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German Pages 298 [288] Year 2020
Gelungene Gespräche als Praxis der Gemeinschaftsbildung
Historische Dialogforschung
Herausgegeben von Nine Miedema, Angela Schrott und Monika Unzeitig
Band 5
Gelungene Gespräche als Praxis der Gemeinschaftsbildung
Literatur, Sprache, Gesellschaft Edited by Angela Schrott und Christoph Strosetzki
Gefördert durch die Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung
ISBN 978-3-11-059045-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-059258-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-059126-2 ISSN 2363-8001 Library of Congress Control Number: 2020934029 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Umschlagabbildung: Heinrich von Veldeke, Eneasroman, Abb. fol. 69r © Dr. Ludwig Reichert Verlag, Wiesbaden Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhalt Angela Schrott, Christoph Strosetzki Einleitung 1
I Konzepte des Gelingens zwischen Literaturwissenschaft und Linguistik Christoph Strosetzki Konversation als Spiel: Charles Sorel vs. Grice und Gadamer
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Angela Schrott Regeln, Traditionen, Urteile: Verbale Höflichkeit und wie sie gelingt Hartwig Kalverkämper Das ‚Gelingen‘ als interdisziplinäre Kategorie
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II Gespräch und Philosophie Sabine Föllinger Ironie und gelingendes Gespräch bei Platon: Der Dialog Protagoras
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Dietmar Till Sokratische Lehrart. Das gelungene Gespräch als pädagogische 95 Kommunikationsform im 18. Jahrhundert
III Gelungene Gespräche, Gesellschaft und Gemeinschaftsbildung Thomas Gloning und Daniel Holzhacker Die Historische Pragmatik des Militärprozesses in Leonhart Fronspergers Von Kayserlichem Kriegßrechten (1565). Kommunikative Strukturen, 115 Gemeinschaftsbildung, Normierung Mechthild Albert Gespräch und Gemeinschaftsbildung in höfischem und bürgerlichem Kontext: Die 133 Dialoge Corte en aldea (1619) und Aldea na corte (1750) im Vergleich
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Inhalt
Isabelle Löchner Nonverbale Kommunikationskultur in Frankreich
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Hubert Knoblauch Theorie der Sequenz. Gespräch, Körper und kommunikative Konstruktion
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IV Gelingende Interaktion und Gender Rüdiger Schnell Gelehrte Dialoge und gesellige Gespräche. Gender und Gelingen vom 14. bis zum 185 17. Jahrhundert Astrid Dröse Transkultureller Dialog und Genderpolitik – Gottsched übersetzt Fontenelles Entretiens sur la pluralité des mondes 215
V Fiktionen des Gelingens Nine Miedema redewîsheit ? Möglichkeiten des Gelingens von Gesprächen: list in deutschsprachigen literarischen Dialogen des Mittelalters 237 Oliver Bach „Am drollichsten war seine Nachahmungssucht“. Gelungene Kommunikation zwischen Anthropologie und Habitualisierung in Johann Karl Wezels Robinson Krusoe (1779/80) 261 Wolfgang Matzat Kontexterweiterung und Dimensionen des Abgründigen. Überlegungen zum 279 Theaterdialog
Angela Schrott, Christoph Strosetzki
Einleitung
Fragestellung und Erkenntnisinteresse Dialoge sind die grundlegende Erscheinungsform von Kommunikation. Die Teilhabe an Wissen und kultureller Praxis ist in hohem Maße sprachlich gebunden und wird dialogisch vermittelt. Für diese Vermittlung ist das Gelingen von Gesprächen die Voraussetzung und dementsprechend ist die linguistische, literaturwissenschaftliche, kulturwissenschaftliche, soziologische oder philosophische Sprachbetrachtung reich an Modellen und Beschreibungen, die die Prinzipien und Bedingungen gelingender Gespräche zu begreifen versuchen. Die genannten geistes- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen gehen mit verschiedenen Akzentsetzungen der Frage nach, was man in unterschiedlichen Kulturgemeinschaften und zu unterschiedlichen Zeiten unter gelingender Kommunikation versteht, und untersuchen, welche Faktoren zum Gelingen eines Gesprächs beitragen und welche die Kommunikation erschweren und bewirken, dass sich das Glück der Konversation nicht einstellt. Gelungene Gespräche als Möglichkeit der Teilhabe sind von hoher Bedeutung für die Bildung von Gemeinschaften unterschiedlichen Zuschnitts, seien es sozial oder kulturell konstitutierte Gruppierungen, kleine oder große Kollektive. Denn Gespräche, die von den Interaktanten als gelungen erlebt werden, schaffen und bestätigen Gemeinschaft, während als misslungen bewertete Gespräche eine Dialoggemeinschaft gefährden und zum Ausschluss von Akteurinnen und Akteuren führen können. Da das Gelingen ein kulturelles Konzept ist, das sich im Laufe der Zeit verändert, liegt dem vorliegenden Band eine historische und kommunikationsgeschichtliche Perspektive zugrunde. Die diachrone Vertiefung ist notwendig, weil die gelungene Konversation ein historisches Konzept ist, das sich erst in der diachronen Sicht erschließt. Eine besondere Rolle als Quelle spielen dabei literarische Texte. Denn da die Gespräche früherer Kulturgemeinschaften sich unserer Beobachtung entziehen, bieten literarische Texte (oft sehr raffinierte) Repräsentationen früherer Dialogformen, die zumindest eine partielle Rekonstruktion erlauben und reflektierte Einblicke in den kommunikativen Haushalt damaliger Kulturgemeinschaften ermöglichen. Nach Coseriu (2007: 74f.) ist das Sprechen eine Tätigkeit, die als universelle, allgemein-menschliche Tätigkeit immer in bestimmten historischen Einzelsprachen erfolgt und in konkreten Kommunikationssituationen ausgeübt wird. Damit sind Gespräche ihrer Natur nach Tätigkeiten, die sprachliche, kulturelle und soziale Dimensionen vereinigen und folglich nach einer interdisziplinären Analyse verlangen. Der vorliegende Band behandelt Konzepte gelungener Konversation daher in einer methodologischen Verschränkung verschiedener geistes- und kulturwissenschaftlicher Disziplinen, die das Sprechen als Akt der Gemeinschaftsbildung aus der jeweiligen Perspektive ihres Fachs deuten. https://doi.org/10.1515/9783110592580-001
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Angela Schrott, Christoph Strosetzki
Der vorliegende Band wählt eine historische Perspektive und versteht die historische Gesprächsforschung als Teil einer (noch zu schreibenden) Kommunikationsgeschichte (Linke 2008, 2014, Schröter 2011). Studien, die aus literarischen Texten, Gesprächsbüchlein oder Traktaten Konzepte des Gelingens verbaler Interaktion herauspräparieren, um kommunikative Praktiken früherer Epochen zu rekonstruieren, verbinden Sprachliches und Kulturelles im Sinne einer als Kulturgeschichte konzipierten Sprachgeschichte (Gardt 2012). Den Schwerpunkt des vorliegenden Bandes bildet die Frühe Neuzeit, doch behandeln einige Beiträge auch mittelalterliche Texte (vgl. Miedema, Schrott) und einige Studien greifen über die Frühe Neuzeit hinaus in das 18. und 19. Jahrhundert (vgl. Strosetzki und Bach). Die historische Herangehensweise belegt eindrücklich den wandelbaren Status von Gesprächen. Sie können – je nach Epoche, je nach Dialogideal der Interaktanten – als Mittel der Erkenntnis, der Wahrheitssuche, als elegantes Spiel, als Kampf um Macht und als Mittel von Betrug und Täuschung verstanden bzw. diffamiert werden. Die hier versammelten Beiträge zeigen, dass das Gelingen und Misslingen von Gesprächen in den verschiedenen Epochen und Kulturen in unterschiedlichen Textgattungen und Diskurstypen in immer neuen Konstellationen durchgespielt wird. Die Grenzen dialogischer Verständigung und das Glück des guten Gesprächs erweisen sich als ein zentrales Thema der Literatur. Diesen historischen Prägungen steht die Frage gegenüber, inwiefern das gelingende Gespräch auf universelle Prinzipien zurückgeführt werden kann. Die Spannung zwischen historischen Konzepten einerseits und universellen, nicht historisch gebundenen Modellen des Gelingens andererseits ist ein wiederkehrendes Thema (vgl. Schrott, Strosetzki, Knoblauch). Da im Dialog Sprache und Kultur, Sprachbeherrschung und kulturelle Kompetenz Hand in Hand gehen, gilt es auch, die Parameter des Gelingens zwischen Sprache und Kultur zu thematisieren. Ein sprachlich perfektes Gespräch kann auf der Ebene der kulturellen Normen misslingen, wogegen ein kulturell angemessenes Sprechen auch bei restringierter sprachlicher Kompetenz gelingen kann. Diese Intersektionen können durch die von Eugenio Coseriu entwickelte Trias von Kongruenz als Übereinstimmung mit universellen Prinzipien des Sprechens, einzelsprachlicher Korrektheit und Angemessenheit des Sprechens präzisiert werden (Coseriu 2007: 159, 176, 179-181). Eine zentrale Erkenntnis der Tagung, auf die der vorliegende Band zurückgeht, ist die Produktivität der Engführung von Historischem und Universellem. Ein Konzept wie das Gelingen, das universelle Regeln und historische Normen untrennbar verbindet, erfordert eine Pendelbewegung, die allgemein-methodologische Fragen und historisch-kulturelle Konkretionen miteinander zu verbinden sucht. Auf diese Weise ist die Theoriebildung anschaulich und die Analyse historischer Exempla methodologisch und begrifflich klar.
Einleitung
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Normen, Traditionen, Gemeinschaft Dialoge folgen Normen, Konventionen und Traditionen, die eine Grundlage gelingender Kommunikation bilden. Die Linguistik versteht seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Sprache zunehmend im praktischen Vollzug. Die von Harvey Sacks in den 1960er und 1970er Jahren begründete Konversationsanalyse nimmt Impulse des Sozialphänomenologen Alfred Schütz auf, der fragte, wie in der sozialen Welt Akteurinnen und Akteure ihrem Erleben und Handeln Sinn geben (1932). Die Wende hin zu pragmalinguistischen Perspektiven in der Sprachwissenschaft der 1970er Jahre verstärkte die Hinwendung zum Gespräch als genuiner Ort sprachlichen Handelns. Eine sozialwissenschaftlich orientierte Deutung kommunikativer Normen liefert der Wissenssoziologe Thomas Luckmann, Schütz’ Schüler, der zur Klassifizierung das Konzept der „kommunikativen Gattungen“ und des von diesen Gattungen gebildeten „kommunikativen Haushalts“ entwickelte (Luckmann 1988, 1997). Für Luckmann ist die Kommunikation die empirisch beobachtbare Seite des Sozialen und konstruiert die soziale Welt, die im Paradigma der Wissenssoziologie erforscht wird. Das Konzept der kommunikativen Norm ist in der linguistischen Pragmatik zentral. Die Gesprächsforschung untersucht seit den 1990er Jahren deskriptiv normative Vorgaben, die die Akteurinnen und Akteure in ihren sprachlichen Handlungen als relevant setzen. Entscheidend ist dabei, dass die gesprächsleitenden Normen nur zu einem geringen Teil als Regeln wirken, die analog zu grammatischen Regeln fassbar wären, sondern vielmehr Tendenzen, Maximen und Affinitäten darstellen. Eine Verfeinerung des Normbegriffs leistet das in den vergangenen Jahren in der romanistischen Sprachwissenschaft intensiv diskutierte Konzept der Diskurstraditionen (Koch 1997, 2008, Schrott 2014, 2015, 2017, Lebsanft / Schrott 2015). Diskurstraditionen sind ein kulturelles Wissen, das sich auf sprachliche Praktiken bezieht. Sie beinhalten Anleitungen zu kommunikativen Routinen (eine Einladung aussprechen, Kritik üben, ein Kompliment machen), modellieren als Traditionen aber auch komplexe sprachliche Formen wie einen wissenschaftlichen Vortrag und ganze Gesprächstypen. Die Gestaltung und Formung von Dialogen – wie man einen Dialog eröffnet, das Thema wechselt, ein Gespräch beendet (vgl. Strosetzki 2014: 63-67) – folgt ebenfalls den Diskurstraditionen, die in einer kulturellen Gemeinschaft die Gesprächskultur prägen. Kultur und Sprache sind jedoch noch in einer weiteren Weise miteinander verschränkt. Denn kulturelle Konzepte des Gelingens sind eng mit historischen Sprachkonzepten verbunden: Wie Möglichkeiten gelingender Gespräche eingeschätzt werden, hängt nämlich in hohem Maße davon ab, was die Akteurinnen und Akteure der Sprache als Mittel der Verständigung zutrauen (oder eben nicht zutrauen) und welche hermeneutischen Modelle eine Gemeinschaft aus Philosophie, Sprachreflexion und Sprachkritik heranzieht, um über die Grenzen und Möglichkeiten des Verstehens zu reflektieren. Die Normen gelingenden dialogischen Sprechens können implizit in literarischen Texten transportiert werden, die Gelingen und Misslingen mimetisch repräsentieren, sie können jedoch auch explizit als Regeln vermittelt werden. Dabei ist es nicht in
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jedem Fall notwendig, von der vorliegenden dialogischen Literatur ausgehend den Versuch zu unternehmen, kulturelle Praktiken induktiv zu rekonstruieren (Cazanave 2007: 27). Denn dort, wo Dialog und Konversation als Kultur herausgestellt werden, haben die Gewohnheiten dialogischen Sprechens und die im Gespräch zum Ausdruck kommenden Konzepte, wie etwa Galanterie, bereits per se normsetzende Kraft (Barbafieri 2006). Dies ist der Fall, wenn Konversation als Ort der Geselligkeit legitimiert und idealisiert wird und wenn Eigenschaften, die Geselligkeit ermöglichen, wie sociabilidad (Albert 2013) oder die aristotelische Tugend der Eutrapelia, positive Bewertung erfahren (Strosetzki 2014: 326). Traditionalität und Musterhaftigkeit sind eine Grundlage gelingender Gespräche. Denn Traditionen haben den natürlichen Effekt, dass sie alle, die sie beherrschen und praktizieren, zu einer Gruppe oder Gemeinschaft zusammenschließen. Die Kehrseite dieser Wirkung ist allerdings, dass Traditionen auch eine ausschließende Wirkung gegenüber all denjenigen haben, die sie nicht beherrschen bzw. nicht ausüben (wollen). Dies impliziert, dass eine asymmetrische Beherrschung von Diskurstraditionen das Gelingen eines Gesprächs beeinträchtigen und auch die Gemeinschaftsbildung ins Stocken bringen kann. Die gemeinsame Kenntnis der Diskurstraditionen und damit verknüpfte gemeinsame Wissenshorizonte hingegen schaffen Gemeinschaft, wobei die Annahmen eines Akteurs über das Wissen seines Interaktionspartners zur Grundlage für Verstehen, Handeln und Formulieren werden (Deppermann 2015: 7, 11). Zur Verständigungssicherung gehört damit, dass der Sprecher seinen Beitrag auf das Wissen des Gesprächspartners ausrichtet und im Sinne der Coseriu’schen Alterität (2007: 192) nicht nur zum Gesprächspartner, sondern auch für den Gesprächspartner spricht. Der Angesprochene wiederum signalisiert dem Sprecher, dass er ihn entweder vollkommen verstanden hat oder aber eine zusätzliche Klärung oder Ergänzung wünscht. In diesem Sinne ist das wechselseitige Verstehen ein dialogischer Aushandlungsprozess. Alterität als Einstellung auf den Gesprächspartner spielt zudem immer dann eine Rolle, wenn für unterschiedliche Gesprächspartner differenziertes Verhalten gefordert wird. Dies ist der Fall bei der Begegnung von Personen, die unterschiedliche gesellschaftliche Positionen bekleiden, in unterschiedlichem Grad vertraut miteinander sind oder verschiedene soziale Rollen haben, etwa wenn sich ein honnête homme und ein pédant, ein savant oder ein citoyen unterhalten. Ein besonders einleuchtendes Beispiel für die Gemeinschaftsbildung durch Konversation ist die höfische Gesellschaft des 17. und 18. Jahrhunderts, der sich nicht zufällig mehrere Beiträge des Bandes widmen. Im Kontext der höfischen Gesellschaft des 17. Jahrhunderts in Frankreich definierte man die angenehme Konversation als eine, bei der die Themen gleichgültig waren, wichtig war allein, dass die Gesprächspartner sich wohlfühlten. Der Unterschied zwischen der höfischen Interaktion der Frühen Neuzeit, bei der die Funktion der Unterhaltung dominiert, und dem philosophischen Dialog der Aufklärung, der primär auf Belehrung und den Inhaltsaspekt zielt, lässt sich als weiterer idealtypischer Gattungsunterschied hervorheben (Till 2004: 731).
Einleitung
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Akzente Die Normen, die Gespräche leiten, und das damit verbundene Konzept des Gelingens sind historische Größen, doch zugleich kann das Gelingen auch an universelle Parameter gebunden werden, etwa an das Grice’sche Prinzip der Kooperation. Die Beiträge des ersten Abschnitts Konzepte des Gelingens zwischen Literaturwissenschaft und Linguistik widmen sich diesen Verknüpfungen universeller und historisch-kultureller Parameter und den damit verbundenen methodologischen Herausforderungen mit dem Fokus auf Linguistik und Literaturwissenschaft. Auf der Ebene der universellen Regeln für gelungenes Sprechen bietet sich das Grice’sche Kooperationsprinzip an, dessen Modellierungen in Philosophie und Literatur analysiert werden (Beitrag Strosetzki). Universelle und historische Komponenten durchziehen auch die verbale Höflichkeit und deren Mitwirken an gelingender Interaktion. Als Grundlage der linguistisch-philologischen Analyse dient eine aus Coserius Systematik der Regeln und Traditionen des Sprechens abgeleitete Kategorisierung von Konzepten des Gelingens (Beitrag Schrott). Die Kategorisierung von Konzepten des Gelingens verdeutlicht deren Mehrdimensionalität und die sich daraus ergebende Forderung nach einer konsequent interdisziplinären Herangehensweise, deren Grundriss ebenfalls skizziert wird (Beitrag Kalverkämper). Ergänzend zu Literaturwissenschaft und Linguistik setzt der zweite Abschnitt Gespräch und Philosophie in Relation und verbindet die Idee des Gelingens mit dem Erwerb von Erkenntnis und Wissen durch das Gespräch. Die Beiträge behandeln die Konzepte des Gelingens bei Platon, insbesondere die Rolle der Ironie im Platonischen Dialog, die den Weg zur Erkenntnis als gewollte Erschwernis und transparente Verstellung begleitet (Beitrag Föllinger). Das Gespräch als Form der Erkenntnisvermittlung kann schließlich auch zur Unterrichtsform werden, die zuerst dominiert, dann stagniert und schließlich abgewählt wird, wie die Darlegungen zur Sokratischen Lehrart als Unterrichtsform in der Aufklärung belegen (Beitrag Till). Den Fokus auf Prozesse der Gemeinschaftsbildung legen die im dritten Abschnitt Gelungene Gespräche, Gesellschaft und Gemeinschaftsbildung gebündelten Studien. Eine verbale Interaktion, die eine Gruppe eng zusammenschließt, ist die gemeinsame Beurteilung und Bestrafung eines Vergehens. Ein besonders drastisches Beispiel einer solchen Exkludierung ist der Militärprozess im 16. Jahrhundert, dessen Gelingen als Interaktion die kriegsrechtliche Ordnung wahrt (Beitrag Gloning / Holzhacker). Exemplarisch für Prozesse der Gemeinschaftsbildung durch das gelungene Gespräch als kulturelle Norm sind das 16. und 17. Jahrhundert, das in der Nachfolge von Baldassare Castigliones Cortegiano (1528) gesellschaftliche Normen dialogisch reflektiert und illustriert und über den Hof hinaus als escuela de cortesanía in Adel und Bürgertum Ideale der Höflichkeit und der Geselligkeit verhandelt (Beitrag Albert). Ein weiterer Aspekt der Konversationskultur ist die Disziplinierung der eigenen Person. Die Regulierung der nonverbalen Kommunikation im Frankreich des 17. Jahrhunderts zeigt gelingende Kommunikation als disziplinierte Beherrschung nicht nur des bon usage, sondern des gesamten Körpers (Beitrag Löchner). Die auf verschiedene Epochen und
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historisch verankerte Typen der Gemeinschaftsbildung konzentrierten drei Beiträge werden durch eine wissenssoziologische Studie ergänzt, die die Struktur der Sequenz zum Ausgangspunkt für eine systemorientierte Herangehenweise an Gelingenskonzepte nutzt (Beitrag Knoblauch). An das Konzept der Gemeinschaftsbildung und der sozialen Funktion von Gesprächen schließen zwei Beiträge an, die das Gesprächsverhalten von Männern und Frauen in den Blick nehmen und aufgrund dieser Akzentsetzung den Abschnitt Gelingende Interaktion und Gender bilden. Die sozialen Implikationen von Gender und den Einfluss der Geschlechterrollen auf Konzepte des Gelingens verdeutlicht der erste Beitrag dieses Abschnitts, der Konstellationen sowohl gelehrter Dialoge als auch geselliger Gespräche exemplarisch vom 14. bis zum 17. Jahrhundert untersucht (Beitrag Schnell). Einen anderen Weg geht der zweite Beitrag, der am Beispiel eines popularphilosophischen Textes und seiner Übersetzung durch Gottsched Genderpolitik in den Mikrostrukturen eines sprachlichen und kulturellen Transfers untersucht (Beitrag Dröse). Der letzte Abschnitt schließlich widmet sich Fiktionen des Gelingens in literarischen Texten. Mittelalter und Frühe Neuzeit stehen im Zentrum der ersten Studie, die zeigt, dass das Konzept des Gelingens nur bedingt auf mittelalterliche (literarische) Gespräche anwendbar ist, die vielmehr hinsichtlich ihrer rhetorischen Formung und bezogen auf die Geschicklichkeit der Protagonisten beurteilt werden (Beitrag Miedema). Die These einer historischen Gebundenheit des Gelingens unterstützt die zweite Analyse, die sich dem Gespräch in der Aufklärung widmet. Die Untersuchung einer aufklärerischen Robinsonade (Johann Karl Wezels Robinson Krusoe) belegt, dass das Gelingen der Kommunikation als Voraussetzung für Gemeinschaft, Bildung und individuelle Entwicklung verstanden wird (Beitrag Bach). Das Gelingen der Aufklärung, die Vermittlung ihrer Werte und Ideale, hängt entscheidend vom Gelingen der Gespräche ab, die den Einzelnen an der aufgeklärten Gesellschaft teilhaben lassen. Den Abschluss bilden Interpretationen zum Theaterdialog, die Konzepte des Gelingens und Misslingens in französischen und spanischen Dramen vor dem Hintergrund der gedoppelten Kommunikationssituation analysieren und im Spannungsfeld von Verhüllung und Enthüllung Konstellationen der Abgründigkeit behandeln (Beitrag Matzat).
Einleitung
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Zur Publikation Der vorliegende Band basiert auf einer dreitägigen Tagung mit dem Titel „Gelungene Gespräche als Praxis der Gemeinschaftsbildung: literaturwissenschaftliche und linguistische Perspektiven“, die vom 2. bis 5. Oktober 2017 an der Evangelischen Akademie Hofgeismar stattfand. Sowohl die Hofgeismarer Tagung als auch die Publikation des vorliegenden Bandes wurden von der Fritz Thyssen Stiftung gefördert, der wir nicht nur für die substanzielle finanzielle Unterstützung, sondern auch für die ausgezeichnete Zusammenarbeit herzlich danken. Unser herzlicher Dank gilt ferner Katharina Wilhelmine Dziuk Lameira (Kassel) und Dr. Kristina Bedijs (Kassel) für die stets präzise und engagierte Mitarbeit bei Redaktion und Drucklegung. Angela Schrott und Christoph Strosetzki Kassel / Münster, im Oktober 2019
Bibliographie Albert, Mechthild (2013): Sociabilidad y literatura en el Siglo de Oro. – Madrid / Frankfurt am Main: Iberoamericana / Vervuert. Barbafieri, Carine (2006): Astrée et Céladon. La galanterie dans le théâtre tragique de la France classique (1634–1702). – Rennes: Presses Universitaires de Rennes. Cazanave, Claire (2007): Le dialogue à l’âge classique. Étude de la littérature dialogique en France au XVIIe siècle. – Paris: Champion. Coseriu, Eugenio (2007): Sprachkompetenz. Grundzüge der Theorie des Sprechens. – Tübingen: Francke. Deppermann, Arnulf (2015): Wissen im Gespräch: Voraussetzung und Produkt, Gegenstand und Ressource. – In: Interaction and Linguistic Structures 57. Online: http://www.inlist.unibayreuth.de/issues/57/inlist57.pdf. Gardt, Andreas (2012): Sprachgeschichte als Kulturgeschichte. – In: Péter Maitz (ed.): Historische Sprachwissenschaft. Erkenntnisinteressen, Grundlagenprobleme, Desiderate, 289-300. Berlin / Boston: De Gruyter. Koch, Peter (1997): Diskurstraditionen: zu ihrem sprachtheoretischen Status und ihrer Dynamik. – In: Barbara Frank / Thomas Haye / Doris Tophinke (eds.): Gattungen mittelalterlicher Schriftlichkeit, 43-79. Tübingen: Narr. Koch, Peter (2008): Tradiciones discursivas y cambio lingüístico: el ejemplo del tratamiento vuestra merced en español. – In: Johannes Kabatek (ed.): Sintaxis histórica del español y cambio lingüístico: Nuevas perspectivas desde las tradiciones discursivas, 53-87. Frankfurt am Main / Madrid: Vervuert / Iberoamericana. Lebsanft, Franz / Schrott, Angela (2015): Diskurse, Texte, Traditionen. – In: Franz Lebsanft / Angela Schrott (eds.): Diskurse, Texte, Traditionen. Modelle und Fachkulturen in der Diskussion, 11-46. Göttingen / Bonn: V&R unipress / Bonn University Press. Linke, Angelika (2008): Kommunikation, Kultur und Vergesellschaftung. Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Kommunikation. – In: Ludwig M. Eichinger / Heidrun Kämper (eds.): Sprache – Kognition – Kultur. Sprache zwischen mentaler Struktur und kultureller Prägung, 24-50. Berlin / New York: De Gruyter.
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Linke, Angelika (2014): Kommunikationsgeschichte. – In: Vilmos Ágel / Andreas Gardt (eds.): Paradigmen der aktuellen Sprachgeschichtsforschung, 22-45. Berlin / Boston: De Gruyter. Luckmann, Thomas (1988): Kommunikative Gattungen im kommunikativen ‚Haushalt‘ einer Gesellschaft. – In: Gisela Smolka-Koerdt / Peter M. Spangenberg / Dagmar Tillmann-Bartylla (eds.): Der Ursprung von Literatur. Medien, Rollen, Kommunikationssituationen zwischen 1450 und 1650, 279-288. München: Fink. Luckmann, Thomas (1997): Allgemeine Überlegungen zu kommunikativen Gattungen. – In: Barbara Frank / Thomas Haye / Doris Tophinke (eds.): Gattungen mittelalterlicher Schriftlichkeit. 11-17. Tübingen: Narr. Sacks, Harvey (1972): An Initial Investigation of the Usability of Conversational Materials for Doing Sociology. – In: David Sudnow (ed.): Studies in social interaction, 31-74. New York: Free Press. Schröter, Juliane (2011): Offenheit. Die Geschichte eines Kommunikationsideals seit dem 18. Jahrhundert. – Berlin: De Gruyter. Schrott, Angela (2014): Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft aus romanistischer Sicht: Das Beispiel der kontrastiven Pragmatik. – In: Romanische Forschungen 126, 3-44. Schrott, Angela (2015): Kategorien diskurstraditionellen Wissens als Grundlage einer kulturbezogenen Sprachwissenschaft. – In: Franz Lebsanft / Angela Schrott (eds.): Diskurse, Texte, Traditionen. Modelle und Fachkulturen in der Diskussion, 115-146. Göttingen / Bonn: V&R unipress / Bonn University Press. Schrott, Angela (2017): Las tradiciones discursivas, la pragmalingüística y la lingüística del discurso. – In: Revista de la Academia Nacional de Letras 13, 25-57. Strosetzki, Christoph (21987): Rhétorique de la conversation. Sa dimension littéraire et linguistique dans la société française du XVIIe siècle. Traduit en français par Sabine Seubert. – Paris / Seattle / Tübingen: Biblio 17. Strosetzki, Christoph (1995): La place de la théorie de la conversation au XVIIIe siècle. – In: Bernard Bray / Christoph Strosetzki (eds.): Art de la lettre – Art de la conversation à l’époque classique en France, 145-164. Paris: Klincksieck. Strosetzki, Christoph (1996): Zur Duelltheorie und ihren Beziehungen zur höfischen Rhetorik und Poetik. – In: Euphorion 90, 226-236. Strosetzki, Christoph (22014): Konversation als Sprachkultur. Elemente einer historischen Kommunikationspragmatik. – Berlin: Frank & Timme. Schütz, Alfred (1932): Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. – Frankfurt am Main: Suhrkamp. Till, Dietmar (2004): Transformationen der Rhetorik. Untersuchungen zum Wandel der Rhetoriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert. – Tübingen: Niemeyer.
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Konversation als Spiel: Charles Sorel vs. Grice und Gadamer
Wenn Thomas Hobbes im Leviathan (1651) im Kapitel „Von der Sprache“ davon spricht, dass Sprache immer zum Missverstehen führt und dafür besonders die Metaphorik und die von Mal zu Mal schwankende Bedeutung der Wörter verantwortlich macht, dann hebt er die Schwierigkeit der klaren Vermittlung von Bedeutungsinhalten hervor. Ebenso kritisch äußert sich Fritz Mauthner im ersten Band seiner Beiträge zu einer Kritik der Sprache (1982, 1923), wenn er zum Schluss kommt: „Ein Hauptmittel des Nichtverstehens ist die Sprache“ und „durch die Sprache haben es sich die Menschen für immer unmöglich gemacht, einander kennen zu lernen“ (Mauthner 1982: 56, zit. nach Hinnenkamp 1998: 53 f.). Insbesondere kritisiert Mauthner, dass von Wörtern auf Gegenstände und Sachverhalte geschlossen wird: „Weil wir das Wort ‚frei‘ haben, darum halten wir uns für frei“ (Mauthner 1982: 67, zit. nach Hinnenkamp 1998: 54). Friedrich Schleiermacher geht in seinen hermeneutischen Überlegungen davon aus, dass das Missverstehen z. B. in einem Gespräch sich von selbst ergibt, dass das Verstehen aber in jedem einzelnen Punkt gewollt und gesucht werden muss (vgl. Hinnenkamp 1998: 54 f.). Präzis auf den Punkt bringt es der Hermeneutiker Emilio Betti: Mißverstehen (perverse interpretari, perperam intellegere) heißt, mit der Rede einen anderen als den ihr eigenen Sinn verknüpfen, sei es, daß man wegen Verwechslung eine Andeutung nicht auf das eigentlich Gemeinte (‚referend‘), sondern auf Nichtgemeintes bezieht, sei es, daß man den unausgesprochenen Bestandteil einer elliptischen Rede (ihre Voraussetzungen) falsch ergänzt.¹
In allen genannten Fällen geht es um einen vom Sprecher gemeinten Inhalt, der vom Hörer nicht oder falsch verstanden wird, weshalb von einem Missverständnis die Rede sein kann. Die ideale Konversation geht davon aus, dass der Gesprächspartner die Wahrheit sagen will, sich auf sein Gegenüber einstellt und eine inhaltliche Information hat, die für das Gegenüber von Bedeutung ist. Grice hat dies in normativen Kooperationsprinzipien formuliert, die in vier Gruppen von Maximen zu unterteilen sind:² Die Quantitätsmaximen erheben zwei Forderungen: Dein Beitrag soll so informativ wie möglich sein! Und dein Beitrag soll nicht informativer als nötig sein! Die Qualitätsmaximen wünschen dreierlei: Du sollst dich bemühen, deinen Beitrag wahr sein zu lassen! Sage nichts, was du für falsch hältst! Und sage nichts, wofür dir angemessene Gründe fehlen! Bei der von Grice genannten Relationsmaxime heißt es lapidar: Sei relevant! Von den Maximen der Art und Weise schließlich gibt Grice fünf
Betti 1967: 115; vgl. Hinnenkamp 1998: 54 f. Vgl. im Folgenden Auer 1999: 95. https://doi.org/10.1515/9783110592580-002
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an: Sprich klar und verständlich! Vermeide dunkle Ausdrücke! Vermeide mehrdeutige Ausdrücke! Fasse Dich kurz! Und sprich geordnet! Während also die Maximen der Art und Weise aus der claritas-Regel der klassischen Rhetorik abzuleiten sind (Ueding 2003: 814), beziehen sich die übrigen auf die Inhalte, die wahr und relevant sein sollen. Ein Gespräch über Inhalte ist es auch, das Hans Georg Gadamer in einem seiner wenigen literarischen Werke, einem fiktiven ‚sokratischen‘ Dialog zwischen Sokrates und Fred, vorführt. In dieser Konversation, von der der Anfang zitiert werden soll, werden alle Grice’schen Postulate erfüllt. Sokrates: Wohin so eilig? Fred: Zum Tennis! Sokrates: Wo spielst Du denn? Fred: Nun, doch natürlich in dem besten Klub der Stadt. Sokrates: So, du weißt also, welcher der beste ist? Fred: Natürlich. Sokrates: Das interessiert mich. Bei so vielen Dingen habe ich vergeblich gefragt, was das ist, was etwas gut sein läßt. Ich bin glücklich, jemanden gefunden zu haben, der es weiß, wenn auch nur im Tennis. Darf ich fragen? Fred: Bitte. Sokrates: Sag mir, warum ist dein Klub der beste? Fred: Weil man die besten Verbindungen bekommt. Sokrates: Was für Verbindungen? Zum Tennisspielen? Fred: Ach wo, halt Verbindungen. Sokrates: Aber sage mir, gehst du nicht in den Tennisklub, um Tennis zu spielen? Fred: O ja, das auch. Sokrates: Nun, dann sage mir, warum dein Klub für dein Tennisspielen der beste ist. (Gadamer 2000: 227)
Die Konversationsbeiträge von Fred und Sokrates entsprechen den Grice’schen Maximen. Sokrates geht es um die relevante Frage, was das Beste bzw. was das Gute ist. Beide vermeiden dunkle Ausdrücke, fassen sich kurz und sprechen geordnet. Ihre Beiträge sind ausreichend informativ und entsprechen der Wahrheit. Mit platonischen Dialogen kannte sich Gadamer aus, hatte er doch 1922 an der Universität Marburg bei Paul Natorp und Nicolai Hartmann über „Das Wesen der Lust nach den platonischen Dialogen“ promoviert. Dass es in Gadamers Hermeneutik fast immer um das Verstehen von sachlichen Inhalten geht, belegen Aussagen wie: „Sachliche Verständigung im Gespräch ist gerichtet auf Wissen“ (Gadamer 1985: 15). An erster Stelle steht für Gadamer die Sache, erst kann kommt der Gesprächspartner: „Verstehen, was einer sagt, ist, wie wir sahen, sich in der Sache Verständigen und nicht: sich in einen an-
Konversation als Spiel: Charles Sorel vs. Grice und Gadamer
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deren Versetzen und seine Erlebnisse Nachvollziehen“ (Gadamer 1975: 361). Auch dass der Gesprächspartner Träger einer Meinung ist, erscheint sekundär: Verstehen [heißt] primär […] sich in der Sache verstehen, und erst sekundär, die Meinung des anderen als solche abheben und verstehen. Die erste aller hermeneutischen Bedingungen ist das Vorverständnis das im Zu-tun-haben mit der gleichen Sache entspringt. (Gadamer 2010: 299, zit. nach Wagner 2011: 145)
Mit „Sache“ meint Gadamer das, was wir bisher mit „Inhalt“ bezeichnet haben. Und auch dort, wo Gadamer sein hermeneutisches Modell, die Zirkelhaftigkeit des Verstehens, erklärt, zeigt er sich als Kenner der antiken Sprachen und Literaturen: Wir kennen das aus der Erlernung der alten Sprachen. Wir lernen da, daß wir einen Satz erst ‚konstruieren‘ müssen, bevor wir die einzelnen Teile des Satzes in ihrer sprachlichen Bedeutung zu verstehen suchen. […] Einstimmung aller Einzelheiten zum Ganzen ist das jeweilige Kriterium für die Richtigkeit des Verstehens. Das Ausbleiben solcher Einstimmung bedeutet Scheitern des Verstehens. (Gadamer 1975: 275) Das Konstruieren eines griechischen Satzes zeigt sich als Entwerfen eines Gesamtsinns, dessen Stimmigkeit durch die einzelnen Teile des Satzes belegt oder widerlegt wird. Genauso funktioniert nach Gadamer die Zirkelhaftigkeit des Verstehens: Wer einen Text verstehen will, vollzieht immer ein Entwerfen. Er wirft sich einen Sinn des Ganzen voraus, sobald sich ein erster Sinn im Text zeigt. Ein solcher zeigt sich wiederum nur, weil man den Text mit gewissen Erwartungen auf einen bestimmten Sinn hin liest. Im Ausarbeiten eines solchen Vorentwurfs, der freilich beständig von dem her revidiert wird, was sich bei weiterem Eindringen in den Sinn ergibt, besteht das Verstehen dessen, was dasteht. (ebd.: 251) Die Antizipation von Sinn „bestimmt sich aus der Gemeinsamkeit, die uns mit der Überlieferung verbindet. […] Der Zirkel des Verstehens ist also überhaupt nicht ein ‚methodischer‘ Zirkel, sondern beschreibt ein ontologisches Strukturmoment des Verstehens“ (ebd.: 277). Hier denkt Gadamer nicht mehr an die Situation des Gesprächs, sondern an die Lektüre von Texten vergangener Zeiten, wobei allerdings dieselben Kriterien gelten. Ein weiteres beliebtes Modell der Gadamer’schen Hermeneutik ist die Verschmelzung von Horizonten. Gemeint ist, dass Sprecher und Hörer unterschiedliche Wissensinhalte mitbringen und das Verstehen sich dort erfolgreich zeigt, wo durch das Gespräch inhaltliche Übereinstimmungen erzielt werden: „Vielmehr ist Verstehen immer der Vorgang der Verschmelzung solcher vermeintlich für sich seiender Horizonte“ (ebd.: 289). Grundidee ist, „daß die im Verstehen geschehende Verschmelzung der Horizonte die eigentliche Leistung der Sprache ist“ (ebd.: 359). Auch hier sind es inhaltliche Wissensbereiche, die miteinander verschmelzen. Natürlich kann das Verstehen nach Gadamer über die Horizontverschmelzung hinausgehen, so z. B. wenn der Interpret mehr versteht als der Autor, der Sinn eines Textes also seinen Autor übertrifft. Dann nämlich „ist Verstehen kein nur reproduktives, sondern stets auch ein produktives Verhalten“ (ebd.: 280). Auch die Applikation, z. B. die ethische Anwendung einer Stelle der Bibel auf das Leben des Einzelnen, geht
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über die Horizontverschmelzung hinaus, wird aber als Bestandteil des hermeneutischen Vorgangs wie Verstehen und Auslegen gesehen (vgl. ebd.: 291). Auch in diesen Varianten des Verstehens, dem produktiven Verhalten oder der Applikation, die beide auch für die Konversation gelten, stehen die Inhalte im Mittelpunkt. Blicken wir zurück auf den eingangs zitierten Auszug der Konversation von Fred und Sokrates, zeigen sich darin Zirkelhaftigkeit und Horizontverschmelzung in der Weiterentwicklung des Verstehens, was mit dem „besten Klub“ gemeint ist, während Sokrates mit der Idee des Guten auch deren Applikation anstrebt. Nun stehen aber keineswegs konstant bei Gadamer die Inhalte im Mittelpunkt. Aus der Antike ist ihm der Gegensatz zwischen der sokratischen Sachbezogenheit und der Personenbezogenheit der Sophisten geläufig. Den Sophisten ging es darum, in jeder Sache Recht zu behalten, gleichgültig was Sachverhalt und Wahrheit aussagen. Gadamer merkt an: „Das Sprechen gibt sich den Schein Wissen zu sein, sofern es sich durch die in ihm selbst gelegene Verführung die Zustimmung Anderer zu verschaffen, oder Andere zu widerlegen versteht“ (Gadamer 1968: 34 f.). Offensichtlich kommt es dem Sophisten nicht auf den Inhalt an, sondern nur auf seine Selbstdarstellung: „Diese Art der Rhetorik zeigt im Extrem, daß an der Sache, von der die Rede ist, dem Redner nichts liegt, sondern nur an der Möglichkeit, bei jeder Sache seine Kunst zu zeigen“ (ebd.: 38). Sokrates ist in seiner Gesprächsführung, wie schon der eingangs zitierte Dialog gezeigt hat, ganz und gar inhaltsbezogen. Wahrheit hat bei ihm die Priorität gegenüber den Personen. „Im Widerlegen der Antworten, die Sokrates auf seine Frage nach dem Wesen der Arete erhält, macht er sichtbar, als was diese Arete gesucht wird: als Wissen um das Gute“ (ebd.: 47). Vielleicht kann man das Gespräch zwischen Gadamer und Derrida als eine moderne Variante des alten Gegensatzes zwischen Sokrates und den Sophisten sehen. Nach Gadamer nämlich führt Verstehen weiter, wenn man damit rechnet, dass man selbst im Unrecht sein könnte. Vorausgesetzt wird also eine Haltung der Offenheit, an der es Derrida in seinem „Gespräch“ mit Gadamer, das dieser als „Feuerwerk von aufblitzenden Anspielungen“ (zit. nach Plieger 2000: 46) bezeichnete, fehlen ließ. Derrida entgegnete Gadamers Postulat des Verstehen-Wollens mit einer Analyse der Nietzsche-Interpretation Heideggers und konnte damit den Universalitätsanspruch der Hermeneutik bestreiten, indem er strategisch auswich (Plieger 2000: 48). Dabei brauchte er auf Gadamers Inhalte nicht einzugehen. Gadamer kennt aber auch noch weitere Varianten, die er als Verfallsformen des Gesprächs bezeichnet. Während für ihn Forschung Suchen des Grundes ist, erscheint das Miteinandersprechen demgegenüber als neutral. Im Sichmitteilen ist nicht so sehr das Sein zur Sache als Mitzuteilendes intendiert, als die die Gemeinsamkeit in diesem Sein zu ihr. Das Sprechen ist also wesentlich Sichaussprechen, d. h. ein Mitteilen des eigenen Sichbefindens. (Gadamer 1968: 26)
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Die darin angelegte Verfallenstendenz hatte Heidegger, den Gadamer zitiert, in Sein und Zeit in der Analytik der Alltäglichkeit als Neugier und Gerede aufgewiesen. Heidegger schreibt: Das Gerede ist die Möglichkeit, alles zu verstehen, ohne vorgängige Zueignung der Sache. [Es] entbindet nicht nur von der Aufgabe echten Verstehens, sondern bildet eine indifferente Verständlichkeit aus, der nichts mehr verschlossen ist. (Heidegger 1941: 169)
Die mit der ständigen Möglichkeit der „Zerstreuung“ verbundene Neugier verweilt nach Heidegger nicht: „Das Gerede regiert auch die Wege der Neugier, es sagt, was man gelesen und gesehen haben muß. Das Überall-und nirgends-sein der Neugier ist dem Gerede überantwortet“ (ebd.: 173). Hier wird die Rede ebenso unsachlich gebraucht wie bei den Sophisten, denen es darum ging, entweder die eigene Überlegenheit oder die Unterlegenheit der anderen zu belegen. Gadamer konstatiert: „Die Herrschaft der Rede in den eben charakterisierten uneigentlichen Formen ist in der historischen Tatsache der Sophistik verkörpert“ (zit. nach Plieger 2000: 82). Es lässt sich also festhalten, dass immer dann, wenn nicht Inhalte, sondern Personen prioritär werden, bei Gadamer Verfallsformen des Gesprächs gegeben sind. Und doch leuchtet bei ihm auch eine andere Sicht der Dinge auf. Es gibt Stellen, an denen für ihn die Inhalte weitgehend neutral sind, z. B. dort, wo ihm die Grundstruktur der Verständigung unabhängig von Wahrheitsansprüchen als Mitgehen mit der Musik erscheint: „Verstehen ist immer Mitgehen mit dem, was gesagt wird, auch wenn es keineswegs notwendig Zustimmung bedeutet“ (Gadamer 2000: 53). Betrachtet man die Dynamik der Konversation, dann erscheint sie Gadamer durchaus nicht immer so zielstrebig auf die Erreichung inhaltlicher Wahrheiten ausgerichtet wie bei Sokrates: Wie da ein Wort das andere gibt, wie das Gespräch seine Wendungen nimmt, seinen Fortgang und seinen Ausgang findet, das mag sehr wohl eine Art Führung haben, aber in dieser Führung sind die Partner des Gesprächs weit weniger die Führenden als die Geführten.Was bei einem Gespräch ‚herauskommt‘, weiß keiner vorher. Die Verständigung oder ihr Mißlingen ist wie ein Geschehen, das sich an uns vollzogen hat. So können wir dann sagen, dass es ein gutes Gespräch war, oder auch, daß es unter keinem günstigen Stern stand. (Gadamer 1975: 361)
Ganz deutlich wird Gadamers andere Sicht auf die Dinge, wo er in Anlehnung an die Nikomachische Ethik des Aristoteles das Spiel als Sein zu Anderen definiert: Für das Spiel ist es wesentlich, daß die Spieler ‚dabei‘ sind, d. h. sich mitnehmen lassen von den Aufgaben des Spiels, ohne im Auge zu behalten, daß es kein Ernst ist. […] Das Sein zur Sache ist also im Spielen eigentümlich neutral. […] Der Gegenstand der spielenden Anstrengung ist etwas, an dem selbst nichts liegt: das Spielen selbst ist das Worumwillen des Spiels. (Gadamer 1968: 25)
Um es noch einmal hervorzuheben: Beim Spiel ist die Sache neutral, d. h. unwichtig. Wenn Spieler spielen, ist das Spiel sein eigener Selbstzweck. Wäre das nicht ein gutes Modell für die Konversation?
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In der Tat ist dies für den französischen Romanautor und Schriftsteller des 17. Jahrhunderts Charles Sorel (1602?-1674) der Fall. In seinem Buch La Maison des jeux (1642) stellt er die Konversation als dem Spiel vergleichbar dar und schlägt unterschiedliche Konversationsspiele vor, wie sie wohl in den Pariser Salons praktiziert wurden. Dass bei den Spielen ebenso wie bei der Konversation nicht die Inhalte, wohl aber die gute Laune und das Interesse der beteiligten Personen im Vordergrund stehen, mag ein Blick auf die von ihm vorgestellten Kinderspiele verdeutlichen. Diese nämlich, wie z. B. mit einem Kreisel oder einem Ball spielen, nachlaufen, sich verstecken oder mit offenen oder verbundenen Augen den anderen fangen „servent à entretenir cét âge dans la gayeté naturelle“ (Sorel 1977: 204 f.). Zu den Kinderspielen gehören auch diejenigen, bei denen man Wörter mit einer bestimmten Endung zu suchen hat, wie z. B. -on bei corbillon oder -ette bei corbeillette oder -ant wie beim Wort amant. Es sind zwar Spiele für Kinder oder einfachere Leute, „mais qelquefois des personnes d’assez haut estage s’y peuvent occuper par recreation“ (ebd.: 212). Auch bei diesen Spielen kommt es wie beim Schachspiel auf divertissement an, Sorel will sich aber auf solche konzentrieren, „qui consistent dans l’entretien, et que l’on peut pratiquer dans une chambre“ (ebd.: 217). Denn „Les plus belles conversations sont accompagnées de Jeu“ (ebd.: Epistre). Bei diesen Spielen kommt es nicht primär darauf an, Inhalte zu verstehen. Sie zielen vielmehr darauf ab, die Anwesenden zu unterhalten, eine fröhliche und unbeschwerte Atmosphäre zu schaffen, etwas zu Gehör zu bringen, das ihnen gefällt und sie zufriedenzustellen. Deshalb sind auch zu schwierige Spiele abzulehnen. Über sein Buch bemerkt Sorel, dass auch die darin eingestreuten Erzählungen und Berichte Spiele sind: Afin de monstrer que c’est là entierement une Maison de Jeux, les Narrations qui s’y font, sont des Jeux encore […] tous les discours qui s’y rencontrent, ne servent qu’à monstrer de quelle maniere les bons esprits se peuvent divertir dans une honneste conversation. (ebd.: Avertissement)
Die Lektüre des Buches kann jedem dienen, der in einer gut gelaunten Gesellschaft ist, die gute Laune zu verstetigen.³ Es kann den Männern dabei helfen „de faire passer le temps agreablement aux Dames, et [ils] se croyent assez heureux s’ils peuvent faire quelque chose qui leur plaise“ (Sorel 1977: 15).⁴ Natürlich setzt die Freude an derartigen Konversationsspielen ein gewisses Niveau voraus. Die Spiele ne peuvent plaire qu’à des personnes de bonne condition, nourries dans la civilité et la galanterie, et ingenieuses à former quantité de discours et de reparties [gleichgültig, ob es sich handelt um] les disputes de l’entretien, les fictions, les demandes, les réponses, et mille choses inventées à plaisir, où il y a quelque chose à dire ou à faire. (ebd.: Avertissement)
„les fois que vous serez dans une compagnie gaye et libre, cela vous seruira à confirmer dans cette gayeté.“ (Sorel 1977: Avertissement). Bei der Frage, „quel divertissement ils devoient choisir, ils virent soudain leur melancolie changée en un contentement parfait.“ (Sorel 1977: 19).
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Und auch für die Konversationsspiele gilt das rhetorische Prinzip des aptum, nach dem bei der Auswahl des Spiels oder der Konversation die beteiligten Personen, ihre Stimmung und die weiteren Umstände zu berücksichtigen sind: „Chaque heure doit avoir ses recreations selon l’estat où l’on se rencontre, de mesme que chaque saison a ses beautez et ses commoditez“ (ebd.: 168). Erstrebenswert sind „Entretiens aimables; […] des Jeux de conversation et d’esprit; C’est ainsi que l’on doit nommer les divertissemens que je veux mettre en vogue“ (ebd.: 164). Zu Maximen dieser Spiele und Konversationen werden also der Unterhaltungswert, Höflichkeit, Galanterie, Annehmlichkeit, Gefallen und Vermeiden übermäßiger Anstrengung ebenso wie die Berücksichtigung der beteiligten Personen, die einem gewissen gesellschaftlichen Niveau zu genügen haben. Weniger mit Unterhaltung als mit Mühen verbunden sind auch die Glücks- und Kartenspiele, da sie zu Leidenschaften wie Habgier, Wut, Rachegefühle, ja zu Feindschaft, Diebstahl und Mord führen können (ebd.: 160 – 162). Demgegenüber steht „la felicité qui accompagne ceux qui ont l’adresse de se donner d’autres divertissemens, et de trouver des Jeux innocens et agreables, où les bons esprits ont de quoy se recreer honnestement et entretenir leur vivacité sans beaucoup de travail“ (ebd.: 162 f.). Dazu gehören Spiele, bei denen abwechselnd der eine dem anderen etwas zu sagen hat, wo Fragen zu beantworten sind oder solche, bei denen reihum Geschichten erzählt werden. Nur solche Spiele und Redebeiträge sind wirklich unterhaltend und „nos Jeux de conversation et de discours […] doivent estre estimez sur tous les autres“ (ebd.: 165). Anhand einiger Beispiele soll erläutert werden, wie man sich diese Spiele vorzustellen hat. Das Spiel der Komplimente oder Schmeicheleien besteht darin, dass in einem geselligen Kreis z. B. der Dame gesagt wird: „Vous estes la reyne des coeurs; Vous estes la plus belle et la plus sage de tout vostre sexe; Chacun de vos regards fait une conqueste.“ Oder an den Mann gerichtet: „Vous estes l’homme accomply qu’il y a si long temps que l’on cherche; Vous estes l’original du parfait Courtisan; Vous avez autant d’effect que d’apparence“ (ebd.: 230 f.). Sie gehören noch nicht zu den eigentlichen Jeux de conversation, „qui sont propres qu’à des personnes fort raisonnables et fort civilisées“ (ebd.: 234). Zu letzteren gehört das Spiel des Seufzens, bei dem jeder in unterschiedlicher Art einen Seufzer von sich gibt, woraufhin die Anwesenden ihn fragen, was ihn bekümmert. Er hat dann seine Fantasie spielen zu lassen und zu erwidern, er habe einen Prozess verloren oder er leide an der Grausamkeit einer Frau. Bei der Fortsetzung des Spiels werden dann bereits genannte Gründe wieder aufgenommen (ebd.: 237 f.). Eine Variante dieses Spiels ist das des verlorenen Herzens, bei dem einer seufzend sagt, er habe sein Herz verloren. Auf die Frage, wer es ihm weggenommen hat, nennt er eine der anwesenden Damen. An diese werden dann von den Anwesenden die unterschiedlichsten Vorwürfe gerichtet, die sie dann alle einzeln zu beantworten hat. Vergisst sie die Antwort auf einen der an sie gerichteten Vorwürfe, muss sie ein Pfand abgeben. Sie kann aber auch leugnen, die Schuldige zu sein und behaupten, es sei eine andere anwesende Dame gewesen, die das Herz weggenommen hat. Dann muss diese Dame den Vorwürfen entgegnen. Eine weitere Komplikation tritt ein, wenn die Dame zwar zugibt, das Herz dessen gestohlen
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zu haben, der sie anklagt, aber hinzufügt, das ihrige hätte ein anderer genommen, woraufhin sich dieser mit Vorwürfen konfrontiert sieht und sich zu verteidigen hat (ebd.: 238 – 241). Man kann beim Spiel des Lobes des eigenen Mannes oder der eigenen Frau auch Buchstaben vorgeben, wobei entweder ein Buchstabe für alle vorgegeben ist oder jeder Teilnehmer einen anderen Buchstaben hat, mit dem er Sätze mit entsprechenden Attributen zu formulieren hat. Beim Buchstaben A wäre das: „J’ayme ma Maistresse, pource qu’elle est Agreable, Accostable, Accorte“ (ebd.: 336). Ein anderes Buchstabenspiel besteht darin, dass derjenige, der A gewählt hat, auf die Frage nach seinem Namen, nach seiner Heimatstadt ebenso wie auf die Fragen nach dem Schild seines Hotels ein Wort mit A vorbringen soll, also z. B. Antoine, Arras und Ancre (ebd.: 340). In einer Gesellschaft kann man seine Gewandtheit unter Beweis stellen, wenn man auf Fragen, die mit „à quoy servait“ beginnen, antwortet und sich zum Sinn und Nutzen z. B. des Mannes, der Frau oder des Strohhalms äußert (ebd.: 587– 589). Erinnern wir uns an die Maximen von Grice, zeigt sich, dass sie bei derartigen Konversationen und Konversationsspielen offensichtlich keine Gültigkeit haben. Die Beiträge brauchen weder informativ noch wahr zu sein. Auch Kürze, Klarheit und Relevanz sind sekundär verglichen mit dem Unterhaltungswert, der Originalität und Annehmlichkeit. Entsprechendes gilt auch von längeren Redebeiträgen in Konversationen. Hier ist die Befriedigung der Neugier durch größtmögliche Kuriosität wichtiger als Relevanz oder Wahrheitsgehalt. Bei Erzählungen, wie den folgenden, kommt es darauf an, dem Gesprächspartner die Bemerkung zu entlocken: „C’est curieux cela.“ Eben dies ist der Fall, wenn von einer Gegend in Indien erzählt wird, wo die Frauen, nachdem sie gerade ihr Kind geboren haben, aufstehen und sich um den Haushalt kümmern, während die Männer an ihrer Stelle das Bett hüten und Besuche der commeres empfangen. Von einem anderen Land wird erzählt, dass dort die Frauen den Männern den Hof machen und um sie werben und einmal verheiratet haben sie die Autorität und Macht über die Männer (ebd.: 154 f.). Bei der Beurteilung dieser Geschichten wird festgestellt, dass sie wahr sein könnten, wichtiger aber erscheint, dass sie unterhaltsam sind: Et avec cla ils faisoient plusieurs risées, lors qu’ils se representoient cet homme embeguiné dans un lict qui se plaignoit comme si c’eust esté luy qui eust souffert les douleurs de l’enfentement qui n’avoient esté que pour sa femme. Toutes les coustumes u pays où les filles recherchent les hommes, estans aussi considerées de nouveau, on y adjousta beaucoup d’autres observations par une maniere de recreation. (ebd.: 156)
Der Unterhaltungswert ist wichtiger als der Wahrheitsgehalt: Als die verspätet eingetroffenen Gäste nicht erzählen wollen, was der Grund ihrer Verspätung ist, sondern „un nouveau sujet de divertissement“ in Aussicht stellen, wird diesem der Vorzug gegeben vor der Wahrheit: Car se sont peut-estre des affaires particulieres qu’il n’est pas besoin de raconter, et dont le recit ne feroit que nous ennuyer […] l’on ne se pouvoit fascher de leurs Narrations, et qu’elles ont esté propres à nous maintenir dans la bonne humeur où nous nous trouvons en ce lieu cy. (ebd.: 159)
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Immerhin haben sie „ouvert un chemin pour passer le temps agreablement“ (ebd.: 159). Hermogene sieht in den vorgestellten Spielen eine Praxis, spontan und plötzlich Überlegungen anzustellen, Rhetorik anzuwenden und Geschichten zu beliebigen Themen zu erzählen. Die Lebhaftigkeit steigern sie ebenso wie die Höflichkeit und die Urteilskraft. Wollte man ihnen vorwerfen, es seien nur Täuschungen, dann müsste man „toutes les exercitations que l’on pratique dans la société humaine“ (ebd.: 473) verwerfen. Betrachtet man die Herkunft der Spiele, dann stellt man fest, dass sie so alt sind wie der Gebrauch der Vernunft und der Sprache. Si tost que les hommes ont pû parler et raisonner, ils ont pratiqué de telles recreations, qui ont esté les agréemens de leur conversation, et les assaisonnemens de la vie civile. (ebd.: 474)
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass bei Sorel das Spiel das Paradigma ist, von dem ausgehend die Konversation definiert wird. Beginnend mit den Kinderspielen wie Ballspiel oder Versteckspiel über Wortergänzungsspiele, Frage- und Antwortspiele bis zum Erzählen von Geschichten, es geht immer um divertissement, recreation und angenehmen Zeitvertreib, nie um Inhalte. Daher kennt Spiel auch keine Eile und kann auf präzise und knappe Formulierungen zum schnelleren Verständnis verzichten. Im Gegenteil, je länger das Spiel aufrechterhalten wird, desto besser. Da schwierige Spiele ermüden und Glücksspiele negative Emotionen auslösen könnten, sind beide einem ungestörten Ablauf abträglich. Auf die Konversation übertragen führt das zum Vermeiden anstrengender und emotionsgeladener Konversationen. Bei Sorels Spielen der Komplimente und Schmeicheleien oder den Spielen des Seufzens und des verlorenen Herzens werden die Inhalte frei erfunden und nach den Kriterien der Originalität und des Unterhaltungswertes gewählt. Nur wenn letztere vorhanden sind, bleibt die Neugier wach und das Interesse am Spiel erhalten. Entsprechendes gilt für die Geschichten, die erzählt werden. Hier weiß man schon nicht mehr, ob sie noch zum Spiel oder schon zur normalen Konversation gehören. Die Geschichten dürfen ebenso wie die Komplimente und Dialoge über verlorene Herzen Täuschungen sein. Sie brauchen nicht wahr, müssen aber unterhaltsam sein. Wenn sie langweilig sind, erlahmt die Konversation. Zentral beim Spiel wie bei der Konversation aber ist die Kurzweiligkeit. Sie ist wichtiger als das Verstehen, das eigentlich ein schlechtes Kriterium für die Konversation ist. Denn, ist einmal etwas verstanden, besteht eigentlich kein Grund, die Konversation fortzusetzen. Dies hatte ja auch Gadamer in seinen seltenen Ausführungen zum Spiel so gesehen, wenn er unter Rückgriff auf Aristoteles das Spiel als Sein zu Anderen definiert, bei dem das Sein zur Sache eigentümlich neutral ist. Genauso wie in der Musik geht es nach Gadamer auch bei der Konversation nicht um zielstrebiges Verstehen einer Sache, wie es Sokrates im Gespräch mit Fred vorgeführt hat: Die Gesprächspartner erscheinen nicht als Führende, sondern als die Geführten in einem Geschehen, das sich an ihnen vollzogen hat. Allerdings ist es an anderer Stelle gerade diese Art von Konversation, die Gadamer mit Heidegger als Gerede kritisiert, bei dem Neugier und
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Zerstreuung vom verstehenden Durchdringen der Sache entheben. Gadamer sagte: Das Gerede „entbindet nicht nur von der Aufgabe echten Verstehens, sondern bildet eine indifferente Verständlichkeit aus, der nichts mehr verschlossen ist“ (Gadamer 1968: 26). Es steht nicht auf der Seite der Sachbezogenheit, sondern auf der der Personenbezogenheit, auf die Gadamer auch die Sophisten und Derrida stellen würde. So gesehen haben die Modelle der Zirkelhaftigkeit des Verstehens, der Horizontverschmelzung und der Applikation keinen Platz in dem, was Gadamer Gerede und Sorel „les plus belles conversations“ nennt. Wie erklären sich die unterschiedlichen Haltungen? Gadamer, der an der Wahrheitssuche der platonischen Dialoge geschult ist, geht es als Philosoph primär um das Verstehen relevanter und wahrer Sachen bzw. Inhalte. Spiele sind für ihn sekundär. Sorel geht es im Kontext der französischen Hofgesellschaft des 17. Jahrhunderts um divertissement und die Möglichkeit de faire passer le temps agréablement, wobei Inhalte zweitrangig bis irrelevant sind. Daher soll abschließend noch einmal auf die normativen Kooperationsprinzipien von Grice zurückgegriffen und der Versuch unternommen, sie in Sorels Sinn umzuschreiben. Die Quantitätsmaximen nicht mehr den Anspruch auf inhaltliche Information, sondern postulieren: Dein Beitrag soll „faire passer le temps agréablement“ Und Dein Beitrag soll nicht langweilen, sondern mit „quelque chose qui plaise“ der Entspannung dienen. Die Qualitätsmaximen erheben keinen begründeten Wahrheitsanspruch mehr. Sie lauten: Du brauchst Dich nicht zu bemühen, Deinen Beitrag wahr sein zu lassen. Er soll nur wahr sein können. Da Täuschungen so alt wie die Menschheit sind, ist der Unterhaltungswert wichtiger als Wahrheitsgehalt. Die Relationsmaxime nimmt eine Neudefinition der Relevanz vor: Relevant ist divertissement. Sei unterhaltend! Wecke das Interesse! Sei interessant! Nähre Neugier! Vermeide Schwieriges und fordere keine überflüssige Anstrengung! Bei den Maximen der Art und Weise tritt der Anspruch auf Klarheit und Präzision zugunsten anderer Prioritäten in den Hintergrund. Achte bei Deinem Beitrag auf Annehmlichkeit und gute Laune! Bei der Galanterie beachte in Bezug auf die Personen das Aptum! Sei höflich und berücksichtige die Regeln der Civilité!
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Bibliographie Auer, Peter (1999): Sprachliche Interaktion. – Tübingen: Niemeyer. Betti, Emilio (1967): Allgemeine Auslegungslehre als Methodik der Geisteswissenschaften. – Tübingen: Mohr. Gadamer, Hans-Georg (1968): Platos dialektische Ethik. – Hamburg: Meiner. Gadamer, Hans-Georg (41975): Wahrheit und Methode. – Tübingen: Mohr Siebeck. Gadamer, Hans-Georg (1985): Gesammelte Werke, Bd. 5. – Tübingen: Mohr Siebeck. Gadamer, Hans-Georg (2000): Hermeneutische Entwürfe. – Tübingen: Mohr Siebeck. Heidegger, Martin (51941): Sein und Zeit. – Halle: Niemeyer. Hinnenkamp, Volker (1998): Mißverständnisse in Gesprächen. – Opladen / Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Mauthner, Fritz (1982): Beiträge zu einer Kritik der Sprache. 2. Zur Sprachwissenschaft. –Berlin: Ullstein. Plieger, Petra (2000): Sprache im Gespräch. Studien zum hermeneutischen Sprachverständnis bei Hans Georg Gadamer. – Wien: WUV. Sorel, Charles: La maison des jeux (1977 [1658]). Hrsg. von Daniel A. Gajda. – Genève: Slatkine Reprints. Ueding, Gert (2003): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Band 6. – Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Wagner, Julia (2011): Fragmentarisches Verstehen. – In: Carsten Dutt (ed.): Gadamers philosophische Hermeneutik und die Literaturwissenschaft. Heidelberg: Winter.
Angela Schrott
Regeln, Traditionen, Urteile: Verbale Höflichkeit und wie sie gelingt Einleitung Das Gelingen von Gesprächen basiert entscheidend auf verbaler Höflichkeit, die dem Gesprächspartner Wertschätzung und Achtung vermittelt. Die Erwartungen an verbale Höflichkeit und die Bedingungen ihres Gelingens werden im Folgenden auf der Grundlage eines Modells der Gesprächsforschung dargestellt, das sich von Eugenio Coserius System der Sprachkompetenz herleitet (Coseriu 2007). Das Modell unterscheidet drei Wissenstypen. Diese gestalten als Regeln und Traditionen das Sprechen und können nach drei verschiedenen Kriterien beurteilt werden, aus denen sich drei verschiedene Konzepte des Gelingens ableiten, die ihrerseits die Weichen für höfliches und unhöfliches Sprechen stellen. Die aus dem Modell entwickelten Konzepte des Gelingens liefern die theoretische Rahmung für die Analyse zweier Konzepte höflichen Sprechens: das Konzept der Optionalität und das Konzept der Klarheit. Beide Konzepte erfüllen in unterschiedlicher Weise die kommunikative Aufgabe, an den Gesprächspartner gerichtete Volitionen zu realisieren. Sie dienen dazu, diese Willensäußerungen gemäß den gültigen Traditionen der Höflichkeit zu formulieren, um den kommunikativen Erfolg des Anliegens zu sichern. In historischer Perspektive verdeutlichen die linguistisch-philologischen Textinterpretationen, dass gelingende verbale Höflichkeit im Mittelalter anderen Maximen und Traditionen als heute folgte. Dabei werden die Konvergenzen und Divergenzen immer wieder systematisierend auf universelle und historische Komponenten von Höflichkeit bezogen. Das Spannungsfeld von Aufforderung und Höflichkeit bildet auf diese Weise den Ausgangspunkt für einen historisch-vergleichenden Ausgriff von der Gegenwart in das (spanische) Mittelalter.
1 Regeln, Traditionen, Gespräche Die historische Gesprächsforschung untersucht sprachliche Interaktionen als kommunikative Aufgaben, die in Sprach- und Kulturgemeinschaften unterschiedlicher Epochen in verschiedener Weise gelöst werden und damit historischem Wandel unterliegen. Zur Lösung dieser Aufgaben greifen die Sprecher auf Muster und Routinen zurück, die ihnen als kulturelles Wissen zur Verfügung stehen. Das höfliche Sprechen ist eine solche kommunikative Aufgabe, die mit Rekurs auf sprachliche und kulturelle Muster bewältigt wird. In der romanischen Sprachwissenschaft werden diese Muster mit dem Konzept der Diskurstraditionen erfasst, die als kulturelles Wissen angehttps://doi.org/10.1515/9783110592580-003
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messenes und kommunikativ erfolgreiches Sprechen gestalten. Das höfliche Sprechen kann dabei als Subtyp des angemessenen Sprechens verstanden werden. Die Normen höflichen Sprechens sind damit ein diskurstraditionelles Wissen, dessen Beherrschung Voraussetzung für gelingende verbale Höflichkeit ist. Zur Beschreibung der verbalen Höflichkeit als diskurstraditionelles Wissen greife ich auf das von Eugenio Coseriu (2007) entworfene Modell der Sprache als kulturelle Kompetenz zurück, das vom Sprechen als dialogisch angelegte energeia ausgeht und damit – anders als die wesentlich monologische Sprechakttheorie – eine ideale Basis für die Gesprächsforschung bildet. Bekanntlich hat das Sprechen als Tätigkeit nach Coseriu (2007: 74 f.) drei Eigenschaften: Es ist eine universelle allgemein-menschliche Tätigkeit, die immer in einer bestimmten historischen Einzelsprache und stets in konkreten Kommunikationssituationen ausgeübt wird. Diese Differenzierung ist der Ausgangspunkt für ein Modell, das drei Ebenen des Sprechens und drei Typen von Regeln und Traditionen unterscheidet und ein triadisches System bildet, das zugleich die drei unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen der Gesprächsforschung verdeutlicht:¹ Schema 1: Regeln und Traditionen des Sprechens und die Gesprächsforschung Ebene
universelle Ebene
historisch-einzelsprachliche Ebene
individuelle Ebene der Diskurse
Regeln und Traditionen
universelle Regeln und Prinzipien
einzelsprachliche Traditionen
Diskurstraditionen
Felder der Gesprächsforschung
universelle Gesprächsforschung
einzelsprachliche Gesprächsforschung
diskurstraditionelle Gesprächsforschung
Die drei Eigenschaften des Sprechens – universell, historisch, individuell – bedingen drei unterschiedliche Ebenen des Sprechens und drei Wissenbestände. Coserius Modell unterscheidet grundsätzlich zwischen universellen Regeln und historischen Wissensbeständen, die in sprachliche Interaktionen einfließen (Coseriu 2007: 76 – 78, 80 f., 85 f.). Ein weiteres Charakteristikum des Modells ist, dass es neben sprachlichem Wissen auch nichtsprachliches Wissen umfasst, das lediglich auf das Sprechen bezogen ist. Diese beiden Differenzierungen (universell vs. historisch und sprachlich vs. sprachbezogen) ergeben insgesamt drei Wissenstypen, die auf drei Ebenen situiert sind.
Coseriu 2007: 69 – 89, bes. 74 f. Zur Rezeption des Modells in der Romanistik und zum Konzept der Diskurstradition vgl. Schlieben-Lange 1983: 13 – 16, 138 – 140, Koch 1997: 45 – 47, Oesterreicher 1997: 23 – 25, Lebsanft 2005: 30 und 2015: 99 – 104, Kabatek 2011: 91– 93 und 2015: 50 – 52, Kabatek 2018, Wilhelm 2011: 125 – 130, Schrott 2012: 108 f., 2014a: 8 – 10, 2015: 120 – 125 und 2017a: 25 f., 37 f.
Regeln, Traditionen, Urteile: Verbale Höflichkeit und wie sie gelingt
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Der universellen Ebene zugeordnet sind die in allen Sprachen und Kulturen gültigen allgemein-universellen Regeln und Prinzipien des Sprechens. Sie sind Gegenstand einer auf Universalien des Sprechens konzentrierten universellen Gesprächsforschung, die sich etwa mit universellen Techniken des Sprecherwechsels oder dem Prinzip der Kooperation (Grice 1989) beschäftigt. Die einzelsprachlichen Traditionen der historischen Ebene umfassen das sprachliche Wissen und die Beherrschung konkreter Sprachen. Die einzelsprachlich orientierte Gesprächsforschung untersucht sprachliche Strukturen konkreter Sprachen und deren Funktionen, etwa Strukturen des Spanischen oder Französischen, die in Dialogen Sprecherwechsel ankündigen und realisieren. Die individuelle Ebene der Diskurse enthält die Diskurstraditionen, die es den Akteuren ermöglichen, ihre Rede der konkreten Situation anzupassen und erfolgreich und angemessen zu sprechen. Diskurstraditionen sind ein Konzept, das Traditionen unterschiedlicher Komplexität erfasst. Zu den Diskurstraditionen zählen kommunikative Routinen wie höfliche Bitten, das Wissen um die angemessene Realisierung von Sprechakten, ferner Techniken der Narration, literarische Formen und Interaktionsstile (Schrott 2015: 122 f.). Da das Modell auf den drei Wissenstypen aufbaut, die alles Sprechen anleiten, bietet es eine Systematik für sämtliche Fragestellungen der linguistischen Pragmatik und der Gesprächsforschung.² Auch die vielfältigen Erscheinungsformen verbaler Höflichkeit können durch die Systematik der drei Ebenen und der drei Wissenstypen systematisch erfasst werden. Bevor jedoch das soeben dargelegte Modell mit den Ebenen der verbalen Höflichkeit zusammengebracht wird, möchte ich zunächst die für mich grundlegende Definition verbaler Höflichkeit erläutern.
2 Verbale Höflichkeit im Gespräch Eine in der Höflichkeitsforschung³ zentrale Thematik ist die Spannung zwischen den vielfältigen historisch-kulturellen Ausprägungen von Höflichkeit in Geschichte und Gegenwart und der Suche nach universellen Konstanten.⁴ Die Frage der Differenzierung von Historischem und Universellem beschäftigt daher die historische Pragmalinguistik und die kontrastive Pragmatik gleichermaßen.⁵ Dabei rekurriert die For Vgl. Schrott 2006, 2011: 194 f., 2014a: 9 – 11, 2015: 122– 125. Einen ausführlichen Forschungsstand zu cortesía (und descortesía) geben Iglesias Recuero 2001, Culpeper 2012, Fuentes Rodríguez 2011 und Cruz Volio 2017. Zur Frage nach universellen Konstanten vgl. Held 1992: 131– 133, Fraser 2001: 1406 – 1416, Iglesias Recuero 2001: 246– 251, Nevala 2010: 419 – 425 und aus sprachphilosophischer Sicht López Serena 2011: 434 f. Zur historischen Pragmalinguistik als Disziplin vgl. Jung / Schrott 2003: 247– 348, Held 2006: 1410 – 1416, Taavitsainen / Jucker 2008 und 2010, Schrott 2006, 2016: 78 – 81, 2017b: 124– 132, Schrott / Völker 2005, Cruz Volio 2017: 15 – 22. Zum Spanischen vgl. Iglesias Recuero 2007 und 2001 sowie Leal Abad 2011. Zur kontrastiven Pragmatik allgemein Trosborg 2010, zum Spanischen Hamad Zahonero 2012, Huamanchumo de la Cuba 2012, Lara Bermejo 2018.
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Angela Schrott
schung zur verbalen Höflichkeit nach wie vor auf das wirkmächtige Konzept des face nach Goffman (1967), das als soziales Selbstbild der Akteure eine emergente Größe ist, die im Gespräch entwickelt wird.⁶ Das face als in der Interaktion erzeugtes Selbstbild ist das Zentrum des in der Höflichkeitsforschung nach wie vor einflussreichen Modells von Brown / Levinson (1987).⁷ Höflichkeit ist demnach die Gesamtheit der Strategien, die das face der Interaktanten bewahren und aufwerten (Brown / Levinson 1987: 61). Bekanntlich umfasst das face zum einen den Wunsch, ohne Einengungen agieren zu können (negative face), zum anderen das Bedürfnis nach Wertschätzung und Anerkennung (positive face).⁸ Höfliches Handeln erfüllt daher den Zweck, dem Gesprächspartner in Ausrichtung auf das positive face Wertschätzung zu bekunden (positive politeness) und mit Blick auf das negative face seinen Freiraum nicht einzuengen (negative politeness). Während Strategien der positive politeness durch Wertschätzung Konflikten vorbeugen, dient die negative politeness dazu, durch Respektieren von Freiräumen potenzielle Gefährdungen des Selbstbildes (face threatening acts) und daraus resultierende Spannungen zu vermeiden. Die historische Prägung höflicher Normen zeigt sich deutlich in den Bezeichnungen dieses Normkomplexes im Deutschen und in den romanischen Sprachen (dt. Höflichkeit, span. cortesía, ital. cortesia und frz. courtoisie), die durchsichtig auf den Hof als ursprünglich normgebende Instanz verweisen.⁹ Daraus folgt, dass die Ausprägungen der Strategien höflichen Sprechens und die Dominanz einzelner Strategien – in der Tradition von Brown / Levinson zusammengefasst in der Opposition von positive politeness und negative politeness – ebenfalls historischem Wandel unterliegen. Studien auf dem Gebiet der kontrastiven Pragmatik untermauern diese Variabilität. So belegen kontrastive Studien bzw. Untersuchungen zu unterschiedlichen Kulturgemeinschaften, dass die auf Autonomiewahrung zentrierte Höflichkeit (negative politeness), die lange Zeit den Fokus der Forschung bildete, nur in bestimmten Kulturräumen dominiert, während in anderen Kulturgemeinschaften das positive face und das Konzept der Wertschätzung im Mittelpunkt stehen.¹⁰ Diese Kulturgebundenheit wirft die Frage auf, welche Komponenten verbaler Höflichkeit universelle Größen darstellen und welche einem historischen Wandel unterliegen und kulturspezifischen Charakter haben. Während in der frühen Höflichkeitsforschung universalisierende Tendenzen stark waren (Brown / Levinson 1987:
Goffman 1967: 5, 12, 22 f. Zur neueren Forschung zum face vgl. Arundale 2006: 197 f., 210 f., Held 2016: 40 – 46 und 2017. Zur kritischen Rezeption des Modells von Brown / Levinson vgl. Fraser 2001: 1408, Locher / Watts 2005: 9 – 14, Nevala 2010: 420 – 425, Bax / Kádár 2011: 14– 16. Brown / Levinson 1987: 61– 63, 65 – 74, Fraser 2001: 1410 f. Zur Historizität und Universalität von Höflichkeitsmodellen in der Sprach- und Kulturwissenschaft vgl. Ehlich 1992: 71– 74, 96, 106, Haferland / Ingwer 1996: 11– 13, 19 – 22, Held 1992: 136, 142 f., 148 f., 2011: 39 – 42, Kádár / Culpeper 2010: 13 – 16. Vgl. Blum-Kulka / House / Kasper 1989: 1– 4,Wierzbicka 22003: 35 – 37, 2010: 46 – 48, Trosborg 2010: 9 f., 28 – 31.
Regeln, Traditionen, Urteile: Verbale Höflichkeit und wie sie gelingt
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72– 74, 102, 130 f.), betont die neuere Forschung die kulturell-historischen Unterschiede und betrachtet die Höflichkeit als ein genuin historisches und kulturelles Phänomen. Die Annahme liegt nahe, dass Höflichkeit historische und universelle Komponenten beinhaltet und dass höfliche Normen sich aus dem Zusammenspiel von universellen Regeln und historischen Traditionen ergeben. Diese Gleichzeitigkeit von Universalität und Historizität macht die verbale Höflichkeit zu einem Phänomen, das über das vorgestellte Modell der Regeln und Traditionen des Sprechens und des Gesprächs präzise erfasst werden kann:¹¹ Schema 2: Regeln, Traditionen und verbale Höflichkeit Ebene
universelle Ebene
historisch-einzelsprachliche Ebene
individuelle Ebene der Diskurse
Regeln und Traditionen
universelle Regeln und Prinzipien
einzelsprachliche Traditionen
Diskurstraditionen
Felder der Gesprächsforschung
universelle Gesprächsforschung
einzelsprachliche Gesprächsforschung
diskurstraditionelle Gesprächsforschung
Felder verbaler Höflichkeit
universelle Prinzipien
einzelsprachliche Techniken
Diskurstraditionen höflichen Sprechens
Grundsätzlich sind Traditionen der Höflichkeit kein sprachliches Wissen, das zur Geschichte einer Sprache gehört, sondern ein auf das Sprechen bezogenes Wissen, das Teil einer kulturellen Kommunikationsgeschichte ist. Für das Modell der Höflichkeit sind damit die beiden Wissensbestände relevant, die das Sprechen anleiten und auf das Sprechen bezogen sind, jedoch nicht zum einzelsprachlichen Wissen spezifischer Sprachen zählen: die allgemein-universellen Regeln des Sprechens und die kulturellen Diskurstraditionen. Das höfliche Sprechen folgt – wie alles Sprechen – den allgemeinen Regeln und Prinzipien des Sprechens. Zu diesen universellen Regeln kommen die Diskurstraditionen als historisch-kultureller Anteil und das Zusammenspiel beider Wissensbestände erzeugt dann die Konzepte verbaler Höflichkeit. Wenn Höflichkeit ein stets kulturell und historisch geprägtes Phänomen ist, dann stellt sich die Frage, worin die universelle Seite der Höflichkeit besteht. Eine Möglichkeit ist es, Höflichkeit als conditio sine qua non jeder sozialen Interaktion und jedes dialogischen Sprechens zu verstehen und in diesem Sinne als universellen Wert zu definieren.¹² Die Universalität der Höflichkeit kann jedoch noch näher bestimmt
Zum Modell der drei Ebenen der (historischen) linguistischen Pragmatik vgl. Schrott 2011: 194– 196, 2014a: 9 – 11, 2015: 120 – 123, 2017a: 37 f. Zur Definition der Höflichkeit als Universalie und zu universellen Anteilen vgl. Held 2005: 48 f., 2011: 39 – 42.
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werden. Ausgangspunkt ist, dass höfliches Sprechen immer einen Mehrwert beinhaltet, der über eine erwartbare Weise des Sprechens hinausgeht. Nach Ehlich (1992: 74– 76) wird die Beurteilung als höflich post actionem einer Handlung zuerkannt, die über das sozial Verlangte hinausgeht und die der Sprecher unter mehreren (weniger höflichen) Optionen auswählt. Dieser allgemeine Mehrwert kann durch das Grice’sche Kooperationsprinzip und seine Maximen präzisiert werden. Bekanntlich sind dem cooperative principle vier Maximen zugeordnet (Grice 1989: 28 f.): die auf den Informationsgehalt bezogene Maxim of Quantity, die die Wahrhaftigkeit betreffende Maxim of Quality, die auf Relevanz hinwirkende Maxim of Relation und die Maxim of Manner, die mit ihrem Leitsatz Be perspicuous! auf die Klarheit des Gesagten abzielt. Nimmt man ein Sprechen, das die Maximen erfüllt, als sozial erwartbar an, dann kann man das höfliche Sprechen universell als eine kommunikative Handlungsweise verstehen, die die Grice’schen Maximen nicht nur den Erwartungen entsprechend erfüllt, sondern mehr leistet, als die Maximen vorgeben und diese gewissermaßen übertrifft. Diese höfliche Übertreffung beinhaltet, dass der Sprecher die Maximen mit besonders großer Sorgfalt befolgt. Er passt mit großer Umsicht den Umfang der Informationen den Bedürfnissen des Adressaten an (Maxim of Quantity), er nimmt die Zuverlässigkeit seiner Äußerungen besonders ernst (Maxim of Quality), er legt viel Wert auf die Relevanz seiner Rede (Maxim of Relation) und respektiert in hohem Maße die Maxime der Klarheit und perspicuitas (Maxim of Manner). Zum universellen Prinzip der Übertreffung treten nun noch historische Komponenten. Dabei sind die Maximen die Schnittstellen zwischen dem universellen Prinzip und seinen historischen Ausprägungen, denn was eine bestimmte Kultur oder Epoche als angemessene Quantität, Qualität, Relevanz oder Klarheit erachtet, unterliegt historischen und kulturspezifischen Maßstäben (Lebsanft 2005: 27 f.). Das höfliche Übertreffen einer Maxime hängt damit entscheidend davon ab, was man in einer bestimmten Sprechergemeinschaft – in einer bestimmten Kultur und Epoche – unter angemessener Quantität, Qualität, Relevanz oder Klarheit versteht. Diese Verschränkung der universellen und historischen Komponente in den Grice’schen Maximen macht deutlich, dass verbale Höflichkeit weder exklusiv universell noch ausschließlich historisch betrachtet werden kann. Die historische Gesprächsforschung muss die Erforschung des Historischen daher immer mit dem Interesse für das Allgemeine verbinden.
3 Regeln, Traditionen, Urteile: das Gelingen verbaler Höflichkeit 3.1 Drei Wissensbestände, drei Urteile Im System der Sprachkompetenz beinhalten die drei Wissensbestände drei Kriterien der Beurteilung (Coseriu 2007: 88 f.). Die Anwendung der universellen Regeln und
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Prinzipien, der einzelsprachlichen Traditionen und der Diskurstraditionen wird nach drei unterschiedlichen Kriterien beurteilt. Diese Beurteilungen bilden ihrerseits die Basis für drei verschiedene Konzepte des Gelingens (oder Misslingens) von Rede. Schema 3: Regeln, Traditionen, Urteile nach Coseriu 2007: 89 Ebene
Tätigkeit
Wissen
Urteil
universell
Sprechen im Allgemeinen
universelle Regeln des Sprechens
Kongruenz
historisch-einzelsprachlich
Einzelsprache
einzelsprachliche Traditionen
Korrektheit
individuell
Diskurs
Diskurstraditionen
Angemessenheit
Die auf universelle Regeln bezogene Kongruenz fasst Urteile zusammen, die sich allgemein auf das Sprechen in jeder Sprach- und Kulturgemeinschaft beziehen (Coseriu 2007: 95 f., 106). Diese Urteile gehen von Erwartungen aus, die alle Menschen an das Sprechen haben, unabhängig von Sprache, Kultur oder Kommunikationssituation. Dazu zählen Prinzipien der Kohärenz, der Kooperation und des kommunikativen Vertrauens.¹³ Die auf einzelsprachliche Traditionen bezogene Korrektheit meint, dass das Sprechen den einzelsprachlichen Traditionen folgt und die Erwartung der Sprachgemeinschaft an das Sprechen ihrer Sprache erfüllt. Korrektes Sprechen wird als Erfüllung der einzelsprachlichen Traditionen realisiert. Das auf die Diskurstraditionen bezogene Urteil der Angemessenheit schließlich bewertet, ob das Sprechen in einer bestimmten Situation den Erwartungen der Gesprächspartner entspricht, ob es der Kommunikationssituation und dem, was der Sprecher in dieser Situation konkret erreichen will, angepasst ist. Aus den drei Urteilen kann man drei Dimensionen des Gelingens von Gesprächen ableiten, die in einer Hierarchie stehen: – Das Gelingen als Erfüllen der allgemein-universellen Erwartungen an das Sprechen; diese Erwartungen gelten einer begrenzten Zahl von Regeln, die Prinzipien des Denkens und die Kenntnis der Welt betreffen. – Das Gelingen als Erfüllen der Erwartungen, die auf die Korrektheit des Sprechens in einer Einzelsprache abzielen; diese Erwartungen gelten den Traditionen einer bestimmten Sprache. – Das Gelingen als Erfüllen der Erwartungen, die Gesprächspartner an das Sprechen in der konkreten Situation haben; diese Erwartungen betreffen die Situation, die Adressaten und den Gegenstand der Rede. Die Angemessenheit
Zur Idee der sprachlichen Kooperation und des kommunikativen Vertrauens vgl. Grice 1989: 26 – 28, Coseriu 2007: 95 f., Lebsanft 2005: 26 f.
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hat wegen der Vielfalt von Situationen und Redegegenständen die höchste Komplexität. Das Gelingen definiert sich damit über Erwartungen an das Sprechen und bezieht daher stets den Rezipienten ein. Der Rezipient kann eine bestimmte Person sein, die dem Sprecher gegenübersitzt, er kann jedoch auch ein imaginierter Rezipient sein, an dessen Erwartungen der Sprecher sich antizipierend ausrichtet. Diese dialogische Ausrichtung entspricht der von Coseriu formulierten universellen Alterität des Sprechens: Man spricht für andere, wie andere, um von den anderen verstanden zu werden. Das Gelingen als Erfüllen von Erwartungen anderer ist damit ein zutiefst dialogisches Konzept, das für die Gesprächsforschung und für das Gelingen von Gesprächen sehr geeignet ist. Für die Bezugsetzung der drei Formen des Gelingens ist entscheidend, dass Coserius Systematik nicht nur drei Urteile nennt, sondern auch die Relationen, in denen diese Urteile stehen. Grundlegend ist die Feststellung, dass die drei Urteile voneinander unabhängig sind und dass sie in einer hierarchischen Relation zueinander stehen (Coseriu 2007: 159, 176, 179 – 181): (1) Inkongruenz kann durch die Einzelsprache und durch den Diskurs aufgehoben werden. Das Urteil über das kongruente Sprechen ist unabhängig von den Urteilen der Korrektheit und Angemessenheit. So verstößt eine Äußerung wie Das linke Horn des Einhorns ist schwarz (Coseriu 2007: 78) zwar gegen allgemeine Regeln der Logik, ist jedoch einzelsprachlich korrekt. Aufschlussreich ist nun, dass derartige inkongruente Äußerungen nicht in jedem Fall auch gegen das Kriterium der Angemessenheit verstoßen müssen. Im genannten Beispiel assoziiert man zwar als unmarkierten default case Kontexte, in denen diese Äußerung nicht angemessen ist, doch sind markierte Kontexte denkbar, in denen die Äußerung als metaphorisches oder intendiert absurdes Sprechen Sinn ergibt. Denkbar ist auch, dass ein Sprecher eine inkongruente Äußerung zitiert. Eine Redewiedergabe wie Eugen sagt: Das linke Horn des Einhorns ist schwarz verfolgt den Zweck, die Rede eines anderen authentisch wiederzugeben und stellt daher eine angemessene Äußerung dar (Coseriu 2007: 77 f.). Die einzelsprachlichen Traditionen können ebenfalls die Regeln der Kongruenz aufheben (Coseriu 2007: 117 f.). So gibt es in der allgemeinen Logik das Prinzip, dass die Negierung der Negierung eines Faktums der Behauptung dieses Faktums entspricht. Dieses logische Prinzip können einzelsprachliche Traditionen aufheben, wenn die Sprache über eine einzelsprachliche Tradition des Negierens verfügt, bei der doppelte Verneinungen eine verstärkte Negation ausdrücken (Ich habe niemanden nicht gesehen, We don’t need no education). (2) Inkorrektheit kann durch den Diskurs aufgehoben werden. Auch die einzelsprachliche Korrektheit ist an sich unabhängig von den Urteilen der Kongruenz und der Angemessenheit. Einzelsprachlich korrektes Sprechen kann kongruent oder inkongruent sein und es kann angemessen oder unangemessen sein. Einer Situation unangemessene Sprechakte können – wie alle Sprecher in ihrem
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Alltag bereits erfahren haben dürften – sprachlich perfekt realisiert werden. Entscheidend ist, dass sprachliche Korrektheit Inkongruenz nicht aufheben oder heilen kann, dass aber einzelsprachliche Inkorrektheiten durch den Diskurs kompensiert werden können: Ein Diskurs kann trotz mangelnder Korrektheit angemessen sein, wenn er die Erwartungen der Gesprächspartner in einer konkreten Situation erfüllt (Coseriu 2007: 176 – 178). Beispiele für inkorrektes und zugleich angemessenes Sprechen sind sprachliche Vereinfachungen in Sprachkontaktsituationen, wie sie bei der Verwendung einer lingua franca oder einer unvollkommen beherrschten Fremdsprache vorliegen. Eine Aufhebung liegt ferner vor, wenn eine andere Sprache nachgeahmt wird, so imitiert etwa ein Asterix-Band im Ausruf Une romaine patrouille! die Adjektivstellung des Englischen, die im Französischen inkorrekt ist, aber von der Leserschaft als Nachahmung erkannt und goutiert wird (Coseriu 2007: 177). (3) Angemessenheit ist das oberste Urteil: Unangemessenheit kann weder durch Korrektheit noch durch Kongruenz aufgehoben werden. Das Kriterium der Angemessenheit ist ebenfalls autonom und es hat die Macht, Mängel in der Kongruenz und in der Korrektheit auszugleichen. Daher können in bestimmten Fällen inkongruente Äußerungen angemessen sein und in vielen Fällen erfüllen auch sprachlich inkorrekte Äußerungen das Urteil der Angemessenheit (Coseriu 2007: 179). Gelingt es dem Sprecher seine Intention in einer die Erwartungen des Gesprächspartners erfüllenden Weise auszudrücken, dann wird dieses Gelingen durch einzelsprachliche Inkorrektheiten nicht gemindert (solange die Verständlichkeit der Äußerung gesichert ist). Damit steht die Angemessenheit als Urteil über Korrektheit und Kongruenz. Sie ist für das Gelingen des Sprechens die wichtigste Dimension. Das ist nicht trivial, weil diese Aussage aus einer Systematik heraus entwickelt wurde und beinhaltet, dass Angemessenheit gegen Korrektheit und Kongruenz verstoßen darf. Das bedeutet auch, dass die Diskurstraditionen der wichtigste Wissensbestand für ein gelingendes Sprechen sind, einzelsprachliche Traditionen und auch allgemeine Regeln und Prinzipien sind nachgeordnet. Diese drei Typen des Gelingens können nun noch weiter dadurch charakterisiert werden, ob das Gelingen eine graduelle Angelegenheit ist oder ob es dichotomisch angelegt ist (gelingt oder gelingt nicht). Dazu zwei Beispiele: (1)
Bei heftigem Sturm ist es dem Schiff gelungen, den sicheren Hafen zu erreichen.
(2)
Er wollte eine geistreiche, witzige Rede auf das Brautpaar halten. Die Rede war dann mehr oder weniger gelungen.
Das Gelingen kann je nach Art der Handlung bedeuten, dass etwas gelingt oder nicht (1) oder dass etwas mehr oder weniger und damit in unterschiedlichem Grad gelingt (2). Dieser Grad des Gelingens kann so gering sein, dass eine Äußerung als misslungen einzustufen ist, der Grad kann aber auch so hoch sein, dass eine Äußerung nicht nur im Sinne einer Zielerreichung gelingt, sondern dabei auch die Erwartungen der Interaktanten weit übertrifft.
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Diese Unterscheidung kann auf die Urteile der Kongruenz, der Korrektheit und der Angemessenheit übertragen werden. Im Fall der Kongruenz kann das Sprechen mehr oder weniger kongruent sein, so dass ein graduelles Urteil vorliegt. Für die einzelsprachliche Korrektheit gilt, dass die Rede die einzelsprachliche Tradition erfüllt oder eben nicht erfüllt. So wie die Grammatik eine ars recte dicendi ist, so werden einzelsprachliche Traditionen korrekt oder inkorrekt realisiert. Die Korrektheit erscheint als unmarkierter Fall, die Inkorrektheit ist in jedem Fall markiert. Das Urteil ist dichotomisch. Die Angemessenheit des Sprechens ist dagegen ein graduelles Urteil: Das Sprechen kann mehr oder weniger angemessen sein, die Interaktanten können Diskurstraditionen in verschiedenem Grad und auch über die Erwartung hinaus erfüllen, so dass ein graduelles Urteil vorliegt. Die folgende Grafik fasst diese Relationen zusammen: Schema 4: Die drei Konzepte des Gelingens Urteil
Kongruenz
Korrektheit
Angemessenheit
Erwartung
universelle Erwartungen an das Sprechen
Erwartungen an das Sprechen in einer Einzelsprache
Erwartungen an das Sprechen in einer Situation
Erfüllung
graduell
dichotomisch (ja / nein)
graduell
Hierarchie
keine aufhebende Kraft
Einzelsprache kann Inkongruenz aufheben
Diskurs kann Inkongruenz und Inkorrektheit aufheben
3.2 Wie gelingt verbale Höflichkeit? Verbale Höflichkeit und die drei Konzepte des Gelingens Das Gelingen verbaler Höflichkeit kann durch die drei Wissenstypen und die drei Ebenen der Gesprächsforschung in drei Konzepte des Gelingens aufgefächert werden, die sich von drei Typen der Erwartung an das Sprechen ableiten. Die Frage, ob und wie verbale Höflichkeit gelingt, hängt damit auch von der Perspektive der Gesprächsforschung ab, die einen universellen, einzelsprachlichen oder diskurstraditionellen Schwerpunkt haben kann. Das folgende Schema veranschaulicht, wie das Gelingen verbaler Höflichkeit in das Modell der Regeln und Traditionen des Sprechens und ihrer Kategorien der Beurteilung integriert werden kann:
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Schema 5: Konzepte des Gelingens und verbale Höflichkeit Gesprächsforschung
universelle Gesprächsforschung
einzelsprachliche Gesprächsforschung
diskurstraditionelle Gesprächsforschung
Wissen
universelle Regeln und Prinzipien
einzelsprachliche Traditionen
Diskurstraditionen
Urteil und Gelingensbedingung
Kongruenz
Korrektheit
Angemessenheit
Höflichkeit
Universalien höflichen Sprechens
einzelsprachliche Traditionen der Realisierung
Diskurstraditionen als Träger verbaler Höflichkeit
Verbale Höflichkeit als Teil der universellen Gesprächsforschung zielt auf Universalien höflichen Sprechens ab. Einen Schwerpunkt bilden die Konzepte des face, ihre möglichen Relationen und Hierarchien als universell gültige Größen und ihre Umsetzung durch allgemeine Regeln des Sprechens. Im System der drei Wissensbestände werden allgemeine Regeln und Prinzipien des Sprechens untersucht und die Erwartungen an das Sprechen, die sich daraus ergeben. Zentrale Erwartungen ergeben sich aus dem Grice’schen Kooperationsprinzip und seinen Maximen, aus den Regeln der Kohärenz und der allgemeinen Logik, die im Sinne Coserius die Kongruenz des Sprechens sichern. Universell betrachtete verbale Höflichkeit widmet sich den aus der Erwartung der Kongruenz resultierenden Bedingungen des Sprechens, daran anschließend jedoch auch den Möglicheiten, wie Inkongruenz aufgehoben oder kompensiert werden kann. Mit diesen Schwerpunktsetzungen bewegt sich eine universell perspektivierte Höflichkeitsforschung im Grenzbereich zu einer universell orientierten Pragmalinguistik, die Prinzipien sprachlicher Kooperation und des kommunikativen Vertrauens allgemein analysiert. Denn wenn allgemeine Regeln und Prinzipien des Sprechens nicht eingehalten werden, dann sind diese Inkongruenzen in vielen Fällen kein unhöfliches, face-verletzendes Sprechen, sondern vielmehr ein Sprechen, das die sprachliche Kooperation grundsätzlich in ihrem Funktionieren als Verständigung betrifft – es sei denn, eine solche Inkongruenz wird durch eine entsprechende Diskurstradition begründet und gerechtfertigt. Verbale Höflichkeit als Teil der einzelsprachlichen Gesprächsforschung untersucht die Rolle und die Implikationen der einzelsprachlichen Traditionen für die verbale Höflichkeit. Die Erwartungen der Gesprächspartner richten sich hier auf die sprachlichen Traditionen konkreter Sprachen. Schwerpunkte einer einzelsprachlich zentrierten Höflichkeitsforschung sind die aus der Erwartung an die Korrektheit resultierende Haltung der Sprecher gegenüber Inkorrektheiten, deren Auswirkungen auf das face des Sprechers und des Angesprochenen und die damit verbundene Frage, inwiefern Inkorrektheiten die verbale Höflichkeit mindern oder gar als unhöflich gedeutet werden. Allerdings betreffen diese Fragestellungen nicht allein den einzel-
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sprachlichen Bereich, sondern auch den Bereich kultureller Normen und der Sprachkultur und berühren damit bereits die individuelle Ebene und die Diskurstraditionen. Denn ob ein die sprachliche Korrektheit verletzendes Sprechen unhöflich wirkt oder nicht, ergibt sich entscheidend aus den Diskurstraditionen, in denen der Sprecher sich bewegt und aus der (mehr oder weniger toleranten) Sprachkultur der verwendeten Einzelsprache. Eine die eigene Sprachnorm und Sprachkultur sehr hochschätzende Sprechergemeinschaft, wie etwa die Sprecher des Französischen, wird sprachliche Inkorrektheiten möglicherweise als Geringschätzung der eigenen Kultur verstehen und als unhöflich einstufen. Die Ausführungen zu universellen und einzelsprachlichen Aspekten verbaler Höflichkeit deuteten bereits auf die zentrale Position der Diskurstraditionen und der individuellen Ebene hin. In der diskurstraditionellen Gesprächsforschung stehen das der konkreten Kommunikationssituation und dem Gesprächspartner angemessene Sprechen im Mittelpunkt. Zentral sind die Erwartungen, die die Akteure an diese Angemessenheit, die immer auch ein dem face angemessenes Sprechen ist, haben. Das Konzept des face wird damit wesentlich durch die kulturellen Diskurstraditionen erfüllt: Während angemessene Diskurstraditionen dem face des Gesprächspartners Wertschätzung und Achtung signalisieren, können unangemessene Diskurstraditionen das Selbstbild des Angesprochenen – und des Sprechers – beschädigen. Verbale Höflichkeit als auf die Förderung von Selbstbildern ausgerichteter Komplex von Regeln und Normen ist damit im Kern auf der Ebene des diskurstraditionellen, kulturellen Wissens lokalisiert. Von dieser Position aus reicht die verbale Höflichkeit zum einen in die universellen Regeln und Prinzipien und den Grenzbereich des allgemeinen kommunikativen Vertrauens hinein, zum anderen berührt sie Aspekte sprachlicher Korrektheit, die über die Sprachkultur vermittelt die Selbstbilder von Sprecher und Angesprochenem affizieren können. Damit ist das Gelingen verbaler Höflichkeit im Kern eine diskurstraditionelle Fragestellung: Die Diskurstraditionen sind unter den drei Wissensbeständen der für die verbale Höflichkeit zentrale Wissenstyp. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich daher auf die individuelle Ebene der Diskurstraditionen und auf die Frage, inwiefern Diskurstraditionen zu einem angemessenen Sprechen beitragen und zugleich verbale Höflichkeit erzeugen. Zu diesem Zweck werden zwei zentrale Konzepte höflichen Sprechens vorgestellt und exemplarisch anhand linguistisch-philologischer Textanalysen illustriert. Das erste Konzept ist die Optionalität als Eröffnung von Wahlmöglichkeiten, das zweite Konzept ist ein die Maxim of Manner und das Ideal der Klarheit favorisierendes Sprechen. Die Annahme ist, dass beide Konzepte, die einander auf den ersten Blick zu widersprechen scheinen, die Basis für Diskurstraditionen höflichen Sprechens sind.
Regeln, Traditionen, Urteile: Verbale Höflichkeit und wie sie gelingt
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4 Optionalität und Höflichkeit: ein Konzept und seine Historizität 4.1 Optionalität heute: Fragen als höfliche Bitten Optionalität ist in Sprachen und Kulturen der Gegenwart ein für die verbale Höflichkeit zentrales Konzept, das häufig bei der Realisierung von Volitionen zum Einsatz kommt. Dies zeigt sich in der Technik, verschiedene Typen von Volitionen – Aufforderungen, Bitten und Handlungsempfehlungen – über das Eröffnen von Optionen zu versprachlichen. Volitionen sind bekanntlich Willensäußerungen, bei denen der Sprecher erreichen will, dass der Angesprochene eine bestimmte Handlung ausführt. Dieses Verfügen über den Gesprächspartner wird meist so vorbereitet und begleitet, dass potenzielle Verletzungen des face vermieden werden.¹⁴ Diese Strategien können über das positive face oder über das negative face realisiert werden. Im ersten Fall wird die Volition durch Zeichen der Wertschätzung abgefedert, im zweiten Fall wird zugleich mit der Volition Respekt für die Autonomie des Gesprächspartners bekundet. Strategien, die auf das positive face zielen, betonen häufig Expertise und Können des Angesprochenen: (3)
Lies mir doch den Text noch einmal Korrektur, ja? Du hast doch diesen Adlerblick für Druckfehler und kennst dich perfekt in der Interpunktion aus!
Diese Technik ist in der Gegenwart aktuell, sie war auch in mittelalterlichen Gesellschaften üblich und spielte dort vermutlich eine größere Rolle als heute. Allgemein zeigen sich in mittelalterlichen fiktionalen Texten Strategien, die darauf schließen lassen, dass das positive face dominierte. Korpusbasierte diachrone Studien für das Französische, das Englische und das Spanische belegen, dass Volitionen überwiegend als direkte Willensäußerungen mit Imperativen und Ausdrücken des Wollens realisiert wurden, wobei diese Volitionen häufig mit Ausdrücken der Wertschätzung für den Angesprochenen begleitet wurden.¹⁵ Eine plausible Begründung ist, dass individuelle Entscheidungsfreiheit in der mittelalterlichen Ständegesellschaft keinen Wert darstellte, sodass Aufforderungen kein per se gesichtsbedrohender Sprechakt waren, sondern eine durch ordo und Hierarchie abgesicherte Handlung, die keiner Abschwächung durch Strategien der negative politeness bedurfte.¹⁶ Diese Erkenntnis ist ein starkes Indiz, dass das face-Konzept eine historische Dimension hat, in der negative face und positive face unterschiedliche Ausprägungen erfahren und auch un-
Zum Zusammenhang von Sprechakttypen und verbaler Höflichkeit vgl. Iglesias Recuero 2001: 271– 284. Vgl. Culpeper / Archer 2008: 74, 76 für das Early Modern English, Frank 2011: 173, 231 f., 429, 441, 452 f. für das Französische, für das Spanische Schrott 2006. Vgl. Held 2005: 48 f., Frank 2011: 446 f., Kohnen 2008: 41 f.
