Körper-Ästhetiken: Allegorische Verkörperungen als ästhetisches Prinzip [1. Aufl.] 9783839420256

Die allegorische Denkform ist in unserem ästhetischen Erfahrungsraum allgegenwärtig. Vor allem das schon in der Antike e

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German Pages 330 Year 2014

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INHALT
VORWORT
KÖRPER-ÄSTHETIKEN. Allegorische Verkörperungen als ästhetisches Prinzip Eine Einleitung
ALLEGORIE IM ATELIER. Körperbilder in der amerikanischen Skulptur nach 1900
INNENRAUM UND OBERFLÄCHE. Inkorporierte Ökonomie in Werken von John von Düffel, Ernst-Wilhelm Händler, Ewald Palmetshofer und Elfriede Jelinek
TRANSFORMATION UND ALLEGORISIERUNG DES KÖRPERS IN DER ZEITGENÖSSISCHEN RUSSISCHEN KUNST. Eine gendertheoretische Perspektive
GRAVIDE ATTRAKTION. Beobachtungen zur gewandelten Ästhetik der Schwangerschaft
›NUDA VERITAS‹. Koloniale Körperbilder und postkoloniale Perspektiven
DIE REINHEIT MARIENS. Die ›Maria de la Merced‹ zwischen Dogma und Volksfrömmigkeit in Spanisch-Amerika
VENUS LOST AND FOUND. Aesthetic Perceptions of the Female Nude in Byzantine Art
ZWISCHEN EROS, SCHAM UND ENTHÜLLUNG. Schillernde Körperentwürfe in Allegorien Corradinis und Queirolos in Neapel
DER ALLEGORISCHE TRAUM ALS ICH-ERZÄHLUNG ODER DIE ICH-ERZÄHLUNG ALS TRAUM-ALLEGORIE. Minnelehre und Rosenroman
SCHWESTER TOD. Weiblichkeit und Körper in den Poetiken Hilda Hilsts und Clarice Lispectors
BEGEHRENSWERTE ERKENNTNISSE. Weiblichkeit, Schleier und Wahrheit
AUTORINNEN UND AUTOREN
ABBILDUNGSNACHWEIS
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Körper-Ästhetiken: Allegorische Verkörperungen als ästhetisches Prinzip [1. Aufl.]
 9783839420256

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Cornelia Logemann, Miriam Oesterreich und Julia Rüthemann (Hg.)

KÖRPER-ÄSTHETIKEN

Allegorische Verkörperungen als ästhetisches Prinzip

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.

Redaktion | Miriam Oesterreich Lektorat | Daniel Stender, Nicole Sobriel Bildrecherche | Annabel Ruckdeschel Gestaltung und Satz | Benjamin Schnepp, Fuchs & Otter, Heidelberg Druck | Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar

Umschlagabbildung unter Verwendung des Gemäldes »Baigneuse« von William Adolphe Bouguereau, 1870, Fundació Gala-Salvador Dalí

ISBN 978-3-8376-2025-2

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

INHALT

VORWORT 9 KÖRPER-ÄSTHETIKEN Allegorische Verkörperungen als ästhetisches Prinzip Eine Einleitung

Miriam Oesterreich und Julia Rüthemann 13

ALLEGORIE IM ATELIER Körperbilder in der amerikanischen Skulptur nach 1900

Cornelia Logemann 61 INNENRAUM UND OBERFLÄCHE Inkorporierte Ökonomie in Werken von John von Düffel, Ernst-Wilhelm Händler, Ewald Palmetshofer und Elfriede Jelinek

Iuditha Balint 93

TRANSFORMATION UND ALLEGORISIERUNG DES KÖRPERS IN DER ZEITGENÖSSISCHEN RUSSISCHEN KUNST Eine gendertheoretische Perspektive

Viola Hildebrand-Schat 109 GRAVIDE ATTRAKTION Beobachtungen zur gewandelten Ästhetik der Schwangerschaft

Daniel Hornuff 125 ›NUDA VERITAS‹ Koloniale Körperbilder und postkoloniale Perspektiven

Alexandra Karentzos 145 DIE REINHEIT MARIENS Die ›Maria de la Merced‹ zwischen Dogma und Volksfrömmigkeit in Spanisch-Amerika

Maret Keller 167 VENUS LOST AND FOUND Aesthetic Perceptions of the Female Nude in Byzantine Art

Mati Meyer 191 ZWISCHEN EROS, SCHAM UND ENTHÜLLUNG Schillernde Körperentwürfe in Allegorien Corradinis und Queirolos in Neapel

Ulrike Müller-Hofstede 217

DER ALLEGORISCHE TRAUM ALS ICH-ERZÄHLUNG ODER DIE ICH-ERZÄHLUNG ALS TRAUM-ALLEGORIE Minnelehre und Rosenroman

Katharina Philipowski 241 SCHWESTER TOD Weiblichkeit und Körper in den Poetiken Hilda Hilsts und Clarice Lispectors

Dania Schüürmann 273 BEGEHRENSWERTE ERKENNTNISSE Weiblichkeit, Schleier und Wahrheit

Silke Tammen 291

AUTORINNEN UND AUTOREN 319 ABBILDUNGSNACHWEIS 323

Cornelia Logemann 9

VORWORT

Die Freiheit, die im vielzitierten Meisterwerk des Eugène Delacroix 1830 das Volk anführt, führt die Ausdrucksmöglichkeiten des allegorischen Körpers im Wechselspiel mit historischen Ereignissen beispielhaft vor: Die makellose und fast göttlich erscheinende Frauengestalt ist heute eine der bekanntesten allegorischen Figuren, die sich als immer und immer neu zu beschreibende Projektionsfläche erweist. Noch immer ist das großformatige Bild ein Anlaufpunkt für zahlreiche Schulklassen, um an diesem allegorisch argumentierenden Gemälde das dahinterstehende historische Ereignis zu vermitteln, als Herzstück des neueröffneten Louvre-Lens zugleich ein verlässlicher Publikumsmagnet. Allein der Gestus der voranschreitenden Fahnenträgerin hat im kulturellen Gedächtnis seinen festen Platz und begegnete in der Folgezeit in unzähligen öffentlichen Monumenten: Der dynamisch erhobene Arm mit jeweils differierendem Attribut gerät fast zu einer allegorischen Signatur, die auch in lebenden Bildern oder in politischer Propaganda eingesetzt wird. Das Changieren zwischen allegorischer Gestalt und historischer Person ist oft nur an geringen Spuren abzulesen. Doch der Zusammenhang von Körper, Allegorie und Geschlecht erweist sich nicht erst für den modernen Betrachter als komplex. Schon 1548 vermerkte der französische Literat Thomas Sébillet in seiner Art poétique françois, dass im zeitgenössischen religiösen Theater durch die Verwendung der Allegorie eine Figur entsteht, die weder Mann noch Frau sei: Das Spannungsgefüge zwischen dem Körper und seiner allegorischen Überformung schien gleichsam als ästhetischer Wert interpretierbar. Körper-Ästhetiken formulieren schon antike Rhetoriklehren, die sich des Körpers als Darstellungsmedium bedienen. Die Dialektik von Verhüllen und Entblößen erscheint hierbei vor allem beim weiblichen Körper die vordringlichste Eigenschaft. Bereits der mittelalterliche Gelehrte Wilhelm Durandus wusste, dass der Anblick der Tugenden in weiblicher Gestalt den Menschen stärker berühren konnte. Die Verwendung des weiblichen Körpers zur Vermittlung abstrakter Inhalte, zur rhetorischen Ausschmückung und Vermittlung von Spannung hat eine lange Tradition. Und doch ist das Zusammenwirken von Geschlecht, Allegorie und Körper

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noch immer ein auch in der Forschung kontrovers diskutiertes Thema, zu dem der vorliegende Band einen Beitrag leisten will. Seit 2008 besteht an der Universität Heidelberg die Nachwuchsgruppe Prinzip Personifikation. Visuelle Intelligenz und epistemische Tradition 1300-1800 im Rahmen der Transkulturellen Studien. Das aus Mitteln der Exzellenzinitiative geschaffene Projekt eröffnete die Möglichkeit, in einer kleinen Arbeitsgruppe das umfangreiche Thema der Personifikation als eine der wichtigsten Ausdrucksformen europäischer Denk- und Bildtradition zu bearbeiten. Wichtige Vorarbeiten und das kunsthistorische Fundament des Unternehmens konnten durch ein Forschungsstipendium der Gerda-Henkel-Stiftung in Düsseldorf geleistet werden. Das Ergebnisse dieser Arbeit in vorliegendem Band präsentiert werden können, verdankt sich diesen Einrichtungen. In einem interdisziplinären Zusammenschluss wurden die wesentlichen Merkmale vom »Prinzip Personifikation«, das sich seit der Frühen Neuzeit über Europa hinaus als tragfähig erwies, erarbeitet. Die Mitarbeiter des Projekts Dania Schüürmann, Michael Mohr, Miriam Oesterreich, Julia Rüthemann und Nicole Sobriel erweiterten den zunächst bildtheoretischen Fokus des Projekts entscheidend. Die Initiative und Konzeptionen von Julia Rüthemann und Miriam Oesterreich gaben im Mai 2011 den Anlass für den Workshop Körper-Ästhetiken. Der [allegorische] Körper als ästhetisches Prinzip – [gender]theoretische Perspektiven, zu dem die immer wiederkehrenden Fragen des Forschungsprojekts aufgegriffen werden sollten. Den Teilnehmern des Workshops möchten wir für die hilfreichen Diskussionen und Beiträge danken, sowohl den Moderatorinnen Katharina Philipowski und Anne Brüske als auch den Referentinnen und Referenten Silke Tammen, Maret Keller, Daniel Hornuff, Alexandra Heimes, Iuditha Balint, Alexandra Karentzos, Mati Meyer, Ulrike Müller-Hofstede, Viola Hildebrand-Schat, Pablo Dominguez, Anna Schober, sowie den Beitragenden Malte Göbel und Denis Kiel. Unterstützt wurden die Durchführung der Veranstaltung und die Vorbereitung des Bandes von Michael Mohr, Dania Schüürmann, Nicole Sobriel, Annabel Ruckdeschel und Anastasia Kurzel. Für das Layout des Tagungsbandes danken wir Benjamin Schnepp von Fuchs & Otter.

Heidelberg, im November 2012

Miriam Oesterreich und Julia Rüthemann

KÖRPER-ÄSTHETIKEN Allegorische Verkörperungen als ästhetisches Prinzip Eine Einleitung

»[…] zuvor hatte ich über die Bedeutung des Gesichts beim Erkennen und Identifizieren anderer Leute geschrieben. Aber am Hals beginnt auch die zitternde Frau. Ein kranker Hals diente als perfektes Traumbild meines Symptoms: Vom Kinn an aufwärts war ich mein vertrautes Selbst. Vom Hals an abwärts war ich eine geschüttelte Fremde. Ist es nicht der Hals, wo der Kopf aufhört und der Körper anfängt? Und ist das Körper-Geist-Rätsel in seiner ganzen Ambivalenz nicht das Thema dieses Buchs, desselben Buchs, an dem ich derzeit schreibe und in meinem Traum geschrieben habe, das eine Kürzung, einen Schnitt brauchen würde?«1 Wahrnehmung

Die Frage, ob der Körper unterhalb des Halses beginnt, ist im Falle der Schriftstellerin Siri Hustvedt eine Frage nach der Wahrnehmung des Körpers. Sie wurzelt in einer leiblichen Erfahrung, nämlich einem unkontrollierbaren, heftigen Zittern und Verrenken ihres Körpers während eines wissenschaftlichen Vortrags, bei dem sie trotz des Zitterns in der Lage ist, weiterzusprechen. Zugleich stellt sich ihr die Frage »Wo beginnt der Körper?« aber auch deshalb, weil der Zitteranfall offensichtlich ihre Konzeption von Körper herausfordert. 1 | Hustvedt, Siri: Die zitternde Frau. Eine Geschichte meiner Nerven. Reinbek bei Hamburg 2010, S. 143. (Hervorhebungen im Original)

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Der Körper, wie er uns in Kunst, Literatur, Film oder auch Geschichte begegnet, ist ein vermittelter, ein repräsentierter und ästhetisierter Körper, der von uns auf bestimmte Weise wahrgenommen und damit wiederum ästhetisiert wird. Wenn Ästhetik sowohl Gegenstände der Betrachtung selbst als auch eben die Betrachtung der Gegenstände meinen kann, so ist der Kern der Fragestellung dieses Bandes getroffen. Repräsentationen textlicher und bildlicher Natur und deren implizit und explizit herausgestellte Geschlechtlichkeit stehen im Fokus dieser Publikation: Artefakte im Sinne des kulturell-diskursiven Konstruktcharakters, der die Wahrnehmung von ›Geschlecht‹ stets beeinflusst, wenn nicht determiniert. Das immer schon hergestellte bzw. ausgestellte ›Geschlecht‹ ist verhandelbar und zugleich Produkt von sinnlicher Ästhetisierung. Desiderat sich daran anschließender Analysen ist deshalb keineswegs die Festlegung auf eine bestimmte Geschlechtlichkeit besagter ästhetischer Artefakte, sondern vielmehr die Diskussion um deren Wahrnehmung und Wahrnehmbarkeit, um Ästhetik als Prozess und als performativer Akt, als ›doing aesthetics‹.2 Die eigene Körperwahrnehmung tritt dabei in einen Dialog mit Blicken von Außen und diskursiven Festschreibungen; sinnliche Erfahrung und gesellschaftliche Determination kommen nicht selten in Konflikt: »Erst das Komplement einer distanzierenden Reflexion der sinnlichen Zeichen als sinnhafte Zeichen erlaubt eine Vergegenwärtigung der ästhetischen Bedeutsamkeit und ein kommunikatives Urteil über den ästhetischen Wert der Zeichen«.3 Dieses Spannungsverhältnis von Ästhetik und Erfahrung 4 gründet darauf, dass »[d]er Körper […] historisch und empirisch kein gemeinsamer 2 | Der Begriff sei hier in Anlehnung an ›doing gender‹ benutzt. ›Doing Gender‹ kritisiert die Annahme von ›Geschlecht‹ als statisch und betont die Prozesshaftigkeit des jeweiligen Entstehens von ›Geschlecht‹ in der Interaktion und als Produkt performativer Akte. 3 | Wolf, Philipp: Art. Ästhetik/Ästhetisch. In: Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Stuttgart/Weimar 2008, S. 4/5, hier S. 5. 4 | Vgl. dazu exemplarisch Laqueur, Thomas: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud. Frankfurt a.M./New York 1992; Bos, Marguérite; Vincenz, Bettina; Wirz, Tanja (Hg.): Erfahrung: Alles nur Diskurs? Zur Verwendung des Erfahrungsbegriffes in der Geschlechtergeschichte. Beiträge zur 11. Schweizerischen HistorikerInnentagung. Zürich 2004; Tanner, Jakob: Körpererfahrung, Schmerz und die Konstruktion des Kulturellen. In: Forum. Historische Anthropologie 2 (1994), S. 489-502 und Scott, Joan W.: The Evidence of Experience. In: Critical Inquiry 17,4 (1991), S. 773-797.

EINLEITUNG

Ausgangspunkt der Menschheit schlechthin [ist], keine universelle Basis der Verständigung. Vielmehr […] nehmen die härtesten Differenzdiskurse in der Moderne ihren Ausgangspunkt immer beim Körper«.5 So haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vielfach festgestellt, dass, auch wenn das Diktum der sozialen Konstruktion des Körpers und seiner Konstitution sowie die Historizität körperlicher Selbst- und Fremdwahrnehmung als immer in bestimmten Konditionen different gilt, es doch immer Grenzbereiche gibt, die die sinnliche Präsenz des Körpers, gerade in als nicht ›normal‹ erfahrenen Lebenssituationen, unüberbrückbar machen. Schmerz ist ein solcher Parameter, der in der Forschung die Diskursivität von Körpern immer wieder in Frage gestellt hat. Das Gefühl des Schmerzes mag in unterschiedlichen Situationen variieren, aber er ist da, ein Leben ohne Schmerz existiert nicht. »Der Schmerz ist somit unerbittlich in seine eigene Wahrheit eingeschlossen; er verfügt über keinen Referenten außer sich, auf den er sich beziehen könnte« 6 , die elementare körperliche Empfindung kann anscheinend jede Verweiskraft des Körpers als kulturelles Zeichen außer Kraft setzen. Aber ist der Verweis auf ein vermeintliches ›Reales‹ nicht auch immer noch Verweis? Joan Scott konstatiert: »Given the ubiquity of the term [›experience‹], it seems to be more useful to work with it, to analyze its operations and to redefine its meaning. This entails focussing on processes of identity production, insisting on the discursive nature of ›experience‹ and on the politics of its construction. Experience is at once always already an interpretation and something that needs to be interpreted«.7 Der Phänomenologe Maurice Merleau-Ponty hat sogar alle Wahrnehmung an die leibliche Erfahrung angebunden. Für ihn existiert nichts in der Welt vor seiner aktiven Wahrnehmung, deren Mittel immer der Körper sein muss.8 Diese Wahrnehmung erst mache den eigentlich schöpferischen Akt aus, da das Artefakt nicht vorreflexiv existieren kann. Er proklamiert damit eine Verschiebung ästhetischer Praxis vom »Sinn auf 5 | Sarasin, Philipp: Mapping the Body. Körpergeschichte zwischen Konstruktivismus, Politik und ›Erfahrung‹. In: Historische Anthropologie 7 (1999), S. 437-451, hier S. 438/9. 6 | Tanner 1994, S. 495. 7 | Scott 1991, S. 797. 8 | Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin 1974 [1966; frz. Original: Phénoménologie de la perception. Paris 1945]; Ders.: Das Sichtbare und das Unsichtbare. München 1986 [frz. Original: Le visible et l‘invisible. Paris 1964].

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die Sinne« 9 und definiert den Körper als eigentlichen Ort von Ästhetik. Den Leib versteht er folglich als »die allen Gegenständen gemeinsame Textur, und zumindest bezüglich der wahrgenommenen Welt […] das Werkzeug all meines ›Verstehens‹ überhaupt«.10 Produktion und Rezeption von Artefakten entspringen ihm zufolge also dem gleichen kreativen Impetus, nämlich sinnlicher Erfahrung.11 Körper und Codes

Für Hustvedt gehört der Kopf aufgrund der Erfahrung des Zitteranfalls nicht mehr eindeutig zu ihrem Körper. Symbolisch trennt sie ihn ab und vergleicht diesen Schnitt mit ihrem Vorhaben, Passagen ihres Textes zu kürzen. Der erste Zitteranfall überkommt sie bei einer Rede zu Ehren ihres toten Vaters, der ebenso Wissenschaftler war. Dass gerade Körper und Geist, ähnlich wie Natur und Kultur, geschlechterkodiert waren und teilweise noch sind und dass entsprechend der menschliche Kopf mit dem anatomischen Sitz des Gehirns als männlich, der Körper aber weiblich kodiert sind, ist in zahllosen Analysen festgestellt worden.12 Deshalb 9 | Barck, Karlheinz: Art. Aisthesis/Aisthetisch. In: Trebeß, Achim (Hg.): Metzler Lexikon Ästhetik. Kunst, Medien, Design und Alltag. Stuttgart/Weimar 2006, S. 3-6, hier S. 3. 10 | Merleau-Ponty 1974, S. 275. Die von Merleau-Ponty etablierte Kategorie des Leibes ist als Kritik auf die in der jüdisch-christlichen Tradition wurzelnde Vorstellung der Trennung von Körper und Geist entstanden. Vgl. Merleau-Ponty 1976 [1945], S. 230-32. Insofern wäre zu fragen, ob der »Leib« eine sinnvolle Kategorie sein kann, um sich mit der Ästhetik des allegorischen Körpers und seinen geschlechtlichen Kodierungen auseinanderzusetzen. 11 | Vgl. insbesondere Merleau-Ponty, Maurice: Das Auge und der Geist. Reinbek bei Hamburg 1984 [1967; frz. Original: L’œil et l’esprit. Paris 1961]. 12 | Vgl. den vielseitigen Band Eilberg-Schwartz, Howard; Doniger, Wendy (Hg.): Off with her Head! The Denial of Woman’s Identity in Myth, Religion, and Culture. Berkeley/Los Angeles/London 1995. Hélène Cixous deutet die unterschiedliche geschlechtliche Markierung des männlichen wie des weiblichen Kopfes psychoanalytisch. Die Angst vor Enthauptung könne, so Cixous, als weibliches Äquivalent der männlichen Kastrationsangst betrachtet werden: »If man operates under the threat of castration, if masculinity is culturally ordered by the castration complex, it might be said that the backlash, the return, on women of this castration anxiety is its displacement as decapitation, execution, of woman, as loss of her head.« Cixous, Hélène: Castration or Decapitation? In: Signs 7,1 (1981), S. 4155, hier S. 43. Vgl. auch Schmerl, Christiane: »Kluge« Köpfe – »dumme« Körper? »Smart« Heads – »Stupid« Bodies? Some Effects of Facial Prominence in Male and Body Prominence in Female Press Photos: Einige Wirkungen der Kopfbetonung bei männlichen und der Körperbetonung bei weiblichen Pressefotos. In: Publizistik 49,1 (2004), S. 48-65.

EINLEITUNG

beherrscht eine dichotomische Vorstellung von ›Männlichkeit‹ und ›Weiblichkeit‹ auch die Körperbilder unserer Gesellschaft.13 Binär konstruierte Gegensätze wie Kultur/Natur, Verstand/Gefühl oder Geist/Körper bilden die Basis geschlechtlicher Zuweisungen, wobei der letztere, negativ konnotierte Begriff stets das weibliche Prinzip repräsentieren soll.14 Nicht nur, dass Hustvedt ihren Zitteranfall im Hinblick auf die weiblich konnotierte Hysterie diskutiert 15, sondern er wird von ihr explizit mit dem Körper oder auch der Fremden in ihr 16 verbunden. Der Kopf repräsentiert Text und Wissenschaft und so vermutlich auch den Vater. Nach dessen Tod tritt Hustvedt mit dem Vortrag gewissermaßen sein Erbe an: Während ihr Kopf funktioniert, scheint der Rest ihres Körpers und damit die weiblichen bzw. auf diese Weise kodierten Anteile in ihr gegen einen durch den Tod bedingten Eingriff in die körperliche Integrität sowohl 13 | Vgl. besonders Krüger-Fürhoff, Irmela: Körper. In: Braun, Christina von; Stephan, Inge (Hg.): Gender@Wissen. Ein Handbuch der Gendertheorien. Köln/Weimar/ Wien 2009, S. 66-80; Bußmann, Hadumod; Hof, Renate (Hg.): Genus. Geschlechterforschung/Gender Studies in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Ein Handbuch. Stuttgart 2005; Helfrich, Hede (Hg.): Patriarchat der Vernunft – Matriarchat des Gefühls? Geschlechterdifferenzen im Denken und Fühlen. Münster 2001; Zimmermann, Anja (Hg.): Kunstgeschichte und Gender. Eine Einführung. Berlin 2006. Vgl. auch die Beiträge des Sammelbandes Barta, Ilsebill et al. (Hg.): Frauen-Bilder Männer-Mythen. Kunsthistorische Beiträge. Berlin 1987 sowie Uerlings, Herbert et al. (Hg.): Das Subjekt und die Anderen. Interkulturalität und Geschlechterdifferenz vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin 2001. 14 | Vgl. Deuber-Mankowsky, Astrid: Natur/Kultur. In: von Braun/Stephan 2009, S. 223-242; Dornhof, Doris: Postmoderne. In: Ebd., S. 283-308, hier S. 293. Vgl. Cadden, Joan: The Meanings of Sex Difference in the Middle Ages. Medicine, Science and Culture. Cambridge 1993, darin v.a. das Kapitel: Feminine and Masculine Types, S. 169-227. 15 | Vgl. exemplarisch Bronfen, Elizabeth: Das verknotete Subjekt. Hysterie in der Moderne. Berlin 1998; Didi-Hubermann, Georges: Erfindung der Hysterie. Die photographische Klinik von Jean-Martin Charcot. München 1997; Leopold, Silke; Speck, Agnes: Hysterie und Wahnsinn. Heidelberg 2000; Leutner, Petra (Hg.): Das verortete Geschlecht. Literarische Räume sexueller und kultureller Differenz. Tübingen 2003; Schaps, Regina: Hysterie und Weiblichkeit. Wissenschaftsmythen über die Frau. Frankfurt a.M. u.a. 1983. 16 | Vgl. Kristeva, Julia: Fremde sind wir uns selbst. Frankfurt a.M. 1990. Bemerke auch Arthur Rimbauds oft zitiertes Diktum »Ich ist ein Anderer« (»Je est un Autre«): Rimbaud, Arthur: A Paul Demeny (15. Mai 1871). In: Ders.: Œuvre-vie. Hg. v. Alain Borer. Paris 1991, S. 185-193. Dazu: Lang, Hermann; Weiß, Heinz: Ich ist ein anderer (Rimbaud). Zur Konzeption des Subjekts in der strukturalen Psychoanalyse. In: Fröhlich, Volker (Hg.): Paradoxien des Ich. Beiträge zu einer subjektorientierten Pädagogik. Festschrift für Günther Bittner zum 60. Geburtstag. Würzburg 1996, S. 138-148.

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des Vaters als auch ihr selbst zu rebellieren. Hat Hustvedt im Sinne Judith Butlers damit performativ gezeigt, wie die Geschlechterkodierungen von Körper und Geist in ihren Körper eingeschrieben sind und sich an ihr materialisieren? 17 Das Motiv des Schnittes wird in vielerlei Texten und Bildwerken umgesetzt. Die biblische Judith enthauptet den männlichen Heerführer der Belagerer vor ihrer Stadt und besiegt so die gesamte Armee.18 Holofernes muss dabei gewissermaßen seinen Kopf schon vor der Enthauptung im Alkoholrausch verlieren, ganz Körper werden, um von einer Frau überwältigt werden zu können.19 Dieses Spiel zwischen Körpern und Köpfen und zwischen den Geschlechtern spitzt die Fotografin Olga Wlassic parodistisch zu, indem sie der Judith nicht nur eine ganze Heerschar von Köpfen zu Füßen legt, sondern sie außerdem nackt und nur ihr Geschlecht mit einem Säbel bedeckt darstellt, das so zur Schnittstelle gerät (Abb. 1).20

Abb 1 | Fotografie von Olga Wlassics und dem Atelier Manassé, um 1930.

Das Motiv des Schnittes nimmt Frida Kahlo in ihrem Selbstportrait auf, in dem sie sich mit abgeschnittenem Haar und in männlicher Pose vorstellt. Nachdem der Maler Diego Rivera sie betrogen hatte, stilisiert sie den 17 | Vgl. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a.M. 1994 [engl. Original: Gender Trouble. New York 1990]. 18 | Siehe Buch Judith, Kap. 12-13. 19 | Vgl. Sawyer, F. Deborah: Gender Strategies in Antiquity: Judith’s Performance. In: Feminist Theology 28 (2001), S. 9-26. 20 | Vgl. Warner, Marina: In weiblicher Gestalt – Die Verkörperung des Wahren, Guten und Schönen. Reinbek bei Hamburg 1989 [engl. Original: Monuments and Maidens. The Allegory of the Female Form. Berkeley/Los Angeles 1985], S. 229-245.

EINLEITUNG

Abb 2 | Frida Kahlo, Selbstbildnis mit abgeschnittenem Haar, 1940.

Abb 3 | Frida Kahlo, Selbstbildnis mit Zopf, 1941.

Verlust des Haares als Racheakt durch Entzug der Weiblichkeit (Abb. 2). Diese Schnitte bleiben aber auch sichtbar, als sie sich mit Rivera versöhnt und die einzelnen Haarteile notdürftig zu einem Zopf zusammengesteckt malt (Abb. 3). Die bildlichen und textlichen Schnitte und Grenzziehungen werfen die Fragen auf: Wo beginnt der Körper und wo hört er auf? 21 Welche Bedeutung kommt der Kategorie ›Geschlecht‹ zu, und entsprechen diese inszenierten Grenzziehungen, die Konstruktionen und Dekonstruktionen der Körper bestimmten (Gender-)Diskursgrenzen? Mit anderen Worten: In welcher Relation zur Kategorie des Geschlechts steht der Körper bzw. konstituiert er sich?22 Wahrnehmung nimmt für diese Konstituierung eine 21 | Vgl. Benthien, Claudia; Krüger-Fürhoff, Irmela Marei (Hg.): Über Grenzen. Limitation und Transgression in Literatur und Ästhetik. Stuttgart 1999 sowie Benthien, Claudia: Haut: Literaturgeschichte, Körperbilder, Grenzdiskurse. Reinbek bei Hamburg 1999. 22 | Vgl. Reuter, Julia: Geschlecht und Körper – Studien zur Materialität und Inszenierung gesellschaftlicher Wirklichkeit. Bielefeld 2011.

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zentrale Rolle ein: Kann der Körper bloß intellektuell wahrgenommen werden, oder ist seine Ästhetisierung bzw. Wahrnehmung stets an einen sinnlichen Akt gebunden?23 Und schließlich: Inwiefern ist seine Wahrnehmung selbst geschlechtlich kodiert?24 Zeichen

Die Grenzziehungen zwischen binär gedachten Geschlechtern werden an Zeichen festgemacht, die Differenz muss, um zu bestehen, stets sichtbar gemacht werden. Geschlechts-Zeichen können dabei solche sein, die im Körper verankert sind, oder solche, die den Körper äußerlich verändern oder ihm aufgesetzt werden. Sie können Diskurse bestätigen, aber auch bewusst zur Erzeugung von Irritation eingesetzt werden (Abb. 4).

Abb 4 | Im Internet bestellbares Set, das Geschlechtszeichen als Buttons bereithält.

Haare sind beispielsweise, wie bereits angeduetet, ein Topos zur ›Vergeschlechtlichung‹25 : Die biblische Geschichte um Simson und Delila 23 | Vgl. Merleau-Ponty 1996 [1945], S. 230-32. Vgl. Matos Dias, Isabel: Merleau-Ponty. Une poïétique du sensible. Toulouse-Le Mirail 2001. 24 | Barbara Duden prägt in diesem Zusammenhang den Begriff »Schizo-Aisthesis«, um die heutige »Koexistenz widersprüchlicher Wahrnehmungsweisen des Leibes« zu beschreiben, die das Wissen um die Dekonstruktion der Wahrnehmung mit einschließt, aber auch »die unvermeidlich sinnliche, somatische Resonanz jedes Gedankens, Gefühls und Begehrens«. Vgl. Duden, Barbara: Somatisches Wissen, Erfahrungswissen und ›diskursive‹ Gewissheiten. Überlegungen zum Erfahrungsbegriff aus der Sicht der Körper-Historikerin. In: Bos/Vincenz/Wirz 2004, S. 34. Reuter 2011, S. 93: »So erneuern etwa Praktiken des Sehens und Wahrnehmens nicht nur die Geltung einer vorausgesetzten Zeichenrealität. Sie konstituieren auch einen zeichentheoretischen Zusammenhang zwischen Körper und Geschlecht derart, dass beide unmittelbar zusammenfallen«. 25 | Siehe Junkerjürgen, Ralf: Haarfarben. Eine Kulturgeschichte in Europa seit der Antike. Köln u.a. 2009, S. 111f.; Ofek, Galia: Representations of Hair in Victorian

EINLEITUNG

basiert darauf, dass die virile Kraft Simsons auf seiner Haarpracht, »an die kein Schermesser kommen sollte«, beruht. Der in der Tradition Evas stehenden Philisterin Delila als einem den Mann durch List ins Verderben stürzenden Weib gelingt es, diese Kraft und damit die patriarchale Macht Simsons zu unterwerfen, indem sie ihm im Schlaf das Haar abschneidet. Erst der patriarchale Gottvater kann als buchstäblicher Deus ex machina die invertierten Geschlechterverhältnisse wieder herstellen.26 Das Haare-Zeigen von Frauen wird in der jüdisch-christlichen Tradition oft als für die Gemeinschaft gefährlich, als »subversive sexual behavior« angesehen.27 »Shaved heads frequently signify that the person is expected to have no sexual relations, while long, unkempt hair signifies unrestrained sexuality«, so Eilberg-Schwartz, der sich auf den Anthropologen Edmund Leach bezieht und schlussfolgert: »The cutting of the hair is therefore a public statement with public meanings […]«.28 Bärtige Frauen haben eine lange Darstellungstradition, die einerseits von der Verortung im ›Wunderbaren‹ der Frühen Neuzeit29 über die Feststellung des Grotesken in den Freak Shows und Spektakeln im 19. Jahrhundert30, andererseits aber auch der Zuschreibung besonderer weiblicher Qualitäten wie im Falle des Haarkleides der Maria Magdalena, das die Sünderin in ein göttliches Tugendgewand hüllt, bis zum parodistischen Cross Dressing und unbeschwerten Witz reicht (Abb. 5/6). Die ambivalente, dichotomische Bedeutung von Körperbehaarung in Literature and Culture. Farnham u.a. 2009, insbesondere Kap. 1, S. 1-31: Hair Theorized. 26 | Buch Richter, Kap. 13-16. 27 | Ofek 2009, S. 4. 28 | Eilberg-Schwartz/Doniger 1995, S. 4. Der Autor bezieht sich auf Leach, Edmund: Magical Hair. In: Man. Journal of the Royal Anthropological Institute 88 (1958), S. 147-168. 29 | Vgl. Konecˇný, Lubomír: ›A Beard Suits a Man‹ – Bearded Ladies in Late Renaissance and Baroque Art. In: Kiss, Attila; Szönyi, György E. (Hg.): The Iconology of Gender. Bd. I. Papers in English and American Studies XV. Szeged 2008, S. 85-92. 30 | Vgl. Sykora, Katharina: Weiblichkeit, das Monströse und das Fremde. Ein Bildamalgam. In: Friedrich, Annegret; Haehnel, Birgit; Schmidt-Linsenhoff, Viktoria; Threuter, Christina (Hg.): Projektionen. Rassismus und Sexismus in der visuellen Kultur. Marburg 1997, S. 132-149. Vgl. exemplarisch auch Johnston, Mark Albert: Bearded Women in Early Modern England. In: Studies in English Literature, 15001900 47,1 (2007), S. 1-28; sowie Hamlin, Kimberly A.: The »Case of a Bearded Woman«: Hypertrichosis and the Construction of Gender in the Age of Darwin. In: American Quarterly 63,4 (2011), S. 955-981; außerdem Bammer, Angelika: Nackte Kaiser und bärtige Frauen: Überlegungen zu Macht, Autorität, und akademischem Diskurs. In: Women in German Yearbook 5 (1989), S. 1-17.

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der bildlichen Repräsentation soll hier als veranschaulichendes Fallbeispiel der komplexen Kodifizierung von Geschlechtszeichen dienen. Das Schamhaar wird im Falle der bärtigen Frauen über seine ›normale‹ – und klassischerweise nicht sichtbare – Verortung um die Vulva hinaus erweitert als den ganzen Körper bedeckend und so den gesamten weiblichen Körper als Geschlecht markierend. Gleichzeitig jedoch evoziert das Signum des ›Schamhaars‹ im Gesicht, des Bartes im Gesicht einer Frau, immer Verunsicherung31 , »gender trouble«.

Abb 5 | Anonym, La Véritable Femme á barbe. Miss Annie Jones Elliot, Ende 19. Jahrhundert.

Stark behaarte Frauen oder bärtige Frauen galten zu allen Zeiten als sonderbar. Erst aber im 19. Jahrhundert mit seiner Lust am Spektakel im Zusammenspiel mit breiten Diskursen der Verwissenschaftlichung erhielten die bärtigen Frauen bis dato ungekannten Status als Exotika, als biologische Errata und krankhafte Abweichungen von einer als wissenschaftlich festgeschriebenen ›Normalität‹. Diese brachte die Weiblichkeit 31 | Vgl. Sykora 1997, S. 134.

EINLEITUNG

Abb 6 | Jacopo di Arcangelo, genannt Jacopo del Sellaio, Der büßende Heilige Hieronymus, die Heilige Maria Magdalena und der Heilige Johannes der Täufer in der Wüste (Detail), 1485-90.

mit dem Fehlen von Körperbehaarung und jeglicher körperlicher Ausdrucksfähigkeit (dazu gehören Ausscheidungen und Körpersäfte ebenso wie eine laute Stimme) in Zusammenhang. In krassem Gegensatz dazu und als »Signum seiner eigenen Überwindung«32 steht das Haarkleid der Maria Magdalena, von der in den Apokryphen berichtet wird, sie sei zum Abbüßen ihrer Sünde nach Jesu Tod nackt in die Wüste gezogen. Auch Nacktheit hat in diesem Falle eine völlig andere Konzeption als die skandalöse, sexualisierte Nacktheit der Urmutter Eva nach dem Sündenfall, nämlich die schamhafte, keusche und prälapsale Nacktheit, die sich ihrer selbst und also ihrer sexuellen Anziehungskraft nicht bewusst ist. Gott lässt laut Überlieferung Maria Magdalena ein ihren ganzen Körper überziehendes Haarkleid wachsen, das ihren Leib vor den unkeuschen Blicken der Menschen schützen soll. So werden die verschiedenen Konzeptionen von Nacktheit, nuditas naturalis und nuditas criminalis in diesem Falle, in ein direktes Spannungsverhältnis gesetzt, das das Haar 32 | Sykora 1997, S. 140.

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Abb 7 | Salvador Dali, Self Portrait as Mona Lisa, 1954 (Photographic elements by Philippe Halsman). Abb 8 | Ana Mendieta, Untitled (Facial Hair Transplants), 1972.

als von Gott gegebene Bekleidung zum Zeichen der Tugend erhebt.33 Nach Dalís Moustache für die Mona Lisa und den künstlerisch-feministischen Aktionen Ana Mendietas, die ihren Körper als Kunstmittel in oftmals verstörender Weise einsetzte und beispielsweise das eigene Gesicht mit Barthaaren ausstattete (Abb. 7/8), fällt in neuester Zeit die unbeschwerte Lust an humorvoller Aneignung von Bärten durch Frauen auf. 33 | Kerstin Gernig führt vier verschiedene Formen der Nacktheit in mittelalterlicher Theologie an: die nuditas naturalis als natürlichen Zustand des nackt geborenen Menschen, wobei der Zustand der Unschuld durch Adam und Eva vor dem Sündenfall repräsentiert wird; die nuditas temporalis, d.h. die bewusste Entledigung weltlicher Güter, die durch Heilige repräsentiert wird, die sich öffentlich entkleiden um ostentativ der Welt zu entsagen; die nuditas virtualis, die symbolischallegorische Darstellung von Unschuld, Reinheit und Wahrheit durch eine nackte Frau; und schließlich die nuditas criminalis, d.h. die symbolische Darstellung der sinnlichen Begierde, Eitelkeit und Sünde. Siehe Gernig, Kerstin: Bloß nackt oder nackt und bloß? Zur Inszenierung der Entblößung. In: Dies. (Hg.): Nacktheit. Ästhetische Inszenierungen im Kulturvergleich. Köln 2002, S. 7-29, hier S. 13/14.

EINLEITUNG

Anklebbare Moustaches oder Brillen mit integrierten Gummi-Nasen und Schnauzern avancieren zum Trendaccessoire. Dabei ist jedoch auffällig, dass der Aspekt der Verkleidung immer sichtbar bleibt, einem tatsächlich gewachsenen ›Damenbart‹ wird im Gegenzug durch die Modeerscheinung der vergangenen Jahre, das Brazilian Waxing, der Garaus gemacht, wobei die Existenz von Körperbehaarung stets tabu bleibt. Auch sollte nicht unberücksichtigt bleiben, dass zwar die Körperrasur in den vergangenen Jahrzehnten durch das Phänomen der sogenannten Metrosexualität an gesellschaftlicher Anerkennung gewonnen hat, die bewusste Übernahme weiblich konnotierter Haarbräuche hingegen stets als unmännlich oder durch den wahrgenommenen Kontrast als lächerlich oder krankhaft wahrgenommen wird, wenn nicht sogar homophobe Äußerungen hervorruft. Die Inszenierung androgyner Männlichkeit kann vielleicht eher im Sinne Solomon-Godeaus als Ausdruck einer Verunsicherung männlichen Selbstverständnisses und deren gleichzeitiger Überwindung in Form der Abgrenzung zum ›Femininen‹ mittels der Lokalisierung innerhalb des ›Maskulinen‹ und damit der Festigung patriarchaler Repräsentationshierarchien gedeutet werden.34 Die Pop-Ikone Lady Gaga geht noch weiter und stilisiert den eigenen Körper zur popkulturellen Experimentierfläche von Geschlechtlichkeit (Abb. 9). So können einstmals pornographische Requisiten wie ein Strap-on (für Frauen wie zum Beispiel die Sängerin Peaches) zu Phänomenen der Popkultur werden und verlieren mit der Zeit ihre Skandalhaftigkeit.35 Die Bilder schwangerer Männer sind dagegen durch ihre anscheinend paradoxe Zusammenbringung männlicher und weiblicher Zeichen ein 34 | Vgl. Solomon-Godeau, Abigail: Male Trouble. A Crisis in Representation. London 1997. Darin verhandelt die Autorin das Phänomen des gleichzeitigen Darstellens sowohl besonders viril geprägter wie besonders ›dandyhaft‹-androgyner Männer in der Zeit des französischen Neoklassizismus. Sie interpretiert die Epoche als eine Zeit des männlichen Selbstverständnisses in der Krise, die letztlich überwunden wird durch die Verschiebung des männlichen Aktes in der Öffentlichkeit auf die Figur des weiblichen Aktes, der in den nachfolgenden zwei Jahrhunderten zur unhinterfragten Norm avancieren konnte. 35 | Darstellungen tatsächlicher sich am Körper des Mannes befindlicher Penisse sind jedoch von der an Bildern nackter Frauen übersättigten Massenkultur weiterhin ausgeschlossen. Vgl. beispielsweise den jüngst heftig debattierten Beitrag zur Kontroverse von Elisabeth Raether: Das ist übrigens ein Penis. Weibliche Nacktheit ist der Normalfall – männliche hingegen nicht. Warum ist das so? Artikel im ZEIT Magazin vom 26.07.2012, zitiert aus: http://www.zeit.de/2012/31/ Maennliche-Nacktheit, 27.07.2012.

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verlässlicher Auslöser von Lachen: Arnold Schwarzenegger, der in Junior einen etwas zweifelhaften Babybauch vorführt, oder das Medienspektakel um den »ersten schwangeren Mann!« betonen die Skurrilität der Zusammenbringung ›weiblicher‹ Reproduktionsfähigkeiten mit dem ›männlichen‹ Körper.36 Gerade weil sich Robert de Niro in zahlreichen Gangsterfilmen ein extrem ›männliches‹ Image zugelegt hat, kann er es sich leisten, in einer Komödie über sich selbst zu schmunzeln und vorzuführen, wie er einen Brustgurt trägt, um seinem Enkel Milch zu füttern (Abb. 10).

Abb 9 | Lady Gaga im Haarkleid (Oktober 2010).

Abb 10 | Robert de Niro im Film Meine Frau, ihre Schwiegereltern und ich (Meet the Fockers, 2005).

In literarischen Texten vermögen männliche Attribute bzw. männlich kodierte Verkleidung Frauen neue Handlungsmöglichkeiten und Tätigkeitsfelder zu eröffnen und ihnen eine gesellschaftliche Neupositionierung zu erlauben. Die Annäherung an einen Mann, seine Verführung oder der Versuch, eine Trennung von ihm rückgängig zu machen, sind ebenfalls wiederkehrende Narrative.37 Geschichten sich ›weiblich‹ kleidender 36 | Z.B. http://www.welt.de/vermischtes/article2086342/Der-schwangere-Mannbekommt-eine-Tochter.html, 24.10.12. 37 | Vgl. Peters, Ursula: Gender Trouble in der mittelalterlichen Literatur? Mediävistische Genderforschung und Crossdressing-Geschichten. In: Bennewitz, Ingrid; Tervooren, Helmut (Hg.): Manlîchiu wîp, wîplich man: Zur Konstruktion der Kategorien ›Körper‹ und ›Geschlecht‹ in der deutschen Literatur des Mittelalters. Berlin 1999, S. 284-304, hier S. 299; vgl. auch Lehnert, Gertrud: Wenn Frauen Männerkleidung tragen: Geschlecht und Maskerade in Literatur und Geschichte. München 1997; Stoll, Andrea; Wodtke-Werner, Verena (Hg.): Sakkorausch und Rollentausch: Männliche Leitbilder als Freiheitsentwürfe von Frauen. Berlin 1997 sowie Feistner, Edith: manlîchiu wîp, wîpliche man. Zum Kleidertausch in der Literatur des Mittelalters. In: PBB 119 (1997), S. 235-260. Auf die Maskierung des

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Männer erzählen oftmals in satirischer Form38 lediglich vom Versuch einer sexuellen Annäherung an Frauen. Insofern stehen die Attribute selbst für bestimmte Narrative – einerseits zuforderst für den Zugang zu ›männlichen‹ Domänen: Intellekt, Schriftsprache, freie Sexualität, Reisen, andererseits besonders für den Zugang zum weiblichen Körper, zu Intimität und Liebe. Für die Zeit der Verkleidung können dabei Geschlechterdichotomien aufgebrochen und destabilisiert werden. Die im Mittelalter häufig karnevaleske Verkehrung dialogisiert die Ordnungen und bestätigt sie aus dem Moment der Verkehrung heraus39, ähnlich wie ein die herrschende Geschlechterordnung wieder instandsetzendes Aufdecken der Verkleidung am Ende der Erzählung. Besonders deutlich macht dies zum Beispiel der altfranzösische Roman de Silence. Die männlich verkleidete Silence erfüllt über weite Teile des Romans den Lebensweg eines Ritters, um nach der Enthüllung ihres Körpers als Frau geehelicht zu werden, in den Gemächern des Königs zu verschwinden und so das Ende des Narrativs und überhaupt des Romans zu markieren.40 Ähnliches geschieht aber auch in Balzacs Roman La fille aux yeux d‘or. Hier geht es eher um fehlerhafte Zuschreibungen aufgrund von Indizien und Attributen, die beim Protagonisten gewissermaßen genderkodierte Narrativerwartungen aufbauen. Diese stellen sich als falsch heraus, denn der für männlich gehaltene Konkurrent erweist sich als Konkurrentin. Die Entdeckung der die Norm herausfordernden Liebesbeziehung zwischen dem Mädchen mit den goldenen Augen und der Marquise führt letztlich zum Doppelmord am Mädchen – und zum Ende des Romans.41 Solche geschlechterkodierten Narrative können auch in der mediatisierten Politik beobachtet werden.42 (literarischen) Schaffensaktes selbst bezogen vgl. den Band: Beaulieu, JeanPhilippe; Oberhuber, Andrea (Hg.): Jeu de masques. Les femmes et le travestissement textuel (1500-1940). Saint-Etienne 2011. 38 | Vgl. Peters 1999, S. 287 und Feistner 1997, S. 244. 39 | Vgl. ebd., S. 247f. Vgl. Peters 1999, S. 294. Außerdem Bachorski, Hans-Jürgen: Irrsinn und Kolportage: Studien zum Ring, zum Lalebuch und zur Geschichtklitterung. Trier 2006. 40 | Vgl. Cooper, K. Mason: Elle and L: Sexualized Textuality in Le Roman de Silence. In: Romance Notes 25 (1984-85), S. 341-360, hier S. 343. Hierzu ebenfalls Peters 1999, S. 303: In mittelalterlichen Texten werde oftmals der »Körper zur letzten Instanz des Geschlechts«. 41 | Vgl. Felman, Shoshana: Rereading Femininity. In: Yale French Studies 62 (1981), S. 19-44. Vgl. Feistner 1997, S. 248. 42 | Margaret Thatcher ist in diesem Zusammenhang ein vielzitiertes Beispiel für den

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Kunst/Materialität

Die Grenzen von eindeutigen oder in einem Körper nur addierten Geschlechtlichkeiten verschwimmen in der Pose der Künstlerin Sarah Lucas, die sich selbst mit einer Zigarette im Mundwinkel und verwegenem Blick portraitiert und die Performanz von Geschlecht mit Hilfe von gender-spezifischen Attributen in und auf der Oberfläche des Körpers besonders deutlich inszeniert. Im Selbstportrait übernimmt sie zugleich den Blick des Künstlers und signalisiert auf diese Weise die Bewusstheit einer solchen Inszenierung (Abb. 11).

Abb 11 | Sarah Lucas, Fighting Fire with Fire, 1996.

Der schöpferische Akt ist so männlich konnotiert, das Artefakt stets weiblich. Eine solche normierte Lesart ästhetischer Prozesse impliziert automatisch das paradoxe, oftmals undenkbare43 Faktum weiblicher Umgang mit Geschlechterrollen, insbesondere hinsichtlich der genderkodierten Gegensätze Öffentlich/Privat, Dominanz/Schwäche. Vgl. Ribberink, Anneke: Gender Politics with Margaret Thatcher: Vulnerability and Toughness. In: Gender Forum. An Internet Journal for Gender Studies. De-Voted. Gender and Politics. http://www.genderforum.org/issues/de-voted/gender-politics-with-margaretthatcher/, 26.09.2012. Ribberink betont Thatchers Obsession, ihr Bild in der Öffentlichkeit zu kontrollieren. Vgl. außerdem Warner 1989, S. 69-96. 43 | Mit ›undenkbar‹ soll hier an Michel Foucaults Verständnis des Diskurses als des

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Autorschaft. Es soll jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass eine solche Kritik selbst auf dichotomischen Geschlechterbildern aufbaut, die darüber hinaus von einem mimetischen Verhältnis zwischen Repräsentation und repräsentierter Wirklichkeit ausgeht, die so realiter niemals existieren kann.44 Deshalb sollen in diesem Band neben den ästhetisch wahrnehmbaren Körperbildern vor allem auch die Körper derer im Zentrum stehen, die diese Bilder produzieren. Nur dann finden auch Phänomene nicht-figürlicher Repräsentation Platz in der Annahme einer Gleichsetzung von Schöpferkraft und ›Männlichkeit‹ sowie Objekthaftigkeit und ›Weiblichkeit‹ 45 , wie sie beispielsweise Anna C. Chave für Picasso und den Kubismus aufgezeigt hat.46 Körpern in künstlerisch erzeugten Werken kommt in dem Sinne eine besondere Bedeutung zu, als sie selbst immer schon vermittelt sind. Das Kunstwerk (im weiteren Sinne) erlaubt eine Bewusstmachung der Konstruktion von Körper und Geschlecht, indem es mit (Bild-)Diskursen spielt, den Blick der Betrachterinnen und Betrachter bzw. der Leserinnen und Leser irritiert, neu formt oder auch bestätigt, vor allem aber »Sagbaren und des Unsagbaren« einer Gesellschaft innerhalb bestehender (institutioneller) Machtstrukturen und deren sowohl beschreibende als auch normierende Kraft angeschlossen werden. Vgl. Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt a.M. 1974. Vgl. auch Frank, Manfred: Was ist ein ›Diskurs‹? Zur ›Archäologie‹ Michel Foucaults. In: Ders.: Das Sagbare und das Unsagbare. Studien zur deutsch-französischen Hermeneutik und Texttheorie. Frankfurt a.M. 1980, S. 408-426. 44 | Vgl. Dornhof 2009, v.a. S. 292-298. 45 | Vgl. exemplarisch Christadler, Maike: Kreativität und Genie. Legenden der Kunstgeschichte. In: Zimmermann 2006, S. 253-272; Keim, Christiane (Hg.): Visuelle Repräsentanz und soziale Wirklichkeit: Bild, Geschlecht und Raum in der Kunstgeschichte. Herbolzheim 2001; Rogoff, Irit: Er selbst – Konfigurationen von Männlichkeit und Autorität in der deutschen Moderne. In: Lindner, Ines; Schade, Sigrid; Wenk, Silke (Hg.): Blick-Wechsel: Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit in Kunst und Kunstgeschichte. Berlin 1989, S. 21-40; Schade, Sigrid; Wenk, Silke (Hg.): Strategien des ›Zu-Sehen-Gebens‹: Geschlechterpositionen in Kunst und Kunstgeschichte. In: Bußmann/Hof 2005, S. 144-185; Wenk, Silke: Mythen von Autorschaft und Weiblichkeit. In: Hoffmann-Curtius, Kathrin; Wenk, Silke (Hg.): Mythen von Autorschaft und Weiblichkeit im 20. Jahrhundert. Marburg 1997, S. 12-31; Wenk, Silke: Pygmalions Wahlverwandtschaften. Die Rekonstruktion des Schöpfermythos im nachfaschistischen Deutschland. In: Lindner/ Schade/Wenk 1989, S. 59-82. 46 | Vgl. Chave, Anna C.: New Encounters with Les Demoiselles d’Avignon. Gender, Race, and the Origins of Cubism. In: Pinder, Kimberly N. (Hg.): Race-ing Art History. Critical Readings in Race and Art History. New York/London 2002, S. 261-287.

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weil es eine eigene Materialität und Realität besitzt. Vermag der Körper seit Foucault als kulturelles Konstrukt zu gelten 47, legen ästhetisierte Körper ihr konstruktives Moment geradezu offen. Daran anschließend soll überlegt werden, ob sie möglicherweise in besonderer Weise das anzeigen, was Butler als materialisierende Effekte von Diskursen beschrieben hat. Zugleich ist dann aber auch zu fragen, wie die Materialität neu gefasst werden kann. Denn nicht zuletzt ist unter anderem als Reaktion auf die Vorstellung von ›Geschlecht‹ als Effekt von materialisierenden Diskursen ein neues Interesse an der Erfahrung des leiblichen Körpers entstanden.48 Wie Reuter zeigt, ist für Butler »ein gewisses Maß an Widerständigkeit gegen gesellschaftliche Einschreibungen im Körper selbst als materieller Eigensinn (Unaufmerksamkeit, Unkontrollierbarkeit, komplexe Sinnestätigkeit) sozial eingeschrieben [...]. Unwillkürliche körperliche Doppelspiele bilden keine Beweise einer unhintergehbaren Materialität«, sondern der Körper würde – obwohl Butler selbst eben von Bodies That Matter spricht – ebenso den Einschreibungen unterliegen49 – in diesem Sinne auch Hustvedts anfangs beschriebene körperliche Reaktion. Dennoch eröffne der Verlust der Kontrolle über den Körper »Interpretations- und Verhandlungsspielräume«, die Butler aber nicht außerhalb der Diskursivität sieht.50 Wenn wir also davon ausgehen, dass Körper konstruiert sind und vordiskursiv weder existieren noch wahrgenommen werden können, bleibt offensichtlich, wie oben beschrieben, die paradoxe Feststellung der 47 | Vgl. die Schriften Michel Foucaults, insbesondere: Sexualität und Wahrheit. 3 Bde: Der Wille zum Wissen. Frankfurt a.M. 1983; Der Gebrauch der Lüste. Frankfurt a.M. 1989; Die Sorge um sich. Frankfurt a.M. 1989. 48 | Vgl. beispielsweise Bynum, Caroline: Warum das ganze Theater mit dem Körper? Die Sicht einer Mediävistin. In: Historische Anthropologie 4 (1996), S. 1-33. Judith Butler schreibt möglicherweise mit der Idee der Diskursivierung von Geschlecht und Körper selbst eine Dichotomie von weiblich konnotierter Leiblichkeit und männlich konnotiertem Diskurs fort. Vgl. die Kritik Barbara Dudens an J. Butler: Die Frau ohne Unterleib. Zu Judith Butlers Entkörperung. Ein Zeitdokument. In: Feministische Studien 11,2 (1993), S. 24-33. Vgl. auch Scarry, Elaine: Resisting Representation. New York/Oxford 1994. Vgl. Canning, Kathleen: Problematische Dichotomien. Erfahrung zwischen Narrativität und Materialität. In: Bos/Vincenz/ Wirz 2004, S. 37-58, hier S. 49f. Vgl. Reuter 2011, insb. S. 85-104 als Überblick zu Butlers und Goffmanns Theoretisierungen von Materialität. Für Butler stellen Materialisierungen den Effekt performativer Akte dar, während Goffmann in der Übernahme verschiedener Fassaden und Rollen eine Handlungsfähigkeit des Körpers sieht. 49 | Ebd., S. 95f. 50 | Ebd., S. 96.

EINLEITUNG

Materialität der Körper. Entsprechend historisiert Philipp Sarasin die anscheinend so einfache Feststellung »Ich habe einen Körper«.51 Entschieden verteidigt er den Körper als »soziale Tatsache« gegen seine Dekonstruktion als »bloßen Diskurseffekt«, ohne dabei die historisch-kulturelle Bedingtheit dieser jeweiligen Körper-Erfahrung auszuklammern.52 Ähnlich argumentiert Barbara Duden, die die körperliche Selbstreferenz historisiert und dafür den Begriff »Soma« prägt.53 Die sinnliche Wahrnehmung des eigenen Körpers wie aber auch des anderen, des artifiziellen, des Körpers als Gegenüber, ist demzufolge immer von gesellschaftlichen Diskursen abhängig, die jede Vermutung historischer oder anthropologischer Konstanten der Körperwahrnehmung hinfällig machen müssen. Dennoch bleiben nicht nur Zweifel sowohl in Bezug auf Dichotomien wie Diskursivität/Materialität, Geschlecht/Körper als auch hinsichtlich deren Auflösung in ›absolute‹ Diskursivierungen oder Materialisierungen. Allegorie

Ein Blick in die Wissenschaftsgeschichte zeigt, dass mit der Verteidigung dieses »materiellen Rests«54 die Gender Studies damit gewissermaßen unter neuem Vorzeichen an die Anfänge des Feminismus zurückkehren, der gerade die dezidiert ›weibliche‹ Erfahrung in den Mittelpunkt gestellt hatte, als Kritik an dem ›männlichen‹ und von der ›weiblichen‹ Lebenserfahrung abweichenden Diskurs über Frauen.55 Umso interessanter ist nun in Zusammenhang mit den angesprochenen Fragestellungen, dass bisherige Versuche, die Materialität bzw. die leibliche Erfahrung und das an den Körper gebundene Handlungspotential zu fassen, sich oftmals an 51 | Sarasin, Philipp: Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765-1914. Frankfurt a.M. 2001. 52 | Sarasin betont, dass, auch wenn jeder Körper individuell sei und ebenso individuell erfahren werde, so dieser Körper dennoch »bis heute ein weitgehend bürgerlicher, weißer, männlicher und städtischer« bleibe. »Denn nichts […] ist frei von jenen Brüchen, Differenzen und Ausschließungen, die die Klasse, das Geschlecht und die ›Rasse‹ in das Bild des modernen Körpers einschreiben.« Sarasin 2001, S. 25. 53 | Vgl. Duden 2004. Siehe auch Anm. 24. 54 | Voß, Heinz Jürgen: Biologisch gibt es viele Geschlechter. In: Onlinejournal kultur&geschlecht 6 (2010), S. 1-7, hier S. 2 [www.ruhr-uni-bochum.de/genderstudies/kulturundgeschlecht/archiv2.html#voss, 27.07.2012]. 55 | Vgl. Bos/Vincenz/Wirz 2004, S. 18f. sowie Canning 2004, S. 41ff. und S. 48.

