Die Fenster der Monade: Gottfried Wilhelm Leibniz' Theater der Natur und Kunst [3., korr. Auflage] 9783110635102, 9783110634389

Das Buch steht im Zusammenhang des Versuches, die zentrale Rolle der Bilder für die Ausbildung der modernen Philosophie

179 86 22MB

German Pages 284 Year 2020

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort zur dritten Auflage
Vorwort zur zweiten Auflage
Vorwort zur ersten Auflage
I. EINLEITUNG
II. DAS THEATER DER EXPONATE
III. DER PARISER „GEDANKENSCHERZ“
IV. DAS SPIEL VON LICHT UND SCHATTEN
V. DAS MATHEMATISCHE KALKÜL
VI. SINNLICHE ER KENNTNIS UND INTUITION
VII. FOSSILIEN UND DIE KUNSTTHEORIE DER ERDE
VIII. ZEICHNUNGEN UND ENTWÜRFE
IX. DER BILDERATLAS ALS LEBENDIGE BIBLIOTHEK
X. DIE AKADEMIEN UND IHRE THEATER
XI. SCHLUSS
ANHANG
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Die Fenster der Monade: Gottfried Wilhelm Leibniz' Theater der Natur und Kunst [3., korr. Auflage]
 9783110635102, 9783110634389

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Horst Bredekamp

Die Fenster Der Monade



Horst Bredekamp

Die Fenster Der Monade Gottfried Wilhelm Leibniz’ Theater der Natur und Kunst

Dritte korrigierte Auflage

Inhalt Vorworte

7

I EINLEITUNG

1. Das Vorhaben   15 2. Der Strumpfbandknoten   16 3. Der Kosmos der gefalteten Tunika   18 4. Das Pentagramm und die schwingende Leinwand   21

II DAS THEATER DER EXPONATE

1. Die Rolle der Kunstkammern   27 2. Die Besuche von Sammlungen   33 3. Begriffsvarianten des Theaters   38 4. Bechers „Theater der Natur und Kunst“   44

III DER PARISER „GEDANKENSCHERZ“

1. Der Text   49 2. Guerickes Kugeln   53 3. Modelle und Automaten   58 4. Straßenkünstler und Spielpaläste   63

IV DAS SPIEL VON LICHT UND SCHATTEN

1. Schattentheater   68 2. Schatten als Lichtbringer   70 3. Das Konfliktpotential der Perspektive   77 4. Kreisende Schnittflächen und rotierende Kegel   81

V DAS MATHEMATISCHE KALKÜL

1. Anamorphosen   85 2. Kritik des Visuellen   89 3. Bildlichkeit mathematischer Zeichen   91 4. Unendlichkeit und transmathematische Schau 104

VI Sinnliche Erkenntnis UND INTUITION

1. Die Kraft der Sachen selbst 2. Die Stärken natürlicher Sprachen 3. Die Seele und der Körper der Monaden 4. Der coup d’oeil und die göttliche Blickform

110 114 115 117

VII FOSSILIEN UND DIE KUNSTTHEORIE DER ERDE

1. Die Künstlerin Natur 2. Die Kunst der Reproduktion 3. Das Dilemma der Naturgeschichte 4. Die Natur als Perspektivkünstlerin

120 126 129 130

VIII ZEICHNUNGEN UND ENTWÜRFE

1. Eigenschaften der Zeichnung 2. Der Louvre des Claude Perrault 3. Die Ovalbauten von Wolfenbüttel und Wien 4. Ikonographische Entwürfe für Medaillen und Zeremonien

133 135 141 148

IX DER BILDERATLAS ALS LEBENDIGE BIBLIOTHEK

1. Pariser Vorbilder 2. Die Konzepte des Bilderatlas 3. Die Inventarisierung der Ikonologie 4. Die Lebendigkeit der Bilder und die Utopien

154 160 164 169

X DIE AKADEMIEN UND IHRE THEATER

1. Der Berliner Teilerfolg 2. Die Bemühungen in Dresden 3. Die Ambitionen in Bezug auf Wien 4. Die posthume Erfüllung in St. Petersburg

174 178 180 183

XI SCHLUSS

1. Der Glanz des Zeigens 2. Kalkül und Intuition: Leibniz’ Aktualität

194 197

ANHANG

1. Quellen (1668–1716) 2. Übersetzung des Drôle de Pensée 3. Abkürzungen und Literatur 4. Register der historischen Personen

201 241 251 279

Vorwort zur dritten Auflage Gottfried Wilhelm Leibniz hat seine Idee eines umfassenden „Theaters der Natur und Kunst“ von Jugendzeiten an bis an sein Lebensende verfolgt, in der Philosophiegeschichte aber hat sie so gut wie keine Spuren hinterlassen. Mitverantwortlich war Immanuel Kants Diktum, dass Leibniz allein die Abstrakta, nicht aber die Realien und die sinnliche Welt interessiert habe.1 Mein Bemühen, die materialen Denkoperationen von Leibniz zu erfassen, zielte auf die Rekonstruktion dessen, was Kant diesem absprach. Mit Hilfe des „Theaters der Natur und Kunst“ suchte Leibniz nicht nur die sinnliche Welt zu erfassen, sondern die gestalteten Artefakte, characteres, als Movens des Denkens einzusetzen. Meine Überlegungen wurden im Jahr 2010 in Japanisch publiziert,2 und eine Übersetzung in das Französische soll im Jahr 2019 erscheinen. Mit Blick auf den Garten von Hannover-Herrenhausen, in dem sich Leibniz über Jahrzehnte aufgehalten hat, und für den er seine Erfahrungen als Bergbauingenieur ebenso einbringen konnte wie als Theoretiker des Lichts und als Praktiker der Illuminationen, habe ich im Jahr 2012 einen zusätzlichen Versuch unternommen, Leibniz’ Lehre der Monaden, die nicht etwa keine Fenster haben, sondern die aus Fenstern bestehen,3 zu erläutern. Diese ebenfalls in das Japanische und in komprimierter Form auch in das Französische übersetzte Arbeit ist komplementär zum vorliegenden Buch zu verstehen.4 Unter den Artikeln, die ich über diese beiden Bücher hinaus jenem Leibniz gewidmet habe, der heute als ein radikaler Vertreter der Verkörperungsphilosophie gelten könnte, sei auf einen Aufsatz verwiesen, der sich mit Leibniz als Zeichner

1  Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, 1 (Hg.: Wilhelm Weischedel), Immanuel Kant Werkausgabe III, Frankfurt am Main 1977 (3. Aufl.), B 326, S. 292. 2   Bei Sangyo Tosho, Tokio 2010. 3   Wolfram Hogrebe, Der implizite Mensch, Berlin 2013, S. 10. 4   Leibniz und die Revolution der Gartenkunst. Herrenhausen, Versailles und die Philosophie der Blätter, Berlin 2012 (2., durchgesehene Auflage 2012); Übersetzung in das Japanische bei Kenji Hara, Tokio 2014. Vgl. die französische Fassung: Leibniz, Herrenhausen et Versailles. Le jardin à la française, un parcours de la mondernité. Traduit de l‘allemand par Christian Joschke, Lyon 2013.

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Vorwort

auseinandersetzt. Er entstammt der Festschrift für Gunter Abel, der in seiner Antwort den hier angesprochenen Denkraum der zeichnenden Hand zu erweitern versucht hat.5 Gegenüber der zweiten erscheint die dritte Auflage in verändertem Format und mit einer Reihe von Korrekturen. Horst Bredekamp, April 2019

5   Horst Bredekamp, Leibniz’ Lichtbild des Tentamen anagogicum. Für eine materiale Philosophie des Bildes, in: Abel im Dialog. Perspektiven der Zeichen- und Interpretationsphilosophie (Hg.: Ulrich Dierks und Astrid Wagner), 2 Bde., Berlin und Boston 2018, Bd. 2, S. 835– 852. Die Antwort: Günter Abel, Zeichen- und Interpretationsphilosophie der Bilder. Replik zum Beitrag von Horst Bredekamp, in: ebda., S. 853–866.

Vorwort zur zweiten Auflage Angesichts der scheinbaren Spezialität des Stoffes war nicht vorherzusehen, daß der vorliegende Versuch zu Leibniz in so relativ kurzer Zeit eine zweite Auflage erreichen würde. Bereits im Titel ausgewiesen, begründet er eine Alternative zur lange vorherrschenden Leibniz-Forschung. Keinesfalls, so lautet die Grundan­ nahme, bedeutet die Formel von der „Fensterlosigkeit der Monade“, daß Leibniz’ Philosophie eine gegen die Sinne gerichtete Grundlage besessen habe; vielmehr finde seine Theorie der Entfaltung aller mentalen Fähigkeiten in der Institution des „Theaters der Natur und Kunst“ seine mitreißende, lebenslang verfolgte Idee. Als ein Modell dieser Mischung aus Museum und Wissenslabor hatte Leibniz die Verbindung der von ihm gegründeten Berliner Akademie der Wissenschaften mit der dortigen Kunstkammer des Schlosses im Auge. Die gegenwärtig verfolgte Idee, im neu zu errichtenden Schloß ein „Humboldt-Forum“ einzurichten, beruht auch auf diesem Konzept. Da sich dieses Projekt zu konkretisieren beginnt, ist ihm diese zweite Auflage umso stärker gewidmet. Der Text ist bis auf die Korrektur einer Reihe von Fehlern unverändert geblieben. Unter der neueren Literatur sind zwei Titel hervorzuheben. Die vorzüglichen Beiträge einer Wolfenbütteler Tagung zum Licht im 17. Jahrhundert, die noch vor dem Erscheinden des Buches stattfand, sind kürzlich publiziert worden.1 Eine ­Weiterentwicklung bietet sodann die Berliner Dissertation von Jan Lazardzig. Durch eine genaue Untersuchung von Leibniz’ Pariser Lebensumständen ist ihm gelungen, jene Maschinen zu erschließen, die Leibniz in seinem furiosen Drôle de Pensée von vermutlich 1675 kannte und als Anregung nutzte.2 Auch hierdurch ist nochmals bekräftigt worden, in welch dichter Weise Leibniz die haptisch-visuellen und auditiven Ereignisse ­seiner Zeit aufgenommen und für seine Theorie der Entfaltung mentaler Fähigkeiten genutzt hat.

  Carolin Bohlmann, Thomas Fink und Philipp Weiss (Hg.), Lichtgefüge des 17. Jahrhunderts. Rembrandt und Vermeer – Leibniz und Spinoza, München 2008. 2   Jan Lazardzig, Theatermaschine und Festungsbau. Paradoxien der Wissensproduktion im 17. Jahrhundert, Berlin 2007. 1

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Vorwort

Schließlich ist anzuzeigen, daß die Trilogie zu Galileo Galilei, Thomas Hobbes und eben Leibniz, die in der Erstauflage avisiert wurde, inzwischen durch die Monographie zu Galilei abgeschlossen werden konnte.3 Zu hoffen ist, daß durch diese Publikation der Zusammenhang zwischen diesen drei Denkern nochmals verdeutlicht wird. Vor der philosophischen Wende der Okularkritik haben sie in ihren Forschungen alle Stärken zusammengefaßt, die das körperbezogene Denken zu bieten und bis heute als Anspruch vorzustellen vermag. Horst Bredekamp, 1. Februar 2008

  Horst Bredekamp, Der Mond. Die Sonne. Die Hand. Galileo Galilei als Künstler, Berlin 2008. 3

Vorwort zur ersten Auflage Der vorliegende Versuch, Frucht einer vor zehn Jahren begonnenen Erschließung von Gottfried Wilhelm Leibniz’ Projekt eines Theaters der Natur und Kunst,1  geht auf eine Vorlesung zurück, die im Wintersemester 2002/2003 am Kunstgeschichtlichen Seminar der Humboldt-Universität zu Berlin gehalten wurde. Die Untersuchung ist Teil des Vorhabens, das um 1900 entwickelte Konzept der Kunstgeschichte als historischer Bildwissenschaft an Hand herausragender Gestalten des siebzehnten Jahrhunderts weiterzuentwickeln.2  Diese Epoche besitzt darin einen paradigmatischen Stellenwert, daß sie durch die Erfindung optischer Instrumente vom Fernrohr bis zum Mikroskop und von der Camera Obscura bis zur Laterna Magica die Erforschung der sehenden Erkenntnis in einer Intensität forciert hat, wie sie erst wieder durch die Erfindung der Photographie im neunzehnten Jahrhundert ermöglicht wurde. Im Zentrum des Gesamtprojektes steht dieses Phänomen. Nach dem Naturwissenschaftler Galileo Galilei, für den die Zeichnung ein fundamentales Erkenntnismittel war und dem Staatstheoretiker Thomas Hobbes, dessen Begriff der staatlichen Souveränität wesentlich durch optische Versuche mit multifokalen Linsen bestimmt wurde, folgt nun der Philosoph Leibniz.3  Der kunsthistorische Zugang zu einem Denker, der selbst unter Philosophen bisweilen als Arkanum gehandelt wird, versteht sich nicht von selbst. Er gründet im Vertrauen darauf, daß Bilder und die von ihnen ausgelösten Reflexionen philosophische Dimensionen bergen können, die schwer zu entschlüsseln sind, wenn sie nicht aus der Sphäre der Bilder selbst und der ihnen eigenen Geschichte entwickelt werden. Auch für Leibniz, diese Annahme liegt dem vorliegenden Buch zu Grunde, bieten Bilder eine semantische Schwerkraft, die das Denken auf eigenwillige Weise ermöglicht und konditioniert.

1   Bredekamp, 1993, S. 77f. Die seither publizierten Artikel sind zum Teil in veränderter Form in die vorliegende Arbeit eingeflossen. 2   „Bildwissenschaft“, in: Pfisterer, 2003, S. 56f. 3   Bredekamp, 2001, Galileo; ders., 2003, Thomas Hobbes, S. 83ff.

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Vorwort

Leibniz hat seine Überlegungen zur Rolle der bildlichen Erkenntnis im Projekt eines Theaters der Natur und Kunst gebündelt. Daß diese Idee so gut wie unbekannt geblieben ist,4  liegt auch an der Textlage. Leibniz hat betont, daß seine publizierten Schriften keinesfalls ein authentisches Bild seiner Philosophie ermöglichen.5  Durch die jüngsten Publikationen beginnt sich die Lücke zwischen dem veröffentlichten Werk und dem Riesencorpus der verbliebenen Handschriften jedoch zu schließen. Die sukzessiv erscheinenden Bände der Akademie-Ausgabe und insbesondere der schier unausschöpfliche Band 4 der Reihe VI bieten erstmals die Möglichkeit, Leibniz’ Wertschätzung der tastenden und zeichnenden Hand und des neugierigen und geschulten Auges im Zusammenhang zu verfolgen. Leibniz’ unbegreiflich vielfältigen Denkbewegungen und Aktivitäten erhalten mit dem Theater der Natur und Kunst den Zielort seiner Überlegungen zur Frage sinnlicher Erkenntnis. Seine Wertschätzung dieses Projektes betrifft das Gesamtbild seiner Philosophie, weil es die bislang unüberbrückbar scheinende Kluft zwischen Kalkül und Anschauung überspannt. Die Textbasis liegt in den im Anhang in chronologischer Ordnung zusammengestellten Quellen, die, obwohl sie sämtlich in gedruckter Form vorlagen, erfaßt wurden, um dem Leser angesichts der zersplitterten Überlieferung von Leibniz’ veröffentlichten Schriften die Mühen des Aufsuchens zu ersparen. ­Zitate im Textteil wurden grundsätzlich modernisiert; sie können im Anhang kontrolliert werden, dessen Einträge buchstabengetreu übernommen wurden. Bei nicht im Anhang aufgeführten Schriften sind die Originaltexte, falls sich bei der Modernisierung gravierende Abweichungen ergaben, zur Überprüfung als Anmerkung zitiert. In den letzten Jahren wurde die Untersuchung durch die Abteilungen „Das Technische Bild“ und „Bild Schrift Zahl“ des Helmholtz-Zentrums für Kulturtechnik der Humboldt-Universität unterstützt, für deren Förderung dem GettyCenter (Los Angeles) und der Deutschen Forschungsgemeinschaft zu danken ist. Eine ungeahnte Wendung hat die Arbeit durch die gemeinsam mit Jochen Brüning durch das Helmholtz-Zentrum vollzogene Rekonstruktion der Sammlungen der Berliner Humboldt-Universität erfahren, deren Ergebnisse in der Ausstellung Theatrum Naturae et Artis im Winter 2000/2001 im Berliner Martin-Gropius-Bau

4  Titel, die sich auf Begriffe wie „Kunstkammer“, „Wunderkammer“, „Museum“ oder auch „Theatrum“ beziehen, sind in den einschlägigen Bibliographien kaum vorhanden. Stützen konnte sich die vorliegende Arbeit lediglich auf einen abgelegenen und ohne Anmerkungen versehenen Aufsatz (Ennenbach, 1978), einen knappen, aber hellsichtigen Artikel im Katalog der Bonner Ausstellung Wunderkammer des Abendlandes (Nielsen, 1994) sowie Bemerkungen aus Sicht der Geologiegeschichte (Ariew, 1998, S. 285f.). Eine vorzügliche allgemeine Grund­lage bot die jüngere, umfassende Analyse von Leibniz’ Societätsplänen (Böger, 1997). 5   Brief an Placcius, 21. 2. 1696, in: Leibniz, 1768, Bd.V, 1, S. 65.

Vorwort

gezeigt wurden.6 Der Grund lag darin, daß sich der Kern der Bestände zu einem beträchtlichen Teil auf jene Kunstkammer des Berliner Schlosses zurückführen ließ, die Leibniz für sein Modell eines Theaters der Natur und Kunst vor Augen stand. Diese Tradition ist in die Überlegungen zur Nutzung des zukünftigen Ber­ liner Schlosses eingegangen. Das als Herz der öffentlichen Nutzung avisierte „Hum­ ­boldt-Forum“ zielt auf eine Annäherung an das von Leibniz erhoffte Unternehmen.7  Für vielfältige Hilfen, Anregungen und Korrekturen ist Herbert Beck, ­Gabriele Bicken­dorf, Gottfried Boehm, Jochen Brüning, Reiner Cunz, Hélène Doucet, Markus Friedrich, Almut Goldhahn, Barbara Herrenkind, Wolfram Hogrebe, Anke Hölzer, Stephan von Huene (†), Andreas Kreul, Friedrich Kittler, John Michael Krois, Hans-Joachim Kunst, Sybille Krämer, Thomas Leinkauf, Herbert Lachmeyer, Hellmut Lorenz, Jean-Louis Martinoty, Jasmin Mersmann, Jürgen Mittelstraß, Hans Poser, Birgit Recki, Hartmut Rudolph, Steffen Wawra, Vladimir Velminski, Gabriele Werner und Birgit Zimny herzlich zu danken. Ein besonderer Dank gilt Herbert Breger, Ulrike Feist, Hartmut Hecht, Eberhard Knobloch, Rebekka Maiwald, Josef Nietzsch, Margarete Pratsch­ke, Franz Reitinger, André Rottmann, Ulrich Johannes Schneider, Pablo Schneider und Reinhard Wendler, die zudem das gesamte Manuskript oder Teile von ihm gelesen und korrigiert haben. Schließlich sei Petra Florath für die gestalterische Umsetzung und Gerd Giesler für die erneut so sorgfältige wie inspirierte Betreuung seitens des Akademie-Verlages in besonderer Weise gedankt. Das Wissenschaftskolleg zu Berlin bot mir die Freiheit, das Manuskript im Winter 2003/04 zu beenden. Wie die Arbeit über Thomas Hobbes visuelle Strate­gien, so wurde auch dieses Buch auf dem Rehmstackerdeich, einem der Innendeiche von Eiderstedt in Schleswig-Holstein, geschrieben. Auf Schafe wie in einen Spiegel zu blicken, während man über Leibniz brütet, hat etwas ungemein Tröstliches.

 Theater der Natur und Kunst, 2000.   Historische Mitte Berlin. Abschlußbericht, 2002, S. 24f.; Mlynek, 2002; Bredekamp und Brüning, 2002. 6 7

13

„Aber die Monaden haben Fenster.“ (Edmund Husserl)

I EINLEITUNG 1. Das Vorhaben Vor gut hundert Jahren ereignete sich ein einschneidender, bis heute nachwirkender Wandel in der Bewertung von Gottfried Wilhelm Leibniz. Durch Bertrand Russels Critical Exposition of the Philosophy of Leibniz von 1900 und mehr noch durch Louis Couturats brillante Logique de Leibniz von 1901 wurde er als Begründer der formalen Logik zu einem der Wegbereiter des zwanzigsten Jahrhunderts.8  Seine Rechenmaschine und sein binäres, auf 0 und 1 aufgebautes System der Dyadik ließen ihn später als Vater des Computers erscheinen, und dasselbe galt schließlich für die Kybernetik.9  Zwar war das zwanzigste Jahrhundert von vielfältigen Versuchen erfüllt, Leibniz von der grandiosen Einseitigkeit dieser Wertschätzung zu lösen,10  aber trotz aller Einsprüche ist die Grundüberzeugung, daß seine Philosophie einer inneren Logik gehorcht, die sich gegenüber der Außenwelt und ihren haptischen und visuellen Ereignissen abschirmt, die unübersteigbare Barriere der Leibniz-Forschung geblieben. Selbst Autoren, die sich etwa auf seine Bildreflexionen bezogen,11  versetzten Leibniz schließlich in einen mächtigen Parcours der Philosophie, der den in Leidenschaft, Krankheit und Tod so unbeherrschbaren wie treulosen Körper gedanklich zu überwinden suchte und dem insbesondere die Welt des Visuellen und Haptischen nicht als Element der Erkenntnis, sondern als Mittel der Denkhemmung erschien. Ein ausgewiesener Kenner kam 1986 in Bezug auf Leibniz’ Italien-Reise zum Ergebnis: „Leibniz hat nichts gesehen“12 , und eine nicht weniger profunde Historikerin der Entwicklung von Leibniz’ Metaphysik kam 2001 zum Ergebnis: „er entwickelte keine seiner Ideen durch das sorgfältige Studium der Natur.“13  Man fragt sich, was Leibniz zu diesen Konklusionen  Russel, 1900; Couturat, 1901. Zur Erfolgsgeschichte: Mercer, 2001, S. 3ff.   Kilcher, 2003, S. 463f. 10  Einen Überblick bietet: Phänomenologie und Leibniz, 2000, S. 296–345. 11   Hierzu gehört Jean-Paul Sartre, der sich intensiv mit Leibniz’ Bildbegriff auseinandergesetzt hat (Sartre, 1982, S. 105ff.), oder Helmut Pape, dem eine tiefgreifende Analyse von Leibniz’ Perspektivstudien gelungen ist (Pape, 1997, S. 204). 12   „Leibniz n’a rien vu“ (Robinet, 1986, Iter Italicum, S. 2). 13   „(…) he did not develop any of his ideas through the careful study of nature“ (Mercer, 2001, S. 471).  8  9

16

I  Einleitung

gesagt hätte, als er im Jahre 1685 teils auf dem Bauch kriechend die Höhlen des Harzes nach Gesteinsproben und Versteinerungen absuchte oder als er zur selben Zeit aus den ­Ergebnissen der Mikroskopforschung eine der Grundlagen seiner Monadologie ­aufbaute. Dietrich Mahnkes im Jahre 1917 formuliertes Gegenprogramm, „das Doppelwesen des historischen Leibniz zu seinem Recht kommen“ zu lassen, „dem die Erlebnisfülle des empirischen Stoffs ebenso wertvoll war wie die Einheit der mathematischen Form“, erscheint heute als so berechtigt wie uneingelöst.14  Weitgehend unbeachtet, hat der Kunsthistoriker William S. Heckscher im Jahre 1974 in einem subtilen Essay eine eigene Alternative geboten, indem er die Ikonologie Aby Warburgs, die sich den gleichsam in Details eingefalteten, abseitigen oder scheinbar irrelevanten, aber umso wirkmächtigeren Phänomenen des Bildlichen gewidmet habe, mit Leibniz’ Konzept der „kleinen Perzeptionen“ in Verbindung setzte.15  Der vorliegende Versuch ist Mahnkes Vorstoß einer Vermittlung von Empirie und Kalkül ebenso verpflichtet wie Heckschers Brückenschlag zwischen Warburgs Analyse der psychophysischen Energien wandernder Bilder und Leibniz’ Theorie der „petites perceptions“.

2. Der Strumpfbandknoten Die Problematik verschränkt sich mottohaft in einer kleinen Zeichnung, die Leibniz am Rand einer seiner zahllosen Texte und Exzerpte im Jahre 1685 skizziert hat (Abb. 1).16  Mit ihren zwei nach oben weisenden Schlaufen, der nach unten fallenden Schleife und den ausfransenden Streifen erweist sie sich als Variante des Kleeblattknotens.17  Sie wirkt zunächst wie ein Scherz, aber die Erläuterung dieses Gebindes, die in atemberaubender Geschwindigkeit zu fundamentalen Fragen der Erkenntnistheorie gelangt, zeigt, daß Leibniz den Knoten im Sinne einer Tradition anführt, die von der Antike bis zu jener theoretischen Kosmologie der Gegenwart reicht, die das Universum als geknotete und in sich eingefaltete Räume begreift.18  Leibniz geht es um die Unterscheidung von undeutlicher und deutlicher Erkenntnis: „Das Strumpfband mit drei Falten, mit oben zwei Zipfeln zu binden, gibt ein   Mahnke, 1917, S. 3; vgl. Phänomenologie und Leibniz, 2000, S. 324.   Heckscher, 1974, S. 129f. 16  AA, VI, 4, B, Nr. 241, S. 1230. Leibniz’ Text bietet eine Auseinandersetzung mit dem Hamburger Naturforscher und Philosophen Joachim Jungius. Eine ausführlichere Analyse dieser Zeichnung habe ich Gottfried Boehm auf dem aus Anlaß seines sechzigsten Geburtstages durchgeführten Symposium gewidmet. 17   Die Knotenkunde wurde durch den Mediziner Heraklas im ersten nachchristlichen Jahrhundert begründet und von Vidus Vidius und Francesco Primaticcio im sechzehnten Jahrhundert wieder aufgenommen (Epple, 1999, S. 32f., 40.). 18  Epple, 1999. 14 15

2. Der Strumpfbandknoten

Abb. 1. G. W. Leibniz, Strumpf­ bandkno­ten, Zeichnung, Mitte 1685 (?), Hannover, Niedersäch­ sische Landesbiblio­thek, LH, IV, 7C, Bl.  120r

schönes Beispiel der undeutlichen und deutlichen Erkenntnis, wie auch der aus der undeutlichen und deutlichen Erinnerung bestimmten Handlung.“19  Die Begriffe der undeutlichen und deutlichen Erkenntnis nehmen Gedanken auf, die Leibniz kurz zuvor in einer seiner einflußreichsten Schriften, den im Jahre 1684 veröffentlichten Me­ditationes de Cognitione, Veritate et Ideis, erörtert hat. Sie entwickelt den Fortschritt der Erkenntnisse über sich aufgabelnde Alternativen. Am Beginn trennt sich die dunkle von der klaren Erkenntnis, die sich in einem zweiten Schritt ihrerseits in eine undeutliche und eine deutliche Seite aufgliedert. Eine deutliche Erkenntnis wird erreicht, wenn die Formen und Eigenschaften einer Sache gekennzeichnet und darin in ihrer Spezifik gefasst werden. Indem etwa der Münzmeister das Gold durch Zahl, Größe und Bezeichnung von anderen Edelmetallen unterscheidet, erzeugt er einen deutlichen Begriff seines Gegenstandes. Es ist überaus bezeichnend, daß Leibniz zu diesen Spezifika auch die seelischen Bestimmungen wie etwa die Angst und die Hoffnung zählt, die durch den Gegenstand ausgelöst werden.20  Mit seiner Gegenüberstellung von undeutlicher und deutlicher Erkenntnis bewegt sich der Strumpfband-Text auf dieser zweiten Stufe, die im System der fortschreitenden Erkenntnis von größter Bedeutung für die Wahrnehmung der Ideen und der Perzeption der Welt der Sinne ist. An der Fähigkeit zum Wissen und zum Handeln sind die 19   „Confusio Conceptuum. Strumpfbandel binden mit 3 falten ohn die zwey zipfel gibt ein schohn exempel confusae cognitionis et distinctae, item operationis ex confusa memoria et ex distincta“ (AA, VI, 4, B, Nr. 241, S. 1230, Z. 4–6). 20  AA, VI, 4, A, Nr. 141, S. 586, Z. 21 – S. 587, Z. 4; Leibniz, 1985, I, Opuscules, S. 34/35.

17

18

I  Einleitung

Augen und die Hände, aber auch der sprechende Mund und das hörende Ohr beteiligt,21 um durch jene Wiederholungen zur deutlichen Erkenntnis zu führen, die in Platons Höhlengleichnis der aus der Dunkelheit der Höhle Aufsteigende aushalten muß: „Gewöhnung also, meine ich, wird er nötig haben“22. Durch Praxis, dies führt zum entscheidenden Schritt, vermag der Knabe nicht nur den Mechanismus zu be­­­ greifen, sondern ihn auch sprachlich wiederzugeben und damit zu belegen, daß seine klare Erkenntnis von der undeutlichen in eine deutliche, distinkte übergegangen war: „Wenn er es nun deutlich wußte, konnte er einem sagen, was seiner Hand zufolge das längste [Band] sein und dann wie eine Schürze oder Schlinge in welcher Ordnung übereinander gehen mußte.“23  Hieraus resultiert die Verallgemeinerung: „Diese zweite Verbindung ist in allen Schürzen, die auch vier oder zwei Falten aufweisen.“24 

3. Der Kosmos der gefalteten Tunika Die Erläuterung eines zunächst banal wirkenden Phänomens wird auf diese Weise zu einem Modell der Erkenntnis und der Fähigkeit zur Praxis. Indem Leibniz die Schlaufen eines Strumpfbandknotens, zu dessen Herstellung nicht nur die Hand und das Auge, sondern auch Mund und Ohr zusammenwirken, „Falten“ nennt, verwendet er einen der zentralen Begriffe seiner Philosophie. Das Grimmsche Wörterbuch verzeichnet zur Bedeutungsgeschichte der „Falten“ zunächst die des Tuches „in kleid, gewand und schmuckbinde“; an zweiter Stelle kommen die der Haut und des Gesichtes, und schließlich die des „herzens, der sinne, seele, des gemüts.“25  In all diesen Bedeutungen hat auch Leibniz diesen Begriff verwendet. Seine „Falten“ des Strumpfbandes erfüllen zumindest die erste Bestimmung des Begriffes als gebundener Stoff sowie dessen dritte Sinnschicht als Seele, die sich durch „gewohnheit und übung“ eine Falte schafft, „wohin die aufmerksamkeit bei erblickung eines gegenstandes sich lenken soll.“26  Es handelt sich um einen Ausschnitt von Leibniz’ Bestimmung der Falte, deren Geltung er von der Beschaffenheit des kosmischen Raumes als in sich gefalteter Sphäre bis hin zur Theorie allen Lebens ausdehnt. Vermutlich angeregt durch die Vorstellung Pierre Gassendis, daß sich die Unmengen von Erinnerungsspuren in einem Gewebe 21   „(…) also confuse behalten und gewohnt, wie ein knabe die lettern im munde formiren lernet“ (AA, VI, 4, B, Nr. 241, S. 1230, Z. 9f.). 22   Platon, Politeia, 7, 2, 516a. 23   „Wenn ers nun distincte wuste kondte er einem sagen, was nach seiner hand das langste seyn mus, und denn wie eine schürz oder schlinge und mit was ordnung über einander gehen“ (AA, VI, 4, B, Nr. 241, S. 1230, Z. 10–12). 24   „Diese andre confusio ist in allen schürzen, die auch von 4 oder 2 falten seyn“ (AA, VI, 4, B, Nr. 241, S. 1230, Z. 12f.). 25   Grimm, Bd. 3, Sp. 1297f. 26   Grimm, Bd. 3, Sp. 1299.

3. Der Kosmos der gefalteten Tunika

Abb. 2. Gianlorenzo Bernini, Büste Ludwigs XIV., Marmor, 1665, Versailles, Schloß

von Myriaden kleiner und kleinster Falten speichern lassen,27  imaginiert Leibniz ein von einer aktiven Kraft gedrücktes Universum, das seine Bestandteile als eine sich nach innen unendlich tief hinabdifferenzierende Einfaltungsmaschine bruchlos und ohne Sprünge in immer neue Wirbel- und Kreisbewegungen und neue Einfaltungen zwingt. Diese kennen keinen leeren Raum und kein letztes Atompartikel, sondern allein die sich im gekrümmten Raum einschichtende und einfaltende Materie: „Man kann daher die Teilung des Stetigen nicht mit der Teilung des Sandes in Körner vergleichen, sondern mit in Falten gelegtem Papier oder Stoff. Wenn so auch Falten von unendlicher Zahl entstehen, von denen die einen kleiner als die anderen sind, so ist deshalb doch niemals ein Körper in Punkte oder kleinste Teile [minima] aufgelöst.“28  Das Leben in der geschaffenen Welt ist Leibniz zufolge unauslöschlich, weil die verschiedenen Wesen dieselben Organismen sind, die sich lediglich unterschiedlich einund ausfalten.29    Gassendi, Syntagma philosophicum, in: ders., 1964, Bd. II, S. 406f.; vgl. Busche, 1997, S. 77, Anm. 146. 28   Leibniz, Pacidius an Philaletes, in: Leibniz, 1903, S. 615. Übers. nach: Leibniz, 1955, S. 144; vgl. Deleuze, 1995, S. 15f.; zu Leibniz’ Faltentheorie zuletzt: Albus, 2001, S. 145ff. 29   Leibniz, 1985, I, S. 210. Die Übersetzung (S. 211) verwandelt die gefalteten („les organes sont pliés“) in „gestaltete“ Organe und versäumt damit den spezifischen Gehalt. 27

19

20

I  Einleitung

Abb. 3.  Anonym, „Wie man die Falten angemessen in die Stoffbahn bringen muß“, Radierung, 1651, in: Fréart de Chambray, 1651, S. 126

Mit dem Stoffcharakter des Kosmos nimmt Leibniz den in allen Offenbarungsreligionen auftretenden spirituell-körperlichen Doppelcharakter des Tuches auf.30 Wenn er das Universum als einen kontinuierlichen Körper bestimmt, der „nicht geteilt, sondern nach Art des Wachses transfiguriert und wie eine Tunica auf verschiedene Weise gefaltet“ wird,31 so verweist die Zusammenstellung der Modellierung des Wachses und das Arrangements der Draperie insbesondere auf die zeitgenössische Skulptur, wie sie unübertroffen in den Figuren Gianlorenzo Berninis repräsentiert war. So wird etwa die Büste Ludwigs XIV. (Abb. 2) durch einen hochfliegenden Stoff umhüllt, der die Falten der Kleidung mit den Wolken des Himmels verbindet, um die irdisch-kosmischen Fal­ tenvolumina mit den Haarlocken in eine gesteigerte Korrespondenz zu bringen.32  Nicht weniger Aufsehen erregten die Falten in Leonardo da Vincis im Jahre 1651 in Paris publiziertem Malereitraktat. Den Ausführungen des Kapitels über die Kunst  Eberlein, 1982; in bildtheoretischer Wendung: Wolf, 2003.   „Totum universum est unum corpus continuum. Neque dividitur, sed instar cerae transfiguratur, instar tunicae varie plicatur“ (AA, VI, 4, B, Nr. 332, S. 1687, Z. 1f.). 32   Zitzlsperger, 2002, S. 126f. 30 31

4. Das Pentagramm und die schwingende Leinwand

der Faltendrapierung steht eine Radierung voran, in deren Mittelpunkt ein in eine Tunika gehüllter Malerphilosoph die Linke zur Geste der kontemplativen Versenkung zum Mund führt (Abb. 3).33  Er wird durch einen Globus begleitet, der den universalen Charakter seiner Denkbewegungen betont. Der Raum ist zudem mit eingerollten und herabhängenden Bandstreifen, Büchern und Instrumenten der Geometrie erfüllt, und durch das schräg einfallende Licht betonen sowohl der Denker wie auch die platonischen Körper die Probleme von Licht- und Schattenwurf. Da all diese Requi­siten und Effekte auch für Leibniz von höchster Bedeutung sein werden, wirkt der leonardeske Theoretiker der Falten wie eine Präfiguration seiner selbst. Leibniz kann die Welt nicht betrachten, ohne sie in ihren Faltungen zu deuten.

4. Das Pentagramm und die schwingende Leinwand Leibniz’ Metaphern der Erkenntnis, der Knoten und die Falten, rechnen offenkundig mit der Beteiligung aller Sinne, und sie zeigen eine Affinität zur Bildenden Kunst. Die körperliche und insbesondere visuelle Komponente geistiger Tätigkeit würde sich geradezu aufdrängen, hätte nicht Leibniz’ vielleicht berühmtestes Diktum einen solchen Bezug scheinbar kategorisch ausgeschlossen. Es bezieht sich mit der Monade als der nicht mehr teilbaren, elementaren Substanz auf das Zentrum all seiner Überlegungen. Da dieses „Atom der Natur“34 nicht untergliedert werden könne, sei es auch nicht aufzufüllen, und daher könne es nur als geschlossene Einheit gedacht werden: „Die Monaden haben keine Fenster, durch die etwas ein- oder austreten könnte.“35 Da Leibniz diese Feststellung noch mehrfach wiederholt hat,36 gilt sie als unumstößlicher Kernpunkt seiner Philosophie. Gegenüber Leibniz’ stofflichen Metaphern der Erkenntnis steht die Fenster­ losigkeit der Monaden jedoch in einem keineswegs nur oberflächlichen Widerspruch. Die Irritation verstärkt sich angesichts einer Zeichnung, mit deren Hilfe Leibniz als Student in Jena im Jahre 1663 vermutlich nach Maßgabe seines Mathematikprofessors Erhard Weigel das Verhältnis von Leib und Seele zu bestimmen suchte (Abb. 4a).37 Die geometrische Zeichnung, die als „Initialschema der Monadologie“ gedeutet werden kann, zeigt das Pentagramm der Pythagoräer als eine Art Gesamthaut des Körpers, dessen fünf Seiten die Sinnesfunktionen des Tastens, des Riechens, des Sehens, des

33   Fréart de Chambray, 1651, S. 126; vgl. den italienischen Text in: Leonardo, 1995, Nr. 525f., S. 265. 34   Leibniz, Monadologie, § 3 (1998, S. 10/11). 35   Leibniz, Monadologie, § 7 (1998, S. 12/13). 36   Vgl. Busche, 1997, S. 507. 37  AA, VI, 1, Nr. 3, S. 53–60, Anm. 55. Vgl. hierzu und zum Folgenden die an dieser Stelle nicht angemessen wiederzugebende, ausführliche Analyse der Zeichnung und ihrer philosophischen Voraussetzungen durch Busche, 1997, S. 57–91.

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I  Einleitung

Abb. 4a. G. W. Leibniz, Leib-Seele-Pentagramm, Zeichnung, ca. 1663, in: Tho­ma­sius, 1661 [Niedersächsische Landesbibliothek, Hannover, Leibn. Marg. 32]  Abb. 4b. Leibniz’ Leib-Seele-Pentagramm mit Erläuterungen (Hubertus Busche; mit freundl. Genehmigung entn. aus: Busche. 1997, S. 59)

4. Das Pentagramm und die schwingende Leinwand

Hörens und des Schmeckens repräsentieren.38  Der tangential eingeschriebene äußere „Sinneskreis“ bedeutet jene Schicht, auf der die äußeren Reize die inneren Lebensgeister in eine Bewegung versetzen, deren Information an das innere Fünfeck vermittelt wird. Sowohl dieses innere Pentagramm wie auch der folgende innere Kreis des physischen und psychischen Zentrums sind um der Klarheit willen weitaus größer gebildet als ­tatsächlich angenommen. Durch das Empfindungsorgan des inneren Kreises, dies ­versucht Leibniz deutlich zu machen, wird der Sinnesreiz als eigene Wahrnehmung erkannt. Besonderes Gewicht legt er auf die von rechts unten einfallenden visuellen Strahlen, die von dem Gegenstand f aus über die Brechungen g, h und i auf die Netzhaut r fallen und von dort zum geistigen Gesichts-Punkt e im Zentrum des Gebildes gehen. Dieses „Auge des Geistes“ tastet die Anschauungen ab, deutet sie nach Maßgabe seiner Vorkenntnisse und überformt sie durch eigene Vorgaben, um sie als Vorstellungen auf den inneren Kreis k zurückzuprojizieren, der somit zur Membran passiver, von außen kommender und aktiver, von innen erzeugter Bilder wird, die gemeinsam das produzieren, was das Auge scheinbar selbsttätig sieht. Johannes Keplers Umkehrung der Sehpyramide war ein Beispiel dieses Wechselvorganges, bei dem die Sinneseindrücke und die Einbildungskraft zusammenspielten.39  Da Leibniz die Seiten des äußeren Fünf­ eckes in architektonischen Termini als Festungsbauwerk metaphorisierte, muß er für dieses Wechselspiel von nach innen wirkendem Sinnesreiz und von innen nach außen gerichteter Vorstellungskraft implizit jene Öffnungen vorgesehen haben, die er der Monade später kategorisch absprechen wird: Fenster und Tore.40  Die Monadologie suchte demgegenüber die mechanistische Banalität zu vertreiben, daß sich äußere Einflüße in die tabula rasa der Seele einschreiben und diese deterministisch bestimmen. Die Metaphorik architektonischer Durchlässe muß Leibniz daher in einem Moment befremdet haben, als er die Seele von allen mechanischen Erklärungsweisen zu lösen suchte.41  Seine Abschottung der Monade bezog ihre Radikalität vor allem aus der selbstkritischen Abwendung von der eigenen Mechanistik. Unter denselben Vorzeichen auch gegen René Descartes gerichtet, erhielt die „Fensterlosigkeit“ aus dieser Frontstellung ihre apodiktische Entschiedenheit.42  In dieser kritischen und selbstkritischen Polemik hat die Abgeschiedenheit von Leibniz’ Monade ihr Angriffsziel, aber in dieser Zuspitzung ist ihre Geltung auch erschöpft. Die Monadologie selbst wird zeigen, daß Leibniz schon aus dem Grund keinesfalls an einem absoluten Ausschluß von Innen- gegen Außenwelt gelegen sein

  Busche, 1997, S. 58. Zur Geschichte des Fünfecks: Fredel, 1998, S. 128ff., 280ff.   Busche, 1997, S. 64–66. 40  AA, VI, 1, Nr. 3, S. 56, Z. 19; vgl. Busche, 1997, S. 70. 41   Busche, 1997, S. 507. 42   Busche, 1990. 38 39

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konnte, weil jede Monade über einen Körper verfügt, über den sie das Universum ausdrückt. Ohne diesen wären ihre inneren Repräsentationen leer.43  Dieser Zwiespalt zeigt sich insbesondere in Bezug auf Leibniz’ frühes Schema der Leib-Seele-Verbindungen. In seiner kausalen Einwirkungsstruktur wurde es durch das Diktum der „Fensterlosigkeit“ der Monade außer Kraft gesetzt, aber als vermitteltes System wechselseitiger Entsprechungen, in deren Verlauf die Monade aus eigenem Antrieb eine Repräsentation des äußeren Geschehens entwickelt, behielt es seine Gültigkeit.44  Eines der markantesten Sprachbilder von Leibniz’ Spätwerk enthält eine Modifikation jenes inneren Kreises des Pentagramm-Schemas, in dem sich die eigenproduzierten Bilder des „Auges des Geistes“ mit den abgelenkt von außen einfallenden Strahlen kreuzen. Es handelt sich um das in den Nouveaux Essais sur L’Entendement Humain entwickelte Modell des menschlichen Gehirnes, das Leibniz zunächst mit einer dunklen Kammer vergleicht: „Nicht übel könnte man den Verstand mit einem ganz dunklen Zimmer vergleichen, das nur einige kleine Öffnungen hat, um von außen die Bilder der äußeren sichtbaren Dinge einzulassen. Wenn diese Bilder, die sich in dem dunklen Zimmer abzeichnen, dort verbleiben und in einer bestimmten Ordnung ­aufgestellt werden, so daß man sie bei gegebenem Anlaß wiederfinden könnte, so gäbe es eine große Ähnlichkeit zwischen diesem Zimmer und dem menschlichen Ver­stande.“45  Dieser imaginierte Raum reagiert auf John Lockes Bild des Gehirnes als einem dunklen Raum, in den Bilder eindringen.46  Wie schon gegenüber seinem eigenen Fünfeck-Schema, so nutzt Leibniz auch diese Metapher, um sich von deren mechanischer Anordnung zu distanzieren, ohne auf die Notwendigkeit der Außenwelt für die Tätigkeit des Inneren zu verzichten. Die Bilder wirken Leibniz zufolge dynamisch auf eine im Raum des Gehirns aufgestellte Leinwand, die „jedoch nicht eben, sondern durch Falten aufgegliedert“ ist, „die die eingeborenen Kenntnisse darstellen sollen.“ Da in diese membrane die angeborenen, universalen Kenntnisse eingefaltet sind, gerät die Leinwand bereits dadurch, daß sie aufgespannt wird, in die Schwingung einer „Art Elastizität oder Wirkungskraft.“ Zusätzlich stimuliert durch die von außen einfallenden Bilder, vollzieht diese Leinwand ständige vibrations und oscillations, die dem tonerzeugenden Schwingen einer gespannten Saite gleichkommen: „Und diese Tätigkeit würde in bestimmten Schwingungen und Wellenbewegungen bestehen, wie man sie an einer ausgespannten Saite wahrnimmt, wenn man sie berührt, derart, daß sie gewissermaßen einen musikalischen Ton hervorbringt.“47    Leibniz, 1998, §61f.; vgl. Busche, 1997, S. 513, 525   Busche, 1997, S. 507. 45  Nouveaux Essais, II, XII, in: Leibniz, 1985, Bd. III/1, S. 180/181. 46   Locke, 1975, II/XI, §17, S. 163. Vgl. hierzu: Wiesing, 2002, S. 24–27, 84f. 47  Nouveaux Essais, II, XII, in: Leibniz, 1985, Bd. III/1, S. 180/181. Vgl. zum Bezug zum Pentagramm: Busche, 1997, S. 60, Anm. 96. 43

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4. Das Pentagramm und die schwingende Leinwand

Die gestaltete Projektionswand nimmt die Bilder nicht unmittelbar und passivisch auf, sondern nutzt sie als Impulsgeber einer die eingesenkten Bilder lösenden Eigendynamik, deren Vibrationen mit der Malerei auch die Musik und mit ihr auch die Mathematik in ihrer höchsten, harmonischen Form repräsentiert.48  Die Mathematik, die in den Tönen der wie eine Saite zitternden Leinwand mitschwingt, wird in die ­Fähigkeit der Bilder eingebettet, die Dynamik der Selbstentfaltung der Ideen anzufeuern. Die Töne der membrane ergeben gleichsam die Musik der Selbstentfaltung. Die wie eine Saite schwingende Leinwand verdeutlicht, daß die einfallenden Bilder nicht etwa eine kausal meßbare Wirkung erzielen, sondern daß sie das zerebrale Reprä­sen­tationstheater dazu anregen, eigentätig wirksam zu werden. Hierin ereignet sich die für Leibniz „ewige Staunenswürdigkeit“ der prästabilierten Harmonie von Seele und Körper, die sich in einer kontinuierlichen, vorformulierten Parallelität von Außenereignis und Innenbewegung ausprägt.49  In immer neuen Metaphern hat Leibniz das Mysterium des Zusammenspiels von Exklusion und Entsprechung gefaßt. Hierzu gehört die in ihrer Paradoxie gültige Formulierung, daß die Seele einen „Wiederhall“ äußerer Töne gebe, von denen sie vollständig unabhängig sei.50  Sie läßt sich in Bezug auf die Fensterfrage variieren: die Seele spiegelt äußere Bilder, um ihre fensterlose Bestimmung zur Erfüllung kommen zu lassen. Ohne daß ihre spezifische Stoßrichtung und ihre interne Widersetzlichkeit bedacht worden wäre, wurde die Formel von der „Fensterlosigkeit“ der Monade gleichwohl zu einem starren Dogma verfestigt, das die gleichsam flirrenden Austausch- und Stimulierungsprozesse des zerebralen Repräsentationstheaters in die Sphäre reiner Geistigkeit verflüchtigte. Es hat klamorose Fehlleistungen produziert.51  Falls Vulgarität auf beharrlicher Eindimensionalität beruht, dann wirkt das Dogma der „Fensterlosigkeit“ der Monade, dies hat Leibniz selbst betont, nicht weniger als ein Produkt von „Vulgärphilosophen“ als die Mechanik der scholastischen 48   Lingua universalis, in: AA, VI, 4, Nr. 22. S. 68; Übers. nach Rudolph, 2001, S. 57. Vgl. auch Pazzini, 2001, S. 157f., 171, Anm. 10. 49   „merveille perpetuelle“ (Fünftes Schreiben an Clark, Leibniz, 1875–90, Bd. VII, S. 412; vgl. Busche, 1997, S. 515). 50   „Etiam anima est Echo externorum, et tamen ab externis est independens“ (Brief an Bosses, 29. 5. 1716, in: Leibniz, 1875–90, Bd. II, S. 516; vgl. Busche, 1997, S. 519). 51  So hat etwa Gilles Deleuze Leibniz’ Faltentheorie mit einer Skizze des menschlichen Gehirnes zu illustrieren versucht, bei dem die von außen („par dehors“ [Nouveaux Essais, II, XII, in: Leibniz, 1985, Bd. III/1, S. 180/181]) einfallenden Bilder des Leibnizschen Gehirnmodells von unten, aus den subrationalen Regionen des Ich kommen (Deleuze, 1995, S. 13). Damit aber war der Reiz des Zusammenklanges von Bildern, Leinwand und Saite verfehlt, was umso bedauerlicher ist, als Deleuzes Versuch, die haptisch-visuellen Anregungsquellen ins Kalkül zu nehmen, durch das Vertauschen des „von außen“ in ein „von unten“ sein vielleicht bestes Argument versäumte.

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I  Einleitung

Influxuslehre, gegen die sie sich wendet. Leibniz zufolge gibt es keinen noch so abstrakten Gedanken, der „nicht von materiellen Bildern oder Spuren“ begleitet worden wäre.52 „Begleitung“ ist aber mehr als nur eine berührungslose Parallele. Edmund Husserl hat in einer seiner nachgelassenen Schriften (1921–28) betont, daß jedes Ich als Monade „für sich“ sei, um angesichts ihrer „phänomenale[n] Doppeleinheit von Leib und Seele“ jedoch hinzuzufügen: „Aber die Monaden haben Fenster“.53  Wenig später, im Jahre 1929, hat sich Aby Warburg vor seinem Besuch bei Albert Einstein, mit dem er die Relativität kultureller Überlieferungen erörterten wollte, ähnlich wie Husserl geäußert. Er bezog sich auf die Leibnizsche Spannung, daß „Monaden ohne Fenster“ seien, um im selben Atemzug ihre „Berührung mit dem selektiven Wollen der Epoche“ zu betonen.54  Dem sind in jüngerer Zeit der Versuch, die Komplexität des seelischen Repräsentationstheaters als einen zwischen Körper und Psyche wirkenden „wechselseitigen Expressionismus“ zu begreifen,55  sowie die Annahme an die Seite zu stellen, daß die Monade dann über Fenster zu verfügen vermag, wenn sich ein Zustand von Außer-SichSein einstellt, nachdem jedes Eigeninteresse und jede Mechanik von Effekt und Nutzen verlassen sind.56  Der vorliegende Versuch wählt einen anderen Weg in dieselbe Richtung. Er bezieht sich auf die in der Strumpfbandzeichnung angelegte Frage, warum die Monade in ihrer unendlichen Komplexität gleichsam autark ist, ihre Selbstentfaltung aber nicht ohne die Perzeptionen ihres sinnesbegabten Körpers anzustoßen und auszuschöpfen vermag. Die Antwort liegt in Leibniz’ von 1671 bis 1716 verfolgtem Theater der Natur und Kunst. Es besaß die Bestimmung, nicht nur Stoff für die Außenfenster des Körpers der Monaden zu bieten, sondern auch eine Übungsstätte für die Intuition als der höchsten Fähigkeit geistiger Tätigkeit zu sein. Mit keiner anderen Frage, und selbst nicht mit der Idee einer ars characteristica, hat sich Leibniz über einen längeren Zeitraum beschäftigt als mit dem Theater der Natur und Kunst, und kein Vorhaben hat ihn in seinen letzten Lebensjahren stärker bewegt. Es war seine idée-force. Sie bildet nicht nur eine Ergänzung, sondern einen neuen Rahmen seiner Philosophie.

  „(…) les philosophes vulgaires debitoient une doctrine touchant les ames separées et les fonctions de l’ame independantes du corps et des organes, qu’ils ne pouvoient pas assez justifier. (…) je trouve pourtant, qu’il n’y a jamais pensée abstraite, qui ne soit accompagnée de quelques images ou traces materielles“ (Leibniz, 1875–90, VI, S. 532). Vgl. Horn, 1958, S. 86ff., Busche, 1990, S. 115 und ders., 1997, S. 505ff. 53   Husserl, 1973, S. 260; vgl. Cristin, 2000, S. 229f. 54   Warburg, 2001, S. 339; vgl. Raulff, 2003, S. 136f. 55   Busche, 1997, S. 508. 56   Leinkauf, 2004, S. 295f. 52

II DAS THEATER DER EXPONATE 1. Die Rolle der Kunstkammern Im Überschwang seiner im Alter von zweiundzwanzig Jahren erfolgten Anstellung am Mainzer Hof hat Leibniz erstmals seine alle Lebensphasen durchziehende Hoffnung auf das Theater der Natur und Kunst formuliert.57  In dem vermutlich 1671 niedergelegten Grundriß hat er die Errichtung einer deutschen Akademie der Wissenschaften und der Künste entwickelt, deren Befugnisse von der Vorsorge für Nahrungsmittelspeicher über die Reorganisation von Zuchthäusern und Maßnahmen zur Förderung des Handels bis zur Verbesserung der Schulausbildung reichen sollten. Leibniz propagierte einen Gelehrtenstaat, der die Forschung „mit andauerndem, unbestechlichem Feuer“ in der Chemie, Mechanik, Glasbläserei, in der theoretischen und praktischen Kunsttechnologie, in der Bildenden Kunst und der Buchdruckerei sowie dem Textilwerk und schließlich auch der Metallverarbeitung entfachen sollte.58  Dieses „Feuer“ würde sich wie ein Brand fortsetzen, insofern die anfangs bescheiden zugeschnittene Akademie im Laufe ihrer Entwicklung durch „keinerlei Grenzen“ beschränkt sein sollte.59  Leibniz hat sein Akademiekonzept zwar ausdrücklich von den Utopien des Thomas Morus, Tommaso Campanella und Francis Bacon abgesetzt,60  aber seine Societätsidee war kaum weniger utopisch, weil sie auf eine Wissensbehörde hinauslief, die im Zuge ihrer Entwicklung die Staats­organisation ausfüllen und schließlich ersetzen sollte.61  Von Zweifeln nicht belastet waren auch seine Überlegungen zu den Institutionen und Arbeitsmitteln der Akademie. Mit dem Ziel, in der Harmonie von Natur und Kunst die Allmacht Gottes und die Weisheit der Schöpfung spüren zu lassen,62   In seinen ersten Texten der Societas Philadelphica sowie der Societas Confessionum Conciliatrix, mit denen er in den Jahren 1668 und 1669 das Programm einer Gelehrtensocietät als einer Art Weltstaat formulierte, spielten Kunstkammern dagegen noch keine Rolle (AA, IV, 1, Nr. 45, S. 552–557; AA, IV, 1, Nr. 46, S. 557–568). 58  AA, IV, 1, Nr. 43, S. 537, Z. 6–9; AI, 3, Z. 5–9. 59  AA, IV, 1, Nr. 43, S. 536, Z. 21f. und S. 537, Z. 30; A I, 3, Z. 1–3. 60  AA, IV, 1, Nr. 43, S. 536, Z. 11–14. 61  Schneiders, 1975; Kanthak, 1987, S. 80. 62  AA, IV, 1, Nr. 43, S. 534, Z. 13f. 57

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II  Das Theater der Exponate

sah Leibniz vor, ein „Theatrum naturae et artis oder auch eine Kunst-, Raritätenund Anatomie-Kammer zum leichteren Erlernen aller Dinge“ zu bilden.63  Der Komparativ verdeutlicht, daß Leibniz die angesprochenen Sammlungen auch aus dem Grund favorisierte, weil sie erlaubten, die überkommenen Ordnungssysteme der „Apotheken, Gärten und Bibliotheken“ zu überwinden.64  In der zweiten Fassung seines Mainzer Akademieprojektes hat Leibniz ein Ensemble zu Kunstkammern, Raritätensammlungen, Bilderkabinetten, anatomischen Theatern, Apotheken, Heilgärten und Tiergehegen genannt, das er insgesamt als ein Theatrum Naturae et Artis definierte.65  Im Gegensatz zur starren und damit implizit toten Welt der Bibliotheken sollte es „lebendige Eindrücke und Kenntnisse von allen Dingen“ ermöglichen.66  Hierin liegt die bildungspolitische Herausforderung jenes Wissenstheaters, das Leibniz bis an sein Lebensende propagieren wird. Die Idee, das Sammlungswesen auszubauen und verwandte Institutionen anzuschließen, um das Lernen und Forschen unter Nutzung des Visuellen und Haptischen zu erleichtern, hat ihn in immer neuen Variationen beschäftigt. Sie wurde zum Kern seiner kulturpolitischen Bemühungen. Indem Leibniz das Theater der Natur und Kunst als Synonym für Kunst-, Raritäten- und Anatomiesammlungen nutzte, griff er die vom sechzehnten bis zum achtzehnten Jahrhundert vorherrschende Sammlungsform der Kunstkammer auf, in deren Idealform diese Kombination repräsentiert war. Die im Jahre 1670 publizierte Utopie des Kieler Arztes und Naturforschers Johann Daniel Major, in der ein „königlicher Palast der Volkommenheit“ die Menschen „gleichsam zu irdischen Göttern“ werden läßt, kam seinen Mainzer Plänen nahe.67  In ihm sind die Menschen in die Lage versetzt, alle verborgenen und offenen Schätze der Natur und alle menschlichen Künste und Wissenschaften mit „Luchs- und Argusaugen“ zu besehen.68  Im „Lust AA, IV, 1, Nr. 43, S. 537, Z. 11f.; AI, 3, Z. 12–13.  AA, IV, 1, Nr. 43, S. 537, Z. 13; AI, 3, Z. 14. An den Bibliotheken vermißte Leibniz die Möglichkeit, Extrakte, flüchtige Texte und übergeordnete Kriterien festzuhalten und zu indizieren, und an den Apotheken und Gärten lehnte er vermutlich die astrologischen Ordnungen ab. Es wird in seinem Sinn gewesen sein, wenn der Kurfürst das Inventar der BrandenburgischPreußischen Kunstkammer ändern ließ, weil es nach diesem überkommenen Schema aufgebaut war (Segelken, 2000, S. 45). 65  AA, IV, 1, Nr. 43, S. 540, Z. 16; AI, 4, Z. 1. 66  AA, IV, 1, Nr. 43, S. 540, Z. 18; AI, 4, Z. 3–4. 67   Major, 1670, S. B1r. Leibniz hat diese Schrift im Jahre 1686 in eine den Stand des Wissens repräsentierende Liste von Büchern aufgenommen (AA, VI, 4, Nr. 159, S. 681, Z. 5). Vgl. zu Majors Schriften und Sammlungen: Becker, 1992/93; zum „Lusthaus der Natur“: S. 72f.; zu Majors See=Fahrt: Braungart und Braungart, 1987; zu Major und Leibniz: Braungart, 1989, S. 166ff. 68   Major, 1670, S. b1r. Die Nennung der Luchs-Augen könnte als Hinweis auf die berühmte „Accademia dei Lincei“ sein: hierzu Freedberg, 2002. 63

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1. Die Rolle der Kunstkammern

Abb. 5.  Willem Swanenburg nach einem Entwurf von Jan C. van’t Woudt, Das anatomische Theater der Universität Leiden, Kupferstich, 1610

Haus der Natur“ finden sich Darstellungen der „Kunst- und Naturalienkammern, Muséa, Gazo­phylacia, Antiquaria, Gallereien, Cimeliarchia, Pinacothecas, Cabinette, oder Raritären-Gemächer der Welt“, die Major in großer Zahl aufführt und damit eine Summe der europäischen Sammlungen bietet, um dann die Akademien als nachzuahmendes und zu verbesserndes Vorbild aufzuführen.69  Leibniz wie Major waren beide vom Bestreben geleitet, im Rahmen der Kunstkammer verschiedene Sammlungstypen zu differenzieren: die „Raritäten“- oder „Naturalienkammer“,70  die sowohl Gemälde wie auch Trachten und Schmuckgegenstände umfassende Bildersammlung und schließlich das anatomische Kabinett, das, wie die Ansicht des Leidener Anatomietheaters zeigt (Abb. 5), durch seine vielfältigen Skelette und anatomischen Geräte zum Naturkundemuseum im Kleinen werden konnte.71  Wie ein Memorandum des Jahres 1680 unterstreicht, blieb die Kunstkammer im Visier von Leibniz’ Sammlungs- und Forschungsinteressen. In seinem vermut  Major, 1670, S. E3r–G4r.   Major, 1674, S. A2r., C2r; vgl. hierzu AA, III, 4, Nr. 289, S. 651, Z. 11–14. 71   Major, 1674, S. B4r (Pinacotheca); ebda., S. D3r. (anat. Kabinett); zu Leiden: Wiesenfeldt, 2002, S. 118ff. 69 70

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II  Das Theater der Exponate

Abb. 6.  Anonym, Idealdarstellung einer Kunstkammer, Kupferstich, in: Happel, 1687, vor S. 117

lich für den Ersten Minister Franz Ernst von Platen verfassten Schreiben, mit dessen Hilfe Leibniz den neuen Herzog Ernst August von Hannover für seine Ziele zu gewinnen hoffte, erläuterte er seine Privilegierung dieses Sammlungstypus: „Große Fürsten haben ebenso auf ihre Reputation wie auf den allgemeinen Nutzen zu sehen. Dergleichen Ornamente geben nicht nur den Stoff zu herrlichen Erfindungen, sondern sind auch ein Kleinod des Staates und werden in der Welt mit Bewunderung angesehen. Dieser Kunstkammer wären allerhand nützliche Maschinen oder auch, wo diese zu groß sind, deren Modelle hinzuzufügen.“72  Mit der Betonung, daß die Kunstkammer als ein „Kleinod des Staates“ durch die Pracht der Objekte vom Rang des Herrschers zeuge und durch die Apparate und Maschinenmodelle auch einen praktischen Nutzen biete, markierte Leibniz die beiden Schwerpunkte des Sammlungswesens.73  Das in einem Sammelwerk der zeitgenössischen Sehenswürdigkeiten publizierte Musterbild einer Kunstkammer demonstriert, wie die Sphären der drei Naturreiche ebenso wie alle Sektoren menschlicher Artefakte und Wissensmittel unter einem Dach verbunden wurden (Abb. 6). Der Kupferstich zeigt im linken Schiff einer hallenartigen Ausstellungsarchitektur eine Reihe von Mineralienschränken, auf denen Töpfe mit Pflanzen stehen, während an der Wand darüber Tierskelette aufgehängt sind.74  Mit seiner Zusammenstellung von Steinen, Pflan AA, I, 3, Nr. 17, S. 17, Z. 26–30; AI, 21, Z. 24–27.   Bredekamp, 2000, Antikensehnsucht, S. 66ff. 74   Vgl. Hoppe, 1994, S. 255–258. 72 73

1. Die Rolle der Kunstkammern

zen und Tieren erfasst dieser Bereich die drei Naturreiche des Mineralischen, Vegetabilen und Animalischen. Im rechten Seitenschiff sind Skulpturen, Gemälde, Reliquiare und Ethnologica als Beispiele menschlicher Artefakte repräsentiert, während das zurückgesetzte Mittelschiff den Blick auf die technischen und wissenschaftlichen Geräte der Scientifica freigibt, mit denen die Naturalia und die Artificialia erforscht und verarbeitet werden sollten. Das Modell dieser Einteilung geht auf das Inventar der Prager Sammlung Kaiser Rudolfs II. zurück, das die Exponate den drei Bereichen der Natur, der Kunst und der Wissenschaft zugeordnet und diesen auch Laboratorien, Nutzgärten und Tiergehege angeschlossen hatte,75  wie auch Leibniz es forderte. In seiner im Jahre 1679 verfassten Schrift Agenda, in der er allgemeine Lebensregeln zu bestimmen suchte, hat Leibniz mit einem einzigen Satz verdeutlicht, warum ihm die Sammlungen so wichtig waren: „Damit die Imagination oder Phantasie in gutem Zustand erhalten und nicht ausschweifend werde, muss man all seine Einbildung auf einen gewissen Zweck richten und sich bemühen, die Dinge nicht nur obenhin zu bedenken, sondern stückweise zu betrachten, soweit es für unsere Vorhaben vonnöten ist. Zu diesem Zweck ist es überaus gut, viele Sachen zu sehen und, wie die Kunst-, Raritäten- und Anatomiekammern, genau zu betrachten.“76  Das „stückweise Sehen“ bezieht sich sowohl auf die Materialität der Objekte als auch ihre Vereinzelung, welche die Phantasie zwingt, schwärmerische Ausschweifungen zu fokussieren und abrufbare Einzelformen im Gedächtnis zu verankern.77  Für diese Schärfung der Einbildungskraft am Einzelobjekt war die Kunstkammer prädestiniert, weil sie die Exponate sowohl als Singularitäten ernst nahm, zugleich aber in den Spielraum assoziativer Möglichkeiten stellte. Der Besucher konnte daher sowohl die Ausweitung wie auch die konkretisierende Kon­ trolle der Imagination optimieren. Daß die Exponate der Kunstkammer keinesfalls „bloße Kuriositäten, welche mehr Ansehen als Vorteil bringen“,78  seien, hat Leibniz am Beispiel des Harzes auf eine besonders anschauliche Weise erläutert. Er betrachtete dieses Gebirge umso mehr als eine natürliche Außenstelle der Kunstkammer, als es beide Seiten, die künstlerische Schönheit wie auch den Nutzen, verkörpere; da der Harz „nichts anderes als ein wunderbarer Schauplatz“ sei, „an dem die Natur mit der Kunst gleichsam streitet“,79  käme es darauf an, seine Exponate aufzunehmen und wissen­

75   Bauer und Haupt, 1976; vgl. Da Costa Kaufmann, 1978; ders., 1993, S. 174–194; ders., 1994; Scheicher, 1979, Olmi, 1992, und Bredekamp, 2000, Antikensehnsucht, S. 54–65. Zur Frühgeschichte der zoologischen Gärten: Baratay und Hardouin-Fugier, 2000, S. 27–81. 76  AA, IV, 3, Nr. 136, S. 898, Z. 6–8; AI, 19, Z. 1–4. 77  AA, IV, 3, Nr. 136, S. 898, Z. 9–17; AI, 19, Z. 4–14. 78  AA, I, 3, Nr. 17, S. 17, Z. 31f.; AI, 21, Z. 29–30. 79  AA, I, 3, Nr. 17, S. 17, Z. 33–35; AI, 21, Z. 32–33.

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II  Das Theater der Exponate

schaftlicher Forschung zuzuführen.80  Hierzu aber sei es nötig, daß man in die hannoversche „fürstliche Kunstkammer alle erfindlichen Spezies und Stufen der Erze sowie bergmäßigen Metalle und Mineralien mitsamt all ihren Unterarten und allergeringsten Abweichungen einsende. Deren Namen und exakte Beschreibungen mit nicht nur dem Ort und der Umgebung, an dem sie gebrochen werden, sondern auch die Notizen der erfahrenen Bergleute, was sie von deren Natur, Ursprung und Wirkung halten, sind hinzuzufügen.“81  Angesichts des Umfanges der zu sammelnden und zu erforschenden Naturobjekte dachte Leibniz daran, die Staatsbediensteten zu Mitarbeitern der Kunstkammer zu machen. Die Entdeckungen der Bergleute sollten den Schichtmeistern übergeben werden, die anläßlich der wöchentlichen Lohnzahlungen die Kunstwerke der Natur mitsamt den zugehörigen Protokollen für die Kunstkammer abzuliefern hätten, wofür sie von anderen, lästigen Schreibarbeiten befreit werden würden.82  Man solle eine Liste der maßgeblichen Fachleute anfertigen, um sie auffordern zu können, in der Bibliothek und Kunstkammer persönlich zu erscheinen und dort ihre Mitteilungen, Abrisse, Modelle und Konzepte schriftlich abzugeben wie auch mündlich zu erläutern.83  Leibniz’ Bemühen um die Hannoveraner Kunstkammer verdeutlicht, daß er das Ziel seiner Mainzer Utopie auch dann verfolgte, wenn nur ein begrenzter Realisierungsrahmen zur Verfügung stand. Wie in Mainz das gesamte Theater der Natur und Kunst, so war es in Hannover die Kunstkammer, die zum Zielort der Naturbeobachtungen, Funde und Forschungen aller Staatsbediensteten werden sollte. Als Sammlung, die neben Kunstwerken auch Maschinen, Modelle und mineralische Funde umfasste, sollte die Kunstkammer der allgemeinen Forschung dienen. Leibniz’ Interesse für die Kunstkammern erlahmte nicht. Zwei Jahre nach den Hannoveraner Überlegungen ließ er sich von seinem Korrespondenten Christoph Daniel Findekeller über die Dresdener Sammlungen informieren. Dieser wies ihn auf Tobias Beutels Monographie über die 1560 von Kurfürst August begründete Dresdener Kunstkammer von 1671 hin, kritisierte aber, daß diese eine relativ sterile Schrift darstelle, die nicht auf die Entwicklungsmöglichkeiten der Sammlung für Wissenschaften und Künste eingehe.84  Diese Informationen werden dazu beigetragen haben, daß Leibniz im Jahre 1704 versuchte, mit dem Posten eines Präsidenten der sächsischen Akademie der Wissenschaften auch die Direktion der in der Dresdener Residenz bewahrten Kunstkammer übertragen zu bekommen.85 

 AA, I, 3, Nr. 17, S. 17, Z. 33–35; AI, 21, Z. 29–32.  AA, I, 3, Nr. 17, S. 18, Z. 9–11; AI, 21, Z. 38–41. 82  AA, I, 3, Nr. 17, S. 18, Z. 15f.; AI, 21, Z. 41–47. 83  AA, I, 3, Nr. 17, S. 18, Z. 35 – S. 19, Z. 5; AI, 21, Z. 50–56. 84  AA, I, 3, Nr. 492, S. 555, Z. 13f.; AI, 22, Z. 7. Vgl. Beutel, 1671, Cedern-Wald. 85   Leibniz, 1875, S. 235; AI, 45, Z. 3–5; zum Ausgang dieses Versuches s. u. S. 175. 80 81

2. Die Besuche von Sammlungen

Leibniz hat ab 1690 der Kunstkammer von Wolfenbüttel vorgestanden und dieses Amt beibehalten, auch nachdem sie im Jahre 1704 nach Salzdahlum verlegt wurde.86  In dieser Funktion entwickelte er im Januar 1697 für die Herzöge Rudolf August und Anton Ulrich das Konzept einer Stempelsteuer, mit deren Hilfe die Mittel aufgebracht werden sollten, um fehlende Bücher für die Wolfenbütteler Bibliothek nachzukaufen und die Bestände der Kunstkammer zu stärken, wobei er erneut betonte, daß die Förderung beider Bereiche den Zweck verfolge, „nicht weniger glorios als nutzbar“ zu sein.87  Und noch fast zwanzig Jahre später, von Wien aus, befasste sich Leibniz in einem Brief an Herzog Anton Ulrich mit dieser Kunstkammer.88 

2. Die Besuche von Sammlungen Kunstkammern waren kein Privileg von Herrschern, und Leibniz hat ihnen auf Schritt und Tritt begegnen können. In seiner Geburtsstadt Leipzig gab es bedeutende Kunstkammern wie die überregional bekannte Sammlung des Bürgermeisters Christian Lorenz von Adlersheim; 89  sein jenenser Lehrer, der Mathematiker Erhard Weigel, besaß eine elaborierte Kunstkammer, die als eines der sieben Wunder der Stadt galt,90  und in der nürnbergischen Reformuniversität Altdorf, an der er im Jahre 1667 studierte, waren neben dem Theatrum anatomicum auch das Naturalienkabinett, das chemische Labor und der botanische Garten des Mediziners Mauritius Hofmann zu sehen.91  In der Verbindung von Museum, Labor und Garten waren hier drei tragende Elemente von Leibniz’ Akademieprojekten ausgebildet, was auch deshalb von Bedeutung ist, weil Leibniz in Altdorf mit rosenkreuzerischen Vorstellungen in Berührung kam, die mit derartigen Ensembles operierten.92  Reflexe dieser Sammlungen finden sich in Leibniz’ museologischer Hauptschrift, dem 1675 verfassten Drôle de Pensée, in den aber vor allem die Eindrücke eingingen, die er von 1672 bis 1675 in Paris gewonnen hatte.93  Auf seinen Reisen von Hannover aus besuchte er im November 1687 das Naturalienkabinett des Arztes Friedrich Lachmund in Hildesheim, dessen Versteinerungen er für seine erd­ geschichtliche Arbeit Protogaea nutzte, sowie die landgräfliche Kunstkammer in 86   Bodemann, 1888, Nr. 93, S. 239; AI, 63, Z. 1–6; vgl. Böger, 1997, II, S. 61, Anm. 306 Vgl. zu diesen Sammlungen zuletzt: Weltenharmonie, 2000, S. 19f. 87  AA, I, 13, Nr. 86, S. 138, Z. 16–17; AI, 33, Z. 8. 88   Bodemann, 1888, Nr. 93; AI, 63; vgl. Böger, 1997, II, S. 61, Anm. 306. 89   Döring, 1996, S. 35–37. 90   Balsiger, 1971, S. 661. 91   Leibniz, 1864–1884, Bd. I, 1, S. 135; Ennenbach, 1978. 92   Bredekamp, 2000, Antikensehnsucht, S. 52f. 93  Sie haben sein Konzept des Theaters der Natur und Kunst und, wie sich zeigen wird, auch des Atlas Naturalis entscheidend geprägt; vgl. o. S. 43f. und 156ff.