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terschiedliches Gewicht haben. So dominierte im Mittelalter das positive face mit Strategien demonstrativer Wertschätzung und der höfliche Mehrwert lag in den Ausdrücken der Wertschätzung und Hochachtung, die die Aufforderung begleiteten.¹⁷ Volitionen können jedoch auch von Strategien begleitet sein, die auf das negative face zielen. Eine erfolgreiche Strategie besteht darin, dem Gesprächspartner eine Handlungsweise als Option zu eröffnen. Dazu zwei Beispiele: (4)
Der Garten sieht wirklich verwildert aus. Du könntest einen Gärtner kommen lassen, du könntest aber auch einen Samstag für die Gartenarbeit reservieren und selbst gärtnern.
(5)
Der Garten sieht wirklich verwildert aus. Kannst du nicht einen Samstag für die Gartenarbeit reservieren und dich einmal wieder deinem Garten widmen?
Die beiden aus dem sprachlichen Alltag gegriffenen Beispiele belegen zwei Techniken, Optionen anzubieten. Optionen können echte Alternativen sein (4), in den meisten Fällen aber wird der Sprecher wie in (5) zugleich mit der im Interrogativsatz ausgedrückten Handlungsoption eine Präferenz für die von ihm gewünschte Handlung erkennen lassen – in der Hoffnung, dass der Angesprochene diese Präferenz erkennt und sich für die gewünschte Option entscheidet. Das Eröffnen von Optionen kann dabei so hochgradig als Routine fixiert sein, dass die Optionalität nicht mehr bewusst wahrgenommen wird, wohl aber noch ihre höfliche Wirkung, wie das in Routineformeln der Fall ist: (6)
Könntest du die Druckfahne heute noch Korrektur lesen? Danke dir!
(7)
Kannst du die Rosen bitte noch gießen? Merci!
Die zitierte Routineformel funktioniert in (6) und (7) als hochgradig konventionalisierte Technik des höflichen Bittens. Dieser Effekt entsteht durch einen Interrogativsatz, der ein Können oder eine Bereitschaft des Angesprochenen thematisiert und den Wert eines Frageaktes hat. Die appellative Kraft von Frageakten, die Wissensdefizite anzeigen und den Gesprächspartner zur Füllung dieses Defizits aktivieren, wird hier für eine höfliche Bitte genutzt.¹⁸ Die höfliche Wirkung entsteht durch die dem Frageakt eigene Semantik der Optionalität.¹⁹ Denn während Aufforderungen wie Lies mir die
Den Zusammenhang zwischen einer geringen Operationalisierung des Konzepts Optionalität und dominantem positive face belegen auch gegenwärtige Kulturgemeinschaften vgl.Wierzbicka 1985: 154– 156, 22003: 33–37, 67–69 und 2010: 46 – 48, zum Spanischen vgl. Haverkate 1994: 161 f., Siebold 2008: 104 f. Zur aktivierenden Kraft von Frage und Aufforderung vgl.Waldenfels 1994: 14, 55, 59. Zur Ähnlichkeit von Fragen und Aufforderungen vgl. Searle (1969: 76 f., 79), der Fragen dem Sprechakttyp der directives zuteilt. Zur Kritik an dieser Zuteilung vgl. Schrott 2014a: 9 – 11, 2015: 137. Coulmas 1981: 13. Zur Optionalität vgl. Lakoff 1973: 298, der bei den „rules of politeness“ die Maximen „Don’t impose“ und „Give options“ nennt. Leech 1983: 132 führt als eine Dimension der „tact maxim“ das Geben von Optionen an. Zum Zusammenhang von Höflichkeit und Abmilderung allgemein und im Spanischen vgl. Briz 2011.
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Druckfahne bitte heute noch Korrektur die Handlungsbereitschaft des Angesprochenen präsupponieren, stellt der Frageakt diese Disposition in den Fragefokus und signalisiert so eine (fingierte) Entscheidungsfreiheit mit höflichem Mehrwert.²⁰ Die Optionalität und der daraus resultierende höfliche Effekt folgen aus dem Wert des Frageaktes, der sich zugleich durch die konventionalisierte Inferenz den Direktiva annähert. Diese Besonderheit erfasst der von Escandell Vidal (1999: 3932) geprägte Begriff der direktiven Frage, den ich daher übernehme.²¹ Die direktive Frage funktioniert als Diskurstradition, die eine Volition über das Eröffnen von Optionen ausdrückt. Studien zur kontrastiv-interkulturellen Pragmatik zeigen, dass diese Diskurstradition eine sprachübergreifende kulturelle Technik darstellt, die gegenwärtig in vielen Sprachund Kulturräumen – etwa im Englischen, Französischen, Spanischen und Deutschen – etabliert ist.²²
4.2 Optionalität als Konzept der Höflichkeit in mittelalterlichen Texten 4.2.1 Vergebliche Suche? Da Diskurstraditionen historische Entwicklungen sind, stellt sich die Frage, ob die auf Optionalität basierende direktive Frage auch in früheren Epochen belegt ist. Korpusbasierte Untersuchungen zu Texten des Mittelalters ergeben in verschiedenen Sprach- und Kulturräumen keine Belege für direktive Fragen. So ist im Spanischen des Mittelalters die direktive Frage nicht belegt. Studien zu Frageakten in mittelalterlichen Texten unterschiedlicher Gattungen – auch in Texten, die höfliches und höfisches Verhalten abbilden – ergaben, dass kein Frageakt die Funktion einer höflichen Bitte erfüllte (Schrott 2006).²³ Diesen Befund stützt eine korpusbasierte Untersuchung von Iglesias Recuero (2016), die für das Siglo de Oro eine deutliche Tendenz zur Verwendung des Imperativs feststellt, wogegen enunciados interrogativos deutlich weniger
Zur Deutung als indirekter Sprechakt vgl. Searle 1979: 30 – 32, 43 f., zur Kritik an dieser Deutung Schrott 2014a: 18 f. und 2015: 137. Zur direktiven Frage vgl. Schrott 2014a: 16 – 18, 2015: 136 – 140, 2017c. Zum Englischen vgl. Brown / Levinson 1987: 132– 134; zum Französischen Kerbrat-Orecchioni 2001: 33 – 52, 85, van Mulken 1996: 698; zum Spanischen Escandell Vidal 1999: 3932, Díaz Pérez 2003: 260, Cisneros 2007: 35 – 41, Rossowová 2016: 197– 199 und Iglesias Recuero 2017: 292– 294. Die direktive Frage ist jedoch nicht in allen Sprachen bzw. Kulturen üblich und hat daher keinen universellen Status. Zum Ausdruck von Bitten im Russischen und zum restringierten Einsatz direktiver Fragen vgl. Wierzbicka 2010: 50 – 53, zum Polnischen Wierzbicka 1985: 165 f., 170 f. Folgende Texte wurden untersucht: Cantar de mio Cid; Auto de los Reyes Magos; Poema de Fernán González; Vida de Santa María Egipciaca; Gonzalo de Berceo: Vida de San Millán, Vida de Santo Domingo, Milagros de Nuestra Señora, Poema de Santa Oria; Libro de Alexandre; Libro de Apolonio; Libro de Buen Amor.
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frequent für Volitionen verwendet werden.²⁴ Die Annahme liegt nahe, dass die direktive Frage als Diskurstradition höflichen Bittens im Mittelalter nicht existierte, im Siglo de Oro mit geringer Frequenz verwendet wurde und erst in neuerer Zeit zu einer hochfrequenten Konvention wurde. Studien zur französischen und englischen Sprachgeschichte dokumentieren analoge Befunde. Im Französischen finden sich direktive Fragen vereinzelt seit dem 16. Jahrhundert, werden jedoch erst im 19. Jahrhundert konventionalisiert.²⁵ Auch im Englischen sind direktive Fragen im Altenglischen nicht belegt und die konventionalisierte Verwendung dieser Technik wird auf das 19. Jahrhundert datiert.²⁶ Die direktive Frage, die im Spanischen, Französischen und Englischen heute eine frequente, hochgradig konventionalisiere Routineformel ist, ist damit eine Diskurstradition, deren Entstehung und Ausformung in verschiedenen Sprachen und Kulturen in die Neuzeit fällt (Frank 2011: 173, 231 f.). Welche Schlüsse lassen sich aus diesen Befunden ziehen? Eine mögliche Schlussfolgerung ist, dass im kommunikativen Haushalt des Mittelalters über die Einzelsprachen hinaus Traditionen des höflichen Sprechens wirksam waren, die sich grundlegend von neuzeitlichen Normen unterschieden und in denen Optionalität keine Rolle spielte. Eine zweite mögliche Hypothese ist, dass das Konzept der Optionalität auch in mittelalterlichen Traditionen des Sprechens eine Rolle spielte, jedoch in anderer Weise genutzt wurde als das heute in der Routine der direktiven Frage der Fall ist und dass alternative Interaktionsformen zur Stiftung von Optionen verwendet wurden, die sich von heutigen Techniken unterscheiden und daher leicht unerkannt bleiben. Es gilt daher, sich den Blick von der heute prominenten Form der direktiven Frage nicht verstellen zu lassen und so unvoreingenommen wie möglich die mittelalterlichen Texte nach Diskurstraditionen abzusuchen, bei denen ein Sprecher dem anderen Optionen eröffnet.²⁷
Iglesias Recuero 2016: 972 f., 977 f., 989 – 991 und 2010: 5 – 12, 14. Eine Untersuchung von Iglesias Recuero (2017) zur atenuación in Texten des español clásico ergibt bei Bitten einen deutlich verringerten Anteil abschwächender Verfahren gegenüber dem heutigen Sprachgebrauch im Spanischen. Frank 2011: 63 – 65, 173, 231 f., 288 – 290, 413 – 415. In altfranzösischen Texten dominieren vielmehr Imperative als Form der Aufforderung (Frank 2011: 173, 231 f.). Während der Imperativ ein in der Geschichte der Aufforderung im Französischen kontinuierlich belegtes Mittel darstellt, stellt die im Französischen der Gegenwart hochfrequente Aufforderung via Frageakt eine Entwicklung der Neuzeit dar (ibid. 110 – 112, 115, 489 – 492). Kohnen 2008: 27, 30, Jucker 2011: 182, Culpeper / Demmen 2011: 61 f., 74 f. Jucker 2012 gibt einen diachronen Überblick zu Höflichkeitskulturen im Englischen, der die Verschiebungen zwischen positive politeness und negative politeness für die englische Sprach- und Kulturgeschichte vom Mittelalter bis in die Gegenwart aufzeigt. Auch Iglesias Recuero stellt in einer korpusbasierten Analyse zum español clásico fest, dass das Signalisieren von Optionalität (durch verschiedene sprachliche Mittel) eine zentrale Stategie des Bittens ist (2017: 306): „Hacer explícita la libertad del destinatario para llevar a cabo o no la acción solicitada, aminorando el modo de realización.“
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4.2.2 Optionalität in anderem Gewand: Rat und Beratung Die Eröffnung von Optionen als Technik höflicher Volitionalität ist am ehesten in Texten erwartbar, in denen die Dialoge höfisch geprägte Umgangsformen inszenieren und abbilden. Ein solcher Text ist das Libro de Apolonio, in dem die cortesía als höfisches Wert- und Tugendsystem musterbildend verbale Interaktionen anleitet.²⁸ Die Suche nach auf Optionalität basierenden Interaktionsformen geht nun nicht von Strukturen wie der stets mit Interrogativsätzen realisierten direktiven Frage aus, sondern onomasiologisch vom Konzept der Optionalität. Gesucht werden Interaktionsformen, in denen Handlungen als Option vorgeschlagen oder empfohlen werden. Diese onomasiologisch basierte Suche wird in der Interaktionsform des Beratungsdialogs fündig, in dem ein Ratgeber einem ratsuchenden Gesprächspartner Empfehlungen zur Lösung eines Problems oder einer Aufgabe gibt.²⁹ In Beratungsdialogen formuliert der Ratsuchende ein Anliegen oder ein Problem und bittet den Gesprächspartner um eine Lösung. Der als Ratgeber Angesprochene nennt daraufhin eine Vorgehensweise bzw. Handlung, die der Ratsuchende realisieren soll, um sein Problem zu lösen, woraufhin der Ratsuchende dem Ratgeber in der Regel Dank und Anerkennung zollt.³⁰ Beratungsdialoge beinhalten daher mindestens zwei Sprechakte: die Bitte um Rat und den in der Antwort gegebenen Rat, der in der Regel die Empfehlung einer bestimmten Handlungweise beinhaltet. Dabei stellt die empfohlene Handlung keine Volition dar, sondern eine Empfehlung und es liegt im Ermessen des Adressaten, ob er den Ratschlag realisiert oder nicht. In mittelalterlichen Beratungsdialogen folgt der Dialog meist deutlich dem Schema von Frage und Antwort, Ratbitte und Geben des Ratschlags.³¹ Diese Dialogform illustriert ein Beispiel aus dem Libro de Apolonio, in dem sich mehrfach Beratungsdialoge finden. Kurz zum Kontext. Apolonio hält sich auf der Flucht vor dem rachsüchtigen Antioco in Tarso auf, wodurch die Stadt in Gefahr gerät, zu einem Angriffsziel Antiocos zu werden. Apolonio und Estrángilo, ein angesehener Bürger der Stadt, besprechen die Situation (Edition Corbella 1992): (8)
Libro de Apolonio, Strophe 99 – 102
99a 99b 99c 99d
„Rey“, dixo Estrángilo, „si me quisieres creyer, dart’ é buen conseio si mel’ quisieres prender, que fueses a Pentápolin vn yuierno tener; sepas que aurán contigo gran plaçer.
Zur mittelalterlichen Höflichkeit als Ensemble aus Werten und Verhaltensweisen vgl. Haug 2002: 58 f. Zum Libro de Apolonio vgl. Alvar 1984: LVII zur cortesía als Wissen, das im Zuge der standesgemäßen Ausbildung und Bildung erworben wird. Schrott 2013: 647– 649, 2014b: 307. Zur Dialogform des Beratens im Mittelalter Schrott 2013: 640 – 649 und 2014b: 307 f., 309 – 314. Zu allgemeinen Strukturen des Beratens vgl. Kallmeyer 1985: 81, 84, 96 f. und 2002, Schrott 2013: 640 – 642, 647 und 2014b: 307. Zur Tradition des consilium vgl. Rieger 1998: 639 – 643, 650.
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100a 100b 100c 102a 102b 102c 102d 102e
Serán estos roýdos por la tierra sonados, contra el rey Antioco seremos acusados; mourá sobre nos huestes, por malos de pecados; […] Mas quando entendieren que tú eres alçado, esto serié aýna por las tierras sonado, derramarié Antioco luego su fonsado; tornarás tú en Tarso τ biurás segurado.“ „Págome“, diz Apolonio, „que fablas aguisado.“
(„König“, sprach Estrángilo, „wenn du mir Glauben schenken möchtest, ich werde dir einen guten Rat geben, wenn du ihn von mir annehmen möchtest, und zwar, dass du dich einen Winter lang in Pentápolin aufhältst; du sollst wissen, dass sie an dir große Freude haben werden. Andernfalls werden diese Nachrichten [dass du dich bei uns aufhältst] bekannt werden und man wird uns bei Antioco anklagen. Wegen seiner schlimmen Sünden wird er eine Armee gegen uns führen. […] Wenn sie aber hören, dass du geflohen bist, und sich diese Nachricht rasch verbreitet, dann wird Antioco seine Streitmacht entlassen, du wirst nach Tarso zurückkehren und dort in Sicherheit leben“. „Das gefällt mir,“ sagte Apolonio, „was du sagst, ist angemessen.“)
Estrángilo legt Apolonio nahe, die Stadt zu verlassen, und formuliert dieses heikle Anliegen als Ratschlag, wobei er betont, dass es Apolonio frei steht, diesen Rat anzunehmen oder nicht (99b dart’ é buen conseio si mel’ quisieres prender). Die Interaktionsform des Ratgebens ermöglicht es Estrángilo, Apolonio den für ihn gefahrvollen Vorschlag, die Stadt zu verlassen, als (für ihn vorteilhafte) Option zu präsentieren, die Apolonio in eigenem Ermessen annehmen oder ablehnen kann. Mit dieser Option kann Estrángilo den Eindruck vermeiden, in der Not die Normen der Gastfreundschaft zu verletzen, indem er Apolonio zur Abreise auffordert. Zugleich gibt die Empfehlung Estrángilos Apolonio die Möglichkeit, sich als ein Mensch zu zeigen, der andere nicht in Gefahr bringen will. Nicht zufällig verweist Apolonio in seiner Zustimmung auf das Kriterium der Vernunft und Angemessenheit (102e Págome, diz Apolonio, que fablas aguisado). Die Optionalität des Ratgebens kann als Strategie der negative politeness gedeutet werden, die eine Volition abschwächt. In noch stärkerem Maße jedoch dient die Form der Beratung der Wahrung des positive face beider Interaktanten: Estrángilo wahrt das hohe Gut der Gastfreundschaft und Apolonio kann sich als verantwortungsvoller Gast erweisen. Indem Estrángilo seinen Vorschlag in die Form eines Beratungsdialogs gießt, gelingt es ihm, eine Optionalität zu erzeugen, die den beiden Gesprächspartnern drohenden Gesichtsverlust abwendet und dem positive face beider Interaktanten dient. Das Libro hat bekanntlich das Ziel, die Geschichte del buen rey Apolonio y de su cortesía (V.1d) zu erzählen und nutzt daher verstärkt die Form der Beratung, um die Protagonisten als höfische Gesprächspartner zu inszenieren, die Optionen eröffnen. Die Redeszenen des Ratsuchens sind daher eine Technik, die es erlaubt, dem Gesprächspartner eine Handlungsempfehlung zu geben und ihm eine Option zu eröffnen. Die Beratung kann aufgrund dieser Wahlfreiheit als negative politeness interpretiert werden, doch wirkt der Ratschlag, wie das Textbeispiel deutlich zeigt, vor allem als eine das positive face stärkende Strategie. Denn zum einen präsentiert sich
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der Ratgeber als Mensch, der das Wohl des Ratsuchenden im Auge hat, und zum anderen signalisiert der Ratgeber dem Adressaten, dass er ihm zutraut, die richtige Wahl zu treffen. Die im Ratschlag gegebene Optionseröffnung stärkt in erster Linie als Ausdruck von Vertrauen und Wertschätzung das positive face beider Gesprächspartner, die Optionen wirken erst in zweiter Linie (wenn überhaupt) als Taktik der negative politeness. ³² Das Ratgeben ist damit eine Diskurstradition, die durch das Eröffnen von Optionen einen Mehrwert bietet, der über die Anforderungen des Kooperationsprinzips hinausgeht. Die Technik, Optionen zu geben, pflegt prinzipiell beide Seiten des face, im Fall der Beratung dominiert sogar das positive face. Dies legt nahe, dass das Eröffnen von Optionen im Mittelalter primär als Strategie der positive politeness wirkt, wogegen die in der Gegenwart frequente direktive Frage das Konzept der Optionalität eher als Strategie der negative politeness nutzt.
5 Höflichkeit und Klarheit: zur Historizität der perspicuitas 5.1 Höflichkeit und Klarheit heute Die Erkenntnis, dass Diskurstraditionen der Höflichkeit im Mittelalter andere Strukturen und Funktionsprofile haben als in der Gegenwart, wird nun auf einen weiteren Fall aktivierenden und appellativen Sprechens angewandt. Dazu einleitend wieder zwei Beispiele aus dem sprachlichen Alltag: (9)
Wann muss das Manuskript eingereicht werden?
(10)
Sag mal, wann muss das Manuskript denn eingereicht werden?
Während in (9) das Wissensdefizit durch die mit Interrogativsatz versprachlichte Frage offen gelegt wird, ohne die gewünschte Handlung des Antwortens explizit zu nennen, kombiniert die zweite Äußerung den Frageakt mit einer einleitenden Aufforderung, die den Akt des Antwortgebens durch den Imperativ ausdrücklich formuliert (10). Da der Frageakt den Kern dieser Sequenz darstellt, nenne ich diese Kombination die „appellativ begleitete Frage“. Die mit einem Imperativ realisierte Aufforderung thematisiert durch ein verbum dicendi den Akt des Sagens und macht damit die im Frageakt implizit gewünschte Handlung explizit. In der Kombination von (imperativisch realisierter) Aufforderung und Frage ist der Frageakt die zentrale Illokution, da er den propositionalen Gehalt der
Optionalität kann daher nicht allein der negative politeness zugeschlagen werden, wie das in der kontrastiven Pragmalinguistik gelegentlich geschieht, vgl.Wierzbicka 1985: 165 f. und 2010: 46 – 48, vgl. auch Held 1992: 139, 142 f.
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Äußerung beinhaltet und aufzeigt, worin das thematisierte Wissensdefizit besteht. Der Aufforderungsakt hingegen ist auf den Frageakt bezogen und verstärkt diesen, indem er die gewünschte Handlung des Sagens benennt und so explizit macht, was die Frage implizit belässt. Da Aufforderung und Frage ein ausgeprägt aktivierendes Potenzial haben, wird der appellative Wert gesteigert und die Sequenz in ihrer Gesamtheit nähert sich dem Aufforderungsakt an, auch wenn der Frageakt den Kern der Sequenz bildet. Appellativ begleitete Fragen wie in (10) haben einen deutlich nachdrücklicheren Charakter als der bloße Frageakt (9). So könnte man sich in einem Gespräch vorstellen, dass ein Sprecher sich zuerst mit einer einfachen Frage (9) nach dem Abgabetermin erkundigt und erst die appellativ begleitete Frage (10) wählt, wenn der Gesprächspartner ihm keine Beachtung schenkt oder die Frage überhört hat. Die umgekehrte Reihenfolge – der Sprecher beginnt mit einer appellativ begleiteten Frage und formuliert dann die bloße Frage – erscheint in diesem Kontext nicht wahrscheinlich. Der Grund ist, dass im heutigen Sprachgebrauch die appellativ begleitete Frage eine appellativ verstärkte Frage ist, die sich in Fragesequenzen perfekt zum Nachhaken und Insistieren anbietet. Vor dem Hintergrund des pragmalinguistischen Modells der drei Wissensbestände, konstituiert diese Struktur eine Diskurstradition, die sich als kommunikatives Muster in verschiedenen Sprach- und Kulturräumen der Gegenwart findet und etwa im Deutschen, Französischen und Spanischen geläufig ist.³³ Der gegenüber dem Frageakt verstärkte Charakter wird genutzt, um den aktivierenden Wert einer Frage zu unterstreichen, etwa bei der insistierenden Wiederholung einer Frage, die nicht (ausreichend) beantwortet wurde.³⁴ Diese Bindung an den Akt des Insistierens impliziert, dass die mit der Frage einhergehende Optionalität gemindert wird. Die appellativ begleitete Frage besteht auf einer Antwort, hebt die Optionalität der Frage auf und fordert vom Angesprochenen eine Handlung ein. Die Annahme liegt nahe, dass dieser fordernde Charakter eine verringerte Rücksichtnahme auf das negative face impliziert und damit den Grad an verbaler Höflichkeit mindern kann.
5.2 Klarheit als Höflichkeit im Mittelalter Das Muster der appellativ begleiteten Frage ist nicht allein in verschiedenen Sprachen der Gegenwart belegt, es findet sich auch rekurrent in altspanischen Texten verschiedener Gattungen.³⁵ Entscheidend ist nun, dass die Struktur der appellativ begleiteten Frage in den altspanischen Texten keine per se insistierende Funktion hat. Die folgenden Beispiele aus verschiedenen Gattungen und Dialogtypen illustrieren, Zum Französischen Frank 2011: 25, 200 – 202, vgl. auch Blum-Kulka / House 1989: 129 f. Zu insistierenden Aufforderungen vgl. Blum-Kulka / House 1989, 129 – 131, vgl. auch Haverkate 1994: 154– 157. Girón Alconchel 1988, 159 f., 166 und 199 f., vgl. auch Chatham 1960: 175 – 179, 195 f. zur Syntax des altspanischen Interrogativsatzes.
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dass die appellativ begleitete Frage in verschiedenen kommunikativen Konstellationen vorkommt und dabei unterschiedliche illokutionäre Färbungen annehmen kann, jedoch nicht die deutlich insistierende Funktion hat, die sie im heutigen Sprachgebrauch besitzt. Das erste Beispiel stammt aus dem Auto de los Reyes Magos, einem geistlichen Spiel über die Geburt Christi (Edition Menéndez Pidal): (11)
Auto de los Reyes Magos, V.52– 53
52 53
Dios uos salue, senior; ¿sodes uos strelero? Dezidme la uertad, de uos sabelo quiro.
(Gott zum Gruße, mein Herr; seid Ihr Sternenkundler? Sagt mir die Wahrheit, von Euch möchte ich das erfahren.)
Die beiden Gelehrten Caspar und Balthasar, die alle beide dem Stern folgen, begegnen sich und Caspar fragt Balthasar nach einer höflichen Begrüßung, ob er Sternenkundler sei. Die Formel Dezidme la uertad wird hier unmittelbar nach der höflichen Grußformel in einem Gespräch zwischen höfisch gebildeten Gelehrten verwendet. Der Kontext legt eine höfliche Frage ohne Insistieren und ohne Nachdruck nahe. Die Annahme, dass die Struktur der appellativ begleiteten Frage in mittelalterlichen Texten per se keine Verstärkung impliziert, belegen zwei Beispiele aus dem Cantar de mio Cid (Edition Montaner): (12)
Cantar de mio Cid, V.129 – 133
129 130 132 133 134
Mas dezidnos del Cid, ¿de qué será pagado o qué ganancia nos dará por todo aqueste año? Respuso Martín Antolínez a guisa de menbrado: Mio Cid querrá lo que sea aguisado, pedirvos á poco, por dexar so aver en salvo;
(„Sagt uns mehr vom Cid, was wird er zu seinem Vorteil erhalten oder welchen Gewinn wird er uns geben für dieses ganze Jahr?“ Martín Antolínez, geschickt wie immer, antwortete: „Er wird geben, was angemessen ist, er wird wenig von Euch erbitten dafür, dass er seine Habe in Sicherheit bringen kann.“) (13)
Cantar de mio Cid, V.2675 – 2677
2675 2676 2677
–Dezidme, ¿qué vos fiz, ifantes? Yo sirviéndovos sin art e vós, pora mí, muert consejastes.
(Sagt mir Infantes, was habe ich euch getan? Ich habe euch ohne Hintergedanken gedient und ihr habt meinen Tod geplant.)
In (12) wird die appellativ begleitete Frage von den Händlern Rachel und Vidas im Gespräch mit Martín Antolínez verwendet, der sie im Auftrag des Cid aufsucht. Da die Händler sozial niedriger stehen als der Abgesandte des Cid, leistet die Struktur hier
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eine klar formulierte Fragestellung, jedoch ohne Druck auszuüben – dies wäre dem Status der Händler unangemessen. Anders liegt der Fall in (13). Hier entdeckt der Maure Avengalvón, dass die Infanten, die er großzügig bewirtet hat, ihn aus Habgier töten wollten. In diesem Fall dient die appellativ begleitete Frage Dezidme, ¿qué vos fiz, ifantes? dazu, dem Frageakt Deutlichkeit zu verleihen. In geeigneten Kontexten – der Maure stellt Menschen zur Rede, die ihm nach dem Leben trachteten – können durch Imperative begleitete Fragen also auch Nachdruck versprachlichen. Entscheidend ist aber, dass diese Nachdrücklichkeit sich aus dem Kontext ergibt, sie entsteht nicht kontextunabhängig aus dem Imperativ als Form. Dass der Imperativ an sich keinen nachdrücklich-insistierenden Effekt hat, zeigen ebenfalls die folgenden Beispiele aus zwei Heiligenleben. Das nächste Beispiel gibt einen Dialog aus dem Poema de Santa Oria wieder, in dem Oria eine Vision erlebt und sich in der Vision an ihre Begleiterinnen wendet (Edition Uría Maqua 1981): (14)
Poema de Santa Oria, Strophe LXXIV:
74a 74b 74c 74d
Preguntolis por ella la freira que oídes: „Dezitme, mis señoras, por Dios a qui servides, ¿Urraca es en estas, las que aquói venides?, grant gracia me faredes si esto me dezides.
(Nach ihr fragte die Nonne, hört ihre Worte: Sagt mir, meine Damen, bei Gott, dem ihr dient, ist Urraca unter denen, die da kommen? Eine große Gunst würdet ihr mir erweisen, wenn ihr mir das sagen wolltet.)
Eine insistierende Deutung der Struktur scheidet aus, da Oria durch extreme humilitas charakterisiert ist und den Gestalten ihrer Visionen stets mit großer Ehrerbietung begegnet. Die appellativ begleitete Frage markiert deutlich das Wissensdefizit der Fragenden, jedoch ohne den Nachdruck, den die Struktur heute besitzt (vgl. Schrott 2012: 119 – 122). Eine solche Markierung des Wissensdefizits liegt auch im nächsten Ausschnitt aus dem Heiligenleben Vida de Santa María Egipciaca vor (Edition Alvar): (15)
Vida de Santa María Egipciaca V.293 – 298
293 294 295 296 297 298
Cerqua si vio un omne estar, commençól a demandar: „Por Dios me digas tú, sennyor, si de Dios ayas amor, ¿aquelos que salen del drumón, a cuál part van ho que omnes son?“
(Ganz in ihrer Nähe sah sie einen Mann, sie begann ihn zu fragen: Bei Gott, mein Herr, mögest du mir sagen, wenn dir Gott lieb ist: die Menschen, die von diesem Schiff herunterkommen: wo gehen sie hin und wer sind sie?)
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In der Vida de Santa María Egipciaca sieht die Protagonistin ein Pilgerschiff und erkundigt sich, nach den Menschen dort – eine Frage, die ihre Bekehrung einleitet. Der mit Por Dios me digas tú verstärkte Frageakt verdeutlicht, dass die Frage auf die Füllung eines Informationsdefizits abhebt sie hat jedoch nicht den Wert einer insistierenden Nachfrage. Die Feststellung, dass die von einem Imperativ begleitete Frage in mittelalterlichen Texten nicht dem Muster des Insistierens entspricht, belegt auch das letzte Beispiel aus einer weiteren Textgattung, dem mester de clerecía. Im Libro de Apolonio überbringt Apolonio der Königstochter Luciana – ein Muster an höflicher Bildung wie er selbst – Briefe der Brautwerber und Luciana fragt nach seiner Einschätzung (Edition Corbella): (16)
Libro de Apolonio, V.218a-d (Edition Corbella)
218a 218b 218c 218d
Cató a Apolonio e dixo con sospiro: „Dígasme, Apolonio, el mío buen rey de Tiro, en este casamiento de ti mucho me miro, si te plaz’ o si non, tú voluntat requiro.“
(Sie sah Apolonio an und sagte mit einem Seufzen: „Sag mir Apolonio, mein guter König von Tyrus, was diese Heirat betrifft ist mir deine Meinung wichtig, ich möchte deinen Willen kennen, ob dir diese Heirat gefällt oder nicht.)
Lucianas Gesprächsstrategie ist – trotz der Deutlichkeit der Frage – hochgradig indirekt. Denn Luciana ist in Apolonio verliebt und will über seine Meinung zu den Briefen seine Gefühle ergründen. Die appellativ begleitete Frage wird damit in einem hochgradig mit Anspielungen und indirekten Strategien arbeitenden Gespräch verwendet; sie leistet einen verdeutlichenden Hinweis auf Lucianas Wissensdefizit, hat jedoch keinen insistierenden Effekt. Die aus verschiedenen Textgattungen stammenden Beispiele haben gemeinsam, dass die appellativ begleiteten Fragen einen verdeutlichenden Vollzug des Frageakts leisten und akzentuieren, dass ein Wissensdefizit vorhanden ist und die Frage auf einen Akt verbaler Informationsvermittlung abzielt. Sie sind dabei mit den Normen höflich-hochachtungsvollen Sprechens vollkommen vereinbar und mindern in keiner Weise den höflichen Charakter einer Äußerung. Die Diskurstradition der appellativ begleiteten Frage in den mittelalterlichen Texten verdeutlicht, dass es dem Sprecher auf die Füllung eines Wissensdefizits ankommt und leistet eine illokutionäre Verdeutlichung des Frageakts. Die appellativ begleitete Frage ist daher eine Technik, die im Altspanischen – und möglicherweise darüber hinaus auch in anderen Sprachen und Kulturen des Mittelalters – einen verdeutlichenden Effekt besitzt. Meine Hypothese ist nun, dass dieser verdeutlichende Aspekt in der mittelalterlichen Gesprächskultur, die direkte imperativische Aufforderungen nicht als potenzielle Gesichtsverletzungen versteht, als Form höflichen Sprechens aufgefasst werden konnte. Denn grundsätzlich stellt die explizite Nennung einer Handlung immer einen Wert dar, der Klarheit und Eindeu-
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tigkeit in der Kommunikation schafft. Der höfliche Effekt klarer Rede wird noch einsichtiger, wenn man das Grice’sche Kooperationsprinzip und dessen Maximen heranzieht. Die hohe Frequenz der appellativ begleiteten Frage in Kontexten höflichen Sprechens ist ein Beweis dafür, dass für die Höflichkeit von Aufforderungen im Mittelalter vor allem die Maxim of Manner mit ihrer Leitmaxime Be perspicuous! entscheidend war und dass der rhetorische Grundsatz der perspicuitas im Mittelalter im Bereich volitionaler Äußerungen größere Gültigkeit hatte als heute. Eine Möglichkeit, diese Klarheit umzusetzen, ist der explizite, schnörkellose Ausdruck von Aufforderungen. Auf die Formulierung von Fragen und Aufforderungen bezogen, fungiert die perspicuitas als Leitsatz, die Sprecherintention so deutlich wie möglich zu formulieren. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang eine Beobachtung Kohnens (2011: 251 f.) zum Altenglischen, der feststellt, dass Willensbekundungen im Altenglischen häufig durch Performative versprachlicht werden und diese Tendenz damit erklärt, dass Explizitheit und Eindeutigkeit einen hohen kommunikativen Wert darstellen. Zu dieser Feststellung passt unsere Erkenntnis, dass Aufforderungen dominant über Imperative formuliert werden und Frageakte, die auf die Füllung eines Wissensdefizits abzielen, durch den Imperativ eines verbum dicendi begleitet werden, das diesen Akt des Sagens und Informierens explizit macht. Diese kommunikative Erklärung fügt sich auch in die markante soziale Ordnung des Mittelalters ein. In einer Gesellschaft, in der die Standeszugehörigkeit immer transparent ist, sind Klarheit und Eindeutigkeit des Handelns ein hoher Wert: Wer seine Intentionen im Sprechen und Handeln klar vertritt und manifestiert, der erfüllt seine Rolle in der Gesellschaft und realisiert die sozialen Normen in der gewünschten Deutlichkeit. In diesem Sinne kann eine deutliche Volition zugleich eine bewusst gewählte höfliche Form sein. Bisher wurde in der Forschung die häufige Verwendung direkter Aufforderungen in mittelalterlichen Texten meist damit begründet, dass in der mittelalterlichen Gesellschaft Aufforderungen aufgrund der geringen Bedeutung des negative face an sich keinen gesichtsbedrohenden und potenziell unhöflichen Sprechakt darstellten (Frank 2011: 464 f., 452 f.). Dieser Verweis auf die geringere Bedeutung des negative face kann zwar begründen, warum imperativische Aufforderungen im Mittelalter nicht unhöflich waren, sagt aber nicht, worin die Qualität von direkten Aufforderungen bestanden haben könnte. Die Hypothese, dass direkte Aufforderungen eine Qualität und einen Mehrwert hatten, der in ihrer Explizitheit bestand, kann dagegen erklären, worin der Vorteil dieser direkten Aufforderungen lag, nämlich in der Deutlichkeit und Klarheit, die sie in der verbalen Interaktion erzeugten und die dann als hochgradige Erfüllung der Maxim of Manner wiederum einen höflichen Effekt zu erzielen vermochte.
6 Für einen historischen Gelingensbegriff Die Studie belegt, dass verbale Höflichkeit in den Übergängen zwischen Frage und Aufforderung auf drei Ebenen durch Historizität geprägt ist.
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Am offensichtlichsten ist die Historizität auf der Ebene der Diskurstraditionen. Die Implikationen dieser Historizität zeigen sich mit großer Deutlichkeit auf der individuellen Ebene der Texte und Diskurse in Konzepten wie Optionalität und Klarheit, die die Interaktionen der individuellen Ebene anleiten. So legt die für mehrere Sprachen belegte Absenz der direktiven Frage in mittelalterlichen Textkorpora nur auf den ersten Blick nahe, dass Optionalität im Mittelalter keine Rolle für die Formung verbaler Interaktion spielte. Vielmehr belegt der Dialogtyp der Beratung, dass es sehr wohl eine einflussreiche Technik der optionalen Handlungsempfehlung gab. Der optionale Charakter der Beratung im Mittelalter und die semantische Optionalität der direktiven Frage in der Neuzeit belegen, dass das Konzept der Optionalität in verschiedenen Epochen mit völlig verschiedenen Techniken realisiert wird. Um dies zu erkennen, muss sich der Blick von vertrauten Routinen der Höflichkeit lösen, um formbasierte und funktionsbasierte Analysen kreativ zu verbinden. Es reicht daher nicht aus, allein nach einer bestimmten Struktur von Optionalität zu suchen, die man aus der Gegenwart kennt, vielmehr müssen die Texte zugleich in einem funktionsbasierten Ansatz nach alternativen Strategien höflicher Optionalität durchsucht werden. Die Diskurstradition der appellativ begleiteten Frage schließlich dokumentiert, dass ein und dieselbe Struktur in verschiedenen Epochen als Diskurstradition wirken kann, dabei aber verschiedene illokutionäre Werte und Funktionen realisiert. So dient die Struktur in der mittelalterlichen Kulturgemeinschaft als im Dienste der perspicuitas stehende Verdeutlichung der kommunikativen Absicht, während sie in der Gegenwart insistierenden Wert hat. Ein und dieselbe sprachliche Struktur leistet also zu verschiedenen Epochen verschiedene Diskurstraditionen. Diese Akzentverschiebungen im pragmatischen Profil illustrieren, dass Diskurstraditionen ein in hohem Maße kulturspezifisches und historisch wandelbares Wissen darstellen. Eine historische Prägung ist jedoch auch auf der Ebene der Regeln und Prinzipien des Sprechens auszumachen. Denn die Diskurstraditionen der Höflichkeit können an zwei universell konzipierte Modelle angeschlossen werden: an das Modell des face mit seiner Aufgliederung in positive face und negative face und an das Prinzip der Kooperation nach Grice.Was das face betrifft, so erscheint die Existenz zweier Typen von sozialem Selbstbild ein geeigneter Kandidat für ein universelles Prinzip der Höflichkeit. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass die Gewichtung der beiden faces, ihre Ausprägungen und ihre Bezugsetzungen historische Größen darstellen. Historischpragmalinguistische Untersuchungen – ebenso wie Studien zur kontrastiven und interkulturellen Pragmalinguistik – belegen diese Historizität. Ein zweites universelles Modell für Höflichkeit ist das Kooperationsprinzip: Ein höflicher Mehrwert entsteht immer dann, wenn dessen Maximen in besonders hohem Maße erfüllt werden. In gewisser Weise können daher Strategien, die auf das face der Interaktanten Rücksicht nehmen, ebenfalls als eine Übertreffung des Kooperationsprinzips gedeutet werden: Der Sprecher erfüllt nicht nur ein Prinzip kommunikativen Vertrauens, sondern achtet zudem darauf, dem sozialen Selbstbild des anderen gerecht zu werden. Doch auch das Kooperationsprinzip und seine Maximen kombinie-
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ren universelle und historische Elemente, denn die in den Maximen thematisierten Werte – angemessener Informationsgehalt, Wahrheitsgehalt, Relevanz und Klarheit – haben ebenfalls historische Anteile. Damit haben sowohl das in der Höflichkeitsforschung maßgebliche Modell des face als auch das in diesem Beitrag zur Erklärung gelingender Höflichkeit herangezogene Grice’sche Kooperationsprinzip nicht nur universelle, sondern auch historische und kulturelle Komponenten. Bedenkt man, dass verbale Höflichkeit zudem ihren Kern in den per definitionem historischen Diskurstraditionen hat, dann wird vollends klar, dass Höflichkeit nur historisch fassbar und erklärbar ist. Schließlich könnten sich historische Tendenzen drittens auch auf der Ebene der Sprechakte zeigen. Ausgangspunkt ist, dass der Sprechakt Aufforderung die auszuführende Handlung explizit nennt, während Frageakte lediglich auf ein Defizit hinweisen, jedoch ohne die gewünschte Handlung zu nennen. Die untersuchten Diskurstraditionen der direktiven Frage und der appellativ begleiteten Frage leisten beide in unterschiedlicher Weise eine Annäherung von Frage und Aufforderung und sind im Übergangsbereich zwischen den Sprechakten Frage und Aufforderung zu verorten: Während die appellativ begleitete Frage sich durch die explizite Benennung der gewünschten Handlung der Aufforderung annähert, dient die direktive Frage dazu, eine Aufforderung durch eine Frage zu ersetzen. Beide Diskurstraditionen sind damit im Übergangsbereich von Frage und Aufforderung angesiedelt. Damit können direktive Frage und appellativ begleitete Frage in gewisser Weise als Antipoden betrachtet werden. Durch die appellative Verstärkung gewinnt der Frageakt an Eindeutigkeit und Klarheit, bleibt jedoch ein Frageakt. Dagegen dringt mit dem Aufkommen der direktiven Frage der Frageakt in den Bereich der Aufforderung ein und ersetzt zunehmend die (zuvor imperativisch realisierte) Aufforderung. Der Frageakt als implizite und andeutende Form der Volitionalität ist das zunehmend prominente Muster, mit dem eine potenziell gesichtsbedrohende Aufforderung überformt wird. Der Grund für diese ‚Erfolgsgeschichte‘ liegt dabei in den Vorteilen des Konzepts der Optionalität, aber wohl auch in der Tatsache, dass direktive Fragen als Ausdruck von Optionalität nicht an Gesprächstypen gebunden sind und äußerst breit eingesetzt werden können, wogegen die in Beratungsdialogen eingesetzte Optionalität an den Dialogtyp der Beratung bzw. an Dialogsequenzen der Beratung gebunden ist. Die Etablierung der direktiven Frage in der Neuzeit und die hochfrequente Verwendung seit dem 19. Jahrhundert kann dahingehend gedeutet werden, dass der Frageakt als Illokutionstyp über die direktive Frage als Diskurstradition der Höflichkeit sein Territorium erweitert und gleichsam in den Bereich der Aufforderung eindringt. Dies wäre dann eine weitere Historisierung einer bisher nicht historisch gedachten Klassifikation universeller Sprechakte.
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Hartwig Kalverkämper
Das ‚Gelingen‘ als interdisziplinäre Kategorie
1 Das ‚Gelingen‘ als soziale Erfahrungskategorie Die Jahre seit 2015 stehen unter einem Stern, der alles Andere als Harmonie, Zusammenwirken, Gemeinsamkeit, Kooperation und Gelingen der nationalen, der sogenannten westlichen, darüber hinaus aber auch der globalen Interessen ausstrahlt: Die Nationalismen bestimmen die Politik; Bündnisse und Verträge werden hinterfragt und aufgekündigt, somit auch fundamentale Werte einer vertrauensvollen, kooperativen Weltgemeinschaft über Bord geworfen, ja verraten; die Egoismen, insbesondere die wirtschaftlichen, treten derart massiv in den Vordergrund des internationalen Miteinanders, dass inzwischen daraus ein Gegeneinander, gepaart mit rhetorisch untermauerten Feindbildern, mit Predigten des Misstrauens, des Gegenschlagens, der Feindschaft, der Revanche, der Aggression erwachsen ist. Die Welt scheint aus den Fugen der erst jüngeren Vergangenheit nach dem Ende des sogenannten Kalten Krieges zu geraten, die doch auf Zusammenarbeit, auf gegenseitigen Respekt, auf beidseitigen Nutzen, auf Wertegemeinschaft und Vertrauen baute. Neben dem internationalen Zusammenhalt ist auch der nationale gefährdet, ist der gesellschaftliche Konsens in den verschiedenen Ländern in Frage gestellt. Die Gesellschaften beginnen auseinanderzudriften, weil Eigenziele, spezifische Interessen, Meinungsmonopole sich als dominante Handlungsweisen und Kommunikationsformen ausbreiten. Das bisherige Ethos des internationalen wie auch des nationalen Handelns nach den bezeichnenden politischen Umbruchjahren der ausgehenden 1980er, beginnenden 1990er Jahre war geprägt von dem Ziel, dass die Interessen der Einzelnen im Gesamtinteresse der Gemeinschaft möglichst optimal aufgehen, also ein Gelingen für beide, die Teile und das Ganze, möglich sei. Nun, seit Mitte der 2010er Jahre, mit den aufgekommenen Egoismen verschiedener Staaten – vorangetrieben durch den amerikanisch-republikanischen Wahlkampfslogan America first und die rhetorische Aggressivität des „Firstism“, dieses Vergifters allen Konsenses, aller Kooperation, allen Vertrauens, aller Gemeinschaftlichkeit, allen Kompromisses, aller Fairness –, nun wird auch im kollektiven Bewusstsein allmählich deutlich, welche Chance, welches Glück, welch ein Friede in dem ehemalig wirkenden Begriff des ‚Gelingens‘ liegt, der (als [to] succeed, Steigerung von „yes, we can“) das Handeln der Zeiten vor Trump in den USA und der europäischen Dissonanzen seit 2015, der Migrationskrise nach Europa hin, noch beseelt hatte. In dieser Dekade und seitdem empfindet die Welt das kollektivmentale Erlebnis, dass das Gelingen einem Misslingen weicht und dass das Misslingen als ein neues Gelingen propagiert wird. Der Wettbewerb um das Begriffe-Besetzen und die Deutungshoheit ist in vollem Gange: Die populistische Rhetorik bedient sich dieses Musters, und das neue Gelingen beweist sich im Zulauf ihrer Parteien in Europa, vom https://doi.org/10.1515/9783110592580-004
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unseligen Brexit bis zur Migranten-Diskussion in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Wobei jedem klar sein sollte, dass man Feindschaft, Misstrauen und Ichbezogenheit nicht als alternative Werte eines gelingenden Miteinanders, als Eigenständigkeit, Selbstvertrauen und gerechte Identitätsbekundung verkünden kann. Dennoch geschieht das zurzeit. Gelingende Prozesse werden gewürgt, zerstört, verhindert; und nicht-gelingende Prozesse werden in die Welt gebracht und als heilbringende Wege proklamiert, als „später“ gelingende Prozesse, als Richtung des Gelingens gepriesen und als Möglichkeit der besten Resultate versprochen. Wir nehmen aktuell, in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts, wieder an einem solchen Wettbewerb um den tragenden Begriff der modernen Befindlichkeit, der gesellschaftlichen Disposition in dieser Zeit, teil. Er betrifft offenbar das innerste, sehnlichste und menschlichste Streben: Gelungenheit als Glück, hier als soziales Glück, Gelungenheit als kollektive Zufriedenheit. Für das Gemeinschaftswesen („Herdentier“) ‚Mensch‘ ist diese Qualität des Miteinander eine der wichtigsten, denn ‚Gelungenheit‘ garantiert psychisch positive Werte wie ‚Prosperität‘, ‚Erfolg‘, ‚Zusammenhalt‘ oder ‚Zufriedenheit‘.¹ Es ist somit sinnvoll, den Begriff des ‚Gelingens‘ als eine zentrale Kategorie der menschlichen Befindlichkeit über einzelne interessierte Disziplinen wie die Linguistik hinaus zu prüfen.
2 Kognitiver Zugriff zum Begriff des ‚Gelingens‘ 2.1 Der Strukturalismus hat stets betont, so mit dem Langue-Begriff, so mit seiner SyntaxAuffassung, so mit der Vorstellung vom Wortfeld, dass das Einzelne eingebunden ist in ein dieses bestimmende Umfeld. Das Teil im Ganzen und das Ganze als Gemeinschaft der Teile, in je gegenseitiger Abhängigkeit, spielt für das Wortfeld und seine Konstituierung eine zentrale Rolle:² das einzelne Wort in seinem semantischen Verbund zu seinen Bedeutungsnachbarn, die ihrerseits ebendieses Wort semantisch begrenzen und die Bedeutungsnuancen erweitern. Die Kognitionsforschung seit den 1990er Jahren hat hieran angeknüpft und die assoziativen Gehalte, die Nachbarschaftsrelationen (Kontiguität) wie die Ähnlichkeitsrelationen (Similarität), erkannt. Die Psychologie und die Spracherwerbsdidaktik orientieren sich für ihre Ziele an den semantischen Relationen als Strukturen der Organisation von (lexikalischen) Daten im Hirn: keine Listen, keine wüsten Arsenale, sondern assoziierte Nachbarn, deren Wahl für die Sprachverwendung (Parole) gerade wegen ihres Systemplatzes (Langue) und dessen Passbarkeit für die anstehende Textstelle (von der Langue in die Parole)
Zu dieser anthropologischen Konstante vgl. Kap. 5. Ich verweise für das allseits Bekannte nur auf Geckeler 1971. Eine ausführliche theoretische Darstellung mit den dazugehörigen praktischen Analysen auch bei Kalverkämper 1980.
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getroffen wird. Es ist somit vernünftig, sich dem Wortfeld um den Begriff der Gelungenheit zu nähern, um maßgebliche Strukturen seiner Bedeutungskonstitution zu erkennen. Dazu sei noch morphologisch-semantisch kurz geklärt, welche Merkmale die Wortformen des Begriffs (es geht also nicht um die Semantik) genauer ansprechen: Die ‚Gelungenheit‘ als Leistung (griech. ἔργον érgon, lat. opus, operatio) vermittelt die Merkmale des Qualitativen (‚qualitativ‘; vgl. -heit), des Ergebnisbezogenen (‚resultativ‘) und des Abgeschlossenen (‚perfektiv‘). Das ‚Gelingen‘ als Vermögen, als Können (griech. δύναμις dýnamis, lat. potentia, possibilitas) bringt neben dem Ergebnisbezogenen noch das Merkmal des Prozeduralen ein (‚prozessual‘). Das Verb ‚gelingen‘ als Tätigkeit (griech. ἐνέργεια enérgeia, lat. actus, actualitas) folgt seiner Substantivierung (‚resultativ‘, ‚prozessual‘). Das gebräuchliche Adjektiv, eigentlich Partizip ‚gelungen‘ als Leistung (s.o.) vermittelt die Merkmale ‚resultativ‘ und ‚perfektiv‘. Als Similaritätsrelation im Deutschen – der ich mich hier widme (eine kontrastive Analyse mit anderen Sprachen wäre zwar sehr reizvoll, ist aber aus Platzgründen hier nicht angemessen zu erbringen) – treten recht wenig Lexeme auf, die aufgrund ihrer ähnlichen (lat. similis ‚ähnlich‘, ‚gleich‘) Semantik als Synonyme oder Antonyme gelten und den Ausgangsbegriff ‚Gelungenheit‘ bzw. ‚das Gelingen‘ semantisch (nicht morphologisch!) ersetzen könnten: abgerundet, geglückt, gut / positiv, harmonisch, perfekt / vollendet. In der Kontiguitätsrelation, also der Nachbarschaftsbeziehung des Ausgangsbegriffs (lat. contiguus ‚benachbart‘, ‚angrenzend‘, ‚zusammenhängend‘, ‚Kontakt habend‘) – hier ‚Gelungenheit‘ – mit anderen tragenden Begriffen seines Kontextes treten deutlich mehr Begriffe auf, die Bezug nehmen auf das (wie auch immer) Gelungene und von diesem seinerseits auch kontextuell evoziert werden: Anerkennung, Anspruch, Anstrengung / Mühe, Applaus, Erfolg (haben), Evaluation / Prüfung / Beurteilung, Glück(sgefühl), Orientiertheit, Wert / werthaltig / wertvoll, Ziel (erreicht haben), Zufriedenheit. Für die Kommunikation stehen diese Begriffe zur Verfügung, um in paradigmatischer Hinsicht (System, Langue, Similaritätsrelation) und in syntagmatischer Verwendung (Vertextung, Parole, Kontiguitätsrelation) die ‚Gelungenheit von etwas‘ zu kennzeichnen. Das rudimentäre Kommunikationsmodell weist dazu als die maßgeblichen Faktoren aus, die schon Karl Bühler (1934: 24 ff.), auf Platon zurückgreifend,³ in seinem Órganon-Modell hervorgehoben hat: den Autor, den Rezipienten und die Sache (wozu die ,Welt‘ und ihre Teile gehören), die als Text oder Rede in je spezifischer Sichtweise⁴ traktiert wird. In diese (rudimentäre⁵) Drei-Achsen-Gemeinschaft
Kratýlos-Dialog (388 b). Vgl. auch Schmitter 1981. Gemeint sind z. B. die Textsorten-Zugehörigkeit, die Länge, die Stilhöhe, die Elaboriertheit (Qualität), die Gemeinschaft von Verbaltext und nonverbalen Elementen wie Bildern oder Grafiken, die Sprachkultur-Zugehörigkeit, die voraussetzenden thematischen Konventionen und die Darstellungstraditionen, u. a.
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sind die Begriffe eingespannt, und mit der folgenden Skizze dazu lässt sich das Wortfeld in seiner Organisation der (näheren und entfernteren) Zusammengehörigkeiten darstellen:
Abb. 1: Das Wortfeld der ,Gelungenheit‘
Es ist aus dieser Skizzierung hervorzuheben, dass die Begriffe der Similarität allein in der Beziehung zur Sache angesiedelt sind: ‚gelungen‘ wird lexikographisch gleichgesetzt (als [Quasi‐]Synonyme) auch mit ‚perfekt‘, ‚vollendet‘, ‚geglückt‘, ‚harmonisch‘, ‚werthaltig‘. Die anderen Relationen sind die der Kontiguität: zwischen den autorbezogenen und den rezipientenbezogenen Einschätzungen herrschen die kontextuell gesicherten Assoziationen vor, hier bestimmt die Kontiguität die Organisation des Begriffsfeldes.
Denn sie lässt sich natürlich noch erweitern: So um den Aspekt der ‚(Kommunikations‑)Situation‘ und den der ‚Kultur(alität)‘. Ein entsprechend komplexeres Kommunikationsmodell findet man vorgestellt in Kalverkämper 2016 a: 85.
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2.2 Es seien auch nicht die Gegen-Komponenten (Antonyme) vergessen, die, spätestens mit dem Strukturalismus, eine wichtige Funktion im semantischen Bestimmungsprozess von Begriffen (Lexemen) einnehmen: Denn, darauf legt Ferdinand de Saussure innovativ gesteigerten Wert, die Negation determiniert die Semantik eines Lexems.⁶ Zu den semantischen Komponenten der ‚Gelungenheit‘ gibt es etliche zutreffende Gegensätze; allerdings gegenüber den 16 „positiven“ Nennungen (s.o. Abb. 1) erkennbar weniger „negative“: Natürlich der Leitbegriff ‚Gelungenheit‘ als ‚Nicht-Gelungenheit‘, adjektivisch als misslungen, sodann als Misserfolg oder Scheitern. Missgeschick ist dagegen hier nicht einzubringen, weil das semantisch etwas Anderes anbietet: Es fehlt hier die bewusst-aktive Komponente des Zutuns zum Misslingen; denn etwas ist einfach „passiert“, ohne geplanten Weg, also im Sinne von ‚Ungeschicklichkeit‘, ‚Unvorsichtigkeit‘, ‚Peinlichkeit‘, ‚ärgerlicher Vorfall‘. Reine Negationen zu den Komponenten des Wortfelds der ‚Gelungenheit‘ sind dann zwischen gut / positiv – schlecht / negativ, perfekt / vollendet – imperfekt, Zufriedenheit – Unzufriedenheit, Anerkennung – Kritik. Man erkennt, dass es sich hier um Relationen der Similarität handelt. Bei den Kontiguitätsrelationen von ‚Misslungenheit‘ gibt es zwei Gemeinsamkeiten mit denen von ‚Gelungenheit‘: so gilt für beide der Begriff ‚Evaluation / Prüfung / Beurteilung‘ im Wortfeld, ebenso ‚Anspruch‘. Es entscheidet dann somit der Kontext, welches der beiden Wortfelder bzw.Wortfeld-Bereiche (‚Gelingen‘ – ‚Misslingen‘) im Text gemeint ist.
2.3 Das Wortfeld spiegelt damit nicht mehr jene Semantik wider, die etymologisch in ‚gelingen‘ verankert ist: nämlich die Wortfamilie mit ‚leicht‘.Vielleicht empfindet man noch Anklänge dazu in den Wortfeldnachbarn ‚Erfolg haben‘ oder ‚glücken‘: denn der Bezug zu ‚leicht‘ besagt ursprünglich ‚leicht und schnell vonstatten gehen‘. Die indogermanische Wurzel *legṷh-, nasalisiert lengṷh-, trägt die Grundbedeutung ‚leicht (in Bewegung und Gewicht)‘, wie griech. ἐλαφρός elaphrós ‚leicht‘, ‚flink‘ oder lat. levis ‚leicht‘, ‚schnell‘, levāre ‚leicht machen‘ direkt zeigen (vgl. Duden. Etymologie 1963: Lemma gelingen; ebenso Kluge 201967: Lemma gelingen). Die tragende Bedeutung des Wortfelds zu ‚gelingen‘ ist mit althochdeutsch gilingan ‚glücken‘, ‚Erfolg haben‘ bereits gesichert und stabil bis in die heutige Zeit. Schnelltests mit Probanden ergeben in der Tat, dass auf ‚Gelingen‘ am signifikant ehesten der Begriff ‚Erfolg‘ / ‚erfolgreich sein‘ genannt wird.
Ferdinand de Saussure hat dies 1916 bekannterweise klar zum Ausdruck gebracht.
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3 Das Gelingen als aktuelle Attraktivität aus Sicht des Rezipienten 3.1 Den Übergang vom Wortfeld (paradigmatisch, Langue) zu dessen Einsatz im Sprachgebrauch, in der Kommunikation (syntagmatisch, Parole) erleben wir aktuell, seit etwa einer halben Dekade, mit dem Entstehen einer neuen linguistischen (und translationswissenschaftlichen) Ausrichtung, den theoretischen und praktischen Arbeiten zur sogenannten „Leichten Sprache“, zur „Barrierefreien Kommunikation“.⁷ Diese jüngste, stürmische Entwicklung im Schnittfeld von Theoretischer und Angewandter Forschung, gerade was Sprache und Kommunikation betrifft, belegt treffend, dass zwei grundlegende Aspekte die heutige wissenschaftliche Forschung und ihre Umsetzung in die Gesellschaft bestimmen müssen: die Interdisziplinarität des Ansatzes und methodologischen Vorgehens; sowie die Relationenbestimmtheit, die Bezogenheit als qualitative Vorgabe des analytischen Interesses. Der Leitgesichtspunkt bei beiden Aspekten ist die ‚Bezugnahme‘, die ‚Bezogenheit‘, die ‚Interrelationalität‘, und so lassen sie sich darunter noch evident integrieren: Einerseits die interkommunikative Seite, die die kommunikativen Prozesse und deren Teile (Faktoren) beachtet, nämlich Sender, Empfänger, Text, Sachinhalt (Welt, Referent), Sprachsystem, Kommunikationssituation und Kultur(rahmen). Und andererseits die interdisziplinäre Seite, die sich der Interrelationalität zwischen den Disziplinen widmet, die sich mit Sprache, Kommunikation und sozialem Miteinander beschäftigen, also ‚meta‘ zu den kommunikativen Prozessen. Die Evidenz dieser Taxonomik erweist sich zuletzt aus den Analysen zur Leichten Sprache; denn sie sind erwachsen aus den entsprechenden Anliegen der Soziologie (Integration, Inklusion) und verbinden die Kognitionswissenschaft (Verstehensprozesse, Verständlichkeit), die Medienlinguistik (Kommunikation im Gefälle), die Fachsprachenforschung (Fachmann-Laie-Kommunikation, Sachbuch-Boom, TV-Wissenschaftssendungen, Technische Redaktion), und die (Bildungs- und Sozial‑)Politik (demokratische Informations-Teilhabe, kommunikatives Erreichen aller Bevölkerungsschichten, allgemeiner Bildungsauftrag, Verstehbarkeit und Verstehen) sowie schließlich die praktischen Anliegen der Verwaltung und ihrer Instanzen (Transparenz von Texten, Vernetzungen, Handlungszusammenhängen) zusammen und schaffen somit notwendig ein interdisziplinäres Arbeitsfeld. Dessen Anliegen bestimmt sich aus denjenigen in der Gesellschaft, die Schwierigkeiten haben mit dem Verstehen und dem Erstellen von Kommunikation; sie sind der kreative Anlass, sich mit Veränderungen im Sprachverhalten theoretisch, praktisch und didaktisch aus-
Vgl. Jekat / Jüngst / Schubert / Villiger (eds.) 2014, Maaß 2015, Mälzer (ed.) 2016, Bock / Fix / Lange (eds.) 2017, Bock 2019, Maaß / Rink (eds.) 2019.
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einanderzusetzen und sensibilisierte Neuerungen einzuführen. Der verbindende Zentralaspekt ist der der Gelungenheit im Miteinander: Leichte Sprache, barrierefreie Kommunikation – sie haben die gelingende Kommunikation in den Fokus gerückt. Sie sorgen damit auch für ein modernes Gegengewicht zu jenen misslingenden Formen des kommunikativen Umgangs miteinander, die eingangs (Kap. 1.) für die heutige Befindlichkeit skizziert worden sind.
3.2 Gelungenheit ist, so kann man daraus folgern, eine Kategorie vornehmlich des Rezipienten. Denn er ist es, der über das Gelungensein von etwas entscheidet. Gelungensein ist nicht einem Objekt, selbst der Kunst nicht, eigen; diese qualitative Beurteilung erfordert stets den Betrachter, den Leser, den Betroffenen (wie z. B. bei der Leichten Sprache). Somit ist Gelingen oder Gelungensein eine Entscheidung, die zubemessen wird von dem, der darüber urteilt. Der Rezipient ist der Souverän. Auch die Qualität, also ‚die Gelungenheit‘, wird einem Werk oder einer Handlung zugebilligt, möglicherweise aufgrund von Merkmalen, die auch andere Urteilende teilen, so eine erkennbare Harmonie oder attraktive Gegensätze oder die Beziehung zwischen Inhalt und Form. Der Autor dabei macht „lediglich“ ein Angebot des Gelungenseins, das als solches der Zustimmung des Rezipienten bedarf, gelungen zu sein (und dann gilt das natürlich nur für diesen Rezipienten; wenn sich dem Urteil viele anschließen bzw. sich seine Einschätzung mit der Beurteilung seiner Mitmenschen, eines Publikums etwa, deckt, kann sich daraus ein consensus communis, ein Breitenurteil zur Gelungenheit, Vollkommenheit, Qualität, Könnerschaft entwickeln. Gelungenheit ist eine relative, nicht eine absolute Kategorie des Beurteilens, eine Kategorie des „In-Bezug-auf“, mit Aristoteles (vgl. Jansen 2005): des πρός τι prós ti ‚in Bezug auf etwas‘.
4 Pragmatischer Zugang mit der Kulturgeschichte: die Rhetorik der Antike 4.1 Im Lateinischen bestätigt sich der positive Grundtenor von ‚gelingen‘, indem cēdĕre ‚gehen‘, ‚vonstatten gehen‘, ‚ablaufen‘) vorzugsweise mit Adverbien wie bene (‚gut‘), prospere (‚glücklich‘, ‚[wie] erwünscht‘), feliciter (‚erfolgreich‘, ‚günstig‘, ‚glücklich‘), fauste (‚glücklich [vonstattengehen]‘) verbunden wird (vgl. Georges 2017: Lemma gelingen). Etwas deutlicher fällt dann das präpositionalisierte Verb succēdĕre aus, das noch stärker die Komponente des Hingelangens, des Gelingens durch Anpeilen eines Zieles, semantisch betont. Es liefert auch die Basis für das Substantiv successus ‚Gelingen‘, ‚Erfolg‘ (z. B. successus facilis ‚leichtes Gelingen‘). Aber im Bereich des
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künstlerischen, des regelgerechten Gelingens, das mit Einhalten von Normen und Wirkungsgesetzen erlangt ist, und zwar auf bewusstem Weg des erlernten Könnens – dort wird das Verb contingĕre gewählt, dessen Basis, tangĕre ‚berühren‘, ‚erreichen‘ die Metapher des Erreichens eines Zieles, des Berührens der Zielmarke, noch erkennbar in sich birgt; insbesondere in der festen Form contingit ‚es gelingt‘, ‚es glückt‘ (Perfekt contigit) zeigt es den semantischen Bezug zur Gelungenheit – aber eben von eher Artifiziellem, dessen Ziel erreicht ist: So kennt die Kunst der Rhetorik diese Formel,⁸ aber eine vergleichbare Form von succēdĕre, geschweige dieses Verb, gibt es in dem Zusammenhang nicht (vgl. Lausberg 42008: § 1244, Lemmata).
4.2 Die Gelungenheit ist für die Rhetorik der Antike⁹ in dem Begriff des aptum kondensiert, griech. πρέπον prépon (vgl. Brüllmann 2005), im Lateinischen auch noch mit Varianten wie accommodatum (‚das Passende‘) (Quintilianus VIII 1,1), decens oder decorum oder quid deceat (‚Angemessenheit‘, ‚was sich ziemt‘, ‚was zum Gelingen führt‘) (vgl. auch Müller 2011). Darunter verstanden die Alten das Passende, das Angemessene, das als Ganzes der Aktion, welche auch immer diese sei – aber in erster Linie natürlich den Geschehnissen vor Gericht – zu einem Gelingen verhilft. Das Motiv ist also ein parteiliches Interesse (utilitas causae ¹⁰), das mithilfe von bestimmten Tugenden der Sprachkunst und der Textfertigkeit erlangt werden sollte. Gelungenheit als kommunikatives Ziel von Partei-Interesse ist der Rhetorik prinzipiell eigen, insbesondere – natürlicherweise – der forensischen, die sich mit aktuellen Rechtsfällen abgibt (genus iudiciale), aber auch der Rhetorik für die Zukunft, die Beratung also (genus deliberativum) in der Volksversammlung, und in beiden Fällen geht es um Entscheidungen; wie aber auch der Rhetorik des Lobens (und Tadelns) eigens auf Feiern und Festen (genus demonstrativum).¹¹
Quintilianus VIII 3,70: contingit eadem claritas etiam ex […] ‚es gelingt auch die gleiche Deutlichkeit durch […]‘. Oder: IX 4,27: felicissimus […] sermo est, cui et rectus ordo et apta iunctura et cum his numerus opportune cadens contigit ‚Am geglücktesten ist der Ausdruck, wenn ihm die richtige natürliche Anordnung, die passende Verbindung mit diesen dann noch ein sich günstig verbindender Rhythmus gelungen ist‘. Ich beziehe mich hier notwendigerweise beschränkt auf die Rhetorik des Aristoteles (484– 322 v.Chr.) sowie in der lateinischen Geistesgeschichte auf Marcus Tullius Cicero (106 – 43 v.Chr.) als Vertreter der klassischen Zeit, der sogen. Goldenen Latinität (römische Republik) und auf Marcus Fabius Quintilianus (ca. 35 – ca. 96 n.Chr.; römische Kaiserzeit) und seine Institutio oratoria. Zu Quintilian erscheint von mir Ende 2020 eine umfangreiche Arbeit. Quintilianus IV 3,14 sowie V 11,16. – Vgl. auch Lausberg 42008: § 63. Vgl. Lausberg 42008: §§ 139 – 254. – Diese sind die drei (pragmatischen) genera dicendi (‚Redegattungen‘), die auf die Rhetorik des Aristoteles zurückgehen: δικανικὸν γένος dikanikón génos (genus iudiciale, Gerichtsrede mit der alternativen Funktion der Anklage oder Verteidigung und dem Traktieren der Vergangenheit), συμβουλευτικὸν γένος symbouleutikón génos (genus deliberativum, Bera-
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4.3 Mit dieser Funktion, das Gelingen des Redetextes und der Rede überhaupt zu gewährleisten und so eine „Vollkommenheit“ (Lausberg 42008: § 458) (griech. ἀρετή aretē ‚Vortrefflichkeit‘, ‚Bestheit‘ [Höffe 2005]; lat. virtus ‚Tugend‘) anzuzielen, steht das Ideal des aptum nicht allein im Tugend-Katalog der Vertextung (virtutes elocutionis): Als Qualitäts- (oder virtus ‚Tugend‘‑)Ansprüche an den Rede-Text formuliert die antike Rhetorik nämlich vier Faktoren:¹² Erstens die Regelkonformität (lat. latinitas), also die lexikalische, syntaktische und idiomatische Korrektheit (Quintilianus VIII 1,1); zweitens die Verständlichkeit (lat. perspicuitas ‚Durchblick‘), d. h. die textuell-inhaltliche Transparenz für das Verstehen (Quintilianus I 6, 41);¹³ drittens die Schönheit des Ausdrucks, der sprachliche Schmuck (lat. ornatus), was die differenzierteste und ausgreifendste Anforderung ist.¹⁴ Diese drei sind textuelle Qualitäten, die der Autor bzw. Redner zu beachten hat, um seinen Text als ‚gelungen‘ – als ein Kunstwerk – anbieten zu können, gleichsam als inneres¹⁵ aptum: der Redetext soll, so die Garanten für seine Gelungenheit, (1) fehlerfrei (emendatus), (2) verständlich und durchschaubar (dilucidus, lucidus, perspicuus) und (3) schmuckvoll ausgeführt sein (ornatus) (Quintilianus I 5,1). Der vierte Faktor schließlich ist die Angemessenheit des Ausdrucks zur Kommunikationssituation mit ihren Teilnehmern und deren Funktionen, sozialen Rängen und Bildungsniveaus (lat. aptum) (Quintilianus X 1,6; XI 1,2 – 4). Dies ist das äußere aptum,¹⁶ das die Rede in ihren angepassten sozialen Bezügen bemisst. Es betrifft die sozialen Umstände, also
tungsrede mit der alternativen Funktion des Zu- oder Abratens in Bezug auf die Zukunft), ἐπιδεικτικὸν γένος epideiktikón génos (genus demonstrativum/laudativum, Fest[versammlungs-/tags‐]rede mit der alternativen Funktion des Lobs wie auch des Tadels zur Gegenwart oder auch Vergangenheit). Im etymologischen Sinne von lat. facĕre ‚machen‘, ‚tun‘ als ‚Macher‘, ‚Ersteller‘ der ganzheitlichen Wirkung (Qualität). Das Gegenteil gelungener Transparenz (perspicuitas) ist die ‚Dunkelheit‘ (obscuritas) (VIII 2,12– 21), die Quintilian als Hinweis auf misslungene Rede sowohl für die Einzelwörter, als auch für den (Rede‑) Text näher untersucht (VIII 2,14). Quintilian sieht dabei auch klar, dass es letztlich die Zuhörer, das Publikum sind, die über das Gelingen dann entscheiden (vgl. o. Kap. 3.2.): VIII 2,17 u. 21. Quintilianus VIII 3; dieses Kapitel ist mit 90 Paragraphen eines der ausgebautesten in der Frage des Gelingens von Schmuck für den Text wie für die Wirkung auf den Rezipienten (Publikum), weil eigentlich hier der Maßstab des Gelingens liegt: nam emendate quidem ac lucide dicentium tenue praemium est, […]. ‚Denn für die, die fehlerfrei und klar reden, ist die Anerkennung gering, […].‘ (VIII 3,1); cultu vero atque ornatu se quoque commendat ipse, qui dicit, et in ceteris iudicium doctorum, in hoc vero etiam popularem laudem petit, nec fortibus modo, sed etiam fulgentibus armis proeliatur. ‚Durch seinen gepflegten und schmuckvollen Ausdruck aber empfiehlt sich auch der Redner selbst, und geht es ihm bei den übrigen Leistungen um das Urteil der Kenner, so in dieser auch um den Beifall der Menge, und er ficht im (Rede‑)Kampf (auf dem Forum) nicht nur mit schlagkräftigen, sondern auch mit strahlenden Waffen.‘ (VIII 3,2). So hat es Lausberg 42008: § 1055 geschieden und in § 1056 für „den inneren Bereich des Kunstwerks“ ausgeführt. Lausberg 42008: § 1055 und in § 1057 ausgeführt.
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die Redesituation und die zuhörenden Anwesenden (Publikum) sowie den Redegegenstand als solchen: „Denn die Rede ist nicht weniger fehlerhaft, wenn sie von dem Menschen als wenn sie von der Sache, der sie sich anpassen (accommodare) sollte, absticht.“ (Quintilianus III 8,51). Dies besagt im Umkehrschluss, dass die Anpassung (accomodatio) auch an die äußeren Faktoren zu einer Gelungenheit des Ganzen beiträgt, also des Redetextes und seiner Darbietung (oder performance, wie es heute leider anglophon-diffus auch heißt). Sie umfasst zum Einen den Vortrag (pronuntiatio, Mündlichkeit) in Stimmlage, hörbarer Lautstärke, differenzierter Aussprache, Betonung, Duktus, Tempo(wechsel), Melodieführung; zum Andern die körperkommunikativen Signale (actio, körperliche Verhaltensweisen): Blickverhalten (Miremik), Mienenspiel (Mimik) mit dem Gesicht als Bühne der Emotionen, den Hand- und Armhaltungen (Gestik), dem Bewegungsverhalten auf der Rednertribüne (Kinesik), dem Berührverhalten gegenüber anderen (Haptik), der Abstandseinhaltung (zu nahe, zu weit, kulturkonventiell-gerecht vom Gegenüber) (Proxemik, Distanzverhalten), auch dem Geruch (Olfaktorik). Die performance umfasst schließlich drittens die nonverbalen Kennzeichen wie Kleidung, Haartracht, etwas in den Händen Gehaltenes, Sauberkeit und hygienisches Verhalten (z. B. sich nicht zu schnäuzen oder sich zu kratzen).¹⁷ Inneres und äußeres aptum ergeben zusammen eine komplexe Gemeinschaft von Bestimmungsfaktoren, die helfen sollen, die Gelungenheit des situativen Gesamtgeschehens auf dem Forum (Gericht), im Senat (Beratung) oder in der Festhalle (Feier) zu erstellen und zu gewährleisten. Das ist, demnach in der Antike schon so gesehen (so Platōn im Redekunst-Dialog Gorgías), ein idealer Anspruch – „Gelungenheit“ – als Gestaltungstugend „der Teile, sich zu einem Ganzen harmonisch zu fügen“ (Lausberg 4 2008: § 1055). Auch Quintilianus handelt intensiv davon unter dem Thema des „Passens“ („Die passende Form der Rede“: XI 1,1– 93): Wenn alle Faktoren des aptum zusammenspielen (coïre), ergibt sich für das Anliegen „ganz sicher etwas Vollkommenes (quiddam perfectum)“.¹⁸ Die Gelungenheit wird hier ganz entschieden in der Bezugnahme, in der Relation zu den ‚Mitgestaltern‘ des Gelingens-im-Ganzen gesehen, eben als¹⁹ „das Aufeinanderpassen aller Bestandteile, die die Rede zusammen-
Quintilian bietet zur pronuntiatio/actio in XI 3 detaillierte Beobachtungen und attraktive Hinweise, allesamt unter dem Leitaspekt des rednerischen Gelingens, eben nicht des Misslingens durch unbedachte Körperkommunikation. Dabei flicht er auch (für uns heute) amüsante Negativbeispiele – gleichsam als Gelingens-Hemmer – ein. Für uns heutzutage sind dies kulturhistorisch und sozialgeschichtlich, bis in den Alltag des römischen Lebens hinein, wertvolle Informationen. Quintilianus XI 3,9: et hercule cum valeant multum verba per se et vox propriam vim adiciat rebus et gestus motusque significet aliquid, profecto perfectum quiddam fieri, cum omnia coierunt, necesse est. ‚Und, beim Herkules, da ja die Worte an sich schon viel ausmachen, die Stimme dem, was wir sagen, noch eine eigene Ausdruckskraft gibt und Gebärde und Bewegung auch noch etwas zu bedeuten haben, so muss doch gewiss etwas Vollkommenes zustande kommen, wenn das alles zusammenwirkt.‘ Lausberg 42008: § 258; die einfachen Referenzen in seinem Fließtext habe ich, soweit mir sinnvoll erscheinend, hier als informative Anmerkungen umgesetzt.
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setzen oder mit ihr irgendwie in Beziehung stehen: der Partei-utilitas,²⁰ der an der Rede Beteiligten (Redner, Redegegenstand, Publikum),²¹ der res et verba,²² der verba mit dem Redner und dem Publikum, der fünf Bearbeitungsphasen²³ untereinander und zum Publikum“. Es fällt aus solchen – völlig richtigen – Bestimmungen des Vernetztseins auf, dass auch hier, um die ‚Gelungenheit‘ angemessen fassen und in ihren Aspekten beschreiben zu können, die schon erkannten (siehe Kap. 3.1.) beiden Aspekte wieder eine wirkmächtige Rolle spielen. Erstens die Interdisziplinarität, auch wenn es die Alten so nicht bezeichnet haben, man könnte es das ‚Zusammenspiel wichtiger fachlicher Komponenten‘ nennen, die das Gelingen aufbauen: der Rechtskontext („Jura“); die Massenpsychologie, die Individualpsychologie,²⁴ beide in Bezug auf das Ziel des Überzeugens und der Meinungssteuerung; die Argumentationslehre, selber ein Teil des rhetorischen Lehrgebäudes (vgl. Lausberg 42008: §§ 348 – 430); die soziale Situation als analytisch wahrzunehmende Bestimmungsgröße. Und sodann zweitens, mit einem disziplinenübergreifenden Blick, die strikte Relationalität der komplexen Vorgänge, die Bezugnahmen, als Qualität der Abläufe, als die ‚Bezogenheit‘: Situation, Anliegen, Wirken, Intellektualität (Argumentation) und Sachinhalte (Fakten,
Das ist die prinzipielle Parteilichkeit, das Partei-Interesse. Vgl. Lausberg 42008: § 63. Vgl. Lausberg 42008: § 54; das sind die prinzipiell an der Redesituation beteiligten Komponenten: Redner (Text-Autor), Zuhörer (Publikum, Rezipient), Rede-Gegenstand („Sache“). Rēs (Singular, auch Plural) ist der „gedankliche Behandlungsgegenstand“, verba die „sprachlichen Ausdrucksmittel“ (Lausberg 42008: § 255): also die semiotische Gemeinschaft von ‚worum es geht‘ und ‚womit und wie das ausgedrückt wird‘. Gemeint sind die auch von Quintilianus (III 3,1) angesprochenen fünf Bearbeitungsphasen (rhetorices partes [Quintilianus III 3,11]): inventio (Findungslehre), dispositio (Anlagelehre, Strukturierung einer Rede), elocutio (sprachliche Formulierungs- und Stillehre: das „sprachliche Gewand“ [Cicero: De oratore I 142: vestire atque ornare oratione]), memoria (Gedächtniskunst, Mnemotechnik), pronuntiatio sive actio (Vortragskunst). – Sehr schön knapp bringt diese Gemeinschaft der Gesprächspartner Crassus in Ciceros De oratore I 142 zusammen, indem er die Regeln der Alten zitiert: [Es] sei die gesamte Tätigkeit des Redners in fünf Teile eingeteilt: Er müsse erstens finden, was er sagen solle, zweitens das Gefundene nicht nur hinsichtlich der Anordnung, sondern auch nach der Bedeutung und entsprechend seinem Urteil ordnen und zusammenstellen, es schließlich drittens in wirkungsvolle Worte kleiden, dann im Gedächtnis aufbewahren und endlich würdevoll und elegant vortragen. (cumque esset omnis oratoris vis ac facultas in quinque partis distributa, ut deberet reperire primum quid diceret, deinde inventa non solum ordine, sed etiam momento quodam atque iudicio dispensare atque componere; tum ea denique vestire atque ornare oratione; post memoria saepire; ad extremum agere cum dignitate ac venustate.) Dass die Rhetoren der Antike ein ausgebautes Gespür dafür hatten, wie auf den Einzelnen und auf die Masse in gelingender Weise Einfluss genommen werden kann, im Sinne einer intuitiv geschulten Psychagogik (ψυχή psychḗ ‚Seele‘ plus ἄγειν ágein ‚führen‘) auf das Ziel der (messbaren) Gelungenheit (z. B. durch Meinungsänderung, parteibefriedigendes Urteil, Umlenken von Handlungsverläufen) hin, wird aus den systematischen Werken der beiden großen lateinischen Rhetorik-Theoretiker mit ihrer hohen Praxiserfahrung deutlich: Ciceros De oratore (55 v.Chr.) und Orator (46 v.Chr.) im 1. Jahrh. v.Chr., der vergehenden Republik; sowie Quintilians Institutio oratoria im 1. Jahrh. n.Chr., der sich etablierenden römischen Kaiserzeit ab Augustus.
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Vermutungen, Erzählungen, Wissen, lat.-rhetorisch rēs) verweben sich hier. Beide Aspekte erweisen sich hier als konstitutiv für das antike Verständnis von ‚Gelingen‘, wie es sich im aptum-Begriff kondensiert. Darin erscheint die Antike für die aktuelle Zeit sehr zeitvoraus und auf einem bis heute nicht überschrittenen Erkenntnisstand zu den Faktoren der ‚Gelungenheit‘ (im Rahmen der Kommunikation und sozialen Wirkung!).
4.4 Aber bei aller analytischen Kenntnis der funktionalen Komponenten und ihres Zusammenspiels als notwendige Voraussetzung für das Gelingen des kommunikativen Ganzen gibt es noch eine Unwägbarkeit, die auch schon die Antike gesehen hat: Nämlich dass hier, um dem aptum zu genügen, auch eine Portion gesunder Menschenverstand, öffentliche Empathie und persönliche Reife sowie eigenes Urteilsvermögen aus der Situation heraus vonnöten sind, was nicht direkt beschrieben, nicht speziell analysiert und somit auch nicht eigens gelehrt werden kann, macht Quintilian in aller Abgeklärtheit deutlich. ‚Gelungenheit‘ ist eben nicht ganz auslotbar, nicht vollständig beschreibbar, nicht abschließend zu vermitteln – sie ist, zumindest im Verständnis der antiken Rhetorik, eher zu erleben, als Dreiklang zwischen Redner, Zuhörerschaft (einschließlich dem oder den Richtern) und dem Sachverhalt, der (vor Gericht: genus iudiciale, vor dem Senat: genus deliberativum, vor der Festversammlung: genus demonstrativum) zum Traktieren ansteht; Quintilian schreibt dementsprechend auch lebensklug²⁵ (VI 5,11): Ich begnüge mich, zu sagen, dass nicht nur beim Reden, sondern überhaupt im Leben nichts den Vorrang hat vor der Überlegung (consilium), und dass ohne sie die anderen Kunstmittel vergebens gelehrt werden und selbst ohne wissenschaftliche Ausbildung (doctrina) Klugheit (prudentia) mehr ausmacht als ohne Klugheit die Lehre der Wissenschaft (facere doctrinam). Auch die Rede den örtlichen, zeitlichen und persönlichen Verhältnissen entsprechend einzurichten[²⁶], gehört zur Leistung des Überlegens.
Dies ist ein rationales, regelgelenktes (aptum-Hinweise und -Lehre!) Programm einer angezielten Vollkommenheit, das zum Gelingen des Textes und – vor allem! – seiner
Die Institutio oratoria ist entstanden, nachdem Marcus Fabius Quintilianus sich nach etwa 20jähriger Lehrtätigkeit und rhetorischer Arbeit in Rom (als Verteidiger) in den Ruhestand zurückgezogen hatte. Das Werk, 92 n.Chr. begonnen und Anfang 95, nach zwei Jahren Arbeit, veröffentlicht, gilt auch in seiner Sicht als Summa seines theoretischen (Lehre) und praktischen (Anwalt) rhetorischen Wirkens als hochangesehener Rhetor Roms. Quintilian war, von Kaiser Vespasian, dem ersten (von dreien: Vespasian – Titus – Domitian) Flavier-Princeps, 70 oder 71 n.Chr. der erste besoldete Inhaber eines Lehrstuhls (lat. cathedra) für Rhetorik in Europa. D. h. also: sie auf diese Beziehungen hin zum Gelingen zu bringen (aptare!).
Das ‚Gelingen‘ als interdisziplinäre Kategorie
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Wirkung (auf Publikum und Richter), zum Gelingen der ganzen Redesituation also beitragen soll.
4.5 Dass dabei das Gelingen durchaus nicht nur ein Abhaken umgesetzter Regeln und beachteter Komponenten als ein erstrebenswertes, darin sehr funktionales Ideal für die rhetorisch-akademische Beurteilung ist, hebt Quintus Mucius Scaevola, einer der sieben vornehmen und gebildeten römischen (historischen) Gesprächspartner in dem lehrhaften Dialog De oratore (I 31 u. 32) des Cicero, mit seinem Redebeitrag ins Bewusstsein: Was ist so angenehm für Geist und Ohr wie eine mit verständigen Gedanken und wirkungsvollen Formulierungen geschmückte, ausgefeilte Rede? (31) Was aber, um nicht immer an das Forum, die Richterbänke, die Rednerbühne und die Kurie zu denken, was kann in Mußestunden angenehmer und bezeichnender für menschliche Gesittung sein als eine kultivierte, elegante Unterhaltung? (32)
Hier kommen die ästhetische und die soziale Gelungenheit mit ins Spiel, wenn auch eher als Folien für das rednerisch-technische Können, das die Gelungenheit des Ganzen doch eher mit Kriterien und Regelbeachtung zur Schaffung von textueller (rednerischer) und kommunikativer Qualität anstrebt.
5 Die anthropologische Basis: Die Notwendigkeit des Gelingens 5.1 Scaevola schließt an seine gerade zitierten Bemerkungen noch einen Gedanken an, der uns zum ‚Gelingen‘ weiterführt in die Dimension des Menschen schlechthin („tel quel“), in die Spezifik der menschlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten, des menschlichen Könnens. Er meint nämlich im Anschluss an seinen (oben zitierten) Hinweis (man solle doch auch eine kultivierte Unterhaltung führen), noch folgende Präzisierung (Cicero: De oratore I 32 u. 33): Dies ist doch unser wesentlichster Vorzug vor den Tieren, dass wir miteinander reden und unseren Gedanken durch die Sprache Ausdruck geben können. (32). […] ein Punkt, in dem die Menschen einen wesentlichen Vorzug vor den Tieren haben […]. (33). Ja, welche Macht sonst, um zum Allerwichtigsten zu kommen, vermochte die zerstreuten Menschen an einem Orte zu versammeln, sie von einem wilden und rohen Leben zu unserer menschlichen und politischen Gesittung hinzuführen oder schon bestehenden Staatswesen die Gesetze, Gerichte und Rechtsnormen vorzuschreiben? (33).
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Hartwig Kalverkämper
Diese Überlegungen des Scaevola sollen seine Wertschätzung von Sprache und Kommunikation in den Blick heben – völlig zu Recht. Er berüht damit die Grundlagen des Menschen, des Menschseins schlechthin, was wir heute mit dem griechischen Terminus als ‚anthropologisch‘ bezeichnen. Dort liegen die fundamentalen Homoismen, die Spezifika des Menschen als solchem, und zu diesen gehört seit der Definition des Aristoteles²⁷ die ‚Sprache‘ (lat. homo loquens): „Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das Sprache hat“²⁸ – sie ist die primäre unter den vielen Bestimmungen von Spezifika des Menschen (homo-Epitheta). Diese zweieinhalbtausend Jahre alte Weisheit aus Hellas hat bis heute ihre unumstrittene Gültigkeit – nicht zuletzt auch, weil sie über den biblischen Mythos (‚Turmbau zu Babel‘) im Alten Testament (Genesis [1. Mose] 11, 1– 9) sowie über das ‚Pfingstwunder‘ im Neuen Testament (Apostelgeschichte 2, 1– 13) thematisiert und im Abendland als Bibelstellen bekannt sind: Einerseits Zerstreuung und Diversifikation, hin zur sprachlichen Diversität durch die Bestrafung der menschlichen Hybris, sich gottgleich zu fühlen. Und andererseits das Gelingen von Verstehbarkeit, sprachliche Gemeinschaft, gegenseitiges Verstehen, kommunikative Eintracht, Gemeinsamkeit im Gespräch – sie sind Thema des Pfingstwunders als Instrument des christlichen Missio-Auftrags.
5.2 Dass das Gelingen von Kommunikation als ein fundamentales menschliches Anliegen wirkt, das nur von Gottes strafendem Eingreifen unterbunden werden kann, ist mythologisch durch etliche historische Erzählstränge verwoben (vgl. Weichenhan 2016) und – als Evidenz durch Umkehrung – in Narrativen des Unterbindens, des Misslingens belegt. Aus der Negation gemeinschaftlich funktionierender Kommunikation (also Unvermögen des gegenseitigen Verstehens, „Verwirrung“, confusio linguarum, wie es im Bibeltext [Vulgata] heißt), dem Hinwegfegen von Gemeinsamkeit durch Sprache als eine Bestrafung wird eigentlich deutlich, was die Grundlage menschlicher Gemeinschaft und Interaktion ausmacht: das sprachliche Miteinander (communis esse), mit dem sich gemeinsames Gelingen überhaupt erst, als ‚Kommunikation‘, ermöglicht. Die Anthropologie hat den Menschen als ein ‚Herdentier‘ qualifiziert; seine paarweise verantwortungsbestimmte Lebensweise, seine rechtsgeschützte Familienbindung, seine lebenspraktische Orientierung an „den anderen“, sein Gefühl von Zusammengehörigkeit als Gemeinschaft in Grenzen, sein Wissen um eine eigene Kulturalität, die von dem Großraum seiner Sprachgeltung bestimmt wird (und die Sprachgeltung ist ein maßgebliches Kriterium der Begrenzung!) – sie bringen die Fundamente zutage, auf denen Menschen Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit
Definition in der acht Bücher umfassenden Schrift über den Staat – Πολιτικά Politiká I 2 [1253a]. Das Dictum: λόγον δὲ μόνον ἄνθρωπος έχει τῶν ζώων lógon dè mónon ánthrōpos échei tōn zṓōn.
Das ‚Gelingen‘ als interdisziplinäre Kategorie
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praktizieren, erleben und als ‚gelungen‘ empfinden, und andererseits, nach „außen“, Ausgrenzung, Ablehnung und Feindschaft praktizieren. Der anthropologische Begriff der ‚Kommunikation‘ verhilft hier zu näheren Einsichten: Seine Etymologie bildet nämlich schon das Modell ab, dass diejenigen, die gemeinschaftlich (lat. cum) innerhalb einer befestigten, mit Mauern (lat. moenia, von lat. munīre ‚befestigen‘, ‚bauen‘) bewehrten Lebenswelt eine prinzipielle Zäsur nach ‚denen da draußen‘ gegenüber ‚wir hier innerhalb der Mauern‘ schaffen, und das ist ja schon urbanistischbautechnisch so umgesetzt und deshalb ja auch konkret sehr präzise vorstellbar – also dass diejenigen innerhalb der Mauern als die, die dazugehören zur Gemeinschaft, andererseits aber diejenigen, die vor den Mauern, draußen, vorhanden sind, die Fremden sind. Und mit denen führt man dementsprechend auch keine com-municatio, keine Gemeinschaft (cum‑) innerhalb der eigenen Mauern (moenia). ‚Kommunikation‘ tritt hier somit eigentlich als ein Einschließungs- und Solidaritätsbegriff auf, dem aber das Ausschließen derer, die nicht dazugehören, der Fremden, derer, die vor den Mauern bleiben, gleichermaßen eigen ist. Die Vorstellung der ‚Gelungenheit‘ hat hier ihren Raum nur ‚innerhalb der Mauern‘, wo, in diesem Sinne, „Kommunikation“ stattfindet. Außerhalb sind die Fremden, das Unwägbare, das neue Andere, und das will man nicht hereinlassen, eben dafür dienen die Mauern, die moenia,²⁹ städtebaulich-konkret wie dann auch mentalitätsgeschichtlich-abstrakt, als Fremdenabwehr, Fremdheitsskepsis, bis hin zur Fremdenfeindlichkeit. Wer dennoch von außen in den ummauerten Bereich gelangt, hat keinen Status des Gelingens, kein Resultat des Gelungenseins inne – was wir heute als ‚Integration‘ bezeichnen: Bis zum Ende des Mittelalters zeugen die scharfen Zunftgesetze davon sowie die städtischen Bestimmungen darüber, wer in die Stadt kommen und dort leben darf und ab welcher Generation ein solcher Zuzügler städtische Funktionen übernehmen kann; die sprachliche Adaptation spielt dabei eine wichtige Rolle: die kommunikative Bewährung durch gelungene Anpassung an das Idiom innerhalb der ‚Mauern‘, die Teilhabe also an ‚Kommunikation‘ (vgl. Kalverkämper 2016b). Ganz offenbarend zeigt dies der griechische Begriff für den Fremden, den Ausländer, den Nicht-Griechen: dieser lautet βάρβαρος bárbaros (auch als Adjektiv); er ist von dem Wort βαρβαρίζειν barbarízein ‚sich wie ein Ausländer benehmen‘, ‚stammeln‘, ‚Unverständliches von sich geben‘, ‚nicht griechisch sprechen‘, ‚rumbrabbeln‘³⁰ abgeleitet: Diejenigen, die nicht Griechisch sprechen und somit von den sprachkulturselbstbewussten Griechen der Antike nicht verstanden wurden, sind mit dem Urteil – dem Vor-Urteil – des Dummen, Niederen, Grobschlächtigen, Ungebildeten belegt
Vgl., ganz hierzu begrifflich passend und illustrierend, das zugehörige Verb lat. munīre ‚befestigen‘, ‚mauern‘, ‚schanzen‘, ‚in Verteidigungszustand versetzen‘, ‚schützen‘, ‚sicherstellen‘. – Georges 2017: Lemma munio. Vgl. Gemoll 91965: Lemma βαρβαρίζω, S. 153. – Vermutet wird mit der Reduplikation von βαρ- eine Anlehnung an die Kindersprache, eine das Stammeln nachahmende Lautmalerei. Vgl. als das lateinische Lehnwort balbus ‚stammelnd‘.
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Hartwig Kalverkämper
worden; es hat sich bis heute in den europäischen Sprachkulturen erhalten als ‚Barbar‘, ‚barbarisch‘ usw. Dagegen wird nach innen, in die Sprechergemeinschaft innerhalb der Mauern hinein, die ‚Kommunikation‘ als gemeinschaftsbildend und notwendiges Solidaritätsmittel propagiert und praktiziert. Die Leitvorstellung dazu, das muss nochmals deutlich herausgehoben werden, ist die Gelungenheit von Gemeinsamkeit, wie sie eben durch Kommunikation miteinander gewährleistet und immer wieder aufgefrischt wird.
5.3 Von daher beweist sich die Vorstellung der ‚Gelungenheit‘ als ein anthropologischer Grundbegriff für das Herdenwesen ‚Mensch‘: und zwar ‚Gelungenheit‘ als ein den Erstbeteiligten (A) (Sender, Autor) und den Partner (E) (Empfänger, Rezipient) wie auch die beteiligte Sache (S) (Referent, Inhalt) (vgl. o. die Komponenten in Kap. 2.1.) betreffender Grundlagenbegriff für das – anthropologisch gesprochen (vgl. z. B. Trabant 1997) – kommunikative Sosein des Menschen: Das ‚Gelingen‘ erscheint somit in sechsfacher Weise, nämlich als Phänomen, Qualität, Maßstab, Funktion, Struktur und Faktor: Tabelle 1: Die Parameter der Gelungenheit ▼ Phänomen
Stimmigkeit, Passbarkeit, Harmonie
A_E_S
Ô
Qualität
Lebenswertigkeit, Einklang
A_E
Ô
Maßstab
Beurteilung, oberstes Prinzip der Zufriedenheit, des Ausgeglichenseins
A_E
Ô
Funktion
Stiftung von Zufriedenheit, Befriedigtsein
A
Ô
Struktur
Teile und ihr Ganzes, Ganzes und seine Teile
S
Ô
Faktor
Ordnung
S
Die Abfolge (Ô) entspricht einer inneren Logik, die mit der Beobachtung zusammenhängt, dass die ‚Gelungenheit‘ von etwas zu beurteilen letztlich primär am Rezipienten (E) hängt (siehe o. Kap. 3.2.), dass aber natürlich für alle Beteiligten das Phänomen als solches bekannt und wichtig sein muss und in seiner Qualität geschätzt wird als etwas Erstrebenswertes und Werthaltiges, folglich einen Maßstab („Kriterium“³¹) abgibt. Es ist dann zuerst der Autor (A) (Urheber, Gestalter, Redner usw.), der ‚Gelungenheit‘ als Funktion³² mit der Auswahl entsprechender Mittel an-
Griech. κριτήριον kritḗ rion; von griech. κρίνειν krínein ‚urteilen (über)‘, ‚beurteilen‘, ‚(unter-/ent‑) scheiden‘, ‚trennen‘, ‚auswählen‘ (vgl. Gemoll 91965: Lemma κριτήριον, S. 453). Im etymologischen Sinne: lat. fungi ‚ausführen‘, ‚vollbringen‘, ‚gelten‘.
Das ‚Gelingen‘ als interdisziplinäre Kategorie
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strebt bzw. angestrebt hat (eben mehr oder weniger gelungen; darüber entscheidet der Rezipient). Die Wirkteile dafür zeigen sich in der Struktur des von ihm als ‚gelungen‘ Intendierten, dessen Gelungenheit in einem spezifischen Faktor³³ begründet liegt. Man könnte diese produktionsbezogen sehende Abfolge auch umkehren und sie von unten rauflesen als rezeptionsbezogene Abfolge. Ich gehe aber davon aus, dass erst einmal etwas (zum Beispiel als ‚gelungen‘) vorhanden sein muss, um es als Rezipient einschätzen zu können, und habe somit der gewählten Abfolge den Vorzug gegeben.
5.4 Der so aufgeschlossene kommunikative Aspekt der anthropologischen Grundlage, die dem Begriff ‚Gelungenheit‘ eigen ist, wird idealerweise unterstützt von dem Begriff der Harmonie. Diesem scheint die ‚Gelungenheit‘ einschlägig inkorporiert zu sein, und zwar, wie die Wortfeldanalyse zeigt (siehe o. Kap. 2.1. und Abb. 1), speziell in der Relation zur ‚Sachwelt‘, gleichsam als Ergänzung zur gerade angesprochenen Kommunikationsrelation (siehe o. Kap. 5.2.). Seine synonymen Begriffe sind ‚Übereinstimmung‘, ‚Zusammenspiel‘, ‚Ausgewogenheit (der Teile im und zum Ganzen)‘, ‚Ebenmäßigkeit‘ / ‚Ebenmaß‘, ‚Stimmigkeit‘; sie werden als die maßgeblichen assoziierten Angaben stets genannt (Similaritäts-Relation). Zugrunde liegt die strukturale Vorstellung des ‚Zusammenfügens, das auf diese Weise eine Ordnung stiftet‘, ‚Bund‘, ‚Ordnung‘. Griech. ἁρμόζειν harmózein ‚zusammenfügen‘, ἁρμονία harmonía ‚Verbindung‘, ‚richtiges Verhältnis‘, ‚Ebenmaß‘, ‚Übereinstimmung‘, ‚Einklang (der Teile zu einem Ganzen)‘ verweisen schon auf die Qualität des ‚Gelungenen‘ (als Ergebnis): einerseits der intellektuellen, ästhetischen und emotionalen Zufriedenheit, andererseits der individuellen und sozial ausbalancierten Ausgewogenheit. Die indogermanische Wurzel lautet dazu *ar[ə]- ‚fügen‘, ‚zupassen‘; sie zeigt sich in griech. ἀραρίσκειν ararískein ‚zusammenfügen‘, ‚verbinden‘, ‚verfertigen‘, ‚einrichten‘ oder ἄρθρον árthron ‚Gelenk‘, ‚Glied‘,³⁴ sodann in lat. armus ‚Oberarm‘, ‚Schulterblatt‘ und auch in dt. Arm als ‚Fügung‘, ‚Gelenk‘, ‚Glied‘. „Die vielfach weitergebildete und erweiterte idg. Wurzel *ar[ə]-, *rē- bezog sich ursprünglich wahrscheinlich auf das Stapeln, Zurechtlegen und Zusammenfügen der Bauhölzer, dann auch auf geistiges Zurechtlegen, Zählen und Berechnen“ (Duden. Etymologie 1963: 33, Lemma Arm). Hieraus bezieht griech. ἁρμονία harmonía (s.o.) seine semantischen Grundlagen, aber auch ἀριθμός arithmós ‚Zählung‘, ‚(An‑)Zahl‘,³⁵ lat. arma (Plural) ‚Ausrüstung‘, ‚Waffen‘, wie auch artus und articulus für ‚Gelenk‘, ‚Glied‘, zudem ars, Genitiv artis ‚Geschicklichkeit‘, ‚Kunst‘ oder auch ratus ‚berechnet‘, was sich heute noch in dt. Rate zeigt, sodann in lat. ratio ‚Berechnung‘, dessen Semantik des Gegliederten und Ge Im etymologischen Sinne: als „Macher“ (lat. facĕre ‚machen‘, ‚tun‘, ‚verfertigen‘, ‚bilden‘, ‚schaffen‘). Vgl. Arthritis als entzündliche Erkrankung der Gelenke; Arthrose als Gelenkverschleiß. Verb: griech. ἀριθμεῖν arithmeín ‚zählen‘, ‚zusammenrechnen‘. Vgl. Arithmetik.
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teilten sich noch deutlich in dem deutschen Lehnwort Ration (als ‚zugeteilte, berechnete Menge von etwas, meist Nahrung‘) offenbart, schließlich auch noch lat. rītus ‚religiöser Gebrauch‘ (vgl. Duden. Etymologie 1963: 33, Lemma Arm). Inbegriff der Harmonie ist das Zusammenspiel, der Zusammenklang, der Zusammenhang von Teilen in ihrem Ganzen, sei es in einem Gemälde, einer Skulptur oder in einem Ablauf, einem Vorgang: Zu diesem gilt, ganz anthropologisch gesehen, die Mutter-Kind-Beziehung gerade in der postnatalen Zeit als Inbegriff von Harmonie, was auch durch entsprechende introvertierte, motivisch gerundete, zentralisierende Bilder – Kind liegt in den Armen – vermittelt wird, um eben die Einheit in ihren stimmigen Teilen – Mutter und Kind – aufleuchten zu lassen. Oder auch, nun auch kulturell gesehen, das Tanzen als der Zusammenhalt und das Zusammenspiel zweier rhythmisch bewegter Körper (vgl. Kalverkämper 2014): Gerade beim Tanz verdeutlicht sich aber auch die anthropologische Grundlage, nämlich über die etymologische Brücke zu ‚Arm‘: die ‚Harmonie‘ im Tanz ist die ,Umarmung‘, die ,Umgreifung mit den Armen‘, was dann aus zwei Beteiligten, zwei Teilen, eine Einheit, Einssein, Einigkeit schafft. Hier wird Etymologie manifest, oder anders gesehen: hier wird das Etymon von ‚Harmonie‘ evident, ganz körperlich (‚Arme‘), ganz menschenbezogen, ganz komponiert aus Teilen für ein Ganzes.