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Konzepten des embodiment, der Ver-Körperungen56 oder der Repräsentation57 orientieren. Hierbei handelt es sich zumeist um weiblich konnotierte, an Allegorien bzw. Personifikationen angelehnte Denkfiguren. Setzt sich die geschlechtliche Kodierung also weiter fort? Um diese Frage zu beantworten, sollen vorerst die traditionellen Formen dieser Denkfiguren genauer betrachtet werden. Gerade die traditionell gefasste Ver-Körperung, die Personifikation, zeichnet sich dadurch aus, dass sie Abstraktem einen erfahrbaren Körper verleiht und so das Dilemma von Diskurs und Materialität immer schon in sich birgt. Personifikationen-Körper sind fast immer weiblich, fast immer leicht oder gar nicht bekleidet und sollen immer auf etwas verweisen, das mit diesem ansichtigen Körper vordergründig nicht das Geringste zu tun hat. Wer aber gibt dem ästhetisierten Körper welche Bedeutungen? Wann wird ein allegorischer Körper als solcher verstanden? Allegorische Körper sind signifikative Zeichen, die über kodifizierte Verweisungssysteme an bestimmte Bedeutungen gebunden sind, gerade ohne dass Bildform und Inhalt über äußere Ähnlichkeit korrespondieren müssen. Das Allegorische ist in der Lage, über die reine Zeichen-Ebene zwei Semantiken miteinander so zu verbinden, dass die Verbindung selbst unsichtbar wird. Die eine Bedeutungsebene bezeichnet das Zeichen selbst, die Form, die andere jedoch bezeichnet den Code, das mit dem Zeichen verknüpfte Abstraktum, ein über das Zeichen hinausgehendes Zeichen. Wenn Ulrich Tragatschnig konstatiert, dass »dadurch, dass die Sinnfälligkeit des Zeichens erst im Rückgriff auf den Code gewährleistet ist«, sich »das Allegorische selbst als Allegorisches zu erkennen« gebe58, so soll an dieser Stelle gerade hinterfragt werden, ob nicht vielmehr Allegorien auch und vor allem wirksam werden können, ohne als solche erkennbar zu sein, oder ob nicht als individuell wahrgenommene 56 | Vgl. ebd. sowie die Konferenz, die 2011 in Graz zum Thema des ›embodiment‹ stattfand: Ver-Körperungen. Geschlecht und Körper – Diskurse und Praktiken in der Geschichte, 13.-15. Oktober 2011, Universität Graz. [http://hsozkult.geschichte. hu-berlin.de/termine/id=15586, 25.10.12]. Vgl. auch Vega, Manuel de (Hg.): Symbols and Embodiment. Debates on Meaning and Cognition. Oxford u.a. 2008. 57 | Vgl. Schade, Sigrid; Wagner, Monika; Weigel, Sigrid (Hg.): Allegorien und Geschlechterdifferenz. Köln u.a. 1994; Härtel, Insa; Schade, Sigrid (Hg.): Körper und Repräsentation. Opladen 2002. 58 | Tragatschnig, Ulrich: Sinnbild und Bildsinn. Allegorien in der Kunst um 1900. Berlin 2004, S. 82.

EINLEITUNG

Zeichen doch allegorisch funktionieren können. Ferner stellt sich die Frage, ob und inwiefern als Allegorien wahrgenommene Körperbilder nicht stets Botschaften über das Individuum, das Körperbild und Geschlechtlichkeit transportieren, die von der allegorischen Intention völlig losgelöst existieren. Über Jahrhunderte war die Allegorie gängiges und breiten Kreisen verständliches Darstellungsmittel, das über die zumeist weibliche, menschliche Form abstrakte Inhalte zu verbildlichen in der Lage war.59 Als maßgeblichen Ursprung von Personifikationen beschreiben Forscherinnen und Forscher die mythologischen Götterfiguren griechischer und römischer Provenienz, sind doch auch diese durch ihre funktionale Positionierung im Pantheon eher an übergreifende Ordnungen gebunden als an individuelle Charakterzüge, genauso wie die ebenfalls an bestimmte Funktionsbereiche geknüpften Heiligenfiguren christlicher Hagiographie.60 Die westliche Kulturgeschichte kennt die Personifikation in der Literatur verstärkt seit dem frühen Mittelalter.61 In mittelalterlichen Texten treten Personifikationen oftmals als einem männlichen Protagonisten erscheinende Visionen auf, oder sie veranschaulichen innere Vorgänge.62 So wie die Bedeutung eines Texts verschleiert ist und erst über die 59 | Vgl. Warner 1989. Siehe auch Logemann, Cornelia: Art. Allegorie und Personifikation. In: Pfisterer, Ulrich (Hg.): Lexikon der Kunstwissenschaft. Stuttgart 2011 (2. erw. Aufl.), S. 14-19. Ferner: Warncke, Carsten-Peter: Symbol, Emblem, Allegorie. Die zweite Sprache der Bilder. Köln 2005. 60 | Vgl. insbesondere Warner 1989. Die Autorin hat in dem oft zitierten Band den Zusammenhang sowohl mythologischer Manifestationen abstrakter Konzepte in Menschengestalt als auch vieler christlicher und im Zuge ihres hagiographischen Zuständigkeitsbereiches entindividualisierter Heiligenfiguren detailliert herausgearbeitet und ebenso festgestellt, dass offensichtlich nur der weibliche normalisierte Körper solcherlei Abstraktionsarbeit zu leisten in der Lage ist. Ihre Arbeiten bilden noch immer den Grundstock für eine vielgestaltige und interdisziplinäre Auseinandersetzung mit dem allegorischen Darstellungsmodus und seinen geschlechtlichen Implikationen. 61 | Vgl. z.B. Cuntz, Michael; Söffner, Jan: Einige Betrachtungen zur Poetik der mittelalterlichen Personifikation. In: Franceschini, Rita et al. (Hg.): Retorica. Ordnungen und Brüche. Beiträge des Tübinger Italianistentags. Tübingen 2006, S. 283301; Strubel, Armand: »Grant senefiance a«: Allégorie et littérature au Moyen Âge. Paris 2002; Dinzelbacher, Peter: Vision und Visionsliteratur im Mittelalter. Stuttgart 1981, S. 169-184. 62 | Ebd. sowie Kiening, Christian: Zwischen Körper und Schrift. Text vor dem Zeitalter der Literatur. Frankfurt a.M. 2003, S. 281.

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Allegorese erschlossen werden kann, so lockt der Schleier der Personifikation den Leser zur Enthüllung – der Bedeutung und ihres Körpers. Dieser als Entkleidungszeremoniell begriffene Lese- bzw. Sehprozess unterliegt dabei Geschlechterkodierungen, welche den dezidiert männlichen sehenden Leser als Empfänger einer durch den weiblichen Körper vermittelten Botschaft und als Sinnproduzenten setzen.63 Im Anschluss an das von Laura Mulvey geprägte Konzept des »male gaze«64 ist nur der männliche Rezipient zur Sinnproduktion fähig. In Konrads von Würzburg Der Welt Lohn wird dem ehrenhaften Ritter Wirnt von Gravenberg bei der Lektüre von Minnedichtung eine Vision zuteil – eine wunderschöne Unbekannte verspricht ihm Lohn für sein vorbildliches Leben, woraufhin er die Dame näher kennen zu lernen sucht. Als Frau Welt schließlich ihren Namen preisgibt und gleichzeitig ihren deformierten und verwesten Rücken sichtbar werden lässt, erkennt der Ritter sie. Ihm gelingt die Sinnproduktion, das Verstehen erst, als er gewissermaßen die Grenze der Körperoberfläche bzw- -vorderseite überschreitet. Der Text inszeniert den Verstehensprozess als Eroberung des jugendlich anmutenden Körpers, zu dessen Wahrheit Wirnt schließlich vordringt: Im Anblick ihrer deformierten, die Auflösung des Körpers darbietenden Rückseite erlangt er die Erkenntnis der Wertlosigkeit seines Erdenlebens. Anders als seine erste Wahrnehmung einer vermeintlich schönen Dame erwarten lässt, wird er nicht nur ihrer, sondern letztlich seiner eigenen Hässlichkeit gewahr. Die sich im Schaudern vor dem eigenen Abgrund situierende Erkenntnis Wirnts, das Erkennen seiner ›Verwandlung‹ in ein Abbild der personifizierten Welt65 ist möglicherweise als literarische Repräsentation dessen zu betrachten, was Merleau-Ponty 63 | Vgl. Dinshaw, Carolyn: Chaucer‘s Sexual Poetics. Madison 1989, S. 21; vgl. auch Seitschek, Gisela: Schöne Lüge und verhüllte Wahrheit. Theologische und poetische Allegorie in mittelalterlichen Dichtungen. Berlin 2009; Logemann, Cornelia: Mantel der Bilder – Mantel der Gedanken. Ripas Anti-Integumenta. In: Dies.; Thimann, Michael (Hg.): Cesare Ripa und die Begriffsbilder der Frühen Neuzeit. Berlin 2011, S. 167-198. 64 | Vgl. Mulvey, Linda: Visual Pleasure and Narrative Cinema. In: Screen 16 (1975), S. 6-18. 65 | Vgl. Rüthemann, Julia: Poetologische Deformierungen – Konrads von Würzburg Der Welt Lohn. In: Antunes, Gabriela; Reich, Björn (Hg.): (De)formierte Körper, die Wahrnehmung und das Andere im Mittelalter. Bd. 2. Göttingen [im Druck]. Die genaueren Gender-Implikationen dieser Wahrnehmung thematisiert Julia Rüthemann in einer kommenden Publikation.

EINLEITUNG

unter der leiblichen, bzw. ästhetischen Wahrnehmung gefasst hat.66 Frau Welt aber vermittelt bloß diese Botschaft, ohne selbst ihren Sinn erzeugen und für sich in Anspruch nehmen zu können, da sie aus der von ihr verkörperten Welt selbst ausgeschlossen ist.67 Das Barockzeitalter gilt als Blütezeit der Allegorie in den bildenden Künsten: Der nackte oder teilweise entblößte, fast immer weibliche Körper wird zur Chiffre und Projektionsfläche abstrakter Konzepte. Das Entschlüsseln von Emblemata, Impresen und der den fast immer weißen alterslosen Frauenkörpern beigesellten Attributen wird zum geistreichen Spiel, das möglichst weit auseinander liegende Form- und Inhaltsebenen intellektuell zusammenbringt. Der italienische Kunstgelehrte Cesare Ripa publiziert zu Beginn des 17. Jahrhunderts seine Iconologia, ein über Jahrhunderte maßgebliches Kompendium existierender Bildfindungen in Personifikationen sowie normativer Anweisungen zur Gestaltung personifikativer Umsetzungen Hunderter abstrakter Begriffe. Generationen von Graphikern, Stechern und Malern folgten Ripas Vorgaben zu allegorischer Darstellungspraxis, was diese stark vereinheitlichte, deshalb aber auch für weite Bevölkerungskreise verständlich und übersichtlich machte.68 Im 18. Jahrhundert wurde die allegorische Darstellungspraxis neu belebt und der Modus der Personifikation für die Ideen der Revolution, der Nation und bürgerlicher Tugenden weiterentwickelt und nutzbar gemacht. Noch immer barbusig und in antikisierenden Gewändern gaben die allegorischen Figuren den neuen Konzepten ein ansprechendes Äußeres. Auch wenn die Klassik insbesondere die Konventionalität und dadurch Willkürlichkeit der allegorischen Praxis kritisierte und der Allegorie deshalb das Symbol als unmittelbares und somit ästhetisch erfahrbar gemachtes Verweissystem gegenüberstellte, so kann man feststellen, dass über diese begriffliche Umdeutung hinaus ein Modus allegorischer Praxis ungebrochen erhalten blieb. Das Allegorische wurde zwar theoretisch in der Folgezeit immer weiter als Kunstprodukt ohne jede im romantischen Sinne Ansprache des Gefühls abgewertet. Das Gefühl sei 66 | Vgl. Anm. 10. 67 | Vgl. Warner 1989, S. 368. Vgl. Kiening, Christian: Personifikation. Begegnung mit dem Fremd-Vertrauten in mittelalterlicher Literatur. In: Brall, Helmut; Haupt, Barbara; Küsters, Urban (Hg.): Personenbeziehungen in der mittelalterlichen Literatur. Düsseldorf 1994, S. 347-387, hier S. 379. Vgl. Rüthemann, siehe Anm. 65. 68 | Vgl. Logemann/Thimann 2011.

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lediglich durch das Individuelle als Stellvertreter des Ganzen anzusprechen, nicht jedoch vermittels konventionalisierter Bedeutungscodes, die nur die Ratio in Dienst nähmen. Aber auch wenn der Symbolbegriff die Repräsentation von Körpern nicht automatisch implizierte, so spielte diese doch weiterhin eine maßgebliche Rolle in der Praxis verweisender Darstellung.69 Noch immer wird das 19. Jahrhundert mit seiner breiten und erbittert geführten Allegorie-Debatte als der Zeitpunkt gehandelt, der die allegorische Darstellungspraxis endgültig obsolet erscheinen ließ. Moderne und Allegorie wurden damals und werden größtenteils noch immer als sich ausschließende Gegensätze gehandelt.70 Kritisiert wird in einer Zeit der Krise des künstlerischen Selbstverständnisses wieder der immer noch als artifiziell deklassierte Gehalt allegorischer Darstellung, die als willkürliche Gestaltung durch Attribute, die nicht selbst-verständlich seien, wahrgenommen wird.71 Monika Wagner hinterfragt auch die Theorie des 19. Jahrhunderts und stellt gerade für dieses historistische Jahrhundert das Fortbestehen, die Weiterentwicklung und den funktionalen Zusammenhang von Allegorie und (nationaler) Geschichtsdarstellung heraus: »Im Verlauf dieser Entwicklung [mit der Historisierung nahezu aller Wissensbereiche avancierte eine auf Quellen und ›Fakten‹ bezogene Geschichte zur Wahrheitsinstanz] wurde einerseits die Allegorie als verweisende Bildsprache in Frage gestellt. Andererseits war gerade im Bereich öffentlicher Monumentalmalerei mit seiner Tendenz zur Erziehung und Belehrung eine über die faktische Schilderung von Ereignissen hinausgehende Bedeutungszuweisung 69 | Vgl. z.B. Morgner, Ulrike: ›Das Wort aber ist Fleisch geworden‹: Allegorie und Allegoriekritik im 18. Jahrhundert am Beispiel von K.Ph. Moritz‘ Andreas Hartknopf: eine Allegorie. Würzburg 2002; Sørensen, Bengt Algot: Allegorie und Symbol. Texte zur Theorie des dichterischen Bildes im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 1972; Ders.: Symbol und Symbolismus in den ästhetischen Theorien des 18. Jahrhunderts und der deutschen Romantik. Kopenhagen 1963. 70 | Wenk, Silke: Versteinerte Weiblichkeit. Allegorien in der Skulptur der Moderne. Köln/Weimar/Wien 1996, S. 16. 71 | Vgl. exemplarisch die allegoriekritischen Schriften von Blümner, Hugo: Über den Gebrauch der Allegorie in den Bildenden Künsten. In: Laokoon-Studien 1. Freiburg 1881; Vischer, Friedrich Theodor von: Kritische Gänge. Stuttgart 1866; Ebe, Gustav: Historisches Portrait und Allegorie in der modernen Monumentalskulptur. In: Kunst für alle 12 (1887), S. 177-81; Burckhardt, Jacob: Die Allegorie in den Künsten (1887). In: Ders.: Vorträge 1844-87. Hg. v. Emil Dürr. Basel 1918, S. 374-94.

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gewünscht«.72 Und Silke Wenk stellt schließlich mit Blick auf die moderne Skulptur des 20. Jahrhunderts fest, dass »nicht so einfach von dem Ende der Allegorie in der Moderne gesprochen werden kann. Zumindest ist die weibliche Allegorie davon nicht betroffen«.73 Offensichtlich klafften theoretische Allegoriekritik und bildpraktische Umsetzungen gerade in den angewandten Bereichen wie Bauplastik, Werbegraphik oder didaktischer Geschichtsdarstellung weit auseinander.74 Die neuen Personifikationen der Elektrizität oder des Verkehrsbetriebes, mit denen Ulrike Gall das Überleben der Personifikation als Garantin von Kontinuität aufzeigt, stehen beispielsweise gerade für radikale Modernität 75 , und manchmal kann so die gleiche Nackte für das moderne elektrische Licht wie für die traditionelle Wahrheit stehen (Abb. 12/13). Gall zeigt auf, dass gerade in den Unsicherheiten der Moderne das tradierte Bildrepertoire der Personifikationen aller Allegoriekritik zum Trotz die erforderliche Beständigkeit zu transportieren offensichtlich in der Lage war. Durch die allegorische Zusammenbringung zweier Zeichensysteme, des materialen Zeichens und des signifikativen Codes, lässt sich Ferdinand de Saussures Zeichentheorie auf das Verweisungssystem der Personifikation anwenden. Silke Wenk beschreibt jedoch den Verweis eines bildlichen oder schriftsprachlichen Bedeutungsträgers auf eine Bedeutung als mehrdeutig: Neben dem Verweis auf ein Abstraktum wird mit dem Bild des weiblichen Körpers stets auch auf das Signifikat Weiblichkeit selbst verwiesen und lässt so nicht nur Rückschlüsse auf die gesellschaftlich 72 | Wagner, Monika: Allegorie und Geschichte. Ausstattungsprogramme öffentlicher Gebäude des 19. Jahrhunderts in Deutschland. Von der Cornelius-Schule zur Malerei der Wilhelminischen Ära. Tübingen 1989, S. 2. 73 | Wenk 1996, S. 12. 74 | Vgl. Wagner 1989, S. 7. 75 | Gall, Ulrike: Weibliche Personifikationen in Allegorien des Industriezeitalters. Motivhistorische Studien zu Kontinuität und Wandel bildlicher Verkörperungen 1870-1912. Konstanz 1999. In ihrer Studie berücksichtigt Gall die Geschlechtlichkeit der neuen Personifikationen, indem sie Kontinuitäten und Brüche im dargestellten Geschlecht der ›modernen‹ Allegorien auf sich während des 18. Jahrhunderts zuerst verfestigende Geschlechterbinaritäten und die ›Naturalisierung‹ der Weiblichkeit (und ›Kulturalisierung‹ oder ›Technisierung‹ von Männlichkeit) bezieht. In diesem Kontext thematisiert sie auch die sich Anfang des 20. Jahrhunderts durch veränderte gesellschaftliche Prozesse und die erste Emanzipationsbewegung von Frauen auflösenden Geschlechterdualitäten. Siehe auch Knaller, Susanne: Zeitgenössische Allegorien – Literatur, Kunst, Theorie. München 2003.

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Abb 12 | Jules Lefebvre, Die Wahrheit, 1870.

Abb 13 | Werbemarke der Allgemeinen ElektricitätsGesellschaft (AEG), 1892.

anerkannte Konzeption von Weiblichkeit zu, sondern formt diese auch immer wieder mit.76 Saussures Theorie besagt, dass sich die Bedeutung eines sprachlichen Zeichens stets erst aus dem Zusammenspiel von lautlichem oder schriftlichem, also materialem, Zeichen und dem durch einen Code festgelegten Verweis auf eine außersprachliche Wirklichkeit zusammensetzt, jedes für sich aber bedeutungslos und Denkkonstrukt bleiben muss. Anscheinend ändert sich die Wahrnehmung allegorischen Verweisens im 19. Jahrhundert in dem Sinne, dass Signifikat und Signifikant als nicht mehr zusammengehörig wahrgenommen werden, oder dass neue Codes anstelle der tradierten treten. Der implizite und lange eingeübte Verweis auf andere Zeichensysteme als den durch die Form intendierten scheint in vielen Fällen zu scheitern. Die lange gültige Praxis kodifizierten Verweisens wird zu diesem Zeitpunkt vielleicht mehr als zu anderen verunsichert und hinterfragt. 76 | Vgl. Wenk 1996, S. 6/7.

EINLEITUNG

Die Fragestellungen dieses Bandes fußen besonders auf der Annahme, dass paradoxerweise gerade der nackte weibliche PersonifikationenKörper aus dieser allgemeinen Allegoriekritik ausgenommen zu sein scheint. Vielmehr wird ebendieser im Gegenteil als durch seine Weiblichkeit immer schon so ›natürlich‹ wahrgenommen, dass er eine geradezu in der ›Natur‹ angelegte Unmittelbarkeit zum Gegenstand, den er repräsentieren soll, aufzubauen in der Lage ist. Der weibliche Körper kann also offensichtlich Vorstellungen von Ganzheit und Einheit repräsentieren77, ohne gar als Allegorie rezipiert zu werden. Es scheint gerade die erkennbare weibliche Körperlichkeit der Allegorien zu sein, die die Kluft von Form und Inhalt überbrücken kann. Offensichtlich spielt der weibliche Körper, wenn auch nicht bewusst rezipiert, im Akt der Entschlüsselung dennoch eine gewichtige Rolle. Es muss also anscheinend doch einen Zusammenhang zwischen Körperzeichen und Verweisungszeichen geben, auch wenn dieser ebenso verschlüsselt und lediglich über eingeübte Geschlechterrollenklischees erklärbar gemacht werden kann wie die unüberbrückbare Differenz von Material und Code überhaupt. In ein per definitionem vermitteltes Bild gelangt – meist unbemerkt – Unmittelbarkeit. Zur gleichen Zeit lässt sich die vermehrte »Integration von Personifikationen in genrehafte Szenen« feststellen78 und es stellt sich die Frage, welche Bedeutung das Genre als zwischen individueller und typisierter Darstellung stehend in Bezug auf die Umbruchsituation der Allegorie einnimmt: »Von daher wäre zu fragen, inwieweit gerade vom Jugendstil die Allegorie einverleibt und erneuert bzw. durch den Transport in ein neues Bezugssystem – das Genre – aufgeweicht wird«, so Wagner.79 Auch ist zu fragen, ob es nicht allegorische Bildfindungen gibt, die statt lediglich über einen konventionalisierten Code, dessen Zeichen in keinem lebensweltlichen Zusammenhang stehen, über Integration von psychologisch zu deutenden Charakter-Zeichen funktionieren. Wenn also der Körper der Allegorie selbst mit seiner interpretierbaren Mimik, Gestik 77 | Vgl. hierzu auch Schade, Sigrid: Der Mythos des »Ganzen Körpers«. Das Fragmentarische in der Kunst des 20. Jahrhunderts als Dekonstruktion bürgerlicher Totalitätskonzepte. In: Zimmermann 2006, S. 159-180. Schade dekonstruiert den Körper weiblicher Repräsentationen darin als Konstruktion von idealisierter »Ganzheit«, die gleichzeitig die Spuren der Verkittung tilgen und verleugnen muss. 78 | Wagner 1989, S. 25. 79 | Ebd.

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und seinem individualisierten oder zumindest typisierten Habitus zum Bedeutungsträger wird (wie beispielsweise die Ausgemergeltheit des ›Hungers‹, der Augenaufschlag der ›Schönheit‹ oder der hässliche Körper des ›Neides‹ − Abb. 14), so wird der allegorische Darstellungsmodus als unaufhörliches Ausdifferenzieren eines Spannungsfelds zweier immer nur idealiter gedachter Pole (des ›rein Abstrakten‹ und des ›rein Individuellen‹) explizit. Zwischen diesen beiden Polen bewegen sich Phänomene wie der Typus, der Repräsentant, das Stereotyp, das Genre und müssen je nach Kontext in ihren vielfältigen Bedeutungsmustern neu ausgehandelt werden.80 Es stellt sich also die Frage, ob nicht zu allen Zeiten einschließlich der unseren »unbewusst sich herstellende Allegorien«81 sowohl auf etwas außerhalb ihres Körpers Liegendes wie auch auf diesen Körper selbst verweisen? Es fällt schwer, die makellosen, ebenmäßigen Körper von Gisele Bündchen oder Angelina Jolie als individuelle wahrzunehmen, ihnen nicht Verweise auf Anderes zuzugestehen, auf ideale Schönheit und Erfolg. Ähnliches gilt ebenso für berühmte Mütter wie zum Beispiel Heidi Klum, die einen trotz Mutterschaft unverformbaren Körper möglichst kurz nach der Schwangerschaft medial in Szene setzt. Die damit ausgedrückte Jugendlichkeit vermittelt einerseits Kontrolle über den Körper, kann möglicherweise aber auch als Versuch einer Kontrolle seiner 80 | Besonders die Fallbeispiele und Arbeiten Marcia Pointons sind in diesem Zusammenhang aufschlussreich: Pointon, Marcia: Portrait und Allegorie – Reynolds‘ Three Ladies adorning a Term of Hymen. In: Schade/Wagner/Weigel 1994, S. 113-126 oder Dies.: Rate, wer zum Essen kommt! Allegorie und Körper in Manets Frühstück im Freien. In: Söntgen, Beate (Hg.): Rahmenwechsel. Kunstgeschichte als feministische Kulturwissenschaft. Berlin 1996, S. 162-187. Erstmals gemeinsam mit anderen allegoriephilosophischen Aufsätzen in englischer Sprache (Guess Who’s Coming to Lunch? Allegory and the Body in Manet’s Le Déjeuner sur l’herbe) erschienen in Dies.: Naked Authority. The Body in Western Painting, 1830-1908. Cambridge u.a. 1990, S. 113-134. Vgl. ebenfalls Nochlin, Linda: Courbet’s Real Allegory: Rereading The Painter’s Studio. In: Faunce, Sarah; Dies. (Hg.): Courbet Reconsidered. Kat. Ausst. The Brooklyn Museum, The Minneapolis Institute of Arts. New Haven, Connecticut u.a. 1988, S. 17-42. Siehe auch Farwell, Beatrice: Courbet’s Beigneuses and the Rhetorical Feminine Image. In: Hess, Thomas B.; Nochlin, Linda (Hg.): Woman as Sex Object. Studies in Erotic Art, 1730-1970. London 1973, S. 65-79; Kraut, Gisela: Weibliche Masken. Zum allegorischen Frauenbild des späten 18. Jahrhunderts. In: Sklavin oder Bürgerin? Französische Revolution und neue Weiblichkeit 1760-1830. Kat. Ausst. Historisches Museum Frankfurt a.M. Marburg 1989, S. 340-357 sowie Wind, Edgar (Hg.): Hume and the Heroic Portrait. In: Anderson, Jaynie (Hg.): Hume and the Heroic Portrait. Studies in 18th Century Imagery. Oxford 1986, S. 1-52. 8 1 | Wenk 1996, S. 7.

EINLEITUNG

Inszenierung verstanden werden. Diese folgt jedoch offensichtlich festgelegten Regeln.82

Abb 14 | Stecher: Melchior Küsel, Inventor: Johann Wilhelm Baur, Radierung Neid und Zwietracht (Eris), 1670.

Strategien der Allegorisierung werden ferner in der Werbung wirksam, wenn das Gesicht oder der Name von Prominenten mit einer Marke assoziiert oder gar identifiziert wird. So lässt sich die Schauspielerin Natalie Portman auf diversen Werbeplakaten der Marke Dior nackt, allerdings ohne sich vollständig zu entblößen, portraitieren und als Miss Dior bezeichnen. Der Markenname ersetzt dabei das vormals personifizierte Abstraktum.83 82 | Vgl. den Beitrag von Daniel Hornuff in diesem Band. 83 | Zum Verhältnis früher Werbebilder und der in ihnen inszenierten Körperbilder zu

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Bereits der Name des sozialen Netzwerkes facebook rekurriert auf konstituierende Elemente der Allegorie: das Gesicht und die betitelnde Schriftsprache. Millionen Mitglieder nutzen das Medium zur Selbstästhetisierung, die neue Handlungsmacht im Akt der Kodifizierung birgt, sich zunächst aber auf eine virtuelle Präsenz beschränkt.84 Das inszenierte Individuum vereint in sich ähnlich wie das Selbstporträt den Blick, die Autorschaft des Künstlers mit dem stilisierten Objekt. Durch die Beteiligung am Netzwerk, die Referenz auf das allen gemeinsame Gesicht, im weiteren Sinne den allen gemeinsamen Körper, also mit anderen Worten das Selbstbildnis, nähert sich das Individuum hier der Allegorie an. Doch auch der namenlose Geschäftsmann im dunklen Anzug verweist insbesondere durch dieses Attribut der Kleidung auf etwas Allgemeines und über ihn hinaus Deutendes. Dieses materialisiert sich allerdings erst in der Masse entindividualisierter und uniformisierter Körper bzw. nimmt in dem Bezug auf diesen Massenkörper allegorische Bedeutung an.85 Die seit geraumer Zeit besonders bei politischen Demonstrationen immer wieder zum Vorschein kommende Anonymous-Maske macht sich diesen Zusammenhang zunutze. Während der Geschäftsmann zum Ausdruck einer Entindividualisierung wird, erhebt die Anonymous-Bewegung diese zum Prinzip und beansprucht im Gegensatz zu einer solchen passiv erlittenen ›Entgesichtlichung‹ die Deutungshoheit über die Grenzen von Individuum und Masse, Gesicht und Individuum, von Transparenz, individuell bestimmter Sichtbarkeit und körperlicher Handlungsfähigkeit. Gerade durch die vielfache Reproduktion dieser Maske, durch das Aufsetzen zahlreicher identischer Masken in der Masse stellt sich ein allegorischer Zusammenhang ein. Zeichnet sich, wie bereits angesprochen, die Personifikation als eine solche Ganzheit aus und kann allein bzw. in Abgrenzung zu anderen Personifikationen ein Abstraktum durch die und als Maske repräsentieren86 , funktioniert Anonymous nur in der Masse. Die Allegorie kennt hier nicht nur den entindividualisierten Massenkörper als Bezugssystem, sondern gerade auch die Masse einheitlicher, allegorischen Bildstrategien arbeitet Miriam Oesterreich im Rahmen ihrer Dissertation: Erdteilallegorien und ›Bananenmädchen‹ – Zu Repräsentationen ›exotischer‹ Körper in der frühen Bildreklame, 1880-1914. 84 | Vgl. die Kritik Han, Byung-Chul: Transparenzgesellschaft. Berlin 2012. 85 | Es sei hier verwiesen auf Siegfried Kracauers epochemachende Studie: Das Ornament der Masse. Frankfurt a.M. 1963 [1927], S. 50ff. 86 | Vgl. den Beitrag Alexandra Karentzos in diesem Band.

EINLEITUNG

mit sich identischer Gesichter, die vielmehr eine Individualität verstecken bzw. sie nur in der Negativität präsent machen. Die Anonymous-Maske, die auf die historische Figur des Guy Fawkes referiert, ist deutlich männlich attribuiert. Sie bestätigt einerseits ex negativo die alten Codes. Tatsächlich kehrt sie das Individuum in ihr Gegenteil, bezieht sich dabei jedoch auf eine Individualität, welche sich durch den selbstbestimmten Akt der Auflösung in der männlichen Masse manifestiert und so letztlich als männlich kodiert erweist.87 Sie zeugt dennoch vielleicht ebenso von einem neuen inneren Bezug von Körper, Geschlecht und Allegorie. Nicht nur vereint sie die Gegensätze Individuum und Masse und stellt einen neuen numerischen Zusammenhang von Maske und Referenz bzw. Einheit her; auch wäre zu überlegen, ob die so allegorisch aufgefasst männliche Maske das Verständnis von Allegorie neu prägt. Angesichts der Tatsache, dass Individualität in der Realität nicht nur Männern zugestanden wird, eröffnen sich möglicherweise dann Verhandlungsspielräume bezüglich der Genderkategorien, wenn die Maske abgesetzt und das unter ihr zuvor verborgene Individuum (als weiblich) erkennbar wird.88 Bemerkenswert ist, dass die Flagge der Anonymous-Bewegung dann auch einen anzugtragenden und so, wie es scheint, männlich attribuierten Körper abbildet, welcher anstelle des Kopfes ein Fragezeichen aufweist.89 Die Bewegung vollzieht offenbar ähnlich wie Siri Hustvedt einen Schnitt zwischen Kopf und restlichem Körper, doch hatte diese gerade umgekehrt den Körper gewissermaßen mit einem Fragezeichen versehen und von ihrem Kopf getrennt. In beiden Beispielen kommen möglicherweise genderspezifische Aspekte zum Tragen. Sucht die Anonymous-Bewegung ihren unhierarchischen Charakter aber mit einem implizit männlichen Signum abzubilden, führt der ›vermännlichte‹ Kopf die Schriftstellerin durch ihre unkontrollierbaren, ›weiblichen‹ (?) Zitteranfälle. 87 | Anonymität ist traditionell mit Weiblichkeit assoziiert. Virginia Woolf formulierte: »For most of history, Anonymous was a woman.« Zit. in und vgl. Kord, Susanne: Sich einen Namen machen. Anonymität und weibliche Autorschaft, 1700-1900. Stuttgart 1996, hier S. ?. 88 | Am Ende des Films V wie Vendetta nehmen die Demonstranten ihre Masken ab und zeigen ihre individuellen Gesichter. Die Einstellung zeigt so ein Nebeneinander von Maske und Gesicht. V for Vendetta. Regie: James McTeigue. 2006. DVD Warner Home Video 2006. Zum Vergleich sei auf die Allegoria della Simulazione Lorenzo Lippis (um 1640), Musée des Beaux-Arts, Angers, verwiesen. 89 | http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/5/51/Anonymous_Flag.svg, 24.10.12.

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Wenn die Verwischung der definitorischen Grenzen von Allegorie und Genre, Typus, Individuum und Stereotyp analysiert wird, so ist auch zu fragen nach dem Verhältnis der Allegorie zum Kunstbegriff überhaupt. Es sind doch gerade künstlerische Werke, die Präsenz und Unmittelbarkeit schaffen, deren Potenzial jenseits aller intellektuellen Auslegung die sinnliche Erfahrung ist. Die Kunst befindet sich immer im Dilemma zwischen präsentem Ding und auf Abwesendes verweisendem Zeichen, muss also immer ganz Material und ganz Diskurs sein. Ein Kunstwerk als solches anzuerkennen hat häufig mit einem solchen sehr subjektiven Angesprochensein auf sinnlicher Ebene zu tun, mit einer nicht greifbaren körperlichen Beziehung zum Artefakt. Graduell abgestuft sind Kunstwerke somit immer und immer noch als Kultwerke zu fassen, deren geradezu magische Beziehung zu den Körpern der Rezipienten Hans Belting und David Freedberg herausgestellt haben.90 Die imago, das personale Bildnis, »stellte gewöhnlich eine Person dar und wurde deshalb auch wie eine Person behandelt«.91 Belting trennt ganz explizit zwischen der »Ära des Bildes«, die die Bildpraktiken zum Gegenstand hat, und einer »Ära der Kunst«: »Die ›Kunst‹, wie sie der Autor hier verstehen möchte, setzt die Krise des alten Bildes und seine Neubewertung als Kunstwerk in der Renaissance voraus. Sie ist an eine Vorstellung vom autonomen Künstler und an eine Diskussion über den Kunstcharakter seiner Erfindung gebunden«.92 Der neuzeitliche Versuch, Bildern von Körpern ihre unmittelbare Macht über Affekte und Reaktionen, kurz über die Körperlichkeit ihrer Rezipienten zu entreißen, indem sie intellektualisiert, dekontextualisiert und musealisiert werden, muss jedoch stets scheitern: Die Anerkennung des Kunstcharakters selbst steht und fällt mit der ästhetischen, das heißt sinnlichen Wahrnehmung der Repräsentation. Das Kunstwerk bewegt sich also immer schon in einem Spannungsfeld des intellektuellen Wissens um seinen Artefaktcharakter einerseits und überwältigender körperlicher Präsenz andererseits. Die als in besonderer Weise als konzeptualisiert definierte künstlerische Allegorie nähert sich so dem als reine Körperlichkeit jenseits jeder kodifizierten und daher nur 90 | Belting, Hans: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst. München 1990; Freedberg, David: The Power of Images. Studies in the History and Theory of Response. Chicago/London 1989. 91 | Belting 1990, S. 9. 92 | Ebd.

EINLEITUNG

intellektuell nachvollziehbaren Verweiskraft verstandenen Bildfetisch an,93 übernimmt Funktionen der Präsenz und Unmittelbarkeit und wird so zu einer körperlichen Erfahrung im oben beschriebenen Sinne. Besonders mit der wissenschaftlichen ›Wieder-Entdeckung‹ Walter Benjamins ist die Theorie der Allegorie in den Geisteswissenschaften in den letzten Jahren wieder verstärkt ins Forschungsinteresse geraten94 und wurde Benjamins bahnbrechende Modernisierung des Allegoriebegriffs weithin bekannt und anwendbar gemacht. Das Allegorische ist Benjamin nichts Statisches, nichts, was schlechthin definiert werden könne, sondern ein Modus, der in unterschiedlichen Kontexten – dem barocken, wie er im Ursprung des deutschen Trauerspiels ausführt, dem modernen, den er in seinen fragmentarisch gebliebenen Überlegungen zu Baudelaires Allegoriebegriff im Passagenwerk in den Blick nimmt – je unterschiedlich zum Ausdruck kommt. Für Benjamin ist die Allegorie vielleicht erstmals und bedeutsam für viele Fragestellungen dieses Bandes eine eigenständige erkenntnistheoretische Kategorie.95 Er beschreibt die Allegorie – seit jeher Zeichen der Ganzheit – gerade als bruchstückhaft: „Als Stückwerk aber starren aus dem allegorischen Gebild die Dinge.“96 Gerade die sichtbar gemachte Bruckstückhaftigkeit der Allegorie verweise auf deren Gegenstück: die Vollendung, die Totalität: denn „aus den 93 | Die vielfältigen Beziehungen der beiden Begrifflichkeiten werden in Kürze von Miriam Oesterreich an anderer Stelle herausgestellt werden. Siehe auch Anm. 82. 94 | Dem The Cambridge Companion to Allegory gelingt ein auch Disziplinen übergreifendes Werk zum allegorischen Modus, das die Forschungen der 90er Jahre an die aktuellen Diskurse anschließt. Copeland, Rita (Hg.): The Cambridge Companion to Allegory. Cambridge u.a. 2010. Siehe auch Tambling, Jeremy: Allegory. London u.a. 2010. Ferner: Owens, Craig: The Allegorical Impulse: Towards a Theory of Postmodernism. In: October 12 (1980), S. 67-86; 13 (1980), S. 59-80; Fletcher, Angus: Allegory: The Theory of a Symbolic Mode. Ithaca/New York 1964. 95 | Zu Benjamins Allegoriebegriff vgl. exemplarisch Lim, Suk Won: Die Allegorie ist die Armatur der Moderne. Zum Wechselverhältnis von Allegoriebegriff und Medientheorie bei Walter Benjamin. Würzburg 2011; Zumbusch, Cornelia: Wissenschaft in Bildern. Symbol und dialektisches Bild in Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas und Walter Benjamins Passagen-Werk. Berlin 2004; Arabatzis, Stavros: Allegorie und Symbol. Untersuchung zu Walter Benjamins Auffassung des Allegorischen in ihrer Bedeutung für das Verständnis von Werken der Bildenden Kunst und Literatur. Regensburg 1998. 96 | Benjamin, Walter: Ursprung des deutschen Trauerspiels [1928]. In: Ders.: Gesammelte Werke I. Frankfurt a.M. 2011, S. 763-955, hier S. 911.

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Trümmern großer Bauten [spricht] die Idee von ihrem Bauplan eindrucksvoller […] als aus geringen noch so wohl erhaltenen […]“.97 Und eben weil „[w]as da in Trümmern abgeschlagen liegt, das hochbedeutende Fragment, das Bruchstück“ für ihn Kern allegorischer Erkenntnis ist, kann die Allegorie zum paradigmatischen Stilmittel für die fragmentierte Moderne avancieren. Nach dem Aufwerfen der grundsätzlichen Frage nach dem Geschlecht der Allegorien in den späten siebziger Jahren98 und der Kritik an der gängigen Erklärung durch das grammatikalische Geschlecht der meisten abstrakten Begriffe in lateinischer Sprachtradition 99 hat sich vor allem die Literaturwissenschaft mit dem Modus der Allegorie beschäftigt, ohne jedoch letztgültige Antworten auf den Zusammenhang von Allegorie und Geschlecht geben zu können.100 Dieser intrinsische Zusammenhang von Geschlechtlichkeit und allegorischem Darstellungsmodus wurde ebenso wenig in der Kunstgeschichte gerade in einer Phase der Historisierung der feministischen Kunstgeschichte berücksichtigt.101 Wenn die Theorien zu ›Allegorie‹ sowie zu ›Geschlecht‹ je für sich an Komplexität gewonnen haben, neue Facetten herausgearbeitet wurden, auch einem Mainstream gegenläufige Tendenzen durchaus Beachtung fanden, so wurden sie doch in den seltensten Fällen zusammengedacht. Die Beiträge dieses Bandes analysieren deshalb die Intersektionalität von ›Allegorie‹ und ›Geschlecht‹ und berücksichtigen dabei zahlreiche Kategorien, die die Rezeption und Interpretation von personifikativen Repräsentationen in künstlerischen, literarischen ebenso wie populärkulturellen und lebensweltlich intendierten Ästhetiken bedingen. 97 | Ebd., S. 955. 98 | Siehe Rentmeister, Cäcilia: Berufsverbot für die Musen. In: Ästhetik und Kommunikation. Beiträge zur politischen Erziehung 7,25 (September 1976), S. 92-113. Siehe auch Wartmann, Brigitte: Warum ist »Amerika« eine Frau? Zur Kolonialisierung eines Wunsch(t)raums. In: Dinnebier, Antonia; Pechan, Bertold (Hg.): Landschaftsentwicklung und Umweltforschung: Ökologie und alternative Wissenschaft. Ein Vortragszyklus. Berlin 1985, S. 104-140. 99 | Vgl. z.B. Held, Julius: Art. Allegorie. In: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte. Bd. 1. München 1937, Spalten 346-366, hier Spalte 347: »Das Geschlecht ist beliebig, jedoch richtet es sich – was für die enge Verbindung mit der Sprache kennzeichnend ist – gewöhnlich nach dem Genus der lateinischen Form«. 100 | Vgl. Paxson, James J.: The Poetics of Personification. Cambridge 1994; Ders.: Personifications‘ Gender. In: Rhetorica 16 (1998), S. 149-179. 101 | Vgl. Söntgen, Beate: Gender in Trouble. In: Texte zur Kunst. Heft 42: Sie kam und blieb (Juni 2001), S. 32-41, zitiert aus: http://www.textezurkunst.de/42/ gender-in-trouble/, 31.07.2012.

EINLEITUNG

Genauer wird gefragt, ob nicht die Darstellung »in weiblicher Gestalt«102 gerade eine neue Bedeutungszuschreibung bekommt durch veränderte – jetzt wieder lebensweltlich gedacht – gesellschaftliche Geschlechterrollen. So analysiert Daniel Hornuff in kulturwissenschaftlicher Perspektive die veränderte Ästhetisierung und Mediatisierung von Schwangerschaft seit den 1990er Jahren. Dem aufgewerteten schwangeren Bauch schreibt er »allegorische Zeigekraft« zu, indem er ihn mit einer neu gewonnen bzw. inszenierten Souveränität der Frau assoziiert und die vorherige, alleinige Ästhetisierung des Fötus unter Ausschluss der Frau als passé begreift. Mit ihm sei überlegt, ob nicht allein schon die ikonografische Tradition verschiedener Bildthemen diese in allegorische Kontexte rückt, wie es beispielsweise Camerons fotografische Adaption der Dürerschen Melencolia I nahelegt (Abb. 15/16).

Abb 15 | Albrecht Dürer, Melencolia I, 1514.

Weiter stellt sich die Frage, ob denn nach aller Diskursanalyse und Erfahrungsgeschichte nicht auch männlich definierte Körper allegorische Funktionen zeigen können? Schließlich – vermögen nicht auch Frauen selbst die Rolle der körpergenerierenden Handelnden zu übernehmen und so das tradierte Bild des männlichen Künstlers und der Frau als Bild umzukehren? 102 | Warner 1989.

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KÖRPER-ÄSTHETIKEN

Abb 16 | Julia Margaret Cameron, Sadness (Ellen Terry), 1864.

Waren lebensweltliche Realität der (sexuellen) Macht von Männern über Frauen und insbesondere von männlichen Künstlern über ihre weiblichen Modelle und bildliche Interpretation von männlicher (individueller – und implizit stets bekleideter) Kreativität (dafür aber Unsichtbarkeit) und weiblicher entkleideter Sichtbarkeit im Bild stets anerkannt 103 , so ist 103 | Vgl. dazu Linda Nochlin: »In the nineteenth century, and still today, the very idea – much less an available public imagery – of the male body as a source of gentle, inviting satisfaction for women’s erotic needs, demands and daydreams is almost unheard of, and again not because of some ›male-chauvinist‹ plot in the arts, but because of the total situation existing between men and women in society as a whole«. Nochlin, Linda: Eroticism and Female Imagery in Nineteenth-Century Art. In: Hess/Nochlin 1973, S. 8-15, hier S. 14. Sie bindet damit die Bildpraxis direkt an eine lebensweltliche Realität und konstatiert deren wechselseitige Bedingtheit. Man beachte auch die Debatte um die Aneignung autonomer Blickstrategien durch Frauen (die jedoch konterkariert werden durch die Integration und Übernahme männlicher Blickachsen auf den eigenen

EINLEITUNG

doch zu fragen, ob diese Stereotype nicht auch andersherum funktionieren können, ob solcherlei dichotomische Geschlechterbilder in heutiger Zeit nicht sowieso obsolet werden oder ob eben diese Dualitäten nicht auch gerade wieder verfestigt werden? Viola Hildebrand-Schat reflektiert in ihrem Beitrag anhand von Arbeiten der russischen Künstlerin Tanya Antoshina die der Allegorisierung des Körpers in der europäischen Malerei zugrunde liegenden Geschlechterrollen und ihre Institutionalisierung im Museum. Ferner setzt sie sich mit der Darstellung einer Europa verkörpernden Greisin im Kontext der Beziehungen zwischen Russland und Europa auseinander. Mati Meyer untersucht das Motiv des weiblichen Körpers in byzantinischer Kunst und zeigt, wie sich bildliche und textliche Darstellungen trotz ihrer Assoziation mit Sünde am römisch-griechischen Vorbild der Aphrodite orientieren und den Erwartungen der männlichen Rezipienten entsprechend gestaltet würden. Die Darstellung weiblicher Märtyrerinnen enthalte in Anlehnung an Christus bzw. männliches Märtyrertum zugleich androgyne Elemente. Anhand skulpturaler Arbeiten Corradinis und Queirolos aus dem 18. Jahrhundert arbeitet Ulrike Müller-Hofstede die Funktion und Dialektik allegorischer Körper heraus. Die in ihnen verhandelten moralischen und sozialen Codes stünden in einem produktiven Spannungsverhältnis nicht nur zur Vita der Verstorbenen, sondern insbesondere auch zur Wirkungsästhetik der Skulpturen, die diese Codes bestätigen und zugleich unterlaufen. Die Übergänge von allegorischer Darstellungsweise und Lebenswelt thematisiert Cornelia Logemann. Sie verhandelt detailliert die Brüche, die das beginnende 20. Jahrhundert der Wahrnehmung von tradierten vergeschlechtlichten Blicken aufzwang. Diese Brüche erlebte der Betrachter stets dann, wenn sie zum Skandal, zur öffentlich ausgetragenen Diskussion wurden, wie im Falle der von ihr vorgestellten Allegorie auf die Civic Virtue des Frederick MacMonnies in New York, dessen Debatte sich um die Frage des männlichen nackten Modells entzündete. weiblichen Körper): Vgl. exemplarisch den Artikel von Tanja Stelzer: Die neuen Nackten. Für den Playboy posieren oder oben ohne protestieren: Wenn Frauen sich heute ausziehen, halten sie sich für selbstbewusst und modern. Aber beherrschen sie das Spiel mit den Bildern wirklich? In: Die ZEIT, Nr. 14. 29.03.2012. Siehe: http://www.zeit.de/2012/14/DOS-Nackte-Frauen, 31.07.2012. Vgl. auch Anm. 64.

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KÖRPER-ÄSTHETIKEN

Der Wirkung einer bildlichen Darstellung auf die historische Lebenswelt geht ebenso Maret Keller nach. Sie beschäftigt sich mit Mariendarstellungen im Kontext der Missionierung in Spanisch-Amerika durch den Mercedarierorden und insbesondere mit der in den Quellen des Mercedariers Fray Gabriel beschriebenen Wundertätigkeit eines solchen Kultbildes in Santo Domingo. Sie kann zeigen, welche Diskurse diese Darstellung an der Schnittstelle von Politik, Hagiografie und Theologie kristallisiert. Inwiefern eine spezifische Körperlichkeit allegorisiert wird, veranschaulichen die Beiträge von Dania Schüürmann und Iuditha Balint. Dania Schüürmann spürt anhand zweier zeitgenössischer brasilianischer Texte dem inneren Bezug von weiblichem Körper und Tod nach. Sie versteht die Kreatürlichkeit, den vergänglichen Körper, als ein die Texte durchziehendes allegorisches Prinzip, das eine spezifisch weibliche Erkenntnis der menschlichen Existenzbedingung ermöglicht. Ökonomisierte Körper in neuester deutschsprachiger Literatur stehen im Zentrum des Beitrags von Iuditha Balint. Körper und Kapital würden sich entsprechen bzw. wirtschaftliche Prinzipien insbesondere an der Körperoberfläche und ihrer Kontrollierbarkeit genderspezifisch abgehandelt. Ferner werde die Firma als Organismus dargestellt. Diese Beziehung verlagere sich dann ins Körperinnere bzw. auf einen die Gesellschaft umfassenden Kollektivkörper. Mit der zunehmenden Abstraktheit der Ökonomie gehe schließlich eine vollständige Entkörperlichung einher. Der Eigenschaft der Allegorie, als Figur innerer Doppelung oder als Differenzfigur 104 Grenzen zu markieren und sie gleichzeitig zu überschreiten, gehen die Beiträge von Alexandra Karentzos, Silke Tammen und Katharina Philipowski nach. Alexandra Karentzos beschreibt die Tendenz der Allegorie, eine Einheit zu repräsentieren, und veranschaulicht, inwiefern diese Einheit wiederum durch bildinnere Differenzen konstruiert werde, wie beispielsweise durch ethnische Markierungen. Die Abgrenzungsfiguren geraten da104 | Vgl. Kiening 2003, S. 279. Dazu auch der Beitrag Oesterreich, Miriam; Rüthemann, Julia: Der Troubadour und die America – Das Prinzip Personifikation und Geschlechtercodes. In: Flüchter, Antje; Mommertz, Monika (Hg.): Verflochtene Lebenswelten. Publikation zur 16. Fachtagung des Arbeitskreises Geschlechtergeschichte der Frühen Neuzeit, Stuttgart Hohenheim 4.- 6. November 2010 [in Vorbereitung].

EINLEITUNG

bei zu Grenzfiguren und eröffnen letztlich Möglichkeiten der Karikierung, wie sie im Zuge des Postkolonialismus von Künstlerinnen und Künstlern eingesetzt werden. Silke Tammen setzt sich mit der Funktion des Schleiers in Gabriel von Max‘ Der Anatom auseinander. Sie zeigt die in den weiblichen Leichenkörper eingeschriebenen anatomischen und allegorischen Bildtraditionen und den sich in ihnen übersetzenden, männlich kodierten Erkenntnisdrang auf. Von Max‘ Schleier kristallisiere dabei die gegenläufige Bewegung von Ent- und Verhüllung des Körpers, wie sie die Naturwissenschaft und Malerei praktizierten, und finde nicht zuletzt im Farbauftrag des Gemäldes selbst sein Echo. Dem Zusammenhang von allegorischer Erzählung, Ich-Erzählung und dem Motiv des Traumes in mittelalterlichen Texten geht Katharina Philipowski nach. Anhand der Minnelehre und des Rosenromans veranschaulicht sie, wie die (Traum-)Allegorie es dem Erzähler erlaubt, ichbezogenes Erzählen mit der im lehrhaften Sprechen oder mit der Figurenrede von Personifikationen erfolgende Objektivierung seiner Erfahrung und damit Ich- und auktoriale Erzählung zu verbinden. Körperlichkeit und Materialität als immer schon existente Anteile allegorischer Modi in ästhetischer Wahrnehmung stehen im Fokus dieses Bandes, weshalb ein solcher Ansatz auch unbedingt disziplinenübergreifend verhandelt werden sollte. Wenn Silke Wenk den Symbolcharakter von Personifikationen als ›weiblich‹ beschreibt, so soll hier Körperlichkeit selbst als ambivalentes Stück zwischen Symbol und Körper begriffen werden. Ein Allegoriebegriff als rein Bezeichnendes reicht nicht aus, gerade die immer sinnliche ästhetische Wahrnehmung rückt hier in den Mittelpunkt der Analysen.105 Dabei werden aber auch die Grenzen der Allegorie ausgelotet, denn die Allegorie ist auch ein Mythos, der bei aller Aufweichung der Definitionen und bei aller Anwendbarkeit, Formbarkeit und Funktionalität in ästhetischen Prozessen an eine Grenze stoßen wird, der mit Hans Blumenberg gesprochen »zu Ende gebracht« werden wird: »Grenzbegriff der Arbeit des Mythos könnte sein, was ich den Absolutismus der Wirklichkeit genannt habe; Grenzbegriff der Arbeit am Mythos wäre, diesen ans Ende zu bringen, die äußerste Verformung zu 105 | An dieser Stelle sei noch einmal auf den Leibbegriff nach Merleau-Ponty verwiesen, vgl. Anm. 10.

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KÖRPER-ÄSTHETIKEN

wagen, die die genuine Figur gerade noch oder fast nicht mehr erkennen lässt. Für die Theorie der Rezeption wäre dies die Fiktion eines letzten Mythos, eines solchen also, der die Form ausschöpft und erschöpft«.106 Paul de Man weitet den Begriff der Allegorie dahingehend aus, die »Unmöglichkeit klarer Bedeutungszuweisung« an sich und den »Inbegriff der Dekonstruktion« als allegorisch zu bezeichnen107 – bei einem solch umfassenden Allegoriebegriff stellt sich die Frage, wie praktikabel der Begriff überhaupt noch sein kann, wenn er derartig weit anwendbar gemacht werden kann. Damit kommen wir zurück zu den anfänglichen Schnittstellen zwischen Geist und Körperlichkeit, allegorischem Verweis und unmittelbarer Präsenz, Repräsentation und Repräsentiertem und der Frage: Wo beginnt der Körper und wo endet er? 106 | Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. Frankfurt am Main 1996, S. 294/5. 107 | Weinberg, Manfred: Art. Allegorie/Allegorisch/Allegorese. In: Trebeß 2006, S. 7. Siehe de Man, Paul: Allegories of Reading: Figural Language in Rousseau, Nietzsche, Rilke, and Proust. New Haven u.a. 1979.