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II  Das Theater der Exponate

Kassel;94  im Dezember folgte die naturkundliche Sammlung der Maria Sybille Merian in Frankfurt am Main,95  und zum Jahreswechsel studierte er die Nürnberger Sammlungen und Kunstkammern des Kaufmanns Guttöchter, des Apothekers Johann Leonhard Stöberlein, des Herrn Viatis, des Johann Joachim Witzel, des Arztes Paul Wurfbein und des Ratsherrn Karl Velser.96  Mit der Sammlung Besler lernte er eines der größten zeitgenössischen Naturalienkabinette kennen, dessen älteste Bestände aus dem sechzehnten Jahrhundert stammten.97  Auf dem Weg nach Italien hat er zudem das Naturalienkabinett von Elias Wolfgang Talientschger de Gläneggs in Sulzbach für seine Theorie der Versteinerungen genutzt.98  Von besonderer Bedeutung war auch der Besuch der ungewöhnlich reichen und qualitätsvollen Münchner Kunstkammer im April 1688. Ihrer Einrichtung war der grundlegende Text zur nachantiken Museologie, Samuel Quicchebergs Theatrum amplissimum von 1565, gewidmet worden.99  Im Mai folgten Besichtigungen der Schatz­kammer und der Bibliothek der Wiener Burg,100  wo Leibniz im Oktober anläßlich der Audienz beim Kaiser auch sein museologisches Programm erläuterte.101  Nicht weniger stark waren seine Eindrücke der folgenden Italienreise vom März 1688 bis zum März 1690, während der er eine Fülle von Sammlungen kennenlernte. Eine der Attraktionen von Florenz war das Museum von Antonio Magliabecchi, dem Hofbibliothekar der Medici in Florenz, zu dem Leibniz enge Beziehungen unterhielt. Die Besichtigung seiner Sammlung war so selbstverständlich, daß er Einladungen in sein Haus mit ihrem Besuch gleichsetzte.102  Magliabecchi verschaffte Leibniz Zutritt auch zu Sammlungen in Bologna, wo er die Kunstkammer des Ferdinando Cospi (Abb. 7), in welche die überragende Sammlung des Ulisse Aldrovandi eingegangen war, ebenso besichtigen konnte wie die des Luigi Ferdinando Conte de Marsigli.103  In Rom hat Leibniz vermutlich auch die Kunstkammer des Athanasius Kircher (Abb. 8) studiert. Leibniz hatte mit Kircher im Frühsommer 1670 über die ars

  Leibniz, 1864–1884, Bd. 5, 1866, S. 387.   Müller und Krönert, 1969, S. 83f. 96   Müller und Krönert, 1969, S. 85; Ennenbach, 1978, S. 56; vgl. zu einigen der Sammlungen: Balsiger, 1971, S. 696. 97   Balsiger, 1971, S. 691f.; Age of the Marvellous, 1991, S. 236f. 98   Müller und Krönert, 1969, S. 86. 99   Müller und Krönert, 1969, S. 86; Ennenbach, 1978, S. 55. Zu Quiccheberg: Roth, 2000. 100   Müller und Krönert, 1969, S. 90; Ennenbach, 1978, S. 23, 58f. 101  S. o. S. 176. 102  AA, I, 5, Nr. 312, S. 546f.; AI, 31, Z. 1–2; vgl. AA, I, 5, Nr. 286, S. 516. 103  Age of the Marvellous, 1991, S. 240f.; Bredekamp, 2000, Antikensehnsucht, S. 45, 54. Ein Empfehlungsschreiben Magliabecchis öffnete Leibniz die Tür zu dem Mathematiker Domenico Guglielmini, der ihn seinerseits mit den Gelehrten der Stadt bekannt machte, unter denen sich auch der Kustos des Museums, Silvestro Bonfiglioli, befand (Findlen, 1996, S. 132). 94 95

2. Die Besuche von Sammlungen

Abb. 7.  Anonym, Kunstkammer des Ferdinando Cospi, Holzschnitt, in: Legati, 1677, Frontispiz

combinatoria korrespondiert,104  und er war auch mit dessen Gesamtwerk vertraut, zumal er den Jesuitenorden als ein Modell für seine eigenen Akademiepläne sah.105 Schon im Jahre 1675 hat Leibniz Kirchers Kunstkammer als Vorbild und Teil seines eigenen Museumskonzeptes erwähnt.106  In Rom besichtigte Leibniz die Antikensammlung des Antiquars Rafael Fabretis, und in Neapel kam vermutlich die Kunstkammer des Ferrante Imperato hinzu (Abb. 9).107  Auftragsgemäß trieb Leibniz in Italien vor allem seine historischen Studien in den Archiven voran, ohne jedoch eine Gelegenheit auszulassen, um die verschiedensten Sammlungen zu besichtigen, in denen zumeist auch die Treffen mit den einheimischen Gelehrten stattfanden. Leibniz’ Museumsgänge sind teils nur indirekt zu erschliessen, und wenn die Überlieferungslage vollständiger wäre, könnten vermutlich zahlreiche Besuche

 AA, II, 1, Nr. 23, S. 48f. (Knobloch, 1973, S. 22. Zur Rezeption Kirchers durch Leibniz: ebda., S. 19ff.). Zu Kircher als Anreger von Leibniz’ kombinatorischer Sprachtheorie: Leinkauf, 1993, S. 257 (vgl. die Veröffentlichung des Extraktes aus Kirchers Ars magna sciendi in: AA, VI, 4, B, Nr. 238, S. 1201–1203). 105  AA, I, 1, Nr. 320, S. 477, Z. 5f.; zur Korrespondenz und zur Geschichte von Leibniz’ Beziehung zu Kircher: Friedländer, 1937; zum Jesuitenorden: S. 244f. 106  AA, IV, 1, Nr. 49, S. 564, Z. 1; AI, 5, Z. 66. 107   Müller und Krönert, 1969, S. 98; Ennenbach, 1978, S. 56; zur Kunstkammer Imperatos: Age of the Marvellous, 1991, S. 234f.; Bredekamp, 2000, Antikensehnsucht, S. 57. 104

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II  Das Theater der Exponate

Abb. 8.  Anonym, Kunstkammer des Athanasius Kircher, Rom, Radierung, in: De Se­pibus, 1678, Frontispiz

2. Die Besuche von Sammlungen

Abb. 9.  Anonym, Kunstkammer des Ferrante Imperato, Holzschnitt, in: Imperato, 1599, Frontispiz

hinzugefügt werden.108  Ein im September 1676 verfasster Brief des befreundeten Helfers Friedrich Adolf Hansen gibt ein plastisches Bild davon, wie sehr sich Leibniz für Sammlungen interessierte.109  Unter den Sehenswürdigkeiten Amsterdams, die Leibniz’ „Aufmerksamkeit würdig“ wären, beginnt Hansen mit den Malern Wallerant Vaillant und Eibembourg, die er als „gelehrt und exzellent“ charakterisiert. Die weiteren Punkte betreffen Sammlungen; so erwähnt Hansen den kost­ baren Kunsttisch des deutschen Intarsienkünstlers Dietrich von Reiswig, der in   Hierzu gehören Sammlungen, deren Besuch Ennenbach aufgeführt, aber nicht nachgewiesen hat und deren Verifikation bislang nicht gelungen ist. 1690: Museum von Georg Hieronymus Welsch in Augsburg (Ennenbach, 1978, S. 42); 1706: Naturalienkabinett des Naturforschers Raetzel in Halberstadt (Ennenbach, 1978, S. 47); September 1707: Kunsthaus in Kassel, das ab 1696 das Gebäude für die landgräfliche Kunstkammer abgab (Ennenbach, 1978, S. 26f.); Sommer 1710 in Kiel: Kunst- und Naturalienkammer Johann Daniel Majors (Zur Sammlung Majors: Becker, 1992/93, S. 75–79; zum Besuch Leibniz’: Ennenbach, 1978, S. 51); Kabinett von Günther Christoph Schellhammer, der wie Major ein Mitglied der Leopoldina war; Kunstkammer Samuel Reyhers, mit dem Leibniz über dreißig Jahre in brieflichem Kontakt stand (Ennenbach, 1978, S. 51); 1710: Kunstkammer von Gottorf (Ennenbach, 1978,S. 47); 1716: Naturalienkabinett von August Hermann Francke in Halle (Ennenbach, 1978, S. 47; zu den Franckeschen Stiftungen: Müller-Bahlke und Göltz, 1998). 109  AA, I, 1, Nr. 315, S. 458, Z. 28 – S. 459, Z. 6; AI, 7. 108

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II  Das Theater der Exponate

Philipp von Zesens Amsterdam-Führer von 1664 ausführlich gewürdigt worden war. Seine aus Perlmuttmuscheln gefertigten, auf den Tischplatten angebrachten Tiere schillerten jeweils in der in Natur vorkommenden Farbe, was Zesen veranlaßte, hier die wechselseitige Konkurrenz von Natur und Kunst anzusprechen, die Leibniz vier Jahre später in den Produkten des Harz erkennen wird: „In dieser köstlichen Kunsttafel spielen die Natur und die Kunst so wunderbar durcheinander, daß man nicht weiß, welche von beiden den höchsten Preis davon trägt.“110  Hansen läßt sodann die Sammlung des Arztes und Naturforschers Jan Swammerdam,111  einen riesigen Globus, bei dem es sich vermutlich um einen der Himmelsund Erdkugeln des Neuen Rathauses handelte,112  die Sammlung von Skeletten, Tieren und Monstra des Frederic Ruysch113  und schließlich das Haus des Privatmannes Jost Kempes folgen, das so reich und kunstvoll gestaltet sei, daß es selbst der Großherzog von Florenz als Prinz besichtigt habe. Mit traumwandlerischer Sicherheit nennt Hansen von der Antiken- und Medaillensammlung über naturwissenschaftliche Kabinette und Instrumente, einem Natur-Kunsttisch sowie einer anatomischen Sammlung bis schließlich zu zeitgenössischer Kunst und gelehrten Künstlern markante Elemente von Leibniz’ Interessen. Ein Dankesbrief Hansens für die detaillierte Beschreibung der sehenswerten Dinge, die Leibniz „in England und Holland gesehen“ habe, zeigt, daß dieser seinen Empfehlungen gefolgt ist.114  Er war ein passionierter Museumsgänger, und dieser Erfahrungsschatz bildete das Rückgrat all seiner Überlegungen zur Errichtung des Theaters der Natur und Kunst.

3. Begriffsvarianten des Theaters Die Formel Theatrum Naturae et Artis, unter der Leibniz die Kunstkammer als dessen wichtigstes Element subsumiert, besitzt als Ganze wie auch in ihren Komponenten eine komplexe Bedeutungsvielfalt. Der heutige Gebrauch des Theaters als Bezeichnung eines Gebäudes für Schauspielaufführungen oder für die Darbietungen selbst nahm im siebzehnten Jahrhundert nur einen kleinen Sektor des Wortsinnes ein.115  Das Theatrum bezeichnete einen Ort oder ein Mittel, das die

  Zesen, 2000, S. 463 (Zitat modernisiert). Zum Harz: S. o. S. 27.   Zu Swammerdams Sammlung anatomischer Präparate, nach der von Ruysch eine der reichsten des siebzehnten Jahrhunderts: Balsiger, 1971, S. 463ff. 112   Zesen, 2000, S. 328f. 113  Radzjoen, 1996; Kistemaker, 2003, S. 58ff. 114  AA I, 2, Nr. 214, S. 242, Z. 29f.; AI, 8. 115  Selbst wo der moderne Wortsinn gemeint war, besaß er eine ausgreifende Bestimmung. In seiner Bedeutung als Bühne reichte das Theatrum von Andrea Palladios und Vincenzo Scamozzis antikischem Teatro Olimpico von Vicenza (Beyer, 1987; Grötz, 2001) über die hoch 110 111

3. Begriffsvarianten des Theaters

Anschauung von einem Gegenstand oder einer Idee intensivierte.116  Es konnte von landschaftlich ausgewiesenen Orten über Gebäude bis zu Bildersammlungen, sinnliche Verdeutlichungen von Begriffen, Enzyklopädien und allen Arten von Büchern reichen, die ein Problem oder einen Gegenstand beschreibend oder illustrativ zu veranschaulichen suchten.117  Ein besonders prägnantes Beispiel ist Giulio Camillos L’Idea del Theatro von 1552, weil es sowohl als mnemotechnische Veranschaulichung des Wissens der Welt und damit ebenso als Enzyklopädie wie auch als gebautes Amphitheater in Miniaturform gemeint war.118  Daß Leibniz dieses Werk kannte, ist allerdings nicht gesichert, und dies gilt auch für Samuel Quicchebergs Theatrum amplissimum von 1565, das einen ähnlichen Ansatz in Bezug auf die Kunstkammer verfolgte. Quiccheberg ging davon aus, daß Sammlungen nicht etwa der Stillstellung vormals lebendiger Objekte zu dienen haben, sondern daß sie einen Ort der Bewegung bieten sollen, indem die Exponate durch Veränderungen der Anordnung bislang unerkannte Beziehungen eingehen und auch als Ausgangsmaterial für wissenschaftliche Untersuchungen fungieren.119  In diesem Sinn entwickelte Quiccheberg das Modell des Museums als bewegliches Labor des Wissens, und wenn Leibniz dieses Theatrum nicht gekannt haben sollte, so stand er doch in dessen Tradi­tion.120  Daß er sich von anatomischen Theatern hat anregen lassen, geht bereits aus seinen Mainzer Reformplänen hervor. Indem diese medizinischen Ausbildungsstätten, in denen anatomische Sektionen durchgeführt wurden, auch über Sammlungen von Skeletten, besonderen Spezies, Antiken, Wachsfiguren, allegorischen Gemälden und Kupferstichen verfügten, bildeten sie, wie erwähnt, Kunstkammern im Kleinen.121 

geschlossenen Rundbauten der Shakespeare-Zeit bis zu Spontanarchitekturen in Zeltform, freien Podien oder auch in die Landschaft gestellten Bühnenrahmen, welche die Gärten in Theaterräume verwandelten (vgl. zu Italien: Lavin, 1990; allgemein: Brauneck, 1993 und 1996 sowie Teatro, 2001). Diese Möglichkeiten, die den Zuschauerraum und die Bühne entweder dicht aufeinander bezogen oder die eine Umkehrung von Innen und Außen illusionierten, erzeugten jene metaphorische Transformation, die von der Welt als Theater und dem Theater als der wahren Welt sprechen ließ (Bernheimer, 1956; Curtius, 1948, S. 149ff.; Alewyn, 1989). 116   Grundlegend zur Begriffsgeschichte: Kirchner, 1985, Schramm, 1996, S. 22f., 49ff. und Blair, 1996. 117   Kirchner, 1985, S. 135f., Anm. 14; Blair, passim. 118   Bologna, 1991; Camillo, 1991; vgl. zu Camillo und zur Rezeption seiner Mnemotechnik: Bernheimer, 1956; Yates, 1990; Falguières, 1992; Bolzoni, 1994; Roth, 2000. 119   Leibniz hatte Kenntnis von der museologischen Literatur seiner Zeit (AA, I, 5, Nr. 247, S. 445, Z. 8f.; AI, 30, Z. 1–2), aber er hat diesen früheren Text nirgendwo zitiert. 120   Vgl. die kommentierte Neuedition des Theatrum amplissimum durch Roth, 2000 und die Bestimmung seiner Wirkungsgeschichte durch Brakensiek, 2003, S. 78ff. 121   Blair, 1996, S. 156f.; s. o. S. 25.

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II  Das Theater der Exponate

Abb. 10. Wolfgang Kilian, Theatrum Naturae, Stich, 1615, in: Michael Rötenbeck, The­a­trum Naturae, Nürnberg 1615, Klebebuch, Titelblatt, Berlin, Humboldt-Universität, Museum für Naturkunde

Der Beweglichkeit dieser Exponate entsprachen die mobilen Bühnen der Komödianten und Gaukler122  sowie die Sportarenen, die zumindest in der Florentiner Form des Calcio als Theater begriffen wurden. Einer der Theoretiker des Calcio hat ausgeführt, daß sich die Spieler besonders bei Großveranstaltungen 122

 S. u. S. 48.

3. Begriffsvarianten des Theaters

befleißigen sollten, „geschmückt und besonders in gutem Zustand aufzutreten, als das Theater an einem solchen Tag mehr als sonst von Leuten voll ist.“123  All diese Anregungsquellen, die von Leibniz benannt wurden oder gleichsam in der Luft lagen, bezeugen ein weit ausgreifendes Verständnis des Theaters als Ort oder Mittel des Zeigens und Vorführens. Dasselbe gilt für das in zahlreichen Varianten verwendete Theatrum Naturae.124  Auch dieses Kompositum umfaßte alle Bestimmungen des Begriffes im Sinne eines Schauplatzes der Natur, der auch Druckwerke einschloß, die, wie etwa das 1590 erstmals publizierte Universae naturae Theatrum Jean Bodins, keineswegs illustriert waren, sondern eine systematische Beschreibung der Welt boten. Im Sinne der zeitgenössischen Bestimmung des Theatrum als Medium des Zur-Schau-Stellens hatte Bodin sein Opus als „eine Art Tafel der vom unsterblichen Gott geschaffenen Dinge“ definiert, „die den Augen von Jedermann präsentiert werden.“125 Diese Bestimmung könnte Leibniz, der Bodins Werk besonders geschätzt hat, aufgenommen haben.126  Zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts hat der Nürnberger Arzt und Humanist Michael Rötenbeck ein gleichnamiges Theatrum Naturae zusammengestellt, das darin eine Alternative bot, daß es weniger auf Texte als vielmehr auf Bilder setzte. Es vereinigte 545 Tier- und Pflanzenaquarelle, die von dem überragenden Miniaturisten Lazarus Rötting gemalt worden waren. In der Vorrede erläuterte Rötenbeck, daß er das Werk unter den Titel Theater der Natur gestellt habe, „weil darin, wie in einem offenen Schauplatz, mancherlei Kreaturen Gottes jederman gleichsam lebendig vor Augen gestellt werden (…); und die Betrachter und Liebhaber der Kunst sollten durch dieses Theatrum Naturae angereizt werden, Gott aus seinen Wunderwercken zu erkennen und ihn auch weiterhin umso mehr zu loben und zu preisen.“127  123   „(…) e tanto più si de[v]ono sforzare di comparire adorni, e bene in aßetto nel giorno solenne della Livrea: perchè in tal dì il Teatro è piu che mai pieno di genti“ (Bardi, 1615, S. 15). 124   Vgl. etwa das Theatrum Naturae von Philander Colutius, Professor für Medizin am Gymnasio Romano, von 1611, das eine aktualisierte Fassung von Camillos Idea in Form eines Memorialtheaters entwickelt, indem das Frontispiz sechzehn antike Philosophen durch ihre Büsten und ihre markantesten Aussagen auf einer Bühne präsentiert. Die Mitte und die Ränge nehmen naturphilosophische Lehrsätze vor allem von Aristoteles ein (Colutius, 1611; vgl. Harms, 1985, Bd. I, Nr. 5, S. 16–19; Blair, 1996, S. 172ff.). 125   Bodin, 1590, sig. v; vgl. Blair, 1996, S. 160–163. Johann Heinrich Alsted, dessen Encyclopaedia von 1630 Leibniz bei all seinen Bemühungen um eine Universalsprache als Herausforderung vor Augen stand und die er ebenfalls in die Liste der lesenswerten Werke aufnahm (AA, VI, 4, A, Nr. 159, S. 683, Z. 4), hat Bodins tabula gepriesen und als Modell für sein eigenes Vorhaben gewertet (Alsted, 1630, Bd. I, S. 787; Blair, 1996, S. 172), und spätestens hier wird sich Leibniz das Konzept des Theatrum Naturae als ein dem Auge zugänglicher „Schauplatz“ erschlossen haben. 126  AA, VI, 4, A, Nr. 159, S. 681, Z. 8f. 127   Handschriftliche Vorrede Michael Rötenbecks, modernisiert, nach der Transkription in: Hackethal, 1990, S. 56; vgl. Jahn, 1970, S. 186.

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II  Das Theater der Exponate

Auf dem zugehörigen Titelkupfer des Augsburger Kupferstechers Wolfgang Kilian (Abb. 10) bilden der mit lebhaftem Zeigegestus vor den gedrehten Doppelsäulen des Orients postierte Salomon und der korrespondierende Perserkönig Cyrus Repräsentanten einer arkanen Weisheit, deren Stätte sich hinter dem Portal als Natur selbst offenbart. Ein adamitischer Mensch wird, als solle der Fluch der Erbsünde zurückgenommen werden, von einer gottvaterhaften Gestalt durch ein paradiesisches Reich geführt, dessen Artenvielfalt im Buch zu studieren ist. Indem es sich durch anschauliche Erkenntnis auszeichnet, bietet es ein Theater der Natur. Der Maler, so betont die lateinische Inschrift, habe die Spezies „auf eine die Natur nachahmende Kunst gemalt und in lebendigen Farben illustriert.“128  Ob Leibniz dieses kostbare Papiermuseum während seiner Aufenthalte in Nürnberg oder im Verlauf seines Studiums im benachbarten Altdorf studiert hat, ist nicht zu belegen; in jedem Fall aber traf es mit seinen „lebendigen“ Farben ein wesentliches Element seiner Bestimmung des Theaterbegriffs.129  „Lebendig“ war für Leibniz alles, was in haptischer und visueller Weise über die festgelegte Schriftform hinausging. Als er ca. 1671 in Mainz das Theater der Natur und Kunst definierte, erhoffte er, „leben­ dige Eindrücke und Kenntnis“ produzieren zu können.130  Diese Erwartung trug auch bereits Rötenbecks Theatrum Naturae vor. In einer seiner letzten Äußerungen, der Denkschrift für Zar Peter I. aus dem Jahre 1716, hat Leibniz die Kurzformel des Theaters der Natur in jene Richtung gelenkt, in die sich der moderne Theaterbegriff als Inszenierungen entwickelte, gleichwohl aber einen denkbar weiten Rahmen beibehalten, der von Grotten über Gärten bis zu zoologischen Gärten und anatomischen Theatern reichte: „zum theatro naturae gehören ganze Grotten, in denen allerhand Sorten von Mineralien und Muschelwerken zu sehen sind, ein Garten, in dem besondere Sorten von Bäumen, Stauden, Wurzeln, Kräutern, Blumen und Früchten zu finden sind, und endlich Tiergärten und Lebendgehege, in denen lebende vierfüssige Tiere, Vögel und Fische zu sehen sind, samt einem anatomischen Theater, in dem die Skelette der Tiere gezeigt werden.“131  Leibniz’ Denkschrift für den Zaren definierte schließlich auch das letzte Element der Gesamtformel, das Theatrum Artis: „Zu dem theatro artis gehört, was ein Observatorium, Laboratorium, Rüsthaus und Magazin erfordern; darin sollen sich auch Modelle von allerhand nützlichen Inventionen in ziemlicher Größe finden, insbesondere von allerhand Mühlen, Hebewerkzeugen, Wasserwerken sowie auch vielen Arten der bei den Bergwerken gebräuchlichen Maschinen.“132  128   „(…) arte naturam aemulante, picta, vivisque coloribus illustrata“ (zit. nach Hackethal, 1990, S. 51). 129   Vgl. zum Topos der „lebendigen“ Farben: Fehrenbach, 2003, S. 158ff. 130  AA, IV, 1, Nr. 43, S. 540, Z. 18; AI, 4, Z. 1–4. Vgl. S. 42f., 158. 131   Guerrier, 1873, Nr. 240, S. 351; AI, 66, Z. 18–23. 132   Guerrier, 1873, Nr. 240, S. 351; AI, 66, Z. 24–28.

4. Bechers „Theater der Natur und Kunst“

Abb. 11. Georg Andreas Böckler (inv.), Theatrum Machinarum Novum, Stich, 1661, in: Böckler, 1661, Titelblatt

Diese Betonung von Geräten, Maschinen und Werkzeugen stand in der Tradition von Maschinenbüchern, die wie etwa Jacques Bessons Theatrvm Instrvmentorvm et Machinarvm von 1578 und Heinrich Zeisings oftmals aufgelegtes Theatrum Machi­narum den Theaterbegriff im Titel führten.133  Leibniz hat zumindest Georg Andreas Böcklers Theatrum Machinarum Novum von 1661 gekannt und geschätzt.134  Das eine veritable Bühne zeigende Frontispiz dieses Werkes (Abb. 11) wird ihn darin bestärkt haben, die Theatermetapher zu verwenden. Auf dem Kupferstich ziehen Archimedes und Mechanicus, sein moderner Schüler, den Vorhang 133   Besson, 1578; vgl. Bredekamp, 2000, Antikensehnsucht, S. 26f.; Zeising, 1673. Vgl. zum Maschinenbegriff und zum Schaucharakter des Theatrum der Maschinen: Lazardzig, 2004. 134   Leibniz, 1899, S. 515; AI, 41, Z. 3.

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II  Das Theater der Exponate

zur Seite, um den Blick auf am Straßenrand stehende Mühlen freizugeben, deren Antriebsräder von einem Wasserturm über Aquaedukte gespeist werden.135  Alle Varianten decken verschiedene Aspekte von Leibniz’ Formel des Theatrum Na­tu­rae et Artis ab. Sie verband den Begriff des Theaters mit allen Bestrebungen, die im weitesten Verständnis von Natur, Kunst und Technik Phänomene und Probleme zur intensivierten Anschauung zu bringen versuchten und damit unter der Hand eine Verbindung von Sammeln, Forschen, Zur-Schaustellen und Verlebendigen bewirkten.

4. Bechers „Theater der Natur und Kunst“ Die Formel selbst gehört nicht zu Leibniz’ Erfindungen; vielmehr wurde sie durch eines der bekanntesten Bücher zur Didaktik des Spracherwerbs, Johann Joachim Bechers Methodus Didactica von 1668, geprägt. Der Arzt, Ökonom und Abenteurer Becher, der in den sechziger Jahren ein Vorgänger von Leibniz am Mainzer Hof gewesen war, hatte mit diesem Werk nicht nur eine Anleitung zum Sprachunterricht, sondern auch zur Gedächtniskunst vorgelegt, die einen „Fürstenweg“ zur Vernunft bahnen sollte. In seiner Einleitung betonte Becher mit der ihm eigenen, farbigen Metaphorik, daß er mit seiner Schrift Gruben zu tiefgründigen Argumentationen zugeschüttet, Hügel unnützer Schlüsse geschleift, Wälder von Absurditäten ausgerottet, von Worten verstrüppte Pässe eröffnet, Sümpfe der Zeitverschwendung trocken gelegt, den Sprachweg mit ­einem Zaun versehen, die Wurzeln der lateinischen Sprache als Bäume gepflanzt, ihre Derivate als Äste angebracht und schließlich die Irrgärten der Grammatik in Blumengärten verwandelt habe. Zudem habe er, und hier nennt Becher erstmals die gesamte Formel, durch das „Theatrum Naturae & Artis die Wörter mit den Sachen vereinigt.“136  Da dem Lernenden die Bedeutung der Wörter so nah als irgend möglich mit den Signifikaten zusammengebracht und „alle lebendigen Tiere, Kräuter, Steine, Metalle und Artefakte, Instrumente und Sachen und auch deren Teile lebendig vor Augen“ gestellt werden sollten,137  sei ein solches Theater der Natur und Kunst zu gründen: „Ich habe einmal die Spekulation gehabt, wenn ein Herr wäre, der als Muster an Wohlgefälligkeit die Mittel gäbe, ein Theatrum Naturae et Artis solchergestalt aufzurichten, daß alle Naturalia und Artefacta, Instrumente und Manufacta darin wären, so viele man immer bekommen könnte.“138 

 Stöcklein, 1969, S. 177.   Becher, 1668, S. 4r–4v. 137   Becher, 1668, S. 50; AI, 1, Z. 1–2. Vgl. Smith, 1994, S. 85f. 138   Becher, 1668, S. 51; AI, 1, Z. 10–13. 135

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4. Bechers „Theater der Natur und Kunst“

Im ersten Stock dieses Theaters sollten ausgestopfte Tiere oder deren Nachbildungen in Holz oder Wachs aufgestellt werden, so daß an einem Tag mehr gelernt werden könne „als in der blutigen Anatomie in vielen Wochen.“139  Die Pflanzen waren für die zweite Etage vorgesehen; sie sollten ebenfalls in Holz oder Wachs nachgebildet werden und solcherart einen Sommer wie Winter grün bleibenden Garten repräsentieren. Im dritten Stockwerk sollte sich das Reich der Mineralien ausbreiten können. Die drei unteren Stockwerke repräsentierten Becher zufolge die gesamte Natur, um ein allgemeines Publikum anzuziehen: „wäre nun dieses nicht ein schönes Theatrum Naturae, für Alte und Junge, Geist- und Weltliche, Gelehrte und Handwerksleute, da man an einem Ort zusammen hätte, was die gütige Natur in der ganzen Welt erschaffen hat, ja was einer wohl, selbst wenn er die ganze Welt durchreiste, nicht zu sehen bekommen werde. Sollte dieses nicht ein edler Magnet sein, wißbegierige Geister [Ingenia] aus nahen und fernen Landen anzuziehen?“140  Im vierten Stock sah Becher als zusätzliche Attraktion die menschgemachten Gegenstände und Instrumente vor.141  Von besonderer Bedeutung ist seine Überlegung, daß die einzelnen Exponate auf Postamente gestellt werden sollten, denen Inschriften in verschiedenen Sprachen beizugeben wären. Zudem könnten die Tiere nach ihrer Artenzugehörigkeit gruppiert werden: „auch könnten die Körper ihrer physischen Abteilung nach in gewisser Ordnung stehen, wie die Vierfüßler und besonders die Lufttiere, Wasserwesen, Insekten etc.“142  Bechers Überlegungen fruchteten zumindest bei Athanasius Kircher, Johannes Andreas Schmidt und Leibniz. Kircher hatte seine riesige römische Kunstkammer im Jahre 1659 gegenüber Herzog August von Braunschweig-Lüneburg bereits als „Theater der Stadt und der Welt bezeichnet“,143  und er hatte dessen Sohn Ferdinand Albrecht 1662 und 1663 durch Rom geführt und wesentliche Anregungen dafür geliefert, daß dieser auf seinem Schloß in Bevern eine anspruchsvolle Kunstkammer zusammenbrachte.144  Insofern war es nicht ohne programmatische Geste, wenn er seine eigene Sammlung auf dem so prachtvollen wie geheimnisvollen Titelkupfer des im Jahre 1678 erschienenen Kataloges im Anklang an Bechers Konzept als Haus des naturae artisque theatrum ausgab (Abb. 12). Möglicherweise hat sich der Helmstedter Professor für Kirchengeschichte Johann Andreas Schmidt auf Kircher bezogen, als er Leibniz im Jahre 1697 mit­

  Becher, 1668, S. 51; AI, 1, Z. 22.   Becher, 1668, S. 52; AI, 1, Z. 45–46. 141   Becher, 1668, S. 51f.; AI, 1, Z. 33–34. 142   Becher, 1668, S. 52; AI, 1, Z. 37–38. 143   „in hoc Vrbis et Orbis Theatro“ (Brief vom 13.6.1669, in: Athanasius Kircher, 1988, S. 107; vgl. Findlen, 1995, S. 641). 144   Barocke Sammellust, 1988, S. 74f., 118. 139 140

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II  Das Theater der Exponate

Abb. 12. Titel des Museum Kircherianum, Ausschnitt aus Abb. 8

teilte, oft daran gedacht zu haben, ein öffentliches naturae et artis theatrum zu errichten;145  ebenso aber ist denkbar, daß er Bechers Methodus didacticta im Auge hatte. Für Leibniz ist dies gewiß. Er hat das Museum Kircherianum wie erwähnt als ein Modell und zugleich Exponat seiner Pariser Ausstellungsschrift von 1675 aufgeführt, und ihm war der Katalog von Kirchers Sammlung bekannt,146  aber die größte Wirkung ging zunächst von Bechers Schrift aus. Er hat sie bald nach Erscheinen gelesen und in seinen Anmerkungen auch das Projekt des Theaters der

 AA, I, 14, Nr. 301, S. 508, Z. 15f.  AA, IV, 1, Nr. 49, S. 564, Z. 1; AI, 5, Z. 66. In den Aufzeichnungen zum 1674 erschienenen Briefwechsel zwischen Kircher und Quirin Kuhlmann erwähnt Leibniz den „höchst exakten“ Katalog Giorgio de Sepibus aus dem Jahre 1671 (AA, VI, 3. Nr. 14. S. 211, Z. 17–19), der sich jedoch nicht verifizieren ließ. Möglicherweise handelt es sich um eine Vorform von De Sepibus, 1678. 145

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4. Bechers „Theater der Natur und Kunst“

Natur und Kunst kommentiert. Ebenso wie zahlreiche andere Zeitgenossen hat er Becher als eine problematische Persönlichkeit wahrgenommen, dessen Ingenium und Mut aber bewundert.147  Von diesem Zwiespalt war auch seine Bewertung von dessen Theater der Natur und Kunst geprägt. Sein Kommentar zu Bechers Methodus didactica war eine Mischung aus Zustimmung und Kritik: „Und in der Tat ist die Zuordnung sowohl der Sachen wie der Worte zweifach, leblos und lebendig. Die Zuordnung der Dinge in lebloser Form ist in einer Kunstkammer, ebenso in jenem vom Autoren vorgezeichneten theatrum naturae et artis.“148  Schon indem Leibniz dem becherschen Theater der Natur und Kunst attestierte, Gefäß der leblosen Dinge zu sein, widersprach er dessen Hoffnung auf eine gleichsam immergrüne lebendige Präsentation. Im Gegensatz zu späteren Äußerungen, die bereits in täuschend lebensechten Nachbildungen das Kriterium der Lebendigkeit erfüllt sahen, suchte Leibniz nun nach Orten, an denen die Eigenbewegung der lebenden Pflanzen, Tiere und Mineralien zu beobachten war: „im thiergarten, im Blumengarten, im Bergwerck.“149  Insofern die Bewegung das Prinzip des Lebendigen war, erachtete Leibniz auch die bechersche Anordnung der zu lernenden Worte als „unlebendig“, wohingegen er Jan Amos Comenius eine vitale Methode attestierte, weil diese die Sprache mit der Bewegung verband.150  Wie sich zeigen wird, gehörten auch die Bilder von Comenius Orbis pictum, von denen der Impuls des Lernens ausging, zum Kriterium der Lebendigkeit. Bechers Theatrum naturae et artis dagegen hatte in Leibniz’ Augen das Defizit, daß sich die Bewegungen nicht repräsentieren konnten, wie es etwa die Weltmaschine seines jenenser Mathematikprofessors Erhard Weigel vermochte. Weigel verfügte nicht nur über die erwähnte Kunstkammer, sondern auch über verschiedene Globen. Vermutlich hat sich Leibniz hier von Weigels sphaera moralis, einem Globus zur Kombinatorik von Ethik und Rechtslehre, inspirieren lassen, den er im Jahre 1663 als höchst beweglich gepriesen hatte und den er später in seinen Atlas universalis aufnehmen wird.151  Offenbar hat sich Leibniz von Bechers Publikation der eigenen Kunstkammer, die zur Buchmesse des Jahres 1669 unter dem Titel Katalog aller Körper, die im becherschen Theater der Natur und Kunst zu finden sind herauskommen sollte,152  mehr versprochen als von dessen methodus didactica. Er hat sich den gesamten

  Breger, 1993, S. 71ff.  AA, VI, 2, Nr. 52, S. 392, Z. 13–15; AI, 2, Z. 1–3; vgl. Breger, 1993, S. 71. 149  AA, VI, 2, Nr. 52, S. 392, Z. 15f.; AI, 2, Z. 3–5. 150  AA, VI, 2, Nr. 52, S. 392, Z. 16f.; AI, 2, Z. 4. 151  AA, VI, 1, Nr. 3, S. 55, Z. 33; Vgl. hierzu Busche, 1997, S. 73; AA, VI, 4, A, Nr. 31, S. 90, Z. 3; AI, 12, Z. 81. 152   „Catalogus omnium corporum, quae in theatro naturae et artis Becheriano reperiuntur“ (AA, VI, 2, S. 392, Z. 14f.; vgl. Hassinger, 1951, S. 264). 147

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II  Das Theater der Exponate

Inhalt mitsamt der Erwähnung der Laboratorien notiert, die seinem Begriff von Lebendigkeit entgegenkommen mußten.153  Umso enttäuschter wird er darüber gewesen sein, daß dieses Buch trotz der Ankündigung nie herauskam. Leibniz stand Bechers Projekt mit einer Mischung aus Skepsis und Neugierde gegenüber; Bechers Wortschöpfung aber hat bei ihm geradezu gezündet. Von 1669 an hat er über einen Zeitraum von 47 Jahren nicht nachgelassen, sein eigenes Konzept der Errichtung eines Theaters der Natur und Kunst zu betreiben. Bechers Versuch, im Theater der Natur und Kunst die Wörter und die Sachen so eng wie irgend möglich zu verkoppeln, hat er aufgenommen, zugleich aber das Defizit der Lebendigkeit und der inneren Motorik der Darstellung und des Lernens zu kompensieren versucht. Was ihn von Becher unterschied, war vor allem die Erweiterung des Theaterbegriffes. Bechers Formel des Theaters der Natur und Kunst bedeutete zunächst eine Variante der Kunstkammern. Diese Bestimmung hat Leibniz zwar übernommen, ihr aber weitere Sphären hinzugefügt und vor allem einen theatralen Zusammenhang hergestellt, der den Begriff des Lebendigen insofern zu realisieren versuchte, daß er auf allen Ebenen die Eigenmotorik und Dynamik als Zeichen der Lebendigkeit stärkte. Sein Theater der Natur und Kunst geht daher noch über die Summe der Einzelbedeutungen hinaus; es umfasst Kunstkammern mit den drei Reichen der Natur, wissenschaftliche Geräte, Werke der bildenden Kunst und der Kunsttechnologie, physikalische und chemische Laboratorien, botanische Gärten und Menagerien, anatomische Theater und Mustergrotten. Durch alle Bereiche, und dies ist der entscheidende Gedanke, wirkt ein dynamischer, die Kunstkammern mit dem Theater verbindender Begriff des Sammelns, Forschens und Vermittelns.

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 AA, VI, 2, S. 394, Z. 5–8; AI, 2, Z. 10–15.

III DER PARISER „GEDANKENSCHERZ“ 1. Der Text Mit seinen in Mainz formulierten Überlegungen hat Leibniz auf die Entwicklungen reagiert, die mit der Gründung der Akademie der Künste (1648) und der Akademie der Wissenschaften (1666) in Paris angestoßen worden waren. Während seines dortigen Aufenthaltes vom März 1672 bis zum Oktober 1676 war Leibniz von der anfänglichen Schwierigkeit, im Kreis der Akademieforscher zu reüssieren, zwar zunächst irritiert, aber die Dynamik des intellektuellen Lebens und die Erfahrung der Großstadt versetzten ihn dennoch in eine kaum jemals wieder erlebte Hochstimmung. Von dieser Euphorie zeugt vor allem der Text Drôle de Pensée, touchant une nouvelle sorte de REPRESENTATIONS (Gedankenscherz, eine neue Art von REPRÄSENTATIONEN betreffend) vom September 1675 (Abb. 13). Ausgelöst durch Versuche von Zeitgenossen, mittels Apparaturen auf der Seine zu gehen oder sich in die Lüfte zu erheben (Abb. 14),154  hat Leibniz in diesem Text seine um den Begriff des Theaters der Natur und Kunst kreisende Strategie zur Förderung des Wissens abundant entfaltet.155  In seiner atemlosen Wirrnis, seinen wilden Assoziationen, seinen Wiederholungen und seinen Einschüben wirkt diese verblüffende Schrift auf den ersten Blick wie eine karnevaleske Skizze, aber schon die relativ saubere Handschrift belegt, daß Leibniz’ Gedanken hier keineswegs entglitten sind. Sie fügen sich vielmehr in das heute nur mehr mühsam zu rekon154  AA, IV, 1, Nr. 49, S. 562, Z. 19–21; AI, 5, Z. 14–15. Zur Abbildung: Hooke, 1679, fig. 2 zu S. 16; vgl. hierzu und zu Hookes Quelle: AA, IV, 2, S. 740f. Das Fluggerät und die Kraft­ übertragung des Körpers wären bei vergrößerten Flügeln allenfalls für ein Gleiten geeignet gewesen. Diese Flugversuche des Schlossers Besnier aus der Provinz Maine haben nicht in Paris stattgefunden, aber der Seiltänzer Allard hatte dort vergleichbare Unternehmungen gestartet. Leibniz war zudem die Harsdörffersche Ausgabe von Daniel Schwenters physico-mathematischen Untersuchungen von 1651 und 1653 bekannt, in der ein ähnlicher Versuch abgebildet war (Gerland, 1906, S. 246, Anm. 1; Wiedeburg, II, 3, 1970, S. 292, Anm. 985). Auch dies mag zu seiner Schluß­bemerkung geführt haben, daß sich in dem im Titel angesprochenen Scherz ein ernster Kern verhüllt. 155  AA, IV, 1, Nr. 49, S. 562–568; AI, 5. Vgl. Gerland, 1906, S. 246ff.; Wiener, 1940; Belaval, 1958; Wiedeburg 1970, II, 1, S. 610ff.; Ennenbach, 1981; Böger, 1997, Bd. I, S. 98ff.

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III  DER PARISER „GEDANKENSCHERZ“

Abb.  13. G. W. Leibniz, Erste Seite des Drôle de Pensée, Manuskript, 1675, Hannover, Niedersächsische Landesbibliothek, LH, XXXVIII, Bl. 232r

1.  Der Text

Abb.  14.  Anonym, Flugversuch des Schlossers Besniers, Holzschnitt, Beilage zum Drôle de Pensée (Abb. 13), mit Kommentaren von Leibniz

struierende Konzept, den Horizont der Wissenschaften bis in das Burleske, Theatralische und Spielerische zu öffnen.156  Leibniz’ imaginärer Streifzug durch die unterschiedlichsten Sammlungs- und Aus­stellungs-, Forschungs- Vergnügungs- und Bildungseinrichtungen läßt die geläufigen Begriffe von Ausstellungen und Museen hinter sich. Angesichts der heterogenen und auch redundanten Liste der möglichen Objekte und Darbietungen ist es müßig, in der Abfolge einen in jedem Schritt systematisch gebundenen Sinn zu suchen. Gleichwohl gliedert Leibniz seine Überlegungen grob in sechs Abschnitte: Zunächst Ideen zur Vorbereitung, Organisation und personellen Ausstattung des Unternehmens, dann die Aufzählung möglicher Exponate und Aufführungen und schließlich die Beschreibung ihrer Effekte und Möglichkeiten. Ein Einschub bedenkt Raum- und Finanzfragen, und zwei Nachträge handeln von einem Spielpalast und einem Schattentheater. Leibniz hat seine pharaonischen Pläne keinesfalls als irreal erachtet, sondern vielmehr von Beginn an auch die Frage der ökonomischen und politischen Durchsetzbarkeit erörtert. Die Ausgangsidee liegt darin, hochgestellte Personen mit Sinn für technische Neuerungen als Förderer zu gewinnen. Als Beispiel für zahlungskräftige Männer, die das nötige Kapital zusammenzubringen vermögen, nennt Leibniz zunächst Persönlichkeiten, die den Kontakt zum Hof Ludwigs XIV. herstellen und eine gewisse Protektion garantieren könnten. Leibniz’ Einschränkung, daß man sich auf diese   Vgl. die grundlegende Studie von Gipper, 2002, S. 52, 72, 339 und passim.

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III  DER PARISER „GEDANKENSCHERZ“

nicht allein beziehen solle, weil sie zur Majorisierung neigen und sich dem Projekt bei Erfolg auch ohne Aufforderung zuwenden würden, verdeutlicht sein Gespür für die Mechanismen und die Psychologie des Zusammenspiels mit dem Hof. Sinn für die Praxis beweist er auch in seinen Überlegungen zur Organisation. Finanzgeber und Sachverständige sollten ein Leitungsgremium mit zwei bis drei Vorsitzenden bilden. Die Mitarbeit von Malern, Bildhauern, Zimmermännern, Uhrmachern, Maschinisten und Feinmechanikern war nur jeweils projektgebunden vorgesehen.157  Von der zweiten Gruppe waren Mathematiker, Ingenieure und Architekten offenbar für die Erläuterung der Maschinen bestimmt, während Gauk­ler und Scharlatane, die, wie Leibniz in den Bedenken von 1671 ausgeführt hat, von „großem ingenio“ sein konnten,158  gemeinsam mit Musikern und Dichtern die Vorführungen mit künstlerischen Darbietungen begleiten sollten. Bibliothekare, Schriftsetzer und Graphiker wären schließlich für die Verbreitung und Archivierung zuständig gewesen.159  Diesem Kreis von Mitarbeitern war eine umfassende Museums-, Ausstellungs-, Kongress-, Theater-, Oper-, Akademie-, Forschungs- und Spielmaschinerie vom Ausmaß riesiger Paläste anvertraut, womit sich das in Mainz erdachte Theater der Natur und Kunst vollends in ein Ensemble aus Kunstkammern, Gärten, anatomischen Theatern, Kunstmuseen, Wissenschaftsakademien, Spielhäusern, Opern, Konzertsälen und Konferenzräumen erweitert hätte. Schließlich sollte diese Einrichtung Verbindungen zu ähnlichen Zentren aufnehmen und solcherart die Akademien verknüpfen.160  Leibniz’ Gedankenscherz hätte den Anstoß zur Gründung einer Europa übergreifenden Verbindung von Museen, Ausstellungsstätten und Gelehrtengesellschaften gegeben. Nicht weniger erstaunlich ist Leibniz’ Wunsch, das Theater und den Spielpalast nicht nur als Medium der Darstellung und des Vergnügens, sondern als ein zentrales Mittel der Erkenntnis einzusetzen. Seine neue Art der Repräsentationen verfolgte eine Reform der Wissenschaften, die auf das Spiel und das Vergnügen setzte. Der euphorische Schluß des Textes vermittelt nochmals einen Eindruck von der Hochstimmung, in die sich Leibniz durch sein Konzept versetzt sah.161 

 AA, IV, 1, Nr. 49, S. 563, Z. 11f.; AI, 5, Z. 38–39.  AA, IV, 1, Nr. 44, S. 550, Z. 4. 159  AA, IV, 1, Nr. 49, S. 563, Z. 12–14.; AI, 5, Z. 39–41. 160  AA, IV, 1, Nr. 49, S. 565, Z. 20–25; AI, 5, Z. 126–133.  161  AA, IV, 1, Nr. 49, S. 565, Z. 27–29.; AI, 5, Z. 135–137. 157

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2.  Guerickes Kugeln

2. Guerickes Kugeln Leibniz’ Einfälle durchqueren die möglichen Objektfelder und Demon­stra­tions­ räume mit unnachahmlicher Beweglichkeit, so daß sich Schwerpunkte weniger durch die Reihenfolge als vielmehr durch die Wiederholungen und Varianten von Expo­natengruppen bilden, wie sie etwa durch Instrumente, Modelle, Automaten und Vorführungen gestaltet werden. Daß die Erwähnung einzelner Objektgruppen oder die Wiederholung mancher Exponate nicht ohne Hintersinn erfolgten, vermögen die Instrumente Otto von Guerickes exemplarisch zu verdeutlichen. Unter den Darbietungen naturwissenschaftlicher Versuche nennt Leibniz „neue Experimente mit Wasser, Luft und dem Vakuum“, welche die drei Jahre zuvor erschienenen Experimenta Nova (…) de Vacua Spatio Otto von Guerickes anklingen lassen,162  wobei er keinen Zweifel daran läßt, was er im Auge hatte (Abb. 15): „Für die großangelegten Darbietungen wird auch das Gerät von Herrn Guericke mit den 24 Pferden usw. dienen.“163  Die Erwähnung dieser Instrumente erfolgt ohne weitere Erläuterung; daß sich über ihnen aber ganze Kosmen wölben, die über das gesamte Werk von Leibniz gespannt sind, vermögen sie in besonderer Weise zu verdeutlichen. Mit Guericke erwähnt Leibniz den Magdeburger Bürgermeister, mit dem er kurz vor seiner Paris-Reise ausgiebig korrespondiert hat. Guericke wurde neben Robert Boyle wie kein Zweiter mit der Erforschung der Luft identifiziert, und nach seiner Ankunft in Paris im Frühjahr 1672 hat Leibniz mit einem Bericht über Guerickes Versuche mit der Vakuumpumpe als einem überragenden Beispiel physikalischer Forschung unter den dortigen Forschern zu reüssieren versucht.164  Aber Leibniz war kein vorbehaltloser Bewunderer. Nachdem Guericke im ­selben Jahr sein opus magnum publiziert hatte,165  mußte er erkennen, daß dessen Kosmologie in einem entscheidenden Punkt, der Beurteilung von Descartes Raum­ begriff, differierte. Descartes hatte Raum mit Ausdehnung und stofflicher Ma­te­ rialität verbunden. Körperlose Extension war ihm zufolge nicht in der Lage, einen Raum zu erzeugen oder gar zu halten, und die Leere war ihm als raumloser Ort ein Nichts, das vielleicht als Gedanke zu reflektieren, in der physischen Welt aber ohne Grundlage war. Der interstellare Raum war für Descartes durch eine schwebende,

 AA, IV, 1, Nr. 49, S. 563, Z. 30; AI, 5, Z. 59.  AA, IV, 1, Nr. 49, S. 563, Z. 30f.; AI, 5, Z. 60–61. 164  AA, II, 1, Nr. 108, S. 221f. Er teilte damit Caspar Schotts Urteil von 1664: „Niemals habe ich etwas gleich Wunderbares in dieser Art gesehen, davon gehört, gelesen oder mir vor­ gestellt, und ich glaube auch nicht, daß die Sonne jemals etwa Ähnliches, geschweige denn Wunderbareres seit Erschaffung der Welt beschienen hat“ (Schott, Technica Curiosa, 1664, zit. nach: Krafft, 1997, S. 143). 165   Guericke, 1672. 162 163

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III  DER PARISER „GEDANKENSCHERZ“

Abb.  15.  Anonym, Magdeburger Versuch mit den Halbkugeln, Stich, aus: Schott, Technica Curiosa, 1664, Taf. III

unsichtbar feine Materie erfüllt, die in Form gebogener Sphären zwischen den Sternen vermittelte (Abb. 16).166  Im Gegensatz zu Descartes nahm Guericke auf Grund seiner Versuche mit Vakuumröhren jedoch an, daß der Raum über der Erde leer sei. In einer zu den Höchstleistungen menschlicher Assoziationstätigkeit zählenden Folgerung schloß er von dem wechselnden Druck auf einer Wassersäule im luftleeren Glas auf die Beschaffenheit des Weltraumes.167  Guericke ließ das Nichts des Raumes mit Gott und der unendlichen Möglichkeit seines Eingreifens zusammenfallen.168  Das Nichts ist für Guericke „köstlicher als Gold, bar jeden Werdens und Vergehens, es ist erquickend wie die Gnade des Lichtes, edler als der Könige Blut, dem Himmel gleich, höher als alle Sterne, gewaltig wie des Blitzes Strahl, vollendet und allseits gesegnet. Das Nichts ist aller Weisheit voll. Wo das Nichts ist, endet der Könige Machtgebot.“169  Es handelte sich um einen so befreienden wie bedrohlichen Schluß, der auf teils erbitterten Widerstand stieß, weil die Diskussion um die Leere bis tief in die kulturelle und politische Sphäre drang. Für Thomas Hobbes, der mit seinem Leviathan von 1651 zum Begründer der modernen Staatstheorie wurde, war die Existenz des   Descartes, 1650, S. 67ff.; vgl. zur Vorgeschichte der Äther-Vorstellung: Knobloch, 2000.   Krafft, 1997, S. 155. 168   Guericke, 1672, II, 8; vgl. Knobloch, 2003, S. 8. Hierin Newtons sensorium Dei, dem „Denkraum Gottes“, nahe kommend (Krafft, 1997, S. 162). 169   „Ubi nihil est, ibi omnium Regum cessat jurisdictio“ (Guericke, 1672, VII, S. 63; zit. nach Guericke, 1968, S. 70; vgl. Kauffeldt, 1968, S. 56f und 243 und Weigl, 1990, S. 64ff.). 166 167

2.  Guerickes Kugeln

Abb.  16.  Anonym, Partikelstrukturen des Weltalls, Stich, in: Descartes, 1650, S.  90

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III  DER PARISER „GEDANKENSCHERZ“

Vakuums geradezu eine Frage nach der Möglichkeit jeder Zivilisation. Gäbe es die Leere, so wären Herrschaft und die hoheitliche Unterdrückung von Gewalt, wie es sein Staatsriese Leviathan vorsah, unmöglich.170  Nach zögerndem Beginn erkannte Hobbes im Vakuum nicht etwa einen Raum der Aufklärung, sondern ein bewegliches Schlupfloch des „Königreiches der Finsternis.“ Da ihm der leere, unkörperliche Raum als Metapher einer ordnungsfreien Zone auch als Symbol des potentiellen Bürgerkrieges erschien, lehnte er das Vakuum geradezu panisch ab.171  Dasselbe galt für Leibniz. Der Briefwechsel mit Guericke zeigt Leibniz’ Widerstand gegen alle Übertragungen der Luftpumpen-Ergebnisse auf Atmosphäre und Kosmos. Der Weltraum, so Leibniz, sei erfüllt von einem „subtilen Körper“, dessen in sich ruhende Bestandteile gegenüber der Bewegung der Sonne ein passives Medium darstellen. Es ähnelt ihm zufolge einem Wasser, in dessen Mitte ein sich drehender Körper die Umgebung nach Maßgabe seiner Bewegung mitzieht, wobei die Drehbewegung umso mehr abnimmt, je weiter die im Wasser befindlichen Gegenstände vom Zentrum entfernt sind.172  In seiner Auseinandersetzung mit dem Newton-Anhänger Samuel Clark hat Leibniz seine Überzeugung, daß es keinen Raum ohne Körper und keine Zeit ohne Handlung gibt, auch gegen Guericke gewendet. Die Existenz des Vakuums widersprach vor allem Leibniz’ fundamentaler Überzeugung, daß jedes Partikel der geschaffenen Natur im Gegensatz zu den Produkten der Menschen in sich unendlich teilbar sei. Wer aber annahm, daß es die Leere gäbe, mußte voraussetzen, daß kleinste Punkte, Atome, existierten, die weggenommen werden könnten: für Leibniz war dies als Gedankenkonstrukt aber so unbewiesen wie unerträglich. Gerade die Luftpumpenversuche hätten keinesfalls die Leere erwiesen: „Man hält mir das Vakuum entgegen, das Herr Guericke aus Magdeburg herausgefunden hat, indem er die Luft aus seinen Rezipienten gepumpt hat. Und man behauptet, daß es in diesem Rezipienten tatsächlich vollkommen Leeres oder Raum ohne Materie, zumindest aber teilweise ohne Materie gebe. Die Aristoteliker und Kartesianer, die das eigentliche Vakuum nicht zugeben, haben auf dieses Experiment von Herrn Guericke ebenso wie das von Herrn Torricelli aus Florenz (der mit Hilfe von Quecksilber die Luft aus einer Glasröhre herausholte) geantwortet, es gebe keineswegs Leeres in der Röhre oder im Rezipienten, da das Glas feine Poren habe, durch die die Strahlen des Lichts, die des Magneten und andere sehr winzige Materien hindurchdringen können. Und ich bin deren Meinung.“173 

  Hobbes, 1991, Leviathan, XLVI, S. 463f. Vgl. explizit auf das Vakuum bezogen: Hobbes, 1997, Der Körper, 26, 2–4, S. 272–278. 171  Shapin & Schaffer, 1985, S. 108f.; vgl. Latour, 1995, S. 29ff. 172   Brief an Guericke, in: Leibniz, 1875–90, Bd. I, S. 99. 173   Fünftes Schreiben an Clark, Zu §7, Nr. 34; zit. nach der Übers.: Leibniz, 1989, Briefe, Bd. 2, S. 407f. 170

2.  Guerickes Kugeln

Leibniz’ Verneinung des Vakuums beruhte damit auf denselben Experimenten, die Guericke zum Nachweis des leeren Raumes durchgeführt hatte. Leibniz’ Kritik am Begriff des Vakuums bedeutete daher keinesfalls, daß er Guerickes Luftpumpenversuche mißachtet hätte. Vielmehr hat er diese in seinen eigenen Denkrahmen integrieren können, weil weder Guericke noch ein anderer der Vakuisten behauptet hatte, daß sie angesichts der hierfür erforderlichen Kräfte einen absolut leeren Raum produziert hätten. Damit konnte die Kontroverse zwischen den Verfechtern und Gegnern des Vakuums zu einer Frage unterschiedlicher Interpretationen abgemildert werden,174  was Leibniz ermöglichte, die Versuche Guerickes mehrfach als Mitspieler seines Drôle de Pensée aufzuführen. Bezeichnenderweise aber hat er sich nicht nur auf die Vakuum-Halbkugeln, sondern mit dem zweimaligen Hinweis auf jene „Kugel“ Guerickes, die für die kleineren Darbietungen geeignet sei, auch auf ein anderes Experimentierfeld bezogen.175  Es handelte sich um eine aus verschiedenen Mineralien und mit starkem Schwefelanteil zusammengesetzte Kugel, die, wenn sie gerieben wurde, Flaum­federn anzuziehen und abzustoßen und damit Fragen der Anziehungskraft zu ­demonstrieren und im Dunkeln matt zu leuchten vermochte.176  Ohne dies explizit erkannt zu haben, hatte Guericke bei seinem Versuch, die auch zwischen den Sternen wirkende Attraktion zu simulieren, die Wirkung elektrostatischer Ladung eingesetzt. In der Korrespondenz kam Leibniz mehrfach auf gerade diese Kugel ­zurück, zu deren Gebrauch Guericke eine eigene Nutzungsanleitung sowie Flaum­ federn mitgesandt hatte.177  Sicherlich auch beeindruckt durch diese Generosität,178  wird Leibniz Guerickes Instrumente bis in seine hohen Tage rühmen. Der Eindruck, daß Leibniz zu seiner Verbindung von Schaustellung und Forschung maßgeblich durch Guerickes Experimente angeregt worden ist, wird durch eine Passage des Drôle de Pensée verstärkt, in der Leibniz auch Guerickes Barometer aufführt. Der Abschnitt beginnt mit einem Hinweis auf den Experimentator Joachim Dalencé, der sich Guerickes meteorologischer Experimente bedient hatte;179  sodann folgt die Erwähnung von Denis Papin, einem Mitarbeiter von Christiaan Huygens, der unter anderem bei den Experimenten mit der Luftpumpe beteiligt war.180  Vor allem aber, und damit ist Leibniz im Element seines Gedankenscherzes, muß die Naturwissenschaft ihm zufolge auch als Performance und Vergnügen   Gosztonyi, 1976, Bd. 1, S. 297 zu Hobbes, S. 263 zu Boyle.  AA, IV, 1, Nr. 49, S. 563, Z. 31f.; AI, 5, Z. 61; AA, IV, 1, Nr. 49, S. 564, Z. 31; AI, 5, Z. 101. 176   Guericke an Leibniz, Juni 1671, in: Leibniz, 1875–90, Bd. I, S. 94; Guericke an Leibniz, März 1672, in: Leibniz, 1875–90, Bd. I, S. 107. 177   Guericke an Leibniz, Oktober 1671, in: Leibniz, 1875–90, Bd. I, S. 104f. 178   Guericke an Leibniz, August 1671, in: Leibniz, 1875–90, Bd. I, S. 102. 179  AA, IV, 1, Nr. 49, S. 563, Z. 32; AI, 5, Z. 61–62; Leibniz hat diese der Royal Society in London bekanntgegeben (Belaval, 1958, S. 760, Anm. 9; znort). 180  AA, IV, 1, Nr. 49, S. 563, Z. 32f.; AI, 5, Z. 62; Wiener, 1940, S. 236, Anm. 8. 174

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III  DER PARISER „GEDANKENSCHERZ“

gelingen. Er schlägt vor, astringierendes Wasser zu verteilen, Transfusionen und Infusionen durchzuführen und etwa auch „mit Hilfe des kleinen Mannes“ die Wettervorhersage für den nächsten Tag zu geben.181  Ausdrücklich erwähnt Leibniz hier mit dem „Wettermännlein“ Guerickes Barometer (Abb. 17), das er selbst zu Beobachtungen genutzt hatte.182  Die hohe Bedeutung, die Guerickes Versuche für Leibniz besaßen, wurde schließlich noch ein Vierteljahrhundert nach dem Pariser Gedankenscherz offenkundig, als Leibniz sein Konzept eines musealen Wissenstheaters für seine Überlegungen zur Gründung der Berliner Akademie der Wissenschaften nutzte und unter den bereitzustellenden Instrumenten auch „ein paar Globen, auch Guerickes Vakuum-Instrumente von der Bibliothek“ nannte.183  Es handelte sich um jene Luftpumpen und Halbkugeln, mit deren Hilfe Guericke im Jahre 1663 vor dem Großen Kurfürsten in Berlin den Pferdeversuch durchgeführt hatte und die in Berlin geblieben waren.184  Daß sich Leibniz im Jahre 1700 an sie erinnerte, bezeugt nochmals, welch nachhaltigen Eindruck ihm Guerickes Versuche darin gemacht hatten, die naturwissenschaftliche und technische Forschung durch öffentliche Vorführung zu stärken.185  So sehr Leibniz in Bezug auf das Vakuum und die Leere des Weltraumes ein Gegner von Guericke war, so sehr haben ihn Guerickes Versuche, die er alternativ zu deuten verstand, beeindruckt. Sie haben offenbar bewirkt, daß Guericke zu einem der Inspiratoren von Leibniz’ Idee des Theaters der Natur und Kunst wurde. Sein Verständnis der naturwissenschaftlichen Forschung als eines öffentlich-performativen Aktes fand in Guerickes Luftpumpenversuchen das vielleicht augenfälligste Beispiel.

3. Modelle und Automaten Einen zweiten, kohärenten Objektkreis bilden die Modelle und Automaten. In der Tradition der Münchener Kunstkammer, die eine Fülle von Miniaturmaschinen und Modellen barg,186  führte Leibniz in seinem Pariser Text eine Reihe von Modellen auf, so etwa „eine Darstellung des Himmels und der Sterne. Kometen. Ein Globus wie jener in Gottorf oder Jena.“187  Bei der Gottorfer Kugel handelt es sich  AA, IV, 1, Nr. 49, S. 563, Z. 33 – S. 564, Z. 1; AI, 5, Z. 62–66.  AA, III, 1, Nr. 9, S. 42, Brief an Oldenburg, 8.3.1673, Z. 1; IV, 2, Nr. 49 S. 742, Z. 5f. 183   Brather, 1993, S. 62; AI, 38, Z. 1–2. 184   1908 wurden sie dem Deutsche Museum in München gestiftet (Brather, 1993, S. 54, 62, 68, 120). 185   Bredekamp, 2000, Leibniz’ Theater. 186  Roth, 2000, S. 44–47 (Inscriptiones, I, 9f.), S. 235. 187  AA, IV, 1, Nr. 49, S. 563, Z. 16f.; AI, 5, Z. 44–45. 181

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3.  Modelle und Automaten

Abb.  17.  Anonym, „Wettermännlein“ Otto von Guerickes, 1672, entn. aus: Guericke, 1968, S.  110, Taf. 10

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III  DER PARISER „GEDANKENSCHERZ“

Abb.  18.  Adam Olearius und Andreas Bösch, Gottorfer Globus, 1651–57; Aufnahme 1901, St. Petersburg, Admiralität, Zarskoje Selo

um den heute in der St. Petersburger Kunstkammer bewahrten, begehbaren Kup­ fer­globus von Adam Olearius und Andreas Bösch, in dessen Innerem das drehbare Himmelsgewölbe und außen die Erde zu betrachten waren (Abb. 18);188  die Jenenser Kugel bezieht sich auf einen der Globen von Leibniz’ Mathematikpro­fessor Erhard Weigel.189  Diesen beweglichen Instrumenten fügte Leibniz „Windmühlen für jeden Wind. Gefäße, die gegen den Wind drehen könnten. Der Windwagen aus Holland oder eher noch aus China“ hinzu.190  Leibniz sah vor, auch Modelle der Kriegsführung als eine Form mechanischer Kunst en miniature durch Bauten und Vorführungen auf Bühnen zu zeigen, auf   Vgl. AA, IV, 2, Nr. 49, S. 741, Z. 32ff. Zum Globus grundlegend Lühning, 1997; vgl. Karpeev, 2003. 189  Es handelt sich um Himmelsgloben aus Metall, die statt der antiken Sternzeichen herausragende heraldische Symbole verwendete (Horn, 1958; ders., 1976, S. 51–56; vgl. o. S. 43). 190  AA, IV, 1, Nr. 49, S. 564, Z. 27f.; AI, 5, Z. 96. 188

3.  Modelle und Automaten

Abb.  19. Lodovico Buti, Werkstatt für Stadt- und Festungsmodelle, Fresko, Ausschnitt, 1599/1600, Florenz, Uffizien, Sale dell’armi

denen die Erläuterungen eines Fachmanns den technisch-mechanischen Charakter dieser Kunst unterstreichen sollten.191  Leibniz spielt mit den hölzernen Modellen auf die weit zurückreichende Tradition an, mit Hilfe von Kleinarchitekturen Bauten hochzuziehen, Städte zu planen und militärische Aktionen zu proben. Ganze Werkstätten hatten sich auf dieses Genre spezialisiert, und Sammlungen dieser Modellbauten dienten, wie ein Fresko Lodovico Butis aus den Uffizien in Florenz zeigt, für die Ausbildung von Architekten, Militärs und Adeligen (Abb. 19). Im Jahre 1668 war die riesige Grand Galerie des Louvre dazu bestimmt worden, die Sammlung von Architekturplänen und -modellen aufzunehmen. Hundert Jahre später hat eine Darstellung den Eindruck festgehalten, wie er sich bereits Leibniz geboten haben dürfte (Abb. 20).192  Zu den Modellen sind auch eine Reihe von Automaten und Automatenensembles wie etwa der „königliche Pferderenn-Automat“193  oder auch „die Apparatur von Hauz: eine künstliche Kavalerie und Infanterie, die sich bekriegen,“ zu zählen.194  Fraglos ging es Leibniz bei seinen Einfällen, die von der Pferdedressur zu Nachbildungen von Tieren und von dort zum Automatenspiel einer künstlichen Kavalkade springen, um die Simulation der Bewegung, die er als Bedingung  AA, IV, 1, Nr. 49, S. 563, Z. 22–23; AI, 5, Z. 50–51.  Eimer, 1988, S. 11. 193  AA, IV, 1, Nr. 49, S. 563, Z. 19f.; AI, 5, Z. 47. 194  AA, IV, 1, Nr. 49, S. 564, Z. 29; AI, 5, Z. 98–99. 191

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Abb.  20.  Henri Joseph Blarenberghe, Die Sammlung der „Plans-Reliefs“ in der Großen Galerie des Louvre, Miniatur auf einer Tabakdose, um 1775, unbekannter Ort

definiert hatte, eine „lebendige“ Repräsentation zu gewährleisten.195  Die sich anschließende „Verlosung“ aber folgt einer quergelagerten Assoziation, die vom Gewinnspiel des Automatenrennens ausgelöst wurde. Hier wird offenbar, daß die Bedeutung, der Nutzen und die Darbietung dicht am Einzelobjekt und dessen seman­tischer Ausstrahlung verbleiben. Welch hohes Gewicht Leibniz auf die Präsentation der Automaten legte, wird daran deutlich, daß er im selben Atemzug, in dem er die Formel des Theaters der Natur und Kunst als Bühne von Vorführungen, als anatomisches Theater und als botanischer Garten entwickelt, auch „öffentliche Darbietungen“ mit kleinen Rechenmaschinen und auch Maschinen anderer Art anführt.196  Das Theater der Natur und Kunst wird dadurch zur Plattform künstlicher Bewegungen, und hierin löst es jene Versprechung ein, die Leibniz’ Kritik an dem „leblosen“ Theaterprojekt von Becher bedeutet hatte.197  Seine Wertschätzung von Automaten hat Leibniz später in den weitgespannten Zusammenhang des Wettstreites zwischen Natur- und Menschenwerk gestellt. Wie er gegen Lebensende in der Monadologie festhielt, galten ihm die natürlichen Automaten den künstlich selbstbewegten Maschinen der Menschen als unendlich überlegen, weil ihre Teile beliebig tief in Untermaschinen und deren Glieder zerlegt werden konnten, während alle künstlichen Apparaturen relativ schnell an die  S. o. S. 38.  AA, IV, 1, Nr. 49, S. 563, Z. 26–29; AI, 5, Z. 55–58. 197  S. o. S. 42. 195

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4.  Strassenkünstler und Spielpaläste

Konsistenzgrenze ihrer Elemente gelangten.198  Trotz dieser Einschränkung aber boten Leibniz die Automaten jene prinzipielle Vergleichbarkeit von natürlichen und künstlichen Schöpfungen, welche die Stellung des Menschen als „kleinen Gott“ begründete. Später, in der Theodizee und den Principes de la Nature et de la Grace, Fondés en Raison hat er diese schöpferische Qualität mit der Fähigkeit verbunden, künstliche Gebilde zu erzeugen, die denen der natürlichen Welt ähnlich waren.199  Bereits im Drôle de Pensée hat Leibniz die Präsentation der Automaten mit „Darstellungen der Muskeln, Nerven, Knochen“ und einem Apparat des menschlichen Körpers200  sowie der Darbietung von Kämpfen, Schwimmwett­bewerben, akrobatischen Kunststücken und Demonstrationen des Körperbaues verglichen.201 

4. Straßenkünstler und Spielpaläste Durch seine Beispielreihen betonte Leibniz die theatrale Seite der Museologie seiner Zeit, um die neue Qualität der Vorführungen und bühnenartigen Inszenierungen hervorzuheben; auch sein Vorschlag, den Vorhang durch Auf- und Zuziehen zum Mitakteur zu machen, trug dieser Form der Inszenierung Rechnung.202  Die verschiedenen Arten von Theateraufführungen203  münden nicht ohne Grund in die Präsentation von Clowns und Straßenkünstlern, die an Performances ebenso wie an naturwissenschaftliche Experimente denken läßt, zumal diese in die Theaterstücke integriert werden sollten. Hierzu gehörte ein Feuerschlucker, wie ihn Anfang 1679 in Hannover der gesamte Hof bestaunen wird,204  wie auch ein nicht minder berühmter „Wassertrinker.“205  Es handelt sich um den Franzosen Jean Royer, der in den Jahren nach 1650 in Rom hohes Aufsehen erregte, weil er absonderlich viel Flüssigkeit aufzunehmen und in veränderter Farbe als Essig, Wein oder Parfüm in verschiedene Behälter wieder auszuspeien verstand. Als er wegen Zauberei und Betrug unter Anklage kam, wurde er zur Untersuchung in das Collegium Romanum geschickt, um im dortigen Museum Kircherianum examiniert zu werden, das Leibniz in seinem Gedankenscherz als ein eigenes Exponat genannt hat und das später seinerseits als

  Leibniz, 1998, § 64, S. 45–49; vgl. Leinkauf, 1993, S. 305f.  Essais de Théodicée, §147, in: Leibniz, 1985, Bd. II/1, Théodicée, S. 458f.; Principes de la Nature, §14, in: Leibniz, 1985, Bd. I, S. 432f. 200  AA, IV, 1, Nr. 49, S. 564, Z. 4f.; AI, 5, Z. 69–70. 201  AA, IV, 1, Nr. 49, S. 563, Z. 25–28; AI, 5, Z. 55–56. 202  AA, IV, 1, Nr. 49, S. 565, Z. 1–3; AI, 5, Z. 104–105. Zur Semantik des Vorhanges: Eberlein, 1982. 203  AA, IV, 1, Nr. 49, S. 564, Z. 16–26; AI, 5, Z. 81–94. 204  AA, IV, 1, Nr. 49, S. 564, Z. 1f.; Müller und Krönert, 1969, S. 55 (8. 1. 1679). 205  AA, IV, 1, Nr. 49, S. 564, Z. 3; AI, 5, Z. 68. 198

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III  DER PARISER „GEDANKENSCHERZ“

naturae artisque theatrum geführt wurde (Abb. 12).206  Kircher fand heraus, daß Royer weder dämonische noch betrügerische, sondern natürliche und wissenschaftlich nachvollziehbare Praktiken angewandt hatte. Er gab seine Ergebnisse in einem Testat bekannt, das Caspar Schott in seinem Buch der Mechanik von 1657 veröffentlichte.207  Der Fall ist ihm offenbar im Gedächtnis geblieben, weil dieser die forschende Rolle des Museums wie auch den Zusammenhang von Naturwissenschaft, öffentlicher Vorführung und Überprüfung sichtbar machte. Der zielgenau speiende Wassertrinker könnte Leibniz auf die Idee gebracht haben, daß Maschinen getestet werden sollten, „die punktgenau zu schießen ­vermögen.“208  Auch hier zeigt sich, daß er im Rahmen dieses die Exponate und Dar­­bietungen des Theaters der Natur und Kunst umfassenden Abschnittes einem ­in­­­tu­­­itiven Assoziationsvermögen folgt. Als Denkbewegung ist es Teil des zu reali­ sierenden Projektes, durch die Überraschungsmittel des Theaters der Sammlungen und Experimente die gedankliche Bewegung zu stimulieren. Die Gesamtanlage des Wissenstheaters war nicht nur als ernstzunehmender Scherz, sondern auch, wie die Randnotiz der Überschrift zeigt, als Konzept eines Spielpalastes gemeint, den Leibniz, dem zeitgenössischen Sprachgebrauch folgend, als Akademie der Spiele aufführt.209  Diesen Titel hat Leibniz mit dem nachträglichen Zusatz versehen: „Fast hätte ich vergessen, daß man dort einen Spielpalast oder, allgemeiner gesprochen, einen Vergnügungspalast einrichten könnte. Aber der erste Name gefällt mir besser, weil es dem allgemeinen Geschmack entspricht.“210  Er wird sich auf Publikationen wie den 1654 erschienenen Katalog der beliebtesten Spiele oder eines der späteren Werke bezogen haben, welche die Begriffe Akademie und Spiele im Titel führten.211  Um die unter Ludwig XIV. herrschende Spielmanie für die eigenen Ziele zu nutzen, erläutert Leibniz die in einem Spielpalast stattfindenden Spiele, den Umgang mit dem Spielgeld, die begleitenden Vergnügungen und die Besichtigung von Kuriositäten sowie die Frage der Falschspielerei. Er nennt zunächst die in- und ausländischen Spiele, die in den einzelnen Räumen des Spielpalastes ausgeübt werden. Am Eingang müsse der Besucher Spielgeld eintauschen, was nicht nur den Effekt hätte, daß die Geldströme des Etablissements kontrolliert werden könnten und dieses sich daher als ehrbar ausweisen würde, sondern vor allem auch dem Einsatz zugute käme, weil bei der Verwendung von künstlichem Geld die Hemm-

 AA, IV, 1, Nr. 49, S. 564, Z. 1; AI, 5, Z. 66.  Schott, 1657, S. 312f. Vgl. Stolzenberg, 2001, S. 49. 208  AA, IV, 1, Nr. 49, S. 564, Z. 1–4; AI, 5, Z. 66–69. 209   Furetière, 1690, I: „Academies de jeu“. 210  AA, IV, 1, Nr. 49, S. 566, Z. 12–14; AI, 5, Z. 154–158. 211   Marinier, 1654; vgl. Alte Spielverbote, 1995, Nr. 22, S. 87f. 206 207

4.  Strassenkünstler und Spielpaläste

Abb.  21.  Anonym, Abhörmuscheln, Stich, in: Schott, 1674, zwischen S.  154 und S.  155

schwelle niedriger sei. Das Spielgeld, und hier schmuggelt Leibniz sein weiteres Anliegen ein, könne auch zur Besichtigung eines Kuriositätenkabinetts dienen.212  Da die gesamte Stadt mit derartigen Spielpalästen überzogen würde, ergäbe sich ein nicht unbeträchtlicher Nebeneffekt darin, daß diese Spielhäuser mit umfangreichen Überwachungs- und Abhöranlagen ausgestattet wären: „Diese Häuser oder Zimmer sollten solcherart gebaut sein, daß der Herr des Hauses mithilfe von Spiegeln und Röhren all das, was man hier sagt und tut, hören und sehen könnte, ohne daß er bemerkt werden würde.“213  Zweifellos hat Leibniz sich hier von Entwürfen transparenter Paläste anregen lassen, wie sie etwa durch Kircher und Schott erdacht worden waren (Abb. 21).214  Leibniz’ Spielpalast, so lautet eine seiner bildkräftigsten Wortfindungen, „wäre eine höchst wichtige Sache für den Staat, und ein Raum des politischen Beichtstuhls“,215  in dem der unbemerkte Beichtvater die Wahrheit über sich selbst erfährt.  AA, IV, 1, Nr. 49, S. 566, Z. 14–21; AI, 5, Z. 158–164.  AA, IV, 1, Nr. 49, S. 566, Z. 24–28; AI, 5, Z. 169–174. 214   Vgl. Kircher, 1650, Bd. II, S. 303. 215  AA, IV, 1, Nr. 49, S. 566, Z. 27f.; AI, 5, Z. 172–173. 212 213

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III  DER PARISER „GEDANKENSCHERZ“

Nicht weniger wichtig aber ist die Frage nach der Bewertbarkeit allen Tuns. Nach einem Intermezzo, in dem seine Phantasie erneut in die Megalomanie einer Verbindung von Oper, Musikakademie, Tanzpalast, Marionetten- und Wassertheater mitsamt einer Seeschlacht wuchert, erörtert Leibniz die Sanktionen verschiedener Arten von Vergehen. Seine Diskussion der Falschspielerei gehört zu den verblüffendsten Partien des gesamten Textes, weil er das Problem, wie die einmal erkannten Falschspieler zu behandeln seien, nicht allein nach rechtlichen, sondern auch nach psychologischen und soziologischen Gesichtspunkten durchdenkt.216 Seine Überlegungen wägen das komplizierte Spiel von gemeinschaftlicher Sank­ tion der Übeltäter seitens der Mitspieler und der Notwendigkeit, autoritativ einzugreifen und Normen durchzusetzen, nach allen Seiten hin ab.217  Leibniz schließt diesen Abschnitt mit einem Loblied auf den Spielpalast, der den Gewinn steigern und eine gefährliche Leidenschaft in ein nützliches Gedanken- und Imaginationstraining verwandeln würde. Dieses abschliessende Argument verrät nochmals Grundsätzliches über die Möglichkeiten, die Leibniz mit Hilfe des Spielpalastes und des Wissenstheaters auszuloten und zu aktivieren suchte. Wenn er darauf insistiert, die Wissensbegierde durch das Vergnügen und die Spielleidenschaft zu verstärken, folgt er der zeitgenössischen Praxis, durch Kartenspiele Wissen zu vermitteln und das Denkvermögen zu schulen.218  Den philosophischen Kern bildet die hobbesianische Einsicht, daß die Menschen nicht als Tabula rasa zu begreifen seien, auf welche die Informationen eingeschrieben würden, sondern daß ihre vorgegebenen Leidenschaften als Vorbedingung allen Agierens und Lehrens in Rechnung gestellt werden müßten. Die Passionen der Menschen sollten daher nicht bekämpft, sondern in eine produktive Neugierde verwandelt werden: „man muß die Menschen auf den Leim gehen lassen, muß von ihrer Schwäche profitieren und sie täuschen, um sie zu heilen. Es gibt nichts besseres, als sich ihrer Manien zu bedienen, um sie zur Weisheit zu führen. Dies bedeutet wahrhaftig, dem Süßen das Nützliche beizumischen und aus einem Gift eine Arznei zu machen.“219  Mit diesem Prinzip bezeichnet Leibniz den erkenntnistheoretischen Rahmen, der seinen Drôle de Pensée motiviert. Er zielt auf eine Steigerung des Wissens und der forschenden Neugier, die über die Sammlungen und das Theater, die Experimente und die Oper, die Straßenkünstler und Automaten und schließlich auch über die Spielpaläste ansetzt. Die Automatenensembles, Akrobaten, Feuer- und Wasserschlucker, Falschspieler und alle sonstigen Erzeuger und Beweger von Über-

 AA, IV, 1, Nr. 49, S. 566, Z. 30 – S. 567, Z. 17; AI, 5, Z. 176–201.   Zu Leibniz und Hobbes vgl. die grundlegende Arbeit von Tönnies, 1975 [1887] und Di Bella, 1998. 218   Hoffmann, 1972, S. 38ff. 219  AA, IV, 1, Nr. 49, S. 567, Z. 22–26; AI, 5, Z. 206–210. 216 217

4.  Strassenkünstler und Spielpaläste

raschungen erfordern ohne Ausnahme, daß ihre Mechanismen durchschaut, begriffen und als Anregung multipliziert werden. Die Zuschauer stehen unter demselben Zwang der teilnehmenden Erkenntnis wie der Herrscher, der in den Spielpalästen die Beobachter beobachtet. Die Perspektivwechsel der Anordnung, der Vorführung und der Erkenntnis bilden das Ferment des Theaters als Erkenntnismittel. Die Kugeln und Instrumente, Modelle, Automaten, Vorführungen und Spiele bilden gleichsam Verknotungen in einem gedanklichen Gewebe, das mit seinen Fäden in alle Richtungen wuchert und keinem Strickmuster folgt, sondern stochastisch die Kontingenz der Einfälle als Gleichnis einer unabschließbaren Fülle zu erhöhen sucht. Daß in dieser Sprach- und Argumentationsform ein eigenes System liegt, wird aus den erkenntnistheoretischen Konsequenzen eines weiteren Schwerpunktes deutlich, der sich auf optische Instrumente und Effekte bezieht und im Nachtrag des Gedankenscherzes ein Schattentheater imaginiert. Es gehört zu den komplexes­ ten Einfällen des gesamten Textes.

