Der Freiheitsbegriff bei Gottfried Wilhelm Leibniz und Martin Heidegger [1. ed.] 9783428155378, 9783428555376, 9783428855377


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German Pages 200 [201] Year 2019

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Der Freiheitsbegriff bei Gottfried Wilhelm Leibniz und Martin Heidegger [1. ed.]
 9783428155378, 9783428555376, 9783428855377

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Philosophische Schriften Band 97

Der Freiheitsbegriff bei Gottfried Wilhelm Leibniz und Martin Heidegger Von Günther Neumann

Duncker & Humblot · Berlin

GÜNTHER NEUMANN

Der Freiheitsbegriff bei Gottfried Wilhelm Leibniz und Martin Heidegger

Philosophische Schriften

Band 97

Der Freiheitsbegriff bei Gottfried Wilhelm Leibniz und Martin Heidegger

Von Günther Neumann

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2019 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany

ISSN 0935-6053 ISBN 978-3-428-15537-8 (Print) ISBN 978-3-428-55537-6 (E-Book) ISBN 978-3-428-85537-7 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

§ 1 Problemstellung und thematische Eingrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

§ 2 Der Aufriss der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

1. Kapitel Der Freiheitsbegriff bei Leibniz

25

§ 3 Leibniz’ Auseinandersetzung mit dem Spinozismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 a) Der Gegensatz von Freiheit und Notwendigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 b) Freiheit und Kontingenz – Leibniz’ Überwindung des Nezessitarismus? . . . . . . . 27 c) Der Satz vom (zureichenden) Grund als Bedingung der Freiheit – Heideggers radikalisierende Frage nach dem Satz vom Grund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 § 4 Die Frage nach der Existenz möglicher Welten in Ansehung der göttlichen Wesenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 a) Schellings Kritik an Leibniz’ Begriff möglicher Welten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 b) Das Prinzip des zureichenden Grundes als Bedingung für Gottes Wahl der besten aller möglichen Welten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 c) Die Mathematik als das Modell der Maximierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 d) Gott rechnet – Deus calculat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 § 5 Der Gottesbegriff als Grund der Leibniz’schen Ontologie und Metaphysik . . . . . . . 41 a) Heideggers Kritik an Leibniz’ Wesensbestimmung des Menschen und der menschlichen Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 b) Die onto-theo-logische Verfassung der Leibniz’schen Metaphysik . . . . . . . . . . . 42 § 6 Die Frage nach der Vereinbarkeit von Vorherbestimmung und menschlicher Freiheit 43 a) Die Kompatibilität von hypothetischer Notwendigkeit und Freiheit (Kontingenz) 43 b) Freiheit als Selbstbestimmung und Selbstständigkeit des Menschen . . . . . . . . . . 45 c) Die Unterscheidung von „incliner“ (geneigt machen) und „nécessiter“ (nötigen)

46

d) Das göttliche Vorherwissen und Vorhersehen der menschlichen Handlungen „als freie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 e) Freiheit als Wesensbestimmung der geistigen Monaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

6

Inhaltsverzeichnis f) Denken als Selbstbewusstsein in Abgrenzung gegen jede Art von mechanischer Hypothese – Vergleich mit den heutigen Neurowissenschaften . . . . . . . . . . . . . . 49

§ 7 Die menschliche Freiheit als unvollkommene Seinsweise der idealen göttlichen Freiheit – Die Grade der Vollkommenheit oder Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 § 8 Der von Gott vollkommen erkannte Begriff einer einzelnen Substanz auf der Grundlage des urteilstheoretischen praedicatum-inesse-subjecto-Prinzips . . . . . . . . 53 a) Der vollständige oder vollkommene Begriff einer einzelnen Substanz . . . . . . . . 53 b) Leibniz’ Radikalisierung der aristotelisch-scholastischen Substanzenontologie im Sinne einer mathematisch-gesetzhaften Rationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 § 9 Die Frage nach der Vereinbarkeit der essentialistischen Begriffstheorie mit Kontingenz und Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 a) Der Primat des vollständig determinierten Begriffs einer einzelnen Substanz . . . 56 b) Der Essentialismus der göttlichen Urmonade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 § 10 Die Frage nach der göttlichen Prädestination des in die Welt geworfenen Individuums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 § 11 Das Theodizeeproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 a) Laktanz’ ursprüngliche Formulierung des Problems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 b) Die metaphysischen Voraussetzungen zur Lösung des Theodizeeproblems bei Leibniz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 § 12 Die dreifache Art des Guten und des Übels: das metaphysische, das physische und das moralische . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 § 13 Die Gründe für Gottes Zulassung des moralischen Übels und der Zusammenhang von Freiheit und Sünde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 § 14 Die drei Grundbedingungen von Freiheit: Vernunfteinsicht, Spontaneität und Kontingenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 a) Der Zusammenhang der drei Freiheitsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 b) Freiheit als Spontaneität mit Wahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 § 15 Das Problem der Freiheit und die Einteilung der verschiedenen Formen von Freiheit in den „Nouveaux Essais“ – Leibniz’ Auseinandersetzung mit John Locke . . . . . . . 78 § 16 Freiheit als Herrschaft der Vernunft über die Leidenschaften und als Vervollkommnung unserer eigenen menschlichen Natur als Vernunftwesen . . . . . . . . . . . . 82 § 17 Deutliche und verfließende Perzeptionen und die Bedeutung der „kleinen Perzeptionen“ („petites perceptions“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 § 18 Das Problem der göttlichen Erkenntnis und Voraussicht unserer undeutlichen Perzeptionen für die prästabilierte Harmonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86

Inhaltsverzeichnis

7

§ 19 Die philosophiegeschichtliche Einordnung der Leibniz’schen „Théodicée“ . . . . . . . 90

2. Kapitel Heideggers Leibniz-Auslegung im Hinblick auf den Begriff der Zeit und der Zeitlichkeit

91

§ 20 Die Abhebung des „Ungesagten“ als die eigentliche Aufgabe der Auslegung . . . . . 91 § 21 Die Übersetzung als hermeneutische Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 § 22 Der Leitfaden für Heideggers Leibniz-Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 § 23 Die substanziale Zeit der Monade und die existenziale Zeitlichkeit des Daseins . . . 96 § 24 Die Monade als ursprüngliches Einssein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 a) Die Zeit als die einigende Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 b) Die Einheit der Monade als das Gesetz der Reihe (lex seriei) . . . . . . . . . . . . . . . 103 § 25 Zusammenfassung der Leibniz-Auslegung Heideggers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 § 26 Exkurs: Die Asymmetrie der Zeit und Gottes Erkenntnis des zukünftigen Kontingenten nach Thomas von Aquin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

3. Kapitel Der Freiheitsbegriff bei Heidegger

114

§ 27 Heideggers Auslegung der beiden Freiheitsbegriffe Descartes’ unter besonderer Berücksichtigung des Molinismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 a) Die beiden Freiheitsbegriffe in Descartes’ vierter Meditation vor dem Hintergrund theologischer Kontroversen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 b) Heideggers und Leibniz’ Auseinandersetzung mit dem Freiheitsbegriff von Luis de Molina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 § 28 Exkurs: Der heutige universale Deutungsanspruch der Neurowissenschaften als Herausforderung für die Rechtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 § 29 Der methodische Leitfaden und die Aufgabe der Auslegung des Freiheitsbegriffes in „Sein und Zeit“ in der Abgrenzung von anderen Interpretationen . . . . . . . . . . . . 129 a) Heideggers Vorlesungen und Schriften auf dem Weg zu „Sein und Zeit“ . . . . . . 129 b) Der existenzial-ontologische Begriff der Freiheit in „Sein und Zeit“ . . . . . . . . . . 132

8

Inhaltsverzeichnis

§ 30 Der existenzial-ontologische Schuldbegriff und seine Bedeutung für die Rechtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 a) Schuld und Verantwortung im Spannungsfeld von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 b) Eine Kritik der Kritik: Bernd Irlenborns Interpretation der existenzialen Schuld in § 58 von „Sein und Zeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 § 31 Ausblick: Wahrheit und Freiheit auf dem Weg zum Ereignis-Denken . . . . . . . . . . . 158 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 1.

Gottfried Wilhelm Leibniz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 a) Akademie-Ausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 b) Sonstige Schriften von Leibniz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 c) Zweisprachige Ausgaben und Übersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 d) Briefwechsel (zweisprachig und Übersetzungen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 e) Leibniz-Bibliographie und weitere Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

2. Martin Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 a) Gesamtausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 b) Einzelausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 c) Briefwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 d) Mitschriften zu Heideggers Seminaren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 e) Register, Indizes und Konkordanzen zu Heideggers Schriften . . . . . . . . . . . . . . . 169 f) Allgemeine Heidegger-Bibliographien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 g) Bibliographie (und Stellenindex) zu Heideggers Leibniz-Rezeption . . . . . . . . . . 170 3.

Enzyklopädien, Handbücher, Wörterbücher, Die Bibel (Vulgata) . . . . . . . . . . . . . . . 170

4.

Sonstige benutzte Literatur (Primärtexte und Sekundärliteratur) . . . . . . . . . . . . . . . . 171

Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192

Einleitung § 1 Problemstellung und thematische Eingrenzung Das Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, die Frage nach dem Wesen und dem Begriff der menschlichen Freiheit als ein philosophisches Grundproblem vor den phänomenologischen Blick zu bringen und nicht nur im Rahmen einer bereits vorausgesetzten philosophischen Teildisziplin (wie etwa in der Ethik oder als Gegenstand einer praktischen Philosophie im Gegensatz zu einer theoretischen) abzuhandeln. Wie im Verlauf der Untersuchung noch eingehender begründet wird, steht für diese Aufgabe zweifellos die Philosophie Martin Heideggers im Zentrum, wobei sich die Ausführungen auf die Texte im Umkreis von „Sein und Zeit“ beschränken müssen. Was den Begriff und die Idee der Freiheit betrifft, ist immer Hegels gewichtiges Wort festzuhalten, dass „die Mißverständnisse“ darüber „von den ungeheuersten praktischen Folgen“ sind.1 Nach Sextus Empiricus2 soll Platons Schüler Xenokrates (um 396 – 314 v. Chr.), also ein Zeitgenosse des Aristoteles, erstmals die Scheidung der Philosophie in die drei Disziplinen Physik – Ethik – Logik (Dialektik) ausdrücklich vollzogen haben.3 Grundsätzlich kann zwischen einer nur negativen Freiheit (Liberalität), der Freiheit bzw. Be-freiung von …, und einer positiven Freiheit, der Freiheit für …, unterschieden werden. Diese Unterscheidung, die auch Heidegger aufgreift, wird uns im Verlauf der Untersuchung noch näher beschäftigen. Auch wenn hier die politische Dimension der Freiheit weitgehend ausgeklammert werden muss, ist die genannte Unterscheidung von negativer und positiver Freiheit gerade auch für politisch-gesellschaftliche Fragestellungen unabdingbar. Politische Revolutionen und gesellschaftliche Umwälzungen überhaupt scheitern oft deshalb, weil sie sich nur auf der Ebene der negativen Freiheit bewegen. In ihrem im Jahr 2018 erstmals in Druckform 1

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), § 482, in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke (in zwanzig Bänden), auf der Grundlage der Werke von 1832 – 1845 neu edierte Ausgabe, Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1969 – 1979, Bd. 10, S. 301. 2 Sextus Empiricus: Adversus mathematicos VII, 16; vgl. auch Diogenes Laertius: Vitae philosophorum III, 56. 3 Vgl. Logik. Die Frage nach der Wahrheit (GA 21), § 1, S. 3 f. (Heideggers Schriften werden nach der Martin Heidegger Gesamtausgabe (Frankfurt a. M.: Klostermann 1975 ff.) (GA mit Bandzahl in arabischen Ziffern) zitiert. Eine Zusammenstellung wird im Literaturverzeichnis gegeben. Die Abkürzung „GA“ bezieht sich ausschließlich auf die „Martin Heidegger Gesamtausgabe“.)

10

Einleitung

erschienenen Essay „Die Freiheit, frei zu sein“ schreibt Hannah Arendt sogar zur Einforderung der Bürgerrechte gegen Ende des 18. Jahrhunderts: „Nicht ,Leben, Freiheit und Eigentum‘ waren revolutionär, sondern die Behauptung, dass es sich dabei um unveräußerliche Rechte aller menschlichen Geschöpfe handele, ganz gleich, wo sie lebten und welche Regierungsform sie hatten. Und selbst in dieser neuen und revolutionären Ausweitung auf die gesamte Menschheit bedeutete Freiheit nicht mehr als die Freiheit von ungerechtfertigten Zwängen, also im Grunde etwas Negatives.“4

Die ursprünglich eher negative Bedeutung von Freiheit zeigt sich auch etymologisch. Zum Stichwort „Freiheit“ heißt es im „Historischen Wörterbuch der Philosophie“: „Weder griechisch 1keuheq_a noch lateinisch ,libertas‘ hatten ursprünglich philosophische Bedeutung. […] 9ke}heqor (frei), älter (seit Homer) als 1keuheq_a (Freiheit, seit Pindar), bezeichnet seinem Wurzelsinn nach (indogermanisch leudh-ero-s: zum Volke gehörig, der freie Mann5) den auf seiner Vaterlandserde unter niemandes Herrschaft mit Ebenbürtigen im Agon [Versammlung, Wettstreit] lebenden Mann im Gegensatz zum Kriegsgefangenen, der unter dem Feind als seinem Herrn in der Fremde Knecht (doOkor) sein muß. In nachhomerischer Zeit wird 1ke}heqor noch eindeutiger ein Wort der Polis-Sprache. […] Neben diesem Polis-Begriff der Freiheit hat das frühe Griechentum in dem Wort 2j~m (freiwillig; Gegensatz: %jym unfreiwillig) eine Bezeichnung für die individuelle Freiheit. Im Epos (Homer) ist 2j~m (vom Verbalstamm ej-li, wünschen, verlangen) Ausdruck für die Verfassung des Menschen, der, keiner äußeren Gewalt unterworfen oder durch sie behindert, aus dem Antrieb der eigensten Natur tätig ist. […] Diese Freiheit bleibt, obwohl Darstellung der höchstmöglichen Daseinsfülle (homerisches Lebensideal), dennoch negative Freiheit (Nichtgezwungensein) ohne sittliche Bestimmung.“6

Zum deutschen Wort „Freiheit“ sollen nur noch kurze Hinweise aus dem „Deutschen Wörterbuch“ der Brüder Jacob Grimm und Wilhelm Grimm gegeben werden. Hier heißt es zum Stichwort „Freiheit“:

4

Arendt, Hannah: Die Freiheit, frei zu sein, aus dem amerikanischen Englisch von Andreas Wirthenson, mit einem Nachwort von Thomas Meyer, 4. Aufl., München 2018, S. 15. 5 Nach Walde-Hofmann wird auch lateinisch „liber“ von „[i]ndogermanisch *leudheros, italienisch *louferos (daraus lateinisch *löüb-, *loib-, *leib-, *lı¯b- […]) = griechisch 1ke}heqor ,frei‘ “ abgeleitet und *leudheros „von *leudho- bzw. *leudhi- ,Nachwuchs = Volk‘ “ (vgl. althochdeutsch liut, angelsächsisch le¯od, mittelhochdeutsch liute, neuhochdeutsch Leute) (Stichwort „2. lı¯ber“, in: Walde, A./Hofmann, J. B.: Lateinisches etymologisches Wörterbuch, 6., unveränderte Aufl., Heidelberg 2007 – 2008, Bd. 1, S. 791 (Abkürzungen ausgeschrieben)). (Der Stern kennzeichnet ein nicht direkt nachgewiesenes, sondern rekonstruiertes Wort.) 6 Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter [u. a.], Darmstadt 1971 – 2007, Bd. 2, Sp. 1064 – 1098, hier Sp. 1064 f. (Abkürzungen ausgeschrieben und Zitatangaben in eckigen Klammern weggelassen).

§ 1 Problemstellung und thematische Eingrenzung

11

„libertas, 1keuheq_a. der älteste und schönste ausdruck für diesen begrif war der sinnliche freihals, collum liberum, ein hals, der kein joch auf sich trägt, gothisch freihals, althochdeutsch frîhals, friesisch frihals […].“7

Als Bedeutungen werden u. a. genannt: „1) freiheit im gegensatz zu knechtschaft und unterwürfigkeit, was früher freihals hiesz: leibeigen magd, die nicht erlöset ist, noch freiheit erlanget hat.“ „2) freiheit gegenüber dem kerker, dem käfich“. „3) freiheit vom band der liebe und ehe, freier, lediger stand “. „4) freiheit, ein ort, eine stätte, immunitas. ein schutzort, asyl hiesz freiheit (s. freiort)“.8 Eine philosophiehistorische Darstellung oder auch nur ein Abriss der überlieferten Freiheitstheorien ist hier weder beabsichtigt noch möglich.9 Gerade in neuester Zeit wird die menschliche Handlungs- oder Willensfreiheit von einer Reihe von Neurowissenschaftlern aufgrund ihrer Forschungsergebnisse (wieder) in Zweifel gezogen (in Deutschland u. a. repräsentiert durch Wolfgang Prinz vom Max-PlanckInstitut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig, Gerhard Roth vom Zentrum für Kognitionswissenschaften an der Universität Bremen und Wolf Singer vom Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main).10 Wenn in der vorliegenden Untersuchung in einer gewissen Kontrastierung zu Heidegger die Freiheitslehre des Philosophen und Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz und nicht, was vielleicht näher liegen könnte, der kosmologische (theoretische) und praktische Freiheitsbegriff Immanuel Kants behandelt wird, so bedarf das einer weiteren Begründung. Gerade bei Leibniz wird der Freiheitsbegriff in einer weit ausgreifenden Auseinandersetzung mit der philosophischen und theologischen Überlieferung eingeführt und auf dem Boden seines eigenen Denkens neu positioniert. Durch die Entgegensetzung der beiden Denker kann der jeweilige Standpunkt zum Freiheitsproblem noch schärfer in den Blick gebracht und im Rahmen der abendländisch-europäischen Geistesgeschichte erörtert werden. Auch zeigt sich, was z. B. Leibniz’ 7

Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 4 (= Bd. 4, 1. Abt., 1. Hälfte), München 1984 (Fotomechan. Nachdr. der Erstausgabe 1878), Sp. 111 – 113, hier Sp. 111 (Abkürzungen ausgeschrieben); vgl. auch unter „frei“ in: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, erarbeitet unter der Leitung von Wolfgang Pfeifer, Lizenzausgabe, Koblenz 2010, S. 372. 8 Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 4, Sp. 111 f. 9 Als eine sehr lesenswerte Einführung zum Problem der menschlichen Freiheit, in der die Positionen vieler herausragender Philosophen aus zweieinhalb Jahrtausenden in knapper Form behandelt werden, kann auf den folgenden Sammelband verwiesen werden: Hat der Mensch einen freien Willen? Die Antworten der großen Philosophen, hrsg. von Uwe an der Heiden und Helmut Schneider, Stuttgart 2007. Als eine weitere Übersicht sei genannt: Fleischer, Margot: Menschliche Freiheit – ein vielfältiges Phänomen. Perspektiven von Aristoteles, Augustin, Kant, Fichte, Sartre und Jonas, Freiburg/München 2012. 10 Vgl. Neumann, Günther: Heideggers Freiheitsbegriff in Sein und Zeit unter Berücksichtigung der neueren Diskussion in den Neurowissenschaften und der Rechtsphilosophie, in: Harald Seubert (Hrsg.), Neunzig Jahre „Sein und Zeit“. Die fundamentalontologische Frage nach dem Sinn von Sein, Freiburg/München 2019, S. 239 – 274.

12

Einleitung

Auseinandersetzung mit dem spanischen Jesuiten Luis de Molina und dem Molinismus betrifft, dass gewisse Momente des Leibniz’schen Freiheitsbegriffs von Heidegger in modifizierter Weise für sein eigenes Denken aufgegriffen werden. Vor allem ermöglicht es gerade die Auseinandersetzung mit Leibniz, die Frage nach dem Wesen und dem Begriff der menschlichen Freiheit und andere wesentliche Fragen, die sich daraus ergeben, auf unsere Gegenwartsprobleme beziehen und anwenden zu können. Die Sichtweise, vorzugsweise in Leibniz einen Wegbereiter unserer Moderne zu sehen, findet sich in ausgeprägter Form erst beim späten Heidegger. So sagt er in der fünften Stunde seiner Freiburger Vorlesung „Der Satz vom Grund“ vom Wintersemester 1955/56: „Das Denken von Leibniz trägt und prägt die Haupttendenz dessen, was wir, weit genug gedacht, die Metaphysik des modernen Zeitalters nennen können.“11 Heidegger spricht vom gegenwärtigen Zeitalter, das er mit Leibniz in Beziehung setzt, als demjenigen, „das man das Atomzeitalter nennt“.12 Für unsere heutige Zeit – ca. 300 Jahre nach Leibniz’ Tod – würde man eher vom digitalen Zeitalter sprechen.13 André Robinet, der u. a. eine kritische Ausgabe der „Monadologie“ nach den Manuskripten in Hannover, Wien und Paris herausgegeben hat, sagt in seinem Vortrag „Leibniz und Heidegger: Atomzeitalter oder Informatikzeitalter?“, den er am 28. November 1974 vor der Leibniz-Gesellschaft in Hannover hielt: „So wird die Debatte über die Charakteristik unserer Epoche mehr zu einer Befragung über die Bedeutung der Informatik für die Sprache als über die Kraft des Atoms. Zunächst werden – aus einem äußeren Grund – Erforschung, Entdeckung, Ausbeutung des Atoms völlig abhängig von denjenigen Gebieten der Informatik, deren Anwendung ein Rechnen von höchster Leistung im Hinblick auf Schnelligkeit, Zuverlässigkeit und Verschiedenartigkeit erlaubt, das allen anderen Verfahren weit überlegen ist. Der wahre Sprung, den unsere Epoche und unsere Gattung geschafft haben, betrifft nicht die Vermehrung der Kraft des Atoms, sondern die Intelligenz der Automaten, die seinen Aufbau aufspüren.“14

Und an einer späteren Stelle stellt Robinet die Frage: „Hätte Leibniz also sehr viel gründlicher als Heidegger erkannt, was das Charakteristische der modernen Zeit ausmacht und was das Eigentümliche unserer Epoche sein wird? Bringen wir da nicht in der Tat das zur Vollendung, was in der Ars combinatoria oder in der Monadologie im Keim vorhanden war?“15 11

Der Satz vom Grund (GA 10), S. 51, vgl. auch S. 130. Der Satz vom Grund (GA 10), S. 51. 13 Vgl. schon Der Satz vom Grund (GA 10), S. 22, 151. 14 Robinet, André: Leibniz und Heidegger: Atomzeitalter oder Informatikzeitalter?, in: Studia Leibnitiana 8 (1976), S. 241 – 256, hier S. 253. 15 Robinet: Leibniz und Heidegger, S. 254. Aber auch Heidegger sagt in seinem Vortrag (!) „Der Satz vom Grund“ (1956) (in: Der Satz vom Grund (GA 10), S. 171 – 189, hier S. 182), den Robinet nicht erwähnt, zur Sprache: „Demgemäß gewinnt die Vorstellung von der Sprache des Menschen als einem Instrument der Information in steigendem Maße die Oberhand. Denn die Bestimmung der Sprache als Information verschafft allererst den zureichenden Grund für die Konstruktion der Denkmaschinen und für den Bau der Großrechenanlagen.“ 12

§ 1 Problemstellung und thematische Eingrenzung

13

Heidegger würde jedoch widersprechen, die „Ausbeutung des Atoms“ nur als eine „Anwendung“ der Informatik zu verstehen. Dieser Fragestellung, die insbesondere den ontologischen Wesenszusammenhang von neuzeitlicher Wissenschaft und moderner Technik beim späten Heidegger betrifft, kann hier nicht weiter nachgegangen werden.16 In der Neuausgabe der von Jürgen Mittelstraß herausgegebenen „Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie“ wird in dem Artikel zum Stichwort „Freiheit (engl. freedom, liberty, franz. liberté)“ dieser Begriff als ein „Terminus der Praktischen Philosophie und der politischen Theorie“ verortet.17 Im folgenden Artikel zum Stichwort „Freiheit (handlungstheoretisch)“, verfasst vom Mitherausgeber Martin Carrier, heißt es: „In der philosophischen Diskussion der Willensfreiheit werden im wesentlichen drei Positionen zu dieser Streitfrage eingenommen. Inkompatibilistische Denkansätze behaupten die Unverträglichkeit von Freiheit und Naturdeterminismus. Diese unterteilen sich in libertäre Positionen und in deterministische oder,pessimistische‘ Denkansätze. Libertarianer halten den Menschen für frei und behaupten entsprechend einen ontologischen Indeterminismus (den sie in der Quantentheorie auch realisiert sehen). Zu den wichtigsten Vertretern zählen C. S. Peirce, P. Jordan und K. R. Popper. Deterministen teilen das Freiheitsverständnis der Libertarianer [d. h. den Inkompatibilismus], gehen aber von einem deterministischen Naturlauf aus und bestreiten entsprechend, daß es freie Entscheidungen oder Handlungen gibt. Zu den bedeutenden traditionellen Vertretern zählt Voltaire; in der Gegenwart gehören zu ihnen die Verfechter der […] biologiezentrierten Interpretation. Letztere stützen sich dafür insbes. auf das Experiment von B. Libet, das nahelegt, daß die bewußte Entscheidung zu einer Handlung erst nach Einleitung der Handlung getroffen wird. Auf dieser Grundlage wird in Frage gestellt, daß menschliche Handlungen auf einem freien Willensentschluß beruhen. Kompatibilisten verteidigen hingegen die Ansicht, daß sich menschliche Freiheit auf eine Weise explizieren läßt, die auch unter deterministischen Bedingungen umsetzbar ist. Sie teilen also das deterministische Naturverständnis, zielen aber auf die Formulierung eines Freiheitsbegriffs ab, der auch mit einer antezedenten Festlegung von Entscheidung und Handlung verträglich ist. Diese Sichtweise wird unter anderem von G. W. Leibniz, D. Hume und M. Schlick eingenommen.“18 16

Vgl. Neumann, Günther: Die phänomenologische Frage nach dem Ursprung der mathematisch-naturwissenschaftlichen Raumauffassung bei Husserl und Heidegger, Berlin 1999, § 25. 17 In: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, 2., neubearb. und wesentl. erg. Aufl., unter ständiger Mitwirkung von Gottfried Gabriel [u. a.] in Verbindung mit Martin Carrier hrsg. von Jürgen Mittelstraß, Stuttgart/Weimar (ab Bd. 6: Stuttgart) 2005 – 2018, Bd. 2, S. 559 – 566, hier S. 559 (Querverweise weggelassen). 18 In: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, 2. Aufl., Bd. 2, S. 566 – 570, hier S. 567 (Abkürzungen ausgeschrieben). Zu den in der heutigen Diskussion vertretenen Positionen des Kompatibilismus und des Inkompatibilismus vgl. ferner Buchheim, Thomas: Libertarischer Kompatibilismus. Drei alternative Thesen auf dem Weg zu einem qualitativen Verständnis der menschlichen Freiheit, in: Der freie und der unfreie Wille. Philosophische und theologische Perspektiven, hrsg. von Friedrich Hermanni und Peter Koslowski, München 2004, S. 33 – 78; Buchheim, Thomas: Unser Verlangen nach Freiheit. Kein Traum, sondern Drama mit Zukunft, Hamburg 2006, S. 104 – 119; Keil, Geert: Willensfreiheit und Determinismus,

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Es ist auch noch auf den Artikel zu „Leibniz, Gottfried Wilhelm“ zu verweisen, den der Herausgeber Jürgen Mittelstraß selbst für die „Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie“ verfasste. Zu dem „problematisch werdenden Begriff des freien Willens“ bei Leibniz schreibt Mittelstraß: „Das Paradox, daß der Wille zugleich ,frei‘ (darin als Träger von Vernunft definiert) und ,determiniert‘ (weil durch den Satz vom Grund bestimmt) erscheint, wird dadurch aufgelöst, daß Leibniz den Begriff der Freiheit stets auf den Rahmen möglicher Welten (hier im Sinne alternativer Handlungsmöglichkeiten) bezieht, der Satz vom Grund wiederum einen Gesichtspunkt darstellt, ergriffene Handlungsmöglichkeiten hinsichtlich der Situation des Handelnden in der tatsächlichen Welt als ,begründet‘ auszuzeichnen. Die beste aller möglichen Welten ist insofern eine Welt, zu deren Idee (nach dem vernünftigen Willen Gottes) die Einsicht in das Vernünftige und die freie Wahl entsprechender Handlungsmöglichkeiten gehört. Das von Leibniz insbes. im Zusammenhang mit moralphilosophischen Erörterungen entwickelte Konzept ,möglicher Welten‘ hat in der neueren Sprachphilosophie und logischen Semantik eine Renaissance erfahren (vor allem durch die Arbeiten S. A. Kripkes und D. K. Lewis’).“19

Der Verweis auf den „vernünftigen Willen Gottes“ deutet bereits an, dass die Freiheit des Menschen – anders als es in der modernen Erörterung des Freiheitsproblems der Fall ist – an den freien Willen Gottes zurückgegründet wird. Ohne nun schon näher auf das Paradox der Freiheit bei Leibniz eingehen zu können, sei auf eine von Michael-Thomas Liske vorgebrachte Schwierigkeit verwiesen: „So weit betrachtet kann Leibniz logisch gut fundiert eine Vielfalt unverwirklichter Möglichkeiten, alternativ zur wirklichen Welt, behaupten. Nun läßt sich aber auch begründet bezweifeln, ob bei Leibniz’ Prämissen die nie verwirklichten Welten echte Möglichkeiten sind. […] Die erste Schwierigkeit erwächst aus Leibniz’ Auffassung der attributa Dei. Bei seiner Allwissenheit habe Gott sich nicht darüber täuschen können, welches die bestmögliche Welt sei; da ihn seine vollkommene Güte auf die Entscheidung für das Beste festgelegt habe, sei es moralisch notwendig, daß Gott diejenige Welt erwählt und in seiner Allmacht unausweichlich verwirklicht habe, die tatsächlich die wirkliche Welt ist. Leibniz 2., überarb. Aufl., Stuttgart 2018; Keil, Geert: Willensfreiheit, 3., vollst. überarb. und erw. Aufl., Berlin/Boston 2017; Tugendhat, Ernst: Willensfreiheit und Determinismus, in: Die Freiheit des Denkens, hrsg. von Konrad Paul Liessmann, Wien 2007, S. 45 – 67; Art. Freiheit und Art. Wille, in: Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, begründet von Hermann Krings, Hans Michael Baumgartner und Christoph Wild, neu hrsg. von Petra Kolmer und Armin G. Wildfeuer in Verbindung mit Wolfram Hogrebe [u. a.], Freiburg/München 2011, Bd. 1, S. 801 – 817 und Bd. 3, S. 2516 – 2528; Art. Freiheit und Art. Willensfreiheit, in: Enzyklopädie Philosophie, in drei Bänden mit einer CD-ROM, unter Mitwirkung von Dagmar Borchers [u. a.] hrsg. von Hans Jörg Sandkühler, Hamburg 2010, Bd. 1, S. 739 – 745 und Bd. 3, S. 2997 – 3003. Zur neueren Diskussion des Kompatibilismus bzw. Inkompatibilismus bei Leibniz vgl. u. a. Beck, Ori: Leibniz – A Freedom Libertarian, in: Studia Leibnitiana 47 (2015), S. 67 – 85. Hier finden sich auch zahlreiche Literaturhinweise zu der von Harry G. Frankfurt ausgelösten Debatte (vgl. Frankfurt, Harry G.: Alternate Possibilities and Moral Responsibility, in: The Journal of Philosophy 66, 23 (1969), S. 829 – 839). 19 Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, 2. Aufl., Bd. 4, S. 504 – 523 (mit umfangreicher Bibliographie), hier S. 511 (Abkürzungen ausgeschrieben und Querverweise weggelassen).

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betont zwar eindringlich, die wirkliche Welt sei darum nicht logisch oder metaphysisch notwendig; denn die unverwirklichten alternativen Weltverläufe seien logisch genauso möglich wie sie, d. h. in sich widerspruchsfrei. In sich möglich sind die Alternativen aber nur insofern, als man von Gott absieht. Relativ auf Gottes Wesen sind sie nicht möglich, da Gottes Wesenseigenschaften ausschließen, daß er sie erwählt und verwirklicht. […] Ist man indes legitimiert, bei der Frage nach der Möglichkeit einer Welt von Gott zu abstrahieren? Denn Gottes Existenz ist für Leibniz zweifellos eine notwendige Wahrheit, die in allen möglichen Welten gilt. Das aber heißt: Wie immer die Welt hätte anders sein können, jedenfalls hätte es keine Welt ohne Gott sein können.“20

Leibniz’ nicht nur eingehendste, sondern auch umfangreichste Auseinandersetzung mit den überlieferten wie auch den zeitgenössischen Freiheitstheorien und Abhebung seiner eigenen Lehre sind unbestritten seine „Essais de Theodicée“. Zur Entstehung des Werks bemerkt Hans Poser: „Leibniz schätzte Bayles Scharfsinn, Bayle umgekehrt hatte Leibnizens System der prästabilierten Harmonie kritisiert, worauf Leibniz erwiderte; Bayle ergänzte darauf seinen Standpunkt in der 1702 erschienenen, doppelt so umfangreichen, vier Foliobände umfassenden zweiten Auflage seines Wörterbuchs [des 1697 in Rotterdam erschienenen „Diction[n]aire historique et critique“]. Bayles Werk wurde viel gelesen; damit war es nicht verwunderlich, dass die Preußenkönigin Sophie Charlotte (die Pierre Bayle 1700 in Holland kennengelernt hatte) Leibniz um Erläuterung bat, die dieser bereitwillig brieflich und mündlich gab: So entstanden jene Teile, die Leibniz zu dem einzigen Buch zusammenstellte, das je von ihm zu Lebzeiten gedruckt wurde, die Essais de Theodicée, sur la Bonté de Dieu, la liberté de l’homme, et l’origine du mal, oder in Leibnizens Übersetzung des Titels: Versuch einer Theodicäa oder Gottesrechts-Lehre, von der Gütigkeit Gottes, Freiheit des Menschen und Ursprung des Bösen.21 Das Werk erschien 1710 auf Französisch, 1716 in lateinischer und 1720 in deutscher Übersetzung. Die schnelle Folge zahlreicher Auflagen lässt seine breite Wirkung in Europa ermessen. Schon die äußere Form zeigt, dass das Werk keine systematische Abhandlung darstellt; vielmehr handelt es sich um eine populäre Gelegenheitsschrift, manchmal weitschweifig ausholend, oft sich wiederholend, französisch, in der Sprache des Hofes, geschrieben, nicht im Latein der Wissenschaften.“22

Poser ergänzt, dass in dem Werk „ein Wissen um Leibnizens philosophische Grundposition vorausgesetzt“ wird.23 Aber auch die „Monadologie“ (1714) ist eine in populärer Sprache und ebenfalls auf Französisch verfasste Schrift.24 Diese Tat20

Liske, Michael-Thomas: Gottfried Wilhelm Leibniz, München 2000, S. 119 f.; vgl. auch Liske, Michael-Thomas: Leibniz’ Freiheitslehre. Die logisch-metaphysischen Voraussetzungen von Leibniz’ Freiheitstheorie, Hamburg 1993, § 42, bes. S. 213. 21 GP VI, 463 (Schreibweise modernisiert). (Leibniz’ Schriften werden nach den üblichen Abkürzungen der „Studia Leibnitiana“ zitiert. Eine Zusammenstellung wird im Literaturverzeichnis gegeben.) 22 Poser, Hans: Leibniz’ Philosophie. Über die Einheit von Metaphysik und Wissenschaft, hrsg. von Wenchao Li, Hamburg 2016, S. 252. 23 Poser: Leibniz’ Philosophie, S. 252. 24 Vgl. Neumann, Günther: Martin Heideggers Gesamtinterpretation der Monadologie, in: „Für unser Glück oder das Glück anderer“, Vorträge des X. Internationalen Leibniz-Kongresses, Hannover, 18.–23. Juli 2016, hrsg. von Wenchao Li in Verbindung mit Ute Beckmann [u. a.],

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sache stellt aber keineswegs den strengen Aufbau der Darlegung und Argumentation der „Essais de Theodicée“ im jeweiligen Zusammenhang in Frage, auch wenn die Ausführungen mitunter weitschweifig sind und Umwege beschreiben. Leibniz selbst schreibt an Samuel Clarke im Dezember 1715, dass er die metaphysischen Prinzipien in seiner „Theodicée“, wenngleich in „populärer Darstellung“ („exposés populairement“), so doch „in beweiskräftiger Weise“ („demonstrativement“) aufgestellt habe.25 Christos Axelos unternimmt in dem Abschnitt „Die vierfache Abgrenzung des Leibnizschen Freiheitsbegriffs“ seiner Monographie „Die ontologischen Grundlagen der Freiheitstheorie von Leibniz“ den Versuch der „Abgrenzung“ von Leibniz’ Freiheitstheorie „gegen andere Antworten auf die Frage, ob ein solches [freies] Verhalten überhaupt möglich ist“.26 Die Ausführungen von Axelos verdeutlichen, dass Leibniz’ Werk heute keinesfalls als überholt betrachtet werden darf. Leibniz’ Denken eröffnet einen weiten Horizont auf alle Fragen, die mit dem Problem der Freiheit zusammenhängen. Da Axelos in der im Text gegebenen Zusammenfassung, wie er selbst schreibt, Leibniz’ durch seine Kritik an anderen Freiheitstheorien konsolidierte Position unter „Verwendung von in dem heutigen Sprachgebrauch bekannten Bezeichnungen“ (wie z. B. in der Rede von einem „existentialistischerlebnisorientierten Freiheitsbegriff“) zum Ausdruck bringt,27 werden hier nur die entsprechenden Überschriften angeführt. Die undifferenzierte Gleichsetzung mit modernen philosophischen Denkansätzen soll hier nicht übernommen werden. Die Abgrenzung des Leibniz’schen Freiheitsbegriffs gliedert sich entsprechend den Überschriften in vier Abschnitte:28 1. „Die Kritik an der fatalistischen Einstellung der argos logos“29 (Auseinandersetzung mit Chrysipp und mit Marcus Tullius Ciceros Schrift „De fato“)

Bd. I–V, Hildesheim/Zürich/New York 2016, Bd. II, S. 183 – 202, hier S. 186; Neumann, Günther: Die Gesamtinterpretation der „Monadologie“ in Heideggers Leibniz-Seminar vom Wintersemester 1935/36, in: Heidegger Studies 33 (2017), S. 27 – 75, hier S. 32 f. 25 Streitschriften zwischen Leibniz und Clarke (1715 – 1716), Leibniz’ zweites Schreiben (§ 1); GP VII, 345 – 440, hier 355. 26 Axelos, Christos: Die ontologischen Grundlagen der Freiheitstheorie von Leibniz, Berlin/ New York 1973, S. 306 – 331, hier S. 306. 27 Axelos: Die ontologischen Grundlagen der Freiheitstheorie von Leibniz, S. 306. 28 Axelos: Die ontologischen Grundlagen der Freiheitstheorie von Leibniz, S. 307 – 331, vgl. S. VIII (Inhaltsverzeichnis). 29 Der lateinische Ausdruck für „argos logos“ (!qc¹r k|cor) lautet „ignava ratio“, das faule Sophisma, französisch „Sophisme paresseux“ (vgl. Theod. I, § 55 und § 67; GP VI, 132 und 139; Causa Dei, § 45; GP VI, 445). Leibniz übersetzt den Ausdruck mit „die faule Regel“ (Von der Allmacht und Allwissenheit Gottes und der Freiheit des Menschen (1671 (?)), § 13; AVI 1, 537 – 546, hier 542; vgl. AVI 2, 579 f. (Die deutsche Schrift (ohne Titel) ist einer der frühesten Texte zum Problem der Theodizee und der Freiheit des Menschen.)

§ 1 Problemstellung und thematische Eingrenzung

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2. „Die Kritik an der unmittelbaren Evidenz des Freiheitsgefühls (Leibniz contra Descartes)“30 3. „Die Kritik an dem pragmatistischen Freiheitsbegriff (Leibniz contra Locke)“ 4. „Die Kritik an dem dezisionistischen Freiheitsbegriff: Die Auseinandersetzung mit der Äquilibrium-Theorie“ (Auseinandersetzung mit der in der Spätscholastik und im Rahmen der Theologie des Jesuitenordens entwickelten Auslegung der Freiheit als absoluter Indifferenz des Gleichgewichts (indifferentia pura)) Nach Axelos ist es erlaubt zu sagen, „daß Leibniz seine Freiheitstheorie nach allen Seiten hin definiert und ringsherum umschrieben hat, obgleich noch viele Zwischenlösungen und Kompromisse zwischen den angeführten, grundsätzlich voneinander verschiedenen, den Kreis um Leibnizens Position markierenden Standpunkten, denkbar sind.“31

Seit seiner Marburger Vorlesung „Geschichte der Philosophie von Thomas von Aquin bis Kant“ vom Wintersemester 1926/27 und insbesondere der letzten Marburger Vorlesung „Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz“ vom Sommersemester 1928 hat sich Heidegger immer wieder intensiv mit Leibniz auseinandergesetzt.32 Für Heideggers Leibniz-Auslegung gilt in gewisser 30

Es ist hier darauf hinzuweisen, dass nach Axelos von dieser Leibniz’schen Kritik im Anschluss an René Descartes auch Immanuel Kant betroffen ist: „Dabei ist anzumerken, daß Kants Berufung auf das ,Faktum der praktischen Vernunft‘ und auf die mit diesem Faktum identifizierte Freiheit in gleicher Weise wie Descartes’ evidentes Gefühl von Leibnizens Kritik getroffen wird […].“ (Axelos: Die ontologischen Grundlagen der Freiheitstheorie von Leibniz, S. 312) Ein Zitat aus Kants „Kritik der praktischen Vernunft“ (Erster Teil, Erstes Buch, Erstes Hauptstück, § 7, Anm., in: Kants Werke. Akademie-Textausgabe, unveränderter photomechanischer Abdruck, Berlin 1968, Bd. V, S. 1 – 163, hier S. 31) aufgreifend, spricht Axelos von der „Sic-volo-sic-iubeo-Freiheit“ bei Kant (ebd.). Kants Zitat „sic volo, sic jubeo“ ist ein oft aufgegriffener Ausschnitt eines Spruchs des römischen Satirikers Juvenal (Decimus Iunius Iuvenalis, 1./2. Jahrhundert n. Chr.): „hoc volo, sic iubeo, sit pro ratione voluntas.“ (Juvenal: Satura VI, 223) „Aber ich will es, so befehle ich es, anstelle eines guten Grundes soll mein Wille gelten!“ (Text und Übersetzung nach: Juvenal: Satiren/Saturae, lateinisch-deutsch, hrsg., übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Sven Lorenz, Berlin/Boston 2017, S. 200/201) Bei Leibniz dagegen ist der Spruch negativ besetzt: Man solle kein „Tyrannisches Sic volo, sic jubeo, stat pro ratione voluntas, einführen“ (Unvorgreiffliches Bedencken; A IV 7, 425 – 647, hier 481). 31 Axelos: Die ontologischen Grundlagen der Freiheitstheorie von Leibniz, S. 306. 32 Vgl. u. a. Geschichte der Philosophie von Thomas von Aquin bis Kant (GA 23), §§ 41 – 44; Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz (GA 26), §§ 1 – 7; Die metaphysischen Grundstellungen des abendländischen Denkens. Übungen im Wintersemester 1937/38, in: Seminare (Übungen) 1937/38 und 1941/42 (GA 88), S. 1 – 144, hier S. 97 – 115, vgl. S. 124 – 127, 239 – 242; Aus der letzten Marburger Vorlesung (1928) und Vom Wesen des Grundes (1929), in: Wegmarken (GA 9), S. 79 – 101 und S. 123 – 175; Leibnizens Weltbegriff und der Deutsche Idealismus (Monadologie) (Wintersemester 1935/36), in: Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1: Sommersemester 1931 bis Wintersemester 1935/36 (GA 84.1), S. 389 – 530, 579 – 653 und 752 – 815; Nietzsche. Bd. II (1939 – 1946) (GA 6.2), S. 397 – 416;

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Weise das, was Jochen Schlüter in seiner Heidelberger Dissertation zur ParmenidesAuslegung bemerkt: „Mit dem Wandel von H[eidegger]s Erfahrungen von Sein, Denken, Wahrheit usw. wandelte sich, wie sich immer wieder zeigte, entsprechend auch seine Parmenidesauslegung.“33 Ein solcher Wandel ist aber auch in der umgekehrten Richtung zu betrachten, insofern auch Heideggers Denken in der hermeneutisch-kritischen Auseinandersetzung mit den herausragenden Vertretern der abendländisch-europäischen Philosophiegeschichte selbst wesentliche Impulse und Prägungen erfährt. Für „ein hermeneutisch geschultes Bewußtsein“ gilt es, wie HansGeorg Gadamer in seinem Hauptwerk „Wahrheit und Methode“ ausführt, „für die Andersheit des Textes von vornherein empfänglich [zu] sein“: „Solche Empfänglichkeit setzt aber weder sachliche ,Neutralität‘ noch gar Selbstauslöschung voraus, sondern schließt die abhebende Aneignung der eigenen Vormeinungen und Vorurteile ein. Es gilt, der eigenen Voreingenommenheit innezusein, damit sich der Text selbst in seiner Andersheit darstellt und damit in die Möglichkeit kommt, seine sachliche Wahrheit gegen die eigene Vormeinung auszuspielen.“ 34

Auch für Heidegger werden in einer solchen Auslegung nicht nur die Voraussetzungen anderer hinterfragt, sondern auch die eigenen Voraussetzungen „der Erörterung anheimgestellt“.35 Der Wandel von Heideggers Leibniz-Auslegung bildete bereits den Gegenstand mehrerer Untersuchungen.36 Mit Leibniz’ Freiheitstheorie hat sich Heidegger jedoch Der Satz vom Grund (1955 – 1956) (GA 10); vgl. auch Escribano, Miguel/Gómez Delgado, José M.: Texts on and References to Leibniz in Heidegger’s Gesamtausgabe, in: Leibniz and Hermeneutics, ed. by Juan Antonio Nicolás, José M. Gómez Delgado and Miguel Escribano Cabeza, Newcastle upon Tyne 2016, S. 192 – 201. 33 Schlüter, Jochen: Heidegger und Parmenides. Ein Beitrag zu Heideggers Parmenidesauslegung und zur Vorsokratiker-Forschung, Bonn 1979, S. 203. 34 Gadamer, Hans-Georg: Hermeneutik I: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (Gesammelte Werke, Bd. 1), 6., durchges. Aufl., Tübingen 1990, S. 301. 35 Was heißt Denken? (GA 8), S. 181; vgl. dazu Pöggeler, Otto: Der Denkweg Martin Heideggers, 3., erw. Aufl., Pfullingen 1990, S. 202. In Heideggers vielberufener „Kehre“, dem Übergang zum seinsgeschichtlichen oder Ereignis-Denken, werden nun gerade – etwa in der Auseinandersetzung mit den Vorsokratikern, aber auch mit anderen Philosophen – seine eigenen Voraussetzungen thematisch. 36 Vgl. u. a. Sakai, Kiyoshi: Zum Wandel der Leibniz-Rezeption im Denken Heideggers, in: Heidegger Studies 9 (1993), S. 97 – 124; englische Übersetzung: On the Shift in How Leibniz was Viewed in Heidegger’s Thinking, in: Leibniz and Hermeneutics, ed. by Juan Antonio Nicolás, José M. Gómez Delgado and Miguel Escribano Cabeza, Newcastle upon Tyne 2016, S. 35 – 66; Sakai, Kiyoshi: Lexikon: Martin Heidegger, in: Renato Cristin/Kiyoshi Sakai (Hrsg.), Phänomenologie und Leibniz, Freiburg/München 2000, S. 304 – 315; Neumann, Günther: Sein und Monade. Leibniz’ „Monadologie“ als eine Quelle Heideggers für die metaphysische Seinsfrage, in: Heidegger Studies 35 (2019), S. 161 – 174; italienische Übersetzung (von Francesco Alfieri, Pontificia Università Lateranense): Essere e monade. La Monadologia di Leibniz come fonte di Heidegger per la questione metafisica dell’essere, in: Aquinas. Rivista Internazionale di Filosofia 60, 1 – 2 (2017), S. 125 – 141.

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nicht ausführlicher befasst.37 Einige Hinweise gibt er in seinem Freiburger Seminar „Leibnizens Weltbegriff und der Deutsche Idealismus (Monadologie)“38 vom Wintersemester 1935/36. Es zeigt sich, dass der Freiheitsbegriff der „Théodicée“ bei Heidegger auf gewisse Bedenken stößt.39 Auch für Heideggers Freiheitsbegriff gilt, dass dieser vor allem im Übergang von der transzendental-horizontalen Blick- und Fragebahn der Seinsfrage im Umkreis von „Sein und Zeit“ zum seinsgeschichtlichen oder Ereignis-Denken einer wesentlichen Wandlung unterliegt.40 In einer notwenigen Beschränkung steht für die vorliegende Untersuchung der für „Sein und Zeit“ maßgebliche Freiheitsbegriff im Zentrum. In einem Gespräch, das Bernhard Casper im Jahr 1981 mit dem französischen Philosophen Emmanuel Lévinas (1906 – 1995) in Paris führte, ging Lévinas auch auf die Bedeutung ein, die Heidegger für sein eigenes Denken gewann: „Heideggers ,Sein und Zeit‘, das ist der Moment, in welchem die Phänomenologie vielleicht an das Höchste gelangt ist … Das ist ein Buch, das man nur dem ,Phaidros‘ von Plato, der ,Kritik der reinen Vernunft‘ von Kant und der ,Phänomenologie des Geistes‘ von Hegel vergleichen kann.“41

Was das im Kontext von „Sein und Zeit“ thematisierte Phänomen der Freiheit betrifft, ist auf die folgende Schwierigkeit hinzuweisen. Der Begriff der „Freiheit“ (oder das „Freisein“ des Daseins) wird in „Sein und Zeit“ als solcher, z. B. in einem eigenen Abschnitt oder Absatz, nicht eigens eingeführt und erläutert und tritt in keiner einzigen Überschrift als Terminus auf. Dennoch durchzieht der Begriff vor allem die Analyse der eigentlichen Existenzweise. Aber auch andere Begriffe und begriffliche Unterscheidungen wie die „ontologische Differenz“ und die „Grundartikulation des Seins“, ohne die der veröffentlichte Teil von „Sein und Zeit“ unverständlich bleiben würde, werden erst später als solche explizit erörtert – die er-

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Diese Aussage lässt sich letztlich nur für die bisher veröffentlichten Texte Heideggers treffen. 38 In: Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1 (GA 84.1), S. 389 – 530 (handschriftliche Aufzeichnungen Heideggers, abgekürzt „A“), S. 579 – 653 (Protokolle zu den Seminaren, abgekürzt „P“) und S. 752 – 815 (erhaltene Mitschriften der Seminarteilnehmer, abgekürzt „M“). 39 Vgl. Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1 (GA 84.1), S. 462 f. (A Nr. 84), 628 (P Nr. 9) und 774 (M Nr. 19). 40 Vgl. Neumann, Günther: Sein des Menschen, Ethos und Freiheit in Martin Heideggers „Brief über den ,Humanismus‘ “ und Sein und Zeit, in: Heidegger und der Humanismus, hrsg. von Alfred Denker, Holger Zaborowski (Heidegger-Jahrbuch 10), Freiburg/München 2017, S. 102 – 118. 41 Zitiert nach: Casper, Bernhard: Das Dialogische Denken. Franz Rosenzweig, Ferdinand Ebner und Martin Buber, um einen Exkurs zu Emmanuel Levinas erw. Neuausg., Freiburg/ München 2017, S. 364 (Auslassungspunkte von Casper); vgl. auch Lévinas, Emmanuel: Ethik und Unendliches. Gespräche mit Philippe Nemo, aus dem Französischen von Dorothea Schmidt, hrsg. von Peter Engelmann, 4., überarb. Aufl., Wien 2008, S. 27 – 34.

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Einleitung

wähnten Begriffe dann in der wichtigen Marburger Vorlesung „Die Grundprobleme der Phänomenologie“ vom Sommersemester 1927.42 Die nicht zu unterschätzende Bedeutung, die dem Phänomen der Freiheit schon in „Sein und Zeit“ zukommt, auch wenn diese in dem 1927 veröffentlichten Buch noch nicht vollends ans Licht tritt und in gewisser Weise noch latent bleibt, lässt sich aus der für das Jahr 1931 geplanten Umarbeitung von Heideggers Grundwerk ermessen. In einem Gespräch mit der italienischen Journalistin Claudia Gualdana gibt Friedrich-Wilhelm von Herrmann die folgende Auskunft im Zusammenhang mit dem nicht mehr aufgefundenen Heft I (1931 – 32) von Heideggers „Notizbüchern“ („Schwarzen Heften“), das dieser wohl „selbst ausgeschieden hat“: „Dahinter steht vermutlich die Entscheidung Heideggers, seine ,Notizbücher‘ nur dem zweiten Ausarbeitungsweg der Seinsfrage, also dem seinsgeschichtlichen Weg, zu widmen. Für das Jahr 1931 plante Heidegger noch eine Umarbeitung von ,Sein und Zeit‘, in der er den Sachverhalt von ,Sein und Zeit‘ zurückgründen wollte in den ursprünglicheren Sachverhalt von ,Sein und Freiheit‘. Dieses Vorhaben könnte von Heidegger in Heft I eingetragen worden sein. Der ursprünglichere Sachverhalt von ,Sein und Freiheit‘ sollte aber den transzendentalen Ansatz von ,Sein und Zeit‘ beibehalten. Doch ganz kurz darauf, noch im Verlauf desselben Jahres 1931, stößt Heidegger zum seinsgeschichtlichen Ansatz der Seinsfrage vor, mit dem er den vorangegangenen Gedankenschritt von ,Sein und Freiheit‘ und damit die Überarbeitung von ,Sein und Zeit‘ in diesem Sinne für die dritte Auflage aufgegeben hat.“43

Heidegger selbst schreibt im 71. Abschnitt seines 1936 verfassten Textes „Eine Auseinandersetzung mit ,Sein und Zeit‘ “: „Als man anfangen konnte, ,Sein und Zeit‘ zu ,lesen‘, fing ich an, es zu ,verlassen‘ (wesentlicher Schritt: 1930/31).“44 Auch nach Heideggers Brief an Rudolf Bultmann vom 14. November 1931 hat er zu diesem Zeitpunkt die Fortsetzung von „Sein und Zeit“ bereits aufgegeben: „Inzwischen gehe ich unter der Marke dessen, der ,den zweiten Band schreibt‘. Hinter diesem Schild kann ich tun, wozu ich Lust, d. h. innere Notwendigkeit habe.“45

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Die Grundprobleme der Phänomenologie (GA 24), bes. §§ 4, 10 – 12 und 22. Zur Einordnung dieser Vorlesung (entsprechend dem in § 8 von „Sein und Zeit“ gegebenen „Aufriß der Abhandlung“) vgl. Herrmann, Friedrich-Wilhelm von: Heideggers „Grundprobleme der Phänomenologie“. Zur „Zweiten Hälfte“ von „Sein und Zeit“, Frankfurt a. M. 1991. 43 Herrmann, Friedrich-Wilhelm von/Alfieri, Francesco: Martin Heidegger. Die Wahrheit über die Schwarzen Hefte, Berlin 2017, S. 281 – 328 (Anhang), hier S. 286. 44 Zu eigenen Veröffentlichungen (GA 82), S. 137 – 203, hier S. 180. 45 Bultmann, Rudolf/Heidegger, Martin: Briefwechsel 1925 – 1975, hrsg. von Andreas Großmann und Christof Landmesser, mit einem Geleitwort von Eberhard Jüngel, Frankfurt a. M. und Tübingen 2009, S. 171 f.; vgl. auch Heideggers Brief an Elisabeth Blochmann vom 18. September 1932, in: Heidegger, Martin/Blochmann, Elisabeth: Briefwechsel 1918 – 1969, hrsg. von Joachim W. Storck, 2., durchges. Aufl., Marbach a. N. 1990, S. 54. Zur endgültigen Aufgabe des geplanten „zweiten Bandes“ von „Sein und Zeit“ vgl. auch Kisiel, Theodore: Das Versagen von Sein und Zeit: 1927 – 1930, in: Martin Heidegger: Sein und Zeit, hrsg. von Thomas Rentsch (Klassiker Auslegen, Bd. 25), 3., bearb. Aufl., Berlin/München/Boston 2015,

§ 2 Der Aufriss der Untersuchung

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§ 2 Der Aufriss der Untersuchung Zur Erörterung des Freiheitsbegriffes bei Leibniz und Heidegger stehen zwei Werke im Zentrum der Untersuchung. Bei Leibniz handelt es sich um das einzige Buch, das von ihm zu Lebzeiten gedruckt wurde, nämlich die 1710 auf Französisch erschienenen „Essais de Theodicée sur la Bonté de Dieu, la liberté de l’Homme, et l’origine du mal“. Was Heideggers Entfaltung des existenzial-ontologischen Freiheitsbegriffes betrifft, bildet sein Grundwerk und erstes Hauptwerk „Sein und Zeit“ von 1927 die wesentliche Textgrundlage. Da von Heidegger in „Sein und Zeit“ keine unmittelbare Auseinandersetzung mit Leibniz gegeben wird, werden für seine Leibniz-Auslegung weitere Texte herangezogen. Dabei handelt es sich um die Vorlesung, die Leibniz schon im Titel nennt, nämlich die Marburger Vorlesung „Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz“ vom Sommersemester 1928, und vor allem das Freiburger Seminar „Leibnizens Weltbegriff und der Deutsche Idealismus (Monadologie)“ vom Wintersemester 1935/36. Gerade in dem Seminar wird Heideggers Kritik an Leibniz schärfer zum Ausdruck gebracht, durch welchen Kontrast das jeweilige Denken auch für sich selbst besser zur Abhebung kommen kann. Die Untersuchung gliedert sich in drei Kapitel. Die Thematik des ersten Kapitels (§§ 3 – 19) bildet der Freiheitsbegriff in Leibniz’ reifer Philosophie und Metaphysik, wobei schon ein gewisser Vorblick auf Heidegger gegeben wird. Das zweite Kapitel (§§ 20 – 26) befasst sich mit Heideggers Leibniz-Auslegung. Dabei steht der mit dem Freiheitsbegriff eng zusammenhängende Begriff der innermonadischen oder substanzialen Zeit bei Leibniz und der existenzialen Zeitlichkeit des Daseins bei Heidegger im Vordergrund. Es wird aufgezeigt, dass Leibniz’ Zeitbegriff auch für das Freiheitsproblem eine wesentliche Bedeutung zukommt. Das dritte Kapitel (§§ 27 – 31) untersucht den in „Sein und Zeit“ und anderen frühen Schriften nicht explizit eingeführten und erläuterten Freiheitsbegriff bei Heidegger. Da die „Théodicée“ mitunter weitschweifig ist und sich vielfach auf andere Autoritäten und die christliche Überlieferung beruft, sollen die wesentlichen philosophischen Aussagen durch andere Texte von Leibniz zum Problem der Freiheit und zur Entwicklung seiner Freiheitslehre ergänzt und erhärtet werden. Den Ausgangspunkt bildet in § 3 Leibniz’ Auseinandersetzung mit dem Spinozismus (Nezessitarismus). Es stellt sich die Frage nach der Möglichkeit von Freiheit und Kontingenz unter der Bedingung der notwendigen Geltung des Satzes vom zureichenden Grund. Leibniz’ Begriff möglicher Welten wurde von der modernen (analytischen) Philosophie aufgegriffen. In § 4 wird im Ausgang von Schellings Abhandlung über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809) dargelegt, dass die Frage nach der Existenz möglicher Welten und nach der Wahl der besten aller möglichen Welten bei Leibniz untrennbar mit der Wesenheit und der WesensbeS. 239 – 262, bes. S. 259 f. (Kisiel zitiert aus Heideggers Brief an Bultmann versehentlich „Maske“ (!) statt „Marke“.)

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Einleitung

stimmung Gottes zusammenhängt. Der Satz vom zureichenden Grund gilt ebenso für Gott. Ferner wird in § 4 gezeigt, dass für Leibniz die Mathematik als Modell zur Maximierung und Auswahl der besten aller möglichen Welten dient. Der § 5 erörtert den Gottesbegriff als Grund der Leibniz’schen Ontologie und Metaphysik und gibt einen Vorblick auf Heideggers Auslegung und Kritik. Der § 6 widmet sich der grundsätzlichen Frage nach der Vereinbarkeit (Kompatibilität) von Vorherbestimmung und göttlichem Vorherwissen mit menschlicher Freiheit und Selbstbestimmung. Wenngleich die menschliche Freiheit im Vordergrund der vorliegenden Untersuchung steht, wird die Freiheit der geistigen oder intelligenten Monaden einerseits gegen die Unfreiheit der vernunftlosen Monaden (Pflanzen und Tiere) abgegrenzt und andererseits gerade vom Vergleich mit der göttlichen Urmonade her bestimmt. Der § 7 behandelt die menschliche Freiheit als eine unvollkommene Seinsweise der idealen göttlichen Freiheit. Das Problem der Vereinbarkeit von Freiheit und Vorherbestimmung wird durch die von Leibniz schon früh entwickelte Wahrheits- und Urteilstheorie verschärft. Der § 8 thematisiert den von Gott vollkommen erkannten Begriff einer einzelnen Substanz (Monade) auf der Grundlage des urteilstheoretischen praedicatum-inesse-subjecto-Prinzips. Damit stellt sich die nicht mehr abzuweisende Frage nach der Vereinbarkeit der essentialistischen Begriffstheorie mit Kontingenz und Freiheit (§ 9). Unter Heranziehung ausgewählter Textstellen von Leibniz und in einem gewissen Vorgriff auf Heidegger wird in § 10 die Frage nach der göttlichen Prädestination des in die Welt geworfenen Individuums erörtert. Der § 11 wendet sich dem Theodizeeproblem im eigentlichen und engeren Sinne zu. Dabei unterscheidet Leibniz grundsätzlich drei Arten des Guten und des Übels: das metaphysische, das physische und das moralische (§ 12). Die weiteren Ausführungen beschränken sich auf das moralische Übel. Weshalb wird aber das moralische Übel von Gott überhaupt zugelassen? Der § 13 thematisiert die Gründe für Gottes Zulassung des moralischen Übels und den Zusammenhang von Freiheit und Sünde. Leibniz nennt in der „Théodicée“ drei Grundbedingungen von Freiheit, nämlich die Vernunfteinsicht, die Spontaneität und die Kontingenz. Die drei Freiheitsbedingungen und ihr Zusammenhang werden in § 14 dargelegt. Leibniz behandelt unter einer anderen Ausrichtung und Fragestellung das Problem der Freiheit auch im umfangreichsten Kapitel der „Nouveaux Essais sur l’Entendement humain“ (1703 – 1705). Die „Nouveaux Essais“ folgen in ihrer Form und Gliederung John Lockes Hauptwerk „An Essay Concerning Human Understanding“ (1689). Eine Übersicht zum Problem der Freiheit und zur Einteilung der verschiedenen Formen von Freiheit in den „Nouveaux Essais“ wird in § 15 gegeben. Zur weiteren Vertiefung des Freiheitsproblems wird in § 16 auf weitere und zum Teil weniger bekannte Textstellen zurückgegriffen. Freiheit versteht Leibniz, wie er u. a. in einem Bruchstück zur „Scientia generalis“ ausführt, als Herrschaft der Vernunft über die Leidenschaften und damit als Vervollkommnung unserer eigenen (eigentlichen) menschlichen Natur als Vernunftwesen (animal cogitans). Zur weiteren Klärung des göttlichen Vorherwissens wird in § 17 zunächst auf die Unterscheidung von deutlichen und verfließenden (konfusen) Perzeptionen und auf die Bedeutung der „kleinen Perzeptionen“ („petites perceptions“) eingegangen. Daraus ergibt sich das

§ 2 Der Aufriss der Untersuchung

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grundlegende Problem der göttlichen Erkenntnis und Voraussicht unserer undeulichen oder dunklen Perzeptionen für die prästabilierte Harmonie der Seelen (Monaden) und Körper (§ 18). Leibniz’ „Théodicée“ wurde nach dem verheerenden Erdbeben in Lissabon an Allerheiligen 1755 vielfach in Zweifel gezogen. Der § 19 gibt abschließend eine kurze philosophiegeschichtliche Einordnung des Werks. Das zweite Kapitel beginnt mit einer allgemeinen Erörterung von Heideggers Auslegungsverständnis eines überlieferten Textes. Es wird in § 20 gezeigt, dass für ihn die eigentliche Aufgabe der Auslegung eines Textes in der Aufdeckung des noch „Ungesagten“ durch das Gesagte besteht. Auch die Übersetzung eines Textes ist für ihn, wie in § 21 an zwei Beispielen erläutert wird, eine hermeneutische Aufgabe. Als grundlegender Leitfaden für Heideggers Leibniz-Auslegung wird in § 22 eine Textstelle herangezogen, in der es heißt, dass zwar die „unergründliche Vielgestaltigkeit des Frageansatzes“ bei Leibniz sichtbar zu machen und doch „statt der monas das Da-sein“ zu denken sei. Der § 23 gibt eine Gegenüberstellung der substanzialen Zeit der Monade und der existenzialen Zeitlichkeit des Daseins. In § 24 wird erläutert, worin für Leibniz die ursprünglich einigende Einheit der Monade besteht. Der § 25 gibt im Ausgang von Heideggers Leibniz-Seminar vom Wintersemester 1935/36 eine Zusammenfassung seiner Leibniz-Auslegung und -Kritik, wobei auch hier der Begriff der Zeit im Vordergrund steht. In einem Exkurs (§ 26) wird dem zuvor erörterten Zeitbegriff von Leibniz, der eine Symmetrie von Vergangenheit und Zukunft voraussetzt, die Asymmetrie der Zeit bei Thomas von Aquin gegenübergestellt. Das dritte Kapitel, in dem der Freiheitsbegriff in „Sein und Zeit“ im Mittelpunkt steht, nimmt in § 27 seinen Ausgang von Heideggers Auslegung der beiden Freiheitsbegriffe Descartes’ in seiner Vorlesung vom Wintersemester 1923/24. Dabei wird auch Heideggers Stellungnahme zum Molinismus erörtert, dessen Freiheitsbegriff Leibniz ablehnend gegenübersteht. Um eine Bezugnahme der Freiheitsproblematik auf unsere Gegenwart zu ermöglichen, wird in einem Exkurs (§ 28) der Deutungsanspruch der Neurowissenschaften diskutiert und die sich daraus ergebende Herausforderung für die Rechtsphilosophie aufgezeigt. Der § 29 dient der Aufgabe, einen methodischen Leitfaden zum Verständnis des Freiheitsbegriffes in „Sein und Zeit“ aufzuzeigen und zu formulieren, der als Grundlage für die Herausarbeitung des Freiheitsbegriffes an den verschiedenen Stationen der Existenzialanalytik in Heideggers erstem Hauptwerk dienen kann. Hierzu gehört auch die am Text selbst ausgerichtete Auseinandersetzung mit anderen in der HeideggerForschung vorliegenden Interpretationen des Freiheitsbegriffes. Zur Hinführung werden zunächst einige Textstellen aus Heideggers Vorlesungen und Schriften auf dem Weg zu „Sein und Zeit“ herangezogen. Die konkreten Analysen werden insbesondere durch die von Otto Friedrich Bollnow zum Wesen der Stimmungen (§ 29) und von Hannah Arendt zum Problem des Miteinanderseins und der Öffentlichkeit (§ 30) eingebrachten philosophischen Gesichtspunkte ergänzt. In einer gewissen Gegenüberstellung zu Leibniz wird in § 30 die konkrete Analyse des Freiheitbegriffes für § 58 von „Sein und Zeit“ mit dem Titel „Anrufverstehen und Schuld“

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Einleitung

durchgeführt. Im Einzelnen wird Heideggers existenzial-ontologischer Schuldbegriff und dessen Bedeutung für die heutige Rechtsphilosophie unter Heranziehung der juristischen Dissertation von Agnes Wulff zur „Existenzialen Schuld“ erörtert. Die Untersuchung setzt sich insbesondere mit der in der Heidegger-Forschung von Bernd Irlenborn formulierten Kritik am existenzialen Schuldbegriff auseinander. Der abschließende § 31 gibt einen Ausblick auf den Zusammenhang von Wahrheit und Freiheit auf dem Weg zum Ereignis-Denken.

1. Kapitel

Der Freiheitsbegriff bei Leibniz § 3 Leibniz’ Auseinandersetzung mit dem Spinozismus a) Der Gegensatz von Freiheit und Notwendigkeit Jede philosophische Betrachtung, sei sie auf ein mit dem Anspruch auf Endgültigkeit und Gewissheit auftretendes System oder auf eine Mensch und Welt, Geschichte und Natur, Geistiges, Lebendiges und Lebloses umfassende Besinnung ausgerichtet, sieht sich, wie beispielsweise Hegel in § 35 seiner „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse“ (1830) zusammenfasst, vornehmlich mit folgenden (für Hegel absoluten) Gegensätzen konfrontiert: „Zufälligkeit und Notwendigkeit; äußerliche und innerliche Notwendigkeit; wirkende und Endursachen, oder die Kausalität überhaupt und Zweck; Wesen oder Substanz und Erscheinung; Form und Materie; Freiheit und Notwendigkeit; Glückseligkeit und Schmerz; Gutes und Böses.“1

Christos Axelos gibt im Vorwort seines bereits genannten Buchs zur Freiheitstheorie von Leibniz einen „Abriß der möglichen Einstellungen zu dem Freiheitsproblem und seiner Lösung“.2 Die Beseitigung der Diskrepanz zwischen theoretischer und praktischer Philosophie, zwischen Notwendigkeit und Freiheit bzw. Notwendigkeit und Kontingenz wurde in der überlieferten Philosophie, vereinfacht gesprochen, auf einem grundsätzlich zweifachen Weg erreicht: „Der seit Kants Vernunftkritiken geläufigste scheint die Trennung von zwei Bereichen zu sein: eines phänomenalen und eines intelligiblen; eine Dichotomie des Alls durch Ansetzung einer der Erfahrung und dem Erkennen zugänglichen Welt der Erscheinungen und einer durch das Denken und nur für das Denken bestehenden Hinterwelt oder eines Dinges an sich selbst. Auf Grund dieser Trennung wird der Grund der Unmöglichkeit gezeigt, die für die phänomenale Schicht der Wirklichkeit geltenden Kategorien und Grundsätze auf die intelligible Tiefenschicht anzuwenden. Anschließend wird auf die Selbsterkenntnis, das eigene Gewissen und die gewissenhafte Beobachtung und Erforschung des eigenen Be-

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Hegel: Werke, Redaktion Moldenhauer und Michel, Bd. 8, S. 101. Axelos: Die ontologischen Grundlagen der Freiheitstheorie von Leibniz, S. 2 – 21.

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1. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Leibniz wußteins rekurriert, wobei sich die Feststellung des evidenten Gefühls der Freiheit oder des (einzigen) ,Faktums der praktischen Vernunft‘3 ergibt. […] Die zweite Lösung hat zwei Spielarten. Die erste kann negativ als der Versuch gekennzeichnet werden, den Dualismus […] abzulehnen und keine Kluft zwischen Natur und Mensch, keine Lokalisierung der menschlichen Praxis […] auf einer Insel, auf die ergebnislos die von allen Seiten anrollenden Wellen der Naturnotwendigkeit branden, aufkommen zu lassen; und positiv: als der Versuch, die für die Erfassung, Zusammenfassung und Interpretation des Geschehens in der Natur tauglichen Gedanken auch an dem Geschehen, das die menschliche, moralisch ausgerichtete Praxis ausmacht oder von ihr ausgeht, abzulesen, ohne jedoch zu leugnen, daß sich in dem Umkreis des für das moralisch praktische Verhalten des Menschen relevanten Geschehens ein Novum, zumindest eine neue Intensität bereits in der Natur vorliegender Prozesse manifestiert. Die zweite Spielart der zweiten Lösung besteht, umgekehrt, in dem Durchlöchern des die Welt umspannenden Geflechts der Naturkausalitäten und naturnotwendigen Reihen und Folgen. In den aus aneinander gereihten Ursachen und Wirkungen, die wieder Ursachen weiterer Wirkungen sind, bestehenden Ketten werden plötzlich eintretende Lücken, grundund ursachelose Unterbrechungen angenommen. Eine Unterbrechung solcher Art ist die Abweichung der Atome von der geraden Linie (declinatio atomorum) in Epikurs Lehre, und zwar hat Epikur dieses Lehrstück eingebaut, um die Freiheit des Menschen zu sichern und um der Bejahung dieser Freiheit ein festes Fundament und ein kosmologisches Pendant zu verschaffen.“4

Wie bereits in § 1 angesprochen wurde, greift die moderne Variante der zuletzt genannten Spielart (Epikur) auf die indeterministische Deutung der Quantentheorie zurück.5 Der Hauptvorwurf, der Leibniz immer wieder und bereist von seinen Zeitgenossen gemacht wurde, liegt in der Meinung, sein System sei im Grunde ein Spinozismus oder ein System der nötigenden Determination (Nezessitarismus), in dem die Freiheit keinen Platz hat. Als Beispiel aus der neueren Zeit für die Deutung von Leibniz’ System als Spinozismus kann Wilhelm Diltheys Schrift „Leibniz und sein

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Vgl. Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft, Erster Teil, Erstes Buch, Erstes Hauptstück, § 7, Anm., in: Kant, Werke. Akademie-Textausgabe, unveränderter photomechanischer Abdruck, Bd. V, S. 31. 4 Axelos: Die ontologischen Grundlagen der Freiheitstheorie von Leibniz, S. 3 f. Zu Epikur vgl. auch Hossenfelder, Malte: Epikur: Freiheit als Atomabweichung, in: Hat der Mensch einen freien Willen? Die Antworten der großen Philosophen, hrsg. von Uwe an der Heiden und Helmut Schneider, Stuttgart 2007, S. 49 – 59. Es versteht sich von selbst, dass Epikurs Lehre von der Abweichung der Atome („la declinaison des Atomes d’Epicure“), für die er keinen Grund angeben kann, von Leibniz abgelehnt wird (Theod. III, § 340; GP VI, 316). 5 Zum Problem der Kausalität in der gegenwärtigen wissenschaftlichen Diskussion vgl. Bunge, Mario: Kausalität, Geschichte und Probleme, aus dem Amerikanischen von Herbert Spengler, Tübingen 1987; Haken, Hermann/Wolf, Hans Christoph: Atom- und Quantenphysik. Einführung in die experimentellen und theoretischen Grundlagen, 7., aktualisierte und erw. Aufl., Berlin [u. a.] 2000; Koch, Günter: Kausalität, Determinismus und Zufall in der wissenschaftlichen Naturbeschreibung, Berlin 1994.

§ 3 Leibniz’ Auseinandersetzung mit dem Spinozismus

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Zeitalter“6 genannt werden. Als Beispiel für die Ansicht, dass in Leibniz’ System die logisch-metaphysische oder absolute Notwendigkeit nicht überwunden wird, kann Ernst Cassirers Buch „Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen“7 (1902) angeführt werden. Eine solche philosophiehistorische Betrachtung ist hier aber nicht beabsichtigt. Aufgabe der vorliegenden Untersuchung ist es vielmehr, auch in einem gewissen Vorgriff auf Heideggers Leibniz-Auslegung, gerade den Leibniz’schen Erkenntnis-, Wahrheits- und Seinsbegriff und damit auch Freiheitsbegriff vor allem im Bezug zur absoluten Erkenntnis und zum unendlichen Sein Gottes zu erörtern.

b) Freiheit und Kontingenz – Leibniz’ Überwindung des Nezessitarismus? Im Übergang zu seiner reifen Philosophie, nämlich in dem Jahrzehnt zwischen seinem Zusammentreffen mit Baruch (Benedictus) de Spinoza in Den Haag im November 16768 (nur wenige Monate vor Spinozas Tod am 21. Februar 1677) und dem Verfassen seiner ersten metaphysischen Schrift, dem „Discours de métaphysique“ (1686), widmete sich Leibniz mit Nachdruck der Aufgabe, die Geltung der absoluten metaphysischen Notwendigkeit für alles Wirkliche zu überwinden, um einen Spielraum für Kontingenz und Freiheit zu gewinnen.9 Insofern darf sein in der „Monadologie“ zum Abschluss kommendes philosophisches System nicht mit demjenigen Spinozas gleichgesetzt werden. Auf die Beschuldigung Louis Bourguets hin, seine Philosophie sei ein Spinozismus, antwortet Leibniz in seinem Brief an Bourguet vom Dezember 1714, dass Spinoza recht hätte, „wenn es keine Monaden gäbe“: „Faßt man Vorstellung und Begehren in dem von mir definierten Sinne auf, so müssen sie allen Monaden zukommen. Denn die Vorstellung ist mir die Darstellung der Vielheit im Einfachen, und das Begehren ist mir das Streben, von einer Vorstellung zu einer andren überzugehen; nun ist dieses beides aber in allen Monaden vorhanden; denn sonst stände die 6

In: Dilthey, Wilhelm: Studien zur Geschichte des deutschen Geistes, hrsg. von Paul Ritter (Gesammelte Schriften, Bd. III), 6., unveränderte Aufl., Stuttgart und Göttingen 1992, S. 1 – 80. 7 Cassirer, Ernst: Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen, Text und Anmerkungen bearbeitet von Marcel Simon (Gesammelte Werke, Hamburger Ausgabe, hrsg. von Birgit Recki, Bd. 1), Hamburg 1998. 8 Vgl. Hirsch, Eike Christian: Der berühmte Herr Leibniz. Eine Biographie, München 2007, S. 98 – 102. 9 Die erste Schrift, in der Leibniz zu einem gewissen Abschluss bzw. Durchbruch in der Behandlung der Freiheitsproblematik gelangt ist, ist in die Akademie-Ausgabe unter folgendem Titel aufgenommen: De natura veritatis, contingentiae et indifferentiae atque de libertate et praedeterminatione (Ende 1685 bis Mitte 1686 (?)) (A VI 4, 1514 – 1524; C 16 – 24) (Übersetzung unter dem Titel „Notwendigkeit und Zufälligkeit“ in: Leibniz, Gottfried Wilhelm: Fragmente zur Logik, ausgewählt, übersetzt und erläutert von Franz Schmidt, Berlin 1960, S. 426 – 438).