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Abb 1 | »The Sculptors« (Detail), in: Chicago Daily Tribune, 1931

Cornelia Logemann 61

ALLEGORIE IM ATELIER Körperbilder in der amerikanischen Skulptur nach 1900

Kaum eine Ausdrucksform zog in den ersten Jahrzehnten nach 1900 soviel Kritik auf sich wie die Allegorie. Wenngleich immer noch allgegenwärtig, schien die Technik der Personifikation und der allegorischen Verbrämung von Bildwerken doch antiquiert. Die Feuilletons überboten sich mit Karikaturen, und für eine öffentliche Aufstellung bestimmte Skulpturen wurden stets mit Verbesserungsvorschlägen kommentiert. Nicht einmal sehr originell ist die Karikatur einer grobgliedrigen Sitzfigur mit einem Säugling auf dem Arm, die den Untertitel »Allegory« trägt. Es ist eine personifizierte Allegorie-Kritik, die im Chicago Daily Tribune von 1931 im Zuge einer Satire über Bildhauer auf den Kern des AllegorieProblems zielte. Denn der Untertitel verweist darauf, dass es sich bei der Skulptur nicht nur um das Porträt der fiktiven Mrs. Classic handelt, der Ehegattin des ebenso fiktiven Künstlers Lucullus Classic, sondern auch voll von Symbolen ist (Abb. 1).1 Die klassische Formensprache, über die sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts die Kunstbetrachter stritten, erscheint hier endgültig als überholt und nicht mehr zeitgemäß. Ein grundlegendes Problem zeitgenössischer Skulptur mit allegorischer Dimension wird damit angesprochen: die Binarität des dargestellten Körpers, die aus der Opposition von historisch verortbarer Person und überzeitlichem allegorischem Körper besteht. Beide Körper-Projektionen stehen 1 | Chicago Daily Tribune, 8. Februar 1931: »The allegory. This big seated figure is not just a portrait of Mrs. Classic, the artist’s wife (although she did pose for it), indeed, no. It is full of symbolism, and many they are who think it is the best work Lucullus Classic has done.«

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KÖRPER-ÄSTHETIKEN

dabei im Widerspruch, der für die Wahrnehmung eines öffentlichen Monuments von zentraler Bedeutung ist und nicht selten über Erfolg oder Scheitern eines Werkes entscheidet. Und so ist es kaum verwunderlich, dass die Denkmalskritik sich hauptsächlich an der Frage entzündete, wie der künstlerisch geformte Körper, Modell und allegorische Dimension miteinander verbunden sind. Es erstaunt zudem kaum, wenn gerade zu Beginn des 20. Jahrhundert die in öffentlicher Skulptur exponierte Allegorie zum Problemfall wurde. Dass allegorische Bildfindungen in Amerika als nicht zeitgemäß, da als ›europäisch‹ betrachtet wurden, formulierte schon Alexander Phimister Proctor 1903. 2 Spätestens 1922 verbreiteten die Zeitungen im ganzen Land einen Skandal, der in ›Gotham City‹ durch die Aufstellung eines allegorischen Figurenbrunnens ausgelöst wurde. Die Skulpturengruppe sollte die allgemeine Bürgertugend der Stadt New York verkörpern, und die gewählte Formensprache schien Ähnliches zu bewirken, was der fiktive »Lucullus Classic« mit seiner Allegory beim intendierten Publikum erzielen sollte. Der amerikanische Bildhauer Frederick MacMonnies hatte nach langen Jahren der Vorbereitung und nach Ablehnung eines ersten Entwurfs im Jahre 1914 endlich die Gelegenheit bekommen, seinen nackten Jüngling, der die Civic Virtue verkörpern sollte, dem New Yorker Publikum vorzustellen (Abb. 2).3 Der Erfolg blieb aus, mehr noch: Um den prominent p ositionierten 2 | Griffin, Randall C.: Homer, Eakins & Anshutz: The Search for American Identity in the Gilded Age. Pennsylvania 2004, hier S. 130. Zur amerikanischen Skulptur in Amerika vgl. allgemeiner Arms Bzdak, Meredith: Public Sculpture in New Jersey: Monuments to Collective Identity. Piscataway 1999; Savage, Kirk: Standing Soldiers, Kneeling Slaves. Princeton 1997; Walker McSpadden, J.: Famous Sculptors of America. New York 1968 [zuerst 1924]; Taft, Lorado: The History of American Sculpture. Norwood, Mass. 1969 [zuerst 1903 und 1924]. 3 | Zur Skulptur vgl. u.a.: Dubin, Steven C.: Arresting Images. Impolitic Art and Uncivil Actions. New York 1992, S. 48f.; Swmart, Mary: A Flight with Fame. The Life and Art of Frederick MacMonnies (1863-1937). With a Catalogue Raisonné of Sculpture and a Checklist of Paintings by E. Adina Gordon. Madison, Conn. 1996; Clark, Robert Judson: Frederick MacMonnies – An American Sculptor in Paris and New York. Frederick MacMonnies and the Princeton Battle Monument. In: Record of the Art Museum. Princeton University 43,2 (1984), S. 6-25; Ders.: The ›Princeton Battle Monument‹: A Documentary Essay. Frederick MacMonnies and the Princeton Battle Monument. In: Record of the Art Museum, Princeton University, 43,2 (1984), S. 26-59; Steigman, B.M.: Precursor to Lincoln Center. In: American Quarterly 13,3 (1961), S. 376-386; Huguenin, Charles: MacMonnies’ Civic Virtue. In: New York History 37 (1956), S. 17-25. Bogart, Michele H.: Public Sculpture and the Civic Ideal in New York City, 1890-1930. Chicago 1989; Ders.: The Politics of Urban Beauty: New York and its Art Comission. New York 1996; Kammen, Michael: Visual Shock. A History of Art Controversies in American Culture. New York 1996.

ALLEGORIE IM ATELIER

Abb 2 | Frederick MacMonnies, Civic Virtue, 1922

nackten männlichen Tugendhelden entbrannte ein Streit verschiedener Interessengruppen, der fast zwei Jahrzehnte dauerte. Der allegorische Brunnen zeigt in konventionellem Arrangement eine Personifikation der Tugend, die über zwei liegende weibliche Laster triumphiert. Die männliche Tugendpersonifikation hat locker ein Schwert geschultert und blickt siegreich in die Ferne. Ein bekannter und vielzitierter Bildgestus, der in der Skulptur seit Donatellos Judith, die in Florenz ihr Schwert über Holofernes erhebt, oder in Leone Leonis Skulptur Karls V., der über den Furor triumphiert, zu den fest etablierten ikonographischen Chiffren gehörte. Das Bezwingen des Lasters durch den gerüsteten oder bewehrten Vertreter der Tugend ist ein derart verbreitetes Motiv, dass der Streit um das Monument zumindest erklärungsbedürftig scheint. Natürlich mag es einerseits das Aufbegehren der Frauengruppen gewesen sein, die den Brunnen als symbolischen Zankapfel auserkoren hatten, – doch ungewöhnlich war, dass sie sich tatsächlich Gehör verschaffen konnten. Dass ein nackter Mann tugendhaft auf zwei ebenso nackten weiblichen Lastern herumtrampelte, wurde als skandalös bewertet und bereits vor der Aufstellung des Werks dem Bürgermeister Hylan mitgeteilt, der durch

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eine Anhörung der Kritiker eigentlich die Situation retten wollte. Der Schlagabtausch, der dadurch am 22. März einsetzte, ließ sich nicht mehr beenden, und immer mehr Interessengruppen mischten sich in die Querelen um die Skulptur der Civic Virtue ein. Im Wesentlichen ging es dabei um die Frage, ob es sich bei den dargestellten Figuren um Allegorien oder um menschliche Wesen handelte. Die Befürworter des Kunstwerks unterstützten die Interpretation der Figuren als Allegorien, die letztendlich ein abstraktes Geschlecht besitzen würden. Die Kritiker(innen) hielten hingegen das allegorische Programm für verfehlt und beschrieben die Tugendallegorie von Frederick MacMonnies als einen grobgliedrigen Mann, der wenig rücksichtsvoll auf zwei nackten Frauen stand. Dabei war es keinesfalls so, dass allegorische Bildfindungen in den Vereinigten Staaten der Zeit etwas Ungewöhnliches gewesen wären. Die Weltausstellung in Chicago bestand 1893 aus unzähligen allegorischen Kompositionen, und auch der kritisierte MacMonnies feierte wenige Jahrzehnte vor Aufstellung des Marmorbrunnens noch mit klassischen allegorischen Programmen Erfolge.4 Selbst die Panama Pacific International Exposition in San Francisco kannte 1915 kaum eine andere Formensprache als die Allegorie – die allerdings überwiegend in Gestalt weiblicher Personifikationen dem Betrachter weniger Widerstand entlockte als MacMonnies muskulöser Marmorheld.5 Selbst im Fall der umstrittenen New Yorker Brunnenfigur hätte eine weibliche Verkörperung der Civic Virtue wohl kaum Tumulte ausgelöst. Doch wie kam es, dass Frederick MacMonnies mit seiner Interpretation einer Tugendallegorie offenbar auf ganzer Linie scheiterte? Die muskelbepackte Figur auf dem New Yorker Marmorbrunnen fügte sich in kein vorgegebenes Körperideal. Zum heroisch-untersetzten Körperbau, der vielleicht noch als Antiken-Reminiszenz hätte interpretiert werden können, passten die einfachen und wenig klassischen 4 | Simpson, Pamela H.: Sculptural Programs. In: Marter, Joan (Hg.): The Grove Encyclopedia of American Art, Bd. 1. Oxford 2011, S. 606-608. Allgemeiner zur Rolle der Weltausstellung in Chicago für die amerikanische Skulptur vgl. Reynolds, Donald Martin: Masters of American Sculpture. The Figurative Tradition from the American Renaissance to the Millenium. New York/London/Paris 1993, S. 23f.; Bogart 1989, S. 51f.; Kinder Carr, Carolyn; Brame Fortune, Brandon; Mead, Michelle; Rydell, Robert W.: Revisiting the White City: American Art at the 1893 World’s Fair. Hanover, N.H. 1993. 5 | Breazeale, Mary Kenon: The Female Nude in Public Art: Constructing Women’s Sexual Identity in the Visual Arts. In: Frontiers: A Journal of Women Studies 9,1 (1986), S. 56-65.

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Gesichtszüge nicht – und gerade diese wollte MacMonnies hervorgehoben wissen, indem die Personifikation Einfachheit und Direktheit ausstrahlen sollte. Und wenn auch in einer klassischen Pose erstarrt, zeigt sich in der Ausführung, dass das zugrundeliegende Modell diesem Bildtypus nicht entsprach. Zunächst hatte der Bildhauer, der bis 1915 in Frankreich seine Arbeiten entstehen ließ, mit einem französischen Bauern als Modell gearbeitet. Doch zurück in den Vereinigten Staaten, modifizierte er seinen Entwurf nochmals mit einem amerikanischen Modell. Die Frage nach der Identität des Dargestellten konnte die Diskussionen um das Bildwerk ebenfalls nicht entzerren, da der New Yorker Feuerwehrmann George Lorz offenbar nur ein Gelegenheitsmodell war, das in keinerlei Bezug zu Künstler, Tugendbrunnen o.ä. stand – und offenbar auch für Kunst im Allgemeinen wenig Interesse bekundete, wie in Zeitungsartikeln kolportiert wurde. Dass für die Meereswesen zwei Frauen namens Rachel Oppenheim und Kitty McGinnis posierten, befriedigte die Neugier der New Yorker nur bedingt, denn zwischen den Personen und dem Monument gab es keinerlei inhaltliche Verbindung: Weder zeichneten sich die Beteiligten durch ein besonderes Maß an Tugend aus, noch bestand eine Beziehung zum Bildhauer, die gemeinhin die Neugier der New Yorker hätte wecken können.6 Und aus diesem Umstand resultiert offenbar auch ein großes Problem für die Wahrnehmung des gesamten Figurenbrunnens. Gilt es, das allegorische Gefüge eines Kunstwerks vor allem diachron zu verorten, indem bekannte Bildtraditionen leicht variiert bzw. gewohnte Ikonografien in neue Formen gegossen werden, scheint mehr und mehr auch die synchrone Einordnung eines künstlerisch erschaffenen allegorischen Körpers von Bedeutung. Das dauerhafte Material des Kunstwerks – der von Frederick MacMonnies ausgewählte Georgia-Marmor – kollidierte auf einmal mit tiefgreifenden Diskussionen über allegorische Darstellungsformen, und das Medium der öffentlichen Skulptur selbst wurde durch die schnell wandelnden Meinungsbilder und durch neue mediale Ausdrucksformen in Frage gestellt.7 Ein über-individueller, jedoch gleichzeitig kaum idealisierter nackter Körper wie die Civic Virtue ging an den Sehgewohnheiten 6 | Sarasota Herald Tribune, 13. Juli 1929, S. 2. 7 | Das Material erwähnt u.a. ein Artikel in der New York Times, 26. Februar 1922, S. 19, in dem der Vergleich mit Michelangelos David aufgemacht wird.

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des Publikums vorbei, nicht zuletzt, weil der Künstler und seine Modelle vom Publikum nicht miteinander in Bezug gesetzt werden konnten. Immer wieder brachte die Presse die Frage nach der Identität der Dargestellten auf, um das Nicht-Verstehen des allegorischen Bildmodus offenzulegen.8 Dazu kommt, dass ein entkleideter männlicher Körper die Ausdrucksform der Allegorie nicht in der Selbstverständlichkeit evoziert, wie es epochemachend das nackte Modell in Gustave Courbets berühmtem Atelierbild getan hatte.9 Und wenn sich die Virilität der marmornen Tugendallegorie in die Tradition frühneuzeitlicher Interpretationen herrscherlicher und absoluter Virtus stellte, so war es in diesem Fall gerade der Aspekt, der das Publikum am meisten verstörte. Doch auch die Dynamik von Allegorien mit männlichen Körpern war zuvor erfolgreich erprobt worden. Wenige Jahre vor der Aufstellung von MacMonnies Werk hatte die Künstlerin Beatrice Evelyn Longman mit dem Genius of Electricity einen beachtlichen Erfolg feiern können, obgleich die allegorische Nacktheit ungleich expliziter, und die physische Präsenz noch viel auffälliger waren (Abb. 3).10 Der vergoldete männliche Körper, der muskulös und dynamisch den Tower des AT&T-Firmengebäudes bekrönte und alsbald den Spitznamen Golden Boy erlangte, scheint keine problematische Kategorie bedient zu haben.11 Der Ruf der Skulptur war ebenso tadellos wie seine goldene Oberfläche, und Mutmaßungen über die Identität des Dargestellten oder die konkrete Herstellungssituation finden sich wenige. Tatsächlich spielen Vorstellungen vom Künstleratelier und vom Schaffensprozess für die Wahrnehmung und Akzeptanz 8 | A New Yorker at Large. In: Sarasota Herald Tribune, 13. Juli 1929, S. 2. Maeder, Jay: Civic Virtue, March-April 1922. In: NY Dailynews, URL: http://www.nydailynews. com, vom 21.02.2000 (aufgerufen am 30.03.2012). 9 | Dazu etwa Belting, Hans: Das unsichtbare Meisterwerk. Die modernen Mythen der Kunst. München 1998, S. 190-194; Hofman, Werner: Das Atelier. Courbets Jahrhundertbild. München 2010. – Die Problematik nackter männlicher Skulpturen beschreibt auch Gerdts, William H.: American Neo-Classic Sculpture. The Marble Resurrection. New York 1973, S. 56-57. 10 | Conner, Janis C.; Rosenkranz, Joel: Rediscoveries in American Sculpture. Studio Works, 1893-1939. Austin 1989; Bogart 1989; Samu, Margaret; Longman, Evelyn Beatrice: Establishing a Career in Public Sculpture. In: Women’s Art Journal 25,2 (Autumn 2004-Winter 2005), S. 8-15; Adams, Adeline: Evelyn Beatrice Longman. In: American Magazine of Art 19 (1928), S. 237-250; Dearinger, David Bernard: Paintings and Sculpture in the Collection of the National Academy of Design. Manchester, Vermont 2004, S. 362f. 11 | Vgl. dazu u.a. Comini, Alessandra (Hg.): The National Museum of Women in the Arts. New York 1987, S. 58; Samu/Longman 2004/5.

ALLEGORIE IM ATELIER

Abb 3 | Beatrice Evelyn Longman, Genius of Electricity, 1915

von allegorischen Bildformen eine ganz wesentliche Rolle. Kaum ein Ort war von so vielen Legenden umrankt wie das Künstleratelier – und jedes neuerschaffene Werk schien gleichsam die eigene Entstehungsgeschichte an seinen neuen Bestimmungsort zu bringen. Künstler und Modell

Zwei Aspekte scheinen für die Definition des Verhältnisses von Künstler und Modell für die amerikanische Kunst wesentlich. Während in der Künstlerausbildung seit dem 18. Jahrhundert das Zeichnen nach antiken Abgüssen das Mittel der Wahl zu sein schien, sorgten die Lehrjahre der amerikanischen Künstler in Europa dafür, dass sich auch in Nordamerika Studien nach dem lebenden Modell zu etablieren begannen.12 Die 12 | Dijkstra, Bram: Naked. The Nude in America. New York u.a. 2010, hier S. 133-163.

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Attraktion der europäischen Bohème beeinflusste auch den amerikanischen Kunstmarkt nachhaltig. Diese Diskussionen um die Rolle von Modellen im Arbeitsprozess des Malers und Bildhauers erhielten natürlich in einem zweiten Schritt nicht zuletzt durch die Möglichkeit fotografischer und kinematografischer Körperstudien neue Impulse.13 Thomas Eakins, der u.a. bei Gérome studierte, zeigte sich besonders fasziniert von den Studien am lebenden Modell. Die Akt-Fotografien, die Eadweard Muybridge und Thomas Eakins an der Pennsylvania Academy of the Fine Arts aufnahmen, waren für die Diskussion von idealen und realistischen Körperbildern höchst bedeutsam – insofern, als damit die Rolle des Modells neu definiert wurde.14 Die Tatsache, dass der entkleidete weibliche Körper den Gedanken an allegorische Deutungsmöglichkeiten evoziert, beschreibt bereits Marcia Pointon für die französische Kunst des 19. Jahrhunderts, indem sie eine »Krise der Aktdarstellung (und der Allegorie)« auch als einen Auslöser für eine Krise um Bedeutung ausmacht.15 Der ambivalente Status vorrangig des weiblichen unbekleideten Körpers zwischen Allegorie und NichtAllegorie wird vor allem durch das Spiel mit den Hüllen inszeniert: »Die Anwesenheit abgestreifter Kleider problematisiert den Status des Körpers als nackt und damit den Körper als Stätte der Allegorie«.16 Gilt dies für die französische Malerei in verstärktem Maße, in der jede Nacktheit die Frage nach Bekleidung provoziert, scheint sich dieser Allegorie-Konflikt für die hier besprochenen Beispiele der amerikanischen Skulptur auf eine andere Ebene verlagert zu haben. Nicht die immer wiederkehrende 13 | Decker, Christof: Der amerikanische Film. In: Ders. (Hg.): Visuelle Kulturen der USA: Zur Geschichte von Malerei, Fotografie, Film, Fernsehen und Neuen Medien in Amerika. Bielefeld 2010, S. 161-238, hier bes. S. 161f., Decker verweist auf die Verflechtung verschiedener Medien und Instrumente, die den frühen Film vorbereiteten. 14 | Dijkstra 2010, S. 145; Kirkpatrick, Sidney: The Revenge of Thomas Eakins. Devon, Penns./Binghamton, New York 2006, S. 306f.; Nochlin, Linda: Warum hat es keine bedeutenden Künstlerinnen gegeben?. In: Söntgen, Beate (Hg.): Rahmenwechsel. Kunstgeschichte als feministische Kulturwissenschaft. Berlin 1996, S. 27-56; zur Rolle des Aktmodells und der Problematik von Künstlerinnen, Studien am menschlichen Körper anzufertigen vgl. Hardin, Jennifer: The Nude in the Era of the New Movement in American Art: Thomas Eakins, Kenyoun Cox, and Augustus Saint-Gaudens. Princeton University 2000 (mir leider nicht zugänglich). 15 | Pointon, Marcia: Allegorie und Körper in Manets Frühstück im Freien. In: Söntgen 1996, S. 162-187, hier S.164. Vgl. auch Solomon-Godeau, Abigail: Male Trouble. A Crisis in Representation. London 1997. 16 | Pointon 1996, S. 171.

ALLEGORIE IM ATELIER

Abb 4 | Hiram Powers, Greek Slave, 1842

Präsentation der abgelegten Kleidung führte der altbackenen Form der Allegorie neue Impulse zu, sondern offenbar die Neudefinition von Geschlechterrollen im Kunstbetrieb – es ist wohl kein Zufall, wenn der neue Umgang mit Allegorien in der amerikanischen Skulptur mit der Aktivität von jenen Künstlerinnen einhergeht, wie sie »the white, marmorean flock« in der Mitte des 19. Jahrhunderts um Harriet Hosmer und andere amerikanische Bildhauerinnen repräsentierte.17 Der Blick des Betrachters ändert sich durch die Neuordnung der Gender-Positionen in der ausbildung von Künstlern und Künstlerinnen.18 Eine der erfolgreichsten allegorischen Figuren des 19. Jahrhunderts ist zweifelsohne Hiram Powers Greek Slave, die auch über die Grenzen 17 | Farrand Thorp, Margaret: The White, Marmorean Flock. In: The New England Quarterly 32,2 (1959), S. 147-169; Falletta, Barbara: Instructional Resources: Images of Women by Women in Nineteenth-Century American Sculpture. In: Art Education 49,1 (1996), S. 25-28 und 49-52; Gerdts, William H.: The White, Marmorean Flock: Nineteenth-Century American Women Neoclassical Sculptors. Poughkeepsie, New York 1972. 18 | Kasson, Joy S.: Marble Queens and Captives. Women in Nineteenth-Century American Sculpture. London/New Haven 1990, S. 44f.; Kasson verweist auf die veränderte Sicht auf Künstlerinnen und ihre Werke, wie sie in der Chicagoer Weltausstellung durch den Pavillon speziell für Frauen zum Ausdruck gebracht wurde.

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Amerikas hinaus Erfolg verbuchen konnte (Abb. 4).19 Die in weißem Marmor gehaltene Skulptur wurde als der Inbegriff reinster Tugend gelesen – insofern war ihr Mangel an textilen Hüllen nicht nur verzeihlich, sondern fast notwendig: Die Vorstellung der absoluten Tugend erlaubte erst die geradezu ostentative Nacktheit der vom amerikanischen Bildhauer 1842 vollendeten schönen Nackten.20 Hier wird natürlich eine seit der Antike tradierte Position weitergegeben, nach der die Darstellung von Nacktheit mit Tugend einhergeht.21 Materialität und idealisierte Darstellung des weiblichen Körpers verleihen der Figur den notwendigen Abstraktionsgrad – in einem Maße, dass es der Bildhauer Powers selbst kommentierte, als er auf die unvollendet bzw. völlig abstrakt gestaltete Genitalregion seiner weiblichen Skulpturen verweist, die manch Atelierbesucher offenbar zur Ergänzung mit Farbe und Stift veranlasst hätten.22 Auch hier tauchte unversehens die Frage nach der Identität der dargestellten Frau auf. Über dreißig Jahre nach Entstehen und Verbreitung der griechischen Sklavin mutmaßte man in einem Zeitungsartikel von 1873 über die Dame, die dem Künstler Modell gestanden hatte. Die dazugehörige Geschichte lautet, dass ein wohlhabender Mann, dem die Frau mitsamt seinem Vermögen weglief, mit seiner Tochter für kurze Zeit in Florenz weilte. Jene als besonders tugendhaft charakterisierte Tochter stand dem Künstler Hiram Powers angeblich Modell.23 Vergleichbare 19 | Randall, Lilian M.C.: An American Abroad: Visits to Sculptors’ Studios in the 1860’s. In: The Journal of the Walters Art Gallery 33/34 (1970/1971), S. 42-51; Crane, Sylvia E.: White Silence: Greenough, Powers, and Crawford. American Sculptors in Nineteenth-Century Italy. Miami 1972. 20 | »Naked, yet clothed with chastity She stands / And as a shield throws back the sun’s hot rays, / Her modest mien repels each vulgar gaze«, wie Elizabeth Barret Brown in einem Sonett beschreibt, zit. nach Kammen 1996, S. 55; vgl. auch Katz, Wendy J.: Regionalism and Reform: Art and Class Formation in Antebellum Cincinnati. Columbus, Ohio 2002, bes. S. 156. 21 | Vgl. allgemeiner Himmelmann, Nikolaus: Ideale Nacktheit. Opladen 1985. 22 | Kasson 1990, S. 84; Kasson beschreibt eine Mitteilung von Hiram Powers an C. Edward Lester. Überliefert ist auch eine Anekdote über John Ruskin. Ähnliche Argumente werden noch einige Jahre später, 1892, bei einer Skulptur von Frederick Wellington Ruckstuhl hervorgebracht, dessen Skulptur des Abends Le Soir durch vollendete Formgebung und den Marmor nicht nur in Paris 1891, sondern sogar in New York 1892 und auf der Weltausstellung in Chicago im Jahr darauf Erfolge feierte, obgleich ihre vollkommene Nacktheit die Aufmerksamkeit und jegliche moralische Bedenken der Kritiker erregte. 23 | Powers’ Greek Slave. Where He Got his Model. In: The Atlanta Constitution (18691875); Jul 27 (1873), S. 7.

ALLEGORIE IM ATELIER

Berichte und Anekdoten über den Zusammenhang von allegorischer Figur und historischer Person häufen sich spätestens seit diesem berühmten Beispiel Powers. Dass die weiblichen Modelle, die den Allegorien ihr Gesicht liehen, bestimmte Qualitäten mitbrachten, die dem Bildthema zuarbeiteten, wird immer wieder eingehend betont – vielleicht, um insbesondere von dem Umstand abzulenken, dass im Künstleralltag zumeist Frauen (und Männer) mit geringem gesellschaftlichem Ansehen diese Aufgabe übernahmen.24 Die Überlagerung von Tugendhaftigkeit und Anmut der menschlichen Vorlage mit der entstehenden allegorischen Bildform gerät vielmehr zu einem wiederkehrenden Topos. William Rush, der Mitte des 19. Jahrhunderts die allegorische Figur des Schuykill River schuf, bediente sich angeblich als Modell der Kaufmannstochter

Abb 5 | Thomas Eakins, William Rush bei der Anfertigung des Schuykill Rivers, 1877

Louisa Vanuxem. Der Fall erregte Aufmerksamkeit, denn Thomas Eakins thematisierte diese Konstellation in mehreren allegorischen Gemälden, die den Künstler Rush beim Schnitzen der Allegorie zeigen. Das Modell erscheint fast zur Gänze entkleidet in Rückenansicht. Ganz offensichtlich ist dies eine fiktionale Ergänzung von Eakins, da es natürlich unvorstellbar war, dass eine junge Frau von tadellosem Ruf für etwas anderes als ein Porträt posiert hätte, geschweige denn, dass sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts sich vollkommen entkleidet gezeigt hätte (Abb. 5).25 Mit 24 | Lathers, Marie: Bodies of Art. French Literary Realism and the Artist’s Model. Lincon u.a. 2001. Allgemein zum Status und zur Bedeutung des Modells vgl. Steiner, Wendy: The Real Real Thing: The Model in the Mirror of Art. London/ Chicago 2010. 25 | Gaethgens, Thomas W.; Adams, Willi Paul (Hg.): Bilder aus der Neuen Welt.

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seiner Darstellung versucht Eakins vor allem, den Status des Modells zu verändern. Dass die Identität einer Allegorie – ein Widerspruch in sich natürlich – ein besonderes Faszinosum war, zeigt nicht zuletzt die literarische Verarbeitung in Nathaniel Hawthornes Drowne’s Wooden Image,

Abb 6 | Thomas Eakins, Masked Nude Woman Seated, 1865

in dem eben die Schaffung des Kunstwerks nach einem lebenden Modell thematisiert wird26, oder deutlicher noch Randolph Rogers Entwurf für eine Personifikation der Emancipation, die von der afroamerikanischen Bevölkerung als eine seinerzeit sehr bekannte entlaufene Sklavin identifiziert wurde – und dies sogar entgegen der Versicherung des Bildhauers, jene Frau nicht als Vorbild verwendet zu haben.27 Die Tatsache, München 1988, S. 254; Warner, Marina: Monuments and Maidens: The Allegory of the Female Form. Berkeley/Los Angeles 2000 [zuerst 1985], S. 322; Griffin 2004, S. 83; Reason, Akela: Thomas Eakins and the Uses of History. Philadelphia 2010, v.a. S. 11 u. S. 33f.; Fernie, Deanna: Hawthorne, Sculpture, and the Question of American Art. Farnham/Burlington 2011, S. 119; Pointon, Marcia: Naked Authority: The Body in Western Painting, 1830-1908. Cambridge 1990, S. 23-25; Wilmerding, John (Hg.): Thomas Eakins (1844-1916) and the Heart of American Life. Kat. Ausst. National Portrait Gallery. London 1993, S. 90-93. 26 | Fernie 2011, S. 126. 27 | Randolph Rogers Personifikation Emancipation aus den 1870er Jahren, die in

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dass zur Zeit Eakins die Modelle zumeist verschleiert in den Akademien posierten, erklärt solche Verwirrungen vielleicht – Eakins selbst lieferte mit Masked Nude Woman, Seated (ca. 1865) eine Reflexion dieser Praxis in den 1860er Jahren an der Pennsylvania Academy, indem er den realistisch erfassten nackten Körper des Modells mit einer Maske vor dem Gesicht darstellte (Abb. 6).28 Für Eakins selbst stand vor allem die Frage nach der realistischen Malweise im Vordergrund, seine Auseinandersetzung mit Aktbildern, die ihm zudem immer wieder Probleme einbrachten, ist losgelöst von allegorischen Bildmodi zu sehen. Doch die vieldiskutierte Divergenz von entkleidetem und nacktem Körper, um die Dichotomie Kenneth Clarks (»nude« und »naked«) hier aufzunehmen, wurde vor allem durch die Frage nach der Identität der dargestellten Figuren provoziert.29 Lathers verweist darauf, dass die Rolle des Modells sich im 19. Jahrhundert tiefgreifend wandelt. Von einer bloßen Vorlage für den Künstler und ihre Fixierung auf Rollen wie jene der Allegorie und der Muse werden sie vielmehr zu Figuren, denen nunmehr eine Geschichte – eine Identität – zugeschrieben werden kann. Gelingt es nunmehr, mit dem nackten weiblichen Körper eine historische Person zu verbinden, erweist sich dieser Zusammenhang für den männlichen Körper als ungleich schwieriger. Das Verschwinden des nackten männlichen Körpers aus den bildenden Künsten im 19. Jahrhundert und die Dominanz weiblicher Modelle koinzidiert auch mit einer veränderten Anwendung allegorischer Bildsprache.30 Den nackten heroischen Helden, den MacMonnies mit der Civic Virtue zitieren will, gibt es längst nicht mehr – zumindest erzeugten jene künstlerischen Umsetzungen des nackten männlichen Körpers eine Vielzahl von neuen Problemen.31 einem Monument in Detroit angebracht war, wurde von der dortigen Bevölkerung als Sojourner Truth wiedererkannt, die in Michigan lebte und starb. Der Künstler verneinte die offensichtliche Ähnlichkeit explizit, vgl. dazu Savage 1997, S. 85-87. 28 | Reason 2010, S. 34. 29 | Clark, Kenneth: Das Nackte in der Kunst. London 1958 [zuerst 1953]; Pointon 1990, S. 11-17. Vgl. zu dieser Diskussion auch McDonald, Helen: Erotic Ambiguities: The Female Nude in Art. London 2001, S. 10f.; Nead, Lynda: The Female Nude: Art, Obscenity and Sexuality. London 1992, hier vor allem S. 12-22 in Auseinandersetzung mit Kenneth Clark, dessen problematische Kategorisierungen Nead als Interpretation des »male viewer« darstellt. 30 | Lathers 2001, S. 22-23; Solomon-Godeau 1997; Slater, David: The Fount of Inspiration: Minnie Clark, the Art Workers’ Club for Women, and Performances of American Girlhood. In: Winterthur portfolio 39 (2004). Gerdts 1973, S. 56-57, verweist auf die zunehmenden Kritiken an nackten männlichen Skulpturen. 31 | Lathers 2001, S. 22; zum Wandel der Darstellung des männlichen Körpers und der Problematik männlicher Nacktheit im 19. Jahrhundert vgl. Solomon-Godeau 1997.

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Abb 7 | »Startling New Statues and the Sensations they have Caused« (1922)

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Verletzt MacMonnies Civic Virtue das Dekorum aufgrund der Tatsache, dass ein männlicher nackter Held auf ebenso nackten Frauen herumtritt, so ist die Heftigkeit der Reaktion im Umgang mit öffentlicher Skulptur durchaus ein Novum, und es wird deutlich, dass das Argument des »Niedertretens« des weiblichen Geschlechts nur vordergründig der Auslöser für die Debatten war. Noch zentraler als die Ikonografie war nämlich die Nacktheit der allegorischen Figuren. In einem Artikel über »Startling New Statues and the Sensations they have Caused«, der offenbar kurz nach Aufstellung des Brunnens in mehreren Provinzzeitungen erschien, wurde die New Yorker Skulptur mit anderen gescheiterten oder kritisierten öffentlichen Monumenten verglichen (Abb. 7). Die vorgetragenen Argumente ähneln sich dabei in der amerikanischen Presse. Die Darstellung entkleideter Menschen – unabhängig vom Geschlecht – zog unabdinglich die Frage nach dem Namen und der Identität der in Stein gebannten Figuren nach sich: Egal, ob es sich um Allegorien oder um mythologische Kompositionen handelte, spielte, wie der Artikel zeigt, immer auch die Beziehung von Künstler bzw. Künstlerin zum Modell eine Rolle. Die britische Künstlerin Clare Sheridan, die etwa zur selben Zeit eine skandalträchtige Skulptur der Öffentlichkeit präsentierte als die Turbulenzen um MacMonnies Tugendhelden begannen, schuf mit der Figurengruppe Jazz eine Allegorie auf amerikanischen Lebensstil: Ein Mann und eine Frau, beide zur Gänze entkleidet, tanzen in inniger Umarmung. Während die Künstlerin immer wieder hervorhob, dass sie keine professionellen Modelle beschäftigte, sondern Frauen aus der Gesellschaft, die für sie offenbar gern posierten, stellte der nackte Mann in Marmor die Zuschauer sofort vor die Frage, wer Sheridan in diesem Fall Modell gestanden habe.32 Wobei sich offenbar der Skandal in verträglichem Rahmen hielt, und letztendlich nur das Interesse an der Bildhauerin steigerte. Die Aktivitäten des Künstlers bzw. der Künstlerin im Atelier wurden in der Öffentlichkeit mit neuem Interesse verfolgt, und durch die neue Präsenz von Bildhauerinnen in diesem Metier scheint es fast so, als müssten die Geschlechterrollen neu ausdifferenziert werden. Mag Nathaniel Hawthorne noch von der erfolgreichsten amerikanischen Bildhauerin des 19. Jahrhunderts, Harriet Hosmer, irritiert gewesen sein, 32 | Zum Verhältnis von Künstlerinnen zu ihren männlichen und weiblichen Modellen vgl. Prieto, Laura R: At Home in the Studio: The Professionalization of Women Artists in America. Harvard 2001.

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als er ihr Atelier 1858 besuchte, hatten die Aktivitäten von Künstlerinnen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts einen wesentlich größeren Einfluss erreicht.33 Vielleicht wurde dies nicht zuletzt beeinflusst von frühen Stummfilmen, die insbesondere das Leben von Künstlerinnen und Künstlern in den Blick nahmen und so die neuen medialen Begebenheiten mit den tradierten künstlerischen Ausdrucksmitteln kontrastierten. Im Jahre 1903 drehte die American Mutoscope and Biograph Company mit The Artist’s Studio einen Film über eine Künstlerin, die eine erotische Beziehung zu ihrem Studio-Modell einging. Noch im selben Jahr, und ebenfalls von William George Bitzer inszeniert, wird mit The Fate of the Artist’s Model dasselbe Thema mit umgekehrtem Geschlechterverhältnis behandelt.34 Der Brunnen des emigrierten italienischen Bildhauers Aldo Gamba, der einen Tanz von acht Bacchantinnen oder Musen vor dem Casino Nacional in Kuba darstellt, schien bei den konkurrierenden Interessengruppen ganz ähnliche Fragen zu provozieren (Abb. 7/8): »The artistic interest aroused by this work – but this interest was pale and academic beside the curiosity which was provoked by the announcement that the four models were American girls of prominent families«.35 Der italienischamerikanische Künstler selbst, der lange Zeit in New York ansässig war, hat eine höchst glücklose Biographie vorzuweisen, während der Brunnen in Kuba noch immer Wahrzeichen des Casinos in Havanna ist.36 Ideal und Realität: Allegorie als »Third Sex«

Die Divergenz zwischen lebendem Körper und Skulptur wird durch die medialen Umbrüche um kurz nach 1900 immer wieder hervorgehoben. 33 | Kasson 1990, S. 144. Cikovsky, Nicolay; Morrison, Marie H.; Ockman, Carol (Hg.): Nineteenth-Century American Women Neoclassical Sculptors: Exhibition Vassar College Art Gallery, April 4 through April 30. Poughkeepsie, N.Y. 1972; Tolles, Thayer: American Women Sculptors. In: Heilbrunn Timeline of Art History. New York 2000. http://www.metmuseum.org/toah/hd/scul/hd_scul.htm, August 2010. 34 | Mathews, Nancy Mowll: Art and Film: Interactions. In: Dies. (Hg.): Moving Pictures. American Art and Early Film 1880-1910. Manchester, Vermont 2005, S. 145-158, hier S. 154. 35 | The Montgomery Advertiser, 02.07.1922, XCIII,183, S. 3 bzw. Morning Oregonian, 02.07.1922, XLI,27, S. 1. 36 | Gelabert-Navia, José A.: American Architects in Cuba: 1900-1930. In: Journal of Decorative and Propaganda Arts 22 (1996), S. 132-149, hier S. 146-147.

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Abb 8 | Aldo Gamba, Bacchantinnen (Brunnen vor dem Casino Nacional in Havanna), 1920

Doch die Kontrastierung, die im frühen Film etwa das Faszinosum des bewegten Bildes betonen soll – wie im Alptraum des Freder, der in Metropolis spätmittelalterlich anmutende Skulpturen der sieben Todsünden vor Augen hat, die sich in den Wirren seiner Fantasie zu beleben beginnen – hat letztendlich den Effekt, dass die Vorstellung von einem dritten Geschlecht Diskussionen über Körperbilder auslöst.37 Der ontologische Status der allegorischen Figur wird in diesem medialen Gefüge neu verhandelt.38 »Woman springs from allegory to life«, titelt die Frauenrechtlerin Miriam Beard am 20. März 1927.39 Beards Auseinandersetzung mit der Allegory und das damit verbundene Frauenbild, das nach diesen Ausführungen niemals Emotionen zeigt, meist zu groß und zu füllig ist, offenbart zugleich eine Auseinandersetzung mit Bildwerken, die in der Öffentlichkeit Bilder von Weiblichkeit vorgeben: Genannt werden vor allem Fresken, aber auch Skulpturen, in denen weibliche Tugend-Allegorien männlichen Heroen beigefügt werden. Nicht selten taucht zumindest in den Begründungen der Künstler der Begriff des dritten Geschlechts auf. Als »Third Sex« bezeichnet Clare 37 | Fritz Lang: Metropolis (1925/6). 38 | Elkins, James: Our Beautiful, Dry, and Distant Texts: Art History As Writing. Pennsylvania 1997, S. 290. Zum Begriff »third sex« vgl. auch Rentmeister, Cäcilia: Berufsverbot für die Musen. In: Ästhetik und Kommunikation 25 (1976), S. 92-113. 39 | New York Times, 20. März 1927, S. SM 12.

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Sheridan ihre eleganten, aber auch athletischeren Frauenfiguren, mit denen sie ein neues Körper- und Frauenideal auszumachen suchte.40 Dass damit sowohl Personifikationen als auch androgyne Körper gemeint sein können, wird in zahlreichen Anspielungen der Presse deutlich – für seine zu athletischen weiblichen Allegorien musste zugleich der einflussreiche Bildhauer Lorado Taft Kritik einstecken. Und MacMonnies versuchte sich im Fall der Civic Virtue auf die Geschlechtslosigkeit einer Allegorie zu beziehen, um die Kritiken an seinem Entwurf zu entschärfen.41 Die Vorstellung der allegorischen Figur als eine dritte Gender-Kategorie wird also auch von den männlichen Künstlern immer wieder argumentativ bemüht. Geht es um verschobene Proportionen, um anstößige Nacktheit, um jegliche Verletzung des Dekorums, wird die allegorische Körperlichkeit des Kunstwerks beschworen. Auch August SaintGaudens‘ Begründung für die gelängten Proportionen seiner Sieges-Allegorie im Sherman- Denkmal auf der Grand Army Plaza zielen auf die Vorstellung eines dritten Geschlechts ab.42 Der Auswahl der richtigen Modelle wird schon aus diesem Grund größte Beachtung geschenkt. Sind zwar die Posen, die eingenommen werden, von klassischen Idealen beeinflusst, wird nun auch der individuelle Körper des Modells thematisiert. Doch inwiefern veränderte die Professionalisierung in den Künstlerateliers die Wahrnehmung von Allegorien? Lief der Topos der Muse immer häufiger ins Leere, da es sich um professionelle Modelle handelte, die ihren nackten Körper als Vorlage anboten, so stellt sich die Frage, wie sich dieser fehlende Bezug zwischen Künstler und Modell auf die Darstellungsform der Allegorie auswirkt. Wie Lathers dies für die französischen Künstlerateliers andeutet, entfällt dadurch nicht zuletzt das allegorische Ausdruckspotenzial der Figuren, und der nackte weibliche Körper bleibt 40 | Als »Fawn Woman«, das eben einem dritten Geschlecht und einem neuen, auch androgyneren Frauenbild zugeordnet werden sollte, bezeichnete Clare Sheridan ihre Skulpturen in: New York Times, 9. April 1922, S. 34. 41 | New York Times, 18. März 1922, S. 10: »There it is, a work of art, I hope, and as such an allegory and the representation of a quality. There is no sex in the quality of virtue. It represents both man and woman, and both are represented in the figure of the youth. Where would fine arts be if such limitations were placed upon them, if an allegory were always to be taken literally?« 42 | Schiller, Joyce K.: Winged Victory, A Battle Lost: Augustus Saint-Gaudens’ Intentions for the Sherman Monument Installation. In: Tolles, Thayer (Hg.): Perspectives on American Sculpture before 1925, The Metropolitan Museum of Art Symposia. New York u.a. 2003, S. 44-63, hier S. 48.

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dadurch der begehrenswerte, ohne Symbolkraft versehene Leib, der im heterosexuellen Umfeld des männlichen schaffenden Künstlers aus Farbe, Form und Materie entsteht.43 Doch das Verhältnis scheint sich insbesondere in der amerikanischen Kunst weitaus komplizierter darzustellen. Auf der bereits erwähnten Panama Pacific International Exposition in San Francisco, die im Jahre 1915 ein Portfolio allegorischer Kompositionen zeigte, gewinnt die Verknüpfung von professionellem Modell und Allegorie eine Eigendynamik: Die wiederkehrenden Physiognomien der allegorischen Figuren waren kein idealisiertes Einheitsgesicht, sondern das Antlitz einer Dame, die dadurch als »Exposition Girl« Bekanntheit erlangte. Audrey Munson war eines der gefragtesten amerikanischen Modelle zu Beginn des 20. Jahrhunderts, und insbesondere New Yorker Bildhauer schufen seit Längerem Skulpturen mit ihrem Körper als Vorlage.44 Wie wenige Jahre zuvor Julia »Dudie« Baird als eines der beliebtesten Modelle von New York posiert hatte,45 läuteten die Aktivitäten von Munson (und ihr offenbar wesentlich professionelleres Self-Management) eine neue Ära im Dasein der Künstler-Modelle ein – ungleich tugendhafter inszeniert als etwa jene »demoiselles«, die in Paris wenige Jahre zuvor zwischen Prostitution und ihrer Arbeit als Aktmodell die niederste soziale Stellung innehatten.46 Galt Civic Virtue als eine der umstrittensten öffentlichen Skulpturen, rief etwa Adolph Weinmans Interpretation von Civic Fame, eine bereits 1913 aufgestellte weibliche Figur auf dem Manhattan Municipal Building, die 43 | Lathers 2001, S. 24. 44 | Rozas, Diane; Gottehrer, Anita Bourne: American Venus: The Extraordinary Life of Audrey Munson, Model and Muse. Princeton 1999. 45 | Vgl. einen Artikel in: The Wichita Daily Eagle, December 09 (1897), S. 8, in dem Baird die Anfertigung eines Gipsabdrucks von ihrem Körper beschreibt. – Wobei erwähnt werden muss, dass sich um die jeweilige Identität der Modelle viele Missverständnisse und Verwechselungen ranken und die Angaben in den Zeitungsartikeln immer wieder variieren. So wird Julia »Dudie« Beard als Modell für die nackte Diana in Madison Square Garden genannt, und auch mit dem Sherman Monument, genauer, mit der Personifikation des Sieges, wird sie in Verbindung gebracht. Gleichzeitig wird Hetti Anderson als vorbildhaft für dieselbe Skulptur benannt, so Duffy, Henry J.; Dryfhout, John H.: Augustus Saint-Gaudens. American Sculptor of the Gilded Age. Kat. Ausst. North Carolina Museum of Art, SaintGaudens National Historic Site, Parrish Art Museum. Washington, D.C. 2003. 46 | Dijkstra 2010, S. 138; Lathers 2001. Solomon-Godeau 1997, S. 188-194 verweist auf die Tatsache, dass weibliche Modelle Ende des 18. Jahrhunderts auf einer anderen Wahrnehmungsebene liefen als das männliche Modell, für das das Nachstellen einer heroischen Rolle Ansehen bedeuten konnte.

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die fünf Distrikte New Yorks symbolisieren sollte, mit dem Antlitz des Profi-Modells Audrey Munson keinerlei Widerstand hervor (Abb. 9).

Abb 9 | Adolph Weinman, Civic Fame, 1913

Offenbar überlegte man vor der Verbannung von MacMonnies Brunnen 1935 noch Anfang desselben Jahres Civic Fame und Civic Virtue zu Nachbarn zu machen, indem der Foley Square neu gestaltet werden sollte.47 Doch gerade am Beispiel von Munson lässt sich eine andere wichtige Analogie bei der Verwendung allegorischer Bildformen verfolgen: Audrey Munson selbst wurde in jenem Jahr, als sie in San Francisco als »Exposition Girl« durchaus auch kritisierte Berühmtheit erlangte, zum Stummfilmstar. Ihr größter Erfolg war vermutlich der Auftritt in dem Streifen Inspiration, der 1915 unter Edwin Thanhouser bei Mutual Masterpiece Films in New Rochelle/New York produziert wurde. In dem Film geht es um die Suche eines Künstlers nach dem perfekten Modell, und wie in ihrer bisherigen Arbeit als professionelles Modell wurde sie in klassischen Posen inszeniert. Das bemerkenswerteste Moment des Films schien dabei für Zeitgenossen die vollständige Entkleidung der Protagonistin, die der seinerzeit berühmte Regisseur Thanhouser in dieser Pygmalion-Adaption inszenierte. Eines der erhaltenen Film-Stills lässt dabei an die Gegenüberstellung von allegorischer Nacktheit und bekleideter Umgebung im Atelier denken, wie sie vor allem Jean-Léon 47 | A New Domain for ›Civic Virtue‹: In Reconstructed Foley Square the Statue Will Stand Among Buildings of Its Own Gigantic Proportions. In: The New York Times, 17. März 1935, S. 10.

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Abb 10 | Film-Still Audrey Munson, Inspiration, 1915

Gérôme immer wieder thematisierte (Abb. 10). Zentrale Szene des heute verlorenen Streifens war dabei offenbar die Vorbereitung einer Skulptur, bei der die Schauspielerin vollständig mit Gips bedeckt wurde, um daraus eine Form für Abgüsse zu erhalten.48 Gerühmt wurde die Schauspielerin ebenso für die Verkörperung der Purity im gleichlautenden Stummfilm von 1916, die sie ebenfalls in tugendhafter Nacktheit präsentierte. Die allegorische Sprache, die Munson im Posieren für zahlreiche amerikanische Künstler eingeübt hat, wurde auf diese Weise in ein performatives Moment übersetzt: Das Tanzen und Nachstellen von allegorischen Zusammenhängen erfährt im Übergang von bewegten Kinobildern und der stillgestellten Malerei und Skulptur offenbar besondere Aufmerksamkeit. Und tatsächlich war die performative Aneignung allegorischer Formen gar nicht so ungewöhnlich in Auseinandersetzung mit öffentlicher Skulptur: Eine bemerkenswerte Reaktion auf das ungeliebte Denkmal von Frederick MacMonnies im Herzen von Manhattan war die Darbietung einer jungen Tanztruppe, die den abstrakten Begriff der Civic Virtue performativ umsetzte. Die Marion Morgan Dancers umtanzten kurz nach der skandalösen Aufstellung im Jahre 1922 den Figurenbrunnen, um 48 | Rozas/Gottehrer 1999, S. 81.

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ihre eigene Interpretation dem Publikum vorzustellen – und damit durch diesen Körpereinsatz zugleich ihr Missfallen von MacMonnies Tugend- und Lasterkampf der Geschlechter kundzutun (Abb. 7).49 So ungewöhnlich der Zeitungsbericht mittlerweile scheinen mag, war doch die theatralische Darbietung von lebenden Bildern zu dieser Zeit auch für andere Beispiele eingeübt worden, und die Darstellung von lebenden Bildern gehörte seit dem 19. Jahrhundert zu den beliebtesten Gesellschaftsereignissen.50 Auch Lorado Tafts Fountain of the Great Lakes wurde kurz nach Aufstellung von verschiedenen Gruppen junger Frauen nachgestellt. Bei jener »Living Sculpture« wird das idealisierte Körperbild des Künstlers mit lebenden weiblichen Körpern verglichen (Abb. 11).51 Die nackten Brunnenfiguren sind dabei kein Stein des Anstoßes, mehr geht es um die Gegenüberstellung des Künstler-Idealbildes mit dem Selbstbild der athletischen Tänzerinnen, die die manierierten Bewegungen nachstellen. Während der Aufstellung des Brunnens gab es offenbar weniger wegen der Nacktheit der Figuren Kritik, sondern allein aufgrund der Tatsache, dass die entblößten Oberkörper der Allegorien vergleichsweise muskulöse Arme hatten.52 Die Kontrastierung des unbeweglichen, ewigen Steins mit bewegten Figuren scheint zugleich eine kritische Reflexion der Zeitgenossen auf die allegorischen Denkmäler zu sein, die zu einer lebendigeren Auseinandersetzung aufforderten. Die Tableaux vivants sind zugleich als Ausdruck einer sich kulturell formierenden amerikanischen Gesellschaft zu lesen, die damit europäische Traditionen übernahm, jedoch andererseits auch interpretierte. Birgit Jooss beschreibt in ihrer Untersuchung zum lebenden Bild in der Goethezeit die Bedeutung des Tableaus für die frühe Kinematografie.53 Und insbesondere für den 49 | Greek Theatre of Berkeley, The Evening World, 9. Mai 1922, S. 3; eine weitere Aufnahme in: The Montgomery Advertiser, 02.07.1922, XCIII,183, S. 3 bzw. Morning Oregonian, 02.07.1922, XLI,27, S. 1 mit einem Foto der Marion Morgan Dancers. 50 | Kendall, Elizabeth: Where She Danced: The Birth of American Art-Dance. Berkeley/Los Angeles/New York 1979. 51 | Garvey, Timothy Joseph: Public Sculptor. Lorado Taft and the Beautification of Chicago. Illinois 1988, S. 3 bzw. S. 156-8. 52 | Kammen 1996, S. 64. 53 | Jooss, Birgit: Lebende Bilder. Körperliche Nachahmungen von Kunstwerken in der Goethezeit. Berlin 1999; Chapman, Mary: ›Living Pictures‹. Women and Tableaux Vivants in Nineteenth-Century American Fiction and Culture. In: Wide Angle 18,3 (Juli 1996), S. 22-52; Elbert, Monika M.: Striking a Historical Pose: Antebellum Tableaux Vivants, »Godey’s« Illustrations, and Margaret Fuller’s Heroines. In: The New England Quarterly, 75,2 (Juni 2002), S. 235-275.

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Abb 11 | Lorado Tafts Fountain of the Great Lakes als Living Sculpture (n.d.)

Abb 12 | Emil Hundrieser, Berolina, 1895

frühen Film in Amerika arbeitete schon Vachel Lindsay als Zeitgenosse die Rolle von Kunstwerken in dem neuen beweglichen Medium heraus: Fast scheint es, als ob die Positionierung zu den traditionellen Künsten eine der Hauptaufgaben des frühen Films war.54 Nahezu obsessiv wird, wie bereits angedeutet wurde, in den frühen Stummfilmen mit pygmalionischen Motiven operiert bzw. die KünstlerModell-Situation persifliert.55 Und auch in den späteren Filmen scheint die Kombination von bewegten Bildern und feststehenden Skulpturen als Einstieg zu beliebten Slapstick-Einlagen zu dienen, denkt man etwa an Buster Keaton, der in The Goat 1921 als Flüchtling auf einem soeben vollendeten und noch instabilen Reiterstandbild Schutz vor Verfolgern sucht, und damit das frisch errichtete und noch feuchte Gipsmodell zerstört.56 Auch in den ersten Filmminuten von City Lights wird eine Denkmalsenthüllung inszeniert. Statt der makellosen steinernen Gestalt, 54 | Lindsay, Vachel: The Art of the Moving Picture. New York 1922 [zuerst 1915]; Wolfe, Glenn Joseph: Vachel Lindsay: The Poet as Film Theorist. Arno Press Cinema Program 1973; Nead, Lynda: The Haunted Gallery: Painting, Photography, Film around 1900. New Haven/London 2007. 55 | Dazu Mathews 2005 (Art and Film); Jooss 1999, bes. S. 259-272. 56 | Buster Keaton: The Goat (1921).

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die dem Publikum präsentiert werden soll, wird die Komposition konterkariert – es ist die Figur eines Vagabunden, die bei der Enthüllung einer Statue unter dem Tuch gefunden wird und zum Entsetzen der Zuschauer hilflos auf »Peace and Prosperity« herumklettert.57 Die archaischgroben Allegorien in übermenschlichem Format und mit leeren Physiognomien wirken im Kontrast mit dem kletternden Vagabunden alias Charlie Chaplin weniger anthropomorph denn monströs. Die Physis der heroischen und allegorischen Gestalten öffentlicher Denkmäler wird immer mehr in Frage gestellt – natürlich nicht nur in der amerikanischen Skulptur des neuen Jahrhunderts. Mit den Erfahrungen der eigenen öffentlichen Monumente schien der vergleichende Blicke auf den europäischen Kontinent einmal mehr lohnend. So wurde 1933 auch die Wiederaufstellung einer deutschen Skulptur durch die Nationalsozialisten aus der Ferne beobachtet und kommentiert (Abb. 12).58 Die personifizierte Stadt Berlin, die für den Autor im Christian Science Monitor »maternal beauty« ausstrahlt, gehörte etwa zu den häufiger besprochenen Kunstwerken, die auch einen Vergleich nationaler Mentalitäten und Körperbilder provozierten.59 Auch wenn diese durch züchtige Verhüllung zumindest kein moralisches Dilemma auslösten, wird Körperform und Physiognomie analysiert. So ist beispielsweise die stämmige Berolina, die einst den Alexanderplatz in ihrer bronzenen Üppigkeit zierte, in Berlin nach der Jahrhundertwende zu einer der beliebtesten Skulpturen der Stadt geworden, eben weil ihr monströses Format und die wenig elegante Figur den neuen Körperidealen spottete.60 Emil Hundrieser fertigte die Skulptur zunächst aus Gips anlässlich des Besuchs des italienischen Königspaares 1889 bei Kaiser Wilhelm II mit einem halb ephemeren Blumenstrauß in der Hand, der bei der späteren Umwandlung in eine 57 | Gross, Kenneth: The Dream of the Moving Statue. University Park, PA 2006 [zuerst 1992]. 58 | Berichte zum Ereignis von 1933 u.a. in Völkischer Beobachter vom 2. Mai 1933; Bilder-Courier, Illustrierte Beilage zum Berliner Börsen-Courier vom 11. Juni 1933; Berliner Lokalanzeiger vom 17. Juni 1933; Berliner Lokalanzeiger vom 20. Juni 1933; Deutsche Allgemeine Zeitung (DAZ) vom 20. Juni 1933; Berliner Lokalanzeiger vom 22. Juni 1933; Berliner Lokalanzeiger vom 11. November 1933; VAZ vom 11. Oktober 1933; VAZ vom 28. Oktober 1933; Deutsche Allgemeine Zeitung (DAZ) vom 28. November 1933; Deutsche Allgemeine Zeitung (DAZ) vom 11. Dezember 1933. 59 | Christian Science Monitor, 6. Juli 1933, S. 14: Notes from German Cities. 60 | Zur Berolina vgl. Jochheim, Gernot: Der Berliner Alexanderplatz. Berlin 2006, S. 101.

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Bronzeskulptur entfiel.61 Gedichte wurden für die matronenhafte Berlin-Personifikation kolportiert, und selbst die Nationalsozialisten instrumentalisierten das beliebte Wahrzeichen durch eine Feier mit dem Modell Anna Sasse, geb. Fellgiebel, die einst Hundrieser als Modell für die Berolina gedient hatte. Die Berolina war derart populär, dass Nachrichten über sie es bis in amerikanische Zeitungen schafften, wo man in den wuchtigen Formen der bronzenen Stadtpersonifikation das topische ›Mädchen von nebenan‹ sehen wollte.62 Weshalb die überdimensionale Berolina vor Publikum reüssierte und MacMonnies »Rough Guy« in New York zu einer problematischen Allegorie wurde, muss auch mit der medialen Einbettung der steinernen Körperbilder in Bezug gesetzt werden. Der derbe Humor, der die Beschreibung der öffentlichen Monumente sowohl in New York als auch in Berlin vergleichbar macht, bezieht sich in erster Linie auf die Divergenz vorherrschender Körperideale und allegorischer Figur. Die Personifikationen werden zwar mit einem menschlichen Körper zum Ausdruck gebracht, sie bewegen sich dennoch auf einer anderen Ebene. Ironische Brechungen des entkleideten oder unförmigen allegorischen Leibes waren immer möglich, sofern das Objekt weiblich war. Jedoch schien der konterfeite Feuerwehrmann George Lorz, der Civic Virtue seinen Körper lieh, mehrere Schaubedürfnisse nicht zu erfüllen. Wenn auch wenige Jahrzehnte zuvor der berühmte strongman Eugen Sandow als lebendes Antikenvorbild auf der Weltausstellung in Chicago sein Programm zur körperlichen Ertüchtigung vorgestellt hatte, erzeugte dieses neue athletische Ideal zugleich massives Unbehagen. Präsentierte der deutschstämmige Sandow bei Auftritten dem Publikum sein sportlich-muskulöses Körperideal, indem er weiß gepudert nach griechischen Statuen posierte, tangierte er mit seinem Programm gleichzeitig triviale Bereiche des Zirkus und der Varieté.63 Die athletische Physis des Unterhaltungskünstlers, 61 | Claire Waldoff interpretierte offenbar das Tucholsky-Lied:»Da nimm et doch, det Jemüse. Ick schenk et dir!« 62 | So etwa im Chicago Daily Tribune vom 22. März 1896, S. 13 oder im Chicago Daily Tribune vom 17. Juli 1927, in dem die Verbannung von »Fraulein Berolina« zugunsten der U-Bahn geschildert wird. 63 | Waller, David: The Perfect Man: The Muscular Life and Times of Eugen Sandow, Victorian Strongman. Brighton 2011, hier S. 91. Waller beschreibt sowohl Sandows Versuche, sich mit weißem Puder statuengleich zu zeigen, als auch seine Experimente mit braunem Kakao-Pulver (S. 11).

