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German Pages 244 Year 1998
Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht
Band 41
Der Föderalismus als Prinzip überstaatlicher Gemeinschaftsbildung Von
Katharina Heckel
Duncker & Humblot · Berlin
KATHARINA HECKEL
Der Föderalismus als Prinzip überstaatlicher Gemeinschaftsbildung
Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht Herausgegeben von Wolfgang Graf Vitzthum in Gemeinschaft mit Martin Heckel, Karl-Hermann Kästner Ferdinand Kirchhof, Hans von Mangoldt Thomas Oppermann, Günter Püttner Michael Ronellenfitsch sämtlich in Tübingen
Band 41
Der Föderalismus als Prinzip überstaatlicher Gemeinschaftsbildung Von Katharina Heckel
Duncker & Humblot . Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Heckei, Katharina: Der Föderalismus als Prinzip überstaatlicher Gemeinschaftsbildung / von Katharina Hecke!. - Berlin : Duncker und Humblot, 1998 (Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht ; Bd. 41) Zug!.: München, Univ., Diss., 1997 ISBN 3-428-09320-8
Alle Rechte vorbehalten Humblot GmbH, Berlin Satz: W. März, Tübingen Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany
© 1998 Duncker &
ISSN 0935-6061 ISBN 3-428-09320-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 0
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 1997 von der LudwigMaximilians-Universität München als Dissertation angenommen. Der Text war im Februar 1997 abgeschlossen. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Peter Badura, für seine vielfältige Förderung, hilfreiche Betreuung und fur die zügige Abwicklung des Promotionsverfahrens. Ferner danke ich Herrn Prof. Dr. Dr. Udo Di Fabio für Kritik und Anregungen im Rahmen seines eingehenden Zweitgutachtens. Für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe meiner Heimatuniversität - die "Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht" -, die mir eine besondere Ehre und Freude ist, danke ich Herrn Prof. Dr. Wolfgang Graf Vitzthum herzlich. Für seine technische Hilfe bei der Erstellung der Druckfassung bin ich Herrn Dr. Wolfgang März sehr verbunden. Dankbar erwähnen möchte ich schließlich meine Eltern, die mich beide stets in vielfacher Weise unterstützt haben. Neubrandenburg, im Herbst 1997
Katharina Heckel
Inhaltsverzeichnis Einleitung ....... .
II
A. Der Föderalismus im Spannungsfeld zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17
1. Die Erforderlichkeit einer europäischen Integration
...........
19
H. Die Entwicklung der europäischen Staatenverbindung vor Maastricht
27
III. Der Maastrichter Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
28
I. Die Vertiefung der Integration durch den Maastrichter Vertrag
28
.....
a) Der Kompetenzzuwachs der europäischen Ebene .
29
b) Die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) . .
30
c) Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik .
32
d) Justiz und Inneres .. . . . . . . . .
36
e) Die Sozialpolitik ., . . . . . . . . .
38
2. Die Wahrung der Staatlichkeit der Mitgliedstaaten und die Berücksichtigung föderaler Strukturen innerhalb der Mitgliedstaaten durch den Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
39
IV. Die Verfassungs struktur Europas seit der Gründung der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
40
1. Staatenähnliche Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
40
a) Die Kompetenzftille der europäischen Hoheitsgewalt
40
b) Die Selbständigkeit der Gemeinschaftsorgane
41
aal Die Europäische Kommission
41
bb) Das Europäische Parlament
43
cc) Der Europäische Gerichtshof.
43
dd) Der Ministerrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
45
ee) Die Verpflichtung der Gemeinschaftsorgane auf gemeinsame europäische Belange und die wechselseitige Verflechtung und Kooperation auf nationaler und übemationaler Ebene . . . .
50
ff)
51
Die künftige Europäische Zentralbank . . . . . . . . . . . . . . ..
8
Inhaltsverzeichnis c) Die finanzielle Selbständigkeit der Europäischen Gemeinschaft
52
d) Rechtsetzungsgewalt und Gemeinschaftsrechtsordnung . . . . . . . ..
55
e) Der Rechtsschutz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
63
f) Dauerhaftigkeit, Unvollendetheit und politische Finalität der Euro-
päischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
65
2. Nichtstaatliche Momente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
66
a) Gebietshoheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
67
b) Personalhoheit und Unionsbürgerschaft . . . . . . . . . . . . . . .
67
c) Hoheitsgewalt ....
70
3. Die Souveränitätsfrage
75
4. Sind die Mitgliedstaaten noch die Herren der Verträge?
87
5. Die Rechtsnatur der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
89
V. Die Kritik an Umfang und Geschwindigkeit dieser Vergemeinschaftung.
96
I. Zentralismus, Bürgerfeme und Unkontrollierbarkeit des EU-Macht-
apparates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
98
2. Das Problem des Demokratiedefizits
101
3. Der Exekutivföderalismus .. . . . . .
117
4. Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit .
118
VI. Die föderative Gestalt der Europäischen Union und föderalistische Grenzen ihrer weiteren Verdichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
120
I. Die gegenwärtige föderative Struktur der Europäischen Union
120
2. Gemeinschaftsrechtliche Grenzen einer europäischen Integration
122
3. Verfassungsrechtliche Schranken der künftigen Entwicklung . . .
124
a) Art. 79 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 23 Abs. I Satz 3 GG
124
b) Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
135
VII. Die künftige Entwicklung der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten - Gefahren und Chancen für den Föderalismus als überstaatliches und nationales Strukturprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
138
I. Ziele und Perspektiven der europäischen Einigung und des Föderalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
138
2. Die Verstärkung der rechtlichen Absicherung der Nationalstaaten . . ..
154
a) Das Subsidiaritätsprinzip . . . . . . . . . . . .
154
b) Die Erstellung eines Kompetenzkataloges
161
Inhaltsverzeichnis
9
B. Bundesländer und europäische Integration .
164
I. Die Kompetenzverlagerungen auf die europäische Ebene, ihre Auswirkungen auf das innerstaatliche Verfassungsgefüge und die "Regelungswut" der Gemeinschaftsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
165
I. Die Erforderlichkeit gliedstaatlicher Kompetenzverlagerungen . . .
165
2. Die innerstaatlichen Auswirkungen der Kompetenzverschiebung
167
3. Die "Regelungswut" der Gemeinschaftsorgane
170
11. Die Ausgangssituation der Bundesländer . . . . . . .
172
I. Gemeinschaftsrecht und Bundesländer . . . . . . . .
2. Die Verbandskompetenz in europäischen Angelegenheiten nach dem
Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
173 175
3. Die Organkompetenz in europäischen Angelegenheiten .
178
4. Der Rechtsschutz der Bundesländer durch den EuGH ..
181
5. Die rechtliche Absicherung der Bundesländer durch Art. 79 Abs. 3 GG
182
6. Die Bedeutung der Ausführungskompetenzen für die Kompensationsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
184
III. Das Verhalten der Bundesländer und die bisherigen Regelungen
185
I. Die erste Zeit nach der Gründung der Europäischen Gemeinschaften
185
2. Art. 2 EEAG und die Folgezeit
........................
189
3. Der Maastrichter Vertrag und die mit ihm einhergehenden Verfassungsänderungen ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
192
IV. Der neue Artikel 23 des Grundgesetzes
.................
194
I. Inhalt und Funktionen der Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
194
2. Die neuen Parallelen zum Föderalismus der Bismarckschen Reichsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
196
3. Funktionswandel des Bundesrates - zum Koordinierungsorgan der Landespolitik in europäischen Angelegenheiten . . . . . . . . . . . .
198
4. Die Auswirkungen auf Landtage und Landesregierungen . . . . . . . ..
202
5. Die Verschiebungen im Verhältnis des Bundesrates zum Bundestag ..
205
a) Das Vertragsgesetz als Zustimmungsgesetz, Art. 23 Abs. I Satz 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
205
b) Die neuen Gestaltungsformen der Mitwirkung von Bundesrat und Bundestag bei der Willensbildung des Bundes . . . . . . . ..
206
6. Die Verschiebungen im Verhältnis des Bundesrates zur Bundesregierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
209
lO
Inhaltsverzeichnis a) Der erweiterte Einfluß der Stellungnahmen des Bundesrates auf die Europapolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
209
b) Die Bedeutung des Ländervertreters für die Organkompetenz der Bundesregierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
212
c) Das erweiterte Zustimmungsrecht des Bundesrates bei der Intensivierung und Erweiterung des vereinten Europa . . . . . . . . . . . . .
215
7. Art. 23 GG und die unmittelbaren Kontakte der Länder zur Union ..
215
V. Die Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips und eines Kompetenzkataloges für die deutschen Bundesländer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
217
VI. Europa der Regionen . . . . . . . .
221
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
23 I
Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
241
Einleitung Das Zusammenwachsen Europas in den Formen der Europäischen Gemeinschaften und nunmehr auch der - durch den Maastrichter Vertrag gegründeten - Europäischen Union ist von einer starken Dynamik gezeichnet. Die europäische Staatenverbindung war zwar ursprünglich in erster Linie als Wirtschaftsgemeinschaft konzipiert. Ihre Rechtsordnung trägt daher betont nüchterne, juristische Züge. Auch ist das Pathos des europäischen Aufbruchs nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in vielen Staaten verebbt. Gleichwohl hat das Fortschreiten der europäischen Integration zu einem neuen Europa aus mannigfachen Gründen nicht nachgelassen. Die Europäische Union stützt sich in ihrer gegenwärtigen Gestalt auf ein umfangreiches Netz vertraglicher Grundlagen, ein stattliches Instrumentarium europäischer Behörden und deren vielfältige allgemeine und spezielle Rechtsakte, die die Funktionen der europäischen Staaten und das Leben der Gesellschaft in ihnen immer intensiver regeln und bedingen. Hinter diesen technischen Prozessen aber steht bei führenden Politikern ein visionäres, erinnerungsschweres Ziel. Seit dem Großreich der Karolinger - dessen Grenzen durch die Ausweitung der Europäischen Union in den Mittelmeerraum, nach Norden und in den Osten weithin überschritten werden sollen - hat sich die Einheit Europas im vergangenen Jahrtausend zunehmend aufgelöst. Die universale Kaisermacht ist seit der Vernichtung der Staufer vor allem dem Streben der universalen päpstlichen Gewalt nach Weltherrschaft als einer neuen Rechts- und Friedensordnung des Abendlandes unterlegen. Doch auch diese hat ihr Ziel durch das kanonische Recht nicht verwirklichen können; sie hatte dem System der selbständigen europäischen Nationalstaaten zu weichen. Die Nationalstaaten haben ihre Interessen und rechtlichen Beziehungen auf der Grundlage der staatlichen Souveränität durch das seit dem 17. Jahrhundert sich entwickelnde Kriegs- und Friedensvölkerrecht in einen labilen Ausgleich zu bringen versucht, der in den Stürmen der beiden Weltkriege zutiefst erschüttert worden ist. Dies hat das Verlangen nach einer übergreifenden neuen Ordnung hervorgerufen. Für diese Ordnung soll der Föderalismus die politische Grundlage und das juristische Kernprinzip bilden. Der Föderalismus bietet hier den Vorzug besonderer Elastizität und Entwicklungsoffenheit. Denn er enthält kein starres Modell, sondern birgt verschiedenste Erscheinungsformen mit zahlreichen
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Einleitung
Facetten und unterschiedlichen Ausrichtungen in sich. Seine Beweglichkeit ennöglicht Kompromisse, die den jeweiligen historischen Gegebenheiten am stärksten angepaßt sind. Sie gibt Raum für vielfältige Arten föderativer Zusammenschlüsse. Der Föderalismus ist mit einzelnen seiner besonderen Ausfonnungen nicht gleichzusetzen; so hat er etwa in verschiedenen Ausprägungen des Staatenbundes und des Bundesstaates wie auch in der eigengearteten Struktur der Europäischen Union höchst unterschiedliche Ausgestaltungen gefunden. Den literarischen Versuchen, ihn nach bestimmten Kriterien zu definieren, hat dies seit seiner Entstehungsgeschichte erhebliche Schwierigkeiten bereitet. Die Ursache liegt in erster Linie in seiner Abhängigkeit von der besonderen historischen Situation und von den Bemühungen und Erfolgen der maßgeblichen politischen Kräfte, die Herausforderungen ihrer Epoche jeweils durch eine besondere, zeitgerechte Fonn der Staatenverbindung zu meistem. Diese Aufgabe stellt sich für die Gegenwart in doppeltem Sinn: Die Überlagerung zweier Föderalismus-Modelle ist das besondere Charakteristikum und zugleich die besondere Schwierigkeit der europäischen Einigung für Deutschland. Dies bildet das zentrale Thema und den Reiz auch der folgenden Untersuchung. Der Föderalismus als das staatliche System des deutschen Bundesstaates wird überlagert, ja in mancher Hinsicht tiefgreifend verfonnt durch den Föderalismus als überstaatliches System des werdenden Europas der Union. Denn die Union soll nicht zur Auflösung der Staatlichkeit ihrer nationalen Mitgliedstaaten führen; sie hat sich die Respektierung der nationalen Verfassungsordnungen zur Grundvoraussetzung, Grundlage und zum maßgeblichen Nonnprinzip ihrer eigenen europäischen Verfassung gesetzt. Der national staatliche Föderalismus Deutschlands (wie auch der wenigen anderen europäischen Bundesstaaten) soll durch den Föderalismus der Europäischen Union nicht zerstört - weder aufgezehrt noch ausgezehrt - werden, sondern als Nonnelement einen tragenden Baustein des europäischen Gebäudes bilden. Wegen dieser Doppelung, d.h. des Ineinandergelagertseins der nationalen und supranationalen Föderalismusstrukturen aber treten auch die typischen Spannungen des Föderalismus in doppelter, ineinander verschränkter Weise auf. Der Föderalismus trägt eine Spannung in sich, die in jedem föderativen System zur Geltung kommt und im Zusammenhang mit der europäischen Integration erneut deutlich wird. Föderalistische Strukturen sollen eine dauernde Vereinigung der Gliedstaaten zur Erfüllung bestimmter gemeinsamer Ziele herstellen, die dauernde gemeinsame Erfüllung deren lebensnotwendiger Interessen sichern und dafür in festen Fonnen ihre dauernde Integration gewährleisten. Und sie sollen andererseits die eigene Existenz, Eigenart und Selbstbestimmung ihrer Glieder als selbständiger Staaten politisch ennöglichen und verfassungsrechtlich gewährleisten. Die einzelnen
Einleitung
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Staaten können auf diese Weise in föderalistischen Verbindungen ihre historisch-politische Identität grundsätzlich behalten. Die Autonomie der Mitgliedstaaten soll somit durch das föderalistische Band einerseits gesichert und gestärkt, andererseits beschränkt und in ein übergeordnetes Ganzes eingebunden werden. Und entsprechend wird die übergeordnete föderale Organisation dadurch gegenüber den Einzelstaaten in ein ambivalentes System der Überordnung und des Geltungsvorrangs ihrer Funktionen und Rechtsakte, aber auch der Angewiesenheit auf die Freiheit, Kooperationsbereitschaft und Bundestreue der Mitglieder gebracht. So ist die gegenseitige Ausrichtung aufeinander für die Gemeinschaft wie für ihre Glieder ein fundamentales Charakteristikum des föderalistischen Systems. Diese Spannung zwischen Freiheitssicherung und Freiheitsbegrenzung der Gliedstaaten ist dem Wesen der föderalistischen Systeme immanent. Der Föderalismus vereint als Prinzip staatlicher und überstaatlicher Gemeinschaftsbildung empfindliche Fonnen der politischen Kultur in sich, die das notwendige Maß an Unterordnung und Freiheitsbegrenzung auf die Einsicht und den Integrationswillen der Mitglieder gründen; diese unterscheiden sich deshalb in ihrer Angewiesenheit und Förderung von Freiheit und Freiwilligkeit wesens mäßig tief von anderen, rigorosen Herrschaftsfonnen des Staats- wie des Völkerrechts. Eine solche Spannung zwischen Autonomie und Einordnung der Glieder sucht den Ausgleich zwischen den polaren Bedürfnissen nach Sicherung von Einheit und Vielheit durch ein komplexes politisches System. Der Föderalismus eignet sich deshalb dafür, die Vielfalt in der Einheit zu ennöglichen. Das Bedürfnis nach beidem ist das Kennzeichen einer entwickelten, ausdifferenzierten Kultur in den Feldern der Politik, des Geisteslebens, der Wirtschaft und der sozialen Strukturen. Die innere Grundspannung jedes föderativen Gebildes äußert sich in der typischen Wiederkehr bestimmter juristischer Fonnen: Zur Sicherung der Eigenexistenz und Selbstbestimmung der Mitglieder dient eine Reihe von Garantien ihrer Autonomie, die die Glieder vor dem Zugriff und der Vereinnahmung durch das übergeordnete Ganze sichern; ein föderalistisches System ist deshalb auf Nonnen der Abgrenzung der beiderseitigen Rechtssphären, der Begrenzung und wechselseitigen Achtung der Kompetenzen angewiesen. Da das föderative Ganze aber gerade auch seinen Teilen dienen soll, wie die Teile dem Ganzen zu dienen haben, ist eine scharfe Trennung der Ziele und Funktionen auch in der juristischen Abgrenzung oftmals schwierig und kann zur Verwirrung führen. Viele föderale Organisationen haben sich deshalb zu scharfen Kompetenzabgrenzungen der Gesetzgebungs- und Verwaltungs funktionen durchgerungen; andere - wie die Europäische Union - begnügen sich eher mit einer finalen Bestimmung der Gemeinschaftsfunktionen ohne eine scharf umrissene gegenständliche Abschichtung von Kompetenzbereichen. Diese juristisch-technischen Schwierigkeiten bei der Sonderung der gemein-
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Einleitung
schaftlichen und der gliedstaatlichen Sphären wirft in der Praxis umso größere Schwierigkeiten auf, als in diesen Formen sachliche Interessengegensätze zwischen reicheren und ärmeren Mitgliedstaaten und zwischen dem von der Mehrheit bestimmten Gemeinschaftsziel und Belangen des einzelnen Nationalstaates unvermeidlich auftreten und juristisch zum Ausgleich gebracht werden müssen. - Der Ausgleich aber muß durch besondere Formen der Integration ermöglicht und erleichtert werden. Alle föderalistischen Gebilde besitzen deshalb besondere föderative Organe - wie Deutschland seit alters den Bundesrat -, durch die der Wille der Einzelstaaten in die Willensbildung der föderativen Gesamtorganisation eingebracht und als Teil der Gesamtwillensbildung zur Entfaltung kommen soll. Der Föderalismus ist insoweit auf die Freiheit und die Gleichheit seiner Glieder aufgebaut. Der einzelne Staat soll seinen Willen zur Geltung bringen können, ohne jedoch gegenüber anderen Staaten privilegiert oder diskriminiert zu werden. Angesichts der verschiedenen Größe der Mitgliedstaaten in föderativen Systemen wirft dies besondere Probleme auf. In dem föderativen Organ kann das Stimmgewicht nicht in formaler Gleichheit nach der Zahl der Staaten bemessen werden, da dies die kleinen gegenüber den großen Staaten unter Verzerrung aller Proportionen privilegieren würde. Andererseits läßt sich das Stimmgewicht der Staaten dort auch nicht nach ihren Bevölkerungszahlen bemessen, wenn die kleinen nicht durch die Gefahr der ständigen Majorisierung in ihrem Selbständigkeitsbedürfnis und ihrer Kooperationsbereitschaft und Integrationsfahigkeit geschwächt werden sollen. Schon im Bundesrat des Deutschen Bundes und ebenso des Bismarckreichs hatten deshalb die kleinen deutschen Staaten ein relativ größeres Gewicht, als ihnen nach ihrer Bevölkerungszahl im Verhältnis zu den größeren Staaten zugekommen wäre. Die angedeuteten Spannungen jedes föderalistischen Systems werden durch die Verdoppelung und Überlagerung der föderalistischen Struktur auf supranationaler und föderal-nationaler Ebene gegenseitig beeinflußt und Z.T. vertieft. Das folgt insbesondere aus der verschiedenartigen Verbindung des Föderalismus mit anderen Verfassungsprinzipien: Diese Verbindung ist in den verschiedenen nationalen und supranationalen Föderalstrukturen eben unterschiedlich ausgestaltet. Die Ausformungen des Demokratieprinzips, der Rechtsstaatlichkeit und der Sozialstaatlichkeit auf der europäischen Ebene einerseits und der Ebene der - untereinander wiederum sehr heterogenen nationalen Mitgliedstaaten andererseits weisen z.T. starke Abweichungen voneinander auf. Entsprechend führt auch die innere Verschmelzung der föderalistischen Elemente mit jenen Verfassungsprinzipien zu jeweils unterschiedlichen Ergebnissen. Jedes föderative Gebilde setzt zwar ein gewisses Maß an Homogenität seiner Glieder in den grundlegenden Verfassungsentscheidungen voraus; auch muß die föderative Gesamtordnung letztlich von den gleichen Grundprinzipien getragen und bestimmt sein wie die Verfassun-
Einleitung
15
gen der einzelnen Glieder. Aber Homogenität ist nicht mit Konformität gleichzusetzen. Da sich die Europäische Union gegenwärtig und auf absehbare Zeit hinaus zwar in einem Prozeß der institutionellen Verdichtung befindet, aber von der Erreichung der Staatlichkeit nach Art ihrer Mitgliedstaaten noch weit entfernt erscheint, kann das Prinzip der Demokratie bei der Konstituierung und Legitimität ihrer Organe und Funktionen nicht die gleiche Rolle spielen wie in den Mitgliedstaaten. Derzeit vollziehen sich der demokratische Willensbildungsprozeß und der ihm entsprechende demokratische Verantwortungszusammenhang, wie er sich in parlamentarischen Wahlen, parlamentarischer Regierungsbildung und parlamentarischer Verantwortlichkeit der Regierung paradigmatisch äußert, nur auf der Ebene der Mitgliedstaaten. Die föderalistischen Strukturen Europas können deshalb nicht mit der gleichen Elle gemessen werden wie etwa die Bundesstaatsstrukturen der Bundesrepublik. Föderalistische Formen der europäischen Verfassung haben daher notwendigerweise eine andere demokratische Intensität und Qualität als die der Mitgliedstaaten. Davon sind alle Institutionen geprägt. So besitzt das Europäische Parlament unter demokratischen Kriterien naturgemäß eine andere Existenz und Effizienz als die nationalen Parlamente. Entsprechendes gilt vom Vergleich der Europäischen Kommission mit den nationalen Regierungen und vom Vergleich des Ministerrats etwa mit dem deutschen Bundesrat. Die europäische Bevölkerung wird eben als Staatsvolk primär im Zusammenhang der nationalen Verfassungsstaaten demokratisch repräsentiert; ihre Repräsentation durch das Europäische Parlament ist damit nicht vergleichbar, was für die Beurteilung seiner Kompetenzen und Funktionen nicht ignoriert werden darf. Damit hängt das Problem der weithin gerügten Bürgerferne der europäischen Institutionen eng zusammen; Defizite in dieser Hinsicht erscheinen infolge der Ineinanderlagerung der nationalen und supranationalen Föderalstrukturen nicht einfach zu beheben. Die Belange der Bevölkerung werden eben aufgrund ihrer nationalen demokratischen Willensbildung und Verantwortlichkeit in erster Linie über die Regierungen und deshalb im Ministerrat, nicht aber gleich primär und gleichgewichtig durch das Europäische Parlament politisch formiert und zur angemessenen Wirksamkeit gebracht. Die Überlagerung des nationalen und internationalen Föderalismussystems läßt es nicht zu, den demokratischen Wirkungszusammenhang verdoppelt und in unkoordinierter Weise nebeneinanderherlaufen zu lassen bzw. aufeinanderzutürmen. Angesichts der Verschiedenheit der nationalen Parlamente gegenüber dem Europäischen Parlament kann auch die Idee des parlamentarisch beschlossenen Gesetzes, das ja im nationalen Rahmen eine kardinale Rolle besitzt, im supranationalen Föderalismus Europas nicht in vergleichbarer Weise zur Entfaltung kommen. Entsprechende Tiefenfragen stellen sich zum Problem der verfassunggebenden Gewalt im nationalen und im europäischen Rahmen, der einstweilen von den Staaten getragen wird und eines europäischen Volkes als möglichen Trägers der verfassunggebenden Gewalt entbehren muß.
16
Einleitung
Auf dem Gebiet der Rechtsstaatlichkeit führt die Überlagerung des nationalen Föderalismus durch den supranationalen zu ähnlichen Komplikationen: zwischen Kommission, Ministerrat und Europäischem Parlament existiert notwendigerweise ein anderes System der Gewaltenteilung als zwischen den nationalen Verfassungsorganen. Auf europäischer Ebene bedient sich die Gewaltenteilung ganz anderer Formen, ist aber - was die Zwecke der gegenseitigen Beschränkung, Kontrolle und Balance hoheitlicher Machtausübung betrifft - doch viel intensiver und effektiver verwirklicht als das Demokratieprinzip. Schwierige und letztlich noch nicht vollends befriedigend gelöste Probleme wirft die Verdoppelung des Grundrechtsschutzes auf, die einerseits durch die Grundrechtsgarantien der nationalstaatlichen Verfassungen und ihre Verfassungsgerichtsbarkeit, andererseits durch die europäischen Grundrechte und die Rechtsprechung des EuGH hervorgerufen wird. - Auch der Rekurs auf das viel berufene Subsidiaritätsprinzip vermag die einschlägigen intrikaten verfassungsrechtlichen Spezialprobleme nicht pauschal zu lösen. In allen diesen Fragen sind Elemente der Gleichordnung und der Unterordnung zwischen der Gemeinschaft und den Einzelstaaten vielfältig miteinander verquickt. Die Fortwirkung der vertraglichen Grundlagen und Elemente im europäischen Verfassungssystem bildet den Ersatz für die ausstehende verfassunggebende Gewalt eines europäischen Gesamtvolkes. Insoweit zeigt das Recht der Europäischen Union manche interessanten Parallelen zur Entstehung des Deutschen Bundes von 1815, des föderativen Systems des Norddeutschen Bundes von 1867 und der deutschen Reichsverfassung von 1871. Bei diesen bildeten ebenfalls die vertraglichen Grundlagen der Staatenverbindung das föderative Grundmodell der Verfassung. Das vertragliche Element wurde dort jedoch durch die Repräsentation des deutschen Volkes im Reichstag, die in das föderative System eingelagert war, mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt, bis das bündische monarchisch-konstitutionelle Verfassungssystem in der Novemberrevolution von 1918 durch die unitarische verfassunggebende Gewalt des deutschen Volkes aus den Angeln gehoben wurde.
A. Der Föderalismus im Spannungsfeld zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten Der Föderalismus ist für die Bundesrepublik Deutschland nicht nur als nationale Gestaitungsform, sondern auch als Prinzip überstaatlicher Gemeinschaftsbildung von überragender Bedeutung. Während bereits die innerstaatliche Föderalstruktur seit ihrer Konstituierung einem Prozeß ständiger Fortentwicklung und Wandlung ausgesetzt ist, ergeben sich aus ihrer Überlagerung durch ein weiteres föderales Gebilde interessante Abweichungen, Erkenntnisse und Fragen. Die Staatsform des Bundesstaates, die dem unitarischen Element von vorneherein ein gewisses Übergewicht verleiht, ist einem Wandel leicht zugänglich. Auch der Bundesstaat verkörpert kein festes Modell, sondern ist in besonderem Maße von den jeweiligen räumlich-zeitlichen Gegebenheiten abhängig, die einem ständigen Wandel unterliegen 1; ihn zeichnet eine stetige Spannung zwischen Föderalismus und Unitarismus aus 2 • Infolge seiner Dynamik kann sich das ursprüngliche Verhältnis zwischen seinen föderativen und unitarischen Elementen im Laufe der Zeit durch Verfassungsänderungen, aber auch stillen Verfassungswandel noch weiter verschieben. Soll das Parkett I Im Bundesstaat stellt sich angesichts der AufteiIung der Staatsgewalt zwischen zwei Ebenen ein erhöhter Bedarf an verfassungsrechtlicher Normierung. Die Ausübung staatlicher Hoheitsgewalt durch Bund und Länder erfordert einen ständigen Austausch und Kompromiß zwischen den verschiedenen Ebenen und Entscheidungsträgem. Dieses Zusammenwirken zweier staatlicher Ebenen hat eine erhebliche Integration zur Folge; es erfordert jedoch auch eine eingehendere verfassungsrechtliche Verteilung der staatlichen Kompetenzen und die Errichtung einer Verfassungsgerichtsbarkeit zur Entscheidung der sich aus dieser Kompetenzabgrenzung ergebenden Konflikte. Das Grundgesetz widmet dem Bundesstaatsprinzip ebenfalls mehr Bestimmungen als der Demokratie, dem Rechtsstaats- und Sozialstaatsgebot. Selbst diese relativ ausführliche verfassungsrechtliche Fixierung aber nimmt dem deutschen Bundesstaat nicht seine Elastizität und Dynamik (vgl. lsensee, AöR 115 [1990], 267 f.). Stärker als die anderen Verfassungsprinzipien ist das Bundesstaatsprinzip auch dem Einfluß der Staatspraxis ausgesetzt, die bei der Auslegung des Verfassungsrechts über einen gewissen Spielraum verfügt und für die konkrete Gestalt des Bundesstaates von gewisser Bedeutung ist.
Vgl. dazu etwa Triepel, Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reiche, S. 9-11; HStR IV, § 98 Rdnr.4; ders., AöR 115 (1990), 252; Kirnrninich, HStR I, § 26 Rdnr. I f., 8-10; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rdnr. 217; Badura, Staatsrecht, D 69; Ossenbühl, DVBI. 1989, 1230. 2
l~ensee,
2 Heckel
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A. Der Föderalismus zwischen EU und Mitgliedstaaten
dieses Verfassungs prinzips nicht verlassen werden, so darf seine Elastizität aber nicht dazu fUhren, daß die Gliedstaaten im Laufe der Zeit ihre eigene staatliche Existenz einbüßen. Der Föderalismus bringt als Prinzip staatlicher wie überstaatlicher Gemeinschaftsbildung Vielfalt und Einheit zum Ausgleich. Darf auch nicht seine Vielfalt bis zur Überschreitung der Grenze zum Partikularismus oder gar Separatismus privilegiert werden, so besteht in föderativen Strukturen aber gleichzeitig die Gefahr, dieses Element könnte vernachlässigt werden zugunsten einer - nicht zuletzt durch Demokratie, Grundrechte und Sozialstaatlichkeit geförderten - Stärkung der verbindenden Einheit. Eine föderale Gemeinschaft mehrerer selbständiger Staaten kann einerseits nur dann sinnvoll fungieren, wenn sie zur Verfolgung der gemeinsamen Ziele und Aufgaben auch mit den erforderlichen Hoheitsrechten und Handlungsmöglichkeiten ausgestattet ist. Andererseits sind entsprechende Kompetenzverlagerungen nur insoweit mit dem Interesse der Gliedstaaten vereinbar, als sie nicht deren eigene Identität und Staatlichkeit gefährden. Dieses Spannungsverhältnis zwischen einer Effizienz des Bundes und der Wahrung der Identität und Eigenstaatlichkeit seiner Glieder zeigt sich in Deutschland zum einen in den rein innerstaatlich bedingten Kompetenzverschiebungen von den Ländern auf den Bund im Zuge einer allgemeinen Unitarisierung. Zum anderen hat es im Zusammenhang mit der europäischen Integration in der letzten Zeit stark an Aktualität gewonnen. Die Verdichtung des europäischen Staatengebildes hat ihren bisherigen Höhepunkt im Vertragswerk von Maastricht erreicht. Darin liegt eine Fortsetzung der bisherigen Entwicklung, die sich in erster Linie durch erhebliche Kompetenzübertragungen seitens der Mitgliedstaaten, aber auch besonders der deutschen Bundesländer auf die Gemeinschaft auszeichnet. Für die Bundesländer, die seit der Gründung der Bundesrepublik ja schon zahlreiche Hoheitsrechte an den Bund verloren haben, begründet das Ausmaß dieser Einbußen zugunsten Europas, die zugleich gewisse weitere Kompetenzverlagerungen auf den Bund mit sich bringen, mittlerweile die Sorge um ihre eigene Individualität und Staatlichkeit. Eine ähnliche Problematik zeigt sich jedoch auch für die Mitgliedstaaten selbst. Der deutsche Nationalstaat, der in noch stärkerem Ausmaß als seine Länder Hoheitsrechte an die Gemeinschaft abgegeben hat, sieht sich durch die Abwanderung immer weiterer Hoheitsrechte auf die Union ebenfalls der Gefahr einer Erosion seiner Staatlichkeit ausgesetzt, gegenüber der auch verfassungsrechtliche Grenzen nur bedingten Schutz versprechen. Der Integrationsprozeß hat mit dem Maastrichter Vertrag keinen Abschluß gefunden; vielmehr ist die künftige Entwicklung der Europäischen Union offengelassen und auch zum Gegenstand unterschiedlichster Auffassungen in Literatur, Politik und Bevölkerung geworden. Die erste Reformkonferenz seit Maastricht, die bereits im Vertrag selbst (Art. N Abs. 2 EUV) fUr 1996 vorgegeben war, hat im Juni 1997 in Amsterdam stattgefunden.