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IV DAS SPIEL VON LICHT UND SCHATTEN 1. Schattentheater Mit einem Instrument der Optik, der Laterna Magica, läßt Leibniz die Exponat­ reihe seines Gedankenscherzes mottohaft einsetzen: „Die Darbietungen könnten beispielsweise die Laterna Magica sein (damit könnte man beginnen).“220  Als eine der Anregungsquellen kommt Athanasius Kirchers Ars Magna Lucis et Umbrae in Betracht, in der eine Reihe von Schattenwurfmaschinen vorgestellt worden war (Abb. 22).221  Von heutigen Projektionsgeräten unterschieden sich diese Instrumente im wesentlichen nur dadurch, daß nicht elektrisches Licht, sondern in den Projektor eingestellte Kerzen die Lichtquelle boten. Wenn diese Apparate hinter einer abgetrennten Wand aufgestellt wurden, erschienen die projizierten Bilder lautlos auf der Wand des Dunkelraumes.222  Leibniz hat die Laterna Magica im Verlauf der Aufzählung durch eine Reihe optischer Wunderwerke ergänzt, die künstliche Feuer,223  Dunkelräume, Anamor­ phosen, bemalte und bewegte, von innen beleuchtete Figuren, fliegende Feuerdrachen,224  nochmals magische Laternen und optische Kuriositäten225  umfasste. Die Liste steigert sich zur Aufforderung, durch magische Lampen „außergewöhnliche und groteske Bewegungen zu zeigen, wie Menschen sie niemals zustandezubringen wüßten“,226  um schließlich in einem letzten Nachtrag bei einem veritablen Schattentheater zu enden: „Man könnte auch Schatten hinzufügen; bzw. ein ansteigendes Theater, wo es am Ende der Zuschauerseite Licht und kleine Holzfiguren geben würde, die so  AA, IV, 1, Nr. 49, S. 563, Z. 15; AI, 5, Z. 43.  Im Index Kircherianus von 1674/75 (?) ist sie allerdings nicht aufgeführt (AA, VI, 3, Nr. 14, S. 210, Z. 25 – S. 211, Z. 26), aber es scheint kaum denkbar, daß Leibniz dieses nach seinem Erscheinungsjahr 1646 noch mehrfach aufgelegte Werk (Burda-Stengel, 2001, S. 15–27) nicht gekannt hätte. Zur Geschichte des Instrumentes: Hrabalek, 1985, S. 17–26.  222 Stafford, 1998, S. 67f.  223  AA, IV, 1, Nr. 49, S. 563, Z. 15–18; AI, 5, Z. 43–44.  224 AA, IV, 1, Nr. 49, S. 564, Z. 7, 10f., 26; AI, 5, Z. 73, 76–77, 94.  225  AA, IV, 1, Nr. 49, S. 565, Z. 2f., 17; AI, 5, Z. 106, 122.  226  AA, IV, 1, Nr. 49, S. 564, Z. 13f.; AI, 5, Z. 80.  220  221

1.  Schattentheater

Abb.  22.  Anonym, Laterna Magica, Stich, in: Kircher, 1671, S.  768

bewegt werden, daß sie ihren Schatten gegen ein durchscheinendes Papier werfen, hinter dem es ebenfalls ein Licht gäbe. Auf diese Weise würden die Schatten auf dem Papier in eindrücklicher Weise in Groß erscheinen. Aber damit die Schattenfiguren nicht allesamt auf einer Ebene erscheinen, könnte die Perspektivwahl die Größe der Schatten reduzieren. Sie würden vom Rand her zur Mitte wandern, und dies würde den Eindruck erwecken, als wenn sie von hinten nach vorn kämen. Sie würden an Größe zunehmen, wenn sich ihre Distanz zum Licht mindert, was leicht und einfach zu bewerkstelligen ist. Es würde unaufhörlich wunderbare Metamorphosen, salti mortali und Flüge geben. Circe, die Zauberin, die auftretende Höllen verwandelt. Danach würde auf einen Schlag alles dunkel; dabei wäre dieselbe Wand nochmals dienlich, indem man alles Licht, außer jenem nahe den kleinen beweglichen Holzfiguren, löscht. Dieses Restlicht würde mithilfe einer magischen Lampe bewundernswert schöne und bewegliche Figuren gegen die Wand werfen, die demselben Perspektivgesetz folgen. All dies würde von einem Lied hinter dem Theater begleitet. Die kleinen Figuren würden von unten oder durch ihren Fuß bewegt werden, so daß, was immer dazu dient, sie zu bewegen, unsichtbar bleibt. Gesang und Musik würden alles begleiten.“227   227 AA, IV, 1, Nr. 49, S. 567, Z. 31 – S. 568, Z. 12; AI, 5, Z. 218–235.

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IV  Das Spiel von Licht und Schatten

Leibniz hat seine Anregung für dieses Schattentheater aus den Forschungen von Künstlern und Mathematikern gezogen, die das Sehen als eine durch Strahlen bewirkte Beziehung zwischen Auge und Objekt definiert hatten. Von einem punktförmigen Objekt ging ein Sehstrahl zum Auge, und wo das gesehene Objekt über einen Punkt hinausging, schickte es ein Strahlenbündel zur Iris. Entscheidend für alle weiteren Überlegungen war, daß sich, wenn in dieses Bündel ein viereckiger Rahmen geschoben wurde, zwischen dem Auge und diesem Gestell eine Pyramide aufbaute. Wie der sich dahinter fortsetzende Raum auf die Fläche des Recht­eckes projiziert werden konnte, war Gegenstand von Leon Battista Albertis grund­ legenden Überlegungen zur Perspektive.228  In den nach Albertis Regeln gefertigten Gemälden229  war dieses „Fenster“230  als bilddefinierendes Rechteck in geradezu didaktischer Klarheit betont.

2. Schatten als Lichtbringer Vor allem hat Leibniz an den Perspektivregeln beeindruckt, daß Lichtstrahl und Schattenwurf nach denselben mathematischen Gesetzen funktionierten. Eine nach 1500 gefertigte Zeichnung aus der Schule Leonardo da Vincis (Abb. 23) zeigt eine Lichtquelle in Form einer Kerze, deren Strahlen sowohl die Schatten der auf dem Tisch stehenden Figur wie auch der im Raum befindlichen Personen an die Wand projiziert.231  Falls der Raum erleuchtet und die Lichtquelle durch ein Auge ersetzt wäre, so würden sich die zur Wand gehenden Schattenlinien in Sehstrahlen verwandeln. Die Zeichnung sucht zu erläutern, daß das Sehen und der Schattenwurf nach denselben Regeln geschehen.232  Gerade weil dieses Phänomen so evident ist, erscheint umso bedeutsamer, daß Leibniz es besonders betont hat. Fünf Jahre nach dem Gedankenscherz hat er hervorgehoben, daß über die Regeln des Schattenwurfes auch die Gesetze der Perspektive zu erschliessen seien: „Die Lehre von den Schatten ist nichts anderes als die Umkehr der Perspektive und resultiert aus ihr, wenn wir die Lichtquelle an die Stelle des Auges, den lichtundurchlässigen Körper an die Stelle des Gegenstandes und den Schatten statt der Projektion setzen.“233  Mit dieser Übereinstimmung der Regeln von Sehen und Schattenwerfen aber berührte Leibniz den Gründungsmythos der Malerei. Die Charakterisierung des Malers Apelles, daß er keinen Tag habe verstreichen lassen, ohne eine Linie

 Alberti, De Pictura, 19f., in: ders., 2000, S. 224–229.   Zu diesem Gemälde: Architekturmodelle, 1995, S. 199f. 230  Alberti, De Pictura, 19, in: ders., 2000, S. 224/225. 231  The Pierpont Morgan Library, New York; Stoichita, 1999, S. 65. 232   Vgl. hierzu: Da Costa Kaufmann, 1975. 233   Leibniz, Préceptes, in: ders., 1992, Schriften, Bd. IV, S. 120. 228 229

2.  Schatten als Lichtbringer

Abb.  23. Leonardo da Vinci (Schule), Studie zur Schattenprojek­ tion, Zeichnung, nach 1500, The Pierpont Morgan Library, New York

gezeichnet zu haben („nulla dies sine linea“), war ein Motto der künstlerischen Selbstdefinition geblieben.234  So zeigt der Kupferstich des 1633 in Madrid publizierten Malereitraktates Dialogos de la Pintura von Vicente Carducho eine Tabula rasa, die von einem Pinsel berührt wird, um, wie es in der Inschrift heißt, alle Möglichkeitsformen in einen Handlungsakt zu überführen (Abb. 24). Von der Spitze des Pinsels fällt eine zittrige Schattenlinie nach links unten, wie um zu suggerieren, daß sich die Malerei in der Wiedergabe ihres eigenen Schattens realisierte.235 

Abb.  24.  Vicente Carducho, Tabula Rasa, Stich, in: Car­ducho, 1633, Schlußbild

  Plinius, Naturalis historia, XXXV, 84 (S. 66); vgl. Stoichita, 1999, S. 95.  Stoichita, 1999, S. 95–97. In dieser Funktion hat ihn auch Plinius beschrieben: „alle jedoch sagen, man habe den Schatten eines Menschen mit Linien nachgezogen“ (Plinius, XXXV, 15, S. 20/21). 234 235

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IV  Das Spiel von Licht und Schatten

Abb.  25.  Joachim von Sandrart, Die Erfindung der Malerei, Stich, in: Sandrart, 1994 [1675], I, II.Teil, Abb.  B, S.  2/3

Im Jahr, in dem Leibniz seinen Drôle de Pensée mit dem Projekt eines Schattentheaters imaginierte, erschien der erste Band von Joachim von Sandrarts Teutsche Academie der edlen Bau-, Bild- und Mahlerey-Künste mit zwei Kupferstichen, welche die Legende des Ursprunges der Malerei aus dem Schatten zu illustrieren suchten (Abb. 25). In der oberen Hälfte ist ein Hirte in einer ländlichen Idylle zu sehen, der mit dem Hirtenstab den von der hochstehenden Sonne geworfenen Schat­ten seiner selbst nachzuzeichnen beginnt. Möglichwerweise, um den suchenden Ursprung zu charakterisieren, sitzt der Stab jedoch nicht auf der Umrißlinie, wie es Quintilians zugehörige Theorie des Ursprunges der Malerei erfordert hätte.236 In genauer Umsetzung von Plinius Maltheorie zeigt der untere Stich jedoch die künstliche Nutzung der Lichtmechanik und ihrer Gesetze, wie sie auch Leibniz im Auge hatte. Aus einem Lichtwurfgerät fällt ein Strahlenkegel auf die Tochter des Dibutades, die mit einem Stift die Silhouette ihres Geliebten nachzeichnet, um ihn auch in 236

  Quintilian, Institutio oratoria X, II, 7 [1974, S. 70/71]; Sandrart, 1994, I, II, S. 2.

2.  Schatten als Lichtbringer

Abb.  26.  Agostino Veneziano, Die Akademie von Baccio Bandinelli, Stich, 1531, Metro­politan Museum of Art, New York

Abwesenheit präsent zu halten.237  Leibniz’ Aussage, daß Perspektive und Schattenwurf denselben Regeln gehorchen, wird in dieser zeitgenössischen Szene exemplarisch deutlich. Zur Verehrung der Schatten gehörte, daß sie ein Eigenleben zu führen schienen. Die Regeln der Perspektive führten keinesfalls dazu, daß diese ihren Charakter als Produzent von unheimlichen Doppelgängern verlor. Während sich auf Agostino Venezianos Kupferstich der Kunstakademie des Bildhauers und Zeichners Baccio Bandinelli (Abb. 26) die Schüler im Kerzenschein um das Abzeichnen von Kleinbronzen kümmern, bilden die auf dem Wandabsatz aufgestellten Skulpturen mit ihren perspektivisch vergrößerten Schatten eine autonome Gemeinschaft, als würde Licht das innere Leben von scheinbar toten Gegenständen hervorbringen.238   237  Plinius, XXXV, XLIII, 151 (S. 108/109); Sandrart, 1994, I, II.Teil, S. 3; vgl. Stoichita, 1999, S. 125f. und Preimesberger, 1999, S. 120ff.  238 Stoichita, 1999, S. 127.

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IV  Das Spiel von Licht und Schatten

Abb.  27.  Jan Saenredam nach einem Gemälde von Cornelis Cornelisz, Die Höhle des Platon, Stich, 1604

Jan Saenredams im Jahre 1604 geschaffene Umsetzung von Platons Höhlengleichnis betonte dagegen die Rolle der schattengebenden Figuren (Abb. 27).239 Alles Gewicht ist auf die Beleuchtung dieser Gestalten gelegt, deren Schatten die Menschen als Oberfläche der Welt wahrnehmen und in dieser Bestimmung auch verteidigen. Die künstliche Sonne der Verblendung beherrscht die Szene, während die wahre Sonne der Erleuchtung ephemer und jenseitig wirkt. Selten wohl ist die Brillanz und die reflexive Kraft der Bildprojektion so glänzend in Szene gesetzt worden wie in diesem Stich, der doch der Kritik dieser Projektionstechnik dienen sollte. Die an die Wand projizierte Schattenwelt führt zur Unfreiheit der Wahrnehmung, aber die Mittel der Verblendung sind in ihrer schattenpro­du­zierenden Bildmacht entrückt. Es ist, als würde sich ein Künstler in der Kritik der Ver­schat­tung der Welt zugleich der Mittel brüsten, die sein Verblendungswerk zu leisten vermag. Der Stich zeigt die Apparatur von Platons Höhle der bildhaften Verblendung auf eine so suggestive Weise, daß sie über alle Kritik erhaben scheint. Im Medium der philosophischen Bildkritik betont der Künstler die Wirkmacht der Schattenbilder.

239   Gaiser, 1985, S. 42–44; Gombrich, 1996, S. 19f.; Die Masken der Schönheit, 2002, S. 166f. Die Inscriptio am oberen Bildrand zitiert Joh. 3,19, wodurch Platons Höhle gleichsam christianisiert wird (freundlicher Hinweis von Hartmut Böhme, vgl. ders., 2017, ungezählte Seiten, Abb. 4).

2.  Schatten als Lichtbringer

Abb.  28.  Jacques de Gheyn II, Drei Hexen auf der Suche nach einem verborgenen Schatz, Federzeichnung mit Lavierung, 1604, Oxford, Ashmolean Museum

Eine Zeichnung Jacques de Gheyns von 1604 hat ähnliche Züge, wobei die Ablehnung des Dargestellten hier jedoch keinen Zweifel aufkommen läßt (Abb. 28).240  Das Blatt zeigt drei Hexen in einem mit Leichenteilen bedeckten Gewölbe, in dessen Mitte eine Lampe so tief über dem geöffneten Leichnam hängt, daß die vorgestreckte Hand der rechts sich vorbeugenden Gestalt einen weit vergrößerten Schatten ausbildet, dessen Armprojektion sich von einem Zeige- in ­einen raumbeherrschenden Greifgestus verwandelt. Der Schatten agiert in anderer Weise als es die Person selbst vorgibt. Er wird zum autonomen Agenten der höllischen Welt, die er an die Wand wirft. Leibniz verbindet Saenredams Projektionstheater mit de Gheyns Schattendämonie. Seine Intention ist über die Illustration der im Jahre 1678 auf Niederländisch in Amsterdam publizierten Einleitung in die hohe Schule der Bildkunst des Malers und Perspektivikers Samuel van Hoogstraten nachzuvollziehen, in der ebenfalls die Erfindung eines Schattentheaters (schaduwendans) vorgestellt und mit einer Radierung visualisiert wurde (Abb.  29).241 Die Kunststudenten, die in Hoogstratens Schattentheater als Satyrn verkleidet einen Schattentanz aufführen, transmutieren, ins Riesenhafte vergrößert, an der Projektionswand zu Teufeln, denen der Reigen der linken Wand sowie die fliegenden Putten entgegengestellt  Stoichita, 1999, S. 133.   Brusati, 1995, S. 90, 193–199, Stoichita, 1999, S. 129, und Czech, 2002, S. 252.

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IV  Das Spiel von Licht und Schatten

Abb.  29.  Samuel van Hoogstraten, Schattentheater, Radierung, 1678, in: Hoogstraten, 1678, S.  260

werden. Hoogstraten hat hier Ovids Geschichte von Acis und Galatea zum Vorbild genommen.242  Bei all dem ging es nicht allein um die theatralischen Effekte. Für Hoogstraten wie Leibniz sollten die Zuschauer aus der Gelassenheit oder auch Gleichgültigkeit herausgeholt werden, um ihre in höchste Aufmerksamkeit gebrachten Sinnesorgane zum Denken zu bringen. Wenn sich die Akteure des Schattentheaters auf die Lichtquelle zu- oder von ihr fortbewegten, verwandelten sie für die Zuschauer jenseits der Projektionswand ihre Dimensionen. Da sich Hoogstratens Schattentheater auf die achte These Euklids bezieht, derzufolge die Größe, in der Objekte wahrgenommen werden, proportional zum Winkel zu bestimmen ist, unter dem sie in das Auge fallen, ist auf der Bühne ein 90-Grad-Bogen aufgestellt, der die Messung des Winkels erlaubt, in dem die Figuren erscheinen. In der Umkehrung von Sehen und Projizieren, von der Leibniz gesprochen hatte, bezeichnet die Lichtquelle auf der Bühne auch das Auge, gegenüber dem der Winkel der Dreiecksschenkel bestimmt werden kann, auf dem die Sehstrahlen der projizierten Figuren in die Iris fallen. Vom Boden der Bühne aus, 242  Ovid, 1964, XIII, Z. 740–897, S. 952–947 (vgl. Böhme, 2017, ungezählte Seiten, Abb. 7f.).

3.  Das Konfliktpotential der Perspektive

auf dem die Schatten als unterer Schenkel gegen die Projektionswand laufen, öffnen sich die Winkel zu den höchsten Punkten der projizierten Figuren. Das Umknicken der Schatten im rechten Winkel von Boden und Projektionswand hat zusätzlich einen anamorphotischen Effekt.243  Am rechten Rand zeigt Hoogstratens Radierung einen Zuschauer, der den lang zu Boden fallenden Vorhang leicht zur Seite schiebt, um die verhüllte Szene der Bühne unverhüllt betrachten zu können. Durch diesen Handgriff tut sich ein schräger Spalt auf, in dem der Zuschauerraum und jene abgedämpfte Beleuchtung zu erkennen sind, die auch Leibniz erwähnt, wenn er einleitend erläutert, daß die Akteure „ihren Schatten gegen ein durchscheinendes Papier werfen, hinter dem es ebenfalls ein Licht gäbe.“244  Leibniz sieht in einem letzten Schritt jedoch vor, dieses im Zuschauerraum zunächst abgedämpft vorhandene Licht komplett zu löschen, um den Effekt des Schattenwurfes zu steigern und dann dessen optische Regeln bestimmen zu können: „Danach würde auf einen Schlag alles dunkel; dabei wäre dieselbe Wand nochmals dienlich, indem man alles Licht, außer jenem nahe den kleinen beweglichen Holzfiguren löscht. Dieses Restlicht würde mithilfe einer magischen Lampe bewundernswert schöne und bewegliche Figuren gegen die Wand werfen, die demselben Perspektivgesetz folgen. All dies würde von einem Lied hinter dem Theater begleitet.“245  Da im Schattentheater der Überraschungscoup gelang, die Zuschauer über die erhöhte Aufmerksamkeit zur Reflexion zu veranlassen, steht die Erkenntnis, daß Sehen und Projizieren durch dieselben Gesetze erläutert werden konnten, am Ende des Gedankenscherzes. Synästhetisch begleitet schließlich die Musik die Bewegungen der Schatten, so daß die Kongruenz von Perspektiv-, Schattenwurf- und Harmoniegesetz den Schlußpunkt bildet.

3. Das Konfliktpotential der Perspektive Mit seinem Konzept eines Schattentheaters bezog sich Leibniz auch auf seine eigenen Forschungen zur geometrischen Perspektive. Er konnte hierfür keinen besser geeigneten Ort finden als Paris, wo eine höchst kontroverse Diskussion der Schat­ tenperspektive stattgefunden hatte.246  Der Zielpunkt von Leibniz’ Erkundungen waren die Schriften des französischen Mathematikers und Geometrikers Girard Desargues.247  Leibniz hat sich ohne Erfolg bemüht, diese Texte zu finden, so daß der Graphiker Abraham Bosse seine Hauptquelle wurde. Der 1602 in Tours gebo  Brusati, 1995, S. 194.  AA, IV, 1, Nr. 49, S. 567, Z. 33f.; AI, 5, Z. 220–221. 245  AA, IV, 1, Nr. 49, S. 568, Z. 5–10; AI, 5, Z. 228–235. 246   Da Costa Kaufmann, 1975, S. 283ff. 247   Field und Gray, 1984; Field, 1997. 243

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IV  Das Spiel von Licht und Schatten

rene Schüler Jacques Callots war wegen seiner überragenden Fähigkeiten in der Perspektivkunst im Jahre 1649 an die Pariser Kunstakademie berufen worden. Bosse hatte Desargues Überlegungen in eine verständliche Form zu bringen versucht und teils neu abgedruckt.248  Leibniz’ Randnotizen lassen erkennen, daß er Bosses Ausführungen, obwohl sie ihn nicht durchweg überzeugten, doch für seine eigenen Schriften zur Perspektive genutzt hat.249  Noch 1701 hat er sie in einer An­leitung, wie die „nützlichen Wissenschaften“ und insbesondere Mathematik und Physik am besten zu lernen seien, als Lehrbücher angeführt: „In den Perspectiv Des-Argues durch Bosse.“250  Mit Bosses perspektivischen Bildern war Leibniz mit einem Problem konfrontiert, das aufgetreten war, als Thomas Hobbes Bosse mit dem Frontispiz des Levia­ than beauftragt hatte.251  Hobbes im Jahre 1651 publizierter Text versuchte, die Wissenschaft vom Staat more geometrico zu begründen und in der zwingenden Folge von Begriffsklärung, Postulat, Axiom und Beweisführung eine von allen Interessen freie Argumentation nach dem Modell von Euklids Elementa zu entwickeln. Das dem Buch vorangestellte Frontispiz (Abb. 30) zeigte einen über den Horizont aufragenden Staatsriesen, dessen Körper aus mehreren hundert Menschen gebildet ist und der eine kaum weniger komplexe Botschaft als der Text vertritt. Da diese Gründungsschrift der neuzeitlichen Staatswissenschaft das Zusammenspiel von Geometrie und Sprache unter den Schutz eines Bildes stellte, bot jede Nuance des Frontispizes, und so auch vor allem sein Stil, eine spezifische Aussage. In ihrer Klarheit besaßen Bosses Radierungen die kristalline Schärfe von Kupferstichen, und selbst wo Bosse Tierkadaver von wissenschaftlichen Untersuchungen wiedergab, wirkten sie wie Metallstücke.252  Mit Bosse wählte Hobbes einen Künstler, dessen konturenscharfe Linienführung dem geometrischen Modus des Textes zu entsprechen vermochte. Bosse war auch aus dem Grund geeignet, den Leviathan zu schaffen, weil er wie auch Hobbes optische Experimente durchführte. In den Pariser Salons, in denen sich Hobbes und Bosse bewegten, wurden Bilder von Kompositfiguren vorgeführt, die auf den ersten Blick sinnlos erschienen. Durch eine multifokal geschliffene Linse aber wurden die Teile eines Gruppenbildnis zum Portrait des Souveräns 248   Bosse, 1648; vgl. hierzu: Echeverría, 1983, S. 193ff.; ders., 1994, S. 289f.; zu Desar­g ues: Kemp, 1984, S. 123ff; Field, 1997, S. 192–214, und insbesondere 220–224; zur konfliktreichen Position Bosses an der Akademie: Heinich, 1983; Germer, 1997, S. 121ff., Duro, 1997, S. 168– 180, McTighe, 1998, S. 6f., 22. 249   „Elle n’est pas si propre a l’invention mais elle a l’avantage de surprendre les lecteurs“ (zit. nach Echeverría, 1983, S. 195; vgl. ders., 1994, S. 290). 250   Brief an Tschirnhaus, 17. 4.1701, in: Leibniz, 1899, Nr. XL, S. 514. Vgl. Echeverría, 1983, S. 197f. 251   Bredekamp, 1999, S. 39ff. 252   Villa, 1967, Abb. 32.

3.  Das Konfliktpotential der Perspektive

Abb.  30.  Abraham Bosse, Leviathan, Radierung, 1651, in: Hobbes, 1651, Frontispiz

verbunden, und diesen Umsprung nahm Hobbes als Modell der Staatsgründung, in der die Fülle von Einzelpersonen aus sich heraus den Staatsriesen des Leviathan erschuf. Die politische Theorie erachtete er als ein optisches Instrument, durch welches sich die zersplitterten Perspektiven der Einzelinteressen zum höheren Ganzen des Leviathan, dem sterblichen Gott, verbanden.253  Gerade Bosses Perspektivkunst, wie sie etwa Bosses Bildergalerie mit ihrer besonders gewagten und umso präziseren Fluchtung zeigt (Abb. 31), wurde jedoch zum Problem der politischen Repräsentation. Indem Bosse den betenden Lud­ wig XIII. auf dem Bodenmosaik niederknien läßt, als wäre der König eine Schach­ brettfigur (Abb. 32), setzte er sich in Konflikt zur absolutistischen Kunstpolitik.254  Sein Ziel, die mathematisch präzisierte Perspektive als Kriterium der Ausbildung und der Bewertung von Kunst durchzusetzen, widersprach dem Stil des Präsidenten der Kunstakademie, Charles Le Bruns, dessen Darstellungen Ludwigs XIV. das Gegen­ modell zur Klarheit bot, mit der Bosse Ludwig XIII. charakterisiert hatte (Abb. 33).255   Bredekamp, 1999, S. 83–94.   McTighe, 1998; Duro, 1997. 255   Knab und Widauer, 1993, Nr. F 357; vgl. Beauvais, 2000, I, S. 658, Nr. 2304, Krieg der Bilder, 1997, S. 108f. Zu Le Bruns beherrschender Rolle in der Akademie: Held, 2001; vgl. die Kritik von Krause, 2003. Zur politisch wirksamen Malweise Le Bruns: Kirchner, 2001. 253

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IV  Das Spiel von Licht und Schatten

Abb.  31.  Abraham Bosse, Bildergalerie, in: Villa, 1967, Abb.  39

Abb.  32.  Abraham Bosse, Ludwig XIII., in: Villa, 1967, Abb.  40

Le Bruns Bildnis basierte nicht auf der Umrißlinie und der stereometrischen Raumbildung, sondern auf einer schimmernden Erscheinung, die sich in die Tradition der „nicht-von-Menschenhand-gemachten-Kultbilder“ stellte und solcherart eine ikonische Präsenz zu erzeugen suchte. Diese Darstellungsweise stand im Einklang mit André Felibiens im Jahre 1663 formulierter Gleichsetzung des transempirischen Bildes mit dem Körper und dem Amt des Souveräns.256  Bosse, der in seinen Bildern die Gegenposition vertrat, wurde im selben Jahr von seiner Lehrtätigkeit entbunden. Die Kontroverse um den Stellenwert des mathematisch konstruierten Bildraumes war daher nicht nur ein Konflikt der Stilmittel und des Rangstreites der ­Künste; vielmehr wirkten im Unterschied zwischen Bosses perspektivisch klarer Linienführung und Le Bruns sfumato, das einen Stil jenseits der mathematischen Begründung der Kunst vertrat, diametral entgegengesetzte Konzepte der bildhaften Begründung souveräner Macht. Der Grund, der Bosse in einen Konflikt mit der Kunstakademie geraten ließ, muß für Hobbes der Anlaß gewesen sein, diesen für seine Repräsentation des Leviathan auszuwählen. Denn jene Geometrisierung der politischen Welt, die Hobbes propagierte, forderte Bosse für den gesamten Bereich der Kunst.

  Felibien, 1663; vgl. Germer, 1997.

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4.  Kreisende Schnittflächen und rotierende Kegel

Abb.  33.  Charles Le Brun, Apotheose Ludwigs XIV., Zeichnung, Wien, Albertina

4. Kreisende Schnittflächen und rotierende Kegel Die Konflikte, die Bosse für Hobbes interessant machten, beruhten auf künstlerischen Fähigkeiten, die ihn auch für Leibniz attraktiv werden ließen. Hobbes Idee des Souveräns, der angemessen nur durch eine multifokale Linse betrachtet werden kann, wird Leibniz ins Universelle bis zum Auge des omnipräsenten Gottes wenden. Seine Analysen der optischen Spiele und Theater sind Einübungen in die Blickweisen dieser Universalgröße. Leibniz’ Medium waren Kegel, wie sie in der Künstlerausbildung genutzt ­w urden, um den perspektivischen Fall von Streiflichtkanten einzuüben. Nicolas Poussin hat in der Zeichnung eines Ateliers in der linken Szene einen jungen Künstler vor einem niedrigen Tisch gemalt, auf den eine Kugel, ein Kegel, ein Zylinder und ein dreieckiger Festkörper gesetzt sind (Abb. 34).257  Er hatte 1640 das Lichtund Schattenproblemen gewidmete Manuskript Della descrittione dell’­om­bre prodotte da corpi opachi rettilinei des Malers Matteo Zaccolini studiert, 258  das auf einer der Illustrationen zeigt, wie diese Kegelfiguren benutzt wurden (Abb. 35).259  Eine Lichtquelle fällt über die Kante eines rechteckigen Körpers, so daß sich der   Cropper, 1980, S. 571; Rosenberg und Prat, 1994, Bd. I, Nr. 292, S. 566f.   Cropper, 1980, S. 573. 259   Cropper, 1980, S. 577. 257

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IV  Das Spiel von Licht und Schatten

Abb.  34. Nicolas Poussin, Atelier, Federzeichnung, braune Tinte, ca. 1646–1650, Kopie, St. Petersburg, Eremitage

Schatten auf dem Kegel wie ein imaginärer Schnitt auf der Oberfläche abzeichnet. Dabei ergibt sich jene Ellipse, die der zugehörige Text kommentiert.260  Desargues war ähnlich vorgegangen. Er hatte den Kegel, der sich zwischen dem Auge und einem Kreis bildete, durch Schnitte senkrecht zur Achse zwischen Auge und Kegelmittelpunkt geteilt, so daß sich, woran nichts Überraschendes war, Kreise ergaben. Das Novum lag darin, daß er die Hyperbeln, Parabeln und Ellipsen als perspektivische Darstellungen des Kreises begriff. Daß selbst Kurven mit offenen Armen als perspektivische Repräsentation eines Kreises anzusehen waren, schien absurd. Desargues aber stellte den Bezug dadurch her, daß er den Kegel als unendlichen Körper definierte, bei dem sich die Arme der Parabel zur Ellipse zurückbanden. Unter derselben Prämisse erachtete er Geraden als Kreise mit unendlichem Radius oder auch Zylinder als Kegel, deren Spitzen unendlich entfernt sind. Eine dynamisch sich drehende Schnittfläche innerhalb des Kegels ließ zudem die verschiedenen Schnittkurven ineinander übergehen.261  Leibniz konnte mit Blaise Pascals heute verlorener Schrift über Kegelschnitte Traité des coniques einen Text studieren, der ebenfalls zu dem Ergebnis kam, daß selbst offene Kurven als perspektivische Verweise auf den Kreis zu werten waren. In der Geometrie, so führten Leibniz’ Anmerkungen zu Pascals Schrift aus, laufe   Cropper, 1980, S. 575.   Le Goff, 2001, S. 25–27; vgl. Le Goff, 1994.

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4.  Kreisende Schnittflächen und rotierende Kegel

Abb.  35.  Matteo Zaccolini, Kegelfiguren, Zeichnung, in: Zaccolini, Della descrittione dell’ombre, Florenz, Biblioteca Laurenzia­ na, MS Ashb. 1212, iv, Bl. 30r

alle Methodik darauf hinaus, „verschiedene Objekte in derselben Situation simultan zu erfassen“; dies könne man entweder dadurch erreichen, daß man eine Figur aus verschiedenen Richtungen wahrnehme oder daß man Kegel „ebenso mittels der Bewegung wie der Verwandlung enthülle.“ Und wie ein Kommentar zum Schattenspiel und zu allen Arten perspektivischer Projektionen wirkt der Schluß, „daß man sich sowohl in Bezug auf die Bewegungen wie die Verwandlungen auf sehr nützliche Weise an die Veränderungen der Erscheinung oder auch die optische Transformation der Figuren halten könne.“ Der Kegel würde sich hierdurch als konstant erweisen, was die Möglichkeit einer höheren Betrachtung eröffne.262  Ein Zusammenhang mit dem Schattentheater des Drôle de Pensée, bei dem Figuren andauernde Metamorphosen bilden, ohne ihren Verweischarakter auf die Lichtquelle zu verlieren, liegt auf der Hand. Leibniz hat dabei auch an Papier­ zy­lin­der als Projektionsfläche gedacht; so suchte er in den zwei unpublizierten Texten Scientia Perspectiva und Origo Regularum Artis Perspectivae eine Wissenschaft der Perspektive zu begründen, bei der die Fläche, auf welche die Perspektivlinien

262   „Omnis in Geometricis ope situs inveniendi ratio, ideoque sine calculo, in eo constat ut plura simul eodem situ complectamur; quod fit, tum ope figurae cujusdam plures includentis, ubi usus solidorum patet; tum ope motus, sive mutationis. Porro, ex motibus et mutationibus, utilissime videtur adhiberi mutatio apparentiae, seu optica figurarum transformatio; videndum an ejus ope possimus ultra conum ad altiora quoque assurgere“ (LH, Abt.35, Bd. 15, Bl.12; zit. nach: Costabel, 1962, S. 259; vgl. Echeverría, 1983, S. 192).

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IV  Das Spiel von Licht und Schatten

projiziert werden, sowohl plan wie auch konkav, konvex oder auch in einer Mischform gebildet sein könnte.263  In diesem spielerischen Umgang mit den Schattenprojektionen lag für Leibniz die wohl größte Brisanz des Drôle de Pensée. Das Schattenspiel krönt den Gedankenscherz darin, daß es Naturwissenschaft und Spiel verbindet, um die Wißbegierde über eine Kombination von Optik und Kunst in einem Forum des Vergnügens anzustacheln. Nur in der Euphorie eines Momentes im September 1675 hat sich Leibniz getraut, die Utopie einer spielerischen und vergnüglichen Forschung und einer buchstäblich grenzenlosen Erkenntnis so hemmungslos zu formulieren wie in diesem Konzept. Der Drôle de Pensée vom September 1675 stellt ein unwiederholbares Kompendium der Archivierung, Darbietung und Vergnügung der Forschung dar, die in all ihrer scheinbar planlosen Variabilität den permanenten Perspektivwechsel zum Prinzip erhebt. Hierin bleibt der Text der geheime Dreh- und Angelpunkt aller späteren Überlegungen zum Museum, zum Theater und zur Akademie.

 Echeverría, 1983, S. 199f.

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V DAS MATHEMATISCHE KALKÜL 1. Anamorphosen Was Leibniz in Bezug auf die Berechnungen der Schattenprojektionen im Auge hatte, wird blitzartig durch einen vermutlich im Jahre 1688 verfassten Text zur Systematisierung der Naturforschung deutlich, in dem eine Marginalie axiomatisch festhält, daß eine „Ichnographie unendlich viele Scenographien“ besitze.264  Mit diesen Begriffen verwendet Leibniz zwei Termini der Architektur. In seinem Traktat über die Baukunst hat Vitruv die Ichnographia als den unverstellten und unverzerrten Entwurf eines Gebäudes in Form eines klaren Grundrisses definiert, wohingegen die Scenographia die perspektivische Vordersicht mit der fluchtenden Seitenansicht eines Bauwerkes darstellen sollte.265  Wie aus ­einem Brief an den jesuitischen Philosophen, Mathematiker und Theologen Bar­tholomaeus des Bosses hervorgeht, hat Leibniz die beiden vitruvianischen Begriffe jedoch nicht im strikten Sinn einer Unterscheidung von Grundriß und Perspektivdarstellung, sondern in ihrem metaphorischen Gehalt von grundrisshafter Klarheit und perspektivischer Verzerrung verwendet. Das Schreiben des Jahres 1712 beginnt mit einer Bestimmung des Wandelbaren und Ungewissen jeder Erscheinung: „Wenn die Körper Phänomene sind und von unseren Erscheinungen her beurteilt werden, dann werden sie nicht real sein, da sie ja anderen anders erscheinen.“266  Dieser an Platons Kritik der Schattenbilder erinnernde Einstieg könnte eine grundlegende Absage an die Welt der Erscheinungen bedeuten: was der Mensch sieht, ist so wenig real, daß er andere Mittel einsetzen muß, um wirkliche Erkenntnis zu gewinnen. Gerade die Wandelbarkeit der Erscheinungen führt Leibniz aber zum entgegengesetzten Schluß: „Deshalb

264   „Quemadmodum una ichnographia infinita habet sce“ (AA, VI, 4, B, Nr. 312, S. 1618, Anm. 2). Vgl. zu den Begriffen: Serres, 1966, S. 7ff.; Schepers, 2002, S. 107. 265   Vitruv, 1996, I, II, 2 (S. 36–39). 266   „Si corpora sunt phaenomena et ex nostris apparentiis aestimantur, non erunt reali, quia aliter aliis appareant“ (Leibniz, 1875–1890, Bd. II, S. 438; übers. nach: Widmaier, 1983, S. 828).

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V  Das Mathematische Kalkül

scheint die Realität der Körper, des Raumes, der Bewegung, der Zeit darin zu bestehen, daß sie Phänomene Gottes oder Objekt der Wissenschaft des Sehens sind.“267  Alle Formen dieser Welt – Körper, Raum, Bewegung und Zeit – sind keineswegs die Trugbilder verfremdender Gaukler, sondern sie bilden die Emanationen Gottes, die sich als Objekte der wissenschaftlichen Optik eignen. In den Bestimmungen der Scenographia und der Ichnographia lag die Differenz zwischen der göttlichen und der menschlichen Perspektive: „Und zwischen der Erscheinung der Körper uns und Gott gegenüber besteht gewissermaßen ein Unterschied wie zwischen einer scenographia und einer ichnographia. Es gibt nämlich je nach der Lage des Betrachters viele Sce­nographien, dagegen nur EINE Ichno­gra­phie oder geometrische Repräsenta­tion.“268  Während Gott die Dinge unverstellt erkennt, sieht sie der Mensch in seiner je individuellen Perspektive in zahllosen anamorphotischen Verzerrungen.269  Dies begründet Leibniz’ Jahrzehnte zuvor getroffene Feststellung, daß der einen Ichnographia unendlich viele Scenographien entsprächen. Der Schlußabschnitt des Drôle de Pensée verdeutlicht, daß die zeitgenössischen Schattentheater, wie sie Hoogstratens Radierung festhielt (Abb. 29), für diese Überlegungen ein schlüssiges Modell abgaben. In dieselbe Richtung zielte Leib­niz’ Idee, ana­mor­photische „Gemälde, die sich aus einem [Blickwinkel] von besonderer Beschaffenheit zeigen, und aus einem anderen auf ganz andere Weise“, in sein Ausstellungsprojekt zu integrieren.270  Für Leibniz war die „schräge“ Perspektive das visuelle Gleichnis einer zu entzerrenden Welt. Noch in seiner Auseinander­setzung mit Samuel Clark hat er betont, daß auch die Himmelskörper von einem angemessenen Perspektivpunkt aus erschlossen werden müßten, um ihr Wesen zu offenbaren. Von der Erde aus sei die Bewegung der Sterne voller Wirren, wohingegen sie von der Sonne aus aber „wunderbar schön herauskomme“; entsprechend sei „ein prospectivisch Gemählde nur aus gewissen Stellen am besten zu erkennen.“271 Indem die zunächst anamorphotisch wahrgenommene Welt zum „Objekt der Wissenschaft des Sehens“272  gemacht würde, war für Leibniz auch die Häßlichkeit und das Grauen zu überwinden, das sich aus der scenographischen Sicht ergeben konnte. Die Entschlüsselung der Perspektiven zielte, wie Leibniz in der Theodizee 267   „Itaque realitas corporum, spatii, motus, temporis videtur consistere in eo ut sint phaenomena Dei, seu objectum scientiae visionis“ (Leibniz, 1875–1890, Bd. II, S. 438; Übers. vgl.: Widmaier, 1983, S. 828). 268   „Et inter corporum apparitionem erga nos et apparitionem erga Deum discrimen est quodammodo, quod inter scenographiam et ichnographiam“ (Leibniz, 1875–1890, Bd. II, S. 438; übers. nach: Widmaier, 1983, S. 828). 269   Zur Geschichte der Anamorphose: Baltrusaitis, 1996, und zuletzt Schäffner, 2003. 270  AA, IV, 1, Nr. 49, S. 564, Z. 7f.; AI, 5, Z. 73–74. 271   Leibniz, 1924, Bd. 2, S. 181f. 272   „objectum scientiae visionis“ (Leibniz, 1875–1890, Bd. II, S. 438; Holze, 2001, S. 522).

1.  Anamorphosen

betont hat, auf die Erkenntnis, daß die Welt die beste aller möglichen sei: „Gott aber verwendet mit wunderbarem Geschick alle Mängel dieser kleinen Welt zur größeren Zier seiner großen Welt. Es ist damit gerade wie mit jenen perspektivischen Erfindungen, wo gewisse schöne Zeichnungen völlig verworren erscheinen, bis man sie aus dem richtigen Blickwinkel oder durch ein gewisses Glas oder einen Spiegel betrachtet. Erst indem man sie richtigstellt oder sich ihrer in angemessener Weise bedient, macht man sie zur Zierde eines Zimmers. In gleicher Weise vereinen sich die scheinbaren Unschönheiten unserer kleinen Welten in der großen zu Schönheiten und enthalten nichts, was der Einheit eines allgemeinen, unendlich vollkommenen Prinzips entgegen wäre.“273  Perspektiven, die sich von der ursprünglichen Scenographie unterscheiden und die auf eine optische wie erkenntnistheoretische Bewußtwerdung und Überwindung der eigenen Blickverzerrungen abzielen, haben daher ein Ziel, das sich zwar nie ganz erreichen läßt, dennoch aber nicht beliebig ist. Diesen Gedanken hat Leibniz in dem Perspektivparagraphen der Monadologie nochmals am Beispiel unterschiedlicher Stadtveduten entwickelt: „Und wie eine und dieselbe Stadt von verschiedenen Seiten betrachtet ganz anders und gleichsam perspektivisch vervielfacht erscheint, so kommt es auch, daß es infolge der unendlichen Vielfalt der einfachen Substanzen ebenso viele Universen gibt, die dennoch nur die unterschiedlichen Perspektiven eines einzigen gemäß den verschiedenen Gesichtspunkten jeder Monade sind.“274  Auch hier zielt Leibniz darauf, das je individuelle Gesichtsfeld als nur eine von unendlich vielen Möglichkeiten zu bestimmen. Hieraus ergibt sich wie im Schattentheater die Notwendigkeit, die verschiedenen Sichtweisen als jeweils begrenzte Teile einer Gesamtperspektive zu bestimmen. Leibniz’ Perspek­tivismus relativiert keinesfalls die zu erschliessende Wahrheit, sondern weist auf die Relativität der individuellen Blickpunkte.275  Wenn die perspektivischen Regeln für Leibniz das Mittel boten, die anamorphotischen Verzerrungen durch mathematische Berechnungen in das Blicklot zu bringen, dann bedeutete dies auch, sie als bestmögliche aller Welten zu begreifen. Gott dagegen benötigt diese Entzerrung nicht, weil er die Welt, wie Leibniz in dem erwähnten Brief an des Bosses präzisiert, die Ichnographia jedes einzelnen Gegenstandes und Wesens wie auf einem unverfälschten Grundriß betrachtet. Er vermag alle Objekte gleichsam wie durch die Zentralperspektive zu erblicken, zugleich aber auch jede nur mögliche Perspektive einzunehmen und dadurch die

 Essais de Théodicée, § 147, in: Leibniz, 1985, Bd. II/1, S. 459–461.   Monadologie, § 57, in: Leibniz, 1998, S. 41–43. Vgl. zur Perspektivität der Monadenlehre Graumann, 1960, S. 33–35 und Pape, 1994, S. 573–579. 275   Holze, 2001, S. 518. Deleuze hat treffend formuliert, daß Leibniz’ perspektivischer Relativismus „keine Variation der Wahrheit je nach Subjekt“ bedeute, „sondern die Bedingung, unter der dem Subjekt die Wahrheit einer Variation erscheint“ (Deleuze, 1995, S. 37). 273 274

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Verhältnisse zwischen ihnen zu bestimmen. Durch die Ichnographia betrachtet Gott „nicht nur die einzelnen Monaden und die Modifikationen jeder Monade, sondern auch deren Relationen.“276  Auch Leibniz’ an Desargues geschulte Über­ legungen zu den Kegelschnitten haben in dieser Rekonstruktion des göttlichen Blickes, der über sämtliche Perspektiven die Beziehungen zwischen den Monaden wie durch Ichnographien betrachtet und dadurch den vollendeten Charakter der Schöpfung repräsentiert, ihre finale Bestimmung. Die verschiedenen Kegelschnitte, die in Form von Kreisen, Ellipsen, Parabeln, Hyperbeln und sogar geraden Linien und schließlich selbst Punkten auf den ersten Blick schwer zu verbinden sind, erweisen, wie Leibniz in der Theodizee ausführt, bei geeigneter Perspektive doch, daß „eine bestimmte Beziehung jedes Punktes zu jedem Punkt“ besteht: „Daher muß man einräumen, daß jede einzelne Seele sich das Universum unter ihrem Gesichtspunkt und vermöge eines ihr eigentümlichen Verhältnisses vorstellt; immer aber besteht eine vollkommene Harmonie.“277  Im Zentrum von Leibniz’ Bemühungen steht daher die dynamische Geometrie des göttlichen Auges, dessen zwei Augenpunkte sich sowohl unendlich weit ent­fernt von Objekt und Projektionsfläche wie auch in deren unbegrenzter Nähe befinden.278  Dem entspricht die im Discours de Metaphysique beschriebene Fähigkeit Gottes, sämtliche Gebilde vor seinem Auge von allen Seiten her sichtbar zu machen: „Denn Gott dreht sozusagen das allgemeine System der Erscheinungen, das er zur Offenbarung seiner Herrlichkeit hervorzubringen gedenkt, nach allen Seiten und auf alle Weisen hin und her, und er betrachtet alle Seiten der Welt auf jede mögliche Art, weil es keine Beziehung gibt, die seiner Allwissenheit entgeht.“279  All dies spielt bereits in das Schattenspiel des Drôle de Pensée mit seinen je verschiedenen Projektionen, die nicht den Standpunkt des Betrachters, sondern die Erscheinungsweisen der Dinge verwandeln, hinein. Das Schattentheater versucht den Perspektivwechsel systematisch erfahrbar zu machen und anzuregen, und es verweist auf die Notwendigkeit, auf den Grund der unterschiedlichen Erscheinung der projizierten Gegenstände zu gelangen. Um ihre Urbilder zu rekonstruieren, müssen sie auf den einen Lichtpunkt zurückberechnet werden, von dem aus die Illusion des Lichttheaters erzeugt wird.

276   „Porro Deus non tantum singulas monades et cujuscunque Monadis modificationes spectat, sed etiam earum relationes“ (Leibniz, 1875–1890, Bd. II, S. 438; übers. nach: Widmaier, 1983, S. 828; vgl. auch Holze, 2001, S. 522. Leibniz nutzt hier offenbar Kategorien der Pansophie des Comenius; vgl. Mahnke, 1931/32, Bd. 22, S. 64). 277  Essais de Théodicée, § 357, in: Leibniz, 1985, Bd. II/2, Théodicée, S. 174; übers. S. 175. 278  Echeverría, 1983, S. 199–201. Zur Geometrie: Knobloch, 1999, Streifzug, S. 215, 221f. 279  AA, VI, 4, B, Nr. 306, S. 1549, Z. 19 – S. 1550, Z. 2; übers. nach: Leibniz, 1955, S. 358; vgl. Widmaier, 1983, S. 829.

2.  Kritik des Visuellen

2. Kritik des Visuellen Leibniz’ Privilegierung der sehenden Erkenntnis ist bislang übersehen oder unterschätzt worden, weil seine Versuche des algebraischen Kombinierens als Antizipation formaler Logik für wichtiger und richtungsweisender erachtet wurden. Die in dem Drôle de Pensée spürbare Manie, die neue Art der Repräsentationen dazu zu nutzen, auf spielerische Weise mit und durch die sinnliche Erkenntnis zu fundamentalen Einsichten zu gelangen, steht in Konflikt zu dem geläufigen Deutungsmuster, das den Prozeß seines Denkens als Aufstieg vom Sinnlichen zum AbstraktMathematischen bestimmt.280  Diese Deutung konnte sich auf eine Reihe von Äußerungen stützen, die Leibniz gegen die sinnliche Erkenntnis gewandt hat. An diesen ist anzusetzen, um zu entscheiden, ob Leibniz’ Theater der Natur und Kunst seiner eigenen Philosophie als eine Bizarrerie widerspricht oder ob sich auf dessen Bühne ein anderes Bild ergibt.281  Leibniz’ gegen das Auge gerichtete Äußerungen scheinen zunächst eindeutig. So hat er vermutlich im Jahre 1679 ausgeführt, daß „das Menschengeschlecht“ mit einem Calculus zur Überführung aller Zeichen in charakteristische Zahlen ein neues Instrument besitzen würde, „welches das Leistungsvermögen des Geistes weit mehr erhöhen wird als optische Gläser die Sehschärfe der Augen fördern, und das die Mikroskope und Teleskope in dem gleichen Maße übertreffen wird, wie die Vernunft dem Gesichtssinn überlegen ist.“282  Ein Brief des Juli 1692, in dem Leibniz die Algebra als bislang geeignetste Grundlage des allgemeinen Kalküls begründet, enthält eine vergleichbare Zurücksetzung des Visuellen: „Wenn eine Sprache oder zumindest eine Schrift von der Art geschaffen worden wäre, wie ich sie mir wünsche, verfügten wir über ein neues Erkenntniswerkzeug von größerer Bedeutung für die Schärfung des Geistes, als es die sichtbaren und durchsichtigen Dinge für die auf das Sehen auszurichtende Fähigkeit gewesen sind. Schon seit vielen Jahren stelle ich dazu zahlreiche Überlegungen an und habe die Erkenntnis gewonnen, dass, erst einmal verwirklicht, allem, was der Algebra zugänglich ist, bei jeder Art von Rechnen der Vorzug zu geben ist.“283 

  Zuletzt Pape, 1997, S. 144ff.  Schupp, in: Leibniz, 2000, S. XVIII. Vgl. die paradigmatische Differenz zwischen Pape, 1997, der Leibniz’ Interesse für die Perspektive nachzeichnet, um zu zeigen, daß Leibniz das Auge als Erkenntnismittel letzlich verwirft, und Busche, 1997, der zwar kaum auf die Perspektivforschungen eingeht, dennoch aber den sinnlichen Erkenntnisweg von Leibniz ins Kalkül nimmt. 282  AA, VI, 4, A, Nr. 66, S. 268, Z. 7–9; Übers. nach Leibniz, 1992, Schriften, Bd. IV, S. 53. 283  AA, I, 8, Nr. 207, S. 350, Z. 14–16; Übers. nach: Rudolph, 2001, S. 56. 280 281

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Leibniz’ Hoffnung auf das algebraische Rechnen als Medium einer über­ prüfbaren Entwicklung des Wissens wirkt als eine so eindeutige Abwertung des Sinnlich-Anschaulichen, daß sein lebenslanges Vertrauen auf das Hap­tische und Visuelle wie von einer anderen Person zu kommen scheint. Auf eine ähnliche Konsequenz scheinen seine Überlegungen zur ars characteristica insofern hinauszulaufen, als sie in ihrem abstrahierenden Sinn als eine dem Visus überlegene Kunst begriffen werden könnte. Leibniz’ im Jahre 1688 vor Kaiser Leopold entwickelte Zeichentheorie scheint in diese Richtung zu weisen: „Ich kann mit Charakteren ohne Figuren und Modelle höchst verwickelte Maschinen so vorstellen, als wenn sie von mir gemalt und im Modell entworfen wären; oder gar besser, denn mit dieser zeichenhaften Repräsentation kann ich gleichsam rechnen, die Maschine auf dem Papier versetzen und verändern und die rechten Stellungen durch Analysen suchen, wohingegen ich sonst unzählige Figuren und Modelle haben müßte, um dergleichen damit versuchsweise zu tun.“284  Aus diesen Äußerungen jedoch ein grundsätzliches Votum gegen anschauliche Erkenntnis herauslesen zu wollen, ist aus eben jenem Grund verfehlt, der das Sehen zu übersteigen scheint. Denn die Zeichen, auf denen Leibniz die Überlegenheit seiner ars characteristica begründet, haben ihrerseits zur Bedingung, keine nur erdachten Symbole, sondern materiell fixierte Verkörperungen des Denkens zu sein. Leibniz zufolge muß sich der schöpferische Prozeß des Denkens gestalteter Zeichen bedienen, denen er den lateinischen Namen Charaktere gegeben hat: „Characteres nenne ich alles, was dem Denkenden eine andere Sache repräsentiert“285. Das Charakteristische dieser Zeichen liegt nicht etwa darin, daß diese den Augensinn übersteigen, sondern daß sie ihm Denkmittel von besonderer, dinglicher Qualität bereitstellen.

  „Ich kan mit characteren ohne figuren und modellen machinas intricatissimas also vorstellen, als ob sie von mir gemahlet und in modell entworffen, ja beßer, denn mit dieser reprae­ sentatione characteristica kan ich gleichsam rechnen, die machinam auff dem papier versezen und verändern und die rechten stellungen per Analysin suchen, da ich sonst unzehliche figuren und modellen haben mußte, umb dergleichen damit tentando zu thun“ (Ausführliche Aufzeichnung für den Vortrag bei Kaiser Leopold I., in: AA, IV, 4, Nr. 8, S. 65, Z. 5–10; vgl. Aufzeichnung für die Audienz bei Kaiser Leopold I., in: AA, IV, 4, Nr. 6, S. 26, Z. 18–21). 285  AA, VI, 4, A, Nr. 78, S. 324, Z. 9; AI, 20, Z. 9–10. Die Übersetzung als Zeichen hat sich durchgesetzt; vgl. den jüngsten Band der Akademie-Ausgabe: AA, VII, 3, S. 850. 284

3.  Bildlichkeit mathematischer Zeichen

3. Bildlichkeit mathematischer Zeichen Leibniz’ Charaktere haben zunächst die Funktion, die Vielfalt der inneren Welt überschaubar zu machen. Hierzu können mathematische Symbole, Worte, Buchstaben, astronomische Figuren, chinesische Sprachbilder, Hieroglyphen, Noten und geheimschriftliche Zeichen sowie auch andere Gebilde gehören.286  Der Kosmos dieser Figuren kann folglich auch Elemente der Sprache verwenden, muß aber vermeiden, sie nach ihrer linguistischen Bestimmung einzusetzen. In der Tradition der gegen die selbstreferentielle Rhetorik gerichteten Sprachkritik von Francis Bacon und Thomas Hobbes vertraut Leibniz auf die Objektivität eindeutig charakterisierter, visuell erfahrbarer Figuren, die er auch als „geschriebene, gezeichnete oder plastische Charaktere“ definiert. Sie bilden den Schlüssel für Leibniz’ Theorie des Denkens.287  Ohne die Sphäre dieser auf dem Papier oder in anderen Medien gestalteten Zeichen ist ihm zufolge das systematische, die Beziehungen zwischen den Objekten herstellende Denken nicht vorstellbar.288  „Da ja die Analyse der Charaktere etwas Anschauliches ist“, so betont Leibniz im Jahre 1678, sei es möglich, eine „anschauliche Analyse der Gedanken“ zu geben und diese wie mit einem „mechanischen Faden“ zu lenken.289  Der kurz danach ent­standene Text De Arte Characteristica Inventoriaque, der von der Möglichkeit handelt, durch die Kunst der Kombinatorik eine Zeichensprache zu schaffen, in der das gesamte Wissen überprüft, archiviert, vermittelt und erweitert werden kann, nutzt dasselbe Bild: „Die Methode der Erfindung besteht gewissermaßen in einem Faden des Denkens; dies ist eine Regel des Überganges vom Denken zum Denken.“290  Mit der Metapher des Fadens ist verbunden, daß die Fortschritte nachvollziehbar sein und ohne Sprünge vollzogen werden müssen. Als Hauptproblem erweist sich hierbei, die im Geist festsitzenden Elemente des Denkens in eine transitorische 286   „Signorum igitur numero comprehendo Vocabula, literas, figuras chemicas, Astrono­ mi­cas, Chinenses, Hieroglyphicas, notas Musicas, steganographicas, arithmeticas, algebrai­cas­ que, aliasque omnes quibus inter cogitandum pro rebus utimur“ (Fundamenta Calculi Ratio­ cina­toris, in: AA, VI, 4, A, Nr. 192, S. 918, Z. 26–S. 919, Z. 2; Leibniz, 1960, S. 111). 287   „Signa autem scripta, vel delineata vel sculpta characteres appellantur“ (Fundamenta Calculi Ratiocinatoris, in: AA, VI, 4, A, Nr. 192, S. 919, Z. 2f.; vgl. Leibniz, 1960, S. 111). Vgl. hierzu und zum Folgenden die Arbeit von Matzat, 1938, Schmidt-Biggemann,1983, S. 196ff., Krämer, 1991, Vernunft, S. 226ff.; Krämer, 1988, S. 100ff., Hecht, 1992, S. 18ff., Schneider, 1994 und Siegert, 2000, S. 251ff. Zum dort angesprochenen Konflikt zwischen analoger Bezieh­ ung zwischen Dingen und einer „radikalen Verwerfung anschaulicher (intuitiver) Erkenntnis“ (ebda., S. 259) vgl. die modifizierte Sicht in Siegert, 2003, S. 172. 288  AA, VI, 4, A, Nr. 78, S. 324, Z. 8–12; AI, 20, Z. 8–13. 289  Analysis linguarum, in: AA, VI, 4, A, Nr. 35, S. 102, Z. 16f.; Übers. nach Leibniz, 1960, S. 96. 290  AA, VI, 4, A, Nr. 78, S. 324, Z. 1–2; AI, 20, Z. 1–2.

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Abb.  36.  Anonym, Die Rhetorik als Herkules Gallicus, Holzschnitt, in: Cartari, 1963 [1647], S.  181

Bewegung zu bringen. Die Schwierigkeit liegt darin, daß die Gedankentätigkeit auf Bildern beruht, die keineswegs frei verfügbar sind, sondern gleichsam festsitzen wie in einem Gefängnis: „Insofern sich unser Geist nämlich der Bilder der sinnlichen Dinge bedient, folgert daraus, daß er, wenn die Bilder wie eine Kette eingesenkt sind, das zu Denkende nicht loszumachen vermag, auch wenn er es versucht.“291  Dieses Motiv stammt von Lukians Bild der Rhetorik, daß Menschen durch Worte wie mit Ketten geführt werden (Abb. 36). Auf Grund seiner Kritik der Rhetorik hatte Thomas Hobbes diese Wortketten in Gesetze verwandelt sehen wollen,292  während Leibniz aus ihnen schließlich die Verliese des Bildgedächtnisses machte. Und wenn Hobbes die Festigung der Ketten des Gesetzes erhoffte, so wünschte sich Leibniz eine Befreiung der in den imagines verketteten Bilder. Leibniz könnte Matthäus Merians „Auge der Einbildung“ vom Beginn des siebzehnten Jahrhunderts gekannt haben, das die Gedächtnisbilder abzutasten und aufzurufen in der Lage ist (Abb. 37). Merian illustriert einen Bilderschatz, der nicht aus sich selbst heraus entwickelt, sondern aufgefüllt und abgerufen werden kann. Leibniz widerspricht dieser Vorstellung entschieden. Er sieht das Problem, daß die Zeichen zunächst den Kosmos der definierten Zeichen bilden und damit die Verkettung von mentalen Bildern, die doch gelöst werden sollten, als Selbstabschluß ihres eigenen Zeichenkosmos bestärken. Um die inneren Bilder aus ihrer Verwahrung zu lösen, entwickelt Leibniz daher das Konzept von Charakteren, die den Schatz des Bildgedächtnisses in seiner Eigenbewegung zu stimulieren suchen. Mit  AA, VI, 4, A, Nr. 78, S. 324, Z. 2–4; AI, 20, Z. 2–4.   Bredekamp, 1999, S. 126–129.

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3.  Bildlichkeit mathematischer Zeichen

Abb.  37.  Matthäus Merian d. Ä., Auge der Einbildung, Stich, ca. 1620, in: Fludd, 1620, 2, S. 47

dieser Überlegung wird er zum Begründer einer Zeichentheorie, die den äußeren Figuren die Leistung zuspricht, das Denken nicht etwa nur abzubilden, sondern zu erweitern und zu dynamisieren. Die vornehmste Bestimmung dieser Art Zeichen besteht folglich darin, innovativ tätig zu sein. Denn weil das Denken nur einen Bruchteil des Unendlichen der Seele zu erfassen vermag, muß es den Horizont des Zusammenwirkens der Ideen zu erweitern und die Einbildungskraft zu öffnen suchen.293  Der Mensch besitzt, wie Leibniz in dem lehrbuchhaft verdichteten Text Quid sit idea von 1677 betont hat, die Fähigkeit, durch Stimuli etwas zu denken, von dem zunächst noch keine ausgestaltete Idee existierte.294  Diese naheliegenden, aber unerkannten Ideen können durch die ars characteristica, welche die graphisch und plastisch festgelegten Zeichen der bereits repräsentierten Ideen kombiniert, angestoßen werden.295  In De Arte Characteristica Inventoriaque wohl von 1679/80 hat Leibniz den Prozeß dieses Kombinierens der Charaktere plastisch beschrieben. Am Beispiel des Zirkels, der die Hand von ihrer verkrampften Bemühung befreit, einen vollendeten Kreis zu zeichnen, bestimmt er als erste Funktion dieser Zeichen, das Denken zu   Discours de Métaphysique, in: AA, VI, 4, B, Nr. 306, XXVII, S. 1572, Z. 8–14; vgl. Matzat, 1938, S. 49 und Krämer, 1988, S. 107. 294  AA, VI, 4, B, Nr. 259, S. 1370, Z. 9–12. 295   Grundlegend: Mittelstraß und Schroeder-Heister, 1986, S. 395ff. und Krämer, 1991, Vernunft, S. 298ff., 318ff.; vgl. auch Krämer, 1988, S. 104. 293

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Abb.  38.  Athanasius Kircher, Mathe­ matischer Kasten, 1661, Florenz, Isti­tu­to e Museo di Storia della Scienza

erleichtern: „Nach der Art, in der es Aufgabe des Instrumentes ist, den Kreis akkurat darzustellen, durch das die Hand gelenkt wird, und durch das wir immer weniger belastet werden, bedürfen wir zum rechten Denken gewisser sinnlicher Instrumente.“296  Das erste dieser Mittel sind die Charaktere als Instrumente der Analyse, welche nicht die Dinge und Ideen durch ihre äußerliche Ähnlichkeit, sondern ihre Relationen durch analogische Formen repräsentieren.297 Nicht Ähnlichkeiten, sondern strukturelle Beziehungen zwischen distinkten Elementen müssen durch diese Zeichen entfaltet sein, damit schöpferische Neukonstruktionen möglich werden. Die repräsentative Funktion von Zeichen ist dann gegeben, wenn „aus einem etwas anderes erkannt werden kann, auch wenn sie sich nicht ähnlich sind. Dies geschieht durch eine gewisse definierte Regel oder Relation, durch die alle Dinge, die erzeugt werden, zu einer Entsprechung von diesen in einem anderen in Eines überführt werden.“298 

 AA, VI, 4, A, Nr. 78, S. 324, Z. 4–6; AI, 20, Z. 4–6. Vgl. Knobloch, 1974, S. 40f. Zum Emblem des Zirkels: Le Moyne, 1666, S. 494. 297   Vgl. zum Unterschied von Analogie und Ähnlichkeit Siegert, 2000, S. 259. 298  AA, VI, 4, A, Nr. 78, S. 324, Z. 10–12; AI, 20, Z. 10–13. Zum verweisenden Charakter der Zeichen: Leinkauf, 1993, S. 257f. 296

3.  Bildlichkeit mathematischer Zeichen

Abb. 39.  Athanasius Kircher, Mathematischer Kasten und Tafeln

Um diese Zeichen zum Mittel innovativer Kombinationen zu machen, so fährt Leibniz fort, bedarf das Denken eines weiteren sinnlichen Instrumentes in Form von Tafeln: „Es sind nämlich die Tafeln nichts anderes als die durch Charaktere systematisierten Inventare der Dinge.“299 Als ein Beispiel kann ein mathematischer Kasten Athanasius Kirchers von 1661 gelten (Abb. 38), der in neun Registern die Disziplinen Arithmetik, Geometrie, Fortifikation, Chronologie, Horographie (Zeitmessung), Astronomie, Astrologie, Steganografie (eine Verschlüsselungstech­ nik) und Musik umfasst.300  Obeliskenhafte Tafeln bilden die wichtigsten Infor­ mationen und Denkoperationen ab (Abb. 39). Indem die einzelnen Elemente der verschiedenen Sparten kombinierbar werden, ergeben sich Verweis- und Über­­ brückungsmöglichkeiten, die im Kopf allein nicht zu leisten sind. Die Kombin­ ation dieser Zeichen macht etwas anschaulich, was einen Impuls im Kopf auszulösen vermag, der die Bildung neuer Ideen anstößt. Leibniz hat mit Kirchers Musikkasten experimentiert, der das Komponieren auf ähnliche Weise ermög­ lichte.301   AA, VI, 4, A, Nr. 78, S. 324, Z. 8f.; AI, 20, Z. 8–9.  Athanasius Kircher, 2001, S. 208, 214–216; Vollrath, 2002, S. 113ff. Zu Kirchers Zeichenlehre und deren Einfluß auf Leibniz: Leinkauf, 1993, S. 256ff. 301  Scharlau, 1969, S. 206, Anm. 1; vgl. Zielinski, 2002, S. 168ff. und Knobloch, 2002, S. 36–43. 299

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Daß Leibniz vor allem auch die mathematischen Charaktere zum Verfahren der demon­stratio ocularis rechnete,302  ist wohl zu keiner Zeit deutlicher geworden als in jenem Moment, in dem er im Drôle de Pensée über neue Arten der Repräsentationen nachdachte. Er hat sich sein ganzes Leben lang mit der von François Viète begründeten Symbolisierung mathematischer Rechnungen beschäftigt, aber niemals hat er mehr bildhafte Zeichen erfunden als während seines Aufenthaltes in Paris. Hier wurde er zum mathematischen Symbolbildner par excellence.303  Die Findung von auch ästhetisch überzeugenden Zeichen verband Leibniz mit der Metaphorik des Künstlerischen. In den ersten Monaten des Jahres 1676 hat er seine wohl eindrucksvollste Bekräftigung des künstlerischen Charakters der mathematischen Zeichengebung formuliert. Aus der Unmöglichkeit, daß bestimmte Theoreme unmittelbar gemalt und gehört werden können, fordert er eine formale Distanz zwischen ihnen und ihrer Zeichenbildung: „wir malen oder hören deren Repräsentationen, allerdings nicht in ähnlicher Form; und in diesen beobachten wir eine gewisse sinnliche Schönheit.“304  Der höchste, mathematische Denkprozeß ist demzufolge auf Zeichen angewiesen, die den Sinnen zugänglich sind und die ihre repräsenta­ tive Funktion dadurch erfüllen, daß sie zu dem zu visualisierenden Gedanken eine Distanz der Erscheinungsweise entwickeln. Da in dieser auf Unähnlichkeit beruhenden Repräsentationsform die Freiheit zur Schönheit liegt, sind mathematischen Zeichen mit den Kunstwerken von Malern zu vergleichen. Im selben Jahre 1677 hat Leibniz daher den Gebrauch der Zeichen als Mittel beschrieben, um „die Gedanken zu malen.“305  Ähnlich klare Aussagen entstanden im Zusammenhang einer Kontroverse mit Ehrenfried Walter von Tschirnhaus, mit dem gemeinsam er im August 1675 seine Vorstöße gegen die kartesische Unterscheidung von Mechanik und Geometrie zugunsten einer Universalisierung der Mathematik geschärft hatte. Als Tschirnhaus vor den neuen Symbolen aber als „Monstren“ zurückschreckte, unterstrich Leibniz im Mai 1678 seine Überzeugung, daß erst die Erleichterung visueller Symbolbildung die Freiheit des Schöpferischen erreichen könne: „Bei den Zeichen ist auf die Leichtigkeit des Findens zu achten, die immer dann am größten ist, wenn sie die innerste Natur einer Sache mit wenigen Mitteln ausdrücken oder gleichsam malen; so nämlich wird die Anstrengung des Denkens auf wunderbare Weise vermindert.“306    De Alphabeto Cogitationum Humanarum, in: AA, VI, 4, A, Nr. 67, S. 271, Z. 24.   Cajori, 1925, S. 418–428; Knobloch, 1982 und Hecht, 1992, S. 45–49. 304   „(…) pingamus aut audiamus earum repraesentationes, etiamsi non similes; et in iis sensibiles quasdam pulchritudines observemus“ (AA, VII, 1, Nr. 92, S. 598, Z. 11–13). Zum Kri­terium der Eleganz und Schönheit insgesamt: Breger, 1994, bes. S. 139f. 305   „(…) de peindre non pas la parole (…), mais les pensées“ (Brief an Gallois, 1677, in: Leibniz, 1855–1863, Bd. I, S. 180f.; vgl. Krämer, 1991, Vernunft, S. 254f. und Siegert, 2000, S. 253). 306   „In signis spectanda est commoditas ad inveniendum, quae maxima est, quoties rei naturam intimam paucis exprimunt et velut pingunt, ita enim mirifice imminuitur cogitandi labor“ (Leibniz, 1899, S. 375; vgl. Cajori, 1925, S. 416. Übers. nach E.Knobloch). 302 303

3.  Bildlichkeit mathematischer Zeichen

Abb.  40. G. W. Leibniz, erste Verwendung des S-Zeichens, 29. 10. 1675, in: LH, XXXV, VIII, 18, Bl. 2v [Leibniz, 1899, S. 154]

Das im Jahre 1704 in London publizierte Lexicon Technicum führt eine Fülle der von Leibniz erfundenen Zeichen an, ohne den Urheber zu erwähnen. Leibniz wird sich aber in der Definition wiedergefunden haben: „CHARACTERS, are Marks, Signs, or Symbols of things invented by Artists.“307  Leibniz’ Stolz auf seine Tätigkeit als malender Mathematiker bezog sich unter anderem auf seine Verwendung des schlangenhaften S als Symbol der Summe (Abb. 40). Möglicherweise hat sich Leibniz durch die im Jahre 1584 publizierte Kunst- und Naturtheorie des Künstlers Giovanni Paolo Lomazzo inspirieren lassen, in der die figura serpentinata (geschlängelte Linie) der Schlangen und der tanzenden Flammen in Form des S als Zeichen der idealen Naturbewegung wie auch der künstlerischen Vollendung definiert worden war.308  Die Schlangen- und Feuerflammenläufe des S, das als Summe aller Motorik in Natur und Denken die Linie aller Linien bildete, enthielten bereits den symbolischen Kern von Leibniz’ Entscheidung, das Wort „omnes“ gegen den ersten Buchstaben des lateinischen „Summa“ zu vertauschen und damit das bis heute gültige Integralzeichen zu kreieren.309  Es ist nicht zu beweisen, daß Leibniz Lomazzos Kunsttheorie gekannt hat, aber als eine frühere, ähnlich gelagerte Überlegung bekräftigt diese Leibniz’ Sym­ bolwahl.

  Harris, 1704, s. p.   Lomazzo, 1584, Buch I.1, S. 22–24. Hierzu und zur Rezeption der Schlangenlinie als ästhetisches Urelement: Gerlach, 1989. 309   William S. Hogarth hat in Lomazzos Schlangenlinie das Grundelement aller Schönheit begriffen. Hogarths Analysis of Beauty von 1753 zeigt sie als Emblem der Variety, die als Zeichen der Summe aller Bewegungs- und Darstellungsformen gemeint war (Hogarth, 1955; vgl. Bin­d­ man, 1997, S. 168f. und Gerlach, 1989). Es mag kein Zufall sein, daß sich Hogarths SummenZeichen auch um einen Kegel schlingt, der für Leibniz das Universum selbst zu modellieren schien. 307

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V  Das Mathematische Kalkül

Die vielleicht aufschlußreichste Metaphorik bietet Leibniz’ Dyadik, jenes Dualsystem, das alle Rechenoperationen durch die Zahlen 0 und 1 durchzuführen sucht. Im Hochgefühl seiner vermutlich während seiner Pariser Zeit entwickelten Erfindung hat Leibniz den umfassenden Anspruch dieser Rechenart betont: „Alles kann mit dieser Methode gelöst werden.“310  Gerade angesichts dieser universalen Geltung der Dyadik ist zu betonen, daß Leibniz hier ebensowenig wie in seiner gesamten Zeichenkunst eine nur formale Logik im Blick hatte. Vielmehr war die Begründung dieser Rechenmethode in seiner Theorie der Schöpfung angelegt. In einem Brief an Herzog Rudolf August zu Braunschweig und Lüneburg vom Mai 1696, als er sich erneut intensiv um die Dya­dik zu kümmern begann, hat Leibniz betont, daß die Zahlen „gleichsam als in einem Spiegel die Schöpfung oder den Ursprung der Dinge aus Gott und sonst Nichts darstellen,“311  und die dem Schreiben beigefügte Schrift erläutert schon im Titel: „Wunderbarer Ursprung aller Zahlen aus 1 und 0, welcher ein schönes Vorbild des Geheimnisses der Schöpfung gibt, da alles von Gott und sonst aus Nichts, entsteht: Essentiae Rerum sunt sicut Numeri.“312  Offenbar haben sich an diese Ausführungen Diskussionen angeschlossen, die Leibniz zu Beginn des folgenden Jahres zu einem Neujahrsbrief veranlaßt hat, in dem er dem Herzog den Entwurf eines Bildsymbols der Dyadik übereignete. Nicht besser, so Leibniz, könne die Allmacht der göttlichen Schöpfung dargestellt werden als durch den Ursprung der Zahlen von Null zu Eins: „daher (habe) ich (…) auf die entworfene Medaille gesetzt: IMAGO CREATIONIS. “313  Da dieses BILD in seiner Schönheit auch die Güte DER SCHÖPFUNG bekunde, müsse man es „mit Augen sehen.“314  Die Vermutung, daß Leibniz’ theologische und ikonologische Ausdeutung der Dyadik nur der Reflex einer Idee des Herzogs gewesen sei,315  verkennt, daß Leibniz’ Prinzip des schauenden Denkens der ars characteristica darin entspricht, ­Dinge nicht durch ihnen selbst ähnliche Zeichen zu repräsentieren, sondern Charak­tere zu verwenden, die gerade aus der visuellen Differenz die strukturellen Beziehungen und Relationsmöglichkeiten zwischen den Dingen wiederzugeben vermochten. Aus diesem Grund hatte Leibniz um 1679/80 betont, daß es eine Tautologie sei, Zahlenoperationen durch Zahlen der Charakteristik ausdrücken zu wollen.316  Die Überlegungen zur Veranschaulichung bilden daher ein integrales Element von

  Zacher, 1973, S. 4.   Leibniz an Herzog Rudolf August, 8.5.1696, in: Zacher, 1973, S. 235. 312   Zacher, 1973, S. 229. 313  AA, I, 13, Nr. 75, S. 117, Z. 12–15. 314  AA, I, 13, Nr. 75, S. 117, Z. 16–19. 315   Zacher, 1973, S. 37, 55. Dagegen: Schmidt-Biggemann, 1983, S. 209. 316  AA, VI, 4, A, Nr. 78, S. 324, Z. 14–17; AI, 20, Z. 16–19. 310 311

3.  Bildlichkeit mathematischer Zeichen

Leibniz’ Dyadik. Denn Zahlen lassen ihm zufolge aus sich selbst heraus weder ein System noch eine Folge erkennen, wohingegen die Medaille auf den „innersten Grund und Urstand“ der Zahlen blicken läßt und dadurch eine nicht mehr zu verbessernde, „wunderbar schöne Ordnung und Einstimmung“ zu zeigen vermag.317 Im Einklang mit seinen Überlegungen zur Perspektivik erkennt Leibniz in der Medaille die Einsicht, „daß die Unordnung, die man sich in den Wercken Gottes einbildet, nur scheinbar ist. Wenn man aber wie in einer Perspektive die Sachen aus dem rechten Punkt ansieht, so zeigt sich deren Symmetrie.“318  Mit diesem Vergleich zwischen der symbolisierten Dyadik und der Entzerrung der Anamorphosen baut Leibniz eine Brücke von einer geradezu asketisch reduzierten Mathematik zur anschaulichen Erkenntnis der Harmonie und Symmetrie der Welt. Zu dem Titel IMAGO CREATIONIS und dem dyadischen Regelwerk setzt er ein „den leiblichen Augen angenehm[es]“ Bild,319  das über den finsteren Abgrundwassern der Null und des Nichts den schwebenden Geist Gottes zeigen sollte, der mit dem „es werde Licht“ die allmächtige Eins erschuf.320  Als Sinnspruch schlägt Leibniz schließlich in kleinerer Schrift OMNIBVS. EX.NIHILO.­ DVCENDIS vor, wobei die Zahlen 2.3.4.5.etc. über das OMNIBVS und die 0 über das NIHILO gesetzt werden sollten. In größerer Schrift, so daß es als Hauptaus­ sage erkannt würde, solle schließlich das Motto SUFFICIT.VNVM folgen, so daß sich der Text ergeben hätte: UM ALLES AUS NICHTS ZU FÜHREN, GENÜGT EINS. 321  Leibniz’ gezeichneter Entwurf ist nicht überliefert, und die drei dem Brief beigegebenen Modelle sind Varianten, die einen Eindruck von den Diskussionen vermitteln, die zu Leibniz’ Neujahrsbrief geführt haben.322  Eine relativ getreue Umsetzung hat erst Rudolf August Nolte für das Titelblatt seiner im Jahre 1734 erschienenen Schrift über Leibniz’ Dyadik vorgenommen (Abb. 41).323  Die Abbildung zeigt Leibniz’ Titel IMAGO CREATIONIS im Sockel der beiden Zahlen­ tafeln, während die Schrift OMNIBVS. EX.NIHILO.DVCENDIS SUFFICIT.­ VNVM als Himmelsschale am oberen Bildrand erscheint. Sie umschließt die Sphäre der Sonne als der Eins, greift mit den Armen aber auch in das Dunkel der Null. Die beiden dyadischen Tafeln stehen großartig gegen den schwarzen Nachthimmel, um reziprok mit den Eingangsziffern 0 und 1 auch in die Zone der Sonne aufzuragen. Nolte hat unter IMAGO CREATIONIS die Signatur „G.[ote­fridvs]

 AA, I, 13, Nr. 75, S. 117, Z. 19–22.  AA, I, 13, Nr. 75, S. 118, Z. 4–9. 319  AA, I, 13, Nr. 75, S. 119, Z. 7. 320  AA, I, 13, Nr. 75, S. 119, Z. 7–12. 321  AA, I, 13, Nr. 75, S. 119, Z. 13–16.  322  AA, I, 13, Nr. 76, S. 123f.  323  AA, I, 13, Nr. 76, S. 125. 317

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Abb.  41. Rudolf August Nolte, Sinnbild der Dyadik, Stich, 1734, nach dem Entwurf von G. W. Leibniz von 1697 (?), in: Nolte, 1734, Titelblatt (Hannover, Nieder­ sächsische Landesbibliothek)

G.[vilielmus] L.[eibnizius] ANN.[o] CHR.[isti] MDCXCVII“ setzen lassen („erdacht von Gottfried Wilhlem Leibniz, im Jahre Christi 1697“). Daß Nolte seine Illustration tatsächlich auf eine Vorlage von Leibniz bezogen und nicht etwa nach den Angaben des Neujahrsbriefes von 1697 frei gestaltet hat,324  legt die Nähe zu einem Vorbild nahe, auf das Leibniz vermutlich in Paris gestoßen ist. Claude Perrault, der Erbauer des Louvre Ludwigs XIV., hat Leibniz in einer langen Unterredung über Fragen der Architektur und der Emblemkunst, auf die später ausführlicher zurückzukommen ist, mit einer Reihe von zeitgenössischen, dem politischen Sonnenkult verpflichteten Devisen vertraut gemacht, unter denen sich unter anderem die Motti ME SVSTINET VNVS und ME SVSPICIT VNVM befanden.325  Sie waren ihrerseits vermutlich durch Pierre Le Moynes L’art des Devises des Jahres 1666 angeregt, in dem jenes SVFFICIT VNVM, das Leibniz als Hauptaussage in großer Schrift im Himmel der Dyadik angebracht hatte, in Form der auf Ludwig XIV. gemünzten Zeile Mihi sufficit unus vorgeprägt war: Mir genügt einer.326  Die Devise (Abb. 42) zeigt darin ihren Vorbildcharakter für Leibniz’ Medaillenentwurf, daß ihr Rund vom Gegensatz der im oberen Feld strahlenden Sonne und der an ihrer Unterseite verschatteten Erde bestimmt ist, während die Inschrift jenseits des Kreises erscheint. Leibniz’ Entwurf dehnt den Kreis auf diese untere Schriftzone aus, so daß sich dort der Sockel der IMAGO CREA­TIONIS ­   AA, I, 13, Nr. 76, S. 122, Z. 40–42.   Petzet, 2000, S. 569., nach: Leibniz, 1857, S. 236; AI, 6, Z. 103–108. 326   Le Moyne, 1666, S. 464; vgl. Petzet, 2000, S. 343. 324 325

3.  Bildlichkeit mathematischer Zeichen

Abb.  42 Pierre Le Moynes, Devise auf Ludwig XIV., Stich, 1666, in: Le Moyne, 1666, S.  464 Abb. 43. Rudolph August zu Braunschweig und Lüneburg, Entwurf dreier Siegelringe der Dyadik, 1699, Umzeichnung nach dem Lackabdruck, Januar 1697, in: AA, I, 13, Nr.  79, S.  128, Z. 7f.

ergibt. An Stelle der Erde erscheinen die Tafeln der Dyadik, und die Sonne ist durch den radialen Schriftzug überblendet, sendet aber ihre Strahlen auf ähnliche Weise aus. Die kompositionelle Ähnlichkeit läßt im Verein mit dem verwandten Motto darauf schließen, daß Leibniz seine Anregung für die Inszenierung der heliozentrischen Dyadik im Klima jenes sonnenkultischen Paris Ludwigs XIV. erhielt, das ihn wie keine zweite Stadt geprägt hat. Drei postwendend an Leibniz gesandte Entwürfe des Herzogs, in denen dieser die gemeinsamen Überlegungen des Vorjahres zu verbildlichen suchte, gehen jedoch einen anderen Weg.327  Die Abdrücke, die den Spruch UNUS EX NIHILO OMNIA FECIT (EINER HAT ALLES AUS NICHTS GEMACHT) enthalten, sind in rotem Siegellack fixiert (Abb. 43). Die ersten beiden gleichen sich darin, daß sie den Sinnspruch radial an den Außenrand setzen, während innen ein senkrecht

327

 AA, I, 13, Nr. 78, S. 127.