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die durch seine Posen nach antiken Statuen kenntnisreich verbrämt wurde, hatte einen anderen Anspruch als der gedrungene Körper der Civic Virtue.64 Doch in beiden Fällen bedeutete der entkleidete männliche Körper eine Herausforderung an den Betrachter: Wie sollte sich der männliche Blick zu den präsentierten männlichen Allegorien verhalten? Natürlich wurde Civic Virtue auch und besonders kritisch von Frauenbewegungen wegen des vorgeblichen Geschlechter-Missverhältnisses angeschaut, doch die Stimmen der Kritikerinnen werden stets nur indirekt wiedergegeben. Allein – die Frauengemeinschaften, die sich gegen MacMonnies formierten, hätten mit ihren Argumenten wenig ausrichten können, wenn nicht zugleich der männliche Betrachterblick durch den nackten Tugendhelden irritiert worden wäre. Mediale Wenden

Der Konflikt, der durch allegorische Skulpturen wie Civic Virtue in der Öffentlichkeit ausgelöst wurde, ist auch in einem neuen medialen Gefüge zu lesen. Erfuhren die weißen Marmorfiguren allegorischer Frauengestalten, wie sie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in der amerikanischen Skulptur hervorgebracht wurden, durch Tableaux vivants entscheidende Popularisierung, erschien dagegen das Bild männlicher allegorischer Körper ungleich problematischer. Die Analogie von Ästhetik und Keuschheit, die bei Hiram Powers Greek Slave oder der zwischen 1867 und 1872 entstandenen Skulptur The Last of the Tribes vom Publikum akzeptiert wurde, griff bei Allegorien mit männlichen Körpern nicht. Das Unbehagen, das durch männliche Allegorien und mythologische Heroen erzeugt wurde, entstand durch die Kombination verschiedener Faktoren. Die Frage nach der idealen oder realistischen Darstellung allegorischer Figuren scheint vor allem vor dem Hintergrund neuer Medien relevant zu werden: Rollenspiele, wie sie in zeitgenössischen Tableaux vivants und darstellendem Tanz vor Augen geführt werden, und wie sie sich in der Fotografie zusehends etablieren, gehören zum neuen Ausdrucksmodus der Allegorie. Das allgegenwärtige Einnehmen einer Pose nach klassischen Vorbildern, wie es in der Fotografie Usus war – denkt man etwa an Napoleon Saronys Living Pictures, die 1894 erschienen, veränderte nicht zuletzt den Blick auf die manierierten Posen allegorischer Skulptur.65 64 | Dies mag auch der Übertragung des Entwurfs in Marmor geschuldet sein – Die Ausführung des Werks lag in den Händen der Picirilli-Brüder, die sich auf die Fertigstellung derart kolossaler Marmordenkmäler spezialisiert hatten. 65 | Musser, Charles: »A Personality so marked«. Eugen Sandow and Visual Culture. In: Mathews 2005, S.104-110, hier S.106.

ALLEGORIE IM ATELIER

Und wie das Auge der Kamera, so wird auch im Falle der Skulptur der Blick auf das Modell durch den Künstler imaginiert. Es kann kein Zufall sein, dass die erotische Spannung, die das Verhältnis von männlichem Künstler und weiblichem Modell umfängt, dem Erfolg der allegorischen Skulptur zuarbeitet – das Gefüge von männlichem Künstler in vollem Habitus und entkleidetem Modell, wie epochemachend Courbet und Manet schon gezeigt hatten, ist vollends etabliert. Und auch im umgekehrten Fall wirkt dies offenbar popularitätssteigernd auf die Skulpturen, wie Beatrice Longmans Victory, einer männlichen Sieges-Personifikation, die der Künstlerin 1904 schon die Zukunft geebnet hatte: War der Umgang der Künstlerin mit entkleideten männlichen Modellen zwar durchaus anstößig, löste dies aber kein moralisches Dilemma aus.66 Kaum eine Frage hat die Gazetten mehr bewegt, als mögliche Grenzüberschreitungen im Kontext des Künstlerateliers. Die weiblichen Modelle, wie am prominentesten Audrey Munson, avancierten zu Stars, die selbstbewusst darüber Auskunft gaben, welchen Skulpturen sie ihr Gesicht und ihren Körper geliehen hatten. Und auch Beatrice Evelyn Longman, die mit ihrem Genius of Electricity eine typisch amerikanische Physis und Physiognomie einfangen wollte, provozierte die Kritiker kaum, da die Geschlechterdifferenz zwischen Betrachter und Betrachtetem gewahrt wurde. Allein das Blickgefüge zwischen männlichem Künstler und entkleidetem männlichen Modell hingegen erzeugte vielleicht schon jene Irritation, die das Scheitern vieler männlicher Allegorien antizipierte. 66 | Louisiana Purchase Exposition, 1904, vgl. Evelyn Beatrice Longman: Victory (12.143). In: Heilbrunn Timeline of Art History. New York 2000. http://www.metmuseum.org/toah/works-of-art/12.143 (August 2010).

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Iuditha Balint 93

INNENRAUM UND OBERFLÄCHE Inkorporierte Ökonomie in Werken von John von Düffel, Ernst-Wilhelm Händler, Ewald Palmetshofer und Elfriede Jelinek

Im Jahr 2007 thematisiert Ernst-Wilhelm Händler die stark ausgeprägten Verdrängungstendenzen okzidentaler kapitalistischer Wirtschaftsformen den »Komplex ›Fleisch, Körper und Gefühle‹« betreffend und prophezeit, »dass der Kapitalismus mit dem Thema Fleisch auch noch fertig [werde]« 1 , wobei Fleisch als Synonym für Körper steht. Zwei Jahre später erscheint Elfriede Jelineks Finanzkrisenstück Die Kontrakte des Kaufmanns (2009), in dem diese von Händler befürchtete Abrechnung literarisch vollzogen wird. Bis dahin jedoch beschreitet das Narrativ des ökonomisierten Körpers einen langen Weg und offenbart eine Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Körperkonzepten. Ausgehend von dem gesellschaftlich bedingten Wandel von Körperkonzepten2 einerseits und der oft erforschten Ökonomisierung des Menschen und seiner Lebensbereiche andererseits soll an dieser Stelle eine chronologische Untersuchung der Ökonomisierung des Körpers in der deutschsprachigen Literatur des 21. Jahrhunderts versucht werden. Zum einen wird dabei der Frage nach dem Modus der Ökonomisierung nachgegangen, zum anderen soll e ine 1 | Höfer, Anja: Sprache und Geld sind ungeheuer flexibel. Interview mit ErnstWilhelm Händler. In: polar 2 (2007): Ökonomisierung. http://www.polar-zeitschrift. de/polar_02.php?id=83, 10.1.2012. 2 | Zum historisch-gesellschaftlichen Wandel von Körperkonzepten vgl. Lorenz, Maren: Leibhaftige Vergangenheit. Einführung in die Körpergeschichte. Tübingen 2000.

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KÖRPER-ÄSTHETIKEN

Antwort auf die Frage nach der Korrespondenzbeziehung zwischen verschiedenen Körperkonzepten und den fortschreitenden Abstraktionstendenzen wirtschaftlichen Handelns gegeben werden. In John von Düffels 2001 erschienenem Roman Ego präsentiert sich der menschliche Körper als wertvollstes und permanent zu seiner Modellierung antreibendes Kapital, ganz im Sinne Bourdieus als »akkumulierte Arbeit […] in verinnerlichter, ›inkorporierter‹ Form« 3 . Nicht nur, dass Arbeitsutensilien4 zu Trainingsgeräten umfunktioniert werden, Erwerbsarbeit wird durch die Arbeit am Körper ersetzt. Dementsprechend wird die berufliche Laufbahn des Protagonisten Philipp ebenfalls durch die Arbeit am Körper vorangetrieben. Körper und Karriere sind in seiner Wahrnehmung eine Symbiose eingegangen, die allein durch die Intervention anderer Körper gestört werden kann. Die exzessive Körperhygiene und die Fitnesssucht des Unternehmensberaters können durchaus als intertextuelle Huldigung an Brett Easton Ellis‘ American Psycho interpretiert werden. Insbesondere jedoch dienen Gesundheit und Fitness der Erzeugung und Erhaltung von Schönheit als ökonomisches Kapital – und nicht zuletzt als poetologische Illustration des Befundes von JeanLuc Nancy: »Es ist immer der Körper. Nicht der Körper des ›ego‹, sondern corpus ego, ›ego‹, das nur ›ego‹ ist, wenn es artikuliert wird.« 5 Die Perfektionierung des Ich findet in Philipps Fall ausschließlich auf der artikulierten, »sichtbaren, exponierten Oberfläche der Person« 6 statt; sie erfolgt analog zum ökonomischen Handeln, erfordert »Planung, Investition und Kalkulation« 7. Die Nutzenkalkulation erstreckt sich dabei auch auf 3 | Bourdieu, Pierre: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: Kreckel, Reinhard (Hg.): Soziale Ungleichheiten (= Soziale Welt Sonderband 2). Göttingen 1983, S. 183-193, hier S. 183. Explizit zum körperlichen Kapital vgl. Ders.: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a.M. 1982. 4 | Z.B. Schreibtische oder Aktenkoffer. Vgl. Düffel, John von: Ego. Köln 2001, S. 25, 214. 5 | Nancy, Jean-Luc: Corpus. Zürich 2000, S. 27. (Hervorhebung im Original) 6 | Deupmann, Christoph: Narrating (New) Economy: Literatur und Wirtschaft um 2000. In: Zemanek, Evi; Krones, Susanne (Hg.): Literatur der Jahrtausendwende. Themen, Schreibverfahren und Buchmarkt um 2000. Bielefeld 2008, S. 151-161, hier S. 157. 7 | Ablaß, Stefanie: Ökonomisierung des Körpers: Interdependenzen von ökonomischer und physischer Sphäre im Wirtschaftsroman. In: Zemanek/Krones 2008, S. 163-177, hier S. 171.

INNENRAUM UND OBERFLÄCHE

ernährungsphysiologische Sachverhalte. Selbst die Ernährung dient ausschließlich der Stärkung des Körpers, ist folglich nicht mit Lust, Genuss oder Gesundheit verbunden, sondern erfolgt nach ökonomischen Maßstäben.8 Ernährungsbezogene Eigenheiten fungieren als gesellschaftliche Distinktionsmerkmale und unterstützen einerseits die Selbstbildung durch Körperbildung, andererseits aber auch die Selbstpositionierung des Romanhelden innerhalb der hierarchischen Strukturen der Unternehmensberatung. In ironischer Manier erfolgt dabei der Rekurs auf die von Max Weber beschriebene asketisch-protestantische Haltung 9, die beim Protagonisten derart stark ausgeprägt ist, dass sie zu einem selbstzerstörerischen Umgang mit dem eigenen Körper führt und damit implizit auf das selbstdestruktive Potenzial der Ökonomie verweist.10 Die hier vorgeführte Ökonomie der Aufmerksamkeit bezieht sich jedoch ausschließlich auf den Körper als sichtbare Oberfläche. Das Körperinnere ist (zunächst) bedeutungslos, soweit es nicht zur Erhaltung oder Verfeinerung des äußeren Erscheinungsbildes der Person beiträgt. Umso größere Relevanz besitzt der äußere Schein. Dementsprechend werden Techniken der Körpermodellierung als Mittel der Ästhetik des Erhabenen im Kampf gegen die Verwundbarkeit eingesetzt: »Ringsum herrscht Straffheit und Muskelspannung. Sein Nabel hat aufgehört, ein Loch zu sein […]. Er hat es geschafft! Er hat diesen wundesten aller Punkte seinen Bauchmuskeln gleich gemacht«.11 Das Innere – ob in Form des Körperinneren oder in derjenigen des Selbst – ist allerdings, wie bereits bemerkt, beinahe bedeutungslos. Denn die vorhin dargestellte Funktion der Körperoberfläche, Verwundbarkeit zu hemmen, zu verbergen oder zu eliminieren, verweist indirekt auf die Verletzlichkeit des affektiven Inneren. Die permanente Selbstbeobachtung im Spiegel steht nicht allein im Dienst der Selbstvergewisserung, sondern auch der Überprüfung der Gegenwärtigkeit des Scheins der Stärke und der Autonomie: »Der Seitenwandspiegel der Fahrstuhlkabine 8 | Vgl. von Düffel, John: Ego. Köln 2001, z. B. S. 58f., 150 oder 134. 9 | Vgl. ebd., S. 58f. oder 272. Den Kontrollverlust über den eigenen Körper und seine Funktionen – und folglich die Brüchigkeit des Konzepts des homo oeconomicus – unterstreichen die Szenen, in denen Heißhungerattacken mit sexueller Begierde bzw. Gewaltfantasien parallelisiert werden (vgl. z.B. S. 253ff.). 10 | Vgl. bspw. ebd., S. 78, 80 oder 97. 11 | Ebd., S. 254. Diese Funktion der Körpermodellierung ist ein intertextueller Verweis auf das im Motto des Romans zitierte Nibelungenlied.

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KÖRPER-ÄSTHETIKEN

zeigt mein Profil, was mich aufbaut. Form und Farbe sind wieder da. Die inneren Kämpfe sieht man mir nicht an, keine Spur. Auf meine Oberfläche ist Verlaß. Aber dafür habe ich auch hart gearbeitet«.12 Genau diese Oberfläche soll zu einem Körperpanzer 13 trainiert werden, zu einem einheitlichen Prinzip, zum Kunstwerk 14 , das den Anschein affektiver Unverwundbarkeit erweckt. Das Konzept des Körpers als Oberfläche wird mit einem anderen Konzept konfrontiert: Der Körper als Innenraum repräsentiert eine Bedrohung, welcher männliche Figuren allein aus biologischen Gründen weniger ausgesetzt sind als weibliche. Philipps Bewunderung für den natürlichen weiblichen Oberflächenkörper als Repräsentation von Perfektion gilt auch dem mit ihm assoziierten beruflichen Erfolg, ebenso wie sich sein Neid auf diesen Körper auf die Mühelosigkeit von Isabells Umgang mit ihrer naturgegebenen Schönheit bezieht. Wird jedoch ihr als Oberfläche bewunderter Körper durch eine Schwangerschaft in ein räumliches Konzept umgewandelt, dann stellt er für Philipp eine Gefahr, die verkörperte Vernunftwidrigkeit dar: »Ich erschrecke vor der List der Natur, die mich mit einem Verwirrspiel von Formen und Kurven dazu bringt, gegen jede Vernunft zu handeln und nur das Eine zu wollen: Zeugen, Zeugen, Zeugen. Mein Gott, wie liebe ich diese Frau! Ich liebe ihren Apfelpo, ihre festen, ineinanderfließenden Schenkel und ihre schmalen unglaublichen Knie.«15

Die Vorstellung der Zerstörung der Perfektion durch Gravidität löst beim Protagonisten körperliche Übelkeit aus16 und bedeutet den Verlust des wesentlichsten Vermögens: des Körperkapitals. Der Bauch, der seine uneingeschränkte Anerkennung gewinnt, »ist kein Bauch«, kein räumliches Konzept, sondern eine Oberfläche, die eine »unzerstörbar stark[e]« äußerliche Erscheinung bewirkt.17 Aufgrund dieser konzeptionellen Konvertierung 12 | Ebd., S. 19. 13 | Ebd., S. 163: »Mein Körper ist genau so, wie er immer sein sollte, unverwundbar. Ich bin fast ein bisschen eingeschüchtert von dem Bild, das ich abgebe.« 14 | Vgl. ebd. Zum monolithischen Körperprinzip am deutlichsten S. 74, zum Körper als Kunstwerk S. 265: »Mein Körper ist Skulptur.« 15 | Ebd., S. 110. Das Beispiel verdeutlicht auch die Körpergebundenheit der Liebe: Liebe ist Liebe zum Körper. 16 | Vgl. ebd., S. 213. 17 | Vgl. ebd., S. 192.

INNENRAUM UND OBERFLÄCHE

des weiblichen Körpers wird jedoch nicht nur die körperlich-materielle Perfektion destruiert; die Frau als solche – in diesem Fall die dem Vernunftprinzip zuzuordnende18 und am Ende des Romans tatsächlich schwangere Isabell – wird (zumindest temporär) aus dem Konkurrenzkampf eliminiert. Auf diese Weise kann Philipp den Status des »Mann[es] an ihrer Seite« überwinden und hat »im Prinzip genau das bekommen, was [er] wollte« 19 – und das bezieht sich nicht auf ein Kind, sondern auf den beruflichen und den körperlichen Triumph.20 Die Befürchtung des Protagonisten, sich zwischen der Karrierearbeit und der Arbeit am Körper entscheiden zu müssen, löst sich also hier in einer Symbiose auf. Der Dematerialisierung der ›New Economy‹ entspricht hier eine verstärkte Betonung des menschlichen Körpers, die Gesetze der Ökonomie schreiben sich in die Körperoberfläche ein. Das Gut, das produziert und angeboten21 und mit dem in der Dienstleistungsgesellschaft operiert wird, ist der männliche Körper selbst. Am weiblichen Körper Isabells zeigen sich die Disharmonien, die diese Symbiose aufweisen kann; er dient jedoch auch als Innenraum – und als Raum für Kritik an hegemonialen Strukturen bzw. an der Einverleibung des ökonomischen Erfolgsprinzips. In diesem Sinn bietet von Düffels Ego eine ökonomiekritische Auslegung der Aussage, »der (geschönte) Körper [erhalte] in modernisierten Gesellschaften neue Relevanz, obwohl und gerade, weil es nicht mehr um Schönheit [gehe], sondern um dahinter liegende Phänomene und Funktionen«.22 Die Thematik des Verhältnisses zwischen Körper und wirtschaftlichen Strukturen greift Ernst-Wilhelm Händlers Roman Wenn wir sterben (2002) ebenfalls auf. Analog zu Ego geht es auch dort um die Vorteile körperlicher 18 | Vgl. ebd., besonders S. 83. 19 | Ebd., S. 281. 20 | Dieser Triumph ist allerdings zum einen ein Hinweis auf die Brüchigkeit des homo oeconomicus (wäre seine Verlobte nicht schwanger, würde es Philipp nicht gelingen, sie aus dem Konkurrenzkampf zu beseitigen). Zum anderen verdeutlicht er den Wandel vom Leistungsprinzip zum Erfolgsprinzip (vgl. Kremer, Christian: Milieu und Performativität. Deutsche Gegenwartsprosa von John von Düffel, Georg M. Oswald und Kathrin Röggla. Marburg 2008, hier besonders S. 100-102. Kremer veranschaulicht seine Beobachtung am Beispiel der Arbeit in der Saunaszene. Siehe dazu von Düffel 2001, S. 73ff.). 21 | Sexualität mit inbegriffen. Vgl. hierzu explizit von Düffel: Ego, S. 281. 22 | Posch, Waltraud: Projekt Körper. Wie der Kult um die Schönheit unser Leben prägt. Frankfurt a.M. 2009, S. 170.

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Schönheit für die Karriere, oder um die Verknüpfung von körperlicher Fitness und beruflicher Leistung. So wird Charlottes Körper als Garant für ihre berufliche Leistung betrachtet, ihre körperlichen Merkmale werden auf die Ergebnisse ihrer Arbeit übertragen: »Charlotte wußte, daß sie schön war […]. Am Anfang ihrer Karriere hatte sie die Empfindung, sie würde ihre Schönheit verpfänden: Von der Beraterin erwartete man, daß ihre Schönheit die Konzepte, die sie erarbeitete, imprägnierte, als Managerin sollte ihre Erscheinung Businesspläne und Zukunftsprojektionen beglaubigen«.23

Nicht minder vergleichbar mit Philipps Besessenheit in von Düffels Ego ist Giovannas Fitnesswahn.24 Sie wird als »Powerfrau«25 beschrieben, die ihren Körper nach ökonomischen Maßstäben modelliert. Die Arbeit am Körper und eine gesunde Ernährung sind für sie Methoden der beruflichen Leistungssteigerung: »Sie sagt, ohne richtige Ernährung nützt das ganze Fitnessprogramm nichts. Sie will ihren Job noch ziemlich lange machen, und der ist anstrengend«.26 Die von Foucault als gesellschaftlich bedingt und institutionalisiert beschriebenen Kontrollmechanismen sind bei ihr intrinsisch und nicht extrinsisch motiviert, sie verkörpert das deleuzesche Konzept der Disziplinargesellschaft.27 Wie sich ökonomische Strukturen in den Umgang mit dem Körper einschreiben, zeigt sich an Ethels Auffassung der Gesundheit als persönliche Leistung des Einzelnen.28 Der Körper und sein Gesundheitszustand sind akkumuliertes Kapital29, für das der Einzelne als Unternehmer verantwortlich ist, und das wiederum im (beruflich oder sonst motivierten) Konkurrenzkampf eingesetzt wird. Auch diese Funktion des Körpers im Wirtschaftssystem weist Parallelen zu den Körperbildern in von Düffels Ego auf. Zusätzlich zu Letzterem wird in Wenn wir sterben nicht nur der eigene Körper unter dem Gesichtspunkt der Karriere betrachtet – auch die Körper Anderer werden zu Zwecken der Geldvermehrung eingesetzt: Der 23 | Händler, Ernst-Wilhelm: Wenn wir sterben. Frankfurt a.M. 2002, S. 42. 24 | Vgl. ebd., S. 308, 313f. 25 | Ebd., S. 308. 26 | Ebd., S. 309. 27 | Vgl. ebd., S. 320. Zu Deleuzes Theorie des Übergangs von der Kontroll- zur Disziplinargesellschaft vgl. Deleuze, Gilles: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften. In: Ders.: Unterhandlungen 1972-1990. Frankfurt a.M. 1993, S. 254-262. 28 | Vgl. Händler 2002, S. 118ff. Zum Leistungscharakter vgl. explizit S. 120. 29 | Vgl. ebd., S. 112, 113, 115, 117. Als Startkapital gelten für Ethel die Gene.

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namenlose Makler sucht seine Mitarbeiter nach körperlichen Merkmalen aus. Sein Kriterium ist dabei die Wirtschaftlichkeit; das gewinnbringende Potenzial der geschlechtlich aufgeladenen äußeren Erscheinung der Mitarbeiter wird von ihm zum System erhoben. »Die Blonde habe ich nach den Beinen ausgesucht. Bei den Besichtigungen muß die Maklerin auf der Treppe vorauslaufen. […] Mein System ist, daß die Kunden gerne mit den Weibern ins Bett gehen würden, sich aber nicht trauen, was zu sagen, oder wenn sie was sagen, rüde abgewiesen werden und ein schlechtes Gewissen kriegen und extra kaufen. Den Tennislehrer habe ich für die Frauen, Tennislehrer können gut mit Frauen«.30

Darüber hinaus offenbart Händlers Text eine Parallele zwischen Körper (-sprache) und der Lagebeschreibung der Wirtschaft: Die Augen Stines, die für die Werte der ›New Economy‹ stehen, »stellen eine Meßvorrichtung dar, die keine lokalen Berge und Täler aufzeichnete, sondern nur den globalen Trend festhielt«31 . Nicht zufällig entspricht also die Reihenfolge, in welcher die miteinander konkurrierenden Protagonistinnen erkranken, körperlich verfallen und aus dem Wirtschaftssystem entfernt werden, der jeweils repräsentierten Wirtschaftsform: Bär, deren Optimierungsspiele und Fabrikorientiertheit auf fordistische Strukturen verweisen, scheidet als erste aus. Ihr folgt Charlotte, die für den Postfordismus steht. Stine, die Bärs Halbierungsspiele im weitesten Sinne des Wortes inkorporiert hat, die jedoch auf einer weniger bedeutenden wirtschaftlichen Ebene weiter operiert, erlebt als letzte den wirtschaftlichen Ruin. Die zu erwartende Ablösung der ›New Economy‹ durch eine neuere Wirtschaftsweise wird somit narrativ implizit nahegelegt.32 30 | Ebd., S. 57. 31 | Ebd., S. 139. 32 | Zu Bär vgl. exemplarisch ebd., S. 222, zu Charlotte S. 110-118. Zu Stine als Repräsentantin der high-tech-kapitalistischen New Economy vgl. S. 287-295, zu ihrem körperlichen Verfall S. 411, die Ausführungen über Gesichtsfalten oder Tabakmund. Zur Inkorporierung des Halbierungsspiels vgl. S. 233 oder S. 239. Die Seiten 473ff. geben Auskunft über Stines »Rückkehr in das Fiasko« der Wirtschaft als vermutliche (Mit-)Inhaberin der Firma Alcor, die die Zukunftsbranche schlechthin repräsentiert: die Kryonik. Susanne Heimburger interpretiert diese Stelle fälschlicherweise so, dass Stine am Ende des Plots lediglich Kundin dieser Firma ist. (Vgl. Heimburger, Susanne: Kapitalistischer Geist und literarische Kritik. Arbeitswelten in deutschsprachigen Texten der Gegenwart. München 2010, S. 274.)

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Der Wandel der Wirtschaftsformen wird zudem auf die Modellierbarkeit, das ›Self-Fashioning‹ 33 des Fabrik- bzw. Firmenkörpers bezogen: »Die Firma ging ins Modehaus, ein neues Organisationskleid bitte, weich und lang! Die Firma drehte sich vor dem Spiegel, sie ging ganz nahe an den Spiegel heran, sie trat zurück bis auf den Korridor und blickte über die Schulter, weil sie wissen wollte, ob das Kleid auch hinten saß. Stundenlang konnte die Firma Kleider anprobieren, mit einer tiefen Befriedigung, entführt in eine prickelnde Zukunft«.34

Überhaupt wird die wesenhaft anorganische Arbeitsstätte Fabrik als organisches Gebilde dargestellt, das äußerlich einzelne Merkmale verschiedener Tiere aufweist. Die Firma als Körper besteht aus den Mitarbeitern, die als einzelne Körperteile des großen Ganzen aufgefasst werden.35 Auffällig ist die immense Bedeutung, die im Roman der Körperoberfläche beigemessen wird. Diese wird dem Konkurrenzprinzip zugeordnet, spiegelt aber auch die Angst vor der Vergänglichkeit des Seins und der eigenen (auch ökonomischen) Gebrechlichkeit wider. Hierbei spielt die Haut vor allem in der Beschreibung von Vanitas-Vorstellungen eine nicht zu unterschätzende Rolle: Alter(n) und Alterserscheinungen werden als Krankheiten wahrgenommen, die die Entstehung einer positiven Aufmerksamkeit unterbinden, und sich sinngemäß auch auf den Erfolg wirtschaftlicher Pläne kontraproduktiv auswirken.36 Ebenfalls mit einer negativen Semantik belastet ist das Konzept des Körpers als Innenraum. Wird in von Düffels Ego dem schwangeren Körper noch Gefahrenpotenzial zugesprochen, so wird in Händlers Text von dem Versuch berichtet, dieser Gefahr mit wissenschaftlichen Methoden vorzubeugen: Die Unkontrollierbarkeit des Körpers als Innenraum soll umgangen werden, indem Föten in künstliche Uteri ausgelagert werden, sodass »in der Familie der Zukunft Schwangerschaften nicht mehr vorkommen 33 | Zum Begriff und zum Konzept des ›Self-Fashioning‹ vgl. Greenblatt, Stephen: Renaissance Self-Fashioning: From More to Shakespeare. Chicago u.a. 2005. 34 | Händler 2002, S. 176f. 35 | Vgl. paradigmatisch ebd., S. 30 oder 152. 36 | Bezüglich des Konkurrenzprinzips heißt es konsequenterweise über Milla, die letztlich die Firma ihrer Konkurrentinnen übernimmt, ihre Karrieren weitgehend ruiniert und aus dem Konkurrenzkampf als Siegerin hervorgeht, »[m]it [ihrem] Gesicht [könne] keine mithalten« (ebd., S. 283). Zu den Vanitas-Vorstellungen, die den ganzen Roman prägen, vgl. am anschaulichsten ebd., S. 410.

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müssen.«37 Als nicht weniger bedrohlich werden die Vorstellungen vom Körper als Innenraum dargestellt, die der Mund als Körperöffnung eröffnet: »Stines Mund kann alles verschlingen – dich, deine Zukunft. Giovanna und Marco und deren Unschuld hat er ja schon verschlungen« 38 . Durch die stete Benutzung eines roten Lippenstifts wird er besonders hervorgehoben und fungiert als materielle Offenbarung des Raubtierkapitalismus. Die körperlichen Erkennungsmerkmale Stines, also einerseits das durch Make-up verschleierte, intransparente Gesicht, und andererseits der durch Schönheitsoperationen künstlich vergrößerte, bedrohlich rote Mund, decken zwei Aspekte der gängigen Kapitalismuskritik ab: die Intransparenz der Märkte39 und ihr destruktives Potenzial. Ewald Palmetshofers Drama faust hat hunger und verschluckt sich an einer grete (2009) spitzt die Einverleibung wirtschaftsspezifischer Phänomene und Deutungsmuster weiter zu und verortet sie – anders als bei den bisher besprochenen Romanen – ausschließlich im Körperinneren. Neuartig und für die zeitgenössische Literatur durchaus ungewöhnlich ist die Thematisierung des Kollektivkörpers zusätzlich zum Motiv des individuellen Körpers. Eine Dekonstruktion der scheinbaren Eindeutigkeit des elliptischen40 (und daher mit ökonomischen Strategien der Knappheit operierenden) Dramentexts legt ein hochökonomisiertes Bild der interpersonalen Beziehungen offen. Denn einerseits wird Beziehungsarbeit mit Mühe assoziiert, andererseits wird jedoch eingestanden, dass gesellschaftliche Exklusionsprozesse im Gegensatz zu Inklusionsprozessen leicht vonstatten gehen. Gegen dieses Phänomen wendet sich Fausts Gesellschaftskritik, wenn er die Art und Weise thematisiert, wie Mitglieder einer Gemeinschaft »mit Leichtigkeit und ohne dem Empfinden des Gesellschaftskörpers einen Schmerz zu bereiten wieder ausgeschieden werden« 41 . Beziehungen werden auf der kollektiven Ebene als 37 | Ebd., S. 210. 38 | Ebd., S. 443. Mit dem Verschlingen Giovannas und Marcos ist deren wirtschaftlicher Ruin gemeint. 39 | Zur Korrelation der Intransparenz des Körpers und des Marktes vgl. auch ebd., S. 17: »das sind keine einleuchtenden Verhältnisse mehr.« 40 | Eine Ausnahme stellt die unten zitierte Passage über Gretes Körperverständnis dar. Vgl. Palmetshofer, Ewald: faust hat hunger und verschluckt sich an einer grete. In: Carstensen, Uwe B.; Lieven, Stefanie von (Hg.): Theater Theater. Aktuelle Stücke 19. Frankfurt a.M. 2008, S. 497-555, dort S. 527. 41 | Ebd., S. 520.

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Konsumgüter präsentiert, deren Zirkulation analog zum (dem Metabolismus ähnlichen) ökonomischen Kreislauf beschreibbar ist. Die metaphorologische Konversion sozialer Prozesse in physiologische beschreibt folglich eine Konversion moralischer Phänomene in ökonomische.42 Im Hinblick auf das Individuum sind bereits formale Anweisungen auffällig: Grete wird abwechselnd von jeweils einer der drei die anderen Figuren verkörpernden Darstellerinnen gespielt. Dies könnte natürlich als ironische Kritik des ökonomischen Umgangs der Theaterhäuser mit ihrem Personal aufgefasst werden; signifikant ist hierbei jedoch die durch die Dreiteilung hervorgehobene körperliche Darstellung der inneren Zerrissenheit Gretes. In einem Selbstgespräch, das zahlreiche kulturwissenschaftliche Diskurse in sich vereint, resümiert Grete den in ihrem Inneren stattfindenden Kampf der Dichotomien: den Kampf zwischen der »hegemonialen Gewinnerklasse« und der »sozial benachteiligten Randregion«, d.h. den Kampf zwischen dem »ätherischen Körper« des kosmopolitischen Mannes auf der einen und dem ihrigen auf der anderen Seite.43 Die Beziehung zu ihrem Körper steht hier stellvertretend für die Beziehung zur Welt und für ihr defizitäres Selbstverhältnis. Auffällig ist hierbei, dass ihre Erörterungen erneut um die Körperoberfläche kreisen. Gesicht, Haut, Nägel und Augen sind Elemente ihrer narrativen Identitätsbildung und bieten Anhaltspunkte für die Veranschaulichung ihrer provinziellen Herkunft; ihr Körper wird als Gegenstück zu einer agrikulturell betriebenen Wirtschaftsform beschrieben: »warum verdammt jeder Quadratzentimeter Haut an mir erzählt, dass dieser Körper in der Provinz produziert wurde und seine Herkunft in einer unendlichen Schleife immer wieder bekennen muss und eigentlich nur dazu dient, eine Differenz zu verbürgen, eine Differenz zu den ätherischen Körpern der hegemonialen Gewinnerklasse, die auch ab und an Frauenkörper herausproduziert, für die ich dann eine negative Hintergrundfolie zur Schau zu stellen gezwungen bin, mit meinem Körper, der eine sozial benachteiligte Randregion, eine kulturell vorentwickelte Provinzzone, dem sein Herz nach Kuhglocke klingt, und irgendwann sind meine Zähne und Nägel so gelb wie Rapsfelder, 42 | Zum Verhältnis zwischen Ökonomie und Moral vgl. Balint, Iuditha: Ökonomie und die Suche nach dem guten Leben. Ewald Palmetshofers faust hat hunger und verschluckt sich an einer grete. In: Englhart, Andreas; Pełka, Arthur (Hg.): Junge Stücke. Theatertexte junger Autorinnen und Autoren im Gegenwartstheater. Bielefeld 2013, S. 179-189. 43 | Palmetshofer 2008, S. 527.

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und meine Augen sinken in den Kartoffelacker zurück, aus dem sie gekommen sind«.44

Fausts Selbst- und Körperverständnis basieren ausschließlich auf ökonomischen Strukturen. Seine vergebliche Suche gilt vornehmlich der Subjekthaftigkeit des Menschen; den Tod des Subjekts bestätigt er mit der Aussage »im Menschen drinnen ist kein Mensch« 45. Seine These der Unmöglichkeit von Subjekthaftigkeit stützt er mit der Theorie des innerlich »ausgekachelt[en]« 46 Menschen, dessen Körper nach ökonomischen Maßstäben optimiert ist und dessen dem wirtschaftlichen Kreislauf ähnelnder Fremdstoffmetabolismus keine Ablagerungen des Konsumierten zulässt – seien es nun Glück, Liebe, soziale Beziehungen oder Lebensmittel. Die Leere, die aus diesem Stoffwechsel entsteht, stellt einen inneren Optimierungspanzer dar, der von den in Ego und Wenn wir sterben dargestellten oberflächenorientierten Modellen abweicht. Dieselben ökonomischen Strategien, die in von Düffels Werk auf das Konzept des Körpers als ästhetische Oberfläche zutreffen, werden also in Palmetshofers Stück auf das Konzept des Körpers als Innenraum übertragen (der wiederum in ein metaphorisches Oberflächen-Konzept umgewandelt werden kann). »[N]ach einem längeren Kapitalfluss gehst du dann auf so einen Menschen zu, muss man auch mal eine Standortsicherheit von so einem Kapital, das man da reintransferiert hat, überprüfen und […] kehrst mal dem sein Inneres nach außen und machst mal einen Kassasturz bei so einem Menschen und fährst in so einen Menschen rein und drehst den mal um, wie eine Socke, einen Sparstrumpf, drehst du den mal um von innen nach außen, aber weil so ein Mensch leider nur eine Oberfläche ist, kommt, wenn du den umdrehst wie eine Socke […] wieder nur eine Oberfläche raus, […] und hast dann leider ordentlich viel Kapital in den Sand gesetzt und dich ein bisschen in deiner Wert-Schöpfung empfindlich verspekuliert.«47

Eine Analogie zwischen faust und Ego ergibt sich allerdings bezüglich des weiblichen Körpers: Isabells und Gretes Körper werden als weitgehend natürlich, unmodelliert dargestellt. Ihre Zerbrechlichkeit wird anhand 44 | Ebd. 45 | Ebd., S. 539. 46 | Ebd., S. 513. 47 | Ebd., S. 538. Vgl. auch S. 511-513 und 537-539.

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der Transformationen demonstriert, die mit ihren Schwangerschaften einhergehen. Gretes Körper – der hier als Oberfläche für ein obsoletes (agrar- also realwirtschaftliches) Modell steht – erliegt der Macht des (ökonomischen) Fortschritts, während derjenige Fausts als flexibilisierte und optimierte Variante der inkorporierten Wirtschaft seine Überlebenschancen sichern kann. Die Trendlinie der Einprägung bzw. der eigens herbeigeführten Einverleibung von ökonomischen Strukturen, Werten und Operationsmodellen in den menschlichen Körper verläuft also in den bisher analysierten Werken immer deutlicher in die Richtung der Ablösung des oberflächenzentrierten Körperbildes. Der Körper als Innenraum, der am Anfang des Jahrtausends, in Zeiten der ausklingenden ›New Economy‹ lediglich als Antipode der normierten Körperoberfläche galt, avanciert in Palmetshofers Stück zum tragenden Konzept. Für das bloße Auge unsichtbar, muss er nun erst in ein Oberflächenkonzept transformiert werden, damit sich die tiefgreifenden Folgen seiner Ökonomisierung offenbaren können. Eine radikale Steigerung des Verhältnisses zwischen Ökonomie und Körper findet sich sodann in Elfriede Jelineks Stück Die Kontrakte des Kaufmanns (2009), das sich explizit den Folgen der Finanzkrise annimmt. Dem Abstraktheitsgrad der spekulativen Finanzmärkte entspricht hier ein Verzicht auf den menschlichen Körper, eine kompromisslose Entkörperlichung. Die sprachlichen Destabilisierungsprozesse, welche Wörtern ihre Bedeutung entziehen,48 betreffen nicht allein die Ebene der Signifikanten, sondern auch die der Signifikate. Dementsprechend verweist die Frage nach der fehlenden Deckung des (materiell nicht immer existierenden, nichtsdestoweniger investierten und verlorenen) Geldes nicht nur auf die Krise der abstrakten Finanzmärkte, sondern auch auf die Krise der Materie. Konsequenterweise wird hier die Körperthematik ausgeklammert, »da doch das Geld ganz alleine arbeiten kann und sogar soll« 49. Die einzig relevanten Körper sind die der Schauspieler, die während 48 | Vgl. Peter, Nina: Kollabierende Sprachsysteme. Zwei Strategien sprachlicher Verarbeitung der Geldwirtschaft. In: Künzel, Christine; Hempel, Dirk (Hg.): Finanzen und Fiktionen. Grenzgänge zwischen Literatur und Wirtschaft. Frankfurt a.M. 2011, S. 137-154, hier S. 146ff. 49 | Jelinek, Elfriede: Die Kontrakte des Kaufmanns. In: Dies.: Die Kontrakte des Kaufmanns. Rechnitz (der Würgeengel). Über Tiere. Drei Theaterstücke. Reinbek bei Hamburg 2009, S. 207-348, hier S. 309.

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der Aufführung den Bühnenanweisungen gemäß den Text »möglichst laut schreien« sollen – wobei ihre Bedeutsamkeit auf zynische Weise durch die Bemerkung relativiert wird, man könne den Text auch »aufnehmen und die Toilette oder die Garderobe damit beschallen, egal« 50. Jelineks Stück bringt somit die Irrelevanz der Körperlichkeit in Zeiten spekulativer Finanzwirtschaft auf die Bühne. Konnte die Literatur am Anfang des neuen Jahrtausends mit der Materialität des Körpers operieren, so wird dieser immer mehr zu einem abstrakten Innenraum – um schließlich von einem verunsichernden semantischen Spiel abgelöst zu werden. Ernst-Wilhelm Händlers Äußerung »Sprache und Geld sind ungeheuer flexibel« 51 kann folglich um eine Feststellung erweitert werden: Neben der Sprache und der Sphäre des Monetären sind auch im (zumindest literarischen) Umgang mit dem menschlichen Körper Flexibilisierungsund Ökonomisierungstendenzen beobachtbar. Paradoxerweise (ver-) schwindet der Körper zudem nicht nur aus der, sondern auch durch die Sphäre des Ökonomischen. Händlers Prognose über die fortschreitende Eliminierung des Körpers zeichnet sich somit doppelt ab. Betrafen in John von Düffels Ego die Ökonomisierungsstrategien noch lediglich die Körperoberfläche und zielten sie auf die Hervorbringung eines Körperpanzers ab, so zeigen sich in Ernst-Wilhelm Händlers Roman Wenn wir sterben immer mehr Risse an dem Konzept der schützenden Körperoberfläche. Alter(n) und Krankheiten gelangen hier verstärkt in den Fokus; der körperliche Verfall, die Erkrankungen der Protagonistinnen verweisen auf den Wandel der Wirtschaftsformen, die damit verbundenen Vanitasvorstellungen korrelieren mit dem Festhalten an gewohnten, aber veralteten Wirtschaftsformen. Ähnlich wie in von Düffels Ego erscheint das Körperinnere auch hier als Gefahrenquelle, die als solche jedoch mithilfe wissenschaftlicher Methoden bzw. der Technik überlistet werden soll. Palmetshofers Drama faust hat hunger und verschluckt sich an einer grete präsentiert die totale Ökonomisierung des Körperinneren. Der bislang lediglich an der Körperoberfläche dargestellte Vergleich von Blut- und Wirtschaftskreislauf, von Metabolismus und Zirkulation des Geldes, weicht der vollständigen Einschreibung ökonomischer Strukturen und Mechanismen in den menschlichen Körper und lässt diesen als optimierten Innenraum erscheinen. Ihren (vorläufigen?) Zenit erreichen 50 | Jelinek 2009, S. 210. 51 | Höfer 2007.

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die Ökonomisierungstendenzen in Elfriede Jelineks Wirtschaftskomödie Die Kontrakte des Kaufmanns. Haben die beiden behandelten Romane und Palmetshofers Drama dem Körper noch eine irgend geartete Funktion als ökonomisierte Oberfläche oder Innenraum zugeschrieben, rechnet Jelineks Stück mit dem Körper als Materie ab. Je relevanter das abstrakte Geld ge- und behandelt wird, desto redundanter scheint der Umgang mit dem Körper zu werden. Was nach Jelinek bleibt, ist die Materialität des Mediums: Die des Schauspielers und des literarischen Textes – oder des Schalls, von dem der Text getragen wird.52 52 | Für seine wie immer konstruktive Kritik danke ich herzlich Jens Tuider.

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TRANSFORMATION UND ALLEGORISIERUNG DES KÖRPERS IN DER ZEITGENÖSSISCHEN RUSSISCHEN KUNST Eine gendertheoretische Perspektive

Der Körper hat innerhalb der Künste immer schon eine herausragende Stellung eingenommen. Im Historiengemälde, der in der Hierarchie der Genres höchst bewerteten Ausdrucksform, manifestieren sich an ihm Handlungen und Erzählabläufe, darüber hinaus aber ist er primärer Träger allegorisierender Wiedergabe. Im menschlichen Körper werden Abstrakta, nicht konkrete Vorstellungen, Gedanken und ganze Weltbilder zum Ausdruck gebracht. Dabei wird die Einbindung aber auch zum Vorwand, den Akt zu inszenieren. Gilt dies zunächst für beiderlei Geschlecht, so erfolgt die Wiedergabe des weiblichen Körpers im Laufe der Kunstgeschichte doch unter einem besonderen Blickwinkel, insofern ins Gewicht fällt, dass der gemalte oder skulptierte weibliche Körper Produkt männlicher Schöpfung ist. Impliziert die Nacktheit zunächst noch in Gestalt von Göttin oder Nymphe göttliche Schöpfung und Naturhaftigkeit, so bedarf die Darstellung von weiblicher Blöße im Laufe der Malereigeschichte spätestens seit Boucher nicht mehr einer solchen thematischen Einbindung zu ihrer Rechtfertigung. Der weibliche nackte Körper ist sich selbst genug, die Aktdarstellung allein hinreichender Inhalt. Damit stellt sich die Frage, welchen Zweck die allegorisierte, wie schließlich auch die nur mehr vorgeblich allegorisierte Darstellung zu erfüllen hat, mit welcher Intention sie gemalt wird und wessen Augenmerk ihr gilt. Dieser Frage hat sich die russische Künstlerin Tanya Antoshina1 zugewandt. 1 | Geb. in Krasnojarsk (Geburtsjahr ist nicht zu ermitteln, wird nirgends genannt), schließt 1991 das Studium an der Moskauer Hochschule für Industriedesign ab (ehemals Stroganow-Kunsthochschule), Promotion im Fach Kunstwissenschaft,

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KÖRPER-ÄSTHETIKEN

In ihrem als Museum der Frau bezeichneten Projekt übersetzt sie die Inhalte von elf ausgewählten Gemälden in eigenwillige Inszenierungen, die sie schließlich in Form von Fotografien fixiert. Ihre Inszenierungen bestehen in kompositionsgetreuen Nachstellungen der bekannten Motive, wobei sie jedoch die Rollen der Protagonisten vertauscht und Frauen durch Männer, Männer durch Frauen ersetzt. Damit verändert sie nicht nur die inhaltliche Aussage, sondern auch den Blick auf das Sujet. Unweigerlich rücken die von den Frauen über die Jahrhunderte hin eingenommenen Posen und die ihnen zugewiesenen Rollen in den Fokus der Aufmerksamkeit, was grundlegende Überlegungen nach dem Repertoire tradierter Motive, ihrer Allegorisierung und ihres Zustandekommens nach sich zieht.

Abb 1 | Der Schwur der Horatier, aus der Serie Museum der Frau, 1997.

Aufgegriffen wird damit die vom Feminismus vorgebrachte Kritik an der patriarchalen Ordnung der Repräsentation, »eine Ordnung, die auf der Entfernung der Frau und der weiblichen Sexualität beruhte, um sie wiederum im Modus einer Darstellung des Nichtdarstellbaren – von Natur, 2001 Stipendiatin der Residenz Yadoo/Artists’ Colony in New York, lebt und arbeitet in Moskau.

TRANSFORMATION UND ALLEGORISIERUNG DES KÖRPERS

Abb 2 | Das Türkische Bad, aus der Serie Museum der Frau, 1997.

Abb 3 | Akrobat auf einer Kugel, aus der Serie Museum der Frau, 1997.

Wahrheit, des Erhabenen usw. – zurückzulassen. Oder im Modus der Verdinglichung, in endlosen Bildern, die man von ihr macht.«2 Das Spektrum der von Antoshina als Basis gewählten Gemälde ist weitgefasst und deckt die Kunstgeschichte vom frühen 16. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ab. Im Einzelnen zitiert Antoshina ein Ländliches Konzert von Tizian, Das Urteil des Paris von Lucas Cranach, Rembrandts Selbstbildnis mit Saskia, Der Schwur der Horatier von David, Das Türkische Bad und Die Quelle von Ingres, Olympia und Das Frühstück im Freien von Manet, ein kartenspielendes Paar von Cézanne, ein auf Tahiti entstandenes Bild von Paul Gauguin mit dem Titel Aha oe feii – Bist Du eifersüchtig und schließlich das in Picassos blauer Periode entstandene Gemälde Akrobat auf einer Kugel (Abb. 1-3). So verschieden die Motive im Einzelnen sind, so sehr sich die Gemälde aufgrund ihrer Entstehungszeit und damit auch ihres sozialen Kontextes unterscheiden, so ist ihnen doch ein Beziehungsgefüge der Dargestellten gemeinsam, das die Rollen der Geschlechter deutlich werden lässt. Unabhängig davon, ob es sich um ein mythologisch oder allegorisch konnotiertes Sujet, eine historische Genredarstellung, ein Künstlerbildnis oder eine Beschreibung des bürgerlichen Milieus handelt, spiegeln die Personenaufteilungen eine klare Vorstellung von Rollenzuweisung und gesellschaftlicher Situation wider. 2 | Birringer, Johannes: Erschöpfter Raum – Verschwindender Körper. In: Rötzer, Florian (Hg.): Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien. Frankfurt a.M. 1991, S. 491-518, hier S. 494.

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Auffallend ist, dass die auf den Gemälden dargestellten Frauen entweder alle nackt dargestellt sind – auch dann, wenn es für den Kontext irrelevant ist (Ländliches Konzert, Urteil des Paris, Frühstück im Freien, Bist Du eifersüchtig) oder aber sie nehmen eine ausgeprägt passive Haltung ein (Schwur der Horatier, Türkisches Bad). Das fällt umso mehr ins Gewicht, als die parallel dazu dargestellten Männer das Gegenteil von alledem sind. Keiner von ihnen ist entblößt, sie sind sämtlich in Handlungen eingebunden, die sie aktiven Anteil am Geschehen nehmen lassen. Die Frauen verkörpern mythologische Wesen, wie die Quellnymphen auf Tizians Ländlichem Konzert oder Ingres Quelle, sie repräsentieren abstrakte Begriffe wie Liebe, Macht und Weisheit bei Cranachs Urteil des Paris oder sie sind einfach nur Gegenstand männlicher Lust (Rembrandts Selbstbildnis, Türkisches Bad, Frühstück im Freien, Gauguins Aha oe feii). Das trifft auch auf die thematisch weniger explizit ausgerichteten Motive zu. Fehlt der Mann als Betrachter im Bild wie bei Manets Olympia oder Gauguins Bist Du eifersüchtig, so ist er aufgrund der Anlage des Gemäldes, dessen gesamter Komposition vor dem Bild zu denken. Als gegenwärtiger, gleichwohl nicht sichtbarer Betrachter wird sein Anliegen zu dem eines Voyeurs. Auf diese Weise spiegeln die von Antoshina ausgewählten Bilder das gesamte Spektrum an Verhaltensformen, die für das jeweilige Geschlecht immer wieder als bezeichnend hervorgehoben werden. Sie ziehen sich durch alle Epochen und durch die unterschiedlichen gesellschaftlichen Zusammenhänge. Es kommt zu einer Konstruktion ausgeprägter Dualität von Männlich und Weiblich. Die Frauen erscheinen passiv, entsprechend als Zuschauerinnen eines Geschehens, von dem sie selbst ausgeschlossen bleiben, die Männer hingegen als Handlungsträger und damit auch handlungsbestimmend, was im Weiteren eine Verschiebung der Betrachtungsweise nach sich zieht. Zwangsläufig werden die Frauen als passiv wahrgenommen, sind dem Geschehen ausgesetzt und erscheinen als Objekte eines Handlungszusammenhangs, während die die Handlung initiierenden oder bestimmenden Männer gegenüber den zu Objekten degradierten Frauen als aktiver Part, mithin als Subjekt auftreten, von dem her sich auch der Fortgang bestimmt. Hier offenbart sich dem Betrachter ein Handlungszusammenhang, den er verfolgen kann, was allein über kompositorische und stilistische Mittel befördert wird. Von den Handelnden geht Bewegung aus, entwickelt sich eine Dynamik, die sich über entsprechende Linienverläufe im Gemälde

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verfolgen lässt. Anders verhält es sich bei den Frauen, die durchweg in einer Position verharren, die keine Veränderung antizipiert. Lassen sich die Liniengesetzlichkeiten der malerischen Anlage bei den Männern über die Handlung nachvollziehen, so bei den Frauen allein über die Konturen ihrer Körper. Damit ruft Antoshinas Fotoserie nicht nur die Genderproblematik und mit ihr die Stellung der Frau in einer männlich organisierten Gesellschaft auf, sondern berührt in besonderer Weise einen, wenn nicht gar den zentralen Aspekt, der in der Gegenüberstellung der Geschlechter zum Tragen kommt – nämlich der Körper als geschlechtsbestimmendes Merkmal. Schon die Schöpfungsgeschichte, in der der weibliche Körper aus einem Teil des männlichen geschaffen wird, kennt die am Körper festgemachte Unterscheidung von Mann und Frau. Dies dient allen nachfolgenden Theoretikern als willkommener Ausgangspunkt, um den Frauenkörper gegenüber dem männlichen als defizitär zu beschreiben. »Das Weibliche ist infolge eines Mangels bestimmter Eigenschaften weiblich«, konstatiert Aristoteles.3 Mit nur geringfügiger Verschiebung des Akzentes stellt Thomas von Aquin fest, dass die Frau ein fehlgeschlagener Mann sei, eine Zufälligkeit der Schöpfung. Auch die Medizin beschreibt über Jahrhunderte hinweg die weiblichen Geschlechtsorgane als nicht voll zur Entwicklung gelangte männliche.4 Auch wenn Laqueur ausgehend von einem Eingeschlechter-Modell konstatiert, dass Geschlechterunterschiede bis ins 18. Jahrhundert wesentlich als soziale Unterschiede gedacht, also nicht biologisch gegeben waren, ändert das nichts daran, dass Frauen im Allgemeinen hinter den Mann zurücktreten. Gerade am Beispiel der Kunstproduktion lässt sich zeigen, dass Frauen entweder gar nicht in Erscheinung treten, weil sie – wie in der Literatur – mit männlichem Pseudonym zeichnen, oder, abgestellt auf eine Allegorie, eine nur passive Rolle einnehmen, wie in der bildenden Kunst, wo sie zwar als Modell und Muse vorkommen, aber kaum als eigenkreative Personen. Nicht umsonst betitelt Simone de Beauvoir ihre 1949 publizierte Studie über das Geschlechterverhältnis mit Le deuxième sexe. Die gesamte Diskussion um die Unterschiede der Geschlechter scheint sich am Körper festzumachen. Die körperlichen Merkmale werden als 3 | Aristoteles: Werke griechisch und deutsch in 7 Bdn. Hg. v. Carl Prantl u.a. Bd. IV. Aalen 1978, B, 767 b. 4 | Laqueur, Thomas Walter: Making Sex. Body and Gender from Greek to Freud. Cambridge, Mass./London 1990.

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Erklärung und Vorwand herangezogen, Frauen von bestimmten Aufgaben fernzuhalten, von den Körpern ausgehend werden die Dualitäten fortgeschrieben, mit der Außen- gegenüber der Innenwelt des häuslichen, geschützten Bereichs Gefahrenzonen bestimmt, denen der schwache weibliche Körper nicht gewachsen sei. Auch die traditionelle Kunstgeschichte – so Antoshina – ist männlich ausgerichtet. Die gesamte Bildwelt bestückt ein »Museum des Mannes«. Mit dieser Äußerung der Künstlerin kommt Zweierlei zum Tragen: zum einen die Allegorisierung des Körpers, die sich in den Bildern manifestiert, und der Anteil, den das Museum an dieser Allegorisierung nimmt. Gemeint ist eine Bedeutung, die den Dingen einmal konkret von Seiten des Mannes zugeschrieben wird, zum anderen durch ihre Entkontextualisierung, die zwangsläufig mit dem Herauslösen aus ihrem ursprünglichen Gefüge und ihrer Überführung ins Museum einhergeht. In beiden Fällen geht es um Wahrnehmungsmuster, wenn auch mit unterschiedlicher Akzentuierung. Der Mann ist immer derjenige, der anschaut, somit auch »der Erzeuger von Sinn«, die Frau hingegen ist immer diejenige, die angeschaut wird, also »Trägerin oder Projektionsfläche des Sinnes«.5 Das Museum der Frau soll im Gegenzug zum bestehenden Museum des Mannes zeigen, was passiert, wenn die Positionen einfach vertauscht werden. Auf den ersten Blick erregen die Bilder Heiterkeit: Die bekannten und damit auch vertrauten Klassiker der Kunstgeschichte erscheinen merkwürdig deformiert, was gleichzeitig dazu führt, gewahr zu werden, wie sehr die tradierte Rollenaufteilung zur Gewohnheit geworden ist. Die Geschlechtsmerkmale, weder die natürlichen noch die durch Kleidung und Attribute ausgewiesenen, können nicht davon ablenken, dass es sich hier um kulturell verankerte Muster handelt, um Wünsche und Erwartungen, die gewöhnlich an den Frauenkörper adressiert werden. Und so passiert es, dass in den Bildern Antoshinas »die neue Qualität des alten Kostüms« sichtbar wird. »Man kann sie [die Qualität] nicht einfach zurückführen auf die Looked-at-ness of femininity«, »femininity as image und femininity as nothing but costume«.6 5 | Bredikhina, Ljudmila: Repräsentationspraktiken in der Frauenkunst Moskaus. Zit. in: Trübswetter, Iris (Hg.): Iskusstwo 2000. Neue Kunst aus Moskau, St. Petersburg und Kiew, Kat. Ausst. Kunstverein Rosenheim 2001. Rosenheim 2001, S. 41. 6 | Ebd.

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Der Gedanke, dass Geschlecht mehr ist als nur eine biologische Bestimmung, ist nicht neu, hat doch bereits Simone de Beauvoir ausführlich dargelegt, wie männliches und weibliches Verhalten von früh an durch Erziehung und Gesellschaft festgelegt werden.7 Auch Judith Butler setzt hier an, bezieht aber eine gegenteilige Position, wenn sie feststellt, dass mit ›Gender‹ keine weibliche Identität verbunden ist, vielmehr dieses durch Verhaltensformen mehr konstituiert als ausgedrückt wird. »Das Museum der Frau erlaubt es, durch das Kostüm eines öffentlich entblößten Mannes die Bereiche zu erspüren, in denen die Problematik der Geschlechter sich in unerwarteten und unvorhergesehenen Konnotationen offenbart. Die Dualität der Geschlechter wird aufgebrochen und totgeschwiegene Geschlechterkonstellationen, die auf Gleichgeschlechtlichkeit basieren, aufgerufen. Zum Beispiel werden, wenn zwei Frauen in den Originalen automatisch die fehlende Figur des Mannes vor dem geistigen Auge erstehen lassen, die Remakes bei Tanya Antoshina als abgeschlossenes homosexuelles Projekt empfunden, was von der erotischen Abhängigkeit der Frau vom Mann im kollektiven Bewusstsein zeugt, wie auch von der größeren Fremdartigkeit und Tabuisierung lesbischer Sexualität.«8

Im Museum der Frau geht es mit dem Bewusstwerden um Rollenzuschreibung auch um eine Bestimmung von Identität. Und dafür eignet sich das Museum – von je her ein Ort, an dem Repräsentation verhandelt und Identitäten neu bestimmt werden – in besonderer Weise. Die dem alltäglichen Gebrauch entzogenen, ins Museum gebrachten Gegenstände erhalten mit ihrer Musealisierung eine Aura, die sie zugleich fremd und museumswürdig erscheinen lässt. Gleichzeitig domestiziert das Museum Alteritäten zu »Fluchtwelten, die das Fremde, das historisch Überholte, konträr-faszinativ zur Befriedigung der Sehnsucht nach regionaler Identität«9 nutzen. Repräsentation ist nicht länger Darstellung, Vorstellung und Vergegenwärtigung von etwas, was der Darstellung vorgängig ist, sondern verweist auf die komplexen Prozesse der Realitätskonstruktion.10 Eine solche Feststellung findet ihre Bestätigung nicht nur in 7 | Beauvoir, Simone de: Le deuxième sexe, 2 Bde. Paris 1986 [1949]. 8 | Ebd. 9 | Korff, Gottfried: Fremde (der, die, das) und das Museum. In: Steiner, Jörg (Hg.): Museumstechnik. Berlin 1997, S.8-18, hier S. 11. 10| http://differenzen.univie.ac.at/glossar/php?sp=38, 03.08.2006.