5.5 Es dürfte wenig überraschen, dass über diese Wortsippe zu ,Harmonie‘ sich auch ‚Rede‘ dazugesellt, und zwar nicht nur begrifflich, im Sinne einer Kontiguitätsrelation zu ‚Harmonie‘, sondern eben auch etymologisch: Denn ‚Rede‘ geht auf dieselbe indogermanische Wurzel *rē- bzw. *ar[ə]- zurück und nimmt insbesondere die semantischen Aspekte des ‚Berechnens‘, der ‚Rechenschaft‘, der ‚Vernunft‘, mit denen ein Ganzes ‚zusammengefügt‘ und ‚zugepasst‘ wird, auf (Duden. Etymologie 1963: 556, Lemma Rede): Die begrifflich-semantische Nähe zu raten zeigt sich hier: „ursprünglich ‚[sich] etwas geistig zurechtlegen, überlegen, aussinnen‘“ (ebd.), wozu sich dann auch das Adjektiv gerade als ‚gleichzählend‘ gesellt. Hier bestätigt sich die aus der Praxis des Handelns stammende Vorstellung vom „Stapeln, Zurechtlegen und Zusammenfügen der Bauhölzer“ und die spätere Erweiterung „auf geistiges Zurechtlegen, Zählen und Berechnen“ (Duden. Etymologie 1963: 33, Lemma Arm; siehe o. Kap. 5.3.). Lat. ratiō gehört hierzu und kann durchaus, erst recht mit seiner passenden Grundbedeutung ‚Berechnung‘, ‚verstandesmäßige Durchdringung‘, ‚Abwägung‘, ‚Denken‘, ‚Vernunft‘³⁶ hier Evidenz des Zusammengehörens mit ‚Harmonie‘ bieten. Deutlich jedenfalls wird hier der grundlegende Gedanke des Ausgewogenen, der Stimmigkeit im Zusammenhang, des berechneten Passens in den Teilen zu einem Ganzen. Diesem ratio entspricht außergermanisch ‚Rede‘, das als Wort aus ratio
Georges 1995, Bd. II: 2202– 2206, Lemma ratio. – Duden. Etymologie 1963: 556, Lemma Rede.
Das ‚Gelingen‘ als interdisziplinäre Kategorie
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„entlehnt sein könnte“ (Duden. Etymologie 1963: 556, Lemma Rede). Das Wort redlich zeigt in seiner Bedeutungsgeschichte den Weg vom Berechnen hin zur positiven Qualität des gelingenden Bemühens: „Ursprünglich wurde ‚redlich‘ im Sinne von ‚so, wie man darüber Rechenschaft ablegen kann‘ verwendet, heute ist es im Sinne von ‚ehrlich, anständig‘ gebräuchlich“ (Duden. Etymologie 1963: 556, Lemma redlich).
6 Wissens- und wissenschaftstheoretische Modellierungen 6.1 Die ‚Gelungenheit‘ manifestiert sich in der Sache (S) (oder, analog zur ‚Objektsprache‘: auf Objekt-Ebene) speziell als Werk-Ziel (z. B. der Rede, des Aufsatzes, des Gedichts, der Operation, der politischen Arbeit, der Integrationsleistung, der Finanzsanierung, der Fassaden-Farbgebung eines Hauses, der Fallklärung eines Verbrechens usw. usw.), oder als eine „Tugend“ (lat. virtus; wie redaktionelle Arbeit im Verlag, stabile Familienverhältnisse und Erziehungsbeurteilung, Partnerschaftsverhältnis, methodisches Vorgehen), schließlich als Kompetenzausweis (wie erarbeiteter Meisterbrief, bestandenes Examen, erlangter Doktortitel, Karriereschritt). Gelungenheit oder das Gelingen werden insbesondere von jenen Disziplinen, Berufen und Fachinteressen, aber auch im Alltag vor allem da herausgestrichen, wo es auch um Misslingen, um tatsächliche Fehler oder um Falschentwicklungen geht, denen sie ihr spezifisches Interesse widmen.
6.2 Dabei sehe ich drei große Felder der Referenz, die hier komplexe Geltung beanspruchen: das Handeln – die Sprache – die Kunst. Sie repräsentieren die pragmatische, die linguale/kommunikative und die ästhetische³⁷ Welt des Menschen. In den Dreien ist die ‚Gelungenheit‘ als eine grundlegende Kategorie des Funktionierens und somit auch des Kooperierens beschlossen: Diesen drei Lebens-, Gestaltungs- (oder Wirk‑) und Wissens-Welten des Menschen ist eine Bewertungs- und Beschreibungsebene eigen, die wir seit der aristotelischen Wissenschaftstheorie als „meta-“ (griech. μετά ‚außerdem‘, ‚dahinter‘, ‚darüber hinaus‘) fassen (während die Ebene „davor“ als die ‚Objekt-Ebene‘ gilt). Der Aspekt der ‚Gelungenheit‘ bringt aber auch noch diese MetaEbene selbst in eine eigene Beschau-Situation, gleichsam als Meta–Meta-Ebene (Hyper-Ebene), da die Meta-Ebene ihrerseits durchaus auch noch Gegenstand eigen Verstanden im etymologischen Sinne: griech. αἴσθησις aísthēsis ‚Wahrnehmung‘, weiter ‚Empfindung‘, ‚Sinn‘, ‚Erkenntnis‘, ‚Verständnis‘. Entspricht lat. sensus, sensatio, sentire.
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ständiger kritischer Betrachtung mit Blick auf das Gelingen bzw. Gelungensein sein kann. Wir können diese Verhältnisse in folgender Aufstellung fassen:
Abb. 2: Handeln – Sprache – Kunst: Objekt- und Metaebenen
Das Ge- und Misslingen als Prozess ist auf der Objekt-Ebene angesiedelt; die ‚Ge- und Misslungenheit‘ dagegen dient als Meta-Begriff und hat ihre begriffliche Heimat auf der Meta- und, gesteigert, auf der Hyper-Ebene (siehe Kap. 2.1., Abb. 1).
7 Disziplinäre Vernetzungen im Begriff der ‚Gelungenheit‘ 7.1 ‚Gelungenheit‘, ‚Gelingen‘, wie auch ihr Gegenteil, das ‚Misslingen‘, spielt in etlichen Disziplinen, die sich im Laufe der Zeit im Zusammenspiel von ‚Handeln – Sprache – Kunst‘ herauskristallisiert haben, eine entscheidende und (mit‑)prägende Rolle, sei es im bzw. für das Selbstverständnis der Disziplin (Beispiel: Fehlerlinguistik, Evolutionsbiologie), sei es in der Zielsetzung ihrer Arbeit und Analysen (Beispiel: Translatkritik, Poetik), sei es in der methodologischen Ausrichtung (Beispiel: experimentale Naturwissenschaft) oder bei den verwendeten Instrumentarien und Mitteln der Dis-
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ziplin (Beispiel: Rhetorik). Ich stelle hier diese Disziplinen zusammen, ohne mich aber, wegen der Umfangsbeschränkung, jeder speziell zuzuwenden und natürlich auch ohne Anspruch auf Vollständigkeit (es kann hier nur exemplarisch vorgegangen werden); ich vertraue somit auf die prinzipielle Evidenz und das vernetzte Wissen um die Wissenschaften, Disziplinen und Bildungsaktivitäten. Meine Darlegung der Wissenschaften ist nach den im Folgenden dargelegten Kriterien ausgerichtet.
7.2 Die Makro-Einteilung orientiert sich an den zentralen Komponenten, die mit ‚Gelungenheit‘ und ‚Gelingen‘ zu tun haben, nämlich an (I.) Objekten „der Welt“ und Geschehnissen (Gegenstände, Sachverhalte, Handlungszusammenhänge, „Referenz“), (II.) Interaktion (die die Menschen sozial zusammenhält und bestimmt, bis in die wichtigen kulturellen Ausprägungen hinein), (III.) Kommunikation (in ihrer ganzen Komplexität von Beteiligten, Text, Situation, kulturellem Rahmen) und (IV.) Sprache (als wichtigstes Mittel der Kommunikation). Diese vier Komponenten stehen begrifflich in einem Inklusionsverhältnis zueinander, das hierarchisch gegliedert ist: mit „der Welt“ (I.) als dem extensional weitesten, dabei dann aber auch intensional diffusen Begriff, in den „Interaktion“ (II.) eingebettet ist, in dem dann „Kommunikation“ (III.) begrifflich ruht, und mit „Sprache“ (IV.) als dem darin dann extensional engsten (dafür intensional prägnantesten) Begriff dieser Gemeinschaft. Hierzu lassen sich folgende Wissenschaften und Disziplinen, denen die ‚Gelungenheit‘ ein ausdrücklich thematisches Anliegen ist, beispielsweise zuordnen: I. Referenzbezug: Chaostheorie³⁸, Evolutionsbiologie / Evolutionsforschung³⁹, Mathematik⁴⁰, Naturwissenschaften, Technik u. a.; II. Interaktion: Rhetorik / Redekritik⁴¹, Kulturwissenschaft, Konfliktforschung, Diplomatik / Politik / Internationale Beziehungen, Soziologie (z. B. Migranten-Integration) u. a.
Zu denken ist hier an das Gelingen und Misslingen von Ordnung und Struktur und deren systemische Fassung. Einer der Grundsätze der Evolutionsbiologie lautet: Nur die umweltangepasste, in diesem – maßgeblichen – Sinne die gelungenste Entwicklung lebt weiter. Die Gelungenheit von Entwicklung ist der einzige prinzipielle Maßfaktor von (biologischem) Bestand; alles Andere, das Misslungene, wird aussortiert durch Nicht-Überleben: das Darwinsche Prinzip des Survival of the fittest, wobei ‚fittest‘ mit ‚Gelungenste‘ übersetzt werden sollte. In der Mathematik (und darüber hinaus in den Naturwissenschaften) gibt es sogar die Steigerung von Gelungenheit, z. B. bei Formeln und deren Bestandteilen, bei besonders luziden Beweisen, bei transparent herbeigeführten Lösungen: man nennt das dann ‚Eleganz‘. Lat. ēlegāns, nach Georges 1995: Lemma „im guten Sinne“ u. a. ‚gewählt‘ (vgl. ēligĕre ‚auswählen‘), ‚fein gebildet‘, ‚richtig (korrekt)‘, ‚gelungen‘. Die Rhetorik ist nach meinem Wissen die einzige Disziplin, die das „Misslingen“, den Regel-Verstoß, lizenziert als eine mögliche eigenständige Qualität von ‚Gelingen‘: als ‚Gelingen-im-Kontra‘:
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III. Kommunikation: Gesprächsforschung, Konversationstheorie (als kulturhistorische Ausrichtung), Verständlichkeitsforschung („Text-Optimierung“), Alltagsforschung,⁴² Translationswissenschaft / Translat(ions)qualität / Translatkritik⁴³ u. a. IV. Sprache: Textlinguistik⁴⁴ / Textanalyse, Fehlerlinguistik, Poetik, Patholinguistik / Klinische Linguistik, Spracherwerbsforschung („Kindersprache“)⁴⁵ u. a.
7.3 Wir wollen im Folgenden sehen, welche Aspekte der ‚Gelungenheit‘ diesen Disziplinen (I. bis IV. in 7.2.) eigen bzw. gemeinsam sind. Auf diese Weise trägt, durchaus auch umgekehrt gesehen, jede Disziplin dazu bei, dem Begriff Kontur zu geben. Dieses Konturenfeld möchte ich mit den folgenden Aspekten vorführen. Dazu biete ich jeweils den Disziplinenbereich (I. bis IV.) an, der für die jeweiligen Aspekte zum Tragen kommt (s. Tabelle 2). Auffallend ist die Komponente (siehe voriges Kap. 7.2.) III. Kommunikation mit ihrer vollen Geltung für alle 16 Aspekte der ‚Gelungenheit‘ in den verschiedenen Disziplinen. Die Disziplinen mit fokussiertem Blick auf ‚Kommunikation‘ heben sich somit als die auch prädestinierten für den Begriff der ‚Gelungenheit‘, für die Zielstellung des ‚Gelingens‘ als einen disziplinären Ausweis hervor. An zweiter, aber sehr naher Stelle folgen die Disziplinen, deren Berücksichtigung der ‚Gelungenheit‘ bzw. des ‚Gelingens‘ unter der Komponente der Interaktion (II.) fällt. Das lässt sich insofern auch gut nachvollziehen, als das Gelingen und Misslingen von Interaktion, mit all den Zwischenstufen, schon im Alltag stets beobachtet und beachtet (!) wird, und so liegt es nahe, sich auch wissenschaftlich diesen Gegebenheiten zu widmen, was die Disziplinen unter II. ja auch vollziehen. Die Disziplinen der Komponente IV. Sprache umgreifen, wie man sieht, nur bis 9 Aspekte der ‚Gelungenheit‘. Das ist angesichts der jahrhundertelangen Dominanz von Sprachnormen
„Gewisse, sonst verbotene Regelverstöße können aber gewissen Künstlern oder gewissen Kunstarten (etwa der Dichtung) als geduldete licentia zugestanden werden“ (Lausberg 42008: § 4). Hierzu thematisch passend die innovative Arbeit von Metzig 2013. In der Translationswissenschaft hat das Thema der Qualitätsoptimierung – hin zu einem gelungenen dolmetscherischen oder übersetzerischen Resultat – und der Bemessung des Weges dorthin wie auch des Ergebnisses (Translat) einen inzwischen hohen Stellenwert inne, und zwar speziell seit Mitte der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts. Ich verweise hierzu auf die umfassende Darstellung der Zeit: Kalverkämper 1981. Siehe auch wegweisend Weinrich 1976 sowie 1985. Den Aspekt des ‚Gelingens‘ im Aufbau und, als Gegenbewegung, des ‚Misslingens‘ im Abbau betont und verfolgt meines Erachtens besonders evident auf dem Gebiet der phonologischen Komplettierung im Prozess der Spracherlernung und, umgekehrt, der Reduktion im Prozess des Sprachverlustes der aktuell leider kaum (mehr) zitierte russische Gelehrte des Strukturalismus, Roman Jakobson (1896 – 1982), in seiner grandiosen, sehr lesenswerten Studie 81992. – Den Prozess der Spracherlernung selbst als Fortschreiten auf dem Weg zu dem Ziel des sich verbessernden Gelingens beschreibt Apeltauer 2010: 15.
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Tabelle 2: Die 16 Aspekte von ,Gelungenheit‘ Aspekte von ’Gelungenheit’ …→
→… b e i d e n v e r s a m m e l t e n D i s z i p l i n e n u n t e r : I. Referenz
II. Interaktion
III. Kommunikation
•
•
(•)
IV. Sprache
Zusammenwirken
Signalkraft (Kultur!)
•
((•))
(•)
Normangepasstheit
•
(•)
•
Textsortenzugehörigkeit
•
•
Textualität
•
•
Qualität
•
•
(•)
Effizienz
•
•
(•)
Evaluation/Bewertung
•
•
•
Konsequenz (für Anschlüsse)
•
•
(•)
Intention(alität)
•
•
•
Adäquatheit (aptum)
•
•
Situativität
•
(•)
Reaktion (Inter‐)
•
•
Erlernung (Erwerb)
•
•
•
Emotion(alität) (z. B. Glück)
((•))
•
(•)
Ästhetik
•
•
•
(•)
•
• trifft zu (•) trifft unter Umständen, möglicherweise zu ((•)) trifft vielleicht auch zu
und Sprachrichtigkeitsschulung (zu Lexik und Grammatik, hier Morphologie und Syntax), von Sprachgesetzgebung, von vielseitiger Lehre wie Stilübungen, Rhetorik-Exercitationen, Deklamationsaufgaben, Vortragstraining und Aufsatzübungen erstaunlich gering dafür, dass es dabei ja immer um die „Vollkommenheitsansprüche“ (Lausberg 42008: § 8) ging und geht – also um das Erstreben einer optimalen Gelungenheit des sprachlichen Resultats.
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7.4 Indem man sich fragt, welche Merkmale denn mit den 16 Aspekten (Kap. 7.3.) den Begriff der ‚Gelungenheit‘ ausmachen, sieht man z. B., dass (1) Zusammenwirken die Merkmale der Mechanismen (C.), des Qualitativen (E.) und des Prozessualen (G.) gleichermaßen in sich birgt; oder dass (5) Textualität die Merkmale des Qualitativen (E.) und des Resultativen (H.) vermittelt; oder, als drittes Beispiel, (16) Ästhetik immerhin vier Merkmale betrifft: sie zeigt sich als Phänomen (A.), tritt auf als Faktum (B.), vermittelt sich als eine Qualität (E.) und wird erkannt als Resultat (H.) aus dem Zusammenwirken verschiedener Teile zu einem Ganzen. Für die 16 erarbeiteten Aspekte der ‚Gelungenheit‘ habe ich hier 8 Merkmale (A. bis H.) herausgefunden, die ‚die Gelungenheit‘ als solche ausmachen, konstitutieren, repräsentieren, bestimmen – je nach Sichtweise. Die folgende Tabelle fasst die Aspekte der Gelungenheit (7.3.) zusammen. Tabelle 3: Die acht Merkmale der verschiedenen Aspekte von Gelungenheit Merkmale der …→ ▼
→… Aspekte der Gelungenheit (Kap. ..)
A. Phänomene
B. Fakten C. Mechanismen
H. Resultate
F. Funktionen G. Prozesse / Prozeduren
D. Instrumentarien E. Qualitäten
Zusammenwirken Signalkraft Normangepasstheit Textsortenzugehörigkeit Textualität Qualität Effizienz Evaluation/Bewertung
Konsequenz Intention(alität) Adäquatheit Situativität Reaktion Erlernung/Erwerb Emotion(alität) Ästhetik
Das ‚Gelingen‘ als interdisziplinäre Kategorie
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8 Resümee der Analyse Wir können die vorgelegten semantisch-begrifflichen Analysen abschließen, denn sie haben nun ihr Ziel erreicht. Der Begriff der ‚Gelungenheit‘, als Prozess-Begriff: des ‚Gelingens‘, hat seine Kontur über Aspekte (7.3.), die er aufreißt, und über Merkmale, die diese Aspekte bündeln und strukturieren (7.4.), erhalten. ‚Gelungenheit‘ zeigt sich hier als ein breit ausgelegter Begriff, denn die acht Merkmale (7.4.: A. bis H.) eröffnen ein Spektrum, das die ganze Breite der Möglichkeiten enthält. Ich sehe nicht, was man den acht Merkmalen – gleichsam übergeordnet, universal sogar – noch weiter hinzufügen könnte. Wenn dem so ist, deckt der Begriff die volle Breite der MerkmalMöglichkeiten (A. bis H.) ab. Das liegt sicherlich daran, dass ‚Gelungenheit‘ eine anthropologische Kategorie ist (Kap. 5., insbesondere 5.3.). Sie wird dann von den Disziplinen gleichsam adaptiert, und dies in je spezifischer Weise (Kap. 7.2.). Und so formen sich verschiedene Merkmale der ‚Gelungenheit‘ heraus (Kap. 7.4.), die uns heute, in einer disziplinär vernetzten Welt, nicht mehr präsent sind, zumal, wie gesagt (Kap. 7.2.), ‚Gelungenheit‘ bis in den Alltag hineinreicht, also auch hier die Breite menschlicher Aktivitäten vom Alltag bis zur spezialisierten Tätigkeit (Beruf, fachliches Handeln) umgreift und in Sprache und Künste ausgreift (Kap. 6.2.). Daraus lässt sich ableiten, dass ‚Gelungenheit‘ eine zentrale Kategorie des Menschen – als Mensch im Alltag, im Beruf und fachlichen Handeln, und auch in ästhetischer Beglückung – darstellt, die seine Bedürfnisse nach qualitativer Einschätzung, nach Orientierung und Bemessung, schließlich nach Zufriedenheit und Glück offenbart, aber recht differenziert in ihren Merkmalen (Kap. 7.4.) ist, was natürlich, ganz analog, Rückschlüsse freisetzt zu der komplexen und doch differenzierten Struktur dieses Begriffs (Kap. 7.3.), der in der heutigen Zeit – bedauerlicherweise (Kap. 1.) – zu einer gravierenden sozialen Herausforderung geworden ist.
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Sabine Föllinger
Ironie und gelingendes Gespräch bei Platon: Der Dialog Protagoras 1 Einführung: Was heißt ‚Gelingen‘? Die Frage, welche Platonischen Dialoge ‚gelingende‘ Gespräche darstellen, ist nicht ganz einfach. Denn man muss zuerst festsetzen, was als ‚Gelingen‘ zu bezeichnen ist. Der Begriff setzt voraus, dass Gesprächsteilnehmer einen bestimmten Zweck verfolgen, dessen Erreichen als ‚Gelingen‘ bezeichnet werden kann. Bei einem „Konversationsgespräch“¹ ist die Unterhaltung als solche der Zweck. Bei einem Lehrgespräch², das naturgemäß asymmetrisch ist, stellt die Vermittlung eines bestimmten Inhalts den Zweck dar.Wendet man aber die Kategorie des ‚Gelingens‘ auf literarische Dialoge an,³ so stehen wir vor einer komplexeren Problematik, da wir, wie im Drama, ein „inneres Kommunikationssystem“ und ein „äußeres Kommunikationssystem“ unterscheiden müssen.⁴ So kann ein in einem literarischen Dialog inszeniertes Gespräch, das aus der Sicht der Akteure des inneren Kommunikationssystems ein Scheitern bedeutet, im äußeren Kommunikationssystem als gelungen bezeichnet werden – nämlich dann, wenn es den Zweck des Dialogs erfüllt. Hier stellt sich, natürlich, sofort die Frage, wie man den Zweck des betreffenden Dialogs bestimmen soll. Allgemein lassen sich Platonische Dialoge, um die es hier geht, als Typ des „philosophischen Dialogs“ bezeichnen.⁵ Gegenüber dem Konversationsdialog und dem Lehrdialog könnte man den philosophischen Dialog Platons dadurch abgrenzen, dass er nicht oder nicht nur ‚Informationen vermitteln‘ will, sondern durch seine Offenheit charakterisiert ist (Erler 2007: 83). Sein Ziel ist Erkenntnisgewinn in einem weiteren Sinn, insofern über die Entwicklung von Positionen hinaus Anregung und Anleitung zu prinzipieller Reflexions- und Problematisierungsfähigkeit gegeben werden soll. Überdies kann damit ein Gewinn auf der existenziellen Ebene verbunden werden; denn dem Platonischen Sokrates gelingt es immer wieder, durch sein insistierendes Fragen dem Gegenüber nicht nur die Hohlheit seines vermeintlichen Wissens zu zeigen, sondern damit auch dessen existentielle Erschütterung zu erreichen. Diese Wirkung erfährt nicht nur der Adressat des inneren Kommunikationssystems, wie dies beispielhaft die Figur Nikias im Dialog Laches zum Ausdruck bringt (187E–188B), sondern zielt auch auf den Dialogrezipienten ab. Doch kann in dem Gelingen durch Erkenntnisgewinn
Zum Begriff vgl. Hösle 2006: 30 – 56. Vgl. hierzu Föllinger 2006. Zur Definition eines ‚literarischen Dialogs‘ vgl. Föllinger; Müller 2013: 1 f. Zur Terminologie vgl. Pfister 2011: 20 – 22. Zum Folgenden vgl. Föllinger 2013.
https://doi.org/10.1515/9783110592580-005
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durchaus ein Unterschied bestehen. So enden gerade die Platonischen Frühdialoge oft aporetisch. Dies bedeutet aber nicht, dass das im Dialog inszenierte Gespräch nicht gelungen wäre.⁶ Vielmehr ist es zwar insofern misslungen, als auf der propositionalen Ebene des inneren Kommunikationssystems keine Begriffsdefinition oder Vergleichbares erarbeitet wird. Aber es ist dennoch gelungen, weil Sokrates‘ Gesprächspartner durch seine Art der Gesprächsführung erkennen, dass sie nicht wissen, was sie zu wissen dachten, und unter Umständen durch das ‚Erlebnis Sokrates‘ in Unruhe gebracht werden. So wird im Laches zwar keine Definition für den problematisierten Begriff andreía (Tapferkeit) erarbeitet, aber die Teilnehmer erkennen durch das Gespräch (je nach intellektuellem Grad unterschiedlich), dass sie weiterer Reflexion bedürfen. Im äußeren Kommunikationssystem kann dieses Nicht- oder Teilgelingen beitragen zu einer gelingenden Erkenntnis beim Rezipienten, insofern dieser in einen Reflexionsprozess versetzt wird. Dieses Resultat kann verstärkt werden durch die Differenz zwischen dem, was der Dialogrezipient weiß, gegenüber dem, was die innerdialogischen Akteure wissen. Dies ist der Ort, an dem Platon die Ironie einsetzt als wichtige Strategie, die intratextuell und extratextuell zum Gelingen des Gesprächs beiträgt.
2 Der Begriff ‚Ironie‘ Auch wenn der Begriff ‚Ironie‘ von dem Wort eironeía (εἰρωνεία) abgeleitet ist (Bergson 1971; Lane 2006), geht es hier nicht um die Sokratische εἰρωνεία, die die Gesprächspartner in den Platonischen Dialogen Sokrates mitunter vorwerfen und die eine Form der auf Täuschung angelegten Verstellung ist, die der Gesprächspartner nicht bemerken soll. Vielmehr geht es hier um Ironie als eine Gesprächsstrategie der Verstellung, die Platon seinen Sokrates anwenden lässt und die durchaus erkannt werden soll. Dabei kann die Interaktion sich im inneren Kommunikationssystems abspielen, indem einer der Gesprächspartner die Ironie durchschaut (oder nicht durchschaut), oder aber der Dialogrezipient bemerkt die Ironie oder aber beides ist der Fall. Weil die hier gemeinte Ironie also eine Sprachstrategie der Verstellung ist, die vom Gegenüber erkannt werden soll, hat Allemann sie treffend als „transparente Verstellung“ bezeichnet (Allemann 1970: 20). Auch die Rhetoriktheoretiker der Antike betrachteten als wesentlichen Zug der Ironie eine Form von Verstellung, die erkannt werden soll. Dabei wiesen sie auch auf ein weiteres wesentliches Merkmal der Ironie hin: Damit der Gesprächspartner erkennen kann, dass es sich bei einem Sprechakt um Ironie handelt, bedarf es sogenannter Ironiesignale. Diese wiederum können vielfach
Zur Bedeutung der Aporie vgl. Erler 1987.
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nonverbal sein.⁷ Auch ist die Kenntnis des Kontextes nötig, um zu verstehen, dass eine bestimmte Formulierung ironisch gemeint ist.⁸ Im Zuge einer Wiederbelebung des Interesses an der Rhetorischen Ironie in den letzten Jahren hat sich die Linguistik um eine systematische Differenzierung des Ironiebegriffs bemüht, wobei sie von alltagssprachlichen Situationen ausging.⁹ Dabei betonte man (Lapp 1997), dass Ironie nicht mit Täuschung gleichzusetzen ist und dass Ironie nicht unbedingt bedeutet, das Gegenteil von dem, was man meint, zu sagen („Paul ist liebenswert“ muss nicht unbedingt das Gegenteil bedeuten, also „Paul ist nicht liebenswert“). Darüber hinaus wies man auf die Bedeutung nonverbaler IronieSignale hin. Aufbauend auf Lapps linguistischer Theorie und unter Zugrundelegung der von Paul Grice entwickelten Konversationstheorie hat Nünlist Beispiele von Ironie in der Homerischen Ilias untersucht (Nünlist 2000). Sein Ausgangspunkt ist, dass ein Sprecher mit dem Einsatz von Ironie gegen die zu den Grice’schen Konversationsregeln gehörende Regel der Aufrichtigkeit (die Maxime der Qualität) verstößt. Dabei kann die Regelververletzung entweder den propositionalen Gehalt einer Äußerung oder den Illokutionstyp oder beide betreffen.¹⁰ Beispielsweise¹¹ geht es um den propositionalen Gehalt, wenn jemand mit den Worten „Das ist Dir ja toll gelungen“ eigentlich meint, dass sein Gegenüber versagt hat. Der Illokutionstyp ist betroffen, wenn jemand in einer Situation der Überlastung zu jemandem, der ihm untätig zusieht, sagt: „Sie dürfen mir gerne helfen.“ Zwar ist der vorgegebene Illokutionstyp Erlaubnis, aber der eigentlich gemeinte ist Kritik. Um beides, den propositionalen Gehalt und den Illokutionstyp, geht es, wenn jemand sagt: „Herzlichen Dank für das konstruktive Statement“, in Wirklichkeit aber den überflüssigen oder destruktiven Beitrag des anderen tadelt.¹² Allerdings bleibt bei Nünlist weitgehend unberücksichtigt, inwieweit die Ironie überhaupt vom Adressaten erkannt wird. Die Berücksichtigung dieses perlokutionären Aspektes ist aber die Voraussetzung, um die In Tryphon, Perí trópon (Rhetorici Graeci III p. 205,2 f. Sp.); Quintilian 8,6,54: aut pronuntiatione intellegitur aut persona aut rei natura. Vgl. Cicero, Brutus 292 f. Damit versucht die Linguistik eine Systematisierung der Voraussetzungen von Ironie, im Unterschied zu älteren Studien, die darauf hinweisen, dass man der Beispiele bedürfe, weil „Ironie eben nur in ihrem sachlichen Zusammenhang, der ‚Einbettung in eine Situation‘ … verstanden werden“ könne (Boder 1973: 7 Anm. 8). Nünlist 2000: 75: „(1) Die Aufrichtigkeitsmaxime des Griceschen Kooperationsprinzips ist seitens des Sprechers in bezug auf den (vorgeblichen) Illokutionstyp und/oder in bezug auf den zum Ausdruck gebrachten propositionalen Gehalt absichtlich verletzt. D. h. der Sprecher äußert etwas, was er nicht so meint, wie er es sagt, weil entweder die Aussageintention nicht der vorgebrachten Aussage entspricht (etwa ein ironisches Lob) oder der propositionale Gehalt ist nicht so, wie er klingt, dies ist etwa bei ironischen Übertreibungen der Fall. (2) Diese absichtliche Verletzung der Aufrichtigkeitsmaxime soll vom Hörer als solche erkannt werden.“ Vgl. auch die Beispiele bei Heckel 2009: 24 f. Heckel 2009 orientiert sich an Nünlists Ironiedefinition, hält sie aber für zu weit, da sie eigentlich alle indirekten Sprechakte betreffe und auch rhetorische Fragen und Äußerungen mit einschließe.
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teraktion als einen ‚gelungenen Sprechakt‘ einordnen zu können, und ist im Hinblick auf das ‚Gelingen‘ eines Gesprächs wichtig.
3 Ironie als Gesprächsstrategie bei Platon Wenn man die Verwendung von Ironie in einem Dialog, also einer literarischen Gattung, untersucht, so muss man beachten, dass die linguistische Theorie für eine Situation des direkten Gesprächs entwickelt wurde. Wird die Ironie innerhalb eines Gesprächs in einem literarischen Text umgesetzt, in unserem Fall: dem Platonischen Dialog, verkompliziert sich die Situation. Dies betrifft insbesondere die Rolle des Adressaten und damit den perlokutionären Effekt der Ironie, der in dem angeführten Modell Nünlists nicht berücksichtigt ist. Denn bei einem literarischen Werk ist die Frage komplexer, wer eigentlich der Adressat der Ironie ist, der diese erkennen soll, was ja wiederum die Voraussetzung dafür ist, dass die Ironie gelingt. Denn dies kann ein Adressat des inneren Kommunikatiossystems sein: entweder das ‚Ironieopfer‘¹³ selbst oder eine dritte Person bzw. ein Kreis von weiteren Personen. Im Fall eines literarischen Dialogs kann der Adressat aber auch zum äußeren Kommunikationssystem gehören. Wir können also mit Blick auf den Platonischen Dialog von drei Adressaten ausgehen: Erstens gibt es das ‚Ironieopfer‘ – etwa ein von Sokrates angegriffener Sophist. Zweitens kann – zumindest implizit – Adressat der Ironie auch ein anderer bzw. können es mehrere andere Gesprächsteilnehmer sein.¹⁴ Drittens ist der Rezipient des Platonischen Dialogs als textexterner Adressat der Ironie angesprochen. Hinzu kommt eine vierte Möglichkeit: Falls es sich bei dem Werk um einen Dialog mit Rahmenerzählung bzw. Rahmendialog handelt,¹⁵ kann der Gesprächspartner dieser Rahmenerzählung ein – zumindest impliziter – Ironie-Adressat sein. Auch bei den Ironiesignalen muss man inneres Kommunikationssystem und äußeres Kommunikationssystem unterscheiden. Dem Rezipienten des äußeren Kommunikationssystems können Reaktionen des textimmanenten Ironie-Opfers oder Bemerkungen der anderen Gesprächsteilnehmer oder des Erzählers, falls es einen solchen gibt, als Ironiesignal dienen. Unter Umständen ist das Erkennen der Ironie auch ganz dem Dialogleser anheimgestellt. Der perlokutionäre Effekt der Ironie kann aber in jedem Fall, wie Warning beschrieben hat, „als Solidarisierung angesichts eines bloßgestellten Dritten“ (Warning 1976: 422) beschrieben werden. Dabei ist für die
Ich verwende hier den Begriff ‚Ironieopfer‘, um die Person, die ironisiert werden soll, von anderen möglichen Adressaten der Ironie abzugrenzen. Meine Verwendung dieses Begriffs ist also sozusagen neutral. Denn nicht immer ist Sokrates mit seiner Ironie so beißend und verletzend wie im Protagoras. Vielmehr kann er auch auf eine milde und sozusagen liebevolle Art ironisch sein, wie der Dialog Laches zeigt. Ein ‚Publikum‘ haben folgende Dialoge: Charmides, Gorgias, Protagoras, Phaidon, Symposion, Politeia, Sophistes, Philebos. Zu den verschiedenen Dialogformen vgl. Erler 2007: 71– 75.
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Platonischen Dialoge die Solidarisierung zwischen Autor und Leser zentral. Freilich unterliegt das Erkennen von Ironie Unsicherheitsmomenten, was Warning als „Ironieverdacht“ bezeichnet. Ironieverdacht regt sich dann beim Rezipienten, wenn dieser einen Verständnishorizont mit dem Autor teilt, die „am Ironieakt Beteiligten“ müssen also ‚aufeinander eingespielt‘ sein (vgl. ebd: 422). Was die Ironie des Platonischen Sokrates angeht, so hat Platon wohl damit rechnen können, dass nicht nur ein mit seinen Texten wohlvertrauter Leser Sokrates’ Ironie erkannte (vgl. Geiger 2006: 54). Zwar macht die Kontextbezogenheit von Ironie es schwierig, eine Systematik von Ironiesignalen festzustellen. Doch in Bezug auf die Platonischen Dialoge lassen sich gewisse regelmäßig wiederkehrende Ironiesignale festmachen (vgl. Boder 1973: 161): – Übertreibung/Untertreibung: Sokrates bedenkt einen Gesprächspartner mit einem übertriebenen Lob oder mit übertriebener Selbstbescheidenheit: Der Illokutionstyp ist betroffen. – Sokrates begründet die Behauptung, er sei nichtwissend, der andere aber wissend, mit Kriterien, die er selbst eigentlich, wie der Rezipient weiß, nicht für valent hält, nämlich Alter, Geld, Beruf: Der propositionale Gehalt ist betroffen. – Sokrates bezeichnet etwas als unwesentlich, was dann aber wesentlich ist: Der propositionale Gehalt ist betroffen. – Die Ironie wird dadurch deutlich, dass die Stilebene dem propositionalen Gehalt nicht angemessen ist. Dies zeigt sich etwa im Gebrauch von gewagten Metaphern, in der Verwendung sehr langer Sätze, in Wortwiederholungen u. ä., aber auch in der Anwendung von Parodie. Die Ironiesignale können – je nach Dialogtyp – durch Kommentare anderer Gesprächspartner oder auch des Erzählers, wenn es sich um einen Dialog mit narrativen Partien handelt, vereindeutigt werden.
4 Ironie im Protagoras Ein gutes Beispiel der Anwendung von Ironie bietet der Dialog Protagoras. In diesem nach 399 v.Chr. entstandenen Frühdialog wird ein Treffen des Sokrates mit führenden Sophisten seiner Zeit, also ein Intellektuellentreffen, im Haus des reichen Atheners Kallias dargestellt. Das Thema des Gesprächs ist das Problem, ob die Tugend lehrbar ist und ob sie eine Einheit darstellt. Der agonale Charakter des Disputs äußert sich nicht zuletzt in dem Streit darüber, wie man vorzugehen habe: ob die Gesprächsteilnehmer nach Art der Sophisten belehrende Monologe halten sollten oder ob es angemessener sei, der von Sokrates befürworteten Vorgehensweise zu folgen, indem das Gespräch in Form von Frage und Antwort verlaufe. In diesem Zusammenhang kritisiert Sokrates die Vorgehensweise des Sophisten, zu monologisieren. Aber er äußert diesen Vorwurf nicht direkt, sondern indem er ihn folgendermaßen formuliert (Protagoras 334C8–D5):
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Ich bin ein vergesslicher Mensch, Protagoras. Und wenn einer lange zu mir spricht, vergesse ich, über was die Rede eigentlich geht. Also wie wenn du für den Fall, dass ich schwerhörig wäre, der Meinung wärest, zu mir lauter als zu den anderen sprechen zu müssen, um mit mir ein Gespräch führen zu können, so gehe auch jetzt vor: Da du in mir einen Vergesslichen vor dir hast, beschneide deine Antworten und mache sie kürzer, falls ich dir folgen können soll. Ὦ Πρωταγόρα, ἐγὼ τυγχάνω ἐπιλήσμων τις ὢν ἄνθρωπος, καὶ ἐὰν τίς μοι μακρὰ λέγῃ, ἐπιλανθάνομαι περὶ οὗ ἂν ᾖ ὁ λόγος. ὥσπερ οὖν εἰ ἐτύγχανον ὑπόκωφος ὤν, ᾤου ἂν χρῆναι, εἴπερ ἔμελλές μοι διαλέξεσθαι, μεῖζον φθέγγεσθαι ἢ πρὸς τοὺς ἄλλους, οὕτω καὶ νῦν, ἐπειδὴ ἐπιλήσμονι ἐνέτυχες, σύντεμνέ μοι τὰς ἀποκρίσεις καὶ βραχυτέρας ποίει, εἰ μέλλω σοι ἕπεσθαι.
Für den Rezipienten des Dialogs ist es klar, dass Sokrates hier ironisch verfährt und er nicht wirklich vergesslich ist, auch wenn dialogimmanent seine Bemerkung nicht als ironisch erkannt bzw. kommentiert wird. Denn Protagoras reagiert nicht auf die Ironie, sondern stört sich an der Zumutung, nicht so reden zu können, wie er möchte. Wieder reagiert Sokrates mit Ironie (335B3–C2): Aber Protagoras … auch ich bin ja nicht darauf aus, dass unsere Unterhaltung anders, als du es gut findest, geführt wird; aber wenn es dir recht ist, so mit mir zu reden, wie ich dir folgen kann, dann will ich mich mit dir unterhalten. Du nämlich bist dafür bekannt und sagst es ja auch selbst, dass du dich sowohl in Form langer als auch in Form kurzer Beiträge unterhalten kannst. Denn du bist beschlagen. Ich aber verstehe mich nicht auf diese langen Redebeiträge, wollte aber, ich könnte es. ᾿Aλλά τοι, ἔφην, ὦ Πρωταγόρα, οὐδ’ ἐγὼ λιπαρῶς ἔχω παρὰ τὰ σοὶ δοκοῦντα τὴν συνουσίαν ἡμῖν γίγνεσθαι, ἀλλ’ ἐπειδὰν σὺ βούλῃ διαλέγεσθαι ὡς ἐγὼ δύναμαι ἕπεσθαι, τότε σοι διαλέξομαι. σὺ μὲν γάρ, ὡς λέγεται περὶ σοῦ, φῂς δὲ καὶ αὐτός, καὶ ἐν μακρολογίᾳ καὶ ἐν βραχυλογίᾳ οἷός τ’ εἶ συνουσίας ποιεῖσθαι – σοφὸς γὰρ εἶ – ἐγὼ δὲ τὰ μακρὰ ταῦτα ἀδύνατος, ἐπεὶ ἐβουλόμην ἂν οἷός τ’ εἶναι.
In diesem Fall wird die Tatsache, dass Sokrates ironisch ist,¹⁶ nicht allein der Interpretation des Lesers überlassen, sondern durch das Statement eines anderen Gesprächspartners verdeutlicht. Denn als Sokrates in der Folge weggehen will und eine Diskussion darüber entbrennt, ob er mit seiner Forderung recht habe, ergreift Alkibiades für ihn Partei (336B–D). Er versichert, dass Sokrates selbst sicher nicht vergesslich sei, dass aber die anderen Zuhörer des Gesprächs tatsächlich den monologisierenden Ausführungen des Protagoras nicht folgen könnten. Gänzlich in einen ironischen Kontext eingebettet wird das Ganze dadurch, dass der Protagoras einen Rahmendialog aufweist. In ihm erzählt Sokrates von der Diskussion mit den Sophisten. Dieser Rahmendialog wird im erzählten Gespräch immer wieder durch entsprechende Einschübe in Erinnerung gebracht und kann so auch der Vereindeutigung von Ironiesignalen dienen. So kommentiert der Erzähler Sokrates etwa an einer früheren Stelle seine Reaktion auf einen längeren Monolog des Protagoras über die Lehrbarkeit der Tugend folgendermaßen (328D3 – 7):
Zu dieser Stelle vgl. auch Geiger 2006: 49 f.
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Nachdem Protagoras solche Dinge so ausführlich demonstriert hatte, beendete er seine Ausführungen. Und ich, über eine so lange Zeit von ihm bezaubert, blickte weiterhin unverwandt auf ihn im Glauben, er werde noch weitersprechen, und begierig, ihn zu hören. Als ich aber nun bemerkte, dass er tatsächlich aufgehört hatte, da sammelte ich mich sozusagen unter Mühen und sagte: … Πρωταγόρας μὲν τοσαῦτα καὶ τοιαῦτα ἐπιδειξάμενος ἀπεπαύσατο τοῦ λόγου. καὶ ἐγὼ ἐπὶ μὲν πολὺν χρόνον κεκηλημένος ἔτι πρὸς αὐτὸν ἔβλεπον ὡς ἐροῦντά τι, ἐπιθυμῶν ἀκούειν. ἐπεὶ δὲ δὴ ᾐσθόμην ὅτι τῷ ὄντι πεπαυμένος εἴη, μόγις πως ἐμαυτὸν ὡσπερεὶ συναγείρας εἶπον.
Auch hier versteht der Rezipient die Ironie: Natürlich ist Sokrates keineswegs verzaubert und darauf versessen, dass Protagoras weiter monologisiert. Das Gegenteil ist der Fall. Darum können weder Sokrates’ Freund als der textinterne Adressat noch der Rezipient es missverstehen, wenn Sokrates – nun wieder innerhalb des erzählten Gesprächs – Protagoras im Folgenden auf übertriebene Weise lobt und sagt, er sei jetzt überzeugt (πέπεισμαι), „abgesehen von einer Kleinigkeit“ (πλὴν σμικρόν τι). Diese Kleinigkeit aber – es ist die Frage nach der Einheit der Tugend – wird sich als ein Fallstrick erweisen. Protagoras jedoch erkennt die Gefahr, in der er schwebt, nicht. Vielmehr geht er willig auf Sokrates’ vorgeschobenes Lob, Protagoras werde dieses Problem sicher leicht lösen, ein und erklärt, dies sei tatsächlich eine einfache Sache. Wohl aber erkennt der mitdenkende Rezipient, dass Sokrates mit der „Kleinigkeit“ eine zentrale Frage angeschnitten hat, bei der es aufzupassen gilt. Diese von mir länger ausgeführte Stelle dürfte verdeutlicht haben, dass die Ironie des Platonischen Sokrates auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig agiert, indem sie sowohl den Illokutionstyp als auch den propositionalen Gehalt verletzt und gleichzeitig die Nichtangemessenheit der Stilebene als Ironiesignal – sei es im Gespräch selbst, sei es im Erzählerkommentar, etwa der Übertreibung, Protagoras habe ihn „bezaubert“ – einsetzt. Auch an anderer Stelle lässt Platon Sokrates Ironie anwenden, um sein Gegenüber bzw. dessen Position zu desavouieren. Denn als er mit Protagoras über die Interpretation eines Gedichtes des Simonides streitet, wendet er sich mit folgenden Worten an den Sophisten Prodikos, um von ihm Hilfe bei einem semantischen Problem zu erhalten. Dabei bemüht er sogar Homer (339E6 – 340B2): Prodikos, sagte ich, Simonides ist ja dein Mitbürger. Es ist folglich nur recht und billig, dass du dem Mann hilfst. Ich tue also ganz recht daran, dich zu Hilfe zu holen, so wie nach Homers Erzählung Skamander, von Achilleus bedrängt, den Simoeis zu Hilfe holte, indem er sagte: ‚Bruder, wohlan! Die Gewalt des Mannes da müssen wir beid itzt/ Bändigen‘.¹⁷ Aber auch ich rufe dich zu Hilfe, damit uns nicht unser Protagoras den Simonides ‚wirft in den Staub‘. Denn so hat also auch die richtige Interpretation des Simonides deine Inspiration nötig, mit der du „Wollen“ und „Begehren“ unterscheidest, dass sie nicht dasselbe sind, und was du jetzt außerdem noch alles so schön ausgeführt hast.
Ilias 21,308 (Übersetzung Voß).
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Ὦ Πρόδικε, ἔφην ἐγώ, σὸς μέντοι Σιμωνίδης πολίτης·δίκαιος εἶ βοηθεῖν τῷ ἀνδρί. δοκῶ οὖν μοι ἐγὼ παρακαλεῖν σέ ὥσπερ ἔφη Ὅμηρος τὸν Σκάμανδρον πολιορκούμενον ὑπὸ τοῦ ᾿Aχιλλέως τὸν Σιμόεντα παρακαλεῖν, εἰπόντα – φίλε κασίγνητε, σθένος ἀνέρος ἀμφότεροί περ σχῶμεν, ἀτὰρ καὶ ἐγὼ σὲ παρακαλῶ, μῆ ἡμῖν ὁ Πρωταγόρας τὸν Σιμωνίδην ἐκπέρσῃ. καὶ γὰρ οὖν καὶ δεῖται τὸ ὑπὲρ Σιμωνίδου ἐπανόρθωμα τῆς σῆς μουσικῆς, ᾗ τό τε βούλεσθαι καὶ ἐπιθυμεῖν διαιρεῖς ὡς οὐ ταὐτὸν ὄν, καὶ ἃ νυνδὴ εἶπες πολλά τε καὶ καλά.
Der stilistische Bombast, der hier Sokrates’ Bitte an Prodikos charakterisiert, steht im Widerspruch zum Typ des Prodikos, der im Dialog selbst als Musterbeispiel eines trockenen Philologen¹⁸ gezeichnet ist. Er kontrastiert aber auch mit der Banalität des folgenden kurzen Austausches, in dem Prodikos Sokrates zugibt, ‚Werden‘ sei etwas anderes als ‚Sein‘. Auch Prodikos ist, genauso wenig wie Protagoras, fähig, Sokrates’ Ironie zu durchschauen. Aber im Rahmendialog, der eingeblendet wird (339E–340 A), lässt Sokrates seinen Adressaten die Ironie erkennen, weil er sein Verhalten ihm gegenüber damit begründet, er habe Zeit zum Nachdenken gewinnen wollen. So wird auch für den textexternen Dialogrezipienten ganz deutlich, dass Prodikos hier vorgeführt wird. Vorbereitet wird die Ironisierung, weil Prodikos im Vorhergehenden als Angeber charakterisiert wurde.
5 Ironie und das ‚Gelingen‘ eines Gesprächs Inwiefern vermag nun das Beispiel Protagoras zu zeigen, dass Ironie zum Gelingen des Gesprächs beitragen kann? Denn beide ‚Ironieopfer‘ erkennen die Ironie ja nicht, und in einer der beiden geschilderten Situationen will Sokrates sogar weggehen und wird nur durch das Eingreifen eines anderen Gesprächspartners, der die Ironie erkennt und vermittelt, daran gehindert. Vordergründig bzw. auf der intratextuellen Ebene gelingt das Gespräch also eigentlich nicht. Dennoch trägt die Ironie zum ‚Gelingen‘ des Gesprächs bei, wenn man das Resultat in der Interaktion des äußeren Kommunikationssystems im Blick hat. Denn der Rezipient bemerkt, vereinzelt durch deutliche Ironiesignale unterstützt, die Ironie. Dadurch wird für ihn die Verfehltheit der sophistischen Position bzw. das eine wirkliche Erkenntnis vereitelnde bornierte Verhalten der ‚Ironieopfer‘ im inneren Kommunikationssystem deutlich. Damit aber trägt Ironie zum Prozess der Erkenntnis und Selbsterkenntnis des Rezipienten bei und somit zum Gelingen eines Platonischen Dialogs im äußeren Kommunikationssystem. Dieser Prozess beruht darauf, dass, wie Warning herausgearbeitet hat, Kennzeichen von Ironie die Negativität ist, d. h.: Das Gelingen eines ironischen Sprechaktes setzt voraus, dass Sprecher und Adressat sich in Bezug auf das, was abgelehnt wird, einig
Zur Figur des Prodikos vgl. Wilamowitz 1948: 105.
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sind, auch wenn sie nicht unbedingt in Bezug auf das, was positiv gewollt wird, übereinstimmen bzw. eine solche Übereinstimmung ausgehend von der gemeinsam abgelehnten Position noch erarbeitet werden muss. Ironie ermöglicht also „die Solidarisierung von Partnern, die bei positiver Artikulation des Gemeinten vielleicht nicht mitmachen würden“ (Warning 1976: 422). Hierin ist m. E. die Funktion zu suchen, die die Ironie des inneren Kommunikationssystems für das äußere Kommunikationssystem hat: Wenn durch die Ironie ein gemeinsamer Verständnishorizont hergestellt werden kann für das, was verfehlt ist, dann eignet sich Ironie gut für das elenktischaporetische Procedere des Platonischen Sokrates. Denn sie besitzt einen kognitiven Wert, insofern sie einen ersten Erkenntnisfortschritt ermöglicht, indem sie den Rezipienten erkennen lässt, welche Position im elenktischen Verfahren oder welcher Habitus überhaupt auszuschließen ist – im Fall des Protagoras die dünkelhaften Annahmen der Sophisten. Gleichzeitig wird die Charakterisierung des Sokrates als Vorbild unterstützt. Denn dadurch dass er Ironie verwendet, wird er als Überlegener im Gespräch präsentiert, entsprechend der Tatsache, dass Platon ihn in der Regel als überlegenen Dialektiker darstellt.¹⁹ Hinzu kommt, dass Ironie, im Vergleich mit anderen Gesprächsstrategien, den Vorteil hat, Komik zu erzeugen. Dadurch wirkt sie auf den Rezipienten unterhaltend und belebend und verstärkt den kognitiven Effekt; denn was komisch ist, lässt aufmerken und prägt sich besser ein. Indem der Dialogrezipient die Ironie erkennt, sie als komisch goutiert und reflektiert, ist er mitten hinein in die gedankliche Auseinandersetzung gerissen. Das aber macht das ‚Gelingen‘ eines Platonischen Dialogs aus.
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Vgl. Szlezák 1990.
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Sokratische Lehrart. Das gelungene Gespräch als pädagogische Kommunikationsform im 18. Jahrhundert 1 Einleitung Im Jahre 1752 nahm Christoph Martin Wieland eine Einladung von Johann Jakob Bodmer nach Zürich an. Goethe nennt Bodmer in seinem Wieland-Nachruf von 1813, für die Thematik der nachfolgenden Ausführungen überaus passend, die „Hebamme des Genies“ (Goethe 1893: 316). Wielands Besuch vorangegangen war ein intensiver Briefwechsel des damaligen Tübinger Studenten und Klopstock-Adepten mit dem Schweizer Schulmann und berühmten Dichtungstheoretiker. In Zürich arbeitete Wieland eine Reihe von pädagogischen Reformprojekten aus, unter anderem den 1753 publizierten Plan von einer neuen Art von Privat-Unterweisung, den er fünf Jahre später als Auftragsarbeit für den Karlsruher Hof unter dem Titel Plan einer Academie zu Bildung des Verstandes und des Herzens junger Leute in einer stark erweiterten und stärker systematisierenden Fassung erneut vorlegte (Wieland 1916a, 1916b). Wieland argumentiert vehement gegen die Ansicht von der Nützlichkeit des Universitätsstudiums, das den Schülern kein brauchbares Wissen vermittle, im Gegenteil: „Man verwahrloset daselbst die Cultur der Gemüther; Man verkappt die Wahrheiten in den Schulmantel; Man trennt die Speculation von der Praxis“ (Wieland 1916a: 177). Was an den Universitäten gelehrt werde, seien weltfremde „Grillenfängereyen“ (Wieland 1916a: 177), die man den Studenten nach ihrer Studienzeit erst wieder mühsam austreiben müsse. Im Gegensatz hierzu bestimmt Wieland als „Hauptzweck“ seines Erziehungsprogramms, „nuzlich zu sein“ (Wieland 1916a: 177) und greift damit eine bildungsgeschichtliche Dichotomie auf, die ins 17. Jahrhundert zurückweist: die Auseinandersetzung zwischen dem pädagogischen ‚Verbalismus‘ des Humanismus und dem neuen, stärker gegenwartsbezogenen ‚Realismus‘. Seit dem 16. Jahrhundert wurde diese Kontroverse häufig mit der Kampfvokabel des ‚Pedantismus‘ geführt (Kühlmann 1982: 288 ff.). Neu bei Wieland ist, dass diese Erneuerung durch programmatischen Rückgriff auf die klassischen Autoren der Antike, allen voran Platon („mein bester Meister“ Wieland 1916a: 180), aber auch Homer und Tacitus, bewerkstelligt werden soll (Wieland 1916a: 180 f., Wieland 1916b: 189).Wieland schwebt so etwas wie eine Platonische Akademie im Kleinen vor: Er wolle „nie mehr als vier, höchstens fünf junge Leute“ aufnehmen, die nicht älter als 16 Jahre sein sollten. Grundkenntnisse im Lateinischen und Französischen, idealiter auch im Griechischen, werden dabei vorausgesetzt. Das pädagogische Programm fußt auf einem Bildungsgedanken, der ganz auf die Möghttps://doi.org/10.1515/9783110592580-006
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lichkeiten des heranwachsenden Individuums ausgerichtet ist, dessen angeborene Anlagen es mit Sorgfalt zu entwickeln gelte: Denn meine Meynung ist, daß man die Wissenschaften nicht in uns hineingiessen könne, sondern daß man sie vielmehr auf eine geschikte Art aus der Seele selbst herausloken und entwikeln müsse. Die Ideen vom Wahren und Guten liegen ins uns, es liegen auch die Saamen zu allen Tugenden in uns; Ein weisen Kenner der Seele kan durch seinen Umgang, durch Fragen, Einwürfe und Beantwortungen, durch eine Psychologische Ordnung im Unterweisen, auf eine leichte und der menschlichen Natur sehr angemessene Art die Köpffe seiner Untergebenen aufheitern und zugleich ihre Herzen bilden. Dieses ist die vortrefliche Sokratische Manier zu lehren, welche huntermahl mehr wahren Nutzen schaffen würde, als die Scolastische. (Wieland 1916a: 178)
Mit dem Begriff der ‚Sokratischen Manier‘, der sokratischen Lehrart, ist das entscheidende Stichwort genannt. Der Lehrer benötige hierzu die „Kunst die Seelen zu entwikeln, oder wie Socrates sagte, sie gebären zu lassen“: Eben die Maieutik, wörtlich übersetzt: die ‚Hebammenkunst‘. Platon legt Sokrates diesen Begriff in seinem Dialog Theaitetos in den Mund (Platon: Theaitetos 148e–150d; Erler 2007). Die sokratische Lehrart ist eine Form der Pädagogik, die dem Bildungskonzept insofern völlig entspricht, als sie dasjenige im Medium des Gesprächs und auf gesellige Weise entwickeln möchte, was im heranwachsenden Individuum bereits angelegt ist. Gesellig ist diese Form der Pädagogik aber nicht nur durch das Gespräch, die „Conversation“, sondern auch durch gemeinsame Unternehmungen wie etwa das „spazieren gehen“ (Wieland 1916a: 179). Wielands „Elèves“ sind keine bloßen Schüler, sondern könnten von ihm „solche Zärtlichkeit und Freundschaft“ erwarten – zwei charakteristische Stichwörter der Strömung der Empfindsamkeit –, als wären sie regelrecht „Brüder“ (Wieland 1916a: 181). Es ist im Grunde ein philosophisches Kollektiv, in dem der Ältere die Jüngeren erzieht und ihre Anlagen behutsam entwickeln lässt, im Grunde eine der Platonischen Akademie als Studien- wie Lebensgemeinschaft nicht unähnliche Form dialogischer Vergemeinschaftung.
2 Sokrates als Typus der Aufklärung Platons Schriften spielten in der Philosophiegeschichte der Frühen Neuzeit eine vergleichsweise untergeordnete Rolle, sieht man von wichtigen Schulen und Strömungen wie der Platonischen Akademie des Marsilio Ficino im Florenz des späten 15. Jahrhunderts oder den ‚Cambridge Platonists‘ des 17. Jahrhunderts um Henry More, Ralph Cudworth und anderen ab, die schlussendlich den philosophischen Diskurs in der Breite (und das heißt vor allem auch in die Bildungsinstitutionen hinein) nie prägen konnten. Im Unterricht an Gymnasien und Universitäten dominierte die aristotelische Schulphilosophie. In seiner Studie Sokrates im 18. Jahrhundert schreibt der Philosophiehistoriker Benno Böhm 1929: „Das 17. Jahrhundert mit seinen großen metaphysischen Systemen erscheint als das Säkulum der Pedanterie und Scholastik.“ (Böhm
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1929: 10) Wenn Platon rezipiert wurde, dann primär unter literarischem Vorzeichen, so etwa in Gestalt der französischen Übersetzungen einiger Dialoge durch André Dacier (Wundt 1941/42: 150). Eine Veränderung brachte dann das 18. Jahrhundert, das eine Zeit intensiver Auseinandersetzung mit der platonischen Philosophie und der Figur des Sokrates zugleich war. Die Platon-Rezeption stand, wie Thomas Leinkauf herausstellt, unter dem Vorzeichen eines „‚empfindsamen‘, gefühlsbetonten Platon“. Sie zeichnete sich insgesamt durch „eine Popularisierung des Sokratischen“ (Leinkauf 2017: 488) aus: An den platonischen Dialogen interessierte vielfach das transportierte Gefühl mehr als das eigentliche philosophische Argument (Leinkauf 2017: 488). In diesem Zusammenhang rückt die Figur des Sokrates als Selbstdenker und Aufklärer ins Zentrum der Aufmerksamkeit. In seinem Sokrates-Buch nennt Benno Böhm dies die „Wendung zur Autonomie von der Heteronomie der Autorität.“ (Böhm 1929: 11) Das berühmte Diktum Immanuel Kants aus seinem Aufsatz Was ist Aufklärung? von 1784 – „Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ (Kant 1961a: 53) – fasst die zentralen Merkmale des Selbstverständnisses des aufklärerischen Intellektuellen prägnant zusammen. Sokrates erschien regelrecht als „Symbol dieses neuen Gedankens“, ja geradezu als „Typus des modernen Menschen“, der den „Beginn des Fortschritts“ in Auseinandersetzung mit der Tradition repräsentierte (Böhm 1929: 11). Sokrates war der erste Aufklärer. Aber nicht nur die Gestalt des Sokrates verkörperte in geradezu idealtypischer Weise Kerngedanken der Epoche der Aufklärung, gerade auch die Form der sokratischen Dialoge erschien den Zeitgenossen besonders interessant.¹ Denn anders als in der Schulphilosophie des Rationalismus, in der Argumente im Modus der Deduktion aus nicht weiter beweisbaren Axiomen in Form von Schlussketten logisch abgeleitet werden, entwickelt der sokratische Dialog seine Gedanken gesprächsweise, mithin also induktiv. Sokrates gibt die philosophischen Positionen gar nicht vor, sondern der Gesprächspartner – im Unterricht: der Schüler – entwickelt sein Wissen selbstständig und durch eigenes Denken. Dies ist ja die Grundidee der von Platon im TheaitetosDialog entwickelten ‚Maieutik‘: Sie ist die Kunst, dem Gesprächspartner durch Fragen und Antworten zu helfen, latentes, unbewußtes Wissen von Innen herauszuholen und zur Sprache zu bringen. Dieser Pädagogikkonzeption liegt eine Auffassung von Wissen nicht als von außen passiv Vermitteltem, sondern von Selbsterzeugtem zugrunde. Der Maieutikbegriff […] gehört wirkungsgeschichtlich zur Sokratesgestalt. (Renaud 2001: 727)
Die Diskussion wird dabei von den Autoren der Zeit nicht im eigentlichen Sinne philologisch geführt, d. h. das Modell des sokratischen Dialogs wird nicht kritisch analysiert. Oft genügen den Zeitgenossen recht holzschnittartige Vorstellungen. Hinzuweisen ist zudem darauf, dass nicht alle Dialoge Platons nach dem Modell der sokratischen Methode verfahren. Ich verweise an dieser Stelle nur auf die Überblicke von Benson 2011 und Geiger 2017.
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Hier zeigt sich dann erneut, wie in der Frontstellung gegen das Pedantische des Gymnasial- und Universitätsunterrichtes des 17. Jahrhunderts die Aufklärung die Eigenaktivität der Schüler in den Mittelpunkt stellte. Gegen das Memorieren und Auswendiglernen, das Exzerpieren und Anlegen von Kollektaneenheften und Indices nach den topischen Ordnungsmustern der Rhetorik setzte man das eigene, produktive und kreative Nachdenken auf Grundlage rationaler Diskursprinzipien. An die Stelle der memoria, so könnte man diese Entwicklung in einem Schlagwort zusammenfassen, trat in der Tradition der rationalistischen Philosophie etwa eines René Descartes die individuelle meditatio (Anonymus 1739).
3 Ursprünge einer aufklärerischen Mode: Katechetisation und ‚sokratische Lehrart‘ Das Lehren nach der ‚sokratischen Lehrart‘ wurde in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einer regelrechten Modeerscheinung, die in unterschiedlichen Disziplinen gepflegt wurde. Sie hatte interessanterweise ihren Ursprung nicht in der Philosophie, sondern in der Theologie. Neben den Begriffen der ‚sokratischen Lehrart‘ und der ‚Maieutik‘ kommt nun ein dritter ins Spiel, derjenige der Katechetisation. Das griechische Verb katechein meint im Griechischen zunächst den mündlichen Bericht, die mündliche Mitteilung einer Botschaft. Im Galaterbrief des Apostels Paulus (Gal. 6,6) wird die Bedeutung dann auf ‚Unterweisung‘ im christlichen Glauben und ‚Belehrung‘ eingeschränkt: Katechese war der Glaubensunterricht vor der Taufe, die in der Frühzeit des Christentums in der Regel die Erwachsenentaufe war (Bienert 2001: 853 f.). Erst ab etwa 400 n. Chr. nämlich setzte sich das Prinzip der Säuglingstaufe durch. Als ‚Katechismus‘ bezeichnet man ein „textuelle[s] Kompendium“ (Tebartz-van Elst 2001: 861) des christlichen Glaubens in einer systematischen Anordnung, die auf das Erlernen der Glaubensinhalte durch die Schüler ausgelegt ist. Katechismen haben eine Inhalts- wie eine dialogische Formdimension. Luther publizierte 1529 den Kleinen Katechismus und im selben Jahr den Deutschen Katechismus, der später Großer Katechismus genannt wurde. Inhalte des Großen Katechismus waren Credo, Dekalog,Vaterunser, Taufe, Abendmahl, ab der zweiten Auflage war ein Kapitel zur Beichte angefügt.Vor allem der Kleine Katechismus wurde schon im 16. Jahrhundert als verpflichtendes Element des Schulunterrichtes in den Evangelischen Schulordnungen verankert (Fraas 2001). Beide Katechismen wurden dann 1580 in das Konkordienbuch, die Sammlung evangelischer Bekenntnisschriften, übernommen. Der Kleine Katechismus ist in der charakteristischen Frage-Antwort-Form zwischen Lehrer und Schüler, also asymmetrisch, gestaltet. Im Kapitel über die Zehn Gebote etwa wird zuerst das Gebot im Wortlaut abgedruckt, dann folgt eine Frage, die auf die Interpretation des jeweiligen Gebotes ausgerichtet ist, die wiederum durch eine
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entsprechende Antwort komplettiert wird. In der aktuellen Online-Ausgabe des Kleinen Katechismus liest sich das so: Das Erste Gebot Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst nicht andere Götter haben neben mir. Was ist das? Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen.²
Eine Verbindung zur ‚sokratischen Lehrart‘ findet sich bei Luther noch nicht, sondern erst im 18. Jahrhundert, in der Sitten-Lehre der Heiligen Schrifft des Aufklärungstheologen Johann Lorenz von Mosheim aus dem Jahr 1735. Das umfangreiche Werk ist der Startpunkt einer folgenreichen Identifikation von ‚katechetischer‘ und ‚sokratischer Lehrart‘, die bis weit ins 19. Jahrhundert andauern wird (Bühler 2012: 115 f.; Kilian 2002: 187): „Von katholischer wie von protestantischer Seite werden unzählige sokratische Werke verfasst“, ja die ‚sokratische Lehrart‘ wird geradezu zu einer interkonfessionellen Methode, die von Katholiken wie Protestanten gleichermaßen praktiziert wird (Bühler 2012: 107). Dialogische Textsorten spielen insgesamt eine wichtige Rolle bei der Volksaufklärung, so etwa in Johann Georg Schlossers Katechismus der Sittenlehre für das Landvolk (1771). Bisweilen traten solche auf der Grundlage der Aufklärungsphilosophie verfassten Katechismen auch in mehr oder weniger offene Konkurrenz zur Lehre der Kirchen (Frank 1973: 123). Ausgangspunkt Mosheims ist, dass die „Gottseligkeit“ des Menschen vor allem eine Sache der Bildung des Individuums sei. Offensichtlich besteht dabei in seiner Zeit erheblicher Nachholbedarf: „Wir sind von vielen Jahren her der Meinung, daß unsre Gemeinen mehr von der Religion wissen würden, wenn sie in der ersten Jugend geschickter catechisirt und unterwiesen worden.“ (Mosheim 1735: 470 f.) Zentrales Unterrichtsmedium ist somit die Katechetisation durch Frage und Antwort. Hier kommt Mosheim recht schnell und unvermutet auf Sokrates – den „ungemeine[n] Kopf“ (Mosheim 1735: 471) – zu sprechen: ‚sokratische Lehrart‘ und Katechetisation werden von ihm in eins gesetzt. Sokrates, so Mosheim, sei „der vornehmste Erfinder und Urheber der Unterweisung, die frageweise geschicht.“ (Mosheim 1735: 471) Es sei „kein Wunder, daß man so wohl unter den Heyden, als hernach unter den Christen selber, diesem Mann eine so ungemeine und beständige Ehrerbietung erwiesen.“ (Mosheim 1735: 472) Klar unterscheidet Mosheim dabei die Rolle des Sokrates, der Erwachsene unterrichtete, von der eines Gymnasiallehrers des frühen 18. Jahrhunderts. Sokrates habe es mit „erwachsene[n], freye[n] Leute[n], die er bessern wolte“ zu tun gehabt, die man nicht in der asymmetrischen Rollenverteilung von Lehrer und Schüler habe unterrichten können. Sokrates habe stattdessen die Rollen einfach umgekehrt, indem er sich selbst als
Vgl. https://www.ekd.de/Kleiner-Katechismus-11531.htm.
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Schüler gab, der etwas lernen wollte, und dem Dialogpartner die Rolle des Lehrers zuwies (Mosheim 1735: 472): Er nahm von den Antworten, die man ihm ertheilte, Gelegenheit zu neuen Fragen, ohne sich merken zu lassen, daß man schlecht geantwortet hätte. Er klagte beym Fortgange des Gespräches offt über seinen schweren Verstand, der ihm nicht vergönnete, sich recht zu erheben und alles so gleich einzusehen und zu begreiffen. Er bat sich unter diesem Vorwande neue Erklärungen aus. Er trieb auf diese Weise endlich die Sache dahin, daß die, mit denen er sich eingelassen hätte, merckten, der vorgegebne Jünger wüste mehr, als der von ihm gewehlte Meister. Der Schluß der Unterredung lieff so ab, wie Socrates es wünschte. Einige gingen beschämt, andre gründlich unterwiesen und aufgeklärt von ihnen weg. (Mosheim 1735: 473)
Sokrates’ philosophische Mission wird von Mosheim also unmissverständlich als eine aufklärerische markiert: Seine Haupt-Absicht geht dahin, den Verstand der Menschen zu schärffen, die Dinge, die sie dunckel und undeutlich erkant, ihnen recht bekant zu machen, ihre Irthümer zu verbessern und sie zu gewehnen, nichts ohne Bedacht und Ueberlegung anzunehmen. (Mosheim 1735: 473)
‚Undeutlichkeit‘ und ‚Dunkelheit‘ sind Begriffe aus der Logik und Erkenntnistheorie von Leibniz und Christian Wolff. Dahinter steht die Auffassung, dass ‚Aufklärung‘ zunächst vor allem Arbeit an der ‚Deutlichkeit‘ der Begriffe bedeutet, und dass die damit verbundenen Anstrengungen tatsächlich erfolgversprechend sind – es ist der Glaube an die Perfektibilität des Menschen. Die ‚sokratische Lehrart‘ ermögliche es den Schülern, sich „selbst zum Denken und Urtheilen anzuführen“ (Mosheim 1735: 471) und erzieht somit zur Autonomie und zur Distanz von allen Traditionen – unter dem Begriff der ‚Vorurteilskritik‘ ebenfalls wichtige Schlagworte der Aufklärung. Pädagogisch stellt sich das Selbstdenken, der Gebrauch der Vernunft, in Gegensatz zum bloßen Auswendiglernen eines vorgegebenen Stoffes: Ein Mensch, der eine geraume Zeit einerley vorgetragen wird, muß dasselbe endlich aus dem Gedächtnisse fassen und, wo es ihm nicht gar an Einbildung oder an Fertigkeit der Zunge fehlet, andern wieder herzusagen wissen. Ist er damit gelehrt und weise? Nichts weniger. So lange er das, was er erlernet, nicht beurtheilen, prüfen, auseinander setzen, mit andern Dingen vergleichen, und genau von andern Dingen absondern kan, mit einem Worte, so lange er seinen Verstand nicht zu brauchen und mit demselben das begriffene recht einzusehen und sich gleichsam zuzueignen weiß, so lange ist seine Wissenschafft ein fremdes Gut, das eigentlich seinem Lehrer zugehöret, und von einem jeden, der etwas Witz und geschicklichkeit hat, geraubet werden kan. (Mosheim 1735: 471)
Führt die ‚sokratische Lehrart‘ auf diese Weise zu besonders gründlicher Erkenntnis, die dann auch nicht leicht infrage gestellt werden kann, so hat sie zudem noch einen weiteren pädagogischen Vorteil: Auf ihrer Grundlage lerne der Schüler gleichsam mühelos, denn er müsse nie „seinen Verstand anstrecken.“ (Mosheim 1735: 473) Der Lehrer steuert durch seine Fragen die Antworten der Schüler: Die „Antwort liegt schon in der Frage.“ (Mosheim 1735: 473) Mehr noch: „Sein Lehrer sagt es ihm selber vor, wie
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er antworten müsse.“ (Mosheim 1735: 474) Mosheims ‚sokratische Lehrart‘ ist eine pädagogisch entschärfte Form der Maieutik, bei der durch die Frageform nichts entwickelt und der Schüler vor allem nicht in eine Aporie manövriert wird. Es geht also nicht um Erkenntnisgewinn oder deren Kritik, sondern um die Vermittlung eines Stoffes, der als solcher vorgängig systematisch gegliedert ist und den Status sicheren Wissens hat. Bemerkenswert ist, dass Mosheim selbst die Aporie, die sich im Vergleich seiner historischen Darstellung des Sokrates und der aufklärerischen Didaktisierung der sokratischen ‚Hebammenkunst‘ nicht thematisiert. Mosheims gesprächsweise Didaktik, die häufig nach einem recht simplen Frage-Antwort-Schema verfährt, ist der Katechetisation weitaus ähnlicher als der sokratischen Praxis der Maieutik. Aufgrund der Ähnlichkeit mit der Katechetisation ist es im Grunde nicht verwunderlich, dass die ‚sokratische Lehrart‘ zuerst in der Theologie als Unterrichtsmethode kanonisch wurde. Mosheim liefert zusätzlich eine historische Erklärung der Ähnlichkeit beider Methoden. Denn der „Weg von der Lehre dieses Griechischen Weisen zu der Religion unsers Erlösers“ (Mosheim 1735: 474) sei so weit nicht; insbesondere die ersten Christen hätten sich in platonischer Tradition befunden und damit den Grundstein für eine Kontinuität gelegt, die Mosheim bis in seine eigene Zeit verlängert.
4 Die sokratische Methode – Unterrichtsform der Aufklärung In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde die ‚sokratische Lehrart‘ zu einer zentralen Unterrichtsform in den Schulen (Jäger 1981: 15): zunächst weiterhin innerhalb der Disziplin der Theologie, aber dann auch der Philosophie und sogar der Mathematik (etwa Winterfeld 1806). Letzteres erstaunt, denn in den Methodendiskussionen des philosophischen Rationalismus war die Mathematik stets das unangefochtene Ideal für die mathematische oder demonstrative Beweisart, also für die Deduktion. Man unterschied nun stärker zwischen philosophischem Beweis und dessen pädagogisch wirksamer Vermittlung. Ein Meilenstein in der Platon-Rezeption des 18. Jahrhunderts ist Moses Mendelssohns Übersetzung des Phaidon-Dialoges. Diese „freie, der Popularisierungsströmung folgende Übersetzung“ (Leinkauf 2017: 489) wurde im 18. Jahrhundert zu einem Bestseller und hatte – nicht zuletzt auf Kant – großen Einfluss. Der Übersetzung des Dialogs vorangestellt ist ein Kapitel ‚Leben und Charakter des Sokrates‘, für das Mendelssohn auf die Biographie des Engländers John Gilbert Cooper aus dem Jahr 1749 zurückgegriffen hat (Bourel 2007: 253). Hier wird Sokrates als Gegenfigur zur Sophistik und damit auch zur Rhetorik aufgebaut: Mit „gleißender Beredsamkeit“ (Mendelssohn 1792: 13) hätten die sophistischen Redner die damaligen Menschen „auf falsche Wege“ (Mendelssohn 1792: 14) geführt. Sie hätten „die natürlichen Begriffe“ durcheinandergeworfen und „allen Unterschied zwischen Wahrheit und Irrthum,
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Recht und Unrecht, [dem] Guten und Bösen, durch blendende Trugschlüsse“ (Mendelssohn 1792: 14) eingeebnet. Sokrates dagegen stelle nur die „einfältigsten Kinderfragen“ und zwar auf eine solche Weise, „daß man von Frage zu Frage ohne sonderliche Anstrengung, ihm folgen konnte, ganz unvermerkt aber sich am Ziele sah, und die Wahrheit nicht gelernet, sondern selbst erfunden zu haben glaubte.“ (Mendelssohn 1792: 18 f.) Mit der ‚sokratischen Methode‘ gelingt es Mendelssohn dann auch, die Sophisten zum Gespött der Bevölkerung zu machen – gerade die „einfältigsten Kinderfragen“ (Mendelssohn 1792: 18) erweisen sich in der philosophischen Auseinandersetzung als die schlussendlich mächtigere Waffe. Im Umfeld der Berliner Aufklärer, zu denen Mendelssohn selbst gehörte, stießen solche Positionen offensichtlich auf positive Resonanz. In den 1760er und 1770er Jahren wurde die ‚sokratische Lehrart‘ zu einer weitverbreiteten pädagogischen Methode in Preußen und darüber hinaus. Hierzu können im Folgenden nur einige Hinweise gegeben werden. Zunächst ist die Schrift Gedanken über die beste Art die claßischen Schriften der Alten mit der Jugend zu lesen des an der eben neugegründeten Berliner Königlichen Ritter-Academie (Académie militaire) lehrenden Schweizer Schulmanns und Philosophen Johann Georg Sulzer zu nennen. Die Schrift ist im Kontext der im 18. Jahrhundert entstehenden klassischen Philologie zu interpretieren. In Nachfolge des Rhetorikunterrichts, der ja stets auf die Produktion und Aufführung von Texten zielte, geht es der Philologie um das Verstehen und Interpretieren alter Texte, mithin also um Hermeneutik (Most 1984). Diese Form der Philologie orientiert sich nachdrücklich am Ideal einer intensiven, nicht extensiven Lektüre (gewissermaßen eine frühe Form des Neuhumanismus). Man könne, so notiert Sulzer, in einer Schulstunde oft nur zwei oder drei Sätze gemeinsam besprechen. Zentral sei nicht, „daß viel gelesen, sondern daß viel verstanden werde.“ (Sulzer 1765: 27) Die ‚sokratische Lehrart‘ ist für diese Methode des Unterrichts für Sulzer eine überaus geeignete Form: Wenn ein Mann von Geschmack und Einsicht in diesen Classen lehret, so muß er sowohl, als sein Untergebener grosse Lust daran finden. Ein solches Lehren ist eine beständig neue Unterredung zwischen dem Lehrer und dem Schüler, darin von gar vielen, nicht verdrüßlichen und abgeschmackten, sondern angenehmen und nüzlichen Dingen gesprochen wird. Weil auch der Lehrer dabey Gelegenheit hat, sehr vielerley Fragen überall anzubringen; so wird durch eine solche Lehrart nicht blos das Gedächtnis, sondern hauptsächlich der Verstand, die Aufmerksamkeit und die Scharfsinnigkeit der Jugend geübet. (Sulzer 1765: 27)
Ähnlich äußert sich auch Friedrich Gedike, der ab 1779 Direktor des Friedrichwerderschen Gymnasiums in Berlin war. In seinem Aufsatz ‚Über die Verbindung des wissenschaftlichen und philologischen Schulunterrichts‘ schreibt er, es sei „kein einziger Schriftsteller“ mehr zu empfehlen als Platon, dessen Dialoge „für den mündlichen Unterricht das vollkommenste Muster“ (Gedike 1781: 84) darstellten. In diesem Sinne weist Johann Jacob Engel, Professor für Philosophie und ‚schöne Wissenschaften‘ am Joachimsthalschen Gymnasium in Berlin (Košenina 2005), in seinem Versuch einer Methode die Vernunftlehre aus Platonischen Dialogen zu entwickeln
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(1780) auf die zentrale Funktion des sokratischen Dialogs hin: Er solle „die Jugend frühzeitig zu eigenem Denken“ (Engel 1780: 3) anleiten. Denn ein solcher sokratischer Dialog sei, wie Engel bereits in seiner Abhandlung Über Handlung, Gespräch und Erzählung (1774) ausführt, „immer in Arbeit und Untersuchung“ – ganz anders als die Dialoge Ciceros, die eher wie „ganz ruhig ausgeführte Abhandlungen“ (Engel 1964: 217) anmuteten, also vorher schriftlich ausgearbeitete Vorträge. Das sokratische Gespräch zeichne dagegen aus, dass es den Verstand der Schüler in Bewegung setze, denn es „wird der Scharfsinn, werden alle höhern Verstandeskräfte der Lehrlinge weit mehr geübt, wenn sie sich selbst die Begriffe abstrahiren, sich selbst die Wissenschaft, unter Anleitung des Lehrers, gleichsam erfinden müssen.“ (Engel 1780: 4) Als Probe einer solchen dialogweisen Darstellung wählt Engel Platons Dialog Menon, dessen zentrale philosophischen Positionen Engel nach ‚sokratischer Methode‘ darstellt – eine Art Dialog über den Dialog. Friedrich Gabriel Resewitz schließlich, einer der wichtigen Theoretiker des neuen aufklärerischen Schultyps der Realschule, 1774 vom preußischen Minister Karl Abraham Freiherr von Zedlitz zum Abt des Klosters Berge und Superintendent von Magdeburg ernannt, äußert sich ebenfalls zur ‚sokratischen Lehrart‘. Resewitz gab 1777– 1785 das pädagogische Periodikum Vorschläge, Gedanken und Wünsche zur Verbesserung der öffentlichen Erziehung heraus, in dessen erstem Band sich seine Abhandlung ‚Beobachtungen und Anmerkungen, die Lehrmethode betreffend‘ findet. Auch bei ihm findet sich die Frontstellung gegen eine nur auf das Gedächtnis ausgerichteten Pädagogik: Zu einer guten Methode gehöret mehr, als nur das Gedächtniß anzufüllen, und gedankenlose Schwätzer und Nachbeter zu machen. Die Methode ist gleichsam die Form, nach welcher die zu lernende Masse abgetheilt und gebildet werden soll, um sie der Fassung des jugendlichen Verstandes darzustellen, und die Geisteskräfte des Lehrlings damit zu beschäfftigen. (Resewitz 1777a: 53)
Dabei müsse die Lehrart sich der jeweiligen Disziplin anpassen (und nicht umgekehrt). Aufgabe des Lehrers sei es dabei, die „Aufmerksamkeit“ bei den Zuhörern zu erwecken; ebenso müsse er „die Thätigkeit des Geistes in Bewegung setzen […] damit sie selbst mitforschen, mitdenken, mitarbeiten, denn ohne ein solches Bestreben kann kein Unterricht fruchten“ (Resewitz 1777a: 53). Dabei sei, wie Resewitz in einer weiteren Abhandlung näher ausführt, die ‚sokratische Lehrart‘ eine effektive Methode, die Schüler zu aktivieren: Aber die Kunst, wünschte ich, daß alle Jugendlehrer vom Socrates lernen möchten, die eigenen Ideen ihrer Lehrlinge hervorzulocken, sie herauszufragen, mit ihnen in Gemeinschaft zu entwickeln und zu berichtigen, ihre Seelen immer so viel mitforschen und mitarbeiten zu lassen, als sie nur können. (Resewitz 1777b: 20)
Insgesamt legt Resewitz ein ganzes Erziehungskonzept vor, das die Erarbeitung entsprechender Lehrbücher ebenso umfasst wie die Einrichtungen von Seminarien zur
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Lehrerbildung (Resewitz 1777a: 62). Ziel ist die Selbständigkeit des Lehrers, die Fähigkeit „Gedanken anschauend aufzugreifen oder aus sich selbst herauszuspinnen“. (Resewitz 1777a: 53) Bildungsgeschichtlich ist Resewitz’ Bildungsplan Teil umfassender pädagogischer Reformbemühungen im Königreich Preußen, die mit den von Wilhelm von Humboldt angestoßenen Preußischen Bildungsreformen von 1810 ihren Abschluss finden. Schließlich äußert sich sogar Kant in seiner Abhandlung Über Pädagogik aus dem Jahr 1803: „Bei der Ausbildung der Vernunft muß man sokratisch vorgehen.“ (Kant 1983b: 737) Die ‚sokratische Methode‘ – und das Gespräch als Lehrform überhaupt – spielt schließlich eine zentrale Rolle in den reformpädagogischen Projekten der Spätaufklärung bei Johann Ernst Trapp, Joachim Heinrich Campe und Karl Friedrich Bahrth (vgl. Schmitt 2007: 13 – 24). Bei allen inhaltlichen Differenzen zu den Berliner Aufklärern, die neuhumanistischen Positionen zustrebten, gibt es in der Frage der pädagogischen Vermittlungsformen auffällige Übereinstimmungen. Trapp, erster Professor für Pädagogik in Deutschland, geht auf die sokratische Lehrart vergleichsweise knapp in seinem Kapitel ‚Vom Unterricht ü berhaupt‘ ein, das 1787 in Campes Allgemeiner Revision des gesamten Schul- und Erziehungswesens (Kersting 1992) erschien. Er diskutiert die ‚sokratische Lehrart‘ als eine besonders geeignete Methode, einen bereits behandelten Stoff zu wiederholen und auf neuen vorzubereiten (Trapp 1787: 187). In der ‚sokratischen Lehrart‘ wechseln Schüler und Lehrer ihre Rollen – deutlich wird auch hier wieder, dass die Verwendung der sokratischen Methode im Unterricht immer auch eine nachdrückliche Kritik an traditionellen Vermittlungsmethoden des höheren Unterrichtswesens impliziert. Trapp greift dazu auf eine seit Quintilian kanonische Bildungs-Metapher aus dem Bildfeld des Ackerbaus zurück, die des Säens: Die sokratische Methode ist unter allen diejenige, wobei das Wachsthum des Verstandes und der Vernunft am besten gedeit. Sie läßt sie durch eigne Säfte und Kräfte des Lehrlings hervorgehen, und theilt nur immer so viel Sonnenschein und Regen mit, als zur Befruchtung der vorhandenen Keime nöthig ist. Nach der gewöhnlichen Ueberlieferungs Methode (Tradition) die man auch die Professormethode nennen könnte, schüttet der Lehrer aus seinen vollen Magazinen immer in den leeren Kopf des Schülers hinein, unbekümmert, ob die Saat dem Boden angemessen, ob der Samenkörner auch zu viel, ob auch gerade itzt die rechte Säezeit sey. (Tapp 1787: 188 f.)
Gerade diesen Fehler, die individuelle Situation des Schülers, seinen Charakter und seinen Bildungsstand nicht zu berücksichtigen, vermeide die ‚sokratische Lehrart‘, wie Trapp weiter schreibt: Nicht so Socrates. Er säete nicht sowohl, sondern er begoß was im Boden schon schlummerte, und dazu wählte er die schicklichste Zeit, die, wo ihm die Lernbegierde des Schülers zuvor, oder ein günstiger Anlaß zu Hülfe kam. So unterstützte, wußte er, gewöhnlich unter dem angenommenen Schein der Unwissenheit und der Begierde sich belehren zu lassen, so viel aus der Seele seines Zuhörers heraus, und nebenbei auch wieder so viel in sie hineinzufragen, daß dieser sich über sich selbst wunderte, und nicht wußte, wie ihm geschah. (Trapp 1787: 190)
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Zugleich zeigt Trapp auch die Grenzen der ‚sokratischen Methode‘ auf. Sie erstrecke sich naturgemäß nur auf das Feld des Denkens, nicht aber auf das des Wissens. Letzteres sei bloßes „Gedächtnißwerk“, also „die Mittheilung historischer und convenzioneller Kenntnisse.“ (Trapp 1787: 190) In diesem Fall könne die ‚sokratische Methode‘ nur sehr eingeschränkt oder aber gar nicht angewandt werden; gleichwohl seien Kenntnisse der Geschichtsschreibung für die Schüler wichtig. Zudem gebe es Unterrichtssituationen, in denen die Schüler stillsitzen und zuhören müssten, etwa in der Vorlesung, die nicht nach dem Muster eines sokratischen Gesprächs zu gestalten sei (Trapp 1787: 191). Hier sei es auch kaum vorstellbar, dass ein Professor nach Art des Sokrates vorgebe, nichts zu wissen. Mit den Rollenerwartungen an einen staatlich bestallten Professor sei dies nicht zu verbinden. Denn er muß sich vielmehr stellen, als wisse er Alles, sonst würde ihn bald Hof, Stadt und Student auszischen. Sokrates würde also unter uns wenigstens auf unsern Universitäten und in den höheren Klassen unserer Schulen mit seiner Methode eben kein Glück und Aufsehen machen; und gäbe man ihm gleich im siebzigsten Jahr nicht den Giftbecher zu trinken – welches zwar auch hin und wieder noch möglich wäre, wo man sich noch vor der Einführung neuer Götter fürchtet – so würde man ihm statt dessen viel früher den Becher der Verachtung und der Kränkung reichen, der auch das Leben nicht verlängert. (Trapp 1787: 191)
An dem Problem des Gegensatzes von reproduktivem Gedächtnis und produktivem Vernunftgebrauch arbeitet sich auch Joachim Heinrich Campe ab, der 1779 eine Kleine Seelenlehre für Kinder in Form eines sokratischen Gesprächs publizierte. Campe hält die Dialogform vor allem für junge Kinder geeignet, deren „Seele“ noch nicht „reif“ sei zum „zusammenhängenden Denken“ (Campe 1791: IV). Das sokratische Gespräch sei eine „vernünftige Weise“ den Kindern etwas beizubringen, „ohne bei jedem neuen Schritte eine Lücke“ der „psychologische[n] Vor-erkenntniß“ (Campe 1791: V) überbrücken zu müssen. Die sokratische Lehrart harmoniert bei Campe zudem mit dem spätaufklärerischen Ideal des ‚ganzen Menschen‘ (Schings 1994), denn sie bilde die „physischen und moralischen Anlagen des Leibes und des Geistes der Kinder“ (Campe 1791: VI) in gleicher Weise aus. Dieses Ideal ist auch der Hintergrund dafür, dass Campe einen einseitig aufs Auswendiglernen ausgerichteten Unterricht ablehnt, weil dieser „nur das Gedächtniß der Kinder in Wirksamkeit setze“, aber „alle übrigen Seelen-fähigkeiten bald mehr, bald weniger, in ungestörtem Schlummer ruhen“ (Campe 1791: VII) lässt. In den Unterricht sollten deshalb auch Übungen für den Verstand, für die Einbildungskraft, den Witz und den Scharfsinn integriert werden. Das Gleichgewicht unter den verschiedenen Seelenvermögen nun würde, so Campe, durch die in dem Buch versammelten „psychologischen Gespräche“ (Campe 1791:VIII) repräsentiert. Das sokratische Gespräch wird dabei als ein Rollenspiel verstanden, in dem Lehrer und Schüler die Rollen tauschen. Unter den vier von Campe genannten Methoden psychologische Begriffe anschaulich zu machen (die ersten drei sind: bloße Worterklärung, sinnliche Vorstellung durch ein Bild, erdichtete Beispiele mit großer Anschaulichkeit), sei sie die beste:
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Endlich (und dies ist ohnstreitig die beste Methode von allen) kann man die junge Seele durch allerlei leicht zu erfindende Anstalten selbst in den Fall setzen, daß sie dasjenige thun oder empfinden muß, was man ihr anschaulich zu machen zur Absicht hat, so daß der Lehrer sie alsdenn nur erinnern darf, ihren Blick in sich selbst zu kehren, um dasjenige zu lesen, was man sie lehren wolle. (Campe 1791: Xf.)
Der weitaus emphatischste und auch radikalste Fürsprecher der ‚sokratischen Lehrart‘ ist der Pädagoge und Theologe Karl Friedrich Bahrdt. In dessen umfangreicher Schrift Philanthropinischer Bildungsplan oder vollständige Nachricht von dem ersten wirklichen Philanthropin zu Marchlin (1776) – der Ort bezieht sich auf eine nur kurze Zeit existierende philanthropinische Bildungsanstalt im Schweizerischen Graubünden –, findet sich ein umfangreiches Kapitel ‚Von der Sokratischen Lehrart‘. Bahrdt stellt zu Beginn fest, dass „noch niemand die Sokratische Lehrart theoretisch behandelt“ (Bahrdt 1776: 119) habe. Dabei geht er von der Unterscheidung zwischen einer deduktiven und einer induktiven Unterrichtsmethode aus: Bislang habe man im Unterricht bei den einzelnen Begriffen angesetzt und diese zergliedert und erklärt. Die ‚sokratische Lehrart‘ aber verfahre genau umgekehrt: Der Lehrer „gibt erst den Beweis, und läßt den Lehrling selbst den Satz durch Folgerung herausbringen: oder er legt ihm erst die Theile eines Begriffs vor, und läßt sie ihn nach und nach selbst zusammensetzen, so daß der Lehrling glaubt, er sey durch eignes Nachdenken auf den Begriff gekommen“ (Bahrdt 1776: 120 f.). Die ‚sokratische Lehrart‘ basiert also gar nicht auf eigenem Nachdenken, sondern simuliert dieses Nachdenken nur. Bei Bahrdt ist sie also gar keine echte Maieutik, sondern nur eine Form der besonders effektiven Wissensvermittlung. Nichtsdestotrotz betont er den Wert des eigenen Nachdenkens, mit dem die Schüler nicht zu früh beginnen sollen. Die mit der ‚sokratischen Lehrart‘ verbundene Aktivierung der Schüler bringe nämlich didaktische Vorteile. Deutlich wird dies, wenn Bahrdt die ‚sokratische‘ mit der ‚katechetischen Methode‘ vergleicht. Während die katechetische Methode zwar ebenfalls gesprächsweise operiere, gehe sie doch vom Allgemeinen zum Besonderen, mithin also deduktiv vor, während die sokratische Methode genau umgekehrt verfahre. Bahrdt vergleicht zwei Beispiele zum Unterrichtsgegenstand ‚Was ist Sünde?‘ miteinander und kommt, nachdem er die sokratische Methode mit einem längeren Dialog demonstriert hatte, zu dem klaren Schluss: Wir fragen hier einen jeden, ob nicht diese umgekehrte [also die sokratische] Methode die natürlichere ist? Hier sagt man dem Kinde nicht sein Urtheil. Man läßt es selbst urtheilen. Man leitet seinen Verstand; aber man zwingt ihn nicht. Man läßt es selbst denken, um das Resultat seiner Ueberlegungen zu seinem Eigentum zu machen. (Bahrdt 1776: 127)
Nach einer Reihe von Beispieldialogen kommt Bahrdt zu sechs allgemeinen Regeln, die ein Lehrer mit Blick auf den Einsatz der ‚sokratischen Lehrart‘ im Unterricht zu beachten habe. Bemerkenswert an diesen Anmerkungen ist die enorme Euphorie und der damit verbundene utopische Gehalt, die an der Vermittlung durch die ‚sokratische
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Lehrart‘ geknüpft werden: Sie sei die Lehrart der Aufklärung schlechthin, denn sie erziehe zum Selbstdenken und zum Gebrauch der Vernunft. Die ersten zwei Regeln beschäftigen sich mit dem Verhältnis von Schüler und Lehrer. Der Lehrer solle sich die „Miene des Mitlernenden“ (Bahrdt 1776: 178) geben, er solle stets eine „gelaßne und freundliche Miene“ (Bahrdt 1776: 179) beibehalten. Beide Regeln thematisieren, dass es im Verhältnis des Lehrers zu seinen Schülern immer auch um eine Gemeinschaft geht, die nur unter Bedingungen von Symmetrie und emotionaler Zugewandtheit funktionieren kann. Dabei ersetzt die sokratische Frage sogar den Verweis: Bahrdt rät dem Lehrer, den Schüler nicht zu korrigieren, sondern eine falsche Antwort mit einer weiteren Frage zu erwidern. Dies entspreche dem Grundprinzip der ‚sokratischen Methode‘, dem Knaben nichts aufzudringen, d. h. nie zu ihm zu sagen: „das ist; das ist nicht; das ist so; das ist anders.“ Der Lehrling soll alles selbst herausbringen, und der Lehrer soll ihm nur helfen. (Bahrdt 1776: 180)
Dies sei ein Gesetz von „gar großer Wichtigkeit“ (Bahrdt 1776: 180), weshalb Bahrdt einige Seiten des Kapitels darauf verwendet, verschiedene Fragetechniken darzustellen, die im Unterricht verwendet werden können. Die dritte Regel schließt daran unmittelbar an: Nicht immer würden Kinder vollständige und vollkommene Antworten geben, und der Lehrer müsse hier daran arbeiten, die Kinder zwar nicht zu korrigieren, aber doch die Antwort vollständig zu machen, den Ausdruck zu verbessern und die gelernte Regel durch eine hinzugesetzte Ermahnung zu verstärken (Bahrdt 1776: 188). Auch hierzu schlägt Bahrdt eine Reihe von Techniken des Fragens und allgemein der Gesprächsführung vor. In der vierten Regel beschäftigt er sich dann mit der Frage, wie man das Gelernte abprüfen soll. Hierzu schlägt er die Mittel der Wiederholung und der „Abforderung eines Exempels“ (Bahrdt 1776: 189) vor, vor allem aber könne der Lehrer in den Dialog immer wieder Zweifel einstreuen und Gegenargumente vorbringen um zu testen, inwiefern der Schüler den Stoff internalisiert hat. An dieser Stelle allerdings gibt Bahrdt schlussendlich die Idee der Maieutik auf. An der fünften Regel wird dies noch klarer: Der sokratische Unterricht erzeuge in den Schülern die Ansicht, „als ob sie alle Begriffe und Urtheile selbst fänden“ (Bahrdt 1776: 192). Es geht also bei der ‚sokratischen Methode‘ einmal mehr nicht um Erkenntnisfindung, sondern um deren geschickte Simulation: Die ‚sokratische Methode‘ ist schlussendlich nur eine raffinierte Form des Unterrichtsgesprächs (Kilian 2002: 236). Regel sechs beschäftigt sich dann mit der Schwierigkeit der sokratischen Lehrart für den Lehrer. Bahrdt selbst gibt unumwunden zu: Es ist mir jederzeit leichter geworden, akademische Vorlesungen zu halten, als ein sokratischen Katechismusexamen. Denn in den erstern durft ich Ausdrücke brauchen, wie ich wollte, im lezten aber fand ich, daß oft, unter fünf Fragen nur eine, von den Kindern verstanden wurde. Und wer es versuchen will, der wird in der ersten Stunde merken, daß eine sehr lange und anhaltende Uebung erfordert wird, ehe man seine Begriffe gehörig entwickeln, und ihre einfachsten Theile dem Kinde in dem faßlichsten und simpelsten Ausdrucke vortragen lernt. (Bahrdt 1776: 194)
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Bahrdt rechnet mit einem zweijährigen Training für einen Lehrer; erst dann sei dieser im Stande, seine Materie „sokratisch vorzutragen.“ (Bahrdt 1776: 195) Dies verdeutlicht den immensen Aufwand, den die ‚sokratische Lehrart‘ für den Lehrer mit sich brachte – eine Pädagogik für engagierte Unterrichtskräfte, die aber im Schulalltag kaum ökonomisch umzusetzen war. Bahrdt allerdings sieht sich selbst als pädagogischen Utopiker und emphatischen Aufklärer zugleich: Es solle „eine Generation Menschen“ erzogen werden, „die keiner der vorigen mehr ähnlich sei.“ (Bahrdt 1776: 199) Durch ihre Methode lehre die ‚sokratische Lehrart‘ Selbstdenken als kritisches Denken, welches die Schüler gegen allerlei Vorurteile regelrecht immunisiere: Sie würden auf diese Weise „für allen Sprüngen und Trugschlüssen auf immer verwahrt.“ (Bahrdt 1776: 202) Am Schluss des Kapitels macht Bahrdt noch einmal deutlich, dass Lehre nach der ‚sokratischen Methode‘ vor allem bedeute, die Schüler in den Stand zu setzen, selbst zu denken. Es geht also ganz emphatisch um die Autonomie des Subjektes: Und wann sich nun mit diesem großen Vortheile noch diese vereinigen: daß die Seelenkräfte selbst geübt, gestärkt und erhöht werden: daß die Kenntnisse, welche der Jüngling aus dem Philanthropin mit in die Welt bringt, ein Eigenthum seiner Seele sind, über welche er die vollkommenste Gewalt besitzt, um sie nach seinem Gefallen zu benutzen, und zum Besten seiner Mitmenschen anzuwenden (Bahrdt 1776: 204).
5 Schluss: Kritik an der sokratischen Lehrart Die ‚sokratische Methode‘ war in der Pädagogik des 18. Jahrhundert eine weitumgreifende Modeerscheinung (Liebsch 1995: 1001). Als solche hatte sie eine bemerkenswerte Konjunktur, die bis ins 19. Jahrhundert anhielt. Allerdings setzte schon in der Spätaufklärung eine teils harsche Kritik ein. Die ‚sokratische Methode‘ war nämlich nur eine, wie Patrick Bühler es formuliert, ‚halbe Maieutik‘ (Bühler 2012: 48). Im Kontext der Platon-Renaissance des 19. Jahrhunderts erkennt man klarer, dass das Modell der sokratischen ‚Hebammenkunst‘ keineswegs für alle Dialoge Platons in gleicher Weise gilt (Bühler 2012: 48 f.). Wichtiger allerdings ist noch das von Philosophiehistorikern vorgebrachte Argument, dass es in dem Modell des Platonischen Theaitetos nicht nur darum gehe, den Schülern in ihnen bereits angelegtes Wissen frageweise zu entlocken. Vielmehr gehe es im sokratischen Gespräch darum, das von den Schülern vorgebrachte auf Richtigkeit zu prüfen und dabei auch falsche Antworten, im platonischen Dialog mit Wörtern wie ‚Fehlgeburt‘ oder ‚Windei‘ bezeichnet, auszusondern. Kurzum: Anders als die Theoretiker des 18. Jahrhunderts vertritt der platonische Sokrates kein Bildungskonzept. Und auch das Bildungskonzept erwies sich schlussendlich als Chimäre. Der Widerspruch, wie in einem Klassenverband verbindliches, vorher mehr oder weniger kanonisiertes Wissen mit der ‚sokratischen Methode‘, die ja eigentlich gar keinen vorher festgelegten Plan kennt, verbunden werden kann, ging in der Begeisterung der
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Pädagogen unter. Erst die Pädagogen August Hermann Niemeyer und Johann Heinrich Pestalozzi weisen auf diese Probleme hin. Dennoch hält sich die ‚sokratische Methode‘ in der Pädagogik bis weit ins 19. Jahrhundert (Bühler 2012). In seinen Reden an die deutsche Nation (1808) bringt Johann Gottlieb Fichte schließlich ein scharfsinniges, wohl auf die Unterrichtspraxis absolut zutreffendes Argument gegen die sokratische Methode hervor: Die „sokratischen Räsonnements“ würden „gleichfalls nur mechanisch auswendig gelernt“, was aber ein „um so gefährlicheres Auswendiglernen ist, da es dem Zöglinge, der nicht denkt, dennoch den Schein gibt, daß er denken könne“ (Fichte 2008: 37). Die von Fichte präzise herausgearbeitete „Illusion selbständigen Denkens“ (Liebsch 1995: 1002) kehrt die aufklärerische Ansicht, die sokratische Lehrart führe gerade zum Selbstdenken und zur Autonomie hin, ins genaue Gegenteil. Das ‚Herauslocken‘ des Wissens, wie es die Pädagogen praktiziert hatten, kehrt sich in systemhaften Zwang um. Als Lehrmethode war die sokratische Lehrart damit theoretisch erledigt. In einem pädagogischen Lexikon des späten 19. Jahrhunderts heißt es in der Rückschau spöttisch: Das Streben, die Schüler nach Möglichkeit selbsttätig zu machen […], und das damals in weiten Kreisen geschwundene Verständnis für den organischen Charakter des Lehrstoffes, der doch in erster Linie nach seinem inneren Gesetze, nicht nach einer Schablone zu gestalten ist, liessen den Kreis der Anwendbarkeit des sokratischen Verfahrens weitaus überschätzen. Man stellte mit Genugtuung Wechselreden von Lehrer und Schülern her, bei denen nichts gefunden wurde, oder man gefiel sich in Suggestivfragen, bei welchen der Schüler nur scheinbar aus sich, in Wirklichkeit aber aus den Andeutungen des Lehrers schöpft, ein Spiel bei dem die Einheit und der Gehalt des Lehrstoffs zu schaden kamen. (Willmann 1899: 650)
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Thomas Gloning und Daniel Holzhacker
Die Historische Pragmatik des Militärprozesses in Leonhart Fronspergers Von Kayserlichem Kriegßrechten (1565). Kommunikative Strukturen, Gemeinschaftsbildung, Normierung 1 Einleitung Im Jahr 1565 erschien eine umfassende Darstellung des Kriegsrechts im kaiserlichen Heer, das der erfahrene Kriegsmann und Militärschriftsteller Leonhart Fronsperger (um 1520−1575) verfasst hatte. Für die Historische Pragmatik ist dieses Werk deshalb von besonderem Interesse, weil das erste Großkapitel („Das erste Buch“) eine detaillierte Beschreibung des Militärprozesses als einer institutionalisierten Interaktionsform enthält. Sie erlaubt es zum einen, die pragmatische Organisation dieser Kommunikationsform zu rekonstruieren, denn Fronsperger geht auf zahlreiche interaktionale Parameter ein, die dafür erforderlich sind, z. B. die zentralen Funktionen, die kommunikativen Rollen und ihr Zusammenspiel, die sprachlichen Handlungen und ihre sequentielle Organisation, die rechtlich verbindlichen Äußerungsformen, die interaktionalen Spielarten, das Zusammenspiel von sprachlichen und nicht-sprachlichen Handlungen und die institutionelle Einbettung. Diese Beschreibung des Militärprozesses ist aber nicht nur als Quelle für die Rekonstruktion einer Kommunikationsform wertvoll, sondern auch als Beispiel für eine sprachreflexive Quelle, ihre Untersuchung trägt deshalb auch bei zu unserem Wissen über den Bestand, die Ausprägung und den Aufschlusswert sprachreflexiver Quellen für die Geschichte von Kommunikationsformen (vgl. Gloning 1993). In diesem Beitrag stehen folgende Leitfragen im Vordergrund unseres Interesses: 1. Wie lässt sich Fronspergers Darstellung für die Rekonstruktion der historischen Kommunikationsform „Militärprozess“ und ihrer Spielarten nutzen? 2. Wie ist Fronspergers Darstellung als sprachreflexive Quelle und als historische Beschreibung einer Interaktionsform zu beurteilen? 3. Wie trägt der Militärprozess mit seiner kommunikativen Grundstruktur zu Aspekten der Gemeinschaftsbildung und der Normierung in soldatischen Verbänden der Frühen Neuzeit bei? Die Untersuchung ist folgendermaßen aufgebaut: Im folgenden Abschnitt stellen wir zunächst Fronspergers Werk Von Kayserlichem Kriegßrechten und insbesondere sein Kapitel zur Organisation des Militärprozesses vor (Abschnitt 2). Im Anschluss daran nutzen wir den Fronsperger-Text, um zentrale Aspekte der pragmatischen Organisahttps://doi.org/10.1515/9783110592580-007
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tion des frühneuzeitlichen Militärprozesses zu beschreiben (Abschnitt 3). Abschließend behandeln wir Formen und Funktionen der Vergemeinschaftung im „Recht der langen Spieße“ (Abschnitt 4).