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Abb.  44a. G. W. Leibniz, Entwurf eines Siegels der Dyadik, Federzeichnung, ­Januar 1697, Hannover, Niedersächsi­ sche Landesbibliothek, L Br II, 15, Bl. 21r Abb. 44b. Umzeich­nung von 44a, in: AA, I, 13, Nr.  79, S. 128, Z. 13–15

situierter Balken die Eins und der hinterfangende Ring die Null repräsentieren. Die zweite Version verlängert den Spruch zu UNUS EX NIHILO OMNIA BENE FECIT (EINER HAT ALLES AUS NICHTS GUT GEMACHT), so daß der Wortring dichter wird; zugleich war damit die Möglichkeit gewonnen, für die drei Seiten des Dreieckes, das im dritten Entwurf in den äußeren Kreis gesetzt ist, je zwei Worte zu gewinnen. Leibniz hat auf dem Blatt dieser Abdrücke vermerkt, daß diese Entwürfe aus einer Unterhaltung zwischen ihm und dem Herzog entstanden seien.328  Er hat sie mit einem Gegenentwurf kommentiert, der den Sinnspruch in VNVM EX NIHILO OMNIA BENE verwandelt (Abb. 44a). Die Vertauschung des UNUS in VNVM verlagert die Aussage von Gott, dem EINEN, in das Produkt, die EINS: [ER HAT] DIE EINS AUS DEM NICHTS, ALLES GUT [GEMACHT]. Die zugehörige Zeichnung verwendet anstatt der Zusammenstellung von Balken und Ring lediglich den Kreis. In der Mitte sitzt ein dunkel ausgefüllter Punkt, um den ein durchbrochener Kreis gelegt ist, in dessen vier Richtungen die Buchstaben des VNVM sitzen. Ein durchgezogener, weiter außen sitzender Ring gibt Raum für EX NIHILO, während in einem zum abschließenden Kreis sich auftuenden weiteren Zwischenraum die Worte OMNIA BENE radial gesetzt sind (Abb. 44b). Die Erläuterungen bestärken die Subtilität, mit der Leibniz die besonders in dem Dreiecksmotiv betonte christliche Symbolik für eine kosmische Bestimmung seiner Mathematik nutzte: „Das Zeichen der Sonne oder der Kreis, in dessen Mitte ein Punkt zu sehen ist, drückt meines Erachtens durch den Punkt im Zentrum die Eins und durch die sich auftuende Leere zwischen dem Zentrum und dem Umkreis die Null auf beste Weise aus.“329  Durch diese Sonnenikonographie wird die Eins  AA, I, 13, Nr. 79, S. 128, Z. 9f.   „Signum solis seu circulus in cujus medio punctum videtur mihi optime exprimere I per punctum in centro, et 0 per vacuum interceptum inter centrum et circumferentiam“ (AA, I, 13, Nr. 79, S. 128, Z. 11f.). 328 329

3.  Bildlichkeit mathematischer Zeichen

Abb.  45.  Matthäus Merian d. Ä., Kreation der Sonne, Stich, 1617, in: Fludd, 1617, Bd.  I, S.  43

zum Licht- oder Sonnenblitz, dessen Strahlen in die Finsternis des Nichts schießen: „Der innerste Kreis, in den Eins eingeschrieben ist, könnte hell oder strahlend sein. Der Zwischenraum zwischen diesem Kreis und dem Umkreis könnte dunkel sein, außer wo die Buchstaben eingeschrieben sind. Die durch die beiden Kreise eingeschlossene Kreisfläche wird weiß sein, das heißt weder strahlend noch dunkel.“330  Das Bild von kreisförmig sich durch runde Sphären ausbreitendem Licht hat Vorläufer, die vor allem in der hermetischen Literatur zu finden sind.331  Das vielleicht berühmteste Vorbild bot Matthäus Merians Schöpfungszyklus, der mit der Darstellung der schwarzen Unendlichkeit eingesetzt hatte,332  um dann die Lichtblitze zu zeigen, die zur Kreation der Sonne führen (Abb. 45). Im Inneren der Kreise durchdringt sie auf ähnliche Weise eine schwarze Sphäre wie Leibniz sich die Schöpfung der Eins gegenüber dem Nichts dachte.

  „Circellus intimus in quo inscriptum unum posset esse luminosus seu radians. Interceptum inter hunc circellum et circumferentiam posset esse tenebrosum, nisi ubi literae inscribuntur[.] Circumferentia duobus circulis inclusa erit candida id est nec lucida nec tenebrosa“ (AA, I, 13, Nr. 79, S. 129, Z. 1–4. Zur Sonnenikonographie der Dyadik vgl. Busche, 1997, S. 550ff.). 331   Geissmar, 1993, Abb. 13, S. 25 u. passim. 332   Fludd, 1617, Bd. I, S. 26. 330

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V  Das Mathematische Kalkül

Mit diesen Bezügen krönt die Dyadik jene Theorie des anschaulichen Denkens, die Leibniz vor den erstaunten Augen des Lesers ausbreitet. Gerade auf dem Gebiet des reduziertesten Zahlenprogramms, der Begrenzung aller Zahlen auf Kombinationen von 0 und 1, hat er auf der besonderen Kraft der visuellen Zeichen beharrt. Die höchste, mathematische Formalisierung der Denkoperationen benötigt visuelle Charaktere, die in der Lage sind, den Grund und die Harmonie der Schöpfung analog zur Entzerrung der Anamorphosen zu erkennen.

4. Unendlichkeit und transmathematische Schau Waren die 0 und die 1 der Dyadik ikonologisch zu fassen, so übersteigt das Unendliche das Begreif- und Darstellbare. An diesem Punkt setzt ein Erkenntnismittel an, das selbst die Geltung des rationalen Kalküls übertreffen wird. Von diesem Extrem her wird es den Schlüssel zur Erkenntnistheorie des Theaters der Natur und Kunst liefern. Den Zugang zur Lösung dieses Problems bietet die Schrift Über die Freiheit (De libertate, contingentia et serie causarum, providentia) von 1689, in der Leibniz eine Analogie zwischen den Wahrheiten und den reellen Zahlen entwickelt. Notwendige Wahrheiten sind ihm zufolge in endlich vielen Schritten zu beweisen, wie es die rationalen Zahlen darstellen, die sich als endlicher Dezimalbruch ausweisen lassen (1: 4 = 0,25) oder deren unendlicher Dezimalbruch eine Gesetzmäßigkeit besitzt wie zum Beispiel 1: 3 = 0,33333 Periode. Dem stehen die kontingenten Wahrheiten historischer Ereignisse wie etwa die Ermordung Cäsars gegenüber, deren Herleitung unendlich viele Elemente besitzt. Der Unabschließbarkeit der Suche nach Gründen stellt Leibniz jene Zahlen zur Seite, die, wie etwa Wurzel aus 3 = 1,7321 … etc., eine so regellose wie unendliche Abfolge von Ziffern produzieren. Da es kein Ende der Ziffernfolge gibt, kann auch Gott das Ende der Kette nicht kennen.333  Soll die Schöpfung nicht in sich zusammenbrechen, muß Gott als Allmächtiger aber alles kennen. Leibniz folgert daher aus dem Umstand, daß die Mathematik des Unendlichen zwar nicht vorhersehbar ist, aber doch auf Beweisen beruht, „so unterliegen erst recht die zufälligen oder die unendlichen Wahrheiten dem Wissen Gottes und werden von ihm zwar nicht durch einen Beweis (…) aber doch durch ein unfehlbares Schauen erkannt.“334  Als Produkt dessen, daß die Regeln der mathematischen Logik in das Nicht-Beweisbare und Absehbare hinaustreiben, bietet die „unfehlbare Schau“ die Erkenntnis von Zahlen, deren Ziffernfolge allein  AA, VI, 4, B, Nr. 326, S. 1655, Z. 15f.   „(…) ita multo magis veritates contingentes seu infinitae subeunt scientiam Dei, et ab eo non quidem demonstratione (quod implicat contradictionem), sed tamen infallibili visione cognoscuntur“ (AA, VI, 4, B, Nr. 326, S. 1658, Z. 9–11; Übers. nach Leibniz, 1996, II, S. 659). 333

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4.  Unendlichkeit und transmathematische Schau

Abb.  46.  Anonym, Nadelspitze und Rasierklinge, Radierung, in: Hooke, 1665, Taf. 2

darin eine Regel haben, daß sie keinem Gesetz unterworfen sind. Übertragen auf die kontingenten Wahrheiten, die unendlich viele Elemente bergen, bilden auch diese eine Reihe, die allein für Gott „durchsichtig“ ist.335  Die Notwendigkeit der göttlichen Schau ist auch hier eine Folge der Unmöglichkeit, in Bereichen, die das Unendliche umfassen, zu beweisen. Analog zur Mathematik der irrational unendlichen Zahlen wird die kontingente Wahrheit in die „unfehlbare Schau“ überführt. Zwar hat Leibniz betont, daß durch die infallibili visione keine äußeren Dinge erfahren, sondern die Möglichkeiten aller Dinge a priori gewußt werden,336  aber das Prinzip einer über den Zahlen liegenden Erkenntnispotenz hat unmittelbare Konsequenzen auch für die Sicht der Natur, weil sich deren Gebilde ebenfalls unendlich teilen lassen: „Nun muß man vor allem wissen, daß alle Geschöpfe einen Stempel der göttlichen Unendlichkeit in sich tragen, und daß dieser der Ursprung der vielen wundersamen Dinge ist, die den menschlichen Geist in Staunen setzen. So gibt es z. B. keinen noch so winzigen materiellen Teil, in dem nicht eine Welt unendlich vieler Geschöpfe vorhanden wäre.“337  Leibniz konnte sich auf zeitgenössische Erfahrungen stützen, wie sie die Mikroskopie ermöglicht hatte. So hat Robert Hooke in seiner Micrographia von 1665, die Leibniz 1668 erwerben konnte,338  gezeigt, wie sich eine Nadelspitze und eine Rasierklinge unter dem Mikroskop unregelmäßig zerklüftet darbieten (Abb. 46).  AA, VI, 4, B, Nr. 326, S. 1658, Z. 22–24, S. 1659, Z. 1; vgl. Leibniz, 1993, De quadratura, S. 79 und Leibniz, 1996, II, S. 659. 336  AA, VI, 4, B, Nr. 326, S. 1658, Z. 11–16; vgl. Leibniz, 1996, II, S. 659. 337  AA, VI, 4, B, Nr. 326, S. 1655, Z. 8–11. 338  AA, I, 2, Nr. 325, S. 341, Z. 24. 335

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V  Das Mathematische Kalkül

Abb.  47.  Anonym, Fliegenauge, Radierung, in: Hooke, 1665, Taf. 24

Den vom Rumpf getrennten Kopf einer Fliege hat er zudem mit einer gespenstisch anmutenden, geradezu plastisch hervortretenden Kraft versehen (Abb. 47), um ihn über mehrere Seiten zu beschreiben und insbesondere die Augen mit einer fast lyrischen Intensität zu bestimmen: „Jede dieser Hemisphären, sie kamen tatsächlich der wirklichen Form von Halbkugeln relativ nahe, so glatt und regelhaft dehnte sich die Oberfläche aus, reflektierte so exakt wie regelmäßig und perfekt ein Bild jedes Objektes auf ihrer Oberfläche, wie es ein Quecksilberball von dieser Oberfläche tun würde, (…) so sehr, daß ich in jeder dieser Hemisphären eine Landschaft jener Dinge zu sehen vermochte, die außerhalb meines Fensters lagen; eines von ihnen war ein großer Baum, dessen Stamm und Wipfel ich vollständig entdecken konnte, wie auch die Teile meines Fensters, und meine Hand und meine Finger, wenn ich sie zwischen Fenster und dieses Objekt hielt.“339  Im folgenden Satz wird deutlich, daß Hooke mit den Halbkugeln aber nicht etwa die Augen insgesamt,

  Hooke, 1665, S. 175f.; vgl. Campbell, 1999, S. 198.

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4.  Unendlichkeit und transmathematische Schau

Abb.  48.  Anonym, Facetten eines Fliegenauges, Radierung, in: Hooke, 1665, Fig. 3 von Taf. 21

sondern ihre winzigen, kreisförmigen Facetten meinte, aus denen diese aufgebaut waren (Abb. 48). In den zahllosen Halbkugeln des riesig vergrößerten Fliegenauges spiegelten sich der Beobachter, die beiden Fenster seines Arbeitszimmers und die davor liegende Landschaft.340  Das gespiegelte Fensterpaar wird hier zum Reflektor dessen, was sich auch in der Tiefe der Facetten weiterhin bis in das unendliche Kleine auftun wird. Leibniz hat die Arbeiten von Hooke, Swammerdam und auch seines Freundes Huygens, der mit Mikroskopen zu arbeiten pflegte, mit größtem Interesse verfolgt, und es war vor allem Antoni van Leeuwenhoeks Entdeckung ganzer Kolonien in Wassertropfen auffindbarer, unvorstellbar kleiner Tierschwär­me, die Leibniz eine unendliche Differenzierung der lebendigen Natur annehmen ließ.341  Die Idee des Pananimismus wurde Leibniz vor allem durch Nicolas Male­branches Recherche de   Hooke, 1665, S. 176.   „Et velim microscopia ad inquisitionem adhiberi, quibus tantum praestitit sagax Leewen­hoekii, Philosophi Delphinensis“ (Leibniz, 1949, S. 60/62; vgl. Wilson, 1997, S. 154–157). 340 341

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V  Das Mathematische Kalkül

Abb.  49. Tobias Reichel, Spinnenautomat, Messing, um 1600, Dresden, Zwinger

la vérité, die er sofort nach Erscheinen im Jahre 1675 las, bestärkt.342  Angesichts der unter den verbesserten Mikroskopen immer neu sich offenbarenden Kleinst­wesen hatte Malebranche von einer unendlich sich verfeinernden Schöpfung gesprochen, was Leibniz zur paradoxen Annahme infinitesimal kleiner Kreaturen trieb, die dennoch immer weiter teilbar seien.343  Es war vor allem der Befund der Mikroskope, der Leibniz in erneuter Anlehnung an Malebranche die Gewißheit eingab, im Grad der inneren Teilbarkeit den Unterschied zwischen organischen und künstlichen Automaten zu sehen. Unter dem Eindruck des Mikroskopes suchte die Kunst die Konkurrrenz mit der Natur auch auf dem Feld des Kleinsten aufzunehmen, und Künstler wie Ottaviano Jan­ nel­la schufen nur mit der Lupe zu erschließende Kleinstskulpturen, die ihm den Ruf einbrachten, omnipotent wie ein kleiner Gott zu sein.344  Dennoch konnte kein Zweifel daran bestehen, daß etwa die Welt der Bakterien niemals zu erreichen war. Zudem waren diese Skulpturen nicht bewegungsfähig, und selbst Wunderwerke der Automatenkunst, wie sie etwa eine Spinne des Hofuhrmachers Tobias Reichel repräsentiert (Abb. 49),345  konnte doch nicht entfernt die Illusion erzeugen, die Binnendifferenzierung eines lebendigen Exemplares zu erreichen. Zwar sind sowohl künstliche Automaten wie auch Lebewesen, wie Leibniz in der Monadologie

  Wilson, 1997, S. 171. Zu Leibniz und Malebranche allg.: Robinet, 1955.  AA, VI, 3, S. 475, Z. 11f.; Malebranche, 1962–1964, I, VI, I, S. 81f. 344   Levy, 2002, S. 425, Anm. 44; 428. 345   Menzhausen, 1977, S. 89. 342 343

4.  Unendlichkeit und transmathematische Schau

im Paragraphen 64 ausführt, Maschinen; während die Elemente der künstlich gefertigten Apparaturen jedoch nicht weiter geteilt werden können, sind „die Maschinen der Natur aber, d. h. die lebenden Körper, (…) noch in ihren kleinsten Teilen Maschinen bis ins Unendliche. Dies macht den Unterschied zwischen der Natur und der Kunst aus, d. h. zwischen der göttlichen Kunst und der unsrigen.“346  Die unendlich im Universum anzutreffenden und infinit teilbaren Geschöpfe und Dinge, dessen war sich Leibniz gewiß, boten nach den Differentialgleichungen, die einen ersten, in das Unendliche zielenden Befreiungsakt gegenüber der begrenzten Geometrie des Descartes bedeutet hatten,347  einen zweiten Weg zum Postkartesianismus. Denn sie seien nicht zu berechnen, sondern pervideri: „Welchen Inhalt diese Reihe aber in sich birgt, vermag Gott allein zu schauen.“348  Da die Unendlichkeit sowohl die Mathematik wie auch die Natur über das mathematisch Kalkülisierbare hinaustrieb, mußte mit der göttlichen Schau eine transmathematische Instanz in Kraft treten, die das Unendliche zu überblicken vermochte.

346   „Mais les machines de la nature, c’est à dire les corps vivans sont encor des machines dans leur moindres parties jusqu’à l’infini. C’est ce qvi fait la difference entre la Nature et l’Art, c’est à dire entre l’Art Divin et le notre“ (Leibniz, 1998, § 64, S. 48; Übers. S. 49). Zu Malebranche: Wilson, 1995, S. 158. Zu Leibniz’ Automatentheorie: Schmidt-Biggemann, 1975, S. 62–66, Robinet, 1986, Automates und Breger, 1989, S. 93ff. 347   Knobloch, 1999, Streifzug, S. 220ff. 348  AA, VI, 4, B, Nr. 326, S. 1655, Z. 15; Übers. in Anlehnung an Leibniz, 1996, II, S. 65.

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VI SINNLICHE ERKENNTNIS UND INTUITION 1. Die Kraft der Sachen selbst Ein analoger Prozeß vollzieht sich bei der Schau der Dinge. Einen Schlüssel bietet die um 1679/1680 verfasste Schrift De Arte Characteristica Inventoriaque, in der Leibniz den Begriff und die Funktion der Zeichen definiert,349  um unvermittelt durch das feine Gespinst dieser gedanklichen Konstruktion hindurchzuschneiden. Geradezu ungerührt betont er ohne jeden Übergang, daß die Vermittlung von Zeichen zurücktreten könne, wenn sich die Dinge unmittelbar zeigen: „In der Tat, wenn wir die Sachen selbst immer vor Augen haben können, wie die wilden Tiere in Lebendgehegen, oder die Skelette in anatomischen Theatern, werden wir es weniger nötig haben, sie durch Zeichen repräsentiert zu haben.“350  Der Wunsch nach Repräsentation dringt hier durch die Schicht der Zeichen zu den Lebewesen und Objekten, die sich als ihre eigenen Zeichen darstellen. Der örtliche Rahmen des zoologischen Gartens oder des anatomischen Theaters macht sie zu Repräsentationen ihrer selbst, und darin erfüllen sie die Funktion der Repräsentation, das Abwesende vollgültig anwesend werden zu lassen, in vollendeter Form. Im Theater der Natur und Kunst, so fährt die Erläuterung dieser Repräsentationsform fort, sollen sich die Sachen selbst repräsentieren: „Und es ist zu wünschen, daß ein Theater der Natur und Kunst gebaut wird, in dem die Sachen soweit als möglich, und wo es nicht möglich ist, das Präparat und verschiedene lebensechte Bilder der Verendeten, bewahrt werden; ferner gibt es eine Vielfalt von Modellen von Instrumenten und Maschinen.“351  Der Rekurs auf res ipsas geht auf Bechers methodus didactica von 1668 zurück, die Leibniz, wie erwähnt, vermutlich bereits 1669 gelesen, exzerpiert und kommentiert hat. Dort war das Theater der Natur und Kunst als Ort der Sachen selbst imaginiert, die sich so unmittelbar wie nur irgend möglich repräsentieren sollten, um ihre Namensbestimmungen einprägen zu können.352  Dieses Modell verschär S. o. S. 87–90.  AA, VI, 4, A, Nr.  78, S. 324, Z. 18–19; AI, 20, Z. 20–22. 351  AA, VI, 4, A, Nr.  78, S. 324, Z. 19–22; AI, 20, Z. 22–25. 352  Es kommt Becher darauf an, „daß jede Sache selbst gleichsam weisen täte“; bei der Bildung der Erinnerung ist entscheidemd, daß „man eine Sache selbst kennt“ (Becher, 1668, S. 49). 349 350

1.  Die Kraft der Sachen selbst

fend, geht Leibniz vom zoologischen Garten und der unmittelbaren Selbstre­ präsentation der Tiere aus. Erst auf einer zweiten Stufe sind Präparate und lebens­ echte Bilder angesiedelt, welche die Lebendigkeit zumindest zu simulieren vermögen. Auf derselben Ebene firmieren die Modelle von Maschinen und Instrumenten im Reich der Maschinen. Die Exponate des Wissenstheaters erhöhen die Beweglichkeit der Ideen, indem sie, ohne in die Zeichenwelt aufgestiegen zu sein, die Leichtigkeit des Denkens fördern. Becher hatte das Theater der Natur und Kunst als ein Mittel dargestellt, mit dem „gleichsam spielend“ gelernt werden könne, und auch Leibniz betonte, daß im Theater der Natur und Kunst die Sachen selbst dieselbe Erleichterung wie die Zirkel für die Kreisbildung bewirken: „Diesen vor die Augen gestellten Dingen folgen wir oft ohne Anstrengung, wie es sonst kaum durch viel Nachdenken geschieht.“353  Die Erinnerung an Becher wird Leibniz im Jahr zuvor gekommen sein. Er ­hatte 1679 dessen Psychosophia gelesen, die im Anhang die Utopie einer ländlichen, urchristlich entworfenen Gemeinschaft entwickelte, deren Zentrum ein Theatrum Naturae et Artis als eine „philosophische Schule“ ausmachte. Es sollte „etliche tausend corpora naturalia und artefacta, entweder natürlich oder von Bildhauer Arbeit oder von Wax possiert“ sowie deren Bezeichnungen und Beschreibungen enthalten.354  Leibniz’ Betonung des Wertes der Sachen selbst scheint mit seinem zentralen Projekt zur Entfaltung der Erkenntniskraft, der ars characteristica, zu kollidieren. Während die Zeichen dieser Kombinationskunst mit derselben Klarheit, in der die Arithmetik die Zahlen einsetzt,355  Ideen repräsentieren sollten, führt Leibniz nun res ipsas (die Sachen selbst) als räumlich-körperliche Elemente auf, um ihnen einen besonders kraftvollen Impuls für die Entfaltung der Imagination zuzuschreiben. Die Dinge des Denkens sind hier aus Objekten der Außenwelt gebildet, die – und hierin liegt die eigentliche Provokation des Absatzes – es nicht „nötig“ haben, in Zeichen repräsentiert zu werden. Der Affront wirkt umso schroffer, als Leibniz im folgenden Passus zum algebraischen Kalkül zurückkehrt.356  Dieses Pendeln war offenbar ein Teil der Lösung. Leibniz hat über viele Jahre an der Bildung eines algebraischen Kalküls als dem Repräsentanten von Ideen gearbeitet; zugleich aber hat er nicht davon abgelassen, die Sachen selbst als Exponenten von Informationen und Wahrheiten ernst zu nehmen und als Stimuli des Denkens in Szene zu setzen. Dieses vom Mittelalter bis in die Phänomenologie des zwanzigsten Jahrhunderts sich vermittelnde, ikonologisch verweisende Verständ AA, VI, 4, A, Nr.  78, S. 324, Z. 22f.; AI, 20, Z. 25–26. S.  o. S. 89f.; vgl. allgemein Leinkauf, 1993, S. 257f. 354   Becher, 1683 [1678], S. Piiijv; AI, 13, Z. 2–4. 355   Mittelstraß und Schroeder-Heiser, 1986, S. 395ff. 356  AA, VI, 4, A, Nr.  78, S. 325, Z. 7–9. 353

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VI Sinnliche Erkenntnis und Intuition

nis der res nimmt die Oberfläche und die Beschaffenheit der räumlich-haptischen Dinge ernst, um ihren Scheincharakter zu testen und ihren Wahrheitsanspruch zu nutzen.357  Maschinen und Lebewesen, die Leibniz im weitesten Sinn unter den „Sachen selbst“ subsumiert, wird er später als vierte und fünfte Stufe der Substanz definieren, innerhalb und unterhalb derer die autonome Monade, die Kraft und die ursprüngliche Seele situiert sind. Die „Sachen selbst“ erfüllen die Eigenschaft der substantia corporea und verweisen zugleich auf die ihnen zu Grunde liegende, sie tragende Kraft und Seele.358  Der Grund für Leibniz’ Doppelspur liegt in derselben Instanz, die er für die Erkenntnis kontingenter Wahrheiten imaginiert hat: die göttliche Schau. Ende 1675, dem Jahr des Drôle de Pensée, hat Leibniz betont, daß Gott über die simul­tane Erkenntnisfähigkeit von Allem verfüge;359  er sei damit in der Lage, den gesamten Kosmos in all seinen Elementen und deren wechselseitigen Beziehungen zugleich zu erblicken.360  Diese augenblickliche Erfassung aller Objekte und Rela­tionen aber bestimmte Leibniz, und dies ist der entscheidende Schluß, als einen intuitiven Akt.361  Dieses Vermögen stand ihm als ein anzustrebendes, aber nie ganz zu erreichendes Ziel vor Augen. In seinen Äußerungen über die Grenzen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit hat Leibniz dieses Dilemma verpuppt,362  um es in den 1684 publizierten Meditationes de Cognitione, Veritate et Ideis zum Ausgangspunkt einer Erweiterung des eigenen Bestrebens zu machen. Hierin klärt sich auch das eingangs nachgezeichnete Erkenntnisschema der Meditationes de Cognitione, Veritate et Ideis in seiner kritischen und ohne Kenntnis der neu publizierten Texte nicht klärbaren letzten Phase. Das schrittweise vorgehende Denken, so tastet sich Leibniz an das Problem, könne allein in Bezug auf die einfachen Begriffe intuitiv sein, wohingegen diese Eigenschaft bei zunehmender Komplexität nicht mehr zu erreichen sei. Wenn Zeichen für Ideen stehen, die zu komplex seien, um sich ihrer internen Erklärung in jedem Schritt bewußt zu werden, erleichtere dies zwar das Denken, impliziere zugleich aber eine gravierende Einschränkung: „Ich pflege diese

357   Zur Semantik der res in der frühen Neuzeit: Harms, 1970; vgl. zu den „Sachen selbst“ bei Husserl: Orth, 1995, S. 117f.; bei Merleau-Ponty (1966, S. 10): Shusterman, 2003, S. 707. 358   Brief an de Volder, 20. 6. 1703 (Leibniz, 1875–90, Bd. II, S. 252). 359   De Mente, De Universo, De Deo, in: AA, VI, 3, Nr.  57, S. 463. 360   Leibniz, 1875–1890, Bd. II, S. 438; s.o. S. 81f. 361   Mediationes de Cognitione, Veritate et Ideis, in: Leibniz, 1985, Bd. I, Opuscules, S. 36/37. Leibniz modifiziert den intuitus mentis („unmittelbare Schau“) von Descartes (Descartes an Mersen­ne, 16. 10. 1639, in: ders., 1897–1910, Bd. II, S. 599; vgl. Regulae ad Directionem Ingenii, in: Bd. X, S. 370; hierzu: Schulthess, 2001, S. 1049). 362  Schulthess, 2001, S. 1049.

1.  Die Kraft der Sachen selbst

Erkenntnis blind oder auch symbolisch zu nennen, deren wir uns in der Algebra und Arithmetik, ja sogar fast überall bedienen.“363  „Blindheit“ bedeutet hier das Eingeständnis, daß das Zeichen, das keine unmit­telbare Präsenz der Sachen selbst intendiert, durch deren Anschaulichkeit überragt wird. Wohl niemals hat Leibniz die Tragik, daß sein Bemühen um ein rationales Kalkül an unüberwindbare Grenzen stößt, so klar formuliert wie in der Einschränkung, daß „das Denken der zusammengesetzten Begriffe meist nur ­symbolisch ist.“364  Die Kombinatorik der ars characteristica verfehlt damit die Richtung, in der die intuitive Klarheit des auf einen Blick begreifenden Gottes zu finden ist.365  Zwar gab es für Leibniz keinen Zweifel, daß der Mensch mit allen Kräf­ten versuchen müsse, seine Ideen durch den Aufbau eines universalen Kalküls zu erweitern, aber diese Bemühungen waren durch das Eingeständnis begleitet, daß jeder Fortschritt vom göttlichen Vermögen wegführe, Klarheit durch intuitives Schauen zu erlangen. Die höchste Erkennntisform ergibt sich daher auf der vierten Stufe, die das Symbolische hinter sich läßt, um „zugleich adaequat und intuitiv“ zu sein.366  In seiner Erläuterung einer auf farblichen oder geschmacklichen Sinneseindrücken basierenden Perzeptionsweise hat Leibniz mit der Urteilsfähigkeit von Bildenden Künstlern das Gegenmodell präsentiert: „Auf ähnliche Weise sehen wir Maler und andere Künstler angemessen erkennen, was richtig und was fehlerhaft gemacht ist, ohne daß sie oft den Grund ihres Urteils angeben können.“367  Das Beispiel verblüfft in seiner Abkehr von den Bedingungen der Logik und der Stärkung der sinnlich vermittelten Erkenntnis.368  Leibniz spricht den Künstlern ab, über die geeigneten Begriffe zu verfügen, um ihnen im selben Atemzug zu attestieren, angemessen erkennen (probe cognoscere) und vor allem urteilen und damit ein zentrales Anliegen der ars characteristica erfüllen zu können.369  Leibniz’ Bemerkung wirkt wie ein Gewitterblitz am weiten Horizont seiner Kombinationskunst: die Künstler verfügen über ein Vermögen, das die ars com­ binatoria zu überwinden suchte. Die begriffslose Urteilsfähigkeit der Künstler wird zum Zerrspiegel der Kalkülisierung definierter und kombinierter Zeichen, welche die Klarheit der göttlichen Erkenntnis einzuholen versucht, von Beginn an  363 AA, VI, 4, A, Nr.  141, S. 587, Z. 21f.; Leibniz, 1985, I, S. 36/37. Zur Unterordnung der Algebra unter die allgemeine Charakteristik: Burkhardt, 1980, S. 190–195.  364 AA, VI, 4, A, Nr.  141, S. 588, Z. 1–3; Leibniz, 1985, I, S. 36/37.  365 Schulthess, 2001, S. 1049.  366 AA, VI, 4, A, Nr.  141, S. 586, Z. 1f.; Leibniz, 1985, I, S. 32/33.  367 AA, VI, 4, A, Nr.  141, S. 586, Z. 19f.; Leibniz, 1985, I, S. 34/35. Vgl. Hogrebe, 1992, S. 67f.  368  Vgl. die Analyse dieses Passus und dessen Bedeutung für die neuzeitliche Ästhetik durch Hogrebe, 1992, S. 67ff.  369  Zum Abbilden von Urteilen: Mittelstraß und Schroeder-Heister, 1986, S. 400f.

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VI Sinnliche Erkenntnis und Intuition

aber weiß, daß sie mit jedem Entwicklungsschritt die Distanz zum intuitiven Vermögen vergrößert. Die unbegreifliche Urteilsfähigkeit der Künstler dagegen bewahrt die Simultaneität der qualitativen Erkenntnis. Das algebraische Kalkül ist klar, aber antiintuitiv, weil es Schritt für Schritt vorgehen muß und niemals alle Beziehungen insgesamt zu begreifen vermag. Die künstlerische Wahrnehmung dagegen verfügt über kein Kalkül, vermag aber treffende Urteile auf intuitive Weise zu geben. Beide Vermögen kompensieren die Defizite ihres Gegenübers. Dieses Be­din­gungs­geflecht durchdacht zu haben, gehört zu den größten Leistungen von Leibniz’ Erkenntnistheorie, weil es die Bedingungen der Denkfähigkeit in einen wei­teren und in sich komplexeren Rahmen stellt, als es sein eigenes Bild von der „fensterlosen Monade“ suggeriert.

2. Die Stärken natürlicher Sprachen Wie ein Spiegel dieses Konfliktes zwischen ars characteristica und intuitiver Schau wirkt Leibniz’ Theorie der Sprache. Als eine Art Gegenprobe ist sie von beträchtlichem Wert auch für die Bestimmung des Visus. Analog zum Aufbau eines Universalkalküls hat Leibniz um eine formale Kunst­sprache gerungen, die als eine Umgangssprache, die allein auf gesicherten Erkenntnissen aufgebaut sein sollte, allein widerspruchsfreie Aussagen und Grammatiken enthalten durfte.370  Der Unterschied zwischen dieser Grammatica rationis und den natürlichen Sprachen machte Leibniz denselben Konflikt bewußt, der auch zwischen der ars characteristica und der Urteilskraft der Künstler wirkte. Die Kunstsprache war zwar widerspruchsfrei, verfügte aber über keine Intuition und keine Möglichkeit, Gefühle angemessen auszudrücken. Die natürlichen Sprachen wiesen im Gegensatz zu dieser Sprache der Grammatica rationis zwar zahllose Unklarheiten und Widersprüche auf, vermochten dafür aber elementare Gefühle ­auszudrücken.371  Über diese Nähe zur lebenswirklichen Erfahrung waren die natürlichen Sprachen für Leibniz von höchstem auch philosophischem Interesse, weil er annahm, daß ihre Worte mit den bezeichneten Sachen eine ursprüngliche Einheit gebildet hatten. In den natürlichen Sprachen erkannte Leibniz einen Kosmos von Zeichen, die unmittelbar mit den Sachen der geschaffenen Welt selbst verbunden waren.372  In dieser Bindung an res ipsas bildeten die Elemente der natürlichen Sprache das Arsenal von Gefühlen und tiefer Perzeptionen, also Antrieben, wie sie die Kalkülsprache nicht zu bieten vermochte.   Zur Einbettung in die universalsprachlichen Bestrebungen des siebzehnten Jahrhunderts: Mittelstraß, 1970, S. 419f.; vgl. zu Leibniz: Krämer, 1991, S. 242ff. 371   Poser, 1997, S. 137, 139f. 372   De Linguarum Origine Naturali, in: AA, VI, 4, A, Nr. 14; Krämer, 1991, Vernunft, S. 244; Poser, 1997, S. 141f. 370

3.  Die Seele und der Körper der Monaden

Die Kunstsprache, welche die notwendige Klarheit des Denkens repräsentierte, führte Leibniz zufolge vom elementaren Ursprung der materialen und emotiven Sättigung der natürlichen Sprachen fort, während diese ihrerseits von der algebraischen Überprüfbarkeit der Grammatica rationis weit entfernt waren. Damit lag in Leibniz’ sprachtheoretischem Bruch zwischen seiner Hoffnung auf die Kunstsprache und seiner Einsicht in die perzeptive Kraft der natürlichen Sprachen dieselbe disjunktive Spannung wie zwischen dem mathematischen Kalkül und den Repräsentationen der Sachen selbst.

3. Die Seele und der Körper der Monaden Den Schlüssel für die Auflösung dieses Widerspruches bietet die Monadologie, in der Leibniz die Monade als fensterloses „Atom der Natur“ definiert hatte. In ihrer Unteilbarkeit besitzt die Monade jedoch eine eingehüllte Vielheit, die eine Appeti­ tion erzeugt, sich selbst zu entfalten. Da die sinnliche Erfahrung der Perzeption die Vielheit in der Einheit der Monade vorstellt, ist sie ein Agent dieses Entfaltungsdranges. Ausdrücklich nennt Leibniz die Augen wie auch das Geruchs- und das Tastorgan als Mittel der Perzeption.373  Die Monade fügt Körperelemente zusammen, die in beständigem Fluß sind und sich permanent wandeln; in sich stellt sie den Körper dar, dem sie als Seele dient, und durch ihn ist sie mit dem gesamten Universum verbunden, weil es in diesem keine Leere gibt. So sehr Leibniz Descartes’ Trennung von Körper und Vernunft abgelehnt hat, so hat er doch dessen fluidale Auffassung des Alls geteilt. Descartes Linien des Kosmos können eine Ahnung davon vermitteln, wie Leibniz den Zusammenhang aller Körper des Kosmos imaginierte (Abb. 16) und wie er sich vorstellte, daß die Seelen als Repräsentanten dieses Zusammenschwingens das gesamte Universum spiegeln.374  In dem Wechselspiel von Seele und Körper funktionieren die Tafeln der ars characteristica und die Instrumente des Theaters der Natur und Kunst. Nichts, was diese vorführen, hat es nicht bereits in der autarken Innenwelt der Monaden gegeben, aber um die Relationsdynamik der internen Repräsentationen in Gang zu setzen, bedarf es der sinnlichen Perzeptionen. Weder fallen diese in die wahre, monadische Substanz, noch drücken sie sich in diese ein. Aber sie stimulieren die eingegebene, kosmische Vielheit zur autonomen Selbstentfaltung. Im Vorwort zu den Neuen Abhandlungen über den menschlichen Verstand hat Leibniz diesem Vermögen ein literarisch inspiriertes Denkmal gesetzt. Es handelt von Sinneseindrücken wie dem Rauschen des Meeres, die unbewußt auf den

  Leibniz, Monadologie, § 25 (1998, S. 22/23).   Leibniz, Monadologie, § 83 (1998, S. 58/59).

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VI Sinnliche Erkenntnis und Intuition

­ örper wie in die Seele einwirken. Für Leibniz sind diese „kleinen Perzeptionen“ K von höchster Bedeutung, weil sie mit den sinnlichen Vorstellungsbildern jene Impressionen erzeugen, „die die umgebenden Körper auf uns machen, und die das Unendliche in sich einschließen, jene Verbindung, die jedes Seiende mit dem ganzen Universum besitzt.“375  Indem diese umhüllenden Sinneseindrücke die Individuen mit dem Kosmos verbinden, bilden sie erneut jene Sphäre unendlicher Kontingenz, die sich der endlichen und damit rationalen Bestimmung entzieht. Die höchste Form der Vernunft erkennt aber das grundlegende Problem, daß nur jene Formen der Unendlichkeit durch die Mathematik bestimmt werden können, die Regeln und Gesetzen zugänglich sind,376  womit die Intuition und die unbewußte Wirkung der „kleinen Perzeptionen“ dort einsetzt, wo die Mathematik nicht mehr zu greifen vermag. Es sind vornehmlich akustische Signale, mit denen Leibniz die Wirkungsweisen der „kleinen Perzeptionen“ erläutert,377 und hierin liegt auch der Grund für die emo­tive Stärke der natürlichen Sprache gegenüber der Kunstsprache des widerspruchsfreien Kalküls. Im Vorwort entwickelt Leibniz seine Vorstellung, daß die Zeit nicht an sich besteht, sondern durch die Berührungen und Reibungen der Dinge im Raum entsteht: „Man kann sogar sagen, daß vermöge dieser kleinen Perzeptionen die Gegenwart mit der Zukunft schwanger geht und mit der Vergangenheit beladen ist, daß alles miteinander zusammenstimmt“. Diese die Zeit simultan erfassende Fähigkeit der „kleinen Perzeptionen“ bezieht Leibniz auf den Visus, indem er diese mit den „durchdringenden Augen Gottes“ vergleicht, die noch „in der geringsten Substanz die ganze Abfolge der Dinge des Universums lesen könnten.“378  In dieser Verbindung des intuitiven Vermögens mit dem alles erfassenden Blick liegt der Grund für Leibniz’ Verteidigung der Sachen selbst. Die Kaskaden der Exponate und Einfälle des Drôle de Pensée und des Theaters der Natur und Kunst zielen auf einen künstlichen Kosmos der „kleinen Perzeptionen“, der die immanenten Bewegungen des Denkens aus der äußeren, sinnlichen Sphäre stimulieren soll. Die Exponate dieser Schulungsstätten bieten Impulse für die Erweiterung der internen Denkbewegung der Seele, ohne daß sie den Weg von den Zeichen bis zum Spiel der innovativen Kombinatorik durchlaufen hätten; vielmehr überschreitet ihre infinite Abundanz die Reinheit und die Strenge des kombinatorischen Kal­ küls. Sie dienen als Anreize der Überwindung jener Grenzen, die den Figuren der

 375 Nouveaux Essais, Vorwort, in: Leibniz, 1985, Bd. III/1, S. XXIV/XXV.  376  Leibniz, Monadologie, § 33–36 (1998, S. 28/29).  377  Trabant, 2003, S. 180ff.  378  „(…) des yeux aussi perçans que ceux de Dieu pourroient lire toute la suite des choses de l’univers“ (Nouveaux Essais, Vorwort, in: Leibniz, 1985, Bd. III/1, S. XXIV/XXV. Übers. des ersten Zitates: S. XXIV); vgl. AA, VI, 6, S. 55, Z. 1–6.

4.  Der coup d’oeil und die göttliche Blickform

Zeichen gezogen sind. In der Unendlichkeit ihrer Erscheinung verlangen sie den unbegrenzten Blick der Intuition. Der Unterschied zwischen den Zeichen und den Sachen selbst liegt darin, daß die vor die Augen gestellte Mathematik logisch, aber begrenzt ist, während das intuitiv zu perzipierende Theater der Natur und Kunst auf die Unendlichkeit und damit auf das zielt, was der göttlichen Schau ­a llein zukommt. Leibniz’ lebenslanges Plädoyer für das Theater der Natur und Kunst erhält hierin seine philosophische Dimension. Es repräsentiert jene innovatorische Freiheit, die tiefer reicht als die Zeichen der ars characteristica. Bilder und Exponate vermögen für Leibniz durch die Schnelligkeit ihrer Verknüpfung von Elementen jenem intuitiven Blick nahe zu kommen, der im Gegensatz zur kalkulatorischen Sukzession alles auf einen Schlag zu erfassen vermag. Sie sind ein Vorschein der intuitiven, grenzenlosen Klarheit. In dieser Simulierung des göttlichen Blickes liegt der erkenntnistheoretische Kern des Theaters der Natur und Kunst.

4. Der coup d’oeil und die göttliche Blickform Der Konflikt zwischen Kalkül und Intuition inspirierte Leibniz in der Theodizee von 1710 zu einer seiner bildkräftigsten Methaphern der Erkenntnis. Gegen Ende dieses Lebenswerkes imaginierte er einen Palast der Schicksale, wo in einem der Gemächer das Leben des Sextus Tarquinius „wie in einem Blick und wie bei einer Theatervorstellung“ zu erfassen ist.379 Der coup d’oeil erinnert an Leibniz’ im Herbst 1679 konstatiertes Vermögen der Bilder, „gleichsam spielend und wie in einem Blick, ohne Umschweife der Worte, durch das Sehorgan dem Gemüt vorgebildet und kräftiger eingedrückt werden“ zu können.380  Es ist der göttliche, intuitive Blick, der keine Konstruktionen benötigt, um auf einen Schlag alles in Vollendung zu übersehen. Mit ihm ist auch die représentation de théâtre der Theodizee in den Kontext göttlicher Erkenntnis gestellt. Dieser Blickform entspricht, daß im Palast der Schicksale Ziffern, Wörter und Bilder zusammenwirken, als handle es sich um Zeichen einer ars combinatoria, die im Rahmen eines Theaters erscheinen. Die Fiktion erfüllt, was Leibniz’ kalkulatorische Wissenschaft als unerreichbares Ziel vor Augen stand. Personen werden in diesem Palast nach den Zahlen, die sie auf der Stirn tragen, im Buch der Schicksale aufgesucht. Möglicherweise hat Leibniz sich von dem im Jahre 1671 publizierten Traktat über Physiognomie und Gedächtniskunst inspirieren lassen, in dem das   „Théodore vit toute sa vie comme d’un coup d’oeil, et comme dans une représentation de théâtre“ (Essais de Théodicée, § 415, in: Leibniz, 1985, Bd. II/2, S. 264f.). Vgl. hierzu u. z. Folg. Siegert, 2003, S.  156ff., dessen glänzende Analyse nicht mehr berücksichtigt werden­­ ­konnte. 380 AA, IV, 3, Nr.  116, S. 785, Z. 5–7; AI, 16 Z. 15–17. 379

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VI Sinnliche Erkenntnis und Intuition

Abb.  50.  Anonym, Gesicht mit Semantik von Muttermalen, Stich, 1671, in: Saunders, 1671, S.  310

Antlitz einer männlichen Person gezeigt ist, deren mögliche Muttermale numeriert und mit den Zeichen ihres Schicksales versehen sind (Abb. 50).381  In Leibniz’ Buch der Schicksale kann der Finger auf eine Zeile gelegt werden, woraufhin diese das, was sie zusammenfasst, in allen Einzelheiten nochmals bildhaft repräsentiert.382 Der Durchgang Zahl – Textzeile – Bild bezeugt, daß diese indexikalischen Elemente in Verweisrelationen stehen, die das gesamte Repräsentationstheater der ars combi­natoria transparent machen. Weder ist von einer Ablösung der Wörter und Zahlen von den Bildern noch der Bilder von den Körpern zu sprechen, und darin verbindet der Palast der Schicksale das Begriffliche mit dem intuitiven coup d’oeil.383 

  Die Darstellung nimmt Claude Mellans aus einer Linie geschaffenes Bildnis Christi von 1649 auf (Wolf, 1997, S. 59f.; ders., 2003, S. 323f.).  382  „Mettez le doigt sur la ligne qu’il vous plaira, lui dit Pallas, et vous verrez représenté effectivement dans tout son détail ce que la ligne marque en gros“ (Essais de Théodicée, § 415, in: Leibniz, 1985, Bd. II/2, S. 264f.).  383 Es gibt zu denken, wenn Michel Foucault in seiner Geschichte der systematischen Trennung der „mots“ von den „choses“ (1971) um Leibniz einen Bogen gemacht hat. Seine große Erzählung hat den Preis, daß sie den wohl bedeutendsten Denker der behandelten Epoche ausblendet. Vgl. zu dieser Problematik Robinet, 1983, S. 29ff.  381

4.  Der coup d’oeil und die göttliche Blickform

Indem die Logik des algebraischen Kalküls in das Theater des intuitiven Blickes mündet, spiegelt sich die Ahnung, daß die Konstruktion eines Universalkalküls eine Utopie bleiben würde. Seit den 1690er Jahren hat Leibniz dieses Projekt nur mehr sporadisch betrieben, weil sich die Schwierigkeiten beim Aufbau einer überprüf- und erweiterbaren Kalkülisierung des Wissens als kaum überwindbar er­wiesen.384  Es ist kein Zufall, daß Leibniz im selben Zeitraum umso um­triebiger versuchte, Theater der Natur und Kunst in Berlin, Dresden, Wien, Moskau und St.Petersburg einzurichten. So hat er in dem für August II. verfassten Memorandum zum Aufbau einer sächsischen Akademie von 1704 erneut die Sachen selbst als choses mêmes des Théatre de la Nature, & de l’Art propagiert.385  Die klassischen Bücher und Bildatlanten, so Leibniz, wären fraglos nützlich, aber „das Theater der Natur und Kunst, das die Dinge selbst in natura oder deren Modelle enthalten würde, würde einen noch größeren Effekt bieten.“386 Leibniz’ Lebensabend war von der Hartnäckigkeit geprägt, das Betrachten der Dinge dem göttlichen Sehen näher zu bringen als es die Kalkülisierungsmittel allein vermocht hätten.

 Thiel, 1992, S. 175.  AA, VI, 4, A, Nr.  78, S. 324, Z. 18; AI, 20, Z. 20. 386   Leibniz, 1768 [1989], Bd. V, S. 176; AI, 47, Z. 10–12. 384 385

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VII FOSSILIEN UND DIE KUNSTTHEORIE DER ERDE 1. Die Künstlerin Natur Leibniz hat seine von der Perspektivik bis zur unmittelbaren Sicht der „Sachen selbst“ reichende Rekonstruktion des göttlichen Blickes bis in die Tiefen der Erde getrieben. Wie er beide Komponenten auf die Geschichte der Erde anwandte, gehört zu den aufschlußreichsten Zeugnissen seiner Blick- und Bildtheorie. Leibniz’ Beschäftigung mit der Erdgeschichte geht auf das Jahr 1671 zurück, in dem er die Schichtungen der Erdoberfläche aus den Einbrüchen und Auffüllungen immens großer Luftlöcher, die durch die Verkrustung der brodelnden Erd­ mas­se ent­standen waren, gedeutet hatte.387  Sechs Jahre später war er von der Annahme über­wältigt, daß Steine Produkte eines „versteinernden Saftes“ (succus petrificus) seien, der eine Überfülle von Formen bis hin zu figürlichen Naturformen zu erzeugen vermochte.388  Er bezog sich auf Athanasius Kirchers prachtvolle Publikation Mun­dus sub­terraneus, in der diese Gesteinsformen als Produkt einer geheimnisvollen, spielerisch-künstlerischen Formkraft der Natur gedeutet waren (Abb. 51): des lusus naturae.389  In zahlreichen Versuchen hatte Kircher durch die Kristallisierung von Urin und chemischen Verbindungen sowie von Metallbildungen komplexe Gebilde bis hin zu Metallbäumen erhalten, welche die plastischen Kräfte der Natur auch experimentell zu beweisen schienen (Abb. 52).390  In den versteinerten Formen von Pflanzen, Tieren, Menschen, Städten (Abb. 53) und selbst einem Christus am Kreuz (Abb. 54) sah Kircher die Natur als „Malerin“ am Werk,391  deren Kunstwerke vom

  Hypothesis physica nova, §1–18, in: AA, VI, 2, Nr.  40, S. 223–228.   Kircher, 1665, II, S. 6f., 45. Vgl. hierzu und zum Folgenden: Bredekamp, 1981, S. 14ff.; Nummedal, 2001, S. 41f. 389   Janson, 1973; Baltrusaitis, 1984, S. 55ff.; Findlen, 1990, und Bredekamp, 2000, Anti­ ken­sehnsucht, S. 20f., 66f.; Zu: Mundus subterraneus: Kelber und Okrusch, 2002. 390   Kircher, 1665, II, S. 27f., 52f., 335–336; vgl. Findlen, 1996, S. 236. 391   Kircher, 1665, II, zu den Seiten 27–45: „De admirandis Naturae pictricis operibus, formis, figuris, imaginibus, quas in lapibus & gemmis delineat, eorumque origine & causis.“ 387

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1.  Die Künstlerin Natur

Abb.  51.  Anonym, In Steinen auftretende Figuren, Stich, 1665, in: Kircher, 1665, II, Taf. III, S. 33

Abb.  54.  Anonym, Versteinerte Figuren der Heilsgeschichte, Stich, 1665, in: Kircher, 1665, II, S. 36

Abb.  52.  Anonym, Metallbäume, Stich, 1665, in: Kircher, 1665, II, S. 28

Abb.  53.  Anonym, Versteinerte Stadt, Stich, 1665, in: Kircher, 1665, II, S. 30

Menschen als Zeichen göttlicher Offenbarung erschlossen werden müssten.392  Leibniz bekräftigte diese Theorie in einem vermutlich vor 1678 publizierten Text mit der Erläuterung, „daß diese Formen von Tierknochen und Muscheln oftmals 392   Kircher, 1665, II, S. 22. Vgl. zur naturphilosophischen Konsequenz einer beseelten Natur: Daston und Park, 2002, S. 351ff. 393   Übers. nach Ariew, 1998, S. 283, Anm. 46, der sich auf die Edition des Manuskriptes bei Cohen, 1994, S. 79, bezieht.

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VII Fossilien und die Kunsttheorie der Erde

nur Spiele der Natur sind, die gesondert geformt wurden, ohne von Tieren gekommen zu sein. Denn es ist beständig so, daß Steine wachsen und tausend seltsame Formen annehmen, wie es die Steine bezeugen, die der ehrwürdige Pater Kircher in seiner unterirdischen Welt aufgehäuft hat.“393  Durch die Lektüre von Nils Stensens stratigraphischer Schrift De solido intra soli­dum naturaliter contento dissertationis prodomus wurde Leibniz im Jahre 1679 zwar von der Feststellung beeindruckt, daß die figürlichen Versteinerungen keinesfalls einer plastischen Kraft verdankt seien, sondern vorwiegend von Wassertieren stammten,394  aber mit dieser Einsicht hat Leibniz das Bild der „spielenden Natur“ keineswegs aufgegeben. Seinen bereits erwähnten Vorstoß des Jahres 1680, Naturalien des Harzes systematisch zu sammeln, leitete Leibniz vielmehr mit einer kunsttheoretischen Formulierung ein, die erneut von der Natur als einer Künstlerin sprach, um damit auch das Verständnis des Theaters der Natur und Kunst neu zu bestimmen.395  Wie eine Schaustellerin, so Leibniz, habe die Natur als eine Künstlerin auf dem riesigen Naturtheater des Harzgebirges agiert, um dem Menschen den künstlerischen Wettstreit anzubieten. Dieses Gebirge sei „an sich selbst nichts anderes als ein wunderbarer Schauplatz, an dem die Natur mit der Kunst gleichsam streitet.“396  Leibniz beerbte mit diesem Bild der Auseinandersetzung natürlicher und menschlich geschaffener Kunstwerke die manieristische Kunsttheorie, die einen veritablen Künstlerwettstreit zwischen Natur- und Menschenwerk zu erkennen meinte. Seine Äußerung steht in der Tradition dieses Themas, dessen Verwicklungen und Rollenwechsel Torquato Tasso mit Blick auf einen Garten in die treffenden Verse gebracht hat: „Die Kunst scheint wie Natur, die zum Vergnügen / ihre eigene Nachahmung scherzhaft imitiert.“397 Diese Idee einer mit der menschlichen Kunst konkurrierenden Natur hat Leibniz nochmals in einem im Oktober 1682 an die Pariser Akademie gerichteten Schreiben mit Blick auf die Produkte des Harzes variiert: „Außerdem habe ich aus den hiesigen Kupferminen ganz einzigartige Fundstücke erhalten. Dazu fand ich noch eine deutliche Erklärung für ein bestimmtes Wunder der Natur, das in meine Hände kam. Es ist eine [Platte aus] Stein, auf der die Natur beiderseits ein jeweils anderes Tier mit Strichen, die von einem Metallstift zu stammen [scheinen], perfekt nachgezogen hat, wobei leicht zu beweisen ist, daß die [menschliche] Kunst daran keinerlei Anteil hat. Ich plane, eine exakte Abbildung anfertigen zu lassen und die Art seiner Entstehung in einer kleinen Abhandlung ganz deutlich zu erklären.“398  Nikolaus Seeländers für Leibniz’ 394   Vgl. hierzu Waschkies, 1999, S. 197f. und ders., 2001, S. 1327. Zu Stensen: Seifert, 1954; Herries Davies, 1995. 395  S. o. S. 27. 396  AA, I, 3, Nr.  17, S. 17, Z. 34f.; AI, 21, Z. 33. 397   „Di natura arte par, che per diletto / L’imitatrice sua scherzando imiti“ (Tasso, 1976, Gerusalemme, 16, 10). 398  AA, III, 3, Nr. 407, S. 724, Z. 20 – S. 725, Z. 14; Übers. nach Waschkies, 1999, S. 199.

1.  Die Künstlerin Natur

Abb.  55. Nikolaus Seeländer, Versteinerte Fische, Stich, zwischen 1716 und 1727, in: Leibniz, Progogaea, 1749, Taf. II

spätere Schrift Protogaea geschaffene Abbildung läßt erkennen, wie nachdrücklich sich die Vorstellung eines nicht-von-Menschenhand-gemachten-Kunstwerkes aufdrängen mußte (Abb. 55). Die filigranen Linien schienen keine andere Möglichkeit als die einer künstlerischen Tätigkeit der Natur selbst zuzulassen.

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VII  FOSSILIEN UND DIE KUNSTTHEORIE DER ERDE

Leibniz ist dem Problem der Versteinerungen systematisch selbst auf den Grund gegangen, nachdem Stensen seine geologischen Studien aufgegeben hatte.399  Im Herbst 1685 hat er eine Reihe schwer zugänglicher Höhlen des Harzes un­tersucht,400  deren Gesteinsformen ihn veranlassten, seine Sicht des Paragone von Natur und Kunst zu revidieren und zu einem Anhänger der Geologie Stensens zu werden.401  In diesem Zusammenhang steht die Bearbeitung des zu Lebzeiten nicht mehr fertiggestellten Werkes Protogaea, in das Leibniz die Ergebnisse seiner HarzExkursion eingearbeitet hat.402  Das Opus enthält eine ausführliche Diskussion natürlicher Bildformen. An Hand zahlreicher Beispiele wie etwa einer angeblich versteinerten Tiara oder der Gestalt Luthers suchte Leibniz nachzuweisen, daß die Formen nicht etwa Gebilde des lusus naturae seien, sondern durch Scherze der Einbildungskraft entstünden, die beispielsweise in Wolken Schlachtengebilde erkenne.402a Derartige Gebilde waren seit der Antike als Reservoir der proteushaften Wandelbarkeit der Schöpfung und als Herausforderung der künstlerischen Imagination beschrieben worden.403 Ohne diese Autoren zu nennen, bezog sich Leibniz auf die von Plinius und Lukrez über Alberti bis Leonardo tradierte Linie einer natürlichen Begründung der Einbildungskraft.404  Gegen die Autosuggestion der Einbildungskraft hat Leibniz im Einklang mit Stensen etwa die steinernen Figuren von Schalentieren (Abb. 56) als tatsächlich überprüfbare Reste von einstmals lebendigen Organismen gedeutet: „Ich wage hier nichts Sicheres zu behaupten, außer dem einen, das uns hier genügt, daß nämlich die Kupfererzfische nach wirklichen Fischen gebildet sind.“405  Hier ein künstlerisches Spiel der Natur oder gar das Wirken einer allgemeinen „plastischen Kraft“ 399   Nach einem religiösen Erweckungserlebnis und dem Übertritt zum Katholizismus hat Stensen von 1677 bis 1680 als katholischer Vikar in Hannover und danach bis 1683 als Weih­ bischof in Münster gewirkt, wo Leibniz ihn vergeblich zur Fortführung seiner Studien drängte (Waschkies, 1999, S. 198). 400   Zu dieser Exkursion: Waschkies, 1999, S. 204ff. 401   AA, I, 6, Nr.  246, S. 441; Waschkies, 1999, S. 202f. Im Entwurf eines Berichtes für Herzog Ernst August aus dem Jahr 1691, in dem er die Bearbeitung der Protogaea ankündigt, hat Leibniz betont, daß es sich bei den natürlichen Formen um Versteinerungen von Meerestieren handele (AA, I, 6, Nr.  21, S. 23, Z. 14–23; Waschkies, 2001, S. 1328f.). 402   Zu dieser Schrift grundlegend: Sticker, 1967, S. 250ff.; Hölder, 1969 und Waschkies, 1999 sowie ders., 2001.  402a   „[…] haec vere inter lusos habeo, non jam naturae sed imaginationis humanae, quae in nubibus acies videt“ (Leibniz, 1949, S. 72; vgl. „imaginatio in rerum signaturis ludit“ (S. 94) und „sed haec imaginationis judicia sunt, non oculorum“ (S. 96). 403   Janson, 1973; Findlen, 1990, und Bredekamp, 2000, Antikensehnsucht, S. 20f., 66f. 404   Plinius, Naturalis historia, II, lxi, 152 (S. 130/131); Lukrez, IV, 129ff., S. 262/263. Vgl. Ariew, 1998, S. 282 und Métraux, 2003, S. 183ff. 405   „nec aliquid certe constituere audeo, nisi quod nobis satis est, pisces aerosos ex veris expressos“ (Leibniz, 1949, S. 72).

1.  Die Künstlerin Natur

Abb.  56. Nikolaus Seeländer, Schalentiere, Stich, zwischen 1716 und 1727, in: Leibniz, Protogaea, 1749, Taf. V

zu erkennen, sah Leibniz nun als einen Fehlschluß, der vor allem durch Kircher in die Welt gekommen sei: „Wer das Gegenteil glaubt, wurde durch die Märchen verführt, die bei einem Kircher oder Becher, bei anderen Leichtgläubigen dieser Art oder bei eitlen Schriftstellern über wunderbare Spiele der Natur und eine bildende Kraft herrlich mit Worten ausgeschmückt werden.“406  In dieser Absage an das Bild einer spielenden Natur schien sich ein aufklärerischer Geist aus den Fesseln einer animistischen Naturtheorie zu lösen, und unter diesen Vorzeichen wurde Leibniz zu einer Größe der Geologiegeschichte.407  Mit dieser Sicht ist die Komplexität seiner Überlegungen aber nicht im Ansatz erfasst. Indem die Protogaea die Fossilientheorie übernimmt, verabschiedet sie die Theorie

406   „Qui contra sentiunt, narratiunculis seducuntur, quae apud Kircherum quendam, aut Becherum, aliosque id genus credulos aut vanos scriptores de miris naturae lusibus et vi forma­ trice in magnam speciem verbis ornantur“ (Leibniz, 1949, S. 94). Vgl. S. 92 und die Notiz aus seinem Tagebuch vom August 1696, daß der in Grafentonna ausgegrabene Mammutzahn von den Gothaer Gelehrten noch immer als „lusus naturae“ erachtet werde (Leibniz, 1843–1847, Bd. 4, 1847, S. 203). 407  Sticker, 1967, S. 250ff.; Hölder, 1969; Waschkies, 1999; Kertz, 1999, S. 39ff.

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VII Fossilien und die Kunsttheorie der Erde

einer spielerischen Natur. Die Brisanz dieser Schrift liegt aber darin, daß sie die kunsttheoretische Deutung der Erdgebilde bewahrt. Leibniz hat nicht aufgehört zu betonen, daß die Natur „nichts anderes ist als eine große Kunst.“408  So beschreibt er die Mechanismen, mit denen die Erde die einstmals von Tieren eingenommenen Hohlräume gefüllt habe, nach dem Modell der Bildhauerei. Seine Überzeugung, daß die Natur die Tiere mit einem unbrennbaren Stoff ummantelt, um diese Form dann zu erhitzen, die Asche herauszunehmen, Gold in die Negativform zu gießen und schließlich ein veritables Goldtier zu erhalten,409 reaktiviert die Vorstellung der Natur als Künstlerin in Bezug auf die Produktion der Fossilien.410

2. Die Kunst der Reproduktion Nach demselben Deutungsmuster hat Leibniz in einem Text des Jahres 1706, der nochmals dem Problem bildhaft geformter Steine als lusus naturae gewidmet war, die Vorstellung von einem „Spiel der Natur“ zurückgewiesen,411  um im Gegenzug die Erde als Goldschmiedin zu beschreiben, die nach dem Prinzip der verlorenen Form die Gestalten der Fossilien herzustellen verstand.412  Dies bedeutete aber, daß sich die Lebewesen, aus denen die Hohlform für die Stein- oder Metallgüsse entstanden waren, durch das Gußverfahren der Natur vollständig und formgetreu reproduziert hatten. Gemäß dieser Übertragung des Metallgusses auf die Fossilienbildung aber folgerte Leibniz, daß nur diejenigen figürlichen Gesteinsformen als Fossilien gelten konnten, die einen genau reproduzierten Organismus zeigten. Fehlte eine solche Übereinstimmung, lag ein „Spiel“ der Natur vor: „Wenn sich diese Exaktheit hier nicht findet, nehme ich eher an, daß es Spiele sind, wie jene kleinen Baumfiguren im Marmor, die man bei Florenz und andernorts findet und mit denen man die Kabinette schmückt.“413  Damit hatte Leibniz die Metapher des lusus naturae, die er zunächst übernommen, dann aber hart kritisiert hatte, nun für alle Formen bekräftigt, die das strenge Reproduktionskriterium von Fossilien nicht erfüllten. Alle nicht als Reproduktion erkennbaren Figuren wurden so zu phantasievollen Abbildungen von nicht existierenden Pseudooriginalen. Zu  408  „Neque enim aliud est natura, quam ars quaedam magna“ (Leibniz, 1949, S. 40; vgl. Roger, 1968, S. 140, Hecht, 1992, S. 121, 124).  409  Leibniz, 1949, S. 66; vgl. Ariew, 1998, S. 282.  410  „Ita natura pro homine imponit“ (Leibniz, 1949, S. 54).  411  Leibniz, 1997, S. 9f.; vgl. den von Fontenelles vorgetragenen, leicht verkürzten Bericht, der im Jahre 1706 als Akademieschrift veröffentlicht wurde: Leibniz, 1768, Bd. II, 2, S. 179 und Leibniz, 1993, S. 203.  412   Leibniz, 1997, S. 11.  413  „Quand cette exactitude ne s’y trouve point, je consens plus aisément, que ce sont des jeux; comme ces petites figures d’arbres sur le Marbre, qui se trouve près de Florence et ailleurs, dont on orne des Cabinets“ (Leibniz, 1997, S. 11).

2.  Die Kunst der Reproduktion

diesen zählte Leibniz auch die Selbstbildung von Metallbäumen in Säure, die ihm als eine „Art Spiel“ galten, „in dem es der Natur gefällt, durch ein mechanisches, aber höchst unvollkommenes Muster die Produktion organischer Körper zu imitieren.“414  Die Erzeugung natürlicher Organismen aber, so fährt Leibniz zum Ende des Textes hin fort, „verlangt ein noch höheres Geheimnis, da sie eine Vorherbildung voraussetzt, ohne die keine Mechanik eine organische Maschine produzieren könnte, die in ihren Teilen der Teile bis ins unendlich kleinste organisiert sei, was einen immensen Unterschied zwischen diesen Maschinen der Natur und jenen der Kunst und entsprechend zwischen den Tieren oder Planzen und jenen Spielen der Natur macht, (…) die nur eine grobe und äußere Nachahmung von ihnen sind.“415 Mit dieser geologischen Differenzierung von natürlichen und künstlichen Formen bezog sich Leibniz auf die mikroskopischen Blicke auf Kleinorganismen, die selbst den feinsten Produkten der Metallverarbeitung unendlich überlegen schienen (Abb. 49). Die Unterscheidung von natürlichen und spielerisch-künstlichen Formen der Natur entsprach daher auch der Unterscheidung von organischen und künstlichen Automaten, deren Differenzen im Grad ihrer inneren Teilbarkeit lagen. Leibniz’ Kunsttheorie der Erde ist damit Teil eines universalen Differen­zie­ rungsschemas, das Natur und Kunst nach Maßgabe der inneren Komplexität zu trennen versteht.416 Für Leibniz ist auch das kleinste organische Gebilde unendlich teilbar, während Kunstwerke keine beliebig tiefen Teilungen auszuhalten vermögen; in ihrer Willkür sind sie flach. Das Kriterium der mangelnden Subtilität dringt hier zum Kern des Paragone von Natur und Kunst vor. Wo die Natur Gestalten hervorbringt, die den natürlichen Spezies nicht gleichen, können diese nur so unvollkommen sein wie es die Kunst gegenüber der Natur ist. Die authentischen Reproduktionen der Natur, wie sie der von Leibniz bewunderte Künstler und Naturforscher Agostino Scilla im Jahre 1670 in einer revitalisierenden Dramatik darzustellen vermochte (Abb. 57), bewahren in ihrer Vollkommenheit jedoch eine Verewigung der präformierten Arten.417  Die nur unvollkommen und abweichend reproduzierten Arten der Ver414   „Sans parler de la génération de l’arbre metallique dans l’eau forte, qui est encore une autre maniére de jeu, ou la nature se plait à imiter par une simple mechanique, mais fort imparfaitement la production des corps organiques“ (Leibniz, 1997, S. 11). 415   Die Produktion organischer Körper „laquelle demande plus de mistére, puis qu’elle suppose une préformation, sans laquelle point de mechanique ne sauroit produire une machine organique qui soit organisée dans les parties des parties à l’infini; ce qui fait une distance immense entre ces machines de la nature, et celles de l’art; aussi bien que entre les Animaux ou les Plantes, et entre ces jeux de la nature, dont je viens de parler, qui n’en sont qu’une imitation grossière et au dehors“ (Leibniz, 1997, S. 11). 416  S. o. S. 104f. 417   Leibniz, 1949, S. 103; vgl. Rudwick, 1972, S. 59.

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VII Fossilien und die Kunsttheorie der Erde

Abb.  57.  Agostino Scilla, Fossilien, Stich, in: Scilla, 1670, Fron­tispiz

3.  Das Dilemma der Naturgeschichte

steinerung dagegen entsprechen als lusus naturae den Kriterien menschlicher Kunst. Im künstlerischen „Spiel“ ist die Natur, um Tassos Wortspiel umzudeuten, eine Nachahmerin ihrer unvollkommenen Nachahmung in der Kunst. Wo lebendige Spezies als Fossilien versteinert waren, hatte die Natur im Stile eines Bildhauers vollendete Reproduktionen geschaffen. Wo sie aber Figuren hervorbrachte, für die in der Lebendwelt keine Originale aufzufinden waren, hatte sie sich als künstlerische Spielerin betätigt.

3. Das Dilemma der Naturgeschichte Durch die Unterscheidung von Reproduktion und Spielwerk hat Leibniz jedoch mehr Probleme geschaffen als gelöst. Denn natürlich stand der Gedanke längst im Raum, daß sich die Spielformen ebenfalls auf originale Lebewesen bezogen; allerdings auf Spezies, die in vorgeschichtlicher Zeit ausgestorben waren. Dies bedeutete aber einen Konflikt mit der Schöpfungsgeschichte, derzufolge alle Arten in sechs Tagen geschaffen worden waren. Tatsächlich hat sich Leibniz dem Gedanken genähert, daß „einstmals, als der Ozean alles bedeckte, die Tiere, die heute das Land bewohnen, Wassertiere gewesen [seien], dann seien sie mit dem Fortgang dieses Elementes allmählich Amphibien geworden und hätten sich schließlich in ihrer Nachkommenschaft ihrer ursprünglichen Heimat entwöhnt.“418  Wie vor diesem Gedanken zurückschreckend, hat Leibniz sich beeilt, ihn umgehend zu verwerfen: „Doch solches widerspricht den heiligen Schriftstellern, von denen abzuweichen sündhaft ist.“419  Er hat der Evolutionstheorie zwar abgeschworen, aber sein Kriterium der angemessenen Reproduktion, das in seiner Aporie die vielleicht irritierendste Kunsttheorie des Barock war, hat nahegelegt, die Fossilien der bekannten Arten von denen der ausgestorbenen Spezies zu scheiden. Indem er letztere als „Spiele“ der Natur bezeichnete, hatte er ein formanalytisches Instrument gewonnen, um die divergierenden Formen der Versteinerungen präzise zu bestimmen. Der von ihm nach Kräften geförderte Schweizer Arzt und Alpenforscher Johann Jakob Scheuchzer hat nach dieser Methode die ausgestorbenen von den existierenden Arten getrennt und diese Zäsur theologisch dadurch mit der Schöpfungsgeschichte in Einklang zu bringen versucht, daß er die untergegangenen Spezies als das Opfer bezeichnete, das die Welt in der Sintflut zu zahlen hatte.420 

  Leibniz, 1949, S. 25.   Leibniz, 1949, S. 25; vgl. Hölder, 1969, S. 114f. 420  Scheuchzer, 1746, Bd. I, S. 127–130; vgl. Kempe, 1996, S. 489ff. und Felfe, 2003, S. 187ff. 418 419

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VII Fossilien und die Kunsttheorie der Erde

Abb.  58. G. W. Leibniz, Erdgänge als Kegelschnitte, Federzeichnung, um 1693, in: Leibniz, Protogaea, Hannover, Niedersächsische Landesbi­blio­thek, LH, XXIII 23 (a), Bl. 12v

4. Die Natur als Perspektivkünstlerin Auf einem der Blätter von Leibniz’ Manuskript der Protogaea befinden sich zwei auf den ersten Blick eher unscheinbare Zeichnungen (Abb. 58). Die linke zeigt einen Kegel über einer Grundfläche, deren hintere, eigentlich nicht sichtbare Linie punktiert ist. Dasselbe gilt für den oberen Schrägschnitt, der zu einer Ellipse führt, während der schräg zum Grundkreis zurücklaufende Schnitt die Linienführung einer Hyperbel offenbart. Da Leibniz versehentlich auch den nicht sichtbaren Teil mit durchgezogener Linie gezeichnet hat, ist das gesamte Gebilde mit Feder durchgestrichen. Stattdessen hat Leibniz rechts denselben Kegel nochmals größer gezeichnet und an den Schnittlinien die Bezeichnungen Ellipse, Hyperbel und Parabel eingetragen.421  Die zugehörige Textstelle erläutert, daß die Erdadern „nicht bes­ser als durch die Ähnlichkeit mit einem Kegelschnitt beschrieben werden [können]. Denn Gänge, die man bei uns schwebende Gänge nennt, sind nach der Art eines Kreises oder einer Ellipse begrenzt; die man aber fallende Gänge nennt, steigen bis ins Unendliche in die Tiefe hinab, so wie die den Geometern bekannten Hyperbeln oder Parabeln.“422   In ihrer unbeholfenen Art haben diese Striche mit einer Ausnahme bislang nicht die geringste Aufmerksamkeit gefunden (Yamada, 2001), und in den Ausgaben der Protogaea sind sie weder erwähnt noch gar abgedruckt (Zu dieser Schrift grundlegend: Waschkies, 1999 und 2001). 422   Leibniz, 1949, S. 34/35. 421

4.  Die Natur als Perspektivkünstlerin

Abb.  59.  Anonym, Flöze, Holzschnitt, 1556, in: Agricola, 1977, Drittes Buch, S. 38

Diese zunächst rätselhafte Stelle wird durch einen Holzschnitt aus Agricolas De re metallica erhellt, auf dem durch einen grob kegelförmigen Berg ein „mächtiges Flöz“ mit der Bezeichnung „A“ hindurchgeht (Abb. 59); andere ziehen sich von Berg zu Berg unter Talsenken in einer Linie, die ebenfalls an Kegelschnitte denken läßt.423  Derartige Gebilde muß Leibniz im Auge gehabt haben, als er von den „schwe­benden und fallenden Gängen“ sprach. Im Verein mit dem zugehörigen Text verdeutlichen die Zeichnungen, daß Leib­niz seine an Desargues, Bosse und Pascal geschulten Kegelschnittstudien auf die Geologie zu übertragen suchte. Leibniz sah die Natur als eine Kunsttech­no­lo­ gin, die den Geometern und Perspektivkünstlern die Geheimnisse der Form in großem Maßstab vorzugeben vermochte. Leibniz’ Ausgangspunkt war der Wettstreit zwischen der Künstlerin Natur und der Kunstfertigkeit des Menschen, wie er sich im Naturtheater des Harzes auftat. Wie die Kegelzeichnung der Protogaea zeigt, trieb die Natur die Schnitte der Perspektivkunst in diese Bühne der Erdrinde. Wenn die Natur nach der Form der Kegelschnitte gestaltete, hatte sie dem Geheimnis des Perspektivismus, der Ellipsen und Hyperbeln auf die Kreisform zu projizieren vermochte, eine unterirdische Form gegeben. Indem die Erdkugel aber das Vorbild der göttlichen Perspektive war, geriet der Bergbau zur Suche nach der Harmonie einer Schöpfung, die durch die Frage nach der Evolution der Naturgeschichte in eine Krise gestürzt war.  423

 Agricola, 1977, S. 47.