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1. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Leibniz Monade außer aller Beziehung zu allen übrigen Dingen. Ich weiß nicht recht, wie Sie, mein Herr, hieraus auf irgendwelchen Spinozismus schließen wollen; denn dies ist wahrlich eine etwas rasche Art zu folgern. Ganz im Gegenteil wird der Spinozismus eben durch die Monaden vernichtet; denn es gibt ebensoviel wahrhafte Substanzen und sozusagen ebensoviele lebendige und dauernde Spiegel des Weltalls oder konzentrierte Welten, als es Monaden gibt, wohingegen es nach Spinoza nur eine einzige Substanz gibt. Er hätte recht, wenn es keine Monaden gäbe; denn alsdann wäre alles, außer Gott, flüchtig und würde sich in einfache Akzidenzien oder Modifikationen verlieren, weil dann den Dingen jede substantielle Grundlage, die eben in der Existenz der Monaden besteht, entzogen wäre.“10 „De la maniere que je definis perception et appetit, il faut que toutes les Monades en soyent douées. Car perception m’est la representation de la multitude dans le simple; et l’appetit est la tendence d’une perception à une autre: or ces deux choses sont dans toutes les Monades, car autrement une Monade n’auroit aucun rapport au reste des choses. Je ne say, Monsieur, comment vous en pouvés tirer quelque Spinosisme; c’est aller un peu vite en consequences. Au contraire c’est justement par ces Monades que le Spinosisme est detruit, car il y a autant de substances veritables, et pour ainsi dire, de miroirs vivans de l’Univers tousjours subsistans, ou d’Univers concentrés, qu’il y a de Monades, au lieu que, selon Spinosa, il n’y a qu’une seule substance. Il auroit raison, s’il n’y avoit point de monades; alors tout, hors de Dieu, seroit passager et s’evanouiroit en simples accidens ou modifications, puisqu’il n’y auroit point la base des substances dans les choses, laquelle consiste dans l’existence des Monades.“11

Anders als Spinoza setzt Leibniz gegen den Empirismus, wie es Pirmin StekelerWeithofer aus heutiger Sicht rekonstruiert, „an die Stelle des Seele-Leib-Dualismus eine Dualität von meiner Welt und der Welt bzw. einer lokalperspektivischen Welthaltung im subjektiven Vollzug und einer globalen Reflexion auf die Welt im Ganzen, vermittelt durch die Rede von Gott“.12 Daher steht für ihn Heidegger „hier Leibniz viel näher, als bisher bekannt ist“.13 Eine andere Frage ist es dagegen, ob es Leibniz damit gelungen ist, den Nezessitarismus tatsächlich zu überwinden.14 Ein Dokument für diese Bemühungen, der 10

Übersetzung nach: Leibniz, Gottfried Wilhelm: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, übers. von Artur Buchenau, mit Einleitung und Anmerkungen hrsg. von Ernst Cassirer (Teil I und Teil II), Neuausg., Hamburg 1996 (Philosophische Bibliothek, Bd. 496 und Bd. 497), Teil II, S. 639 – 642, hier S. 642. 11 GP III, 572 – 576, hier 574 f. 12 Stekeler-Weithofer, Pirmin: Kritik der reinen Theorie. Logische Differenzen zwischen Wissenschaft und Weltanschauung, Tübingen 2018, S. 109; vgl. auch Saame, Otto: Der Satz vom Grund bei Leibniz. Ein konstitutives Element seiner Philosophie und ihrer Einheit, Mainz 1961, S. 94. 13 Stekeler-Weithofer: Kritik der reinen Theorie, S. 117. 14 Wie Michael-Thomas Liske zu Recht bemerkt, ist Leibniz, was den Freiheitsbegriff der abendländischen Tradition betrifft, „den Stoikern und Platonikern verpflichtet, freilich, nicht ohne daß auch der Determinismus der neuzeitlichen Wissenschaft seine Spuren hinterlassen hat“ (Liske: Leibniz’ Freiheitslehre, S. 209, Anm. 15). Eine grundlegende Untersuchung zur Entstehung der neuzeitlichen mathematischen Naturwissenschaft gibt Edmund Husserl in § 9 mit dem Titel „Galileis Mathematisierung der Natur“ seines letzten großen Werks (Husserl, Edmund: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomeno-

§ 3 Leibniz’ Auseinandersetzung mit dem Spinozismus

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menschlichen Freiheit einen Platz einzuräumen, ist Leibniz’ Brief an den Berliner Hofprediger Daniel Ernst Jablonski vom 23. Januar 1700: „Habe aber von dem 16ten Jahr meines Alters, aus sonderbarer Schickung Gottes, wie es scheinet, mich zu einer sonst an sich selbst schwehren, und dem Ansehen nach, unannehmlichen Untersuchung angetrieben gefunden, aber für wenig Jahren erst mich völlig vergnüget, als ich rationes contingentae recht ausgefunden, da ich zuvor des Hobbii und Spinosae argumentis pro absoluta omnium, quae fiunt, necessitate nicht so vollkommen Gnüge thun können, als ich gewollt. Ich hatte mir einsmahls vorgenommen eine Theodicaeam zu schreiben, und darinnen Gottes Gütigkeit, Weisheit und Gerechtigkeit, so wohl als höchste Macht und unverhinderliche Influentz zu vindiciren.“15

c) Der Satz vom (zureichenden) Grund als Bedingung der Freiheit – Heideggers radikalisierende Frage nach dem Satz vom Grund Leibniz stimmt Spinoza zwar insofer zu, als Spinoza gegen „eine absolute Macht der Selbstbestimmung“ des Menschen ist, d. h. eine Macht, „sich ohne irgendeinen Grund zu entscheiden“. Abgelehnt wird von ihm dagegen, dass das Reich Gottes nach Spinoza „nichts anderes als das Reich der Notwendigkeit, und zwar einer blinden Notwendigkeit“ ist: „Spinoza aber, der in der von Schriftstellern seines Volkes verfassten Kabbala sehr bewandert war und sagt (Politischer Traktat, Kap. II, § 616), dass die Menschen, wenn sie die Freiheit so auffassen, wie sie es tatsächlich tun, ein Reich im Reiche Gottes errichten, hat die Dinge auf die Spitze getrieben. Das Reich Gottes ist bei Spinoza nichts anderes als das Reich der Notwendigkeit, und zwar einer blinden Notwendigkeit (wie bei Straton), durch die alles aus der göttlichen Natur hervorgeht, ohne dass bei Gott irgendeine Wahl vorhanden ist, und ohne dass die Wahl des Menschen ihn von der Notwendigkeit ausnimmt. […] Spinoza ist mit Recht gegen eine absolute Macht der Selbstbestimmung, d. h. eine Macht, sich ohne irgendeinen Grund zu entscheiden; eine solche kommt nicht einmal Gott zu.“17 logie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, hrsg. von Walter Biemel (Husserliana, Bd VI), 2. Aufl., Haag 1962, S. 20 – 60); vgl. dazu Neumann: Die phänomenologische Frage nach dem Ursprung der mathematisch-naturwissenschaftlichen Raumauffassung bei Husserl und Heidegger, § 9, S. 96 – 128; Neumann, Günther: Galilei und der Geist der Neuzeit: Husserls Rekonstruktion der Galileischen Naturwissenschaft in der Krisis-Schrift, in: Phänomenologische Forschungen, Heft (Jahrgang) 2001, S. 259 – 279). 15 A I 18, 320 – 325, hier 322. 16 Deutsche Übersetzung in: Spinoza, Baruch de: Werke in drei Bänden, hrsg. von Wolfgang Bartuschat, Hamburg 2006, Bd. 3: Politischer Traktat [u. a.], S. 12 f. 17 Theod. III, § 372 (Übersetzung vom Verfasser) (vgl. die folgenden Übersetzungen: Leibniz, Gottfried Wilhelm: Versuche in der Theodicée über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels, übers. und mit Anmerkungen versehen von Artur Buchenau, Neuausg., Hamburg 1996 (Philosophische Bibliothek, Bd. 499), S. 357; Leibniz, Gottfried Wilhelm: Die Theodizee von der Güte Gottes, der Freiheit des Menschen und dem Ursprung des Übels/Essais de Théodicée sur la Bonté de Dieu, la liberté de l’homme et l’origine

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1. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Leibniz „Mais Spinosa, qui étoit versé dans la Cabale des auteurs de sa nation, et qui dit (Tr. polit. c. 2. n. 6) que les hommes concevant la liberté comme ils font, etablissent un empire dans l’empire de Dieu, a outré les choses. L’empire de Dieu n’est autre chose chés Spinosa, que l’empire de la necessité, et d’une necessité aveugle, (comme chés Straton) par laquelle tout emane de la nature Divine, sans qu’il y ait aucun choix en Dieu, et sans que le choix de l’homme l’exemte de la necessité. […] Spinosa a raison d’être contre un pouvoir absolu de se determiner, c’est à dire, sans aucun sujet; il ne convient pas même à Dieu.“18

Es ist besonders hervorzuheben, dass nach Leibniz nicht einmal Gott die Macht zukommt, sich ohne einen (zureichenden) Grund zu entscheiden, d. h. seine Wahl zu treffen. Wie Christos Axelos darlegt, ist Leibniz, was den göttlichen Verstand und die Zuordnung der ewigen Wahrheiten betrifft, daran gelegen, „auch diese überlieferte Lehre auf ihren rationalen Kern zu reduzieren“.19 Gegenüber dem christlichen Gottesbegriff stand bei den Griechen die Moira (Lo?qa), das personifizierte Schicksal oder Geschick, noch über den Göttern.20 Bei Homer kommt Moira fast ausschließlich in der Einzahl vor. Zeus kann beispielsweise Sarpedon nicht retten, dessen Zeit abgelaufen ist, da er sonst die unverbrüchliche Ordnung zerstören würde.21 Nach der wohl gründlichsten Untersuchung zu den „logisch-metaphysischen Voraussetzungen von Leibniz’ Freiheitstheorie“ aus der neueren Zeit von MichaelThomas Liske ist es unbestreitbar, „daß das Prinzip vom zureichend determinierenden Grund selbst als absolut notwendig zu gelten hat“.22 In der am Rand der „Introductio ad Encyclopaediam arcanam“ (Sommer 1683 bis Anfang 1685 (?)) ergänzten Tabelle, in der Prinzipien verschiedener Gewissheitsgrade zusammengestellt sind, nennt Leibniz die mit „metaphysischer Gewissheit“ geltenden beiden ersten Prinzipien a priori, nämlich das Widerspruchsprinzip und das Prinzip vom Grund.23 Nicht nur der (kosmologische) Gottesbeweis, der ausgehend von der gedu mal, hrsg. und übers. von Herbert Herring (Philosophische Schriften, Bd. II, 1. Hälfte und 2. Hälfte), Darmstadt 1985, 2. Hälfte, S. 201). 18 Theod. III, § 372; GP VI, 336 f. 19 Axelos: Die ontologischen Grundlagen der Freiheitstheorie von Leibniz, S. 146. 20 Heidegger hat der Moira seinen Aufsatz „Moira (Parmenides, Fragment VIII, 34 – 41)“ (1952) gewidmet (in: Vorträge und Aufsätze (GA 7), S. 235 – 261). 21 Vgl. Homer: Ilias, Sechzehnter Gesang, Vers 433 – 458. 22 Liske: Leibniz’ Freiheitslehre. Die logisch-metaphysischen Voraussetzungen von Leibniz’ Freiheitstheorie, § 24, S. 120. 23 „Principia prima a priori. j Principia certitudinis metaphysicae j Nihil potest simul esse et non esse, sed Quodlibet est vel non est: j Nihil est sine ratione.“ (AVI 4, 525 – 531, hier 530, Anm. 5) Heidegger folgert in seiner Auslegung von Leibniz’ Wahrheitstheorie (als Urteilstheorie) für das principium reddendae rationis sogar, dass man umgekehrt sagen muss: „dieses ist ursprünglicher als der Satz vom Widerspruch.“ (Metaphysische Anfangsgründe der Logik (GA 26), § 3, S. 66) Dagegen sind für Arnaud Lalanne, wie er in seiner Dissertation an der Pariser Sorbonne darlegt, die beiden Prinzipien „vollkommen komplementär“ („parfaitement complémentaires“) und lassen sich nicht aufeinander reduzieren (Lalanne, Arnaud: Genèse et évolution du principe de raison suffisante dans l’œuvre de G. W. Leibniz, Diss., Univ. ParisSorbonne 2013 (Repr. (3 Bde.): Villeneuve d’Ascq [2015]), Bd. 1, S. 16). Otto Saame stellt

§ 3 Leibniz’ Auseinandersetzung mit dem Spinozismus

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schaffenen Welt auf die notwendige Existenz Gottes (Ens necessarium24, Etre necessaire25, substance necessaire26) schließt, sondern auch der (ontologische) Gottesbeweis, der Gottes Existenz aus seiner Essenz ableitet, muss das Prinzip vom Grund schon voraussetzen.27 Es würde aber keinen Sinn ergeben, aus einem selbst nur kontingenten Prinzip auf die notwendige Existenz Gottes zu schließen. In der „Théodicée“ schreibt Leibniz, dass dieses große Prinzip „keine Ausnahme duldet“ („il ne souffre aucune exception“).28 Nicht einmal Gott hat darüber „eine absolute Macht“ („un pouvoir absolu“).29 Dagegen ist für Hans Poser das Prinzip des zureichenden Grundes „selbst kontingent“.30 In der unter dem Titel „De principiis praecipue contradictionis et rationis sufficientis“ (Frühjahr bis Winter 1886/87 (?)) in die Akademie-Ausgabe aufgenommenen Schrift grenzt Leibniz das Axiom, „Dass Nichts ohne Grund ist“ („Quod Nihil est sine ratione“) (implizit) von der „mathematischen Notwendigkeit“ ab, wie sie (nur) „den logischen Formen und den Wahrheiten der Zahlen zukommt“.31 Die logischen Wahrheiten, die auf dem Prinzip gegenüber Lalanne die einsichtig begründete und durch zahlreiche Quellen belegte These auf, „daß beide große Prinzipien bei Leibniz zusammenhängen durch den Satz ,praedicatum inest subiecto‘ “ (Saame: Der Satz vom Grund bei Leibniz, S. 20). Nach Heideggers Auslegung wird noch deutlicher als bei Saame die Identität von Subjekt und Prädikat gegenüber dem „inesse“ des Prädikats im Subjekt herausgestellt: „Das Wesen der Wahrheit überhaupt liegt in der Identität von Subjekt und Prädikat.“ (Metaphysische Anfangsgründe der Logik (GA 26), § 3, S. 64). Nach dieser Auslegung würde aber auch Leibniz’ Unterscheidung zwischen der metaphysischen oder logischen und der hypothetischen Notwendigkeit, auf der seine Freiheitstheorie beruht, relativiert. 24 Vgl. insbes. Specimen inventorum de admirandis naturae Generalis arcanis (1688 (?)); A VI 4, 1615 – 1630, hier 1617 f.; GP VII, 309 – 318, hier 310. 25 Principes de la nature et de la grâce (1714), § 8; GP VI, 598 – 606, hier 602. 26 Theod. I, § 7; GP VI, 106; Monadologie, § 38; GP VI, 607 – 623, hier 613. 27 Vgl. z. B. Leibniz’ Conversatio cum Domino Episcopo Stenonio de Libertate (27. November 1677): „Ajo Dei existentiam non posse demonstrari, sine hoc principio, nihil esse sine ratione.“ (A VI 4, 1375 – 1383, hier 1375; vgl. auch Theod. I, § 44; GP VI, 127; Monadologie, § 37 f.; GP VI, 613; Principes de la nature et de la grâce, § 8; GP VI, 602; Leibniz’ zweites Schreiben an Clarke (Dezember 1715) (§ 1); GP VII, 355 f.; Leibniz’ fünftes Schreiben an Clarke (18. August 1716), § 126; GP VII, 419). Zur Bedeutung des Satzes vom Grund für die Gottesbeweise und den Gottesbegriff vgl. Saame: Der Satz vom Grund bei Leibniz, S. 46 – 51, bes. S. 50. 28 Theod. I, § 44; GP VI, 127. 29 Theod. III, § 372; GP VI, 337. 30 Poser: Leibniz’ Philosophie, S. 221. 31 „Adeo ut quicquid non mathematicae necessitatis est (quemadmodum formae Logicae et veritates numerorum), id omnino hinc sit petendum.“ (AVI 4, 803 – 806, hier 806; GP VII, 299 – 301, hier 301). „Was nicht schon mathematische Notwendigkeit besitzt, wie die logischen Formen und die Wahrheiten der Zahlen, dafür muß dies allgemein angestrebt werden.“ (Übersetzung nach: Leibniz: Fragmente zur Logik, übers. von Schmidt, S. 445 – 449, hier S. 449). Für Leibniz reicht, wie er an Samuel Clarke (1675 – 1729), einen Schüler Isaac Newtons, schreibt, das Prinzip des Widerspruchs oder der Identität („A ist A, und kann nicht Nicht-A sein“) aus, um die ganze Arithmetik und die ganze Geometrie, mithin alle mathematischen Prinzipien abzuleiten (Leibniz’ zweites Schreiben an Clarke (§ 1); GP VII, 355;

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1. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Leibniz

des Widerspruchs beruhen, d. h. deren Gegenteil einen Widerspruch einschließt, kennzeichnet er an einer vorangehenden Stelle des genannten Textes (unter Berufung auf die Scholastik) auch als „Wahrheiten von absoluter oder metaphysischer Notwendigkeit“ („veritates quae sunt absolutae seu metaphysicae necessitatis“).32 Damit würde aber dem Prinzip des zureichenden Grundes (zumindest) keine absolute oder metaphysische Notwendigkeit zukommen. Auch eine Textstelle aus der „Théodicée“ scheint dies zu bestätigen. Nach dem Anhang „Bemerkungen über das vor kurzem in England veröffentlichte Buch über den Ursprung des Übels“ der „Théodicée“ ist es „sogar notwendig, daß dasjenige, was keinen zureichenden Grund besitzt, auch nicht zu existieren vermag“.33 Der Terminus „notwendig“ („necessaire“) ist hier nicht als eine Art von Nachlässigkeit oder Ungenauigkeit zu verstehen, da man „Wahrheiten, deren Gegenteil einen Widerspruch einschließt“ („verités dont le contraire implique contradiction“), wie Leibniz gleich anschließend ausführt, für „absolut [!] notwendig“ („absolument necessaire“) halten kann.34 In seinem fünften Schreiben an Clarke vom 18. August 1716 behauptet Leibniz wiederum, dass „dieses große Prinzip“ („ce grand Principe“) (des zureichenden Grundes) nicht nur a posteriori, sondern außerdem „aus reiner Vernunft oder a priori“ („par la pure raison ou a priori“) gerechtfertigt werden könne.35 Also wäre es doch ein metaphysisches Prinzip. Allerdings spricht er hier nur von „gerechtfertigt“ („justifié“). Dass nur den mathematischen (und logischen) Wahrheiten eine absolut sichere Erkenntnis zukommt, war für die Vertreter der neuzeitlichen Naturwissenschaft wie Galileo Galilei

deutsche Übersetzung in: Der Leibniz-Clarke Briefwechsel, übers. und hrsg. von Volkmar Schüller, Berlin 1991, S. 25). Der Status mathematischer Sätze (analytisch oder synthetisch a priori) ist bis heute umstritten (vgl. Art. Philosophie der Mathematik, in: Enzyklopädie Philosophie, in drei Bänden, hrsg. von Sandkühler, Bd. 2, S. 1973 – 1979). Zum Zusammenhang zwischen dem „Satz der Identität“ und dem „Satz des Widerspruches“ vgl. Neumann, Günther: Der Weg ins Ereignis nach Heideggers Vortrag „Der Satz der Identität“, in: Heidegger Studies 25 (2009), S. 157 – 189, hier S. 162 ff. 32 A VI 4, S. 805; GP VII, 300. Auch in der „Théodicée“ setzt Leibniz die logische Notwendigkeit mit der metaphysischen gleich: „la necessité logique ou metaphysique“ (Theod. III, § 288; GP VI, 288; vgl. auch Theod., Préface; GP VI, 37; Theod., Discours préliminaire de la conformité de la foi avec la raison, § 20; GP VI, 62; Theod. III, §§ 282 und 302; GP VI, 284 und 296). In der heutigen Diskussion wird die logische Notwendigkeit auch als „logischer Determinismus“ bezeichnet (vgl. Jäger, Christoph: Einleitung: Molina und das Problem des theologischen Determinismus, in: Luis de Molina, Göttlicher Plan und menschliche Freiheit. Concordia, Disputation 52, lateinisch-deutsch, eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Christoph Jäger, Hans Kraml und Gerhard Leibold, Hamburg 2018, S. XIII–CLXXVIII, hier S. XXXIV–XLI). 33 „il est necessaire même que ce qui n’a aucune raison suffisante n’existe point“ (Theod., App.: Remarques sur le Livre de l’origine du mal, publié depuis peu en Angleterre, § 14; GP VI, 414; Übersetzung nach: Leibniz: Versuche in der Theodicée, übers. von Buchenau, S. 434). 34 GP VI, 414; vgl. auch Conversatio cum Domino Episcopo Stenonio de Libertate; AVI 4, 1377; Leibniz’ fünftes Schreiben an Clarke, §§ 9 und 76; GP VII, 390 und 409. 35 Leibniz’ fünftes Schreiben an Clarke, § 129; GP VII, 420.

§ 3 Leibniz’ Auseinandersetzung mit dem Spinozismus

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(1564 – 1642) oder Johannes Kepler (1571 – 1630) selbstverständlich.36 Ein solches Schwanken hinsichtlich der Stellung und der Gewissheit des Prinzips des zureichenden Grundes bei Leibniz könnte auf eine grundsätzlichere Schwierigkeit hindeuten. Es soll zunächst kurz auf die Entstehung und Entwicklung des Prinzips vom zureichenden Grund in Leibniz’ Werk hingewiesen werden, die außerordentlich vielschichtig ist. Arnaud Lalanne unterscheidet in seiner über 1400 Seiten umfassenden Dissertation an der Pariser Sorbonne von 2013 fünf Hauptphasen in der Entwicklung dieses Prinzips.37 Die ersten beiden Phasen umfassen die „Ausarbeitung“ („élaboration“) (1663 – 1676) und die „systematische Erforschung“ („exploration systématique“) (1677 – 1686) des Prinzips des (zureichenden) Grundes und seiner Anwendung auf die „kontingenten Wahrheiten“ (vérités contingentes“).38 Die für die hier behandelten Texte zum Freiheitsproblem maßgeblichen Phasen sollen nun ausführlicher genannt werden: „Dritte Phase: Die Entdeckung des Prinzips des zurückzugebenden (zuzustellenden) Grundes der kontingenten Wahrheiten (1687 – 1697), Vierte Phase: Die Entdeckung des Prinzips des zureichenden Grundes im Kontext des Streites über die Prädestination (1698 – 1706), und die Fünfte Phase: Die ,Erfordernis‘ des Prinzips des (zureichenden) Grundes zur Verteidigung der Sache Gottes und der ,wahren Metaphysik‘ (1707 – 1716).“39 36

Vgl. Neumann: Die phänomenologische Frage nach dem Ursprung der mathematischnaturwissenschaftlichen Raumauffassung bei Husserl und Heidegger, § 9, S. 97 – 102. 37 Zur Unterscheidung einerseits und von Gott garantierter Einheit und Harmonie („convenance“ oder „harmonie“) andererseits von Ursache („cause“) und Grund („raison“) bzw. Prinzip der Kausalität („principe de causalité“) und Prinzip des Grundes („principe de raison“), die bei Leibniz begrifflich nicht immer klar getrennt werden, vgl. Lalanne: Genèse et évolution du principe de raison suffisante dans l’œuvre de G. W. Leibniz, Bd. 1, S. 13 f. Lalanne bezieht sich u. a. auf Leibniz’ Conversatio cum Domino Episcopo Stenonio de Libertate (AVI 4, 1375 – 1383, bes. 1375). Wie László Tengelyi darlegt, kommt in der Leibniz’schen Metaphysik, die auf eine universale Vernünftigkeit ausgerichtet ist, dem Grund gegenüber der Ursache der Vorrang zu (vgl. Tengelyi, László: Welt und Unendlichkeit. Zum Problem phänomenologischer Metaphysik, Freiburg/München 2014, S. 125 – 129; ferner Saame: Der Satz vom Grund bei Leibniz, S. 92 – 101). 38 Lalanne: Genèse et évolution du principe de raison suffisante dans l’œuvre de G. W. Leibniz, Bd. 1, S. 12. Die explizite Formulierung „la raison suffisante“ für die angeführten Phasen findet sich im „Résumé“ am Schluss der Dissertation. 39 „Troisième Phase: L’invention du principe de la raison à rendre dans les vérités contingentes (1687 – 1697), j Quatrième Phase: L’invention du principe de raison suffisante dans le contexte de la querelle sur la prédestination (1698 – 1706), j et Cinquième Phase: Le „besoin“ du principe de raison pour défendre la cause de Dieu et la „métaphysique réelle“ (1707 – 1716).“ (Lalanne: Genèse et évolution du principe de raison suffisante dans l’œuvre de G. W. Leibniz, Bd. 1, S. 12 (Übersetzung vom Verfasser)). Die von Leibniz übernommene Formulierung „principe de la raison à rendre“ (vgl. u. a. Leibniz zu Antoine Arnauld (Juni 1686); A II 2, 41 – 53, hier 52; GP II, 37 – 47, hier 46; Theod. I, § 44; GP VI, 127) für die Dritte Phase ist (auch nach

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1. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Leibniz

Die Frage nach dem „Satz vom Grund“ hat Heidegger in seiner gleichnamigen Freiburger Vorlesung vom Wintersemester 1955/56 radikalisiert. In der ersten Stunde der Vorlesung sagt er: „Die verneinende Satzform40 spricht deutlicher als die bejahende. Diese muß sachgemäß lauten: Jedes Seiende hat notwendig einen Grund. Doch welcher Art ist diese Notwendigkeit? Worin beruht sie? Worauf gründet der Satz vom Grund? Wo hat der Satz vom Grund selber seinen Grund? Indem wir so fragen, streifen wir schon das Verfängliche und Rätselvolle dieses Satzes. Freilich kann man das Rätselhafte des Satzes vom Grund mit einem Machtspruch auf einen Schlag beseitigen. Man versichert, was der Satz aussage, sei unmittelbar einleuchtend; er bedürfe weder einer Nachprüfung noch gar eines Beweises.“41

Heidegger sieht, wie er in der vierten Stunde der Vorlesung weiter ausführt, im Satz vom Grund einen Kreisgang, dessen „Zirkelverhältnis“ aber nicht im logischen Sinne (als eine petitio principii) gemeint ist, sondern in dieser späten Vorlesung (auf dem Boden des Ereignis-Denkens) aus dem „Anspruchscharakter des Grundes“ zu verstehen ist: „Alles Wirken verlangt jedoch (nach dem Satz vom Grund) eine Ursache. Die erste Ursache aber ist Gott. Also gilt der Satz vom Grund nur, insofern Gott existiert. Allein Gott existiert nur, insofern der Satz vom Grund gilt. Solches Denken bewegt sich im Kreis.“42

Auf Heideggers späte Vorlesung kann hier nicht näher eingegangen werden, da sein Ereignis-Denken in der vorliegenden Untersuchung weitgehend ausgeklammert werden muss.

dem englischen „Summary“ am Schluss von Lalannes Dissertation) die französische Übersetzung für das (in der in der lateinschen Fassung bekanntere) „principium reddendae rationis“. Die in Klammern angegebene Übersetzung „(zuzustellenden) Grundes“ bezieht sich auf die dritte Stunde von Heideggers Freiburger Vorlesung „Der Satz vom Grund“ vom Wintersemester 1955/56: „Dessen Anspruch [des Satzes vom Grund] spricht in dem Wort reddere, zurückgeben, herbeibringen, zu-stellen. […] Das principium rationis ist das principium reddendae rationis. Das reddendum, der Anspruch auf die Zustellung des Grundes ist das, was im Satz vom Grund als dem großmächtigen Prinzip machtet.“ (Der Satz vom Grund (GA 10), S. 36 f.). 40 „Nihil est sine ratione.“ „Die doppelte Verneinung ergibt“, wie Heidegger erläutert, „eine Bejahung“, und zwar in stärkerer Weise als der positive Satz: „Was der Satz setzt, setzt er als ausnahmslos.“ (Der Satz vom Grund (GA 10), S. 6 f.). Zu dieser späten Vorlesung vgl. Cristin, Renato: Rechnendes Denken und besinnendes Denken: Heidegger und die Herausforderung der Leibnizschen Monadologie am Beispiel des Satzes vom Grund, in: Studia Leibnitiana 24 (1992), S. 93 – 100; Cristin, Renato: Heidegger and Leibniz. Reason and the Path, with a foreword by Hans Georg Gadamer, translated [from Italian] by Gerald Parks, Dordrecht/ Boston/London 1998. 41 Der Satz vom Grund (GA 10), S. 7 f. 42 Der Satz vom Grund (GA 10), S. 43. In seinem fünften Schreiben an Clarke (§ 20 und § 125) wendet sich Leibniz selbst gegen den Vorwurf einer petitio principii („une petition de principe“), der ihm von Zeitgenossen gemacht wurde (GP VII, 393 und 419).

§ 4 Die Frage nach der Existenz möglicher Welten

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§ 4 Die Frage nach der Existenz möglicher Welten in Ansehung der göttlichen Wesenheit a) Schellings Kritik an Leibniz’ Begriff möglicher Welten Es soll nun eine Kritik an Leibniz’ Begriff möglicher Welten verfolgt werden, die sich nicht nur in der neueren Forschungsliteratur findet, sondern bereits von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling in seiner wichtigen und auch von Heidegger43 mehrfach interpretierten Abhandlung „Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände“ (1809) formuliert wurde: „ ,Gott wählt, sagt er [Leibniz], zwischen Möglichkeiten, und wählt darum frei, ohne Necessitirung: dann erst wäre keine Wahl, keine Freiheit, wenn nur Eines möglich wäre.‘ Wenn zur Freiheit nichts weiter als eine solche leere Möglichkeit fehlt, so kann zugegeben werden, daß formell, oder ohne auf die göttliche Wesenheit zu sehen, Unendliches möglich war und noch ist; allein dieß heißt die göttliche Freiheit durch einen Begriff behaupten wollen, der an sich falsch ist, und der bloß in unserem Verstand, aber nicht in Gott möglich ist, in welchem ein Absehen von seinem Wesen oder seinen Vollkommenheiten wohl nicht gedacht werden kann. Was die Pluralität möglicher Welten betrifft […], so wäre nur zu bemerken, daß daraus doch keine solche Möglichkeit in Ansehung Gottes folgen würde, indem der Grund nicht Gott zu nennen ist, und Gott nach seiner Vollkommenheit nur Eines wollen kann. […] In dem göttlichen Verstande selbst aber, als in uranfänglicher Weisheit, worin sich Gott ideal oder urbildlich verwirklicht, ist, wie nur Ein Gott ist, so auch nur Eine mögliche Welt.“44

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Vgl. Schelling: Vom Wesen der menschlichen Freiheit (1809) (Sommersemester 1936) (GA 42); Die Metaphysik des deutschen Idealismus. Zur erneuten Auslegung von Schelling: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände (1809) (1941) (GA 49); Schelling und der deutsche Idealismus (1941 – 1943), in: Seminare: Hegel – Schelling (GA 86), S. 185 – 262; vgl. auch Hühn, Lore/Jantzen, Jörg (Hrsg.): Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), Stuttgart-Bad Cannstatt 2010 (Schellingiana, Bd. 22). 44 In: Schellings Werke, nach der Originalausgabe in neuer Anordnung hrsg. von Manfred Schröter (Münchner Jubiläumsdruck, Nachdruck), Hauptband IV: Schriften zur Philosophie der Freiheit 1804 – 1815, 3., unveränd. Nachdr. der 1927 ersch. Aufl., München 1978, S. 223 – 308, hier S. 290; in der Meiner-Ausgabe (mit einer sehr erhellenden Einleitung): Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, hrsg. von Thomas Buchheim, Hamburg 1997, S. 69 f. Zu Schellings Leibniz-Rezeption vgl. u. a. Booth, Edward: Leibniz and Schelling, in: Studia Leibnitiana 32 (2000), S. 86 – 104; Berg, Robert Jan: Schellings willenstheoretische Transformation der Identitäts-Philosophie vor dem Hintergrund der Leibnizschen Metaphysik, in: Alexandra Lewendoski (Hrsg.), Leibnizbilder im 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart 2004 (Studia Leibnitiana – Sonderhefte, Bd. 33), S. 199 – 210; Neumann, Hanns-Peter: ,Das Ich ist eine Monade‘: Schellings Leibniz-Rezeption und der centre de perspective des philosophiehistorischen Interesses, in: Leibniz in Philosophie und Literatur um 1800, hrsg. von Wenchao Li und Monika Meier, Hildesheim/Zürich/New York 2016, S. 69 – 130.

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1. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Leibniz

b) Das Prinzip des zureichenden Grundes als Bedingung für Gottes Wahl der besten aller möglichen Welten Schellings Kritik steht freilich im Kontext seines eigenen philosophischen Systems, was aber nicht bedeutet, dass seine Argumentation nur im Rahmen seines Denkens nachvollzogen werden kann. Eine moderne Version findet sich z. B. bei Michael-Thomas Liske, der in seiner Argumentation an die auch für Gottes Wahl geltende Notwendigkeit des Prinzips des zureichenden Grundes anknüpft, die in § 1 bereist kurz behandelt wurde.45 Vereinfacht gesprochen, sind zwei Argumentationsschritte erforderlich. Zunächst gilt für jede mögliche Welt (im Sinne der widerspruchsfreien Denkbarkeit), die überhaupt verwirklicht werden kann, dass es dafür einen zureichenden Grund geben muss: „Nun intendiert Leibniz sicherlich, diese [scholastische] Argumentation vor allem auf das Erschaffen weniger vollkommener Welten anzuwenden. Daß dadurch keine logische Absurdität entsteht, begründet er durch den jedem Leibnizleser geläufigen Gedanken, daß die von Gott verworfenen weniger vollkommenen Welten in sich möglich, d. h. konsistent denkbar bleiben. Aber wir haben ja die weitergehende Frage gestellt, ob auch ein Erschaffen dieser Welten durch Gott angesichts der Tatsache, daß nur für die Existenz der besten Welt ein zureichender Grund besteht, logisch möglich bleibt. Hier aber wird eine andere Unterscheidung bedeutsam, die sich aus dem zuvor Erörterten ergibt: Zwar ist es nicht absolut notwendig (im Sinne der Widersprüchlichkeit des Gegenteils), daß das zustande kommt, für das ein zureichender Grund besteht, es ist aber absolut notwendig, daß für das jeweils Zustandekommende, was immer dies sei, ein zureichender Grund besteht. Angewandt auf die Welten bedeutet das: Das Bestehen eines zureichenden Grundes für das Erschaffen der besten Welt macht zwar nicht absolut unmöglich, daß überhaupt keine Welt oder eine andere als die beste erschaffen wird, aber soll eine andere Welt erschaffen werden, so ist es absolut notwendig, daß es dafür einen zureichenden Grund gibt.“46

In einem zweiten Schritt ist zu zeigen, dass aus den überhaupt konsistent denkbaren möglichen Welten nur für die Verwirklichung des Optimums, d. h. der besten aller möglichen Welten, ein zureichender Grund angegeben werden kann, der bestimmt, warum gerade diese Möglichkeit vor allen anderen ausgezeichnet ist. Liske schreibt: „Einen zureichend determinierenden Grund für die Existenz überhaupt zu finden kann nur in der Weise geschehen, daß die Existenz des Optimums begründet wird. Aus alledem folgt nun offenbar, daß es für Gott nur die libertas contradictionis geben kann, diese beste Welt zu

45

Neben der hier dargelegten Schwierigkeit, die Kontingenz möglicher Welten zu begründen, die sich aus dem auch für Gott notwendig geltenden Prinzip des zureichenden Grundes ergibt, erörtert Liske in einer neueren Darstellung noch eine zweite Schwierigkeit, den Nezessitarismus zu überwinden, die sich im Zusammenhang mit dem ontologischen Gottesbeweis ergibt (vgl. Liske: Gottfried Wilhelm Leibniz, S. 121, 141 – 148). 46 Liske: Leibniz’ Freiheitslehre, § 24, S. 122; vgl. Liske: Gottfried Wilhelm Leibniz, S. 117 – 120.

§ 4 Die Frage nach der Existenz möglicher Welten

37

schaffen oder nicht, nicht aber die libertas specificationis, diese Welt oder eine andere zu schaffen.“47

Wie Leibniz in § 25 der „Théodicée“ ausführt, erleidet „die Regel vom Besten“ auch in Beziehung auf Gott „keine Ausnahme oder Aufhebung“.48 In seinem fünften Schreiben an Clarke setzt er zudem das Prinzip des Besten unmittelbar mit dem Prinzip des zureichenden Grundes in Beziehung.49 Gott ist in seiner Willenssetzung nur frei, in dem er entweder nur die beste aller möglichen Welten erschaffen kann, weil gemäß seiner unendlichen Vernunft nur für dieses Optimum ein zureichender Grund gedacht werden kann, oder überhaupt keine Welt.50 Gottes notwendige Wahl des Besten widerspricht jedoch nicht Leibniz’ Freiheitsbegriff, wie er ebenfalls in seinem fünften Schreiben an Clarke ausführt: „Denn wenn der Weise und vor allem Gott (der weise Souverän) das Beste wählt, ist er (darum) nicht weniger frei; im Gegenteil besteht die vollkommenste Freiheit darin, am Tun des Besten nicht gehindert zu sein.“51 In diesem Sinne ist Gottes Wahl streng rational: „Gott will nichts ohne Grund.“52 Oder anders formuliert: „D. h., vorausgesetzt es existiert überhaupt etwas und nicht nichts, so folgt mit (absoluter) Notwendigkeit, daß ein Maximum existiert, weil es absolut notwendig ist, daß es für die Existenz einen Grund gibt, der aber nur in bezug auf ein Maximum zureichend determiniert werden kann.“53

In § 416 der „Théodicée“ vergleicht Leibniz die beste aller möglichen Welten mit der Spitze einer Pyramide und schreibt:

47

Liske: Leibniz’ Freiheitslehre, § 24, S. 123. „Mais par rapport à Dieu, rien n’est douteux, rien ne sauroit être opposé à la regle du meilleur, qui ne souffre aucune exception ny dispense.“ (Theod. I, § 25; GP VI, 117; vgl. auch Theod. III, § 337; GP VI, 315). 49 Leibniz’ fünftes Schreiben an Clarke, § 9; GP VII, 390. 50 Vgl. Theod. I, § 8; GP VI, 107. 51 „Car lorsque le sage, et sur tout Dieu (le sage souverain) choisit le meilleur, il n’en est pas moins libre; au contraire, c’est la plus parfaite liberté, de n’estre point empeché d’agir le mieux.“ (Leibniz’ fünftes Schreiben an Clarke, § 7; GP VII, 390 (Übersetzung vom Verfasser; vgl. die Übersetzung in: Der Leibniz-Clarke Briefwechsel, übers. von Schüller, S. 77); vgl. auch Discours de métaphysique (Anfang 1686 (?)), § 3; A VI 4, 1529 – 1588, hier 1533 f.; GP IV, 427 – 463, hier 428 f.) Auch Heidegger bezieht sich in der Erörterung der drei Gottesbeweise in der „Monadologie“ (§§ 37 – 45; GP VI, 613 f.) auf die genannten Textstellen aus Leibniz’ Schreiben an Clarke und dem „Discours“ (Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1 (GA 84.1), S. 651 f. (P Nr. 13), vgl. S. 810 (M Nr. 26)). Zu Heideggers Auslegung der drei Gottesbeweise vgl. Neumann: Die Gesamtinterpretation der „Monadologie“ in Heideggers Leibniz-Seminar vom Wintersemester 1935/36, in: Heidegger Studies 33 (2017), S. 62 – 66. 52 Vgl. den kurzen Text mit der Überschrift: „Deus nihil vult sine ratione“ (1678 bis 1681 (?)) (A VI 4, 1388 f.); vgl. auch Conversatio cum Domino Episcopo Stenonio de Libertate; A VI 4, 1383. 53 Liske: Leibniz’ Freiheitslehre, § 24, S. 123. 48

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1. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Leibniz „Das kam daher, wie die Göttin [Pallas] erklärte, daß es unter der unendlichen Zahl von möglichen Welten eine beste gibt, sonst würde Gott sich nicht entschlossen haben, überhaupt eine Welt zu erschaffen; dagegen gibt es keine, die nicht noch weniger vollkommene unter sich hätte: und deshalb geht die Pyramide nach unten ins Unendliche fort.“54 „C’est (comme la Déesse l’expliqua) parce qu’entre une infinité de mondes possibles, il y a le meilleur de tous, autrement Dieu ne se seroit point determiné à en créer aucun; mais il n’y en a aucun qui n’en ait encore de moins parfaits au dessous de luy: c’est pourquoy la Pyramide descend tousjours à l’infini.“55

Die unendlich vielen möglichen Welten (im Sinne der widerspruchsfreien Denkbarkeit) weisen nur ein Maximum (Optimum) auf, aber kein Minimum. Es lässt sich daher nur ein Extremwert auszeichnen und keine weitere Welt, die zumindest als eine weitere Alternative, nämlich als Minimum, von Gott ebenfalls hätte gewählt werden können (wenn man von der moralischen Güte Gottes einmal absieht).56 Es ist noch zu ergänzen, dass es für Leibniz bei der von Gott zur Existenz überführten Welt (im Gegensatz zu heutigen Spekulationen von einem „Multiversum“ oder von „Paralleluniversen“) nur „eine einzige“ („unicus“) geben kann: „Denn mehrere wirkliche Welten anzunehmen, führt zu nichts, da die eine für uns die ganze Gesamtheit der Geschöpfe jedes Ortes und jeder Zeit umfaßt und das Wort Welt hier in diesem Sinne gebraucht wird.“57 „neque enim plures Mundos actuales fingi ad rem facit, cum unus nobis totam Universitatem Creaturarum cujuscunque loci et temporis complectatur, eoque sensu hoc loco mundi vocabulum usurpetur.“58

Leibniz’ Begründung findet sich im Prinzip bereits bei Platon.59

54

Übersetzung nach: Leibniz: Die Theodizee/Essais de Théodicée, übers. von Herring, 2. Hälfte, S. 267. 55 Theod. III, § 416; GP VI, 364; vgl. auch Theod. I, § 8; GP VI, 107; Discours de métaphysique, § 3; A VI 4, 1534; GP IV, 428. 56 Zur Verflechtung dieses metaphysischen Prinzips mit ökonomischen Aspekten vgl. Koslowski, Peter: Maximierung von Existenz. Leibniz’ Theorie der besten aller möglichen Welten und die Wirtschaftstheorie, in: Studia Leibnitiana 19 (1987), S. 54 – 67. Für Heidegger (im Übergang zum seinsgeschichtlichen oder Ereignis-Denken) muss der unaufhaltsame Aufstieg von Naturwissenschaft und Technik in der Neuzeit „im engsten wechselweisen Zusammenhang“ mit der Entstehung von Verkehr und Wirtschaft als eigenen Mächten gesehen werden (Schelling: Vom Wesen der menschlichen Freiheit (GA 42), S. 55). 57 Übersetzung nach: Leibniz: Die Theodizee/Essais de Théodicée, übers. von Herring, 2. Hälfte, Anhang: Die Sache Gottes, S. 315 – 381, hier § 15, S. 319. 58 Causa Dei (1710), § 15; GP VI, 437 – 462, hier 440; vgl. Theod. I, § 8; GP VI, 107; Monadologie, § 53; GP VI, 615 f. 59 Vgl. Platon: Timaios, 31 a–b. Überhaupt zeigt Leibniz’ Gottesbegriff einige Grundzüge von Platons Demiurgen (dgliouqc|r, tejtaim|lemor) (vgl. Timaios, 28 – 30).

§ 4 Die Frage nach der Existenz möglicher Welten

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c) Die Mathematik als das Modell der Maximierung Das Vorhandensein eines Maximums oder Optimums illustriert Leibniz in seiner Schrift „De rerum originatione radicali“60 (23. November 1697) an Beispielen aus der Geometrie. Heinrich Schepers bemerkt zu den Extremalprinzipien: „Nicht weniger [als durch die Wahrscheinlichkeitsrechnung] scheint Leibniz jedoch durch seinen 1673 – 76 ebenfalls in Paris entwickelten Differentialkalkül zu ihrer Konzeption angeregt worden zu sein. Erst seine in diesem Kalkül entwickelte Methode ,de formis optimis‘, wie er sie später einmal sehr bezeichnend nennt [GP VII, 272 (nach 1696)], hat ihm die Berechnung und Handhabung von Maxima und Minima, also von Extremen ermöglicht, mit der er auch den Grund legte zur Aufstellung der Extremalprinzipien der klassischen Physik. Aber das muß im einzelnen noch untersucht werden. Jedenfalls ist nicht von der Hand zu weisen, daß insbesondere in der Bearbeitung der Probleme der Kontingenz der Metaphysiker Leibniz dem Mathematiker Leibniz verpflichtet ist.“61

d) Gott rechnet – Deus calculat In den „Principes de la nature et de la grâce“ (§ 14) bemerkt Leibniz (wohl in Anspielung auf das Alte Testament62), dass „Gott die Dinge nach Gewicht, Maß, Zahl usw. geregelt hat“.63 Gerade für Leibniz könnte man sagen, dass seine Philosophie

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GP VII, 302 – 308, hier 304 (Übersetzung unter dem Titel „Über den ersten Ursprung der Dinge“ in: Leibniz, Gottfried Wilhelm: Fünf Schriften zur Logik und Metaphysik, übers. und hrsg. von Herbert Herring, durchges. und bibliogr. erg. Ausg., Stuttgart 2004, S. 35 – 45, hier S. 37 f.); vgl. auch These (10) der 24 Thesen (C 533 – 535, hier 534; GP VII, 289 – 291, hier 290). 61 Schepers, Heinrich: Zum Problem der Kontingenz bei Leibniz. Die beste der möglichen Welten, in: Collegium philosophicum. Studien Joachim Ritter zum 60. Geburtstag, Basel/ Stuttgart 1965, S. 326 – 350, hier S. 349; auch in: Schepers, Heinrich: Leibniz. Wege zu seiner reifen Metaphysik, Berlin 2014, S. 18 – 41, hier S. 40. Auch in dem wichtigen Aufsatz von Jens Maaßen zum Zusammenhang von Einheit, Kontingenz und Unendlichkeit heißt es: „Die Infinitesimalmathematik trägt wesentlich zu einer Fundierung der Metaphysik bei.“ (Maaßen, Jens: Kontingenz und Unendlichkeit. Gibt es eine notwendige Paradoxie in der Philosophie Leibniz’?, in: Nihil sine ratione. Mensch, Natur und Technik im Wirken von G.W. Leibniz (VII. Internationaler Leibniz-Kongreß, Berlin, 10.–14. September 2001), hrsg. von Hans Poser in Verbindung mit Christoph Asmuth, Ursula Goldenbaum und Wenchao Li, Hannover 2001, Vorträge 2. Teil, S. 757 – 764, hier S. 759). Zur Wahrscheinlichkeitsrechnung vgl. auch Mahnke, Dietrich: Leibnizens Synthese von Universalmathematik und Individualmetaphysik, in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung 7 (Halle a. d.S. 1925) (Faksimile-Neudruck: Stuttgart-Bad Cannstatt 1964), S. 305 – 611, hier S. 384 f. 62 Das Buch der Weisheit (Sapientia), 11, 20. Die Bibelstelle wurde auch zu einem Leitbild der technischen Literatur, der sogenannten „Maschinenbücher“ des 16. und 17. Jahrhunderts (vgl. Stöcklein, Ansgar: Leitbilder der Technik. Biblische Tradition und technischer Fortschritt, München 1969, bes. S. 68 ff.). 63 „[…] notre Ame est Architectonique encore dans les Actions volontaires: et decouvrant les sciences, suivant lesquelles Dieu a reglé les choses (pondere, mensura, numero etc.).“

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1. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Leibniz

eine Tendenz aufgreift und verschärft, die Heidegger in seiner Freiburger Vorlesung vom Wintersemester 1935/36 mit Blick auf die Neuzeit als den „mathematischen Grundzug des Denkens überhaupt“64 und in den „Beiträgen zur Philosophie“ als die „Herrschaft des mathematischen (im weiten Sinne) Denkens“65 bezeichnet. Entsprechend sagt Heidegger in der zwölften Stunde seiner Vorlesung „Der Satz vom Grund“ über Leibniz: „Im Jahre 1677 (mit 31 Jahren) schrieb Leibniz einen Dialog über die Lingua rationalis, d. h. den Kalkül, die Rechnungsart, die imstande sein soll, durchgängig für alles, was ist, die Beziehungen zwischen Wort, Zeichen und Sache durchzurechnen. Hier in diesem Dialog und in anderen Abhandlungen hat Leibniz die Fundamente für das vorausgedacht, was heute als Denkmaschine nicht nur benutzt wird, was vielmehr die Denkweise bestimmt. In einer handschriftlichen Randbemerkung zu diesem Dialog vermerkt Leibniz: Cum Deus calculat fit mundus. Wenn Gott rechnet, wird Welt.“66

In der Schrift „De rerum originatione radicali“ spricht Leibniz von der Anwendung „einer gewissen göttlichen Mathematik oder eines metaphysischen Mechanismus“ („Mathesis quaedam Divina seu Mechanismus Metaphysicus“) zur Bestimmung des Maximums bei der ersten Hervorbringung der Dinge.67 Auch nach einem Text von Leibniz, der im Zusammenhang des Briefwechsels mit Pierre Bayle aufgenommen wurde, handelt Gott „als ein vollkommener Geometer“ („agit en parfait geometre“).68

(GP VI, 604; vgl. auch Initia et Specimina Scientiae novae Generalis, K (deutsches Fragment ohne Titel); GP VII, 117 – 123, hier 118). 64 Die Frage nach dem Ding. Zu Kants Lehre von den transzendentalen Grundsätzen (GA 41), S. 94; vgl. auch Schelling: Vom Wesen der menschlichen Freiheit (GA 42), S. 52 f. 65 Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (GA 65), S. 65. 66 Der Satz vom Grund (GA 10), S. 151. (Der Satzfehler „schreib“ wurde nach der Einzelausgabe verbessert: Heidegger, Martin: Der Satz vom Grund, Pfullingen 1957, S. 170.) Das vollständige Zitat lautet: „Cum Deus calculat et cogitationem exercet fit mundus.“ (Dialogus (August 1677); A VI 4, 20 – 25, hier 22, Anm. 1; GP VII, 190 – 193, hier 191, Anm.; deutsche Übersetzung in: Leibniz: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie I, übers. von Buchenau, S. 3 – 8 (Randbemerkung fehlt); Leibniz, Gottfried Wilhelm: Schriften zur Logik und zur philosophischen Grundlegung von Mathematik und Naturwissenschaft, hrsg. und übers. von Herbert Herring (Philosophische Schriften, Bd. IV), Darmstadt 1992, S. 23 – 37, hier S. 25 und S. 30, Anm.). 67 GP VII, 304; deutsche Übersetzung in: Leibniz: Fünf Schriften zur Logik und Metaphysik, S. 38. 68 Lettre de M. L. sur un principe general; GP III, 51 – 55, hier 52.

§ 5 Der Gottesbegriff als Grund der Leibniz’schen Ontologie und Metaphysik

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§ 5 Der Gottesbegriff als Grund der Leibniz’schen Ontologie und Metaphysik a) Heideggers Kritik an Leibniz’ Wesensbestimmung des Menschen und der menschlichen Erkenntnis Im Unterschied zu anderen Texten der Martin Heidegger Gesamtausgabe, in denen jeweils nur einige ausgewählte Paragraphen der sogenannten „Monadologie“69 (1714) behandelt werden, gibt Heidegger in seinem Freiburger Seminar „Leibnizens Weltbegriff und der Deutsche Idealismus (Monadologie)“ vom Wintersemester 1935/36 eine Gesamtinterpretation dieser Schrift. Vor allem Heideggers Aufzeichnungen zu diesem Seminar gehen aber weit über die „Monadologie“ hinaus. Vom Leitfaden des animal rationale, des vernünftigen Lebewesens70 – oder nach Leibniz’ Definition (in Anlehnung an Descartes) des animal cogitans71 –, unterscheidet Heidegger, wie es in der relativ verlässlichen Mitschrift von Wilhelm Hallwachs heißt, sein eigenes Denken: „Der Mensch ist eigentlich nur begreifbar in seinem Sein durch sein Da-sein, während Baum, Tier, Stein, auch Gott kein Dasein haben wie der Mensch.“72 In seiner Hölderlin-Vorlesung vom Wintersemester 1934/ 35 sagt Heidegger sogar: „Der Sprung vom lebenden Tier zum sagenden Menschen ist ebenso groß oder noch größer als der vom leblosen Stein zum Lebendigen.“73 Die Mitte „zwischen nackter Monade und Gott“ ist der Mensch, bin ich selbst.74 Wesentlich ist für Heidegger – neben der Abgrenzung des menschlichen Daseins von den Seinsweisen des Lebendigen (Pflanze und Tier) und des Leblosen – die Unterscheidung vom göttlichen Sein. Für Leibniz dagegen ist Gott nach Heideggers Auslegung von vorneherein „der Maßstab für das, was Sein überhaupt heißt“, während die anderen Monaden „bloß unvollkommene Nachahmungen der einen 69

GP VI, 607 – 623. Eine erste kritische Edition erstellte Clara Strack: Leibniz: Sogenannte Monadologie und Principes de la nature et de la grace fondés en raison, hrsg. von Clara Strack, Berlin 1917 (Nachdruck: Berlin 1967). Die Reclam-Ausgabe beruht auf dem von Strack erstellten Text: Leibniz, Gottfried Wilhelm: Monadologie, französisch/deutsch, übers. und hrsg. von Hartmut Hecht, Stuttgart 2005. Den meisten neueren Ausgaben liegt die kritische Textausgabe von André Robinet zugrunde: Leibniz, G. W.: Principes de la nature et de la grâce fondés en raison, Principes de la philosophie ou Monadologie, publ. … par André Robinet, 2e éd., revue et corrigée, Paris 1978 (1re éd. 1954). 70 Vgl. Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1 (GA 84.1), S. 397 (A Nr. 7 unter 2.), 398 (A Nr. 8), 630 (P Nr. 10), 775 (M Nr. 19), 784 (M Nr. 24), 806 (M Nr. 26). Der lateinische Terminus animal rationale geht auf den römischen Philosophen Lucius Annaeus Seneca (um 4 v. Chr. – 65 n. Chr.) zurück (vgl. Seneca, L. Annaeus: Ad Lucilium epistulae morales, recognovit et adnotatione critica instruxit L. D. Reynolds, Tom. I, Oxford 1965, Ep. 41, 8). 71 C 438 (Table de définitions). 72 Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1 (GA 84.1), S. 783 (M Nr. 24); vgl. auch: Vom Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung in die Philosophie (GA 31), S. 135. 73 Hölderlins Hymnen „Germanien“ und „Der Rhein“ (GA 39), S. 75. 74 Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1 (GA 84.1), S. 782 (M Nr. 24).

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1. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Leibniz

höchsten“ sind.75 Dasselbe gilt für Leibniz’ Begriff der Erkenntnis: „Das heißt: der Leibnizsche Erkenntnisbegriff ist der der absoluten Erkenntnis (im Sinne der christlichen Theologie).“76 Maßstab und Ideal zur Bestimmung der menschlichen Erkenntnis ist (wie auch bei Thomas von Aquin) die „ ,cognitio perfectissima‘ – die Gott eigen ist –“77, unabhängig von der Frage, ob der Mensch diese göttliche Erkenntnis je zu erreichen vermag oder nicht. Es kann hier aber nicht nur auf Heidegger verwiesen werden. Erhard Holze schreibt in seiner Marburger Dissertation „Gott als Grund der Welt im Denken des Gottfried Wilhelm Leibniz“ zur theologischen Dimension von Leibniz’ Denken: „Gegenüber dem breiten einzelwissenschaftlichen Spektrum, das die fortschreitende Leibniz-Rezeption kennzeichnet, will diese Arbeit deutlich machen, daß und inwiefern Leibniz’ theologische Grundgedanken konstitutiv für sein Denken sind und dementsprechend eine Leibnizinterpretation, die diese theologische Dimension seiner Gedanken ignoriert oder als zeitbedingtes frommes Relikt abtut, kaum angemessen sein kann; denn seine Ontologie läßt sich nicht verstehen ohne seine Gedanken von Gott als dem unbedingten und schöpferischen Deus Existentificans78, sein Streben nach Rationalität in den Wissenschaften läßt sich nicht verstehen ohne seine Gedanken von Gott als der ultima ratio oder ratio rationis, seine Wahrheitstheorie nicht ohne seine Gedanken von Gott als dem ewigen Wahrheitsgrund, seine Kosmologie nicht ohne seine Gotteslehre, seine Ethik nicht ohne seine Theodizee, seine Monadologie nicht ohne seinen Begriff Gottes als der Urmonade usf.“79

b) Die onto-theo-logische Verfassung der Leibniz’schen Metaphysik Den Zusammenhang von allgemeiner Metaphysik (Metaphysica generalis) und Theologie (Theologia rationalis) als spezieller Metaphysik (Metaphysica specialis), zwischen dem, was das Seiende als Seiendes ist, dem allgemeinen und eigentlichen Sein des Seienden (ens in communi, ens qua ens), und dem höchsten oder vollkommensten Seienden (summum ens, ens perfectissimum, omnitudo realitatis) kennzeichnet Heidegger (auch) in seinem Leibniz-Seminar als „Onto-theologie“.80 75

Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1 (GA 84.1), S. 644 (P Nr. 12). Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1 (GA 84.1), S. 639 (P Nr. 11). 77 Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1 (GA 84.1), S. 639 (P Nr. 11). 78 Vgl. These (4) der 24 Thesen; C 534; GP VII, 289. 79 Holze, Erhard: Gott als Grund der Welt im Denken des Gottfried Wilhelm Leibniz, Stuttgart 1991 (Studia Leibnitiana – Sonderheft 20), S. 186; vgl. auch Liske: Leibniz’ Freiheitslehre, S. 230, Anm. 41. 80 Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1 (GA 84.1), S. 796 (M Nr. 25), vgl. S. 415 (A Nr. 25 unter 1.), 419 (A Nr. 26 zu § 47), 644 (P Nr. 12). Am ausführlichsten behandelt Heidegger diesen Zusammenhang von Ontologie und Theologie in der überlieferten Metaphysik sehr viel später in seinem Vortrag „Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik“ (1957) (in: Identität und Differenz (GA 11), S. 51 – 79). Zu den Grundstrukturen der „Onto76

§ 6 Vereinbarkeit von Vorherbestimmung und menschlicher Freiheit

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Hans Heinz Holz übersieht die onto-theo-logische Verfassung der Leibniz’schen Metaphysik, wenn er schreibt: „Er [Leibniz] war selbst ein gläubiger Christ, wenn er auch seine Philosophie als eine ganz und gar säkularisierte weltimmanent entwickelte und für sie des Rekurses auf Gott nicht bedurfte.“81

Heidegger dagegen greift in seiner eigenen Bestimmung der endlichen Erkenntnis des menschlichen Daseins vor allem auf den griechischen Begriff der Wahrheit als !-k¶heia (Un-verborgenheit) zurück, die er als einen „privativen Ausdruck“ versteht: „Die Wahrheit (Entdecktheit) muß dem Seienden immer erst abgerungen werden. Das Seiende wird der Verborgenheit entrissen.“82 Ausführlich interpretiert er daher in seinem Seminar Leibniz’ Schrift „Meditationes De Cognitione, Veritate, et Ideis“83 (1684).

§ 6 Die Frage nach der Vereinbarkeit von Vorherbestimmung und menschlicher Freiheit a) Die Kompatibilität von hypothetischer Notwendigkeit und Freiheit (Kontingenz) Das Thema der vorliegenden Untersuchung ist aber die menschliche Freiheit, die für Leibniz an das göttliche Vorherwissen (praescientia, prescience), die göttliche Voraussicht (providentia, prévision) und die Vorherbestimmung (praedeterminatio, prédétermination oder auch praeordinatio, préordination84) zurückgebunden ist.

theologie“ in der Philosophiegeschichte vgl. Tengelyi: Welt und Unendlichkeit. Zum Problem phänomenologischer Metaphysik, S. 23 – 168, bes. S. 122 – 129 (zu Leibniz). 81 Holz, Hans Heinz: Leibniz. Das Lebenswerk eines Universalgelehrten, hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Jörg Zimmer, Darmstadt 2013, S. 116, vgl. S. 119. 82 Sein und Zeit (GA 2), § 44, S. 294 (S. 222). (Die entsprechenden Seiten der Einzelausgabe von „Sein und Zeit“ (15. Aufl., Tübingen 1979; unveränderter Nachdruck: 19. Aufl., Tübingen 2006), die als Marginalien auch in die Gesamtausgabe (Bd. 2) aufgenommen sind, werden in Klammern angegeben.) Zum Wandel von Heideggers !k¶heia-Auslegung vgl. Helting, Holger: !-k¶heia-Etymologien vor Heidegger im Vergleich mit einigen Phasen der !-k¶heia-Auslegung bei Heidegger, in: Heidegger Studies 13 (1997), S. 93 – 107. 83 A VI 4, 585 – 592; GP IV, 422 – 426; Übersetzung unter dem Titel „Betrachtungen über die Erkenntnis, die Wahrheit und die Ideen“ in: Leibniz: Fünf Schriften zur Logik und Metaphysik, S. 9 – 16. Zu Heideggers Auslegung vgl. Metaphysische Anfangsgründe der Logik (GA 26), § 4; Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1 (GA 84.1), S. 435 f. (A Nr. 42 – 45), 635 – 642 (P Nr. 11 und 12), 785 – 801 (M Nr. 24 – 26), 814 (M Nr. 5). 84 Vgl. u. a. Theod. I, § 43; GP VI, 126; De libertate creaturae rationalis (Frühjahr bis Sommer 1686 (?)); AVI 4, 1590 – 1594, hier 1594; Grua I, 380 – 384, hier 384; De libertate, fato, gratia Dei (Frühjahr bis Winter 1686/87 (?)); AVI 4, 1595 – 1612, hier 1606; Grua I, 306 – 322, hier 316 f.; De libertate, contingentia et serie causarum, providentia (Sommer 1689 (?)); AVI 4,

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1. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Leibniz

Gleichwohl werden dadurch für Leibniz die Kontingenz und die Freiheit der menschlichen Handlungen nicht zerstört, wie er in der „Théodicée“ erläutert: „52. Alles ist also im Menschen, wie überall, im voraus sicher und bestimmt, und die menschliche Seele ist somit eine Art geistiger Automat, obgleich die zufälligen Handlungen im allgemeinen und die freien Handlungen im besonderen deshalb nicht im Sinne einer absoluten Notwendigkeit, die allerdings mit der Zufälligkeit (Kontingenz) unvereinbar sein würde, notwendig sind. Demnach zerstören weder die Zukünftigkeit (la futurition) an sich, so gewiß sie ist, noch die untrügliche Voraussicht Gottes, noch die Vorherbestimmung durch die Ursachen, noch die Vorherbestimmung durch die Beschlüsse Gottes diese Zufälligkeit (Kontingenz) und diese Freiheit.“85 „52. Tout est donc certain et determiné par avance dans l’homme, comme par tout ailleurs, et l’ame humaine est une espece d’automate spirituel, quoyque les actions contingentes en general, et les actions libres en particulier ne soyent point necessaires pour cela d’une necessité absolue, laquelle seroit veritablement incompatible avec la contingence. Ainsi ny la futurition en elle même, toute certaine qu’elle est, ny la prevision infaillible de Dieu, ny la predetermination des causes, ny celle des decrets de Dieu, ne detruisent point cette contingence et cette liberté.“86

Ähnlich heißt es in § 58 zur Vorherbestimmung, dass „alles Zukünftige determiniert ist, daran gibt es keinen Zweifel“.87 Was die Vereinbarkeit von absoluter Notwendigkeit und Freiheit betrifft, so sind diese „veritablement incompatible“88. In diesem strengen Sinne vertritt Leibniz also einen Inkompatibilismus.89 Die schwächere Form einer „hypothetischen Notwendigkeit“ („necessité hypothetique“90) hält er dagegen für kompatibel mit der Freiheit. Es kann hier nur darauf hingewiesen werden, dass der Begriff der Kontingenz, wie es auch in der Textstelle aus § 52 zum Ausdruck kommt, für Leibniz weiter ist als der Begriff der freien Handlungen.91 Leibniz’ entscheidender weiterer Schritt zur Bestimmung der menschlichen Freiheit steht aber noch aus. Zunächst sei § 53 der „Théodicée“ zur „hypothetischen Notwendigkeit“ herangezogen: 1653 – 1659, hier 1654 f.; FC 178 – 185, hier 180; Communicata ex disputationibus cum Fardella (März 1690); A VI 4, 1666 – 1674, hier 1667; FC 317 – 325, hier 317 f. 85 Übersetzung nach: Leibniz: Die Theodizee/Essais de Théodicée, übers. von Herring, 1. Hälfte, S. 283 (Ergänzungen in Klammern vom Verfasser). 86 Theod. I, § 52; GP VI, 131; vgl. auch Monadologie, § 18 („Automates incorporels“); GP VI, 610; Systeme nouveau de la nature et de la communication des substances (1695); GP IV, 477 – 487, hier 485 („Automate spirituel ou formel“). 87 „Tout l’avenir est determiné, sans doute“ (Theod. I, § 58; GP VI, 134; vgl. auch § 36; GP VI, 123). 88 Theod. I, § 52; GP VI, 131. 89 Die in der heutigen Diskussion vertretenen Varianten des Inkompatibilismus hat Christoph Jäger zusammengestellt (Jäger: Einleitung, in: Molina, Göttlicher Plan und menschliche Freiheit. Concordia, Disputation 52, S. XLVIII f.). 90 Theod. I, § 53; GP VI, 131 f.; vgl. auch Theod. I, § 37; GP VI, 123 f.; Discours de métaphysique, § 13; A VI 4, 1546 f.; GP IV, 437. 91 Vgl. Liske: Leibniz’ Freiheitslehre, S. 176.

§ 6 Vereinbarkeit von Vorherbestimmung und menschlicher Freiheit

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„Da also alles von Anfang an geordnet ist, so bewirkt jene hypothetische Notwendigkeit, über die alle Welt einig ist, allein, dass nach der Voraussicht Gottes oder nach seinem Entschluss nichts mehr geändert werden kann, und dass doch die Geschehnisse an sich selbst kontingent bleiben. Denn […] das Geschehnis hat nichts an sich, was es notwendig macht, und das nicht die Vorstellung zulässt, dass jede andere Sache an seiner Stelle eintreten könnte. Und was die Verbindung der Ursachen mit den Wirkungen anbelangt, wie wir gerade dargelegt haben, so ist sie für den frei Handelnden nur eine Neigung, ohne ihn zu nötigen; auf diese Weise erzeugt sie nicht einmal eine hypothetische Notwendigkeit, wenn sie nicht etwas Äußerliches damit in Verbindung bringt, nämlich jene Maxime, dass die überwiegende Neigung sich immer durchsetzt.“92 „Ainsi tout étant reglé d’abord, c’est cette necessité hypothetique seulement dont tout le monde convient, qui fait qu’apres la prevision de Dieu, ou apres sa resolution, rien ne sauroit être changé: et cependant les evenemens en eux mêmes demeurent contingens. Car […] l’evenement n’a rien en luy qui le rende necessaire, et qui ne laisse concevoir que toute autre chose pouvoit arriver au lieu de luy. Et quant à la liaison des causes avec les effects, elle inclinoit seulement l’agent libre sans le necessiter, comme nous venons d’expliquer: ainsi elle ne fait pas même une necessité hypothetique, si non en y joignant quelque chose de dehors, savoir cette maxime même, que l’inclination prevalente reussit tousjours.“93

b) Freiheit als Selbstbestimmung und Selbstständigkeit des Menschen Der Blickwechsel, den Leibniz vornimmt, besteht darin, dass er vom Schöpfer (Gott) zu den Geschöpfen (Menschen) und den Geschehnissen an sich selbst („les evenemens en eux mêmes“94) übergeht und die gewisse (begrenzte) Selbstständigkeit – „aqt\qjeia“95 (Autarkie) – und Selbstbestimmung des Menschen in Betracht zieht.96 Wie es schon in einem relativ frühen Text über die Freiheit heißt, der unter dem Titel „De libertate a necessitate eligendo“ in die Akademie-Ausgabe aufgenommen ist, ist der Mensch frei, „weil der Geist nicht von außen determiniert wird, sondern durch sich selbst“.97 Die Geschöpfe sind zwar von Gott geschaffen und damit 92

Übersetzung (und Hervorhebung) vom Verfasser (vgl. die folgenden Übersetzungen: Leibniz: Die Theodizee/Essais de Théodicée, übers. von Herring, 1. Hälfte, S. 284; Leibniz: Versuche in der Theodicée, übers. von Buchenau, S. 124). 93 Theod. I, § 53; GP VI, 131 f. 94 Theod. I, § 53; GP VI, 131. 95 Monadologie, § 18; GP VI, 609. 96 Vgl. auch die folgenden Formulierungen zur Bestimmung der (menschlichen) Freiheit (entsprechende Hervorhebungen in der Übersetzung vom Verfasser): „unsere Herrschaft über unsere Handlungen“ („nostre empire sur nos actions“) (Theod. I, § 34; GP VI, 122; vgl. auch Theod. III, § 291; GP VI, 289), „Spontaneität, mit der wir uns entscheiden“ („spontaneité, avec laquelle nous nous determinons“ (Theod. III, § 288; GP VI, 288) und (zur freien Substanz, dass sie) „sich durch sich selbst entscheidet“ („se determine par elle même“) (§ 288; GP VI, 288). 97 „Interim dicendum etiam est, etsi id sit certum tamen non esse necessarium, sed liberum, quia Mens non ab externo determinatur, sed a seipso.“ (De libertate a necessitate eligendo

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1. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Leibniz

determiniert, aber als solche geschaffene handeln und entscheiden sie aus sich selbst heraus, aus Gründen, die in ihnen selbst liegen, nicht aus einer libertas indifferentiae. Es kann in der vorliegenden Untersuchung nicht primär darum gehen, Leibniz’ Freiheitslehre zu „widerlegen“, sondern es sind die metaphysischen Implikationen zu erörtern, die mit seiner Lehre verbunden sind.

c) Die Unterscheidung von „incliner“ (geneigt machen) und „nécessiter“ (nötigen) Die Unterscheidung von „incliner“ (geneigt machen) und „nécessiter“ (nötigen) ist in der Leibniz-Forschung gut dokumentiert und braucht hier nicht ausführlicher betrachtet zu werden. So schreibt Axelos zur „Wechselwirkung von Wille und Verstand“ bei Leibniz: „Die graduelle Differenz der Motive, die nie bis zur völligen Gleichheit und totalen Indifferenz, bis zu dem Gleichgewicht der Motive abnimmt, denn das würde bereits der universalen Gültigkeit des Leibnizschen principium identitatis indiscernibilium widersprechen, noch bis zu dem Punkt sich steigert, bei dem das eine der beiden Motive verschwindet und das andere über den Geist eine Alleinherrschaft ausübt, hat eine permanente und latente Ambivalenz zur Folge. Die latente Ambivalenz ist Ergebnis der Prävalenz. Leibniz spricht nämlich auch im Rahmen der Analyse der Wahl und der Entscheidung von der raison prévalente, der représentation prévalente oder auch inclination prévalente.98 Die denkende Substanz wird zu ihrer Entscheidung und zum anschließenden Handeln stets durch das Dominieren der dominierenden Vorstellung des erscheinenden Guten geführt, und zwar sicher und unausbleiblich, aber nicht notwendigerweise, das heißt, es geschieht durch Gründe, die sie geneigt machen, ohne sie einem äußeren oder inneren Zwang zu unterwerfen, die sie inklinieren aber nicht necessitieren, da das Motiv, das sich als Schwächeres erwiesen hat, im Hintergrund bestehen bleibt. Auf Grund der Einsicht, daß die Wahl kein einfaches Vor- und Herausziehen des Passenden aus einer auf einer Fläche ausgebreiteten Menge, sondern Ergebnis des Vorsprungs des einen Motivs vor den anderen hinsichtlich der Grade der Stärke des Bestimmens ist, ist Leibniz in der Lage, auch hinsichtlich der Sphäre des Bewußtseins den durchgängigen Determinismus zu bejahen, ohne daß aus dieser Bejahung die Übernahme des Fatalismus resultiert.“99

(Sommer 1680 bis Sommer 1684 (?)); AVI 4, 1450 – 1455, hier 1451; Grua I, 298 – 302, hier 298). 98 Theod., App.: Remarques sur le Livre de l’origine du mal, publié depuis peu en Angleterre, § 14; GP VI, 414. 99 Axelos: Die ontologischen Grundlagen der Freiheitstheorie von Leibniz, S. 347 (Hervorhebung vom Verfasser).

§ 6 Vereinbarkeit von Vorherbestimmung und menschlicher Freiheit

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d) Das göttliche Vorherwissen und Vorhersehen der menschlichen Handlungen „als freie“ Nach § 365 der „Théodicée“ hat Gott die Handlungen der Menschen zwar vorausgesehen, aber er hat sie „als freie“ vorausgesehen: „Die Folgerung ist bereits weiter oben mitgeteilt worden. Völlig frei, das mag noch angehen, aber alles wird verdorben, wenn man hinzufügt: völlig unbestimmt. Man bedarf keines unendlichen Wissens, um einzusehen, dass das Vorherwissen und das Vorhersehen Gottes unseren Handlungen die Freiheit lässt, weil Gott sie so, wie sie sind, d. h. als freie, in seinen Vorstellungen vorausgesehen hat. […] Es gibt jedoch kein Wissen, wie unendlich es auch sein mag, das das Wissen und das Vorhersehen Gottes mit Handlungen aus einer unbestimmten Ursache, d. h. mit einem chimärischen und unmöglichen Sein, zur Übereinstimmung bringen kann.“100 „La suite a déja eté rapportée cy dessus. Entierement libres, cela va bien; mais on gaste tout, en adjoutant: entierement indeterminées. On n’a point besoin de science infinie, pour voir que la prescience et la providence de Dieu laissent la liberté à nos actions, puisque Dieu les a prevues dans ses idées, telles qu’elles sont, c’est à dire libres. […] Mais il n’y a point de science, quelque infinie qu’elle soit, qui puisse concilier la science et la providence de Dieu avec des actions d’une cause indeterminée, c’est à dire avec un être chimerique et impossible.“101

Wenn Gott die menschlichen Handlungen „als freie“ vorausgesehen hat, dann hat er für Leibniz die menschliche Freiheit nicht beschnitten, weil die Menschen sich dennoch aus sich selbst heraus so entscheiden und handeln, wie Gott es im Voraus sicher erkannt und entsprechend den Weltverlauf eingerichtet hat. Das innere überwiegende Motiv ist etwas ganz anderes als eine blinde mathematische Naturnotwendigkeit.102

100

Übersetzung vom Verfasser (vgl. die folgenden Übersetzungen: Leibniz: Die Theodizee/ Essais de Théodicée, übers. von Herring, 2. Hälfte, S. 187; Leibniz: Versuche in der Theodicée, übers. von Buchenau, S. 351). 101 Theod. III, § 365; GP VI, 331. 102 Der hier vom Verfasser (in Anlehnung an Axelos) aufgegriffene Terminus „Motiv“ („motif“) (vgl. auch Theod. III, §§ 288 und 336; GP VI, 288 und 314; Nouveaux Essais II 22, § 11; AVI 6, 216; GP V, 200 f.) ist ein wichtiger Begriff der Phänomenologie. Edmund Husserl bezeichnet die „Motivation als Grundgesetzlichkeit des geistigen Lebens“ (Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Zweites Buch: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution, hrsg. von Marly Biemel (Husserliana, Bd. IV), Haag 1952, § 56 (Titel); vgl. Art. Motiv in: Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe, unter Mitarbeit von Klaus Ebner und Ulrike Kadi hrsg. von Helmuth Vetter, Hamburg 2004, S. 372 f.; Rang, Bernhard: Kausalität und Motivation. Untersuchungen zum Verhältnis von Perspektivität und Objektivität in der Phänomenologie Edmund Husserls, Den Haag 1973).

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1. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Leibniz

e) Freiheit als Wesensbestimmung der geistigen Monaden Es ist zu betonen, dass Freiheit für Leibniz ganz prinzipiell und wesenhaft nur im Geist bestehen kann, weshalb z. B. Tiere und Pflanzen, die ebenfalls Monaden sind, nicht frei sind.103 In der unter dem Titel „De libertate et gratia“ (Sommer 1680 bis Sommer 1684 (?)) in die Akademie-Ausgabe aufgenommenen Schrift heißt es: „Freiheit muss so erklärt werden, dass sie ihren Ursprung in der Natur des Geistes hat, weil nur Geister frei sind.“104 „Libertas ita explicanda ut radicem suam habeat in natura mentis quia solae mentes sunt liberae.“105

Während die gewöhnlichen Seelen oder Monaden nur lebendige Spiegel oder Bilder des Universums und seiner Bestandteile sind, gilt nach § 83 der „Monadologie“, „dass die Geister auch noch Bilder der Gottheit selbst oder des Urhebers der Natur selbst sind“ („que les Esprits sont encor des images de la Divinité même, ou de l’Auteur même del la Nature“).106 Wie es bereits im „Discours de métaphysique“ heißt, „drücken die Geister eher Gott als die Welt aus“ („les Esprits expriment plustost Dieu que le monde“).107 Daher findet sich umgekehrt das, „was gut und vernünftig bei den endlichen Geistern ist“ („qui est bon et raisonnable dans les Esprits finis“), bei Gott „in eminenter Weise“ („eminemment“).108 Im anschließenden § 84 der „Monadologie“ gibt Leibniz dann die theologische Deutung, „dass die Geister damit befähigt sind, in eine Art von Gemeinschaft mit Gott einzutreten“ („que les Esprits sont capables d’entrer dans une maniere de Societé avec Dieu“).109

103

Auch nach dem Text „Du Franc Arbitre“ (Sommer 1678 bis Winter 1680/81 (?)) sind mit dieser Entscheidungsfreiheit von Gott nur die Menschen (hommes) und die Engel (anges) ausgezeichnet, nicht aber die Tiere (bestes). Ferner nimmt Leibniz hier an, „dass die Menschen die Entscheidungsfreiheit für eine Vervollkommnung ergreifen“ („que les hommes prennent le franc arbitre pour une perfection“) (A VI 4, 1405 – 1409, hier 1406). 104 Übersetzung vom Verfasser. 105 A VI 4, 1455 – 1460, hier 1455; Grua I, 384 – 388, hier 384. 106 GP VI, 621; vgl. auch Theod. II, § 147; GP VI, 197. 107 Discours de métaphysique, § 35 (Sommaire); A VI 4, 1584; GP II, 14; Discours, § 36; A VI 4, 1587; GP IV, 462. 108 Discours de métaphysique, § 35; A VI 4, 1586; GP IV, 461. 109 GP VI, 621; vgl. Piro, Francesco: Die ethische Gemeinschaft der Geister mit Gott (§§ 84 – 90), in: Gottfried Wilhelm Leibniz, Monadologie, hrsg. von Hubertus Busche, Berlin 2009 (Klassiker Auslegen, Bd. 34), S. 245 – 259; ferner Buchheim, Thomas: Vernunft und Freiheit (§§ 82 f.), in: Gottfried Wilhelm Leibniz, Monadologie, hrsg. von Busche, S. 223 – 244.

§ 6 Vereinbarkeit von Vorherbestimmung und menschlicher Freiheit

49

f) Denken als Selbstbewusstsein in Abgrenzung gegen jede Art von mechanischer Hypothese – Vergleich mit den heutigen Neurowissenschaften Freiheit lässt sich mit Blick auf die heutigen Neurowissenschaften niemals in den neuronalen Strukturen des Gehirns auffinden. In einem Brief an Pierre Bayle (1702) vergleicht Leibniz die Organisation der physischen Körper, etwa des menschlichen Leibes, mit einer Maschine: „Selbst wenn man Augen hätte, die so durchdringend wären, um die winzigsten Teile des Gefüges der Körper zu sehen, so wüsste ich nicht, inwiefern man damit weitergebracht wäre; und den Ursprung der Perzeption würde man darin ebenso wenig finden, als man ihn jetzt in einer Uhr findet, in der alle Teile, die die Maschine zusammensetzen, sichtbar sind, oder als man ihn in einer Mühle finden könnte, selbst wenn man zwischen den Rädern spazieren gehen könnte. Denn zwischen einer Mühle und einer anderen, feineren Maschine besteht doch nur ein Gradunterschied. Man kann es wohl verstehen, dass die Maschine die schönsten Dinge der Welt hervorbringt, aber niemals, dass man dieselben sich selbst zum Bewusstsein bringt (s’en aperçoive).110 Nichts steht unter den sichtbaren Dingen dem Gedanken näher als das Bild in einem Spiegel, und die Spuren im Gehirn können gar nicht exakter sein; aber dennoch bringt die Exaktheit des Spiegelbildes an dem Ort, an dem es sich befindet, nicht irgendeine Perzeption hervor. Welche mechanische Hypothese man auch macht, so kommt man doch dem Denken nicht näher, sondern bleibt stets unendlich weit von ihm entfernt […]. Man sieht auch, dass das Denken (la pensée) die (reflexive) Tätigkeit ein und derselben Sache auf sich selbst ist, während dies bei den Figuren und bei den Bewegungen nicht stattfindet, da diese niemals das Prinzip einer wahrhaft innerlichen Tätigkeit aufweisen […].“111 „Et quand on auroit les yeux aussi penetrans qu’on voudroit, pour voir les moindres parties de la structure du corps, je ne voy pas qu’on en seroit plus avancé, et l’on y trouveroit 110

In § 14 der „Monadologie“ setzt Leibniz die Apperzeption mit dem (Selbst-)Bewusstsein gleich: „de l’apperception ou de la conscience“ (GP VI, 608). Sachlich angemessen übersetzt Artur Buchenau (im Anschluss an Ernst Cassirer) in diesem Zusammenhang der „Monadologie“ „conscience“ mit „Selbstbewußtsein“ (Leibniz: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie II, übers. von Buchenau, S. 603 – 621, hier S. 605). Die Übersetzung „Selbstbewusstsein“ wird neben § 30 der „Monadologie“ (GP VI, 612) auch durch eine Textstelle in § 4 der „Principes de la nature et de la grâce“ (1714) bestätigt, in der es zur Apperzeption heißt: „et l’Apperception qui est la Conscience, ou la connoissance reflexive de cet état interieur“ (GP VI, 598 – 606, hier 600 (letzte Hervorhebung vom Verfasser)). Auch hier übersetzen Cassirer und Buchenau „Conscience“ mit „Selbstbewußtsein“ (Leibniz: Hauptschriften II, S. 592 – 602, hier S. 594). In einer von Louis Couturat aufgenommenen Tabelle („Table de définitions“) gibt Leibniz (im eindeutigen Anschluss an René Descartes’ Metaphysik des Selbstbewusstseins) folgende Definitionen: „Spiritus est substantia cogitans incorporea. j Cogitans est, quod est conscium suarum actionum seu habet actum reflexivum. j Homo est animal cogitans, seu est cogitans corpore organica praeditum.“ (C 438) Und in § 34 des „Discours de métaphysique“ schreibt Leibniz, dass außer den Geister (les esprits) keine anderen Substanzen eine „Reflexion auf sich selbst“ („reflexion sur elles même“) ausführen und „das (Wort) Ich sagen“ („dire ce MOY“) können (A VI 4, 1583 f.; GP IV, 459). 111 Übersetzung vom Verfasser (vgl. die Übersetzung in: Leibniz: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie II, übers. von Buchenau, S. 576 – 579, hier S. 578 f.).