2 Leonhart Fronspergers Von Kayserlichem Kriegßrechten (1565) – Das Werk und sein Inhalt In seinem Werk Von Kayserlichem Kriegßrechten bietet Fronsperger, der selbst im kaiserlich-habsburgischen Heer diente (Huber 1961), seinem Leser eine ausführliche Auseinandersetzung mit den Bedingungen der frühneuzeitlichen Kriegsführung. Einen Überblick über die Vielfalt der Themen liefert bereits das Titelblatt: Von Kayserlichem Kriegßrechten Malefitz vnd Schuldhändlen/ Ordnung vnd Regiment/ sampt derselbigen vnd andern hoch oder niderigen Befelch/ Bestallung/ Staht vnd ämpter/ zu Rossz vnd Fuß/ an Geschütz vnd Munition/ in Zug vnd Schlachtordnung/ zu Feld/ Berg/ Thal/ Wasser vnd Land/ vor oder in Besatzungen/ gegen oder von Feinden für zunemmen/ welcher art/ sitten/ herkomen vnd Gebrauch/ […]
Fronsperger behandelt also neben den für diesen Aufsatz zentralen Formen des Militärprozesses unter anderem auch Taktiken der Infanterie, Kavallerie und Artillerie, die Durchführung von Belagerungen und das Auffordern einer Stadt zur Kapitulation, die Munition der Artillerie, das Anfertigen von Sprengladungen und den Krieg zur See. Eingeteilt ist das Werk in insgesamt zehn „Bücher“, in welchen die eben angeführten Themen besprochen werden, und eine „Geistliche KriegßOrdnung“, in der gerechte Kriegsgründe, die Frage danach, ob das Töten im Gefecht mit der Erlaubnis Gottes geschehe und die übergeordnete Gehorsamspflicht des Landsknechts gegenüber Gott diskutiert werden. Gegenstand dieses Aufsatzes ist das erste Buch, in dem Fronsperger den Ablauf der verschiedenen Formen des Militärprozesses beschreibt. Auch hier finden sich bereits im Titel die verschiedenen Themen, die behandelt werden: Von den Keiserlichen Kriegßrechten/ Schultheissen/ Gerichten/ Schreiber vnd Weybeln/ samt den Artickels Brieffen/ vnd vmbfragen/ verbannung der Rechten/ auch wie man zu Gericht verkündt/ fürbieten/ anklagen/ Red vmb Antwort geben sol/ sampt dem gefangenen Armen/ vnd der langen Spieß Recht/ ordnungen/ etc. (Ia)¹
In dieser Themenangabe lassen sich zahlreiche linguistisch relevante Parameter des frühneuzeitlichen Militärprozesses entdecken. So wird der Leser über verschiedene
Folio-Angaben wie „Ia“ beziehen sich jeweils auf das erste ‚Buch‘ im Werk von Fronsperger.Wenn wir aus der Vorrede zitieren, ergänzen wir den Zusatz „Vorr.“. Abbreviaturen im Original werden ohne Kennzeichnung aufgelöst.
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Prozessformen – von diesen wird allerdings nur das Spießgericht (Recht der langen Spieße) explizit angeführt – informiert, es werden beteiligte Personen, die spezifische kommunikative Rollen innehaben (z. B. Schultheiß, Gerichtsschreiber und -webel, der Gefangene), genannt, es wird der Artikelbrief als rechtliche Grundlage eines Prozesses angeführt und es werden typische mit einem Prozess verbundene sprachliche Handlungen aufgezählt (umbfragen, verbannung der Rechten, Red vnd Antwort geben, etc.)
3 Die pragmatische Organisation des Militärprozesses im Spiegel des Fronsperger-Texts Die Grundlage für unsere Rekonstruktion der pragmatischen Organisation des Militärprozesses ist eine Konzeption der Historischen Pragmatik, die wesentliche Grundlagen der Pragmatik, der Gesprächsforschung und der Textlinguistik historisch verlängert und damit um Aspekte einer Sprachwandeltheorie und um Wissen über die Sprachgeschichte des Deutschen anreichert. Wichtige Grundannahmen lassen sich thesenhaft auf folgende Weise formulieren: 1. Sprachliches Handeln verläuft in weiten Teilen orientiert an Mustern, Texttypen, Gesprächsformen. (Daneben gibt es immer wieder auch Formen des kreativen, innovativen Handelns ohne kommunikative Vorbilder.) 2. Texttypen und Gesprächsformen kann man auffassen als historisch mehr oder weniger stark verfestigte Traditionen des sprachlichen Handelns, die sich im Handeln selbst entweder weiterentwickeln und verändern oder aber stabilisieren. 3. Historische Gesprächs- und Interaktionsmuster kann man im zeitlichen Querschnitt beschreiben, indem man zeigt, wie zentrale Parameter der Organisiertheit dieser Interaktionsmuster jeweils ausgeprägt waren. Zu diesen Parametern gehören insbesondere die Funktion, die sprachlichen Handlungen und ihre typische Sequenzierung, Themen und Aspekte der Themenentfaltung, die typischen Äußerungsformen (v. a. Lexik, syntaktische Muster), die allgemeinen und spezifischen Kommunikationsprinzipien für Interaktionen des betreffenden Typs, sodann auch Aspekte der Beteiligungsstruktur (z. B. über kommunikative Rollen) oder typische Phasenstrukturen, die sich mit Hilfe von grundlegenderen Parametern rekonstruieren lassen. 4. Die soeben genannte Konfiguration der Parameter-Ausprägung historischer Textund Interaktionsmuster lässt sich auch nutzen, um historische Entwicklungen im zeitlichen Längsschnitt zu beschreiben. Jede Parameter-Ausprägung kann sich im Lauf der historischen Entwicklung verändern; dabei ändert sich dann jeweils das ganze Gefüge der Parameter-Konfiguration. 5. Mit der übergeordneten Funktion von historischen Text- und Interaktionsmustern ist die Frage nach der Rolle des betreffenden Musters im jeweiligen historischen Kontext eng verbunden. Man kann hier u. a. das ja bereits evolutionär angelegte
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Konzept eines „kommunikativen Haushalts“ (Luckmann 1986) auch auf historische Verhältnisse und auf die Entwicklung von Kommunikationsformen im historischen Längsschnitt beziehen. Eine solche Konzeption² ist der ‚Werkzeugkasten‘, mit dem wir uns auf der Grundlage des Fronsperger-Textes nun an die Rekonstruktion der pragmatischen Form des frühneuzeitlichen Militärprozesses machen.
3.1 Funktion(en) des Fronsperger-Textes Fronsperger, der im Jahre 1566 selbst das Amt eines Schultheißen in einem kaiserlichen Landsknechtsregiment innehatte (Huber 1961), der also die gängige Gerichtspraxis in einem solchen Regiment aus eigener Erfahrung kannte, beschreibt in Von Kayserlichem Kriegßrechten zum einen diese Praxis, zum anderen möchte er seinen Leser aber auch anleiten, dieser Praxis zu folgen. Die Notwendigkeit, sich für die Prozessführung an einem Vorbild zu orientieren, begründet Fronsperger (Vorr. IIb-IIIa) mit der Bedeutung einer funktionierenden Justiz für das Gelingen eines Feldzuges: […] so were es vnmüglich/ ja es müste durch meuterey alles zu grundt oder boden gehen/ wo nicht durch gute Justitia der boßheit gewehrt/ also daß niemand verneynen kan/ daß Gericht vnd Recht nit daß geringest oder wenigst Hauptstück eines ganzen Krieges ist/ Darumb hat mich für notwendig angesehen den jetzwärenden Gerichtlichen Prozeß/ samt der Gerichts Personen Befelch/ ämpter vnd außrichtung/ samt anderm/ zu meinem vorgemeldten Kriegßbuch zu thun/ auch dasselbig an vielen örten zu bessern mich weiter vnderfangen/ Damit ein jeder so deren dingen vnerfahren/ ein gründtlichs wissen haben/ vnd sich hierinn gleich als in einem vorbild ersehen mögen/ wie dz Kriegßrecht von anfang biß zu end geübt/
Der gelingende Militärprozess ist für Fronsperger also unerlässlich, um einen Feldzug zu einem erfolgreichen Ende zu führen; ohne ihn ist es nicht möglich, die Disziplin eines Heeres aufrechtzuerhalten. Die Funktion des hier untersuchten Textes lässt sich demnach am besten wie folgt beschreiben: Eine wichtige Komponente besteht darin, den Leser über die etablierte Praxis der Feldgerichtsbarkeit zu informieren, in dieser Hinsicht wird der Text also deskriptiv bzw. informativ gebraucht. Da es Fronsperger aber nicht nur um Deskription bzw. Information geht, sondern er sein Werk auch als ,Vorbild‘ verstanden wissen möchte, kommt Von Kayserlichem Kriegßrechten auch eine Appellfunktion zu. Dies lässt sich in einem indem-Zusammenhang ausdrücken: Indem Fronsperger die gängige Gerichtspraxis beschreibt, appelliert er an den Leser, sich an dieser Praxis aus-
Vgl. zu den Grundlagen und Anwendungen einer solchen Konzeption u. a. Fritz 1994; 1995; 2008; 2012; Gloning 1993; 1999; 2012; Fritz / Gloning / Glüer 2018.
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zurichten, da er sie als einen Garanten für den gelingenden Militärprozess ansieht (zu indem-Zusammenhängen vgl. Fritz 2017: 44 ff.).
3.2 Kommunikative Rollen im frühneuzeitlichen Militärprozess An einem Prozess sind verschiedene Akteure beteiligt. Jedem dieser Akteure kommt für den gelingenden Prozess eine bestimmte Rolle zu. Wir bezeichnen diese als kommunikative Rolle, die als ein Bündel aus kommunikativen Rechten und Pflichten, bestimmten Wissensvoraussetzungen, die für das Ausüben der Rolle unerlässlich sind, und Interessen und Maximen, die in der Ausübung der Rolle handlungsanleitend sind, angesehen wird. Aus diesen Parametern ergeben sich für den Inhaber einer bestimmten kommunikativen Rolle mögliche Handlungsmuster innerhalb einer Gesprächsform (vgl. Fritz 1994: 553). Für die hier untersuchten Prozessformen des Schultheißengerichts und des Spießgerichts lassen sich folgende kommunikative Rollen angeben: – Schultheiß – Richter – Profoß – Gefangener – Fürsprecher (Profoß/Gefangener) – Rat – Gerichtswebel – Fähnrich – Gerichtsschreiber Anzumerken ist, dass nicht jede dieser Rollen in jeder der untersuchten Prozessformen auch tatsächlich durch Akteure besetzt wird. Dieser Umstand ist sehr interessant, an ihm zeigt sich, dass das Vorhandensein bzw. Nicht-Vorhandensein bestimmter kommunikativer Rollen als ein Parameter bei der Rekonstruktion der verschiedenen Prozessformen genutzt werden kann. So unterscheiden sich beispielsweise die ersten Malefitzprozesse bei Fronsperger vom Recht der langen Spieße dadurch, dass bei diesen ein Schultheiß vorhanden ist, während beim Recht der langen Spieße die Aufgaben des Schultheißen in wesentlichen Bereichen auf den Profoß, der die Anklage führt, übergehen. Interessant ist aber auch die Rolle des Richters, die man für einen gerichtlichen Prozess – in irgendeiner Ausprägung – wohl als obligatorisch ansehen kann: Im Malefitzprozess fällen die Richter zusammen mit dem Schultheißen das Urteil, im Spießgericht sind es die dem Prozess beiwohnenden Landsknechte, die dieses fällen und zugleich vollstrecken. An der Rolle des Richters zeigen sich also prozessformabhängige Gepflogenheiten der Rollenbesetzung, die aber auch die Rolle selbst nicht unverändert lassen – der beisitzende Richter im Malefitzprozess ist nicht in demselben Sinne Richter, wie der Landsknecht des Spießgerichts.
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Da es im Rahmen dieses Aufsatzes nicht möglich ist, solche Beobachtungen in der nötigen Tiefe auszuführen, beschränken wir uns darauf, anhand der kommunikativen Rolle des Schultheißen exemplarisch aufzuzeigen, wie die Ausgestaltung einer solchen Rolle konkret ausfallen kann. Wollte man die Rolle des Schultheißen – bei aller Vorsicht, die bei solchen Vergleichen geboten ist – mit den kommunikativen Rollen in einem modernen Gericht vergleichen, so käme der Vorsitzende Richter eines Schöffengerichts infrage. In der Folge beschreiben wir nun die kommunikativen Rechte und Pflichten, Wissensvoraussetzungen und handlungsanleitenden Interessen und Maximen des Schultheißen. (i) Zunächst zu den kommunikativen Rechten und Pflichten des Schultheißen. Fronsperger (IVa) selbst schreibt zur kommunikativen Rolle des Schultheißen in einem eher globalen Zugriff: Deß Schultheissen Befelch vnd Ampt ist/ das er mit seinen zugeordneten Gerichtsleuten Gericht besitzt/ in allen sache/ darumb er von den spänigen vnd klagenden partheyen wirdt angeruffen/ es sey vmb schulden/ vmb schmach/ vmb gewalt/ vnrecht/ Bürgerliche oder peinliche sache/
Hier informiert Fronsperger also seinen Leser, dass es die Pflicht des Schultheißen ist, zusammen mit den ihm zugeordneten Richtern den Militärprozess abzuhalten. Ebenso sagt Fronsperger etwas über Tatbestände, zu denen der Schultheiß Gericht halten muss, die also im Prozess eine wichtige thematische Komponente bilden. Genannt werden unter anderem „bürgerliche“ und „peinliche“ Sachen, die die Unterscheidung zwischen Schuldrecht und Malefitz – Malefitz als schwerwiegendes Verbrechen – in von Von Kayserlichem Kriegßrechten widerspiegeln (zum Begriff des Malefitz vgl. Deutsches Rechtswörterbuch 1996: 64 ff.). Dem Schultheißen kommt in Ausübung dieser Pflicht die Aufgabe zu, den Militärprozess zu leiten, also den korrekten Ablauf des Prozesses zu gewährleisten, die Interaktion der Prozessbeteiligten zu organisieren und am Urteil mitzuwirken. Mit all diesem sind typische sprachliche Handlungen des Schultheißen verknüpft: So eröffnet er den Prozess, indem er die Anwesenden begrüßt und als Begründung seiner Autorität erklärt, auf wessen Befehl und in wessen Namen er Gericht hält. Im Rahmen der Prozesseröffnung leitet er weiterhin den Eid der Richter, den er auch selbst schwören muss, an und nimmt die Hegung und „verbannung des Rechtens“ (Xb) vor. Während erstere aus einer Umfrage unter den Richtern besteht, ob alle Bedingungen für einen ordentlichen Prozess erfüllt sind, markiert die Bannung des Gerichts als Folgehandlung auf die positiv verlaufene Umfrage das Ende der Prozesseröffnung, nach welcher die eigentliche Verhandlung – die Phase in der das Hauptthema des Prozesses bearbeitet wird (vgl. Henne/Rehbock 2001: 14) – beginnt. Als Abschluss der Bannung erläutert der Schultheiß die durch die Bannung in Kraft tretenden Verhaltensregularitäten für die am Prozess Beteiligten: dz mir keiner weder im oder ausserhalb deß Rechtens wöll einreden/ anderst dann durch meinen erlaubten oder durch sein eyngedingten Fürsprechen/ Es soll auch keiner keim Richter heimlicher weiß zusprechen/ oder die Richter vnbillicher weiß vberstahn/ Ir solt auch dem Profosen ein
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Gassen lassen/ damit er mit den Gefangenen frey unverhindert mög zu vnd von dem Rechten passieren/ (Xb)
An dieser Erläuterung zeigt sich auch die herausgehobene Stellung des Schultheißen bezüglich des Rederechts: Während für ihn keinerlei Restriktionen geltend gemacht werden, dürfen an ihn lediglich die Fürsprecher das Wort richten, welches er ihnen zudem zuerst erteilen muss. Die Rolle der Fürsprecher besteht entsprechend darin, im Prozess das ,Sprachrohr‘ der Partei, die sie vertreten, zu sein. Als Parteien kommen dabei zum einen der klageführende Profoß, zum anderen der beklagte Gefangene infrage. Beide sprechen nicht selbst zur verhandelten Straftat. Damit die Fürsprecher jedoch ihre jeweilige Partei vertreten können, müssen sie vom Schultheißen „erlaubt“ werden und sich im Gericht „eindingen“: Das „Eindingen“ stellt eine sprachliche Handlung dar, die aus der Bitte des Fürsprechers, für seine Partei das Wort zu führen und der Gewährung dieser Bitte durch den Schultheißen besteht; sie folgt auf die Erlaubnis bzw. Aufforderung des Schultheißen an die prozessführenden Parteien, sich einen solchen Fürsprecher zu nehmen. Weiterhin lässt der Schultheiß in seiner Rolle als Leiter des Militärprozesses weitere Umfragen unter den Richtern ergehen. Diese können einerseits das Urteil als die zentrale Handlung eines Gerichtsprozesses betreffen, welches der Schultheiß – und hier ist seine Autorität eingeschränkt – nicht alleine fällen darf oder der Gewährung von „Schub und Tag“ (XIVb) für den Angeklagten dienen. „Schub und Tag“ meint hierbei die Vertagung des Prozesses. Eine letzte zentrale Pflicht des Schultheißen besteht in der Schließung eines Prozesses. Auch diese Phase des Militärprozesses ist stark ritualisiert: So zerbricht der Schultheiß zur Aufhebung der Gerichtsbannung seinen Schultheißenstab, der Ausdruck seiner richterlichen Befugnisse ist und äußert formelhaft mit Bezug auf den Angeklagten, sofern dieser zum Tode verurteilt wurde: „Genad Gott der Armen Seel/ vnd geb jm nach disem leben ein fröliche Aufferstehung“ ((XVIa).³ (ii) Nun kommen wir zu den Wissensvoraussetzungen für das Amt des Schultheißen. Als wesentliche Wissensvoraussetzung um das Amt des Schultheißen bekleiden zu können, nennt Fronsperger Erfahrungswissen im Bereich des Kriegsrechts, was jedoch nicht mit einer juristischen Fachausbildung zu verwechseln ist. Immerhin war Fronsperger als Nicht-Jurist selbst, wie bereits erwähnt, 1566 Schultheiß im kaiserlichen Heer und das hierfür nötige Erfahrungswissen dürfte er im Wesentlichen während seiner ersten Dienstzeit in den Jahren 1553 – 1563 erworben haben (vgl. Huber 1961). Über die Erfahrung im Kriegsrecht hinausgehend fordert Fronsperger von einem Schultheißen aber auch eine gewisse allgemeine Gelehrtheit, wie sich unten stehendem Zitat entnehmen lässt: An dieser Stelle ist anzumerken, dass sowohl die beiden Malefitzprozesse als auch das Beispiel für ein Spießgericht, die Fronsperger bespricht, mit einem Todesurteil enden. Eine entsprechende formelhafte Wendung für einen Freispruch oder ein anderes Urteil findet sich demnach nicht in „Von Kayserlichem Kriegßrechten“.
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Erstlich vnd anfengklich wo ein Herr ein Regiment auffrichten will/ So sol der Oberst Feldthauptmann/ vnder einem jedem Regiment Fußknecht/ besonder nach einem verstendigen Kriegßmann trachten/ der geschickt vnd Kriegßrecht erfahren sey/ denselbigen mag er zu einem Schultheissen machen/ (IIa)
Präzisierend führt Fronsperger zu den Wissensvoraussetzungen weiterhin aus: Derhalben ist gut zu einem sollichen Befelch/ ein ehrlicher frommer mann/ der sich auff Burgerliche gute erbare Policey/ vnd was einem Richter zusteht/ in Burgerlichen vnd peinlichen sachen versteh/ damit er jeder zeyt mit seinen zugeordneten Gerichtsleuten/ dem Rechten vnd der billichkeit gmäß recht sprechen/ vnd sich zu halten wisse. (IVa)
Präzisiert wird hier, dass sich der Schultheiß sowohl auf bürgerliche als auch auf peinliche Sachen verstehen muss; dies spiegelt die Unterscheidung zwischen Malefitz und Schuldrecht wieder, die Fronsperger anhand seiner Musterprozesse verdeutlicht. Zudem erwähnt Fronsperger Wissen im Bereich „Burgerlich gute erbare Policey“, er fordert von einem Schultheißen also zudem Kenntnisse über bürgerliche Ordnung und ihre Aufrechterhaltung. (iii) Ein dritter Charakterisierungsaspekt für das Amt des Schultheißen sind handlungsleitende Interessen und Maximen. Hier sind vor allem zwei Maximen, die sich folgendem Zitat zu seinem Schwur entnehmen lassen, für den Schultheißen zentral: Er schwört dem Herren treuw vnd hold zu sein/ vnd daneben das Gericht getreuwlichen one argwon/ vnd der partheyen vnbilliche gefärde besitzen/ Recht halten/ vnd vrtheil sprechen lassen/ wölle kein Parthey vor der andern/ oder der andern zu nachtheil fürdern noch hindern/ sonder ein gemeiner vnpartheyischer Schultheiß sein/ dem freyen gestracken Rechten nach/ einem jeden ders begert/ vnverzogenlich/ niemand zu lieb noch zu leyd/ alle gefehrlichkeit hindan gesetzt/ Recht ergehn vnd vrtheil sprechen/ vnd dieselbig vollnziehen lassen wölle. (Va)
Die Maximen, die berufsethischer Natur sind, aus denen aber kommunikative Verpflichtungen ableitbar sind, lassen sich folgendermaßen paraphrasieren: 1. Sei deinem Herrn, dem Kaiser, treu! 2. Sei in deinem Handeln im Prozess unparteiisch! Interessant sind diese Maximen insofern, als dass sie die Interessen, die ein Schultheiß verfolgen darf, einschränken. So ist es dem Schultheißen innerhalb seiner Rolle nicht erlaubt, eigene, private Interessen im Prozess zu verfolgen, was nicht heißt, dass ein Schultheiß solche Interessen im Gericht nicht verfolgen kann, sie sind aber nicht konstitutiv für seine Rolle. Zu möglichen Konflikten zwischen den beiden Maximen, die eine Hierarchisierung erforderlich machen könnten, sagt Fronsperger nichts. Neben diesen zentralen Maximen finden sich allerdings auch bestimmte strategische Interessen und Maximen. Damit der Schultheiß vor Gericht seine Rechte und Pflichten ausüben kann, ist es erforderlich, dass er seine Autorität ausreichend stützt. Dies geschieht in sprachlicher Hinsicht unmittelbar zu Prozessbeginn durch die Be-
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rufung auf Kaiser und Feldherrn, in deren Namen der Schultheiß sein Amt ausübt, während in nicht-sprachlicher Hinsicht der Schultheißenstab seine Machtbefugnisse symbolisiert. Eine entsprechende Maxime könnte lauten: Stütze deine Autorität! Fronspergers Darstellung erlaubt es auch, die kommunikativen Rollen der übrigen Akteure im Militärprozess mit einiger Detailgenauigkeit zu rekonstruieren. Dies muss aber einer anderen Arbeit vorbehalten bleiben.
3.3 Sprachliche und nicht-sprachliche Handlungen: Repertoire und Aspekte der Sequenzierung Im Werk von Fronsperger wird zunächst eine Vielzahl von sprachlichen Handlungen als elementare und mehr oder weniger komplexe Bausteine der Interaktion genannt. Zum Inventar der sprachlich verfassten Handlungsformen gehören u. a.: – eine Klage vorbringen; – eine Zeugenaussage machen; – jdn. zu einem Gerichtstermin vorladen; – einen Gerichtstermin „umschlagen“, d. h. unter Trommelschlag verkünden und öffentlich bekanntmachen; – jdn. als Funktionsträger bestimmen und ernennen, z. B. als Richter, Fürsprech, Rat; – einen räumlichen Bereich als Gerichtsbezirk „verbannen“; – sich in einer Gruppe beraten; – ein Votum zur Schuldfrage abgeben; – … Die sprachlichen Handlungen sind verwoben mit einer Vielzahl von nicht-sprachlichen, die wiederum elementar oder mehr oder weniger komplex sein können. Sie können auch in unterschiedlicher Weise rechtserheblich sein. Zum Repertoire solcher nicht-sprachlicher Handlungsweisen gehören u. a.: – den Gerichtsbezirk betreten oder verlassen, dabei ist eine vorgängig hergestellte rechtserhebliche Raumordnung vorausgesetzt; – den Stab brechen (als Teilschritt im Rahmen eines Todesurteils); – die Hand in einer bestimmten Form zum Schwur erheben (als Teil des Formzwangs beim Schwören); – dem Angeklagten mit dem Stab dreimal auf die Schulter tippen; – als Angeklagter bzw. Verurteilter durch die Gasse der langen Spieße gehen; – auf den Verurteilten mit der Lanze einstechen, während er durch die Gasse der langen Spieße geht und dadurch zu seiner kollektiven Tötung beitragen. Man sieht an diesen Beispielen, dass ein Teil dieser nicht-sprachlichen Handlungen eine symbolische bzw. rituelle Bedeutung hat (die Hand in einer bestimmten Form zum Schwur erheben), während andere (v. a. das Stechen mit dem langen Spieß) in
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quasi-kausaler Weise ein bestimmtes Resultat hervorbringen, in der Gasse der langen Spieße zum Beispiel die kollektive Tötung eines zum Tode Verurteilten. Viele der sprachlichen Handlungen sind Teil von lokalen Sequenzierungsmustern. Beispiele für solche Sequenzierungsmuster, die von Fronsperger erwähnt werden, sind etwa: Klage und „Verantwortung“, „Red vnd wider Red“ (XVb); „Spricht der Schultheiß weiter: Jr Hauptleut/ ich frag euch zu Recht/ ob man jm schub vnd tag sol zulassen oder nit/ Die sprechen zu gleich/ Ja/ man sol jms zulassen.“ (XIVb)
Das letzte Beispiel ist über die Sequenzierung hinaus auch deshalb interessant, weil die ganz spezifischen Äußerungsformen genannt werden, mit deren Gebrauch man die beiden Komponenten der Sequenz realisieren muss. In vergleichbarer Weise finden wir auch Angaben, in welcher Weise bestimmte sprachliche und nicht-sprachliche Handlungen sequenziell aufeinander bezogen sind (z. B. sprachliche Anfrage, dann Zustimmung durch Heben der Hand) bzw. wie sprachliche und nicht-sprachliche Handlungen in einem und-gleichzeitig-Zusammenhang stehen, der erst eine Gesamthandlung ermöglicht (z. B. die Hand zum Schwur erheben und gleichzeitig einen Sprechtext äußern). Neben den Aspekten der lokalen Sequenzierung erscheint der Militärprozess in einer globaleren Sequenzierungsperspektive als ein komplexes Interaktionsschema mit eingeschränkten Handlungsspielräumen, dessen Organisation vor allem durch eine chronologische Abfolge von unterschiedlichen Handlungsschritten bzw. -phasen charakterisiert ist, an die wiederum weitere Aspekte wie z. B. spezifische Beteiligungsrollen gebunden sind, die oben im Abschnitt über die kommunikativen Rollen schon exemplarisch beschrieben wurden. Verschiedene Prozess-Arten lassen sich charakterisieren als unterschiedlich organisierte globale Ablaufschemata, deren Konstitution man in erster Linie durch die Aufzählung und die nähere Beschreibung der einzelnen größeren und kleineren Interaktionsschritte beschreiben kann. Im Rahmen der Beschreibung dieser Interaktionskomponenten werden bei Fronsperger jeweils weitere Aspekte der interaktionalen Organisation eingelagert, z. B. die Charakterisierung der Aufgaben einzelner Akteure oder der Wortlaut, an den eine sprachliche Handlung gebunden ist. Die textuelle Abfolge der Beschreibung im Fronspergertext entspricht dabei der chronologischen Abfolge der Schritte im Handlungsschema. Angaben wie die zu beteiligten Akteuren oder zum Wortlaut von Handlungen kann man interaktionslogisch als Ausführungsbestimmungen von sprachlichen Handlungen betrachten. Die oben genannten Parameter der Interaktion können somit als ‚Stellschrauben‘ angesehen werden, mit denen sich unterschiedliche Handlungsschemata erzeugen bzw. in der historischen Rückschau rekonstruieren lassen. Zur Beschreibung des komplexen Handlungsschemas bei Fronsperger gehört auch die Beschreibung der begrenzten Spielräume, die das Schema aufweist, und die Charakterisierung alternativer Verlaufsformen, hier sind die unterschiedlichen Verläufe bei einem Freispruch, die allerdings bei Fronsperger nicht
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eigens behandelt werden, und bei einer Verurteilung zum Tod sicherlich die wichtigsten.
3.4 Formzwang und rechtserhebliche Kommunikation Rechtliche bzw. rechtserhebliche Kommunikation ist auch bei Fronsperger in weiten Teilen bestimmt von Aspekten des rechtlichen Formzwangs. Die Grundidee des Formzwangs ist, dass die rechtliche Wirksamkeit bzw. das Gelingen rechtsgültiger Handlungen an die Erfüllung von bestimmten Form-Kriterien gebunden sind. Zu den rechtserheblichen Form-Aspekten von sprachlich-kommunikativen Handlungen gehören bei Fronsperger vor allem: – die Bindung von rechtlichen Handlungen an die Ausführung durch die dafür bestimmten Rollenträger; – die Bindung an die Platzierung einer Handlung an einer bestimmten Stelle der sequenziellen Ordnung; – sodann vor allem die Bedingung, dass die Handlung mit ganz spezifischen Äußerungsformen, einem genau vorgeschriebenen Wortlaut, ausgeführt werden muss. Im Hinblick auf nicht-sprachliche Handlungen gibt es weitere und z.T. andere FormKriterien, an welche die rechtsgültige Ausführung gebunden ist. Der Status des rechtlichen Formzwangs wird deutlich, wenn sich aus den Ausführungsbestimmungen auch Gelingens- und vor allem Misslingensbestimmungen ableiten lassen, die man in moderner Terminologie als „Formfehler“ bezeichnet, die ggf. zur Wiederholung des gesamten Verfahrens führen müssen. In dieser Hinsicht erfahren wir allerdings bei Fronsperger in der Regel nicht, welche Konsequenzen eine Abweichung von der vorgegebenen Form hätte. Wir geben nun zwei Beispiele für rechtlichen Formzwang, die sich auf unterschiedliche Aspekte und Ebenen der Ausführung von sprachlichen Handlungen beziehen. Zunächst folgt ein Beispiel für Formzwang im Bereich der Äußerungsformen. Hier wird jeweils ein bestimmter Wortlaut angegeben, der für die Realisierung eines bestimmten Verfahrensschrittes gebraucht werden muss: [Schultheiß:] N.N. ich frag euch bey dem Eyd/ den jr der Römischen Keyserlichen Maiestat vnserm aller gnedigsten Herrn gelobt vnd geschworen habt/ vmb ein bericht/ vnd außweisung/ ob ich auch bey oder zu rechter bequemlicher tag zeyt zu Gericht gesessen/ vnd ob der tag an jm selbs nicht zu frü oder spat/ noch zu heilig oder zu schlecht sey/ Das ich müg auffheben den Stab der gerechtigkeit/ vnd mög richten vnd vrtheilen vber Leib/ ehr vnd gut/ fleisch vnd blut/ gelt oder gelts wehrt/ Auch vber alles das so auff disen heutigen tag durch den geschwornen Gerichtsweybel fürgebracht wirt/ vnd denen so nach Keyserlichem Rechten ordentlich ist fürgebotten worden. (VIIIb)
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Dies ist eines der nicht seltenen Beispiele, in denen im Fronsperger-Text der genaue Wortlaut einer Äußerung für den Vollzug einer Handlung abgedruckt ist. Dabei wird im Hinblick auf die sprachliche Form der persönliche Bezug zu den handelnden Akteuren beibehalten (Personalpronomina; Strukturen der Anrede). Ein zweites Beispiel für Formzwang bezieht sich auf die Stellung in einer sequenziellen Ordnung von Handlungen, die in der Äußerung selbst auch thematisiert wird: Herr Schultheiß/ jr habt mich gefragt bey meinem Eyd/ den ich Hochgedachter Röm. Key. Mt. vnserm aller gnedigsten Herrn gelobt vnd geschworen hab/ vnd euch als eim Schultheissen vmb ein bericht/ vnd außweysung/ ob jr zu rechter bequemlicher tag zeyt seind zu Gericht gesessen/ ob der tag nicht zu frü noch zu spat/ zu heilig noch zu schlecht sey/ so erkenn ich Ja/ das es sey bey guter bequemer tag zeyt/ er ist auch nicht zu heilig noch zu schlecht/ weder zu frü noch zu spat/ derhalben jr euwerem Stab/ so euch von obgedachter Oberkeit vbergeben ist/ mögend auffheben/ vnd richten vnd vrtheilen/ vber Leib/ ehr vnd gut/ fleisch vnd blut/ silber vnd golt/ gelt oder geltswehrt/ auch vber alles das/ so auff disen heutigen tag/ durch den geschwornen Gerichts Weybel für euwern stab gebracht wirt/ vnd dem nach ordnung deß Keyserlichen Rechten/ fürgebotten ist worden. (VIIIb–IXa)
Auch dieser Mustertext für die Erklärung, dass die Ladung ordnungsgemäß erfolgt ist, bietet Informationen zu den Beteiligungsrollen und dem Wortlaut, der dafür zu nutzen ist, darüber hinaus ist im Mustertext die Bindung an ein sequenzielles Verfahrensmuster erkennbar. Der Richter könnte nicht ohne die vorgängige Anfrage des Schultheißen, ob die Ladung ordnungsgemäß erfolgt sei, seine Erklärung dazu abgeben. In einer historischen Perspektive sieht man hier, dass die Feststellung der ordnungsgemäßen Einladung, die wir ja aus vielen modernen Gremien als einen wichtigen Sprechakt von Sitzungsleiterinnen und -leitern kennen, hier in einer dialogischen Variante festgeschrieben ist. Im vorliegenden Abschnitt 3 haben wir gezeigt, wie sich Parameter der Gesprächsorganisation, wie wir sie aus der Pragmatik kennen, für die Rekonstruktion historischer Interaktionsformen, hier des frühneuzeitlichen Militärprozesses, nutzen lassen. Wir haben dabei auch zu zeigen versucht, welchen Aufschlusswert das erste „Buch“ in Fronspergers Von Kayßerlichem Kriegßrechten (1565) als historisch-pragmatische Quelle hat. Im folgenden Abschnitt werden wir abschließend diskutieren, welche Funktionen der Militärprozess für Aspekte der Vergemeinschaftung in soldatischen Gemeinschaften der Frühen Neuzeit hatte und was wir bei Fronsperger darüber erfahren.
4 Formen und Funktionen der Vergemeinschaftung im „Recht der langen Spieße“ Nimmt man den frühneuzeitlichen Militärprozess unter dem Aspekt der Vergemeinschaftung in den Blick, so ist hier sicherlich die Prozessform des „Rechts der
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langen Spieße“ am auffälligsten. Die Bezeichnung dieser Variante des Militärprozesses leitet sich von der typischen Waffe des Landsknechtes, dem Spieß, mit dem das Urteil in einem solchen Prozess vollstreckt wird, her. Der Verurteilte wird durch die Angehörigen seines Regiments in einem Gassenlauf durch deren Spieße hingerichtet.
4.1 Formen der Vergemeinschaftung Neben der gemeinschaftlichen Vollstreckung des Urteils finden wir in diesem Prozess jedoch auch kommunikative Formen der Vergemeinschaftung. So zeichnet sich das Recht der langen Spieße, wir hatten es ja bereits im Abschnitt zu den verteilten kommunikativen Rollen erwähnt, dadurch aus, dass in ihm die Rolle des Schultheißen unbesetzt bleibt. Verschiedene Aufgaben des Schultheißen, die mit der Leitung des Prozesses verbunden sind, gehen dadurch auf den Profoß über. So eröffnet er den Prozess, indem er den anwesenden Feldwebel auffordert „Mach ein Mehr“ (XXIVa), was bedeutet, dass die anwesenden Landsknechte, die bewaffnet den Gerichtsplatz ringförmig abriegeln, per Mehrheitsentscheid durch Handaufheben ihre Zustimmung dazu erteilen sollen, dass sie am anstehenden Prozess mitwirken werden. Hier zeigt sich zum ersten Mal die kommunikative Vergemeinschaftung, wenn auch in Form einer nicht-sprachlichen responsiven Handlung der Landsknechtsgemeinde. Diese übernimmt aber auch im fortlaufenden Prozess eine aktive und zentrale Rolle: Insbesondere die Handlung des Urteilens geht an die Landsknechte über. Aber auch andere Handlungen, die im Malefitzprozess dem Schultheißen zustehen, werden durch diese ausgeführt: So begehrt der Profoß jetzt ein Fürsprechen vnd seinen Raht/ Es wirdt jm vergünnt/ Die Gefangnen auch jren Fürsprechen vnnd jren Raht. Jetzt dingen sich beide Fürsprechen inns Recht/ vor dem gemeinen Mann/ wie breuchlich ist. (XXIVa)
Hier zeigt sich, dass das Eindingen der Fürsprecher „vor dem gemeinen Mann“, also vor den Landsknechten, stattfindet, was nahelegt, dass letztlich diese es sind, die den Fürsprechern die Vertretung ihrer jeweiligen Partei gewähren (zu dieser Auffassung vgl. auch Möller 1976: 237). Wer jedoch dem Profoß und dem Gefangenen die Fürsprecher gewährt, wird nicht expliziert. Der Kontext legt aber nahe, dass auch dies die Landsknechte sind. Verbleiben wir an dieser Stelle beim Ablauf der zentralen Handlung des Urteilens. Nachdem innerhalb des Rings aus Landsknechten die Klage des Profoß und die Erwiderung des Beklagten durch die jeweiligen Fürsprecher vorgetragen worden sind, ruft der Feldwebel einen der umstehenden Landsknechte auf, den Ring zu betreten. Dieser wendet sich mit folgender Äußerung an die Gemeinde: Lieben Landsknecht/ hie bin ich gefragt worden/ auff meinen Eyd vmb ein Raht/ bin ich der sach allein nit weiß gnug/ beger gut ehrliche Kriegsleut zu mir in meinen Raht im Ring vnd auß dem Ring/ die befelch haben/ Edel/ vnedel/ als vil als auff vierzig mann/ so will ich mit denselbigen
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auß dem Ring an ein ort gehn/ vnd bey jnen Raht suchen/ treuwlich vnd vngefährlich/ als vil als vnser verstand außweißt. (XXIVa)
Das in diesem Zitat beschriebene Verfahren, dass ein Rat aus 41 Landsknechten gebildet wird, die außerhalb des durch die Landsknechte gebildeten Rings über das Urteil beratschlagen, wird insgesamt dreimal wiederholt. Am Ende jeder Beratschlagung begibt sich der jeweilige Rat erneut in die Mitte des Landsknechtskreises und verkündet das von ihm empfohlene Urteil. Der Empfehlungscharakter des Urteils zeigt sich in zweierlei Hinsicht: Einerseits ist es offensichtlich, dass aufgrund der Bildung dreier Räte nicht ein einzelner Rat über das Urteil entscheiden kann, es wird aber darüber hinaus auch die Möglichkeit eingeräumt, das vorgeschlagene Urteil abzuändern, sofern die Landsknechtsgemeinde es nicht für angemessen hält: „vnd ob jnen [den umstehenden Landsknechten; die Verf.] jr Rath nicht gefiel/ so wöllen sie von dem jren zu einem anderen fallen“ (XIVa–XIVb). Das endgültige Urteil wird dann erneut durch einen Mehrheitsentscheid unter dem gesamten umstehenden Landsknechtsregiment gefällt, welches dasselbige auch vollstreckt. Die kollaborative Hinrichtung des Angeklagten erfolgt schließlich, indem dieser durch eine von seinen Regimentsangehörigen gebildete Gasse läuft, in welcher diese mit ihren Spießen auf ihn einstechen. In Bezug auf Vergemeinschaftung zeigt sich also, dass das gesamte Regiment sowohl an der Urteilsfindung als auch an der Urteilsvollstreckung beteiligt ist. Dabei wird bereits die Urteilsempfehlung auf sehr viele Individuen verteilt, immerhin sind 123 Landsknechte in den drei Räten an dieser beteiligt.⁴ Vergemeinschaftung zeigt sich bei diesem Prozess aber auch in nicht-sprachlichen Aspekten, die für die Beschreibung einer Gesprächsform nicht zu vernachlässigen sind: Einer davon ist die Nutzung des Raumes. Die Landsknechte als Richter bilden wie bereits beschrieben einen Ring um die Streitparteien. Diese dürfen den Ring nur zur Beratschlagung verlassen. Die wesentlichen Handlungen des Prozesses finden stets innerhalb des Ringes statt. Neben einer pragmatisch begründeten Öffentlichkeit – die Landsknechte müssen schließlich ein Urteil fällen und deshalb den Vortrag der Parteien hören – kann man in dem geschlossenen Kreis um die Parteien
Bei dieser Anzahl beteiligter Landsknechte wird davon ausgegangen, dass jeweils drei Räte mit 41 unterschiedlichen Landsknechten gebildet werden. Die Quelle selbst bleibt sehr vage in Bezug auf den zweiten und dritten Rat. Dort steht lediglich: „Jetzt rüfft man einem andern Raht/ der gibt zu gleicher form wie obgemeldt/ darnach im dritten in aller maß vnd gestalt also“ (XXIVb). Nicht recht klar ist dabei, wer den zweiten bzw. dritten Rat aufruft und ob er selbst an diesem teilnimmt, womit die Gesamtzahl der Beteiligten Landsknechte variieren würde. Möller (1976: 239) schreibt dazu, allerdings in Bezug auf eine andere Quelle: „So forderte der Sprecher des ersten 41er-Rates auf, in gleicher Weise ein weiteres Gremium zu bilden […]“. Aber auch Möller erwähnt nicht, ob dieser Sprecher erneut am Rat teilnimmt. Da eine erneute Beteiligung bei Fronsperger nicht explizit erwähnt wird, sondern von „gleicher form“ die Rede ist, gehen wir von der Lesart aus, dass es sich jeweils um 41 unterschiedliche Landsknechte handelt (vgl. auch HRG 1990: 1770).
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auch eine Versinnbildlichung der richterlichen Macht der Umstehenden und des Ausgeliefertseins des Beklagten an diese erkennen. Bemerkenswert ist weiterhin, dass das Recht der langen Spieße nur dann in einem Regiment von Landsknechten zur Anwendung kommen kann, wenn diese es per Mehrheitsentscheid wünschen. Die Abstimmung hierüber findet unmittelbar nach der Aufstellung eines Regiments statt.Voraussetzung dafür ist jedoch, dass der Fürst, dem das Regiment untersteht, diese Prozessform überhaupt genehmigt. Hieran zeigt sich auch, dass Prozessformen unter der Leitung eines Schultheißen als die standardisierten Formen des Militärprozesses gelten können, denn diese stehen stets zur Verfügung.
4.2 Funktionen der Vergemeinschaftung Kommen wir nun zuletzt zur Funktion der Vergemeinschaftung. Möller (1976: 247) bezeichnet das Recht mit den langen Spießen sicherlich nicht völlig zu Unrecht als einen „genossenschaftlich[en] Ritualakt mit Reinigungscharakter“. Das Regiment muss sich als Ganzes von der Schande der Straftat des einzelnen Landsknechts befreien. Möller (ebd.) weist darauf hin, dass vor dem Spießgericht sehr wahrscheinlich nur solche Fälle verhandelt wurden, für die das Todesurteil bereits im Vorfeld als ausgemachte Sache gelten konnte. Dennoch muss man bei der Einordnung des Spießgerichts als Ritual vorsichtig sein, denn wäre es tatsächlich unmöglich, vor diesem freigesprochen zu werden, so müsste es aus dem eigentlichen Kreis der juristischen Prozesse ausscheiden, ist für diese eine Offenheit des Urteils doch konstitutiv. Eine letzte Entscheidung über diese Einordnung müssen wir offen lassen, sicher ist aber, dass das Spießgericht einen rituellen Charakter besitzt. Das Regiment als Einheit ist der wesentliche Bezugspunkt dieses Prozesses. Durch das Fehlverhalten eines Einzelnen wird die gesamte Gemeinschaft angegriffen, dies zeigt sich auch an der musterhaften Formulierung für eine Ansprache des Profoß, die dieser bei Prozesseröffnung hält. Dort sagt er: wie wir anfenglich zusammen geschworen haben/ das wir wöllen gut Regiment füren vnd halten/ dem Armen als dem Reichen/ dem Reichen als dem Armen/ alle vngehorsamkeit zu straffen/ die wider vnser Regiment thun vnd brüchig werden/ (XXIIIb)
Diese Privilegierung der Gemeinschaft gegenüber dem Individuum führt zu einer höheren Bereitschaft, die Interessen des Angeklagten oder auch eigene, beispielsweise in Form freundschaftlicher Bindungen dem Angeklagten gegenüber, zugunsten des Regiments zurückzustellen. Vergemeinschaftung schafft aber auch Verteilung von Verantwortung. Kein einzelner Landsknecht kann als allein verantwortlich, weder für Urteil noch für Vollstreckung, gelten. Diese Verantwortungsverteilung erfüllt durchaus eine Schutzfunktion, denn sie erschwert das Ausfindigmachen eines einzelnen Individuums als lohnenswertes Ziel eines Racheaktes (vgl. Möller 1976: 247 f.).
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5 Ausblicke In Abschnitt 3 ist deutlich geworden, dass der Militärprozess als Interaktionsschema durch enge Grenzen für die Ausführung und das Gelingen von Handlungsschritten bestimmt ist. Sie beruhen vor allem auf dem rechtlichen Formzwang und einer offenbar recht stabilen Tradition, welche die laufende Praxis bestimmt. Zu dieser Tradition gehören auch rechtlich bindende Dokumente wie der Artikelbrief, mit dem sich alle Mitglieder eines Regiments wechselseitig auf eine gemeinsam bindende Rechtsgrundlage festlegen. Dann stellt sich die Frage, welchen Status Fronspergers Werk und das erste „Buch“ über den Militärprozess hat. Die Ausführungen über den Militärprozess sind jedenfalls keine normative Quelle. Sie setzen kein Recht, sondern beschreiben in systematisch geordneter Weise die herrschende Praxis. Damit kann der Text aber auch als Anleitungstext genutzt werden. Dem liegt ein indem-Zusammenhang zugrunde, den man folgendermaßen beschreiben kann: Man kann jemanden anleiten, wie man üblicherweise etwas Bestimmtes (X) tut, indem man beschreibt, wie man X tut und dabei voraussetzt, dass die Beschreibung auch eine zuverlässige Beschreibung der üblichen Praxis ist. Wenn man dem Text von Fronsperger versuchsweise dennoch eine gewisse normative Qualität zuschreiben will, dann kann man sie aus der Qualifikation des Verfassers herleiten, dem man die Fähigkeit unterstellt, die „übliche“, die „gültige“, die traditionell gehandhabte Verfahrensweise beim Militärprozess beschrieben zu haben. Die eigentlichen normativen Grundlagen für das Interaktionsschema „Militärprozess“ liegen dennoch woanders. Im Hinblick auf die Zuverlässigkeit der Beschreibung müssten ggf. natürlich Vergleiche mit weiteren Quellen stattfinden, auch Expertinnen und Experten aus Rechts- und Militärgeschichte müsste man im Hinblick auf die Zuverlässigkeit von Fronspergers Darstellung zu Rate ziehen. Für unsere primär historisch-pragmatische Fragestellung können wir an dieser Stelle darauf verzichten. In methodischer Hinsicht kann man fragen, ob sich ggf. weitere Gesichtspunkte ergäben, wenn man andere historisch-pragmatische Konzeptionen oder Gesichtspunkte heranzöge. So könnte man, um nur ein Beispiel zu nennen, fragen, ob sich trotz des rechtlichen Formzwangs auch Aufschlüsse über Formen historischer Mündlichkeit gewinnen ließen. Aber auch die weiterführende Frage, ob sich aus der Analyse von Texten dieser Art neue Gesichtspunkte für die historisch-pragmatische Theoriebildung ergeben, kann fruchtbar sein. Unsere Darstellung hat z. B. gezeigt, dass sich Gesichtspunkte der Konstitution von Interaktionsschemata gut verbinden lassen mit weiterführenden Fragen historischer Lebenswelten, etwa Fragen der Vergemeinschaftung oder nach dem Zusammenspiel von sprachlichen und nichtsprachlichen Komponenten bis hin zur gewaltsamen kollektiven Tötung im Rahmen des „Rechts der langen Spieße“.
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Abschließend möchten wir noch mitteilen, dass die beiden Autoren eine digitale Edition des ersten „Buchs“ vorbereiten. Sie soll eine Open-Access-Publikation mit einer Online- und einer Druckoption sein. Die Textausgabe soll mit einer systematischen Einleitung versehen sein, in der wir auch die kommunikationsgeschichtliche Studie, die wir hier vorlegen, weiter ausbauen wollen. Parallel zur Open-Access-Publikation soll der Text auch in das Deutsche Textarchiv eingespielt werden, damit er für systematische Korpusstudien zu unterschiedlichen Fragestellungen (Lexik, Syntax, Morphologie, …) zur Verfügung steht.
Bibliographie Fritz, Gerd (1994): Geschichte von Dialogformen. – In: Gerd Fritz / Franz Hundsnurscher (eds.): Handbuch der Dialoganalyse, 545 – 562. Tübingen: Niemeyer. Fritz, Gerd (1995): Topics in the history of dialogue forms. − In: Andreas H. Jucker (ed.): Historical Pragmatics, 449 – 477. Amsterdam: John Benjamins. Fritz, Gerd (2008): Communication principles for controversies. A historical perspective. − In: Frans H. van Eemeren / Bart Garssen (eds.): Controversy and Confrontation: Relating Controversy Analysis with Argumentation Theory. Amsterdam / Philadelphia, 109 – 124. Fritz, Gerd (2012): Kontroversen − Ein Paradigma für die Geschichte von Kommunikationsformen. – In: Peter Ernst (ed.): Historische Pragmatik. Berlin / Boston: De Gruyter, 105 – 126. Fritz, Gerd (22017): Dynamische Texttheorie. – Gießen: Gießener Elektronische Bibliothek. Fritz, Gerd / Gloning, Thomas / Glüer, Juliane (2018): Historical Pragmatics of Controversies. Case studies from 1600 to 1800. – Amsterdam / Philadelphia: John Benjamins. Fronsperger, Leonhart (1565): Von Kayserlichem Kriegßrechten Malefitz vnd Schuldhändlen/ Ordnung vnd Regiment […]. – Frankfurt am Main: Feyerabend / Hüter. Gloning, Thomas (1993): Sprachreflexive Textstellen als Quellen für die Geschichte von Kommunikationsformen. − In: Löffler, Heinrich (ed.): Dialoganalyse IV. Referate der 4. Arbeitstagung, Basel 1992. Teil 1. 207 – 217. Tübingen: Niemeyer. Gloning, Thomas (1999): The pragmatic form of religious controversies around 1600. A case study in the Osiander vs. Scherer & Rosenbusch controversy. − In: Andreas H. Jucker / Gerd Fritz / Franz Lebsanft, (eds.): Historical dialogue analysis, 81 – 110. Amsterdam / Philadelphia: John Benjamins. Gloning, Thomas (2012): Diskursive Praktiken, Textorganisation und Wortgebrauch im Umkreis der ersten Frauenbewegung um 1900. − In: Peter Ernst (ed.): Historische Pragmatik, 127 – 146. Berlin / Boston: De Gruyter. Henne, Helmut/Rehbock, Helmut (42001): Einführung in die Gesprächsanalyse. – Berlin / New York: De Gruyter. HRG = Erler, Adalbert / Kaufmann, Ekkehard (ed.) (1990): Handbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 4. – Berlin: Schmidt. Huber, Max (1961): Fronsperger, Leonhardt. – In: Neue Deutsche Biographie. Online: https://www. deutsche-biographie.de/pnd124630642.html. Heidelberger Akademie der Wissenschaften (ed.) (1996): Deutsches Rechtswörterbuch. Wörterbuch der älteren deutschen Rechtssprache. Bd. 9. – Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger. Möller, Hans-Michael (1976): Das Regiment der Landsknechte. Untersuchungen zu Verfassung, Recht und Selbstverständnis in deutschen Söldnerheeren des 16. Jahrhunderts. – Wiesbaden: Steiner.
Mechthild Albert
Gespräch und Gemeinschaftsbildung in höfischem und bürgerlichem Kontext: Die Dialoge Corte en aldea (1619) und Aldea na corte (1750) im Vergleich Eines der wirkmächtigsten Modelle von Gemeinschaftsbildung durch gelungene Gespräche ist zweifellos Baldassare Castigliones Cortegiano (1528). Im Medium des literarischen Dialogs wird die gesellige Unterhaltung am Hof von Urbino zu einer kulturellen Norm erhoben, die in historischer, geographischer und sozialer Hinsicht eine nachhaltige Rezeption erfährt.¹ Das zunächst auf den Hof beschränkte, ja den Hof geradezu definierende Interaktionsmodell verliert wenig später seinen ‚ex-klusiven‘ Charakter und verbreitet sich dank der entsprechenden Traktatliteratur als Standard einer allgemeinverbindlichen Höflichkeit in breiteren Kreisen: la cour et la ville, neuem Adel und Bürgertum. Inbegriff einer Verbürgerlichung höfischer Normen ist Giovanni della Casas Galateo von 1558, den Lucas Gracián Dantisco 1590 unter dem Titel Galateo español ins Spanische überträgt und adaptiert. In dieser Tradition publiziert der Portugiese Francisco Rodrigues Lobo 1619 seinen Dialogtraktat Corte en aldea, y noches de invierno, der 1622 ins Spanische übersetzt wird.² Mehr als ein Jahrhundert später nimmt sein Landsmann Bento Antonio darauf Bezug mit dem ebenfalls in Gesprächsform gehaltenen Text Aldea na corte, e noites de verão, seguidas às noites de Inverno de Francisco Rodrigues Lobo, der im Jahr 1750 erscheint, mithin noch vor dem verheerenden Erdbeben und den tiefgreifenden Umbrüchen in der portugiesischen Monarchie. Beide Werke greifen in ihrem Titel die in Antonio de Guevaras Menosprecio de corte y alabanza de aldea (1539) im Sinne der Hofkritik als Antipoden verstandenen Räume Hof und Dorf auf, um sie in ein dialektisches Spannungsverhältnis zu setzen, welches letztlich auf eine soziale Entgrenzung, will sagen Verbürgerlichung hinausläuft. In ihrer Kombination aus Titel und Untertitel signalisieren beide Werke raumzeitliche Koordinaten, welche einen Chronotopos bezeichnen, der sich durch eine spezifische Gemeinschaftsbildung auszeichnet, nämlich die durch ‚flache Hierarchien‘ gekennzeichnete Kontaktzone von Hof und Dorf und die Geselligkeit der Winterbzw. Sommerabende. Nicht zufällig scheint der Untertitel Noches de invierno auf die zehn Jahre zuvor (1609) im Gefolge der Piacevoli notti Straparolas erschienene gleichnamige Novellensammlung anzuspielen, mit der Antonio Eslava noch vor den
Vgl. Burke 1995, Strosetzki 1978, Strosetzki 1988, Strosetzki 2013. Portugiesische Originalausgabe von 1619. Spanische Übersetzung von Juan Baptista de Morales, publiziert 1622 in Montilla „por el autor y a su costa“, gewidmet Doña Ana Porto Carrero y Cárdenas, Marquesa de Montalbán y de Alcalá. https://doi.org/10.1515/9783110592580-008
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Mechthild Albert
Novelas ejemplares zum Erfolg dieser Gattung in Spanien beiträgt (vgl. Albert 2014). Antonios Sommernächte, die ihrerseits zwischen dem 28. Juni und 5. Juli im Landhaus eines Apothekers am Rande der Villa y Corte Lissabon stattfinden, erinnern mit diesem Setting ebenfalls an klassische Novellensammlungen des Siglo de Oro – eine Gattung, die Asunción Rallo als „Schule der Höflichkeit“, „escuela de cortesanía“, bezeichnet (Rallo 1989: 174); man denke etwa an Castillo Solórzanos Tardes entretenidas (1625) oder Tirso de Molinas Cigarrales de Toledo (1621). Die Affinität zwischen Dialogtraktat und Novellistik³ manifestiert sich nicht zuletzt darin, dass beide portugiesischen Dialoge dem Erzählen von Geschichten, Anekdoten und Exempla durch das Interkalieren entsprechender Narrationen einen bedeutenden Platz einräumen, wobei Rodrigues Lobo, wie bereits Castiglione, das Geschichtenerzählen als Sonderfall geselliger Konversation eigens erörtert. Im Folgenden sollen die beiden Dialoge des 17. und 18. Jahrhunderts kontrastiv präsentiert und im Hinblick auf die jeweils epochentypische Gemeinschaftsbildung durch das Gespräch miteinander verglichen werden, wobei die Noites de verão ausführlicher referiert werden, da sie von der Literaturkritik bislang kaum zur Kenntnis genommen wurden. Die Winternächte des Monats November lokalisieren sich in einer „graciosa Aldea“, einem Rückzugsort vom Hof, auf dem Alterssitz eines verdienten Höflings: […] y por este respecto fue siempre este sitio escogido para desvío de la Corte, y voluntario destierro del tráfago de ella, de los Cortesanos que allí tenían Quintas, amigos, ò heredades, teniéndola por refugio y amparo de los excesivos gastos de la Ciudad. (Rodrigues Lobo 1622: 2)
Neben dem Gastgeber Leonardo, „que en otra edad había asistido en Palacio en servicio de los Reyes“, weist auch einer der Gäste, Solino, „un viejo no muy rico“,⁴ einen Bezug zum Hof auf, denn „había servido a uno de los Grandes de la Corte“ (Rodrigues Lobo 1622: 2). Ausgewiesen als „bien criado“, besitzt er Vorbildfunktion und zeichnet sich insbesondere durch die meisterliche Beherrschung der Scherzrede aus. Der humanistisch gebildete Jurist Livio hingegen, „leído en historias humanas“, ist zwar nicht dem Hof verbunden, hat sich aber in der Stadt große Dienste um das Gemeinwohl erworben: „había tenido honrados cargos de gobierno de justicia en la Ciudad“ (Rodrigues Lobo 1622: 2). Zu den Senioren gesellen sich, in der Schülerrolle. zwei junge Männer: ein der Lyrik zugetaner „estudiante de buen ingenio“ mit dem Pseudonym Pindaro und ein von der Jagd begeisterter „hidalgo mancebo“. Weibliche Akteure bzw. Sprecherinnen fehlen in beiden Dialogen übrigens völlig. Ein verbindendes Element zwischen höfischem und bürgerlichem Kontext ist offensichtlich die Jagdleidenschaft, welche in den Sommernächten des 18. Jh. von einem Jagdhüter (coiteiro) vertreten wird, dem – neben dem gastgebenden Apotheker (boticario) – ein Chirurg und wiederum ein historisch gebildeter Jurist (letrado) zur
Vgl. Albert 2015, Albert 2016. Der wiederholte Hinweis auf die geringen Einkünfte und das günstigere Leben auf dem Dorf ist bemerkenswert.
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Seite gestellt werden, letzterer übrigens in beiden Fällen häufig Wortführer. Darüber hinaus nehmen an der Konversation der dem Militär zuzuordnende Pardalicio und Sibero teil sowie weitere sporadisch auftretende Sprecher. Dabei fällt auf, dass der Berufsstand und dessen je spezifisches Wissen des Öfteren thematisiert werden, beispielsweise im Exkurs über Ärzte und Barbiere (Antonio 1750: 46 ff.). Auch der quantitative wie qualitative Anteil der Dienerschaft ist bemerkenswert, die durch Baláo, Pascoal, Galego und Marocio vertreten wird und deren Stellenwert sowohl hinsichtlich ihrer Rolle im Gespräch (Adressat vs. Sprecher) als auch bezüglich ihrer Wertschätzung seitens der Herren schwankt, was später noch zu kommentieren sein wird. Im Vergleich beider Dialoge ist jedenfalls eine deutliche Verlagerung vom Hof zum städtischen Bürgertum zu beobachten, insofern einerseits keiner der Akteure von 1750 einen ausdrücklichen Bezug zum Hof aufweist und andererseits eine auffällige – und neue – Präsenz von Dienerfiguren zu beobachten ist.
1 Noches de invierno Rodrigues Lobo konzipiert sein Werk Corte en aldea, y noches de invierno als Medium des Transfers der Höflichkeitsnormen von der höfischen in die städtisch-bürgerliche Sphäre, weshalb er sich mit der „buena crianza“ auf die allgemeinsten kodifizierten Umgangsformen bezieht: „de la ceremonia se deriva la cortesía, y della la buena crianza, bajando por gradas“ (Rodrigues Lobo 1622: 200). Neben Militär (Diálogo XV) und Universitäten (Diálogo XVI) geht besagte „(buena) crianza“ jedoch vor allem aus dem Bereich des Hofes hervor (Diálogo XIV). Hof und Stadt fungieren dabei als Ursprungs- und Vermittlungsraum der Höflichkeit: „Buena crianza es el trato de hombres bien doctrinados, o por experiencia de la Corte, y de la Ciudad, o por enseñanza de otros que en ella vivieron“ (Rodrigues Lobo 1622: 201), wo anhand von vier didaktischen Situationen – „el encuentro, la visita, la mesa, y la conversación“ (Rodrigues Lobo 1622: 202) – ihre Regeln und Normen als Erfahrungswissen vermittelt werden. Im Zuge der soziokulturellen Veränderungen der Zeit, wie einer verstärkten vertikalen und territorialen Mobilität, und dem damit einhergehenden wachsenden kulturellen Interesse, gewinnt zunehmend auch die Literatur als Wissensvermittler an Bedeutung. Traktat- und Ratgeberliteratur etablieren sich als weitere Quellen des Wissens um höfische Normen. Sowohl Rodrigues Lobos direkter Bezug zu Ciceros Tugend der urbanitas, also „cortesía“, „comedimiento“, „buen modo“ (Rodrigues Lobo 1622: 200), als auch die Charakterisierung des Werks durch den Übersetzer als „Escuela universal donde puede aprender uno a ser hombre, y merecer este nombre“ (Rodrigues Lobo 1622: s.p.), sind Indiz für das zugrundeliegende humanistische Ideal. Nach einem einführenden Kapitel in Dialogform zu Lektüre und literarischen Gattungen sowie den jeweiligen Vorzügen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit vertieft Rodrigues Lobo zunächst letztere in Form eines Briefstellers (Diálogo II y III), der auch eine Auswahl antiker und moderner Briefe enthält (z. B. Cicero an Cornelius, Poliziano an Lorenzo il Magnifico). Der vierte Dialog widmet sich diplomatischen
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Gesandtschaften (einschließlich Botschafter-Porträts) und privaten Besuchen, bis hin zum Umgang mit Dienern und Sklaven oder Kupplerinnen („Recados de los terceros, y alcahuetas“). Es folgen moralphilosophische Überlegungen zu positiven und negativen Affekten, beginnend mit der Zuneigung, gefolgt von der Unterscheidung zwischen Liebe und Habgier bis hin zur Klage über die Macht des Goldes und des Eigennutzes, mit Exkursen zu Neid und Kommerz. Während es bei den „Encarecimientos“ in Dialog 5 als eine rudimentäre ars amatoria um Liebe und Verlieben geht, wird die Freundschaft en passant im Dialog 6 zu Liebe und Habsucht erwähnt – mit der bekannten Formel Ciceros, wonach der Freund ein zweites Ich ist bzw. Freundschaft die Einheit einer Seele in zwei Körpern bedeutet (Rodrigues Lobo 1622: 109). Die gesellige Unterhaltung als Kernstück der Höflichkeit ist Gegenstand der Dialoge 8 und 9, wobei Rodrigues Lobo kurioserweise als erstes auf die „eloquencia corporal“ (Rodrigues Lobo 1622: 134) eingeht. Im Einzelnen berücksichtigt er dabei u. a. die „gracia de la voz“, die „viveza de los ojos“, die Mimik der Stirnfalten sowie die Gestik der Hände und das Lachen. Von Interesse ist eine interkulturelle Betrachtung zur „Differencia del pronunciar de las naciones“ (Rodrigues Lobo 1622: 136), komplementär zur „Comunicación de los Estrangeros“ (Rodrigues Lobo 1622: 235), die im Dialog XIV zur „criança de la Corte“ Erwähnung findet. Die Konversationsrhetorik im engeren Sinne wird im Diálogo IX unter dem Titel „De la platica, y disposición de las palabras“ abgehandelt. Rhetorisches Ideal des sermo familiaris, der „platica vulgar“ (Rodrigues Lobo 1622: 150), sind die Schmucklosigkeit und Natürlichkeit⁵ der Rede, die gleichbedeutend sind mit Präzision und Exaktheit: „es lo mismo hablar vulgar y propriamente que hablar bien“ (Rodrigues Lobo 1622: 155), „hablar con propiedad es con palabras naturales“ (Rodrigues Lobo 1622: 150). An diesem Ideal wird jeglicher Normverstoß, wie etwa die hohe sprachliche Opazität des Barockismus, gemessen, durch den der Redner sich auf Kosten von Klarheit und allgemeiner Verständlichkeit zu profilieren sucht: „Con una sola razón […] condenara yo a toda esa turba de los que en el hablar quieren parecer singulares, y es que no hablan para que los entiendan mejor, sino para que se admiren de su extraña elocuencia y admirable elegancia“ (Rodrigues Lobo 1622: 154). Maßgeblich ist die Vermeidung eines Ungleichgewichts der Sprache zwischen Kommunikationssituation und -teilnehmern: „la valança de las palabras“ (Rodrigues Lobo 1622: 156) sollte gewahrt werden. Verstöße gegen das decorum, wie das Ausspielen des eigenen höheren Wissenshorizontes aus Eitelkeit innerhalb eines geselligen Rahmens, gelten als „vicio“ und finden ihren sprachlichen Ausdruck in Latinismen, ungeläufigen geografischen Referenzen oder spezifischem Fachvokabular (vgl. Albert 2015). Das decorum als oberste Norm bildet insofern die Garantie für das Gelingen der Gespräche. Das Auflockern des Gesprächs durch Geschichten, Scherze und geistreiche Pointen („dichos agudos“) wird in zwei anschließenden Dialogen erörtert. Bevor zu guter Letzt die spezifische Prägung durch die verschiedenen sozialen Milieus von Hof,
Vgl. „la verdadera discreción es natural“ (Rodrigues Lobo 1622: 144).
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Militär und Universität Berücksichtigung findet, wird die Höflichkeit als solche in den Mittelpunkt gestellt, und zwar in Abgrenzung von der förmlichen Zeremonie, in ihrem Verhältnis zur alten aristokratischen Tugend der Freigebigkeit („liberalidad“) und in ihren verschiedenen situativen Formen und Manifestationen: dem Handkuss und dem Lüften des Hutes, beim Spaziergang und bei Tisch. In diesem Zusammenhang finden sich auch die Metaphern des „Cumplimento, alquimia de palabras“ (Rodrigues Lobo 1622: 213) und der „Mercedes, grillos de la libertad“ (Rodrigues Lobo 1622: 231): Komplimente verzaubern, Aufmerksamkeiten verpflichten und bilden somit den Zusammenhalt von Gemeinschaft.
2 Noites de verão Den bereits im Titel seiner Sommernächte anklingenden Bezug auf seinen illustren Vorgänger erläutert Bento Antonio, ein ansonsten völlig unbekannter Autor, zu Beginn seines Werkes wie folgt: Passado o tempo do nosso Francisco Rodrigues Lobo, e não havendo na occasião presente para onde se passar tão impertinentes noites, se ajustárão huns amigos, que logo os nomearei, que para lograrem o passatempo mais commodo era necesario fazer huma sociedade como a de Francisco Rodrigues Lobo, e que em lugar da Corte na Aldea se faria Aldea na Corte, em hum sitio mui ameno, e onde a desembocadura do aqueducto de aguas libres faz o seu recinto com o Tejo à vista, e huma bella ribeira, que a rega, e cercada de quintas. (Antonio 1750: 1 f.)
In diesem für die Dialog- und Novellentradition seit der Renaissance konstitutiven Szenario (Sommerresidenz, „quinta“, locus amoenus), konfiguriert sich der narrativdialogische Rahmen als bewusste Setzung, als eine für den angenehmen Zeitvertreib notwendige Konstituierung von Geselligkeit bzw. Gemeinschaftsbildung – nach dem Vorbild des barocken Höflingstraktats: „era necesario fazer huma sociedade como a de Francisco Rodrigues Lobo“. Dementsprechend gliedert sich das Werk in sieben mit „Sociedade“ (primeira, segunda, etc.) überschriebene Kapitel im Unterschied zu den „Diálogos“ der Noches de invierno. Eine Ausnahme bildet das letzten Kapitel, das als Tag des Abschieds mit „Dia patetico, saudoso, e divertido entre os mesmos amigos“ überschrieben ist und am Mittag statt Abend, Dia statt Noite, stattfindet (Antonio 1750: 202). Während es sich bei den Noches de invierno um einen systematischen Höflichkeitstraktat handelt, dessen 16 Discursos in weitere Abschnitte untergliedert sind, welche im abschließenden Inhaltsverzeichnis leserfreundlich aufgeführt werden, bieten die Noites de verão als typische Miscelánea ein populär-enzyklopädisches Sammelsurium von ‚merkwürdigen‘ und unterhaltsamen Informationen. Das Themenspektrum reicht dabei von den Sitten und Gebräuchen der Türken über die Gefahren des Alkohols bis hin zu den Kurfürsten des Heiligen Römischen Reichs. Durchsetzt sind diese Gespräche von kurzen narrativen Texten, die als casos bezeichnet werden, bzw. als historia curiosa (12), celebre (19), galante (87), discreta (89),
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darunter eine Wiederaufnahme der Escudero-Episode aus dem Lazarillo, sowie vor allem Exempla aus Antike und Moderne als Schwundstufe humanistischer Bildung. Die Gesprächsthemen sind teils situativ motiviert, teils in den jeweiligen beruflichen Schwerpunkten begründet, teils werden sie durch unvermittelte Fragen herbeigeführt – vor allem jedoch reflektieren sie aufklärerische Interessen, wie z. B. das Verhältnis von Kindern und Eltern, die verschiedenen Regierungsformen sowie Kosmopolitismus, Welterfahrung und Kulturkontakt – Gegenstände, die den bürgerlichen Sommerfrischlern u. a. von einem weitgereisten Soldaten oder einem langjährigen Gefangenen der Osmanen nahegebracht werden.
2.1 Selbstreflexivität Die Unterhaltung über solche epochentypischen Stoffe wird begleitet von einer permanenten Selbstreflexivität, die vorzugsweise nach Redebeiträgen bzw. am Anfang und Ende der „Sociedades“ stattfindet. Darin wird ein Ideal der Natürlichkeit und Unmittelbarkeit beschworen, welches in der Praxis jedoch keineswegs beispielhaft vorgeführt wird, die vielmehr über weite Strecken zwischen hyperbolischer Rhetorik und derbem Umgangston schwankt. Die Meta-Ebene ist zunächst wenig entwickelt und setzt merklich erst während der dritten Abendgesellschaft ein. Hier wehrt der als gelehrt und eloquent gelobte Jurist die Komplimente der anderen mit affektierter Bescheidenheit ab, wisse er doch um seine Unwissenheit und setze seine Ausführungen nur auf deren Wunsch hin fort und um die Nacht zu verkürzen.⁶ Sibero dagegen nimmt ironisch ohne weitere Zeremonie das Amt des Zeremonienmeisters wahr,⁷ ist das Zeremoniell doch nur gegenüber „estranhos“ angezeigt (Antonio 1750: 148). Als der Gastgeber am folgenden Tag erkrankt, überbringt ihm der ‚Zeremonienmeister‘ Sibero im Namen der geselligen Runde überschwängliche Genesungswünsche und bietet ihm, dem Apotheker, beziehungsreich die Freundschaft als Heilkraut gegen sein Leiden an: „e assim vede se escolheis en algum de nós especie alguma para o vosso alivio, pois delle nasce a fonte para nosso: estai seguro na nossa firmeza de affecto pelos vossos leaes amigos“ (Antonio 1750: 45). Andererseits beendet derselbe Sibero den informativen Bericht eines schiffbrüchigen Soldaten mit einem
„Nós estimariamos ouvir-vos; porque alèm de seres tão douto, a grande eloquencia, com que fallais em toda a materia. Acudio elle: Eu não me desvaneço, por conhecer que em vós he passar tempo, pois conheceis bem a verdade, e dizendo o contrario haveis de ser censurado; mas eu relato por fazer a noite curta“ (Antonio 1750: 25). „Respondeo elle: Na minha opinião não me pedis, senão me mandais, e só sinto que vos fieis, que em mim possa haver cousa, com que vos possa satisfazer o vosso desejo, pois conheço muito bem a minha ignorancia; mas para vos dar gosto, e vos satisfazer o vosso appetite, eu prosigo“ (Antonio 1750: 32 f.). „[…] e eu sem mais ceremonia digo, que hei de fazer daqui por diante o officio de Mestre das Cemeronias; o que todos louvárão muito, e disserão: Nós nos conformamos com a vossa vontade com summo gosto, e bom he que vamos descançar todos, […]“ (Antonio 1750: 43).
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bissigen Scherz über den ebenso regelmäßigen wie unliebsamen Gast, während sich ein anderer aus der Runde für dessen „discreta pratica“ bzw. „lição“ bedankt (Antonio 1750: 69). Daneben überrascht es, dass Tischgespräche offensichtlich als unpassend gelten, wie sich aus einem Ordnungsruf Pardalicios schließen lässt, der nach kurzem Abschweifen mahnt: „mas deixemos esta materia, vamos a acabar de jantar, que a meza não he para conversar“ (Antonio 1750: 207). Dementsprechend wird die Mahlzeit, zumal in Abwesenheit weiblicher Akteure, lediglich von hölzernen Komplimenten begleitet, deren Steigerung „boa, melhor, mais remelhor, excelente“ die Speisefolge von der Suppe über Rindfleisch und Kaninchen bis zum Spanferkel kommentiert (Antonio 1750: 205).
2.2 Sprache und Rhetorik Ein Thema des vierten Abends ist die Sprache, wobei Pardalicio – im Modus fingierter Mündlichkeit – das Thema linguistischer Differenz in den Fokus nimmt, das bereits bei Rodrigues Lobo Beachtung gefunden hatte (vgl. Rodrigues Lobo 1622: 136 f., 270 – 272 u. a.). Dabei werden Redensarten und Begriffe, Dialekte und Soziolekte sowie Unterschiede zwischen Nationalsprachen thematisiert. „Fallar (acudio o Pardalicio) he sem duvida que sobre o fallar ha muitas mudanças, pois huns fallão differentemente a mesma lingua“ (Antonio 1750: 50 f.). Diese Beobachtung wird unterstützt vom Juristen, der eine Reihe von Beispielen sprachlicher Varianten anführt, um daran ein Plädoyer für das Ideal des „naturel“ anzuschließen, welches im Unterschied zum affektierten Sprechen und der entsprechenden Mimik („contrafeito“, „lisonja“) der Geselligkeit besonders zuträglich sei: Com que nestes modos de fallar ha muitas diversidades; e não digo que se falle por integras, pois o fallar ha de ser verdadeiro, e natural, e não contrafeito, e com affectação; rindo-se, por ver rir os outros, com hum rizo seco, e fallando por lisonja. Se ouvem dizer: He pintado, jà dizem: He; se o não dizem, dizem que não; e este viver he muito máo para adquirir sociedade com ninguem. (Antonio 1750: 51 f.)
Der Gastgeber stellt die sprachlichen Varietäten daraufhin in einen europäischen Kontext, wobei er insbesondere die Vielfalt der deutschen Sprache hervorhebt, angesichts von deren Kompliziertheit der Fremde lieber auf das Lateinische oder Französische als europäische Koine ausweiche (Antonio 1750: 55). Die Schmeichelei, über die in der siebten Gesprächsrunde ausführlich debattiert wird, erscheint unter dem Vorzeichen von Empfindsamkeit und Aufrichtigkeit als das größte Übel gesellschaftlichen Zusammenlebens: E como a lisonja he huma sujeita, que caminhou tanto, sem torcer muito, que logo quiz ser cortezã, onde toma o seu aposento na Cidade maior; e deitando huma vista de olhos para os demais lugares, vai fazer o seu ninho. (Antonio 1750: 189 f.)
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Gleich Fortuna bestimmt sie über Wohl und Wehe, sozialen Auf- und Abstieg der Menschen, die sie allesamt – durch das gesprochene wie das geschriebene Wort, in Gespräch und Brief – zu Lügnern macht: „que esta faz fazer a todos o officio de mentirosos, de embusteiros, de caloteiros, e de todos os máos vicios“ (Antonio 1750: 194). Obwohl diese konventionelle Form sozialer Heuchelei trotz ihrer moralischen Verwerflichkeit noch von der Bösartigkeit, der „malicia“, zu unterscheiden ist (Antonio 1750: 194 ff.), löst sie aber dennoch eine Zeitenklage⁸ – „como tudo anda errado“ – über das Misstrauen in der Freundschaft und den Verfall der Wahrheit aus (Antonio 1750: 197). Man konstatiert schließlich die Pervertierung eines humanistischen Menschenbildes unter dem Zeichen von Trunkenheit, Lüge und Hinterlist: „se se não embebedão, se não mentem, se não fazem travessuras, jà dizem: Não he homem.“ (Antonio 1750: 198 f.). Deutlich artikuliert sich hier die im Medium des Gesprächs konstituierte Gemeinschaft als Wertegemeinschaft, die einem bestimmten anthropologischen Ideal verpflichtet ist, das sich, wie auch bei Rodrigues Lobo, vom Humanismus herleitet.
2.3 Gemeinschaftsbildung Ausnahme von dieser pessimistischen Sichtweise ist selbstverständlich die ideale Geselligkeit der Gesprächsrunde, die von Freundschaft getragen wird. In diesem Sinne behandelt Sociedade V die für die Gemeinschaftsbildung zentrale Frage nach der Freundschaft bzw. nach dem Unterschied zwischen Freunden und Bekannten, ausgehend von der Klage über den Verfall von Freundschaft und caritas angesichts des obwaltenden Eigeninteresses: „faltando esta [i. e. a conveniencia propria], jà não ha caridade, jà não ha amizade“ (Antonio 1750: 82). An die Stelle der Freunde seien die „conhecidos“ getreten, das gegenwärtig ‚in unserer Hemisphäre‘ dominierende Konzept (Antonio 1750: 83). Daraufhin ergreift der Letrado das Wort, um beide Begriffe zu definieren und voneinander zu unterscheiden: […] digo que amizade ou amigos são aquelles, a quem a fidelidade de amigo attrahe a si toda a acção propria, tanto para a defensa, como para o soccorro, com que fazem dos seus bens cousa propria, que nas paixões são no sentimento iguaes, repartidas nas afflicções são fieis companhias, desabafo de tristezas, meditações dos projectos, e assim só destes he que falla o nome de amigos; […]. (Antonio 1750: 83 f.)
Im Unterschied zu den treuen Freunden seien bloße Bekannte, deren Anzahl unbeschränkt ist, alles andere als verlässlich und folgten primär ihrem eigenen Interesse (Antonio 1750: 85). Als mustergültig lobt Sibero daraufhin die eigene „assemblea“ und deren gelehrte Geselligkeit sowie insbesondere die differenzierte Rede des Letrado,
Der Topos der Zeitenklage ist in vielerlei Hinsicht präsent (Wahrheit vs. Heuchelei, Kriege einst – jetzt, Vergangenheit vs. Gegenwart, Ehre vs. Ehrvergessenheit, Egoismus vs. caridade, etc.).
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wobei er zugleich auf den Unterschied zwischen zwanglosen „cortezias“ und förmlichen „ceremonias“ abhebt (Antonio 1750: 86). Die Problematik, angesichts immer zahlreicherer oberflächlicher Kontakte eine ausgewählte und authentische, auf gemeinsamen Werten und Affekten basierende Gemeinschaft zu finden bzw. zu schaffen, wird bedingt durch einen Prozess der Landflucht, Urbanisierung und kosmopolitischen Öffnung, der fünf Jahre vor dem Erdbeben von Lissabon auch Portugal erreicht hat, zumindest auf diskursiver Ebene. Die Großstadt, so heißt es daher, sei der einzig angemessene Lebensraum eines „espirito elevado“, „animo nobre, e litterato“, denn nur hier finde er jene „conversações virtuosas, e honradas, que appetece para seu nutrimento“ (Antonio 1750: 100 – 102). Um das Bedürfnis nach intellektuellem Austausch zu befriedigen, übersiedelt der künftige „litterato“ vom Land in die Stadt.⁹ Diese historische Gegenbewegung zur Antinomie von corte und aldea, wie sie etwa bei Guevara für die höfische Gesellschaft charakteristisch war, stellt denn auch die kontrafaktische Umkehrung des Titels von Corte en aldea zu Aldea na corte in einen größeren kulturgeschichtlichen Kontext. Neben dem Leitbild des „litterato“ ist hier, wenige Jahre vor dem Erdbeben von Lissabon, das Lob der Metropole als Ort sozialer Mobilität im Sinne des Tugendadels bemerkenswert.¹⁰ Dieser Prozess der Horizonterweiterung (Land > Stadt) setzt sich auf der Ebene staatlich-politischer Entitäten fort, wenn an die Stelle des Vaterlands die Weltbürgerschaft tritt. Der „doce engano da patria“ wird demythifiziert und durch die freie Entscheidung des Kosmopoliten ersetzt, der sich eine der großen internationalen Metropolen zur Heimat erwählt: „e tem por patria ao mundo, e por casa a virtude; e quem conhecendo a esterilidade da sua patria procura com suas operações adquirirse outra mais fecunda, se acredita de homem de bom, e formidavel juizo“ (Antonio 1750: 99). Als Wahlheimat großer Geister¹¹ schwebt den bürgerlichen Sommerfrischlern in ihrem Lissaboner Landhaus nichts Geringeres als die europäischen Traumstädte vor: „escolher huma patria, que faça milagres, como París, Madrid, Lisboa, Londres, Roma, Napoles, Vienna, Amsterdão, e outras que conhecem, e estimão os espiritos elevados“ (Antonio 1750: 100 f.).
„[…] muito melhor condição he a de hum animo nobre, e litterato, que vive em huma Cidade grande com alguma necessidade, que a de quem póde soffrer ver-se enterrado vivo em hum vil sepulcro, ainda que abundante de toda a delicia“, „[…] quando se contenta de viver em hum lugar curto, que se bem se póde sustentar o corpo com alimentos mui delicados, não póde separar a fome do animo, que se vê distante daquellas conversações virtuosas, e honradas, que appetece para seu nutrimento“ (Antonio 1750: 101, 102). „[…] o homem de nascimento humilde, e de animo nobre, que procura adquirir a verdadeira nobreza, que não herdou de seus pais, com suas boas operações“ (Antonio 1750: 104). „Só he patria de homens grandes a que póde fazellos felices“ (Antonio 1750: 100).
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2.4 Enzyklopädik und Weltwissen Als eine Erbschaftsangelegenheit den Gastgeber nach Santiago ruft, trifft sich die bürgerliche „sociedade“ ein letztes Mal, um ihre Gemeinschaft zu feiern, wobei zugleich deren emotionaler Charakter wie auch ihr didaktischer Impetus kulminieren. Im Verlauf der heterogenen Dialoge hatte sich immer wieder der tendenziell enzyklopädische Charakter dieser Miscelánea gezeigt: Die Gelehrsamkeit der Redner wird gelobt (passim), der Kopf des Boticario als „botica Filosofal“ gepriesen,¹² ja die gesellige Runde als „hum colegio de todas as artes“ apostrophiert.¹³ Dabei lässt sich humanistisches Buchwissen von berufsbedingtem Erfahrungswissen und darüber hinaus reichendem Weltwissen unterscheiden, wie es etwa von außen durch den ehemaligen Gefangenen der Osmanen oder den schiffbrüchigen Weltreisenden vermittelt wird. Neben Informationen über die sieben Kurfürsten, die militärische Schlagkraft von Janitscharen und Spahis oder das Heer Peters des Großen, über die absolute Monarchie und das Verhältnis zwischen Volk und Herrscher ist hier vor allem der Bericht über die Sitten und Gebräuche der Türkei aufschlussreich, die als Gegenmodell zur abendländischen Höflichkeit fungiert. So heißt es gleich eingangs von den Osmanen: „São grosseiros em o modo de viver, e não se lhes dá nada, como na Europa, da delicadeza dos comeres“ (Antonio 1750: 163). Vom Chirurgen nach den türkischen Frauen befragt, berichtet Amete Carrança von deren Verschleierung, selbst gegenüber Ehemann und Kindern, und von den aufwendigen Besuchen bei ihrer Herkunftsfamilie, die ihnen gelegentlich gestattet werden. Zu den „costumes barbaros“ (Antonio 1750: 184) zählt insbesondere auch die Verachtung der ‚edelsten Künste‘, speziell der Musik und des Tanzes, deren Ausübung christlichen Hausierern bzw. Straßenmusikanten überlassen wird (Antonio 1750: 185 f.). Beim Abschied der geselligen Runde häufen sich die „delicados, e subtís documentos“, „engenhosos dictames“ und „licão[s] tão douta[s]“ (Antonio 1750: 213 f.). Adressat dieser „muitos bons conselhos“ (Antonio 1750: 209) ist Pascoal, der Diener des Gastgebers, an den sich Sibero mit den Worten wendet: „te quero instruir em alguns pontos, de que eu jà sou examinado, e algum dia cahi nelles“ (Antonio 1750: 214), worin die weitere Popularisierung eines kulturellen Wissens zum Ausdruck kommt, das nach seiner ‚Verbürgerlichung‘ nun an den unteren Rand der Gesellschaft durchdringt. Mit Ausnahme des Juristen und des Chirurgen geben ihm alle Gäste gesammelte Lebensweisheiten mit auf den Weg: Sein Herr, der Apotheker erläutert
So das Kompliment des Letrado an den Hausherrn : „Assim como vós tendes tudo na vossa botica, assim tambem a vossa cabeça se póde chamar botica Filosofal; pois em toda materia discorreis, que eu sem lisonja vos digo, que me encurto, e fico suspenso de fallar em vossa presença. Disse elle: Agora por certo que me pondes no tiracol do vosso affecto“ (Antonio 1750: 114). So der Cirurgião nach den Ausführungen des Letrado zu Italien: „Nunca em quanto viver, me apartarei da vossa companhia, porque nesta augusta assemblea não persiste rudeza, nem ignorancia, antes me parece que temos aqui hum collegio de todas as artes, e com este desvanecimento hei de viver“ (Antonio 1750: 147 f.).
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ihm Begriffe und Redewendungen nach dem Muster: „Bachareis são aquelles, que fallão muito“ bzw. „Cada qual metta a mão no seio mate o seu piolho, vem a ser, que ninguem se metta senão com o seu negocio“ (Antonio 1750: 211). Darunter findet sich übrigens auch das aus dem Lazarillo bekannte Sprichwort: „Chegate aos bons serás hum delles, vem a ser, andar sempre chegado ao pé a toda a hora“ (Antonio 1750: 210). Sibero vermittelt ihm elementare Höflichkeitsregeln und Umgangsformen einschließlich bestimmter Gesten (Antonio 1750: 215 – 221), während Pardalicio ihm rät, welche Personen er meiden soll (Antonio 1750: 218 – 221) und dazu seinen Diener Marocio herbeiruft, um als abschreckendes Beispiel zu berichten, was ihm mit einem seiner Herren widerfahren ist. Die kuriose Geschichte (Antonio 1750: 221– 241), welche der Autor als Erlebnisbericht des Dieners auftischt, ist die bekannte Escudero-Episode aus dem Lazarillo de Tormes (1554). Das Porträt der im Original noch sympathischen, ja mitleiderregenden Figur wird allerdings, entsprechend den moralischen Wertvorstellungen der Aufklärung, ins Negative gewendet, so dass der Hochstapler am Ende von der Justiz gefasst und zu den Galeeren verurteilt wird, ein Schicksal, dem der IchErzähler um Haaresbreite entgeht. Dieses erbauliche Exempel wird anschließend verallgemeinert und im Sinne von Unverstelltheit, Aufrichtigkeit und Rechtschaffenheit erläutert: „observe-se quanta gente assim andará enganando o mundo“ (Antonio 1750: 242). Marocio, dessen Erzählung mit der Anmerkung versehen wird: „Tu jà tens ouvido ler historias, muito bem has de saber o que he o mundo“ (Antonio 1750: 243 f.), wird schließlich den Apotheker auf seiner Reise nach Santiago begleiten, wodurch sich die emotionale Bindung zwischen beiden verstärkt.
2.5 Herren und Diener, Geselligkeit und Freundschaftskult Das Verhältnis zwischen Herren und Dienern ist ebenso ambivalent wie aufschlussreich: Mal ist der Subalterne Adressat von Belehrung, d. h. Objekt des aufklärerischen Bildungsideals, mal ist er als Erzähler Subjekt und Vermittler von Erfahrungswissen. Gelegentlich haben die Diener Anteil am Freundschaftskult der Herren und werden als „nosso grande amigo“ apostrophiert, dem man nur das Beste wünscht,¹⁴ ja zu Dank verpflichtet ist. Dann wieder gelten sie als Beispiel der Selbstüberhebung, die geahndet wird und somit die aufklärerische Problematik der angemessenen Strafe aufwirft (Antonio 1750: 120 ff.).¹⁵ Die Frage ist also, inwieweit die Subalternen Anteil haben an der Geselligkeit der Herren, die ihrerseits vom Freundschaftskult der Empfindsamkeit geprägt ist. Denn
„Agora que vós lhe tendes dado lição tão douta, haveis-me de dar a liberdade de dar alguns documentos a vosso criado, e nosso grande amigo, pois vós muito bem sabeis a obrigação cathegorica, que temos de lhe desejarmos todas as felicidades não só na vossa presença, mas tambem na vossa ausencia, pois elle tudo nos merece“ (Antonio 1750: 213). Die Frage der gerechten vs. unmenschlichen Strafen wird wiederholt am Beispiel des Osmanischen Reiches thematisiert, vgl. Antonio 1750: 131, 161, 180 ff.
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neben der – alles in allem bescheidenen – Gelehrsamkeit wird die gesellige Runde vor allem von freundschaftlichen Gefühlen getragen, die bei jedem Zusammentreffen von Neuem bekräftigt werden: „e entrando se festejárão muito, e ao hospede lhe fizerão muitos carinhos“ (Antonio 1750: 151). Als daher der gastgebende Apotheker seine bevorstehende Abreise ankündigt, ist die Betrübnis groß: „a separação do nosso congresso me faz perder todo o alivio“ (Antonio 1750: 151), woraufhin ihn Pardalicio mit einer Scherzrede spielerisch provoziert „para ver se valia mais perder mil heranças, do que deixar de estar socegado na continuação de tão boa assemblea“ (Antonio 1750: 172). Vor dem Hintergrund der „lamentavel afflicção da sua esperada ausencia“ (Antonio 1750: 202) beschwört der Hausherr die Bedeutung der Geselligkeit und ihrer Affekte als Grundlage einer idealen Gemeinschaft: die „fiel, e estimavel companhia“ (Antonio 1750: 114 f.) seiner Freunde, in der „confiança“ (Antonio 1750: 150) und „sinceridade“ (Antonio 1750: 246) herrschen, eine „inseparavel união“, die von „amor“ und „amizade“, „lealdade“, „obrigação“ und „reconhecimento“ zusammengehalten wird.Während der Letrado bildhaft von der Freundschaft als den Fesseln der Gefühle spricht – „as amizades são grilhões dos affectos“ (Antonio 1750: 150), eine ähnliche Formulierung hatte sich bereits bei Rodrigues Lobo gefunden¹⁶ –, veranlasst der Trennungsschmerz Pardalicio zu einer wortreichen Beteuerung der Freundschaft, die mit ihrer gefühlvollen Einbeziehung der Natur selbst im Zeitalter der Empfindsamkeit allzu hyperbolisch wirkt: […] pois com a vossa ausencia tudo chora, e geme a vossa falta, mas com a vossa presença tudo se anima, os passaros cantão, os cavallos andão ligeiros, os bichos dos matos andão saltando, o peixe no mar anda com a cabeça de fóra, e os doentes sãos repentinamente, porque vós tudo mereceis, porque vós não sois de ceremonia, o vosso peito logo o declarais aos amigos, sois inimigo de segredos, parte atroz, de que muita gente se vale para fazer maior expediente à mumuração. (Antonio 1750: 173 f.)
Im Sinne des Freundschaftskults gibt sich der Gastgeber einem gefühlvollen Abschied hin, wobei er die Verbalisierung der Affekte thematisiert: „E assim, amigos, todos, muito triste, e muito afflicto chega o meu coração a participar a esta lingua as mais timoratas palabras“ (Antonio 1750: 245 f.). Die Trennung von den Freunden – und das Ende des Dialogs – versinkt in Tränen und Umarmungen als reinem Gefühlsbeweis, „huma pura demonstração de affecto“ (Antonio 1750: 247): „e abraçando-se todos com muito grande ternura, se despedírão, sentindo a falta de tão bom tempo, que atè allí tinha pasado com tão boas companhias, e se retirárão todos para sus casas mui chorosos“ (Antonio 1750: 248).
„Mercedes, grillos de la libertad“ (Rodrigues Lobo 1622: 231), vgl. auch „me pondes no tiracol do vosso affecto“ (Antonio 1750: 114).
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3 Abschließender Vergleich Vergleicht man beide Werke, den Prätext von Francisco Rodrigues Lobo, Corte en aldea y noches de invierno (1622), und Bento Antonios Aldea na corte, e noites de verão, seguidas às noites de Inverno de Francisco Rodrigues Lobo (1750), so steht dem Dialogtraktat in höfisch-bürgerlichem Ambiente eine relativ krude Miscelánea in Gesprächsform gegenüber, die Fragen geselliger Interaktion überwiegend im Rahmen, nicht als Gegenstand der Dialoge selbst verhandelt und diesbezüglich den Übergang vom bürgerlichen zum subalternen Milieu illustriert. Soziokultureller Bezugsrahmen für Rodrigues Lobo ist der Hof, ergänzt durch das Militär und die Universität, während sich Antonio bereits auf die berufliche Ausdifferenzierung des städtischen Bürgertums bezieht, welche die Dienerschaft einbezieht, während der Hof als solcher keine Rolle mehr spielt, meint ‚Hof‘ doch Mitte des 18. Jahrhunderts primär die Metropole, die Stadt, in welcher Hof und Regierung ihren Sitz haben. Der zunehmenden Abkehr vom Hof ist wohl auch die vollständige Ausklammerung des Liebesdiskurses geschuldet, fehlen doch in beiden Texten weibliche Gesprächsteilnehmer. Der Lehrdialog (1619/1622) vermittelt ein kulturelles Wissen, das eine Sozialkompetenz darstellt, welche für die Realisierung von Machtchancen bei Hof entscheidend ist. Der hybride Polylog (1750) hingegen öffnet sich auf ein breit gefächertes Weltwissen, das jedoch nicht unbedingt eine pragmatische Funktion besitzt, sondern auch eine Fülle im Grunde trivialer ‚Merkwürdigkeiten‘ umfasst. Zugleich ist zu beobachten, dass Aspekte sozialer Kommunikation, die in den Noches de invierno thematisiert werden, wie etwa Gespräche mit Subalternen oder mit Fremden, in den Noites de verão inszeniert und praktisch vorgeführt werden. In beiden Fällen erfolgt die Gemeinschaftsbildung durch eine Segregation gegenüber einem größeren integrativen Rahmen (Hof bzw. Stadt), wodurch ein sozialer Mikrokosmos mit flachen Hierarchien entsteht. Da jedoch im städtisch-bürgerlichen Umfeld der Aufklärung eine zentrale normative Größe fehlt (eben der Hof), ist hier eine permanente Selbstbehauptung der eigenen Distinktion und Exklusivität als Elite zu beobachten, die nicht zuletzt wohl als Abgrenzung gegenüber der eigenen Dienerschaft fungiert. Gemeinsam ist beiden Dialogen, dass sie, in Ablehnung des förmlichen Zeremoniells, eine scheinbar natürliche und zwanglose Höflichkeit zur Norm erheben. Doch während bei Rodrigues Lobo dieser Standard durch die Sprecher selbst verinnerlicht und exemplarisch angewendet wird, erweist sich das Stilniveau der bürgerlichen Sprecher des 18. Jh. als relativ schwankend. Die Rhetorik der Sprecher ist recht wenig elaboriert; sie oszilliert zwischen dozierenden Abhandlungen und altbekannten, teils derben Anekdoten, hölzernen Komplimenten und überschwänglichen Freudenbekundungen, denen es an (fingierter) Natürlichkeit mangelt – zu sehr bemerkt man das Bemühen, „[de] não parecer desobediente aos preceitos da obrigação, e amizade“ (Antonio 1750: 145). Dementsprechend bezeichnet der Zensor der Inquisition den Text als „divertimento honesto“, dessen Stilniveau er als „rustico, e jocoserio“ qualifiziert (Antonio 1750: s.p.). Es entsteht der Eindruck, als würden die Af-
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fekte, deren Stellenwert einen deutlichen Unterschied zwischen den beiden Dialogen des 17. und des 18. Jh. markiert, in gewisser Weise die Funktion des decorum als Bedingung gelungener Gespräche übernehmen. Im Unterschied zur systematischen Abhandlung des höfischen Konversationstraktats, der in Marginalien wie im Inhaltsverzeichnis seine thematischen Schwerpunkte erschließbar macht, wirkt die hybride Miscelánea des Bento Antonio mit ihren zahlreichen Brüchen auf formaler und inhaltlicher Ebene wenig strukturiert, wenngleich beide Werke interkalierte Erzählungen und stereotype Inquit-Formeln aufweisen („disse“, „acudió“, etc.), wobei diese jedoch bei Rodrigues Lobo in Klammern gesetzt werden („dixo el Doctor“, „replicò Leonardo“, „respondiò Solino“, Rodrigues Lobo 1622: 6 f.) und daher weniger schwerfällig wirken. Es überrascht daher nicht sonderlich, dass der Zensor der Academia Real das Werk des Epigonen – trotz seines Informationsgehalts und seiner moralischen Intention – aufgrund seiner „impropriedades“ als schwachen Abglanz seines großen Vorbilds Rodrigues Lobo einschätzt.¹⁷ Neben dem Trennenden sei abschließend hingegen nochmals auf das Einende beider Werke hingewiesen: Der Traktat des Siglo de Oro wird ausgewiesen als „Escuela universal donde puede aprender uno a ser hombre, y merecer este nombre“ (Rodrigues Lobo 1622: s.p.), während der Autor der Aufklärung ironisch die Verkehrung dieses Ideals beklagt: „se se não embebedão, se não mentem, se não fazem travessuras, jà dizem: Não he homem“ (Antonio 1750: 198 f.). Trotz aller deutlichen Unterschiede in soziokultureller und gattungsspezifischer, rhetorisch-stilistischer und konzeptioneller Hinsicht bleibt mithin das humanistische Menschenbild der klassischen urbanitas als gemeinsame Norm beider Entwürfe von Gemeinschaftsbildung durch gelungene Gespräche bestehen.
Bibliographie Albert, Mechthild (2014): Las ‘noches’: un subgénero novelístico en perspectiva comparada. – In: Edad de Oro 33, La novela corta áurea, 365 – 381. Albert, Mechthild (2015): Wissensvermittlung und Konversationsrhetorik in Lope de Vegas Novelas a Marcia Leonarda und Francisco Rodrigues Lobos Corte en aldea. – In: Michael Bernsen / Elmar Eggert / Angela Schrott (eds.): Historische Sprachwissenschaft als philologische Kulturwissenschaft. Festschrift für Franz Lebsanft zum 60. Geburtstag, 515 – 528. Göttingen: V&R unipress. Albert, Mechthild (2016): Pragmática y literatura. La retórica de la conversación en el Siglo de Oro: Las Novelas a Marcia Leonarda a la luz del tratado Corte en aldea. – In: Ínsula 829 – 830, 14 – 16.
José Freire Monte Arroio, Academico da Academia Real (19. 3.1750): „o Author pertende imitar ao grande Francisco Rodrigues Lobo, que com as suas obras acredita a nação; e algumas expresões, de que este Author moderno usa nas suas impropriedades, que afecta, tem grangeado a graça de quem as ouve: envolve nesta obra muita noticia curiosa, e muitos documentos convenientes a reprehender abusos“ (Antonio 1750: s.p.).
Gespräch und Gemeinschaftsbildung in höfischem und bürgerlichem Kontext
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Antonio, Bento (1750): Aldea na corte, e noites de verão, seguidas às noites de Inverno de Francisco Rodrigues Lobo. – Lissabon: Na Officina de Miguel Manescal da Costa, Impressor do Santo Officio. Burke, Peter (1995): The Fortunes of the Courtier: The European Reception of Castiglione’s Cortegiano. – Cambridge: Polity Press. Rallo Gruss, Asunción (1989): Invención y diseño del receptor femenino en las ‘Novelas a Marcia Leonarda’ de Lope de Vega. – In: Dicenda VIII, 161 – 179. Rodrigues Lobo, Francisco (1622): Corte en aldea y noches de invierno, traducción española de Juan Baptista de Morales. – Montilla. Strosetzki, Christoph (1978): Konversation. Ein Kapitel gesellschaftlicher und literarischer Pragmatik im Frankreich des 17. Jahrhunderts. – Frankfurt am Main / Bern: Lang. Strosetzki, Christoph (1988): Konversation und Literatur: zu Regeln der Rhetorik und Rezeption in Spanien und Frankreich. – Frankfurt am Main: Lang. Strosetzki, Christoph (2013): Konversation als Sprachkultur. Elemente einer historischen Kommunikationspragmatik. – Berlin: Frank & Timme.