I. Die Erforderlichkeit einer europäischen Integration
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Auch in der öffentlichen Diskussion um die europäische Einigung, die sich aus Anlaß der Maastrichter Beschlüsse und der Folgekonferenz von Amsterdam entwickelt hat, kommt das skizzierte spezifisch föderale Spannungsverhältnis zum Ausdruck. Während vielfach auf Notwendigkeit und Vorzüge einer zunehmenden europäischen Integration hingewiesen wird, gewinnen seit einiger Zeit auch nüchterne Stimmen erhebliches politisches Gewicht, die dem Ausmaß und der Geschwindigkeit dieser Zentralisierung gewichtige und bedenkenswerte Kritik entgegenbringen.
I. Die Erforderlichkeit einer europäischen Integration Seit der Entstehung der Europäischen Gemeinschaften in den Fünfziger Jahren besteht ein breiter Konsens darüber, daß es zu einer europäischen Einigung generell keine ernsthafte Alternative gibt. Die Erfahrungen aus den zwei Weltkriegen, in denen der Nationalstaat sicherheitspolitisch versagt hatte) und das von jahrhundertealter gemeinsamer Geschichte, Kultur und vielfacher staatenübergreifender monarchischer Solidarität geprägte Europa durch die Gegensätze zwischen seinen Völkern weitgehend zerfallen war, ließen die europäischen Staaten eine Integration zum gemeinsamen Ziel erklären. Die Gründung der drei Gemeinschaften und auch ihre darauffolgende Erweiterung und Vertiefung stießen auf breite Akzeptanz4 • Deutschland erkannte bei der Konstituierung der Europäischen Gemeinschaften in der Ausrichtung auf die anderen westeuropäischen Staaten seine Chance, nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg zu Akzeptanz, Vertrauen und Gleichberechtigung auf dem europäischen Staatenparkett zurückzufinden und äußere Sicherheit, insbesondere Schutz vor der kommunistischen Bedrohung zu erlangen. Man hoffte, durch die Mitgliedschaft in einer europäischen Föderation zu innerer Sicherheit und demokratischer Stabilität zu finden und Deutschlands wirtschaftlichen Aufschwung in die Wege zu leiten 5 • Auch blieb die in der Präambel des Grundgesetzes zum nationalen Ziel erklärte Wiedervereinigung ohne feste Einbindung Deutschlands in die Europäischen Gemeinschaften und die Nato, im übrigen auch ohne den Rahmen der KSZE schwer vorstellbar. Die anderen europäischen Staaten verfolgten mit der Verbindung das Ziel, die Volkswirtschaft des Kontinents mit gemeinsamen wirtschaftlichen Kräften wiederaufzubauen und der sowjetischen Bedrohung zu 3 Diese Erkenntnis, die weitblickende Stimmen bereits in den zwanziger Jahren geäußert hatten, war nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs unbestritten; vgl. H.H. Klein, FAZ vom 17.10.1994. • Vgl. Heintzen, JZ 1991,323; Oppermann. Europarecht, Rdnr. 12,45,793. ~ Everling, DVBI. 1993, 937; Möschel, JZ 1992. 880; Schwarze, JZ 1993, 593; Oppermann. Europarecht. Rdnr. 765.
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A. Der Föderalismus zwischen EU und Mitgliedstaaten
widerstehen. Des weiteren sollte den innereuropäischen Bürgerkriegen ein Ende gesetzt werden, indem man Frankreich und Deutschland versöhnte. Die Europäischen Gemeinschaften wurden zum Ziel einer wechselseitigen Kontrolle der Nationalstaaten konzipiert, die erstmals auf der Grundlage des Rechts statt durch das Aufbieten von Macht stattfinden sollte. Vor allem sah man in einer Einbindung Deutschlands in die Gemeinschaften die beste Gewähr, einer künftigen Übermacht Deutschlands vorzubeugen 6 • Dieses Bestreben, sich vor einer deutschen HegemonialsteIlung zu bewahren, prägt freilich das Verhalten der europäischen Nachbarn bis in die jüngste Vergangenheit. Die Wiedervereinigung in ihrem konkreten Ablauf wurde von ihrer Seite nur deshalb unterstützt und überhaupt ermöglicht, weil Deutschland seine Europabereitschaft betonte und durch sein Engagement für den Maastrichter Vertrag unter Beweis stellte 7; besonders Delors hatte erkannt, daß die Deutschen nur dann für die Sache Europas weiterhin zu gewinnen waren, wenn sie das nationale Ziel der Wiedervereinigung erreichen durften 8 • Auch die Verdichtung der politischen Integration durch den Maastrichter Vertrag ist von der Intention gezeichnet, das vereinte Deutschland in seiner Größe und zentralen Stellung inmitten Europas so weit wie möglich in eine europäische Staatengemeinschaft einzubinden, um das Aufkommen einer Übermacht im Keime zu ersticken 9 . Erst die jüngsten Beitritte einiger Länder und die bevorstehende Aufnahme mittel- und osteuropäischer Reformstaaten haben vielerorts die Vermutung und Sorge begründet, in einer um Österreich, um skandinavische und besonders um osteuropäische Staaten erweiterten Europäischen Union nehme die Bedeutung Deutschlands zu. - Der Beitritt Österreichs ist freilich auch deshalb von besonderer Bedeutung, weil er zu einer nachhaltigen Aufwertung und Legitimitätsstärkung des Föderalismus als nationalen Strukturprinzips innerhalb der Union geführt hat. Der Bundesrepublik ist damit erstmals ein weiterer gewachsener Bundesstaat zur Seite getreten, in dem sich ähnliche Probleme einer Verquickung von nationalem und supranationalem (, Everling, DVBI. 1993, 937; Möschel. JZ 1992, 880. 7 Vgl. Everling, DVBI. 1993, 937; Doehring, ZRP 1993, 98; Rupp, ZRP 1993, 211; Schwarze, JZ 1993, 593. Einen ganz entscheidenden Beitrag zur deutschen Wiedervereinigung, die durch den national empfundenen Willen des deutschen Volkes erzwungen wurde, leistete von außen auch die Politik der amerikanischen Regierung, welche den kausalen Zusammenhang mit der Auflösung des Ostblocks sah.
x Der Wille und Einsatz von Jacques Delors für die deutsche Wiedervereinigung wurde auch in der Presse vielfach betont, während andererseits eine tiefe Skepsis Margaret Thatchers und Fran"ois Mitterrands gegenüber der Vereinigung der Deutschen zum Ausdruck kam; vgl. Seebacher-Brandt, FAZ vom 16.10.1993; Hort, FAZ vom 3 1.12. 1994. "Vgl. Schilling, AöR 116 (1991), 51. Daß das Grundgesetz in seiner Präambel das Bestreben des Deutschen Volkes ausspricht, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, und damit Abstand von jeglicher deutschen Sonderrolle nimmt, kann für die europäischen Nachbarn keine ausreichende Versicherung und Beruhigung bedeuten.
I. Die Erforderlichkeit einer europäischen Integration
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Föderalismus, aber auch die Bereitschaft zum Mitstreiten gegen zentralistische Strukturen zeigen 10. In den Gründungsjahren, insbesondere nach dem Scheitern der Verteidigungsgemeinschaft stand die Wirtschaftsgemeinschaft im Mittelpunkt des Interesses. Auch heute noch kommt wirtschaftlichen Belangen im Zusammenhang mit der europäischen Integration eine zentrale Bedeutung zu. Das heutige technisch-industrielle Zeitalter, das mit seinen neuen technologischen Möglichkeiten Entfernungen verringert und ein Denken in größeren Dimensionen eröffnet, verlangt zugleich nach neuen und engeren Zusammenschlüssen. Das Netz der Handelsbeziehungen hat sich nicht zuletzt im Zuge der Einführung des Binnenmarktes fortwährend verdichtet und verlangt damit auch nach weiteren verkehrs- wie nachrichtentechnischen und sonstigen Verbindungen 11. Die zunehmende wirtschaftliche Verflechtung stellt besonders für das in hohem Maße exportabhängige Deutschland das wesentliche Fundament eines allgemeinen Wohlstands dar l2 ; der freie und ungehinderte Außenhandel und der Vorsprung des Exports gegenüber dem Import haben eine Sicherung deutscher Arbeitsplätze, eine Vergrößerung der sozialen Sicherheit und eine Mehrung des deutschen Wohlstands zur Folge. Die Europäische Union gewinnt fortwährend an Gewicht; auf dem Parkett der Weltwirtschaft hat sie sich in der letzten Zeit einen starken Stand verschafft. Ihre gegenwärtige Bedeutung unterstreichen auch die jüngsten Beitritte Österreichs, Schwedens und Finnlands und die Beitrittsgesuche einer großen Zahl weiterer Staa10 Belgien hingegen wurde erst 1993 zum Bundesstaat ernannt; im Gegensatz zu Deutschland und Österreich handelt es sich bei diesem Mitgliedstaat der europäischen Föderalstruktur nicht um einen gewachsenen Bundesstaat, der mit seinen geschichtlichen Erfahrungen und unterschiedlichen historischen Erscheinungsbildern eine gewisse Vorbildfunktion für weitere föderale Systeme übernehmen könnte.
11 Das Verkehrsproblem ist für die Bundesrepublik von besonderer Bedeutung; hier schneiden sich die großen europäischen Verkehrswege, nämlich die Nord-Süd-Schiene und jetzt auch die West-Ost-Verbindung. Der weitere Ausbau dieser Verkehrswege steht noch am Anfang; die doppelte Mittellage bringt zwar wirtschaftsstrategische Vorteile, zugleich aber auch ökologische und politische Hypotheken. Als zentrales Durchgangsland hat Deutschland überproportional an den Verkehrswegekosten Europas zu tragen und ist es in Verkehrsfragen besonders intensiv auf eine Abstimmung mit dem übrigen Europa angewiesen. 11 Mäschel, JZ 1992, 879; Oppermann / Classen, NJW 1993, 12; Schwarze JZ 1993, 591 f. Die Bundesrepublik gehört zwar zu den Nettozahlern an die Gemeinschaftskasse; sie erzielt im Handel mit der EG und mit anderen Mitgliedstaaten aber regelmäßig weit höhere Exportüberschüsse. Deutsche Unternehmen finden ihre wichtigsten Exportmärkte noch immer in Westeuropa. Die Exporteure haben sich in den letzten Jahren auch zunehmend Absatzmöglichkeiten in Wachstumsregionen wie Südostasien, Südamerika sowie MitteIund Osteuropa erschlossen, die von der westeuropäischen Rezession unberührt waren. Mit Einsetzen des Aufschwungs in den Partnerstaaten der Union ist jedoch die Ausfuhr in diese wieder deutlich gestiegen. Nach dem Beitritt Finnlands, Österreichs und Schwedens in die EU entfielen auf die übrigen Mitgliedstaaten beim Export ein Anteil von 58% und beim Import ein Anteil von 55% (Julir::, FAZ vom 19.9.1995).
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A. Der Föderalismus zwischen EU und Mitgliedstaaten
ten l3 • Der Wirtschaftsstandort Europa wird seine industrielle Wettbewerbsfähigkeit neben den USA, Japan und bald auch ganz Asien freilich langfristig nur halten können, wenn sämtliche vorhandenen Mittel und Kräfte gemeinsam mobilisiert und gebündelt werden. Die europäischen Staaten sind aber nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen vermehrt auf die Unterstützung durch ein überstaatliches Gebilde angewiesen. Auch äußere und innere Sicherheit erfordern einen europäischen Zusammenhalt. Kein europäisches Land ist heute in der Lage, Frieden und Freiheit allein zu sichern l4 • Die unvollkommene Staatenorganisation Europas führte über Jahrhunderte hinweg zu unzähligen Kriegen bis hin zu zwei Weltkriegen; der Krieg galt lange Zeit als legitimes Instrument zur Durchsetzung politischer Ziele. Die europäischen Demokratien suchten aus diesen Erfahrungen Lehren zu ziehen, indem sie die Herstellung einer dauerhaften gesamteuropäischen Friedensordnung durch ihren Zusammenschluß als wichtigstes und grundlegendes politisches Interesse erkannten. Die Europäischen Gemeinschaften waren, wenn auch anfangs in allererster Linie Wirtschaftsver13 Entgegen dem ursprünglichen Bestreben Delors·. die Efta-Staaten durch die Bildung eines gemeinsamen Binnenmarktes von der vollen EG-Mitgliedschaft abzuhalten. wurde der große Binnenmarkt mehr und mehr zu einer Zwischenstation auf dem Weg dieser Staaten in die Gemeinschaft. Für diejenigen Efta-Staaten, die der Europäischen Union bereits beigetreten sind, war dieser Schritt nicht zuletzt deshalb von Interesse, weil er ihnen - anders als die Zugehörigkeit zum EWR - eine aktive Beteiligung an der politischen Willensbildung der Union und damit einen größeren Einfluß auf die rechtliche und politische Gestaltung des heutigen und des künftigen Europas eröffnet hat, die sie auch in ihrer Rolle als bloße Efta-Staaten nicht unerheblich tangiert hätte.
14 Die Existenz einzelner neutraler Staaten wie der Schweiz vermag diese Erkenntnis nicht zu widerlegen. Die Schweizer Eidgenossenschaft verdankt ihre relative Stabilität nicht zuletzt dem Umstand, daß sie von ihrer Winkelexistenz im Windschatten der al\gemeinen europäischen Friedensordnung der großen Mächte profitiert. Freilich schwelt auch in der Schweiz fortwährend eine heftige Europa-Debatte. Das Volk hat sich gegen eine Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen wie im Europäischen Wirtschaftsraum ausgesprochen und im Juni 1994 den Einsatz von Blauhelm-Soldaten bei UN-Friedensmissionen verweigert; viele Schweizer, die einen starken Neutralitäts- und Unabhängigkeitswillen besitzen, sind seitdem kaum europafreundlicher geworden. Die Außenseiterrol\e hat der Schweiz bislang keine nennenswerten finanziellen Nachteile gebracht. Dennoch wird nicht allein in Regierung und Wirtschaft die Sorge geäußert, im Ausland als Sonderling isoliert und politisch vergessen zu werden. Der europäische Alleingang macht die Schweizer zunehmend nervös, auch weil sie sich den indirekten Folgen der Einigung immer weniger entziehen können. Die jüngsten Kapitalzuflüsse, die mit der geplanten Währungsunion zusammenhängen, kommen zwar den Banken zugute, doch schädigt die weitere AulWertung des Franken die Schweizer Exportwirtschaft. Die Schweizer Regierung hat sich kürzlich (Herbst 1996) - ohne daß es dazu einer Beteiligung des Volkes bedurfte - flir die Unterzeichnung eines Rahmenabkommens über die Partnerschaft tUr den Frieden mit der Nato entschieden. Eine grundlegende Abkehr von der Neutralität kann darin freilich nicht erblickt werden. Das Programm kommt einigen Besonderheiten und Belangen der Schweiz entgegen, weIche die Bedingungen ihrer Teilnahme seIbst bestimmen darf; so kann sie darin etwa ihre Neutralität nochmals ausdrücklich bekräftigen und eine Teilnahme an militärischen Übungen ablehnen.
I. Die Erforderlichkeit einer europäischen Integration
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band, von vomeherein mit einer politischen Finalität ausgestattet, die auch bei aller Konzentrierung auf das wirtschaftliche Moment niemals aufgegeben wurde '5 . Äußerer Anlaß der Staatenverbindung war neben ökonomischen Faktoren zunächst in erheblichem Maße eine äußere Bedrohung. Das Ende des Kalten Krieges, mit dem diese entfiel, hat - paradoxerweise - eine Legitimitätskrise hervorgerufen. Der verbindende Druck von außen ist entfallen. Die bisherige Übersichtlichkeit, die sich aus geschlossenen Grenzen, ideologischem Lagerdenken und militärischer Abschreckung ergab, ist einer gewissen Haltlosigkeit gewichen, die eine Umorientierung erfordert. Neue Bedrohungen, wie sie beispielsweise vom Zerfall europäischer und außereuropäischer Staaten ausgehen, verursachen keine unmittelbare Existenzgefährdung und führen daher eher zur Spaltung als zur Einigung '6 . Da es keine direkte Bedrohung von außen mehr gibt, rücken innere Schwierigkeiten, vor allem wirtschaftliche und soziale Belange in den Vordergrund. Eine gemeinsame europäische Sicherheitspolitik ist dadurch jedoch nicht entbehrlich geworden; vielmehr stellen sich neue elementare Aufgaben. Ethnische Spannungen, die über Jahrzehnte niedergehalten wurden, können jederzeit aufbrechen; für den Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien und den Zerfall des Sowjetregimes etwa stellen solche Konflikte zumindest auch einen wesentlichen Grund dar '7 . Frieden und Freiheit sind in Europa weiterhin keine Selbstverständlichkeit. Auch in anderen Regionen gibt es latente Spannungen, die vor allem aus ungeklärten Grenz- und Minderheitsfragen herrühren und deren Ursachen im Interesse einer Friedenssicherung beseitigt werden müssen. Daß die Eindämmung und Beendigung von Kriegen und die Verhinderung weiterer Konflikte im Alleingang kaum zu bewältigen sind, wird nicht nur im Kampf auf dem Balkan deutlich. Auch die mittel- und osteuropäischen Staaten sind in vielfältiger Weise auf die Unterstützung der Europäischen Union angewiesen. Die Unvorhersehbarkeit der Außen- und Innenpolitik Rußlands, das derzeit zwar geschwächt ist, aber weiterhin über Europas größte Armee und Zehntausende von Nuklearwaffen verfügt, bedeutet für die postkommunistischen Reformstaaten einen erheblichen Unsicherheitsfaktor, gegen den sie ihre äußere Stabilität allein nicht zu behaupten vermögen. Von einer engen Verbindung mit der EU erhoffen sie sich eine Verfestigung ihrer jungen demokratischen, rechtsstaatlichen und pluralistischen Systeme und nicht zuletzt ein stabiles marktwirtschaftliches Fundamene 8 • Um ihre Refonnen weiterführen und den inneren Frieden bewahren zu können, bedürfen diese Länder einer politischen Perspektive, die für sie in einer vol" Badura, ZSR 1990, 116; Everling, DVBI. 1993, 937. A.A. RlIpp, ZRP 1990, 2. 16 17
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Schindler, VVDStRL 53 (1994), 80.
Dazu von Simsoll, EuR 1991, 8. Vgl. Graf'StaufJ(mhergILangen/i!ld, ZRP 1992,253.
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len Integration in die Europäische Union liege 9 • Aufbau und Stabilisierung der Staaten des ehemaligen Ostblocks erfordern gemeinschaftsweite Anstrengungen, entsprechen aber auch den eigenen Interessen der Mitgliedstaaten der Union. Für Westeuropa ist die Sicherung einer demokratischen und friedlichen Entwicklung in den Staaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas so bedeutsam wie die europäische Einigung, die Zusammenarbeit zwischen USA und Europa und eine Einbindung und Kontrol1e Rußlands in der neuen Sicherheitsarchitektur Europas. Um die frühere Frontstel1ung zwischen Ost und West nicht nur um einige hundert Kilometer nach Osten zu verschieben, wird es darauf ankommen, drei Prozesse miteinander zu harmonisieren und im Gleichgewicht zu halten - die Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Union, die Erweiterung der Nato und den Ausbau von Bindungen, Konsultations- und Kooperationsmechanismen zwischen diesem Integrationsraum und den Ländern Europas, die den Integrationsstrukturen nicht beitreten können oder wol1en. Hinzu kommt ein weiteres: Die Entwicklung hat eine wirtschaftliche Dynamik mit großen Chancen für Wachstum und Beschäftigung freigesetzt. Die Bundesrepublik hat an den wirtschaftlichen Reformen der postkommunistischen Staaten ein speziel1es Interesse; denn Stabilisierung und wirtschaftlicher Erfolg in den neuen Bundesländern setzen Stabilität und wirtschaftliche Konsolidierung in den Ländern voraus, die wie Polen und die Tschechische Republik nach wie vor die wichtigsten Wirtschaftspartner dieser neuen Bundesländer sind. Doch auch die übrigen Partnerländer bleiben von der Situation der östlichen Nachbarn nicht unberührt. Gelingt in Mittel- und Osteuropa der Schritt zu Stabilität und Wohlstand nicht, so sind Migrationswellen erheblichen Ausmaßes nach Westen vorauszusehen, die auch für die westeuropäischen Staaten eine außerordentliche Belastung darstellen und von ihnen 19 Die mittel- und osteuropäischen Staaten lassen sich freilich nicht ohne weiteres in die westeuopäische Integration einbeziehen. Die Beitrittskandidaten müssen eine stabile demokratische und rechtsstaatliche Ordnung schaffen, die Menschenrechte achten, Minderheiten schützen und eine funktionsfahige, dem Wettbewerb standhaltende Marktwirtschaft aufbauen. Sie müssen die mit der Mitgliedschaft verbundenen Pflichten übernehmen und sich darauf besinnen, ob sie zu einer Abgabe von Teilen einer wiedererlangten nationalen Souveränität an die Gemeinschaft bereit sind. Ein schneller Unionsbeitritt vermag ihnen weder diese Aufgaben abzunehmen noch ohne weiteres einen Zustand allgemeinen Wohlstands beizubringen. Es wurden deshalb zunächst mit einigen Staaten Assoziierungsabkommen abgeschlossen, die als weitere Stufe einer engeren Anbindung der jungen Reformländer im Osten Europas an die Union verstanden werden. Die Länder des ehemaligen Ostblocks sollen auf einem festen marktwirtschaftlichen Fundament einen demokratischen, rechtsstaatlichen und pluralistischen Überbau erhalten. Nach umfangreicher Auseinandersetzung mit dieser Frage und erheblichen Fortschritten der Beitrittsaspiranten wird eine baldige OstErweiterung mittlerweile einvernehmlich als eines der nächsten großen Ziele und Vorhaben der Union angesehen. Die Realisierung dieses Projekts, das die Nachfolgestaaten der alten Sowjetunion nicht erfaßt. ist angesichts der Amsterdamer Refornlkonferenz zum Maastrichter Vertrag, der Vervollständigung der Wirtschafts- und Währungsunion und ihrer weiteren Ziele frühestens im Jahre 2000. eher aber ab 2002 zu erwarten.
I. Die Erforderlichkeit einer europäischen Integration
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nur durch gemeinsame Lösungen bewältigt werden können. Vor allem aber bildet eine Festigung dieser Länder auch für Westeuropa die beste Absicherung gegen übergreifende Krisenherde, die in begrenzter räumlicher Distanz schwelen, und trägt damit zu allgemeiner Stabilität bei. Die bis zur kriegerischen Auseinandersetzung reichenden nationalistischen Aufwallungen im Osten und der drohende Rückfall in autoritäre Strukturen sind Gefahren, die die Stabilität ganz Europas tangieren. Solange es strategische Atomwaffen auf den Territorien Rußlands, Weißrußlands, Kasachstans und der Ukraine, aber auch in Rußland, China und weiteren Staaten der Welt gibt, bleibt auch das westliche Europa potentiell bedroht; räumliche Entfernungen bieten infolge der Verbreitung der Raketentechnologie keinen Schutz mehr. Solange nicht sämtliche Atomwaffen weltweit vernichtet oder ihrem willkürlichen Einsatz zumindest durch umfassende Sperrverträge wirksam vorgebeugt ist, können die Staaten Westeuropas ihre Existenz nur wahren, wenn sie - einschließlich Frankreichs - ihre gesamten nuklearen Potentiale und die nach allseitigem Truppenabbau in Zentraleuropa reduzierten militärischen Mittel gemeinsam einsetzen, um dieser Bedrohung ein hinreichendes Gegengewicht zu bieten. Besonders bedeutsam sind eine feste Verbundenheit der Bündnispartner und die Aufrechterhaltung der Kernfunktionen der Nato für die Bundesrepublik, die anders als beispielsweise Frankreich und Großbritannien dauerhaft auf Nuklearwaffen verzichtet hat. Deutschland hat zwar, weil es nach dem Wegfall der unmittelbaren Bedrohung durch eine östliche Weltmacht mit seinen westlichen Nachbarn verbündet geblieben ist und mit seinen östlichen Nachbarn Verträge abgeschlossen hat, unter seinen Nachbarn keine Feinde mehr. Doch wird es aufgrund seiner Lage im Herzen Europas an der Bruchlinie zwischen dem ehemaligen Westen und dem ehemaligen Osten stärker als jedes andere westeuropäische Land von den Entwicklungen in diesem Raum betroffen. Es trägt weiterhin eine besondere Verantwortung gegenüber seinen Nachbarn und den freigewordenen osteuropäischen Staaten aufgrund der Geschichte dieses Jahrhunderts, die unser Verhältnis zu vielen dieser Völker noch belastet. Ein weiteres gemeinsames sicherheitspolitisches Problem liegt in großen Teilen der Dritten Welt. Verelendung und ungelöste zwischenstaatliche Probleme, innere Wirren und leichte Verfügbarkeit von Waffen treffen dort vielfach zusammen. Die Instabilität dieser Regionen und das Wohlstandsgefälle zur industrialisierten Welt bilden die Ursache für erhebliche Migrationsbewegungen, die auch für die westeuropäischen Staaten zahlreiche Probleme innenpolitischer Art aufwerfen. Einwanderungs- und Asylpolitik stellen hier mittlerweile eine Aufgabe dar, der die einzelnen Staaten nicht mehr gewachsen sind. Darüber hinaus können weitere innenpolitische Risiken wie Terrorismus, illegaler Drogenhandel und sonstige schwerwiegende Formen der internationalen Kriminalität auf Dauer nur durch eine intensive Zusammenarbeit in der Innen- und Justizpolitik wirksam bekämpft werden.
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A. Der Föderalismus zwischen EU und Mitgliedstaaten
Ein wachsender Bedarf an gemeinschaftsweit einheitlichen Regelungen zeichnet sich heute - jedenfalls in gewissem Umfang - auch in anderen Themen der Gegenwart ab. Der mittlerweile staatenübergreifende Charakter vieler aktueller Probleme erfordert zunehmend gemeinsame Vorgehensweisen und Lösungen. Natur- und Umweltschutz, Flüchtlings- und Asylwesen, Entwicklungshilfe, aber auch Bereiche wie die Chip- und Gentechnologie, die Entwicklung alternativer Energien und die Förderung der Grundlagenforschung sind heute von einzelnen Staaten nicht mehr allein zu bewältigen; sie fordern daher alle Mitgliedstaaten gleichermaßen heraus und bedürfen unionsweiter, wenn nicht gar noch umfassenderer Regelungen 2o • Auch im Grundgesetz selbst ist von Anfang an die Entscheidung Deutschlands für eine offene Staatlichkeit getroffen 2l • Mit ihrer Festlegung auf das Prinzip der Offenheit in Präambel und Art. 23 - 26 bestimmt die Verfassung die Grundlinie für jegliches Staatshandeln Deutschlands nach außen22 • Das deutsche Volk hat auf diese Weise kraft seiner verfassunggebenden Gewalt von der traditionellen Konzeption des souveränen Nationalstaats, wie sie die politisch-staatliche Organisation Deutschlands von 1871 bis 1945 trug, Abschied genommen. Indem es in der Präambel des Grundgesetzes den Willen kundtut, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, bekennt es sich zu einer offenen, integrierten Staatlichkeit und distanziert sich zugleich von jeglicher hegemonialen Sonderrolle23 • Art. 24 Abs. I GG wird auf den Spuren H.P. Ipsens allgemein als Integrationshebel bezeichnet; das Grundgesetz zeigt in ihm seine integrationspolitisch offene Flanke 24 • Die ursprünglich insbesondere in der Präambel und in Art. 24 Abs. I GG normierte Integrationsoffenheit wird nun durch Art. 23 GG allgemein und speziell für die europäische Einigung bestätigt25 • Für den 20 Graf' Vitzthum, AöR I 15 (1990), 28 I; Graf' Slau.ffenberg / Langen.tetd, ZRP 1992, 253; Bleckmann, ZRP 1990, 265; Eise1stein, ZRP 199 I, 23. Freilich ist auch nicht zu verkennen, daß gerade im Rahmen der europäischen Integration ein solcher Bedarf nach einer einheitlichen Regelung im Einzelfall oft zu Unrecht festgestellt und damit das Argument des Staatenübergreifenden teilweise mißbraucht wird; dazu im einzelnen B.1.3. 21 BVerfGE 89, 155, 183; Tomuschat, HStR VII, § 172 Rdnr. I ff.; Schoh, NVwZ 1993, 818; ders., in: Maunz/Dürig, Art. 23 Rdnr. 2. 22
Tomuschat, VVDStRL 36 (1978), 42 f.
Hilf, VVOStRL 53 (1994), 8; Pernice, OVBI. 1993, 922 f.; Toml/schat, Bundesstaatsund Integrationsprinzip in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, S. 38; vgl. auch Lenz, NJW 1993, 1964. 23
24 H.P Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 58; Badura, FS Lerche, S. 379; l~en see, HStR IV, § 98 Rdnr. 287; Schweitzer, ZG 1992, 138; Toml/schat. Bundesstaats- und Integrationsprinzip in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, S. 25; A. Weher, OVBI. 1986, 80 I; Merten. Oie Beteiligung der Bundesländer an der Setzung europäischen Gemeinschaftsrechts, S. 38; Ziller, S. 99 f. 25 Hilf, VVDStRL 53 (1994), 17; Schwarze, JZ 1993, 59 I; Rojahn, in: von Münch / Kunig, Art. 23 Rdnr. 3 greift das Bild des Integrationshebels für Art. 23 GG auf;
II. Die europäische Staatenverbindung vor Maastricht
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neuen Europa-Artikel wurde bewußt Art. 23 GG als Standort gewählt, um das Streben des Grundgesetzes nach einer Verankerung des wiedervereinigten Deutschlands in einem vereinten Europa entsprechend seiner Präambel zum Ausdruck zu bringen 26 . Die Integrationsöffnungsklausel in seinem ersten Satz enthält die ausdrückliche Ermächtigung zur europäischen Einigung; seine Struktursicherungsklausel verpflichtet zugleich zur Einhaltung der fundamentalen Grundsätze des GG auch im europäischen Zusammenhang. Allerdings drängen sich angesichts des übrigen Inhalts des Artikels Zweifel auf, ob die weitgehenden Beteiligungsrechte insbesondere des Bundesrates nicht eher integrationshemmende Wirkung entfalten und auch die Ernstlichkeit der Integrationsbereitschaft der Bundesrepublik in Frage stellen 27 •
11. Die Entwicklung der europäischen Staatenverbindung vor Maastricht Verschiedene Stadien der europäischen Integration lassen sich unter verschiedenen Aspekten unterscheiden. So hat man seit der Gründung der Europäischen Gemeinschaften nach dem Kriterium der Wandlungsprozesse der europäischen Verfassung sechs Entwicklungsstufen erkennen wollen2~: Nachdem die Gründerjahre den Abschied vom Nationalstaat im herkömmlichen Sinne gebracht hatten, riefen neu aufkommende Gegenkräfte eine integrationspolitische Diskussion hervor, in deren Folge es zur Verfassungskrise der Gemeinschaft und zu den Luxemburger Beschlüssen vom 29.1.1966 kam. Die Phase des Stillstandes im europäischen Integrationsprozeß fand ihr Ende mit der Einführung der Europäischen Politischen Zusammenarbeit die Funktion des Integrationshebels werde von Art. 23 Abs. I GG infolge seines Satz 2 übernommen. Auch wird über Art. 23 GG n.F. gesagt, die bisher offene Flanke des Föderalismus - Art. 24 Abs. I GG - werde durch ihn geschlossen (vgl. Schweitzer, VVDStRL 53 [1994],59 f.). 1.
Gemeinsame Verfassungskol1unission, Drs. 24; Ossenbühl, DVBI. 1993, 630 Fn. 8.
27 Oppermann / C/assen, NJW 1993, 12 sprechen in diesem Zusanunenhang von einern "Europa-Behinderungsartikel" und mahnen zu Recht an, bei aller berechtigten Sorge um die Erhaltung der deutschen Verfassungs struktur einschließlich ihrer Bundesstaatlichkeit nicht die fortlaufende Gültigkeit des 1990 bestätigten Verfassungszieles in der Präambel des GG zu vergessen.