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1. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Leibniz l’origine de la perception aussi peu qu’on la trouve maintenant ou dans une montre où les parties constitutives de la Machine sont toutes visibles, ou dans un moulin, où même on peut se promener entre les roues: pouisque la difference du moulin et d’une machine plus subtile n’est que du plus et du moins. On peut concevoir que la machine produise les plus belles choses du mond, mais jamais qu’elle s’en aperçoive. Il n’y a rien de plus approchant de la pensée parmy les choses visibles, que l’image qui est dans un miroir, et les traces dans le cerveau ne sauroient estre plus exactes; mais cette exactitude de l’image ne produit aucune perception dans l’endroit où elle est. On n’y approche pas même, quelque hypothese machinale qu’on fasse, et l’on en demeure tousjours infiniment eloigné […]. On voit aussi, que la pensée estant l’action d’une même chose sur elle même, cela n’a point de lieu dans les figures et dans les mouvemens, qui ne sauroient jamais monstrer le principe d’une action vertitablement interne […].“112

Ähnliche Argumente werden auch heute gegen den Deutungsanspruch der Neurowissenschaften vorgebracht. Die neuronalen Vorgänge im Gehirn, die heute mit bildgebenden Verfahren – wie z. B. der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT oder fMRI) und der Positronen-Emissions-Tomografie (PET) – dargestellt werden können, sind niemals in der Lage, intentionale oder reflexive Akte zu erklären. Der aktuelle Bezug der Freiheitsproblematik zu den Neurowissenschaften wird in § 28 nochmals aufgegriffen.

§ 7 Die menschliche Freiheit als unvollkommene Seinsweise der idealen göttlichen Freiheit – Die Grade der Vollkommenheit oder Freiheit Gott sieht für die soweit als möglich als frei betrachteten geistigen Substanzen voraus, welche künftige Wahl sie treffen werden, und entschließt sich, seine Vorherbestimmung entsprechend anzupassen. Ein derartiger Versuch, die Diskrepanz zwischen göttlicher Vorherbestimmung und menschlicher Freiheit aufzulösen, findet sich bereits in einer für unsere Thematik wichtigen Schrift, die unter dem Titel „De natura veritatis, contingentiae et indifferentiae atque de libertate et praedeterminatione“ (Ende 1685 bis Mitte 1686 (?)) in die Akademie-Ausgabe aufgenommen ist: „Gott nämlich sieht eben aus dem vollkommen erkannten Begriff dieser einzelnen, soviel nur möglich als frei betrachteten Substanz voraus, welches ihre künftige Wahl sein wird; darum entschließt er sich, ihr die Vorherbestimmung rechtzeitig anzupassen, gesetzt, er beschließt, sie unter den Existentien zuzulassen.“113

112

GP III, 65 – 72, hier 68 f.; vgl. auch Monadologie, § 17; GP VI, 609. Übersetzung nach: Leibniz: Fragmente zur Logik, übers. von Schmidt, S. 426 – 438, hier S. 435. 113

§ 7 Menschliche Freiheit als unvollkommene Seinsweise göttlicher Freiheit

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„Nam Deus ex ipsa hujus substantiae singularis liberae consideratae ut possibilis notione perfecte intellecta praevidet, quaenam ejus electio sit futura, illi igitur in tempore praedeterminationem accomodare decernit posito quod eam decernat admittere inter existentia.“114

Entscheidend ist für Leibniz die notwendige Gültigkeit des Satzes vom zureichenden Grund. Die geistigen Substanzen haben die Möglichkeit, alternative Handlungsmöglichkeiten (und damit Weltverläufe) zu durchdenken, aber der Satz vom Grund lässt nur eine Entscheidung, nämlich die der überwiegenden Neigung (inclination prévalente), zu, die von Gott vorausgesehen wird. Weil aber alles mit allem zusammenhängt, ist es auch erforderlich, dass alle einzelnen Substanzen (Monaden) aufeinander abgestimmt sind. Es kann daher auch nicht jede überhaupt (widerspruchsfrei) denkbare Substanz, die durch ihren von Gott vollkommen erkannten Begriff absolut bestimmt ist, in der besten aller möglichen Welten auch verwirklicht, d. h. „unter den Existenzen zugelassen“ werden. Ideal und Maßstab der menschlichen Freiheit ist Gott. Die menschliche Freiheit ist eine unvollkommene Seinsweise der göttlichen. Wie Leibniz in der bereits genannten kurzen Schrift „De libertate a necessitate in eligendo“ erläutert, liegt die Wurzel der menschlichen Freiheit „im Ebenbild Gottes“ im Menschen.115 Unter den intelligenten Substanzen gibt es verschiedene Grade der Freiheit, die sich bis zum vollkommensten Weisen, nämlich Gott, erstrecken: „Wie sich damit erweist, ist es wohl immer wahr, dass unsere Freiheit und die aller anderen intelligenten Substanzen bis zu Gott selbst von einem gewissen Grad von Indifferenz oder Kontingenz begleitet wird […].“116 „Cela fait connoistre qu’il est bien vray tousjours que nostre liberté et celle de toutes les autres substances intelligentes jusqu’à Dieu luy même, est accompagnée d’un certain degré d’indifference ou de contingence […].“117

Der höhere Grad der Freiheit besteht in der größeren Kontingenz und damit verbunden in der höheren Weise der geistigen Spontaneität („spontaneitas intelligentis“118). Die Kontingenz ist als Abwesenheit von (äußerem) Zwang oder Nötigung („sine coactione“119) zu verstehen. Damit verbunden ist die Annäherung an die göttliche Freiheit: „Je mehr man sich ihm [Gott] nähert, umso vollkommener ist die Freiheit und umso mehr bestimmt sie sich durch das Gute und durch die Vernunft.“120 In einem Bruchstück zur „Scientia generalis“ heißt es von Gott (im Superlativ), dass 114

A VI 4, 1514 – 1524, hier 1522; C 16 – 24, hier 22 f. „Radix libertatis humanae est in imagine Dei […].“ (AVI 4, 1452; Grua I, 300; vgl. auch Theod. III, § 277; GP VI, 282 (Bibelstelle Genesis 1, 26)). 116 Übersetzung vom Verfasser. 117 Conversation sur la liberté et le destin (1699 – 1703 ?); Grua II, 478 – 486, hier 480; vgl. auch Theod. III, § 337; GP VI, 314. 118 Initia et Specimina Scientiae novae Generalis, H; GP VII, 108 – 111, hier 108. 119 GP VII, 108. 120 „Plus on approche de luy [Dieu], plus la liberté est parfaite, et plus elle se determine par le bien et par la raison.“ (Theod. III, § 318; GP VI, 305 (Übersetzung vom Verfasser)). 115

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1. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Leibniz

er „am vollkommensten und am freiesten“ („perfectissimus adeoque liberrimus“) ist.121 „Die Unabhängigkeit Gottes bewirkt“ („Independentia Dei facit“), wie Leibniz in einem Text zum Briefwechsel mit Pierre Bayle ausführt, „dass er am freiesten im Handeln und nur durch sich selbst zu den Handlungen bestimmt wird“ („ut sit liberrimus in agendo, nec nisi a se ipso ad actiones determinetur“).122 Uns Menschen aber „hat Gott einen Grad seiner Vollkommenheit und seiner Freiheit übertragen“ („DEUS aliquem iis gradum perfectionis seu libertatis suae communicavit“).123 Zwischen Gott und den Menschen stehen als von Gott geschaffene Monaden die Engel. In der Beilage zu seinem Brief an Bartholomäus Des Bosses vom 5. Februar 1712 gibt Leibniz die folgende Einteilung der einfachen Substanzen oder Monaden: „Die einfachen Substanzen oder Monaden sind entweder intelligent oder vernunftlos. Die intelligenten werden Geister genannt und sind entweder ungeschaffen oder geschaffen. Der geschaffene ist entweder angelisch oder menschlich, welcher auch Seele genannt wird. Die Monaden wiederum können entweder als abgesonderte verstanden werden, wie Gott, und nach der Meinung mancher ein Engel, oder als mit einem Körper versehene, d. i. als Seelen, und uns sind eine vernünftige und eine vernunftlose Seele bekannt. Die vernunftlosen Monaden sind entweder empfindsam oder bloß vegetierend.“124 „Substantiae simplices seu Monades sunt intelligentes vel irrationales. Intelligentes dicuntur Spiritus et sunt vel increatus vel creatus. Creatus est vel Angelicus vel humanus, qui et Anima appellatur. Rursus Monades intelligi possunt separatae, ut Deus, et quorundam ex sententia Angelus, vel accorporatae, seu Animae, et sunt nobis notae Anima rationalis et irrationalis. Monades irrationales sunt vel sentientes vel tantum vegetantes.“125

Mit den empfindsamen Monaden und den nur vegetativen Lebensformen, die gleichfalls zu den vernunftlosen Monaden gehören, sind zweifellos die Tiere und die Pflanzen angesprochen. In der Forschungsliteratur ist es umstritten, ob auch anorganische Wesen wie Salze, Metalle und Mineralien (der Stein ist Heideggers bevorzugtes Beispiel für das leblose bzw. weltlose Seiende126) für Leibniz zu den Monaden zu rechnen sind. Die Einteilung der Monaden in der genannten Beilage zu Leibniz’ Brief an Des Bosses vom 5. Februar 1712 und andere Texte verdeutlichen jedoch unmissverständlich, dass anorganische Wesen für Leibniz nicht zu den einfachen Substanzen oder Monaden gehören, da sie keine wahrhafte Einheit (veritable 121

Initia et Specimina Scientiae novae Generalis, H; GP VII, 108 – 111, hier 109. Im französisch verfassten Paralleltext dieses Bruchstücks lautet die Formulierung: „la substance la plus libre et la plus parfaite“ (GP VII, 111). 122 Beilage zu Pierre Bayle; GP III, 28 – 38, hier 29; vgl. auch Causa Dei, § 6; GP VI, 439. 123 GP VII, 109. Im französisch Text lautet die Formulierung: „Dieu nous a communiqué un degré de sa perfection et de sa liberté“ (GP VII, 111). 124 Übersetzung nach: Leibniz, Gottfried Wilhelm: Der Briefwechsel mit Bartholomäus Des Bosses, übers., hrsg. und mit einer Einleitung, Anmerkungen und Registern versehen von Cornelius Zehetner, mit einem Konspekt von Michael Benedikt, Hamburg 2007, S. 233 – 235, hier S. 234. 125 GP II, 433 – 439, hier 439. 126 Vgl. u. a. Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit (GA 29/ 30), § 47.

§ 8 Der von Gott vollkommen erkannte Begriff einer einzelnen Substanz

53

unité) an sich selbst (unum per se) besitzen, die stets auf eine herrschende Monade (una Monas dominans) zurückzuführen ist.127

§ 8 Der von Gott vollkommen erkannte Begriff einer einzelnen Substanz auf der Grundlage des urteilstheoretischen praedicatum-inesse-subjecto-Prinzips a) Der vollständige oder vollkommene Begriff einer einzelnen Substanz In dem Zitat in § 7 aus Leibniz’ Schrift „De natura veritatis, contingentiae et indifferentiae“128 wurde bereits der von Gott vollkommen erkannte Begriff (notio perfecte intellecta) einer einzelnen Substanz (substantia singularis) genannt. Auf der Grundlage des urteilstheoretischen praedicatum-inesse-subjecto-Prinzips129 formuliert Leibniz die Idee des vollständig individuierten Begriffs (notio completa vel individua). In der zumeist unter dem Titel „Primae veritates“ zitierten Schrift heißt es zum vollständigen oder vollkommenen Begriff einer einzelnen Substanz: „Der vollständige oder vollkommene Begriff einer einzelnen Substanz schließt alle ihre vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Prädikate ein. […] Jede einzelne Substanz in ihrem vollkommenen Begriff umfasst des ganze Universum, und darin die gesamte vergangene, gegenwärtige und zukünftige Existenz.“130

127

Vgl. Neumann: Die Gesamtinterpretation der „Monadologie“ in Heideggers LeibnizSeminar vom Wintersemester 1935/36, Anhang II: Gibt es unorganische Monaden?, in: Heidegger Studies 33 (2017), S. 70 – 75. 128 A VI 4, 1522; C 22. 129 Vgl. u. a. Principia logico-metaphysica (Frühjahr bis Herbst 1689 (?)); A VI 4, 1643 – 1649; C 518 – 523 (unter dem Titel (Incipit) „Primae veritates“); De libertate, contingentia et serie causarum, providentia (Sommer 1689 (?)); A VI 4, 1653 – 1659; FC 178 – 185 (Übersetzung unter dem Titel „Über die Freiheit“ in: Leibniz: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie II, übers. von Buchenau, S. 654 – 660); Discours de métaphysique, § 8 und § 13; A VI 4, 1529 – 1588, hier 1540 und 1547; GP IV, 427 – 463, hier 433 und 437; Leibniz zu Antoine Arnauld (Remarques sur la lettre de M. Arnauld) (Juni 1686); A II 2, 41 – 53, bes. 49 f.; GP II, 37 – 47, bes. 43; Leibniz’ Brief an Antoine Arnauld, 14. Juli 1686; A II 2, 67 – 84, bes. 75 und 80; GP II, 47 – 59, bes. 52 und 56. Auch Heidegger hat sich intensiv mit diesem Prinzip im Rahmen der Auslegung von Leibniz’ Wahrheitstheorie (als Urteilstheorie) befasst (vgl. u. a. Metaphysische Anfangsgründe der Logik (GA 26), bes. § 2 und § 3; Vom Wesen des Grundes, in: Wegmarken (GA 9), S. 123 – 175, hier S. 128 f.; Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1 (GA 84.1), S. 399 – 401 (A Nr. 10 – 13), 430 (A Nr. 39), 521 – 523 (A Nr. 174 – 177), 631 – 634 (P Nr. 10), 780 – 782 (M Nr. 23)). 130 Übersetzung vom Verfasser (vgl. die Übersetzung des Textes unter dem Titel „Der ,vollkommene Begriff‘ der Substanz“ in: Leibniz: Fragmente zur Logik, übers. von Schmidt, S. 438 – 445, hier S. 441 f.).

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1. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Leibniz

Der lateinische Text lautet: „Notio completa seu perfecta substantiae singularis involvit omnia ejus praedicata praeterita praesentia ac futura. […] Omnis substantia singularis in perfecta notione sua involvit totum universum, omniaque in eo existentia praeterita praesentia et futura.“131

Eine Erläuterung gibt Leibniz für den individuellen Begriff von „Adam“ in seinem Brief an Antoine Arnauld vom 14. Juli 1686: „Denn alles vollzieht sich gemäß einer festbestimmten Ordnung, selbst die Wunder, wenngleich diese mit manchen untergeordneten Regeln des Geschehens oder Naturgesetzen im Widerspruch stehen mögen. Demnach mußten in der Tat, wenn man die Wahl Adams als geschehen annimmt, alle menschlichen Ereignisse so eintreffen, wie sie tatsächlich eingetroffen sind. Der Grund hierfür liegt jedoch nicht sowohl in dem individuellen Begriffe von Adam, wenngleich dieser Begriff jene Ereignisse einschließt, als vielmehr in den Plänen Gottes, die ebenfalls mit zu dem individuellen Begriffe Adams gehören, und die alsdann mittelbar den Begriff des gesamten Universums, das heißt den Begriff von Adam, wie von allen andren individuellen Substanzen bestimmen. Jede dieser individuellen Substanzen nämlich drückt das ganze Universum aus, dem sie gemäß einer bestimmt geregelten Beziehung angehört, infolge der Verknüpfung, die zwischen allen Dingen besteht und die ihrerseits wieder auf dem Zusammenhang zwischen allen Willensentscheidungen Gottes beruht.“132 „[…] tout estant dans l’ordre, jusqu’aux miracles, quoyque ceuxcy soyent contraires à quelques maximes subalternes ou loix de la nature. Ainsi tous les evenemens humains ne pouvoient manquer d’arriver comme ils sont arrivés effectivement, supposé le choix d’Adam fait; mais non pas tant à cause de la notion individuelle d’Adam, quoyque cette notion les enferme, mais à cause des desseins de Dieu qui entrent aussi dans cette notion individuelle d’Adam, et qui determinent celle de tout cet univers, et ensuite tant celle d’Adam, que celles de toutes les autres substances individuelles de cet univers. Chaque substance individuelle exprimant tout l’univers, dont elle est partie selon un certain rapport; par la connexion qu’il y a de toutes choses à cause de la liaison des resolutions ou desseins de Dieu.“133

131

A VI 4, 1646; C 520 f. Übersetzung nach: Leibniz: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie II, übers. von Buchenau, S. 389 – 403, hier S. 393 (vgl. die Übersetzung in: Leibniz, Gottfried Wilhelm: Der Briefwechsel mit Antoine Arnauld, französisch-deutsch, hrsg. und übers. von Reinhard Finster, Hamburg 1997 (Philosophischer Briefwechsel, Bd. 1), S. 131 – 155, hier S. 137 – 139. Über Wunder (miracles) vgl. auch Discours de métaphysique, § 7 und § 16; AVI 4, 1538 f. und 1554 f.; GP IV, 432 und 441 f.; Leibniz’ zweites Schreiben an Clarke (§ 12); GP VII, 358 f.; Leibniz’ fünftes Schreiben an Clarke, § 107; GP VII, 416. Ori Beck erörtert im Ausgang von Leibniz’ Schrift „De natura veritatis, contingentiae et indifferentiae atque de libertate et praedeterminatione“ (A VI 4, 1514 – 1524; C 16 – 24) die Bedeutung von Wundern für die Naturgesetze (Beck: Leibniz – A Freedom Libertarian, in: Studia Leibnitiana 47 (2015), S. 67 – 85). 133 Leibniz’ Brief an Antoine Arnauld, 14. Juli 1686; A II 2, 67 – 84, hier 73 f.; GP II 47 – 57, hier 51. 132

§ 8 Der von Gott vollkommen erkannte Begriff einer einzelnen Substanz

55

Wie Christos Axelos darlegt, ist für Leibniz „das Enthaltensein des Zukünftigen in dem Früheren und Individuell-Punktuellen lediglich eine Folge des Enthaltenseins dieses Individuellen in der universalen Einheit [..], in der alles mit allem zusammenhängt und jeder Punkt (bzw. jede individuelle Substanz) die Spuren der Auswirkungen aller anderen individuellen Substanzen in sich versammelt, und die von Gesetzen (Leibniz spricht in seiner oft mythologisierenden und verfremdenden Sprache von Plänen Gottes, desseins de Dieu) beherrscht ist“.134

Andere Beispiele, die Leibniz nennt, sind Alexander der Große und Julius Caesar.135 Wenn wir darauf zurückkommen, dass Gott entweder genau diese tatsächlich verwirklichte und existierende Welt (als die beste aller möglichen Welten) erschaffen konnte oder gar keine (libertas contradictionis),136 dann vermochte er, insofern überhaupt eine Welt existiert, nur genau diesen Adam, diesen Caesar und diesen Alexander zu erschaffen. Im vollständigen Begriff Adams ist, wenn man diesen Begriff bis ins kleinste Detail analysieren könnte, was nur der allwissende Gott137 vermag, die gesamte zukünftige Geschichte der Menschheit bereits vollständig enthalten und festgelegt. Auch Michael-Thomas Liske stellt fest: „Bei Gott gibt es damit letztlich nur den allumfassenden totalen Willensentscheid (une certain volonté plus generale et plus comprehensive138), der das ganze Universum betrifft.“139

b) Leibniz’ Radikalisierung der aristotelisch-scholastischen Substanzenontologie im Sinne einer mathematisch-gesetzhaften Rationalität Wenn sich Leibniz bezüglich des praedicatum-inesse-subjecto-Prinzips immer wieder auf Aristoteles beruft, dann bleibt auch er grundsätzlich einem Denken verhaftet, das sich mit Heinrich Rombach als „Substanzenontologie“ bezeichnen lässt.140 „Wesen ist“, wie Rombach zur aristotelisch-scholastischen Ontologie aus134

Axelos: Die ontologischen Grundlagen der Freiheitstheorie von Leibniz, S. 184 (Hervorhebung vom Verfasser). 135 Discours de métaphysique, § 8 und § 13; A VI 4, 1540 f. und 1547 f.; GP IV, 433 und 437 f.; Übersetzung unter dem Titel „Metaphysische Abhandlung“ u. a. in: Leibniz, Gottfried Wilhelm: Monadologie und andere metaphysische Schriften, französisch-deutsch, hrsg., übers., mit Einleitung, Anmerkungen und Registern versehen von Ulrich Johannes Schneider, 2., verb. Aufl., Hamburg: Meiner 2014, S. 2 – 109, hier S. 21 und 33 – 35. 136 Vgl. § 4 b). 137 „que Dieu sçait tout“ (Discours de métaphysique, § 13, vgl. § 8; AVI 4, 1547, vgl. 1541; GP IV, 437, vgl. 433; vgl. u. a. auch Causa Dei (1710), §§ 13 und 65; GP VI, 440 und 448). 138 Zitat nach Leibniz’ Brief an Landgraf Ernst zu Hessen-Rheinfels für Antoine Arnauld, 12. April 1686; A II 2, 10 – 21, hier 18; GP II, 16 – 21, hier 19; vgl. auch Discours de métaphysique, § 7, A VI 4, 1538 f.; GP IV, 432; Theod. III, § 337; GP VI, 315. 139 Liske: Leibniz’ Freiheitslehre, § 46, S. 235. 140 Rombach, Heinrich: Substanz, System, Struktur, Bd. I, 3. Aufl. (unveränderter Nachdr. der 1. Aufl. von 1965), Freiburg/München 2010, S. 11, 49.

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1. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Leibniz

führt, „der Grad der Anteilnahme an der Seinsfülle des absoluten Seienden“.141 Für das Verhältnis des Seienden zu seinem Schöpfer gilt: „Es ist nicht schon etwas für sich, das dann auch noch teilnimmt, sondern es wird erst, was es ist, dadurch, daß es [am Absoluten, Seingebenden] teilnimmt. Es ist seine Teilnahme, es nimmt nicht teil.“ 142

Eine solche Ontologie radikalisiert Leibniz aber im Sinne einer mathematischgesetzhaften Rationalität, einer „scientia generalis“ bzw. „mathesis universalis“. Wolfgang Janke schreibt dazu: „Die Zukunft ist a priori nach der Maßgabe eines Gesetzes durchgeordnet. Daher wird der Titel ,Gesetz‘ zum sprechendsten Namen für die Natur der Substanz. […] Er [Leibniz] verschiebt die Rechtfertigung des Seins als beständiger Anwesenheit ins Unendliche; denn die gesetzhafte Durchordnung der jeweiligen Zeit- und Wesensentfaltung gewinnt ihre Beständigkeit aus der Zusammenstimmung mit dem Gesetz, welches alleinigend im Universum herrscht. Das bedeutet: Die substanziale Zeit [der Monaden] wird an den Gedanken einer absoluten Ordnung gebunden und kann daher nicht auf das freie Welt-Gründen des faktischen Daseins zurückgeführt werden. Sie läßt sich von der Idee einer absoluten Harmonie überwältigen, in der das Zeitschema einer unendlichen Ordnung transparent wird. Diese Ordnung ist die Disposition eines absoluten, alles auf seine höchsten Möglichkeiten durchrechnenden Verstandes.“143

Für die menschliche Freiheit folgt daraus: „Die Position der Endlichkeit wird durch den Gedanken einer absoluten Ordnung und Disposition überwältigt.“144

§ 9 Die Frage nach der Vereinbarkeit der essentialistischen Begriffstheorie mit Kontingenz und Freiheit a) Der Primat des vollständig determinierten Begriffs einer einzelnen Substanz Es soll auf den von Gott nicht nur vollkommen erkannten, sondern im Voraus auch vollständig determinierten Begriff einer einzelnen Substanz, z. B. Adams oder Caesars, weiter eingegangen werden. In § 13 des „Discours de métaphysique“ for-

141

Rombach: Substanz, System, Struktur, Bd. I, S. 94, vgl. S. 11 ff., 49 ff.; vgl. auch Marx, Werner: Heidegger und die Tradition. Eine problemgeschichtliche Einführung in die Grundbestimmungen des Seins, 2., durchges. Aufl., Hamburg 1980, bes. S. 45, 69, 113. 142 Rombach: Substanz, System, Struktur, Bd. I, S. 94. 143 Janke, Wolfgang: Die Zeitlichkeit der Repräsentation. Zur Seinsfrage bei Leibniz, in: Durchblicke. Martin Heidegger zum 80. Geburtstag, hrsg. von Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M. 1970, S. 255 – 283, hier S. 282. 144 Janke: Die Zeitlichkeit der Repräsentation, S. 281.

§ 9 Vereinbarkeit der essentialistischen Begriffstheorie mit Kontingenz und Freiheit 57

muliert Leibniz folgenden Selbsteinwand, der im Zusammenhang genannt werden soll: „Greifen wir zu einem Beispiel: da Julius Caesar dauernder Diktator, Herr über die Republik werden und die Freiheit umstürzen wird, so ist dieses Handeln in seinem Begriff enthalten, denn wir setzen voraus, daß dies die Natur eines solchen vollkommenen Begriffes eines Subjekts ist, alles zu enthalten, damit das Prädikat in ihm eingeschlossen sei, ut possit inesse subjecto. Man könnte sagen, daß er (Caesar) nicht kraft dieses Begriffes oder dieser Idee so handeln muß, da ihm dieser Begriff nur zukommt, weil Gott allwissend ist. Hiergegen wird man aber betonen, daß seine Natur oder Form diesem Begriffe entspricht, und da Gott ihm eben diese Persönlichkeit auferlegt hat (a imposé), so muß er ihr fortan notwendig genügen. Ich könnte dem mit dem Beispiel des kontingenten Künftigen entgegnen, denn es hat, außer im Verstande und Willen Gottes, noch keine Realität, und da Gott ihm (Caesar) diese Form im voraus gegeben hat, so ist es ebenso notwendig, daß es (das kontingente Künftige) ihr (dieser Form) entspricht.“145 „Venons à un exemple, puisque Jules Cesar deviendra Dictateur perpetuel et maistre de la Republique et renversera la liberté, cette action est comprise dans sa notion, car nous supposons que c’est la nature d’une telle notion parfaite d’un sujet de tout comprendre, à fin que le predicat y soit enfermé, ut possit inesse subjecto, on pourroit dire que ce n’est pas en vertu de cette notion ou idée, qu’il doit commettre cette action, puisqu’elle ne luy convient, que par ce que Dieu sçait tout. Mais on insistera que sa nature ou forme repond à cette notion, et puisque Dieu luy a imposé ce personnage, il luy est desormais necessaire d’y satisfaire. J’y pourrois repondre par l’instance des futurs contingens, car ils n’ont rien encor de reel, que dans l’entendement et volonté de Dieu, et puisque Dieu leur y a donné cette forme par avance, il faudra tout de même qu’ils y repondent.“146

In § 30 des „Discours de métaphysique“ formuliert Leibniz dann den folgenden Einwand: „Aber, so wird ein anderer sagen, woher kommt es, daß dieser Mensch mit Sicherheit diese Sünde begehen wird? Die Antwort ist leicht: weil er sonst nicht dieser Mensch wäre.“147 Diese „leichte“ Antwort bleibt aber unbefriedigend und wurde sogleich von Antoine Arnauld in seinem Brief an Leibniz vom 13. Mai 1686 kritisiert.148 Letztlich verbleibt Leibniz nur eine weitere Antwort, die er kurz darauf auch anführt: der Verweis auf die „altitudinem divitiarum, die Tiefe und den Abgrund der göttlichen Weisheit“ („la profondeur et l’abyme de la divine sagesse“).149 In der kleinen Schrift, die unter dem Titel „De libertate, contingentia et serie causarum, providentia“ (Sommer 1689 (?)) in die Akademie-Ausgabe aufgenommen 145

Übersetzung (mit Ergänzungen in Klammern und einer Änderung der Übersetzung vom Verfasser: „auferlegt“ für „imposé“) nach: Leibniz: Monadologie und andere metaphysische Schriften, S. 33. 146 A VI 4, 1547; GP IV, 437. 147 „Mais, dira quelque autre, d’où vient, que cet homme fera asseurement ce peché, la reponse est aisée, c’est qu’autrement ce ne seroit pas cet homme.“ (A VI 4, 1576; GP IV, 455; Übersetzung nach: Leibniz: Monadologie und andere metaphysische Schriften, S. 85). 148 A II 2, 31 – 38; GP II, 25 – 34 (Übersetzung in: Leibniz: Der Briefwechsel mit Antoine Arnauld, übers. von Finster, S. 51 – 69). 149 A VI 4, 1577; GP IV, 455; vgl. auch Theod. III, § 338; GP VI, 315.

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1. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Leibniz

ist, bemerkt Leibniz, dass ihm neue Einsichten auch „über das Wesen der Freiheit“ („circa naturam libertatis“) von einer keineswegs erwarteten Quelle erwachsen seien: „nämlich aus der mathematischen Betrachtung über das Wesen des Unendlichen“.150 In einer anderen kleinen Schrift heißt es zur Kontingenz: „Die Wurzel der Kontingenz ist das Unendliche.“151 Für die kontingenten Wahrheiten (veritates contingentes) bedeutet das nach der kleinen Schrift „Über die Freiheit“: „In den kontingenten Wahrheiten indes ist das Prädikat zwar im Subjekt enthalten, kann aber trotzdem niemals als zu ihm gehörig erwiesen werden, so daß sich hier das Urteil niemals auf eine Gleichung oder eine Identität zurückführen läßt, die Auflösung vielmehr ins Unendliche weitergeht. Gott sieht zwar nicht das Ende der Auflösung – denn ein solches Ende gibt es nicht – wohl aber die Verknüpfung (zwischen den Termini) oder die Art, in der das Prädikat im Subjekt eingeschlossen ist, da er alles überschaut, was in der Reihe enthalten ist.“152 „Sed in veritatibus contingentibus, etsi praedicatum insit subjecto, nunquam tamen de eo potest demonstrari, neque unquam ad aequationem seu identitatem revocori potest propositio, sed resolutio procedit in infinitum; Deo solo vidente non quidem finem resolutionis, qui nullus est, sed tamen connexionem terminorum, seu involutionem praedicati in subjecto, quia ipse videt quicquid seriei inest; […].“153

Damit ergibt sich aber, wie Jens Maaßen überzeugend darlegt, „eine paradoxe Konstellation“: „Wenn alle Attribute für den Begriff essentiell und alle Eigenschaften für das Individuum wesentlich sind, wie kann es dann überhaupt Kontingenz im Sinne des Nichtseinkönnens und Offenheit für Andersseinkönnen geben? Leibniz’ Kontingenzbegriff ist unter dem Vorzeichen seiner essentialistischen Begriffstheorie kaum zu halten. Hypothetische Notwendigkeit transformiert zwar den Gegensatz von begrifflich notwendiger Determination und phänomenaler Ausfaltung in den unendlichen Annäherungsprozeß, ändert aber nichts an dem Primat der notio completa vel individua. Mit der durchgängigen Rationalisierung der Substanz unterliegen alle Prädikate eines Subjekts letztlich dem Notwendigkeitsprinzip. Die innerweltliche Kontingenz beschränkt sich auf das ontologische und temporale Moment der Realisierung einer Eigen150

„ex considerationibus scilicet Mathematicis de natura infiniti“ (AVI 4 1654; FC 179 f.). „Contingentiae radix est infinitum.“ (Ad notionem libertatis Guillelmi Gibieuf (1685 bis 1716 (?)); A VI 4, 1792 f., hier 1793). 152 Übersetzung (mit einer Änderung vom Verfasser) nach: Leibniz: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie II, übers. von Buchenau, S. 657. 153 AVI 4, 1656; FC 180; vgl. u. a. auch De natura veritatis, contingentiae et indifferentiae; A VI 4, 1514 – 1524, bes. 1515 f.; C 16 – 24, bes. 17 f.; Generales Inquisitiones de Analysi Notionum et Veritatum (1686), §§ 131 – 136; A VI 4, 739 – 790, hier 776 f.; C 356 – 399, hier 388 f. (Übersetzung in: Leibniz, Gottfried Wilhelm: Generales Inquisitiones de Analysi Notionum et Veritatum/Allgemeine Untersuchungen über die Analyse der Begriffe und Wahrheiten, lateinisch-deutsch, hrsg., übers. und mit einem Kommentar versehen von Franz Schupp, 2., durchges. Aufl., Hamburg 1993, S. 99 – 103); Principia logico-metaphysica; A VI 4, 1643 – 1649; C 518 – 523 (unter dem Titel „Primae veritates“); De contingentia (Frühjahr bis Herbst 1689 (?)); A VI 4, 1649 – 1652; Origo veritatum contingentium (Sommer 1689 (?)); A VI 4, 1659 – 1664. 151

§ 9 Vereinbarkeit der essentialistischen Begriffstheorie mit Kontingenz und Freiheit 59 schaft (eines Prädikats); sie markiert de facto den Einsatzpunkt innerhalb der unendlichen Begründungsstruktur. Damit ist eine paradoxe Konstellation erreicht, denn umgekehrt gilt: Die Identität des vollständig bestimmten Begriffs [einer nicht vollständig determinierten und damit freien individuellen Substanz] braucht die Kontingenz realisierter Teilbegriffe und des jeweilig realisierten Standpunktes (point de veüe), ohne die sie nicht existent wäre, zugleich aber schließt sie als begriffslogische Identität Kontingenz aus. Indem Identität aber auf Kontingenz angewiesen ist, um sein zu können, verweist sie auf den außerhalb des begriffslogischen Gesamtzusammenhangs liegenden Grund für die Existenz überhaupt: den göttlichen Willen. Leibniz rettet gewissermaßen die innerweltliche Kontingenz, indem er sie auf eine transmundane Bedingung zurückführt.“154

b) Der Essentialismus der göttlichen Urmonade Wie wir aber aus der Untersuchung von Michael-Thomas Liske zu „Leibniz’ Freiheitslehre“ gesehen haben, lässt sich selbst für den Entschluss des göttlichen Willens, die beste aller möglichen Welten zu realisieren, die Kontingenz der Wahl alternativer Welten (libertas specificationis) nicht halten.155 Der von Maaßen herausgestellte Essentialismus gilt ebenso für die göttliche Urmonade. In aller Deutlichkeit kommt der Essentialismus u. a. in Leibniz’ Antwort auf die mit Gerhard Wolter Molanus, dem Abt von Loccum, erörterten Fragen zum Ausdruck: „Wird demnach die sach nohtwendig also zu erläutern seyn, daß Gott ratione Essentiae suae [auf Grund seines Wesens], non vero arbitrio voluntatis fons omnis veri, omnisqve boni sey [nicht aber durch die Entscheidung seines Willens die Quelle alles Wahren und alles Guten sei], Inzwischen ob zwar volitum aliqvid esse a Deo [etwas von Gott Gewolltes], formaliter was anders ist, alß bonum esse, so treffen sie doch materialiter zusammen, also daß sie nicht geschieden werden können. […] Nun bestehen ja gerechtigkeit, gühte, Schönheit nicht weniger alß die Mathematische Dinge in gleichheit und proportion, und sind also nicht weniger aeternae et necessariae veritatis [von ewiger und notwendiger Wahrheit]. […] Daraus die vollkommenheit des gebers zu erkennen, zu lieben und zu loben; welches gewis nicht geschehen könte, wan der grund dieser eigenschafften nicht in dem wesen Gottes zu

154

Maaßen: Kontingenz und Unendlichkeit, in: Nihil sine ratione (VII. Internationaler Leibniz-Kongreß), hrsg. von Poser, Vorträge 2. Teil, S. 762. Die Bestimmung der Identität einer Person, nach der alle ihr zukommenden Eigenschaften im Voraus schon eindeutig und unveränderlich festgelegt sind, wird auch in dem bereits genannten Brief von Arnauld an Leibniz vom 13. Mai 1686 (A II 2, 31 – 38; GP II, 25 – 34) kritisiert. In einer etwas abgeschwächteren Weise folgert auch Liske: „Auf das Bewußtsein unserer Unabhängigkeit, das lediglich eine Nichtbewußtheit der tatsächlichen Abhängigkeit ist, kann man daher keinen Freiheitsbeweis aufbauen.“ (Liske: Leibniz’ Freiheitslehre, § 42, S. 212 (Hervorhebung vom Verfasser)) Unsere Freiheit und Unabhängigkeit „bilden wir uns ein“ (ebd., vgl. insbes. auch § 30, S. 148 f.). 155 Vgl. § 4 b).

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1. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Leibniz finden, sondern aus seinen Liberis Decretis [freien Entscheidungen] hergeholet werden müße.“156

Gleichwohl wendet sich Leibniz auch hier gegen Theologen, für die „alles, was geschicht, absolute nohtwendig, et fatali atqve insuperabili necessitate [und vom Fatum und einer unüberwindlichen Notwendigkeit bestimmt] geschehen müste“ oder gar „Gott selbst dem fato endlich unterworffen seyn müste“.157 Das zeitliche Moment der Realisierung einer Eigenschaft ist – auf den Menschen bezogen – gewissermaßen nichts anderes als der quasi mechanisch ablaufende Vollzug (wenn auch durch „Automates incorporels“158 bzw. „une espece d’automate spirituel“159) der kontinuierlichen Emanation160 eines ewigen göttlichen, im Voraus „alles auf seine höchsten Möglichkeiten durchrechnenden Verstandes“161. Die Vereinbarkeit der analytischen Wahrheits- und Urteilstheorie mit der Möglichkeit von Kontingenz und Freiheit ist problematisch. Betrachten wir aber noch andere Aspekte von Leibniz’ Freiheitslehre.

§ 10 Die Frage nach der göttlichen Prädestination des in die Welt geworfenen Individuums Aufschlussreich ist auch die in der Akademie-Ausgabe den jeweiligen Paragraphen vorangestellte Zusammenfassung (Sommaire des articles) des „Discours de métaphysique“, die Leibniz vorweg an Antoine Arnauld geschickt hatte. Zu § 13 heißt es in der Zusammenfassung: „Da der individuelle Begriff jeder Person ein für allemal einschließt, was ihr jemals widerfahren wird, so sieht man daran die apriorischen Beweise oder Gründe für die Wahrheit jedes Geschehnisses, oder warum das eine eher eingetreten ist als das andere. Aber obgleich diese Wahrheiten gesichert sind, bleiben sie doch kontingente Wahrheiten, gegründet auf der

156

Unvorgreiffliches Bedencken über eine Schrifft genandt Kurtze Vorstellung (vor dem 11. Februar 1699); A IV 7, 425 – 647, hier 471 (Übersetzung der lateinischen Satzteile in eckigen Klammern vom Verfasser). 157 A IV 7, 509 (Übersetzung in eckigen Klammern vom Verfasser). 158 Monadologie, § 18; GP VI, 610. 159 Theod. I, § 52; GP VI, 131; vgl. auch Systeme nouveau de la nature et de la communication des substances; GP IV, 485. 160 Vgl. die Formulierungen in § 14 des „Discours de métaphysique“: „les substances creées dependent de Dieu, qui les conserve, et même qui les produit continuellement par une maniere d’emanation“ und „Dieu, de qui tous les individus emanent continuellement“ (Discours de métaphysique, § 14; A VI 4, 1549 – 1551; GP IV, 439 f.; vgl. auch Monadologie, § 47; GP VI, 614). 161 Janke: Die Zeitlichkeit der Repräsentation, S. 282.

§ 10 Die göttliche Prädestination des in die Welt geworfenen Individuums

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Entscheidungsfreiheit Gottes oder der Geschöpfe, deren Wahl immer Gründe hat, die geneigt machen, ohne zu nötigen.“162 „XIII. Comme la notion individuelle de chaque personne enferme une fois pour toutes ce qui luy arrivera jamais, on y voit les preuves à priori ou raisons de la verité de chaque evenement, ou pourquoy l’un est arrivé plus tost que l’autre; mais ces verités quoyque asseurées ne laissent pas d’estre contingentes, estant fondées sur le libre arbitre de Dieu ou des creatures dont le choix a tousjours ses raisons qui inclinent sans necessiter.“163

Auffällig ist wiederum die Parallelisierung der Entscheidungsfreiheit Gottes und der Geschöpfe: „le libre arbitre de Dieu ou des creatures“. Die (beschränkte oder endliche) Freiheit des Menschen hat ihren Grund in der Freiheit Gottes als des idealen Weisen. Wie bereits dargelegt wurde, ist der Mensch für Leibniz insofern frei, als er aus Vernunftgründen wählt und handelt, die in ihm selbst liegen, und nicht aufgrund äußerer Zwänge.164 Aber die jeder Person von Gott „auferlegte“ („imposé“) „Natur oder Form“, wie es im vollständigen Text von § 13 des „Discours“165 heißt, bzw. die dieser Form entsprechende „Persönlichkeit“ („ce personnage“) hat beispielsweise Caesar, der zum Diktator wurde, gerade nicht selbst gewählt. Leibniz selbst hat die hier angedeutete Problematik bereits in seiner Jugendschrift, der in Dialogform verfassten „Confessio Philosophi“ (Herbst 1672 – Winter 1672/73 (?)), die man die „erste Theodizee“ genannt hat, aufgezeigt und eingehend erörtert, um sie dann einer Lösung zuführen zu können: „Höre die Hauptschwierigkeiten: Wenn Gott sich am Glück aller freut, warum hat er sie dann nicht alle glücklich gemacht? Wenn er alle liebt, wieso verdammt er dann so viele? Wenn er gerecht ist, wieso zeigt er sich so unbillig, daß er aus einem in allem gleichen Stoff, aus demselben Lehm die einen Gefäße zur Ehre, die anderen zur Schmach formt? Und wieso begünstigt er nicht die Sünde, wenn er sie (obwohl er sie von der Welt hätte ausschließen können) wissentlich zugelassen oder geduldet hat? Ja ist er nicht sogar ihr Urheber, wenn er alles so geschaffen hat, daß die Sünde daraus folgt. Und was wird aus dem freien Willen, wenn man die Notwendigkeit zu sündigen annimmt, was aus der Rechtmäßigkeit der Strafe, wenn man den freien Willen aufhebt? Was aus der Rechtmäßigkeit der Belohnung, wenn allein durch die Gnade die einen von den anderen unterschieden werden? Wenn Gott schließlich der letzte Grund der Dinge ist, was soll man dann den Menschen, was den Teufeln zuschreiben?“166 162

Übersetzung vom Verfasser (vgl. die folgenden Übersetzungen: Leibniz: Monadologie und andere metaphysische Schriften, S. 31; Leibniz, Gottfried Wilhelm: Kleine Schriften zur Metaphysik/Opuscules metaphysiques, hrsg. und übers. von Hans Heinz Holz (Philosophische Schriften, Bd. I), Darmstadt 1965, S. 49 – 172, hier S. 85). 163 A VI 4, 1546; GP II, 12. 164 Vgl. § 6 b). 165 A VI 4, 1547; GP IV, 437. 166 Übersetzung nach: Leibniz, Gottfried Wilhelm: Confessio philosophi. Das Glaubensbekenntnis des Philosophen. Ein Dialog, Kritische Ausgabe mit Einleitung, Übersetzung, Kommentar von Otto Saame, 2., durchges. Aufl., Frankfurt a. M. 1994, S. 39. Auf den oberen Seitenrand der Reinschrift (das Konzept ist nicht erhalten) hat Leibniz wohl später geschrieben und durch Einrahmung hervorgehoben, was als Sachtitel gedacht sein könnte: „Fragmentum Dialogi de Humana libertate et justitia Dei“ (AVI 3, 115 – 149, hier 118, Anm. 1), „Dialog über

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1. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Leibniz „Accipe capitales. Si Deus omnium felicitate delectatur, cur non omnes fecit felices; si amat omnes, quomodo tam multos damnat; si justus est, quomodo tam se inaequalem praebet, ut ex materia per omnia pari, ex eodem luto alia vasa ad honorem, alia ad dedecus effingat. Et quomodo non fautor peccati est, si sciens (cum eliminare mundo potuerit) admisit aut toleravit. Imo quomodo non autor, si omnia ita creavit, ut inde peccatum sequeretur. Et quod liberum arbitrium posita necessitate peccandi, quae justitia poenae libero arbitrio sublato. Quae praemii, si gratia sola factum est, ut alii ab aliis ditinguerentur. Denique si ultima ratio rerum Deus est, quid hominibus, quid diabolis imputamus?“167

So stellt sich die Frage, ob Gottes Vorhersehen letztlich nicht doch mit einer Prädestinationslehre zusammenfällt. Ein solcher Einwand ist auch für Hans Poser „wohl nicht von der Hand zu weisen“: „Der entscheidende Punkt ist hier, ob Gottes Vorhersehen sich formaliter von einer Vorherbestimmung unterscheiden lässt, auch wenn sie materialiter zusammenfallen. Genau hier liegt seit alters die Kritik jeder Prädestinationslehre.“168

Ähnlich argumentiert Wolfgang Janke, er geht aber vom endlichen, in die Welt geworfenen Individuum aus: „Vom Standpunkt des endlichen Individuums aus und für seine von ihm zu leistende Zukunft aber bedeutet die Distinktion von Determination und Fatum nichts. Für den, der in diese Welt geworfen ist, sind andere mögliche Welten irrelevant. Seine Zukunft ist zwar nicht geometrisch notwendig, dennoch aber entschieden.“169

Caesar hat weder selbst ursprünglich gewählt, dass er überhaupt existiert, d. h. dass Gott im Voraus entschied, ihn „unter den Existenzen zuzulassen“ („admittere inter existentia“170), noch in welcher Form oder Natur er existiert, womit ganz allgemein ein Sachverhalt angesprochen ist, den man mit Heidegger als „Geworfenheit“171 bezeichnen kann. In § 44 c) von „Sein und Zeit“ schreibt Heidegger, wobei der entscheidende Satz hervorgehoben ist:

die menschliche Freiheit und die Gerechtigkeit Gottes“. Die Formung des Menschen aus Lehm (lutum) (vgl. auch Theod. III, § 412; GP VI, 360 f.) ist eine Anspielung auf das Neue Testament (Römer 9, 21 – 24; vgl. auch das Buch der Weisheit (Sapientia) 15, 7). 167 A VI 3, 115 – 149, hier 117; Leibniz: Confessio philosophi, Kritische Ausgabe von Saame, S. 38. 168 Poser: Leibniz’ Philosophie, S. 267. Poser lehnt sich hier mit den Begriffen „formaliter“ und „materialiter“ wohl an gewisse Formulierungen von Leibniz selbst an (vgl. das in § 9 b) angeführte Zitat aus Leibniz’ Schrift „Unvorgreiffliches Bedencken“ (A IV 7, 471)). 169 Janke, Wolfgang: Theodizee oder Über die Freiheit des Individuums und das Verhängnis der Welt, in: Philosophische Perspektiven – Ein Jahrbuch 5 (1973), S. 57 – 77, hier S. 71, vgl. S. 66. 170 De natura veritatis, contingentiae et indifferentiae; A VI 4, 1522; C 23. 171 Vgl. insbes.: Sein und Zeit (GA 2), § 29. Es ist zu bemerken, dass im Umkreis von „Sein und Zeit“ die existenzial-ontologische Struktur der „Geworfenheit“ in gewisser Weise an das anknüpft, dem „entspricht“, was seit alters das „Überwältigende“ und „Übermächtige“ war (Metaphysische Anfangsgründe der Logik (GA 26), S. 13).

§ 11 Das Theodizeeproblem

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„Wir müssen die Wahrheit voraussetzen, sie muß als Erschlossenheit des Daseins sein, so wie dieses selbst als je meines und dieses sein muß. Das gehört zur wesenhaften Geworfenheit des Daseins in die Welt. Hat je Dasein als es selbst frei darüber entschieden, und wird es je darüber entscheiden können, ob es ins ,Dasein‘ kommen will oder nicht?“172

In der „Théodicée“ argumentiert Leibniz allerdings, dass die Formen oder Ideen (Essenzen), die von Gott ausgewählt und zur Existenz gebracht werden, im „idealen Reich des Möglichen“ („region ideale des possibles“) seit aller Ewigkeit seinem Willen vorgegeben sind.173 Zur Geworfenheit schreibt Heidegger in § 29 von „Sein und Zeit“: „Der Ausdruck Geworfenheit soll die Faktizität der Überantwortung andeuten.“174 Mit dem Terminus „Überantwortung“ wird aber zugleich ein ethischer – oder besser: ein meta-ethischer – Bezug angedeutet.175 Auf die von Leibniz intendierte sittliche Vervollkommnung des Menschengeschlechtes wird in § 13 noch eingegangen.

§ 11 Das Theodizeeproblem a) Laktanz’ ursprüngliche Formulierung des Problems Der deutsche Titel der „Essais de Theodicée sur la Bonté de Dieu, la liberté de l’Homme, et l’origine du mal“ lautet nach Leibniz’ eigener Übersetzung: „Versuch einer THEODICAEA oder Gottrechts-Lehre von der Güthigkeit Gottes, Freyheit des Menschen und Ursprung des Bösen“.176 Das Theodizeeproblem kann hier nicht umfassend dargelegt werden.177 Es können nur einige Hinweise im Vorblick auf die Thematik der menschlichen Freiheit gegeben werden. In aller Deutlichkeit hat Laktanz (Lucius Cae(ci)lius Firmianus) (um 250 bis um/nach 325) in einer Epikur zugeschriebenen Aussage das Theodizeeproblem so formuliert: „Entweder will Gott die Übel beseitigen und kann es nicht, oder er kann es und will es nicht, oder er kann es nicht und will es nicht, oder er kann es und will es. Wenn er nun will und nicht 172

Sein und Zeit (GA 2), S. 302 (S. 228). Theod. III, § 335, vgl. § 416; GP VI, 314, vgl. 364. 174 Sein und Zeit (GA 2), S. 180 (S. 135). 175 Vgl. Neumann: Sein des Menschen, Ethos und Freiheit in Martin Heideggers „Brief über den ,Humanismus‘ “ und Sein und Zeit, in: Heidegger und der Humanismus (HeideggerJahrbuch 10), S. 102 – 118. 176 GP VI, 463. 177 Zum Theodizeeproblem in der Geschichte der Philosophie seien auszugsweise genannt: Billicsich, Friedrich: Das Problem des Übels in der Philosophie des Abendlandes (3 Bde.), Wien [u. a.] 1952 – 1959; Janßen, Hans-Gerd: Gott – Freiheit – Leid. Das Theodizeeproblem in der Philosophie der Neuzeit, Darmstadt 1989; Hermanni, Friedrich: Die letzte Entlastung. Vollendung und Scheitern des abendländischen Theodizeeprojektes in Schellings Philosophie, Wien 1994; Geyer, Carl-Friedrich: Die Theodizee. Diskurs, Dokumentation, Transformation, Stuttgart 1992. 173

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1. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Leibniz kann, so ist er schwach, was auf Gott nicht zutrifft. Wenn er kann und nicht will, dann ist er mißgünstig, was ebenfalls Gott fremd ist. Wenn er nicht will und nicht kann, dann ist er sowohl mißgünstig wie auch schwach und dann auch nicht Gott. Wenn er aber will und kann, was allein sich für Gott ziemt, woher kommen dann die Übel und warum nimmt er sie nicht weg?“178 „Deus, inquit [Epicurus], aut vult tollere mala et non potest; aut potest et non vult; aut neque vult, neque potest; aut et vult et potest. Si vult et non potest, imbecillis est; quod in Deum non cadit. Si potest et non vult, invidus; quod aeque alienum a Deo. Si neque vult, neque potest, et invidus et imbecillis est; ideoque neque Deus. Si vult et potest, quod solum Deo convenit, unde ergo sunt mala? aut cur illa non tollit?“179

b) Die metaphysischen Voraussetzungen zur Lösung des Theodizeeproblems bei Leibniz Für Leibniz’ Betrachtung des Theodizeeproblems ist aber das zu bedenken, was oben bereist angesprochen wurde. Gott besitzt keinesfalls die absolute Macht, den Satz vom Widerspruch oder den Satz vom zureichenden Grund außer Kraft zu setzen.180 Ebenso hängen die Ideen (Essenzen), auch die Idee des Guten und der Gerechtigkeit, nicht vom göttlichen Willen ab.181 Dazu heißt es in § 335 der „Théodicée“: „Gott ist also keineswegs der Urheber der Essenzen, solange diese nichts als Möglichkeiten sind; aber es gibt nichts Wirkliches, das er nicht ausgewählt und ihm die Existenz gegeben hat.“182 „Dieu n’est donc point auteur des essences, entant qu’elles ne sont que des possibilités; mais il n’y a rien d’actuel, à quoy il n’ait decerné et donné l’existence: […].“183 178

Übersetzung nach: Epikur: Von der Überwindung der Furcht, eingeleitet und übertragen von Olof Gigon, 2., durchges. Aufl., Zürich/Stuttgart 1968, S. 136. 179 Lactantius: De ira Dei XIII, 20, in: Lucii Caecilii Firmiani Lactantii Opera omnia, editio novissima, Tom. II (Patrologiae cursus completus, series prima, accurante J.-P. Migne, Patrologiae (latinae) Tom. VII), Parisiis, excudebat Vrayet, 1844, Sp. 77 – 148, hier Sp. 121 A; auch in: Epicurea, edidit Hermannus Usener, Lipsiae in aedibus B. G. Teubneri 1887, Nr. 374, S. 253. 180 Vgl. § 3 c). 181 Vgl. Leibniz’ Brief an Honoré Fabri, Anfang 1677; A II 1 (2. Aufl. 2006), 441 – 466, hier 463; GP IV, 244 – 261, hier 259; vgl. auch Discours de métaphysique, § 2; AVI 4, 1533; GP IV, 428. 182 Übersetzung vom Verfasser. Artur Buchenau und ebenso Herbert Herring übersetzen „decerné“ mit „bestimmt“ (Leibniz: Versuche in der Theodicée, übers. von Buchenau, S. 331; Leibniz: Die Theodizee/Essais de Théodicée, übers. von Herring, 2. Hälfte, S. 139). Das ist hier aber gerade nicht gemeint, wie auch der im Folgenden zitierte Schlussmythos der „Théodicée“ (§ 416) verdeutlicht. Unter „décerner“ ist hier „auszeichnen, verleihen, zuerkennen“ im Sinne der Auswahl oder der Zulassung zur Existenz „aus dem idealen Reich des Möglichen“ („dans la region ideale des possibles“) (Theod. III, § 335; GP VI, 314) zu verstehen. 183 Theod. III, § 335; GP VI, 314; vgl. Theod. I, § 52; GP VI, 131.

§ 11 Das Theodizeeproblem

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In § 381 der „Théodicée“ schreibt Leibniz, dass „die Quelle des Übels in den möglichen Formen besteht, die den Willensakten Gottes vorhergehen“.184 Entsprechend unterliegen auch die Ideen der „freien Wesen“ („natures libres“) nicht dem göttlichen Willensentschluss, sondern nur ihre Verwirklichung (d. h. ihre Zulassung unter den Existenzen).185 Auch die ursprüngliche Beschränktheit (limitatio originalis) haben die Geschöpfe „ihrem Wesen nach“ („ex essentia sua“) „zuvor schon im Zustand der reinen Möglichkeit (d. h. im Reich der ewigen Wahrheiten oder im Reich der im göttlichen Verstand enthaltenen Ideen)“.186 Es ist nochmals darauf zu verweisen, dass Leibniz, was die Ideen oder die ewigen Wahrheiten betrifft, daran gelegen ist, die überlieferte christliche Lehre „auf ihren rationalen Kern zu reduzieren“187. Damit ist aber auch die Gefahr verbunden, sich doch wieder einem spinozistischen Nezessitarismus anzunähern. Wie Heidegger es in seinem Vortrag „Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik“ (1957) ausdrückt, kann zu diesem Gott in der Philosophie „der Mensch weder beten, noch kann er ihm opfern“, vor der Causa sui kann er „weder aus Scheu ins Knie fallen, noch kann er vor diesem Gott musizieren und tanzen“.188 Anschaulich kommt Leibniz’ Denken im Schlussmythos der „Théodicée“ zum Ausdruck. Die Göttin Pallas, Tochter Jupiters, spricht zu Theodorus: „Du siehst, nicht mein Vater hat den Sextus böse gemacht; er war es von aller Ewigkeit her, er war es immer aus Freiheit: er hat ihm nur die Existenz gewährt, die seine Weisheit der Welt nicht verweigern konnte, in der er (Sextus) einbegriffen ist: er hat ihn nur aus dem Region der Möglichkeiten in die (Region) des wirklichen Seins übergeführt. Das Verbrechen des Sextus dient zu großen Dingen; es (er?) macht Rom frei, es wird davon ein großes Reich entstehen, das große Beispiele geben wird.“189 „Vous voyés que mon pere n’a point fait Sextus mechant; il l’étoit de toute eternité, il l’étoit tousjours librement: il n’a fait que luy accorder l’existence, que sa sagesse ne pouvoit refuser au monde où il est compris: il l’a fait passer de la region des possibles à celle des Etres actuels. Le crime de Sextus sert à de grandes choses; il rend Rome libre, il en naitra un grand Empire, qui donnera de grands exemples.“190

Dennoch sind die Wahrheiten, die sich der Wahl der göttlichen Weisheit verdanken, nach einer Formulierung aus Leibniz’ deutschem „Versuch einer THEO184

„la source du mal consiste dans les formes possibles, anterieures aux actes de la Volonté de Dieu“ (Theod. III, § 381, vgl. § 335; GP VI, 341, vgl. 313 f. (Übersetzung vom Verfasser)). 185 Vgl. Leibniz’ fünftes Schreiben an Clarke, § 6; GP VII, 390. 186 „jam tum in statu purae possibilitatis (id est in Regione Veritatum aeternarum seu ideis Divino intellectui obversantibus)“ (Causa Dei, § 69; GP VI, 449 (Übersetzung vom Verfasser)). 187 Axelos: Die ontologischen Grundlagen der Freiheitstheorie von Leibniz, S. 146; vgl. auch Stekeler-Weithofer: Kritik der reinen Theorie, S. 128 und 132. 188 Identität und Differenz (GA 11), S. 51 – 79, hier S. 77. 189 Übersetzung vom Verfasser (vgl. die folgenden Übersetzungen: Leibniz: Die Theodizee/ Essais de Théodicée, übers. von Herring, 2. Hälfte, § 416, S. 267; Leibniz: Versuche in der Theodicée, übers. von Buchenau, § 416, S. 386 f.). 190 Theod. III, § 416; GP VI, 364.

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1. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Leibniz

DICAEA oder Gottrechts-Lehre von der Güthigkeit Gottes, Freyheit des Menschen und Urspung des Bösen“ „gesezte wahrheiten“.191 Sextus hat sich nicht selbst ins Dasein gebracht, um als Sextus zu existieren. Bei Heidegger heißt es zu der bereits in § 10 angesprochenen „wesenhaften Geworfenheit des Daseins in die Welt“: „Hat je Dasein als es selbst frei darüber entschieden, und wird es je darüber entscheiden können, ob es ins ,Dasein‘ kommen will oder nicht?“192 Die im Schlussmythos der „Théodicée“ zum Ausdruck kommende Argumentation findet sich bereits in früheren Texten. So heißt es in der unter dem Titel „De libertate creaturae rationalis“ in die Akademie-Ausgabe aufgenommenen Schrift: „Das Wahre in den Geschöpfen ist (noch) vor dem Entschluss Gottes über sie als ganz und gar entschieden zu verstehen, nämlich vor dem Entschluss zur Schöpfung. Es ist kein anderer Entschluss erforderlich als dieser eine, weil das Übrige in ihm (schon) enthalten ist. Denn eine Person, die geschaffen werden kann, enthält, schon bevor ihre Schöpfung beschlossen ist, in ihrem möglichen vollständigen Begriff alles, was über sie, falls sie geschaffen werden würde, gesagt werden kann, unter anderem die sichere Abfolge der Gnadenerweise und der freien Handlungen.“193 „Omnino verum est discrimen intelligi in creaturis ante Decretum Dei de ipsis. Scilicet ante decretum creandi. Nullo autem alio opus est decreto quam hoc uno, quia caetera in eo continentur. Nam persona creabilis, antequam creatio ejus decernatur, jam in notione sua plena possibili continet omnia quae de ea si crearetur dici possent et inter alia certam gratiarum et actionum liberarum seriem.“194

Wie Leibniz (wie in § 13 noch gezeigt wird) das Übel in der Welt fast zum Verschwinden bringt und die noch vorhandenen Übel für weit größere Güter rechtfertigt, so ermöglichen auch die seit aller Ewigkeit im idealen Reich des Möglichen vorgegebenen Essenzen, die nicht Gottes Macht oder Willenssetzung unterliegen, weil sie zu seinem Wesen gehören, eine „Entlastung“ Gottes und zielen damit auf eine Lösung des Theodizeeproblems. Aus Laktanz’ (Epikur zugeschriebener) Argumentation folgt, dass unter der als Tatsache gegebenen Prämisse, es gebe wirklich das Übel in der Welt, Gott nicht zugleich allmächtig (unter Einschluss der Allwissenheit) und allgütig sein kann.195 Wenn man Leibniz folgt, muss gegenüber einem naiven Glauben das Wesen der göttlichen Allmacht bei einer solchen Schlussfolgerung zuerst eingehender analysiert werden.

191

GP VI, 463 – 471, hier 466. Sein und Zeit (GA 2), S. 302 (S. 228). 193 Übersetzung vom Verfasser. 194 De libertate creaturae rationalis (Frühjahr bis Sommer 1686 (?)); A VI 4, 1590 – 1594, hier 1593; Grua I, 380 – 384, hier 383. 195 Vgl. § 11 a). 192

§ 12 Die dreifache Art des Guten und des Übels

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§ 12 Die dreifache Art des Guten und des Übels: das metaphysische, das physische und das moralische In der Schrift „Causa Dei“, die Leibniz der „Théodicée“ beifügte, nennt er drei Seinsweisen des Guten und des Übels: „29. Soviel vom Willen. Wir gehen jetzt zum Grund des Wollens oder zum Guten und Üblen über. Beides ist von dreifacher Art: das metaphysische, das physische und das moralische. 30. Das Metaphysische im allgemeinen besteht in der Vollkommenheit und der Unvollkommenheit der Dinge, sogar der nicht mit Vernunft begabten. […] 31. Unter dem Physischen versteht man im besonderen das Wohl und Wehe der vernünftigen Substanzen, und dazu gehört das Übel der Strafe. 32. Unter dem Moralischen werden deren tugendhafte oder lasterhafte Handlungen verstanden, und dahin gehört das Übel der Schuld. […].“196

Der lateinische Text lautet: „29. Hactenus de Voluntate, nunc de ratione Volendi seu Bono et Malo. Utrumque triplex est, Metaphysicum, Physicum et Morale. 30. Metaphysicum generatim consistit in rerum etiam non intellegentium perfectione et imperfectione. […] 31. Physicum accipitur speciatim de substantiarum intelligentium commodis et incommodis, quo pertinet Malum Poenae. 32. Morale de earum actionibus virtuosis et vitiosis, quo pertinet Malum Culpae: […].“197

Das Böse wird als Malum verstanden, als Übel, und nicht etwa als eine Art von Gegenmacht substantialisiert (wie im Manichäismus198) oder in einem Wesen (Teufel) personifiziert. Des Weiteren wird das Übel im Sinne der christlichen Überlieferung (Augustinus, Thomas von Aquin199) als eine Privation des Guten (privatio boni) aufgefasst.200 Dabei ist das Übel nur eine partielle oder relative

196

Übersetzung nach: Leibniz: Die Theodizee/Essais de Théodicée, übers. von Herring, 2. Hälfte, Die Sache Gottes, S. 315 – 381, hier S. 327. 197 GP VI, 437 – 462, hier 443; vgl. auch Theod. I, § 21; GP VI, 115. 198 Vgl. Leibniz: Confessio philosophi, Kritische Ausgabe von Saame, S. 48 und 54; AVI 3, 121 und 123; Unvorgreiffliches Bedencken; A IV 7, 425 – 647, hier 475; Leibniz’ Brief an Gerhard Wolter Molanus, 22. Februar (4. März) 1698; A I 15, 367 – 371, hier 369; Grua I, 412 – 415, hier 413; Briefwechsel zwischen Leibniz und Bayle, Beilage; GP III, 28 – 38, hier 28; vgl. Art. Manichäismus in: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, 4., völlig neu bearb. Aufl., hrsg. von Hans Dieter Betz [u. a.], ungekürzte Studienausgabe, Tübingen 2008, Bd. 5, Sp. 732 – 741. 199 Vgl. Causa Dei, § 70; GP VI, 449. 200 Vgl. Theod. I, §§ 29, 32 und 33; GP VI, 119, 121 f.; Theod. II, § 153; GP VI, 201; Theod., App.: Abregé de la Controverse reduit à des Argumens en forme, V. Objection, Reponse; GP VI, 376 – 387, hier 383; vgl. dazu Holze: Gott als Grund der Welt im Denken des Gottfried Wilhelm Leibniz, S. 172 – 174.

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1. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Leibniz

Entfernung vom Guten und keine völlige Negation des Guten.201 Der metaphysische Grund des Übels, das malum metaphysicum, beruht auf der Endlichkeit und Begrenztheit jedes Geschöpfes gegenüber der absoluten Vollkommenheit Gottes. Diese jedem Geschöpf seinem Wesen nach („essentialiter“) zukommende Begrenzung oder Negation (limitatio seu negatio) bezeichnet Leibniz daher als „imperfectio privativa“.202 Die ursprüngliche Beraubung, privatio, ist bezogen auf die Vollkommenheit Gottes.203 Poser bemerkt zu Recht, „dass Laktanz’ Frage nach dem Ursprung des Übels und des Bösen in jedem Monotheismus unausweichlich ist“.204 Das Problem stellt sich in einer vergleichbaren Weise aber bei jedem Denken, das von einem einzigen absoluten Grund oder Ursprung ausgeht.205 Zwei oder mehrere Absoluta kann es nicht geben. In seinem Hauptwerk „De docta ignorantia“ gibt Nikolaus von Kues die folgende Begründung: „Nun kann es aber mehrere Ewige (plura aeterna) nicht geben. […] Wenn es [..] mehrere Ewige gäbe, so würde das eine dem anderen mangeln (alterum alteri deesset) und damit keines von ihnen vollkommen sein (nullum illorum perfectum esset). Auf diese Weise gäbe es ein Ewiges, das, weil nicht vollkommen, kein Ewiges wäre. Aus der Unmöglichkeit dieser Folgerung ergibt sich, daß es mehrere Ewige nicht geben kann.“206

Bei den Alten, wie z. B. in Platons „Timaios“, konnte die Ursache der Unvollkommenheit auf die immer schon vorgegebene Materie (vkg, w~qa) zurückgeführt werden.207 Dieser Weg ist mit christlichen „creatio ex nihilo“208 verschlossen. 201

Vgl. Discours de métaphysique, § 3; A VI 4, 1533; GP IV, 428. „Dixeram omnem creaturam essentialiter esse limitatam, et hanc limitationem seu negationem vocabam imperfectionem privativam, addideramque hanc esse fontem mali, nec tantum peccabilitatis, sed et peccati ipsius.“ (Leibniz’ Brief an Gerhard Wolter Molanus, 2. (12.) Februar 1698; A I 15, 299 – 303, hier 300; Grua I, 412). 203 Vgl. Uscatescu Barrón, Jorge: Das Wesen des Schlechten als privatio boni. Zur Frage seiner Bestimmung, in: Perspektiven der Philosophie. Neues Jahrbuch 30 (2004), S. 125 – 187, hier S. 156 f. 204 Poser: Leibniz’ Philosophie, S. 249. 205 Das lässt sich beispielsweise für Parmenides zeigen (vgl. Neumann, Günther: Der Anfang der abendländischen Philosophie. Eine vergleichende Untersuchung zu den Parmenides-Auslegungen von Emil Angehrn, Günter Dux, Klaus Held und dem frühen Martin Heidegger, Berlin 2006, S. 120, 153, 192). 206 Nikolaus von Kues: Die belehrte Unwissenheit/De docta ignorantia, Buch I/Liber primus, lateinisch-deutsch, übersetzt und mit Vorwort und Anmerkungen hrsg. von Paul Wilpert, 4., erw. Aufl., besorgt von Hans Gerhard Senger, Hamburg 1994, Kap. 7, § 21, S. 31 (Ergänzung des lateinischen Textes in Klammern vom Verfasser). Leibniz gibt in den §§ 38 – 41 der „Monadologie“ (GP VI, 613) aber eine andere Begründung, nämlich a posteriori aus dem Satz vom zureichenden Grund, für die monotheistische These, dass die „Höchste Substanz“ („Substance Supreme“) als solche „einzig“ („unique“) ist (§ 40) (vgl. Herrmann, FriedrichWilhem v.: Leibniz. Metaphysik als Monadologie, Berlin 2015, § 23). 207 Vgl. Gloy, Karen: Platon, die Wissenschaftsgeschichte und unser Naturverständnis. Platons Naturbegriff im Timaios, in: Zeitschrift für Philosophie 38 (1990), S. 651 – 659, bes. 202

§ 13 Die Gründe für Gottes Zulassung des moralischen Übels

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Leibniz selbst schreibt in § 20 der „Théodicée“: „Die Alten hielten die Materie, die sie für unerschaffen und von Gott unabhängig ansahen, für die Ursache des Übels; wir aber, die wir alles Sein aus Gott herleiten, worin sollen wir diese Ursache finden?“209

§ 13 Die Gründe für Gottes Zulassung des moralischen Übels und der Zusammenhang von Freiheit und Sünde Es kann hier nur auf das moralische Übel eingegangen werden. Für Leibniz sind „mögliche Welten ohne Sünde und ohne Unglück“ („mondes possibles, sans peché et sans malheur“) vorstellbar (d. h. widerspruchsfrei denkbar).210 Weshalb hat Gott dann aber die Sünde überhaupt zugelassen? Es können hier nur die für Leibniz wesentlichen Gründe herausgestellt und zusammengefasst werden: 1. Der ursprüngliche Grund der Sünde liegt in der Endlichkeit, Begrenztheit und Unvollkommenheit der Geschöpfe. Leibniz hat diesen Ursprung in § 20 der „Théodicée“ klar benannt: „Denn man muß beachten, daß es schon vor der Sünde eine ursprüngliche Unvollkommenheit im Geschöpf gibt, weil das Geschöpf seinem Wesen nach beschränkt ist und auch nicht alles wissen, sich vielmehr täuschen und andere Fehler begehen kann.“211

S. 659; Gloy, Karen: Das Verständnis der Natur, Bd. I: Die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens, München 1995, S. 100 – 106. 208 Altes Testament, 2 Makkabäer 7, 28; vgl. u. a. Augustinus: Confessiones, lib. XI, cap. 5. Die „creatio ex nihilo“ wird von Leibniz ausdrücklich verteidigt (vgl. u. a. Conversatio cum Domino Episcopo Stenonio de Libertate; A VI 4, 1377; De libertate, fato, gratia Dei; A VI 4, 1596; Grua I, 307; Rationale fidei Catholicae (1685 (?)); A VI 4, 2306 – 2323, hier 2319; Unvorgreiffliches Bedencken; A IV 7, 461). Im mittelalterlichen Platonismus versuchte man durch das Prinzip der doppelten Schöpfung, wobei Gott im ersten Schritt die Materie schuf, Platon mit dem Christentum zu vereinbaren (vgl. Häring, Nikolaus M.: Die Erschaffung der Welt und ihr Schöpfer nach Thierry von Chartres und Clarenbaldus von Arras, in: Platonismus in der Philosophie des Mittelalters, hrsg. von Werner Beierwaltes, Darmstadt 1969, S. 161 – 267). 209 „Les anciens attribuoient la cause du mal à la matiere, qu’ils croyoient increée et independante de Dieu; mais nous qui derivons tout être de Dieu, où trouverons nous la source du mal?“ (Theod. I, § 20; GP VI, 114; Übersetzung nach: Leibniz: Die Theodizee/Essais de Théodicée, übers. von Herring, 1. Hälfte, S. 239 – 241). 210 Theod. I, § 10; GP VI, 108. 211 Übersetzung nach: Leibniz: Die Theodizee/Essais de Théodicée, übers. von Herring, 1. Hälfte, S. 241.

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1. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Leibniz „Car il faut considerer qu’il y a une imperfection originale dans la creature avant le peché, parceque la creature est limitée essentiellement; d’où vient qu’elle ne sauroit tout savoir, et qu’elle se peut tromper et faire d’autres fautes.“212

In diesem Sinne schreibt auch Poser: „Damit Gott überhaupt etwas von sich Verschiedenes schaffen kann, muss das Geschaffene im Vergleich zu ihm eine Einschränkung an Vollkommenheit erleiden; dies ist das Übel.“213 Andernfalls hätte sich „Gott verdoppeln“ müssen.214 Auch kann Gott als „der zureichende oder letzte Grund“ („la raison suffisante ou derniere“215) nicht selbst ein Teil des von ihm geschaffenen Universums sein. Im christlichen Sinne argumentiert Leibniz, „dass Gott die Güte zum Schaffen führt, um sich mitzuteilen, und dass dieselbe Güte in Verbindung mit der Weisheit ihn leitet, das Beste zu schaffen“.216 Der Güte Gottes verdanken wir, dass es überhaupt etwas (außer Gott) gibt und nicht nichts. 2. Die Grundbedingung der Schöpfung liegt in Gottes Wahl der besten aller möglichen Welten als einer universalen Harmonie. Leibniz gibt, modern gesprochen, eine holistische Begründung, die zugleich mit einer Heraushebung des Individuellen verbunden ist, wenn auch der Harmonie des Ganzen gegenüber dem Einzelnen immer noch ein Vorrang zukommt. Es soll hier eine Textstelle aus der „Confessio Philosophi“ angeführt werden: „Die Sünden aber gehören nicht zu den Handlungen, die Gott entweder will oder macht, weil er sie ja, wenn er sie im einzelnen, d. h. für sich betrachtet, nicht gut findet; sie gehören vielmehr zu jenen Handlungen, bei denen Gott erkennt, daß sie als Folge in der ganzen besten, von ihm erwählten Harmonie der Dinge unterlaufen, und weil in der gesamten Reihe der Harmonie ihre Existenz durch größere Güter aufgewogen wird; daher duldet er die Sünden bzw. läßt sie zu, obwohl er sie ausscheiden würde, wenn es absolut möglich wäre, dies zu tun, d. h. eine andere, bessere Reihe der Dinge ohne sie zu wählen. Die ganze Reihe aber, so muß man sagen, erlaubt er nicht, sondern will er, und damit zugleich die Sünden, insoweit man sie nicht für sich allein, sondern in ihrer Verflechtung mit der ganzen Reihe betrachtet. Denn die Universalharmonie, die allein durch ihre Existenz Gott vollkommen erfreut, bewirkt dies nicht durch Teile, sondern durch die Gesamtheit der Reihe; alles Übrige außer den Sünden erfreut Gott auch in für sich betrachteten Teilen. Doch würde ihn deshalb die Reihe, wenn sie frei von Sünden wäre, nicht noch mehr freuen? Nein, sogar weniger, weil gerade diese Harmonie des Gesamten durch die in sie eingefügten Dissonanzen und den dadurch auf wunderbare Weise entstandenen Ausgleich zur Freude gereicht.“217 212

Theod. I, § 20; GP VI, 115; vgl. auch Theod. III, §§ 288 und 380; GP VI, 288 und 341; Causa Dei, § 69; GP VI, 449; Principes de la nature et de la grâce, § 9; GP VI, 602 f.; Monadologie, § 42; GP VI, 613, Anm. 213 Poser: Leibniz’ Philosophie, S. 260. 214 Poser: Leibniz’ Philosophie, S. 260. 215 Monadologie, § 37; GP VI, 613; vgl. auch Principes de la nature et de la grâce, § 8; GP VI, 602. 216 „Je reponds, que c’est la bonté qui porte Dieu à créer, afin de se communiquer; et cette même bonté jointe à la sagesse le porte à créer le meilleur: […].“ (Theod. II, § 228; GP VI, 253 (Übersetzung vom Verfasser)). 217 Übersetzung nach: Leibniz: Confessio philosophi, Kritische Ausgabe von Saame, S. 57.

§ 13 Die Gründe für Gottes Zulassung des moralischen Übels

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„Peccata autem non sunt ex iis quae Deus aut vult aut facit, quia scilicet ipsa sigillatim seu per se considerata bona non reperit; sed sunt ex iis, quae Deus in tota rerum harmonia optima a se electa per consequentiam intercurrere deprehendit, et quia in tota harmoniae serie eorum existentia majoribus bonis compensatur, ideo ea tolerat seu admittit, etsi, modo absolute id fieri seu alia melior sine ipsis rerum series eligi posset, esset eliminaturus. Totam autem seriem, non permittere sed velle dicendus est, et peccata quoque quatenus non ipsa distincte, sed toti seriei confusa spectantur. Harmonia enim universalis cuius solius Existentia Deus absolute delectatur, non partium, sed totius seriei affectio est, caeteris omnibus praeterquam peccatis Deus delectatur etiam per partes in se spectatas. Nec tamen ideo magis delectaretur serie universali, si peccata abessent, imo minus, quia ipsa harmonia illa totius ex dissonantiis illis interpositis, et mira ratione compensatis, reddita est delectabilis.“218

Es ergeben sich drei Gesichtspunkte: a) Das Übel ist nicht nur eine Abwesenheit des Guten, wodurch die Harmonie der Welt gestört wird, sondern es fördert zugleich die Harmonie des Ganzen, indem es die Harmonie erst deutlich hervortreten lässt wie die Dissonanz in der Musik.219 b) Die partielle Zulassung des Übels ist erforderlich für einen harmonischen Zustand des Ganzen, „das in immerwährender Bewegung und Veränderung nach größtmöglicher Vielfalt der Selbstdarstellung und des Ausdrucks strebt“.220 c) Das Übel ist in vielen Fällen eine negative Bedingung für die positive Verwirklichung das Guten. So ist die Sünde, die „felix culpa“ Adams, zugleich die Voraussetzung für die christliche Erlösung und die Wendung des Menschengeschlechts zum Glück.221 Nach § 119 der „Théodicée“ kann also „das Unglück einiger dieser Geschöpfe“ („le malheur de quelques unes de ces creatures“) nur „begleitweise und gleichsam als Folge anderer weit größerer Güter eintreten“ („peut arriver par concomitance, et comme une suite d’autres biens plus grands“).222 Was ist aber mit denjenigen Personen, die von einem solchen „begleitweisen“ Unglück, ob nun selbst mit verschuldet oder nicht, gerade betroffen (in solches gesetzt oder geworfen) sind? 3. Die für Gott notwendige Zulassung der Sünde (und des Übels) ist eingebettet in ein alles umgreifendes theologisch-christliches Heilsgeschehen: „Er [Gott] hat eine ernste Neigung, alle Menschen zu heiligen und zu retten, die Sünde auszuschließen 218

A VI 3, 124; Leibniz: Confessio philosophi, Kritische Ausgabe von Saame, S. 56; vgl. auch Theod., Discours préliminaire de la conformité de la foi avec la raison, § 34; GP VI, 70; Theod. I, §§ 10 und 25; GP VI, 108 und 117; Theod. II, § 214; GP VI, 246 f. (unter Verweis auf Thomas de Aquino: Summa contra Gentiles, lib. 2, cap. 71); Theod., App.: Abregé de la Controverse, I. Objection, 2. Reponse; GP VI, 376 f. 219 Vgl. Theod., App.: Abregé de la Controverse, V. Objection, Reponse; GP VI, 384; Conversatio cum Domino Episcopo Stenonio de Libertate; A VI 4, 1378 und 1382. 220 Holz: Leibniz. Das Lebenswerk eines Universalgelehrten, S. 118; vgl. insbes. Monadologie, § 58; GP VI, 616. 221 Vgl. Theod. I, § 10; GP VI, 108; Theod., App.: Abregé de la Controverse, I. Objection, 2. Reponse; GP VI, 377. 222 Theod. II, § 119; GP VI, 170; vgl. Theod. III, § 336; GP VI, 314.