Isabelle Löchner
Nonverbale Kommunikationskultur in Frankreich
Eine erfolgreiche interpersonale Kommunikation ist maßgeblich durch die Körpersprache beeinflusst. Im Zuge sozialer Interaktionen transportiert der Mensch bereits binnen Sekunden über sein Körperverhalten Informationen über sich nach außen, die der Gesprächspartner zum Teil bewusst, zum Teil unbewusst wahrnehmen und interpretieren kann. Mit den Bereichen der nonverbalen Kommunikation und der Körpersprache beschäftigen sich Vertreter unterschiedlicher Forschungszweige seit etwa den 1950er Jahren mit der Vielzahl psycho-physiologischer Aspekte, die sich neben weiteren Untergruppen in erster Linie in Mimik, Gestik, parasprachliche Merkmale sowie Blick- und Raumverhalten gliedern lassen.¹ Die Studien umfassen demnach alle nicht-sprachlichen Elemente der Kommunikation, die alleine oder in Begleitung verbaler Aussagen erscheinen und diese unterstützen können. Sie erfolgen durch eine gezielte physiologische Steuerung sowie durch ungewollte ‚Leackages‘, welche emotionale Befindlichkeiten visualisieren. Durch jene Zeichenhaftigkeit und Ausdrucksfähigkeit steht der menschliche Körper in kommunikativem Austausch mit seiner Umwelt, was Paul Watzlawick zu seiner berühmten These veranlasst hat, der Mensch könne „nicht nicht kommunizieren“ (Watzlawick 2011: 14). Auf der anderen Seite wird eine Dekodierungsbereitschaft vorausgesetzt, das heißt die Annahme, dass der Mensch als soziales Wesen seine Umwelt und ihre Akteure, wenn auch meist automatisch, stets analysiere und beurteile. Auf diese Weise lassen sich für ihn unter anderem Vermutungen ableiten, in welcher Rollenkonstellation er sich befindet und wie sein Gegenüber handeln wird: Kompetenzen, die sich evolutionär als fundamental herausgestellt haben. Dabei erlaubt insbesondere die Einschätzung zu emotionalen Zuständen und Veränderungen eine adäquate Anpassung an die Situation. Es entsteht somit ein multimodaler Austausch, der auf einem stetigen Transfer von Informationen basiert und auf dessen Grundlage weitere kommunikative Handlungsmuster und Bewegungsabläufe abgeleitet werden können. Die Gesprächsteilnehmer agieren und reagieren mitunter unbewusst auf die wahrgenommenen Zeichen des Gegenübers, was diesem unter anderem Rückschlüsse darüber erlaubt, ob er verstanden, akzeptiert oder für glaubwürdig gehalten wird. Bereits im 17. Jahrhundert hat man vornehmlich in Frankreich die Möglichkeiten der Sprach- und Lesefähigkeit des Körpers erkannt und ihre Überzeugungskraft sowie potenzielle Fährnis intensiv behandelt. Dies erklärt sich ganz wesentlich durch den Aufbau der Sozialstruktur, bei welcher sich die sozial starken Schichten von la cour et
Beide Begriffe sind bereits in der Vergangenheit kritisch diskutiert worden, finden aber im Rahmen des vorliegenden Aufsatzes bewusst Verwendung, da sie sich mit der Vorstellung einer Sprachfähigkeit des Körpers decken, welche im Untersuchungszeitraum angenommen wurde. https://doi.org/10.1515/9783110592580-009
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la ville durch eine ausgeprägte Beobachtungs- und Bewertungskultur auszeichneten. Die Sorge vor dem ridicule, dem Lächerlichen oder Unpassenden, stand in direktem Zusammenhang zur sozialen Mobilität, wodurch das Wissen zu eigenen Beherrschungsmaßnahmen und Fremdanalysen zum gesellschaftlichen Machtinstrument erhoben wurde: „Tous les sentiments ont chacun un ton de voix, des gestes et des mines qui leur sont propres.“ (La Rochefoucauld: Maximes 255) Indem François de La Rochefoucauld (1613 – 1680) dem Körper ein emotionsspezifisches Verhalten zusprach, schloss er sich der im 17. Jahrhundert weitläufigen Annahme an, dass Leidenschaften sich nicht nur auf eine bestimmte Art physiologisch manifestierten, sondern folgerichtig auch, dass ihre Detektion erlernbar und ausbaufähig sei. In Anbetracht zeitgenössischer medizinischer Erkenntnisse, italienischer Verhaltensbreviere und Vorstellungen der antiken Physiognomik ergab sich bereits zu Beginn des Jahrhunderts eine angeregte Auseinandersetzung mit der Körpersemiotik. Diese Beschäftigung lässt sich heute dank einer Vielzahl an Didaktiken aus den Bereichen der Politik, Philosophie, Kunsttheorie und Hofpräzeptistik nachzeichnen. Neben Fragen zu adäquaten Manieren und vor allem Dissimulationstechniken näherten sich zahlreiche Gelehrte auch dem theoretischen Wissen zu natürlich-biologischen und mechanisch-unbewussten Verhaltensweisen an. Die Vorstellung, dass der Körper mithilfe nonverbaler Parameter Informationen über die Befindlichkeit eines Individuums preisgeben kann, galt bei den meisten Autoren als unanfechtbare Feststellung. In seinem Artikel De la Cour beschreibt der Moralist Jean de La Bruyère (1645 – 1696) den Hofmann deshalb als maître de son geste, de ses yeux et de son visage; il est profond, impénétrable; il dissimule les mauvais offices, sourit à ses ennemis, contraint son humeur, déguise ses passions, dément son cœur, parle, agit contre ses sentiments. (La Bruyère 1951: 215)
Die zahlreichen schriftlichen Zeugnisse jener Zeit widmeten sich einerseits den Verschleierungsmechanismen und Maskierungstaktiken wahrer Emotionsdeklarationen durch die Physis, anderseits der bewusst manipulierbaren Körpertechnik, welche den rhetorischen Erfolg maßgeblich beeinflussen sollte. Somit waren beide Aspekte bekannt: Die bewusste und unbewusste Sprachfähigkeit des Körpers sowie seine Detektionsanalysen anhand festgeschriebener Parameter, die es gleichermaßen zu verinnerlichen und zu beherrschen galt. Die Natürlichkeitsbestrebungen, welche die französische Klassik zum Ideal erhob, stehen auf den ersten Blick in krassem Widerspruch zu den Dissimulationsbestrebungen der gesellschaftlichen Praxis. Interaktion stellte sich insofern als janusköpfig dar, als die Verhaltensmuster zwar mitunter stark konstruiert waren, jedoch natürlich, echt und glaubwürdig erscheinen sollten.
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1 Gestik Im Furetière’schen Wörterbuch wurde die Gestik, le geste, als Vorgang bezeichnet „pour signifier quelque chose“ (Furetière 1690: 168). Indem der Autor hervorhob, dass damit nicht nur eine (Fort‑)Bewegung gemeint, sondern die Gestik mit einer Bedeutung angereichert sei, verwies er auf ihre Funktion, Informationen sichtbar zu machen. Jules Mazarin (1602– 1661) erstellte zu diesem Zweck einen Katalog an Referenzpunkten, die vor dem Beginn einer Interaktion oder in Gesellschaft beachtet werden sollen: D’abord, examine-toi physiquement. As-tu le regard insolent, la jambe ou le cou trop raide, le sourcil qui se fronce, les lèvres trop molles, la démarche trop lente ou trop pressée? S’il en est ainsi, il faut te corriger. (Mazarin 1997: 17)
Durch die gezielte Überprüfung einzelner, dadurch als relevant gekennzeichneter Merkmale sowie die anschließende „Korrektur“ derselben, entwickelte er das Prinzip einer Projektierung und körperlichen Erziehung, wie es später Madame de La Fayette am Beispiel ihrer Princesse de Clèves (1678) illustrierte. Die Protagonistin setzt sich dabei für Ereignisse am Hofe immer länger werdende Vorbereitungs- und Regenerationszeiten: „[E]lle prit le reste du jour pour s’y preparer, & pour s’abandonner à tous les sentiments dont elle estoit agitée.“ (La Fayette 1689: 181) Somit erhält die maskenhafte Verschleierung im Sinne des sva cviqve persona einen temporär begrenzten Aspekt:² Willensstärke und Übung entscheiden darüber, wie lange die metaphorische Maske getragen werden kann. Madame de Clèves ist sich ihrer emotionalen Expressivität offenbar bewusst, weshalb sie sich gezielt jene Ruhephasen nimmt, um sich für gesellschaftliche Ereignisse zu rüsten: „[I]l luy parut difficile de se trouver à toutes les ceremonies du mariage, & d’y paroistre avec un visage tranquile, & un esprit libre“ (La Fayette 1689: 180). Das ruhige Gesicht hänge dabei unmittelbar von dem freien Seelenzustand ab, wie es die zeitgenössische Leidenschaftskasuistik lehrte: Die Erregtheit der Seele versetze dabei Lebensgeister und Körpersäfte in Bewegung, die sich in Form von physiologischen Alterationen auf der Körperoberfläche niederschlagen.³ Der Hof trat als eine Art Gefahrenherd auf den Plan, an dem der soziale Erfolg in Abhängigkeit zur Selbstdisziplinierung oder Fluchtmaßnahmen stand. Diese Vorstellung deckt sich mit dem Traicté de la Cour (1616) des französischen Politikers Eustache de Refuge (1564– 1617), der darin das Hofleben als eine „guerre à l’œil“ beschrieb, in der aufgrund der fortwährenden Sichtbarkeit keine allumfassende Verschleierung von Gefühlen möglich war (vgl. Refuge 1617: 2): „pource que toutes leurs actions sont tellement en veuë de tout le monde, que de la suitte il est aysé de iuger où ils tendent“ (Refuge 1617: 101). Somit bedurfte selbst ein disziplinierter und geübter Höfling einer
Zum Bild des Höflings als – u. a. maskierten – Schauspieler vgl. Baader, 1999: 239 – 246. Vgl. Cureau 1640: 3, Cureau 1669: 2, Le Brun 1698: 5 f.
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Pause vom öffentlichen Raum.⁴ Ebenfalls bei La Fayette erscheint das Phänomen des erfahrenen und dennoch nicht vollständig kontrollierten Höflings in jener Szene, in welcher die Königin Monsieur de Nemours auf ein Gerücht anspricht, von dem sie bereits ahnt, dass es sich darin um ihn handeln kann. Auf seine mimische Reaktion hin ruft sie aus: „Regardez le, regardez le dit elle à Madame de Cleves, & jugez si cette avanture n’est pas la sienne.“ (La Fayette 1689: 152). Obwohl Nemours die Kontrolle über seinen Körper schnell wiedererlangt,⁵ verdeutlicht dieser Ausschnitt die anscheinende Impraktikabilität andauernder Selbstdisziplinierung sowie die Verfahrensweise am Hofe, jene physisch-emotionalen ‚Lecks‘ zu erkennen. François de La Rochefoucauld wies in diesem Zusammenhang daraufhin, dass das Verschleiern von wahrhaft empfundenen Emotionen schwerer sei als die Verstellung, welche auf künstlich initiierte Gefühle verweise (vgl. La Rochefoucauld Maximes: 55). Dies verleiht der Fertigkeit Nemours in diesem Abschnitt Nachdruck, welche trotz der Dissimulationslücke, i. e. seiner mimischen Entgleisung, auf dessen höfische Erziehung schließen lässt. Sowohl die Maskierungsbestrebungen, als auch die körperliche Sprachfähigkeit wurden mustergültig am Beispiel der Hände thematisiert.⁶ Diese galten neben den Augen im 17. Jahrhundert gemeinhin als partie noble, da man ihnen nachsagte, dass sie Gespräche regelrecht führen und gar ohne verbale Sprache auskommen könnten, jedoch ebenfalls, dass sie eine emotionale Befangenheit erkennen ließen. Allen voran der britische Arzt John Bulwer (1606 – 1656), geprägt durch die galenischen und baconistischen Schriften, hob ihren universell-sprachlichen Charakter hervor: It [i. e. the hand] speakes all languages, and as an universall character of Reason, is generally understood and knowne by all Nations, among the formall differences of their Tongue. (Bulwer 1644: 3)
Indem er die Hände darüber hinaus auch als „zweiten Mund“ des Menschen bezeichnete (vgl. Bulwer 1644: 1), unterstellte er ihnen eine Ausdrucksfähigkeit, die pankulturell verständlich sei und deren Zeichensystem, einmal verinnerlicht, von allen anderen Mitgliedern der Gesellschaft entziffert werden könne. Diesem natürlichen Bewegungskatalog stellte der Arzt noch eine Palette an artifiziellen Mechanismen gegenüber, denen er einen wesentlichen Einfluss auf den Kommunikationserfolg zusprach. Auch der Traktatautor Nicolas Faret (1596 – 1646) empfahl seinen Lesern den Einsatz ihrer Hände, um eine Unterhaltung erfolgreich zu meistern und wies ebenfalls auf ihre universelle Semiotik hin sowie ihre alleinstehende Sprachfähigkeit. Würden sie aber bewusst und aus kommunikationsstrategischen Gründen eingesetzt, sei dem Sprecher daran gelegen, so Faret, das Ideal der mediocritas einzuhalten und
Auch bei Antoine Gombaud, Chevalier de Méré (1607– 1684) begegnet dem Leser das Bild einer unmöglichen allumfassenden Dissimulation. (Mere, 1687:143). La Fayette 1689: 153 : „[Il] se rendit maître tout d’un coup de son esprit & de son visage.“ Zur aktuellen händischen Gestik siehe Tomasello, 2008.
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Bewegungen vielmehr gezielt auszuführen: „on se sert pour enflammer l’action, lesquels toutefois doiuent estre fort moderez.“ (Faret 1630: 237 f.). Die Vorstellung einer universellen Sprache durchzieht die Schriften der Frühen Neuzeit, wobei immer wieder die Bibelstelle der babylonischen Sprachverwirrung herangezogen wurde: Die Kommunikationsfähigkeit der Hände verstehe sich dabei als Relikt einer ursprünglichen Façon der Menschen, sich über die Grenzen hinweg miteinander austauschen zu können (vgl. Laqua 2016: 154– 175). Etwas globaler beschrieb der Geistliche Michel Le Faucheur (1585 – 1657) die universalsprachliche Eigenschaft der Gestik, die dazu diene [i.e. de faire] connoître nos pensées & nos passions à toutes les Nations indifféremment. C’est comme vn langage commun de tout le Genre humain, qui ne nous touche pas moins par les yeux que fait la parole par les oreilles. (Le Faucheur 1657: 188 f.).
2 Mimik Auf Grundlage von Castigliones Il Libro del Cortegiano (1528) verfasste der französische Politiker Nicolas Faret seinen L’honneste homme ou l’art de plaire à la Cour (1630), in welchem er den gesellschaftlichen Idealtypus des Honnête homme beschrieb und im Hinblick auf eine Anleitung zur gelungenen Konversation Vorgaben zum angemessenen Umgang am königlichen Hof gab: La principale chose à quoy il prendra garde, c’est qu’il ne paroisse point de dissimulation en son discours, & que son visage ne démente point sa bouche, ny ne destruise pas en vn moment ce que son esprit aura bien eu de la peine à inuenter (Faret 1630: 173)
Neben den zentralen Begriffen des paraître und der dissimulation wird an der vorliegenden Textstelle besonders deutlich, dass Gesicht und gesprochene Sprache in Opposition zueinander stehen können und dass es einem Höfling daran gelegen war, beides miteinander in Einklang zu bringen. Das Zitat lässt jedoch auch vermuten, dass die verbalen Aussagen wesentlich einfacher zu kontrollieren seien als die nonverbalen. Das Gesicht verstehe sich dabei als scheinbar unanfechtbare Projektionsfläche emotionaler Lesbarkeit. Wie sein Gewährsmann Castiglione rekurrierte auch Faret auf die antiken Schriften Ciceros, welcher die Bedeutung der eloquentia corporis hervorhob und welche der Franzose auf Stimme, Gestik und Mimik ausweitete (vgl. Faret 1630: 125). Dabei musste der Fokus auf der „perfection“ der Mimik liegen, denn „c’est luy [i. e. le visage] qui prie, qui menace, qui flatte“ (Faret 1630: 237). Auf diese Weise könne das Gesicht alle Leidenschaften und Begehren illustrieren und gezielt kommunikative Aussagen treffen, wodurch die verbale Sprache verstärkt oder gar ersetzt werde. Noch extremer illustrierte es Jules Mazarin (1602– 1661), indem er nicht nur zur Selbstbeherrschung aufforderte, sondern kategorisch das Erkennenlassen wahrer Emotionen ausschloss:
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Farde ton cœur comme on farde un visage. […] N’oublie jamais que la plupart des émotions se lisent sur le visage. Si donc, tu ressens de la crainte, réprime-la en répétant que tu es le seul à en être conscient. (Mazarin 1997: 84)
Die Demonstration innerer Vorgänge könne im politischen Kontext eine potenzielle Bedrohung und Kompromittierung nach sich ziehen, welcher durch einen methodischen Körperumgang entgegengewirkt werden müsse. Mit den Verben jouer und farder bediente sich der Autor zugleich eines Vokabulars, welches aus der Schauspielkunst entlehnt war und somit die rhetorischen Verweise auf Stimme und Inhalt komplementierte. Bezogen auf den alltäglichen Umgang mit anderen erklärte der Leibarzt Marin Cureau de La Chambre (1594– 1669) den Menschen zum Homo socialis, der auf ein Leben in Gesellschaft ausgelegt sei (Cureau 1640: 1 f.). Vor diesem Hintergrund habe die Natur ihm mehr als die verbale Sprache mitgegeben, um sich auszudrücken, nämlich ebenfalls die Mimik, wobei es in erster Linie die Augen und die Stirn seien, an denen ein Außenstehender Informationen ablesen könne. Das Bild der Augen als Sprachrohr und ‚Spiegel der Seele‘, welches der Mediziner suggerierte, war bereits ein langjähriger Gemeinplatz, der sich bis in die Antike hinein zurückverfolgen lässt. Die Einbeziehung der Stirn wiederum darf als Verweis auf die Mobilität der Augenbrauen als eines emotionalen Messinstrumentes verstanden werden. Diese wurden im 17. Jahrhundert zum neuen Charakteristikum erhoben, an dem sich Emotionen abzeichneten. René Descartes (1596 – 1650) seinerseits begründete seine Fokussierung auf die Brauen mithilfe der im Hirn ansässigen Zirbeldrüse, welche er zum Hauptsitz der Seele erklärte und die aufgrund der räumlichen Nähe emotionale Befindlichkeiten zunächst im Augen- und Stirn-, genauer Brauenbereich erkennen ließe. Basierend auf den Studien La Chambres und Descartes’ hielt der Hofmaler Charles Le Brun (1619 – 1690) in den 1660er Jahren Vorlesungen zu den Expressions générales et particulières, welche die Bewegungen der Augenbrauen in einem hohen Maße behandelten. Dabei gab er Anleitungen zum Malen menschlicher Leidenschaftsausdrücke, die nicht nur Emotionen vermitteln, sondern sie ebenfalls beim Betrachter auslösen sollten, wodurch anhand der dargestellten Figuren ein Dialog zwischen dem Künstler und dem Betrachter initiiert werden sollte. Auf der Grundlage zeitgenössischer medizinischer und renaissancistisch-physiognomistischer Kenntnisse sowie im Hinblick auf die Kunsttheorie gelang es Le Brun über die Grenzen seiner Disziplin hinaus, die Menschen für die Mimiken zu sensibilisieren und eine Detektionsfähigkeit zur erlernbaren Fertigkeit zu erheben. Auch heute wird den Augenbrauen wieder eine wesentliche Rolle in den Kommunikationsstudien eingeräumt, da man ihnen nachsagt, Emotionen, Fragen und Unsicherheiten sehr deutlich zum Ausdruck zu bringen und durch das Heben derselben eine Kommunikationsbereitschaft sowie den reinen Gruß mitteilen zu können.⁷ Dies gehe meist mit dem Blickkontakt einher, durch welchen per ‚Augengruß‘ Menschen auch über räumliche Distanzen hinweg begrüßt und gar angesprochen werden können (vgl. Eibl-Eibesfeldt 1970: 197). Die kommunikative Auf Zu aktuellen Studien, siehe u. a. Birdwhistell, 1970: 285 – 293; Guaïtella, 2012.
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gabe von Blicken schlägt sich neben gezielter visueller Kontaktsuche beispielsweise auch im Signalisieren von Redebereitschaft, Warnungen oder Hilfeersuche nieder.⁸ [C]’est par [i.e. les yeux] que nostre ame s’escoule bien souuent hors de nous, & qu’elle se monstre toute nuë à ceux qui la veillent pour luy desrober son secret. (Faret 1630: 237)
Wie Faret hier deutlich zum Ausdruck gebracht hat, können über die Augen die Wünsche der Seele gespiegelt werden, was den Menschen in die scheinbar machtlose Situation der Durchschaubarkeit zwinge. Damit eröffnete er gleichwohl die heute viel behandelte Doppelfunktionalität der Augen als Sinneserfahrung und Ausdrucksinstrument, indem durch Blicke nicht nur Informationen abgegeben, sondern ebenfalls aufgenommen werden (vgl. McNeill 2003: 42): „[D]er Blick kann Kontakt stiften und aufrechterhalten, Gespräche regulieren und fungiert als Träger vielfältiger Informationen“ (Korte 1993: 61). Jenes „Chiasma“ (Wulf 2011: 20), das durch die Korrelation der optischen Wahrnehmung und des Wahrgenommenwerdens erwächst, lässt ganz wesentliche Rückschlüsse auf die sozio-hierarchischen Verhältnisse beider Interaktanten zu. Hermann Schmitz spricht dabei von einem „Kräftemessen“ und einem „Ringen um Dominanz“, welches selbst unbewusst vonstatten gehe (Schmitz 2002: 431). Dabei erwächst bereits aus Alltagserfahrungen der Eindruck, dass während eines Gesprächs die Blicke des Senders und Empfängers nicht durchweg aufeinander gerichtet sind, sondern mitunter umherschweifen. Gerade beim Zuhörer, der zwar durchschnittlich den längeren Blickkontakt hält, gilt jedoch auch ein starrender Blick vor allem in der heutigen westlichen Welt als unhöflich und gar grenzüberschreitend; Otto Koenig spricht sogar von einem „Einbruch in die Intimsphäre“ (Koenig 1970: 184). Der Sprecher seinerseits nutzt das Wegsehen in erster Linie im Sinne der Konzentration, wobei er durch den verminderten Blickkontakt gleichwohl eine Dominanz im Zuge des Gesprächs zum Ausdruck bringen kann (vgl. Doermer 2013: 65). Gesehen zu werden und Blicke auf sich zu ziehen, zeichnet in erster Linie jene Menschen aus, die aus gesellschaftlichen, kulturellen oder politischen Gründen eine gewisse Bekanntheit erreicht haben und dadurch Einfluss auf ihre Umwelt nehmen können. Dies erhebt den Menschen in eine privilegierte Stellung und lässt sich auch in alltäglichen kleinen Gruppen nachweisen: Beliebten oder einflussreichen Mitmenschen gehören eher die Blicke der anderen und diese Blicke werden gewissermaßen zu Messinstrumenten für allerlei Fragen der Bewertung, indem sich die Umstehenden kontrollierend an deren Haltung orientieren. Umgekehrt bedeutet die Sichtbarkeit auch einen Kontrollverlust: Da Emotionen und Meinungen auf nonverbaler Ebene potenziell an ihrem Äußeren abgelesen werden können, birgt dieser Umstand ggf. auch Gefahren im gesellschaftlichen Kontext. Die sozial-politische Strategie, die beides, eine fast durchgängige Sichtbarkeit und Beobachtungskultur propagierte, schlug sich beispielhaft am Hofleben von Versailles unter Ludwig XIV. nieder. Dabei klammerte sich der Monarch aus der quasi permanenten Öffentlichkeit selbst nicht Vgl. Schoenherr, 1997: 35, Doermer, 2013: 65.
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aus, sondern inszenierte sogar jegliche Abläufe des Alltags,vom Lever über die Toilette bis hin zum Essenszeremoniell. Die perfekte Dissimulation, die man ihm nachsagte, verlangte er dabei zugleich von seinen Höflingen, die über ihr Verhalten und die Observation anderer ihren Status definierten. Neben der privilegierten Stellung des Gesehenen kann jedoch ebenso der Sehende eine gewisse Machtstellung für sich beanspruchen,⁹ was sich in erster Linie darin niederschlägt, dass er durch den Prozess des Sehens und Interpretierens Informationen über seine Umwelt erlangen kann. Gleichzeitig kann im gesellschaftlichen Umgang auch eine Autorität über rein visuelle Verfahren manifestiert werden, indem das Gegenüber regelrecht zum Wegsehen gezwungen wird. Molière ließ in seiner Komödie L’École des Femmes (1663) Arnolphe dieses Procedere verbal ausführen, indem er ihm folgende Hierarchie der Ehepartner in den Mund legte: „Ces deux moitiés pourtant n’ont point d’égalité : L’une est moitié suprême, et l’autre subalterne“ (Molière 2010: 434).
Diese Diskrepanz zeige sich exemplarisch durch das Blickverhalten: „Lorsqu’il jette sur elle un regard sérieux, / Son devoir aussitôt est de baisser les yeux, / Et de n’oser jamais le regarder en face“ (Molière 2010: 434).
Damit bediente sich der Dramaturg der stereotypen Vorstellung, dass das Wegsehen – insbesondere bei Frauen gegenüber Männern – eine Unterwürfigkeit und Schamhaftigkeit suggeriere. Dabei kann die bewusste Blickverweigerung durch Wegsehen oder Augenschließen ein ausschlaggebendes Verfahren sein, um die Autorität ebenfalls für sich zu beanspruchen. Da das Ansehen auch als eine „Einfallpforte in die eigene Intimsphäre“ zu verstehen sei (Saxer 2011: 32), kann sich das Individuum durch den verweigerten Anblick gleichwohl schützen. Der Gesprächspartner verliert dadurch seine Informationsquelle und vor allem die Selbstspiegelung im anderen, wodurch er sein eigenes Wirken nur erschwert reflektieren kann. Madame de La Fayette stellte dieses Verfahren am Beispiel ihres Romans La Princesse de Clèves dar, was besonders in jener Schlüsselszene deutlich wird, in welcher die Protagonistin ihrem Mann die Liebe zu einem anderen gesteht. Aufs Land geflüchtet, spricht Monsieur de Clèves seine Frau auf ihre immer wiederkehrenden Abwesenheiten aus Paris und aus der Gesellschaft an, woraufhin sie mit einer in sich gekehrten Haltung durch Schweigen und Blickverweigerung reagiert („profond silence, les yeux abaissez“). Der Leser darf an der Stelle jedoch nicht der Vermutung erliegen, dass Madame de Clèves hier aus Schamhaftigkeit den Augenkontakt meidet, sondern vielmehr scheint es sich bei der Kombination aus verbalem und nonverbalem Schweigen um eine zielgerichtete
Der Machtverlust des reinen Gesehen-Werdens wird exemplarisch in Michel Foucaults Surveiller et Punir (1975) beschrieben, welcher sich auf die von Jeremy Bentham (1748 – 1832) vorgeschlagene Überwachungsmaßnahme des Panoptikums stützt.
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Handlungsstrategie von ihr zu handeln, deren Wirkung sie sich sehr bewusst ist. Ihre anschließende simultane Verbindung von hergestelltem Blickkontakt und Spracheinsatz („puis tout d’un coup prenant la parole & le regardant“, La Fayette 1689: 81) verleiht dem Moment nicht nur eine gewisse Dramatik, sondern ermöglicht ihr die Akzentuierung ihrer sodann bewusst eingesetzten Aussagen. Körpersprache und Inhalt fungieren als eine sich ergänzende und bekräftigende Kommunikationsform, die durch die vorangegangene Verweigerung beider Elemente in einer gesteigerten Weise wirken kann und argumentativen Nachdruck erhält. Madame de Clèves entzieht sich durch den abgekehrten Blick einem Zugang zu ihren Augen und bietet ihrem Gegenüber dadurch keine Möglichkeit, in ihnen zu lesen. Indem sie anschließend niederkniend das Wort ergreift, zeigt sie abermals, wie bei ihr der Einsatz ihres ganzen Körpers synchron zur Wortannahme als zusammengehöriger Argumentationsverstärker wirkt: Möchte sie überzeugen, setzt sie alle ihr möglichen kommunikationsstrategischen Mittel ein; verweigert sie sich jedoch einer Aussage, gibt sie ihrem Gesprächspartner keinerlei Möglichkeit, sie zu durchschauen. Die immense Wirkung, die sie durch ihren Körper und vor allem ihre Augen auf Monsieur de Clèves erzielt, zeigt sich auch wenige Zeilen später im Roman, als sie versucht, ihn von ihrer Unschuld zu überzeugen, er jedoch den Blick von ihr abkehrt (La Fayette 1689: 85 f.). Christiane Doermer-Tramitz stellte in ihrer Untersuchung heraus, dass die Blickverweigerung bedeuten kann, „daß man entweder nicht geneigt oder noch nicht bereit ist, mit dem anderen zu sprechen“, aber auch, dass sie in direktem Zusammenhang mit dem Enttäuschtsein stehen kann (Doermer-Tramitz 2013: 69). Beides, Desillusionierung und Kommunikationsverweigerung, erscheinen in der Princesse de Clèves als sinnfällige Antriebsmechanismen ihres Handelns. Jedoch gelingt es der Protagonistin, ihren Gesprächspartner, sobald er sie wieder erblickt, ganz für sich einzunehmen, wodurch sich die Vermutung aufdrängt, dass ihr Äußeres eine wesentlich größere Wirkkraft auf ihn hat als die verbal-inhaltliche Ebene. Durch seine anschließende Liebesbekundung, hat sich die Machtkonstellation im Laufe dieses Gesprächs völlig umgekehrt, sodass Madame de Clèves, trotz ihres Geständnisses und ganz wesentlich basierend auf ihrer nonverbalen Handlungsweise, gestärkt aus der Unterredung hervorgeht. Madame de La Fayette ist es mit der Figur ihrer Prinzessin gelungen, die stereotype Vorstellung des herabgesenkten weiblichen Blickes von der reinen Bedeutung der Schamhaftigkeit zu lösen und in den Raum des Machtspiels zu verschieben. Somit kann nicht nur durch die Art und Länge der Blicke darüber entschieden werden, wer den dominanteren Part innerhalb eines Gesprächs für sich beansprucht, sondern ebenfalls durch die Verweigerung des Sichtfeldes. In dem Roman erhielt das Wegsehen schließlich die Qualität des Selbstschutzes und der kommunikativen Vormachtstellung. All das basierte auf der Grundannahme, dass man in den Augen und Blicken des anderen lesen kann. Auch in einem weiteren Aspekt wurde dem weiblichen Blick eine zentrale Rolle in der Kommunikation des 17. Jahrhunderts eingeräumt, nämlich im Liebeswerben. In Anlehnung an die Ovid’sche Ars amatoria verfasste der Schriftsteller Gabriel Gilbert seine L’Art de plaire (1655), in welcher er die vornehmlich nonverbalen Werbe-Stra-
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tegien beider Geschlechter beleuchtete. Dabei unterstellte er den Frauen die Fähigkeit, ihre Augen gezielt einzusetzen, um den Männern ihre Liebesbereitschaft zu suggerieren: Mais pour faire vn chef-d’œuure en ce bel art de plaire,/ Son œil se radoucit quand sa bouche est seuere, / Et fait voir en iettant quelque regard ourant / Que sa vertu combat mais que son cœur se rend. (Gilbert 1655: 24 [Herv. I.L.]).
Dies erscheint zunächst einmal nicht ungewöhnlich, doch wies er dem weiblichen Liebeshandeln ebenfalls zu, dass sie durch bewusstes Erröten in den Männern einen Beschützerinstinkt auslösten, der zum amourösen Kommunikationserfolg wesentlich beitrage. „Laisse dans l’entretien eschaper vn soûpir,/ Et rougit aussi-tost feignant d’estre surprise; / Afin de nous mieux prédre, elle feint qu’elle est prise“, (Gilbert 1655: 14 [Herv. I.L.]). Die dabei beschriebenen stereotypen Eigenschaften der Schamhaftigkeit und gar Hilflosigkeit, welche sich in leichtem Seufzen und gekünsteltem Überraschtsein manifestieren, entsprechen der zeitgenössischen Unterhaltungsform der verführerischen Kommunikation als eine Art Spiel, wohingegen das Rotwerden, eine seinerzeit hochattraktive Eigenschaft bei Frauen, physiologisch fast unmöglich zu manipulieren ist. Jenes Phänomen beschäftigte einige Autoren des 17. Jahrhunderts, darunter René Descartes, der das rougissement zu jenen körperlichen Alterationen zählte, die vom Herzen ausgingen und somit nicht gelenkt werden könnten. On ne peut pas si facilement s’empêcher de rougir ou de pâlir lorsque quelque passion y dispose, parce que ces changements ne dépendent pas des nerfs et des muscles […] et qu’ils viennent plus immédiatement du cœur, lequel on peut nommer la source des passions. (Descartes 1651: 748).
In seiner Zusammenstellung von Liebes-Strategien erklärte Gilbert das Erröten jedoch zur zentralen Eigenschaft nonverbalen Kommunikationserfolgs (vgl. Gilbert 1655: 14), welches jedoch tatsächlich physiologisch keiner Manipulation unterstellt werden kann. Dies ermöglicht dem heutigen Leser einen Eindruck von der damaligen Körperkultur und -vorstellung, die im Sinne gesellschaftlicher Umgangsformen dem Menschen jedoch eine globale Körperbeherrschung unterstellte.
3 Parasprache Ein weiterer Aspekt der Kommunikation, welcher im 17. Jahrhundert Eingang in die zahlreichen Traktate fand, ist die Parasprache, die neben der Geschwindigkeit und Prosodie unter anderem auch das Stimmvolumen und die -höhe umfasst. Die hohe Relevanz der Parasprache hinsichtlich emotionaler Erkennungsmuster zeichnet sich dadurch aus, dass sie nur schwerlich maskiert werden könne. Eine zitternde Stimme bei Angst oder Unsicherheit lasse sich demnach weniger einfach dissimulieren als ein Gesichtsausdruck oder eine Handbewegung (vgl. u. a. Trager 1961: 17– 21). Nichtsdestotrotz kann das Stimmverhalten auch bewusst eingesetzt werden, um dem Zuhörer
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gewisse Informationen über sich selbst, die kulturelle Herkunft und das eigene Befinden zu vermitteln. Der französische Rhetoriker René Bary verfasste mehrere Schriften zur Redekunst, in denen er seinen Lesern einen ganz maßgeblichen Einblick in seine Leidenschaftslehre gab. In Actions publiques sur la rhétorique françoise (1658), La rhétorique françoise (1665) und Méthode pour bien prononcer un discours et pour le bien animer (1679) stellte er unter anderem einen Verhaltenskodex zusammen, der ganz wesentlich auf den rhetorischen Fähigkeiten eines Gesellschaftsmenschen fußte. Ziel sei es, dem Zuhörer zu gefallen und in ihm Emotionen auszulösen, was ihm durch den angemessenen Gebrauch der Stimme ermöglicht würde. Indem ein Redner von den natürlichen Körpereffekten der Leidenschaften wüsste und sie verinnerliche, könne er sie anschließend auch künstlich provozieren, um die gewünschten Reaktionen beim Rezipienten zu erwirken. Bary erstellte dabei eine Art Anleitung zu einzelnen Emotionen, aber auch Sprachteilen wie etwa Interjektionen, die je nach Satzbau, ob holophrastisch und eingebettet in einen größeren syntaktischen Kontext, unterschiedlich ausgesprochen werden sollten: „Comme le ô est appellatif, il doit estre prononcé d’une voix haute, & sur tout lors qu’il est precedé d’un quoy“ (Bary 1679: 115). Ein hè wiederum könne je nach Kontext eine Verwunderung oder Überzeugung signalisieren und sei für den Zuhörer entsprechend der Intonation als solche zu erkennen (vgl. Bary 1679: 116 – 120). René Bary verwies auf die Funktion der Rhetorik, die sich zwar in erster Linie in der Politik und dem Rechtswesen niederschlage, wandte sich in seinem Vorwort jedoch ausdrücklich an ein galantes Publikum, woraus geschlossen werden darf, dass sein Werk nicht nur in eine Zeit gebettet war, in welcher die Kunst der conversation großgeschrieben wurde, sondern jene Gesprächskultur ganz wesentlich das Überzeugen anderer durch parasprachliche Mittel der Rhetorik fokussierte. Um eine Rede überzeugend, ehrlich wirkend und angenehm zu gestalten, verwies der Geistliche Michel Le Faucheur (1585 – 1657) in seinem Traitté de l’action de l’orateur, ou de la prononciation et du geste (1657) auf die Nachbardisziplin der Schauspielerei: Die Beherrschung von Körper und Stimme im Zuge eines Vortrags sei dabei nicht nur erlernbar, sondern ein ganz zentraler Aspekt, um die Hörerschaft von der inhaltlichen Botschaft zu überzeugen (Le Faucheur 1657: 89 ff). Auch wenn sich Le Faucheur in seinem Werk auf die geistliche Rede bezog, so war die Verbindung von Rhetorik und Bühnenkunst keinesfalls neu und auch das Bild des Höflings als guter Redner und Schauspieler erfreute sich immer größerer Beliebtheit. Trotz der sich erst langsam entwickelnden Wertschätzung des Schauspielerberufes fand sich an zahlreichen Stellen das Bild des Höflings als Akteur in den zeitgenössischen Schriftstücken wieder. Dies zeigte sich bereits recht früh im 17. Jahrhundert, wenn Nicolas Faret den königlichen Hof als einen Ort des Schauspiels bezeichnete. In einer Erinnerung beschrieb ebenfalls Gondi, Kardinal de Retz, ein Treffen mit der Königinmutter (s.u.) als „[l]a vérité est que tout ce qui était dans ce cabinet jouait la comédie“ (Retz 1956: 87). Die körperliche Beherrschung, die man dem Gesellschaftsmenschen jener Epoche nachsagt, griff auch Denis Diderot auf:
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[C]roit-on que sur la scène l’acteur soit plus profond, soit plus habile à feindre la joie, la tristesse, la sensibilité, l’admiration, la haine, la tendresse, qu’un vieux courtisan?“ (Diderot 1946: 1088)
Beide, Schauspieler und Höfling, konnten demnach nicht nur einen Katalog von Emotionen verbal und nonverbal umsetzen, sondern erhoben darüber hinaus den Anspruch, jene Gefühlslagen auf ihr Publikum durch eine Überzeugungsleistung zu übertragen. Das Konversationswerk De l’art de parler (1675) von Bernard Lamy ging in einem besonderen Maße auf diese emotionalen Persuasionsverfahren ein, indem der Autor die Stimme zum Instrument erklärte, mit welchem die Wörter erst ein Gesamtbild ergeben. Dabei könnten je nach Betonungen, Unterbrechungen und prosodischem Stimmverlauf unterschiedliche Leidenschaften übertragen werden. Lamy beschrieb diesen Vorgang sehr mechanisch, womit er sich eine gewisse Autorität zu erhoffen schien: „Chaque mouvement qui se fait dans les organes des sens, & qui est communiqué aux esprits animaux ayant été lié par l’Auteur de la nature à un certain mouvement de l’ame“ (Lamy 1675: 161). Je nach Leidenschaft stellten sich unterschiedliche körperliche Vorgänge wie Bewegungen von Lebensgeistern oder Körpersäften ein, die sich in Form bestimmter stimmlicher Umsetzungen erkennbar machten. Beim Zuhörer gelange das Gesagte über sein Ohr ins Innere, von wo aus die esprits animaux Leib und Seele gleichermaßen in Erregung versetzten. Neben jenen körperlichen Erklärungsversuchen zur Simulation und Dissimulation von parasprachlichen Mitteln, denen ein wesentlicher Anteil am Erfolg einer Kommunikation zugestanden wurden, zeigen andere Textstücke aus dem 17. Jahrhundert, wie wiederum die Erkennung und Entlarvung emotionaler Geladenheit am Beispiel der Stimme erfolgte. Ein Beispiel sind die Memoiren des Kardinal de Retz, ehemaliger Frondist und bekannter Gegenspieler der Königinmutter, Anna von Österreich. Etwa in den Jahren 1675 – 1677 verfasst, rekapitulierte Jean-François Paul de Gondi die Zeit des Bürgerkriegs, zu welcher er sich als Koadjuktor von Paris gegen die französische Krone stellte. Darunter ist eine Textstelle besonders interessant, welche auf das Jahr 1648 rekurriert und historisch in den Volksaufstand in der französischen Hauptstadt eingebettet ist, nachdem Pierre Broussel, der so genannte „Père du peuple“ festgenommen wurde. Gondi beschrieb in dieser Szene, die mit wenigen Ausnahmen ohne verbale Wiedergaben auskommt, das Aufeinandertreffen des Maréchal de La Meilleraye, La Rivière, Bautru und Nogent mit der Königin, ihrem Kardinal und sich selbst. Dabei schilderte er, wie der Maréchal sich über den Spott der anderen echauffierte, was alleine durch seine laute und eindringliche Stimme verdeutlicht wurde: „Le maréchal de La Meilleraye, qui vit que La Rivière, Bautru et Nogent traitaient l’émotion de bagatelle, […] s’emporta : il parla avec force“ (Retz 1956: 86). Während Mazarin dies mit einem schadenfrohen Lächeln quittierte („sourit malignement“), reagierte die Königin – in diesem Schriftstück immer wieder Beispiel unbeherrschter Körper- und Emotionskontrolle – durch einen Wutausbruch: „la Reine se mit en colère, en proférant, de son fausset aigre et élevé“ (Retz 1956: 86). Der Autor verdeutlichte durch die Verwendung der Formen „en proférant“ und „elle se mit“ aktive Handlungsweisen, in denen die Wut unverschleiert ausgespielt wurde und was
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sich im Stimmverhalten niedergeschlagen hatte. Auf jene Aufwallung hin soll Gondi mit einem erschütterten Gesichtsausdruck reagiert haben, welchen der Kardinal erkannte und seinerseits durch einen betont sanften Stimmeinsatz darauf antwortete, indem er sich an die Königin wandte: „Le Cardinal, qui s’aperçut à mon visage que j’étais un peu ému de ce discours, prit la parole, et, avec un ton doux, il répondit à la Reine“ (Retz 1956: 86). Der Memoralist disqualifizierte jene Ansprache als „Jargon“, als unehrliche Rede, die gänzlich ‚durchrhetorisiert‘ das Gemüt der Monarchin jedoch erreichte. Diese, kurz zuvor noch wutentbrannt, „se remit tout d’un coup“, erlangte demnach die Kontrolle über ihren emotionsgeladenen Körper wieder, und zeigte sich im Folgenden freundlich und zuvorkommend („elle me fit des honnêtetés“). Diese Szene, die Gondi später als Schauspielerei aller bezeichnete (s.o.), zeigt auf sehr eindrucksvolle Art und Weise, wie jene Gesellschaft durch Beobachtung der Körpersprache anderer und gezielten Einsatz nonverbaler Zeichen sowie auch ganz bewusst durch den Gebrauch der Stimme Gefühle zu entziffern und künstlich zu transportieren wusste. Dem Autor selbst, dem man eine scharfe Beobachtungsgabe nachgesagt hat, gelang es im vorliegenden Textauszug, durch die vornehmliche Beschreibung parasprachlicher Mittel die Emotionsgeladenheit dieser Situation nicht nur wiederzugeben, sondern zu illustrieren, welchen Einfluss sie auf den Verlauf des Gesprächs hatte. Kardinal Mazarin, der die Stimmungen in einem besonderen Maße herauszufiltern wusste, manipulierte die Konversation dahingehend, um den politisch-sozialen Frieden wiederherzustellen. Sein wahres Wesen wurde zwar durch Gondis Anmerkung des bösartigen Lächelns bescheinigt, doch gelang es ihm durch rhetorisch-stimmliche Verfahren, dies zu maskieren und darüber hinaus die Situation zu seinen Gunsten zu lenken. Selbstverständlich darf bei der Analyse der Retz’schen Memoiren nicht außer Acht gelassen werden, dass er sie rund zwanzig Jahre nach den Geschehnissen verfasste und sie deshalb keinem vollumfänglichen Wahrheitsgehalt gerecht werden können und insbesondere die Feinheiten der nonverbalen Kommunikation, die bei ihm einen gewichtigen Aspekt ausmachen, zu großen Teilen seiner künstlerischen Freiheit zuzusprechen sind. Nichtsdestotrotz gelang es dem Autor, die hohe Relevanz körpersprachlicher und parasprachlicher Zeichen in der gehobenen Gesellschaft des 17. Jahrhunderts zu veranschaulichen, die ganz wesentlich den Gesprächsverlauf beeinflussen und sogar leiten konnten.
4 Zusammenfassung Die Aufmerksamkeit, die der nonverbalen Kommunikation im 17. Jahrhundert zuteil wurde, erhält durch die interdisziplinären Studien zur Körpersprache seit den 1950er Jahren neue Untersuchungsdimensionen, die es ermöglichen, sich der Frühen Neuzeit, der Kultur und den Umgangsformen zu nähern und diese besser zu verstehen. Mimik, Gestik, Parasprache und weitere Aspekte verweisen dabei auf gesellschaftliche Gepflogenheiten, Selbstdarstellungsmechanismen und die Notwendigkeit, seine
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Umwelt dekodieren zu müssen, um entsprechende Schlüsse für weitere Verhaltensweisen und Kommunikationsstrategien zu entwickeln. Im Bereich der Gestik nahmen die Bewegungen der Hände einen zentralen Platz in den Schriftstücken jener Zeit ein, da man in ihnen zum einen ein universalsprachliches Kommunikationsmedium sah, welches Emotionen unbewusst darstellte und für andere sichtbar machte. Zum anderen empfahlen mehrere Autoren in Rekurs auf die antike Rhetorik den bewussten Einsatz der Hände im Zuge eines Gesprächs, um den verbalen Aussagen Nachdruck zu verleihen und eine weitere visuelle Ebene als persuasives Instrument zu eröffnen. Bei der Mimik lag die Fokussierung damals wie heute auf den Augen, dem Blickverhalten und den Brauen. Als Fenster zur Seele glaubte man an die besonders anschauliche Spiegelung der Gefühle und Meinungen in den Augen. Gleichzeitig rückte die Bedeutung der Blicke in den Vordergrund, welche über die rein kommunikative Aufgabe der Kontaktaufnahme und Signalwirkung auch zu einer dynamischen Auseinandersetzung um Autoritätsansprüche werden konnte. Man nahm an, dass das gegenseitige An- und Wegsehen über das hierarchische Verhältnis beider Interaktanten bestimmt, wobei sowohl der dominant Sehende als auch Gesehene einen Vorteil für sich beanspruchen konnte. Mithilfe unterschiedlicher Strategien kann der (An)Blick und die Verweigerung desselben einer Definition der eigenen Stellung im Zuge einer Gesprächssituation dienen und entscheidet über den weiteren Verlauf der Unterredung. So gelang es beispielsweise Madame de La Fayette durch ihre Figur der Princesse de Clèves den vor allem bei Frauen als schamvoll stigmatisierten herabgesenkten Blick aus dem Bildfeld der Hemmung und Unterwürfigkeit in den Bereich der bewussten Kommunikationsführung zu verschieben. Schließlich erhob René Descartes die Augenbrauen unter Berufung auf ihre physiologische Nähe zur glande pinéale zum emotionalen Ausdrucksinstrument, wodurch ihre expressive Bedeutung im weiteren Verlauf aus dem Raum der Medizin-Philosophie auch in die Kunsttheorie gelangte. Hier gestand der Hofmaler Charles Le Brun ihnen eine zentrale Rolle im Hinblick auf die Emotionsdarstellung zu. Neben den gestischen und mimischen Erkennungsverfahren und Handlungsstrategien thematisierten die Schriftzeugnisse jener Zeit die Simulation und Dissimulation von Parasprache sowie die Bedeutung ihrer Detektion im kommunikativen Umgang mit anderen. Dabei erinnerte Jean-François Paul de Gondi mit seinen Mémoires an die aufmerksamen Analyseverfahren des Kardinals Mazarin, der anhand nonverbaler, vornehmlich stimmlicher Aspekte, Situationen einzuschätzen und selbst rhetorisch zu lenken wusste. Bei allen angeführten nonverbalen Verfahren gilt, dass man ihnen eine fundamentale Aufgabe im 17. Jahrhundert zugesprochen hat, da man darin die äußere Erscheinung innerer Vorgänge vermutete. Ebenfalls wusste man um die bewusste Manipulation derselben, sodass ein wesentlicher Aspekt der Untersuchungen auf den Erkennungsmustern lag sowie auf Strategien zur eigenen Körperbeherrschung, durch welche nicht zuletzt gefälschte Informationen nach außen getragen werden sollten. Insbesondere den Traktat-Quellen ist jedoch der Eindruck geschuldet, es handle sich um eher statische Selbst- und Fremdanalyseprozesse, deren Detektionen eines
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Nachschlagewerks bedürfen. Dabei muss sich der Leser vor Augen führen, dass es sich bei direkten Interaktionen um dynamische und reflexive Prozesse handelt, bei welchen der Gesprächspartner zum Spiegel eigener Körper- und Emotionsinszenierungen wird. An ihm kann der Einzelne messen, welche Wirkung er auf den anderen ausübt und wie erfolgreich seine Simulation oder Dissimulation funktioniert. Dadurch eröffnet sich ein wechselseitiger Leseprozess, dessen Gesprächserfolg im Wesentlichen von einer vollumfänglichen Selbstdisziplinierung und Dechiffrierungskompetenz geprägt ist. Im Untersuchungszeitraum glaubte man deshalb, dass die Maskenhaftigkeit in einer Weise beherrscht werden müsse, die zwar entgegen dem Ideal des naturel stand, jedoch trotz bzw. gerade wegen ihres artifiziellen Charakters echt wirkte. Auf jener Grundlage konnte durch Beobachtung und Selbstkorrektur ein Gespräch gestaltet werden, dessen Gelingen von der Ausübung manierierter Falschheit wesentlich abhing. Selbstbeherrschung, Körperbewusstsein und ein grundlegendes Wissen über Leidenschaftstheorien prägten die Gesellschaft des 17. Jahrhunderts und machten die Mitglieder dieser Gesellschaft ebenso wachen wie qualifizierten Konversationsinteraktanten. Durch lang- und kurzfristige Vorbereitungen auf Gesprächssituationen, einen umfassenden Kenntnisstand sowie nonverbale und parasprachliche Performationspraktiken eröffneten sich den Menschen Kommunikationssituationen, in denen durch gezieltes Körperlesen die sozialen Machtvariabilitäten fundamental beeinflusst werden konnten.
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Theorie der Sequenz. Gespräch, Körper und kommunikative Konstruktion 1 Einleitung
Obwohl es doch ein mustergültiges soziales Phänomen ist, wurde das Gespräch in der Soziologie, ja in den Sozialwissenschaften generell, lange Zeit wenig beachtet. Das hängt sicherlich auch mit seiner besonderen Flüchtigkeit zusammen, die gerne auch zu geradezu metaphysischen Spekulationen über ihren Verlauf geführt hat. Erst mit dem Aufkommen von audiovisuellen Aufzeichnungsgeräten hat sich die Möglichkeit ergeben, den Verlauf von Gesprächen genauer zu beobachten. Im Laufe der 1960er Jahre hat sich so eine soziologische Forschungsrichtung gebildet, die sich das Gespräch wörtlich auf ihr Banner geschrieben hat: die „Konversationsanalyse“. Stark beeinflusst von den Interaktionsanalysen Erving Goffmans und vor allem der Ethnomethodologie Harold Garfinkels hat sich die Konversationsanalyse einer rigid empirischen Analyse von Gesprächen verpflichtet. Während sich die davor dominierende Sprechakttheorie hauptsächlich mit Äußerungen beschäftigte, die am Lehnstuhl ausgedacht worden waren, stürzte sich die Konversationsanalyse auf natürliche Gespräche, wie sie in der sozialen Welt stattfinden und von den Forschenden aufgezeichnet werden konnten. Die empirische Vielfalt dieser Forschung ist so groß wie das Feld der Gespräche selbst. Sie weitete sich auf alle möglichen sozialen Felder aus, wie etwa religiöse Konversionserzählungen oder Gespräche in wissenschaftlichen Laboratorien. Gerade in Deutschland hat sich insbesondere die Linguistik als „Gesprächsforschung“ dieses Phänomens in einer sehr intensiven Weise angenommen. So fruchtbar die empirischen Untersuchungen sind, die sich mit den Gesprächen beschäftigen, hat sich die allgemeinere Frage, was ein Gespräch ist, bislang nicht weit über die Begründung der Konversationsanalyse hinausbewegt. Sacks, Schegloff, Jefferson (1978) und andere hatten schon in ihren frühen Schriften herausgehoben, dass es gerade die Sequenzialität ist, die Gespräche auszeichnet. Während sie indes diese Sequenzialität vor allem als eine Ressource zur methodischen Analyse von Gesprächen ansahen, vermieden sie jedoch, dieses Konzept in einen verallgemeinerbaren theoretischen Zusammenhang zu stellen. Entsprechend wenig wurden auch allgemeine Fragen diskutiert, etwa was Gespräche sind und wie sie gelingen oder misslingen.¹ Eine der wenigen systematischen Annäherungen an das Gespräch aus der Soziologie wurde von Thomas Luckmann (1984) unternommen. Luckmann sah das Das Gelingen oder Misslingen ist dagegen ein großes Thema der interaktionalen Soziolinguistik, die sich aber, was ihren Sequenzbegriff angeht, an die Konversationsanalyse anlehnt.Vgl. Knoblauch 1991. https://doi.org/10.1515/9783110592580-010
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Gespräch als in unterschiedlichen Ausprägungen auftretenden Typus der universalen, durch Unmittelbarkeit und Wechselseitigkeit gekennzeichneten Kommunikationsform der face-to-face-Kommunikation. Mit seinem Konzept der kommunikativen Gattungen hat Luckmann zudem einen sehr fruchtbaren Vorschlag gemacht, wie die verschiedenen Ausprägungen von Gesprächen analytisch erfasst und empirisch untersucht werden können. Schließlich aber hat auch er entschieden darauf hingewiesen, dass „Gespräche keineswegs ausschließlich aus Worten bestehen oder auch nur ‚wesentlich‘ aus Worten bestehen müßten“ (Luckmann 1984, 494). Der Umstand, dass viele Gelehrte Gespräche lediglich als verschriftlichte Objektivationen studierten, sollte nicht dazu verleiten, sich lediglich auf die Sprachlichkeit von Gesprächen zu fokussieren. Dieser Gedanke soll weitergeführt werden. Wir wollen hier die These vertreten, dass Gespräche – und damit auch das Gelingen von Gesprächen – von einer kommunikativen Handlungsform bestimmt sind, die nicht spezifisch für die Sprache ist: die Sequenz. Auf die Rolle dieser Sequenz hat Luckmann (2013) selbst schon hingewiesen, und auch Silverman (2007) hat die Bedeutung der Sequenz hervorgehoben, ohne sie jedoch theoretisch auszuarbeiten. Zur Beantwortung der Frage nach dem Gelingen von Gesprächen soll deswegen eine Theorie der Sequenz skizziert werden. Wie erwähnt, ist die Sequenzialität keineswegs auf Gespräche beschränkt. Wenn wir davon ausgehen, dass Sequenzen von Handelnden sinnhaft gebildet werden, aber in ihrem Vollzug eine eigene Logik entfalten, die sich dem Bewusstsein nicht entzieht (wie dies in der Systemtheorie angenommen wird), die sich aber auch nicht auf die Sprache beschränkt (wie Habermas annimmt), müssen wir hier – nach dieser Einleitung (1) – wenigstens grob einen angemessenen Begriff des kommunikativen Handelns skizzieren (2). Werden wir dabei dessen Reziprozität als ein Grundprinzip hervorheben, so wenden wir uns dann der zeitlichen Ordnung kommunikativen Handelns zu, die wir als Sequenzialität bezeichnen (3). Im Unterschied zu einer mechanischen oder kausalen Verknüpfung von Akten zeichnet sich die sequentielle Verknüpfung kommunikativen Handelns durch eine besondere, eben kommunikative Reflexivität, aus (4). Diese Reflexivität garantiert weder die Geltung noch die Wahrheit, doch ermöglicht sie das Gelingen kommunikativen Handelns auf eine Weise, die nicht nur für Gespräche gilt, sondern einen wesentlichen Baustein der kommunikativen Konstruktion von Gesellschaft bildet (5).²
Die Argumente in diesem Beitrag finden sich ausführlicher und in einem systematischen Kontext in Knoblauch (2017). Eine empirische Anwendung ist in der Kürze dieses Beitrags nicht möglich, doch erscheint mir die Analyse der sozialen Eigenlogik informellen Argumentierens ein sehr passendes Beispiel (Knoblauch 2009).
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2 Kommunikatives Handeln, Zeigen und Reziprozität Luckmann (2013) selbst schon deutet eine Ausweitung des Kommunikationsbegriffes an, die mit dem Begriff der „kommunikativen Konstruktion“ bezeichnet wird (Keller/ Knoblauch/Reichertz 2012). Sie bedeutet, dass Kommunikation nicht nur, ja nicht einmal zuerst nach dem Modell sprachlichen Handelns gefasst werden soll. Vielmehr kann jede Form der Objektivation als ein Medium der Kommunikation gelten. Diese Objektivation kann ein Zeichen, auch ein sprachliches Zeichen sein; es kann sich aber auch nur um eine körperliche Bewegung, wie den Fingerzeig, um einen Gegenstand, wie den Zeigestock, oder eine Technologie, wie den Laserpointer handeln. Wir reden deswegen auch von einem triadischen Modell kommunikativen Handelns. Diese triadische Ausweitung über die Sprache und ihren Sinn hinaus schließt auch den rollenden Blick, den zeigenden Finger mit ein, aber auch andere materielle oder technologische Ausweitungen des menschlichen Körpers: Brillen, Zeigestöcke, Laserpointer und alles, was unter einen weiten Begriff des Kommunikationsmediums fällt. Dieser weite Begriff der Kommunikation scheint nötig, zumal immer mehr Medien und Technologien mit dem Menschen verkoppelt werden und damit das Handeln auf Weisen mediatisieren, die keineswegs nur zeichenhaft sind, sondern immer mehr einen wirkenden Charakter erhalten und zum Teil der wirtschaftlichen und dinglichen Produktion werden. Mit dieser Ausweitung des Kommunikationsbegriffes wird aber auch der kommunikative Charakter jeden sozialen Handelns deutlich: Wie immer wir handeln wollen, wie immer „Praktiken“ vollzogen werden sollen und was immer Sozialforschende beobachten wollen – es muss in irgendeiner Weise objektiviert sein, damit es für andere wahrnehmbar, wirksam und damit sozial werden kann (und zwar sowohl für die Beteiligten wie die Beobachtenden). Damit ist eine zweite Verschiebung benannt, die den kommunikativen Konstruktivismus auszeichnet: soziales Handeln ist notwendig kommunikatives Handeln, wobei dieses, wie oben erwähnt, nicht auf sprachliches Handeln reduziert werden sollte, wie etwa bei Habermas (1981). Wenn wir das soziale Handeln als kommunikativ ansehen, dann wird auch eine dritte Ausweitung notwendig, die Habermas selbst schon angedeutet hat: Kommunikatives Handeln ist nicht etwas, das von einem einsamen Subjekt oder dem rationalen Akteur alleine vollzogen oder gar nur entschieden werden soll. Sobald und sofern kommunikativ gehandelt wird, steht das Subjekt (genauer: stellt sich das Subjekt) immer schon in einer Relation zu dem Subjekt, mit dem kommuniziert werden soll.Von der Interaktion unterscheidet es sich begrifflich, weil dieses Handeln mit einer Objektivation verbunden ist.³
Von der Interaktion unterscheidet sich das kommunikative Handeln begrifflich, weil es mit einer Objektivation verbunden und damit triadisch ist. Zudem kann es vereinseitigt werden – wenn die Sequenz, wie im Monolog, von einem Subjekt fortgesetzt wird.
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Wir können verschiedenste Aspekte des kommunikativen Handelns veranschaulichen, wenn wir uns eine der vermutlich grundlegenden Gesten betrachten, die (vermutlich) die menschliche Sozialität ausmacht: es ist der Fingerzeig, den menschliche Kinder offenbar etwa um den 9. Monat, andere Primaten aber gar nicht eigenständig erlernen (Tomasello 2009). Der Fingerzeig ist deswegen reizvoll, weil er körperlich ist, aber auch, weil er lange missverstanden wurde. Im Sinne von Handlungstheorien, die von einem einsamen, aber immer schon sozialisierten und kultivierten Subjekt ausgehen, wird das Zeigen als ein Hinweisen betrachtet, das das Subjekt als origo (Bühler) oder „Nullpunkt des Koordinatensystems“ (Schütz) ansieht. Die zumeist im Alter von neun Monaten stattfindende „Revolution“ besteht darin, dass die Kinder in der Lage sind, den Standpunkt der anderen, denen man zeigt, im Zeigen zu antizipieren. Der Zeigefinger und die Hand werden so ausgestreckt, dass das andere Subjekt aus seiner räumlichen Position erkennen kann, wohin gezeigt wird. Gleichzeitig ist aber auch das zeigende Subjekt nicht unbedeutend; es stellt sich ja wortwörtlich nicht hinter das andere Subjekt, sondern berücksichtigt seine eigene Position, von der aus gezeigt wird und die wiederum vom anderen Subjekt antizipiert werden kann. Wir haben es hier also nicht nur mit einer Relation zu tun, in der das Zeigen vollzogen wird; vielmehr ist diese Relation durch das charakterisiert, was Alfred Schütz (1971) als Reziprozität bezeichnet hat. Sie ist auch für Schütz, was Intersubjektivität als die sich zwischen Subjekten einstellende Sozialität begründet. Zur Herstellung dieser grundlegenden Reziprozität wurde eine Reihe von Mechanismen identifiziert, die wir im kommunikativen Handeln verankert sehen. So etwa der lange vor der Neurologie vom Soziologen Cooley (1902) beobachtete „Spiegelungseffekt“ bzw. „Looking-Glass“-Effekt: dass wir nämlich unsere eigenen körperlichen Bewegungen großteils gar nicht visuell wahrnehmen, sondern nur über die Reaktion der anderen, in denen wir uns spiegeln (Cooley 1902). Während sich die Annahme des empathischen Hineinversetzens oder der schlichten mimetischen Interpretation als metaphorisch oder zu vereinfachend erwies, hat sich das Konzept der „Rollenübernahme“ bewährt, das Mead (1978) vorgeschlagen hat. Der Kern der Rollenübernahme besteht darin, dass wir die Handlung des anderen Individuums antizipieren, die es als Reaktion auf unsere Aktion vollführen wird – und dass wir unsere Aktion schon in der Antizipation so gestalten, dass wir eine entsprechende, erwartete Reaktion erhalten. Eine Voraussetzung für das Gelingen von Gesprächen, aber auch für eine nichtsprachliche Interaktion wie das Zeigen ist auch der Aspekt der Reziprozität, den Schütz (1971) als „Austauschbarkeit der Standpunkte“ bezeichnet. Wir hatten diesen Aspekt oben schon angedeutet, dass nämlich „mein Mitmensch und ich die gleichen Erfahrungen von der gemeinsamen Welt machen würden, wenn wir die Plätze austauschten, wenn sich also mein ‚Hier‘ in sein ‚Hier‘ und sein ‚Hier‘, für mich jetzt noch ein ‚Dort‘, in mein ‚Hier‘ verwandelte“ (Schütz 1971: 365).
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3 Kommunikatives Handeln und Sequenzialität Die Reziprozität bildet eine Voraussetzung nicht nur des Gesprächs, sondern jeder Form der menschlichen Kommunikation.⁴ Wir wollen sie hier jedoch nicht als eine ‚eingeborene‘ Eigenschaft des Subjekts behandeln, sondern als ein Merkmal des kommunikativen Handelns, an dem wir in seinem Vollzug partizipieren (durch den wir zu Handelnden werden). Kommunikatives Handeln ist keineswegs nur eine Selektion von Sinn (wie in der Systemtheorie) oder eine logische Entscheidung, wie in der Rational Choice-Theorie. Vielmehr ist sie mit einer körperlichen Performanz verbunden, und zwar auch dann, wenn wir nichts machen, z. B. nur schweigen (was durchaus auch in Gespräch geschehen kann). Wir können hier die Rolle der Körperlichkeit und Performativität nicht erläutern (vgl. dazu Knoblauch 2017, Kap. III.3. und 4) und wollen uns auf die Zeitlichkeit konzentrieren. Am Beispiel des Fingerzeigs hatten wir dem kommunikativen Handeln bisher eine gewisse Gleichzeitigkeit unterstellt: Gleichzeitig zeigt der Finger und treffen sich die Blicke und das Sehen des Gesehen-Werdens des Fingers. Der Fingerzeig selbst aber kann in vielerlei zeitlichen Abfolgen stattfinden: So kann etwa der Blickwechsel zuerst zum Blick auf den gezeigten Finger führen und sich erst dann dem Objekt zuwenden, auf das der Finger zeigt. An der Analyse des kommunikativen Handelns ändert die Sequenz nichts, denn dieses Handeln bleibt in allen Schritten ein auf Objektivierungen bezogener reziproker körperlich wirkender Vollzug zwischen mindestens zwei Subjekten. Allerdings fügt sie dem Handeln einen weiteren zeitlichen Aspekt hinzu, den wir als „Sequenzialität“ bezeichnen. Die Relevanz der Sequenzialität von Handlungen wird bereits bei Weber angedeutet, der das soziale Handeln als den elementaren Gegenstand der Soziologie definiert. Nach seiner Auffassung können soziale Handlungen sequenziell verbunden werden. Diese Verbindung nennt er die Chance, dass auf eine soziale Handlung eine Anschlusshandlung stattfindet (Weber 1980). Diese Chance ist derjenige Aspekt des sozialen Handelns, der über die bloße Orientierung am Verhalten der Anderen hinausgeht und die sinnhafte Verbindung zwischen Handlungen herstellt. Mit dem Konzept der Chance lenkt Weber so das Augenmerk nicht nur auf ein Prinzip der sinnhaften sequenziellen Abfolge, die wir als „Synchronisierung“ bezeichnen, sondern auch auf deren Relevanz für die Konstruktion von Gesellschaft. Während Weber für die elementare sequenzielle Abfolge des sozialen Handelns lediglich zwei Schritte vorsieht, bilden drei Schritte die grundlegende Abfolge in
Im Rahmen der Kommunikationstheorie Luckmanns (1980) stellt die Sequenzialität auch eine Erweiterung dar, die zu den allgemeinen Merkmalen der Abstraktheit, Intentionalität, Wechselseitigkeit und Gesellschaftlichkeit hinzukommt. Die Theorie der kommunikativen Konstruktion ergänzt diese Merkmale zudem durch die sinnlich erfahrbare Körperlichkeit oder Materialität, wie sie in der Objektivation zum Ausdruck kommt.
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Meads Konzept der Kommunikation als aus Verhalten erzeugtem Sinn. Er skizzierte diese zeitliche Abfolge in seiner oben schon erwähnten Darlegung: Sinn arises and lies within the field of the relation between the gesture of a given organism and the subsequent behavior of this organism as indicated to another human organism by that gesture. If that gesture does so indicate to another organism the subsequent (or resultant) behavior of the given organism, then it has meaning (Mead 1964: 163).
So hat die von Mead beschriebene Sequenz eine zeitliche Ordnung, in der sich ein Dreischritt („threefold relation“) vollzieht: „[T]he gesture of one organism to the adjustive response of another organism (also implicated in the given act) and to the completion of the given act“ (Mead 1964: 164). Dieser ‚Gestendialog‘ aus einer Geste, der ihr folgenden Antwort und der Vollendung des mit dem ersten Zug begonnenen Aktes stellt für Mead den Kern der Kommunikation dar, weil sie Handelnde über den Austausch von „indications“ zu reziproken und damit sozialen Wesen macht. Eine dreigliedrige Sequenzialität findet sich auch bei Habermas wieder. Das „kommunikative Handeln“ muss nämlich keineswegs aus einem einzigen Sprechakt bestehen. Vielmehr kann es auch interaktive Formen annehmen, indem es einen Sprechakt nach sich zieht. Habermas weist nicht nur mehrfach auf diese interaktive Ausprägung des kommunikativen Handelns hin (Habermas 1981 I, S. 151, 376; II, S. 112 ff., 319).⁵ Dies geschieht in drei Akten: S: Äußerung (Geltungsanspruch) R: Ja/Nein S: Begründung (Geltungsanspruch) Als Erstes machen Sprechende mit ihrem Sprechakt ein Angebot. Damit verfolgen sie eine im Sprechakt ausgedrückte Intention, die mit dem (in der Art des Sprechakts verankerten) Geltungsanspruch der Äußerung verbunden ist.⁶ Nun kann, als Zweites, die Hörerin durch ein „Ja“ oder „Nein“ zu diesem Sprechakt Stellung beziehen. Damit ist die Sequenz aber noch nicht abgeschlossen. Denn vor allem bei der Nein-Stellungnahme wird die sequenzielle Notwendigkeit geschaffen, den Sprechakt zu begründen. Bei der Begründung spielen die schon genannten drei Dimensionen des (zugestimmten oder abgelehnten) ersten Sprechakts eine leitende Rolle, die sich an den Bühler’schen Zeichenfunktionen orientieren: Sie sind „expressiv“, „normativregulierend“ oder „propositional“ und erheben unterschiedliche Geltungsansprüche. Denn die Hörerin oder
Diese interaktive Ausweitung zur Sequenz nimmt bei Habermas auch eine große theoretische Bedeutung an, realisiert sich doch mit ihr der Diskurs und mit ihm die Möglichkeit der kommunikativen Rationalität Die Sequenzialität ist auch ein wesentlicher Zug der Performanz. Denn die Beispiele für die perlokutionären Effekte des Sprechens, die Austin (1962) für Sprechakte gibt (z. B. Drohen – Fliehen), beziehen sich auf sehr typische Paarsequenzen, deren Besonderheit darin besteht, dass sie sprachliche und nichtsprachliche Handlungen kombinieren.
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der Hörer akzeptiert mit dem ‚Ja‘ ein Sprechaktangebot und begründet ein Einverständnis, das sich einerseits auf den Inhalt der Äußerung, andererseits auf sprechaktimmanente Gewährleistungen und interaktionsfolgenrelevante Verbindlichkeiten bezieht. (Habermas 1981 I, 398)
Diese Begründung nimmt nach Habermas selbst wieder eine feste alltagssprachlich rationale und sequenzielle Verlaufsform an, die er durch die damals gängige Argumentationstheorie Toulmins (1958) entwarf. Weil Habermas auch therapeutisch-rekonstruktive Diskurse anspricht, können wir davon ausgehen, dass der Anschluss auch in Form von narrativen Fortsetzungen erfolgen kann, wie etwa in der (dialogischen) Rekonstruktion eines Ereignisses. Wie insbesondere Lämmert (1952) betont, sollte jedoch die Zeitlichkeit des rekonstruierten Ereignisses und die sequentielle Zeitlichkeit der Rekonstruktion systematisch unterschieden werden. Wenn an dieser Stelle von einer „Sequenzialität“ die Rede ist, ist eine Abfolge von verschiedenen performativen sprachlichen Äußerungen gemeint. Damit folgt Habermas wieder dem logozentrischen Primat der Sprache: Das kommunikative Handeln ist wesentlich sprachlich als Sprechakt gedacht und die Koordination der Handlungen erfolgt aufgrund der sprachlichen Semantik, deren pragmatische Dimensionen für das sprachliche Handeln Habermas (1988b) sehr entschieden ausarbeitet. Diese Sprachzentrierung wirft allerdings die Frage auf, ob sich die Sequenzialität auf andere Modalitäten ausweiten lässt. Denn schon die visuelle Kommunikation, die in der wissenschaftlichen Kommunikation eine große Rolle spielt, folgt diesem Schema auf eine grundlegende Weise nicht, denn Bilder können nicht für sich Dissens markieren. Die Sequenzialität findet sich auch in Luhmanns Theorie der Kommunikation – und auch bei ihm hat sie eine theoretisch tragende Bedeutung für das, was als ‚Anschlusskommunikation‘ bezeichnet wird. Anschlussfähig sind Systeme für Luhmann (1984), wenn ihre Operationen durch weitere Operationen fortgeführt werden können und so das System als System reproduzieren (bzw. „Selbstreferenz“ erzeugen). Dies geschieht in Gesellschaftssystemen durch einen besonderen Code, der von einer Leitdifferenz geprägt ist, wie etwa „zahlen“ oder „nicht zahlen“ bei wirtschaftlichen Finanztransaktionen im Medium Geld. Es geht bei der Sequenzialität aber nicht um die sinnhafte Verknüpfung etwa durch Codes oder generalisierte Medien (Luhmann 1997). Denn obwohl Luhmann nicht von kommunikativen Handlungen sprechen will, zeichnet sich die zeitliche Ordnung der Systeme durch eine Abfolge von Kommunikationen aus. Jedoch sind diese Abfolgen mit einer Ja-Nein-Entscheidung verbunden, die bestimmte Arten der Kommunikation fortsetzt oder nicht fortsetzt.
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Abb. 1: Fortsetzungen des kommunikativen Handelns nach Habermas / Luhmann
Die Ja-Nein-Entscheidung ist also der Kern dessen, was Luhmann als „Anschlusskommunikation“ bezeichnet: Die mit einem „Ja“ angezeigte Fortsetzung der Kommunikation bzw. des spezifischen Codes führt zu Verkettungen, die als fortgesetzte Operationen Systeme in der Zeit ausbilden. Auch wenn sich Luhmann ausdrücklich nicht mehr an der Sprache orientiert, folgt er einem noch idealistischeren Modell als Habermas: Ist es bei Habermas die objektivierte Sprache, die das sequenzielle Handeln koordiniert, so ist es bei Luhmann nur noch der „Sinn“. Der Körper spielt hier ebenso wenig eine systematische Rolle wie Objektivationen oder gar Materialitäten. Beschränkt sich Habermas auf sprachlich koordinierte Handlungen, so geht es bei Luhmann um eine Synchronisation des Handelns. Eine empirisch und analytisch ausgefeilte Vorstellung der Sequenz hat die ethnomethodologische Konversationsanalyse entwickelt. Sie geht von einer sehr breiten Vorstellung der Kommunikation aus, die dem Modell des Gesprächs folgt. Dabei verfährt sie im Regelfall wenig theoretisch, doch appliziert sie ein Konzept der Sequenz, das unserer analytischen Vorstellung am nächsten kommt (Silverman 2007): Ein Redezug (turn) reiht sich an den anderen und fügt sich so zur Sequenz. Auf der Grundlage ethnomethodologischer Überlegungen geht die Konversationsanalyse davon aus, dass diese Redezüge in einer wechselseitigen Verbindung zueinander stehen und dadurch synchronisiert werden. Den Grundzug dieser Verbindung hat Garfinkel herausgestellt, der von der „retrospektiv-prospektiven Interpretation“ spricht: Die jeweilige kommunikative Handlung enthält nicht nur die prospektive Deutung, was sie erreichen will.⁷ Die kommunikative Handlung weist auch einen retrospektiven Bezug auf den vorherigen Redezug auf. Das ist ihre retrospektive Orientierung. Während die Erwartungen nur eine in die Zukunft gerichtete Zeitdimension kennen, zeichnet sich die ethnomethodologische Vorstellung der Sequenz durch die Verschränkung zweier Zeitperspektiven aus, die in der zeitlichen Synchronisierung der Motive eine bedeu-
Diese prospektive Orientierung erinnert an die Erwartung bei Weber, die eine Chance schafft, oder an die komplexere „Erwartungserwartung. „Erwartungserwartung“ bildet für Lindemann eine zentrale Orientierung bei der Kommunikation. Sie besteht darin, dass Ego Alter wahrnimmt und in der Interaktion Erwartungen bezüglich des Verhaltensablaufs entwickelt; darüber hinaus machen „Ego und Alter ihr Verhalten wechselseitig voneinander abhängig“ (Lindemann 2009: 165).
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tende Rolle spielt. Bei Garfinkel ist sie mit einem zeitlich rückgerichteten Bezug verbunden, so dass eine Folgeäußerung als Interpretation der vorangehenden verstanden werden kann.⁸ Neben dieser zeitlichen Synchronisierung spricht Garfinkel auch das zweite Merkmal der Sequenzen an, die Koordination der Verhaltensabläufe: Die Verbindungen und Interpretationen sind nicht einfach im „Sinn“ der Äußerung angelegt; sie werden vielmehr in der Art, wie die Äußerung gemacht wird, reflektiert.⁹ Garfinkel meint also nicht einfach die Objektivierung selbst, sondern die Art und Weise (bzw. Ethnomethode), in der sie hervorgebracht oder vollzogen wird. Wie Redezüge verstanden werden, wird in den Methoden angezeigt, mit denen sie erzeugt werden. Auch wenn Garfinkel zuweilen sehr allgemein formuliert, was unter diesen (Ethno‑)Methoden zu verstehen ist, hat die ethnomethodologische Konversationsanalyse einen empirisch und analytisch sehr scharfen Begriff der Sequenz entwickelt. Sie fasst Äußerungen als objektivierte Redezüge, wobei sie sich zunächst auf gesprochene Äußerungen konzentriert. Im Unterschied zu Habermas fasst sie dabei auch prosodische Merkmale, Stimmqualität oder Sprechgeschwindigkeit als sinnliche und sinnhafte Objektivationen, die in der Art, wie sie jeweils situativ vollzogen werden, die Handlungen der beteiligten Akteure synchronisieren und koordinieren (Sacks / Schegloff / Jefferson 1978). Für uns ist diese Sequenzanalyse deswegen von besonderem Interesse, weil sie sich auch audiovisuellen Aufzeichnungen zuwandte, in denen die körperlichen und zeitlichen Interaktionen von Handelnden in unterschiedlichen räumlichen, sozialen und kulturellen Situationen empirisch und analytisch als Sequenzen gefasst wurden (Luff / Heath / Hindmarsh 2010).
4 Reflexivität Die Sequenzialität sollte nicht auf eine kausale Reiz-Reaktionskette oder eine kybernetische Feedback-Verbindung reduziert werden. Sie bedarf vielmehr einer elementaren Art der Deutung, die in den Anforderungen an die Reziprozität enthalten ist.¹⁰ Deswegen zeichnen sich Sequenzen kommunikativer Handlungen durch eine besondere Form der Reflexivität aus. Eine Reflexivität erzeugt die Reziprozität bereits Für eine tiefergehende Analyse vgl. Cicourel (1973). Man sollte zwei verschiedene Arten der Sequenzanalyse unterscheiden: Hermeneutische Verfahren gehen von der handelnden „Wahl“ zwischen verschiedenen Optionen aus, während sich die Konversationsanalyse auf die ablaufende situative Konstruktion von Interaktionen durch Routinehandlungen und -praktiken fokussiert. Der Unterschied liegt auch in der Bestimmung der Einheiten der Analyse. Im Falle der Hermeneutik werden diese von den Forschenden und der Technik (z. B. das „Einzelbild“) einseitig vorbestimmt definiert (Soeffner 1989) während sie im Falle der konversationsanalytisch orientierten Vorgehensweise durch die jeweils von den Akteuren gesetzten Markierungen (z. B. turns) anhand des Relevanzprinzips sensitiv festgelegt werden (vgl. Knoblauch 2011). Goffman (1981) schlägt deswegen vor, „summons-response“ zu Benennung der basalen Paarsequenz zu bezeichnen, auch um die Sprachfixierung der Konversationsanalyse zu vermeiden.
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beim kommunikativen Handeln, wenn etwa der Vollzug gleichzeitig im Wahrnehmungsverhalten der Anderen gespiegelt wird. Allerdings kann sie erst im Zusammenhang mit Sequenzen spezifiziert werden. Gesten, Zeichen und Objektivierungen sind reflexiv in der Form, dass sie nicht nur Zeichen für mich sind, sondern auch für Andere entworfen werden. In ihrem performativen Vollzug haben sie zudem einen deutlich zeitlichen Bezug: Denn sie zeigen in ihrem Vollzug nicht nur an, was die Handlung erreichen will (etwa eine Frage stellen); sie zeigen auch Anderen an, wie die Handlung verstanden werden soll. Dieses Verständnis bleibt nicht innerlich oder bloß subjektiv, sondern kommt wiederum in der Folgehandlung zum objektivierten Ausdruck, und zwar auch und gerade, wenn die Folgehandlung ausbleibt. Der nächste Zug ist immer auch eine Deutung des vorangegangenen Zuges, der eben nicht nur Sinn schafft, sondern auf Andere einwirkt. Diese Vorstellung der Reflexivität ist innerhalb der Konversationsanalyse zu einer analytischen Ressource gemacht worden. Sie tritt aber durchaus auch außerhalb der Ethnomethodologie auf. So geht Goffman grundsätzlich davon aus, dass wir in der Kommunikation unser Verhalten für Andere so verstehbar und relevant […] machen, dass sie beobachten können, was vor sich geht. Was immer wir sonst tun: Wir müssen unsere Aktivitäten an das Bewusstsein der Anderen richten, d. h. an ihr Vermögen, unsere Worte als Hinweis auf unsere Gefühle, Gedanken und Absichten zu lesen. (Goffman 2005a: 264)
Reflexivität darf keineswegs als bloße kybernetische Rückkopplung verstanden werden, wie sie in einfachen technischen Systemen auftritt. Es geht nicht nur um das Feedback der Wirkhandlung, sondern um einen Mitvollzug des mit ihr verbundenen Sinns anhand der Objektivation.¹¹ Auf dieses Merkmal macht Archer (2o12) aufmerksam, die den Begriff der „kommunikativen Reflexivität“ vorschlägt. Kommunikative Reflexivität erlaubt es, dass die Sprechenden ihre Äußerungen fortsetzen können. Sie erfordert „people who can understand and enter into the subject’s concern and preoccupations to such an extent that they can complete and confirm their friends tentative thoughts by their talk together“ (Archer 2012: 147).¹² Wenn wir die kommunikative Reflexivität auch auf nichtsprachliche Kommunikation ausweiten, hilft uns der Begriff, die Reflexivität des Subjekts aus dem kommunikativen Handeln heraus zu verstehen. Reflexivität darf nicht mit „Metakommunikation“ verwechselt werden (vgl. Watzlawick / Bavelas / Jackson 1967). Denn als „Kommunikation über Kommunikation“ unterscheidet sich Metakommunikation schon sequenziell von dem, worüber sie kommuniziert: Wie ein Kommentar bildet sie eine gesonderte Sequenz, die sich auf eine andere Sequenz bezieht und sie kommentiert. Kommunikative Reflexivität ist
Hier dürfte auch die die Differenz zu komplexeren technischen Dialogsystemen liegen. Allerdings hat Archer diese kommunikative Reflexivität nicht in Gesprächen beobachtet, sondern aus Interviewaussagen rekonstruiert.
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dagegen immer ein Teil der fortlaufenden Kommunikation. Als sichtbare Seite des kommunikativen Handelns ist sie die Voraussetzung dafür, dass es überhaupt Metakommunikation gibt und dass sie einen Bezug zur Kommunikation herstellen kann: Sie zeigt an, wenn man über etwas kommuniziert, was gerade kommuniziert wurde oder wird.¹³ Kommunikative Reflexivität ist aber auch am Werk, wenn wir eine Frage als ernst gemeinte oder als rhetorische Frage aussprechen (auch wenn die Alternative nicht eindeutig gehalten wird). Außerdem bildet sie die Grundlage für die Beobachtung der Kommunikation, wie sie von der Konversationsanalyse systematisch (und, wie sie angibt, auch im Alltag) genutzt wird: Sofern wir mit den Objektivationen kulturell vertraut sind, können wir verstehen, was angezeigt wird, und da wir nicht in die Handlungszusammenhänge, die verstanden werden, eingebettet sind, können wir dieses Verständnis auch explizieren. Die kommunikative Reflexivität ist zwar mit der Subjektivität verbunden, ist jedoch nicht eine Leistung eines vorsozialen einsamen Bewusstseins. Auch wenn das Subjekt gerade im kommunikativen Handeln auch eine Differenz zum anderen Subjekt (etwa durch den Standort des eigenen Körpers) erfährt und erzeugt und dadurch selbst-reflexiv wird (etwa als Ich wie Mead vorschlägt), so lässt sich die kommunikative Reflexivität als eine Eigenschaft des kommunikativen Handelns verstehen. Das lässt sich an dem Aspekt der Reziprozität zeigen, den Schütz als „Motivverkettung“ bezeichnet. Wie sich an seiner Analyse von Frage und Antwort zeigt, ist diese „Motivverkettung“ wesentlich für das Verständnis der Sequenz. Grundlegend für die Abfolge von Frage und Antwort ist, wie Schütz betont, die Verkettung von „Um-zu-“ und „Weil-Motiven“. Für Schütz stehen diese Motive in einem deutlichen sequenziellen Zusammenhang: Ich frage dich etwas. Das Um-zu-Motiv meines Handelns ist nicht nur die Erwartung, daß du meine Frage verstehen wirst, sondern auch die Erwartung einer Antwort; oder genauer, ich rechne damit, daß du antworten wirst, und lasse es unentschieden, welchen Inhalt deine Antwort haben wird. […] Wir können sagen, daß die Frage das Weil-Motiv der Antwort ist, ebenso wie die Antwort das Um-zu-Motiv der Frage ist. […] Aber bei unzähligen Gelegenheiten konnte ich nur auf das Handeln eines anderen, das ich als eine an mich gestellte Frage auslegte, mit einer Art von Verhalten reagieren, dessen Um-zu-Motiv meine Erwartung war, daß der andere, der Fragende, mein Verhalten als eine Antwort auslegen würde. (Schütz 1972: 16 Herv. i.O.).
Das auf vermutlich sprachliche Dialoge bezogene Beispiel sollte nicht zum Fehlschluss führen, dass die Sequenzialität dieser Motivverkettung auf die sprachlichen Konventionen und die institutionelle Form von Fragen und Antworten zurückzuführen ist, sich also der Sprache verdankt. Diese Vorstellung vertritt, wie erwähnt, insbesondere Habermas (1988), der sogar pathetisch die Möglichkeit von Wahrheit im Gebrauch der Sprache und den in ihr (als Sprechakte) unterscheidbaren Geltungsansprüchen postuliert. Die Sprechakttheorie ist den Nachweis einer solchen Unter Ein anschauliches Beispiel dafür sind Formulierungen, in denen noch einmal gesagt wird, was davor ausgeführt worden ist (Heritage / Watson 1979).
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scheidbarkeit mit Blick auf empirische Gespräche seit Jahrzehnten schuldig geblieben. Auf der anderen Seite hat sich das auf den Annahmen der Reziprozität aufbauende Prinzip der Sequenzialität seit mehreren Jahrzehnten nicht nur für die empirische Analyse von gesprochenen Dialogen und Gesprächen bewährt. Auch nichtsprachliche Interaktionen können mit dieser Annahme höchst fruchtbar verstanden werden. So lässt sich die genannte Motivverkettung auch auf nichtsprachliche Beispiele anwenden, und zwar auch auf den sequenziell realisierten Fingerzeig, der als Musterfall noch nicht institutionalisierten und nicht-zeichenhaften Handelns gilt: Subjekt 1 (S 1) zeigt mit dem Finger auf etwas, und zwar derart, dass Subjekt 2 (S 2) es so sieht, dass es in der Folge auf den Finger sieht (dass es dann auf das blickt, was gesehen wird, muss uns sequenziell erst interessieren, wenn wir über die Zeichen reden). S 1 streckt den Finger, um S 2 etwas zu zeigen, S 2 blickt auf den Finger und dann in die gezeigte Richtung, weil ihm von S 1 etwas gezeigt wurde. Anders gesprochen: Das Umzu-Motiv des Zeigenden führt zum ersten Teil der Sequenz, der wiederum das Motiv für S 2 ist: S 2 blickt, weil S 1 gezeigt hat. S 1 und S 2 sind also auf eine Weise reziprok miteinander verknüpft, wie wir sie als „Motivverkettung“ bezeichnen.
5 Schlussbemerkungen Mit der Betonung der nichtsprachlichen Sequenzen soll keineswegs für eine Vernachlässigung der Sprache votiert werden. Sprachliche kommunikative Handlungen, Interaktionen, Texte, Diskurse sind nicht nur für die Erstellung dieses Textes unersetzlich; Sprache ist sicherlich auch eine der zentralen Ressourcen für die Konventionalisierung von Sinn, für dessen Reflexion und damit immerhin für die Möglichkeit von Wissenschaft und (jedenfalls ihrem Anspruch nach) von Wahrheit. So bedeutsam die Sprache ist: wir sollten nicht der Versuchung erliegen, jede Interaktion oder Handlung nach dem Muster sprachlichen oder auch zeichenhaften Handelns zu verstehen oder daran zu messen. Gerade die Sozialtheorie muss in Betracht ziehen, dass eher das Soziale die Quelle der Sprache ist als die Sprache die Quelle des Sozialen. Und weil dies auch für alle Zeichen, also konventionalisierten Objektivationen, gilt, erscheint auch die Rede vorzeichenhaftem Handeln noch zu sehr an der sprachlichen und zeichenhaften Kommunikation orientiert. Eine Folge etwa ist der krampfhafte Versuch, Körper nach dem Muster der Sprache und Gesten wie lexikalische Sinneinheiten zu fassen. Körper machen (und ich benutze ich hier mit Absicht die aus dem Amerikanischen übernommene Form) auch dann Sinn, wenn deren Bedeutung unklar, ungenau, unbestimmt und auch unvertraut ist.) Sofern Gespräche vornehmlich sprachlicher Natur sind, werden sie sicherlich auch durch die Sprache, ihre Semantik und Grammatik synchronisiert. Doch selbst in ihren minimalsten Objektivationen klingt das Materielle mit – sei es die drohende oder freundliche Stimme, sei es der lateinische Buchstabe in deutscher Sprache auf weißem Papier oder auf dem Monitor eines PCs. Doch so sehr Sprache auch ein Lagerhaus
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für Sinn darstellt, wird das Gespräch von einem Mechanismus getrieben, den wir hier als Sequenzialität beschrieben haben. Sequenzialität bezeichnet dabei zunächst eine interaktive Abfolge kommunikativer Handlungen, die körperlich objektiviert (nd damit auf verschiedene Weise vermittelt und mediatisiert sein kann. Indem sie verschiedene Forderungen nach Reziprozität erhebt, entfaltet die Sequenzialität kommunikativen Handelns eine Art soziale Eigenlogik, die wir in diesem Text zumindest andeuten wollten: Spiegelung, Austauschbarkeit der Standpunkte oder Motivverkettung sind Prozesse, die zunächst und zuerst die relationale Subjektivität kommunikativen Handelns auszeichnen. In der körperlichen Performanz erzeugen sie einen Sinn, der objektiviert und damit immer auch sinnlich erfahrbar ist. In Anschluss an Durkheim kann man sagen, dass kommunikatives Handeln in der Zeitlichkeit der Sequenzialität den Sinn der Objektivation synthetisiert und damit eine Emergenzebene schafft, die wir das Soziale nennen.¹⁴ Zeitlichkeit ist ein wesentlicher Aspekt der Prozessualität des kommunikativen Handelns und damit der Gesellschaft. Zwar weist auch das Bewusstsein eine zeitliche Struktur auf, wie sie von Schütz (2004) als Grundlage des Handelns analysiert wurde. Wie wir jedoch auch die Sozialität nicht aus dem Bewusstsein, sondern aus dem kommunikativen Handeln ableiten wollen, so sehen wir auch die Zeitlichkeit des subjektiven Bewusstseins nicht als die leitende Vorgabe für die soziale Zeitlichkeit. Im Zuge der Relationierung des Subjektiven, wie wir sie bereits kurz angedeutet hatten, sehen wir die Möglichkeit der Hinwendung des Bewusstseins zu sich selbst und damit die Ausbildung einer sinnhaften „inneren Zeit“ erst durch den Sinn gegeben, der sich aus dem reziproken Umgang mit Anderen im kommunikativen Handeln ergibt. Dasselbe gilt für die vermeintlich „objektive Zeit“.¹⁵ Stellt die Uhrzeit und die Zeitmessung in ihrer Zeichenhaftigkeit ganz offensichtlich ein kommunikatives Konstrukt dar, so sind auch die Vorstellungen einer Erdgeschichte oder der Evolution hochgradige Abstraktionen, die nicht ohne sehr voraussetzungsvolle Kommunikations- (und technische) Konstruktionsprozesse entstehen konnten. Beide, subjektive und objektive Zeit, setzen eine soziale Zeit voraus, auf die die subjektive Zeit immer bezogen bleibt; aus dieser sozialen Zeit heraus bilden sich permanente Objektivationen, die jeweils eine eigene Zeit beanspruchen können. Wenn wir den Vollzug des kommunikativen Handelns als Grundprozess der Gesellschaft ansehen, dann tritt die soziale Zeit empirisch in Gestalt von Sequenzen auf. Sequenzen stellen empirische und zeitliche Fortsetzungen kommunikativer Handlungen dar, die als „Anschließbarkeiten“ bezeichnet werden könnten.¹⁶ Es geht
Die Ebene des Subjektiven, so sollte klar geworden sein, ist dem nicht vorgeordnet, sondern daraus geschaffen. Eine dieser Idee sehr nahe kommende Vorstellung der sozial konstruierten Subjektivität entwickelte jüngst der Kognitionspsychologe Prinz (2016). Die Einteilung von subjektiver, sozialer und objektiver Zeit folgt Luckmann (1986b). „Anschließbarkeiten“ sind nach Frese (1985) zwar in der Sprache leichter beobachtbar, lassen sich aber auch auf nichtsprachliches Handeln übertragen. Der Sinn eines Aktes ist das als eine bestimmte Situation gegebene Ensemble der Möglichkeiten, an diesen Akt weitere Akte anzuschließen; d. h., der
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beim kommunikativen Handeln daher nicht nur um Anschlüsse von Sinn – oder gar nur Anschlussmöglichkeiten. Es geht vielmehr um die körperlich, empirisch und zeitlich vollzogene Fortsetzung des kommunikativen Handelns. Wie Gespräche entsteht auch Gesellschaft im Kleinsten, wenn die Fortsetzung der Sequenzen gelingt.¹⁷ Diese Fortsetzung kann potenziell von allen Lebewesen oder auch Objekten vollzogen werden, die dazu als fähig erachtet werden, also auch von Schimpansen, Hunden oder anderen Tieren, in Zukunft vermutlich auch von Technologien und besonderen Objekten, wie etwa Robotern (Pfadenhauer/Grenz 2017. Besonders gut glückt das kommunikative Handeln zumeist mit Menschen. Um eine Gesellschaft bilden zu können, ist es aber entscheidend, ob und wie die jeweils Anderen kommunikatives Handeln fortsetzen.Wenn es um die Fortsetzung kommunikativen Handelns geht, sind Steine – abgesehen von den (häufig als kausal verursacht gedeuteten) Folgen ihrer Bewegung – bekanntlich ebenso träge wie Bäume, während etwa manche Tiere und wohl auch bald Roboter jedenfalls gewisse Formen der Fortsetzung ermöglichen können, auch wenn sich diese dann auf einzelne Sequenzen beschränken mögen. Dabei sollte man beachten, dass die Fortsetzung des kommunikativen Handelns natürlich technologisch vereinseitigt, mediatisiert und institutionell hergestellt, verbessert oder, wie die deutsche Geschichte zeigt, auch unterdrückt und zerstört werden kann.¹⁸
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Sinn eines Aktes ist die Mannigfaltigkeit der Anschließbarkeiten, die er eröffnet. Dieser Begriff wurde auch von Luhmann aufgenommen, so dass sich hier auch die Möglichkeit der Anknüpfung an systemtheoretische Vorstellungen kommunikativer Prozesse ergibt. Deren Grundstein ist die Sequenz, doch könnte man im Weiteren auch von „Verkettungen“ reden, deren Kettenglieder die Sequenzen bilden (R. Collins 2004). Allerdings sollte man nicht den Fehler machen, Gesellschaft lediglich als „Interaktionsketten“ zu bezeichnen. Gesellschaften schließen die soziale Wirklichkeit mit ein, die durch die Objektivationen und ihren Sinn Teil des kommunikativen Handelns sind. Die Art und Weise, wie Juden von den Nationalsozialisten institutionell und systematisch zu „Untermenschen“ konstruiert wurden, und die damit verbundene unglaubliche Enthumanisierung wurden breit untersucht. Eine eindrückliche Darstellung der Institutionalisierung und Legitimierung von humanisierender Kommunikation mit Wachkomapatienten bietet Hitzler (2014: 130).
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Rüdiger Schnell
Gelehrte Dialoge und gesellige Gespräche. Gender und Gelingen vom 14. bis zum 17. Jahrhundert Wie Gespräche zu führen sind, hat antike Rhetoren wie auch galante Damen des 17. Jahrhunderts beschäftigt.¹ Dabei formulierten sie Verhaltensregeln für das Gelingen geselliger, zwangloser Gespräche. Anhand zweier Texte sei dies illustriert. In meinem Text 1, verfasst von Madeleine de Scudéry, begegnen wir folgenden Anweisungen:² – Im geselligen, gebildeten Gespräch solle man ohne Künstelei, unaffektiert, natürlich sprechen. – Was man sage, sollte so daherkommen, als ob es einem gerade eben erst eingefallen sei, also ohne irgendeinen Vorsatz, ohne jeglichen Zwang. – Man solle auch bedenken, wo man sei, mit wem man rede. – Es solle eine heitere, fröhliche Stimmung herrschen. Für gefällige Scherze solle Platz sein. Sie sollen aber angemessen und bescheiden ausfallen. – Es gebe nichts Langweiligeres als eine Unterhaltung mit Leuten, die ständig über dasselbe Thema redeten und nicht auch mal das Thema wechselten. Überhaupt solle Langeweile aus geselligen Gesprächen verbannt sein. – Um eine Unterhaltung angenehm zu machen, sei am allermeisten vonnöten ein gewisser Sinn für Höflichkeit. In Text 2, entnommen einer Passage in der Ars rhetorica des Gaius Iulius Victor (4. Jh. n.Chr.), stehen diese Verhaltensregeln (Victor 1863: 446 f.): – Im vertrauten Gespräch in kleinem Kreis solle man sich nicht zur Schau stellen wollen (also unaffektiert sprechen; sine ostentatione 446,15). – Die Rede sei einfach, nicht unverständlich. – Was man sage, solle nicht den Eindruck erwecken als ob man lange danach gesucht habe, sondern es solle wie zufällig erscheinen. – Stets solle den Reden Scherzhaftes beigemischt sein. Die Scherze sollen aber ehrenhaft, nicht dümmlich oder zänkisch daherkommen.
Ich muss vorausschicken, dass der vorgegebene Umfang nur eine stichwortartige Präsentation meiner These gestattet. Auf das Ausbreiten eines breiteren Textmaterials und auf wünschenswerte Differenzierungen muss an dieser Stelle verzichtet werden. Ich erlaube mir, aus zwei verschiedenen Schriften der Madeleine de Scudéry über die Conversation (1680) einige Sätze frei zusammenzustellen, und lehne mich dabei an die Übersetzung von Schmölders 1979: 166 – 177, an. Vgl. Scudéry 1680: 1– 45 (ursprünglich erschienen innerhalb des Romans von Scudéry [1653]: Artamène ou le Grand Cyrus: 712– 732) und 200 – 250 (ursprünglich erschienen innerhalb des Romans von Scudéry [1658]: Clélie: 637– 675). Die einschlägigen Partien sind abgedruckt bei Denis 1998: 67– 75 und 83 – 96. https://doi.org/10.1515/9783110592580-011
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Man solle nicht dadurch lästig fallen, dass man alleine reden will. Stets solle man bedenken, mit wem, wo und wann man rede. Dem/den Anderen sei aufmerksam zuzuhören, damit man stets im Bilde sei, was gerade erörtert werde, und so eine Frage richtig beantworten könne, die an einen gerichtet werde (447,12– 14).³ Man solle den Vorredner ausreden lassen und an der rechten Stelle einsetzen, damit nicht zwei oder mehrere nach Art eines wilden Haufens tönen und lärmen (447,15 f.).
Unschwer zu erkennen ist, dass sich die Verhaltensregeln der beiden Texte sehr ähneln. Gegen meine Suggestion einer Konvergenz der beiden Textausschnitte ließe sich einwenden, das Zeitspezifische der Texte sei gerade in dem enthalten, was ich den Originaltexten nicht entnommen habe. In der Tat gelten die Richtlinien für gelingende Gespräche bei Julius Victor eindeutig für homosoziale Gespräche zwischen gebildeten Männern. Scudérys Konversationsregeln hingegen sind explizit für heterosoziale Gesprächszirkel konzipiert. Ja, bei Scudéry ist sogar die Rede davon, dass sich wirklich unterhaltsame, geistreiche Gespräche erst einstellten, wenn beide Geschlechter präsent seien.⁴ Umso mehr erstaunt die Übereinstimmung in den Verhaltensregeln von Victor einerseits, Scudéry andererseits. Man kann auch nicht behaupten, diese Konvergenz würde sich nur auf nebensächliche Forderungen erstrecken. In den oben zitierten Aussagen sind die wichtigsten Voraussetzungen für das Gelingen geselliger, heiterer Gespräche überhaupt erfasst. Diese scheinen sich von Antike bis ins 17. Jh. nicht wesentlich geändert zu haben. Diese Einsicht bedeutet für Kenner der Materie nichts Neues. Doch soll dieser Befund ja auch nicht Endpunkt, sondern Ausgangspunkt meines Beitrages sein, der drei Fragen bündelt: 1. Gelten die Verhaltensregeln für das Gelingen von geselligen, zwanglosen Gesprächen auch für die gelehrten Dialoge des 15. und 16. Jhs.? Sind diese Dialoge etwa auch Gespräche?⁵ 2. Ist die Art und Weise, wie Männer miteinander diskutieren, abhängig davon, ob auch Frauen anwesend sind? Ist davon das Gelingen der Gespräche betroffen? Die französischen Salons des 17. Jhs. werden gerne als Geburtsort eines neuen geselligen, gebildeten Miteinanders von Frauen und Männern gefeiert. In und mit diesen Salons sei eine historisch bemerkenswerte Emanzipation der Frauen im kulturellen Leben einhergegangen. Dieser bis heute gültige Blick der Frauengeschichte auf das 17. Jh. muss jedoch relativiert werden durch eine Ausweitung des Blicks auf die Männergeschichte, d. h. in unserem Falle auf Phänomene, die die
Dies beherzigt etwa Manetti 1983: 12 (I 9). Schmölders 1979: 166 ff. Ich bezeichne ein Gespräch als gelungen, wenn die diesem Gespräch vorgegebene Funktion oder Zielsetzung erfüllt wird. Ein Versöhnungsgespräch ist gelungen, wenn am Ende eine Versöhnung steht. Ein geselliges, zwangloses Gespräch, das lediglich dem Zeitvertreib dient, hat sein Ziel erreicht, wenn während des Gesprächs die Zeit angenehm schnell verfliegt.
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Welt der männlichen Gelehrten betreffen. Meine These wird lauten: Die kulturelle Emanzipation der Frauen im 17. Jh. wurde ermöglicht durch Veränderungen in der gelehrten Welt der Männer im 14./15. Jahrhundert, zumal Madeleine de Scudéry selbst die Auffassung vertreten hat, dass die Anwesenheit von Männern eine wichtige Voraussetzung einer interessanten Konversation sei (Schmölders 1979: 170 f.). Um eine solche anregende Konversation zu gewährleisten, mussten diese Männer jedoch, so meine ich, gewisse Qualitäten mitbringen. Besaßen sie diese Qualitäten schon vor dem 17. Jh. oder wurden ihnen diese Qualitäten erst von den Damen der Salons beigebracht? Die dritte Frage verbindet den (ersten) literaturwissenschaftlichen Aspekt (Dialog/Gespräch) mit dem (zweiten) geschlechtergeschichtlichen Aspekt (Partizipation von Frauen): Ist die Teilnahme von Frauen nur bei Gesprächen möglich, nicht aber bei Dialogen? Haben also die skizzierten Verhaltensregeln von Iulius Victor und von Scudéry für gelingende Gespräche in den Dialogen des 15. und 16. Jhs. keine Anwendung gefunden?
Diese letzte Frage provoziert freilich gleich die nächste Frage: Was sind Dialoge? Inwiefern und wodurch unterscheiden sich Dialoge und Gespräche? Der Hinweis auf die Schriftlichkeit der Dialoge und die Mündlichkeit von Gesprächen hilft nicht weiter. Denn vormoderne Gepräche sind uns auch nur schriftlich überliefert.
1 Gespräche – Dialoge Befragt man die einschlägige Forschung zur Abgrenzung von Gespräch und Dialog, erhält man widersprüchliche und oft recht textferne Antworten. Der Ertrag dieser Forschungsdiskussion ist unbefriedigend, nicht zuletzt deshalb, weil weder die Vielfalt an Dialogen noch die Vielfalt an Gesprächen es zulassen, Gespräche und Dialoge klar voneinander abzugrenzen. Wohl deshalb wird von Linguisten oft austauschbar von Gesprächs- und Dialoganalyse gesprochen.⁶ Systematische Modelle geraten immer wieder in Konflikt mit den historischen Realitäten.⁷ Wie könnte man in dieser Frage weiterkommen? Ich wähle einen wortgeschichtlichen Ansatz. Ich frage, welche Bezeichnungen im 15. und 16. Jh. für das verwendet wurden, was wir Dialog oder Gespräch nennen. Meine Wortanalysen ergaben einen erstaunlichen Befund. Die Bezeichnungen für innertextuelle Gespräche bzw. Dialoge unterscheiden sich von den Bezeichnungen für den Text, der diese Gespräche bzw. Dialoge referiert bzw. präsentiert. Die intradiegetischen
Die Gleichsetzung von Gespräch und Dialog dominiert in Brinker u. a. 2001: 965, 972, 1611‒ 1632, 1640 ‒ 1655 und 1656. Auch Göttert 1996 nimmt keine Abgrenzung vor. Eine ausführliche Gattungstypologie aller Gespräche unter dem Lemma Conversation bietet Diderot 1754.