2~ Schuppert, StwStp. 1994, 38-45. Als zweites Kriterium zur Erklärung und Analyse der Integration teilt Schuppert unterschiedliche Entwicklungsstufen nach den sich verändernden Rollenverteilungen und Rollenverständnissen der Institutionen der EG ein (ebd., S. 45-53). Zu den Entwicklungsstufen der EG von ihrer Gründung bis vor Gründung der Union vgl. statt vieler Oppermann, Europarecht, Rdnr. 19-43, 793 f.; zum Scheitern der Verteidigungsgemeinschaft 1954 ebd., Rdnr. 17, 2\, 2055 ff. Zum Anwachsen der außenpolitischen Rolle der EG Steinberger, VVDStRL SO (1991), 14-16; Oppermann, Europarecht, Rdnr. 1608-1689; zur EPZ vgl. Schuppert, StwStp. 1994, 41-43, 67 f.; Oppermann, Europarecht, Rdnr. 34,43,271-276,796 f., 1626-1629.
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A. Der Föderalismus zwischen EU und Mitgliedstaaten
(EPZ), bei der es sich inhaltlich um ein intergouvernementales Verfahren regelmäßiger Information und Konsultation im Bereich der Außenpolitik handelte; dieses sollte die Außenpolitik der Mitgliedstaaten stärker harmonisieren und auf diese Weise das fur einen wirtschaftlichen Integrationsprozeß erforderliche Mindestmaß an außenpolitischer Übereinstimmung herstellen. Grundlegende Bedeutung fur den Integrationsprozeß und die Struktur der Gemeinschaft besaß sodann die Einfuhrung der Direktwahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments 1979. Die Kompetenzen des Parlaments wurden durch diese Reform zwar nicht maßgeblich erweitert; doch erhielten die Abgeordneten erstmals eine unmittelbare demokratische Legitimation, die ihrem Organ eine größere Bedeutung verlieh und seine Rolle im institutionellen Gefuge der Gemeinschaft verstärkte. Die nachhaltigsten Änderungen der Gründungsverträge erfolgten in der am 1.7.1987 in Kraft getretenen Einheitlichen Europäischen Akte sowie im Maastrichter Vertrag vom 7.2.1992, durch den mit Wirkung vom 1.11.1993 die Europäische Union gegründet wurde.
111. Der Maastrichter Vertrag 1. Die Vertiefung der Integration durch den Maastrichter Vertrag
Die Europäische Union, die durch den Maastrichter Vertrag gegründet wurde, ist gemäß Art. A Abs. 3 EUV nach dem sogenannten Drei-SäulenKonzept29 aufgebaut. Grundlage und Kern der Union liegen in den drei bereits bestehenden Gemeinschaften, welche durch die zwei neu eingefuhrten Formen der Zusammenarbeit in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (Art. B 2. Spiegelstrich, Art. J EUV) und der Justiz- und Innenpolitik (Art. B 4. Spiegelstrich, Art. K EUV) ergänzt werden; alle drei Säulen bilden die EU, die durch gemeinsame Eingangs- und Schlußbestimmungen zusammengehalten wird und über einen einheitlichen institutionellen Rahmen verfugt. Mit der Einfuhrung einer Unionsbürgerschaft in Art. 8-8e EGV, Art. B 3. Spiegelstrich EUV wurden zugleich die unmittelbaren Rechtsbeziehungen zwischen der europäischen Hoheitsgewalt und den Bürgern der Mitgliedstaaten vertieft. Insbesondere aber setzt der Vertrag, welcher nach Art. A Abs. 2 EUV eine neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas darstellt, die bisherige Entwicklung fort, indem er der europäischen Ebene weitere Kompetenzen einräumt.
29 BVerfGE 89, 155, 159; Blanke, DÖV 1993,415 f.; Schweitzer, VVDStRL 53 (1994), 52; Rojahn, in: von Miinch/Kunig, Art. 23 Rdnr. 7.
III. Der Maastrichter Vertrag
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a) Der Kompetenzzuwachs der europäischen Ebene
Das Ausmaß der europäischen Integration findet in dem Kompetenzzuwachs, der der Gemeinschaft nach und nach zuteil wurde, seinen deutlichsten Niederschlag. Der Unionsvertrag sieht einen stufenweisen Übergang bedeutsamer Politikbereiche auf die Europäische Gemeinschaft vor. Seit der Unionsgründung - nun dezidiert in offenen Formen - nicht mehr auf den wirtschaftlichen Bereich beschränken, besitzt die Föderation nunmehr Aufgaben und Befugnisse in nahezu allen wirtschaftlichen und nichtwirtschaftlichen Bereichen der Politik. Nicht nur die Ziel- und Aufgabenzuweisungen der Art. 2, 3 EGV wurden gegenüber Art. 2, 3 und der Präambel des EWGV erheblich erweitert, sondern die Gemeinschaft ist auch Adressatin einer Reihe neuer Einzelermächtigungen geworden. Ihre Tätigkeit erstreckt sich seither neben den in den folgenden Abschnitten eigens behandelten Themen - auf eine gemeinsame Politik der allgemeinen und beruflichen Bildung und der Kultur (Art. 3 Iit. p, 126-128 EGV), eine gemeinsame Handels- (Art. 3 lit.b EGV), Wettbewerbs- (Art. 3 lit. g EGV), Visa- (Art. 3 lit. d, IOOc Abs. I EGV), Verkehrs- (Art. 3 lit. f EGV), Fremdenverkehrs- (Art. 3 lit. t, 100c EGV) und Assoziierungspolitik (Art. 3 lit. r EGV) und die Förderung transeuropäischer Netze in den Bereichen der Verkehrs-, Telekommunikationsund Energieinfrastruktur l . Sie vertieft sich ferner im Bereich des Umweltschutzes32 und erweitert sich auf eine gemeinsame Landwirtschafts- und Fischereipolitik (Art. 3 Iit. e EGV), eine gemeinsame Forschungs- und Technologieförderung (Art. 3 lit. m EGV), Energie- (Art. 3 lit. t EGV) und Katastrophenschutzpolitik (Art. 3 Iit. t EGV). Ihr Tätigkeitsfeld erfaßt nun auch eine gemeinsame Gesundheits- 33 und Verbraucherschutzpolitik (Art. 3 lit. s, 129a EGV), die Entwicklungszusammenarbeie4 und eine gemeinsame Industriepolitik mit dem Ziel, die Wettbewerbsfahigkeit der europäischen Industrie auf den internationalen Märkten zu fördern 35 • )0 Für die bisherige Europäische Wirtschaftsgemeinschaft wird dies auch durch ihre Umbenennung in die Europäische Gemeinschaft betont; s. Oppermann/Classen, NJW 1993,7. JI Art. 3 lit. n, 129b-d EGV, mit einem auf Art. 130d EGV basierenden Kulturfonds zur Bereitstellung finanzieller Beiträge fur Vorhaben auf diesem Sektor; zu ihnen Bleckmann, DVBI. 1992, 338 f. J' Art. 3 lit. k, \30r-t EGV; dazu Bleckmann, DVBI. 1992, 339; Art. 130d EGV sieht hierfür ebenfalls einen Kulturfonds zur Bereitstellung finanzieller Beiträge vor. 33 Art. 3 lit. 0, 129 EGV; dazu Bleckmann, DVBI. 1992. 339. J4 Art. 3 lit. q, 130u-y EGV; dazu Bleckmann, DVBI. 1992,339. Auch nach Murswiek, Der Staat 32 (1993), 180 wird fur die Entwicklungszusanunenarbeit eine Gemeinschaftskompetenz gegründet. 3; Art. 130 EGV; dazu Bleckmann, DVBI. 1992,339; Oppermann/Classen, NJW 1993, 10. Die neue Gemeinschaftsaufgabe der Industriepolitik, die von Anfang an besonders umstritten war (vgl. Murswiek, Der Staat 32 [1993), 180), ist im Zusammenhang mit der Amsterdamer Refonnkonferenz in neuer Schärfe angegriffen worden.
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A. Der Föderalismus zwischen EU und Mitgliedstaaten
b) Die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU)
Den stärksten Zentralisierungsschub löst der Maastrichter Vertrag dadurch aus, daß er in Art. 102a - 109m EGV die Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion festschreibt. Die gemeinsame Wirtschaftspolitik soll unter Errichtung einer Investitionsbank (Art. 4b, 198d, 198e EGV) zu einer Wirtschaftsunion intensiviert werden (Art. 3a Abs. I, 102a-104c, 109c EGV), in der allerdings die Mitgliedstaaten letztlich die Verantwortung behaltenJ6 . Denn die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten besteht gemäß Art. 3a Abs. 1, 103 Abs. 1 EGV im wesentlichen in einer Koordinierung ihrer Tätigkeiten, in der sie sich auch nahezu erschöpft. Die Mitgliedstaaten haben bei dieser Koordinierung zwar die von der Gemeinschaft aufgestellten Leitlinien zur Sicherstellung der Konvergenz der Wirtschaftsleistungen aus Art. 102a, 103, 104c EGV zu berücksichtigen J7 , deren Einhaltung durch die Kontrolle des Europäischen Rates und der Kommission gesichert wird und auch im Wege des Vertragsverletzungsverfahrens durch den EuGH überprütbar ist. Da die Leitlinien die Details der Wirtschaftspolitik aber nicht regeln dürfen, vermögen sie diese kaum so zu bestimmen, daß eine Einheitlichkeit wirklich hergestellt ise s. Der geplanten Wirtschaftsunion liegt somit das traditionelle Bild vom europäischen Zusammenschluß als einer Staatengemeinschaft zugrunde J9 • Anderes gilt hingegen für die gemeinsame Währungspolitik40 . Diese soll in mehreren Etappen vergemeinschaftet und in eine Währungsunion überführt werden, welche auf längere Sicht auch eine einheitliche Währung umfaßt (Art. B 1. Spiegelstrich EUV). Während in der ersten Stufe der Wirtschaftsund Währungsunion (seit 1.7.1990) das Europäische Währungssystem durch die Mitwirkung aller Mitgliedstaaten vollendet wurde, ebnet die am 1.1.1994 eingeleitete (Art. 10ge Abs. 1 EGV) zweite Stufe der Vollendung der WWU den Weg. Das zu diesem Zweck errichtete Europäisches Währungsinstitut 36 So auch L. Müller, WM 1993, 1224; A. Weber, 1Z 1993, 327; Blanke, DÖV 1993, 417; vgl. auch Everling, DVBI. 1993, 938. 37 Dies betonen Schachtschneider / Emmerich-Fritsche / Beyer, 1Z 1993, 752; die Gemeinschaft dürfe im Rahmen weitestgehend offener Grundsätze die Wirtschaftspolitik auch der Mitgliedstaaten bestimmen; sie habe nach Art. 103 ff. EGV das Recht zur Beaufsichtigung der Wirtschaft der Mitgliedstaaten (im übrigen auch deren Haushaltslage und den öffentlichen Schuldenstand) und übernehme die Verantwortung rur das Wohlergehen der Mitgliedstaaten, weil dieses angesichts der Wirtschafts-, Währungs- und Sozial union allgemeines Gemeinschaftsinteresse sei und sein müsse. Ähnlich wie diese offenbar auch Schilling, AöR 116 (1991), 52. 3~ So auch Bleckmann, DVBI. 1992, 340.
Ebenso Blanke, DÖV 1993,417. Zur Vereinbarkeit der im Unionsvertrag niedergelegten Wirtschafts- und Währungsunion mit dem Bestimmtheitsgebot und ihrer parlamentarischen Verantwortbarkeit BVerfGE 89,155,191 ff., 200 ff. 39
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III. Der Maastrichter Vertrag
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(EWI) bereitet als Vorläufer der Europäischen Zentralbank deren Tätigkeit in der dritten Stufe vor und soll die Konvergenz der nationalen Wirtschafts- und Währungs politiken verstärken. Die dritte Stufe bedeutet eine vollständige Verlagerung der Kompetenzen der Mitgliedstaaten im gesamten Bereich der Währungspolitik auf die Gemeinschaft, die damit eine ausschließliche Zuständigkeit erhält41 und nach Vollendung dieser Stufe auch die geldpolitische Verantwortung übernehmen wird42 • Zur Wahrnehmung der Tätigkeitsfelder wird ein Europäisches System der Zentralbanken (ESZB; Art. 3a Abs. 2, 4a, \05 ff. EGV) errichtet, das aus einer - stark am Vorbild der Deutschen Bundesbank orientierten43 - Europäischen Zentralbank (Art. 4a, \05 ff. EGV) und den nationalen Zentralbanken besteht (Art. 105, 106 Abs. I EGV). Die Verwirklichung der dritten Stufe richtet sich danach, in welchem Umfang die in Art. I09j Abs. I EGV und dem dazugehörigen Protokoll dargelegten Konvergenzkriterien zu bestimmten Tenninen in den einzelnen Mitgliedstaaten verwirklicht sind. Hätte der Rat in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs spätestens am 31.12.1996 mit qualifizierter Mehrheit eine Erfüllung dieser Anforderungen durch sieben Mitgliedstaaten und die Zweckmäßigkeit eines Eintritts in die dritte Stufe bejahen können, so hätte er den Zeitpunkt für den Beginn der dritten Stufe festlegen müssen (Art. I09j Abs. 3 EGV). Da dies jedoch nicht der Fall ist, richtet sich der künftige Zeitplan nach Art. 109j Abs. 4 EGY. Sollten - was zu erwarten ist - auch bis Ende 1997 nicht in der Mehrheit der Mitgliedstaaten die erforderlichen Resultate zu Neuverschuldung, Schuldenstand und Preisstabilität erzielt sein, so beginnt die dritte Stufe der Währungsunion auf jeden Fall am 1.1.1999. Anfang 1998 entscheidet der Rat der Staats- und Regierungschefs darüber, weIche Länder an der Währungsunion teilnehmen. Sodann ist nach dem Ablauf41 Blanke, DÖV 1993, 417; A. Weber, JZ 1993, 327. Daran ändert auch nichts die vereinzelt (so etwa Lenz, NJW 1993, 1963) betonte Tatsache der engen personellen Verflechtung mit den Mitgliedstaaten. Letztere sind zwar insoweit von der Währungspolitik nicht vollständig ausgeschlossen, als die von ihren Regierungen entsandten Vertreter im Rat und auch die Präsidenten der nationalen Zentralbanken im Europäischen Zentralbankrat an der Willensbildung der Gemeinschaft in diesem Bereich beteiligt sind; auch werden die Mitglieder des Direktoriums des Europäischen Zentralbankrats von den Regierungen der Mitgliedstaaten ausgewählt und ernannt. Dies stellt jedoch die Kompetenz der Gemeinschaft nicht in Frage. Es liegt gerade im Wesen der EU, daß ihre Willensbildung in erster Linie durch den Ministerrat erfolgt, der sich grundsätzlich aus den Regierungen der Mitgliedstaaten zusammensetzt. Hierin kommt die Rückkoppelung der Union an die Mitgliedstaaten und ihre derzeitige Nicht-Staatlichkeit zum Ausdruck. Würde mit dieser Zusammensetzung des föderativen Organs die Kompetenz der Gemeinschaft bestritten, so ließe sich damit jegliche Gemeinschaftskompetenz in Frage stellen - was wohl kaum zu überzeugen vermag. Zu weitgehend L. Müller, WM 1993, 1223, demzufolge die Mitgliedstaaten und auch ihre Regierungen die Währungspolitik nicht einmal mehr begleitend beeinflussen können und die Währungspolitik als übernationale Politik erzwingt, daß sich künftig die Wirtschaft auf das ESZB und Europa, nicht mehr auf ihre Heimatländer hin ausrichtet. 4, Graf S/alltfimberg / Langenfi?!d, ZRP 1992, 254; Stein, VVDStRL 53 (\ 994), 31. 4) Vgl. Oppermann/Classen, NJW 1993,9.
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A. Der Föderalismus zwischen EU und Mitgliedstaaten
plan des Europäischen Währungsinstituts 44 die Europäische Zentral bank zu errichten, die sich auf einen Vorgehensrahmen festzulegen, den Termin für die erstmalige Einführung der europäischen Banknoten bekanntzugeben und die Aufträge zu deren Herstellung zu erteilen hat. Anfang 2002 soll die Europäische Zentralbank mit der Einführung der neuen Noten und Münzen beginnen - drei Jahre nach dem Beginn der Währungsunion, die in der unabänderlichen Festsetzung der Wechselkurse der Teilnehmerländer und dem Ende der Devisengeschäfte ihren Einstieg findet. c) Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik
Die Regelung der Außen- und Sicherheitspolitik im Unionsvertrag dient dem Zweck, Europa über seine handels- und wirtschaftspolitische Bedeutung hinaus ein adäquates außenpolitisches Gewicht zu verleihen und dadurch eine dauerhafte Friedens- und Freiheitsordnung zu gewährleisten. Um die entsprechenden Aufgaben zu meistem, soll die supranationale Einrichtung zu politischer Handlungsfähigkeit und Effizienz gelangen. Denn die weltpolitische Rolle, die ihr als Ausfluß und Folge ihres starken handels- und wirtschaftspolitischen Gewichts allmählich zugewachsen war, hat die Gemeinschaft bisher kaum ausfüllen können. Spätestens in der Jugoslawienkrise ist deutlich geworden, daß sie bei der Suche nach einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik nicht über die Entscheidungsstrukturen verfügt, die ihr ein Mindestmaß an Handlungsfahigkeit und Autorität sichern könnten 45 • Ihr institutionelles System ist primär auf einen ökonomischen Zweckverband ausgerichtet. Das praktizierte Verfahren der Entscheidungsfindung hindert die Europäer daran, mit einer Stimme zu sprechen. Der Versuch der Gemeinschaft, dieser Handlungsunfahigkeit entgegenzusteuern, führte zu einer weiteren Überdehnung ihrer Kompetenzen. In seinem Titel V bestimmt daher der Unionsvertrag die Einführung einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), die anders als die insoweit thematisch begrenzte EPZ sämtliche Fragen der Sicherheit der EU umfaßt und mit deren Hilfe die Union ihre Identität auf internationaler Ebene behaupten soll (Art. B 2. Spiegelstrich EUV). Sprach die bisherige Regelung des Art. 30 Abs. I EEA zur EPZ lediglich von einem Bemühen der Mitgliedstaaten um die gemeinsame Ausarbeitung und Verwirklichung einer europäi+4
Vgl. etwa FAZ vom 15.11.1995.
Das Versagen der europäischen Staatengemeinschaft in der Außenpolitik und speziell der Jugoslawienkrise wird freilich vielfach nicht allein auf institutionelle Defizite, sondern auch auf eine fehlende Handlungsbereitschaft zurückgeführt; so sei die Schwäche der EG im Jugoslawienkrieg vor allem in Ängsten vor einem Separatismus im eigenen Land begründet. Die Lähmung der Europäer in der Jugoslawienkrise mache nicht nur deren politisch-materielle, sondern auch ihre geistig-moralischen Defizite für eine gemeinsame Außenpolitik deutlich (vgl. etwa Hort, FAZ vom 21.5.1993). 45
III. Der Maastrichter Vertrag
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schen Außenpolitik, so werden die Nationalstaaten nun zu einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik verpflichtet, die sich auf alle Bereiche dieser Politik erstreckt (Art. 1.1 Abs. I EUV). Der Vertrag bindet sie an die Gemeinschaftsentscheidungen, die nicht mehr von den im Rat vereinigten Außenministern, sondern vom Ministerrat selbst getroffen werden 46 , und an deren in Art. 1.1 Abs. 2 EUV niedergelegte außenpolitische Ziele 47 . Die Mitgliedstaaten haben sich an die Grundsätze und die allgemeinen Leitlinien des Europäischen Rates (Art. 1.8 Abs. I, D Abs. 1 EUV) und an die vom Rat einstimmig verfaßten gemeinsamen Standpunkte zu halten, die zu den außenund sicherheitspolitischen Fragen von allgemeiner Bedeutung ergehen (Art. J.2 EUV). Ihren Höhepunkt erreicht die Verdichtung, wenn eine Angelegenheit durch den Rat der Außenminister zum Gegenstand einer Gemeinsamen Aktion erklärt wird (Art. 1.3, 1.5 EUV). In einem solchen Fall haben die Mitgliedstaaten nicht nur die allgemeinen Vorgaben zu beachten; sie unterliegen vielmehr einem für den konkreten Einzelfall ge faßten Ratsbeschluß, mit dem Umfang, Ziele, Mittel, Verfahren und Bedingungen der Maßnahmen und erforderlichenfalls der Zeitraum für ihre Durchführung bindend bestimmt werden (Art. J.3 Nr. I Satz 2 EUV)48. Darüber hinaus sieht der Vertrag für die Zukunft die Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik vor, die zu gegebener Zeit auch in eine gemeinsame Verteidigung münden kann (Art. B 2. Spiegelstrich, J.4 Abs. I EUV). Die Verteidigungspolitik soll im institutionellen Rahmen der WEU ausgearbeitet und durchgeführt werden, die zum integralen Bestandteil der Entwicklung der Europäischen Union erklärt wird (Art. J.4 Abs. 2 EUV) und sich zum verteidigungspolitischen Arm der Europäischen Union entwickeln so1l49. Die WEU, die als rein europäisches Verteidigungsbündnis bisher im Schatten der Nato stand, soll schrittweise als Verteidigungskomponente der Union und zugleich als starker europäischer Nato-Pfeiler ausgebaut werden. Sie soll die gemeinsame europäische Verteidigungspolitik formulieren und diese durch die Weiterentwicklung ihrer operationellen Rolle konkret durchführen. Die Union kann die WEU jederzeit in Anspruch nehmen, um von ihr Entscheidungen und Aktionen mit verteidigungspolitischen Auswirkungen erarbeiten und ausführen zu lassen; die WEU ihrerseits hat sich bereit erklärt, 4. Oppermann / Classen, NJW 1993, 10. 47
Bleckmann, DVBI. 1992, 339.
Zum Verfahren Doehring, ZRP 1993, 101 f. Gemeinsame Aktionen, die die Mitgliedstaaten in ihrem Vorgehen und ihren Stellungnahmen binden, sind zunächst in der Politik gegenüber Mittel- und Osteuropa, gegenüber Rußland, dem Nahen Osten und Südafrika und in den humanitären Aspekten der Balkanpolitik der Zwölf vorgesehen; Themen mit verteidigungspolitischen Bezügen sollen dagegen nicht Gegenstand gemeinsamer Aktionen sein und somit nicht mit Mehrheit beschlossen werden können - hier wirkte der Wille, Souveränität in der Verteidigungspolitik zu behaupten (vgl. FAZ vom 1.11.1993). 49 Vgl. Oppermann/Classen, NJW 1993, 10. 4X
3 Heckel
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A. Der Föderalismus zwischen EU und Mitgliedstaaten
auf Ersuchen der Union operativ tätig zu werden und zu diesem Zweck ihre operationellen Strukturen und Mittel zu stärken. Militärische Einheiten der WEU-Mitgliedstaaten unter der Befehlsgewalt der WEU können außer für die gemeinsame Verteidigung auch für humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, für friedenserhaltende Aufgaben und für Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung einschließlich Maßnahmen zur Herbeiführung des Friedens eingesetzt werden - wobei die deutsche Teilnahme allerdings noch verfassungsrechtlicher Klärung bedarf. Gleichzeitig wird in Art. J.4 Abs. 4 EUV aber auch bestätigt, daß die europäische Verteidigung in erster Linie Angelegenheit der Mitgliedstaaten und der Nato ist. Eine europäische Verteidigungsidentität soll nicht an die Stelle der Nato treten und - einem Staatswesen gleich - die eigene Verteidigung selbständig regeln, sondern diese vielmehr weiterhin der Allianz überlassen, die dadurch eine Stärkung erfahrt. Die Ziele der Nato sollen unberührt bleiben und bei der gemeinsamen Verteidigungspolitik Berücksichtigung finden, soweit sie nicht in Konflikt zur GASP geraten (Art. J.4 EUV). Eine solche Integration wirft allerdings gewisse Schwierigkeiten auf, da sich die Nato, die Europäische Union und die WEU bereits heute in ihrem Mitgliederkreis nicht decken und in den unterschiedlichen Zielen und Belangen der einzelnen Institutionen ein nicht unerhebliches Konfliktpotential liegt. Die Mehrheit der Unionsmitglieder genießt heute den Schutz der Nato. Zehn Partner haben sich darüber hinaus zum gegenseitigen Beistand nach dem WEU-Vertrag verpflichtet; und mit der Efta-Erweiterung sind erstmals neutrale Staaten beigetreten, die nunmehr in einer sicherheitspolitischen Grauzone liegen. Da es in der Europäischen Union Zonen unterschiedlicher Sicherheit nicht geben sollte und andererseits auf Dauer nicht wünschenswert ist, daß einige Mitgliedstaaten vom militärischen Status anderer profitieren, wird heute vielfach zu Recht angemahnt, die Mitgliedschaft europäischer Staaten in der Nato künftig an die Zugehörigkeit zur EU zu koppeln und den Teilnehmerkreis der WEU an denjenigen der EU anzugleichen; die Unionsmitgliedschaft sollte nur für solche Länder in Betracht kommen, deren Sicherheit die Westeuropäer im Verbund mit Amerika in der Nato zu garantieren in der Lage sind"). Der Unionsvertrag wird seinem Ziel, Handlungsfahigkeit und Effizienz herzustellen, freilich nur bedingt gerecht. Die Verdichtung in den Bereichen der Außen- und Sicherheitspolitik erreicht nicht das Ausmaß einer vollständigen Vergemeinschaftung. Da die Zeit für eine politische Vergemeinschaftung noch nicht reif schien, erschöpft sie sich vielmehr in einer klassischen Kooperation. Um den Mitgliedstaaten in diesen souveränitätsbegründenden Politikfeldern eine weitestgehende Eigenständigkeit zu belassen, wurde der Weg Vgl. OppermannlClassen, NJW 1993, 10; Doehring, ZRP 1993, 101; Stein, VVDStRL 53 (1994), 30; Stauftimberg I Langenfeld, ZRP 1992, 254. 57 So Oppermann / C/assen, NJW 1993, 10. ;, Zu weit gehen dürften jedenfalls die Thesen von Murswiek (Der Staat 32 [1993], 180) und Schachtschneider / Emmerich-Fritsche / Beyer (JZ 1993, 752). Diese werten Art. 1.3 EUV nicht allein als Wegbereiter fiir das Mehrheitsprinzip, sondern schöpfen aus der Bestimmung in Verbindung mit der Verpflichtung der Mitgliedstaaten zu einer gemeinsamen Politik die Erkenntnis, der Rahmen der klassischen intergouvernementalen Zusammenarbeit mit den A11. 1 ff. EUV sei bereits weit überschritten.
3*
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A. Der Föderalismus zwischen EU und Mitgliedstaaten
Der Vertrag trägt damit den Belangen der Nationalstaaten Rechnung, bei der gemeinsamen Willensbildung nicht übergangen zu werden. Das Einstimmigkeitsprinzip ist ein Ausfluß der Souveränität der Mitgliedstaaten. Indem es den Einzelstaaten im Ergebnis ein Vetorecht einräumt, ermöglicht es ihnen aber zugleich weiterhin, die Entscheidungsfindung der Union zu blockieren. Das grundsätzliche Dilemma des Einstimmigkeitserfordernisses und das Problem der Handlungsunfähigkeit der Union werden deshalb auch durch den Unionsvertrag nicht gelöst 59 . Auch das Prinzip der qualifizierten Mehrheit hat nicht zuletzt aufgrund seines vertraglich beschränkten Geltungsbereichs die Handlungsfähigkeit der Union kaum grundlegend zu steigern vermocht60 . Das Instrument der Gemeinsamen Aktionen hat bislang keine durchschlagende Wirkung gezeigt 61 • Die Stärkung einer europäischen Handlungsfähigkeit in Außen- und Sicherheitspolitik wurde deshalb schon bald zu einem der Ziele der Reformkonferenz zum Maastrichter Vertrag erklärt. Der Unionsvertrag selbst hat den Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik ausdrücklich einer Überprüfung und gegebenenfalls Reformierung im Rahmen der anschließenden Revisionskonferenz geöffnet (Art. 1.10 EUV). Im Ergebnis der Betrachtung läßt sich feststellen, daß die Unionsglieder zwar zu einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik verpflichtet werden und einer politischen Bindungswirkung unterliegen. Gleichwohl hat eine Übertragung dieser Bereiche und ihrer Aufgaben auf die europäische Ebene bisher nicht stattgefunden. Auswärtige Gewalt und äußere Sicherheit fallen weiterhin in die Verantwortung der Nationalstaaten62 . d) Justiz und Inneres
Der Unionsvertrag dehnt die europäische Integration auch insoweit auf nichtwirtschaftliche Themen aus, als er in seinem VI. Titel Regelungen fur ;9 Nur begrenzte Abhilfe verspricht, wie die Vergangenheit gezeigt hat, auch das in Art. 5 EGV nonnierte Prinzip der Gemeinschaftstreue. Die Mitgliedstaaten sind hiernach zwar zu Loyalität und kooperativem Verhalten angehalten. Es entspräche jedoch weder der Funktion beider Prinzipien noch dem systematischen Zusammenhang, könnte das Einstimmigkeitsprinzip regelmäßig mittels des Grundsatzes des gemeinschaftsfreundlichen Verhaltens unterlaufen werden. Letzterer hat nur die Funktion, Vertragsverletzungen vorzubeugen; die Ausübung eines durch das Einstimmigkeitsprinzip eingeräumten Vetorechtes stellt aber gerade nicht per se eine Vertrags verletzung dar. Den Einzelstaaten muß deshalb in seinem Anwendungsbereich ein Entscheidungsspielraum vorbehalten sein. 00
So auch Graf Stauf{enherg / Langen/eId, ZRP 1992, 254.
Die politisch als brisant geltenden Themen wie Asylpolitik und Einwanderungspolitik gegenüber Drittstaaten freilich wurden auch nur zu "Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse" im Rahmen der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres erklärt; dies betont auch Lenz, NJW 1993, 1963. 01
02 So auch Oppermunn / Clussen, NJW 1993, 10; Graf Stauf{enherg / Lungenjetd, ZRP 1992,254; Lenz, NJW 1993, 1963; Blanke, OÖV 1993,416 f.
III. Der Maastrichter Vertrag
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Justiz und innere Angelegenheiten trifft. Zur Verwirklichung der Unionsziele werden unabhängig von den Zuständigkeiten der Europäischen Gemeinschaft in Art. K.I EUV mehrere Bereiche zu Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse erklärt, die sachlich in vieler Hinsicht an Bisheriges - insbesondere die Schengener Abkommen zur Binnengrenzöffnung - anknüpfen 6" aber auch bei weitem über die bisherigen Vorhaben hinausgehen. Die Themenpalette wurde stark erweitert. Als Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse geIten nun vor allem eine gemeinsame Visums-, Asyl- und Ausländerpolitik (Art. K.I Nr. 1- 3 EUV), eine justitielle Zusammenarbeit in Zivil- und Strafangelegenheiten (Art. K.I Nr. 6, 7 EUV), desweiteren die Bekämpfung von Terrorismus, Drogenhandel und sonstigen schwerwiegenden Formen internationaler Kriminalität und "Betrügereien im internationalen Maßstab" sowie die entsprechende polizeiliche Zusammenarbeit, die darüber hinaus den Aufbau der europäischen Polizeieinheit Europol umfaßt (Art. K.I Nr. 4, 5, 9 EUV). Die Festlegung gemeinsamer Standpunkte und die Annahme gemeinsamer Aktionen durch den Rat (Art. K.3 Abs. 2 lit. a, b EUV) führen ferner zu einer erheblichen Intensivierung des europäischen Zusammenhalts. Dennoch läßt sich auch hier von einer vollständigen Vergemeinschaftung nicht sprechen. Da Rechts- und Innenpolitik ähnlich wie die Außen- und Sicherheitspolitik in den sensiblen Bereich der nationalstaatlichen Souveränität hineinreichen, wurde wiederum - nicht zuletzt auf Veranlassung Großbritanniens - der Weg der intergouvernementalen Zusammenarbeit eingeschlagen64 • Die Mitgliedstaaten behalten auch für die Sachmaterien der Justiz und des Inneren die Verantwortung 65 . Das internationale Auftreten und das Vertreten der gemeinsamen Standpunkte geschieht nicht durch ein Organ der Gemeinschaft, sondern durch die Mitgliedstaaten selbst (Art. K.5 EUV). Eine richterliche Kontrolle durch den EuGH ist, was den gegenwärtigen Integrationsstand deutlich werden läßt, nur fakultativ (Art. K.3 Abs. 2 Satz 3 EUV). Vor allem aber gilt auch hier für Entscheidungen im Rat das Einstimmigkeitsprinzip, sofern nicht die Mitgliedstaaten in diesem etwas anderes beschließen66 • So 63
Vgl. Opperl71ann/Classen, NJW 1993, 10.