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1. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Leibniz

und die Verdammnis zu verhindern.“223 Wie Poser schreibt, übernimmt Leibniz aus der christlichen Tradition „die Gewissheit, dass die göttliche Gnade, die Teil des Weltplans der besten Welt ist, die Sünde ausgleicht“.224 Leibniz’ universaler Optimismus steht im Gegensatz zu dem späteren Pessimismus eines Arthur Schopenhauer.225 Für die sittliche Vervollkommnung des Menschengeschlechtes bedeutet diese Heilsgewissheit: „Jetzt erst erfüllt der Gottesbegriff seine eigentliche und wichtigste Funktion: der Glaube an Gott bedeutet für Leibniz nichts andres als den Glauben an die Möglichkeit der fortschreitenden Verwirklichung des Sittlichen in der Natur und Menschengeschichte.“226

4. Wie bereits in § 12 angesprochen wurde, beruht auch das moralische Übel auf einem Mangel, einer Privation, die aber immer als eine bloß partielle oder relative Beraubung zu verstehen ist. Wie das Übel immer nur einen Teil des Universums betrifft, so betrifft es auch diesen Ausschnitt nur partiell. Leibniz bringt nach Wolfgang Janke „die Realität des malum fast zum Verschwinden“.227 Zusammen223

„Il [Dieu] a une inclination serieuse à sanctifier et à sauver tous les hommes, à exclure le peché, et à empêcher la damnation.“ (Theod. I, § 22; GP VI, 116 (Übersetzung vom Verfasser); vgl. u. a. auch Causa Dei, § 127; GP VI, 457; Discours de métaphysique, § 5; A VI 4, 1536 f.; GP IV, 430; Principes de la nature et de la grâce, § 18; GP VI, 606; De libertate, fato, gratia Dei; A VI 4, 1597) 224 Poser: Leibniz’ Philosophie, S. 264. 225 Zu nennen sind neben Friedrich Nietzsche insbesondere noch Schopenhauers Adepten Eduard von Hartmann, Philipp Mainländer und Julius Bahnsen (vgl. deren Hauptwerke: Hartmann, Eduard von: Philosophie des Unbewußten. Versuch einer Weltanschauung, mit einem Vorwort von Ludger Lütkehaus, Hildesheim/Zürich/New York 1989 (Nachdr. der [Erst-] Ausgabe Berlin 1869); Mainländer, Philipp: Die Philosophie der Erlösung (2 Bde.), mit einem Vorwort zur Neuausgabe von Winfried H. Müller-Seyfarth, Hildesheim/Zürich/New York 1996 (Schriften, hrsg. von Winfried H. Müller-Seyfarth, Bd. 1 und Bd. 2) (Nachdr. der 1. Aufl. Berlin 1876 und Frankfurt a. M. 1886); Bahnsen, Julius: Der Widerspruch im Wissen und Wesen der Welt. Princip und Einzelbewährung der Realdialektik (2 Bde.), mit einem Vorwort zur Neuausgabe von Winfried H. Müller-Seyfarth, Hildesheim/Zürich/New York 2003 (Nachdr. der [Erst-]Ausgabe Berlin 1880 und Leipzig 1882). Allerdings sind bei den genannten Philosophen die nihilistischen und pessimistischen Tendenzen zum Teil ins Extrem gesteigert (vgl. MüllerSeyfarth, Winfried H. (Hrsg.): Die modernen Pessimisten als décadents. Von Nietzsche zu Horstmann. Texte zur Rezeptionsgeschichte von Philipp Mainländers Philosophie der Erlösung, Würzburg 1993; Heydorn, Heinz-Joachim: Werke (Philosophische Schriften), hrsg. von Irmgard Heydorn [u. a.], Bd. 5: Julius Bahnsen. Eine Untersuchung zur Vorgeschichte der modernen Existenz, Vaduz, Liechtenstein 1996). 226 Cassirer, Ernst: Einleitung, in: Gottfried Wilhelm Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, übers. von Artur Buchenau, mit Einl. und Anm. hrsg. von Ernst Cassirer, Neuausg., Hamburg 1996, Teil I, S. XV–CIII, hier S. CI. 227 Janke: Theodizee oder Über die Freiheit des Individuums und das Verhängnis der Welt, in: Philosophische Perspektiven 5 (1973), S. 57. Leibniz selbst schreibt in der kleinen deutschen Schrift, die Gottschalk Eduard Guhrauer unter dem Titel „Von dem Verhängnisse“ edierte: „Zwar wir hätten es lieber, wenn auch kein schein des bösen überbliebe und die Sachen so gefaßet wären, damit wir nicht nur ins gemein wißen köndten, daß alles wohl und guth ist, sondern auch es insonderheit begreiffen, ja wircklich empfinden möchten […].“ (Leibnitz:

§ 13 Die Gründe für Gottes Zulassung des moralischen Übels

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fassend heißt es in dem Anhang „Kurzer Abriß der Streitfrage in formgerechten Schlüssen“ der „Théodicée“: „Die Beschränkungen oder Privationen aber entspringen der ursprünglichen Unvollkommenheit der Geschöpfe, die deren Aufnahmefähigkeit beschränkt. […] Ebenso habe ich im vorliegenden Werk selbst gezeigt, wie das Geschöpf, indem es die Sünde verursachet, eine auf dem Mangel beruhende Ursache ist, wie die Irrtümer und die bösen Neigungen der Privation entstammen, und wie die Privation durch den Zufall wirkt.“228 „Mais les limitations, ou les privations, resultent de l’imperfection originale des creatures qui borne leur receptivité. […] Aussi at-on fait voir dans le present ouvrage, comment la Creature, en causant le peché, est une cause deficiente; comment les erreurs et les mauvaises inclinations naissent de la privation; et comment la privation est efficace par accident; […].“229

Die Sünde als privatio boni verweist zurück auf die unter 1. genannte „ursprüngliche Unvollkommenheit im Geschöpf“. 5. Welcher Zusammenhang besteht nun aber zwischen menschlicher Freiheit und Sünde? Die im engeren Sinne christlichen Betrachtungen und die vielfachen Rückbezüge auf christliche und andere Autoren können hier nicht berücksichtigt werden. Gott hat das moralische Übel nicht gewollt; er musste es aber „zulassen“ („permettre“230), wenn er den menschlichen Seelen Spontaneität und Freiheit geben wollte. Was für die Vernunft (raison) zutrifft, die Gott den Menschen gegeben hat, weil ein solches „Geschenk“ („present“) mehr „der Vollkommenheit des Universums“ („la perfection de l’univers“) entspricht,231 gilt ebenso für die Freiheit. Gott hätte zwar auch eine Welt ohne Freiheit erschaffen können, aber eine solche Welt ohne Freiheit, wäre nicht die beste aller möglichen Welten gewesen. Leibniz schreibt in dem „Kurzen Abriss der Streitfrage“ im Anhang der „Théodicée“: „Und zum besseren Verständnis haben wir im Anschluss an mehrere gute Autoren hinzugefügt, es entspräche der Ordnung und dem allgemeinen Besten, dass Gott gewissen Geschöpfen die Gelegenheit ließ (laissât), von ihrer Freiheit Gebrauch zu machen, selbst wenn

Deutsche Schriften, hrsg. von G. E. Guhrauer, Bd. II, Berlin 1840, S. 48 – 55, hier S. 54; hier zitiert nach: Initia et Specimina Scientiae novae Generalis, K; GP VII, 117 – 123, hier 121 f.). 228 Übersetzung nach: Leibniz: Die Theodizee/Essais de Théodicée, übers. von Herring, 2. Hälfte, S. 305 (Ergänzung von „ursprünglichen“ („originale“) vom Verfasser). 229 Theod., App.: Abregé de la Controverse reduit à des Argumens en forme, V. Objection, Reponse; GP VI, 383; vgl. auch Theod. I, §§ 29, 32 und 33; GP VI, 119, 121 f.; Theod. II, § 153; GP VI, 201. 230 Theod. I, § 25; GP VI, 117; vgl. auch Theod. I, § 22; GP VI, 115 f.; Theod. II, §§ 158 und 159; GP VI, 204; Theod. III, § 333; GP VI, 313. In der „Confessio Philosophi“ stehen die lateinischen Termini „tolerat“ und „admittit“ für die Zulassung der „peccata“ (A VI 3, 124; Leibniz: Confessio philosophi, Kritische Ausgabe von Saame, S. 56). 231 Theod. II. § 119; GP VI, 170 f.

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1. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Leibniz er voraussah, dass diese sich dem Bösen zuwenden würden, was er doch hätte rückgängig machen können.“232 „Et pour plus d’intelligence, on a adjouté apres plusieurs bons auteurs, qu’il étoit de l’ordre et du bien general, que Dieu laissât à certaines creatures l’occasion d’exercer leur liberté, lors même qu’il a prevu qu’elles se tourneroient au mal, mais qu’il pouvoit si bien redresser, […].“233

Wie bereits in § 7 dargelegt wurde, liegt die Wurzel der menschlichen Freiheit „im Ebenbild Gottes“ im Menschen.234 Der Vorteil der Freiheit „findet zweifellos bei Gott im höchsten Maße statt“ („est sans doute eminemment en Dieu“235). Gott hat daher den Menschen „auch frei gemacht“ („aussi il l’a fait libre“236), da er als Schöpfer das Ideal und der Maßstab der von ihm geschaffenen Wesen ist, auch wenn diese hinter seiner absoluten Vollkommenheit zurückbleiben. In § 337 der „Théodicée“ schreibt Leibniz unter Verweis auf Johannes Duns Scotus: „Scotus sagt mit Recht, wenn Gott nicht frei und der Notwendigkeit enthoben wäre, würde kein Geschöpf es sein.“237 Dass die von Gott zugelassene Freiheit der Geschöpfe der Ursprung des Bösen ist, schreibt Leibniz ausdrücklich (und hervorgehoben) im dritten Teil der „Théodicée“: „273. Da es von nun an, nachdem die göttliche Zulassung (permission Divine) jenes Missbrauchs in hinlänglich klarer Weise gerechtfertigt wurde, gestattet ist, auf den Missbrauch des Vermögens der Entscheidungsfreiheit und auf den schlechten Willen zurückzugreifen, um die übrigen Übel zu begründen, finden wir damit zugleich, wie berechtigt das gewöhnliche theologische System ist. Jetzt sind wir so weit, mit Sicherheit den Ursprung des Bösen in der Freiheit der Geschöpfe aufzusuchen.“238 „273. Or puisqu’il est permis desormais de recourir à l’abus du libre arbitre, et à la mauvaise volonté, pour rendre raison des autres maux, depuis que la permission Divine de cet abus est 232

Übersetzung vom Verfasser (vgl. die folgenden Übersetzungen: Leibniz: Versuche in der Theodicée, übers. von Buchenau, S. 390 f.; Leibniz: Die Theodizee/Essais de Théodicée, übers. von Herring, 2. Hälfte, S. 289). 233 Theod., App.: Abregé de la Controverse, I. Objection, 2. Reponse; GP VI, 377; vgl. auch Theod. I, § 25; GP VI, 117; Theod. II, §§ 158 – 160; GP VI, 203 – 205. 234 De libertate a necessitate in eligendo; A VI 4, 1452; Grua I, 300. 235 Theod. III, § 337; GP VI, 314. 236 Theod. III, § 277; GP VI, 282. 237 „Scot a eu raison de dire que si Dieu n’étoit point libre et exemt de la necessité, aucune creature ne le seroit.“ (Theod. III, § 337; GP VI, 315 (Übersetzung vom Verfasser); vgl. Theod. II, § 232; GP VI, 255 f. (Leibniz bezieht sich hier auf Pierre Bayle, der sich wiederum nicht unmittelbar auf einen Text von Duns Scotus selbst beruft.)) Zu Duns Scotus vgl. u. a. Duns Scotus, Johannes: Ordinatio I, dist. 2, pars 1, q. 1 – 2, n. 74 – 81, in: Ioannis Duns Scoti Opera omnia II, iussu et auctoritate Pacifici M. Perantoni, studio et cura Commissionis Scotisticae ad fidem codicum edita, Civitas Vaticana 1950, S. 174 – 177; Duns Scotus, Johannes: Ordinatio I, dist. 8, pars 2, q. unica, n. 298, in: Ioannis Duns Scoti Opera omnia IV, iussu et auctoritate Augustini Sépinski, studio et cura Commissionis Scotisticae ad fidem codicum edita, Civitas Vaticana 1956, S. 324. 238 Übersetzung vom Verfasser (vgl. die folgenden Übersetzungen: Leibniz: Versuche in der Theodicée, übers. von Buchenau, S. 293; Leibniz: Die Theodizee/Essais de Théodicée, übers. von Herring, 2. Hälfte, S. 53).

§ 14 Die drei Grundbedingungen von Freiheit

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justifiée d’une maniere assés evidente, le systeme ordinaire des Theologiens se trouve justifié en même temps. Et c’est à present que nous pouvons chercher seurement l’origine du mal dans la liberté des creatures.“239

§ 14 Die drei Grundbedingungen von Freiheit: Vernunfteinsicht, Spontaneität und Kontingenz a) Der Zusammenhang der drei Freiheitsbedingungen In § 288 der „Théodicée“ äußert Leibniz (in der Auseinandersetzung mit Pierre Bayle) seine Absicht, „das Wesen der Freiheit noch näher darzulegen“ („d’eclaircir encore davantage la nature de la Liberté“240). Er gibt zunächst die folgende Zusammenfassung seiner Untersuchungen zur Freiheit: „Wie wir gesehen haben, besteht die Freiheit, wie man sie in den Theologenschulen fordert, in der Vernunfteinsicht, die eine deutliche Erkenntnis des zu beschließenden Gegenstandes einschließt, in der Spontaneität, mit der wir uns entscheiden, und in der Kontingenz, d. h. dem Ausschluss der logischen oder metaphysischen Notwendigkeit. Die Vernunfteinsicht ist gleichsam die Seele der Freiheit, der Rest an ihr ist gleichsam der Körper und die Grundlage. Die freie Substanz entscheidet sich durch sich selbst und folgt dabei dem Motiv des vom Verstand erkannten Guten, das sie geneigt macht, ohne sie zu nötigen: Alle Bedingungen der Freiheit sind in diesen wenigen Worten enthalten.“241 „Nous avons fait voir que la liberté, telle qu’on la demande dans les Ecoles Theologiques, consiste dans l’intelligence, qui enveloppe une connoissance distincte de l’objet de la deliberation, dans la spontaneité, avec laquelle nous nous determinons, et dans la contingence, c’est à dire dans l’exclusion de la necessité logique ou metaphysique. L’intelligence est comme l’ame de la liberté, et le reste en est comme le corps et la base. La substance libre se determine par elle même, et cela suivant le motif du bien apperçu par l’entendement qui l’incline sans la necessiter: et toutes les conditions de la liberté sont comprises dans ce peu de mots.“242

Die an erster Stelle genannte Bedingung, nämlich der Gebrauch unserer Vernunfteinsicht, wird für Leibniz auch nicht von der nezessitaristischen Freiheitskonzeption eines Spinoza ausgeschlossen, die er zunächst noch selbst vertreten hatte.243 In diesem Sinne verstand auch Spinoza in seiner „Ethik“ Freiheit als eine

239

Theod. III, § 273; GP VI, 280; vgl. auch § 288; GP VI, 288. Theod. III, § 288; GP VI, 288. 241 Übersetzung vom Verfasser (vgl. die folgenden Übersetzungen: Leibniz: Die Theodizee/ Essais de Théodicée, übers. von Herring, 2. Hälfte, S. 75; Leibniz: Versuche in der Theodicée, übers. von Buchenau, S. 303). 242 Theod. III, § 288; GP VI, 288. 243 Vgl. Leibniz’ Brief an Magnus Wedderkopf, Mai 1671 (A II 1 (2. Aufl. 2006), 185 – 187, bes. 186, Z. 36 – 187, Z. 2). 240

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1. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Leibniz

Beherrschung der Affekte durch die Macht des Geistes, d. h der Vernunft.244 Ebenso steht der Nezessitarismus nicht im Widerspruch zur zweiten Bedingung, der Spontaneität.245 Der dritten Bedingung, der Kontingenz, kommt insofern eine Sonderrolle zu. Während in der Vernunfteinsicht und in der Spontaneität „die subjektiven Freiheitsbedingungen“ liegen, bildet demgegenüber die Kontingenz „die objektive Ermöglichung einer solchen Wahl- oder Entscheidungsfreiheit“.246 Die Kontingenz ist die notwendige Vorbedingung dafür, dass sich unsere sittlichen Überlegungen, die möglichen Handlungen und die von ihnen betroffenen Gegenstände und Sachverhalte überhaupt in einer anderen Weise verhalten könnten, als sie tatsächlich realisiert werden. Die subjektiven Freiheitsbedingungen der Spontaneität und der Vernunfteinsicht (intelligence) durchdringen sich dagegen wechselseitig. Das als lateinischer und französischer Paralleltext verfasste Bruchstück H zur „Scientia generalis“ beginnt mit den Worten: „Libertas est spontaneitas intelligentis“.247 Der entsprechende französische Text lautet: „La Liberté est une spontaneité jointe à l’intelligence.“248 „Die Freiheit ist eine mit der Vernunfteinsicht verbundene Spontaneität.“249 Die Vernunfteinsicht ist keine unabhängige Freiheitsbedingung neben der Spontaneität, sondern „die sublimste Form von Spontaneität“.250

b) Freiheit als Spontaneität mit Wahl Es ist noch zu bemerken, dass für Leibniz allen einfachen Substanzen oder Monaden eine Spontaneität im strengen Sinne zukommt, weil es keinen „physischen Einfluss“ („influence physique“) der Körper auf die Monaden oder unter den Monaden gibt.251 Daher reicht für Leibniz die Spontaneität, die allen Monaden zukommt, zweifellos nicht aus, um die Freiheit zu etablieren: „Man muss die Wahl 244

Vgl. Spinoza, Baruch de: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt, lateinischdeutsch, neu übers., hrsg., mit einer Einleitung versehen von Wolfgang Bartuschat, 4., durchges. Aufl., Hamburg 2015, Ethices pars quinta/Fünfter Teil der Ethik, Praefatio/Vorwort, S. 526/ 527. 245 Vgl. De libertate, contingentia et serie causarum, providentia (Sommer 1689 (?)); AVI 4, 1653, Z. 19 – 24; FC 178, 2. Abs.; deutsche Übersetzung in: Leibniz: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie II, übers. von Buchenau, S. 654, 2. Abs. 246 Liske: Leibniz’ Freiheitslehre, § 41, S. 204. 247 GP VII, 108; vgl. auch Conversatio cum Domino Episcopo Stenonio de Libertate (27. November 1677): „[…] libertas est spontaneitas rationalis.“ (A VI 4, 1380). 248 GP VII, 109; vgl. Theod. III, § 301; GP VI, 296. In diesem Paragraphen gibt Leibniz unter Berufung auf Aristoteles auch seine Definition einer „spontanen“ Handlung: „Spontaneum est, cujus principium est in agente.“ (GP VI, 296). 249 Übersetzung vom Verfasser. 250 Liske: Leibniz’ Freiheitslehre, S. 205. 251 Vgl. u. a. Theod. I, § 66; GP VI, 138 f.; Theod. III, § 290 f.; GP VI, 289 f.; Discours de métaphysique, § 32; A VI 4, 1581; GP IV, 458; Monadologie, § 51; GP VI, 615.

§ 14 Die drei Grundbedingungen von Freiheit

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hinzufügen.“252 Schon in der „Confessio Philosophi“ heißt es unter Berufung auf Aristoteles: „Bereits Aristoteles definierte ,spontan‘: wenn der Ursprung des Handelns im Handelnden liegt, und ,frei‘: spontan mit Wahl.“253 Eine solche Wahl- oder Entscheidungsfreiheit (franc arbitre) kommt aber wiederum nur den intelligenten Substanzen zu. Nur die intelligenten Substanzen oder Monaden sind frei, weil nur sie zur Herrschaft über ihre spontanen Handlungen und damit erst zu einer überlegten und wirklichen Wahl gelangen. So heißt es im dritten Teil der „Théodicée“: „291. Zum besseren Verständnis dieses Punktes muß man wissen, daß eine Spontaneität in diesem strengen Sinne uns mit allen einfachen Substanzen gemein ist und daß sie in der intelligenten oder freien Substanz zur Herrschaft über alle ihre Handlungen gelangt.“254 „291. Pour mieux entendre ce point, il faut savoir, qu’une spontaneité exacte nous est commune avec toutes les substances simples, et que dans la substance intelligente ou libre, elle devient un Empire sur ses actions.“255

Eine treffende Erläuterung gibt Thomas Buchheim: „Während also alle anderen Monaden kraft ihrer Spontaneität ihr jeweiliges, aber unreflektiert nach außen tretendes Verhalten an den Tag legen, betrifft die Spontaneität der Vernunftwesen zunächst bewußt sie selbst, ihre eigene Verfassung. Und erst vermöge dieser von ihnen selbst modifizierten Verfassung treten sie dann auch mit ihren daraus geborenen Handlungen hervor. Die freien Handlungen beginnen also gewissermaßen immer mit einer Bestimmung oder Gestaltung des Handelnden selbst. Dies macht […] die spontane Handlung zur Handlung einer Person. […] Sich selbst bestimmen aber kann eine Person nur, weil sie in den ,reflexiven Akten‘ ihrer selbst und der Wirkung ihrer Handlungen auf andere und sie selbst bewußt ist. Die Spontaneität der Seelen mit Vernunft ist also durchaus eine besondere und ausgezeichnete Spontaneität. Sie ist bewußt auf sich selbst gerichtete und so sich selbst gut oder böse machende und erst in Folge davon auch gut oder böse handelnde Spontaneität. Erst auf diese Weise, vorausgesetzt es sind […] intelligente Leistungen im Spiel, handelt der Vernünftige aus Freiheit.“256 252

„Il y faut adjouter le choix.“ (Leibniz’ Brief an Isaac Jaquelot (nach dem 12. September 1704); GP VI, 567 – 573, hier 572; vgl. auch Leibniz’ Brief an Lady Damaris Masham, September 1704; GP III, 361 – 364, hier 363 f.; Theod. I, § 34; GP VI, 122; Causa Dei, § 20; GP VI, 441; Nouveaux Essais II 21, § 9; A VI 6, 175 f.; GP V, 161). 253 „Etiam Aristoteles spontaneum definivit cum principium agendi in agente est, et Liberum, spontaneum cum electione.“ (A VI 3, 133; Übersetzung nach: Leibniz: Confessio philosophi, Kritische Ausgabe von Saame, S. 83, vgl. dazu S. 173 f., Anm. 128 und 129; vgl. Aristoteles: Ethica Nicomachea C (Buch III) 3 – 4, 1111 a 22 – 1112 a 17). 254 Übersetzung nach: Leibniz: Versuche in der Theodicée, übers. von Buchenau, S. 304. 255 Theod. III, § 291; GP VI, 289 (Verbesserung vom Verfasser: „il faut“). 256 Buchheim: Vernunft und Freiheit (§§ 82 f.), in: Gottfried Wilhelm Leibniz, Monadologie, hrsg. von Busche, S. 240. Von Heinrich Ropohl wird dagegen in seiner Freiburger Dissertation (bei Heidegger) die Spontaneität im Sinne der „Selbstleistung“ als wesentlich für den Leibniz’schen Freiheitsbegriff herausgestellt. Nicht zufällig übersetzt er „la spontaneité et le choix“ aus § 34 des ersten Teils der „Théodicée“ (GP VI, 122) in der umgekehrten Rei-

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1. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Leibniz

§ 15 Das Problem der Freiheit und die Einteilung der verschiedenen Formen von Freiheit in den „Nouveaux Essais“ – Leibniz’ Auseinandersetzung mit John Locke Der dargelegte Gegensatz der Spontaneität oder Freiheit zur Unfreiheit oder Fremdbestimmung tritt auf verschiedenen Ebenen auf. Er artikuliert sich in Leibniz’ häufigen Vergleichen von Herrschaft („Empire“257, „maistrisés“258, „dominium“259) mit Sklaverei („esclavage“, „esclave(s)“260, „servitus“261), also in einer Terminologie, die dem politisch-gesellschaftlichen Bereich entnommen ist. Das Problem der menschlichen Freiheit wird unter dem Titel „De la puissance et de la liberté“ auch im umfangreichsten Kapitel der „Nouveaux Essais sur l’Entendement humain“ (Sommer 1703 bis Sommer 1705) behandelt.262 Der Titel des Kapitels lässt sich am besten mit „Über die Verwirklichungsmöglichkeit und die Freiheit“ übersetzen.263 Die Zielsetzung der „Nouveaux Essais“ ist allerdings, was das Problem der menschlichen Freiheit betrifft, eine andere als jene der „Théodicée“: „Doch ob und wie Instinkt und Freiheit verträglich sind, bildet […] fraglos ein Problem, das gewiss anders gelagert ist als jenes der Essais de Theodicée, das durch den Rückgriff auf mögliche Welten gelöst erscheint. Denn dort galt es im Rahmen des Theodizeeproblems eine doppelte Schwierigkeit zu überwinden, nämlich die göttliche freie Wahl der zu schaffenden Welt mit der menschlichen Freiheit in dieser Welt zu versöhnen. In den Nouveaux Essais geht es hingegen allein um menschliche Freiheit als vernunftgeleitete henfolge: „Zur Freiheit gehört Wahl und Spontaneität.“ (Ropohl, Heinrich: Das Eine und die Welt. Versuch zur Interpretation der Leibniz’schen Metaphysik, Leipzig 1936 (Buchausgabe), § 50, S. 79). Die Spontaneität kommt nach Leibniz aber allen Monaden zu, auch den unfreien. Heideggers handschriftliches „Referat über die Dissertation von Heinrich Ropohl: ,Wahrheit, Welt und Metaphysik bei Leibniz‘ “ (datiert 16. Mai 1932) ist abgedruckt in: Cristin, Renato/ Sakai, Kiyoshi (Hrsg.): Phänomenologie und Leibniz, Freiburg/München 2000, S. 294 f. (Hier sind auch Auszüge aus der Buchausgabe von Ropohls Dissertation aufgenommen (ebd., S. 266 – 293)). 257 Theod. III, § 291; GP VI, 289. 258 Bien raisonner est en nostre pouvoir (März 1689 bis März 1690 (?)); A VI 4, 1640; Grua I, 327. 259 „Libertas seu dominium in nostras actiones“ (Notes sur G. Burnet (1705 ?); Grua II, 464 – 473, hier 475). 260 Theod. III, § 289; GP VI, 288 f.; Nouveaux Essais II 21, § 8; A VI 6, 175; GP V, 160 f.; Initia et Specimina Scientiae novae Generalis, H; GP VII, 110; Bien raisonner est en nostre pouvoir; A VI 4, 1640; Grua I, 327. 261 Initia et Specimina Scientiae novae Generalis, H; GP VII, 109. 262 Nouveaux Essais II 21; A VI 6, 168 – 212; GP V, 155 – 197. 263 Vgl. Poser: Leibniz’ Philosophie, S. 235 f.; ferner Leibniz, Gottfried Wilhelm: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand/Nouveaux Essais sur l’Entendement Humain, Buch I–II, hrsg. und übers. von Wolf von Engelhardt und Hans Heinz Holz (Philosophische Schriften, Bd. III, 1. Hälfte), Darmstadt 1959, S. 241, Anm. d. Übers.

§ 15 Das Problem der Freiheit in den „Nouveaux Essais“

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Selbstbestimmung im Spannungsfeld von verworrenen Perzeptionen, Instinkten, Trieben und Vernunft.“264

In den „Nouveaux Essais“ unterscheidet Leibniz zwischen der Handlungsfreiheit („liberté de faire“) und der Willens- oder Entscheidungsfreiheit („liberté de vouloir“), eine Unterscheidung die auch in der heutigen Diskussion in der Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der Neurowissenschaften häufig aufgegriffen wird. Wenn Freiheit überhaupt möglich ist, dann müsste man auch den Tieren Handlungsfreiheit zusprechen. Es stellt sich dann die Frage, worin sich die menschliche Freiheit von derjenigen der Tiere unterscheidet. Die beiden genannten Arten von Freiheit gehören für Leibniz zur tatsächlichen Freiheit („liberté de fait“), die er wiederum von der rechtlichen Freiheit („liberté de droit“) (im weiteren Sinne also von der politischen Freiheit) abgrenzt.265 Für Liske liegt ein gewisser Mangel an Systematik bei Leibniz nicht zuletzt daran, „daß der für die Spontaneität konstitutive Gegensatz der Selbstbestimmung zur Fremdbestimmung auf verschiedenen Ebenen auftritt“.266 Zur tatsächlichen Freiheit schreibt Leibniz in den „Nouveaux Essais“: „Die tatsächliche Freiheit besteht entweder in dem Vermögen, das zu tun, was man will, oder in dem Vermögen des richtigen Wollens selbst.“267 „La liberté de fait, consiste ou dans la puissance de faire ce qu’on veut, ou dans la puissance de vouloir comme il faut.“268

Bei der Freiheit des Handelns unterscheidet man zwischen einer Freiheit „im Allgemeinen“ („generalement“), wenn man über die „Mittel“ („moyens“) verfügt, das zu tun, was man will, und einer Freiheit „im Besonderen“ („particulierement“).269 Unter der Letzteren versteht man vor allem „den freien Gebrauch unseres Körpers (Leibes)“ („l’usage libre de nostre corps“).270 Eine Gefangenschaft und gewisse Krankheiten, z. B. eine Lähmung, bedeuten daher eine Einschränkung unserer Handlungsfreiheit. Bei der Willens- oder Entscheidungsfreiheit werden gleichfalls zwei Bedeutungen unterschieden: „In der einen setzt man sie der Unvollkommenheit oder Sklaverei des Geistes entgegen, in der der Geist unter einem Zwange und einer Hemmung, wenngleich diese von innen stammen, handelt, wie dies bei den Leidenschaften der Fall ist; in der anderen Bedeutung bildet die Freiheit den Gegensatz der Notwendigkeit.“271 264

Poser: Leibniz’ Philosophie, S. 239. Nouveaux Essais II 21, § 8; A VI 6, 175; GP V, 160. 266 Liske: Leibniz’ Freiheitslehre, § 41, S. 204 f. 267 Übersetzung nach: Leibniz, Gottfried Wilhelm: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, übers., mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Ernst Cassirer, Neuausg., Hamburg 1996 (Philosophische Bibliothek, Bd. 498), S. 150. 268 Nouveaux Essais II 21, § 8; A VI 6, 175; GP V, 160. 269 Nouveaux Essais II 21, § 8; A VI 6, 175; GP V, 160. 270 Nouveaux Essais II 21, § 8; A VI 6, 175; GP V, 160 f. 271 Übersetzung nach: Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, übers. von Cassirer, S. 150. 265

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1. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Leibniz „[…] l’un est quand on l’oppose à l’imperfection ou à l’esclavage de l’esprit, qui est une coaction ou contrainte, mais interne comme celle qui vient des passions; l’autre sens a lieu quand on oppose la liberté à la necessité.“272

Was die Notwendigkeit betrifft, verweist Leibniz auch hier darauf, dass der Willensakt, der als solcher vom Verstand zu unterscheiden ist, nicht einer absoluten oder metaphysischen Notwendigkeit unterliegt, sondern kontingent ist: „Aber die Freiheit des Geistes, die der Notwendigkeit entgegengesetzt ist, betrifft den bloßen Willen, und zwar sofern er vom Verstand unterschieden ist. Sie ist das, was man Entscheidungsfreiheit (franc arbitre273) nennt, die darin bestehen soll, dass die stärksten Gründe oder Eindrücke, die der Verstand dem Willen darbietet, den Willensakt nicht daran hindern, kontingent zu sein, und ihm keine absolute und sozusagen metaphysische Notwendigkeit auferlegen. Und in diesem Sinne pflege ich zu sagen, dass der Verstand den Willen bestimmen kann gemäß den überwiegenden Perzeptionen und Gründen, die ihn zwar auf eine sichere und unfehlbare Weise (zu einer Entscheidung) geneigt machen, ohne ihn jedoch zu nötigen.“274 „Mais la liberté de l’esprit opposée à la necessité regard la volonté nuë, et entant qu’elle est distinguée de l’entendement. C’est ce qu’on appelle le franc arbitre, et consiste en ce qu’on veut que les plus fortes raisons ou impressions, que l’entendement presente à la volonté, n’empechent point l’acte de la volonté d’estre contingent, et ne luy donnet point une necessité absolue et pour ainsi dire metaphysique. Et c’est dans ce sens que j’ay coutume de dire, que l’entendement peut determiner la volonté suivant la prevalence des perceptions et raisons d’une maniere qui lors même qu’elle est certaine et infaillible, incline sans necessiter.“275

Für das Verhältnis von Wille und Akt zeigt sich in den „Nouveaux Essais“ „eine ähnliche Struktur wie im Verhältnis von Instinkt und Akt“:

272

Nouveaux Essais II 21, § 8; A VI 6, 175; GP V, 160. Lateinisch „liber arbitrium“ oder französisch „franc arbitre“ ist die „Entscheidungsfreiheit“. „Arbiter“ ist der Schiedsrichter (vgl. Walde, A./Hofmann, J. B.: Lateinisches etymologisches Wörterbuch, 6., unveränderte Aufl., Heidelberg 2007 – 2008, Bd. 1, S. 62) und das „arbitrium“ sein Schiedsspruch oder seine Entscheidung (vgl. auch die Formulierung in der Zusammenfassung von § 13 des „Discours de métaphysique“ (Hervorhebungen vom Verfasser): „le libre arbitre de Dieu ou des creatures dont le choix a tousjours ses raisons qui inclinent sans necessiter“ (A VI 4, 1546; GP II, 12; vgl. insbes. Leibniz’ Brief an Isaac Jaquelot; GP VI, 571 f.; Leibniz’ Brief an Lady Damaris Masham, September 1704; GP III, 363 f.)). Ein guter Schiedsrichter trifft seine Entscheidung nicht aus Willkür, sondern aus Gründen, die seine Entscheidung rechtfertigen. 274 Übersetzung vom Verfasser (vgl. die folgenden Übersetzungen: Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, übers. von Cassirer, S. 150 f.; Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand/Nouveaux Essais sur l’Entendement Humain, Buch I–II, übers. von Engelhardt und Holz (Philosophische Schriften, Bd. III, 1. Hälfte), S. 255 – 257). 275 Nouveaux Essais II 21, § 8; A VI 6, 175; GP V, 161. 273

§ 15 Das Problem der Freiheit in den „Nouveaux Essais“

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„Die Willens-Disposition wird durch eine Perzeption und durch eine zukunftsbezogene, am Finalgrund des Glücks ausgerichtete Reflexion dynamisch zum Wollen und führt damit zum Akt.“276

Auf das in den „Nouveaux Essais“ dargelegte Verhältnis von Instinkt, Wille, und Freiheit, die wesenhaft eine „Freiheit des Geistes“ („liberté de l’esprit“) ist, kann hier nicht weiter eingegangen werden.277 Es ist festzuhalten, dass für Leibniz unsere Instinkte (instincts) und Leidenschaften (passions), die aber nicht einfach gleichgesetzt werden dürfen,278 von unserem Verstande „regiert“ werden müssen. In einem in deutscher Sprache verfassten Bruchstücke zur „Scientia generalis“ heißt es: „Es muß aber solcher instinct von dem verstande regieret und sonderlich mäßigkeit dabey gehalten werden.“279 Leibniz fordert somit keine völlige Unterdrückung oder Ausschaltung unserer Instinkte, Gewohnheiten und Leidenschaften, sondern nur deren Beherrschung im Sinne einer vernunftgeleiteten Ausrichtung zum Guten. Die „Nouveaux Essais“ folgen in ihrer Form und Gliederung John Lockes 1689 in der ersten Fassung erschienenem Hauptwerk „An Essay Concerning Human Understanding“. Damit ist aber auch, wie Ernst Cassirer bemerkt, eine gewisse Bindung vorgegeben: „Aber diese Anlehnung an die Form und Gliederung der Lockeschen Schrift führt freilich unvermerkt zugleich eine innere Bindung mit sich. Die Ordnung, in der die Probleme sich bei Locke folgen, entspricht seiner Grundanschauung von der Art ihrer sachlichen Abhängigkeit.“280

Für Locke ist ein handelndes Wesen dann frei, wenn es in der Lage ist, eine von ihm intendierte Handlung selbst zu vollziehen oder eine nicht gewollte Handlung zu unterlassen, d. h. wenn es nicht von einer äußeren Kraft an der Ausführung gehindert oder zu einer nicht gewollten Handlung gezwungen wird. Zusammenfassend heißt es in § 27 von Kapitel XXI des zweiten Buchs seines Werks „An Essay Concerning Human Understanding“: „Somit besteht die Freiheit also darin, daß wir imstande

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Poser: Leibniz’ Philosophie, S. 237 f., vgl. S. 245. Vgl. Poser: Leibniz’ Philosophie, S. 228 – 246. Zu weiteren Texten, in denen sich Leibniz mit einer Theorie des Willens befasst, vgl. Parkinson, George Henry Radcliffe: Leibniz on Human Freedom, Wiesbaden 1970 (Studia Leibnitiana – Sonderheft 2), S. 18 – 34. 278 Vgl. Addition à l’Explication du systeme nouveau touchant l’union de l’ame et du corps; GP IV, 572 – 577, hier 576 f. 279 Initia et Specimina Scientiae novae Generalis, I; GP VII, 111 – 117, hier 113. Das mittelhochdeutsche Wort „mâze“ hat – neben der (engeren) Bedeutung zu- und angemessene Menge oder Ware, richtig gemessene, gehörige Größe – auch die Bedeutung Angemessenheit, Art und Weise, das Maßhalten, die sittliche Mäßigung, Bescheidenheit (vgl. Lexer, Matthias: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, mit einer Einleitung von Kurt Gärtner, 2., unveränderte Aufl., Stuttgart 2017, Bd. I, Sp. 2064 f.). 280 Cassirer, Ernst: Einleitung, in: Gottfried Wilhelm Leibniz, Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, übers., mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Ernst Cassirer, Neuausg., Hamburg 1996, S. XI–XXXI, hier S. XIII. 277

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1. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Leibniz

sind, zu handeln oder nicht zu handeln, je nachdem wie wir wählen oder wollen.“281 Dagegen können für Leibniz auch unsere inneren Neigungen als Handlungsmotiv zu einer Quelle der Unfreiheit oder Fremdbestimmung werden, und zwar dann, wenn wir uns von unseren Leidenschaften bestimmen lassen.282 Auch die Leidenschaft (passion) wird von Leibniz als „eine Unvollkommenheit“ („une imperfection“) angesehen, weshalb sie sich bei Gott nicht findet.283 Ferner macht erst Leibniz deutlich, „daß der Konstitutions- und Bestimmungsprozeß, in welchem die Vorstellung einer einzelnen Handlung und die sie betreffende Entscheidungsfrage gebildet werden, eine aktive Leistung des Subjekts und ein wesentliches Moment seiner Freiheit darstellt“.284

§ 16 Freiheit als Herrschaft der Vernunft über die Leidenschaften und als Vervollkommnung unserer eigenen menschlichen Natur als Vernunftwesen Es soll nochmals auf das zu wenig beachtete Bruchstück H zur „Scientia generalis“ hingewiesen werden, in dem Leibniz eine Definition der Freiheit und der anderen in diese begriffliche Bestimmung eingehenden Begriffe (Spontaneität, Kontingenz, Nötigung, Indifferenz usw.) gibt. Das Fragment ist sowohl in lateinischer als auch in französischer Sprache verfasst. Da sich der lateinische und der französische Text an einigen Stellen in ihrer Formulierung etwas unterscheiden (und ergänzen), werden, was die Leidenschaften (passiones, passions) betrifft, zur Übersetzung des Verfassers beide Textvarianten angeführt: 281 „In this then consists Freedom, in our being able to act, or not to act, according as we shall chuse, or will.“ (Locke, John: An Essay Concerning Human Understanding, ed. with an introduction, critical apparatus and glossary by Peter H. Nidditch, Oxford 1987, S. 248, vgl. § 8, S. 237 f.; Übersetzung nach: Locke, John: Versuch über den menschlichen Verstand, in vier Büchern, Bd. I: Buch I und II, 5., durchges. Aufl., Hamburg 2000 (Philosophische Bibliothek, Bd. 75), S. 297, vgl. S. 283). (Diese Definition behält Locke auch in den späteren Redaktionen seines Haupwerks bei). 282 Aber zumindest heißt es bei John Locke in der Zusammenfassung zu § 53 von Kapitel XXI des zweiten Buchs seines Hauptwerks bereits: „Die Beherrschung unserer Leidenschaften ist die wahre Vervollkommnung der Freiheit.“ („Government of our Passions the right improvement of Liberty.“) (Locke: An Essay Concerning Human Understanding, ed. by Nidditch, S. 267, vgl. S. 25 (The Contents); Übersetzung nach: Locke: Versuch über den menschlichen Verstand, Bd. I, S. 321). 283 Theod. III, § 337, vgl. § 319; GP VI, 314 f., vgl. 305 f. 284 Jacobi, Klaus: Locke und Leibniz über den Begriff der menschlichen Freiheit und über die Motivation menschlichen Wollens und Wählens (Ess. – Nouv. Ess. II c. 21), in: Theoria com praxi. Zum Verhältnis von Theorie und Praxis im 17. und 18. Jahrhundert (Akten des III. Internationalen Leibnizkongresses, Hannover, 12. bis 17. November 1977), Bd. I, Wiesbaden 1980 (Studia Leibnitiana – Supplementa, Bd. 19), S. 194 – 205, hier S. 204 (Hervorhebung vom Verfasser).

§ 16 Freiheit als Herrschaft der Vernunft über die Leidenschaften

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„Die Freiheit ist umso größer, je mehr man sein Handeln von der Vernunft leiten lässt, und umso größer ist die Knechtschaft, je mehr man gemäß den Leidenschaften (der Seele) handelt. Denn je mehr wir gemäß der Vernunft handeln, desto mehr verfolgen wir die Vervollkommnung unserer (eigenen) Natur, und je mehr wir uns von unseren Leidenschaften mitreißen lassen, umso mehr sind wir Sklaven der äußeren Dinge, die wir erleiden.“ „Eo major est libertas, quo magis agitur ex ratione, et eo major est servitus, quo magis agitur ex animi passionibus. Nam quatenus agimus ex ratione, eo magis sequimur perfectionem nostrae naturae; quo vero magis ex passionibus agimus, eo magis servimus potentiae rerum extranearum.“285 „Plus on agit suivant la raison, plus on est libre, et il y a d’autant plus de servitude qu’on agit plus par les passions. Car plus nous agissons suivant la raison, plus nous agissons selon les perfections de nostre propre nature, et à mesure que nous nous laissons emporter par les passions, nous sommes esclaves des choses externes qui nous font patir.“286

Hervorzuheben ist der Hinweis auf „unsere eigene (eigentliche) Natur“ („nostre popre nature“), unser menschliches Wesen, dessen Vervollkommnung wir anstreben sollten, womit wir uns auch dem göttlichen Wesen annähern würden. Gegenüber den anderen Lebewesen (Pflanzen und Tiere) sind wir als ein mit Vernunft ((art-)spezifische Differenz, differentia specifica) begabtes Lebewesen (nächsthöhere Gattung oder allgemeinerer Oberbegriff, genus proximum) ausgezeichnet, als ein „animal rationale“ oder (nach Leibniz) „animal cogitans“287. Wie Leibniz nur im (hier aus285

GP VII, 109; vgl. auch Animadversiones ad Cartesii Principia (Statera Cartesianismi), In partem primam, Ad artic. (37) – (39); A VI 5 (Vorausedition), N. 3129 (Fassung 1691 nach vorläufiger Datierung), N. 3130 (Fassung Juni 1699 nach vorläufiger Datierung); GP IV, 350 – 392, hier 362 f.; Confessio Philosophi; A VI 3, 133; Leibniz: Confessio philosophi, Kritische Ausgabe von Saame, S. 82. 286 GP VII, 110; vgl. auch Conversation sur la liberté et le destin (1699 – 1703 ?); Grua II, 478 – 486, hier 481. 287 C 438 (Table de définitions). Die scholastische Formulierung der klassischen Definitionsregel (vgl. schon Aristoteles: Topica A 8, 103 b 15 f.) lautet: „definitio fi(a)t per genus proximum et differentiam specificam.“ (Vgl. Art. Definition in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Ritter [u. a.], Bd. 2, Sp. 31 – 42; Handbuch philosophischer Grundbegriffe, hrsg. von Hermann Krings, Hans Michael Baumgartner und Christoph Wild, Studienausgabe, München 1973 – 1974, Bd. 1, S. 268 – 274) Thomas von Aquin nennt in der „Summa Theologiae“ (pars I, quaestio 3, art. 5) als Beispiel einer Definition „ex genere et differentia“ das „animal rationale“ (Sancti Thomae Aquinatis doctoris angelici Opera omnia, iussu impensaque Leonis XIII P. M. edita, Tom. IV: Pars prima Summae Theologiae a quaestione I ad quaestionem XLIX, cura et studio fratrum praedicatorum, Romae 1888, S. 43 f.). Auch Leibniz zieht das Beispiel des „animal rationale“ in seinen logischen Schriften immer wieder heran (vgl. u. a. A VI 4, 10 – 12, 143 – 146, 150 – 154, 201 – 216, 223 – 226, 280 – 285, 289 – 296). Gegen den üblichen Gebrauch der Definitionsregel formuliert Leibniz in seiner Schrift „De Synthesi et Analysi universali seu Arte inveniendi et judicandi“ (Sommer 1683 bis Anfang 1685 (?)) unter Heranziehung eines Beispiels aus der Geometrie den Einwand, dass in einer (nur) „nominalen Definition“ („definitio nominalis“) „dennoch nicht feststehe, ob sie möglich sei, ob also die Definition eine reale sei“ („tamen non constaret an esset possibilis, nec proinde an definitio esset realis“) (A VI 4, 538 – 545, hier 540 f.; GP VII, 292 – 298, hier 293 f. (Übersetzung vom Verfasser); vgl. die Übersetzung unter dem Titel „Über die universale Synthese und Analyse oder über die Kunst des Auffindens und Beurteilens“ in: Leibniz,

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1. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Leibniz

führlicheren) französischen Text erläutert, werden wir, indem wir der Vernunft, d. h. der Vervollkommnung unserer eigenen Natur folgen, insofern freier, als wir in unserer Wahl weniger gestört werden („que nous serons moins embarrassés du choix“288). Gott ist dagegen in seinem Handeln und in seiner Wahl in keiner Weise gestört oder behindert.289 Darin liegt gerade seine höchste Form der Freiheit.290 Erst unsere Erleuchtung („que nous avons des lumieres“291) durch die Einsicht der Vernunft ermöglicht es uns im eigentlichen Sinne, uns unserem eigenen Wesen gemäß frei zu entscheiden und zu wählen. Im Vordergrund steht also unsere Wahl- oder Entscheidungsfreiheit (liber arbitrium, franc arbitre, libre arbitre). Eine im Leibniz’schen Sinne in freier Wahl vollzogene sittliche Entscheidung (electio) setzt unsere Vernufteinsicht der zur Wahl stehenden Alternativen voraus. Damit aber eine solche freie Entscheidung überhaupt vollzogen werden kann, darf aber Kontingenz nicht fehlen: „Warum Kontingenz bei einer nicht spinozistisch verkürzten, sondern in ihrem Vollsinn erfaßten Freiheit nicht fehlen darf, erhellt vor allem daraus, daß Freiheit die Grundlage für eine moralische Verantwortung bilden soll.“292

§ 17 Deutliche und verfließende Perzeptionen und die Bedeutung der „kleinen Perzeptionen“ („petites perceptions“) Bereits in § 33 des „Discours de métaphysique“ erläutert Leibniz, dass unsere sinnlichen Perzeptionen notwendig eine Art von konfuser Empfindung enthalten müssen. Lateinisch „confusus“ (französisch „confus“) wird von Heidegger mit „verfließend“ übersetzt.293 Entsprechend Heideggers Übersetzung und Auslegung der Schrift „Meditationes De Cognitione, Veritate, et Ideis“ heißt es in dem Protokoll der 11. Sitzung seines Leibniz-Seminars vom Wintersemester 1935/36: „Für Leibniz ist die Vorstellung (cognitio, notio) dunkel [obscura] oder klar [clara], die klare Gottfried Wilhelm: Schriften zur Logik und zur philosophischen Grundlegung von Mathematik und Naturwissenschaft, hrsg. und übers. von Herbert Herring (Philosophische Schriften, Bd. IV), Darmstadt 1992, S. 131 – 151, hier S. 139 – 141; vgl. auch Meditationes De Cognitione, Veritate, et Ideis; A VI 4, 586 – 590; GP IV, 423 – 425). 288 GP VII, 111; vgl. auch Leibniz’ fünftes Schreiben an Clarke, § 7; GP VII, 390. 289 Vgl. Theod. II, § 117; GP VI, 167 f.; Causa Dei, § 6; GP VI, 439. 290 Vgl. Leibniz’ fünftes Schreiben an Clarke, § 7; GP VII, 390; Discours de métaphysique, § 3; A VI 4, 1533 f.; GP IV, 428 f. 291 GP VII, 111. 292 Liske: Leibniz’ Freiheitslehre, § 42, S. 209. 293 Vgl. auch unter „konfus“ in: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, erarbeitet unter der Leitung von Wolfgang Pfeifer, S. 704. Zur Auslegung der confusio im Weltbezug vgl. Ropohl: Das Eine und die Welt, §§ 23 – 25.

§ 17 Deutliche und verfließende Perzeptionen

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entweder verfließend [confusa] oder deutlich [distincta], diese unangemessen [inadaequata] oder angemessen [adaequata], symbolisch [symbolica] oder intuitiv [intuitiva].“294 Die Textstelle aus dem „Discours“ (§ 33) lautet nach der Übersetzung des Verfassers: „Man sieht auch, dass die Perzeptionen unserer Sinne, selbst wenn sie klar sind, eine Art verfließender Empfindung enthalten müssen; denn da alle Körper des Universums sympathetisch verbunden sind, erhält der unsere (unser Leib) einen Eindruck von allen anderen, und da unsere Sinne uns mit allem verbinden, ist es nicht möglich, dass unsere Seele auf alles im Besonderen achten kann. Unsere verfließenden Empfindungen sind deshalb das Ergebnis einer in der Tat unendlichen Vielfalt von Perzeptionen. Ungefähr so kommt auch das verschwommene Rauschen, das man bei der Annäherung an den Meeresstrand vernimmt, von der Anhäufung des Zurückpralls unzähliger Wellen.“ „On voit aussi que les perceptions de nos sens, lors mêmes qu’elles sont claires, doivent necessairement contenir quelque sentiment confus, car comme tous les corps de l’univers sympathisent, le nostre reçoit l’impression de tous les autres, et comme nos sens nous renoncent tout, il n’est pas possible que nostre ame puisse attendre à tout en particulier; c’est pourquoy nos sentimens confus sont le resultat d’une varieté de perceptions, qui est tout à fait infinie. Et c’est à peu près comme le murmure confus qu’entendent ceux qui approchent du rivage de la mer, vient de l’assemblage des repercussions des vagues innumerables.“295

Das Beispiel des aus einer Vielzahl von einzelnen Wellen bestehenden „Meeresrauschens“ („mugissement“) greift Leibniz später auch im Vorwort der „Nouveaux Essais“ auf, um das Wesen und die Bedeutung der „kleinen Perzeptionen“ („petites perceptions“), die er auch „unmerkliche Perzeptionen“ („perceptions insensibles“) nennt, besser fassen zu können.296 Es ist noch zu bemerken, dass für Leibniz unsere (reinen) Perzeptionen immer „wahr(haft)“ („veritable“) (im Sinne von unverfälscht, echt297) sind, nicht jedoch unsere Urteile, die uns täuschen können.298 Die kleinen Perzeptionen haben aber einen entscheidenden Einfluss auf unsere Handlungen: 294

Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1 (GA 84.1), S. 637 (Ergänzung der lateinischen Termini in eckigen Klammern vom Verfasser), vgl. S. 436 (A Nr. 45) und 513 (A Nr. 152); vgl. auch Metaphysische Anfangsgründe der Logik (GA 26), § 4, S. 74; vgl. dazu Meditationes De Cognitione, Veritate, et Ideis; A VI 4, 585 f.; GP IV, 422. 295 Discours de métaphysique, § 33; A VI 4, 1582 f.; GP IV, 459. 296 Nouveaux Essais, Préface; A VI 6, 53 – 55; GP V, 46 – 48. 297 Als Beispiel kann in Anlehnung an Heideggers Vortrag „Vom Wesen der Wahrheit“ (Wegmarken (GA 9), S. 177 – 202, hier S. 179) unsere eigene reine Empfindung genannt werden, die wir als „eine wahre Freude“, „eine reine, wirkliche Freude“ bezeichnen. 298 Discours de métaphysique, § 14; A VI 4, 1550; GP IV, 439; vgl. auch Theod., Discours préliminaire, § 64 f.; GP VI, 86 f. Leibniz’ Gedanke, dass die Möglichkeit der Täuschung nicht schon in unserer Wahrnehmung als solcher, sondern erst in unserem Verknüpfen, Denken und Urteilen liegt, geht bis auf die Antike zurück (vgl. z. B. Aristoteles: De anima C 3, 427 b 11 – 14; vgl. auch Thomas de Aquino: Quaestiones disputatae de veritate, quaestio 2, art. 12, corp., in: Sancti Thomae de Aquino Opera omnia, iussu Leonis XIII P. M. edita, Tom. XXII: Quaestiones disputatae de veritate, cura et studio fratrum praedicatorum, Vol. I: Praefatio – QQ. 1 – 7, Roma 1975, S. 83, Z. 152 – 163). Leibniz begründet die Wahrheit unserer Perzeptionen allerdings

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1. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Leibniz „Alle unsere ohne ausdrücklichen Entschluß ausgeführten Handlungen sind die Ergebnisse eines Zusammenwirkens kleiner Perzeptionen. Selbst unsere Gewohnheiten und Leidenschaften, die so viel Einfluß auf unsere Entschlüsse haben, kommen daher.“299 „Toutes nos actions indeliberées sont des resultats d’un concours de petites perceptions, et même nos coustumes et passions, qui ont tant d’influence dans nos deliberations, en viennent; […].“300

Diese „unmerklichen Eindrücke“ („impressions insensibles“) sind auch ein Grund dafür, dass es „eine gänzliche Indifferenz“ („une entiere indifference“) (im Sinne des „Esels des Buridan“) unserer moralischen Entscheidungen nicht geben kann.301

§ 18 Das Problem der göttlichen Erkenntnis und Voraussicht unserer undeutlichen Perzeptionen für die prästabilierte Harmonie Wir wollen nun zur „Théodicée“ zurückkehren. „Die deutliche Erkenntnis oder die Einsicht“ („La connoissance distincte ou l’intelligence“) ist für Leibniz „beim wahren Vernunftgebrauch angesiedelt“ („a lieu dans le veritable usage de la Raison“).302 Unsere Sinne jedoch gewähren uns (abgesehen von einem kleinen Teil der Dinge, deren Vorstellung für uns jeweils am unmittelbarsten oder größten ist303) nur „verfließende Gedanken“ („pensées confuses“).304 Daher haben wir nicht „die volle Geistesfreiheit“ („toute la liberté d’esprit“).305 Eine solche ungestörte und vollkommene Freiheit besitzt nur der Wille Gottes, da alle intelligenten Geschöpfe irausdrücklich mit der Wahrheit von Gottes Blick („comme la veue de Dieu est tousjours veritable“) (Discours, § 14; A VI 4, 1550; GP IV, 439). 299 Übersetzung nach: Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand/ Nouveaux Essais sur l’Entendement Humain, Buch I–II, übers. von Engelhardt und Holz (Philosophische Schriften, Bd. III, 1. Hälfte), Buch II, Kap. 1, § 15, S. 113. 300 Nouveaux Essais II 1, § 15; A VI 6, 115 f.; GP V, 105; vgl. auch Nouveaux Essais II 20, § 6; A VI 6, 166; GP V, 152 f. 301 Nouveaux Essais II 1, § 15; AVI 6, 116; GP V, 105. Zum „Esel des Buridan“ („l’âne de Buridan“) vgl. Leibniz’ Brief an Isaac Jaquelot (nach dem 12. September 1704); GP VI, 567 – 573, hier 571; Theod. I, § 49; GP VI, 129 f.; Theod. III, § 307; GP VI, 298. Das Beispiel des zwischen zwei gleichen Heuhaufen (oder Wiesen) stehenden Esels, der sich nicht entscheiden kann und verhungert, kommt allerdings bei Johannes Buridan (um 1295 bis bald nach 1358) nicht vor. Der Grundgedanke dieses Vergleichs stammt von Aristoteles (De caelo B 13, 295 b 32 – 34) und ist in einem Kommentar Buridans am Beispiel des Hundes (und nicht des Esels) wiederzufinden (vgl. Art. Buridans Esel, in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, 2. Aufl., Bd. 1, S. 555). 302 Theod. III, § 289; GP VI, 288. 303 Vgl. Monadologie, § 60; GP VI, 617. 304 Theod. III, § 289; GP VI, 288. 305 Theod. III, § 289; GP VI, 288 f.

§ 18 Das Problem der göttlichen Erkenntnis unserer undeutlichen Perzeptionen

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gendwelchen Leidenschaften oder zumindest Perzeptionen unterliegen.306 Auch hier zeigt sich, dass die vollkommene Erkenntnis Gottes das Ideal und den Maßstab der menschlichen Einsicht bildet, auch wenn der Mensch sich diesem Ideal nur annähern, es aber nie erreichen kann. Das Universum wird von Gott in vollkommener Weise erkannt. Es gibt bei Gott keine verfließenden Vorstellungen, selbst wenn sie klar sind, und ebenso keine unangemessenen oder nur symbolischen (blinden) Vorstellungen.307 Wie bereits in § 17 erläutert wurde, werden aber unsere menschlichen Entscheidungen und Handlungen zum Teil auch von verfließenden (und ebenso von dunklen308) Perzeptionen beeinflußt, die undeutlichen Vorstellungen gehen also nicht nur in unser unbewusstes Verhalten, sondern auch in unsere Entscheidungen, die wir ausdrücklich treffen, mit ein. Es besteht, mit Heidegger gesprochen, eine „theologische Differenz“309 zwischen dem endlichen geschaffenen Seienden in seinem Sein und dem unendlichen göttlichen Wesen. Wenn aber Gott allein (und ausschließlich) „eine deutliche Erkenntnis von allem“ („une connoissance distincte de tout“) hat,310 wie kann er dann unsere Entscheidungen und Handlungen, die zumeist oder zumindest teilweise auf undeutlichen Perzeptionen beruhen, als solche vorhersehen (prévoir) und entsprechend den Weltverlauf einrichten (préétablir). Wie können überhaupt Handlungen, die auf undeutlichen Perzeptionen beruhen, eindeutig vorhergesehen werden? Dass sich Leibniz dieser Problematik sehr wohl bewusst ist, zeigt eine Textstelle in § 66 der „Théodicée“.311 Die von ihm angegebene Lösung steht im Zusammenhang mit seiner Lehre der prästabilierten Harmonie von Seele (Monade, einfache Substanz) und Köper und ist auch nur im Rahmen dieser Lehre zu

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Vgl. Theod. III, § 310; GP VI, 300; vgl. dazu auch in § 403 den Verweis auf die „petites perceptions“ (GP VI, 357). 307 Vgl. Theod. III, §§ 310, 319 und 403; GP VI, 300, 305 f. und 356 f. Zur vollkommensten (und damit göttlichen) Erkenntnis (cognitio) heißt es in der Schrift „Meditationes De Cognitione, Veritate, et Ideis“ (1684): „Die vollkommenste Erkenntnis ist sicherlich diejenige, die zugleich adäquat und intuitiv ist.“ („et quidem si simul adaequata et intuitiva sit, perfectissima est.“) (A VI 4, 586; GP IV, 422). 308 Vgl. Nouveaux Essais, Échantillon des réflexions sur les livres I et II de’l Essay de Locke 1698; A VI 6, 15; GP V, 23 f.; Nouveaux Essais II 19, § 4; A VI 6, 161 f.; GP V, 148. 309 Nach Müller, Max: Existenzphilosophie. Von der Metaphysik zur Metahistorik, 4., erw. Aufl., hrsg. von Alois Halder, Freiburg/München 1986, S. 86. 310 Principes de la nature et de la grâce, § 13; GP VI, 604; vgl. Theod. II, § 124; GP VI, 179; Monadologie, § 60; GP VI, 617; Double infinité chez Pascal et Monade (nach 1695 (?)); Grua II, 554 f. (deutsche Übersetzung in: Leibniz: Kleine Schriften zur Metaphysik/Opuscules metaphysiques, übers. von Holz, S. 381 – 385). 311 Eine Vorform der Argumentation findet sich im „Systeme nouveau de la nature et de la communication des substances, aussi bien que de l’union qu’il y a entre l’ame et le corps“ (1695) (GP IV, 477 – 487, hier 485) (Übersetzung unter dem Titel „Neues System der Natur und des Verkehrs der Substanzen sowie der Verbindung, die es zwischen Seele und Körper gibt“ in: Leibniz: Kleine Schriften zur Metaphysik/Opuscules metaphysiques, übers. von Holz, S. 201 – 227, hier S. 221 – 223).

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1. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Leibniz

verstehen und zu begründen. Der wichtige Abschnitt soll in seiner vollen Länge zitiert werden: „Denn soweit die Seele vollkommen ist und deutliche Gedanken hat, hat Gott den Körper der Seele angepasst und im Voraus zur Ausführung ihrer Befehle eingerichtet; soweit (aber) die Seele unvollkommen ist und ihre Perzeptionen verflossen sind, hat Gott die Seele dem Körper angepasst, so dass die Seele sich von den Leidenschaften lenken lässt, die aus den körperlichen Vorstellungen entspringen, was zu derselben Wirkung und demselben Anschein führt, als wenn das eine unmittelbar und mittels eines physischen Einflusses von dem anderen abhinge. Und diese verfließenden Gedanken sind es eigentlich, wodurch die Seele die sie umgebenden Körper darstellt. Dasselbe hat man auch unter alledem zu verstehen, was man sich als die Handlungen der einfachen Substanzen, der einen auf die anderen, vorstellt. Jede gilt als nach dem Maß ihrer Vollkommenheit auf die andere wirkend, wenngleich das nur ideal und in den Gründen der Dinge geschieht, worin Gott gleich im Anbeginn eine Substanz nach der anderen gerichtet hat, je nach der in jeder einzelnen (Substanz) vorhandenen Vollkommenheit oder Unvollkommenheit; obwohl Handeln und Leiden bei den Geschöpfen immer wechselseitig sind, weil ein Teil der Gründe, die zur deutlichen Erklärung des Geschehens dienen, und dazu gedient haben, es existieren zu lassen, in der einen jener Substanzen, ein anderer Teil dieser Gründe in der anderen (Substanz) ist, und die Vollkommenheiten und die Unvollkommenheiten immer vermengt und (zwischen den beiden) verteilt sind. Das veranlasst uns, der einen (Substanz) das Handeln, der anderen das Leiden zuzuschreiben.“312 „Car en tant que l’ame a de la perfection, et des pensées distinctes, Dieu a accommodé le corps à l’ame, et a fait par avance que le corps est poussé à executer ses ordres: et en tant que l’ame est imparfaite, et que ses perceptions sont confuses, Dieu a accommodé l’ame au corps, en sorte que l’ame se laisse incliner par les passions qui naissent des representations corporelles: ce qui fait le même effect, et la même apparence, qui si l’un dependoit de l’autre immediatement, et par le moyen d’une influence physique. Et c’est proprement par ses pensées confuses, que l’ame represente les corps qui l’environnent. Et la même chose se doit entendre de tout ce que l’on conçoit des actions des substances simples les unes sur les autres. C’est que chacune est censée agir sur l’autre à mesure de sa perfection, quoyque ce ne soit qu’idealement et dans les raisons des choses, en ce que Dieu a reglé d’abord une substance sur l’autre, selon la perfection ou l’imperfection qu’il y a dans chacune: bien que l’action et la passion soyent tousjours mutuelles dans les creatures, parce qu’une partie des raisons, qui servent à expliquer distinctement ce qui se fait, et qui ont servi à le faire exister, est dans l’une de ces substances, et une autre partie de ces raisons est dans l’autre, les perfections et les imperfections étant tousjours mêlées et partagées. C’est ce qui nous fait attribuer l’Action à l’une, et la Passion à l’autre.“313

Weil auch für Gott eine rationale, eindeutige und exakte Voraussicht unserer zum Teil nur undeutlichen Gedanken in ihrem Zusammenwirken unmöglich ist, müssen diese den physischen Körpern angepasst werden, die vom allwissenden Schöpfer nach den von ihm eingerichteten Naturgesetzen exakt vorausberechnet werden 312

Übersetzung vom Verfasser (vgl. die folgenden Übersetzungen: Leibniz: Versuche in der Theodicée, übers. von Buchenau, S. 132 f.; Leibniz: Die Theodizee/Essais de Théodicée, übers. von Herring, 1. Hälfte, S. 305). 313 Theod. I, § 66; GP VI, 138 f.; vgl. auch Monadologie, §§ 49 – 52; GP VI, 615.

§ 18 Das Problem der göttlichen Erkenntnis unserer undeutlichen Perzeptionen

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können.314 Es ist offensichtlich, dass hier auch die mathematische Naturwissenschaft der Neuzeit (seit Galileo Galilei) ihre Spuren hinterlassen hat. Noch lange vor Pierre Simon (Marquis de) Laplace315 (1749 – 1827) heißt es bei Leibniz in der kleinen deutschen Schrift, die von Gottschalk Eduard Guhrauer unter dem Titel „Von dem Verhängnisse“316 herausgegeben wurde: „Die Mathematick oder wißkunst kan solche Dinge gar schöhn erleutern, denn alles ist in der Natur mit zahl, maaß und gewicht oder krafft gleichsam abgezirkelt. […] Hieraus siehet man nun, daß alles Mathematisch, daß ist ohnfehlbar zugehe in der ganzen weiten welt, so gar daß wenn einer eine gnugsame insicht in die inneren theile der dinge haben köndte, und dabey gedächtniß und verstand gnug hätte, umb alle umbstände vorzunehmen und in rechnung zu bringen, würde er ein Prophet seyn und in dem gegenwärtigen das zukünfftige sehen, gleichsam als in einem Spiegel.“317

Da Gott gegenüber dem „beschrenckten verstand“318 des Menschen allwissend ist, vermag er den gesamten zukünftigen Verlauf der physischen Natur vorherzusehen bzw. den Weltverlauf entsprechend einzurichten und mit dem Reich der Monaden abzustimmen. Der untere Bereich unserer Perzeptionen, Leidenschaften und Stimmungen läuft, modern gesprochen, weil er (als Epiphänomen319) an die Körper angepasst ist, gleichsam nach physikalisch-chemischen (physiologischen) Gesetzen ab und ist daher auch nach Leibniz unfrei. Es ist aber aus heutiger Sicht in Frage zu stellen, ob sich alle Vorgänge in der physischen Natur überhaupt auf eine Mechanik von Körperbewegungen (oder auch auf einen quantenmechanischen Physikalismus) reduzieren und damit im Prinzip berechnen lassen. Ein nächster und radikalerer Schritt wäre es, auch unsere geistigen und rationalen Leistungen rein naturwissenschaftlich zu erklären, ein Schritt, den die modernen Neurowissenschaften explizit vollzogen haben. Wie auch Michael-Thomas Liske festhält, ist der „Zustand unserer 314

Zur Gültigkeit der Naturgesetze vgl. Liske: Leibniz’ Freiheitslehre, § 37. Gottes Anpassung der Handlungen an die Körper im Falle der dunklen und verfließenden Perzeptionen scheint in einem gewissen Widerspruch zu andern Aussagen von Leibniz zu stehen (vgl. Leibniz’ fünftes Schreiben an Clarke, §§ 92 und 124; GP VII, 412 und 419; Theod. I, § 63; GP VI, 137). Es ist wohl so, dass wir für Leibniz nur in unseren freien geistigen Akten zweckgerichtet handeln. Eine andere Sichtweise findet sich allerdings in den „Nouveaux Essais“ (vgl. Poser: Leibniz’ Philosophie, S. 228 – 246). 315 Laplace, der auf einen Siegeszug der Klassischen Mechanik zurückblicken konnte, hat Leibniz’ Gedanken unter ausdrücklicher Berufung auf das principe de la raison suffisante in seinem erstmals im Jahre 1814 erschienenen „Essai philosophique sur les Probabilités“ in der berühmten Stelle vom „Laplace’schen Dämon“ Ausdruck verliehen (in: Laplace: Œuvres complètes, Tom. VII: Théorie analytique des Probabilités, Paris 1886, S. VI f.). 316 Leibnitz: Deutsche Schriften, hrsg. von G. E. Guhrauer, Bd. II, Berlin 1840, S. 48 – 55, hier S. 48 f. 317 Hier zitiert nach: Initia et Specimina Scientiae novae Generalis, K; GP VII, 117 – 123, hier 118. 318 GP VII, 118. 319 Vgl. Art. Epiphänomenalismus, in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, 2. Aufl., Bd. 2, S. 352 f.

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1. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Leibniz

unbewußten und konfusen Perzeptionen […] von Gott im Hinblick auf den Zustand der Außenwelt geregelt, insofern in diesem die distinkte Erklärung unseres unbewußten oder konfusen Seelenzustands liegt“.320

§ 19 Die philosophiegeschichtliche Einordnung der Leibniz’schen „Théodicée“ Leibniz’ Lösung des Theodizeeproblems wurde spätestens nach dem verheerenden Erdbeben in Lissabon am 1. November (Allerheiligen) 1755 vielfach in Zweifel gezogen oder gar verspottet (z. B. von Voltaire321). Hans Poser gibt aber mit Recht zu bedenken: „Leibnizens Lösung des Theodizeeproblems und des Freiheitsproblems erscheint uns heute unbefriedigend, ja unstimmig; aber bei einer solchen Kritik vergisst man, welches Ziel Leibniz mit seiner Metaphysik verfolgte, nämlich die von jedermann fraglos akzeptierte Gottgeschaffenheit der Welt unter Voraussetzung der göttlichen Eigenschaften der Allmacht und Allweisheit ebenso mit der sichtbaren Schlechtigkeit der Welt zu versöhnen, wie dem neuzeitlichen Gedanken einer Selbstbestimmung des Individuums einen adäquaten Ausdruck zu geben. Dies ist nicht mehr unsere Problemlage; Philosophie hat sich seit Kant davon frei gemacht, theologische Positionen in ihr Begründungsdenken aufzunehmen. Die radikale Subjektivität der Substanz, deren Vereinzelung im Existentialismus zum Problem wird, sind wir geneigt, durch eine Sprach- und Kulturgebundenheit abzufangen. Der Preis, den die Philosophie hierfür hat zahlen müssen, ist der Verzicht auf den Anspruch, ein für alle Mal endgültige Antworten geben zu können: Ihre Antworten sind Lösungsbemühungen in einer gegebenen Problemkonstellation und solange diese Konstellation besteht.“322

Die Frage, inwiefern sich Heidegger der Grenzen nicht nur seines Denkens, sondern überhaupt aller philosophischen Denkansätze bewusst war, wird uns zu Beginn des zweiten Kapitels noch beschäftigen.

320

Liske: Leibniz’ Freiheitslehre, S. 261 (Hervorhebung vom Verfasser), vgl. auch S. 208. Voltaires gegen Leibniz gerichtete Satire „Candide, ou l’optimisme“ erschien 1759 unter dem Pseudonym Docteur Ralph in Genf. Dagegen griff Immanuel Kant u. a. in seiner Schrift „Geschichte und Naturbeschreibung der merkwürdigsten Vorfälle des Erdbebens, welches an dem Ende des 1755sten Jahres einen großen Theil der Erde erschüttert hat“ (1756) (in: Kant: Werke. Akademie-Textausgabe, unveränderter photomechanischer Abdruck, Bd. I: Vorkritische Schriften I: 1747 – 1756, S. 429 – 461) zunächst im Wesentlichen noch die Argumentation der Leibniz’schen Theodizee auf. 322 Poser: Leibniz’ Philosophie, S. 200, vgl. S. 266. 321

2. Kapitel

Heideggers Leibniz-Auslegung im Hinblick auf den Begriff der Zeit und der Zeitlichkeit Eine philosophische End- oder Letztbegründung, die noch Edmund Husserl in seiner transzendentalen Phänomenologie verfolgte, kann es für Heidegger dagegen nicht geben. Er war sich der Grenzen seines und damit jeden Denkens bewusst: „Philosophie wird ihre ,Voraussetzungen‘ nie abstreiten wollen, aber auch nicht bloß zugeben dürfen.“ 1 In diesem Sinne hat auch der späte Heidegger (im Seminar in Le Thor am 5. September 1968) in Bezug auf Hegel gesagt: „Erst wenn man die Grenzen sieht, sieht man den großen Denker.“ Und, indem er sich zu den Anwesenden wandte, fügte er hinzu: „Wenn Sie meine Grenzen sehen, haben Sie mich verstanden. Ich kann sie nicht sehen.“ 2 Mit dem immanenten Wandel von der fundamentalontologischen zur seinsgeschichtlichen Blick- und Fragebahn, der vielberufenen „Kehre“, wurden auch in Heideggers eigenem Denken philosophische Voraussetzungen ausdrücklich, die bislang unbefragt geblieben sind. Daraus ergibt sich auch, dass es keine endgültige und ein für alle Mal wahre Auslegung eines Denkers geben kann.

