenüber den Prädikaten ist bei Schelling nicht nur epistemisch gedacht:33 Die Potenz des Krankseins soll nicht das Unwissen über den Gesundheitszustand dieses Menschen ausdrücken, sondern die Kontingenz dieser Gesundheit. Derselbe Mensch könnte krank sein, wenn er am Tag zuvor einem Infizierten begegnet wäre, der ihn angesteckt hätte. Er kann auch jederzeit krank werden, so dass der gesunde Mensch ständig die Potenz des Krankseins besitzt. Die zweite Eigenheit der emphatischen Aussage ist, dass das, was A ist, unter der Form des von ihm ausgesagten B erscheint. Denn das B bestimmt Prädikate, die A offen gelassen hat. Das zugrunde liegende X hat nun die Prädikate von B, so dass es sich nach außen wie B verhält. Schelling vergleicht diesen Effekt mit einem „Überziehen“ oder „Bekleiden“ von A mit B.34 Drittens können A und B auch konträre Begriffe sein, das heißt Begriffe, die nicht zugleich zutreffen können. Dies ist eine Folge der Unterscheidung zwischen dem X, das etwas ist, und den Begriffen A und B, die von ihm ausgesagt werden. Das Subjekt A könnte nicht selbst B sein, wenn die Eigenschaften von A und B sich gegenseitig ausschließen. Aber ein X kann in einer Hinsicht A und in einer anderen Hinsicht B sein. A kann immer noch als Subjekt dienen, um das X ausfindig zu machen, so dass die Aussage dann präziser lautet: Das, was in einem Moment unter A aufgefunden wird, ist in einem anderen Moment B. Zum Beispiel kann ein Mensch in einer Hinsicht gut und in einer anderen Hinsicht böse handeln, aber nicht zugleich 30

Dies erläutert vorzüglich Buchheim, Eins von Allem, 97. Besonders betont in PhdO1, 227–229. 32 Dieses Beispiel bringt Schelling in PhdM2, 53. 33 So zu Recht Gabriel, „Nachträgliche Notwendigkeit“, 25. 34 PhdM2, 53 f. 31

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in derselben Hinsicht. An sich ist der Mensch gut und böse oder, anders gesagt, der Gute (A) ist der Böse (B), aber nur eine der beiden Eigenschaften kann in einem konkreten Zusammenhang nach außen wirksam werden.35 Die konträren Begriffe A und B können nicht zugleich wirksam sein. X wird nicht zugleich als A und B wahrgenommen, auch wenn es beide Momente in sich enthält.36 Diese Unterscheidung, was ein X an sich ist und wie es sich nach außen darstellt beziehungsweise welche Momente wirksam sind, wird besonders für die Einheit der Idee des Seienden relevant werden und für den Prozess, in dem konträre Momente desselben Seienden gegeneinander wirken. Auf diese drei Charakteristika der emphatischen Aussage wird in der Darstellung der Potenzenlehre und des Prozesses wiederholt Bezug genommen werden. Sie erlauben Schelling eine größere Flexibilität in den Verhältnisbestimmungen der Potenzen, die mit tautologischen Aussagen allein nicht möglich wäre. 4.1.2. Das reine Denken Die Ableitung der Momente des Seienden soll sich nach Schelling im reinen Denken vollziehen. Denn der Begriff des Seienden, der bei Schelling im späteren Verlauf als Geist erwiesen wird, soll das unbestreitbare Prinzip für die weitere Philosophie bieten. Dazu muss er selbst auf unzweifelhafte Weise begründet werden. Von einem anderen Prinzip kann das Seiende nicht abgeleitet werden. Denn es soll selbst das erste und absolute Prinzip, das Prinzip der Philosophie, sein. Ein erstes Prinzip ist notwendig, damit nicht eine unendliche Kette von Prinzipien begründet werden muss. Die Philosophie fragt nach diesem ersten Prinzip, um von ihm aus das Sein zu verstehen. Ausgehend von konkreten Einzeldingen kann bestenfalls auf die Idee hingeleitet werden, da jedes Einzelne sein oder auch nicht sein könnte, also an sich zweifelhaft ist. Alles, was aus Einzelnem gefolgert wird, behält diese Zweifelhaftigkeit bei, da durch die Akkumulation zweifelhafter Erkenntnisse nie eine sichere Grundlage entstehen kann. Eine sichere Ausgangslage sieht Schelling jedoch im reinen Denken gegeben.37 Das reine Denken ist durch die Ausblendung aller Einzeldinge gekennzeichnet. Es ist eine Art Raum vor allen konkreten Gedanken, das Gebiet des Denkens selbst. Das Denken ist mit sich allein ohne jede Trübung durch irgendwelche vollzogenen Aussagen. In diesem Gebiet sind „die Gesetze des Denkens Gesetze des Seyns“.38 Über die Dinge des reinen Denkens ist kein Irrtum möglich. Denn ein Irrtum setzt voraus, dass man eine vollständige Aussage getroffen hat. Erst in einer Aussage werden Subjekt und Prädikat in einer Weise kombiniert, die wahr oder falsch sein 35

Vgl. zu diesem Beispiel WA III, 214 f. Dies diskutiert Schelling besonders ausführlich in WA II, 36–45; PhdM1, 304–307. 37 Diese drei Ansätze geht Schelling in PhdM1, 297–302 durch. 38 PhdM1, 303. 36

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kann.39 „A ist B“ könnte falsch sein, falls A gerade nicht B ist. Aber A oder B allein stellen keine Behauptung dar, können also auch nicht falsch sein. Wenn im reinen Denken keine Aussagen formuliert werden, könnte man meinen, dass aus reinem Denken keinerlei Erkenntnisse gewonnen werden können. Schelling sieht jedoch die Möglichkeit, die Voraussetzungen und Gesetze des Denkens wahrzunehmen und zu erfahren, ohne dass eine Aussage getroffen wird. Es sollen Momente erfahren werden, die für sich noch keine Verknüpfung in Aussageform eingehen. Sie stellen erst die Elemente dar, die in Aussagen verknüpft werden können. Die wahrgenommenen Momente des Denkens kann Schelling im Anschluss an Aristoteles ἁπλᾶ nennen. Sie sind einfach und ohne Irrtum begreifbar, „weil von ihnen nichts ausgesagt wird“:40 „[E]ntweder also werden sie als reine Subjekte, von denen nichts ausgesagt wird, bloß gedacht, oder wenn sie uns zu Attributen werden, werden sie selbst bloß ausgesagt.“41 Wenn sie als reine Subjekte gedacht werden, wird keine Aussage über sie getroffen, sondern sie selbst als A einfach gesetzt. Ihnen wird kein Prädikat B zugewiesen und damit auch keine Aussage formuliert. Wenn sie Attribute eines anderen sind, wird auch nichts über sie ausgesagt. Sie selbst werden als Eigenschaften eines anderen ausgesagt, so dass sie nicht als Subjekte auftreten. Ein Irrtum in diesen Aussagen wäre ein Irrtum über das andere, als dessen Attribute sie ausgesagt werden, nicht aber über die ἁπλᾶ selbst. In beiden Fällen fehlt also die Voraussetzung eines Irrtums über die ἁπλᾶ. Die Erkenntnis dieser ἁπλῶν besteht nur in einer unmittelbaren Wahrnehmung ohne jede Aussage über sie.42 Der Weg zur Erkenntnis der ἁπλῶν führt daher über die Erfahrung: Man versucht das Seiende zu denken und nimmt dabei wahr, was möglich und unmöglich ist zu denken.43 Auf diese Weise erkundschaftet man die Gesetze des Denkens, die nach Schellings Voraussetzung auch die Gesetze des Seins sind,44 und kann sich versichert sein, dass man die Momente des Seienden vollständig und zuverlässig erkannt hat.45 Unter den Gesetzen des Denkens und Seins versteht Schelling nicht nur die Gesetze der Logik. Diese sind für ihn eine Reduktion der eigentlichen Gesetze des Denkens. Damit zweifelt er nicht ihre Geltung an. Er nimmt aber an, dass die Gesetze des Denkens inhaltsreicher sind, als es ihre einfache Anwendung in der Logik vermuten lässt. Die eigentlichen Gesetze des Denkens sind die Denknotwendigkeiten, die das Denken zur Figur des Seienden führen und damit letztlich auch die mögli-

39

PhdM1, 354. PhdM1, 354. 41 PhdM1, 354. 42 Vgl. zur Diskussion der ἁπλᾶ PhdM1, 349–356. 43 PhdM1, 326. 44 PhdM1, 302–304. 45 PhdM1, 321. 40

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chen Dynamiken der Potenzen bestimmen.46 Wie die Momente des Seienden selbst können sie nur erfahren und nicht bewiesen werden. Mit seinem Ansatz bei der unmittelbaren Erfahrung trifft Schelling einen entscheidenden Punkt: Die Voraussetzungen des Denkens und der Vernunft – denn nur um das vernünftige Denken geht es Schelling – dürfen und sollten sich der Vernunft selbst entziehen.47 Wenn die Geltung der Vernunft aus ihr selbst abgeleitet werden sollte, müssten dazu eben die Regeln vorausgesetzt werden, die bewiesen werden sollen. Wenn die Gesetze des Denkens also nicht vernünftig einsehbar sind, ist der einzige Ansatz, der noch absolute Gewissheit verspricht, eine Form unmittelbarer Erfahrung. 4.1.3. Das rein Seinkönnende Ausgehend vom Ziel der Philosophie, der Weisheit, hatte sich gezeigt, dass die Welt in Freiheit gesetzt sein muss, damit weises Handeln möglich ist. Was vor dem Sein der Welt ist, muss daher zwei Voraussetzungen erfüllen: Es muss Sein ermöglichen, ins Sein übergehen können, und es muss diesen Übergang frei setzen können.48 Um die erste Voraussetzung zu erfüllen, bietet es sich an, es zunächst als rein Seinkönnendes zu konstruieren. Es soll ohne weitere Voraussetzung ins Sein übergehen können.49 Es bezeichnet das reine Können, das noch keinerlei Bestimmungen angenommen hat und zu keiner Alternative entschieden ist. Das Können war auch das Merkmal des Subjekts in der emphatischen Aussage. Der Charakter des Subjekts besteht darin, dass es Möglichkeiten bietet zur weiteren Bestimmung durch Prädikate. Zumindest einige Prädikate sind nicht festgelegt, so dass in einer emphatischen Aussage diese Prädikate bestimmt werden können. Das rein Seinkönnende besitzt keinerlei Bestimmungen und ist somit eine idealisierte Form des Subjekts, „gleichsam ein Subjekt ohne alles Prädicat“.50 Keine Eigenschaft dieses Subjekts ist festgelegt, so dass es für jedes Prädikat B die Möglichkeit hat, B oder nicht B zu sein. Die Seinsweise des rein Seinkönnenden ist eine „verborgene“ oder „ungegenständliche“.51 Sie ist, bildlich gesprochen, nach innen gekehrt. Es ist „reines Subjekt 46 Den eigentlichen Sinn des Satzes vom Widerspruch diskutiert Schelling in PhdM1, 303–310 und verwendet ihn in PhdM1, 290. Die dritte Potenz bezeichnet er unter anderem auch als „exclusum tertium“. Vgl. PhdM2, 56. 47 Auch Hogrebe weist im Rahmen seiner Deutung der Potenzenlehre als Prädikationstheorie darauf hin, dass die Zerlegung der epistemischen Grundbausteine zu „Unsinn“ führt. Vgl. Hogrebe, Prädikation und Genesis, 69 f. Einen Zug der Irrationalität sieht hier auch E. Oeser, Die antike Dialektik in der Spätphilosophie Schellings. Ein Beitrag zur Kritik des Hegelschen Systems, ÜA 1, Wien/ München 1965, 77. 48 PhdO1, 203 f. 49 PhdO1, 204 f. 50 PhdO1, 253. 51 PhdO1, 253.

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ohne alle Aeußerlichkeit“,52 denn es fehlen ihm alle Prädikate, so dass von diesem Sein des Subjekts nach außen nichts bemerkbar ist. Erst ein Objekt bestimmt, wie etwas nach außen wahrgenommen wird. Schelling sieht im reinen Denken einen Weg, das erste Moment des Seienden unabhängig vom Ziel der Philosophie zu erkennen. Im reinen Denken versucht man, das Seiende zu denken. Dazu kann man nur mit dem rein Seinkönnenden, dem reinen Subjekt anfangen. Alles andere setzt bereits ein Subjekt voraus. Für die Priorität des Subjekts kann Schelling im Rahmen des reinen Denkens konsequenterweise keine Begründung angeben, außer dass es gefühlt und empfunden wird, dass dem reinen Subjekt im Denken nichts vorausgesetzt werden kann.53 Ein anderer Zugang zu der Voraussetzungslosigkeit des Subjekts, etwa ein Beweis, ist nicht möglich.54 In zahlreichen Wendungen drückt Schelling diese unmittelbare Gewissheit aus: „[E]s ist ihm im Denken überhaupt nichts vorzusetzen, es ist schlechthin das erste Denkbare (primum cogitabile)“.55 „Unmittelbar, d. h. ohne Voraussetzung, kann nichts gedacht werden als nur das Subjekt.“56 „Das Erste, was ich zu denken habe, ist nun unstreitig Subjekt der Existenz“.57 Schon der Gedanke des rein Seinkönnenden selbst kann nicht gegenständlich beschrieben, sondern nur „empfunden“ werden.58 Eine gewisse Ahnung dessen, was Schelling meint, lässt sich nachempfinden. Bei den Voraussetzungen des Seins kommt das Subjekt an erster Stelle, weil jede weitere Bestimmung des Seienden voraussetzt, dass Etwas existiert, dessen Identität an sich gegeben sein muss, bevor irgendwelche Prädikate von ihm ausgesagt werden können. Was auch immer man vom Seienden aussagen will, jede Aussage setzt als ersten Gedankenmoment voraus, dass dort etwas ist, dem die Prädikate zukommen.59 Es muss „Subjekt des Seyns“ sein, damit das Sein von ihm ausgesagt werden kann.60 Es bleibt einem also nichts anderes übrig, als zuerst mit dem Können, dem Subjekt anzusetzen. Jedes Objekt braucht etwas, dem es Objekt ist.61 Im Blick auf das Ziel, eine freie Setzung der Welt zu ermöglichen, ist es leichter, die Priorität des Könnens einzusehen. Voraussetzung jeder freien Handlung ist die Möglichkeit, etwas zu tun. Denn die Freiheit zu einer Tat impliziert als ersten Aspekt, dass diese Tat vollzogen werden kann. Jedes weitere Moment, das zur Freiheit notwendig sein könnte, setzt darum das Können bereits voraus. 52

PhdO1, 257. PhdM1, 304. 54 PhdM1, 326. 55 PhdM1, 289. Ähnlich auch in PhdM1, 302. 56 PhdO1, 78. 57 DNP, 303. 58 PhdO1, 252. 59 Vgl. Hogrebe, Prädikation und Genesis, 71 f. 60 PhdO1, 77. 61 PhdM1, 288; PhdO1, 78. 53

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Nur das rein Seinkönnende kann also nach Schelling zuerst gedacht werden. Doch es reicht allein nicht aus, um Freiheit zu ermöglichen. Denn das Seinkönnende hat die Möglichkeit, unmittelbar und ohne weitere Voraussetzungen ins Sein überzugehen. Es ist reines Können. Es kann alles sein und enthält in sich nichts, das verhindern könnte, dass es von seinen Möglichkeiten Gebrauch macht.62 Unter Sein versteht Schelling dabei nicht eine wirkliche Existenz, sondern ein Bestimmtsein. Das Sein bezeichnet die Bestimmungen, die das gänzlich unbestimmte Subjekt annehmen kann.63 Als reines Können kann es also unmittelbar Prädikate annehmen. Auch dies kann nach Schelling im reinen Denken daran eingesehen werden, dass das rein Seinkönnende dem Denken stets übergeht ins Sein. Das Denken kann das rein Seinkönnende nur im momentanen Innehalten, in „der Nicht-Bewegung“64 nachvollziehen. Schelling vergleicht es mit einer reinen „Attraktion“ oder „Zurückziehung“,65 die nichts nach außen ist, nach Schellings Analogie also keine äußerlichen Merkmale aufweist, die als Prädikate erkennbar wären. Dieser Gedanke kann jedoch nicht dauerhaft gehalten werden. Das Denken kann nicht umhin, ihm auch Äußerliches zuzuweisen und so im nächsten Moment ein gegenständliches Sein zu denken. Um reines Können zu bleiben, müsste es seine Unbestimmtheit bezüglich aller Prädikate beibehalten. Es dürfte weder B noch seine Negation annehmen, sondern müsste sich beide Alternativen offen halten. Deshalb ist es „auf eine Spitze gestellt, wo es sich gleichsam keinen Augenblick erhalten kann“.66 Es ist ihm geradezu natürlich überzugehen67 und blindlings die einen oder anderen Prädikate anzunehmen. Es ist also nicht frei, zwischen dem Sein und Nichtsein zu wählen. Durch die Annahme von Bestimmungen wandelt sich dabei das Können in ein Sein. So wie sein Können zuvor unbegrenzt und frei von allem Sein war, ist nach dem Übergang das Sein unbegrenzt und frei von allem Können.68 Als basales Moment kann es nur eine Bestimmung des Seienden sein, entweder Können oder Sein. Denn Schelling setzt voraus, dass „jedes Princip ein einfaches sey und das nur Eine Function ausüben kann“.69 Ohne Können ist es jedoch nicht mehr frei gegen dieses Sein und existiert daher unfrei.70 Es kann nicht aus eigener Kraft ins Können zurückkehren. Wenn die erste Potenz also reines Können ist und ins Sein übergehen kann, braucht es ein zweites Prinzip, das es davon abhalten oder zurückbringen kann. Diese zweite Potenz wird jedoch die erste voraussetzen, da sie nur durch die Tendenz der ersten, 62

PhdO1, 207 f. Vgl. auch den folgenden Abschnitt zum rein Seienden. 64 PhdO1, 251. 65 PhdO1, 252. 66 PhdO1, 209. 67 PhdM2, 36 f. 68 PhdO1, 208. 69 PhdM1, 410. 70 PhdO1, 208. 63

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ins Sein überzugehen, nötig ist.71 In diesem ersten Ansatz hat sich daher zweierlei gezeigt: Das Subjekt ist notwendigerweise der erste Ansatz, das Seiende zu denken. Es ist jedoch nicht das Seiende. Denn für sich selbst ginge das Subjekt unweigerlich ins Sein über. Es verlöre sein Wesen als reines Können. Das Seiende jedoch muss frei sein und sein Wesen erhalten können. 4.1.4. Das rein Seiende Das Ziel war, das, was vor dem Sein ist, so zu bestimmen, dass es das Sein frei setzen kann. Das Subjekt allein ist jedoch nicht frei. Es ginge natürlicherweise ins Sein über.72 Damit das rein Seinkönnende reines Können bleibt, muss es durch etwas anderes von dem Übergang ins Sein abgehalten werden. Es wird ein zweites Moment des Seienden benötigt, das es ihm ermöglicht, den Übergang ins Sein auch unterlassen zu können. Dazu muss das zweite Moment nach Schelling bereits reines Sein, reines Objekt, sein.73 Denn als reines Können stehen bleiben, kann das Subjekt nur, „wenn es zum Ersatz gleichsam des Seyns, das es annehmen, sich zuziehen könnte, und das also ein bloß zugezogenes seyn würde, wenn zum Ersatz dieses zufälligen Seyns Es selbst auch an und vor sich schon, d. h. ohne sein Zuthun, das rein Seyende ist.“74

Die Annahme im Hintergrund dieses Gedanken scheint zu sein, dass jedes unmittelbare Können nach einem Sein, nach Bestimmungen strebt.75 Nur wenn das, was das Subjekt ist, in einem anderen Moment auch schon Objekt ist, also bereits ein Sein hat, braucht es nicht nach einem Sein zu streben. Beide Seinsarten, das Können und das Sein, scheinen für Schelling unverzichtbar zu allem zu gehören, so dass man genötigt ist, auch die jeweils fehlende Seinsart zu denken. Damit einem X keine der beiden Seinsarten fehlt, müssen sie in unterschiedlichen Momenten im selben X gesetzt werden,76 denn beide Momente fordern sich gegenseitig: „Dem Seyn ist das Können Subjekt, dem Können das Seyn Objekt, die Unendlichkeit des Seyns in dem einen macht den Abgrund des nicht-Seyns in dem andern möglich, umgekehrt fordert die Unendlichkeit des nicht-Seyns in dem einen eine gleiche Unendlichkeit des Seyns in dem andern“.77

Das rein Seinkönnende braucht also gewissermaßen etwas, dessen Möglichkeit es ist. Wäre es allein, könnte es nur die Möglichkeit seiner selbst sein und ginge unweigerlich ins Sein über. Nur indem das gleiche X auch Objekt ist, kann das Subjekt Möglichkeit dieses Objekts statt seiner selbst sein und entgeht dem Zwang, selbst 71

Vgl. PhdM1, 410. PhdO1, 207 f. 73 DNP, 303 f.; PhdO1, 210 f. 74 PhdO1, 210 f. 75 PhdM2, 36 f. 76 PhdM1, 288 f., 302 f.; PhdM2, 49. 77 DNP, 304. 72

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sein zu müssen.78 Damit ist das Streben nach Sein befriedigt, so dass der Übergang nicht mehr zwangsweise geschehen muss. Darüber hinaus deutet sich an der zitierten Stelle noch ein stärkerer Sinn an, in dem das Objekt das Subjekt vom Übergang abhält: Das Subjekt ist als Seinkönnendes dem rein Seienden Subjekt, steht also in einer festen Beziehung zum Objekt. Um selbst zu sein, müsste das Subjekt diese Relation erst aufheben.79 Dies scheint für Schelling einen bewussten Akt, einen Entschluss zu erfordern (vgl. Abs. 4.2). Die Relation zwischen Subjekt und Objekt festigt also diese Konstellation und hält das Subjekt vom Übergang ins Sein ab. Fehlt dagegen das Objekt, dem das Sein zugeordnet werden kann, könnte das Subjekt nicht widerstehen, selbst das Sein anzunehmen. Um das rein Seinkönnende vom Übergang ins Sein abhalten zu können, musste das Objekt als rein Seiendes, das gänzlich subjektlos ist,80 bestimmt werden. Schelling kann es auch als Sein bezeichnen.81 Darunter darf jedoch nicht das Existieren verstanden werden: „[E]s ist das seyende bloß materiell, und nicht als Wirkliches“.82 Die Bezeichnung des Objekts als rein Seiendes oder Sein soll also weder eine Aussage über seine Existenz sein noch soll es implizieren, dass es existiert. Schelling meint entsprechend auch nicht, dass das Subjekt aus reinem Können in ein wirkliches Sein, aus der Nicht-Existenz in die Existenz übertreten könnte. Das Objekt ist materiell das rein Seiende. Das bedeutet, dass es seinem Wesen nach nur Sein ist und kein Können enthält. Es kennt keinen Übergang a potentia ad actum, aus dem Können ins Sein.83 Daraus folgt jedoch nicht seine Wirklichkeit, sondern nur, dass es reines Sein ohne Können ist, falls es existiert. Welches Sein gemeint ist, wenn nicht das Existieren, formuliert Schelling klarer, nachdem er die Einheit der drei Potenzen als absoluten Geist identifiziert hat: „Es ist leicht einzusehen, daß, wenn man unter dem Seyn bloß das sich gebende, das offenbare, das außer sich, von sich weggehende Seyn versteht, daß alsdann der für sich seyende Geist der rein seyende ist, und in dem gar nichts von einem nicht-Seyn ist.“84

Das Sein des rein Seienden, des Objekts, ist also dasjenige, das sich nach außen richtet, das heißt, das äußerlich allein auch wahrgenommen wird. Ein Sein, das sich nicht äußert, das Sein des Subjekts, ist darum auch ein Sein, aber ein Sein anderer Art, das ganz in sich gekehrt und deshalb verborgen und prädikatlos ist. Dem Selbst im Subjekt steht darum das offenbare Sein im Objekt, „das seyende im rein aussaglichen Sinn“85 gegenüber, so dass sich das im Objekt bezeichnete Sein auf das 78

PhdO1, 227 und 230; PhdM2, 49 f. PhdO1, 233. 80 DNP, 304; PhdM1, 302 f. 81 Beispielsweise DNP, 303 f.; PhdM2, 49. 82 PhdM1, 315. 83 Vgl. beispielsweise PhdM2, 44 und 50. 84 PhdO1, 252 f. 85 PhdM1, 352, Fußnote 3. 79

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4. Zeit als Dynamik der Potenzen – Schellings Spätphilosophie

So-Sein der Prädikate beziehen muss. Unter Sein versteht Schelling in diesem Zusammenhang also das Bestimmtsein durch Prädikate. Er kann das Objekt auch als „Urprädicat“86 bezeichnen. Inwiefern das Seiende auch existieren kann, wird sich erst an der vollständigen Idee des Seienden zeigen. Das reine Objekt ist das Prinzip der Bestimmtheit, das im Gegensatz zum Können des reinen Subjekts steht. In diesem Sinne ist auch Schellings Rede von einer Anziehung zu verstehen, die das Seinkönnende auf das Sein ausübt: Das Können des Subjekts hat in sich die Tendenz, Bestimmungen in Form von Prädikaten anzunehmen. Diese Prädikate kann es entweder selbst annehmen, wodurch es sein Können verliert, oder in einem anderen Moment haben, dem Objekt, so dass es selbst Können bleiben kann. Wie sich gezeigt hat, muss das Seiende beides sein, reines Subjekt und reines Objekt, rein Seinkönnendes und rein Seiendes, damit das Subjekt als reines Können stehen bleiben kann. Die Einheit der beiden Momente denkt sich Schelling als substanzielle Einheit.87 Es ist keineswegs selbstverständlich, dass dies konsistent denkbar ist. Wie könnte ein und dasselbe zugleich Möglichkeit und Bestimmtheit in Bezug auf dieselben Prädikate in sich vereinen? Sollte die Bestimmtheit die Möglichkeit nicht gerade aufheben? Am plausibelsten erscheint die Kompatibilität der beiden Momente vor dem Hintergrund der emphatischen Aussage. Dieses Argument stellt Schelling schon in den Weltalter-Fragmenten dar und benutzt es auch in der „Darstellung der reinrationalen Philosophie“, um die Stellung der Momente zu begründen. Demnach kann ein X durchaus konträre Momente in sich vereinen, wenn sie nur nicht zugleich nach außen wirksam werden (siehe Abs. 4.1.1). Vor dem Sein ist keines der Momente nach außen wirksam. Es kann also dasselbe X rein Seinkönnendes und rein Seiendes als konträre Momente besitzen. Erst wenn eines der beiden Momente wirksam wird, tritt es in Konflikt zum anderen. Dann können die Momente aufeinander folgen, aber nicht zugleich sein.88 Schelling verwendet in analoger Bedeutung auch den Begriff der Beraubung:89 Beraubung bezeichnet für Schelling eine Art der Verneinung, die der emphatischen Aussage entspricht. In der Beraubung wird ausgesagt, dass etwas momentan oder in einer Hinsicht nicht B ist. Zu unterscheiden davon ist die Aussage, dass etwas unter keinen Umständen B sein könnte, weil das Subjekt gar nicht fähig wäre, das Prädikat B zu haben.90 Im reinen Subjekt ist das Sein im Sinne der Beraubung verneint. Das bedeutet, dass in der Bestimmung als Subjekt nur Können ausgesagt wird. Analog wird in der Bestimmung als Objekt nur das Sein ausgesagt.91 Die jeweils anderen 86

PhdM1, 352, Fußnote 3. PhdO1, 218. 88 Vgl. WA II, 36–45; PhdM1, 304–307; PhdO1, 220. 89 Zur Rezeption des Aristoteles in diesem Begriff bei Schelling vgl. Oeser, Die antike Dialektik in der Spätphilosophie Schellings, 72 f. 90 Vgl. PhdM1, 305–307. 91 PhdM1, 288 f. und 318. 87

4.1. Die Potenzenlehre

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Seinsweisen werden dabei nach der Definition der Beraubung nicht gänzlich verneint. Die Verneinung des Seins im Subjekt impliziert daher die Möglichkeit des Seins. Das Sein wird lediglich in einem anderen Moment ausgesagt, dem Objekt. Daher sind beide Momente konträr und können im selben X vereint sein. 4.1.5. Das Seinsollende Im Subjekt und im Objekt sind zwei Momente gegeben, die beide nicht für sich selbst, sondern in Einheit für sich gegenseitig sind. Sie sind aufeinander bezogen als Subjekt für das Objekt und als Objekt, das es dem Subjekt ermöglicht, reines Können zu bleiben. Das Ziel der Entwicklung ist aber nicht ein einzelnes der beiden Momente, sondern ihre Einheit als unzertrennliches Subjekt-Objekt.92 Für Schelling ergibt es sich zwingend aus der Einheit von Subjekt und Objekt im einen Seienden. Besonders explizit dargestellt ist der Gedankengang in der „Philosophie der Offenbarung“: „Dadurch nun, daß es ein und dasselbe Wesen ist, das das eine und das das andere ist, dadurch hebt dieses (das Eine nämlich) die Einseitigkeit in sich auf, es ist von seiner Einseitigkeit als das Seynkönnende dadurch befreit, daß es das rein Seyende ist, und von seiner Einseitigkeit als das rein Seyende dadurch, daß es auch das Seynkönnende ist. Das Eine kommt also dadurch in die Mitte zu stehen als das vom einseitigen Seyn und vom einseitigen Können freie; da es aber von den beiden Einseitigkeiten nur frei ist, indem es beide voraussetzt, d. h. ebenso wohl auch die beiden ist […], so ist es das von beiden freie nur als ein Drittes“.93

Die Beschränkung in den ersten beiden Momenten besteht darin, dass das Eine entweder auf Können oder auf Sein eingeschränkt ist. Das Eine hat jedoch beide Momente, Seinkönnendes und rein Seiendes, so dass es im einen Moment jeweils das hat, was im anderen fehlt. Das Eine vereinigt somit Können und Sein gleichermaßen in sich. Es kann als Objekt Subjekt bleiben und als Subjekt auch Objekt sein. Man könnte also meinen, dass die beiden Momente Subjekt und Objekt ausreichen und das Subjekt-Objekt nicht als ein separates Moment gezählt zu werden braucht, sondern identisch mit dem Einen ist. Schelling hält jedoch fest, dass das Subjekt-Objekt nur als dritte Bestimmung des Einen betrachtet werden kann. Damit ist es ebenso ein Moment wie die ersten beiden. Denn das Eine kann Können und Sein nur in sich vereinen, indem es die beiden ersten Momente voraussetzt. Bei jedem Versuch, das Seiende zu denken, kann nur mit dem Subjekt angefangen werden und diesem kann als zweites nur das Objekt entgegengesetzt werden. Ihre Einheit kann erst als drittes gedacht werden.94 Wenn das Subjekt-Objekt das Eine selbst sein sollte, müsste man die Einheit von Subjekt und Objekt unmittelbar mit dem Einen setzen können. Versucht man dies, 92

PhdO1, 233 f. PhdO1, 234. 94 Schelling begründet auf verschiedene Weisen, dass das dritte Moment die ersten beiden voraussetzt. Vgl. zum Beispiel PhdO1, 78, 234, 237 und 254 f.; PhdM1, 290 und 312 f.; DNP, 304 f. 93

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4. Zeit als Dynamik der Potenzen – Schellings Spätphilosophie

zerlegt es sich jedoch im Denken wieder, weil man unweigerlich das Subjekt als erstes Moment setzen muss. Man muss die ersten beiden Momente verwenden, um ihre Einheit formulieren zu können.95 Darum kann das Subjekt-Objekt nicht das Eine selbst sein. Es kann nur als drittes ausgesagt werden, nachdem das Eine als Subjekt und Objekt bestimmt wurde. Darum gehört es als drittes in die Reihe der Momente und nicht zum Einen, von dem die Momente ausgesagt werden. In einer dynamischen Variation wird sich die Abhängigkeit des Subjekt-Objekts von den ersten beiden Momenten im Prozess erweisen, wenn das Subjekt selbst sein will und mit dem Objekt auch das Subjekt-Objekt negiert (vgl. Abs. 4.2). Man kann nach Schelling nicht vermeiden, die drei Bestimmungen zu durchlaufen, die alle drei je eine Bestimmung des ganzen Einen sind und damit auf gleicher Ebene anzusiedeln sind. Das Subjekt-Objekt ist dasjenige, was eigentlich anvisiert war. Es hat „[d]en höchsten Anspruch, das Seyende zu seyn“96 und heißt darum das Seinsollende. Es ist gleichermaßen Subjekt und Objekt ohne die Einschränkungen der ersten beiden Momente. Damit ist es das „seiner selbst Mächtige“.97 Dies ist das Charakteristikum des Geistes.98 Als Geist kann er damit wirklich sein, ohne sich selbst zu verlieren. Doch auch das Subjekt-Objekt kann nicht für sich beanspruchen, das Seiende zu sein. Das Subjekt konnte nicht das Seiende sein, weil es sich im Übergang ins Sein selbst verliert. Das Objekt konnte ebenfalls nicht das Seiende sein, da es das Subjekt voraussetzt und ihm alles Können fehlt. Das Subjekt-Objekt kann sein Wesen im Sein beibehalten und erfüllt damit eine wichtige Voraussetzung, die an das Seiende gestellt werden muss. Damit ist es als Moment des Seienden unverzichtbar. Aber es setzt Subjekt und Objekt voraus und kann nicht ohne sie gedacht werden. Nur die Einheit der drei Momente kann das Seiende sein. 4.1.6. Die Einheit der Momente und das Unvordenkliche Ein und dasselbe ist also Subjekt, Objekt und Subjekt-Objekt beziehungsweise Seinkönnendes, rein Seiendes und Seinsollendes. Die Einheit dieser drei Momente soll wirklich existieren. Dazu ist nicht nur zu klären, wie die Momente vereinbar sind, sondern auch, auf welche Weise sie wirklich sein können. Wie Schelling sich die Vereinbarkeit der drei Momente denkt, wurde bereits erläutert. Die Momente sind konträre Momente. Das bedeutet nach Schelling, dass die drei Momente des Einen nicht zugleich wirksam sein können. Insofern schließen sich reines Können ohne jedes Sein und reines Sein ohne jedes Können tatsächlich aus. Doch in verschiedener Hinsicht kann das Eine zunächst das Subjekt, dann auch das Objekt und schließlich 95

Diesen Gedankengang verwendet Schelling beispielsweise in DNP, 304. PhdM1, 312 f. 97 PhdM1, 290. 98 PhdO1, 254. 96

4.1. Die Potenzenlehre

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Subjekt-Objekt sein. In sich kann das Eine die drei Momente vereinen und nacheinander zur Wirkung bringen.99 In der Idee des Seienden ist noch keines der Momente wirksam, so dass die Kompatibilität aller drei Momente gewährleistet ist. In einem analogen Argumentationsgang kann Schelling behaupten, dass sich jedes der Momente gegen das konkrete Seiende wie nichts verhält.100 Damit scheint gemeint zu sein, dass die Momente in der Idee des Seienden nicht „selbstig“101 sind im Gegensatz zu konkretem Seienden, das stets ein Selbst zu behaupten hat.102 Die Momente könnten sich nur gegenseitig ausschließen, wenn sie für sich sein wollten.103 Die Selbstlosigkeit der Momente äußert sich daher in ihren Beziehungen: Das Subjekt ist reines Selbst, aber versucht nicht, sich selbst geltend zu machen, sondern ist das Können für das Objekt. Das Objekt ist selbstlos, da es für das Subjekt das Sein ist und kein eigenes Selbst hat.104 Durch diese Beziehungen sind die Momente des Seienden höchst kompatibel. Aus diesem Beziehungsgeflecht folgt jedoch auch, dass die gesamte Idee des Seienden nicht selbst sein kann. Selbst zu existieren, heißt nach Schelling, für sich selbst Prädikate zu erstreben.105 Das Objekt hat ohnehin kein Selbst, könnte daher nicht für sich existieren. Das Subjekt hat sein Sein, seine Prädikate, im Objekt, versucht also nicht, sein eigenes Sein zu erlangen. Jegliches Selbstsein ist in der Idee des Seienden aufgehoben und kann nach Schelling auch der ganzen Idee nicht zugeordnet werden. Schelling setzt jedoch offensichtlich voraus, dass jedes Existierende ein Selbst haben und sein Selbst behaupten muss als Voraussetzung jeglicher Existenz und Prädikation. Wenn die Idee des Seienden nicht selbst sein kann, bleibt dank der Struktur der emphatischen Aussage die Möglichkeit, dass sie als Prädikat eines anderen existiert.106 Das Subjekt der Aussage ist in diesem Fall Eines, das zunächst unabhängig von der weiteren Bestimmung existiert. In diesem Einen muss das Selbst verankert sein, da die Identität eines Subjekts einer emphatischen Aussage gegenüber späteren Prädikationen bereits festgelegt ist. Das Prädikat der Aussage ist die Idee des Seienden, deren Momente zu bloßen Attributen107 oder Bestimmungen108 dieses Einen werden. Als Prädikat einer emphatischen Aussage benötigt die Idee des Seienden somit kein eigenes Selbst beziehungsweise besitzt ein Selbst in dem Subjekt der Aussage. In diesem Sinne ist auch die Einheit im Einen zu verstehen, die im 99

WA II, 36–45; PhdM1, 289 und 304–307. So PhdO1, 212, 218 f., 221 f. und öfters. 101 PhdO1, 253. 102 Besonders deutlich wird dies in PhdO1, 221. 103 PhdM1, 318. 104 PhdO1, 253; PhdM1, 303. 105 PhdO1, 253. 106 Sehr präzise schildert Schelling dieses Argument in PhdM1, 313 f. und 362 f. 107 PhdM1, 317 und 331. 108 PhdO1, 246 f. 100

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4. Zeit als Dynamik der Potenzen – Schellings Spätphilosophie

Vorgriff schon häufiger genannt wurde: Es existiert Eines, das als Prädikate die Momente Subjekt, Objekt und Subjekt-Objekt in ihrer Einheit hat. Schelling bezeichnet diese Form der Einheit als „substantielle Identität“.109 Das Eine ist nicht aus den drei Momenten additiv zusammengesetzt, sondern das ganze Eine ist jeweils Subjekt, Objekt und Subjekt-Objekt. Das Subjekt bezeichnet also nicht eine Untermenge des Einen. Es ist das Ganze, aber nur eine Bestimmung, eine Betrachtungsweise des Ganzen.110 Plausibel darstellen lässt sich dies am Beispiel des Geistes. Das Subjekt bezeichnet den ganzen Geist, ebenso wie das Objekt. Beide beschreiben nur unterschiedliche Bestimmungen, in denen derselbe Geist einmal als Subjekt, einmal als Gegenstand des Bewusstseins auftritt. Es bleibt zu klären, was das Eine ist, das die Idee des Seienden zum Prädikat hat. Nach Schelling kann es selbst keinen eigentlichen Begriff haben, da es den Inbegriff aller Möglichkeit und aller Begriffe als Prädikat besitzt.111 Schelling scheint in diesem Punkt vorauszusetzen, dass Subjekt und Prädikat der emphatischen Aussage sich nicht überschneiden dürfen und absolut disjunkt sein müssen. Da die Idee des Seienden der Inbegriff aller Möglichkeiten und Begriffe ist, bleiben nach dieser Annahme für das Eine keine Begriffe übrig.112 Es muss gänzlich begriffslos sein, so dass seine einzige Bestimmung in seinem Wirklichsein, seinem Existieren, besteht. Es ist daher absolute Wirklichkeit. Es hat kein Wesen im eigentlichen Sinne, sondern das Existieren tritt an die Stelle des Wesens. Da es als reines Wirklichsein bestimmt ist und es keinen anderen Begriff selbst hat, kann es nicht im Denken erfasst werden. Denn um etwas denken zu können, wird ein Begriff benötigt. Dieser steht normalerweise an der Stelle des Subjekts und die Existenz wird ihm als Prädikat zugesprochen. In diesem Fall ist es umgekehrt: Das reine Existieren ist das Subjekt113 und der Begriff, die Idee des Seienden, steht an der Stelle des Prädikats. Da das Denken den Begriff erfasst, geht hier die Existenz dem Denken notwendigerweise voraus. Denn das Sein ist schon als Subjekt gesetzt, bevor das Denken mit dem Begriff als Prädikat ansetzen kann.114 Jedes Denken kann das Sein dieses Einen, das statt eines Wesens nur das Existieren hat, nicht anzweifeln. Schelling bezeichnet es als „Unsinn“, seine Existenz beweisen zu wollen.115 Das lässt sich folgendermaßen einsehen: Das Denken müsste einen Begriff als Subjekt vor das Sein des Einen setzen können, um die Existenz 109

PhdO1, 218. Besonders betont in PhdO1, 218, 222 und 237–239. 111 PhdM1, 314. 112 Einen ähnlichen Gedanken des unterschiedslosen Ungrunds, das keinerlei Prädikate besitzt, entwickelt Schelling bereits in Schelling, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, besonders 406. 113 PhdO1, 162. 114 Schelling kann diesen Gedankengang so formulieren: „[W]enn sie [die Potenz=Gott, J.S.] existiert, so kann sie nur a priori seyn, das Seyn zum prius haben“. So PhdO1, 156. 115 PhdO1, 156. 110

4.1. Die Potenzenlehre

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als Prädikat im Denkprozess bejahen oder verneinen zu können. Dies widerspricht aber dem Wesen des Einen. Es ist nichts weiter als das Existieren selbst. Es hat statt eines Wesens nur das Existieren, so dass die reine Wirklichkeit an der Stelle des Subjekts steht.116 Anders formuliert, kann die Frage, ob es existiert, nicht in Form einer emphatischen Aussage bejaht oder verneint werden, sondern muss als Tautologie bejaht werden. Also kann das Denken die Existenz des Einen nicht als Möglichkeit betrachten, die wahr oder falsch sein könnte, sondern muss stets vom Sein des Einen ausgehen. Deshalb ist das Eine das absolut Unvordenkliche, dasjenige, das allem Denken vorausgehen muss und nicht angezweifelt werden kann.117 Das unvordenklich und unzweifelhaft Existierende ist also bei Schelling das Eine, das die drei Momente als Attribute haben kann. 4.1.7. Freiheit und Prädikation Seit Hogrebes Arbeit „Prädikation und Genesis“118 haben sich prädikationstheoretische Interpretationen der Potenzenlehre Schellings einiger Beliebtheit erfreut.119 Darum soll abschließend kurz beleuchtet werden, welchen Bezug die Potenzenlehre zur Prädikation hat. Schelling benennt das Thema der Prädikation explizit in der Gegenüberstellung von tautologischer und emphatischer Aussage (siehe Abs. 4.1.1). In diesem Kontext verwendet Schelling die Bezeichnungen „Subjekt“, „Prädicat“ und „Copula“.120 Seine Kernthese ist, dass ein Subjekt, dem ein Prädikat B zugewiesen wird, die Möglichkeit haben muss, auch das Gegenteil von B zu sein, damit die Aussage wirklichen Inhalt besitzt und nicht bloße Ausführung dessen ist, was im Subjekt schon längst gesetzt ist. In der emphatischen Aussage bündelt Schelling also seine Analyse der Aussagestruktur, die als Platzhalter für alle möglichen Aussagen dient.121 116