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poststrukturalistischen Theorien, die grundsätzlich das Repräsentationsvermögen von Sprache in Frage stellen, sondern führt vor allem wieder zurück auf die Genderthematik, insofern die museale Repräsentation auf eine Auswahl angelegt ist, die ihrerseits an Normen und allgemeinen Werten orientiert ist, mithin auch die Frage verhandelt, welche Personen und Gruppen wie dargestellt werden und welche gesellschaftliche Relevanz ihnen zugewiesen wird. Das zeigt auch seine Konsequenzen hinsichtlich des Stellenwerts, der dem weiblichen Geschlecht zugeschrieben wird. Die Kritik der Repräsentation bildet folglich – spätestens mit den 1980er Jahren – auch ein zentrales Anliegen feministischer Kritik. Ziel ist es hier, eigenbestimmte Bilder zu produzieren, die Frauen unter einem anderen Blickwinkel erscheinen lassen.11 Elisabeth Bronfen konstatiert: »Der Wert der Frau im Netz der kulturellen Repräsentation besteht darin, gleichsam Telos und Ursprung des männlichen Begehrens und des männlichen Drängens nach Repräsentation zu sein, gleichsam Objekt und Zeichen seiner Kultur und seiner Kreativität. [. . ] Als Repräsentationsbild ist die Frau anwesend, als repräsentiertes Subjekt und Produzentin ist sie abwesend.«12

Indem also Antoshina in ihrem Projekt nicht nur die Rollen verkehrt, sondern zugleich auch für eine Erneuerung der Musealisierung der Bildwelt sorgt – die Bezeichnung als Museum der Frau weist darauf hin – lenkt sie den Blick über eine bloße Rollenneuzuschreibung hinaus auf die Orte, an denen sich Machtpositionen manifestieren. Das Museum ist ein Beispiel, das repräsentativ für öffentliche Institutionen – wenn nicht gar Öffentlichkeit schlechthin – steht. Festgehalten werden kann, dass bei allen von Antoshina ausgewählten Motiven der weibliche Körper primär den Blick auf sich zieht. Das geschieht weniger durch die Rolle, die sich an den weiblichen Körpern manifestiert, als vielmehr durch die Legitimierung, den Blick ungeniert auf die Darstellung richten zu dürfen, die eben durch die zugeschriebene Rolle erfolgt. Als Muse, Modell wie überhaupt allgemein als Quelle 11 | Muttenthaler, Roswitha: Museum, Differenz, Vielfalt. Schreib- und Denkwerkstatt Museologie Drosendorf, 2007, S. 7. http://www.iff.ac.at/museologie/service/ lesezone/Muttenthaler_Roswitha_Museum_Differenz_Alteritaet.pdf, 08.08.2012. 12 | Zit. bei: Hoff, Dagmar von: Performance/Repräsentation. In: Braun, Christina von; Stephan, Inge (Hg.): Gender@Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien. Köln/ Weimar/Wien 2005, S. 171.

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der Inspiration – mit Letzterem lässt sich auch Der Schwur der Horatier innerhalb der Folge rechtfertigen – ist das Betrachten des zumeist nackten weiblichen Körpers unverfänglich. Antoshinas Museum der Frau macht bewusst, in welcher Weise über Jahrhunderte die Kunstgeschichte den weiblichen Körper allegorisiert und damit eine bildtypische Rollenzuschreibung von Subjekt und Objekt vorgenommen hat. Sie zeigt, wie fest bestimmte Allegorien mit dem weiblichen Körper verbunden sind und wie schnell sie ihre Aussagekraft verlieren, wenn die weiblich konnotierte Figuration gegen eine männliche ausgetauscht wird. Damit werden Denkmuster bewusst gemacht, deren Umkehrung einer Bedrohung der symbolischen Ordnung gleichkommt, die zugleich auch eine des Staates ist. Über die Zusammenführung von Genderfrage und Repräsentation, Bestimmung von Frauenrolle und Identität wirft Antoshinas Museum der Frau eine grundlegende Frage nach Verortung auf. Die Vorbilder ihrer ›lebenden Bilder‹ stammen ausschließlich aus der europäischen Kunstgeschichte, die an dieser Stelle die russische ausspart. Die nachgestellten Motive hingegen befinden sich in einer ausgesprochen russischen Umgebung. Die Welt der Malerei, die Bildwelt Europas wird gleichsam gegen reale russische Gegebenheiten ausgespielt. Doch sind die Verhältnisse keineswegs eindeutig. Vielmehr bestehen sich gegenseitig durchdringende Bezüge, was sich schon am ambivalenten Verhältnis von Malerei, ›lebendem Bild‹ und fotografischer Fixierung zeigt. In der Malerei werden die Posen und damit auch das Rollengefüge immobilisiert, die Malerei liefert nicht mehr als einen kleinen Ausschnitt tatsächlicher Gegebenheiten. Mit den ›lebenden Bildern‹ wird die Bildwirklichkeit auf reale Personen übertragen, doch geben sich diese zum Bild erstarrt. Die grundsätzlich gegebene Möglichkeit, das Bild zu verlebendigen, wird nicht wahrgenommen, stattdessen erstarren die Personen im Medium der Fotografie ein weiteres Mal. So werden in Malerei und Fotografie mit Europa und Russland nicht nur zwei Kulturräume konfrontiert, sondern auch mediale Umsetzungen von Wirklichkeit, die sämtlich ihr Potenzial nicht auszuschöpfen scheinen. Zur Disposition stehen ebenso die Reproduktionsverhältnisse und deren Anspruch auf Wirklichkeitswiedergabe. Durch die zweimalige Transformierung der Vorlagen werden auch die Körperverhältnisse neu kontextualisiert. Dass der Feminismus in der Sowjetunion eine grundsätzlich andere Geschichte hat als derjenige in

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Westeuropa, ist nur eine Facette, die in dieser Gegenüberstellung anklingt. Mehr noch treten hier Nationen, ihre jeweilige Geschichte und Kultur einander gegenüber. Die Konfrontation wird über die Körpermetaphorik ausgetragen. Steht im Museum der Frau der weibliche Körper in seiner Objektfunktion im Vordergrund, dessen Allegorisierung dem männlichen Blick als Vorwand seiner Schaulust dient, wendet sich Antoshina in ihrer Serie Europa dem Körper unter einem anderen Blickwinkel zu, insofern die Allegorisierung des Körpers nicht nachgeordnet, sondern im Motiv bereits gegeben ist. Entsprechend deutet die Künstlerin hier den Körper auch anders aus. Der Körper ist in der gesamten Serie Europa so unmittelbar in eine allegorische Darstellung eingebunden, dass er zum Teil dieser wird. Aber anders als in den tradierten Vorbildern von Europa als phönizischer Königstochter, die von einem in Liebe zu ihr entbrannten Zeus in Stiergestalt entführt wird, erscheint die Allegorie nicht im Körper einer jungen Frau, sondern in dem einer Greisin (Abb. 4). Auch hier greift Antoshina auf Vorbilder aus der Kunstgeschichte zurück, auch hier erfolgt eine Gegenüberstellung von Gegensätzen. Doch anders als im Museum der Frau, wo verschiedene Allegorisierungskonzepte durchgespielt werden, konzentriert sich die Künstlerin hier gänzlich auf eine nationale Metaphorik. Der vom Alter gezeichnete Körper erscheint

Abb 4 | Vanitas, 2003, aus der Serie Europe, 2000-2004.

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als Allegorie Europas. Im Zentrum steht nicht eine Personifikation, sondern die Nation. Es geht nicht länger um eine Allegorie, wie sie die Mythologie, in der die junge Europa Namensstifterin eines Kontinents wird, überliefert. Diese liefert allenfalls die Folie für eine Fortschreibung in die Gegenwart, bei der zunehmende Globalisierung jeglichen Eurozentrismus mehr und mehr verdrängt. Neben das alte Europa ist ein neu erstarkendes Russland getreten. Durchgespielt werden geschichtliche Konzepte eines vereinigten Europas, die weiter zurückreichen als ins 20. Jahrhundert. Die einzelnen Szenen sind an mythologischen Themen orientiert, die auf Europakonzepte hinführen, allerdings auch schon deren Scheitern oder Verfall mit einbeziehen: Europa wirft Sterne in den Him-

Abb 5 | Dolly, 2003, aus der Serie Europe, 2000-2004.

mel, das verrückt gewordene Europa produziert sich inmitten einer jungen Schar, schließt aber die Augen vor der sich im Hintergrund ereignenden Katastrophe, bei der Bomben auf Belgrad fallen; Europa nährt das überzüchtete, deshalb zu schnell alternde und nicht überlebensfähige Schaf Dolly, was heißt, dass Europa seine letzten Ressourcen in ein vergebliches Unterfangen investiert (Abb. 5). So liefert auch das Bad keine Erfrischung mehr, sondern wird zur Untergangsszenerie, bei der im Hintergrund bereits der neue Imperator antritt. Der junge Mann mit der Sichel, in deutlicher Anspielung auf Kronos, signalisiert, dass die Zeit Europas endgültig abgelaufen ist. Die allegorische Gestalt erscheint nicht mehr heroisch, triumphal, erregt vielmehr Mitleid als Achtung oder gar Ehrfurcht. Auf diese Weise werden zwar in erster Linie Motive der Kunstgeschichte parodiert, doch da diese für eine Zivilisationsgeschichte steht, brechen sich die alten Muster an der neuen Realität. Die europäische Zivilisation ist alt – zu alt geworden und an die Stelle

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ehemaliger Vormachtstellung treten Debilitäts- und Verfallserscheinungen. Die damit verbundene Bedrohung der alten Kultur wird weiterhin verstärkt durch nachdrängende junge Mächte, deren Wirkkräfte noch nicht ganz abzusehen sind. Doch findet die Bedrohung Ausdruck in Gestalt von Chimären, Jugend und Tod zugleich. Die Darstellungen sind aber auch – laut Äußerung der Künstlerin – eine Vorwegnahme der Prognose, dass Europa einer Überalterung entgegengeht. In wenigen Jahren werden die Hälfte aller Einwohner Europas Rentner sein, aber die Gesellschaft ist auf die kommende Veränderung nicht vorbereitet: Im alternden Europa gilt es als unanständig, krank und alt zu sein13 und entsprechend sieht sich das ›alte Europa‹ dem Spott ausgesetzt. Auch in der Serie Europa überlagern sich die Motive. Wieder sind es Werke der Kunst, nach denen die neuen Szenen gebildet sind, doch sind es nicht mehr die beschaulichen Szenerien häuslicher und kultureller

Abb 6 | The Sleep of Reason Produces Monsters, 2004, aus der Serie Europe, 2000-2004.

Schutzräume, sondern solche, die den Niedergang bereits vorwegnehmen. Goyas Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer erscheint paradigmatisch für die gesamte Bildfolge (Abb. 6). Der Diskuswerfer von Myron als Vorbild für das Sterne in den Himmel schleudernde Europa ist nicht mehr überzeugend. Der nach dem klassischen Ideal geformte Körper ist durch den von Alter und Verfall gezeichneten ersetzt. An die Stelle realer Umgebung, wie sie noch im Museum der Frau vorherrschte, ist die gemalte Kulisse getreten. 13 | Tatjana Antoshina zit. in: Nikitsch, Georgij; Winzen, Matthias (Hg.): Na Kurort! Russische Kunst heute. Kat. Ausst. Staatliche Kunsthalle Baden-Baden. Köln 2004, S. 96.

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Sämtliche Motive wirken befremdlich, lassen aber gerade damit deutlich werden, dass im Zeitalter der Globalisierung die hergebrachten Modelle nicht mehr die gleiche Gültigkeit beanspruchen können wie noch in den vorangegangenen Jahrhunderten. Konzepte starrer Grenzziehungen koexistieren neben solchen der Auflösung.14 Damit sind nicht nur die Beziehungen zwischen den Geschlechtern aufgebrochen, wie im Museum der Frau gezeigt, sondern auch die vorangegangener Vormachtstellungen und Herrschaftsverhältnisse. Wählten sich tendenziell oder exklusiv männlich orientierte Kollektive bevorzugt weibliche Repräsentationsfiguren – zu denken ist an die französische Marianne, die deutsche Germania – als Verkörperung der Nation und reproduzierten auf diese Weise das deutliche Ungleichgewicht zwischen allegorischer, zumeist unbekleideter Figur und tatsächlichem Kulturträger, so persifliert Antoshina dieses Verhältnis in den Bildern ihrer Serie, wo zwar wiederum ›männlich‹ und ›weiblich‹ antagonistisch aufeinandertreffen, diesmal aber beide Geschlechter nicht mehr auf ihre alten Rollen festgeschrieben sind. Gleichzeitig verkehrt sie auch hier die Blickrichtungen, denn sie postuliert, dass ihre Allegorien eine Sichtweise aufgreifen, die derjenigen entspricht, die die westliche Welt von Russland habe. Dieser zufolge wird das Russische mit dem Mythischen verknüpft, das auch Klischees wie das Unkultivierte, Wilde mit einschließe. »Die Vertreter der Moskauer Kunstszene, die ihre künstlerische Strategie auf einer Opposition zu bürgerlichen westlichen Werten aufbauen, mögen passioniert aussehen, doch das Bild von Russland, dass sie zeichnen, ist wild, komisch und tierisch – so wie der Westen eben Russland sehen möchte.«15 Auch wenn Antoshina sich mit ihren Bildern auf die russische Kunstszene bezieht, steht diese doch stellvertretend für eine Kultur und entsprechend sind die Körper als Allegorien des Nationalen zu lesen, aber auch des Antagonismus von Ost und West, altem und neuen Staatengefüge, bei dem ein vereinigtes Europa einem aus der zerfallenen Sowjetmacht hervorgehenden sich neu formierenden Russland gegenübersteht. Über den nationalen Bezug hinaus thematisiert Antoshina mit ihrem Museum der Frau aber vor allem grundlegende Machenschaften von Geschlechterdifferenzierung, die institutionsübergreifende auch von den 14 | Vgl. Holdenried, Michaela: Art. Alterität. In: Metzler Lexikon Gender Studies Geschlechterforschung. Hg. v. Renate Kroll. Stuttgart/Weimar 2002, S. 7f. 15 | Tantjana Antoshina zit. in: Nikitsch/Winzen 2004, S. 96.

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bildenden Künsten und ihren Einrichtungen mitgetragen werden. Gerade die Historienmalerei bedient sich der Körpers, um Eigenschaften zu vergegenständlichen, die mit Geschlechterrollen und im weiteren Sinne mit geschlechtskonnotierten Verhaltensmustern, Fähigkeiten und Verhaltensnormen verknüpft sind. Durch eine Auswahl an Beispielen aus der Kunstgeschichte, die beliebig scheint und gerade damit die universale Verbreitung einer geschlechtsbestimmten Allegorisierung demonstriert, führt die russische Künstlerin vor Augen, dass die hierüber gesteuerte Wahrnehmung so kanonisiert ist, dass sie kaum noch hinterfragt wird. Erst indem sie in ihren Kunstzitate die Geschlechterrollen vertauscht und damit zugleich das Bild-Betrachter-Verhältnis entlarvt, das geradezu paradigmatisch für die Machtverhältnisse innerhalb der Institutionen steht, gelingt es ihr, Sehgewohnheiten und die sozialen Praktiken, in die sie eingebunden sind, bewusst zu machen.

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LITERATUR

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Daniel Hornuff 125

GRAVIDE ATTRAKTION Beobachtungen zur gewandelten Ästhetik der Schwangerschaft

Als die letzten Akkorde ihres Songs verklungen waren, ließ Beyoncé Knowles das Mikrofon fallen, öffnete ihr Jackett und strich mit triumphalem Lächeln über ihren Bauch. Im Scheinwerferlicht der Bühne kam eine wohlgeformte Wölbung zum Vorschein, glitzernd und funkelnd, das Publikum raste. Die MTV Video Music Awards 2011 hatten ihren emotionalen Höhepunkt erreicht. Entsprechend groß war die Aufregung wenige Tage später. Als Paparazzi die Popsängerin am Strand von Kroatien erwischten, soll von der spektakulär offenbarten Schwangerschaft kaum noch etwas zu sehen gewesen sein. »Hat Beyoncé etwa mit einer Bauch-Prothese nachgeholfen?«, wurde spekuliert, und die Zeugenbefragung schien den Verdacht zu erhärten: »Unter ihrer roten Robe sei ein Plastikbauch geschnürt, so ein Insider«.1 Man mag dem Informanten glauben oder nicht – seine Verlässlichkeit bleibt unerheblich für die Beobachtung, dass der Bauch der Schwangeren innerhalb der letzten Jahre zum gängigen Mittel der Selbstgestaltung aufgewertet wurde. Ob das Schwangergehen ins Kinderkriegen mündet, scheint zunehmend zweitrangig. Ähnlich gestrafften Augenlidern, implantierten Brüsten und geschminkten Gesichtern dient ein gerundeter Torso zur inszenatorischen und ästhetischen Aufwertung der Frau, scheint es doch, als solle er ihre sinnstiftende Veredelung begünstigen. Dass sich schwangere Prominente auf roten Teppichen mittlerweile 1 | http://www.stylebook.de/stars/Push-up-Effekt-Falscher-Babybauch-beiBeyonce-20801.html, 01.07.2012; vgl. dazu auch das Bild vom 13.10.2011, S. 32.

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wie gravide Skulpturen präsentieren, ist die Folge einer massiv stilisierten, neu ausgelegten Kultur der Schwangerschaft. Kaum etwas dürfte diesen über Jahrhunderte vollzogenen Bedeutungswandel prägnanter veranschaulichen als der Fall der berüchtigten Jungfrau von Esslingen: Anna Ulmer war, betrachtet man die Diskussion um ihre Schwangerschaft, so etwas wie die Beyoncé Knowles der Frühen Neuzeit. In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts sorgte sie als erste Frau überhaupt mit einem monströsen, unerhört ubernatürlich geschwollenen 2 Bauch für Aufsehen in ganz Europa. Als herauskam, dass es sich bei ihrer Kugel um eine aus Lumpen geformte Bauchattrappe gehandelt hatte, wurde sie als Hexe identifiziert und zu lebenslanger Gefangenschaft verurteilt. Die Designerin der Wölbung, ihre Mutter Margarethe Ulmer, landete sogar auf dem Scheiterhaufen.3 Von derartigen Konsequenzen unbelastet, begann nur einen Tag nach Beyoncés Auftritt ihr Fötus zu twittern. Unter eigenem Profil – »Beyonce/ Jay’s Fetus« – übte sich der Pränatale im Mikroblogging, veröffentlichte weltweit zugängliche Kurzinformationen (»My ultrasounds are directed by Hype Williams«) und intervenierte mit kausalen Begründungsketten gegen die aufgeworfenen Zweifel: »News is going around that my mom’s baby bump wasn’t real. If it wasn’t real, then how would I be tweeting?« 4 Der Ton seiner Verteidigungsreden wurde über Wochen ungehaltener, schließlich sah er sich einer ständig wachsenden Schar ambitionierter Detektive aus der Boulevard-Szene konfrontiert: »Doch beim Hinsetzen schlägt ihr Kleid seltsame Wellen, faltet sich zusammen wie bei einem mit Wasser gefüllten Luftballon«.5 Angesichts dieser, mit Fotografien und Fernsehmitschnitten unterfütterten Anschuldigungen handelte es sich um das kulturgeschichtlich erste Ungeborene, das sich – wie auch immer – herausgefordert fühlte, öffentlich den eigenen Existenzbeweis anzutreten. 2 | Vgl. dazu: Unbekannter Künstler: Tafel mit Holzschnitt mit typografischem Text der Jungfrau von Esslingen, um 1549/50, 39,9 x 37,7 cm, Schlossmuseum Gotha. Abb. in: Wallenstein, Uta (Konzeption): Anatomie. Gotha geht unter die Haut. Kat. Ausst. Schlossmuseum Gotha. Hg. v. der Stiftung Schloss Friedenstein Gotha. München 2010, S. 61. 3 | Biographische Angaben zu Anna und Margarethe Ulmer aus: Wallenstein, Uta: Sceleta, Monstra und Kuriosa – Menschliche Anatomica in fürstlichen Kunstkammern. In: Ebd., S. 55-60, hier S. 60. 4 | http://twitter.com/#!/BeyonceJayFetus, 01.07.2012. 5 | http://www.stylebook.de/stars/Erneut-irre-Schummelvorwuerfe-BeyoncesBabybauch-angeblich-nicht-echt-28439.html, 01.07.2012, inklusive Bildstrecke.

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Doch solche auf Sensation spekulierenden Verlautbarungen täuschen nicht darüber hinweg, dass die Schwangerschaft im Tabu-Ranking des 20. Jahrhunderts einen der vordersten Plätze belegt: Bis hinein in die 1990er Jahre war keine der bekanntesten und schillerndsten Frauen – keine Schauspielerin, keine Sängerin und schon gar keine Politikerin – öffentlich schwanger. Zu groß schien das Risiko, als Frau mit Kugelbauch identifiziert und in das Tal der Bedeutungslosigkeit abgerollt zu werden. Aber mittlerweile scheinen sich die Vorzeichen in ihr Gegenteil verkehrt zu haben: Eine Schwangerschaft kann aus dem Tal der Bedeutungslosigkeit auf den Olymp der Prominenz führen. Allerdings enden die meisten erschwängerten Ruhmestaten bereits schon vor dem Kreißsaal. Viele retten sich daher von Schwangerschaft zu Schwangerschaft, und nur Ausnahmen wölben mit ihrem Bauch dauerhaften Glanz hervor. Auch wenn die medizinische Diagnostik das Gegenteil zu belegen sucht: Die Schwangere, die als defizitäres, ja geradezu körperlich erkranktes Wesen angesehen wurde und deren Attraktivität durch den Bauch entwertet schien, wurde durch die ›Chancen-Schwangere‹ ersetzt, die ihr Ansehen durch den Bauch zu steigern vermag. Wo einst kaschierende, die Form verleugnende Kleidungen das Gerundete privatisierten, pellen mittlerweile bauchfreie Tops und gewagte Hosenbünde die ›Kuppeln‹ der Celebrities ins Blitzlicht der Öffentlichkeit. Man mag die derzeitige ›Eventisierung‹ der Schwangerschaft für eine flüchtige Modeerscheinung halten. Und doch wird nicht zu übergehen sein, dass die gewandelte Schwangerschaftskultur veränderte Rollenmuster entwirft, ein spezifisches körperliches Erleben inszenatorisch verwertet und somit semantisch neu codiert. Die Popularisierung des Schwangergehens bündelt die mediale Aufmerksamkeit auf einen vermeintlichen Ausnahme- und Sensationszustand und stilisiert schwangere Frauen zu Projektionsflächen femininer Idealbilder, in denen scheinbare Fruchtbarkeitssignale mit vermeintlichen Attraktivitätsreizen in Einklang gebracht werden. Vor diesem Hintergrund stellt der Beitrag die Frage nach den Bedeutungsgehalten, die sich an den Auftritt der öffentlich Schwangeren koppeln. Er sucht nach typologischen Merkmalen, die den Auftritten zugrundeliegen, und fragt nach ihren körperästhetischen Auswirkungen.

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Zu diesem Zweck sei der Beitrag von zwei anliegenden – und in einer umfassenderen Studie 6 nicht auszuklammernden – historischen Phänomenbereichen abgegrenzt: So kann die christliche Ikonografie7, die ungebrochen wesentliche Anteile am zeitgenössischen Bild der schwangeren Frau hält, keine Beachtung finden. Ebenso müssen weite Teile der Körpergeschichte der Schwangerschaft 8, wie sie sich von einer ausschließlich subjektiven Wahrnehmungs- über eine somatische Zeichen- bis hin zur uns heute vertrauten klinisch überwachten und auf Risikominimalisierung ausgerichteten Medikalisierungspraxis entwickelt hat, ausgeblendet werden. Historische Kontextualisierungen beziehen sich im Folgenden lediglich auf die kulturgeschichtlichen Dekaden vor dem medialen Popularisierungsschub der öffentlich Schwangeren zu Beginn der 1990er Jahre. Schließlich muss nicht in das 16. Jahrhundert zur Jungfrau von Esslingen zurückgegangen werden, um Bestrebungen auffinden zu können, die gravide Signale als Aufforderung zur sozialen Abwertung schwangerer Frauen gewertet haben. Denn selbst noch bis vor wenigen Jahrzehnten glich dem gesellschaftlichen Selbstverständnis die Phase des Schwangergehens einem Gefängnisaufenthalt, und die Entbindung bedeutete eine gefahrvolle Freilassung aus verordneter Abgeschiedenheit. Bis hinein in das ausgehende 20. Jahrhundert waren Schwangere vor allem tragend. Ihrer Verantwortung für das Kommende hatten sie durch Entsagen am gesellschaftlichen wie beruflichen Treiben Rechnung zu tragen. Bereits in der pränatalen Phase wurden ihnen maternale Pflichten auferlegt und ästhetische Werte grundsätzlich abgesprochen. In männerbündischen Runden ging der Herrenwitz vom Brutkasten der Familie, und so wurde geläufig, die Schwangere als Gewächshaus der männlichen Saat zu bezeichnen. Wer in Ratgeber-Zeitschriften der frühen 1980er Jahre blättert, wird keine Mühe haben, an den Modeangeboten die Mentalität abzulesen, mit der Schwangerschaften behaftet und zum Zustand des Abschottens erklärt wurden. 6 | Derzeit bereitet der Autor eine größere Studie zum Thema der Schwangerschaftskultur vor. 7 | Vgl. dazu Lechner, Gregor Martin: Maria Gravida. Zum Schwangerschaftsmotiv in der bildenden Kunst. München/Zürich 1981; zudem Zierhut-Bösch, Brigitte: Ikonografie der Mutterschaftsmystik. Interdependenzen zwischen Andachtsbild und Spiritualität im Kontext spätmittelalterlicher Frauenmystik. Freiburg i.Br./Berlin/ Wien 2008, vor allem S. 120-141. 8 | Vgl. hierzu vor allem Labouvie, Eva: Andere Umstände. Eine Kulturgeschichte der Geburt. Köln/Weimar/Wien 1998.

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Abb 1 | Typische Illustration aus einem Schwangerschaftsratgeber der frühen 1980er Jahre.

Der Umstandsmode ging es um nichts anderes als um die Verhinderung von Umständlichkeit. Daher verhüllte sie mit konformistischen Nachtkleidern, die man wohl besser als Nachtvorhänge bezeichnet hätte. Schwangeren wurde Ruhe verordnet, nicht selten von Ärzten, die mit der klinischen Autorität der Schutzmaßnahme – einer Art gutgemeinten Vorbeugehaft – die Frauen ins Bett empfahlen.9 Die buchstäblich unantastbare Autorität des Fötus legte sich wie ein bleiernes Gewicht auf die Entfaltungswünsche der Schwangeren, von denen man annahm, sie könnten nicht anders, als das Austragen zu ertragen und auszuhalten. So wurde über Jahrzehnte Schwangerschaft in Kategorien der Medizin verhandelt, ja allein medikalisierte Versprechen waren es, die den Frauen Sicherheit und objektivierte Geborgenheit suggerierten – in Wahrheit 9 | Vgl. dazu Oakley, Ann: The Captured Womb. A History of Medical Care of Pregnant Women. Oxford 1984, vor allem S. 187-209 und S. 213-235. Zudem zur Vorgeschichte der Hospitalisierung Metz-Becker, Marita: Der verwaltete Körper. Die Medikalisierung schwangerer Frauen in den Gebärhäusern des frühen 19. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. 1997, vor allem S. 126-135 und S. 192-229.

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jedoch ein System der Überwachung etablierten, mit dem der pathologisierte Zustand zu überstehen war: »Die Wissenschaft hat auf dem Gebiet der Schwangerschaftsbetreuung und der Geburtshilfe in den letzten Jahrzehnten enorme Fortschritte gemacht«, frohlockte im Jahr 1981 Siegfried Häussler, damaliges Mitglied des Bundesgesundheitsrates, und wusste zu empfehlen: »Allein schon deswegen braucht eine werdende Mutter Ratschläge von Laien nicht allzu wichtig zu nehmen. Es ist auf jeden Fall besser, sich lieber auf die Empfehlung des Arztes zu verlassen«.10 Der Propagandafeldzug der staatlich organisierten Schwangerschaftsüberwachung hatte es auf die privaten Räume der Familienplanungen abgesehen, die es nach Vollzug der Befruchtung unter verschärfte Kontrolle zu stellen galt. Vor allem über die Phase der Schwangerschaft hinweg wurde der Frauenleib zum ›öffentlichen Ort‹ erklärt, und die gestiegenen Möglichkeiten der technisch gestützten Einsichtnahme verliehen dem Ungeborenen ein Gesicht, das dazu diente, seinen anthropologischen Wert, seine wesenhafte Lebendigkeit und ontologische Selbständigkeit herauszustellen. Barbara Dudens Publikationen beschreiben auf bis heute gleichsam brisante wie eindrückliche Weise diese Entfremdungsgeschichte schwangerer Frauen, die erst den Blick auf ihre Frucht in die Obhut staatlicher Vor- und Fürsorge gaben, um schließlich Selbstbestimmungsrechte am eigenen Körper abzutreten. Dudens aus der christlichen Ikonografie abgeleitete und auf die Bild- und Inszenierungsgeschichte intrauteriner Vorgänge übertragene Metapher vom »Körper als Vitrine« sensibilisiert für die körperästhetische Doppelnatur schwangerer Frauen im Zeitalter ihrer technischen Durchleuchtung: In gleichem Maße, wie das Ungeborene den Status eines »öffentliche[n] Fötus« und damit die Stellung eines mit Lebensrechten ausgestatteten Subjekts errang, wurde der ihn tragende Körper unter wissenschaftliche Bobachtung gestellt und medizindiagnostisch objektiviert.11 Es ist Verena Krieger daher nur zuzustimmen, wenn sie mit Blick auf das Auseinanderklaffen zwischen Bedeutungssteigerung des ungeborenen und Bedeutungsverfall des schwangeren Körpers 10 | Häussler, Siegfried: Vorwort zum Ärztlichen Ratgeber für werdende und junge Mütter. Februar 1981, S. 0. 11 | Vgl. dazu Duden, Barbara: Der Frauenleib als öffentlicher Ort. Vom Mißbrauch des Begriffs Leben. München 1994, vor allem S. 44-53 und S. 65-71; Vgl. weiterhin Franklin, Sarah: Fetal Fascinations. New Dimensions to the Medical-Scientific Construction of Fetal Personhood. In: Franklin, Sarah; Lury, Celia; Stacey, Jackie (Hg.): Off-Centre. Feminism and Cultural Studies. London 1991, S. 109-205.

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von einer tendenziellen »Elimination der Frau« spricht, indem »der Fötus […] zum ästhetischen Objekt, zum Gegenstand von Ästhetisierung« aufgebaut werde.12 Zweifellos ging die pränatale Introspektive einher mit der Vereinnahmung des graviden Körpers, der zum Zwecke gesunder embryonaler und fötaler Entwicklungsverläufe nicht nur zur Ruhe verpflichtet, sondern ebenso vor den Einflüssen des allzu hektischen, stressigen und damit gefahrvollen Alltagslebens bewahrt werden sollte. Aus Ratgebern und Flyern zu Fragen der ›korrekten‹ Schwangerschaftsführung war zu erfahren, wie vor allem das ungeborene »Baby […] dankbar« reagiere, wenn der »Partner« die werdende Mutter »bei ihren Haushaltspflichten entlastet«.13 Wer demnach seine Frau in der Küche unterstütze, investiere häusliche Arbeitsenergie vorrangig in den Bildungs- und Reifeprozess seines Nachkommens. Wie konsequent die Ruhe- und Abschottungsempfehlungen durch einen männlichen Blick auf jenen ›Zustand‹ durchdrungen waren, zeigt das

Abb 2 | Frühe Werbeanzeige für ein Öl zur Vorbeugung von Schwangerschaftsstreifen.

12 | Krieger, Verena: Der Kosmos-Fötus. Neue Schwangerschaftsästhetik und die Elimination der Frau. In: Feministische Studien 2 (1995), S. 8-24, hier S. 9. 13 | Hinweis unter der Überschrift »Hallo, Partner« aus einem »Vorsorge-Kalender«. Hg. v. der Vorsorge-Initiative der Aktion Sorgenkind. Frankfurt a.M. 1980, o.S.

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Aufkommen schönheitspflegender Mittelchen, mit denen Schwangere körperästhetischen Verfallsprozessen vorbeugen sollten. Die »sahnige Blütenlotion mit Kamille« gilt bis heute als ästhetische Prophylaxe, mit der das Risiko auf ›Kollateralschäden‹ am strapazierten Bindegewebe zu mindern sei. Wo jedoch in der zeitgenössischen Werbung ähnlicher Produkte zumeist der Mann in die Pflicht genommen wird, das ungeschwängerte Körperbild seiner Frau durch aktiven Massageeinsatz über die Belastungsphase der Schwangerschaft hinwegzuretten, war vor rund dreißig Jahren noch die Frau für Instandhaltungsmaßnahmen gefährdeter Körperregionen selbst verantwortlich: »Bei der Zupfmassage werden die betroffenen Hautpartien mit zwei Fingern hochgezupft. So bearbeiten Sie Ihre Haut Zentimeter für Zentimeter«, wurde ihr aufgegeben. Doch statt in einer illustrierenden Abbildung jene Massagegriffe zu veranschaulichen, wird eine Schwangere – womöglich beim Blick in einen Spiegel und demnach – beim An- oder Ablegen eines Schmuckstückes gezeigt. Die Inszenierung symbolisiert die Auffassung vom männlich-idealisierten Schwangergehen, das im umstandslosen, funktionalen Nachtkleid auf Bettruhe geeicht war. Diese gab den Frauen Zeit und Energie, um die Beibehaltung ihrer gewünschten Körperästhetik durch Selbstpflege zu gewährleisten und als ›Fräuleinwunder‹ Komplimente ernten zu können. Schwangerschaftsstreifen gelten bis heute als stigmatisierende Fleischgravuren einer Lebensphase, die im Idealfall nur neues Leben und dabei keine körperlichen Spuren erzeugt. Die aktuelle Dramaturgie der Promischwangerschaft baut zu wesentlichen Teilen auf diesem Prinzip auf. Heidi Klum gilt als Königin des ›After Baby Body‹, der 2005 bereits vier Wochen nach der Entbindung in glitzernden Victoria Secret’s-Dessous mimetische Ähnlichkeit mit ihrem ›Before Baby Body‹ zu demonstrieren in der Lage war. Diagnostizierte Krieger mit Blick auf die Dominanz der technischen, introspektiven Visualisierungsmöglichkeiten noch eine »Elimination der Frau«, so muss vor dem Hintergrund einer mittlerweile gestiegenen Boulevardisierung der Schwangerschaft vom Ziel einer postnatalen ›Elimination der Gravidität‹ gesprochen werden. Dieser körperästhetische Paradigmenwechsel wurde in besonderer Weise durch Annie Leibovitz’ 1991 – zunächst als Skandal wahrgenommene und heute ikonenhaft berühmte – Aktfotografie der schwangeren und

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nackten Demi Moore für das August-Cover der Vanity Fair eingeleitet.14 Erstmals erschien eine schwangere Frau in der Pose einer Machtinhaberin. Die Stärke des Bildes liegt im spannungsreichen Zusammenspiel zwischen einem schützend gestützten und damit Geborgenheit signali-

Abb 3 | Demi Moore auf dem Cover der Vanity Fair im Jahr 1991.

sierenden Bauch und einem autoritären, bereits neue Fernziele anvisierenden Blick. Dieser sticht über den Betrachter hinweg, hält ihn gleichsam in subordinierter Position und lässt ihn aufblicken. Leibovitz’ Inszenierung entkleidet den Topos vom schwachen Geschlecht, entblößt seine diskreditierende Konnotation und ersetzt ihn durch ein Postulat der Macht. Der Körper wirkt unnahbar und abweisend, scheint eine Kälte auszustrahlen, die maternaler Wärme entgegensteht. So durchziehen das Bild widerstreitende Kräfte, wird doch die Erwartung des Betrachters an ein klassisches Mutterbild durch den Auftritt einer Herrschaftsdemonstration gebrochen. Das Mehr an Demi Moore ist ein Dominanzgebaren: Ihre Darstellung spricht im Duktus des Plädoyers und pocht auf Autonomie. Die Schwangerschaft wird als Appell zur Übernahme einer buchstäblich souveränen Haltung ausgestaltet und zum gezielten Traditionsbruch stilisiert, wie Sandra Matthews und Laura Drexler unterstreichen: 14 | Erstmals lichtete Leibovitz die schwangere Demi Moore (gemeinsam mit deren damaligem Ehemann Bruce Willis beim Strandspaziergang) für die Mai-Ausgabe der Vanity Fair 1988 ab.

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»Leibovitz’s photograph mixes the representation of female reproductive power, for so long de-eroticized and hidden, with the syntax of an image structured and positioned for voyeuristic, scopic viewing«.15 Sicher mag der Enthüllungsakt eine voyeuristische Schaulust beflügelt haben, doch die körpergeschichtliche Leistung der Inszenierung liegt in ihrer Um- und Neuinterpretation eines vermeintlich geschlechtstypischen Schwangerschaftsbildes, das im westlichen Kulturraum als nahezu unverrückbar galt. Demi Moore war die erste – und für einige Zeit einzige – öffentlich auftretende Schwangere, so dass es ihr möglich war, körperästhetische Machtsignale ohne Vergleich aufzubauen. Der fehlende Konkurrenzdruck im Kampf um mediale Aufmerksamkeit sicherte ihr eine herausgehobene Position, die viele Feministinnen dankbar annahmen, um ihr Ziel des Aufbrechens typisierter und schematisierter Rollenbilder effektreich zu untermauern.16 Damit aber übernahm zumindest zeitweise dieses Bild eine ähnliche Rolle, die bis heute Abtreibungsgegner dem Bild vom Ungeborenen (meist eines aus dem spektakulären Fundus Lennart Nilssons) zuweisen. Mit beiden Darstellungen soll ein beachtenswerter und endgültig umzusetzender Subjektstatus eingeklagt werden. Wollen Lebensschützer mit visualisierten Föten deren Lebenspotenzial und damit die personenhafte Eigenständigkeit der Ungeborenen hervorheben, so vereinnahmten Feministinnen Leibovitz’ Fotografie, um dem Recht auf ein selbstbestimmtes Leben schwangerer Frauen mit prägnantem Beispiel zu versehen. In beiden Fällen verhindert der hohe Inszenierungsgrad der Körperdarstellungen offenbar nicht, sie weltanschaulich zu funktionalisieren, ja sie derart stark zu wähnen, als könnten sie als politische Akteure grundlegende gesellschaftliche Wirksamkeit entfalten. Dabei darf nicht aus dem Blick geraten, dass sich nach den Dekaden der Hospitalisierungsästhetik tatsächlich eine neue normative Größe in das Körperbild der Schwangerschaft eingeschrieben hat: Das oben angedeutete Leistungsprinzip wird nicht nur auf die Wiederherstellungskräfte des schwangeren Körpers bezogen, sondern während der Schwangerschaft besonders auf die Bauchwölbung bezogen. Auch hier liefert die Mode das entscheidende Indiz, hat sie sich doch vor allem in der 15 | Matthew, Sandra; Wexler, Laura: Pregnant Pictures. New York 2000, S. 201. 16 | Vgl. dazu Ross, Andrew: The Romance of the Bad Boy. In: Fraiman, Susan (Hg.): Cool Man and the Second Sex. New York 2003, S. 54-83, hier S. 68f.

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Star-Inszenierung von Verhüllungsstoffen zu Entblößungsangeboten gewandelt. Die Bauchrundungen wollen nicht mehr kaschiert, sondern gezeigt werden. Wesentliches Qualitätskriterium scheint dabei wiederum die Beibehaltung einer prä-graviden Schlankheit zu sein, die in möglichst scharfen Kontrast zum sich auswölbenden Bauchumfang gebracht werden soll. Schwangerschaft sei demnach – körperinszenatorisch betrachtet – ein zu entkoppelndes, separierbares Partikularphänomen des Körpers, das sich ausschließlich in sich ausdehnenden Formen und Proportionen aus der Körpermitte heraus offenbare. Das in dieser Hinsicht wohl prägnanteste Beispiel lieferte jüngst Mariah Carey, als sie ihren Babybauch via Twitter-Botschaft einer breiteren Öffentlichkeit der Betrachtung übergab.

Abb 4 | Twitter-Post von Mariah Carey vom 28.03.2011.

Weltweit reagierten Fans begeistert, und kaum ein Boulevardmagazin, das nicht mindestens eine Meldung dazu brachte und die ›Kunst am Bauch‹ der werdenden Mutter überschwänglich lobte. Tatsächlich sollte der zweifarbige Schmetterling den Geschlechtsunterschied der erwarteten Zwillinge ankündigen. Die schier übermächtige Wölbung wurde als Bildträger eingesetzt, um auf das unsichtbar Werdende zu verweisen. Der nahezu ausschließliche Fokus auf die Kugel verstärkte dabei das Moment der Entkörperlichung. Hier schien Schwangerschaft in einem nur noch entfernt an ein körperliches Erleben erinnernden Fleischglobus aufzugehen, ja die Schwangere selbst reduzierte sich auf die Formate eines

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sensationell gerundeten Kugelwesens. Zieht man Michail M. Bachtin zu Rate, wäre von einem veritablen »Akt des Körperdramas« zu sprechen, schließlich deutete Bachtin die Schwangerschaft als Phase, in der sich ein einzelnes Körperteil verselbständige, grenzensprengend expandiere, aus dem Harmonieganzen des Körpers ausbreche und sich zu einem – grotesk überdimensionierten – Wirkungszentrum aufblähe.17 Unter diesen Einsichtnahmen bezieht sich die allegorische Funktion des wirkungsstark präsentierten schwangeren Bauchs in der aktuellen Promiästhetik auf ein mehrschichtiges Bedeutungsspektrum: Einerseits sendet die Kugel ein Fruchtbarkeitssignal und schließt damit an das kulturgeschichtlich tief verankerte Frauenideal der mütterlichen Natur an. Andererseits dient ihr Volumen als Kontrastmittel zu einer auf disziplinierte Schlankheit geeichten Körperform und damit als Prüfinstanz für Erfolge im Segment der körperlichen Selbstgestaltung.18 Drittens stellt sie eine Gestaltungsfläche, eine rundgewölbte Leinwand, die ästhetisch zu veredeln ist und auf der sowohl Kreativitäts- als auch Ironiepotenziale zu demonstrieren sind. »Das bellyart Atelier in Berlin«, so ist auf dessen Internetseite zu lesen, »ist die erste Adresse für Frauen, die einen Abdruck vom […] schwangeren Bauch aus Artex-Gips anfertigen oder bemalen lassen wollen«19 . Die Gipsarbeit könne nach Fertigstellung und individueller Bemalung an Frauenarztpraxen verkauft werden oder als Lampenschirm im heimischen Wohnzimmer schmückende Verwendung finden. Neben solch skulpturalen Angeboten florieren vor allem Fotostudios, die sich auf die wirkungsvolle Inszenierung schwangerer Bäuche spezialisiert haben. Besonders aufschlussreich liest sich in diesem Zusammenhang ein Abschnitt aus einem Handbuch für angehende Porträtfotografen: »Das klassische Bauchbild zeigt nur den Körper und rückt damit weit ab vom Thema Porträt. […] Das Licht sollte sich bei jeder der Variationen aber auf den Bauch oder dessen Konturen konzentrieren. Oft wird der Bauch dann auch so fotografiert: Schwarzer Hintergrund, nur 17 | Vgl. dazu Bachtin, Michail M.: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Frankfurt a.M. 1990, S. 16ff. Vgl. dazu weiterhin Bischoff, Silke: Monströse Mütter der Moderne. Schwangere Körper und die Grenzen symbolischer Repräsentation. In: Bergermann, Ulrike; Breger, Claudia; Nusser, Tanja (Hg.): Techniken der Reproduktion. Medien, Leben, Diskurse. Königstein, Ts. 2002, S. 181-195. 18 | Vgl. dazu Ebbing, Tina: Körpermitte. Eine Kulturgeschichte des Bauches seit der Frühen Neuzeit. Frankfurt a.M. 2008, vor allem S. 157-185. 19 | http://www.bellyart.de/kunst_am_bauch.html, 01.07.2012.

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ein gerichtetes Konturlicht, Bauch seitlich zum Licht gesetzt«.20 Unter diesen Stilprinzipien hat sich bereits eine ganze Körperkultur in Szene gesetzter Bauchkugeln etabliert, und auf öffentlichen Photosharing-Portalen im Internet reihen sich schon heute bis zur Ununterscheidbarkeit Kugel an Kugel, als gelte es, die eigene Wölbung durch Vergleich mit anderen in ihrer Wohlgestalt zu legitimieren.

Abb 5 | Aktuelle Anzeigenkampagne zur Stammzellenkonservierung.

Die Inszenierungszentralisierung der weiblichen Körpermitte schafft nicht nur ein neues Frauenbild, sondern durchkreuzt auch die klassischen Repräsentationsmuster des Mannes. Folgt man einzelnen Werbekampagnen, scheinen Schwangerschaftsbäuche mittlerweile die Rollen eines populärkulturellen Grals oder einer Kristallkugel zu spielen, denen Botschaften aus einem wie auch immer verstandenen Jenseits – einem mysteriösen Innendrin – zu entnehmen seien. Das Bild vom etwas entrückt horchenden Mann, der, angedockt an die Kugel seiner Frau, Kommendes vernehmen möchte, bringt die neu geordneten Selbstverständnisse auf den Punkt. Schwangerschaft wird aus dem einseitigen 20 | Weis, Stefan: Fotoschule Porträtfotografie. Fotograf und Model. Belichtung, Posen, Bildgestaltung. Photoshop-Workshop zur Beautyretusche. Poing 2009, S. 102f.

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Abb 6 | Leopold von Kalckreuth, Sommer, 1890.

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Verantwortungsbereich, der noch bis hinein bis in die 1990er Jahre nahezu ausschließlich Frauen und staatlichen Fürsorgemaßnahmen aufgetragen wurde, herausgelöst und zu einem gemeinsamen ›Projekt‹ erklärt. »Wir sind schwanger!« hat sich zu einer geflügelten Wendung nicht nur der Ratgeberliteratur 21 entwickelt, und so stellt die Redaktion der ElternHefte unter der Überschrift »Schwanger – wir beide!« die neue Rangordnung in beinahe apodiktischem Duktus klar: »Ihre Partnerin ist schwanger«, führt der Text ein, um sogleich das Wesentliche der neuen Situation in Erinnerung zu rufen: »– und sie rücken […] in die zweite Reihe. ›Wie geht’s euch?‹ – diese Frage gilt ab jetzt Ihrer Frau und dem Bauchbewohner«. Und weiter wird darauf verwiesen, dass der Mann »ja irgendwie auch« schwanger sei, »nicht im Bauch, aber doch im Kopf«.22 Exemplarisch ist abzulesen, wie die Subjektivierung des Ungeborenen – ein Bewohner! – im Zusammenspiel mit der sichtbaren Schwangerschaft der Frau nun nicht mehr zur Pathologisierung und Hospitalisierung der werdenden Mutter, sondern zur Identitätskrise des werdenden Vaters (»Wenn Sie noch Zweifel haben, dass eine Schwangerschaft auch ›Männersache!‹ ist, empfehlen wir als Erstes die Lektüre des gleichnamigen Magazins« 23 ) führt. Zurückgesetzt in eine der hinteren Reihen, muss er beobachten, wie vor ihm Frau und Ungeborenes zu den eigentlichen Aufmerksamkeitsmagneten avancieren und ihm ein Schattendasein als verständnisvolle Stütze und einfühlsamer Begleiter auferlegen. Und doch scheint, dass sich neben der inszenatorischen Wandlung der Schwangerschaft und der damit einhergehenden Bedeutungsumwertung – von einem abzuschottenden und unter Krankenverdacht stehenden Zustand hin zu einer Form der körperästhetischen Selbstgestaltung – eine tiefer liegende Mentalitätskonstante gehalten hat, die sich an einem Beispiel aus der Kunstgeschichte entschlüsseln lässt. Mit Sommer aus dem Jahr 1890 zeigt Leopold von Kalckreuth die Aufwertung der profanen Schwangerschaft zur visuellen Attraktion (Abb. 6). Dabei wird keineswegs der Bruch mit der christlichen Ikonografie gesucht, im Gegenteil: Kalckreuth überträgt bereits etablierte Gesten und 21 | Vgl. etwa Wiechmann, Daniel: Hilfe, wir sind schwanger! Das Kopfkissenbuch für werdende Väter. München 2009. 22 | Schwanger – wir beide! Editorial zur Zeitschrift Eltern! Special Schwangerschaft 2010/2011, S. 3. 23 | Ebd.

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Signale auf ein nichtchristliches Thema, um diesem Bildwürdigkeit zu verleihen. Dies allein wäre schon ein beachtenswerter Zug gewesen, doch offenbar ging es Kalckreuth um mehr: Um die befleckte Schwangerschaft vor der Gefahr zu bewahren, als billiger Aufguss – und damit als Herabwürdigung – der christlichen Tradition zu erscheinen, musste das Sujet mit einer eigenständigen Deutung ausgestattet werden. So inszeniert Kalckreuth eine Schwangerschaft im Einklang mit der weltlichen Natur. Folglich werden die einzelnen Elemente derart stark aufeinander bezogen, dass eine harmonische Gesamtwirkung die Bildstruktur überlagert. Die Reduktion auf »Himmel, Weizen und Weib«24 , wie Kalckreuth die Zutaten des Bildes lakonisch listete, führt zu einer Konzentration des Wirkungsgehalts, der mit symbolträchtigen Anspielungen nicht spart: Schließlich wird das Heranreifende vom Mutterleib und dieser wiederum von der reifen Mutter Natur eingefasst, und so will die gleich mehrfache Ummantelung aus Körper und Natur einen festen Schutzraum beweisen. Kalckreuth greift bewusst auf das frühromantische Sehnsuchtsmotiv des einsamen Menschen im Weltganzen zurück, der nach Phasen der Entfremdung erst am natürlichen Ursprung – am Keim des Lebens – wieder identisch mit sich selbst wird. Mit der schwangeren Landarbeiterin soll das Pathos der Einfachheit mit dem Zeichen der Fruchtbarkeit zu einem Bild natürlicher Ganzheitlichkeit verschmolzen werden. Es scheint diese Vorstellung einer Ganzheitlichkeit zu sein, die der modernen bildlichen Schwangerschaftstypologie zu Grunde liegt. Die physische Veränderung wird als Prozess einer sich ausbildenden, vollständigen Harmonisierung begriffen, als ein Identischwerden mit sich selbst. Die schwangeren Celebrities spielen auf Zeitschriftencovern ebenso wie bei Auftritten auf den roten Teppichen mit dem körperästhetischen Postulat einer überwundenen Entzweiung. Die Kugel ist, folgt man den Überlegungen Peter Sloterdijks, die Idealform der modernistischen Haltung, scheint sie doch in ihrer Formganzheitlichkeit dem Wunsch des Menschen nach einem Leben ohne Widersprüche zu entsprechen. Und auch die gesamte Werbeindustrie der Schwangerschaft, beginnend bei Schwangerschaftsölen über Schwangerschaftstees bis hin zu eigens entworfenen Schwangerschaftsduschgels, bedient den Topos einer wiederherstellbaren 24 | München, Bayerische Staatsbibliothek, Kalckreuthiana II, Supplement, 25.7.1889, zitiert nach: Maltzahn-Redling, Jacqueline: Leopold von Kalckreuth. Eine Wiederentdeckung. In: Schneede, Uwe M. (Hg.): Leopold von Kalckreuth. Poetischer Realist. Hamburg 2006, S. 22.

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Identitätserfahrung. Versprechen, wie bei sich selbst ankommen, den eigenen Körper bewusster als bisher erfahren oder Gefühle der Harmonie ausleben zu können, zielen auf die Hoffnung einer wellnesshaften, körperseelischen Totalverschmelzung. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis die Schwangerschaft zum visuellen Instrument der Politik wurde. Jüngst bewiesen Kristina Schröder und Andrea Nahles, dass die Pränatalkugel nun zum festen Bestandteil der politischen Ikonografie gehört. Sie zeigen, dass das Machthaben über gravide Signale zum Machtsein auszuweiten ist. Man mag darin eine Befreiung aus der ehemals pathologischen Beschränkung sehen. Gleichzeitig aber kann gefragt werden, ob die Schwangerschaft damit nicht auch einen körperästhetischen Imperativ ausagiert. Ihr wird eine allegorische Zeigekraft zugesprochen, eine buchstäbliche Vorbildfunktion, die ihre Autorität aus einer normativen Ästhetik rekurriert. Diese wiederum setzt die Schwangerschaft als statischen Zustand, der nur mit dem Pfund des rundgewölbten Bauches wuchert. Womöglich bedeutet gerade diese visuelle Arretierung der Schwangerschaft auf ein Kugelgebilde die schärfste Abkehr von ihrer kulturgeschichtlichen Tradition: Schließlich galt über Jahrhunderte die Schwangerschaft als andauernde Schwellenphase, als ein Konglomerat einander verstärkender körperlicher Zeichen, das häufig erst bei der Geburt eindeutig zu verifizieren war. Die Koalition des medizindiagnostischen Fortschritts mit einer reduktionistischen körperästhetischen Absolutsetzung auf die Signatur der Bauchgloben scheint demnach das konstitutive Merkmal der zeitgenössischen Schwangerschaftspopularität zu sein. Zwar befreite es die Frau aus einer einseitigen klinischen Determination – stilisierte sie aber gleichzeitig zu einem Kugelwesen, das mit dem neuen Imperativ der ›Attraktionsschwangeren‹ ähnlich simpel typologisiert scheint. Beyoncé Knowles‘ angebliche Bauchattrappe steht dabei symptomatisch für eine spektakelmaximierende Entkopplung der Schwangerschaft vom Werden des Menschen.

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›NUDA VERITAS‹ Koloniale Körperbilder und postkoloniale Perspektiven

Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist ein Ergebnis bisheriger gendertheoretischer Arbeiten: Eine Hauptfunktion weiblicher Allegorien in der modernen Gesellschaft kann im Anschluss an Genderforschungen darin gesehen werden, die Komplexität der Gesellschaft zu reduzieren, insbesondere zeitliche und soziale Brüche zu überdecken. Silke Wenk etwa hat in ihrer grundlegenden Arbeit Versteinerte Weiblichkeit gezeigt, wie weibliche allegorische Figuren zur Konstruktion gesellschaftlicher, nationaler und geschichtlicher Einheit funktionalisiert werden.1 Ulrich Tragatschnig weist darauf hin, dass die Allegorie im 19. Jahrhundert gleichsam als »Bindemittel« sowohl zur Vereinheitlichung der Geschichten zur großen, legitimierenden Erzählung als auch zur Einheitskonstruktion der Idealität des Weltganzen dient.2 In der künstlerischen Produktion steht dabei das Bild der Frau im Zentrum und dient dazu, die Zersplitterung innerhalb der Gesellschaft aufzuheben. So wird der strukturelle Bruch durch die »Frau als Bild«3 überdeckt. Zugleich ist entscheidend, dass das Bild der Frau enthistorisiert wird, indem die Kunst etwa auf antike Mythen rekurriert. Die mythische Weiblichkeit im Bild ist als Statthalter der fehlenden Einheit der 1 | Wenk, Silke: Versteinerte Weiblichkeit. Allegorie in der Skulptur der Moderne. Köln/Weimar/Wien 1996. 2 | Tragatschnig, Ulrich: Sinnbild und Bildsinn. Allegorien in der Kunst um 1900. Berlin 2004. 3 | Eiblmayr, Silvia: Die Frau als Bild. Der weibliche Körper in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Berlin 1993.