§ 20 Die Abhebung des „Ungesagten“ als die eigentliche Aufgabe der Auslegung Heideggers Auslegung philosophischer Texte und seine an das jeweilige Denken gestellten Fragen unterscheiden sich in mancherlei Hinsicht von anderen Interpreten. Wenn man also nicht wenigstens einführend Heideggers sehr spezifisches, aus seinem eigenen Denkansatz entspringendes Auslegungsverständnis in Erinnerung ruft, bleibt seine Interpretation unverständlich. Er spricht gelegentlich selbst von der „Gewaltsamkeit“ seiner Auslegungen.3 In seiner Vorlesung vom Sommersemester 1928 bemerkt Heidegger zu Leibniz, dass seine „Interpretation der Monadologie […] 1

Sein und Zeit (GA 2), S. 411 (S. 310 ) . Heideggers Worte, die nicht in die Seminarprotokolle der „Vier Seminare“ (in: Seminare (GA 15), S. 286 – 352) aufgenommen wurden, sind überliefert von Jean Beaufret (Beaufret, Jean: Wege zu Heidegger (Dialogue avec Heidegger I, aus dem Französischen übers. von Cristina Maihofer), Frankfurt a. M. 1976, S. 17). 3 Vgl. Kant und das Problem der Metaphysik (GA 3), S. XVII (Vorwort zur zweiten Auflage (1950)); ferner Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (GA 65), S. 253. 2

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2. Kap.: Heideggers Leibniz-Auslegung im Hinblick auf den Zeitbegriff

absichtlich übersteigert war“.4 Bereits in seinem Bewerbungsschreiben für die Marburger und die Göttinger Philosophische Fakultät, dem sogenannten „NatorpBericht“ vom Herbst 1922, der nun unter dem Titel „Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (Anzeige der hermeneutischen Situation)“ als Anhang III in den Band 62 der Gesamtausgabe aufgenommen ist, schreibt Heidegger: „Jede Interpretation muß nach Blickstand und Blickrichtung ihren thematischen Gegenstand überhellen. Er wird erst angemessen bestimmbar, wenn es gelingt, ihn nicht beliebig, sondern aus dem zugänglichen Bestimmungsgehalt seiner her ihn zu scharf zu sehen und so durch Zurücknahme der Überhellung auf eine möglichst gegenstandsangemessene Ausgrenzung zurückzukommen. Ein immer nur im Halbdunkel gesehener Gegenstand wird erst im Durchgang durch eine Überhellung gerade in seiner halbdunkelen Gegebenheit faßbar. Als überhellende darf aber die Interpretation nicht zu weit fragen und für sich nicht eine im Sinne der historischen Erkenntnis überhaupt phantastische Objektivität beanspruchen, als träfe sie ein ,Ansich‘.“5

Die Übersteigerung oder Überhellung der Interpretation bildet für Heidegger gegenüber der philosophiehistorischen Forschung erst die Voraussetzung, „ein denkendes Zwiegespräch“6, das auch für den Interpreten neu Denkweisen freizulegen vermag, zu ermöglichen und zu eröffnen, indem sie in das noch Verdeckte oder Ungesagte und damit in das Wesentliche eines Denkens vordringt. Nicht nur für eine Auslegung Kants, sondern „überhaupt in jeder philosophischen Erkenntnis“, schreibt Heidegger in seinem „Kantbuch“ (1929), muss nicht das entscheidend werden, „was sie in den ausgesprochenen Sätzen sagt, sondern was sie als noch Ungesagtes durch das Gesagte vor Augen legt“.7 Ähnlich heißt es schon im einleitenden Teil der Sophistes-Vorlesung vom Wintersemester 1924/25: „Überhaupt ist zu sagen, daß eine Interpretation über das, was zunächst im Text dasteht, hinausgeht. Das ist kein Hineindeuten, sondern es kommt darauf an, das, was bei den Griechen unausdrücklich präsent war, aufzudecken.“8 Auch Eugen Fink bemerkt zu Heideggers Hegel-Deutung: „Die Wucht der Auslegung, welche in scharfer Abwehr gängiger Hegeldeutungen auf das Wesentliche der Gedankenführung zurückzwingt, stößt – wie immer bei Heidegger – auch in das Ungesagte Hegels vor; die Auslegung gibt nicht nur einen Nachvollzug, sie ist in einem höchsten Sinne Auseinandersetzung, der Kampf zweier Denker […].“9 4

Metaphysische Anfangsgründe der Logik (GA 26), S. 270. Phänomenologische Interpretationen ausgewählter Abhandlungen des Aristoteles zur Ontologie und Logik (GA 62), Anhang III, S. 341 – 419, hier S. 372. 6 Kant und das Problem der Metaphysik (GA 3), S. XVII. 7 Kant und das Problem der Metaphysik (GA 3), S. 201. 8 Platon: Sophistes (GA 19), S. 77 f. In diesem Sinne schreibt Hans-Georg Gadamer in seinem Hauptwerk „Wahrheit und Methode“: „Nicht nur gelegentlich, sondern immer übertrifft der Sinn eines Textes seinen Autor.“ (Gadamer: Hermeneutik I: Wahrheit und Methode (Gesammelte Werke, Bd. 1), S. 301). 9 Fink, Eugen: Sein und Mensch. Vom Wesen der ontologischen Erfahrung, hrsg. von Egon Schütz und Franz-Anton Schwarz, Freiburg/München 2004, S. 165. 5

§ 21 Die Übersetzung als hermeneutische Aufgabe

93

Aber ist damit nicht der Beliebigkeit einer Auslegung Tür und Tor geöffnet? Tragen wir nicht damit, indem wir auf das „Ungesagte“ verweisen, die „Vorurteile“ des Interpreten an einen Text heran? Mit den Worten von Heideggers Schüler HansGeorg Gadamer gilt es, „legitime Vorurteile“ von sachunangemessenen Vorurteilen zu unterscheiden.10 „Ein mit methodischem Bewußtsein geführtes Verstehen wird bestrebt sein müssen“, schreibt Gadamer an anderer Stelle, „seine Antizipationen nicht einfach zu vollziehen, sondern sie selber bewußt zu machen, um sie zu kontrollieren und dadurch von den Sachen her das rechte Verständnis zu gewinnen“.11 Die prinzipielle Offenheit und Unabschließbarkeit der Auslegung wird von Gadamer wie von Heidegger eigens hervorgehoben. Es gibt keine „Auslegung, die beziehungslos, d. h. absolut gültig sein könnte“.12 Vollkommene sachliche „Neutralität“ oder gar „Selbstauslöschung“ des Interpreten ist letztlich unmöglich. Die hermeneutische Situation der Auslegung, die im Wesen der Frage zur abhebenden Aneignung kommen soll, bestimmt den „Richtungssinn“13, auf den hin ein Text ausgelegt wird. Die Hinsicht als die bestimmte Auslegbarkeit, auf die hin das Dasein das Befragte „anschneidet“, bezeichnet Heidegger in § 32 von „Sein und Zeit“ als Vorsicht, die mit Vorhabe und Vorgriff wesenhaft die „Auslegung von Etwas als Etwas“ fundiert.14 „Jede Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Interpretationen eines Werkes“ ist für Heidegger „in Wahrheit eine wechselseitige Besinnung auf die leitenden Voraussetzungen“.15

§ 21 Die Übersetzung als hermeneutische Aufgabe Mit dem Problem der Auslegung eng verbunden ist die Frage nach einer angemessenen Übersetzung der zumeist in französischer oder lateinischer Sprache verfassten Texte von Leibniz. Zur Übersetzung von Platons „Theätet“ bemerkt Heidegger in seiner Vorlesung vom Wintersemester 1931/32: „Für die selbständige Arbeit am Dialog freilich ist der Urtext zugrundezulegen, und das sagt zugleich: eine eigene Übersetzung. Denn eine Übersetzung ist nur das letzte Ergebnis einer

10

Gadamer: Hermeneutik I: Wahrheit und Methode, S. 281 f., vgl. S. 301, 304. Gadamer, Hans-Georg: Vom Zirkel des Verstehens (1959), in: Hans-Georg Gadamer, Hermeneutik II: Wahrheit und Methode. Ergänzungen, Register (Gesammelte Werke, Bd. 2), 2., durchges. Aufl., Tübingen 1993, S. 57 – 65, hier S. 61. 12 Was heißt Denken? ( GA 8), S. 181. 13 Gadamer: Hermeneutik I: Wahrheit und Methode, S. 368. 14 Sein und Zeit (GA 2), S. 199 f. (S. 150). 15 Was heißt Denken? (GA 8), S. 181. 11

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2. Kap.: Heideggers Leibniz-Auslegung im Hinblick auf den Zeitbegriff wirklich durchgeführten Auslegung: der Text ist über-gesetzt in ein selbständig fragendes Verständnis.“16

Bereits in seiner Aristoteles-Vorlesung vom Sommersemester 1922, die längere Übersetzungsteile enthält, setzte sich Heidegger eingehend mit der Aufgabe einer Übersetzung auseinander.17 Wie oben für die Aufgabe einer Auslegung dargelegt, so ist auch eine Übersetzung nicht gleichsam neutral, sondern „Maßstab und Charakter einer Übersetzung sind immer relativ auf das Ziel der Interpretation“18. Als Beispiel sei die Übersetzung des Verbs „entre(r)“ in § 1 der „Monadologie“19 genannt. Zunächst gibt Leibniz selbst einen Hinweis, indem er auf § 10 der „Théodicée“ verweist, womit hier aber die einleitende Abhandlung mit dem Titel „Discours préliminaire de la conformité de la foi avec la raison“ gemeint ist. Entscheidend ist demnach die Raumlosigkeit („sans étendue“20) der Monaden. Damit kann „entrer“ nicht heißen: „sich mischen unter – auch vorhanden sein in der Anzahl des Zusammengesetzten, d. h. ihr Teil.“21 Heidegger verweist auf eine andere Bedeutung: „entrer“ z. B. dans la douleur – teilnehmen – mitvollziehen – übernehmen. j Das Wort darf hier gerade nicht räumlich, sondern muß ,seelisch‘ verstanden werden. Vgl. § 7!“22 Das Problem der Übersetzung ist für Heidegger nicht nur ein solches „der entscheidenden Grundbegriffe“23, sondern betrifft vor allem auch die Grammatik. Die besondere Problematik, die für sein Denken mit der Grammatik verbunden ist, hat Heidegger bereist 1924 in einer Anmerkung zu seiner Abhandlung „Der Begriff der Zeit“ herausgestellt: „Ein anderes ist es, über Seiendes erzählend zu berichten, ein anderes, das Seiende in seinem Sein zu fassen. Es fehlen oft nicht nur die Worte, sondern vor allem die Grammatik.“24 Als ein Beispiel soll hier der Genetiv „des simples“ in § 2 der „Monadologie“25 angeführt werden: „des simples heißt nicht ,aus‘

16

Vom Wesen der Wahrheit. Zu Platons Höhlengleichnis und Theätet (GA 34), S. 130; vgl. Vetter, Helmuth: Grundriss Heidegger. Ein Handbuch zu Leben und Werk, Hamburg 2014, S. 356 (Stichwort „Übersetzung“ (mit weiteren Literaturhinweisen)). 17 Phänomenologische Interpretationen ausgewählter Abhandlungen des Aristoteles (GA 62), S. 6 – 8, 16, vgl. auch Anhang III, S. 372. 18 Phänomenologische Interpretationen ausgewählter Abhandlungen des Aristoteles (GA 62), S. 7. 19 GP VI, 607. 20 GP VI, 56. 21 Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1 (GA 84.1), S. 502 (A Nr. 147). 22 Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1 (GA 84.1), S. 501 (A Nr. 147). 23 Phänomenologische Interpretationen ausgewählter Abhandlungen des Aristoteles (GA 62), Anhang III, S. 372. 24 Der Begriff der Zeit (GA 64), S. 1 – 103, hier S. 17, Anm. 1; vgl. auch Sein und Zeit (GA 2), § 7. C, S. 52 (S. 38 f.). 25 GP VI, 607.

§ 22 Der Leitfaden für Heideggers Leibniz-Auslegung

95

diesen – als ,Elementen‘, Bestandstücken – nicht genetivus objectivus, sondern ,subjectivus‘.“26 Als Übersetzung schlägt Heidegger daher vor: „Wir übersetzen es nicht mit ,von‘ oder ,aus‘ Einfachen, also genetivus objectivus, sondern mit ,aufgrund‘ des Einfachen. Die Einfachen sind hier nicht untergeordnete Teile, sondern die Subjekte, gleichsam die Herren des Aggregates.“27

Die Einfachen in ihrer einigenden Einheit durchherrschen das Aggregat im Sinne der griechischen !qw¶ als Anfang (Ursprung) und Herrschaft.28

§ 22 Der Leitfaden für Heideggers Leibniz-Auslegung Eine eingehende Erörterung von Leibniz’ Freiheitsbegriff wird von Heidegger (in den bislang veröffentlichten Schriften) nicht gegeben. Es wurde in § 1 bereits darauf verwiesen, dass der Freiheitsbegriff in der „Théodicée“ bei Heidegger auf gewisse Bedenken stößt.29 Als eine sachlich eng mit dem Freiheitsproblem zusammenhängende Thematik wird daher, was Leibniz betrifft, die Frage nach dem Wesen der innermonadischen Zeit, und, was Heidegger anbelangt, die Frage nach der existenzialen Zeitlichkeit des Daseins für die Auseinandersetzung herangezogen. Hinsichtlich des bei Leibniz noch „Ungesagten“ kann als grundlegender Leitfaden für die weitere Untersuchung ein Wort aus den „Beiträgen zur Philosophie“ angeführt werden: „Leibnizens unergründliche Vielgestaltigkeit des Frageansatzes sichtbar machen und doch statt der monas das Da-sein denken“.30 Dieser Leitfaden lässt sich sowohl für Heideggers frühere Auslegung im Umkreis von „Sein und Zeit“ als auch für seine spätere Auslegung zugrunde legen. In dem angeführten Zitat ist aber das Grundwort „Da-sein“ nicht zufällig mit Bindestrich geschrieben, insofern es nun im Rahmen der „Beiträge zur Philosophie“ nicht mehr aus der transzendental-horizontalen Blick- und Fragebahn der Fundamentalontologie von „Sein und Zeit“, sondern aus dem seinsgeschichtlichen oder Ereignis-Denken zu bestimmen ist. Eine erste eingehende Auslegung der Monade gibt diejenige Vorlesung, die Leibniz schon im Titel nennt, nämlich die Marburger Vorlesung „Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz“ vom Sommersemester 1928.31 26

Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1 (GA 84.1), S. 502 (A Nr. 147). Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1 (GA 84.1), S. 591 (P Nr. 2 und 3). 28 Vgl. Stichwort !qw¶ in: Frisk, Hjalmar: Griechisches etymologisches Wörterbuch, Bd. I, Heidelberg 1960, S. 158; vgl. auch Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1 (GA 84.1), S. 479 f. (A Nr. 107), 485 (A Nr. 114), 613 (P Nr. 7); ferner Stichwort Anfang (arche, !qw¶) in: Vetter: Grundriss Heidegger, S. 230 – 232. 29 Vgl. Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1 (GA 84.1), S. 462 f. (A Nr. 84), 628 (P Nr. 9) und 774 (M Nr. 19). 30 Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (GA 65), S. 176. 31 Vgl. schon Geschichte der Philosophie von Thomas von Aquin bis Kant (Wintersemester 1926/27) (GA 23), §§ 41 – 44. Da zur Vorlesung vom Sommersemester 1928, was Leibniz 27

96

2. Kap.: Heideggers Leibniz-Auslegung im Hinblick auf den Zeitbegriff

Der für die Auslegung zentrale § 5 dieser Vorlesung mit dem Titel „Die Wesensbestimmung des Seins des eigentlich Seienden“, womit die Monade gemeint ist, betrachtet (gemäß der Unterteilung des Herausgebers) „Die Monade als Drang“ und „Die Struktur des Dranges“. Der wesenhaft vorstellende Drang ist seiner Struktur nach selbst „ausgreifend, ist ekstatisch“.32 Daher kann Heidegger sagen: „Dem Drang selbst entspringt die Zeit.“33 Damit ergibt sich als konkreter Leitfaden für seine Auslegung des innermonadischen Dranges (nisus, conatus, propensio), was er an einer späteren Stelle der Vorlesung explizit darlegt: „Unsere Auslegung der Monadologie war schon von der Interpretation des Daseins als Zeitlichkeit her geleitet, vor allem vom Einblick in das Wesen der Transzendenz.“34 Gegenüber der Vorlesung vom Sommersemester 1928 wird in dem Leibniz-Seminar vom Wintersemester 1935/36 die ursprüngliche Zeit nicht mehr im Sinne von Horizont und Transzendenz gedacht.35 Darauf verweist auch Heideggers Brief an Elisabeth Blochmann vom 20. Dezember 1935. Wie er in diesem Brief erläutert, kommt im Rahmen seiner „Leibnizübungen“ in diesem Semester „nur ein Geringes von dem eigentlich Vorbereiteten zur Geltung“.36 Zudem bleiben auch hier, wie er zu einer anderen Arbeit bemerkt, die „eigentlichen Hintergründe u. Bereiche [..] absichtlich verschwiegen“37, womit er auf das sich nun entfaltende Ereignis-Denken anspielt.

§ 23 Die substanziale Zeit der Monade und die existenziale Zeitlichkeit des Daseins Es wird in erster Linie das spätere Leibniz-Seminar für die vorliegende Untersuchung herangezogen, weil sich aus dem nun gewandelten Auslegungshorizont Heideggers Kritik an Leibniz’ metaphysischem Zeitbegriff und in Verbindung damit betrifft, in der Forschungsliteratur bereits eingehende Interpretationen vorliegen, braucht sie hier nicht ausführlicher behandelt zu werden (vgl. u. a. Sakai, Kiyoshi: Zum Wandel der Leibniz-Rezeption im Denken Heideggers, in: Heidegger Studies 9 (1993), S. 97 – 124; Sakai, Kiyoshi: Lexikon: Martin Heidegger, in: Cristin, Renato/Sakai, Kiyoshi (Hrsg.): Phänomenologie und Leibniz, Freiburg/München 2000, S. 304 – 315; Luckner, Andreas: Drang und Subjekt. Martin Heidegger liest die Monadologie, in: Wenchao Li (Hrsg.), 300 Jahre Monadologie. Interpretation, Rezeption und Transformation, Stuttgart 2017 (Studia Leibnitiana – Supplementa, Bd. 39), S. 195 – 204). 32 Metaphysische Anfangsgründe der Logik (GA 26), S. 113. 33 Metaphysische Anfangsgründe der Logik (GA 26), S. 115. 34 Metaphysische Anfangsgründe der Logik (GA 26), § 12, S. 270. 35 Vgl. Neumann: Die Gesamtinterpretation der „Monadologie“ in Heideggers LeibnizSeminar vom Wintersemester 1935/36, in: Heidegger Studies 33 (2017), S. 27 – 75, bes. S. 58 – 62. 36 Heidegger/Blochmann: Briefwechsel 1918 – 1969, hrsg. von Storck, S. 87. 37 Heidegger/Blochmann: Briefwechsel 1918 – 1969, hrsg. von Storck, S. 87.

§ 23 Die substanziale Zeit der Monade und die existenziale Zeitlichkeit des Daseins 97

auch an seinem Freiheitsbegriff noch schärfer zur Abhebung bringen lässt. Zunächst wird aber von Heideggers positiv-freilegend verfahrender Auslegung ausgegangen. Für Heidegger hat Leibniz (wie vor ihm auf anderer Grundlage Augustinus im XI. Buch der „Confessiones“38) zwar einerseits in seiner neuen Auslegung der Entelechie als ursprüngliche strebend-tätige Kraft die „volle Zeitlichkeit“39 in den Blick gebracht, andererseits bleibt aber doch die ursprüngliche Zeit, wie Heidegger sie in „Sein und Zeit“ grundlegend freilegt, bei Leibniz selbst noch verhüllt. Entelechie ist „nicht Anwesenheit einer Tätigkeit als Fertigkeit, sondern anstrebendes (v[orstellendes]) Insichstehen – entfaltendes Sich-beharren“.40 In der Mitschrift von Wilhelm Hallwachs heißt es: „Dieses In-sich-selbst-halten, als ein sich entfaltendes Bewahren, ist das Wesen der ursprünglichen Kraft, der vis primitiva = der ursprungbildenden. Die Monade ist in ihrem eigenen Wesen eine gründende Weise des Seins.“41

38

Heidegger hat Augustinus in drei unterschiedlichen Textgestalten interpretiert. Der früheste und umfangreichste Text ist seine Freiburger Vorlesung „Augustinus und der Neuplatonismus“ vom Sommersemester 1921, deren Hauptteil eine „Phänomenologische Interpretation von Confessiones liber X“ gibt (in: Phänomenologie des religiösen Lebens (GA 60), S. 157 – 299). Die in einem Vortrag vor Mönchen, Klerikern und Novizen der Erzabtei St. Martin in Beuron (im oberen Donautal) am 26. Oktober 1930 gegebene Auslegung von „Augustinus: Quid est tempus? Confessiones lib. XI“ (in: Vorträge, Teil 1: 1915 bis 1932 (GA 80.1), S. 429 – 456) steht in einem engen Zusammenhang mit den im Wintersemester 1930/31 in Freiburg gehaltenen Übungen mit dem Titel „Augustinus, Confessiones XI (de tempore)“ (in: Seminare: Platon – Aristoteles – Augustinus (GA 83), S. 39 – 82). Es ist allerdings Heideggers frühere Auslegung der Zeit bei Augustinus (im Sinne der vulgären Jetzt-Zeit nach § 81 von „Sein und Zeit“) von seiner späteren Auslegung in dem Beuroner Vortrag zu unterscheiden. Zum Beuroner Vortrag bemerkt C. Agustín Corti zu Recht: „Aus dem oben Behandelten sieht man unmittelbar ein, dass Heidegger hier nicht nur die distentio animi als die Weltzeit und nicht als die vulgäre Zeit versteht, sondern auch die Möglichkeit der Abwandlung jener in die vulgäre Zeit voraussetzt. […] Es liegt auf der Hand, dass Heidegger hier an das Begriffpaar Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit denkt […].“ (Corti, C. Agustín: Zeitproblematik bei Martin Heidegger und Augustinus, Würzburg 2006, S. 268; vgl. auch Corti, C. Agustín: Ewigkeit und Zeit. Die Funktion der Ewigkeit für die Zeitanalyse des elften Buches der Confessiones Augustins und ihre Rezeption durch Martin Heidegger, in: Norbert Fischer/Dieter Hattrup (Hrsg.), Schöpfung, Zeit und Ewigkeit. Augustinus: Confessiones 11 – 13, Paderborn [u. a.] 2006, S. 29 – 49, hier S. 46 ff.; ferner Herrmann, FriedrichWilhelm von: Die „Confessiones“ des Heiligen Augustinus im Denken Heideggers, in: Heidegger e i medievali (Atti del Colloquio Internazionale, Cassino 10/13 maggio 2000), a cura di Costantino Esposito e Pasquale Porro, Turnhout 2001, Bari 2001 (Quaestio 1), S. 113 – 146). 39 Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1 (GA 84.1), S. 471 (A Nr. 94), vgl. S. 612 (P Nr. 7), 625 f. (P Nr. 9), 765 (M Nr. 15). 40 Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1 (GA 84.1), S. 471 (A Nr. 94) (Ergänzung in eckigen Klammern vom Herausgeber der Seminare), vgl. S. 429 (A Nr. 37). Zu den möglichen Auslegungen des Aristotelischen Entelechiebegriffs vgl. Reinhard, Hans Georg: Admirabilis transitus a potentia ad actum. Leibniz’ Deutung des Aristotelischen Entelechiebegriffs, Würzburg 2011, bes. S. 13. 41 Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1 (GA 84.1), S. 607, Anm. 54.

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2. Kap.: Heideggers Leibniz-Auslegung im Hinblick auf den Zeitbegriff

Die Monade als ursprünglich einiges Insichstehen („ohne Fenster“ nach § 7 der „Monadologie“42) ist zeitlich erstreckt in Vergangenheit (bewahrendes in sich Beharren) und Zukunft (vorgreifend-entfaltendes In-sich-selbst-halten). Heideggers Übersetzung des entscheidenden § 22 der „Monadologie“43 findet sich nur in einem Seminarprotokoll überliefert. Von der Monade heißt es hier, „daß jeder Zustand der Anstrebung als der eines einfachen Insichstehens so eine Folge des vorhergehenden sei, daß er den künftigen schon bei sich trägt“.44 Jeder neue Perzeptionszustand der Monade folgt „natürlicherweise“ („naturellement“) aus dem jetzt gerade gegenwärtig gewesenen Perzeptionszustand, dergestalt, dass die Zustände kontinuierlich (ohne Sprünge) ineinander übergehen. Zur Bedeutung der Erinnerung schreibt Leibniz in seinem Brief an Antoine Arnauld vom 14. Juli 1686: „So ist jede individuelle Substanz oder jedes vollständige Wesen gleichsam eine Welt für sich und von nichts andrem abhängig als von Gott. Es gibt keinen zwingenderen Beweis, nicht nur, um die Unzerstörbarkeit unsrer Seele darzutun, sondern auch um zu zeigen, daß sie in ihrer Natur stets die Spuren (les traces) aller ihrer vorhergehenden Zustände bewahrt (garde) und eine virtuelle Erinnerung (un souvenir virtuel) an sie besitzt, die stets von neuem wachgerufen werden kann, da sie ja Selbstbewußtsein (conscience) hat, d. h. in sich selbst das erkennt, was ein jeder ,Ich‘ nennt.“45 „[…] ainsi chaque substance individuelle ou estre complet, est comme un monde à part, independant de toute autre chose que de Dieu. Il n’y a rien de si fort pour demonstrer non seulement l’indestructibilité de nostre ame, mais même qu’elle garde tousjours en sa nature les traces de tous ses estats precedens avec un souvenir virtuel, qui peut tousjours estre excité, puisqu’elle a de la conscience, ou connoist en elle même, ce que chacun appelle: moy.“46

Wie Leibniz vor der zitierten Textstelle ausführt, ist der folgende Zustand eine – „wenngleich freie oder wohl kontingente“ („quoyque libre, ou bien contingente“47) – Folge seines vorhergehenden Zustands. Es ist aus dem Textzusammenhang offensichtlich, dass die Folge der Zustände nur für die geistigen oder selbstbewussten Wesen als eine „freie“ bezeichnet werden kann. Während das Tier ein Gedächtnis („memoire“) hat, das Heidegger mit „Behalt“48 übersetzt, kann die Erinnerung der geistigen Monaden, wie es dem Brief an Arnauld heißt, „stets von neuem wachge42

GP VI, 607; vgl. Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1 (GA 84.1), S. 471 f. (A Nr. 93 und 95), 499 (A Nr. 141), 505 – 507 (A Nr. 147), 595 (P Nr. 2 und 3), 601 (P Nr. 5), 612 (P Nr. 7). 43 „Et comme tout present état d’une substance simple est naturellement une suite de son état precedant, tellement que le present y est gros de l’avenir.“ (GP VI, 610; vgl. Theod. III, § 360; GP VI, 329). 44 Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1 (GA 84.1), S. 623 (P Nr. 8). 45 Übersetzung nach: Leibniz: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie II, übers. von Buchenau, S. 389 – 403, hier S. 400 (1. Hervorhebung und Ergänzung der französischen Termini in Klammern vom Verfasser). 46 A II 2, 67 – 84, hier 80 f.; GP II, 47 – 59, hier 57. 47 A II 2, 80; GP II, 57 (Übersetzung vom Verfasser). 48 Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1 (GA 84.1), S. 501 (A Nr. 146); vgl. Monadologie, §§ 19, 26 – 28; GP VI, 610 f.

§ 23 Die substanziale Zeit der Monade und die existenziale Zeitlichkeit des Daseins 99

rufen werden“. Mit Edmund Husserl kann man von einer „wiedervergegenwärtigenden“ oder „sekundären“ Erinnerung sprechen.49 Ohne einen solchen „Erinnerungszusammenhang“ („connexion de souvenance“) „gäbe es nicht genügend moralische Identität, um von ein und derselben Person zu sprechen“ (il n’y auroit pas assez d’identité morale pour dire que ce seroit une même personne“).50 Die innermonadische Selbstentfaltung, die als „ein vorstellendes Streben bzw. strebendens Vorstellen“51 zu verstehen ist, ist teleologisch, d. h. zweckursächlich und nicht wirkursächlich (wie die phänomenalen Körper) verfasst.52 Wie Andreas Luckner ausführt, ist der Drang „als perceptio selbst schon vorgreifend-umgreifend (verlangend), so dass appetition und perception bei Heidegger als zwei Momente des Dranges (als dem übergreifenden Allgemeinen, als ,Drang‘ im weiteren Sinne) erscheinen“.53 Im umfassenden Sinne, der die beiden Momente in sich einschließt, ist der Drang als das ontologiche Prinzip der Monaden die ursprüngliche aktive Kraft (vis activa primitiva). Das Telos liegt aber nicht außerhalb der Monade, sondern sie ist selbst ihr eigenes Telos, auf das hin sie sich entfaltet: „Postitiv besagt sie [die Kraft] das Immer-schon-unterwegs-sein der Monade zu sich selbst. Das Insichstehen ist nicht einfach ein Dastehen, sondern die Ständigkeit des Auf-sich-zu-strebens, des Sich-entfaltens als das, was in ihm liegt. Und insofern kann hier von Entelechie die Rede sein: die Monade ist ihr eigenes t]kor, sie hält sich in sich selbst als Sich-entfaltendes.“54

Der Terminus „Insichstehen“ (charakterisiert als „Über-sich-hinaus-zu sich und so in sich sich vermögen“55) ist Heideggers Über-setzung des Wortes „substance“. Der überlieferte Begriff der Substanz wird von Leibniz in neuer Weise ausgelegt. Die Monade ist, wie es in Heideggers Übersetzung von § 1 der „Monadologie“56 heißt,

49

Husserl, Edmund: Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (1905), § 19, in: Edmund Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (1893 – 1917), hrsg. von Rudolf Boehm (Husserliana, Bd. X), Haag 1966, S. 1 – 134, hier S. 45 – 47. 50 Nouveaux Essais II 27, § 6; A VI 6, 233; GP V, 216 (Übersetzung vom Verfasser). 51 Metaphysische Anfangsgründe der Logik (GA 26), § 5, S. 113. Eine solche Schreibweise soll im Sinne Heideggers die unauflösliche innere Verklammerung und Einheit der gleichursprünglichen konstitutiven Momente zum Ausdruck bringen. Zu den Termini „Gleichursprünglichkeit“ und „gleichursprünglich“ vgl. Vetter: Grundriss Heidegger, S. 284. 52 Monadologie, § 79; GP VI, 620; vgl. Herrmann, Friedrich-Wilhelm von: Die innermonadische Zeitlichkeit in der Monadologie, in: Perspektiven der Philosophie. Neues Jahrbuch 30 (2004), S. 11 – 36; englische Übersetzung: Intramonadic Temporality in the Monadology, in: Leibniz and Hermeneutics, ed. by Juan Antonio Nicolás, José M. Gómez Delgado and Miguel Escribano Cabeza, Newcastle upon Tyne 2016, S. 67 – 85. 53 Luckner: Drang und Subjekt, in: Li (Hrsg.), 300 Jahre Monadologie, S. 196. 54 Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1 (GA 84.1), S. 607 (P Nr. 6). 55 Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1 (GA 84.1), S. 479 (A Nr. 107), vgl. S. 487 (A Nr. 119). 56 GP VI, 607.

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2. Kap.: Heideggers Leibniz-Auslegung im Hinblick auf den Zeitbegriff

„nichts anderes als ein einfaches Insichstehen“.57 In nuce sind hierin schon alle weiteren Bestimmungen vorgeprägt. Es soll hier nur noch auf die Zukunft eingegangen werden. Das Streben im Sinne der ursprünglichen aktiven Kraft, der vis activa primitiva, ist als „An ! strebung“ ein „vor-greifendes“ und damit ein „Ausgriff über sich hinaus und doch nur das Insichstehen“.58 Im „vorgreifenden einbehaltenden Anstreben“59 liegt das Moment der Zu-kunft. In § 65 von „Sein und Zeit“ heißt es nämlich: „Das Sich-vorweg gründet in der Zukunft.“60 Was in solchen Formulierungen zum Ausdruck kommt, verdeutlicht, dass die Zeitlichkeit der Monade auf die bei Leibniz selbst noch verdeckt gebliebene und nicht zum Durchbruch gelangte ursprüngliche existenziale Zeitlichkeit des Daseins hin anvisiert und ausgelegt wird.

§ 24 Die Monade als ursprüngliches Einssein a) Die Zeit als die einigende Einheit Das metaphysisch Wirkliche, die Monade, muss nach Heidegger „ein eigentlich und ursprünglich Eines und Einfaches“ sein als etwas, „das gerade als Gegenwart sich in seine Vergangenheit und Zukunft erstreckt“.61 Es entsteht „eine Vielheit in der Einheit“, das ist in einem zweiten Sinne „eine Vielheit durch die Zeit hindurch“.62 Der Drang als „das ursprünglich einfach Einigende“ ist für Heidegger auch das „innerste metaphysische Motiv für den Vorstellungscharakter der Monade“.63 Leibniz selbst blieb für Heidegger aber dieses Motiv für den Repräsentationscharakter der Monade noch verborgen.64 Wichtig ist für Heidegger, dass die zeitliche Erstreckung der Monade als Entelechie dem Wesen der Einheit nicht entgegensteht, sondern die ursprüngliche Einheit in der Vielheit gerade ausmacht und konstituiert. In der Mitschrift ist folgende Übersetzung angegeben: „ ,Unitates advoco […]‘ [An de Volder, 21. Januar 1704; Gerh. II, 261], ,ich ziehe die Einheit herbei‘ (d. h. die Frage nach der echten Bestimmung der ursprünglichen Einheit, im Gegensatz zur Summe), ,um damit die Entelechie zu erweisen, obgleich auch jenes wahr ist, daß, wenn die Entelechie in ihrer Notwendigkeit als Grundbestimmung des eigentlich

57

Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1 (GA 84.1), S. 501 (A Nr. 147). Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1 (GA 84.1), S. 512 f. (A Nr. 150 und 151). 59 Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1 (GA 84.1), S. 478 (A Nr. 105), vgl. S. 622 f. (P Nr. 8). 60 Sein und Zeit (GA 2), S. 433 (S. 327). 61 Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1 (GA 84.1), S. 623 (P Nr. 8). 62 Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1 (GA 84.1), S. 600 (P Nr. 5). 63 Metaphysische Anfangsgründe der Logik (GA 26), S. 112 f. 64 Vgl. Metaphysische Anfangsgründe der Logik (GA 26), S. 112. 58

§ 24 Die Monade als ursprüngliches Einssein

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Seienden erwiesen wäre, dann auch der Weg gefunden wäre, um die Einheit als wahr und die Wirklichkeit ausmachend in Besitz zu nehmen.‘ “65

Schon in einem früheren Brief an Burchard de Volder (vom 20. Juni 1703) bemerkt Leibniz zur Einheit: „Wo keine wahre Einheit vorhanden ist, da ist auch jedes wahre Ding aufgehoben.“66 Am bekanntesten ist das in Leibniz’ Brief an den Cartesianer Antoine Arnauld vom 30. April 1687 formulierte „Axiom“ (dessen Aussage in der unterschiedlichen Betonung liegt), „daß das, was nicht wahrhaft ein Sein ist, auch nicht wahrhaft ein Sein ist“ („que ce qui n’est pas veritablement un estre, n’est pas non plus veritablement un estre“).67 Dieses Axiom nennt Heidegger das „Grundaxiom“ der Leibniz’schen Ontologie.68 Aber durchzieht dieses Axiom der Einheit nicht die ganze abendländische Philosophie von Heraklit und Parmenides bis zu Kant und Hegel? Für Heidegger ist gerade bei Leibniz „einzigartig der Versuch, über die bloß formale Bestimmung der Einheit hinauszukommen“.69 Die wahre Einheit der Monade ist nach Heideggers Auslegung deren „ursprüngliches Einssein“: „Die Monade ist nicht Ergebnis eines Zusammenfügens, sondern ursprüngliches Einssein, das die Einheit erst entspringen läßt und erhält. Das einfache Insich ist also ein ursprüngliches Einigen.“70

Die Form, in der sich dieses ursprüngliche Einigen vollzieht, ist die innermonadische Zeit. Wie Heidegger schon in seiner Vorlesung vom Sommersemester 1928 ausführt, ist die „Einheit als einheitgebende [..] aktiv, ist vis activa, Drang – er ist das primum constitutivum der Einheit der Substanz (an de Volder, 30. VI. 1704; Gerh. II, 267).“71 In seinen Aufzeichnungen zum Leibniz-Seminar zitiert Heidegger noch eine Stelle aus der „Théodicée“: „Ce qui n’agit point, ne merite point le nom de substance: […].“72 „Was nicht handelt, verdient nicht den Namen Substanz.“73 In einem seiner 65

Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1 (GA 84.1), S. 766 (M Nr. 17) (Ergänzung in eckigen Klammern vom Herausgeber des Seminars; Gerh. = GP), vgl. S. 470 (A Nr. 92 unter 4. und 5.), 481 (A Nr. 107). Der lateinische Text des Briefes lautet: „Imo ego contra ut Entelechias probem, Unitates advoco, quanquam illud quoque verum sit, si aliunde demonstrarentur Entelechiae, etiam Unitates veras et reales habitum iri.“ (GP II, 261 – 265, hier 261; deutsche Übersetzung in: Leibniz, Gottfried Wilhelm: Briefe von besonderem philosophischen Interesse, zweite Hälfte: Die Briefe der zweiten Schaffensperiode, hrsg. und übers. von Werner Wiater (Philosophische Schriften, Bd. V, 2. Hälfte), Darmstadt 1989, S. 157 – 167, hier S. 157). 66 Übersetzung nach: Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1 (GA 84.1), S. 626 (P Nr. 9) (Hervorhebungen fehlen in dem Protokoll). Die lateinische Textstelle lautet: „Quodsi nullum vere unum adest, omnis vera res erit sublata.“ (GP II, 248 – 253, hier 251). 67 A II 2, 174 – 193, hier 186; GP II, 90 – 102, hier 97; zitiert und übersetzt in: Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1 (GA 84.1), S. 406 (A Nr. 17) und 626 (P Nr. 9); vgl. bereits Aristoteles: Metaphysica I (Buch X) 2, 1054 a 13 – 19). 68 Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1 (GA 84.1), S. 626 (P Nr. 9). 69 Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1 (GA 84.1), S. 627 (P Nr. 9). 70 Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1 (GA 84.1), S. 604 (P Nr. 6). 71 Metaphysische Anfangsgründe der Logik (GA 26), § 5 a), S. 105 (Gerh. = GP). 72 Theod. III, § 393; GP VI, 350; zitiert in: Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1 (GA 84.1), S. 406 (A Nr. 17).

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2. Kap.: Heideggers Leibniz-Auslegung im Hinblick auf den Zeitbegriff

letzten Briefe, dem Brief an Michael Gottlieb Hansch vom 4. September 1716, prägt Leibniz das Verbum „Monadare“:74 „Man könnte jedes Lebendige monadiert nennen, das natürlich von einer herrschenden Monade belebt wird. Umgekehrt könnte man sagen, daß jede Monade monadiert oder irgendeinen lebendigen Körper belebt, aber nicht selbst monadiert wird.“75 „Omne vivum appellari posset Monadatum, quod ab una scilicet Monade dominante vegetatur. Vicissim posset dice omnem Monadem Monadare, seu corpus aliquod vivum vegetare, sed non ipsam Monadari.“76

In diesem Sinne schreibt auch Hans Poser im Abschnitt „Die Unio als principe actif“ seiner umfassenden Monographie über „Leibniz’ Philosophie“ unter Verweis auf „De ipsa natura“77: „Fasst man das Ergebnis zusammen, so gilt nicht nur ens et unum convertuntur, sondern auch ens et agens convertuntur; […].“78 Es kann hier nur darauf hingewiesen werden, dass – aus dem Horizont des seinsgeschichtlichen oder Ereignis-Denkens – in Heideggers spätem Vortrag „Zeit und Sein“ (1962) die einigende Einheit der geschichtlich-geschick-lich sich reichenden Zeit (möglicherweise neben Augustinus auch von der Auseinandersetzung mit Leibniz unmittelbar beeinflusst) besonders herausgestellt wird: „Ihre einigende Einheit kann sich nur aus ihrem Eigenen bestimmen, daraus, dass sie [d. h. Zukunft, Gewesenheit, Gegenwart] einander sich reichen.“79

73

Übersetzung nach: Leibniz: Die Theodizee/Essais de Théodicée, übers. von Herring, 2. Hälfte, S. 231. 74 Der Brief (ohne Quellenangabe) wird auch von Heinrich Ropohl am Schluss der Buchausgabe seiner Freiburger Dissertation (bei Heidegger) herangezogen (Ropohl: Das Eine und die Welt, § 63, S. 105). 75 Übersetzung nach: Leibniz: Briefe von besonderem philosophischen Interesse, 2. Hälfte, übers. von Wiater, S. 295. Zu Leibniz’ letzten Briefen vgl. Look, Brandon C.: Leibniz’s Final Metaphysics, in: 1716 – Leibniz’ letztes Lebensjahr. Unbekanntes zu einem bekannten Universalgelehrten, hrsg. von Michael Kempe, Hannover 2016, S. 319 – 341. 76 Dutens V, 173. 77 De ipsa natura sive de vi insita actionibusque Creaturarum, pro Dynamicis suis confirmandis illustrandisque (1698), § 9; GP IV, 504 – 516, hier 509; Übersetzung unter dem Titel „Über die Natur an sich oder über die den erschaffenen Dingen innewohnende Kraft und Tätigkeit“ in: Leibniz: Schriften zur Logik und zur philosophischen Grundlegung von Mathematik und Naturwissenschaft, übers. von Herring, S. 269 – 309, hier S. 287 – 289. 78 Poser: Leibniz’ Philosophie, S. 170 – 173, hier S. 171. 79 Zur Sache des Denkens (GA 14), S. 3 – 30, hier S. 18; vgl. Thurnher, Rainer: Zeit und Sein im Licht der Beiträge zur Philosophie, in: Heidegger Studies 25 (2009), S. 79 – 114, bes. S. 106.

§ 25 Zusammenfassung der Leibniz-Auslegung Heideggers

103

b) Die Einheit der Monade als das Gesetz der Reihe (lex seriei) Wenn dem Drang selbst die Zeit in ihrer einigenden Einheit „entspringt“80, dann kann mit Wolfgang Janke gefragt werden: „Warum dringt die Zeithaftigkeit der Repräsentation nicht zur vollen ekstatischen Zeitlichkeit des Daseins durch?“81 Janke grenzt in seiner mit vielen Zitaten belegten Auslegung von Leibniz die an den Raum gekoppelte „lineare Zeit“ der phänomenalen Körperwelt von der innermonadischen Zeit ab, die er als „substanziale Zeit“ bezeichnet. Dieser Weg kann hier nicht nachgezeichnet werden. Janke (Jahrgang 1928) lehrte Philosophie an der Bergischen Universität Wuppertal und hat sich sowohl mit Leibniz’ als auch mit Heideggers Denken (und der Existenzphilosophie) eingehend auseinandergesetzt. Es zeigt sich, dass sich die von Janke in seinem Aufsatz zu Martin Heideggers 80. Geburtstag gegebene Antwort weitgehend mit Heideggers Ausführungen in seinem Leibniz-Seminar vom Wintersemester 1935/36 deckt, das der Verfasser im Jahre 2013 edierte. In Wilhelm Hallwachs’ Mitschrift von Heideggers Seminar heißt es: „Worin besteht dieses eigentümliche persistere der Monade? Die Vergangenheit genommen in Bezug auf die Zukunft: die Einheit hiervon ist entscheidend. Worin besteht aber diese Einheit? Das Gesetz der Reihe, lex seriei! Dieses Sich-erstrecken aus der Vergangenheit in die Zukunft ist bei jeder Monade ein bestimmt gerichtetes. Jede Monade steht unter dem Gesetz der Reihe ihres Übergangs. Wenn jede Monade, also auch der Mensch, in seinem Insich-stehen, in seiner eigenen Selbstständigkeit unter dem Gesetz seiner Reihe steht, d. h. unter der Abfolge und dem Ausgerichtetsein aller seiner Handlungen, so könnte damit schon jede Art von Freiheit unterbunden sein. Wir können jetzt auf diese Frage nicht erschöpfend eingehen. Hier ist nur wichtig, daß Leibniz die Frage der continua lex der series in den einzelnen Monaden auf ein Gesetz der Reihe zurückführt, derart, daß dieses Gesetz im Einklang steht mit der Gesamtgesetzlichkeit.“82

§ 25 Zusammenfassung der Leibniz-Auslegung Heideggers Zusammenfassend kann für Heideggers Auslegung Folgendes herausgestellt werden, auch wenn von ihm nicht alle Punkte in dem Seminar explizit erörtert werden: 1. Mit dem eigentlichen Sein der je einzelnen Monade als absolutem (unveränderlichem, ewigem) individuellem Gesetz (lex seriei) bleibt bei Leibniz – zeitlich 80

Metaphysische Anfangsgründe der Logik (GA 26), S. 115. Janke: Die Zeitlichkeit der Repräsentation, in: Durchblicke. Martin Heidegger zum 80. Geburtstag, S. 255 – 283, hier S. 259. 82 Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1 (GA 84.1), S. 774 (M Nr. 19), vgl. S. 395 (A Nr. 3); vgl. Janke: Die Zeitlichkeit der Repräsentation, bes. S. 282 (auszugsweise zitiert oben § 8 b)). 81

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2. Kap.: Heideggers Leibniz-Auslegung im Hinblick auf den Zeitbegriff

betrachtet – doch „der alte Seinsbegriff“83 der griechischen oqs_a als „beständige Anwesenheit“84, wenn auch „in einer Umwendung auf das Subjekt“85 (und vermittelt mit der christlichen Theologie und der mathematischen Physik), herrschend.86 Wie es Heidegger in seinen Seminaraufzeichnungen formuliert, besteht „das Bleiben, die Beständigkeit, das j !e_ j der Selbigkeit – im Gesetz der series“.87 In welchem zeitlichen Sinne von „Ewigkeit“ ist das !e_ zu verstehen? Ohne hierauf ausführlicher eingehen zu können, kann gesagt werden, dass das !e_ hier nicht im Sinne der absoluten Zeitlosigkeit oder Überzeitlichkeit (lateinisch aeternitas), sondern als creatio continua („creation continuée“ oder „creation continuelle“88) im Sinne des immerwährenden Andauerns (lateinisch sempiternitas) zu denken ist.89 Unter Bezugnahme auf die „Théodicée“ gibt Poser folgende Begründung: „Leibniz hat bei der Zeit Strukturen wie die Ordnung der natürlichen Zahlen oder der Glieder einer mathematischen Reihe vor Augen, die unabhängig von der Zeit sind und in einer Formel angegeben werden können. Für die inneren Zustände der Monaden bedeutet diese Sicht, dass sie eine Aufeinanderfolge im Sinne des erwähnten individuellen inneren Gesetzes bilden. Der metaphysische Hintergrund ist folgender: Wenn Gott unter ganzen Weltläufen als möglichen Welten die beste auswählt (wie dies in der Theodizee entwickelt wird), so kann es in den möglichen Welten ja keine Zeit geben, existieren sie doch nur als Möglichkeiten, es kann sich also nur um eine innere Ordnungsstruktur handeln. Wird die Welt geschaffen, so muss sich diese zunächst nur formale Ordnungsstruktur als eine Abfolge entfalten.“90

2. Damit verbunden ist (Heidegger gibt nur eine Übersetzung von § 4 der „Monadologie“91, die §§ 73 und 76 werden nicht mehr behandelt) die (natürliche) Un-

83

Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1 (GA 84.1), S. 472 (A Nr. 95). Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1 (GA 84.1), S. 764 (M Nr. 14). 85 Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1 (GA 84.1), S. 764 (M Nr. 14). 86 In diesem Sinne bemerkt schon Janke: „Somit erschließt sich von der Zeitlichkeit des Repräsentationsprozesses her das, was im Horizont der Monadologie Sein bedeutet: beständige Anwesenheit des Gesetzes.“ (Janke: Die Zeitlichkeit der Repräsentation, S. 282). 87 Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1 (GA 84.1), S. 479 (A Nr. 105), vgl. S. 485 f. (A Nr. 116). 88 Theod. I, § 31; GP VI, 121; Theod. III, §§ 382, 383 und 386; GP VI, 342 und 344; vgl. Discours de métaphysique, § 14; AVI 4, 1549 – 1551; GP IV, 439 f.; Monadologie, § 47; GP VI, 614; Rationale Fidei Catholicae (1685 (?)); A VI 4, 2306 – 2323, hier 2311 und 2319. 89 Zur „Reihung“ der Zeit bei Leibniz vgl. Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1 (GA 84.1), S. 620 (P Nr. 8). Zu den möglichen Auslegungen von „Ewigkeit“ vgl. Neumann: Der Anfang der abendländischen Philosophie, § 5 a); zur sempiternitas vgl. Heideggers Vorlesungen: Platon: Sophistes (GA 19), S. 34; Der deutsche Idealismus (Fichte, Schelling, Hegel) und die philosophische Problemlage der Gegenwart (GA 28), S. 212. 90 Poser: Leibniz’ Philosophie, S. 180 (1. Hervorhebung vom Verfasser). 91 GP VI, 607; Übersetzung in: Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1 (GA 84.1), S. 505 (A Nr. 147), vgl. S. 595 (P Nr. 2 und 3); vgl. auch Theod. I, § 89 f.; GP VI, 151 f. 84

§ 25 Zusammenfassung der Leibniz-Auslegung Heideggers

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sterblichkeit der Monaden im Unterschied zu dem von Heidegger herausgestellten endlichen „Sein zum Tode“ (des Menschen).92 3. Ebenso ist damit Leibniz’ Freiheitsbegriff in gewisser Weise „ungenügend“93. Zum Willen, der „zwar immer determiniert, aber nicht nezessitiert – genötigt, sondern inkliniert“ ist, bemerkt Heidegger nur: „Ist mit dem Nachweis des nicht mechanischen Charakters schon die ,Freiheit‘ erwiesen?“94 Eine vollständige Befreiung von einem quasi-mechanischen Denken (einer Mathesis im weiten Sinne) wird für Heidegger jedoch von Leibniz nicht vollzogen. Zu den §§ 359 – 377 im dritten Teil der „Théodicée“95 schreibt er: „Sicherheit – feste Ausrichtung des Willens und Versicherung. Das Entweder-Oder zwischen völliger Unbestimmtheit und schlechthinnig Zwang ist falsch und im Grunde rein mechanisch.“96 4. Die ursprüngliche Zeitlichkeit des existierenden Daseins ist überhaupt keine Reihe (series).97 Als Bestätigung kann man mit Heidegger darauf verweisen, „[d]aß in den indogermanischen Sprachen die Unterscheidung der Aktionsarten der der ,tempora‘ vorausgegangen ist“.98 Dieser linguistische Befund ist heute auch für ganz andere Sprachen (Eingeborenensprachen) bestätigt.99 Das Verständnis der Zeit als

92

Zum „Sein zum Tode“ vgl. Sein und Zeit (GA 2), §§ 46 – 53. Die wesentlichen Einsichten von Heideggers Todesanalyse reichen bis in das Jahr 1922 zurück (vgl. Phänomenologische Interpretationen ausgewählter Abhandlungen des Aristoteles (GA 62), S. 181; Anhang III, S. 358 – 360; ferner: Der Begriff der Zeit (1924) (GA 64), S. 48 ff., 115 ff.; Wilhelm Diltheys Forschungsarbeit und der gegenwärtige Kampf um eine historische Weltanschauung (April 1925), in: Vorträge, Teil 1 (GA 80.1), S. 103 – 157, hier S. 141 – 144; Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs (Sommersemester 1925) (GA 20), §§ 33 – 35). Edmund Husserl übernimmt in seiner Theorie der Intersubjektivität Leibniz’ Begriff der Monade, aber nicht deren „Fensterlosigkeit“ (vgl. Neumann, Günther: Die Möglichkeit einfühlenden Verstehens tierischer Organismen mittels analogischer Erfahrung (Apperzeption) bei Leibniz und Husserl, in: Einheit in der Vielheit (VIII. Internationaler Leibniz-Kongress, Hannover, 24. bis 29. Juli 2006), hrsg. von Herbert Breger, Jürgen Herbst und Sven Erdner, Hannover 2006, Vorträge 2. Teil, S. 707 – 714, bes. S. 710). Der Verfasser zeigt ferner, dass Husserls linear-mathematischer Zeitbegriff ein endloses Strömen und damit die Unsterblichkeit des transzendentalen Subjekts impliziert (Neumann, Günther: Phänomenologie der Zeit und der Zeitlichkeit bei Husserl und Heidegger, in: Heidegger und Husserl, hrsg. von Rudolf Bernet, Alfred Denker, Holger Zaborowski (Heidegger-Jahrbuch 6), Freiburg/München 2012, S. 153 – 186, bes. S. 183 – 186). 93 Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1 (GA 84.1), S. 463 (A Nr. 84). 94 Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1 (GA 84.1), S. 462 (A Nr. 84). 95 GP VI, 328 – 339. 96 Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1 (GA 84.1), S. 463 (A Nr. 84). 97 Vgl. Neumann: Phänomenologie der Zeit und der Zeitlichkeit bei Husserl und Heidegger, bes. S. 160, Anm. 28. 98 Der Begriff der Zeit (GA 64), S. 75, Anm. 5; vgl. Sein und Zeit (GA 2), § 68, S. 462 (S. 349). 99 Vgl. Gloy, Karen: Zeit. Eine Morphologie, Freiburg/München 2006, S. 9 f., 143 – 161, 197 – 207.

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2. Kap.: Heideggers Leibniz-Auslegung im Hinblick auf den Zeitbegriff

unendliche Reihe100 bleibt letztlich dem mathematischen Verständnis einer linearen Zeit der Naturvorgänge und Naturgesetze verhaftet und ist somit im Sinne Heideggers eine „ontologische Rückstrahlung“101 des Natur- und Weltverständnisses auf die Daseinsauslegung des Menschen. Was Heideggers Kritik an der unendlichen Zeit bei Leibniz betrifft, kann auf § 81 von „Sein und Zeit“ verwiesen werden: „Am eindringlichsten offenbart die Hauptthese der vulgären Zeitinterpretation, daß die Zeit ,unendlich‘ sei, die in solcher Auslegung liegende Nivellierung und Verdeckung der Weltzeit und damit der Zeitlichkeit überhaupt.“102

5. Wie bereits unter 4. angedeutet, gelingt es auch Leibniz nicht, die substanziale Zeit der Monaden von der überlieferten Auslegung (seit Aristoteles) der Zeit als Naturzeit, die Heidegger als die vulgäre Zeit oder die Jetzt-Zeit bezeichnet, grundlegend abzuheben. Es soll darauf nun etwas ausführlicher eingegangen werden. Nach dem Protokoll der 6. Sitzung des Leibniz-Seminars des katholischen Theologen Johannes Baptist Lotz (1903 – 1992) heißt es dazu: „Wenn Leibniz so einerseits das metaphysische Zeitproblem aufrollt, so konnte er es doch nicht durchführen, weil er schließlich vom rein physikalischen Zeitbegriff nicht loskommt.“103

Entgegen der von Ewald Richter in seiner Rezension104 gegebenen Einschätzung handelt es sich aber hier nicht um eine mehr oder weniger eigenständige Auslegung des Protokollanten Lotz, sondern kann – wenn vielleicht auch nicht ganz wörtlich – auf Heidegger selbst zurückgeführt werden. An der dem Protokoll entsprechenden, aber vom Verfasser, der das Leibniz-Seminar edierte, nicht in den Band 84.1 der Gesamtausgabe aufgenommenen Textstelle der vollständigen Mitschrift des schon älteren Freiburger Arztes Dr. Wilhelm Hallwachs (1872 geboren, die Spur verliert sich später), der sich stets um eine unmittelbare Wiedergabe von Heideggers Ausführungen bemühte, heißt es nämlich ebenfalls: „Die Entelechie ist bei Aristoteles volle in sich geschlossene Anwesenheit von etwas; bei Leibniz ist sie, von der Zeit her gesprochen, nicht Gegenwart, sondern die ganze Zeit, die ganze Zeitlichkeit. Die Zukunft wird vorausgenommen, die Monade trägt sie in sich, wie sie

100

Zur unendlichen Serialität der Zeit, der Ereignisse (Phänomene) einerseits und der Zustände der Substanzen (Monaden) andererseits, vgl. Zehetner, Cornelius: Zukunft nach Leibniz, in: „Für unser Glück oder das Glück anderer“, Vorträge des X. Internationalen LeibnizKongresses, Hannover, 18.–23. Juli 2016, hrsg. von Wenchao Li in Verbindung mit Ute Beckmann [u. a.], Bd. I–V, Hildesheim/Zürich/New York 2016, Bd. I, S. 679 – 691, hier S. 682 f. 101 Sein und Zeit (GA 2), S. 22 (S. 15 f.). 102 Sein und Zeit (GA 2), S. 559 (S. 424). 103 Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1 (GA 84.1), S. 610, vgl. S. 445 (A Nr. 57). 104 Richter, Ewald: Band 84.1 der Heidegger-Gesamtausgabe. Heideggers Seminare zu Kant und Leibniz in der ersten Hälfte der 30er Jahre. Intensives Fragen und Nachdenken über zwei große Philosophen mit Freiburger Studenten, in: Heidegger Studies 32 (2016), S. 259 – 285, hier S. 276.

§ 25 Zusammenfassung der Leibniz-Auslegung Heideggers

107

die Vergangenheit aufbewahrt. Sie ist die Aufrollung der Zeitlichkeit. Leibniz befreit sich aber dabei nicht von der bloßen Sukzession der Zeit.“105

Die Ordnung der Sukzession kennzeichnet aber (zunächst und primär) die physikalische Zeit der phänomenalen Körperwelt.106 Was die physische Welt betrifft, soll nochmals auf Leibniz’ deutsche Schrift „Von dem Verhängnisse“ verwiesen werden. Nach Leibniz „kan man sagen, daß die ganze künfftige welt in der gegenwärtigen stecke, und vollkommentlich vorgebildet sey“.107 Daher würde, „wenn einer eine gnugsame insicht in die inneren theile der dinge haben köndte, und dabey gedächtniß und verstand gnug hätte“, er „in dem gegenwärtigen das zukünfftige sehen, gleichsam als in einem Spiegel“.108 Es ist hier wohl impliziert, dass ein solcher „Prophet“109 in dem Gegenwärtigen nicht nur das Zukünftige, sondern auch alles Vergangene sehen könnte „gleichsam als in einem Spiegel“. Diese Aussage findet sich zwar nicht explizit in Leibniz’ Schrift „Von dem Verhängnisse“, aber in dem späteren Manuskript zur „Doppelten Unendlichkeit“, wo er sich mit einer Stelle aus Blaise Pascals „Pensées“ auseinandersetzt, geht er darauf ein. In diesem französischen Text heißt es nun ausdrücklich, „daß ein genügend großer Geist, der mit einem genügend durchdringenden Blick bewaffnet ist, alles das hier sehen könnte, was überall ist. Ja noch mehr: er könnte darin auch die ganze Vergangenheit und sogar die ganze Zukunft lesen, die auf unendliche Weise unendlich ist […].“110

105 Hallwachs, Wilhelm: Mitschrift (189 Bl.) mit der Überschrift: Seminar 35/36 j Leibniz u. d. deutsche Idealismus (Heidegger-Archiv der Handschriftenabteilung des Deutschen Literaturarchivs in Marbach am Neckar: A: Heidegger, Hallwachs 10; Zugangsnummer: 84.2129), Bl. 76 (vgl. Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1 (GA 84.1), Nachwort des Herausgebers, S. 865 – 894, hier S. 876 f.). 106 Vgl. Streitschriften zwischen Leibniz und Clarke (1715 – 1716): Leibniz’ drittes Schreiben, § 4; GP VII, 363; Leibniz’ viertes Schreiben, § 41; GP VII, 376; Leibniz’ fünftes Schreiben, §§ 49, 54, 60 und 105; GP VII, 402 f., 404, 406 und 415. 107 GP VII, 118. 108 GP VII, 118. 109 GP VII, 118. 110 „[…] qu’un assés grand esprit, armé d’une veue assés perçante, pourroit voir icy tout ce qui est partout. Mais il y a bien plus: il y pourroit lire encor tout le passé, et même tout l’avenir infiniment infini […].“ (Double infinité chez Pascal et Monade (nach 1695 ?); Grua II, 553 – 555, hier 554; Übersetzung nach: Leibniz: Kleine Schriften zur Metaphysik/Opuscules metaphysiques, übers. von Holz, S. 373 – 385, hier S. 381, vgl. S. 377 – 379 (Holz datiert das Manuskript auf das Jahr 1695.)) In der heutigen Diskussion wird der kausal-naturgesetzliche oder physikalische Determinismus auch als „nomologischer Determinismus“ bezeichnet (Jäger: Einleitung, in: Molina, Göttlicher Plan und menschliche Freiheit. Concordia, Disputation 52, S. XLII–XLVI). Indem aber zumindest uns menschlichen Wesen, wie es von Leibniz und Laplace formuliert wird, ein exaktes Wissen um die Zukunft fehlt, spricht man diesbezüglich vom „epistemischen Indeterminismus“ (ebd., S. XLIII f.).

108

2. Kap.: Heideggers Leibniz-Auslegung im Hinblick auf den Zeitbegriff

Der Einbezug von Vergangenheit und Zukunft findet sich auch bei Pierre Simon Laplace, der sich ausdrücklich auf Leibniz’ principe de la raison suffisante beruft.111 Für einen solchen Geist („une intelligence“) folgert Laplace: „nichts wäre ihm ungewiss, sowohl die Zukunft als auch die Vergangenheit wäre seinen Augen gegenwärtig.“112 Die (nach Wolfgang Janke) „substanziale Zeit“ der Monaden ist zwar von der physikalischen Zeit der Körper zu unterscheiden, aber wenn Gott Seelen und Körper einander angepasst hat und im Falle unserer undeutlichen Gedanken sogar die Seele dem Körper angepasst hat,113 muss es notwendig gewisse Entsprechungen zwischen der substanzialen und der physikalischen Zeit geben.114 Die göttliche Anpassung der Seele an den Körper im Falle der dunklen und verfließenden Perzeptionen, die von den meisten Interpreten kaum beachtet wird, ist keinesfalls ein Randproblem des Leibniz’schen Denkens, sondern folgt notwendig aus dem zentralen Gottesbegriff und der Lehre von der prästabilierten Harmonie. In § 124 der „Théodicée“ schreibt Leibniz zu dem mit Vernunfteinsicht begabten Geschöpf („Creature intelligente“): „Wenn es nur deutliche Gedanken hätte, dann wäre es ein Gott, seine Weisheit wäre ohne Schranken; das ist eine der Folgen meiner Erwägungen.“115 Das Geschöpf „ist seinem Wesen nach beschränkt“ („est limitée essentiellement“).116 Die Geschöpfe

111

Laplace: Œuvres complètes, Tom. VII: Théorie analytique des Probabilités, S. VI. „rien ne serait incertain pour elle, et l’avenir, comme le passé, serait présent à ses yeux.“ (Laplace: Œuvres complètes, Tom. VII, S. VI f. (Übersetzung vom Verfasser)). Die physikalische Grundgesetze der Klassischen Mechanik sind nämlich invariant gegenüber der Zeitumkehr t ! - t. (Die moderne Physik sieht eine Verletzung der Zeitsymmetrie nur bei der schwachen Wechselwirkung (Kaon-Zerfall): Erweiterung zur CPT-Invarianz (C: Ladungsumkehr (charge conjugation); P: Inversion oder Raumspiegelung (Parität); T: Zeitumkehr) (vgl. Meschede, Dieter: Gerthsen Physik, 25. Aufl., Berlin/Heidelberg 2015, 19.4.10 Symmetrien, Invarianzen, Erhaltungssätze, S. 980 f.).) Dabei stellt sich aber das Problem, dass bei einer Reihe von physikalischen Vorgängen eine Nichtumkehrbarkeit der Zeit beobachtet wird. Zum Problem der Asymmetrie der Zeit in der Physik bemerkt Karen Gloy zu Recht: „Das Problem des Nachweises eines einsinnigen Zeitverlaufs ist eines der änigmatischsten und bislang ungelösten der Physik.“ (Gloy: Zeit. Eine Morphologie, S. 171) Einen noch immer lesenswerten Überblick gibt: Vollmer, Gerhard: Woher stammt die Asymmetrie der Zeit? Zeitpfeile in Physik und Kosmologie (1985), in: Gerhard Vollmer, Was können wir wissen?, Bd. 2: Die Erkenntnis der Natur. Beiträge zur modernen Naturphilosophie, mit einem Geleitwort von Hans Sachsse, 3., durchges. Aufl., Stuttgart 2003, S. 234 – 257; vgl. auch Carrier, Martin: Raum-Zeit, Berlin/New York 2009, 2. Sein und Werden: Reversibilität, Irreversibilität und die Richtung der Zeit, S. 58 – 112. 113 Theod. I, § 66; GP VI, 138 f. 114 Auch Liske verweist auf „eine exakte Entsprechung zwischen dem Reich der Wirkursachen und dem der Zweckursachen“ (Liske: Leibniz’ Freiheitslehre, § 52, S. 271 (Hervorhebung vom Verfasser)). 115 „Si elle n’avoit que pensées distinctes, ce seroit un Dieu, sa sagesse seroit sans bornes; c’est une des suites de mes meditations.“ (Theod. II, § 124; GP VI, 179 (Übersetzung vom Verfasser); vgl. Theod. I, § 31; GP VI, 121; Monadologie, § 60; GP VI, 617). 116 Theod. I, § 20; GP VI, 115. 112

§ 25 Zusammenfassung der Leibniz-Auslegung Heideggers

109

sind, mit Heidegger gesprochen, in ihrer „theologischen Differenz“117 vom göttlichen Sein von einer gewissen Dunkelheit und Verborgenheit umfasst, die auch vom Menschen niemals völlig aufgehoben werden kann.118 Nur Gott allein kommt eine absolute Wahrheit (Unverborgenheit, !k^heia) zu. Nach Michael-Thomas Liske spricht Leibniz (was unsere menschlichen Handlungen betrifft) in § 36 der „Théodicée“ „mit einer Eindeutigkeit, die nichts zu wünschen übrig läßt, die drei unmittelbar zusammengehörigen Thesen des Determinismus aus“.119 Es soll zunächst eine Übersetzung des Paragraphen gegeben werden: „36. Doch kommen wir zu den Schwierigkeiten. Die Philosophen stimmen heute darin überein, dass die Wahrheit der zukünftigen Zufälle determiniert ist, d. h. dass die zukünftigen Zufälle zukünftig sind oder vielmehr sein werden, dass sie passieren werden: denn es ist ebenso sicher, dass das Zukünftige sein wird, wie es sicher ist, dass das Vergangene gewesen ist. Es war schon vor hundert Jahren wahr, dass ich heute schreiben würde, wie es nach hundert Jahren wahr sein wird, dass ich geschrieben habe. So ist des Zufällige (Kontingente), wenn auch zukünftig, nicht weniger zufällig (kontingent), und die Bestimmtheit, die man, wenn sie bekannt wäre, Gewissheit nennen würde, ist mit der Zufälligkeit (Kontingenz) nicht unvereinbar (nicht inkompatibel).“120 „36. Mais venons aux difficultés. Les Philosophes conviennent aujourdhuy, que la Verité des futurs contingens est determinée, c’est à dire que les futurs contingens sont futurs, ou bien qu’ils seront, qu’ils arriveront: car il est aussi seur que le futur sera, qu’il est seur que le passé a été. Il étoit déja vray il y a cent ans, que j’ecrirois aujourdhuy, comme il sera vray apres cent ans, que j’ay ecrit. Ainsi le contingent, pour être futur, n’est pas moins contingent; et la determination, qu’on appelleroit certitude, si elle étoit connue, n’est pas incompatible avec la contingence.“121

Die in dem Paragraphen zum Ausdruck gebrachten drei Thesen des Determinismus sind: „die von dem Festgelegtsein aller Wahrheiten, auch der über kontingent Künftiges“, „die von der futuritio, daß es auch bezüglich des Künftigen Tatsachen gibt“, und „die von der genauen Symmetrie des Vergangenen und des Künftigen, was die Festgelegtheit angeht“.122 Die zeitliche Symmetrie der Festgelegtheit unserer Handlungen in der Vergangenheit und der Zukunft korrespondiert derjenigen in der physischen Natur. Im Bereich undeutlicher Perzeptionen (also zumeist123) ist eine zeitliche Symmetrie unabdingbar, weil in diesem Falle unsere seelischen Vorgänge von Gott den Körpern angepasst werden, für die eine zeitliche Symmetrie (entsprechend den grundlegenden Symmetrieprinzipien der mathematischen Physik der 117

Nach Müller: Existenzphilosophie. Von der Metaphysik zur Metahistorik, 4., erw. Aufl., hrsg. von Halder, S. 86. 118 Vgl. Sein und Zeit (GA 2), § 44. 119 Liske: Leibniz’ Freiheitslehre, § 30, S. 149. 120 Übersetzung vom Verfasser. 121 Theod. I, § 36; GP VI, 123. 122 Liske: Leibniz’ Freiheitslehre, S. 149. 123 Vgl. Monadologie, § 28; GP VI, 611.

110

2. Kap.: Heideggers Leibniz-Auslegung im Hinblick auf den Zeitbegriff

Neuzeit) vorausgesetzt werden muss. Die Symmetrie von Vergangenheit und Zukunft kommt auch in einem anderen Text zur Freiheit zum Ausdruck: „Jedes Zukünftige ist nicht weniger gewiss und notwendig zukünftig, wie das Vergangene notwendig gewesen ist.“124 Gerade die zeitliche Symmetrie, die Liske „als ein Hauptkennzeichen des Determinismus betrachtet“125, widerspricht der von Leibniz selbst gegebenen Deutung, dass die Ermöglichung von Freiheit und Kontingenz durch eine Unterscheidung von Vorherwissen (praevisio, praescientia) und Vorherbestimmung (praedeterminatio) gelöst werden kann, weil damit jede Offenheit zukünftiger Handlungen und Entscheidungen versagt ist. Zu dieser Unterscheidung schreibt Hans Poser: „Absolute göttliche Freiheit und durch Irrtumsmöglichkeit und Kompossibilität begrenzte menschliche Freiheit sind [..] um den Preis der Unterscheidung von Vorherwissen und Vorherbestimmung versöhnt.“126 Die Argumentation bringt Antonella Balestra in ihrer Göttinger Dissertation folgendermaßen zum Ausdruck: „Leibniz unterstellt der ,praescientia Dei‘ keine Beschränkung. Gleichzeitig vertritt er die Option, dass ihre Einräumung nicht als problematisch angesehen werden soll, weil sie nicht determiniert, was Wahrheit ist. Zusammenfassend gesagt sieht Gott etwas im voraus, was geschehen wird, aber nicht geschieht etwas, weil es Gott vorhergesehen hat. Die Ursache des Geschehens ist nicht das Vorhersehen Gottes, vielmehr ist das Geschehen die Verifikation dessen, was Gott vorhergesehen hat.“127

Leibniz grenzt einerseits die unbeschränkte „praescientia Dei“ von der molinistischen „scientia media“ („science moyenne“) ab.128 Andererseits bleibt gerade diese Abgrenzung, was die Kontingenz als Bedingung der Freiheit betrifft, problematisch. Auch Balestra kommt zu der Folgerung: „Da Gottes Erkenntnis also kein quasi-empirisches Sehen ist, sondern eine Art ,Schluß‘ (unbeschadet des Sachverhaltes, daß auch Gott keine unendliche Analyse der Begriffe

124

„Omne futurum non minus certo ac necessario futurum est, quam praeteritum necessario praeteritum est.“ (Conversatio cum Domino Episcopo Stenonio de Libertate; A VI 4, 1381 (Übersetzung vom Verfasser)). 125 Liske: Leibniz’ Freiheitslehre, S. 154. 126 Poser: Leibniz’ Philosophie, S. 225. 127 Balestra, Antonella: Kontingente Wahrheiten. Ein Beitrag zur Leibnizschen Metaphysik der Substanz, Würzburg 2003, S. 121; vgl. dazu Theod. I, § 37 f.; GP VI, 123 f.; De libertate, fato, gratia Dei; A VI 4, 1597. 128 Nach dem spanischen Jesuiten Luis (de) Molina (1535 – 1600); vgl. u. a. Theod. I, §§ 39 – 41; GP VI, 124 – 126; Causa Dei, § 17; GP VI, 441; ferner Scientia Media (November 1677); A VI 4, 1373 f.; C 25 – 27; Aus und zu Ludovicus a Dola, De modo conjunctionis concursuum Dei et creaturarum (1683 bis 1685 (?)); AVI 4, 1789 – 1792. Zum Molinismus vgl. Art. Molinismus, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Ritter [u. a.], Bd. 6, Sp. 95 f.; ausführlicher: Art. Molinisme, in: Dictionnaire de théologie catholique, commencé sous la direction de A. Vacant, E. Mangenot, continué sous celle de É. Amann, Paris 1899 – 1950, Bd. X, 2, Sp. 2094 – 2187; vgl. auch Lalanne: Genèse et évolution du principe de raison suffisante dans l’œuvre de G. W. Leibniz, Bd. 1, S. 129 – 143.

§ 26 Exkurs: Die Asymmetrie der Zeit nach Thomas von Aquin

111

individueller Substanzen durchführt), ist die Notwendigkeit der Zukunft geradezu die Voraussetzung von Gottes Vorhersehen.“129

Zu diesem Ergebnis kommt nach der Erörterung anderer möglicher Lösungen auch Michael V. Griffin: „Leibniz’s necessitarianism provides the only satisfactory solution to the problem of grounding God’s knowledge.“130 Die Notwendigkeit zukünftiger Ereignisse muss für Gottes Vorhersehen schon vorausgesetzt werden, auch wenn es nur moralisch oder hypothetisch notwendig ist, dass z. B. Adam existiert, weil Gott beschloss, ihn unter den Existenzen zuzulassen. Wenn aber Adam existiert, ist alles, was geschehen wird, ob gute oder böse Handlungen, schon determiniert.

§ 26 Exkurs: Die Asymmetrie der Zeit und Gottes Erkenntnis des zukünftigen Kontingenten nach Thomas von Aquin Eine Asymmetrie der Zeit vertritt dagegen noch Thomas von Aquin (1224/25 – 1274).131 Eine zentrale Textstelle ist der 12. Artikel der II. Quaestio der „Quaestiones disputatae de veritate“ zur Frage (nach der Übersetzung von Edith Stein): „Erkennt Gott des zukünftige singuläre Kontingente?“132 Vorwegnehmend antwortet Thomas: „Und so muß man sagen, daß Gott alles Künftige erkennt; doch dadurch wird nicht ausgeschlossen, daß etwas kontingent geschehe.“133 Er argumentiert zunächst aus der menschlichen Perspektive: „Das Notwendige aber kann in seinem Sein nicht aufgehalten werden, ehe es wird, weil seine Ursachen unabänderlich auf seine Erzeugung hingeordnet sind. Darum kann durch solche Erkenntnisweisen, die immer wahr sind, das Notwendige erkannt werden, auch wenn es künftig ist, wie wir z. B. die künftige Sonnenfinsternis oder den Sonnenaufgang mit einem 129

Balestra: Kontingente Wahrheiten, S. 122, Anm. 224. Eine systematische Darlegung von Leibniz’ „Lehre von der unendlichen Analytizität kontingenter Wahrheiten“, auf die hier nicht eingegangen werden kann, gibt Liske (Liske: Leibniz’ Freiheitslehre, § 30, S. 150 – 154). 130 Griffin, Michael V.: Leibniz, God and Necessity, Cambridge, UK [u. a.] 2013, S. 164. 131 Zum Problem der Willensfreiheit bei Thomas vgl. Welp, Dorothée: Willensfreiheit bei Thomas von Aquin. Versuch einer Interpretation, Freiburg, Schweiz 1979. 132 Stein, Edith: Übersetzung: Des Hl. Thomas von Aquino Untersuchungen über die Wahrheit/Quaestiones disputatae de veritate 1, eingeführt und bearbeitet von Andreas Speer und Francesco Valerio Tommasi (Edith Stein Gesamtausgabe, Bd. 23), Freiburg/Basel/Wien 2008, S. 85. Der Verweis auf den lateinischen Text erfolgt hier (mit genauer Seiten- und Zeilenangabe) nach der neueren Ausgabe des Vatikans: Sancti Thomae de Aquino Opera omnia, iussu Leonis XIII P. M. edita, Tom. XXII: Quaestiones disputatae de veritate, Vol. I: Praefatio – QQ. 1 – 7, cura et studio fratrum praedicatorum, Roma 1975, S. 81, Z 1 – 2. 133 Stein: Übersetzung: Des Hl. Thomas von Aquino Untersuchungen über die Wahrheit 1, S. 86 (q. 2, a. 12, corp.); lateinischer Text: Thomae de Aquino Opera omnia XXII, 1, S. 83, Z. 149 – 151.

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2. Kap.: Heideggers Leibniz-Auslegung im Hinblick auf den Zeitbegriff

sicheren Wissen (per scientiam) erkennen. Das Kontingente jedoch kann unterbunden werden, ehe es ins Dasein gefördert wird: denn so lange existiert es nur in seinen Ursachen, denen ein Hindernis in den Weg treten kann, das sie nicht zur Auswirkung gelangen läßt; nachdem jedoch das Kontingente einmal ins Dasein gefördert ist, kann es nicht mehr verhindert werden. Und so kann es bezüglich des Kontingenten, sofern es gegenwärtig ist, ein Urteil jener Fähigkeit oder Erkenntnisweise geben, in der niemals Täuschung vorkommt, wie z. B. die sinnliche Erkenntnis urteilt, daß Sokrates sitzt, zu der Zeit, wo er sitzt. Daraus geht hervor, daß das Kontingente, solange es zukünftig ist, durch keine Erkenntnis gewußt werden kann, bei der keine Täuschung möglich ist; da nun beim göttlichen Wissen keine Täuschung möglich ist, wäre es unmöglich, daß Gott ein Wissen von künftigem Kontingenten hätte, wenn er es als Künftiges erkennen würde (ut futura sunt).“134

Der Wechsel zur göttlichen Perspektive, die von der menschlichen aber durch einen Hiatus getrennt ist,135 deutete sich im letzten Satz bereits an: „[…] das nämlich, was von Gott gesehen wird, ist gegenüber einem andern, dem es in der Zeit folgt, künftig; aber für das göttliche Sehen, das nicht in der Zeit sondern außer der Zeit ist, ist es nicht künftig, sondern gegenwärtig. So sehen denn wir das Künftige als künftig, weil es für unser Sehen künftig ist, da dies sich nach der Zeit bemißt; aber für das göttliche Sehen, das außerhalb der Zeit ist, gibt es kein Künftiges: […] So wie also unser Sehen sich niemals täuscht, wenn es Kontingentes als gegenwärtig sieht, und doch dadurch nicht aufgehoben wird, daß es kontingent eintritt, so sieht Gott alles Kontingente, mag es für uns gegenwärtig sein oder vergangen oder zukünftig, denn ihm ist es nicht künftig, sondern er sieht, daß es dann ist, wenn es ist; so wird dadurch nicht aufgehoben, daß es kontingent eintritt.“136

Es zeigt sich, dass Thomas noch ganz selbstverständlich von einer Asymmetrie der Zeit ausgeht, wobei sich die Frage bei Gott gar nicht stellt, weil sein Sehen „außerhalb der Zeit ist“, ihm also alles Geschehen völlig gegenwärtig (totum simul praesens) ist. Christoph Jäger bemerkt dazu in seiner Einleitung zur lateinschdeutschen Ausgabe einer Abhandlung von Luis de Molina: „Thomas, so kann man zusammenfassen, ist also ein theologischer Inkompatibilist bzgl. der Vereinbarkeit von einem zeitlich charakterisierten universalen göttlichen Vorherwissen mit der Existenz von kontingentem Zukünftigen. Gleichwohl verteidigt er einen theologischen Kompatibilismus bzgl. göttlicher Allwissenheit und Kontingenz bzw. Freiheit, denn göttliches Wissen liegt ihm zufolge außerzeitlich vor. Gottes außerzeitliches Wissen von Dingen 134

Stein: Übersetzung: Des Hl. Thomas von Aquino Untersuchungen über die Wahrheit 1, S. 86 (q. 2, a. 12, corp.) (Ergänzung der lateinischen Termini in Klammern in der Übersetzung); lateinischer Text: Thomae de Aquino Opera omnia XXII, 1, S. 83, Z. 163 – 186. 135 Das vierte Laterankonzil von 1215 hat in der klassischen Formulierung der analogia entis eine „größere Ungleichheit“ zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpf festgehalten (cap. 2): „Inter creatorem et creaturam non potest tanta similitudo notari, quin inter eos maior sit dissimilitudo notanda.“ (Zitiert nach: Przywara, Erich: Religionsphilosophie katholischer Theologie, in: Erich Przywara, Religionsphilosophische Schriften, Einsiedeln 1962 (Schriften, Bd. II), S. 373 – 511, hier S. 402). 136 Stein: Übersetzung: Des Hl. Thomas von Aquino Untersuchungen über die Wahrheit 1, S. 87 (q. 2, a. 12, corp.); lateinischer Text: Thomae de Aquino Opera omnia XXII, 1, S. 84, Z. 210 – 231.

§ 26 Exkurs: Die Asymmetrie der Zeit nach Thomas von Aquin

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oder Ereignissen, die in der Zeit entweder aktual existieren oder einmal aktual waren oder aktual sein werden, bezeichnet Thomas als göttliche scientia visionis (s. etwa ST [Summa Theologiae] I, q. 14, a. 9; vgl. Super Sent. I [Commentum in primum librum Sententiarum Magistri Petri Lombardi], d. 38, q. 1, a. 4, a. 5; SCG [Summa contra Gentiles] I, c. 66).“137

137

Jäger: Einleitung, in: Molina, Göttlicher Plan und menschliche Freiheit. Concordia, Disputation 52, S. LXXXVIII.

3. Kapitel

Der Freiheitsbegriff bei Heidegger § 27 Heideggers Auslegung der beiden Freiheitsbegriffe Descartes’ unter besonderer Berücksichtigung des Molinismus a) Die beiden Freiheitsbegriffe in Descartes’ vierter Meditation vor dem Hintergrund theologischer Kontroversen Heidegger hat in seinen Vorlesungen vor „Sein und Zeit“ keine eigene phänomenologische Untersuchung zum Freiheitsbegriff vorgelegt, aber seine Auseinandersetzung mit den beiden Freiheitsbegriffen René Descartes’ in § 27 seiner Marburger Vorlesung „Einführung in die phänomenologische Forschung“ vom Wintersemester 1923/24 vermag uns einige Hinweise zu geben. Die leitende Thematik des genannten Paragraphen ist gemäß der Überschrift (des Herausgebers) „Die Frage nach dem Sein des falsum und error“.1 Der Paragraph gliedert sich in die Abschnitte „a) Die Konstitution des error: intellectus und voluntas als libertas; die beiden Freiheitsbegriffe Descartes’“ und „b) Der concursus von intellectus und voluntas als Sein des error. Theologische Probleme als Grundlage der beiden Freiheitsbegriffe“. Diese Vorgehensweise bleibt aber auch für Heidegger in einem gewissen Sinne noch an den Untersuchungsgegenstand gebunden, der hier vorgegeben ist, nämlich an Descartes’ Behandlung des Problems. Zu Leibniz bemerkt er in seinem Seminar vom Wintersemester 1935/36: „Leibniz entwickelt seine Ansicht im Anschluß an die in der Scholastik geschichtlich gegebene Gestalt des Problems. Diese Methode, die überhaupt ein Kennzeichen seiner Arbeitsweise ist, kann in gewissen Grenzen fruchtbar sein; sie bleibt aber immer nachteilig durch ihre Bindung an das, was gerade überwunden werden soll, und trägt deshalb oft den Keim des Mißverständnisses in sich.“2

Heidegger bezieht sich auf § 8 (8. Absatz) der vierten Meditation von Descartes’ „Meditationes de prima philosophia“.3 Seine Zielsetzung ist es, im Rahmen der

1

Einführung in die phänomenologische Forschung (GA 17), S. 147. Seminare: Kant – Leibniz – Schiller, Teil 1 (GA 84.1), S. 611 (P Nr. 7). 3 Descartes, René: Meditationes de prima philosophia, Meditatio IV: De vero et falso, § 8, in: Œuvres de Descartes, publ. par Charles Adam et Paul Tannery, nouvelle édition, Paris 1996, 2

§ 27 Heideggers Auslegung der beiden Freiheitsbegriffe Descartes’

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theologischen Diskussion die Frage nach der ontologischen Bestimmung des Falschen und des Irrtums, in einem weiteren Sinne die Frage nach dem Zusammenhang von Wahrsein (esse verum) und Sein (esse) sowie nach dem Sein der res cogitans als ens creatum, zu erörtern.4 Gott kann, was den Irrtum (error) betrifft, weder „positiv die Ursache der Idee, die ich fasse“, sein, noch kann er „die Ursache von Seiendem sein (des errare), das ebenfalls in mir ist“, denn die „Ursache liegt in dem Zusammensein der facultas intelligendi und der facultas eligendi (libertas arbitrii)“,5 d. h. in der Verbindung, dem Zusammenlaufen (concursus) von Erkenntnisvermögen und Wahlvermögen (Entscheidungsfreiheit) des Geschöpfs (ens creatum). Descartes zeigt nun, dass jede facultas qua facultas, etwa der Intellekt für sich genommen („per solum intellectum“6), eine Seinsweise positiver Art ist und als solche ein Gut, ein bonum. Es ist nun für unsere Untersuchung besonders aufschlussreich, welchen Blick Heideggers Auslegung indirekt auch auf Leibniz wirft, mit dem er sich hier nicht explizit befasst. Heidegger bezieht sich weiterhin auf die vierte Meditation des Descartes: „Nun könnte man sagen, daß tatsächlich Irrtümer vorkommen, warum Gott mich nicht so geschaffen hat, daß nie ein Irrtum in mir vorkommen kann. Dazu ist notwendig, daß unser intellectus so beschaffen sein müßte wie der Gottes, d. h. in bezug auf die Möglichkeit erfaßbarer Gegenstände unbegrenzt sein müßte. Er ist aber begrenzt, und innerhalb dessen, was er erfaßt, erfaßt er nicht alles mit der clara et distincta perceptio.“7

Bis zu diesem Punkt besteht kein Unterschied zwischen Descartes und Leibniz. Nun heißt es aber weiter: „Also ein Fehler? Nein. Denn die Begrenztheit meines Intellekts ist keine privatio [Beraubung]. Meine jetzige Ausstattung kann als carentia [Mangel] bestimmt werden nur mit Bezug auf das Ideal der Konstitution Gottes. Sofern ich aber diese Unendlichkeit nicht beanspruchen kann, ist mein Endlichsein kein Mangel. Ich kann nicht mehr beanspruchen. […] Diese Beweisart ist notwendig, weil im Intellekt doch zugleich für ihn die Vollkommenheit des Menschen liegt. Zwar sagt er, die perfectio liege in der voluntas, aber die Explikation der voluntas im Anschluß an Thomas geht in der Richtung auf den Intellekt als facultas eligendi. […] Die facultas eligendi ist eine facultas, die von keinen Grenzen umschlossen ist.“8 Bd. VII, S. 56 – 58; lateinisch-deutsche Ausgabe: Descartes, René: Meditationes de prima philosophia, übers. und hrsg. von Christian Wohlers, Hamburg 2008. 4 Vgl. Einführung in die phänomenologische Forschung (GA 17), §§ 27 – 29. 5 Einführung in die phänomenologische Forschung (GA 17), S. 147; vgl. Descartes: Meditatio IV, § 8, in: Œuvres de Descartes, Bd. VII, S. 56. 6 Descartes: Meditatio IV, § 8, in: Œuvres de Descartes, Bd. VII, S. 56. 7 Einführung in die phänomenologische Forschung (GA 17), S. 148; vgl. Descartes: Meditatio IV, § 8, in: Œuvres de Descartes, Bd. VII, S. 56. 8 Einführung in die phänomenologische Forschung (GA 17), S. 148 (Ergänzung der deutschen Begriffe in eckigen Klammern vom Verfasser); vgl. Descartes: Meditatio IV, § 8, in: Œuvres de Descartes, Bd. VII, S. 56.