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Gesprächsteilnehmer bezeichnen ihre Unterredung als sermo,⁸ disputatio, ⁹ disputa,¹⁰ colloquium,¹¹ ragionamento (‚Rede, Unterredung, Gespräch, Unterhaltung‘),¹² disceptatio,¹³ niemals als dialogus, dialogo, dialoghue. ¹⁴ Dagegen werden in Begleitbriefen oder Widmungsschreiben die Texte, die diese Gespräche enthalten, dialogi, dialoghe genannt.¹⁵ Der Dialog ist das Kunstprodukt eines Dichters. Enthalten in diesem Kunstprodukt Dialog sind Erörterungen, ragionamenti, disputazioni. Die in der literarischen Gattung Dialog dargebotenen Unterhaltungen bzw. Unterredungen und Erörterungen sind also Gespräche, zumindest gemäß der Terminologie des 15. und 16. Jahrhunderts. Meinen Ausführungen liegen insbesondere folgende Texte zugrunde (nach Entstehungszeit geordnet): Leonardo Bruni: Ad Petrum Paulum Histrum Dialogus (1401); Giovanni Gherardi da Prato: Il paradiso degli Alberti (1426); Lorenzo Valla: Von der Lust oder Vom wahren Guten. De voluptate sive De vero bono (1431; 1433); Poggio Bracciolini: De avaritia (Dialogus contra avaritiam) (1428); Giannozzo Manetti: Dialogus consolatorius (1438 lateinisch, 1439 italienisch); Cristoforo Landino: Disputationes Camaldulenses (1472– 74);
Sermo kann eine Rede innerhalb eines Dialogs bezeichnen (Bruni 1952: 48 u. 82 [fictus sermo]; Bracciolini 1994: XVI 1 [S. 80]; Manetti 1983: I 15; Valla 2004: I 25,4 [S. 86], III 7,7 [S. 296] u. ö.; Landino 1980: 110,6) als auch das ganze Gespräch (Bruni 1952: 98; Bracciolini 1994: II 1 [S. 67]; Valla 2004: I 1,3 – 5 [S. 8 u. 10], II 34,1 [S. 248] u. ö.; Landino 1980: 188,20; 256,24). Von Moos 2011: 189, spricht von einer im Mittelalter zunehmenden Ablösung von sermo (in der Bedeutung von ‚Konversation‘) durch Synonyme wie sermocinatio, colloquium, collatio, collocutio, weist aber auch darauf hin, dass die „antike Gesprächsbedeutung von sermo“ im ganzen Mittelalter bewahrt worden sei (190 f.) und dass die „Humanisten des 15. und 16. Jahrhunderts […] den unaffektierten sermo anspruchsvoller Privatunterhaltung zu einem Schlüsselbegriff ihres Selbstverständnisses erheben“. Bei Erasmus von Rotterdam 1967: 48 (Convivium religiosum), nennt ein Gesprächsteilnehmer die Gespräche, die sie führen, sermones. Welzig übersetzt sermones mit ‚Gespräche‘, doch könnten hier auch einzelne Reden gemeint sein. Bruni 1952: 44 u. 66; Valla 2004: I 15,13 (S. 55), III 3,4 (S. 260), III 7,5 (S. 296); Manetti 1983: I 12 u. 14, IV 7 u. 10 u. 11 u.16 u. 20; Landino 1980: 69,28 f. u. 256,22. So auch bei Cicero 1961: De oratore I 10,41; I 21,96; I 22,99; I 22,104; I 23,106; u. ö. Tullia d’Aragona 1912: 207, 235 u. 237. Bruni 1952: 50; Valla 2004: 8 (Prooemium) u. 296 (III 7,7). Gherardi 1975: II 439 (con utili e piacevoli ragionamenti); Sperone 1975: 128 (l’incominciato ragionamento); Tullia d’ Aragona 1912: 188, 189, 190, 213 (il proposito del presente ragionamento), 225 (torniamo a’ragionamenti nostri) und 241 (i ragionamenti vostri). Bruni 1952: 50. Der Terminus ragionamento (‚Rede, Unterredung, Gespräch, Unterhaltung‘) wird nur selten zur Bezeichnung eines Dialogtextes benutzt. Es soll wohl der Gesprächscharakter schon im Titel des Dialogtextes angezeigt werden: Petro Aretino, Ragionamento della Nanna e delle Antonia (1534); Agnolo Firenzuola, Ragionamenti d’amore (1525); Girolamo Zabata, Ragionamenti di sei nobili fanciulle genovesi […] (1585). Vgl. etwa den Begleitbrief zu Tullia d’Aragona 1912: 245 ‒ 249.
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Tullia d’Aragona: Dialogo della infinità di amore (1547); Edmund Tilney: The flower of friendshippe (1568); Torquato Tasso: Il padre di famiglia (1580). Die Figuren in den Dialogen des 15./16. Jhs. nennen das Gespräch, das sie führen, sermo, disputatio oder ragionamento, nicht dialogus. Und ihr Tun (Sprechen, Erörtern, Diskutieren) bezeichnen sie als ragionare (‚sprechen, reden über‘),¹⁶ favellare,¹⁷ disputare,¹⁸ parlare ¹⁹ oder colloqui. ²⁰ Wir haben es also mit einer terminologischen Differenz zwischen dem literarischen Werk Dialog (dialogus) und dessen Inhalt (sermo, disputatio, ragionamento) zu tun. Die Konsequenz aus diesem Befund müsste sein, zumindest theoretisch zwischen dem Gespräch im Dialog einerseits und dem Dialog als einem literarischen Text andererseits zu unterscheiden, unabhängig davon ob dieses Gespräch stattgefunden hat oder nicht. Die Referenten der beiden Termini Dialog und Gespräch gehören zwei unterschiedlichen Seinsebenen an. Dialoge sind Texte zum Lesen; Gespräche existieren als Sprechen und Hören. Innerhalb des Gesprächs sprechen bzw. hören Figuren zueinander bzw. aufeinander. Auf der Autoren-/Textebene sind Leser bzw. Rezipienten die Adressaten, auf der Gesprächsebene sind es die anderen (fingierten) leiblich Anwesenden. Diese Unterscheidung betrifft insbesondere die narrativen Dialoge, mit denen ich mich ausschließlich befasse. Der Verfasser solcher diegetischen Dialoge kann den Rezipienten des Textes Informationen zukommen lassen, die den Dialogfiguren unbekannt sind. Ja, es kann sogar so weit kommen, dass ein Dialoggespräch aus Sicht der Dialogfiguren als gelungen eingeschätzt werden kann, aus der Sicht der Rezipienten jedoch als misslungen betrachtet wird. Meist aber ergibt sich eine Interdependenz zwischen gelungenem Gespräch im Dialogtext und gelungener Kommunikation zwischen Dialogtext und Rezipienten. Die Autorebene (d. h. ein auf den Leser fokussiertes Reden) schlägt zuweilen so stark auf die Figurenebene durch, dass der Leser eines Dialogs zuweilen den Eindruck hat, die sprechenden Figuren würden nicht zueinander, sondern ad lectorem operis reden.²¹
Tullia d’Aragona 1912: 188, 217 u. 229; Gherardi 1975: I 8 und III 1. Tullia d’Aragona 1912: 203 u. 210. Bruni 1952: 44; Tullia 1912: 204 u. 237; Bracciolini 1994: I 3 (S. 67); Valla 2004: I 1,3 (S. 8); III 28, 3 und 4 (S. 382); Manetti 1983: I 13 u. 14 u. 15, III 20 und VI 20. Tullia 1912: 211. Valla 2004: 9 (Prooemium). Andererseits suggerieren die Autoren an einigen Stellen, die Rezipienten seien unmittelbare Zeugen eines gerade stattfindenden Gesprächs. Der Autor ‚verschwindet‘ hinter den Gesprächsteilnehmern und erweckt dadurch den Eindruck, die Rezipienten würden das präsentierte Gespräch ‚live‘ verfolgen. Dafür setzen die Autoren allerlei narrative ‚Tricks‘ ein. So legen sie den Dialogfiguren etwa solche Aussagen in den Mund: „wir sind ja unter uns“; „was ich jetzt sage, sollte nicht nach draußen dringen“ (Bruni 1952: 72; Tullia d’Aragona 1912: 223 u. 225; Speroni 1975: 69 [„Hier unter uns könnt ihr ruhig dies oder jenes sagen, aber nicht öffentlich…“]. Schon Cicero: De oratore [1961], I 24,111 u. I 26,119, hat diesen Kunstgriff angewendet.). Dazu gehören auch zahlreiche Erwähnungen der nonverbalen Interaktion (Schweigen, sich gegenseitig anschauen, lachen, den Vorredner in der 2. Ps. Sg. anreden).
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Man darf dennoch nicht den Fehler machen und die humanistische Dialogliteratur so behandeln als seien es mündliche Gespräche. Es sind (a) Inszenierungen von mündlichen Gesprächen, die (b) als Texte präsentiert werden und zum Lesen gedacht sind.²² Deshalb unterscheide ich konsequent zwischen Dialoggesprächen einerseits und Dialogen andererseits. Mit Dialog ist stets der Dialogtext gemeint. Mein Quellenkorpus (s.o.) beschränkt sich auf sog. narrative Dialoge des 15. und 16. Jhs., lateinische und volkssprachliche. Gefragt wird, inwieweit die in diesen Dialogen vorgestellte Kommunikation differiert oder übereinstimmt mit der Kommunikation in einem Gesprächstyp, den wir gemeinhin als zwangloses, geselliges Gespräch bezeichnen.²³
2 Gespräche in Dialogen – gesellige, zwanglose Gespräche Meines Erachtens differieren gesellige, zwanglose Gespräche,²⁴ wie sie in einigen spätmittelalterlichen Texten begegnen²⁵ und wie sie in Konversationslehren des 17. Jhs. konstruiert werden,²⁶ einerseits und die Gespräche in narrativen Dialogen andererseits in folgenden Punkten: Gesellige Gespräche sind stärker personenorientiert – man könnte auch sagen kontaktbezogen oder beziehungsorientiert –,²⁷ die Gespräche in den Dialogen eher sachorientiert, d. h. die sprechenden Personen/Figuren kommen immer wieder auf das einmal angesprochene Thema zurück.²⁸ Disputatio wird als Instrument der Erkenntnis geschätzt! Denn bei der disputatio würden mehrere Augen eine Sache betrachten
Das Bemühen um die Ver-Gegenwärtigung der mündlichen Interaktion in der schriftlichen Wiedergabe ist unverkennbar. Vgl. dazu Häsner 2002. Ich will mich hier nicht unnötig mit möglichen Differenzierungen von geselligem Gespräch, small talk oder Konversation aufhalten. Meine Textanalysen werden erkennen lassen, was ich meine. Dass von den galanten Gesprächen in den Salons des 17./18. Jhs, gesagt wird, dort habe der Zwang zum zwanglosen Gespräch geherrscht, soll hier außer Betracht bleiben. Vgl. Schnell (ed.) 2008. Vgl. etwa Hermann von Sachsenheim (1974); dazu Wachinger 2005. Schmölders 1979: 26 f. zu Nicolas Faret, L’Honneste homme ou l’art de plaire à la court (1630). Vgl. überdies Fauser 1991; Gelzer 2008; Florack/Singer 2009; Montandon 2012. Vgl. etwa Franke 1990: 81 ff. Dass gesellige, zwanglose Gespräche (Konversation) nicht sachorientiert sind, bemerkt u. a. Wachinger 2005: 139: „Konversation als von unmittelbaren Zwecken und thematischen Bindungen freies Gespräch in gesellschaftlichem Rahmen finde ich nirgends so breit entfaltet wie in der ‚Mörin‘ Hermanns von Sachsenheim“. Dass sich Montaigne (16. Jh.) für Gespräche generell eine Sachbezogenheit wünschte, erwähnt Von Moos 1997: 238. Im Dialog des Leonardo Bruni (1401) wird der Nutzen einer disputatio in der scharfsinnigen Erörterung gesehen: Nirgends könne man res subtiles besser cognoscere atque discutere als in der disputatio. Bruni 1952: 48.
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(S. 48), so dass nichts unseren Augen entgehe.²⁹ Gespräche, zumal gesellige Gespräche, sind eher auf thematische Abwechslung aus; die Gespräche in den Dialogen hingegen kreisen um ein und denselben Gegenstand bzw. dieselbe Streitfrage. Immer wieder ist dort die Rede von den ‚Gegenständen‘ (res, causae, cose) und vom Abschweifen, Abirren vom Thema, das es zu vermeiden gelte.³⁰ Gesellige Gespräche dienen eher dem bloßen Zeitvertreib, die Gespräche in den Dialogen eher der Wahrheitsfindung. ³¹ In den französischen Salons des 17. Jhs. darf, glaubt man den Verhaltensregeln der damaligen Konversationstraktate, jeder irgendetwas Kluges zu wechselnden Themen sagen. Thematische Abwechslung ist gefragt, man solle nicht zu lange an ein und demselben Thema festhalten. Alle während einer ‚Konversation‘ gemachten Aussagen sind relativ gültig. In der ersten Fassung von Vallas Von der Lust (1431) hingegen sagt Panormita, Ziel einer jeden Rede sei es, durch eine Kontroverse zur Wahrheit zu gelangen.³² Auf diesen Aspekt werde ich unten zurückkommen. Die Gespräche in den Dialogen sind (deshalb) auf Wettkampf, Wettstreit, Sieg und Niederlage ausgerichtet. Die Dialogfiguren bezeichnen ihre verbale Auseinandersetzung als controversia, magna controversia, als pugna, certamen, concertatio. ³³ Sich selbst bezeichnen sie zuweilen als adversarii (als Gegner).³⁴ In vielen lateinischen Dialogen ist vom „Verteidigen“ (defendere), von „Überwinden“ und „Besiegen“ die Rede (superare, defendere).³⁵ Damit verbunden ist die Tendenz, Recht haben zu wollen. Gerade diese Eigenart aber, Recht haben zu wollen, gilt im geselligen Gespräch als eine Art Todsünde. Damit hängt zusammen die Devise in den geselligen Gesprächen der französischen Salons: Widerspruch und Streit seien zu vermeiden. Vor allem solle man nicht halsstarrig auf seiner Meinung beharren. Bei der galanten Konversation geht es, wie erwähnt, nicht um Wahrheitsfindung. Unwillkürlich drängt sich die Frage auf, ob dieser Verzicht auf Wahrheitsfindung damit zusammenhängt, dass an den volkssprachlichen Konversationen Frauen teilnehmen, bei den lateinischen Dialogen Vgl. auch Bruni 1952: 74: es gebe nichts, was studia nostra so sehr nutze wie die disputatio. Ein besonders treffender Beleg bei Bruni 1952: 52 (quae ad eam rem pertinent habenda cognitio) und 54 (ad institutum revertamur). Vgl. Weijers 2013. Müller 2002: 174. Controversia: Bruni 1952: 84; Valla 2004: I 15,10 (S. 50); Manetti 1983: I 14 (S. 14), II 44 (S. 44), III 1 (S. 48), IV 10 u. 11 u. 12 (S. 132 u. 134); Gherardi 1975: IV 178 (hier wird die Debatte über eine Quästio als controversia bezeichnet). Manetti 1983: IV 10 (S. 132 u. 134) wird auch davon gesprochen, dass omnis controversia vestra tolletur, also aufgelöst werde. Es wird daran gearbeitet, die Dissonanzen zu überwinden. Dies gelingt freilich nur, wenn die Teilnehmer bereit sind, manche Abstriche an ihrer ursprünglichen Position hinzunehmen. Manetti 1983: I 14 (S. 14), wird die Auseinandersetzung auch als certamen bezeichnet. Als magna controversia bezeichnet der Epikureer Vegio seine Auseinandersetzung mit dem Stoiker Catone; Valla 2004: I 15,10 (S. 50); Valla 2004: 113 wird das Gespräch als contentio bezeichnet. Die argumentative Auseinandersetzung gilt auch als pugna; Valla 2004: I 10,1 (S. 36: Sache gegen Sache!). Bruni 1952: 44 (Prooemium); Valla 2004: III 27,2 (S. 380). Bruni 1952: 80, 82, 90 u. ö.; Valla 2004: III 28,2 (S. 380).
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des 15. Jhs. hingegen ausschließlich Männer agieren.³⁶ Sind gesellige Gespräche nur unter Teilnahme von Frauen möglich? Kann das, was die heterosoziale Konversation in den französischen Salons ausmacht, in den homosozialen Dialogen des 15. Jahrhunderts nicht belegt werden? Unser vorläufiges Fazit zur systematischen Abgrenzung von geselligem Gespräch einerseits und Gespräch im Dialog andererseits scheint diese Vermutung zu bestätigen: a) Gesellige Gespräche des 17. Jhs. sind markiert durch: personenorientiertes Reden; Reden als Zeitvertreib; thematische Abwechslung; nicht rechthaben wollen; alle Äußerungen werden als gleichrangig angesehen; b) Gespräche in den (lateinischen) Dialogen des 15./16. Jhs. zeichnen sich aus durch: sachorientiertes Reden; thematische Kontinuität; Rede als Wettkampf (‚siegen, unterliegen‘); dazu gehört das Widersprechen und das Recht haben Wollen. Angesichts dieser Differenzen mag man es kaum für möglich halten, dass das Verhalten der Teilnehmer von geselligen Gesprächen einerseits und das der Teilnehmer von Gesprächen in Dialogen andererseits irgendwelche Übereinstimmungen aufweist. Wie soll es angesichts von Sachorientiertheit, Wahrheitsfindung und Wettkampf in den sog. Dialoggesprächen möglich sein, dass die Teilnehmer nicht im Streit auseinandergehen und dass diese Gespräche in einer freundlichen, nicht giftigen Gesprächsatmosphäre stattfinden? Meine Antwort wird lauten: Die Autoren der Dialoge lassen die Dialogfiguren – trotz Wahrheitsfindung, trotz Sachorientierung und trotz argumentativem Wettkampf – auf eine Weise agieren, die an gesellige Gespräche erinnert. Wie ist das möglich?
3 Gesellige Gespräche auch in Dialogen? Sogar lateinische Dialoge des 15. Jahrhunderts, in denen ausschließlich homosoziale Unterredungen präsentiert werden, lassen Merkmale des geselligen Gesprächs erkennen, die wir sonst nur bei gemischtgeschlechtlichen Teilnehmerkreisen erwarten. Männliche Gelehrsamkeit und geselliger Umgang schließen sich dort nicht aus. Den Autoren gelingt dies aufgrund der im Folgenden dargelegten Erzählstrategien.
Siehe unten Abschnitt 5.3.
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3.1 Freundschaftliche Beziehungen Freundschaftliche Beziehungen zwischen den Gesprächsteilnehmern sichern dem Gespräch a priori eine Atmosphäre des gegenseitigen Wohlwollens.³⁷ Um ihre Freundschaft mit anderen Gesprächsteilnehmern nicht zu gefährden, verzichten manche Dialogfiguren, die zum Schiedsrichter (arbiter, iudex) des Redewettkampfs bestimmt sind, sogar darauf, in einer kontroversen Debatte für die eine oder andere Auffassung Partei zu ergreifen. Sie wollen es lieber bei einem Unentschieden des Wettkampfs belassen.
3.2 Die Schiedsrichter als Vermittler Auch abgesehen von Rücksichtnahme auf freundschaftliche Beziehungen sind die Schiedsrichter, die ein Schlussurteil zum vorangegangenen verbalen Wettstreit fällen sollen, darauf bedacht, alle vorgetragenen Positionen gutzuheißen. Der argumentative Wettstreit wird dadurch entschärft, dass der/die Schiedsrichter, die ein Urteil (sententia) fällen sollen, beiden Kontrahenten teilweise Recht geben oder ein Unentschieden ausrufen³⁸ oder eine dritte Person eine neue (vermittelnde) Position bezieht.³⁹ Der Schlussredner kann auch dadurch eine diplomatische Lösung herbeiführen, dass er beide Positionen billigt und zugleich missbilligt.⁴⁰ Damit endet der Ausgang zwischen den beiden Kombattanten unentschieden. Der Schlussredner bringt dann eine dritte Position ins Spiel, die die beiden anderen übersteigt.⁴¹ Die Bestimmung von Schiedsrichtern finden wir nicht nur in frühhumanistischen Dialogen, sondern auch in Texten, die man gerne der höfisch-kasuistischen Literatur zurechnet, wie etwa in Boccaccios Decameron (hier fungiert die jeweilige ‚Königin‘ freilich nur als Ordnungsprinzip) oder in dessen Filocolo (dort Buch IV: die zur ‚Königin‘ gewählte Fiammetta urteilt über Liebeskasus). Offensichtlich gibt es Kommunikationsregeln, die die lateinisch-gelehrten Dialoge mit den geselligen Gesprächen in
Vgl. u. a. Bruni 1952: 46 (familiaritate coniuncti; congressus amicorum), 52 (nobis amicis tuis); Valla 2004: III 3,2 (S. 258); Manetti 1983: I 1 (S. 6) u. III 128 (S. 126). Manetti 1983: IV 2 (S. 128 u. 130): als Richter fungieren Gerardinus und Adovardus. Vgl. u. a. Valla 2004: III 2,1‒ 3,1‒ 4 (S. 258 ‒ 260). Valla 2004: Buch III. Antonio de Rho muss als letzter Redner das Richteramt (officium iudicis) ausüben. Er soll die controversia zu einem guten Ende (zur Wahrheit!) führen. Doch muss sich Antonio de Rho zwischen dem Anspruch, die Wahrheit zu äußern, und der Absicht, keinen der Freunde zu verprellen, behutsam vortasten; Valla 2004: 258 ff. Valla 2004: Buch III. Dasselbe Verfahren wählte Manetti 1983. Man darf also von einem verbreiteten Modell ausgehen, das einen friedlichen, keinen Redner verletzenden Ausgang ermöglicht. Bei Manetti 1983 werden Gerardinus und Adovardus als arbitri vorausgesetzt (sie sind die beiden ‚neutralen‘ Beobachter, spectatores, III 128), die sich dann aber außerstande sehen, für eine der beiden vorgetragenen Positionen Stellung zu beziehen (IV 1‒ 3); es wird dann als Schlussredner der neu eingeführte Niccolo da Cortona, ein Geistlicher (sacer antistes, IV 20), bestimmt.
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der Volkssprache verbindet. Es deutet sich die Möglichkeit an, nicht nur die höfischkasuistische Literatur eines Boccaccio an die galanten Gespräche des 17. Jahrhunderts anzubinden,⁴² sondern auch zahlreiche lateinische (und volkssprachliche) Dialoge des 15. und 16. Jahrhunderts in die Geschichte des geselligen Gesprächs einzuordnen.
3.3 Relativierung und Distanzierung Die Relativierung und Distanzierung der Gesprächsteilnehmer von dem, was sie selbst sagen, lassen ebenfalls eine gesellige Gesprächsatmosphäre entstehen. Obwohl die Gesprächsteilnehmer in den lateinischen Dialogtexten um Wahrheitsfindung bemüht sind und die ‚Gegner‘ besiegen wollen, schwächen sie das Gewicht ihrer Argumente und damit ihrer Position durch verschiedene Vorgehensweisen, die hier kurz aufgeführt seien.
3.3.1 Sie erklären den Wettkampf zum Spiel Als Beispiel sei hier Tullias Dialog Della infinitá di amore (1547) herangezogen, obwohl dieser Dialog in der Volkssprache verfasst und obwohl eine weibliche Person an dem Gespräch teilnimmt. Doch Tullias Ehrgeiz besteht darin, sich selbst als gleichrangige Diskutandin in einer sonst von Männern dominierten wissenschaftlichen Unterredung zu inszenieren. Insofern steht Tullias Dialog ganz in der Tradition der humanistischen lateinischen Dialoge des 15. Jahrhunderts. Dies wird schon daran deutlich, dass das ‚Gespräch‘ zwischen Tullia und ihrem gelehrten Kontrahenten Benedetto Varchi als Wettkampf verstanden wird. Beide Diskutanden insistieren auf ihren Fragen und Positionen. Sie sind beide interessiert, die wahre Antwort auf die Frage zu finden, ob die Liebe unendlich sei. Doch – und dies nimmt dem Wettkampf die Schärfe – dieser Wettkampf wird zugleich als Spiel (giuocho; volere il giambo) ausagiert.⁴³ Dadurch verliert der Disput an Schärfe und gewinnt an Unernst. Aber im Wettkampf wie im Spiel geht es um Sieg und Verlieren. Tullia kommentiert den Gesprächsverlauf mit den Worten: „Wir sind eben dabei, ein gutes Spiel zu spielen“ (Facciamo a far buon giuochi).⁴⁴ An einer späteren Stelle wirft Tullia ihrem Diskussionspartner vor: „Immer doch kommt Ihr mir auf diese Art; erst zeigt Ihr, daß zu Beginn ich siegte, dann aber behauptet Ihr mir, daß ich doch zuletzt verlor.“ Varchi entgegnet: „In diesem Spiel, glaubt mir, braucht niemand zu verlieren.“⁴⁵ Später fügt er hinzu:
Zu dieser Traditionslinie Emmelius 2012. Tullia d’ Aragona 1912: 199, 206 und 210 ‒ 211. Zu Torquato Tasso vgl. McClure 2008. Tullia d’Aragona 1912: 199. Tullia 1912: 211: Questo è un giuco dove non perde niuno. In der Übersetzung der Tullia-Passagen folge ich weitgehend Haag 1988 (hier 53).
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Denn in Wahrheit verliert nie jemand in diesem Spiel, stets gewinnen beide Teile. Und was nun vollends mich angeht, so zöge ich es tausendmal vor, in diesem Spiel selbst zu verlieren, als zu siegen auf Kosten der andern.⁴⁶
Dass aber dieses Spiel eben doch zugleich mehr ist als ein Spiel, nämlich eine ernsthafte Diskussion über die Frage, ob Liebe unendlich sein kann, versichern sich die beiden Gesprächspartner immer wieder, sie würden nicht scherzen, sondern im Ernst sprechen.⁴⁷ Das Gespräch bewegt sich auf einem schmalen Grat: Das diskursive Bemühen um die Wahrheit wird als Spiel inszeniert und soll doch als ernsthafte Diskussion verstanden werden. Wir haben es mit einer ambigen Gesprächssituation zu tun. Eines aber ist sicher. Indem der Diskussion immer wieder Unernst und Spielcharakter unterstellt wird, verliert der Redekonflikt an Schärfe, gemäß dem Motto: ‚Es ist ja nur ein Spiel‘. Das Ringen um die Wahrheit wird herabgestuft zu einem Spiel. Dass in den Questioni d’amore von Boccaccios Filocolo (Buch IV) das Fragestellen und Antwortgeben von einer der Teilnehmerinnen als ein Spiel bezeichnet wird,⁴⁸ ist erwartbar. Dass aber auch gelehrte Gespräche in Dialogen als Spiel bezeichnet werden, dürfte überraschen.
3.3.2 Rollenspiel Der intellektuelle Wettkampf verliert auch dadurch an Schärfe, dass die Gesprächsteilnehmer die verbal-diskursive Auseinandersetzung nicht nur als Spiel, sondern spezifisch als Rollenspiel inszenieren. An einigen Dialogtexten sei dies erläutert.
Textbeispiel 1 In Vallas Dialog Von der Lust (De voluptate) machen die Gesprächsteilnehmer immer wieder deutlich, dass es ihnen um Wahrheitsfindung geht. Sie betonen, dass sie aus Liebe zur Wahrheit miteinander streiten.⁴⁹ Dennoch gibt es während der Diskussion immer wieder Anlass zur Vermutung, dass ein Gesprächsteilnehmer nicht wirklich hinter der von ihm vertretenen Position steht.⁵⁰ So unterstellt etwa der Schlussredner
Tullia 1912: 211: ché a quelle non perdeva mai niuno, e qui vincono tutte e due sempre. Ed io, per me, vorrei prima perdere a questo giuoco che vincere agli altri; Haag 1988: 53. Tullia 1912: 204 u. 206. Boccaccio, Filocolo (1967): IV 27,1 per la potenza del nostro giuoco. Valla 2004: I 13,11‒ 12 (S. 54); III 3,3 (S. 260 ‒ 262); III 7,5 (S. 296). Zur Wahrheitsfindung auch Gherardi 1975: IV 131 u. 132; Manetti 1983: 142. Valla hat in der zweiten Fassung des Dialogs die Sprecher der 1. Fassung so ausgetauscht, dass deren Aussagen (Stoiker, Epikureer) nicht mehr als authentische Aussagen von ‚Überzeugungstätern‘ gelten konnten, sondern als angenommene Rollen transparent wurden; vgl. Keßler in der Einleitung zur Ausgabe 2004: S. XLIIsq. Valla 2004: I 7,3 (S. 30) und I 13,12 (S. 55): Nach seiner Rede gegen die
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Antonio da Rho seinem Vorredner Vegio,⁵¹ dieser habe in seiner Rede für die epikureische Lehre nicht seine persönliche Meinung gesagt,⁵² sondern seinen Vortrag als eine Übung (exercitatio, III 7,2) verstanden. Sein Lebenswandel und sein Eintreten für die christliche Religion stünden im Widerspruch zu dem, was er in dieser Gesprächsrunde vorgetragen habe. Dies aber lasse nur den einen Schluss zu, dass er nicht das gesagt habe, was er wirklich denke. Ich kenne deine Gesinnung nicht so schlecht, um mich überzeugen zu lassen, daß du so denkst, wie du sprichst. Ich argwöhne, nicht im Ernst, sondern im Scherz habest du das gemacht, wie’s ja deine Gewohnheit nach des Sokrates Art ist, den die Griechen einen Ironiker nennen.⁵³
Vegio habe also im Scherz die Position der Epikureer übernommen. Da Rho unterstellt, Vegio habe sich in seiner Rede verstellt.⁵⁴ In dem Moment, in dem jemand innerhalb einer Gesprächsrunde nicht für seine persönliche Meinung eintritt, sondern eine spielerisch übernommene Rolle ausagiert, mutiert der Streit um die Wahrheit zu einem Rollenspiel.
Textbeispiel 2 Auch in meinem zweiten Textbeispiel zum Streitgespräch als Rollenspiel, in Brunis Dialog (1401), wird die Wahrheitsfindung als Redeübung (exercitatio dicendi) durchgespielt.⁵⁵ Durch den Umstand, dass einer der Hauptredner, Coluccio Salutati, die Erörterung als eine exercitatio disputandi ausgibt,⁵⁶ entfernt sich dieses Gespräch von einer Kontroverse persönlich motivierter Aussagen bzw. Überzeugungen.⁵⁷ Der Teilnehmer
Stoiker will Catone gerne widerlegt werden. Es geht also um ein intellektuelles Spiel mit möglichen Argumenten und Positionen, nicht um persönliche Überzeugungen. Valla 2004: III 7,2‒ 7 (S. 294‒ 296). Dies scheint der Brauch auch in der von Platon gegründeten Philosophenschule (platonischen Academie) gewesen zu sein; vgl. Cicero (1961): De oratore, I 18,84: Die Redner dort hätten nicht ihre eigene Auffassung ausgesprochen (sententiam suam aperire), sondern pflegten bei ihren Unterredungen (in disputando) stets gegenüber allem eine Gegenposition zu vertreten. In Ciceros De oratore (I 62,263) wird dies wiederholt: zur exercitatio oratorum gehöre es, etwas anderes zu sagen als man denke und sich so im Widerlegen von Auffassungen zu üben. Aber bei den Philosophen werde dieser Brauch noch öfter angewendet, vor allem von denen, die über jeden vorgelegten Gegenstand (de omni re proposita) sehr wortreich in utramque partem reden. Valla 2004: III 7,3 (S. 294): Proinde suspicor non serio te fecisse sed ioco. Ich folge der Übersetzung von Schenkel in der Valla-Ausgabe. Valla 2004: III 7,3 (S. 294): nisi scirem te simulate locutum [esse]; III 7,4 (S. 294): simulate locutus es; III 7,5 (S. 296): Tu simulator quidam […] fuisti. Bruni 1952: 64‒ 66 u. 76. Bruni 1952: 46 u. 48. Auch wenn dies zunächst so suggeriert wird (Bruni 1952: 70: ego libere dicam quod sentio; 74: dicam quod sentio; 78: ut de me profitear; 80: satis deprompsi, quid ego sentirem de summis illis viris).
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Nicolaus räumt am zweiten Tag ein (82), seine Schmährede gegen die drei Dichter Boccaccio, Petrarca und Dante sei eine fingierte Rede (fictus sermo) gewesen. Sie sei nicht aus innerstem Herzen (nicht ex vero animo) erfolgt, sondern nur deswegen, um Coluccio zu einer Verteidigungsrede zu verleiten.⁵⁸ Er habe simulate, also verstellt, ‚als ob‘ gesprochen (S. 94). Was er in seiner ersten Rede vorgetragen habe, sei nicht seine eigene persönliche Auffassung gewesen.⁵⁹ In dem Wettstreit um die Wahrheit geht zugleich um die Kunst, eine (beliebige?) Position rhetorisch gut zu verteidigen.
Textbeispiel 3 In meinem dritten Textbeispiel, in Bracciolinis Dialog Contra avaritiam (1428), wird die Dialogfigur Antonio, bevor sie eine positive Sicht auf die avaritia vorträgt, von ihrem Vorredner Bartholomeo gefragt, ob sie dessen Ausführungen zustimme (X 1 [S. 75]). Antonio lobt zunächst dessen Rede, zeigt sich dann aber unschlüssig, ob er den Ausführungen des Bartholomeo im Detail zustimmen kann. Denn er habe viel gesehen und gehört, was ihn in seiner Einstellung unsicher gemacht habe. Dennoch, es sei dahingestellt, ob das nun so sei, wie Bartolomeo meine; er selbst folge der Gewohnheit der antiken Akademiker, die gegen das was gesagt wurde, zu diskutieren pflegten (ego tamen, secutus morem Academicorum, qui contra es quae dicerentur disputare consueverunt, afferam nonnulla secus atque ipse locutus est; Bracciolini 1994: IX 2 [S. 75]). Hier scheint Antonio alias Bracciolini Cicero auszuschreiben, der in seinem Dialog De oratore diesen Brauch der platonischen Akademie beschreibt.⁶⁰ Er, Antonio, werde einiges an Argumenten herantragen, anders als das was Bartolomeo gesagt habe. Ob dies von den anderen Teilnehmern akzeptiert werde, sei ihrem Urteil überlassen. Nachdem Antonio seine Rede beendet hat, wird folgerichtig gemutmaßt, er habe nicht seine persönliche Meinung geäußert (non ex animi sententia […] disseruisse; XVIII 2),⁶¹ sondern die Argumente anderer nachgesprochen. Indem das Pro und Contra als eine rhetorische Praxis ausgegeben wird, in der es nicht darauf ankommt, was man denkt, sondern darauf, ob man fähig ist, gegen und für eine Position zu argumentieren, mutiert der dargestellte Wettkampf von einer Auseinandersetzung um die eine richtige, wahre Auffassung zu einem Wettstreit um die bessere Beredsamkeit. Tatsächlich wird Antonio unterstellt, er habe eine Kostprobe seiner Beredsamkeit geboten (exercita-
Bruni 1952: 84: es sei schwierig gewesen, diese List vor Coluccio zu verheimlichen. Die exercitatio disputandi kann freilich dazu dienen, eine Sache besser zu verstehen, weil unterschiedliche Meinungen vorgetragen werden und ein Gegenstand von verschiedenen Seiten beleuchtet wird (Bruni 1952: 48); die disputatio nütze den studia (52). Cicero (1961): De oratore: I 18,84 zu dieser Gewohnheit in der von Platon gegründeten Philosophenschule (platonischen Academie). Vgl. oben Anm. 52. Vgl. auch Manetti 1983: I 11 (Non quia dissimulare queam, sed quia ita sentio, ex animi sententia verba compono.).
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tionem eloquentiae).⁶² Er habe seine Fähigkeit, zu widersprechen (oppugnare),⁶³ demonstrieren wollen. Man darf festhalten: Die Tatsache, dass die Aussagen der Dialogsprecher nicht als Wiedergabe persönlicher, authentischer Überzeugungen, sondern als von den Rednern übernommene Rollen und Funktionen bzw. als Spiel zu begreifen sind, entlastet den Wettkampf um die Wahrheit.
3.3.3 Wahrscheinlichkeit statt Wahrheit Eine weitere Vorgehensweise trägt zur Relativierung der eigenen Position bei: Man begnügt sich mit der Wahrscheinlichkeit statt der Wahrheit einer These. Dies ist etwa der Fall in Sperone Speronis Dialogo delle lingue (1542). Speroni unterscheidet den Wahrheitsdiskurs echter Wissenschaft vom auf bloße opinione gegründeten Wahrscheinlichkeitsdiskurs seines Dialogs.⁶⁴ Meines Erachtens erleichtert dieser Typus von Dialog die Anbindung an den konversationalen Diskurs der Salons im 17. Jh. Nicht die literarische Gattung Dialog insgesamt, aber einzelne Exemplare des 15. und 16. Jhs. können als Wegbereiter für die Konversation in den Salons des 17. Jhs. fungieren. Solche Meinungsspiele⁶⁵ wie bei Speronis Dialogo delle lingue ebnen den Weg zur Salonkonversation.
3.4 Höflichkeit, Rücksichtnahme, Selbstbescheidenheit Zu den Faktoren, die die sachorientierten und von Wettstreit geprägten Unterredungen in Dialogtexten an gesellige Gespräche annähern, gehört als vierte Komponente ein ganzes Bündel an Verhaltensweisen. Ich fasse sie in der Trias Höflichkeit, Rücksichtnahme, Selbstbescheidenheit zusammen. Höflichkeit ist letztlich nichts anders als „Rücksichtnahme auf den anderen“ bzw. „das tun, was dem anderen gefällt“.⁶⁶ Die Art und Weise wie in den homosozialen Streitgesprächen der Männer die ‚Wahrheit‘ gefunden bzw. der Wettkampf ausgetragen wird, ist gekennzeichnet von Selbstbescheidenheit, Rücksichtnahme und Höflichkeit. Dies drückt sich etwa darin aus, dass die eigenen Kenntnisse und Fähigkeiten
Bracciolini 1994: XVIII 3 (S. 81). Bracciolini, ebd. Vgl. dazu Hempfer 2002: Lektüren von Dialogen. Hempfer sieht (auch gestützt auf metadialogische Äußerungen Speronis in anderen Texten) in Sperone Speronis Dialogo delle lingue einen Dialog, in dem es nicht um Wahrheit, sondern um Wahrscheinlichkeit gehe (23 ‒ 33). Speroni unterscheide den Wahrheitsdiskurs echter Wissenschaft vom auf bloße opinione gegründeten Wahrscheinlichkeitsdiskurs des Dialogs (29). Diesen Terminus übernehme ich von Hempfer 2002: Lektüren von Dialogen. Schnell 2005: 24‒ 28.
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als gering ausgegeben werden (Selbstbescheidenheit),⁶⁷ oder darin, dass man den Vorredner lobt, auch wenn man dessen Auffassung nicht teilt.⁶⁸ Man stimmt sogar der Aussage des Vorredners zu, bevor man dann eine eigene (andere) Position vertritt bzw. dem Vorredner widerspricht.⁶⁹ Dass wir solchem Verhalten auch in als höfisch-galant geltenden Gesellschaften begegnen, zeigt die Affinität von lateinisch-gelehrten Gespräch und geselligen Gesprächsnormen. So lobt etwa Filocolo in Boccaccios gleichnamigem Werk die Rede seiner Vorrednerin, setzt dann aber zu einer Gegenrede an.⁷⁰ An anderer Stelle dieses Werkes stimmt der Gesprächsteilnehmer Menedon zunächst der Vorrednerin zu, erklärt dann aber, dass er anderer Auffassung sei.⁷¹ Im gleichen Werk gesteht die Königin des Gesprächspiels, Fiammetta, dem Vorredner zu, er habe gut argumentiert, will dann aber ihm zeigen, dass er sich besser ihrer Position anschließen solle.⁷² Höflichkeit ist in den lateinischen Dialogen des 15. Jhs. auch darin dokumentiert, dass zuerst die Zustimmung aller anderen Gesprächsteilnehmer eingeholt wird, bevor man zu sprechen beginnt,⁷³ oder darin, dass man die Erlaubnis des Gegenredners einholt, nun selbst zu sagen, was man denke,⁷⁴ oder einfach nur darin, dass man einem anderen Redner aufmerksam zuhört, obwohl man anderer Meinung ist.⁷⁵ Mit diesem Bemühen um Höflichkeit, Selbstbescheidenheit und Rücksichtnahme stellt sich Nähe zur Art und Weise ein, wie Männer im galanten Gespräch mit Frauen idealiter umgehen sollten.
3.5 Scherzen/Lachen/Verspotten (Heiterkeit) Zu einem geselligen Gespräch gehören Lachen, Scherzen, Heiterkeit. Auch Spott – freilich ist beißender Spott untersagt – kann der Erheiterung dienen.⁷⁶ Im Prooemium seines Dialogs De voluptate sagt Valla über seine eigene Redeweise,⁷⁷ eine lockerere und fröhlichere Redeweise (genus dicendi) vermöge einen
Vgl. etwa Valla 2004: I 2,1 (S. 10); I 9,1 und 3 (S. 34 u. 36), III 3,1 (S. 258). Bruni 1952: 60, 64 u. ö.; Manetti 1983: I 9. Dieses Redeverhalten ist schon bei Cicero 1961 ausgiebig angewendet worden: De oratore I 9,35; I 17,74; I 18,80; I 24,110. Ausdrückliches Lob des Kontrahenten findet sich in De oratore I 17,75 ff.; I 27,122; I 29, 131; I 35,164; u.ö. Boccaccio 1967: Filocolo, IV 21, 1 u. 3. Boccaccio 1967: Filocolo, IV 33,1. Boccaccio 1967: Filocolo, IV 54. Valla 2004: I 9,1‒ 2 (S. 36) und I 15,12‒ 13 (S. 54). Bruni 1952: 74. Manetti 1983: I 9 (S. 12: Hec ego et cetere huismodo, quanquam longe aliter sentirem, pro auctoritate tamen hominis attente audiebam mihique periocunda erant) und IV 5 (S. 130: der Vorredner Angelus schaut seinen Kontrahenten hilari vultu an). Schnell 2006; Schnell 2010. Valla 2004: Prooemium zum 1. Buch (S. 6/7).
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scharfen, heftigen erregten Ton zu mildern, meint aber zugleich das Reden in der Gesprächsrunde. Tatsächlich wird in Vallas Dialog De voluptate viel gelacht,⁷⁸ aber nicht nur hier.⁷⁹ Im gemeinsamen Lachen über die Äußerung eines Gesprächsteilnehmers oder im Lachen eines Sprechers über die eigene Aussage wird das Gesagte relativiert, verliert zumindest an Ernsthaftigkeit. Im scherzhaften Distanzieren von der eigenen Meinung wird der potentielle Streitcharakter des verbalen Wettkampfs abgeschwächt.⁸⁰ Wo diskursive Auseinandersetzungen zum Spiel geraten und wo statt um Wahrheiten um Wahrscheinlichkeiten gerungen wird, kann auch gescherzt und gelacht werden. Die narrativen bzw. diegetischen Dialoge des 15. und 16. Jhs. sind geprägt durch zahlreiche Erwähnungen des Lachens. Den Ausgangspunkt dieses Dialogmerkmals bilden Ciceros Dialoge Brutus und De oratore. Der quantitaive Höhepunkt des Lachmotivs ist im Dialog Cortegiano des Baldessar Castiglione erreicht. Vor allem dort, wo das Miteinanderreden dem Zeitvertreib⁸¹ und der Erholung (recreatio) dient,⁸² kann und soll gelacht werden. Über das rechte Scherzen bei erholsamen Gesprächen hat sich schon Aristoteles in der Nikomachischen Ethik geäußert.⁸³ In Tullias Dialog von 1547 unterstellen sich die beiden Hauptredner Varchi und Tullia gegenseitig, ihre Aussagen seien nicht für bare Münze zu nehmen, sondern seien scherzhaft gemeint, also auf der Ebene eines indirekten Redens angesiedelt. Wenn aber eine Aussage etwas anderes meint als sie auf der Oberfläche zu bedeuten scheint, wird der Aussagegehalt zweideutig. Sollte dies beabsichtigt sein, so fördert diese Art des Redens, dass der Fokus der Diskussion stärker auf das Reden als auf das mit dem Reden Gemeinte liegt. Phasenweise mutiert die sachbezogene Wechselrede in Tullias Dialog zu einem Wortspiel, das selbstreferentiellen Charakter annimmt.⁸⁴ Auch dadurch verliert die inhaltliche Auseinandersetzung an Schärfe. Die Auseinandersetzung wird zu einem Spiel, in dem die eine Figur die andere durch Wortspiele hereinzulegen versucht.
Valla 2004: I 8,1 (S. 30), I 8, 4 (S. 32), I 13,10 ‒ 11 (S. 52‒ 54), I 25,1 (S. 84), I 25,3 (S. 86), II 36,1 (S. 250), III 28,4 (S. 382). Vgl. etwa Bruni 1952: 74, 82 u. 94; Landino 1980: 12,23 f.; 64,12; 257,15. Vgl. etwa Landino 1980: 69,1: Quae cum per iocum urbanissime dicta a Leone essent… (‚Als dies von Leon auf gebildete Weise im Scherz gesagt worden war,…‘). Dazu mehr in Abschnitt 3.7. Vgl. Wachinger 1993. Aristoteles 1967: Nikomachische Ethik, IV 14. Vgl. oben Anm. 43.
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3.6 Prinzip der Konsensfindung Der Wettstreit-Charakter der Dialoggespräche wird überdies gemildert durch das Prinzip der Konsensfindung, das in einer auf Wettkampf getrimmten verbalen Auseinandersetzung eigentlich nicht zu erwarten ist. Konsensfindung spielt in den von mir herangezogenen Dialoggesprächen eine überragende Rolle. Es entfaltet sich zweifach: auf der Ebene des Handelns und auf der Ebene des Argumentierens. Das Prinzip der Konsensfindung bei den Verfahrensschritten des Gesprächs lässt sich daran festmachen, dass folgende Fragen diskutiert werden: „Wie gehen wir in unserem Gespräch jetzt weiter vor?“, „Wer soll das Urteil über die zwei konkurrierenden Positionen fällen?“, „Sollen wir noch weiter diskutieren oder die Diskussion abbrechen?“ In den Dialoggesprächen werden stets alle gefragt und in die verfahrenstechnischen Entscheidungen eingebunden. Es ist ein ständiges Bemühen um den Konsens aller zu spüren. Nach einer einschlägigen Diskussion stimmen stets alle Teilnehmer einem Lösungsvorschlag zu. Ein Minderheitsvotum gibt es nicht. Schlüsselwörter für dieses Prinzip sind: tutti insiemi, assentiri, placuit omnibus bzw. piacére a tutti. Ohne die Zustimmung der anderen Teilnehmer geschieht nichts.⁸⁵ Konsensfindung wird auch hinsichtlich der kontroversen inhaltlichen Positionen praktiziert. Trotz Wettkampfinszenierung verständigen sich am Ende die Teilnehmer auf eine Position. Der Wettkampfcharakter und die Wahrheitsfindung haben letztlich hinter der Konsensfindung zurückzustehen. Zuweilen kommt die Aufgabe einer inhaltlichen Position am Ende eines Gesprächs überraschend. Das Bemühen um einen Ausgleich zwischen den konkurrierenden Positionen und Gesprächsteilnehmern drückt sich etwa darin aus, dass die Gesprächsteilnehmer, die dazu ausersehen sind, einen Schiedsspruch zu fällen, sich vor einer Entscheidung drücken und beide voraufgegangenen kontroversen Reden loben. Sie zeigen sich von den Ausführungen beider Kontrahenten gleichermaßen beeindruckt. Deshalb delegieren sie die Funktion des Schiedsrichters an eine dritte Figur.⁸⁶ Das Bemühen um Konsens zeigt sich aber auch darin, dass diese als Schlussredner auftretende Figur die beiden rivalisierenden Vorredner lobt und kritisiert. Dadurch wird der Wettstreit als unentschieden ausgegeben. Wenn nun dieser Schlussredner eine eigene dritte Position bezieht, ist diese aufgrund der vorangegangenen gleichzeitigen Billigung und Missbilligung der beiden anderen Positionen nicht so scharf von den anderen Posi-
Valla 2004: I 9,1 (S. 36): Hier wird die Zustimmung der anderen eingeholt, um in der Rede fortfahren zu dürfen. Valla 2004: III 2,1 (S. 258): Hier wird jemand gesucht, der das Richteramt übernehmen soll. Die Entscheidung wird einstimmig getroffen. Bei Manetti 1983: IV 12 (S. 134), wird Gerardini uno consensu die Aufgabe übertragen, dem neu eingeführten Redner Niccolo da Cortona die bisherige controversia zu resümieren. Vgl. oben Abschnitt 3.2 ‚Schiedsrichter als Vermittler‘.
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tionen abgegrenzt.⁸⁷ Diese Kompromisshaltung der Schiedsrichter und des die Debatte abschließenden Redners verhilft allen Beteiligten, das Gesicht zu wahren.
3.7 Dialoggespräche als Zeitvertreib Eigentlich passen die Zielsetzung der Dialoggespräche, nämlich Wahrheitsfindung, und die Zielsetzung geselliger Gespräch, auf angenehme Weise die Zeit zu vertreiben, nicht zusammen. Für die französischen Salons des 17. Jhs. galt Langeweile als größtes Schreckgespenst, gesellige Unterhaltung als schönster Zeitvertreib.⁸⁸ Gelehrsamkeit sollte nicht zur Schau gestellt werden. Dass aber auch gelehrte Leute das gesellige Gespräch als Zeitvertreib betrachten können, lässt Cicero in seinem Dialog De oratore (I 8,32) verkünden: Was kann, wenn man gerade freie Zeit (Muße) hat (in otio), erfreulicher (iucundius) und dem menschlichen Wesen eigentümlicher sein als eine geistreiche und gebildete Unterredung (quam sermo facetus ac nulla in re rudis)? Denn darin gerade besteht unser größter Vorzug vor den Tieren, dass wir uns miteinander unterreden (conloquimur) und unsere Empfindungen durch Worte (dicendo) ausdrücken können.⁸⁹
Poggio Bracciolini scheint im Jahre 1428 in seinem Dialog Contra avaritiam Ciceros Einschätzung zu teilen. Einleitend kündigt der Autor an, er wolle ein Gespräch (sermonem) schriftlich aufzeichnen, das sehr gelehrte Männer (doctissimi viri) über die avaritia geführt hätten (Bracciolini 1994: I 3 [S. 67]).⁹⁰ Dem Dialog gibt er einen narrativen Rahmen. An den heißen Sommertagen seien einige päpstliche Sekretäre von Bartholomeus Politiano nach römischer Sitte in dessen Weingut eingeladen worden. Dieses convivium zwischen den humanissimos viros habe in heiterer Atmosphäre stattgefunden (comitate atque hilaritate, 67). Wein und Worte habe es genug gegeben.⁹¹ Der Autor inszeniert also eine heitere Tischgesellschaft gelehrter Männer. Nachdem die Tafel
Vgl. Valla 2004: Buch III; Manetti 1983: Buch IV; Bracciolini 1994: Teil 3. Hier artikuliert ein auswärtiger Teilnehmer, der Predigermönch Andreas von Konstantinopel (81‒ 84), die christlich-theologische Entscheidung, die determinatio der Frage, die kompromisslose Verurteilung der avaritia im Sinne des ersten Redners. Doch geht dabei „weder die Neubewertung der Natur [durch den zweiten Redner] noch die daraus folgende Orientierung an der Realität der Erfahrung verloren“; Keßler in seiner Ausgabe von Valla 2004: S. XIXsq. Schmölders 1979: 166 (mit einem Zitat aus Scudérys Schriften über die Conversation). Zur Konversation als einer beliebten Form des Zeitvertreibs im 17. Jh. vgl. Strosetzki 22014: 296 ‒ 306. Cicero 1961: De oratore, I 8,32; Cicero o.J.: Vom Redner, 56 (von mir leicht verändert). In Handschriften wird Bracciolinis Text als liber, libellus oder Historia convivalis disceptativa bezeichnet, in Drucken als dialogus. Diese Einleitung erinnert an das ‚Grundmodell‘ solcher Gespräche zwischen gebildeten Männern: an Plutarchs Tischgespräche.
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aufgehoben war, sei, wie dies öfter passiere nach dem Essen, über Verschiedenes gesprochen worden (colloquerentur). Am meisten sei aber über die Zeitumstände geklagt worden. Virtus werde nicht mehr gelobt, die Laster würden zunehmen. Einige aber meinten, in jeder Zeit habe es eine große Zahl an schlechten Menschen gegeben.⁹² Nach einigem diskursiven Hin und Her schlägt ein Gesprächsteilnehmer vor: „Nun, da wir Muße haben (otiosi sumus) und noch freie Zeit bleibt,⁹³ wollen wir da nicht bis zum Essen auf dieser Frage insistieren und ein wenig erforschen, ob es stimmt, dass die avaritia das schlimmste Laster ist?“ (Bracciolini 1994: VI 1 [S. 70]). Ein anderer Teilnehmer bekräftigt dies (Bracciolini 1994: VI 3 [S. 70]): „Es ist genug Zeit übrig zum Disputieren“ (Immo et temporis superest sati ad disputandum).⁹⁴ Zeitvertreib und Wahrheitsfindung tun sich in diesem Gespräch zusammen. Doch wo um des Zeitvertreibs willen eine Streitfrage diskutiert und geklärt werden soll, steht nicht die Wahrheitsfindung im Vordergrund, sondern das geistreiche Sprechen an sich. Wer das, was er tut, nur als Zeitvertreib begreift, schafft eine gewisse Distanz zwischen sich und dem, was da als Zeitvertreib unternommen wird. Freilich bleibt eine Differenz zwischen dem Zeitvertreib der geselligen Gespräche in den Salons und dem Zeitvertreib des Gesprächs in Bracciolinis Dialog. Das gesamte Gespräch hier dreht sich um ein einziges Thema: avaritia. Eine gewisse Sachorientiertheit, die Fokussierung auf einen einzigen Gegenstand ist nicht zu übersehen. In den Salons ist eher Abwechslung gefragt. Der Umstand aber, dass die Dialoggespräche Konvergenzen mit geselligen heterosozialen Gesprächen aufweisen – Höflichkeit, Rücksichtnahme, Lachen/Scherzen, Miteinanderreden als Zeitvertreib, personenorientiertes bzw. kontaktbezogenes Sprechen, Diskutieren von Quästionen als Spiel –, all dies lässt erwarten, dass auch weibliche Figuren an solchen Gesprächen beteiligt werden (können). Oder umgekehrt: Wenn im 15. Jh. gelehrte Männer – zumindest im Bereich der literarischen Gattung Dialog – im Umgang miteinander über die genannten Fähigkeiten verfügen, sind sie auch imstande, an geselligen heterosozialen Gesprächen teilzunehmen.
4 Relationierung von Dialoggespräch, Dialogtext und Gender Wenn die Dialoggespräche des 15. Jhs. einen scherzhaften, spielerischen, personenorientierten, höflich-rücksichtsvollen, um Konsens bemühten Umgang zwischen ge-
Bracciolini 1994: II 4 (S. 68). Vgl. auch Landino 1980: 261,24 (disputatio als Zeitvertreib: otiosi sumus). Zugleich wird aber der Versuch unternommen, die Diskussion über die avaritia als ein ‚politisches Geschäft‘ (negotium publicum) auszugeben. Gemäß Seneca nütze derjenige dem Staat, der diejenigen, die der Verschwendung und dem Geld hinterherliefen, zurückzuhalten versuche; Bracciolini 1994: VI 3.
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bildeten Männern erkennen lassen, ist nicht mehr auszuschließen, dass sich auch Frauen mit solchen Männern unterhalten können. Anhand einiger Texte ließe sich zeigen, dass die Teilnahme von Frauen an Dialoggesprächen zwar möglich, aber gewissen Einschränkungen unterworfen ist. Bei der Frage nach der Relation von Gender und Dialog im 15./16. Jh. wird man zweierlei Beobachtungen machen: a) Die literarische Gattung ‚gelehrter Dialog‘ ist einerseits in ihren Grundlagen so fixiert, dass sie Frauen als Gesprächsteilnehmer nur dann integrieren kann, wenn diese Frauen wie gelehrte Männer auftreten. Als Beispiel kann Tullias Dialog Della infinitá di amore (1547) dienen. Eine Frau diskutiert mit einem gelehrten Mann (Varchi). Gegenüber homosozialen Dialogen ist auf den ersten Blick kein wesentlicher Unterschied zu erkennen. Auch das von Tullia entworfene Dialoggespräch ist gelehrt, oft spitzfindig, aber auch scherzhaft, spielerisch.⁹⁵ Doch hebt sich dieser Dialogtext dadurch von anderen gelehrten Dialogen ab, dass der männliche Redner immer wieder auf das (weibliche) Geschlecht seiner Dialogpartnerin anspielt und so die (sachliche) Diskussion auf eine personenorientierte Ebene zieht. Auf diese Weise erweitert sich der Typ ‚homosozialer Dialog‘ zu einem heterosozialen Gespräch. Am Ende des Gesprächs macht sich die von mir oben beschriebene Tendenz bemerkbar: Die Integration von Gelehrtheit und Höflichkeit. Tullia bescheinigt am Schluss des Dialoggesprächs dem Hauptsprecher Varchi, er vereinige Gelehrsamkeit und Höflichkeit (la molta dottrina e cortesia).⁹⁶ Hier zeichnet sich die ‚neue‘ Art des Miteinander-Diskutierens ab. Gelehrsamkeit und Liebenswürdigkeit sowie Weisheit und Höflichkeit verbinden sich. Zum gelehrten Sprechen hat der höflich-liebenswürdige Umgang hinzuzutreten.⁹⁷ b) Andererseits findet sich schon im 15. Jahrhundert ein Text, der zwar gelehrte Männer im wissenschaftlichen Gespräch zeigt, zugleich aber Formen geselliger Interaktion vorführt, an denen Männer und Frauen partizipieren: Il paradiso degli Alberti des Giovanni Gherardi da Prato, der von ca. 1360/70 bis vor 1446 lebte. Mit der Niederschrift hat Gherardi um 1426 begonnen. Erhalten ist der Text in einer einzigen Handschrift, möglicherweise ein Autograph.⁹⁸ Diesem Text soll abschließend unsere Aufmerksamkeit gelten.
S.o. Abschnitt 3.5. Tullia 1912: 243. Und am (abwesenden) Messere Sperone wird gerühmt, dass er ebenso höfisch-edel und liebenswürdig sei wie gelehrt und verständig (che è tanto cortese gentiluomo ed amorevole quanto dotto e giudicioso). An dieser Stelle wäre ein langer Exkurs zu den italienischen Akademien des 16. Jahrhunderts und deren Gesellschaftsspielen erforderlich. Ich muss darauf verzichten. Zur Handschrift vgl. Lanza in seiner Edition von 1975: 319 ‒ 322. Der Text ist zum ersten Mal ediert worden von Alessandro Wesselofsky, Bologna: Romagnoli, 1867.
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Bei Gherardis Text handelt es sich um eine fingierte Erzählung vom geselligen Miteinander einer gebildeten Elite im Florenz im Jahre 1389, die aber Gherardi sicherlich selbst noch gekannt hat. Die Teilnehmer des Gesprächszirkels sind gebildete, hochangesehene Stadtbewohner, Künstler, Politiker, Gelehrte (Mediziner, Philosophen, Mathematiker, Theologen, Musiktheoretiker), aber eben auch Frauen! Alle in Gherardis Erzählung auftretenden männlichen Figuren entsprechen historischen Personen aus der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts.⁹⁹ Tatsächlich traf sich in der Villa eines der Gesprächsteilnehmer, Antonios, in den 1380er Jahren die geistige Elite in Florenz zum geistigen Austausch. Der Umstand, dass diese gelehrten Männer aus verschiedenen Disziplinen nicht nur miteinander, sondern auch mit nichtakademischen Stadtbewohnern eine gesellige Gemeinschaft bildeten, lässt darauf schließen, dass es sich bei den gelehrten Männern nicht um reine Spezialisten handelte, „sondern um Gelehrte mit einer universellen Bildung […], die miteinander ins Gespräch treten können“.¹⁰⁰ Dennoch wird man überrascht zur Kenntnis nehmen, dass die von Gherardi beschriebene compagnia bzw. brigata der Männer immer wieder erweitert wird durch Frauen der feinen florentinischen Gesellschaft. Nicht nur zwischen den Gelehrten, sondern auch zwischen der Welt der Gelehrten und der Welt der nichtstudierten städtischen Damen gab es, folgt man Gherardis Schilderung, enge Verbindungen. Uns soll hier eine einzige Frage interessieren: Nehmen die weiblichen Mitglieder auch an den gelehrten Gesprächen der Männer teil? Inwieweit finden die Gelehrtenwelt (dottrina) und der höfisch-höfliche Umgang der Geschlechter (cortezia) zusammen? Gelingt die Kommunikation zwischen Gelehrten und Frauen der städtischen Gesellschaft?¹⁰¹ Der Zeitvertreib dieser Gemeinschaft von gelehrten Männern und weniger gebildeten männlichen und weiblichen Personen besteht im Erzählen interessanter Ge So etwa Collucio Salutati (Buch II), der äußerst gelehrte Kanzler der Stadt Florenz; er tritt als höchste philologische und literarische Autorität in Brunis Dialog von 1401 auf; Francesco Landini (Buch III), ein berühmter Musiktheoretiker des 14. Jhs.; Biagio Pelacani da Parma (ca. 1347‒ 1416) (Buch III), Philosoph und Mathematiker; er hielt die Seele für sterblich (darüber wird Anfang Buch IV diskutiert!); Marsilio da Santa Sofia (gest. 1405), Medizinprofessor in Padua; Luigi Marsili (Buch III) (geb. 1342 Florenz – 1392), war Philosoph und Mathematiker, ein Augustinermönch aus dem Kloster zum Hl. Geist, den Florenz mit einem öffentlichen Begräbnis geehrt hat; er lehrte an den Universitäten Paris und Neapel; 1380 kehrte er in seine Heimatstadt zurück. Außerdem Grazia da Castellani (Buch III), Augustinermönch, Professor der Theologie, hatte Platon und Aristoteles studiert; er war in diplomatischer Mission für Papst Urban VI tätig; er hat u. a. theologische Werke geschrieben (Quaestiones super libros sententiarum. Bei Gherardi, Buch III, wird eine Quästio der Sentenzenliteratur diskutiert.). Neumeister 1996: 186. Bestätigt wird dies etwa durch Il paradiso (III 54), wo von Biagio gesagt wird: uomo di mirabili scienza e dottrina come in parte di sopra udito avete, e non solamente in filosofia naturale e morale, ma in ogni parte di metamatica [sic!] arguto demostrativo… Schon ab dem 14. Jh. wird auf die alltagsweltliche Verbindung von dottrina und cortesia hingewiesen: Boccaccio, Decameron, VI 9 (Cavalcanti). Zu Tullias Dialog, wo ebenfalls dottrina und cortesia vereint sind, oben Anm. 96.
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schichten,¹⁰² in zwanglosen Gesprächen, gemeinsamen Ausritten, gemeinsamen Mahlzeiten, die umrahmt werden von musikalischen Darbietungen, Tanzvorführungen und allerlei Kunststücken der Männer selbst (etwa III 22 und IV 299 – 312). Alle von Männern und Frauen gemeinsam ausgeführten Aktivitäten werden vom Erzähler als lieto (fröhlich), piacevole (freundlich), leggiadro (lieblich), dolce (sanft, leutselig), giocundo (angenehm) bezeichnet, ob das nun die musikalischen Einlagen, die lukullischen Genüsse oder das gesellige Parlieren sind. Alles geschieht mit dolcezza (III 29 u. 48) und grandissima letizia (III 45, IV 48 u. ö.). Die Nähe zu Boccaccios Decameron ist unverkennbar. Doch – dies ist ein wesentlicher Unterschied – in Gherardis Text wird auch über gelehrte Quästionen debattiert.¹⁰³ In Gherardis Text begegnen immer wieder themenorientierte Diskussionen, etwa über die Frage, ob die Herrschaft eines einzelnen oder die von mehreren besser für ein Staatswesen sei (II 447– 463), ob Geldhandel (Zins nehmen) zu erlauben sei (IV 248 – 297), ob die Seele unsterblich sei (IV 5 – 46). Diese Diskussionen über politische, ökonomische oder philosophische Quästionen sind freilich den Männern vorbehalten. Diese nutzen die Gelegenheit zu solchen Diskussionen, solange die Damen sich in ihren Gemächern aufhalten (II 443, IV 4 u. 299). Frauen nehmen lediglich an den unterhaltsamen Aktivitäten teil wie etwa Musik- und Tanzvorführungen, an den gemeinsamen Mahlzeiten, an Spielen, auch am Geschichtenerzählen und den sich daran anschließenden Diskussionen. Im 3. Buch (III 73 – 99) jedoch kommt es zu einem quasi gelehrten Redewechsel zwischen Frauen und Männern, der auf eine höfisch-galante Art eingeleitet wird. Ein männlicher Teilnehmer schlägt vor, eine Streitfrage (uno dubio, III 70) diskutieren zu lassen, die auch die anwesenden Frauen angehe (III 70 f.): che tocca a lloro [oneste matrone] come a nnoi (III 71), che tocava si alle donne come alli uomini (III 75). Die Frage lautet: „Lieben Väter ihre Söhne mehr als es die Mütter tun?“ Erst nachdem alle Anwesenden sich mit dem Themenvorschlag einverstanden erklärt haben (piaque molto a ciascheduno la proposta, III 75) und nachdem jedem freigestellt wurde, die eine oder andere Position zu vertreten – also alle Auffassungen werden als gleichwertig betrachtet –, beginnt die Diskussion. Es entspinnt sich ein Redewechsel zwischen einem Angehörigen der männlichen brigata (Allesandro) und einer Angehörigen der weiblichen compagnia namens Cosa. Dieser wird grande intelleto zugeschrieben (III 83). Und sie ist angeblich sehr scharfsinnig (argutissima).¹⁰⁴ Ihr wird von allen Damen der Auftrag erteilt, im Namen der Frauen auf die Rede des Mannes zu antworten (III 83). Die Dame Cosa hält nun eine lange Gegenrede innerhalb
Dass in den galanten Gesprächsmodellen des 17. Jhs. „das Erzählen von Geschichten zu einem fast absoluten Tabu erhoben“ worden sei, vermerkt Schmölders 1979 (21986): 27. Zu Parallelen und Differenzen zwischen Gherardi und Boccaccio (Decameron und Filocolo) Salwa 1988: 61 f.; Garilli 1972; Lanza in seiner Ausgabe (1975) von Il paradiso degli Alberti: IX-XVI. Dass Gherardi aber auch Macrobius’ Saturnalia verpflichtet gewesen sei, meint Bausi 2000: 15. Bei Tullia d’Aragona 1912: 200 u. 232, wird der weiblichen Figur Tullia ebenfalls bescheinigt, sie habe scharfsinnig (sottilissimamente) gesprochen.
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der öffentlichen Debatte über diese Quaestio: Lieben Väter oder Mütter ihre Söhne mehr?¹⁰⁵ Der männliche Redner hat es der Dame insofern leicht gemacht, als er seine eigene conclusione, die er für wahr (vera) hält (III 80), abschwächt: Er habe zwar zweifach begründet, weshalb seiner Meinung nach die Väter ihren Sohn mehr liebten als es die Mütter tun. Doch lasse ihn die Beobachtung an seinem Urteil zweifeln (III 81), dass er gesehen habe, mit wie großer Liebe Mütter ihren Söhnen begegneten.¹⁰⁶ Damit ist schon eine Brücke zur Gegenposition der Frauen geschaffen. Doch zunächst zerpflückt Cosa die Argumentation Allesandros. Die Natur habe den Müttern mit dem Stillen die Fürsorge für die kleinen Kinder übertragen (III 86 – 87). Überdies sei Lieben keine Sache der Vollkommenheit (perfezzione), sondern der Gemütsbewegung (affezione) (III 91– 92). Und darin seien die Frauen überlegen. Auch Cosa hält ihre Auffassung für wahr (vera, III 82 und III 99). Am Schluss der öffentlichen Debatte wird den Argumenten der Dame Recht gegeben – von einem äußerst gelehrten Mann, Biagio. Dieser hatte nach Cosas Rede zunächst – ironisch – seiner Verwunderung Ausdruck verliehen: Er habe gar nicht gewusst, dass sich die Frauen von Florenz sogar die Naturund Moralphilosophie, Rhetorik und Logik angeeignet hätten. Die Dame gibt sich aber mit dieser allgemeinen Aussage nicht zufrieden und fordert die Wahrheit (la verità, III 102). Biagio gibt ihr dann in einer längeren Begründung Recht, gegen den männlichen Vertreter, Allessandro. Allerdings kommt Biagios Plädoyer für die Position der Damen recht hinterhältig daher. Denn es baut auf einem misogynen Topos auf, was den ihm zuhörenden Damen offensichtlich entgeht. Biagios Hauptargument lautet: Nur die Mütter wüssten, ob ihr Sohn wirklich ihr Sohn sei. Deshalb liebten sie diese mehr. Den Vätern fehle es an dieser Sicherheit. Meines Erachtens versteht man diese Gesprächsszene – Frauen diskutieren mit gelehrten Männern – nur, wenn man zwischen Figuren- und Autor-/Rezipientenebene unterscheidet. Auf Gesprächsebene, zwischen den Dialogfiguren, spielt sich die Szene wie eine ernstgemeinte scholastische Debatte ab. Tatsächlich ist die hier behandelte Quaestio auch in der lateinischen Eheliteratur behandelt worden.¹⁰⁷ Die Dame Cosa als Vertreterin der Frauen bietet den Männern auf scharfsinnige Weise Paroli. Doch auf der Rezipientenebene muss über diese Szene wie über eine Komödie gelacht worden sein. Denn das Schlussurteil des Gelehrten Biagio, die Frauen würden ihre Söhne mehr lieben, basiert auf dem Argument, nur die Frauen besäßen die Gewissheit, dass der Sohn auch ihr Sohn sei. Dieses misogyne Argument verdächtigt alle Frauen des potentiellen Ehebruchs.¹⁰⁸ Der Dame Cosa entgeht diese Unterstellung, den Lesern nicht.
Das ist umso bemerkenswerter als Vincenzo Nolfi in seinem für Frauen geschriebenen Traktat (Ginipedia, 1631) über rechtes Verhalten schreibt, bei den Festivitäten der Akademien mit ihrer persönlichen Meinung hinter dem Berg zu halten. Evangelisti 2016: 74. Hier kommt das Prinzip ‚nicht Recht haben wollen’ zum Tragen. Vgl etwa Hugo de Prato Florido (ca. 1272‒ 1322): Sermo 96. Von den fünf Argumenten, die bei Hugo de Prato Florido, Sermo 96, für die größere Liebe der Mütter angeführt werden, greift Biagio ein einziges – und zwar das misogyne – heraus.
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Bereits zu Beginn der Szene hatte sich der Autor einen auf die Leser zielenden Scherz erlaubt. Als die Gesellschaft der schönen Damen zu der compagnia der Männer stößt und darum bittet, den Unterredungen der gelehrten Männer zuzuhören (III 51), beauftragen die Männer Maestro Biagio, den Damen eine Antwort zu geben. Auffallend ist, dass der Autor des Textes der Rede des Biagio eine umfangreiche Beschreibung von dessen umfassender Gelehrsamkeit voranstellt. Maestro Biagio sei von mirabil scienza e dottrina gewesen (III 55), kenne sich nicht nur in Natur- und Moralphilosophie, sondern auch in Mathematik und Theologie aus (III 56). Und was sagt dieser hochgelehrte Biagio zu den Damen? Er begrüßt sie überschwänglich, erklärt dann aber, er sei zu alt und wisse nichts mehr (und könne infolgedessen die Frauen auch nicht belehren). Die Diskrepanz zwischen Biagios vom Autor unterstellter Gelehrsamkeit und seiner Selbstdarstellung als vertrottelter alter Mann ist zu groß als dass man sie auf das Konto von Selbstbescheidenheit oder Höflichkeit buchen könnte. Diese Diskrepanz kommt überhaupt erst bei der Lektüre des Textes so richtig zum Vorschein. Denn die vom Autor (bzw. Erzähler) vorangestellte beeindruckende Beschreibung von Biagios Gelehrsamkeit verbleibt auf der Textebene, ist nicht Gegenstand der Gesprächsebene. Somit ergibt sich der Eindruck, dass der Autor Gherardi – für die Leser – mit dieser Diskrepanz der Szene einen scherzhaft-ironischen Charakter verleihen wollte. Gherardi kündigt einen großen Gelehrten an, dieser stellt sich selbst dann aber den Damen als vergesslichen alten Mann vor. Weitere Einzelheiten bestätigen diesen Eindruck einer humoristischen Szenenführung. Die Doppeladressierung von Dialogaussagen – einerseits richten sie sich an die Gesprächspartner, andererseits an die Rezipienten des Textes – ist bei deren Analyse stets mitzudenken.¹⁰⁹ Gherardis Text ist gerade in kommunikationsgeschichtlicher Hinsicht interessant. Er repräsentiert eine Art Zwischenstufe – systematisch verstanden – zwischen den lateinisch-gelehrten homosozialen Dialogen und den volkssprachlich-geselligen heterosozialen Gesprächen. Denn er vereinigt in sich unterschiedliche Modelle verbaler Dies gilt auch für Edmund Tilneys The Flower of Friendshippe (1568). Der Herausgeber bezeichnet im Titel seiner Edition den Text als „A Renaissance Dialogue“. Tilneys Text ist gekennzeichnet durch den Widerspruch zwischen Inszenierung einer geselligen Gesprächsrunde nach italienischem Muster einerseits und humorlosem Lehrcharakter des angeblichen Gesprächs andererseits. Angekündigt ist ein heiterer Zeitvertreib, praktiziert wird eine Belehrung über die Pflichten von Ehemännern und Ehefrauen. Mir ergibt sich der Eindruck – und damit komme ich zu einer Analyseebene, die ich bereits eingangs angesprochen habe -, dass bei einigen Dialogtexten das Gelingen nicht auf der Gesprächsebene, sondern auf der Rezipientenebene stattfindet. Die Bemerkung der Dialogfigur Pedro, die kritischen Kommentare Gualters würden das Vergnügen des Gesprächs erhöhen (Zeilen 478 ff.), bleibt für den weiteren Gesprächsverlauf folgenlos, also irrelevant. Niemand lacht über Gualters provozierende Äußerungen. Nicht die Teilnehmer des Gesprächs im Text, sondern die Leser des Textes erfreuen sich an der präsentierten Querelle des femmes der beiden Streithähne Gualter und Aloisa. Bei seiner schriftliterarischen Darstellung des Gesprächs hatte der Autor eher seine Leser im Blick als die Teilnehmer des Gesprächs. Dem Autor eines Dialogs kann u.U. das Gelingen der Kommunikation mit den Adressaten wichtiger sein als das Gelingen der Gespräche zwischen seinen Dialogfiguren. Dieser Aspekt ist übersehen bei Emmelius 2010: 349 ‒ 356. (Zudem versteht Emmelius, 354, sporte fäschlicherweise als ‚Wettkampf‘, als ‚Konkurrenz‘. Doch sport bedeutet im 16. Jh. ‚Unterhaltung, Vergnügen‘.).
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Geselligkeit.¹¹⁰ Erstens wird das höfische Modell einer geselligen heterosozialen Erzählerrunde à la Boccaccios Decameron präsentiert. Zweitens greift er das Modell heterosozial geselligen Disputierens auf,¹¹¹ wie es Boccaccios Werk Filocolo in den Questioni d’ amore vorstellt, das seinerseits auf die höfischen jeux partis des 12./13. Jhs. zurückgeht. Drittens bietet Gherardis Text Beispiele für das homosoziale Modell einer gelehrten Diskussion über eine anspruchsvolle politische oder philosophische Streitfrage. Die Tatsache, dass diese drei unterschiedlichen Geselligkeitsmodelle in ein und dasselbe Werk Eingang gefunden haben, zeigt, dass die sozialen und bildungsgeschichtlichen Trennwände, die zwischen den drei Modellen bis ins 14. Jh. und noch darüber hinaus bestanden haben, an Festigkeit eingebüßt haben.
5 Abschließende Bemerkungen Die homosozialen Unterhaltungen bzw. Gespräche in narrativen Dialogen des 15. und 16. Jhs. weisen einige Merkmale auf, die sie trotz Sachorientiertheit, Wettkampf, Wahrheitsfindung, Aufruf zum Widerspruch an die Seite von geselligen heterosozialen Gesprächen rücken, wie sie in den Verhaltenstraktaten des 16./17. Jhs. entworfen wurden.¹¹² Die gebildeten bzw. gelehrten Männern in den homosozialen Dialoggesprächen schon des 15. Jhs. legen Verhaltensweisen an den Tag, die ihnen auch einen konversationalen Umgang mit Frauen ermöglichten, wie Gherardis Werk belegt. Mit dieser Implementierung höfisch-höflichen Verhaltens in die gelehrten Dialoggespräche – was selbstverständlich in Anlehnung an antike Vorbilder (Plutarch, Cicero) geschah –, verringerte sich der Abstand zu dem, was wir gesellige, zwanglose Gespräche nennen. Dennoch ist zu konstatieren, dass in Gherardis Darstellung der heterosozialen Geselligkeit im Florenz des 14. Jhs. die Tendenz besteht, die Debatten der gelehrten Männer über politische und philosophische Fragen abzuheben von den anspruchsloseren Unterredungen und Vergnügungen, die Männer und Frauen zusammenführen. Doch allein die Tatsache, dass sich die gelehrte männliche compagnia und die städtisch-höfische weibliche brigata zum gemeinsamen Zeitvertreib zusammenfinden, nimmt spätere Erscheinungen vorweg. Ich denke an Castigliones Cortegiano (1528) einerseits und an die französischen Salons des 17. Jahrhunderts andererseits. Gherardis Il paradiso hilft die weitergehende Frage zu beantworten, unter welchen Voraussetzungen gesellige Gespräche zwischen gelehrten Männern und Frauen gelingen. Zu Beginn meines Beitrags habe ich von der Wahrheitsfindung als einem
Zu den verschiedenen Modellen Emmelius 2010: 332‒ 336. Denn die vorgetragenen Erzählungen werden in Gherardis Il paradiso in der heterosozialen Runde diskutiert. So enthält das Werk von Guazzo 1599: Buch II, zahlreiche Anweisungen für ein ideales Gespräch (andere ausreden lassen, geduldig zuhören; Streit vermeiden; nicht auf der eigenen Meinung beharren), die in lateinischen Dialogen des 15. Jh. ‚umgesetzt‘ worden sind.
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Merkmal der Dialoggespräche zwischen gelehrten Männern gesprochen. Überblickt man die Texte des 14. bis 17. Jhs., die gesellige heterosoziale Gespräche präsentieren (auch Gherardis Il paradiso), fällt auf, dass in all diesen Gesprächen Fragen oder Probleme erörtert werden, auf die es keine endgültige Antwort geben kann, allen voran Fragen über die Liebe.¹¹³ In den einschlägigen Textbeispielen könnte endlos weiter diskutiert werden, ohne dass sich eine Lösung der gestellten Frage abzeichnete. Dieser Typ von offenen Fragen, auf die es keine ‚wahre‘ Antwort geben kann, bildet die Voraussetzung für die Teilnahme von Frauen an Gesprächen mit gelehrten Männern. Denn nun erhält, weil es keine ‚Wahrheit‘ gibt, jede Äußerung eines jeden Gesprächsteilnehmers die gleiche Relevanz, was das Gelingen solcher Gespräche erleichtert. Dort also, wo unentscheidbare Fragen diskutiert werden, können Frauen mit dem gleichen Anspruch auf Anerkennung auftreten wie die (gelehrten) Männer. Wo und sobald jedoch Fachthemen erörtert werden, verlassen die weiblichen Teilnehmer die Gesprächsgemeinschaft.¹¹⁴ Es mag erstaunen, dass uns in sämtlichen narrativen Dialogen des 15. und 16. Jhs. gelingende Gespräche vorgeführt werden, d. h. Gespräche, die die zuvor gesetzten Ziele erreichen: einerseits die Diskussion einer Streitfrage, andererseits das angenehme Verstreichen der Zeit (tempo passare).¹¹⁵ Dieser auf der Gesprächsebene ermittelte Befund ist freilich an die Funktion des Textes gebunden, der diese Gespräche präsentiert. Wenn die Autoren narrativer Dialoge in ihren Einleitungen den Rezipienten des Textes einen angenehmen, heiteren Zeitvertreib versprechen, schlägt diese Zielsetzung auf die Darstellung der Gespräche durch. Die Funktion der Dialoggespräche – den (meist freundschaftlich verbundenen) Teilnehmern der Gespräche angenehm die Zeit zu vertreiben und das Gemeinschaftsgefühl zu stärken – wiederholt sich in der Funktion des Textes: er soll den Lesern die Zeit vertreiben und zugleich freundschaftliche Bande erhalten. Gemeinschaftsgefühl stellt sich auf Figurenebene durch gesellige Gespräche ein, auf Text- und Rezipientenebene durch die Lektüre der Texte, die solche Gespräche präsentieren. Da die Gesprächsebene überlagert wird von der Kommunikation auf der Textebene, sind Analysen der Gespräche in narrativen Dialogen nur sinnvoll unter Berücksichtigung dieser mittels Text erfolgten Kommunikation. Dennoch muss die Differenz zwischen Dialogtext und Dialoggespräch Beachtung finden.¹¹⁶
Schnell 2008: 112‒ 114: Liebeskasus werden von Frauen diskutiert. Das gilt für Torquato Tasso 1991: 124, für Harsdörffers Frauenzimmer-Gesprächsspiele (1641‒ 1649), für Gherardis Il paradiso und für viele andere Texte. Stets, sogar bei Tilney, The Flower of Friendshippe (1568), wird auf Figurenebene suggeriert, die Teilnehmer der Gespräche hätten ein angenehmes Gemeinschaftserlebnis absolviert. Man geht zufrieden und heiter auseinander. Für die Autorebene unterstelle ich ein anderes Resultat; s.o. Anm. 109. Vgl. dazu die Beiträge in Hempfer (ed.) 2002.
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Transkultureller Dialog und Genderpolitik – Gottsched übersetzt Fontenelles Entretiens sur la pluralité des mondes 1 Übersetzung, Kommentar, Dialog Bernard de Fontenelles (1657– 1757) Entretiens sur la pluralité des mondes gehören zu den wirkmächtigsten popularphilosophischen Texten der französischen Aufklärung.¹ Es handelt sich dabei um ein Gespräch, das ein Philosoph mit einer adeligen Dame führt, um ihr das cartesianisch-kopernikanische Weltbild zu erklären und dabei auch über die Bewohner ferner Planeten zu spekulieren. Bereits im Titel referieren die Entretiens auf eine zentrale Debatte der Zeit: Die enormen Fortschritte der new science, insbesondere der Astronomie, hatten im Laufe des 17. Jahrhunderts zur Widerlegung der ptolemäisch-aristotelischen, geozentrischen Kosmologie geführt. Die Frage nach der Einzigkeit und Einzigartigkeit der Erde im Sonnensystem oder gar im Universum wurde zugleich drängender. Brisant war die Debatte vor allem, weil damit die theologischen Grundfesten des Christentums ins Wanken gerieten. Was bedeutet es nämlich für die Stellung des Menschen in der Schöpfung, wenn es im Weltall noch andere intelligente Lebewesen gibt? Nicht nur Experten, sondern auch Laien faszinierte und beunruhigte die Vorstellung von der „Mehrheit der Welten“.² Solche naturwissenschaftlichen, philosophischen und theologischen Fragen wurden vor allem in literarischen Texten artikuliert und diskutiert, denn es geht um heikles Grenzwissen, das sich an den Randbereichen der Empirie bzw. des wissenschaftlich ‚Sagbaren‘ bewegte. Keine andere Schrift jedenfalls hat der ‚PluralitätsDoktrin‘ zu einer solch immensen Verbreitung verholfen und dabei die „Crise de la conscience européenne“ (Hazard 1935) vergleichbar befördert wie die Entretiens, so dass die Annahme außerirdischen Lebens sich nicht zuletzt durch Fontenelle bereits gegen Ende des 17. Jahrhunderts als Selbstverständlichkeit durchsetzte (Guthke 1983: 180). Schon 1755 machte beispielsweise Kant durch den Titel seiner Schrift Von den Bewohnern der Gestirne deutlich, dass aufgrund des Teleologieprinzips von der Existenz extraterrestrischen Lebens prinzipiell auszugehen sei (Kant 1755: 179). Gottsched referiert aus dem Journal de Trévoux, dass nach Erscheinen der englischen
Fontenelle 1991: 7– 130. Die Forschung zu Fontenelle und den Entretiens ist kaum zu überblicken. Als ‚klassisch‘ gelten Marchal 1997, Niderst 1927 sowie Krauss 1969. Vgl. außerdem Grimm 1994: 287– 342 (v. a. zu Fontenelles literaturtheoretischen Abhandlungen), Kalverkä mper 2011 und Douglas 1994. Einen knappen Überblick über die Fontenelle-Forschung findet man bei Steigerwald 2003: 13 – 30 und bei Elm 2010: 117 ff. Guthke 1983, Guthke 1981: 159 – 186. https://doi.org/10.1515/9783110592580-012
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Übersetzung „alle, die vor aufgeweckte Köpfe gehalten seyn wollten“, dem Pluralitätder-Welten-Gedanken beigepflichtet hätten (Gottsched 1726: b3v). Fontenelles Entretiens erschienen erstmals 1686 bei Blageart in Paris. Weitere Auflagen wurden noch im selben Jahr in Lyon und Amsterdam veröffentlicht. Eine Neuauflage mit einem zusätzlichen Gespräch publizierte Fontenelle 1687 bei Michel Guerot in Paris. Die elf deutschen Übersetzungen basieren auf dieser erweiterten Fassung bzw. einer zweiten Amsterdamer Ausgabe von 1719 (Roßbach 2015: 105). Insgesamt erfährt der „astronomische […] Bestseller der Aufklärungszeit“ (Guthke 1983: 202) zu Fontenelles Lebzeiten 33 weitere Auflagen. An diesem Erfolg änderte weder die Indizierung durch die katholische Kirche etwas noch „Fontenelles borniertes Festhalten an der cartesianischen Physik“, die mit Newton längst überholt war (Martus 2015: 354). Fontenelles Entretiens, die bald schon zum internationalen Exportschlager avancierten, demonstrieren somit die „kulturelle Dynamik zwischen den nationalen Erscheinungsformen der Aufklärung“ (Stockhorst 2009, 268, vgl. dies. 2010). Eine erste deutsche Übersetzung erschien 1698 bei Fritsch in Leipzig.³ Auf Gottscheds Version sollten Ende des 18. Jahrhunderts noch zwei weitere Übersetzungen folgen.⁴ Im Vorwort seiner Übersetzung weist Gottsched auf den Erfolg der Erstübertragung hin. Weil dieses Buch mittlerweile vergriffen sei, erscheine es ihm sinnvoll, „dieses so angenehme als nützliche Tractätchen […] von neuem in unsre Muttersprache zu bringen“ (Gottsched 1726: b1v). Im Folgenden soll die Übersetzung der Entretiens durch Gottsched in ihrer doppelten Dialogizität vorgestellt werden.⁵ Denn um einen Dialog handelt es sich auf mehreren Ebenen. Auf Ebene der Diegese führt Gottscheds Text seiner französischen Vorlage folgend eine spezifische Gesprächssituation vor: Im Spannungsfeld von Erotik, Galanterie, Philosophie und Wissensvermittlung entwickelt sich bald ein Gespräch zwischen einer adeligen Dame und einem Gelehrten, da beide Gesprächspartner mit den Prinzipien der „Interaktion in Oberschichten“ (Luhmann 1980) im „Zeitalter der Konversationskultur“ (Steigerwald 2010: 341) vertraut sind (Stichwort: Galanterie, Steigerwald: 2011). Doch nicht nur auf den Ebenen der Handlung und –
Fontenelle 1698. Der Übersetzer ist der Naturforscher und Spinoza-Schüler Ehrenfried Walther von Tschirnhaus (1651– 1708). Mylius 1780/1789/1798 und unter dem Pseudonym R(…) 1794. Zu Gottscheds Fontenelle-Übersetzungen: Roßbach 2015: 107– 111, Krebs 1993: 207– 219, Wagner 2012. Wagner weist auf die Schwierigkeiten hin, „die sich dem Übersetzer im Bereich des Lexikons auftun, vor allem in den Sparten Wissenschaft, Galanterie, Gesellschaftsleben und Ästhetik.“ (Ebd. 433). So findet man „bei Fachbegriffen der Philosophie und der Naturwissenschaften“ häufig „Zwillingsausdrück[e]“ und Lehnwortbildungen, z. B. wird „Physique“ mit „Naturlehre“ oder „Naturwissenschaft“ übersetzt, die „matière céleste“ ist die „Himmelluft“ oder „himmlische Materie“, der „Philosoph“ ist der „Weltweise“. Dies gilt auch für den Bereich der Galanterie: „préceptes de galanterie“ werden mit „Liebesregeln“ wiedergegeben, „Bizarreries“ mit „ungereimte Dinge“ oder „Unordnungen“. Zentrale Formeln der galanten Ästhetik wie „je-ne-sais-quoi“ werden bisweilen ausgelassen (ebd. 435). Zu Gottsched als Übersetzer und Kulturvermittler allgemein: Gawlick 1990: 179 – 204, Krauss 1973: 66 – 74.
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von den rahmenden Einführungspassagen abgesehen – der Form handelt es sich um ein Gespräch. Gottsched inszeniert den übersetzten Text als Dialog mit dem französischen Original, ⁶ indem er eine weitere Gesprächsebene einzieht.⁷ Sie hat ihren Ort in den Paratexten – in Gottscheds Vorrede und vor allem in den Anmerkungen sowie den astronomischen Figuren,⁸ die er der deutschen Ausgabe zur „didaktischen Visualisierun[g]“ ergänzend beifügt und die dem Text „Lehrbuchcharakter“ (Wagner 2013: 440) verleihen. Die Funktion der Anmerkungen reicht über eine unterstützende und erläuternde Aufgabe weit hinaus. Gottsched nutzt die Textebene des Kommentars, um in den galanten Dialog ein enzyklopädisches Wissen aus verschiedenen Bereichen, nicht nur aus dem der Astronomie, einzuspeisen. Die Fontenelle-Übersetzung steht somit erstens im Dienste eines kulturpatriotischen Projekts im europäischen Horizont: der Entwicklung einer deutschen Literatursprache auf dem Niveau der europäischen Literaturen durch imitatio von und im Dialog mit ‚weltliterarischen‘ Texten. Gottsched leistet somit einen zentralen Beitrag zur Übersetzungskultur und zum „Kulturtransfergeschehen“ des 18. Jahrhunderts, das der Aufklärung ihre „transkulturelle Prägung, ihre Offenheit verlieh“ (Wehinger / Brown 2008: 7). Zweitens trägt die Fontenelle-Übersetzung zur Popularisierung von Wissen bei und steht im Kontext von Gottscheds genderpolitischem Plädoyer für eine – ästhetische wie wissenschaftliche – Partizipation von Frauen an Wissensdiskursen und -zirkulationen der Zeit.⁹
Roßbach (2015: 117– 119) spricht von der „Polyphonie der Übersetzung“: „Fontenelles Entretiens sur la Pluralité des Mondes sind ambivalent und vielstimmig. Die deutschsprachigen Ausgaben geben sie in ihrer Polyphonie wieder – und schränken diese Polyphonie zugleich durch Kommentar ein. Die Paratexte der Übersetzungen bilden jeweils eine weitere Stimme, die vielfach konträr zum Haupttext angelegt ist und durch Absetzung von diesem besonderes Gewicht erhält“ (ebd. 117). Vgl. auch Kilcher / Weissberg (2018: 8), die das ‚Dialogische‘ des Kommentars als Textform hervorheben: „Der Kommentar als Textgattung und Denkform bildet Wissen grundsätzlich im Rückbezug auf eine vorhandene Äußerung, Handlung, auf einen bereits existenten Gegenstand oder Text. Vordergründig erscheint er damit als ein sekundärer Begleittext gegenüber einem primären Grundtext, mithin als eine ihrem Wesen nach auf ein etwas Anderes bezogene, dadurch dialogisch gehaltene Form. Allerdings entwickelt er dabei zugleich auch eine eigene Dignität, verleiht dem Grundtext im Lauf der Geschichte erst die jeweilige aktuelle Bedeutung und wird auf diese Weise zugleich zum wesentlichen Teil desselben.“ Das Text-Bild-Verhältnis wäre eigens zu untersuchen. Der Beitrag schließt sich damit einer neuen Tendenz der (germanistischen) Aufklärungsforschung an, die das etablierte Bild von Gottsched als einem engstirnigen, machtbewussten und aufs Systematisieren beschränkten Gelehrten, dem zudem als Ancien jeder Sinn für die Modernes gefehlt und der Dichtung allein die Aufgabe der moralischen Belehrung zugestanden habe, für revisionsbedürftig hält. Vgl. hierzu Achermann 2014: 147– 150.
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2 Struktur und Textualität Gottscheds Übersetzung erschien erstmals 1726 bei Bernhard Christoph Breitkopf in Leipzig.¹⁰ Es handelt sich um die erste eigenständige Veröffentlichung des 26-jährigen Gottsched, der kurz zuvor aus Königsberg nach Leipzig gelangt war. Der Erfolg des Buchs war beachtlich. Bis 1800 erfuhren die Gespräche fünf Neuauflagen (1730, 1738, 1751, 1760, 1771), in denen Gottsched seine Übersetzung weiterentwickelte und mit neuen Vorworten versah. Dieser enorme und nachhaltige Erfolg begründete auch die lange freundschaftliche Beziehung zu Breitkopf, bei dem sämtliche Auflagen erschienen. Formal fällt vor allem die szenische Dialogform mit inquit-Formeln ab der dritten Auflage (1751) auf, die die durchgehend narrative Gestaltung des Gesprächs ersetzt und sich somit auch vom französischen Original weiter entfernt. Ursprünglich plante Gottsched eine – nicht vollendete – deutsche Gesamtausgabe der Werke Fontenelles. Einige Texte erschienen später in einer Teilausgabe „in einen deutschen Habit verkleidet“ (Gawlick 1990: 180),¹¹ was Gottsched von Zeitgenossen den Beinamen eines „deutschen Fontenelle“ einbrachte (Roßbach 2009). Überhaupt hat sich Gottsched, der die französische Literatur von Racine bis Fénelon und Diderot kannte und vieles davon übersetzte, mit keinem anderen fremdsprachigen Autor so intensiv und beharrlich auseinandergesetzt wie mit Fontenelle (Brandes 2006: 196). Auch ein brieflicher Kontakt ist belegt,¹² u. a. bedankt sich Fontenelle bei Gottsched für die Vermittlung seiner Jugendwerke an die Deutschen, eine „grande Nation“ (Juli 1728).¹³ Das Titelblatt der Gottsched’schen Übersetzung zeigt einen Porträtstich, der den europaweit bekannten philosophe in seiner Eigenschaft als Sekretär der Académie française und Mitglied der Académie des sciences vorstellt. Seine ‚Anwesenheit‘ in der Adaptation wird damit exponiert, der Autor ist präsent.
Im Folgenden wird auf Grundlage der Erstausgabe argumentiert. Ein Vergleich der Fassungen – auch aus übersetzungsgeschichtlicher Perspektive – steht noch aus. Es folgten: Die Gespräche der Todten (1727), Die Historie der heydnischen Orakel (1730), Abhandlung der Frage, vom Vorzuge der Alten oder Neuern im Absehen auf die Künste und Wissenschaften (1730), Abhandlung vom Daseyn Gottes aus der Betrachtung der Thiere. Teilausgabe: Auserlesene Schriften (…) ans Licht gestellt von Johann Christoph Gottscheden. Leipzig 1751 (2. Aufl. 1760). „A l’évidence, Fontenelle est de loin l’écrivain avec qui Gottsched a entretenu les relations personnelles et intellectuelles les plus étroites“. Krebs 1993: 216. Gottsched 2007: 137. Ein zweiter Brief Fontenelles an Gottsched stammt aus dem Jahr 1732. Hier dankt Fontenelle Gottsched für die Übersetzung seiner Orakel-Schrift und begrüßt die Sprachpolitik der Deutschen Gesellschaft. Vgl. Gottsched 2008: 313 – 315.
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Abb. 1: Frontispiz und Titelblatt der Gespräche von Mehr als einer Welt (Leipzig 1726). SLUB Dresden: Astron.685.w,misc.1.
Das Titelblatt unterstreicht diese Programmatik (Abb. 1): Die typographische Gestaltung suggeriert, dass es sich um ein Gespräch zwischen Fontenelle und Gottsched über die Vielheit der Welten handelt. Das Gespräch zwischen einem „Frauenzimmer und einem Gelehrten“ wird durch das Druckbild als Binnendiskurs markiert, der von dem Dialog zweiter Ordnung – dem zwischen Autor und Übersetzer – gerahmt wird. Bemerkenswert ist dabei die Benennung der Gesprächspartner des fiktiven Dialogs, denn es handelt sich um einen Zusatz Gottscheds. Fontenelles Titel lautet einfach Entretiens sur la pluralité des mondes, wobei die Gattungsbezeichnung ‚Entretiens‘ mit ‚Gespräche‘ angemessen übertragen ist. ‚Entretien(s)‘ bezeichnet, ähnlich wie ‚discours‘, eine gattungspoetologisch durchaus offene Diskurstradition des späten 17. Jahrhunderts, die sich auf ‚Fachtexte‘ bezieht, „die ihre Inhalte in unterhaltender, dialogischer, gesprächiger, narrativer, kolloquialer Weise bieten“ (Kalverkämper 2011: 34).¹⁴ Kulturgeschichtlicher Kontext dieser Gesprächsfiktionen sind die intellektuell Marmontel (Encyclopédie: 936 f.) definiert in der Encyclopédie: „Dialogue, s. m. (Belles Lettres.): entrien de deux ou plusieurs personnes, soit de vive voix, soit par écrit.“ Dort wird die ‚komische‘ Tradition (Lukian) von der gelehrten/philosophischen (Platon) unterschieden (Platon=gravité; Lukian=finesse); auch Erasmus und della Valles werden als moderne Beispiele genannt. Fontenelle wird als vorbildlicher Vertreter der modernes erwähnt: „mais parmi les modernes, personne ne s’est tant
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regen Gruppierungen „in der [Pariser] Gesellschaft des 17. und frühen 18. Jahrhunderts“, die „mit ihrer Salonkultur und dem dort herrschenden Klima des gepflegten Gesprächs, der interessanten Unterhaltung, der angenehmen Diskussionen, der vielfältigen Themen aus Lebenspraxis und Wissenschaft, eine Bühne gesellschaftlicher Bildung“ schufen (ebd. 37). Natürlich sind die literarischen Konversationen dabei kein Abbild der sozialen Realität der höfischen Gesellschaft oder der Salonkultur; die entretiens und discours bringen im Zeichen eines community-fashioning diese eigentlich erst hervor (Steigerwald 2010: 348). Der galante Dialog präsentiert modellhaft Prinzipien der Konversation und weist diese als nachahmenswert aus. Schon hier zeigen sich die Herausforderungen, die der Kulturtransfer im Falle einer solchen Textsorte zu leisten hat. Denn die Welt am Hof Ludwigs XIV. und die urbane Pariser Intellektuellenkultur der Zeit, der Fontenelles Text entwächst, formieren ein kulturhistorisches spezifisches Milieu, das mit den Verhältnissen der sächsischen Universitätsstadt der 1720er Jahre nicht ohne Weiteres vergleichbar ist. Doch genau hier setzt Gottscheds kulturpatriotisches Projekt an, das er mit der Übersetzung verfolgt und mit dem er sich auch der Deutschen Gesellschaft in Leipzig empfehlen will. Mit der Übersetzung verbindet sich die Idee, auch die französische Konversationskultur und ihre rahmenbildenden Institutionen – vor allem die Sprachakademie und die Salons – zu imitieren und in Deutschland zu implementieren. Nicht umsonst wird Christiana Mariana von Ziegler, die „deutsche Scudéry“, mit ihrem musikalischen Salon im Leipziger Romanushaus in den folgenden Jahren zur wichtigsten Mitspielerin Gottscheds (Köhler 2007, Becker-Cantarino 1987: 263 – 266). Gottsched selbst hat in der Vorrede zu seiner Übersetzung der Fontenelle’schen Dialogues des morts (Gespräche der Todten, 1727), also ein Jahr nach der Erstpublikation der deutschen Entretiens, eine umfassende Reflexion über die literarischphilosophische Tradition des Dialogs vorgelegt, die in eine normative Gattungsbestimmung mündet (Discurs des Übersetzers von Gesprächen überhaupt).¹⁵ Grundsätzlich lehnt er als Wolffianer den Dialog als Ausdrucksform unsystematischer Gelehrsamkeit ab, hebt aber zugleich seinen didaktischen Nutzen hervor. Gottsched misstraut dem Dialog als philosophisch-wissenschaftlicher Form mit Lizenz zur Digression,¹⁶ erkennt jedoch auch sein Potential. Der Dialog bietet in den Augen
distingué en ce genre que M. de Fontenelle, dont tout le monde connoît les dialogues des morts.“ „Entretien“ und „conversation“ werden in einem Doppeleintrag abgehandelt; bei beiden handelt es sich um „un discours mutuel entre deux ou plusieurs personnes avec cette différence, que conversation se dit en général de quelque discours mutuel que ce puisse être, au lieu qu’entretien se dit d’un discours mutuel qui roule sur quelque objet déterminé.“ (Ebd. 165 f.). Vgl. Steigerwald 2003: 15 f., Strosetzki 2013: 51 ff. Gottsched 1980: 3 – 38. In dieser gattungspoetologischen Vorrede stellt Gottsched zunächst ausführlich die Geschichte des Dialogs von der Antike an dar und gibt zahlreiche Beispiele. Eine entscheidende Rolle für die Gattungsentwicklung in der Moderne misst er Shaftesbury bei. Hierzu: Kleihues 2010. „[M]an philosophirt in Unterredungen nicht in der größten Schärfe: man ist zufrieden, wenn man nur nicht offenbar ungereimtes Zeug sagt“. Gottsched 1980: 17.
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Gottscheds – wenn er „den Regeln der Wahrscheinlichkeit“ (Gottsched 1980: 26) entspricht – wie kaum eine andere Diskurstradition die Möglichkeit, Wissen und moralische Prinzipien zu popularisieren.¹⁷ Die Widmungsempfängerin der Erstauflage von Gottscheds Übersetzung ist die Frau des königlich-sächsischen Großschatzmeisters, die Gräfin Brebendowski.¹⁸ Mit der Fürstin wird die Adressierung vornehmlich weiblicher Leser hervorgehoben. In der zweiten Auflage identifiziert Gottsched die gelehrige Marquise der Entretiens sogar ausdrücklich mit der Widmungsempfängerin (Gottsched 1730: 5r). Das Widmungsschreiben betont die Belesenheit der Gräfin und ihr Interesse nicht nur an internationaler Literatur, sondern sogar an solchen Texten, „die in unsrer Muttersprache verfasset sind“ („Hochgebohrne Gräfin, Gnädige Frau“, Gottsched 1726: a3v). Da die Gräfin mit dem astronomischen Bestseller Fontenelles gewiss schon bekannt sei, hebt Gottsched den (Mehr‑)Wert der Übersetzung vor: Dieser bestehe gerade in den paratextuellen Beigaben wie in den auch auf dem Titelblatt genannten „eingerückten Figuren und Anmerckungen“ (Gottsched 1726: a3v). Es folgt die „Vorrede des Übersetzers“. Hier erwähnt Gottsched die ältere Verdeutschung und auch die erfolgreiche englische Übersetzung der Entretiens, „eines der schönsten Bücher […], so in den neuern Zeiten geschrieben worden.“ (Gottsched 1726: b1v) Zudem kündigt er die Schwierigkeiten an, die gerade die Übersetzung des eleganten Stils der Vorlage betreffen (Gottsched 1726: b2r). Mit der Übersetzung der „Préface“ und des fiktiven Widmungsbriefs „A Monsieur L***“ beginnt die eigentliche Übertragung. In der Préface rechtfertigt Fontenelle die Wahl seiner ‚Äußerungsform‘, indem er das Horazische Diktum variiert: J’ai voulu traiter la Philosophie d’une manière qui ne fût point Philosophique; j’ai tâché de l’amener à un point, où elle ne fût ni trop sèche pour les Gens du monde, ni trop badine pour les Sçavans. (Fontenelle 1686: 4) Ich habe die Philosophie auf eine Art abhandeln wollen, die nicht philosophisch ist. Ich habe mich bemüht, sie in einen Stand zu setzen, da sie weder vor die Unstudirten gar zu trocken, noch vor die Gelehrten gar zu schertzhafft seyn mögte. (Gottsched 1726: 2)
Die Übersetzungsschwierigkeiten werden hier bereits deutlich. Zwar findet Gottsched mit den „Gelehrten“ eine adäquate Bezeichnung für „les Sçavans“, dagegen ist die Gruppe der „Gens du monde“ schwieriger zu fassen, da sie als soziologisches Phänomen im Deutschland des frühen 18. Jahrhunderts nicht in gleicher Form existiert. „Warum tragen wir nützliche Wahrheiten nicht in Gesprächen vor, welche Lehrart wegen ihrer Deutlichkeit und Lebhafftigkeit, überaus geschickt ist, den Allereinfältigsten an sich zu locken?“ (Gottsched 1980: 23). Zum Thema „Wahrscheinlichkeit“ vgl. Achermann (2014: 147), der zeigt, dass Gottsched im Rahmen einer „Modaltheorie von Fiktion“ durchaus Platz für ‚unwahrscheinliche Wahrscheinlichkeiten‘ lässt. „A son Excellence Madame la Comtesse De Brebendow, Grand Thresoriere de la Couronne de Pologne & du Grand Duché de Lithwanie, neé Comtesse de Flemming, &.“ (Widmung; unpag.). Die zweite Auflage (Gottsched 1730) ist Henriette Sophie von Vitzthum gewidmet.