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partialisierten Gesellschaft zu verstehen.4 Gleichzeitig wird die Brüchigkeit dieses Bildes immer wieder markiert, da die gesamtgesellschaftliche Einheit nie gegeben ist. Diese bleibt letztlich Kunst. Warum aber dient gerade das Weibliche in diesem Zusammenhang zur Überdeckung der Brüche? Um dieser Frage nachzugehen, ist eine historische Betrachtung erforderlich. Weiblichkeit und Natur im 19. Jahrhundert

Im 19. Jahrhundert wird Weiblichkeit zunehmend zur harmonischen Natur stilisiert. Dabei rückt der weibliche Körper ins Zentrum der Diskurse.5 Im Anschluss an Rousseaus »homme de nature« richtet sich der Blick auf die »femme de nature«.6 Indem im Laufe des 18. Jahrhunderts die fundamentale Differenz von Männlichkeit und Weiblichkeit aufgetan wird, kann die Frau als das andere Geschlecht wahrgenommen werden und dann etwa von Hegel die unentzweite »Einheit des Weibes mit der Natur«7 proklamiert werden. Diese Annahme wird in verschiedenster Weise diskursiviert und eignet sich insbesondere für die Kunst, wie Silvia Bovenschen ausführt: »Die Frau ist als Verkörperung der Natureinheit das, was der Mann im Kunstwerk erst wiederherzustellen sucht. [...] Mag die Gleichsetzung der Begriffe Frau und Natur, die immer wieder stattfindet, auch den Eindruck einer natura naturans vermitteln, gemeint ist allenfalls eine natura naturata« 8

An dem Punkt setzt die künstlerische Produktion ein, die Natürlichkeit in der Kunst erzeugt. 4 | Vgl. dazu Karentzos, Alexandra: Kunstgöttinnen. Mythische Weiblichkeit zwischen Historismus und Secessionen. Marburg 2005. 5 | Vgl. dazu Karentzos 2005, S. 27ff. (Kapitel Mythos und Weiblichkeit). 6 | Honegger, Claudia: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib. 1750-1850. Frankfurt a.M./New York 1991, S. 113. Rousseau spricht von einer »natürlichen« Ungleichheit der Geschlechter. Vgl. dazu Bovenschen, Silvia: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen Präsentationsformen des Weiblichen. Frankfurt a.M. 1979, S. 165. 7 | Zum Beispiel bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse [1830]. Bd. 9. Frankfurt a.M. 1970, S. 517ff. 8 | Bovenschen 1979, S. 37. Wie nah Natur und Kunst beieinander liegen, zeigt Sykora in ihrem Aufsatz »Ver-Körperungen. Weiblichkeit – Natur – Artefakt«. In: Huber, Jörg; Müller, Alois Martin (Hg.): Raum und Verfahren. Basel/Frankfurt a.M. 1993, S. 89-103.

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Durch die Parallelisierung von Weiblichkeit und Natur kommt es zu einer »Stillstellung von Geschichte«,9 zur Projektion eines Urzustandes, um mit Friedrich Schiller zu sprechen: eines »naiven Zustandes«10, der immer währt – und zwar in Gestalt der Frau. Sie erscheint in dieser Geschlechterideologie »als das Undifferenzierte, Molluskenhafte, Vorindividuelle, durch Natur- und Gattungsgesetze Bestimmte«.11 Damit wird die vermeintliche Geschichtslosigkeit des Weiblichen normativ mit dem Hinweis auf Natur legitimiert. Entsprechend hebt Jean Paul in der Levana die »antike Natur der Weiber« hervor.12 Die Antike repräsentiert bei Schiller etwa den naiven Zustand, der nur noch bei den ›Wilden‹, Kindern und Frauen zu finden sei.13 Wenn nun die Frau als ahistorisches und einheitliches, naives Wesen konstruiert wird, kann sie auch zum Mythos im Bild werden: Bild einer verlorenen unzerstörten Ganzheit. In dieser Funktion ist der weibliche Körper auch Medium der Erinnerung,14 da er einer überwundenen Kulturstufe beziehungsweise der Natur zugeordnet wird: Seine angebliche Permanenz qualifiziert ihn zum Gegenstand eines künstlerischen Programms, das sich der Temporalisierung entgegenstellt. Als Beispiel hierfür möchte ich die Veritas von Augustin-Alexandre Dumont am Justizpalast in Paris aus dem Jahr 1865 anführen (Abb. 1). Die nackte Wahrheit, deren Schleier sich lüftet und den Körper vorführt, fungiert in dieser Bauskulptur als unifizierende Statthalterin einer 9 | Honegger 1991, S. 113. 10 | Vgl. Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung [1795]. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 5: Erzählungen/Theoretische Schriften. Hg. v. Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert. München 1989, S. 694-780. 11 | Bovenschen 1979, S. 31. 12 | Paul, Jean: Levana oder Erziehlehre [1807]. Paderborn 1963, S. 137. Darin beschreibt er ebenfalls die Einheitlichkeit des weiblichen Wesens: Frauen hätten nur ein Ich, wohingegen Männer zwei Ich besäßen. 13 | Siehe Schiller 1989, S. 705 u.ö. Die Gleichsetzung der griechischen Antike mit der ›Natur‹ gehört zum Credo der Antikenverehrung seit Winckelmann. Vgl. dazu Barner, Wilfried: Das ›Fremde‹ des ›griechischen Geschmacks‹. Zu Winckelmanns ›Gedancken über die Nachahmung‹. In: Shichiji, Yoshinori (Hg.): Begegnung mit dem ›Fremden‹. – Internationaler Germanisten-Kongress in Tokio. Sekt. 12 Klassik – Konstruktion und Rezeption. Sekt. 13 Orientalismus, Exotismus, koloniale Diskurse. München 1991, S. 122-128, hier S. 126. 14 | Vgl. dazu auch Öhlschläger, Claudia; Wiens, Birgit: Körper – Gedächtnis – Schrift. Eine Einleitung. In: Dies. (Hg.): Körper – Gedächtnis – Schrift. Der Körper als Medium kultureller Erinnerung. Berlin 1997, S. 9-22, hier S. 13.

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Abb 1 | Augustin Alexandre Dumont, Veritas, 1865, Paris, Justizpalast

Abb 2 | Alfred Mietzner, Wahrheit und Lüge, 1882 (Allegorien und Embleme, Taf. 114)

komplexen Rechtssprechung. Nicht die nur für Juristen durchschaubaren Paragraphen und ihre Fachsprache sollen ausschlaggebend vor Gericht sein, sondern die unmittelbare, für jeden nachvollziehbare Anschauung. Damit wird die Spezialisierung des Rechtssystems gewissermaßen kaschiert und eine allgemein zugängliche Urteilsfindung suggeriert. Die Darstellung erinnert nicht zuletzt an die antike Überlieferung der Phryne vor den Richtern des Areopags. Gabriele Brandstetter sieht in dem gleichnamigen Gemälde Jean-Léon Gerômes die »Begründungsszene der Evidenz der Nacktheit«.15 Phryne überzeugt die Richter durch die Enthüllung ihres nackten Körpers von der »Wahrheit ihrer Unschuld«, die »nackte Schönheit des Körpers«, seine Makellosigkeit, verkörpert die »Evidenz 15 | Brandstetter, Gabriele: Divested Interests – Ökonomie der Entblößung in Schnitzlers ›Fräulein Else‹ und Marina Abramovic’ ›Freeing the Body‹. In: Gernig, Kerstin (Hg.): Nacktheit. Ästhetische Inszenierungen im Kulturvergleich. Köln 2002, S. 241-272.

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der nackten Wahrheit« als »unhintergehbare Epiphanie der Unschuld«.16 Für meinen Argumentationszusammenhang ist vor allem entscheidend, dass diese Evidenz auf den ersten Blick für jeden nachvollziehbar sein soll und dass auf diese Weise die Ausdifferenzierung von Systemen wie dem Rechtssystem überspielt wird. Allerdings ist diese Suggestion einer gesellschaftlichen Einheit keineswegs unschuldig in dem Sinne, dass hier alle Differenzen überwunden wären. Vielmehr wird die Einheit wiederum über Differenzen hergestellt. Wie sehr die traditionelle Figur der ›Nuda Veritas‹ mit Differenzsetzungen einhergeht, wird an dem folgenden Beispiel besonders deutlich: In dem Mappenwerk Allegorien und Embleme von 1882, für das auch beispielsweise Gustav Klimt und Franz von Stuck Beiträge geliefert haben, beschreibt Albert Ilg, der damalige Direktor des Kunsthistorischen Museums Wiens, im Vorwort das Bild Wahrheit und Lüge von Alfred Mietzner (Abb. 2).17 Die »nackte Wahrheit« setzt »den Fuß auf eine Larve [...]. In unbestimmtem Dämmerlichte liegt hinter ihrer reinen Gestalt die Sphinx des Geheimnisses, das Rätselhafte, Zweideutige, überwunden aber zu ihren Füßen die Lüge. [...] Dem herrlichen Götterleibe gegenüber, der in hellenischer Schönheit prangt, ist sie die Mohrin, schwarz und düster. Während jene jede Hülle verschmäht, hat die Falsche den schwarzen Leib mit Schleiern, Bändern und allerlei Tand behangen und seine Häßlichkeit zu verdecken gesucht.«18

Hierbei handelt es sich um eine dichotomische Konstruktion von Wahrheit und Lüge, so dass deutlich wird, dass die scheinbar umfassende Einheit auf Differenz beruht. Visualisiert wird diese Differenz über ethnische Markierungen: Die Lüge ist als Schwarze personifiziert, die von der griechischen, weißen Göttin überwunden wird. Der Schleier dient zur Verhüllung einer »Hässlichkeit«, die laut Ilg in der Hautfarbe begründet 16 | Ebd. 17 | Vgl. dazu auch Karentzos, Alexandra: Schön, weiblich, fremd. Körperdiskurse im Blick der zeitgenössischen Kunst. In: Elberfeld, Jens; Otto, Marcus (Hg.): Das schöne Selbst. Zur Genealogie des modernen Subjekts zwischen Ethik und Ästhetik. Bielefeld 2009, S. 313-331. 18 | Ilg, Albert: Erläuternder Text. In: Gerlach, Martin (Hg.): Allegorien und Embleme. Originalentwürfe von den hervorragendsten modernen Künstlern, sowie Nachbildungen alter Zunftzeichen und moderne Entwürfe von Zunftwappen. Wien 1882, S. 5-32, hier S. 27.

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liegt. Das Schierlingskraut, das der Lüge im Bild zugeordnet ist, zeigt sie zudem als Todesbringerin.19 Zugleich steht hinter der Göttin aber das sphingische Rätsel, das Ägypten als den Ursprung »Griechenlands urältester Cultur«20 hervorhebt. Die nackte Wahrheit hat die Maske der Verstellung überwunden, während die schwarze Personifikation der Lüge ihre Maske auf dem Kopf trägt. Die Maske der Schwarzen erscheint hier als tierhaft und ›primitiv‹. Die Pose der Weißen zitiert überdies die der Venus, wie sie etwa Botticelli in Anlehnung an antike Vorbilder in seinem berühmten Gemälde aus dem Jahr 1485 dargestellt hat. In der Wiederholung der Schönheitspose durch Mietzner wird diese zum normativen Ideal erhoben. Überdies verbindet Mietzner die Göttin der Schönheit mit moralischen Kategorien des Guten und Wahren, während hingegen die Schwarze dem Hässlichen und Niederträchtigen zugeordnet wird. In diesem Kontext werden formelhafte Dichotomien festgeschrieben und verbreitet: Der Kontrast von weißer Haut und schwarzer Haut symbolisiert zugleich die Differenz von Licht und Schatten, Aufklärung und Verschleierung, Wissen und Unwissen, Sauberkeit und Schmutz. Noch im 20. Jahrhundert waren Redensarten gebräuchlich wie »den Mohren weißwaschen« als Bezeichnung für eine absurde, problematische und unmögliche Reinigung.21 Weißsein firmiert in diesem Zusammenhang als Zeichen für eine vermeintlich ›höhere‹, zivilisiertere und vergeistigtere Kulturstufe und damit auch als das Paradigma für Schönheit. In Hegels Philosophie erscheint Afrika als bedrohliches Anderes, das an den Rändern der Weltgeschichte situiert ist; für ihn ist es »kein geschichtlicher Weltteil, er hat keine Bewegung und Entwicklung aufzuweisen«.22 In den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte heißt es weiter: »Was wir eigentlich unter Afrika verstehen, das ist das Geschichtslose und Unaufgeschlossene, das noch ganz im natürlichen Geiste befangen 19 | Der Schierlingsbecher ist in der griechischen Antike ein Mittel zum Vollzug der Todesstrafe. Sokrates etwa wird dazu verurteilt, das Gift zu trinken. 20 | Ilg 1882, S. 7. 21 | Vgl. dazu auch Alonzo, Christine: Ebenbild aus Ebenholz. Schwarze und weiße Figuren auf dem Schachbrett unseres Bewusstseins. In: Hürlimann, Annemarie; Roth, Martin; Vogel, Klaus (Hg.): Fremdkörper – Fremde Körper. Von unvermeidlichen Kontakten und widerstreitenden Gefühlen. Kat. Ausst. Stiftung Deutsches Hygiene-Museum Dresden. Ostfildern Ruit 1999, S. 188-194. Mit vielen Bildbeispielen v.a. aus der Werbung. 22 | Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. In: Ders.: Werke. Hg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Bd. 12. Frankfurt a.M. 1970, S. 129.

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ist und das hier bloß an der Schwelle der Weltgeschichte vorgeführt werden musste.« 23 Damit siedelt Hegel den Afrikaner in einem Grenzbereich zwischen Tier und Mensch an. Patricia Purtschert analysiert diese Verortung wie folgt: »Die Figur des Afrikaners wandert an den Grenzen zwischen dem Menschlichen und dem Unmenschlichen, zwischen Mensch und Tier, zwischen Entwicklungsfähigkeit und Stagnation entlang und bringt diese Grenzen dabei zugleich hervor«.24 Für die Subjektkonstitution ist eine solche Grenzfigur grundlegend: »Die Grenzfigur markiert eine Position an den Rändern desjenigen, was als Subjekt bestimmt wird, eine Position also, die nicht mit dem Subjekt zusammenfällt, aber dennoch auf eine bedeutsame Weise mit ihm verbunden ist.« 25 ›Schwarze Venus‹ und ›Hottentotten-Venus‹ als Erdteilallegorien

Als eine solche Grenzfigur kann etwa die ›Schwarze Venus‹ gesehen werden, die – sei es auch unausgesprochen – als Erdteilallegorie fungiert und den afrikanischen Kontinent repräsentiert, wobei sich geographische, sexuelle und hierarchische Kategorien ineinander verschränken.26 In erster Linie handelt es sich bei dieser Figur um ein erotisches Faszinosum, das auf die Tradition der biblischen Gestalten des Hoheliedes und der Königin von Saba zurückgeht, wie Viktoria Schmidt-Linsenhoff gezeigt hat. Am Beispiel der um 1600 in zahlreichen Repliken verbreiteten Statuette einer ›nackenden Mohrin‹, die heute als ›Negervenus‹ bezeichnet wird und im Liebighaus in Frankfurt ausgestellt ist (Abb. 3), führt sie aus, dass die ›Schwarze Venus‹ die universale Geltung der antikischen Norm relativiert.27 Schmidt-Linsenhoff erklärt, dass »die afrikanische Physiognomie den farbig patinierten Bronzeton der Kleinplastik als äthiopische Körperfarbe« deutet und den Vergleich mit Bronzestatuetten der ›Weißen Venus‹ provoziert. Ein solcher Paragone zwischen den erotischen Reizen einer weißen und einer schwarzen Venus ist in der manieristischen Liebesdichtung weit verbreitet, jedoch ist nach Schmidt-Linsenhoff die 23 | Ebd. 24 | Purtschert, Patricia: Grenzfiguren. Kultur, Geschlecht und Subjekt bei Hegel und Nietzsche. Frankfurt a.M. 2006, S. 63. 25 | Ebd., S.27. 26 | Vgl. dazu auch Wintle, Michael J.: The Image of Europe. Visualizing Cartography and Iconography throughout the Ages. Cambridge 2009. 27 | Schmidt-Linsenhoff, Viktoria: Das koloniale Unbewusste in der Kunstgeschichte. In: Below, Irene; Bismarck, Beatrice von (Hg.): Globalisierung/Hierarchisierung. Kulturelle Dominanzen in Kunst und Kunstgeschichte. Marburg 2005, S. 19-38.

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autonome Venus als Kunstkammerstück singulär. Anknüpfend an diesen Gedanken, dass die ›schwarze Venus‹ die ›weiße‹ in ihrer Geltung relativiert, möchte ich besonders die Position der ›Schwarzen Venus‹ als Grenz-

Abb 3 | Unbekannt (Barthélemy Prieur zugeschrieben), Negervenus, um 1600.

Abb 4 | William Graigner nach Thomas Stothard, Illustration des Gedichts The Voyage of the Sable Venus from Angola to the West Indies, in Bryan Edwards: The History, Civil and Commercial, of the British Colonies in the West Indies, London 1794.

figur verdeutlichen. Im Kolonialdiskurs wird im Kontext der anthropologisch-ethnographischen Forschung bei dem Vergleich beider Venusfiguren vor allem die Abweichung des Körperbildes von der europäischen Norm hervorgehoben. In einem solchen Kontext ist auch Hegel mit seinen Ausführungen zu verorten. In Bryan Edwards britischer Kolonialgeschichte der West Indies von 1794 , die die Sklaverei rechtfertigte und auch ins Deutsche übersetzt wurde, illustriert der Kupferstich The Voyage of the Sable Venus from Angola to the West Indies in euphemistischer Weise die so genannte Middle Passage, den transatlantischen Sklavenhandel, im Bild der schaumgeborenen Venus auf der Muschel (Abb. 4).28 28 | Stothard, Thomas: The Voyage of the Sable Venus, from Angola to the West Indies [1794]. Abgedruckt in: Edwards, Bryan: The History, Civil and Commercial, of the British Colonies in the West Indies. London 1801. Manuscript, Archives, and Rare Books Division, Schomburg Center for Research in Black Culture, The New York Public Library, Astor, Lenox, and Tilden Foundation. Vgl. auch SchmidtLinsenhoff, Viktoria: Klassizismus und Sklaverei. Zum Funktionswandel kultureller Differenz in A.L. Girodets Portrait du Citoyen Belley und M.G. Benoists Portrait d’une Negresse. In: Bay, Hansjörg; Merten, Kai (Hg.): Die Ordnung der Kulturen. Zur Konstruktion ethnischer, nationaler und zivilisatorischer Differenzen 1750 – 1850. Würzburg 2006, S. 172-194, hier S. 181.

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Die britischen Kolonien auf den karibischen Inseln waren zentraler Umschlagsplatz dieses Sklavenhandels. Das Gedicht von Isaac Teales, das den Kupferstich kommentiert, vergleicht die ›Schwarze Venus‹ mit der Venus Medici in Florenz und parodiert den Vergleich mit dem Vers, dass bei Nacht die ›schwarze‹ und die ›weiße Venus‹ gleichermaßen schön seien: »The loveliest limbs her form compose, Such as her sister VENUS chose, In FLORENCE, where she’s seen; Both just alike, except the white, No difference, no – none at night, The beauteous dames between.« 29

Dieses Bild der ›Schwarzen Venus‹, das auf den ersten Blick positiv konnotiert ist, zeigt es doch eine schwarze Frau als Göttin der Schönheit und Liebe 30, wird durch den Kontext konterkariert. Zudem fällt auch auf der Darstellungsebene der ungewöhnlich muskulöse Körper der Venus auf 31 und die für eine antike Göttin untypisch kurzen Haare. Sie trägt überdies Metallreifen um Hals, Arm- und Fußgelenke, die mehr an die Sklaverei erinnern als an Schmuck. Diese Venus bedeckt ferner nicht mit einer Pudica-Geste ihre Scham, nicht mit ihrer Hand oder ihrem Haar, sondern mit einem Hüftgürtel oder gar Slip. Die Ambivalenz der ›Schwarzen Venus‹ macht sich die zeitgenössische Künstlerin Kara Walker zunutze (Abb. 5). Sie kopiert im wahrsten Sinne des Wortes das Bild aus dem Buch und bearbeitet das Gedicht, indem sie einzelne Buchstaben herausstreicht und unkenntlich macht: 29 | Zit. nach: Williams, Carla; Willis, Deborah: The Black Female Body. A Photographic History. Kat. Ausst. Philadelphia 2002, S. 9-10. Zur Zweideutigkeit der Lesart vgl. Smith McCrea, Rosalie: Dis-Ordering the World in the 18th Century. The Duplicity of Connoisseurship. Making the Culture of Slavery, or, The Voyage of the Sable Venus: Connoisseurship and the Trivializing of Slavery. In: Courtman, Sandra (Hg.): The Society for Caribbean Studies (UK), Annual Conference Papers, Vol. 3, 2002. http://www.caribbeanstudies.org.uk/papers/2002/olv3p16. PDF, 25.04.2011. 30 | Ikonographisch wird sie zudem mit der Figur der Galatea verschränkt, vgl. dazu ausführlicher Smith McCrea 2002, ebd. 31 | Smith McCrea führt diese Darstellungsweise auf Studien an Abgüssen in der Royal Academy zurück, vgl. ebd.

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»He lies limp her pose, Such as Venus... In fence, here she’s seen: Both just expect they Differ – one night He beats me between.« 32

Walkers Intervention parodiert die Parodie und lässt den Mann schwach aussehen. Zudem hebt sie in den letzten beiden Zeilen die Gewaltförmigkeit hervor: »one night he beats me...«, die in der Ode von Teales und auch im Bild nicht thematisiert wird, obwohl es offensichtlich um den Sklavenhandel geht.

Abb 5 | Kara Walker, Untitled, um 1990.

Dient die ›weiße Venus‹ im kolonialen Diskurs gleichsam als Allegorie der Schönheit, so ist der Status der ›schwarzen Venus‹ zweideutig. Die ›schwarze Venus‹ ist einerseits eine Abgrenzungsfigur, andererseits Fixpunkt des Begehrens, changierend zwischen Anziehung und Abstoßung, Bewunderung und Missachtung. Auch die Schönheit des Hässlichen, für die etwa Medusa einsteht, entspricht im 19. Jahrhundert diesem Konzept.33 Karl Rosenkranz ist 1853 in seiner Ästhetik des Häßlichen in die »Hölle des 32 | Text auf der Arbeit von Kara Walker, vgl. Abb. 5. 33 | Vgl. dazu Karentzos 2005, S. 105ff.

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Schönen« 34 niedergestiegen. Dem Winckelmannschen Ideal vom absoluten, guten Schönen stellt er einen neuen Begriff des Hässlichen gegenüber: Er versteht das Hässliche als »das Negativschöne« und damit als Teil der Ästhetik, wodurch es »seinen Widerspruch gegen das Schöne wieder auflöst und in die Einheit mit ihm zurückgeht«.35 Katharina Sykora setzt in ihrem Aufsatz Weiblichkeit, das Monströse und das Fremde. Ein Bildamalgam das Monströse im Anschluss an Rosenkranz in eine strukturelle Analogie zu der Funktion der Karikatur: »Indem das Monströse (...) – wie der Name bereits sagt – seine exzessive Abweichung von der Schönheitsnorm demonstrativ vorzeigt, kommt ihr ähnlich wie der Karikatur eine mediale Selbstreflexivität zu, die die Entstehung eines Schauwertes beschreibt. Dieser Schauwert markiert kein fixes Gegenüber mehr. Er entpuppt sich vielmehr ostentativ als Prozeß des Übergangs vor unseren Augen, als eben jenes Sich-Selbst-Hervorbringen des Häßlichen aus dem Schönen.« 36

Nach Rosenkranz ist die Karikatur das zentrale Ausdrucksmittel der Dialektik von Schönem und Hässlichem, in der beides sichtbar gemacht wird und sich manifestiert.37 Dieses Sich-selbst-(Re-)Produzierende des Hässlichen aus dem Schönen bezeichnet Sykora als den performativen Anteil am Monströsen, das auch die ZuschauerInnenposition dynamisiert, »die in der Abweichung nun immer auch die Norm mitsehen kann bzw. muß«.38 Dieser BetrachterInnenstandpunkt ist gekennzeichnet durch eine Ambivalenz zwischen Überlegenheit und einer überwundenen Gefährdung: »Als exzessive Übersteigerung des Schönen bis hin zum Häßlichen ruft es [das Monströse] jedoch oft nicht Lachen, sondern Staunen oder Gefühle des Unheimlichen hervor.«39 Während die ›schwarze Venus‹ als ein Paradigma für dieses Wechselspiel zwischen Schönheit und Hässlichkeit gelten kann, verbreitet sich im 19. Jahrhundert ein anderes Bild der schwarzen Frau, die in monströser Weise den Pol des Hässlichen vertreten soll: die so genannte ›Hottentotten-Venus‹. Diese Figur dient in gesteigerter Weise zur Stereotypisierung der 34 | Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Leipzig 1996, S. 11. 35 | Ebd., S. 14. 36 | Sykora, Katharina: Weiblichkeit, das Monströse und das Fremde. Ein Bildamalgam. In: Friedrich, Annegret; Haehnel, Birgit u.a. (Hg.): Projektionen. Rassismus und Sexismus in der visuellen Kultur. Marburg 1997, S. 132-149, hier S. 133. 37 | Rosenkranz 1996, v.a. S. 309ff. 38 | Sykora 1997, S. 133. 39 | Ebd.

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schwarzen Frau: Sie ist vollständig sexualisiert, exotisiert und eine Ikone des Primitivismus. Die als ›abnorm‹ eingestufte Sexualität schwarzer Frauen wird in medizinischen Diskursen des 19. Jahrhunderts mit der der Affen, vor allem der Orang-Utans, was wörtlich »Waldmensch« heißt, in Verbindung gebracht.40 Unter der Bezeichnung ›Hottentotten-Venus‹

Abb 6 | Huet Le Jeune, Hottentottenvenus, Profilansicht von Saartje Baartmann, 1815.

wurde die aus Südafrika stammende Saartje Baartmann seit 1810 öffentlich ausgestellt.41 (Abb. 6) Durch ihr großes Gesäß, ihre großen Brüste und ihre hervortretenden Genitalien wurde sie zum Inbegriff schwarzer Sexualität und Triebhaftigkeit – und zum Paradigma der Zurschaustellung und Entprivatisierung schwarzer Sexualität. Dabei wird der europäischen Betrachterin »in der Figuration von Weiblichkeit als ethnisch und körperlich grundsätzlich differentem Sexus ihr Spiegelbild und ihr Korrekturmaßstab zugleich vor Augen geführt«. 42 Während die antike Schönheit der marmorweißen Venus das Ideal bildete, wurde die ›Hottentotten-Venus‹ zur Antipodin, zum monströsen Gegenmodell,43 das in der Übersteigerung der Karikatur nahe kommt – 40 | Vgl. dazu ebd. 41 | Vgl. Williams/Willis 2002, v.a. S. 8 ff. und S. 59 ff. Vgl. auch Brandes, Kerstin: Hottentot Venus. Re–Considering Saartjie Baartman. Configurations of the ›Hottentot Venus‹ in Contemporary Cultural Discourse, Politics, and Art. In: Oldenburg, Helene von; Sick, Andrea (Hg.): Virtual Minds. Congress of Fictitious Figures. Bremen 2004, S. 41-55. Für einen aktuellen Überblick über die Diskussion vgl. Willis, Deborah (Hg.): Black Venus 2010. They Called her ›Hottentot‹. Philadelphia 2010. 42 | Sykora 1997, S. 144. 43 | Vor allem seit den 1960er Jahren wird mit dem Slogan »black is beautiful« eine

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nicht zufällig war die ›Hottentotten-Venus‹ auch Ziel unzähliger Karikaturen. In der Karikatur La Belle Hottentote. The Curious in Ecstacy, or the Schoe Laces aus dem Jahr 1815 wird das voyeuristische Begehren des Publikums vorgeführt (Abb. 7): In dem Bild betrachtet das Publikum die Frau auf dem Sockel, die damit wie eine Skulptur inszeniert ist. Ein Mann hebt ein Okular an sein Auge, mit dem er die Frau fixiert und ruft aus: »Qu‘elle étrange beauté«. (Welch fremde Schönheit!) Bei einem

Abb 7 | Unbekannt, La belle Hottentote. Les Curieus en extase ou les cordons de souliers (The curious in ecstacy, or the schoe laces), 1815.

Abb 8 | Renée Cox, Hotten-tott, Fotografie, 1996

Schotten schlägt das Begehren gleichsam in ein kannibalistisches Verlangen um, wenn er mit Blick auf das Hinterteil der Frau ausruft: «Oh! godem quel rosbif«. Die obsessive Schaulust wird in der Karikatur ironisiert, ist sie doch ambivalent, wie Stuart Hall allgemeiner ausführt: »Was als anders, abstoßend, ›primitiv‹, deformiert erklärt wird, wird gleichzeitig obsessiv und anhaltend genossen, weil es fremd, ›anders‹ und exotisch ist«.44 politische Gegenbewegung zu dieser negativen Repräsentation der Schwarzen populär. Gerade im Medium Fotografie manifestiert sich ein neues Selbstbewusstsein der Schwarzen. Vgl. Williams/Willis 2002 und Danto, Arthur C.: Beauty and Beautification. In: Zeglin Brand, Peg (Hg.): Beauty Matters. Bloomington 2000, S. 65-83, hier S. 80. 44 | Hall, Stuart: Das Spektakel des ›Anderen‹. In: Ders.: Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4. Hg. v. Juha Koivisto und Andreas Merkens. Hamburg 2004, S. 108-166, hier S. 157.

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Ironisch-parodistische Repliken zeitgenössischer Kunst 45

Solche Mechanismen werden auch in der zeitgenössischen Kunst reflektiert, indem rassistische Stereotype ironisch aufgegriffen und zitiert werden, so dass zugleich Subjektkonzeptionen problematisiert werden. Reflexiv sind die Arbeiten nicht zuletzt in dem Sinne, dass sie den ›weißen Blick‹ 46 zurückspiegeln und dadurch irritieren. Die Fotografin Renée Cox etwa greift, als eine von zahlreichen Künstlerinnen, die sich mit dem Thema auseinandergesetzt haben, in ihrer Arbeit Hott-en-tott von 1996 die gleichnamige Venus-Figur auf (Abb. 8). Cox verkörpert das Vorbild parodistisch, indem sie sich ein vergrößertes Gesäß und vergrößerte Brüste als metallische Prothesen anlegt. Die herkömmlichen Zuschreibungen einer grotesken Sexualität erweisen sich als groteske Zuschreibungen, sie sind wie die Prothesen in jedem Sinne des Wortes ›aufgesetzt‹.47 Zugleich setzen die bronzen glänzenden Brüste sowie das Gesäß ein optisches Spiel der Erotik in Gang, das zum Vexierspiel zwischen Anziehung und Abstoßung wird. Auf der einen Seite ermöglichen die reflektierende Flächen Projektionen, Automatisierungen. Wie Michel Tibon-Cornillot in einem anderen Zusammenhang erklärt, entstehen auf solche Weise Lichtkörper, die »die ›Sehenden‹ dazu einladen, ihr Wünschen nach außen zu projizieren, um dort den Ort ihrer Vollendung und Verschmelzung zu finden«.48 Die Prothesen sind beides: Versuchung und zugleich Körperpanzer, der durch die glatte, harte Oberfläche die Lust zurückweist. Verstärkt wird dieser Eindruck noch dadurch, dass die nackte Figur mit den Kunstgliedern kontrastiert. Die Prothesen verdecken überdies ihre Brüste und das Gesäß und werden im selben Moment zu sexuellen Hypermarkierungen. Die Hervorhebung von Geschlechtsmerkmalen ist zudem mit dem so genannten Primitivismus von afrikanischen Stammesriten assoziiert, bei denen hölzerne Brustmasken getragen werden. Durch Cox’ beziehungsreiches Spiel mit die45 | Vgl. zu diesem Aspekt auch Karentzos 2009. 46 | Vgl. Hölz, Karl; Schmidt-Linsenhoff, Viktoria; Uerlings, Herbert (Hg.): Weiße Blicke. Geschlechtermythen des Kolonialismus. Marburg 2004. 47 | Vgl. Leiser, Andrea: ›focus on black female beauty‹. Zur Repräsentation des schwarzen weiblichen Körpers. In: Schade, Sigrid; Strunk, Marion (Hg.): Unterschiede. Unterscheiden. Zwischen Gender und Kulturen. Zürich 2004, S. 128-147, hier S. 141. 48 | Tibon-Cornillot, Michel: Von der Schminke zu den Prothesen. Elemente einer Theorie zwischen dem Außen und dem Innen des Körpers. In: Tumult. Zeitschrift für Verkehrswissenschaft 2 (1979), S. 25-46, hier S. 28.

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sen Elementen richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Diskursivierung von Schönheit: Diese beruht nicht auf der Darstellung eines nackten Körpers, der unbezeichnet wäre, sondern auf einem Zeichenensemble. Irritierend ist zudem, dass die abgebildete Frau den Kopf zum Betrachter/zur Betrachterin wendet und den Blick erwidert. Dadurch erlangt sie, im Gegensatz zur historischen ›Hottentotten-Venus‹, eine Subjektposition, die durch ihre Rolle als Künstlerin potenziert wird. Cox transferiert ihren Körper in die historische Matrix der Repräsentation schwarzer Körper, ohne ihr zu unterliegen, da es sich um einen ironischen Rekurs der Künstlerin handelt. So wirft die Arbeit kolonialistische Wissensdiskurse auf sich selbst zurück. Auch die Künstlerin Ingrid Mwangi setzt ihren eigenen Körper ein, um die Projektionen und Einschreibungen kolonialistischer Wissenssysteme vorzuführen. In Mwangis zweiteiliger Fotoarbeit Static Drift (2001) werden rassistische Projektionen umgekehrt (Abb. 9). Auf dem einen Bild erscheint auf dem Bauch einer schwarzen Frau heller abgesetzt die Flächenkarte Afrikas als »Bright Dark Continent«, auf dem anderen daneben der dunklere Umriss Deutschlands als »Burn Out Country«. Der Körper der Schwarzen wird in jedem Sinne des Wortes kartographiert. Der dunkle Frauentorso mit der Afrika-Projektion – eine buchstäbliche Ver-

Abb 9 | Ingrid Mwangi, Static Drift, 2001.

körperung Afrikas – weckt sogleich Assoziationen an Freuds Topos der weiblichen Sexualität als ›dark continent‹ und ist mit Rätselhaftigkeit, Schönheit und Erotik konnotiert. Indem die Grenzen auf der Haut markiert werden, werden sie aber zugleich überschritten: Die Verbindung des so genannten ›schwarzen‹ Kontinents Afrika mit dem Bedeutungsfeld ›fröhlich, hell, leuchtend‹ einerseits und die ›Schwärzung‹ Deutschlands andererseits widerspricht üblichen Zuschreibungen. Die Körperhaut wird

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zu einer irritierenden Kontrastfolie, sie selbst changiert zwischen hell und dunkel und konterkariert die Ein- und Ausgrenzungen. Die Brisanz der Arbeit erhöht sich noch dadurch, dass es sich um den Körper der Künstlerin handelt. Simon Njami weist auf die kulturellen Codes hin, denen Mwangis Hautfarbe unterworfen wird: »I imagine her in Nairobi beside her friends with her too-light skin. I imagine her a few years later with her friends in Saarbrücken, her skin too dark. This skin became a screen, a metaphor«.49 Die Bewertung der Hautfarbe ändert sich je nach Blickwinkel – in der Neubewertung derselben Haut als einer anderen wird das Paradox des Titels »Static Drift« aufgegriffen. Darin spiegelt sich überdies der von Hegel kolportierte Gegensatz von Afrika als Stillstand und Europa als Fortschritt in einer Figur. Im Kontext des Postkolonialismus reflektieren solche Arbeiten überdies auf die grundlegende Problematik der Allegorisierung von Erdteilen und

Abb 10 | William Blake, Europe supported by Africa and America, 1796.

Nationen durch weibliche Figuren. Das Spiel mit heller und dunkler Farbigkeit in Mwangis Arbeit greift eine Tradition der Erdteil-Allegorien auf, bei denen ebenfalls die Hautfarbe distinktiv den jeweiligen Konti49 | Njami, Simon: Memory in the Skin. The Work of Ingrid Mwangi. www.mwangihutter.de/sta_nja.htm, 08.04.2006.

›NUDA VERITAS‹

nent kennzeichnet. Als ein Beispiel aus dieser Tradition lässt sich etwa William Blakes Stich Amerika und Afrika stützen Europa aus dem Jahr 1796 heranziehen (Abb. 10).50 Die drei weiblichen Figuren sind durch ihre Hautfarben typisiert und repräsentieren auf diese Weise Kontinente: »Europa ist eine weiße, blonde ›Venus Pudica‹ mit gesenktem Blick; sie wird von Afrika im Bild der lüsternen, schwarzen Venus und einer goldbraunen Allegorie Amerika gestützt, die die Hauptlast trägt und am lebhaftesten den voyeuristischen Blick des Betrachters herausfordert.«51 Annegret Pelz arbeitet weitere Strukturmerkmale historischer Erdteil-Allegorien heraus; unter anderem erläutert sie die Tradition solcher Allego-

Abb 11 | Heinrich Bünting, Europa Prima Pars Terrae in Forma Virginis, 1588.

risierungen am Beispiel der Karte von Heinrich Bünting Europa Prima Pars Terrae in Forma Virginis aus dem Jahr 1588: Im Stil der barocken Emblematik (Inscriptio, Pictura, Subscriptio) gezeichnet, stellt diese Karte den europäischen Kontinent – dem Titel entsprechend – als weiblichen 50 | Stich aus Stedman, John G.: Narrative of a Five Years Expedition against the Revolted Negroes of Surinam. London 1796. 51 | Schmidt-Linsenhoff, Viktoria: Sklaverei und Männlichkeit um 1800. In: Friedrich/ Haehnel u.a. 1997, S. 96-111, hier S. 106.

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KÖRPER-ÄSTHETIKEN

Körper vor, so dass der Raum sexualisiert wird und zugleich die Frau verräumlicht wird (Abb. 11).52 In solchen Darstellungen manifestiert sich nach Pelz ein »raumbezogene[s] Denken über Weiblichkeit«, indem diese den weiblichen Körper zergliedern und »mit konkreten räumlichen Vorstellungen« verbinden; Pelz macht an derartigen Beispielen deutlich, dass die Karten Orientierungspunkte bieten, dadurch dass die Phantasie »auf bestimmte geographische Vorstellungen fest[ge]legt« wird und die Betrachter/innen aufgefordert werden, »räumlich über Weiblichkeit zu sprechen«.53 Allegorie und Fremdheit

An den untersuchten Beispielen zeigt sich, wie sich in den allegorischen Körpern Wahrheitsdiskurse mit Weiblichkeit und Fremdheit verschränken. Dieses Forschungsfeld bildet damit eine Schnittstelle zwischen Gender und Postcolonial Studies. Wie gesehen, greifen zeitgenössische künstlerische Arbeiten Allegorie-Konzepte ironisch auf, um deren Geschlechter-, Ethnie- und Nationen-Stereotype vorzuführen und in Frage zu stellen. Dabei zitieren sie koloniale Körperbilder, die ihrerseits als Grenzfiguren fungieren. Im Blickpunkt postkolonialer Forschung stehen nicht zuletzt diejenigen Bilder, in denen jene Abgrenzung von ›Eigenem‹ und ›Anderem‹ ins Wanken gerät: etwa in Formen von Mimikry, in denen das ›Andere‹ in gebrochener Weise angeeignet wird, so dass allerdings die Unterscheidung zwischen ›Eigenem‹ und ›Anderem‹ fraglich wird. Die als Idealbild konstruierte antikische Venus wird sowohl in der ›Schwarzen Venus‹ als auch in den anthropologischen Diskursen um die ›Hottentotten-Venus‹ im 19. Jahrhundert verzerrt gespiegelt. Auf solche Beispiele lässt sich Homi K. Bhabhas Begriff der Mimikry anwenden: Bhabha bezieht sich auf andere Kontexte, in denen Mimikry als Angleichung an Kolonialherren ambivalent erscheint: Sie bestätigt nicht einseitig die Kultur der Kolonialherren als Vorbild, sondern droht in eine »mockery«, ein Sich-Lustigmachen, zu kippen.54 Somit zeigt Bhabha, wie die Selbstwahrnehmung 52 | Pelz, Annegret: Reisen durch die eigene Fremde. Reiseliteratur von Frauen als autogeographische Schriften. Köln/Weimar/Wien 1993, S. 20. 53 | Ebd., S. 18. 54 | Bhabha, Homi K.: The Location of Culture. London u.a. 1994, S. 86. Vgl. dazu auch Sieber, Cornelia: Der ›dritte Raum des Aussprechens‹ – Hybridität – Minderheitendifferenz. Homi K. Bhabha: The Location of Culture. In: Karentzos, Alexandra; Reuter, Julia (Hg.): Schlüsselwerke der Postcolonial Studies. Wiesbaden 2012, S. 97-108.

›NUDA VERITAS‹

der Kolonisatoren sich verändert, wenn die Kolonisierten sich in deren Zerrbild verwandeln (»almost the same, but not quite«55). Solche Darstellungen, wie auch die verschiedenen Figurationen der ›Schwarzen Venus‹, bestätigen und bedrohen gleichzeitig das als Norm gesetzte Vorbild. Als Allegorien Afrikas konstituieren sie somit die Grenzen zu Europa und bringen sie zugleich in Bewegung. 55 | Bhabha 1994, S.86/89.

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Abb 1 | Blumengeschmückter Kachelfries (vermutlich spanische Provenienz) im mercedarischen Konvent Lima.

Maret Keller 167

DIE REINHEIT MARIENS Die ›Maria de la Merced‹ zwischen Dogma und Volksfrömmigkeit in Spanisch-Amerika

Seit Jahrhunderten machen sich große Teile der Weltbevölkerung immer wieder ein Bild der Maria von Nazareth, die nach christlicher Auffassung die leibliche Mutter Jesu Christi war. Körper und Persönlichkeit der historischen Person werden dabei zu Trägern bestimmter idealtypischer Vorstellungen etwa von Barmherzigkeit, Mütterlichkeit und Reinheit. ›Maria‹ dient so als Projektionsfläche und wird in ihren bildlichen und figürlichen Darstellungen und dem Umgang mit diesen zum Indikator individueller und kollektiver menschlicher Bedürfnisse und Wertvorstellungen. Wo diese nicht akzeptiert werden oder divergieren, wird ›Maria‹ zum Streitobjekt und Kristallisationspunkt gesellschaftlicher Spannungen. Als ein Exempel soll hier ein Fall populärer Marienverehrung im Spanisch-Amerika des frühen 17. Jahrhunderts vorgestellt werden. Die Quellen verweisen auf einen Streit darüber, wie Körper und Wesen Marias beschaffen waren, und um die Deutungshoheit solcher Vorstellungen. Sie erlauben eine Rekonstruktion der Wechselwirkung zwischen theologischen Lehrmeinungen und dem religiösen Empfinden der sogenannten ›einfachen Bevölkerung‹. Ausgangspunkt ist die Schilderung einer Begebenheit in der ›Generalhistorie des Mercedarier-Ordens‹, verfasst vom Chronisten des Ordens Fray (span.: Ordensbruder) Gabriel Téllez (1579-1648), besser bekannt unter seinem Pseudonym als Dramatiker Tirso de Molina. Fray Gabriel schilderte an dieser Stelle den Zuspruch, den sein Orden mit der Lehre von der Reinheit Mariens erfuhr:

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KÖRPER-ÄSTHETIKEN

»Man führte in dieser Stadt und Insel die Verehrung der bewahrten Reinheit der allerreinsten Empfängnis unserer Mutter und Königin ein […]. Es ist nicht zu glauben, mit wie viel Genuss dieses Volk diese Lehre annahm, Adelige und Gemeine, Männer und Frauen, Alte und Kinder; es scheint, als hätten sie sie, [bereits] unterrichtet, erwartet […] und Tag und Nacht, ohne Unterlass, in Prozessionen und Menschenmengen besuchten sie zu Hunderten unsere Kirche.«1

Das Volk, das diese Lehre mit soviel Begeisterung annahm, war die Bevölkerung der Stadt Santo Domingo auf der Insel Hispaniola (der heutigen Dominikanischen Republik und Haiti). Fray Gabriel Téllez berichtete hierbei aus eigener Anschauung. Er war Mitglied einer mercedarischen Reform-Delegation gewesen, die im März 1616 von Spanien aus nach Hispaniola aufgebrochen war.2 Die zitierte Beschreibung verfasste er in apologetischer, aber auch mit didaktischer Absicht, als Chronist des ›Ordens unserer Lieben Frau von der Barmherzigkeit vom Loskauf der Gefangenen‹. Diese üblicherweise kurz als ›Mercedarier‹ (von span. ›merced‹: Barmherzigkeit) bezeichnete Gemeinschaft führt ihre Gründung auf eine Marienerscheinung in Barcelona im Jahre 1218 zurück. Dokumentarische Erwähnung der Mercedarier findet sich seit den 1220er Jahren.3 1 | Molina, Tirso de [= Pseudonym Gabriel Téllez’, O. de M.]: Historia General de la orden de Nuestra Señora de las Mercedes/2 (1568 - 1639). Madrid 1974 [Ms. 1639], S. 357: »[S]e introduxo en aquella cuidad y ysla la deuoción de la limpieza preservada de la Concepción puríssima de nuestra Madre y Reina […]. No es creíble el gozo con que abrazó aquel pueblo esta doctrina, nobles y comunes, hombres y mujeres, viejos y niños; parece que, industriados, la esperaban, pues con ser tan nueua a sus oídos, como he significado, se les asentó en las almas de manera que, aunque los oppuestos eran señores de los auditorios y las voluntades de todos asta entonces desde que aduirtieron su contumancia en deffensa de la opinión contraria, totalmente se desamparon, y las noches y días, sin cessar, en procesiones y concursos, frequentaban a centenares nuestra iglesia.« [Schreibweise und Seitenangaben der Zitate entsprechen denjenigen der Quellen/Publikationen.]. 2 | Vgl. das Verzeichnis der reisenden Mönchsgruppe vom 28. März 1616 im Indienarchiv in Sevilla (Archivo General de Indias, AGI), Signatur: AGI, Contratación, 5353, N. 58 (http://pares.mcu.es/, 17.12.2012.). 3 | Die älteste bekannte Version einer solchen Gründungserzählung findet sich in Nadal Gavers Schrift Speculum Fratrum von 1445. Die erste päpstliche Erwähnung einer wundertätigen Gründung erfolgte in einer 1530 von Papst Clemens VII. ausgestellten Bulle mit Privilegien, vgl. Vázquez Núñez, Guillermo: Manual de la Historia de la Orden de Nuestra Señora de la Merced I (1218-1574). Toledo 1931, S. 432. Für eine Untersuchung der frühesten Zeugnisse bezüglich des Ordens und seiner Arbeit vgl. Brodman, James William: Ransoming Captives in Crusader Spain. The Order of Merced on the Christian-Islamic Frontier. Philadelphia 1986.

DIE REINHEIT MARIENS

Im Kontext der spanischen Kreuzzüge und der sogenannten ›Rückeroberung‹ der arabisch dominierten Gebiete der spanischen Halbinsel expandierte die ähnlich den Militärorden organisierte Laienbruderschaft bald von Barcelona und Aragón aus auch nach Kastilien und in Teile Frankreichs und Italiens. 1235 vom Papst als Orden anerkannt blieben die Mercedarier auch ihrer Klerikalisierung im Jahre 1319 eher lebenspraktisch als kontemplativ ausgerichtet.4 Die Mitglieder des Ordens beschäftigten sich vor allem mit Spendensammlung und der Organisation des Freikaufs von Christen, die in maurische Gefangenschaft geraten waren. Im 16. Jahrhundert nahmen Mitglieder des Mercedarierordens an der spanischen Expansion nach Amerika teil und übernahmen dort zum ersten Mal auch missionarische Aufgaben – zunächst in Mittelamerika, gefolgt vom dem den gesamten Andenraum umfassenden Vizekönigreich Peru und später auch dem Vizekönigreich Neuspanien, dem heutigen Mexiko. Die Mercedarier begaben sich dabei mancherlei Hinsicht in ein Konkurrenzverhältnis zu Weltklerus und den anderen vom spanischen Herrscher in den Kolonien zugelassenen Orden: Denen der Franziskaner, Dominikaner, Augustiner und später der Jesuiten. Diese Orden waren personalstark, missionserfahren und wurden als (reformierte) Bettelorden vom Königtum monetär unterstützt. An offiziellen theologischen Diskussionen hatte sich der Mercedarier-Orden im Gegensatz zu ihnen bis dato nicht maßgeblich beteiligt. Die Lehre von der Reinheit Mariens: Vor Sünde bewahrt oder von ihr gereinigt?

Auf Santo Domingo predigten die Mercedarier nun die »Verehrung der bewahrten Reinheit der allerreinsten Empfängnis unserer Mutter und Königin« Maria.5 Die Diskussion über die ›Reinheit Mariens‹ war kein neues Phänomen. Nach christlicher, wesentlich von Augustinus von 4 | Die frühen Konstitutionen des Ordens beinhalten keine Hinweise auf eine spezifisch mercedarische Spiritualität. 1327 wurde die Verwendung des dominikanischen Breviers angeordnet, doch blieb die Liturgie lange uneinheitlich. Hinweise auf eigene Werke gibt es ab 1506; die frühesten erhaltenen datieren von 1533 und 1560 und zeigen kaum charakteristische Unterschiede zum 1576 übernommenen römischen Ritus, vgl. hierzu Lopez, Fernando: La Inmaculada en la liturgia de la orden de la Merced. In: Estudios 30 (1954), S. 499-512, sowie für eine kritischere Argumentation Vázquez Núñez, Guillermo: La Antigua Liturgia Mercedaria. In: Boletín de la Orden de la Merced 1-6 (1934), S. 12-20. 5 | Vgl. Anm. 1.

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KÖRPER-ÄSTHETIKEN

Hippo (354-430) geprägter Auffassung sind seit dem Sündenfall der ersten Menschen alle ihre Nachkommen von dieser Ursünde ›befleckt‹. Die Lehre, von deren Erfolg Fray Gabriel berichtete, betrifft die Ausnahme Marias von dieser erblichen Ursünde. Die Bibel bietet hierzu keine Anhaltspunkte. Informationen über Maria von Nazareth sind fast ausschließlich in apokryphen Texten wie dem sogenannten Jacobus-Evangelium enthalten. Im Volksglauben galt Maria jedoch bereits seit dem zweiten Jahrhundert als frei von jeder Sünde, weshalb ihre eigene Empfängnis als ein Wunder angesehen, und seit dem siebten Jahrhundert auch als solches gefeiert wurde. ›Maria‹ wurde in ihrer Sündlosigkeit zu einem überweltlichen Ideal weiblicher Tugend, das in der menschlichen Lebenswelt als unerreichbares und gleichzeitig unausweichliches Vorbild wirkte. Für Theologen ist die Gestalt der Maria vor allem von Interesse, weil ihr Körper dem göttlichen Geist zur Inkarnation in der Welt, also dem transzendenten Gott, zur Fleischwerdung verholfen haben soll. Als problematisch angesehen wurde dabei die Tatsache, dass sie als Nachfahrin Evas wie alle anderen Menschen den Makel der Erbsünde tragen müsse, und Gottes Sohn somit eine Sünderin zur leiblichen Mutter hätte. Zunehmend akademisch diskutiert wurde das Problem ab dem 12. Jahrhundert. Weltklerus und Papsttum waren in diese Debatte weniger involviert als vielmehr die verschiedenen Ordensgemeinschaften, die seit dem 14. Jahrhundert hierüber heftig stritten.6 Die Dominikaner waren dabei Anhänger der These von der ›Sanctificatio Mariae‹, also der nachträglichen Reinigung Marias durch die Gnade Gottes, wie sie der Zisterzienser Bernhard von Clairvaux (1091-1153) formuliert hatte und wie sie auch Thomas von Aquin (ca.1225-1274) vertrat. Johannes Duns Scotus (12661308) war dagegen der Ansicht, dass Maria bereits im Vorfeld, durch die Erlösungsmacht des Kindes, das sie gebären sollte, von der Erbsünde befreit und somit vor jeglicher Verunreinigung bewahrt worden war.7 Maria sei ›Immaculata‹ (lat.: die Unbefleckte), und durch diese 6 | Im 15. Jahrhundert waren vor allem die Universität Paris, das Konzil von Basel (1431-49) und die Könige von Aragón an dieser Diskussion beteiligt, vgl. z.B. Delgado Varela, J.M.: La Mariología en los autores españoles de 1600 a 1650. In: Estudios 20 (1951), S. 249-295. 7 | Er zitiert hierzu Pseudo-Anselmus: »Decuit, potuit, ergo fecit« (»Es ziemte sich, er [Gott] konnte es, daher machte er [es]«). Vgl. hierzu etwa Courth, Franz: Art. Maria/Marienfrömmigkeit III/2 Katholisch. In: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 22. Hg. v. Gerhard Müller. Berlin/New York 1992, S. 143-148, 156.

DIE REINHEIT MARIENS

vollkommene Sündlosigkeit – oder positiv ausgedrückt: Reinheit – ›voll der Gnade‹ und ›in höchstem Maße heilig‹.8 Die Lehre von der ursprünglichen Reinheit Marias wurde besonders von den Franziskanern vertreten.9 Die Humanisten und Reformatoren stellten die Marienverehrung insgesamt in Frage. Sowohl die These von der Reinigung als auch die der Bewahrung der Reinheit sahen sie als eine Überinterpretation irrelevanter und teilweise falsch übersetzter Bibelstellen, und letztlich für populären Unsinn an. Vor allem lehnten sie die mit Marias Verehrung einhergehende Anbetung von Bildnissen ab, zumal die Sinnlichkeit der immer an zeitgenössischen Schönheitsidealen orientierten Darstellungen Mariens (wie allgemein auch weiblicher Heiliger) nicht als der Hinwendung zum Schönen, Göttlichen förderlich, sondern als der Kontemplation abträglich gewertet wurde.10 Auf dem Trienter Konzil (1554-1563) legte die katholische Kirche ihre Positionen zu vielen strittigen und von den Reformern kritisierten Punkten fest. Von seinen Aussagen über die Erbsünde nahm das Trienter Konzil Maria als »seelige und unbefleckte Gottesgebährerin« dabei ausdrücklich aus, begründete dies jedoch nicht näher.11 Zum Dogma wurde die Lehre von der unbefleckten Empfängnis Mariens selbst erst durch ein päpstliches Machtwort im Jahre 1854. Bis dahin wurde weiter gestritten. Was die bildliche Vermittlung der katholischen Glaubensinhalte betraf, so beschloss der Kirchenrat, daran festzuhalten. Er gebot den Seelsorgern ihre Schutzbefohlenen zu lehren, dass es »gut und nützlich 8 | Das Allerheiligste war in der jüdischen Tradition das, was Gott am nächsten kam, das vollkommen Reine. Gegenbegriff ist das Profane, das Weltliche – die Welt befindet sich im Zustand des Un-heils, wobei das verunreinigende Element hier die Sünde ist, vgl. dazu etwa Lanczkowski, Günter u.a.: Art. Heilige/Heiligenverehrung. In: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 14. Hg. v. Gerhard Müller. Berlin/New York 1985, S. 641-672. 9 | Vgl. Rubin, Miri: Mother of God. A History of the Virgin Mary. London 2009, S. 173-176. Vgl. auch Warner, Marina: Maria. Geburt, Triumph, Niedergang – Rückkehr eines Mythos?. München 1982, S. 279-297. 10 | Zu Luthers und Calvins Verhältnis zur Marienverehrung vgl. z.B. Rubin 2009, S. 367-376. Für Argumente etwa der Scholastik und Mystik für Einsatz und Kontemplation des Ästhetischen vgl. Eco, Umberto: Kunst und Schönheit im Mittelalter. München 2007. 11 | Vgl. Egli, Jodocus: Das Heilige, allgültige und allgemeine Concilium von Trient, das ist: dessen Beschlüsse und hl. Canones. nebst den betreffenden päpstlichen Bullen. Luzern 1825, S. 28-32.

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KÖRPER-ÄSTHETIKEN

sey, sie [die Heiligen] demütig anzurufen«, allerdings sollten die populären Formen der Verehrung kontrolliert werden.12 Dabei sei auch darauf zu achten, dass »nicht geglaubt werden dürfte, daß denselben [Bildern] eine Gottheit, oder eine Kraft innewohne, wegen welcher sie verehrt werden sollen« – vielmehr sollte sich die Ehrerweisung »auf das Abgebildete« beziehen, »welches Dieselbigen darstellen«.13 In Südamerika wurden die Beschlüsse des Trienter Konzils erstmals vom Zweiten Konzil von Lima (1567-68) rezipiert, das in der Folge unter anderem anordnete, »dass die Bischöfe die Bildnisse visitieren, und dass sie diejenigen, die sie schlecht gemacht oder anstößig finden, herrichten oder gänzlich entfernen; und dass Bildnis unserer Lieben Frau oder jedweder Heiligen soll nicht mit Kleidern und Kostümen von Frauen geschmückt werden, noch soll man ihnen Kosmetika oder Farben auftragen, die Frauen benutzen; man kann allerdings einen schönen Umhang hintun, den das Bildnis dann bei sich hat.«14 Die Lehre von der Reinheit Mariens – ein mercedarischer Publikumserfolg?