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VII Fossilien und die Kunsttheorie der Erde

Das genuin künstlerische Verfahren perspektivischer Kegelschnitte, wie es der Schattenschnitt Matteo Zaccolinis repräsentierte (Abb.  35), geriet in Leibniz’ Zeich­nung zur Begründung einer mathematischen Bestimmung der Erdgeschichte. Indem Leibniz die Verschichtungen des Erdinneren mit den Linien von Kegelschnitten verband, revolutionierte er die Geologie. Für Leibniz war die Möglichkeit, Linien und Kurven auf die Kreisform zurückzubinden, Metapher und Beweis für die Unendlichkeit der Perspektiven, mit der ein göttliches Auge die Welt durchdringt und auf die hin sich die Menschen in der Entfaltung ihrer Perspektiven bewegen sollten. Da sich die schwebenden und fallenden Gänge entweder als Kreise oder Ellipsen, in der Tiefe aber als Parabeln oder Hyperbeln bilden, realisieren sich die Kegelschnitte in der körperlich-materiellen Beschaffenheit der Welt. Das Erstaunliche der Protogaea liegt darin, daß die Kegelschnitte damit in den Kreis der „Sachen selbst“ rücken. Leibniz’ geologische Zeichnungen sind unbeholfen und marginal, aber ungeachtet ihrer Beiläufigkeit verdeutlichen sie etwas der Sprache kaum Zugängliches. Sie sind weitaus mehr als nur die Wiedergabe einer Idee. Der Gedanke, daß sich die Erdadern nach der Regel der Kegelschnitte in das Unendliche biegen, war möglich geworden durch die Schulung der Perspektivkunst, die sich der Kegelschnitte angenommen hatte. Was Leibniz scheinbar nur illustriert, ist Teil des Urstoffes, aus dem der Gedanke erwachsen ist. Die Zeichnung ist nicht allein Ausdruck der Idee, sondern deren konstitutiver Bestandteil. Sie ist der Anstoß und das Medium der Entfaltung von Ideen.

VIII ZEICHNUNGEN UND ENTWÜRFE 1. Eigenschaften der Zeichnung Leibniz hat ununterbrochen geschrieben und gezeichnet, um seine Gedanken auszudrücken und zu formen. Mit welcher Unbekümmertheit er seine zeichnerischen Unzulänglichkeiten überwand und überzeugende Dokumente eines auf dem Papier sich vergewissernden Denkens hinterlassen hat, bezeugen seine zahlreichen technischen Skizzen, die durchweg einen im besten Sinn dilettantischen, unprätentiösen, aber zugreifenden und von keinen Zweifeln gestörten Stil vortragen.424 Sie dokumentieren, daß der intuitive Blick in der zeichnenden Hand ein Gegenüber fand. Erst in jüngster Zeit ist das Augenmerk dafür geschärft worden, daß Leibniz etwa bei Visualisierungen von Experimenten versuchte, die Prozessualität der verschiedenen Durchführungsschritte in die Simultaneität der Zeichnung zu überführen. In den fahrigen, sich teils überlappenden Skizzen der technischen Versuche äußert sich der Versuch einer Überwindung des Problems, daß alles Geschriebene nur in der ablaufenden Zeit zu erschließen ist, wohingegen das Visuelle die Zeit simultan zusammenzuziehen und dauerhaft zur Verfügung zu stellen vermag.425  Die besonderen Möglichkeiten der Zeichnungen waren Leibniz überaus bewußt. In einem Brief an Tschirnhaus hat er betont, daß Zeichnungen als Grundmittel der Ausbildung und Forschung das Verständnis auch komplexer Gebilde so weit befördern könnten, daß der Unterricht ein wahres Spiel, „recht Ludus werden“ würde. Jugendliche sollten insbesondere Zeichnungen von Maschinen anfertigen, um deren Wirkungsweisen „aus den Figuren ohne Erklärung zu verstehen.“426  Diese Äußerung knüpfte an Leibniz’ Schrift zur Prinzenerziehung von 1685/86 an, die er anläßlich des Todes von Charles II. mit Blick auf zukünftige Thronfolger

424   Gerland, 1906, hat eine Fülle dieser Zeichnungen in ihrer unruhigen, nicht eben von zeichnerischer Meisterschaft zeugenden und dadurch den Denkprozeß umso authentischer bewahrenden Form wiedergegeben. 425  Es handelt sich um eine Vorausahnung von Lessings Laokoon-Problem. Vgl. Hecht, Knobloch und Rieger, 2002, S. 79ff. 426   Leibniz, 1899, S. 515; AI, 41, Z. 4–5.

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VIII  Zeichnungen und Entwürfe

verfasst hatte.427  Die Fähigkeit des zukünftigen Herrschers zur Zeichnung war für Leibniz eine der Voraussetzungen für die Kunst des Regierens: „Im übrigen ist es sehr wichtig, daß ein junger Prinz etwas Verständnis für die Zeichenkunst ent­ wickelt und sich ebenso darin übt, selbst zu zeichnen, denn nichts ist für die Praxis der militärischen und selbstredend auch der zivilen Architektur nützlicher; deren Kurzdarstellung auf einer Tafel wird zusätzlich von großem Nutzen sein. Und ebenso sollte man es zum größten Ertrag und Vergnügen eines jungen Prinzen in Bezug auf die anderen Wissenschaften, Künste und Berufe halten. Dies wäre ein anderes Verfahren als bei den sterilen Namensbildungen; vielmehr würde es mit der Kenntnis der Sachen auch deren Begriffe erbringen und die gesamte Natur ebenso gut wie die Kunst repräsentieren.“428  Indem Leibniz die beiden Pole der Natur und der Kunst bemühte, um die Zeichenkunst gegen die Sterilität rein begrifflicher Ordnungen zu wenden, nahm er eine über Generationen ausgebaute Tradition der Kunsttheorie auf, die in der Zeichnung eine unnachahmliche Verkörperung konzeptioneller Fähigkeiten gesehen hatte. Die Florentiner Kunstakademie hatte sich um 1560 programmatisch als Akademie der Zeichnung (Accademia del Disegno) definiert, weil, wie Benvenuto Cellini es ausdrückte, diese „das einzige und wahre Licht aller Handlungen des Men­schen in jedem Geschäft“ sei.429 In diesem Sinn besaß Christianopolis, die kunst­technologische Utopie von Johann Valentin Andreae, eine Kunstakademie, in der das Einüben in das Zeichnen und die Malerei „jagdscharfe Augen“ zu produzieren vermag: „Teile oder vielmehr Genossen der Malerei sind Architektur, Perspektive, die Kunst, Lager zu bauen und zu befestigen, und das technische Zeichnen für Maschinen und Statik. Alles, womit sich die Geisteskräfte spielerisch beschäftigen oder was sonst wissenschaftlicher Kunstfertigkeit sehr ähnlich sieht, kann sämtlich an diesem Ort besichtigt werden und liegt hier zu Studienzwecken bereit.“430  Von Galileo Galilei bis Robert Hooke war die fundamentale Bedeutung der Zeichnung in diesem Sinn betont worden,431  und diese Wertschätzung nahm Leibniz auf. Die Überzeugung, daß sich Zeichnungen insbesondere zur Erziehung

 Aus diesem Grund hat er seinen Text als so grundsätzlichen wie zeitlosen Beitrag zur Ausbildung in Abschriften immer wieder, zuletzt 1714, an verschiedene Höfe gesandt. Sein Eindruck trog nicht; es war diese Schrift, die ihm beispielsweise im Jahre 1704 den Weg zu einer persönlichen Audienz bei August dem Starken ebnete (Otto, 2000, S. 66; vgl. auch S. 93f., Anm. 234). 428  AA, IV, 3, Nr.  68, S. 552, Z. 5–11; AI, 24, Z. 12–19. 429   „che il disegno essendo veramente origine, e principio di tutte le azzioni dell’ huomo, e solo quella Iddea vera della Natura, che fu da gli Antiqui con molte poppe figurata, per sig­ni­ ficare, ch’ ella nutrisce ogni cosa“ (Benvenuto Cellini, Akademiesiegelentwurf, abgebildet bei Kemp, 1974, S. 223). 430  Andreae, 1975, § 48, S. 73f. 431   Bredekamp, 2002, Erkenntniskraft. 427

2.  Der Louvre des Claude Perrault

junger Herrscher eignen würden, war ihm durch die größte zeitgenössische Graphiksammlung vermittelt worden, die, wie sich zeigen wird, Leibniz für Hannover selbst zu erwerben suchte. In der Einleitung des Kataloges hatte der Besitzer, Michel de Marolles, betont, daß seine Sammlung für die Unterrichtung eines jungen Prinzen besonders geeignet sei.432 

2. Der Louvre des Claude Perrault Es war nicht die einzige Lehre, die Leibniz während seiner Zeit in Paris in Bezug auf Zeichnungen machen konnte. Authentische Erfahrungen in der Kunst der Zeichnung hat er in Paris vor allem durch die Freundschaft mit Claude Perrault, einem Mediziner der Académie des Sciences, sammeln können. Möglicherweise war nicht die Kunst, sondern Perraults gegen Descartes Mechanik gerichteter Animismus des gesamten Körpers ein erster Anknüpfungspunkt; Leibniz hat Perraults Überzeugung festgehalten, „daß der Geist gleichermaßen im gesamten Körper ist.“433  Dies könnte zu Leibniz’ Konzept der „kleinen Perzeptionen“ und dessen spezi­fisch ästhetischer Wendung geführt haben.434  Über seinen größten Erfolg als Architekt, den östlichen Erweiterungsbau des Louvre, hat Perrault vermutlich am 22. Januar 1676 ein langes Gespräch mit Leibniz geführt, das dieser in einem ausführlichen Protokoll festgehalten hat. Es gehört zu den aussagekräftigsten Dokumenten der Louvre-Planungen.435 Der Bau des Louvre war seit 1546 als viereckiges Renaissanceschloß in Angriff genommen worden, dessen Fläche in den verschiedenen Erweiterungen auf die vierfache Grundfläche erweitert wurde. Ab 1654 wurde durch Louis Le Vau, dem Erbauer von Versailles, der erweiterte Cour Carré vollendet, womit sich, wie der Blick auf den Westflügel und die von ihm abgehenden Süd-, und Nordflügel zeigt (Abb. 60), in Bezug auf die gegenüberliegende Ostseite das Problem der Schließung auch dieses Flügels stellte. Um die Gestalt dieses abschließenden Elementes ging es, als Leibniz mit Perrault diskutierte. Leibniz berichtet zunächst ausführlich von der Konkurrenz um die Errichtung dieses Ostflügels des Louvre, die damit begonnen habe, daß eine Art Masterplan des königlichen Architekten Le Vau von den bedeutendsten Architekten Frankreichs   Marolles, 1666, S. 18; vgl. Brakensiek, 2003, S. 27.   „L’opinion de Mons. Perault est, que l’ame est egalement par tout le corps“ (Leibniz, in: Bodemann, 1895, S. 118). 434   Ferrari, 1990, S. 336. 435   Petzet, 2000, S. 568f., nach: Leibniz, 1857; AI, 6. Vgl. Ferrari, 1990 und Petzet, 2000, 61ff. und passim. Leibniz hatte sich bereits im Jahre 1671 mit dem Louvre-Bau beschäftigt. Er beurteilt in einem Brief vom 1671 (?) an Lersner, Sprößling einer Frankfurter Patrizierfamilie, dessen Gedicht auf die Ludwig XIV. gewidmeten Bauwerke Claude Perraults (AA, I, 1, Nr. 113, S. 177). 432 433

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VIII  Zeichnungen und Entwürfe

Abb.  60.  Jean (?) Boisseau, Blick auf den Westfügel des Louvre mit den geschlossenen Süd- und Nordflügeln, Stich, um 1660, Paris, Bibliothèque Nationale, Estampes Va. 217e, entn. aus: Petzet, 2000, Abb. 15

für Jean Baptiste Colbert kommentiert worden sei. Charles Perrault, der unter Colbert die Bauverwaltung als Controlleur général leitete, habe daraufhin seinen Bruder Claude aufgefordert, sich ebenfalls an dem Verfahren zu beteiligen, wo­rauf­ hin sowohl Colbert wie auch Charles Le Brun dessen anonym eingereichten Entwurf befürworteten. Leibniz vermerkt auch, daß Claude Perrault eine kleine Schrift verfasst habe, die auf die Fehler der Konkurrenten eingegangen sei.436  Wegen des beschämenden Umstandes, daß mit Claude Perrault ein Mediziner die Berufsarchitekten ausgestochen hatte, wurde Gianlorenzo Bernini eingeladen, um sein Urteil abzugeben. Leibniz erläutert Schritt für Schritt, wie dieser hochbetagte Künstler alle Entwürfe der französischen Architekten zugunsten des eigenen Konzeptes verwarf, um fürstlich entlohnt und ehrenhaft nach Rom entlassen zu werden, ohne daß sein Modell berücksichtigt worden wäre. Nach dem Scheitern Berninis konnte Charles Perrault den Entwurf seines Bruders von 1664 erneut ins Spiel bringen,437  woraufhin eine Kommission einberufen wurde, die neben Le Brun und Le Vau auch Claude Perrault umfasste. Allein dies war bereits als Ehrenerklärung gegenüber dem Dilettanten zu werten. Sein mit den Konkurrenten abgestimmter Entwurf wurde schließlich am 14. Mai 1667 vom König abgesegnet, was Leibniz nicht ohne Genugtuung zur Feststellung veranlasste: „und es ist eben dieser Plan, an dem man zur Zeit arbeitet.“438 

 436   Petzet, 2000, S. 568; AI, 6, Z. 20–25.  437  Petzet, 2000, S. 148ff.  438  Petzet, 2000, S. 569; AI, 6, Z. 83; Petzet, 2000, S. 158.

2.  Der Louvre des Claude Perrault

Abb.  61. Gérard Scotin nach Sébastien Le Clerc, Titelblatt von Claude Perraults Vitruv-Ausgabe mit Triumphbogen, Observatorium und Louvre-Ostfassade, in: Perrault, 1673, entn. aus: Petzet, 2000, Abb.  1

Perraults Entwurf sah über einem mächtigen Erdgeschoß eine Kolonnade aus Einzel- oder Doppelsäulen vor, deren Mitte als Triumphbogen vortrat und durch einen Dreiecksgiebel abgeschlossen wurde.439  Er ist verlorengegangen, aber das Titelblatt der von Claude Perrault herausgegebenen französischen Ausgabe des Vitruv (Abb. 61) zeigt neben dem Triumphbogen und dem im Hintergrund auf dem Hügel erhobenen Observatorium auch die Louvrekolonnade von Perrault. Die folgende Beschreibung der Raumkompartimente hat Leibniz auch durch einen Grundriss, in dem die Linien und Gebäudekomplexe durch Buchstaben gekennzeichnet sind, vergegenwärtigt (Abb.  Anhang I, Nr. 6). So unscheinbar die Zeichnung wirkt, die wie das gesamte Protokoll nicht im Original, sondern als Nachdruck des neunzehnten Jahrhunderts überliefert ist,440  so stellt sie doch insofern ein besonderes Dokument dar, als mit ihr Leibniz’ Forderung, das Wesen einer Sache durch geometrische Zeichnungen zu repräsentieren, durch ein Beispiel aus  439  Petzet, 2000, S. 65.  440  Leibniz, 1857. Vgl. hierzu Wiedeburg, 1970, II, 3, S. 303, Anm. 7.

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VIII  Zeichnungen und Entwürfe

Abb.  62.  Claude Perrault, Entwurf zum Obe­lisken des Sonnenkönigs, Federzeichnung mit Lavierung, 1666, Paris, Bibliothèque Nationale, Manuscrits, fond français, 24713, Bl. 151; entn. aus: Petzet, 2000, Abb. 233

eigener Hand bekräftigt ist. Kurz nach Fertigung dieser Zeichnung hat Leibniz Claude Perrault einen langen Brief über die Physik der Körper geschrieben, in dem er ein ähnliches Zeichensystem für Fragen des Stoßes und der Ablenkung anwendete.441  Perrault muß Leibniz auch weitere Vorhaben und Konzepte präsentiert haben, denn Leibniz zeigt sich besonders vom Entwurf des Triumphbogens (Abb. 61) oder auch des dem Sonnenkönig gewidmeten Riesenobelisken beeindruckt, der sich über einer gigantischen Erdkugel und zwei Stützbauten auf die doppelte Höhe von Notre Dame erheben sollte (Abb. 62).442  Auf seinen vier Seiten waren Europa durch den Adler, Asien durch den Phönix, Afrika durch den Elephanten und Amerika durch den Drachen charakterisiert.443  Unter den Devisen hebt Leibniz einen Delphin, dessen Wellen auf den Sturm deuteten, die der Dauphin als König aus­

 AA, II, 1, Nr.  128, S. 262ff.   Petzet, 2000, S. 569; AI, 6, Z. 99–103; Petzet, 2000, S. 335f.; Abb. 233, 234. 443   Petzet, 2000, S. 569; AI, 6, Z. 103–109. 441

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2.  Der Louvre des Claude Perrault

Abb.  63.  Sébastien Le Clerc, Das Hebewerk für die Giebelplatten des Perrault-Flügels, Stich, 1677, Paris, Paris, Bibliothèque Nationale, Estampes, Va 217 a; entn. aus: Petzet, 2000, Abb. 216

lösen würde, sowie einen Colbert gewidmeten Strauß hervor, der sein Ei allein dadurch zum Schlüpfen brächte, daß er es durch INSPICIENDO scharf ansähe.444 Nach der Erwähnung zahlreicher weiterer Embleme und Devisen kehrt Leibniz zu den Arbeiten am Louvre und ihrer so präzisen wie schönen Ausführung zurück. Als der König die Baustelle besichtigt habe, sei seine Bewunderung so groß gewesen, daß er sich unter Zeugen zur Bemerkung habe hinreißen lassen: „Wenn nur Versailles ebenso hätte gebaut werden können.“445  Leibniz’ Bericht endet mit der Einschätzung, daß das Eigeninteresse Ludwigs XIV. höher gewesen sei als die Staatsräson: „Man bemerkte, daß der König in gewisser Weise die Schönheit des Louvre beneidete, denn er sieht den Louvre als den Sitz der Könige Frankreichs an, Versailles aber als den seinen.“446  Leibniz’ Protokoll vermittelt einen Eindruck davon, welch eine Offenbarung es für ihn bedeutet haben muß, persönlich durch den Architekten des französischen Königssitzes unterrichtet und geschult worden zu sein.447  Über die Konkurrenz der Louvrebauten konnte Leibniz erfahren, mit welcher Finesse die Modellbauten und Zeichnungen das Wesen des zukünftigen Bauwerkes zu repräsentieren

  Petzet, 2000, S. 569; AI, 6, Z. 114–119.   Petzet, 2000, S. 569; AI, 6, Z. 142. 446   Petzet, 2000, S. 569; AI, 6, Z. 142–144. 447  Er hat auch nach seiner Zeit in Paris mit Perrault Kontakt gehalten und etwa dessen Rekonstruktion des Tempels von Jerusalem von 1678 bald nach Erscheinen mit Villalpandos berühmtem Vorschlag verglichen (AA, I, 2, Nr.  468, S. 476, Z. 7–12; vgl. Petzet, 2000, S. 467f.). 444 445

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VIII  Zeichnungen und Entwürfe

Abb.  64.  Anton August Beck, Die Wolfenbütteler Bibliothek, Hauptfassade, Stich, um 1766; entn. aus: Recker-Kotulla, 1983, Abb. 9

vermochten, und die Arbeiten selbst, wie sie für das Jahr 1677 von Sébastien Le Clerc festgehalten wurden (Abb. 63),448  werden ihn durch das Zusammenspiel von Menschenkraft, Transportmaschinen, Gerüsten und Hebekränen umso mehr beeindruckt haben, als am Anfang nichts als Zeichnungen gestanden hatten.449  Das Protokoll des Gespräches mit Perrault gibt auch über die kenner­schaft­ liche Erfahrung Auskunft, die Leibniz im Umgang mit Zeichnungen gewonnen hatte. Seine Begründung, warum Claude Perrault den Wettbewerb gewonnen hatte, bezog Leibniz auch auf dessen „weichen und angenehmen Zeichenstil. Die damaligen Architekten hingegen zeichneten nicht so gut, kamen nie zum Ende und gaben sich mit ihren Strichen und damit zufrieden, durch ihre Abstufungen der Tusche Schatten zu erzeugen“.450  Ein Vergleich zwischen Zeichnungen etwa Le Vaus und Claude Perraults zeigen, mit welcher stilkritischen Treffsicherheit Leibniz’ Urteil begründet war.451 

 448  Petzet, 2000, Abb. 216.  449   Petzet, 2000, Abb. 108.  450  Petzet, 2000, S. 568; AI, 6, Z. 18–20.  451   Vgl. etwa die Zeichnung aus dem Büro Le Vaus (Petzet, 2000, Abb. 37), deren Lavie­ rungen einen die Präzision überwischenden Effekt haben, und die Mischung von Weichheit und Genauigkeit in Perraults Entwürfen des Observatoriums und des Louvre (Petzet, 2000, Abb. S. X, XI).

3.  Die Ovalbauten von Wolfenbüttel und Wien

3. Die Ovalbauten von Wolfenbüttel und Wien Leibniz wird seine bei Perrault gewonnenen Erfahrungen wie auch seine Funktion als Oberbibliothekar ins Spiel gebracht haben, als in Wolfenbüttel das große ­Bibliotheksgebäude geplant und von 1706 bis 1710 durch den Architekten Hermann Korb errichtet wurde. Der klare Bau, der durch einen Eingangstrakt akzentuiert ist, über dem das Walmdach zum Umgang und zu einem Zylinder vermittelt, wurde durch einen Himmelsglobus bekrönt, der über dem ursprünglich zwölfseitigen Dach der Trommel aufragte (Abb.  64). Er trat erstmals in der Ar­chi­ tekturgeschichte in dieser Dimension auf. Im Drôle de Pensée hat Leibniz neben einem Globus seines Lehrers Erhard Weigel auch die Gottorfer Riesenkugel von Adam Olearius und Andreas Bösch lobend erwähnt,452  so daß zumindest möglich erscheint, daß hier eine der Quellen für die Wolfenbütteler Sphäre zu suchen ist.

Abb.  65.  Andreas Christian Ludwig Tacke, Der Bibliothekssaal, Ölgemälde, 1886, Wol­fenbüttel, Herzog August Bibliothek, entn. aus: Recker-Kotulla, 1983, Abb.  8

Abb.  66.  Anton August Beck nach Adam Win­terschmidt, Grundriß der Wolfenbütteler Bibliothek, um 1766, ent. aus: Recker-Ko­ tulla, 1983, Abb.  7

Das Innere des Baues mit seiner Rotunde (Abb. 65), die sich über dem ovalen Grundriss (Abb. 66) auf zwölf Pfeilern über vier Stockwerke erhob, wurde in seinem Raumeindruck dadurch gesteigert, daß die Pfeiler der ersten beiden Stockwerke von Bücherregalen hinterfangen waren, während das dritte Geschoß nur eine Wandfläche aufwies und das vierte sich in 24 Bogenfenstern öffnete. Die spannungsvolle Struktur scheint für Leibniz’ dynamisches Verständnis des Raumes wie  S. o. S. 54, 56.

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VIII  Zeichnungen und Entwürfe

prädestiniert.453  Da sich diese Grunddisposition aus dem Werk des Architekten Korb nicht ableiten läßt, liegt es nahe, daß Leibniz an ihrer Konzeption beteiligt war; Lessing jedenfalls sah ihn später als den Urheber.454  Leibniz agierte gemeinsam mit dem hannoverschen Baudirektor Giacomo Quirini,455  den er selbst an der Planung des bei Lütze gelegenen Schlosses, das Sophie Charlotte von einem zunächst kleinformatig geplanten Sommerhaus zu einem an Versailles erinnernden preußischen theatrum repraesentationis ausbauen ließ, beteiligt hatte. Er war zunächst selbst mit dieser Aufgabe betraut worden, zog im April 1701 aber von sich aus den Conte hinzu.456  Gegen Ende desselben Jahres berichtete die Königin, daß sie sich intensiv um Schloß und Garten kümmere; „Quirini und Leibniz geben mir hierzu ihren Rat.“457  Dasselbe Zusammenspiel zwischen Leibniz und dem Conte, der als Venezianer mit der italienischen Bautradition und insbesondere mit dem Palladianismus vertraut war, hat sich auch in Bezug auf die Architektur von Wolfenbüttel ereignet.458  Durch die Beteiligung zweier Personen, die sowohl dem hannoveraner wie auch dem braunschweig-lüneburgischen Zweig der Welfen dienten, war die Zusammenführung ihrer Ansprüche symbolisiert, die Leibniz durch seine Abstam­ mungsforschungen in Italien bestärkt hatte. Der einer Stadt wie Wolfenbüttel zunächst kaum angemessene, grandiose Gestus der Bibliothek hat seinen Grund darin, die dynastischen Ambitionen der Welfen architektonisch auszuweisen und das Gebäude, in dem Dokumente ihrer Geschichte bewahrt waren und erforscht wurden, gleichsam ausstrahlen zu lassen. Daß die hannoversche Linie zwei Jahre nach Bauende der Bibliothek den Thron von England einnehmen konnte, illustriert die Ansprüche, die sich auch in ihr und ihrem Stil manifestierten.459  Im Jahre 1704 war Leibniz mit einem noch bedeutenderen Architekten in Berlin zusammengetroffen, Bernhard Fischer von Erlach, der sich auf seiner Reise mit Schlüters Berliner Schloßbau und dem welfischen Palladianismus vertraut gemacht hatte. Im Jahre 1713 entwickelte Leibniz in Wien im Verein mit dem kaiserlichen Antiquar Carl Gustav Heraeus eine vertiefte Beziehung zu Fischer von

453   Vgl. zur Relationsbestimmung des leibnizschen Raumbegriffs und der Architektur: Kreul, 1995, S. 317ff. 454  Reuther, 1966, S. 350, 354–356; Recker-Kotulla, 1983, S. 13, Anm. 36. Zur Wir­kungs­ geschichte bis zur Hamburger Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg: Settis, 1996, S. 152. 455   Die Vermutung von Scheel, 1973, S. 190, ist von Arciszewska, 2004, bekräftigt worden. 456   „je porte envie à M. Quirini qui va rejoindre V. M.“ (Leibniz an Sophie Charlotte, 30. 4. 1701, in: Senn, 2000, S. 38). 457   „Quirini et Mons. Leibniz m’y donnent leurs avis“ (Sophie Charlotte an Agostino Steffani, 29. 11. 1701, in: Hinterkeuser, 1999, S. 124, Anm. 42 und Senn, 2000, S. 3). 458   Dies das Ergebnis der jüngsten Forschung: Arciszewska, 2004; auch zum Folgenden. 459  Arciszewska, 2004.

3.  Die Ovalbauten von Wolfenbüttel und Wien

Erlach,460  und noch im selben Jahr hat er beide als Mitglieder der zu gründenden Akademie der Wissenschaften vorgeschlagen.461  Heraeus war es, der Leibniz Anfang Dezember 1715 von der unmittelbar zuvor getroffenen Entscheidung des Kaisers benachrichtigte, Fischer von Erlach die Karlskirche bauen zu lassen: „Ihre Kais. Majestät hat eben einen entscheidenden Beweis ihres guten Geschmackes gegeben, indem Sie sich gegen viele andere für die Entwürfe des Hr. v. Fischers für die Kirche des hl. Karl entschieden haben. Er hat gestern begonnen, sie vor dem Kärntertor unweit des Palais Trautson ins Werk zu setzen. Ein gutes Vorzeichen für die Künste.“462  Leibniz antwortete postwendend am 22. Dezember mit: „Ich beglückwünsche Herrn von Fischer.“463  Mit dem Architekten sah Leibniz sich auch selbst aufgefordert, an der Gestaltung oder zumindest der Bestimmung von Teilen der Kirche mitzuwirken. Im März 1716 erkundigt er sich nach seinem Vorschlag, die beiden Säulen der Eingangsfront (Abb. 67) auf die beiden Fundamente der Kaiserwürde zu beziehen und eine Säule Karl dem Großen als dem Begründer des Reiches und die weitere Kolumne dem heiligen Karl von Flandern als der Inkarnation der Erblande zu widmen.464 Im Juni desselben Jahres hat Leibniz diesen Beitrag zur politischen Ikonographie des Kaiserreiches wiederholt.465  Die beiden Säulen appellierten an die Kolumnen des Herkules, die mit dem Motto non plus ultra versehen waren (Abb. 68). Um die weltumspannende Ausdehnung seines Imperiums zu betonen, war es von Karl V. zum plus ultra verkürzt und damit von seiner begrenzenden Bestimmung in die imperiale

  Bergmann, 1855, Historia, S. 145. Zu Heraeus und Fischer von Erlach: Hammarlund, 2001, S. 459. 461  Roessler, 1856, S. 279; Sedlmayr, 1997, S. 236. 462   „Sa Maj. Imp. vient de donner une preuve de son bon goût decisif, en se declarant contre beaucoup d’autres pour les desseins de Mr. de Fischers touchant l’église de St.Charles. Il com­ mença hier à les mettre en oeuvre hors de la Porte de Carinthie pas loin de l’Hôtel de Trautson“ (Bergmann, 1855, Historia, S. 149; vgl. Dreger, 1934, S. 103; Sedlmayr, 1997, S. 269f., Krapf, 1999, S. 397f. und Hammarlund, 2001, S. 459). 463   „Je felicite Monsieur de Fischers“ (Ilg, 1895, S. 519). 464   „Je ne say ce que Sa Majesté Imperiale et Catholique aura dit sur ma pensée de faire mettre dans Sa nouvelle eglise de S. Charles non seulement S. Charles Borromée italien et moderne, mais encore deux Saints d’ancienne date Princes et même ses predesseurs, l’un dans l’Empire, l’autre dans les pays bas. Savoir S. Charlemagne et S. Charles Comte de Flandres; j’en ay ecrit à Sa Majesté de l’Imperatrice Amalie ayez la bonte de la demander l’avis de Monsieur de Fischer“ (Brief vom 29. März 1716, in: Schmidt, 1934, S. 155). 465   Leibniz, 1883, col. 200; vgl. Sedlmayr, 1997, S. 270. Vermutlich im September 1716 schrieb Heraeus, daß er den Vorschlag unterstützen würde, eine der Säulen Karl dem Großen zuzuordnen: „Dans le dessein que Mr. de Fischers fait et qui Vous fera plaisir, je suivrai Vos avis d’appliquer à Charles Magne une des Colonnes colossales y employées“ (Brief von Heraeus an Leibniz, vermutlich September 1716, in: Bergmann, 1855, Historia, S. 153). Vgl. zum ausgeführten Programm Krapf, 1999, S. 401. 460

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VIII  Zeichnungen und Entwürfe

Abb.  67. Fischer von Erlach, Karlskirche, Fassade, ab 1716, Wien

Iko­nographie der Habsburger überführt worden (Abb. 69). Daß Leibniz durch eine Benennung dieser Säulen die festen genealogischen Bezugspunkte zu definieren suchte, von denen aus die Welt zu umspannen sei, mutet zunächst eigenartig, wenn nicht willkürlich an, aber er besaß eine Beziehung zu dem Säulenpaar des Herkules. Francis Bacon hatte die Überwindung ihrer Grenze auf die Welt des Wissens und Forschens bezogen, deren Erträge auf dem Frontispiz seiner Instauracio magna von den jenseits der Säulen gelegenen Gefilden in den Hafen gebracht werden (Abb. 70),466  und Leibniz hat das Motto im selben Sinn auf seine keine Grenzlinien und Haltepunkte kennende Philosophie angewendet. Sein Konzept einer Enzyklopädie überschrieb er mit Plus ultra, wie um sich selbst als Kaiser des Wissens zu stilisieren.467  In seiner Bestimmung der Doppelsäulen der Karlskirche   Corbett und Lightbown, 1979, S. 186.   Guilielmi Pacidii PLUS ULTRA sive initia et specimina SCIENTIAE GENERALIS (…), in: AA, VI, 4, A, Nr.  158, S. 674; vgl. Hammarlund, 2001, S. 460. Möglichweise hat er sich durch das Frontispiz von Grégoire de St.Vincents Opus geometricum inspirieren lassen, das 466

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3.  Die Ovalbauten von Wolfenbüttel und Wien

Abb.  68.  Anonym, Non plus ultra, Die Säulen des Herkules als Grenze, in: Soto, 1599, S.  40b; entn. aus: Henkel und Schöne, 1978, Col. 1199

Abb.  69.  Anonym, Plus ultra, Die Säulen des Herkules als Öffnung, in: Anulus, 1565, S.  116; entn. aus: Henkel und Schöne, 1978, Col. 1198

aktualisierte er somit ein von der politischen Ikonographie und der eigenen Philosophie genutztes Motto. Neben der Karlskirche hat Leibniz sich noch in zwei weiteren Fällen um die Architektur Fischers von Erlach gekümmert. Im März 1716 machte er den Vorschlag, daß dieser auch die Gebäude der neu zu begründenden Akademie der Wissenschaften errichten solle.468  Ein Brief an den Hamburger Ratsherrn Konrad Widow vom 8. Mai 1716 verdeutlicht schließlich, daß er sich auch an der Diskussion des Entwurfes der Wiener Hofbibliothek beteiligte. Die Konkretheit seines Hinweises, den Nutzern einen leichten Zugang zu den Büchern zu ermöglichen,469 läßt vermuten, daß Leibniz über die im Frühjahr 1716 vorliegenden Entwürfe ­Fischers von Erlach informiert war. Angesichts der Form des Gebäudes verstärkt sich der Eindruck, daß zumindest die Grundidee der Wolfenbütteler Bibliothek eine Rolle gespielt hat.470  Der

er 1672/73 durchgearbeitet hat. Das dort zwischen den Säulen gezeigte Löwenfell des Herkules ist unübersehbar mit dem PLVS ULTRA verziert, das sich auf die Quadatur des Zirkels bezieht (Grégoire de St.Vincent, 1646; zum Einfluß auf Leibniz allgemein: Hofmann, 1942). Daneben existiert eine nicht-mathematische, französische Tradition des Plus ultra, die Leibniz bekannt gewesen sein dürfte (Petzet, 2000, S. 350f.). 468   „j’espère qu’il inventera si bien le nouveau bastiment que la nouvelle societé y puisse trouver de la place considerablement pour ses assemblees, ses experiences et apparats il seroit bon d’en conferer avec luy“ (Brief vom 29. März 1716, in: Schmidt, 1934, S. 155). Die Zeichnungen, die Fischer von Erlach vermutlich im Frühjahr und Sommer gefertigt hat, sind verschollen, so daß nicht zu erschließen ist, in wie weit Leibniz an ihnen beteiligt war (Sedlmayr, 1997, S. 273). 469   „On m’a parlé du dessein du nouveau bâtiment. Je voudrois qu’une Bibliotheque fut tellement disposée, qu’on pût arriver aux livres sans se servir d’échelle“ (Leibniz, 1738, Bd. III, S. 342; hier zit. nach: Buchowiecki, 1957, Anhang I, Urk. Nr.  26, S. 226). 470  Sedlymayr, 1997, S. 313; Arciszewska, 2004.

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VIII  Zeichnungen und Entwürfe

Abb. 70.  Simon de Passe, Instauracio magna, Stich, in: Bacon, 1620, Titelblatt

Wiener Bau unterscheidet sich von der Wolfenbütteler Lösung darin, daß er über dem zweiten Geschoß eine mächtige Kuppel trägt, die das Raumgefüge des Pantheon aufnimmt (Abb. 71). Die Raumdisposition der ovalen Zylinder macht die Wol­fenbütteler und Wiener Bauten jedoch grob vergleichbar.471  Einen entfernten Bezug stellen möglicherweise auch die beiden Riesengloben dar, die den Eindruck des Außenbaues mitbestimmen, zumal Leibniz im Juni 1716 vorgeschlagen hat, ein Sonnengnomon anzubringen.472  Ohne daß Gewißheit über den effektiven Einfluß von Leibniz zu gewinnen ist, zeigt doch auch die Wiener Situation, daß er sich um Fragen der Architektur und ihrer Bestimmung bemühte. In den Nouveaux Essais, an denen Leibniz arbeitete, als die Wolfenbütteler Bibliothek geplant wurde, sind die tätigen Menschen als „kleine Götter“ bezeichnet, „die den großen Architekten des Weltalls nachahmen, obgleich das nur durch

471  Reuther, 1966, S. 354. Zur zur Baugeschichte: Lorenz, 1992, S. 166–171 und Leh­ mann, 1996, S. 547f.; Ikonographie: Matsche, 1992. 472   „Si nous pouvons porter l’Empereur à faire faire un Gnomon dans l’Eglise de S. Charles, ce feroit déjà quelque pas. Je ne sais si la hauteur & la longueur sera assez considerable: mais cela vaudra toujours mieux que rien, & donnera quelque encouragement“ (Brief an Marinoni, 6. 6. 1716, in: Leibniz, 1738, Bd. III, S. 311; vgl. Sedlmayr, 1997, S. 423, Nr.  133; Abb. ebd., S. 315, Abb. 355).

3.  Die Ovalbauten von Wolfenbüttel und Wien

Abb.  71.  Salomon Kleiner, Längsschnitt durch den Saal der Wiener Hofbibliothek, 1737, Stich, entn. aus: Sedlmayr, 1997, S. 314, Abb. 354

Anwendung der Körper und ihrer Gesetze geschieht.“473  Dieser Vergleich nimmt eine topische, aus der hermetischen Tradition stammende Stilisierung des Künstlers und Architekten zum secundus bzw. alter deus auf.474  Die Errichtung des Biblio­ theksgebäudes mit ihrem ovalen Zylinder, versehen auch mit jener Himmelskugel, welche die Architektur des Weltalls imitierte, könnte einen Anstoß für Leibniz’ Ausführung über den Menschen als „kleinen Gott“ gegeben haben, der das Weltall nachzuahmen und die Oberfläche der Natur zu verschönern vermag.475  In der Monadologie von 1710 hat Leibniz den Menschen nochmals als petite divinité, „kleine Gottheit“ angesprochen, die fähig sei, das System des Universums zu begreifen, um es in verkleinerter Form in „architektonischen Proben“ nachzuahmen.476  Auch diese Äußerung könnte ein Reflex der Wolfenbütteler Aktivitäten sein, in denen Leibniz die bei Perrault gemachte Erfahrung der gestaltenden Kraft von Zeichnungen und Modellen selbst umsetzen konnte.

  „comme des petits dieux, qui imitent le grand Architecte de l’univers, quoique ce ne soit que par l’employ des corps et de leur loix“ (AA, VI, 6, Nouveaux Essais, IV, 3, §27, S. 389, Z. 18–20; Übers. nach Leibniz, 1985, Bd. III/2, S. 311). 474   Vgl. Rüfner, 1955, S. 264–267 und Ohly, 1982; vgl. zu Leibniz: Albus, 2001, S. 149ff. 475   Kreul, 1995, S. 312. 476   „echantillons architectoniques“ (Leibniz, 1998, Monadologie, § 83, S. 58f.). 473

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VIII  Zeichnungen und Entwürfe

4. Ikonographische Entwürfe für Medaillen und Zeremonien Auch Vorschläge für Embleme, Medaillen, Aufzüge, Monumente und andere Gattungen der Gestaltung, wie er sie mit Perrault diskutiert hat, durchziehen Leibniz’ Berufsleben, weil er als Fachmann für die gesamte Bildung immer wieder aufgefordert wurde, sich zu Fragen und Projekten der bildlichen Repräsentation zu äußern. Diese Tätigkeiten bilden ein eigenes, weitgehend unerforschtes Feld.477  Bei seiner Vorstellung bei Kaiser Leopold I. im Jahre 1688 führte er sich mit dem Vorschlag ein, eine Silbermünze zu prägen, die auf einer Seite das Bild des Kaisers mit dem blitzbewehrten Jupiter-Adler und dem Spruch „fero tela Tonantis“ tragen und auf der Gegenseite mit dem Portrait Innozenz’ XI. eine Taube mit Olivenzweig sowie den Spruch „fero coelestia dona“ zeigen sollte.478  Diese Tätigkeit als Ikonograph ist zunächst ein Einzelbeispiel, läßt sich in Bezug auf Leibniz’ vierzigjährige Aktivitäten für den Hof von Hannover aber durchgängig verfolgen. Unter seinen hannoveraner Entwürfen wurde zumindest die möglicherweise 1681 geschlagene Medaille von Herzog Ernst August ausgeführt, die auf der Vorderseite das Portrait des Herzogs trägt. Auf dem Revers sah Leibniz ein in Schranken laufendes Wildpferd vor, das unter dem Motto UNUS AMOR PALMAE auf die mit einem Stern und den Waffen der Braunschweiger besetzte Säule des Ruhmes zuläuft, um anzuzeigen, daß sich das Braunschweiger Wappenpferd in den Schranken der Gerechtigkeit bewegt (Abb. 72). Auf dem Wappenschild ist zu­gleich ein Pferd mit dem Motto „Sola bona quae honesta“ (Gut ist allein, was ehren­haft ist) vorgesehen.479  Durch seine Sinngebung hat Leibniz in die Repräsentation des Herrschers auch die an ihn selbst gerichtete Verpflichtung des Allgemeinwohls eingetragen. Wie genau Leibniz auch die formale Übersetzung überwachte, wird an seinen im Jahre 1699 formulierten Kommentaren zu Samuel Lambelets Probeprägung einer von ihm selbst entworfenen Gedenkmedaille für die Hochzeit der Prinzessin Wilhelmine Amalie mit dem römischen König Joseph I. deutlich (Abb. 73).480 Leibniz kritisiert die zu kleine Erscheinung der Sonne, die den Gemahl hinter dem stets mit einer größeren Sonne repräsentierten französischen König rangieren lassen würde.481  In einem zweiten Brief fordert er zudem, die Strahlen der Sonne nicht   Das Thema kann hier nur angedeutet werden. Utermöhlen, 1999, S. 224–226 hat das Feld abgesteckt, in dem Leibniz als Erfinder von Motti und Devisen, Medaillen, Bildpro­gram­ men und zeremoniellen Formen tätig war. 478   Ausführliche Aufzeichnung für den Vortrag bei Kaiser Leopold I., in: AA, IV, 4, Nr.  8, S. 60, Z. 14 – S. 61, Z. 4; vgl. AA, IV, 3, Nr.  5, S. 29, Z. 7–14. 479  AA, IV, 4, Nr.  79, S. 429ff., hier: 431, Z. 2–13; Fiala, 1913, Nrn. 2252f., S. 355f.; Brockmann, 1987, Nr. 691: 1676. 480   Brockmann, 1987, Nr.  664, S. 60. 481  AA, I, 17, Nr.  9, S. 13, Z. 9–13. 477

4.  Ikonographische Entwürfe für Medaillen und Zeremonien

Abb. 72. Levin Zernemann, In Schranken laufendes Wildpferd, Medaille nach Entwurf von G. W. Leibniz, 1681 (?), Niedersächsi­ sches Münzkabinett der Deutschen Bank, Hannover, Nr. 03.036.001 Abb. 73.  Samuel Lambelet, Medaille auf die Hochzeit von Prinzessin Wilhelmine Amalie mit Joseph I., 1. Fassung, 1699, Niedersäch­ sisches Münzkabinett der Deutschen Bank, Hannover, Nr. 03.035.005 Abb. 74.  Samuel Lambelet, Medaille auf die Hochzeit von Prinzessin Wilhelmine Amalie mit Joseph I., 2. Fassung, 1699, Niedersäch­ sisches Münzkabinett der Deutschen Bank, Hannover, Nr. 03.035.003

allein als Linien, sondern als kräftige Flammen zu bilden. Der Regenbogen solle entsprechend mit mehr Licht und Glanz ausgestattet, vom Erdboden leicht abgehoben und von einer vorbeiziehenden Regenwolke begleitet werden. Schließlich bemängelt Leibniz, daß der Anker der Hoffnung, auf den sich die Verkörperung der Donau als Zeichen des SPEM TERRIS stützen soll, nur schwach angedeutet sei, so daß der Gesamtsinn „sehr verdunkelt“ wäre.482  Die schließlich ausgeführte Fassung hat sämtliche Einwände behoben (Abb. 74).483  Daß in den Schreiben mehrfach eine Entwurfszeichnung erwähnt ist, an die sich der Medailleur nicht gehalten habe,484  zeigt nochmals, wie genau Leibniz die Ausführung kontrolliert hat. Für Pierre Drevets großformatigen Portraitkupfer­ stich des Kurfürsten Ernst August von 1704 hat Leibniz eine eigenhändige Skizze  AA, I, 17, Nr.  22, S. 29, Z. 10 – S. 30, Z. 3.   Brockmann, 1987, Nr.  663, S. 59. 484  AA, I, 17, Nr.  22, S. 29, Z. 8, 14. 482 483

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VIII  Zeichnungen und Entwürfe

Abb.  75.  Johann Georg Lange, Der im Schlaf wachende Löwe, Emblemtafel für das Castrum doloris von Herzog Johann Friedrich, Entwurf von G. W. Leibniz, Stich, 1680, entn. aus: Bepler, 1995, Abb.  20

geliefert, die allerdings verlorengegangen ist.485  Erhalten sind aber Zeichnungen von Leibniz’ Hand für die aufwendige Beisetzung von Herzog Johann Friedrich im April 1680. Für die Zeremonien, welche die dynastische Sicherung des neuen Herzogpaares stützen sollten, hat Leibniz die Ausstattung der hannoveraner Hofkirche und des dort aufgestellten Castrum doloris entworfen und durch den Architekten Hieronymo Sartorio sowie den Kupferstecher Johann Georg Lange ausführen und im Druck festhalten lassen.486  Hierzu gehören auch die Emblemtafeln des Castrum doloris, von denen zehn das Motto des Herzogs, Ex duris gloria, sowie Palmenmotive variierten. Die vier zu Füßen der Architektur situierten, den Braunschweiger Löwen zeigenden Embleme wurden von Leibniz entworfen und im Tafelwerk durch seine Initialen GGL markiert.487  Einer dieser Löwen repräsentiert das Prinzip des selbst im Schlaf wachenden und treuen Raubtieres (Abb. 75), wie es im Physiologus charakterisiert worden war.488  Unter den erhaltenen Skizzen befindet sich auch Leibniz’ Entwurf für das Titelblatt des Tafelwerkes (Abb. 76).489  Er zeigt die doppelstöckige Anlage eines  AA, I, 17, Nr.  181, S. 285, Z. 16ff.   Bepler, 1995, S. 188. 487   Bepler, 1995, S. 189. 488   Der Physiologus, 1960, Nr.  1, S. 3f. 489   Bepler, 1995, S. 189. 485

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4.  Ikonographische Entwürfe für Medaillen und Zeremonien

Triumphbogens, dessen Mittelteil durch zwei Säulen abgetrennt und von zwei Seitenflügeln gerahmt wird, die außen durch Pilaster abgeschlossen werden. Sie tragen gemeinsam mit den Kapitellen der Säulen ein Gesims, über dem sich ein gesprengter Giebel als oberer Abschluß erhebt. Die figürliche und inschriftliche Ausstattung ist in der Mittelachse durch das Tuch mit der Bezeichnung des Verstorbenen, darüber dem Ehrenobelisken und seitlich fliegenden Wesen, die den Vorhang zurückziehen, und über dem Gesims mit einem Palmenhalter samt Baum angedeutet. Die Seitenflächen sind unten durch zwei Sitzfiguren, im Hauptteil durch zwei stehende Figuren, von denen die Linke die Waage der Justitia zu erkennen gibt, und oben durch zwei Sockelfiguren und zwei Gestalten skizziert, die nach dem Vorbild von Michelangelos Medici-Gräbern auf den Segmenten des Sprenggiebels lagern. Die Ausführung durch den Kupferstecher Johann Georg Lange weicht in einigen Punkten von der Vorlage ab (Abb. 77). Das tragende Sockelgeschoß ist zur bloßen Stütze der Säulen und Pilaster zurückgenommen, so daß der Raumgewinn dem Sarkophag mit der Ehrenpyramide zu Gute kommt, und die Stützen der Seitenfiguren haben eigene Maskenvorlagen bekommen, wie sie vom Julius-Grab Michelangelos her bekannt waren. Schließlich sind auch die Totenschädel zwischen den Kapitellen der Pilaster und Säulen in der Vorlage nicht zu finden. Die übrigen Motive sind ikonographisch definiert. Zwischen den Sockeln sitzen zwei trauernde Herkulesgestalten, den Sarkophag tragen die Braunschweiger Wappenlöwen, zu Füßen der Pyramide sitzen zwei Pleurants, während ihre Gegengestalten als Genien die Vorhänge öffnen und das Licht ewigen Ruhmes zum Wappen und zur Inschrift des Monumentes führen. Außen zeigen sich die Tugenden der Barmherzigkeit und der Gerechtigkeit, die auf den Segmenten des Spreng­ giebels durch die Schwestertugenden der am Säulenstumpf erkennbaren Stärke und der den Spiegel der Selbsterkenntnis nutzenden Klugheit komplettiert werden. In der Mitte erhebt sich aus dem Sinnspruch des Herzogs Ex Duris Gloria die Palme des Ruhmes, während links außen der Genius des Todes die Fackel des Lebens löscht und der gegenüber positionierte Genius die Balance des Überlebens der Früchte des Ruhmes verkörpert. Die Genauigkeit dieser Details legt nahe, daß sich der Künstler über die Skizze hinaus mit Leibniz ausgetauscht hat. Der Stil von Leibniz’ Entwurf beeindruckt in seiner unprätentiösen Sicherheit. Ohne auch nur den Versuch zu machen, eine dem ausführenden Künstler entgegenkommende Fassung herzustellen, hat Leibniz seine Skizze offenbar in Sekunden, mit an einigen Stellen sich spaltendem Federkiel, auf das Papier geworfen. Daß er sich gleichwohl der Bedeutung seines Entwurfes bewußt war, bezeugen seine Signatur und das „scripsit et invenit“ am rechten unteren Rand des Blattes. Als Herzog Ernst August, der den Auftrag zu den Funeralzeremonien und -ausstattungen gegeben hatte, im Jahre 1698 starb, hat Leibniz auch für ihn ein Grabmonument vorgeschlagen, von dem allerdings nur die schriftliche Fassung

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VIII  Zeichnungen und Entwürfe

Abb. 76. G. W. Leibniz, Entwurf für das Grabmonument von Herzog Johann Friedrich, Feder­ zeichnung, 1680, Hannover, Niedersächsische Landesbibliothek, MS XXIII, Nr. 30, Nr. 365

4.  Ikonographische Entwürfe für Medaillen und Zeremonien

Abb. 77.  Johann Georg Lange, Justa Funebra von Herzog Johann Friedrich, Stich nach Entwurf von G. W. Leibniz, vermutlich 1680/81, Stich, in: Justa Funebria, 1685; entn. aus: Bepler, 1995, Abb.  12

vorliegt. An den vier Ecken sollte der Piedestal durch die vier Wappenfiguren des Welfenhauses in Form des Löwen, des Pferdes, des Waldmenschen und des Adlers getragen werden, und an den Seiten sah der Entwurf mit dem Rhein, der Elbe, der Donau und der Loire vier Flüsse vor, an denen der Herzog gekämpft hatte. Über den durch Götter, Urnen, Karten und Orten charakterisierten Flüssen sollte sich die Statue des Herzogs mitsamt Ornamenten, Waffen, Trophäen und Inschriften erheben, und schließlich, so Leibniz, wäre von diesem Monument auch eine entsprechende Medaille samt Vierzeiler zu schlagen.490  All diese Vorschläge waren mehr als nur eine Pflichtaufgabe. Wie stark Leibniz auf die Möglichkeiten setzte, Ideen im Gegenüber des Visuellen und Haptischen zu gewinnen, bezeugt sein Versuch, einen Bilderatlas zu entwerfen, in dem auch die Embleme einen allgemeinen Fundus erhalten sollten. 490

  Leibniz, 1843–47, Bd. 4, 1847, S. 85.

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IX DER BILDERATLAS ALS LEBENDIGE BIBLIOTHEK 1. Pariser Vorbilder Die Idee eines allgemeinen Bilderatlas speist sich aus vielfältigen Wurzeln. Entscheidende Impulse hat Leibniz aber während seines Aufenthaltes in Paris erhalten, woran auch in diesem Fall Claude Perrault beteiligt war. Im Dezember 1672 hat er Kurfürst Johann Philipp von Mainz aus Paris berichtet, daß die wirklich wichtigen, die Wißbegierde anstachelnden Eindrücke nicht bei den „Belles lettres“, sondern den „Philosophica, Mathematica, Physica, Me­dica“ zu finden seien,491  denn in der königlichen Bibliothek könnte naturwissenschaftlich experimentiert werden, der königliche Garten sei ebenfalls der Forschung zugänglich, und das mit guten Instrumenten ausgestattete Observatorium sei im Bau.492  Dieses Urteil gründete sich vor allem auf die Errichtung der zunächst aus der Sektion der Mathematik sowie aus der physikalischen Abteilung mit Chemie, Physiologie, Anatomie und Botanik bestehenden Académie Royale des Sciences. Sie war im Jahre 1666 geschaffen worden, um namhaften Wissenschaftlern die Möglichkeit zu geben, die angewandte Forschung an einem zentralen Ort durchzuführen, der die Zusammenziehung aller staatlichen Organisationen um den königlichen Hof spiegelte. Bis zu ihrer Überführung in den Louvre im Jahre 1699 war die Akademie in der 24 Stunden am Tag benutzbaren königlichen Bibliothek untergebracht. Hinzu kamen der Garten und als einziger Neubau die Sternwarte, die nach den Plänen Claude Perraults errichtet wurde (Abb. 78). Als ein allein der Wissenschaft dienender Neubau wurde dieses Gebäude als Verwirklichung von Bacons salomonischem Tempel erachtet, und auf dem Titelblatt von Perraults Vitruv-Ausgabe residiert es wie eine Himmelserscheinung hoch über Paris (Abb. 61). Auch die zu erwartenden Ergebnisse der Akademie waren mit Perrault verbunden: „Meines Erachtens werden wir von der Akademie bald etwas Gedrucktes über die Pflanzen bekommen, in dem nichts als ihre eigenen neuen Experimente berich AA, I, 1, Nr.  203, S. 296, Z. 15–17.  AA, I, 1, Nr.  203, S. 297, Z. 7–27 (Observatorium); S. 297, Z. 28 – S. 298, Z. 3 (Garten); S. 298, Z. 4–8 (Bibliothek). 491

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1. Pariser Vorbilder

Abb. 78.  Sébastian Le Clerc, Claude Perraults Observato­rium, Stich, in: Perrault, 1673, Taf. III, entn. aus: Petzet, 2000, Abb. 267

tet wird, damit wir von vielen Fabeln der Alten, die den Pflanzen lauter Wunderwerke zugeschrieben haben, so daß ihnen zufolge jede Pflanze eine Panazee wäre, befreit werden sollen. Den Pflanzen werden Tiere folgen, denn eine beträchtliche Zahl allerhand seltener Tiere werden in der Akademie seziert, sobald eines dem König verstorben ist. Sonst ist das Laboratorium eben so sonderlich nicht. Ich zweifle nicht, daß man aus den Skeletten so vieler Tiere ein Theatrum anatomicum errichten werde.“493  Leibniz bezog sich hier auf die im Jahre 1671 erschienene 493   „Ich halt dafür, wir werden balt etwas von der Academie in druck bekommen de plantis, darin nichts als ihre eygne neue experimenta erzehlet und wir von vielen fabeln der Alten, die lauter miraculosa den plantis zugeschrieben, daß wenn es ihnen nachgehen solte, jede planta eine panacaea were, befreyet werden sollen. Den plantis werden animalia folgen, denn eine quantität von aller-hand raren thieren, sobald eines dem König abgestorben, in der Academie anatomirt werden. Sonst ist das laboratorium eben so sonderlich nicht. Ich zweifle nicht, daß man auß so vieler thiere sceletis ein theatrum anatomicum formiren werde“ (AA, I, 1, Nr.  203, S. 297, Z. 31 – S. 298, Z. 3).

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IX  Der Bilderatlas als lebendige Bibliothek

Abb. 79.  Sébastien Le Clerc, Biber, Radierung, 1671, in: Per­raut, 1671, entn. aus: Picon, 1988, Abb. 45

Abb. 80.  Sébastien Le Clerc, Blutüber­ tragung bei Hunden, Radierung, in: Per­rault, 1680–88, Bd. IV, Fig. 1, entn. aus: Picon, 1988, Abb. 22

Akademieschrift Memoires pour servir à L’Histoire Naturelle des Animaux und die in Aussicht stehenden Nachfolgebände. Der Verfasser des Bandes über die Tiere war Claude Perrault, während als Zeichner und Radierer Sébastien Le Clerc auftrat. Seine zahllosen Radierungen, die ihn zu einem ersten Bildenzyklopädisten werden ließen, konfrontieren dem unten gezeigten natürlichen Umfeld der Tiere im oberen Teil die Bildprotokolle der Sektionen (Abb. 79). Nicht weniger eindrucksvoll waren die Wiedergaben der Versuchsanordnungen (Abb. 80). Das Titelblatt von Perraults Werk über die Tierwelt mit den Radierungen Le Clercs zeigt einen fiktiven Besuch von Ludwig XIV. und seinem ersten Minister Colbert in einem imaginierten Gebäude der Akademie (Abb. 81). Durch das Fenster fällt der Blick auf den Garten und das im Bau befindliche Observatorium, denen im Inneren die wissenschaftlichen Instrumente und Geräte sowie die Karten und Skelette korrespondieren. Leibniz’ Betonung der anatomischen Forschungen wird auch in der Titelvignette der Histoire Naturelle des Animaux von 1671 unterstrichen, auf der eine Sektion seitens der Anatomen der Akademie sowie die Arbeit des Illustrators festgehalten sind (Abb. 82). Auf dem Tisch wird ein Fuchs seziert, während an der gut

1. Pariser Vorbilder

Abb. 81.  Sébastien Le Clerc, Besuch von Ludwig XIV. und Jean Baptiste Colbert in einem imaginierten Gebäude der Akademie der Wissenschaft, Radierung, 1671, in: Perrault, 1671, Fron­tis­piz, entn. aus: Picon, 1988, Abb. 26

Abb.  82.  Sébastien Le Clerc, Sektion eines Fuches in der Akademie der Wissenschaft in Beisein des Künstlers, Radierung, 1671, in: Perrault, 1671, Titelvignette; entn. aus: Picon, 1988, Abb.  31

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IX  Der Bilderatlas als lebendige Bibliothek

beleuchteten Fensterbank ein Forscher das Mikroskop benutzt und rechts der Künstler ein gezeichnetes Bildprotokoll zur Diskussion stellt. Leibniz’ Bericht wirkt, als habe er diese Illustrationen des Prachtwerkes vor Augen gehabt und mit der mündlich erfahrenen Aussicht auf ein Werk der Pflanzenkunde kombiniert. Bei dieser Vorlage dürfte es sich um Denis Dodarts Mémoires pour servir à L’Histoire des Plantes handeln, das 1676 mit Illustrationen von Abraham Bosse herauskam.494  Diese höchst anspruchsvollen Abbildungen stehen im Rahmen der großen, von Colbert im Februar 1670 initiierten Visualierungskampagne, zu der die Bildpu­bli­ kationen der Akademie der Wissenschaften gehörten.495  Sie bilden die ersten res ipsae, die Leibniz die Idee eines Bilderatlas gaben. Auf die Idee dieses Atlas Universalis ist Leibniz vor allem aber durch die Sammlung des Michel de Marolles, Abbé de Villeloin, gestoßen. Als bedeutendster Graphiksammler seiner Zeit hatte dieser den überwiegenden Teil seiner ersten Kollektion von fast 125.000 Stichen und Radierungen im Jahre 1667 durch Vermittlung von Colbert an Ludwig XIV. verkauft,496  um danach eine zweite, kaum weniger anspruchsvolle Sammlung aufzubauen, die im Jahre 1678 ebenfalls zum Verkauf stand. Es war daher kein Zufall, daß Leibniz seine Idee eines Bilderatlas im Herbst 1678 entwickelte. Im Juli 1678 hatte ihm sein Vertrauter Hansen von der Möglichkeit berichtet, die zweite Sammlung des Marolles zu erwerben: „Herr Abbé de Villeloin hat mir den Band gezeigt, in dem sich zahlreiche Portraits der fähigsten Mediziner befinden, unter denen es phantasievolle, aber auch andere gibt, die naturgetreu sind, deren Originale man noch am Leben sehen kann. Ich glaubte zu bemerken, daß diesem Band keine zu große Wertschätzung entgegengebracht wird. Aber während ich mit ihm zu verhandeln beginne, sagt er mir, daß er sich von seinem Kabinett gern trennen will, oder zumindest von der Mehrzahl der Bücher, die sich dort finden, von denen mehr als 300 voller Zeichnungen und Stiche sind; er habe aber keine Lust, sie einzeln zu verkaufen. Hätten Sie die Güte, mich zu benachrichtigen, was ich für Euren Freund tun kann?.“497  Im September desselben Jahres wiederholte Hansen, daß Marolles in großem Stil verkaufen wollte.498  Im August des folgenden Jahres 1679 kam Hansen nochmals auf Marolles zurück: „Der Herr Abbé Marolle (…) hat viel über die Geschichte der Künste geschrieben, und er spricht viel von jenen, die dazu beigetragen haben, sie zu ver-

  Picon, 1988, Abb. 28, S. 49.  Erlaß von Colbert, in: Jammes, 1965, S. 6. 496  Schnapper, 1994, S. 247f., 251–253; Collections de Louis XIV, 1977/78, z. B. Nrn. 91, 92, 94, 113, 130, 345; Brakensiek, 2003, S. 20–23; S. 26ff. bietet Brakensiek eine umfassende Analyse der Marollschen Sammlung vor dem Verkauf. 497  AA, I, 2, Nr.  334, S. 353, Z. 23–29; AI, 9, Z. 1–8. 498  AA, I, 2, Nr.  350, S. 367, Z. 16–19; AI, 10, Z. 1–2. 494 495

1. Pariser Vorbilder

bessern. Ich habe ihm bestätigt, daß viele Gelehrte wünschen und darauf drängen, daß sein Buch gedruckt werde. Er hat mir versprochen, daß er seine Papiere ordnen und sie dem Drucker übergeben wird.“ Hansen wird sich auf Marolles Livre des peintres et graveurs, das in den siebziger Jahren herauskam, bezogen haben. Wichtiger aber waren ihm erneut die Verkaufsabsichten des Abbé: „In seinem Kabinett gibt es ziemlich gute Sachen, und da er mit seinen 80 Jahren recht kränklich ist, wäre es zu wünschen, daß seine Bibliothek und seine Papiere nicht in die Hände von Ignoranten fielen.“499  Hansens Berichte haben ihre Wirkung nicht verfehlt. Leibniz’ im Jahre 1680 entwickeltes Konzept eines Bilderatlas läßt zwischen den Zeilen das Ziel erahnen, die zweite Sammlung des Abbé zu erwerben und damit als Sammler in die Fußstapfen des Sonnenkönigs zu treten. Für den Bilderatlas, so beginnt die Aufzählung, „werden vor allem Bücher, die ihre Lehrsätze durch Bilder illustrieren, benötigt; und ebenso Sammlungen von Bildern, die sich bei Kennern befinden, wie Marolles und anderen.“500  Auch im Consilium von 1679 spricht er die Sammlung „Marollii Abbatis Villelongani“ als „wunderbares“ Beispiel an,501  und dasselbe gilt für die Lebensregeln der Agenda, in denen Leibniz als Beispiel von Bildersamm­lun­gen, durch deren Benutzung die Einbildungskraft geschult werden könne, die Sammlung des Abbé als ein Vorbild aufführt.502  In Leibniz’ bereits mehrfach angesprochenen, vermutlich Ende Januar 1680 für den neuernannten Ersten Minister Franz Ernst von Platen verfasstem Hannoveraner Bibliothekskonzept äußerte er ohne Umschweife seinen Wunsch, die Sammlung Marolles zu erwerben: „Nun ist mir ein Mann in Paris bekannt, welcher mit unglaublichem Fleiß viele Tausend auserlesene Drucke und Crayons gesammelt und so nach den Stoffen eingeteilt hat, daß sie in vielen Bänden enthalten sind; ich glaube nicht, daß dergleichen auf der Welt nochmals zu finden ist; und sollte dieses herrliche Werk verstreut werden, so wäre es ein irreparabler Schaden. Der Mann ist nunmehr alt und bereit, es zu verkaufen.“503  Noch Jahrzehnte später, in seiner an den Zaren gerichteten Denkschrift von 1716, hat sich Leibniz der Sammlung von Marolles als Modell des Atlas Universalis erinnert. Zu der in St.Petersburg einzurichtenden Bibliothek sollen ihm zufolge auch „Figuren, Holz und Kupferstiche in grosser Menge“ gehören, wie „in der Königl. französischen Bibliothek etliche 100 vol. befindlich blos von figuren und Rissen, darin alles was sonst mit Worthen gegeben auch den Augen vorgestellet

 AA, I, 2, Nr.  499, S. 506, Z. 31–S. 507, Z. 1; AI, 14.  AA, VI, 4, A, Nr.  31, S. 87, Z. 1f.; AI, 12, Z. 10–11. 501  AA, IV, 3, Nr.  116, S. 795, Z. 14f.; AI, 18, Z. 2–3. 502  AA, IV, 3, Nr.  136, S. 898, Z. 12f.; AI, 19, Z. 8–9. 503  AA, I, 3, Nr.  17, S. 17, Z. 7–12; AI, 21, Z. 2–6. Vgl. Ennenbach, 1978, S. 28ff.; Böger, 1997, Bd. I, S. 142ff. 499

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IX  Der Bilderatlas als lebendige Bibliothek

wird.“504  Auch diese Äußerungen beziehen sich auf die Sammlung Marolles, die wie eine Fata Morgana Leibniz’ Hoffnungen auf einen Bilderatlas begleitete.

2. Die Konzepte des Bilderatlas Es war die Information über die zum Verkauf stehende Sammlung Marolles, die Leibniz bewegte, den Gedanken an einen Bilderatlas zu fassen. Seine Überlegungen hat er im Herbst 1679 gebündelt, als er mit einer Reform des Buchwesens beschäftigt war. In den sechs Texten zur Etablierung der halbjährlich erscheinenden Literaturzeitschrift Semestria Literaria hat er den Plan einer Encyclopaedia Univer­salis aller Bücher entfaltet, um mit deren Hilfe das Weltwissen übersichtlich zusammenzufassen und verfügbar zu machen.505  Hierzu gehörte die systematische Erfassung von Manuskripten und Nachlässen sowie ein System knapper, präziser Exzerpte aller Schriften, um mit deren Hilfe neue Überlegungen und Erfindungen ohne die üblichen Mißverständnisse und Ungenauigkeiten zu begründen. Dem Versuch von Thomas Hobbes vergleichbar, die Wissensvermittlung und die Suche nach Neuem aus den Leidenschaften kontroverser Interpretationen zu lösen, ging es Leibniz um die Erfassung des unbestreitbaren Kerns jeder Aussage, der als Baustein einer universal gültigen Kombinatorik genutzt werden könnte. Von Beginn an versuchte Leibniz jedoch, neben der Schrift gerade auch das Bildmedium zum Gegenstand der Enzyklopädie zu machen. Er hatte erstmals im Herbst 1678 über einen „einzurichtenden Universalatlas oder auch die beständige Arbeit durch Figuren, und über das Theater der Natur und Kunst“506  gesprochen und in einem Atlas Universalis betitelten Text unterstrichen: „Mir kommt aber in den Sinn, daß die gesamte Enzyklopädie durch einen gleichsam universalen Atlas vorzüglich erfasst werden kann. Zuerst nämlich kann fast alles, was gelehrt und gelernt werden muß, den Augen unterbreitet werden.“507  Entsprechend schließt der erste der Universalenzyklopädie gewidmete Text, dem Unternehmen solle ein solcher „Atlas Universalis beigegeben werden; ein Werk von wunderbarem Nutzen, durch dessen sämtliche Tafeln wie auch Figuren das menschliche Wissen auf nützliche Weise vorgezeigt, im Abriß dargestellt und den Augen unmittelbar unterbreitet werden kann.“508  Angesichts ihrer Materialfülle, so fährt Leibniz in einer weiteren Fassung fort, sollten Bücher auf den jeweiligen Kern und Ursprung reduziert und einer logi  Guerrier, 1873, Nr.  240, S. 349f.; AI, 66, Z. 4–7.   Böger, 1997, Bd. I, S. 122ff. Zum Begriff der „Enzyklopädie“, der bei Leibniz weniger auf Vollständigkeit im Sinne des neunzehnten Jahrhunderts als vielmehr auf eine umfassende qualitative Erschließung des Wissens gerichtet war: Dierse, 1977, S. 25–35. 506  AA, VI, 4, A, Nr.  29, S. 81, Z. 18f.; AI, 11, Z. 1–2. 507  AA, VI, 4, A, Nr.  29, S. 81, Z. 18–20; AI, 11, Z. 1–4. 508  AA, IV, 3, Nr.  116, S. 781, Z. 18–20; AI, 15, Z. 1–3. 504 505

2.  Die Konzepte des Bilderatlas

schen, analytischen und zugleich imaginativen Ordnung, die schnell und übersichtlich zu begreifen und weiterzudenken ist, eingepaßt werden. Diese Eigenschaften brächte ein Atlas Universalis aber von sich aus mit. Es handle sich um „ein Werk von vortrefflichem Nutzen“, durch das die Bilder in lustvoller Leichtigkeit und „wie in einem Blick, ohne Umschweife der Worte, durch das Sehorgan dem Gemüt vorgebildet und kräftiger eingedrückt“ werden können.509  Diese Anweisung komprimiert Leibniz’ Theorie des intuitiven Blickes, der als coup d’oeil die Kontingenz unabschließbarer Bedeutungselemente zu erfassen vermag und darin allen anderen Formen der Stimulierung des Denkens überlegen ist. Auch das Doppelspiel von Vorbildern und Eindrücken bildet eine Essenz von Leibniz’ Perzep­ tions­theorie, derzufolge ein Einprägen von Bildern nicht wie in eine Wachstafel geschieht, sondern als Anreizung der Eigenbewegung des Gehirns. Nach der dichten Zusammenfassung der folgenden Propositio, die den Atlas Universalis an zweiter Stelle nennt,510  entfaltet schließlich mit dem Consilium der letzte der Texte, die der Einrichtung einer Universalenzyklopädie von Büchern gewidmet sind, die Methodologie des gesamten Unternehmens. Er endet mit einer Kurzcharakterisierung des Atlas Universalis, der sich ein Lob des Sammelns als haptischer Korrespondenz zum Sehen der Augen anschließt. Leibniz zufolge sind „[…] zahlreiche Objekte aus Natur und Kunst der Neugierde in Schatzkammern und in Museen zu sammeln, zu ordnen und zu bewahren, damit in Sternwarten, Laboratorien, Bergwerken, Gärten, zoologischen Gärten und Rüstkammern neue Experimente durchgeführt werden und die erfassten nach der bereits begründeten Enzyklopädie als Ergänzung hinzugefügt werden können.“ Erneut führt Leibniz hier das Ensemble von Museen, Gärten und Laboratorien auf, um es mit dem bekennerhaften Schluß zu untermauern: „Ich sehe nichts, was das menschliche Streben umfassender vorstellen könnte.“511  Als abschließende Äußerung von Überlegungen, welche die Idee einer Universalenzyklopädie von Büchern zum Ziel haben, ist diese methodologische Moral nicht ohne Ironie. Das Buchwissen wird nachgerade zu einem Hilfsme­dium, das Verwendung findet, weil die taktilen und optischen Träger des Wissens nicht überall zur Verfügung stehen. Seine Wertschätzung der Bilder hat Leibniz selten so klar wie in diesen Projektpapieren zur Gründung einer enzyklopädischen Buchzeitschrift definiert und mit Ansätzen einer Perzeptionstheorie verbunden. Bilder sind ihm zufolge geeignet, Informationen in höherer Geschwindigkeit und größerer Schönheit als Texte zu vermitteln, und vor allem erlauben sie eine besondere Effizienz des Lernens.

 509 AA, IV, 3, Nr.  116, S. 785, Z. 1–8; AI, 16, Z. 10–18.  510 AA, IV, 3, Nr.  116, S. 788, Z. 13f.; AI, 17, Z. 2–3.  511 AA, IV, 3, Nr.  116, S. 795, Z. 17–20; AI, 18, Z. 6–9.

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IX  Der Bilderatlas als lebendige Bibliothek

Kurze Zeit nach diesen Ausführungen versuchte Leibniz im Januar 1680 in dem bereits mehrfach zitierten Memorandum, in dem er unter anderem auch eine knappe Theorie der Kunstkammer entwickelte,512  den Ersten Minister Franz Ernst von Platen von der Notwendigkeit zu überzeugen, das Buch der Welt weniger in Schriften als in Bildern und Sammlungsobjekten zu begreifen und zu vermitteln. Der Bilderatlas, so heißt es im zweiten Abschnitt, „kann eine ganze Bibliothek aufwiegen, und man findet darin die Bildnisse fast aller berühmten Personen in der Welt, die Repräsentationen unzähliger Einzüge und öffentlicher Zeremonien. Ein ganzes Theatrum naturae et artis: Jagden, Schiffahrten und Unwetter, Schlachten und Festungen, Paläste, Gärten, Landschaften, unzählige Hieroglyphen, Capricen, Ornamente, Devisen, Symbole, und insgesamt alles, was an Wahrheiten und Fabeln Schmückendes in die menschlichen Gedanken kommen kann. Könnte man dieses Werk haben, so hätte man sicherlich einen Schatz und eine unerschöpfliche Quelle unzähliger Berichte, deren man sich nicht nur bei Fürstlichen Lustbarkeiten, Aufzügen, Maskeraden, Turnieren, sondern auch vielmehr bei Gebäuden, Gartenwerck, Maschinen, und vielen Begebenheiten bedienen könnte. Summa man könnte eine solche Kollektion wohl eine lebendige Bibliothek nennen.“513  In einer für einen Bibliothekar geradezu berufsschädigenden Weise ist hier der höhere Wert der Ikonothek gegenüber der Bibliothek mit der Kategorie der Lebendigkeit begründet. Allein schon die figurative Form der Tafeln und Abbildungen und ihre alle Lebensbereiche umfassenden Themen führen Leibniz dazu, hier „ein ganzes Theatrum naturae et artis“ zu erkennen, das eine Bibliothek auszustechen vermag. Der Oberbegriff des Theaters wird zur Bezeichnung einer Sammlung von Stichen, weil diese Bilder die unterschiedlichen Wissensbereiche in der ihnen eigenen Lebendigkeit zu repräsentieren vermögen. Diese Idee hat Leibniz bis an sein Lebensende vertreten. So hat er in seinem 1685/86 verfassten Text zur Prinzenerziehung den Passus aufgenommen: „Ich würde die Kunsttafeln nachhaltigst empfehlen, sofern solche erhältlich sind, und ich habe mir schon oft gewünscht, daß man große Kupferstiche zeichnen und stechen ließe, gleich jenen, die in Atlanten vorkommen, welche mit einem Blick eine ganze Wissenschaft, Kunst oder Profession darstellen können.“514  Erneut markiert Leibniz hier den „einen Blick“, den er mit der intuitiven Schau verband, als deren Krönung Gottes coup d’oeil den Maßstab und das Ziel vorgab. Als er zwei Jahre später seine Audienz bei Kaiser Leopold I. in Wien erhielt, bot sich ihm die Gelegenheit, seine Überlegungen zu differenzieren, indem er die Zusammenstellung sowohl eines Atlas universalis Major wie auch eines besonders

 S. o. S. 26.  AA, I, 3, Nr.  17, S. 17, Z. 12–21; AI, 21, Z. 6–18. 514  AA, IV, 3, Nr.  68, S. 551, Z. 19–22; AI, 24, Z. 2–6. 512 513

2.  Die Konzepte des Bilderatlas

nützlichen Atlas universalis Minor, also eines Groß- wie Kleinatlas vorschlug.515 Zum Begriff des Großatlas, so erläuterte er in seinen ausführlicheren Aufzeichnungen, sei er sowohl durch Joan Blaeus elfbändiges geographisches Werk Atlas major, sive Geographica wie auch durch Kupferstichsammlungen, die in bis zu hundert Bänden zusammengefasst im Besitz von Bibliotheken und Privatpersonen seien, inspiriert worden; aus ihnen „könnte man einen Kern ziehen, und alles Besondere und Wissenswerte der Natur, Kunst und Geschichte in Figuren vorstellen und diese auch mit dienlichen Worten erläutern.“516  In einem zweiten Auszug könne man dann „einen universalen Kleinatlas verfertigen, der die nötigsten und nützlichsten Figuren und Erklärungen enthalten würde. Er wäre eine rechte Haupten­ zy­k lo­pädie, und allem vorzuziehen, was bisher dergleichen geschehen ist.“517  In einer weiteren Skizze seiner Rede vor dem Kaiser hat Leibniz diesen Kleinatlas auch als „ein kleines Handbuch für das tägliche Leben“ beschrieben, in dem „der Kern dessen, was die Menschen wissen müssen und am stärksten benötigen, in gewissen Figuren, Tabellen und Hauptmaximen, zu begreifen ist.“518  Er sei geeignet, die Menschen auf einfache Weise auf den Grund der Wissenschaften zu führen. Ohne die Unterscheidung in Groß- und Kleinatlas aufzunehmen, hat Leibniz im Jahre 1704 vor August dem Starken mit demselben Nachdruck in Dresden vertreten, die Prinzenerziehung nicht auf die Lektüre der klassischen Autoren zu beschränken, sondern einen Atlas Universalis aller Wissenschaften einzuführen, „denn es wäre sehr viel wichtiger, die Tafeln der Wissenschaften und der freien und angewandten Künste zu geben und ein Theater der Natur und Kunst zu errichten. Diese Tafeln würden in Figuren und in Kurzform alles enthalten, was darstellbar und wissenswert ist. Und nicht mehr als eine gesamte Wissenschaft dürfte auf einem oder zwei Stichen enthalten sein, wie es bereits auf Beispielen geschehen ist. Eine Sammlung dieser aus einer unendlichen Zahl bereits gefertigter Stiche ausgewählten Darstellungen würde mitsamt den Zusätzen dessen, was noch fehlt, einen Universalatlas geben, der ein wunderbarer Schatz wäre, um die Studien reicher und angenehmer zu machen.“519  In seiner letzten programmatischen Äußerung, dem im Jahre 1716 verfassten Konzept zur Verbesserung der Künste und Wissenschaften im Russischen Reich für Zar Peter I., ist Leibniz zu der Gliederung der Enzyklopädie zurückgekehrt, um diese nun in dreifacher Form als Groß-, Mittel- und Kleinenzyklopädie anzulegen. Die kleinere und die mittlere sollten aus Texten, Tabellen und sonstigen Erläuterungen des Wissenswerten, namentlich der Welt der Wissenschaften und Erfin AA, IV, 4, Nr.  7, S. 44, Z. 18; AI, 27, Z. 1–3.  AA, IV, 4, Nr.  8, S. 64, Z. 4–6; AI, 28, Z. 4–6. 517  AA, IV, 4, Nr.  8, S. 64, Z. 6–9; AI, 28, Z. 6–10. 518  AA, IV, 4, Nr.  6, S. 25, Z. 3–5; AI, 26, Z. 4–6. 519   Leibniz, 1768 [1989], Bd. V, S. 176; AI, 47, Z. 3–10. 515

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IX  Der Bilderatlas als lebendige Bibliothek

dungen bestehen, aber die Encyclopedia major wäre gleichbedeutend mit dem zuvor genannten großen Universalatlas: „Die Großenzyklopädie würde ich Uni­ver­ salatlas nennen, da sie auch mit vielen und nützlichen Figuren versehen sein und aus etlichen Bänden in Großformat bestehen müßte. Dergleichen Werk hat man noch nicht, aber es wäre jetzt vermittelst einer gut verfassten Sozietät zum Gelingen zu bringen.“520  Leibniz’ Schlußwort zur Einrichtung einer Enzyklopädie sieht vor, sie als einen umfassenden Bilderatlas zu etablieren.