Vgl. Art. B 4. Spiegelstrich, Art. K, Art. K.3 EUV; Blanke, OÖV 1993,416 f.; El'erfing, OVBI. 1993, 940; Lenz, NJW 1993, 1963; Oppermann/Classen, NJW 1993, 10; Schweitzer, VVOStRL 53 (1994), 55; Gral Stauflenherg / Langen/i!ld, ZRP 1992, 254; Stein, VVOStRL 53 (1994), 30. A.A. auch hinsichtlich der Bereiche Justiz und Inneres Schachtschneider/ El71l71erich-Fritsche / Berer, JZ 1993, 752 f., denen auch insoweit die Handlungsmöglichkeiten nach dem Vertr~g grenzenlos erscheinen; ihre These, mit der Annahme gemeinsamer Maßnahmen durch den Rat werde der Bereich der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit explizit verlassen, verkennt die vertraglich verhaftete Begrenztheit des gemeinsamen Handelns und vermag daher nicht zu überzeugen. 6-1
h;
Ebenso Oppermann/Classen, NJW 1993, 10; Len::, NJW 1993. 1963.
Vgl. auch Blanke, OÖV 1993,417; Everling, OVBI. 1993,940; Oppermann/Classen, NJW 1993, 10; Stein, VVOStRL 53 (1994),30; Doehring, ZRP 1993, 101. (,h
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A. Der Föderalismus zwischen EU und Mitgliedstaaten
kann der Rat nach Art. K.3 Abs. 2 lit. b EUV entscheiden, daß zur Annahme einet: gemeinsamen Maßnahme eine qualifizierte Mehrheit genügt. Auch darf die Geltung des qualifizierten Mehrheitsprinzips ab 1996 auf weitere Fragen der Justiz und des Inneren über die Visapolitik hinaus erstreckt werden (Art. K.9 EUV i.Y.m. Art. IOOc Abs. 3 EGV). Solche Abweichungen vom Einstimmigkeitsprinzip, die durchaus zentralisierende Wirkung zu entfalten vermöchten, setzen aber stets einstimmige Beschlüsse des Rates voraus und bilden nach wie vor die Ausnahme 67 • e) Die Sozialpolitik
Die Vertiefung der Integration erstreckt sich schließlich auf das Sozialwesen 68 • Der Maastrichter Vertrag nennt unter den Zielen der Union die Förderung eines ausgewogenen und dauerhaften sozialen Fortschritts, die insbesondere durch die Stärkung des sozialen Zusammenhalts erfolgen soll (Art. B I. Spiegelstrich EUV). Die Tätigkeit der Gemeinschaft um faßt gemäß Art. 3 lit. i EGV auch eine Sozialpolitik mit einem Europäischen Sozialfonds, die zugleich bereits in Art. 2 EGV anklingt. Ergänzt wird der Unionsvertrag durch ein Protokoll und ein Abkommen über die Sozialpolitik, die Regelungen zwischen den Mitgliedstaaten mit Ausnahme Großbritanniens und Nordirlands enthalten69 ; letzterem kommt, obwohl seine Geltung sich nicht auf sämtliche Mitgliedstaaten erstreckt, derselbe Rechtscharakter zu wie dem Vertrag selbseo. Die gemeinsamen Ziele von Gemeinschaft und Mitgliedstaaten wurden in ihm ausdrücklich benannt; ihrer Verwirklichung dienen Maßnahmen der Mitgliedstaaten wie auch der Gemeinschaft (Art. I des Abkommens). Die Mitgliedstaaten ohne Beteiligung Großbritanniens können nun erheblich weiter reichende Maßnahmen zum Zweck der Gründung einer Sozialunion vornehmen; in einer Vielzahl insbesondere arbeitsrechtlicher Fragen wurde eine Kompetenz der EG festgeschrieben, über die bisher Uneinigkeit herrschte 7l • Auf bestimmten Gebieten des Arbeitsrechts wird eine Unterstüt.7 Auch soweit das Prinzip der qualifizierten Mehrheit hiernach möglich ist, können sich im Einzelfall Schwierigkeiten im Entscheidungsprozeß ergeben. Die Europäische Union verfügt weder über eine effektive Regierung, die Richtlinien der Politik bestimmen könnte, noch über eine Instanz, die den Notstand regeln könnte. Darf eine Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit getroffen werden, so geschieht nichts, wenn diese nicht erreicht wird. Weil dem Nationalstaat seinerseits die Zuständigkeit fehlt, soweit diese ausgeklammert ist, kann der Fall eintreten, daß niemand handeln kann, obwohl eine Regelung dringend erforderlich ist. So auch Doehring, ZRP 1993, 101. ., Dazu statt vieler BVerfGE 89, ISS, 161 f.; Bleckmann, DVBI. 1992, 339 f.; Schach/schneider I Emmerich-Fritsche I Beyer, JZ 1992, 752; Rojahn, in: von Münch I Kunig, Art. 23 Rdnr. 26 f. • 9 Abgedruckt in Sartorius II, Nr. 152a: EUV-Protokoll Nr. 14. 70 Schachtschneiderl Emmerich-Fri/schel Beyer, JZ 1992,752. 71 Bleckmann, DVBI. 1992, 339.
III. Der Maastrichter Vertrag
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zung und Ergänzung der mitgliedstaatlichen Tätigkeiten durch die Gemeinschaft explizit vorgeschrieben (Art. 2 Abs. I des Abkommens). Der Rat kann in diesem Zusammenhang gemäß Art. 2 Abs. 2 des Abkommens im Wege der Richtlinien Mindestvorschriften erlassen.
2. Die Wahrung der Staatlichkeit der Mitgliedstaaten und die Berücksichtigung föderaler Strukturen innerhalb der Mitgliedstaaten durch den Vertrag Allerdings erschöpft sich der Inhalt des Maastrichter Vertrags nicht in zentralisierenden Regelungen. Er trägt zugleich in gewissem Umfang den föderativen Bedenken der Skeptiker Rechnung, denen die Integration zu starke Ausmaße annimmt 72 • Nach Art. F Abs. I EUV hat die Union die nationale Identität der Mitgliedstaaten zu wahren. Die Norm knüpft an das Gebot der Präambel des Vertrages an, bei der Stärkung der Solidarität zwischen den europäischen Völkern auf deren Geschichte, Kultur und Traditionen Rücksicht zu nehmen. Sie greift damit den Gedanken der Vielfalt als Element des überstaatlichen Föderalismus auf. Zugleich nimmt das Gemeinschaftsrecht nunmehr von nationalen föderalen Strukturen einzelner Glieder Kenntnis. Der Vertrag kommt ein Stück weit dem Ruf nach einem Europa der Regionen nach, indem er in Art. 198a-c EGV die Einführung eines Regionalausschusses festschreibe'. Daneben ermöglicht das primäre Gemeinschaftsrecht erstmalig die Entsendung eines Landesministers in den Ministerrat; denn nach Art. 146 EGV muß der Vertreter eines Mitgliedstaates nicht mehr der nationalen Regierung angehören. sondern lediglich den Rang eines Ministers innehaben. Ferner erweitert Maastricht das bisher auf den Umweltschutz beschränkte Subsidiaritätsprinzip in Art. 3b Abs. 2 EGV zu einem allgemeinen Grundsatz fur sämtliche Bereiche der konkurrierenden Zuständigkeit von Gemeinschaft und Mitgliedsländern und unterstreicht damit die Primärzuständigkeit der Nationalstaaten. " Zu den im folgenden beschriebenen Elementen A.Vl.l; zu den einzelnen Kritikpunkten gegenüber der Integration A.V, A.VI. Zur Beschränkung auf eine intergouvemementale Zusammenarbeit in wichtigen Politikbereichen A.IIl.l.c), A.IIl.l.d), A.IY.3. Zur vertraglich vorgesehenen Leitfunktion des Europäischen Rates, welche die gliedschaftlichen Elemente der Gemeinschaftsverfassung stärkt, insbesondere A.IY.l.b). 7) Dieser Teilerfolg insbesondere der deutschen Bundesländer wird allerdings dadurch abgeschwächt, daß dem Ausschuß in nur wenigen Fällen eine allein beratende Funktion eingeräumt wurde und er deshalb in der Praxis bloß eine begrenzte Bedeutung erlangt hat; vgl. dazu und allgemein zum Regionalausschuß B.V!.
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A. Der Föderalismus zwischen EU und Mitgliedstaaten
IV. Die Verfassungsstruktur Europas seit der Gründung der Europäischen Union Die Europäische Union ist in ihrer heutigen Gestalt ein kompliziertes, vielschichtiges Gebilde, das der Föderalismus als Prinzip überstaatlicher Gemeinschaftsbildung maßgeblich geformt hat. Will man ihre Verfassungsstruktur begreifen und ein Urteil über ihre Rechtsnatur fällen, so ist es unumgänglich, die unterschiedlichen Wesenszüge der Union zu erkennen und an den Kriterien des modemen Staatsverständnisses und der Lehre von den Staatenverbindungen zu messen.
1. Staatenähnliche Elemente a) Die Kompetenzfülle der europäischen HoheitsgewaIt
Die Europäische Union kann nach dem Maastrichter Vertragstext eine Fülle von Hoheitsrechten ihr eigen nennen, die sich durch nahezu jeden Bereich staatlichen Handeins ziehen. Ihr Tätigkeitsbereich erstreckt sich über den Wirtschaftssektor hinaus auf weite Teile der Politik, die Außenpolitik, aber auch auf Fragen der lustiz, der inneren Sicherheit und der Kulturpolitik 74 • Der Kompetenzzuwachs, der allein auf den Unionsvertrag zurückgeht, läßt sich jedoch nicht als grundlegende Änderung bezeichnen. Sieht man einmal vom Bereich der Währungspolitik ab, so wird die bisherige Entwicklung lediglich fortgeführt. Das Ausmaß der Vergemeinschaftung durch Maastricht ist entgegen dem ersten Anschein nicht allzu groß 75 , da die betroffenen Politikfelder für die Gemeinschaft nicht sämtlich erst neu erschlossen wurden. In vielen Kompetenzerweiterungen liegt lediglich eine Vertiefung oder Abrundung schon vorhandener Befugnisse, die insbesondere durch die integrationsfreundliche Rechtsprechung des EuGH schon vorher der Gemeinschaft zugesprochen worden waren und bisher nur keinen Niederschlag im primären Gemeinschaftsrecht gefunden hatten 76 • In den Bereichen der Bildung und lugend, Gesundheit und Kultur weist der Vertrag die Gemeinschaft andererseits nun auch stärker in ihre Grenzen, indem er die Kompetenzen ausdrücklich benennt und abgrenzt; die Gemeinschaft wird auf eine Förderung der Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten und eine Unterstützung von deren Maßnahmen beschränkt, und erstmals wird jegliche Harmonisierung im Kultursektor aus-
74
Zu den neuen Kompetenzen aufgrund des Unionsvertrages oben A.lll.l.a).
So auch Len:?, NJW 1993, 1963; Everling, Leserbrief FAZ vom 2.8.1993; Fas/enra/h, FAZ vom 1.7.1993 und vom 12.8.1993. A.A. Rupp, ZRP 1993,212. 7;
76 Everfing, DVBI. 1993, 938 unter besonderer Erwähnung der Art. 126 ff EGV; Blanke, DÖV 1993, 417; Murswiek, Der Staat 1993, 180 unter beispielhatier Erwähnung von Forschung und Technologie (Art. l30f-p EGV).
IV. Die Verfassungsstruktur Europas seit Gründung der EU
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geschlossen 77 • Der Streit über den Umfang der Kompetenzerweiterung durch den Unionsvertrag hat freilich wenig konkreten Nutzen; im Ergebnis ist man sich einig, daß der Union eine Fülle von Kompetenzen zukommt. b) Die Selbständigkeit der Gemeinschaftsorgane
Die Europäische Union als solche besitzt keine eigenen Organe. Sie ist allein durch die Gemeinschaften handlungsfähig, die als erste Säule der Union fortbestehen und deren Organe nach Maßgabe des Gemeinschaftsrechts verbindliche Beschlüsse fassen 78 • Es findet daher - mit Ausnahme des Europäischen Rates - eine Organleihe der Union bei den Gemeinschaften statt79 • Von einer gewöhnlichen internationalen Organisation hebt sich die Union vor allem auch dadurch ab, daß die Organe der Gemeinschaft, derer sie sich infolgedessen bedient, nach Organisation und Zielsetzung eine weitgehende Selbständigkeit gegenüber den Mitgliedstaaten besitzen80 • aa) Die Europäische Kommission Dies gilt in erster Linie für die Kommission, die eine rein europäische Institution ohne Rückkoppelung an die Mitgliedstaaten ist und sich als das unitarische Organ der Union bezeichnen läßt 81 • Die Kommission hat die Rolle einer Hüterin der Verträge, da sie für die Einhaltung der Verträge und der Gemeinschaftsrechtsordnung durch die Mitgliedstaaten - denen der Vollzug des Gemeinschaftsrechts grundsätzlich obliegt - und durch die Bürger Sorge zu tragen hat 82 • Als Trägerin der Initiativbefugnis bei der europäischen Rechtsetzung ist sie zugleich der Motor des Vertrags. Sie hat insofern auch eigenständige Rechtsetzungsbefugnisse, als die Verträge ihr eine Anzahl von 77
921.
Vgl. BVerfGE 89, ISS, 194; Hilf, VVDStRL 53 (1994), 11; Pernice, OVBI. 1993,
7K Everling, OVBI. 1993, 941; ders., Leserbrief FAZ vom 2.8.1993; Oppermann. Zur Eigenart der Europäischen Union, S. 90, 93. 79 So auch Stein, VVDStRL 53 (1994), 29. Anders Ress, JuS 1992, 986, und Bleckmann, NVwZ 1993, 824, wonach die Organe der Gemeinschaften zugleich Unionsorgane sind und je nachdem, in welchem Bereich sie tätig werden, als Organe einer der drei Gemeinschaften oder der Europäischen Union handeln. KO Von Bogdandy, EA 1993, 51 führt die Selbständigkeit des transnationalen Zentrums vor allem auf das ausschließliche Initiativrecht und die Kontrollrechte der Kommission sowie auf die inzwischen weithin genutzte Möglichkeit zur Mehrheitsentscheidung im Rat, dem zentralen Legislativorgan, zurück; der Umfang der Autonomie sei noch nicht im einzelnen klar festzustellen, eine Machtprobe habe bislang nicht stattgefunden. KI A. Weher, JZ 1993,327; Langer, OÖV 1991,826.
K~ Art. ISS I. Spiegelstrich EGV; Art. 124 1. Spiegelstrich EAGV. Insofern war der früheren Hohen Behörde in Art. 8, 14 ff. EGKSV eine stärkere Position eingeräumt.
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A. Der Föderalismus zwischen EU und Mitgliedstaaten
Beschlußkompetenzen einräumen und das Sekundärrecht ihr nach dem Prinzip der Regeldelegation HJ den Erlaß zahlreicher Durchführungsvorschriften ermöglicht (Art. 155 4. Spiegelstrich EGV), die in der Gemeinschaftswirklichkeit beträchtliche Bedeutung besitzen. Als das permanente und den europäischen Gemeinwillen besonders repräsentierende Organ hat sie zudem wesentlichen Anteil an der Außenkompetenz der GemeinschaftH4 • Die Autonomie der Kommission ist zwar insofern eingeschränkt, als ihre mittlerweile zwanzig H5 Mitglieder durch die Regierungen der Mitgliedstaaten im gegenseitigen Einvernehmen ernannt werden; seit dem Unionsvertrag ist vorher das Europäische Parlament anzuhören (Art. 158 Abs. 2 EGVt 6 • Der Status der Kommissionsmitglieder garantiert jedoch, daß sie gemäß Art. 157 Abs. 2 EGV, Art. 126 Abs. 2 EAGV, Art. 9 Abs. 2 EGKSV ihre Tätigkeit in voller Unabhängigkeit, insbesondere auch gegenüber Weisungen des Europäischen Rates und der nationalen Regierungen, zum allgemeinen Wohl der Gemeinschaft ausüben. Darin zeigen sich sowohl die Selbständigkeit dieser "genuin europäischen"s7 Institution gegenüber den Mitgliedstaaten als auch ihre primäre Aufgabe, die Beachtung der spezifisch gemeinschaftlichen Belange sicherzustellen. Die Kommission kann als einzige Institution Ziele verfolgen, die zwar dem gemeinsamen Interesse, aber nicht unbedingt dem Willen eines Mitgliedstaates oder mehrerer von ihnen entsprechen. Die Beschlüsse der Kommission, die mit der Mehrheit ihrer Mitglieder (Art. 163 Abs. 1 EGV) ge faßt werden, unterliegen rechtlich gesehen keinem Einfluß der Mitgliedstaaten, sondern nur einer nachträglichen Kontrolle durch den Gerichtshofs.
"' Vgl. Landtagskommissionsbericht, Teil I, S. 96; Schweifzer, VVDStRL 53 (1994), 49. "4 Vgl. Art. J.9, J.5 Abs. 3 Satz 2, J.8 Abs. 3, 4 EUV. Dazu schon vor Maastricht Oppermann, Europarecht, Rdnr. 317 f. Im Vergleich zur früheren Rechtslage wurde freilich durch den Unionsvertrag der Einfluß der Kommission dahingehend relativ geschwächt, daß diese in Außenpolitik und innerer Sicherheit im Gegensatz zum EWGV kein ausschließliches Initiativrecht erhalten hat. x, Spanien, Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Italien stellen jeweils zwei Mitglieder, die übrigen Mitgliedstaaten je eines. Ob im Zuge der bevorstehenden Unionsbeitritte weiterhin jeder Mitgliedstaat einen eigenen Kommissar wird entsenden können (vgl. Art. 157 Abs. I Satz 4 EGV), ist bislang noch ungeklärt und im Hinblick auf ein konstruktives und effektives Handeln des Gemeinschaftsorgans stark umstritten. "6 Zur Bedeutung dieses Mitbestimmungsrechts des Parlamentes A.V.2. X7 Oppermann, Europarecht, Rdnr. 292. HX Landtagskollunissionsbericht, Teil I, S. 96; Schweitzer, VVDStRL 53 (1994), 49. Steinberger, VVDStRL 50 (1991), 33 gibt in diesem Zusammenhang allerdings zu bedenken, das Parlament habe von Anfang an seine Kontrollfunktion gegenüber der Kommission über eine bloß nachträgliche hinaus zu einer begleitenden Kontrolle auszubauen vermocht; dem komme entgegen, daß die Kommission die Versammlung von vorneherein als ihren natürlichen Verbündeten betrachtet habe.
IV. Die Verfassungsstruktur Europas seit Gründung der EU
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bb) Das Europäische Parlament Auch das Europäische Parlament ist eine gegenüber den Mitgliedstaaten verselbständigte, staatenübergreifende europäische Institution mit unitarischen Strukturen und Funktionen89 . Darin liegt eine Eigenart des Integrationsprozesses und auch die Stärke des Parlaments gegenüber dem Rat begründet; denn im Rat müssen die Regierungen ihre Votierungstets als Entscheidung ihres Staates darstellen, selbst wenn nicht ohne weiteres zu erkennen ist, ob etwa gliedstaatliche Interessen und Belange sich mit den nationalen decken. Das Straßburger Abgeordnetenhaus repräsentiert nicht ein eigenes, aus der Bevölkerung der Mitgliedstaaten herausgewachsenes europäisches Volk. Es verkörpert jedoch auch nicht die Staaten, sondern stellt vielmehr ein Mischgebilde dar, das dem Übergangszustand im Wege des Kompromisses gerecht zu werden sucht. Ein Parlament ist seiner Funktion nach immer unitarisch ausgerichtet. Der spezifisch europäische Charakter des Organs kommt besonders darin zur Geltung, daß seine Mitglieder seit 1979 - wenn auch nicht aufgrund eines eigenen gleichen europäischen Wahlrechts 9() - doch zumindest direkt gewählt werden und nicht den Weisungen der Nationalstaaten unterliegen, sondern über ein freies Mandat verfugen 91 • Auch formieren sich die Abgeordneten in der politischen Wirklichkeit nicht in nationale Delegationen, sondern in staatenübergreifende parteipolitische Fraktionen 92 •
cc) Der Europäische Gerichtshof Die stärkste Annäherung an einen modemen Verfassungsstaat hat die europäische Staatengemeinschaft auf dem Gebiet der rechtsprechenden Gewalt entwickelt93 , die dem Europäischen Gerichtshof anvertraut ist94 • Seine dreiH9 Steinberger, VVDStRL 50 (1991), 32 f.; Langer, DÖV 1991, 824, 826; A. Weber, JZ 1993, 327. 9() V gl. A. Weber, JZ 1993, 327; Ress, JuS 1992, 989; Bieber, FAZ vom 8.6.1994, und ausführlich A.Y.2. 91 Oppermann, Europarecht, Rdnr. 215. Nach Bleckmann, DVBI. 1992, 336 ist die Rechtslage nach Einführung des Art. 8b EGV im Rahmen der Unionsbürgerschaft dahin zu deuten, daß das einheitliche Wahlgebiet der EG in "nationale" Wahlbezirke aufgeteilt wird und sich das bisher nur nationale Mandat der europäischen Abgeordneten in ein europäisches Mandat verwandelt. Oppermanll, Europarecht, Rdnr. 217 f., 222; Grimm, JbSV 6 (1992/93), S. 15; Bieber, FAZ vom 8.6.1994. Echte europäische Parteien freilich sind als Grundlage einer demokratischen Infrastruktur bisher nicht vorhanden, vgl. dazu ausfiihrlicher A.Y.2 . 9) So auch Steinberger, VVDStRL 50 (1991), 37.
9,
94 Das seit 1989 bestehende Gericht Erster Instanz ist kein weiteres eigenes Gemeinschaftsorgan, sondern dem Gerichtshof nach Art. 168a EGV, 140a EAGV, 32d EGKSV "beigeordnet". Es stellt einen bloßen selbständigen Spruch körper dar, der wie der EuGH ein gemeinsames Gericht der drei Gemeinschaften ist und der Entlastung des EuGH von
44
A. Der Föderalismus zwischen EU und Mitgliedstaaten
zehn Richter werden zwar durch die Regierungen der Mitgliedstaaten im gegenseitigen Einvernehmen ernannt (Art. 165, 167 EGV); auch entsprach es bisher ständiger Gemeinschaftspraxis, daß jede Nationalität durch mindestens einen Richter vertreten ist und die größeren Mitgliedstaaten sich in der Besetzung des übrigen dreizehnten Richterpostens abwechseln 95 • In seiner Funktion ist das Organ gegenüber den Mitgliedstaaten jedoch verselbständigt. Der rein europäische Charakter des EuGH findet seinen Ausdruck darin, daß er grundsätzlich über das nationale Recht der Mitgliedstaaten nicht judiziert96 • Da ihm die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge obliegt (Art. 164 EGV, Art. 137, 139 EAGV, Art. 32, 32b EGKSV), ist er ebenfalls mit der Geltendmachung europäischer Belange betraut. Der Gerichtshof sichert die Einheitlichkeit der gesamten Gemeinschaftsrechtsordnung, die einen entscheidenden Faktor der Selbständigkeit der Union darstellt97 • Er hat von Anfang an starke Nachprüfungsbefugnisse besessen. Denn in den Gründungsverträgen wollte man dem Parlament keine wirklichen Rechtsetzungsbefugnisse einräumen, andererseits aber auch die mit breiten Kompetenzen ausgestattenen Organe Rat und Kommission nicht einer wirkungsvollen Überprüfung entheben 98 • Im Interesse nationalstaatlicher Souveränitätsansprüche wurde allerdings bis heute auf eine Kontrolle über die Ausübung spezifischer Unionsbefugnisse in Kembereichen wie der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik verzichtet. Art. L EUV schließt die Gerichtsbarkeit des EuGH für solche Vorschriften des Unionsvertrages aus, die nicht zu Maßnahmen der Union mit Durchgriffswirkung auf den Grundrechtsträger im Hoheitsbereich der Mitgliedstaaten ermächtigen99 . Dies ist speziell bei den Unionsregelungen bemerkenswert, die den Europäischen Rat betreffen; denn der Europäische Rat bildet das spezifische Gemeinschaftsorgan, das der Union die notwendigen Anregungen zu einer Fortentwicklung der Union bringen und die allgemeinen politischen Leitlinien dazu definieren solllOo. Außer diesen mithin thematisch begrenzten Kontrollfunktionen nimmt das Judikativorgan aber auch einige Gestaltungsaufgaben wahr, die über eine rein rechtsprechende Tätigkeit hinausgehen und unter verfassungsstaatlichen Aspekten eher in die Zuständigkeit des Parlamentes fielen 101 • Da die EG über Angelegenheiten mit geringerer Bedeutung wie auch einer besseren Sachaufklärung in seinem Bereich dient; vgl. Oppermann, Europarecht, Rdnr. 334; Langer, DÖV 1991, 828.
9, Oppermann, Europarecht, Rdnr. 331.
96
Vgl. Oppermann, Europarecht, Rdnr. 338, 619-621.
97
Oppermann, Europarecht, Rdnr. 612.
9" Landtagskommissionsbericht, Teil I, S. 112. 99 100
Vgl. BVerfGE 89,155,175 ff. So auch Ress, JuS 1992, 986.
Dazu Landtagskommissionsbericht, Teil I, S. 112, und grundlegend Commichau, Nationales Verfassungsrecht und europäische Gemeinschaftsverfassung, S. 15 ff. 101
IV. Die Verfassungs struktur Europas seit Gründung der EU
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keine nennenswerten Instrumente zur Durchsetzung ihrer Rechtsordnung verfügt, hat der EuGH es sich seit langem zum Ziel gesetzt, der Gemeinschaftsrechtsordnung zur nötigen Akzeptanz und Befolgung zu verhelfen. Um diese zu stabilisieren und zugleich zu vertiefen, hat er sich wiederholt rechts fortbildend und -ergänzend betätigt lo2 • Dies wurde stets dadurch erleichtert, daß die Gemeinschaft nicht strikt zwischen Rechtsetzung und Rechtsprechung trennt, sondern Grenzüberschreitungen ihrer Gerichtsbarkeit zwischen Rechtsfortbildung und Rechtsetzung toleriert lo3 . Das Gemeinschaftsrecht selbst autorisiert das zentrale Rechtsprechungsorgan durch Art. 177 EGV zur Entscheidung von Auslegungsfragen des EG-Rechts und errnächtigf dieses so zur interpretativen, die Einheit des Gemeinschaftsrechts wahrenden Rechtsfortbildung lo4 . Da die Gründungsverträge keine Verpflichtung auf das Rechtsstaatsprinzip enthalten, hat der EuGH diese Lücke durch richterliche Rechtsschöpfung ausgefüllt und subjektiven Rechtsschutz vor allem durch die Entwicklung eines Grundrechtsschutzes begründet. Das Auftreten des EuGH als Motor der Integration stößt auf vielfache, teilweise nur zu berechtigte Kritik. Der Gerichtshof hat sich gegenüber Vorwürfen zu behaupten, er verletze das Gewaltenteilungsprinzip, überschreite seine Kompetenzen, entscheide gegen das Gesetz und maße sich politische Gestaltungsmacht an, indem er Recht setze l05 • Der Umfang seines Tätigwerdens geht über das traditionelle Bild eines Gerichts hinaus und berührt, wie die vorliegende Arbeit noch näher zeigen wird, Mitgliedstaaten wie auch insbesondere die deutschen Bundesländer an empfindlicher Stelle.
dd) Der Ministerrat Im Gegensatz zu den übrigen Organen ist der Ministerrat ein föderatives Organ. Schon vor der Unionsgründung trafen in ihm die Mitgliedstaaten, vertreten durch ihre Regierungen, aufeinander (Art. 2 Abs. I FusionsV). Seine Zusammensetzung hat sich durch den neu eingeführten Art. 146 EGV nur insoweit geändert, als die Nationalstaaten nun auch Landesminister entsenden können. Der föderative Charakter des Organs wurde dadurch noch gesteigert; 102
341.
Landtagskommissionsbericht, Teil I, S. 114 f.; Oppermann, Europarecht, Rdnr. 330,
103 Der EuGH selbst stützt sein Vorgehen auf die französische Doktrin, die im Gegensatz zur deutschen nicht an hand des Kriteriums der Wortlautgrenze zwischen Auslegung und ergänzender Rechtsfortbildung differenziert, sondern auch die Fälle klarer Rechtsfortbildung als Interpretation begreift, vgl. Landtagskommissionsbericht, Teil I, S. 113. 104 Oppermann, Europarecht, Rdnr. 652; dazu auch Zu leeg, JZ 1994, I ff.
"" Vgl. Zu leeg, JZ 1994, I ff.; ders., FAZ vom 17.3.1994, der - ein ehemaliger EuGHRichter - den EuGH jedoch verteidigt. Nass (FAZ vom 25.8.1995) hebt seinerseits hervor, die lückenflillende Rechtsprechung des EuGH habe sich stets im Rahmen von Auslegungsgrundsätzen gehalten, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam und damit auch in die europäische Rechtsordnung eingegangen seien.
46
A. Der Föderalismus zwischen EU und Mitgliedstaaten
nunmehr trägt dieses nicht allein dem überstaatlichen Föderalismus des europäischen Staatengebildes, sondern auch der nationalen Föderalstruktur mancher westeuropäischer Bundesstaaten Rechnung. Da die Fachminister bei ihrem Auftreten im Rat - anders als die Parlamentarier - den Weisungen der nationalen Regierungen unterliegen, bleibt ihre Rückkoppelung an diese gewahrt. Der Vorsitz im Rat und seinen nachgeordneten Gremien wechselt alle sechs Monate (Art. 146 Abs. 2 EGV). Auf diese föderale Struktur des Rates läßt sich auch seine gemeinschaftspolitische Steuerungsfunktion innerhalb des gemeinschaftlichen Kompetenzgefüges zurückführen, die ihm nach den ursprünglichen Plänen nur vorübergehend zukommen sollte, sich dann aber seit Mitte der Sechziger Jahre entscheidend konsolidiert hat. Sie wurde von den Mitgliedstaaten bewußt gefördert, denen der Rat als bisher einziges Organ auf europäischer Ebene unmittelbare Beteiligungsrechte einräumt, um ihren nationalen Belangen bei der gemeinschaftlichen Entscheidungsfindung Beachtung zu verschaffen 106 • Dem deutschen Bundesrat und dessen Vorgängern vergleichbar, bietet der Ministerrat den Gliedern des supranationalen Gebildes die Möglichkeit, ihre Teilhaberechte an der Willensbildung des gemeinsamen übergeordneten Ganzen wahrzunehmen und umzusetzen. Der Ministerrat stellt damit zugleich ein wichtiges Element der Integration der Mitgliedstaaten dar; die Kooperationsbereitschaft und Gemeinschaftstreue der Glieder, von der die Funktionsfähigkeit und Legitimität der Union maßgeblich abhängen, werden durch diese Mitwirkung der Nationalstaaten an den Hoheitsakten der Union nachhaltig gefördert. Die Stärkung des Rates auf Kosten besonders der Kommission ist für die Mitgliedstaaten ein effektives Instrument, um den eigenen Einfluß auf die gemeinschaftliche Willensbildung zu sichern und sich wenigstens teilweise vor ausufernden Souveränitätseinbußen aus einer supranationalen Eigendynamik zu bewahren. Dem Rat wurden deshalb die Hauptentscheidungsgewalt bei gemeinschaftsrechtlicher Rechtsetzung und auch Außenkompetenz, Budgetgewalt, Vertragsänderungsbefugnis und Personalhoheit in ihren wesentlichen Zügen überantwortet l07 ; nach Art. 145 EGV (ähnlich Art. 115 EAGV, Art. 26 EGKSV) besitzt er die grundlegende Entscheidungsbefugnis zur Verwirklichung der Vertragsziele. In Gestalt des Europäischen Rates ist er zunehmend zum politischen Impulsgeber der europäischen Integration geworden und beschließt die Richtlinien der Gemeinschaftspolitik, wie jetzt Art. 0 Abs. I EUV und für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Art. 1.8 EUV ausdrücklich festschreiben 108. Die Mitgliedstaaten sind durch die Einset106 Vgl. Badura, VVDStRL 23 (1966),46 f.; Oppermann, Europarecht, Rdnr. 278. Zur Gefahr einer Handlungsunfahigkeit der Union, die durch diese Leitfunktion von Europäischem Rat und Ministerrat zugleich verursacht wird, A.III.l.c) und A.VII.1. 107 Oppermann, Europarecht, Rdnr. 279, 282-285. 10" Ebenso schon vorher Langer, DÖV 1991, 823, 827; Steindorff. AöR 116 (1991), 461.