PhdO1, 167, aber auch 158 f. und 161. Eine andere Interpretation des Unvordenklichen liefert T. Buchheim, „Zur Unterscheidung von negativer und positiver Philosophie beim späten Schelling“, in: E. Hahn (Hrsg.), Vorträge zur Philosophie Schellings, Xavier Tilliette zum 80. Geburtstag gewidmet, Berliner Schelling Studien 2, Berlin 2001, 124–145, hier 138: „Das Unvordenkliche ist so notwendig, wie irgendein Satz p es ist, nachdem p schon als gültig konzediert wurde.“ Diese Interpretation kann jedoch Schellings Ausführungen zur Unvordenklichkeit nicht gerecht werden. 118 W. Hogrebe, Prädikation und Genesis. Metaphysik als Fundamentalheuristik im Ausgang von Schellings „Die Weltalter“, Frankfurt a. M. 1989. Vgl. insbesondere 69ff. 119 Zum Beispiel T. Buchheim, Eins von Allem. Die Selbstbescheidung des Idealismus in Schellings Spätphilosophie, Paradeigmata 12, Hamburg 1992; M. Gabriel, „Nachträgliche Notwendigkeit. Mensch, Gott und Urteil beim späten Schelling“, PhJ 116 (2009), 22–41; D. Sollberger, Metaphysik und Invention. Die Wirklichkeit in den Suchbewegungen negativen und positiven Denkens in F.W.J. Schellings Spätphilosophie, Würzburg 1996 120 PhdM2, 53; PhdO1, 228, und öfters. 121 Diese „allgemeine Satzstruktur“ ordnet Hogrebe der Potenzenlehre zu. Vgl. Hogrebe, Prädikation und Genesis, 73 f. 117

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4. Zeit als Dynamik der Potenzen – Schellings Spätphilosophie

In der Potenzenlehre unterscheidet Schelling „Subjekt“, „Objekt“ und „SubjektObjekt“. Dabei sind mehrere Übereinstimmungen zur emphatischen Aussage offensichtlich: Beide Strukturen weisen drei Elemente auf. Das erste Elemente wird schon durch den gemeinsamen Begriff „Subjekt“ gleichgesetzt. Auch inhaltlich behandelt Schelling die beiden Subjekt-Begriffe ähnlich: Er benutzt die emphatische Aussage im Kontext der Potenzenlehre, um zu zeigen, dass die Begriffe „Subjekt“, „Potenz“ und „Möglichkeit“ identisch sind.122 Das dritte Element, die „Copula“ beziehungsweise das „Subjekt-Objekt“, weist ebenfalls eine Übereinstimmung auf: Es verbindet in beiden Strukturen die ersten beiden Elemente. Schließlich kann Schelling auch das Objekt mit dem Prädikat parallelisieren: „[D]as ganze Subjekt oder die ganze Substanz ist das Seynkönnende, und dieselbe ganze Substanz ist das rein Seyende, wie derselbe ganze Mensch der krank seyn Könnende und der gesund Seyende ist“.123 Das rein Seiende steht parallel zum Prädikat, der faktischen Gesundheit. In der „Darstellung der reinrationalen Philosophie“ bezeichnet Schelling an einer Stelle das Objekt sogar als „Urprädicat“.124 Schon durch die unterschiedlichen Begrifflichkeiten verdeutlicht Schelling jedoch, dass emphatische Aussage und Potenzenlehre zu unterscheiden sind. Die Parallelität zwischen beiden Strukturen besteht in erster Linie darin, dass das Objekt in derselben Relation zum Subjekt steht wie ein Prädikat: „Wir haben das Seynkönnende als Subjekt erklärt und also das rein Seyende in das Verhältnis zu ihm gesetzt, in welchem das Prädicat zu dem Subjekt gedacht wird.“125 Das erlaubt es, von den Regeln für Prädikate auf die Regeln für das Objekt zu schließen.126 Doch der Begriff des Prädikats ist nicht auf das Objekt eingeschränkt. Beispielsweise kann selbst das Objekt, das Urprädikat, als reines Subjekt gesetzt werden und alle drei Momente verhalten sich wie Prädikate zu dem Unvordenklichen, das darum absolutes Subjekt genannt werden kann.127 Subjekt-Prädikat-Relationen stellen daher eine allgemeine Struktur dar, die nicht auf das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt eingeschränkt ist.128 Dennoch stehen Subjekt und Objekt der Potenzenlehre in besonderer Beziehung zum Begriff des Prädikats. Zum einen lassen sich Subjekt und Objekt durch den Begriff des Prädikats erklären: Das Seinkönnende ist „gleichsam ein Subjekt ohne

122

PhdO1, 227–229. PhdO1, 222. 124 PhdM1, 352, Fußnote 1. 125 PhdO1, 237. 126 Zum Beispiel PhdM1, 289: „[…] dem Seyenden, in welchem nichts vom Subjekt ist (+A), das also für sich auch nicht einmal seyn könnte (so wenig ein Prädicat seyn kann ohne Subjekt, von dem es getragen wird)“. 127 PhdM1, 318 f. und 352, Fußnote 3. 128 Die Rekonstruktion der Potenzenlehre als Prädikationstheorie, wie sie Gabriel, „Nachträgliche Notwendigkeit“, ansetzt, kann daher der Komplexität der Zusammenhänge bei Schelling nicht gerecht werden. 123

4.1. Die Potenzenlehre

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alles Prädicat“.129 Das Objekt ist das rein Seiende, das Sein „im rein aussaglichen Sinn“,130 im Sinne des So-Seins, also der Bestimmtheit durch Prädikate. Zum anderen erlaubt die Potenzenlehre, den Grad der Freiheit gegenüber den eigenen Prädikaten zu formulieren. In der Diskussion des Subjekts hatten sich zwei Möglichkeiten gezeigt: Das Subjekt kann für sich existieren. Dadurch verliert es seine Potenz und wird reines Sein. Existiert es jedoch in Einheit mit Objekt und Subjekt-Objekt, kann das Eine, das sie vereint, Potenz und Sein in zwei verschiedenen Momenten haben. Schelling beschreibt damit zwei verschiedene Weisen, wie sich Subjekt und Prädikate zueinander verhalten können. Im einen Fall verliert das Subjekt sein Können, weil es als Subjekt selbst sein will, das heißt, für sich selbst Prädikate sucht.131 Es verliert also seine Potenz, anders zu sein. Denn ein Moment kann entweder Können oder Sein sein. Dies entspricht einer unfreien, blinden Existenz wie toter Materie. Es ist ein Sein, das darauf festgelegt ist, seine Bestimmungen, die es einmal erhalten hat, zu behalten. Im zweiten Fall behält das Subjekt sein Können, weil es sein Sein in einem anderen Moment hat und darum selbst Können bleiben kann. Damit beschreibt Schelling eine selbstbestimmte, freie Existenzweise wie im Geist. Obwohl der Geist gewisse Prädikate besitzt, verliert er nicht die Möglichkeit, anders sein zu können. Schelling diskutiert die verschiedenen Existenzweisen nicht so explizit. Doch an seiner Darstellung des Prozesses, der von der toten Materie bis zum Menschen fortschreitet, wird deutlich, dass eben diese Konstellationen durchgespielt werden. Je weiter das Subjekt aus dem Selbstsein zurückgebracht wird, desto freier und vernunftbegabter sind die entsprechenden Wesen.132 Zur absoluten Freiheit fehlt schließlich noch, dass das Seiende nicht nur frei gegenüber seinen Prädikaten ist, sondern auch gegenüber seiner Existenzweise. Dies ist nach Schelling dadurch gewährleistet, dass das Subjekt die Möglichkeit behält, für sich selbst Prädikate zu suchen, anstatt das Sein im Objekt anzunehmen. Denn das Objekt im Seienden ermöglicht dem Subjekt zwar, sich selbst zu bewahren. Das Subjekt kann sein Sein im Objekt haben. Doch sein Selbstsein bleibt eine Alternative, die das Seiende ebenfalls wählen kann. Dadurch verlöre das Subjekt seine Potenz und ginge in die blinde, unfreie Existenzweise über.133 Schellings Potenzenlehre behandelt in einzelnen Aspekten also Themen der Prädikation. Die entscheidende Frage für Schelling ist jedoch, wie sich Freiheit und insbesondere auch absolute Freiheit denken lässt. Dazu muss er reflektieren, wie sich ein Subjekt zu seinen Prädikaten verhalten muss, damit es frei gegenüber ihnen ist und sogar frei, diese Freiheit zumindest temporär aufzugeben. Insofern formuliert Schellings Potenzenlehre in erster Linie verschiedene Existenzweisen 129

PhdO1, 253. PhdM1, 352, Fußnote 3. 131 PhdO1, 253. 132 Vgl. PhdM1, 398–400, 411 f. und 492–494; PhdO1, 206 f. 133 PhdO1, 256 und 263–271. 130

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4. Zeit als Dynamik der Potenzen – Schellings Spätphilosophie

von unfrei bis absolut frei. Nur unter diesem Aspekt wird auch das Thema der Prädikation behandelt.

4.2. Die Dynamik der Potenzen Auf den Potenzen und ihrer Dynamik baut Schellings gesamte Spätphilosophie auf. Die Potenzen und das Unvordenkliche sind alles, was Schelling benötigt, um den Naturprozess, die Mythologie und die Offenbarung zu beschreiben: Die Vielfalt der Natur und der Mythen deutet Schelling als Resultat zweier Prozesse der Potenzen. Nach der Betrachtung der Potenzen in ihrer Einheit wird in diesem Abschnitt darum die Dynamik der Potenzen dargestellt. Der Prozess wird hier zunächst ohne Bezug auf die Begriffe Zeit und Ewigkeit beschrieben. Diese Vorgehensweise entspricht der inhaltlichen Abhängigkeit der Zeitund Ewigkeitsbegriffe Schellings von der Dynamik der Potenzen. Für die begriffliche Konsistenz und Entfaltung des Prozesses sind die Begriffe Zeit und Ewigkeit nicht notwendig. Allein die Potenzen und das unvordenkliche Eine, dessen Attribute sie sind, bestimmen die Dynamik. Dass es sich beim Prozess um Zeit handelt, kann quasi im Nachhinein eingesehen werden, wenn die Dynamik der Potenzen verstanden ist. Dementsprechend diskutiert Schelling selbst erst den möglichen Prozess der Potenzen und seinen Anfang und behandelt die Begriffe Zeit und Ewigkeit später im Detail.134 Auch hier wird deshalb der Prozess zuerst dargestellt und anschließend untersucht, was Schelling als Zeit beziehungsweise als Ewigkeit bestimmt und nach welchen Kriterien er dabei vorgeht. Diese Vorgehensweise hat zusätzlich den Vorteil, dass der Analyse der Zeit- und Ewigkeitsbegriffe im nächsten Abschnitt ein Überblick über die wesentlichen Aspekte des Prozesses vorangestellt werden kann. So kann bei der Diskussion des Ewigkeitsbegriffs auf die Details des Prozesses zurückgegriffen werden, auch wenn der Zeitbegriff erst in den nachfolgenden Abschnitten geklärt wird. Dies ist notwendig, da sich einige Aspekte des Ewigkeitsbegriffs ohne Bezug auf die Zeit und den Prozess nicht verstehen lassen. Bei Schelling wird der inhaltlich gleiche Prozess im Rahmen negativer und positiver Philosophie unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten thematisiert.135 Die negative Philosophie sucht das Prinzip der Philosophie. Im reinen Denken wurde das Prinzip zwar schon gefunden, aber nicht in seiner reinen Form. Es ist noch abhängig vom Seienden und muss erst von dieser Abhängigkeit gereinigt 134

Vgl. die Diskussion von Zeit und Ewigkeit in PhdO1, 306–309, die der Darstellung des Prozesses in PhdO1, 263–305 folgt. 135 Zur Unterscheidung von negativer und positiver Philosophie im Allgemeinen vgl. PhdM1, 363–368, 488 f. und 560–572; PhdO1, 78 f., 126–133 und 168 f. und auch Hermanni, „Gott und Notwendigkeit“, 369–382; Hutter, „Die positive Wirklichkeit der Person“, 102–111; H. J. Sandkühler (Hrsg.), F. W. J. Schelling, Stuttgart/Weimar 1998, 156 f.

4.2. Die Dynamik der Potenzen

197

werden.136 Zu diesem Zweck leitet die negative Philosophie aus dem Ergebnis des reinen Denkens a priori und ohne Bezug zur Erfahrung alle Begriffe möglicher Dinge ab. Durch die Erkenntnis, dass es sich dabei jeweils um ein einzelnes Seiendes handelt, kann es als Prinzip ausgeschlossen werden. Das eigentliche Prinzip soll dank dieses Ausschlussverfahrens zuletzt übrig bleiben.137 Der Durchgang durch alle möglichen Begriffe vollzieht sich nach Schelling in Form eines Prozesses in Gedanken. Entsprechend ihrer Aufgabe liegt der Fokus der negativen Philosophie auf der Frage nach den theoretischen Möglichkeiten: Was kann existieren?138 Auf welche Weise kann es existieren? Die positive Philosophie startet mit dem gefundenen Prinzip, dem unzweifelhaft Existierenden, und stellt die Hypothese auf, dass es sich dabei um Gott, die Einheit der Potenzen, handelt. Gott hat die Möglichkeit, die Welt zu erschaffen, indem er den Prozess, den die negative Philosophie nur in Gedanken durchlaufen hat, auch wirklich in Gang setzt. Wenn also das unzweifelhaft Existierende Gott ist, dann kann die Welt so existieren, wie sie sich in der negativen Philosophie dargestellt hat. Damit Schellings Beweisgang schlüssig wird, muss man ergänzen, dass nur dann diese Welt möglich ist.139 Falls die Wirklichkeit also diesem Prozess entspricht, kann dies als Bestätigung für die anfängliche Hypothese, dass das unzweifelhaft Existierende Gott ist, gelten.140 Die positive Philosophie geht daher denselben Prozess durch wie die negative Philosophie. Im Gegensatz zu dieser fragt sie jedoch nach den Gründen für den Prozess und für die Entscheidungen Gottes beziehungsweise des Menschen, also danach, warum die Welt existiert. Erst beide Zweige der Philosophie zusammen bilden die volle Philosophie. Die negative Philosophie sucht das absolute Prius. Die positive Philosophie setzt es als Prinzip an und erklärt ausgehend von ihm die ganze Wirklichkeit als freie Schöpfung Gottes.141 Daher geht die negative Philosophie der positiven voran. Doch erst die positive vollendet die Philosophie.142 136

Vgl. hierzu besonders PhdM1, 364 f. Eine andere Interpretation der negativen Philosophie als fortschreitende Determination in der Erfahrung vorgegebener Gegenstände liefert Buchheim, Eins von Allem, 134 f., 158 f. und 165–169. 138 Vgl. zur Aufgabe der negativen Philosophie auch PhdM1, 388: „Was allein Erklärung verlangt, ist das Wie, die Art und Weise des Uebergangs.“ 139 Bei Schelling fehlt das nur. Vgl. PhdO1, 129 und 169. 140 Diese Struktur der positiven Philosophie eruieren beispielsweise Hermanni, „Gott und Notwendigkeit“, 379–382; Hutter, „Die positive Wirklichkeit der Person“, 103–105 und 110–112. 141 Diese Fokussierung negativer und positiver Philosophie auf den Gottesbegriff und auf die Geschichte Gottes bei Schelling ist nach Buchheim nicht konstitutiv. Grundsätzlich seien auch andere Inhalte positiver und negativer Philosophie denkbar. Vgl. Buchheim, „Zur Unterscheidung von negativer und positiver Philosophie beim späten Schelling“, 129. Schellings Diskussion des Unvordenklichen legt jedoch nahe, dass nach seiner Meinung nur Gott als zentraler Inhalt negativer und positiver Philosophie in Frage kommt (vgl. Abs. 4.1.6). So auch zu Recht Hutter, „Die positive Wirklichkeit der Person“, 104 f. 142 Diese Hochschätzung der positiven Philosophie sieht auch Buchheim, „Zur Unterscheidung von negativer und positiver Philosophie beim späten Schelling“, 127–129. 137

198

4. Zeit als Dynamik der Potenzen – Schellings Spätphilosophie

Da der Prozess in negativer und positiver Philosophie dem Inhalt nach gleich abläuft, braucht hier nur auf einen der beiden Abläufe eingegangen werden. Dazu wird der Prozess der positiven Philosophie gewählt. Denn Schelling diskutiert die Begriffe Zeit und Ewigkeit selbst im Kontext der positiven Philosophie. Der Inhalt, den die positive Philosophie aus ihrer anfänglichen Hypothese folgert, lässt sich folgendermaßen grob skizzieren: In der unvordenklichen Existenz findet Gott sich vor. Durch das Sehen einer alternativ möglichen Existenzweise gewinnt Gott die Freiheit, sich für diese zu entscheiden. Der Prozess beginnt mit der Entscheidung für diese Alternative. Im Prozess wird die ursprüngliche Einheit wiederhergestellt, die sich im Menschen realisiert. Der Mensch hat wiederum die Möglichkeit, die Potenzen aus dem Gleichgewicht zu bringen. Allerdings unterliegt er im Gegensatz zu Gott der Macht der Potenzen. Im erneuten Wiederherstellungsprozess ist er daher vom jeweiligen Zustand der Potenzen dominiert, so dass er von entsprechenden Mythen geprägt ist. An die Wiederherstellung des Gleichgewichts der Potenzen schließt sich die Offenbarung in Jesus an. 4.2.1. Der unvordenkliche Beginn und die Möglichkeit der Weltschöpfung In der Herleitung der Potenzen wurden die Potenzen hauptsächlich in ihrer Einheit betrachtet: Das rein Seinkönnende und das rein Seiende stehen in einer engen Verschränkung, indem das Seinkönnende Subjekt für das rein Seiende und das rein Seiende Objekt für das Seinkönnende ist. Diese Verschränkung bewahrt das Subjekt davor, selbst ein Sein, das heißt eine prädikative Bestimmung, annehmen zu müssen, weil es alle prädikative Bestimmung im Objekt hat. Es selbst kann reines Können bleiben. In ihrer Einheit bedingen sie zugleich das dritte Moment, das unzertrennliche Subjekt-Objekt, das Können und Sein in sich vereint. Alle drei Momente sind vereinbar als Attribute eines Existierenden. Dieses Eine ist das Unvordenkliche. Aus dem Unvordenklichen selbst folgt kein Indiz darauf, was es ist, sondern lediglich, dass es ist. Dennoch wird auch das unvordenklich und unzweifelhaft Existierende als etwas existieren. Es lässt sich nur nicht a priori ableiten, was dieser Begriff ist. Es bleibt jedoch möglich, eine faktische Identität vom Unvordenklichen und einem Wesen als anfängliche Hypothese anzunehmen. Der Beginn der positiven Philosophie ist die Hypothese, dass das Unvordenkliche der absolute Geist, die Einheit der drei Potenzen, ist.143 Der Geist ist zunächst durch seine Identität mit dem Unvordenklichen reine Wirklichkeit ohne jede Möglichkeit. Denn die drei Momente des Geistes besitzen keine eigene Wirklichkeit, sondern erhalten ihre Wirklichkeit dadurch, dass sie Attribute des Unvordenklichen sind. Folglich sind sie ebenso unvordenklich wirklich, wie das Unvordenkliche selbst. In diesem Zustand gibt es keine Mög-

143

PhdO1, 127–129 und 168 f.

4.2. Die Dynamik der Potenzen

199

lichkeit eines Andersseins.144 Die drei Momente existieren unvordenklich in ihrer Einheit. Erst wenn diese Wirklichkeit gesetzt ist, kann sich an ihr eine andere Möglichkeit zeigen.145 Das „Sich-Zeigen“ soll dabei verdeutlichen, dass es sich weder um ein zeitlich interpretierbares Geschehen handelt noch um eine logische Folge. Die Möglichkeit erscheint an den drei Momenten, ohne dass etwas geschieht. Die Wirklichkeit des Unvordenklichen ist also der gewisse Ausgangspunkt. Aber der Geist kann in seiner Wirklichkeit andere Seinsweisen erkennen, die ihm als weitere Optionen offenstehen. Damit ist die Möglichkeit durch die unvordenkliche Wirklichkeit nicht vollständig ausgeschlossen. Sie ist jedoch an die zweite Stelle verbannt, so dass der Geist zuerst wirklich ist und aufgrund seiner Wirklichkeit Kenntnis über andere Möglichkeiten erlangt. Der Grund für die andere mögliche Existenzweise liegt im Subjekt: Es ist das reine Seinkönnen, das sein Sein, seine prädikative Bestimmung, selbst oder im Objekt haben kann. Es kann also für sich selbst oder in Einheit mit dem Objekt existieren. In Abs. 4.1.3 wurde das Selbstsein des Subjekts abgelehnt, weil es sein Können verliert, wenn es selbst Prädikate annimmt. Im Unvordenklichen ist es daher zunächst in der zweiten Form wirklich: Es ist Subjekt für das Objekt und hat sein ganzes Sein im Objekt. Es existiert nicht für sich, sondern geht vollständig in der Relation zum Objekt auf. Sobald diese Wirklichkeit gesetzt ist, kann sich jedoch die andere Möglichkeit, das Selbstsein, zeigen als alternative Seinsweise. Dadurch gewinnt nicht nur das Subjekt eine Potentialität. Denn das Subjekt hat im Unvordenklichen alles Sein nur im Objekt. Das Objekt dagegen braucht das Subjekt, weil es kein eigenes Selbst hat, sondern nur das Prinzip der prädikativen Bestimmung ist. Wenn das Subjekt selbst sein will, also ein eigenes Sein behaupten will, entzieht es sich dieser Relation zum Objekt, dem folglich das Selbst, das Subjekt für die prädikativen Bestimmungen fehlt. Ohne Selbst kann nichts sein, also wird auch das Sein des Objekts negiert. Dies bedeutet jedoch nicht, dass das Objekt in keiner Weise mehr existiert. Es würde statt des Seins das Können und somit wie das Subjekt auch eine andere Existenzweise annehmen. Neben dem Subjekt erhalten daher auch das Objekt und, vermittelt durch Subjekt und Objekt, das Subjekt-Objekt die Möglichkeit einer anderen Existenzweise.146 Die drei Momente werden bei Schelling regelmäßig als Potenzen bezeichnet. Erst an dieser Stelle sind sie jedoch wirklich Potenzen eines anderen Seins, weil sie die konkrete Möglichkeit bieten, eine andere Existenzweise anzunehmen.147 Die Erkenntnis dieser alternativen Seinsweise ist nicht ein Produkt irgendeiner Aktivität des absoluten Geistes, wie Schelling betont.148 Die Phänomene und Ereignisse der 144

PhdO1, 262 f.; PhdM1, 331. PhdO1, 263 f. und 267. 146 PhdO1, 264–267 und auch 293. 147 PhdO1, 267 und 272; PhdM2, 114. 148 PhdO1, 267 f. 145

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4. Zeit als Dynamik der Potenzen – Schellings Spätphilosophie

alternativen Seinsweise sind „Gesichte“.149 Diese andere Möglichkeit zeigt sich von selbst, ohne gewollt zu sein. Doch sie bietet dem Geist eine Alternative, in der er überhaupt etwas wollen kann, und darum wird er sich als Wille und freier Geist bewusst.150 In diesem zweiten Zustand, an dem sich die Möglichkeit schon gezeigt hat, ist die weitere Entwicklung nun offen. Der Geist kann sich für eine der beiden Existenzweisen entscheiden: Er kann die Existenz als Geist beibehalten oder sich für das Selbstsein des Subjekts entscheiden.151 Der absolute Geist, Gott, ist im folgenden Prozess also stets der Ausgangspunkt aller Aktivität, auch wenn es sich teils so anhört, als ob die Potenzen ein Eigenleben führten. In der gesamten Dynamik bis zum Sündenfall folgen die Potenzen dem Willen Gottes.152 Erst durch den Sündenfall gibt es eine Existenz außer Gott, in der die zweite Potenz eine eigenständige Existenz und damit die Möglichkeit zu einem eigenen Willen hat.153 4.2.2. Der Naturprozess Die alternative Existenzweise, die sich dem absoluten Geist eröffnet, erweist sich als Möglichkeit zur Schöpfung. Denn die Folge der Realisierung dieser Möglichkeit ist ein Prozess, der alle Stadien der Natur durchläuft. Auf diese Weise werden tote Materie, Pflanzen, Tiere und Menschen erschaffen, wenn auch zunächst nur als Gattung. Der Prozess beginnt mit der Entscheidung, das Subjekt für sich selbst sein zu lassen. Durch das Selbstsein verliert es sein Können. Zugleich entzieht es sich seiner Relation zum Objekt, dem es zuvor Subjekt war.154 Das Objekt ist jedoch auf das Subjekt angewiesen. Es ist sein Wesen, das rein Seiende für das Subjekt zu sein. Wenn es nicht mehr das Sein des Subjekts sein kann, ist es gezwungen, ein eigenes Selbst anzunehmen. Durch das Selbstsein des Subjekts wird das Objekt also in seiner eigentlichen Bestimmung negiert. Nach Schelling bedeutet dies keine absolute Negation des Objekts. Es hört nicht auf zu existieren. Denn es hat als Attribut des Unvordenklichen seine Existenz ebenso unvordenklich wie dieses. Es ist lediglich seine Funktion der prädikativen Bestimmung, die von Schelling als Sein bezeich-

149

PhdO1, 293. PhdO1, 268. Der Geist wird sich an dieser Möglichkeit überhaupt erst seiner selbst fassbar. Ohne diese Möglichkeit könnte er die Potenzen in ihm nicht unterscheiden, da sie materiell das gleiche, nämlich Er selbst, sind. Versuchte er sich selbst zu begreifen, entglitten ihm jeweils die einzelnen Momente, da sich Anfang und Ende nicht trennen lassen. Genau diese Unterscheidung bietet die alternative Möglichkeit, so dass durch diese Möglichkeit Gott den Charakter seiner Momente erkennen kann. Vgl. PhdO1, 273 f. 151 PhdO1, 271 f. und 303 f. 152 Dies betont sehr treffend Buchheim, Eins von Allem, 43. 153 PhdO2, 65 und 38 f.; PhdO1, 374 f., 377 und 370 f. 154 Vgl. PhdO1, 265. 150

4.2. Die Dynamik der Potenzen

201

net wird, aufgehoben. An dessen Stelle tritt das Können, die Potenz,155 ebenfalls im Sinne der Potenz, Prädikate annehmen zu können, nicht als Potenz, überhaupt existieren zu können.156 Allerdings behält das Objekt seine Natur bei, das rein Seiende zu sein. Für Schelling scheint dieser Punkt selbstverständlich zu sein. Er führt ihn nicht weiter aus.157 Der faktische Zustand des Objekts widerspricht nun also seiner Natur, so dass es gezwungen ist, auf die Wiederherstellung seines natürlichen Zustands hinzuwirken. Zu diesem Zweck muss es das Subjekt wieder in seinen ursprünglichen Zustand als reines Können zurückführen, indem es das Sein des Subjekts überwindet.158 Das Subjekt-Objekt ist durch das Selbstsein des Subjekts ebenfalls negiert worden. Denn es folgte aus der Einheit von Subjekt und Objekt als drittes Moment. Ist die Einheit aufgehoben, ist damit auch das Subjekt-Objekt aufgehoben. Ebenso ist es einsichtig, dass es nicht selbst wirken kann, sondern in dem Maße wiederhergestellt wird, wie das Objekt die Einheit von Subjekt und Objekt wiedererlangt hat.159 Denn es müsste sein Wesen verfehlen, wenn es sich durch eigenes Wirken wiederherstellen wollte. Es soll die Freiheit sein, zu wirken oder nicht zu wirken. Diese Freiheit wäre bereits verspielt, falls es selbst wirken müsste, um sich zu setzen. Daher bedarf es der zweiten Potenz, um die erste zu überwinden und die dritte zu setzen.160 Im Resultat ergibt sich also ein Prozess, in dem das anfänglich selbst seiende Subjekt durch das Objekt überwunden wird, bis es wieder allein Subjekt für das Objekt ist. Zuletzt wird auch das Subjekt-Objekt dadurch wiederhergestellt.161 Voraussetzung für diesen Prozess ist, dass die geistige Einheit der drei Momente unzerbrechlich ist, damit die drei Momente sich nicht durch die Spannung trennen, sondern im Prozess miteinander ringen. Dies wird dadurch gewährleistet, dass es Eines ist, das diese drei Momente als Attribute hat. So können sich die Momente zwar konträr zueinander verhalten. Doch sie können als Attribute eines und desselben nicht auseinander. Sie bleiben in der unzerbrechlichen Einheit auf ein X, auf einen Ort, fixiert, auch wenn sie in der Spannung getrennt erscheinen. Darum müssen sie als konträre Momente gegeneinander wirken und in den beschriebenen Prozess übergehen.162 Die Einheit im Einen erlaubt es Schelling auch zu behaupten, dass Gott selbst nicht in diesen Prozess eingeht.163 Die wesensgemäße Einheit Gottes bleibt bestehen unabhängig davon, welche Stellung die drei Momente nach außen zueinander haben. 155

PhdO1, 265, 278 und 284. Versteht man unter Sein an dieser Stelle Existenz, hätte man das Problem, dass Nicht-Existierendes Einfluss auf Existierendes haben müsste. Dieses Problem ergibt sich beispielsweise für Beach, The Potencies of God(s), 144. 157 Vgl. PhdO1, 265 und 284; DNP, 309. 158 PhdO1, 265 f. und 284. 159 PhdO1, 266 f., 278 f. und 284 f. 160 PhdM2, 111 und auch PhdO1, 285. 161 PhdO1, 279 f. 162 PhdO1, 280, 284 und 311. 163 PhdO1, 292. 156

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4. Zeit als Dynamik der Potenzen – Schellings Spätphilosophie

Damit steht Gott über dem Prozess und nur die Potenzen folgen äußerlich ihrer Dynamik. Der erste Schritt im Prozess ist eine Vertauschung der Rollen des Subjekts und Objekts. Sowohl das Subjekt als auch das Objekt erinnern sich zwar an ihre eigentliche Stellung. Doch nach außen verhalten sie sich nun umgekehrt: Das Subjekt ist nun das Sein und das Objekt das Können. Das Objekt verhält sich wie ein Subjekt zum eigentlichen Subjekt.164 Prinzipiell wäre es nach Schelling denkbar, dass der weitere Prozess ohne Zwischenstufen in einem Schritt erfolgt. Das Objekt könnte das Subjekt mit einem Mal überwinden und das Ziel wäre unmittelbar erreicht.165 Um einen richtigen Prozess mit Zwischenstufen zu erhalten, wird also etwas benötigt, das den Zwischenstufen Bestand gibt. Dazu bemerkt Schelling, dass auch vor der vollständigen Wiederherstellung der Einheit das Subjekt stets schon teilweise überwunden ist. Somit ist auch das Objekt zum Teil gesetzt und im Resultat auch eine unvollständige, aber doch reale Einheit im Subjekt-Objekt wiederhergestellt. Alle drei Momente des Seienden sind also auf jeder Stufe graduell verwirklicht.166 Das dritte Moment kann für die Abstufungen die lenkende Rolle übernehmen. Denn das erste Moment will sein Selbstsein behaupten und das zweite Moment dasselbe überwinden. Sie verfolgen blind entgegengesetzte Ziele, so dass keines von beiden einen Kompromiss bestimmen könnte. Das dritte Moment ist dagegen keinem Zwang zur Wirkung in irgendeiner Richtung unterworfen. Es kann zwischen den ersten beiden Potenzen vermitteln und bestimmt damit den jeweiligen Überwindungsgrad. Den Zwischenstufen im Prozess gibt das Subjekt-Objekt auf diese Weise Bestand, indem es den Prozess auf jeder Stufe zum Stillstand bringt und so die Stufen unterscheidbar macht.167 Der Sinn dieser Verzögerung der Wiederherstellung der Einheit liegt nach Schelling in der letzten Stufe dieses Prozesses: Die wiederhergestellte Einheit der Potenzen ist der Mensch. Die einzelnen Stufen gehen als empfundene Stufen in die Einheit am Ende des Prozesses ein. Ziel der Einzelschritte ist also, dass der Mensch alle diese Stufen als unterschiedene kennt.168 Die einzelnen Schritte unterscheiden sich im Grad der Überwindung des Subjekts. Je mehr das Subjekt überwunden ist, desto weiter ist das Subjekt-Objekt, der Geist, wiederhergestellt. Der Prozess durchläuft daher alle denkbaren Existenzweisen. Am Anfang steht der ungebändigte Wille, der sich in den Sternen äußert.169 164

Vgl. DNP, 309 f. und 346. PhdO1, 286. 166 PhdO1, 288. 167 PhdO1, 288 f. Vgl. auch PhdM1, 396 f. und 409 f. 168 Vgl. PhdO1, 287; PhdM2, 116–118. 169 PhdM1, 492: „die noch am wenigsten der Materialisirung unterworfenen Subjekte […] mit verschiedener Herrlichkeit, aber im Ganzen doch mit dem reinen Feuer des innen noch ungebrochnen Willens leuchtend“. 165

4.2. Die Dynamik der Potenzen

203

Darauf folgen die unorganischen Körper, die durch die Überwindung unterschiedliche Qualitäten annehmen. Die organische Welt setzt schließlich ein, sobald die Überwindung soweit fortgeschritten ist, dass auch die dritte Potenz wieder angenommen werden kann. Sie beginnt mit den Pflanzen und schreitet über die Tiere bis zum Menschen fort, in dem der Geist vollständig wiedereingesetzt ist.170 Im Menschen ist auch die Freiheit gegenüber den Existenzweisen wiederhergestellt. Diese Freiheit begründet Schelling mit der Wechselwirkung der drei Potenzen:171 Jede Stufe der Entwicklung ist ein Ergebnis des Zusammenwirkens der drei Potenzen. Die erste Potenz gibt den zu überwindenden Anfang vor. Die zweite bringt die erste Potenz zurück in ihr An-sich-Sein. Die Überwindung des Anfangs bewirkt nach Schelling stets auch eine relative Befreiung von der Macht der ersten Potenz. Gleichzeitig bleibt auf jeder Stufe der Anfang als Grundlage der Überwindung präsent. Vor der Entscheidung für die Weltschöpfung ist die erste Potenz also in einem Zustand A. Mit dem Erheben ins Selbstsein geht sie in einen Zustand B über. Nach der Überwindung ist die Potenz in einem Zustand B, das in A zurückgebracht ist. Der Zustand B der ersten Potenz wird durch die Überwindung also nicht einfach beseitigt. B sichert als Grundlage noch immer eine relative Freiheit gegenüber der zweiten Potenz.172 Im Endzustand befinden sich daher beide Potenzen im Gleichgewicht, so dass das resultierende Geschöpf frei gegenüber beiden Potenzen und damit letztlich auch gegenüber der dritten Potenz ist. In dieser Freiheit ist dieses Geschöpf, der Mensch, Gott gleich mit dem einzigen Unterschied, dass er Produkt einer Entwicklung ist.173 4.2.3. Der Sündenfall, die Mythologie und die Offenbarung Der skizzierte Naturprozess beschreibt offensichtlich nicht die Welt, wie sie unmittelbar erfahren wird. Im Naturprozess hat jedes Wesen seinen festen Ort und kommt exakt einmal vor. Jedes Wesen in diesem Prozess entspricht der jeweiligen „Gattung“.174 Die erfahrbare Welt, in der es unterschiedliche Individuen jeder Gattung gibt, ist nach Schelling eine Konsequenz des Sündenfalls. In ihr ereignen sich schließlich auch die Mythologie und die Offenbarung. Der Sündenfall wird durch die Freiheit des Menschen ermöglicht. Wie Gott hat der Mensch die Möglichkeit, die Potenzen in ihrer Einheit zu bewahren oder sie in Spannung zu setzen, indem er die erste Potenz ins Selbstsein erhebt. Im Unter170

Vgl. PhdM1, 398 f. und auch PhdM1, 494: „Fortgang zum concreten, mit Eigenschaften ausgestatteten Seyn, von diesem zum organischen, vom bloß organischen zum frei sich bewegenden, von diesem endlich zum völlig wiedergebrachten Seyenden“. 171 Vgl. dazu PhdO1, 346–348. 172 Vgl. insbesondere PhdO1, 355–357; PhdM2, 121 f. 173 PhdO1, 349. 174 So F. W. J. von Schelling, Das Tagebuch 1848. Rationale Philosophie und demokratische Revolution, hrsg. von H. J. Sandkühler, Philosophische Bibliothek 367, Hamburg 1990, 161.

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4. Zeit als Dynamik der Potenzen – Schellings Spätphilosophie

schied zu Gott ist die Einheit der Potenzen im Menschen jedoch nicht durch das Unvordenkliche garantiert. Mit dem Garanten der Einheit fehlt ihm die Ursache, die die Potenzen in der Spannung in einen Prozess zwingt, der zur Wiederherstellung der Einheit führt. Anstatt über die Potenzen zu herrschen, verliert der Mensch also die Macht über die Potenzen und wird im Gegenzug von ihnen beherrscht, falls er die Potenzen in Spannung setzt.175 Denn allein das Unvordenkliche in Gott hat die Potenzen in der Spannung zusammengehalten und damit den Prozess ermöglicht. Der Mensch sollte also die Einheit in sich bewahren und als unauflösliche Einheit festsetzen. Denn im Menschen selbst ist die wiederhergestellte Einheit noch nicht gefestigt. Der Mensch kann sie noch aufheben. Entschiede er sich für die Bewahrung der Einheit, hätte er sie unauflösbar gefestigt und damit Gott als letzten Moment im Prozess gesetzt. Dies liegt jedoch in seiner freien Entscheidung. Gerade das Gebot, die Einheit zu bewahren, zeigt ihm die Möglichkeit, die Einheit aufzulösen, von der er beinahe unweigerlich Gebrauch machen muss.176 Die Entscheidung des Menschen für die erneute Einsetzung des Prozesses identifiziert Schelling mit dem Sündenfall. Mit dem Menschen, der in der Einheit bleiben sollte, verfehlt auch die restliche Schöpfung ihre Bestimmung. Denn alle Zwischenstufen des Prozesses waren dazu gedacht, im Bewusstsein des Menschen aufgehoben zu sein. Die vom Menschen eingesetzte, erneute Spannung der Potenzen zerreißt dieses Bewusstsein. Aus dieser Zerrissenheit des menschlichen Bewusstseins leitet Schelling auch die Zerrissenheit der Welt ab. Denn mit dem menschlichen Bewusstsein verliert die Welt ihren innerlichen Einheitspunkt und ihre zeitliche Ordnung und verfällt einer zufällig wirkenden Äußerlichkeit.177 In der zerrissenen Welt existieren nun zwei Folgen parallel: Zum einen sucht die natürliche Welt nach ihrem Ende, das sie in der Setzung Gottes durch den Menschen gefunden hätte. Da der Mensch sich dieser Vollendung verweigert hat, ist die Natur von ihrem natürlichen Ende getrennt. Die dennoch andauernde Suche nach Vollendung kann sich nach Schelling nur in der steten Wiederholung des immergleichen Zustands äußern.178 Zum anderen muss die wiedereingesetzte Spannung der Potenzen erneut überwunden werden. Der Prozess wird nun allerdings auf den Menschen eingeschränkt, so dass „dieselbe göttliche Geschichte, die zuvor in dem weiten Raum des allgemeinen Seyns vorging, nun in dem engen Raum des menschlichen Bewußtseyns vorgeht.“179 Dieser Prozess im Bewusstsein des Menschen ist die Mythologie. Der jeweilige Zustand der Potenzen prägt das Denken dermaßen, dass die Menschen Vor175

Vgl. PhdO1, 349–351. PhdO1, 357–359. 177 Siehe PhdO1, 352. 178 Vgl. PhdO1, 352. 179 PhdO1, 353. Vgl. auch PhdM2, 122 f. 176

4.3. Zeit und Ewigkeit

205

stellungen entwickeln, die dem Zustand der Potenzen entsprechen.180 Das bedeutet, dass die Mythen analog zum Naturprozess von Sternverehrung über Pflanzen- und Tiervergötterung bis zu einem Götterbild, das nach dem Menschen gezeichnet ist, fortschreiten. Als Ganzes ist der mythologische Prozess nicht notwendig. Denn die zweite Potenz könnte sich der Wiederherstellung verweigern, da sie im Menschen nicht in eine Einheit mit der ersten Potenz gezwungen wird. Hat sie sich jedoch dafür entschieden, die erste Potenz wiederum zurückzubringen, schreitet die Mythologie in ihren einzelnen Momenten wie der Naturprozess mit Notwendigkeit fort.181 Der Sinn hinter der Entscheidung für die Mythologie liegt nicht in der Mythologie selbst, sondern in der anschließenden Offenbarung. In der letzten Stufe der Mythologie, den griechischen Mysterien, ist das erste Moment bereits zurückgebracht. In der Offenbarung kann die zweite Potenz schließlich über die Welt verfügen.182 Nach den Beweggründen Gottes für die Offenbarung fragt schließlich die Philosophie der Offenbarung.183 Für Schellings Begriffe von Zeit und Ewigkeit sind diese Gründe jedoch nicht weiter relevant. Daher kann auf eine Darstellung der Gründe an dieser Stelle verzichtet werden.

4.3. Zeit und Ewigkeit Der Sache nach sind in der Skizzierung des Naturprozesses und der Mythologie Ewigkeit und Zeit bereits beschrieben worden. Es sind einzelne Momente beziehungsweise Abschnitte des unvordenklichen Seins und des Prozesses, die Schelling als Ewigkeit oder Zeit identifiziert. Der Schwerpunkt der Interpretation wird daher auf der Frage liegen, welche Eigenschaften Schelling Zeit und Ewigkeit zuordnet und nach welchen Kriterien er die einzelnen Momente der Zeit oder der Ewigkeit zuschlägt. Dabei wird zugleich deutlich, wodurch der Übergang zwischen Ewigkeit und Zeit ermöglicht wird. In einer groben Skizze lassen sich Schellings Begriffe folgendermaßen zuordnen: Als „absolute Ewigkeit“ bezeichnet Schelling die wesensgemäße Einheit Gottes, die unvordenklicher Weise besteht. Der Zustand der Freiheit, in dem sich die Möglichkeit der Weltschöpfung Gott gezeigt hat, aber Gott sich noch nicht entschieden hat, heißt „vorweltliche Ewigkeit“. Den Begriff „wahre Zeit“ verwendet Schelling in der „Philosophie der Offenbarung“ für die Abfolge der Äonen, den Zeiten des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes. In der „Darstellung der reinrationalen Philo180 Vgl. auch die Zusammenfassung in Barbarić, „Schellings Potenzenlehre in seiner Philosophie der Mythologie“, 313–315. 181 So PhdO2, 8 f. 182 PhdO1, 377. 183 PhdO2, 9–12.