3. Die Inventarisierung der Ikonologie Schließlich hat Leibniz in einem Atlas Universalis betitelten Text von 1678, in dem er einleitend erneut betont, daß dem Augensinn eine besondere Leistungsfähigkeit in der Lehre und Erfassung des Wissens eigne,521  systematisch zu begründen versucht, was er in seinen Denkschriften ansprach und forderte. Die Anordnung, wie ein solcher Atlas zusammenzustellen sei, bezieht sich auf illustrierte Bücher und bereits vorhandene Bilder- und Tafelsammlungen wie den Katalog des Marolles,522  aber in seiner systematischen Anlage bietet Leibniz’ Vorschlag nicht mehr und nicht weniger als ein erstes allgemeines System der Bildarchivierung. Le Clerc hat seine Atlanten einzelner Wissenschaften und Künste später im Idealbild der Vereinigung von Kunst und Wissenschaft zusammengefaßt (Abb. 83), auf dem einzelne Tafelwerke und Blätter jeweils bei den Forschergruppen ausgebreitet sind und die, wenn sie gesammelt würden, einen Atlas forschender und praktischer Tätigkeiten ergäben. An Hand von Le Clercs Radierung ist neben der Sammlung des Marolles daher imaginär nachzuvollziehen, was Leibniz im Auge hatte. Im Sinne einer globalen Erfassung von Astronomie, Geographie, Herrschaft und Kultur nennt Leibniz nach der „Topographie des Himmels“ und der „Topographie der Erde“ die heraldischen und genealogischen Tafeln, listet dann sämtliche Sprachen und Schriftformen auf und führt abschließend Tracht, Habitus und Kult der verschiedenen Nationen und Berufe auf.523  Der Vordergrund von Le Clercs Radierung wirkt, als habe er dieses Ensemble durch die Zusammenstellung der beiden Globen mit den heraldischen Tafeln realisieren wollen (Abb. 84). Die folgende Galerie berühmter Männer nimmt in der Tradition der uomini illustri herausragende Gestalten der Geschichte auf,524  die auch durch Münzbilder und Bauzeichen thematisiert werden. Eine Abteilung mit Münzen, Inschriften, Ringbildern,

  Guerrier, 1873, Nr. 240, S. 357f.; AI, 66, Z . 30–34.  AA, VI, 4, A, Nr. 31, S. 86, Z. 18–20; AI, 12, Z.4–5. 522   Marolles, 1666, S. 9ff.; vgl. Brakensiek, 2003, S. 38f., 83ff., 107, 117ff. und die Zusammenstellung des Kataloges von 1684, S. 550–553. 523  AA, VI, 4, A, Nr. 31, S. 87, Z. 6–20; AI, 12, Z. 15–29. 524  Riebesell, 1989, S. 112ff. 520 521

3.  Die Inventarisierung der Ikonologie

Abb. 83.  Sébastien Le Clerc, Die Akademie der Wissenschaften und der Schönen Künste, Radierung, 1698

Abb. 84. Geographen, Himmelsforscher, Heraldiker, Ausschnitt aus Abb. 83

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IX  Der Bilderatlas als lebendige Bibliothek

Abb. 85. Optiker, Architekten, Mathematiker, Ingenieure, Ausschnitt aus Abb. 83

Zeremonien und Ornaten sowie hieroglyphischen Zeichen, an die sich Cesare Ripas Iconologia anschließt, entwickelt das komplette Programm einer nicht-topographischen Antikenrezeption.525  Von den freien zu den angewandten Künsten fortschreitend, listet Leibniz die Mathematik mit der Perspektive und die zugeordnete Musik sowie die Architektur auf, um über die Militärarchitektur zu den Mitteln der Kriegskunst zu gelangen (Abb. 85). Maschinenbau leitet darauf zur Binnenwirtschaft und Agrikultur,526  welche wiederum den Übergang zu den Materialien und deren Veredelung bietet. Tuch, Stein, Holz, Glas und weitere Stoffe leiten zu den Malern, Bildhauern und Schreibern (Abb. 86), und über die Auseinandersetzung mit flüssigen Stoffen wie gußfähigen Metallen zur Winzerkunst führt die Aufzählung zu allen Arten der Chemie, Pharmazie, Pflanzenheilkunst, Botanik, Anatomie, Chirurgie sowie zur vergleichenden Tieranatomie (Abb. 87).527  Exotische Gebilde finden in ihrem offenbar umfassenden Zuschnitt als Rariora naturae et artis in Exoticophylaciis eine begriffliche Nähe zum Theatrum Naturae et Artis. Den Darstellungen des Fernsten stellt Leibniz mikroskopisch gewonnene Illustrationen wie etwa Robert Hookes Fliegenauge von 1665 zur Seite

 AA, VI, 4, A, Nr.  31, S. 88, Z. 1–8; AI, 12, Z. 30–37; Ripa, 1624/1625.  AA, VI, 4, A, Nr.  31, S. 88, Z. 9–21; AI, 12, Z. 38–50. 527  AA, VI, 4, A, Nr.  31, S. 88, Z. 22 – S. 89, Z. 22; AI, 12, Z. 51–76. 525

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3.  Die Inventarisierung der Ikonologie

Abb. 86.  Bildende Künstler, Ausschnitt aus Abb. 83

(Abb. 47).528  Damit schließt er den Bogen zur eingangs erwähnten Himmelskunde, die mit Hilfe des Fernrohres nicht minder bestechende Bilder produziert hatte.529  Der Atlas Universalis wird durch eine Bildwelt gerahmt, die mit ihren weit entfernten und winzig kleinen Räumen ein Produkt der teleskopischen und mikroskopischen Bewaffnung der Augen war. Zumindest als Konzept kann Leibniz’ Bilderatlas als erstes ikonographisches Archiv erachtet werden, das systematisch alle Lebens- und Naturbereiche erfaßt. Damit knüpft es an Gerhard Mercators kartographischen Atlas sive cosmographicae meditationes von 1595 an, jenem epochemachenden Werk, das der Gattung geo­ graphischer Karten den Namen gegeben hat.530  Mercators Titelblatt zeigt die Figur des Atlas, der die Welt nicht mehr trägt, sondern betrachtend studiert; im selben Sinn hätte Leibniz gewünscht, daß Atlas die Weltkugel, welche er auf der Schulter trägt, zerlegt, auf Papier bringt und die Mühen des Tragens vermeidet (Abb. 88).531  Die Betonung des zugleich Einprägsamen und Spielerischen des Lernens durch

 AA, VI, 4, A, Nr.  31, S. 89, Z. 23f.; AI, 12, Z. 77–78.   Zu den großartigsten zählen die von Claude Mellan: Préaud, 1988, Nrn.145–148, S. 115, 117–119. 530   Mercator, 1595; vgl. Liebenwein, 1996, S. 9f., der Atlas als Gelehrtenfigur durch Mittelalter und Renaissance verfolgt, und zur Rezeption bis zu Guillaume Sansons Atlas Nouveau (1696): Hofmann u. a., 1995, S. 42f. 531   Zum Atlas Farnese: Korn, 1996. 528 529

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IX  Der Bilderatlas als lebendige Bibliothek

Abb.  87.  Mediziner, Veterinärmediziner, Ausschnitt aus Abb.  83

Abb.  88.  Atlas Farnese, römische Mar­morfigur, Neapel, 1. Jahrhundert v. Chr., Museo Archeologico Nationale, Nr.  6374

Bilder hat auch in der Arbeitserleichterung, die Welt kompakt zu tragen und zu begreifen, ihren Grund. Aber Leibniz hat noch einen Nachgedanken zu dieser Auflistung eines enzyklopädischen Bilderatlas formuliert, der in der Feststellung gipfelt, daß Bilder Unsichtbares sichtbar zu machen vermögen: „Analogisches, oder über die unkörperlichen Sachen, die durch die Ähnlichkeit der Körper gebildet werden; wo über Tugenden, Laster, göttliche Dinge gehandelt wird, dort werden die Hieroglyphica aufgeführt.“532  Die abschließende Aufzählung nimmt diesen Gedanken auf, in­­ dem sie die strenge Systematik verläßt und eher assoziativ, wie es in dem Drôle de Pensée geschehen war, vorgeht. Noch Jahre später hat Leibniz die Verwendung des Bilderatlas als eine Möglichkeit gepriesen, eine auf Axiome und die Fähigkeit zur Kombinationskunst bauende wissenschaftliche Pädagogik zu entwickeln. Es sollten Lebensregeln formuliert werden, ohne daß diese mit der höheren, wissenschaftlichen Methode in Konflikt geraten dürften: „Dies aber würde nicht das Werk eines Einzelnen sein, sondern es bedürfte des Zusammenwirkens vieler, und außerdem einer gewaltigen

532

 AA, VI, 4, A, Nr.  31, S. 90, Z. 1f.; AI, 12, Z. 79–80.

4.  Die Lebendigkeit der Bilder und die Utopien

Anzahl von Illustrationen [figurae]; etwas Derartiges habe ich anderswo unter der Bezeichnung Atlas Universalis entworfen und beschrieben.“533  Und schließlich thematisierte Leibniz nochmals die überragende Bedeutung, die er dem Auge für das Begreifen und Vermitteln beimaß. Der Bilderatlas ist keineswegs das Lehrmittel für Ungebildete, sondern ein Medium, in dem sich die Schwächen der populären Wissenschaft und der höheren Methode reziprok aufheben.

4. Die Lebendigkeit der Bilder und die Utopien Eine der Anregungsquellen, den Bilderatlas für die Förderung des Wissens und der produktiven Einbildungskraft einzusetzen, bietet Bechers Methode der Didaktik, der Leibniz den Hinweis, daß mit Hilfe des Theaters der Natur und Kunst die „Jugend gleichsam spielend“ lernen könne, entnommen hatte.534  In seiner bereits zitierten Begründung für den Atlas Universalis vom Herbst 1679 hat Leibniz unter Verwendung derselben Formulierung hervorgehoben, daß alles Wissenswerte durch Bilder „desto geschwinder und anmutiger und gleichsam spielend und wie in einem Blick, ohne Umschweife der Worte, durch das Sehorgan dem Gemüt vorgebildet und kräftiger eingedrückt werden könne.“535  Dieselbe Formulierung des „gleichsam spielend“ hat Leibniz auch genutzt, um Kaiser Leopold I. im Jahre 1688 von den Vorzügen des Bilderatlas zu überzeugen,536  und noch im Jahre 1701 hat er in einem Brief an Tschirnhaus betont, daß im Unterricht weniger auf praxisferne Texte als vielmehr auf das Zeichnen und die haptische Erfahrung zu setzen sei, die das Lernen zu einem „Spiel“ machen würde: „Sollte man die Sachen in Schulen lehren, würde Schola recht Ludus werden.“537  Mit dieser Bemerkung aber ist ein Vorbild angesprochen, das auch Becher vor Augen stand und das Leibniz offenbar ein Urvertrauen in die bildgestützte Ausbildung und Forschung vermittelt hat: die Schola ludus (Schule als Spiel) des Come­ nius.538  Mit seinem Orbis sensualium pictus hatte Comenius zudem im Jahre 1658 jene Bildenzyklopädie publiziert, die für Leibniz’ Versuch, die Bildwelt zu systematisieren, ohne den Spielcharakter zu verlieren, maßgeblich gewesen sein dürfte. Comenius suchte im Verein mit Texten und Zahlen einen komplexen visuellen Überblick über die gesamte Welt zu geben. So erscheint auf dem Einleitungsblatt der erläuternde Holzschnitt unter dem in Latein und Deutsch verfassten ­Titel

 AA, VI, 4, A, Nr.  139, S. 581, Z. 23 – S. 582, Z. 2; AI, 23, Z. 1–3.   Becher, 1668, S. 52; AI, 1, Z. 49. 535  AA, IV, 3, Nr.  116, S. 785, Z. 5–7; AI, 16, Z. 14–17. 536  AA, IV, 4, Nr.  6, S. 25, Z. 10; AI, 26, Z. 10. 537   Leibniz an Tschirnhaus, 17.4.1701, in: Leibniz, 1899, S. 515. 538   Comenius, 1888; vgl. Hornstein, 1997, S. 9ff. und Graczyk, 2001, S. 362ff. und 371f.; zu Leibniz und Comenius: Knobloch, 1997, S. 102. 533

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IX  Der Bilderatlas als lebendige Bibliothek

Abb. 89.  Anonym, Einleitung, Holzschnitt, 1658, in: Comenius, 1658, S. 2f.

(Abb. 89). Von rechts oben scheinen die Strahlen der Sonne durch den Kopf des Weisen hindurch in Richtung eines Jungen zu gehen und solcherart, wie der zweisprachige Text ausführt, die Weisheit zu verkörpern.539  Durch den titelgebenden, über das Bild gesetzten Begriff der Nomenklatur ist das System sprachlich dominiert, um durch das Bild einen Gegenpol zu bieten, der durch seine internen Zahlen auf die zweisprachigen Erläuterungen verweist. Hierdurch entfaltet das Zu­­sam­ menspiel von Schrift, Bild und Zahl eine enzyklopädische Kombinatorik, die Leib­ niz’ Überlegungen beeinflußt haben müssen.540  Indem Leibniz’ Atlas Universalis als eine Fortentwicklung des Orbis pictus ­gelten kann, steht er in der Tradition der Visionen des Sonnenstaates Tommaso Cam­panellas und der Christianopolis Johann Valentin Andreaes, die Comenius in aller Behutsamkeit zu bewahren suchte.541  Zum Inventar dieser Utopien gehörten lullistisch inspirierte Bilderkreise des gesamten Wissens,542  die ihrerseits auf die mythische Bildenzyklopädie von Babel zurückgingen. Im Versuch Maerten van

  Comenius, 1658, S. 12f.   Zu Comenius Kombinatorik: Harms, 1970, Graczyk, 2001, S. 361; vgl. ein ähnlich gelagertes, aber sprachlich bestimmtes Vorbild einer quasi mechanischen Kombinatorik bei Georg Philipp Harsdörffer: Westerhoff, 1999, S. 452ff. 541   Yates, 1975, S. 172; Kanthak, 1987, S. 23, 43ff. 542  Schmidt-Biggemann, 1983, S. 165ff. 539

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4.  Die Lebendigkeit der Bilder und die Utopien

Abb. 90. Philipp Galle nach Maerten van Heemskercks, Babylon, 1572, Stich, Ausschnitt

Heemskercks aus dem Jahre 1572, den antiken Bericht des Diodoros in angemessener Form zu visualisieren, ist diese kongenial nachempfunden worden (Abb. 90). Diodoros Beschreibung gemäß, erhebt sich im linken Mittelgrund an einem der beiden Ufer des Euphrat eine Burg, deren Sinn einzig darin zu liegen scheint, den Mittelpunkt für drei riesige, konzentrische Mauerringe zu geben, die von der legendären Königin Semiramis errichtet worden waren, um an den Außenwänden alle Arten wilder Tiere einzugravieren und mit Farben lebensecht auszumalen. Diodoros zufolge waren in einen dieser kreisrunden Mauerringe derartige Darstellungen eingeritzt worden, „und durch den ingeniösen Gebrauch von Farben gaben diese Bilder die wirkliche Erscheinung der Tiere selbst wieder.“543  Auf einer weite  Diodor, II, 8, 4f., in: Diodorus, 1933, Bd. I, S. 376/377; vgl. Wegener, 1995, S. 107.

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IX  Der Bilderatlas als lebendige Bibliothek

ren Rundmauer war die komplette Tierwelt in die Erzählform einer Jagd gebracht: „Tiere aller Art, ingeniös ausgeführt durch den Gebrauch an Farben wie auch durch die realistische Imitation verschiedener Typen; und das ganze war dazu gemacht, um eine Jagd darzustellen, komplett in jedem Detail.“544  Vermutlich hatte Campanella Heemskercks Stich im Auge, als er seinen Son­ nenstaat erdachte, denn auf den Mauerringen seiner utopischen Stadt imaginierte auch er eine Bildenzyklopädie, wie der Künstler sie gebildet hatte. In dieser Inselutopie erzählt ein Genueser von einer Weltreise, in deren Verlauf er am Äquator auf eine unbekannte, in sieben Ringe eingeteilte Stadt stieß.545  An oberster Stelle des Staates steht ein mit weltlicher Macht ausgestatteter Magier, dem unter anderem das Amt für Wissenschaft und Unterricht unterstellt war; „dieser hat alle Umfassungsmauern und Vorschanzen innen und außen mit allen Wissenschaften bemalen lassen.“546  Auf dem innersten Kreis dieser Mauerringe, welche die gesamte Stadt zu einer riesigen Anschlagfläche des Wissens und der Forschung werden ließen, sah Campanella zum Zentrum hin mathematische Figuren sowie nach außen die Bilder der Geographie, Erd- und Völkerkunde und die verschiedenen alphabetischen Systeme vor. Der zweite Ring präsentierte innen alle Mineralien und Metalle in Proben und als Gemälde sowie jeweils zwei Verse als Erklärung.547  Die Stadtmauern von Campanellas Sonnenstaat dienen also auch als Mustersammlung, gegenüber der die Malereien das Inventar bilden. Auf der Außenseite des zweiten Ringes folgen die Bilder und Behälter aller Arten von Flüssigkeiten sowie die Darstellungen und Simulationen meteorologischer Phänomene. Die Wände des dritten bis fünften Stadtringes umfassen einen Orbis sensualium pictus von allen Pflanzen der Erde und der Tiere des Wassers, der Spezies der Luft und der Erde sowie der unübersehbaren Vielfalt der hochentwickelten Landtiere. Die Bilder des sechsten Ringes zeigen schließlich innen die Instrumente der Forschung, während außen die Bildnisse der Entdecker und Erfinder angebracht waren.548  Ein Manuskript von Campanellas Sonnenstaat gelangte 1617 in die Hände des deutschen Rosenkreuzers Johann Valentin Andreae.549  Zwei Jahre später verfaßte dieser seine Utopie Christianopolis, die mit Blick auf die zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts in Württemberg umgesetzte Idealplanung Freudenstadt einen vierecki­ gen Grundriß einnahm. Indem Christianopolis schon im Vorwort als ludicrum

  Diodor, II, 8, 6f., in: Diodorus, 1933, Bd. I, S. 378/379.   Für ihre grobe Anlage haben Idealstädte der Renaissance wie auch Vorstellungen des Neuen Jerusalem Pate gestanden (Kraft, 1989, S. 51). 546   „E questo ha fatto pingere in tutte le muraglie, su li rivellini, dentro e fuori, tutte le science“ (Campanella, 1968, S. 412; Heinisch, 1960, S. 120). 547   Campanella, 1968, S. 412; Heinisch, 1960, S. 121. 548   Campanella, 1968, S. 412–414; Heinisch, 1960, S. 121f. 549   Kruft, 1989, S. 79. 544 545

4.  Die Lebendigkeit der Bilder und die Utopien

bezeichnet wird,550  gibt sie das Stichwort für Leibniz’ Hinweis auf den Wert spielerisch zu erfassender Bilder. Und im Schauhaus der Natur dieser kunsttech­no­ logischen Utopie sind Bilder der Gegenstände und Spezies aller dreier Naturreiche an die Wände gemalt, damit „sogar Knaben gewissermaßen spielend“ lernen.551  Die Laboratorien sind einem spielerischen Forschungstrieb gemäß ausgestattet: „Hier werden zu Nutzen und Gesundheit des Menschengeschlechts die Eigenschaften von Metallen, Mineralien, Pflanzen und Tieren untersucht, gereinigt, vermehrt und vereinigt. Hier wird der Himmel mit der Erde vermählt und werden die göttlichen, der Erde aufgeprägten Geheimnisse wiedergefunden; hier lernt man das Feuer beherrschen, die Luft nutzen, das Wasser schätzen und die Erde untersuchen.“552  Im Einklang mit der Ikonographie des den Menschen nachahmenden Affen, der den der Natur folgenden, technisch begabten Menschen verkörpert,553 betont Andreae: „Hier hat der Affe der Natur etwas, womit er spielen kann, da er ihre Prinzipien nachahmt und mit Hilfe ihrer Merkmale eine neue, kleine und höchst künstliche bildet.“554  Noch Caspar Schott rekurriert auf diese Gestalt, wenn er seine kunsttechnologischen Schöpfungen als Produkte des Affen der Natur ausgibt.555  In dieser Tradition des spielenden Affen steht Leibniz’ Atlas Universalis, mit dessen Hilfe man, um die Semestria literaria von 1679 nochmals zu zitieren, „geschwinder und anmutiger und gleichsam spielend und wie in einem Blick, ohne Umschweiffe der Worte“ lernen könne.556  In seinen Überlegungen zur Didaktik der Bilder wird er sich auf die utopischen Bilderserien bezogen haben, die darin besonders einprägsam sind, daß sie sich spielerisch mitzuteilen vermögen. Er beerbt einen Impuls, der von Diodoros Beschreibung des Palastes der Semiramis über Campanellas Sonnenstaat bis hin zu Andreaes Christianopolis und Comenius Orbis pictus gewandert war. In Leibniz’ Versuch einer universalen, begrifflich gestalteten Ikonographie bleibt bewußt, daß ein spielender Kunstaffe die Bilder durch das Gedächtnis treibt. Sein Atlas Universalis, das wohl erste Konzept eines ikono­ graphisch systematisierten Bildarchives, trägt die klare Handschrift eines mathematischen Geistes, der die intuitive, alogische Qualität des coup d’oeil als eine komplementäre, spielerische Erkenntnisform begreift. 550  Andreae, 1975, S. 32, 34; vgl. Stöcklein, 1969, S. 84–86, Braungart, 1989, S. 70ff.; zum religiösen Gehalt von Andreaes Spielbegriff: Scholtz, 1957, S. 12–23; vgl. auch: Dülmen, 1978, S. 95–97 sowie Huizinga, 1987 und Rahner, 1952. 551  Andreae, 1975, §47, S. 73. 552  Andreae, 1975, § 44, S. 69. 553   Fludd, 1618, Frontispiz. 554  Andreae, 1975, § 44, S. 69. 555   „Dannenhero hat die Kunst, der Natur Aff, so viel Wege ersonnen, so vielerley, lustige, wunderseltsamme Schauspiell zu zeigen“ (Schott, 1671, S. 153; vgl. Stöcklein, 1969, S. 85). 556  AA, IV, 3, Nr.  116, S. 785, Z. 5f.; AI, 16, Z. 14–16.

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X DIE AKADEMIEN UND IHRE THEATER 1. Der Berliner Teilerfolg Die Idee des Bilderatlas war ein Teilprojekt und zugleich ein Mikrokosmos des übergeordneten Theatrum Naturae et Artis. Mit vermutlich keinem anderen Vorhaben hat sich Leibniz in den letzten beiden Jahrzehnten seines Lebens mehr beschäftigt als mit diesem Projekt. Einen ersten Schwerpunkt bildete Berlin, wo er ab 1700 die dreißig Jahre zuvor in Mainz begründete Idee, mit der Einrichtung einer „Akademie“ bzw. „Societät“ der Wissenschaften557  auch ein Theater der Natur und Kunst einzurichten, aufnahm. In seiner an den Kurfürsten gerichteten Berliner Denkschrift vom März 1700 heißt es in fast wörtlicher Übernahme: „Zu allen diesen Wissenschaften dienen Bibliotheken, Ikonotheken (oder Sammlungen von Kupferstichen, Rissen, Bildwerken und Gemälden), Kunst- und Raritätenkam­ mern, Zeug- und Rüsthäuser, Gärten vieler Art, auch Tiergehege und die großen Werke der Natur und Kunst selbst, von welchen allen, für das Theater der Natur und Kunst, bei Kurfürstlicher Durchlaucht kein Mangel ist.“558  Gegenüber den hier fehlenden Einrichtungen der Apotheke und des anatomischen Theaters sind die Zeug- und Rüsthäuser hinzugekommen, während die übrige Aufzählung bei veränderter Abfolge gleich geblieben ist.559  In seiner Generalinstruction vom 11. Juli hat Leibniz die Liste der einzurichtenden Institutionen und deren Ausstattung nochmals modifiziert: „Observatorium, Laboratorium, Bibliothek, Instrumente, Museum und Raritäten-Kammer oder Theatrum der Natur und Kunst, auch andere über- und unterirdischen Räume, Plätze und Gelegenheiten sowie auch dazu dienlichem Aparat der Naturalia und Artificialia, und allem zur Untersuchung der drei Reiche der Natur- und Kunstwerke“.560  Der Hinweis auf die Naturalia, Artificialia und die Unter­su­chungs­

  Zur Begründung des Begriffes „Societät“: die „Akademie“ ist „trop commun aux assem­blées que les peintres, musiciens, architectes, poëtes et orateurs ont établies“ (Brief von 1714; Klopp, 1868, Anl. I, S. 207). 558   Brather, 1993, S. 77; AI, 39, Z. 1–5. 559   Vgl. AI, 3 u. AI, 4. 560   Brather, 1993, S. 97; AI, 40, Z. 2–6. 557

1.  Der Berliner Teilerfolg

instrumente der Scientifica gilt der Kunstkammer, die Leibniz hier „Museum“ nennt. Eher unvermittelt kommen Grotten als „unterirdische Räume“ hinzu. Sie können auf die Höhlen angespielt haben, wie sie in Hellbrunn in der Nachfolge der unterirdischen Einrichtungen in Pratolino oder auch Heidelberg konstruiert worden waren. René Descartes etwa hatte die von dem Künstleringenieur Salomon de Caus beschriebenen hydraulischen Grottenautomaten von Saint-Germain-enLaye zum Anlaß genommen, seine Mathe­ma­tisierung von Naturphänomenen voranzutreiben.561  Zudem wird Leibniz an die eigenen Erkundungen der Höhlen des Harz angeknüpft haben, die im Zentrum seiner erdgeschichtlichen Überlegungen standen.562  Neben den Grotten waren auch die beiden erstgenannten Einrichtungen der Sternwarte und des Labors zuvor nicht aufgeführt. Diese nehmen eine Auseinandersetzung auf, die Leibniz mit dem Hofprediger Daniel Ernst Jablonski, einem der Mitstreiter des Akademiegedankens, geführt hatte. Gegen den Kleinmut, zunächst nur das Observatorium der zu gründenden Societät einzurichten, hatte Leibniz in einem Brief des März 1700 eingewendet, daß die Sternwarte nicht das Ziel, sondern den Ausgangspunkt der zu vereinenden Gebiete und Einrichtungen darstellen solle, da zu den Obliegenheiten der Akademie die Gebiete der „Astronomie, Mechanik, Architektur, Chemie, Botanik und Anatomie gehören, also neben dem Observatorium auch ein Laboratorium, samt allerhand Kunstwerken, zu schweigen vom übrigen Apparat des Naturforschers, woran es beim Hof eines grossen Potentaten kaum mangeln kann.“563  Mit der Schlußbemerkung hatte Leibniz die brandenburgisch-preußische Kunstkammer im Auge, die prominent im Nordflügel des Berliner Schlosses untergebracht war (Abb. 91). Die beiden von Jablonski und Johann Jacob Chuno verfassten Denkschriften nehmen ebenfalls ausdrücklich auf deren Exponate Bezug.564  Erneut erweist sich die Kunstkammer als Magnet einer weitreichenden Unterstützung, die auf die kurfürstliche Order hinausläuft, alle erforderlichen Arbeitsmittel an die „Bibliothek, Kunst- und Uhr-Kammer“ der Akademie zu überstellen. Sämtliche benötigten Bücher sollten als Leihgabe gestiftet und in Listen erfasst werden, während Uhren, Himmelsrohre und andere Instrumente in den Besitz der Societät übergehen und dort inventarisiert werden sollten. Die folgende Anordnung bietet der Akademie eine Art carte blanche zur Verfügung über alle wissenschaftlichen Einrichtungen und deren Forschungen. Sie nennt Tiere der zoologischen Gärten und Pflanzen der Gewächshäuser sowie Naturalien, Modelle,   Caus, 1615; hierzu: Zimmermann, 1986. Zu Descartes und De Caus: Werrett, 2001, S. 129, 135ff. 562  S. o. S. 120. 563   Brather, 1993, S. 44; AI, 36, Z. 1–4; vgl. Ennenbach, 1978, S. 11f. 564   Brather, 1993, S. 54; AI, 37, Z. 1–6; Brather, 1993, S. 62; AI, 38, Z. 1–3. 561

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Abb.  91.  Samuel Blesendorf, Idealbild eines Kunstkammerraumes im Berliner Schloß, Stich, 1696, in: Beger, 1696, Bd. I, nach S. 2

Erfindungen, Hebewerke, Rüstwerkzeuge, Mühlen und weitere kunsttechnologische Geräte aller Art, die sich in den Tier- und Lustgärten, Zeughäusern, Baubetrieben, Schmelz-, Eisen- und Glashütten sowie Manufaktur- und Werkhäusern des Landes befinden. Nicht nur deren Produkte sollten der Societät zur Verfügung gestellt werden, sondern auch, wie Leibniz es zwanzig Jahre zuvor für Hannover vorgesehen hatte, die durch kompetente Personen gefertigten Fundberichte.565  Leibniz schien am Ziel. Aber so umsichtig seine Pläne auch aufgenommen waren, so sah sich Leibniz schon im Sommer 1702 genötigt, in einem an König Friedrich I. gerichteten Memorandum die erforderlichen Mittel zur Errichtung eines Theaters der Kunst und Natur anzumahnen.566  Bedingt durch seine seltene Anwesenheit in Berlin hatte aber auch dieses Schreiben kaum einen Effekt. So kam es anläßlich der Festlegung der Statuten der Akademie am 3. Juni 1710 zur nochmaligen Fixierung der Verpflichtung, neben einer Fachbibliothek auch mathematische Instrumente, Naturalien aller drei Naturreiche sowie Maschinen und deren Modelle, „also einen thesaurus naturae et artis“ zusammenzubringen, mit dessen Hilfe die Geheimnisse der Natur durch Experimente gelüftet werden sollten.567  In einem Memorandum vom Ende desselben Jahres formulierte Leibniz schließlich 565   Brather, 1993, S. 104; AI, 40, Z. 26–28; vgl. die Wiederholung in Leibniz’ „Sam­mel­ projekt“, ebenfalls vom Juli 1700, in: Brather, 1993, S. 132, § 10. 566   Brather, 1993, S. 152; AI, 42, Z. 3–5. 567   Brather, 1993, S. 206; AI, 51, Z. 7; Ennenbach, 1978, S. 14f.

1.  Der Berliner Teilerfolg

Abb.  92. Georg Paul Busch nach Vorlage von Michael Andreas Herzog, Christian Maximi­lian Speners Naturalienkabinett, Stich, 1718; entn. aus: Brather, 1993, Abb. 14

erneut die in Mainz und Hannover entwickelte Idee, mit Natur und Kunst beschäftigte Bedienstete zu verpflichten, alle von ihnen beobachteten Besonderheiten zu melden und den „Dingen der Natur und Kunst“ zuzuführen.568  Das Protokoll einer Sitzung der Societät aus dem folgenden Jahr hält gleichfalls mahnend fest, daß „Bibliothek, mathematische Instrumente, Kuriositäten und was zum gelehrten Apparat gehört, nach und nach angeschafft werden“ sollten.569  All diese Ver­laut­­ barungen deuten auf anhaltende Schwierigkeiten, den Traum vom For­schungs­­ theater zu verwirklichen. Im April 1714 kam es schließlich zu einem Zerwürfnis zwischen der Ge­­ lehrtenakademie und ihrem Gründungsvater. Für den Ankauf von Christian ­Maximilian Speners Naturalienkabinett (Abb. 92) wäre, so lautete der Antrag der Direktoren der Societät, „die nötige Barschaft gefunden“,570  wenn das Leibniz zu­­ stehende Gehalt verwendet würde. Adolf Harnack kommentierte den Vorgang knapp zwei Jahrhunderte später voller Befremden: „Man wagt dem König vorzuschlagen, Leibniz mitzutheilen, dass er bereits seit 3 Jahren seine Rechte verloren habe! Dagegen billigt man sich selbst für teure Dienste die Thaler zu und tauscht für einen Leibniz ein Naturaliencabinet ein! Es ist das dunkelste Blatt der

  Brather, 1993, S. 214f.; AI, 52, Z. 4.  Ennenbach, 1978, S. 15; AI, 57, Z. 1–2. 570   Harnack, 1900, II, S. 230. 568 569

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Ge­schichte der Societät.“571  Mit diesem Urteil hat Harnack die Ironie des Vorganges verfehlt, denn den Ankauf eines Teilbereiches der von ihm geforderten „großen Werke der Natur und Kunst“572  hätte Leibniz selbst nach Kräften befürwortet. Das Arglistige des Vorschlages der Akademiedirektoren lag darin, eines der Ziele von Leibniz auf dessen Kosten zu realisieren.

2. Die Bemühungen in Dresden Angesichts der Berliner Erfahrungen hat sich Leibniz umso mehr bemüht, die Akademien an anderen Orten mit einem Theater der Natur und Kunst auszustatten. Verstärkte Hoffnungen setzte er zunächst auf August II., Kurfürst von Sachsen und König von Polen. Durch Vermittlung von dessen Beichtvater, Karl Moritz Vota, gelang es Leibniz im Spätsommer 1703, Interesse für seine Akademiepläne zu wecken.573  Ende Januar 1704 reiste er inkognito für mehrere Tage nach Dresden, um seine Pläne voranzutreiben;574  im August 1704 schickte er seinen Mitarbeiter Johann Georg Eckhart nach Sachsen, um die weiteren Möglichkeiten zu sondieren,575  und zwischen dem 8. und 26. Dezember 1704 gelang es ihm, August dem Starken seine Überlegungen persönlich vorzutragen. Das umfangreiche Memorandum zeigt erneut Leibniz’ Ziel, die Akademie entscheidende Funktionen des Staates übernehmen zu lassen, um Bildung und Forschung in sämtlichen Lebensbereichen zu fördern. Die zu gründende Societät sollte nicht nur die Naturwissenschaften, die Technik, die Medizin, das Militärwesen, die Geschichtswissenschaften, die Jurisprudenz, Ökonomie und Politik und die Tätigkeiten sämtlicher Berufe archivieren und beflügeln, sondern vor allem der Erziehung der Jugend dienen und daher auch als Schulbehörde agieren.576 Das Papier knüpfte einleitend an Leibniz’ Schrift zur Prinzenerziehung an, die Johann Reinhardt von Patkul, der einflußreiche russische Gesandte in Sachsen und Polen, August II. vermittelt hatte. Bei der wichtigsten Erziehungsaufgabe des Staates, der Ausbildung des Prinzen, die als Modell für das gesamte Bildungs­ system gelten könne, solle man sich, so Leibniz, der Bücher und Kupferstiche bedienen, aber „das Theater der Natur und Kunst, das die Dinge selbst in natura oder deren Modelle enthalten würde, würde einen noch größeren Effekt bieten. Es ­w ürde die Imagination bereichern, indem es ihm eine Menge klarer Ideen präsen  Harnack, 1900, I, 1, S. 197.   Brather, 1993, S. 77; AI, 39. 573   Bodemann, 1883, S. 180; Böger, 1997, Bd. I, S. 408. und 416f.; Otto, 2000, S. 66. 574   Bodemann, 1883, S.  183; Schirren, 1884, S.  435f., 443–445 (Punctationspapier); Böger, 1997, Bd. I., S. 411. 575   Bodemann, 1883, S. 198f.; Böger, 1997, Bd. I, S. 413f. 576   Leibniz, 1768 [1989], Bd. V, S. 175–179 (von Dutens fälschlicherweise als Berliner Projekt ausgegeben); AI, 47; vgl. Böger, 1997, Bd. I, S. 423 und Otto, 2000, S. 82f. 571

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2.  Die Bemühungen in Dresden

tieren würde.“577  Entsprechend gehöre zur Verfügung der Akademie auch ein „unschätzbarer Schatz über die Kenntnisse des Inneren der Natur“ in Form von Minen, Gärten, Jagden und Naturalienkabinetten aller drei Naturreiche.578  Es liegt auf der Linie dieser Überlegungen, wenn Leibniz den Hauptsitz der Akademie in den Bereich der Dresdener Residenz legen wollte, um die dortige Kunstkammer und Bibliothek einbinden zu können. Als Eckhart im August 1704 seine Erkundungsreise nach Dresden antrat, sollte er auch sondieren, wie das kurfürstliche Archiv, die Bibliothek und die nach 1640 im Dachgeschoß des Westflügels des Residenzschlosses eingerichtete Kunstkammer unter die Hoheit der zu gründenden Akademie gestellt werden könnten.579  Der Entwurf des königlichen Gründungserlasses nannte als Ausstattung der Sächsischen Akademie entsprechend ein Observatorium, Laboratorium, eine Bibliothek, ein Theater der Natur und Kunst sowie die nötigen Instrumente, Apparate und Requisiten.580  Leibniz’ Dresdener Vorstoß zeigt seine persönliche Identifikation mit dem Projekt in besonderer Weise. Das unterschriftsreife Diplom vom August 1704 enthielt nicht nur Leibniz’ Ernennung als Präsident der Akademie der Wissenschaften, sondern auch, wie erwähnt, als „Ober-Inspektor“ von Bibliothek und Kunstkammer. Leibniz scheint davon ausgegangen zu sein, daß beide für ihn selbst geradezu reserviert waren: „Wir sehen auch gern, daß er sich so viel als geboten einer Ober-Inspektion Unserer Bibliothek und Kunstkammer in Unsrer Residenz annehme.“581  Trotz dieser bereits vorgefertigten Diplome und Erlasse kam jedoch auch das Dresdener Projekt nicht zustande; Leibniz hat bereits nach seiner Reise vom Ende des Jahres 1704 das Interesse an der Einrichtung einer sächsischen Akademie verloren. Es wirft einen Schatten auf seinen Charakter, daß hierfür nicht nur, wie ­zumeist angenommen, Finanzprobleme und die Schwedenkriege verantwortlich waren, sondern auch der Umstand, daß Tschirnhaus, der Freund seit der gemeinsamen pariser Zeit, ein ähnliches Ziel verfolgte und allein schon auf Grund des Heimvorteils besser voranzukommen schien. Tschirnhaus hatte schon vor Leibniz’ erstem Vorstoß Überlegungen zur Gründung einer Akademie vorgelegt,582  was diesen veranlaßte, die eigenen Möglichkeiten teils hinter dem Rücken seines Freundes aus pariser Tagen zu sondieren. Bei seinem Dresden-Besuch Ende 1704 mußte Leibniz feststellen, daß er mit seinen Initiativen unfreiwillig nicht die

  Leibniz, 1768 [1989], Bd. V, S. 176; AI, 47, Z. 10–13.   Leibniz, 1768 [1989], Bd. V, S. 177; AI, 47, Z. 14–15. 579  Ekharts Reisejournal, in: Bodemann, 1883, S. 190ff., hier: 191; AI, 46. Zur Kunstkammer: Syndram, 1999, S. 22ff. 580   Leibniz, 1875, Bd. 7, S. 219f.; AI, 44, Z. 3–5. 581   Leibniz, 1875, Bd. 7, S. 235; AI, 45, Z. 3–4. 582   Böger, 1997, Bd. I., S. 409ff. 577 578

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e­ igenen, sondern Tschirnhaus Pläne zu fördern schien. Da ihn selbst dies zu einem bloßen Ratgeber und Inspirator der sächsischen Akademie gemacht hätte, hat er sich, obwohl es noch weitere, bis 1708 sich hinziehende Aktivitäten gab, zurückgezogen.583  Auch Tschirnhaus hatte mit seinen Bemühungen keinen Erfolg. Allerdings waren die Bemühungen nicht vergeblich, denn obzwar die sächsische Akademie der Wissenschaften erst im Jahre 1846 gegründet wurde, kam mit der Einrichtung eines Palais des Sciences im Zwinger doch ein Teil des Theaters der Natur und Kunst zur Ausführung.584 

3. Die Ambitionen in Bezug auf Wien Auch in Wien hat Leibniz die Gunst der Stunde zu nutzen versucht. Noch vor seinem Auftritt in Dresden im Dezember 1704 hatte er gegenüber dem Kurfürsten Johann Wilhelm von der Pfalz die Bitte ausgesprochen, sich beim Kaiser dafür zu verwenden, daß in Wien eine Societät der Wissenschaften gegründet würde.585  Dieser Vorstoß besaß eine Vorgeschichte, die auf seinen ersten dortigen Aufenthalt der Jahre 1688–1689 zurückging, als er hoffte, zum kaiserlichen Hofhisto­ riographen und Reichshofrat ernannt zu werden.586  Als Leibniz seine Ziele Ende Oktober 1688 in einer Audienz vor Kaiser Leopold vortragen konnte,587  gab ihm dies Gelegenheit, seine diversen Vorschläge zu bündeln. Die Besichtigung der ­Wiener Schatzkammer588  wird ihn darin bestärkt haben, von „Laboratorien, Observatorien, Häusern des Exotischen und der Seltenheiten der Natur und Kunst, Modellen von allerhand schönen Erfindungen und Maschinen und deren Durchführung“ zu sprechen589  und es als eine „herrliche Gelegenheit, ja Verpflichtung“ auszugeben, „die Natur und Kunst zu untersuchen, Laboratorien, Kabinette von Seltenheiten der Natur und Kunst sowie Modelle von Maschinen und Künstler zu haben und zu nutzen.“590  Mit diesem Tenor entwickelte Leibniz in einem gemeinsam mit dem väterlichen Freund Johann Daniel Crafft an Kaiser Leopold gerichteten Vorschlag zur Reform des Bergbaues erneut die Idee, die Staatsbediensteten zu Kustoden und  Otto, 2000, S. 89–94.   Baur und Plaßmeyer, 2003, S. 112f. 585   Brief vom 2.10.1704, in: Bergmann, 1855, Memoriale, S. 4ff., hier: 7. 586   Böger, 1997, Bd. I, S. 429. Böger gibt S. 423ff eine umfassende Darstellung von Leibniz’ Wiener Aktivitäten. Grundlegend zu Leibniz’ Wiener Zielen: Faak, 1966. 587  AA, I, 5, Nr.  149, S. 270, Nr.  152, S. 276. Die Audienz ist lebendig nachempfunden, auch in den für Leibniz wenig schmeichelhaften Zügen, durch Hirsch, 2000, S. 226ff. 588   Müller und Krönert, 1969, S. 90. 589  AA, IV, 4, Nr.  6, S. 25, Z. 14–16; AI, 26, Z. 15–17. 590  AA, IV, 4, Nr.  9, S. 86, Z. 17–19; AI, 29, Z. 2–5. 583

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3.  Die Ambitionen in Bezug auf Wien

Abb. 93.  Johann Franz Wussim (?), „Die Kayßerliche Bibliotheck und Raritaten Kammer“ in Wien, Stich, 1686, in: Brown, 1686, S.  242/243

Zuträgern neuer Sammlungen zu machen. Sie sollten dazu aufgefordert werden, ihre Entdeckungen und Erfindungen einzusenden, um auf diese Weise eine naturwissenschaftlich geprägte Kunstkammer aufzubauen: „(…) so würde vermittels der darauf erfolgenden Berichte und Aussagen, eingesandten Erzproben sowie auch Aufrissen und Modellen nicht nur ein thesaurus realium notitiarum, sondern ein recht vollkommenes Kabinet der Kaiserlichen Mineralien sowie auch eine Kunstkammer vieler herrlicher mechanischer Erfindungen, die in Bergwerken und bei Metallmanufakturen, Hämmern, Mühlen, Salzpfannen, Stampen, Wasch­­ werken etc. gebräuchlich oder künftig mit Nutzen einzuführen sind, zusammengebracht werden.“591  An seine Pläne konnte Leibniz erst wieder seit seinem Wiener Aufenhalt vom Dezember 1712 anknüpfen. Von diesem Moment an bündelte er all seine Überlegungen zum Theater der Natur und Kunst, die nochmals auf die gesamte Staatsorganisation zielten.592  Was Leibniz im Auge hatte, kann der imaginäre Stich der königlichen Bibliothek und Kunstkammer metaphorisch erahnen lassen, dessen expansive Raumflucht der gedanklichen Weite zu entsprechen scheint, mit der Leibniz sein Vorhaben versah (Abb. 93). In seinem vermutlich im April 1713 verfassten Entwurf für eine Societät der Wissenschaften hat Leibniz hervorgehoben, daß Observatorien, Laboratorien, Heilgärten, zoologische Gärten sowie Kabinette natürlicher und künstlicher 591

 AA, III, 4, Nr.  204, S. 391, Z. 10–16; AI, 25, Z. 4–10.   Böger, 1997, Bd. I, S. 450f.

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­Raritäten aufgebaut werden sollten, deren Erkenntnisse in einer jährlich erscheinenden Publikation zu veröffentlichen wären.593  In ähnlicher Zielsetzung formulierte Leibniz im Mai desselben Jahres, daß die mathematische, physikalische und die geisteswissenschaftliche Klasse der Societät jeweils ihre eigene Sammlung unterhalten, alle drei gemeinsam aber das Theater der Natur und Kunst bespielen sollten: „Weil auch dieses gesamte Vorhaben in drei Hauptteile geht, wie man die physikalische, mathematische und literarische Klasse nennen möchte, sind wir geneigt, nach und nach der physikalischen Klasse in den drei Reichen der Natur, durch Laboratorien, Botanik- und Tiergärten, die mathematische Klasse durch Observatorien, Winkelmaße, Instrumente, Werkhäuser und Modelle und die literarische Klasse durch allerhand Monumente, Inschriften, Medaillen und andere Antiken, durch Dokumente aus Archiven und Registraturen und durch Manuskripte in allerhand auch orientalischen Sprachen, allen dreien aber durch ein Kabinett und Theater der Natur und Kunst, Raritätenkammern und Bibliotheken zu deren Gebrauch, zu statten lassen zu kommen.“594  Alle öffentlich Bediensteten, auch die der Sammlungen, sollten schließlich beauftragt werden, die Societät in der „Erkenntnis der Natur und Kunst“ zu unterstützen.595  Leibniz hat in Wien auch darin auf ältere Konzepte zurückgegriffen, daß er, wie er es Jahre zuvor für Wolfenbüttel beantragt hatte, die Einführung einer Stempelsteuer vorschlug, um mit den Erträgen Bücher zu erwerben und die erwähnten Sammlungen mitsamt den „Theatra naturae et Artis“ aufzubauen.596  Am 17. August 1714 beschrieb Leibniz in einem an Prinz Eugen von Savoyen gerichteten Memorandum den Apparat der Akademie als eine Bibliothek mit Theatern der Natur und Kunst, deren gewohnter Zusammenstellung er erstmals nach der Berliner Denkschrift auch Grotten hinzufügte: „Observatorien für die Sterne, Laboratorien, Arbeitshäuser, botanische Gärten, Menagerien, Gesteinsgrotten, Antikenkabinette, Raritätengallerien und, mit einem Wort, theatres de la Nature et de l’Art.“597  Der Vorschlag für Eugen von Savoyen umschreibt den gesamten Kreis vom zoologischen Garten bis zur Antikensammlung, den Leibniz seit 1671 immer wieder gezogen hatte, und der Plural der einzurichtenden Theater der Natur und Kunst verdeutlicht die hohen Erwartungen, die Leibniz mit seinem Projekt verband.

  Klopp, 1868, Anl.XIII, S. 238; AI, 61, Z. 7.   Klopp, 1868, Anl.XIII, S. 238; AI, 61, Z. 1–10. 595   Klopp, 1868, Anl.XIII, S. 239; AI, 61, Z. 11–12. 596   Klopp, 1868, Anl.XVI, S. 244; AI, 62, Z. 3. 597   Klopp, 1868, Anl.XVI, S. 248; AI, 65, Z. 2–5; vgl. Böger, 1997, Bd. I, S. 445f. 593

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4. die posthume Erfüllung in St. Petersburg

4. Die posthume Erfüllung in St. Petersburg Leibniz’ Wiener Vorstöße gingen mit seinen Vorschlägen für den Zaren Hand in Hand. In Bezug auf Rußland erlebte Leibniz das Wechselbad von Hoffnung und Enttäuschung auf eine nochmals gesteigerte Weise. Er hatte lange der gängigen Vorstellung angehangen, daß dieses Riesenreich jenseits von Europa und damit auch jenseits der Zivilisation läge. Diese Sicht änderte sich jedoch schlagartig mit den ersten Nachrichten über Zar Peter I. Wenn ein junger Herrscher, so nahm Leibniz an, in der Lage war, gegen alle Konventionen seines Landes einen westlichen Habitus anzunehmen, dann mußte in seinem Reich schneller agiert werden können als in den in ihren Traditionen erstarrten westlichen Ländern. Für Leibniz waren „die Gemüther in den russischen Landen noch Tabula Rasa und gleichsam frisches Feld.“598  Dieselben Hoffnungen, die auf Amerika als dem Kontinent der erfüllbaren Utopien gerichtet waren, wendete Leibniz mit dem Auftreten Peters I. in einer Intensität auf Rußland, wie sie von keinem seiner Zeitgenossen geteilt wurde.599  Anläßlich der ersten Westeuropareise des Zaren im Jahre 1697, also bereits vor seinen Berliner Aktivitäten, hat Leibniz vorgeschlagen, in Moskau ein Institut für die Wissenschaften und Künste zu gründen. Leibniz versuchte zunächst, in der re­formwilligen Umgebung des Zaren Fuß zu fassen, und daher entwickelte er den nur im Konzept überlieferten Plan für General François Lefort, einem der wichtigsten Strategen der Reform Rußlands. Mit den Bibliotheken, Läden für Bücher und Kupferstiche, Kabinetten für Objekte der Natur und der Kunst, medizinischen Gärten, Tiergehegen, Magazinen aller Materialien und Büros aller Arten von Arbeit enthielt dieses Vorhaben all jene Komponenten, die Leibniz seit seiner Mainzer Zeit mit dem Begriff des Natur- und Kunsttheaters verbunden hatte.600  Das Naturalienkabinett sollte sowohl die Objekte selbst als auch ihre künstlerischen Imitationen aufnehmen, während das Kunstkabinett Erfindungen in Form von Zeichnungen und Modellen, mathematische Instrumente, optische Geräte, Uhren, Gemälde und Skulpturen sowie antike Medaillen und Werke umfaßte, also alles, „was zugleich unterrichten und vergnügen kann.“601  Außerhalb dieser Kabinette waren zusätzlich botanische und zoologische Gärten, Observa­ torien, Mühlen und verschiedene Häuser vorgesehen, in denen alle Arten von Maschinen und Erfindungen vorgeführt werden sollten.602 

  Guerrier, 1873, Nr.  125, S. 175; vgl. Benz, 1947, S. 27f. und Böger, Bd. I, S. 464ff.   Benz, 1947, S. 27. 600   Guerrier, 1873, Nr.  13, S. 17f.; AI, 34. 601   Guerrier, 1873, Nr.  13, S. 17; AI, 34, Z. 13–14. 602   Guerrier, 1873, Nr.  13, S. 18; AI, 34, Z. 21–23. 598

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X  Die Akademien und ihre Theater

Es gelang Leibniz jedoch nicht, bis zu dem General durchzudringen, so daß er in den folgenden Jahren bemüht war, über Mittelsmänner wie Patkul mit dem Zaren in Kontakt zu kommen. Anfang Februar 1704 konnte er ihm ein umfangreiches Papier zukommen lassen, in dem in acht Punkten ein Konzept zur Förderung der Wissenschaften in Rußland aufgeführt war. Wie sehr Leibniz bei dem Zaren auch und gerade in Bezug auf Sammlungen und deren Nutzung als Innovationsinstrument auf ein Echo zu stoßen hoffte, bezeugt bereits der erste Punkt des Papieres, der die Beispiele der zu fördernden oder zu gründenden Einrichtungen mit dem Rat beginnt, „daß Seine Majestät auch Bibliotheken, Kunstkammern und der­ gleichen errichten“ und in Rußland gemachte Erfindungen zusammenbringen solle.603  Auch über in Moskau tätige Westeuropäer suchte Leibniz den Zaren für seine Pläne zu gewinnen. Hierzu gehörten Heinrich von Huyssen, der brandenburgische Jurist, der 1702 zur Erziehung des Zarewitsch Aleksej nach Moskau berufen worden war, Jakob Bruce, der Generalzeugmeister schottischer Abstammung, der niederländische Mathematikprofessor Johann Jakob Ferguson, der seit 1697 in Moskau lehrte, sowie vor allem Leibniz’ Freund Johann Christoph Urbich, der ab 1707 als russischer Gesandter in Wien lebte. Urbich gelang es, den Zaren so sehr für Leibniz’ Projekte zu interessieren, daß er ihm übermitteln ließ, seine Vorschläge schriftlich einzureichen.604  Im Hochgefühl dieses Auftrages sandte Leibniz im Dezember 1708 eine Denkschrift an den Zaren, die auch Vorschläge zur Nutzung der visuellen und haptischen Erkenntnismittel im Rahmen eines Theaters der Natur und Kunst enthielt: „Von dem Theater der Natur und Kunst und dazu gehörigen Apparaten, Ka­binetten und Kunst- und Rüstkammern, Galerien der Antiken, Statuen und ­Gemälden, Lebendgehegen (oder zoologischen Gärten), Gärten (oder Gewächshäusern) Modell-, Werk- und Zeughäusern, Arsenalen, Bauhöfen, um diese nicht allein zum allgemeinen Gebrauch, sondern auch zu Verbesserung der Künste und Wissenschaften einzurichten, wäre viel zu sagen, weil in denselben dasjenige in Natura oder doch mehr körperlich vorgestellt wird, was die Bücher und Zeichnungen nur andeutungsweise zeigen.“605  Leibniz unterstreicht seine seit dem Drôle de Pensée betonte Unabdingbarkeit der körperlichen Präsentation der Spezies und Sachen hier nochmals in fast polemischer Zuspitzung. Nach dem Sieg Peters I. über die Schweden im Spätsommer 1709 sah Leibniz die Zeit für gekommen, seine Pläne nun endlich in die Tat umzusetzen. Er bot sich selbst als Direktor einer Anstalt zur Reform von Wissenschaft und Bildung für das gesamte Land an, um damit die weltgeschichtliche Bestimmung, die er dem Zaren  Schirren, 1884, S. 439; AI, 43, Z. 5–9.   Böger, 1997, Bd. I, S. 467f. 605   Guerrier, 1873, Nr.  73, S. 97; vgl. Voisé, 1975, S. 124; AI, 49, Z. 8–15. 603

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4. die posthume Erfüllung in St. Petersburg

als Vermittler zwischen Europa und China zuerkannte, durch seine eigene Person zur Erfüllung zu bringen.606  Unter den zu erreichenden Zielen nannte er erneut das Theatrum Naturae et Artis mitsamt sämtlichen dazugehörigen Einrichtungen. Nochmals war die Reform der russischen Wissenschaft und Bildung mit der Einrichtung von lebendigen Kunstkammern verbunden.607  So sehr sich Urbich für diese Pläne einsetzte, so brachte doch erst die Heirat des Zarewitsch mit der Enkelin von Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel im Jahre 1711 die Möglichkeit, Leibniz’ Anliegen ein stärkeres Gehör zu verschaffen. Anläßlich des Besuches von Peter I. in Salzdahlum Anfang September 1711 entwickelte Leibniz die Idee, eine plastische Landkarte Rußlands zu bauen, auf deren großflächigem Relief die Wasserbewegungen der Flüsse simuliert werden sollten, so daß ein mechanisiertes Modell des gesamten Landes entstehen würde: „Das ganze Werk würde es verdienen, danach in einer Kunstkammer aufgehoben zu werden; es würde auch Potentaten zur Anleitung dienen, ihre Länder so wirklich uneben und aufgeworfen, wie es in der Natur vorkommt, mit größerer Genauigkeit als es gemeinhin für nötig befunden wird, vorstellen zu lassen.“608  Diese mechanische Reliefkarte des russischen Reiches, die in der königlichen Kunstkammer aufbewahrt werden sollte, mag als ein Köder gedacht gewesen sein, den Zaren für die weiteren Pläne einzunehmen. Gegenüber Herzog Anton Ulrich erwähnte Leibniz, daß unter anderem „Kabinette der Natur und Kunst“609  angeschafft werden sollten, und in einer weiteren Denkschrift für den Zaren entfaltete er erneut das Ensemble seines Wissenstheaters: „Druckereien, Bibliotheken, So­cietäten, Observatorien, Laboratorien, Instrumente, Modelle, Kunst- und Rari­ tä­tenkammern, botanische und zoologische Gärten.“610  Ende Oktober erhielt Leibniz in Torgau endlich die ersehnte persönliche Audienz beim Zaren.611  Die für diese Gelegenheit entworfene Denkschrift sprach erstmals explizit das Projekt an, in Rußland eine Akademie der Künste und Wissenschaften zu errichten. Dieses Kollegium solle dafür sorgen, daß eine „Bibliothek und Kunstkammern angeschafft und allerhand nützliche Nachrichten aus Europa und China zusammengebracht, erfahrene Leute und Künstler angelockt und schließlich Wohlfahrt, Ernährung und Wohlergehen der Länder und Bevölkerungen des Zaren durch Künste und Wissenschaften beobachtet und gefördert werden.“612 

  Benz, 1947, S. 19–22; Böger, 1997, Bd. I, S. 468f.   Guerrier, 1873, Nr.  73, S. 97; AI, 49, Z. 8–15. 608   Guerrier, 1873, Nr.  123, S. 170; AI, 53, Z. 2–5; vgl. Benz, 1947, S. 53f. 609   Guerrier, 1873, Nr.  124, S. 173; AI, 54, Z. 3. 610   Guerrier, 1873, Nr.  125, S. 176; AI, 55, Z. 1–3. 611  Er traf zweimal mit ihm zusammen: Richter, 1946, S. 47–49. 612   Guerrier, 1873, Nr.  127, S. 182; AI, 56, Z. 3–6. 606 607

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X  Die Akademien und ihre Theater

Die Realisierung der russischen Pläne von Leibniz kam zunächst nicht voran, obwohl er den Zaren durchaus beeindruckt hatte, und auch sein persönliches Ziel, in den russischen Staatsdienst aufgenommen zu werden, gelangte nur bis zum Entwurf der Urkunde.613  Aber das Treffen von Torgau hat ihm doch zumindest die Möglichkeit gegeben, sich in der Folgezeit auch direkt an Peter I. zu wenden. Dieses Entgegenkommen wird vor allem daran gelegen haben, daß Leibniz mit der Idee eines Theaters der Natur und Kunst, in dem eine Kunstkammer das Zentrum einnahm, einen Nerv Peters I. traf. Schon von seinem Vater Alexis war im Kreml ein Kuriositätenkabinett eingerichtet worden, und seine große Reise von 1697/98 hatte er auch mit dem Ziel angetreten, die Sammlungen von London, Oxford, Amsterdam, Leiden, Utrecht und Dresden zu besichtigen.614  Den wohl stärksten Eindruck erhielt er in Dresden, wo er drei Tage in der Kunstkammer des Schlosses zubrachte und von den dortigen Maschinen, Automaten und Abnormitäten so überwältigt war, daß er sich umgehend entschloß, eine ähnliche Institution in Rußland zu begründen.615  Mit dem Grundstock seiner auf dieser Reise erworbenen Objekte hat Peter I. noch im selben Jahr 1698 eine Sammlung im Moskauer Haus der Apothekerkunst einrichten und durch dessen Präsidenten, den Schotten Robert Erskine (Areskin), der dem Zaren als dessen Leibarzt besonders nahe stand, betreuen lassen. Diese Verbindung von Apotheke und Kunstkammer entsprach der Situation im Berliner Schloß, bevor dieses durch Andreas Schlüter umgebaut wurde. Mit Blick auf die petrinische Kunstkammer schrieb Leibniz an Peter I. im folgenden Jahr 1712 nochmals, daß der Zar auf der Tabula rasa Rußlands ein schöneres und schlüssigeres Gebäude errichten könne als es jene Bauten darstellten, an denen über Jahrhunderte gearbeitet worden sei. Um diesen „neuen und grossen Kunstbau“ sollten „Bibliotheken, Museen oder Raritätenkammern, Werkhäuser für Modelle und Kunstsachen, chemische Laboratorien und astronomische Observatorien“ Zug um Zug eingerichtet werden.616  Die kurz darauf anläßlich des Besuches von Peter I. in Greifswald eingereichte Denkschrift betont ebenfalls, daß zu der dringend erforderlichen Förderung der Wissenschaften und Künste „Gebäude, Gärten, Bibliotheken, Kabinette, Observatorien und Laboratorien“ gehören sollten, sowie auch „Gewächshäuser, Pflanzen, Instrumente, Modelle, Bücher, Medaillen, Altertümer, und alle Sorten Raritäten der Natur und Kunst.“617   Richter, 1946, S. 55f.  Neverov, 1985, S. 71. In bezug auf die Niederlande hat die Ausstellung von 1996/97 eine wertvolle Rekonstruktion geleistet (Meijers, 1996; Neverov, 1996; Radzjoen, 1996; LuyendijkElshout, 1996). 615  Neverov, 1985, S. 71f.; Neverov, 1996; Werrett, 2000, S. 49f.; Baur und Plaßmeyer, 2003, S. 105ff. 616   Guerrier, 1873, Nr.  143, S. 208; AI, 58, Z. 5–9. 617   Guerrier, 1873, Nr.  148, S. 218; AI, 59, Z. 2–4. 613 614

4. die posthume Erfüllung in St. Petersburg

Dieser erneut vorgetragene Wunsch, in Rußland den gesamten Komplex des Theaters der Natur und Kunst mitsamt der Kunstkammer aufzubauen, wurde über Baron Hans Christian von Schleiniz, den Gesandten Rußlands an den welfischen Höfen, übermittelt und auch weiterhin verfolgt. Dies trug Leibniz die Einladung des Zaren ein, ihn in Karlsbad zu besuchen, wo er am 11. November 1712 zum geheimen Justizrat Peters I. und zugleich zum Organisator und Förderer der Künste und Wissenschaften Rußlands ernannt wurde.618  Wenn es sich auch um eine eher symbolische, weder durch konkrete Aufgaben noch durch die Bezahlung eines Honorars konkretisierte Auszeichnung handelte, so hat sie Leibniz’ Hoffnung genährt, nun seine Rolle als „Solon von Rußland“ ausüben zu können.619  Durch die Verlagerung des Regierungssitzes nach St.Petersburg schien Leibniz dieser Bestimmung näher zu kommen, zumal auch die Kunstkammer des Zaren im Jahre 1714 in seinen St.Petersburger Sommersitz überführt wurde. Daß Peter I. sie zum ersten öffentlichen Museum machte, klingt wie ein Echo von Leibniz’ museo­logischen Zielen.620  Als er den Zaren im Juni 1716 in Bad Pyrmont und Herrenhausen traf, war die Begegnung nicht nur wegen der Länge von einer Woche, sondern auch durch die Anwesenheit von Laurentius Blumentrost, der zwei Jahre später Direktor der petrinischen Kunstkammer und 1725 Gründer der St.Petersburger Akademie wurde, von besonderer Bedeutung. Denn bei dieser Gelegenheit entstand die große, wie eine Summe von Leibniz’ wissenschaftspolitischen Überlegungen wirkende Denkschrift, in der er nochmals entwickelte, daß die Voraussetzung für „Verbesserung der Künste und Wissenschaften“ in der Ausstattung mit „Büchern, Kabinetten, Instrumenten und einem Theater der Natur und Kunst“ bestün­de.621  Indem Leibniz hier die Kabinette von den Theatern der Natur und Kunst absetzte, trennte er die Studiensammlung von dem geräumigen Museum. Auf die Bibliothek folgend, sollte das „Kabinett“ kleinformatige Exponate enthalten: „ (…) alte und neue Medaillen als Grundlage und Bekräftigung der Geschichte, Relikte von römischen, griechischen, hebräischen, chinesischen und weiteren Antiquitäten, zahlreiche Raritäten der drei Reiche der Natur, das heißt viele Sorten der Mineralien, Erze, Gewächse, Insekten und anderer fremder Tiere, wie auch allerhand Kunststücke von Gemälden, Skulpturen und optischen, astronomischen, architectonischen, militärischen, nautischen, mechanischen und anderen Erfindungen (…). Hierzu rechne ich auch allerhand Instrumente, die ein Baumeister, Ingenieur, Mechaniker oder Astronom braucht und die keinen allzu großen Platz

  Guerrier, 1873, Nrn.174–176, S. 268–271; Richter, 1946, S. 52; Benz, 1947, S. 24.   Benz, 1947, S. 25f. 620  Neverov, 1985, S. 72f.; Werrett, 2000, S. 50f. 621   Guerrier, 1873, Nr.  240, S. 349; AI, 66, Z. 1–2. 618 619

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X  Die Akademien und ihre Theater

einnehmen, sondern sich in einem Kabinett zeigen lassen.“622  Dieses Kabinett führt die Naturalia, Artificialia und Scientifica in ihren kleinformatigen Exponaten und Modellen auf, und da es auch Exponate der bildenden Kunst umfaßt, repräsentiert es eine Kunstkammer. Das Theater der Natur und Kunst dagegen bildet „etwas Grösseres“, das Leibniz hier erstmals in seine beiden Komponenten zerlegt: „zum Theater der Natur gehören ganze Grotten, in denen verschiedene Sorten von Mineralien und Muschelwerke zu sehen, ein Garten, in dem seltene Sorten von Bäumen, Stauden, Wurzeln, Kräuter, Blumen und Früchte zu finden und endlich ein Tiergarten und Lebendgehege, in denen lebende vierfüssige Tiere, Vögel und Fische, samt einem anato­ mischen Theater, in dem Tierskelette gezeigt werden, zu sehen sind.“623  Naturwissenschaftliche Grotten, zoologische Gärten und anatomische Theater bilden gemeinsam das Theater der Natur. Das Theater der Kunst dagegen umfaßt Instrumente der Forschung sowie Maschinenmodelle in größerem Format als es das Kabinett bergen könnte, also alles, „was ein Observatorium, Laboratorium, Rüsthaus und Magazin erfordert, in dem sich auch Modelle von allerhand nützlichen Erfindungen in beträchtlicher Größe, insbesondere von vielerlei Mühlen, Hebegeräten, Wasserwerken und auch vielen Arten der im Bergwerk gebräuchlichen Maschinen finden sollen.“624  Da die Werke der bildenden Kunst dem Kabinett der Kunstkammer zugeschrieben sind, kann sich das Theater der Kunst nun ganz als Museum der Kunstfertigkeit der Ingenieure begreifen. Vermutlich hat Leibniz hier auf die technische Ausrichtung der Bildungsziele von Peter I. abgehoben, der zwischen 1701 und 1703 verschiedene Schulen für die Artillerie und die Navigation, das Ingenieurswesen, den Bergbau und die Admiralität hatte einrichten lassen, denen 1715 die Seeakademie von St. Petersburg folgte.625  Zwei Jahre nach dem letzten Treffen mit Leibniz entschied Peter I., der auf seiner neuerlichen Reise von 1716–17 ganze Sammlungen in Deutschland und den Niederlanden wie etwa Mineralien des Danziger Naturforschers Johann Christoph Gottwald oder Monstra und andere anatomische Präparate des Frederic Ruysch erwerben konnte,626  ein neues Kunstkammergebäude errichten zu lassen.627  Im selben Jahr erließ er das „Monstra-Edikt“, das alle russischen Länder verpflichtete, Mißgeburten an die lokalen Kirchenvertreter zu übergeben, die dann die Anor­malitäten an die Kunstkammer schicken sollten.628  Diese Maßnahme, die an   Guerrier, 1873, Nr.  240, S. 350: AI, 66, Z. 14–17.   Guerrier, 1873, Nr.  240, S. 351; AI, 66, Z. 18–23. 624   Guerrier, 1873, Nr.  240, S. 351; AI, 66, Z. 24–28. 625   Böger, 1997, Bd. I, S. 473. 626   Luyendijk-Elsjout, 1994, S. 655–657; Luyendijk-Elsjout, 1996; Radzjoen, 1996. 627   Zur Baugeschichte: Kaljazina, 1996. 628   Hagner, 1999, S. 183ff.; Werrett, 2000, S. 52. 622 623

4. die posthume Erfüllung in St. Petersburg

Abb. 94.  Andreas Schlüter (?) und Georg Johann Mattarnowi, Kunstkammergebäude, 1718–1734, St.Petersburg, Foto: Barbara Herrenkind, 2000

Leibniz’ Vorschläge erinnert, daß alle Staatsbeamten natürliche Absonderlichkeiten an die Kunstkammer senden sollten,629  offenbart das weitere Ziel der petrinischen Kunstkammer, das Abnorme zu systematisieren, es aus dem Feld des Aberglaubens zu lösen und unter Kontrolle zu bringen. Auf diese Weise bildete die Sammel­tätigkeit der Kunstkammer eine sichtbare Form einer staatlich geforderten Aufklärung.630  Diesem Ziel diente auch die Akademie der Wissenschaften, mit deren Errichtung im Jahre 1721 der Hallenser Mathematiker und Leibniz-Anhänger Christian Wolff beauftragt wurde. Die Art, in der im westlichen Ausland nach Koryphäen für die Akademie gesucht wurde, erinnerte an die Suche nach Preziosen für die Kunstkammer, die als ein wesentlicher Teil der neuen Institution erachtet wurde. Es war von innerer Konsequenz, daß 1723 der wegen baulicher Probleme später ver­­ worfene Plan entstand, die Akademie im Kunstkammergebäude unterzubringen.631 Als Georg Bilfinger im Jahre 1725 die St.Petersburger Situation beschrieb, klang es, als würde er mit seiner Betonung des Wertes von Bibliothek und Sammlung eine

 AA, I, 3, Nr.  17, S. 18, Z. 5–18; AI, 21, Z. 34–39.   Werrett, 2000, S. 52. 631   Werret, 2000, S. 58, 62. 629

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X  Die Akademien und ihre Theater

Abb. 95. Grigirij A. Katschalow, „Durchschnitt von der Kayserlichen Bibliothec und Kunst­ kammer gegen Morgen“, Radierung, 1741; entn. aus: Palast des Wissens, 2003, Bd. 1, Katalog, Nr.  35g

Vollzugsnachricht an Leibniz in das Jenseits überbringen wollen: „Wir haben hier eine schöne Bibliothek, ein gut ausgestattetes Naturalienkabinett, eine Münzsammlung, unsere eigenen Drucker, und alles, was für den Fortschritt der Wissenschaften benötigt wird.“632  Im Jahre 1730 schließlich wurde das Gebäude der Kunstkammer auf der Wassiljewskij-Insel, schräg gegenüber dem Winterpalais, eingeweiht. Möglicherweise noch von Andreas Schlüter konzipiert, wesentlich aber durch dessen Schüler Georg Johann Mattarnowi geprägt, bildete es das größte und in seiner Lage wohl auch schönste Gebäude, das diesem Sammlungstyp jemals zugedacht wurde (Abb. 94). Wenn Leibniz bei der Einweihungsfeier noch hätte anwesend sein können, so wäre ihm seine Akademie, die durch das angeschlossene Theater der Natur und Kunst zu einem veritablen Museumslabor werden sollte, kaum mehr als Utopie erschienen. Er wäre dort auf den Gottorfer Globus gestoßen, den er bereits im Drôle de Pensée als Exponat gefordert hatte (Abb. 18) und der im Längsschnitt durch die Flügel

  Zit. nach Werrett, 2000, S. 60.

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4. die posthume Erfüllung in St. Petersburg

Abb.  96.  Anonym, Nordsibi­ri­sche Kinderkleidung aus der Haut eines Rentieres, Tuschzeichnung, 1730–40, St. Petersburg, Archiv der Akademie der Wissenschaf­ ten, Inv. Nr.  P.IX,4,Bl. 403; entn. aus: Palast des Wissens, 2003, Bd.  1, Katalog, Nr.  356

des Gebäudes im gewölbten Obergeschoß des mittleren Turmtraktes zu erkennen ist (Abb. 95). Er wäre insgesamt mit einer auch in seinen übrigen Exponaten überaus reichen Sammlung konfrontiert worden, welche die Idee des Weltmuseums stärker eingelöst hat als alle Vorläufer und auch Nachfolger. In der St.Petersburger Kunstkammer hätte Leibniz auch die Idee eines Universalatlas umgesetzt sehen können. In seiner letzten an den Zaren gerichteten Äußerung hatte er auch eine Encyclopedia major als einen solchen Universalatlas gefordert: „Die Großenzyklopädie würde ich Universalatlas nennen, da sie auch mit vielen und nützlichen Figuren versehen sein und aus etlichen Bänden in Großformat bestehen müßte. Dergleichen Werk hat man noch nicht, aber es wäre jetzt vermittelst einer gut verfassten Sozietät zum Gelingen zu bringen.“633  In der Tradition der Papiermuseen des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts634  dienten in St.Petersburg etwa viertausend in bemerkenswerter Könnerschaft gemalte Tuschzeichnungen als ein Inventar der Bestände der Sammlungen, das insofern 633 634

  Guerrier, 1873, Nr.  240, S. 357f.; AI, 66, Z. 30–34.   Freedberg, 2002.

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X  Die Akademien und ihre Theater

Abb. 97.  Anonym, Bronzenes chinesisches Räu­cher­ gefäß, Aquarell und Tusche auf Papier, 1730 bis 40, St. Petersburg, Archiv der Akademie der Wis­sen­ schaften, Inv. Nr. P. IX,4,Bl. 7; entn. aus: Palast des Wissens, 2003, Bd.  1, Katalog, Nr. 340

naturgemäß Leibniz’ Idee eines Universalatlas entspricht, als die Bestände selbst auf ein Weltmuseum hin angelegt waren. Unter den traditonellen Sammlungsgebieten stechen besonders die ethnologischen Exponate hervor. Die Blätter beeindrucken darin, daß sie die Exponate in konzessionsloser Isolierung auf das Blatt bringen und die Präsenz des Materials und der Stofflichkeit auch und gerade bei scheinbar unwichtigen Exponaten wie bei einem nordsibirischen Kinderparka in großartiger Direktheit vergegenwärtigen (Abb. 96). Eine Vielzahl der Zeichnungen, wie etwa auch die Wiedergabe eines bronzenen chinesischen Räuchergefäßes (Abb. 97), trägt jeweils links unten Signaturen, die auf ihren ursprünglichen Ort in der Sammlung verweisen. Das gemalte Inventar ist so auch das Register der räumlichen Verteilung der Exponate, so daß es

4. die posthume Erfüllung in St. Petersburg

möglich war und ist, die Aufstellung zu rekonstruieren.635  In dieser Präzisierung der Aufstellung hätte Leibniz sein als Lebensregel formuliertes Prinzip, die Exponate in Museen „nicht nur obenhin zu bedenken, sondern stückweise zu betrachten,“636 in einer grandiosen Form beantwortet gesehen. Leibniz starb Ende 1716. Wäre es ihm vergönnt gewesen, die St. Petersburger Kunstkammer zu besuchen, so hätte er seine eigenen Überlegungen gespiegelt gesehen. Sie wäre seine Erfüllung gewesen.