IV. Die Verfassungsstruktur Europas seit Gründung der EU
47
zung des Europäischen Rates als Leitungsorgan von Union und Gemeinschaft im Maastrichter Vertrag maßgeblich gestärkt geworden, auch wenn sich der Europäische Rat gegenüber den unabhängigen Gemeinschaftsorganen nur politisch, nicht rechtlich durchsetzen kann 109. Die Kommission, die nach dem Grundkonzept mit den Worten Walter Hallsteins als "unabhängiger Motor, Wächter und ehrlicher Makler" der Gemeinschaft nach und nach die Funktion einer europäischen Regierung übernehmen sollte, hat in der Gemeinschaftspraxis ein solches Gewicht gegenüber Rat und Mitgliedstaaten bisher nicht erlangt 110. Selbst der Rat trägt trotz seiner föderativen Ausrichtung und Bestimmung durch die Mitgliedstaaten betont die Züge eines zentralen Gemeinschaftsorgans 111. Art. 4 Abs. I EGV nennt ihn inmitten der übrigen unzweifelhaft gemeinschaftlichen Organe. Die Mitgliedstaaten haben nach dem Prinzip der Gemeinschaftstreue (Art. 5 EGV) alles zu unterlassen, was die Funktionsfähigkeit der Gemeinschaftsgewalt und die Wirksamkeit ihrer Hoheitsakte beeinträchtigen könnte. Auch seine Arbeitsweise in der Gemeinschaftswirklichkeit, ständige rats interne Kontakte und wechselnde Verflechtungen bis hin zu festeren Konstellationen und Koalitionen unter den Mitgliedstaaten lassen ihn als echtes Gemeinschaftsorgan im tatsächlichen Sinne erscheinen, das an Intensität die klassische Staatenkonferenz weit übertrifft l12 • Eine gewisse Verselbständigung des Rates als Organ der Gemeinschaft gegenüber dem Willen der Nationalstaaten zeichnet sich ferner darin ab, daß dieser in einer wachsenden Anzahl von Angelegenheiten nach dem Mehrheitsprinzip abstimmt. Die Verträge haben für die Beschlußfassung im Rat den Grundsatz der einfachen Mehrheitsentscheidung aufgestellt (Art. 148 Abs. I EGV, Art. 118 Abs. I EAGV, Art. 28 Abs. 4 EGKSV). Diese Regel hat zwar zahlreiche Ausnahmen erfahren, die die Willensbildung des Rates erschweren und zugleich Aufschluß über den Stand der europäischen Integration geben. So sind seit 1966 bzw. 1970 vielfach Beschlüsse mit qualifizierter Mehrheit vorgesehen (vgl. Art. 148 Abs. 2 EGV, Art. 118 EAGV, Art. 28 Abs. 4 EGKSV), in denen der Wille zur Orientierung an bundesstaatlichen Entscheidungsmustern zum Ausdruck kommt llJ . Auch das Einstimmigkeits109
So auch Everlillg, FAZ vom 3.9.1996.
110
So auch Oppermann, Europarecht, Rdnr. 290, 295; Schuppert, StwStp. 1994,47.
111
Oppermann, Europarecht, Rdnr. 246,248.
111
Oppermann, Europarecht, Rdnr. 259.
Der bundesstaatsähnliche Sinn einer solchen Regelung besteht darin, den größeren Mitgliedstaaten eine Majorisierung der Gemeinschaft zu verwehren, indem als moderierendes Element das Vorschlagsrecht der Kommission bzw. bestimmte Stimmpositionen kleinerer Mitglieder festgeschrieben sind. Andererseits können zwei große Unionsglieder zusammen mit mindestens einem weiteren Mitgliedstaat qualifizierte Beschlüsse venneiden; vgl. Oppermann, Europarecht, Rdnr. 252. IIJ
48
A. Der Föderalismus zwischen EU und Mitgliedstaaten
prinzip ist seit langem von erheblicher Bedeutung. Dies gilt nicht nur für die Beschlüsse der "im Rat vereinigten Vertreter der Mitgliedstaaten". Diese können, da sie von den Ratsmitgliedern nicht in organschaftlicher Funktion, sondern im Gewand einer Konferenz von Staatenvertretern gefaßt werden und deshalb im Grunde völkerrechtlicher Natur sind, nach völkerrechtlichen Grundsätzen stets nur mit Zustimmung aller Mitgliedstaaten ergehen "4 . Auch bei den hiervon scharf zu scheidenden allgemeinen Prozessen europäischer Willensbildung, die nicht zuletzt der Schaffung von Gemeinschaftsrecht dienen, verlangen die Verträge in wichtigen Angelegenheiten häufig eine einstimmige Beschlußfassung. Und soweit eine Einstimmigkeit nicht zwingend vorgeschrieben ist, haben sich die Mitgliedstaaten in der Luxemburger Vereinbarung vom 29.1.1966 für Angelegenheiten, die sehr wichtige Interessen der Mitglieder berühren, ein Bemühen um einstimmige Beschlüsse auferlegt. Obwohl es sich hierbei nach richtiger Ansicht rechtlich um einen bloßen nicht bindenden Akt freiwilliger Selbstbeschränkung handeiteIlS, führte der Komprorniß in der Gemeinschaftswirklichkeit zu einem weitgehenden Verzicht auf Mehrheitsbeschlüsse" 6 . Die Mitgliedstaaten bedienten sich einer verfahrensrechtlichen Absprache, um die Integration zu drosseln. Darin zeigt sich, daß das Problem der Entwicklung der europäischen Integration im Ausgleich zwischen Einzelinteressen und Gemeinschaftsinteressen besteht; dies ist primär ein Problem der Balance zwischen den Institutionen der Europäischen Gemeinschaft, insbesondere Rat, Kommission und Parlament. Die Beziehungen zwischen diesen Organen sind einem ständigen Wandel unterworfen, in dem auch die Bedeutung der einzelnen Einrichtung stetig schwankt. Die Kompetenzverteilung zwischen ihnen spiegelt die grundlegende Spannung zwischen Unitarismus und Föderalismus und - ebenso wie der Kompetenzkatalog der europäischen Ebene - den jeweiligen Integrationsstand wider und stellt auch die Weichen für eine künftige Integration. Da sich das Problem auf die Balance durch Verfahrensregeln verlagert, geht es auch um die Fortentwicklung der Integration durch Entscheidungsregeln ll7 • In Luxemburg 114
Oppermann, Europarecht, Rdnr. 249, 254; Landtagskommissionsbericht, Teil I, S. 94.
I" SO auch Schuppert, StwStp. 1994, 40. Die Rechtsverbindlichkeit der Luxemburger Vereinbarung war immer sehr umstritten, da sie sich nicht in das zur Verfügung stehende Instrumentarium von primärem und sekundärem Gemeinschaftsrecht, Gemeinschaftsgewohnheitsrecht und begleitendem völkerrechtlichen Vertragsrecht einordnen läßt. Jedenfalls ist sie als politisches Instrumentarium Bestandteil der Gel11einschaftspraxis geworden und ermöglicht es den Mitgliedstaaten, wie die Entwicklung gezeigt hat, in vitalen Fragen Kompromisse zum Schutz der eigenen Interessen zu erreichen; so auch Landtagskommissionsbericht, Teil I, S. 94. Der Landtagskol11missionsbericht (ebd., S. 115 f.) erblickt in der Luxemburger Vereinbarung einen "zumindest faktischen" Verzicht auf die Überstimmung einzelner Mitgliedstaaten im Rat. Das Abstimmungsverhalten der Mitgliedstaaten nach der Luxemburger Vereinbarung erinnert an den Stil des Bundesrates der Bisl11arckschen Reichsverfassung; vgl. dazu B.IY.2. 116
Oppermann, Europarecht, Rdnr. 251,253.
117
Ähnlich Schuppert, StwStp. 1994,46, 51; s.a. Oppermann, Europarecht, Rdnr. 269.
IV. Die Verfassungs struktur Europas seit Gründung der EU
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zogen die Mitgliedstaaten gegenüber den Verträgen, die einer weiteren Vergemeinschaftung durch die Verankerung einfacher und qualifizierter Mehrheitsentscheidungen bereits den Weg gebahnt hatten, die Notbremse, indem sie jenseits des Wortlauts der Verträge dem Einzelstaat ein Vetorecht einräumten. Während die Verträge sich mit dem Grundsatz der einfachen Mehrheitsentscheidung vom völkerrechtlichen Prinzip der Gleichheit aller Staaten distanziert hatten 1l8 , fuhrten die Mitgliedstaaten die Gemeinschaftspraxis wieder zur Einstimmigkeitsregel zurück, die ihre Grundlage noch ganz im klassischen Völkerrecht findet l19 . In der Folgezeit allerdings erlangte in Kongruenz mit der fortschreitenden europäischen Integration das Mehrheitsprinzip wieder größere Bedeutung. Einen entscheidenden Beitrag zu dieser Entwicklung leistete die Einheitliche Europäische Akte, deren wesentliche verfahrensrechtliche Reform es war, daß bei zahlreichen Ratsentscheidungen das Einstimmigkeitsprinzip durch einfache bzw. qualifizierte Mehrheitsentscheidungen abgelöst wurde I 20. Auch der Maastrichter Vertrag hat durch die Ausweitung der Materien, in denen der Rat nach dem Mehrheitsprinzip entscheidet l21 , einen erheblichen Beitrag zur Intensivierung der Integrationsdichte geleistet. Dieser Abstimmungsmodus hat nahezu allgemeine Geltung erlangt 122. Der Rat fällt seine Beschlüsse heute in "" Bleckmann, JZ 1990, 304 äußert die Vennutung, in der EG werde an dem Prinzip der Einstimmigkeit schon deshalb festgehalten werden, weil die Solidarität in Europa noch nicht so stark sei, daß sie eine hinreichende Berücksichtigung der nationalen Interessen aller Mitgliedstaaten gewährleiste. Das Souveränitätsprinzip, das im Koexistenzvölkerrecht den Staaten Handlungsfreiheit gewähre, bis sie auf die ebenfalls aus der Souveränität abgeleiteten Rechte der anderen Staaten stießen, habe im Kooperationsvölkerrecht seine Funktion gewandelt. Durch den Grundsatz, daß jeder Staat nur an die Entscheidungen gebunden sei, denen er selbst zugestimmt habe, sichere es nunmehr, daß bei den Entscheidungen der internationalen und supernationalen Organisationen die Interessen aller Mitgliedstaaten hinreichend berücksichtigt würden. Wenn das Mehrheitsprinzip in den internationalen Organisationen teilweise recht gut funktioniere. so habe das v.a. den Grund, daß die Entscheidungen dieser Organisationen häufig selbst die Mitgliedstaaten nicht einmal völkerrechtlich bänden. Da nach der Rechtsprechung des EuGH das Gemeinschaftsrecht innerstaatlich mit Rang selbst über dem Verfassungsrecht unmittelbar alle staatlichen Gerichte und Behörden binde, sei die notwendige Konsequenz eines solchen Monismus, daß das Mehrheitsprinzip in den europäischen Organen nur beschränkt durchgesetzt werden könne. 119 Aus solchen Verfahrensregeln läßt sich erkennen, ob ein Gebilde ~ wie damals die EG ~ qua Einstimmigkeitsregel noch ganz dem klassischen Völkerrecht verhaftet ist oder sich qua Abweichung vom Einstimrnigkeitsprinzip, in dem das völkerrechtliche Konsensualprinzip zur Geltung kommt, auf eine qualitativ andere Integrationsstufe zubewegt. Vor diesem Hintergrund tritt erst die wahre Bedeutung der Luxemburger Beschlüsse ans Licht. Vgl. dazu Schuppert. StwStp. 1994, 41. 120
Vgl. Stoiber, EA 1987, 545; A. Weber. JZ 1993, 327.
Dabei handelt es sich etwa um Teilbereiche der Umweltpolitik und die neu aufgenommenen Kompetenzen in der Währungspolitik, der allgemeinen Bildung, dem Gesundheitswesen, dem Verbraucherschutz, den transeuropäischen Netzen und der Entwicklungspolitik; vgl. Murswiek, Der Staat 32 (1993), 181. 121
12C
Everling, DVBl. 1993.942; Schweitzer, VVDStRL 53 (1994),49; von Bogdandy, EA
4 Heckel
50
A. Der Föderalismus zwischen EU und Mitgliedstaaten
aller Regel - Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und Rechts- und Innenpolitik freilich ausgenommen 123 - mit einfacher bzw. qualifizierter Mehrheit.
ee) Die Verpflichtung der Gemeinschaftsorgane auf gemeinsame europäische Belange und die wechselseitige Verflechtung und Kooperation auf nationaler und übernationaler Ebene Die Europäisierung der gemeinschaftlichen Willensbildung ist folglich, wie sich auch in der Gemeinschaftswirklichkeit zeigt, in den einzelnen Institutionen unterschiedlich weit fortgeschritten. Die Vorstellung der Union von einer Selbständigkeit ihrer Organe ist dennoch unverkennbar; sie kommt insbesondere darin zum Ausdruck, daß sämtliche Gemeinschaftsorgane bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben auf gemeinsame europäische Belange und Interessen verpflichtet sind '24 und die Kompetenzen der Gemeinschaft ausüben, nicht dagegen die Kompetenzen der Mitgliedstaaten. Auch in den Unionsvertrag wurde dieses Verständnis ausdrücklich aufgenommen. Der einheitliche institutionelle Rahmen, über den die Union gemäß Art. C Abs. I und der Präambel des EUV verfügt, deckt sich weitgehend mit dem bisherigen institutionellen Gefüge. Die europäischen Institutionen befinden sich darüber hinaus untereinander, aber auch mit Organen der Mitgliedstaaten in einem System und Ausmaß wechselseitiger Verbindungen, das ein rein völkerrechtliches Staatenkonzept ebenfalls an Intensität übertrifft. Die gegenseitige Verflechtung und das Ineinandergelagertsein verschiedenartiger föderalistischer Systeme und Elemente kommen in diesen Formen der Integration, der gegenseitigen Abstimmung und Rücksichtnahme im ständigen Informations- und Entscheidungsfindungsprozeß plastisch zum Ausdruck. Die Kommission und ihre Dienststellen sind mit den nationalen Ministerien ständig durch zahlreiche institutionelle Kontakte verbunden und stehen nicht zuletzt mit den deutschen Bundesländern vor allem über deren Länderbüros in Brüssel in reger Verbindung. Durch das Recht des Rates, vom Parlament jederzeit gehört zu werden (Art. 140 Abs. 4 EGV, Art. 110 Abs. 4 EAGV; nach Art. 23 Abs. 4 EGKSV Recht der Mit1993, 51. A.A. Frankenherger. FAZ vom 2.9.1994. wonach Abstimmungen mit (qualifizierter) Mehrheit die Ausnahme sind. Nach Winter, DÖV 1993, 178 ist die Frage. ob der Luxemburger Kompromiß noch gilt und welchen Rechtscharakter er hat. umstritten; das übliche Verständnis scheint zu sein, man verstoße gegen guten Brauch. wenn ein Mitgliedstaat in einer Sache überstimmt wird, die für ihn sehr wichtige Interessen berührt und auch von den anderen Mitgliedstaaten als wichtig anerkannt wird. Stein, VVDStRL 53 (1994), 32 merkt an, der Luxemburger Kompromiß sei in letzter Zeit zwar kaum eingewendet. er sei aber damit noch nicht in "desuetudo" gefallen. '" Vgl. dazu bereits A.IIl.l.c), d). ,,~
Oppermann, Europarecht, Rdnr. 779.
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glieder des Rates), können nationale Minister vor dem Parlament auftreten; in Rechtsstreitigkeiten vor dem Gerichtshof schließlich haben sich die europäischen Organe in gewisser Regelmäßigkeit mit den Mitgliedstaaten auseinanderzusetzen und diesen gegenüber zu verantworten 125 • .ff) Die künftige Europäische Zentralbank
Eine grundlegende Erweiterung liegt freilich in der Einführung der Europäischen Zentralbank (EZB), der im Laufe der Zeit das gesamte Währungswesen seitens der Mitgliedstaaten übertragen werden so11 126 und die ein genuin europäisches Organ ist. Die EZB, die gemeinsam mit den nationalen Zentralbanken das Europäische Zentralbanksystem bildet (Art. 106 Abs. I EGV), zeichnet sich durch eine eigenständige Position gegenüber Mitgliedstaaten und Gemeinschaftsorganen aus, die in Art. 107 EGV eindrücklich betont wird. So darf sie weder Weisungen der Gemeinschaftsorgane noch sonstiger Stellen noch insbesondere der mitgliedstaatlichen Regierungen einholen oder entgegennehmen 127 • Die Unabhängigkeit der EZB ist insbesondere in Deutschland in der letzten Zeit auf besonderes Interesse gestoßen, da man in dieser Eigenschaft die Gewähr für eine Stabilität der neuen Währung zu finden hofft 128. Die besondere Bedeutung, die auch der Maastrichter Vertrag ihr beimißt, erweist sich darin, daß er zusätzlich den Mitgliedstaaten und Gemeinschaftsorganen die Beachtung dieser Autonomie und die Unterlassung jeglicher Beeinflussung der Bank explizit auferlegt. Da das primäre Ziel des ESZB und somit auch der EZB I29 darin besteht, die Preisstabilität der ge115
Vgl. Frowein. Bundesrat, Länder und europäische Einigung, S. 299.
Zur Währungsunion und der Rolle der EZB vgl. A.lIl.l.b); zur Bedeutung der Währungsunion flir die Souveränitätsfrage und die Rechtsnatur der Union A.lY.3. 116
117 Wenngleich das Bild der EZB stark an der Bundesbank orientiert ist, besteht ein maßgeblicher Unterschied. Während die Unabhängigkeit der Bundesbank nach § 12 BBankG nur gegenüber der Regierung besteht und nicht gegenüber dem Gesetzgeber, solange dieser nicht Verwaltungsakte in Gesetzesfonn beschließt, ist der EZB eine Autonomie auch gegenüber den Gemeinschaftsorganen eingeräumt. Sie kommt der EZB somit auch gegenüber Ratsbeschlüssen zugute, soweit diese nicht im Hinblick auf eine Änderung der Satzung der Bank ausdrücklich zulässig sind. Eine Generalklausel existiert nicht. Vgl. dazu Doehring, ZRP 1993, 102. 11" Vgl. Bleckmann, DVBI. 1992,341 f.; I'On Waldenf'els, FAZ vom 21.11.1991; gleichlautende Resolution von Bundestag und Bundesrat zur Wirtschafts- und Währungsunion (abgedruckt in FAZ vom 3.12.1992); Ohr, FAZ vom 7.8.1993. Kritisch aus den Pressestimmen etwa Neumann, FAZ vom 25.4.1992; Barhier, FAZ vom 30.11.1992. 119 Vgl. Doehring, ZRP 1993, 102; Bleckmann, DVBI. 1992,341. Primäres Ziel der EZB ist es, die Preisstabilität der gemeinsamen Währung zu sichern. Da die EZB unbeschadet dieser Ziele die Wirtschaftspolitik der EG unterstützen muß. kann aus den unterschiedlichen Belangen und Zielen der Zentralbank, der anderen Gemeinschaftsorgane und der Mitgliedstaaten ein Konflikt entstehen, wie er auch im Verhältnis zwischen Bundesbank und Bundesregierung angelegt ist; vgl. dazu BleckmGIlIl, a.a.O.
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meinsamen europäischen Währung zu gewährleisten (Art. 105 Abs. I Satz I EGV), ist diese Institution ebenfalls mit der Wahrnehmung gemeinschaftlicher Interessen befaßt. Obwohl die Mitglieder des Direktoriums der EZB, die sich mit den Präsidenten der nationalen Zentralbanken zum EZB-Rat vereinen, keine (unmittelbare) demokratische Legitimation aufweisen 130, verfügt die EZB als Leitorgan des ESZB über weitreichende Befugnisse. Sie ist nicht nur mit den in Art. 105 Abs. 2-5, 105a EGV eingeräumten und um Aufsichtsrechte erweiterbaren währungspolitischen Aufgaben betraut, die für den Wirtschaftsstaat existentielle Bedeutung haben; vielmehr räumt Art. 108a EGV ihr zur Erfüllung ihrer Aufgaben eine Rechtsetzungsbefugnis ein, die in Gestalt der Verordnungen allgemein und in Fonn der Entscheidungen für die Adressaten Verbindlichkeit entfaltet. Indem der Bank in Art. 108a Abs. 3 EGV gegenüber Unternehmen, die ihre Verordnungen nicht einhalten, sogar bestimmte Sanktionsbefugnisse verliehen werden, erhält ausgerechnet dieses unabhängige Gemeinschaftsorgan sogar ein Stück Verwaltungshoheit '31 . Die Europäische Union nähert sich dem Bild eines eigenen Staates nicht zuletzt mit dieser Institution einer rein gemeinschaftlichen Zentralbank an, die sich zwar im EZB-Rat mit den Präsidenten der nationalen Zentralbanken zusammenfindet, die aber langfristig das gesamte europäische Währungswesen in den Händen halten soll und der schon jetzt beträchtliche Befugnisse zugedacht sind. c) Die finanzielle Selbständigkeit der Europäischen Gemeinschaft
Die Europäische Gemeinschaft besitzt mittlerweile auch in finanzieller Hinsicht eine weitgehende Selbständigkeit. Sie unterliegt zwar auch insoweit dem Prinzip der begrenzten Einzelzuständigkeit (vgl. Art. E EUV, Art. 3b Abs. I EGV); ihre Finanzgewalt wird durch die Gründungsverträge (Art. 199-209a EGV, Art. 171-183a EAGV, Art. 49-54, 78-78h EGKSV), durch Art. 20-22 FusionsV i.Y.m. Art. P Abs. I EUV und eine große Zahl sekundärrechtlicher Bestimmungen begründet, konkretisiert und zugleich begrenzt. Bedarf die supranationale Verbindung zur Erfüllung ihrer Aufgaben weiterer als der gemeinschaftsrechtlich bereits vorgesehenen Einnahmen, so kann sie sich diese nicht eigenmächtig erschließen; erforderlich ist vielmehr eine erneute einstimmige Beschlußfassung der Mitgliedstaaten, die zwar im Rat handeln, aber die Zustimmung der nationalen Parlamente einholen müssen (Art. 201 Abs. 2 EGV). Die Regelung dieses Verfahrens hat sich durch 130 Die Mitglieder des Direktoriums der EZB werden von den Regierungen der Mitgliedstaaten auf Empfehlung des Rates nach Anhörung des Europäischen Parlaments und des EZB-Rates durch den Rat einvernehmlich ausgewählt und ernannt (Art. 109a EGV). Sie sind auf acht Jahre ernannt (Art. 109a Abs. 2 lit. b EGV) und können nur durch den EuGH bei Pflichtversäumung abberufen werden; vgl. Unionsvertrag, Protokoll über die Satzung der Europäischen Zentralbank, Kap. II1, Art. II A. 1.11
Schachtschneider / Emmerich-Fritsche / Beyer, JZ 1993, 752.
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den Maastrichter Vertrag nur in der Fonnulierung geändert. Auch Art. F Abs. 3 EUV vennag keine Kompetenz-Kompetenz der Union zu begründen J32 • Da die Mitgliedstaaten somit das nationale Budgetrecht behalten IJ \ bleiben sie in finanzieller Hinsicht weiterhin die Herren der Gemeinschaft und tragen die finanzielle Verantwortung für diese. Auch die Finanzverwaltung obliegt im wesentlichen den nationalen Behörden, die die Einnahmen für die Union einziehen und an sie weiterleiten 134. Dennoch hat die Gemeinschaft zwischenzeitlich sowohl gegenüber ihren Mitgliedstaaten als auch auf dem internationalen Parkett ein erhebliches finanzielles Eigengewicht erlangt, das in erster Linie auf ihre staatsähnliche Finanzierungsweise und ihr für eine zwischenstaatliche Einrichtung ganz ungewöhnlich hohes Haushaltsvolumen zurückgeht und sie ebenfalls deutlich von typischen internationalen Organisationen abhebt. Die Gemeinschaft finanziert sich seit 1980 im wesentlichen aus eigenen Einnahmen 135. Im Zuge der fortschreitenden europäischen Integration hat sie sich auch finanziell zunehmend U6 von den Mitgliedstaaten gelöst, indem sie sich immer stärker vom ursprünglich für die EWG geltenden l37 System der Beitragsfinanzierung abwandte. Das Prinzip der Finanzierung aus Eigenmitteln, das in Art. 20 I Abs. I EWGV von Anfang an als endgültiges Ziel angestrebt war, ist seit dem Maastrichter Vertrag in derselben Nonn ausdrücklich verankert. Neben den Eigenmitteln, die im wesentlichen aus Steueranteilen, Zöllen und anderen Abgaben bestehen 138, verfügt die Gemeinschaft über sonstige Haushaltseinnahmen geringeren Umfangs 139; außerhalb des Haushalts hat sie Zuflüsse m Dazu ausfuhrlich A.lV.2.c). SO auch Everling, DVBI. 1993, 941; Len?, NJW 1993, 1963; Möschel, JZ 1992, 882 f. \)4 Oppermann, Europarecht, Rdnr. 704, 715. I))
I);
OppermanlJ, Europarecht, Rdnr. 715,722.
\.1.
Zu dieser Entwicklung ausführlicher OppermalJn, Europarecht, Rdnr. 713 f., 767.
1)7 Anderes gilt fur die EGKS, deren Gründungsvertrag ihr im Sinne seiner ausgeprägten Supranationalität eine finanziellc Unabhängigkeit von den Mitgliedstaaten einräumte, indem er ihre Finanzierung nicht auf Beiträge der Mitgliedstaaten, sondern auf eine steuerähnliche Umlage auf die Kohle- und Stahlerzeugung bei den Unternehmen und auf die Aufnahme von Anleihen stützte; vgl. OppermanlJ, Europarecht, Rdnr. 709. \)x Genauer die Zölle des Gemeinsamen Zolltarifs der EG, die Agrarabschöpfungen, die Abgaben für Zucker und Isoglucose, der EG-Anteil am Mehrwcrtsteueraufkommen der Mitgliedstaaten und die "Mittel aufgrund des Bruttosozialproduktes" aller Mitgliedstaaten (OppermalJlJ, Europarecht, Rdnr. 723). Das 1970 geschaffene System der Eigenmittel erstrcckte sich anfangs nur auf Zölle und Abschöpfungcn. ehe die Gemcinschaft auch einen Anteil am Mehrwertsteueraufkommen der Mitgliedstaaten erhielt. 1988 wurde das System der Eigenmittel weiter ausgebaut; vgl. OppermalJll. ebd .. Rdnr. 714.
1.19 Dazu gehören insbesondere die Montanumlage und Einnahmen aus der Erhebung von Zwangsgeldern, Geldbußen und ähnlichem. vor allem im EG-Wettbcwcrbsrecht; vgl. Oppennann. Europarecht, Rdnr. 726.
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überwiegend aus Gemeinschaftsdarlehen, Anleihen, aus dem Funktionshaushalt der EGKS und dem Europäischen Entwicklungsfonds 140. Aufgrund dieser Einnahmen weist die Gemeinschaft einen Gesamthaushalt auf, dessen Umfang zwar im Vergleich zu den nationalen Haushalten begrenzt erscheint l41 , jedoch über den Rahmen einer internationalen Verbindung weit hinausreicht l42 . Das Ausmaß dieses Finanzvolumens trägt zugleich dazu bei, den Einfluß der Gemeinschaft auf die Vertiefung der Integration zu stärken und zu sichern l43 • Praefäderale Züge erhält die Gemeinschaft außerdem durch ihren gemeinschaftsweiten Finanzausgleich, mit dem die wohlhabenderen Mitgliedstaaten in gewissem Umfang zu einem Abbau des unionsweiten sozialen Gefälles beitragen sollen. Die Konzeption einer im Ergebnis vergleichbaren Belastung aller Mitgliedstaaten ist im völkerrechtlichen Gedanken der Gleichheit und der Solidarität aller Unionsglieder begründet. Nach Art. 2 EGV, Art. A Abs. 3, Art. B I. Spiegelstrich EUV (vgl. auch Art. 2 EGKSV, Art. 1 Abs. 2 EAGV) obliegt es der Gemeinschaft unter anderem, eine harmonische und ausgewogene Entwicklung des Wirtschaftslebens innerhalb der Gemeinschaft, einen hohen Grad an Konvergenz bei den Wirtschaftsleistungen, die Hebung der Lebenshaltung und -qualität, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern. Die hieraus resultierenden unterschiedlichen finanziellen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten, die die Bundesrepublik in eine Nettozahlerposition drängen 144, 140
Oppermann, Europarecht, Rdnr. 740.
Nach Oppermann, Europarecht, Rdnr. 771 entspricht das EG-Haushaltsvolumen ungefähr 3% der Summe der nationalen Etats. 141
14, So betrug der Gesamthaushalt der EG beispielsweise 1990 ca. 47 Mrd. ECU bzw. etwa 95 Mrd. DM; ihm treten der gesondert finanzierte Funktionshaushalt der Montanunion und der Haushalt des Europäischen Entwicklungsfonds zur Seite, vgl. Oppermann, Europarecht, Rdnr. 705. 143 Oppermann, Europarecht, Rdnr. 771 bemerkt in diesem Zusammenhang zu Recht, die Gemeinschaft könne mit einem übernational erhobenen und ausgegebenen Haushaltsvolumen in der Größenordnung des Landes Nordrhein-Westfalen oder der Hälfte des belgischen Staatshaushaltes außerhalb des Landwirtschaftsbereiches zwar bisher nur finanzielle Anstoßfunktionen ausüben. Andererseits seien diese Mittel der Gemeinschaft aber doch von einer so weit spürbaren Höhe, daß das finanzielle Engagement der Gemeinschaft in ihren verschiedenen Tätigkeitsbereichen jeweils eine europäische Dimension eröffne, die den Bürgern und ihren Unternehmen die Gemeinschaft als konkrete Realität nahebringe. 144 Dazu Oppermann, Europarecht, Rdnr. 754, 762-766. Deutschland ist innerhalb der Gemeinschaft gegenwärtig der stärkste Nettozahler. Dies wird zu Recht vielfach kritisiert, da die Wiedervereinigung, die Integration erheblich finanzschwächerer neuer Bundesländer und die damit verbundene Kostenlast und Kapazitätssenkung auf europäischem Parkett bisher nicht die gebotene Berücksichtigung gefunden haben. Die Unterstützung, die die neuen Bundesländer aus europäischen Kassen erhalten, vermögen dieses Defizit keineswegs auszugleichen. Eine Neuregelung dieses innergemeinschaftlichen Finanztransfers erscheint aber nicht zuletzt auch im Hinblick auf die bevorstehenden Unionsbeitritte relativ
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sind mit einem bundesstaatlichen Länderfinanzausgleich, wie er Bestandteil auch der Bundesrepublik ist, nicht gleichzusetzen, weisen jedoch vorsichtig in dieselbe Richtung. Sie zeigen einen Zusammenhalt und einen Grad an gegenseitiger Solidarität zwischen den Gliedern der Union auf, der einem bloß völkerrechtlichen Band nicht mehr entspricht '45 • d) RechtsetzungsgewaIt und Gemeinschaftsrechtsordnung
Eine weitere Eigenart der Union, die diese von rein völkerrechtlichen Verbindungen qualitativ unterscheidet, ist die Fähigkeit der Gemeinschaftsorgane zu einer eigenständigen Rechtsetzung, deren Produkte Vorrang vor den Rechtsordnungen ihrer Mitglieder genießen. Liegt das primäre Gemeinschaftsrecht auch weiterhin in der Hand der Mitgliedstaaten, so schafft dieses doch Grundlagen und nicht zuletzt institutionelle Voraussetzungen einer europäischen Rechtsetzungsgewalt, welche die Staatenverbindung gegenüber ihren Gliedern in einer Weise verse\bständigt, die die Konturen reiner Zwischenstaatlichkeit weit hinter sich läßt. Die Gemeinschaft besitzt in ihrem pnmaren Gemeinschaftsrecht eine materielle Verfassung I46, die entsprechend den innerstaatlichen Verfassungen ihrer Mitglieder Vorrang gegenüber dem sekundären Gemeinschaftsrecht genießt '47 - wie immer man auch die strittige Abgrenzung zwischen formellem und materiellem Verfassungsrecht ziehen mag, über deren Kriterien sich die Staatsrechts lehre seit dem Methodenstreit der Zwanziger Jahre auseinandersetzt. Der Begriff der Verfassung ist - jedenfalls im Bezug auf supranationaanner mittel- und osteuropäischer Reformstaaten erforderlich, die keine Nettozahler, sondern potentielle Leistungsnehmer sind und mit den traditionellen Nettoempfängern um den Anteil an den verschiedenen Fonds der Gemeinschaft konkurrieren werden. 14; Oppermann, Europarecht, Rdnr. 771 legt mit Recht dar, daß sich in der gemeinschaftlichen Finanzpolitik wie in der nationalen Politik die Interessengegensätze zwischen den Mitgliedstaaten besonders deutlich zeigen, zugleich aber auf diesem Sektor zahlreiche Entscheidungen mit gemeinschaftsweiten Kompromissen getroffen wurden, die nur vor dem Hintergrund eines Verständnisses der EG erklärbar sind, das deutliche Anklänge an eine Art vorbundesstaatlicher europäischer Solidarität enthält. Im Hinblick auf die deutsche föderale Erfahrung seit dem 19. Jahrhundert. in der es vom Zollverein 1834 bis zur Erzbergersehen Finanzrefonn 1920 bald eines Jahrhunderts bedurfte. um die Schaffung der Reichsfinanzverfassung abzuschließen, bewertet er die bisherige gemeinschaftliche Finanzordnung als einen ,.Aquis communitaire", der ausbaufähig sei. 146 So auch BVerfGE 22, 293, 296 f.; EuGH, Rs. 6/64, Sig. 1964, 1251. 1269; Rs. 14/ 68, Sig. 1969, I. 14; Rs. 11 /70, Sig. 1970, 1125, 1135; Rs. 293/83, Sig. 1986, 1357, 1365; Gutachten 1/91 zum Übereinkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 14.12.1991, Sig. 6084, Rdnr. 21; Badura, FS Lerche, S. 381; Iglesias, EuGRZ 1996, 128 f., 131; Schuppert, StwStp. 1994,37; Blanke, DÖV 1993,413; Everling, FS Mosler, S. 180 f.; ders., DVBI. 1993, 941; Oppermann, Zur Eigenart der Europäischen Union, S.94 f. Dies wird auch in der Bestimmung des Art. E EUV deutlich. 147
Oppermann, Europarecht, Rdnr. 395.