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4. Zeit als Dynamik der Potenzen – Schellings Spätphilosophie

sophie“ nennt Schelling an einer Stelle184 auch die Folge der Momente im Prozess „wahre Zeit“. Die ewige Wiederholung des Immergleichen nach dem Sündenfall beschreibt er als „arretierte Zeit“, als Zeit, die blockiert ist und ihr Ziel nicht mehr erreichen kann. 4.3.1. Die absolute Ewigkeit und die Einheit Gottes Der Ausgangspunkt der positiven Philosophie ist das unvordenkliche Sein Gottes. Das Unvordenkliche hat im Sinne der emphatischen Aussage die Idee des Seienden als Prädikat, so dass auch die Momente der Idee am unvordenklichen Sein teilhaben.185 Diese unvordenkliche Existenz bezeichnet Schelling als „absolute Ewigkeit“. Sie wird hier zuerst diskutiert, da sie auch am Beginn der positiven Philosophie und der Ausführungen Schellings zum Prozess steht. Dass Schelling das Unvordenkliche als ewig bezeichnet, lässt sich bereits anhand einer Eigenschaft des Unvordenklichen verstehen, die es mit den klassischen Ewigkeitsbegriffen gemein hat: Der unvordenklichen Existenz geht keine Möglichkeit voraus. Sie ist. Gott selbst findet sich in diesem Zustand vor ohne jede vorgängige Aktivität. Diese Eigenschaft weisen auch das Zeitlose oder das allem Gegenwärtige auf: Es kann keinerlei Aktivität vorausgehen, die das Zeitlose hervorgehen ließe. Somit ist verständlich, dass Schelling die Unvordenklichkeit als eine Form von Ewigkeit ansieht. Als Abgrenzung zu einer anderen Form der Ewigkeit, die im nächsten Abschnitt behandelt wird, nennt er sie auch absolute Ewigkeit. Neben der Unvordenklichkeit wird die absolute Ewigkeit dadurch ausgezeichnet, dass sie eine wesenhafte Ewigkeit ist, überzeitlich bleibt und sich in der Zeit durchsetzt. Bei aller Überzeitlichkeit birgt Gott in seiner absoluten Ewigkeit jedoch auch die Voraussetzungen für die Zeit in sich. Die Unvordenklichkeit des absolut Ewigen Absolut ewig ist nach Schelling nur das Unvordenkliche. Damit sind notwendige Existenz und absolute Ewigkeit für Schelling identisch, wie er in Abgrenzung zu Kant klarstellt: „Kant unterscheidet die grundlose Nothwendigkeit der Existenz in Gott noch von der Ewigkeit, aber die absolute Ewigkeit, die Ewigkeit, inwiefern sie nicht schon der Zeit entgegen, sondern vor und über aller Zeit ist – die absolute Ewigkeit ist selbst auch nichts anderes als eben diese Existenz, der wir kein prius, keinen Anfang wissen. Denn ewig ist, dem mit keinem Begriff zuvorzukommen ist, gegen welches das Denken keine Freiheit hat, wie gegen das endliche Seyn, dem allerdings mit dem Gedanken zuvorzukommen, das die Philosophie a priori begreifen kann.“186

184

PhdM1, 429. PhdO1, 262; PhdM1, 331. 186 PhdO1, 164. Schelling bezieht sich auf KdrV, B641. 185

4.3. Zeit und Ewigkeit

207

Bei der erwähnten Ewigkeit, die „der Zeit entgegen“187 ist, handelt es sich um die vorweltliche Ewigkeit, die im Abs. 4.3.2 behandelt wird. Sie kann in die Zeit übergehen. Die absolute Ewigkeit ist dagegen überzeitlich. Kant hat die unbedingte Notwendigkeit von der Ewigkeit unterschieden: Die Ewigkeit „mißt nur die Dauer der Dinge, aber trägt sie nicht.“188 Schelling identifiziert die absolute Ewigkeit mit der Unvordenklichkeit und der Notwendigkeit des absoluten Prius. Er führt nicht genau aus, warum dem Ewigen „mit keinem Begriff zuvorzukommen ist“.189 Doch unter Voraussetzung der Identität der Gesetze des Denkens und des Seins lässt sich dieser Punkt leicht einsehen: Das Denken kann zu keinen Zeitpunkt zurückgehen, an dem das Zeitlose, das allen Zeiten Gegenwärtige oder auch das zeitlich Endlose nicht schon existierte. Auch nach den klassischen Ewigkeitsmodellen existiert also kein Moment vor dem Ewigen, kein Zustand, in dem das Ewige noch nicht ist, aus dem es hervorgehen könnte. Wenn man wie Schelling voraussetzt, dass nicht nur die logischen Gesetze des Denkens und des Seins identisch sind, sondern auch die dynamischen Gesetze, dann folgt aus diesem Aspekt der Ewigkeitsmodelle unmittelbar die Unvordenklichkeit der Ewigkeit. Denn diese Voraussetzung bedeutet, dass man von der Reihenfolge der Potenzen, wie sie sich für das Denken ergibt, auf die Reihenfolge der Zustände in der Wirklichkeit schließen kann.190 Wäre nun das absolut Ewige nicht unvordenklich, müsste es einen Begriff geben, den man vor das Ewige setzen könnte. In der Wirklichkeit müsste daher ein Zustand, der durch diesen Begriff beschrieben wird, dem Ewigen vorausgehen. Einen solchen Moment vor dem Ewigen gibt es nach den klassischen Ewigkeitsmodellen jedoch nicht. Also folgt: „Ewig ist, dem nichts, auch nicht einmal der Gedanke zuvorkommen kann.“191 Selbst Gott kann sein absolut ewiges Sein erst denken, wenn er von ihm hinweggeht.192 Das absolut Ewige muss daher das Unvordenkliche, das absolute Prius sein. Der umgekehrte Schluss, dass das Unvordenkliche ewig sein muss, ist leichter einzusehen. Das Unvordenkliche ist das reine Existieren. Statt eines Wesens hat es 187

PhdO1, 164. KdrV, B641. 189 PhdO1, 164. 190 Die Parallelität zwischen Denken und Sein diskutiert Schelling nicht explizit, setzt sie aber vielfach voraus. Ein Beispiel, in dem Schelling von der Reihenfolge des Denkens auf die Reihenfolge des Seins schließt, findet sich in PhdM1, 312: „Der Natur nach (d. h. eben im Gedanken) ist darum das Erste doch das Erste, das Dritte das Dritte; was Subjekt und Objekt in Einem ist, kann nicht mit Einem Moment, es kann nur mit verschiedenen Momenten, und da unsere Gedanken derselben successiv sind, auch nicht mit einer und derselben Zeit gesetzt werden, wenn nämlich, was hier bloß noetisch gemeint ist, zum realen Proceß wird.“ 191 PhdO2, 341. Siehe auch PhdO2, 106: „Ewig ist, dem keine Potenz vorhergeht.“ Schelling kann die Ewigkeit auch mit der Idee identifizieren, die nur unvordenklicherweise existieren kann. Vgl. F. W. J. von Schelling, Philosophische Entwürfe und Tagebücher, Bd. 12: 1846. Philosophie der Mythologie und reinrationale Philosophie, hrsg. von L. Knatz/H. J. Sandkühler/M. Schraven, Hamburg 1998, 139. 192 PhdO2, 342. 188

208

4. Zeit als Dynamik der Potenzen – Schellings Spätphilosophie

nur seine Existenz. Jede Existenzaussage über das Unvordenkliche ist darum reine Tautologie. Daher kann seine Existenz nie angezweifelt werden (vgl. Abs. 4.1.6). Es muss vor, nach und zu allen Zeiten existieren und darum ewig sein. Der absoluten Ewigkeit kann nach Schelling also kein Begriff vorausgehen. Sie ist das unvordenkliche Dass seiner Existenz, das einfache Sein Gottes. Mit der absoluten Ewigkeit kann daher außer dem Sein Gottes nichts weiteres gedacht werden. Mit jedem Gedanken und jedem Vorgang verlässt man die absolute Ewigkeit und begibt sich in die vorweltliche Ewigkeit (vgl. Abs. 4.3.2). Schelling kann daher die absolute Ewigkeit auch mit einem Augenblick vergleichen.193 Aufgrund der Gleichsetzung von Ewigkeit und unvordenklicher Existenz impliziert Ewigkeit zugleich auch die Notwendigkeit der Existenz. Das Unvordenkliche musste als notwendig existierend gedacht werden, da es das reine Existieren ist (vgl. Abs. 4.1.6). Daher ist Notwendigkeit ein wesentliches Merkmal der Ewigkeit. Beim unvordenklichen Einen handelt es sich dabei um „die Ewigkeit und […] Nothwendigkeit des Seyns“.194 Bei den drei Potenzen ist es „die Ewigkeit und Nothwendigkeit des Wesens“.195 Mit der Notwendigkeit ist bereits der nächste Aspekt der absoluten Ewigkeit angedeutet, die Wesenhaftigkeit aller Folgezusammenhänge in ihr. Die Unmöglichkeit dynamischer Folgen in der absoluten Ewigkeit Von der absoluten Ewigkeit ist jede Dynamik ausgeschlossen. Sie bezeichnet das reine unvordenkliche Dass der Existenz Gottes ohne etwas, das vorherginge oder nachfolgte.196 Darum gibt es in ihr keine Potenz, sondern nur reinen Aktus, so dass in ihr nichts geschehen kann. Denn jedes Geschehen bedeutet die Realisierung von Sachverhalten, die auf Grundlage der vorherigen Begebenheiten nur möglich und noch nicht realisiert waren. Ohne Potenz und Geschehen können jedoch nur logische Zusammenhänge folgen: „Ewiger Weise folgt aus einem Wesen nur, was aus seinem Begriffe, also logischer Weise folgt, wie der Satz, daß in einem Dreieck die Summe der drei Winkel zweien rechten gleich ist, nur ewiger, d. h. logischer Weise, ohne alles Geschehen aus dem Begriff des Dreiecks folgt.“197

Was unmittelbar aus einem Begriff folgt, sind Tautologien, die nur die implizierten Eigenschaften eines Begriffs benennen. Diese logischen Folgen kommen ohne Potenz aus, im Gegensatz zu emphatischen Aussagen und Geschehen. In der absoluten Ewigkeit ist Gott allein durch seinen Begriff bestimmt: „Sein ewiges Sein ist sein Sein im Begriff “.198 193

PhdO2, 106–108. PhdM1, 331. Vgl. auch PhdO2, 112. 195 PhdM1, 331. 196 PhdO2, 107. 197 PhdO2, 107. 198 Schelling, Philosophische Entwürfe und Tagebücher, Bd. 12: 1846, 80. 194

4.3. Zeit und Ewigkeit

209

An dieser Stelle mag es irritieren, dass die Identität zwischen Unvordenklichem und der Idee des Seienden gerade keine Tautologie darstellt. Darum muss betont werden, dass Schelling hier nur von Folgen redet. Ausgeschlossen von der absoluten Ewigkeit sind also dynamische Folgen, in denen ein Zustand einen Folgezustand hervorbringt. Logische Folgen dagegen benennen nur Konsequenzen innerhalb eines Zustands. Die Identität von Unvordenklichem und der Idee des Seienden stellt jedoch überhaupt keine Folge dar. Es ist eine faktische Identität, die ebenfalls in einem Zustand ohne jedes Geschehen zu denken ist. Die ewigen Folgen aus dieser faktischen Identität müssen jedoch ohne Geschehen auskommen und können daher nur logischer Weise folgen. Damit die Schöpfung eine freie Handlung Gottes sein kann, darf sie daher keine Schöpfung in der absoluten Ewigkeit sein. Denn als solche müsste sie eine logische Folge aus Gottes Wesen sein: „Wenn aber Gott wirklich von Ewigkeit […] geschaffen hat, so hat er seiner Natur nach geschaffen“.199 Es wird also ein „Zwischenraum“200 benötigt, der außerhalb der absoluten Ewigkeit anzusiedeln ist. Er selbst kann nur mit Notwendigkeit aus der absoluten Ewigkeit hervorgehen und dieses Hervorgehen darf kein eigentliches Geschehen darstellen, da die absolute Ewigkeit solches nicht zulässt. Zugleich muss es die Möglichkeit für nachfolgendes Geschehen bieten, damit die Schöpfung als freie Tat denkbar ist. In dem Sich-Zeigen der alternativen Existenzweise meint Schelling einen Weg gefunden zu haben, einen solchen Zwischenraum zu denken (vgl. Abs. 4.3.2). Erst dieser Zwischenraum, die vorweltliche Ewigkeit, ermöglicht es Gott, über die Zeit zu herrschen und zu verfügen. In der absoluten Ewigkeit allein ist Gott noch nicht Herr der Zeit.201 Überzeitlichkeit In der absoluten Ewigkeit ist kein Platz für Geschehen. Sie „ist nur ein Gedanke des Augenblicks“.202 Damit steht sie in einer Hinsicht über der Zeit und ist unabhängig von der Zeit: „[D]ie absolute Ewigkeit wäre die überzeitliche Ewigkeit zu nennen, die noch gar keine Beziehung auf Zeit hat, die selbst nicht etwa ein erster Moment ist, sondern über aller Zeit ist und dem ersten Moment, der von Ewigkeit ist, nur in Gedanken vorausgeht.“203

Unter Überzeitlichkeit versteht Schelling hier, dass die absolute Ewigkeit jenseits der Zeitreihe steht. Im Gegensatz dazu ist die vorzeitliche Ewigkeit zugleich der

199

PhdO1, 306. PhdO1, 306. 201 Walter Kasper dagegen sieht das Verfügen über Zeit als wesentliches Charakteristikum des Ewigkeitsbegriffs Schellings. Vgl. W. Kasper, Das Absolute in der Geschichte. Philosophie und Theologie der Geschichte in der Spätphilosophie Schellings, Mainz 1965, 260–262. 202 PhdO2, 108. 203 PhdO2, 108. 200

210

4. Zeit als Dynamik der Potenzen – Schellings Spätphilosophie

erste Moment204 der Zeitreihe (vgl. Abs. 4.3.2). Im gedanklichen Nachvollzug der Verhältnisse bildet die absolute Ewigkeit zwar einen Moment, der nochmals der vorzeitlichen Ewigkeit vorausgeht. Zwei Aspekte verhindern jedoch, dass die absolute Ewigkeit als erster Moment der Zeit angesehen werden kann: Erstens ist der Übergang vom unvordenklichen Sein zur vorzeitlichen Ewigkeit weder ein Geschehen noch eine logische Folge. Die Möglichkeit einer alternativen Existenzweise zeigt sich, ohne dass tatsächlich etwas geschieht oder ein anderer Zustand gesetzt wird.205 Die Potenzen bleiben in ihrer Stellung. Die Potentialisierung der Potenzen scheint Schelling nicht als Geschehen anzusehen. Der Übergang ist aber auch keine logische Folge. Sonst bliebe Gott in der absoluten Ewigkeit. Darum bemüht Schelling Vokabeln, wie „Sich-Zeigen“, um die Konstitution der vorweltlichen Ewigkeit von Geschehen und logischer Folge zu unterscheiden. Zweitens bleibt die absolute Ewigkeit bestehen, während die vorzeitliche Ewigkeit wie jeder Zeitpunkt vergeht: „Die wesentliche Ewigkeit […] aber kann nie ein Glied der Zeit werden, weil sie durch die Zeit gar nicht berührt wird, sondern von der Zeit unangerührt durch die Zeit selbst hindurch unbeweglich bleibt und besteht. Zu der wesentlichen Ewigkeit, welche lautere Einheit ist, verhält sich die Spannung der Potenzen und was mit dieser gesetzt ist als etwas nur zu ihr Hinzukommendes, als etwas Accessorisches, das zu ihr (der wesentlichen Ewigkeit) ebenso wenig nothwendig ist, als sie aufhebt, denn sie wirkt durch die Spannung hindurch; diese ändert an der Ewigkeit selbst nichts, sie ist also in Bezug auf diese etwas Gleichgültiges und daher Zufälliges, sie ist also das naturâ nicht-Ewige, naturâ suâ Zeitliche.“206

Was auch immer in der Zeit geschieht, es berührt die absolute Ewigkeit nicht. Alles Geschehen, das durch die Spannung der Potenzen hervorgebracht wird, kommt zur absoluten Ewigkeit nur hinzu, ohne sie zu modifizieren. Die absolute Ewigkeit ist also ein Moment, der neben der gesamten zeitlichen Entwicklung parallel bestehen bleibt und daher nirgends in der Zeitreihe eingeordnet werden kann. Diese absolute Ewigkeit ist auch nicht die Summe aller Zeitpunkte. Denn das Ewige existiert nicht einfach eine unendliche Zeitspanne lang, sondern ist „immer, und wann er ist, nur ewig – ewiger Weise“.207 Zugleich deutet Schelling im oben zitierten Text an, dass die absolute Ewigkeit nicht ganz ohne Bezug zur Zeit ist. Denn die absolute Ewigkeit „wirkt durch die Spannung hindurch“.208 Um die Verhältnisse zwischen absoluter Ewigkeit und dem Prozess genauer verstehen zu können, muss auf das Verhältnis des Unvordenklichen zu den Momenten eingegangen werden: 204

Neben dem Begriff „das Moment“ für die einzelnen Potenzen verwendet Schelling auch „der Moment“ für die einzelnen Stufen beziehungsweise Schritte im Prozess. Vgl. unter anderem PhdO1, 287 und 320; PhdO2, 108. In diesem Sinne wird auch hier „der Moment“ verwendet. Der jeweilige Sinn ist durch den Kontext erkennbar. 205 PhdO1, 263. 206 PhdO1, 308. 207 PhdO1, 263. 208 PhdO1, 308.

4.3. Zeit und Ewigkeit

211

„Denn was es [= das Unvordenkliche, J.S.] in seinem das-Seyende-Seyn auf materielle Weise ist, das ist es auch in sich selbst, nur immaterieller Weise […]: in den Elementen ist die Einheit nur auf die erste Weise, in dem Einen selbst […], in diesem also ist die Einheit auf die andere Weise und unzerstörlich, weil in ihm gar nichts Mögliches seyn kann, weil es unüberwindliche und unauflösliche Einzelheit ist, Einzelwesen wie kein anderes; die Einzelheit allein hält Stand, alles andere ist dissolubel. Die Einheit des Einen-selbst ist, die nicht mit der in der Allheit gesetzten verschwindet, sondern diese als alle Möglichkeit übertreffende Wirklichkeit überdauert.“209

Hier unterscheidet Schelling die Einheit im Unvordenklichen von der Einheit, die in einer speziellen Konstellation der Potenzen besteht. Das Unvordenkliche ist Eines auf unhintergehbare Weise. Diese Einheit als Einzelwesen ist daher unberührt von allem Geschehen zwischen den Potenzen.210 Auch die Potenzen in der Idee des Seienden formen eine Einheit. Diese Einheit kann jedoch aufgehoben werden, indem die Potenzen in Spannung gesetzt werden. Im Prozess ist es schließlich die Einheit im Unvordenklichen, die die Potenzen auf einen Punkt zwingt und damit den Prozess in Gang hält, weil die Potenzen gegeneinander wirken müssen, anstatt auseinanderzufallen (vgl. Abs. 4.2). Auf diese Weise wirkt das Unvordenkliche im Prozess. Was an dieser Stelle von der Einheit ausgesagt wird, trifft auch auf die absolute Ewigkeit zu. Denn die unhintergehbare Einheit und die absolute Ewigkeit sind beide in der Unvordenklichkeit des Einen begründet. Es ist das Unvordenkliche und damit das absolut Ewige, dem die Potenzen mit ihrer Einheit oder Spannung als Attribute zukommen und das in der Spannung auf die Wiederherstellung der Einheit der Potenzen hinwirkt. Das absolut Ewige lässt sich also mit einem unveränderlichen Kern vergleichen, zu dem einige veränderliche, äußere Eigenschaften hinzukommen. Als das Unvordenkliche ist es Eines und kennt kein Geschehen. Es existiert vor, während und nach aller Zeit unveränderlich in einem einzigen Moment und ist damit überzeitlich. Es ist wie im Modell der Gegenwart aller Zeiten jedem Moment kopräsent und unwandelbar.211 Die Potenzen, die es als äußere Attribute hat, können jedoch durch ihre unterschiedlichen Konstellationen verschiedene Momente bilden, die sie in einem Prozess durchlaufen. In diesem Prozess wirkt das absolut Ewige, ohne selbst in den Prozess einzugehen, indem es ein Auseinanderfallen der Potenzen verhindert. Auf der Ebene der Potenzen ergeben sich daher die Phänomene der vorzeitlichen Ewigkeit und der Zeit. Die Voraussetzungen der Zeit in der absoluten Ewigkeit Die zentralen Voraussetzungen der Zeit besitzt der absolute Geist bereits in der absoluten Ewigkeit. Die drei Momente der Idee sind in der Ewigkeit zwar zugleich und 209

PhdM1, 317. Vgl. auch PhdM2, 84 f. 211 So auch F. Hermanni, „Der Grund der Persönlichkeit Gottes“, in: T. Buchheim/F. Hermanni (Hrsg.), »Alle Persönlichkeit ruht auf einem dunkeln Grunde«. Schellings Philosophie der Personalität, Berlin 2004, 165–178, hier 178. 210

212

4. Zeit als Dynamik der Potenzen – Schellings Spätphilosophie

keines kann ohne die anderen Momente gedacht werden.212 Dennoch existiert eine feste Reihenfolge unter diesen drei Momenten: „Der Natur nach (d. h. eben im Gedanken) ist darum das Erste doch das Erste, das Dritte das Dritte; was Subjekt und Objekt in Einem ist, kann nicht mit Einem Moment, es kann nur mit verschiedenen Momenten, und da unsere Gedanken derselben successiv sind, auch nicht mit einer und derselben Zeit gesetzt werden, wenn nämlich, was hier bloß noetisch gemeint ist, zum realen Proceß wird.“213

Um die Idee zu denken, muss man mit dem Subjekt beginnen und über das Subjekt und Subjekt-Objekt zur Einheit der drei Momente fortschreiten (vgl. Abs. 4.1). Es ist nicht möglich, unmittelbar mit der Einheit zu beginnen, auch wenn die Idee in der absoluten Ewigkeit auf diese Weise unmittelbar existiert. Diese „noetische“ Reihenfolge ist nach Schelling nicht nur ein Artefakt des Denkens. Sie ist identisch mit einer realen Ordnung, die sich insbesondere im Prozess äußert. Die wahre Zeit besteht aus einer Folge von Äonen, die jeweils dadurch bestimmt sind, welche Potenz in ihr herrscht (vgl. Abs. 4.3.3). Die Reihenfolge der Äonen entspricht eben dieser noetischen Folge, die in Gedanken vorgegeben ist. Es ist also nicht zufällig, welche Potenz zuerst herrscht und welche darauf folgt, sondern im Wesen der Potenzen und der Idee selbst festgelegt. Darum ist es durchaus gerechtfertigt, dass Schelling den Potenzen auch in der Ewigkeit eine Reihenfolge zuordnet. Es ist eine wesensgemäße Reihenfolge. Denn es entspricht dem Wesen der ersten Potenz, die Erste zu sein, so wie auch die weitere Reihenfolge im Wesen angelegt ist. Schelling kann daher auch die zeitlichen Begriffe „Anfang“, „Mittel“ und „Ende“ den drei Potenzen zuordnen.214 Sie sind analog zu verstehen wie die noetische Reihenfolge: Anfang und Ende sind nicht im Sinne eines zeitlichen Vergehens zu denken, sondern als Ausdruck der wesensgemäßen Reihenfolge in der Idee, in der nur mit dem Subjekt angefangen werden kann und das Subjekt-Objekt das erstrebte Ziel ist, die Vollendung. Schelling nennt sie darum auch „ewiger Anfang“ und „ewiges Ende“.215 Anfang und Ende gehören für Schelling unverzichtbar zur Vollkommenheit dazu. Was ohne Anfang und ohne Ende ist, stellt für Schelling eine Unvollkommenheit dar.216 Die Ablehnung eines Anfangs und eines Endes in Gott, die traditionellerweise mit dem Ewigkeitsbegriff verbunden ist, bezieht Schelling darum auf den ewigen Anfang und das ewige Ende selbst: „[I]n Gott ist kein Anfang seines Anfangs und kein Ende seines Endes. Dieß erst ist der positive Begriff des Ewigen und der Ewigkeit“.217 212

PhdM1, 311 f. PhdM1, 312. 214 PhdM2, 42 f.; PhdO1, 258 f. 215 PhdM2, 43. 216 PhdM2, 43. 217 PhdM2, 43. 213

4.3. Zeit und Ewigkeit

213

Die noetische Reihenfolge unter den Potenzen und der Charakter der jeweiligen Potenzen als Anfang, Mittel und Ende bieten bereits in der absoluten Ewigkeit zentrale Voraussetzungen für die Zeit. Es ist die noetische Reihenfolge, in der auch der Prozess ablaufen wird. Aus demselben Grund, weshalb die erste Potenz der ewige Anfang ist, kann sie später auch wirklich anfangen und den realen Prozess in Gang setzen. Zur tatsächlichen Möglichkeit, Zeit anzufangen, fehlt noch der Übergang zur vorweltlichen Ewigkeit. In der unvordenklichen Existenz ist kein Platz für alternative Möglichkeiten. Das Erscheinen der anderen Existenzweise als Möglichkeit, die Gott auch wählen kann, geschieht in Schellings Terminologie von Ewigkeit und konstituiert damit einen neuen Moment, die vorweltliche Ewigkeit. In der absoluten Ewigkeit hat Gott noch keine Wahlmöglichkeit. Doch die wesentlichen Zutaten zur Zeit, die Potenzen in ihrer noetischen Reihenfolge, sind bereits in der absoluten Ewigkeit gegeben. Diesscheint unverzichtbarfür jedesEwigkeitsmodell zu sein,dasGott dieMöglichkeit einräumen will, Zeit zu schaffen. Die wesentlichen Konstituenten der Zeit, die unter anderem die Möglichkeit bieten, anzufangen und zu enden, sowie ihre Einheit müssen in der Ewigkeit verankert sein, sofern Gott als Ewiger die Macht haben soll, Zeit zu erschaffen. In den Modellen der Zeitlosigkeit und der Gegenwart aller Zeiten findet diese Voraussetzung der Schöpfung keine angemessene Darstellung. Zeitlosigkeit schließt ein Handeln und Reagieren zwar nicht aus (vgl. Abs. 1.4.3). Dass ein zeitloser Gott Zeit erschafft, ist nicht widersprüchlich. Er könnte die zeitliche Welt in einem zeitlosen fiat hervorbringen.218 Doch sind in den Modellen der Zeitlosigkeit und Gegenwart aller Zeiten die Voraussetzungen der Zeit nicht impliziert. Wie Paul Helm eingesteht, besagt das Modell der Zeitlosigkeit lediglich, dass keine zeitlichen Begriffe auf Gott anwendbar sind, nicht was das konkret bedeutet.219 Nicht alles Zeitlose kann Zeit erschaffen. Dafür braucht es weitere Voraussetzungen, die mit dem alleinigen Postulat der Zeitlosigkeit Gottes noch nicht erfasst werden. Deshalb ist einfache Zeitlosigkeit und analog auch die Gegenwart aller Zeiten als Ewigkeitsmodell nicht ausreichend. Denn Ewigkeit als Gottes Bezug zur Zeit sollte die Möglichkeit, Zeit zu schaffen, umfassen. Man müsste diese Modelle daher so erweitern, dass sie dasjenige, was es Gott ermöglicht, Zeit zu konstituieren, ebenfalls beschreiben. Darüber hinaus hat ein zeitloser Gott nicht alle denkbaren Möglichkeiten, mit der geschöpflichen Welt zu interagieren (vgl. Abs. 1.4.4). Dazu bräuchte er die Möglichkeit, eigene Zeit zu beginnen. Ein wirkliches Anfangen setzt, wie Schelling korrekt sieht, eine Unterscheidung zweier Momente voraus, von denen einer zur Vergangenheit gesetzt wird, indem der andere als Gegenwart gesetzt wird. Die Potentialität, anzufangen, widerspricht also einer wesenhaften Zeitlosigkeit Gottes. Analoges gilt für das Modell der reinen Gegenwart. Anfangen kann nur, wer zumindest das Potential hat, Vergangenheit und Gegenwart zu scheiden. Das schließt streng ge218 219

So beispielsweise Dalferth, „Gott und Zeit“, 31 f. Vgl. Helm, Eternal God, 55.

214

4. Zeit als Dynamik der Potenzen – Schellings Spätphilosophie

nommen eine faktische Zeitlosigkeit nicht aus, in der Gott darauf verzichtet, seine Fähigkeit, anzufangen, auch zu benutzen. Doch eine wesensgemäße Zeitlosigkeit, die keine Scheidung der Zeitmodi erlaubt, steht im Widerspruch zur Möglichkeit anzufangen. 4.3.2. Die vorweltliche Ewigkeit und der Beginn der Zeit Von der absoluten Ewigkeit Gottes unterscheidet Schelling die vorweltliche Ewigkeit. Während die absolute Ewigkeit in der unverbrüchlichen und unvordenklichen Einheit Gottes besteht, soll die vorweltliche Ewigkeit das Bindeglied zwischen absoluter Ewigkeit und Zeit bilden. Ein solcher „Zwischenraum“220 ist nach Schelling notwendig, damit Gott die Wahl hat, ob er die Welt schaffen will. Denn die absolute Ewigkeit ist eine wesensgemäße Ewigkeit. In dieser Ewigkeit existiert Gott nur in seinem Wesen. Falls aus dieser Ewigkeit unmittelbar die Zeit hervorgehen sollte, könnte sie also nur eine Konsequenz seines Wesens sein. Es müsste in Gottes Natur liegen, zu schaffen, so dass er ohne Wahlfreiheit von absoluter Ewigkeit an die Welt erschaffen müsste.221 Um Gott eine Freiheit bei der Schöpfung der Welt zu lassen, muss also ein Zustand zwischen absolute Ewigkeit und Zeit treten. Inwiefern dieser Zustand der Ewigkeit oder der Zeit zuzurechnen ist, erarbeitet Schelling anhand einer Reflexion auf den Beginn der Zeit: „Zeit ist nicht denkbar ohne ein Vor und ein Nach, ohne ein prius und ein posterius. Nur wo ein solches ist, ist wirkliche Succession und demnach Zeit. Daraus folgt denn aber, daß, solange bloß Ein Element der Aufeinanderfolge gesetzt ist, keine wirkliche Succession ist. Solange das Vor sein Nach nicht gefunden hat, solange z. B. bloß der Moment = A, noch nicht aber A + B gesetzt ist, so lange ist auch keine Zeit und A noch außer der Succession. Denken Sie sich also die Welt als Element B, so hat allerdings die Zeit erst mit der Welt angefangen, denn die Zeit fängt erst an mit A + B. Allein es folgt daraus nicht, daß keine Zeit vor der Welt ist, denn eben, indem A + B gesetzt ist, wird A, das zuvor außer der Zeit war, selbst ein Element der Succession und also ein Element der Zeit.“222

Der erste Moment der Zeit ist für sich betrachtet also noch keine Zeit, sondern wird erst durch den nachfolgenden Moment zum ersten Moment einer Zeitreihe. Er wird zur Zeit, zur Vergangenheit des zweiten Moments, sobald weitere Glieder der Zeitreihe folgen. Dazu muss er zumindest die Möglichkeit zur Zeit in sich enthalten.223 Zeit als Reihe beginnt also mit dem zweiten Moment, aber dadurch wird nachträglich auch der erste Moment zum Teil der Zeitreihe. Den ersten Moment bezeichnet Schelling auch als Ewigkeit: „Inwiefern diese Zeit vor der Welt für sich allein noch Nichtzeit ist, insofern kann man sie auch Ewig220

PhdO1, 306. Vgl. PhdO1, 292 und 306. 222 PhdO1, 307. 223 Vgl. dazu auch PhdM1, 493; PhdO1, 308; PhdO2, 108–110. 221

4.3. Zeit und Ewigkeit

215

keit nennen“.224 Das hier verwendete Kriterium für Ewigkeit ist also, dass sie nicht Zeit ist. Grundsätzlich scheint Schelling den Ewigkeitsbegriff also im Gegensatz zur Zeit zu definieren. Auch dass es sich hier nicht um die absolute Ewigkeit handelt, liegt daran, dass sie „nur Ewigkeit [ist], weil sie noch Nichtzeit, noch nicht wirkliche Zeit, aber doch schon mögliche Zeit ist“.225 Die absolute Ewigkeit ist Ewigkeit, weil sie in keiner Hinsicht Zeit ist, weder wirklich noch möglicherweise. Sie bleibt jenseits der Zeit. Die vorweltliche Ewigkeit ist für sich betrachtet noch nicht Zeit, kann aber möglicherweise Zeit werden, sobald ein zweiter Moment hinzukommt. Sie ist darum nicht im selben Sinne Ewigkeit wie die absolute Ewigkeit. Der Begriff Ewigkeit ist also auch beim späten Schelling als Gegensatz der Zeit, als „Nichtzeit“, bestimmt:226 Ewig ist, was nicht Zeit ist. Die Brücke zwischen Ewigkeit und Zeit kann Schelling schlagen, indem er mit der vorweltlichen Ewigkeit einen Zustand annimmt, der in einer Hinsicht nicht Zeit, in anderer Hinsicht Zeit, nämlich Vergangenheit, ist. Auch wenn Schelling den Begriff Ewigkeit als Gegenteil von Zeit versteht, hebt er diesen begrifflichen Gegensatz im Moment der vorweltlichen Ewigkeit faktisch auf. Der Beginn der Zeit liegt also in der Setzung eines zweiten Moments, durch den der erste zur Vergangenheit wird. Damit widerlegt Schelling einen traditionellen Einwand gegen einen Anfang der Zeit. Nach Aristoteles ist die Zeit selbst anfangslos. Denn jeder Jetztpunkt ist zugleich Ende einer vergangenen Zeitspanne und Anfang einer folgenden Zeitspanne. Auch ein Anfang der Zeit müsste ein Jetztpunkt sein. Daher ist er laut Aristoteles zugleich Ende einer vergangenen Zeit. Als Anfang der Zeit sollte ihm jedoch keine andere Zeit vorausgehen. Demnach wäre ein Anfang der Zeit nicht widerspruchsfrei zu denken.227 An anderer Stelle argumentiert Aristoteles, dass Zeit nicht vergehen oder entstehen kann, da es ohne Zeit kein früher oder später gibt. Ein Vergehen oder Entstehen der Zeit würde jedoch ein vor oder nach der Zeit voraussetzen.228 In seiner Erläuterung des Anfangs der Zeit nimmt Schelling diese Argumente auf und löst den Widerspruch auf elegante Weise: Mit der vorweltlichen Ewigkeit führt er einen Moment ein, der zwar Vergangenheit der nachfolgenden Zeit ist und ihr vorangeht, aber nie gegenwärtige Zeit war. Denn als dieser Moment noch nicht in den zweiten Moment übergegangen war, war er noch keine Zeit, sondern Ewigkeit. Durch den Übergang wird er erst zur Zeit. Damit umgeht er Aristoteles’ Einwände. Jede gegenwärtige Zeit, jedes Jetzt, hat zumindest die 224

PhdO1, 307. PhdO1, 307. 226 Walter Kasper dagegen versteht unter Schellings Ewigkeitsbegriff die Macht über die Zeit. Vgl. Kasper, Das Absolute in der Geschichte, 260. Damit wird er jedoch Schellings Argumentationsgang in der begrifflichen Abgrenzung von Ewigkeit und Zeit nicht gerecht. 227 Dieses Argument findet sich in Aristoteles, Aristotelis Physica, VIII, 1, 251b17–26. 228 Vgl. Aristoteles, Aristotelis Metaphysica, hrsg. von W. Jaeger, SCBO, Nachdr. der ersten Ausgabe 1957, Oxford 1960, XII, 6, 1071b6–9 und auch H. Westermann, Art.: Zeit. II. Antike. – B. Platon bis Boethius, in: HWPh, Bd. 12 (2004), 1196–1207, hier 1200. 225

216

4. Zeit als Dynamik der Potenzen – Schellings Spätphilosophie

vorweltliche Ewigkeit als Vergangenheit. Zugleich gibt es nichts vor der Zeit, da die vorweltliche Vergangenheit durch den Zusammenhang mit der nachfolgenden Zeit selbst zur Zeit wird. Auch als Antwort auf Kants Antithese in der ersten Antinomie funktioniert Schellings Ansatz. Nach der ersten Antithese kann die Welt keinen Anfang haben, da der Anfang eine Zeit vor dem Anfang ohne die Welt voraussetzen würde. Dies wäre eine leere Zeit, aus der nichts entstehen kann.229 Nach Schelling gibt es vor der Welt keine Zeit, sondern die vorweltliche Ewigkeit und diese ist nicht leer. Vor der Welt ist Gott in seiner vorweltlichen Ewigkeit und ruft Zeit und Welt aus seiner vorweltlichen Ewigkeit hervor. Die Möglichkeit dieses Übergangs von vorweltlicher Ewigkeit zur Zeit ist in der Potenzenlehre Schellings begründet. Die erste Potenz konnte entweder für sich selbst sein oder für das Objekt sein. Wäre es für sich allein, hätte es nur die erste Alternative, da es unweigerlich überginge ins Sein. Erst die zweite Potenz, die für die erste Potenz das Objekt sein kann, ermöglichte es, dass die erste Potenz als reines Können stehen bleiben konnte (vgl. Abs. 4.1). In diesem Zustand der Einheit der Potenzen existiert Gott in seiner unvordenklichen und absoluten Ewigkeit. In ihr existieren die Potenzen als Attribute des Unvordenklichen zunächst ohne jede alternative Möglichkeit. Doch die Möglichkeit der ersten Potenz, für sich selbst zu sein, kann sich nachträglich an ihr zeigen. Ausgehend von der unvordenklichen Existenz der Potenzen in ihrer Einheit kann Gott einsehen, dass vor allem die erste Potenz auch auf andere Weise existieren könnte. Dadurch gewinnt Gott die Möglichkeit, die andere Existenzweise zu wählen. Gott kann die erste Potenz ins Sein übergehen und selbst sein lassen (vgl. Abs. 4.2.1). Wenn er sich dazu entschließt, startet der Prozess, in dem die zweite Potenz die erste wieder in ihre ursprüngliche Stellung zurückbringt. Dieser Prozess ist die Zeit. Die wesentlichen Voraussetzungen für den Übergang sind also in der Potenzenlehre angelegt. Die erste Potenz hat zwei verschiedene Möglichkeiten, zu existieren: in der Einheit mit dem Objekt oder für sich selbst. Da sich die alternative Möglichkeit von selbst an ihr zeigt, hat Gott die Möglichkeit, sie zu wählen. Es sind also die spezifischen Gesetze der Potenzenlehre, in denen die Möglichkeit des Übergangs von Ewigkeit zu Zeit angelegt ist. Die Gesetze wurden bereits zu Anfang so bestimmt, dass sie diese Freiheit erlauben (vgl. Abs. 4.1). Eine weitere Voraussetzung des Übergangs ist, dass Zeit und die vorweltliche Ewigkeit durch die Konstellationen der Potenzen beschrieben werden. Weil Zeit nichts anderes ist als die Dynamik der Potenzen und vorweltliche Ewigkeit der Zustand ist, in dem sich Gott die Wahl stellt, ob er die Einheit der Potenzen aufhebt, folgt aus den Gesetzen der Potenzen die Möglichkeit, aus der vorweltlichen Ewigkeit in die Zeit überzugehen. Die Voraussetzungen für den Übergang lassen sich daher auf zwei Punkte konzentrieren: Zeit ist erstens von der Dynamik der Potenzen abhängig und geht aus ihr hervor. 229

KdrV, B455.

4.3. Zeit und Ewigkeit

217

Zweitens sind die Gesetze der Potenzen so verfasst, dass sie zwei verschiedene Existenzweisen und den Übergang zwischen ihnen ermöglichen. Die Dynamik, aus der Zeit entsteht, wird im Abschnitt über die wahre Zeit genauer untersucht. Die Potenzen mit ihren Gesetzen sind bereits durch die absolute Ewigkeit gegeben. Daher enthält bereits die absolute Ewigkeit alle notwendigen Zutaten für die Zeit. Insofern trägt Schellings ganze Lehre von Ewigkeit und Zeit dazu bei, den freien Übergang von vorweltlicher Ewigkeit zu Zeit zu ermöglichen. Die Setzung des zweiten Moments ist ein dynamischer Akt. Mit der Dynamik beginnt nach Schelling zugleich die Zeit. Doch entgegen der Zeitvorstellungen der klassischen Physik ist die Zeit nach Schelling Konsequenz der Dynamik und nicht umgekehrt. In der newtonschen Auffassung der Zeit als Container bildet die Zeit den Hintergrund, der Voraussetzung für jede Dynamik ist (vgl. Abs. 3.2.2). Für diese Hintergrundzeit ließe sich ein Anfang postulieren, aber niemals erklären. Dieses Problem weist selbst die allgemeine Relativitätstheorie noch auf. Der Rückgriff auf Singularitäten, an denen die bekannten physikalischen Gesetze zusammenbrechen, wie in den Urknallmodellen, ist letztlich nur ein implizites Eingeständnis dieser Unverständlichkeit des Anfangs. Auch in der dynamischen Interpretation der Relativitätstheorien ist dieses Problem noch nicht gelöst, da die Möglichkeiten, die sich aus einer solchen dynamischen Perspektive ergeben, nicht genutzt werden. Sowohl der dynamischen als auch der statischen Interpretation der Relativitätstheorien liegen dieselben mathematischen Gleichungen zugrunde, die Zeit als Grundgegebenheit annehmen. Schelling dagegen geht davon aus, dass Zeit erst mit der Dynamik entsteht, das heißt, dass Zeit von Dynamik abhängig ist und eine abgeleitete Größe ist. Erst die Aktivität des ersten Moments, die einen zweiten setzt, startet die Zeit. Schelling stellt vollkommen zu Recht fest, dass „[n]ur ein solcher dynamischer Anfang der Zeit […] sich denken [lässt], kein mechanischer“.230 Die vorweltliche Ewigkeit erfüllt also die Kriterien, die Schelling an den Zwischenraum stellt: Sie ist Ewigkeit, da sie für sich selbst noch nicht Zeit ist, aber sie hat die Möglichkeit zur Zeit. Deshalb kann sie Ewigkeit und Zeit voneinander trennen und zugleich verbinden, kann also der geforderte Zwischenraum sein.231 Damit die Wahl für oder gegen die Realisierung der Zeit wirklich frei ist, muss noch eine weitere Feinheit beachtet werden, die den Zusammenhang von absoluter und vorweltlicher Ewigkeit betrifft. Die vorweltliche Ewigkeit ist der Zustand, in dem sich Gott die Möglichkeit bietet, die Welt zu schaffen.232 Dieser Zustand geht von selbst ohne weiteres Zutun Gottes aus der absoluten Ewigkeit hervor, ist also in Schellings Terminologie „von Ewigkeit“, aber nicht selbst absolut ewig.233 Mit dieser Differenzierung ermöglicht Schelling erst eine freie Schöpfung. Denn in der 230

PhdO2, 109. Vgl. PhdO1, 306. 232 PhdO1, 292 f. und 308 f. 233 PhdO1, 267 f.; PhdO2, 108. 231

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4. Zeit als Dynamik der Potenzen – Schellings Spätphilosophie

absoluten Ewigkeit sind nur logische Zusammenhänge möglich (vgl. Abs. 4.3.1).234 Die Möglichkeit darf also nicht bereits in der absoluten Ewigkeit gegeben sein und darf deshalb auch nicht aus Gottes Wesen folgen. Sonst bliebe Gott in der absoluten Ewigkeit. Die Möglichkeit muss auf eine Art und Weise hervorgehen, die weder logisch noch dynamisch ist, damit der rein logische Raum der absoluten Ewigkeit verlassen wird und zugleich noch keine Zeit gesetzt wird. Zu diesem Zweck muss Schelling das Auftauchen der alternativen Möglichkeit als ein „Sich-Zeigen“ beschreiben und nicht als Folgen oder Gesetzt-Werden (vgl. auch Abs. 4.3.3). In Schellings Diskussion der vorweltlichen Ewigkeit und des Anfangs der Zeit ergibt sich eine Analogie zu den Spekulationen um eine mögliche imaginäre Zeit (vgl. Abs. 3.6.2). Auch in diesen Spekulationen wurde das Problem des Anfangs der Zeit gelöst, indem ein Zustand an den Anfang gesetzt wird, der nicht selbst Zeit ist, aber die Möglichkeit zur Zeit in sich enthält. Dieser Anfangszustand besaß nur eine imaginäre Zeit, die sich ähnlich wie eine vierte Raumdimension verhält und der das eigentliche Kennzeichen einer Zeitdimension fehlt. Sie kann aber in eine reelle Zeit übergehen. Aus der Perspektive der reellen Zeit erscheint die imaginäre Zeit stets als Vergangenheit. Doch für sich betrachtet, kann der imaginären Zeit noch keine Zeitfolge zugeordnet werden. Erst durch den Übergang zur reellen Zeit wird sie zu deren Vergangenheit. Auch der Übergang zwischen imaginärer und reeller Zeit wird dadurch ermöglicht, dass Zeit in diesen Spekulationen nicht als fundamentale, sondern als abgeleitete Größe angesehen wird. Im Vergleich zwischen Schellings Analyse des Anfangs der Zeit und der These der imaginären Zeit ergibt sich ein wesentlicher Unterschied: Die Zeit in den dargestellten Quantenkosmologien geht aus Raum und der Unschärfe der Wellenfunktion hervor. Beides sind dezidiert nicht-zeitliche Phänomene. Schellings Zeit geht aus Dynamik hervor. Darin hat sie größere Ähnlichkeit zu den Causal Set Theories, die allerdings den Anfang der Zeit nicht gesondert thematisieren. Der erste Moment in den Causal Set Theories wird postuliert und nicht erklärt (vgl. Abs. 3.6.3). Abgesehen von diesem Unterschied weisen die imaginäre Zeit und Schellings Diskussion des Anfangs auf denselben entscheidenden Sachverhalt hin: Wenn der Anfang der Zeit nicht nur postuliert, sondern erklärt werden soll, muss am Anfang etwas stehen, das selbst noch keine Zeit ist. Es muss die Möglichkeit aufweisen, in eine Zeitreihe übergehen zu können, darf aber keine zeitlichen Begrifflichkeiten dafür voraussetzen. 4.3.3. Die wahre Zeit In der „Philosophie der Offenbarung“ bezeichnet Schelling mit dem Begriff „wahre Zeit“ die Folge der drei Äonen beziehungsweise Zeiten:235 die Zeiten des Vaters, des 234 235

PhdO2, 107. Vgl. PhdO1, 375; PhdO2, 71 f. und 109.