Die Mercedarier bezogen zu Beginn des 17. Jahrhunderts erstmals öffentlich Stellung zu Fragen der Dogmatik, vor allem bezüglich der Mariologie. Dabei trat eine neue Generation Gelehrter auf den Plan, deren akademische Bildung nicht zuletzt durch die Spendengelder und Abgaben aus den Konventen des Ordens in den amerikanischen Kolonien finanziert worden war. Unter ihnen war auch der erste offizielle Chronist des Ordens, Fray Alonso Remón (1561-1632). Er und sein Amtsnachfolger Fray Gabriel Téllez begegneten dem staatlichen Reformdruck auf den Orden durch die mariologische Ausgestaltung der weitgehend unbekannten Vita des Ordensgründers Pedro Nolasco sowie des Charismas des Ordens überhaupt.15 12 | Vgl. ebd., S. 212, 311-315, hier S. 312. 13 | Ebd., S. 313. 14 | Vgl. den Konzilsbeschluss Nr. 53 in: Vargas Ugarte, Rubén: Concilios Limenses (1551-1772) I. Lima 1951, S. 231: »Que los ovispos vissiten las ymágenes y las que hallaren mal hechas e indecentes o las aderecen o quiten del todo y la imagen de nuestra señora o de cualquiera santa no se adorne con bestidos y trages de mugeres, ni les pongan afeites o colores de que usan mugeres, podrá empero ponerse algún manto rrico que tenga consigo la imagen.« 15 | Rezipiert wurden die frühen Berichte von der Gründung des Ordens durch die Jungfrau Maria bereits prominent in den Schriften des kastilischen Provinzials

DIE REINHEIT MARIENS

Als Fray Gabriel Téllez und die anderen Ordensbrüder aus Spanien 1616 in Santo Domingo ankamen, war das dortige Haus der Mercedarier, wie er später schrieb, das »am wenigsten Gefeiertste und Besuchteste« der Stadt.16 Viele der dortigen Ordensbrüder waren in der Hoffnung auf bessere Lebensverhältnisse nach Peru abgewandert; Fray Gabriel zufolge waren »nur die Unnützen« geblieben.17 Tatsächlich begründete der Ordensgeneral damals die Entsendung der Mönche den Behörden gegenüber mit dem Fehlen von »gebildeten Männern« in den mercedarischen Häusern dort.18 In erheblich höherem Ansehen scheinen in Santo Domingo die Dominikaner gestanden zu haben, die ebenso wie die Mercedarier seit etwa 1514 auf Hispaniola ansässig waren.19 Auf sie bezog sich der Chronist, als er anmerkte, dass »die Gegner [der nun von den Mercedariern propagierten Lehre] die Herren der Zuhörerschaft, und bis dahin des Willens aller« gewesen seien. Er berichtete weiterhin, dass die Mercedarier bis dato nie gewagt hätten, den Dominikanern in dieser SaGaspar de Torres (ca. 1510-84), vgl. dazu z.B. Taylor, Bruce: Structures of Reform. The Mercedarian Order in the Spanish Golden Age. Leiden/Boston/Köln 2000, S. 5f. Innerhalb des Ordens wird diese Glaubenswahrheit als durch mündliche Tradition überliefert angesehen, vgl. z.B. Serratosa, Ramon: La santísima virgen de la Merced. In: Estudios 24 (1952), S. 571-580. Weitere bis heute einflussreiche Versionen sind die in den Ordenschroniken Alonso Remóns und Tirso de Molinas. Für eine Zusammenfassung hierzu, vgl. Corazón Aquatias, Luis del S.: La orden de la Merced, defensora de la inmaculada. In: Estudios 31 (1955), S. 13-27. Corazón Aquatias kommt zu dem Schluss, Maria hätte den Orden als Zeugnis ihrer Unbefleckten Empfängnis gründen wollen, damit die an ihr wirksame Barmherzigkeit Jesu in der Arbeit der Freikäufer imitiert würde. 16 | Molina: Historia General 2, S. 358: »siendo nuestra cassa la menos applaudida y frequentaba […]«. 17 | Ebd., S. 356: »Lo cierto es que la pobreza summa de aquellas partes, descaminaba a los nuestros que, sin licencia de sus prelados, se passasen, los que eran importantes, a otras más acomodadas, y que quedando solos los inútiles […]«. 18 | AGI, Indiferente, 2075, N.63: „Juan Gómez“, 1615 (11 Bilder; http://pares.mcu.es/; 18.12.2012.), Bild 5 von 11: »[…] y que a mucho tiempo que no ban Religiosos a aquella ysla por lo qual los conbentos que tiene en ella la d[ic]ha Horden estan faltos de personas de letras.« 19 | Molina: Historia General 2, S. 357. Nachweislich aktenkundig wurden die Mercedarier auf Santo Domingo erstmals 1514 durch die Dokumentation der Vergabe indigener Sklaven. Drei Indigene sollten den Bau des Konventes übernehmen. Den Dominikanern wurden zu diesem Zweck eine Kazikin mit dreizehn weiteren Personen zugesprochen, vgl. das ›Repartimiento de la Isla Española‹, in: Coleccion de documentos ineditos relativos al descubrimiento, conquista y colonizacion de las posesiones españolas en América y Occeanìa I. Madrid 1864, S. 140.

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che zu widersprechen.20 Die Lehre von der bewahrten Reinheit Marias sei deshalb auf der Insel bis dato »fast unbekannt« gewesen. Mit der Verbreitung und Verteidigung dieser Auffassung befolgte die gerade aus Spanien eingetroffene Gruppe in Santo Domingo eine Weisung, die vom jüngsten Generalkapitel des Ordens ausgegangen war.21 Handreichung für diese Predigten dürfte ein im selben Jahr erschienenes Werk Fray Alonso Remóns gewesen sein, das acht Predigten mit Argumenten für die unbefleckte Empfängnis Mariens enthielt.22 Die Reaktion des Publikums beschrieb Chronist Fray Gabriel Téllez wie folgt: »Es kamen die Seeleute fahnenschwenkend von ihren Schiffen, und mit entzündeten Fackeln, in den Händen Kriegsgerät, schien es, als ob sie sich förmlich zu Sterben anböten für die Verteidigung einer solch frommen Sache. Die Kinder versammelten sich, ohne Zutun oder auch nur Wissen ihrer Eltern; und indem sie für Lichter und Altarkerzen ausgaben, was ihre liebevollen Betteleien aus ihren Müttern herausholten, zogen sie mit papiernen Standarten und Flugblättern dieses erbarmungsreichen Mysteriums in Viererformationen durch die Straßen hin zu unserem Gotteshaus, Volkslieder und Motetten für die ›Auserwählte Jungfrau und Königin der ursprünglichen Gerechtigkeit‹ singend. […] Und die Almosen, die sie beibrachten, waren so reichlich (und bis heute tragen alle bei, Arme und Reiche, Freie und Sklaven), dass es nicht nur für den Schmuck dieses wundertätigen Abbildes unserer Befreierin genügt, sondern auch um unsere Ordensbrüder, die ihre Schüler sind, zu unterhalten.«

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20 | Molina: Historia General 2, S. 357: »aunque los oppuestos eran señores de los auditorios y las voluntades de todos asta entonces […]«; S. 358: »Me respondió […]: ›[…] lo poderoso de los que predican lo contrario es tan valido que, a competir con ellos, nos faltaría el sustento‹«. 21 | Ebd., S. 357: »[…] cossa casi incógnita […]« ; »[L]a deuición de la limpieza preseruada de la Concepción puríssima de nuestra Madre y Reyna, cossa casi incógnita en los habitadores de aquel pedazo de mundo descubierto. […] Mandóse a todos los de nuestra religión en el cappitulo general de este maestro, que se deffendiesse en la chátedra y los púlpitos esta verdad piadossa«. 22 | Vgl. die Zitate und Analyse in Delgado Capeans, P.R.: Una obra mariana de Remón. In: Estudios 18 (1950), S. 487-512. 23 | Molina: Historia General 2, S. 357: »Salían los marineros de sus naues tendidos sus vaneras y con hachas encendidas en las manos y instrumentos vélicos, parece que se offrecían virtualmente a morir en el patrocionio de tan piadosa caussa. Los muchachos, sin diligencia ni aun noticia de sus padres se conbocaban, y gastando en velas y cirios lo que amorossa importunación sacaba de sus madres, con estandartes de papel y estanpas de este misterio compasibo, salían

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Wie konnten die Predigten eine solch heftige Resonanz hervorrufen? Als einen Präzedenzfall könnte man die Ereignisse in Spanien drei Jahre zuvor heranziehen: In Sevilla, dem spanischen Zentrum des Seeverkehrs mit den Amerikas, war es zu hitzigen öffentlichen Diskussionen und Protestmärschen gekommen, als ein Dominikaner die Unbefleckte Empfängnis Mariens öffentlich in Zweifel zog.24 Die sevillaner Bürgerschaft entsandte sogar eine Delegation an den Königshof, welche Philip III. (1578-1621) den allgemeinen Wunsch mitteilte, die Kirche möge das Mysterium der Unbefleckten Empfängnis Mariens zum Dogma erklären.25 Diese ›Volksbewegung‹ in Sevilla verteidigte eine bereits fest im Volksglauben verankerte Vorstellung. Die Predigten der Mercedarier in Santo Domingo sind dagegen eher als Angriffe auf bestehende Ansichten und vor allem auch auf deren offizielle Vertreter zu verstehen. Demonstrative Kampfbereitschaft für die Verteidigung des ›rechten‹ Glaubens, von Kindern spontan praktizierte Devotion, Lobgesang für Maria, Prozessionen – Fray Gabriel führte diese Äußerungen der Volksfrömmigkeit auf den Erfolg der neuen Lehre zurück. Er bezeichnete diesen Erfolg der Lehre in Santo Domingo als schier »nicht zu glauben«. Eben dies verlangte er jedoch von seinen Lesern, denen er mit dieser Redensart wohl vor allem die Überraschung und demütige Freude des Intellektuellen über die positive Resonanz seiner Predigten vor Augen führen wollte.26

por las calles en quadrillas a nuestro templo, cantando villancicos y motetes a la Preuilegiada Virgen y Reyna de la original Justicia. [...] y fue tan abunudante la limnosa con que acudieron, y asta agora acuden todos, pobres y ricos, libres y esclauos que es suficiente no sólo para el adorno de aquella milagrosa copia de nuestra Redemptora, pero aun para sustenarse nuestros frayles, sus alumnos.« 24 | Vgl. z.B. Delgado 1951, besonders S. 252-254. Die dort zitierte zeitgenössische Schilderung der Prozessionen und ihrer buntgemischten Teilnehmer ähneln der Beschreibung Tirso de Molinas. 25 | Unter den 60 namentlich Zeichnenden der Petition befanden sich auch zwei Mercedarier, vgl. Calle, Francisco de la: La inmaculada y la merced. Dos mercedarios desconocidos en un certamen mariano de 1615. In: Estudios 58 (1962), S. 491-505, hier S. 491f. 26 | Vgl. das Eingangszitat, Anm. 1: »Es ist nicht zu glauben, mit wie viel Genuss dieses Volk diese Lehre annahm […]« - »No es creíble el gozo con que abrazó aquel pueblo esta doctrina […]«.

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Die ›Maria de la Merced‹ als Patronin von Santo Domingo

Erklärlich wird der Enthusiasmus der Bevölkerung, wenn man dessen Äußerungen genauer betrachtet. In der seiner Beschreibung der öffentlichen Frömmigkeitsbezeugungen erwähnte der Chronist Flugblätter, die wohl das in der Lehre beinhaltete Mysterium dargestellt haben dürften. Vor allem aber ist in seiner Erzählung eine von den Menschen geschmückte und reich beschenkte »Kopie unserer Befreierin« als konkretes Objekt der Verehrung auszumachen.27 Dies wird auch in der Passage deutlich, in der Fray Gabriel seinen Lesern den unmittelbaren Nutzen der neuen Lehre für den Orden schilderte: Die Bevölkerung habe zur Ausschmückung einer Mariendarstellung beigetragen und die Mercedarier als die Besitzer und Hüter dieses, wie Fray Gabriel schrieb, »wundertätigen Abbildes« Marias nun auch finanziell unterstützt. In der Folge hätten sogar das königliche Appellationsgericht und der Stadtrat beschlossen, jedes Jahr einen Festumzug am Tag der Empfängnis Marias auszurichten und Maria auf immer zur Patronin der Stadt zu ernennen. Der Chronist beanspruchte dieses Verdienst zunächst für die neue Lehre, bzw. die aus Spanien eingetroffenen Mönche: »Dies war die erste Frucht, die unser Kommen erbrachte«.28 Am Ende des betreffenden Kapitels verwies er jedoch auch auf die Mariendarstellung als die übernatürliche Ursache sowohl für den beschriebenen, als auch für weitere Erfolge der spanischen Reformer: »Wir müssen all dies diesem sakrosankten Bildnis zuschreiben, denn [es] sah die Absichten und Wünsche jener frommen Bürger voraus«, indem es ein Wunder gewirkt habe »fast als wir [die Mönche aus Spanien] zur See [dorthin] unterwegs waren«. Für die Beschreibung der Dinge, die, wie er schrieb, Marias »allmächtiger Sohn in Gegenwart dieser herrlichen Nachbildung seiner Mutter wirkte«, verweist der Chronist auf spätere Kapitel seiner Chronik.29 27 | Ebd., vgl. Anm. 23 : »[…] el adorno de aquella milagrosa copia de nuestra Redemptora […]«. 28 | Molina: Historia General 2, S. 358: »Este fue el primer fructo que se consiguió de nuestra ida […]«. 29 | Ebd., S. 358 : »Deuémoslo todo atribuir a aquella ymagen sactrosancta, pues preuino las voluntades y deseos de aquellos debotos cuidadanos, obligándolos, casi quando nauegábamos [Fray Gabriel y los demás frailes, desde España], con vn milagro acompañado de otros muchos, que no duró menos que quarenta días, ni fueron dos o tres personas fauorecidas de ellos, sion la cuidad entera. Dirémoslos con los demás que obró su omnipotente Hijo a la presencia de este precioso trasumpto de su Madre, quando […]«.

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Dieses Versprechen blieb Fray Gabriel keinesfalls schuldig. Doch mehr als 200 Folioseiten später war von der Lehre der Reinheit Mariens nicht mehr die Rede. An dieser späteren Stelle berichtete Fray Gabriel stattdessen ausführlich von der Wundertätigkeit des Bildnisses. Ursprünglich sei es, so der Chronist, ein Geschenk der Königin Isabella von Kastilien (1451-1504) gewesen.30 1615 hätte man es dann gänzlich vergessen in einer Ecke des mercedarischen Konvents in Santo Domingo aufgefunden, während die ganze Stadt ein anderes Bildnis verehrte, das als wundertätig galt – dasjenige der Dominikaner nämlich (was wiederum deren damalige überlegene Position in der geistlichen Hierarchie der Insel illustriert). Die nun wiederentdeckte Mariendarstellung der Mercedarier wurde von Fray Gabriel an dieser Stelle seiner Chronik wortreich als das »gottseeligste Bildnis«, als »herrliches Konterfei und Abbild der erhabenen Herrscherin des Himmels«, als »verehrungswürdiges Scheinbild« und vor allem als wundertätig beschrieben: »Das wundertätige Bildnis ist von der Statur etwas größer als die Frauen unseres Jahrhunderts, sehr wohl proportioniert und so schön, dass es unmöglich ist, den Blick mit Aufmerksamkeit auf sie zu richten und nicht dem Herz und der Seele von jeglicher Betrübnis Erleichterung zu verschaffen, so bedrängt sie auch wären.«31

Der Chronist bezeichnete diese Mariendarstellung eine »copia de nuestra Redemptora«, also als eine »Kopie unserer Retterin/Erlöserin/Befreierin«.32 Dies deutet darauf hin, dass es sich dabei um eine typische Darstellung der ›Maria de la Merced‹ (span.: ›Maria der Barmherzigkeit‹) gehandelt haben könnte: Maria, wie sie 1218 in Barcelona dem Laien Pedro Nolasco, dem Bischof und dem König erschienen sein soll, damit der Mercedarier-Orden gegründet würde, dessen Ziel ja die ›Redención‹ war, also die Erlösung bzw. der Freikauf christlicher Gefangener aus andersgläubiger Herrschaft.

30 | Vgl. Molina: Historia General 2, S. 620. 31 | Ebd., S. 620-626: »deuotíssima imagen«; »precioso retrato y copia de la angustíssima emperatriz de el Cielo«; »milagrossa imagen«, »glorioso simulacro«; S. 620: »Es la milagrossa imagen de estatura algo maior que en nuestro siglo tienen las mugeres, muy bien proporcionada y tan hermosa que es imposible poner en ella con atención la vista y no desahogar el corazón y el alma de qualquier congoja, por apretada que parezca«. 32 | Vgl. Anm. 23, 28.

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Als ›Maria de la Merced‹ wird eine Mariendarstellung nicht allein durch ihre Entsprechung der jeweiligen Vorstellungen idealer weiblicher körperlicher Schönheit charakterisiert (die sie mit allen Marien- und Heiligendarstellungen gemein hat), sondern vor allem durch ihre Kleidung und die ihr beigegebenen Gegenstände. Typischerweise ist eine solche ›Maria der Barmherzigkeit‹ angetan mit dem weißen Habit des Mercedarierordens. Auf der Brust oder in einer Hand trägt sie ein kleines Skapulier mit dem rot-gelben Ordenswappen, welches sich aus dem Wappen der Krone Aragóns und einem Kreuz zusammensetzt. Letzteres wird als dasjenige der Kathedrale von Barcelona angesehen, weckt jedoch auch Assoziationen an das Abzeichen der Kreuzfahrer. ›Maria de la Merced‹ hält zudem oftmals (zerbrochene) Handschellen, die auf den Freikauf Gefangener anspielen. Häufig zeigen diese Bildnisse Maria mit segnendem Gestus oder mit ausgebreitetem Habit, das dann zu einem Schutzmantel wird. In dem hier gezeigten Beispiel (Abb. 1) weisen Krone und Zepter sie als Königin des Himmels aus und verweisen auch auf die ihr zugewiesenen Patronatsämter auf Erden. Ihr Umhang erinnert entfernt an die Form eines Berges, wie er im Andenraum häufig als heilig erachtet wird. Zu ihren Füßen befinden sich hier das Wappen Perus sowie eine Mondsichel, die seit dem 17. Jahrhundert (in Anlehnung an apokalyptische Madonnen-Ikonografien) Bestandteil der ›Immaculata‹Darstellungen ist. In Santo Domingo manifestierte sich die Wundertätigkeit der mercedarischen Mariendarstellung nun sowohl am Objekt selbst, als auch in Form von ›erhörten‹ Gebeten (ob diese nun der Vorstellung von Maria oder dem sie repräsentierenden Objekt galten), in der scheinbaren positiven Einflussnahme auf bedrohliche Naturgewalten und durch den Schutz einzelner Personen. So berichtete Fray Gabriel, dass die Mariendarstellung, als eine mercedarische Bruderschaft sie für den Karfreitags-Umzug herrichtete, ein trauriges, an Ostern dagegen ein freudiges Antlitz besessen habe. Dieses Wunder sei von anderen Ordensgeistlichen – gemeint waren sicherlich die Dominikaner – angezweifelt worden, habe sich jedoch auch im darauffolgenden Jahr wiederholt, als man das Bildnis in der Kapelle des Bischofs verschlossen hielt, um so die Vorwürfe der Manipulation zu entkräften. Des Weiteren seien zwei in Seenot geratene Fischer, welche Maria um Hilfe anriefen, auf wunderbare Weise gerettet worden. Vor allem erschien der Gesichtsausdruck des Bildnisses während einer vierzig Tage lang anhaltenden Reihe von Erdstößen bewegt

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und veränderlich. Viele Menschen hatten sich während dieser Beben in die Kirche der Mercedarier geflüchtet, die nur vergleichsweise schwach beschädigt wurde; ein Mann entging glücklich dem Tode durch herabstürzende Trümmer. Man harrte dort aus, bis die Beben just am Feiertag der Unbefleckten Empfängnis Mariens aufhörten.33 Waren dies Wunder? War die Hinwendung der Menschen zur Mariendarstellung der Mercedarier gerechtfertigt? Das Trienter Konzil hatte angeordnet, »keine neuen Mirakel« zuzulassen »ohne Kenntnißnahme und Genehmigung eben desselben Bischofes«.34 Wie auch bei Selig- und Heiligsprechungsverfahren Verstorbener war in solchen Fällen eine Zeugenbefragung durchzuführen, wodurch diese Wunder aktenkundig und quasi juristisch verbürgt wurden35 . Erst dann konnte die Erlaubnis erteilt werden, die Wundertätigkeit eines Objektes, einer verstorbenen Person oder deren sterblicher Überreste in Predigten und Malereien auch als solche zu bezeichnen und darzustellen. In der Tat wurde im Fall der ›Maria de la Merced‹ von Santo Domingo eine solche Zeugenbefragung durchgeführt, und auch die in der Folge getroffene Entscheidung des Stadtrates, diese Maria zur Patronin von Stadt und Insel zu erklären hat sich erhalten. Die Datierung dieser Dokumente und ihre Zusammenschau mit den beiden bisher betrachteten Textpassagen in der Ordenschronik Fray Gabriel Téllez’ lassen die dort geschilderten Ereignisse in neuem Licht erscheinen: Denn die Zeugenbefragung betreffs der Wundertätigkeit der Mariendarstellung wurde bereits im Dezember 1615 auf Betreiben des mercedarischen Comendadors (=Priors) durchgeführt – also bereits vor Ankunft der spanischen Delegation.36 Fray Gabriels (vage, jedoch nicht unzutreffend datierten) Schilderungen der Wundertätigkeit, die Zeugenbefragung und der Stadtratbeschluss machen deutlich, dass die Verehrung Marias in Gestalt der ›Maria de la Merced‹ von den ortsansässigen Ordensbrüdern, vor allem aber von einer mit ihnen assoziierten Bruderschaft aktiv gefördert wurde. 33 | Vgl. ebd., S. 620-625. 34 | Egli: Concilium von Trient, S. 315. 35 | Zu Verfahren, Begriffsgeschichte und Kriterien vgl. Sieger, Marcus: Die Heiligsprechung. Geschichte und heutige Rechtslage. Würzburg 1995, S. 135f, 357-405. 36 | Vgl. die »Información auténtica hecha in Santo Domingo por Mancera Talaverano acerca de los milagros de la Virgen de la Merced, allí venerada, durante y pasado el terremoto de 1615, en diciembre de este año«, im Appendix II der Historia General 2, S. 639-644.

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Die überschwängliche Reaktion auf die Lehre von der Reinheit Marias, die Fray Gabriel in der ersten hier vorgestellten Textpassage schilderte kam also durchaus nicht aus heiterem Himmel. In ihren Predigten wandten sich die neu angekommenen Mönche an ein Publikum, das bereits ob der Wundertätigkeit des Marienbildnisses enthusiasmiert war. Setzt man dies voraus, nimmt es nicht mehr wunder, dass die Menschen reagierten, »als hätten sie sie [die Lehre], [bereits] unterrichtet, erwartet«.37 Die ›Maria de la Merced‹ lief dem »anderen wundertätigen Marienbild« der Dominikaner38 jedenfalls nun in der Beliebtheit beim Publikum den Rang ab. Die allgemeine Begeisterung wurde durch den Beschluss des Stadtrates vom August 1616 verbürgt und sicher noch weiter befördert: Die Ratsmitglieder verpflichteten sich, jedes Jahr zur Feier der Empfängnis Mariens geschlossen die Messe in der Kirche der Mercedarier zu besuchen. Am Vorabend würde ein Feuerwerk, am Festtag selbst ein Stierkampf auf dem Platz vor dem mercedarischen Konvent ausgerichtet, wobei der Rat alle baulichen Maßnahmen besorgen und die Kosten tragen würde. Gleichzeitig wurde beschlossen, dass die Ratsmitglieder einen Eid ablegen würden, der sie zu »Esclavos« (span.: Sklaven, Diener) Marias machen würde, indem man sie zur Patronin und Herrin der Stadt ernannte: »[Wir] nehmen sie als unsere Patronin an und als Fürsprecherin bei ihrem gesegneten Kind, damit sie uns schütze vor und befreie von den Erdbeben und Erdstößen, die auf dieser Insel vorkommen, und anderen Nöten«.

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Analog zum innerweltlichen Konzept eines (gotterwählten) Herrschers, der seine Untertanen schützt und im Gegenzug Anrecht auf Gehorsam und bestimmte Dienste erhält – und letztlich auch analog zu ›heidnischen‹ 37 | Vgl. Anm. 1: Ebd.., S. 357: »parece que, industriados, la esperaban«. 38 | Vgl. ebd., S. 620: »Lleuábasse los affectos de toda la cuidad otra milagrosa imagen, que con la aduocación de nuestra señora de le Rosario, veneran en su templo los padres predicadores o dominicos«. 39 | Vgl. das »Acuerdo del Cabildo, Justicia y Regimiento de Santo Domingo de jurarla por única Patrona de esta cuidad e isla. 29 de agosto de 1616.«, im Appendix II der Historia General 2, S. 644-646, S. 644: »En este Cabildo se trató de hacer Voto a la Natividad de la Madre de Dios, que es a ocho de Septiembre y reconocidos de los beneficios y mercedes que de su bendita mano se reciuen, ofreciéndonos por sus esclauos y tomándola por nuestra Patrona e intercesora con su bendito hijo para que nos ampare y libre de los terremotos y temblores de tierra, que pueden suceder en esta Ysla y otros trauajos«.

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Praktiken, etwa der Bürger Athens bezüglich ihrer Schutzgöttin Athena – wurden hier Maria bzw. ihrem Abbild öffentliche Ehrbezeugungen zugesichert, damit sie als »Patronin und Fürsprecherin« fungieren und weiterhin Unheil von der Stadt abwenden möge. Auch die dem Beschluss vorausgegangenen Frömmigkeitsbezeugungen der einfachen Bevölkerung dürften von solch utilitaristischen Motiven oder vielmehr dem Glauben an eine gewisse Reziprozität beeinflusst gewesen sein. Sie waren nicht nur Ausdruck der Dankbarkeit für erlebten Beistand und eine Möglichkeit, um weitere Hilfe zu erbitten. Mit der neuen Lehre wurden sie auch zu einer Gegenleistung, da die Menschen nun die ›Ehre der Mutter‹40 Marias gegen die vermeintliche Geringschätzung durch ›die Anderen‹ verteidigten. Die Mercedarier dürften mit ihren Predigten die Übertragung zeitgenössischer Tugendvorstellungen und die Kontrastierung zu den Ansichten der Dominikaner verstärkt haben. Die Feier der ›Lehre von der Reinheit Marias‹ wurde so zum Ausdruck eines identitätsstiftenden Konsenses, der sich hier nicht gegen Ungläubige oder Reformer wendete, sondern eher eine Art der Emanzipation von weniger volksnah argumentierenden Theologen, den Dominikanern als den bisherigen ›Herren der Meinungen‹, darstellte. Gefeiert wurde jedoch vor allem die von den Stadtbewohnern empfundene Verehrung als solche, jenseits akademischer Kontroversen und theologischer Maßregelungen. Die zweigeteilte Darstellung der Ereignisse – einmal mit besonderer Erwähnung der neuen Lehre, einmal ausschließlich mit Wunderberichten – ermöglichte es dem Chronisten Fray Gabriel Téllez, sich und seine Ordensbrüder aus Spanien auch etwa hundert Jahre nach der Ansiedlung der ersten Mercedarier auf der Insel als Apostel und Missionare darzustellen, die nicht nur den »Bewohnern dieses [neu] entdeckten Stücks der Erde« eine neue Lehre brachten,41 sondern auch den kleinmütigen und reformbedürftigen Mercedariern vor Ort eine Lehre erteilten42 . Es 40 | Fray Gabriel nutzte das Motiv Mariens als Mutter sowohl universell, in Bezug auf Jesus, den Orden und die Insel Hispaniola, vgl. ebd., S. 357f., 624. 41 | Ebd., S. 357: »Especialmente, se introduxo en aquella cuidad y ysla la deuoción de la limpieza preseruada de la Concepción puríssima de nuestra Madre y Reyna, cossa casi incógnita en los habitadores de aquel pedazo del mundo descubierto«. 42 | An anderer Stelle erwähnte der Autor diese Episode für seine Argumentation bezüglich der Rechtmäßigkeit von Visitationen: Molina, Historia General 2, S. 443: »¿Cómo los hallaron? Sin paz, sin disciplina regular, sin crédito, sin letras, menospreciados no sólo de los seglares, pero aun de los otros religiones, asta que con la industria y el exemplo de los reformadores voluió a recucitar entre

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lag wohl durchaus in der didaktischen Absicht des Autors, wenn der Leser an dieser Stelle den Eindruck gewinnt, es sei vor allem die offensive Verkündung einer von der lokalen geistlichen Elite bis dato abgelehnten Lehre, die für die Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Position des Mercedarierordens in Santo Domingo verantwortlich war. Wunderglauben, Verkündung einer Lehre, Opposition gegen Skeptiker und bisherige Autoritäten – de facto war es das Zusammenspiel dieser sich gegenseitig verstärkenden Elemente, das den hier beobachteten und von Fray Gabriel beschriebenen Effekt zeitigte. Dabei hatten sowohl Wunderglaube wie auch die Reinheits-Lehre ihren Ursprung und Sitz im Erleben und den Überzeugungen des ›einfachen Volkes‹, in Spanien wie in den Kolonien. Sie wurden erst in der Folge von der Kirche anerkannt und dann auch propagiert. Lehren wie die der bewahrten Reinheit Marias entrückte die Person Maria der Menschenwelt, machte sie jedoch theologisch gesehen für die ihr zugedachte Rolle als Mittlerin noch kompetenter. ›Maria‹ fungierte so als ein Gefäß, das menschliche Ängste und Makel aushalten und einhegen konnte und sogar ihre Umwandlung in Hoffnung ermöglichte. Die Gott in ihrer Reinheit und Heiligkeit so nahestehende Maria wird in dieser Vorstellung durch die Sünden der sie anbetenden Menschen nicht befleckt, sondern färbte im Gegenteil Reinheit, bzw. Segen ab – und dies ganz konkret innerweltlich durch das sie repräsentierende Objekt. Indem ›Maria‹ durch ihr Abbild wirkte, wurde das Objekt reliquiengleich zum Übertragungsmedium übernatürlicher Kraft und als solches zum Objekt der Verehrung. Dies war strenggenommen nicht im Sinne des Trienter Konzils, das ja erklärt hatte, dass »nicht geglaubt werden dürfte, daß denselben [Bildern] eine Gottheit, oder eine Kraft innewohne«.43 In Santo Domingo wurde wie in vielen anderen Fällen die ›Wahrhaftigkeit‹ der Ereignisse jedoch durch die Zeugenbefragung nach weltlichem Recht bewiesen. ellos la perfección primera«. Als Ordenschronist war ihm weniger an der bloßen Darstellung der Ereignisgeschichte gelegen als an ihrer Bewertung und Verortung in Bezug auf den Willen Gottes. Seine Darstellungen entbehren nie einer Grundlage, dienen jedoch immer auch als Belege für das Wirken Gottes in der Geschichte und stützen meist die Argumentation des Chronisten. 43 | S.o. Anm. 13.

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Auch der Chronist Fray Gabriel Téllez ließ keine Einwände oder Skrupel gegenüber solchen populären Formen der Glaubensäußerung erkennen. Vermutlich war der Spanier auch nicht für die Probleme sensibilisiert, mit denen sich katholische Geistliche zu diesem Zeitpunkt in Teilen Spanisch-Amerikas konfrontiert sahen: In Peru war man in den 1570er Jahren und neuerlich in den 1610ern auf die Persistenz präspanischer religiöser Praktiken aufmerksam geworden und versuchte nun mit ›Kampagnen wider die Idolatrie‹ die Praxis der ›Götzenanbetung‹ zu unterbinden. Im eleganten, bildhaft-barocken Duktus seiner Chronik verwischt der Autor die Grenzen zwischen Ereignisgeschichte, theologischer Interpretation, Tropen und Metaphern: Ob nun das Zeichen (das Marienbildnis), das Bezeichnete (›Maria im Himmel‹) oder Jesus (als Teil der Trinität letztlich Gott selbst) die Wunder in Santo Domingo wirkte44 , scheint nebensächlich; Ursache und Wirkung sind von der zeitlichen Abfolge der Ereignisse entkoppelt: Die Begeisterung war eine Folge der Lehre, die Wunder waren die vorweggenommene Konsequenz der mercedarischen Lehre und der Frömmigkeit der Bürger – worin man letztlich eine Analogie zur Vorstellung der überzeitlich (auch rückwärtsgewandten) rettendreinigenden Wirkung der Geburt Jesu auf die Menschheit sehen könnte oder zumindest deren literarische Imitation durch einen ihrer »Schüler«45 den mercedarischen Chronisten. Der Erfolg der ›Maria de la Merced‹ in Spanisch-Amerika

Das vorgestellte Beispiel illustriert die Wechselwirkung vom Einsatz mariologischer Themen in der Predigt, populären Glaubensvorstellungen, politischen Entscheidungen und Historiografie. Es hat sich gezeigt, dass alle beteiligten Instanzen den Ereignissen ihre Vorstellungen von Maria hinzufügten und sowohl für Tradierung als auch für interpretierende Ausgestaltung ihrer ›Wahrheit‹ sorgten. Am Ende stand in diesem Fall die generelle Akzeptanz der Annahme, Maria sei vor der Erbsünde bewahrt worden, und das Engagement der ›Maria de la Merced‹ als Patronin der Stadt Santo Domingo. Dass diese Aushandlung und Anpassung tradierter theologischer Konzepte an das aktuelle Erleben der Gläubigen kein singuläres Phänomen 44 | Vgl. Anm. 29. 45 | S.o. Anm. 23.

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war, zeigen die zahlreichen Rollen, welche die ›Maria de la Merced‹ innehatte und hat. In Spanisch-Amerika wurde die ›Maria de la Merced‹ nicht nur, wie im eben analysierten Beispiel gezeigt, bei Erdbeben oder in Seenot um Hilfe angerufen, sondern auch bei militärischen Auseinandersetzungen: Über das Bildnis ›Unserer Lieben Frau der Barmherzigkeit des großen [mercedarischen] Konventes in Santo Domingo‹ schrieb 1646 der mercedarische Chronist Fray Marcos Salmerón, es sei »das Wundertätigste ganz Westindiens, und die Patronin dieser Stadt«.46 Wie auch Fray Gabriel Téllez schrieb er dem Bildnis die denkbar ehrenvollste Provenienz zu, indem er es als Geschenk Königin Isabella von Kastiliens bezeichnete.47 Eine spätere, von den Historikern Monte y Tejada und Vargas Ugarte geschilderte Überlieferung assoziierte diese Bildnis mit weiteren Wundern: Demnach war es als erstes Marienbildnis überhaupt mit dem Beichtvater Christoph Kolumbus’ nach Amerika gelangt, der ein Mercedarier gewesen sein soll. Als nun im Jahre 1495 einige Spanier unter Kolumbus gegen einen dort ansässigen Kaziken kämpften, soll der Mönch ihnen einen Sieg im Namen Marias versprochen haben. Tatsächlich sei die Muttergottes den betenden Kämpfern erschienen, woraufhin die Schlacht gewonnen und später ein Schrein zu ihren Ehren errichtet worden sei.48 46 | Salmerón, Marcos: Recverdos históricos y políticos de los servicios qve los generales, y varones ilvstres de la religión de Nvestra Señora de la Merced, Redención de Cautios han hecho a los reyes de España en los dos mundos, desde su gloriosa fundación, que fue el año de mil y docientos y diez y ocho, hasta el año de mil y seiscientos y quarenta; y desde el rey Don Iayme el Primero de Aragón hasta Filipo Quarto Rey de las Españas, y Emperador de América: con anotaciones marginales, y indices de mucha erudición. Valencia 1646, S. 288: »El Convento grande de la cuidad de Santo Domingo, En el esta vna Imagen de nuestra Señora de las Mercedes, que dio para aquella Iglesia la Señora Reyna Catolica doña Isabel: es la mas milagrosa de las Indias, y Patrona de aquella cuidad«. 47 | Vgl. ebd., sowie Molina: Historia General 2, S. 620. 48 | Der dominikanische Historiker Monte y Tejada berichtete vom Presbyter Fray Juan Infante, »religioso de la Orden de la Merced y confesor del almirante«, der die Spanier bei einem Angriff durch die Einheimischen dazu aufrief, weiterhin der Muttergottes zu vertrauen, »cuya imagen nos ha consolado, y favorecido hasta aqui«, vgl. Monte y Tejada, Antonio del: Historia de Santo Domingo I. Trujillo 1952, S. o.A.. Zitiert in: Zúñiga, Ignacio: Geografia Mercedaria de America. Presencia de la devoción a la Virgen de la Merced. In: Estudios 161-162 (1988), S. 287-298, hier S. 290. Vgl. auch Vargas Ugarte, Rubén: Historia del culto de Maria en Iberoamerica y de sus imagenes y santuarios mas celebrados I. Madrid 1956, S. 325-328. Vargas bezieht sich vor allem auf Monte y Tejadas Historia de Santo Domingo (T.1, P. 1, Lib. 1), sowie auf das Testament Kolumbus’, in dem

DIE REINHEIT MARIENS

Die Wahrhaftigkeit dieser Überlieferung ist wohl nicht verifizierbar, es finden sich jedoch andernorts durchaus zeitgenössische Belege dafür, dass die europäischen Eroberer sich Darstellungen der Jungfrau Maria und anderer Heiliger buchstäblich ›auf die Fahnen‹ schrieben, und dies nicht nur im Kampf gegen die einheimische Bevölkerung sondern auch bei ihren Streitigkeiten untereinander.49 Speziell die ›Maria de la Merced‹ wurde später im Zuge der Unabhängigkeitskriege in Anspielung auf die ursprüngliche Berufung des Ordens als ›Befreierin‹ zur Patronin von Armeen und Nationen. Als solche wird sie oft mit Marschallstab oder zusammen mit Wappen und Fahnen dargestellt.50 Mercedarischen Missionaren in Spanisch-Amerika dienten Mariendarstellungen als Instrument der Katechese. Die Vorstellungen von Maria wurden auf unterschiedliche Weise in die solcherart christianisierten Weltbilder integriert. So wurde die ›Maria de la Merced‹ auf der Insel Kuba zum Bestandteil der afro-kubanischen Santería, wobei für die Zuordnung zur Gottheit Obbatalá nicht zuletzt die Farbe ihres Habits ausschlaggebend war.51 Auch in der Andenregion wurde die Verehrung Marias durch die spanischen Einwanderer propagiert und praktiziert und von den Einheimischen übernommen. Diese Akzeptanz dürfte auch darin begründet sein, dass die Marienverehrung es ermöglichte, im Chrisallerdings von einer Kapelle für die ›Santa Trinidad‹ und ›Concepción de Nuestra Señora‹ die Rede ist. 49 | Vgl. z.B. die Schilderung einer Konfrontation im Kontext des Aufstandes der Encomenderos in Peru: Poma de Ayla, Guaman: Nueva corónica y buen gobierno (1615), GKS 2232 4º, fol. 420 [422]: »Y sacaron en canpañas sus uanderas; dotor Sepeda en su uandera puso una ymagen de Nuestra Señora, el dotor Caruajal, una ymagen del señor Sanctiago, […]«. (http://www.kb.dk/permalink/2006/ poma/422/es/text/; 18.12. 2012.). 50 | Zum Wandel ihrer Ikonografie vgl. Zuriaga Senent, Vincent Francesc: La imagen devocional en la orden de la Merced. Tradición, formación, continuidad y variantes. Valencia 2007, bes. S. 346-349. Vgl. auch Ruiz Barrera, María Teresa: La Virgen de La Merced. Iconografia en Sevilla. (= Estudios 217-219) 2002. 51 | Seit 1501 wurden Angehörige vieler afrikanischer Ethnien als Sklaven nach Amerika verschleppt, wobei auf Kuba die zur Yoruba-Gruppe gehörigen am zahlreichsten waren. Mit ihnen kam eine vielköpfige Götterwelt, die Orishas, die ursprünglich mit bestimmten Regionen und deren Bewohnern assoziiert wurden. Obbatalá, eine Hauptgottheit mit 24 Avataren, gilt als Schöpfer der Erde und des Menschen. Besonders der Avatar Obanlá Ochanlá wird in der Santería durch die ›Virgen de las Mercedes‹ synkretisiert, vgl. Bolívar Aróstegui, Natalia: Los orishas en Cuba. La Habana 1994, v.a. S. 94-117.

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tentum gegenüber andiner Kosmovision unterrepräsentierten Aspekte wie die Verehrung weiblicher Gottheiten und geographischer Besonderheiten in gewissem Umfang auszugleichen. Maria wurde dabei zum Bestandteil synkretistischer Glaubensvorstellungen, die ihren Ausdruck in den dort geschaffenen Darstellungen finden: Die Kleidung einer solchen ›Maria‹ ist üblicherweise reich verziert oder mit einem Mantel bedeckt, so dass ihre Gestalt Ähnlichkeit mit einem Berg erhält. Eindeutig mit den Mercedariern assoziiert ist beispielsweise die ›Peregrina (dt.: Pilgerin) de Quito‹, eine bis heute oft abgebildete Marienstatue. Sie wurde von den Mercedariern im Gebiet des heutigen Ecuador auf Wallfahrten und bei Spendensammlungen mit sich geführt, so dass sie das Land gleich einer Pilgerin durchreiste: Auf Bildern trägt die in einen Mantel gehüllte Maria in der linken Hand Fesseln und das mercedarische Skapulier und im rechten Arm das Christuskind, dazu auf dem Kopf einen federgeschmückten Pilgerhut. Gerade die Anpassungsfähigkeit und die lebenspraktische Anwendbarkeit des ›Prinzips Maria‹, speziell auch der ›Maria de la Merced‹ und der mit ihr assoziierten Vorstellungen, waren der Garant für die dauerhaften Popularität der Maria. Das Prinzip ›Maria‹ könnte dabei in gewisser Hinsicht als sakrale Version einer Personifikation beschrieben werden. Dabei muss jedoch zwischen (ästhetisch-bildnerischer) Funktionsweise und Anspruch unterschieden werden. Wie bei einer Personifikation geht es bei Maria um die Zuschreibung bestimmter Eigenschaften, die nicht in graduellem, sondern in absolutem Maß vorhanden sein sollen: Die derart imaginierte Maria ist nicht tugendsam und keusch im menschlichen Sinne, sondern in nicht-mehr-menschlichem Maße, absolut, rein. Das Prinzip oder Konzept ›Maria‹ erhebt jedoch Anspruch, dass das Dargestellte (eine Frau) und Gemeinte (ihre absoluten Eigenschaften) real und identisch sind – es geht um dem Körper und Wesen einer ehemals innerweltlich gegenwärtigen, historischen Persönlichkeit. ›Maria‹ gilt eben nicht als Abstraktion sondern als Quell, nicht als Abbild sondern als Vorbild, nicht als Theorie, sondern als Wahrheit. Damit die diversen Darstellungen Mariens als solche erkannt und anerkannt werden, sind zunächst wie bei einer Personifikation bestimmte Bildzeichen notwendig: An dem in bestimmten Haltungen dargestellten, makellos-ästhetischen weiblichen Körper werden Konventionen bezüglich der Kleidung beachtet, und es werden ihm bestimmte Gegenstände

DIE REINHEIT MARIENS

beigegeben. Hinzu kommt die zeitliche und räumliche Verortung einer solchen Darstellung. Ihre Präsentation etwa im Rahmen von sakraler Architektur, Literatur, Predigt oder Festtagsprozessionen erleichtert und limitiert ihre Interpretation. Der Unterschied zu einer Personifikation liegt also auch hier eher im Herzen denn im Auge des Betrachters und äußert sich im performativen Akt der Anbetung, der dem ›Prinzip Maria‹ Gültigkeit verleiht. Erst diese ›Wahr‹-nehmung des Bildes und des Gemeinten und der Glaube an ihre unauflösliche Verbindung macht Maria zu ›Maria‹.

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VENUS LOST AND FOUND Aesthetic Perceptions of the Female Nude in Byzantine Art*

»As [Thomaïs] grew up, she continued to be strengthened in the virtues, devoted to the worship of God, and adorned by all forms of goodness. She disclosed her hidden beauty by its external manifestation and revealed the grace of her soul by her bodily features; [revealing her] invisible [virtues] by the visible, her internal [virtues] by her external beauty. One could see in her a perfect bodily harmony, which suggested the spiritual beauty [of her soul].«1

Introduction

The portrayal of Saint Thomaïs, who probably lived in the tenth century, establishes an internal tension of sorts owing to notions of physicality and the correspondence between her ideal bodily beauty and spiritual virtues. This tension is based on the association the Eastern Church Fathers made between the human body and the divine likeness, homoiosis, whereby physical embodiment acquires a spiritual dimension,2 and on the classical tradition’s approach to God, wherein the apophatic state of the body3 implies both a physical and metaphysical as well as a material and spiritual binary construction.4 * | This article is part of an ongoing project entitled Gender and Politics. The Female Body in the Middle Byzantine Visual Culture. 1 | Halsall, Paul (trans.): Life of St. Thomaïs of Lesbos. In: Talbot, Alice-Mary (ed.): Holy Women of Byzantium. Ten Saints’ Lives in English Translation. Washington,D.C. 1996, p. 302. For a discussion of the vita, see there pp. 29–95. 2 | Origen: On First Principles, 3.6.1. In: Crombie, Frederick (trans.): Origen, The Writings. Edinburgh/London/Dublin 1869, 1, pp. 262–64. 3 | Apophatic theology (from Greek ਕʌȠࢥȐȞĮȚ, apophanai, »to show no«, i.e., to say by not saying) God by negation, to speak only in terms of what may not be said about the perfect goodness that is God. 4 | For the rejection of the binary approach, see Ward, Graham: The Metaphysics of

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Can one find similar associations in the depiction of the female body in Byzantine art, and, if so, in which ways? The present article will focus on but one aspect related to these rather broad questions – the fully or semi-clad female body – by examining an assemblage of images, never before considered as a group, appearing in illuminated manuscripts produced in the imperial workshops of ninth- to twelfth-century Constantinople.5 The first instance will demonstrate how artists aestheticized the female nude based on the formal Graeco-Roman model of Aphrodite. The second will consider the renegotiation of the classical ideal of female nudity in light of the cultural narratives and theological, religious, and political discourses shaping it. Several caveats are in order before proceeding with our investigation. Whereas the vita of Saint Thomaïs evoked a positive perception of the female body, Byzantine thought may have also espoused negative associations, viewing the female body as disruptive, resulting from an unsettling sexuality and eroticism (and therefore considered sinful) emanating from it.6 This attitude may be best summed up by a series of invectives aired by the Church Fathers, in which terms such as »licentious«7 and »whorish«8 were common.9 An illuminating example is John Chrysostom’s (ca. 347-407) vitriolic criticism of the female: the Body. In: Boesel, Christ; Keller, Catherine (eds.): Apophatic Bodies. Negative Theology, Incarnation, and Relationality. New York 2010, pp. 221–50. 5 | Undeniably the richest period for the production of illustrated manuscripts encouraged by imperial patronage, the books offer a variegated corpus of images for the study of the female body in comparison to other visual media. For the illuminated book in the Middle Byzantine era, see, e.g., Weitzmann, Kurt: The Place of Book Illumination in Byzantine Art. Princeton 1975; Hunger, Herbert: Schreiben und Lesen in Byzanz. Die byzantinische Buchkultur. Munich 1989. 6 | See, e.g., the discussion by Kazhdan, Alexander P.: Byzantine Hagiography and Sex in the Fifth to Twelfth Centuries. In: Dumbarton Oaks Papers 44 (1990), pp. 131-43, esp. p. 135. 7 | Clement of Alexandria: The Pedagogue, 3.3. Trans. William Wilson. In: Roberts, Alexander; Donaldson, James; Coxe, A. Cleveland (eds.): The Ante-Nicene Fathers. Buffalo/New York 1885, 2, p. 276. 8 | Chrysostom, John: Instructions to Catechumens, 2.4. Trans. T. P. Brandram. In: Schaff, Philip (ed.): Nicene and Post-Nicene Fathers, 1st series. Buffalo/New York 1889, 2, p. 170. 9 | See e.g., Tertullian: On the Apparel of Women. Trans. Sydney Thelwall. In: Roberts/ Donaldson/Coxe (eds.): The Ante-Nicene Fathers. 10 vols. Buffalo/New York 1885– 96; repr. Peabody/Massachussetts 1994, 4, pp. 14–25.

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»The whole of her bodily beauty is nothing more than phlegm, blood, bile, rheum, and the fluid of digested food! [...] If you consider what is stored up behind those lovely eyes, the angle of the nose, the mouth and cheeks you will agree that her well proportioned body is nothing but a whitened sepulcher.«10

It is equally important to understand the Byzantines’ perception of nudity. The Greek word for nude, gymnos, defines the state of full or partial nakedness.11 Since the Byzantines rejected the ancient Greeks’ celebration of the nude body, they abstained from describing it in their literature12 and considered it a shameful state imposed upon male outcasts such as prisoners, tortured enemies, criminals, or disgraced emperors.13 However, nudity itself was not an actual issue. In an art whose traditional pictorial approach was to conceal the physical traits of the human body under layers of clothing as a matter of decency and decorum, the depiction of full or partial nudity14 was often associated with people on society’s fringes – wild-haired demoniacs15 or the devil.16 Nudity was also

10 | English trans. by Halsall, Paul: Women’s Bodies, Men’s Souls: Sanctity and Gender in Byzantium. Ph.D. diss. Fordham University 1999, p. 194. 11 | īȣȝȞȩȢ: The Online Liddell-Scott-Jones Greek-English Lexikon, http://www.tlg.uci.edu/lsj/#eid=23789&context=lsj&action=from-search, 05.03.2012. 12 | Kazhdan, Alexander P.: Der Körper im Geschichtswerk des Niketas Choniates. In: Prinzing, Günter; Simon, Dieter (eds.): Fest und Alltag in Byzanz. Munich 1990, pp. 91–105. 13 | Boeck, Elena: Voids and Visual Narrative in the Madrid Skylitzes Manuscript. In: Byzantine and Modern Greek Studies 33,1 (2009), pp. 17–41, p. 135. 14 | Winfield, June; Winfield, David: Proportion and Structure of the Human Figure in Byzantine Wall-painting and Mosaic. Oxford 1982, pp. 42–47. For a discussion of the terms ›naked‹ and ›nude‹, and the contention that »the nude is not the subject of art but a form of art«, see Clark, Kenneth: The Nude. A Study in Ideal Form. New York 1956. For the development of Clark’s ideas and the fostering of the binary perception whereby women are passive objects of the male gaze, and men are active subjects of their own desires, see, e.g., Berger, John: Ways of Seeing. London/Hardmondsworth 1972. For the critique of Berger’s binary approach, see, e.g., Nead, Lynda: The Female Nude. Art, Obscenity and Sexuality. London/ New York 1992, pp. 12–22, esp. pp. 14, 16. 15 | As, for example, the disheveled, half-naked, hunched figure of the possessed man in the eleventh-century Gospel Book in Florence, Laurenz., Plut. 6.23, fol. 15v (Matt. 8:16–18); Velmans, Tania: Le tetraévangile de la Laurentienne. In: Florence, Laur. VI.23. Paris 1971, p. 23, fig. 23. 16 | Appearing in the personification of Hades in the scene of the Anastasis in the ninth-century Chludov Psalter, Moscow, State Historical Museum, Hlud. D 129, fol. 63r (Ps. 67:2); Šˇ cepkina, Marfa V.: Miniatiury Khludovskoi psaltyri. Moscow 1977.

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used to depict mythological subjects or to serve a moralistic agenda,17 to propagate dogmatic truths or to emphasize the saints’ ascetic way of life.18 Despite the traditional narrative of medieval art, claiming that the revival of classical antiquity, including the depiction of the female nude, occurred during the Florentine Renaissance,19 Byzantine artists left a visual legacy, allowing it to be naturalized under the rubric of ›the female nude‹. For all their importance, studies dealing with nudity in Byzantine art do not treat the topic of the female nude as they do for the last decades of medieval Western art,20 nor were there serious attempts to reconstruct a gendered gaze or explore the complex webs of political and social relationships that framed it. The subject was tentatively addressed by Irmgard Hutter, in her pioneering study of what may be termed »the female body«, wherein she offered a succinct referential outline and categorization of this topic in Byzantium as a documentation of social practices;21 17 | See Hanson, John: Erotic Imagery on Byzantine Ivory Caskets and Zeitler, Barbara: Ostentatio genitalium. Displays of Nudity in Byzantium. In: James, Liz (ed.): Desire and Denial in Byzantium. Papers from the 31st Spring Symposium of Byzantine Studies, University of Sussex, Brighton, March 1997. Aldershot 1999, pp. 171–84 and pp. 185–201, respectively, which deal with both female and male nudity. Henry Maguire, for his part, posited that the nude in some mythological scenes seems intentional, its aim being to eliminate any danger that the viewer would be exposed to idolatry; see his Other Icons. The Classical Nude in Byzantine Bone and Ivory Carvings. In: The Journal of the Walters Gallery 62 (2004), pp. 9-20, esp. pp. 14-15; Maguire, Henry; Maguire-Dauterman, Eunice: Other Icons. Art and Power in Byzantine Secular Culture. Princeton 2007, pp. 97-134. 18 | Barber, Charles: A Sufficient Knowledge. Icon and Body in Ninth-Century Byzantium. In: Hornik, Heidi J.; Parsons, Mikeal Carl (eds.): Interpreting Christian Art. Reflections on Christian Art. Macon, GA 2004, pp. 65–80. 19 | Panofsky, Erwin: Renaissance and Renascences in Western Art. New York 1969, pp. 151–52; idem: Studies in Iconology. Humanistic Themes in the Art of the Renaissance. New York 1939; Seznec, Jean: The Survival of the Pagan Gods. Princeton 1953, pp. 149–83. 20 | While a full survey of sources is beyond the scope of this paper, good starting points are Lindquist, Sherry C.M. (ed.): The Meanings of Nudity in Medieval Art. Aldershot 2012, offering a substantial introduction. See also Miles, Margaret: Carnal Knowing. Female Nakedness and Religious Meaning in the Christian West. Boston/New York 1989; Kay, Sarah; Rubin, Miri (eds.): Framing Medieval Bodies. Manchester/New York 1994; repr. 1997; Wyke, Maria (ed.): Parchments of Gender. Deciphering the Bodies of Antiquity. Oxford 1998; Caviness, Madeline H.: Reframing Medieval Art. Difference, Margins, Boundaries. (2001). http://nils.lib.tufts.edu/ Caviness/, 14.05.2012. 21 | Hutter, Irmgard: Das Bild der Frau in der byzantinischen Kunst. In: Horändner,

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others have briefly investigated some theoretical and cultural aspects,22 however the discussion of the female nude in Byzantine art remains uninformed and its particularities unarticulated, creating a veritable desideratum for this study. Two additional factors are also of concern. For one, although architectural sculpture and statuary were not in vogue in Byzantium, they were not entirely dismissed either; in fact, pagan sculptures of various deities, both clothed and nude, adorned the empire’s cities and enabled physical proximity to them.23 Both art forms were considered objects of superstition, but were also admired for their artistic value.24 Furthermore, the »recurrent taste for classical reminiscence, which expressed a conscious inheritance of a Graeco-Roman past […]«, was translated into the medium of painting by a convention that rendered them monumental.25 Wolfram et al. (eds.): ǺȣȗĮȞIJȚȠȢ: Festschrift für Herbert Hunger zum 70. Geburtstag. Wien 1984, pp. 163–170. 22 | James, Liz (ed.): Women, Men, and Eunuchs. Gender in Byzantium. London/New York 1997, pp. 119–48; Meyer, Mati: An Obscure Portrait. Imaging Women’s Reality in Byzantine Art. London 2009, pp. 221, 279–81; eadem: Eve’s Nudity. A Sign of Shame or a Precursor of Christological Economy? In: Kogman-Appel, Katrin; Meyer, Mati (eds.): Between Judaism and Christianity. Art Historical Essays in Honour of Prof. Elisabeth (Elisheva) Revel-Neher. Leiden 2009, pp. 243–58. 23 | Mango, Cyril: Antique Statuary and the Byzantine Beholder. In: Dumbarton Oaks Papers 17 (1963), pp. 55–75; Deligiannakis, Georgios: Christian Attitudes toward Pagan Statuary. The Case of Nastasios of Rhodes. In: Byzantion 58 (2008), pp. 143–58. 24 | See, e.g., Cameron, Averil; Herrin, Judith (eds.): Constantinople in the Early Eighth Century. The Parastaseis Syntomoi Chronikai. Leiden 1984, esp. pp. 46–53, where the reader is told that statues of pagan deities, both naked and clothed, adorned the public realm of Constantinople up until the eighth century. Similar sculptures were apparently found in later Byzantium as well. See Saradi-Mendelovici, Helen: Christian Attitudes toward Pagan Monuments in Late Antiquity and Their Legacy in Later Byzantine Centuries. In: Dumbarton Oaks Papers 44 (1990), pp. 47–61. For the representation of partially nude pagan idols, see Cutler, Anthony: The Mythological Bowl in the Treasury of San Marco at Venice. In: Kouymjian, Dickran K. (ed.): Near Eastern Numismatics, Iconography, Epigraphy and History: Studies in Honor of George C. Miles. Beirut 1974, pp. 235–54, esp. p. 254; and Ševcenko, Nancy P.: The Life of Saint Nicholas in Byzantine Art. Turin 1983, pp. 132–33. 25 | Mathew, Gervase: Byzantine Aesthetics. London 1963, p. 1. For a review of this study, in which the major critique is that Mathew’s observations and conclusions do not correspond to the works of art of the period in question, see Michelis, Panagiotis Andreou: Comments on Gervase Mathew’s ›Byzantine Aesthetics‹. In: British Journal of Aesthetics 4,3 (1964), pp. 253–61.

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Anatomical Proportions and Features: Toward an Aesthetic Approach

The image of the ideal woman in the Middle Byzantine period, as repeatedly mentioned in literary sources, is to possess, among other features, also physical beauty.26 Formulated in traditional rhetorical language, her body is to have harmonious proportions, white skin, rosy cheeks, brilliant eyes, and blond or ruddy hair.27 This set of established features constituted the ideal of beauty not only in the fictional world of letters, but also in everyday life; it is exemplified by the Byzantine custom of bride shows, where emperors chose their partners based on their physical beauty.28 This ideal emerges clearly from the following story of the twelfth-century historian Niketas Choniates, who recounts how the emperor Manuel Komnenos chose his second wife: »From all the candidates, Manuel chose a daughter of Raymond, prince of Antioch […] Members of the senate and the nobility were dispatched to escort the maiden […] and the nuptials were celebrated [Christmas 1161]. The woman was fair in form and exceedingly beautiful; her beauty was incomparable. In a word, she was like unto the […] golden Aphrodite, the white-armed and ox-eyed Hera, the long-necked and beautiful-ankled Laconian [Helen], whom the ancients deified for their beauty […].«29 This excerpt, especially with regard to the treatment of the body and the permanence of beauty, throws light onto perceptions of female aesthetics that seemingly expunge or ignore all discordant and threatening pagan notions, such as eroticism and sexuality associated in the 26 | Ekda, Sarah; Fann, Patricia; Philokyprou, Elli: Bold Men, Fair Maids and Affronts to Their Sex: The Characterisation and Structural Roles of Men and Women in the EscorialǻȚȖİȞȒȢǹțȡȓIJȒȢ. In: Byzantine and Modern Greek Studies 17 (1993), pp. 25–42, esp. pp. 33–37. 27 | Hatzaki, Myrto: The Good, the Bad and the Ugly. In: James, Liz (ed.): A Companion to Byzantium. Cambridge, UK 2010, pp. 95–99. 28 | The veracity of the beauty contest was nevertheless questioned; Treadgold, Warren: The Historicity of Imperial Bride-Shows. In: Jahrbuch der Österreichischen Byzantinistik 54 (2004), pp. 39–52; Vinson, Martha: Romance and Reality in the Byzantine Bride Shows. In: Brubaker, Leslie; Smith, Julia M. H. (eds.): Gender in the Early Medieval World. East and West, 300–900. Cambridge, UK 2004, pp. 102–20. 29 | Niketas Choniates: Hist. 3.115–116. Trans. Harry J. Magoulias: O City of Byzantium. Annals of Niketas Choniates. Detroit 1984, pp. 65–66.