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3. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Heidegger

Der Unterschied zwischen Descartes und Leibniz ist wohl auch darin zu sehen, dass Descartes noch statisch oder unzeitlich denkt. Für Leibniz dagegen ist die Annäherung an das göttliche Sein ein zeitlich-geschichtlicher Prozess, der dem Menschen als Ziel aufgegeben ist, auch wenn er die Vollkommenheit Gottes nie ganz erreichen kann. Wie Heidegger es formuliert, kann ich mir keine „größere Möglichkeit meines Willens“ einbilden, „der in gewisser Weise absolut ist“.9 Darin erfahre ich mein Sein, wie Descartes fast wörtlich aus der Vulgata übernimmt, als „imaginem quandam et similitudinem Dei“.10 Bei Descartes selbst steht an der entsprechenden Stelle (vor dem Zitat aus der Vulgata) aber „voluntas, sive arbitrii libertas“.11 Die Freiheit des Menschen wird von Heidegger in Richtung auf den Willen (voluntas), die „propensio“ (Neigung, Hang zu), das „Motiviertsein“ und gegen die „indifferentia“ anvisiert und ausgelegt.12 So heißt es an einer späteren Stelle: „Es liegt im eigentlichen Sinne des Frei-Seins ein ganz charakteristisches Motiviertsein.“13 Wenn Heidegger die lateinischen Termini „propensio“ und „libertas indifferentiae“, übersetzt mit „Gleichgültigkeit der Willkür“, in „Sein und Zeit“14 wieder aufgreift, dann zeigt sich, dass die beiden Freiheitsbegriffe, wenn auch wesentlich modifiziert, noch den verborgenen Hintergrund in diesem ersten Hauptwerk (und darüber hinaus) bilden. Die zwei Grundrichtungen, in die sich „die Frage nach dem Sinn des Freiseins des Menschen“ in der philosophischen und theologischen Überlieferung bewegt, kann man für Heidegger „kurz als aristotelische und augustinische bezeichnen“.15 9

Einführung in die phänomenologische Forschung (GA 17), S. 149. Descartes: Meditatio IV, § 8, in: Œuvres de Descartes, Bd. VII, S. 57. Vgl. Biblia Sacra iuxta Vulgatam versionem, adiuvantibus B. Fischer [et al.], recensuit et brevi apparatu critico instruxit Robert Weber, editionem quintam emendatam retractatam praeparavit Roger Gryson, Stuttgart 2007, Liber Genesis 1, 26: „faciamus hominem ad imaginem et similitudinem nostram“ (Übersetzung vom Verfasser: „lasst uns den Menschen machen nach unserem Bilde, uns ähnlich“); zitiert in: Einführung in die phänomenologische Forschung (GA 17), S. 149. Heidegger greift die Bibelstelle u. a. auch in § 10 von „Sein und Zeit“ auf (Sein und Zeit (GA 2), S. 65 (S. 48)). 11 Descartes: Meditatio IV, § 8, in: Œuvres de Descartes, Bd. VII, S. 57 (Hervorhebung vom Verfasser). Es ist zu bemerken, dass die „libertas arbitrii“ im vorliegenden Zusammenhang vornehmlich im Sinne der „libertas indifferentiae“, der Willkürfreiheit, verstanden wird. 12 Vgl. Einführung in die phänomenologische Forschung (GA 17), S. 151. 13 Einführung in die phänomenologische Forschung (GA 17), S. 151. 14 Sein und Zeit (GA 2), S. 250 und 191 (S. 188 und 144). 15 Einführung in die phänomenologische Forschung (GA 17), S. 153. Es kann hier nur erwähnt werden, dass das Problem der menschlichen Freiheit (Willensfreiheit bzw. Entscheidungsfreiheit), was Aristoteles betrifft, in der heutigen Forschungsliteratur kontrovers diskutiert wird und bei Augustinus die Entwicklung seines Denkens bis zu seiner späteren Gnadenlehre im Vordergrund steht (vgl. Jedan, Christoph: Aristoteles: Auf dem Weg zum Willensfreiheitsproblem – Kausalität, offene Zukunft und menschliches Handeln; Kahnert, Klaus: Augustin: De libero arbitrio – Über die freie Willensentscheidung, in: Hat der Mensch einen freien Willen? Die Antworten der großen Philosophen, hrsg. von Uwe an der Heiden und Helmut Schneider, Stuttgart 2007, S. 39 – 48; 87 – 99). 10

§ 27 Heideggers Auslegung der beiden Freiheitsbegriffe Descartes’

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Heideggers weitere Kritik an Descartes deckt sich nun in gewisser Weise mit der von Leibniz: „Bei dieser Bestimmung [des formalen Seins des Willens] schwebt Descartes eine traditionelle Bestimmung der Freiheit vor, ein Begriff der Freiheit, der als absentia coactionis et determinationis [Abwesenheit von Zwang und Bestimmtheit] charakterisiert werden kann, der eigentliche Schulbegriff, der Descartes hier vorschwebt: das Nichtvorhandensein eines bestimmten Ausgerichtetseins auf etwas.“16

An dieser Stelle treten nun nach Heideggers Auslegung die beiden ambivalenten Freiheitsbegriffe Descartes’ in Erscheinung: „Hier tritt nun die eigentliche Kunst des Sichhindurchwindens zu Tage, die bei Descartes häufig ist. Er bestimmt libertas als absolute indifferentia, quod facere et non facere idem possumus [als absolute Indifferenz, dass wir dasselbe tun oder nicht tun können]. Darauf gibt er die Bestimmung der voluntas, als sei dasselbe eine zweite Bestimmung, in der er die Freiheit so faßt, daß sie eine libertas im Sinne der absentia coactionis [Abwesenheit von Zwang] ist, aber trotzdem ein determinari.“17

Nach Manuela Massa hat Heidegger vor allem folgendes Ziel vor Augen: „Denn es gilt nach Heidegger, sowohl die voluntaristische Struktur der menschlichen Natur zum Ausdruck zu bringen als auch eine Kritik an Descartes’ Auffassung des Bewusstseins zu unternehmen. […] Es muss jedoch betont werden, dass Heideggers Ziel letztlich darin besteht, die res cogitans ontologisch zu bestimmen, was wiederum die Freiheitsproblematik impliziert. Denn aus der schematischen Gegenüberstellung von intellectus und voluntas heraus erweist sich der concursus als ein ,Zusammensein‘. So sind es nun Intellekt und Wille, die in ihrer Verknüpfung die Möglichkeit eines defectus ebendieser Freiheit enthalten. Bei Descartes ist die Freiheit nicht ,unschuldig‘, sondern etwas, das zwischen Wille (voluntas) und Erkennen (intellectus) eine irrtümliche Ungleichheit setzt.“18

In § 27 b) der Vorlesung „Einführung in die phänomenologische Forschung“ befasst sich Heidegger weiter mit dem Grund des Irrtums, vor allem aber mit dem theologischen Hintergrund der beiden Freiheitsbegriffe, mit denen Descartes operiert. Er führt aus, wie in dem Aufsatz von Massa angesprochen, dass der Irrtum (error) (mit einem an Descartes angelehnten Terminus) „sein Sein in einem concursus“, einem Zusammensein hat, „der nicht auf Gott gesehen ist, sondern auf zwei

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Einführung in die phänomenologische Forschung (GA 17), S. 150 (Ergänzung in eckigen Klammern und Übersetzung der lateinischen Termini in eckigen Klammern vom Verfasser); vgl. Descartes: Meditatio IV, § 8, in: Œuvres de Descartes, Bd. VII, S. 57. 17 Einführung in die phänomenologische Forschung (GA 17), S. 150 (Übersetzung des lateinischen Textes in eckigen Klammern vom Verfasser); vgl. Descartes: Meditatio IV, § 8, in: Œuvres de Descartes, Bd. VII, S. 57 f. 18 Massa, Manuela: „Selbstbestimmung“ und „Daseinsbefreiung“. Annäherungen an einen Rechtsbegriff in Heideggers Frühphilosophie, in: Gerhard Thonhauser (Hrsg.), Perspektiven mit Heidegger. Zugänge – Pfade – Anknüpfungen, Freiburg/München 2017, S. 147 – 162, hier S. 148 f.

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3. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Heidegger

Möglichkeiten des Verhaltens, die dem Menschen selbst gegeben sind“.19 Diese zwei Möglichkeiten des Verhaltens, „die zugleich miteinanderlaufen“20 („simul concurrentibus“21), sind der Intellekt (intellectus) und der Wille (voluntas). Es braucht für unsere Thematik nun nicht weiter auf den Grund des Irrtums, der sich aus diesem Zusammensein ergibt, eingegangen zu werden. Die beiden Freiheitsbegriffe, die Descartes aufgreift, haben nach Heideggers Ausführungen ihre Grundlage in theologischen Problemen, die das Christentum seit Augustinus beschäftigte und zur Zeit der Abfassung der „Meditationes“ besonders lebendig waren, nämlich „die Frage des Zusammenhanges zwischen Gnade und Freiheit“.22 Die in der Theologie in unterschiedlicher Weise aufgegriffene und erörterte Frage ist, wie sich das Freisein des Menschen mit dem absoluten Wirken Gottes, der göttlichen Vorherbestimmung und der göttlichen Gnade vermitteln lässt. Auch Leibniz’ „Théodicée“ ist, wie wir gesehen haben, von der grundsätzlichen Intention geleitet, die menschliche Freiheit mit der göttlichen Voraussicht (praescientia, praevisio) und Vorherbestimmung (praedeterminatio, praeordinatio) in Einklang zu bringen.

b) Heideggers und Leibniz’ Auseinandersetzung mit dem Freiheitsbegriff von Luis de Molina Es kann hier nur auf Luis (de) Molina (1535 – 1600) eingegangen werden, der für Heidegger unter den spanischen Jesuiten „hervorragend“ ist.23 Leibniz’ Position zum Problem des göttlichen Vorherwissens (praescientia) zeigt sich in seinem Versuch, die molinistische „scientia media“ zu widerlegen, die sich auf die sogenannte „contingentia futura sub conditione“ beruft, also darauf, dass die Zukunft insofern kontingent ist, als sie unter bestimmten Bedingungen eintritt. Der Molinismus unterscheidet drei Stufen des göttlichen Wissens über alles Zukünftige.24 Gott erkennt erstens alles Mögliche durch die „scientia simplicis intelligentiae“, der 19

Einführung in die phänomenologische Forschung (GA 17), S. 151; vgl. Descartes: Meditatio IV, § 8, in: Œuvres de Descartes, Bd. VII, S. 56. 20 Einführung in die phänomenologische Forschung (GA 17), S. 151 f. 21 Descartes: Meditatio IV, § 8, in: Œuvres de Descartes, Bd. VII, S. 56. 22 Einführung in die phänomenologische Forschung (GA 17), S. 152 f. 23 Vgl. Einführung in die phänomenologische Forschung (GA 17), S. 154. 24 Vgl. Art. Molinisme, in: Dictionnaire de théologie catholique, Bd. X, 2, Sp. 2094 – 2187, hier Sp. 2119; Art. Science, in: Dictionnaire de théologie catholique, Bd. XIV, 2, Sp. 1595 – 1665, hier Sp. 1612. Zur neueren Diskussion vgl. Griffin: Leibniz, God and Necessity, S. 112 – 144; Jäger: Einleitung, in: Molina, Göttlicher Plan und menschliche Freiheit. Concordia, Disputation 52, S. XIII–CLXXVIII, vgl. auch Kommentar, S. 85 – 228. Das von Jäger erörterte Problem der sogenannten „kontrafaktischen Freiheitskonditionale“ (ebd., S. CXXII–CLXXVI) wird hier nicht behandelt, da es für Leibniz’ (und Heideggers) Kritik am Molinismus unerheblich ist.

§ 27 Heideggers Auslegung der beiden Freiheitsbegriffe Descartes’

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eine logische Priorität zukommt. Er erkennt z. B., wie Petrus unter diesen oder jenen Umständen handeln würde. Zweitens erkennt Gott unabhängig von jedem Beschluss seines Willens unfehlbar die sogenannten „futuribilia“, das unter bestimmten Bedingungen Zukünftige (im Unterschied zur „futuritio“ bei Leibniz25), und zwar durch die „scientia media“. Durch die „scientia media“ sieht Gott die freien Akte unseres Willens als eine partielle Ursache (causa partialis) voraus, weil er weiß, wie sich die freien Zweitursachen (causae secundae) unter beliebigen Bedingungen oder Umständen verhalten. Und drittens entscheidet sich Gott durch einen einfachen Beschluss seines Willens, die „scientia visionis“, für eine Ordnung der Dinge. Gott kennt zwar die künftige Willensentscheidung, wartet diese aber ab. Die freie Willensentscheidung wird erst bei ihrer Aktualisierung von Gott durch gleichzeitiges Zusammenwirken (concursus simultaneus) gnadenhaft ünterstützt. Sofern sich der Wille frei entscheidet, steht Gottes Gnade zur Mitwirkung bereit und wird tatsächlich wirksam, sobald diese Bedingung erfüllt ist (Zusammenfall von gratia sufficiens und gratia efficiens). Die „scientia media“ ist sowohl von der „scientia simplicis intelligentiae“ als auch von der „scientia visionis“ unabhängig, obwohl sie mit beiden in einem Verhältnis steht. Die von Molina selbst eingeführten Begriffe unterscheiden sich, was die Weisen des göttlichen Wissens betrifft, von den auch von Leibniz übernommenen Schulbegriffen. Die Disputatio 52, das Schlüsselkapitel zur „scientia media“ in der „Concordia“, wie Molinas Hauptwerk kurz genannt wird, trägt den Titel: „Utrum in Deo sit futurorum contingentium scientia. Qua item ratione cum ea libertas arbitrii rerumque contingentia consentiant.“26 Der Titel lautet nach der nun vorliegenden Übersetzung dieser Disputation: „Gibt es in Gott Wissen über kontingentes Zukünftiges? Und inwiefern sind mit diesem Wissen Entscheidungsfreiheit und die Kontingenz der Dinge vereinbar?“27 Zum göttlichen Wissen heißt es hier: „9. Für uns gilt es, drei Arten von Wissen (triplicem scientiam) in Gott zu unterscheiden, wenn wir bei dem Versuch, unsere Entscheidungsfreiheit (libertate arbitrii nostri) und die Kontingenz der Dinge mit dem göttlichen Vorherwissen (cum divina praescientia) zu versöhnen, vermeiden wollen, gefährlich irrezugehen. Eine Art ist das rein Natürliche Wissen (mere naturalem28), das als solches auf keine Weise anders in Gott hat sein können. Durch dieses Wissen kennt er all das, worauf sich die göttliche Macht (divina potentia) unmittelbar oder unter Mitwirkung von Zweitursachen 25 Vgl. Conversatio cum Domino Episcopo Stenonio de Libertate; A VI 4, 1378; Theod. I, §§ 37 und 52; GP VI, 124 und 131 (französisch: „la futurition“). 26 Molina, Ludovicus: Liberi arbitrii cum gratiae donis, divina praescientia, providentia, praedestinatione et reprobatione Concordia, editionem criticam curavit Iohannes Rabeneck, Oniae/Matriti 1953 (Text nach der 2. Aufl., Antwerpen 1595), Concordia, ad nonnullos articulos primae partis D. Thomae, Ad Articulum 13 eiusdem Quaestionis 14/Pars IV: De praescientia Dei, Disputatio 52, S. 337. 27 Molina, Luis de: Göttlicher Plan und menschliche Freiheit. Concordia, Disputation 52, lateinisch-deutsch, eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Christoph Jäger, Hans Kraml und Gerhard Leibold, Hamburg 2018, S. 3. 28 In Entsprechung zur „scientia simplicis intelligentiae“.

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3. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Heidegger

(interventu causarum secundarum) erstreckt, und zwar sowohl hinsichtlich der Naturen der Einzeldinge und der notwendigen Zusammensetzungen aus ihnen als auch hinsichtlich ihrer kontingenten Zusammensetzungen. Dabei weiß er nicht etwa, dass die letztgenannten in festgelegter Weise zukünftig vorkommen oder nicht vorkommen würden, sondern er weiß, dass sie gleichermaßen vorkommen oder nicht vorkommen könnten (indifferenter esse et non esse possent), was ihnen notwendigerweise zukommt und daher ebenfalls unter das Natürliche Wissen Gottes (sub scientiam Dei naturalem) fällt. Die zweite Art ist das rein Freie Wissen (mere liberam29), durch das Gott nach dem freien Akt seines Willens (post liberum actum suae voluntatis) ohne irgendeine Voraussetzung und Bedingung absolut und in festgelegter Weise weiß, welche von allen kontingenten Zuammensetzungen tatsächlich künftig vorkommen werden und welche nicht. Die dritte Art schließlich ist das Mittlere Wissen (mediam scientiam), durch das Gott in seinem eigenen Wesen (in sua essentia) kraft des höchsten und unerforschlichen Erfassens eines jeden freien Entscheidungsvermögens (cuiusque liberi arbitrii) unmittelbar erkennt (intuitus est), was es aus seiner angeborenen Freiheit (pro sua innata libertate) heraus tun würde, wenn es sich in dieser oder in jener oder auch in unendlich vielen Ordnungen der Dinge befände, auch wenn es tatsächlich das Gegenteil tun könnte, falls es wollte (si vellet), wie aus dem in den Abhandlungen (disp.) 49 und 50 Gesagten klar hervorgeht.“30

Die Vereinbarkeit der menschlichen Freiheit mit der göttlichen Verursachung alles Geschaffenen wird für Molina dadurch verbürgt, dass sich das göttliche Dekret nicht auf die freie Bestimmung des geschaffenen Willens, sondern auf die Realisierung dieser freien Bestimmung in den Dingen bezieht.31 In diesem Sinne schreibt Molina in § 10 der Disputatio 52: „Daraus folgt mit größter Klarheit: Das Wissen, durch das Gott vorhersieht (praevidet), was ein mit freiem Entscheidungsvermögen ausgestattetes Wesen unter der Voraussetzung tun wird, dass es sich in einer bestimmten Ordnung der Dinge befindet, bevor er beschließt, es zu erschaffen (antequam statuat eam creare), hängt davon ab, dass jenes Wesen selbst aufgrund seiner Freiheit (quod ipsa pro sua libertate) das eine oder etwas anderes tun wird, und nicht umgekehrt. Das Wissen hingegen, durch das Gott unabhängig von irgendeiner Voraussetzung absolut weiß, was durch die Betätigung von einem geschaffenen freien Entscheidungsvermögen (per liberum arbitrium creatum) tatsächlich geschehen wird, ist in Gott immer Freies Wissen (semper est in Deo libera) und hängt von der freien Festlegung seines Willens ab (pendetque a determinatione libera suae voluntatis), durch die er ein solches freies Entscheidungsvermögen (qua tale liberum arbitrium) in einer solchen oder einer anderen Ordnung der Dinge zu erschaffen beschließt (creare statuit).“32 29

In Entsprechung zur „scientia visionis“. Übersetzung nach: Molina: Göttlicher Plan und menschliche Freiheit. Concordia, Disputation 52, S. 11 – 13 (Ergänzung des lateinischen Textes in Klammern vom Verfasser), vgl. auch S. CXXXI (Tabelle); lateinischer Text nach: Molina: Liberi arbitrii cum gratiae donis … Concordia, ed. Rabeneck, Concordia, ad nonnullos articulos primae partis D. Thomae, Quaest. 14, Art. 13/Pars IV, Disp. 52, § 9, S. 339 f. 31 Vgl. Balestra: Kontingente Wahrheiten, S. 115. 32 Übersetzung nach: Molina: Göttlicher Plan und menschliche Freiheit. Concordia, Disputation 52, S. 17 (Ergänzung des lateinischen Textes in Klammern vom Verfasser); lateinischer Text nach: Molina: Liberi arbitrii cum gratiae donis … Concordia, ed. Rabeneck, 30

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Was das Verhältnis zwischen der göttlichen Gnade und der menschlichen Entscheidungsfreiheit betrifft, bedient sich Molina einer Gnade, der „gratia sufficiens“, die ihre Wirkung nur über die freien Entscheidungen der Menschen ausübt. Damit entstand aber der Eindruck, die göttliche Gnade hänge letztlich vom menschlichen Willen ab, weshalb von den Thomisten gegen Molina der Vorwurf des Pelagianismus erhoben wurde.33 Leibniz entfaltet seine Kritik an der „scientia media“ in zwei Hinsichten. Zum einen ist die „scientia media“ unnötig, weil sie über die „scientia simplicis intelligentiae“ und die „scientia visionis“ hinaus zu keinen weiteren Erkenntnissen führt, die in ihnen nicht schon enthalten wären.34 Zum anderen versucht Leibniz in der „Théodicée“ die „science moyenne“ im Ausgang von der von Molina genannten biblischen Episode zu widerlegen.35 Leibniz kritisiert in § 41, dass das göttliche Vorherwissen (praescientia, prescience) dessen, was die Kegiliter tun würden, wenn man von der „scientia media“ ausgeht, keine Gewissheit ermöglicht: „Der Haupteinwand aber ist gegen das Fundament dieses Wissens gerichtet. Auf welcher Grundlage konnte Gott erkennen, was die Kegiliter tun würden? Eine einfache, kontingente und freie Handlung hat nichts an sich, was ein Prinzip der Gewissheit abgeben könnte, wenn man sie nicht als vorherbestimmt durch die Beschlüsse Gottes und die davon abhängenden Ursachen betrachtet.“36 „Mais la principale objection va contre le fondement de cette science. Car quel fondement peut avoir Dieu de voir ce que feroient les Kegilites? Un simple acte contingent et libre n’a rien en soy qui puisse donner un principe de certitude, si ce n’est qu’on le considere comme predeterminé par les decrets de Dieu, et par les causes qui en dependent.“37

In der Schrift „Scientia Media“ vom November 1677 schreibt Leibniz ausdrücklich, dass ein solches kontingentes Wissen der „scientia media“ nicht „a priori“, Concordia, ad nonnullos articulos primae partis D. Thomae, Quaest. 14, Art. 13/Pars IV, Disp. 52, § 10, S. 341. 33 Der Pelagianismus (seit dem 16. Jahrhundert in der gemäßigten Form des Semipelagianismus) ist ein Sammelname für die theologische Richtung, die sich auf den aus Britannien stammenden Theologen Pelagius beruft, der vor 410 in Rom lehrte und die Gegnerschaft von Augustinus auf sich zog (vgl. Art. Pelagius/Pelagianer/Semipelagianer, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Bd. 6, Sp. 1081 – 1085). Auch Heidegger gibt eine kurze Darlegung der theologischen Kontroversen (Einführung in die phänomenologische Forschung (GA 17), S. 154 f.). 34 Vgl. Causa Dei, §§ 14 – 17; GP VI, 440 f.; Briefwechsel zwischen Leibniz und Bayle, Beilage; GP III, 28 – 38, hier 30 f. Es ist im Ausgang von weiteren Textstellen aber strittig, ob Leibniz die „scientia media“ als einen Teil der „scientia simplicis intelligentiae“ oder der „scientia visionis“ betrachtet. Michael-Thomas Liske kommt zu dem Ergebnis, dass „Leibniz die scientia media unter der weit verstandenen scientia visionis mitbegreifen kann“ (Liske: Leibniz’ Freiheitslehre, § 39, S. 198). 35 Episode von David in Keïla nach dem Alten Testament, 1 Samuel 23, 1 – 13; vgl. Theod. I, § 40; GP VI, 124 f. 36 Übersetzung vom Verfasser. 37 Theod. I, § 41; GP VI, 125.

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3. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Heidegger

sondern „unvollkommen und a posteriori ist“ („imperfecta est et a posteriori“38), also eine Art von empirischem Wissen darstellt, was aber Gottes Wesen widerspricht. Die oben genannten Stufen der göttlichen Erkenntnis werden von Leibniz am Leitfaden seiner Lehre der individuellen Substanz interpretiert, die die Grundlage seiner Kritik am Molinismus bildet. Antonella Balestra schreibt dazu in ihrer Göttinger Dissertation: „Besonders wichtig ist die Tatsache, dass Leibniz den Unterschied zwischen ,scientia visionis‘ und ,scientia simplicis intelligentiae‘ anhand der Unterscheidung zwischen notwendigen Wahrheiten und kontingenten Wahrheiten zu reinterpretieren versucht. Und der Leitfaden für diese Diskussion ist die Leibnizsche Lehre der individuellen Substanz. So verstanden besteht die ,scientia visionis‘ in einer vollkommenen Erkenntnis von Begriffen, welche eine kontingente Aussage ausmachen, d. h. sie besteht in einer vollkommenen Erkenntnis des Prädikats und des Subjektbegriffs in einer Aussage über Kontingentes. Nur Gott ist in der Lage, eine vollkommene Erkenntnis über eine individuelle Substanz zu besitzen.“39

Heidegger möchte durch den geschichtlichen Abriss vor allem aufzeigen, dass die beiden Freiheitsbegriffe, mit denen Descartes operiert, in theologischen Problemen wurzeln, auch wenn das nicht immer unmittelbar zu erkennen ist, weil er diese Zusammenhänge „in eigentümlicher Weise enttheologisiert“.40 Bei Molina würdigt Heidegger die „Tendenz, die Freiheit des Menschen positiv zu bestimmen, ohne das Gnadenwirken Gottes einzuschränken“.41 Zur Rechtfertigung der menschlichen Freiheit werden von Molina verschiedene Argumente angeführt. Beispielsweise gäbe es keine Abgrenzung des Menschen von den Tieren, wenn man die menschliche Freiheit leugnen würde.42 Die von Molina im Anschluss an den portugiesischen Jesuiten Pedro da (Petrus) Fonseca (1528 – 1599) vertretene Indifferenz, die Heidegger in „Sein und Zeit“ mit „Gleichgültigkeit der Willkür“43 übersetzt, wird von ihm jedoch in Übereinstimmung mit Leibniz kritisch beleuchtet.44 Die indifferentia 38

A VI 4, 1373; C 26. Balestra: Kontingente Wahrheiten, S. 122. 40 Einführung in die phänomenologische Forschung (GA 17), S. 159, vgl. S. 157. 41 Einführung in die phänomenologische Forschung (GA 17), S. 154, vgl. Anhang, S. 310. 42 Vgl. Molina: Liberi arbitrii cum gratiae donis … Concordia, ed. Rabeneck, Concordia, ad nonnullos articulos primae partis D. Thomae, Quaest. 14, Art. 13/Pars I: De viribus liberi arbitrii ad opera bona, Disputatio 23, Membrum 1, § 2, S. 134; vgl. dazu Aichele, Alexander: The Real Possibility of Freedom: Luis de Molina’s Theory of Absolute Willpower in Concordia I, in: A Companion to Luis de Molina, ed. by Matthias Kaufmann & Alexander Aichele, Leiden/ Boston 2014, S. 3 – 54, hier S. 53. 43 Sein und Zeit (GA 2), S. 191 (S. 144). In seinem am 8. Oktober 1930 in Bremen gehaltenen Vortrag „Vom Wesen der Wahrheit“ (aufgenommen als „2. Version“) spricht Heidegger, wenn auch auf einer schon gewandelten Besinnungsebene, von „der Willkür des menschlichen Subjekts“ und stellt dazu die Frage: „Kann die Wahrheit gründlicher untergraben werden als durch diese angebliche Wesenserkenntnis?“ (Vorträge, Teil 1: 1915 bis 1932 (GA 80.1), S. 345 – 377, hier S. 360). 44 Zu Leibniz’ Kritik vgl. u. a. Theod. I, § 48; GP VI, 129; Conversatio cum Domino Episcopo Stenonio de Libertate; AVI 4, 1380; Aus und zu Ludovicus a Dola; AVI 4, 1791. Auch 39

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ist „als deficiens“ zu fassen.45 Das einzige Zitat zum Molinismus ist eine Stelle aus der „Concordia“: „Quo pacto illud agens liberum dicitur quod positis omnibus requisitis ad agendum potest agere et non agere aut ita agere unum ut contrarium etiam agere possit. Atque ab hac libertate facultas qua tale agens potest ita operari dicitur libera.“46

Heidegger übersetzt: „Dasjenige Wirkende wird frei genannt, das, sofern alles zum Handeln Notwendige bereitsteht, dennoch handeln kann oder nicht oder das bei einer Entscheidung für eine bestimmte Richtung noch das Bewußtsein von der Möglichkeit hat, eine andere zu ergreifen. Dieses indifferente Gestelltsein vor beide Möglichkeiten ist der eigentliche Sinn von Freisein.“47

Auch Leibniz nennt in seiner „Conversatio cum Domino Episcopo Stenonio de Libertate“ die molinistische Definition der Freiheit: „quod sit potestas agendi aut non agendi positis omnibus ad agendum requisitis“.48 Er kritisiert, dass die späteren Scholastiker, d. h. die Molinisten, geschickter waren, „den Schwierigkeiten auszuweichen, als sie zu lösen“ („eludendis potius quam tollendis difficultatibus“).49 Es ist offensichtlich, dass die von Heidegger genannte Textstelle „potest agere et non agere“ bei Molina auf den ersten Freiheitsbegriff bei Descartes verweist: „quod idem vel facere vel non facere […] possimus“.50 Dagegen stellt Heidegger, sicherlich im Sinne der Möglichkeit einer positiven Anknüpfung, den Freiheitsbegriff der Augustinischen Theologie: „Jedes Handeln des Menschen als Menschen steht unter einer finis, und diese finis als bonum ist das constitutivum der Freiheit.“51 Freisein heißt für Augustinus auch: „sich nicht unterwerfen unter die Forderungen der Welt“52, welche Unterwerfung (Lockung, Verführung, Zerstreuung) Heidegger

Leibniz nennt den Jesuiten Fonseca (Theod. I, § 39; GP VI, 124; Scientia Media; AVI 4, 1373; C 25). 45 Einführung in die phänomenologische Forschung (GA 17), S. 156. 46 Molina: Liberi arbitrii cum gratiae donis … Concordia, ed. Rabeneck, Concordia, ad nonnullos articulos primae partis D. Thomae, Quaest. 14, Art. 13/Pars I, Disp. 2, § 3, S. 14. 47 Einführung in die phänomenologische Forschung (GA 17), S. 155. (Das entsprechende lateinische Zitat im Text der Vorlesung ist unvollständig). 48 A VI 4, 1380; vgl. auch Confessio Philosophi; A VI 3, 132 f.; Leibniz: Confessio philosophi, Kritische Ausgabe von Saame, S. 80. 49 A VI 4, 1380. 50 Descartes: Meditatio IV, § 8, in: Œuvres de Descartes, Bd. VII, S. 57; vgl. Einführung in die phänomenologische Forschung (GA 17), S. 150. 51 Einführung in die phänomenologische Forschung (GA 17), S. 156. 52 Einführung in die phänomenologische Forschung (GA 17), S. 156. Bereits in seiner Freiburger Vorlesung „Augustinus und der Neuplatonismus“ vom Sommersemester 1921 spricht Heidegger von der „Abfallsrichtung“ oder vom „Abfall“ (Phänomenologie des religiösen Lebens (GA 60), S. 157 – 299, hier S. 200).

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3. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Heidegger

später als die Uneigentlichkeit der Existenz oder das Verfallen (Verfallensein, Verfallenheit) kennzeichnet.53 Wir können schon festhalten: Das Freisein oder die Freiheit steht in einem ausgezeichneten Bezug zum Grundmodus der Eigentlichkeit in der Abgrenzung von der Uneigentlichkeit der Existenz.

§ 28 Exkurs: Der heutige universale Deutungsanspruch der Neurowissenschaften als Herausforderung für die Rechtsphilosophie Die Frage nach der Vereinbarkeit von Determinismus und menschlicher Freiheit, in der heutigen Diskussion der sogenannte „Kompatibilismus“ oder „Inkompatibilismus“, führte schon in der griechischen Philosophie zur Auseinandersetzung mit den Atomisten (Leukipp, Demokrit) und den Stoikern (Zenon von Kition, Chrysipp, Epiktet), die einen konsequenten Determinismus vertraten. In ihrem Buch „Die hellenistischen Philosophen“ kommentieren Anthony Arthur Long und David Neil Sedley die „Ethik“ des Epikureismus (Epikur, Lukrez) auszugsweise mit folgenden Worten: „In den erhaltenen Papyrusfragmenten von Epikurs Buch zum Thema der Verantwortung, aus denen die Texte B und C entnommen sind, wird die Bahnabweichung noch nicht einmal erwähnt. Dennoch wirft das Buch noch ein grelles Licht auf die Frage. […] Demokrit selbst, so hören wir, versäumte es einfach, die Implikationen seines Determinismus für das menschliche Handeln zu sehen (C13–14). Andererseits hat Epikur in C2–12 als Hauptgegner jemanden, der ganz bewußt einen mechanistischen Determinismus auf alles menschliche Verhalten anwendet, einschließlich seines eigenen Verhaltens. Dabei hat Epikur wahrscheinlich solche Demokriteer des vierten Jahrhunderts im Sinn wie seinen eigenen verunglimpften Lehrer Nausiphanes […].“54

Die Problemstellung ist also keinesfalls neu. Das sogenannte „Libet-Experiment“ (1983 und 1985 erstmals publiziert) und die nachfolgenden Experimente von Patrick Haggard und Martin Eimer sind heute nur die in der Öffentlichkeit bekanntesten Beispiele für den universalen Deutungsanspruch der empirisch-experimentell verfahrenden Neurowissenschaften. Aber auch die Geschichtswissenschaft, wie beispielsweise repräsentiert durch den renommierten Frankfurter Mediävisten Johannes Fried, spricht für ihr Fachgebiet von einem „neuronal turn“, der auf den „linguistic turn“ folgte.55 Auf das Libet-Experiment kann nur kurz eingegangen werden. Der 53

Sein und Zeit (GA 2), §§ 35 – 38. Long, A. A./Sedley, D. N.: Die hellenistischen Philosophen. Texte und Kommentare, übers. von Karlheinz Hülser, Stuttgart/Weimar 2000, S. 126 (Texte B und C nach Epikur: De natura, 34, 21 – 22 und 34, 26 – 30; deutsche Übersetzung, S. 119 – 121). 55 Vgl. Geyer, Christian: Frieds Brainstorming. Jetzt ist auch die Geschichte aufs Gehirn gekommen, in: Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente, 54

§ 28 Exkurs: Der Deutungsanspruch der Neurowissenschaften

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US-amerikanische Physiologe Benjamin Libet (1916 – 2007) schreibt selbst in einer Stellungnahme aus dem Jahr 1999 mit dem Titel „Haben wir einen freien Willen?“: „Ich habe mich dieser Frage auf experimentelle Weise genähert. Freien Willenshandlungen geht eine spezifische elektrische Veränderung im Gehirn voraus (das ,Bereitschaftspotential‘, BP), das 550 ms vor der Handlung einsetzt. Menschliche Versuchspersonen wurden sich der Handlungsintention 350 – 400 ms nach Beginn von BP bewußt, aber 200 ms vor der motorischen Handlung. Der Willensprozeß wird daher unbewußt eingeleitet. Aber die Bewußtseinsfunktion kann den Ausgang immer noch steuern; sie kann die Handlung durch ein Veto verbieten. Willensfreiheit ist daher nicht ausgeschlossen. Diese Befunde stellen Beschränkungen für mögliche Ansichten darüber dar, wie der freie Wille funktionieren könnte; er würde eine Willenshandlung nicht einleiten, würde aber den Vollzug der Handlung steuern. Die Befunde haben auch Implikationen für Ansichten über Schuld und Verantwortung.“56

Es stellt sich jedoch die Frage, ob die Versuchsanordnung des Libet-Experiments und seiner Nachfolger überhaupt das zu zeigen vermag, was daraus gefolgert wird. Die eigentliche bewusste Entscheidung ging den Experimenten längst voraus, nämlich in der Zustimmung der Versuchspersonen, den Aufforderungen des Laborleiters Folge zu leisten. So bemerkt der Philosoph Lutz Wingert, der heute an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich lehrt: „So betrachtet gleichen die im Labor ausgeführten willkürmotorischen Bewegungen dem Sprung des Tormanns beim Elfmeter, der schon vor dem bewußten Registrieren des Torschusses zu reagieren beginnt. Sie sind nicht weniger freiwillig als die habitualisierte Parade eines geübten und warmgeschossenen Torwarts.“57

Allerdings beziehen sich Neurowissenschaftler wie beispielsweise Wolfgang Prinz vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig, Gerhard Roth vom Zentrum für Kognitionswissenschaften an der Universität Bremen und Wolf Singer vom Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main auf das Gesamtfeld ihrer Forschungen und nicht nur auf einige ausgewählte Experimente. Ihre Folgerungen sind weitreichend. So meint Roth im Zusammenhang hrsg. von Christian Geyer, Frankfurt a. M. 2004, S. 134 – 139; vgl. im gleichen Band: Fried, Johannes: Geschichte und Gehirn. Irritationen der Geschichtswissenschaft durch Gedächtniskritik, S. 111 – 133, und Völkel, Markus: Wohin führt der „neuronal turn“ die Geschichtswissenschaft?, S. 140 – 142. 56 Libet, Benjamin: Haben wir einen freien Willen?, in: Hirnforschung und Willensfreiheit, S. 268 – 289, hier S. 268 (Abstract) (Deutsche Erstveröffentlichung, zuerst erschienen unter dem Titel: Do we have a free will?, in: Journal of Consciousness Studies 6, Nr. 8 – 9 (1999), S. 47 – 57). (Libets Beurteilung hinsichtlich der Möglichkeit eines „Vetos“ wird in Fachkreisen aber kontrovers diskutiert). 57 Wingert, Lutz: Gründe zählen. Über einige Schwierigkeiten des Bionaturalismus, in: Hirnforschung und Willensfreiheit, S. 194 – 204, hier S. 197; vgl. auch im gleichen Band: Helmrich, Herbert: Wir können auch anders: Kritik der Libet-Experimente, S. 92 – 97; ferner Wulff, Agnes: Die Existenziale Schuld. Der fundamentalontologische Schuldbegriff Martin Heideggers und seine Bedeutung für das Strafrecht, Berlin/Münster 2008, S. 80 – 84 (mit weiteren Literaturhinweisen).

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3. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Heidegger

der Selbstzuschreibung einer Handlung: „Entsprechend müsse in der Tat die korrekte Formulierung lauten: ,Nicht mein bewußter Willensakt, sondern mein Gehirn hat entschieden!‘ “58 Für Singer lassen sich im Prinzip alle Verhaltensmanifestationen wie Wahrnehmen, Vorstellen, Erinnern, Bewerten, Planen und Entscheiden letztlich aus der Dritte-Person-Perspektive heraus objektivieren und im Sinne kausaler Verursachung auf neuronale Prozesse zurückführen. Christian Geyer, der Herausgeber des Sammelbandes „Hirnforschung und Willensfreiheit“, schreibt dazu: „In dieser Radikalreduktion des Psychischen aufs Physische liegt der Determinismus beschlossen.“59 Freiheit ist für Singer daher nur ein „soziales Konstrukt“, das (in Anknüpfung an Thomas Metzinger60) auf der „Entwicklung eines Selbstmodells“ interaktiver und dialogfähiger Gehirne beruht.61 Zur Widerlegung des Materialismus, auf dem die angesprochenen Folgerungen der Neurowissenschaftler notwendig beruhen, soll zunächst kurz auf die Argumente eingegangen werden, die der deutsche Philosoph und Logiker Franz von Kutschera am 13. September 2011 in seinem Abendvortrag „Fünf Gründe, kein Materialist zu sein“ auf dem XXII. Deutschen Kongress für Philosophie mit dem Thema „Welt der Gründe“ in München dargelegt hat, da er sich vor allem auf logische Überlegungen stützt, die allgemein akzeptiert werden. Gegenüber dem „logischen Physikalismus“ der 1930er Jahre wird heute keine analytische, sondern nur noch eine nomologische Supervenienz psychischer und physikalischer Eigenschaften vertreten: „Nimmt man hingegen statt der analytischen nur eine naturgesetzliche oder, wie man auch sagt, nomologische Notwendigkeit an, so ergibt sich eine Position, die der generischen Identitätsthese entspricht und z. B. besagt, dass im Geltungsbereich der Naturgesetze bei jedem Menschen eine Schmerzempfindung immer mit dem Feuern bestimmter Neuronen in seinem Gehirn koinzidiert.“62

58

Roth, Gerhard: Worüber dürfen Hirnforscher reden – und in welcher Weise?, in: Hirnforschung und Willensfreiheit, S. 66 – 85, hier S. 73; zur Kritik vgl. im gleichen Band: Buchheim, Thomas: Wer kann, der kann auch anders, S. 158 – 165; ferner Buchheim, Thomas: Die Grundlagen der Freiheit. Eine Einführung in das Leib-Seele-Problem, in: Philosophisches Jahrbuch 111 (2004), S. 1 – 16. Auf die weitere Aus- und Umformung von Roths Thesen kann hier nicht eingegangen werden (vgl. u. a. Pauen, Michael/Roth, Gerhard: Freiheit, Schuld und Verantwortung. Grundzüge einer naturalistischen Theorie der Willensfreiheit, Frankfurt a. M. 2008). 59 Geyer, Christian: Hirn als Paralleluniversum. Wolf Singer und Gerhard Roth verteidigen ihre Neuro-Thesen, in: Hirnforschung und Willensfreiheit, S. 86 – 91, hier S. 88. 60 Vgl. u. a. Metzinger, Thomas: Subjekt und Selbstmodell. Die Perspektivität phänomenalen Bewusstseins vor dem Hintergrund einer naturalistischen Theorie mentaler Repräsentation, Paderborn 1993; Metzinger, Thomas: Being No One. The Self-Model Theory of Subjectivity, Cambridge, MA/London 2003. 61 Singer, Wolf: Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen, in: Hirnforschung und Willensfreiheit, S. 30 – 65, hier S. 46 – 49; vgl. auch im gleichen Band: Prinz, Wolfgang: Der Mensch ist nicht frei. Ein Gespräch, S. 20 – 26, bes. S. 23. 62 Kutschera, Franz von: Fünf Gründe, kein Materialist zu sein, in: Welt der Gründe, hrsg. von Julian Nida-Rümelin und Elif Özmen, Hamburg 2012, S. 1364 – 1377, hier S. 1367.

§ 28 Exkurs: Der Deutungsanspruch der Neurowissenschaften

127

Es kann an dieser Stelle nur auf den fünften Einwand, das „Dimensionsargument“, hingewiesen werden, da sich dieser abschließende Einwand auf „intentionale Einstellungen und Akte“ bezieht und so schon in gewisser Weise zur Phänomenologie überleitet: „Geistiges besteht aus Haltungen, Einstellungen und Auffassungen von Gegenständlichem. Dafür sind die propositionalen Einstellungen charakteristisch. Das sind Relationen zwischen Subjekten und Sachverhalten wie ,glauben, dass …‘, ,erwarten, dass …‘, ,hoffen, dass …‘, ,zweifeln, ob …‘ usf.“63

Nach dem Dimensionsargument gibt es aber aufgrund der Intentionalität des Geistigen weitaus mehr doxastische Sachverhalte als physikalische. Damit ergibt sich für die nomologische globale Supervenienz: „Die Beziehung zwischen doxastischen Sachverhalten und ihren physikalischen Korrelaten ist also mehr-eindeutig, so dass man aus dem physikalischen Zustand der Welt nicht eindeutig auf ihren psychologischen Zustand schließen kann. Das will der Materialismus aber ausschließen.“64

Die Kontroverse um den Materialismus ist aber nicht nur eine theoretische Frage, sondern hat praktische Bedeutung: „Der Materialismus zeichnet ein völlig falsches Bild der seelisch-geistigen Wirklichkeit. So gibt es zur Freiheit, sich in seinen Ansichten und Handlungen an Gründen zu orientieren, in der physischen Welt keine Parallele. Daher gibt es für Materialisten auch keine Gründe für Überzeugungen oder Handlungen, sondern nur Ursachen. […] Wird der Materialismus ernst genommen, so hat sein falsches Bild des Geistigen gravierende Folgen für unser Selbstverständnis. […] Gibt es keine Freiheit, so auch weder Schuld noch Verantwortung. Es gibt auch keine besondere Würde des Menschen, die sich nach Kant ja aus seiner Freiheit ergibt. Materialisten von Burrhus Skinner bis Peter Singer und Gerhard Roth lassen keinen Zweifel daran, dass die alten Ideale von Würde und Freiheit heute obsolet sind und entsorgt werden müssen.“65

Ein weitere Folgerung, die sich aus einem naturalistischen Reduktionismus ziehen lässt, liegt darin, dass dann auch die Sätze und Begriffe, mit denen die Messergebnisse beschrieben und die Theorien formuliert werden, selbst auf neuronale Prozesse zurückgeführt werden müssten. So schreibt der bereits genannte Philosoph Lutz Wingert: „Die Unvermeidlichkeit des Rückgriffs auf ein lebens63

Kutschera, von: Fünf Gründe, kein Materialist zu sein, S. 1372. Zur „Intentionalität“ und zur Erörterung weiterer „Argumente gegen den Materialismus“ vgl. Kutschera, Franz von: Philosophie des Geistes, Paderborn 2009, S. 29 – 31 und 162 – 170. Kutschera hat sich bereits in seiner Dissertation an der Ludwig-Maximilians-Universität München mit Edmund Husserl befasst (Kutschera, Franz von: Über das Problem des Anfangs der Philosophie im Spätwerk Edmund Husserls, Diss., Univ. München 1960). 64 Kutschera, von: Fünf Gründe, kein Materialist zu sein, S. 1374. 65 Kutschera, von: Fünf Gründe, kein Materialist zu sein, S. 1375. Kutschera bezieht sich neben dem bereist genannten deutschen Hirnforscher Gerhard Roth auf den australischen Philosophen und Ethiker Peter Singer und den US-amerikanischen Psychologen und bekanntesten Vertreter des Behaviorismus Burrhus Frederic Skinner (1904 – 1990).

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3. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Heidegger

weltlich-kognitives Vokabular ist aber nicht bloß der nötige Griff nach einer Leiter, mit deren Hilfe man die neurobiologische Beschreibungsebene erreicht.“66 In einem Interview, an dem Gerhard Roth im Jahr 2000 gemeinsam mit dem Wissenschaftsphilosophen Gerhard Vollmer teilnahm, traf er folgende Vorhersage: „Ich glaube, spätestens in zehn Jahren hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass es Freiheit etwa im Sinne einer subjektiven Schuldfähigkeit nicht gibt.“67 Roths Aussage steht im Gegensatz zum immer noch geltenden deutschen Strafrecht, das auf dem Schuld- und Verantwortlichkeitsprinzip beruht („nulla poena sine culpa“). Nach einer viel zitierten Grundsatzentscheidung des Großen Senats für Strafsachen des Bundesgerichtshofes vom 18. März 1952 heißt es zum Schuldprinzip: „Strafe setzt Schuld voraus. Schuld ist Vorwerfbarkeit. Mit dem Unwerturteil der Schuld wird dem Täter vorgeworfen, daß er sich nicht rechtmäßig verhalten, daß er sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich rechtmäßig verhalten, sich für das Recht hätte entscheiden können. Der innere Grund des Schuldvorwurfes liegt darin, daß der Mensch auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt und deshalb befähigt ist, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden, sein Verhalten nach den Normen des rechtlichen Sollens einzurichten und das rechtlich Verbotene zu vermeiden, sobald er die sittliche Reife erlangt hat und solange die Anlage zur freien sittlichen Selbstbestimmung nicht durch die in § 51 StGB [Strafgesetzbuch] genannten krankhaften Vorgänge vorübergehend gelähmt oder auf Dauer zerstört ist. Voraussetzung dafür, daß der Mensch sich in freier, verantwortlicher, sittlicher Selbstbestimmung für das Recht und gegen das Unrecht

66

Wingert: Gründe zählen, in: Hirnforschung und Willensfreiheit, S. 200. Eberhard Schockenhoff spricht von einer „Petitio principii“: „Das zu Erklärende (das menschliche Bewußtsein) wird im Vollzug des Erklärens (durch das Aufstellen einer reduktionistischen Theorie) als Bedingung seiner Möglichkeit bereits vorausgesetzt. Das Bewußtsein ist der Ausgangspunkt, nicht das Ergebnis des Erklärens; es kann daher auch nicht ,wegerklärt‘ oder auf noch ursprünglichere Phänomene zurückgeführt werden.“ (Schockenhoff, Eberhard: Wir Phantomwesen. Über zerebrale Kategorienfehler, in: Hirnforschung und Willensfreiheit, S. 166 – 170, hier S. 169) Wingerts Rede von einer „Leiter“ ist natürlich eine Anspielung auf Ludwig Wittgenstein (Wittgenstein, Ludwig: Logisch-philosophische Abhandlung. Tractatus logico-philosophicus, Kritische Edition, hrsg. von Brian McGuinness und Joachim Schulte, Frankfurt a. M. 1989, Satz Nr. 6.54). Im Anschluss u. a. auch an die Phänomenologie hat sich vor allem die „konstruktive Wissenschaftstheorie“ der Erlanger (Konstanzer, Marburger) Schule der Frage nach der lebensweltlichen („prototheoretischen“) Fundierung der positiven Wissenschaften angenommen (vgl. Art. Wissenschaftstheorie, konstruktive, in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, 2. Aufl., Bd. 8, S. 562 – 573. Zu Edmund Husserls Kritik an der mathematischen Naturwissenschaft der Neuzeit im Ausgang von der vorwissenschaftlichen Lebenswelt vgl. Neumann: Galilei und der Geist der Neuzeit, in: Phänomenologische Forschungen, Heft (Jahrgang) 2001, S. 259 – 279, bes. S. 278 f.; ferner Neumann: Die phänomenologische Frage nach dem Ursprung der mathematisch-naturwissenschaftlichen Raumauffassung bei Husserl und Heidegger, § 9, bes. S. 103 – 105. Zu Peter Janichs (Erlanger/Marburger Schule) Kritik an einer Naturalisierung des Geistes vgl. Neumann: Der Anfang der abendländischen Philosophie, § 12 b). 67 (Roth, Gerhard/Vollmer, Gerhard:) Interview: Hirn und KI-Forschung: „Es geht ans Eingemachte“, in: Spektrum der Wissenschaft 10/Oktober 2000, S. 72 – 75, hier S. 75.

§ 29 Methodischer Leitfaden und Auslegung des Freiheitsbegriffes

129

entscheidet, ist die Kenntnis von Recht und Unrecht. Wer weiß, daß das, wozu er sich in Freiheit entschließt, Unrecht ist, handelt schuldhaft, wenn er es gleichwohl tut.“68

§ 29 Der methodische Leitfaden und die Aufgabe der Auslegung des Freiheitsbegriffes in „Sein und Zeit“ in der Abgrenzung von anderen Interpretationen a) Heideggers Vorlesungen und Schriften auf dem Weg zu „Sein und Zeit“ Es wurde im Zusammenhang mit Heideggers Verweis auf Augustinus im Rahmen seiner Descartes-Interpretation in § 27 der Vorlesung „Einleitung in die phänomenologische Forschung“ vom Wintersemester 1923/24 bereits darauf hingewiesen, dass das Freisein oder die Freiheit in einem ausgezeichneten Bezug zum Grundmodus der Eigentlichkeit in der Abgrenzung von der Uneigentlichkeit der Existenz steht.69 Bei Leibniz wurde, wie in § 16 dargelegt, vor allem im Ausgang von dem Bruchstück H zur „Scientia generalis“ deutlich, dass von Freiheit im eigentlichen Sinne nur dann gesprochen werden kann, wenn wir uns „unserer eigenen Natur“ („nostre popre nature“70) gemäß verhalten, dann nämlich, wenn wir unserem rationalen Wesen als „animal cogitans“71 folgen und uns nicht von unseren sinnlichen Perzeptionen und unseren Leidenschaften und Gefühlen bestimmen lassen.72 Für Heidegger ist dagegen unsere Gestimmtheit in ihrem existenzialen Erschließungscharakter unhintergehbar: „Die Stimmung hat je schon das In-der-Welt-sein als Ganzes erschlossen und macht ein Sichrichten auf … allererst möglich.“73 Für das

68

BGHSt 2, 194 (200 f.) (Hervorhebung vom Verfasser) (= Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen, hrsg. von den Mitgliedern des Bundesgerichtshofes und der Bundesanwaltschaft, Bd. 2, Köln/Berlin 1952. Die erste Seitenzahl bezieht sich auf den Beginn der betreffenden Entscheidung, die folgende Seitenzahl in Klammern auf den genannten Auszug.); vgl. u. a. Köhler, Michael: Strafrecht Allgemeiner Teil, Berlin [u. a.] 1997, Kap. 7: Die Schuld, S. 348; Wessels, Johannes/Beulke, Werner/Satzger, Helmut: Strafrecht Allgemeiner Teil. Die Straftat und ihr Aufbau, mit ebook: Lehrbuch, Entscheidungen, Gesetzestexte, 48., neu bearb. Aufl., Heidelberg 2018, § 13 I 4. Die Willensfreiheit als Problem des normativen Schuldbegriffs, S. 208 (Rn 632). 69 Vgl. oben den Schluss von § 27 b). 70 GP VII, 110. 71 C 438 (Table de définitions). 72 Vgl. auch Conversation sur la liberté et le destin; Grua II, 481; Animadversiones ad Cartesii Principia, Ad artic. (37) – (39); A VI 5 (Vorausedition), N. 3129 (Fassung 1691), N. 3130 (Fassung Juni 1699); GP IV, 362 f. Zu unseren Leidenschaften (passions) und Gefühlen (sentiments) vgl. Nouveaux Essais II 20, A VI 6, 162 – 168; GP V, 148 – 155. 73 Sein und Zeit (GA 2), § 29, S. 182 (S. 137).

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3. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Heidegger

Phänomen der Freiheit kommt der Angst, wie wir noch sehen werden, ein ausgezeichneter Erschließungscharakter zu. Der Begriff der Freiheit als solcher wird in der Abhandlung „Der Begriff der Zeit“ (1924), deren Anlass die Veröffentlichung des „Briefwechsels zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck v. Wartenburg 1877 – 1897“74 war und die für den Herausgeber Friedrich-Wilhelm v. Herrmann „mit Fug und Recht als die Urfassung von ,Sein und Zeit‘ “75 gekennzeichnet werden kann, nicht genannt. Heidegger nennt stattdessen das „Wählenkönnen“ der Eigentlichkeit des Daseins als Möglichkeit: „Das Dasein ist als Möglichsein durch das Wählenkönnen bestimmt. Das Vorlaufen bringt – das je eigene Vorbei aufdeckend – das Dasein vor die Wahl, die als Möglichkeit die Eigentlichkeit seines Seins ausmacht. Das Vorlaufen bringt vor die die Wahl besagt: es deckt den Horizont dieser Wahl auf, das, was in ihr zur Wahl steht: Das Dasein in seiner eigensten Möglichkeit: entweder es selbst zu sein im Wie der ergriffenen Selbstverantwortung oder zu sein in der Weise des Gelebtwerdens von dem, was es jeweils besorgt. Das Dasein kann das Sein im Wie des Sich-selbst-verantwortlich-sein-wollens wählen. Das Sichaufhalten im jeweiligen Besorgen des ,Was‘ ist dann von diesem gewählten Wie her bestimmt.“76

Das Zitat macht unmissverständlich deutlich, dass „die Wahl“ der Eigentlichkeit der Existenz keinesfalls eine Abschnürung unseres besorgenden Umgangs mit dem zuhandenen Seienden, dem sachhaltigen „Was“ bedeutet, sondern nur eine Modifikation („Wie“) unseres besorgenden (und fürsorgenden) In-der-Welt-seins. Möglicherweise vermeidet Heidegger hier noch den Begriff der Freiheit, da er im Sinne der Tradition und gerade in der Neuzeit zumeist als Willkür des Subjekts verstanden wird. Die Begriffe „Freisein“ und „Freiheit“ finden sich jedoch in einer der zahlreichen Randbemerkung, die für den Herausgeber „vermutlich aus der Zeit zwischen 1924 und 1926 während der Ausarbeitung von ,Sein und Zeit‘ stammen“77: „Sorge – und Bekümmerung (Wie) es ändert sich nichts im Was und wenn – dann aus Wie aber nicht umgekehrt diese Bekümmerung ist das eigentliche Freisein Freiheit determinatio in tempore.“78

74

(Dilthey, Wilhelm/Yorck von Wartenburg, Paul Graf:) Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck v. Wartenburg 1877 – 1897 (Vorwort: Sigrid v. d. Schulenburg), Halle (Saale) 1923 (Nachdruck: Hildesheim/New York 1974; 1995). 75 Der Begriff der Zeit (GA 64), Nachwort des Herausgebers, S. 127 – 133, hier S. 132 f. 76 Der Begriff der Zeit (GA 64), S. 1 – 103, hier S. 53 f. (Form der Bindestriche vom Verfasser der üblichen Schreibweise angepasst); vgl. auch Wilhelm Diltheys Forschungsarbeit und der gegenwärtige Kampf um eine historische Weltanschauung (April 1925), VIII. Vortrag, in: Vorträge, Teil 1 (GA 80.1), S. 103 – 157, hier S. 144 f. 77 Der Begriff der Zeit (GA 64), S. 128. 78 Der Begriff der Zeit (GA 64), S. 60, Anm. (70).

§ 29 Methodischer Leitfaden und Auslegung des Freiheitsbegriffes

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Der Ausdruck „Bekümmerung“ ist Heideggers früher Begriff für den Terminus „Sorge“ (lateinisch cura).79 Im engeren Sinne – wie in dem vorangehenden Zitat – gebraucht er den Terminus „Bekümmerung“ dann auch im Sinne des eigentlichen Ergreifens der Existenz. In einer handschriftlichen Fußnote zu dem Bewerbungsschreiben für die Marburger und die Göttinger Philosophische Fakultät, dem sogenannten „Natorp-Bericht“ vom Herbst 1922, der „als die Keimzelle von Sein und Zeit“80 gilt, heißt es: „Bekümmerung bedeutet nicht eine Stimmung mit kummervoller Miene, sondern das faktische Entschiedensein, das Ergreifen der Existenz […] als des zu Besorgenden.“81 Auch zum Phänomen des Todes heißt es hier bereits: „Das Wegsehen vom Tode ist aber doch so wenig ein Ergreifen des Lebens an ihm selbst, daß es gerade ein Ausweichen des Lebens vor sich selbst und seinem eigentlichen Seinscharakter wird. Das Bevorstehendhaben des Todes in der Weise sowohl der fliehenden Besorgnis als [auch] der zugreifenden Bekümmerung ist konstitutiv für den Seinscharakter der Faktizität. Im zugreifenden Haben des gewissen Todes wird das Leben an ihm selbst sichtbar.“ 82

Nicht nur das Phänomen der Zeit und des Todes betreffend, ist für Heidegger die theologische Fragestellung scharf von der philosophischen abzugrenzen. In einer Anmerkung zum III. Abschnitt „Dasein und Zeitlichkeit“ der Abhandlung „Der Begriff der Zeit“, die sich auf die Einleitung des Vortrags „Der Begriff der Zeit“ vom 25. Juli 1924 vor der Marburger Theologenschaft bezieht, heißt es zur Fragestellung der Theologie: „Denn erstens handelt die Theologie vom menschlichen Dasein in seinem Sein vor Gott, d. h. das Sein in der Zeit in seinem Sein zur Ewigkeit. Zweitens hat der christliche Glaube Bezug auf etwas, was in der Zeit geschah und sogar zu einer Zeit, von der gesagt wird, daß sie ,erfüllet war‘. Der Philosophie dagegen bleibt nur (solange sie sich selbst versteht als Forschung in ihren Fragemöglichkeiten) die Möglichkeit, die Zeit aus der Zeit zu verstehen.“83

Das Problem weiter entfaltend, heißt es in § 17 der Marburger Vorlesung vom Wintersemster 1925/26: „Dieser eigentümliche Seinszusammenhang, der zwischen Eigentlichkeit des Seins des Daseins und dem verfallenden Besorgen besteht, hat im Christentum und in der christlichen Daseinsauslegung eine bestimmte Fassung erfahren. Es darf aber nicht diese Struktur so 79

Vgl. u. a. Phänomenologie des religiösen Lebens (GA 60), S. 52 – 54, 205 – 210; vgl. auch Stichwort Sorge, in: Vetter: Grundriss Heidegger, S. 342 f. 80 Figal, Günter: Martin Heidegger zur Einführung, 7., vollständig überarb. Aufl., Hamburg 2016, S. 26. 81 Phänomenologische Interpretationen ausgewählter Abhandlungen des Aristoteles (GA 62), Anhang III, S. 357, Anm. 39, vgl. auch S. 359 – 362. 82 Phänomenologische Interpretationen ausgewählter Abhandlungen des Aristoteles (GA 62), Anhang III, S. 359 (Ergänzung in eckigen Klammern vom Herausgeber), vgl. § 21, S. 180 f. 83 Der Begriff der Zeit (GA 64), S. 45 f., Anm. 1 mit Randbemerkung (7) (in runde Klammern gesetzt); vgl. ebd., S. 105 – 125 (Vortrag), hier S. 107.

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3. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Heidegger

verstanden werden, als wäre sie selbst eine spezifisch dem christlichen Daseinsbewußtsein zugehörige, sondern die Dinge liegen umgekehrt; sofern das Dasein in sich selbst qua Sorge diese Struktur hat, besteht die Möglichkeit einer spezifisch christlichen Auffassung des Daseins, und deshalb ist die Herausarbeitung dieser Strukturen, die wir hier nicht weiter verfolgen, vollständig isoliert von aller Orientierung an irgendwelcher Dogmatik.“84

Hans-Dieter Gondek und László Tengelyi sprechen von einem „methodologischen ,Atheismus‘ “ beim frühen Heidegger, von einer „Enthaltung“ (griechisch 1pow^).85 Eine von den Autoren nicht genannte Textstelle lautet: „Philosophie muß in ihrer radikalen, sich auf sich selbst stellenden Fraglichkeit prinzipiell a-theistisch sein.“86 In § 29 von „Sein und Zeit“ heißt es dann bei der Erörterung der Befindlichkeit des Daseins lapidar: „Das pure ,daß es ist‘ zeigt sich, das Woher und Wohin bleiben im Dunkel.“87

b) Der existenzial-ontologische Begriff der Freiheit in „Sein und Zeit“ Nach diesen Vorbemerkungen wird nun Heideggers Begriff der Freiheit in „Sein und Zeit“ eigens in den Blick gebracht und erörtert. Es kann hier nur ein Leitfaden der Interpretation gegeben werden, ohne die konkrete Ausfaltung der existenziale Struktur der Freiheit in den einzelnen thematischen Abschnitten des Werks im Detail zu untersuchen oder erst sachlich herauszuarbeiten. Da Heidegger den Begriff der Freiheit in „Sein und Zeit“ nicht ausdrücklich bestimmt und umgrenzt und in den späteren Texten, die sich ausdrücklich mit der Freiheit befassen, die Besinnungsebene schon in gewisser Weise gewandelt ist, soll sich dem Phänomen der menschlichen Freiheit in aller Vorsicht genähert werden. Der existenziale Begriff der „Freiheit“ (oder das „Freisein“ des Daseins) wird in „Sein und Zeit“ als solcher nicht eigens eingeführt und erläutert und tritt in keiner einzigen Überschrift auf. Dennoch durchzieht der Begriff vor allem die Analyse der eigentlichen Existenzweise (das 84

Logik. Die Frage nach der Wahrheit (GA 21), S. 232. Gondek, Hans-Dieter/Tengelyi, László: Neue Phänomenologie in Frankreich, Berlin 2011, S. 318 und 158, vgl. S. 165, 377. Eine Ausschaltung der „Transzendenz Gottes“ findet sich schon in der transzendentalen Phänomenologie Edmund Husserls (Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, neu hrsg. von Karl Schuhmann, 1. Halbband, Text der 1.–3. Aufl. (Husserliana, Bd. III/1), Den Haag 1976, § 58). 86 Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung (GA 61), Anhang II, S. 197; vgl. auch Phänomenologische Interpretationen ausgewählter Abhandlungen des Aristoteles (GA 62), Anhang I, S. 283 und Anhang III, S. 363. 87 Sein und Zeit (GA 2), S. 179, vgl. S. 180 (S. 134, vgl. S. 135). Eine eingehende Erörterung des Verhältnisses von Theologie und Philosophie gibt Heidegger dann in seinem erstmals am 8. Juli 1927 in Tübingen gehaltenen Vortrag „Phänomenologie und Theologie“ (in: Wegmarken (GA 9), S. 45 – 78). Zur Gottesfrage auf Heideggers Denkweg vgl. Fischer, Norbert/ Herrmann, Friedrich-Wilhelm von (Hrsg.): Die Gottesfrage im Denken Martin Heideggers, Hamburg 2011. 85

§ 29 Methodischer Leitfaden und Auslegung des Freiheitsbegriffes

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eigenste Seinkönnen, die vorspringend-befreienden Fürsorge des eigentlichen Mitseins, das vorlaufende Sein zum Tode, das Gewissen-haben-wollen und das eigenste Schuldigseins, die eigentliche Geschichtlichkeit). Aber auch andere Begriffe und begriffliche Unterscheidungen wie die „ontologische Differenz“ und die „Grundartikulation des Seins“, ohne die der veröffentlichte Teil von „Sein und Zeit“ unverständlich bleiben würde, werden erst später als solche explizit erörtert – die erwähnten Begriffe dann in der wichtigen Marburger Vorlesung „Die Grundprobleme der Phänomenologie“ vom Sommersemester 1927.88 Heidegger gibt in „Sein und Zeit“ immer wieder Zusammenfassungen seiner vorangehenden Ausführungen, die in ihrer Prägnanz besonders aufschlussreich sein können. In § 74, also gegen Ende (des veröffentlichten Teils) der Abhandlung, heißt es im Zusammenhang der Erörterung der „eigentlichen Geschichtlichkeit“ des Daseins: „Nur wenn im Sein eines Seienden Tod, Schuld, Gewissen, Freiheit und Endlichkeit dergestalt gleichursprünglich zusammenwohnen wie in der Sorge, kann es im Modus des Schicksals existieren, das heißt im Grunde seiner Existenz geschichtlich sein.“89

Die existenziale Grundstruktur der Sorge mit den beiden fundamentalen Existenzialien der Geworfenheit und des Entwurfs wird mitkonstituiert durch die Freiheit. Die grundsätzliche Erörterung des Wesens der Freiheit zu Beginn der Freiburger Vorlesung „Vom Wesen der menschlichen Freiheit“ vom Sommersemester 1930 ist auch hilfreich, einige Hinweise zum Freiheitsbegriff in „Sein und Zeit“ zu geben. Hier heißt es: „Wir haben dabei [d. h. bei der negativen Freiheit] übersehen, daß, sofern wir überhaupt rechtmäßig von einer negativen Freiheit sprechen, auch eine positive gedacht werden kann und muß, daß mithin diese als positive in erster Linie den Bereich des Freiheitsproblems vorzeichnet; daß jedenfalls erst die negative Freiheit in eins mit der positiven Freiheit vorgestellt werden muß, wenn wir im Hinblick auf das Freiheitsproblem entscheiden wollen, ob es nur eine Sonderfrage der Philosophie ist unter anderen oder ob am Ende doch das Ganze der Philosophie in ihm begriffen ist.“90

Das Freiheitsproblem kann für Heidegger freilich keine Sonderfrage sein, die in einer philosophischen Teildisziplin, z. B. in der Ethik, abgehandelt wird. Er hält fest: „Das Freiheitsproblem ist keine gebietsmäßig beschränkte Spezialfrage.“91 Wie die zuvor zitierte Textstelle aus § 74 verdeutlicht, trifft die zuletzt genannte Feststellung auch auf „Sein und Zeit“ zu. Die in der Vorlesung weiter erörterte Frage, ob im Wesen der menschlichen Freiheit nicht nur „das Ganze der Philosophie“ begriffen, sondern auch zentriert und ontologisch verwurzelt ist, trifft für „Sein und Zeit“ aber noch nicht zu. Wie Friedrich-Wilhelm von Herrmann zu Heideggers Frage nach dem Wesen der Freiheit ausführt, erreicht „die Betonung der Stellung der Freiheit in der 88 89 90 91

Die Grundprobleme der Phänomenologie (GA 24), bes. §§ 4, 10 – 12 und 22. Sein und Zeit (GA 2), S. 509 (S. 385). Vom Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung in die Philosophie (GA 31), § 1, S. 10. Vom Wesen der menschlichen Freiheit (GA 31), S. 8.

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3. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Heidegger

Ausarbeitung der Grundfrage nach dem Sein überhaupt“ in der Vorlesung „Vom Wesen der menschlichen Freiheit“ ihren „Höhepunkt“.92 Noch für das Jahr 1931 plante Heidegger eine Umarbeitung seines ersten Hauptwerks, „in der er den Sachverhalt von ,Sein und Zeit‘ zurückgründen wollte in den ursprünglicheren Sachverhalt von ,Sein und Freiheit‘ “.93 Es ist daher auch Stefan W. Schmidt zuzustimmen, wenn er in seiner Dissertation an der Bergischen Universität Wuppertal mit dem Titel „Grund und Freiheit. Eine phänomenologische Untersuchung des Freiheitsbegriffs Heideggers“ zu Günter Figals Habilitationsschrift „Martin Heidegger. Phänomenologie der Freiheit“94 schreibt: „Im selben Moment aber, in dem Figal darum bemüht ist, zu zeigen, dass sich das Denken Heideggers im Ganzen als eine Philosophie der Freiheit darstellen lässt, rückt das Spezifische des ontologischen Freiheitskonzeptes Heideggers aus seinem Fokus.“95

An der bereits genannten Textstelle zu Beginn der Vorlesung „Vom Wesen der menschlichen Freiheit“ bemerkt Heidegger ergänzend, „daß jedenfalls erst die negative Freiheit in eins mit der positiven Freiheit vorgestellt werden muß“, um das philosophische Freiheitsproblem entfalten zu können.96 Die wesensmäßige Zusammengehörigkeit von positiver und negativer Freiheit, von Freiheit für … und Freiheit (bzw. Be-freiung) von …, kommt in „Sein und Zeit“ mehrfach zum Ausdruck, z. B. wenn Heidegger in der „Charakteristik des existenzial entworfenen eigentlichen Seins zum Tode“ von der „leidenschaftlichen, von den Illusionen des Man gelösten, faktischen, ihrer selbst gewissen und sich ängstenden Freiheit zum Tode“ spricht.97 Aber erst die positive Freiheit vermag vor den Blick zu bringen, worin die Befreiung im Sinne der negativen Freiheit besteht und woraufhin sie zielt. Eine bloße Be-freiung ohne eine positive Vorzeichnung wäre nur eine „libertas indifferentiae“98. Ausdrücklich heißt es an einer anderen Stelle: 92

Herrmann, Friedrich-Wilhelm von: Heidegger: Freiheit und Dasein, in: Hat der Mensch einen freien Willen? Die Antworten der großen Philosophen, hrsg. von Uwe an der Heiden und Helmut Schneider, Stuttgart 2007, S. 267 – 280, hier S. 272. 93 Herrmann, von/Alfieri: Martin Heidegger. Die Wahrheit über die Schwarzen Hefte, S. 286; vgl. das ausführliche Zitat in § 1, S. 20. 94 Figal, Günter: Martin Heidegger. Phänomenologie der Freiheit, Neuausgabe, Tübingen 2013 (1. Aufl., Frankfurt a. M. 1988). 95 Schmidt, Stefan W.: Grund und Freiheit. Eine phänomenologische Untersuchung des Freiheitsbegriffs Heideggers, Cham 2015, S. 41 f., vgl. S. 46, Anm. 16; vgl. auch Schmidt, Stefan W.: Das Geschehen der Freiheit: Heideggers ontologischer Freiheitsbegriff, in: Diego D’Angelo [u. a.] (Hrsg.), Frei sein, frei handeln. Freiheit zwischen theoretischer und praktischer Philosophie, Freiburg/München 2013, S. 76 – 93, hier S. 76; Ruin, Hans: The destiny of freedom: in Heidegger, in: Continental Philosophy Review 41 (2008), S. 277 – 299, hier S. 280 f. 96 Vom Wesen der menschlichen Freiheit (GA 31), S. 10. 97 Sein und Zeit (GA 2), § 53, S. 353 (S. 266) (Weglassung der anderen Hervorhebungen vom Verfasser). Heidegger spricht an einer späterer Stelle auch vom „Freisein für den Tod“ (ebd., S. 507 (S. 384)). 98 Sein und Zeit (GA 2), S. 191 (S. 144).

§ 29 Methodischer Leitfaden und Auslegung des Freiheitsbegriffes

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„Das vorlaufende Freiwerden für den eigenen Tod befreit von der Verlorenheit in die zufällig sich andrängenden Möglichkeiten, so zwar, daß es die faktischen Möglichkeiten, die der unüberholbaren vorgelagert sind, allererst eigentlich verstehen und wählen läßt.“99

Dennoch bleibt, wie Beat Sitter erläutert, im Modus der Eigentlichkeit die zu ergreifende Möglichkeit immer Wahl: „Die Wahl der zu ergreifenden Möglichkeit bleibt Wahl, weil zur Entschlossenheit ,notwendig die Unbestimmtheit, die jedes faktisch-geworfene Seinkönnen des Daseins charakterisiert‘, gehört [Sein und Zeit (Einzelausgabe), 298 (GA 2, 395)]. Erst im konkreten Entschluß, der die Bestimmung jener Unbestimmtheit vollzieht, wird die jeweilige faktische Möglichkeit als faktische entworfen und festgelegt ([Sein und Zeit] 298 [GA 2, 395 f.]). In dieser Festlegung wirkt sich die Entschlossenheit als Kriterium im Sinne des spezifischen Wahrheitsphänomens aus: Die aus dem Vorlaufen in den Tod auf sich zurückkommende wahre Existenz darf sich nicht unvermittelt entscheiden, will sie nicht in Unwahrheit verfallen. Soll sie eine Möglichkeit als Möglichkeit ergreifen, setzt das voraus, daß sie diese, so wie sie sie einmal ergriffen hat, ständig gegen andere vernachlässigte abhebt, um die allfällig erforderliche Zurücknahme der gewählten weiß, sie aber doch, solange die Situation es erlaubt, festhält ([Sein und Zeit] 307 f. [GA 2, 407 f.]).“100

Damit ergibt sich: „Dezisionistische Entscheidungen sind vom Standpunkt der Entschlossenheit aus nicht möglich. Die Bestimmung des konkreten Entschlusses durch die Wahrheit der Existenz prägt diesem eine nicht hintergehbare Vorläufigkeit auf, die erst frei macht für ein Sehen von Möglichkeiten seiner Rechtfertigung, Abänderung oder gar Aufhebung. Allein ein in der Wahrheit der Existenz gefaßter Entschluß kann verantwortet werden.“101

Indem der konkrete Entschluss aber „auf das Man und seine Welt angewiesen“ bleibt,102 wird seine Unbestimmtheit durch die Vorgegebenheit bestimmter faktischer Möglichkeiten des alltäglichen oder verfallenden (vorphilosophischen) Daseins in gewisser Weise wieder relativiert.103 Die Freiheit als positive Freiheit gehört zur eigentlichen Existenzweise, sie ist jedoch immer auf die uneigentliche Existenzweise bezogen, insofern sie die mögliche Be-freiung von der Unfreiheit ist und die je gewonnene Freiheit immer wieder in die Unfreiheit zurückfallen kann. In § 63 von „Sein und Zeit“ gibt Heidegger 99

Sein und Zeit (GA 2), S. 350 (S. 264). In § 61 spricht Heidegger von der „Befreiung des Daseins für seine äußerste Existenzmöglichkeit“ (ebd., S. 401 (S. 303)). Und in § 68 b) heißt es zur Angst: „Sie befreit von ,nichtigen‘ Möglichkeiten und läßt freiwerden für eigentliche.“ (Ebd., S. 456 (S. 344)). 100 Sitter, Beat: Dasein und Ethik. Zu einer ethischen Theorie der Eksistenz, Freiburg/ München 1975, S. 124. 101 Sitter: Dasein und Ethik, S. 125. Zu Heideggers Ablehnung dezisionistischer Entscheidungen, d. h. der Auslegung der „Ent-schlossenheit“ im Sinne der „decidierte[n] Aktion eines Subjekts“, vgl. Der Ursprung des Kunstwerkes (1936), in: Holzwege (GA 5), S. 1 – 74, hier S. 55. 102 Sein und Zeit (GA 2), § 60, S. 396 (S. 299). 103 Vgl. Figal: Martin Heidegger zur Einführung, 7. Aufl., S. 87.