4.3. Zeit und Ewigkeit

219

Sohnes und des Geistes beziehungsweise Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft oder auch vorweltliche Ewigkeit, Welt und nachweltliche Ewigkeit. Diese Bestimmungen der drei Äonen sind nicht deckungsgleich. Denn das Unterscheidungskriterium für die Momente der wahren Zeit ist inhaltlicher Art. Je nach verwendetem inhaltlichem Kriterium können daher andere Abgrenzungen der Äonen resultieren. Nach einer Variante unterscheiden sich die Zeiten darin, wer in ihnen herrscht, Vater, Sohn oder Heiliger Geist. In einer anderen Variante ist allein der Zustand der Potenzen das Kriterium: die ursprüngliche Einheit, der Wiederherstellungsprozess und die wiederhergestellte Einheit. Neben den drei Äonen bezeichnet Schelling an einer Stelle der „Darstellung der reinrationalen Philosophie“ auch den Prozess, der die Wesen hervorbringt, als „wahre Zeit“: „In der intelligibeln [sic!] Welt, sagten wir, hat jedes Wesen seinen ihm mit Nothwendigkeit zukommenden Ort, aber es ist nicht der Raum, der ihm seine Stelle bestimmt, sondern die Zeit. Jener intelligible Raum ist ein Organismus von Zeiten, und diese innere, durch und durch organische Zeit ist die wahre Zeit;“236

Im Prozess sind alle Wesen geordnet nach der Stellung der Potenzen: Je weiter der Prozess fortgeschritten ist, desto mehr ist die Einheit wiederhergestellt. In dieser Ordnung hat jedes Wesen seinen festen Platz. Diese Reihe bezeichnet Schelling hier als „wahre Zeit“. In der „Philosophie der Offenbarung“ und der „Philosophie der Mythologie“ verwendet Schelling den Begriff der wahren Zeit ansonsten stets für die Folge dreier Äonen. Hier jedoch greift er sein organisches Zeitverständnis aus den Weltaltern auf,237 in dem die Zeit durch das Ringen der Potenzen miteinander entsteht.238 Dieser Rückgriff zeigt, dass Schelling dieses Zeitverständnis nicht aufgegeben hat. Der Prozess bildet für ihn auch in seiner Spätphilosophie eine Zeit. In den Ausführungen zum Zeitbegriff stellt Schelling die Folge der Äonen lediglich in den Vordergrund. Dass der Prozess nicht häufiger als Zeit benannt wird, lässt sich damit erklären, dass Schelling in der „Philosophie der Offenbarung“ und der „Philosophie der Mythologie“ die Inhalte mit den Potenzen, dem Unvordenklichen und dem Prozess erläutert. Die Begriffe der Zeit und der Ewigkeit verwendet er eher in Ausnahmefällen, auch wenn es sich sachlich gesehen beim Prozess immer um Zeit handelt. Zur Charakterisierung des Zeitbegriffs bei Schelling werden die beiden Reihen, die Schelling als wahre Zeit bezeichnet, die Folge der Äonen und der intelligible Prozess, zunächst für sich erläutert, um anschließend die wesentlichen Eigenschaften, die Zeit ausmachen, zu eruieren: Sie ist eine Folge, die durch eine Dynamik oder ein Geschehen erzeugt wird.

236

PhdM1, 429. So zu Recht Nikolaus, Metaphysische Zeit, 142. 238 Vgl. auch Kasper, Das Absolute in der Geschichte, 251–255. 237

220

4. Zeit als Dynamik der Potenzen – Schellings Spätphilosophie

Die Äonen der Zeit Die wahre Zeit ist „nicht Eine, sich immer wiederholende Zeit, sondern selbst eine Folge von Zeiten.“239 Die Momente der Zeit sind durch ihren Inhalt unterschieden. Daraus folgt, dass die Abgrenzung der Zeiten nicht eindeutig ist. Je nach verwendetem inhaltlichem Kriterium können die Grenzen zwischen den Zeiten und auch ihre genaue Bestimmung variieren oder sogar deutlich voneinander abweichen. Im Folgenden wird an der Zuordnung des intelligiblen Prozesses zu den Äonen verdeutlicht, wie die Grenzen variieren können. Im Anschluss wird an der Zuordnung der Geschichte aufgezeigt, dass es angebracht ist, zwischen zwei inhaltlichen Bestimmungen der Äonen deutlich zu unterscheiden. Ein bedeutendes Kriterium, das Schelling verwendet, ist die Unterteilung nach den Herrschern der Zeit. Es werden drei Zeiten unterschieden, die Zeit des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.240 Die vorzeitliche Ewigkeit (Vergangenheit) bildet die erste Zeit, die Zeit des Vaters. In ihr bestimmt die erste Potenz das Sein, weil sie die Möglichkeit bietet, zwischen den zwei Alternativen zu wählen. Die gefallene Welt mit ihrer Geschichte bildet die Gegenwart, die zweite Zeit. In ihr ist die zweite Potenz prägend, da sie durch die widergöttliche Welt eine eigenständige Existenz gegenüber dem Vater hat und in der Überwindung des Widergöttlichen wirkt.241 Wenn die Einheit wiederhergestellt ist, wird die zweite Potenz das Sein bestimmen. Die zweite Potenz wird ihre Herrschaft dazu verwenden, sich wieder dem Vater unterzuordnen und die dritte Potenz einzusetzen, so dass mit der dritten Zeit, der zukünftigen Ewigkeit, die Zeit des Geistes anbricht.242 Der Prozess, der die intelligible Welt konstituiert, wird in dieser Folge keiner der trinitarischen Personen zugeordnet: Der Vater herrscht vor der Schöpfung,243 also vor dem Beginn des Prozesses. Der Sohn wird erst eigenständige Persönlichkeit durch den Sündenfall, weil der Mensch durch seinen Versuch, wie Gott einen neuen Prozess in Gang zu setzen, sich zwischen den Vater und die zweite Potenz stellt. In der Zeit vor dem Sündenfall ist die Welt und damit auch die zweite Potenz noch innergöttlich und besitzt keine Freiheit gegenüber dem Vater. Die Zeit des Sohnes, in der er eigenständig wirkt, ist geprägt vom Überwinden des Widergöttlichen nach dem Sündenfall.244 Der intelligible Prozess, in dem die Wesen ihren Ort haben, steht daher quasi zwischen den Äonen, bildet den Übergang, ohne dass Schelling ihn einem der beiden zuordnet.

239

PhdO2, 110. Vgl. PhdO1, 375; PhdO2, 71 f. 241 Siehe PhdO1, 375. 242 Zu einer ausführlicheren Darstellung der Verflechtungen von Schellings Trinitätstheologie mit der Zeitthematik vgl. Trawny, Die Zeit der Dreieinigkeit, 164–183. 243 So PhdO2, 71. Eine Zuordnung des Schöpfungsprozesses zum Äon des Vaters erlaubt möglicherweise PhdO1, 375, allerdings ist diese Stelle nicht eindeutig. 244 So PhdO2, 65 und 71; PhdO1, 375. 240

4.3. Zeit und Ewigkeit

221

In einer anderen Bestimmung der Äonen findet dieser Prozess jedoch durchaus seinen Platz. Wenn Schelling die Äonen unabhängig von den herrschenden Potenzen als „vorzeitliche Ewigkeit“, „Gegenwart“ und „zukünftige Ewigkeit“ bestimmt,245 gehört der Prozess zur Gegenwart, der Zeit der Schöpfung. Deutlich wird dies an der Aussage, dass die Schöpfung „in der zweiten zurückgehalten, arrêtirt worden“246 ist. Es handelt sich also um ein Ereignis, das in der Gegenwart stattfindet. Die Gegenwart muss sich auch vor den Beginn der arretierten Zeit erstrecken. Die Arretierung besteht in nichts anderem, als dass die schon existierende Gegenwart stets wiederholt wird. Bei dem Ereignis, das die Welt in der Gegenwart zurückhält, handelt es sich ohne Zweifel um den Sündenfall. Der Sündenfall markiert jedoch die Grenze zwischen dem Schöpfungsprozess und der gefallenen Welt, so dass auch der Schöpfungsprozess zur Gegenwart gehören muss. Deutlicher wird der Unterschied zwischen den beiden Bestimmungen der Äonen in der Zuordnung der arretierten Zeit und der Geschichte.247 Nach der zweiten Bestimmung der Äonen als „vorzeitliche Ewigkeit“, „Gegenwart“ und „zukünftige Ewigkeit“ sind arretierte Zeit und Geschichte eigentlich kein Teil der wahren Zeit. „[D]iese scheinbare Zeit, die Zeit dieser Welt, also ist nur Eine, immer sich wiederholende Zeit, von dem großen System der Zeiten, das in der göttlichen Absicht lag, nur Ein Glied“.248 Die arretierte Zeit ist also ein Glied der wahren Zeit, aber in dem Sinne, dass sie nur dieses eine Glied stets wiederholt. Die wahre Zeit wäre die Abfolge von vorzeitlicher Ewigkeit, Gegenwart, mit der hier der intelligible Prozess gemeint ist, und zukünftiger Ewigkeit.249 Diese Zeit war von Gott beabsichtigt. Die arretierte Zeit besteht in der unendlichen Wiederholung des zweiten Glieds der wahren Zeit. Damit ist sie nicht Teil der wahren Zeit, kein Abschnitt aus dieser Zeit, sondern etwas, das gewissermaßen aus ihr herauswächst und dann neben ihr beziehungsweise vorläufig anstatt der wahren Zeit besteht. Denn das zweite Glied der wahren Zeit ist die Gegenwart, der intelligible Prozess, als einzelnes Moment und nicht in endloser Wiederholung. Wenn die Äonen anhand der Herrscher unterschieden werden, wird jedoch zumindest die Geschichte als Zeit des Sohnes, das heißt als zweites Glied der wahren Zeit, bezeichnet: „Die Zeit des Sohns; diese ist die ganze Zeit dieser Welt. Denn da die Katastrophe eintritt, sowie die Schöpfung vollendet ist, so können wir sagen: die Zeit des Sohns ist die ganze Zeit seit der Schöpfung, da nämlich der Sohn seit dieser, als selbständige Persönlichkeit außer dem Vater, derjenige ist, dem der Vater alles Seyn übergeben hat.“250

245

PhdO2, 109. Vgl. auch PhdO1, 307 f. PhdO2, 109. 247 Vgl. Abs. 4.3.4 zur Diskussion der arretierten Zeit. 248 PhdO2, 109. 249 PhdO2, 109. 250 PhdO1, 375. 246

222

4. Zeit als Dynamik der Potenzen – Schellings Spätphilosophie

Erst mit der Katastrophe, dem Sündenfall, wird der Sohn zu einer unabhängigen Persönlichkeit.251 Daher kann es eine Zeit des Sohnes auch erst nach dem Sündenfall geben. Seine Herrschaft über diesen Äon äußert sich darin, dass er in der Geschichte das Gottwidrige überwindet. In der Äonenfolge, die nach den Herrschern der Zeiten geordnet ist, muss daher zumindest die Geschichte das zweite Glied bilden. Der Begriff Zeit wird an dieser Stelle synonym zu Geschichte verwendet. Es ist daher nicht klar, wie es sich mit der arretierten Zeit verhält. Sie könnte an dieser Stelle in „Zeit dieser Welt“252 eingeschlossen sein, da auch an anderer Stelle mit diesem Begriff die arretierte Zeit bezeichnet wird.253 Dafür spräche auch, dass sowohl arretierte Zeit als auch Geschichte den Sündenfall zur Voraussetzung haben und insbesondere Geschichte ohne arretierte Zeit nicht denkbar ist. Dagegen spricht jedoch, dass der Sohn nur in der Geschichte wirkt und die arretierte Zeit selbständig verläuft (vgl. dazu Abs. 4.3.4). Zudem ist die Geschichte in gewisser Weise eine Wiederholung des intelligiblen Prozesses im Menschen, so dass auch inhaltlich eine Nähe zur wahren Zeit vorhanden ist, die der arretierten Zeit fehlt. Auch wenn inhaltlich einiges dafür spricht, die arretierte Zeit nicht zum zweiten Glied der wahren Zeit zu zählen, bleibt jedoch festzustellen, dass es Schellings Ausdrucksweise nahe legt, dass er arretierte Zeit und Geschichte zusammen als Zeit des Sohnes betrachtet. An einer weiteren Stelle stehen beide Ansätze, die Äonen zu unterscheiden, nebeneinander, ohne dass Schelling den Konflikt in den Ansätzen klärt: Als die drei „Weltzeiten“ bezeichnet Schelling die Zeit des Vaters, die „Zeit der jetzigen Schöpfung, wo alles Seyn dem Sohn übergeben, also die Macht des Sohns über das Seyn auch eine ausschließliche ist,“254 sowie die zukünftige Ewigkeit. Direkt im Anschluss vergleicht Schelling diese Weltzeiten mit der arretierten Zeit: „Man kann diese drei Zeiten im Gegensatz mit dem, was insgemein die Zeit genannt wird, die aber selbst nur ein Glied ist in dieser großen Folge von Zeiten, d. h. ein Glied der wahren, der absoluten Zeit – im Gegensatz also mit jener bloß zeitlichen Zeit, die nämlich durch die bloße beständige Wiederholung der Einen Weltzeit = A entsteht, können sie ewige genannt werden.“255

Für zwei Aspekte in diesem Abschnitt gibt es zunächst verschiedene Verständnismöglichkeiten. Dass die zeitliche Zeit ein Glied der wahren Zeit ist, kann bedeuten, dass sie ein Teil oder ein Abschnitt der wahren Zeit ist oder dass sie ein Glied der wahren Zeit wiederholt. Mit der Weltzeit wiederum könnte ein Äon gemeint sein, also eine ewige Zeit, oder eine andere Zeit. Wenn die zeitliche Zeit ein Teil der wahren Zeit wäre, dann wäre sie jedoch eine der drei ewigen Zeiten, was in diesem Abschnitt gerade abgelehnt werden soll. Es bleibt daher die zweite Alternative, dass sie ein Glied der wahren Zeit wiederholt. Da sie die Weltzeit wiederholen soll, muss diese Weltzeit daher auch ein Glied der wahren Zeit sein, also einer der 251

Vgl. auch PhdO2, 65. PhdO1, 375. 253 Zum Beispiel in PhdO2, 109. 254 PhdO2, 71. 255 PhdO2, 71. 252

4.3. Zeit und Ewigkeit

223

Äonen. Die entsprechende Weltzeit in den vorangehenden Ausführungen müsste jedoch als Zeit des Sohnes zumindest die ganze Geschichte umfassen. Denn der Sohn herrscht eben im Überwinden des Widergöttlichen in der Geschichte. Die arretierte Zeit kann jedoch nicht die endlose Wiederholung der Geschichte sein. Sie ist vielmehr die Wiederholung der Zustände des intelligiblen Prozesses, die ihr Ziel verloren haben (vgl. Abs. 4.3.4). Auflösen lässt sich dieser Konflikt, wenn man annimmt, dass die beiden Möglichkeiten, die Äonen zu bestimmen, nicht nur geringfügig voneinander abweichen, sondern in der Bestimmung des zweiten Gliedes deutlich zu unterscheiden sind. In der ersten der oben betrachteten Stellen wird vom „System der Zeiten, das in der göttlichen Absicht lag“256 ausgegangen, das heißt der Zeit, wie sie ohne Sündenfall verlaufen wäre. Dieses System umfasst die vorweltliche Vergangenheit, den intelligiblen Prozess und die Wiederherstellung der Einheit in der zukünftigen Ewigkeit. Im Verhältnis zu diesem System ist die arretierte Zeit eine endlose Wiederholung der zweiten Zeit, der Produkte des intelligiblen Prozesses. Dieses System der Zeiten ist durch den Sündenfall nicht gänzlich aufgehoben. Sobald die Zeit in die nachweltliche Ewigkeit gelangt, ist auch diese wahre Zeit wiederhergestellt. Davon zu unterscheiden ist das System der Zeiten, das nach den Herrschern der Zeit aufgebaut ist. Diese Unterscheidung ist erst in Folge des Sündenfalls möglich, da der Sohn erst in dessen Folge eine unabhängige Persönlichkeit wird. Die Zeit des Sohnes ist daher die Geschichte, in der er wirkt. Die arretierte Zeit kann nun nicht als Wiederholung der Zeit des Sohnes verstanden werden, da die arretierte Zeit schon aus dem Sündenfall hervorgeht und daher parallel zur Geschichte existiert. An der letzten oben diskutierten Stelle stehen nun beide Ansätze unglücklich nebeneinander. Möglicherweise zeigt sich darin, dass Schelling ein einziges großes System der Zeiten beabsichtigt hatte und darum versucht, beide Bestimmungen der Äonen zu kombinieren. Doch der Sache nach ist es ratsam, sie deutlich zu unterscheiden. Das eine System setzt der Vater mit der Schöpfung in Gang. Durch den Sündenfall entsteht jedoch die arretierte Zeit. In der Geschichte wirkt darum der Sohn, so dass nun die Äonen nach der Unterscheidung der Herrscher der Zeiten realisiert sind. Der Prozess und Zeit In der „Darstellung der reinrationalen Philosophie“ bezeichnet Schelling auch den Prozess, der die Wesen konstituiert, an einer Stelle als „wahre Zeit“.257 Schelling diskutiert im Kontext dieser Stelle die Ausdehnung im Raum. In der intelligiblen Welt, im Prozess, befinden sich alle Wesen eigentlich am selben Ort. Denn jeder Moment besteht nicht für sich, sondern um im nächsten Moment des Überwindungsprozesses aufzugehen. Da jedoch auf jeder Stufe des Prozesses kurz innegehalten wird, 256 257

PhdO2, 109. PhdM1, 429.

224

4. Zeit als Dynamik der Potenzen – Schellings Spätphilosophie

indem der Geist jede Stufe abschließt und für sich sein lässt (vgl. Abs. 4.2.2), erhält jedes Ding seinen Ort in der Abfolge dieses Prozesses. Diese Ordnung ist für Schelling das Urbild der Ordnung, die sich in Raum und Zeit äußert: „Denn wenn dem räumlichen Au[s]einanderseyn und dem zeitlichen Nacheinander in der intelligibeln Welt nicht vorgesehen ist, so müßte, wenn dieses eintritt, ein sinnloses Durcheinander entstehen und alles drunter und drüber gehen: ganz im Gegentheil zeigen die aufeinander folgenden Erdschichten eine so gesetzliche, der Natur oder Idee eines jeden Geschlechts so weit entsprechende Folge, daß wir uns in ihnen gleichsam eine Erinnerung der Ideenwelt erhalten denken können.“258

Die Ordnung in der intelligiblen Welt bestimmt Schelling als Zeit und nicht als Raum.259 Dies ist sofort einsichtig, da die Momente im Prozess nacheinander folgen und nicht nebeneinander bestehen. Der Prozess konstituiert also durch das „Ringen“260 der Potenzen eine Zeit, auch wenn Schelling ihn in der Darstellung des Prozesses selten explizit als Zeit bezeichnet. An einer Stelle in der „Philosophie der Offenbarung“ verwendet Schelling das Wort „Vergangenheit“, um auszudrücken, dass der ungebändigte Wille der ersten Potenz erst überwunden werden muss, damit die Geschöpfe leben können: „er ist jenes Prius der Natur, […] das also erst zur Vergangenheit geworden seyn muß, um der Creatur erträglich zu seyn“.261 Zwischen der ersten Stufe des Prozesses, in der die erste Potenz noch nicht im Geringsten berührt wurde von irgendwelchen Überwindungsversuchen der zweiten Potenz, und den folgenden Stufen sieht Schelling also eine zeitliche Abfolge. Auch an dieser Stelle zeigt sich also, dass Schelling die Stufenfolge des Prozesses in zeitlichen Kategorien denkt, auch wenn er die zeitlichen Begriffe in der „Philosophie der Offenbarung“ fast nur für die Folge der Äonen verwendet. An diesen seltenen Stellen, in denen Schelling den Prozess als Zeit charakterisiert, nimmt er seine Zeitbegriffe aus den Weltaltern auf, die er also auch in der Spätphilosophie beibehalten hat.262 Die wahre Zeit im Prozess der „Philosophie der Offenbarung“ funktioniert vollkommen analog zur Zeit in den Weltaltern. Ein nicht zu unterschätzender Fortschritt zwischen den Weltaltern und seiner Spätphilosophie ist Schelling allerdings in der Beschreibung der gewöhnlichen Zeit gelungen. Im Folgenden wird darum kurz auf Schellings Zeitverständnis im ersten WeltalterFragment eingegangen. In den Weltaltern verwendet Schelling die Zeitmodi auf zwei Ebenen. Auf der ersten Ebene sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in jedem Moment des Prozesses gesetzt. In Folge der Überwindung wird die erste Potenz in steigendem 258 PhdM1, 428. „Aufeinanderseyn“ korrigiert zu „Auseinanderseyn“ nach F. W. J. von Schelling, Sämmtliche Werke, Bd. X, hrsg. von K. F. A. Schelling, Stuttgart/Augsburg 1861, 456. 259 PhdM1, 429. 260 Kasper, Das Absolute in der Geschichte, 254. 261 PhdO1, 289. 262 So zu Recht Nikolaus, Metaphysische Zeit, 142.

4.3. Zeit und Ewigkeit

225

Maße als vergangen gesetzt.263 Vergangen bedeutet hier nicht, dass die erste Potenz nicht mehr existierte. Der Zeitmodus wird von Schelling vielmehr als anderer Ausdruck für die Überwindung, für die „Befreyung des Seyenden vom ihm [= dem Sein, J.S.]“,264 verwendet. Die erste Potenz wird schrittweise überwunden, „als nichtwirkend gesetzt“.265 Als Vergangenes hat die erste Potenz also nicht aufgehört zu existieren, sondern ist als Überwundenes, nicht mehr Wirkendes, stets noch präsent. Schelling kann daher auch „vergangen“ und „latent“ gleichsetzen.266 Der Modus Vergangenheit bezeichnet hier die Existenz als etwas, dessen Wirksamkeit überwunden wurde. Dabei bleibt die erste Potenz zum Teil noch gegenwärtig und zukünftig, solange ihre Wirksamkeit noch nicht gänzlich überwunden ist.267 Analog wird die zweite Potenz in steigendem Maße als gegenwärtig gesetzt und die dritte Potenz als zukünftig. In jedem Moment des Prozesses sind daher alle drei Zeitmodi präsent. In einem ersten Sinne kann Schelling deshalb davon sprechen, dass ganze Zeit auf ganze Zeit folgt: Jeder Moment enthält in sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, also die ganze Zeit.268 Schelling will bei dieser Folge ganzer Zeiten jedoch noch mehr unter „ganzer Zeit“ verstehen: Die ganze Zeit ist insbesondere die Zukunft, die letzte Zeit, in der nichts mehr zukünftig ist. In ihr steht nichts mehr aus. Sie ist gewissermaßen vollendet und darum die ganze Zeit. Diese ganze Zeit ist in den anderen Momenten nicht gegenwärtig. Doch als Vergangenheit oder Zukunft ist sie dennoch in jedem Moment enthalten. In diesem Sinne ist jeder Moment des Prozesses ganze Zeit. Die Momente unterscheiden sich nur darin, was als Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft gesetzt ist.269 Mit jedem Schritt des Prozesses werden auch die vorhergehenden Momente oder Zeiten „als vergangen gesetzt“.270 Während die Zeitmodi auf der ersten Ebene einen Existenzmodus der jeweils zugleich präsenten Potenzen bezeichnen, beziehen sie sich auf der zweiten Ebene auf die Abfolge der Momente des Prozesses. Wenn im Fortschreiten der Überwindung ein neuer Moment gesetzt wird, werden die bisherigen Momente jeweils zur Vergangenheit. Da jeder Moment in sich schon ganze Zeit ist, entsteht so eine Folge von Zeiten.271 Jedes Ding, das aus diesem Prozess hervorgeht, hat also bereits eine ganze Zeit in sich. Diese Zeit ist die eigentliche, innere Zeit. Eine äußere, in die die Dinge eingebettet existieren könnten, gibt es in Schellings Weltalterphilosophie nicht. Die 263 F. W. J. von Schelling, Die Weltalter. Druck I 1811, in: Ders., Schellings Werke, Nachlaßbd.: Die Weltalter. Fragmente, hrsg. von M. Schröter, München 1946, 1–107 (= WA I), hier 132 f. 264 WA I, 135. 265 WA I, 133. 266 WA I, 133. 267 WA I, 150. 268 So in WA I, 135. 269 Vgl. WA I, 147 f. 270 WA I, 135. 271 Vgl. WA I, 135.

226

4. Zeit als Dynamik der Potenzen – Schellings Spätphilosophie

Entstehung der abstrakten, mechanischen Zeit erklärt sich Schelling durch den Vergleich der verschiedenen inneren Zeiten der unterschiedlichen Dinge. Sie bezeichnet Schelling als „Scheinbild“.272 In den Schriften der Spätphilosophie erklärt Schelling die Entstehung der gewöhnlichen Zeit dagegen durch eine Arretierung der wahren Zeit. Diese führt dazu, dass sich dieselbe Zeit in endloser Wiederholung selbst reproduziert (vgl. Abs. 4.3.4). Mit diesem Ansatz gelingt es Schelling, die Gleichförmigkeit der gewöhnlichen Zeit viel plausibler als in den Weltaltern zu beschreiben. Die Dynamik hinter dem Prozess der wahren Zeit ist jedoch die gleiche wie in der Spätphilosophie: Die zweite Potenz versucht, die erste zu überwinden. Die erste wehrt sich dagegen. Die dritte bestimmt also, wie weit die Überwindung jeweils fortschreiten darf.273 Es ist dieses „Ringen der beiden Prinzipien“,274 der Akt der Überwindung, der die Zeit konstituiert.275 Denn ohne fortschreitende Überwindung würde weder die erste Potenz zur Vergangenheit noch die zweite zur Gegenwart noch die dritte zur Zukunft. Insofern ist es einsichtig, dass Schelling diesen Prozess auch in seiner Spätphilosophie noch als Zeit betrachtet. Er verwendet lediglich das entsprechende Vokabular sehr selten, weil er denselben Inhalt auch in anderen Begriffen ausdrücken kann. Die Abfolge dieser Zeit, die in der Spätphilosophie der Ideenwelt entspricht, spiegelt sich nach Schelling in der Anordnung der Fossilien in den Gesteinsschichten. Dies ist im obigen Zitat bereits angedeutet und wird im weiteren Verlauf der „Darstellung der reinrationalen Philosophie“ ausführlicher diskutiert.276 Die Schichten der Gesteine enthalten Fossilien unterschiedlicher Arten, die jeweils nur in einer Epoche auftraten. Es gibt nach Schelling also eine Abfolge inhaltlich unterschiedener Momente, deren Spuren in den Fossilien vorliegen. Die Zeit der aktuellen Welt zeichnet sich jedoch dadurch aus, dass stets gleiche Momente aufeinander folgen. Nach Schelling kann durch keine noch so lange Folge gleicher Zeitmomente „E+E+E“ der Übergang zwischen zwei inhaltlich unterschiedlichen Zeitmomenten in der Folge „A+B…+E“ erklärt werden.277 So viele „E“ man auch in Richtung Vergangenheit zurückgehen mag, wird man sich doch nie den „D“ annähern. Von „D“ zu „E“ bleibt es stets der gleiche diskrete Sprung. Die Fossilien können daher nicht von etwas stammen, das in der Zeit „E+E+E“ gelebt hätte. Sie müssen aus einer qualitativ anderen Zeit „A+B+C+…“ stammen, die aus Perspektive der E-Zeit 272

WA I, 142–144. WA I, 149 f. 274 Kasper, Das Absolute in der Geschichte, 254. Vgl. auch WA I, 134 f. 275 WA I, 141 f. 276 Vgl. PhdM1, 495–500. In seinem Jahreskalender von 1849 rezipiert Schelling einige Schriften zur Paläontologie. Allerdings finden sich dort neben den Exzerpten aus der Literatur kaum eigene Stellungnahmen. Siehe F. W. J. von Schelling, Philosophische Entwürfe und Tagebücher, Bd. 14: 1849. Niederlage der Revolution und Ausarbeitung der reinrationalen Philosophie, hrsg. von M. Schraven, Hamburg 2007, 122–130. 277 PhdM1, 496. 273

4.3. Zeit und Ewigkeit

227

nur als Vergangenheit erscheinen kann,278 das heißt in diesem Fall als Überreste verstorbener Wesen. Die Abfolge inhaltlich unterschiedener Zeiten ist jedoch ein Merkmal der wahren Zeit. Darum ordnet Schelling die in den Fossilien erhaltene Abfolge der Ideenwelt zu. Dort hat jedes Ding seinen Ort im Prozess und dieser Ort bestimmt auch die Epoche, in der es in den Gesteinsschichten erscheint.279 Zeit als Folge Der Anfang ist für beide Zeiten, die Äonen und den Prozess, derselbe. Zeit beginnt mit der Schöpfung, indem die vorweltliche Ewigkeit durch das Setzen eines neuen Moments zur Vergangenheit wird. In der Folge der Äonen wird als zweiter Moment die ganze Schöpfung beziehungsweise Welt als ein Moment zusammengefasst. Im Prozess ist die Schöpfung in eine Vielzahl von Untermomenten aufgeschlüsselt. In der Diskussion dieses Anfangs der Zeit wurde bereits ein Charakteristikum der Zeit erwähnt: Sie ist eine Folge, deren Elemente durch die Vor- und Nach-Relationen geordnet sind. Diese Eigenschaft der Zeit ist für Schelling unabdingbar: „Zeit ist nicht denkbar ohne ein Vor und ein Nach, ohne ein prius und ein posterius. Nur wo ein solches ist, ist wirkliche Succession und demnach Zeit.“280 Es müssen also mindestens zwei Momente aufeinanderfolgen, deren Reihenfolge sich objektiv feststellen lässt. Der eine Moment muss als Folge des anderen begreifbar sein, so dass die Zuordnung von „Vor“ und „Nach“ eindeutig ist. Eine solche „wirkliche Succession“281 ist für Schelling Voraussetzung der Zeit. Die Bestimmung der Zeit als Folge ist so geläufig und selbstverständlich, dass sie kaum der Rede wert zu sein scheint. Die Schlussfolgerungen, die Schelling aus dieser Eigenschaft der Zeit für den Anfang der Zeit zieht, sind jedoch höchst interessant. Ein einzelner Moment kann noch keine Zeit aufweisen, weil er als einzelner Moment keine Folge bilden kann. Erst das Setzen eines neuen Zustands durch die Schöpfung, das Erheben der ersten Potenz, konstituiert daher die Zeit: Der ursprüngliche Zustand wird durch den zweiten als vergangen gesetzt und damit die erste Abfolge zweier Momente geschaffen (vgl. Abs. 4.3.2).282 Die zeitliche Folge ist für den Zeitbegriff so prägend, dass Schelling die vorweltliche Ewigkeit eben dadurch als Ewigkeit charakterisieren kann, dass sie „in sich selbst noch keine Folge von Zeiten, also eine wahre Ewigkeit ist.“283 Sie wird erst durch die Einbettung in eine Folge zu einer Zeit: „Diese vorzeitliche Ewigkeit, die für sich selbst noch nicht Zeit ist, wird durch die Schöpfung als Vergangenheit, und demnach als eine Zeit gesetzt. Denn mit der Schöpfung fängt eine neue Zeit an (ein neuer Aeon), welche neue Zeit nun Gegenwart ist, und so können wir sagen, daß 278

PhdM1, 496 f. PhdM1, 497 f. 280 PhdO1, 307. 281 PhdO1, 307. 282 PhdO1, 307; PhdO2, 108. 283 PhdO1, 306. 279

228

4. Zeit als Dynamik der Potenzen – Schellings Spätphilosophie

mit der Schöpfung überhaupt erst Zeit gesetzt ist; denn Zeit ist erst gesetzt, wenn Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gesetzt ist.“284

Zugleich wird in dieser Bemerkung zum Anfang der Zeit deutlich, dass nicht jede Folge Zeit konstituiert. Es muss eine Folge sein, die sich als Konsequenz einer Dynamik ergibt. Die Dynamik der Zeit Schelling kennt in seiner Spätphilosophie drei verschiedene Arten von Folgen. Nur dynamische Folgen konstituieren eine Zeit. Um die Besonderheit dynamischer Folgen herauszustellen, werden im Folgenden die drei Folgetypen beschrieben. Im Anschluss werden die wirkenden Ursachen in der Dynamik, die Potenzen und das Unvordenkliche, diskutiert. Folgen, die Schelling nicht als Zeit betrachtet, sind logische Folgen und das Erscheinen der Weisheit von absoluter Ewigkeit an. Logische Folgen zeichnen sich dadurch aus, dass in ihnen nichts geschieht. Darum sind sie auch in der absoluten Ewigkeit möglich (vgl. Abs. 4.3.1). Denn sie sind lediglich Explikationen von Eigenschaften, die in einem Zustand bereits impliziert sind. Im Gegensatz zu logischen Folgen wird daher deutlich, dass Zeit eine Folge bilden muss, deren Glieder durch ein Geschehen auseinander hervorgehen. Das Erscheinen der Weisheit, das Erkennen der alternativen Existenzweise, konstituiert einen weiteren Zustand neben der absoluten Ewigkeit. Doch auch dieses Hervorgehen betrachtet Schelling nicht als Zeit. Er bemüht Ausdrücke wie „ersehen“285 , „sich darstellen“286 , „sich zeigen“287 oder „Erscheinung“288 , um zu verdeutlichen, dass die Kenntnis der Möglichkeiten nicht durch ein Geschehen verursacht sein soll. Die Potentialisierung der Potenzen scheint jedoch auf den ersten Blick durchaus ein Geschehen darzustellen. In der absoluten Ewigkeit sind die Potenzen unvordenklich wirklich und weisen keine Möglichkeit eines anderen Seins auf. Durch die Einsicht in die alternative Existenzweise erhalten die Potenzen die Möglichkeit, eine andere Existenzweise anzunehmen. Zu ihrer unvordenklichen Wirklichkeit tritt also eine Möglichkeit hinzu. Auch wenn sich dadurch die Stellung der Potenzen in ihrer Einheit noch nicht ändert, verwandelt sich doch der Charakter der Potenzen. Sie werden überhaupt erst zu eigentlichen Potenzen, das heißt Möglichkeiten eines anderen Seins. Weiterhin ist der Zustand, in dem die Potenzen die Option einer anderen Seinsweise haben, mit der absoluten Ewigkeit nicht identisch. Es geht also durch die Potentialisierung ein neuer Zustand hervor.

284

PhdO2, 108 f. PhdO1, 292. 286 PhdO2, 108. 287 PhdO1, 267. 288 PhdO1, 268. 285

4.3. Zeit und Ewigkeit

229

Damit wäre das Erscheinen der Weisheit ebenfalls eine Folge, die als Beginn einer Zeit betrachtet werden müsste. In dieser Zeit wäre die absolute Ewigkeit die Vergangenheit der vorweltlichen Ewigkeit, bliebe zugleich aber auch gegenwärtig und zukünftig, weil sie im Gegensatz zur vorweltlichen Ewigkeit nicht vergehen kann. Schelling schränkt allerdings den Begriff des Geschehens auf Änderungen in der Stellung der Potenzen ein. Obwohl in der Potentialisierung eine bedeutende Veränderung vorliegt, ist dies nach Schelling kein Geschehen. Dank dieser Einschränkung ist der Anfang der Zeit erst die Erhebung der ersten Potenz ins Sein, mit der die anfängliche Einheit der Potenzen in eine Spannung übergeht. Diese Veränderung der Potenzen betrachtet Schelling als Dynamik. So wie der Anfang der Zeit nur ein dynamischer sein konnte289 (vgl. Abs. 4.3.2), so ist auch der weitere Verlauf der Zeit rein dynamisch: Jeder Zeitpunkt ist von den vorangehenden und nachfolgenden Momenten durch seinen Inhalt unterschieden und entsteht durch ein Geschehen, nicht rein mechanisch. Im Prozess bestehen die weiteren Zeitmomente in den einzelnen Stufen des Prozesses, in dem die erste Potenz in ihre ursprüngliche Seinsweise zurückgebracht wird. In jedem dieser Schritte gibt die erste Potenz einen Teil ihres Seins auf und das Sein der zweiten Potenz wird entsprechend hergestellt. Verantwortlich für die Stufung der Wiederherstellung ist die dritte Potenz (vgl. Abs. 4.2.2). Sie gibt den einzelnen Stufen Bestand und sorgt auf diese Weise dafür, dass sich eine Folge mit einer größeren Anzahl an Gliedern ergibt, die sich im Grad der Wiederherstellung der Einheit unterscheiden. Der Motor dieser Dynamik sind die Potenzen und das Unvordenkliche. Schelling sieht sie als die vier Ursachen der Welt an.290 Die erste Potenz ist die causa ex qua291 oder auch die materielle Ursache.292 Ihre Erhebung ins Sein gibt den Anlass für den Überwindungsprozess. Sie liefert damit die Grundlage und gewissermaßen den Stoff für die Dynamik. Die zweite Potenz ist die causa per quam oder causa formalis. Sie ist die eigentlich wirkende Ursache im Prozess. Denn sie arbeitet daraufhin, dass die erste Potenz ihr Sein aufgibt und damit die ursprüngliche Einheit wiederhergestellt wird. Dabei wird die erste Potenz begrenzt und durch Begrenzung entsteht das Wesen der Dinge. Dadurch erzeugt sie alle Wesen der intelligiblen Welt. Schelling kann die zweite Potenz daher auch als causa efficiens bezeichnen.293 Zwei der vier Ursachen, die klassischerweise unterschieden werden, fallen bei Schelling also zusammen. Schelling sieht dies jedoch schon bei Aristoteles vorgezeichnet, der die

289

PhdO2, 109. Vgl. unter anderem PhdO1, 279 f., 290 und 292. 291 Diesen und die folgenden Bezeichnungen verwendet Schelling in PhdO1, 290. 292 Die adjektivischen Bezeichnungen der aristotelischen Ursachen stammen vom AristotelesKommentator Alexander von Aphrodisias, vgl. J. Hübner, Art.: Ursache/Wirkung. I. Antike, in: HWPh, Bd. 11 (2001), 377–384, hier 379. 293 PhdM2, 112. 290

230

4. Zeit als Dynamik der Potenzen – Schellings Spätphilosophie

causa formalis und die causa efficiens nicht hinreichend unterscheiden könne.294 Die causa in quam oder causa finalis ist die dritte Potenz. Ihre Wiederherstellung ist das Ziel des Prozesses. Denn die Einheit von Sein und Können und die Freiheit, die in dieser Einheit liegt, ist das ursprünglich Gewollte.295 Das Unvordenkliche ist zuletzt die übermaterielle Ursache.296 Mit dieser Ursache kommt Schelling wiederum auf vier wie Aristoteles und gleicht damit die Identifizierung der causa formalis und causa efficiens aus. Übermateriell ist das Unvordenkliche, weil es zum Wesen des jeweils Seienden nichts beiträgt. Das Wesen jedes Seienden ist allein durch die Konstellation der Potenzen gegeben, die den Grad der Freiheit und Geistesbegabung festlegt (vgl. Abs. 4.1.7). Als Ursache kann das Unvordenkliche in zweierlei Hinsicht angesehen werden. Zunächst ist es Grundlage der Existenz der Potenzen, die an der unvordenklichen Wirklichkeit teilhaben. Auch im Prozess bleibt es Grundlage der Existenz. Damit wirkt es in zweiter Hinsicht, indem es die Potenzen zur Koexistenz zwingt. Die einzelnen Potenzen könnten nichts Sinnvolles hervorbringen. Lediglich die erste Potenz hätte die Möglichkeit in absolut unfreies Sein überzugehen. Da die Potenzen jedoch Attribute des einen Unvordenklichen sind, können sie trotz der Spannung nicht auseinanderfallen. Sie sind gezwungen, bildlich gesprochen, auf einem Punkt zusammen zu existieren, und können der Spannung nicht ausweichen. Sie müssen gegeneinander wirken. Insbesondere ist die zweite Potenz gezwungen, auf die Überwindung der ersten Potenz, die sich ins Sein erhoben hat, hinzuwirken.297 Dadurch werden die Potenzen erst zu den Ursachen im oben dargestellten Sinne. Im Verlauf des Prozesses wird das Selbstsein des Subjekts überwunden und dabei alle möglichen Konstellationen der Potenzen durchlaufen. Jedes Wesen erhält damit seinen festen Platz im Prozess. Jeder Moment der Zeit ist zugleich durch seinen Inhalt unterschieden von den anderen Zeitpunkten und eindeutig festgelegt. Der Ablauf der wahren Zeit entspricht einer Steigerung: In jedem Moment ist das entsprechende Wesen mehr von der ersten Potenz befreit und mehr vom Geist geprägt. Bei aller Betonung des Fortschreitens im schellingschen Zeitmodell darf jedoch nicht vergessen werden, dass jeder Moment gewisse Aspekte wiederholt. Die Dynamik, dass die erste Potenz jeweils etwas mehr überwunden wird und die dritte Potenz dem Moment Bestand gibt, bleibt in jedem Moment der Zeit gleich (vgl. Abs. 4.2.2). Für die Folge der Äonen ist es ebenfalls die Dynamik der Potenzen, die den Verlauf der Zeit prägt. Die unterschiedlichen Momente des Prozesses sind lediglich zu einem Moment, der Welt, zusammengefasst. Die Dynamik besteht also ebenso in der Erhebung der ersten Potenz und der Überwindung durch die zweite mit der anschließenden Setzung der dritten Potenz. Diese Dynamik wird mit einem gröberen 294

PhdM1, 397. Vgl. zur Diskussion der Ursachen PhdM1, 388–390; PhdO1, 279. 296 PhdO1, 280. 297 PhdO1, 280–284; PhdM1, 313 f. und 399 f.; Schelling, Das Tagebuch 1848, 158. 295

4.3. Zeit und Ewigkeit

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Raster betrachtet, so dass nur drei Momente unterschieden werden. Für die Unterscheidung der Herrscher der Zeiten kommt schließlich noch der Sündenfall und die nachfolgende Geschichte hinzu. Die Dynamik und die aus ihr resultierende Zeit sind also durch zwei Charakteristika bestimmt: Die einzelnen Momente bilden eine Folge und jeder Moment der Folge unterscheidet sich inhaltlich entsprechend der Gesetze der Dynamik. Eine Dynamik, aus der die Zeit hervorgeht, ist unverzichtbar, wenn man nicht eine unerklärliche, allem vorausgesetzte äußere Zeit annehmen will. Ihr Anfang und ihr Verlauf ließen sich tatsächlich nicht erklären, sondern könnten nur postuliert werden. Gottes Beziehung zu einer solchen Zeit könnte nur darin bestehen, dass er entweder ihr unterworfen ist oder außerhalb von ihr steht. Schelling wählt zu Recht eine dynamische Erklärung der Zeit. So kann er Gottes Freiheit gegenüber und zur Zeit beschreiben und zugleich den Anfang der Zeit erklären. Er kann eine Geschichte Gottes unter Einbezug der Zeit denken. Der Ansatz einer dynamischen Zeit ist daher ein sehr fruchtbarer Gedanke. 4.3.4. Die arretierte Zeit Die bisher diskutierte wahre Zeit entspricht nicht dem Phänomen, das gewöhnlich Zeit genannt wird. Die wahre Zeit im Sinne des Prozesses bildet eine Ordnung der Wesen oder Gattungen. Jedes Wesen geht aus einem etwas unfreieren hervor und geht selbst in einem etwas freieren Wesen auf. Es gibt keine Wiederholung gleicher Momente in der wahren Zeit. Auch die Folge der Äonen des Vaters, des Sohnes und des Geistes bildet nicht die erfahrbare Zeit des Menschen ab. Schellings Erklärung und Ableitung der gewöhnlichen Zeit wird im Folgenden untersucht. Im Anschluss wird versucht, die defekte Dynamik zu erläutern, die Ursache dieser Zeit ist. Die gewöhnliche Zeit unterscheidet Schelling von der wahren Zeit und leitet sie aus dieser ab: „Ich bemerke hiebei, damit kein Mißverstand entstehen könne, in diese Zeit [= die zukünftige Ewigkeit, J.S.] ist die Welt oder Schöpfung nicht gelangt, sie ist in der zweiten zurückgehalten, arrêtirt worden. Diese arrêtirte Zeit, die nur immer wieder sich selbst setzen, nicht aber in die wahre Folge, in die dritte Zeit durchdringen kann, diese Zeit, die nur immer wieder sich selbst setzen kann, deren Schema die Reihe A + A + A ist, diese bloß scheinbare Zeit, die nicht die wahre ist – die wahre wäre erst hergestellt, wenn die Gegenwart in ihre Zukunft durchdringen könnte –, diese bloß scheinbare Zeit, die, anstatt die wahre Zeit zu seyn, vielmehr nur ein Anhalten, eine ἐποχή der wahren Zeit ist, ist die Zeit dieser Welt, in der wir leben“.298

Eigentlich sollte die Zeit also von der Vergangenheit, der vorweltlichen Ewigkeit (A), in die Gegenwart, die Zeit der Welt (B), bis in die Zukunft, die nachweltliche Ewigkeit (C), übergehen. Bevor die Zeit von B nach C übergehen kann, wird sie jedoch in der Gegenwart festgehalten und wiederholt damit den immergleichen Zeitpunkt. Darin gleicht sie einer Schallplatte mit einem Sprung, an dem die Musik 298

PhdO2, 109.