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le Organisationen - nach richtiger Ansicht nicht an eine Staatlichkeit gebunden '4x . Die Staatengemeinschaft verfügt in ihren genannten Urkunden nicht nur über Elemente einer formellen Verfassung, sondern zeichnet sich auch durch materielle Kriterien des modemen Verfassungs staates wie Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, Föderalismus und Sozialstaatlichkeit und Ansätze einer eigenen Verfassungsgerichtsbarkeit aus; ihre Organe unterliegen zahlreichen Bindungen zugunsten der Nationalstaaten 149. Die Gründungsverträge besitzen insofern eine Doppelnatur, als sie nicht allein völkerrechtliche Verträge zur Bildung einer europäischen Föderation sind, sondern zugleich deren Verfassung darstellen ISO. Daran wird deutlich, daß das europäische Föderalsystem seine föderative Basis eben gerade in vertraglichen Grundlagen findet '51 ; anders als die föderativen Strukturen seiner wenigen bundesstaatlichen Glieder ruht es nicht auf der Entscheidung einer verfassunggebenden Gewalt eines europäischen Staatsvolkes. Gegenüber der klassischen nationalstaatlichen weist die europäische Verfassung eine weitere Besonderheit auf, die sie zu einem Verfassungstyp eigener Art werden läßt. Sie erfährt eine starke Prägung durch den beweglichen und offenen Charakter der Union, die auf Entwicklung und Wandel angelegt ist. Diese besondere Dynamik unterscheidet sie grundlegend von der klassischen nationalstaatlichen Verfassung, die die Elemente von Stabilität und Dynamik, Rigidität und Flexibilität in ein ausgewogenes Verhältnis bringt'52. Auch wenn sich in den Gründungs- und Änderungsverträgen der Gemeinschaft eine Verfassungsurkunde erblicken läßt, handelt es sich doch nicht um eine vollständige formelle Verfassung. Das primäre Gemeinschaftsrecht umfaßt neben den drei Gründungsverträgen das Fusionsabkorrunen, die Einheitliche Europäische Akte, den Maastrichter Vertrag, die Beitrittsabkommen mit neuen Mitgliedstaaten, aber auch ungeschriebenes primäres Gemeinschaftsrecht - Gemeinschaftsgewohnheitsrecht und allgemeine Rechtsgrundsätze, die 14X Ebenso Hili; VVDStRL 53 (1994), 20; Commichall, Nationales Verfassungsrecht und europäische Gemeinschaftsverfassung, S. 116 f. Dagegen erklärt hensee, HStR I, § 13 Rdnr. I den Staat ausnahmslos zum Gegenstand und zur Voraussetzung der Verfassung, die im Staat Geltung und Wirklichkeit erreiche. Vorsichtig Häherle, EuGRZ 1992, 431, wonach der Staats bezug des Verfassungsbegriffs zwar anzweifelbar ist und die Floskel von der "Verfassung der Völkergemeinschaft" schon Eingang in den allgemeinen Sprachgebrauch gefunden hat; die deutsche Staatsrechtslehre habe aber bis heute Schwierigkeiten mit dieser Frage, zumal sie teilweise ihrerseits den Staat der Verfassung vorordne. 14"
Vgl. auch BadlIra, FS Lerche, S. 381; A. Weher, JZ 1993,326.
Ebenso Oppermann, Europarecht, Rdnr. 525; Doehring, ZRP 1993, 99; A. Weher, JZ 1993, 326; vgl. schon Badura, VVDStRL 23 (1966), 48, 55: Kaiser, VVDStRL 23 (1966), 19; H.P Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 194. Weitere Literatumachweise bei Blal/ke. DÖV 1993,413 Fn. 17. 1,0
1'1
Dies betont auch Iglesias, EuGRZ 1996, 129. Vgl. dazu des weiteren die Einleitung.
Blanke, DÖV 1993,414; Schuppert, StwStp. 1994, 37 f.: Sleinhelger. VVDStRL 50 (1991), 19. 1;2
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wie Grund- und Menschenrechte den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind - und wird durch eine umfangreiche EuGH-Rechtsprechung sowie durch Rats-, Parlaments- und Kommissionsbeschlüsse konkretisiert bzw. ergänzt I5'. Aufgrund dieser vielen unterschiedlichen Rechtsquellen fehlt der europäischen Verfassung eine allgemein verständliche Form. Auch der Maastrichter Vertrag mit seinen Zusatzprotokollen und -abkommen, der lediglich den bisherigen Normierungen zur Seite getreten ist und diese teilweise modifiziert, bringt keine größere Transparenz. Schafft er auch in der Sache Raum für mehr Bürgemähe, so verstärkt er dennoch den Zustand der Unsicherheit weiter l54 . Die Europaskepsis vieler Bürger, die sich dieser nur schwer zugänglichen Verfassung gegenüber ausgeliefert und ohnmächtig fühlen, wurde dadurch noch erheblich verstärkt; die Volksentscheide, die in einigen Mitgliedstaaten aus Anlaß des Unionsvertrages durchgeführt wurden, zeichnen hiervon ein deutliches Bild. Immer häufiger wird der Ruf nach dem Erlaß einer Europäischen Verfassung erhoben, die so kurz und verständlich wie möglich sein solll55. Ob eine solche Verfassung, in der die Integration 153 Vgl. Bleckmann, NVwZ 1993, 825-828; Oppermann, Europarecht, Rdnr. 396, 400; Eise1stein, ZRP 1991, 18; L. Müller, WM 1993, 1221 f.; Iglesias, EuGRZ 1996, 128 f.
15" Vgl. Hilf; VVDStRL 53 (1994), 19 f.; Häberle, EuGRZ 1992, 434; L. Müller, WM 1993, 1221; Oppermann, Zur Eigenart der Europäischen Union, S. 88; Oppermann / Classen, NJW 1993, 111; Grass, FAZ vom 25.7.1992; Nass, FAZ vom 2.12.1992. Rupp, ZRP 1993, 211 spricht auch von inhaltlicher Systemlosigkeit, begrifflicher Unschärfe und einer politisch bedingten Flucht in Generalklauseln und vage Zielvorstellungen, die es fast unmöglich machten, den rechtlichen Sinn und Inhalt der einzelnen Vertragsbestimmungen präzise zu erfassen, den Kontext herzustellen und eine einigermaßen tragfähige Interpretation zu versuchen. Ähnlich Rupp, NJW 1993, 39: Nichts wäre undemokratischer und schädlicher, als wenn den europäischen Völkern ein Verfassungstext übergestülpt würde, den sie nicht verstehen und mit dem sie aufgrund ihrer politischen, geschichtlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Tradition sich auch nicht identifizieren können. Historische Erfahrungen lehrten, daß ein Gemeinwesen, das von den Beteiligten nicht bejaht und mitgetragen werde, oft den Nährboden für nationalistische Ausbrüche bilde. Oppermann, Zur Eigenart der Europäischen Union, S. 89 gibt ferner zu bedenken, daß eine komplizierte Rechtslage den Integrationsfortschritt hemmt und sich mit dem Gespenst des europäischen Superstaates trefflich Geschäfte machen lassen, was politischen Stimmen wie Z.B. Brunner und Schön huber gelegen komme. 1;; So z.B. Hilf: VVDStRL 53 (1994), 19 f.; Rojahn, in: von Münch/Kunig, Art. 23 Rdnr. 25; Kohl (vgl. FAZ vom 18.2.(993); Kinkel (wonach laut FAZ vom 19.3.1993 eines Tages in einer Europäischen Verfassung verbrieft werden muß, daß es um Einheit in der Vielfalt geht, um europäische Gemeinsamkeit unter Achtung der nationalen Identität); die SPD (damit Europa demokratischer werde, vgl. FAZ vom 2.11.(993); Schachtschneider (der laut FAZ vom 2.7.1993 im Maastricht-Prozeß eine neue, vom Volk zu bestätigende Verfassung forderte, um ggf. Zuständigkeiten auf europäische Institutionen zu übertragen); Sprecher der Christlichen Demokraten, der Liberalen und der Grünen (vgl. FAZ vom 11.6.1992); Abgeordnete des Europäischen Parlaments, besonders aus der Fraktion der EVP (vgl. FAZ vom 18.2.1993). Gegründet wurde sogar eine "European Constitutional Group", dic einen eigenen. wenngleich nicht überzeugenden Verfassungsentwurf in FAZ vom 28.8.1993 vorstellt. Im Europäischen Parlament haben bereits Beratungen über einen konkreten Verfassungsentwurf stattgefunden, der allerdings mit Vorbehalten aufgenommen
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wiederum eine weitere Stufe erreicht hätte, in der Europäischen Union tatsächlich durchgesetzt werden könnte, erscheint jedoch schon allein aufgrund der britischen Skepsis sehr zweifelhaft I5 ". Verbunden mit dem Primärrecht der Europäischen Gemeinschaft, begründet das von ihren Organen auf dessen Grundlage geschaffene Sekundärrecht eine eigenständige Gemeinschaftsrechtsordnung l57 zwischen nationalem Recht und Völkerrecht l5H , die sie vom Bild eines bloß völkerrechtlichen Zusammenschlusses abhebt. Ungeachtet ihrer Anwendung durch nationale Organe läßt diese sich nicht dem nationalen Recht zuordnen; denn sie wurde nicht von innerstaatlichen Organen erlassen und kann auch nicht im Wege eines nationalen Gesetzgebungsverfahrens aufgehoben oder abgeändert werden I5'!. Auch dem Völkerrecht gehört sie nicht an l60 • Sie geht auf eine originäre und einheitliche, auf Dauer eingeräumte und nicht nur übertragene Gemeinschaftsgewalt zurück l61 • Da die Union eine bloße Rechtsgemeinschaft ohne nennenswerte Zwangsmittel darstellt, ist sie zur Verwirklichung ihrer Ziele in besonderem Maße darauf angewiesen, daß ihre Rechtsordnung Effektivität entfaltet und von Mitgliedstaaten und Bürgern anerkannt wird. Wie jede föderale Gemeinschaft wurde (vgl. FAZ vom 10.2.1994). Dagegen hält Nass, FAZ vom 27.7.1994 eine neue Verfassung fur entbehrlich. Zur Frage, ob Europa eine neue Verfassung braucht, grundlegend Grimm, JZ 1995,581-591. I;" Die CDU venneidet besonders im Blick auf Londoner Widerstände die Bezeichnung Verfassung, um den Streit über die Begriffe Bundesstaat oder Staatenbund nicht wiederaufleben zu lassen; vgl. FAZ vom 2.9.1994. 1;7 Parallelen zur deutschen Verfassungsgeschichte sind nur mit Vorbehalten zu ziehen. Die Unterschiede zwischen der derzeit stattfindenden europäischen Rechtsvereinheitlichung und der Rechtsvereinheitlichung, die sich in Deutschland im Zusammenhang mit der Reichsgründung von 1867 -1871 vollzogen hat, drängen sich auf: Die Herstellung einer Rechtseinheit im Wege der Gesetzgebung war in Deutschland - das später als mancher Nachbar zur nationalen Einheit fand - von starker emotionaler Bedeutung. Der Erlaß bestimmter Gesetze war ein maßgebliches Mittel zur Integration des Reiches. Die innere Reichsgründung hatte die äußere zur Voraussetzung. Während die Einheit des Rechts der Herstellung staatlicher Einheit im wesentlichen nachfolgte, ist heute die allmähliche Vereinheitlichung oder auch nur Angleichung des Rechts eine Voraussetzung für Existenz und Geltung der Europäischen Union. 15K EuGHE 1964, 1251, 1269 - Rs. 6/64 - Costa/ENEL, st. Rspr.; ähnlich BVerfGE 22,293 ff., st. Rspr.; Badura, VVDStRL 23 (1966), 59; ders., ZSR 1990, 115; El'erling, FS Mosler, S. 176, 180- 182, 190 f.; Oppermann, Europarecht, Rdnr. 389, 778; Bleckmann, DVBI. 1992, 335; Lenz, ZRP 1988,452; Blanke, DÖV 1993,413; von Bogdondy, EA 1993,51; Sieden top!: DÖV 1988,983. 1;9 Badura, VVDStRL 23 (1966), 59 f. IM) Zum Verhältnis des europäischen Gemeinschaftsrechts zum Völkerrecht ausführlich Everling, FS Mosler S.174-176, 179-181, 186-188; Bleckmann, NVwZ 1993,825828; Oppermann, Europarecht, Rdnr. 502-522. 1"1 Badura, VVDStRL 23 (1966),59; Oppermann, Europarecht, Rdnr. 391.
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basiert sie auf der Akzeptanz und Befolgung ihrer Rechtsakte durch ihre Glieder, auf deren Kooperationsbereitschaft und praktizierter Gemeinschaftstreue. Diese Akzeptanz beruht in erheblichem Maße auf Freiwilligkeit und Freiheit '62 , mit denen sich die überstaatliche Verbindung allerdings nicht begnügen kann. Um ihre Funktionsfähigkeit und die erforderliche Einheitlichkeit zu gewährleisten, bedarf es darüber hinaus gewisser institutioneller Sicherungen. Der EuGH hat daher dem gesamten Gemeinschaftsrecht einen generellen Vorrang vor den früheren wie späteren innerstaatlichen Normen eingeräumt und diesen fortwährend bestätigt und verstärkt '61 • Primärrecht und Sekundärrecht gelten nach diesem mittlerweile weithin anerkannten Prinzip in den Mitgliedstaaten einheitlich '64 , unmittelbar und vorrangig '65 gegenüber dem nationalen Recht jeglichen Ranges, also auch gegenüber den Verfassungen und Grundrechten der Mitgliedstaaten ' !>6. Aufgrund der unmittelbaren 16,
Vgl. dazu auch die Einleitung.
Ih3
Oppermann, Europarecht, Rdnr. 342, 528.
Ih4 Die einheitliche Geltung ist für die nationalen Föderalstrukturen innerhalb der Europäischen Union von besonderer Relevanz. Einheitliche Geltung bedeutet eine gemeinschaftsweit unifonne Geltung, so daß das Gemeinschaftsrecht sich in Bundesstaaten wie Deutschland in derselben Unmittelbarkeit gegenüber Bundesrecht und Länderrecht durchsetzt; vgl. Oppermal1n, Europarecht, Rdnr. 534 f. Ih, Die Vorrangigkeit des Gemeinschaftsrechts hat nicht wie bei Art. 31 GG die Nichtigkeit des nachrangigen Rechts zur Folge. Es hat sich vielmehr die Lehre vom Anwendungsvorrang durchgesetzt; vgl. EuGH, Sig. 1978, 629 ff.; H.p. lpsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 287 ff.; Badura, VVDStRL 23 (\ 966), 62 - 64; Oppermann, Europarecht, Rdnr. 540; Everling, DVBI. 1993, 941. Die These von Schachtschneider / Emmerich-Fritsche / Beyer, JZ 1993, 757, der Unionsvertrag verdränge die Vorschriften des GG nunmehr mit der Folge der Nichtigkeit, soweit diese dem Vertrag widerspreche, vennag demgegenüber nicht zu überzeugen. Nach der These vom Anwendungsvorrang bleibt das nationale Recht während der Geltungsdauer des entsprechenden Gemeinschaftsrechtes außer Anwendung; es kann aber bei dessen Außerkrafttreten wieder aufleben. Diese Auffassung führt zwar in der Praxis regelmäßig zu keinem anderen Ergebnis als die These vom absoluten Vorrang; aus psychologischen Gründen verdient sie aber den Vorzug. Denn sie stellt einen schonenderen Eingriff in die nationale Rechtsetzungshoheit dar; dies um so mehr, als nach der Lehre vom Vorrang jede beliebige europäische Vorschrift die nationalen Verfassungssätze und insbesondere Grundrechte verdrängt. Die Gemeinschaft beweist damit ihr Bestreben, die Integration auf den erforderlichen Umfang zu beschränken. lOh Vgl. Badura, VVDStRL 23 (1966), 61; C/assen, ZRP 1993,59; ders .. AöR 119 (1994), 240; Möschel, JZ 1992, 877; Oppermann, Europarecht, Rdnr. 528 - 532; Everling, FS Mosler, S. 177; von Bogdandy, EA 1993, SI; Lenz, ZRP 1988, 452; L. Müller, WM 1993, 1222; Schweitzer, VVDStRL 53 (1994), 56; Zuleeg, JZ 1994, 2; Hirsch, NJW 1996, 2458. Anders Doehring, ZRP 1993, 99, 102. Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts gilt freilich insofern nur nach Maßgabe der Verfassungsordnungen, als die Geltung dieses Rechts von einer grundlegenden innerstaatlichen Transfonnation abhängt. Dies ist für das primäre und das auf seiner Grundlage geschaffene sekundäre Gemeinschaftsrecht durch die jeweiligen Zustimmungsgesetze zu den Verträgen gemäß Art. 24 Abs. I, 59 Abs. 2 GG und nunmehr auch Art. 23 Abs. I Satz 2 GG geschehen. - Durch die Akzeptanz der europäischen Rechtsakte und der Lehre vom Anwendungsvorrang haben die Mitgliedstaaten ihre Unterordnung unter das föderale System der Staatenverbindung und deren Nonnen-
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A. Der Föderalismus zwischen EU und Mitgliedstaaten
Wirkung des Gemeinschaftsrechts werden für den Einzelnen unmittelbare subjektiv-öffentliche Rechte und Pflichten gegenüber der Union begründet, die ihn direkt in die Gemeinschaftsrechtsordnung einbeziehen und zugleich eine Annäherung an innerstaatliche Verhältnisse bedeuten; ist eine Norm des Gemeinschaftsrechts der Sache nach abschließend, vollständig und rechtlich perfekt, so kann er sich gegenüber innerstaatlichen und europäischen Behörden und Gerichten auf sie berufen und muß sie sich als Pflicht entgegenhalten lassen '67 • Anders als reine Völkerrechtsnormen bedürfen daher die Verordnungen der Gemeinschaft (Art. 189 Abs. 2 EGV), aber auch eine Vielzahl primärrechtlicher Normen keiner gesonderten Transformation in innerstaatliches Recht '68 . Sogar den Richtlinien gesteht der EuGH eine unmittelbare Wirkung zu, wenn sie von den Mitgliedstaaten nicht rechtzeitig umgesetzt werden, inhaltlich hinreichend bestimmt sind und allein dem Bürger Rechte einräumen I 69. Das Gemeinschaftsrecht nähert sich auch insofern dem rechtlichen System des modemen Verfassungsstaates an, als es mittlerweile auf Gemeinschaftsebene ebenfalls materielle Grundrechte verbürgt. Die Grundrechtspositionen sind vereinzelt bereits explizit in den Verträgen niedergelegt I 70. Im übrigen wurden sie vom EuGH nicht aus den speziellen Marktfreiheiten, sondern als allgemeine Rechtsgrundsätze entwickelt. Der Gerichtshof bemüht sich insoweit, einen Grundrechtsstandard einzuführen, der der Struktur und den Zielen der Gemeinschaft angemessen ist. Er orientiert sich dazu im Wege einer wertenden Rechtsvergleichung an den mitgliedstaatlichen Verfassungen und bezieht auch andere internationale bzw. europäische Abkommen über Menschenrechte, an denen die Mitgliedstaaten beteiligt sind (insbesondere EMRK, Europäische Sozia1charta, aber auch UN-Pakte und Allgemeine Erklärung), in seine Betrachtung ein '71 . hierarchie erneut unter Beweis gestellt. - Der Vorranganspruch des Gemeinschaftsrechts wird darüber hinaus vielfach mit der Begründung eingeschränkt, er finde seine Grenze in den wesentlichen Strukturen des Grundgesetzes. Zu diesen Fragen BVerfGE 89, 155, 190; Badura, ZSR 1990, 115 f.; Herdegen, EuGRZ 1992,591; Schob, NJW 1990,943; Tomuschal, VVDStRL 36 (1978), 50; JaI'ass, in: Jarass / Pieroth, Art. 23 Rdnr. 18. Im Wege der Verfassungsänderung wurde in der Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG ein Homogenitätsgebot niedergelegt; dazu B.IV.1 und Schachtschneider/ Emmerich-Fritsche / Beyer, JZ 1993, 757. 107 St. Rspr. des EuGH seit EuGHE 1963, 1 ff. - Rs. 26/62; Badura, VVDStRL 23 (1966), 54; Ever/ing, FS Mosler, S. 178; Oppermann, Europarecht, Rdnr. 536; Hirsch, NJW 1996, 2458. 16" Landtagskommissionsbericht, Teil I, S. 98 f.; dazu auch Oppermann, Europarecht, Rdnr.537. 1109 SI. Rspr. des EuGH seit EuGH, Slg. 1970, 1213; vgl. K/oepjer, S.13-15; B/eckmann, NVwZ 1993, 825; Badura, ZSR 1990, 116 f.; Landtagskommissionsbericht, Teil I, S. 100 f. Kritisch Rupp, ZRP 1990, 2 f.
170
Beispiele bei Oppermann, Europarecht, Rdnr. 412.
IV. Die Verfassungsstruktur Europas seit Gründung der EU
61
Die Verbürgung dieser europäischen Grundrechte, die entsprechend der vorerst primär wirtschaftlichen Ausrichtung der Gemeinschaft zunächst allein wirtschaftliche Inhalte hatten 172, gewinnt im selben Maße Bedeutung, in dem Funktion und Kompetenzen der Gemeinschaft wachsen. Erhält die Union infolge der im Grundgesetz zugelassenen fortschreitenden europäischen Integration immer stärkere staatsähnliche Züge, so kann die Gemeinschaftsgewalt anstelle des Mitgliedstaates auch immer mehr grundrechtsrelevante Eingriffe gegenüber dem Bürger vornehmen. Da die nationale Rechtsordnung immer stärker von sekundärem Gemeinschaftsrecht mit grundrechtlicher Relevanz durchdrungen wird, ist auch die Frage nach Geltung, Reichweite und Inhalt europäischer Grundrechte bis heute von großer BedeutungJ7\. Die partielle Verlagerung der Hoheitsgewalt unter Rechtsstaatsaspekten darf nicht zu einer Verkürzung der Rechtsposition des Einzelnen führen . Den Bürgern müssen deshalb entsprechende unmittelbare Grundrechtspositionen auch gegenüber der europäischen Hoheitsgewalt eingeräumt werden, der stärkere rechtsstaatliche Bindungen aufzuerlegen sind '74 . Dies ist durch die mittlerweile weitgehend anerkannte umfangreiche Rechtsprechung des Gerichtshofes angeregt und vorangetrieben worden. Das Gemeinschaftsrecht selbst hat über die grundrechtsgleichen Grundfreiheiten des Gemeinsamen Marktes auch die Grundrechtspositionen des Bürgers erweitert und damit die Freiheit des Einzelnen wiederum verstärkt 175. Erhebliche Probleme bereitet bei diesen Fragen gleichwohl nach wie vor die Überlagerung verschiedener Verständnisse von Grundrechten und sonstigen Verfassungsprinzipien. Diese erklärt sich nicht zuletzt daraus, daß in überstaatlichen und staatlichen, aber auch zwischen einzelnen staatlichen Systemen die Vorstellungen, die Ausgangsbedingungen und Anforderungen an bestimmte Prinzipien variieren und daß die Verschmelzung mit unterschiedlichen föderalistischen Elementen auf supranationaler und - soweit vorhanden - auf nationaler Ebene diesen Verfassungsentscheidungen notwendigerweise eine jeweils andere Gestalt verleiht. Das Bundesverfassungsgericht hielt zunächst den Grundrechtsschutz, den die Gemeinschaft einräumte, für unzureichend. In seinem "Solange-Be171 Oppermann, Europarecht, Rdnr. 413; Sleinherger, VVDStRL 50 (1991),25 f.; Bleckmann, NVwZ 1993,825. 172 Vgl. Badura, VVDStRL 23 (1966), 84.
In V gl. auch H.P lpsen, FS Börner, S. 168, der etwa an den Streit um die Rundfunkrichtlinie erinnert.
m Ähnlich BVerfGE 89, 155, 174; Oppermann, Europarecht, Rdnr. 411. Nach Oppermann erweist sich die Gemeinschaft gerade durch solche europäischen Grund- und Menschenrechte als eine ihren Mitgliedern strukturell verwandte Gemeinschaft parlamentarischrechtsstaatlicher Demokratien in Anlehnung an die große westeuropäisch-amerikanische Tradition. 17' Schwarze, JZ 1993, 588; von Bogdandv, EA 1993, 57; H.P lpsen, FS Börner, S. 169.
62
A. Der Föderalismus zwischen EU und Mitgliedstaaten
schluß"'76 tat es darum seinen Willen kund, das sekundäre Gemeinschaftsrecht weiterhin einer Kontrolle durch die nationalen Grundrechte zu unterziehen, solange die Gemeinschaft keinen ausformulierten Grundrechtskatalog vorweisen könne. Von dieser Auffassung nahm es jedoch später zu Recht Abstand. In der "Solange II"-Entscheidung erklärte es den Verzicht auf eine Überprüfung des Gemeinschaftsrechts am Maßstab des nationalen Verfassungsrechts, solange der nun als hinreichend anzuerkennende Grundrechtsschutz weiterhin durch den EuGH wirksam gewährleistet sei J77 • Das Postulat eines dem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutzes wurde mit der Einführung des Art. 23 GG auch in dessen Struktursicherungsklausel verfassungsrechtlich verankertm, die inhaltlich an letztgenannten Beschluß anknüpft I 79. Der Unionsvertrag selbst bestätigt diese Entwicklung allgemeiner europäischer Grundrechte als Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung ausdrücklich in seiner Präambel und Art. F Abs. 2 EUV und erkennt damit die EuGH-Rechtsprechung an, die schon 1977 von Europäischem Parlament, Rat und Kommission durch eine Gemeinsame Erklärung gebilligt worden war '80 • Ein Grundrechtskatalog auf Unionsebene erscheint deshalb zur Gewährleistung hinreichenden Grundrechtsschutzes der Bürger nicht erforderlich '81 . Der Grundrechtsschutz in der Europäischen Union erfahrt durch Art. F Abs. 2 EUV sogar eine nicht unwesentliche Aufwertung; die Zweifel, die das Bundesverfassungsgericht noch in seiner Solange lI-Entscheidung angesichts der bloß richterrechtlichen Verankerung des Grundrechtsschutzes 17" BVerfGE 37, 271 ff. Zur Rspr. des BVerfG hinsichtlich des Verhältnisses von Europa- und Verfassungsrecht und europäischem und nationalem Rechtsschutz einschließlich der Solange-Entscheidungen. statt vieler Kloepfer, EG-Recht und Verfassungsrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, S. II - 30; Schoh, NJW 1990, 941-946; SO'einz, DVBI. 1990, 957. 177 BVerfGE 73, 339 ff.; vgl. dazu auch Kloepfer, EG-Recht und Verfassungsrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, S. II - 30; E. Klein, VVDStRL 50 (1991), 80-83; Schwarze, JZ 1993, 588. Zu den vom BVerfG in der Solange-Rspr. aufgestellten Grenzen der Integrationsgewalt A.VI.3.a). 17' Dazu Rojahn, in: von Münch I Kunig, Art. 23 Rdnr. 34 - 40. Beachtung verdient, daß auch dieser Verfassungsauftrag sich nicht an den EuGH oder das BVerfG, sondern an die Organe der Integrationsgewalt, insb. Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat richtet. 179 Dazu Rojahn, in: von MünchlKunig, Art. 23 Rdnr. 36; Randelzho(er, in: Maunz I Dürig, Art. 24 Abs. I Rdnr. 202. 1 Schwarze, NJ 1994, 3; Schupperl, StwStp. 1994, 55 f. m Ähnlich Peter M. Huher, FS earl Heymanns Verlag, S. 359. Den Begriff des Staatenverbundes befürwortet im Ergebnis auch Scholz, in: Maunz I Dürig, Art. 23 Rdnr. 32 f. 3"
Dies betont auch Oppermann in einem Leserbrief in der FAZ vom 20.10.1993, der
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A. Der Föderalismus zwischen EU und Mitgliedstaaten
daß es eine Angleichung an diesen gesucht habe, kann hingegen zumindest dem BVerfG in der Gesamtheit seines erkennenden Spruchkörpers nicht unterstellt werden.
V. Die Kritik an Umfang und Geschwindigkeit dieser Vergemeinschaftung Der Vertrag von Maastricht ist nur mit erheblichen Schwierigkeiten ratifiziert worden. In Dänemark mußten zwei Referenden abgehalten werden, um ein positives Ergebnis zu erzielen. In Großbritannien fand ein Hürdenlauf durch das britische Unterhaus statt; das französische Referendum erbrachte bloß eine knappe Mehrheit für den Unionsvertrag. Selbst in der grundsätzlich besonders integrationsfreundlichen Bundesrepublik ging im Laufe der Verhandlungen um Maastricht die Unterstützung der europäischen Einigung im allgemeinen Bewußtsein nach demoskopischen Stimmungstests erheblich zurück; das zur Entscheidung angerufene Bundesverfassungsgericht erklärte den Vertrag für verfassungsgemäß, zeigte jedoch zugleich Grenzen und Voraussetzungen einer künftigen Entwicklung auf. Der Vertrag konnte schließlich nur dadurch zur Wirksamkeit gelangen, daß einzelnen Mitgliedstaaten eine Reihe von Sonderregeln eingeräumt wurden. Die Briten erstritten sich Freistellungsklauseln (opt-out-clauses) in der Währungsunion und der Sozialpolitik 329 • Auch den vier dänischen Sonderwünschen hinsichtlich gemeinsamer Währung, Unionsbürgerschaft, Innen- und Justizpolitik und der geplanten gemeinsamen Verteidigungspolitik wurde stattgegeben·no . Daß der Unionsvertrag nur von knappen Mehrheiten getragen wird, wirft ein Licht auf den Meinungsumschwung, der sich in den letzten Jahren innerhalb der Mitgliedstaaten vollzogen hae 31 • Obwohl das Konzept der Integration zum Überlebensrezept der Nationalstaaten geworden ist, steht die Europapolitik heute vor einem für sie neuen Legitimations- und Rechtfertigungsdruck. Der Föderalismus als Prinzip überstaatlicher Gemeinschaftsbildung, seine Vorzüge und Nachteile nehmen in dieser Diskussion in Europa eine zentrale Rolle ein. Die ursprünglichen Ziele der Europäischen Gemeinschafdeshalb für eine Weiterverwendung des Begriffs der Gemeinschaft plädiert, der sich in al1e EG-Sprachen übersetzen lasse und das Neuartige des europäischen Einigungsprozesses, nämlich seine Tiefe und Dauerhaftigkeit ebenso wie die Wahrung der alten geschichtlichen Strukturen unseres Kontinents, auf den Punkt bringe. Der Begriff des Staatenverbundes hat aus sprachlichen und inhaltlichen Gründen Zustimmung und Ablehnung erfahren; dazu Rojahn, in: von Münch / Kunig, Art. 23 Rdnr. 8 m.w.N. Kritisch gegenüber der begrifflichen Neuschöpfung Hilf; VVDStRL 53 (1994), 8. 329
Vgl. Nonnenmacher, FAZ vom 8.10.1992; FAZ vom 5.12.1992 und 13.10.1993.