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3. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Heidegger

gemäß der Überschrift „Die für eine Interpretation des Seinssinnes der Sorge gewonnene hermeneutische Situation und der methodische Charakter der existenzialen Analytik überhaupt“ eine Rekapitulation des bisher durchlaufenen Weges der Analytik des Daseins. Hier heißt es nun ausdrücklich, dass das Dasein, das in seinem Sein „wesenhaft Seinkönnen ist“ und damit mögliches „Freisein für seine eigensten Möglichkeiten“, als solches „je nur in der Freiheit für sie bzw. in der Unfreiheit gegen sie existiert“.104 An einer anderen Stelle spricht Heidegger auch von der „vermeintlichen Freiheit des Man-selbst“.105 Die „freien Möglichkeiten, die im Verstehen selbst liegen“, kennzeichnet Heidegger dagegen in seiner Vorlesung vom Sommersemester 1927 als solche, die sich „primär aus der Freiheit des eigensten Daseins und in diese zurück als eigentliches Verstehen vollziehen“.106 In der bereits genannten Monographie zu „Grund und Freiheit“ bei Heidegger nennt Stefan W. Schmidt zwei Aspekte des existenzialen Freiheitsbegriffes als Leitfaden seiner Untersuchung: „1. Selbstbestimmung der Existenz aus Möglichkeit heraus, d. h. Freisein besteht im existierenden Sichbestimmen. 2. Freisein als Möglichkeit im Selbstsein oder Nichtselbstsein dieses Sichbestimmens. Der erste Aspekt bezeichnet also das ,daß‘, der zweite das ,Wie‘ der existenzialen Selbstbestimmung.“107 104

Sein und Zeit (GA 2), S. 414 (S. 312). Freiheit und Unfreiheit sind jedoch, wie Günter Figal feststellt, nicht als „strikte Alternativen“ zu begreifen: „Bisher blieb freilich noch ungeklärt, wieso Heideggers Konzeption des ,Man‘ als die Grundbestimmung von Unfreiheit zu begreifen ist. […] Unterstellt man, daß das ,eigentliche Selbstsein‘ ein ,Freisein‘ ist, so wären, wenn man das ,Man‘ mit ,Unfreiheit‘ identifiziert, ,eigentliches Selbstsein‘ und ,Man‘ strikte Alternativen. Daß Heidegger dies nicht behauptet, wird deutlich, wenn er sagt: ,Das eigentliche Selbstsein beruht nicht auf einem vom Man abgelösten Ausnahmezustand des Subjekts, sondern ist eine existenzielle Modifikation des Man als eines wesenhaften Existenzials.‘ (SZ [Sein und Zeit (Einzelausgabe)], 130 [GA 2, 173]) Auch im eigentlichen Selbstsein ist man demnach durch die Struktur des ,Man‘ bestimmt, und wäre das nicht so, müßte man als ,eigentliches Selbst‘ aufgehört haben, dieser Bestimmte unter Anderen zu sein.“ (Figal: Martin Heidegger. Phänomenologie der Freiheit, Neuausg., Tübingen 2013, § 5, S. 129 (S. 152 f. nach der 3. Aufl., Weinheim 2000, die in der Neuausgabe von 2013 in der Marginalienspalte angegeben ist); vgl. auch Neumann: Sein des Menschen, Ethos und Freiheit in Martin Heideggers „Brief über den ,Humanismus‘ “ und Sein und Zeit, in: Heidegger und der Humanismus (Heidegger-Jahrbuch 10), S. 102 – 118, bes. S. 107 f.). 105 Sein und Zeit (GA 2), S. 367 (S. 276); vgl. Siegfried, Meike: Subjektivität ohne Souveränität? Politisches Denken im Ausgang von Heideggers Freiheitsbegriff(en), in: Paul Sörensen/Nikolai Münch (Hrsg.), Politische Theorie und das Denken Heideggers, Bielefeld 2013, S. 43 – 60, hier S. 47. 106 Die Grundprobleme der Phänomenologie (GA 24), S. 395 (Hervorhebung vom Verfasser). 107 Schmidt: Grund und Freiheit, S. 43; fast wortgleich in: Schmidt: Das Geschehen der Freiheit, S. 79. Aber auch Schmidt bemerkt an einer späteren Stelle: „Wenn Heidegger das Wort ,Freiheit‘ oder ,Freisein‘ in SuZ [Sein und Zeit] verwendet, so (fast) ausschließlich im Sinne dieses zweiten Aspektes.“ (Schmidt: Grund und Freiheit, S. 50). Und an einer weiteren Stelle ergänzt er, „dass Heidegger ,Freiheit‘ in SuZ vorrangig im Kontext der Eigentlichkeit disku-

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Das „Wie“ der existenzialen Selbstbestimmung (Freisein) verweist auf die Existenzmodi der Eigentlichkeit und der Uneigentlichkeit. Es stellt sich aber die Frage, ob die existenziale Selbstbestimmung als solche schon mit dem (positiven) Begriff der Freiheit bzw. des Freiseins in „Sein und Zeit“ gleichgesetzt werden darf.108 In seinem Aufsatz „Das Geschehen der Freiheit: Heideggers ontologischer Freiheitsbegriff“, der eine prägnante Zusammenfassung seines Buches „Grund und Freiheit“ darstellt, wiederholt Schmidt seine Erläuterung zu Heideggers Freiheitsbegriff: „Man könnte auch von einem ontologisch verstandenen ,Autonomiebegriff‘ sprechen, von einer ,existenzialen Selbstbestimmung‘.“109 Das Problem ist aber auch dann nicht gelöst, wenn man Heideggers Begriff der Freiheit zwar auf die Existenzweise der Eigentlichkeit bezieht, aber unmittelbar mit dem Begriff des „eigensten Seinkönnens“ gleichsetzt. In diesem Sinne schreibt Yu-Taek Lee in seiner Augsburger Dissertation: „Als was versteht nun Heidegger in ,Sein und Zeit‘ die Freiheit? Schlicht gesagt: darunter versteht Heidegger niemals das genannte freischwebende Seinkönnen, sondern soviel wie ,das eigenste Seinkönnen.‘ (ebd.)“110

Das Missverständnis besteht in der Annahme, dass in § 31 von „Sein und Zeit“ mit dem Titel „Das Da-sein als Verstehen“ eine Art von Definition der Freiheit gegeben wird, die dann im weiteren Text nur noch übernommen und angewandt wird. Diesen Eindruck vermitteln auch die vorliegenden Register oder Indizes zu Heideggers tiert“ (Schmidt: Grund und Freiheit, S. 57, vgl. auch S. 48). Diese Einschränkung deutet aber darauf hin, dass die Interpretation und Abgrenzung der existenzial-ontologischen Begriffe „Freisein für“ und „Freisein von“ bzw. „Freiheit“ und „Unfreiheit“ von Schmidt noch nicht ursprünglich genug angesetzt ist. 108 Auch das „Man-selbst“, das Dasein im (primären) Modus der Unfreiheit (vgl. dazu oben Anm. 104), darf nach Heideggers daseinsanalytischem Ansatz nicht mit dem Modus der Fremdbestimmtheit gleichgesetzt werden. Daher spricht Heidegger auch mehrfach im Superlativ vom Freisein für das „eigenste“ Seinkönnen (Sein und Zeit (GA 2), S. 191, 254, vgl. u. a. auch S. 236, 249, 256, 264, 381 f. (S. 144, 191, vgl. S. 178, 188, 193, 199, 287 f.)), da auch das Man-selbst (als ein Modus der Sorge) noch als ein dem Dasein „eigene[s] Seinkönnen“ (Die Grundprobleme der Phänomenologie (GA 24), S. 391) zu verstehen ist. Auch „das Selbst im Sinne des Man-selbst“ zeigt „noch die Seinsverfassung [..], daß es diesem Seienden um sein Sein geht“ (Sein und Zeit (GA 2), § 41, S. 257 (S. 193)). In diesem Sinne schreibt Günter Figal: „Aber auch da, wo der philosophische, genauer: daseinsanalytische Anspruch der Erörterung des ,Man‘ ernst genommen wird, ist diese Erörterung häufig mißverstanden worden. Ein solches Mißverständnis besteht darin, das ,Man‘ als den Modus der Fremdbestimmtheit zu interpretieren und ihm den Modus der Selbstbestimmung entgegenzusetzen.“ (Figal: Martin Heidegger. Phänomenologie der Freiheit, Neuausg., Tübingen 2013, § 5, S. 127 (S. 151 nach der 3. Aufl.)). Die Selbstbestimmung als eine Grundbedingung von Freiheit, die hier nicht grundsätzlich in Abrede gestellt werden soll, gehört für Michael Pauen auf jeden Fall zur „Minimalkonzeption“ personaler Freiheit (Pauen, Michael: Illusion Freiheit? Mögliche und unmögliche Konsequenzen der Hirnforschung, Frankfurt a. M. 2004, S. 63 – 65). 109 Schmidt: Das Geschehen der Freiheit, S. 79; vgl. Schmidt: Grund und Freiheit, S. 44 und 47. 110 Lee, Yu-Taek: Vom Seinkönnen zum Seinlassen. Heideggers Denken der Freiheit, Würzburg 2000, S. 10; Zitat nach: Sein und Zeit (GA 2), § 31, S. 191 (S. 144).

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3. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Heidegger

Werken.111 Es wird von Schmidt und Lee schon vorgegeben, was unter Freisein bzw. Freiheit in „Sein und Zeit“ zu verstehen ist. Zudem sind die Termini „Freisein“ und „Freiheit“ zwar eng aufeinander bezogen, dürfen aber in der Regel nicht einfach miteinander identifiziert werden. So spricht Heidegger beispielsweise vom „Freisein für die Freiheit des Sich-selbst-wählens und -ergreifens“112. In einer gewissen Anlehnung an die Freiburger Dissertation von Martin Michael Thomé mit dem Titel „Existenz und Verantwortung. Untersuchungen zur existenzialontologischen Fundierung von Verantwortung auf der Grundlage der Philosophie Martin Heideggers“ wird eine andere Vorgehensweise gewählt. Thomé stellt seinen Analysen des existenzialen Begriffs der Verantwortung auf der Grundlage von „Sein und Zeit“ den Abschnitt „Die existenziale Lokalisierung der Verantwortung“113 voran. Auszugsweise sollen die folgenden Leitlinien auch für die Interpretation des Freiheitsbegriffs herausgestellt werden, wobei die von Thomé noch genannten Kriterien gleichfalls berücksichtig werden müssen: 1. In der durchzuführenden Analyse darf die Freiheit nicht in einer „Überschätzung ihrer Bedeutung“ als die eigentliche oder übergeordnete Struktur der Existenzialien interpretiert werden. 2. Sie darf aber auch nicht in einer „Unterschätzung ihrer Bedeutung“ auf der rein phänomenalen Ebene der Beschreibung der alltäglichen Vollzüge des Daseins angesiedelt werden oder gar kategorial als eine bloße Fähigkeit oder Eigenschaft des Menschen als eines vorhandenen Seienden bestimmt werden. Mit Nachdruck wird auf die folgenden methodischen Anweisungen Thomés verwiesen, die entsprechend auch für den Begriff der Freiheit übernommen werden können: „Die Verantwortung gehört in den Kontext der Auslegung des Seins des Daseins, also dorthin, wo auch die anderen Existenzialien in ihrer jeweiligen Analyse aufgewiesen werden. Denn indem Verantwortung ihrem Phänomencharakter nach immer so etwas wie Zutunhaben mit Begegnendem impliziert und indem sie eine wesentliche Weise der Ausprägung dieses Zutunhabens ist, ist sie zugleich eine Weise der Erschlossenheit von Sein: des nichtdaseinsmäßigen Seienden wie des Daseins, und damit zugleich der Erschlossenheit von Sein-überhaupt. Verantwortung gehört also in die Reihe der Existenzialien, neben Insein in Welt, Mitsein, Geworfensein, Entwerfen, Reden, Besorgen, Sorge, in denen allen – wie in 111

Vgl. u. a. Stichwort Freiheit (Freisein), in: Index zu Heideggers „Sein und Zeit“, zusammengestellt von Hildegard Feick, 4., neubearb. Aufl. von Susanne Ziegler, Tübingen 1991, S. 30 f.; Unruh, Patrick: Register zur Martin Heidegger Gesamtausgabe, Frankfurt a. M. 2017, S. 138 – 140. 112 Sein und Zeit (GA 2), S. 249 f. (S. 188). 113 Thomé, Martin Michael: Existenz und Verantwortung. Untersuchungen zur existenzialontologischen Fundierung von Verantwortung auf der Grundlage der Philosophie Martin Heideggers, Würzburg 1998, S. 69 – 71. Der Frage, ob der „Leitbegriff der Prekarietät“ (ebd., S. 230, vgl. S. 16, 46, 74; heute üblicherweise in der Schreibweise „Prekarität“, vgl. französisch précarité) in der theologischen Dissertation Thomés nicht doch zu sehr betont und herausgestellt wird, kann hier nicht nachgegangen werden.

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der Verantwortung auch – die Erschlossenheit von Sein-überhaupt existenzial-selbsthaft aufgeschlossen ist. Dabei ist sie jedoch nicht zu den Grundexistenzialien zu zählen, die in ihrer Dreiheit das Gesamt der Sorgestruktur ausmachen, sie ist aber auch nicht einfachhin gleichzusetzen mit einem der genannten Existenzialien, etwa mit dem Mitsein oder der Fürsorge, da sie durch diese phänomenal nicht vollständig gefaßt, existenziell nicht vollständig wie eine dieser vollzogen und existenzial-ontologisch nicht genau so wie eine dieser ausgelegt werden kann. Dabei muß die Verantwortung 1. anhand ihres Phänomencharakters als Weise des Sichverhaltens des Menschen zu Seiendem gezeigt werden. 2. in der spezifischen Weise, in der sie das Sein des Daseins als Existenz aufschließt, d. h. als Element der Sorgestruktur gezeigt werden. 3. in der spezifischen Weise gezeigt werden, in der sie einen Zugang zur Frage nach dem Sein-überhaupt bietet/eröffnet, also in ihrer Zeitlichkeit ausgelegt werden. 4. in beiden Zusammenhängen hinsichtlich ihrer Ausprägung in Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit ausgewiesen werden.“114

Beispielsweise steht der existenziale Begriff der Freiheit zwar in einem engen Zusammenhang mit dem Existenzial des Möglichseins, darf mit diesem aber nicht identifiziert werden. Da die Freilegung der existenzial-ontologischen Strukturmomente des Daseins in Heideggers Grundwerk „Sein und Zeit“ hier auch nicht annähernd nachvollzogen werden kann, wird auf die folgende Zusammenfassung verwiesen. Nach FriedrichWilhelm von Herrmann müssen wir Dreierlei unterscheiden: „1. das formal-existenzial-ontologische Strukturgefüge der Existenz als Sorge, deren Strukturmomente sowohl die uneigentliche als [auch] die eigentliche Existenz konstituieren; 2. die existenzial-ontologische Struktur der Modifikation der Ganzheitsstruktur der uneigentlichen Existenz, das Verfallen, das alle Strukturmomente der Existenz modifiziert; 3. die existenzial-ontologische Struktur der Modifikation der existenzialen Ganzheit der eigentlichen Existenz, die vorlaufende Entschlossenheit, die ebenfalls alle Strukturmomente der Existenz bestimmt.“115

Auf dem Wege der existenzial-ontologischen Analysen der Existenzphänomene des Todes, des Gewissens und der Schuld werden im zweiten Abschnitt „Dasein und Zeitlichkeit“ die ontologischen Bedingungen der Eigentlichkeit der Existenz aufgesucht. Das Phänomen der Angst (§ 40) kennzeichnet dagegen die Spannung zwischen möglichem Selbstsein und Verfallen. „Auf der einen Seite treibt sie das Dasein in das Verfallen, zugleich aber auch zu sich selbst.“116 Das menschliche Dasein existiert wesenhaft in der „Spannung“ („tension“) zwischen Eigentlichkeit 114

Thomé: Existenz und Verantwortung, S. 71. Herrmann, F.-W. von: Subjekt und Dasein. Grundbegriffe von „Sein und Zeit“, 3., erw. Aufl., Frankfurt a. M. 2004, S. 37 f. 116 Schmidt: Grund und Freiheit, S. 51. 115

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3. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Heidegger

und Uneigentlichkeit.117 Die Freilegung des formalen Strukturgefüges der Existenz als Sorge in ihrer „modalen Indifferenz“118 nach von Herrmann entspricht dem 1. Aspekt nach Schmidt. Entsprechend der bereits genannten Aussage Heideggers, dass mithin die Freiheit „als positive in erster Linie den Bereich des Freiheitsproblems vorzeichnet“119, wird das Freisein bzw. die Freiheit in „Sein und Zeit“ erst bei der Freilegung der existenzial-ontologischen Strukturen der eigentlichen Existenz grundlegend mit enthüllt. Das Freisein bzw. die Freiheit des Daseins setzt zwar „das formal-existenzial-ontologische Strukturgefüge der Existenz als Sorge“ voraus und ist darin verwurzelt, doch ist es damit noch nicht ursprünglich freigelegt. Es ist aber zu sehen, dass bei der Freilegung des formalen Strukturgefüges der Existenz als Sorge schon in gewisser Weise die Existenzmodi der Eigentlichkeit und der Uneigentlichkeit formal angezeigt oder auch vorgreifend mit erörtert werden, weshalb Schmidt feststellen kann, dass „diese beiden Aspekte von Heidegger selbst nicht so scharf getrennt werden“120. Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit sind immer schon mitthematisch, nur so kann verhindert werden, dass die Daseinsanalyse gleichsam zu kurz greift und hermeneutisch unangemessen ist. Die positive Freiheit als „Freisein für“ wird nicht zufällig erstmals in § 31 von „Sein und Zeit“ mit dem Titel „Das Da-sein als Verstehen“ eingeführt.121 Mit der Aufweisung der „Möglichkeit als Existenzial“ ist für Heidegger „die ursprünglichste und letzte positive ontologische Bestimmtheit des Daseins“ erreicht.122 Weil der Entwurf als die existenziale Struktur des Verstehens „immer die volle Erschlossenheit des In-der-Welt-seins“ betrifft, kann sich das Verstehen „primär in die Erschlossenheit der Welt legen, das heißt das Dasein kann sich zunächst und zumeist aus seiner Welt her verstehen“, oder aber „das Verstehen wirft sich primär in das Worumwillen, das heißt das Dasein existiert als es selbst“.123 Damit ergibt sich: „Das Verstehen ist entweder eigentliches, aus dem eigenen Selbst als solchem entspringendes, oder uneigentliches.“124 Weil sich das Dasein primär aus dem Worumwillen 117

Harries, Karsten: Fundamental Ontology and the Search for Man’s Place, in: Heidegger and Modern Philosophy. Critical Essays, ed. by Michael Murray, New Haven/London 1978, S. 65 – 79, hier S. 77. 118 Sein und Zeit (GA 2), S. 71 und 309 (S. 53 und 232). 119 Vom Wesen der menschlichen Freiheit (GA 31), S. 10. 120 Schmidt: Grund und Freiheit, S. 43. 121 Von der vorangehenden, in gewisser Weise vorgreifenden Analyse der „vorspringendbefreienden“ Fürsorge, die dem Anderen dazu verhilft, „in seiner Sorge sich durchsichtig und für sie frei zu werden“ (Sein und Zeit (GA 2), § 26, S. 163 f. (S. 122)), wird hier abgesehen. 122 Sein und Zeit (GA 2), S. 191 (S. 143 f.); vgl. Schmidt: Grund und Freiheit, S. 43. Zu Heideggers Möglichkeitsbegriff(en) in „Sein und Zeit“ vgl. Art. Möglichkeit, in: Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe, hrsg. von Vetter, S. 362 – 370, hier S. 367 – 369; ferner Müller-Lauter, Wolfgang: Möglichkeit und Wirklichkeit bei Martin Heidegger, Berlin 1960. 123 Sein und Zeit (GA 2), S. 194 (S. 146). 124 Sein und Zeit (GA 2), S. 194 (S. 146).

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der Existenz verstehen kann, ist das eigentliche Verstehen der existenzial-ontologische Grund für das Freisein im positiven Sinne: „Das Dasein ist die Möglichkeit des Freiseins für das eigenste Seinkönnen.“125 Dieser Satz darf aber, wie noch weiter erläutert wird, keinesfalls als eine Gleichsetzung der Freiheit mit dem Seinkönnen (auch nicht mit dem eigensten Seinkönnen) aufgefasst werden. Ein solches eigentliches Verstehen bezeichnet Heidegger in seiner Vorlesung vom Sommersemester 1927 auch als den „ursprünglichen existenzialen Begriff des Verstehens“: „Das eigenste Seinkönnen selbst sein, es übernehmen und sich in der Möglichkeit halten, sich selbst in der faktischen Freiheit seiner selbst verstehen, d. h. das sich selbst Verstehen im Sein des eigensten Seinkönnens, ist der ursprüngliche existenziale Begriff des Verstehens.“126

Das „Freisein für das eigenste Seinkönnen“ verweist somit auf das Phänomen der Entschlossenheit als der eigentlichen Erschlossenheit des Daseins: „Die Entschlossenheit ist ein ausgezeichneter Modus der Erschlossenheit des Daseins. Die Erschlossenheit aber wurde früher [vgl. § 44] existenzial interpretiert als die ursprüngliche Wahrheit.“127 Damit ergibt sich: „Nunmehr ist mit der Entschlossenheit die ursprünglichste, weil eigentliche Wahrheit des Daseins gewonnen.“128 In dieser Richtung der Frage nach der (ursprünglichen) Wahrheit wird das Phänomen des Freiseins dann in Heideggers späterem Denken verfolgt und entfaltet.129 Nachdem das Freisein bei der Analyse des Verstehens in § 31 überhaupt erstmals grundlegend in den Blick gebracht wurde, wird es in § 40 hinsichtlich des anderen fundamentalen Existenzials, der Befindlichkeit, und zwar der „Grundbefindlichkeit der Angst“, thematisiert.130 Es ist zu beachten, dass das Phänomen der Freiheit nicht schon bei der Analyse der Befindlichkeit in § 29 angesprochen wird, sondern erst in § 40. In der Angst liegt ein ausgezeichneter Modus des Erschließens: „Die Angst vereinzelt das Dasein auf sein eigenstes In-der-Welt-sein, das als verstehendes wesenhaft auf Möglichkeiten sich entwirft. Mit dem Worum des Sichängstens erschließt

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Sein und Zeit (GA 2), S. 191 (S. 144). Die Grundprobleme der Phänomenologie (GA 24), § 20 a, S. 391, vgl. auch S. 395. 127 Sein und Zeit (GA 2), S. 393 (S. 297). 128 Sein und Zeit (GA 2), S. 394 (S. 297). 129 Vgl. Neumann: Sein des Menschen, Ethos und Freiheit in Martin Heideggers „Brief über den ,Humanismus‘ “ und Sein und Zeit, in: Heidegger und der Humanismus (HeideggerJahrbuch 10), S. 102 – 118; Novák, Alesˇ : Geschick der Freiheit, in: Heidegger Studies 34 (2018), S. 191 – 205. 130 Zum existenzialen Phänomen der Befindlichkeit (und des Verstehens) vgl. Pocai, Romano: Heideggers Theorie der Befindlichkeit. Sein Denken zwischen 1927 und 1933, Freiburg/ München 1996; Kalariparambil, Tomy S.: Das befindliche Verstehen und die Seinsfrage, Berlin 1999; Rodríguez, Agustín: Wahrheit und Befindlichkeit in der Fundamentalontologie, Würzburg 2003. 126

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daher die Angst das Dasein als Möglichsein und zwar als das, das es einzig von ihm selbst her als vereinzeltes in der Vereinzelung sein kann.“131

In seinem erstmals 1941 erschienenen Buch „Das Wesen der Stimmungen“ setzt sich Otto Friedrich Bollnow auch mit Heideggers Analytik des Daseins auseinander. Ausgangspunkt ist für Bollnow, wie er in der Einleitung schreibt, der „umfassendere Zusammenhang, in dem bei Heidegger die Auseinandersetzung mit der philosophischen Anthropologie steht“.132 Wesentlich für die Stimmung ist für Bollnow die „ursprüngliche Einheit von Seele und Leib“.133 Bollnow folgert in seiner Auseinandersetzung mit Heidegger zu Recht, „daß der Mensch nicht durch eigenen Entschluß, durch eine einfache Steigerung der im alltäglichen Dasein gegebenen Möglichkeiten oder auf dem Boden einer rein theoretisch entstandenen Einsicht sich zur ,Eigentlichkeit‘ seines Daseins erheben kann“.134 Für die Angst ergibt sich: „Die Angst hat also die Funktion, den Menschen aus dem Zustand der Uneigentlichkeit herauszureißen und aufzuscheuchen.“135 Wenn Bollnow auch die aufschließende Wirkung der Angst (und anderer gedrückter Stimmungen wie Langeweile und Verzweiflung) anerkennt, so möchte er ebenso die gehobenen Stimmungen der Freude, des Glücks, der Feierlichkeit, des Rausches usw. daraufhin befragen, ob von ihnen aus nicht auch zu einer Erfassung der allgemeinen Wesensstruktur des Menschen vorgedrungen werden kann, z. B. was die tragenden Bezüge zu den Mitmenschen und das Wesen der menschlichen Gemeinschaft betrifft.136 Kehren wir zu Heidegger zurück. In der durchschnittlichen Alltäglichkeit flieht das Dasein „vor dem Unzuhause, das heißt der Unheimlichkeit“, und zwar „in das Zuhause der Öffentlichkeit“.137 „Die alltägliche Art, in der das Dasein die Unheimlichkeit versteht, ist die verfallende, das Un-zuhause ,abblendende‘ Abkehr.“138 In diesem Zusammenhang heißt es zum Phänomen der Freiheit: „Die Angst offenbart im Dasein das Sein zum eigensten Seinkönnen, das heißt das Freisein für die Freiheit des Sich-selbst-wählens und -ergreifens. Die Angst bringt das Dasein vor sein Freisein für… (propensio in…) die Eigentlichkeit seines Seins als Möglichkeit, die es immer schon ist.“139 131

Sein und Zeit (GA 2), S. 249 (S. 187 f.); vgl. dazu Ringleben, Joachim: Freiheit und Angst. Heidegger zwischen Schelling und Kierkegaard, in: Norbert Fischer/Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Hrsg.), Heidegger und die christliche Tradition. Annäherungen an ein schwieriges Thema, Hamburg 2007, S. 219 – 244. 132 Bollnow, Otto Friedrich: Das Wesen der Stimmungen (Otto Friedrich Bollnow, Schriften, Studienausgabe in 12 Bänden, hrsg. von Ursula Boelhauve [u. a.], Bd. 1), Würzburg 2009, S. 15. 133 Bollnow: Das Wesen der Stimmungen, S. 28 f. 134 Bollnow: Das Wesen der Stimmungen, S. 53. 135 Bollnow: Das Wesen der Stimmungen, S. 53, vgl. S. 73. 136 Vgl. Bollnow: Das Wesen der Stimmungen, S. 47 – 50. 137 Sein und Zeit (GA 2), S. 251 (S. 189). 138 Sein und Zeit (GA 2), S. 251 f. (S. 189). 139 Sein und Zeit (GA 2), S. 249 f., vgl. S. 173 und 420 (S. 188, vgl. S. 130 und 317).

§ 29 Methodischer Leitfaden und Auslegung des Freiheitsbegriffes

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Die Angst erschließt dem Dasein sein Freisein für das eigenste Seinkönnen. An einer späteren Stelle, nämlich in § 41 mit dem Titel „Das Sein des Daseins als Sorge“, kommt Heidegger darauf zurück: „Das Freisein für das eigenste Seinkönnen und damit für die Möglichkeit von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit zeigt sich in einer ursprünglichen, elementaren Konkretion in der Angst.“140

Es kommt hier deutlicher der bereits angesprochen ambivalente Charakter der Angst zum Ausdruck. Die Angst erschließt zwar das Freisein für das eigenste Seinkönnen und damit für die Möglichkeit von Eigentlichkeit, aber die Freiheit kann nur vom Dasein in einem existenziell zu vollziehenden Sich-selbst-wählen ergriffen und übernommen werden. Wie es schon vorgreifend in § 9 heißt, kann das Dasein als Möglichsein „sich selbst ,wählen‘, gewinnen, es kann sich verlieren, bzw. nie und nur ,scheinbar‘ gewinnen“.141 Die Angst offenbart (öffnet, lichtet) im Dasein erst, wie man nun sagen könnte, das Freisein für die Freiheit des Sich-selbst-wählens und -ergreifens oder des Ausweichens (Fliehens) und Sich-verlierens. Zur weiteren Erläuterung wird auf § 54 mit dem Titel „Das Problem der Bezeugung einer eigentlichen existenziellen Möglichkeit“ vorgegriffen, auch wenn sich diese Analyse nicht auf das existenziale Phänomen der Angst, sondern bereits auf das existenziale Phänomen des Gewissens bezieht. Der entscheidende Satz für unsere Interpretation lautet hier: „Das eigentliche Selbstsein bestimmt sich als eine existenzielle Modifikation des Man, die existenzial zu umgrenzen ist.“142 In der Uneigentlichkeit (oder in der modalen Indifferenz), in der das Dasein in seiner faktischen Geworfenheit „zunächst und zumeist“ immer schon existiert, hat es sein eigenstes Seinkönnen gerade nicht gewählt. Es hat aber auch nicht das Verfallen als das Verlorensein in die Öffentlichkeit des Man gewählt.143 Dieses „Versäumnis“ zeigt sich auch daran, dass Heidegger vom „Nachholen der Wahl“ spricht: „Das Sichzurückholen aus dem Man, das heißt die existenzielle Modifikation des Man-selbst zum eigentlichen Selbstsein muß sich als Nachholen einer Wahl vollziehen. Nachholen der Wahl bedeutet aber Wählen dieser Wahl, Sichentscheiden für ein Seinkönnen aus dem eigenen Selbst. Im Wählen der Wahl ermöglicht sich das Dasein allererst sein eigentliches Seinkönnen.“144

Man kann also sagen, dass das Dasein in seinem Sein als Seinkönnen zwar immer schon ontologisch mögliches Freiwerden ist, dass es aber erst im existenziell zu vollziehenden „Wählen dieser Wahl“ die Freiheit als solche ergreift und sich aus dem 140

Sein und Zeit (GA 2), S. 254 (S. 191). Sein und Zeit (GA 2), S. 57 (S. 42). 142 Sein und Zeit (GA 2), S. 355 (S. 267). Zu den Termini „existenziell“ und „existenzial“ vgl. Vetter: Grundriss Heidegger, S. 264 f.; Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe, hrsg. von Vetter, S. 181 f. 143 Vgl. Sein und Zeit (GA 2), § 38. 144 Sein und Zeit (GA 2), S. 356 (S. 268). 141

144

3. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Heidegger

„Man-selbst“ zu seinem „Seinkönnen aus dem eigenen Selbst“ befreit.145 In welchem Sinne hier von einer „Wahl“ die Rede ist, sagt eine spätere Stelle: „Das verstehende Sichvorrufenlassen auf diese Möglichkeit [des eigensten Seinkönnens] schließt in sich das Freiwerden des Daseins für den Ruf: die Bereitschaft für das Angerufenwerdenkönnen. Das Dasein ist rufverstehend hörig seiner eigensten Existenzmöglichkeit. Es hat sich selbst gewählt.“146

Unter einer solchen „Wahl des eigenen Selbst“ ist hier aber keine gewöhnliche „Wahl zwischen Optionen“ zu verstehen.147 Daher spricht Heidegger bereits in der Abhandlung „Der Begriff der Zeit“ (1924) davon, dass das Vorlaufen zu seinem eigenen Vorbei, d. h. zum Tode, (mit Hervorhebung des bestimmten Artikels) „das Dasein vor die Wahl“ bringt.148 Heidegger versteht unter Selbstwahl ein höriges „Ergreifen“ seiner eigensten Existenzmöglichkeit. Bereits in § 4 von „Sein und Zeit“ heißt es: „Die Existenz wird in der Weise des Ergreifens oder Versäumens nur vom jeweiligen Dasein selbst entschieden. Die Frage der Existenz ist immer nur durch das Existieren selbst ins Reine zu bringen. Das hierbei führende Verständnis seiner selbst nennen wir das existenzielle.“149

Das Versäumen ist ein Ausweichen vor der ausdrücklichen Wahl. Die Uneigentlichkeit kann als solche nicht gewählt werden, weil sie gerade die vom Man vollzogene „stillschweigende Entlastung von der ausdrücklichen Wahl“150 ist. In der Uneigentlichkeit verbleibt das Dasein in einer gewissen Unentschiedenheit oder Verlorenheit. Von hier aus wird nun eine wichtige Textstelle in § 41 verständlich: „Im Sich-vorweg-sein als Sein zum eigensten Seinkönnen liegt die existenzial-ontologische Bedingung der Möglichkeit des Freiseins für eigentliche existenzielle Möglichkeiten. Das Seinkönnen ist es, worumwillen das Dasein je ist, wie es faktisch ist. Sofern nun aber dieses Sein zum Seinkönnen selbst durch die Freiheit bestimmt wird, kann sich das Dasein zu seinen Möglichkeiten auch unwillentlich verhalten, es kann uneigentlich sein und ist faktisch zunächst und zumeist in dieser Weise.“151

145

Daher kann Heidegger in § 31 schreiben: „Das Dasein ist aber als Möglichsein auch nie weniger [als es faktisch ist], das heißt das, was es in seinem Seinkönnen noch nicht ist, ist es existenzial.“ (Sein und Zeit (GA 2), S. 193 (S. 145)). 146 Sein und Zeit (GA 2), § 58, S. 381 f. (S. 287). Zu Heideggers begrifflicher Anlehnung an Søren Kierkegaards Begriff der „Selbstwahl“ vgl. Figal: Martin Heidegger. Phänomenologie der Freiheit, Neuausg., Tübingen 2013, § 8, S. 217 ff. (S. 251 ff. nach der 3. Aufl.). 147 Luckner, Andreas: Wie es ist, selbst zu sein. Zum Begriff der Eigentlichkeit (§§ 54 – 60), in: Martin Heidegger: Sein und Zeit, hrsg. von Thomas Rentsch (Klassiker Auslegen, Bd. 25), 3., bearb. Auflage, Berlin/München/Boston 2015, S. 141 – 159, hier S. 149. 148 Der Begriff der Zeit (GA 64), S. 54. 149 Sein und Zeit (GA 2), S. 17 (S. 12). 150 Sein und Zeit (GA 2), S. 356 (S. 268). 151 Sein und Zeit (GA 2), S. 256, vgl. S. 378 (S. 193, vgl. S. 285).

§ 29 Methodischer Leitfaden und Auslegung des Freiheitsbegriffes

145

Das im entwerfenden Sich-vorweg-sein erschlossene „Freisein für eigentliche existenzielle Möglichkeiten“ ist das Freisein für gehaltliche (faktische) Möglichkeiten des In-der-Welt-seins des Daseins (im Unterschied zum bereits genannten ursprünglicheren „Freisein für die Freiheit des Sich-selbst-wählens und -ergreifens“152), die im Modus der Eigentlichkeit existenziell modifiziert ergriffen werden. Ausdrücklich heißt es hier aber noch, dass das entwerfende „Sein zum Seinkönnen selbst durch die Freiheit bestimmt wird“, insofern das eigenste (eigentliche) Seinkönnen selbst in einem existenziellen Vollzug gewählt werden kann, oder aber ein solches Wählen der Wahl in einem unentschiedenen Ausweichen zunächst und zumeist versäumt wird. Freisein und Freiheit sind in sich gestufte existenziale Phänomene, die – wie andere Existenzialien auch – in einem Ursprungsgefälle stehen. Die Textstelle verdeutlicht unmissverständlich, dass das existenziale Phänomen der Freiheit zwar auf das Seinkönnen oder Möglichsein des Daseins bezogen ist, aber mit diesem Existenzial nicht gleichgesetzt werden darf.153 Für die weitere Interpretation kann als Leitfaden festgehalten werden: Freiheit ist die existenzial-ontologische Umgrenzung der existenziellen Modifikation des Man-selbst zum eigentlichen Selbstsein, die im Sich-selbst-wählen ergriffen und vollzogen oder aber nicht ergriffen und versäumt werden kann. Die Freiheit als solche, die existenziell gewählt und ergriffen werden kann, wird allererst im erschließenden Freisein für eröffnet, was zunächst am Phänomen der Angst, dann an den Phänomenen des Gewissens, der Schuld und des Todes freigelegt wird. Wie vor allem die existenziale Analyse des Gewissens zeigt, liegen die ermöglichenden Bedingungen einer solchen Befreiung aber nicht in einer willentlichen Verfügung des Daseins.154 Der existenziale Begriff der Freiheit ist gewissermaßen das Bindeglied zwischen der existenzial-ontologischen Struktur des eigentlichen Seinkönnens und der jeweils nur vom je einzelnen (je-meinigen) Dasein in einem existenziellen Vollzug wähl- und ergreifbaren Modifikation des Man-selbst zum eigentlichen Selbstsein. Der Begriff der Freiheit ist daher nicht „ambivalent“, wie Beat Sitter meint, sondern kennzeichnet gerade die existenziale Umgrenzung der

152

Sein und Zeit (GA 2), S. 249 f. (S. 188). Dagegen bemerkt Schmidt: „Das heißt, in Sein und Zeit versteht Heidegger Freiheit vornehmlich als Möglichsein des Daseins – Dasein ist Seinkönnen.“ (Schmidt: Das Geschehen der Freiheit, S. 78; vgl. auch Schmidt: Grund und Freiheit, S. 45; Lee: Vom Seinkönnen zum Seinlassen, S. 10 und 16; Sitter: Dasein und Ethik, S. 101 – 103). 154 Eine besondere Nähe des im Gewissensruf sich zeigenden Wahrheitsgeschehens zum späteren Ereignis-Denken ist oft bemerkt worden (vgl. z. B. Schüßler, Ingeborg: Gewissen und Wahrheit. Heideggers existenziale Analytik des Gewissens (Sein und Zeit §§ 54 – 62), in: Kategorien der Existenz. Festschrift für Wolfgang Janke, hrsg. von Klaus Held und Jochem Hennigfeld Würzburg 1993, S. 327 – 349, bes. S. 348). In § 58 von „Sein und Zeit“ heißt es zum im „Gewissen-haben-wollen“ sich bekundenden „Anrufverstehen“, dass damit nicht „eine willentliche Pflege des ,Rufes‘ “ gemeint ist, „sondern einzig Bereitschaft für das Angerufenwerden“ (Sein und Zeit (GA 2), S. 382 (S. 288) (Hervorhebungen vom Verfasser)). 153

146

3. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Heidegger

existenziellen Modifikation des Man-selbst zum eigentlichen Selbstsein.155 Dennoch kommt Sitter der hier vorgelegten Interpretation ziemlich nahe, wenn er schreibt: „Die Analytik des Daseins bricht endgültig mit der sowohl in der Tradition wie heute vorwiegenden undifferenzierten Auffassung der Freiheit als einer Eigenschaft des Menschen, von deren Beweisbarkeit Möglichkeit und Sinn von Normen abhängig gemacht werden. Ihr Begriff der Freiheit ist ambivalent, bezeichnet sowohl das existenziale Freisein, als auch die existenziell zu erringende Freiheit. Die (existenzielle) Verwirklichung der (existenzialen) Freiheit gelingt dann, wenn Dasein sich für die Wahrheit der Existenz entschließt: ontische Freiheit ist je nur ,im Gewählthaben der Wahl‘, d. h. wenn Dasein in der Entschlossenheit sich für die Wahl frei gemacht hat ([Sein und Zeit (Einzelausgabe)] 384 [GA 2, 508]).“156

Mit dieser hier versuchten grundsätzlichen Einordnung und Bestimmung des existenzialen Begriffs der Freiheit in „Sein und Zeit“ ist nun aber erst der phänomenologisch-hermeneutische Leitfaden gewonnen, dem „in der Existenz verwurzelte[n] Freisein [..] nun eigens an den verschiedenen Stationen der Existenzialanalytik“ nachzugehen.157 In einer gewissen Gegenüberstellung zu Leibniz kann der Begriff der Freiheit in der vorliegenden Untersuchung nur hinsichtlich des Phänomens der Schuld bzw. des Schuldigseins weiter verfolgt und analysiert werden.

§ 30 Der existenzial-ontologische Schuldbegriff und seine Bedeutung für die Rechtsphilosophie a) Schuld und Verantwortung im Spannungsfeld von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit Die Erörterung von Heideggers existenzial-ontologischem Schuldbegriff soll ihren Ausgang von der Rechtsphilosophie nehmen. Für rechtsphilosophische Fragen auf dem Gebiet des Strafrechts (Schuldvorwurf) wäre es sicherlich problematisch, wenn das Dasein im Existenzmodus der Uneigentlichkeit schlechthin unfrei wäre. Was die Bedeutung des existenzialen Schuldbegriffs für die heutige Rechtsphilosophie betrifft, kann auf die Hamburger Dissertation von Agnes Wulff mit dem Titel „Die Existenziale Schuld. Der fundamentalontologische Schuldbegriff Martin Heideggers und seine Bedeutung für das Strafrecht“ verwiesen werden, wobei die juristischen Probleme hier nicht im Detail untersucht werden können. Es ist für Wulff also zu zeigen, dass das Dasein „durch sein Verweilen oder die Flucht in das Man

155

Vgl. Sein und Zeit (GA 2), § 54, S. 355 (S. 267). Sitter: Dasein und Ethik, S. 103. 157 Herrmann, von: Heidegger: Freiheit und Dasein, in: Hat der Mensch einen freien Willen?, S. 268. 156

§ 30 Der existenzial-ontologische Schuldbegriff

147

nicht unfrei“ wird.158 Wenn – wie oben dargelegt wurde – die Freiheit in „Sein und Zeit“ primär zur Eigentlichkeit gehört, dann bezieht sich dieser existenzial-ontologische Freiheitsbegriff auf die „Grundmöglichkeit“159 der eigentlichen Existenz. Aber auch in der Uneigentlichkeit ist dem Dasein sein eigenes Möglichsein nicht völlig verschlossen, sondern „ihm selbst in verschiedenen möglichen Weisen und Graden durchsichtig“160. Nur vollzieht es in der uneigentlichen Existenzweise die existenziellen oder gehaltlichen Möglichkeiten seines In-der-Welt-seins in einer gegenüber der Eigentlichkeit modifizierten Weise. Ebenso bilden Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit keinen einander ausschließenden Gegensatz, sondern sind in der Weise wechselseitiger Modifikation aufeinander bezogen.161 In diesem Sinne schreibt auch Schmidt: „Die Existenzformen ,Eigentlichkeit‘ und ,Uneigentlichkeit‘ stellen die beiden elementaren und grundlegenden Modi der Seinsmöglichkeiten des Daseins dar. Sie sind so etwas wie die beiden Pole eines Spannungsfeldes, in dem sich die existenziale Selbstbestimmung abspielt.“162

Für den Modus der Eigentlichkeit des Daseins könnte man zunächst meinen, dass ein solcher Existenzvollzug einer „Botmäßigkeit der Anderen“163, die sich zum Teil auch in „ ,öffentlichen‘ Gesetze[n]“164 manifestiert, grundsätzlich entgegensteht. Das ist jedoch ein immer wieder gegen Heidegger vorgebrachtes Missverständnis.165 Wulff verweist insbesondere auf eine Textstelle in § 60 von „Sein und Zeit“ zur „existenzial verstandenen Entschlossenheit“, die hier in voller Länge angeführt werden soll: „Auch der Entschluß bleibt auf das Man und seine Welt angewiesen. Das zu verstehen, gehört mit zu dem, was er erschließt, sofern die Entschlossenheit erst dem Dasein die eigentliche Durchsichtigkeit gibt. In der Entschlossenheit geht es dem Dasein um sein eigenstes Seinkönnen, das als geworfenes nur auf bestimmte faktische Möglichkeiten sich entwerfen kann. Der Entschluß entzieht sich nicht der ,Wirklichkeit‘, sondern entdeckt erst

158

Wulff, Agnes: Die Existenziale Schuld. Der fundamentalontologische Schuldbegriff Martin Heideggers und seine Bedeutung für das Strafrecht, Berlin/Münster 2008, S. 235. (Wulff bezieht sich dabei zum Teil auf spätere Texte Heideggers wie die Vorlesung „Vom Wesen der menschlichen Freiheit“ (GA 31), die aber schon zu einer gegenüber „Sein und Zeit“ gewandelten Besinnungsebene gehört). 159 Sein und Zeit (GA 2), S. 435 (S. 328). 160 Sein und Zeit (GA 2), S. 191 (S. 144). 161 Vgl. Die Grundprobleme der Phänomenologie (GA 24), S. 242 f. 162 Schmidt: Grund und Freiheit, S. 58. 163 Sein und Zeit (GA 2), § 27, S. 168 (S. 126). 164 Sein und Zeit (GA 2), S. 375 (S. 282). 165 Vgl. auch Luckner: Wie es ist, selbst zu sein, in: Martin Heidegger: Sein und Zeit, hrsg. von Rentsch (Klassiker Auslegen, Bd. 25), S. 148.

148

3. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Heidegger

das faktisch Mögliche, so zwar, daß er es dergestalt, wie es als eigenstes Seinkönnen im Man möglich ist, ergreift.“166

Für die einer solchen Entschlossenheit in der jeweiligen Situation zugehörige Gewissheit bedeutet das: „Sie soll sich in dem durch den Entschluß Erschlossenen halten. Dies besagt aber: sie kann sich gerade nicht auf die Situation versteifen, sondern muß verstehen, daß der Entschluß seinem eigenen Erschließungssinn nach frei und offen gehalten werden muß für die jeweilige faktische Möglichkeit. Die Gewißheit des Entschlusses bedeutet: Sichfreihalten für seine mögliche und je faktisch notwendige Zurücknahme.“167

Dazu bemerkt Wulff, dass das Dasein Heidegger zufolge auch „die Erfordernisse seiner Umwelt, der Welt des Man, als maßgeblichen Indikator für die gesellschaftliche Umgebung des Daseins berücksichtigen“ muss.168 Es geht nach Wulff für das Dasein um einen Ausgleich, der darin liegt, dass „es sowohl die [jeweilige faktische] Situation, in der es sich befindet, als auch die eigenen Entwürfe seines Seinkönnens gleichwertig berücksichtigt“.169 Die Grundmöglichkeiten des eigentlichen und des uneigentlichen Existierens werden von Heidegger noch durch eine weitere Unterscheidung konkretisiert: „Das eigentliche ebensowohl wie das uneigentliche Verstehen können wiederum echt oder unecht sein.“170 Als Beispiele für unechte Eigentlichkeit können Formen des Selbstentwurfs genannt werden, in denen sich das Dasein aus der tatsächlichen Welt und von den Anderen zurückzieht. Ein Rückzug in eine nur erträumte oder idealisierte Welt war charakteristisch für Strömungen in der Romantik und fiel bei Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller auf Unverständnis.171 Heidegger nennt als Beispiel „alles extravagante Wühlen in der Seele“, das „sogar verstiegen-patholo-

166

Sein und Zeit (GA 2), S. 396 (S. 299); zitiert in: Wulff: Die Existenziale Schuld, S. 214. Das genannte Zitat widerspricht eindeutig der Begründung, die Schmidt dafür gibt, „warum Dasein niemals andauernd im Modus der Eigentlichkeit existieren kann“ (was sicherlich der Fall ist). Ein solches eigentliches Existieren würde nach Schmidt nämlich „bedeuten, im Zustand reiner Möglichkeit zu verharren, d. h. keine Möglichkeit zu verwirklichen – Dasein würde der Wirklichkeit entbehren.“ (Schmidt: Das Geschehen der Freiheit, S. 78, Anm. 7). 167 Sein und Zeit (GA 2), § 62, S. 407 f. (S. 307 f.). 168 Wulff: Die Existenziale Schuld, S. 214. 169 Wulff: Die Existenziale Schuld, S. 215. 170 Sein und Zeit (GA 2), § 31, S. 194 (S. 146); vgl. auch Logik. Die Frage nach der Wahrheit (GA 21), § 17, S. 226 f.; Die Grundprobleme der Phänomenologie (GA 24), S. 228 und 243. Was den Terminus „echt“ betrifft, schließen wir uns der Deutung von Jiro Watanabe an: „ ,Echt‘ meint unserer Ansicht nach, daß das betreffende Phänomen sich unverstellt zeigt; Heidegger will die eigentliche wie uneigentliche Seinsweise in ihren ,echten‘ Strukturen aufweisen.“ (Watanabe, Jiro: Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit bei Heidegger, in: Jiro Watanabe, Zwischen Phänomenologie und Deutschem Idealismus. Ausgewählte Aufsätze, hrsg. von Yoshiteru Chida [u. a.], Berlin 2012, S. 15 – 31, hier S. 22 (Hervorhebung vom Verfasser)). 171 Vgl. auch Einleitung in die Philosophie (GA 27), § 20, S. 147.

§ 30 Der existenzial-ontologische Schuldbegriff

149

gisch sein kann“.172 Den in dem Zitat aus § 60 von „Sein und Zeit“ genannten „Entschluß“ könnte man dagegen als einen echten Modus der Eigentlichkeit bezeichnen. In seiner berühmten Schrift „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ (1784) stellt Immanuel Kant die folgende Forderung an die Vernunft: „Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen.“173

Es stellt sich somit die Frage, ob es nicht auch eine eigentliche Weise der Öffentlichkeit geben kann, die sich dem „Charakter des Verlorenseins in die Öffentlichkeit des Man“174 zu entziehen vermag. Hannah Arendt hat sich dieser „Leerstelle“ in Heideggers existenzialer Analyse zugewandt. Eine Auseinandersetzung mit Heidegger zum Problem des Miteinanderseins und der Öffentlichkeit findet sich nicht nur in ihrem Werk „Vita activa oder Vom tätigen Leben“ (englisch 1958; deutsch 1960), sondern auch an verschiedenen Stellen ihres „Denktagebuchs“ aus den Jahren 1950 bis 1973.175 Eine Re-Lektüre von Heideggers Man-Analyse, ohne diesen auch nur zu erwähnen, gibt Arendt in § 24 von „Vita activa“ mit dem Titel „Die Enthüllung der Person im Handeln und Sprechen“. Insbesondere im Sprechen mit Anderen gibt der Mensch zugleich Aufschluss darüber, wer jemand ist. Arendt geht aus vom Faktum menschlicher Pluralität im Hinblick auf das Faktum der Natalität, der Gebürtlichkeit. Die Verschiedenheit ist nicht nur wie im organischen Bereich eine Mannigfaltigkeit, sondern die Verschiedenheit, die der Mensch mit allem Seienden teilt, wird zur Einzigartigkeit.176 Handelnd und sprechend unterscheiden Menschen sich voneinander. Das „eigentlich personale Wer-jemand-jeweilig-ist“ bleibt dem Zeigenden selbst aber gerade und immer verborgen, obwohl es sich der Mitwelt unwillkürlich und unmissverständlich in allem mitoffenbart, was wir sagen und tun.177 Unsere personale Identität spiegelt sich im Sprechen und Handeln sozusagen erst in den Anderen. In gewisser Weise kommt ein solches Miteinandersprechen bei Heidegger insbesondere in der Analyse der vorausspringend-befreienden Fürsorge für den Anderen, z. B. in einer sozialen

172

Die Grundprobleme der Phänomenologie (GA 24), S. 228. Kant: Werke. Akademie-Textausgabe, unveränderter photomechanischer Abdruck, Bd. VIII: Abhandlungen nach 1781, S. 33 – 42, hier S. 36. 174 Sein und Zeit (GA 2), S. 233 (S. 175). 175 Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben, 9. Aufl., München/Zürich 1997, bes. §§ 7, 24 und 25; Arendt, Hannah: Denktagebuch 1950 bis 1973, hrsg. von Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann in Zusammenarbeit mit dem Hannah-Arendt-Institut, Dresden (2 Bde.), München/Zürich 2002. 176 Vgl. Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 217. 177 Vgl. Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 219. 173

150

3. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Heidegger

oder therapeutischen Einrichtung, in den Blick.178 Für Arendt gilt in einem ganz weiten Sinne: „Diese Aufschluß-gebende Qualität des Sprechens und Handelns, durch die, über das Besprochene und Gehandelte hinaus, ein Sprecher und Täter mit in die Erscheinung tritt, kommt aber eigentlich nur da ins Spiel, wo Menschen miteinander, und weder für- noch gegeneinander, sprechen und agieren.“179

Fehlt der Charakter, über das Wer der Person mit Aufschluss zu geben und dieses mit einzubringen, dann wird das Reden und Handeln zu einer rein gegenstandsgebundenen Leistung. Es kann dann in der Tat einfach Mittel zum Zweck werden. Dann ist für Arendt „das eigentliche Miteinander zerstört“.180 Als Beispiel für ein solches „bloßes Gerede“ nennt sie die Kriegsrhetorik, in der die Personen zum reinen Menschenmaterial werden.181 Der „Jedermann“ ist für Arendt, wie sie in ihrem „Denktagebuch“ ausführt, ein vorpolitischer Ausgangspunkt für gemeinsames Handeln und Sprechen, das nicht mehr notwendig der einebnenden Herrschaft des anonymen Man, des „Niemand“ verfällt. Ein Eintrag vom Juli 1952 lautet: „Der elementare Fehler der Heideggerschen Man-Analyse, die als solche ausserordentlich zutreffend ist, ist, dass das Man in der Spanne Man – Selbst gesehen ist. Dem Man aber, der das ,Niemand‘ ist (Sein und Zeit, 253 [GA 2, 336]), steht der Jedermann (und nicht das Selbst) gegenüber, der wir alle immer auch sind, insofern wir gleich jedermann an die !macja?a gebunden sind. Dem Man tritt nie das Selbst entgegen, sondern der Jedermann.“182

Mit der !macja?a, der Notwendigkeit, meint Arendt insbesondere die menschlichen Bedürfnisse, z. B. die Nahrung für den Leib. Mit unserer Geburt teilen wir solche Bedürfnisse mit den anderen Menschen. Arendts Ausgangspunkt ist, wie auch der griechische Begriff !macja?a verdeutlicht, vor allem die Antike und nicht gewisse Verfallserscheinungen der Moderne.183 Auf die Bedingungen gesellschaftlichpolitischer Freiheit kann hier nicht weiter eingegangen werden.184 178

Vgl. Sein und Zeit (GA 2), § 26; vgl. dazu u. a. Condrau, Gion: Die therapeutische Beziehung zwischen einspringender und vorausspringender Fürsorge, in: Daseinsanalyse. Phänomenologische Anthropologie und Psychotherapie 15 (1998), S. 71 – 76; Helting, Holger: Mitsein, Sorge, Fürsorge im Denken von Martin Heidegger, in: Daseinsanalyse 15 (1998), S. 133 – 144. 179 Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 220. 180 Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 221. 181 Vgl. Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 221. 182 Arendt: Denktagebuch, Bd. 1, S. 218 (Heft IX [25]); vgl. Bd. 2, S. 723 (Heft XXVI [27], August 1969), 734 (Heft XXVI [39], September 1969) und 793 (Heft XXVII [78], August 1970). 183 Vgl. Greticˇ , Goran: Philosophie, Freiheit und Verantwortung. Bergson und Heidegger, in: Piotr W. Juchacz/Roman Kozłowski (Hrsg.), Freiheit und Verantwortung. Moral, Recht und Politik, Frankfurt a. M. [u. a.] 2002, S. 215 – 228, hier S. 214 und 222. (Entgegen dem Titel thematisiert der Beitrag von Goran Greticˇ nicht Henri Bergsons, sondern Hannah Arendts Auseinandersetzung mit Heidegger.) Eine Übersicht zu Arendts Auseinandersetzung mit

§ 30 Der existenzial-ontologische Schuldbegriff

151

Der Schuldvorwurf des deutschen Strafrechts beruht auf einer Zurechenbarkeit und Verantwortlichkeit des Einzelnen. Wulff grenzt die Verantwortung von Individuen von einer kollektiven Verantwortung oder einer kollektiven Schuld ab.185 Auch hier bezieht sie sich auf Heidegger: „Verantwortung liegt für ihn in dem individuellen Sein des Menschen als Dasein und nicht etwa dem Sein als Mitglied einer Gesellschaft.“186 Der Terminus „verantwortlich sein“ tritt in einer positiven Bezugnahme nur an einer einzigen Stelle in „Sein und Zeit“ auf, und zwar nicht zufällig in § 58 mit dem Titel „Anrufverstehen und Schuld“.187 Es soll hier aber eine entsprechende Stelle aus Heideggers Kasseler Vorträgen „Wilhelm Diltheys Forschungsarbeit und der gegenwärtige Kampf um eine historische Weltanschauung“ vom April 1925, die eine Vorstufe der entsprechenden Ausführungen in § 58 von „Sein und Zeit“ darstellt, genannt werden. Den Zusammenhang der Textstellen zeigt schon das auch in „Sein und Zeit“ auftretende, aber nicht mehr wörtlich genannte Goethe-Zitat.188 Im VIII. Vortrag mit dem Titel „Die Zeit als Grundbestimmung des Menschen“ (Fortsetzung) heißt es: „Die Möglichkeit des Daseins, zu wählen, ist die Möglichkeit, sich aus der Verlorenheit in die Welt, d. h. in die Öffentlichkeit, zurückzuholen. Wenn Dasein sich selbst gewählt hat, so hat es damit sich und die Wahl gewählt. Die Wahl gewählt haben, besagt aber, entschlossen sein. […] Dieses Wählen und dieses Entschlossensein ist die Wahl der Verantwortung, die das Dasein für sich selbst übernimmt, daß jedes Handeln so ist, daß ich mit der Handlung mich selbst verantwortlich mache. Die Verantwortung für sich selbst wählen heißt, das Gewissen wählen, als die Möglichkeit, die der Mensch eigentlich ist. […] Das Gewissen wählen heißt aber zugleich schuldig werden. ,Der Handelnde ist immer gewissenlos‘ Heidegger gibt: Vollrath, Ernst: Hannah Arendt und Martin Heidegger, in: Heidegger und die praktische Philosophie, hrsg. von Annemarie Gethmann-Siefert und Otto Pöggeler, Frankfurt a. M. 1988, S. 357 – 372. Heidegger kommt auf die griechische Polis (p|kir) u. a. in seiner Freiburger Vorlesung vom Sommersemester 1935 zu sprechen (Einführung in die Metaphysik (GA 40), S. 200). 184 Vgl. Meinefeld, Ole: Politisches Denken im Ausgang von der „Man-Analyse“ in Sein und Zeit?, in: Paul Sörensen/Nikolai Münch (Hrsg.), Politische Theorie und das Denken Heideggers, Bielefeld 2013, S. 133 – 152; Villa, Dana R.: Arendt and Heidegger. The Fate of the Political, Princeton, NJ 1996; Arendt-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hrsg. von Wolfgang Heuer, Bernd Heiter und Stefanie Rosenmüller, Stuttgart/Weimar 2011, S. 248 – 253. 185 Wulff: Die Existenziale Schuld, S. 260 – 271. (Ausnahmen vom individuellen Schuldprinzip gelten nur für juristische Sonderbereiche wie für das Produkthaftungsgesetz.) Ein wichtiger Vertreten einer kollektiven Schuld ist Karl Jaspers, der sich auf die Verbrechen des Dritten Reichs bezog (vgl. Jaspers, Karl: Die Schuldfrage, Heidelberg 1946). Am 8. April 1950 schrieb Heidegger dann an Jaspers: „Die Schuld des einzelnen bleibt und ist bleibender, je einzelner er ist.“ (Heidegger, Martin/Jaspers, Karl: Briefwechsel 1920 – 1963, hrsg. von Walter Biemel und Hans Saner, Frankfurt a. M. und München/Zürich 1990, S. 200 – 203, hier S. 202). 186 Wulff: Die Existenziale Schuld, S. 264. 187 Sein und Zeit (GA 2), S. 382 (S. 288). 188 „Jedes Handeln aber ist faktisch notwendig ,gewissenlos‘ […].“ (Sein und Zeit (GA 2), § 58, S. 382 (S. 288)).

152

3. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Heidegger

(Goethe).189 Jede Handlung ist zugleich Schuld. Denn die Möglichkeiten der Handlung sind begrenzt gegenüber den Forderungen des Gewissens. So ergibt jede sich durchsetzende Handlung Konflikte. Wählen der Selbstverantwortung ist also Schuldig-werden in einem absoluten Sinne. Ich werde schuldig, sofern ich überhaupt bin, wenn ich überhaupt handle.“190

Der existenzial-ontologische Begriff der Verantwortung tritt hier deutlicher hervor als in „Sein und Zeit“. Die Textstelle bestätigt die oben gegebene Darlegung, nach der das „Wählen der Wahl“ als „Selbstwahl“ zu verstehen ist. Diese Wahl ist zugleich „die Wahl der Verantwortung“, die auch als „Selbstverantwortung“ bezeichnet wird. Es handelt sich um Verantwortung im Existenzmodus der eigentlichen Erschlossenheit, der Entschlossenheit. Dagegen nimmt, wie es in § 27 von „Sein und Zeit“ nur kurz angesprochen wird, das Man „dem jeweiligen Dasein die Verantwortlichkeit ab“.191 Es ist daher Norbert Les´niewski zuzustimmen, wenn er sagt, „die Schuld/Verantwortlichkeit hat ontologische Bedeutung und das Gegenteil der Schuld ist nicht die Unschuld, sondern die Unverantwortlichkeit“.192 In diesem Sinne bemerkt Heidegger zur Berufung auf das „Man“: „Es kann am leichtesten alles veranworten, weil keiner es ist, der für etwas einzustehen braucht. Das Man ,war‘ es immer und doch kann gesagt werden, ,keiner‘ ist es gewesen.“193 Nach der zitierten Textstelle aus Heideggers Kasseler Vortrag wählt das Dasein in der Wahl der „Verantwortung für sich selbst“ sein Gewissen, das heißt aber „zugleich schuldig werden“. Das existenziale Phänomen der Verantwortung kann hier nicht weiter verfolgt werden. Es wird auf die bereits genannte Dissertation von Martin Michael Thomé „Existenz und Verantwortung“ verwiesen. Weshalb in „Sein und Zeit“ der Begriff der Verantwortung gegenüber dem Kasseler Vortrag fast völlig in den Hintergrund tritt, ist schwer zu sagen. Vielleicht wollte Heidegger eine Interpretation seines Grundwerks im Sinne einer Verantwortungsethik vermeiden.194 189

Goethe: Maximen und Reflexionen, nach den Handschriften des Goethe- und SchillerArchivs hrsg. von Max Hecker, Weimar 1907, Nr. 241; Neuausgabe: Goethe, Johann Wolfgang: Maximen und Reflexionen, Text der Ausgabe von 1907, mit der Einleitung und den Erläuterungen Max Heckers, Frankfurt a. M./Leipzig 2003. 190 Vorträge, Teil 1 (GA 80.1), S. 103 – 157, hier S. 144 f.; vgl. auch Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs (GA 20), § 35. 191 Sein und Zeit (GA 2), S. 170 (S. 127). 192 Les´niewski, Norbert: Zum Ursprung der Verantwortung. Der Fall Heideggers, in: Piotr W. Juchacz/Roman Kozłowski (Hrsg.), Freiheit und Verantwortung. Moral, Recht und Politik, Frankfurt a. M. [u. a.] 2002, S. 229 – 237, hier S. 234. 193 Sein und Zeit (GA 2), S. 170 (S. 127). 194 Eine solche Ethik hat beispielsweise Heideggers Marburger Schüler Hans Jonas ausgearbeitet (vgl. Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a. M. 1979). Gegenüber Jonas’ „Ethik der Fernverantwortung“ entwarf Werner Marx eine „nichtmetaphysische Nächstenethik“, deren „Neubestimmung des Wesens eines Maßes wie des Maßes selbst“ er als „ein kritisches Weiterdenken der Bestimmungen des späten Heideggers“ verstand (Marx, Werner: Gibt es auf Erden ein Maß? Grundbestimmungen einer nichtmetaphysischen Ethik, Hamburg 1983, S. XIX, vgl. S. XIV).

§ 30 Der existenzial-ontologische Schuldbegriff

153

b) Eine Kritik der Kritik: Bernd Irlenborns Interpretation der existenzialen Schuld in § 58 von „Sein und Zeit“ Das eigentliche Thema von Wulffs Dissertation ist die „Existenziale Schuld“. Auch hier ist für Wulff wichtig, dass Heidegger in „Sein und Zeit“ das Schuldigsein „frei von jeder Grundlage, wie sie etwa der Moral, Religion oder Ethik entsprechen könnte“, beschreibt.195 Heidegger wendet sich in seiner ontologisch angesetzten Analyse des Gewissens (und damit auch des existenzialen Schuldigseins) aber ebenso gegen eine psychologische Deskription oder eine biologische (empirischwissenschaftliche) Erklärung von „Gewissenserlebnissen“.196 Auf die Gesamtthematik der Schuld kann hier nicht eingegangen werden. Ein grundlegendes Problem, mit dem sich Wulff am Schluss ihrer Untersuchung auseinandersetzt, ist der Vorwurf, dass Heidegger mit dem Begriff des existenzialen Schuldigseins eine „Schuld ohne Schuld“, d. h. einen Schuldbegriff ohne eine mögliche Verbindung zum „faktischen Verschulden“ entwickelt habe.197 Wulff bezieht sich insbesondere auf die Wuppertaler Dissertation „Der Ingrimm des Aufruhrs. Heidegger und das Problem des Bösen“ von Bernd Irlenborn. Den für die Schuldfrage entscheidenden Abschnitt „Gibt es eine Schuld ohne Schuld?“198 hat Irlenborn für eine spätere Veröffentlichung etwas überarbeitet. Dieser Aufsatz mit dem Titel „Das Problem der Schuld in Heideggers Sein und Zeit“ wird für die weiteren Ausführungen zugrunde gelegt. Wie Irlenborn hier erläutert, ist der Abschnitt, „in der die Idee von ,schuldig‘ formalisiert werden soll, [..] einer der schwierigsten in Sein und Zeit überhaupt“.199 Es ist daher nicht verwunderlich, dass eine grundlegende und philosophisch einsichtige Widerlegung der von Irlenborn dargelegten Kritik in Wulffs juristischer Dissertation nicht gegeben wird und insofern noch aussteht. Die leitende These seiner Kritik formuliert Irlenborn in der vorangestellten Zusammenfassung: „Heideggers Versuch in Sein und Zeit, den Begriff der Schuld zu formalisieren, um eine im Vergleich zum traditionellen Verständnis ursprünglichere Schuld freizulegen, konstruiert eine Schuld ohne Verschuldung. Heideggers Formalisierung entfernt sich damit vom alltäglichen Phänomen der Schuld und behauptet ein Fundierungsverhältnis, das sich phänomenologisch nicht aufweisen läßt.“200 195

Wulff: Die Existenziale Schuld, S. 190, vgl. S. 273. Sein und Zeit (GA 2), S. 357 (S. 269). 197 Wulff: Die Existenziale Schuld, S. 272 f. 198 Irlenborn, Bernd: Der Ingrimm des Aufruhrs. Heidegger und das Problem des Bösen, Wien 2000, S. 88 – 97. 199 Irlenborn, Bernd: Das Problem der Schuld in Heideggers Sein und Zeit. Kritische Anmerkungen, in: Perspektiven der Philosophie. Neues Jahrbuch 30 (2004), S. 189 – 207, hier S. 198; vgl. auch Irlenborn, Bernd: Die Uneigentlichkeit als Privation der Eigentlichkeit? Ein offenes Problem in Heideggers Sein und Zeit, in: Philosophisches Jahrbuch 106 (1999), S. 455 – 464. 200 Irlenborn: Das Problem der Schuld in Heideggers Sein und Zeit, S. 189. 196

154

3. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Heidegger

Ohne auf Irlenborns Argumentation insgesamt einzugehen zu können, sollen hier nur die zentralen Thesen seiner Kritik auf ihre sachliche Stichhaltigkeit hin untersucht werden. Die Textstelle in § 58 von „Sein und Zeit“, auf die sich Irlenborn vor allem bezieht, lautet: „Die formal existenziale Idee des ,schuldig‘ bestimmen wir daher also: Grundsein für ein durch ein Nicht bestimmtes Sein – das heißt Grundsein einer Nichtigkeit.“201

Irlenborn geht von zwei formalisierten „Nicht“-Charakteren in § 58 von „Sein und Zeit“ aus: „einem, dem gewöhnlichen Schuldbegriff zuzuordnenden privativen ,Nicht‘, und einem für Heideggers existenziales Schuldigsein verantwortlichen ,Nicht‘, das ich [Irlenborn] als strukturelles oder existenziales ,Nicht‘ bezeichne.“202

Das „zweite Nicht“ bezeichnet er auch als „ein unprivatives, strukturelles Nicht“.203 Das privative „Nicht“ wird für ihn durch Heideggers (erste) Formel (der oben angeführten Textstelle aus § 58) „Grundsein für ein durch ein Nicht bestimmtes Sein“ gefasst, das existenziale (unprivative, strukturelle) „Nicht“ durch die (zweite) Formel „Grundsein einer Nichtigkeit“.204 Vereinfacht gesprochen, möchte Irlenborn zeigen, dass Heideggers „Identifizierung der beiden Formalisierungsformeln“205 nicht zulässig ist. Wegen dieser für ihn nicht möglichen Gleichsetzung der beiden Formeln (bzw. Ableitung der ersten von der zweiten) lässt sich Heideggers These (nach der Formulierung Irlenborns), „daß das existenziale Schuldigsein das Fundament für die existenzielle Verschuldung darstelle und letztere nur aus dieser Verwurzelung zu verstehen sei“206, phänomenologisch nicht aufweisen. Heidegger geht es, wie er in § 58 von „Sein und Zeit“ ausführt, um ein „Verständnis des Wesens der Schuld“: „Wenn aber überhaupt ein Verständnis des Wesens der Schuld möglich ist, dann muß diese Möglichkeit im Dasein vorgezeichnet sein. Wie sollen wir die Spur finden, die zur Enthüllung des Phänomens führen kann?“207 Die ontologische Untersuchung muss, wie er fortfährt, in dem ansetzen, wie die „alltägliche Daseinsauslegung“ das Phänomen der Schuld versteht.208 Es kann hier nur darauf hingewiesen werden, dass Heidegger in diesem Zusammenhang auch das Problem der „Rechtsverletzung“ erwähnt, wobei das „Schuldigwerden an Anderen“ 201 202 203

Sein und Zeit (GA 2), S. 376 (S. 283). Irlenborn: Das Problem der Schuld in Heideggers Sein und Zeit, S. 196. Irlenborn: Das Problem der Schuld in Heideggers Sein und Zeit, S. 199, vgl. S. 196 und

198. 204 205

Irlenborn: Das Problem der Schuld in Heideggers Sein und Zeit, S. 195. Irlenborn: Das Problem der Schuld in Heideggers Sein und Zeit, S. 198, vgl. S. 195 und

203. 206

Irlenborn: Das Problem der Schuld in Heideggers Sein und Zeit, S. 196, vgl. S. 197 und 202; vgl. Sein und Zeit (GA 2), S. 377 (S. 284) (Der entscheidende Satz ist insgesamt kursiv gesetzt.). 207 Sein und Zeit (GA 2), S. 373 (S. 281). 208 Sein und Zeit (GA 2), S. 373 (S. 281).

§ 30 Der existenzial-ontologische Schuldbegriff

155

auch möglich ist „ohne Verletzung des ,öffentlichen‘ Gesetzes“.209 Gegenüber den aufgezeigten Auslegungen der Schuldphänomene, die alle noch durch das kategorial bestimmte Vorhandensein eines Mangels, also privativ bestimmt sind, „muß die Idee von ,schuldig‘ soweit formalisiert werden, daß die auf das besorgende Mitsein mit Anderen bezogenen vulgären Schuldphänomene ausfallen“.210 Heidegger kommt in diesem Zusammenhang auch auf die überlieferte philosophische und theologische Bestimmung des Bösen als „privatio boni“ zu sprechen, an der sich auch Leibniz noch orientierte: „Am allerwenigsten ist dem existenzialen Phänomen der Schuld näherzukommen durch die Orientierung an der Idee des Bösen, des malum als privatio boni. Wie denn das bonum und die privatio dieselbe ontologische Herkunft aus der Ontologie des Vorhandenen haben, die auch der daraus ,abgezogenen‘ Idee des ,Wertes‘ zukommt.“211

Rückblickend bemerkt Heidegger in seinen Aufzeichnungen „Zur Erläuterung von ,Sein und Zeit‘ “ (1941): „Daß ,Sein und Zeit‘ ,die Schuld‘, ,den Tod‘, ,die Angst‘, ,das Nichts‘ in die ,Analytik das Daseins‘ einbezieht, entspringt weder überhaupt einer ,Anthropologie‘, noch einer besonderen ,standpunktlich beschränkten‘ ,Lebens- und Existenzphilosophie‘, sondern der Frage nach dem Sinn des Seins selbst. […] Sobald man freilich die Erörterungen über die Schuld und über den Tod für sich nimmt und inzwischen die einzige Frage der Abhandlung nicht mehr bedenkt, gesetzt daß man sie je bedacht hat, dann erscheint freilich alles, was über Schuld und Tod, über die Angst und das Nichts gesagt wird, als willkürlich und einseitig. Man tut so, als werde in ,Sein und Zeit‘ der Anspruch erhoben, eine wissenschaftliche Monographie über das Wesen der Schuld und das Wesen des Todes zu liefern.“212

Das ontologische Problem des Schuldigseins liegt für Heidegger darin, worauf sich Irlenborn bezieht, „den Nicht-Charakter dieses Nicht existenzial aufzuklären“.213 Das von Irlenborn als „erste Formel“ bezeichnete „Grundsein für ein durch ein Nicht bestimmtes Sein“ wird allerdings von Heidegger – wie auch die „zweite Formel“ – ausdrücklich als „formal existenziale Idee des ,schuldig‘ “ betrachtet.214 Dagegen wird von Irlenborn die Formalisierung, auf der die erste Formel beruht, als eine Formalisierung des gewöhnlichen Schuldbegriffs, also als ein privatives „Nicht“ aufgefasst. Das ist jedoch keineswegs der Fall, auch wenn der Text eine solche Auslegung vielleicht nahezulegen scheint. Man könnte hier von zwei für ein besseres Verständnis erforderlichen Schritten sprechen, die aber von Heidegger gleichsam in einem Schritt zusammengefasst sind. Welche Richtung die von Heidegger angesprochene Formalisierung der vulgären Schuldphänomene in einem Zwischenschritt

209 210 211 212 213 214

Sein und Zeit (GA 2), S. 374 f. (S. 282). Sein und Zeit (GA 2), S. 376 (S. 283). Sein und Zeit (GA 2), S. 379 f. (S. 286). Zu eigenen Veröffentlichungen (GA 82), S. 267 – 338, hier S. 314. Sein und Zeit (GA 2), S. 376 (S. 283). Sein und Zeit (GA 2), S. 376 (S. 283) (Hervorhebung vom Verfasser).

156

3. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Heidegger

zunächst einschlagen müsste, verdeutlicht die oben bereits genannte Textstelle aus Heideggers VIII. Kasseler Vortrag: „Jede Handlung ist zugleich Schuld. Denn die Möglichkeiten der Handlung sind begrenzt gegenüber den Forderungen des Gewissens. So ergibt jede sich durchsetzende Handlung Konflikte.“215

Alle Handlungen, nicht nur solche, die auf einen Mangel bezogen werden, zeichnen sich dadurch aus, dass mit dem Vollzug des Handelns stets eine bestimmte Möglichkeit ausgewählt und ergriffen wird, damit aber alle alternativen Möglichkeiten nicht auch in die Tat umgesetzt und verwirklicht werden können. Als ein in jüngster Zeit kontrovers diskutiertes Beispiel kann auf das Theaterstück „Terror“ von Ferdinand von Schirach verwiesen werden.216 Heideggers Denken ist also äußerst aktuell. Ursprüngliches Philosophieren veraltet nicht. Die Aufweisung der formalen existenzialen Ermöglichung überhaupt solcher Konflikte wird von Heidegger aber erst an einer späteren Stelle von § 58 nachgeholt. Hier heißt es: „Der Entwurf ist nicht nur als je geworfener durch die Nichtigkeit des Grundseins bestimmt, sondern als Entwurf selbst wesenhaft nichtig.“217 Nun folgt aber die Bestimmung gerade nicht der in der Geworfenheit des Dasein überhaupt liegenden „Nichtigkeit des Grundseins“ (!), sondern der Nichtigkeit des geworfenen Entwurfs, die Heidegger auch als „Grundsein einer Nichtigkeit“ (!) bezeichnet:218 215

Vorträge, Teil 1 (GA 80.1), S. 145. Schirach, Ferdinand von: Terror. Ein Theaterstück und eine Rede, München/Berlin/ Zürich 2015. Zu der von juristischer Seite geäußerten Kritik vgl. z. B. Schild, Wolfgang: Verwirrende Rechtsbelehrung. Zu Ferdinand von Schirachs „Terror“, Münster 2016. 217 Sein und Zeit (GA 2), S. 378 (S. 285). 218 Sein und Zeit (GA 2), S. 377 – 379, vgl. auch § 62, S. 404 – 406 (S. 284 f., vgl. auch S. 305 f.). Es ist zu betonen, dass hier ganz bewusst vom „Grundsein einer Nichtigkeit“ und nicht vom „Grundsein der Nichtigkeit“ die Rede ist, weil es auf jeden Fall mit dem existenzialen Phänomen des vorlaufenden Seins zum Tode auch noch eine andere Nichtigkeit des geworfenen Entwurfs gibt. Irlenborn verweist zwar kurz auf das, „was Heidegger ,Nichtigkeit‘ des Entwurfs nennt“ (Irlenborn: Das Problem der Schuld in Heideggers Sein und Zeit, S. 196), verfehlt dann aber eine angemessene Auslegung gerade dieser „Nichtigkeit“ des geworfenen Entwurfs in der „zweiten Formel“ (vgl. auch Luckner, Andreas: Martin Heidegger: „Sein und Zeit“. Ein einführender Kommentar, 2., korr. Aufl., unveränd. Nachdr., Paderborn [u. a.] 2007, S. 117 – 121 (zu § 58)). Irlenborn thematisiert ausschließlich die zur Geworfenheit gehörende Nichtigkeit. Mit dem „eher generellen Schuldigsein“ im zweiten Schritt der „Formalisierung“ meine Heidegger „eine in der Endlichkeit des Dasein verwurzelte Unfähigkeit, der eigenen unvordenklichen Existenz vollständig mächtig zu sein“ (Irlenborn: Das Problem der Schuld in Heideggers Sein und Zeit, S. 195). Ähnlich heißt es an einer späteren Stelle zur „strukturelle[n] Nichtigkeit“ der „angeblich gleichlautenden zweiten Formel, ,Grundsein einer Nichtigkeit‘ “, dass sie „aus dem Faktum der Geworfenheit, der Unbegründbarkeit und Unvordenklichkeit des eigenen Daseins erwächst“ (ebd., S. 199, vgl. auch S. 197, 200 f., 203). Der Terminus „Nichtigkeit“ wird von Heidegger in § 58 explizit auf die beiden fundamentalen existenzialen Strukturen der Geworfenheit und des Entwurfs und damit auf existenziale Grundstruktur der Sorge bezogen: „In der Struktur der Geworfenheit sowohl wie in der des Entwurfs liegt wesenhaft eine Nichtigkeit. […] Die Sorge selbst ist in ihrem Wesen durch und durch von Nichtigkeit durchsetzt.“ (Sein und Zeit (GA 2), S. 378 (S. 285)). 216

§ 30 Der existenzial-ontologische Schuldbegriff

157

„Die gemeinte Nichtigkeit gehört zum Freisein des Daseins für seine existenziellen Möglichkeiten. Die Freiheit aber ist nur in der Wahl der einen, das heißt im Tragen des Nichtgewählthabens und Nichtauchwählenkönnens der anderen.“219

Dass die zum Freisein gehörende Nichtigkeit auf den Entwurf (und nicht auf die Geworfenheit) bezogen ist, zeigt noch eine Textstelle in § 42, wo Heidegger vom Menschen „in seinem Freisein für seine eigensten Möglichkeiten (dem Entwurf)“ spricht.220 Die von Irlenborn benannten „Formeln“ beziehen sich vielmehr beide auf eine existenziale Bestimmung. Warum werden dann aber zwei Bestimmungen genannt? Das „Grundsein für ein durch ein Nicht bestimmtes Sein“ (erste Formel) bezieht sich auf die Freiheit als existenziales Grundsein für das Nicht-gewählthaben und Nicht-auchwählenkönnen anderer existenzieller (gehaltlicher) Möglichkeiten (Grundsein existenzieller „Konflikte“ nach dem Kasseler Vortrag). Das von Heidegger hervorgehobene „Grundsein einer Nichtigkeit“ (zweite Formel) bezieht sich dagegen auf die zum ursprünglichen Freisein (Entwurf) des Daseins gehörende Nichtigkeit der wesenhaft von Nichtigkeit durchsetzten Sorge. Das Dasein ist existierend dem Grund seines verstehend-entwerfenden Seinkönnens immer schon „überantwortet“: „Als dieses Seiende, dem überantwortet es einzig als das Seiende, das es ist, existieren kann, ist es existierend der Grund seines Seinkönnens.“221 Als Grund seines Seinkönnens (Freiseins) existierend, ist es zugleich der Grund einer Nichtigkeit. Der Schuldvorwurf im Sinne des Verschuldens ist deshalb möglich, weil die Wahl des Daseins auf seiner Freiheit beruht, wenngleich einer geworfenen (überantworteten) und endlichen Freiheit. László Tengelyi gibt folgende Erläuterung: „Daraus folgt aber unmißverständlich, daß das Dasein, in seinem Sein als ,(nichtiges) Grundsein einer Nichtigkeit‘ bestimmt, für dieses sein Schuldig-sein nicht Verantwortung trägt, ihm vielmehr immer schon überantwortet ist und ständig überantwortet bleibt als ,dem Sein‘, wie Heidegger dafür einmal einen Ausdruck prägt, ,das es existierend zu sein hat‘. Die Idee einer ethischen Verantwortlichkeit wird jedoch hier nicht einfach fallengelassen. Sie wird vielmehr […] an den Begriff eines Überantwortetseins nur zurückgebunden und dadurch sozusagen auf einen möglichst tragfähigen ontologischen Unterbau umgesetzt.“222

Wie István M. Fehér am Beispiel von Kants Ethik ausführt, liegt für ein freies, aber doch sinnliches und endliches Wesen ein Tatbestand vor, „der auch dergestalt

219

Sein und Zeit (GA 2), S. 378 (S. 285). Diese entscheidende Textstelle wird von Irlenborn noch nicht einmal erwähnt. Die zunächst eingeführten und durch einen Gedankenstrich getrennten beiden „Formeln“ nach Irlenborn (Sein und Zeit (GA 2), S. 376 (S. 283)) lassen sich aber erst dann angemessen verstehen, wenn sie auf diese spätere Textstelle bezogen werden. 220 Sein und Zeit (GA 2), S. 264 (S. 199). 221 Sein und Zeit (GA 2), S. 377 (S. 284). 222 Tengelyi, László: Verantwortlichkeitsethische und fundamentalontologische Schuldauslegung, in: Wege und Irrwege des neueren Umganges mit Heideggers Werk. Ein deutschungarisches Symposium, hrsg. von István M. Fehér, Berlin 1991, S. 151 – 174; hier S. 169 f.; Zitate nach: Sein und Zeit (GA 2), S. 378 und 179 (S. 285 und 134).