232

4. Zeit als Dynamik der Potenzen – Schellings Spätphilosophie

nicht weiterspielt, sondern stets den gleichen Ton wiederholt. Die wahre Zeit ist gewissermaßen die Melodie, wie sie eigentlich abgespielt werden sollte. Die endlose Wiederholung derselben Stelle gleicht der arretierten Zeit. Durch die Arretierung geht die scheinbare Zeit also aus der wahren Zeit hervor als eine Störung und Unterbrechung des normalen Ablaufs.299 Die Arretierung wird verursacht durch den Sündenfall des Menschen. Der Mensch sollte als letztes Glied des Prozesses Gott setzen, indem er sich dafür entscheidet, die wiederhergestellte Einheit der Potenzen zu bewahren und sie damit unveränderlich festzusetzen. Stattdessen entscheidet er sich dafür, die Einheit wiederum aufzulösen. Als Konsequenz verlieren die bisherigen Glieder des Prozesses ihre eigentliche Zukunft, in der sie ihre Erfüllung gehabt hätten. Das hat zur Folge, dass die Welt, die Gesamtheit des Prozesses, „von ihrer wahren Zukunft abgeschnitten, vergeblich ihr Ende sucht, und jene falsche, bloß scheinbare Zeit erzeugend, in trauriger Einförmigkeit nur immer sich selbst wiederholt.“300 Die Zukunft ist für die gegenwärtige Welt aus eigener Kraft nicht erreichbar, so dass die eigentliche Erlösung noch aussteht. Darin unterscheidet sich das Zeitverständnis der „Philosophie der Offenbarung“ vom Weltalterentwurf von 1811:301 Dort sah Schelling die kommende Einheit des Geistes als im Verborgenen schon gegenwärtig an. In der „Philosophie der Offenbarung“ dagegen steht die Zeit des Geistes noch gänzlich aus. In der wahren Zeit ist es die Dynamik der Potenzen, die neue Momente der Zeitreihe hervorbringt. Die zugrunde liegende Dynamik der arretierten Zeit führt Schelling nicht im Detail aus. Er liefert nur einige vage Beschreibungen, die bereits erwähnt wurden. Etwas summarisch nennt Schelling die Aspekte der Dynamik auch in seinen Philosophischen Notizen: „Die Bewegung in Ao, denn dahin sollte alles gelangen, wird unterbrochen; es kommt also nicht an seinen Ort – nicht in d|ie| Einheit; daher |ist| jedes für sich (Raum); und weil nicht an seinen Ort – Zeit –, immer neuer Ansatz, dahin zu kommen. Es hat immer noch ein Wohin (ein Ziel, wo es nicht ist) und es hat statt des wahren, ein zufälliges Wo – es ist nicht an seinem Ort? Das Stehenbleibende ist’s und ist’s nicht – was |es| sein sollte. Daher |ist es| vergänglich. Immer aber tritt ein anderes an die Stelle.“302

Sie lassen sich in drei Punkten zusammenfassen: 1. Die Welt ist von ihrem Ziel, der Zukunft, getrennt.303 Jedes Wesen hätte sein Ziel und seine Vollendung im abschließenden Setzen Gottes gehabt. Da der Mensch 299 Die Fußnote in PhdO2, 110 scheint die Analogie der defekten Schallplatte einzuschränken, indem sie davon redet, dass stets ganze Zeit auf ganze Zeit folgt. Allerdings ist diese Fußnote einem anderen Manuskript entnommen und passt in der Tat viel besser zur Darstellung der abstrakten Zeit in den Weltaltern (vgl. Abs. 4.3.3). Denn in der arretierten Zeit der Spätphilosophie ist die Zukunft unerreichbar und fehlt eben zur ganzen Zeit. 300 PhdO1, 352. 301 Siehe Trawny, Die Zeit der Dreieinigkeit, 181. 302 Schelling, Das Tagebuch 1848, 162. 303 PhdO1, 352.

4.3. Zeit und Ewigkeit

233

sich jedoch gegen diese Vollendung entscheidet, ist dieses Ziel aus eigener Kraft nun unerreichbar. 2. Die Welt sucht dennoch nach dieser Vollendung.304 Also versucht sie, in wiederholten Ansätzen etwas Neues zu setzen. 3. Die Welt kann folglich nur sich selbst wiederholen.305 In diesen Punkten scheinen die Potenzen und ihre Dynamik keine Rolle zu spielen. Doch auch in Bezug auf die wahre Zeit wurde bereits festgehalten, dass die Potenzen nicht aus eigenem Anlass aktiv sind. Es ist Gott, der eigentlich den Prozess in Gang setzt und in Bewegung hält. In der arretierten Zeit ist es nun die Welt mit ihren bereits erzeugten Wesen, die in ihrer Suche nach Vollendung aktiv ist. Schelling scheint sich vorzustellen, dass die Welt versucht, aus eigener Kraft den nächsten Zeitpunkt hervorzubringen und damit den ursprünglichen Prozess weiterzuführen. Sie kann nicht anders, als stets weitere Momente zu produzieren. Doch wiederholt sie damit in einer endlosen Schleife nur denselben Zustand, weil sie nicht mehr den letzten Zustand, ihre Vollendung, setzen kann. Diese Möglichkeit hat der Mensch zunichte gemacht, indem er die Einheit der Potenzen wieder aufhob. Die Dynamik der arretierten geht also unmittelbar aus der Dynamik der wahren Zeit hervor. Sie ist eine defekte Variante der eigentlichen Dynamik: Der Versuch, den nächsten Moment der wahren Zeit zu setzen, scheitert, so dass der gleiche Moment wiederholt wird. Im Sündenfall liegt also ein zweiter Übergang vor, in diesem Fall ein Übergang zwischen zwei verschiedenen Formen der Zeit. Auch die Möglichkeit dieses Übergangs liegt begründet in den Potenzen. Es ist wiederum die erste Potenz, die durch ihre beiden Existenzmöglichkeiten eine Wahl erlaubt. Der Unterschied zwischen den beiden Zeiten ist durch die unterschiedlichen Formen bestimmt, in denen sich die Dynamik vollzieht. In der wahren Zeit überwindet die zweite Potenz die erste, so dass sich eine Folge inhaltlich unterschiedener Momente ergibt. In der arretierten Zeit wiederholt die defekte Dynamik stets den gleichen Moment. Auch die Voraussetzung dieses Übergangs ist daher, dass Zeit aus einer Dynamik abgeleitet ist und die Dynamik verschiedene Konstellationen und Verlaufsformen erlaubt. Die Potenzen werden in der Erklärung der arretierten Zeit nicht erwähnt, weil die Konfiguration der Potenzen sich nicht ändert. Während die wahre Zeit vom Überwindungsprozess geprägt war, behalten in der arretierten Zeit die Wesen ihre Stellung der Potenzen bei. Die arretierte Zeit ist durch den Stillstand der Natur geprägt. Die Überwindung spielt sich nicht mehr in der Natur ab, sondern im Geist, in der Geschichte des Menschen.306 In der Geschichte bilden die einzelnen Stadien der Überwindung jedoch nicht mehr die Zeitmomente, sondern die verschiedenen Völker. Jedes Volk stellt einen Abschnitt des Überwindungsprozesses dar. Je nach 304

PhdO1, 352. PhdO1, 352; PhdO2, 109. 306 PhdO1, 352 f.; PhdM2, 122 f. 305

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4. Zeit als Dynamik der Potenzen – Schellings Spätphilosophie

Fortschritt des Prozesses besitzt das Volk Mythen, in denen Gestirne, Pflanzen, Tiere oder menschenähnliche Götter verehrt werden.307 Der intelligible Prozess wird also im Geist der Menschen wiederholt. Der menschliche Geist ist dermaßen der Spannung der Potenzen unterworfen, dass der Zustand der Potenzen sein ganzes Denken prägt. Dieser Prozess konstituiert darum keine Zeit, sondern die Geschichte in Form von Völkern mit stets weiter entwickelten Mythologien. Trotz der klaren Unterschiede zwischen arretierter Zeit und Geschichte verwendet Schelling die Begriffe „Zeit“, „Zeit dieser Welt“ und „Geschichte“ in der Bestimmung der Zeit des Sohnes synonym.308 Es ist daher nicht klar, ob Schelling die arretierte Zeit als Teil des Äons des Sohnes ansieht oder nicht. Sachlich sprechen einige Gründe dafür, nur die Geschichte als Teil der wahren Zeit anzusehen (vgl. auch Abs. 4.3.3). Denn sie ist die Wiederholung des intelligiblen Prozesses im Menschen. Daher unterteilt Schelling die Zeit des Sohnes auch anhand der Geschichte des Menschen in zwei Epochen.309 Die erste Epoche ist die Zeit des Heidentums, der Mythologien. In ihr überwindet die zweite Potenz wiederum die erste, um zum Herrn dieses Sein zu werden. Die zweite Epoche ist die Zeit der Offenbarung. Nachdem die Einheit der Potenzen wiederhergestellt ist, kann der Sohn über das Sein verfügen und nach seinem Entschluss handeln.310 Die Zeit der Natur dagegen läuft parallel zur Geschichte unverändert weiter. Für den schellingschen Zeitbegriff lässt sich festhalten, dass Zeit jeweils eine Folge ist, die durch eine Dynamik, ein Geschehen, erzeugt wird. Wahre und arretierte Zeit unterscheiden sich darin, dass die arretierte Zeit einer defekten Variante der Dynamik entspringt. 4.3.5. Die absolute Freiheit Gottes Freiheit ist spätestens seit der Freiheitsschrift ein zentrales Thema in Schellings Philosophie. In seiner Spätphilosophie kristallisiert sich Gottes Freiheit in prägnanter Weise in der vorweltlichen Ewigkeit. In ihr ist Gott frei zu wählen, ob er die Welt erschafft und damit in den Prozess und die Zeit eingeht oder in seiner Ewigkeit bleibt. In der Diskussion der vorweltlichen Ewigkeit und auch der Potenzenlehre wurde daher die Thematik der Freiheit bereits erwähnt. An dieser Stelle kann die Freiheitsthematik beim späten Schelling nur zusammenfassend dargestellt werden.311 Skiz307

PhdO1, 380 f. PhdO1, 375. 309 Vgl. zur Unterteilung PhdO1, 375–377. 310 PhdO1, 377. 311 Ausführliche Diskussionen der Freiheitsproblematik in der Spätphilosophie finden sich beispielsweise in Fuhrmans, Schellings letzte Philosophie, 176–194; J. Halfwassen, „Freiheit als Transzendenz. Schellings Bestimmung der absoluten Freiheit in den ‚Weltaltern‘ und in der ‚Philosophie der Offenbarung‘“, in: F. Hermanni/D. Koch/J. Peterson (Hrsg.), »Der Anfang und das Ende aller Philosophie ist – Freiheit!« Schellings Philosophie in der Sicht neuerer Forschung, Tübingen 2012, 292– 308, hier 306–308. Zur menschlichen Freiheit vgl. J. Hennigfeld, „Sprache, Freiheit und Mythos im 308

4.3. Zeit und Ewigkeit

235

ziert werden im Folgenden die Voraussetzungen der Freiheit in Schellings Potenzenlehre, die Abhängigkeit der Freiheit von einer vorgängigen Realität, die Freiheit von den Konsequenzen der Entscheidung und die Bedeutung von Gründen für die Entscheidung. Die Voraussetzungen der Freiheit verankert Schelling bereits in seiner Potenzenlehre. Denn zum freien Können gehören drei Aspekte: Das freie Wesen muss in der Lage sein, eine Möglichkeit umzusetzen, das heißt in diesem Fall, das Sein zu setzen. Es muss aber auch die Fähigkeit haben, von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch zu machen. Diese beiden Aspekte, das Verwirklichen- und das Unterlassen-Können, sind mit den ersten beiden Potenzen gegeben. Denn die erste Potenz hat die Möglichkeit, selbst zu sein und unmittelbar ins Sein überzugehen. Die zweite Potenz hält sie davon ab, indem sie das Sein für die erste Potenz ist. Zur Freiheit müssen beide Aspekte in einem Wesen gegeben sein. Der dritte Aspekt ist daher die Einheit der ersten beiden (vgl. Abs. 4.1). Mit den drei Potenzen sind also die Voraussetzungen der Freiheit Gottes gegeben. Schelling betrachtet vor allem die Freiheit, eine andere Existenzweise als die Ewigkeit anzunehmen. Diese Möglichkeit ist in der ersten Potenz gegeben, da sie selbst sein kann, anstatt ihr Sein in der zweiten Potenz zu haben.312 Wählt Gott diese Möglichkeit, setzt er den Prozess in Gang und startet damit die Zeit. Die Potenzenlehre ist also so ausgeformt, dass es in Bezug auf das Sein eine Alternative gibt, die sich von dem Sein unterscheidet, in dem sich Gott vorfindet. Durch die spezielle Ausgestaltung der Potenzenlehre, die von Anfang an auf diese Freiheit ausgelegt war, ergibt sich die Möglichkeit, zwischen Zeit und Ewigkeit zu wählen. Wirklich fähig, die Alternative zu wählen, wird Gott erst durch die Erkenntnis ihrer Möglichkeit. Diese Einsicht erscheint ihm ohne jede eigene Tätigkeit und bewirkt den Übergang von der absoluten Ewigkeit zur vorweltlichen Ewigkeit (vgl. Abs. 4.3.2). Gottes Freiheit ist daher nicht schon in oder vor der absoluten Ewigkeit gegeben. Auch Gott findet sich nach Schelling zunächst in einer Situation vor, die ihm ohne vorgängige Einflussmöglichkeit vorgegeben ist. Erst vor dem Hintergrund dieser Situation nimmt Gott überhaupt die Möglichkeit einer Alternative wahr und kann sich dann in einer Entscheidung zu der vorgefundenen Situation verhalten. In diesem Punkt scheint Schelling auch notwendigerweise recht zu haben. Eine freie Entscheidung ist ohne vorgängige Existenz nicht denkbar, da sich sonst die Frage stellte, wer sich denn auf welcher Grundlage entscheidet. Die alleinige Fähigkeit, eine alternative Existenzweise zu wählen, reicht Schelling als Kriterium zur Freiheit noch nicht aus. Er stellt eine weitere Bedingung an die zu wählende Alternative: „[W]ahre Freiheit erkenne ich erst da, wo es mir in Ansehung Denken Schellings“, in: F. Hermanni/D. Koch/J. Peterson (Hrsg.), »Der Anfang und das Ende aller Philosophie ist – Freiheit!« Schellings Philosophie in der Sicht neuerer Forschung, Tübingen 2012, 331–345, hier 337–340. 312 PhdO1, 271.

236

4. Zeit als Dynamik der Potenzen – Schellings Spätphilosophie

meiner selbst gleichgültig seyn kann, so oder so zu seyn, so oder so zu handeln.“313 Gemeint ist mit diesem Kriterium, dass Gott sich nicht wirklich frei entscheiden könnte, wenn er durch die alternative Existenzweise sich selbst und insbesondere seine Einheit verlöre. Doch Gott ist bereits vor der Entscheidung bekannt, dass seine wesensgemäße Einheit im Gegensatz zur äußerlichen Einheit der Potenzen auch im Prozess bestehen bleibt.314 Zusätzlich wird auch die äußerliche Einheit durch die zweite Potenz im Prozess garantiert wiederhergestellt.315 Darum braucht er nicht zu befürchten, dass er irgendeinen Verlust an sich selbst davonträgt. Gott besitzt also nicht nur die Freiheit zu einer Entscheidung, sondern im gewissen Sinne auch die Freiheit von den Konsequenzen dieser Entscheidung.316 Zumindest in Hinblick auf die menschliche Freiheit lässt sich dieses Kriterium Schellings kritisieren. Denn sind nicht gerade auch Menschen frei, die Entscheidungen treffen können, die für sie nicht nur nachteilig, sondern womöglich auch tödlich sind? Könnte sich bei Gott wahre Größe nicht darin äußern, dass er auch Entscheidungen treffen kann, die seine Göttlichkeit in Frage oder in Abhängigkeit von unbeeinflussbaren Faktoren stellen? Zumindest sollten derartige Möglichkeiten nicht voreilig ausgeschlossen werden. Für Schelling bedeutet dieses Kriterium, dass die Gründe für Gottes Entscheidung Ziele sein müssen, die sich auf etwas außerhalb von Gott und seiner Integrität beziehen.317 Zu diesen Zielen gehören die Schöpfung,318 die Setzung eines Bewusstseins, das ihn erkennt,319 aber auch die selbständige Existenz des Sohnes und des Geistes.320 Die genaue Ausführung dieser Gründe sind für die vorliegende Arbeit nicht weiter relevant. Es ist jedoch interessant zu bemerken, dass beispielsweise die Zeugung des Sohnes Gott in Ansehung seiner selbst gleichgültig sein soll. Daran wird deutlich, dass sich das oben genannte Kriterium letztlich allein auf die wesensgemäße Einheit und die zu wiederherstellende äußerliche Einheit der Potenzen bezieht. Wenn diese Einheit erneut gesetzt wird, ist die Göttlichkeit wiederhergestellt. Die Konsequenzen des Prozesses, dass beispielsweise der Sohn zu einer eigenständigen Persönlichkeit geworden ist, tangieren scheinbar nicht seine Göttlichkeit. Die Entscheidung Gottes für oder gegen die Schöpfung lässt sich nicht a priori ableiten. Eine freie Entscheidung, eine Tat, ist nach Schelling stets nur im Nachhinein durch Erfahrung zu erkennen.321 Bevor die Tat vollzogen wurde, ist es unmöglich, sie anhand irgendwelcher Ursachen vorherzusagen. Denn sonst wäre es nach 313

PhdO1, 269. PhdO1, 268 f. 315 PhdO1, 271–273 und 310 f. 316 Diese doppelte Bedeutung absoluter Freiheit bei Schelling betont zu Recht Halfwassen, „Freiheit als Transzendenz“, 306. 317 PhdO1, 269. 318 PhdO1, 277 f. 319 PhdO1, 304. 320 PhdO1, 373–375. 321 Vgl. PhdO1, 113; PhdO2, 6 f. 314

4.4. Zeit aus Dynamik

237

Schelling keine freie Tathandlung. Erst nach Vollzug der Entscheidung lässt sie sich erkennen und durch Angabe von Gründen nachvollziehen.322 So können die Menschen im Rückblick auf die erfolgte Entscheidung zur Schöpfung und zur Zeit über die Gründe reflektieren.323 Darin soll sich die freie Entscheidung vom Zufall unterscheiden. Denn für ein zufälliges Ereignis lassen sich auch im Nachhinein keine Gründe angeben. Wenn die vorgängige Unvorhersagbarkeit lediglich eine epistemische Einschränkung benennen soll, dann kann diese Abgrenzung vom Zufall auch funktionieren. In diesem Fall können innere Gründe, die von außen nicht erkennbar sind, die Entscheidung determinieren. Erst nach vollzogener Tat sind die inneren Gründe auch für die Umwelt ersichtlich. Der Entscheidungsprozess enthält also keinen Zufall und dennoch wäre die Entscheidung für Außenstehende nicht vorhersagbar. Schelling äußert sich allerdings nicht zu der Frage, ob Gottes Entscheidung innerlich durch seine Gründe determiniert ist.

4.4. Zeit aus Dynamik Das Zeitmodell des späten Schelling zeichnet sich dadurch aus, dass Zeit dynamisch entsteht und durch Dynamik fortschreitet. Zeit geht ohne Voraussetzung jeglicher Hintergrundzeit aus der Dynamik des Prozesses hervor. Schelling selbst hebt dieses Merkmal seiner Zeitkonzeption hervor, indem er betont, dass nur ein dynamischer Anfang der Zeit denkbar ist.324 Die Ewigkeit dagegen liefert die Voraussetzungen für die Dynamik in Form der Potenzen und ihrer unvordenklichen Einheit. Die absolute Ewigkeit selbst existiert zwar ohne Geschehen und überzeitlich. Doch an den Potenzen zeigt sich die alternative Möglichkeit eines Prozesses. In der vorzeitlichen Ewigkeit hat Gott die wirkliche Freiheit, zu wählen, ob er die Zeit beginnen lässt. Das Hervorgehen der vorweltlichen Ewigkeit lässt sich allerdings schwer von einem Geschehen abgrenzen (vgl. Abs. 4.3.3). Im „Sich-Zeigen“ der alternativen Existenzweise verändert sich der Charakter der drei Momente zu wirklichen Potenzen. Dass diese Potentialisierung kein Geschehen darstellen soll, ist nicht plausibel. Mit dieser Kritik wird eine Funktion der vorweltlichen Ewigkeit in Frage gestellt. Denn damit die vorweltliche Ewigkeit Zeit von der absoluten Ewigkeit trennen kann, darf das Hervorgehen der vorweltlichen Ewigkeit nicht der Beginn der Zeit sein und darf daher auch kein Geschehen sein. Ein notwendiges Unterscheidungskriterium zwischen absoluter und vorweltlicher Ewigkeit bleibt jedoch: Die absolute Ewigkeit bezeichnet die wesensgemäße Einheit, die unvergänglich bestehen bleibt. Die vorweltliche Ewigkeit ist die äußere Einheit der Potenzen, 322

Vgl. auch Fuhrmans, Schellings letzte Philosophie, 177 f. PhdO2, 10–12. 324 Vgl. Abs. 4.3.2 und PhdO2, 109. 323

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4. Zeit als Dynamik der Potenzen – Schellings Spätphilosophie

die mit dem Beginn der Zeit vergeht. Eine zweite Funktion der vorweltlichen Ewigkeit bleibt ebenfalls bestehen: Erst durch die vorweltliche Ewigkeit erhält Gott die Wahl, die Welt zu erschaffen. Ohne die Potentialisierung der Momente hätte er diese Alternative nicht. Die Vorzüge des schellingschen Modells liegen im dynamischen Zeitverständnis: Der Anfang der Zeit wird erklärbar. Denn da die Zeit kein abstrakter Hintergrund ist, vor dem alles Geschehen stattfindet, sondern selbst durch die Dynamik erzeugt wird, beginnt sie mit dem Anfang des Prozesses. Den traditionellen Einwand gegen einen Anfang der Zeit, wie er sich bei Aristoteles findet, überwindet Schelling sehr plausibel mit dem Argument, dass bereits im Anfang der Zeit etwas als Vergangenheit gesetzt wird, nämlich die vorzeitliche Ewigkeit. In den dynamischen Gesetzen der Potenzen ist zudem der wesentliche Aspekt der Freiheit Gottes verankert (vgl. Abs. 4.3.5). Es sind die beiden möglichen Existenzweisen der ersten Potenz, die erst die Alternative für Gott ermöglichen. Dass mit vorweltlicher Ewigkeit und Zeit zwei mögliche Existenzweisen für Gott denkbar sind, ist also durch die Gesetze der Potenzen gewährleistet. Auch die Möglichkeit, zwischen diesen Existenzweisen überzugehen, ist in der ersten Potenz begründet. Der Übergang zwischen vorweltlicher Ewigkeit und Zeit wird also durch das dynamische Zeitverständnis ermöglicht. Zeit ergibt sich aus der Dynamik der Potenzen und die Gesetze der Potenzen sind so gestaltet, dass sie neben der vorweltlichen Ewigkeit auch die Zeit und den Übergang von vorweltlicher Ewigkeit zur Zeit erlauben. Die weitere Diskussion Schellings über die Freiheit Gottes behandelt hauptsächlich die Frage der Entscheidungsfindung und die Gründe für die getroffene Entscheidung. Im dynamischen Zeitverständnis ist allerdings die Grundlage dafür gelegt, dass der Übergang überhaupt möglich ist. In ähnlicher Weise geht auch die arretierte Zeit aus der wahren Zeit hervor. Durch ein Geschehen in der wahren Zeit verändert sich die Dynamik. Sie folgt anderen Gesetzen, weil sie ihr eigentliches Ziel nicht mehr erreichen kann. Diese veränderte, defekte Dynamik äußert sich folglich in einer anderen Verlaufsform. Statt eines zielgerichteten Ablaufs inhaltlich unterschiedener Momente, der ein natürliches Ende hätte, ergibt sich eine ziellose Aneinanderreihung stets gleicher Momente. Dieser Übergang zwischen wahrer und arretierter Zeit folgt also ebenfalls aus der zugrunde liegenden Dynamik, nur dass die Entscheidung in diesem Fall der Mensch getroffen hat. Auch die Ewigkeit ist kein abstrakter Zustand der Zeitenthobenheit, auch wenn Schelling Zeitlosigkeit als Kriterium für Ewigkeit verwendet (vgl. Abs. 4.3.2). Denn ewig ist das unvordenkliche Eine, dessen Einheit unauflöslich ist und das die Potenzen als Attribute hat. Das Ewige hat damit alle Voraussetzungen für die Zeit und nach der Erkenntnis dieser Möglichkeit auch die Macht, Zeit zu starten oder auch nicht. Zugleich wirkt das Ewige auch in der Zeit, indem es verhindert, dass die Potenzen auseinanderfallen. Erst dadurch werden die Potenzen dazu gezwungen, in einen Prozess einzugehen. Die Zeit in Schellings Modell ist also unmittelbar von der Ewigkeit abhängig und ohne sie nicht denkbar.

4.4. Zeit aus Dynamik

239

Nicht zuletzt wird mit diesem Modell eine Geschichte Gottes mit der Schöpfung denkbar. Gott als der absolut Ewige bleibt zwar jenseits des Prozesses und unveränderlich in seiner wesensgemäßen Einheit. Doch äußerlich kann er die Einheit der Potenzen aufheben. Der Prozess, der dadurch in Gang gesetzt wird, bewirkt die Wiederherstellung der Einheit und der äußerlichen Existenz Gottes. Gott ist also unmittelbar in die Geschichte der Schöpfung eingebunden. Das Ewigkeitsmodell, das im Folgenden entwickelt wird, versucht diese Vorzüge der schellingschen Zeitkonzeption aufzunehmen. Dafür ist es erforderlich, dass die Zeit wie bei Schelling durch Dynamik konstituiert wird und die Ewigkeit die Voraussetzungen der Dynamik liefert. Die Zeiten und ihre Form sowie die eventuellen Übergänge ergeben sich dann aus den dynamischen Abläufen. Im Gegensatz zu Schelling wird dabei jedoch offen gelassen, was genau die Akteure dieser Dynamik sind. Zum einen ist es nicht erforderlich, solche Details zu kennen, um die oben genannten Vorteile zu erhalten. Zum anderen sollte man sich nicht auf eine spezielle Form der Dynamik festlegen, um das Gottesbild nicht unnötig einzuschränken. Es sind nur einige generelle Grundzüge nötig, um die oben genannten Vorteile zu rekonstruieren. Diese Grundzüge sollen nun dargestellt und zu einem Ewigkeitsmodell ausgeführt werden.

5. Gottes Macht über seine Zeiten Ziel dieser Arbeit ist es, zu untersuchen, ob sich Gottes Macht, seinen eigenen Zeitbezug zu bestimmen, konsistent denken lässt. Zu diesem Zweck wird in diesem Kapitel ein Modell entwickelt, das versucht, eine solche Macht plausibel darzustellen. Das Modell soll in erster Linie eine Möglichkeit beschreiben, wie sich Wechsel der Zeitbezüge und -formen denken lassen. Es sind möglicherweise auch andere Realisierungen dieser Macht denkbar. Zugleich werden aber einige Argumente angeführt, die für dieses Modell sprechen. Gottes Ewigkeit wird allerdings, falls dieses Modell zutrifft, die hier beschriebenen Möglichkeiten und Freiheiten umfassen, aber auch über sie hinausgehen. Als besonders vielversprechend hat sich die Idee der hintergrundunabhängigen Dynamik erwiesen. Sie erlaubt in den Causal Set Theories Übergänge zwischen Räumen unterschiedlicher Dimensionalität und zwischen Zeiten, die die Form einer einfachen Linie oder einer relativistischen Raumzeit annähern (vgl. Abs. 3.6.3). In Schellings Spätphilosophie hat ein ähnlicher Ansatz den Wechsel zwischen vorweltlicher Ewigkeit und Zeitlichkeit ermöglicht (vgl. Abs. 4.3.2). Zusätzlich zur hintergrundunabhängigen Dynamik muss die Freiheit Gottes vorausgesetzt werden, damit die Übergänge zwischen den verschiedenen Verlaufsformen durch Gott selbst bestimmt werden können. Als Grundlage des Modells werden daher im ersten Abschnitt diese drei Eigenschaften Gottes diskutiert. Die Hintergrundunabhängigkeit, Dynamik und Handlungsfreiheit Gottes sollen gewährleisten, dass Gott die Macht hat, eigene Zeiten zu konstituieren. Für ihre Anwendung in diesem Ewigkeitsmodell ist dabei allein entscheidend, ob sie nach theologischen Kriterien angemessen sind (vgl. Abs. 3.1.1). Die genannten Eigenschaften sind speziell auf das hier entwickelte Modell zugeschnitten. Sie sollen alle benötigten Voraussetzungen enthalten, aber keine zusätzlichen Annahmen. Gott ist daher natürlich nicht nur hintergrundunabhängig, sondern überhaupt unabhängig von allem anderen. Er ist nicht nur frei in seinen Handlungen, sondern auch in seiner Willensbildung. Durch die Reduktion auf die benötigten Eigenschaften wird jedoch verdeutlicht, was für dieses Modell wirklich relevant ist. Im Anschluss soll mittels einer schematischen Darstellung skizziert werden, welche Möglichkeiten sich für eine solche freie hintergrundunabhängige Dynamik eröffnen. Es wird aufgezeigt, wie in diesem Rahmen unter anderem Zeit, Vielzeitigkeit, eine Art Gegenwart aller Zeiten und insbesondere Übergänge zwischen den

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5. Gottes Macht über seine Zeiten

Zeitformen denkbar sind. Vor allem an der Möglichkeit der Übergänge zwischen den Zeitformen erweist sich, dass die drei Eigenschaften tatsächlich die Macht implizieren, über die eigenen Zeiten zu bestimmen. In der Ausführung dieser Möglichkeiten wird auch deutlich, dass es mehrere Anknüpfungspunkte an die traditionellen Ewigkeitsvorstellungen gibt. Welcher der Aspekte an diesem Modell zu Recht Ewigkeit heißen darf, ist daher nicht durch das Modell selbst und auch nicht durch die Tradition festgelegt. Es wäre unter anderem denkbar, eine der möglichen Zeitformen, wie die endlose Zeit, Ewigkeit zu nennen. Im Einklang mit dem Ansatz in der Einleitung wird jedoch zuletzt dafür plädiert, die Macht, selbst Zeit zu schaffen, als Ewigkeit zu bezeichnen.

5.1. Die Grundlage der Macht Gottes über die Zeiten Die Eigenschaften der Hintergrundunabhängigkeit, Dynamik und Handlungsfreiheit sollen gewährleisten, dass Gott verschiedene Zeitformen erfahren kann. Der Begriff der hintergrundunabhängigen Dynamik vereint die Hintergrundunabhängigkeit der allgemeinen Relativitätstheorie mit einer Dynamik, die dem Werden der Raumzeitpunkte zugrunde liegen soll. Eine Entsprechung findet dieser Begriff daher in den dynamischen Interpretationen der allgemeinen Relativitätstheorie und den Causal Set Theories (vgl. Abs. 3.3.2 und Abs. 3.6.3). Auch Schelling formuliert den Prozess der Potenzen in seiner Spätphilosophie der Sache nach hintergrundunabhängig. Die Dynamik vollzieht sich nicht in einer Hintergrundzeit, sondern konstituiert erst die Zeit. Im Gegensatz zu den physikalischen Theorien, die nur die Raumzeit im Blick haben, thematisiert Schelling jedoch auch die Freiheit Gottes. Auch wenn es nach Schelling nur wenige Momente gibt, in denen Gott Entscheidungen treffen muss, erhält Gott damit die Wahl, ob er Zeit schaffen will und sich auf den Prozess einlässt. Er hat die Alternativen zur Auswahl, eine Folge von Momenten, die Zeit, zu realisieren oder es bleiben zu lassen. Durch diese Wahlmöglichkeit wird Gott erst zum Herrscher über die Zeit und ist ihr nicht unterworfen (vgl. Abs. 4.3). Um Gott als Herrscher der Zeit zu denken, ist es ausreichend, eine Handlungsfreiheit Gottes in Bezug auf einzelne Aspekte der Dynamik anzunehmen. Er muss entscheiden können, ob er neue Momente setzt und in welcher Beziehung sie zu den vorangehenden Momenten stehen. Daher kann die Diskussion der Freiheit Gottes auf diese Aspekte eingeschränkt werden. Als Basis des Modells werden also diese drei Eigenschaften Gottes angenommen: Hintergrundunabhängigkeit, Dynamik und Handlungsfreiheit. Die Bedeutung dieser drei Eigenschaften wird in den folgenden drei Unterabschnitten erläutert. Ebenfalls diskutiert werden einzelne Argumente, weshalb man Gott diese Eigenschaften zuschreiben sollte, sofern diese Argumente nicht schon in der Einleitung betrachtet wurden.

5.1. Die Grundlage der Macht Gottes über die Zeiten

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5.1.1. Hintergrundunabhängigkeit Die erste Eigenschaft, die Hintergrundunabhängigkeit, soll garantieren, dass Gott keiner starren, unveränderlichen Hintergrundzeit unterworfen ist. Wenn Gott eine Zeit kennt, dann ist diese Zeit nicht unveränderlich, kein Hintergrund, sondern kann von Gott beeinflusst werden. Die Bedeutung der Hintergrundunabhängigkeit wird nun genauer betrachtet. Der Begriff „Hintergrundunabhängigkeit“ stammt aus der Physik (vgl. Abs. 3.3.2). Er dient im Wesentlichen zur Abgrenzung von einer Eigenheit der klassischen Physik: In newtonscher Physik wurden Raum und Zeit als ein unveränderbarer Hintergrund betrachtet, innerhalb dessen sich alles Geschehen abspielt (vgl. Abs. 3.2.2). Diese klassische Sichtweise deckt sich durchaus mit der Alltagserfahrung. Für alle alltäglichen Zwecke lässt sich annehmen, dass die Zeit immer und überall gleich abläuft und der Raum sich nicht verändert. Raum und Zeit sind quasi die Bühne des Geschehens. Sie bilden eine Struktur, die sich nicht verändert, im Gegensatz zu all den Objekten in ihr, deren Verhalten durch Theorien oder Erklärungen beschrieben werden muss. Raum und Zeit sind die Referenzrahmen für alle Ereignisse. Dieser Begriff des Hintergrunds lässt sich auch auf andere Aspekte übertragen. Solange die Menschen nicht wussten, dass die Abfolge von Tag und Nacht durch die Drehung der Erde hervorgerufen wird, bildete auch der Wechsel von Tag und Nacht einen starren Hintergrund in der Beschreibung des Geschehens unter der Sonne. Es schien so, dass der Wechsel von Tag und Nacht durch nichts beeinflusst wird. Tag und Nacht folgen kontinuierlich aufeinander. Ebenso waren die Jahreszeiten feste Gegebenheiten. Hintergrund ist jeweils dasjenige, was auf der jeweiligen Beschreibungsebene als fest vorgegeben angenommen wird. Was als Hintergrund angesehen wird, hängt also auch vom jeweiligen Kenntnisstand ab und wie etwas in der theoretischen Beschreibung behandelt wird. Hintergrundunabhängigkeit ist in erster Linie eine Eigenschaft der Theorie oder des Modells. Ob eine hintergrundunabhängige Beschreibung möglich ist, sagt jedoch auch etwas über die beschriebenen Gegenstände aus. Denn ein Hintergrund impliziert stets eine Abhängigkeit. Der Mensch ist abhängig von seiner Umwelt, ihren Abläufen und Rhythmen, der Abfolge von Saat und Ernte sowie Schlaf- und Wachzeiten. Er sät, wenn der Frost vorbei ist und die warmen Jahreszeiten beginnen, um ernten zu können, wenn das Getreide reif ist. Er ist abhängig davon, dass auf den Winter wieder Frühling und Sommer folgen. Er braucht den Schlaf in der Nacht. Das Licht am Tag benötigt er für die meisten alltäglichen Verrichtungen. Auch von Raum und Zeit ist der Mensch abhängig. Die Abhängigkeit ist lediglich etwas abstrakter. Die Folge der Zeitmomente erscheint so selbstverständlich, dass man sich diese Abhängigkeit meist nicht bewusst macht. Doch ohne ausgedehnte Räume könnten Menschen nicht nebeneinander existieren. Ohne Folge der Zeiten

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5. Gottes Macht über seine Zeiten

könnte der Mensch nicht handeln oder leben. Alle Verrichtungen, die die menschliche Existenz ermöglichen, brauchen ihre Dauer und ihren Platz. Ohne Bezug auf Raum und Zeit lässt sich ein Mensch nicht beschreiben. Das zeigt sich bereits an oberflächlichen Lebensläufen, die sich in Zeit- und Ortsangaben auf Hintergrundzeit und -raum beziehen. Der Mensch ist von Raum und Zeit nicht nur abhängig, sondern auch erheblich durch sie eingeschränkt. Denn er ist gezwungen, von einem Zeitmoment zum anderen fortzuschreiten. Er kann die Zeit nicht anhalten. Alle seine Errungenschaften unterliegen der Vergänglichkeit. Er selbst altert und kann diesen Prozess nicht aufhalten. Diese Art der Abhängigkeiten und Einschränkungen lassen es schon undenkbar erscheinen, dass Gott einer Hintergrundzeit unterworfen sein sollte. Denn selbst wenn Gott nicht altern sollte und auch sonst vielen Einschränkungen nicht unterläge, könnte er eine Hintergrundzeit nicht anhalten. Sie wäre für ihn eine unbeeinflussbare Gegebenheit. Auch für ihn müsste Zeitpunkt auf Zeitpunkt folgen und jeder Moment unablässig in die Vergangenheit übergehen. Die Zeit verginge unerbittlich. Eine Hintergrundzeit steht daher im Widerspruch zu Gottes Allmächtigkeit. In der allgemeinen Relativitätstheorie werden Raum und Zeit selbst durch Gesetze beschrieben (vgl. Abs. 3.3.2). Sie bilden also keinen statischen Hintergrund wie in der newtonschen Physik, sondern werden durch das Geschehen in ihnen selbst beeinflusst. Damit gibt es in der allgemeinen Relativitätstheorie keine Strukturen mehr, die starr vorgegeben wären. Alles wird durch Gesetze beschrieben und ist veränderlich und Einflüssen von anderen Objekten ausgesetzt.1 Betrachtet man nun das Universum mit den Menschen, die in ihm leben, als ein hintergrundunabhängiges System, sind die Abhängigkeiten des Menschen nicht aufgehoben. Doch es wird deutlich, dass der Mensch mit technischen Mitteln einige Abhängigkeiten verringern kann und auch Einfluss auf die genannten Phänomene hat. Dieser Einfluss mag marginal sein. Theoretisch wären jedoch Maschinen oder Aktionen denkbar, die beispielsweise die Dauer der Tage verkürzen oder verlängern könnten, wenn auch vielleicht nur um Sekunden. Selbst Raum und Zeit werden durch die Anwesenheit eines jeden Menschen geringfügig gekrümmt. Diese Ablehnung starrer Hintergründe ist für das zu entwickelnde Modell notwendig. Damit wird bereits eine feste, unveränderliche Zeit abgelehnt. Wenn es eine Zeit für Gott gibt, kann sie durch Gott beeinflusst werden. Denn die Zeit müsste, damit sie keinen Hintergrund bildet, durch das, was in ihr existiert, verändert werden können. Für das Modell, das in diesem Kapitel entwickelt werden soll, ist anzunehmen, dass Gottes Einfluss auf seine Zeit weitaus größer ist als der Einfluss des Menschen auf seine Zeit. Dies wird dadurch gewährleistet, dass gefordert wird, dass 1

So die Definition von Hintergrundunabhängigkeit nach Rickles, „Who’s Afraid of Background Independence?“, 144 f. Diese Intuition mathematisch zuverlässig und allgemein zu formulieren, ist scheinbar noch nicht gelungen. Vgl. für eine Diskussion der Probleme Giulini, „Remarks on the Notions of General Covariance and Background Independence“, 111–118.