  Meijers und Roemer, 2003, Bd. 2, S. 170ff.; Prinzewa, 2003, Bd. 1, S. 235f.  AA, IV, 3, Nr.  136, S. 898, Z. 8; AI, 19, Z. 3–4.

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XI SCHLUSS 1. Der Glanz des Zeigens Der Ausgangspunkt des vorliegenden Versuches war ein Manuskriptblatt von Leibniz’ Bemerkungen zu einem Text von Joachim Jungius (Abb. 98). Hier wie auf zahllosen anderen Seiten zieht sich die Schrift in Kolumnen oder auch in erläuternden Inseln in unablässigem Strom über die ganze Breite der Blätter. Leibniz hat zehntausende von Seiten mit Briefen, Exzerpten und Textentwürfen bedeckt, die vor allem der stetigen Auseinandersetzung mit den eigenen Ideen dienten. Im immer neuen Öffnen oder Verwerfen von Möglichkeiten hat er eine andauernde Korrespondenz mit sich selbst geführt. Die unvergleichliche Masse seiner Texte ist Produkt einer Appetition, die das, was sich vor den Augen abspielt, zum Objekt einer Klärung werden läßt. Leibniz’ Schreibzwang ist der Schlüssel für die Selbstvervollkommnung der Monade. Sie verfügt über ein eingeborenes, kosmisches Wissen, das nicht etwa in sie hineinprojiziert, sondern aus ihr entfaltet werden muß. Als geistige, seelische Entität besitzt die Monade aber einen Körper, über dessen Sinne sie einen äußeren Prozeß in Gang setzt, der nicht nur als Parallele zur internen Entfaltungsmotorik zu denken ist, sondern der diese reflexiv stimuliert. Dieser Prozeß beginnt mit dem unentwegten Schreiben auf dem Papier, das die Selbstauswicklung der Ideen vor Augen führt, um den Vorgang in das Arsenal der Erinnerung zu übertragen und dort weitere Ideen anzustoßen. Der auf dem Papier materialisierte Gedanke ist der erste, visuell operierende Stimulus einer Selbstentfaltung der Monade. Das Irritierende des so dicht beschriebenen Blattes der Jungius-Reflexionen aber war das gezeichnete Gespinst am Rande (Abb. 1), mit dessen Hilfe Leibniz die Etappe der deutlich-distinkten Wahrnehmung und der daraus folgenden Handlung am Beispiel der Knoten- und Faltenbildung thematisierte. Der Knoten und die Falte kamen nicht von ungefähr in diese exemplarische Rolle. Wie eingangs erörtert, besitzt das Universum für ihn einen kontinuierlichen Körper, der nicht geteilt werden kann, sondern „wie eine Tunika auf verschiedene Weise gefaltet“ ist.637  637   „Totum universum est unum corpus continuum. Neque dividitur, sed […] instar tunicae varie plicatur“ (AA, VI, 4, B, Nr.  332, S. 1687, Z. 1f.; s. o. S. 12ff.).

1.  Der Glanz des Zeigens

Abb. 98. G. W. Leibniz, Manuskriptseite mit der Strumpfbandzeichnung, Mitte 1685 (?), Hannover, Niedersächsische Landesbibliothek, LH, IV, 7C, Bl. 120r

Die Berührungen der Falten der kosmischen Tunika aber bilden jene „kleinen Perzeptionen“, die Leibniz mit dem Rauschen vergleicht, das den Menschen am Ufer des Meeres umfängt.638  Aus der Sphäre der ars combinatoria antworten dem die irrationalen Zahlen, die in ihrer regellosen Unendlichkeit nicht zu begreifen sind, aber schließlich durch 638

  Leibniz, 1985, III/1, S. XXII/XXIII.

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XI Schluss

die übergeordnete Fähigkeit der „unfehlbaren Schau“ erfaßt werden können. Diese ist zwar spirituell, aber ihr Prinzip, die Kontingenz der Unendlichkeit als Gesetz des Möglichen begreifen zu können,639  gilt gleichfalls für die betrachtende Erkenntnis aller Elemente und Geschöpfe der Natur. Für Leibniz sind die unendlich im Universum anzutreffenden und infinit teilbaren Geschöpfe und Dinge nicht zu berechnen, sondern zu erblicken. Auf diese Erkenntnis reagiert das Theater der Natur und Kunst. Es ist das Ferment jener Wißbegierde, die über die Rezeption der Sachen selbst sowohl die Konkretion wie auch den intuitiven Blick zu schulen und sich auf diese Weise jener Vielzahl von Sehpunkten zu nähern versucht, über die der göttliche Blick verfügt. Hierin liegt, um die zentrale Passage nochmals zu zitieren, die Begründung des analytischen Zeigens: „In der Tat, wenn wir die Sachen selbst immer vor Augen haben können, wie die wilden Tiere in Lebendgehegen, oder die Skelette in anatomischen Theatern, werden wir es weniger nötig haben, sie durch Zeichen repräsentiert zu haben.“640  Dieser Antrieb besitzt, und dies ist der Kern von Leibniz’ Überlegungen, einen institutionellen Ort: „Und es ist zu wünschen, daß ein Theater der Natur und Kunst gebaut wird, in dem die Sachen soweit als möglich […] bewahrt werden.“641  Die Kunstkammer und das übergeordnete Theater der Natur und Kunst zeigen einen modellhaften Mikrokosmos (Abb. 6), in dem die göttliche, augenblickliche Erfassung aller Objekte und Relationen als intuitiver Akt erahnt und geübt werden kann.642  Diesen Gedanken hat Leibniz über einen Zeitraum von fünfundvierzig Jahren wieder und wieder variiert. In dem Schlüsseltext des Drôle de Pensée hat er ihn in das weiteste Extrem getrieben. In der „Neuen Art von Repräsentationen“ wäre es nicht zunächst um das Sehen, sondern das „Zeigen“ im Sinne des „Sehen machens“ (Faire voire) 643  gegangen. Die gesamte Einrichtung, welche die Utopie eines Theaters der Natur und Kunst abgeben sollte, hätte „den Leuten die Augen öffnen“ sollen,644  und das ouvrir les yeux würde, und dies ist die spektakuläre Konsequenz, „zu Erfindungen anregen, schöne Ansichten bieten und die Leute mit unendlich vielen sowohl nützlichen wie geistreichen Neuheiten bekanntmachen“.645  Die infi­nité de nouveautez ist keineswegs ein metaphorischer Lapsus. Vielmehr zeigt Leibniz den

 AA, VI, 4, Nr.  326, S. 1655, Z. 15; Leibniz, 1996, II, S. 656; s. o. S. 100.  AA, VI, 4, A, Nr.  78, S. 324, Z. 18–19; AI, 20, Z. 20–22; s. o. S. 106. 641  AA, VI, 4, A, Nr.  78, S. 324, Z. 19–22; AI, 20, Z. 22–25; s. o. S. 106. 642   Mediationes de Cognitione, Veritate et Ideis, in: Leibniz, 1985, Bd. I, S. 36/37. S.  o. S. 108. 643  AA, IV, 1, Nr.  49, S. 563, Z. 27; S. 564, Z. 2, 7, 29f.; S. 565, Z. 1; AI, 5, Z. 56, 67, 73, 98–100, 104). Vgl. das faire representer (S. 565, Z. 3; AI, 5, Z. 106). Vgl. Mersmann, 2003, S. 21f. 644  AA, IV, 1, Nr.  49, S. 565, Z. 7; AI, 5, Z. 111. 645  AA, IV, 1, Nr.  49, S. 565, Z. 7–10; AI, 5, Z. 111–114. 639

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2. Kalkül und Ahnung: Leibniz’ Aktualität

Wechselspiegel der internen Unendlichkeit der Monade und deren äußerer Repräsentation im Theater der Natur und Kunst und der Kontingenz seines Zeigens und Vorführens. Es ist, zehn Jahre bevor Leibniz den Begriff nutzen wird, die Monade in äußerer Repräsentation. Leibniz hat dem „Ich denke, also bin ich“ des Descartes gleichsam ein „ich sehe, also denke ich“ vorausgesetzt und immer wieder gefordert, „die Augen zu öffnen“.646  „Die Herren Kartesianer sind von ihren Hypothesen zu eingenommen“, so bemerkt er später in einem an seinen Freund Christiaan Huygens gerichteten Brief vom Februar 1690: „Ich bevorzuge eher einen Leeuwenhoek, der mir sagt, was er sieht, als einen Kartesianer, der mir sagt, was er denkt. Es ist doch notwendig, die Überlegung mit den Beobachtungen zu verbinden.“647  Im Drôle de Pensée, diesem un­widerstehlichsten all seiner Texte, wird die Leidenschaft sichtbar, mit der Leibniz sein Konzept entwickelte. Wenn er sich einmal selbst als einen eher trockenen, starker Gemütsbewegungen nicht fähigen Menschen beschrieb,648  so täuschte er sich zumindest in Bezug auf die Idee eines Theaters der Natur und Kunst, in dem den Menschen „die Augen geöffnet“ werden. Er hat sie mit einer wahren Passion vertreten.

2. Kalkül und Intuition: Leibniz’ Aktualität Hundert Jahre nach Leibniz’ Renaissance als Vordenker der analytischen Philosophie, der formalen Logik, des digitalen Rechnens und der kybernetischen Erklärung der Welt hat sich der Ruhm mit dem Erfolg der Phänomene, auf denen er gegründet war, verzehrt. Leibniz’ Kanonisierung geschah um den Preis, daß die Spindelbewegung seiner Philosophie angehalten wurde.  Im Licht des Theaters der Natur und Kunst zeigt sich jedoch ein Philosoph, der das rationale Kalkül zu einem Gebot geradezu der Menschlichkeit macht, im selben Zug aber auf die Grenzen der Mathematisierbarkeit verweist und den Blick auf die Sachen selbst als Nachahmung einer göttlichen Sehform begreift.649 Reziprok 646  Es kommt darauf an, gegen die menschliche Faulheit „aperire oculos“ (Leibniz, 1949, S. 62). Da sich diese Wendung auf das Leeuwenhoeksche Mikroskop bezieht, ist sie keinesfalls nur metaphorisch gemeint. 647   „(…) mais Messieurs les Cartesiens sont trop prevenus de leur hypotheses. J’aime mieux un Leeuwenhoek qui me dit ce qu’il voit, qu’un Cartesien qui me dit ce qu’il pense. Il est pourtant necessaire de joindre le raisonnement aux observations“ (Leibniz an Huygens, in: Leibniz, 1899, S. 641). 648   Müller und Krönert, 1969, S. 2. 649   Zu den besonders markanten Zeichen einer Öffnung gehörten Vorstöße, die geläufige Vorstellung von der „Blindheit“ des Geistes zu überwinden (Krämer, 2001), den Perspek­ti­ vismus dem „Horizont des Sinnlich-Körperlichen“ zuzuordnen (Leinkauf, 2004, S. 138), die technischen Zeichnungen als simultane Verknüpfungen von Zeitstufen zu begreifen (Hecht,

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XI Schluss

hätte er den Aufstieg der Falte zu einem Motto der jüngeren Moderne, wie es sich in Philosophie und Architektur zeigt,650  begrüßt, um die kartesische Klarheit als deren komplementäre Bedingung einzufordern. In diesem Wechselspiel überbietet Leibniz’ Philosophie nicht nur die vor gut hundert Jahren durchgeführte Festlegung auf eine sich selbst bindende Logik, sondern sie hütet auch vor der spürbaren Leere, die sich nach dem Jahrzehnt der Com­ putereuphorie aufgetan hat. Leibniz immunisiert gegen die Theologen des Computers ebenso wie gegen die von der Welt des Digitalen enttäuschten Sinnsucher. Leibniz ist darin zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts von besonderer Aktualität, daß er die Alternative von Kalkülisierung und Intuition vermeidet. Zu aktivieren ist seine Erfahrung, daß die algebraische Kalkülisierung das Rückgrat der Erkenntniskultur ausmacht und dennoch in der transmathematischen Schau eine übergeordnete Dimension erfährt. Sie äußert sich in den Lichtspielen des Schattentheaters, den Zeichen und Bildern der Mathematik, den reflexiven Zeichnungen sowie im intuitiven coup d’oeil auf alle Bereiche der Kontingenz, wie sie sich in der Natur und in der Geologie sowie in Sammlungen, Atlanten, Laboratorien, Akademien und allen sonstigen Spiel- und Denkorten zeigen. Leibniz weiß, daß zum Denken Verkörperlichungen gehören: und sei es als Knotengebilde am Rande einer Seite oder auch als eine der surreal wirkenden Skizzen, die kaum gedeutet werden können, gerade weil sie für Leibniz den Spielgrund des Denkens abgaben (Abb. 99). Wenn es jemals ein Fenster in die Gedankenwelt von Leibniz gegeben hat, so bieten es diese an Miró erinnernden, auf einer Pappe eingetragenen Kritzeleien, die in ihrem Durcheinander von Stoß- und Reflexionslinien Leibniz’ internes Repräsentationstheater eigenwillig zu spiegeln scheinen.

Knobloch und Rieger, 2002) und in Antizipation und Ahnung eine auch ästhetisch begründete Ausnahmeerfahrung zu erkennen, die mit der Zusammenziehung der Zeit Perspektivwechsel erlaubt (Beiträge in: Antizipation in Kunst und Wissenschaft, 1997).  650  Vgl. Serres, 1992 [1974], S. 161–165, Deleuze, 1988, ders., 1995 und Vidler, 2000, S. 219ff. Eine großartige, historische Reflexion bietet Didi-Huberman, 2002.

2. Kalkül und Ahnung: Leibniz’ Aktualität

Abb. 99. G. W. Leibniz, Skiz­zen­ta­fel, s. d., Hannover, Niedersächsische Landes­ bibliothek, LH, XXXVII, Physica, Vol. IV

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ANHANG 1. Quellen (1668–1716) Die Liste erfaßt Texte und Korrespondenzen von Leibniz zu Fragen des Theaters der Natur und Kunst, des Bilderatlas und des Zeichnens sowie zwei Texte von Johann Joachim Becher, auf den er sich ursächlich bezogen hat. Die Schriftstücke folgen in der Chronologie ihrer gesicherten oder mutmaßlichen Entstehung. Alle namentlich nicht gesondert ausgewiesenen Texte und Briefe stammen von Leibniz oder sind an ihn gerichtet. In den Überschriften sind die zeitgenössisch verwendeten Titel kursiv gesetzt; kursiv erscheinen auch die Kurzkommentare und Paraphrasen.

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Johann Joachim Becher, Methodvs didactica, München 1668 [zit. nach der identischen Ausgabe 1674] „Wer wird einem alle lebendige Thier / Kräuter / Stein / Metallen / und Artefacta, Instrumenta / und Sachen / auch derer Theil lebendig vor Augen stellen / wo ist ein solcher Ort in der Welt / da man dises hätte? / Freylich, wo ist ein solcher Ort? Ein andere Frag aber ist / wo ein solcher Ort ist / ein andere ist / ob ein solcher Ort seyn köne. Die Botanici bemühen [S. 50/51] sich sehr köstliche Gärten zu bauen / allerhand Kräuter darinnen zu haben / und wollen gleichsam den Himmel an disen / oder jenen Ort mit Gewalt binden / daß er an einen Ort alle seine Kräfft gebe / da doch dises Kraut naß, diß dürr / diß einen fetten / jenes einen magern / ein anders einen sandigen Boden / diß [einen] lang / jenes [einen] kurzen Sommer habe wil / so ist es auch mit den Thier-Gärten un dergleichen / Ich habe einmal diese Specu­lation gehabt / wann ein Herr wäre / der die Mittel gebe / ein Theatrum Naturae & Artis aufzurichten / solcher gestalt / daß alle Naturalia, und Artefacta Instrumentem und Manufacturem darinnen wären / so vil man immer bekommen könte / Exem­ pligratiae. In der ersten Galleria wären die Thier / derer Häut man entweder außfüllen / oder von Holz nach dem Leben machen und schnitzen oder von Wax die kleineren possiren könte / ich habe in Holland zu Leiden bei einem Studioso

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Medicinae einem Schweden ein artiges Skeleton gesehen / da die Nerven / Arterien, und der ductus venae cavae alle von gefärbten Dräten / dem Leben nach, und der Natur / und Anatomi gemäß gemacht / und exprimirt, auch mit Zetteln bezeichnet waren / wie wäre ein solches Ding ein herrliches Werck / auff einer Teutsche Universität / oder in solche Theatrum Naturae & Artis? Dadurch einer in einem Tag mehr lernen kan / als in der blutigen Anatomiae in vil Wochen / zu malen / wo man nicht Copiam der toden Körper / oder Licentiam solche zu Anatomiren haben kan“ (S. 51). „Ebenso könte man die Vegetabilien dem Leben nach von Holz / oder Wax bilden / die Keffer dörren / da ich dann gewiß weiß / der trefliche Künstler Herr Daniel Neuberger zu Regensburg wird in Exprimirung derer mit der Natur streiten / ob sie [S.  51/52] solche natürlicher vorbringen / als er sie hernach machen wird / was wäre diß vor ein herrlicher Hortus Botanicus, der Sommer und Winter über grün blibe / und keine Veränderung des Wetters litte? (was von Wachs possirt, könte mit Glas verwahrt werden) solcher gestalt könten auch die Theile der Thieren und Kräuter exprimirt werden / als Bien / Horn / Saamen / Wurzel / und dergleichen / in der dritten Galleri könte man die Steinen / Mineralien und Metallen haben / in der vierden allerhand Werckzeug und Manufacturen / und dises alles könte man also auffrichten / daß jeder Körper auff einem Postament stünde / oder läege / und auff solchem Postament / dessen Namen in vilerhand Sprachen geschriben stünde / auch könten die Körper ihrer physischer Abtheilung nach in gewisser Ordnung stehen / als die quadrupedia, besonders / die Vola­tilia, Aquatilia, Insecta, &c. / welches auch wo den Vegetabilien zu verstehen ist / und den übrigen: gleich ich so die Animalien, Vegetabilien, als auch Mineralien / Metalle u. Stein / ein ganz ordentlich in Tabulas gebracht habe / unter den Titel Cornucopiae Naturae, wäre nun dises nit ein schönes Theatrum Naturae, vor Alte und Jungen / Geist- und Weltliche / Gelehrte und Handwercks-Leut / da man an einem Ort beysammen hätte / was die gütige Natur in der ganzen Welt erschaffen / ja was einer wol / wann er gleich die ganze Welt durchreiseste / nicht wird zu sehen bekommen / sollte dieses nicht ein edler Magnet seyn / curiose Ingenia aus weit und breiten Landen dahin zu ziehen? ja solte es nicht ein lustiges Mittel seyn / der lieben Jugend gleichsam spilend / ja mit der höchsten Anmut / und Ergetzlichkeit die Erkantnus samt der Benennung so viler tausend Sachen beyzubringen und an den Körpern selbst eine der Natur angenehme Memoriam localem zu machen / kürzlich wäre es nicht eine Fürstliche / ja wol Kayserl. Recreation, die villeicht auch ihren ökonomischen Nutzen haben wird / dann gibet einer nun einen halben Batzen einen Bären / Affen / oder Narren zu sehen / was wird er nicht geben / die ganze Natur zu sehen in so treflichen Reich­thum? möcht einer sagen / was [52/53] wird es aber kosten? Antwort / villeicht nit mehr als ein einig Turnier / Ballet / oder andere Recreation, da doch dises beständig ist / jenes aber verget / mit sambt der Freud / so wird auch zu Anrichtung dessen so gar lange Zeit nit erfordert werden / kürzlich ich sage / dises einzige Mittel wäre gnug / eine

1. Quellen

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in Abgang gerathene Universität oder Gymnasium widerumb auf und in den besten Flor zu bringen“ (S. 52). 2

1669, Sommer (?)

Aus und zu der Appendix Practica von Johann Joachim Becher

(AA, VI, 2, Nr. 52, S. 390–394)

„Et vero locatio et rerum et verborum duplex est mortua et viva. Locatio rerum mortua ist in einer Kunstkammer, item in illo theatro naturae [et] artis ab autore praescripto. Locatio viva est, ubi adest ipse motus v.g. im thiergarten, im Blumengarten, im Bergwerck. Locatio vocabulorum mortua est Becheriana. Viva est Co­me­nia­ na et similium“ (S. 392, Z. 13–17). „In Theatro naturae et artis hic defectus quod ipsi motus repraesentari non possunt, nisi adhibeatur plane Machina qualem aliquando vidi, quae contineat omnia opificia. Forte et posset aliqua haberi quae repraesentet omnia mundi. vide et Erhard. Weigelium“ (S. 393, Z. 21–23). „Conclusio praxis prodibit autumno. Locus deligetur, ubi praeceptores et discipuli degere et informari possint. 4.ibi erit theatrum naturae et artis, es simul laboratorium physicum et mechanicum, ubi usus rerum monstrabilis. Res partim in natura, partim in holz oder wachs. Schedula affixa cuivis in qua nomina variarum linguarum[,] etiam corpora, in quibus vel solum 30000 hand­ wergs instrumenta“ (S.  394, Z. 5–8). 3

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Grundriß eines Bedenckens von aufrichtung einer Societät in Teutschland zu auffnehmen der Kuenste und Wißenschaften Konzept A (AA, IV, 1, Nr. 43, S. 530–538). „Unter solchen Mitteln wird die aufrichtung einer wiewohl anfangs kleinen, doch wohl gegruendeten Societät oder Academi, eines der leicht= und importantesten seyn“ (S.  536, Z. 21–22). Zu den Maßnahmen der Förderung von Wirtschaft, Ausbildung und Forschung gehört, „die Handwerge mit vortheilen und instrumenten zu erleichtern, mit stetswerenden unköstlichen feuer und bewegung, alles in chymicis und mechanicis probiren und ausmachen zu koennen, mit glas machen, perspectiven, Machinen, waßerkuensten, Uhren, drechselwerck, Mahlerey, Buchdruckerey, Faerberey, Webe­ rey, Stahl und eisenwerck, auch wohl einigen richtigen aber ins kleine ohne anstalt unfruchtbaren particularien nuzen zu schaffen, privilegia im land vor alles, außerhalb vor neue inventa zu erhalten, beytrag von hohen orthen, stifftungen und fun­

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dationes von curiosen zu erhalten, ein Theatrum naturae et artis oder Kunst=, Rari­ täten= und Anato­miae=Kam­mer, vor leichte erlernung aller dinge, anders als iezt bestelte Apotheken und hortos und Bibliotheken zu formiren, den Kern aus den Buechern zu ziehen, Msa, opera postuma, sich verlierende relationes, experi­menta, correspondenzbriefe zu samlen, alles in ordnung und indicibus zu haben, (…)“ (S. 537, Z. 5–15). 4

1671 (?)

Grundriß eines Bedenckens von aufrichtung einer Societät in Teuetschland zu auffnehmen der Kuenste und Wißenschafften Konzept C

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(AA, IV, 1, Nr. 43, S. 530–543)

„Kunst= und raritäten=, Schilderey= auch Anatomiae=Cammern, anders als ietzt geschicht bestellte Apothecen, Hortos medicos completos, Thiergaerten, und also Theatrum Naturae et Artis, umb von allen dingen lebendige impressiones und connoissance zu bekommen, anzurichten“ (S. 540, Z. 16 –18). 5

1675, September

Drôle de Pensée, touchant une nouuelle sorte de REPRESENTATIONS Hannover, Niedersächsische Landesbibliothek, LH XXXVIII, Fol. 232–233. (AA, IV, 1, Nr. 49, S. 562, Z. 14 – S. 568, Z. 12) 1

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Leibniz hat den durchlaufenden Text in die linken Spalten eingetragen. In die rechten Spalten hat er Einfügungen sowie in sich geschlossene Nachträge geschrieben. Eine Ausnahme bietet die letzte Seite, 233v, auf der die Nachträge in die linke Spalte eingetragen sind. Die Fassung der AA, IV, 1, Nr. 49; S. 562–568 hat zuerst die linken Spalten erfasst und die Einfügungen als Fußnoten gegeben. Danach wurden die Nachträge der rechten Spalten in sukzessiver Folge aufgenommen. In der vorliegenden Fassung wurde diese ­Glie­derung übernommen. Die Einfügungen sind jedoch in den Text integriert und durch Zeichen gekennzeichnet. Die Nachträge sind durch eckige Klammern ­hinichtlich ihres Standortes und ihres Inhaltes gekennzeichnet. Zur Orientierung wurden jeweils auch die Fol. des Manuskriptes angegeben. Drei Punkte in eckigen Klam­ mern stehen für unleserliche Stellen. [Fol. 232r] „La Representation qvi se fit à Paris septemb. 1675 sur la riviere de Seine, d’une Machine qvi sert à marcher sur l’eau, m’a fait naistre la pensée suivante, la qvelle,

1. Quellen

qvelqve drole qv’elle paroisse, ne laisseroit pas d’estre de conseqvence, si elle estoit executée. Supposons qve qvelques personnes de consideration, entendues aux belles curiositez, et sur tout aux machines, soyent d’accord ensemble, pour en faire faire des representations publiques. Pour cet effect il faudroit qu’elles pûssent avoir un fonds, à fin de faire des depenses necessaires; ce qvi ne seroit pas difficile si qvelqves uns au moins de ces personnes fussent en état d’avancer. Comme par exemple le Marqvis de Sourdiac, Mons. Baptiste, Mons. le Brun, ou peut estre qvelqve grand Seigneur, comme Mons. de la Feuillade, Mons. de Roannez; ou même si vous voulez, Mons. de Meclembourg, Mons. de Mazarini, et qvelqves autres. Il vaudroit pour tant mieux, qv’on pût se passer des grand Seigneurs, et mêmes des gens puissans en Cour, et il seroit bon d’avoir des particuliers capables de soûtenir les frais necessaires. Car un seigneur puissant se rendroit maistre tout seul de l’affaire, lors qv’il en verroit le succés. Les choses allant bien on pourroit tousjours avoir des protecteurs en Cour. Outre les personnes capables de faire les frais, il en faudroit aussi qvi puissent donner tousjours des nouuelles inventions. Mais comme le grand nombre fait naistre des desordres; je croy qve le meilleur seroit qv’il n’y en eût qve deux ou trois associez, maistres du privilege, et qve les autres fussent à leurs gages, ou receus avec condition, ou à l’egard de certaines representations, ou jusqv’à un certain temps, ou aussi long temps qv’il plairoit aux principaux, ou jusqv’à ce qv’on leur auroit rendu certaine somme d’argent qv’ils pourroient avoir fourni. Les personnes qv’on auroit à gage, seroient des peintres, des sculpteurs, des charpentiers, des horlogers, des […] et autres gens semblables. On peut adjouter des mathematiciens, ingenieurs, architectes, bateleurs[,] charlatans, Musiciens, poëtes, libraires, typographes, graveurs, et autres, le tout peu à peu et avec le temps. Les representations seroient par exemple des Lanternes Magiques (on pourroit commencer par là), des vols, des meteores contrefaits, toutes sortes de merveilles optiques; une representation du ciel et des astres. Cometes. Globe comme de Got­ torp ou Jena; feux d’artifices, jets d’eau, vaisseaux d’estrange forme; Mandragores et autres plantes rares. Animaux extraordinaires et rares. Cercle Royal. Figures d’ani­ maux. Machine Royale de course de chevaux artificiels. Prix pour tirer. Represen­ tations des actions de guerre. Fortifications faites, elevées, de bois, sur le theatre, tranchée ouuerte, etc. Le tout à l’imitation du faiseur des […] luts qve j’ay veu; un maistre de fortification expliqveroit l’usage de tout. [232r/ 232v] Guerre contrefaite. Exercice d’infanterie de Martinet. Exercice de cavalerie. Bataille navale, en petit sur un canal. Concerts extraordinaires. Instrumens rares de Musiqve. – Trompettes parlantes. Chasse. Lustres, et pierreries contrefaites. La Representation pourroit tousjours estre meslée de qvelqve histoire ou comedie. Theatre de la nature et de l’art. Luter. Nager. Danseur de cordes extraordinaires. Saut perilleux. Faire voir, qv’un enfant leve un grand poids avec un fil. Theatre Ana­

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­­tomiqve. Iardin des simples. Laboratoire, suivront. Car outre les repre­senta­tions publiqves, il y aura des particulieres, comme des petites machines de Nombres, et autres[,] tableaux, medailles, bibliotheqve. Nouuelles experiences, d’eau, air, vuide. Pour les representations grandes serviroit aussi la machine de Mons. Gvericke, de 24 chevaux, etc. Pour les petites [son] globe. Qvantité de choses de chez Mons. Dalencé; item pour l’aimant. Mons. Denis, ou Mons.- les expliqveroient. On y di­stri­­bueroit même certaines raretez, comme eaux stiptiqves etc. On y feroit l’operation de transfusion et infusion. Item pour congé on donneroit aux spec­­ tateurs le temps qv’il fera le lendemain, s’il pleuura ou non; par le moyen du petit homme. Cabinet du pere Kircher. On fera venir d’Angleterre l’homme qvi mange du feu etc. s’il est encor en vie. On feroit voir au soir la lune par un Telescope aussi bien qve d’autres astres. On feroit chercher un beuueur d’eau. On feroit l’epreuue des machines, qvi jetteroient juste, sur un point donné. Des representations des muscles, nerfs, os, item machine representant le corps humain. Insectes de Mons. Schwammerdam, Goedartius, Iungius. Myrmecoleon. Boutiqve de Messieurs Galineé et des Billets. Arts de Mons. Thevenot. Disputes plaisantes, et colloqves. Faire voir des Chambres obscures. Peintures qvi ne se voyent qve d’un […] de certaine maniere, et d’un autre de tout autre. […] asie d’un certain Mons à l’isle N[otre] D[ame]. Termes comme à Versailles qvi bordent un canal. Rejouissances publiqves. Grotesqves peintes sur du papier huylé et des lampes dedans. On pour­­ roit avoir des figures qvi marcheroient, illuminées [de] dedans, pour voir ce qvi seroit sur le papier. Pour les lanternes magiqves, on auroit non seulement des sim­­ ples choses peintes sur du transparent, mais démembrables, pour representer des mouuemens bien extraordinaires et grotesqves qve les hommes ne sçauroient faire. Ballets des chevaux. Courses de bague; et de la teste de Turc. Machine des arts, telle que j’ay vu en Allemagne. Force du miroir ardent. Feu Gregeois de Callinicus. Jeu d’Échec nouueau d’hommes sur un theatre. Comme dans Harsdorffer. Auffzüge à la mode d’Allemagne. On y pourrait apprendre et representer d’autres especes de jeux en grand. Jouer une comedie entiére des jeux plaisans de toutes sortes de pays. Les gens les imiteroient chez eux. On aurait dans la maison jeu de paume, et autres, et […] on inventeroit peut estre une nouuelle espece de jeu utile. On y pourroit à la fin établir des Academies d’Exercices, et des Colleges pour la jeunesse, peut estre le pourroit on joindre au College de 4 nations. Comedies des modes differentes de chaqve pays. Une comedie Indienne, une Turqve, une persane etc. Comedies des métiers; une pour chaqve métier, qvi representeroit leur adresses, fourberies, plai­ santeries, chefs d’oeuures, loix et modes particulieres ridicules. Au lieu des bouffons Italiens, Scaramucha et autres [232v/ 233r] on chercheroit des bouffons françois qvi joueroient qvelqves fois des bouffonneries. Dragons volans de feu, etc. Pour­ roient estre de papier huylé, illuminé. Moulins à tout vent. Vaisseaux qvi iroient contre le vent. Le Chariot à voiles de Hollande ou plustost de Chine.  Instruments qvi joueroient eux mêmes. Carillons etc. Machine de Hauz d’une cavalerie et infanterie contrefaite, qvi se bat. L’experience de casser un verre en criant. Petter deuuroit venir. Inventions de Mons. Weigel. Faire voir l’egalité des battemens des pendules. Globe de Mons. Gvericke. Tours de passe passe. Tours de carte. On pourroit faire entrer ces choses dans les Comedies, v. g. jouer un bateleur. A la fin l’opera pourra estre jointe à tout cela, et bien d’autres choses. Postures dans les Comedies à la mode d’Italie et d’Allemagne, seroit nouueau. Tirer le rideau, ce ne seroit pas mauvais, car pendant l’intervalle on pourroit faire voir qvelqve chose dans l’obscurité. Et les Lanternes Magiqves pourroient estre propres à cela. On pourroit faire representer ces actions faintes de ces marionettes transparentes re­ presentées par qvelqve parole ou chant. On pourroit faire une representation des antiqvitez de Rome et autres. Des hommes illustres. En fin de toutes sortes de choses. L’usage de cette entreprise, seroit plus grand qv’on ne se pourroit imaginer, tant en public, qv’en particulier. En public il ouuriroit les yeux aux gens; animeroit aux inventions, donneroit des belles veües, instruiroit Ie monde d’une infinité de nouueautez utiles ou ingenieuses. Tous ceux qvi auroient une nouuelle invention, ou dessein ingenieux, pourroient y venir, ils y trouueroient de qvoy gagner leur vie, faire connoistre leur invention, en tirer du profit; ce seroit un bureau general d’adresse pour tous les inventeurs. On y auroit bien tost un theatre de toutes les choses imaginables. Menagerie. Iardin des simples, laboratoire, theatre anato­­ miqve. Cabinets de raretez. Tous les curieux s’y adresseroient. Ce seroit le moyen de debiter ces choses. On y joindroit des Academies, colleges, jeux de paume, et autres; concerts, galeries de tableaux. Conversations et conferences. Le profit en particulier seroit grand apparemment. Les curiositez optiqves ne couteroient gueres et feroient une grande partie de ces inventions. Tous les honnestes gens voudroient avoir veu ces curiositez la pour en pouuoir parler. Les dames de qvalité mêmes voudroient y estre menées, et cela plus d’une fois. On seroit tousiours encouragé à pousser les choses plus loin, et il seroit bon, qve ceux qvi l’entreprissent s’asseurassent du secret, dans les autres grandes villes, ou cours principales. Comme Rome, Venise, Vienne, Amsterdam[,] Hambourg; par des gens de leur dependance. Ayant privileges des Roys et republiqves. Cela serviroit même à établir par tout une assemblée d’Academie des Sciences, qvi s’entretiendroit d’elle même, et qvi ne laisseroit pas de produire des belles choses. Peut estre qve des Princes curieux, et des personnes illustres y contribueroient du leur pour la satisfaction publiqve, et pour l’accroissement des sciences. Enfin tout le monde en seroit allarmé et comme éveillé, et l’entreprise pourroit avoir des svites aussi belles et aussi importantes qve l’on se sçauroit imaginer, qvi peut estre seront un jour admirées de la posterité. [Ende 233r]

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Il en pourroit estre plusieurs maisons en differens endroits de la ville, et qvi repre­ senteroient de diverses choses. Ou plus tost differentes chambres comme boutiqves du Palais dans une même maison, dont les particuliers ayant des chambres louées feroient voir les raretez. Nouuelle rue la moignon. Le privilege pourroit obliger tous ceux qvi voudroient representer, de le faire dans l’Academie des representations. On pourroit à la fin resusciter et mettre bien mieux en usage le privilege du Bureau d’Adresse general, chose de grande importance, si elle avoit esté poussée comme il faut. Souuent on ne feroit point de frais en donnant seulement [à] d’autres la liberté de representer dans la maison de l’Academie, pour un certain argent. Et ainsi on en auroit du profit, ce seroit tousiours à l’Academie: et on ne feroit point de depense. Peut estre en se chargeant de l’execution de la fondation du college de 4 nations, on l’y pourroit joindre etc. On y tireroit au blanc…… On y fonderoit des loteries, et une espece d’ocar. On y vendroit qvantité de petites curiositez.

[Nachtrag auf Fol. 232 v, rechte Spalte, auf der Höhe von ca.: „des mouuemens bien extraordinaires et grotesqves“ Konzept eines Spielpalastes] I’aurois presqve oublié qv’on y pourroit establir une Academie des jeux. Ou plus generalement Academie des plaisirs. Mais le premier nom me plaist d’avantage, parceqv’il est au goust du monde. On y joueroit aux cartes, aux dez. Il y auroit une chambre de Landsqvenet, une chambre de trente et qvarante. Une chambre du Berlan, une chambre de l’Hombre etc. Une chambre des echecs ou dames. On feroit comme chez Fredoc. On distribueroit des marqves à ceux qvi voudroient jouer la dedans; et ainsi ils ne joueroient point d’argent mais des marqves, ce qvi fait jouer les gens plus aisement. Ceux qvi voudroient disner la dedans ne donneroient qv’une marqve (Louys d’or) par teste, et seroient fort bien traitez. Ce seroit en même temps un honneste cabaret; comme chez Bergerac. On feroit voir la dedans des curiositez, on n’y pourroit entrer sans donner une marqve. On payeroit les marqves au bureaux. Il y auroit une adresse ou subtilité pour rendre les marqves incon­tre­faisables; il faudroit qve leur nombre se rapportast à qvelqve autre nombre et petite marqve qv’un autre ne sçauroit deviner. Il y auroit plusieurs maisons ou Academies de cette nature par la ville. Ces maisons ou chambres seront basties de maniere qve le maistre de la maison pourra entendre et voir tout ce qvi se dit et fait, sans qv’on l’apperçoiuue, par le moyen des miroirs et tuyaux. Ce qvi seroit une chose tres importante pour l’estat, et une espece de confessional politiqve. Baptiste ne vivra pas tousjours. Et on y joindroit l’opera ou l’Academie de musiqve. Il y auroit […] pigmées, jets d’eau, lacs, combats navals, etc. [Palais] enchanté. [232v/233r]

1. Quellen

Il faudroit empecher qv’à l’Academie on ne jurât point; n’y blasphemât point Dieu. Car c’est le pretexte pourqvoy on a supprimé les Academies. On trouueroit le pretexte, en faisant venir la mode d’estre beau joueur; c’est à dire joueur sans emportement. Et qve ceux qvi s’emporteroient donneroient qvelqve chose non pas aux cartes, ou à la maison; car cecy paroistroit interessé, mais au jeu. Car par la ce seroit l’interest de ceux qvi jouent, de faire observer la loy. Mais si on remarqvoit une trouppe de joueurs tout emportez, ce qvi est rare, qvi se dispenseroit mutuellement de cette loy; on leur refuseroit la porte à l’avenir, apres les avoir avertis inutilement. Il faudroit se servir non pas du pretexte de pieté. Car le vulgaire le méprise; mais de la mode, et de l’air de qvalité. Si. NB. on ne refuseroit à nulle trouppe, qvi voudroit jouer dans la chambre publiqve; car ce seroit remarqvé. Si une certaine trouppe de joueurs cherchoit une chambre particuliere, cela leur seroit accordé; mais s’ils y juroient et se dispensoient de la loy, on leur refuseroit une chambre particuliere. Qvestion s’il faudroit permettre les tricheries au jeu. On pourroit distingver, selon qve les personnes voudroient. Car toute la tricherie estant bannie par leur accord, d’une commune voix, on mettroit une peine sur celuy qvi tricheroit et seroit découuert, pour donner tant aux cartes. S’il n’y avoit point de peine marqvée, elle seroit censée permise. Mais si des joueurs le voudroient bannir absolument, ce seroit sous peine d’estre banni de la compagnie, ou d’une grande somme d’argent. Par ce moyen les tricheries seroient le plus souuent permises. Ce qvi feroit étudier le monde à mille adresses. Neantmoins je croy qve cette tricherie d’apporter une carte estrangere deuroit estre defendue absolument; de même qve de se servir des dez estrangers. Il faut mieux bannir les tricheries; à moins qve les joueurs ne le veuillent permettre eux même ou punir seulement d’une somme d’argent. Le maistre du jeu pourroit avoir à luy des joueurs apostez, et estre du parti. Mais cela pourroit aussi ruiner sa reputation. Certaine espece de loterie, avec un gain raisonnable (qvi se peut calculer) pour le maistre de la loterie. Cette maison deviendroit avec le temps un palais, et celle contiendroit même ou dans son enclos, ou en bas des boutiqves de toutes sortes de choses imaginables. Le jeu seroit le plus beau pretexte du monde de commencer une chose aussi utile au public qve cellecy. Car il faudroit faire donner le monde dans le panneau, profiter de son foible, et le tromper pour le guerir. Y a’-il rien de si juste, qve de faire servir l’extravagance à l’establissement de la sagesse? C’est veritablement miscere utile dulci, & faire d’un poison un alexitere. On pourroit avoir des chambres des masqvez. Ces marqves seroient fort profitables, car l’argent est donné par avance […] [Ende 233r]

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[Nachtrag S. 233v, linke Spalte, ohne Referenz:] 215

On y joindroit à la fin un bureau d’adresse; Registre des affiches, et mille autres choses utiles.

[Nachtrag Fol.233v, linke Spalte]

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Ioignez les Marionettes du Marais ou les Pygmées. On pourroit encor y adjouter les ombres. Soit un theatre [en talud] au bout du costé des spectateurs, ou il y aura de la lumiere et de petites figures de bois, remuées, qvi jetteront leur ombre contre un papier transparent, derriere leqvel il y aura de la lumiere aussi; cela fera paroistre les ombres sur le papier d’une maniere fort éclatante, et en grand. Mais afin qve les personnes des ombres ne paroissent pas toutes sur un même plan, la perspective pourra remedier par la grandeur diminuante des ombres. Elles viendront du bord vers le milieu, et cela paroistra comme si elles venoient du fonds, en avant. Elles augmenteront de grandeur, par le moyen de leur distance de la lumiere; ce qvi sera fort aisé et simple. Il y aura incontinent des metamorphoses merveilleuses, des sauts perilleux, des vols. Circe Magicienne qvi transforme des enfers qvi paroissent. Apres cela tout d’un coup on obscurciroit tout; la même muraille serviroit, on suppri­meroit toute la lumiere, excepté cette seule, qvi est proche des petites figures de bois remuables. Ce reste de lumiere avec l’aide d’une Lanterne Magiqve jetteroit contre la muraille des figures admirablement belles et remuables, qvi garderoient les mêmes loix de la perspective. Cela seroit accompagné d’un chant derriere le theatre. Les petites figurent seroient remuées par en bas ou par leur pieds, afin qve ce qvi sert à les remuer, ne paroisse pas. Le chant et la musiqve accompagneroient tout.“ [Ende 233v] 6

1676, 22. 1.

Le Louvre, Plans d’achèvement, Pyramide Triomphale de Perrault „. Notiz über Leibniz’ Gespräch mit Claude Perrault am 22. Januar 1676. (Leibniz, 1857; Petzet, 2000, S. 568f.) 1

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„Mons. Perrault, le medecin de l’Academie royale des sciences, auteur du Vitruve françois, m’a conté aujourd’hui (22 Janvier) quantité de choses remarquables touchant le bastiment du Louvre. Mons. Colbert, ayant pris la surintendance des bastiments pour achever le Louvre, fit faire des desseins par les habiles architectes de France. Mons. de Veau, premier architecte du roy, en donna un comme pour servir de base ; les autres le controlerent, firent des remarques là dessus et donnèrent leur dessein. Mons. Colbert en tira de luy meme l’essence, ayant écrit 4 feuilles d’ecriture menue de sa main pour en faire rapport au roy. Mons. Perrault, frère du medecin, qui est a present le controlleur general des bastimens et jardins de France

1. Quellen

(il y en a 4 qui servent par quartier), et qui exerce sous Mons. Colbert l’intendance des bastimens etait en ce temps connu de Mons. Colbert, et prestait la plume a une Academie des belles lettres dont Mons. Colbert était le protecteur et de la quelle estaient Monsieur Chapelain scavantissime pour le grec et qui a traduit Xenophon, Mons. Charpentier et quelques autres. Mons. Perrault y faisant fonction de secretaire, où l’on travaille a des medailles, devises et autres choses pour la gloire du roy, il dit a son frere le medecin pourquoy il ne faisait pas aussi quelque dessein luy qui avoit travaille longtemps a l’architecture ; il s’en defendit, mais a la fin il en fit un ; il desseigna d’une maniere douce et agreable bien qu’en ce temps les architectes ne desseignait pas si bien et n’achevait pas, n’y finissait pas, se contentant de leurs traits et de donner les ombres par leur marche de lavis. Mons. Perrault le controlleur ayant montré ce dessein a Mons. Colbert, il luy plut fort et Mons. le Brun qui avait méprisé tous les autres s’arresta fort a celuy-ci. Mons. Colbert demandant de qui il estoit, il luy dit qu’il estoit de son frère dont Mons. Colbert demanda qu’il le vint trouver, luy montra tous les autres desseins et les lui donna avec les ecrits et avec le sien qu’il en avait tiré pour luy en dire son sentiment. Mons. Perrault fit un petit traité où il establit des maximes et une espece de systeme ; il remarqua les defauts de tous les desseins, et fit voir qu’il y avoit remedié avant que de voir les autres desseins. Mons. Colbert en fut fort satisfait. Et on estoit sur le point de s’y arrester. Mais il arriva une chose qui pensa renverser tout. Car Mons. Colbert considerant les fautes que tant d’architectes francais avaient fait, et qu’un médecin leur avait fait la barbe, se mit en teste qu’il fallut que sous ces gens fussent des ignorants et qu’il fallait consulter aussi des architectes étrangers. On parla au nonce pour écrire à Bernini ; on luy envoya le plan du Louvre avec ce qui estoit deja et toutes les sujections, et on luy demanda son avis pour la manière de l’achever. Bernini, au lieu d’envoyer un dessein du Louvre comme il pouvait estre perfectionné, envoya un dessein d’un palais tout nouveau, ce qu’on ne voulait, et s’excusa qu’il ne pouvait pas juger du Louvre sans l’avoir bien veu. Enfin on le fit venir avec grand peine et frais. Mons. Colbert cependant ne parloit plus a Mr Perrault de cette affaire, et gagné par les fanfaronnades de Bernini, arresta tout avec luy suivant son dessein. Bernini, après avoir receu de grands présents, et ayant compté plus de 50,000 écus, s’en retourna, ayant laissé un certain Matheo Masthei, architecte très habile pour conduire l’execution du bastiment. Bernini estoit deja de 80 ans, il n’estoit pas effectivement un architecte si consommé quil se vantait. Son dessein estoit plein de fautes assez grossieres. Quand il estoit a Paris, il meprisoit tout ce qu’on luy monstroit, il trouvoit miserable tout ce que les Francois avoient fait. Et quand il voyoit un tableau ou une statue d’un Italien, ou antique il s’arrestoit. Cependant Messieurs Perrault estoient bien mortifiés de se voir ainsi rebutés; ils prirent la resolution de faire voir par un memoire à Mons. Colbert non seulement les defauts du dessein de Bernini, mais son adresse ou plustot sa malice, par la quelle il prétendoit d’engager le roy si avant insensiblement, qu’on seroit obligé a la fin d’abattre le Louvre et de le faire tout de

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nouveau ; car outre qu’il faisoit faire un mur par dedans qui cachoit l’architecture du Louvre comme il estoit, il avoit fait tout en sorte que le nouveau bastiment avoit des vides ou le vieux avoit des yeux ou fenetres. Ainsi on auroit trouvé en executant son dessein qu’il falloit abattre tout ; ce qui auroit dégouté tout le monde et le roy même, et on l’auroit laissé là entierement, peut etre meme que cela estoit un effet de la jalousie italienne qui enviait a la France un bastiment aussi prodigieux que le Louvre ; car estant abattu il auroit peut etre jamais esté rebasti. Mons. Colbert ayant leu et bien consideré ce memoire, fit venir Matheo Masthei et le questionna sur certains points ou faits qui estoient allegués dans ce mémoire ; et trouvant quil les avouoit, Mons. Colbert dit il est assez. Quelques jours après le modelle qui se voit encore au Louvre fut achevé et le roy vint avec toute la cour pour le voir. Mons. Colbert se hasta pour s’y trouver avant le roy. Le roy vint un moment apres. Mons. Colbert le tira a costé et luy conta toute l’histoire en luy faisant voir les raisons. Cependant toute la cour regardait le modelle et disoit, voila qui est beau, parcequ’il falloit attendre que le roy eust parlé. Le roy enfin le voit aussi, il ne dit mot pour le louer ni pour le censurer, se contentant de questionner Mattheo sur l’effet que tout devoit faire. Le lendemain, Mattheo fut bien surpris de se voir congedié avec tous ses murasori. On le recompensa et on le paya fort honnestement. Ces Italiens estant partis, Mons. Colbert dit nous voila seuls. Comment ferons nous. On offrit a Mons. Perrault le medecin la charge de premier architecte du roy, car on n’estoit point satisfait de Mons. de Veau. Il refusa et il dit qu’il n’estoit pas architecte de profession et quil ne vouloit pas non plus abandonner toute autre chose pour l’amour de l’architecture. Il proposa qu’on establit plustot un conseil d’architecture pour cet effect, sous la direction de Mons. Colbert dont il seroit. Cela fut fait, Mons. Perrault, Mons. le Brun et M. Veau et quelques autres en estoient. Ils ne pouvoient s’accorder sur le dessein. Enfin Mons. de Veau abandonna le sien et consentit a celuy de Mons. Perrault de sorte qu’il n’y avait que deux qui restaient a comparer, celuy de Mons. Perrault et celuy de Mons. le Brun. On les fit desseigner tous deux par un même peintre d’une même grandeur. Chacun donna ses raisons par escrit. Le roy (suivant le sentiment de Mons. Colbert) prefera celuy de Mons. Perrault. Ayant fait examiner tous deux en plein conseil, en présence de Monsieur, frere du roy, mons. le prince et les conseillers d’Estat. Et c’est ce dessein sur le quel on travaille a present. Il y a le devant du Louvre; il pensait le quarré dont le commencement du costé de la riviere sera l’appartement de service de la reine; sur le devant meme l’appartement de cere­monie de la reine; plus bas du costé de la riviere sera l’appartement de service du roy de sorte que l’appartement de service du roy et de la reine sont tournés vers le midi, car le roy demeure principalement a Paris l’hyver et par consequent le midy est le plus agreable en hyver.

1. Quellen

AB devant du Louvre, CD courant de la rivière de Seine, ABEF quarré du Louvre, FG appartement de service du roy, GB appartement de service de la Reine, BH appartement de ceremonie de la reine, EF sale des soirées en bas, gardes en haut, dans les coins l’aile est soutenue de colonnes. IK octogone sale d’audience, etc: il y aura une salle d’une prodigieuse grandeur, L chapelle dont un dome comme le val de Grace mais plus grand, Ce sera comme la paroisse du Louvre: MN rue qui separe les Tuileries du Louvre: N porte, O pont de pierre sur la rivière: MN bibliotheque du roy à main droite, un peu a costé salle des peintures: MNP Tuileries: PR rue St Honore: la ligne PR de 700 toises1. Mons. Perrault le medecin est aussi auteur du dessein de l’arc triomphal, il en avait fait plusieurs; on en choisit celuy qui cousta le moins. Il avait proposé une belle pyramide toute massive, percée par dedans d’un escalier etroit qui tourne en vis jusqu’en haut. Il y aura en haut un globe de cuivre de trois toises de diametre tout massif, la hauteur sera deux fois celle de la tour de Nostre Dame. Il me montra des devises pour le 4 faces qui representeront les 4 parties du monde, un aigle regardant le soleil avec ces mots m e s u s t i n e t u n u s ! pour l’Europe pour signifier l’Empereur seul capable de regarder ce soleil. Cela est aussi honorable a l’empereur qu’au roy. Asie représentée par un phenix qui signifie l’Empire ottoman avec ce mot: m e s u s p i c i t u n u m . Afrique par un Elephant qui salue le soleil (Roy d’Ardres). Amerique par un dragon, d r a c o H e s p e r i d u m p o m i s s i v è a u r o i n c u b a n s , avec ce mot q u a s s e r v a t m i h i d e b e t o p e s , d e b e t s o l i qui produxit, id est in Galliam omnes America divitiae tran s f u n d u n t u r p r e t e r r e g i s d e s t i n a t a i n A m e r i c a m . Mons Perrault me montra encore quantités d’autres devises de la façon, comme: D u m l u d i t m e t u e n d u s , Mons le Dauphin. C’est un dauphin qui joue dans les vagues et qui est p r o e n u n t i o t e m p e s t a t i s pour dire que Mons. le dauphin est deja a craindre aux ennemis de la France quoiquil ne paraisse qu’enfant et innocent. On a mis cette devise sur les banderoles du regiment des gardes de Mons. le Dauphin. I n s p i c i e n d o une devise ou il n’y a qu’une autruche qui ne fait eclore qu’avec ses yeux en regardant fixement comme les naturalistes rapportent. Cette devise est pour Mons. Colbert comme surintendant. - J e n e b r u s l e q u e p o u r l a g u e r r e , une meche allumée signifie M. le duc de Longueville, celuy qui fut tué au passage du Rhin. D u c e n d i s R e g i b u s a p t a e pour l’abbé de Beaumont precepteur du roy par après archeveque de Paris qui avoit 7 etoiles dans ses armes. L’allusion est aux trois rois de l’Orient que l’Etoile menoit. I l n e c a c h e p o i n t m a f l a m m e , une Etne qui

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jette flamme pour une mariée qui fait gloire de son amour aulieu que les autres feux sont cachés. Devise de l’observatoire: s i c i t u r a d a s t r a ! une lunette d’approche. N u l l u m n o n m o v e o l a p i d e m représente une grande pierre du Louvre elevée sur une machine: il est souscrit: p r e f e c t u s r e g i o n u m o f f i c i o r u m 1675 pour dire que c’est mons. Colbert surintendant des bastiments qui fait remuer tout pour le bien du roi et de l’Estat. Il y avoit quantite d’autres de moindre sorte, comme une flamme qui s’eteint estant renversée avec un mot qui dit que le trop grand feu de l’amour s’étouffe en soy-meme. - Voicy la devize de Mons. Perrault lui meme; c’est une lanterne sourde avec ce mot: n o n u t v i d e o r , parce que la lanterne sourde fait voir les autres sans decouvrir, celui qui voit. Cela est pour un philosophe qui se contente de voir clair dans les sciences, et dans les secrets de la nature, quoiqu’il ne soit pas veu ny connu. Mons. le Brun croyoit que le dessein du Louvre de M. Perrault quoique beau seroit d’une execution très difficile. Mais Mons. Perrault a trouvé un très habile entrepreneur ce me semble Preaux ou Preat qui est admirablement exact, les pierres sont bien taillées, tout est avec une beauté admirable. Et le roy le voyant dit en présence de plusieurs: „ si Versailles pouvoit estre basti comme cela. „ On remarqua que le roy estoit en quelque facon jaloux de la beauté du Louvre, car il regarde le Louvre comme le bastiment des rois de France mais Versailles comme le sien. ‚Nous ferons remarquer que les lettres de renvoi du manuscrit ne sont pas toutes reproduites sur le plan; mais les indications sont suffisantes pour reconnaitre la dispo­sition‘ (Foucher de Careil, in: Leibniz, 1857, S. 235). 1

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1676, September (?)

Brief von Friedrich Adolf Hansen (AA, I, 1, Nr. 315, S. 458f.) 1

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Hinweis auf die Sehenswürdigkeiten in Amsterdam: „vous pourrez voir à Amsterdam des choses tres dignes de vôtre curiosité: entre autre vous verrez Monsieur Vaillant, et Monsieur Eibembourg doctes et excellens peintres: dans la maison où on prepare les cuirs dorrés un cabinet de raretés, et une table faite par Monsieur Dirck von Risch­wick qui est de couleur changeante selon les aspects, elle est estimée 44 000 livres. On voit aussi un Cabinet des Curieusités particulierement de medailles et d’antiques chez Monsieur Schwammerdam, et un globe chez Mr Finkelbin dont la circomfe­rance est de 19 pieds, estimé par l’auteur 20 000 fl. et chez Monsieur Reusch il y a grand nombre de squelettes de divers animaux et monstres. Il y a deplus la maison d’un particulier nommé Jost Kempens si magnifique dans touts ses appar­temens tant par les richesses que par l’art, que le Prince de Florence aujourd’hui grand Duc eut la curiosité de la voir, et la trouva meriter sa curiosité“ (S. 458, Z. 28 bis S. 459, Z. 6).

1. Quellen

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1677, 2./12. 2.

Brief von Friedrich Adolf Hansen (AA, I, 2, Nr. 214, S. 242–244) Dank für das „souvenir“: „et si je pouvois vous mander quelque chose rare et digne de vôtre curiosité, et de vôtre grande exactitude, que vous m’avez fait paroître par le recit dont vous m’avez honoré, et par le detail des choses le plus curieuses que vous avez vuës en Angleterre et en Hollande“ (S. 242, Z. 27–30). 9

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1678, 22. 7.

Brief von Friedrich Adolf Hansen (AA, I, 2, Nr. 332, S. 352–354) „Mr l’Abbé de Villeloin m’a montré le Volume dans lequel se trouvent beaucoup de portraits des plus habils Medicins, il y en a qui sont imaginairs, d’autres qui sont veritables, et dont on peut encore voir l’original en vie, je remarquai bien qu’il ne fit pas un trop grand estime de ce Volume, mais ayant commencé à marchander la dessus avec lui, il me dit qu’il vouloit bien se defaire de son Cabinet, ou de la pluspart des livres qui s’y trouvent, dont il y en a 300 plains de desseins et tailles douces, mais qu’il n’avoit pas envie d’en vendre par pieces, vouz aurez la bonté de me mander ce que je dois faire pour vôtre ami“ (S. 353, Z. 23–29). 10

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1678, 26. 9.

Brief von Friedrich Adolf Hansen (AA, I, 2, Nr. 350, S. 366–367) „M l’Abbé de Villeloin ne vend point separement le livre des portraits des Mede­ cins, il tache de vouloir vendre sa bibliotheque en tailles douces en gros.“ (S. 367, Z. 16–19). r

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1678, Sommer bis Herbst (?)

De Arte Inveniendi in genere (AA, VI, 4, A, Nr. 29, S. 79–83) „Huc de condendo Atlante Universali seu opere figuris constante, item de Theatro Naturae et Artis seu de Modulis rerum ipsarum conservatoriis, vivis mortuisve. Mortuis ubi exuviae, avulsa, vivis, ubi res agere et crescere possunt, secundum suam naturam“ (S. 81, Z. 18–21).

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1678, Sommer bis Herbst (?)

Atlas universalis (AA, VI, 4, A, Nr. 31, S. 86, Z. 15 – S. 90, Z. 6) 1

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Atlas universalis Habetur hactenus Atlas Geographicus. Item Atlas Astronomicus sive coelestis. Mihi autem in mentem venit Encyclopaediam totam Atlante quodam Universali egregie comprehendi posse. Primum enim pleraque quae doceri discique oportet oculis subjici possunt. Jam segnius irritant animos immissa per aures, quam quae sunt oculis subjecta fidelibus. Nec dubitandum est opus hujusmodi fore omnium Biblio­thecarum, et inprimis a viris illustribus quaesitum iri, quibus simul oculos ani­mamque pascet, ut juventutem taceam generosam, et compendio docendam, et a verbis ad res mature traducendam. Hic autem Atlas ita instituetur: Habeantur inprimis libri, qui dogmata sua figuris illustrant; item collectanea figurarum quae extant apud curiosos, ut Marollium aliosque. Libri autem alicujus figurae dispersae in unam facile colligi poterunt, evitatis repetitionibus diversarum figurarum satis compendiosam. Addantur denique rerum ipsarum icones, ab egregio artifice delineatae atque aeri insculptae. Topographia coeli sex Tabulis a P. Pardies comprehensa. Schickardi concavum coeli. Cassini aliorumque novae figurae pro Astronomicis illustrandis. Ephemerides in figuris Dalencaei. Sumtae figurae utiliores ex opere magno Ducis Northumbriae. Figurae utiles ex opere magno planisphaerii Octavii Pisani. Topographia terrae, seu pleraeque urbes celebres una, duabus vel pluribus ta­bu­ lis exhibitae. Item aliae tabulae pro munimentis. Tabula Heraldica compendiosa. Variae Tabulae Heraldicae illustriorum per varias Europae regiones familiarum. Tabulae Genealogicae familiarum principum Europae, cum nonnullis quae vete­rem historiam illustrant. Omnia Alphabeta linguarum. Item varii characteres Typographici, reapse expressi, vide librum characterum Vaticanae. Vestitus, habitus, cultusque hominum variarum nationum et professionum. Icones virorum illustrium veterum et recentiorum. Selecta Numismata veterum et recentiorum. Aedificia insignia antiqua aut nova, adhuc extantia aut alias explorata. Variae Antiquitatis reliquiae ex numismati[bu]s, inscriptionibus, annulis et ipsis rebus superstitibus expressae. Divinorum officiorum caeremoniae. Ordinum vestitus. Hyeroglyphica Aegyptiorum ex Horapolline et aliis. Ripae Iconologia.

1. Quellen

Arithmetica in figura. Item Algebra. Elementa Euclidis duabus tabulis com­ prehensa. Tabula unica Geometriae practicae. Tabula Conica, Tabula Sphaerica, Tabula pro quadraturis, et quae his sunt connexa. Tabula Graphices seu perspectivae. Tabula Catoptrica. Tabula dioptrica. Nucleus Cherubini. Tabulae novae pro scientia Musica universa, variisque organis. Adde opus Praetorii et Kircheri. Tabulae Architecturae civilis, et columnarum. Tabulae ornamentorum exquisitorum. Tabulae poliorceticae, seu de re fortificatoria urbiumque defensione et insultu. Tactica seu de ordine et exercitiis militaribus, quo pertinet et castrametatoria. Belopoetica seu de armis eminus agentibus, ubi et de aliis armis. Obsidiones et praelia celebriora. Mechanica, ubi omnis generis Machinae et moduli. Hydraulica. Marina sive Nautica. Oeconomica et omne genus supellectilis, et domesticae curae. Agricultoria, ubi omnis generis instrumenta et opera rustica. Textoria omnimoda, qua cujuscunque generis vestimenta aut corporis tegu­ menta parantur. Ubi tota ratio tractandi serici, lanae, gossypii, lini, cannabis, viminum. Tinctoria. Res muraria, ubi tract[at]io lapidum, terrarum, calcium. Huc stratores pavi­ mentorum regularii. Res lignaria, ubi tigna, trabes, aliaque id genus, et quicquid lignei in aedi­ficando adhibetur. Addantur alia quae aedificantibus serviunt, ut vitriariorum ars, item tessellata et musaica opera. Scriniarii. Tornatores. Pictoria, Sculptoria, Statuaria. Huc scriptoria ars. Ferri et plumbi tractatio, per varias artes mechanicas. Metalli fusoria. Doci­masti­ ca. Tota res fodinarum. Coctoria. Huc coctiones vitrioli, salis petrae, salis communis, aluminis, sac­cari, indigo. Vini, cerevisiae, Hydromelis, pomacei parationes, et tota res culinaria. Omnes chymicae operationes et chymicorum instrumenta. Reliqua res pharmacopoetica, et Materialistarum labores. Opus Botanicum; hortus Eichstetensis, etiam variationes quae in plantis con­ fingunt, et modus colendi. Anatomia opus per se magnum. Rumelini tabulae perficiendae. Chirurgica instrumenta et exercitia. Anatomia comparativa et animalium variorum icones. Rariora naturae et artis in Exoticophylaciis contenta. Mundus insensibilis, seu de his quae solo microscopio videntur.

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Analogica, seu de rebus incorporeis, quae corporum similitudine pinguntur, ubi de virtutibus, vitiis, rebus divinis, huc referuntur Hieroglyphica. Sinensium characteres. Sphaera moralis. Syllogismometrum. La carte du Tendre. Devises choisies. Emblemata selecta. Hae Tabulae tum in unum collectae in Atlante, tum et separatim a multis quaerentur, ut in cartis geographicis fieri solet, concinnabitur et [bricht ab] 13

1678

Johann Joachim Becher, Psychosophia das ist / Seelen-Weiszheit, Güstrow [zit. nach der zweiten Auflage: Psychosophia oder Seelen-Weißheit, Frankfurt 1683] 1

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„Die vierte ist eine Philosophische Schul / und lehret durch einen gewissen Me­ tho­dum allerhand Wissenschafften / insonderheit wird allda zu sehen seyn / das Thea­trum Naturae et Artis, nemlich etlich tausend corpora naturalia und artefacta, entweder natürlich / oder von Bildhauer Arbeit / oder von Wax posirt / allwo jedes Cörpers Namen und Gebrauch gelehret wird / gleich ein absonderliches Buch davon außgangen / darinnen weiter Berichte zu lesen / es wird auch mit der Zeit eine Sprach- und Exercir-Schul / von unterschiedlichen Sprachen und Exercitien da­rbey auffgerichtet werden / zu diesem Ende wird nicht allein eine Druckerery und Bibliothec von allerhand Büchern / sondern auch die benöthigten Instrumenta Mathe­matica und Mechanica vorhanden seyn / und mit gelehrten Leuten in der Welt Correspondenz geführt werden“ (S. Piiijv). 14

1679, 7. 8.

Brief von Friedrich Adolf Hansen (AA, I, 2, Nr. 499, S. 505–507) 1

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„M. l’Abbé Marolle est bien incommodé, il a beaucoup écrit sur l’histoire des Arts, et il parle beaucoup de ceux qui ont contribué à les perfectionner, je lui ai témoigné que beaucoup de savant en souhaitent l’impression avec empressement, il m’a promis de ranger ses papiers et de les donner à l’imprimeur, il a de fort bonnes choses dans son Cabinet, et comme il est bien malade à l’age de 80 ans il seroit à souhaiter que sa Bibliotheque et ses papiers ne tombassent entre les mains des ignorans“ (S. 506, Z. 31 – S. 507, Z. 1).

1. Quellen

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1679, Herbst

Semestria literaria (1) Semestria literaria (AA, IV, 3, Nr. 116, S. 775–781) „Jungaturque Encyclopaediae A t l a s U n i v e r s a l i s , opus mirifici usus, cuius ta­bulis omnis humana cognitio quae figuris exhiberi utiliter ac delineari potest, ipsis oculis subjiciatur, quod consilium alias prolixius descripsi“ (S. 781, Z. 18–20). 16

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1679, Herbst

Semestria literaria (4) (Ohne Titel) (AA, IV, 3, Nr. 116, S. 782–786) „Zu dem ende sollen ie zu zeiten genaue Beschreibungen allerhand wo nicht ganz neüer, doch sonst nicht iederman bekandter curioser, nüzlicher und noch nicht gnugsam in Büchern sich findender Künste, Wißenschafften, Reisen, begeben­hei­ ten, strategematum, Kriegs und friedens Actionen, Rechte, gewohnheiten, Kunst­ stücke, Antiquitäten, Natürlicher und Künstlicher raritäten, und Cabi­neten, Kreüter, thiere, instrumenten, machinen, Kunstspiele, und vornehmlich ganzer pro­­fessionen, handthierungen, freyen und anderer Kunst- oder Hand­wercke ent­ weder denen Semestribus beybracht, oder sonst dadurch veranlaßet werden“ (S. 783, Z. 14–21). „Zu dieser Encyclopaedie wird kommen der Atlas Universalis, ein werck von vortreflichen Nuzen dem Menschlichen gemüth alles leicht und mit Lust beyzu­ brin­gen vermittelst einer großen menge Tafeln, figuren und wohlgemachter auch da nöthig und nüzlich illuminirter Zeichnungen oder Abriße, damit alles so einigermaßen mit den augen gefaßet, und auf dem papier entworffen werden kan, desto geschwinder und anmuthiger und gleichsam spielend und wie in einem blick, ohne umbschweiff der worthe, durch das gesicht dem gemüth vorgebildet und kräfftiger eingedrücket werden könne. Von welchem Vorhaben ich anderwerts ein eignes bedencken verfaßet“ (S. 785, Z. 1–8). 17

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1679, Herbst

Semestria literaria (5) Propositio (AA, IV, 3, Nr. 116, S. 786–789) „Habebimus autem si hic conatus succedat I. Bibliothecam contractam seu Nu­cleum utilissimarum rerum, quae in plerisque omnibus libris extant. II. Atlantem universa-

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lem, qui sane quid rei sit explicabo alias. III. Cimeliorum literariorum corpus, quo inedita adhuc aut raritate ineditis paria, vetera inprimis, sed tamen et insignia quaedam recentiora monumenta, ab interitu vindicentur. IV. Thesaurum Experientiae seu descriptiones rerum artiumque atque actuum insignium uti­liumque nondum in literas missorum. V. Veram Methodum inveniendi as judi­candi quae analyticen et combinatoriam, artes, complectatur, et cuius ope ex prima­riis in aerarium scientiae publicum relatis veritatibus, reliquae numero infi­nitae, cum opus, vel ex ingenio vel institutis certo ordine experimentis, suppleri possint. Quemadmodum paucarum regularum Arithmeticarum ope infinitas quaestiones numerorum calculare licet“ (S. 788, Z. 12–22). 18

1679, Herbst

Semestria literaria (6) Consilium de Literis instaurandis condendaque Encyclopaedia (AA, IV, 3, Nr. 116, S. 789–795) 1

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„Encyclopaediae jungatur A t l a s U n i v e r s a l i s , cuius Tabulis omnis humana cognitio quae commode et utiliter delineari potest ipsis oculis subjiciatur. Hunc in usum mirifice servient collectanea Marollii Abbatis Villelongani. Caeterum hoc Atlantis Universalis consilium alias prolixius descripsi. Quod si magni principes rerum modulos in solido confici, nonnullas etiam naturae artisque curiositates in Gazophylaciis ac Musaeis colligi, digeri, conservari, et in observatoriis, labora­to­­ riis, fodinis, hortis, vivariis, Armamentariis nova experimenta fieri, et post con­­ ditam jam Encyclopaediam deprehensa suis locis per modum supplementorum adjici curent[,] non video quid amplius humana industria praestare possit“ (S. 795, Z. 13–20). 19

1679 (?)

Agenda (AA, IV, 3, Nr. 136, S. 894–907) 1

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„Damit die I m a g i n a t i o n oder Phantasi in guthen stand erhalten und nicht ausschweiffend werde, mus man alle seine einbildung auff einen gewißen Zweck richten, sich bemühen, die dinge nicht nur oben hin zu bedencken, sondern stückweise zu betrachten, soviel zu unsern Vorhaben nöthig. Es ist zu gut zu dem ende viel sachen sehen, und wohl betrachten als Kunst= und Raritäten kammern, Anatomi=Kammern, Kreüter (zu welchen ende man herbatum gehet)[,] Spe­ce­reyen und Materialien, Werckstühle; Kunstwercke, Palläste, festungen; sonderlich modellen und abbildungen. Dazu denn des Marollii Bibliotheca imaginaria treflich seyn würde. Damit man auch seine imagination übe ist guth, daß man bey sich versuche,

1. Quellen

ob man ohne einig original oder modell noch riß vor sich zu haben, dennoch eine sach deütlich sich vorstellen, nachreißen oder nachmachen, fehler darinne anzeigen, verbeßerungen finden, und dieß alles einen andern verständtlich beschreiben könne. Durch solche mittel wird die imagination erwecket und geschärffet“ (S. 898, Z. 6–17). 20

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De Arte Characteristica Inventoriaque Analytica Combinatoriave in Mathesi Universali (AA, VI, 4, A, Nr. 78, S. 318–331) „Methodus inveniendi consistit in quodam c o g i t a n d i f i l o id est regula transeundi de cogitatione in cogitationem. Cum enim Animus noster utatur imagi­nibus rerum sensibilium, consequens est, si imagines velut catena quadam impli­centur, cogitantem exerrare, dummodo attendat, non posse. Quemad­mo­dum ergo ad circulum accurate describendum Organo est opus, quo regatur manus idque eo magis quo minus exercitati sumus, ita ad recte cogitandum Instrumentis quibus­dam sensibilibus indigemus, quae ad duo summa capita revoco, C h a r a c t e r e s, e t­ T a b u l a s, quorum illis ad Analysin egemus, his ad Combinationem. Sunt autem T a b u l a e nihil aliud quam Inventaria rerum per characterum systemata. C h a r a c t e r e m voco quicquid rem aliam cogitanti repraesentat. R e p r a e s e n t a r e autem dicitur quod ita respondet, ut ex uno aliud cognosci possit, etsi similia non sint, dummodo certa quadam regula sive relatione omnia quae fiunt in uno referantur ad quaedam respondentia illis in alio. Nam ad repraesentandum non esse opus similitudine, patet ex Ellipsi quae circuli projectio est in tabella, eumque reprae­sentat spectatori distincte satis, et per partes, cum tamen similis ei nec sit nec esse debeat. Et quae potest intelligi similitudo inter Characteres Arithmeticos, et numeros sive unitatum repitiones? Nihilominus Characteres quibus utimur, nu­ meros ita exacte repraesentant, ut proprietates numerorum inveniantur per cha­ racteres. Equidem si res ipsas possemus semper habere ante oculos, ut feras in vivariis, aut sceleta in teatris anatomicis, characteribus eas repraesentantibus minus indi­geremus. Et obtandum est strui Theatrum naturae atque artis, in quo Res quoad fieri potest conserventur, ubi non potest, mortuorum exuviae, deperditorum varia simulacra ad vivum; deinde multiplicium instrumentorum atque machinarum Moduli habeantur. His enim ante oculis positis saepe nullo negotio consequemur, quae vix alias multa meditatione“ (S. 324, Z. 1–22).

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1680, Ende Januar (?)

Bibliothekskonzept für Franz Ernst von Platen (?) (AA, I, 3, Nr. 17, S. 16–21) 1

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(2) „Es ist nichts in der Welt so beßer sonderlich junge Herrn instruire, als Figuren. Nun ist mir ein Man zu Pariß bekand, welcher mit unglaublichen fleiß viel tausend auserlesene Estampes und crayons colligirt, und solche nach den Materien ein­ getheilet, so in vielen voluminibus bestehen, ich glaube nicht daß dergleichen in der welt zu finden, und solte dieses herrliche werck dissipiret werden, so were es ein irreparabler schaden. Der man ist numehr alt und es zu verkauffen bereit. Es kan vor eine ganze Bibliothec passiren, und findet man darinn die Bildnüßen fast aller berühmten Personen in der Welt, die repraesentationen unzehlicher einzüge und publiqver solennitäten; Ein ganzes Theatrum naturae et artis: Jagten, schiffarten und Tempesten, schlachten und festungen, Palläste, Garten, Landschafften, un­­­ zehliche hieroglyphica, capricen, ornamenten, devisen, symbola, und summa was von Wahrheiten und fabeln zierliches in Menschliche Gedancken kommen kan. Köndte man dieses werck haben, so hätte man gewislich einen schaz, und unerschöpfliche Quelle unzehlicher Nachrichtungen; deren man sich nicht nur bey Fürstlichen Lustbarkeiten, aufzügen, Mascaraden, Tourniren, sondern auch vielmehr bey Gebaüden, Gartenwerck, Machinen, und vielen begebenheiten bedienen köndte. Summa man köndte eine solche collection wohl eine lebendige Bi­blio­thec nennen. (3) Solches würde umb soviel desto mehr statt haben, wenn man, welches an sich selbsten wohl billig, bey die Fürstl. Bibliothec eine Kunstkammer fügen wolte. Dergleichen eine aniezo zu verkauffen (wo sie nur nicht bereits distrahiret), welche ihres gleichen wohl in der Welt nicht hat, und ohngeacht aller kosten und zeit so man auff die collection wenden wolte, wohl mit Viel tausenden nicht sobald einzeln zusammen zu bringen were. Große Fürsten haben auf ihre reputation sowohl als gemeinen Nuzen zu sehen. Dergleichen Ornamenten geben nicht nur materi zu herrlichen découuerten, sondern sind auch ein kleinod des Staats und werden in der Welt mit Verwunderung angesehen. Bey diese Kunstkammer weren allerhand Nüzliche machinen oder auch wo selbige zu groß deren Modelle zu fügen. (4) Und damit man nicht meine es seyen dieses bloße Curiositäten, welche mehr ansehen als vortheil bringen, so achte nöthig zu erinnern, daß vielleicht kein Fürst in Teutschland bey Curiositäten der Natur und Kunst mehr interessiret, als mein gnädigster Herr. Maßen der Harz an sich selbst nichts anders als ein wunderbarer Schauplaz, alda die Natur mit der Kunst gleichsam streitet“ (S. 17, Z. 7–35). „Dero wegen sind meine wenige gedancken, man solle sich sonderlich dahin appliciren, wie der Harz wohl ausstudiret werden möge; zu welchem ende nöthig, daß man alhier in die Fürstliche Kunst-kammer alle erfindtliche species und gradus der Erze, berghaffte metallen und mineralien, samt allen ihren sub-speciebus

1. Quellen

und allergeringsten differentiis einsende, samt denen nahmen und ganz exacten be­schreibungen, dabey nicht nur der orth da sie brechen und was sich alda befinde, sondern auch die conjecturen Verständiger Bergleüte, und was sie von deren natur, ursprung und würckung halten, zu fügen weren. Ja es solten die Schichtmeistere bey denen wochentlichen Lohnungen gehalten sein, alle bergarten die sie in der grube befinden, samt solchen guthachten, in den fürstlichen Zehenten einzuliefern, dahingegen sie vielen andern unnöthigen schreibens halben, womit sie viel zeit verlieren und darüber sie clagen, zu überheben. Und was von ihnen geliefert worden, were hernach bey den einkommenden wochentlichen BergRelationen mit einzuschicken und in die fürstl. Kunstkammer zu bringen. Was für ein Liecht daraus entstehen würde, ist nicht wohl zu beschreiben, wohl aber bey vernünfftigen Personen zu erachten“ (S. 18, Z. 5–18). „(6) Damit man nun sich aller dieser Leüte, deren man ohne das sehr viel bereits an der hand hat, mit Nuzen gebrauchen könne, so were nüzlich, daß man nicht allein deren eine Liste hätte, sondern auch daß sie an die Fürstl. Kunstkammer und Bibliothec auf gewiße maße und also gewiesen weren, daß sie auff des directoris erfodern erscheinen, ihm alle nachrichtungen sowohl schrifft- als mündtlich zu geben, auch abriße und modelle ihrer Concepten und unterhanden habenden dingen, in die Fürstl. Bibliothec und Kunstkammer einzuschicken hätten“ (S. 18, Z. 35 – S. 19, Z. 5). „(8) Bey die Kunstkammer gehöret das Fürstl. Laboratorium“ (S. 19, Z. 23). 22

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1682, 23. 11.