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Daher übersetzt Gottsched „Gens du monde“ mit „Unstudiert“ und benennt damit einen Lesetypus, den sowohl die Markgräfin, also die Protagonistin des literarischen Textes, als auch die Widmungsempfängerin für Gottsched repräsentieren (vgl. Martus 2015: 355). Der folgende Brief an „Monsieur L***“ ist bereits Teil der Fiktion. Hier wird der Rahmen für die folgenden sechs nächtlichen Episoden abgesteckt: Der Gelehrte berichtet von seinem Aufenthalt auf dem Landgut der Marquise de G**** (bei Gottsched [1726: 11]: „Marggräfin“), der ganz im Zeichen philosophisch-astronomischer Gespräche gestanden habe. Dabei habe sich die adelige Dame als wissbegierige Gesprächspartnerin erwiesen. Der Ich-Erzähler behauptet, dass die Marquise sogar als gelehrt gelten könne, „à cause de l’extrême facilité qu’elle auroit à le devenir“ (Fontenelle 1686: 3) – „so halte ich sie vor gelehrt, weil sie fähig ist bald gelehrt zu werden“, übersetzt Gottsched (1726: 10). Es folgen sechs Kapitel: Am ersten Abend („Daß die Erde ein Planet ist, der sich sowohl um sich selbst, als um die Sonne drehet“) werden der Dame die Grundlagen des kopernikanischen Weltbildes vermittelt, dann an den folgenden Abenden drehen sich die spekulativen Gespräche um außerirdisches Leben auf dem Mond und den Planeten.¹⁹ Diese münden in die These, dass jeder Stern die Sonne eines eigenen Universums sei, so dass man mit einer Vielheit der Welten zu rechnen habe. Am sechsten Abend („Neue Betrachtungen, die das vorhergehende bestätigen, nebst den neuesten Entdeckungen von himmlischen Dingen“) versichert man sich bei der Kontemplation des Himmels der Ordnung der Schöpfung.
3 Dialogebene I: „Gelehrter und Frauenzimmer“ Der Ich-Erzähler ist Verfasser des Briefs an den Monsieur L***, der als eine Art Rahmenerzählung fungiert, und zugleich Protagonist der Intradiegese, also des eigentlichen Gesprächs. Zu Beginn des ersten Abends führt er in die Umstände des Geschehens ein. Die Dame und der Ich-Erzähler entfernen sich nach dem Souper von der Gesellschaft in einen Park; die erfrischende Kühle des Abends ist bereits aufgestiegen, das Mondlicht zaubert ein grün-weiß-schwarzes Farbenspiel auf die belaubten Baumzweige. Es ist eine sternklare Sommernacht, so dass sich auch am Firmament ein Farbspektakel – das Gold der Sterne hebt sich vom dunklen Blau des Nachthimmels ab – ereignet. Doch der Erzähler kann sich nicht seinen Träumen hingeben, denn die Bekannte beginnt das Gespräch. Premier soir. Que la Terre est une planète qui tourne sur elle-même, et autour du Soleil.
Der andre Abend. Daß der Mond ein bewohntes Land sey; Der dritte Abend. Die Merckwürdigkeiten der Monden-Welt, und daß die andern Planeten auch bewohnt sind; Der vierte Abend. Besondre Eigenschafften der Venus, des Mercurius, des Mars, des Jupiters und des Saturns, als so vieler Welten; Der fünffte Abend. Daß die Fixsterne lauter Sonnen sind, deren jede einer Welt erleuchtet.
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Nous allâmes donc un Soir après souper nous promener dans le Parc. Il faisoit un frais délicieux, qui nous récompensoit d’une journée fort chaude que nous avions essuyée. La Lune étoit levée il a avoit peut-être une heure, et ses rayons qui ne venoient à nous qu’entre les branches des Arbres, faisoient un agréable mélange d’un blanc fort vif, avec tout ce verd qui paroissoit noir. Il n’y avoit pas un nuage qui dérobât ou qui obscurcît la moindre étoile, elles étoient toutes d’un or pur et éclatant, et qui étoit encore relevé par le fond bleu où elles sont attachées. Ce spectacle me fit rêver; et peut-être sans la marquise eussé-je rêvé assez longtemps; mais la présence d’une si aimable dame ne me permit pas de m’abandonner à la Lune et aux étoiles. (Fontenelle 1686: 3) Erster Abend: Daß die Erde ein Planet ist, der sich sowohl um sich selbst, als auch um die Sonne drehet Wir gingen also einen Abend, nach der Mahlzeit in einen Garten spazieren. Die kühle Lufft war überaus angenehm, und erfrischete uns nach der grossen Hitze, die wir den Tag über ausgestanden hatten. Der Mond war ohngefehr eine Stunde aufgegangen, und seine Strahlen, die nur durch die Aeste der Bäume zu uns gelangeten, verursachten die angenehmste Mischung einer sehr lebhafften weissen Farbe mit alle dem grünen, welches im Dunckeln gantz schwartz zu seyn schien. Es war keine Wolcke vorhanden, die uns den geringsten Stern verdecket hätte. Sie blitzten alle mit einem reinen und glänzenden Golde, welches durch den blauen Grund, daran sie stunden, noch mehr erhaben²⁰ wurde. Bey diesem Anblick ward ich gantz voller Gedancken, und würde vielleicht lange genung geträumet haben, wenn die Marggräfin nicht bey mir gewesen wäre. (Gottsched 1726: 11)
Wichtig für die Art des Gesprächs – sowohl bei Fontenelle als auch bei Gottsched – ist es, dass es sich beim Spazierengehen entwickelt, was bereits im ersten Satz deutlich gesagt wird. Als spaziergängerisch kann im Folgenden die Poetik des Gesprächs und auch das Wesensmerkmal der entwickelten Philosophie beschrieben werden: Es handelt sich um keine feste, ‚geschlossene‘ Form und entsprechend um keine geschlossen-systematische Kosmologie, die hier entwickelt wird, sondern um freie, spekulative Gedankengänge über die Beschaffenheit des Weltalls. Ein exemplarischer Vergleich des Originals mit der Übersetzung zeigt, dass sich Gottsched hier sehr eng an die Vorlage hält und für den Wortschatz, der die galante, zum Gespräch führende Atmosphäre schafft, passende Ausdrücke und Wendungen findet. Dennoch verschiebt sich die Semantik im Sprachwechsel: Aus „Il faisoit un frais délicieux“ – in dem Adjektiv ‚délicieux‘ schwingt eine starke sinnliche Konnotation mit (Furetière 1727,1: BBBBbbb2r) – wird das dezentere, aber auch blassere „Die kühle Lufft war überaus angenehm“ (‚angenehm‘ im Sinne von ‚acceptus‘, ‚gratus‘, vgl. Grimm Bd. 1: Sp. 347– 349). Auch die bildlichen Ausdrücke im Französischen reduziert Gottsched: Bei Fontenelle ‚raubt oder verdunkelt‘ keine Wolke den Blick ans Firmament („Il n’y avoit pas un nuage qui dérobât ou qui obscurcît la moindre étoile“), in der deutschen Übersetzung belässt es Gottsched bei nur einem der bildlichen Ausdrücke („Es war keine Wolcke vorhanden, die uns den geringsten Stern verdecket hätte“). Auch wird
‚Erhaben‘ ist hier als Partizip Präteritum von ‚erheben‘ zu verstehen und gibt damit „relevé“ adäquat wieder. Zugleich schwingt im Deutschen noch stärker die Bedeutung „sublimis“ mit.Vgl. Grimm Bd. 3: Sp. 833.
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deutlich, dass Gottsched gerade bei konkreten Begriffen mit besonderer Welthaltigkeit spezifische Transferleistungen erbringt. So wird die höfische Parkanlage des Schlosses in der deutschen Übersetzung zum schlichten Garten. Die galante Atmosphäre, die die Vorlage evoziert („mais la présence d’une si aimable dame“), wird in der deutschen Fassung zurückgenommen („wenn die Marggräfin nicht bey mir gewesen wäre“). Dagegen wird die Betrachtung des gestirnten Nachthimmels mit einem gleichsam mystisch-barocken Vokabular geschildert, dessen religiöse Bedeutungsschicht dem galanten Ton Fontenelles fehlt. Ist hier von „rêverie“ die Rede, ist der Erzähler bei Gottsched in fast schon ekstatische Kontemplation versunken. Die deutsche Übersetzung vermittelt dabei beinahe den Eindruck, dass die Dame den Erzähler bei seiner andächtigen Kontemplation stört, während Fontenelle die Situation in ein hyperbolisches Lob wendet: Die Betrachtung der Sterne steht hinter dem Vergnügen, sich in der Gesellschaft einer liebreizenden Dame („aimable dame“) zu befinden. Wie kommt es nun zum Gespräch? Der Ich-Erzähler ergreift die Initiative und zwar durch eine Art ‚Eisbrecher‘, also eine kommunikative Gewohnheit, hier in Form eines Bonmots, das sich in dieser oder ähnlicher Form auch in Ratgebern zur erfolgreichen Konversation in sozial anspruchsvollen Situationen finden könnte. Die Marquise nimmt diesen galanten Faden auf und entwickelt daraus einen Vergleich, der das Gespräch in eine amouröse Plauderei über die Schönheiten blonder und brünetter Frauen führt: Oui, me répondit-elle, la beauté du jour est comme une beauté blonde qui a plus de brillant; mais la beauté de la nuit est une beauté brune qui est plus touchante.Vous êtes bien généreuse, reprisje, de donner cet avantage aux brunes, vous qui ne l’êtes pas. […] J’en conviens, répondis-je; mais en récompense, une blonde comme vous me feroit encore mieux rêver que la plus belle nuit du monde, avec toute sa beauté brune. (Fontenelle 1686: 4) Ja, antwortete sie: die Schönheit des Tages ist wie ein weisses Frauenzimmer, welches mehr in die Augen fällt; aber die Schönheit der Nacht ist einer schönen Brunetten ähnlich, die weit reizender ist. Sie sind sehr großmüthig, versetzte ich, den Brunetten diesen Vortheil einzuräumen, da sie doch selber keine sind. […] Aber hingegen würde mich eine solche Blonde, als sie sind, noch weit besser entzücken, als die schönste Nacht von der Welt, mit aller ihrer braunen Schönheit. (Gottsched 1726: 11 f.)
Gemeinsame Naturbeobachtungen, amouröse Gedankenspielereien und Komplimente führen im Folgenden zu einem unterhaltsamen, jedoch inhaltsarmen Gespräch, in dem sich der Gelehrte und die Dame als Connaisseurs gepflegter Salonkommunikation erweisen, indem sie stets den Anforderungen der bienséance genügen. Für diesen literarischen Konversationsstil, der im Zeichen einer esthétique galante, eines „style égal et naturel“²¹ steht, findet Gottsched ein durchaus adäquates Ausdrucksrepertoire, das sich stilistisch am Ton des Galanten anlehnt. Geschickt wird dann jedoch die Sphäre der oberflächlichen Plauderei verlassen. Durch eine scheinbar Paul Pellison, zitiert bei Steigerwald 2003: 20.
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nebensächliche Aussage – die Dame bekundet ihre Vorliebe für die Schönheit der Nacht – kommt die Sprache auf das entscheidende Thema: Ah! m’écriai-je, je ne puis lui [d. i.: le soleil] pardonner de me faire perdre de vue tous ces mondes. Qu’appelez-vous tous ces mondes? me dit-elle, en me regardant, et en se tournant vers moi. (Fontenelle 1686: 6) Ach! Rief ich, ich kans ihr [d.i.: der Sonne] nicht vergeben, daß sie mir alle diese Welten²² aus dem Gesichte raubet! Ey was verstehen sie durch alle diese We l t e n ? fragte die Marggräfin, indem sie sich umwandte und mich ansahe. (Gottsched 1726: 13)
Auch typographisch ist das entscheidende Stichwort in der deutschen Fassung hervorgehoben, das den Wechsel zum naturphilosophischen Gespräch einläutet: Das Thema von der Mehrheit der Welten, das der Gelehrte ohnehin schon während der Unterhaltung immerzu umkreist. Es handelt sich um seine „folie“ (Fontenelle 1686: 6), die darin besteht, „der imagination freien Lauf zu lassen und die Spekulation der bewohnten Planeten zu entfalten“ (Wagner 2003: 42). „Folie“ bedeutet nicht unbedingt nur „aliénation d’esprit“, sondern auch „une passion dominante“ (Furetière: Tome 2nd, Oo3v), „passion excessive“ (Dictionaire 1694: 468), Gottscheds Wort „Thorheit“ (Gottsched 1726: 13) für diesen Ausdruck im Sinne von „abwesenheit von verstand“ (Grimm: Bd. 21, Sp. 400) ist daher eine Nuance negativer. Die Markgräfin ist jedenfalls von diesem Stichwort elektrisiert, es weckt in ihr unbändige Neugier nach dem halbverbotenen, da latent häretischen Wissen, das zudem den Bereich überschreitet, in dem sich eine Frau bilden sollte. Ihre Reaktion offenbart, dass sie von dem brisanten Stichwort bereits gehört hat, was in der Tat der allmählichen Verbreitung des Pluralitätsdiskurses am Ende des 17. Jahrhunderts entspricht. Kurz äußert der Gelehrte noch Vorbehalte, den heiklen Gegenstand zu diskutieren – es handle sich um ein Thema, das nicht so leicht und vergnüglich sei wie eine Molière-Komödie (vielleicht eine pikante Anspielung auf Les Femmes savantes?). Die Marquise tut diese Bedenken ab, bittet um Belehrung, so dass der Astronomie-Unterricht beginnen kann. Man vereinbart, Stillschweigen über die konspirativen Lehrstunden und philosophischen Spekulationen zu wahren. Ab diesem Zeitpunkt wandelt sich das Gespräch, die conversation enjouée bekommt einen wissenschaftlichen Gegenstand, scheint zur conversation sérieuse überzugehen. Dabei ändert sich auch die Verteilung der Gesprächsanteile in auffälliger Weise: War in der inhaltsleeren, galanten Konversation noch eine Parität mit Blick auf die Redeanteile der Beteiligten festzustellen, wird die Marquise nun zur Schülerin mit geringem Redeanteil, der Gelehrte zum Lehrmeister. Diese Rollenverteilung bleibt bis zum Ende der Entretiens bestehen.
Hervorhebung im Original: Sperrdruck.
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4 Dialogebene II: „Anmerckungen“ Schon in der „Vorrede des Übersetzers“ kündigt Gottsched an, dass die Leser der deutschen Fassung eine Vielzahl von Anmerkungen und Figuren, also Illustrationen zu den astronomischen Gegenständen, vorfinden werden: Meine Anmerckungen betreffend, so weiß ich nicht ob sie vielen gefallen werden. […] Ich hatte theils in Herrn Hugens, theils in andern Büchern von dieser Materie, verschiedenes gefunden, welches zur fernern Erläuterung und Bestätigung dessen, was Herr Fontenelle geschrieben, dienlich zu seyn schien: und dieses habe ich so gut und so kurtz, als es mir möglich gewesen, mitgetheilet. (Gottsched 1726: Vorrede, b3r)
Das ist leicht untertrieben, denn Gottsched versieht seinen Text mit zum Teil umfangreichen Anmerkungen, die in der Übersetzungstheorie der Aufklärung, gerade im Gottsched-Kreis, eine zentrale Rolle spielten. Dezidiert sollten sie dazu dienen, dem „Aergernisse, Anstoß, Irrthum, u. der Dunkelheit“ des Originals entgegenzuwirken.²³ Oft nehmen sie sogar eine ganze Seite für sich ein, überwuchern die galante Konversation regelrecht, um diese z. B. mit einer Vielzahl weiterer Informationen aus angrenzenden Diskursen und Themenbereichen anzureichern. Dabei lassen sich etwa vier Kategorien von Anmerkungen identifizieren: Typus 1 bringt Ergänzungen, lange Exkurse und Erklärungen zu wissenschaftlichen Fakten (supplementierender Kommentar); Typus 2 (informierender Kommentar) bezieht sich auf andere Wissensgebiete und Diskurstraditionen. So erklärt eine sehr kurze Anmerkung, dass es sich bei „Asträa“ (gemeint ist d’Urfés Astrée) um einen Roman handle (Gottsched 1726: 23). Typus 3 (kritisch-modifizierend, spekulativ-diskutierend) übt stärker als Typus 1 Kritik an Fontenelle, bringt inhaltliche Korrekturen an und/oder lässt den Kommentator zu diversen Themen zu Wort kommen. Hier zeigt Gottsched, dass Fontenelle an vielen Stellen wissenschaftlich überholt ist und viele seiner Behauptungen im Zuge neuer Erkenntnisse einer Revision bedürfen. Die Forschung hat diese Kommentarwut bisweilen als „schulmeisterlich und besserwisserisch“ abgetan oder als „Grimassen“, die den Text „untermalen“, gebrandmarkt, ohne sich mit ihnen ernsthaft auseinanderzusetzen.²⁴ Eine Kommentierung von Gottscheds Anmerkungen im Rahmen einer kritischen Edition steht noch aus. Exemplarisch und mit Konzentration auf Typus 3 soll dies im Folgenden geschehen:²⁵ Annotationen dieser Art finden sich beispielsweise gleich auf der zweiten Seite des Gesprächs am ersten Abend. „Lehren Sie mich ihre Sterne“, fordert die Markgräfin. Der Gelehrte reagiert zunächst ablehnend: Zu denken ist vor allem an J. G. Venzkys „Bild eines geschickten Übersetzers“, das 1734 in Gottscheds Beyträgen (Gottsched 1734: Bd. 9, 59 – 118) erschien. Zum Beispiel betont Venzky, der Übersetzer solle in den Anmerkungen dem Original widersprechen. Ebd. 109, zitiert nach Senger 1971: 50. Vgl. hierzu die Kritik von Nikola Roßbach (2009) an Werner Krauss u. a. Die folgende Analyse verlässt den Bereich des Übersetzungsvergleichs und konzentriert sich auf die deutsche Version.
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(b) Nein, versetzte ich, ich mag es mir nicht vorrücken lassen, daß ich in einem Walde, um zehn Uhr des Abends, mit der allerliebenswürdigsten Person von der Welt, von philosophischen Dingen geredet hätte. Sie mögen sich anderwärts einen Philosophen suchen. Ich wehrete mich auf diese Art noch eine zeitlang; endlich aber muste ich doch nachgeben. Annotation: (b) Die Marggräfin beschweret sich mit Recht, über das Mißtrauen ihres Gelehrten gegen sie. Sind denn etwa die Seelen des Frauenzimmers von einer andern Gattung als die Männlichen? Ihr Verstand empfindet eben so wohl ein Vergnügen, als der unsrige: wenn er was Vollkommenes erblicket. Soll er es aber erblicken, so muß es ihm gezeiget werden. Auch wir können nicht ohne Anleitung klug werden. Und wer weiß, ob nicht viele unter ihnen durch einen wenigern Unterricht weiter kommen würden, als die meisten unter uns, die wir unsre halbe Lebens-Zeit mit Erlernung der Sprachen, und die andre Helffte mit einem unordentlichen Bücherlesen zubringen? (Gottsched 1726: 15)
Hier meldet sich der Aufklärer Gottsched zu Wort, zu dessen Programm popularisierender Wissensvermittlung erklärtermaßen die Bildung von (bürgerlichen) Frauen gehörte.²⁶ Man denke in diesem Zusammenhang auch an Gottscheds Zeitschriftenprojekte (Die vernünftigen Tadlerinnen, 1725/26.), die der Bildung des weiblichen Publikums dienen sollten. Überhaupt scheint die Leipziger Frühaufklärung im Umfeld der Universität für die „feministische Aufklärung“²⁷ eine besondere Rolle gespielt zu haben. Poullain de la Barres cartesianisch geprägte Grundannahme von der Gleichheit der Geschlechter (De l’égalité des deux sexes, 1673) war im Leipziger Aufklärungslaboratorium äußerst präsent.²⁸ Die Annotationen muten in diesem Horizont wie ein ad spectatores-Sprechen an, mit dem sich der Übersetzer und Kommentator Gottsched, das Geschehen der Binnenhandlung unterbrechend, direkt an die Leserin wendet. Der Kommentar unterstreicht somit zunächst die Grundannahme der Vorlage, dass die Dame ein gelehriges Wesen sei („Pour moi, je la tiens savante²⁹, à cause de l’extrême facilité qu’elle auroit à le devenir“). Soweit ist Gottsched mit Fontenelle
Martus 2015: 376 – 399, Roßbach 2015: 95 ff., Schatzberg 1968: 752– 770. So der Titel einer internationalen Tagung („Die Feministische Aufklärung in Europa / The Feminist Enlightenment Across Europe“) an der Universität Würzburg, 5.–7. Juli 2018. Vgl. auch Wagner 2013: 436 f. Auch die Gottsched-Freundin Christiana Mariana von Ziegler geb. Romanus (1695 – 1760) partizipierte an diesem Diskurs. In den Vernünftigen Tadlerinnen publizierte sie eine „Abhandlung, ob es dem Frauenzimmer erlaubet sey, sich nach Wissenschaften zu bestreben?“, in der sie offensiv für Frauenbildung und die naturrechtliche Gleichheit der Geschlechter eintrat. Ziegler führte einen literarischmusikalischen Salon nach französischem Vorbild. Hier wurden Gedichte rezitiert, Reden gehalten; Künstler und Gelehrte der Stadt verkehrten im ‚Romanushaus‘. Neben Gottsched, der Ziegler in ihren literarischen Ambitionen bestärkte und seinerseits von ihr in die Leipziger Intellektuellen-Kreise eingeführt wurde, ist auch Johann Sebastian Bach zu nennen. 1731 wurde sie als erstes weibliches Mitglied in die unter Gottscheds Leitung stehende Deutsche Gesellschaft aufgenommen; 1733 krönte die Wittenberger Universität sie zur Poeta Laureata. Einige Jahre nach der Erstauflage der FontenelleÜbersetzung übertrug Ziegler die Conversations morales der Madeleine de Scudéry ins Deutsche – Gottscheds Vorbildfunktion als Übersetzer französischer Konversationsliteratur ist hier unverkennbar. Vgl. Schabert 1997, Dröse 2019. Zum Typus der „femme savante“ in der Literatur der Aufklärung vgl. Gargam 2013.
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einverstanden. Beide Autoren schaffen darüber hinaus ihren Leserinnen mit der fiktionalen Protagonistin eine Identifikationsfigur. Bemerkenswert ist nun der folgende Kommentar, der die bildungspolitische Tendenz verstärkt, sich dabei aber tendenziell gegen Fontenelle wendet, denn der savant will das gelehrte Gespräch ja eigentlich abwenden. Er versichert sich zunächst seiner Ehre und fordert Stillschweigen, denn naturwissenschaftliches und philosophisch-spekulatives Wissen sei grundsätzlich nichts für Damen; die intellektuelle Verführung ist pikanter als die erotische. („Je lui fis du moins promettre pour mon honneur, qu’elle me garderoit le secret“, Fontenelle 1686: 7). Das kommentiert Gottsched folgendermaßen: Das sind artige Leute, die sich schämen mit einem lehrbegierigen Frauenzimmer was ernsthafftes zu reden. Gerade, als wenn nothwendig lauter Materien zu einem künfftigen Romane in solchen Gesellschafften zubereitet werden müsten! Die Wahrheit will allenthalben bekannt gemacht seyn, und wenn es gleich eine philosophische wäre. (Gottsched 1726: 15, Anm. [c])
Wissen, auch spekulatives, darf nicht geheim bleiben, sondern muss an die Öffentlichkeit gelangen. Das gilt auch, oder sogar insbesondere für die Bildung der Frau. Mit anderen Worten: Während die (adelige!) Marquise der fiktionalen Textwelt des französischen Originals „nicht nach dem Status der femme savante aspiriert“ (Wagner 2003: 39), wird die deutsche Übersetzung zu einem genderpolitischen Plädoyer. Denn Gottsched nutzt die Anmerkungen seiner Entretiens-Übersetzung, um sein bildungspolitisches Programm, insbesondere die Frauenbildung betreffend, zu artikulieren. Manche Anmerkungen dienen Gottsched in ähnlicher Weise dazu, einen von Fontenelle formulierten Gedanken aufzugreifen, und zustimmend oder modifizierend weiterzuentwickeln. So vergleicht der Ich-Erzähler die Natur mit der Maschinerie einer Operninszenierung und mit dem Mechanismus eines Uhrwerks. Die Ordnung der Dinge beruhe auf simplen Prinzipien, auf Naturgesetzen. Diese „gesunde Idee“ (Gottsched 1726: 20) nimmt Gottsched in einer ausschweifenden Anmerkung als Ausgangspunkt, um mit den Gegnern und Gefährdern der neuen Wissenschaften abzurechnen. So montiert er hier eine Invektive gegen Jakob Böhme ein, den der Aufklärer generell mit dem Verdikt des Aberglaubens versieht.³⁰
Der „teutsche Philosoph“, so der Kommentator Gottsched, habe großen Schaden angerichtet, seine Bücher seien „ein rechter Kern von einer Zauber- oder Wunder-Philosophie“, in denen man „nichts verstehen, vielweniger recht begreiffen kan“ (Gottsched 1726: 21, Anm. [h]). Eine esoterische „Secte“, die sich auf die Schriften Böhmes beziehe, treibe ihr Unwesen, was v. a. im Bereich der Medizin gefährlich sei. Diese Invektive gehört in den Kontext einer bei „Gottsched und in seinem Umkreis sichtbare[n] Auseinandersetzung mit Böhme und den Böhmisten“, die ihrerseits in deren „breit angelegten, Wissenschaftskonzepte, moralische Leitbilder, Literatur, Dichtung und sprachliches Verhalten betreffende[n] Feldzug“ zu situieren ist (Kü hlmann 2012: 588). Gottsched nutzt hier also die Anmerkungen, um die Böhme-Kontroverse einzubinden und einen Bezug zu einem spezifisch ‚deutschen Phänomen‘, nämlich dem Spiritualismus und Schwärmertum des frühen 18. Jahrhunderts herzustellen. Im selben Jahr wie die Fontenelle-Übersetzung gerät Böhmes Aurora in Gottscheds
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Der dominierende Teil der Anmerkungen bringt jedoch direkte Kritik an Fontenelle vor (Typus 3). „Ich sehe nicht, warum der Autor“ dies und jenes sagt, ist eine häufig verwendete Formel (z. B. Gottsched 1726: 22, Anm. [i]). Der deutsche Professor und Wolffianer korrigiert den französischen Salonphilosophen fast regelmäßig im Zweiseiten-Takt – vor allem, wenn es um Daten und Fakten geht. Man könnte auch sagen: Gottsched verwissenschaftlicht den galanten Dialog. Dies mag pedantisch wirken, zeugt aber von Gottscheds enzyklopädischem Anspruch und seinem Bemühen um wissenschaftliche Korrektheit. So stellt er etwa die von Fontenelle auch in späteren Auflagen nicht korrigierten, aber falschen cartesianischen Annahmen richtig, die sich auf die sog. „Wirbeltheorie“ beziehen (Gottsched 1726: 174, Anm. [b]; 175, Anm. [c]). Besonders deutlich wird Gottscheds Anspruch, wenn es um die Dokumentation von Zahlen geht. Der Kommentator findet regelrecht Gefallen daran, monströse Zahlen auszubuchstabieren. Doch geschieht dies nicht zum Selbstzweck: Im Haupttext geht es z. B. darum, die Idee zu verwerfen, dass sich die Fixsterne um die Erde drehen. Die Erde hätte bereits bei einer Selbstumdrehung 9000 Meilen am Tag zurückzulegen. Es wäre „unvernünftig“, wenn die Fixsterne, deren Bahn viel größer sei, sich um die Erde drehten. Die Anmerkung Gottscheds bezieht sich auf die über fünf Billionen Meilen, die Fontenelle für den Umlauf der Fixsterne berechnet: Dieses sind französische Meilen. Die gemeinen Meilen in Franckreich halten 2400 geometrische Schritte; Eine gemeine Teutsche hingegen, hält 5000 geometrische Schritte: folglich würde die obige Zahl in teutschen Meilen 2635360000000 d. i. zwey Billionen, sechshundert und fünf und dreyßig tausend, dreyhundert und sechzig Millionen, ausmachen. Es müste also ein Stern der über dem Aequator stehet, in einer Stunde 109806666666 d. i. hundert und neuntausend acht hundert und sechs Millionen, sechs hundert und sechs und sechzig tausend, sechs hundert und sechs und sechzig Meilen; in einer Minute 1830111111, das ist, tausend achthundert und dreyßig Millionen, einhundert und eilf tausend, einhundert und eilf Meilen; endlich in einem Pulsschlage oder einer Secunde 30501851, das ist dreyßig Millionen, fünfhundert und eintausend, achthundert und ein und funfzig Meilen laufen. Wer kan sich eine solche schnelle und unbegreifliche Bewegung dieser grossen Himmelscörper vorstellen? (Gottsched 1726: 39, Anm. [r])
Daraus ergibt sich – das untermauert Gottsched im Anschluss an Leibniz immer wieder –, dass das kopernikanische System richtig sein muss, da es sparsamer und vernünftiger ist (Gottsched 1726: 29, 33 ff. usw.). Die enzyklopädische Ambition manifestiert sich auch in Passagen, in denen Gottsched zusätzliche Informationen einfügt. Als die Marquise beispielsweise äußert, auf den Mond fliegen zu wollen und der Gelehrte ihr prophezeit, dass dies in nicht allzu ferner Zukunft möglich sein werde, fügt Gottsched einen dreiseitigen Exkurs ein. Hier werden wissenschaftliche Traktate der Frühen Neuzeit referiert, die z. B. von Luftschiff-Experimenten handeln. Vieles davon sei bereits gut durchdacht, manches
Vernünftigen Tadlerinnen ins kritische Visier: Hier wird die Dunkelheit der mystischen Sprache des dilettierenden Schuhmachers der Lächerlichkeit preisgegeben. Vgl. Kühlmann 2012: 591.
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hingegen noch nicht ausgereift. „Es scheinet also mit dieser Reise nach dem Monden noch im weiten Felde zu stehen“, relativiert er den Optimismus des Fontenelle’schen Ich-Erzählers (Gottsched 1726: 83). Auch die zentrale Frage nach der Bevölkerung des Weltalls kommentiert Gottsched eingehend. Was beispielsweise den Mond angeht, meldet er zwar Zweifel an, will sich aber nicht festlegen. „Warum nicht“ – diese Floskel aus dem französischen Salonjargon adaptiert Gottsched auch in den Anmerkungen, wenn es um spekulative Fragen geht. Den aus der Debatte bekannten Plenitudo-Gedanken – die Planeten müssen bewohnt sein, denn alles andere wäre eine Ungereimtheit der vernünftigen Natur – führt Gottsched unter Berufung auf Leibniz’ Theodizee-Schriften eingehend aus (Gottsched 1726: 109). Außerdem bringt er weitere Namen in die Debatte ein, v. a. Christiaan Huygens Cosmotheoros (1698), neben Fontenelle die wichtigste Schrift des Pluralitäts-Diskurses. Prosopographische Kommentare informieren detailliert z. B. über Nikolaus Kopernikus, der „berühmte Scribent“ Athanasius Kircher wird für seinen „iter ecstaticum, oder die Entzückungs-Reise“ (Gottsched 1726: 105 f., Anm. [c]), der das geozentrische Weltbild voraussetzt, dem aufklärerischen Spott preisgegeben. Die Kommentare fächern das im Dialog diskursivierte Wissen auf, differenzieren Argumente, ergänzen sie, regen zum Weiterdenken und Weiterdiskutieren an. Dabei behindern sie den Unterhaltungswert nicht zwangsläufig, denn alle Zusätze sind in die Fußnoten verlagert. Daher ermöglicht es das Textarrangement, dass die ‚Stimmen‘ Fontenelles und Gottscheds dialogisch aufeinander bezogen sind, sich aber gegenseitig nicht stören. Seine grundsätzliche Haltung zu Fontenelle lässt Gottsched im Ambivalenten, er stellt jedenfalls keine unumstößliche Autorität dar: Der Leser ist aufgefordert, sich sein Urteil zu den aufgeworfenen Fragen und Themen selbst zu bilden. Hier ist eine Rückbindung an sozialhistorische Kontexte denkbar: So könnte der angereicherte Fontenelle in den Leipziger Gelehrtenkreisen und Sozietäten, in denen Frauen nicht zuletzt durch Gottscheds Protektion eine wichtige Rolle spielten, durchaus Anreiz für weitere Gespräche geliefert haben. Das Diskussionspotential wird durch die vielen Zusätze erhöht, das Wissen dadurch aktualisiert. Abschließend ist noch darauf hinzuweisen, dass Gottsched sich des prekären Wissens, das Fontenelle vermittelt (das Werk stand auf dem Index) durchaus bewusst war (vgl. Guthke 1983: 210 f.). Martin Mulsow (2007: 11) hat gezeigt, dass gerade in Leipzig spätestens in den 1730er Jahren bemerkenswert viele „biographische Linien von Religionskritikern“ zusammenliefen, die in Gottsched einen Unterstützer fanden. Auch hermetische Spekulationen waren in Gottscheds Umfeld verbreitet, er selbst hatte im Rahmen der Societas Conferentium in den Jahren 1732– 1734 eine Abhandlung mit dem vielsagenden Titel Philosophische Mutmaßungen von dem Aufenthalte der abgeschiedenen Seelen verfasst.³¹ Nach außen zeigte sich Gottsched jedoch distanziert gegenüber jeder Form von Religionsspötterei und Deismus. Sein „Credo war die Harmonie von Vernunft und Offenbarung“ (Mulsow 2007: 15). Gottsched war in dieser
Mulsow 2007: 102, Robert 2015.
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Hinsicht jedenfalls auch bei Fontenelle vorsichtig. An einer Schlüsselstelle des Textes fügt er dementsprechend eine singuläre Anmerkung ein, die die entfalteten Spekulationen über die Mehrheit der Welten theologisch einfängt. Es ist die Stelle, an der die Marquise entzückt ausruft: „Ich bin itzo gelehrt“ (Gottsched 1726: 186, „je suis sçavante“, heißt es bei Fontenelle), was Gottsched abweichend von Fontenelle für einen physikotheologischen Exkurs nutzt (vgl. dazu auch Roßbach 2015: 108 f.). Die Marquise habe nun ein umfassendes Weltverständnis erlangt – kein gelehrtes, pedantisches Buchwissen, sondern ein Verständnis für die vernünftige Ordnung des Universums. Diese Erkenntnis sei gewissermaßen ein irdisches Vergnügen in Gott, denn „wer jenes“, das wohlgeordnete „Welt=Gebäude[]“ betrachte, „ergetzet seinen Verstand an der Weißheit, Güte und Macht des ewigen Schöpfers“ (Gottsched 1726: 187, Anm. [h]). „Staunen“ und „bewundern“ sind die richtigen Verhaltensweisen, die den vernünftigen Gelehrten auszeichnen. Gottscheds Version der Entretiens, so darf man vermuten, war sicher auch Ausgangspunkt für gelungene Gespräche der Freidenker im Gottsched-Kreis sowie der Besucher und Besucherinnen des Ziegler’schen Salons.
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Nine Miedema
redewîsheit ? Möglichkeiten des Gelingens von Gesprächen: list in deutschsprachigen literarischen Dialogen des Mittelalters Literarische, fingierte Dialoge in Erzähltexten sind mit Blick auf ihre textinterne Funktion als zielorientierte Gespräche zu verstehen: Der Autor steuert die turns der textintern Sprechenden aufeinander zu, er (und nicht die Figuren) lässt die Gespräche mit Blick auf einen übergeordneten Plot oder mit Blick auf die Gestaltung einer Gesamtfigur gelingen oder misslingen und sichert bereits bei den einzelnen turns das (Nicht‑)Erreichen der jeweiligen Perlokution. In literarischen Texten könnten somit das Gelingen und das Misslingen von Gesprächen leichter unterscheidbar sein als im natürlichen Gespräch, zumal sich nicht selten eine wertende, extradiegetische Erzählinstanz einschaltet, die in ihrer ich-Perspektive eine gewisse Nähe zum Autor aufweisen mag, auch wenn Autor und Erzähler auch in mittelalterlichen Texten kategorial unterscheidbar bleiben. Dennoch ist im Alt-, Mittel- und Frühneuhochdeutschen nur selten explizit vom ‚Gelingen‘ von Gesprächen die Rede;¹ bewertet wird auf Erzählerebene eher die persuasive Form (oder nur der Inhalt?) der Einzelrede als das Gespräch als Ganzes. Mittelalterliche Texte verpflichten sich in der Regel auf eine ausgefeilte Rhetorik der
Koller u. a. 1990: 165 führt erlingen, gedîhten, gelücken, gerâten, gezouwen, sliunen, spuon, verlingen, wol erbern, zouwen und zawen als mittelhochdeutsche Übersetzungen von nhd. ‚gelingen‘ auf. Die entsprechenden Belege bei http://www.mhdwb-online.de (mittelhochdeutsches Wörterbuch) und http://mhdbdb.sbg.ac.at/ (mittelhochdeutsche Begriffsdatenbank) bringen diese (insgesamt nicht sehr häufig nachweisbaren) Verben des Gelingens nur selten in Zusammenhang mit verbalen Handlungen. So wird in Gundackers von Judenburg Christi Hort 1910: V. 164 (13. Jahrhundert) dargestellt, dass die göttliche Liebe die verführerischen Worte, die der Teufel an Eva richtete, durch rounen (‚zuflüstern‘) auszugleichen versucht, und dies begund ir slounen. Hugo von Montfort erwähnt um 1400, er habe versuchen wollen, wie mir min red gelukhen welt (‚wollte‘; Hugo von Montfort 2005: Lied 2,V. 43), womit eine persuasive Rede angekündigt wird. In der Steirischen Reimchronik wird dagegen dargestellt, dass einige Fürsten nicht durch Bitten zur Versöhnung zu bewegen gewesen seien (Ottokars Österreichische Reimchronik 1890 – 1893/1980: V. 37180: des slûnte niht; frühes 14. Jahrhundert). – Gelegentlich bewerten die Figuren ihre Rede gegenseitig mit ir sprechet wol (für ein beliebiges Beispiel siehe das Rolandslied, unten in Abschnitt 2, nach Anm. 41): Von den 482 Treffern für die Kollokation sprechen +wol im Kontext eines Verses bei http://mhdbd.sbg.ac.at folgen 35 diesem Muster (mit besonderer Häufung in Teil I des Prosa-Lanzelot und im Rennewart); diese Bewertung scheint sich in der Regel auf den propositionalen Gehalt des gerade Gesagten zu beziehen und nicht auf das Gespräch als Ganzes. Die überwiegende Mehrzahl der 482 Belege bezieht sich darauf, dass über andere Figuren Wohlwollendes ausgesagt wird, oder verwendet wol im Sinne von ‚wohl, halt, eben‘. – Vgl. für einige mit listen geführte Dialoge allerdings unten, Abschnitt 2. https://doi.org/10.1515/9783110592580-013
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(monologischen) Rede,² eine normative Theorie der Gesprächsführung formulieren sie dagegen nicht aus. Der vorliegende Sammelband projiziert somit notwendigerweise moderne Vorstellungen in die älteren Texte hinein. Es lassen sich allerdings gelegentlich explizite Beurteilungen des Verlaufs (ganzer) Dialoge, die nach modernen Maßstäben als ‚gelungen‘ gelten würden, bzw. von Figuren, deren Gesprächsverhalten turn-übergreifend als ‚gelungen‘ bezeichnet werden könnte, dort beobachten, wo eine Figur durch ihr geschicktes Dialogverhalten eine andere Figur zu täuschen versteht, in Verbindung mit list somit. Dies ist der Ausgangspunkt für die vorliegenden Überlegungen, die zunächst die Frage der Begriffsbestimmung von ‚List‘ erörtern (1), danach einige Beispiele diskutieren, die ein Sprechen mit listen thematisieren (2),³ um anschließend ein kurzes Fazit zu formulieren (3). Vorweggeschickt sei, dass die literarischen Erzähltexte auf besondere Weise nicht nur die Frage des Gelingens von Gesprächen auf Figurenebene thematisieren, sondern auch die Frage des Gelingens der Kommunikation von Autor/Erzähler und textexternem Rezipienten.⁴ Die Frage nach der durch listiges Verhalten ermöglichten oder verhinderten Gemeinschaftsbildung ist bei literarischen Texten somit auf verschiedenen Ebenen zu beantworten.
1 Die List und der list Definiert sei die List nach Hartmut Semmler als die „Anwendung eines Mittels mit der Intention, jemanden, den man für einen Gegner hält, über einen tatsächlichen Sachverhalt zu täuschen. Der Gegner soll so dazu gebracht werden, seine persönliche Einstellung in einer bestimmten Frage zu ändern oder etwas zu tun, was seinen unterstellten Interessen zuwiderläuft“ (Semmler 1991: 32). Listiges Sprechen impliziert einen Verstoß gegen wichtige Gesprächsmaximen, z. B. gegen das Aufrichtigkeitsgebot; dennoch wird es je nach Figurenperspektive nicht immer negativ bewertet.
In diesem Sinne sind wohl die Nachweise dafür zu verstehen, dass Figuren gelegentlich als redespaehe bezeichnet werden, ‚sich aufs reden verstehend, beredt‘ (so das online verfügbare Mittelhochdeutsche Wörterbuch Matthias Lexers, http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py? sigle=Lexer), d. h. im Stande, durch kluge Rede (und nicht durch geschickte Gesprächsführung) zu überzeugen; ein entsprechendes, eindeutig auf eine Einzelaussage bezogenes Beispiel entstammt der Kaiserchronik 1895/2002 (Mitte des 12. Jahrhunderts): dû sagest, redespâhe, / diu werlt hab ain scephâre (V. 3399 f.; ‚du behauptest, du Sprachgewaltiger, dass die Welt einen Schöpfer habe‘). – Zur mittelalterlichen Kenntnis der Rhetorik siehe Brandt 1986, Sieber 1996, Haye 1999. Insbesondere in diesem Bereich kann im Rahmen des vorliegenden Beitrags nur exemplarisch vorgegangen werden; vgl. für die mittelalterliche deutsche Literatur weiterführend, zumeist auf einen einzelnen Autor oder einen Einzeltext bezogen, Hollandt 1966, Jupé 1976, Ragotzky 1977, Schneider 1994, Geier 1999, Meyer / Sager (eds.) 2015. Systematisch zu den Autorkommentaren zur List: Semmler 1991: 54. Semmler erweiterte und revidierte mit seiner Studie die Ergebnisse von Hermans 1953.
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Semmler unterscheidet in seiner Untersuchung der Sache nach (d. h. nicht dem explizit verwendeten Begriff nach) insgesamt vier Formen verbaler List:⁵ 1. Täuschung durch Einsatz von falscher Aussage auf Sachebene; 2. Täuschung durch beziehungssteuernde Äußerungen; 3. Täuschung durch Einsatz unvollständiger/mehrdeutiger Aussagen; 4. Täuschung durch Ausnutzen der phatischen Funktion von Sprache. Bei den ersten drei Fällen handelt es sich jeweils um Täuschungen auf der Ebene des propositionalen Gehaltes der Aussagen. Für die vierte Art der Täuschung spielt dagegen der Inhalt des Gesagten keinerlei Rolle, geht es hier doch lediglich darum, Zeit zu gewinnen. Sprachliche List ist selbstverständlich seit Beginn der Literatur nachweisbar: Es sei lediglich auf Odysseus verwiesen, der sich in der Odyssee ‚Niemand‘ nennt, um den Zyklopen Polyphem der Möglichkeit zu berauben, ihn zu identifizieren, und der seinen Gegner dadurch gleichzeitig durch Einsatz von falscher Aussage auf Sachebene und durch Einsatz unvollständiger/mehrdeutiger Aussagen täuscht. Für den vorliegenden Zusammenhang ist das potenziell vorhandene literarische Material einzuschränken; analysiert sei ausschließlich die Rolle der List in ausgewählten mittelhochdeutschen und frühneuhochdeutschen Erzähltexten. Wie trägt List dort zum Gelingen von Gesprächen bei? Ist sie dem Gelingen der Gespräche immer förderlich? Und welche Art des Gelingens ist es, die durch List zustandekommt? Welche Formen der Gemeinschaftsbildung werden durch List ermöglicht – oder gerade verhindert? Untersucht sei damit die Rolle der List in der literarischen Diskurstradition des Mittelalters, mit Blick auf die vor allem in der Frühen Neuzeit virulent werdende Frage nach der Problematik der höfischen bzw. höflichen Verstellung.⁶ Virulent war diese Frage offenbar auch bereits im Mittelalter, auch hier gab es, wie zu zeigen sein wird, eine ‚Welle‘ in der Entwicklung der Gesprächskultur. Zu bedenken ist dabei allerdings, dass das mittelalterliche Lexem der list (im Alt-, Mittel- und Frühneuhochdeutschen zumeist ein Maskulinum) semantisch durchaus vom heutigen Begriff die List abweicht. Ist ‚List‘ heute eher negativ konnotiert⁷ oder bestenfalls ein literarisch verwertbares ‚Kippphänomen‘, das bei positiver Empathie-
Semmler 1991: 45 – 53. Auch das Täuschen durch Schweigen könnte als sprachliche List aufgefasst werden (ebd.: 43 – 45, 98 – 107). Semmlers Typologie der sprachlichen List sei als ein Arbeitsinstrumentarium verstanden, im Bewusstsein, dass eine solche Systematik immer defizitär ist: Die hier getrennt dargestellten Bereiche können sich in einzelnen Beispielen überschneiden. – Zu den nonverbalen Formen der List zählt Semmler das Täuschen durch Einsatz von gegenständlichen Hilfsmitteln und durch nonverbales Verhalten (ebd.: 40 – 43, 55 – 98). Vgl. dazu insbesondere Snyder 2009. Vgl. die aktuellen Definitionen der List als „Mittel, mit dessen Hilfe jemand (andere täuschend) etwas zu erreichen sucht, was er auf normalem Wege nicht erreichen könnte“ (https://www.duden.de/ rechtschreibung/List_Finte_Schlaeue) bzw. „raffiniertes, hinterhältiges Wesen, Verhalten, das Listigsein“ und „raffiniert ausgeklügelter Plan, mit dem man durch Täuschung des anderen ein bestimmtes Ziel erreichen will“ (https://dwds.de/wb/List).
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lenkung (vgl. Dimpel / Velten [eds.] 2016) dem Sieg über Feinde dienen kann („Triumph der Klugheit“, Semmler 1991: 9), bei negativer Empathielenkung allerdings einem starken moralischen Urteil unterworfen wird („Blendwerk des Teufels“, ebd.), so ist der list im Mittelalter zunächst ein überwiegend positiver Begriff.⁸ Die Bedeutung von der list lautet im Althochdeutschen an erster Stelle „Kenntnis,Wissen, Erfahrung“, an zweiter und dritter Stelle „Können, Geschicklichkeit“ (handwerklich, künstlerisch, auch körperlich) sowie „Wissenschaft, Lehre, Kunst“, erst nachrangig auch „Schlauheit,Verschlagenheit“ bzw. „Hinterlist, Täuschung“.⁹ Im Mittelhochdeutschen stehen positive und negative Konnotationen ungefähr gleichwertig nebeneinander;¹⁰ im Frühneuhochdeutschen scheint die negative Konnotation für die Wortbedeutung von list dominant zu werden,¹¹ obwohl sich auch hier im literarischen Bereich viele Beispiele genüsslich demonstrierter Anwendungen sprachlicher Täuschung finden lassen (diese werden allerdings nicht grundsätzlich mit dem Lexem list versehen¹²). Eine genaue Betrachtung des Wortschatzes und der Semantik des in der jeweiligen Sprachstufe sprachlich Differenzierbaren ist somit für solche Untersuchungen von wesentlicher Bedeutung.
2 Textbeispiele für sprachlichen list Die Basis für die vorliegenden Überlegungen ist, ausgehend von den Beobachtungen Semmlers, die Suche nach der Kollokation von mittelhochdeutsch sprechen/sagen/ reden/antwurten und list; bekannt geworden sind bisher gut 100 Textpassagen.¹³ Einfache Beispiele finden sich bei narrativen Rahmen oder frames, vielleicht genauer: bei bestimmten negativ konnotierten framing characters und framing situations, deren list entsprechend ebenfalls negativ gedeutet wird. Zitiert seien hier lediglich zwei Semmler 1991: 13, 182– 188. Kragl 2015: 128 – 130 weist zu Recht darauf hin, dass die Semantik von list keiner einfachen linearen Entwicklung folgt: Je nach Gattung und Erzählkontext können positive und negative Konnotationen überwiegen. Vgl. http://awb.saw-leipzig.de. Vgl. http://www.woerterbuchnetz.de/BMZ?lemma=list. Vgl. die über https://fwb-online.de zugänglichen Belegzitate. Für eine Untersuchung, die das mittelalterliche deutsche Wortfeld der List jenseits des Kernbegriffs list aufarbeitet, siehe Trier 1931/1973; für das Französische Schleyer 1961. Ermittelt wurden diese anhand der mittelhochdeutschen Begriffsdatenbank (vgl. Anm. 1); die Sammlung der dort ausgewerteten Texte erhebt keinesfalls Anspruch auf Vollständigkeit. Ungefähr die Hälfte dieser Belege entstammt dem ‚Spielmannsepos‘ Salman und Morolf; vgl. unten, Anm. 16. Auffällig selten ist die Kollokation von sprechen und dem Adverb betrügenlîche, die nur in der Pulkava Chronik (spätes 14. oder 15. Jahrhundert) nachweisbar ist. Der heilige Albertus erkennt hier nur deswegen, weil er vol des heyligen geystes ist, dass die Gesinnung seines Gegenübers Starquas anders wenn dy wort ist, Gesagtes und Gemeintes somit auseinanderklaffen (zitiert nach der digitalen Fassung des Textes, die über die mittelhochdeutsche Begriffsdatenbank zugänglich ist, S. 72, Kapitel 23, Z. 8 und 14– 16). – Vgl. zur reflektierten Subjektivität bei der Interpretation semantischer Entwicklungsprozesse, die durch die Unterstützung quantifizierender Methoden ermöglicht wird, Schwandt 2016.
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beliebige Beispiele für das Sprachhandeln eines framing characters, von dem nichts Anderes als Negatives zu erwartet ist:¹⁴
listechlich er zu dir sprach, also versûchte der pose dich: „seistuz gotes sun, so sprich daz dise steine werden prot!“
‚Listig sagte er [der Teufel] zu dir [Christus], auf diese Weise führte der Üble dich in Versuchung: „Bist du Gottes Sohn, dann sag, dass diese Steine zu Brot werden sollen!“‘
In Semmlers Terminologie ist dies insofern eine Täuschung, als der Teufel Christus bezüglich seines Verhältnisses (der ‚Beziehung‘ im Sinne von Semmlers List Typ 2) zu Gottvater auf die Probe stellt: Anders als die Aufforderung des Teufels suggeriert, erwirkt nicht Christus selbst, sondern Gott Wunder, und diese geschehen nicht auf den einseitigen Wunsch eines Bittenden hin, sondern zu einem von Gott vorgegebenen übergeordneten Zweck. Eindeutiger auf List im Sinne einer falschen Aussage auf Sachebene bezogen (Typ 1) ist ein Textbeleg in einem Lied in einem Ton (= Melodie) Frauenlobs, das aus dem 15. oder 16. Jahrhundert stammt und in dem der Teufel in Gestalt der Schlange, die Eva verführt, ebenfalls mit list spricht, der hier explizit und empathie- bzw. antipathielenkend als falsche[r] list vereindeutigt wird:¹⁵
Eva, die sprach: „wir sterben todes grimme. der schöpffer uns verpot den stam.“ die slang hub an und log und sprach also mit falschem list: „got euch der seid nit gan. ir wert als weis, als ewer got ist, und wenn ir peist an der speiß an.“
‚Eva sagte: „Wir würden eines schlimmen Todes sterben, der Schöpfer verbot uns diesen Baum“. Die Schlange log und sagte mit falscher List: „Gott gönnt euch dies nicht. Ihr wärt genau so weise wie er, wenn ihr davon essen würdet.“‘
Gundackers von Judenburg Christi Hort 1910, 13. Jahrhundert; Übersetzung N.M. Vergleichbar ist, dass in einem in einer Melodie Frauenlobs gedichteten Lied des 15./16. Jahrhunderts ein Jude mit valschem list spricht (Frauenlob [Heinrich von Meißen] 2000: Ton 11, Strophe 204, V. 37). Frauenlob (Heinrich von Meißen) 2000: Ton 9, Strophe 205; Übersetzung N.M. Siehe zu diesem Themenkomplex Sager 2015: 223 und oben, Anm. 1. – Selbstverständlich sind auch Belege dafür nachweisbar, dass Figuren ihr eigenes Sprachhandeln als ein Sprechen â n e [‚ohne‘] valschen list bezeichnen; vgl. z. B. Rudolf von Ems: Alexander 1928 – 1929/1970: V. 14915 (erste Hälfte des 13. Jahrhunderts).Vergleichbar ist die Formulierung Dô sprach Wolfdietrîch gar ân argen list (im 13. Jahrhundert in verschiedenen Fassungen des Textes überliefert, vgl. etwa Wolfdietrich B, in: Ortnit und die Wolfdietriche 1871: V. 546,1 und 625,3). Hugo von Montfort benutzt um 1400 mit einiger Häufigkeit sagen […] ân argen list (Hugo von Montfort 2005: 31,223; 31,247; 33,80; 33,91).
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Dass Gott Adam und Eva die Erkenntnis von Gut und Böse nicht gönnen würde, wie die Schlange hier behauptet, entspricht nicht der biblischen Vorlage. Der Teufel ist in diesem Fall zwar erfolgreich, aber von positiver Bewunderung für seine etwaige verbale Geschicklichkeit kann hier kaum die Rede sein. Schwieriger ist es, in den mittelalterlichen Texten Beispiele für ein generelles positives framing von verbal listigen Figuren zu finden – das wohl eindeutigste Beispiel ist Morolf, dessen Sprechen in den inquit-Formeln sehr häufig in Kollokation mit der (positiven) Subjektbezeichnung der listige man erscheint.¹⁶ Morolfs List besteht allerdings dennoch in der Regel aus listiger Handlung und aus Verkleidung, die in solchen inquit-Formeln angekündigt oder bestätigt werden, nicht aus Sprachlist. Allenfalls ‚bestätigen‘ Morolfs verbale Äußerungen die falschen Identitäten, die er durch seine Verkleidung annimmt (Semmlers Typ 1).¹⁷ Es findet sich der list bei Figuren mit traditionell positivem Framing darüber hinaus in den mittelalterlichen Adaptationen derjenigen antiken Stoffe, in denen Odysseus vorkommt, jedoch wird gerade dieser hier, anders als in den antiken Erzählungen, häufig negativ bewertet. Als Ausnahme gilt, dass Ulixes in Konrads von Würzburg Fassung des Trojanerkriegs (spätes 13. Jahrhundert) als eine der wenigen „erfolgreichen Figuren“ dargestellt wird;¹⁸ seine geschickte Enttarnung des als Frau verkleideten Achills beruht allerdings, wie in den Vorlagen, auf der Verwendung von männlich und weiblich konnotierten Gegenständen, der die Tatsache, dass Ulixes wîs unde redebaere bzw. gespraeche ist,¹⁹ untergeordnet wird. Einige besonders interessante Beispiele für den Einsatz von überwiegend positiv konnotiertem sprachlichem list bietet dagegen der Erec Hartmanns von Aue. Erecs Ehefrau Enite versucht ohne Erfolg, einen aufdringlichen Grafen durch falsche Aus-
In Salman und Morolf (zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts?) wird der (vil) listige man geradezu zum epitheton ornans für Morolf, vgl. Salman und Morolf 1979: V. 63,4, 71,1, 80,1, 87,1, 89,1, 115,3, 118,1, 126,3, 135,1, 154,1, 158,1, 181,1, 194,1, 220,1, 231,1, 235,2, 288,1, 316,1, 340,1, 364,1, 374,1, 378,1, 387,1, 394.5,7, 484,3, 493,1, 560,1, 583,1, 595,1, 608,1, 628,1, 635,1, 638,1, 647,1, 662,1, 679,1, 691,1, 695,1, 705,2 (uß sinen listen er da sprach), 721,1, 735,1, 737,1, 780,1, 781.5,2; vgl. 275,3, 321,1, 634,5, wo andere intradiegetische Figuren Morolf als listigen man bezeichnen. Ähnlich, aber in geringerer Dichte wird auch König Rother im gleichnamigen ‚Spielmannsepos‘ in den inquit-Formeln der listige(r) man genannt, siehe König Rother 2000: V. 2128, 2201, 2234, 2823, 2836, 2877, 2906. Vgl. zu einem weiteren Beispiel durchgängig positiv konnotierter (weiblicher) list unten, Anm. 27. Dieses Muster ist dem sich ‚Niemand‘ nennenden Odysseus vergleichbar und in vielen anderen Texten ähnlich nachweisbar (vgl. Semmler 1991: 109 – 114). Auf der Basis dieser Täuschung über die eigene Identität können im intradiegetischen Dialog gelegentlich Informationen erschlichen werden, die die anderen intradiegetischen Figuren dem Verkleideten nicht preisgegeben hätten, wüssten sie um seine wirkliche Identität; auch dies kann als eine Form sprachlicher Täuschung durch falsche Aussagen auf Sachebene interpretiert werden. Lienert 1996: 271; vgl. Haferland 2015: 68. Konrads Text wird zitiert nach Konrad von Würzburg: Trojanerkrieg 2015. V. 27468 – 27470; vgl. seine an Achill appellierende Rede, z. B. V. 28409 – 28415.
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sagen über ihren adligen Stand abzuwehren.²⁰ Als dies nicht den erwünschten Erfolg hat, täuscht sie schließlich bewusst Kooperationswillen vor – oder sogar Vertrauen, wie Angela Schrott als Alternativbegriff vorgeschlagen hat:²¹
vil güetlîchen sach si in an, den vil ungetriuwen man, und lachete durch schœnen list.
‚da schaute sie ihn sehr freundlich an, den hinterhältigen Mann, und lächelte mit schöner List.‘
Zunächst setzt Enite somit im Rahmen ihrer neuen Taktik dem Grafen gegenüber in bewusst täuschender Absicht nonverbale Signale ein, wie sie von Isabelle Löchner beschrieben worden sind:²² Mimik in Gestalt von Blick und Lächeln. Verbal äußert sie sich daraufhin wie folgt:²³
si sprach: „ich wæne, iu ernest ist. herre, zürnet ir niht: wan iu der rede unnôt geschiht. ez was zewâre mîn wân, ir hetet die rede durch schimph getân. wan ez ist iuwer manne site, daz ir uns armiu wîp dâ mite vil gerne trieget […]“.
‚Sie sagte: „Ich glaube, Ihr meint es ernst. Herr, werdet nicht zornig: [I]hr habt es nicht nötig, so zu sprechen. Ich hatte tatsächlich geglaubt, daß Eure Worte nur Scherz seien. Denn Ihr Männer habt die Angewohnheit, uns arme Frauen damit immer wieder zu täuschen […]“.‘
Hartmann lässt Enite somit behaupten, sie hätte angenommen, der Graf habe sein Ehe-Angebot nicht ernst gemeint (V. 3846 f.; vgl. V. 3891) und sie lediglich mit täuschenden Worten verführen wollen, wie dies Männer (Enites verallgemeinernder Aussage in V. 3848 – 3850 nach) zu tun pflegen. So gelingt es Enite, den Grafen zu vertrösten, Zeit zu gewinnen und Erec zu warnen. Es handelt sich um List auf der Beziehungs- und auf der Inhaltsebene (nach Semmler die list-Typen 1, 2 und 4): Enite täuscht Zuneigung oder zumindest Aufgeschlossenheit vor und erzählt im Folgenden eine frei erfundene, Mitleid erregende Lebensgeschichte (V. 3863 – 3890), bei der etwas
So behauptet sie, dem Stand nach sei sie nicht zur Heirat mit einem Grafen geeignet, da sie nur von niedriger Geburt sei (V. 3808 f., 3823), obwohl sie in Wirklichkeit die Ehefrau eines Königs ist. Text und Übersetzung hier und im Folgenden nach Hartmann von Aue: Erec 22014. Zum Vertrauen siehe Schrotts Beitrag in diesem Band. Siehe Löchners Beitrag im vorliegenden Sammelband. Vorstellbar ist, dass hier außerdem eine weitere Form der phatischen Täuschung zu imaginieren ist, auf die Semmler 1991 nicht systematisch eingeht: ein besonders einschmeichelnder Tonfall zum Beispiel.
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später die inquit-Formel mit listen vrouwe Ênîte sprach (V. 3907) und vor allem der Erzählerkommentar, sie habe mit schœnen wîbes listen gehandelt (V. 3940), die Sympathielenkung sichern. Entscheidend sind somit nicht nur die Figuren, sondern gerade auch die Erzählinstanz, die das Sprachhandeln der Figuren verknüpft und das Verständnis bzw. die Beurteilung des Gelingens des Gesprächs stützt. Enites List ist offenbar lizensiert, das Gespräch ist erfolgreich – dies glaubt auch der Graf, obwohl er getäuscht wird. Implizit besagt die Passage, dass der Graf keine bessere Behandlung verdient habe, denn er nötigt Enite und hat offenbar nicht (oder aufgrund seines Liebesbegehrens nicht m e h r ) die geistigen Fähigkeiten, ihre Täuschung als solche zu erkennen. Über den Kopf des Grafen hinweg lächelt Enite (oder: der Erzähler?) jedoch auch den textexternen Rezipienten an, der, anders als der textinterne Graf, um die falschen Aussagen weiß – das erinnert an die von Wolfgang Matzat beschriebene Theaterinszenierung mit ihren Formen ‚diskrepanter Informiertheit‘.²⁴ Die Kombination von Erzähler- und Figurenrede macht den Rezipienten so zum passiven Komplizen der List und stiftet eine engere Gemeinschaft zwischen der intradiegetischen Figur und dem extradiegetischen Publikum als zwischen den beiden intradiegetischen Figuren, insbesondere auch dadurch, dass Enite, die selbst den Grafen gerade erfolgreich täuscht, ironischerweise den Männern vorwirft, dass diese die Frauen täuschen würden.²⁵ Suggeriert wird implizit, dass Enite Andreas Capellanus’ De amore gelesen haben könnte (Andreas Capellanus 2006), oder wenn nicht sie, dann zumindest Hartmann von Aue – die Funktion des Gesprächs ist nicht nur textintern aufzuschlüsseln, sondern hat auch eine über sich hinausweisende, Intertextualität und Autoreferenzialität als literarisches Spiel aufrufende Dimension. Eine sehr vergleichbare Szene findet sich im frühneuzeitlichen Prosaroman Herzog Herpin Elisabeths von Nassau-Saarbrücken. In diesem Text ist die Komplexität des Gesprächs mit dem textexternen Rezipienten dadurch gesteigert, dass der Mann, der hier einer Frau Liebe vortäuscht, um Zeit gewinnen zu können, in der intradiegeti-
Siehe Matzats Beitrag im Rahmen des vorliegenden Sammelbandes. Ein besonders elaboriertes Beispiel für solche getäuschten Täuscher, deren Wissensstand nur der Erzähler und der textexterne Rezipient durchschauen, ist im Nibelungenlied überliefert: Brünhild wird die Absicht zugeschrieben, die Frage nach der Hierarchie Siegfrieds und Gunthers (Standeslüge) beantworten zu können, indem sie ihren Ehemann Gunther unter Verheimlichung ihrer eigentlichen Beweggründe dazu zu bewegen versucht, Siegfried und Kriemhild nach Worms einzuladen. Gunther antwortet mit dem Hinweis, „Wi möhten wir si bringen […] / her zuo disem lande? daz wære unmügelîch. / si sitzent uns ze verre. ine getar sis niht gebitten.“ (Das Nibelungenlied 2010: 724,1– 3; ‚„Wie könnten wir sie wohl in dieses Land bringen? […] Das dürfte unmöglich sein. Sie wohnen zu weit weg von uns: Ich wage nicht, sie hierher zu bitten.“‘) Daraufhin fragt Brünhild in einen listigen siten (724,4), wie ein Untergebener sich weigern könne, zu seinem herre[n] (725,2) zu reisen, wenn er entboten werde (725). Gunther, dem bewusst ist, dass Siegfried nicht sein Untergebener ist und dass Brünhild diesbezüglich getäuscht wurde, ersmielt[.] deswegen (725,3); dieses überlegene Lächeln wird sich, so wissen die Rezipienten aufgrund vieler Prolepsen über den blutigen Ausgang der Reise nach Worms, als unberechtigt erweisen (vgl. zu dieser Szene Geier 1999: 89 – 94).
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schen Wirklichkeit eine verkleidete Frau ist. Der Begriff list wird nicht verwendet, und dennoch ist das Erzählmuster der sprachlichen List offenkundig identisch:²⁶ „Iongfrouwe“, sprach die hertzogyn, „hörent, was ich uch sagen: Üwer vader hat noch mir geschicket, er wijl rijden beysen. Er bat mich, das ich mich zauwete, es ist mügelich, das ich synen willen due. Dann wijssent, das ich morn wieder zuo üch komme, ee vesper zijt, dann so wil ich dun, was üch liep ist, dar an schuwen ich nieman, der do lebet. Aber ich wyste nit, edele iongfrouwe, das die rede üwer ernste weren, ich wonte, ir spotteten myn. Nu sehen ich, das es üwer ernste ist, des bin ich erfrouwet. Ich han üch wol zwey iar liep gehabt, ich enhette es üch aber nit gesagt vmb ein konnigrich, dann ich hette besorget, man hett mich gedoit. Dar vmb byden ich üch, edele iongfrouwe, das ir nit vor übel nemment, das ich ytze von uch muß, dann ich dun das vmb uwer eren willen, dan ich wolde lieber doit sin, dann ich uch vngelymp machen wolle. Der enist nit ein rechter bule, der nit alle zijt bedencket, das er der frouwe ere behüde.“ ‚„Junge Fürstin“, sagte die [als Mann verkleidete] Herzogin, „hört, was ich euch sage. Euer Vater hat mich entboten, denn er will auf die Beizjagd fahren. Er bat mich, dass ich mich beeilen sollte, wenn es möglich sei, seinem Willen zu entsprechen. Wisst aber, dass ich dann morgen wieder zu euch komme, vor der Vesperzeit, und dann werde ich alles tun, was ihr möchtet, denn ich fürchte mich vor niemandem auf der Welt. Ich wusste aber nicht, hochgeborene junge Fürstin, dass ihr die Rede ernst gemeint hättet, ich dachte, ihr würdet mich zum Narren halten. Jetzt aber sehe ich, dass ihr es ernst meint, und ich bin darüber froh. Ich liebe euch bereits seit zwei Jahren, aber ich hätte nicht um ein ganzes Königreich irgendetwas zu euch gesagt, denn ich hätte befürchtet, dass man mich getötet hätte. Deswegen bitte ich euch, hochgeborene junge Fürstin, dass ihr es mir nicht übel nehmt, dass ich euch jetzt verlassen muss, denn ich mache dies nur um eurer Ehre willen; ich würde lieber sterben als euch in Schande zu bringen. Wer nicht jederzeit daran denkt, wie er die Ehre seiner Dame behüten kann, ist kein guter Liebhaber.“‘
Ist das Erzählmuster der sprachlichen Verstellung zur Verteidigung der Ehre gerade bei weiblichen Figuren zumeist positiv konnotiert,²⁷ so zeigt Hartmanns Erec mit Bezug auf den männlichen Protagonisten einen besonders differenzierten Umgang mit der Frage nach angemessenem und wirksamem sprachlichem list. In einer weiteren list-bezogenen Szene unterhält sich Erec mit dem Ritter Cadoc, der von zwei Riesen gefangen genommen und schwer misshandelt worden ist, wofür Cadoc sich nach seiner Befreiung, in seiner Ehre gekränkt, zutiefst schämt.
durch schœnen list er sprach, im ze benemen sîn ungemach: „herre, missehabet iuch niht umbe dise geschiht, daz iu die risen hânt getân.
Elisabeth von Nassau-Saarbrücken: Herzog Herpin 2014: 162. Übersetzung N.M. Zur berühmtesten positiv gerahmten Protagonistin Isolde, die sprachliche Verstellung und Täuschung umgekehrt einsetzt, um den Ve r l u s t ihrer Ehre zu verheimlichen, siehe Hollandt 1966, Jupé 1976, Semmler 1991: 129 – 144; zusammenfassend Schulz 2017: 95 – 121. Ein Beispiel für eine weibliche Figur, die ihre Jungfräulichkeit durch Sprachlist verteidigt, dabei allerdings weniger Erzählersympathie genießt, wird besprochen von Schnyder 2000 (es handelt sich um den spätmittelalterlichen kleinepischen Text Konni von Heinz dem Kellner).
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jâ enwirt es nieman erlân, swer sô manheit üeben wil, in enbringe geschiht ûf daz zil, daz er sich schamen lîhte muoz: dar nâch wirt im es buoz. wie dicke ich wirs gehandelt bin!“
‚[…] sagte er [Erec] mit einfühlsamer Freundlichkeit, um ihn [Cadoc] von seiner Niedergeschlagenheit zu befreien: „Herr, grämt Euch nicht darüber, was Euch die Riesen angetan haben. Es bleibt sicher niemandem, der sich als Ritter bewähren möchte, erspart, daß er einmal an den Punkt kommt, wo er zu seiner Schande besiegt wird: das wird später wieder aufgewogen. Wie oft ist es mir schon schlimmer ergangen!“‘
Die Funktion des Gesprächs wird durch die Erzählinstanz explizit ausgesprochen: Nach dem Ende des Dialogs heißt es in Erzählerrede, mit dirre rede trôste er in (V. 5675), das Ziel war somit ‚Trost‘ bzw. Ermutigung.²⁸ Dass Erec allerdings je eine derart schmachvolle Niederlage erlitten hätte, wie er hier in Vers 5674 behauptet, ist eine falsche Aussage auf Sachebene.²⁹ Ob Cadoc dies erkennt, ist fraglich; List und Verstellung gelingen, Cadoc lässt sich ‚trösten‘ und gewinnt seine Handlungsfähigkeit wieder. Sowohl bei Enite als auch bei Erec erlaubt es in diesen Fällen interessanterweise gerade die List und die mit ihr einhergehende Täuschung, die Fremdheit der beiden Gesprächspartner zu überwinden und Nähe bzw. Gemeinschaft herzustellen. Bei Enite richtet sich die Täuschung g e g e n den Grafen, es entsteht auf der Beziehungsebene also nur scheinbar Vertrauen; Erec dagegen spricht listig f ü r Cadoc, bei ihm wird die Fremdheit aufgehoben, auch wenn die Unaufrichtigkeit von Erecs Selbstaussage einer wirklichen, beidseitigen Überwindung der Distanz eigentlich im Wege stehen müsste. Es könnte hier nach dem ‚kommunikativen Ethos‘ der Verstellung im Sinne von Andreas Gardt (aber unter historischer Perspektive) gefragt werden (Gardt 2008). Auch Erec setzt jedoch in Hartmanns Epos sprachlichen list nicht immer erfolgreich ein. Denn wenig zuvor hat er sich den Riesen gegenüber, die Cadoc misshandelt haben, ohne jeden Erfolg sprachlistig verhalten:
als diz Êrec ersach, nû bewegete des ritters smerze sô sêre sîn herze, daz er bî im ê wære erslagen, ê er in’z hæte vertragen, und daz ez an sîner varwe schein.
Martin H. Jones hat in diesem Zusammenhang auf die Wichtigkeit des Erlernens von Empathie in Hartmanns Roman hingewiesen (Jones 2000). Vgl. Semmler 1991: 122 – 125 zu solchen „Falschaussagen aus psychologischer Rücksichtnahme“ (Zitat ebd.: 122).
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‚Als Erec das sah, ging ihm der Schmerz des Ritters so zu Herzen, daß er sich eher selbst mit ihm hätte erschlagen lassen, als ihnen das nachzusehen, und er wurde ganz bleich.‘
Erecs unwillkürliches Erblassen (oder Erröten?) zeigt, als nonverbale, unkontrollierbare Reaktion, seine sehr starken Affekte an – Mitleid, wohl aber auch Zorn. Er unterdrückt diese Affekte jedoch³⁰ und spricht die Riesen in vollkommener Selbstbeherrschung an:
er sprach zuo den zwein: „ir herren beide, ich’n vrâge iu niht ze leide: durch got muget ir’z mich wizzen lân, waz hât iu der man getân, den ir dâ habet gevangen? saget, waz hât er begangen? ez enschadet iu niht und ist mir liep. […]“
‚Er sagte zu den beiden: „Ihr zwei Herren, ich will Euch nicht zu nahe treten: erklärt mir um Gottes willen, was hat Euch dieser Mann getan, den Ihr da gefangenhaltet? Sagt, was hat er angestellt? Eine Antwort schadet Euch nicht und würde mir nützen. […]“‘
Erec berücksichtigt alle Regeln höfisch-höflichen Sprechens:³¹ Er benutzt eine seinem eigenen sozialen Stand entsprechende Anredeform (herren, V. 5436) und ihrzt seine Gesprächspartner in jedem der zitierten Verse; er verkleidet seine Direktiva in abgeschwächten Formen (V. 5438); er betont seine guten Absichten (V. 5437, 5442). Die Antwort des Riesen verkehrt alle diese Prinzipien jedoch:
„nû waz hâstû tumbe ze vrâgen dar umbe, waz er uns habe getân? des enwellen wir dich niht wizzen lân. rehter affe, nû sich, dû unwirdest dich daz dû vrâgest alsô vil, daz dir niemen sagen wil. nû war umbe jagestû mich?“ Êrec sprach: „herre, nein ich.“
Es zeigt sich damit, dass die Affektkontrolle kein neuzeitliches Phänomen ist, sondern dass das 12. Jahrhundert eine der bereits erwähnten Wellen in der Gesprächskultur nachvollziehbar macht, die eine solche Kontrolle unbeherrschten sprachlichen Handelns bereits thematisiert und einfordert. Vgl. Miedema 2007. Linden 2011 sieht Ähnlichkeiten zwischen Erecs Dialogverhalten und der Mediation und interpretiert dies als ein „allgemeine[s], den Einzeltext übergreifende[s] Erproben von Kommunikationsformen“ (ebd.: 134), als an die textexternen Rezipienten gerichtete „Übungsentwürfe“, denen die textinterne Figurenpsychologie untergeordnet werde (ebd.: 136).
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‚„Warum mußt Du Tölpel uns fragen, was er uns getan hat? Wir werden dir das nicht sagen. Du Affe, begreif doch, daß du Dich lächerlich machst, wenn Du so viel wissen willst, das Dir niemand sagen wird. Warum verfolgst Du mich also?“ Erec antwortete: „Herr, das tue ich nicht.“‘
Der Riese duzt Erec in fast allen zitierten Versen, und er beschimpft ihn;³² er unterstellt Erec böse Absichten (V. 5456) und er verweigert die Gesprächskooperation (V. 5451, 5455). Erec nimmt nun keinen Bezug auf das Problem der mangelnden Gesprächsbereitschaft des Riesen, sondern reagiert zunächst nur auf den Vorwurf, er würde den Riesen verfolgen bzw. jagen (V. 5456). Auffällig ist die inquit-Formel, mit der sein nächster turn angekündigt wird:
dannoch redete er mit listen und wânde in sô gevristen: „ich hôrte in rüefen verre. geloubet ir mir, herre, ich enhân ez niht durch übel getân, daz ich iu her gevolget hân. mich wundert, waz ez wære. daz ensî iu niht swære. […]“
‚Listig sprach er [Erec] weiter in der Hoffnung, ihm [Cadoc] ein wenig Ruhe zu verschaffen. „Ich hörte ihn von weitem schreien. Glaubt mir, Herr, es geschah nicht in böser Absicht, daß ich Euch hierher gefolgt bin. Ich will wissen, was los ist. Das muß Euch nicht belästigen. […]“‘
Erec verharrt im affektkontrollierten höfisch-höflichen Modus, er glaubt fälschlich (wânde, V. 5459), dass dies Cadoc im Sinne von Semmlers List Typ 4 nutzen würde; er betont weiterhin seine guten Absichten (V. 5463) und fügt eine falsche Aussage auf Sachebene ein über die Ursache, weswegen er den Riesen hinterhergeritten war (V. 5460; vgl. V. 5300). Trotz Erecs explizit benannten listes (V. 5458) gelingt dieses Gespräch gerade n i c h t , im Gegenteil: im ze sehenne er in sluoc / und hiez in strîchen sînen wec. ³³ Dass Erec sein Gesprächsziel, die freiwillige Freigabe des Grafen durch die Riesen, nicht erreicht, liegt, linguistisch ausgedrückt, an seiner fehlenden Einsicht in den situativen Mangel jeglichen groundings für gelingende Kommunikation.³⁴ Trifft in der Beleidigungen gehören aufgrund ihrer starken Abhängigkeit von der Disposition nicht nur des Sprechers, sondern auch des Adressaten, zu den sprechakttheoretisch schwer zu erfassenden Äußerungsformen. Der Riese mag diese Wörter beleidigend intendieren, jedoch gelingt ihm die Beleidigung nicht nachweislich, da sich Erec über die verwendeten Begriffe hinwegsetzt. tumbe und affe sind jedoch zumindest Beschimpfungen, die in anderen Erzählkontexten zu einem wie auch immer gearteten Racheakt geführt hätten (vgl. auch die eindeutig als Beleidigungen intendierten und auch so rezipierten verbalen Verhaltensweisen des Zwergs im Gefolge des Ritters Iders zu Anfang des Erec, V. 45 f., 83, 88, die eine von Erec genau geplante Rache nach sich ziehen). V. 5482 f.: ‚Vor seinen [Erecs] Augen schlug er [der Riese] auf ihn [Cadoc] ein und befahl ihm [Erec], sich davonzumachen‘. Deppermann 2015: 7; vgl. Rummel 2008.
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fiktionalen Welt des Artusromans ein höfischer Ritter auf Riesen, die einen anderen Ritter blutig geschlagen haben und gefangen halten, dann ist (so die implizite Aussage) auf verbaler Ebene lediglich die Kampfansage eine angemesse Reaktion. Erec erkennt die Alterität seiner Gesprächspartner nicht (oder er erkennt sie nicht an), er nivelliert sprachlich die grundsätzliche Asymmetrie zwischen sich und den Riesen; erst nachdem er Cadocs Position verschlimmert statt verbessert hat, reagiert er angemessen, nämlich indem er die Riesen ohne weitere Worte mit Lanze und Schwert angreift (V. 5501– 5504). Der Erec in Hartmanns Fassung zeigt die Protagonisten (ohne eine eindeutig lineare Entwicklung) nicht zuletzt in ihrem Kampf mit der Sprache, v. a. mit dem situativ angemessenen Inhalt und der situativ angemessenen Form der Sprache. ‚Situativ angemessen‘ bezieht sich hier auf die soziale Gruppe, mit der der Dialog gesucht wird: Riesen gegenüber ist für einen Ritter Höflichkeit ebenso unangemessen bzw. wirkungslos wie Sprachlist. Auch im mittelhochdeutschen Iwein Hartmanns von Aue lässt sich der Diskurs über die Sprachlist beobachten. In verbal täuschender Absicht handelt hier König Artus (Hartmann von Aue: Iwein 2011):
er sprach „wâ ist nû diu magt diu ir swester hât versagt niuwan durch ir ubermuot ir erbeteil und ir guot daz in ir vater beiden lie?“
‚Er [König Artus] […] sagte: „Wo ist das Mädchen, das seiner Schwester aus purem Hochmut ihr Erbteil und den Besitz vorenthält, den der Vater ihnen gemeinsam hinterließ?“‘
Auf König Artus als Richter ist in diesem Moment alle Hoffnung gerichtet. Der Streitbzw. Rechtsfall ist dadurch entstanden, dass die ältere Schwester vom Schwarzen Dorn nach dem Tod ihres Vaters unter Berufung auf die Primogenitur das gesamte Erbe an sich reißen möchte, obwohl der Vater es auf beide Töchter verteilt sehen wollte.³⁵ Ein als Gerichtsurteil angesetzter Zweikampf, durch den die ältere Tochter ihre Ansprüche durchzusetzen versucht, führt aufgrund der Vortrefflichkeit der beiden Zweikämpfer (es handelt sich um Iwein und Gawain) zu keinem eindeutigen Resultat. König Artus greift nun zum ungewöhnlichen rhetorischen Kniff, das erwünschte Schuldeingeständnis in seiner einleitenden, oben zitierten Frage vorzubereiten.³⁶ Und die Antwort folgt prompt:
dô sprach sî gâhes „ich bin hie.“ dô sî sich alsô versprach und unrehtes selbe iach,
Zu den beiden konfligierenden Rechtsmodellen siehe den Kommentar von Mireille Schnyder zu Hartmann von Aue: Iwein 2011: 103 f. Schnyder bezeichnet sie als „Fangfrage“, ebd.: 609 (mit Verweis auf ältere Forschungsliteratur).
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des wart Artûs der kunech frô: ze geziuge zôch er si alle dô. ‚Eilig erwiderte sie: „Hier bin ich.“ Als sie sich so verraten und ihr Unrecht selbst zugegeben hatte, war König Artus darüber froh. Er machte sie alle zu Zeugen.‘
Die ältere Schwester bestätigt damit explizit (wenn auch ungewollt), dass sie durch […] ubermuot (V. 7657) gehandelt hat und keinen Anspruch auf das Erbe ihrer jüngeren Schwester erheben darf. König Artus verpflichtet sie der Erzählung zufolge daraufhin sofort auf dieses ‚Geständnis‘, das vor Zeugen geäußert worden ist, und nutzt dies zur Bildung einer arturischen Gemeinschaft der Rechtschaffenen, die die unrechtmäßig handelnde ältere Schwester exkludiert:
er sprach „frouwe, ir habt veriehn. daz ist vor sô vil diet geschehn daz irs niht wider mugt chomen […].“
‚und sagte: „Herrin, Ihr habt gestanden. Das ist vor so vielen Leuten geschehen, dass ihr es nicht mehr zurücknehmen könnt […].“‘
Trotz der nachfolgenden Proteste der älteren Schwester (V. 7671– 7687) bleibt Artus unerbittlich.³⁷ Für die Artusgesellschaft gilt das vor Zeugen geäußerte Schuldeingeständnis; die jüngere Tochter des Grafen vom Schwarzen Dorn erhält ihre Länder zurück, der Rechtsfall ist ohne Blutvergießen gelöst. Artus’ Gesprächsstrategie ist damit erfolgreich (ob sie realistisch ist, sei dahingestellt),³⁸ der Dialog gelingt in Artus’ Sinne, auf den sich die Sympathielenkung eindeutig richtet.³⁹ Der Dialog gelingt außerdem im Sinne der Gerechtigkeit, wenn auch sicherlich nicht im Sinne der älteren Schwester vom Schwarzen Dorn – er gelingt allerdings nur durch eine sprachliche ‚List‘ (Semmlers Typ 3). Problematisch wird diese Form der erfolgreichen Täuschung dadurch, dass der älteren Tochter trotz ihres textintern negativen Framings Redebeiträge zugeschrieben werden, die durchaus den Kern des generellen Problems sprachlichen listes treffen,
Artus wird damit im Übrigen als weniger frauenfeindlich dargestellt als die ältere Tochter des Grafen vom Schwarzen Dorn selbst, die zu ihrer Verteidigung unter Anderem als Argument einbringt, Frauen sei ihre generell tumbe rede (V. 7680: ‚törichtes Gerede‘) nachzusehen.Vgl. den Kommentar von Schnyder, ebd.: 610. – Die ältere Schwester übt sich somit, anders als die von Kragl 2015 besprochenen Getäuschten, nicht gerade in „betrogener Gelassenheit“ (ebd.: 126). Dass auch heute noch kontrovers über das Problem der Zulässigkeit einer durch Täuschung erwirkten Selbstbeschuldigung diskutiert wird, zeigt Prasch 2003: 65 – 99. – Das (literarische) Motiv ist demjenigen des so genannten rash boon vergleichbar, des in meist fatalem Vertrauen gegebenen Blanko-Versprechens (vgl. Semmler 1991: 51 f. und 163 – 170). Dies vor allem durch die Abwertung der älteren Schwester, die im Iwein bereits in V. 5663 als diu unguote (‚böse‘) bezeichnet worden ist, die mit gewalte (V. 5636: ‚gewaltsam‘) und mit charge[r] ræte handle (V. 5666; mit ‚berechnender Verschlagenheit‘).
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auch wenn die Protagonistin damit ihr eigenes Vorgehen unzureichend bzw. unzutreffend beschreibt: Die bereits zitierte tumbe rede der Frauen sei underwîlen […] herte und doch, wohl im Gegensatz zu derjenigen Artus’, ân argen list (V. 7681 f.: ‚bisweilen […] streng und doch ohne Tücke‘), weswegen Artus ihr durch seine Sprache iht gewalt tuo[n] solle (V. 7687, ‚keine Gewalt antu[n]‘). Nachdem Artus daraufhin die jüngere Schwester ohne nähere Begründung als die guote (V. 7691) beurteilt und sich auf das geltende Recht bezogen hat (V. 7694, 7720), ergänzt der Erzähler, Artus habe ausreichend Menschenkenntnis, erkannt zu haben, dass die Ältere gewalt und forhte bzw. drô brauche (V. 7708 f., ‚Zwang und Angst‘, ‚Drohung‘), um zur Einsicht zu kommen. Die Sympathielenkung ist eindeutig, und dennoch scheint das Motiv erfolgreicher sprachlicher Täuschung hier mit Blick auf das Opfer etwas brüchig. Ein deutlich früheres, gleichzeitig jedoch besonders anspruchsvolles Beispiel für die verschiedenen Formen von Gesprächen und für die Bedingungen ihres Gelingens unter Einsatz des listes entstammt der sehr eigenständigen Neufassung der Chanson de Roland des Pfaffen Konrad.⁴⁰ Die Situation im Rolandslied ist wie folgt: Kaiser Karl entscheidet in einer konfliktreichen Ratssitzung, dass Genelun als Bote für Friedensverhandlungen mit den ‚Heiden‘ fungieren soll (Das Rolandslied des Pfaffen Konrad 1993/1996/2007: V. 891– 1537). Genelun lehnt den kaiserlichen Auftrag zunächst ab, was wohl als ein nahezu unvorstellbarer Affront zu gelten hat (V. 1424– 1441), muss ihn jedoch letztlich annehmen (V. 1496 – 1537). Er macht Roland dafür verantwortlich, dass er die gefahrvolle Aufgabe auf sich nehmen muss (V. 1442– 1467), und fürchtet um sein eigenes Leben. Er ist gezwungen, den andersgläubigen Boten in deren Lager zu folgen.
Genelûn trûreclîchen reit, daz was den heiden vile leit. si huoben kurzwîle. si sageten ir favelîe. si sagten ein ander underwegen manige seltsæne rede. si lachten unde wâren vrô.
‚Traurig ritt Genelun dahin, das paßte den Heiden gar nicht. Sie begannen, sich die Zeit zu vertreiben. Sie trugen ihre Märlein vor. Sie erzählten einander unterwegs viele wunderbare Geschichten. Sie lachten und waren unbeschwert.‘
Die ‚Heiden‘ sind zwar Andersgläubige und damit grundsätzlich alteritär, es mangelt ihnen jedoch nicht an höfischer Erziehung. Sie nehmen die Betrübnis ihres Gastes anhand von dessen nonverbalem Verhalten wahr (vgl. Geneluns trûren, umschrieben in V. 1750) und fühlen sich offenbar für diese unhöfische Stimmung veranwortlich. Bereits hier, im 12. Jahrhundert, wird nun die Bedeutung von Konversation eindeutig erkennbar, denn die ‚Heiden‘ versuchen, durch das Erzählen von Geschichten (V. 1753, Bastert 2015: 48 f. bezieht sich auf Geneluns Verrat und Verstellung, nicht auf Blanscandiz.
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1755) und durch demonstrative iocunditas (vgl.V. 1756) eine angenehmere Atmosphäre im Sinne der hoves vröude zu erschaffen. Die Konversation der ‚Heiden‘ untereinander ist wohl kein zufälliger Umstand und dient nicht nur der Gemeinschaftsbildung innerhalb ihrer eigenen Gruppe, sondern insbesondere der Gemeinschaftsstiftung mit Genelun – solche Stellen zeigen, dass im Mittelalter, gerade im 12. und 13. Jahrhundert, bereits eine Konversationskultur existierte, die nach ähnlichen Regeln funktionierte wie diejenige, für die die Neuzeit eine systematisierende Traktatliteratur nachliefert. Bis zu diesem Zeitpunkt der Erzählung steht die Gesprächssituation nicht im Zusammenhang mit list. Die demonstrative Konversationsoffensive gelingt jedoch, denn Genelûn erbalte sich dô (V. 1757: ‚Da faßte auch Genelun wieder Mut‘); zu unterstellen ist, dass der Figur Genelun zugeschrieben werden soll, sie stelle allmählich fest, dass fröhliche Konversation nicht vereinbar wäre mit einer feindlichen Einstellung der ‚Heiden‘ ihm gegenüber. Sofort spielt nun einer der ‚heidnischen‘ Boten auf die damit wohl einhergehende Änderung in Geneluns Körpersprache ein:
der alte Blanscandîz wart sîn geware. er huob sich neben ime dare, er sprach: „enwære ez dir, hêrre, nicht swære, ich wolde dich ein lüzzele vrâge. […]“
‚Der alte Blanscandiz beobachtete ihn. Er ritt an seine Seite und sagte: „Wenn du nichts dagegen hast, Herr, möchte ich dich einiges fragen. […]“‘
Erkennbar sind in der Rede des Blanscandiz ähnliche Höflichkeitsformen wie bei Erec (vgl. dort den oben zitierten V. 5465), auch wenn hier das Ihrzen noch fehlt.
„[…] ich enzwîvele dar ane niet, dû bist deme kaisere vil liep. dir entwîchent alle sîne râtgeben, daz hân ich selbe wole ersehen. swaz dû gebiutest, daz ist getân. dû hâst die hêrlîchen man. […]“
‚„[…] Ich zweifle nicht daran, daß du dem Kaiser sehr lieb bist. Vor dir stehen alle seine Ratgeber zurück, das habe ich selbst genau gesehen. Was du befiehlst, wird ausgeführt. Du hast adlige Vasallen. […]“‘
Blanscandiz macht Genelun somit (beziehungsverbessernde) Komplimente: Er lobt nicht den kaiserlichen Hof oder Kaiser Karl selbst, sondern hebt Geneluns eigene besondere Position bei Hofe hervor. Dabei sind diese angeblichen Beobachtungen (V. 1765) teilweise durchaus beschönigt (auch hier finden sich somit gezielte falsche Aussagen auf Sachebene, wie im Gespräch zwischen Erec und Cadoc): Der Rat der
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Pairs Karls des Großen steht keineswegs geschlossen hinter Genelun (V. 1764, vgl. V. 1222, 1244 f.). Blanscandiz stellt nun einige Informationsfragen:
„[…] nu wundert mich dîner grôzen wîsheit, war zuo lîdest dû die ummâzen arbeit? […] nû mächte er sich noch behalten unde scônte sîner wizze unde lieze iuch dâ heime sizze, ob ez der fürsten wille wære. des wolte ich dich gerne vrâge.“ Der herzoge dô sprach: „ez enist mir nicht ungemach: ez ist ein vröude der heiligen kristenheit unde ist ein süeze arbeit. ez ist ein trôst der sêle […]. wænest dû, daz ez der kaiser tuo? got vordert ez ime zuo. […]“
‚„[…] Ich wundere mich über deine große Erfahrung. Warum nimmst du so außerordentliche Mühsal auf dich? […] Nun könnte er [Karl] sich doch schonen und sollte seiner Einsicht folgen und Euch zu Hause bleiben lassen, wenn es auch die Fürsten wollen. Das wollte ich dich gerne fragen.“ Der Herzog [Genelun] antwortete darauf: „Es ist keine große Mühsal für mich. Der heiligen Christenheit ist es eine Freude und eine fromme Anstrengung. Es hilft der Seele […]. Glaubst du, es hänge nur vom Kaiser ab? Gott hat ihm den Auftrag erteilt. […]“‘
Genelun bestätigt durch seine Antworten seine prinzipielle Zugehörigkeit zum christlichen Hof Karls des Großen und relativiert, ‚religiös korrekt‘, Karls persönlichen Handlungsspielraum durch den Hinweis auf die göttliche Führung des Handelns des Kaisers als Vertreter sakraler Herrschaft (V. 1796 f.). Gleichzeitig lässt sich Genelun im Sinne der Dialogforschung auf Blanscandiz’ Direktivum (vrâge[n], V. 1761) ein, ihm Informationen zu verschaffen, er kooperiert somit trotz der Glaubensdifferenzen; es vertieft sich, trotz ihrer deutlich verschiedenen Hintergründe, die Nähe, die Gemeinschaft, das Vertrauen zwischen beiden Gesprächspartnern.⁴¹ Erst jetzt wird Blanscandiz der bewusste Einsatz von list zugeschrieben: Blanscandîz, der alte, / vil l i s t e c l î c h e n er sich erhalte,V. 1822 f.: ‚Blanscandiz, der Alte, besann sich auf eine List‘), indem er seinen Gesprächspartner für das von ihm Gesagte mit einem gesprächs- bzw. turn-bewertenden Ausdruck lobt: „du redest wole“, sprach er, „herre. […]“ (V. 1824 f.). Es folgen weitere Komplimente von Blanscandiz’ Seite (oder handelt es sich vielmehr um Schmeicheleien?):
Nach der ausschließlich auf die „Annäherung der subjektiven Erfahrungswelten“ der Beteiligten konzentrierten Definition des Gelingens von Kommunikation bei Gladischefski 1996: 20 wäre der Dialog zwischen Blanscandiz und Genelun derjenige, der am stärksten Züge eines gelungenen Dialogs aufweist – auch wenn er auf Täuschung beruht.
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„[…] wir schulen dir sîn danken verre, daz dir dîn hêrre liep ist unde daz dû ime getriuwe bist. […] er hât wîse râtgeben […].“
‚„Es ist sehr dankenswert, daß du deinen Herrn liebst und daß du ihm treu bist […], und er hat kluge Ratgeber […].“‘
Blanscandiz wechselt mit seiner nachfolgenden Frage nun zum Thema des Verhältnisses der Gefolgsleute Karls untereinander.⁴² Erneut dürfte Blanscandiz der Logik des fiktionalen Gesprächs nach seine Beobachtungen zum Hof Karls des Großen einbringen, um Genelun listig zu erwünschten Antworten zu führen, oder vielleicht sogar: zu zwingen:
„[…] nu sage mir ouch mêre, waz meinet ave daz? dô unser rede wole verendet was, dô kom Ruolant […] mit micheler hôchverte […]. wer hilfet ime dar zuo? oder waz mag er eine getuon? sîne krapht wesse ich gerne. […]“
‚„[…] Doch erkläre mir jetzt weiter, was das Folgende bedeutet: Als unsere Botschaft ausgerichtet war, da kam Roland […] überaus hochmütig […]. Wer unterstützt ihn dabei? Oder was vermag er selbst? Ich wüßte gerne, wie es um seine Macht steht. […]“‘
Und Blanscandiz endet mit allen selbstrelativierenden Floskeln, die von einem höflichen Menschen erwartet werden dürfen: „[…] nu ne zürne nicht mêre, lieber hêrre, / daz ich dich sîn gevrâget hân. / ich bin leider ein alt virwizzer man.“ ⁴³ Der Autor hat die Dialogbeiträge der beiden Männer so aufeinander abgestimmt (und mithilfe der Erzählerstimme so kommentiert), dass es glaubwürdig erscheint, dass Genelun, der die Treue zu Karl dem Großen bis zu diesem Punkt noch hat halten können, auf R o l a n d angesprochen sofort (selbstoffenbarend) seine Loyalität aufgibt: „wir haben grôz ungemach / von Ruolante unde Olivier. […]“ (V. 1858 f.: ‚„Wir erleiden große Unbill von Roland und Olivier. […]‘). Blanscandiz hat auf diese Weise, zunächst kollektive, in der Gruppe und über die Gruppe hinaus gemeinschaftsstiftende Konversation einsetzend, dann im Zweiergespräch durch Smalltalk gemeinschaftsbildend Nähe und Vertrauen auf- und aus Dies erinnert an die von Astrid Dröse im Rahmen dieses Sammelbandes für das 17./18. Jahrhundert dargestellte Taktik, mit ‚gepflegtem Smalltalk‘ anzufangen und danach allmählich die Oberfläche der Plauderei zu verlassen. V. 1855 – 1857; ‚„[…] Zürne nicht länger, lieber Herr, daß ich dich danach gefragt habe. Ich bin eben ein neugieriger alter Mann.“‘
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bauend, sein Gegenüber durch kluge Fragen überlegen zum Geständnis seines Hasses gegen Roland geführt; dies ist der Ansatzpunkt, Genelun zum Verrat an Roland (und damit indirekt auch an Karl dem Großen) anstiften zu können. Die Alterität der Gesprächspartner wird in diesem Dialog jedoch nur scheinbar überwunden:⁴⁴ Genelun kann den Textaussagen zufolge (anders als der Rezipient des Textes) nicht wissen, dass die ‚Heiden‘ von vornherein geplant haben, Karl durch das Angebot der Friedensverhandlungen zu täuschen (vgl. V. 553 – 565). Die List der ‚Heiden‘ führt hier (positiv) zu bewundernswert gelungenen Gesprächen, jedoch sie ist teil eines teuflischen Täuschungsplans (negativ); dieser Plan jedoch ist wiederum teil der Heilsgeschichte (positiv), die die List des Teufels in Gestalt des widerwarte Blanscandiz (V. 549: ‚teuflische[n] Mensch[en]‘), der ‚Heiden‘ und des Verräters Genelun umfasst – und in der alle für ihre List letztlich bestraft werden, sowohl von Karl dem Großen als göttlich legitimiertem Herrscher (V. 8673 – 9015) als auch von Gott beim Jüngsten Gericht (V. 9071).
3 Fazit ‚List‘ im von Semmler definierten Sinne des Wortes kann, so war zu zeigen, in der mittelhochdeutschen Literatur auf vielfältige Weise zum Gelingen von (fiktiven literarischen) Gesprächen beitragen, indem sie generell sowohl die Inhalts- als auch die Beziehungsebene der Dialoge und damit die Gemeinschaftsbildung der verschiedenen Figuren beeinflussen kann. Das Framing, in dem die List eingesetzt wird, differiert stark; somit ist auch die Art der Beeinflussung in den untersuchten Textbeispielen deutlich verschieden. Ausgangspunkt für die Textauswahl waren diejenigen Belegstellen, in denen eine Kollokation von list und einem sprechaktbezeichnenden Verb vorhanden ist.Weitgehend ausgeblendet werden mussten diejenigen Textpassagen, in denen zwar nach Semmlers Definition von sprachlistigem Handeln die Rede sein könnte, die jedoch die von list abgeleiteten Lemmata nicht aufweisen. Tendenziell werden im Mittelalter mit der Bezeichnung d e s lists täuschende Handlungen positiver beurteilt als beim Neuhochdeutschen d i e List, obwohl ein ungebrochen positives Framing des sprachlistigen Auftretens einer Figur in den un-
Auch der ‚Heiden‘-König Marsilie wird wenig später listeclîche mit Genelun reden (vgl. V. 2309); möglicherweise bedingt in diesem Text religiöse Alterität die Fähigkeit zur sprachlichen Täuschung. – Ein Beispiel, bei dem zwei positiv gerahmte Figuren eine Anagnorisis-Szene erleben, in der eine der Figuren anhand ihres Vorwissens die andere Figur im geschickt komponierten Gespräch zum Verständnis ihrer Identität führt, und bei dem der überlegenen Figur explizit list zugeschrieben wird, entstammt dem Gregorius Hartmanns von Aue (spätes 12. Jahrhundert): mit listen sprach er dô zuo ir: / „vrouwe, durch got saget mir, / habet ir sît iht vernomen / war iuwer sun sî komen […]?“ (Gregorius von Hartmann von Aue 141992: V. 3879 – 3891; ‚„Fürstin, sagt mir in Gottes Namen, habt ihr denn später je gehört, wo ihr Sohn jetzt sei?“‘).
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tersuchten mittelhochdeutschen Texten selten ist⁴⁵ (Enite und der Graf; Erec und Cadoc; Gregorius und seine Mutter; in Erecs Gespräch mit den Riesen demonstriert er dagegen unfreiwillig, dass nicht jede Asymmetrie durch listiges Sprachhandeln behoben werden kann und List nicht immer zu gelingenden Dialogen führen muss). Eindeutig und durchgängig negativ gekennzeichnete sprachlistige Figuren sind in den untersuchten Werken der Teufel und die Juden; der ‚Heide‘ Blanscandiz dagegen entwickelt ein ausgesprochen bedrohliches Potenzial, indem er im überzeugenden Dialog mit Genelun paradoxerweise gerade durch sein listiges, täuschendes Sprachhandeln Fremdheit überwindet und damit trotz der prinzipiellen Fremdheit von ‚Heiden‘ und Christen erfolgreich eine Dialoggemeinschaft mit Genelun aufbaut – das Gelingen dieses Dialogs, die Herstellung einer scheinbaren Symmetrie zwischen den beiden Männern, die in Wirklichkeit eine eigenartige Asymmetrie der Sprecher bedingt (eigenartig deswegen, weil sie nur einem der Sprecher überhaupt bewusst ist), hat für den am Dialog nicht beteiligten Roland fatale Folgen, die erst durch Karls bzw. Gottes Vergeltung an Blanscandiz und Genelun wieder ausgeglichen werden können. Diese Problematisierung listigen Sprachhandelns, die sich ansatzweise auch bei Artus’ Richtspruch über die (durch Sympathielenkung eindeutig von der Artusgesellschaft ausgeschlossene) ältere Tochter des Grafen vom Schwarzen Dorn finden lässt, macht auf eine wichtige narrative Begebenheit aufmerksam: Das ‚Gelingen‘ der unter Einsatz von List geführten Gespräche funktioniert nur bei (zum Teil radikaler) Vernachlässigung der Position der Überlisteten – im besten Fall wird ihnen selbst nicht bewusst, dass sie überlistet wurden (vgl. vor allem Cadoc), im schlechtesten Fall bleiben sie machtlos protestierend zurück (wie die Tochter des Grafen vom Schwarzen Dorn). Entscheidend ist dabei die Rezeptionslenkung durch die Erzählinstanz(en): Die sprachliche List der Figuren führt nicht nur zu einer Reflexion des Gelingens von Dialogen auf diegetischer Ebene, sondern eröffnet auch Möglichkeiten der Thematisierung der Bedingungen für ein erfolgreiches Gespräch zwischen intradiegetischem Erzähler und textexternem Rezipienten.