5.1. Die Grundlage der Macht Gottes über die Zeiten

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Gott selbst hintergrundunabhängig ist. Denn aus der Hintergrundunabhängigkeit Gottes folgt nicht nur, dass er seine Zeiten beeinflussen kann, sondern auch dass jede Zeit Gottes eine interne Zeit ist. Dieser Aspekt lässt sich an der externen Zeit des Menschen verdeutlichen. Beschreibt man den Menschen zusammen mit dem ganzen Universum, wäre eine hintergrundunabhängige Formulierung prinzipiell möglich. Will man sich jedoch auf den Menschen beschränken und nicht auch den ganzen Rest des Universums erklären, ist eine hintergrundunabhängige Beschreibung unmöglich. Man muss die Zeit, die dem Menschen vorgegeben ist, als Hintergrund postulieren. Denn eine Beschreibung des Menschen ohne Zeit ist nicht möglich. Die Beschreibung soll allerdings nur den Menschen und nichts anderes erklären und Zeit ist für den Menschen zumindest in Teilen eine externe Struktur. Also müssen die externen Aspekte der Zeit als Hintergrund angenommen werden. Eine hintergrundunabhängige Beschreibung des Menschen allein wäre dann möglich, wenn zu diesem Zweck kein Bezug auf externe Strukturen genommen werden müsste. Gott soll nun selbst hintergrundunabhängig sein. Das heißt für dieses Modell, dass nichts anderes als Gott, keine externen Strukturen, in das Modell aufgenommen werden dürfen. Ansonsten wäre vielleicht das Gesamtsystem von Gott und den externen Strukturen hintergrundunabhängig, nicht aber Gott selbst. Eine Zeit, die zu Gott gehört, muss daher eine interne Zeit sein, die sich in irgendeiner Weise aus Gott selbst ergibt. Aus der Hintergrundunabhängigkeit Gottes folgt mit diesem Argument nicht, dass keine Strukturen außerhalb von Gott existieren, sondern nur, dass Gottes Zeiten an sich unabhängig von externen Strukturen sind. Nur wenn Gott sich entscheidet, sich in seinen Zeiten auf anderes zu beziehen, wird ein Bezug auf externe Strukturen hergestellt. Für die weitere Entwicklung des Modells braucht daher die Überlegung, ob Gott in externe Strukturen eingebettet ist, nicht berücksichtigt zu werden. Das Postulat der Hintergrundunabhängigkeit ist ausreichend. Strukturen außerhalb Gottes sind für das Verständnis seiner Macht über seine eigenen Zeiten nicht relevant und seine Zeiten sind interne Zeiten, die sich aus Gott selbst ergeben. Über dieses Modell hinaus ist aber anzunehmen, dass Gott keine externen Strukturen vorgegeben sind. Alle Strukturen sind entweder in seinem Wesen begründet oder von ihm geschaffen. In der Ablehnung einer Hintergrundzeit und auch einer externen Zeit liegt der zutreffende Aspekt des Modells der Zeitlosigkeit. In diesem Modell wird Gott jegliche Zeit abgestritten und als zeitloses Wesen der Zeit und Vergänglichkeit der Welt entgegengesetzt. Augustin lehnt die Zerteilung Gottes in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ab, weil er die Zerteilung des Geistes als Unvollkommenheit ansieht (vgl. Abs. 1.3.2). In ähnlicher Weise lehnen auch Vertreter der Gegenwart aller Zeiten eine Zeitfolge für Gott ab. Nach Plotin und Boethius würde Gott die Zukunft fehlen, wenn sie für ihn noch ausstünde. Er wäre dann nicht vollendet (vgl. Abs. 1.3.1). Richtig daran ist, dass Gott tatsächlich keiner externen Hintergrundzeit unterworfen ist.

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5. Gottes Macht über seine Zeiten

Sowohl bei Plotin als auch bei Augustin ist der entscheidende Punkt die Vorstellung von Gottes Vollendetheit oder Erhabenheit. Dass die Zeitlichkeit des Menschen eine Unvollkommenheit darstellt, ist einsichtig. Denn dem Menschen ist durch die äußere Zeit der Wandel der Zeiten aufgezwungen. Er kann versuchen, sich in dieser Zeit zurechtzufinden. Doch er ist in seinen Möglichkeiten stark eingeschränkt. Die Differenz von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bewirkt, dass der Mensch nur einen Bruchteil des Ganzen kennen kann, dass er Abschied nehmen muss von Vergangenem und dass ihn eine Zukunft erwartet, die Gutes oder auch Schlechtes bringen kann. Daraus folgt jedoch nicht, dass Zeitlichkeit in jeder Variante eine Unvollkommenheit sein muss. Insbesondere ist Zeitlichkeit eine Ergänzung statt einer Unvollkommenheit, wenn sie freiwillig gewählt werden kann oder von anderen Zeitbezügen begleitet wird. Gott wäre, wenn er die Differenz von Vergangenheit und Zukunft in keiner Weise erfahren könnte, auch eingeschränkt und daher unvollkommen. Er wäre im Gegensatz zur endlichen Zeitlichkeit definiert und daher nach Hegels Verständnis der Unendlichkeit2 selbst endlich. Eine ganze Existenzweise wäre ihm verwehrt. Zudem finden sich in den biblischen Überlieferungen Hinweise auf Vorstellungen eines dynamischen, wenn nicht gar zeitlichen Gott (vgl. Abs. 1.4.2). Auch wenn die Dynamik Gottes in der Bibel nicht als Konzept ausgearbeitet wird, reden die biblischen Autoren vielfach von Gott, als ob er dynamisch handelt oder sogar wandelbar wäre (vgl. Abs. 1.4.3). Nicht zuletzt wird Gott in Christus selbst Mensch und damit zeitlich (vgl. Abs. 1.4.5). Darum ist es wichtig, festzuhalten, dass die Hintergrundunabhängigkeit Dynamik und Zeit nicht generell ausschließt. Denn auch die Raumzeit besitzt schließlich ihre Zeit. Darin liegt der Unterschied des hier vertretenen Modells zum Modell der Zeitlosigkeit: Auch wenn Gott von keiner starren Hintergrundzeit abhängig ist, darf eine interne Zeit Gottes, die dynamisch entsteht, nicht ausgeschlossen werden. 5.1.2. Dynamik Die biblischen Überlieferungen setzen vielfach einen Gott voraus, der in der Geschichte handelt und Israel und die Gläubigen begleitet (vgl. Abs. 1.4.2). Ein Handeln eines zeitlosen Gottes mag in gewissem Sinne denkbar sein. Ein verstehendes Begleiten der Schöpfung wäre jedoch kaum denkbar, ohne dass Gott auch selbst die Innenperspektive der Zeit erfährt (vgl. Abs. 1.4.4). Ein zeitloser Gott wäre somit ein ziemlich eingeschränkter und unvollkommener Gott, der die Erfahrungen seiner Geschöpfe nicht nachvollziehen könnte. Um den biblischen Überlieferungen von Gottes Gemeinschaftstreue und Interesse an seiner Schöpfung gerecht zu werden, muss Gott also Zeit und Dynamik zugeschrieben werden. Dass eine Dynamik ohne Hintergrundzeit denkbar ist, haben sowohl die Untersuchungen der schellingschen Spätphilosophie als auch der modernen phy2

Vgl. Hegel, Wissenschaft der Logik I/1, 138–159.

5.1. Die Grundlage der Macht Gottes über die Zeiten

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sikalischen Theorien ergeben. Die Unterscheidung von Dynamik und Zeit aus der Einleitung (vgl. Abs. 1.4) hat sich daher bewährt. In Schellings System sind es die Potenzen, die eine Dynamik konstituieren. Sobald sie aus ihrer natürlichen Stellung gebracht werden, wirkt die zweite Potenz auf eine Wiederherstellung der Einheit hin und die dritte Potenz steuert diesen Prozess. Dabei werden stets neue Momente erzeugt, die sich dem Zielzustand annähern. Zeit ist nach Schelling identisch mit dem Ablauf dieses Prozesses und nicht seine Voraussetzung. Die Vielfalt der Zeitmomente wird erst durch den Prozess erzeugt, indem jeder Überwindungsschritt einen neuen Moment konstituiert. Der Begriff „der Moment“ kann an dieser Stelle irreführend sein, da er sich üblicherweise bereits auf Zeitpunkte oder kurze Zeitspannen bezieht. Zu Zeitmomenten im eigentlichen Sinne werden die Momente jedoch erst im Kontext der entstehenden Zeit. Mangels eines besseren Begriffs wird im Anschluss an Schelling3 dennoch „der Moment“ verwendet werden. Ein Moment in diesem Sinne ist also nur durch den Kontext der Dynamik definiert und soll noch keine Zeit implizieren. Eine Dynamik kann unterscheidbare Momente erzeugen und beschreibt zugleich ihren Zusammenhang. Einen ähnlichen Ansatz wie Schelling verfolgen auch die dynamische Interpretation der allgemeinen Relativitätstheorie und in ihrer Folge die Causal Set Theories. Eine bisher unbekannte Dynamik erzeugt ausgehend von einigen Momenten andere Momente. Die Momente bilden in ihrer Abfolge eine gleichmäßige Struktur, die sich durch die relativistische Raumzeit beschreiben beziehungsweise annähern lässt. Gemeinsam mit Schellings Zeitkonzept ist also, dass die Dynamik Zeit erzeugt. In beiden Ansätzen sorgt die Dynamik für die Entstehung der Momente. Bei Schelling sind die Potenzen dafür verantwortlich, bei den physikalischen Theorien sind die eigentlichen Akteure bisher unbekannt. Die Momente weisen in den Beziehungen untereinander eine starke Regelmäßigkeit auf. In Schellings Prozess folgt beispielsweise ein Moment auf den anderen wie Perlen auf einer Schnur. Sofern diese Regelmäßigkeiten sich über viele Momente erstrecken, können sie als eine Art Verlaufsform oder Zeit von der eigentlichen Dynamik abstrahiert werden. Man beschreibt also die Verlaufsform für sich, indem man nur die Regelmäßigkeiten erfasst und die Variationen in der Dynamik vernachlässigt. Bei Schelling würde man die Zeit durch das Folgen der Momente aufeinander beschreiben und vom Inhalt der Momente, der jeweiligen Konstellation der Potenzen, absehen. Dadurch kann der Eindruck entstehen, dass diese Verlaufsform einen Hintergrund für die Dynamik bildet, obwohl sie tatsächlich erst durch die Dynamik erzeugt wird. Fehlen jedoch Regelmäßigkeiten jeder Art, werden die Momente nur als Chaos wahrnehmbar sein. Die verschiedenen Ansätze bei Schelling und in den erwähnten physikalischen Theorien unterscheiden sich bei allen Gemeinsamkeiten in der spezifischen Struk3

Vgl. Fußnote 204 auf Seite 210.

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5. Gottes Macht über seine Zeiten

tur, die die Verlaufsform der Zeit annimmt. Die konkrete Verlaufsform der Zeit ist daher abhängig von den Spezifika der Dynamik. Die relativistische Dynamik führt zu einer Struktur mit Lichtkegeln, relativer Gleichzeitigkeit und krümmbarer Raumzeit. Die Dynamik der Potenzen erzeugt eine Folge von diskreten Momenten. Daher ist es naheliegend, dass auch die Struktur von Gottes Zeit dadurch bestimmt wird, welche Form seine Dynamik annimmt. Um einen Wechsel zwischen verschiedenen Zeitformen zu ermöglichen, muss Gottes Dynamik so flexibel sein, dass sie verschiedene Verlaufsformen aufweisen kann (siehe Abs. 5.1.3). Schon beim Menschen lässt sich eine Abhängigkeit des Zeitverlaufs von der Dynamik beobachten. Der Mensch kennt nicht nur die äußere Zeit, sondern auch sein inneres Zeiterleben. Die innere Zeit des Menschen verläuft nicht synchron zur äußeren. Zeitdehnung und Zeitraffer sind gängige Erfahrungen, die unter anderem durch Stresssituationen oder Langeweile hervorgerufen werden.4 Diese Abweichungen zwischen innerer und äußerer Zeit sind möglich, weil sie durch verschiedene dynamische Prozesse konstituiert werden. Die äußere Zeit basiert auf bisher unbekannten Prozessen und ist dem Menschen vorgegeben. Die innere Zeit des Menschen wird durch die dynamischen Prozesse konstituiert, die den Menschen überhaupt erst leben lassen. Dazu gehören unter anderem die biologischen Prozesse im Gehirn und im Hormonhaushalt des Menschen. Dementsprechend kann durch Hormone wie Adrenalin das Zeiterleben beeinflusst werden. Die innere Zeit des Menschen darf gegenüber der äußeren nicht abgewertet werden. Beide Zeiten werden durch ihre je eigene Dynamik erzeugt und sind echte Zeiten. Der Unterschied zwischen innerer und äußerer Zeit ist lediglich, dass die innere Zeit in eine äußere eingebettet ist, während die Raumzeit scheinbar in nichts anderes eingebettet ist. An ihrem Charakter als Zeit ändert diese Einbettung der inneren Zeit jedoch nichts. Bei beiden Zeiten folgen unterscheidbare Momente aufeinander, die eine spezielle Verlaufsform annehmen.5 Die Einbettung in die andere Zeit ermöglicht lediglich einen Vergleich der Zeiten, der vielfach dazu führt, dass die äußere Zeit als „objektive“ Zeit bevorzugt wird. Doch auch die relativistische Zeit ist krümmbar. Sie verläuft in der Nähe schwerer Massen langsamer als im freien Weltraum. Ein objektives, absolutes Zeitmaß existiert daher nicht. Es gibt nur den jeweils lokalen Zeitverlauf. Der Grund, weshalb es sinnvoll ist, die äußere Zeit als gemeinsames Zeitmaß zu vereinbaren, ist allein ein praktischer: Die Variationen im Verlauf der Raumzeit sind um ein Vielfaches geringer als die Variationen zwischen den inneren Zeiten der Menschen. Deshalb sind Terminvereinbarungen, die sich auf die Zeit der Raumzeit beziehen, sehr viel präziser. Zeit kann also durch Dynamik konstituiert werden. Wenn Gott handelt und daher eine Dynamik aufweist, kann auch er eine interne Zeit kennen. Damit die Rede von einer Zeit Gottes gerechtfertigt ist, ist es lediglich nötig, dass Gott eigene Mo4 5

Das menschliche Zeiterleben diskutiert beispielsweise Gloy, Zeit, 25–63. Vgl. zu dieser Definition von Zeit Abs. 3.7.3.

5.1. Die Grundlage der Macht Gottes über die Zeiten

249

mente des Seins in sich unterscheidet und sich von diesen Momenten eine Verlaufsform abstrahieren lässt, die als Zeit interpretierbar ist. Diese Voraussetzungen sind erfüllt, wenn Gott beispielsweise die Erfahrungen eines Menschen nachvollziehen will (vgl. Abs. 1.4.4). Die Behauptung, dass Gott dynamisch agiert und damit innere Zeiten kennt, erweckt den Anschein, Kenntnisse über das Innenleben Gottes zu haben. Um zu verdeutlichen, wie wenig in dieser Behauptung eigentlich vorausgesetzt wird, ist es hilfreich, nochmals auf die Zeit des Menschen und des Universums einzugehen. Die innere Zeit des Menschen wird erzeugt durch die komplexe Dynamik der biologischen, chemischen und physikalischen Prozesse, die im Körper des Menschen stattfinden. Doch um die Zeit des Menschen zu kennen, zu erfahren und phänomenologisch zu beschreiben, sind die Kenntnisse all dieser Prozesse überflüssig. Die Kenntnisse der Neurobiologie beispielsweise sind hilfreich für ein tieferes Verständnis dafür, wie das Gedächtnis konkret umgesetzt ist. Um die innere Zeit des Menschen phänomenologisch zu beschreiben, ist ein Bezug auf die Neurobiologie jedoch nicht nötig.6 Dazu reicht es, festzustellen, dass irgendeine Dynamik stattfindet, die unterscheidbare Momente in Denken und Wahrnehmung aufeinanderfolgen lässt und Momente aus der einen Richtung in Form von Erinnerungen präsent hält. Für die Feststellung, dass der Mensch eine innere Zeit besitzt, werden also nur einige sehr allgemeine Charakteristika der Dynamik benötigt, keineswegs ein detailliertes Verständnis. Deutlicher wird dies am Beispiel der Raumzeit. Die eigentliche Dynamik, die einzelne Raumzeitpunkte erzeugt, ist bisher unbekannt. Es existieren einige Theorien, die versuchen, diese Dynamik zu beschreiben. Zwei Beispiele wurden in Abs. 3.6 diskutiert. Die Vielfalt dieser Theorien zeigt jedoch, dass bisher unklar ist, welches die tatsächliche Dynamik ist. Doch die Raumzeit kann auch ohne Kenntnis dieser Dynamik beschrieben werden. Dazu ist es nur erforderlich, zu wissen, dass es unterschiedene Raumzeitpunkte gibt und wie diese Raumzeitpunkte zusammenhängen. Diese Informationen sind in der relativistischen Raumzeitstruktur und in den Gesetzen der allgemeinen Relativitätstheorie zusammengefasst. Wie die zugrunde liegende Dynamik funktioniert, wäre zwar interessant zu wissen. Aber für die Beschreibung der Raumzeit ist dieses Wissen nicht notwendig. Ebenso ist es nicht nötig, die genaue Dynamik Gottes zu kennen. Es reicht, zu behaupten, dass Gott eine Dynamik in irgendeiner Form aufweist und dass diese Dynamik eine ausreichende Flexibilität aufweist. Letztlich ist die These eines dynamischen Gottes identisch mit der Negation eines statischen Gottes, der nur in einem einzigen, vollkommenen Moment existiert. Es wird also in erster Linie behauptet, dass Gott die Möglichkeit hat, mehrere unterscheidbare Momente in sich 6

Die Phänomenologie fragt nach den „primitiven Gestaltungen des Zeitbewußtseins“ nicht nach „dem psychologischen Ursprung“. Siehe E. Husserl, „Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins“, in: R. Boehm (Hrsg.), Husserliana. Gesammelte Werke, Bd. X: Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (1893–1917), Haag 1966, 3–134, hier 373.

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5. Gottes Macht über seine Zeiten

zu schaffen, und dass diese Momente Regelmäßigkeiten in ihren Zusammenhängen aufweisen können. Auch wenn die Dynamik Gottes sich im Detail aller menschlichen Kenntnis entzieht, wird sie in jedem Fall sein Handeln an der Schöpfung und die Dynamik zwischen den trinitarischen Personen umfassen. Gottes Dynamik ist daher so weit zugänglich, wie seine Werke erkennbar sind. Ein Aspekt seiner Dynamik ist also, dass Gott handelt, da er beispielsweise als Schöpfer tätig war und ist. Diese Handlungen können komplex und differenziert sein und insbesondere in verschiedene Momente unterschieden sein. Sofern zwischen diesen Momenten seiner Handlungen Zusammenhänge bestehen und sich regelmäßige Strukturen ergeben,7 können diese Regelmäßigkeiten an Gottes Handlungen als Verlaufsform abstrahiert und als emergente Zeit angesehen werden. Gottes Dynamik und Handlungen sind also die fundamentalen Vollzugsformen seiner Existenz. Zeit kennt Gott insofern, als dass er Handlungen vollziehen kann, deren Struktur sich als Zeit bestimmen lässt. Aus diesem Ansatz folgt, dass Gottes Zeitstrukturen aus seinen Handlungen abgeleitet werden können. Dazu müsste die ganze Dogmatik durchgegangen werden, um jedes Werk auf seine Strukturen zu untersuchen und die entsprechende Zeitform abzulesen. Dieses Projekt wäre zu umfangreich, weshalb sich diese Arbeit darauf beschränkt, in Abs. 5.2 einige mögliche Zeitformen zu beschreiben. Für die dargestellten Zeitformen bleibt folglich zu beachten, dass ausgehend von den einzelnen Teilgebieten der Dogmatik zu beurteilen ist, welche Zeitformen Gott tatsächlich nutzt. Gott dürfte also, sofern man ihm nicht jede Dynamik abstreiten wollte, die Möglichkeit zur Zeit haben und im Handeln an der Schöpfung davon Gebrauch machen. Hierin liegt unzweifelhaft die richtige Einsicht, die allen Modellen zugrunde liegt, die Gott eine Zeitlichkeit zuschreiben. Zu vermeiden ist allerdings der Fehler, diese Zeit Gottes als Hintergrundzeit zu denken. Nun kann man den einzelnen Modellen nicht vorwerfen, dass sie Gottes Zeit stets als Hintergrundzeit formuliert hätten. Es lässt sich jedoch bei manchen Autoren beobachten, dass sie Aspekte einer Hintergrundzeit für Gottes Zeit übernehmen. So ist es beispielsweise nicht notwendig, Gottes Zeit als endlose Zeit oder als Folge analog einer Linie zu denken.8 Darum ist es wichtig, diesen Unterschied zu betonen: Gott kennt keine Hintergrundzeit, hat aber sehr wohl die Möglichkeit, interne Zeiten zu konstituieren. Als rein interne und hintergrundunabhängige Zeiten haben sie allerdings viel mehr Gestaltungsspielraum als nur die Form einer Linie, wie noch gezeigt werden wird (vgl. Abs. 5.2). Einige Möglichkeiten, die sich aus der hintergrundunabhängigen Dynamik ergeben, hat bereits Schelling zu nutzen gewusst. In Schellings System hat Gott die Freiheit, Zeit in Gang zu setzen oder es bleiben zu lassen, indem er sich für oder gegen 7

Dies sind die Kriterien für den Zeitbegriff, der in Abs. 3.7.3 entwickelt wurde. Gottes Zeit als einfache Folge formulieren beispielsweise Swinburne, The Christian God, 137– 144; Polkinghorne, Science and Providence, 81–83. Einen entsprechenden Zeit- und Ewigkeitsbegriff sieht Oscar Cullmann im Neuen Testament vorausgesetzt. Vgl. Cullmann, Christus und die Zeit, 60– 74. 8

5.1. Die Grundlage der Macht Gottes über die Zeiten

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einen Prozess entscheidet (vgl. Abs. 4.3.2). Setzt er den Prozess in Gang, erzeugen die Potenzen im Überwindungsprozess stets neue Momente, die aufeinanderfolgen. Wenn die ursprüngliche Einheit der Potenzen wiederhergestellt ist, endet der Prozess und damit auch die Zeit. Weil die Zeit durch die Dynamik der Potenzen erzeugt wird und Gott frei über die Potenzen verfügen kann, hat er somit auch die Macht über die Zeit. An dieser Stelle folgen nun noch einige Anmerkungen zur Freiheit Gottes im Kontext seiner Zeitlichkeit. 5.1.3. Handlungsfreiheit Eine vollständige Diskussion der Freiheitsthematik ist im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich und auch nicht notwendig. So wie nur vorausgesetzt werden musste, dass Gott überhaupt eine Dynamik in irgendeiner Form besitzt, so muss an dieser Stelle allein vorausgesetzt werden, dass Gott in seiner Dynamik frei ist. Das bedeutet, dass die Dynamik Gottes auf seinen eigenen bewussten Entscheidungen beruht und Gott Handlungsfreiheit9 besitzt. Handlungsfreiheit bezeichnet die Freiheit, den eigenen Willen in die Tat umsetzen zu können.10 Diese Freiheit kann eingeschränkt sein durch künstliche Begrenzungen wie Gefängnisse oder natürliche Grenzen wie fehlende körperliche Fähigkeiten. Ein Mensch kann nicht ohne technische Hilfsmittel fliegen, weil ihm die Flügel fehlen. Genauso kann er auch nicht Zeiten in anderer Zeitgestalt erfahren. Dass der Mensch nicht fliegen oder andere Zeitformen erfahren kann, hindert ihn jedoch nicht daran, dies zu wollen. Willensfreiheit bezeichnet die Freiheit, den eigenen Willen frei bilden zu können. Im Gegensatz zur Handlungsfreiheit ist jedoch umstritten, unter welchen Bedingungen die Willensbildung als frei gelten kann.11 Für dieses Modell reicht es aus, die Handlungsfreiheit Gottes anzunehmen. Zu seinen Handlungen gehören die Schöpfungswerke, seine innertrinitarischen Relationen, das ganze Leben Gottes. Von den eigentlichen Handlungen Gottes wird in diesem Modell abstrahiert. Es wird allein betrachtet, wie und in welcher Form neue Momente gesetzt werden. Eingeschränkt auf diesen Aspekt bedeutet Handlungsfreiheit daher Folgendes: Dass neue Momente konstituiert werden, wie viele es sind und in welcher Verbindung sie zu den vorangehenden Momenten stehen, beruht direkt oder indirekt auf dem Willen Gottes. Auch der Wille Gottes ist selbstverständlich als frei anzunehmen. Doch hat es keine Konsequenzen für dieses Ewigkeitsmodell, welchen Freiheitsbegriff man für den Willen Gottes ansetzt. Deshalb kann die Diskussion um die Willensfreiheit hier ausgelassen werden. 9

Zur Unterscheidung von Handlungs- und Willensfreiheit vgl. beispielsweise H. G. Frankfurt, „Freedom of the Will and the Concept of a Person“, JPh 68 (1971), 5–20, hier 14 f.; A. Beckermann, Gehirn, Ich, Freiheit. Neurowissenschaften und Menschenbild, Paderborn 2008, 93–95. 10 Vgl. beispielsweise Beckermann, Gehirn, Ich, Freiheit, 95. 11 Als Überblick zu den verschiedenen Positionen vgl. beispielsweise R. Spaemann, Art.: Freiheit IV. In: HWPh, Bd. 2 (1972), 1088–1098.

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5. Gottes Macht über seine Zeiten

Um die Handlungsfreiheit Gottes, wie sie für dieses Modell benötigt wird, etwas genauer zu erfassen, wird sie im Folgenden noch mit der beschränkten Freiheit des Menschen, der unfreien Dynamik des Universums und Schellings vorweltlicher Ewigkeit verglichen. Ein Einfluss von Handlungen auf die Zeit des Menschen wurde schon im letzten Abschnitt beschrieben. Die Erfahrungen der Zeitdehnung und -raffung können durch Stress, Langeweile oder allgemein dem Gemütszustand des Menschen hervorgerufen werden.12 Diese Erfahrungen unterliegen bedingt den Entscheidungen des Menschen. Es steht jedem frei, sich in einen langweiligen Vortrag zu setzen oder ein spannendes Buch zu lesen. Im Gegensatz dazu ist die Dynamik der Raumzeit durch unfreie Gesetze festgelegt. Möglicherweise sind einige Ereignisse in dieser Dynamik nicht determiniert. Doch besitzt das Universum kein eigenes Bewusstsein, das Entscheidungen über seine Dynamik treffen könnte. Der Mensch dagegen kann seine Dynamik in geringem Maß beeinflussen. Diesem stark eingeschränkten Einfluss auf die eigene Zeiterfahrung soll ein viel größerer Einfluss Gottes auf seine Zeit entsprechen, indem er Zeit nicht nur dehnen oder raffen, sondern überhaupt erst erzeugen kann. In Schellings Spätphilosophie ist die vorweltliche Ewigkeit der Moment, in dem Gott eine solche Freiheit besitzt (vgl. Abs. 4.3.2). Er hat die beiden Alternativen, in dem schon existierenden Moment der vorweltlichen Ewigkeit zu verbleiben oder einen neuen Moment zu erzeugen und damit die Zeit zu beginnen. Auf diese beiden Möglichkeiten ist er allerdings begrenzt. Die Dynamik von Schellings Potenzen folgt einer deterministischen Gesetzmäßigkeit, die unabänderlich abläuft, sobald sie einmal in Gang gesetzt ist. Die Möglichkeit, mehrere Momente parallel zu setzen oder eine weitere Zeit neben dem Prozess zu starten, ist in den Gesetzen, denen die Potenzen folgen, nicht vorgesehen. Gott hat nur die Wahl, eine lineare Zeit zu starten oder es bleiben zu lassen. Diese Freiheit wird hier umfassender gedacht. Dazu wird davon ausgegangen, dass Gott mehrere Momente parallel erzeugen kann, so dass ein Moment sich in mehrere auffächert. Umgekehrt könnten mehrere Momente zusammen nur einen Moment erzeugen, so dass verschiedene Zeitstränge zusammenfinden und sich vereinen könnten. Dabei ist zu bedenken, dass es sich bei diesen Momenten um Gottes Momente handelt. Gott existiert also nur in diesen Momenten. Er erschafft diese Momente nicht, wie er die Welt erschafft, sondern schreitet selbst von Moment zu Moment vor. Wenn sich ein Moment also in mehrere auffächert, dann vollzieht Gott mehrere Handlungen oder Zeiten parallel. Wenn sich Zeitstränge wieder vereinen, fließen Erfahrungen und Geschichten aus unterschiedlichen Perspektiven zusammen. Für Menschen ist das nicht nachvollziehbar, höchstens abstrakt beschreibbar. Denn Menschen können sich nur den Verlauf entlang einer Zeitlinie vorstellen. Doch auch eine abstrakte Beschreibung kann helfen, zusätzliche Handlungsspielräume Gottes zu verdeutlichen, die sich im Rahmen menschlicher Zeit nicht vor12

Eine ausführliche Darstellung des menschlichen Zeiterlebens findet sich in Gloy, Zeit, 25–63.

5.2. Der Spielraum der freien, hintergrundunabhängigen Dynamik

253

stellen lassen. Einige der verschiedenen Zeitformen, die sich aus diesem Modell ergeben können, werden im nächsten Abschnitt betrachtet. Es ist denkbar, dass Gott sich seine Zeiten bewusst erschafft, indem er darüber reflektiert, welche Momente er erzeugen will. Plausibler scheint es jedoch zu sein, dass er sich in erster Linie für eine Handlung entscheidet und diese durchführt. So wie sich auch der Mensch für den Vortrag oder das Buch entscheidet und die dazugehörige Zeiterfahrung als Nebeneffekt erfährt, dürfte auch Gott sich beispielsweise für die Schöpfung oder Inkarnation entscheiden und die benötigte Zeitform für die jeweiligen Handlungen als Konsequenz der Handlungen annehmen. Gott setzt also in seinem Handeln beiläufig die Momente, die für die Handlung notwendig sind. Eine Verlaufsform der Momente lässt sich von den Handlungen abstrahieren und als bestimmte Zeitform beschreiben.

5.2. Der Spielraum der freien, hintergrundunabhängigen Dynamik Mit der Hintergrundunabhängigkeit, Dynamik und Handlungsfreiheit wurden drei Eigenschaften Gottes diskutiert, die zusammen gewährleisten sollen, dass Gott die Möglichkeit hat, unterschiedliche Zeitformen nach seinem Willen zu konstituieren. Da sich die konkreten Zeiten aus Gottes Handlungen ergeben, müssten eigentlich alle Werke Gottes diskutiert werden, um aufzuzeigen, welche Verlaufsformen in diesen Werken impliziert sind. Diese Herangehensweise wäre zum einen zu umfangreich für eine einzelne Arbeit. Zum anderen sind einige Werke nicht eindeutig bezüglich der Zeitstrukturen. Die Schöpfung beispielsweise könnte je nach bevorzugter Zeitform als Setzung des Anfangs der Welt oder als simultane Schöpfung aller Zeitpunkte aufgefasst werden. Nicht zuletzt birgt diese Herangehensweise die Gefahr, die Handlungen nach den Zeitstrukturen zu konzipieren, die einem vertraut sind, anstatt die Zeitstrukturen aus Gottes Handlungen abzulesen. Denn es ist nicht leicht, neue Zeitformen zu formulieren. So haben zahlreiche Physiker versucht, das Michelson-Morley-Experiment im Rahmen newtonscher Physik zu erklären, bevor Einstein die Relativität der Gleichzeitigkeit abgeleitet hat. Um diese Gefahr zu vermeiden, ist es sinnvoll, unabhängig von Thesen zu den Werken Gottes darüber zu reflektieren, welche Zeitstrukturen denkbar sind. Diese Vorgehensweise hat wiederum den Nachteil, dass sie einige Zeitformen liefern könnte, die Gott nicht angemessen sind oder von Gott nicht genutzt werden. Daher sollte im Anschluss diskutiert werden, welche Zeitformen Gott tatsächlich und zu welchem Zweck verwenden könnte. Dieser zweite Schritt kann in dieser Arbeit stets nur kurz angedeutet werden. Im Prinzip müssten vollständige Entwürfe einer Schöpfungslehre, Soteriologie oder Eschatologie entwickelt werden, um diese Frage zu beantworten. In diesem Abschnitt sollen anhand eines Spielzeugmodells verschiedene Zeitformen und Übergänge zwischen ihnen illustriert werden. Der Begriff des Spielzeug-

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5. Gottes Macht über seine Zeiten

modells (eng.: toy model) stammt aus der Physik.13 Er bezeichnet Theorien, die keine Beschreibung realer Phänomene liefern, sondern in der Regel viel simpler sind als die Theorien der bekannten Phänomene. Sie werden jedoch so konstruiert, dass sie einige Eigenschaften mit realistischen Theorien gemeinsam haben. Daher kann anhand der Spielzeugmodelle ein Verständnis für Probleme, Lösungsansätze und Möglichkeiten entwickelt werden, das meist für eine ganze Klasse an realistischen Theorien hilfreich ist. In diesem Sinne soll auch in diesem Abschnitt ein simples Modell verwendet werden, das Hintergrundunabhängigkeit und Dynamik verbindet, um den Spielraum aufzuzeigen, den hintergrundunabhängige Dynamiken besitzen können. Das Spielzeugmodell soll also nicht Gottes Dynamik selbst beschreiben. Es soll aber helfen, mögliche Verlaufsformen zu illustrieren, die auch Gott in seiner Dynamik offenstehen dürften, da seine Dynamik ebenfalls hintergrundunabhängig ist. Das hier verwendete Modell ist durch die graphischen Darstellungen der Causal Set Theories inspiriert (vgl. Abs. 3.6.3). Es unterscheidet sich jedoch von den Causal Set Theories in zwei Punkten: Es versucht nicht, den jeweiligen Konstellationen Wahrscheinlichkeiten zuzuordnen. Zudem sind Zeitschleifen prinzipiell erlaubt. Die Handlungsfreiheit wird in diesem Modell keine direkte Entsprechung haben. Sie fließt nur insofern in die folgende Diskussion ein, als dass angenommen wird, dass die einzelnen Ereignisse nicht zufällig sind, sondern auf bewussten Entscheidungen Gottes beruhen. Die Dynamik wird in diesem Modell durch die Entstehung neuer Momente dargestellt. Die Momente können aus einzelnen oder mehreren anderen Momenten hervorgehen beziehungsweise von mehreren anderen Momenten beeinflusst sein. Die Momente werden durch Punkte repräsentiert. Die Relationen zwischen den Momenten werden durch Verbindungslinien symbolisiert. Durchgezogene Linien stellen Übergänge dar, in denen Gott von einem Moment zum anderen schreitet. Gestrichelte Linien bilden Einflüsse ab, in denen Gott mit anderen Zeiten wechselwirkt, aber nicht selbst in die anderen Momente eingeht. Die Pfeile an den Linien deuten die Richtung an, in der Gott übergeht beziehungsweise der Einfluss wirken soll. Die Dynamik besteht in diesem Modell also aus diskreten Sprüngen und nicht aus kontinuierlichen Übergängen. Es lässt sich jedoch auch ein entsprechendes kontinuierliches Modell formulieren. Das diskrete wird hier lediglich gewählt, weil es sich leichter graphisch darstellen lässt. Die Hintergrundunabhängigkeit spiegelt sich in diesem Modell darin, dass keine äußerlichen Einschränkungen an die möglichen Kombinationen von Momenten und Relationen angenommen werden. Jede zusammenhängende Konstellation, die sich aus den Punkten und Pfeilen konstruieren lässt, ist theoretisch erlaubt. Welche dieser vielfältigen Konstel13 Zum Begriff des Spielzeugmodells vgl. S. Hartmann, „Models as a Tool for Theory Construction: Some Strategies of Preliminary Physics“, in: W. E. Herfel u. a. (Hrsg.), Theories and Models in Scientific Processes, Proceedings of AFOS ’94 Workshop, August 15-26, Mądralin and IUHPS ’94 Conference, August 27-29, Warszawa, Poznań Studies in the Philosophy of the Sciences and the Humanities 44, Amsterdam/Atlanta Ga. 1995, 49–67, hier 57 f.

5.2. Der Spielraum der freien, hintergrundunabhängigen Dynamik

...

255 ...

Abbildung 5.1: Eine Folge von Momenten ohne Verzweigungen.

lationen tatsächlich von Gott genutzt werden, lässt dieses Modell offen, kann aber in einigen Fällen anhand seiner Werke begründet werden. 5.2.1. Zeitlinien Die vertrauteste Zeitform, die sich in diesem Modell formulieren lässt, ist eine einfache Folge von Momenten (vgl. Abb. 5.1). In ihr bringt jeweils ein Moment den nächsten hervor. In grober Vereinfachung lässt sich so die Zeitform des menschlichen Geistes veranschaulichen. Es folgen einzelne Bewusstseinszustände aufeinander, die jeweils aus dem vorangehenden hervorgehen. Das menschliche Bewusstsein ist natürlich wesentlich komplexer. Die Bewusstseinszustände lassen sich nicht klar abgrenzen. Dennoch spiegelt dieses Bild im Wesentlichen die Erfahrung der menschlichen Selbstwahrnehmung. Einzelne Zeiten, in denen der Mensch Unterschiedliches denkt, wahrnimmt oder unternimmt, folgen aufeinander wie Punkte auf einer Linie. Dabei soll die Darstellung durch Punkte nicht andeuten, dass die einzelnen Zeitpunkte strukturlose Momente seien. Jeder einzelne Zeitpunkt kann ein komplexes Gebilde sein. Er kann wie in Moltmanns Zeitnetzen (vgl. Abs. 2.2.2) aus gegenwärtiger Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bestehen oder wie in Husserls Phänomenologie aus den jeweiligen Retentionen und Protentionen.14 Welche innere Struktur die Momente also auch aufweisen, als äußerliche Struktur lässt sich die Abfolge der Momente festhalten. Es folgt Tag auf Tag, Stunde auf Stunde, Handlung auf Handlung und Gedanke auf Gedanke. In dieser groben Näherung entspricht die Zeit der Menschen einer Linie.15 Diese Zeitlinie besitzt alle Eigenschaften, die klassischerweise der Zeit zugeordnet werden. Jeder Moment steht in Früher- oder Später-Relationen zu allen anderen Momenten. Ein vergangener Moment kehrt nicht wieder. Es könnte ein Jetzt-Moment gegenüber einer Vergangenheit und Zukunft ausgezeichnet werden. Im positiven Sinne kann das Entstehen neuer Momente als Gewinn des Neuen angesehen werden. Ebenso kann das Vergehen der Zeit als Verlust des Vergangenen betrachtet werden. Einen Verlust für Gott bedeutete das Vergehen jedoch nur, wenn er auf diese Zeitform eingeschränkt wäre. Da Gott unter Nutzung anderer Zeitformen prinzipiell die Möglichkeit hat, sich Momente, die nach dieser Zeitform vergangen wären, 14 Vgl. Husserl, „Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins“, §§10–13 und 24–26. 15 Wohlgemerkt entspricht sie einer Linie im mathematischen Sinne, die keine Implikationen über räumliches Nebeneinander beinhaltet. Linien als eindimensionale Mannigfaltigkeiten implizieren lediglich einen bestimmten Zusammenhang zwischen den benachbarten Punkten, aber keine Interpretation dieses Zusammenhangs, sei es als Nebeneinander oder Nacheinander. Vgl. Abs. 3.3.2 zum abstrakten Begriff der Mannigfaltigkeit.

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5. Gottes Macht über seine Zeiten

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Abbildung 5.2: Zeitlinien mit Verzweigungen und Verschmelzungen.

gegenwärtig zu halten (siehe Abs. 5.2.3), ist dieser Nachteil der Zeitlinie für Gott aufgehoben. Gott hat diese Zeitform zumindest im inkarnierten Sohn genutzt (vgl. Abs. 1.4.5 und Abs. 2.3). Solange der Sohn auf Erden lebte, erfuhr er sicherlich auch dieselbe Zeitform wie alle anderen Menschen mit den damit verbundenen Verlustängsten und Erfahrungen von Neuem. Denn diese Zeitform ist so konstitutiv für das irdische menschliche Leben, dass man ein Wesen, das diese Zeitform nicht kennt, nicht als Mensch bezeichnen könnte. Vor der Inkarnation und nach der Auferstehung könnte der Sohn jedoch auch andere Zeitformen nutzen und beispielsweise allen Zeiten gegenwärtig sein. Ein wenig generalisieren lässt sich die Zeitlinie, indem man Verzweigungen und Verschmelzungen von Zeitlinien erlaubt (vgl. Abb. 5.2). In den Verzweigungen spaltet sich eine Zeitlinie in mehrere andere auf. In den jeweiligen Zeitlinien verläuft die Zeit wie in einer einzelnen Zeitlinie vollkommen unabhängig von den anderen. Bei einer Verschmelzung zweier Zeitlinien hat die neu entstehende Zeitlinie beide alten Linien als Vergangenheit. Wollte man dies als Mensch erfahren, müsste man sich oder zumindest sein Bewusstsein für eine Verzweigung verdoppeln. Beide neuen Menschen würden dann unabhängige Erfahrungen machen. Zu einer Verschmelzung müssten zwei Menschen so zu einem kombiniert werden, dass er die Erinnerungen beider alter Menschen besitzt. Den konkreten Akt der Verzweigung oder Verschmelzung kann sich kein Mensch vorstellen, da man an seine eigene Zeitlinie gebunden ist. Vorstellbar bleibt jedoch der Verlauf vor und nach den Verzweigungen und Verschmelzungen. Die Verzweigungen führen dazu, dass sich zwischen den Momenten zweier paralleler Zeitlinien keine Vorher-/Nachher-Relationen bestimmen lassen. Es existiert nichts, anhand dessen sich definieren ließe, ob die Momente der einen Zeitlinie früher oder später als die Momente einer anderen Zeitlinie sind. Erst eine Wechselwirkung zwischen den Linien würde einen solchen Vergleich erlauben. Trotz dieses Unterschieds von der einfachen Zeitlinie sind verzweigte Zeitlinien noch kein neues System. Denn abgesehen von den Anomalien bei den Verzweigungen und Verschmelzungen verläuft die Zeit in jeder Linie wie im Modell der Zeitlinie. Betrachtet man nur einen kleinen Ausschnitt einer einzelnen Linie, in der sich keine Anomalien befinden, lassen sich ebenso Früher- und Später-Relationen definieren. Über den größten Teil der Zeitverläufe hinweg ist die lokale Struktur also identisch zur Zeitlinie.