330
Vgl. dazu etwa FAZ vom 14.12.1992 und vom 18.5.1993.
331
Vgl. z.B. Graf Kielmansegg, FAZ vom 17.2.1995; Barbier, FAZ vom 30.11.1992.
V. Die Kritik an Umfang und Geschwindigkeit dieser Vergemeinschaftung
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ten sind mittlerweile zu weiten Teilen erreicht; Frieden, politische und wirtschaftliche Freiheit und Wohlstand haben in Westeuropa besonders nach dem Ende des Kalten Krieges eine Basis erreicht, die Europa zu einer Selbstverständlichkeit macht, welche den Reiz des Neuen entbehrt und die Aufbruchsstimmung der Anfange erlahmen ließ m . Eine erneute Vertiefung gilt nicht als unverzichtbar, sondern stößt zunächst auf Zurückhaltung und bedarf in der politischen Auseinandersetzung gewichtiger Argumente. Gerade im Vorfeld des Maastrichter Vertrags machte sich vielerorts eine erhebliche Europaskepsis breit. Nachdem die Debatte um den Vertrag und die künftige Gestalt und Zielsetzung des europäischen Zusammenschlusses in Deutschland erst relativ spät aufgekommen war, wurde sie hier mit erheblicher Schärfe und Intensität nachgeholt und setzte sich auch im Zusammenhang mit der für 1996 vorgesehenen, gleichwohl erst im Juni 1997 realisierten Reformkonferenz fort. Die negative Haltung gegenüber den integrationsfördernden Vereinbarungen stützt sich auf mehrere Gründe; sie sind auch durch abmildernde Elemente wie die Ausweitung des Subsidiaritätsprinzips und die Stärkung des Europäischen Parlaments nicht voll widerlegt. Sorgen bereitet eine umfassende Zentralisierung des föderativen europäischen Gebildes, die einen grundlegenden Wandel des Föderalismus als eines allgemeinen Prinzips überstaatlicher Gemeinschaftsbildung nach sich ziehen kann. Anlaß zu derartigen Befürchtungen bieten gewisse Kompetenzverlagerungen auf die europäische Ebene und manche nationalen Souveränitätseinbußen, die den Eindruck eines irreversiblen qualitativen Sprungs hervorrufen mögen. Der Verlust der eigenen stabilen Währung begründet zugleich die Sorge um die allgemeine wirtschaftliche Stabilität. Auch der einheitliche Binnenmarkt hatte manche Erwartungen enttäuscht, da statt des versprochenen Wachstums eine Rezession aufkam und mehr Arbeitsplätze abgebaut als neu geschaffen wurden. Hinzu tritt ein Streit um Ziele und Geschwindigkeit der europäischen Einigung. Während der Unionsvertrag den einen somit zu weit geht, vermissen andere in ihm ein effektives Instrumentarium zur Lösung bisheriger Probleme. Angesichts des Balkankrieges wird so mit Recht gefragt, wie eine vom Einstimmigkeitsprinzip gezeichnete bloße Kooperation in der Außen- und Sicherheitspolitik den Nationalstaaten dazu verhelfen soll, mit einer Sprache zu sprechen. Da mit dem Wegfall der äußeren Bedrohung ein einigender Druck von außen entfallen ist, zerbröckelt auch der Konsens über die Notwendigkeit eines gemeinsamen Handeins; vereinzelt wird sogar angezweifelt, ob die bestehenden Gemeinsamkeiten ausreichen, um den Kontinent auch künftig zusammenzuhalten"".
'" Oppermonn, Europarecht, Rdnr. 44 . .;;, So Weiden/etd / Jonning, FAZ vom 28.10.1993. 7 Heckel
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A. Der Föderalismus zwischen EU und Mitgliedstaaten
1. Zentralismus, Bürgerferne und U nkontrollierbarkeit des EU-Machtapparates
Das weit verbreitete Mißtrauen gegen die europäische Integration beruht auch auf der Dichte der europäischen Hoheitsakte und der Undurchschaubarkeit, mit der diese zustandezukommen pflegen. Aufgrund ihrer Kompetenzfülle ist die Europäische Union heute zur Entfaltung einer breiten Hoheitsgewalt imstande, die in das gesamte politische, wirtschaftliche und soziale Leben der Bürger eingreift. Allein die Gesetzgebung innerhalb Europas entstammt zu einem beträchtlichen Anteil europäischen Quellen. Die zentralen europäischen Regelungen, die gleichermaßen für alle Bürger Portugals bis Finnlands, Irlands bis Italiens, Griechenlands und der Niederlande gelten, erlauben keine Beachtung nationaler und regionaler Unterschiede oder historischer Entwicklungen. Der Vorteil der Bürgernähe, der föderale Systeme im allgemeinen gerade auszeichnet, findet sich auf diesem Kontinent allenfalls in Ansätzen verwirklicht. Dieses Prinzip entfaltet der in der Europäischen Union verwirklichte Föderalismus auf supranationaler Ebene leider nur bruchstückhaft. Wie in anderen staatlichen und überstaatlichen Strukturen, denen der Föderalismus als Organisationsprinzip zugrundeliegt, ist zwar auch hier die Hoheitsgewalt zwischen unterschiedlichen Ebenen aufgeteilt. Den Bürgern begegnet sie nicht nur durch Behörden des gemeinsamen Ganzen, sondern auch seiner Glieder. In der Regel führt dies zu einer zusätzlichen Integration des Einzelnen, der zu der kleineren Einheit eher Zugang und Vertrauen findet. Er muß sich nicht mit der Rolle des bloßen Objektes eines Hoheitsapparates zufriedengeben, der alle Angelegenheiten von weit oben zentralistisch und einheitlich regelt, sondern kann sich an die ihm nähere kleinere staatliche Einheit wenden, die in stärkerem Maße auf einzelne regionale und sonstige Belange einzugehen vermag. Durch die Vervielfaltigung und Schichtengliederung der Hoheitsgewalt können seine Interessen auf einer weiteren Ebene berücksichtigt und somit effektiver in den Staatswillen einbezogen werden. Staat und Gemeinschaft kommen so den Bereichen, in denen sie ihre Aufgaben zu erfüllen haben, und den Menschen näher; umgekehrt steht auch der Einzelne der Hoheitsgewalt weniger fern. Erst eine solche Organisation ermöglicht es schließlich, daß bei der Entscheidungsfindung je nach der betroffenen Ebene und dem Gesamtzusammenhang einzelne Aspekte unterschiedliche Bedeutung und Gewichtung erlangen können. Diese Vorzüge des Föderalismus kommen aber nur zur Verwirklichung, wenn und soweit die untere Hoheitsebene selbständige Entscheidungen fallen kann. Je weiter der Umfang europäischer Hoheitsgewalt reicht, desto weniger Spielraum bleibt für eine Bürgernähe im beschriebenen Sinne. Auch das Wahlrecht zum Europäischen Parlament vermag insoweit keine Abhilfe zu
V. Die Kritik an Umfang und Geschwindigkeit dieser Vergemeinschaftung
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schaffen. Abgesehen davon, daß dieses selbst auch künftig nur begrenzte Einflußmöglichkeiten auf die Unionsentscheidungen hat, kann es angesichts der Zahl seiner Abgeordneten und des Umfangs der durch diese repräsentierten Bevölkerung in den verschiedensten Gebieten einzelnen regionalen Belangen kaum nennenswerte Beachtung schenken. Die Bürgernähe hat als Element des national und supranational verwirklichten Föderalismus in der allgemeinen politischen Diskussion erhebliche Bedeutung erlangt und dem Föderalismus selbst zu erneuter, verstärkter Legitimität verholfen. Das Streben nach Bürgernähe liegt dem Ruf nach der kleineren Einheit, nach Regionalisierung und Dezentralisierung zugrunde, der heute europaweit zu hören ist. Während lange Zeit Wiederaufbau und industrielle Weitläufigkeit, uneingeschränkte Mobilität und große Dimensionen im Vordergrund standen und das Kleine, Begrenzte, Regionale als altmodisch galt, hat sich das allgemeine Bewußtsein im Zuge der zunehmenden europäischen Integration stark gewandelt. Die Angst vor einer regelungswütigen Europäischen Union weckt nicht allein in Deutschland den Wunsch nach kleineren staatlichen Einheiten, auf deren Entscheidungen und personelle Zusammensetzung der Einzelne Einfluß nehmen, die er kontrollieren und durch Wahlen beeinflussen kann 334 • Die Bürger fühlen sich dem europäischen Zentralismus nicht zuletzt deshalb machtlos ausgeliefert, weil das institutionelle Gefüge, die Rechtsordnung und die politische Praxis ihnen nur wenig Einblick in den europäischen Willensbildungsprozeß gewähren J35 . Das Bundesverfassungsgericht bezeichnet es als ein notwendiges Element der Demokratie, daß die Entscheidungsverfahren der Hoheitsorgane und die jeweils verfolgten politischen Zielvorstellungen allgemein sichtbar und verständlich sind und der wahlberechtigte Bürger mit der Hoheitsgewalt, der er unterworfen ist, in seiner Sprache kommunizieren kann 336 . Die komplizierte Kompetenzaufteilung zwischen den europäischen Organen hingegen, auf der der Willensbildungsprozeß basiert, ist für den Einm H. Maie,., AöR 115 (1990), 225 f.
m Der Öffentlichkeitsgrundsatz ist freilich ein Stück weit gewahrt, da die fast immer notwendigen Vorschläge der Kommission regelmäßig publiziert werden und das Europäische Parlament auf deren Grundlage eine öffentliche Auseinandersetzung der Institutionen veranlassen und inhaltliche Änderungen fordern kann, die sich jedenfalls nicht ohne weiteres ignorieren lassen; vgl. C/assen, ZRP 1993, 59. Auch liegt der fehlende Infonnationsfluß nicht allein in Brüssel, sondern oft in den Nationalstaaten selbst begründet. Nicht seiten beruht eine Verunsicherung der Bürger auf einer schlechten Vor- und Aufbereitung europäischer Angelegenheiten durch die nationale Ebene. Regierung und Parteien geben oft nur ungenaue oder ausweichende Antworten; mitunter stehen die Politiker zuhause nicht zu den Ergebnissen ihrer Verhandlungen. Erfahren in einzelnen nationalen Konzepten die Wünsche anderer Mitgliedstaaten keine hinreichende Berücksichtigung, so wird vielfach die Last, verschiedene nationale Vorschläge hannonisieren zu müssen, auf die europäische Ebene abgewälzt. 3Jo BVerfGE 89, 155, 185. 7*
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A. Der Föderalismus zwischen EU und Mitgliedstaaten
zeinen nur schwer durchschaubar; sie unterscheidet sich grundlegend von den nationalen Staatsorganisationen und läßt sich auch den einschlägigen Normierungen nicht leicht entnehmenm. Durch die Einführung eines Regionalausschusses und weiterer Gremien im Unionsvertrag wurde sie noch zusätzlich verkompliziert. Daß die Verhandlungen des Rates weder der Allgemeinheit zugänglich noch parlamentsöffentlich sind, wird vielfach ebenfalls kritisiertm. Selbst die Aufwertung des Europäischen Parlaments, mit der in Maastricht auch mehr Transparenz erreicht werden sollte 339 , führte nicht zum vollen Erfolg. Es ist im institutionellen Gefüge in erster Linie Sache des Parlaments, ein Forum der öffentlichen Diskussion darzustellen, Standpunkte publik zu machen und damit auch den Bürger zumindest mittelbar an der Politik teilnehmen zu lassen und zu informieren 34o . Die unterschiedlichen Abstufungen, in denen sich die Beteiligung des Europäischen Parlaments am gemeinschaftlichen Rechtsetzungsprozeß weiterhin vollzieht, gelangen jedoch insgesamt nach wie vor über einen begrenzten Rahmen nicht hinaus 341 . Zwar verfügt das Parlament mit seiner allgemeinen Beratungsbefugnis über ein wichtiges Instrument transnationaler Meinungsbildung, dem in staatlichen Parlamenten nichts Vergleichbares gegenübersteht; es ist somit der Ort, an dem Optionen europäischer Politik unter Berücksichtigung der in allen Staaten vertretenen Meinungen öffentlich diskutiert werden. Anders als im Rat müssen im EP diese Optionen nicht als Meinung eines Staates ausgegeben werden; die Abgeordneten eines Staates repräsentieren im allgemeinen ein breites Meinungsspektrum und verbünden sich eher mit Gleichgesinnten aus anderen Staaten, als daß sie versuchen, einen Block zur Vertretung eines vorgeblich nationalen Interesses zu bilden. In dieser Auffächerung innerstaatlicher Positionen bestehen eine Eigenart des Integrationsprozesses und die Stärke des Parlaments gegenüber dem Rat, in dem die Regierungen die jeweilige Haltung als die des betreffenden Staates darstellen müssen. Da aber J37 Zur Transparenz des europäischen Verfassungstextes, die eigentlich ebenfalls ein notwendiges Element der Demokratie ist, oben A./Y.I.a.
J3K Selbst eine generelle Sitzungsöffentlichkeit dürfte jedoch wenig geeignet sein, die Transparenz des gemeinschaftlichen Willensbildungsprozesses zu erhöhen. Der Rat wird auch künftig das Organ bleiben, in dem die Interessenkonflikte unter den Mitgliedstaaten und zwischen ihnen und der Gemeinschaft ausgetragen werden. Um der öffentlichen Kritik zu entgehen, würde wahrscheinlich mancher Streit nicht mehr vor dem gesamten Rat ausgetragen, sondern in die Hinterzimmer inoffizieller Kommunikationskanäle verlegt. Die Entscheidungsfindung würde dadurch erst recht unkontrollierbar werden . .110 Unter Berufung auf diese Stärkung der Rechte des Europäischen Parlamentes, mit der man solchen Sorgen entgegenwirke, bestreitet die EU-Kommission eine Unkontrollierbarkeit der zahlreichen europäischen Behörden durch die Bürger; vgl. FAZ vom 13.10.1993 . .1.1) Ähnlich Siehe,., FAZ vom 8.6.1994; Steinherger, VVDStRL 50 (1991), 33, und für den innerstaatlichen Bereich TOl11l1schal, VVDStRL 36 (1978), 35.
'"' Dazu A.Y.2 (auch zur Kontrollbefugnis des Europäischen Parlaments über die Kommission).
V. Die Kritik an Umfang und Geschwindigkeit dieser Vergemeinschaftung
101
die Fonn der parlamentarischen Mitwirkung auch künftig von der Wahl der Rechtsgrundlage und nicht von der Natur des vorgeschlagenen Rechtsaktes abhängt, liegt es letztlich auch in der Hand der Kommission als Trägerin des Initiativrechts, das Ob und Wie der Beteiligung des Parlaments zu steuem342 • In der Gemeinschaftspraxis haben Rat, Europäisches Parlament und Kommission praktische Verfahren vereinbart, die mehr Offenheit in die Europapolitik bringen und nicht zuletzt die Bürger stärker infonnieren und aufklären sollen. Alle drei Organe müssen danach für jeden Rechtsakt Rechenschaft über seine Vereinbarkeit mit dem Subsidiaritätsprinzip ablegen 343 • Die Verbesserung der Transparenz wurde mittlerweile auch zum Ziel der Revisionskonferenz erklärt344 .
2. Das Problem des Demokratiedefizits Besonders heftige Kritik hat das Verhältnis der Europäischen Union zum Demokratieprinzip hervorgerufen. Die unmittelbar demokratisch legitimierten Organe werden am europäischen Willensbildungsprozeß nur geringfügig beteiligt; zahlreiche Kompetenzen, die nach parlamentarisch-demokratischem Verfassungsverständnis den Volksvertretungen gebühren, sind diesen auf dem Parkett europäischer Hoheitsgewalt vorenthalten 345 • Das Europäische Parlament, das als einziges Gemeinschaftsorgan unmittelbar auf einer Willensbetätigung der Bürger Europas basiert, läßt sich nach dem Gesamtbild seiner Befugnisse mit dem Parlament eines modemen Verfassungsstaates nur schwer vergleichen. Durch den Maastrichter Vertrag wurden seine Befugnisse zwar erweitert. So kann es unter anderem seine Kontrollfunktion gegenüber Rat und Kommission heute effektiver ausüben. Neben einem Mißtrauensvotum ZRP 1992, 259; vgl. auch VOll Burchard, DÖV 1992, 1038. Vgl. Stabenow, FAZ vom 1.11.1993. 344 Vgl. Frallkenberger, FAZ vom 2.9.1994. 345 Auch die Institution des Europarates, der ja neben der viel faltigen Herstellung engerer politischer Verbindungen zwischen seinen Mitgliedern auch ein Bekenntnis zu den Grundwerten der parlamentarischen Demokratie und des Rechtsstaates in sich schließt, hilft diesem Demokratiedefizit nicht ab. Der Europarat ist eine klassische internationale Organisation, die aus mehreren Mitgliedstaaten besteht und nach außen handlungsfahige Organe besitzt; er erfüllt deshalb die für eine Völkerrechtssubjektivität notwendigen Voraussetzungen. Sein Mitgliederkreis deckt sich nicht mit demjenigen der Europäischen Union. Der Europarat hat eine Grundrechts- und Wertegemeinschaft von selbständig bleibenden Staaten zum Ziel; er dient der Verwirklichung dieser Prinzipien in den einzelnen Mitgliedstaaten, nicht speziell auf der Ebene und im Geltungsbereich der Europäischen Union selbst. Darüber hinaus hat er keine unmittelbaren Entscheidungskompetenzen; seine Anregungen müsscn vielmchr erst von den Mitgliedstaaten umgesetzt und realisiert werden. Dazu auch Oppermalll1, Europarecht, Rdnr. 15, 47 ff., 53; P. Kirchhof; HStR VII, § 183 Rdnr. 7, 44. Zur Rolle des Europarates für die Rechtsnatur der Europäischen Union A.IY.5. 342
343
Stauffenberg / Langenfeld,
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A. Der Föderalismus zwischen EU und Mitgliedstaaten
gegen die Kommission (Art. 144 EGV)346 darf es nun auch die Einsetzung von Untersuchungsausschüssen beschließen (Art. 138c EGV)347. Neu eingeführt wurden ferner das Institut des Bürgerbeauftragten des Parlaments und das Petitionsrecht der Bürger an dieses (Art. 138e, d EGV)34R. Die frühere Versammlung kann jederzeit von Kommission und Rat Auskunft verlangen und als Sanktionen die Veröffentlichung seiner Erkenntnisse beschließen. Durch die Ausweitung seiner Passiv- und Aktivlegitimation beim EuGH (Art. 173 Abs. I, 3, Art. 175 EGV) hat das Organ auch im Rechtsschutz an Bedeutung gewonnen. Überdies hat das Europäische Parlament es von Anfang an verstanden, seine Kontrollfunktion gegenüber der Kommission über eine bloß nachträgliche zu einer begleitenden Kontrolle auszubauen. Die Kommission hat die Versammlung von vorneherein als ihren natürlichen Verbündeten betrachtet. Indem die Ausschüsse im allgemeinen frühzeitig zu den Kommissionsinitiativen beigezogen werden, ermöglicht man ihnen dort die Darlegung eigener Vorstellungen und die praktische Einflußnahme; sein fehlendes Initiativrecht versucht das EP durch an die Kommission gerichtete Initiativberichte politisch zu überbrücken 349 . Dennoch weist das integrationsoffene und integrierende Parlament eine potentielle parlamentarische Allzuständigkeit, wie sie dem demokratischen Prinzip entspräche, nicht auf. Dies gilt besonders für das europäische Rechtsetzungsverfahren, das vorwiegend in der Hand des Rates und der Kommission bleibt. Das Initiativrecht für die Gesetzgebung ist der Kommission vorbehalten, die damit eine Schlüsselrolle bei der Gemeinschaftsrechtsetzung erhält und zum Motor des Vertrages berufen ist. Neben dem Ministerrat hat nun zwar auch das Parlament das Recht, die Kommission zur Vorlage eines bestimmten Vorschlags aufzufordern (Art. 138b Abs. 2, 152 EGV). Diese Befugnis, die inhaltlich derjenigen des Ministerrates entspriche 50 , begründet jedoch auch für das Parlament kein eigenes Initiativrecht351 . Während die Kommission als Sachwalterin des Gemeinschaftsinteresses - zumindest außerhalb der Bereiche der intergouvernementalen Zusammenarbeit - das Vorschlagsmonopol besitzt, liegen das Schwergewicht der Rechtsetzung und die abschließende Entscheidung beim Ministerrat, in dem sich die Interessen der Mitgliedstaaten artikulieren. Das .141i In dieser Möglichkeit eines Mißtrauensvotums gegen die Kommission wird deutlich, daß grundsätzlich ein vertragsrechtliches Vertrauensverhältnis zwischen Europäischem Parlament und Kommission - nicht dagegen zum Rat - bestehen muß; vgl. Oppermann, Europarecht, Rdnr. 235, 238 . .147
Zur legitimitätsbegründenden Bedeutung dieser Norm Hrbek, GedS Grabitz, S. 186 .
Zur legitimitätssteigemden Bedeutung dieser Vorschriften Hrbek, GedS Grabitz, S. 186 f. 349 Vgl. Steinberger, VVDStRL 50 (1991), 33. .1"
350
Vgl. von Blirchard, DÖV 1992, 1043; Ress, JuS 1992,988.
351 Bleckmann, DVBI. 1992, 337; von Blirchard, DÖV 1992, 1044; Bieber, FAZ vom 8.6.1994. Anders Hrbek, GedS Grabitz, S. 18l.
V. Die Kritik an Umfang und Geschwindigkeit dieser Vergemeinschaftung
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Parlament kann sich mit allen Themen befassen, die ihm bedeutsam erscheinen, und verfügt zwar wie die nationalen Parlamente ebenfalls über umfassende Beratungsrechte352 • Echte Zustimmungsrechte aber sind ihm nur für die Beschlußfassung über den Haushaltsplan der EU (Art. 203 Abs. 4 EGV), für Erweiterungsverträge (Art. 0 EUV), Assoziierungsabkommen und bestimmte andere wichtige Abkommen (Art. 228 Abs. 3 Unterabsatz 2, 238 EGV) eingeräumt. Im übrigen ist es an Beschlüssen des Rates unterschiedlich stark beteiligt. Für das Verfahren der Zusammenarbeit, das seit der EEA vertraglich verankert ist und das Parlament in zwei Lesungen mehrfach beteiligt, wurde der Geltungsbereich erweitert. Da das Parlament nach Art. 189c EGV (vorher Art. 149 Abs. 2 EWGV) aber durch einen einstimmigen Ratsbeschluß überstimmt werden und deshalb den Erlaß eines Rechtsaktes durch den Rat nicht verhindern kann, behält der Rat auch insoweit das letzte Wort und seine zentrale RoHem. Eine stärkere Aufwertung erfahrt das Abgeordnetenhaus durch das neu eingeführte Verfahren der Mitentscheidung nach Art. 189b EGV, mit dem es erstmalig im Bereich der materiellen Rechtsetzung über echte Mitbestimmungsbefugnisse verfüge s4 • Da Rechtsakte im Geltungsbereich dieser Norm nicht mehr gegen den Willen der Parlamentsmehrheit erlassen werden können, besitzt das Parlament zum ersten Mal ein echtes Vetorecht355 • Bei Uneinigkeiten zwischen Rat und Parlament sieht die Vorschrift die Einschaltung eines Vennittlungsausschusses nach deutschem Vorbild vor, der sich aus Mitgliedern beider Organe zusammensetzt. Wird auch in diesem keine Einigung erzielt, so liegt die letzte Entscheidung nicht mehr allein beim Ministerrat; macht das Parlament von seinem Vetorecht Gebrauch, ist der Gesetzesvorschlag vielmehr endgültig abgelehnt'56. Obwohl das Parlament also nach dem Vertragstext besonders im Mitentscheidungsverfahren erheblich stärkere Beteiligungsrechte erhalten hat, ist seine Bedeutung allerdings nur bedingt gestiegen 357 . Da die wichtigsten und weitaus meisten Vertragsbestimmungen )~~ Dazu Bieher, FAZ vom 8.6.1994.
m Vgl. von Bllrchard, DÖV 1992, 1038 f.; BleckmanII, DVBI. 1992,337; zu Art. 149 Abs.2 EWGV bereits Stein herger, VVDStRL 50 (1991), 35; Borchmanll, AöR 112 (1987), 603; Opperlllann, Europarecht, Rdnr. 230. )5' Opperlllann/C/assen, NJW 1993,7. )~; Vgl. Bleckmann, DVBI. 1992,337; VOll Bllrchard, DÖV 1992, 1043 f.; Oppermann/ C/assen, NJW 1993, 7; Hrhek, GedS Grabitz, S. 182. )~o Von Bllrchard. DÖV 1992, 1044. Das Parlament kann auf diese Weise den Erlaß eines Gesetzes verhindern. Die ausfiihrliche Regelung des Art. 189b EGV verschafft ihm dabei aber eine Neinsagerrolle, die unter anderem in Straßburg kritisiert worden ist; vgl. auch Hrhek, GedS Grabitz, S. 182. Auch die Bundesregienmg hatte bei den Verhandlungen zum Vertrag fur eine weitreichende Einfiihrung des Verfahrens der Mitentscheidung plädiert. Dazu Stahenoli', FAZ vom 1.11.1993. );7
Die relativ geringe Bedeutung des Europäischen Parlaments in der politischen Diskus-
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A. Der Föderalismus zwischen EU und Mitgliedstaaten
weder auf Art. 189b EGV noch auf Art. 189c EGV verweisen und beide Verfahren nur bei ausdrücklicher Bezugnahme der betreffenden Einzelvorschriften zur Anwendung kommen, wird das Parlament in der Regel weiterhin rein beratend tätig 358 . In den Bereichen der Außen- und Sicherheitspolitik, der Justiz und des Inneren bleibt es auf ein Unterrichtungs-, Frage- und Empfehlungsrecht beschränkt (Art. 1. 7, Art. K. 6 EUV). Auch der Deutsche Bundestag als das volksgewählte Repräsentativorgan der Nation bleibt zum großen Teil unbeteiligt. Er hat neben einem Einftußrecht auf die Bildung der Bundesregierung zwar auch eine Kontrollbefugnis über diese; Bundeskanzler und Bundesminister sind dem Bundestag verantwortlich 359 • Die Regierungskontrolle des Bundestags ist zwar keine nur nachträgliche und umfaßt daher gegebenenfalls auch die noch nicht abgeschlossene Willensbildung der Regierung; dies ermöglicht dem Bundestag auch eine Teilnahme an der politischen Planungsarbeit der Regierung. Die Kontrolle darf jedoch nicht zu einer Mitregierung und -verwaltung des Parlaments ausgeweitet werden J60 . Auch kann sich eine solche Überprüfung häufig nur als nachträgliche Billigung oder Mißbilligung auswirken, die einen Beschluß des - meist nach dem Mehrheitsprinzip abstimmenden - Ministerrates kaum noch zu verhindern oder rückgängig zu machen vermag; eine effektive Kontrolle scheitert häufig bereits an der fehlenden Information der Abgeordneten im wenig transparenten europäischen Willensbildungsprozeß. Dadurch, daß die Bundesregierung im Verhältnis zu den anderen Bundesorganen die grundsätzliche Organkompetenz in den auswärtigen einschließlich der europäischen Angelegenheiten innehae o, und für die Bundesrepublik außer ihr im Rat nur ein Landesminister auftreten kann, setzt sich das Gewicht der nur mittelbar legitimierten Bundes- und Landesexekutive bis in die europäische Ebene fort.
sion liegt allerdings nicht nur an seinem weiterhin bescheidenen Einfluß neben Kommission und Ministerrat. Das Parlament ist zwar bisher seiner Verantwortung gerecht geworden, wenn es um grundlegende Entscheidungen der Gemeinschaft geht; es zeigt jedoch die Neigung, alle nur denkbaren Mißstände aufzugreifen und sich in Entschließungen und Ausschußprotokollen zu verzetteln. Darüber hinaus präsentiert es sich den Bürgern in den wirtschafts- und sozialpolitischen Debatten häufig in fraktionsübergreifender Einigkeit, die zwar in der Auseinandersetzung mit Kommission und Ministerrat Stärke vennittelt, in der Öffentlichkeit aber als langweilig empfunden wird. Denn in Straßburg fehlt die klassische Auseinandersetzung zwischen Regierungs- und Oppositionsparteien. Es gibt weder eine europäische Regierung noch eine Opposition; vielmehr sehen sich die acht Fraktionen als starken Arm gegen die Regierungen und als oppositionelles Sammelbecken gegen die auf ihren Vorrechten beharrenden Nationen. );X
Bleckmann, DVBI. 1992, 337.
m Dazu Sei/im, in: Seif{m / HÖl7lig, Grundgesetz, vor Art. 38 Rdnr. 4, vor Art. 62 Rdnr.3. )hO Sei/im, ebd., vor Art. 38 Rdnr. 4 .
.'6'
Dazu B.II.3.
V. Die Kritik an Umfang und Geschwindigkeit dieser Vergemeinschaftung
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Weder Ministerrat noch Kommission weisen eine demokratische Legitimation nach Art des modemen Verfassungsstaates auf. Bei der Einsetzung der Kommission, deren Mitglieder durch die nationalen Regierungen ernannt werden, hat der Unionsvertrag den Einfluß des Europäischen Parlaments, der sich bisher in der Möglichkeit eines Mißtrauensantrags erschöpft hatte, zwar verstärkt und damit zugleich die Position des Parlaments verbessert. Das Parlament muß nun zur Person des Präsidenten gehört werden und der Zusammensetzung der Behörde zustimmen; über eine Verweigerung können sich die Regierungen der Mitgliedstaaten nicht hinwegsetzen (Art. 158 Abs. 2 EGV). Die demokratische Legitimation der Kommission wird durch diese Beteiligung des Parlaments erheblich vertieft362 • Es dürfte jedoch zu weit gehen, die Kommission unter dem Gesichtspunkt der Legitimation mit den nationalen Regierungen auf eine Stufe stellen zu wollen 363 • Sollte die Kommission in Richtung einer echten Regierung fortentwickelt werden, so müßte das Investiturrecht vollständig dem Parlament überlassen werden. Die Kommission würde dann notwendig von einer parteipolitisch strukturierten Mehrheit getragen; ein fester Nationenschlüssel innerhalb der Kommission wäre in diesem Fall kaum zu konzipieren364 • Während die nationalen Regierungen von den unmittelbar legitimierten Volksvertretungen direkt gebildet werden, läßt sich die Kommission nur teilweise auf einen Willensakt des Europäischen Parlaments zurückführen. Bei der Kommissionsbesetzung haben die Regierungen der Mitgliedstaaten ein bedeutsames Gewicht behalten, das in der Bildung nationaler Regierungen keine Entsprechung findet. Die nationalen Regierungen aber, denen dieses Mitspracherecht zukommt, sind selbst nur mittelbar demokratisch legitimiert. An der Institution des Ministerrates zeigt sich die Diskrepanz zwischen europäischer und mitgliedstaatlicher Legitimität noch deutlicher. Dieser bezieht eine mittelbare demokratische Legitimation daraus, daß die in ihn entsandten Vertreter der nationalen Regierungen bzw. Landesminister ihrerseits mittelbar demokratisch legitimiert sind. Der Bundeskanzler wird nach Art. 63 GG nicht unmittelbar vom Volk, sondern auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestag gewählt - wobei in diesen nationalen Wahlen europäische Politik nur eine marginale Rolle spielt. Die Bundesminister werden vom Bundespräsidenten auf den Vorschlag des Kanzlers hin ernannt und entlassen (Art. 64 Abs. I GG), der somit auch über die Zusammensetzung der Bundes,", Dies betont auch Hrhek. GedS Grabitz. S. 183 f. '''' So aber wohl Parlamentspräsident Hänsch (vgl. FAZ vom 19.1.1995); ähnlich Oppermann / Classen. NJW 1993. 7. Eine große grundsätzliche und praktische Bedeutung dieses neuen parlamentarischen Zustimmungserfordemisses betonen Ress, JuS 1992, 988, Oppermann/Classen. NJW 1993, 7, und Schmuck. EA 1992, 102, welcher auch auf die Koppelung der Amtszeit der Kommission an die Dauer der Wahlperiode des EP hinweist. Anders Möschel. JZ 1992. 883. 1M SO auch Möschel, JZ 1992, 883.