Zu Morolf siehe oben, bei Anm. 16. Das positiv besetzte Kompositum redewîsheit, das im Titel des Beitrags verwendet wird, ist nach bisheriger Kenntnis als hapax legomenon überliefert in Rudolf von Ems: Alexander 1928 – 1929/1970 (erste Hälfte des 13. Jahrhunderts): der redewîsheit wîsiu wort / und den rîchesten hort / an widerrede, an worten sin / wol erkennen, daz lêrt in / der wîs Anaximenes (V. 1373 – 1377: ‚Die klugen Worte der Rhetorik und den größten Schatz an Repliken, in den [gesagten] Worten den [gemeinten] Sinn zu erkennen, das lehrte ihn der weise Anaximenes‘, Übersetzung N.M.). Komposita wie redelist, wortlist oder auch sprach-/sprechlist sind im Mittelhochdeutschen nicht nachweisbar.
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„Am drollichsten war seine Nachahmungssucht“. Gelungene Kommunikation zwischen Anthropologie und Habitualisierung in Johann Karl Wezels Robinson Krusoe (1779/80) 1 Einleitung: Gelungene Kommunikation als Bedingung der Gemeinschaft Nachdem Robinson Krusoe seine Insel nach rund 28 Jahren auf einem englischen Schiff Richtung Europa verlassen hat, begleitet von seinem Diener, dem Eingeborenen Franz, lautet der letzte Satz des Romans: „Sein getreuer Franz hielt redlich bey ihm aus und wurde so sehr zum Europäer, daß ihm in seinem neuen Aufenthalte alles, nur nicht die nördliche Kälte, überaus gefiel.“ (Wezel 2016 [1779]: 108)
Bestimmt man gelungene Kommunikation „als ein Mittel der Gemeinschaftsbildung“ und setzt damit zurecht voraus, dass „gelungene Gespräche […] Gemeinschaft [schaffen und bestätigen], während als misslungen bewertete Gespräche eine Dialoggemeinschaft gefährden und möglicherweise zum Ausschluss von Akteuren führen“,¹ so darf vermutet werden, dass Franz’ erfolgreiche Akkulturation auch als Ausweis gelungener Kommunikation zu werten ist, und zwar einer Kommunikation, die schon auf der einsamen Insel zwischen Herr Robinson und Knecht Franz stattfand. Die Frage nach gelungener Kommunikation stellt sich in einer Situation, wie Robinson Krusoe sie durchlebt, in besonderer und verschärfter Weise: Einerseits hat sich diese Frage über all die Jahre hinweg, in denen Robinson allein auf seiner Insel zugebracht hatte, gar nicht gestellt; es hatte niemanden gegeben, an den Robinson Aussagen, Informationen, Fragen, Befehle etc. hätte richten können. Andererseits stellt sich die Frage gelungener Kommunikation in dem Augenblick umso mehr, in dem Robinson den „Wilden“ Franz vor seinen Feinden rettet, bei sich aufnimmt und zu seinem Untertan macht. Zum einen nämlich fürchten sowohl Franz als auch Robinson die regelmäßig auf der Insel anlandenden Kannibalen; ihrer beider Überleben kann durch eine gemeinschaftliche Verteidigung und Versorgung besser gewährleistet werden. Robinson und Franz sind mithin vom allerersten Augenblick ihres Zusam-
Vgl. die Einleitung von Angela Schrott und Christoph Strosetzki im vorliegenden Band. https://doi.org/10.1515/9783110592580-014
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mentreffens an eine Interessengemeinschaft; an der Inszenierung solch instantaner Abhängigkeit ist der Robinson-Tradition seit ihrem Begründer Daniel Defoe ganz besonders gelegen. Die schieren Umstände machen Robinsons und Franzens Gemeinschaft notwendig; ebenso notwendig ist mithin eine auf das Gelingen dieser Gemeinschaft ausgerichtete Kommunikation. Zum anderen stellt sich die Frage einer in diesem Sinne gelungenen Kommunikation umso mehr, weil die Möglichkeit der Kommunikation sichtlich erschwert ist: Die nonverbale Kommunikation funktioniert nur situativ; für die langfristige Gemeinschaft ist die verbale Kommunikation unabdingbar; Robinson und Franz sprechen vollkommen unterschiedliche Sprachen und entstammen – der literarischen Darstellung nach – vollkommen unterschiedlichen Kulturen mit einander nicht nur nicht ähnlichen, sondern einander sogar widersprechenden Sitten. So notwendig gelungene Kommunikation für Robinson und Franz mithin auch ist, so schwer möglich scheint sie auf den ersten Blick zu sein. Es ist namentlich die Robinson-Bearbeitung Johann Karl Wezels von 1779, die diesen Problemkomplex besonders hervorhebt. Die narrativen Straffungen, Änderungen und Zusätze, die Wezel gegenüber der Vorlage Daniel Defoes, The Life and Strange Surprising Adventures of Robinson Crusoe von 1719, vornimmt, haben offensichtlich ihre sachlichen Gründe. Während nämlich Defoes Freitag nach der Ankunft des rettenden Schiffes aus dem Zentrum der Erzählung rückt, bleibt Wezels Franz durchweg der zweite Protagonist neben Robinson. Mit dem zitierten letzten Satz des Romans, der ja Franz gilt, spannt Wezel gewissermaßen einen peritextuellen Bogen zu seiner unter Klarnamen verfassten Vorrede: In dieser bestimmt Wezel sein poetisches Vorhaben, nämlich seinen Roman sowohl auf Bildungszwecke auszurichten als auch den Roman von den Bedingungen von Bildung selbst handeln zu lassen.² Im folgenden zweiten Abschnitt sollen diejenigen ideengeschichtlichen Kontexte der Robinsonaden untersucht werden, die der Naturzustands- und Staatsentstehungstheorie zuzuschreiben sind und bestimmte Voraussetzungen und Probleme mit Blick auf die Frage gelungener Kommunikation mit sich führen. Im dritten Abschnitt ist Daniel Defoes Robinson Crusoe auf dessen Konzeption von Kommunikations- und Lernbedingungen hin zu untersuchen. Im anschließenden vierten Teil schließlich ist Wezels Adaptation auf ihre Konzeption von Kommunikations- und Lernbedingungen hin zu analysieren. Die Untersuchung soll schließlich im fünften Abschnitt durch ein sowohl ideen- als auch gattungsgeschichtliches Fazit abgeschlossen werden.
2 Robinsonade und Naturzustand Das Profil des vorliegenden Bandes erlaubt nicht nur, ein literaturgeschichtliches Schlaglicht auf die Fragestellung „gelungene Kommunikation als Mittel der Gemeinschaftsbildung“ zu werfen; sondern diese Fragestellung hilft ebenso umgekehrt, eine
Wezel 2016 [1779]: 13 – 16; vgl. zum Peritext Genette 1989: 12.
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kommunikationstheoretische Perspektive auf die Robinsonaden der Aufklärungsepoche zu eröffnen. Diese kommunikationstheoretische Perspektive ist deshalb hilfreich, weil sie eine Leistung der Robinsonaden erhellt, die von der literaturwissenschaftlichen Ideengeschichte noch zu wenig beachtet wurde.Vielfach untersucht sind gattungsgeschichtlich die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Robinsonade und Utopie.³ Vielfach untersucht sind auch die Bezüge der Robinsonade zu dem naturrechtlichen Theorem des Naturzustands – mithin ist bereits im Einzelnen herausgearbeitet worden, inwiefern die frühe Robinsonade vermehrt den status naturalis nach Thomas Hobbes, Samuel Pufendorf, John Locke oder Christian Thomasius im Blick hat und inwiefern die spätere Robinsonade den état de nature nach Jean-Jacques Rousseau bzw. den state of nature nach David Hume literarisch gestaltet und verhandelt.⁴ Diese Bezüge waren im Übrigen bereits den Zeitgenossen klar: So empfiehlt der bedeutende Hallenser Jurist Nikolaus Hieronymus Gundling in seinem Lehrbuch Über das Natur- und Völkerrecht 1734 seinen Studierenden die Lektüre von Defoes Roman mit dem Hinweis: Da wir also sehen, daß die Menschen mit Menschen in Frieden leben müssen, so müssen sie auch Frieden halten, und wenn sie sich kein pactum gemacht, so können sie einander doch nichts böses thun. Keiner kan dem andern seine jura connata nehmen, alle sind einander aequaliter verbunden, ne quis alterum contemnat. In statu libertatis leben homines privati heut zu Tage sehr selten, und geschieht es nur par hazard, daß wenn ich und du mit einander auf eine Insul verschlagen würden, keiner dem andern unterthan. Man kan hierzu den ersten Theil von dem Robinson Crusoe lesen, aus welchem einer diesen statum naturalem recht begreiffen kann.⁵
Die Forschung hat mithin ihren Blick dafür geschärft, wie die Robinsonaden beispielsweise Robinsons Recht auf Selbsterhaltung, sein Recht Kannibalen zu bestrafen, sein Recht auf Herrschaft über die Insel und schließlich die Staatsentstehung verhandeln.
2.1 Probleme bei Thomas Hobbes und Samuel Pufendorf: Natürlicher Zustand vs. positive Sprache Allerdings leiden die Naturzustandstheorien bisweilen an Widersprüchen, wenn es um die Frage der Sprache als Voraussetzung oder als Folge von Gemeinschaft geht. So ist beispielsweise Thomas Hobbes in seinem De homine (1658) einerseits davon überzeugt, dass „es ohne die Sprache keine Gemeinschaft zwischen den Menschen
Bereits Brandl 1913, passim; Brüggemann 1914; ausführlich Blödorn 2006: 27– 36; siehe den bibliographischen Überblick bis 2008 bei Heyer 2008. Brunner 1967: 102; Friedrich 2001: 299; Hammerschmid 2002: 265 – 268; Blödorn 2006: 31 f., 35, 45. Gundling 1734: 82 (Cap. V, § 3). Vgl. Vollhardt 2001: 69.
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gäbe“, denn „die größte Wohltat der Sprache ist, daß wir befehlen und Befehle verstehen können“.⁶ Andererseits gilt für Hobbes auch: Aber die Sprache hat auch ihre Nachteile. Vermag der Mensch als einziger unter allen Lebewesen vermittels der allgemeinen Wortbedeutungen sich allgemeine praktische Regeln, vor allem für die Lebensordnung, zu ersinnen, so vermag er allein auch nach falschen Regeln zu handeln und diese auch anderen mitzuteilen, damit sie danach handeln. Daher verbreiten sich die Irrtümer des Menschen weiter und sind gefährlicher, als es bei den Tieren möglich ist.⁷
Sprache ist für Hobbes notwendige Bedingung der Möglichkeit von menschlicher Gemeinschaft überhaupt. Mit der Sprache ist dem Menschen lediglich die Möglichkeit gegeben, eine sich von den Tieren und ihren Zusammenschlüssen unterscheidende Gemeinschaftsform zu geben: Erst mithilfe der Sprache kann der Mensch eine nicht nach Instinkten, sondern nach „allgemeinen praktischen Regeln“, also moralisch handelnde Gemeinschaft bilden. Dies ist zugleich der Grund dafür, dass Hobbes Sprache nicht auch als hinreichende Bedingung gelungener menschlicher Gemeinschaft bestimmt; denn gerade weil der sprechende Mensch Handlungen nicht instinktiv, sondern praktischen Regeln folgend vollzieht, bedeutet Sprache nur ebenso die Möglichkeit, gegen diese Regeln verstoßen zu können. Man könnte also vermuten: Weil Sprache nur die menschliche Gemeinschaft, nicht aber auch deren Gelingen ermöglicht, folgt hieraus für Hobbes die Notwendigkeit, einen Staat gründen zu müssen. Jedoch sieht Hobbes in seiner kontraktualistischen Staatsentstehungstheorie im De cive (1647) von anthropologischen Ausstattungen wie der Sprachbegabung und historischen Umständen wie einer regional verbreiteten Sprache vollkommen ab. Der Mensch muss einen Staat gründen, sich unter ein gemeinsames Gesetz und eine gemeinsame Obrigkeit begeben, schlicht weil im Naturzustand jeder sein eigener Richter zur Verteidigung seiner natürlichen Rechte ist. Ob der Mensch dies seinem Gegenüber sprachlich kommunizieren kann oder nicht, ist für diesen Umstand indifferent; denn schon dieses naturständliche ipse iudex-Prinzip an sich resultiert mit Notwendigkeit in einer Rechtsunsicherheit, die nur durch einen Gesellschaftsvertrag aufzuheben ist.⁸ Einen anderen, ungleich deutlicheren sprachgeschichtlichen Widerspruch bildet Samuel Pufendorfs Naturzustandstheorie aus. Einerseits gilt dort die Sprachbegabung des Menschen als hinreichender Beweis für seine ihm wesentliche Geselligkeit (so-
Hobbes 1658: cap. 10, § 3: „[Q]uod imperare et imperata intelligere possumus, beneficium sermonis est, & quidem maximum. Nam sine eo nulla est inter homines societas […]“; Übers.: Hobbes 1994 [1658]: 17. Hobbes 1658: cap. 10, § 3: „Sed sunt quoque Orationi sua incommoda; nimirum, quod Homo, cum solus Animalium, propter vocabulorum significationem universalem, regulas sibi, cùm in aliis artibus, tum in arte vivendi, excogitare possit generales, solus etiam falsis uti potest, easdemque aliis utendas tradere. Itaque latiùs & periculosiùs errat Homo quam possunt errare caetera animalia.“; Übers.: Hobbes 1994 [1658]: 17. Hobbes 1647: cap. I, § 9; Hobbes 1994 [1647]: 81; vgl. Geismann 1982: 163 – 169; Hüning 1998: 69 – 75; Bach 2014: 116.
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cialitas), denn „ein anderer Nutzen dieser Fähigkeit außer der Geselligkeit ist kaum denkbar“.⁹ Diese socialitas ist bei Pufendorf schließlich auch der Beweis für seine Fähigkeit und sein Bedürfnis, eine Gemeinschaft bilden und pflegen zu können (Bach 2013: 30 – 33). Dass diese Geselligkeit auch in nicht-staatlich verfassten Gemeinschaften wirksam ist und deren weitgehende Befriedung gewährleistet, kennzeichnet zum einen den anti-Hobbes’schen Zug der Theorie Pufendorfs und hebt zum anderen die Relevanz der Sprache weiter an. Andererseits folgert Pufendorf aus der Tatsache, dass die Sprachbegabung Beweis genug für eine angeborene Geselligkeit ist, gerade nicht, dass auch die Sprache selbst schon angeboren sei. Sie wird im Gegenteil durch Anwendung und Gewöhnung erlernt.¹⁰ Die sprachlichen Zeichen und ihre jeweilige Bedeutung gehen aus einem Akt menschlicher Zuschreibung hervor – mit Ausnahme sogenannter „natürlicher Zeichen“. Diese aber seien „verworren und unartikuliert“ wie im Falle von Schmerz und Lachen.¹¹ Mehr Beispiele, vor allem aber eine präzisere Bestimmung natürlicher Zeichen liefert Pufendorf nicht.
2.2 Austritt aus dem Naturzustand: Non-verbale Kommunikation Diejenige Situation, die sowohl von der Robinsonade Defoes als auch von derjenigen Wezels dichterisch imaginiert wird, ist mithin genau jene, für die Hobbes den Gesellschaftsvertrag, Pufendorf die socialitas starkmachen zu müssen glauben: Robinson und Freitag bzw. Franz bilden eine zunächst von aller Institutionalisierung freie Gemeinschaft, deren Befriedung Hobbes nur durch ihre sofortige Überführung in den Staat, Pufendorf hingegen nur durch eine angeborene Geselligkeit für möglich hält. Pufendorf scheint auf den ersten Blick die Problemwahrnehmung der Robinsonaden zu teilen, weil im Augenblick des ersten Kontaktes freier Individuen eine Friedenssicherung durch eigenhändige Übereinkunft noch gar nicht erfolgen konnte. Was für Pufendorf allerdings Merkmal jener genuin menschlichen Geselligkeit ist, nämlich die Sprachbegabung, kann weder bei Defoe noch bei Wezel schon Merkmal ihrer anfänglichen Vergemeinschaftung sein, nämlich eine gemeinsame Sprache, die über natürliche Zeichen hinausgeht. In der Begegnung Robinsons und seines neuen Freundes verhandeln die Robinsonaden mithin mit dichterischen Mitteln eine Leerstelle, die Pufendorfs Theorie hinterlassen hatte. Die Hierarchie zwischen Robinson und Freitag bzw. Franz beginnt bei und gründet in der Rettung Freitags bzw. Franzens vor seinen kannibalischen Verfolgern.
Pufendorf 1998 [1672], lib. IV, cap. 1, § 1: „[C]uius facultatis extra socialitatem vix ullus usus intelligi potest.“ Pufendorf 1998 [1672], lib. IV, cap. 1, § 3: „Nullam enim linguam homini congenitam, sed adsuetudine omnes addisci, in aprico est.“ Pufendorf 1998 [1672], lib. IV, cap. 1, § 4: „Et contra verum est, voces natura ipsa, & citra humanam impositionem nihil significare; nisi forte vox sit confusa & ἄναρθρος, seu inarticulata, qualis est in dolore et in risu.“; § 5: „[O]mnia signa, exceptis naturalibus, rem certam notant ex impositione.“
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Die Passagen Defoes und Wezels, die diese Rettung und erste Begegnung beschreiben, ähneln sich bis ins Detail – so sehr sich das Werkganze auch unterscheidet: [T]he poor Savage who fled, but had stopp’d; though he saw both his Enemies fallen, and kill’d, as he thought; yet was so frighted with the Fire, and Noise of my Piece, that he stood Stock still, and neither came forward or went backward, tho’ he seem’d rather enclin’d to fly still, than to come on; I hollow’d again to him, and made Signs to come forward, which he easily understood, and came a little way, then stopp’d again, and then a little further, and stopp’d again, and I cou’d then perceive that he stood trembling, as if he had been taken Prisoner, and had just been to be kill’d, as his two Enemies were; I beckon’d him again to come to me, and gave him all the Signs of Encouragement that I could think of, and he came nearer and nearer, kneeling down every Ten or Twelve steps in token of acknowledgement for my saving his Life: I smil’d at him, and look’d pleasantly, and beckon’d to him to come still nearer; at length he came close to me, and then he kneel’d down again, kiss’d the Ground, and laid his Head upon the Ground, and taking me by the Foot, set my Foot upon his Head; this it seems was in token of swearing to be my Slave for ever. (Defoe 1719: 240 f.) Der Flüchtige erschreckt so gewaltig über den Schuß, daß er keinen Fuß weiter setzen kann: Robinson winkt ihm freundlich: der Wilde nähert sich einige Schritte, bleibt mistrauisch stehen, kömmt näher und entfernt sich wieder. Ohne Zweifel bildete er sich ein, daß er zum zweyten male in Gefangenschaft gerathen sey, und wie seine beiden Feind umgebracht werden solle. Robinson gab seiner Miene alle mögliche Freundlichkeit, um ihm Herz zu machen: der Wilde näherte sich ihm auf seine wiederholten Winke mit wachsendem Zutrauen, und warf sich alle zehn oder zwölf Schritte auf die Kniee, um seine Dankbarkeit zu zeigen. Als er auf diese Art ihm völlig nahe gekommen war, warf er sich auf die Erde, küßte sie, nahm einen von seines Befreyers Füßen und sezte sich ihn auf den Kopf, vermuthlich um dadurch seine Unterwürfigkeit auszudrücken und sich ihm als Sklave zu ergeben. (Wezel 2016 [1779]: 84)
Sowohl bei Defoe als auch bei Wezel entstehen die Gemeinschaft und zugleich die Hierarchie in ihr zunächst aus der Angst, die Freitag bzw. Franz vor Robinsons Waffengewalt hegt. Mit anderen Worten: Zunächst stiftet lediglich Robinsons Recht des Stärkeren diejenige Gemeinschaft, die beider Überleben sichern soll. Damit wird wiederum der Hobbes’schen ipse iudex-Theorie – bzw. ihrer unter den Zeitgenossen verbreiteten empirischen Lesart (Bach 2018) – widersprochen: Denn Robinson greift in den Konflikt zwischen Freitag bzw. Franz und seinen Verfolgern bewusst gegen das Naturrecht ein; sowohl Defoes als auch Wezels Robinson nämlich teilen die Erkenntnis Hobbes’, dass sie im Naturzustand über diesen Konflikt zu urteilen nicht befugt sind.¹² Defoes Robinson handelt schließlich doch entgegen dieser Erkenntnis, und zwar mit der Überlegung, dass kein anderes Mittel seiner Rettung von der Insel, mithin seiner Selbsterhaltung, zur Verfügung steht als die Unterstützung durch einen
Defoe 1719: 202: „What Authority, or Call I had, to pretend to be Judge and Executioner upon these Men as Criminals, whom Heaven had thought fit for so many Ages to suffer unpunish’d, to go on, and to be as it were, the Executioners of his Judgments one upon another. How far these People were Offenders against me, and what Right I had to engage in the Quarrel of that Blood, which they shed promiscuously one upon another.“; Wezel 2016 [1779]: 77: „‚[E]s ist unbillig, wenn ich sie feindselig angreife, so lange sie mich nicht beleidigen und also zur Selbstvertheidigung nöthigen.“
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ihm verbundenen Menschen. Sich diesen durch das aktive Eingreifen in einen Konflikt verbunden zu machen, erscheint Defoes Robinson nun insofern nicht als illegitim, als dieses Eingreifen nicht als Einmischung in die Selbsterhaltung anderer, sondern als Akt der Selbsterhaltung Robinsons selbst bestimmt wird.¹³ Wezels Robinson findet für sein Handeln dieselben Argumente; jedoch enttarnt der nur bei Wezel statthabende nullfokalisierte Erzähler diese Argumente als nur scheinbar vernünftig: [D]as Verlangen, zur menschlichen Gesellschaft zurückzukehren, erwachte izt mit neuer Stärke und wurde für ihn zum dringendsten Bedürfnisse: […] Seine Begierde machte ihn in diesem Vorsatze so beharrlich, daß er sich nicht scheute, seine Errettung durch Blut erkaufen zu wollen; und er tröstete sich darüber mit dem schönen Grunde, daß diese Wilden seine Feinde wären, die die Ruhe seiner kleinen Insel störten. Man merkt, daß ihm die Leidenschaft diesen Grund eingab; denn er ist falsch. (Wezel 2016 [1779]: 82)
Defoes Robinson stiftet seine Gemeinschaft durch einen bewussten, Wezels Robinson die seine durch einen unbewussten Naturrechtsbruch. Sowohl das verstandesmäßige Selbsterhaltungskalkül bei Defoe als auch der Selbsterhaltungstrieb bei Wezel werden mithin als Vergemeinschaftungstheoreme entlarvt, die jenseits von Recht und Unrecht zu verorten sind – ganz im Unterschied zu Pufendorf, der die conservatio sui für schon im Naturzustand durch die socialitas eingeschränkt befindet,¹⁴ und im Unterschied auch zu Hobbes, der die Selbsterhaltung als Grund der Einführung positiven Rechts bestimmt.¹⁵ Wäre das kritische Potenzial robinsonadischer Dichtung damit schon ausreichend bewiesen, so reicht dieses im Falle Defoes und Wezels noch über diesen Nachweis einer Indifferenz politischer und juridischer Prinzipien hinaus: Denn sowohl bei Defoe als auch bei Wezel entstehen zwischen Robinson und seinem Untertan eine Freundschaft und Zuneigung, die das Selbsterhaltungsinteresse als Garanten ihrer Gemeinschaft und das Recht des Stärkeren als Garanten ihrer Hierarchie ablösen. Freitag bzw. Franz ist alsbald nicht mehr Mittel von Robinsons Selbsterhaltung, sondern sein Freund, und er fühlt sich ihm sodann nicht mehr aus Angst, sondern aus Dankbarkeit und Freundschaft verbunden. Defoes und Wezels Robinsonaden stellen sozusagen fiktive Experimente von an sich nicht rechtmäßigen Vergemeinschaftungsakten dar, deren Legitimation gleichwohl ‚nachgeliefert‘ werden kann. Die Entstehung einer Gemeinschaft und ihre Legitimität müssen und können – so das fragwürdige Fazit der Robinsonaden – weder gleichzeitig noch gleichursprünglich sein. Defoe und Wezel vollziehen eine radikale Dissoziation des schier politischen Zusammenschlusses und seiner juridischen Legitimation – also der Vergemein-
Defoe 1719: S. 236: „Upon this however, I made this Conclusion, that my only Way to go about an Attempt for an Escape, was, if possible, to get a Savage into my Possession; and if possible, it should be one of their Prisoners, who they had condemn’d to be eaten, and should bring thither to kill; […]. I had other Reasons to offer now (viz.) that those Men were Enemies to my Life, and would devour me, if they could; that it was Self-preservation in the highest Degree, to deliver my self from this Death of a Life.“ Pufendorf 1997 [1673]: lib. 1, cap. 5, § 5; vgl. Stiening 2018: 217. Hobbes 1647: cap. 1, § 15; Hobbes 1994 [1647]: S. 85.
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schaftung im eigentlichen Sinne. Genau damit legen sie ein Lösungsangebot für das hier interessierende Problem vor: Im Augenblick des ersten Kontaktes zwischen Robinson und Freitag bzw. Franz sind Mittel der non-verbalen Kommunikation hinreichend, um ihren Zusammenschluss zu bewirken; und das Mittel dieser non-verbalen Kommunikation ist hier das von Robinson ausgeübte und habituell zur Schau getragene Recht des Stärkeren. Dieses ist es, das Freitag bzw. Franz dazu ‚überredet‘, sich mit Robinson nicht nur zusammenzuschließen, sondern sich ihm auch zu unterwerfen. In der Tat erfüllen an dieser Stelle Handlung und Verhalten eine kommunikative Funktion, d. h. sie übernehmen übergangshalber eben diejenige Funktion, die eine verbale Kommunikation noch gar nicht übernehmen kann. So müssen weder Defoe noch Wezel die Notwendigkeit verbaler Kommunikation für den Vergemeinschaftungsprozess bestreiten noch müssen sie dieselbe auf paradoxe Weise immer schon voraussetzen, weil diese Notwendigkeit nicht in gleicher Weise für den bloßen Zusammenschluss besteht.
3 Daniel Defoes Robinsons Crusoe (1719): Theologische Anthropologie Darin sind sich Daniel Defoe und Johann Karl Wezel, so theologisch der eine, so materialistisch der andere in seiner weltanschaulichen Grundausrichtung auch sein mag, also allemal einig: Vergemeinschaftung ist ein gradualer Prozess und der Grad der Gemeinschaft steigt in der Weise, wie Robinson sich mit „seinem Wilden“ über dessen Akkulturation verständigen kann. Auf diesen kommunikativen Stufenplan legen sowohl Defoe als auch Wezel großen darstellerischen Wert. Erst mit zunehmendem Sprachverständnis und erst mit der daraus resultierenden Möglichkeit Robinsons, seinen Knecht über die geforderten Sitten zu belehren (es soll kein Menschenfleisch gegessen werden,¹⁶ der Körper soll nicht nackt bleiben),¹⁷ seinen Knecht in den Ackerbau und in die Benutzung von Schusswaffen einzuweisen, wird der ‚Wilde‘ von Robinson als Mitglied einer Gemeinschaft akzeptiert; einer hierarchischen zwar, aber immerhin erhält Freitag bzw. Franz mit der Zeit Zugang zu allen Bereichen und Räumen von Robinsons Festung und Höhle. Er wird vom Knecht zum Untertan.¹⁸
Defoe 1719: 246; Wezel 2016 [1779]: 87. Defoe 1719: 246; Wezel 2016 [1779]: 86. Vgl. Defoe 1719: 242: „my Savage, for so I call him now“, Hervorhebung im Text!; Defoe 1719: 266: „While my Jealousy of him lasted, you may be sure I was every Day pumping him to see if he would discover any of the new Thoughts, which I suspected were in him; but I found every thing he said was so Honest, and so Innocent, that I could find nothing to nourish my Suspicion; and in spight of all my Uneasiness he made me at last entirely his own again, nor did he in the least perceive that I was Uneasie, and therefore I could not suspect him of Deceit.“; Wezel 2016 [1779]: 89: „[A]uch hatte der Bursche durch den dreyjährigen Umgang mit einem Europäer den größten Teil seiner Wildheit verloren und war so sehr der Freund seines Herrn geworden, daß dieser keine Gefahr bey ihm besorgen durfte.“
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Zwar lernen Defoes Freitag und Wezels Franz unterschiedlich schnell; aber sowohl Defoes Robinson als auch Wezels personaler Erzähler reflektieren über die Voraussetzungen von Lernen und von Lernerfolg. Wie schildert also Defoes Ich-Erzähler Robinson den einsetzenden Lernprozess und wie erklärt er sich den von Beginn an schnellen Lernfortschritt seines neuen Gefährten?: I was greatly delighted with him, and made it my Business to teach him every Thing, that was proper to make him useful, handy, and helpful; but especially to make him speak, and understand me when I spake, and he was the aptest Schollar that ever was, and particularly was so merry, so constantly diligent, and so pleased, when he cou’d but understand me, or make me understand him, that it was very pleasant to me to talk to him. (Defoe 1719: 249)
Defoes Robinson macht zwei Erklärungsangebote für Freitags Lernfortschritt: Da ist einmal Freitags Freude und Vergnügen über Lernerfolge, die ihrerseits den Lernprozess fördern. Dass diese allerdings nur als Ursachen des weiteren Lernfortschritts taugen, selbst aber ebenso nur Effekte vorausgehender Lernfortschritte sind, zeigt nicht zuletzt der passive Modus: Freitag ist erfreut („he is pleased“). Interessanter ist folglich dasjenige Erklärungsangebot Robinsons, das auf ursprüngliche und nicht ihrerseits abgeleitete Ursachen von Freitags Lernerfolg zielt: Freitag ist „the aptest Schollar“. Übersetzt man aptitude als Begabung bzw. Neigung, so fällt sie in das zeitgenössische semantische Feld von inclinatio bzw. proclivitas und bedeutete mithin die natürliche Zuwendung eines Lebewesens zu einem Objekt, d. h. – so formuliert es bspw. Zedlers Universal-Lexicon – das Lebewesen neigt dem Objekt zu, „ohne daß es das Object seiner Neigung jemahls zuvor gesehen oder von demselben gehöret hat, folglich also ohne alle vorgängige Vorstellung des Objects“ (Zedler 1740: 1654). In diesem Falle erklärte sich Defoes Robinson die Gelehrigkeit Freitags mithin nicht als verstandesmäßige Leistung, sondern als Trieb, und zwar als konkret gegenstandsbezogenen Trieb: einen Trieb zur Sprachaneignung, ohne dass von dieser Sprache bereits eine Vorstellung im lernenden Subjekt existiert. Der Trieb, der seit Platons Unterscheidung dreier Seelenteile als Vermögen des unteren, begehrlichen Seelenteils gilt, sorgte so für die Ausbildung eines Vermögens des oberen, vernünftigen Seelenteils (Mittelstraß 2004). Diese Interpretation ist allerdings keineswegs zwingend, denn schließlich kann man the aptest Schollar auch als den geeignetsten Schüler übersetzen. Was der Ort dieser Eignung ist – die unteren oder die oberen Seelenteile –, bliebe bei dem rein formalen Terminus geeignet also dahingestellt. Dieselbe Unschärfe gilt im Übrigen für Robinsons Hinweis auf Freitags „ununterbrochenen Fleiß“; Fleiß bzw. diligence kann zeitgenössisch entweder ein Trieb sein¹⁹ oder lediglich eine Sorgfalt bei der Ausführung einer Handlung bedeuten,²⁰ wobei wie
Vgl. Zedler 1735: 1220 f., der Fleiß einerseits als Trieb bezeichnet, andererseits von einer Pflicht zum Fleiß spricht, ohne das Problem zu verhandeln, wie zu einem Trieb verpflichtet werden könne. So z. B. Encyclopdædia Britannica 1771: 442.
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bei der aptitude vollkommen dahingestellt sein kann, ob diese Sorgfalt ihren Ursprung nun im Verstand oder in den Sinnen bzw. Trieben hat. Ob der Defoe’sche Robinson nun mit Freitags aptitude ein verstandesmäßiges oder sinnliches Vermögen meint: So und so steht fest, dass sie eine schöpfungstheologische Ursache haben, denn gerade Freitags Verhalten gibt Robinson occasion to observe, and that with wonder, that however it had pleas’d God, in his Providence, and in the Government of the Works of his Hands, to take from so great a Part of the World of his Creatures, the best uses to which their Faculties, and the Powers of their Souls are adapted; yet that he has bestow’d upon them the same Powers, the same Reason, the same Affections, the same Sentiments of Kindness and Obligation, the same Passions and Resentments of Wrongs, the same Sense of Gratitude, Sincerity, Fidelity, and all the Capacities of doing Good, and receiving Good, that he has given to us; and that when he pleases to offer to them Occasions of exerting these, they are as ready, nay, more ready to apply them to the right Uses for which they were bestow’d, than we are.. (Defoe 1719: 248)
Reason ebenso wie affections, sowohl passive Empfindungen als auch aktive Verstandestätigkeit sind für den Robinson Daniel Defoes also anthropologische Ausstattungen. Freitag verdankt es folglich seiner Triebnatur und Vernunftnatur gleichermaßen, dass er zum Spracherwerb in der Lage ist; die Gelegenheit, diesen Spracherwerb zu realisieren, verdankt er der göttlichen Vorsehung, die ihn auf Robinson hat treffen lassen. Das ist ein keineswegs zu vernachlässigendes Moment in Defoes Konzept von Sprachbegabung und Sprachlernerfolg: Denn mit dieser providentiellen Prämisse schränkt Robinson vor allem seinen Begriff des Triebs in bestimmter Weise ein: Der Trieb ist zwar zielgerichtet, er strebt aber eben nicht von sich selbst aus auf sein Ziel hin, er sucht das Ziel nicht. Der Defoe’sche Trieb wird erst aktiviert, wenn eine gottgegebene Gelegenheit dem menschlichen Subjekt das Ziel seines Triebes unmittelbar ansichtig macht. Der Defoe’sche Trieb ist mithin ein bloßes Potenzial, das weder vom Trieb selbst noch vom Verstand des menschlichen Subjekts aktiviert werden könnte. Kurz: Defoes Robinson liefert uns eine Anthropologie, die zwar die notwendigen Bedingungen von Kommunikation erläutert; die hinreichenden Bedingungen des Gelingens von Kommunikation jedoch liegen jenseits dieser Anthropologie und sind Sache der göttlichen Vorsehung. Gelungene Kommunikation in Defoes Robinson Crusoe ist das Ergebnis natürlicher und übernatürlicher Voraussetzungen.
4 Johann Karl Wezels Robinson Krusoe (1779): Materialistische Anthropologie Wie ist es um die entsprechende Stelle in Johann Karl Wezels Bearbeitung bestellt? Wie schildert also Wezels auktorialer Erzähler den einsetzenden Lernprozess? Zunächst fällt auf, dass Defoe sich mit Blick auf den Modus des Lernprozesses auf
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pädagogische Aspekte wie Freitags Vergnügen an Lernerfolgen beschränkt hatte; Wezel ist da ungleich spezifischer und liefert didaktische Aspekte: Er lernte zwar Robinsons Muttersprache etwas langsam, aber doch in kurzem genug davon, um die Sachen, welche täglich vorkamen, zu benennen und zu unterscheiden; und er konnte sehr bald jedes Ding bringen, wenn ihm sein Herr die englische Benennung desselben sagte. Dieser Unterricht wurde ununterbrochen bey allen Verrichtungen fortgesezt, bey dem Melken der Ziegen, bey der Bestellung des Ackers, bey dem Essen […]. (Wezel 2016 [1779]: 87)
Franz eignet sich die Namen von Dingen an, indem Robinson diese ihm unmittelbar ansichtig werden lässt. Franz erlernt die Zeichen in Ansehung ihrer Referenz.²¹ Franz lernt durch Vorbild, Nachahmung und Wiederholung. Schon in seiner Lebensgeschichte Tobias Knauts, des Weisen 1773 – 76 hatte Wezel sein erzählendes Alter-Ego die Nachahmung als pädagogisch wichtigstes Instrument feiern lassen: „Die Nachahmung! diese mächtige Meisterin, die an unserm Charakter die meisten Meißelstiche thut!“ (Wezel 1775: 37). Im Robinson Krusoe ist es die Nachahmung als sowohl pädagogische als auch didaktische Methode, der eine bestimmte anthropologische Voraussetzung korrespondiert. Von Franzens natürlicher Konstitution nämlich heißt es: Wie ein Hund, lief er seinem Herrn allenthalben nach, begaffte alles, was er ihn thun sah, mit ungemeiner Aufmerksamkeit und der größten Befremdung. Am drollichsten war seine Nachahmungssucht: jede Geberde, Bewegung und Handlung machte er auf der Stelle nach. (Wezel 2016 [1779]: 86)
Die darstellerische Verbindung der so beschriebenen Nachahmungssucht mit Franzens Verhalten „[w]ie ein Hund“ geschieht nicht von ungefähr: Mit ihr kennzeichnet Wezel die Nachahmungssucht noch deutlicher als den unteren Seelenvermögen zugehörig, als Trieb. Und tatsächlich: Blickt man auf Wezels fünf Jahre nach Robinson Krusoe veröffentlichte philosophische Hauptschrift Versuch über die Kenntniß des Menschen von 1784, so bestimmt Wezel dort Sucht als dominanten Trieb: Erreicht eine Begierde einen merklich hohen Grad der Stärke, oder wird sie so herrschend, daß sie alle andere unterdrückt, ausschließt, sich dienstbar macht, so nennen wir es einen Geiz, eine Sucht, und schreiben alsdann dem Menschen Ehrgeiz, Ruhmsucht, u.s.w. zu. (Wezel 2001 [1784]: 261)
Unter Idealbedingungen befürwortet Wezel diese didaktische Methode nicht: In seiner ein Jahr nach dem Robinson, 1780, publizierten Ankündigung einer Privatanstalt für den Unterricht und die Erziehung junger Leute zwischen dem zwölften und achtzehenten Jahre wird Wezel eine andere Form des Elementarunterrichts vertreten: Hier hält er es für nützlich, dem Schüler unter 12 Jahren Bilder von Dingen zu zeigen, um sich daraus einen Begriff zu bilden.Wezels Didaktik ist mithin auf eine mehr dem Signifikat als der Referenz nahestehende Anschaulichkeit ausgelegt. Gleichwohl ist ihm dies nicht als Widerspruch auszulegen, schließlich hat Robinson Krusoe schlechterdings keine Bilder zur Hand: Wezel 2001 [1780]: 578.
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Dabei wird Nachahmung nicht von allen Zeitgenossen als Trieb bestimmt. In Zedlers Universal-Lexicon beispielsweise resultiert Nachahmung zum einen aus angemessener Verstandestätigkeit (iudicium) und zum anderen aus wohlverstandenem Eigennutz (Zedler 1740: 53). Für den anonymen Autor des Zedler-Artikels ist also dem Akt der Nachahmung notwendig ein Verstandesurteil darüber vorgängig, was nachzuahmen wert, was nachzuahmen unwert ist. Wezels Franz hingegen ahmt jedwede Handlung, Geste, Mimik, Ausspruch Robinsons nach. Franz tut dies zwar unter der Voraussetzung einer Zuneigung, die er seiner Rettung wegen zu Robinson gefasst hat; gleichwohl stellt Wezel diesen motivationalen Zusammenhang eben nicht als iudicium Franzens über den Wert und Unwert, Robinson nachzuahmen, dar, sondern bezeichnet sie eben als Nachahmungssucht, als dezidiert non-reflexive Motivation zur Nachahmung. Dafür, dass sich Franzens Nachahmungssucht auf Robinson richtet, liegen für Franz nicht rationale Gründe vor, sondern Ursachen, und zwar zum einen äußere soziale Ursachen, nämlich das Herr-Knecht-Verhältnis, und zum anderen innere anthropologische und entwicklungspsychologische Ursachen: Franz ist folgsam wie ein Hund und neugierig wie ein Kind (Wezel 2016 [1779]: 87). Mit dieser dynamischen – statt statischen – Anthropologie versucht Wezel gleich zwei Erklärungen zu liefern: Erstens soll sie gleichsam ‚Urszenen‘ des Lernens erklären helfen, d. h. denjenigen Startpunkt, ab dem verstandesmäßig gelernt wird, ohne dass schon auf verstandesmäßige Voraussetzungen zurückgegriffen werden könnte. Der Nachahmungstrieb ist zumindest an diesem Startpunkt, in dieser ‚Urszene‘ des Lernens, nicht nur non-reflexiv, sondern auch prä-reflexiv. Zweitens liefert Wezels dynamische Anthropologie eine Erklärung dafür, wie aus dem Zustand des bloßen Nachahmungstriebs zum Zustand einer Abstimmung von Verstandestätigkeit und Triebtätigkeit fortgeschritten werden kann, und zwar mithilfe des Nachahmungstriebs. Das ist ein aporetisches Moment, wie es solchen dynamischen Anthropologien häufig zu eigen ist: Sie wollen einen Zustand A als natürlich, d. h. notwendig, bestimmen und zugleich mithilfe des Zustands A das Austreten aus demselben in den Zustand Nicht-A für ebenso notwendig erklären. Wenn aber eine Anthropologie, also eine Grundlagentheorie, in diesem Sinne aporetisch ist, dann immunisiert sie sich dadurch auch. Phänomene misslungener Kommunikation sind dann eben keine empirischen Widerlegungen jenes Anthropologems des Nachahmungstriebs, sondern lediglich ein Indiz dafür, dass der Nachahmungstrieb noch nicht zur vollen Blüte gelangt ist, sein Ziel noch nicht erreicht hat.²² Dies gilt es zu betonen, um den Eindruck zu vermeiden, die vorliegende Wezel-Interpretation solle ‚immunisiert‘ werden.
Das verdeutlicht im Übrigen, dass teleologische Argumentationsmuster im Materialismus eben nicht mit Notwendigkeit erfolgreich eliminiert sind. Zweckursachen werden zwar ‚kausalisiert‘, indem ein ursächlich wirkender Trieb der Natur die final ausgerichtete Intention eines Schöpfergottes ersetzen soll; solange ein solcher Trieb jedoch immer einen bestimmten Gegenstand hat – Gesellschaft, Liebe, Nachahmung –, hat er denselben Gegenstand – und nur denselben – auch zum Ziel. Das Objekt des Triebes mag also auf terminologischer Ebene noch so sehr als Wirkung bezeichnet werden, der Sache
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Indessen kann man versuchen zu beschreiben, wie Wezel diese in der Sache aporetische Bestimmung eines Triebs zu vermitteln versucht. Dass nämlich ein Trieb in der beschriebenen Weise durch sich selbst dazu in der Lage sein soll, den Menschen in einen Zustand übertreten zu lassen, der sich doch durch verstandesmäßige Sprachbegabung auszeichnet und damit weniger triebbestimmt zu sein scheint, ist für Wezel offensichtlich deshalb kein Widerspruch, weil es für ihn ohnehin keinen kategorischen Gegensatz von oberen und unteren Seelenteilen, von Verstandestätigkeit und Triebmechanismus gibt. Nichts gibt diese Vorstellung Wezels besser wieder als der erste Satz des bereits erwähnten Versuchs über die Kenntniß des Menschen: Jeder Mensch, den die Natur nicht blos zur Vegetation und zur Sinnlichkeit bestimmte, fühlt in gewissen Jahren einen Trieb, über die Natur der Dinge, die mit ihm die Welt ausmachen, und über seine eigene nachzudenken: er fragt sich, in welcher Verbindung alles mit ihm, und er mit allem steht, was die Triebfedern seines Mechanismus, seiner Gedanken und seines Willens in Bewegung sezt […]. (Wezel 2001 [1784]: 9)
Zwar gibt es für Wezel einen Unterschied zwischen einer bloß durch die Sinne und das körperliche Überleben bestimmten Lebensweise einerseits und einer auf Verstehen dieser Zusammenhänge ausgerichteten Lebensweise andererseits: Gleichwohl ist dieser Unterschied für Wezel nur gradual; er ist nicht kategorial und kann es nicht sein, weil es wiederum ein Trieb ist, der den Menschen zum Nachdenken über sich selbst antreibt. Auch die Verstandestätigkeit hat also ihren Ursprung in einem Trieb und ist damit kein Seelenvermögen sui generis. Nicht nur Wezels Belphegor, sondern auch sein Robinson Krusoe darf folglich als literarisches Experiment mit Blick auf menschliche Urteilsbildung gelten (Thomalla 2017: 39). In dualistischen Metaphysiken und Anthropologien ist nur mit Blick auf den Willen von Triebfedern die Rede; bei Wezel hingegen gibt es eben auch „Triebfedern der Gedanken“. Eine Regierung des Verstandes über die Triebe, wie Thomas von Aquin sie fordert,²³ oder gar eine stoische „Durchtränkung“ der Triebnatur (Kondylis 1986: 133 f.) ist für Wezel weder theoretisch möglich noch praktisch sinnvoll: Denn nicht nur bedeutete das Abtöten aller Sinnlichkeit, die Verstandestätigkeit ihres ersten Antriebs zu berauben; vielmehr brächte man bei dem Versuch, seine Triebe zu ignorieren, nur Unordnung in dieselben und verschlimmerte die Situation des eigenen Temperaments nur statt sie zu verbessern. Denken ist für Wezel weniger eine spekulative Verstandestätigkeit als vielmehr ein psychomechanisches Bewusstsein für die eigene Triebdisposition und für die angemessene Nutzung derselben (Nowitzki 2003: 266): Den Antriebs- und Widerstandsfedern ist jeweils in einem solchen Maße nachzugeben, dass keine Feder überdehnt
nach bleibt es ein Ziel (Vgl. Riedel 1969: 420). Viele metaphysische Begriffe der vorkritischen Aufklärungsepoche sind eben noch keine kausalen Begriffe, sondern bloß kausalisierte finale Begriffe. Thomas von Aquin 1970: 212 (I, q. 81, a. 3, ad 2): „[S] icut philosophus dicit in I politicorum, est quidem in animali contemplari et despoticum principatum, et politicum, anima quidem enim corpori dominatur despotico principatu; intellectus autem appetitui, politico et regali.“
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oder gestaucht wird.²⁴ Dabei können diese Triebfedern aufgrund unterschiedlicher Erziehung, individueller Erfahrung und klimatischer Bedingungen durchaus unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Beispielsweise kann eben der Nachahmungstrieb bei einem Menschen schwächer ausgeprägt sein, beim anderen – z. B. bei Franz – stärker; so stark, dass Wezel eben von einer Nachahmungssucht spricht: Wie ein Kind, pflegte er jeden Gegenstand zu befühlen, den er zum erstenmale sah, und aus Nachahmungssucht hatte er schon etlichemal Mine gemacht, eine Flinte loszudrücken, wenn er sie seinem Herrn nachtragen mußte. (Wezel 2016 [1779]: 87 f.)
Nachahmungssucht ist im Unterschied zum Nachahmungstrieb kein Anthropologem in dem Sinne, dass sie jedem Menschen eigen ist. Blickt man nochmals auf den Versuch über die Kenntniß des Menschen, so bestimmt Wezel dort als Sucht denjenigen Trieb bzw. diejenige Begierde, die „so herrschend [wird], daß sie alle andere unterdrückt, ausschließt, sich dienstbar macht“ (Wezel 2001 [1784]: 261). Der Nachahmungstrieb im Allgemeinen und die Nachahmungssucht im Besonderen befördern mithin Franzens Aneignung all der Regeln, die Robinson ihm sprachlich und praktisch beibringt, und zwar befördern sie diese Aneignung besonders stark: Ein anderer Trieb nämlich wie z. B. der Ehrgeiz lässt das Subjekt Handlungen nur unter der Voraussetzung nachahmen, dass sie die Ehre befördern, mithin lässt er das Subjekt sich die entsprechenden Regeln immer erst nach einer prüfenden Verzögerung aneignen. Die Nachahmung hingegen eignet Handlungen dem Subjekt immer so an, dass sie automatisiert vollzogen werden können.Versteht man aber unter diesem automatisierten Charakter des Handlungsvollzugs den Begriff Habitus, dann wird auch deutlich, dass Wezels dynamische Anthropologie sich nicht nur vom theologischen Beiwerk Daniel Defoes freizumachen versucht; sondern sie versucht als Anthropologie zugleich auch soziologische Erklärungsmuster zu liefern. Die Aneignung menschengemachter, positiver, kultureller Regeln wird nicht mehr als sachfremd aus der Anthropologie herausgehalten, sondern in die Anthropologie integriert: Habitualisierung ist bei Wezel ein Zweig der Anthropologie. Die dem vorliegenden Beitrag seinen Titel stiftende Frage nach „gelungener Kommunikation zwischen Anthropologie und Habitualisierung“ wäre mit Blick auf Wezel zu beantworten mit „gelungene Kommunikation als anthropologische Habitualisierung“.
Vgl. Nowitzki 2003: 267. Insofern kann ich Nowitzkis herausragender Studie in der Schlussfolgerung nicht zustimmen, es sei „die Vernunft als ein Anthropinon, das den Trieb in ihm rege macht und zugleich auch die Möglichkeit gibt, ihm nachzufolgen“ (252).Vielmehr scheint das Gegenteil der Fall zu sein und der Trieb die Vernunft rege zu machen.
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5 Resümee: Gelungene Kommunikation – gelungenes Erzählen Wezel gleicht Defoe zwar darin, dass er ebenso wie dieser von einer Anthropologie ausgeht, d. h. von der Vorstellung, dass bestimmte angeborene Gaben den „Wilden“ in die Lage versetzen, die Sprache seines Herrn zu erlernen.Während diese Gaben jedoch bei Defoes Freitag mehrere an der Zahl und auch vielgestaltig sind – sowohl verstandesmäßig als auch sinnlich –, beschränkt sich Wezels Erklärung ganz auf einen bestimmten Trieb, die Nachahmungssucht. Und noch wichtiger: Während für Defoes Freitag diese natürlichen Gaben an ihnen selbst nicht hinreichend sind, um den Lernprozess einzuleiten, ist der Wezel’sche Trieb, die Nachahmungssucht selbst auch hinreichende Erfolgsbedingung zumindest insoweit, als allemal gelernt wird, auch wenn die Qualität des Erlernten vom gegebenen Vorbild abhängt. In Defoes Robinson Crusoe ist gelungene Kommunikation das Ergebnis natürlicher und göttlicher Voraussetzungen. Gelungene Kommunikation in Wezels Robinson Krusoe ist das Ergebnis ausschließlich natürlicher Voraussetzungen. Sowohl Defoe als auch Wezel bestimmen Kommunikation nicht nur als Bedingung der Gemeinschaftsbildung, sondern auch als Bedingung von Menschsein überhaupt, insofern der Mensch zur Gemeinschaft bestimmt ist: Ein Mensch, der sich nicht vergemeinschaftet, erfüllt diese – bei Defoe schöpfungstheologische, bei Wezel triebanthropologische – Bestimmung nicht. Das ist an sich selbst noch kein Konversationsideal, keine Sprach- oder Sprechregel, sondern eine anthropologische Norm, die es durch Kommunikation zu realisieren gilt. Sowohl Defoes Robinson Crusoe als auch Wezels Robinson Krusoe stellen auf der Handlungsebene die Performanz mit Blick auf diese Norm dar. Sie führen aber auch auf der Textebene Performanz mit Blick auf diese Norm durch. Gerade Defoes Tagebuchschreiber Robinson schreibt wiederholt von seiner Einsamkeit und seinem Bedürfnis nach Kommunikation – und schreibt damit immer seiner anthropologischen Bestimmung hinterher. Der Tagebuchroman zeichnet sich nämlich – ähnlich dem Briefroman und im Unterschied zur bloßen Ich-Erzählung – gerade dadurch aus, die subjektive Offenheit des beteiligten Erzählers immer mit zu vollziehen: Schon am nächsten Tag könnte die Handlungserwartung des Tagebuchschreibers enttäuscht werden oder, schlimmer noch, der nächste Tagebucheintrag, der nächste Brief könnte schlechterdings ausbleiben – und der Roman wäre abrupt zu Ende. Das immer mögliche unvermittelte Ende muss ebenso als Strukturprinzip des Tagebuch- und Briefromans gelten wie der unvermittelte Anfang.²⁵ Defoes Tagebuch gibt die tägliche anthropologische Erfüllungsangst Robinsons wieder. Der Leser fiktionaler Literatur zeichnet sich wesentlich durch eine Kohärenzerwartung aus (Kablitz 2013: 197). Gerade weil Robinson also an den bestimmten Textstellen sein Bedürfnis nach Kom-
Kellner 2015: 11, 14, 233; vgl. Stiening 2005: 21– 26.
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munikation so stark artikuliert, müssen all die anderen Stellen, an denen sich Robinsons Tagebucheinträge auf bürokratische Vermerke seiner Tagesleistung und Tagesproduktion beschränken, dem Leser als genau diejenige entmenschlichte Langeweile erscheinen, von der Robinsons Menschsein bedroht ist. Die bisweilen langweiligen Passagen von Defoes Robinson Crusoe sind mithin nicht das Ergebnis poetischen Unvermögens, sondern sind integraler Bestandteil der Darstellung eines auf Gesellschaft drängenden Menschen: Der Text setzt die soziale Leere performativ um, aus der dem Leser nur genauso wie für Robinson der Wunsch nach Gesellschaft generiert. Warum gibt Wezel indessen die Ich-Erzähler-Form auf? Auf der einen Seite geht die diaristische Form verloren und damit auch die Möglichkeit, Robinsons anthropologische Erfüllungsangst performativ umzusetzen. Auf der anderen Seite – und damit komme ich zu meiner Einleitung zurück (I.) – hat ein nullfokalisierter Erzähler die Möglichkeit, Franz in gleichem Maße in den Fokus des anthropologischen Diskurses zu nehmen wie Robinson. Ebenfalls in der Einleitung wurde ein peritextueller Bogen vom letzten Satz des Romantextes zu Wezels Vorrede gespannt. Es kann auch ein intratextueller Bogen vom letzten zum ersten Satz des Romantextes gespannt werden: „Robinsons Familie stammte ursprünglich aus Teutschland her“ (Wezel 2016 [1779]: 18). Der Roman beginnt also mit Robinsons Herkunft aus und endet mit Franzens Ankunft in Europa. Franz wird mithin auch narrativ ‚eingemeindet‘, indem er nicht nur auf der Handlungsebene dasselbe Romanende erfährt wie Robinson, sondern auch auf Textebene am Romanende steht. Darüber hinaus nutzt Wezel den nullfokalisierten Erzähler vor allem für augenscheinlich gattungsironische Selbstkommentare in der Erzählerrede, wie z. B.: Nichts ist in einer Reisebeschreibung weniger unerwartet, als ein Sturm: man wird sich daher nicht im mindesten wundern, wenn dem armen Robinson nicht lange nach seiner Ausfahrt einer der schrecklichsten begegnet, mit welchem jemals ein Schiff gekämpft hat. (Wezel 2016 [1779]: 30 f.)
Wezel streicht mithin nicht nur als Autor all die abenteuerlichen Passagen der Defoeschen Vorlage, die in seinen Augen von der anthropologischen Hauptsache ablenken;²⁶ sondern er lässt auch seinen nullfokalisierten Erzähler selbst jenes anthropologische Interesse performativ umsetzen, indem dieser die abenteuerlichen Nebenhandlungen selbst lächerlich macht. Wezel 2016 [1779]: 13: „In der Geschichte selbst habe ich diese Stufen der Entwicklung [des Menschen; O.B.] deutlich angegeben und hineinzubringen gesucht, so sehr der Plan des Originals es erlaubte. Es scheint nicht, daß Defoe diese philosophische Idee eigentlich dabey gehabt hat, und sein Schatten wird mir vergeben, daß ich ihm etwas andichte, woran er vielleicht nicht dachte. Zusammendrängung der Geschichte, ihre Richtung auf den vorhin genannten Zweck, Erfindung, Anordnung und Kolorit einiger Naturscenen, Umbildung einiger Begebenheiten, Ton und Gang der Erzählung sind alle Verdienste um meinen Abentheuer, auf welche ich mit Recht Anspruch machen kann: das Übrige gehört seinem ersten Verfasser.“ Hervorhebung O.B.
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Die Erzählerebene Defoes wie auch Wezels ist dem anthropologischen Interesse mithin nur genauso verpflichtet und agiert dasselbe nur genauso aus wie die Ebene der Handlung und der Figurenrede. Mit Blick auf dieses die diegetischen Ebenen einende anthropologische Interesse korrespondiert der gelingenden Kommunikation ein gelungenes Erzählen.
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Kontexterweiterung und Dimensionen des Abgründigen. Überlegungen zum Theaterdialog 1 Einleitung Die Beiträge dieses Tagungsbandes basieren auf der Voraussetzung, dass sich die linguistische Gesprächsanalyse und die Untersuchung literarischer Texte gegenseitig bereichern können. Nicht nur können Interpretationen literarischer Texte bei einer entsprechenden Themenstellung gewinnbringend auf die Angebote der linguistischen Gesprächs- und Dialogforschung rekurrieren, sondern der Blick auf literarische Texte kann auch dazu verhelfen, Dimensionen des Dialogs zum Vorschein zu bringen, die bei der linguistischen Analyse zu kurz kommen. Die Schwerpunkte der linguistischen Analyse liegen – aus guten Gründen – auf den Regeln und Konventionen des Gesprächs und setzen dabei voraus, dass Dialoge in rationaler und kooperativer Weise verlaufen.¹ Phänomene, die dieser Voraussetzung nicht entsprechen, werden weniger häufig und dann eher in negativer Weise thematisiert: so etwa als Bedrohung im Falle der „face-threatening acts“, von denen die Höflichkeitsforschung spricht (Brown / Levinson 1987: 65 – 84), oder als „misbehavior“ oder sogar „offense,“ wie Erving Goffman bei der – im übrigen äußerst anregenden – Besprechung der Verstöße gegen die „involvement obligations“ ausführt (Goffman 1967: 113 – 136). Die Besonderheit literarischer Dialoge – und im Besonderen von Dramendialogen – besteht demgegenüber gerade darin, dass sie es sich zum Programm machen, die Regeln der normalen Sprache und damit auch die des Dialogs systematisch außer Kraft zu setzen. Dabei betrifft dies nicht nur die spezifischen Verfahren ästhetischer Gestaltung wie Vers oder rhetorischen Ornatus, sondern auch den Umgang mit den pragmatischen Funktionen. Dramen zeigen nicht nur Bespiele gelungener dialogischer Interaktion, sondern auch und vor allem die dem Dialog inhärenten Risiken, seine prinzipielle Unkontrollierbarkeit und eine daraus erwachsende Bodenlosigkeit und Abgründigkeit. Dramen tun dies natürlich in vielfacher Weise, schon deshalb, weil sie ja vor allem den Konflikt und die Auseinandersetzung in den Mittelpunkt rücken. Ich will mich hier nun aber auf solche Fälle konzentrieren, die auf den besonderen Kontextbedingungen und der sich daraus ergebenden fundamentalen pragmatischen Besonderheit Am deutlichsten wird dies formuliert bei Grice (1975). Mary Louise Pratt hat schon vor Jahren mit Recht darauf aufmerksam gemacht, dass die bei der Sprechakttheorie vorausgesetzte Kooperationslogik dem Verlauf tatsächlicher Gespräche nur partiell Rechnung trägt, da diese häufig eher einer „logic of hostlility“ gehorchen (Pratt 1986: 67). https://doi.org/10.1515/9783110592580-015
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des Dramendialogs beruhen. Die spezifische Bedingung der Kommunikationssituation des Theaters besteht, wie seit Manfred Pfister die Handbücher zum Drama pflichtschuldig wiederholen, in der „Überlagerung zweier Kommunikationssysteme“,² da die Repliken des Bühnendialogs ja immer zugleich an das Publikum gerichtet sind. Der Dramendialog findet als Theaterdialog somit in einem doppelten Kontext statt, im Kontext der auf der Bühne entfalteten fiktiven Welt und im realen Kontext des gesamten Theaterraums, und damit vor Zuschauern, die das unter der Bedingung des ‚als-ob‘ präsentierte Bühnengeschehen beobachten und belauschen. Obwohl die Verdoppelung der Kommunikationssituation einen häufig wiederholten Topos der Dramentheorie bildet, blieb die – meist recht stiefmütterlich betriebene – Analyse von Dramendialogen weitgehend auf das innere Kommunikationssystem beschränkt. Untersucht wurden etwa die kommunikativen Funktionen auf der Basis von Jakobson,³ die Replikenlänge,⁴ der aktionale oder nicht-aktionale Charakter des Dialogs.⁵ Das externe Kommunikationssystem wurde vor allem im Hinblick auf die Informationsvergabe berücksichtigt, im Hinblick darauf also, inwieweit der fiktive Dialog der Notwendigkeit Rechnung trägt, den Zuschauer über die Voraussetzungen und den Gang der Handlung zu informieren. Dabei wurden aber die spezifischen Möglichkeiten, die sich aus der Verdoppelung des Kontexts ergeben, überraschender Weise relativ wenig in die Reflexion einbezogen. So bleiben immer noch Pfisters Ausführungen zur „diskrepanten Informiertheit“ (Pfister 1977: 79 – 90) wegweisend, d. h. also zum Informationsgefälle, das zwischen Bühne und Zuschauerraum herrschen kann. Vor allem die Möglichkeit eines Informationsvorsprungs des Zuschauers gegenüber den Bühnenfiguren spielt in der theatralischen Kommunikationssituation eine zentrale Rolle. Bekanntlich entsteht der Informationsvorsprung dadurch, dass der Zuschauer beim Beobachten eines Dialogs aufgrund der Summe der vorangehenden Szenen einen Wissensstand haben kann, der den der Dialogpartner übersteigt. Werden deren Äußerungen durch das Zuschauerwissen dementiert und stellen sich somit als falsch oder nicht zutreffend dar, entsteht dramatische Ironie, was natürlich besonders effektvoll ist, wenn dabei eine drohende Gefahr im Spiel ist. Darüber hinaus ist jedoch bei der Erfassung des unterschiedlichen Wissenshorizonts von fiktiven Bühnenfiguren und Zuschauern mit einzubeziehen, dass, wie auch Pfister, wenn auch eher beiläufig, bemerkt, die Zuschauer die Dramenhandlung grundsätzlich – trotz aller Illusion – als Fiktion wahrnehmen (Pfister 1977: 69). Dieser Komponente der diskrepanten Informiertheit soll im Folgenden besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Im theatralischen Kommunikationskontext ist aufgrund der Überlagerung der fiktiven und der realen Kommunikationsebene ein besonders komplexes Verhältnis von Schein und Sein angelegt. Zunächst kann sich ein Gegensatz von Schein und Sein
Pfister 1977: 149; Kretz 2012: 115 f.; Schößler 2017: 1. Pfister 1977: 151– 168; Kretz 2012: 116 f. Pfister 1977: 196 – 200; Schößler 2017: 125. Pfister 1977: 190 f.; Kretz 2012: 117.
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durch den Informationsvorsprung ergeben, den der Zuschauer im Hinblick auf den fiktionsimmanenten Kontext besitzt. Der Dialog nimmt immer dann den Charakter des Scheinhaften an, wenn die in der fiktiven Welt tatsächlich gegebenen Kontextbedingungen – also etwa das Vorliegen einer Gefahrensituation – einer oder mehreren Bühnenfiguren verborgen bleiben, der Zuschauer sie aber kennt.Wenn auch zwischen den Bühnenfiguren ein solches Informationsgefälle herrscht, also eine oder mehrere Figuren über ein Mehrwissen gegenüber den Dialogpartnern verfügen, ist die Bühnenkommunikation durch Verschweigen, Lüge oder Täuschung geprägt; sind alle Figuren im Unklaren über ihre eigentliche Situation, kann dies als ein potentiell tragisches Verkennen der tatsächlichen Existenzbedingungen – natürlich bezogen auf die fiktive Welt – erscheinen, so etwa, wenn die Figuren der antiken Tragödie dem verborgenen Walten des Schicksals unterworfen sind. Durch das Fiktionswissen des Zuschauers gewinnt das Verhältnis von Schein und Sein nun aber eine weitere Dimension. Der verborgene Kontext und damit die verborgene Wahrheit verdoppeln sich gewissermaßen, da zum fiktionsimmanenten Geheimnis die – den fiktiven Figuren natürlich a priori unzugängliche – Realität des Theaterspiels und der in ihr begründete überlegene Wissensstand der Zuschauer treten. Auch wenn diese beiden Sphären kategorial klar zu unterscheiden sind, kann es doch zu komplexen Formen des Zusammenspiels und möglicherweise sogar der Überlagerung kommen. Einerseits – und das gilt vor allem für die Komödie – kann das Wissen über die Fiktionalität des Dramas zur Abschwächung des Realitätsstatus der verborgenen Komponenten der fiktiven Welt führen, so dass man die Täuschung der Bühnenfiguren als ein komisches Faktum wahrnehmen kann. Die Präsentation der fiktiven Handlung zeigt sich in diesem Fall als ein für die Zuschauer organisiertes Vergnügen, zu dem die in der fiktiven Welt praktizierten Täuschungen maßgeblich beitragen (man denke etwa an die Verspottung von Malvolio in Shakespeares Twelfth Night). Andererseits – und solche Fälle sollen hier im Mittelpunkt stehen – kann der Realitätsstatus des verborgenen fiktiven Kontexts auch dadurch aufgewertet werden, dass er im Bewusstsein der Zuschauer den Status einer tatsächlichen Wahrheit und Eigentlichkeit erhält. So kann die die Tragödienhandlung überschattende verborgene Schicksalhaftigkeit des fiktiven Lebenslaufs, die sich erst in der tragischen Anagnorisis den fiktiven Figuren enthüllt, für den Zuschauer eine tiefere Bedeutung gewinnen, wenn er darin seine eigene Schicksalsverfallenheit erkennt. Die Abschattung des dramatischen Dialogs im Hinblick auf einen verborgenen Realitäts- und Wahrheitshorizont soll an drei Bespielen untersucht werden, in denen eine je unterschiedliche Gewichtung der Kontexte vorliegt. Dabei beziehe ich mich auf Dramen der Frühen Neuzeit – entsprechend meiner fachlichen Orientierung aus dem Bereich der Romania –, da sie als Glanzzeit des europäischen Theaters besonders eindrucksvolle Beispiele bietet. Mein erstes Beispiel betrifft eine noch überwiegend auf die fiktive Welt beschränkte Bezogenheit des Dialogs auf einen verborgenen Kontext, die vor allem dem intersubjektiven Verhältnis der Interaktionspartner eine – im existentiellen Sinn – verstörende Dimension verleiht. Diese intersubjektive Abgründigkeit möchte ich anhand einer Textstelle aus Calderóns El médico de su honra
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erläutern. Im Anschluss will ich dann als Beispiel einer psychologischen Abgründigkeit eine der Geständnisszenen aus Racines Phèdre behandeln, in der – auch wenn sich das Geständnis auf ein fiktionsimmanentes Faktum bezieht – die besondere Funktion des Theaterkontexts in deutlicherer Weise zutage tritt. Mein letztes Beispiel wird schließlich eine Textstelle aus Calderóns El mayor monstruo del mundo sein, in der die Bezugnahme auf den Theaterkontext in den Vordergrund tritt und eine metaphysische oder zumindest historische Abgründigkeit nach sich zieht.
2 Intersubjektive Abgründigkeit in Calderóns El médico de su honra Calderón hat in seinen Ehrendramen immer wieder die besonderen Kommunikationsbedingungen zur Darstellung gebracht, die sich aus dem strengen spanischen Ehrenkonzept seiner Zeit ergeben. Die für die Mitglieder der guten Gesellschaft geltende Ehrenpflicht hat zur Folge, dass – insbesondere in den zwischen Männern stattfindenden verbalen Interaktionen – alle eventuell ehrenrührigen Gesprächsgegenstände ausgeklammert werden müssen. Das betrifft neben der Infragestellung des Muts und der Integrität der Dialogpartner vor allem auch ein der Ehre der Frau widersprechendes Verhalten der weiblichen Familienmitglieder, da Väter, Brüder und vor allem natürlich Ehemänner als mitverantwortlich für die weibliche Ehre gelten. Die Tabuisierung weiblichen Fehlverhaltens, vor allem von vorehelichen Liebesbeziehungen und ehelicher Untreue, ist – jedenfalls in Calderóns Darstellung dieser Verhältnisse – so streng, dass auch innerhalb der Familie und im Gespräch zwischen Eheleuten tatsächlich existierende oder auch nur potentielle Gefährdungen der Ehre nicht besprochen werden können. Denn das Eingestehen eines Wissens von ehrenrührigen Tatbeständen könnte bereits als Form der Duldung erscheinen, mit der der Edelmann die unbedingte Bereitschaft, für seine Ehre einzustehen, in Frage stellt. Letztlich kann die beschmutzte Ehre nur mit Blut reingewaschen werden. Inwieweit Calderón in seinen Ehrendramen die tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnisse darstellt oder den Ehrenzwängen aus Gründen dramatischer Wirksamkeit eine besondere Strenge verleiht, ist kaum zu klären. Aus unserer Perspektive ist Letzteres besonders naheliegend, da sich damit ausgezeichnete Möglichkeiten ergeben, mit dem Theaterdialog zu experimentieren. Die Empfindlichkeit der Ehre führt zur Generalisierung einer kommunikativen Praxis der Täuschung und des Verschweigens und damit zu Dialogen, in denen der Informationsvorsprung des Zuschauers in besonderer Weise ins Spiel kommt. Ein eindrucksvolles Beispiel ist hierfür Calderóns bekanntestes Ehrendrama, El médico de su honra. Im Zentrum des Stücks steht die für das Ehrendrama typische Dreieckssituation. Der Ehefrieden eines jung verheirateten hochadligen Paares, Don Gutierre und Doña Mencía, wird durch einen Mann bedroht, der schon vor der Hochzeit der beiden um Mencía geworben hat und sich – nach einer längeren Abwesenheit – nun wieder für die ehemals Umworbene
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interessiert. Dabei ergibt sich eine weitere Komplikation daraus, dass der Rivale, Don Enrique, der Bruder des Königs ist und daher nicht zur Rechenschaft gezogen werden kann. Ich will nun näher auf eine Szene des zweiten Akts eingehen, in der sich die durch das Ehrenkonzept bewirkten Risiken und Einschränkungen des Dialogs besonders deutlich zeigen. Im ersten Akt des Stücks ist Gutierre aufgrund eines in Gegenwart des Königs ausgetragenen Konflikts – ironischerweise handelt es sich um eine noch nicht geklärte frühere Ehrensache – in Sevilla in Haft genommen worden. Dies wird von Enrique dafür genutzt, der in einem Landhaus weilenden Mencía einen nächtlichen Besuch abzustatten. Als die beiden sich im Garten des Anwesens im Gespräch befinden, werden sie überraschender Weise von Gutierre gestört, der unter Verpfändung seines Ehrenworts einen nächtlichen Hafturlaub erwirken konnte. Mencía gelingt es gerade noch rechtzeitig, Don Enrique im Haus zu verstecken, bevor Gutierre sie im Garten antrifft. Der Zuschauer nimmt somit den gesamten folgenden Dialog mit einer – zumindest gegenüber Gutierre – erweiterten Kontextkenntnis wahr. Schon die herzliche gegenseitige Begrüßung des jungen Paares, aus der ich nur einen kleinen Ausschnitt zitiere, gewinnt aufgrund dieses Informationsvorsprungs einen besonderen Klang: Gutierre beginnt überschwänglich: „Mi bien, señora, los brazos/ darme una y mil veces puedes“ [Du kannst mich ein und tausendmal umarmen],⁶ worauf sie dies mit einem Verweis auf die glückliche Situation des sich in ständiger Umarmung befindenden Efeus beantwortet: „Con envidia destas redes,/ que en tan amorosos lazos/ están inventando abrazos“ (Calderón 1989: 130 f., V.1171– 1175) [Jenes Geflecht beneidend, das in so liebevollen Schlingen Umarmungen darstellt]. Der galante Austausch steht offensichtlich im Gegensatz zu der tatsächlichen Situation, für Gutierre unwissentlich, wohingegen Mencía ihre Furcht vor der Entdeckung überspielen muss. Doch reicht dies aus, um die mit den Topoi des höfisch-galanten Liebesdiskurses durchsetzte Redeweise – in der zitierten Stelle der Vergleich der Umarmung mit dem Efeu – für den Zuschauer in ihrer Konventionalität bloßzustellen. Die Figuren spielen sich – teils bewusst, teils ohne ihr Wissen – etwas vor, indem sie die sprachlichen Rollen des jung vermählten Paares ausführen; und die Bühne ist der Ort, um diese latente Theatralität einer konventionsverpflichteten Redeweise zum Vorschein zu bringen. Im weiteren Verlauf der Szene werden die Kommunikationsbedingungen in dem Maße zunehmend komplexer, wie Gutierre Verdacht schöpft. Dazu kommt es, als Mencía nach einem kurzen Gang ins Haus behauptet, in ihrem Zimmer einen Eindringling bemerkt zu haben. Sie tut dies, um einer Entdeckung des Rivalen vorzubeugen, den die Dienerin dann aber doch unbemerkt aus dem Haus schaffen kann. Gutierre findet daher den vermeintlichen Dieb nicht, dafür aber einen wertvollen Dolch, den Enrique offensichtlich verloren hat. Damit weiß Gutierre zumindest, dass es sich nicht um einen gemeinen Räuber handeln kann, und wird daher misstrauisch.
Alle Übersetzungen der zitierten Textstellen – sowohl aus dem Spanischen als auch aus dem Französischen – stammen vor mir.
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Allerdings will er dies, als er in den Garten zurückkehrt, aus den oben genannten Gründen nicht zu erkennen geben, sondern bedeutet seiner Frau, sie müsse sich den Vorfall eingebildet haben. Durch ein als Selbstgespräch motiviertes Aparte wird jedoch der Zuschauer über Gutierres tatsächlichen Wissensstand und die nun einsetzende Sorge um seine Ehre in Kenntnis gesetzt. Der Abschied der Eheleute, bei dem sie sich wieder der galanten Diktion der Begrüßung bedienen, führt zu einer weiteren dramatischen Aufgipfelung. Als Gutierre seine Frau zum Abschied umarmen will, sieht sie den Dolch in seiner Hand und folgert daraus, dass er ihren Betrug entdeckt hat und sofort die Ehrenrache vollziehen will. In ihrer Panik will sie sich rechtfertigen, indem sie zweimal versichert: „En mi vida te ofendí“ bzw. „En mi vida te he ofendido“ (Calderón 1989: 141 f., V.1379, 1390) [niemals in meinem Leben habe ich dich in deiner Ehre gekränkt], und bittet ihn, sie zu verschonen. Hier nun kommt es gewissermaßen zu einer Perversion der Konversationslogik, nämlich zu einer Kooperation im Zeichen der Lüge. Da Gutierre sich seiner Sache nicht sicher ist, will er noch nicht zur Tat schreiten, aber auch weiterhin jede Diskussion mit seiner Frau vermeiden. Er behauptet daher, dies sei sein eigener Dolch, den er bei der Durchsuchung des Hauses in die Hand genommen und noch nicht wieder verwahrt habe. Ihre Entschuldigungsversuche seien daher töricht und völlig fehl am Platz: „¡Qué necia disculpa ha sido!“ (Calderón 1989: 141,V.1391) [Welch törichte Entschuldigung ist das gewesen!]. Darüber hinaus stützt er ihre Unschuldsbehauptung, indem er ihre lebhafte Einbildungskraft als Ursache ihrer panischen Reaktion deklariert: „Pero suele una aprehensión/ tales miedos prevenir“ (Calderón 1989: 142, V.1391– 1393) [Aber eine Einbildung pflegt solche Befürchtungen hervorzurufen]. Mencía ihrerseits akzeptiert die Erklärung und nimmt sie zum Anlass, um die häufige Abwesenheit des Ehemanns zu beklagen: „Mis tristezas, mis enojos,/ en tu ausencia estos antojos/ suelen, mi dueño, fingir“ (Calderón 1989: 142, V.1394– 1396) [Meine Traurigkeit, meine Verstimmung erschaffen diese Hirngespinste in deiner Abwesenheit, mein Herr]. Damit hat er nun die Gelegenheit, ihr zum Abschied zu versichern, möglichst bald wiederkommen zu wollen. Hier findet also durchaus eine Kooperation der Gesprächspartner statt; sie basiert aber nicht auf dem in der Sprechakttheorie vorausgesetzten Ehrlichkeitspostulat (Searle 1969: 60, 63, 66 f.), sondern dient der Aufrechterhaltung des Scheins. Wie Erving Goffman (1967: 15 – 23) und im Anschluss auch Brown/Levinson (1987: 65 – 84) beschrieben haben, gehören solche gemeinsamen Bemühungen im Hinblick auf die Wahrung des Gesichts (also von „image“ oder „face“) durchaus zu einer geordneten Kommunikationspraxis. Allerdings entfaltet diese Szene diesen Sachverhalt auf eine Weise, die dem überwiegend optimistischen Tenor der linguistischen Gesprächsanalyse widerspricht.⁷ Einerseits ist das Risiko des Gesichtsverlusts hier äußerst hoch, denn es besteht – zumindest für Mencía – in der Todesgefahr. Andererseits findet die Kooperation vor dem Hintergrund eines tiefen gegenseitigen Misstrauens statt, das
So bezieht sich Goffman durchweg auf harmlose Beispiele wie das taktvolle Ignorieren von körperlichen Störfaktoren der Kommunikation (Goffman 1967: 17 f.).
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darauf beruht, dass beide den Kenntnisstand des anderen nicht ermessen können. Don Gutierre weiß nicht, was tatsächlich vorgefallen ist und in welcher Weise Mencía beteiligt ist; sie weiß nicht, ob Gutierre – trotz seiner gegenteiligen Versicherungen – nicht doch Verdacht geschöpft hat, wozu ihre panische Reaktion ja auch allen Anlass gibt. Was mit diesem Dialog also in den Mittelpunkt gerückt wird, ist eine intersubjektive Abgründigkeit, die sich daraus ergibt, dass den Gesprächspartnern die Innenwelt des Gegenübers grundsätzlich nicht – jedenfalls nicht vollständig – zugänglich ist. Das bedeutet aber, dass in jedem Gespräch eine maßgebliche Komponente der Kontextbedingungen unverfügbar ist und daher immer Gegenstand eines Kalküls bleiben muss. Der Dramendialog führt diese intersubjektive Problematik dem Zuschauer in einer existentiellen Zuspitzung vor. Dabei verleiht das Rollenspiel dem vorgeführten doppelbödigen Gespräch eine Unmittelbarkeit, die den prekären Charakter intersubjektiver Relationen in intensiver Weise erfahrbar werden lässt; und zudem erhält diese Erfahrung durch die oben beschriebene Kontextstaffelung eine besondere Eindringlichkeit, wenn nicht sogar Realität. Dieser Dramendialog bringt also den Zuschauern ihr gewissermaßen nur theoretisches Wissen über die unterschiedlichen – vom Gegenüber immer nur unvollständig erfassbaren – Gesprächsperspektiven zur Anschauung. Daraus gewinnt die ästhetische, durch die Fiktion vermittelte Erfahrung ihren besonderen Wahrheitswert.
3 Psychologische Abgründigkeit in Racines Phèdre Der Sprechakt des Geständnisses, der im Mittelpunkt des folgenden Abschnitts stehen soll, hat von sich aus eine Brisanz, die ihn besonders für eine Darstellung im Theater prädestiniert. Denn im Geständnis kommt erneut die Doppelbödigkeit ins Spiel, die sich schon im letzten Beispiel als prägend erwies und die daraus resultiert, dass die Bühnenkommunikation im Zeichen eines Geheimnisses steht. Auch hier schattet sich der fiktive Dialog auf eine geheime Wahrheit ab, eine Wahrheit, von der der Zuschauer häufig – aufgrund der vorangehenden Szenen oder seiner Kenntnis des Stoffs – schon weiß und die dann in jedem Fall die Wahrnehmung des weiteren Geschehens prägt. Dabei liegt hier der Akzent nicht auf dem Verschweigen, sondern auf der Enthüllung des bisher Verschwiegenen. Die Brisanz des Geständnisses besteht darüber hinaus darin, dass es sich auf ein Geheimnis besonderer Art bezieht, ein Geheimnis, das nicht etwa wie im letzten Beispiel überwiegend der Situation geschuldet ist, sondern das Geständnissubjekt selbst als Person in schwerwiegender Weise betrifft.Was gestanden wird, ist typischerweise ein schuldhaftes Verhalten, ein verbotener oder tabuierter Tatbestand, eine Überschreitung von Norm oder Gesetz. Häufig hat das Geständnis einen intimen Charakter, und zwar vor allem, wenn es verbotene Neigungen und Leidenschaften zum Inhalt hat. Im Gegensatz zur oben besprochenen intersubjektiven Ausrichtung der Strategien, die der Wahrung des Gesichts dienen, steht hier das Selbstverhältnis im Vordergrund. Belegt mit Scham und Schuldbewusstsein kommt
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eine persönliche Wahrheit ans Licht, die den Subjektstatus und die Identität des Geständigen in ihren Basisvoraussetzungen berührt. Michel Foucault hat diesen Zusammenhang im Blick, wenn er den modernen Menschen mit seiner besonders ausgeprägten Subjektivität als „bête d’aveu“ bezeichnet (1976: 78 – 81). Es entspricht dieser Verbindung des Geständnisses mit Schuld und intimer Wahrheit, dass es sich, wenn man nicht dazu gezwungen wird, vorzugsweise in einer geschützten Situation, der Situation der Beichte oder im Gespräch mit vertrauten Personen, vollzieht. Seine Theaterwirksamkeit erklärt sich daher gerade daraus, dass hier der geschlossene Geständnisraum überschritten und zum Publikum geöffnet wird. Es kommt also zu einer Diskrepanz zwischen dem intimen Charakter des Geständnisvorgangs und der Öffentlichkeit der Theatersituation. Der Zuschauer befindet sich daher in einer merkwürdigen Situation. Er wird einerseits zum Mitwisser des eingestandenen Geheimnisses, was ihn durchaus zur Sympathie bewegen kann; andererseits bleibt er doch auch Anwalt der öffentlichen Ordnung, denn er ist ja im Theatersaal nicht allein, sondern befindet sich im Kreis einer – mehr oder weniger – guten Gesellschaft. In der Theatertheorie der französischen Klassik, der das nun zu besprechende Beispiel zuzurechnen ist, wird dem durch die Forderung der bienseánce, also die Forderung nach Beachtung des sittlichen Empfindens der höfischen Gesellschaft, in besonderer Weise Rechnung getragen. Aufgrund dieses gesellschaftlichen Kontexts unterscheidet sich die Rezeptionssituation des Theaters in entscheidender Weise von der des Romans, jedenfalls wenn man von der Praxis einer einsamen Lektüre ausgeht, da intimen Identifikationsvorgängen beim Lektüreprozess in sehr viel höherem Maße Vorschub geleistet wird. Racines Phèdre ist – wie schon die von Euripides und Seneca überlieferten antiken Modelle der Phädra-Tragödie – ganz und gar der Geständnisproblematik und ihrer theatralischen Inszenierung gewidmet. Das tragische Verhängnis nimmt aufgrund einer unheilvollen Verkettung von Geständnissen seinen Lauf: Phèdre gesteht die ehebrecherische Liebe zu ihrem Stiefsohn Hippolyte zunächst ihrer Amme, dann Hippolyte selbst und lässt daraufhin zu, dass der unvermutet zurückgekehrte Thésée (Theseus) seinen Sohn – aufgrund der falschen Anschuldigung der Amme – der Rache der Götter ausliefert. Letzteres tut Phèdre aber nur, da Hippolyte gegen die Weisung des Vaters die einer feindlichen Familie entstammende Aricie liebt und dies nicht nur seinem Vertrauten Théramène, sondern auch seinem Vater gesteht. Aus dessen Mund vernimmt Phèdre, dass sie eine Rivalin hat, und lässt daher dem Schicksal seinen Lauf.⁸ Das Geständnis Phèdres gegenüber ihrer Amme, auf das ich nun eingehe, trägt somit als erstes Glied der Geständniskette maßgeblich zur Auslösung des Verhängnisses bei.
In der Einführung der Aricie besteht Racines Erneuerung des Stoffes. Sie erlaubt es ihm, eine ins Maßlose gesteigerte Eifersucht zum zentralen, die Katastrophe heraufbeschwörenden Motiv zu machen.
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Das Gespräch bezieht sich an seinem Beginn sogleich auf den leidenden Zustand einer sich als todgeweiht bezeichnenden Phèdre, worin der Zuschauer aufgrund seiner Kenntnis des Mythos sogleich ein Anzeichen ihres Schuldbewusstseins erkennen kann. Die Gesprächspartnerin Œnone nimmt dabei die Rolle einer besorgten mütterlichen Vertrauensperson ein, die Phèdre bittet, ihr den Grund ihres Leidens zu offenbaren. Bevor es so weit kommt, wird der skandalöse Charakter des verborgenen Tatbestands in hyperbolischer Weise betont. Phèdre äußert die Absicht, ihrem Leben ein Ende setzen zu wollen, solange sie äußerlich ihre Unschuld noch bewahren kann und nur in ihrem Herzen schuldig geworden ist. Dann bezeichnet sie das von Œnone immer heftiger eingeforderte Geständnis als unheilschwanger, als „aveu […] funeste“ (Racine 1999: 828, V.226), das ein Verbrechen („mon crime“, Racine 1999: 829, V.241) zum Inhalt habe und Œnone vor Schrecken erzittern lassen würde: „Tu frémiras d’horreur si je romps le silence“ (Racine 1999: 829,V.238). Der entscheidende Schritt zu der schrecklichen Enthüllung besteht schließlich darin, dass Phèdre andeutet, dass sie das Opfer einer monströsen Liebesverirrung sei, wie schon andere Frauen aus ihrer Familie. Damit verbinden sich Verweise auf die Heimsuchungen, die ihre Familie durch den Zorn der Venus erleiden musste, auf das traurige Los Ariadnes und vor allem auf das Schicksal ihrer Mutter Pasiphae, also auf das Skandalon des Liebesakts mit dem Stier. Als Phèdre dann den Namen Hippolytes nennt, bekundet auch Œnone ihr Entsetzen: „Juste Ciel! Tout mon sang dans mes veines se glace !/ Ô désespoir! Ô crime! Ô déplorable Race!“ (Racine 1999: 830,V.265 – 266) [Gerechter Himmel! All mein Blut gefriert in meinen Adern. Oh Verzweiflung! Oh Verbrechen! Oh beklagenswerte Rasse]. Damit sind nun aber die Dämme gebrochen. Phèdre setzt zu einer langen Erzählung an, in der sie den Beginn ihrer leidenschaftlichen Verfallenheit schon bei der ersten Begegnung mit dem Stiefsohn – „Je le vis, je rougis, je pâlis à sa vue“ (Racine 1999: 831,V.273) [Ich sah ihn, ich errötete, ich wurde bleich bei seinem Anblick] –, dann ihre vergeblichen Versuche, gegen sie anzukämpfen, ausführlich darstellt, um schließlich die fatale Wirkung des Wiedersehens in Trözen zu bekunden: „Ma blessure trop vive aussitôt a saigné./ Ce n’est plus une ardeur dans mes veines cachée./ C’est Vénus toute entière à sa proie attachée“ (Racine 1999: 831, V.305 – 306) [Meine zu empfindliche Wunde hat sofort geblutet. Dies ist nicht mehr eine in meinen Adern verborgene Hitze. Venus hat sich mit ihrer ganzen Gewalt an ihre Beute geklammert.] Auf diese Weise gewinnt das Eingeständnis der Leidenschaft eine lebensgeschichtliche Bedeutung, die ihr den Status einer die Person fundierenden Wahrheit und somit einer wesentlichen Identitätskomponente verleiht. Nicht die würdevolle Gemahlin von Thésée, nicht die königliche Mutter der jungen Prinzen ist die wahre Phèdre, sondern eine von der Hitze des Begehrens getriebene Frau, die sich hier als hilflose Beute der Venus bezeichnet. Hiermit wird also enthüllt und ausgesprochen, was an einem anderen Ort als dem des Theaters nicht öffentlich gemacht werden kann, sondern nur Vertrauenspersonen wie dem Beichtvater oder heutzutage dem Psychotherapeuten offenbart wird: die Ohnmacht gegenüber den verborgenen Trieben, die – das ist die tragödienspezifische
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Pointe – auch das Leben der Mächtigen beherrschen. Die besprochene Szene – und darüber hinaus das ganze Stück – zeigt, wie der verborgene Kontext dieser unergründlichen Innenwelt zum Vorschein kommt, wie das Chaos der Triebe die Ordnung des fürstlichen Lebens bedroht und schließlich zerstört. Auch in diesem Fall gewinnt die geheime Wahrheit der fiktiven Welt in der Bühnendarstellung durch die Präsenz des Zuschauers einen besonderen Realitätsstatus. Der Zuschauer wird in dem Maße von der Tragödie erschüttert, wie er die in der fiktiven Welt verborgene Wahrheit als seine eigene Wahrheit erkennt. In der griechischen Tragödie ist dies die Bedrohung durch ein unerbittlich waltendes Schicksal, in Racines moderner Tragödie ist es die Bedrohung durch die destruktiven Abgründe unserer Psyche. Es bleibt anzumerken, dass für diesen Nexus zwischen der inneren Wahrheit der fiktiven Figuren und der sie verbürgenden Perspektive des Zuschauers die pathetische Ausgestaltung der dramatischen Rede, hier der Geständniserzählung, eine besondere Rolle spielt. Der rhetorische Ornatus, an der zitierten Textstelle die die grausame Macht der Leidenschaft verdeutlichenden Metaphern der blutenden Wunde und des gequälten Beutetiers, schließt die Innerlichkeit des psychischen Vorgangs mit der Öffentlichkeit des Theatersaals zusammen. Die pathetische Diktion versucht einerseits – wie es auch in der Liebeslyrik geschieht –, die Unsagbarkeit leidenschaftlicher Gefühle zu überwinden, andererseits aber entspricht sie der für das Theater spezifischen, auf den Zuschauersaal gemünzten Appellfunktion. Es ist mir ein besonderes Anliegen zu betonen, dass dieser Zusammenhang keineswegs auf das formbewusste frühneuzeitliche Drama beschränkt ist.Vielmehr kann man in allen Theaterepochen Beispiele für einen pathetischen Stil finden, der, wenn ich recht sehe, dem Theaterwort vorbehalten ist. Nur das Theaterwort kann diesen Klang entfalten, der darauf beruht, dass intime Inhalte der Innenwelt im weiten Rund des Theatersaals ausgestellt werden. In diesem Sinn ist das Theaterwort immer schon einer Ästhetik der Transgression verpflichtet, indem es die Grenze zwischen intimer Innenwelt und gesellschaftlicher Öffentlichkeit überschreitet. Übrigens entspricht diese Konstellation einem Bedürfnis, das auch in Dialogen der realen Welt zutage tritt. Wenn die Emotion uns übermannt, tendieren wir dazu, ‚Theater zu machen‘; wir imaginieren damit einen die tatsächliche Gesprächssituation überschreitenden Kontext, in dem das Unerhörte unserer emotionalen Situation öffentliches Gehör findet. Eine Stelle aus der zentralen Geständnisszene des Stücks, in der Phèdre sich Hippolyte offenbart, kann diesen Gedanken veranschaulichen. Dort beschließt sie die Tirade, mit der sie ihn auffordert, sie durch den Tod von ihrer ehebrecherischen Liebe zu befreien, mit den Versen: „Digne Fils du Héros qui t’a donné le jour,/ Délivre l’Univers d’un Monstre qui t’irrite,/ La Veuve de Thésée ose aimer Hipployte“ (Racine 1999: 844, V.700 – 703) [Würdiger Sohn eines Helden, der dir das Leben geschenkt hat, befreie die Welt von einem Ungeheuer, das dich provoziert, die Witwe des Theseus wagt es, Hippolytos zu lieben] (V.700 – 702). Hier imaginiert Phèdre selbst den großen Kontext des schicksalhaften Geschehens, in dem sie befangen ist. Indem sie von sich in der dritten Person als der Witwe des Theseus spricht (sie weiß in diesem Moment nicht, dass Theseus noch lebt), wird sie selbst zur Zuschauerin, die sich in schaudernder
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Bewunderung in ihrer eigenen Rolle wahrnimmt. Der Kontext des Theatersaals ist natürlich der adäquate Rahmen für die Theatralität ihrer Geste.
4 Der Abgrund der Historie in Calderóns El mayor monstruo los celos ⁹ Das gerade angeführte Zitat aus Phèdre bringt uns nun schon zu unserem nächsten und letzten Beispiel, bei dem der dramatische Dialog im Zeichen einer maximalen Kontexterweiterung steht. Es ist eine in der Theatergeschichte immer wieder aufscheinende Tendenz, das Bühnengeschehen als Bild eines Welttheaters zu sehen, in dem das Schicksal, Gott oder auch die Willkür des Absurden Regie führen. Bekanntlich wird das spanische Barocktheater in besonderer Weise durch diese Tendenz geprägt. In diesem Fall ergibt sich der besondere Realitätsstatus der dramatischen Handlung und damit auch der Bühnendialoge daraus, dass der autonome Charakter menschlichen Handelns als eine Illusion erscheint, die vor dem Kontext der christlichen Jenseitsvorstellung oder der Weltgeschichte als solche enthüllt wird. Dass diese im Bühnengeschehen aufscheinende Wahrheit sich auch als Wahrheit des Zuschauers darstellt, ist in diesem Fall besonders augenfällig. In Calderóns El mayor monstruo los celos ist diese Form der Theatralität in expliziter Weise artikuliert. Dabei entspricht das Stück nicht dem Paradigma des christlichen Welttheaters, wie es in El gran teatro del mundo entfaltet wird. Vielmehr wählt Calderón hier einen Stoff aus der paganen antiken Welt, der es ihm erlaubt, sich eher an das antike Schicksalsdrama anzulehnen, verbindet dies aber mit einer historischen Dimension, die dem antiken Drama fremd ist. Im Mittelpunkt des Stücks steht der jüdische König Herodes, dessen fürstliches Dasein aufgrund einer fatalen Verknüpfung seiner krankhaften Eifersucht gegenüber seiner Ehefrau Mariene mit dem vergeblichen Kampf gegen die römischen Invasoren ein blutiges Ende nimmt. Hinter allem aber steht, wie das Stück zu verstehen gibt, ein missgünstiges Schicksal, das sich sowohl in Herodes’ Hang zur Eifersucht als auch in den historischen Umständen niederschlägt. Seine emblematische Repräsentation findet dieses Fatum in einem mit einer unheilvollen Prophezeiung verknüpften Dolch, dem Herodes – trotz aller Versuche, sich seiner zu entledigen – letztlich nicht entgehen kann. Ich beschränke mich im Folgenden darauf, zwei Textstellen zu kommentieren, in der der schicksalhafte Rahmen von Herodes’ Sturz aufgerufen wird, wobei dieses Verhängnis zu einem großen historischen Beispiel stilisiert wird. Die erste Stelle entstammt einer Szene des ersten Akts, in der Herodes seinem Vertrauten Filipo das außerordentliche Ausmaß seiner Liebe zu Mariene schildert und
Das Stück ist in zwei Versionen überliefert: mit dem Titel El mayor monstruo del mundo (1637) und mit dem Titel El mayor monstruo los celos (1667). Ich beziehe mich im Folgenden auf die spätere Version (beide Fassungen sind in Calderón 2017 publiziert).
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dabei die Vorstellung entwirft, dass sie auch für künftige Generationen einen exemplarischen Charakter behalten werde: „ […]/ que pasando los umbrales/ de la muerte, ha de quedar/ a las futuras edades/ grabado con letras de oro/ en láminas de diamante“ (Calderón 2017: 256, V.506 – 514) [welche die Schwelle des Todes überschreitend auch für künftige Zeitalter mit Goldlettern auf Diamanttafeln eingraviert bleiben wird]. Herodes begreift seine Liebe also als großes historisches Beispiel, das in den Archiven der Geschichte aufbewahrt bleiben wird. Wenn er dabei von den künftigen Zeitaltern spricht, wird dadurch natürlich der Zuschauer als Repräsentant dieser Zukunft ins Spiel gebracht. Herodes’ Äußerung eröffnet somit einen eindrucksvollen historischen Zeitraum, der vom ersten Jahrhundert vor Christus bis in die Gegenwart der Zuschauer, also ins 17. Jahrhundert, reicht. Der imaginäre historische Kontext, den Herodes heraufbeschwört, erhält auf diese Weise aus Sicht des Zuschauers den Status eines realen Kontexts, an dem er selbst partizipiert. Zugleich wird der Zuschauer zum Garanten der von Herodes vorausgesagten historischen Exemplarität seiner Liebe und bezeugt damit die Wahrheit der die fiktive Welt umrahmenden Hinterwelt bzw. Überwelt. Die zweite Stelle, die hier besprochen werden soll, findet sich im zweiten Akt, wo Herodes, der in römische Gefangenschaft geraten ist, in einem Brief einem Gefolgsmann den Auftrag erteilt, Mariene zu töten, damit sie nach seinem – nun drohenden – Tod keinem anderen angehören kann. Wieder entwirft er einen imaginären Kontext, um seinem Entschluss einen exemplarischen Status zu verleihen, wobei er dieses Mal nicht die Weltgeschichte, sondern die Theater der Welt als Zeugen aufruft: „que es tal la resolución,/ que para representarla/ a los teatros del mundo/ como, al fin trágica farsa,/ pues ay recado, quiero antes/ con escrivirla ensayarla“ (Calderón 2017: 301, V.1724– 1729) [denn so ist dieser Entschluss, dass ich ihn, um seine Darstellung als Tragödie auf den Theatern der Welt zu ermöglichen, zunächst, da Schreibgerät bereit liegt, proben will, indem ich ihn aufschreibe]. Herodes bezeichnet somit das mörderische Schreiben als Vorlage und Probe – das Verb ensayar konnotiert ganz konkret die Theaterprobe – für die Aufführung künftiger Tragödien. Wieder kommt es auf diese Weise zu einer Verschränkung des imaginären Gesprächskontexts mit der tatsächlichen Theatersituation, und zwar in diesem Fall in ganz expliziter Weise, da der Zuschauer von Calderóns Stück ja nun gerade der von Herodes entworfenen Situation, der Aufführung seiner unerhörten Geschichte als Tragödie, Realität verleiht. Wenn Herodes damit die Relation zwischen historischem Geschehen und theatralischer Mimesis verkehrt – nicht das Theater spielt Herodes’ Mordplan nach, sondern dem Brief wird der Status einer die Theateraufführung ermöglichenden Probe zugeschrieben – unterstreicht das zugleich den scheinhaften Charakter, den das fiktive Bühnengeschehen in diesem Kontext annimmt. Das dargestellte historische Geschehen ist eine Fiktion, die paradoxer Weise erst durch die Theateraufführung den Status des Wahren erhält, indem sich die Fiktion als Seinsmodus des menschlichen Lebens
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zeigt. Erst auf der Bühne enthüllt das Weltgeschehen somit seinen immer schon theatralischen und darin wahren Charakter.¹⁰ Die für das Barockzeitalter typische theatralische Sicht der Weltgeschichte erlaubt es also, das Bühnengeschehen in einen großen historischen Kontext einzurücken und damit dem Theaterdialog eine entsprechende Resonanz zu verleihen. Auch diese Form der Erhöhung des Theaterworts durch das Einspielen eines weiten historischen oder metaphysischen Kontexts ist keinesfalls auf die Frühe Neuzeit beschränkt. Auch die Helden des romantischen Dramas sehen sich als Figuren einer vom Schicksal beherrschten Bühne, in diesem Fall aber nicht, um sich als große Beispiele menschlicher Nichtigkeit zu entwerfen, sondern um ihren Anspruch auf eine grenzenlose Subjektivität zu unterstreichen. Aus dem Sich-Überheben über die ‚Macht des Schicksals‘ gewinnen sie ihren sublimen Status.¹¹ Ein eindrucksvolles Beispiel aus dem Bereich des modernen Theaters ist sicher Becketts Endspiel. Man denke an Hamms Eingangsrede, in der die metadramatischen Verfahren sich mit der pathetischen Inszenierung existentieller Geworfenheit paaren.¹² Ich komme damit zu einem etwas abrupten Schluss, möchte aber gleichwohl das in meinem Textcorpus enthaltene Angebot an die Sprachwissenschaft etwas präzisieren. Die besprochenen Dialoge sind alle beispielhaft für Kontextbedingungen, die auch im Falle der normalen Sprache mehr oder weniger deutlich ins Spiel kommen können. Ihre Gemeinsamkeit besteht darin, dass sie auf einen unergründlichen und unkontrollierbaren Gesprächsrahmen verweisen. Dieser Kontext ergibt sich einerseits aus der prinzipiellen gegenseitigen Undurchschaubarkeit der Gesprächspartner, andererseits aber auch aus der Fundierung des sich aussprechenden Subjekts in einem inneren und äußeren Bedingungszusammenhang – sowohl im persönlichen Triebschicksal als auch im Spiel historischer und metaphysischer Mächte –, der die Ebene der selbstbestimmten rationalen Gesprächsführung transzendiert und in Frage stellt. Dabei scheint mir von besonderem Interesse, dass die subjektive Tiefendimension, die sich aus dem Bewusstsein innerer und äußerer Ausgesetztheit ergibt, das Spiel mit einer imaginierten Öffentlichkeit provoziert, für die die Theatersituation das adäquate Modell bildet. Das Theater ist der Ort, an dem sich eine Grundfunktion der Sprache in reinster Ausprägung zeigen kann, denn hier wird nicht nur dem durch die Sprache erzeugten Bedürfnis nach Ausdruck, sondern auch dem allen Sprechen inhärenten
Für diesen in der Metapher vom Welttheater zum Ausdruck kommenden Nexus ist immer noch die Darstellung von Alewyn (1989) [Erstveröffentlichung 1959] wegweisend. Schon durch ihren Titel erweist sich hierfür Duque de Rivas’ romantische Tragödie Don Álvaro o la fuerza del sino, die vor allem in der Opernfassung von Verdis La forza del destino überdauert hat, als beispielhaft. Es ist in diesem Zusammenhang allerdings zu bemerken, dass sich in der barocken die romantische Pose in gewisser Weise schon ankündigt. So bezeichnet Hamm mit dem Begriff „vieux linge“ sowohl das blutige Taschentuch, das sein Gesicht bedeckt und ihn – einschließlich der christologischen Konnotationen – zum Inbegriff menschlichen Leidens stilisiert, als auch (durch den Redeeinsatz „A – à moi. De jouer“) den Vorhang, der das Bühnengeschehen freigibt (Beckett 1957: 16 f.).
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Öffentlichkeitscharakter in exklusiver Weise Rechnung getragen. Es ist daher eine sowohl für Literatur- als auch Sprachwissenschaft interessante Aufgabe, sich der latenten Theatralität, die allen Dialogen eingeschrieben ist, intensiver zu widmen.
Bibliographie Alewyn, Richard (1989): Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste. – München: Beck. Beckett, Samuel (1957): Fin de partie suivi de Acte sans paroles I. – Paris: Minuit. Brown, Penelope / Levinson, Stephen C. (1987): Politeness: Some universals in language usage. – Cambridge: Cambridge University Press. Calderón de la Barca, Pedro (21989): El médico de su honra. Ed. D. W. Cruickshank. – Madrid: Castalia. Calderón de la Barca (2017): El mayor monstruo del mundo y El mayor monstruo los celos. Ed. María J. Caamaño Rojo. – Madrid / Frankfurt am Main: Iberoamericana / Vervuert. Foucault, Michel (1976): Histoire de la sexualité 1. La volonté de savoir. – Paris: Gallimard. Goffman, Erving (1967). Interaction Ritual. Essays on Face-to-Face Behavior (On Face Work, 15 – 45; Alienation from Interaction, 113 – 136). – New York: Doubleday. Grice, Paul (1975): Logic and Conversation. – In: Peter Cole / Jerry L. Morgan (eds.): Syntax and Semantics, Vol. 3, Speech Acts, 41 – 58. New York: Academic Press. Kretz, Nicolette (2012): Grundelemente (1): Bausteine des Dramas (Figur, Handlung, Dialog). – In: Peter W. Marx (ed.): Handbuch Drama. Theorie, Analyse Geschichte. Stuttgart: Metzler, 105 – 121. Pfister, Manfred (1977): Das Drama. Theorie und Analyse. – München: Fink. Pratt, Mary Louise (1986): Ideology and Speech-Act Theory. – In: Poetics Today 7, 59 – 72. Racine, Jean (1999): Phèdre et Hippolyte. – In: Racine, Oevres completes I. – Théâtre, Poésie. Ed. Georges Forestier, 815 – 876. – Paris: Gallimard. Schößler, Franziska (22017): Einführung in die Dramenanalyse. – Stuttgart: Metzler. Searle, John R. (1969): Speech Acts. – Cambridge: Cambridge University Press.