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5.2. Der Spielraum der freien, hintergrundunabhängigen Dynamik

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... Abbildung 5.3: Ein regelmäßiges Netz aus Zeitpunkten, das sich in alle Richtungen fortsetzt.

Auch wenn derartige Verzweigungen für eine hintergrundunabhängige Dynamik theoretisch denkbar sind, erscheint es zweifelhaft, ob Gott eine solche Möglichkeit nutzen sollte. Denn die Verzweigung führt dazu, dass aus einer Entität zwei unterschiedene Entitäten werden. Damit wäre die Einheit und Einzigkeit Gottes in Frage gestellt, sollte er sich auf diese Weise verdoppeln. Dieses Beispiel verdeutlicht daher die Notwendigkeit, die tatsächlich genutzten Zeitformen ausgehend von den Teilgebieten der Dogmatik zu begründen oder zumindest zu verifizieren. Zugleich kann es hier jedoch auch als Vorbereitung der nächsten Zeitform dienen. 5.2.2. Zeitnetze Zu einer deutlich verschiedenen Zeitform führen Verzweigungen und Verschmelzungen erst, wenn sie der Regelfall und nicht die Ausnahme sind. Dann lässt sich nicht mehr von Zeitlinien, sondern nur noch von einem Zeitnetz reden (vgl. Abb. 5.3). Das Vorbild für ein solches Zeitnetz ist die relativistische Raumzeit (vgl. Abs. 3.3). Es lassen sich für jeden Moment eine Vergangenheit und eine Zukunft unterscheiden. Das sind diejenigen Momente, aus denen der betrachtete Momente hervorgegangen ist, beziehungsweise die Momente, die aus ihm hervorgehen. Alle anderen Momente stehen in keiner zeitlichen Relation zu diesem Moment. Sie sind weder früher noch später als dieser Moment. Im Gegensatz zu den verzweigenden Zeitlinien führt das Zeitnetz nicht zu einer Vielzahl von Entitäten. Denn durch die ständigen Verzweigungen und Verschmelzungen entsteht ein Zusammenhang zwischen den Momenten, der die Einheit des Netzes gewährleistet. Dieser Zusammenhang fehlt bei den verzweigten Zeitlinien, so dass sich dort eine Mehrzahl von Entitäten herausbildet. Im Netz dagegen hängt jeder Moment mit seinen Nachbarn eng zusammen, so dass die einzelnen Momente nicht isoliert betrachtet werden können. Sie stehen allesamt in Wechselwirkung mit anderen und bilden so eine dynamische Einheit. Einen weiteren Fokus neben der dynamischen Einheit kann das Zeitnetz durch Wechselwirkungen mit einer Gegenwart aller Zeiten gewinnen. Falls Gott zu irgendeinem Moment eine Gegenwart

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5. Gottes Macht über seine Zeiten

aller Zeiten realisiert, hat er in diesem Moment auch alle Zeiten eines Zeitnetzes präsent und kann mit diesem interagieren. Damit kann er alles Geschehen im Zeitnetz fokussieren und ein Auseinanderfallen verhindern. Für Menschen ist es nicht mehr erahnbar, wie ein Wesen mit dieser Zeitform denken müsste. Als Mensch ist man an seine Zeitform gebunden, die in etwa einer Zeitlinie entspricht. Daher kann man in Gedanken nur einer Linie entlang eines Zeitnetzes folgen. Das ständige Verzweigen und Verschmelzen verhindert jedoch, dass sich eine längere Zeitstrecke ergibt, die der menschlichen Vorstellung zugänglich ist. Obwohl es einige Gemeinsamkeiten zwischen Zeitlinie und Zeitnetz gibt, wie zum Beispiel eine Richtung der Zeit, müsste deshalb ein Wesen, das als Zeitnetz existiert, anders denken als ein Mensch. Zudem würde sich das Denken eines solchen Wesens an vielen Orten parallel ereignen. Während der menschliche Geist stark lokalisiert ist und daher nur wenige Gedankengänge parallel nachvollziehen kann, könnte ein vielzeitiges Wesen beliebig viele Prozesse zugleich verarbeiten. Eine zeitliche Ordnung zwischen diesen Prozessen wäre nicht definiert, solange sie nicht zusammengeführt werden. Die Gedanken und Wahrnehmungen dieses Wesens könnten nicht in eine Abfolge gebracht werden, die sich in einer Zeitlinie darstellen lässt. Da diese Zeitform den Relativitätstheorien entlehnt ist, bietet sie einen natürlichen Weg, sich zur relativistischen Zeit in Beziehung zu setzen. In einem solchen Zeitnetz könnte Gott allen Zeiten der Welt gleichermaßen nahe sein und jede Zeitlinie der Welt gleichberechtigt begleiten. Sie entspricht in diesem Sinne der Vielzeitigkeit, die Ingolf Dalferth dem Heiligen Geist zuordnet (vgl. Abs. 2.3). Dalferths Zuordnung ist insoweit plausibel, dass diese Zeitform für die Begleitung der Menschen gut geeignet ist. Denn in einem Zeitnetz kann der Heilige Geist die Vielfalt der Zeiten der Menschen umfassen. Die Vielzeitigkeit kann allerdings auch für das Schöpfungswirken im Sinne einer creatio continua nützlich sein. Denn für das vielfache Wirken in der Schöpfung wird Gott vielen Zeiten parallel gegenwärtig sein müssen. 5.2.3. Vergegenwärtigung aller Zeiten Ein in jeder Hinsicht gleichartiger Bezug zu jedem Zeitpunkt der Welt lässt sich auch realisieren, wenn Gott in einem einzigen Moment die gleichen Relationen zu jedem anderen Moment besitzt. Dies ist prinzipiell möglich mit einer Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft aller Zeiten. In einer Vergangenheit aller Zeiten wäre Gott in einem Moment an der Erzeugung aller anderen Momente beteiligt (vgl. Abb. 5.4). Dabei kann es sich sowohl um Zeiten der Schöpfung als auch um andere Momente von Gott selbst handeln. Ebenso könnte er sich in einem weiteren Moment von allen anderen Momenten affizieren lassen, zum Beispiel durch bloße Wahrnehmung der Zeiten der Welt. Dann gehört dieser zweite Moment zur unmittelbaren Zukunft aller Zeiten. Ein solches System mit Vergangenheit und Zukunft aller Zeiten hat die Eigenheit, dass es alle Formen zeitlicher Schleifen vermeidet und eine strikte Kausal-

5.2. Der Spielraum der freien, hintergrundunabhängigen Dynamik

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Abbildung 5.4: Eine Zeitlinie mit einer Vergangenheit aller Zeiten und einer Zukunft aller Zeiten. Die Vergangenheit und Zukunft aller Zeiten sind ausgedehnt dargestellt, damit die Verbindungslinien und Pfeile unterscheidbar bleiben.

Abbildung 5.5: Eine Zeitlinie mit einer Gegenwart aller Zeiten. Die Gegenwart aller Zeiten ist ausgedehnt dargestellt, damit die Verbindungslinien und Pfeile unterscheidbar bleiben.

ordnung beibehält. Wer Zeitschleifen ablehnt, dürfte daher diese Konstellation als die Zeitform ansehen, die am besten die Anliegen einer Gegenwart aller Zeiten rekonstruiert. Eine wirkliche Gegenwart aller Zeiten erhält man, wenn man Vergangenheit und Zukunft aller Zeiten in einem Moment zusammenfallen lässt (vgl. Abb. 5.5). Dieser Moment wäre an der Hervorbringung aller anderen Momente beteiligt und würde von allen anderen Momenten affiziert werden. Damit ist das Kriterium für Gegenwart erfüllt, das beispielsweise Kant verwendet: Zwei Objekte sind zugleich, wenn sie „in dynamischer Gemeinschaft stehen“,16 also sich gegenseitig beeinflussen. Diese Form der Gegenwart enthält jedoch kausale Schleifen, wie sich an Abb. 5.5 erkennen lässt. Die Gegenwart aller Zeiten beeinflusst jeden Zeitpunkt der Welt und wird wiederum von ihm beeinflusst. Theoretisch kann so jeder Zeitpunkt über den Umweg der Gegenwart aller Zeiten Einfluss auf jeden anderen Zeitpunkt, auch einen früheren, haben. Damit in der dargestellten Zeitlinie ein Zeitfluss erfahrbar bleibt, muss angenommen werden, dass solche indirekten Einflüsse auf frühere Zeitpunkte sehr gering beziehungsweise selten sind. Gott dürfte also nicht zu oft als Reaktion auf zukünftige Ereignisse in der Vergangenheit eingreifen. 16

KdrV, B259.

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5. Gottes Macht über seine Zeiten

Gegenwärtigkeit ist in diesem Sinne keine fundamentale Relation. Fundamental sind die dynamischen Relationen. Nehmen sie eine bestimmte Konstellation an, kann man von Gegenwärtigkeit oder Simultaneität sprechen. Simultaneität ist daher nicht streng transitiv. Sie ist es nur in guter Näherung, so weit die dynamische Gemeinschaft reicht. Wenn jedoch Gott in seiner Gegenwart aller Zeiten entscheidet, dass er keinen Einfluss zwischen zwei Zeiten vermitteln will, obwohl sie beide mit ihm in dynamischer Gemeinschaft stehen, dann bricht die Transitivität der Simultaneität an diesem Punkt zusammen. Es existiert keine dynamische Gemeinschaft zwischen den Zeitpunkten, da Gott sie in seiner Gegenwart getrennt hält. Das ist möglich, weil die Simultaneität in diesem Modell ein emergentes Phänomen ist.17 Sie kann über weite Strecken nach den üblichen Gesetzen funktionieren und transitiv sein, aber sie ist keine fundamentale Relation und hat daher ihre Gültigkeitsgrenzen. Ebenso wenig wie das Zeitnetz ist die Gegenwart aller Zeiten für einen Menschen vorstellbar. Denn dazu müsste er den Fluss seiner eigenen Zeitlinie anhalten können, um bei einem Moment stehen bleiben zu können. Da er jedoch seiner Zeitform unterworfen ist, kann er sich den einen Moment der Gegenwart aller Zeiten nur als endlose Wiederholung gleicher Momente vorstellen. Denn im Versuch, den Gedanken eines einzigen Moments festzuhalten, wird er denselben Moment über längere Zeit immer wieder denken, da sein Bewusstsein unweigerlich in seiner Zeit fortschreitet. Gegenüber der Zeitlinie und dem Zeitnetz hat die Gegenwart aller Zeiten unzweifelhaft den Vorteil, dass sie keine Vergänglichkeit zu kennen braucht. Alle Zeiten, die nach den anderen Zeitformen vergehen müssten, kann sie sich vergegenwärtigen, und zwar nicht nur als Erinnerung, sondern unmittelbar. Sie selbst braucht nicht in einen weiteren Moment überzugehen. Im Gegenzug hat sie den Nachteil, dass in ihr nichts Neues geschehen kann. Um Neues zu erfahren, müsste Gott diese Zeitform verlassen. Zudem fehlen Gott in der Gegenwart aller Zeiten die Handlungsoptionen und Erfahrungsweisen der Zeitlichkeit. So kann er beispielsweise nicht die Erlebnisse der Menschen in ihrer Zeitlichkeit nachvollziehen. Dazu müsste er die Gegenwart aller Zeiten verlassen (vgl. Abs. 1.4.4). In dieser „Zeitform“ hat das Ewigkeitsmodell der Gegenwart aller Zeiten ihre Berechtigung. In der klassischen Darstellung der Gegenwart aller Zeiten bei Boethius und Plotin (vgl. Abs. 1.3.1), kommt Gott seine Kenntnis aller Zeiten aufgrund seines Wesens zu. Als dem Vollendeten darf ihm nichts fehlen, insbesondere keine Zeiten.18 Demgegenüber ist zu betonen, dass die Gegenwart in diesem Modell erst durch Gottes Aktivität hergestellt wird. Es erfordert eine gewisse Dynamik, ein Handeln auf Seiten Gottes, um sich einen anderen Moment zu vergegenwärtigen: Er muss sich an der Erzeugung des Moments beteiligen und sich zugleich von ihm 17

Vgl. Abs. 3.7.2 zum Emergenzbegriff. Vgl. Boethius, Trost der Philosophie – Consolatio Philosophiae, V, 6p, Z. 1–38 (262–264); Plotinus, Über Ewigkeit und Zeit. Enneade III,7, 4, Z. 1–17 und 6, Z. 37–47 (100 und 108). 18

5.2. Der Spielraum der freien, hintergrundunabhängigen Dynamik

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affizieren lassen. Somit hat auch die Gegenwart oder besser die Vergegenwärtigung aller Zeiten einen dynamischen Aspekt in diesem Modell. Dadurch wird es zugleich vorstellbar, dass Gott sich möglicherweise nicht alle Zeiten gleichermaßen und ungefiltert vergegenwärtigt. Theoretisch könnte Gott beispielsweise einige Zeiten von seiner Gegenwart auslassen. Das hat Konsequenzen für Eigenschaften wie der Allwissenheit Gottes, die hier nur angedeutet werden können. Statt einer statischen Allwissenheit hat Gott in diesem Modell eher die Macht, alles in Erfahrung bringen zu können. Er könnte daher auch auf Wissen verzichten, wenn es dafür einen Grund gäbe. Neben den bisher dargestellten Modellen sind auch Kombinationen vorstellbar: Gott könnte in seiner eigenen Zeitlinie oder einem Zeitnetz existieren, das er mit der Zeit der Welt synchronisiert, und sich dabei jeweils die Vergangenheit der Welt unmittelbar gegenwärtig halten. Mit der Gegenwart aller Zeiten und der (möglicherweise endlosen) Zeitlinie sind zwei der klassischen Ewigkeitstypen in diesem Modell als Seinsweisen Gottes denkbar. Darüber hinaus sind einige andere Zeitformen oder Kombinationen von Zeitformen angedeutet worden, die ebenfalls möglich sind. Eventuell lassen sich noch weitere Zeitformen finden. 5.2.4. Übergänge zwischen den Zeitformen Neben den dargestellten Zeitformen lassen sich in diesem Modell auch Übergänge zwischen den Zeitformen denken. Beispiele sind in Abb. 5.6 dargestellt. Eine Zeitlinie könnte sich zu einem Zeitnetz auffächern oder umgekehrt ein Zeitnetz zu einer Zeitlinie verengen. Eine Zeitlinie könnte auch aus einem Zeitnetz herauswachsen und parallel zum weiteren Netz existieren. Aus einem Moment, der allen anderen gegenwärtig ist, kann eine Zeitlinie oder ein Zeitnetz entstehen. Auf diese Weise lassen sich die Zeitformen auf beliebige Weise kombinieren. Die hintergrundunabhängige Dynamik bildet zusammen mit der Handlungsfreiheit also, wie erhofft, die Macht, verschiedenste Zeitformen nach Belieben zu konstituieren. Anhand der illustrierten Zeitformen lässt sich zeigen, wie dadurch die Nachteile der einzelnen Zeitformen aufgehoben werden. Die Zeitlinie und das Zeitnetz haben den Nachteil, dass in ihnen Vergangenes unwiderruflich vergangen bleibt. Durch eine parallele Gegenwart vieler Zeiten kann jedoch das Vergangene gegenwärtig gehalten werden. Durch die Möglichkeit, in eine andere Zeitform überzugehen, ist das Zeitliche außerdem nicht dazu gezwungen, sich endlos fortzusetzen. Es kann in eine Gegenwart mehrerer Zeiten übergehen, in der die Zeitlinie endet. Die Gegenwart aller Zeiten hat zum einen den Nachteil, dass in ihr eben nichts vergehen kann und sich auch nichts Neues ereignen kann. Zum anderen kann Gott in der Gegenwart aller Zeiten die Zeitlichkeit seiner Geschöpfe nicht nachvollziehen. Letzteres kann Gott umgehen, indem er eine Zeitlinie beginnt, darin die zeitlichen Erfahrungen sammelt und schließlich mit diesen Erfahrungen in die Gegenwart aller Zeiten zurückkehrt. Der erste Nachteil wird in diesem Modell ebenfalls dadurch vermieden,

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5. Gottes Macht über seine Zeiten

...

Abbildung 5.6: Ein Beispiel für eine Verknüpfung verschiedener Zeitformen. Es lassen sich beliebig viele weitere Übergänge zwischen den Zeitformen hinzufügen. Die Wechselwirkungen mit der Gegenwart aller Zeiten erstrecken sich auf alle anderen Zeitmomente und sind hier um der Übersicht willen abgekürzt.

dass Gott weitere Zeiten konstituieren kann und damit den Einfluss einer Gegenwart aller Zeiten verlassen könnte. Dabei würde die Gegenwart aller Zeiten zu einer Gegenwart mehrerer Zeiten reduziert und könnte auch für Gott unwiderruflich vergangen sein, sofern er dies beabsichtigt. Man könnte den Einwand erheben, dass Gott in diesem Modell stets irgendeine der Zeitformen mit ihren Nachteilen hat und daher lediglich die Wahl hat, welchen Nachteil er momentan vermeiden will. Doch da Gott in jedem Moment die Wahl hat, die Zeitform zu wechseln, stellt dies keine Einschränkung dar. Unabhängig davon, welche Handlung er beabsichtigt, kann er die passende Zeitform wählen, um sie durchzuführen. Durch die Wechsel zwischen den Zeitformen kann Gott also die Nachteile der einzelnen Zeitformen vermeiden. In dem hier entwickelten Modell lässt sich dieser Punkt noch besser verdeutlichen als in dem Ansatz, der in der Einleitung dargestellt wurde. Die Dynamik und Handlungen Gottes sind fundamentaler als die aus ihnen hervorgehenden Zeiten. Gott entscheidet sich für eine Handlung oder ein Werk und kann es ohne Einschränkungen durchführen. Die Verlaufsform, der Zeitbezug, ist eine Abstraktion von diesen Handlungen, in der nur die Regelmäßigkeiten der Handlungen betrachtet werden. Auf der fundamentalen Ebene gibt es also keine Zeiten, sondern nur Handlungen und die uneingeschränkte Freiheit Gottes. Die Zeiten ergeben sich sekundär aus den gewählten Handlungen und können daher die Handlungen selbst nicht einschränken. Indem Gott alle erdenklichen Zeitformen offenstehen, ist er zudem in einem anderen Sinne vollkommen und vollendet, als Plotin, Boethius und Pannenberg den Vollkommenheitsbegriff gesehen haben (vgl. Abs. 1.3.1, Abs. 1.4.7 und Abs. 2.1.2).

5.2. Der Spielraum der freien, hintergrundunabhängigen Dynamik

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Gott fehlt in diesem Modell kein Zeitbezug. Zwar „fehlen“ Gott im Modus der Zeitlichkeit die vergangenen und zukünftigen Zeiten. Doch hat er im Gegenzug alle Zeitformen zur Verfügung. Diese Art der Unendlichkeit lässt Gott bezogen auf die Zeiten mehr Spielraum als Pannenbergs Unendlichkeitsbegriff und dürfte daher höherwertiger sein. Denn im Modus der Vergegenwärtigung aller Zeiten könnte Gott Pannenbergs Ewigkeitsbegriff realisieren. Er ist jedoch nicht an ihn gebunden. Das Modell enthält die Gegenwart aller Zeiten als eine Möglichkeit und ist daher umfassender. Des Weiteren kann Gott die geschöpflichen Zeiten in mehrfacher Hinsicht begleiten. Er kann sie sich in einer Gegenwart vieler Zeiten gegenwärtig halten. In einer Zeitlinie kann Gott das zeitliche Erleben der Menschen nachvollziehen. Er kann bei allen Menschen parallel sein, indem er in einem Zeitnetz die vielen Zeiten begleitet. Damit kann Gott den Menschen in ihrer Zeit auf jede erdenkliche Weise nahe sein. Die Vielfalt der Zeitformen wird in diesem Modell dadurch erreicht, dass keine Zeitform als fundamental angesetzt wird. Jede der diskutierten Zeitformen entsteht durch eine bestimmte Konstellation der zugrunde liegenden Dynamik, ist also ein emergentes Phänomen im Sinne schwacher Emergenz.19 In der Dynamik wiederholen sich dieselben Strukturen so häufig, dass sie als zusätzliche Gesetzmäßigkeit abstrahiert werden können. Je nachdem, um welche Strukturen es sich dabei handelt, entstehen die verschiedenen Zeitformen. Diese emergente Entstehung der Zeitformen impliziert, dass es Abweichungen von den Zeitformen geben kann. Solange sie klein sind, werden sie bei der Bestimmung der Zeitform vernachlässigt. Insbesondere die Übergänge jedoch werden sich in der Regel nicht eindeutig einer der beiden Zeitformen zuordnen lassen. Sie sind Bereiche, in denen die jeweils benachbarten Zeitformen zusammenbrechen. Darüber hinaus wäre es denkbar, dass die Dynamik an manchen Stellen so irregulär erfolgt, dass sich dort überhaupt keine Verlaufsform abstrahieren lässt. Da Zeit in diesem Modell emergent aus der Dynamik hervorgeht, sind zwei Einwände gegen dieses Modell zu erwarten. Der erste Einwand ist, dass Größen und Strukturen, die nicht fundamental sind, auch nicht real sind. Insbesondere sei eine Zeit, die nicht fundamental ist, keine wirkliche Zeit, sondern Illusion. Der zweite Einwand steht mit dem ersten Einwand im Zusammenhang: Die Zeiten in diesem Modell könnten allenfalls Zeiten im Sinne einer B-Theorie sein, nicht im Sinne einer A-Theorie der Zeit.20 Dieser Einwand ist insofern relevant, als dass Vertreter einer A-Theorie zumeist B-Theorien nicht als angemessene Darstellungen von Zeit ansehen, so dass nach ihrer Meinung eine B-Zeit keine Zeit wäre. Der erste Einwand lässt sich mit dem Hinweis entkräften, dass zahlreiche, wenn nicht gar alle Phänomene der menschlichen Erfahrungswelt nicht fundamental 19 Vgl. zur Kategorisierung der Emergenzbegriffe Robinson, „Supervenience, Reduction and Emergence“, 528–534. 20 Zur Unterscheidung der A- und B-Theorien der Zeit vgl. Abs. 1.3.3 und McTaggart, „The Unreality of Time“, 458.

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5. Gottes Macht über seine Zeiten

sind. Wollte man die Realität abgeleiteter Strukturen in Frage stellen, müsste man also die Realität beinahe der ganzen Erfahrungswelt leugnen (vgl. Abs. 3.7.2). Sinnvoller erscheint es daher, auch abgeleitete Strukturen als real zu betrachten. Sie besitzen ihren Realitätsgehalt in den realen Relationen und Konstellationen, die sie ausmachen. Die Realität der Zeit könnte man trotzdem leugnen, wenn man davon ausgeht, dass nur A-Zeiten echte Zeiten sind. Dies führt auf den zweiten Einwand, dass die Zeiten in diesem Modell nur B-Zeiten sein können. Dieser Einwand ist korrekt, wenn man den Begriff der A-Zeit streng nach McTaggart verwendet, aber den Begriff der B-Zeit soweit verallgemeinert, dass er zu den relativistischen Zeiten kompatibel ist. In diesem Fall müsste man mit diesem Argument auch die Realität der relativistischen Zeit leugnen. Damit blieben die Möglichkeiten, entweder die Welt als zeitlos zu betrachten oder eine externe Zeit im Hintergrund der Relativitätstheorie zu postulieren, die eigentlich die wahre Zeit sein soll. In Abs. 3.3.2 wurde jedoch aufgezeigt, dass zumindest eine dynamische Interpretation der allgemeinen Relativitätstheorie möglich ist. Diese Interpretation setzt keine Folge globaler Weltzustände voraus. Daher hat sie mit der B-Theorie gemeinsam, dass es keine globalen Zeitmodi und kein globales Jetzt gibt. Die Zeitmodi sind lokal für jeden Raumzeitpunkt definiert. Die lokalen Zeitmodi sind jedoch fundamentaler als der Gesamtzusammenhang der Raumzeit, da der Zusammenhang der Raumzeitpunkte die Zeitmodi voraussetzt. Daher sind nicht die Zeitmodi auf die Früher- und Später-Relationen reduzierbar, sondern die Relationen auf die Zeitmodi. Dieser Zeittyp ist folglich nicht identisch mit einer B-Theorie. Er kennt lokale Zeitmodi und ist insofern eine dynamische Theorie der Zeit. Vertritt man eine dynamische Interpretation der allgemeinen Relativitätstheorie und betrachtet die Dynamik als Kriterium für wahre Zeiten, kann man auch die Zeiten dieses Modells als reale Zeiten annehmen. Im Rahmen dieses Modells spricht ein besonderer Aspekt für eine dynamische Interpretation. Von den drei Beobachtertypen (vgl. Abs. 3.3.1), die in der newtonschen Zeit denkbar waren, hat der lokale Beobachter die objektive Sichtweise. Denn der delokalisierte Beobachter ist ähnlich wie in der Relativitätstheorie mangels einer absoluten Zeit ausgeschlossen. Der zeitlose Beobachter hat dagegen allenfalls eine abgeleitete, keine fundamentale Perspektive, falls er überhaupt denkbar ist. Denn dieser Beobachter müsste eine Perspektive jenseits von Gottes Zeiten einnehmen und alle Zeiten Gottes simultan überblicken. Dieser zeitlose Beobachter hätte nach der statischen Interpretation der Zeit eine objektivere Perspektive auf Gottes Zeiten als Gott selbst. Niemand anderes außer Gott kann jedoch eine solche objektive Sicht der Zeiten haben. Gottes eigene Perspektive auf seine Zeiten ist die einzig objektive, da Gott selbst alles vollkommen wahrnehmen kann. Wenn in den bildlichen Darstellungen eine zeitlose Perspektive eingenommen wird, ist zu bedenken, dass diese Perspektive nur ein abstraktes Konstrukt ist, das sich auf die Verlaufsform beschränkt. Die Zeit in ihrer Zeitlichkeit, ihre Innenperspektive können die Skizzen

5.2. Der Spielraum der freien, hintergrundunabhängigen Dynamik

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gerade nicht darstellen. Wenn jedoch der zeitlose Beobachter nicht die objektive Perspektive darstellt, kann auch das dazugehörige Blockbild der Zeit nicht die objektive Interpretation sein. Die Strukturen der lokalen Perspektive, unter anderem die lokalen Zeitmodi, sind als einzige Gott unmittelbar zugänglich und daher fundamentaler als das Blockbild von Gottes Zeiten. Seine Zeiten sind daher so real, wie er selbst sie wahrnimmt. Durch die verschiedenen Übergänge zwischen den Zeitformen steht auch eine eventuelle Gegenwart aller Zeiten in Sukzessionszusammenhängen. Für eine Zeitlinie, die aus der Gegenwart aller Zeiten hervorgeht, wird letztere zur Vergangenheit. Wenn eine Zeitlinie in sie einmündet, ist die Gegenwart aller Zeiten ihre Zukunft. Dass die Gegenwart aller Zeiten als Anfang oder Ende in einer zeitlichen Reihe stehen kann, widerspricht der klassischen Konzeption der Gegenwart aller Zeiten, die jegliche Sukzession ausschließt. Ihre Sukzessionslosigkeit ist in diesem Modell jedoch nicht gänzlich aufgehoben. Der Unterschied zwischen der Gegenwart aller Zeiten und anderen Momenten der Zeitlinien oder Zeitnetze wird in diesem Modell durch die Wechselwirkung mit den anderen Momenten hergestellt. In der Gegenwart aller Zeiten sind alle anderen Momente präsent. Jeder andere Moment wird weder als vergangen noch als zukünftig, sondern allein als gegenwärtig wahrgenommen. Denn jeder Moment steht in dynamischer Gemeinschaft mit der Gegenwart aller Zeiten. Darin ist ein Aspekt der Sukzession in der Gegenwart aller Zeiten aufgehoben. Aus der Perspektive der anderen Momente ist eine Gegenwart aller Zeiten ebenfalls stets gegenwärtig. Denn die Gegenwart ist als dynamische Gemeinschaft eine symmetrische Relation. Zugleich kann die Gegenwart aller Zeiten auch zur Vergangenheit oder Zukunft anderer Momente gehören. Denn andere Zeiten können in die Gegenwart aller Zeiten einmünden oder aus ihr hervorgehen. In diesem Sinne kann die Gegenwart aller Zeiten aus der Perspektive anderer Zeiten Gottes als Teil einer Sukzession auftreten. Doch bleibt dieser Zusammenhang mit Sukzession stets unter dem Vorbehalt, dass aus der Perspektive des Moments der Gegenwart aller Zeiten alle anderen Momente simultan gegenwärtig sind. Diese paradoxen Beziehungen der Zeitmodi wären in einer klassischen Zeittheorie nicht erlaubt. In diesem Modell werden sie dadurch ermöglicht, dass die Zeitmodi wie auch die Relation der Simultaneität und die Zeitformen überhaupt emergent aus der Dynamik hervorgehen und nicht fundamental sind. Nur wenn die Dynamik bestimmte Strukturen annimmt, kann an ihr eine Zeit abgelesen werden. Die Dynamik kann aber auch Strukturen annehmen, die eingebettet in eine newtonsche Zeit nicht möglich wären und deshalb Zusammenhänge erlauben, die unter Voraussetzung eines newtonschen Zeitverständnis widersprüchlich erscheinen müssten. Deshalb können die üblichen Regeln, die für die Zeitmodi gelten, in Extremfällen wie einer Gegenwart aller Zeiten zusammenbrechen. Welche der Zeitformen Gott tatsächlich nutzt, kann dieses Modell nicht beantworten. Doch es wurde an einzelnen Stellen bereits angedeutet, dass sich am Wirken Gottes erahnen lässt, welche Zeitform für das jeweilige Werk geeignet ist. So kann

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5. Gottes Macht über seine Zeiten

eine vollständige Zeitlosigkeit Gottes aufgrund seines Wirkens ausgeschlossen werden. Zeitlosigkeit wäre dadurch gekennzeichnet, dass Gott keinen Bezug zu Zeiten hat, weder im Modus der Vergangenheit noch Gegenwart noch Zukunft. Damit sind alle dynamischen Relationen ausgeschlossen. Denn jeder Akt des Hervorbringens, Übergehens oder Wahrnehmens bringt einen Bezug zu anderen Momenten in einem der Modi der Zeit hervor. Die Zeitlosigkeit entspräche in einer Skizze einem einzelnen Punkt ohne jede Relation zu etwas anderem. Da Gott die Welt geschaffen hat und sie begleitet, ist aber davon auszugehen, dass ihm die Welt zumindest gegenwärtig ist. Also ist Gott nicht zeitlos. Er wäre nicht einmal dann zeitlos gewesen, wenn er nichts geschaffen hätte. Denn bereits in der Trinität sind sich die Personen gegenseitig gegenwärtig. Nur ein Gott, der nicht trinitarisch verfasst wäre, könnte nach dem hier verwendeten Zeitbegriff, der emergente Zeiten erlaubt, die aus Handlungen folgen, vollkommen zeitlos sein. Nach christlichem Verständnis wird diese Form der Zeitlosigkeit daher durch Gottes Wesen ausgeschlossen. Damit ist Gottes Ewigkeit nicht als Gegensatz der Zeitlosigkeit gedacht. Seine Ewigkeit würde eine Zeitlosigkeit erlauben. Doch Gott macht keinen Gebrauch von dieser hypothetischen Möglichkeit, weil es seinem Wesen entspricht, trinitarisch differenziert zu sein und innertrinitarische Relationen zu besitzen. Die Zuordnung der Zeitformen zu den Werken hängt vom genauen Verständnis der Werke ab. Dies soll hier am Beispiel der Schöpfung verdeutlicht werden. Die Schöpfung könnte verstanden werden als eine Setzung des Anfangs der Welt. Die Welt entwickelt sich dann relativ selbständig abgesehen von wenigen Eingriffen Gottes. In diesem Modell könnte der Schöpfer eine Zeitlinie wählen, in der er anfangs die Welt erschafft und sie im weiteren Verlauf beobachtet, ähnlich zu William Craigs Modell (vgl. Abs. 1.3.3). Alternativ kann Schöpfung jedoch auch als Erschaffung aller Zeiten der Welt verstanden werden. Damit wäre Gott an der Hervorbringung aller Zeiten der Welt beteiligt. Für dieses Schöpfungsmodell wäre die Zeitlinie ungeeignet, da Gott alle Zeiten der Welt gleichermaßen präsent sein müssen. Er könnte also eine Gegenwart vieler Zeiten oder ein Zeitnetz zur Schöpfung wählen oder beide Zeitformen parallel nutzen. Das Beispiel zeigt, dass dieses Ewigkeitsmodell für die Frage nach den konkreten Zeiten Gottes keine Antwort liefert, sondern eher einen Baukasten, mit dem sich die benötigten oder gewünschten Zeiten konstruieren lassen.

5.3. Trinität und Zeit In der bisherigen Diskussion der Zeitformen wurden einzelne Formen in Zusammenhang mit den Personen der Trinität und ihren Werken gebracht. So entspricht die Zeitlinie der menschlichen Existenz des inkarnierten Sohnes auf Erden und ein Zeitnetz wäre besonders geeignet für den Heiligen Geist, um alle Gläubigen zu begleiten. Eine Gegenwart aller Zeiten für den Vater käme einer breiten Traditionslinie

5.3. Trinität und Zeit

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entgegen. Analog hat auch Dalferth (vgl. Abs. 2.3) den trinitarischen Personen unterschiedliche Zeitbezüge zugeordnet, die Zeitlichkeit dem Sohn, die Vielzeitigkeit dem Geist und die Zeitlosigkeit dem Vater.21 Im Verhältnis der trinitarischen Personen zu den Zeitbezügen sind prinzipiell drei Alternativen denkbar. Jede Person könnte aufgrund ihrer Eigenschaften oder Relationen einen festen Zeitbezug haben. In diesem Fall hätten weder sie noch die Trinität insgesamt eine Wahl bezüglich ihres Zeitbezugs. Es wäre auch vorstellbar, dass die Unterscheidung der Personen auf den Zeitformen basiert. Gott existiert nach dieser Variante parallel in verschiedenen Zeitformen und unterscheidet in sich die Personen wegen der Zeitformen. Auch in diesem Fall hätte jede Person eine feste Zeitform. Als letzte Alternative bietet sich an, dass jede Person prinzipiell alle verfügbaren Zeitbezüge annehmen kann. Dass die Personen eventuell einen Zeitbezug vorwiegend nutzen, liegt nur an der Aufteilung der Werke. In diesem Abschnitt wird für die letzte der drei Alternativen plädiert. Zuvor werden jedoch die Gründe für und gegen die ersten beiden diskutiert. Die erste Alternative, eine feste Zuordnung der Zeitformen als Eigenschaft zu den Personen der Trinität, widerspräche der Intention des hier vertretenen Ansatzes. Wenn die einzelnen Personen nicht die Möglichkeit hätten, ihre Zeitform zu ändern, ginge der wesentliche Kern des Ansatzes verloren. Denn Ewigkeit soll die Macht sein, die eigene Zeitform zu konstituieren. Gerade dadurch werden die möglichen Nachteile jeder einzelnen Zeitform aufgehoben, weil die Zeitform bei Bedarf gewechselt werden kann. Hätte jede Person eine feste Zeitform, wäre sie den Nachteilen dieser Zeitform unterworfen. Gott als Einheit der drei Personen hätte zwar drei Zeitbezüge in sich vereint. Er wäre jedoch ebenfalls auf einen Zeitbezug festgelegt, nämlich den dreifachen, trinitarisch differenzierten Zeitbezug. Nach der zweiten Alternative könnte Gott frei zwischen den Zeitbezügen wählen. Die Zeitform folgt also nicht aus irgendwelchen Eigenschaften oder Relationen der Person. Stattdessen liefern die Unterschiede zwischen den Zeitformen die Motivation für die Selbstunterscheidungen zwischen den drei Personen. Es wurde bereits zuvor dargelegt, dass es für einen Menschen, dessen Zeitform die Linie ist, nicht vorstellbar ist, wie es ist, in einem Zeitnetz oder in der Gegenwart aller Zeiten zu existieren. Wenn für ein Wesen, das in einer Zeitlinie existiert, die anderen Zeitformen nicht anschaulich nachvollziehbar sind, kann man annehmen, dass dies auch umgekehrt gilt. Es ist sehr plausibel anzunehmen, dass Gott eben gerade eine Zeitlinie konstituiert und damit die Zeitform wechselt, wenn er versucht, sich vorzustellen, wie es sich in einer Zeitlinie lebt (vgl. Kap. 1.4.4). Wenn diese Annahme stimmt, folgt daraus, dass auch Gott in der Gegenwart aller Zeiten sich nicht anschaulich vorstellen kann, wie es sich für Gott in einem Zeitnetz oder einer Zeitlinie lebt, ohne diesen Wechsel der Zeitform konkret zu vollziehen. Wenn 21 Vgl. Dalferth, „Gott und Zeit“, 31 f. Einen ähnlichen trinitarischen Ansatz entwickelt R. Bernhardt, „Timeless Action? Temporality and/or Eternity in God’s Being and Acting“, in: C. Tapp/ E. Runggaldier (Hrsg.), God, Eternity, and Time, Farnham/Burlington 2011, 127–142, hier 131–133.

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5. Gottes Macht über seine Zeiten

Gott diesen Wechsel jedoch vollzieht und parallel in den verschiedenen Zeitformen existiert, wäre es denkbar, dass er die verschiedenen Zeitformen in sich als derart radikalen Unterschied wahrnimmt, dass er in sich anhand dieser Zeitformen unterscheidet zwischen Gott in der Seinsweise der Zeitlinie, des Zeitnetzes und der Gegenwart aller Zeiten. Wenn Gott in sich eine solche Unterscheidung träfe, wäre dies ausreichend, um von drei Personen reden zu können. Um diese Variante vertreten zu können, müssten noch einige Fragen geklärt werden. Beispielsweise müsste begründet werden, warum dieser Ansatz nicht zu einem Modalismus oder einem Tritheismus führt. Vor allem müsste gezeigt werden, dass im Wesentlichen nur drei Klassen an Zeitformen denkbar sind, damit man nicht über eine vierte Zeitform eine vierte Person erhält. Insbesondere der letzte Punkt scheint praktisch undurchführbar zu sein. Niemand kann garantieren, dass nicht noch eine vierte Klasse an Zeitformen entdeckt wird, die sich von den anderen drei so radikal unterscheidet, dass man eine vierte Person annehmen müsste. Dass dies nicht nur eine hypothetische oder unwahrscheinliche Möglichkeit ist, zeigt das Beispiel der Relativitätstheorien. Erst durch die Hinweise aus dem Michelson-MorleyExperiment wurde die Entwicklung angestoßen, die zur Formulierung der relativistischen Zeitstruktur geführt hat (vgl. Abs. 3.3.1). Ob sie ohne die Experimente überhaupt jemals formuliert worden wären, ist zweifelhaft. Es ist naheliegend, dass weitere Zeitstrukturen ebenfalls erst durch Anregungen aus überraschenden Beobachtungen entdeckt werden. Neben der Möglichkeit weiterer Zeitformen ergibt sich noch ein Nachteil, der die Möglichkeiten für das ewige Leben des Menschen betrifft (vgl. Abs. 5.4): Wenn für das ewige Leben mehrere Zeitformen zur Verfügung stehen sollen, dürfen sie keinen Anlass für eine Differenzierung in verschiedene Personen bieten. Die Personidentität der Menschen muss auch über verschiedene Zeitformen hinweg gewährleistet sein. Daher sollte man davon ausgehen, dass die verschiedenen Zeitformen nicht ausreichend sind, um die Unterscheidung der trinitarischen Personen zu motivieren. Die Relationen, die Einheit und Unterscheidung der trinitarischen Personen konstituieren, sind daher in anderen Kontexten zu suchen. Da die anderen Alternativen aus den genannten Gründen ausscheiden, bleibt die dritte Alternative: Andere Relationen, die nicht mit den Zeitformen zusammenhängen, wie die klassischen Relationen der Zeugung und Hauchung, bestimmen die Einheit und Unterschiedenheit der Personen. Durch diese Relationen ist Gott als Vater, Sohn und Geist differenziert. Diese Relationen bestimmen auch die Werke, die sie übernehmen, so dass der Sohn inkarniert wird und der Geist in den Menschen wirkt. Die Werke vollziehen sie uneingeschränkt durch äußere Begrenzungen. Aus der Struktur der Werke ergibt sich jedoch eine emergente Zeit, die aus den gleichförmigen Aspekten an den Werken hervorgeht. So hat der Sohn auf Erden als Mensch gelebt und mit dem menschlichen Leben auch die Zeitlinie als Verlaufsform angenommen. Für die Zeiten nach der Auferstehung dagegen könnte er Handlungen vollziehen, die eine Vielzeitigkeit oder Vergegenwärtigung aller Zeiten impli-

5.4. Ewiges Leben für den Menschen

269

zieren, wenn er beispielsweise wie in der Ubiquitätslehre der ganzen Schöpfung gegenwärtig ist.22 Der Heilige Geist begleitet die Schöpfung und wird daher zumindest teilweise die Struktur der Vielzeitigkeit nutzen. Neben den Gründen, wegen denen die anderen Alternativen ausscheiden, spricht für diese Variante, dass nur sie die Intention des hier dargestellten Modells tatsächlich aufnimmt. Die Personen handeln und aus ihrem Handeln gehen spezielle Strukturen hervor, die sich als Verlaufsformen abstrahieren lassen. Damit hat Gott bezüglich der Zeit die größte Flexibilität. Keine der Personen unterliegt Einschränkungen aufgrund ihrer Zeitformen. Einen speziellen Zusammenhang zwischen den trinitarischen Personen und den gewählten Zeitformen gibt es nur indirekt über die Werke, die jede Person übernimmt.