158

3. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Heidegger

zur Sprache gebracht werden kann, daß die Erfüllung des kategorischen Imperativs für Tiere unmöglich, für Götter aber unnötig ist“.223 Die bewusst vorsichtige Formulierung des Bundesgerichtshofs (1952), „daß der Mensch auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt“ ist, die in § 28 bereits angesprochen wurde und auch von Agnes Wulff in ihrer rechtsphilosophisch ausgerichteten Dissertation genannt wird, kann in Heideggers existenzialer Analytik des Daseins eine ontologische Begründung und Rechtfertigung finden.224

§ 31 Ausblick: Wahrheit und Freiheit auf dem Weg zum Ereignis-Denken Hartmut Tietjen gibt in seinem Aufsatz „Wahrheit und Freiheit“ eine „Zwischenbemerkung zu Wahrheit und Freiheit in ,Sein und Zeit‘ “ und bemerkt: „In ,Sein und Zeit‘ ist die Freiheitsfrage, die im § 31 ,Das Da-sein als Verstehen‘ mit erörtert wird, noch nicht ausdrücklich und thematisch in den Fragezusammenhang mit der Wahrheitsfrage gebracht, die im § 44 ,Dasein, Erschlossenheit und Wahrheit‘ thematisiert wird.“225

Diesen Zusammenhang von Freiheitsfrage und Wahrheitsfrage hat Heidegger erst nach „Sein und Zeit“ herausgestellt.226 Wie es in einem sehr viel späteren Vortrag heißt, steht „die Freiheit in der nächsten und innigsten Verwandtschaft“ zum Ge-

223

Fehér, István M.: Eigentlichkeit, Gewissen und Schuld in Heideggers „Sein und Zeit“: Eine Interpretation mit Ausblicken auf seinen späteren Denkweg, in: Man and World 23 (1990), S. 35 – 62, hier S. 43. 224 BGHSt 2, 194 (200); vgl. Wulff: Die Existenziale Schuld, S. 5. Wulff verweist auch auf die §§ 20, 21 und 35 (ferner §§ 17 und 46) des Strafgesetzbuchs (StGB), in denen u. a. die Schuldunfähigkeit bzw. die verminderte Schuldfähigkeit geregelt ist, „etwa infolge einer Bewusstseins- oder seelischen Störung“ (ebd., S. 10). Ebenso handelt derjenige „ohne Schuld“ (im juristischen Sinne), der aufgrund äußerer Umstände (Interessenkonflikt) „eine rechtswidrige Tat begeht, um eine gegenwärtige, nicht anders abwendbare Gefahr von sich oder einer nahe stehenden Person abzuwenden“ (ebd., S. 10). 225 Tietjen, Hartmut: Wahrheit und Freiheit, in: Die Frage nach der Wahrheit, hrsg. von Ewald Richter, Frankfurt a. M. 1997, S. 209 – 241, hier S. 218. (Im Text steht versehentlich: „§ 33 ,Dasein und Verstehen‘ “.) Vgl. auch Berti, Enrico: Heideggers Auseinandersetzung mit dem Platonisch-Aristotelischen Wahrheitsverständnis, in: Die Frage nach der Wahrheit, S. 89 – 105; Herrmann, Friedrich-Wilhelm v.: Wahrheit – Freiheit – Geschichte. Eine systematische Untersuchung zu Heideggers Schrift „Vom Wesen der Wahrheit“, Frankfurt a. M. 2002, bes. §§ 4 – 16. 226 Vgl. Neumann: Sein des Menschen, Ethos und Freiheit in Martin Heideggers „Brief über den ,Humanismus‘ “ und Sein und Zeit, in: Heidegger und der Humanismus (HeideggerJahrbuch 10), S. 102 – 118; Novák, Alesˇ : Geschick der Freiheit, in: Heidegger Studies 34 (2018), S. 191 – 205.

§ 31 Ausblick: Wahrheit und Freiheit auf dem Weg zum Ereignis-Denken

159

schehnis der Wahrheit.227 Es kann hier jedoch nicht auf das seinsgeschichtliche oder Ereignis-Denken eingegangen werden, sondern nur ein Ausblick auf die bereits erwähnte Vorlesung „Vom Wesen der menschlichen Freiheit“ vom Sommersemester 1930, die der Umbruchszeit zugehört, gegeben werden. Auf die geplante, aber nicht mehr zur Ausführung gelangte Umarbeitung von „Sein und Zeit“ wurde bereits in § 1 hingewiesen. Heidegger erörtert in dieser Vorlesung von 1930 das Wesen der menschlichen Freiheit im Durchgang durch eine Interpretation von Immanuel Kants kosmologischem (theoretischem) Freiheitsbegriff in der „Kritik der reinen Vernunft“ und seinem praktischen Freiheitsbegriff in der „Kritik der praktischen Vernunft“.228 Ein entscheidender Satz dieser Vorlesung lautet: „Das Wesen der Freiheit kommt erst dann eigentlich in den Blick, wenn wir sie als Grund der Möglichkeit des Daseins suchen, als dasjenige, was noch vor Sein und Zeit liegt.“229

Der Mensch ist in seiner Existenz „nur ein Verwalter von Freiheit“, die „selbst in ihrem Wesen ursprünglicher als der Mensch“ ist.230 Während in der Daseinsanalytik von „Sein und Zeit“ der ermöglichende Grund des Daseins in seiner uneigentlichen oder in seiner eigentlichen Erschlossenheit (Freisein) die Einheit der ursprünglichen Zeit ist, gründet jetzt die Zeit in der Freiheit. Wie es am Schluss der Vorlesung heißt, ist die Offenbarkeit des Seienden, ob in theoretischer oder praktischer Erkenntnis, nur möglich, wenn sich das in der ursprünglichen Freiheit gründende Seinsverständnis im Vorhinein Verbindlichkeit zugesteht. Zugestehen von Verbindlichkeit aber ist ursprüngliches Sichbinden, kantisch gesprochen, „sich ein Gesetz geben“.231 In der genannten Vorlesung wird auf „das Kernproblem der Möglichkeit der Wahrheit als Entborgenheit“232 nur verwiesen. Der Wesenszusammenhang zwischen Wahrheit und Freiheit wird deutlicher in dem etwa gleichzeitig mit der Vorlesung erstmals ausgearbeiteten Vortrag „Vom Wesen der Wahrheit“. Der Vortrag wird in seiner endgültig veröffentlichten Fassung von 1943 mit Recht als ein Text betrachtet, in dem sich die seinsgeschichtliche Erfahrung vom Wesen des Seins (Seyns) Bahn zu brechen beginnt. Heidegger hat allerdings den erstmals am 14. Juli 1930 in Karlsruhe gehaltenen Vortrag „Vom Wesen der Wahrheit“ mehrfach und teilweise umfangreich überarbeitet. Die insgesamt acht Aus- bzw. Umarbeitungsstufen wurden vom Verfasser, der die Texte edierte, rekonstruiert, und die verschiedenen Versionen sind nun auf ca. 100 Seiten aufgenommen in den Band 80.1 der Martin Heidegger Gesamt227

Die Frage nach der Technik (1953), in: Vorträge und Aufsätze (GA 7), S. 5 – 36, hier

S. 26. 228 Zu Heideggers Interpretation der praktischen Vernunft in dieser Vorlesung, die über das „Kantbuch“ (GA 3) von 1929 hinausgeht, vgl. Schalow, Frank: Toward a Concrete Ontology of Practical Reason in Light of Heidegger’s Lectures on Human Freedom, in: Journal of the British Society for Phenomenology 17 (1986), S. 155 – 165. 229 Vom Wesen der menschlichen Freiheit (GA 31), § 14, S. 134. 230 Vom Wesen der menschlichen Freiheit (GA 31), S. 134. 231 Vom Wesen der menschlichen Freiheit (GA 31), § 30, S. 302 f. 232 Vom Wesen der menschlichen Freiheit (GA 31), S. 135.

160

3. Kap.: Der Freiheitsbegriff bei Heidegger

ausgabe.233 Bereits zu Beginn der ersten Fassung vom Juli 1930 stellt Heidegger die grundsätzliche Aufgabe der Wahrheitsfrage heraus, nämlich die Aufklärung des allgemeinsten Sinnes des Wesens von Wahrheit überhaupt.234 Die Genese des Textes bis zu der von Heidegger selbst veröffentlichten Endfassung kann hier auch nicht ansatzweise nachvollzogen werden.235 Es kann nur auf eine zentrale Textstelle des Vortrags „Vom Wesen der Wahrheit“ verwiesen werden, die sich in der endgültigen Fassung von 1943 findet und sowohl von Friedrich-Wilhelm von Herrmann als auch von Hartmut Tietjen eingehend erörtert wird. Von Herrmann schreibt: „Daß die daseinsmäßige Freiheit ihr eigenes Wesen aus dem ursprünglicheren Wesen der Wahrheit empfängt, ist ein deutlicher Hinweis auf den zweiten Ausarbeitungsweg der Wahrheitsfrage, auf den seinsgeschichtlichen oder ereignisgeschichtlichen Weg. In dieser gewandelten Blickbahn empfängt das daseinsmäßige Freisein sein eigenes Wesen aus dem ereignenden Zuwurf der Wahrheit des Seins, so, daß das Freisein selbst ein aus dem Zuwurf ereignetes ist, ein ereignetes Entwerfen der Wahrheit des Seins und ereignetes Offenbarwerdenlassen des Seienden.“236

Da die im Juli, Oktober und Dezember des Jahres 1930 von Heidegger gehaltenen und deutlich voneinander abweichenden drei Versionen des Vortrags „Vom Wesen der Wahrheit“ noch in die Umbruchszeit von 1928 bis 1931/32 fallen, ist es nicht überraschend, dass sich die im Hinblick auf des Ereignis-Denken interpretierte Textstelle erstmals in der umfangreichen Umarbeitung von Pfingsten 1940 (aufgenommen als „4. Version“) findet: „Der Hinweis auf den Wesenszusammenhang zwischen Richtigkeit [und] Freiheit bringt uns dahin, die Frage nach dem Wesen des Menschen in einer Richtung zu verfolgen, die uns die Erfahrung des verborgenen und einzigen Wesensgrundes des Menschen (des Da-seins) verbürgt, so zwar, daß sie uns zuvor in den ursprünglich wesenden Bereich der Wahrheit versetzt. Von hier aus zeigt sich aber auch: die Freiheit ist nur deshalb der Grund der inneren Möglichkeit der Richtigkeit, weil sie ihr eigenes Wesen aus dem ursprünglichen Wesen der einzig wesentlichen Wahrheit entnimmt.“237

In der von Heidegger selbst veröffentlichten Endfassung ist das letzte Wort des angeführten Zitates (von geringfügigen anderen sprachlichen Änderungen abgese233

Vorträge, Teil 1 (GA 80.1), S. 327 – 428. Erst die umfangreiche vorletzte Umarbeitung an Pfingsten 1940 kann als weitgehend identisch mit dem endgültig veröffentlichten Text von 1943 angesehen werden (vgl. die „Nachweise und Erläuterungen“ zu diesem Vortrag, in: Vorträge, Teil 1 (GA 80.1), S. 544 – 549). 234 Vgl. Vorträge, Teil 1 (GA 80.1), S. 329 f. 235 Einige Gesichtspunkte, aber nicht die wesentlichsten im Hinblick auf das EreignisDenken, hat Dirk Cürsgen in seiner Rezension des Vortragsbandes herausgestellt (Cürsgen, Dirk: Martin Heidegger, Vorträge. Teil 1: 1915 – 1932, hg. v. Günther Neumann (= Martin Heidegger Gesamtausgabe, Bd. 80.1. VI), Frankfurt a. M.: Klostermann 2016, in: Philosophisches Jahrbuch 125 (2018), S. 111 – 114, hier S. 112). 236 Herrmann, v.: Wahrheit – Freiheit – Geschichte, § 15, S. 108; vgl. auch Tietjen: Wahrheit und Freiheit, S. 227. 237 Vorträge, Teil 1 (GA 80.1), S. 407 – 428, hier S. 415 f. (Eckige Klammern vom Herausgeber).

§ 31 Ausblick: Wahrheit und Freiheit auf dem Weg zum Ereignis-Denken

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hen) noch prägnanter formuliert, nämlich „empfängt“ statt „entnimmt“.238 Der von Heidegger erst 1964 verfasste Rückblick mit dem Titel „Zum Einblick in die Notwendigkeit der Kehre“ bestätigt, dass das angeführte Zitat aus der vorletzten und letzten Fassung des Textes „Vom Wesen der Wahrheit“ einen deutlichen Hinweis auf den zweiten Ausarbeitungsweg der Wahrheitsfrage darstellt: „Dabei stellte sich die Frage, ob die Zeit als Horizont des Entwurfs von Anwesenheit sich aus der und durch die Zeitlichkeit des Da-seins bestimme, oder ob diese als Zeit umgekehrt ihre Bestimmung aus ,der Zeit‘ qua Entwurfbereich von Anwesenheit empfange. Aus dieser beunruhigenden Frage ergab sich eine Situation des Denkens, in der dieses vor einen Sachverhalt sich gestellt sah, der dem Denken die Kehre abverlangte. Aber diese war nicht die Sache eines momentanen Aktes, der sich in einem ,Kehrt marsch!‘ erledigt – die Kehre wurde der Anlaß für ein langwieriges Unterwegs.“239

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Vom Wesen der Wahrheit, in: Wegmarken (GA 9), S. 177 – 202, hier S. 187. Zu eigenen Veröffentlichungen (GA 82), S. 399 – 403, hier S. 402 f. (Hervorhebung vom Verfasser). 239

Literaturverzeichnis Vorbemerkung Eigene Hervorhebungen (Kursivsetzung) in Zitaten werden als solche gekennzeichnet (Hervorhebung(en) vom Verfasser), ebenso Weglassungen von Hervorhebungen und andere Eingriffe des Verfassers. Alle Arten von Hervorhebungen in den Zitaten selbst werden durch Kursivsetzung wiedergegeben. Eigene Anmerkungen, Einschübe und Auslassungen in den Zitaten sind, wenn nicht anders vermerkt, durch [eckige Klammern] gekennzeichnet (Auslassung von mehreren Wörtern durch […], von nur einem Wort durch [..]). Alle Übersetzungen aus dem Französischen und dem Lateinischen stammen, sofern kein ausdrücklicher Verweis auf eine herangezogene Übersetzung gegeben wird, vom Verfasser.

1. Gottfried Wilhelm Leibniz a) Akademie-Ausgabe Alle Texte von Leibniz werden, sofern möglich, nach der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin begonnenen und zuletzt von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Wissenschaften in Göttingen im Akademie Verlag in Berlin herausgegebenen Ausgabe der „Sämtlichen Schriften und Briefe“ von Gottfried Wilhelm Leibniz zitiert (A = Akademie-Ausgabe). Als zusätzliche Quelle werden die von Martin Heidegger in der Regel verwendeten Ausgaben genannt. Leibniz’ „Essais de Theodicée sur la Bonté de Dieu, la liberté de l’Homme, et l’origine du mal“ (1710) (abgekürzt: Theod. mit Angabe des Teils (Partie) in römischen Ziffern) werden nach Band VI der von Carl Immanuel Gerhardt herausgegebenen „Philosophischen Schriften“ (Berlin: Weidmann 1885) von Gottfried Wilhelm Leibniz (GP VI) zitiert. Es werden die folgenden Reihen und Bände der Akademie-Ausgabe herangezogen: A I 15: Erste Reihe: Allgemeiner politischer und historischer Briefwechsel, Fünfzehnter Band: Januar – September 1698, hrsg. vom Leibniz-Archiv der Niedersächsischen Landesbibliothek Hannover, Berlin: Akad.-Verl. 1998. A I 18: Erste Reihe: Allgemeiner politischer und historischer Briefwechsel, Achtzehnter Band: Januar – August 1700, hrsg. vom Leibniz-Archiv der Niedersächsischen Landesbibliothek Hannover, Berlin: Akad.-Verl. 2005. A II 1: Zweite Reihe: Philosophischer Briefwechsel, Erster Band: 1663 – 1685, (2. Aufl.) hrsg. von der Leibniz-Forschungsstelle der Universität Münster, 2., neubearb. und erw. Aufl., Berlin: Akad.-Verl. 2006.

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A II 2: Zweite Reihe: Philosophischer Briefwechsel, Zweiter Band: 1686 – 1694, hrsg. von der Leibniz-Forschungsstelle der Universität Münster, Berlin: Akad.-Verl. 2009. A IV 7: Vierte Reihe: Politische Schriften, Siebenter Band: 1697 – Anfang 1699, hrsg. von der Leibniz-Editionsstelle Potsdam der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin: Akad.-Verl. 2011. A VI 1: Sechste Reihe: Philosophische Schriften, Erster Band: 1663 – 1672, hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Darmstadt: Otto Reichl 1930. A VI 2: Sechste Reihe: Philosophische Schriften, Zweiter Band: 1663 – 1672, hrsg. von der Leibniz-Forschungsstelle der Universität Münster, Berlin: Akad.-Verl. 1966. A VI 3: Sechste Reihe: Philosophische Schriften, Dritter Band: 1672 – 1676, hrsg. von der Leibniz-Forschungsstelle der Universität Münster, Berlin: Akad.-Verl. 1980. AVI 4: Sechste Reihe: Philosophische Schriften, Vierter Band: 1677 – Juni 1690, hrsg. von der Leibniz-Forschungsstelle der Universität Münster, Berlin: Akad.-Verl. 1999. Teil A: S. 1 – 1002, Teil B: S. 1003 – 1955, Teil C: S. 1957 – 2949. A VI 5: Sechste Reihe: Philosophische Schriften, Fünfter Band: Juli 1690 – 1703, (Vorausedition) hrsg. von der Leibniz-Forschungsstelle der Universität Münster, Vorausedition, abrufbar im Internet unter: https://leibnizedition.de (Stand: November 2018). A VI 6: Sechste Reihe: Philosophische Schriften, Sechster Band: Nouveaux Essais, hrsg. von der Leibniz-Forschungsstelle der Universität Münster, Berlin: Akad.-Verl. 1962.

b) Sonstige Schriften von Leibniz C: Opuscules et fragments inédits de Leibniz, extraits de manuscrits de la Bibliothèque royale de Hanovre par Louis Couturat, Paris: Alcan 1903 (Unveränderter reprografischer Nachdruck: Hildesheim: Olms 1966). Dutens: Gottfried Wilhelm Leibniz: Opera Omnia, nunc primum collecta, in classes distributa, praefationibus et indicibus exornata, studio Ludovici Dutens, Tom. I–VI, Hildesheim/Zürch/ New York: Olms 1989 (Nachdruck der Ausgabe Genf 1768). FC: Leibniz: Nouvelles lettres et opuscules inédits, precédés d’une introduction par Louis Alexandre Foucher de Careil, Hildesheim/New York: Olms 1971 (Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Paris 1857). GP: Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, hrsg. von C. I. Gerhardt, Bd. I–VII, Berlin: Weidmann 1875 – 1890 (Unveränderter Nachdruck: Hildesheim/New York: Olms 1978). Grua: G. W. Leibniz: Textes inédits d’après les manuscrits de la Bibliothèque provinciale de Hanovre, publiés et annotés par Gaston Grua, Vol. I–II, Paris: Presses universitaires de France 1948 (Bibliothèque de philosophie contemporaine). Leibnitz’s Deutsche Schriften, hrsg. von G. E. Guhrauer, Bd. I–II, Berlin: Veit 1838 – 1840. G. W. Leibniz: Principes de la nature et de la grâce fondés en raison, Principes de la philosophie ou Monadologie, publiés intégralement d’après les manuscrits de Hanovre, Vienne et Paris et

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c) Zweisprachige Ausgaben und Übersetzungen Leibniz, Gottfried Wilhelm: Philosophische Schriften, hrsg. und übersetzt von Hans Heinz Holz, Herbert Herring [u. a.], Bd. I–V, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1959 – 1992: – Band I: Kleine Schriften zur Metaphysik/Opuscules metaphysiques, hrsg. und übersetzt von Hans Heinz Holz, Darmstadt 1965. – Band II, Erste Hälfte und Zweite Hälfte: Die Theodizee von der Güte Gottes, der Freiheit des Menschen und dem Ursprung des Übels/Essais de Théodicée sur la Bonté de Dieu, la liberté de l’homme et l’origine du mal, hrsg. und übersetzt von Herbert Herring, Darmstadt 1985. – Band III, Erste Hälfte und Zweite Hälfte: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand/Nouveaux Essais sur l’Entendement Humain, Buch I–II und Buch III–IV, hrsg. und übers. von Wolf von Engelhardt und Hans Heinz Holz, Darmstadt 1959 – 1961. – Band IV: Schriften zur Logik und zur philosophischen Grundlegung von Mathematik und Naturwissenschaft, hrsg. und übersetzt von Herbert Herring, Darmstadt 1992. – Band V (Zweite Hälfte): Briefe von besonderem philosophischen Interesse, Zweite Hälfte: Die Briefe der zweiten Schaffensperiode, hrsg. und übersetzt von Werner Wiater, Darmstadt 1989. Leibniz, Gottfried Wilhelm: Philosophische Werke in vier Bänden in der Zusammenstellung von Ernst Cassirer, Neuausgabe, Hamburg: Meiner 1996: – Band 1 und Band 2: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, übersetzt von Artur Buchenau, mit Einleitung und Anmerkungen hrsg. von Ernst Cassirer, Teil I (Philosophische Bibliothek, Bd. 496) und Teil II (Philosophische Bibliothek, Bd. 497). – Band 3: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, übersetzt, mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Ernst Cassirer (Philosophische Bibliothek, Bd. 498). – Band 4: Versuche in der Theodicée über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Artur Buchenau (Philosophische Bibliothek, Bd. 499). Leibniz, Gottfried Wilhelm: Confessio philosophi. Das Glaubensbekenntnis des Philosophen. Ein Dialog, Kritische Ausgabe mit Einleitung, Übersetzung, Kommentar von Otto Saame, 2., durchges. Aufl., Frankfurt a. M.: Klostermann 1994 (Klostermann-Texte Philosophie). Leibniz, Gottfried Wilhelm: Fragmente zur Logik, ausgewählt, übersetzt und erläutert von Franz Schmidt, Berlin: Akad.-Verl. 1960 (Philosophische Studientexte).

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d) Briefwechsel (zweisprachig und Übersetzungen) Leibniz, Gottfried Wilhelm: Der Briefwechsel mit Antoine Arnauld, französisch-deutsch, hrsg. und übersetzt von Reinhard Finster, Hamburg: Meiner 1997 (Gottfried Wilhelm Leibniz, Philosophischer Briefwechsel, Bd. 1). Leibniz, Gottfried Wilhelm: Der Briefwechsel mit Bartholomäus Des Bosses, übersetzt, hrsg. und mit einer Einleitung, Anmerkungen und Registern versehen von Cornelius Zehetner, mit einem Konspekt von Michael Benedikt, Hamburg: Meiner 2007 (Philosophische Bibliothek, Bd. 585). Der Leibniz-Clarke Briefwechsel, übersetzt und hrsg. von Volkmar Schüller, Berlin: Akad.Verl. 1991 (Philosophiehistorische Texte).

e) Leibniz-Bibliographie und weitere Hilfsmittel Eine laufend aktualisierte Forschungsbibliographie zu Leibniz wird an der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek in Hannover erstellt (im Internet über: http://www.leibniz-bibliogra phie.de oder https://www.gwlb.de). Hilfsmittel zur Leibniz-Edition (u. a. Konkordanzen zwischen der Akademie-Ausgabe und älteren Leibniz-Ausgaben) sind im Internet verfügbar über: https://leibnizedition.de (Stand: 31. März 2019).

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2. Martin Heidegger a) Gesamtausgabe Die Schriften Martin Heideggers werden nach der Martin Heidegger Gesamtausgabe (GA mit Bandzahl in arabischen Ziffern) zitiert (Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 1975 ff.). Die Bezeichnung „GA“ bezieht sich ausschließlich auf die „Martin Heidegger Gesamtausgabe“. Die Seitenangabe von „Sein und Zeit“ erfolgt sowohl nach nach Band 2 der Gesamtausgabe (Frankfurt a. M. 1977) als auch (in nachgestellten Klammern) nach der Einzelausgabe (19. Aufl., unveränd. Nachdr. der 15., an Hand d. Gesamtausg. durchges. Aufl. mit d. Randbemerkungen aus d. Handex. d. Autors im Anh., Tübingen: Niemeyer 2006). Die Seitenzahlen der Einzelausgabe von „Sein und Zeit“ sind als Marginalien auch in die Gesamtausgabe (Bd. 2) aufgenommen. Eine jährlich aktualisierte Zusammenstellung („Update“) der Gesamtausgabe (einschließlich Übersetzungen) erscheint in der Zeitschrift „Heidegger Studies/ Heidegger Studien /Etudes Heideggeriennes“, zuletzt in: Heidegger Studies 35 (2019), S. 265 – 283. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften (1910 – 1976) GA 2: Sein und Zeit (1927), hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a. M. 1977. GA 3: Kant und das Problem der Metaphysik (1929), hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 2010. GA 5: Holzwege (1935 – 1946), hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 2003. GA 6.2: Nietzsche. Bd. II (1939 – 1946), hrsg. von Brigitte Schillbach, Frankfurt a. M. 1997. GA 7: Vorträge und Aufsätze (1936 – 1953), hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a. M. 2000. GA 8: Was heißt Denken? (1951 – 1952), hrsg. von Paola-Ludovika Coriando, Frankfurt a. M. 2002. GA 9: Wegmarken (1919 – 1961), hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 2004. GA 10: Der Satz vom Grund (1955 – 1956), hrsg. von Petra Jaeger, Frankfurt a. M. 1997. GA 11: Identität und Differenz (1949 – 1963), hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a. M. 2006. GA 14: Zur Sache des Denkens (1962 – 1964), hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a. M. 2007. GA 15: Seminare (1951 – 1973), hrsg. von Curd Ochwadt. 2., durchges. Aufl., Frankfurt a. M. 2005. II. Abteilung: Vorlesungen 1919 – 1944 Marburger Vorlesungen 1923 – 1928 GA 17: Einführung in die phänomenologische Forschung (Wintersemester 1923/24), hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, 2., unveränderte Aufl., Frankfurt a. M. 2006.

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GA 19: Platon: Sophistes (Wintersemester 1924/25), hrsg. von Ingeborg Schüßler, 2., durchges. Aufl., Frankfurt a. M. 2018. GA 20: Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs (Sommersemester 1925), hrsg. von Petra Jaeger, 3., durchges. Aufl., Frankfurt a. M. 1994. GA 21: Logik. Die Frage nach der Wahrheit (Wintersemester 1925/26), hrsg. von Walter Biemel, 2., durchges. Aufl., Frankfurt a. M. 1995. GA 23: Geschichte der Philosophie von Thomas von Aquin bis Kant (Wintersemester 1926/27), hrsg. von Helmuth Vetter, Frankfurt a. M. 2006. GA 24: Die Grundprobleme der Phänomenologie (Sommersemester 1927), hrsg. von FriedrichWilhelm von Herrmann, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1997. GA 26: Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz (Sommersemester 1928), hrsg. von Klaus Held, 3., durchges. Aufl., Frankfurt a. M. 2007. Freiburger Vorlesungen 1928 – 1944 GA 27: Einleitung in die Philosophie (Wintersemester 1928/29), hrsg. von Otto Saame und Ina Saame-Speidel, 2., durchges. Aufl., Frankfurt a. M. 2001. GA 28: Der deutsche Idealismus (Fichte, Schelling, Hegel) und die philosophische Problemlage der Gegenwart (Sommersemester 1929), hrsg. von Claudius Strube, 2., unveränderte Aufl., Frankfurt a. M. 2011. GA 29/30: Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit (Wintersemester 1929/30), hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 2004. GA 31: Vom Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung in die Philosophie (Sommersemester 1930), hrsg. von Hartmut Tietjen, 2., durchges. Aufl., Frankfurt a. M. 1994. GA 34: Vom Wesen der Wahrheit. Zu Platons Höhlengleichnis und Theätet (Wintersemester 1931/32), hrsg. von Hermann Mörchen, 2., durchges. Aufl., Frankfurt a. M. 1997. GA 39: Hölderlins Hymnen „Germanien“ und „Der Rhein“ (Wintersemester 1934/35), hrsg. von Susanne Ziegler, 3., unveränderte Aufl., Frankfurt a. M. 1999. GA 40: Einführung in die Metaphysik (Sommersemester 1935), hrsg. von Petra Jaeger, Frankfurt a. M. 1983. GA 41: Die Frage nach dem Ding. Zu Kants Lehre von den transzendentalen Grundsätzen (Wintersemester 1935/36), hrsg. von Petra Jaeger, Frankfurt a. M. 1984. GA 42: Schelling: Vom Wesen der menschlichen Freiheit (1809) (Sommersemester 1936), hrsg. von Ingrid Schüßler, Frankfurt a. M. 1988. GA 49: Die Metaphysik des deutschen Idealismus. Zur erneuten Auslegung von Schelling: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände (1809) (I. Trimester 1941/Seminar Sommersemester 1941), hrsg. von Günter Seubold, 2., durchges. Aufl., Frankfurt a. M. 2006. Frühe Freiburger Vorlesungen 1919 – 1923 GA 60: Phänomenologie des religiösen Lebens: 1. Einleitung in die Phänomenologie der Religion (Wintersemester 1920/21), hrsg. von Matthias Jung und Thomas Regehly; 2. Au-

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gustinus und der Neuplatonismus (Sommersemester 1921), hrsg. von Claudius Strube; 3. Die philosophischen Grundlagen der mittelalterlichen Mystik (Ausarbeitungen und Entwürfe zu einer nicht gehaltenen Vorlesung 1918/19), hrsg. von Claudius Strube, 2., überarb. Aufl., Frankfurt a. M. 2011. GA 61: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung (Wintersemester 1921/22), hrsg. von Walter Bröcker und Käte BröckerOltmanns, 2., durchges. Aufl. Frankfurt a. M. 1994. GA 62: Phänomenologische Interpretationen ausgewählter Abhandlungen des Aristoteles zur Ontologie und Logik (Sommersemester 1922). Anhang: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (Anzeige der hermeneutischen Situation). Ausarbeitung für die Marburger und die Göttinger Philosophische Fakultät (Herbst 1922), hrsg. von Günther Neumann, Frankfurt a. M. 2005. III. Abteilung: Unveröffentlichte Abhandlungen – Vorträge – Gedachtes GA 64: Der Begriff der Zeit (1924). Anhang: Der Begriff der Zeit. Vortrag vor der Marburger Theologenschaft Juli 1924, hrsg. von Friedrich-Wilhelm v. Herrmann, Frankfurt a. M. 2004. GA 65: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (1936 – 1938), hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. 3., unveränderte Aufl., Frankfurt a. M. 2003. GA 66: Besinnung (1938/39), hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a. M. 1997. GA 80.1: Vorträge. Teil 1: 1915 bis 1932, hrsg. von Günther Neumann, Frankfurt a. M. 2016. IV. Abteilung: Hinweise und Aufzeichnungen GA 82: Zu eigenen Veröffentlichungen, nach den Handschriften hrsg. von Friedrich-Wilhelm v. Herrmann, Frankfurt a. M. 2018. GA 83: Seminare: Platon – Aristoteles – Augustinus, hrsg. von Mark Michalski, Frankfurt a. M. 2012. GA 84.1: Seminare: Kant – Leibniz – Schiller. Teil 1: Sommersemester 1931 bis Wintersemester 1935/36, hrsg. von Günther Neumann, Frankfurt a. M. 2013. GA 86: Seminare: Hegel – Schelling, hrsg. von Peter Trawny, Frankfurt a. M. 2011. GA 88: Seminare (Übungen) 1937/38 und 1941/42: 1. Die metaphysischen Grundstellungen des abendländischen Denkens, 2. Einübung in das philosophische Denken, hrsg. von Alfred Denker, Frankfurt a. M. 2008.

b) Einzelausgaben Heidegger, Martin: Der Satz vom Grund, Pfullingen: Neske 1957. Heidegger, Martin: Sein und Zeit, 19. Aufl., unveränd. Nachdr. der 15., an Hand d. Gesamtausg. durchges. Aufl. mit d. Randbemerkungen aus d. Handex. d. Autors im Anh., Tübingen: Niemeyer 2006 (Seitenangabe nach dieser Ausgabe in Klammern und nach Bd. 2 der Gesamtausgabe).

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d) Mitschriften zu Heideggers Seminaren Hallwachs, Wilhelm: Mitschrift (189 Bl.) mit der Überschrift: Seminar 35/36 j Leibniz u. d. deutsche Idealismus (Heidegger-Archiv der Handschriftenabteilung des Deutschen Literaturarchivs in Marbach am Neckar: A: Heidegger, Hallwachs 10; Zugangsnummer: 84.2129). Hühn, Lore/Jantzen, Jörg (Hrsg.): Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2010 (Schellingiana, Bd. 22).

e) Register, Indizes und Konkordanzen zu Heideggers Schriften Bast, Rainer A./Delfosse, Heinrich P.: Handbuch zum Textstudium von Martin Heideggers „Sein und Zeit“, Bd. 1: Stellenindizes, Philologisch-kritischer Apparat, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 1980. Index zu Heideggers „Sein und Zeit“, zusammengestellt von Hildegard Feick, 4., neubearb. Aufl. von Susanne Ziegler, Tübingen: Niemeyer 1991. Jaran, François/Perrin, Christophe: The Heidegger Concordance, foreword by Theodore Kisiel, Vol. 1 – 3, London/New Delhi/New York/Sydney: Bloomsbury 2013. Unruh, Patrick: Register zur Martin Heidegger Gesamtausgabe, Frankfurt a. M.: Klostermann 2017.

f) Allgemeine Heidegger-Bibliographien Becht, Michael/Raffelt, Albert: Martin-Heidegger-Bibliographie: Sekundärliteratur (Zeitschriftenaufsätze, Buchbeiträge, Online-Ressourcen) 2000 ff. (abrufbar im Internet unter: https://freidok.uni-freiburg.de/data/2850/) (Stand 31. März 2019: Bibliographie 2000 – 2009). Caputo, Annalisa: Vent’anni di recezione heideggeriana (1979 – 1999). Una bibliografia, Milano: Angeli 2001 (Collana di filosofia).

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3. Enzyklopädien, Handbücher, Wörterbücher, Die Bibel (Vulgata) Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Gesamtausgabe, im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz [u. a.], Lizenzausgabe der Katholischen Bibelanstalt, Stuttgart, vollst. durchges. und überarb. Ausg., 1. Aufl., Stuttgart: kbw Bibelwerk 2016. [Die Bibel:] Das Neue Testament. Interlinearübersetzung griechisch-deutsch, griechischer Text nach der Ausgabe von Nestle-Aland (26. Aufl.), übersetzt von Ernst Dietzfelbinger, 3., vom Übers. korr. Aufl., Neuhausen-Stuttgart: Hänssler 1989. Biblia Sacra iuxta Vulgatam versionem, adiuvantibus B. Fischer [et al.], recensuit et brevi apparatu critico instruxit Robert Weber, editionem quintam emendatam retractatam praeparavit Roger Gryson, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 2007. Dictionnaire de théologie catholique, commencé sous la direction de A. Vacant, E. Mangenot, continué sous celle de É. Amann, Tom. I–XV, Paris: Libraire Letouzey et Ané 1899 – 1950. Enzyklopädie Philosophie, in drei Bänden mit einer CD-ROM, unter Mitwirkung von Dagmar Borchers [u. a.] hrsg. von Hans Jörg Sandkühler, Hamburg: Meiner 2010. Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie (8 Bde.), 2., neubearb. und wesentl. erg. Aufl., unter ständiger Mitwirkung von Gottfried Gabriel [u. a.] in Verbindung mit Martin Carrier hrsg. von Jürgen Mittelstraß, Stuttgart/Weimar (ab Bd. 6: Stuttgart): Metzler 2005 – 2018.

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Personenverzeichnis Die in den Anmerkungen (Fußnoten) der jeweiligen Seite genannten Personen sind in der Nennung der Seitenzahlen eingeschlossen. Die Namen von Autoren, die sich auf einen eher weiterführenden Literaturhinweis beziehen, sind in der Regel nicht berücksichtigt, da sie in der alphabetischen Ordnung des Literaturverzeichnisses leicht aufzufinden sind. Adam (biblischer) 54, 56, 71, 111 Alexander der Große 55 Arendt, Hannah 10, 23, 149 – 151 Aristoteles (aristotelisch, Aristotelisch) 9, 55, 76 f., 83, 85 f., 92, 94, 97, 101, 106, 116, 158 Arnauld, Antoine 54, 57, 59 f., 98, 101 Atomisten 124 Augustinus von Hippo, Aurelius (augustinisch, Augustinisch) 67, 69, 97, 102, 116, 118, 121, 123, 129 Axelos, Christos 16 f., 25 f., 30, 46 f. 54 f., 65 Bahnsen, Julius 72 Balestra, Antonella 110 f., 120, 122 Bayle, Pierre 15, 40, 49 f., 52, 74 f. Beaufret, Jean 91 Beck, Ori 14, 54 Blochmann, Elisabeth 20, 96 Bollnow, Otto Friedrich 23, 142 Bosses, Bartholomäus des s. Des Bosses Bourguet, Louis 27 Buchenau, Artur 49, 64 Buchheim, Thomas 13, 35, 48, 77, 126 Bultmann, Rudolf 20 Buridan, Johannes (Esel des) 86 Caesar, Julius 55, 57, 61 f. Carrier, Martin 13 , 108 Cartesianer 101 Casper, Bernhard 19 Cassirer, Ernst 27, 49, 72, 81 Chrysipp(os) 16, 124 Cicero, Marcus Tullius 16 Clarenbaldus von Arras 69

Clarke, Samuel 16, 31 f., 34, 37, 89, 107 Corti, C. Agustín 97 Cristin, Renato 34 Cürsgen, Dirk 160 David (König, biblischer) 121 Demokrit (Demokriteer) 124 Des Bosses, Bartholomäus 52 Descartes, René 17, 23, 41, 49, 114 – 118, 122 f., 129 Dilthey, Wilhelm 26 f., 105, 130, 151 Diogenes Laertius 9 Duns Scotus, Johannes 74 Eimer, Martin 124 Epiktet 124 Epikur 26, 63 f., 66, 124 Fehér, István M. 157 f. Feick, Hildegard 138 Figal, Günter 131, 134 – 137, 144 Fink, Eugen 92 Fischer, Norbert 97, 132, 142 Fonseca, Pedro da (Petrus) 122 f. Frankfurt, Harry G. 14 Fried, Johannes 124 f. Gadamer, Hans-Georg 18, 92 f. Galilei, Galileo 28 f., 32, 89, 128 Geyer, Christian 124 – 126 Gloy, Karen 68 f., 105, 108 Goethe, Johann Wolfgang 148, 151 f. Gondek, Hans-Dieter 132 Griffin, Michael V. 111, 118 Grimm, Jacob und Wilhelm 10 f.

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Personenverzeichnis

Gualdana, Claudia 20 Guhrauer, Gottschalk Eduard 72 f., 89 Haggard, Patrick 124 Hallwachs, Wilhelm 41, 97, 103, 106 f. Hansch, Michael Gottlieb 102 Harries, Karsten 140 Hartmann, Eduard von 72 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 9, 19, 25, 91 f., 101 Helting, Holger 43, 150 Heraklit 101 Herring, Herbert 64 Herrmann, Friedrich-Wilhelm von 20, 68, 97, 99, 132, 134, 139 f., 142, 146, 158, 160 Hirsch, Eike Christian 27 Hobbes, Thomas 29 Hölderlin, Friedrich 41 Holz, Hans Heinz 43, 71, 107 Holze, Erhard 42, 67 Homer 10, 30 Hume, David 13 Husserl, Edmund 28 f., 47, 91, 99, 105, 127 f., 132 Irlenborn, Bernd 24, 153 – 157 Jablonski, Daniel Ernst 29 Jacobi, Klaus 82 Jäger, Christoph 32, 44, 107, 112 f., 118 Janich, Peter 128 Janke, Wolfgang 56, 60, 62, 72, 103 f., 108 Jaspers, Karl 151 Jesuit(en) (Jesuitenorden) 12, 17, 110, 122 f. Jonas, Hans 152 Jordan, Pascual 13 Jupiter (s. a. Zeus) 65 Juvenal (Decimus Iunius Iuvenalis) 17 Kant, Immanuel (kantisch) 11, 17, 19, 25 f., 90, 92, 101, 127, 149, 157 – 159 Kegiliter (s. a. David) 121 Keil, Geert 13 f. Kepler, Johannes 33 Kierkegaard, Søren 142, 144 Kisiel, Theodore 20 f. Kripke, Saul Aaron 14 Kutschera, Franz von 126 f.

Laktanz (Lucius Cae(ci)lius Firmianus) 63 f., 66 Lalanne, Arnaud 30 f., 33 f., 110 Laplace, Pierre Simon Marquis de 89, 107 f. Lee, Yu-Taek 137 f., 145 Les´niewski, Norbert 152 Leukipp(os) 124 Lévinas, Emmanuel 19 Lewis, David Kellog 14 Libet, Benjamin (Libet-Experiment) 13, 124 f. Liske, Michael-Thomas 15, 28, 30, 36 f., 42, 44, 55, 59, 76, 79, 84, 89 f., 108 – 111, 121 Locke, John 17, 22, 81 f. Long, Anthony Arthur 124 Lotz, Johannes Baptist 106 Luckner, Andreas 96, 99, 144, 147, 156 Lukrez (Titus Lucretius Carus) 124 Maaßen, Jens 39, 58 f. Mahnke, Dietrich 39 Mainländer, Philipp 72 Mani (Manichäismus) 67 Marx, Werner 56, 152 Massa, Manuela 117 Materialist(en) (Materialismus) 126 f. Metzinger, Thomas 126 Mittelstraß, Jürgen 13 f. Molanus, Gerhard Wolter 59, 67 f. Molina, Luis de (Molinismus, Molinisten, molinistisch) 12, 23, 110, 112, 118 – 123 Müller, Max 87, 109 Nausiphanes 124 Neumann, Günther 11, 13, 15 f., 18 f., 29, 32 f., 37, 53, 63, 68, 96, 104 f., 128, 136, 141, 158 Newton, Isaac 31 Nietzsche, Friedrich 72 Nikolaus von Kues 68 Pallas (Athene) (Göttin, Tochter Jupiters) 38, 65 f. Parmenides 18, 30, 68, 101 Pascal, Blaise 107 Pauen, Michael 126, 137 Peirce, Charles Sanders 13

Personenverzeichnis

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Pelagius (Pelagianismus, Pelagianer, Semipelagianer) 121 Pindar 10 Platon (Platonisch, Platoniker, Platonismus) 9, 19, 28, 38, 68 f., 93, 158, Pöggeler, Otto 18 Popper, Karl Raimund 13 Poser, Hans 15, 31, 62, 68, 70, 72, 78 f., 81, 89 f., 102, 104, 110 Prinz, Wolfgang 11, 125 f.

Sokrates 112 Sophie Charlotte, Königin in Preußen (1668 – 1705) 15 Spinoza, Baruch (Benedictus) de (Spinozismus, spinozistisch) 21, 26 – 30, 65, 75 f., 84 Stein, Edith 111 f. Stekeler-Weithofer, Pirmin 28, 65 Stoiker 28, 124 Straton von Lampsakos 29

Richter, Ewald 106 Ringleben, Joachim 142 Robinet, André 12, 41 Rombach, Heinrich 55 f. Ropohl, Heinrich 77 f., 84, 102 Roth, Gerhard 11, 125 – 128

Tengelyi, László 33, 42 f., 132, 157 Theodorus s. Pallas Thierry von Chartres 69 Thomas von Aquin 23, 42, 67, 71, 83, 85, 111 – 113, 115 Thomé, Martin Michael 138 f., 152 Thomisten 121 Tietjen, Hartmut 158, 160 Tugendhat, Ernst 14

Saame, Otto 28, 30 f., 33, 61 Sakai, Kiyoshi 18, 96 Sarpedon (aus Homers Ilias) 30 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 21, 35 f., 142 Schepers, Heinrich 39 Schiller, Friedrich 148 Schirach, Ferdinand von 156 Schlick, Moritz 13 Schlüter, Jochen 18 Schmidt, Stefan W. 134, 136 – 140, 145, 147 f. Schockenhoff, Eberhard 128 Scholastiker (Scholastik, Spätscholastik, scholastisch) 17, 32, 36, 55, 83, 114, 123 Schopenhauer, Arthur 72 Schüßler, Ingeborg 145 Sedley, David Neil 124 Seneca, Lucius Annaeus 41 Sextus s. Pallas Sextus Empiricus 9 Singer, Peter 127 Singer, Wolf 11, 125 f. Sitter, Beat 135, 145 f. Skinner, Burrhus Frederic 127

Unruh, Patrick 138 Vetter, Helmuth 47, 94, 99, 131, 140, 143 Volder, Burchard de 100 f. Vollmer, Gerhard 108, 128 Voltaire 13, 90 Vorsokratiker 18 Watanabe, Jiro 148 Wedderkopf, Magnus 75 Wingert, Lutz 125, 127 f. Wittgenstein, Ludwig 128 Wulff, Agnes 24, 125, 147 f., 151, 153, 158 Xenokrates 9 Yorck von Wartenburg, Paul Graf 130 Zehetner, Cornelius 106 Zenon von Kition 124 Zeus (s. a. Jupiter) 30

Sachwortverzeichnis Die in den Anmerkungen (Fußnoten) der jeweiligen Seite genannten Sachworte sind in der Nennung der Seitenzahlen eingeschlossen. Die Überschriften und die Literaturhinweise sind in der Regel nicht berücksichtigt. Die relevantesten Abweichungen bzw. verwandte begriffliche Prägungen sind in Klammern wiedergegeben, Querverweise durch s. (siehe) oder s. a. (siehe auch). Bei Leibniz werden in der Regel nur die deutschen Begriffe genannt, die wichtigsten französischen und lateinischen Termini können dem unmittelbaren Textzusammenhang der genannten Stellen entnommen werden, vor allem den in fast allen Fällen aufgenommenen Originalzitaten. Allmacht, göttliche (Gottes) (allmächtig) (s. a. Macht) 14, 16, 66, 90 Allwissenheit (Allweisheit), göttliche (Gottes, des Schöpfers) (allwissend) 14, 55, 57, 66, 88 – 90, 112 Alternative(n) (der Wahl, möglicher Welten) (s. a. Möglichkeit(en), Welt(en)) 15, 38, 84, 136 Angst (Sichängsten, sich ängstend) 130, 134 f., 141 – 143, 145, 155 animal rationale (cogitans) (s. a. Vernunftwesen) 22, 41, 49, 83, 129 Anstrebung ((An)streben, (an)strebend) (s. a. Drang, Neigung, propensio) 27, 83, 97 – 100 Anwesenheit 97, 106, 161 – beständige (s. a. Ewigkeit, Gegenwart) 56, 104 Atheismus, methodologischer (a-theistisch) 132 Befindlichkeit (Grundbefindlichkeit) (s. a. Stimmung(en)) 132, 141 Be(-)freiung (befreien(d)) (s. a. Freiheit, negative) 9, 132, 134 f., 140, 143 – 145, 149 Begrenzung (der Geschöpfe) (Begrenztheit) (s. a. Endlichkeit) 68 f., 115 Begriff (notio) – individueller (individuierter, individua) (individueller Substanzen) 53 f., 58, 60, 110 f. – vollkommen erkannter 22, 50 f., 53, 56

– vollkommener 53, 57 – vollständig bestimmter (determinierter) 56 – vollständiger (completa) 53, 55, 58, 66 Bewusstsein (Selbstbewusstsein, (selbst)bewusst) 13, 25 f., 46, 49, 59, 77, 98, 117, 123, 125 f., 128 Böses (böse) (s. a. Übel, Sünde(n)) 25, 65, 67 f., 72 – 74, 77, 111, 153, 155 Determinismus (Determination, determiniert, deterministisch (s. a. Nezessitarismus, Nötigung, Notwendigkeit) 13 f., 26, 28, 30, 32, 36, 44 – 46, 58, 62, 105, 107, 109 – 111, 124, 126 Drang (s. a. Anstrebung, Neigung, propensio) 96, 99 f., 101 – 103 Eigentlichkeit (eigentlich) (s. a. Uneigentlichkeit, Verfallen) 19, 22, 83, 97, 124, 129 – 137, 139 – 145, 147, 149 – 153, 158 f. – echte und unechte 148 f. Einfaches (einfach) 27, 95, 98, 100 f. Einheit (Einssein, Eines, Einigen(des), unum) 52 f., 100 – 103, 159 – der Substanz 101 – einigende (einheitgebende) 23, 95, 101 – 103 – universale 55 – ursprüngliche(s) 100 f., 142 – wahre (wahrhafte) 52 f., 101 Empfindung s. Perzeption(en)

Sachwortverzeichnis Endlichkeit (Endlichsein, endlich) (s. a. Begrenzung, Unvollkommenheit) 48, 56, 68 f., 105, 115, 133, 156 f. Entelechie (Telos, t]kor) (s. a. Zweckursachen) 97, 99 f., 106 Entscheidung(en) (Entscheiden) (s. a. Wahl) 14, 46, 51, 59, 80, 87, 110, 123, 126, 135 – bewusste 13, 125 – freie (s. a. Freiheit) 13, 60, 63, 66, 84, 121 – moralische (sittliche) 84, 86 Entscheidungsfrage 82 Entscheidungsvermögen (freies) 120 Entschlossenheit (des Daseins) (Entschluss, entschlossen) 135, 139, 141, 146 – 149, 151 f. Entschluss (Dekret) 86 – Gottes (göttliches) 45, 59 f., 66, 120 Entwurf (Entwerfen, entwerfen(d)) 133, 138, 140, 145, 147, 156 f., 161 Ereignis-Denken (seinsgeschichtliches Denken, ereignisgeschichtlich) 18 f., 24, 34, 95 f., 102, 145, 159 f. Erinnerung (s. a. Gedächtnis) 98 f. Erkennen 25, 117 Erkenntnis – absolute (absolut sichere) 26, 32, 42 – deutliche 75, 86 f. – endliche 43 – göttliche (Gottes) 23, 42, 110, 122 – historische 92 – philosophische 92 – sinnliche 112 – theoretische oder praktische 158 – vollkommen(st)e 87, 122 Erschlossenheit (des Daseins) (erschlossen) 63, 129, 138 – 141, 145, 152, 159 Essentialismus (essentialistisch) 22, 58 f. essentialiter (s. a. Wesen) 68 Essenz(en) (essentia) 31, 63 – 65 Ewigkeit (Ewiges, ewig, !e_) 60, 63, 65 f., 68, 97, 104, 131 Existenz 53, 59, 62 – 65, 70, 112 – als Sorge (des Daseins) (s. a. Eigentlichkeit, Uneigentlichkeit) 139 f. – der besten Welt (Optimum, Maximum) 36 f. – der Monaden 28 – Gottes (notwendige) 30 f.

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– möglicher Welten 21 Existenzen (Existentien) 50, 62, 65, 111 Existenzial(ien) 133, 136, 138 – 141, 145 existenziell 136, 139, 143 – 147, 154, 157 Fatum (Fatalismus, fatalistisch) 16, 46, 60, 62 Fensterlosigkeit (ohne Fenster) (der Monaden) 98, 105 Freiheit (Freiheitsbegriff(e)) (s. a. libertas) – angeborene 120 – (beide) Descartes’ 23, 114, 116 – 118, 122 f. – des Geistes (im Geist, Geistesfreiheit) 48, 80 f., 87 – dezisionistischer 17 – endliche 61 – Entscheidungsfreiheit (s. a. Entscheidung) 48, 60 f., 74, 76 f., 79 f., 84, 115 f., 119, 121 – existenziale 132, 136, 139, 145 f. – existenzial-ontologischer 21 – existenzielle (ontische) 146 – faktische 141 – göttliche (Gottes, bei Gott) 22, 35, 51, 61, 74, 92, 110 – Handlungsfreiheit (handlungstheoretisch) 11, 13, 79 f. – höchste 74, 84 – indifferente s. Indifferenz, Willkür – individuelle 10 – menschliche (versus göttliche, Gott) 22, 35, 43, 47, 50 f., 73 f., 84, 118, 120 – menschliche (versus Tiere, Pflanzen) 22, 48, 79, 112, 122 – molinistische Definition der 123 – negative (s. a. Befreiung) 9 – 11, 133 f. – ontologischer 137 – personale 137 – politische(r) (gesellschaftliche) 9 f., 13, 78 f. – positive (s. a. Freisein) 9, 133 – 135, 137, 140 – pragmatistischer 17 – praktische(r) 11, 13 – rechtliche 79 – tatsächliche 79 – theoretischer 11 – vollkommen(st)e 37, 87

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Sachwortverzeichnis

– Wahlfreiheit (s. a. Wahl) 76 f., 84 – Willensfreiheit (s. a. Wille, freier, Willensentscheidung) 11, 13, 79 111, 116, 125 – zugelassene (s. a. Zulassung) 74 Freisein (für, des Daseins) (s. a. Freiheit, positive) 134, 136 – 138, 141 – 146, 157, 159 f. Freiwerden 135, 143 f. Fremdbestimmung (Fremdbestimmtheit) (s. a. Unfreiheit) 78 f., 82, 137 Fundamentalotologie (fundamentalontologisch) 91, 95, 146 Fürsorge (fürsorgend) (s. a. Miteinandersein) 130, 132, 139 f., 149 f. Gedächtnis (s. a. Erinnerung) 89, 98, 107 Gegenwart (Gegenwärtiges, gegenwärtig, praesens) (s. a. Anwesenheit, Zeit) 53, 89, 98 – 100, 102, 106 – 108, 112 Gehirn (s. a. Neurowissenschaften) 49 f., 125 f. Geist (Geistiges, Geister, geistig, spiritus) (s. a. Monade(n), Substanz(en)) 25, 44 – 49, 52, 75 f., 79 – 81, 89, 98, 107 f., 127 Geometrie (Geometer, geometrisch) (s. a. Mathematik) 31, 39 f., 62, 83 Geschöpf(e) 10, 38, 45, 61, 65 f., 68 f., 71, 73 f., 87 f., 108 f., 112, 115 Gesetz(e) (gesetzhaft) (s. a. Reihe) 55 f., 103 f., 159 – Grundgesetze (physikalische) 108 – individuelles (inneres) 104 – Naturgesetze (naturgesetzlich) 54, 88 f., 105 – 107, 126 – öffentliche (rechtliche) 147, 154 f. – physikalisch-chemische (physiologische) 89 Gewesenheit (gewesen) (s. a. Vergangenheit, Zeit) 98, 102, 109 f. Gewissen 25 f., 132 f., 139, 143, 145, 151 f., 156, 158 Geworfenheit (Geworfensein, geworfen) 22, 62 f., 66, 72, 133, 135, 138, 143, 147, 156 f. Gnade (Gnadenlehre, Gnadenerweise, Gnadenwirken) 61, 66, 72, 116 – 119, 121 f. Gott (Gottes) (s. a. Allmacht, Allwissenheit, Freiheit, Macht, Monade, Sein, Vollkom-

menheit, Vorhersehen, Wahl, Wille, Willensentscheidung, göttliche(s/r)) – als Ideal (Maßstab) 42, 51, 74, 87 – nur Ein (s. a. Monotheismus) 35 – Wesen (Wesenheit) (göttliches) (s. a. Essentialismus) 15, 21 f., 35, 66, 83, 87, 120 – 122 – Wirken 118 Gottesbeweis(e) 37 – kosmologicher 30 f. – ontologischer 30 f., 36 Grund s. Satz vom (zureichenden) Grund, Ursache(n) Gutes (Gut, bonum) (s. a. Privatio(n)) 22, 25, 46, 51, 59, 64, 67 f., 71 – 73, 75, 81, 115, 123, 155 Handlung(en) – alternative (Handlungsmöglichkeiten) 14, 51 – böse (lasterhafte) 67, 111 – einzelne 82 – freie („als freie“) 13 f., 44 f., 47, 66, 77, 121 – gute (tugendhafte) 67, 111 – intendierte 81 – kontingente (zufällige) (s. a. Kontingenz, Zufälligkeit) 44, 121 – menschliche (unsere, des Menschen) 13, 44 f., 47, 85 – 87, 109 – mögliche 76 – spontane (s. a. Spontaneität) 77 – zukünftige (s. a. Zukunft) 110 Harmonie 33, 70 f. – absolute 56 – des Ganzen 70 f. – prästabilierte 15, 23, 87, 108 – universale 70 Hermeneutik (hermeneutisch) 18, 23, 140, 146 hermeneutische Situation 92 f., 135 f. Herrschaft (Alleinherrschaft, Beherrschung) (s. a. Knecht) 10, 22, 40, 45 f., 75 – 78, 82, 95, 150 Ideal s. Gott, als Ideal Ideen s. Essenz(en), Wahrheit(en), ewige Identität – moralische 99

Sachwortverzeichnis – personale (einer Person) 59, 149 – Prinzip der 31 – von Subjekt und Prädikat (begriffslogische) (s. a. praedicatum-inesse-subjectoPrinzip) 31, 58 f. In-der-Welt-sein (des Daseins) (s. a. Welt(en)) 129, 140, 145, 147 Indifferenz (indifferent(er), indifferentia, libertas indifferentiae) (s. a. Willkür) 46, 51, 82, 86, 116 f., 120, 122 f., 134 – des Gleichgewichts 17 – modale (des Daseins) 140, 143 Individuum 58, 90 – endliches 62 – in die Welt geworfenes (s. a. Geworfenheit) 22, 62 inklinieren (inkliniert, incliner, inclination) (s. a. Neigung) 46, 51, 105 Inkompatibilismus (Inkompatibilist, inkompatibilistisch, inkompatibel) (s. a. Kompatibilismus) 13 f., 44, 109, 112, 124 Insichstehen (In-sich-stehen) (s. a. Substanz) 97 – 100, 103

Kalkül (s. a. Mathematik) 39 f. Kausalität (kausal) (s. a., Ursache(n), Wirkung(en)) 25 f., 33, 107, 126 Kehre (s. a. Ereignis-Denken) 18, 91, 161 Knecht (Knechtschaft, Sklaverei, Sklaven) (s. a. Herrschaft) 10 f., 78 f., 83 Kompatibilismus (Kompatibilität, Kompatibilisten, kompatibel) (s. a. Inkompatibilismus) 13 f., 22, 44, 112, 124 Kontingenz (Kontingentes, kontingent, contingentae) (s. a. Zufälligkeit) 29, 31, 33, 45, 58 – 60, 80, 98, 109 – 112, 118 – 122 – kontingent(es) Künftiges (Zukünftiges) 57, 109, 111 f., 119 f. Körper (Körperwelt) (s. a. Natur, Welt, physische) 23, 49, 52, 75 f., 79, 85, 87 – 89, 99, 102 f., 107 – 109 Körperbewegungen 89 Kraft – äußere 81 – ursprüngliche (vis primitiva) 97 – ursprüngliche aktive (vis activa primitiva) 99 f.

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Lebewesen (Lebendiges) (s. a. Monade(n), Pflanze(n), Tier(e)) 25, 41, 83, 102 – vernünftiges s. animal rationale, Vernunftwesen Lebloses (leblos) (anorganische Wesen, z. B. Stein) 25, 41 52 f. Leidenschaft(en) (leidenschaftlich) 22, 79, 81 – 83, 86 – 89, 129, 134 libertas (s. a. Freiheit) – contradictionis 36 f., 55 – indifferentiae (s. a. Indifferenz) 46, 116, 134 – specificationis 36 f., 59 Macht (s. a. Allmacht) – absolute, höchste (göttliche, Gottes) 29 – 31, 64, 66, 119 – des Geistes 75 f. Man(-selbst) (s. a. Uneigentlichkeit, Verfallen) 134 – 137, 143 – 152 Mathematik (Mathematiker, Mathematisierung, Mathesis, mathematisch) (s. a. Geometrie, Naturwissenschaft) 22, 28 f., 31, 39 f., 56, 58, 89, 104 f. Maximierung (Maximum, Optimum) (s. a. Existenz, Welt, beste) 22, 36 – 40 Mechanik ((quasi-)mechanisch, mechanistisch, Mechanismus) 49, 60, 89, 105, 124 – Klassische 89, 108 – metaphysischer (Mechanismus) 40 – quantenmechanisch (Quantentheorie) 13, 26, 89 Menschheit (Menschengeschlecht, Menschengeschichte) 10, 55 63, 71 f. Miteinandersein (Miteinander, Mitsein, Mitwelt) (s. a. Fürsorge, Öffentlichkeit) 23, 132 f., 138, 149 f., 155 Mögliches, ideales Reich des 63 f., 66 Möglichkeit(en) – als Existenzial 140 – alternative (andere) 14 f., 51, 123, 156 – bestimmte 135, 156 – des Freiseins 141, 144 – eigenste 130, 136, 144, 157 – eigentliche 135, 144 – existenzielle 143 f., 147, 157 – Existenzmöglichkeit 135, 144 – freie 136

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– gehaltliche (faktische) 135, 145, 147 f., 157 – höchste 56, 60 – leere 35 – reine (nur, nichts als) 64, 104, 148 Möglichkeitsbegriff(e) 140 Monadare 102 Monade(n) (s. a. Einheit, Seele(n), Substanz(en)) – empfindsame 52 – geistige 22, 98 – geschaffene 52 – göttliche (Urmonade) 22, 42, 59 – herrschende 52 f., 102 – intelligente 22, 52 – nackte 41 – vernunftlose 22, 52 Monotheismus (s. a. Gott, nur Ein) 68 Motiv(e) (Motivation, Motiviertsein, Handlungsmotiv) 46 f., 75, 82, 100, 116 Natur (physische) (s. a. Körper, Welt, physische) 25 f., 48, 72, 89, 109 Natur (s. a. Wesen) – der Seele 98 – der Substanz 56 – des Geistes 48 – göttliche 29 – menschliche (z. B. Caesars) 22, 57, 61 f. – unsere eigene (eigenste) (menschliche) 10, 22, 83, 117, 129 Naturgesetze s. Gesetz(e) Naturnotwendigkeit (naturnotwendig) (s. a. Notwendigkeit) 26, 47 Naturwissenschaft (Physik) (naturwissenschaftlich) 38, 89, 108 – mathematische 28, 89, 103 f., 109 f., 128 – moderne 108 – neuzeitliche 32 f. Neigung(en) (geneigt machen) (s. a. inklinieren, Anstrebung, Drang, propensio) 45 f., 51, 60 f., 73, 75, 80, 82, 116 Neurowissenschaften (-wissenschaftler) (s. a. Gehirn) 11, 23, 49 f., 79, 89, 124 – 126 Nezessitarismus (nezessitaristisch, Necessitirung, nezessitieren) (s. a. Notwendigkeit, Nötigung, Zwang) 35 f., 46, 65, 75, 105, 111

Nichtigkeit (Nichts, Nicht, nichtig) 154 – 157 Nihil est sine ratione (s. a. Satz vom (zureichenden) Grund) 30 f., 34 Nötigung (nötigen) (s. a. Zwang) 26, 45 f., 51, 60 f., 75, 82 Notwendigkeit (notwendig) (s. a. Nezessitarismus) – absolut(e) 27, 30 – 32, 36 f., 44, 80 – blinde 29 – hypothetische 31, 44 f., 58, 111 – logische 15, 27, 31, 75 – mathematische (geometrische) 31, 62 – metaphysische 15, 27, 31 f., 75, 80 – moralisch(e) 14, 111 – naturgesetzliche (nomologische) 126 – unüberwindliche 60 Öffentlichkeit (öffentlich) (s. a. Man(-selbst), Miteinandersein) 23, 124, 142 f., 147, 149, 151, 154 f. Ontologie (s. a. Fundamentalontologie, Seinsbegriff) – aristotelisch-scholastische 55 f. – des Vorhandenen 155 – Substanzenontologie 55 Onto-theologie (onto-theo-logisch) 42 f., 65 Optimum s. Maximierung Person (Persönlichkeit, personal) 57, 59 – 61, 66, 72, 77, 99, 126, 137, 149 f. Perzeption(en) (Eindrücke, Empfindung(en), Gedanken) – deutliche (distincta) 22, 88, 108, 115 – dunkle 23, 87, 89, 108 – kleine (petites perceptions) 22, 85 f. – reine 85 – sinnliche 84, 129 – unbewusste 89 f. – undeutliche 23, 87 f., 108 f. – unmerkliche 85 f. – verfließende (konfuse) 22, 84 – 90, 108 Pflanze(n) (s. a. Lebewesen, Monade(n), Tier(e)) 22, 41, 48, 52, 83 Philosophie – abendländische 101 – analytische 21 – drei Disziplinen der (Physik, Ethik, Logik) 9

Sachwortverzeichnis – Existenzphilosophie 103, 155 – der Freiheit 134 – griechische 124 – moralphilosophisch 14 – praktische 9, 13, 25 – Rechtsphilosophie 24, 146 – Sprachphilosophie 14 – theoretische 9, 25 Physik s. Mechanik, Naturwissenschaft Prädestination(slehre) (s. a. Vorherbestimmung) 22, 33, 62 praedicatum-inesse-subjecto-Prinzip (s. a. Urteilstheorie, Wahrheit, Wahrheitstheorie) 22, 30 f., 53, 55, 57 f., 122 Prinzip des Widerspruchs s. Satz vom Widerspruch Prinzip vom (zureichenden) Grund s. Satz vom (zureichenden) Grund Privatio(n) (privativ) 43, 67 f., 72 f., 115, 155 – des Guten (privatio boni) 67, 73, 155 propensio (conatus, nisus) (s. a. Anstrebung, Drang, Neigung) 96, 116, 142 Quantentheorie (Quantenmechanik) s. Mechanik Rechtsphilosophie s. Philosophie Reihe (series) 105 – ganze (gesamte) 70 – Gesetz der (lex seriei) 103 f. – mathematische 104 – unendliche 105 f. Satz vom (zureichenden) Grund (Prinzip des (zureichenden) Grundes, principe de (la) raison (suffisante), principium reddendae rationis) (s. a. Nihil est sine ratione) 14, 22, 30 – 34, 36 f., 51, 64, 68, 89, 108 Satz vom Widerspruch (Prinzip des Widerspruchs, Widerspruchsprinzip, Widerspruch, widerspruchsfrei) 15, 30 – 32, 36, 38, 51, 64, 69 Schuld (Schuldbegriff, Schuldigsein, Verschulden, Schuldprinzip, Schuldvorwurf (rechtlicher)) 67, 125, 127 – 129, 133, 139, 145 f., 151 – 158 – existenziale(r) (existenzial-ontologischer) 24, 146, 153 – 155

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scientia media (Mittleres Wissen) 110, 119 – 122 scientia simplicis intelligentiae (scientia naturalis) 118 f., 121 scientia visionis (scientia libera) 112 f., 119 – 121 Seele(n) (s. a. Monade(n)) 23, 28, 48, 52, 75, 83, 87 f., 142, 148 – distentio (animi) 97 – menschliche (unsere) 44, 73, 85, 89 f. – mit Vernunft 77 Sein (Seinsweise) (s. a. Natur, Wesen) – der res cogitans 115 – eigentliches (der Monade) 103 – eigentliches (höchstes, vollkommenstes) des Seienden 42 – ein Sein (un estre) 101 – endliches 87 – göttliches (Gottes) 27, 41, 51, 108 f., 116 – überhaupt (Sein-überhaupt) 41, 133 f., 138 f. – unendliches (Gottes) 27 – unvollkommenes 22, 51 Seinsbegriff (s. a. Ontologie) 27, 103 f. seinsgeschichtlich s. Ereignis-Denken Selbstbestimmung (Selbstständigkeit, Autonomiebegriff, Autarkie) 22, 29, 45, 79, 90, 103, 128, 136 f., 147, 158 Selbstbewusstsein s. Bewusstsein Selbstsein 136, 139, 143, 145 Selbstverantwortung (s. a. Überantwortung, Verantwortung) 130, 152 Selbstwahl (Sich-selbst-wählen) s. Wahl Sklaven (Sklaverei) s. Knecht Sorge (Sorgestruktur, Bekümmerung, cura) (s. a. Fürsorge) 130 – 133, 137 – 140, 143, 156 Spontaneität (spontan) 22, 45, 73, 75 – 79, 82 – geistige (spontaneitas intelligentis) 51, 76 – mit Wahl 76 – 78 Stein s. Lebloses Stimmung(en) (s. a. Befindlichkeit) 23, 89, 129, 131, 142 Streben s. Anstrebung, Drang, propensio Subjekt (Subjektivität, subjektiv) (s. a. Person, praedicatum-inesse-subjecto-Prinzip) 28, 57, 76, 82, 90, 94 f., 103 – 105, 122, 127 f., 130, 135

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Sachwortverzeichnis

Substanz(en) – eine einzige (Spinoza) 28 – einfache (s. a. Monade(n), Insichstehen) 52 f., 76 f., 87 f. – einzelne 22, 50 f., 53, 56 – freie 45, 50, 59, 75, 77 – geistige (intelligente, vernünftige, denkende, cogitans) 46, 49 f., 67, 77 – geschaffene 52 – Höchste (Gott) 68 – individuelle 54 f., 59, 98, 110 f., 122 – vernunftlose 52 – wahrhafte 28 Substanzenontologie s. Ontologie Sünde(n) (s. a. Böses, Übel) 22, 57, 61, 69 – 73 Telos s. Entelechie, Zweckursachen Theodizeeproblem 22, 63, 66, 78, 90 Tier(e) (s. a. Lebewesen, Monade(n)) 22, 41, 48, 52, 79, 83, 98, 122, 157 f. Tod (Sein zum Tode) 104 f., 131 – 135, 139, 144 f., 155 f. transzendental-horizontale Blick- und Fragebahn (s. a. Fundamentalontologie) 19, 95 Übel (s. a. Böses, Sünde(n)) 22, 63 – 74 Überantwortung (Überantwortetsein, überantwortet) (s. a. Verantwortung) 63, 157 Unbestimmtheit (unbestimmt) 47, 105, 135 Uneigentlichkeit (uneigentlich) (s. a. Man(-selbst), Verfallen) 97, 124, 129, 135, 137, 139 f., 142 – 144, 147 f., 153, 159 – echte 148 – unechte 148 unendlich(e/es) (Unendliches, Unendlichkeit) 33, 35, 38 f., 49, 56, 58 f., 85, 107, 110 f., 115, 120 – Gottes 27, 37, 87 – viele mögliche Welten 38 – Wissen 47 – Zeit (Reihe) 105 f. Unfreiheit (unfrei, unfreiwillig) (s. a. Uneigentlichkeit, Fremdbestimmung, Verfallen, Man(-selbst)) 22, 78, 82, 89, 136 f., 146 f.

Universum (Paralleluniversen) (s. a. Welt, Weltall) 38, 48, 53, 55 f., 70, 72 f., 85, 87 Unsterblichkeit 104 f. Unvollkommenheit (unvollkommen(e)) (s. a. Begrenzung, Endlichkeit) 41 f., 67, 82, 88, 121 f. – der Geschöpfe 69, 73 – der Materie 68 – des Geistes 79 – menschliche Freiheit 22, 51 Urmonade s. Monade, göttliche Ursache(n) (Verursachung) (s. a. Kausalität, Satz vom (zureichenden) Grund, Wirkung(en), Zweckursachen) 25 f., 33 f., 44 f., 47, 68, 108, 110 f., 115, 119 – 121, 126 f. – der Sünde 73 – des Übels 69 Urteilstheorie (s. a. Identität (begriffslogische), praedicatum-inesse-subjecto-Prinzip, Wahrheit, Wahrheitstheorie) 22, 60 Verantwortung (Verantwortlichkeit, verantworten) (s. a. Selbstverantwortung, Überantwortung) 84, 124 f., 127 f., 138 f., 151 f., 157 f. Verfallen (verfallen(d)) (s. a. Man(-selbst), Uneigentlichkeit) 123 f., 130, 135, 139, 142 f. Vergangenheit (Vergangenes, vergangen) (s. a. Gewesenheit, Zeit) 23, 53, 98, 100, 103, 107 – 110, 112 Vernunfteinsicht (intelligence) 22, 75 f., 108 Vernunftwesen (s. a. animal rationale) 22, 77 Verstehen 93, 136, 140 f., 158 – echtes 148 – eigentliches 136, 140 f., 148 – unechtes 148 – uneigentliches 140, 148 Vervollkommnung (unserer menschlichen Natur, der Freiheit, des Menschengeschlechtes) 22, 48, 63, 72, 82 – 84 Vollkommenheit (vollkommen(e), vollkommenere, (am) vollkommenste(n)) – des Menschen 115 – des Universums 73 – erkannter Begriff (einer Substanz) 22, 50 f., 53, 56

Sachwortverzeichnis – – – – – – –

Erkenntnis 87, 122 Ewiges 68 Freiheit 37, 51, 87 Gottes 35, 40, 51 f., 59, 68, 74, 116 Güte 14 Seele (einfache Substanzen) 88 Seiendes (der Dinge, des Geschaffenen) 42, 67, 70 – Welten (weniger vollkommene) 36, 38 Vorherbestimmung (vorherbestimmt) s. a. Prädestination) 22, 43 f., 50, 62, 110, 118, 121 Vorhersehen (Voraussicht) – exakte 88 – göttliche (Gottes) (s. a. scientia) 23, 43 – 45, 47, 62, 73 f., 87 f., 110 f., 118 Wahl (Wählen) (s. a. Entscheidung, Entschluss, Freiheit) – der (dieser) Wahl (die Wahl, Selbstwahl, Sich-selbst-wählen) 130, 135, 138, 142 – 146, 151 f. – des Besten (der besten Welt) 21 f., 37 – des Menschen (unsere) 29, 84 – freie 14, 78, 84 – Gottes (göttliche) 29 f., 35, 37, 64, 70, 78, 84 – (zu)künftige 50 – rationale (Gottes) 37 Wahlvermögen (Wählenkönnen, Nichtauchwählenkönnen, Nichtgewählthaben) 115, 130, 157 Wahrheit(en) – absolut notwendige 32 – absolute 109 – als Entborgenheit 159 – als Un-verborgenheit 43 – der Existenz 135, 146 – des Seins 160 – eigentliche (ursprünglichste) 141 – einzig wesentliche 160 – ewige 30, 42, 59, 65 – gese(t)zte 65 f. – kontingente 33, 58, 60 f., 122 – logische 31 f. – mathematische 32 – notwendige 15, 59, 122 – sachliche 18

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– und Freiheit 24, 158 f. – ursprüngliche 141 Wahrheitsfrage 158 – 160 Wahrheitsgeschehen (Geschehnis der Wahrheit) 145, 158 f. Wahrheitstheorie (s. a. praedicatum-inessesubjecto-Prinzip, Urteilstheorie) 30, 42, 53 Welt(en) (s. a. In-der-Welt-sein) – alternative (andere) 14 f., 36, 51, 59, 62 – beste (aller möglichen) (bestmögliche) 14, 36 – 38, 51, 55, 59, 70, 72 f., 104 – eine mögliche 35 – geschaffene 30 f., 104 – mögliche 14 f., 21 f., 35 f., 38, 69, 78, 104 – ohne Freiheit 73 – physische (s. a. Körper, Natur) 107, 127 – wirkliche (verwirklichte) 14 f., 36, 38, 51, 55 Weltall (s. a. Universum) 28 Wesen (Wesensbestimmung) (s. a. Natur, Sein) – der Freiheit 57 f., 75, 133, 159 – der Geschöpfe (geschaffene) 65, 68 f., 74, 108 – der menschlichen Freiheit 21, 35, 133 f., 159 f. – der Monade 96 f. – der Wahrheit 159 f. – des Unendlichen 58 – endliches 157 f. – freies 65, 157 f. – göttliches (Gottes) s. Gott – menschliches (des Menschen) 83 f., 129, 160 Widerspruch s. Satz vom Widerspruch Wille (Willensakt, Willenssetzung) – bewusster 126 – freier (s. a. Entscheidung, freie, Freiheit) 13 f., 37, 61, 119 f., 125 – göttlicher (Gottes) 14, 37, 57, 59, 63 – 66, 87, 119 f. – kontingenter (s. a. Kontingenz) 80 – menschlicher (unser) 119, 121 Willensentscheidung (Willensentscheid, Entschluss des Willens) (s. a. Entscheidung, Entschluss) 65 – freie (s. a. Freiheit) 13, 119 – göttliche (Gottes) 54, 59, 119

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Sachwortverzeichnis

Willkür (willkürmotorisch) (s. a. Indifferenz) 80, 116, 122, 125, 130 Wirkung(en) (wirkursächlich) (s. a. Kausalität, Ursache(n)) 26, 45, 88, 99, 121 Wissen s. scientia, Vorhersehen

Zeit (Zeitbegriff) (s. a. Anwesenheit, Ewigkeit, Gegenwart, Gewesenheit, Vergangenheit, Zukunft, Unsterblichkeit) – Asymmetrie der 23, 108, 111 f. – innermonadische (Selbstentfaltung) (s. a. substanziale) 23, 95, 99, 101, 103 – metaphysische(r) 96 f., 106 – physikalische (Naturzeit, lineare, unendliche Zeit, vulgäre Jetzt-Zeit) 105 – 108 – sich reichende 102 – substanziale (der Monade) (s. a. innermonadische) 21, 23, 56, 103, 106, 108 – Symmetrie (zeitliche) 23, 108, 110 – ursprüngliche (s. a. Zeitlichkeit) 96, 159 Zeitlichkeit – ekstatische 103

– existenziale (des Daseins) 21, 23, 96, 100, 105, 161 – volle (ganze) 97, 106 Zufälligkeit (Zufall, Zufälliges, zufällig) (s. a. Kontingenz) 44, 73, 109, 135 Zukunft (Zukünftiges, Künftiges, (zu)künftig, zukunftsbezogen) (s. a. Zeit) 23, 44, 50, 53, 55 – 57, 62, 81, 89, 98, 100, 102 f., 106 – 112, 118 f. Zulassung (zulassen, dulden, permission, permettre) – der Freiheit 74 – der Sünde(n) (peccata) 61, 69 f., 72 f. – des Übels (Bösen) 22, 71 f., 74 – göttliche (Gottes) 22, 74 – unter den Existenzen (Existentien) 50, 62, 65, 111 Zwang (s. a. Nötigung) – äußerer 46, 51, 105, 117 – innerer (von innen) 46, 79 Zweckursachen (Endursachen, zweckursächlich, zweckgerichtet, teleologisch) (s. a. Entelechie) 25, 89, 99, 108