Brief von Christoph Daniel Findekeller (AA, I, 3, Nr. 492, S. 554–555) Bericht über das Dresdener „Cabinet des raretés de S[on] A[ltesse] Ele je veux bien vous dire, que Beutel le garde de ce Cabinet a fait imprimer un liure qu’il appelle, Cedretum Electorale Saxonicum, imprimé icy l’an 1671. in 4°, auquel il divise ce Cabinet en 7 chambres, et y range toutes les pieces qui y sont, mais dans ce liure là je ne trouve rien de consequence ce qui puisse servir pour l’avancement des sciences et des arts; dans la premiere il vous met les instruments mechaniques, de toute sorte, dont le Fondateur de ce Cabinet l’Electeur Auguste s’estoit servi lui mesme, auec plusieurs instruments mathematiques; dans la seconde chambre on trouve“ (S. 555, Z. 10–17).

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1683/86

Methodus docendi una popularis altera scientifica perfectior (AA, VI, 4, A, Nr. 139, S. 579–582) 1

„Unius autem ea res non foret, sed opus esset multorum conspiratione, et praeterea ingenti numero figurarum, quale quid alibi sub Atlantis Universalis nomine concepi atque descripsi“ (S. 581, Z. 23 – S. 582, Z. 2).

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Lettre sur l’Education d’un Prince (AA, IV, 3, Nr. 68, S. 542–557) 1

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„Comme l’enfance est un âge, où regne l’ i m a g i n a t i o n , il en faut profiter, et la remplir de milles belles idées. J’approuverois merveilleusement les T a b l e a u x d e s a r t s , s’il y en avoit, et j’ay souvent souhaitté qu’on fist designer et graver des grandes tailles douces, comme celles qui entrent dans les Atlas, qui representassent d’une seule veue toute une science, art ou profession. J’en ay vû, et j’en ay eu moy même des echantillons. J’ay toute la fortification en une table; j’ay de même la representation d’un vaisseau et d’une galère avec des explications des termes de marine. J’avois la Geometrie Practique dans une seule Table; un de mes amis avoit fait quelque chose de semblable sur l’artillerie à ma priere. J’ay vû les principales antiquités de Rome sur un seul Tableau. La Morale et la Politique s’eclairciroient par des emblèmes dans les tableuax choisis des bons maîtres ou dans leur tailles douces. Il importe fort d’ailleurs, qu’un jeune Prince prenne quelque goust aux bons desseins, et s’exerce un peu à desseigner luy même, rien n’estant plus utile dans la practique militaire, sans parler de l’architecture Civile, dont une representation abregée sur un tableau sera encor de grand usage. Et le même se pourra faire dans les autres sciences, arts et professions avec grandissime profit et plaisir d’un jeune Prince. Ce ne seroient pas des nomenclatures steriles, mais qui porteroient la con­noissance des choses avec les termes, et qui representeroient toute la nature aussi bien que l’art“ (S. 551, Z. 18 – S. 552, Z. 11). „Mais outre ces representations je serois d’avis qu’on se servit d’une maniere de C a b i n e t s de l’ a r t e t d e l a n a t u r e , pour monstrer au jeune Prince les echantillons des choses mêmes, ou a moins leur modelles. Ce seroit, pour ainsi dire, u n T h e a t r e d e l a N a t u r e e t d e l’ A r t . On a fait des modelles d’Anatomie, qui representent fort au juste la machine du corps humain et de quelques unes de ses parties, comme de l’oeil par exemple. J’ay vû toute la fortification faite de bois en pieces rapportées et changeables. J’ay vû mille instrumens de menage, faits d’argent en petit. J’ay vû une piece qu’on faisoit voir pour de l’argent, où toutes sortes d’ouvriers travailloient avec leur instrumens et attitudes naturelles. Les medailles, les

1. Quellen

graveures sur des pierres et autres monumens en original ou en copie éclair­ ciroient l’Histoire ancienne et moderne. Et comme les Elemens de Mathematique sont fort importans, surtout pour la science militaire, qui est du mestier des Princes, c’est là où des modelles, des machines, et des instrumens en grand ou en petit sero­ ient sur tout de grande usage. On a inventé des C a r t o n s d e G e o m e t r i e , qui se peuvent joindre et déjoindre et servent (par une espece d’experience demonstra­ tive) à donner des raisons palpables des plus solides et plus importantes verités. L’on sçait que les regles, compas, transporteurs, cercles, spheres, quadrans et autres in­stru­ mens servent non seulement dans la Geometrie practique pour faire quelques operations, mais aussi dans l’Astronomie pour concevoir le fond de la chose. Et c’est encor en d’autres arts, qu’on se peut faire d e s m a c h i n e s , q u i r e p o n d e n t à n o s q u e s t i o n s , et rendent raison en même temps de leur reponse. Rien n’est plus important que d’apprendre les choses par raison, c’est le moyen de ne les point oublier. Et lorsque ces raisons sont palpables et sensibles, la satisfaction en est redoublée. Jusqu’icy la raison s’est servie de l’escorte de l’imagination“ (S. 552, Z. 15 – S. 553, Z. 13). „On a aussi déja jetté les fondemens de la veritable Physique par le t h e a t r e d e l a n a t u r e e t d e l’ a r t , où on a exposé au jeune Prince les choses et leurs representations; mais le bâtiment entier de la Physique plus sublime elevé sur ces fondemens consiste dans la practique des secrets des arts propres à l’oeconomie, à la guerre, et à la Medicine; ce qui ne s’epuisera jamais, et pourra servir au Prince dans les heures de recreation durant toute sa vie, parmy d’autres divertissemens honnêtes et utiles“ (S. 554, Z. 24 – S. 555, Z. 3).

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1688, 2. Jahreshälfte

Brief, gemeinsam mit Johann Daniel Crafft, an Kaiser Leopold I. (AA, III, 4, Nr. 204, S. 375–396) „vnd weil man bedacht seyn würde, allerhand dienliche interrogatoria, instruc­tiones vnd rescripta vnter Insiegel vnd autorität Ihrer Mtt in alle mit Bergwercken begabte Örther der ErbLande an die allda befindliche, darzue bestellte bedienten, abgehen zue laßen, so würde vermittelst der darauf erfolgenden berichten vnd außagen, eingesendeter Ertz-Proben, auch wohl abriße vnd modellen, nicht nur ein thesaurus realium notitiarum, sondern ein recht vollkommenes Cabinet der Kayserlichen Mineralien, dann auch eine Kunstkammer vieler herrlichen mechanischen inventionen, die in Bergwercken vnd bey Metallischen Manufacturen, hämmern, Mühlen, Saltzpfannen, Stampen, waschwercken etc. gebreuchlich oder ins kunfftige mit Nutzen einzuefuhren, zusammen gebracht werden“ (S. 391, Z. 7–16).

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1688, August/September

Aufzeichnung für die Audienz bei Kaiser Leopold I. (AA, IV, 4, Nr. 6, S. 15–40) 1

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„Hierauß wäre nun eine Encyclopaedia Realis zu faßen, und sonderlich per modum Atlantis cujusdam universalis mit vielen figuren und genauen beschreibungen der dinge außzuzieren, dabey aber so wohl ein Atlas Minor Universalis, als auch ein kleines Manual ad usum communem vitae, darinn der kern deßen so die Menschen zu wißen und am nothigsten zubrauchen haben, in gewißen figuren, tabellen und haupt maximen, zu begreiffen, Dergleichen Atlas Minor universalis voll nothiger figuren und das kleine Enchiridion Humanae Cognitionis kondten auch vor absolvirung des großen wercks zimlich abgefaßet werden. Wurde treflich sein, junge herren, so hohe Personen mit deren uberauß großer lust und Satisfaction gleichsam spielend zu dem grund aller wißenschafften zu führen. Und denn auch mit der Zeit iederman die Wißenschafften leicht zu machen. Denn man nicht sorgen darff daß die Menschen alzu viel wißen werden, noch derowegen Ursach hat die wißenschafften geheim zu halten. Deren wären Laboratoria, Observatoria, Exotico-phylacia, raritatum naturae et artis, Modellen von allerhand schöhnen inventionibus et Machinis und deren Vollstreckung nöthig“ (S. 25, Z. 1–16). 27

1688, August/September

Kurzfassung einiger Ausführungen vor Kaiser Leopold I. (AA, IV, 4, Nr. 7, S. 40–49) 1

„Condenda Encyclopaedia realis, Atlas universalis major, Atlas universalis Minor; Manuale maximae utilium et necessariarum humanae vitae notitiarum Figurae, Usus Magnorum principum. Von den Minoribus köndte angefangen werden“ (S. 44, Z. 18–20). 28

1688, zweite Hälfte

Ausführliche Aufzeichnung für den Vortrag vor Kaiser Leopold I. (AA, IV, 4, Nr. 8, S. 50–78) 1

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Sonderlich habe ich ein considerabel project entworffen eines Atlantis Universalis, ad exemplum des Atlantis Geographici Majoris wozu mir gelegenheit gegeben, daß ich in einigen großen Bibliothecken, auch bey privatpersonen etliche 100 vo­lu­mina zusammen colligirter kupferstück gesehen. Darauß nun kondte man einen kern ziehen, und alles was in der Natur, Kunst, und Histori Curios und Wißens würdig

1. Quellen

in figuren fürstellen, solche auch mit dienlichen Worthen erlaütern. Man köndte auch inzwischen einen Atlantem Universalem Minorem verfertigen darinn die nothigsten und nützlichsten figuren und erclärungen enthalten. Wäre eine rechte Encyclopaedia Principum, und allem dem so bishero in dergleichen geschehen vorzuziehen“ (S. 64, Z. 1–9). 29

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1688, 2.Hälfte September

Kürzere Fassug des Vortrages vor Kaiser Leopold I. (AA, IV, 4, Nr. 9, S. 78–90) „Sonderlich aber sind die bergwercke und Metallen ein hauptmittel und großen theils ein fundament der Nahrung und [hat] man dabey herrliche gelegenheit, ja obligation die Natur und Kunst zu untersuchen, laboratoria, Cabineten von raritatibus naturae et artis, modellen von machinis, und Kunstler zu haben und zubrauchen“ (S. 86, Z. 15–19). 30

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1689, Mai bis Herbst

Entwurf einer Bibliotheca Universalis Selecta für Theodor Althet Heinrich von Strattmann (AA, I, 5, Nr. 247, S. 428–462) „Musea rariorum naturae et artis effectuum, ut Calceolarii, Wormii, Moscardi, Olearii, Septalii“ (S. 445, Z. 8f.). 31

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1690, 12. 3.

Brief von Antonio Magliabechi (AA, I, 5, Nr. 312, S. 546f.) „Si nel mio povero Museo, come per la città, il discorso più soave è stato del gran merito di V.S. Illma, al Sigr Principe, come hò veduto, notissimo“ (S. 546, Z. 13–15). 32

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1696, 22. August

Tagebuchnotiz (Leibniz, 1843–1847, Bd. 4, S. 183–224) Hinweis auf den Ludwig XIV. gewidmeten Portraitband der Kaiser, Könige, Herzöge und Kardinäle von Gabriel Michel de Rochemaillet. „Diess Werck, so in der Bibliothec zu Wolfenbüttel, solte dienen können zu meinem Atlante universali“ (S. 203f.).

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1697, Januar

Brief an die Herzöge Rudolf August und Anton Ulrich (AA, I, 13, Nr. 86, S. 136–139; Scheel, 1973, S. 197–199) 1

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Vorschlag einer Stempelpapiersteuer zugunsten der Wolfenbütteler Bibliothek. [Die Stem­­ pelpapiersteuer könnte einen] „fundum an hand geben, nicht nur zur noth­durfft sondern auch zur zierde, die bücher nachzuschaffen, solche sauber binden zulaßen; die kunst-kammer mit allerhand raritäten, und arcanis naturae et artis zu vermehren; noch nie gesehene indices reales und andere labores literarios von treflicher nuz­ barkeit mit großem ruhm der Durchlauchtigsten Herrschafft verfertigen und verlegen zulaßen, druckereyen und kupferstecher dabey zu haben, und anders dergleich mehr. Welches alles dann nicht weniger glorios als nutzbar wäre“ (S. 138, Z. 11–17). 34

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Denkschrift für François Lefort (Guerrier, 1873, Nr. 13, S. 14–19) 1

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Plan zur Gründung eines Institutes für die Wissenschaften und Künste in Rußland: „Ainsi il faudra des bibliothèques, boutiques de libraires et imprimeries, des cabinets de raretés de la nature et de l’art, des jardins des simples et ménageries, des animaux, des magazins de toute sorte de matériaux et des officines de toute sorte de travaux (…). Les cabinets doivent contenir toutes les choses considérables qui se peuvent mettre en petit volume et les échantillons des choses rares de la nature et de l’art. Et quant à la nature il y faut particulièrement des pierres, métaux, minéraux, plantes vives ou imitées, animaux sèches ou embaumés esquelettes, peintures et autres imitations de ce dont on ne peut avoir l’original (S. 17). Les raretés de l’art peuvent être des dessins, modèles et essais de toute sorte de belles inventions, des instruments de mathématique, tuyaux, miroirs, verres, horloges, tableaux, statues et autres sculptures, médailles et autres antiquités, en un mot tout ce qui peut instruire et plaire; outre les choses qui se peuvent enfermer dans des cabinets, il faudra, pour avoir les choses en grand, qu’on fasse dresser des jardins pour avoir toute sorte de plantes, fleurs, herbes et arbres, que le pays peut souffrir avec des orangeries et autres moyens propres à les conserver en hyver. Il faut aussi des ménageries et viviers, étangs et volières pour avoir de toute sorte des bestes, oiseaux et poissons. Et il faut chercher de propager dans le pays les plants et animaux qui sont propres. Les magazins contiendront quantité d’autres drogues et maté­riaux bien arrangés et bien soignés. Et enfin il y aura en grand des observatoires, des moulins, boutiques, officines et maisons de travail, qui contiendront toutes sortes de machines et inventions mises effectivement en exécution“ (S. 17f.).

1. Quellen

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17. (27.) September 1697

Brief von Johann Andreas Schmidt an Leibniz (AA, I, 14, Nr. 301, S. 507f.) „Saepe cogitavi de publico naturae et artis theatro erigendo, quod quidem nullis Serenissimorum sumtibus fieri posset, si modo in mandatis darent, ut ex metalli fodinis, montibus, fontibus, aquis, terrae fodinis aliis ab inspectoribus ad nos mit­terentur notabiliora. Profecto solae terrae Luneburgenses et Brunsvicenses suffi­ cerent ad replendum amplissimum theatrum“ (S. 508, Z. 15–20). 36

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1700, 12.3.

Brief an den Hofprediger Jablonski (Brather, 1993, S. 43–45) „Dazu würde gehören cura Astronomiae, Mechanicae, Architectonicae, Chymiae, Botanicae et Anatomicae, also neben dem Observatorio auch ein Laboratorium, samt allerhand Kunst-Wercken; zu geschweigen des übrigen physici apparatus, daran denn bey eines grossen Potentaten Hof nicht wohl ermangeln kan“ (S. 44). 37

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1700, 16./17. 3.

Denkschrift I von Jablonski und Chuno (Brather, 1993, S. 50–59) „Die Instrumenta werden sich schon finden. (…) Item ist noch ein anderer [Tubus] von 12 Schuen und noch kleinere auf der kunstkammer, woselbst auch noch ein und anderes obgleich nicht grosses[,] doch nützliches Mathematisches instrument zu finden, so beym Observatorio und der Academie mit nutzen zu gebrauchen seyn möchte. (…) Aus der uhr[-] und kunstkammer, würde man auch ein oder andere Sp[h]aeram armillarem nehmen können“ (S. 54). 38

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1700, 16./17. 3.

Denkschrift II von Jablonski und Chuno (Brather, 1993, S. 59–64) „2. Werden verstanden Instrumenten, so sich folgender gestalt finden. Ein paar Globi, auch Gericken Instrumenta vacui von der Bibliothec; Ein paar gutte Uhren von der Uhrkammer; Tubi, beym Zeügwarter Heitz, und auf der Kunstkammer (…)“ (S. 62).

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1700, 26. 3.

Denkschrift II an den Kurfürsten Friedrich III. (Brather, 1993, S. 75–80) 1

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„Zu allen diesen Wißenschafften dienen Bibliothecken, Iconothecae (oder Collec­ tanea von Kupferstücken, Rissen, Bildungen und Gemählden), Kunst- und Raritäten-Kammern, Zeug- und Rüst-Häuser, Gärten vieler Art, auch Thier-Behältnisse, und die großen Wercke der Natur und Kunst selbsten, von welchen allen, zum Theatro Naturae et Artis, bey Churfürstl. Durchlaucht kein Mangel“ (S. 77).

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1700, 11.7.

Generalinstruktion (Brather, 1993, S. 94–105) 1

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Der Kurfürst erklärt, daß er die Societät auf Dauer begründet und sie unter anderem ausgestattet habe oder ausstatten lassen wolle mit verschiedenen Einrichtungen: „Ob­ser­ vatorio, Laboratorio, Bibliothec, Instrumenten, Musaeo und Rariteten-Cam­mer, oder Theatro der Natur und Kunst, auch andern Ober- und Unterirdischen Behaltnüßen, Plätzen und gelegenheiten, auch dazu dienlichem apparatu natura­lium et artificialium, und allem dem, so zu untersuchung derer drey Reiche der Natur- und KunstWercke, auch sonst zu neüen und größeren wachsthum nützlicher Studien (…). wollen auch Verordnung machen, daß diejenige Persohnen, so in oder außer Landes in Unsern diensten stehen, oder von Uns sonsten dependentz haben, sowoll von selbsten, als auf begehren mit Nachrichtungen und selbsten mit einsendung der Beschreibungen, Abriße und Modellen, auch woll gar die dinge in natura, so viel thunlich durch sich oder andere an hand gehen“ (97). „Neben dieser Unser GeneralInstruction vor Unsere Societatem Scientiarum werden Wir selbige nach gelegenheit und befindung noch mit absonderlichen Verordnungen, Concessionen, Begnadigungen und expeditionen dem zweck, ein­ richtung und bewandnüß gemäß versehen und insonderheit an Unsere Biblio­thec, Kunst- und Uhr-Cammer, auch sonsten Verordnungen ergehen laßen, daß Ihnen die benöhtigte Bücher zum gebrauch geliehen, und deshalb richtige Verzeich­nüßen mit der Bibliothec gehalten, Uhren, oder Tubi, Instrumenten etc., umb bey der Societät beständig zu bleiben abgefolget werden, worüber alsdann bey der Societät Inventaria gehalten werden sollen. Es soll auch wegen rarer und fremder Thiere, Gewächß und Naturalien, dann auch Modellen, Erfindungen, Heb- und Rüstzeügen, Waßer-[,] Mühl und andern Kunstwercken bey Unsern Thier- und Lustgärten, ZeügHäusern, Bauwesen, Schmeltz-[,] Eisen- und Glasehütten, Manufactur- und Werck-Häusern und dergleichen, wie es nahmen haben mag, sowoll mit den dingen selbst, als deren be­

1. Quellen

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nachrichtigungen nach der Sachen beschaffenheit von denen darzu gehörigen, oder darin erfahrnen Persohnen anhand gegangen werden“ (S. 104). 41

1701, vor 17. 4.

Zusammenfassung und Kommentar der Schrift Gründtliche Anleitung zu nüzlichen Wißenschafften, absonderlich zu der Mathesi und Physica, wie sie aniezo von den gelehrtesten abgehandelt werden (Leibniz, 1899, S. 511–515) Beilage zu einem Brief an Tschirnhaus vom 17. 4., die eine Liste lesenswerter Publikationen wie auch Hinweise für die Ausbildung von Jugendlichen enthält: „Von allerhand arbeiten und Mehlwerken Böckler in Theatro Mechanico und andere. Man muß der jugend weisen Machinas abzuzeichnen, ihre würckung aus den figuren ohne erklärung zu verstehen, und der Machinarum absehen zu betrachten, so da ist die Menschen der wiederhohlung einer arbeit zu überheben, sich bei allerhand Künstlern und werckläuten umb zu sehen. Dazu dienet Weigelii abbildung der Hauptstände, und wäre zu wündschen, daß große Herrn rechte Naturalien Kammern aufrichteten“ (S. 515). 42

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1702, Sommer

Memorandum für König Friedrich I. (Brather, 1993, S. 143–152) „Weilen aber zu bestreitung dieses so guthen und vielfaltigen Zwecks der Societät, nehmlich der Ehre Gottes, ruhm des Koniges, Nuz des CronPrinzen, und be­ förderung des gemeinen wesens viel gehohret; Nehmlich reale Demonstrationen, anschaffung des Theatri der Natur und Kunst, Untersuchung, zusam­men­bringung und verbeßerungen der Nuzlichen Künste, Nahrungen, und Wercke, auch Neue und Wichtige Entdeckungen darinn; und da solches alles recht bestritten werden soll, daß man Ehre und Nuzen davon habe, jahrlich ein ansehnliches, mithin ein gnugsamer Fundus erfordert wird“ (S. 151f.). 43

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1704, 2. 2.

Specimen Einiger Puncten, darinnen Moscau denen Scienzen beförderlich seyn könte (Schirren, 1884, S. 439–443) „Weilen des Czars absehen dahin gehet, wie in dessen mächtigen und großen Reich die Europäischen Scientzen und wissenschafften eingeführet werden mögen, auch

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zu dem ende allerhand gute Reglemens gemacht worden; so stünde es nunmehro auch darauf, ob nicht rahtsam, dass Seine Majestät auch Bibliothecken, KunstCammern und dergleichen aufrichten, schöne und nützliche inventiones, so hin und wieder in diesem Europa entdecket werden, zusammen bringen, und andere dienliche Veranstaltungen machen liessen, damit Moscau dermahleins auch in diesem stück floriren möge“ (Punkt 1, S. 439). 44

1704, vor 4. 8.

Entwurf des Erlasses zur Gründung der sächsischen Societät der ­Wissenschaften (Leibniz, 1875, Bd. 7, S. 218–229) 1

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Unterlage für die Reise von Leibniz’ Sekretär Johann Georg Eckhart nach Dresden am 4. August. Zur Ausstattung der Societät sollen gehören: „versammlungsplaz und andern bequemen gelegenheiten zu observatorio, laboratorio, Bibliothec, Theatro naturae et artis, nöthigen instrumenten und allen apparaten und requisiten“ (S. 219f ). 45

1704, vor 4. 8.

Diploma (Leibniz, 1875, Bd. 7, S. 234–236) 1

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Leibniz’ Entwurf seiner Ernennungsurkunde als Präsident der Societät der Wissenschaften und „Ober-Inspektor“ der Bibliothek und Kunstkammer: „Wir sehen auch gern, daß er sich so viel als thunlich einer ober-inspection Unsrer bibliothec und kunst-cammer in Unsrer residenz annehme und wollen, daß die darüber bestellet, seinen rath und gutachten darinn deferiren“ (S. 235). 46

1704, nach 4. 8.

Reisejournal von Johann Georg Eckhart (Bodemann, 1883, S. 190–200) 1

5

„Weilen auch in den Churfürstl. Archiv, Bibliothec und Kunstcammer, auch in den Churfürstl. Schlößern, Häusern, Gärten, Aemtern, Vorwerken und Pertinentien viel seyn würde, so müsten auch diejenigen, so zu deren Bewahrung und Besorgung bestellet sind, derselben Societät mit möglichster Nachricht und Communication zu Willen seyn“ (S. 191).

1. Quellen

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1704, Dezember

Memorandum zur Gründung der sächsischen Societät der ­Wissenschaften (Leibniz, 1768 [1989], Bd. V, S. 175–179) Bei der Prinzenerziehung, dem Modell aller staatlichen Förderung, solle man sich nicht in der Lektüre der „Auteurs Classique“ erschöpfen: „Car il seroit bien plus important de donner des Tableaux des Sciences & des Arts tant libéraux que mécaniques, & de dresser un Théatre de la Nature, & de l’Art. Ces Tableaux contiendroient en figures, & en raccourci tout ce qui est figurable & qui mérite d’être sçû; & souvent une Science entiére pourroit être comprise dans une grande estampe ou deux, comme on en a déjà des exemples. Une collection de ces représentations choisies, tirées d’une infinité de tailles-douces déjà faites, avec le supplément de ce qui manque encore, donneroit un Atlas universel, qui seroit un trésor merveilleux pour rendre les études plus riches, & plus agréables. Et le Théatre de la Nature, & de l’Art, qui contiendroit les choses mêmes en nature, ou en modèles, seroit un effet encore plus grand. Cela enrichiroit l’imagination, en lui présentant quantité d’idées nettes“ (S. 176). „Par ce moyen nous aurions bien-tôt un trésor inestimable sur la connaissance de l’intérieur de la Nature: & les miniéres, jardins, chasses, & cabinets de raretés, qui sont au Roi, ou au Pays, fourniroient de la matiére aux recherches dans les trois règnes, mineral, végétal, & animal, si les Inspecteurs, Officiers, & gens de service dans les différentes professions qui y ont rapport, sont obligés à l’assistance“ (S. 177). 48

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1704, Dezember

Plan zur Gründung der sächsischen Societät der Wissenschaften (Leibniz, 1875, Bd. 7, S. 243–248) „Weil auch dieses land mit bergwercken und andern naturalien von Gott wohl begabt, die leute hurtig, die studien und künste bey ihrem blühen, der kunstcammer, menagerie, gewächsgartens und dergleichen zu geschweigen, fürnehmlich aber weil Königl. Mt. selbst bey habenden großen liecht auch ohngemeine neigung hiezu zeigen, so ist ein großer grund bereits zum anfang geleget. Und wird sich die übrige nothdurfft desto leichter finden“ (S. 247f.)

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Anhang

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1708, Dezember

Denkschrift für Zar Peter I. (Guerrier, 1873, Nr. 73, S. 95–99) 1

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Strategiepapier zur Einführung der Künste und Wissenschaften in Rußland. Nach der Bibliothek, die auch illustrierte Bücher enthalten soll, sind Theater der Natur und Kunst aufzubauen, zu denen auch ein Laboratorium und ein Observatorium gehören: „Sonderlich aber wären Kupferstich und andere Figuren zusammen zu bringen, darinn die Beschaffenheiten der Natürlichen und Künstlichen Dinge auch Einfälle der Menschen vorgebildet und die ideen sichtbar und gleichsam figiert werden. Von dem Theatro Naturae et Artis und dazu gehörigen Apparatu, Cabineten und Kunst- und Rüst-Cammern, Gallerien der antiquitäten, Statün und ge­ mählde, Vivariis (oder Behältnissen der Thiere) Pflanzgärten (oder Behältnisse der gewächse) Modellenhäusern, Werkhäusern, Zeug-häusern, Arsenalen, Bauhöfen und wie solche nicht allein zum gemeinen gebrauch, sondern auch zu Verbesserung der Künste und wissenschaften wohl einzurichten wäre viel zu sagen, weilen in denselben dasjenige in Natura oder doch mehr cörperlich vorgestellt wird, was die Bücher und Zeichnungen nur in etwas zeigen. Es würde aber solches eine eigne Handlung erfordern, da aniezo gnug überhaupt zu erinnern, dass man hierinn nicht fleiss gnugsam anwenden könne, mithin nichts so hiezu dienlich unterlassen solle. Ein Laboratorium würde auch erfordert, darinn guthe Chymici und Feuerkünstler mit allem so das Feuer zu wege zu bringen wohl umbzugehen wissen sollen“ (S. 97). 50

1709, 2. 9.

Brief an Johann Christoph Urbich (Guerrier, 1873, Nr. 89, S. 120–121) 1

Knappe Darlegung der dem Zaren übermittelten Vorschläge: „Aux langues, livres, écrits - on joindroit theatra naturae et artis, modelles et échantillons des choses, descriptions de mille belles inventions“ (S. 121). 51

1710, 3. 6.

Statut der Societät der Wissenschaften (Brather, 1993, S. 202–208) 1

„Und weil der Fundus Societatis außer den Besoldungen derer bey der Societät bisher bestelleten unentbehrlichen Bedienten, vornehmlich dazu gewidmet seyn soll, daß von dem Jährl. Überschuß, nebst einer ausbündigen, zu ihrem zweck eigentlich gehörigen Bibliothec, auch benötigten Mathematischen Instrumenten, ein

1. Quellen

ansehnlicher Vorrath an curieusen Naturalien ex omni regno, so woll alß an künstlichen Erfindungen neuer Machinen und derer modellen, und anderen Mechanischen raritäten, also ein thesaurus naturae et artis zusammengebracht; hiernegst die Geheimnüße der Natur durch Physicalische, Chymische und Anatomische expe­ rimenta mehrers erforschet, und derselben verborgene Eigenschaften gründlicher aufgeschloßen werden; Alß wird danin zu sehen seyn, wie solcher vorrath nach und nach angeschaffet“ werde (S. 206). 52

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1710, 24. 12.

Memorandum für König Friedrich I. (Brather, 1993, S. 213–215) „Kunfftige Neüe verordnungen betreffend scheinet darauf zu dencken zu seyn, wie sowohl die Personen aufgemuntert, als auch der fundus der Societat vermehret werde. Durch jenes wurde der wille, durch dieses auch das Vermogen erhalten, wie dann zu Büchern, Instrumenten, Modellen, collectionibus naturae et artis, corres­ pondenzen, obervationibus et experimentis ein ziemliches erfordert wird“ (S. 215). 53

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1711, 1. 9.

Brief an Herzog Anton Ulrich (Guerrier, 1873, Nr. 123, S. 168–170) Plan einer plastischen Landkarte Rußlands für Zar Peter I. anläßlich dessen Besuch in Salzdahlum: „Das ganze werck meritirte hernach in einer Kunst Kammer aufgehoben zu werden, würde auch Potentaten zur anleitung dienen, ihre Lande dergestalt nach der wahrheit en relief oder erhoben, wie es in der natura ist, mit mehrer genauigkeit als alhier nöthig, vorstellen zu laßen“ (S. 170). 54

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1711

Brief an Herzog Anton Ulrich (Guerrier, 1873, Nr. 124, S. 170–174) Konzept eines dem Zaren vorzulegenden Papieres zur Förderung der Wissenschaften in Rußland. Leibniz erhofft sich, daß Zar Peter I. ihm auftragen möge, „vortreffliche Leute, Erfindungen, Bücher, Cabinete der Natur und Kunst anhandzuschaffen auch an Entwurf einer allgemeinen Verfassung der Künste und Wissenschaften zu arbeiten“ (S. 173).

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1711

Denkschrift für Zar Peter I. (Guerrier, 1873, Nr. 125, S. 174–176) 1

Zur Etablierung der modernen Wissenschaften in Rußland würden gehören: „Dru­cke­ reyen, Bibliotheken, Societäten, Observatoria, Laboratoria, Instrumenten, Modellen, Kunst- und Raritäten-Cammern, Pflanz und Thiergarten“ (S. 176). 56

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Denkschrift für Zar Peter I. während des Treffens in Torgau (Guerrier, 1873, Nr. 127, S. 180–183) 1

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Vorschlag, ein Collegium zu errichten, das die Künste und Wissenschaften entwickeln soll. Es soll leisten: „Bibliothec, und Kunst Cammern angeschaffet und allerhand nüzliche Nachrichtungen aus Europa und China zusammen bracht, Erfahrne Leute und Künstler angelocket und summa die Wohlfahrt, Nahrung und Flor der Czarischen Lande und Leute durch Künste und Wissenschaften beobachtet und befördert werden“ (S. 182). 57

1711

Protokoll der Sitzung der Societät (Archiv der Akademie der Wissenschaften, Abteilung I: IV, 6, Protokolle 1711–1717. Ennenbach, 1978, S. 15) 1

Monitum, daß „Bibliothec, Instrumenta Mathematica, Curiositäten und waß zum Apparata erudito gehöret nach und nach angeschaffet werden“, nicht gebührend erweitert und Gelegenheiten verpaßt worden seien. 58

1712

Brief an Zar Peter I. (Guerrier, 1873, Nr. 143, S. 205–208) 1

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Wenn in Rußland die Wissenschaften gefördert würden, könnten diese die Fehler anderer Länder vermeiden; denn man weiß, „dass ein Palast, der ganz von Neuem auf­ge­führet wird besser heraus kommt, als wenn daran viele secula über gebauet, gebessert, auch viel geändert worden. Es gehören zwar zu diesem neuen und grossen Kunstbau Bibliotheken, Musea oder Raritätenkammern, Werkhäuser zu Modellen und Kunstsachen, Laboratoria chymica und observatoria astronomica, allein man hat nicht alles auf einmal nöthig,

1. Quellen

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sondern gehet stuffenweise und wären Vorschläge zu thun, wie zu dem nützlichsten gar bald ohne sondere Kosten zu gelangen“ (S. 207f.). 59

1712, Anfang September

Denkschrift für Zar Peter I, übergeben durch Baron Hans Christian von Schleiniz in Greifswald (Guerrier, 1873, Nr. 148, S. 217–218) Konzept zur Förderung der Wissenschaften und Künste in Rußland. Zu den erforderlichen „choses“ gehören: „bâtimens, Jardins, Bibliotheques, cabinets, observatoires, laboratoires etc. garnis des simples, plantes, instrumens, modelles, livres, medailles, anticailles, et de toute sorte de raretés de la nature et de l’art“ (S. 218). 60

1

1713, April (?)

Entwurf für eine Kaiserliche Deutsche Societät der Wissenschaften in Wien (Klopp, 1868, Anl. XII, S. 231–236) „De plus, pour perfectionner les arts, les Manufactures, l’agriculture, les deux especes d’Architecture, les descriptions chorographiques des pays, le travail des minieres, item pour mieux employer les pauvres aux travail, pour encourager les inventeurs et les entrepreneurs, enfin pour tout ce qui entre dans l’oeconomique ou mecanique de l’état civil et militaire, il faudroit des observatoires, laboratoires, jardins de simples, menageries d’animaux, cabinets de raretez naturelles et artificielles, une Histoire Physico-Medicinale de toutes les années sur des relations et observations que tous les medicins saraliés seroint obligez de fournier“ (S. 234). 61

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1713, Mai

Entwurf der Stiftung einer Societät der Wissenschaften zu Wien (Klopp, 1868, Anl. XIII, S. 236–240) „Weil auch alles dieses vorhanden in drey Haupt-Theile gehet, so man classes Physicam, Mathematicam et Literariam nennen möchte; so sind Wir geneigt, nach und nach der Physicae Classi in den drey Reichen der Natur, durch laboratoria, pflanz- und thiergärten; Classi Mathematicae durch Observatoria, Gnomones, Instrumenta, werck-häuser und Modelle; und Classi Literariae durch allerhand monumenta, inscriptionen, medaillen und andere antiquen, durch documenta aus Archiven und Registraturen und durch Manuskripten in allerhand auch orientalischen Sprachen; allen dreyen aber durch Cabinet und Theatra der Natur und

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Kunst, raritäten-Cammern und Bibliotheken zu deren gebrauch, zu statten zu kom­ men“ (S. 238). Alle öffentlich Bediensteten, auch die der „Cabineten und Kunstcammern“ werden beauftragt, die Societät zu unterstützen (S. 239). 62

1713

Zweck einer Societät der Wissenschaften und Begründung derselben durch das gestempelte Papier (Klopp, 1868, Anl.XVI, S. 242–246) 1

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„Es wären auch vortrefliche Bücher und Kupferstiche in Menge, Cabinete von Medaillen und anderen antiquitäten, instrumente, Machinae, Modelle, Raritäten-Cam­ mern und mit einem Worth Theatra naturae et Artis, dann ferner Obser­vatoria, Laboratoria, Werckhäuser, Horti simplicium, Menagerien oder vivaria rarer Thiere darzustellen“ (S. 244). 63

1714, 21. 3.

Brief an Herzog Anton Ulrich aus Wien (Bodemann, 1888, Nr. 93, S. 238–240) 1

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„Und weil E.D. vermuthlich ihre ehemals recht artige bey der Bibliothec gestandene Kunstcammer werden in ordnung bringen laßen wollen, so wünsche ich, daß Sie selbst bey deren einrichtung seyn und Querfurten oder wen Sie sonst dazu brauchen werden, sagen mögen, wo ein und anders stück hehrkommen und was etwa sonst dabey merckwürdig, damit es aufgezeichnet werde; denn dergleichen nach­rich­ten und umbstände vermehren offt der Sache ihren Preiß. Die schöhne reli­quie, die E. D. in solcher Kunstcammer gefunden und die zweifelsohne alhier überaus angenehm seyn wird, erinnert mich daran. Als ich erzehlte, daß das Haupt S. Gregorii Nazianzeni ein Zeichen gegeben haben solle, wenn es transferirt werden sollen, wolte es der Kayserin Amalia Mt. nicht glauben und sagte, es möchte eine Maus in dem Kasten gewesen seyn; ich alle­girte aber, auff des Abt Molani worth, constantem traditionem der Canonicorum S. Blasii zu Braunschweig und sagte, daß man in der Catholischen Kirche die tra­ditionen zu respectiren hätte; welches argument bey ihr etwas gegolten“ (S. 239f.).

1. Quellen

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1714

Brief an Prinz Eugen von Savoyen. Memorandum zur Errichtung einer Wiener Akademie, I (Leibniz, 1875, Bd. 7, S. 312–318) Einteilung der Klassen: „enfin la classe physique embrasseroit les trois règnes, mi­néral, végétable et animal, et auroit soin des cabinets des choses naturelles; du jardinage, des animaux, de l’anatomie, de l’histoire physico-médicinale annuelle et d’autres observations médicinales“ (S. 317f.). 65

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1714, 17. 8.

Brief an Prinz Eugen von Savoyen. Memorandum zur Errichtung einer Wiener Akademie, II (Klopp, 1868, Anl. XVII, S. 246–251 Ausstattung der Societät: „Les lieux seroient des Bibliotheques qui contiendroient des livres imprimés et manuscrits; des imprimeries, des observatoires pour les Astres, Laboratoires, Maisons de travail, jardins des simples, Menageries des Animaux, Grottes des mineraux, Cabinets d’antiquités, Galleries de raretés et en un mot, theatres de la Nature et de l’Art“ (S. 248). 66

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1716

Denkschrift über die Verbesserung der Künste und Wissenschaften im Russischen Reich für Zar Peter I. (Guerrier, 1873, Nr. 240, S. 348–360) Die Voraussetzung einer „Verbesserung der Künste und Wissenschaft“ besteht in der Ausstattung mit „Büchern, Cabineten, instrumenten und theatro naturae et artis“ (S. 349). Zur Bibliothek gehören auch „figuren, Holz und Kupferstiche in grosser Menge, wie denn in der Königl. französischen Bibliothek etliche 100 vol. befindlich blos von figuren und Rissen, darin alles was sonst mit Worthen gegeben auch den Augen vorgestellet wird“ (S. 349f.). „Auf die Bibliothek folgt das Cabinet, darin sich billig finden sollen alte und neue medaillen als Grund und Bestärkung der Histori, Ueberbleibsel von Römischen, Griechischen, hebreischen, sinesischen und andern antiquitäten, allerhand raritäten von den 3 Reichen der Natur, nehmlich allerhand Sorten der Mineralien Steine, Erze, Gewächse, insecten und andere frembden Thiere, auch allerhand Kunststücke von Gemählde, sculptur und optischen, astronomischen, architec­to­nischen, militärischen, nautischen, mechanischen und andern inventionen. Hierzu rechne ich

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auch allerhand instrumenta, die ein Baumeister, ingenieur, mecha­ni­cus, astronomus brauchet und die keinen allzu grossen Plaz einnehmen, sondern sich in einem Cabinet zeigen lassen“ (S. 350). „Das Theatrum Naturae et Artis begreifft in sich etwas grösseres; und zwar zum theatro naturae gehören ganze grotten, darin allerhand Sorten der Mineralien und Muschelwerke zu sehen, Garten, darin ungemeine Sorten von Bäumen, Stauden, Wurzeln, Kräuter, Blumen und Früchte zu finden und endlich Thiergarten und vivaria, darin lebende vierfüssige Thiere, Vögel und Fische zu sehen, samt einem theatro Anatomico, darin der Thiere Sceleta zu zeigen. Zu dem theatro artis gehöret, was ein observatorium, laboratorium, Rüsthaus und Magazin erfordert, darin auch Modelle von allerhand nützlichen inventionen in ziemlicher Grösse sich finden sollen, sonderlich von allerhand Mühlen, Hebzeugen, Wasserwerkn auch vielen Arten der bey den Bergwerken gebräuchlichen Maschinen“ (S. 351). Zur Vermittlung des wissenschaftlich gesicherten Wissens sollen eine große, mittlere und kleine Enzyklopädie dienen: „Die Encyclopediam majorem wollte ich nennen Atlantem Universalem, so auch mit sehr viel nützlichen Figuren versehen sein müste und aus etlichen voluminibus in folio Atlantischer Form bestehen müste; dergleichen Werk hat man noch nicht; wäre aber aniezo vermittelst einer wohlgefassten societät füglich zu verfertigen“ (S. 357f.).

2. Übersetzung des Drôle de Pensée

2. Übersetzung des Drôle de Pensée Gedankenscherz, eine neue Art von REPRÄSENTATIONEN betreffend September 1675 Die Vorführung, die im September 1675 in Paris auf der Seine mit einer Apparatur durchgeführt wurde, die dazu dient, auf dem Wasser laufen zu können,1  hat mich auf die folgende Idee gebracht, die, auch wenn sie zunächst wie ein Scherz erscheinen mag, nicht ohne Wirkungen bliebe, wenn sie ausgeführt werden würde. Nehmen wir an, daß einige Personen von Ansehen, die sich auf schöne Kuriositäten und vor allem auf Maschinen verstehen, gemeinsam darin übereinkämen, diese in öffentlichen Vorführungen zeigen zu lassen. Zu diesem Zweck müßten sie über einen Fonds verfügen, um die notwendigen Ausgaben tätigen zu können; dies sollte aber nicht schwer sein, wenn zumindest ­einige dieser Personen wie z. B. der Marquis de Sourdéac,2  Monsieur Baptiste,3 Monsieur le Brun,4  oder vielleicht ein Grandseigneur wie Monsieur de la Feuil­ lade,5  Monsieur de Roannez,6  oder, wenn sie wollen, ebenso Monsieur von Mecklenburg,7  Monsieur de Mazarini 8  und einige andere in der Lage wären, etwas vor­ zustrecken. Es wäre aber besser, wenn man auf die Grandseigneurs und ebenso auf die Mächtigen am Hofe verzichten und statt dessen auf Privatleute zurückgreifen könnte, die in der Lage wären, für die notwendigen Kosten aufzukommen. Denn ein mächtiger Herr könnte sich als alleiniger Herr über die Geschäfte aufschwingen

1   Zur Geschichte von derartigen Versuchen im 17. Jahrhundert: Wiener, 1940, S. 234, Anm. 1. 2  Alexandre de Rieux, Marquis de Sourdéac, ein Freund des Theaters, der in der von ihm gebauten salle de spectacle seiner Burg Neufbourg in der Normandie Corneilles La Toison d’or aufführen ließ. Als ein hervorragender Militär- und Theatermechaniker baute er die Maschinerie für seine Bühne mit einem solchen Erfolg, daß er auch die Bühnenapparate für das 1671 in der Rue Mazarine errichtete Théâtre de l’opéra erichtete (Michaud, Bd. 696, S. 696f.). 3   Jean-Baptiste Lully, Komponist am Hof Ludwigs XIV. Ab 1672 Direktor der Opera (Michaud, Bd. XXV, S. 469ff.). 4   Charles Le Brun, Hofmaler Ludwigs XIV., seit 1663 Präsident der Akademie der Künste (jüngst: Birkenholz, 2002). 5   François de Aubasson von Feuillade, Herzog, ab 1675 Marschall von Frankreich, Freund von Pascal (Michaud, Bd. XIV, S. 67f.). 6   Vermutlich Louis Gouffier, Herzog von Roanez, Militär und Schriftsteller (Michaud, Bd. XVII, S. 230). 7   Christian Ludwig, Großherzog von Mecklenburg-Schwerin; er lebte von 1659–1688 in Paris, wo er 1675 Leibniz beauftragte, ein Gutachten zur Annulierung seiner zweiten Ehe zu schreiben (Michaud, Bd. XXVII, S. 460). 8  Armand-Charles de la Porte Mazzarini, bekannt als Herzog Mazarin.

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wollen, wenn er den Erfolg sähe. Läuft die Sache gut, könnte man immer noch Gönner am Hofe suchen. Abgesehen von den Personen, die für die Unkosten aufkommen können, müßte es auch solche geben, die kontinuierlich neue Erfindungen beibringen. Aber weil eine große Zahl leicht zur Unordnung führt, glaube ich, daß es am besten wäre, nicht mehr als zwei oder drei Teilhaber zu haben, die über Sonderrechte verfügen. Die anderen sollten gegen Lohn oder unter bestimmten Bedingungen oder nur für bestimmte Ausstellungen aufgenommen werden, oder nur für eine bestimmte Zeit, sei es so lang wie es den Vorstehenden gefiele, oder sei es bis man ihnen eine bestimmte Geldsumme, die von diesen zur Verfügung gestellt worden sein könnte, zurückgezahlt habe. Die Personen, die man engagieren würde, sollten Maler, Bildhauer, Zimmerleute, Uhrmacher und andere vergleichbare Berufsvertreter sein. Nach und nach kann man mit der Zeit auch Mathematiker, Ingenieure, Architekten, Trickküns­t­ ler, Scharlatane, Musiker, Dichter, Bibliothekare, Schriftsetzer, Stecher und andere hinzunehmen, ohne Hast. Die Darbietungen könnten beispielsweise die Laterna Magica sein (damit könnte man beginnen), sowie Flüge, künstliche Meteoriten, alle Arten optischer Wunder, eine Darstellung des Himmels und der Sterne. Kometen. Ein Globus wie jener in Gottorf 9  oder Jena;10  Feuerwerke, Wasserspiele, ungewöhnlich geformte Schiffe, Alraunen und andere seltene Pflanzen. Ungewöhnliche und seltene Tiere. Die Königliche Manege.11 Tiergestalten. Der königliche Pferderenn-Automat. Eine Verlosung. Darstellungen von Kriegshandlungen. Aus Holz gefertigte und auf einer Bühne errichtete Festungsanlagen,12  offener [Graben], usw. Alles nach dem Muster des Projektemachers […], den ich gesehen habe. Ein Festungsbaumeister würde den Gebrauch des Ganzen erklären. Nachgestellter Krieg. Exerzierübungen der Infanterie gemäß Martinet.13 Kavallerieübung. Kleine Seeschlacht auf einem Kanal. Außergewöhnliche Konzerte.

  Betretbarer, von 1651 bis 1657 von Adam Olearius und Andreas Bösch geschaffener Kupferglobus, der zugleich auch Planetarium war. Heute St.Petersburg, Kunstkammer (Gottorfer Kultur, 1965, S. 115, 310f.; Lühning, 1997; Karpeev, 2003. Vgl. AA, IV, 2, S. 741, Z. 83ff.). 10  Einer der Jenenser Globen des Erhard Weigel. Bei ihnen waren die antiken Tierkreiszeichen durch heraldische Gestalten von europäischen Monarchien und Fürstenhäusern ersetzt (Horn, 1958; ders., 1976, S. 51–56). Der Globus des Jahres 1699, Weigels letztem Lebensjahr, ist im Kasseler Landesmuseum bewahrt (Fauser, 1973, S. 156ff.). Zu Weigels sphaera moralis s. o. S. 43. 11   Belaval, 1958, S. 759, Anm. 3. 12   Unvollendetes Festungswerk zum Schutz von Universität, Fauxbourgs-St. Germain, St. Jacques, St. Marceau und St. Victor (znort). 13   Jean Martinet, Theoretiker der Taktik und der Militärorganisation (Michaud, Bd. XVII, S. 147). 9

2. Übersetzung des Drôle de Pensée

Seltene Musikinstrumente. Sprechende Trompeten.14  Jagd. Lüster und imitierte Edelsteine. Die Aufführung könnte zudem jederzeit mit einigen Geschichten oder Komödien vermischt werden. Theater der Natur und der Kunst. Kämpfen, Schwimmen. Außergewöhnlicher Seiltänzer. Salto mortale. Zeigen, wie ein Kind ein schweres Gewicht mit einem Faden heben kann. Anatomisches Theater. Heilkräutergarten. Später auch ein Labor. Denn neben den öffentlichen Darbie­ tungen wird es besondere geben, wie die von kleinen Rechenmaschinen und anderen, Gemälde, Medaillen, Bibliothek. Neue Experimente mit Wasser, Luft und dem Vakuum. Für die großangelegten Darbietungen wird auch das Gerät von Herrn Guericke mit den 24 Pferden usw. dienen,15  und für die kleinen seine Kugel.16  Viele Dinge von Monsieur Dalencé, so auch der Magnet.17  Herr Denis18 oder Herr […] würden diese erklären. Man würde dort sogar bestimmte Raritäten ver­ teilen, wie zum Beispiel astringierendes Wasser usw.; man würde dort die Opera­ tionen von Transfusion und Infusion durchführen. Zum Abschied könnte man den Zuschauern mit Hilfe des kleinen Mannes19  die Wettervorhersage für den nächsten Tag geben, ob es regnen wird oder nicht. Das Kabinett von Pater Kircher.20  Aus England könnte man, falls er noch am Leben ist, den Mann kommen lassen, der Feuer usw. schluckt. Am Abend würde man den Mond durch ein Teleskop ebenso gut wie andere Gestirne zeigen. Man würde einen Wassertrinker holen.21  Man würde Maschinen testen, die punktgenau zu schießen vermögen. Darstellungen

14   Die „sprechende Trompete“, ein Vorläufer des Megaphon, wurde in den siebziger Jahren stark diskutiert. Samuel Moreland hatte die Erfindung für sich reklamiert, was ihm von Athanasius Kircher abgesprochen wurde (Moreland, 1671 [Wiener, 1940, S. 235, Anm. 4]; vgl. Furetière, 1690, III: „Trompette parlante“). 15  Otto von Guericke, seit 1645 Bürgermeister von Magdeburg. 1650 vollzog er sein Experiment mit der Vakuumkugel, die von 24 Pferden auseinanderzuziehen versucht wurde (AA, IV, 2, S. 742, Z. 1–3; Puhle, 2002). 16   Vermutlich die kleine Schwefelkugel Guerickes, mit deren Hilfe das Wechselspiel von Anziehung und Abstoßung beobachtet werden konnte, was zur Entdeckung der Elektrizität führte (Wiener, 1940, S. 236, Anm. 8). 17   Joachim Dalencé, ein Experimentator der Mechanik (Beleval, 1958, S. 760, Anm. 9), der sich Guerickes „Wettermännchen“ bei seinen metereologischen Beobachtungen bediente, die Leibniz der Royal Society bekanntgab (znort). 18   Vermutlich Jean-Baptiste Denis, Philosoph, Mathematiker und Mediziner unter Ludwig XIV, Spezialist für Bluttransfusionen (Michaud, Bd. X, S. 412f. Eine andere Möglichkeit bietet Denis Papin, Mitarbeiter von Huygens, der unter anderem bei den Experimenten mit der Luftpumpe beteiligt war (Wiener, 1940, S. 236, Anm. 9). 19  Sogenanntes „Wettermännlein“, das von Otto von Guericke erfundene Barometer. 20  Athanasius Kirchers römische Kunstkammer, das Museum Kircherianum. 21  Es handelt sich um Jean Royer, einen Tricktrinker, der vor einem staunenden Publikum unmäßig viel Wassermengen zu sich nehmen und diese in verschiedene Gläser in unterschiedlicher Farbe zurückgeben konnte (Belaval, 1958, S. 760, Anm. 13; s. o. S. 59).

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der Muskeln, Nerven, Knochen, sowie ein Apparat, der den menschlichen Körper zeigt. Insekten des Monsieur Swammderdam,22  Goedartis,23  Jungius.24  Myr­me­co­ leon.25  Der Laden der Herren Galinée26  und Billets.27  Künste des Monsieur Thé­ve­ not.28  Unterhaltsame Dispute und Colloquien. Vorführen von Dunkelkammern. Gemälde, die nur aus einem [Blickwinkel] auf eine bestimmte Weise zu sehen sind, und aus einem anderen auf ganz andere Weise.29  Porzellan von einem gewissen Monsieur auf der Insel Nôtre Dame,30  Hermen, die wie in Versailles längs eines Ka­ nals stehen. Öffentliche Belustigungen. Grotesken, die auf geöltem Papier gemalt sind, das Lampen umhüllt. Man könnte Figuren haben, die sich bewegen, und von innen beleuchtet sind, um zu zeigen, was auf dem Papier wäre. Für die magischen Lampen gäbe es nicht nur einfache Dinge, die auf dem durchsichtigen Papier gemalt wären, sondern abgelöste Gliedmaßen, um außergewöhnliche und groteske Bewegungen zu zeigen, wie Menschen sie niemals zustandezubringen wüßten. Pferdeballett. Ringspiele und das Spiel ‚Kopf des Türken‘.31  Apparaturen der Künste, wie ich sie in Deutschland gesehen habe. Kraft des Brennspiegels. Feuer des Gregeois de Callinicus.32  Ein neues Schachspiel, das Menschen auf der Theaterbühne zeigt, wie bei Harsdörffer.33  Aufzüge in deutschem Stil. Man könnte hier auch noch

22   Jan Swammerdam, Niederländischer Anatom und Erforscher von Kleinwesen, Spezialist der Verwendnung des Mikroskopes (Michaud, Bd. XL, S. 477f.). Leibniz bezieht sich vermutlich auf Swammerdam, 1669. Zu Leibniz’ Interesse für die Mikrokoskopie, darunter Swammerdams Arbeiten: Wilson, 1997. 23   Vermutlich Jean Goedart, Maler und Naturforscher, vornehmlich der Insekten (Michaud, Bd. XVII, S. 46). 24   Joachim Jungius, Hamburger Naturforscher, Begründer der ersten mathematischnaturwissenschaftlichen Gesellschaft in Deutschland. 25  Insektengattung; Ameisenlöwe. 26  René-François Bréhan de Galinée, Forschungsreisender, der unter anderem 1669–1670 eine Expedition zu den Großen Seen Kanadas unternahm (Dictionnaire, Bd. XV, col.171f.). 27   Vermutlich Gilles Filleau des Billettes, Universalforscher, 1690 Mitglied der Académie Royale des Sciences (Michaud, Bd. XIV, S. 128; Wiener, 1940, S. 236, Anm. 14, Belaval, 1958, S. 761, Anm. 16 und Wiedeburg, 1970, II, 1, S. 615). 28   Melchisédech Thevenot, Naturforscher, Ethnologe, Sprachforscher; einer der Begründer der Académie Royale des Sciences (Michaud, Bd. XLI, S. 323; Belaval, 1958, S. 761, Anm. 17). 29   Lesart nach Belaval, 1958, S. 761, Anm. 18. 30  Vermutlich Louis Hesselin, ein wohlhabender Besitzer eines Palais auf Nôtre Dame, in dem er zahlreiche optische Geräte sammelte und vorführte (znort). 31   Bedeutung unklar. 32   Byzantinischer Architekt, der um 670 das „griechische Feuer“, einen leicht entzündbaren Stoff, gefunden haben soll. 33   Leibniz hat sich immer wieder auf den Dichter, Philosophen, Naturwissenschaftler und Sprachforscher Georg Philipp Harsdörffer bezogen (Westerhoff, 1999). Der Bezug zum Schachspiel mit lebenden Personen stammt aus Harsdörffer, 1653, S. 405: „Der Saal muß mit zwei­ färbigen Steinen belegt seyn, darauff man das Schachspiel mit lebendigen Steinen spielen will,

2. Übersetzung des Drôle de Pensée

andere Arten von Spielen in großem Maßstab erlernen und zeigen. Eine ganze Komödie unterhaltsamer Spiele aus aller Herren Länder aufführen. Die Leute könnten sie zu Hause nachspielen. Im Haus würde man Ball- und andere Spiele spielen können, und vielleicht würde man eine neue Art von nützlichem Spiel erfinden. Man könnte hier schließlich Sportakademien und Schulen für die Jugend einrichten und diese vielleicht dem Kolleg der vier Nationen angliedern.34  Theaterstücke verschiedener Prägung aus jedem Land. Ein indisches Stück, ein türkisches, ein persisches usw. Theaterstücke über verschiedene Berufe, eines für jeden Beruf, in denen die Fertigkeiten, Schurkereien, Scherze, Hauptwerke und besonders lächerliche Regeln und Eigenschaften dargestellt würden. Anstelle von italienischen Spaßmachern wie Scaramucha und anderen würde man französische Clowns suchen, die manche ihrer Possen aufführen könnten. Fliegende Feuerdrachen etc. könnten aus geöltem und bemaltem Papier sein.35  Windmühlen für jeden Wind. Gefäße, die gegen den Wind drehen könnten. Der Windwagen aus Holland36  oder eher noch aus China. Zauberpalast. Zauberinsel.37  Theater, Figuren aus geöltem Papier, darin eine Lichtflamme, an einem dunklen Ort. Instrumente, die von selber spielen. Glockenspiele usw. Die Apparatur von Hauz: eine künstliche Kavallerie und Infanterie, die sich bekriegen.38  Das Experiment, durch Schreien ein Glas zerspringen zu lassen. Petter sollte kommen.39  Erfindungen des Herrn Weigel.40  Demonstration des Gleichmaßes der

mit 8. mal 8. oder 64. Feldern bezeichnet. Die weissen Steinen zu der rechten Hand sind Jungfrauen, zu der Lincken die schwartzen junge Freyer (…).“ 34  Anspielung auf das am 6. 3. 1661 von Mazarin testamentlich begründete Collège de quattre Nations, das sechzig ausgewählten Schülern aus den vier Sprachkreisen der neu gewonnenen Provinzen offenstehen sollte: Italienern, Deutschen, Flamen und Katalanen (Wiedeburg, 1970, II, 1, S. 621f.). 35   Vermulich Hinweis auf Harsdörffer, 1653, Neunter Teil, XVI. Frage: „Wie man einen feurigen Drachen in der Lufft sol können flügen machen“. 36  An Land zu nutzendes Segelgefährt, entworfen und gebaut durch Simon Stevin (Michaud, Bd. XL, S. 238). 37   Hinweis auf das vom 1. bis 3. Mai 1664 von Ludwig XIV. zu Ehren seiner Mutter in Versailles durchgeführte Fest Les Plaisirs de l’Isle enchantée, bei dem ein Palast der Zauberin Alcine, der zum Abschluß brennend zusammenstürzte, den Mittelpunkt bildete (Brauneck, 1996, II, S. 182, 184). 38   Bedeutung unklar. 39  Nicolaus Petter, ein niederländischer Weinhändler, wurde bekannt dadurch, daß er Gläser durch Schall zerspringen lassen konnte (znort). 40  Erhard Weigel, Mathematikprofessor in Jena, bei dem Leibniz im Sommer 1663 studierte und mit dessen Schriften er sich zeitlebens beschäftigt hat (z. B. AA, VI, 4, B, Nrn. 237,1–7). In seinen Nouveaux Essais erwähnt Leibniz, Weigel „inventa ingenieusement“ eine philosophische Kugel, die sphaera moralis (IV, 3, §20; vgl. hierzu Busche, 1997, S. 73, Anm. 139).

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­ endelschläge der Uhren.41  Der Globus des Herrn Guericke.42 Taschenspielertricks. P Kartentricks. Man könnte diese Dinge in die Theaterstücke integrieren und einen Straßenkünstler spielen lassen. Am Ende könnte auch die Oper in all dies eingebunden werden, und auch weitere Dinge: nach italienischer und deutscher Art in den Theaterstücken eingenommene Posituren wären neu. Den Vorhang zuzuziehen wäre nicht schlecht, weil man während der Pause dadurch etwas in der Dunkelheit zeigen könnte; die magischen Laternen könnten genau hier ihre Anwendung finden. Man könnte diese fingierten Handlungen der transparenten Marionetten durch Wort oder Gesang unterstützen. Man könnte eine Darstellung der Antiken Roms und anderer [Stätten] zeigen. Berühmte Persöhnlichkeiten. Schließlich alles mögliche mehr. Der Nutzen einer solchen Unternehmung wäre größer als man sich gemeinhin vorstellt, sowohl in der Öffentlichkeit als auch für Privatpersonen. In der Öffentlichkeit würde sie den Leuten die Augen öffnen, zu Erfindungen anregen, schöne Ansichten bieten und die Leute mit unendlich vielen sowohl nützlichen wie geistreichen Neuheiten bekanntmachen. Alle jene, die eine Erfindung oder eine ingeniöse Idee anzubieten hätten, könnten kommen; hier fänden sie die Gelegenheit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, ihre Erfindung publik zu machen, und davon zu profitieren. Es wäre ein allgemeines Auskunftsbüro, an das sich alle Erfinder wenden könnten.43  Man hätte dort bald ein Theater aller nur denkbaren Dinge: eine Menagerie; ein Heilkräutergarten, ein Labor, ein anatomisches Theater, ein Raritätenkabinett. Alle Wißbegierigen könnten sich dorthin wenden. Dies wäre das Mittel, diese Dinge zu finanzieren. Und man würde Akademien, Kollegien, Ballspielhäuser und anderes angliedern; Konzerte und Gemäldegalerien. Konversationen und Konferenzen. Die Gewinnspanne wäre freilich besonders groß; die optischen Finessen würden kaum etwas kosten und würden einen großen Teil der Erfindungen ausmachen. Alle ehrbaren Leute würden wünschen, diese Sehenswürdigkeiten gesehen zu haben, um davon reden zu können. Auch Damen von Rang wünschten dorthin gefahren zu werden, und das mehr als einmal. Man würde immerzu ermutigt, die Dinge weiter zu treiben, und es wäre gut, wenn die Verantwortlichen sich insgeheim in den anderen großen Städten oder denen der Königshöfe, etwa in Rom, Venedig, Wien, Amsterdam oder Hamburg durch Verbin­dungs­personen informieren könnten, die über Privilegien von Königen und Re­publiken verfügten. Dies könnte sogar dazu dienen, überall eine Vielzahl von Akademien der Wissenschaften zu schaffen, die sich aus sich selbst unterhalten könnte und die nicht aufhören würde, schöne Dinge zu produzieren. Möglich wäre, daß wißbegierige Prinzen und illustre Personen zur öffentlichen Befriedigung und zum Aufblühen der Wissenschaften einiges von ihrer Seite beisteuern würden. Schlußendlich wäre alle Welt alarmiert und gleichsam aufgeweckt, und das Unternehmen könnte so schöne und bedeutende Folgen haben, wie man es sich heute kaum vorzustellen wagt, und vielleicht würde es eines Tages von der Nachwelt geehrt. Hierzu müßte es mehrere Gebäude an verschiedenen Plätzen der Stadt geben, in denen die unterschiedlichen Dinge ausgestellt würden, oder eher mehrere Zimmer, wie sie die Läden eines Palastes darstellen, in ein und demselben Haus, welche einzelne Privatleute mieten könnten, um ihre Raritäten ausstellen zu können. [So wie in der] neuen Rue Lamoignon.44  Das Privileg könnten all jene, die etwas auszustellen wünschen, dazu verpflichten, dies im Rahmen der Akademie der Ausstellungen zu tun. Man könnte schließlich das Privileg des allgemeinen Auskunftsbüros45  zu besserem Nutzen wieder aufleben lassen, bei der es sich um eine Institution von großer Bedeutung handeln würde, wenn sie so gefördert wäre, wie es sich gehört. Oft hätte man keine Kosten, indem man anderen für ein gewisses Entgelt die Freiheit gewähren würde, im Gebäude der Akademie auszustellen. Und daraus würde ein Gewinn entstehen, der immer bei der Akademie bliebe, so daß keine eigenen Ausgaben anfallen würden. Vielleicht könnte man sie bei der Ausführung der Gründung das Kollegs der vier Nationen46  beteiligen und dort vereinen, usw. Man würde mit Platzpatronen schießen. Lotterien könnten gegründet werden, und eine Art Hoca-Spiel.47  Man würde zahlreiche kleine Kuriositäten verkaufen. Fast hätte ich vergessen, daß man dort einen Spielpalast48  oder, allgemeiner gesprochen, einen Vergnügungspalast einrichten könnte. Aber der erste Name gefällt mir besser, weil es dem allgemeinen Geschmack entspricht. Dort würde man

44   Leibniz verweist auf den court neuve an der rue Lamoignon, in dem eine Reihe von großen Kaufläden untergebracht war (znort). 45   Vorform des Patentamtes. 46   Wiedeburg, 1970, II, 1, S. 621f. 47  Aus Katalonien importiertes Glücksspiel (AA, IV, 2, S. 742, Z. 12f.; Depaulis, 1995, S. 30ff; Freundlich, 1995, S. 248). 48   Der Begriff war synonym mit einem Spielpalast (Furetière, 1690, I: „Academies de jeu“).

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mit Karten und Würfeln spielen, und es gäbe ein Zimmer für Landsquenet,49  einen Raum für Dreißig und Vierzig,50  einen Raum für Berlan51  sowie einen weiteren für Hombre52  usw. Ein Zimmer für Schach oder Damen. Man würde es wie bei Fredoc53  einrichten: man würde Spielmarken an jene ausgeben, die dort drinnen zu spielen wünschten; und da sie also nicht mit Geldstücken, sondern mit Spielgeld spielen würden, würden die Leute weitaus ungezwungener spielen. Jene, die dort zu essen wünschten, hätten pro Kopf nur eine Marke, den Louis d’or zu geben, und sie würden sehr gut bewirtet. Gleichzeitig wäre es somit ein ehrbares Lokal, wie bei Bergerac.54  Man könnte darin Kuriositäten zeigen, und man könnte nicht eintreten, ohne eine Spielmarke zu geben; diese Spielmarken würde man im Büro bezahlen. Es würde eine Kennzeichnung und Einprägung haben, um das Spielgeld fälschungssicher zu machen, und ihre Zahl müßte sich auf eine andere Zahl oder ein kleines Kennzeichen beziehen, die ein anderer nicht erraten könnte. Es gäbe mehrere Häuser oder Paläste55  dieser Art in der Stadt. Diese Häuser oder Zimmer sollten solcherart gebaut sein, daß der Herr des Hauses mithilfe von Spiegeln und Röhren all das, was man hier sagt und tut, hören und sehen könnte, ohne daß er bemerkt werden würde. Dies wäre eine höchst wichtige Sache für den Staat, und eine Art politischer Beichtstuhl. Monsieur Baptiste wird nicht ewig leben.56  Und man würde die Oper oder die Musikakademie hinzufügen. Es würde ein Pygmäentheater, Wasserspiele, Seen, Wasserschlachten usw. geben. Verzauberte Paläste. Es müßte verhindert werden, daß in dem Palast geflucht oder gegen Gott gelästert würde. Denn dies ist der Vorwand, mit dem die Paläste gestrichen wurden. Man würde dem Vorwurf begegnen, indem man es zur Mode machte, nur den als einen guten Spieler zu werten, der ohne Gemütsaufwallung zu spielen vermag. Zudem sollten jene, die dennoch ausfallend werden würden, etwas zahlen, allerdings nicht, weil dies falsch ausgelegt werden könnte, der Bank oder dem Haus, sondern

49  Ende des sechzehnten Jahrhunderts von deutschen landsquenets (Landsknechten) in Frankreich eingeführtes Kartenspiel (znort). 50  Spezialversion des Spieles Rot-Schwarz, bei dem 30 und 40 die Gewinn- und Verliernummern waren (znort). 51   Das unter Ludwig XIV. populärste Kartenspiel, das teils exklusiv in Spielhäusern gespielt wurde (Freundlich, 1995, S. 248). 52   Kartenspiel zu dritt mit vierzig Karten, wobei ein Spieler nach der Erklärung „Ich bin der Mann“ (Yo soy el hombre) gegen die beiden anderen Spieler antrat (Freundlich, 1995, S. 248; Alte Spielverbote, 1995, Nr. 22, S. 87f.). 53   Bedeutung unklar. 54   Zu Cyrano de Bergeracs Strategien der Popularisierung der Wissenschaften: Gipper, 2002, S. 45ff. 55   Wörtlich: „Akademie“; s. o. S. 60. 56   Leibniz bezieht sich darauf, daß Jean-Baptiste Lully die unter seiner Direktion stehende Opera streng abschirmte und jede Form von Zusammenschluß verhindert hätte.

2. Übersetzung des Drôle de Pensée

den Mitspielern. Denn dadurch wären die Spieler selber daran interessiert, das Gesetz zu befolgen. Wenn man aber eine ganze Gruppe von Spielern bemerkt, die, was selten vorkommt, insgesamt ausfallend werden und die sich gegenseitig von dieser Regel entbänden, so müßte man ihnen in Zukunft den Eintritt verweigern, nachdem man es ihnen vergeblich angezeigt hätte. Man sollte sich hier nicht vom Vorurteil der Barmherzigkeit leiten lassen, denn das Vulgäre verachtet dies; aber man sollte mit Sitte und mit Stil vorgehen. Gewiß. Nota bene: Man würde keiner Gruppe von Spielern den Zugang zu einem öffentlichen Raum verweigern, denn dies würde bemerkt werden. Wenn eine bestimmte Spielertruppe ein besonderes Zimmer wünschen sollte, sei dies ihnen gewährt; aber wenn sie dort beim Spielen fluchen und das Gesetz verletzen würden, müßte man ihnen einen Sonderraum verweigern. Die Frage ist, ob man Falschspielerei erlauben sollte. Man könnte jeweils danach entscheiden, wie die Beteiligten es wünschten. Denn wenn alle Falschspielerei mit ihrer Zustimmung einstimmig abgelehnt würde, könnte man jenen, der falsch spielt und aufgedeckt würde, mit einer Strafe belegen, die an die Bank zu zahlen wäre. Wenn es keine vereinbarte Strafe gäbe, würde die Falschspielerei als erlaubt gelten. Aber wenn die Spieler sie absolut verbannt sehen wollen würden, wäre dies mit der Strafe, von der Gemeinschaft verstoßen zu sein, oder mit einer großen Geldsumme als Strafe verbunden. Auf diese Weise wäre das Falschspiel in den meisten Fällen erlaubt, was alle zwingen würde, auf tausend Tricks gefaßt zu sein. Dennoch glaube ich, daß diese Falschspielerei, eine falsche Spielkarte mitzubringen, strengstens untersagt werden müßte; desgleichen das Spiel mit falschen Würfeln. Es wäre besser, die Falschspielerei zu verbannen; es sei denn, die Spieler würden es selbst zulassen oder nur eine Geldstrafe aussprechen wollen. Der Spielaufseher könnte Spieler einführen oder auch selbst mit von der Partie sein. Aber dies könnte auch seine Reputation ruinieren. Eine Art von Lotterie, mit einem beträchtlichen (und kalkulierbaren) Gewinn für den Direktor der Lotterie. Mit der Zeit würde dieses Haus ein Palast werden, und dieser würde entweder selbst oder in seiner Umgebung oder unten Läden mit allen nur denkbaren Sachen haben. Das Spiel wäre der schönste Vorwand der Welt, eine so nützliche wie öffentliche Sache wie diese zu beginnen. Denn man muß die Menschen auf den Leim gehen lassen, muß von ihrer Schwäche profitieren und sie täuschen, um sie zu heilen. Es gibt nichts besseres, als sich ihrer Manien zu bedienen, um sie zur Weisheit zu führen. Dies bedeutet wahrhaftig, dem Süßen das Nützliche beizumischen und aus einem Gift eine Arznei zu machen.57 

  Das „miscere utile dulci“ enstammt der „Redekunst“ des Horaz (343; 1984, S. 26/27).

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Man könnte einige Räume zum Maskieren haben. Dieses Spielgeld würde sehr profitabel sein, denn das Geld wird im voraus gegeben […]. Am Ende würde man noch ein Registrierbüro anschließen; Verzeichnis der Anschläge, und tausend anderer nützlicher Dinge. Anzuschließen wäre das Marionettentheater des Marais oder das Pygmäentheater.58  Man könnte auch Schatten hinzufügen; bzw. ein ansteigendes Theater, wo es am Ende der Zuschauerseite Licht und kleine Holzfiguren geben würde, die so bewegt werden, daß sie ihren Schatten gegen ein durchscheinendes Papier werfen, hinter dem es ebenfalls ein Licht gäbe. Auf diese Weise würden die Schatten auf dem Papier in eindrücklicher Weise in Groß erscheinen. Aber damit die Schattenfiguren nicht allesamt auf einer Ebene erscheinen, könnte die Perspektivwahl die Größe der Schatten reduzieren. Sie würden vom Rand her zur Mitte wandern, und dies würde den Eindruck erwecken, als wenn sie von hinten nach vorn kämen. Sie würden an Größe zunehmen, wenn sich ihre Distanz zum Licht mindert, was leicht und einfach zu bewerkstelligen ist. Es würde unaufhörlich wunderbare Metamorphosen, salti mortali und Flüge geben. Circe, die Zauberin, die auftretende Höllen verwandelt. Danach würde auf einen Schlag alles dunkel; dabei wäre dieselbe Wand nochmals dienlich, indem man alles Licht, außer jenem nahe den kleinen beweglichen Holzfiguren, löscht. Dieses Restlicht würde mithilfe einer magischen Lampe bewundernswert schöne und bewegliche Figuren gegen die Wand werfen, die demselben Perspektivgesetz folgen. All dies würde von einem Lied hinter dem Theater begleitet. Die kleinen Figuren würden von unten oder durch ihren Fuß bewegt werden, so daß, was immer dazu dient, sie zu bewegen, unsichtbar bleibt. Gesang und Musik würden alles begleiten.59 

Anmerkung Eine erste Übertragung ins Deutsche (Leibniz, 1994, S. 122–126) war, auch wenn sie nur an einigen Stellen wörtlich übernommen wurde, eine erhebliche Hilfe. Für Hinweise und Mitarbeit sind Hélène Doucet, Carin Grabowski, Rebekka Maiwald und Ergül Waidman zu danken.

58   Das Marionettentheater des Marais war auch als Thêatre des Pygmées bekannt, weil das erste dort gespielte Stück unter dem Titel Les pygmées aufgeführt worden war (AA, IV, 2, S. 742, Z. 16f.); Leibniz aber zieht beide auseinander. 59  AA, IV, 1, Nr. 49, S. 562–568; AI, 7.

3. Liste der Abkürzungen und der verwendeten Literatur

3. Liste der Abkürzungen und der verwendeten Literatur AA = Gottfried Wilhelm Leibniz, Sämtliche Schriften und Briefe (Hg. von der Preußischen, später Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin), Berlin 1923ff. Achermann, Eric (1997), Worte und Werte. Geld und Sprache bei Gottfried Leibniz, Johann Georg Hamann und Adam Müller, Tübingen Adams, Colin C. (1994), The Knot Book. An Elementary Introduction to the Mathematical Theo­ry of Knots, New York Age of the Marvellous, The (1991), (Hg.: Joy Kenseth), Austellungskatalog, Hanover / New Hamp­shire Agricola, Georg (1977), Vom Berg- und Hüttenwesen (Übers.: Carl Schiffner), München AI = Anhang I Aiton, Eric J. (1991), Leibniz. Eine Biographie, Frankfurt am Main Alberti, Leon Battista (1877), Kleinere kunsttheoretische Schriften (Hg.: H. Janitschek), Wien Alberti, Leon Battista (2000), De Statua De Pictura Elementa Picturae (Hg. u. Übers.: Oskar Bätschmann u. Christoph Schäublin), Darmstadt Albus, Vanessa (2001), Weltbild und Metapher. Untersuchungen zur Philosophie im 18. Jahrhundert, Würzburg Aldrovandi, Ulisse (1648), Musaeum Metallicum, Bologna Alewyn, Richard (1989), Das große Welttheater, München Alsted, Johann Heinrich (1630), Encyclopedia septem tomis distincta, Herborn Alte Spielverbote – Verbotene Spiele (1995), Ausstellungskatalog, Wien Altmann, Jan (1998), Die Bildtafeln von Sébastian Leclerc in Claude Perraults „Histoire naturelle des animaux“. Eine Untersuchung zur zoologischen Buchillustration des späten 17. Jahrhunderts, Magisterarbeit, Humboldt-Universität zu Berlin Andreae, Johann Valentin (1975), Christianopolis (Hg. u. Übers.: Wolfgang Biesterfeld), Stuttgart Antizipation in Kunst und Wissenschaft. Ein interdisziplinäres Erkenntnisproblem und seine Begründung bei Leibniz (Hg.: Friedrich Gaede und Constanze Peres) (1997), Tübingen und Basel Anulus, Barptolemaeus (1565), Picta Poesis. Vt Pictvra Peisis erit, Lyon Archenholz, Johann Wilhelm (1791), Gemälde der preußischen Armee vor und in dem Siebenjährigen Kriege, Leipzig und Wien Architekturmodelle der Renaissance. Die Harmonie des Bauens von Alberti bis Michelangelo (1995), (Hg.: Bernd Evers), Ausstellungskatalog Berlin, München und New York Arciszewska, Barbara (2004), Johann Bernhard Fischer von Erlach and the Wolfenbüttel Library – the Hanoverian Connection, in: Barock als Aufgabe. Johann Bernhard Fischer von Erlach, der Norden und die zeitgenössische Kunst (Hg.: Andreas Kreul), Wolfenbüttel [im Druck] Ariew, Roger (1998), Leibniz on the Unicorn and various other Curiosities, in: Early Science and Medicine, Bd. III, Nr. 4, S. 267–288 Arnsperger, Walther (1901), Leibnizens italienische Reise in den Jahren 1689/90, in: Zeitschrift des historischen Vereins für Niedersachsen, S. 235–256 Ashworth Jr., William B. (1991), The Habsburg Circle, in: Patronage and Institutions. Science, Technology, and Medicine at the European Court 1500–1700 (Hg.: Bruce T. Moran), Ro­chester und Woodbridge, S. 137–167 Athanasius Kircher und seine Beziehungen zum gelehrten Europa seiner Zeit (1988), (Hg.: John Flet­cher), Wiesbaden

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3. Liste der Abkürzungen und der verwendeten Literatur

Becker, Christoph (1992/93), Johann Daniel Major (1634–1693): >Sammlungstheoretiker