5.4. Ewiges Leben für den Menschen Die bisherige Diskussion fokussierte sich stets auf Gottes Zeit und Ewigkeit. Mit der Hintergrundunabhängigkeit, Dynamik und Freiheit sind drei Eigenschaften benannt, die gewährleisten, dass Gott die Macht hat, eigene Zeiten zu konstituieren. Doch auf was darf der Mensch als ewiges Leben hoffen? Auf Erden besitzt der Mensch eine eigene Dynamik, denn er ist zeitlich verfasst. Sie ist jedoch nicht hintergrundunabhängig, sondern in die Zeit der Welt eingebettet. Zudem ist seine Handlungsfreiheit in Bezug auf seine Zeit stark eingeschränkt. Er kann nicht mehr, als Situationen herbeizuführen, in denen er die Zeit langsamer oder schneller verlaufend wahrnimmt. Auch das ewige Leben ist als Leben zu verstehen, als dynamisches Geschehen und nicht als Zustand. Präziser bestimmt, ist es Leben in Gemeinschaft mit dem ewigen Gott.23 Die Dynamik wäre daher unmittelbar von Gott abhängig, aber dennoch eine Dynamik des Menschen. Die Abhängigkeit von Gott muss nicht derart gestaltet sein, dass sie die möglichen Zeitgestalten einschränkt. Für die Modellierung der Zeitformen kann daher ebenfalls dasselbe Spielzeugmodell mit denselben Konstellationsmöglichkeiten verwendet werden wie für die hintergrundunabhängige Dynamik. Eine Abhängigkeit von Gott würde jedoch vermutlich die Handlungsfreiheit einschränken oder zumindest unter den Vorbehalt stellen, dass sie von Gott verliehen ist. Im Gegensatz zu Gott hätte der Mensch also nicht die Macht, seine Zeiten eigenständig ohne Gottes Hilfe zu konstituieren. Die Zeiten des Menschen wären stets von Gott verliehene Zeiten. Ob Gott dem Menschen dabei ein Mitspracherecht eingesteht oder nicht, ist für die weitere Diskussion weniger relevant. In jedem Fall besteht die Möglichkeit, dass auch der Mensch nach dem Tod verschiedene Zeitgestalten erfährt, seien es von Gott vorgegebene Zeiten oder selbst gewählte. Dies ermöglicht es, dass der Mensch die Zeiten ge22

Vgl. zur Ubiquitätslehre J. Baur, Art.: Ubiquität, in: TRE, Bd. 34 (2002), 224–241, insbesondere

239. 23 Vgl. L. J. van den Brom, Art.: Ewiges Leben. VI. Dogmatisch, in: RGG4 , Bd. 2 (1999), 1766–1769, hier 1766–1768.

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5. Gottes Macht über seine Zeiten

schenkt erhält, die er benötigt. Um welche es sich dabei konkret handelt, könnte sich von Mensch zu Mensch unterscheiden. Beispielhaft soll hier eine Variante skizziert werden, die sich an Pannenbergs und Moltmanns Überlegungen zum ewigen Leben orientiert. Pannenberg versucht unter anderem die Frage nach der Kontinuität zwischen irdischem und ewigem Leben zu beantworten und das Verlangen der Menschen nach Ganzheit aufzunehmen. Er nimmt dazu an, dass erst im ewigen Leben die Person vollständig ist und das irdische Leben eine Antizipation der vollständigen Person ist. Der Person fehlen zu jedem Zeitpunkt noch die zukünftigen Zeiten, die sie erst noch erleben muss. Die Gesamtheit des irdischen Lebens ist erst die eigentliche Person. Das ewige Leben besteht daher in der simultanen Gegenwart aller Zeiten des irdischen Lebens (vgl. auch Kap. 2.1.3).24 Moltmann dagegen geht davon aus, dass Gott sich auch Zeit für die Toten nimmt und dass die Toten ihre Vollendung als Prozess erleben. Damit kann Moltmann nicht nur Traditionen gerecht werden, die eine Gemeinschaft Christi mit den Toten annehmen, sondern auch Hoffnung für abgebrochenes Leben bieten, das nach dem Tod Zeit erhält, sich weiter zu entfalten (vgl. Kap. 2.2.4). Zugleich ist damit das ewige Leben mehr als eine Verewigung des unvollkommenen irdischen Lebens.25 Moltmanns Ansatz könnte so verstanden werden, dass die Toten wie die Lebenden entlang einer Zeitlinie existieren, die sich vom irdischen Leben durch den Tod ins Jenseits erstreckt. Dies hätte den Nachteil, dass die Zeiten des Lebens nicht gleichberechtigt in den Prozess der Versöhnung und Vollendung aufgenommen werden, da die Zeiten der Jugend beispielsweise nur über den Umweg des Alters in den Vollendungsprozess eingehen. Moltmann selbst diskutiert die Zeitgestalt der Toten nicht explizit. Seine reversible, aionische Zeit (vgl. Abs. 2.2.3) bezieht sich auf das ewige Leben, das dem Vollendungsprozess folgt. Ob sich die Toten vor dem ewigen Leben schon in der reversiblen Zeit befinden oder noch in einer irreversiblen, geht aus Moltmanns Ausführungen nicht hervor. Unter Nutzung der oben aufgeführten Zeitformen lässt sich dieses Problem umgehen. Ein Zeitnetz bietet die Möglichkeit, sich ausgehend von jedem Zeitpunkt des irdischen Lebens parallel weiterzuentwickeln. Die Person könnte sich mit jeder Situation ihres Lebens gleichermaßen versöhnen und ihre unterschiedlichen Entwicklungsstufen könnten gleichberechtigt von jedem Zeitpunkt in den Vollendungsprozess einfließen. Dieses Netz könnte schließlich auf eine Gegenwart vieler Zeiten zulaufen. Alle leidvollen und schönen Erfahrungen, gute und böse Intentionen fänden gleichermaßen ihren Widerklang in der vollendeten Person. Im Gegensatz zu Pannenbergs Modell müssten die Zeiten des irdischen Lebens in diese Gegenwart jedoch nicht ungefiltert eingehen. So könnten leidvolle Erfahrungen 24

Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 3, 647–652. Moltmann, „Is There Life After Death?“, 251–253; Moltmann, „Liebe – Tod – Ewiges Leben“, 850–852. 25

5.5. Der Ewigkeitsbegriff

271

zuvor verarbeitet und bewältigt werden. Alle Erfahrungen wären vermittelt durch einen Prozess der Versöhnung, der Zeit bietet, das Schlechte zu überwinden. Mit diesem Modell könnte das Verlangen der Menschen nach Ganzheit und Vollendung in doppeltem Sinne aufgenommen werden: Wie bei Pannenberg geht das ganze irdische Leben gleichberechtigt in die Ewigkeit ein und die Differenzen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden aufgehoben. Zugleich geht es jedoch nicht so unvollkommen ein, wie es gelebt wurde, sondern hat Zeit wie bei Moltmann, um vollendet und ganz gemacht zu werden. Darüber hinaus wahrt es die Bedeutung des irdischen Lebens. Denn die irdischen Erlebnisse gehen allesamt in den Vollendungsprozess der Person ein. Sie durchlaufen zwar einen Versöhnungsprozess, prägen jedoch als Grundlage dieses Prozesses auch das ewige Leben. Dieses Beispiel zeigt, dass eine Vielfalt möglicher Zeitgestalten auch für das ewige Leben des Menschen mehr Möglichkeiten und mehr Hoffnung bietet als die Annahme einer einzelnen Zeitgestalt. Welche Zeitformen ein Mensch konkret erwartet, wird jeweils davon abhängen, was sich der Mensch vom ewigen Leben erhofft. Abgesehen von den je individuellen Hoffnungen bleibt jedoch vor allem das Vertrauen, dass Gott weiß, welche Zeiten der Mensch braucht, und dass er diese Zeiten auch gewähren kann.

5.5. Der Ewigkeitsbegriff Den Kern des hier vorgestellten Modells bilden die Eigenschaften Hintergrundunabhängigkeit, Dynamik und Handlungsfreiheit. Letztere ist in dem Sinne zu verstehen, dass die Dynamik allein durch Gottes eigenen Willen gesteuert wird. Um dieses Modell abzulehnen, müsste man eine der drei Eigenschaften bestreiten oder einschränken. Zu behaupten, dass Gott von einem Hintergrund abhängig ist, erscheint abwegig. Eine solche Abhängigkeit würde seine Gottheit in Frage stellen. Der Hintergrund müsste etwas sein, das Gott vorgegeben ist und das Gott selbst nicht ändern kann. Gott wäre weder Schöpfer aller Dinge noch allmächtig noch frei gegenüber dem Hintergrund. Mit der Hintergrundunabhängigkeit müsste man also drei traditionelle Eigenschaften Gottes leugnen. Ebenso wenig kann man ihm seine Handlungsfreiheit absprechen. Dazu müsste man annehmen, dass Gott entweder äußeren Sachzwängen unterliegt oder keinen eigenen Willen besitzt. Denkbar wäre, dass Gottes Wesen zumindest einige Aspekte seiner Dynamik festlegt und seine Dynamik daher nicht vollständig durch seinen Willen gesteuert wird. In diesem Fall wäre zwar seine Handlungsfreiheit nicht eingeschränkt, da sich sein Wille vermutlich nicht gegen sein Wesen richten könnte. Doch könnte es sein, dass Gott nicht alle Zeitformen offenstünden, die theoretisch denkbar sind. Ein Beispiel für eine derartige Einschränkung bietet Schellings Spätphilosophie. Nach Schelling erlaubt die Dynamik der Potenzen drei Existenzweisen, Zeitlosigkeit, die wahre Zeit und die arretierte Zeit, nicht aber das Zeitnetz. Gott als

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5. Gottes Macht über seine Zeiten

Einheit der drei Potenzen hat nur die ersten beiden Möglichkeiten zur Auswahl. Die dritte folgt schließlich aus dem Sündenfall des Menschen. Dieses Beispiel zeigt, dass es nicht ausgeschlossen ist, dass Gott trotz einer Einschränkung der Dynamik mehrere Zeitbezüge zur Verfügung stehen. Am plausibelsten ließe sich die letzte Eigenschaft, die Dynamik Gottes bestreiten, indem ein statischer Gott angenommen wird. Diese These hätte breiten Rückhalt in der Tradition. Für alle Probleme, die ein statisches Gottesbild mit sich bringt, existieren daher bereits viele Lösungsansätze.26 In der Einleitung wurden jedoch bereits die Gründe genannt, die für einen dynamischen Gott sprechen (vgl. Kap. 1.4). Insbesondere scheint jede Handlung Gottes bereits eine Form von Dynamik zu implizieren. Daher ließe sich ein statisches Gottesbild nur vertreten, indem man Handlungen und Lebensvollzüge, die in dieser Arbeit als Dynamik interpretiert werden, als statisch ansieht. Es ist jedoch schwer einzusehen, warum beispielsweise das Hervorbringen von etwas, das ohne diese Handlung nicht existiert hätte, wie die Schöpfung, als Statik einzustufen sein sollte. Das hier entwickelte Modell ist folglich sehr plausibel, da man Gott weder als abhängig noch als unfrei denken kann und Gott in der Schöpfung gehandelt hat. Wie in Pannenbergs Ansatz (vgl. Abs. 2.1.2) ist auch hier der Ewigkeitsbegriff Konsequenz des Gottesbegriffs. Pannenberg setzt mit dem Gottesbegriff des Unendlichen und Absoluten an, der das Endliche umfasst. Hier wird Gott einerseits als dynamischer, lebendiger Gott gedacht, andererseits ebenfalls als unendlicher und unbegrenzbarer Gott. So ist seine Ewigkeit die Folge seiner Dynamik, Freiheit und Unabhängigkeit. Sie ist Verlaufsform seiner Handlungen und seines Lebens. Zugleich ist Gott in seinem Leben unbegrenzbar, so dass er die Verlaufsformen seines Lebens ohne Einschränkungen wählen kann. Seine Ewigkeit entspricht darin dem Unendlichkeitsbegriff, dass sie nicht im Gegensatz zu irgendeiner Verlaufsform definiert ist, sondern alle Verlaufsformen als mögliche Existenzweisen umfasst. Das hier vorgeschlagene Ewigkeitsverständnis ist jedoch nicht die einzige Möglichkeit den Ewigkeitsbegriff im Rahmen dieses Modells zu verorten. Die traditionellen Ewigkeitsmodelle bieten mehrere Anknüpfungspunkte, die sich in unterschiedlichen Aspekten dieses Modells wiederfinden. Im Anschluss an die klassischen Modelle der endlosen Zeit oder der Gegenwart aller Zeiten könnten einzelne Zeitformen als Ewigkeit bezeichnet werden. In dieser Terminologie hätte Gott beispielsweise die Gegenwart aller Zeiten als Standardzeitform, die Ewigkeit genannt wird. Aus dieser Ewigkeit könnte er jedoch auch in andere Zeitformen übergehen. Diese Terminologie hätte den Vorteil, dass sie nahe bei klassischen Ewigkeitsvorstellungen bleibt. Karl Barth geht diesen Weg, wenn er Ewigkeit als reine Dauer, als „Einmal und Zugleich von Anfang, Mitte und Ende“,27 bestimmt, aber Gott die Möglichkeit zuschreibt, zeit-

26 27

Exemplarisch genannt seien die Diskussionen und Lösungsansätze in Helm, Eternal God. Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. II.1, 685.

5.5. Der Ewigkeitsbegriff

273

lich zu werden.28 Alternativ könnte Ewigkeit mit einer speziellen Eigenschaft Gottes identifiziert werden. Ein Kernaspekt des Ewigkeitsgedankens ist, dass Gott nicht der Vergänglichkeit der geschöpflichen Zeit unterworfen ist. In diesem Sinne könnte schon die Unabhängigkeit von der geschöpflichen Zeit Ewigkeit genannt werden.29 Zentral für den Ewigkeitsbegriff sollten meines Erachtens jedoch zwei Punkte sein: Erstens sollte mit Ewigkeit dasjenige an Gott bezeichnet werden, das der menschlichen Zeitlichkeit entspricht. Zweitens sollte der Ewigkeitsbegriff Gottes Unendlichkeit gegenüber der Zeit ausdrücken. Die Zeitlichkeit des Menschen ist seine eingeschränkte und nur teilweise freie Dynamik im Kontext der äußerlichen Zeit, in die er eingebettet ist. Zu ihr gehört seine Einschränkung auf nur eine Zeitform, der Zeitlinie, seine Ohnmacht gegenüber der Zeit und nicht zuletzt seine Vergänglichkeit. Auf Gottes Seite entspricht diesen Aspekten seine Vielfalt der Zeitformen, seine Macht, über diese Zeitformen zu bestimmen, und damit auch die Möglichkeit, alle Vergänglichkeit zu überwinden.30 Gottes Bezug zur Zeit ist seine Macht über die Zeit, seine Fähigkeit, eigene Zeiten zu konstituieren und ihre Verlaufsformen zu bestimmen. Darin äußert sich zugleich seine Unendlichkeit, dass Gott theoretisch alle Verlaufsformen zur Auswahl hat und damit alle denkbaren Zeitbezüge umfasst. Insofern erscheint es gerechtfertigt, diese Macht als Ewigkeit zu bezeichnen. Eine Prämisse dieses Modells war die Annahme eines dynamischen Gottes. Für die Ausformulierung des Modells reichte es aus, die Dynamik auf spezielle Aspekte zu reduzieren, nämlich die Möglichkeit, neue Momente in beliebiger Beziehung zu den alten Momenten zu setzen. Es wurde vom Inhalt der Dynamik weitgehend abstrahiert und der Fokus auf die Verlaufsform gelegt. Zwar ist auch die Verlaufsform an den Inhalt der Zeiten gebunden. Doch wurde hier die Vielfalt der Verlaufsformen dargestellt und nicht der Inhalt. Wollte man die Dynamik genauer erfassen, müsste man die Handlungen und Lebensvollzüge Gottes diskutieren. Denn die Struktur der Dynamik und damit ihre Verlaufsformen ergeben sich aus den Handlungen Gottes. Gott entscheidet sich für seine Handlungen und konstituiert mit seinem Handeln nebenbei seine Zeiten. In diesem Sinne müsste das Wirken Gottes in Schöpfung, Erlösung und Vollendung durchgegangen werden, um die Zeitform von den Werken abzulesen. Dieser Weg wurde hier nicht gewählt, da er zu umfangreich wäre. Stattdessen wurden einige denkbare Verlaufsformen skizziert. Die Frage, welche Zeitformen Gott in den einzelnen Werken tatsächlich nutzt, bleibt eine Aufgabe für Entwürfe zu den einzelnen Teilgebieten der Dogmatik. 28

Ebd., 694–696. Dies scheint Douglas K. Blount als allgemeine Bedeutung von „atemporalism“ anzusehen. Vgl. D. K. Blount, „Swinburne and the Doctrine of Divine Timelessness“, Philosophia Christi, 2. Ser. 2 (2000), 35–52, hier 37–39. 30 Vergänglichkeit, Endlichkeit und geschöpfliche Zeitlichkeit sieht auch Reinhold Bernhardt als Gegenpart der Ewigkeit. Ewigkeit ist daher „deathlessness“ und „abundance and wholeness of life“. Siehe Bernhardt, „Timeless Action?“, 129 f. 29

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5. Gottes Macht über seine Zeiten

Die Dynamik ist also die Lebensmacht Gottes und der dynamische Gott ist der lebendige Gott, ein Gott, der im Leben existiert, nicht in einem Zustand. Daher lässt sich an das Bedeutungsspektrum von αἰών anschließen, das Leben bedeuten kann, bei Homer auch Lebenskraft und Lebenszeit, die der Lebenskraft entspringt.31 Gottes Ewigkeit beruht darin, dass er als der unbegrenzbar Lebendige32 alle Verlaufsformen durchleben kann, die konsistent denkbar sind. Der Ewigkeitsbegriff dieses Modells lässt sich in diesem Sinne auch ausdrücken als Gottes Lebensmacht, die sich in Form und Dauer frei von äußeren Einschränkungen nur nach Gottes Willen entfaltet.33

31 Vgl. M. Theunissen, Art.: Zeit. II. Antike. – A. Griechenland (vor Platon), in: HWPh, Bd. 12 (2004), 1190–1196, hier 1192; Gloy, Zeit, 114–118. 32 Der Gedanke des unbegrenzbaren Lebens findet sich bereits bei Boethius und beispielsweise Pannenberg. Sie folgern aus diesem Begriff allerdings auf die Gegenwart aller Zeiten. Vgl. Boethius, Trost der Philosophie – Consolatio Philosophiae, V, 6p, Z. 9–11 (262); Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, 433. 33 In ähnlicher Weise betrachtet auch Eberhard Jüngel „Ewigkeit als Form des trinitarischen Lebens Gottes“, auch wenn er die spezielle Form des Lebens anders bestimmt. Siehe E. Jüngel, „Anteilgeben an der Ewigkeit. Erwägungen zu einem christlichen Ewigkeitsbegriff “, in: R. G. Kratz/ H. Spieckermann (Hrsg.), Zeit und Ewigkeit als Raum göttlichen Handelns. Religionsgeschichtliche, theologische und philosophische Perspektiven, BZAW 390, Berlin 2009, 299–316, hier 302.

6. Zusammenfassung Die Unendlichkeit Gottes war der Ausgangspunkt der Einleitung. Gott kann, wie immer sein Wesen auch sonst zu bestimmen sein mag, nicht endlich sein. Insbesondere darf er nicht als reiner Gegensatz des Endlichen gedacht werden, da er sonst durch das Endliche begrenzt und damit selbst endlich wäre.1 Bezogen auf die Begriffe von Zeit und Ewigkeit bedeutet seine Unendlichkeit, dass Gottes Ewigkeit nicht als Gegensatz seines endlichen Korrelats, der Zeitlichkeit, verstanden werden kann. Präziser gesagt, darf seine Ewigkeit nicht durch Negation irgendeines Zeitbezugs begrenzt sein. Darum wurde die These entwickelt, dass Gott seinen Bezug zur Zeit selbst bestimmen kann und insbesondere zwischen den verschiedenen Bezügen wechseln kann. Die Konsistenz dieses Ewigkeitsbegriffs zu erweisen, stellte damit das Ziel dieser Arbeit dar. Die Diskussion einiger Positionen der neueren Theologie, der Zeitbegriffe der Physik und der Spätphilosophie Schellings stand daher unter dem Fokus, Ansätze und Modelle zu finden, die zur Formulierung eines Modells verwendet werden können, das verschiedene Zeitbezüge sowie Übergänge zwischen ihnen erlaubt. In der Einleitung wurden zunächst noch einige Argumente betrachtet, die für einen dynamischen Gott sprechen, teilweise sogar eine Zeitlichkeit in bestimmten Werken und Handlungen implizieren. Diese Argumente liefern neben dem Unendlichkeitsbegriff weitere Belege, dass Gottes Ewigkeit nicht im Gegensatz zur Zeitlichkeit konzipiert werden kann. Für eine Dynamik sprachen zahlreiche Aspekte. Alle Handlungen und Reaktionen Gottes implizieren ein Geschehen, das sich nicht als Statik bezeichnen lässt. Zugleich braucht nicht jede Handlung in Zeit vollzogen werden. Auch Handlungen, die nicht in der geschöpflichen Zeit stattfinden, können als dynamisch betrachtet werden. Einzelne Lebensvollzüge Gottes implizieren jedoch auch eine Zeitlichkeit Gottes. Wenn Gott die zeitliche Existenz seiner Geschöpfe nachvollzieht, erzeugt er in sich Zeit. In der Inkarnation wird die zweite Person der Trinität Mensch und folglich auch zeitlich. Damit ergibt sich das Bild eines dynamischen, lebendigen Gottes, der auch die zeitliche Existenzweise kennt. In seiner Eigenschaft als unendlicher Gott ist er genauer als unbegrenzbar lebendig zu bestimmen. Die Betrachtung dreier Ansätze zur Ewigkeit Gottes aus der neueren Theologie ergab einige Anregungen für den Ewigkeitsbegriff. Nach Pannenberg sollte der Ewig1

Vgl. Hegel, Wissenschaft der Logik I/1, 142–144 und 148–150.

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6. Zusammenfassung

keitsbegriff eine Explikation der Gotteslehre sein. Der Ewigkeitsbegriff muss sich aus dem Gottesbegriff ergeben. Auch in dieser Arbeit wurde der Ansatz in der Einleitung ausgehend vom Gottesbegriff des unendlichen Gottes entworfen. Das Modell, das in Kap. 5 entwickelt wurde, ließ sich in Teilen mit klassischen Eigenschaften Gottes begründen und entspricht letztlich dem Bild des unendlich und unbegrenzbar lebendigen Gottes. Moltmann entwirft Gottes Ewigkeit als Zeitmächtigkeit, ein Gedanke, der dem Ansatz dieser Arbeit nahe kommt. Gott ist der Herr der Zeit und hat insbesondere im Rahmen der Schöpfung auch die Möglichkeit, anzufangen. Ingolf Dalferth entwickelt einen trinitarisch differenzierten Ewigkeitsbegriff. Den jeweiligen Zeitbezug der trinitarischen Personen bestimmt er anhand ihres Werkes. Die strenge trinitarische Differenzierung der Zeitbezüge ist mit dem hier vertretenen Ansatz, dass Gott seinen Zeitbezug wählt, nicht vereinbar. Doch der Gedanke, dass Gottes Werke bestimmte Zeitbezüge implizieren, ist ohne Zweifel richtig. Die Untersuchungen der physikalischen Zeitbegriffe haben zu einem Ansatz geführt, der für dieses Modell nützlich war. Die Relativitätstheorien deuten einen Vorrang der Zeit gegenüber dem Raum an, da sich alle räumlichen Relationen auf zeitliche reduzieren lassen. Um diesem Vorrang der zeitlichen Relationen gerecht zu werden, wurde eine dynamische Interpretation der allgemeinen Relativitätstheorie entwickelt. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass die Dynamik hintergrundunabhängig verläuft, das heißt ohne Einschränkung durch andere Strukturen. Die Causal Set Theories, die versuchen, die relativistische Raumzeit durch diskrete Ereignisse zu rekonstruieren, setzen eine ähnliche Ontologie voraus. Im Gegensatz zur allgemeinen Relativitätstheorie erlaubt die Dynamik in den Causal Set Theories auch Wechsel in den Dimensionalitäten des entstehenden Raums und Übergänge zwischen einfach linearen Zeiten und komplexeren Zeitnetzen. Damit war ein erster Ansatz gefunden, wie verschiedene Zeitformen vereinbar sein könnten. Die Dynamik und die Zeit wären auch dann als real zu betrachten, wenn sie emergent aus anderen Strukturen hervorgingen. Dies ist relevant für die Interpretation der Zeit in Theorien, in denen Zeit oder ihre Richtung nicht fundamental sind. Einzige Voraussetzung für die Realität emergenter Dynamik ist, dass das scheinbar statische Blockbild des Ganzen der Zeit aus dem Zusammenhang der einzelnen Momente der Dynamik hervorgeht und nicht den einzelnen Zeitmomenten vorgängig ist. Dann kann aus einer Art Prädynamik eigentliche Dynamik hervorgehen. Diese Dynamik kann Strukturen bilden, die sich als Zeiten identifizieren lassen. Aus dem Zusammenhang der Zeitmomente ergibt sich schließlich das Ganze der Zeit, das also von der Dynamik der einzelnen Zeitmomente abhängig ist und daher nicht als statisch interpretiert werden kann.2 Die Betrachtung der Gemeinsamkeiten der physikalischen Zeitbegriffe führte auf einen strukturalen Zeitbegriff. Angesichts verschiedener und teils gegensätzlicher 2 Vgl. als Gegensatz zu diesem dynamischen Zeitverständnis Pannenbergs Verständnis der Zeit, in dem das Ganze der Zeit der Differenzierung in Zeitmomente vorangeht. So zum Beispiel in Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 2, 114–116; Pannenberg, „Eternity, Time, and Space“, 103 f.

6. Zusammenfassung

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Versuche, die Zeitstruktur der heutigen Theorien in neuen, spekulativen Theorien zu rekonstruieren, stellte sich die Frage, warum all diese Ansätze behaupten können, Zeit zu erklären. Dies ist nur möglich, wenn ein Zeitbegriff vertreten wird, der so allgemein ist, dass alle Strukturen als Zeit akzeptiert werden, die für Lebewesen in ihnen ähnlich erfahren werden wie die Zeit dieses Universums. Zeit in ihrem allgemeinsten Begriff erwies sich daher als Struktur aus vielen Momenten, zwischen denen gesetzmäßige Abhängigkeiten bestehen. Der Vorteil dieses allgemeinen Zeitbegriffs ist, dass er nicht nur vieles einschließt, was in der Vergangenheit als Zeit bezeichnet wurde, sondern insbesondere auch verschiedene Verlaufsformen der Zeit sowie emergente Zeiten umfasst. Diese Resultate decken sich in weiten Teilen mit den Ergebnissen aus der Interpretation der Zeitbegriffe Schellings. Wahre Zeit wird nach Schelling durch die Dynamik der Potenzen konstituiert. Die Potenzen gehen einen Prozess ein, in dem die Potenzen gegeneinander wirken und dabei eine Abfolge von Momenten hervorbringen. Sowohl der Unterschied als auch der Zusammenhang zwischen den Momenten wird durch diese Dynamik konstituiert. Zeit ist also nicht Voraussetzung, sondern Folge der Dynamik. Darum ist diese Dynamik in moderner Terminologie hintergrundunabhängig. Allein die Gesetze der Dynamik bestimmen die Verlaufsform des Prozesses. Dementsprechend unterscheidet Schelling von der wahren Zeit die arretierte Zeit. Sie geht aus einer defekten Variante der Dynamik hervor, unterscheidet sich also von der wahren Zeit in ihrer zugrunde liegenden Dynamik. Dieser Unterschied in der Dynamik äußert sich in den verschiedenen Verlaufsformen. In der wahren Zeit folgen inhaltlich verschiedene Momente aufeinander. In der arretierten Zeit wird die gleiche Weltzeit stets wiederholt. In seiner vorweltlichen Ewigkeit kann Gott sich zudem entscheiden, ob er den Prozess der wahren Zeit starten oder es bei dem bereits existierenden Moment der vorweltlichen Ewigkeit belassen will. Diese Wahl hat Gott aufgrund der Eigenheiten der Potenzen, insbesondere der ersten Potenz. Sie folgt also ebenfalls aus den Gesetzen der potentiellen Dynamik. Die Konstituenten der Zeit sind jedoch nicht erst in der vorweltlichen Ewigkeit, sondern bereits in der absoluten Ewigkeit gegeben. Die drei Potenzen und ihre unvordenkliche Einheit ermöglichen beides, die vorweltliche Ewigkeit und die Zeit. Aus diesen Anregungen aus der Physik und Schellings Spätphilosophie wurde in Kap. 5 das Modell entwickelt, das die Konsistenz des anfänglichen Ansatzes erweisen sollte. Die Möglichkeit, Zeit zu konstituieren und insbesondere zwischen verschiedenen Verlaufsformen zu wechseln, ergab sich in der Physik und bei Schelling jeweils aus dem Grundgedanken, dass Zeit aus Dynamik folgt und nicht ihre Voraussetzung ist. Die Verlaufsform dieser Dynamik sollte außerdem nicht durch äußere Gegebenheiten eingeschränkt sein, sondern allein durch ihre eigenen Gesetze bestimmt werden. Diese Gesetze müssen so flexibel sein, dass sie verschiedene Verlaufsformen ermöglichen. Entscheidend für ein Ewigkeitsmodell ist nicht zuletzt, dass die Dynamik den Entscheidungen Gottes folgt, so dass Gott die Verlaufsformen seiner eigenen Dynamik bestimmt. Daraus ergaben sich die drei Eigenschaften Hin-

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6. Zusammenfassung

tergrundunabhängigkeit, Dynamik und Handlungsfreiheit, die nach diesem Modell die Macht Gottes, seine eigenen Zeiten zu konstituieren und ihre Form zu bestimmen, gewährleisten. Anhand eines Spielzeugmodells wurde skizziert, wie sich durch eine hintergrundunabhängige Dynamik einfache Zeit, Vielzeitigkeit, Gegenwart aller Zeiten und theoretisch auch Zeitlosigkeit als spezielle Strukturen der Dynamik realisieren lassen. Welche Verlaufsformen Gott tatsächlich nutzt, kann das Modell nicht beantworten. Dies muss sich vielmehr in einer Analyse der Werke Gottes erweisen. Im Resultat zeigte sich, dass dieses Modell nicht nur geeignet ist, die Konsistenz des Ewigkeitsbegriffs aus der Einleitung zu belegen, sondern auch in sich hohe Plausibilität besitzt. Weder die Hintergrundunabhängigkeit noch die Freiheit Gottes können geleugnet werden, ohne seine Gottheit in Frage zu stellen. Auch eine Dynamik Gottes steht außer Frage, wenn man den Begriff der Dynamik so allgemein fasst wie in der Einleitung. Denn unter dieser Voraussetzung weist Gott Dynamik auf, sobald er handelt und beispielsweise anderes erschafft. Gottes Dynamik besteht also bei genauerer Betrachtung aus seinen Handlungen und Lebensvollzügen. Daraus ergab sich die Folgerung, dass Gottes Zeiten direkt von seinen Handlungen abhängig sind. Gott entscheidet sich für eine Handlung. Wenn diese Handlung eine Struktur mehrerer Momente impliziert, wird Gott mit der Handlung diese Momente mit ihren Zusammenhängen erzeugen. Je nach Struktur der Momente können sich daher Zeiten Gottes als Konsequenz seiner Handlungen und Lebensvollzüge ergeben. Gott wählt also nicht abstrakt irgendwelche Zeitformen, die ihm belieben, sondern handelt und lebt und erfährt Zeiten als Form des Lebens, das er gewählt hat. So sind seine Zeiten durch ihren Inhalt, durch Gottes Leben, bestimmt. Die Zeiten, die Gott konkret wählt, müssen daher aus seinen Lebensvollzügen gefolgert werden. Diese Aufgabe ist zu umfangreich für eine einzelne Arbeit, da sie einen Durchgang durch die gesamte Dogmatik erfordert. Stattdessen wurden in dieser Arbeit einzelne mögliche Zeitformen skizziert. Damit öffnet sich ein breiterer Spielraum für zukünftige dogmatische Entwürfe: Es ist nicht notwendig, sich für einen Zeitbezug Gottes zu entscheiden. Für jede Handlung Gottes kann die passendste Verlaufsform angenommen werden. Zugleich kann jede dogmatische Arbeit die Zeiten Gottes genauer bestimmen, indem sie implizit oder explizit auch die Struktur der Handlungen, die sie zum Thema hat, beschreibt.

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Personenregister Aharonov, Y. 124–125, 129 Aristoteles 52, 215, 229, 238 Arthur, R. 109 Augustinus 5, 7–9, 15, 45, 48, 54, 57, 58, 62, 67, 245–246 Barth, K. 32, 43, 44, 272 Bergmann, P. G. 124–125 Boethius 6–8, 25, 36, 37, 39, 40, 43, 49, 57, 64, 245, 260, 262 Bohm, D. 121, 129 Bohr, N. 120 Boltzmann, L. 134–137, 159 Clarke, S. 79, 102, 105 Craig, W. L. 10–12, 67 Dalferth, I. U. 39, 62–65, 258, 267, 276 Descartes, R. 40–41, 48, 76 Dieks, D. 109 Drees, W. 159 Earman, J. 102, 104 Einstein, A. 81, 82, 84, 96–98, 116 Elliger, K. 19 Everett, H. 121, 131, 143, 155 Faraday, M. 156 Fresnel, A. J. 156 Gibbs, J. W. 134, 137–138 Gödel, K. 106, 114 Hamilton, W. R. 74, 76 Hartle, J. B. 70, 144 Hawking, S. 70, 112, 144, 147, 149 Hegel, G. W. F. 1, 34, 40, 42, 246 Heisenberg, W. 120, 128 Helm, P. 8–9, 11, 27, 67 Hesse, M. 156

Hogrebe, W. 193 Husserl, E. 255 Jackson, F. 29 Jantsch, E. 54 Jenni, E. 14, 15 Kant, I. 206–207, 216, 259 King, A. R. 149 Lagrange, J.-L. 76 Lebowitz, J. L. 124–125 Leftow, B. 32–33 Leibniz, G. W 79–80, 82, 96, 101–102, 105, 115, 148 Link, Ch. 122 Luhmann, N. 53 Luther, M. 60 Mach, E. 72, 82 Malament, D. B. 149 Mandelstam, L. I. 128 Maxwell, J. C. 83, 156 McCarthy, P. J. 149 McTaggart, J. E. 9, 159 Minkowski, H. 84 Moltmann, J. 39, 50–61, 64–65, 255, 270–271, 276 More, H. 76 Müller, A. M. K. 53 Newton, I. 73–80, 82, 96, 101 Norton, J. 102, 104 Padgett, A. G. 10 Pannenberg, W. 39–50, 64–65, 262, 270–272, 275 Peacocke, A. R. 155 Penrose, R. 112 Picht, G. 53, 122

294

Personenregister

Plotin 6, 36, 39, 40, 43–44, 49, 64, 245–246, 260, 262 Polkinghorne, J. 114 Popper, K. 159 Prigogine, I. 48

Sklar, L. 92–93 Sorkin, R. D. 150 Swinburne, R. 10

Russell, R. J. 70

Vilenkin, A. 146, 147

Savitt, S. 109 Schelling, F. W. J. 4, 11–12, 173–239, 242, 247, 250, 252, 271, 277 Schleiermacher, F. D. E. 40–41

Weizsäcker, C. F. von 122, 125 Whitrow, G. J. 114 Worral, J. 156

Tamm, I. 128

Zagzebski, L. T. 25, 31

Sachregister Abhängigkeit, des Menschen 243–244 Allmacht 20, 37, siehe auch Geschichtsmächtigkeit Anthropologie 40–41 Antizipation 47 Äonen 218–223 Augenblick, erfüllter 57 Aussage, emphatische 179–181, 183, 188, 191–194 Beobachter 86–87 Bohmsche Mechanik 121 Causal Set Theory 148–153, 247, 254 𝐶𝑃𝑇-Symmetrie 126–127 Dauer 45 Determinismus – physikalischer 75 – theologischer 26 Deuteronomismus 21–22 Dialog – Gott und Menschen 22–28 – Theologie und Naturwissenschaften 69–70 distentio animi 7–8 Doppelspaltexperiment 118–119 Dynamik – Gottes 12, 18, 21, 26–27, 35–36, 208–209, 246–251, 272–274 – Potenzen, siehe Potenzen, Dynamik Eigenzeit 86, 163–164, 169 Emergenz 158–161, 263 – der Dynamik 165 – der Gegenwärtigkeit 260 – der Zeit aus Dynamik, siehe Zeit, aus Dynamik Empathie 28–32 Eschatologie 49–53, 59–60

Ewigkeit – Abbilder 45, 57 – absolute 206–214 – aionische 57–59 – endlose Zeit 9–12 – Gegenwart aller Zeiten 6–8, 43–44, 169, 213, 258–261, 265, 270 – Macht über Zeit 1–3, 241–274 – traditionelle Modelle 5–12 – vorzeitliche 209–210, 214–218, 252 – Zeitlosigkeit 7–9, 63–64, 213–214, 245–246, 266 – faktische 148 Feld 105 Freiheit – absolute 235–237 – der Geschöpfe 195–196, 203–204 – Gottes 235–237, 251–253, 271 – des Seienden 177–178, 183–186, 209, 214, 217–218, 235, 238 Galilei-Transformationen 75 Gebet 22, 28–29 Gegenwart 45 – aller Zeiten, siehe Ewigkeit, Gegenwart aller Zeiten – ausgedehnte 90–91 Geschichte 53–54, 222 Geschichtsmächtigkeit 18–21 Gesetze des Denkens 182 Gibbssche Ensembles 137–138 Gottesbegriff, philosophischer 41–42 Gravitation 97 Handlungsfreiheit 251–252 Heiligkeit Gottes 42 Hintergrundunabhängigkeit 99–100, 150, 153, 164, 243–246, 271 Hole Argument 101–106

296 Inkarnation 32–34, 256 Kausalordnung 148–150 Komplementarität 120 Konsonanz 69–70 Kopenhagener Deutung 120–121 Kosmologie 111–115 Kovarianz 98–99 Leben – ewiges 49, 269–271 – innertrinitarisches 34–35 Lichtgeschwindigkeit 83–84 Lichtkegel 87–90 Lorentztransformationen 84–86 Mannigfaltigkeit 102–104 Metrik 100–101 Minkowski-Diagramm 84–85 Modalismus 268 Modalitäten 121–123, 126 Mythologie 204–205, 233–234 Naturprozess 200–203, 219, 223–227 Neues 51, 56, 123 Newtonsche Physik 73–81 Objekt 184, 186–190, 194–195 Offenbarung 205 Philosophie – Begriff 177 – negative 196–197 – positive 197–198 Potentialisierung 199, 210, 216, 228, 237–238 Potenz 180 Potenzen 178, 199, 228 – Dynamik 196–205, 216–217, 226, 229–231 – Einheit 189–192, 198, 201, 203–204, 211, 236 – Reihenfolge 189–190, 212–213 – rein Seiende 186–189 – rein Seinkönnende 183–186 – Seinsollende 189–190 – Ursachen 229–230 Potenzenlehre 175–196 Prädikation 179–181, 193–196 Präexistenz 14–17

Sachregister

Quantengravitation, kanonische 141–148 Quantenmechanik 116–131 – Messproblem 118–119, 143 raumartig 88 Raumzeit – absolute 96, 100–101 – Dynamik 100–101 – Existenz 100–104 – Krümmung, siehe Riemannsche Geometrie – relationale 96, 100–101 – Substanzialismus, siehe Raumzeit, Existenz Realismus – kritischer 71, 154–158 – struktureller 156–158, 161 Reduktionismus 158–159 reines Denken 181–185 Relative State-Deutung 121 Relativität der Gleichzeitigkeit 83–85, 92 Relativitätstheorie – allgemeine 97–111 – dynamische Interpretation 91–95, 108– 111, 151, 165–166, 247, 264–265 – spezielle 83–96 Reversibilität, siehe Zeit, Richtung Riemannsche Geometrie 97–98 Schöpfung 48, 200, 202–203, 258, 266 – der Zeit 16 Seiende 178, 181, 191 Spielzeugmodell 253–254 Statistische Physik 132–140 Subjekt 179–180, 183–184, 186–190, 193–195 Subjekt-Objekt 176, 189–190 Sündenfall 203–204, 232–233 Superspace 141–142 Theory of Everything 175–176 Thermodynamik, siehe Statistische Physik Trennungschristologie 32–34 Trinität 34–35, 62–64, 266–269 – Selbstunterscheidung durch Zeitbezug 267–268 Überzeitlichkeit 209–211 Unendlichkeit – Gottes 1, 34, 36, 41–44, 246, 262–263, 272–273 – mathematische 42

Sachregister

Unschärferelation 120–121 – Energie-Zeit 128–129 Unvergänglichkeit 15 Unvordenkliche 192–193, 198–199, 206–209, 230 Urknall 111–112 Vergangenheit, Endlichkeit 10–11 Vergegenwärtigung 260–261 Verheißung 51–52 Veränderlichkeit Gottes 27–28 Viele Welten Deutung, siehe Relative StateDeutung Vielzeitigkeit 63, 169, siehe auch Zeitnetz Vollendung 59–60, 270–271 Vollkommenheit 6, 8, 36–37, 246, 262–263 Vorläufigkeit – der Physik 68, 71 – der Theologie 71 Welle-Teilchen-Dualismus 119 Weltoffenheit 41 Zeit – A-Theorie 9–10, 91–92, 109, 263–264 – absolute 76–79, 113–115 – aionische, siehe Ewigkeit, aionische – als abgeleitete Größe 142, 147, 151–152, 158–163, 217–218, 265 – als Struktur gesetzlicher Zusammenhänge 166–169 – Anfang 58, 111–113, 144–146, 214–218, 227, 238 – arretierte 221–222, 231–234 – Asymmetrie, siehe Zeit, Richtung – aus Dynamik 217, 228–234, 237–238, 247–250, 262–263 – B-Theorie 9–10, 109, 263–264 – Ende 59, 112–113 – endlose, siehe Ewigkeit, endlose Zeit

– – – – –

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Gottes 170, 244–245, 248, 250 imaginäre 144–148, 218 interne 245–246, 248–250 menschliche 248–249, 255 Parameter 98–99, 117, 129–131, 141–143, 163 – relationale 79–80 – Richtung 106–108, 124–126, 132–140, siehe auch Zeit, Symmetrie – Symmetrie 76, 124–128, 133, 135–136 – verschränkte 53–55 – Vorstellung von 30 – wahre 218–231 – zwischen Tod und Vollendung 59–60, 270 zeitartig 88, 94 – geschlossene zeitartige Kurven 106–108 Zeitbezug – trinitarisch differenzierter 63–64, 267 – Übergang 146–147, 170–171, 216–217, 233, 238, 261–266 Zeitdilatation 86 Zeitlinie, siehe Zeitreihe zeitloses Wissen 24–25 Zeitlosigkeit, siehe Ewigkeit, Zeitlosigkeit Zeitmessung 129–131 Zeitmodi 46–47, 52–56, 88–91, 109–110, 121–122, 126, 224–225 Zeitmächtigkeit 58 Zeitnetz 257–258, 270 Zeitpfeil 138–139, siehe auch Zeit, Richtung Zeitreihe 106–107, 227–228, 255–257 Zeitstrukturen 253–266 Zeitwahrnehmung 45–46 Zukunft 51–53, 55–56 – eschatologische 54 – Offenheit 121–123, 126 Zusammenhang der Zeiten 45 Zweiter Hauptsatz der Thermodynamik 134–136