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A. Der Föderalismus zwischen EU und Mitgliedstaaten
regierung entscheidee 65 • Auch die Landesminister, die nach Art. 146 Abs. I EGV einen Mitgliedstaat im Rat vertreten können, besitzen eine entsprechende mittelbare demokratische Legitimation366 • Die Hoheitsakte der Union erfahren infolgedessen ihre Legitimität weiterhin in erster Linie von den demokratisch gewählten nationalen Parlamenten. Neben dieser durch die Mitgliedstaaten vermittelten demokratischen Legitimation aber ist offensichtlich eine unmittelbare demokratische Legitimation auf europäischer Ebene im langsamen Entstehen. Die europäischen Nationen wachsen im Zuge der fortschreitenden Integration immer weiter zusammen. Zwar haben sie die Schwelle eines europäischen Gesamtvolkes noch nicht überschritten. Seit aber das Europäische Parlament unmittelbar von den Bürgern Europas gewählt wird, gibt es demokratisch verantwortungsfahige Institutionen, die weitreichende politische Kompetenzen übernehmen können, nicht mehr nur auf nationaler, sondern auch auf supranationaler Ebene. Das Europäische Parlament vermittelt deshalb, wenn auch seine Kompetenzen begrenzt sind und feste Formationen europäischer Parteien seine Grundlage noch nicht bilden 367 , wenigstens ansatzweise eine eigene demokratische Legitimation 36R ; daß gegenüber dieser die Legitimierung über die Mitgliedstaaten im Vordergrund steht, steht freilich nach wie vor außer Frage. Ob diese Legitimationsbasis ein hinreichendes Fundament für das europäische institutionelle Gefüge und die Akte seiner Hoheitsgewalt bildet, wird vielfach angezweifelt. Nach einer weit verbreiteten Auffassung gebietet es der erreichte Integrationsstand bereits heute, die Union an denselben verfassungsrechtlichen Maßstäben zu messen wie ihre Mitgliedstaaten369 • Bei einer solchen Prüfung zeigen sich erhebliche Defizite der Europäischen Union, die 36'
Degenharl. Staatsorganisationsrecht, Rdnr. 434 f.
366 So wird beispielsweise in Bayern der Ministerpräsident vom Landtag gewählt, der wie der Bundestag infolge seiner Wahl durch das Volk unmittelbar demokratisch legitimiert ist (Art. 44 Abs. I, 14 BV). Berufung und Entlassung der bayerischen Staatsminister sind gegenüber der Bundesebene insofern etwas stärker - gleichwohl nur mittelbar - demokratisch legitimiert, als der Ministerpräsident sie mit Zustimmung des Landtags vornimmt (Art. 45 BV). 367 Dies betont A. Weber, JZ 1993,329. Daß nun die Parteien als Integrationsfaktor politischer Willensbildung in Art. 138a EGV erwähnt sind, vermag diesen Mangel bisher nicht zu beheben. Unter dem Aspekt der Legitimität hingegen mißt Hrbek, GedS Grabitz, S. 191 f. dieser Vorschrift eine hohe Bedeutung bei. l6K So auch BVerfGE 89, 155, 185 f.; Masler, HStR VII, § 175 Rdnr. 27; Hilf; VVDStRL 53 (1994), 8; Oppermann, Europarecht, Rdnr. 38; Everling, FS Mosler, S. 189 f.; R. Schmidl, VVDStRL 36 (1978), 79. A.A. Möschel, JZ 1992, 882; Ossenbühl, DVBI. 1993, 634; SchindleI', VVDStRL 53 (1994), 78; Schalz, NVwZ 1993, 818; A. Weber, JZ 1993,329. 369 So z.B. Graf Slat!fffmberg/Langenfe/d, ZRP 1992, 259; Eiselstein, ZRP 1991, 21; Hellwig. Anspruch und Wirklichkeit parlamentarischer Mitwirkung des Bundestages, S. 111 f., 114 f.; Zu leeg, FAZ vom 17.3.1994.
V. Die Kritik an Umfang und Geschwindigkeit dieser Vergemeinschaftung
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im Vergleich zu den Mitgliedstaaten nur eine mangelhafte Verwirklichung des Demokratieprinzips aufweist. Daß in der supranationalen Einrichtung selbst verfassungsstaatliche Elemente zum Vorschein kommen müssen, entspricht freilich auch der Überzeugung der Gegenansicht. Die Mitgliedstaaten sind durch bestimmte gemeinsame politische Grundwerte verbunden und weisen - wie jede überstaatliche Föderalgemeinschaft - notwendig einen gewissen Grad an Verfassungshomogenität aup70. Die Entwicklung der Union setzt unter ihnen ein Mindestmaß homogener Wertvorstellungen über Legitimation und Schranken supranationaler Hoheitsgewalt voraus. Da die Union zahlreiche elementare Kompetenzen von den Mitgliedstaaten erhalten hat und Hoheitsakte mit unmittelbarer Wirkung in diesen erläßt, müssen auf europäischer Ebene dieselben Grundentscheidungen der pluralen, liberalen und sozialen Demokratie und des gewaltenteilenden Rechtsstaates zum Ausdruck kommen 371 . Die europäische Rechtsordnung knüpft in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen an die Homogenität der Nationalstaaten an m . Im Grundgesetz wurde zur Sicherung einer entsprechenden Gestalt Europas Art. 23 Abs. I Satz I GG eingeführt373 • Auch gehört das Gebot des Art. 20 Abs. 2 GG, nach dem alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, anerkanntermaßen zu den Strukturmerkmalen, die die Identität des Grundgesetzes ausmachen und auch durch Deutschlands Entscheidung für eine offene Staatlichkeit nicht preisgegeben werden dürfen J74 • Der Unionsvertrag selbst erkennt mit seiner Präambel und Art. F Abs. I die Erwartung der Nationalstaaten an, daß ihre wesentlichen Verfassungsgrundsätze auch durch die europäische Einigung keinen Schaden erleiden, und bekräftigt damit allgemeine Grundsätze, die der EuGH schon bisher als Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung angesehen hat. Dies bedeutet jedoch nicht, daß die Verfassungsprinzipien auf europäischer Ebene dieselbe Gestalt und Intensität wie in den Mitgliedstaaten erreichen müßtenm. Die verfassungsrechtliche Beurteilung des primären Gemein)70 Dazu H.p. lpsen. FS Oürig. S. 159 ff.; E. K/ein. VVOStRL 50 (1991). 60; Lenz. ZRP 1988. 450-452; Oppermann, Europarecht. Rdnr. 207, 799; Streinz. OVBI. 1990. 956; Frowein. Bundesrat, Länder und europäische Einigung, S. 299; Isensee. HStR IV, § 98 Rdnr. 285. Schon C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 375 ff. bezeichnet eine solche Homogenität als unabdingbare Grundlage jedweden Bundes.
)71 Oppermann, Europarecht, Rdnr. 207; SO'ein:, OVBI. 1990, 956; E. Klein, VVOStRL 50 (1991), 60; vgl. auch Badura, VVOStRL 23 (1966), 37 f., und flir das Demokratiegebot auch von Simson, EuR 1991, 9.
mE. Klein, VVOStRL 50 (1991), 60; Streinz, OVBI. 1990,956. m Zu Art. 23 Abs. I Satz I GG und Demokratiedefizit Rojahn, in: von Münch / Kunig, Art. 23 Rdnr. 23 f., 53. )74 Eise/stein, ZRP 1991, 21; Hellwig. Anspruch und Wirklichkeit parlamentarischer Mitwirkung des Bundestages, S. 112. 375 So auch Badura, VVOStRL 23 (1966), 37-40, 66 f., 70; ders., ZSR 1990, 121 f..
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schaftsrechts hat darauf Bedacht zu nehmen, ob die der Verfassung zugrundeliegenden Ideen von Demokratie und Rechtsstaat in ihm eine solche Dichte erfahren haben, daß die verfassungspolitische Funktion der Kontrolle und Begrenzung öffentlicher Gewalt noch zum Zuge kommt 376 • So hat bereits der verfassungsändernde Gesetzgeber selbst auf die Forderung nach struktureller Kongruenz verzichtet, indem er eine inhaltliche Fixierung der in Art. 23 Abs. I Satz I GG erwähnten demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätze durch einen Hinweis auf ihre spezifischen Ausprägungen im Grundgesetz unterlassen hat 377 ; auch fordert die Struktursicherungsklausel nach ihrem Wortlaut allein die Gewährleistung eines dem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutzes. Die konkrete Staatsstruktur der Bundesrepublik ist nicht zum verbindlichen Leitmodeli für die Union erhoben worden; vielmehr beschränkt sich die Verweisung auf die Kemgehalte dieser Verfassungsgrundsätze, die in allen Mitgliedstaaten ungeachtet unterschiedlicher Ausprägungen übereinstimmend ihren Niederschlag gefunden habenm. Die Europäische Union ist eine föderalistisch geprägte supranationale Gemeinschaft, die sich nicht zuletzt in ihrer föderativen Gestalt auch von ihren bundesstaalich strukturierten Mitgliedstaaten fundamental unterscheidet. Hat in der Vergangenheit der Föderalismus oft den Prinzipien von Demokratie und Rechtsstaat Grenzen gesetzt, so könnten nunmehr umgekehrt die für die Union angestrebte Demokratisierung und die auf Vereinheitlichung drängende Rechtsstaatlichkeit heute die Staatlichkeit der Mitgliedstaaten und für die Bundesrepublik zugleich deren eigenen demokratischen Aufbau wie auch ihre föderale Struktur gefährden. Als Prinzip überstaatlicher Gemeinschaftsbildung läßt sich der Föderalismus seinen nationalstaatlichen Ausprägungen nur bedingt gleichsetzen. Die ideen von Demokratie und Rechtsstaat haben sich im Rahmen der Nationalstaaten entfaltet; sie zielen auf die Bestimmung, Kontrolle und Begrenzung nationalstaatlich verfaßter Herrschaft und erfahren aufgrund des jeweiligen historischen Kontexts in den Mitgliedstaaten unterschiedliche konkrete Ausprägungen. Eine Verwirklichung dieser Prinzipien für die Union kann sich an den nationalen Vorstellungen nur insoweit orientieren, als es sich um die allen mitgliedstaatli132-134; ders., FS Redeker, S. 126; Everling, DVBI. 1993,944; H.P lpsen, EuR 1987, 200; Commichau. Nationales Verfassungsrecht und europäische Gemeinschaftsverfassung, S. 117 - 126; Peter M. Huber, FS earl Heymanns Verlag, S. 363; Kaiser, VVDStRL 23 (1966), 2, 17, 27; Oppermann, Europarecht, Rdnr. 207 f., 211, 225; Schuppert, StwStp. 1994, 54 f.; Schwarze, JZ 1993, 588, 592; Streinz, DVBI. 1990, 956; A. Weher, JZ 1993, 329; vgl. für das Demokratiegebot auch BVerfGE 89, 155, 182. Differenzierend Classen, AöR 119 (1994), 242.
"6 BadlIra, VVDStRL 23 (1966), 66 f.
J77 Dies betont auch Classen, AöR 119 (1994), der zum Vergleich Art. 28 GG heranzieht, welcher für die konkrete Umsetzung explizit auf das Grundgesetz Bezug nimmt. 37X Rojahn, in: von Münch / Kunig, Art. 23 Rdnr. 20; ähnlich Klein, in: Schmidt-Bleihtreu / Klein, Grundgesetz, Art. 23 Rdnr. 8.
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chen Ausfonnungen zugrundeliegenden Ideen und nicht um individuelle einzelstaatliche Eigenarten handelt. Wirksame und dauerhafte Gestalt können die Verfassungsprinzipien in der Union zudem nur erlangen, wenn die andersartigen Bedingungen gebührend beachtet werden, unter denen die europäische Hoheitsgewalt begründet und ausgeübt wird. Eine undifferenzierte Übertragung der Beurteilungsmaßstäbe trägt dem föderalistischen Element, das die Schlüsselposition des Rates in der institutionellen Ordnung verkörpert, und dem qualitativen Unterschied der Union von einem Nationalstaat nicht hinreichend Rechnung. Der Sprung in die Staatlichkeit wurde bisher nicht vollzogen und erscheint auch für die Zukunft wenig wahrscheinlich. Haben die einzelnen Verfassungsprinzipien auf der Ebene Europas und der untereinander uneinheitlichen Nationalstaaten bereits unterschiedliche Gestalt angenommen, so führt auch ihre Verschmelzung mit den - wiederum stark heterogenen föderalen Eigenarten des überstaatlichen und des staatlichen Föderalismus notwendigerweise zu unterschiedlichen Ergebnissen. Allerdings läßt sich daraus nicht der Schluß ziehen, die Union könnte sich mit ihrem gegenwärtigen demokratischen und rechtsstaatlichen Niveau begnügen. Muß sie den nationalen Verfassungsmaßstäben auch nicht vollständig genügen, so erfordert doch die verfassungsrechtliche und vertragliche Verankerung des Demokratieprinzips, daß mit der fortschreitenden Integration auch die demokratischen Grundlagen der Union vertieft werden 379 . Die Spannung zwischen einer ausgeprägten parlamentarischen Ausrichtung im Verfassungsrecht und der starken Stellung der Exekutivmacht auf europäischer Ebene ist aufgrund der Eigenarten zwischenstaatlicher Einrichtungen bis zu einem gewissen Grad in Kauf zu nehmen; eine Stagnation in dieser Hinsicht stellte aber nicht nur die Glaubwürdigkeit verfassungsrechtlicher Forderungen in Frage, sondern überschritte auch diesen zulässigen Spielraum38o • Nur wenn innerhalb Europas eine lebendige Demokratie erhalten bleibt, läßt sich auch eine hinreichende Akzeptanz durch die Bürger erreichen, ohne die das supranationale Gebilde nicht dauerhaft bestehen kann. Auf welchem Wege eine weitere Demokratisierung der Union zu erfolgen hat, ist begreiflicherweise umstritten. Vielfach wird die Lösung in einer Aufwertung des Europäischen Parlaments erblickt. Zu diesem Zweck wurden aus Anlaß der Unionserweiterung und der Revisionskonferenz von Amsterdam bereits konkrete Forderungen erhoben und Refonnvorschläge eingebracht. Danach werden zur Stärkung der demokratischen Legitimation eine institutionelle Gleichstellung des Europäischen Parlaments mit dem Ministerrat bei der Gesetzgebung, seine Mitverantwortung bei europäischer Verfassunggebung und -änderung und Refonnen im Blick auf seine Wahl, seine Befugnisse, die 379 So auch BVerfGE 89, 155. 186; Strein:, DVBI. 1990, 951, 958; H.H. Klein, FAZ vom 17.10.1994. 3"0 SO'ein:, DVBI. 1990, 951.
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A. Der Föderalismus zwischen EU und Mitgliedstaaten
Mitgliederzahl und die innere Organisation angestrebe K1 • So hat das Parlament selbst gefordert, sein Mitentscheidungsverfahren auf alle im Rat nach dem Mehrheitsprinzip zu beschließenden Fragen auszudehnen und seine "Neinsagerrolle" in der dritten Lesung umzuwandeln. Auch möchte es seine Gleichberechtigung mit den Regierungen bei der Feststellung aller EU-Ausgaben, eigene Zuständigkeiten für die Einnahmen der Union durchsetzen und ein echtes Zustimmungsrecht für Beschlüsse erhalten, die der Billigung durch die nationalen Parlamente bedürfen 382 • Ein größeres Mitsprache- und Entscheidungsrecht soll verhindern, daß bei einer möglichen weiteren Ausdehnung des Mehrheitsprinzips im Rat auf die Gebiete, die sich in einer intergouvernementalen Zusammenarbeit beschränken, eine Zone parlamentarischer Unkontrollierbarkeit entsteht, da weder das Europäische Parlament noch die nationalen Parlamente mit ihren vorhandenen Rechten eine solche parlamentarische Kontrolle ausüben könnten 383 . Die Stärkung des Europäischen Parlaments ist hingegen nur bedingt geeignet, das Demokratiedefizit - wie auch den Vorwurf der Bürgerfeme - zu beseitigen. Der Kernpunkt der modemen Demokratie ist die Repräsentation des Volkes durch die Repräsentationsorgane. Das demokratische Prinzip kann in einem Verfassungsgebilde nur funktionieren, wenn dieses einen demos, ein eigenes Staatsvolk besitzt, das sich durch geistige, kulturelle, geschichtliche, soziale und politische Verbundenheit auszeichnee S\ ein europäisches Volk aber hat sich trotz der Unionsbürgerschaft bisher nicht ausgebildet385 . Das Europäische Parlament unterscheidet sich hierdurch grundlegend vom Normal typus des Parlaments, das als unmittelbar demokratisch legitimiertes Organ mit der Repräsentation des von seinem Geltungsbereich erfaßten Volkes befaßt ist. Das Straßburger Abgeordnetenhaus entbehrt auch der demokratischen Infrastruktur, ohne die eine echte Demokratie sich nicht verwirklichen läßt386 . Um zwischen Meinungs- und Interessenvielfalt der Bürger und not3"1 Vgl. aus den Presseberichten etwa Bieber, FAZ vom 8.6.1994; Frankenberger, FAZ vom 2.9.1994; Stabenow, FAZ vom 19.1.1995. 3" Vgl. FAZ vom 9.6.1994. 3"3
So eine Forderung der SPD, vgl. FAZ vom 14.6.1995.
OppermannlClassen, NJW 1993, 8; Grimm, JbSV 6 (1992/93), S. 16; Ossenbühl, DVBI. 1993, 634; Schuppert, StwStp. 1994, 48 f.; Di Fabio, Der Staat 32 (1993), 202 f.; Schotz, in: Maunz I Dürig, Art. 23 Rdnr. 31. Anders Classen, AöR 119 (1994), 247; Röper, ZPR 1996, 469. Zu dem Begriff des Volkes und seinen Wesenselementen von Simson, EuR 1991, I ff. 3"; Dazu A.IV.2.b). 3M
3"6 Dazu Grimm, JbSV 6 (1992/93), S. 14; ders., JZ 1995,588; H.P Ipsen, FS Börner, S. 174; Ossenbühl, DVBI. 1993, 634; Winter, DÖV 1993, 176; Bleckmann, JZ 1990, 303 f.; ders., ZRP 1990, 267; Kaiser, FAZ vom 4.8.1993. Dagegen bezeichnet Bieber, FAZ vom 8.6.1994 die Existenz einer gemeinsamen Sprache, einer unterrichteten Öffentlichkeit und politischer Parteien für die Bildung und Artikulation eines gemeinsamen Willens zwar
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wendiger Einheitsbildung im Entscheidungsprozeß zu vermitteln, kann es weder auf europäische Parteien387 oder Verbände noch - verstärkt durch die europäische Sprachenvielfalt388 - auf europäische Medien oder sonstige gesellschaftliche Institutionen zurückgreifen. Eine europäische Öffentlichkeit, in der ein entsprechender europäischer Diskurs stattfande, hat sich bisher ebenfalls nicht gebildet. Das Organ ist von dem ausweglosen Dilemma zwischen einer Repräsentation des Einzelnen und der Wahrung seiner eigenen Funktionsfahigkeit geprägt. Eine echte Repräsentation sämtlicher Bürger und die Identifikation des Wählers mit dem Gewählten läßt sich nur erzielen, wenn die einzelnen Wahlkreise eine bestimmte Größe nicht überschreiten; eine entsprechend hohe Abgeordnetenzahl freilich beraubt das Organ jeglicher effektiven Arbeitsweise 389 • Es gehört zur Entstehungsgeschichte der europäischen Einigung, daß in ihren Institutionen - nicht zuletzt im Parlament - zunächst das Prinzip der Staatengleichheit, nicht das der demokratischen Repräsentation Geltung hatte. Auch bei der Sitzverteilung im Europäischen Parlament wollte man nicht nur dem bundesstaatlich-demokratischen Grundsatz der Bevölkerungsproportionalität Sorge tragen. Um eine Entstaatlichung der kleinen, nach bevölkerungsproportionalen Gesichtspunkten leicht überstimmbaren Mitals bedeutsam; um eine Institution mit der Erfüllung demokratischer Zielsetzungen zu betrauen, sei eine vorherige Errichtung dieser Institute aber nicht unabdingbar. Positiver gegenüber dem gegenwärtigen Entwicklungsstand auch Classen, AöR 119 (1994), 256 f. Denninger, JZ 1996, 586 seinerseits betont, die Bedingungen für die allmähliche Entwicklung einer "diskursfähigen" europäischen Öffentlichkeit seien heute günstiger als jemals zuvor. Er begründet dies etwa mit den Fortschritten der Inforrnations- und Kommunikationstechniken, mit Veränderungen in der Wahrnehmung und Verarbeitung der eigenen Geschichte, aber auch mit gemeinsamen negativen Erfahrungen wie beispielsweise einem gemeinsamen Versagen europäischer Politik im Bosnienkrieg. Desweiteren bilden Denningers Darstellung zufolge die Anklagen vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag wegen Menschenrechtsverletzungen Bausteine bei der langsamen Bildung eines überstaatlich legitimierten Rechtsbewußtseins und Rechtsgewissens. 3H7 Europäische Parteien, die in erster und einziger Linie an europäischen Belangen und Interessen orientiert sind und diese vertreten, gibt es - ungeachtet ihrer Würdigung in Art. 138a EGV - weiterhin innerhalb der Europäischen Union nicht. Die Wahlen zum Europäischen Parlament werden zudem in allen Mitgliedstaaten von den politischen Parteien überwiegend mit innenpolitischen Argumenten geführt. Die Wähler nutzen diese Äußerungsmöglichkeiten meist folgerichtig dazu, um ihren nationalen Regierungen inmitten der nationalen Legislaturperioden ohne unmittelbare Folgen und Risiken für den eigenen Staat Protest oder Zustimmung zu signalisieren. 'xx Dies betont eindringlich etwa Grimm, JZ 1995, 588. Anders dagegen Röper, ZRP 1996,469. ,XY Dieses Problem wird sich mit den geplanten Erweiterungen der Europäischen Union zu einer Einwohnerzahl von 500 Mio. noch verstärken. Beschränkte man beispielsweise die Gesamtzahl der Abgeordneten im Interesse einer Effektivität des Parlaments auf etwa 500, so entfiele ein Abgeordneter auf I Mio. Einwohner. Richtete man dagegen die Abgeordnetenzahl an einem Verhältnis aus, das erfahrungsgemäß die Obergrenze für eine Identifikation der Wähler mit ihrem Repräsentanten darstellt - ein Abgeordneter auf maximal 200.000 Einwohner -, so entspräche dies einer Abgeordnetenzahl von 2.500.
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A. Der Föderalismus zwischen EU und Mitgliedstaaten
gliedstaaten zu venneiden, sollte zugleich das völkerrechtliche Prinzip der Staatengleichheit zur Geltung kommen 390 . Insoweit werden gewisse Parallelen zu dem Bundesrat der Bismarckschen Reichsverfassung und dem Bundesrat des Grundgesetzes deutlich, die im jeweiligen institutionellen Gefüge als föderale Organe zwar eine völlig andere Rolle besitzen, aber zum Schutze der kleineren Gliedstaaten in der übergeordneten Einheit eine charakteristische Kontingentierung der Länderstimmen aufweisen. Der für das Europäische Parlament eingeschlagene Komprorniß setzt sich deshalb über den demokratischen Grundsatz der Gleichheit des Wahlrechts hinweg, die den gleichen Zähl- und Erfolgswert jeder Stimme verlangt. Im Parlament findet keine auch nur annähernd gleiche Repräsentation statt; die Abgeordneten verkörpern je nach Mitgliedstaat unterschiedliche Personenzahlen. Es war anfangs durchaus gewollt, daß im Europäischen Parlament die kleinen Staaten deutlich über-, die großen dagegen unterrepräsentiert sein sollten, wurde im Laufe der Zeit jedoch vielfach kritisiert - gerade auch von denen, die das europäische Demokratiedefizit beklagten. Da das Europäische Parlament somit selbst bei einer Erweiterung seiner Rechte den demokratischen Legitimationsbedarf allein nicht zu erfüllen vermöchte, ist sein Gleichstellungsanspruch nur teilweise begründet. Das europäische Demokratiedefizit ist aufgrund des besonderen, vom überstaatlichen Föderalismus gekennzeichneten Wesens der Europäischen Union strukturell bedingt'91. Der Föderalismus unterscheidet sich darin als Prinzip überstaatlicher Gemeinschaftsbildung grundlegend von seinem Wesen als nationaler Verfassungsgrundsatz, daß die Demokratie in ihm zu geringerer Entfaltung kommen kann. Eine grundlegende Aufwertung des Europäischen Parlaments zu einer parlamentarischen Legislative hin wäre mit dieser bisherigen Verfaßtheit der Union nicht zu vereinen und würde eine neue bundesstaatliche Gemeinschaftsordnung voraussetzen. Denn eine Demokratisierung der Gemeinschaftsorgane mit dem Ziel einer Herstellung nationalstaatlich-parlamentarischer Zustände wäre nur im Wege der Staatsbildung und Verfassunggebung möglich m . Für eine Parlamentarisierung des institutionellen Gefüges läßt der Föderalismus als Prinzip überstaatlicher Gemeinschaftsbildung nur begrenzten Raum, ganz abgesehen davon, daß das Staatsvolk eines europäischen Bundesstaates nicht allein über eine Direktwahl zum Europäischen Parlament zu fonnieren ist. Diese strukturelle Bedingtheit des Demokratiedefizits 390 Oppermal1l1, Europarecht, Rdnr. 216; VOll Simsoll, EuR 1991,9; Nass, FAZ vom 27.7. 1994. C/assen, AöR 119 (1994), 248 bezeichnet die gegenwärtige Sitzverteilung im Europäischen Parlament als unproblematisch und funktionsadäquat.
39t Grimm, JbSV 6 (1992/93), S.16; Ossenbiihl, DVBI. 1993, 633 f.; Schuppert, StwStp. 1994,49; Rupp, AöR 119 (1994), 269; HH Klein, FAZ vom 17.10.1994; ähnlich von Simson, EuR 1991, 15.
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Badura, ZSR 1990, 120; vgl. dazu auch Grimm, JZ 1995,587.
V. Die Kritik an Umfang und Geschwindigkeit dieser Vergemeinschaftung
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wird darum auch bei der Frage der künftigen Gestalt Europas zu beachten sein. Erzielt die europäische Hoheitsgewalt ihre Legitimität wie gegenwärtig hauptsächlich über die Mitgliedstaaten, so sind wiederum einer Ausweitung dieser Hoheitsgewalt durch das Demokratiegebot Grenzen gesetztJ93 • Läßt sich die Europäische Union nicht zu einem demokratischen Verfassungsstaat entwickeln, so darf die Einigung nicht weiter mit der Perspektive einer bundesstaatlichen Struktur fortgeführt werden, sondern muß ein, wenn auch in seinen Befugnissen durchaus erweiterbares Zweckbündnis bleiben 394 • Die Errungenschaften des demokratischen Verfassungsstaates lassen sich in vollem Ausmaß vorerst nur auf nationaler Ebene wahren. Das Demokratiedefizit läßt sich daher grundsätzlich auch nicht durch institutionelle Reformen lösen. Insbesondere ein häufig vorgeschlagenes ZweiKammer-System, in dem das Europäische Parlament als die eine Kammer gleichberechtigt neben dem Ministerrat als der anderen stünde395 , ist nicht erstrebenswert. Auch wenn das Europäische Parlament danach nicht zum alleinigen Legitimationsträger werden soll, führte dies zu einer weiteren Entstaatlichung der Mitgliedstaaten396 . Ein Europäisches Parlament, das mit den Kompetenzen der Parlamente demokratischer Verfassungsstaaten ausgerüstet wäre, würde unweigerlich die Zentralisierungstendenzen verstärken und bald ein europäisches Parteiensystem und eine Europäisierung der Interessenvertretungen hervorrufen, während ein europäisches Staatsvolk nicht im selben Tempo nachwachsen könnte und auch die öffentliche Meinung es mit einer Europäisierung schwer hätte, weil sie an Sprache gebunden bleibt. Das Europäische Parlament erhielte zusätzliche Rechte voraussichtlich zwar nicht unmittelbar von den Mitgliedstaaten durch die Übertragung weiterer Hoheitsrechte, sondern zu Lasten der Kommission und besonders des Ministerrats. Auch dies aber brächte der nationalen Ebene einen Machtverlust, da das Eum BVerfGE 89, 155, 186. )94
Ebenso Grimm, JbSV 6 (1992/93), S. 16.
m So das Refonnkonzept Europäische Strukturkommission FAZ vom 14.7.1994; Weiden/eid, FAZ vom 15.9.1993; Weidenfeld/Jonning, FAZ vom 28.10.1993; Bieher, FAZ vom 3.12.1994; A. Weher, JZ 1993,329. Weidenfeld und Jonning halten eine Verbindung des demokratischen mit dem föderalistischen Prinzip in einer solchen Kompetenzverteilung für möglich, in der alle wesentlichen Entscheidungen der Union gleichberechtigt von beiden Kammern getroffen werden. Der Einfluß der Mitgliedstaaten bliebe danach neben dem Unionsrat auch durch den Europäischen Rat gewahrt, der als kollektives Staatsoberhaupt die Leitlinien der Politik bestimmte, und die Kommission nähme durch eine Weiterentwicklung zur Unionsregierung die Exekutivfunktion wahr. Nach ihrer Vorstellung würde die EU so einem klaren, überschaubaren Bauplan folgen, der mit den demokratischen Systemen der Mitgliedstaaten vereinbar wäre und diese sinnvoll ergänzen würde. 1% P. Kirchhof; HStR VII, § 183 Rdnr. 61; SfI'ein:?, DVBI. 1990, 959; BadllrG, ZSR 1990, 120; Grimm, FAZ vom 17.9.1992. Kritisch StoliffenberglLongenfeld, ZRP 1992, 258.
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A. Der Föderalismus zwischen EU und Mitgliedstaaten
ropäische Parlament anders als der Rat ein reines Gemeinschaftsorgan ist. Die Staaten haben wegen der Unabhängigkeit der Abgeordneten und des geltenden Mehrheitsprinzips in ihm keine Vetomöglichkeit. Eine solche Parlamentarisierung der Union ginge auf die Kosten der Mitgliedstaaten, vor allem ihrer nationalen Regierungen, deren Einflußmöglichkeit im Ministerrat nicht mehr dasselbe politische Gewicht besäße. Doch auch die nationalen Parlamente wären mit Einbußen konfrontiert, da ihre ohnehin im Effekt beschränkten Kontrollmöglichkeiten gegenüber den nationalen Regierungen weiter an Bedeutung verlören. Entsprechendes gilt für die Landtage, deren Kontrollrechte über die Landesminister, soweit diese nach Art. 146 Abs. I EGV im Rat auftreten, ebenfalls schwänden. Ein solches Konzept ließe sich gegen den Widerstand einiger Mitgliedstaaten, der sich schon in den Maastrichter Verhandlungen gegenüber einer Aufwertung des Europäischen Parlaments regte, auch kaum durchsetzen. Die dortige Skepsis gegenüber dem Europäischen Parlament gründet sich auch auf Zweifel an der Funktionsfähigkeit eines aus mehr als 50 Parteien zusammengesetzten Organs und auf die Sorge, bei einer solchen Doppelkompetenz könnten die nationalen und europäischen Interessen keine hinreichende Beachtung erfahren. Eine Verstärkung der demokratischen Gestalt der Union läßt sich angesichts dieser Situation nur durch ein stärkeres Zusammenspiel der Parlamente der unterschiedlichen Ebenen erreichen Jll7 • Die entscheidende Rolle haben dabei die nationalen Parlamente einzunehmen, gegenüber denen das Europäische Parlament lediglich eine stützende Funktion entfaltet'9R. So hat man manche theoretischen Versuche und Modelle durchgespielt. Vielfach wird eine schrittweise Entwicklung von Gemeinsamkeiten zur Vertiefung der demokratischen Legitimation der EU angestrebt, die aber nicht zu Lasten der nationalen parlamentarischen Legitimation gehen darf; zum Ausgleich unauflöslicher funktionaler Defizite der Nationalstaaten hält man eine sektorale Zusammenarbeit in unterschiedlich verdichteten Formen für geboten. Es werden etwa Repräsentationsstrukturen, die auf die jeweiligen staatenübergreifenden Teilordnungen abgestimmt sind, und mehr parlamentarische Versammlungen und bürgerschaftliche Wahlrechte mit heterogenen Aufgabenstellungen und Zielrichtungen gefordert, über welche die Menschen auf überschaubare Entscheidungsprozesse konkreten Einfluß nehmen können'9