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Graeco-Roman world with Aphrodite.30 Moreover, contrary to the conventional art-historical premise according to which Aphrodite/Venus was reborn only in the Renaissance,31 Choniates’s comparison may have been inspired by visual reminiscences of the sculpted goddess in Byzantium.32 All this leads us to suggest below that the figure of Aphrodite was not only an existent motif in Byzantine art, at least with regard to illuminated manuscripts, but also that the negative aspects associated with this deity were manipulated so as to endow her with positive attributes for the benefit of the intended audience.33 A case in point is the miniature 30 | Dover, Kenneth J.: Classical Greek Attitudes to Sexual Behaviour. In: Siems, Andreas Karsten (ed.): Sexualität und Erotik in der Antike. Darmstadt 1988, pp. 264–81. Sexuality, which is a modern construct, was most probably not perceived as such by the Byzantines. This may be due to the patristic attitude in this age, which, while not wholly condemning sexual activity, acknowledged it as being pleasurable, and although sexual attraction was entirely natural, it did not approve of this behavior either. See, e.g., Ford, David C.: Women and Men in the Early Church: The Full Views of St. John Chrysostom. South Canaan, PA 1996; James, Liz: Art and Text in Byzantium. In: Eadem (ed.): Art and Text in Byzantine Culture. Cambridge, UK 2007, p. 1. For a discussion of sexuality in medieval times, the following are worthy of mention: Cadden, Joan: Meanings of Sex Difference in the Middle Ages. Medicine, Science, and Culture. Cambridge, UK 1993; Weitz, Rose (ed.): The Politics of Women‘s Bodies. Sexuality, Appearance, and Behavior. 2nd ed. Oxford 2002; Salih, Sarah: Erotica. In: Evans, Ruth (ed.): A Cultural History of Sexuality in the Middle Ages. Vol. II. Oxford 2011. 31 | For the challenge of this conventional art-historical scheme, and advocating the thesis that Aphrodite/Venus was seen as both visually and semantically as an erotic sign in the Middle Ages, see Long, Jane C.: The Survival and Reception of the Classical Nude. Venus in the Middle Ages. In: Lindquist, Sherry (ed.): The Meanings of Nudity in Medieval Art. Aldershot 2012, pp. 73–96. Jane Long was gracious enough to send me a copy of her paper, and I am indebted to her for her generosity. 32 | Mark the Deacon recounts in his Life of St. Porphyry the story of a sculpture showing nude Aphrodite, the focus of the local veneration, especially for the women, standing in the center of the city of Gaza; see Mark the Deacon: The Life of Porphyry, Bishop of Gaza. Ed. George Francis Hill. Oxford 1913, pp. 70–71. 33 | An illuminating example in the literature is the dialogue between Lycinus (fl. c. 125 until after 180 AD) and Polystratus (Lucian of Samosata: Essays in Portraiture. In: Lucian. Ed. and trans. Austin M. Harmon London/Cambridge, Mass. 1925, 8 Vols. 4: pp. 255–95), transformed by the Byzantine author Demetrius Chrysoloras (14th–15th centuries) into an imagined dialogue between St. Demetrius of Thessaloniki and the emperor Maximian (r. 270–275) regarding the reverence to be accorded to the Knidian Aphrodite; see Chrysoloras, Demetrius: ȉȠȪȜȠȖȦIJȐIJȠȣțȣȡȠȪǻȘȝȘIJȡȓȠȣIJȠȪȋȡȠıȠȜȦȡȐȁȩȖȠȢİȓȢIJઁȞȝİȖĮȞǻȘȝȒIJȡȚȠȞțĮ੿İȓȢ IJ੹ȝȪȡĮ. Ed. Vassileios Laourdas. In: Gregorios Palamas 40 (1957), p. 348; Russell, Eugenia (trans.): St. Demetrius of Thessalonica. Cult and Devotion in the Middle Ages. Oxford u.a. 2010, pp. 58–59.

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Fig 1 | The Power of Eros, Cynegetika, Constantinople, c. 1062

illustrating the theme of the mighty power of Eros and the great Olympian gods’ fear of him in a tenth-century copy of the Pseudo-Oppian Cynegetica; on the left, a winged Eros stretches his bow and aims at a group of Olympian gods, including a beautiful, gentle-faced, blue-haloed Aphrodite (fig. 1).34 We may assume with a fair degree of certainty that the depiction of the goddess draws on the fourth-century BC Praxiteles’s Knidian Aphrodite, the lost sculpture that was purportedly housed in the palace of Theodosius II (406-450).35 Many later copies of Praxiteles’s Knidian Aphrodite, such as the marble sculpture kept in the Vatican (fig. 2), offer a good idea of what she looked like. It is generally assumed that the goddess was standing on her right leg, with her left one slightly bent. The right hand covered her pubic area while her left arm, crooked at the elbow, held a piece of drapery – all characteristics alluded to in our image. The head was turned leftward in three-quarter view, and the face may have been tilted, lowered, raised, or even frontal. The figure, similar to the pose of the Byzantine Aphrodite, stood in the classic contrapposto posture, where her right leg seemingly supported the weight of her torso. The proportions 34 | Venice, Biblioteca Nazionale Marciana. Cod. gr. Z. 479 (= 881), Pseudo-Oppian, Cynegetika, Constantinople, c. 1062, fol. 33r (top); Spatharakis, Cynegetica, 101–103, fig. 67. For a discussion of Oppian’s poem (2.414–25), see Cupane, Carolina: La contesa d’amore. Cod. Marc. Gr. 749, fol. 33r. In: Hellenika 31 (1979), pp. 174–83. 35 | Mango 1963, p. 58.

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Fig 2 | Praxiteles, Aphrodite of Knidos, c. 360 BC, marble, Roman copy, 1st c. BC, Musei Vaticani

Fig 3 | Eve Persuading Adam to Eat the Forbidden Fruit, Octateuch, Constantinople, c. 1150

of the body may vary from slender to plump;36 here the figure is rather svelte, her monumentality commensurate with contemporary pictorial conventions.37 Let us now examine other images of female nudes. The figure of Eve tempting Adam in the Fall cycle (Gen. 3: 1-24) appears against a paradisiacal landscape in a twelfth-century Octateuch38 (fig. 3).39 The bodily treatment of both figures is nearly identical; even if still classical, it shows an undistorted compromise between the classical corporeal volume and a slight ›abstraction‹ of it – what can be termed a ›moderately ascetic‹ approach. The bodies are delicately drawn, elongated, and exquisitely formed, with no hint whatsoever of sexual organs.40 The skin 36 | Mitchell Havelock, Christine: The Aphrodite of Knidos and her Successors. A Historical Review of the Female Nude in Greek Art. Ann Arbor 1995, esp. pp. 11–19. 37 | See above, note 25. 38 | Octateuchs are densely illustrated Bibles comprising eight books – the Pentateuch, and the books of Judges, Joshua, and Ruth. 39 | Vatican City, Bibl. Apost. Vat., gr. 746. Octateuch. Constantinople, c. 1150, fol. 37v; Weitzmann, Kurt; Bernabò, Massimo with the collaboration of Tarasconi, Rita: The Illustrations in the Manuscripts of the Septuagint, II: Octateuch. Princeton 1999, p. 36, and fig. 86. 40 | The depiction of genitalia, still present in sixth-century Byzantine works,

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Fig 4 | Aphrodite, Homilies of Gregory of Nazianzus, Constantinople, 11th c.

coloring is pale, which is characteristic of femininity,41 their delicate faces – young and angelical – are relatively small, and both have long, curly brown hair. The figures stand in a slightly frontal contrapposto pose. It should be noted that the artist made a distinct effort to render Eve’s breasts, though flat, as naturalistically as possible, their shape and size formed to correspond with the proportions and elegance of the body. Eve’s body is reminiscent of the admittedly rare images of Aphrodite, such as that appearing in an early eleventh-century illustrated copy of the Homilies of Gregory of Nazianzus (fig. 4).42 The goddess, with one bare breast and inscribed Ʊ۞ǐǂǁƷƲDžƺ, stands on a column holding a branch in her right hand. Except for the hand gestures, the likeness of disappears altogether in later art, even in the occasional representation of male and female nudity; see, e.g., the tenth-century Veroli ivory casket, London, Albert and Victoria Museum, inv. no. 216-1865; Evans, Helene C.; Wixom, William D. (eds.): Glory of Byzantium. Art and Culture of the Middle Byzantine Era, A.D. 843–1261. Exh. cat. Metropolitan Museum of Art. New York 1997, pp. 230–31 (no. 153). See also Zeitler 1999, pp. 185–201. 41 | Greeks grounded gender differences in the physiology of the organism; thus, for example, the women’s bodies tend to have a paler pinkish hue, possibly due to the Aristotlean thinking that female body is cooler than that of the male; Laqueur, Thomas Walter: Making Sex. Body and Gender from the Greeks to Freud. Cambridge, Mass./London 1990, pp. 36–37; and the review by Park, Katherine; Nye, Robert A.: Destiny Is Anatomy. In: The New Republic 204/7 (1991), pp. 53–57. For the use of a light hue for women in art, see Boardman, John: Athenian Red Figure Vases. The Classical Period. London 1989, p. 130. 42 | Mount Athos, Panteleimon Monastery, cod. 6, fol. 164r; Weitzmann, Kurt: Greek Mythology in Byzantine Art. Princeton 1951, pp. 53–54, and fig. 66.

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Fig 5 | Susanna Spied Upon by the Elders; the Bath of Susanna, Sacra Parallela, Rome, after 843 (?)

Fig 6 | Venus at her Toilette, Casket of Projecta, from Rome (Esquilline treasure), around 380 CE.

Eve to Aphrodite is discernible in the portrayal of the body’s slenderness, curly hair, and headband. The Byzantine Aphrodite is also reminiscent of the Knidian statue (fig. 2). The human figure in Byzantine art is usually depicted according to codified proportions. In the representation of Adam and Eve (fig. 3), one can easily see that Eve is shorter than Adam and that her figure is proportionately shaped to harmonize with standard measurements, 1:7½, with the head serving as the basic unit; Adam’s height, 1:8, was most probably inspired by contemporary guidelines, and although few in number, may prove relevant to our argument. A fragmentary ninth- or tenth-century text written by Elpios Romaios, directing the artist, is pertinent in this regard: »Concerning Adam, the first man created by God. Adam had the stature and height of 4½ cubits, from his head, that is to say (to his feet) of the size of 96 finger (breadths). His span was 28 finger (breadths) and his cubit was 28 (breadths) […].«43

Two pieces of information may be inferred from the above: (1) the description of Adam’s body measurements is based on a modular anthropometric 43 | Winfield/Winfield 1982, p. 52.

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canon of proportions used in late antique art, including the use of certain body parts as units of measure; and (2) by scaling down the head it is possible to draw a female figure using reference points and measurements similar to those used to portray the male, i.e. Adam.44 Both male and female physicality45 is traditionally achieved by displaying the protrusion of bony processes and the convex and concave musculature that moulds the body’s surface. In the case of Eve, which we can place in the middle of an imaginary axis ranging from an extremely pronounced musculature to a near absence of corporeal volume, we observe that her body is rendered as ›moderately ascetic‹, i.e., the muscular features of the body are not emphasized. Adam and Eve’s nearidentical angelical physicality may be the result of the patristic perception of the male and female bodies corresponding to the divine likeness.46 This, and the lack of genitalia, create a visual discourse on the ideal, paradisiacal, rendering of men and women in Byzantium.47 Other images of female nudity based on the Graeco-Roman model of Aphrodite may emphasize the figure’s femininity. An illuminating example is Susanna at her bath being spied upon by the elders in the ninthcentury Parisian Sacra Parallela.48 Her well-contoured body, twisting to the right, underscores the curvature of her noticeably full hips, breast, and belly, all of which are visual signs of her femininity. The raised arms combing her long hair, together with her stance, emphasize the figure’s feminine profile from both a frontal and side view (fig. 5).49 Susanna’s posture and hand gestures sensuously emulate those of the goddess Venus at her toilette that graces many mosaics and small objects.50 44 | Ibid., p. 15. 45 | By physicality I mean the gamut of depictions of bodily volume. 46 | See above, note 2. 47 | For further discussion of the theological implications, see Meyer 2009, pp. 243–58. 48 | The Sacra Parallela is a theological and ascetic florilegium of biblical (OT and NT) and patristic citations. The only known illustrated copy is a ninth-century manuscript (Paris, BnF, gr. 923) thought to have been produced in a Greek monastery in Rome; see Weitzmann, Kurt: The Miniatures of the Sacra Parallela: Parisinus Graecus 923. Studies in Manuscript Illumination 8. Princeton 1979; Oretskaia, Irina: A Stylistic Tendency in Ninth-Century Art of the Byzantine World. In: Zograf 29 (2002–3), pp. 5–18, esp. pp. 11–14. 49 | Sacra Parallela, gr. 923, Paris, Bibliothèque Nationale de France, Rome (?), after 843 (?), fol. 373v; Dan. 13:19–23 (PG 96: 429); Weitzmann 1979, p. 159, pl. LXXXVI, fig. 393. 50 | For a discussion of the Venus iconography, see Balensiefen, Lilian: Die

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One such image appears on the cover of the fourth-century Projecta silver casket whose iconography suggests that it served as a toilette given to a bride as a wedding present.51 The goddess is shown naked and facing front, with one leg bare and the other draped with a mantle emanating from behind to emphasize her nakedness. In her right hand she holds a hairpin and in her left a mirror (fig. 6).52 At first glance, it seems as if the biblical heroine does not reproduce the voluptuous and full body of the classical goddess: Eve’s breasts are outlined rather than modeled, giving them less volume and a decreased sense of realism, and the elegance of the elongated classical body is replaced by a disproportionately large head and a truncated body and limbs. Lastly, any erotic meaning that the goddess’s draped pubic triangle may convey was denied in the Byzantine images by the tight crossing of her legs that concealed the female genitals. Yet, what seems flat and under-eroticized to the modern eye may have been perceived differently by the Byzantine.53 Leo Steinberg54 and Anne Bedeutung des Spiegelbildes als ikonographisches Motiv in der antiken Kunst. Tübingen 1990, pp. 75–78. 51 | Elsner, Jas´: Visualising Women in Late Antique Rome. The Projecta Casket. In: Entwistle, Chris ( ed.): Through a Glass Brightly. Studies in Byzantine and Medieval Art and Archaeology Presented to David Buckton. Oxford 2003, pp. 22–36. On the proposed purpose of the casket, see Schneider, Lambert: Die Domäne als Weltbild: Wirkungsstrukturen der spätantiken Bildersprache. Wiesbaden 1983, pp. 5–38. 52 | London, British Museum (M&ME 1866, 12-29,1), Late Roman, metal and silver-gilt, repoussé, l.: 54.9 cm, h.: 27.9 cm, around 380 CE; Weitzmann, Kurt (ed.): Age of Spirituality. Late Antique and Early Christian Art, Third to Seventh Century. Exh. cat. Metropolitan Museum of Art. New York 1979, pp. 330–32, pl. IX, fig. 310. For a gendered reading on the objectification of the male gaze on the female naked body of Venus, see Wyke, Maria: Woman in the Mirror. The Rhetoric of Adornment in the Roman World. In: Archer, Leonie; Fischler, Susan; Wyke, Maria (eds.): Women in Ancient Societies. An Illusion of the Night. New York 1994, pp. 134–44. 53 | Liz James has argued that the Byzantines reacted differently to color than we do today, as, for example, preferring saturation and especially brightness to the modern-day appreciation of hue; see James, Liz: Colour and the Byzantine Rainbow. In: Byzantine and Modern Greek Studies 15 (1991), pp. 66–94. 54 | Steinberg, Leo: The Sexuality of Christ in Renaissance Painting and in Modern Oblivion. New York 1984. The contemporary Freudian/textual reading of sexual representations of Christ Steinberg used in this study, although widely admired by scholars for its originality, raised numerous reservations by the academic community. His main opponent was Caroline Walker Bynum (The Body of Christ in the Later Middle Ages. A Reply to Leo Steinberg. In: Renaissance Quarterly 39/3 [1986], pp. 399–439), whose main critique was Steinberg’s disregard of the images’ contextuality bearing on questions such as medieval religiosity and

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Hollander55 have argued that visual images of the nude body are never entirely devoid of sexual associations so as to become a perfect vehicle for an abstract theological message. The same holds true for the image of the nude Susanna in the Sacra Parallela, which may have attracted the gaze of the monastic viewer and engaged him in pleasurable voyeurism – one of the main elements of the ›male gaze‹ theory developed by Laura Mulvey.56 The replacement of Venus’s mirror with Susanna’s

Fig 7 | The Martyrdom of Helene, St. Kyriakos‘ Mother, Menologion of Basil II, Constantinople, c. 1000

comb removes the reflective aspect of the mirror, thereby nullifying the ostentatious connotations and particular allure of the male gaze. Granting reception. For a recent study of late medieval eroticism, see Easton, Martha: ›Was It Good For You, Too. Medieval Erotic Art and Its Audiences. In: Different Visions: A Journal of New Perspectives on Medieval Art 1 (2008), pp. 1–30 (http://differentvisions.org/issue1PDFs/Easton.pdf, 14.05.2012). 55 | Hollander, Anne: Seeing through Clothes. New York 1978, p. 186. 56 | Mulvey, Laura: Visual Pleasure and Narrative Cinema. In: Screen 16,3 (1975), pp. 6–18 (repr. in Penley, Constance [ed.]: Feminism and Film Theory. New York 1988, pp. 57–68, esp. pp. 60–64). For critiques of Mulvey’s theory, see, e.g., Pollock, Griselda: Vision and Difference. Femininity, Feminism and the History of Art. London 1988; repr. 2003; Doane, Mary Ann: Femmes Fatales. Feminism, Film Theory, Psychoanalysis. New York 1991. For an overview of this feminist criticism, see the special issue: Bergstrom, Janet; Doane, Mary Ann: The Spectatrix. Camera Obscura. A Journal of Feminism, Culture and Media 20–21 (1989); and recently Callahan, Vicki: Gazing Outward. The Spectrum of Feminist Reception Theory. In: Eadem (ed.): Reclaiming the Archive. Feminism and Film History. Detroit 2010, pp. 9–16.

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the fact that the book’s artist was most certainly male and that its readership was monks, the economics of this imagery allows us to conclude that the illumination represents a male construction and perception with an entirely ›male‹ agenda. The image, which is based on the physical perfection of the female body through the classical motif of Venus, conveys the possibility of sexual content. Yet, in an attempt to conceal the erotic connotations of carnal desire, the Byzantine patron and artist manipulated them to address a new agenda. The image of the nude bather, when viewed in relation to its accompanying exegetical-moralistic texts, was meant to serve as an incentive for moral introspection among the monks in their quest for divine love.57

Fig 8 | Ivory pyxis, Judgment of Paris, Egypt (det.), early 6th c., h.: 8,5 cm, d.: 9 cm, Baltimore, The Walters Art Gallery, 71.64.

The images discussed until now reveal youthfulness and physical beauty that were considered near prerequisites for the representation of the female nude. Surprisingly, depictions of elderly nude figures also exist. Were we to suspect the Byzantine artist of feminist leanings, we would have interpreted this kind of rendition as subversive in its critique of the standards of female beauty in Byzantium. Yet, such an assumption may be invalid, given the fact that the notion of physical beauty in Byzantium is mostly rhetorical and therefore remote from reality.58 57 | For the development of these ideas, see Meyer, Mati: Theologizing Desire: Bathers in the Sacra Parallela (Paris, BnF, gr. 923). In: Different Visions: A Journal of New Perspectives on Medieval Art (forthcoming). 58 | See, e.g., Hatzaki’s contention that »beauty was neutral: it was painted and described per se, as a valued quality on its own right«; Hatzaki 2010, p. 107.

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One final example may clarify this point and the way the heritage of visual Venus was incorporated and assimilated into the prudish Christian Byzantine art. The martyr of Saint Kyriakos’s elderly mother Helene, shown in the tenth-century Menologion of Basil II 59 , is situated at the other end of our imaginary axis of the female nude, presenting a carnal corporeality (in the context of Byzantine art) termed ›moderately masculinized‹ or ›androgynous‹. The naked woman, wearing only a perizonium, is suspended on a hook by her hoary hair and her hands are tied behind her. Her body is drawn in a slight contrapposto posture, which is suggested by her inflected left knee; her facial features reveal her age, and her corporeality is expressed by the full, nippled, sagging breasts and the pronounced musculature of the upper torso and legs. Her executor, a young man shown in profile, is flaying her left arm with a silvery grappling gaff he holds with both hands while her wound bleeds out profusely (fig. 7).60 Except for the tied hands, the martyr’s aesthetic body and pose may be compared to Aphrodite’s carved figure on a late antique ivory pyxis. The naked goddess lifts and arranges her hair in the manner of the Hellenistic Aphrodite or prepares for her bath (fig. 8).61 What, then, casts the female martyr as a manly figure, or as an »androgynous model of female sanctity«62 , departing from the pagan model? I contend that these are the apatheia, that is, the carefree of this world, the association with Christ, and her martyrdom described in terms of battle. Despite being subject to insufferable torments, her face is devoid of all anguish; she manages to maintain a placid expression, with eyes wide open and mouth firmly shut; only her raised eyebrows disclose her 59 | Menologian of Basil II, Vatican City Bibl. Apost. Vat. gr. 1613, fol. 144r. The Menologion is a liturgical book compiling images of various saints corresponding to the days of the Church’s year and follows a consistent pattern: biblical characters, prophets, patriarchs and apostles, martyrs, ascetics, bishops, and imperial saints. For the legend of Saint Kyriakos, see Drijvers, H. J. W.; Drijvers, J. W. (eds.): The Finding of the True Cross. The Judas Kyriakos Legend in Syriac, CSCO 93. Leuven 1997. 60 | Fol. 144r (PG 117: 132B-C); Cavalieri, Franchi P. (ed.): Il menologio di Basilio II (cod. vaticano greco 1613), 2 vols. Turin/Rome 1907, p. 42. 61 | Early 6th c., h.: 8.5 cm, d.: 9cm, Baltimore, The Walters Art Gallery, 71.64; Weitzmann 1979, pp. 137–38, no. 115. 62 | Halsall 1999, p. 182. On the masculinization of female saints, see there, pp. 185–205.

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suffering. Seemingly, the martyr’s sorrowful experience verges on apathy.63 It seems that the contemporary audience would have been conditioned to receive this kind of extreme visual violence as a matter of fact, owing to similar descriptions in the hagiographic literature. This is expressed, for example, in the ninth-century Life of Patriarch Tarasios written by Ignatios the Deacon: »Who, beholding a man who has stripped himself to face horrible torments and various sorts of tortures and is finally beheaded, would not depart smiting his breast in contrition of heart? [...] Who, looking at another man whose flank and back are being scraped with iron claws because he refused to utter a word unworthy of piety, would not be anointed with the emollient of compassion? Who would not be filled with astonishment and subdued by fear whenever he sees one suffering for the faith measures out each of his limbs as it is cut up and sets aside as a sacrifice and offering to God the parts of the body that are being cruelly divided down to the muscles and thighs and shins and vertebrae and ankles?«64

The extremely plastic and cruel depiction of the female martyr is meant not only to cause the viewer to identify with her, but also to associate her with the sacrifice of Christ and his incorruptible and invincible body. This is accomplished by the perizonium covering the woman’s genitalia, and the attack on her left side associates her with the wound in Christ’s side (John 19: 34) and the Crucifixion.65 Lastly, Byzantine sanctity was essentially a masculine quality, but masculinization became normative for the female saint, too.66 This quality, and the fact that Helene’s 63 | On the expression of emotions, and their absence in depictions of martyrs, see Barber 2004, pp. 73–74. 64 | Ignatios Diaconus: The Life of Patriarch Tarasios by Ignatios the Deacon. Ed., trans. and comm. by Stephanos Efthymiadis. Aldershot/Hampshire 1998, pp. 137-38, 195. 65 | Jensen, Anne: God’s Self-Confident Daughters. Early Christianity and the Liberation of Women. Louisville 1992, pp. 111–24, esp. pp. 114–16. 66 | Halsall 1999, p. 129. For the gendering of female saints in medieval Western art, see, e.g., Tibbets Schulenberg, Jane: The Heroics of Virginity. The Brides of Christ and Sacrificial Mutilation. In: Rose, Mary Beth (ed.): Women in the Middle Ages and the Renaissance. Literary and Historic Perspectives. New York 1986, pp. 29–72; Stones, Alison: Nipples, Entrails, Severed Heads, and Skin. Devotional Images for Madame Marie. In: Hourihane, Colum (ed.): Image and Belief. Studies in Celebration of the Eightieth Anniversary of the Index of Christian

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martyrdom is described in terms of an athletic contest or struggle (athlesis),67 portray her as a male of sorts. The emperor Basil II (958-1025) commissioned the Menologion. Never married, and known as a pious man, this highly competent ruler spent most of his life on numerous military campaigns, about which there are recurrent stories of the cruelty the imperial armies inflicted on the enemies and for which he earned his nickname Bulgaroktono (slaughterer of Bulgars).68 One may therefore wonder if the gendered female body might have prompted him not only to engage in devotional contemplation, but also to gaze with pleasure at the martyred body, knowing that torture was inflicted on it69 ; it undoubtedly served as a visual tool to edify his own identity. I argue in a forthcoming study that in a society where women were designated by the legal terms infirmitas (weakness), imbecillitas (feebleness), and, most importantly, levitas animi, which literally means a shallow mind and figuratively points also to a lack of spirit and courage, the ideas of strength and invincibility indeed reflect our ›masculinized‹ female martyr. The fragmented female body is renegotiated to serve as a visual tool intended to shape the identity of the book’s owner, underscoring and articulating not only his pious persona but mostly his military prowess.70 Art. Princeton 1999, pp. 47–70; Easton, Martha: Transforming and Transcending Gender in the Lives of Female Saints. In: Staudinger Lane, Evelyn; Carson Pastan, Elizabeth; Shortell, Ellen M. (eds.): The Four Modes of Seeing. Approaches to Medieval Art in Honor of Madeline Harrison Caviness. Farnham, UK/ Burlington, VT 2009, pp. 333–47. 67 | See above, note 61. 68 | Felix, Wolfgang: Byzanz und die islamische Welt im frühen 11. Jahrhundert. Geschichte der politischen Beziehungen von 1001 bis 1055 (=Byzantina Vindobonensia 14). Vienna 1981, pp. 127–41; Cheynet, Jean-Claude: Basil II and Asia Minor. In: Magdalino, Paul (ed.): Byzantium in the Year 1000. Leiden 2002, pp. 71–108; Stephenson, Paul: The Legend of Basil the Bulgar-Slayer. Cambridge, UK 2003. 69 | Mills, Robert: Suspended Animation. Pain, Pleasure and Punishment in Medieval Culture. London 2005, pp. 16, 121–28. For a different view, arguing that it would be anachronistic to claim that authors and readers of the saint’s vitae would have drawn sadistic or masochistic pleasure from this kind of imagery, see Clark, Gillian: Bodies and Blood: Late Antique Debate on Martyrdom, Virginity and Resurrection. In: Montserrat, Dominic (ed.): Changing Bodies, Changing Meanings. Studies on the Human Body in Antiquity. London/New York 1998, pp. 105–106. 70 | The question of Basil II’s response to the female martyred body is expanded in my forthcoming: The Martyred Body. Violence in the Menologion, Vat. gr. 1613.

VENUS LOST AND FOUND

Conclusions

Few eras are more likely to challenge us to think differently than the Byzantine period, when dealing with the topic of the body, and particularly the female nude, was a constant target of negative attitudes. In principle, however, these perceptions do not dwell on the aesthetic features of the female nude based on the Graeco-Roman motif of Aphrodite. Neither ridiculed nor deformed, it is modelled after nature – with round and full or stylized and flattened forms – following a generally accepted system of harmonious bodily proportions. The enhancement of the female’s physicality by gender signs and body hue placed the female nude on an imaginary axis between a moderately ascetic appearance and a moderately androgynized one; the forms are occasionally outlined by visible contours. This pictorial approach resulted in a blend of idealization and realism, naturalism and abstraction. This observation does not necessarily imply a lack of artistic inventiveness or laziness. On the one hand, it reflects the tensions between the still presence of late antique pictorial traditions and the upper hand of the ascetic trends characterizing Middle Byzantine art. On the other, the artists who conceived the image of the female nude were driven not only by their individual training, skills, and knowledge of artistic traditions, but also by their culture and contemporary history. Indeed, artists had to deal with connotations such as eroticism and sexuality associated with pagan Aphrodite, whence the Byzantine female nude drew its inspiration. In this respect, the nature of the readership of the illustrated manuscripts discussed in the study is a determining factor, for it was largely male71 and rendered the visual discourse on the female nude as predominantly ›male‹.72 Unsurprisingly, therefore, the image of the female nude was manipulated to connote positive meanings for the 71 | For the question of artistic patronage in Byzantium, see Mullett, Margaret: Aristocracy and Patronage in the Literary Circles of Comnenian Constantinople. In: Angold, Michael (ed.): Byzantine Aristocracy. IX to XIII Centuries. Oxford 1984, pp. 173–201; Magdalino, Paul: The Empire of Manuel I Komnenos, 1143–1180. Cambridge, UK 1993, pp. 336–56; Kazhdan, Alexander; Franklin, Simon: Studies on Byzantine Literature of the Eleventh and Twelfth Centuries. Cambridge, UK 1984, pp. 87–114. 72 | Matters of the flesh were articulated specifically by Byzantine laymen and religious men, but not women; Kazhdan 1990, pp. 103–105. For art, see, e.g., Cutler, Anthony: On Byzantine Boxes. In: Journal of the Walters Art Gallery 42/43 (1984/85), pp. 45–46.

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targeted audience; it became a compelling visual and contextual tool for the purpose of promoting various theological, monastic, and political agendas. In conclusion, it seems that the Byzantine artists internalized the audience’s expectations, revealing a sensitivity to the ideal physical female beauty yet, at the same time, alluding to inner, spiritual truths. Thus, we come a full circle with the ambivalence echoed in the above opening excerpt describing Saint Thomaïs’s physical appearance and soul.

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Abb 1 | S. Maria della Pietà, 1749-1771

Ulrike Müller-Hofstede 217

ZWISCHEN EROS, SCHAM UND ENTHÜLLUNG Schillernde Körperentwürfe in Allegorien Corradinis und Queirolos in Neapel

Der Körper – im biologischen Sinn – vermag im gesellschaftlichen Gefüge von Staat und Kirche kaum durch seine ›naturgegebene Geschlechtlichkeit‹ bestimmt werden, auch wenn dies lange Bestandteil hegemonialen biologistischen Denkens war.1 Vor unser Auge schieben sich vielmehr Projektionen, die unser Bild vom Körper ausmachen. Komplexere Zusammenhänge sind es, wenn es sich um medial vermittelte Körper handelt, z.B. bei Bildern, Skulpturen, etc., da hier der ästhetische Bereich nicht nur weitere Neuprägungen, Zuweisungen kontextabhängiger Vorstellungen von der Zeichenhaftigkeit eines symbolischen Körperbildes hinzukommen lässt, sondern auch Festschreibungen aufhebt. Vor allem Skulptur, deren Dreidimensionalität ein hoher Status an Wirklichkeit und Wahrheit zuwächst, vermag in leiblicher Präsenz ›Natur‹ und ›Geschlecht‹ vorzugeben und dadurch Ordnungen vorzuspiegeln, die – ebenso fiktiv – auch wieder unterwandert werden können. So kann etwa der Künstler dem Betrachter beim Anblick seines materialisierten, fingierten weiblichen Körpers in einer rezeptionsästhetischen Weise Begehren entlocken und zusätzliche Projektionsflächen für mentale Bilder bieten. 1 | Gludovatz, Karin: KörperBilder. Konzepte und Repräsentation von Geschlecht. Einführung zur Ringvorlesung im Sommersemester 2010, Unveröffentlicht, 2010, S. 1. Vgl. auch: Bennwitz, Ingrid; Kasten, Ingrid (Hg.): Genderdiskurse und Körperbilder im Mittelalter: Eine Bilanzierung nach Butler und Lacqueur. Münster 2002. Kamper, Dietmar: Art. Körper. In: Barck, Karl-Heinz u.a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe: historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 3. Stuttgart/Weimar 2003, S. 426-450.

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Verwoben in einem Projektionsnetz von erotischen und androgynen Mustern – das die vorgegebene soziale Ordnung und ihre Codes unterläuft und zugleich bestätigt – gewinnt der skulpturale Körper an Mehrdeutigkeit und dialektischem Potenzial. Mit zwei Beispielen spätbarocker Skulptur aus dem 18. Jahrhundert soll dieser vorerst nur summarisch skizzierte, allgemeine Rahmen erörtert werden. Mit ihrer ungewöhnlichen Darstellung verschleierter und vernetzter Körper waren sie in den letzten Jahren wiederholt Gegenstand kunsthistorischer Interpretation, bei der Auftraggeber und freimaurerische Kontexte Neapels im 18. Jahrhundert keine geringe Rolle spielten. Die Forschung hat wichtige Studien dazu vorgelegt, offen bleiben Fragen zu den jeweiligen Körperentwürfen, unbehandelt auch die ästhetischen Bezüge der als Pendants geplanten Denkmäler für die Eltern des Auftraggebers.2 Welche allegorischen Konzepte eines symbolischen Körpers spielen bei den Epitaphien eine Rolle? Welche wirkungsästhetischen Möglichkeiten entfalten die Bildhauer Antonio Corradini und Francesco Queirolo mit ihren Skulpturen, welche Körper – und Lebensvorstellungen evozieren und verneinen sie? Welche Formen von Männlichkeit und Weiblichkeit werden für die Allegorien inszeniert? Ausgehend von der Analyse der Grabmonumente, den Eltern des Auftraggebers gewidmet, wird der These nachgegangen, dass der Körper der Verstorbenen zur Projektionsfläche von allegorischen Konzepten genutzt wird, die teilweise mit der tatsächlichen Vita in scharfem Kontrast stehen, bzw. deren Unkenntnis eine Leerstelle für neue Vorstellungen bietet.3 Die Tatsache, dass es sich bei den beiden 2 | Cogo, Bruno: Antonio Corradini, Scultore Estense. Este 1996. Cioffi, Rosanna: La cappella Sansevero: arte barocca e ideologia massonica. Salerno 1987. Dies.: Una proposta interpretativa per l’iconografia della Cappella Sansevero. In: Pavone, Mario Alberto (Hg.): Modelli di lettura iconografica. Napoli 1999, S. 323-341. Vaccaro, Vincenzo: Massoneria e Ermetismo nella Napoli del 700, La cappella San Severo. In: Cresti, Carlo (Hg.): Massoneria e Architettura. Foggia 1989, S. 73-84. Grund, Sonja: La ›Pudicizia‹ di Antonio Corradini : la donna velata e la sua fortuna tra Venezia e Napoli. In: Pestilli, Livio; Rowland, Ingrid D.; Schütze, Sebastian (Hg.): ›Napoli è tutto il mondo‹: Neapolitan Art and Culture from Humanism to the Enlightenment. Pisa/Roma 2008, S. 309-328, hier S. 321 und 324. Deckers, Regina: Die Testa velata in der Barockplastik. Zur Bedeutung von Schleier und Verhüllung zwischen Trauer, Allegorie und Sinnlichkeit (=Römische Studien der Bibliotheca Hertziana Bd. 27). München 2010, S. 282; Höbel, Sigfrido: La capella filosofica del principe di Sansevero. Napoli 2010. 3 | Einen Teil dieser Thesen – jedoch im Kontext der Interpretation der Reliefs – wurde von mir im Beitrag des Tagungsbandes zum Kongress Mary Magdalene and the Noli me tangere in Interdisciplinary context in Leuven (2009) dargelegt:

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Monumenten am Eingang zum Presbyterium um die Epitaphien der Eltern des Auftraggebers handelt, verweist auf die Behauptung einer vereinheitlichten Konzeption, die den Disinganno Queirolos optisch als Pendant zum sichtbaren Monument für die Ehefrau, Cecilia Gaetani, erhellt. Letztlich wird zu zeigen sein, dass eine verbindliche Planung weniger von genealogischen als von ästhetischen Vorstellungen bestimmt war. An einige historische Fakten sei hier noch einmal erinnert: Verantwortlich für die barocke Ausstattung seiner Familienkapelle, auch S. Maria della Pietà genannt, im Zentrum des alten Neapel, gibt der Katholik und Freimaurer Raimondo di Sangro 1749 der Kapelle mithilfe der Bildhauer und Maler ihr heutiges Aussehen (Abb. 1). Er verfolgt dabei eine dynastische Repräsentation ungewöhnlichen Ausmaßes mit einer Fülle von barocken Epitaphien, welche die Tugenden seiner Vorfahren feiern. In einzelne Allegorien gefasst, formen sie einen Gesamtzusammenhang, den genealogischen Körper der Familie Di Sangro, auf dessen soziologische und künstlerische Struktur hier im Einzelnen nicht eingegangen werden kann.4 In ihn und seine Fortsetzung schreibt sich Raimondo mit der Errichtung der Grabmäler für seine Eltern ein. Er holt die Bildhauer nach Neapel, weist ihnen und der Skulptur eine bedeutende Rolle zu, kontrolliert ihre Modelle und bespricht mit ihnen die allegorischen Konzepte, selbst sehr gut vertraut mit den philosophischen, theologischen und künstlerischen Strömungen seiner Zeit.5 Das Hauptgewicht des neuen Kirchenschmucks liegt auf dem Zyklus der Pfeilerfiguren. Mit aufwendigen Tugendallegorien, die sich aus Figuren, Inschrifttafeln und Reliefs kombinieren, gedenkt der Fürst seiner Vorfahren. Viel Wert legt Raimondo di Sangro auf jene beiden Werke, die der Müller-Hofstede, Ulrike: Zur Medialität der Skulptur im Kontext des ›Noli me tangere‹ und der ›Heilung des Blindgeborenen‹. Wahrheits- und Glaubenskonzepte in spätbarocken Epitaphien in Neapel. In: Bieringer, Reimund; Baert, Barbara; Demasure, Karlijn (Hg.): Noli me tangere: New Interdisciplinary Perspectives (Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensium). Leuven/Paris/Dudley, Mass. 2013. 4 | Den genealogischen Körper zu untersuchen, wäre einer eigenen Analyse wert. 5 | Durch die erhaltene Bibliothek des Fürsten wissen wir, dass Raimondo z.B. mit den neuesten sensualistischen Theorien vertraut war. Colapietra, Raffaele: Raimondo di Sangro e il templum sepulcrale della cappella Sansevero. In: Napoli nobilissima [3.Ser.] 25 (1986), S. 62-79. Di Sangro, Oderisio: Raimondo di Sangro e la cappella Sansevero. Rom 1991, S.138.

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Betrachter wahrnimmt, wenn dieser sich dem Kultbild einer Pietà über dem Hochaltar nähert. (Hier wird Francesco Celebrano erst viel später eine Kreuzabnahme und die Vera Ikon im Medium der Skulptur inszenieren.) Kurz vor dem Eingang des Presbyteriums am Ende der Reihe der anderen Statuen und Allegorien lässt Raimondo durch Antonio Corradini links seiner Mutter ein Denkmal der Schamhaftigkeit, der Pudicizia, setzen und rechts seinem Vater ein Denkmal des Disinganno von Francesco Queirolo (Disinganno ist mit ›Befreiung der verstrickten Seele‹ zu übersetzen) (Abb. 2). Jedes hat – wie eine ganze Serie von anderen Tugendallegorien – eine oder zwei Statuen mit verschiedenen Attributen auf einem relativ hohen Sockel und einer längeren Inschrift. Diese beiden jedoch sind herausgehoben und zeichnen sich noch durch eine architektonische pyramidenförmige Konstruktion hinter der Figur aus. Medaillons mit Porträts der Verstorbenen im Halbprofil schließen im oberen Teil die Epitaphien ab. Zur Komplexität des jeweiligen Monuments gehören die Reliefs am Sockel unterhalb der Statuen, jeweils mit den Themen des Noli me tangere und der Blindenheilung.6 Nachdem der berühmte und für seine verschleierten Skulpturen sehr verdiente venezianische Bildhauer Corradini 1752 verstorben war, holt Raimondo di Sangro Francesco Queirolo aus Genua und beauftragt ihn, das Denkmal für seinen Vater zu schaffen. Anders als bei Raimondos Mutter, Cecilia Gaetani, die mit zwanzig Jahren verschied und bei der es leicht war, einen tugendhaften concetto zu ersinnen, bot sich mit einem Monument für seinen Vater (1685-1757) ein schwieriges Unterfangen. Dramatische Ereignisse aus dem Leben des Antonio di Sangro fügen sich romanhaft zur Vita eines bekehrten Sünders aus der süditalienischen Oberschicht, der einem verlorenen Sohn ähnlich zurück in die christliche Moral und Lebensführung findet. Antonio und sein Sohn Raimondo di Sangro entstammten einer berühmten adligen Familie, deren Wurzeln sich bis zu den ersten Grafen von Marsi im neunten Jahrhundert zurückführen ließen, die über zahlreiche, große Besitztümer wie Sansevero, Torremaggiore, Castelnuovo, Casalvecchio di Puglia und andere Ländereien in Apulien verfügten, einen stattlichen Familienpalast in Neapel besaßen und eben jene Kapelle in den Ausmaßen einer kleinen Kirche, 6 | Zur Deutung der Reliefs im Kontext der Epitaphien: Müller-Hofstede 2013. Auf sie wird deshalb hier nicht weiter eingegangen.

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Abb 2 | S. Maria della Pietà, Presbyterium, 1749-1771

S. Maria della Pietà, auch Pietatella oder Cappella Sansevero genannt.7 Antonio di Sangro heiratet zunächst Cecilia Gaetani, deren tragisch früher Tod ihn alsbald zum Wittwer machte. Es folgen nicht weniger als drei Kapitalverbrechen, die sich mit seiner Person und den sich verfestigenden Feudalstrukturen Italiens und Europas verbinden. Als Witwer vergeht er sich in Torremaggiore an einem jungen Mädchen, der Tochter eines Untergebenen, was den heftigen Protest des Vaters des Mädchens hervorruft. Antonio di Sangro veranlasst daraufhin, den Vater kurzerhand zu ermorden. Angeklagt von Nicolà Rossi, einem der Bürgermeister, flieht er aus Italien und begibt sich an den Hof nach Wien und nach St. Petersburg. Nach seiner Rückkehr in die Heimat erhebt das Stadtoberhaupt erneut Anklage, woraufhin di Sangro auch dieses umbringen lässt. Auf Betreiben der Familie gelingt es, Papst Benedikt XIV. zu bewegen, Antonio die Beichte abzunehmen, um dann die Priesterweihen für diesen vorzubereiten, der einzige Weg für ihn, um künftig unbehelligt bleiben zu können.8 7 | Zur Familie vgl. Colapietra 1986, S. 62-79. 8 | Vgl. Di Sangro 1991, S. 169. Deckers 2010, S. 282.

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Wie kann ein Ehrenmonument für einen solchen Vater funktionieren, dessen zweifelhafter Ruf den Namen der Familie di Sangro für lange Zeit beschädigte und sich in das kollektive Gedächtnis eingeschrieben haben dürfte? (Abb. 3) Für den Sohn, Raimondo, erschien es nur möglich, sich eine komplexe Allegorie auszudenken. Zwei Figuren, eine lange Inschrift, Attribute mit Bibelzitaten usw. laden zum Nachdenken und Verweilen über den concetto, den Disinganno ein. Queirolo versucht, die Skulptur seines Vorgängers Corradini, der mit seinem verschleierten Werk sein Ansehen als herausragender Bildhauer gefestigt hatte, zu übertreffen.9 Thema und Darstellung sind ungewöhnlich, halb privat: Disinganno jene ›Enttäuschung‹, oder: ›Befreiung aus einer Verstrickung‹, weist auf den Lebensweg des Vaters, der nicht wenigen Neapolitanern bekannt gewesen sein dürfte.10 Anstatt nun eine Fülle von Tugenden zu nennen, wie bei Cecilia Gaetani, seiner Mutter, nennt Raimondo nur eloquentia und ingenium (Redekunst und Begabung) und geht in der langen Inschrift auf den problematischen Lebensweg ein: Weder der Wahrheit [noch der Huldigung des Vaters] dürfe etwas geschuldet werden [die Sünden andeutend], verknappt heißt es weiter: Der Verstorbene habe seine junge Frau in jugendlichem Alter verloren, daraufhin als Eheloser den jugendlichen Begierden (»juvenilibus cupiditatibus«) über und übergenug gehorcht, um danach ganz Europa zu bereisen. Sich durch heiligen Lebenswandel nach seiner Rückkehr auszeichnend, sei er zur Erkenntnis seiner Irrtümer gekommen und nach seiner Rückkehr als Priester und Abt dieses Heiligtums 1757 verstorben.11 9 | Zu Corradinis verschleierten Skulpturen zuletzt: Deckers 2010, S. 213-256, hier S. 279. 10 | Colonna di Stigliano 1895, S. 169. 11 | Die komplette Inschrift lautet: »ANTONIO SANGRO / DUCI TURRIS MAIORIS / PAULI SANSEVERI / PRINCIPIS FILIO / ELOQUENTIA INGENIO / VARIAQ. FORTUNA ADMIRABILI / QUI QUUM UXORE / IN ADOLESCENTIA AMISSA / CAELEBS DEIN / JUVENILIBUS CUPIDITATIBUS / SATIS SUPERQ. PARUISSET / PROPTEREAQUE / PATRIA PROCUL EUROPAM OMNEM / PERAGRASSET / IDEMQ. COGNITIS / TANDEM ERRORIBUS / REDUX SACERDOS / HUIUSQ. TEMPLI ABBAS / SANCTITATE MORUM INSIGNIS / VI. ID. SEPT. AN. MDCCLVII / AET. SUAE LXXII OBEISSET DOCUIT / NON DATUM ESSE / HUMANAE IMBELLICATI / UT MAGNAE SINE VITIIS VIRTUTES / EXISTANT /RAYMUNDUS SANSEVERI / PRINCEPS FILIUS / NE QUID PATRI NE QUID VERITATI / DENEGARET / EIUSMODI ELOGIUM / INSCRIBENDUM PONENDUMQUE / CURAVIT«. (»Für Antonio Sangro, / Herzog von Torremaggiore / (und) des Paulo Sansevero, / des Fürsten Sohn / durch Beredsamkeit, Erfindungsgabe / und wechselndes Glück bewundernswert, / der, nachdem er seine Ehefrau / (bereits)

Abb 3 | Francesco Queirolo, Disinganno, 1752-53

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Vermutlich der familiäre Wunsch, auch des zur Zeit der Konzeption noch lebenden Antonio di Sangro, sich in die lange Kette seiner Vorfahren einzuschreiben und die in der ganzen Kirche behauptete Geschlossenheit eines genealogischen Körpers zusammen mit der funktionalen Bestimmung eines Grabepitaphs, dem Verstorbenen zu huldigen, veranlassten zweifellos den Sohn, Raimondo di Sangro, deshalb – nur für die lateinisch lesende Oberschicht – die schweren Verbrechen seines Vaters als ›Jugendsünden‹ zu beschönigen, darunter die gewaltsame Aneignung eines Mädchens und der zweifache Mord an dessen Verfolgern12 . Für die Herstellung der sozialen Ordnung dürften selten derart kontrastiv biographische Details und repräsentative Allegorie ineinander verwoben worden sein, auch wenn die Topik einer ›Bekehrung‹ in Heiligenviten bekannt war. Dennoch fehlte die Anschaulichkeit, für sie musste eine Lösung gefunden werden. Man sah deshalb einen concetto vor, der Neues und Altes verband: Da eine Allegorie des Disinganno bisher nicht existierte, orientierten sich die Konzeptoren am Inganno (Verstrickung) aus Cesare Ripas Werk, der zu dieser Zeit in ganz Europa bekannten Iconologia, eines berühmten Handbuches der Allegorien, es wurde ab 1764 von Cesare Orlandi neu aufgelegt und dem Auftraggeber der Kapelle, Raimondo di Sangro, gewidmet.13 In der Forschung wurde einer von mehreren Vorschlägen Ripas als Möglichkeit für Queirolos Darstellung erkannt14 : Man solle sich einen Mann vorstellen, der in einer Hand ein Netz halte, mit einigen Fischen.15 in jugendlichem Alter verloren hatte / (und) hernach als Eheloser den jugendlichen Begierden / genug und übergenug gehorcht hatte / und deswegen fern der Heimat ganz Europa / durchstreift hatte / und nachdem er zur Erkenntnis / seiner Irrtümer schließlich gekommen war, / (und) nach seiner Rückkehr als Priester / und Abt dieses Heiligtums / sich durch heiligen Lebenswandel auszeichnend / am 6. Tag vor den Iden des September (= 8.9.) im Jahr 1757 / (und) im 72. Jahr seines Lebens gestorben war, (uns dergestalt durch sein Leben darüber) belehrt hat, / dass es nicht gegeben sei / der menschlichen Schwachheit, / dass (bei ihr) große Tugenden / ohne Laster / vorkommen, / hat Raimondo Sansevero , / der Sohn des Fürsten, / damit er weder dem Vater noch der Wahrheit etwas / verweigerte, / für die Erstellung und Errichtung einer solchen Inschrift / Sorge getragen.« - Für die deutsche Übersetzung danke ich Reinhard Gruhl, Heidelberg.) 12 | Colonna di Stigliano 1895, S. 138. Deckers 2010, S. 282. 13 | Ripa, Cesare: Iconologia… notabilmente accresciuta d'imagini, di annotazioni e di fatti. Hg. v. C. Orlandi. (9. Aufl.) Perugia: Constantini 1764-1767. Cioffi 1999, S. 115f. S. Grund 2008, S. 309-328, hier S. 321 und 324. Deckers 2010, S. 277. 14 | Deckers 2010, S. 284. 15 | Ebd. Deckers bezieht sich auf die Ausgaben der Iconologia von 1593, S. 134 und

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Übersehen wurde dabei, dass es nicht der inganno Ripas sondern eine Variante der luxuria von Alciati ist. In der Explicatio seines Emblems zeigt dieser an, wie blinde Liebhaber [wie Fische im Netz der verführerischen Hure] selbst zu Schaden kommen.16 (Abb. 4) Queirolo wechselt die Rollen: Hier sind es nicht die Fische, sondern der Mann, der im Netz verstrickt ist, er verdeutlicht für den Disinganno, die Aktion eines ›ehemals Verführten‹, der im aktiven Zerreißen eines Netzes freikommt, eine ekstatische Erkenntnis versinnbildlichend. Mit einer neuen, bildhauerisch höchst anspruchsvollen Idee, aus einem einzigen Block ein höchst kompliziertes Fischernetz mit Knoten, dünnen Stegen und diffizilen Durchbrüchen zu gestalten, formt er mit dem zweidimensionalen Netz ein weiteres dreidimensionales Gebilde17. Allusiv verweist die Gestalt auf Antonio di Sangros Vergangenheit, denn das dicht aufliegende Netz auf dem schönen Männerbein evoziert androgyne erotische Assoziationen. Sie zeigt zugleich im partiellen Freilegen von Gesicht und Oberkörper den glücklichen Befreiungsakt. Ein kleiner Genius mit Flügeln hilft und deutet mit einem gesenkten Zepter auf einen Globus zu seinen Füßen, wohl um anzuzeigen, dass die weltlichen Dinge nun zur Vergangenheit gehören, dem christlich-allegorischen Konzept des dispregio il mondo 1613, S. 372. Ripa, Cesare: Iconologia… (2. Ausg.).Roma: Appresso Lepido Faeij 1603, S. 229. Zu einer ganz anderen Personifikation des inganno in der Ausgabe von 1613 vgl.: Tarnow, Ulrike: Cesare Ripa: Nuova Iconologia […] Nella quale si descrivono diverse Imagini di Virtù, Viti, Affetti, Passioni, Arti, […]In: Löhr, WolfDietrich; Thimann, Michael (Hg.): Bilder im Wortfeld. Berlin 2006, S. 108-109. 16 | Ripa: Iconologia (1603), S. 229. In der Übersetzung lautet dies: »[Ein] Mann [ist] mit einem Ziegenfell bedeckt – [und zwar] so, dass man gerade noch sein Gesicht sieht. In der Hand hält er ein Netz mit einigen Brassen darin – Fischen von einer ähnlichen Form wie Goldbrassen. So (be)schreibt es Alciatus & erläutert dies mit lateinischen Versen. Das concetto lautet folgendermaßen: ›Die Brasse liebt die Ziege; und der Fischer, der das erkennt, verkleidet sich in deren Fell [wörtlich: zieht deren Haut an. In alten Übersetzungen auch: haarig Haut]; dadurch getäuscht, wird der arme Liebende [d.h. der Fisch] in dessen Fallen gefangen [wörtlich: muss es sein (im Sinne von: bleibt es nicht aus), dass er gefangen in dessen Fallen (zurück)bleibt]; So fängt die Hure durch Täuschung den Liebhaber [bzw. »Buhler«], [der] blind für seinen eigenen Schaden [ist].‹« In den meisten Emblembüchern überschrieben mit: »In amatores meretricum / In quegli, che amano le meretrice / Wider die Buler / Wider die liebhaber der hueren.« 17 | In Queirolos Monument dient das zerrissene Netz metaphorisch für die ekstatische Erkenntnis. Komplexe, zeitlich auseinander liegende Zustände werden in einer Form erfahrbar gemacht, die der simultanen Perzeption der Malerei ähnelt. Im scheinbar dehnbaren Naturmaterial des Netzes bringt der Marmorbildhauer nicht nur das Freilegen von Form – sein eigentliches produktionsästhetisches Verfahren – sondern auch das Einfangen von Form zur Darstellung.

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Abb 4 | Alciati, luxuria aus Andrea Alciati: Emblemata, Lyon 1550

(Verachtung der weltlichen Dinge) von Ripa folgend, wo ein Mann in Rüstung – gleichsam als miles christianus – auf einer Weltkugel sitzt, um den Sieg über die paganen Dinge anzuzeigen.18 Eine aufgeschlagene Bibel mit verschiedenen Textstellen aus Nahum 1,13, Lib. Sap. 17,2 und Kor. 1,11,32 erhellen den erlösenden Akt. Die Allegorie spielt metaphorisch auf eine revelatio, auf ein Sehen und Erkennen an. Die Vorstellungen der Befreiung von der Verstrickung stehen denen der Schamhaftigkeit des Gaetani-Monuments als Pendant gegenüber, von der Bezeichnung der Tugend wirken sie analog moralisch im Bewusstsein über den eigenen sündigen Leib. Die Abstraktion der ekstatischen revelatio wird allegorisch als ästhetisches Ereignis gefasst und darüber hinaus der Tastsinn und seine mentalen Bilder aktiviert: Denn hatte Antonio di Sangro nun – wie die gängige Vorstellung war – seine Sünden über den Tastsinn begangen, so befreit sich die Figur im Monument ebenfalls wieder mit den Händen (mit dem aktiven Zerreißen aus dem Netz). Der reelle (verstorbene, biologische) Körper des Antonio di Sangro wird also zum neuen, symbolischen, ästhetischen und moralischen Körperentwurf, dessen Erkenntnis nicht von außen (etwa durch den Zwang des Papstes und der Familie), sondern 18 | Ripa: Iconologia (1603), S. 107.

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durch aktive Einsicht den Gewinn der Buße und Beichte für den frommen Betrachter vermittelt. Eine solche auf Evidenz und Wahrheit abzielende Konzeption war nur durch »allegorische Vorstellungen« möglich, die eher auf Handlungen beruhen:19 Den zentralen Punkt bildet hier die Umkehr einer Vita, zwei Teile vermittelnd: als ob Antonio di Sangro schlagartig erkannt habe, dass er die weltlichen Versuchungen der Vergangenheit hinter sich lassen müsse, um die tugendhafte Zukunft zu wählen. Sulzer spricht in seiner Allegorietheorie bezeichnenderweise von dem »Körper der Begebenheit«, die der Künstler allegorisch vorstellen will, indem er die »Seele« entdecken muss, diese als »unsichtbares Wesen derselben« sichtbar machen muss.20 Als Seele definiert er dann – mit Blick auf sein Beispiel, die Eroberungsfeldzüge Alexanders des Großen als »edle Rachgier« oder »ausschweifende Herrschsucht«. In Queirolos Disinganno entsprächen dieser Seelendefinition die »jugendlichen Begierden« des Antonio di Sangro, um jenen Umschlag und Handlung eines ›Körpers der Begebenheit‹ der revelatio zu ermöglichen. Soziologisch gesehen wäre der concetto schon jetzt erklärt und deutlich: Zumindest vom Titel her sichert die frühere, von Corradini geschaffene Statue der Schamhaftigkeit und Keuschheit auf der weiblichen Seite die moralische Integrität der Cecilia Gaetani, so wie das Entsagungskonzept des Disinganno auf der männlichen Seite das Ethos Antonio di Sangros. 19 | Sulzer, Johann Georg: Art. Allegorie. In: Ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Leipzig 1792, [1. Aufl. 1771], S. 73-112, hier S. 97. »Nun wollen wir die Gattungen der Allegorie näher betrachten. Nach dem Unterschied ihrer Bedeutung sind sie von zweyerley Art: entweder stellen sie uns blos einen einzigen unzertrennbaren Gegenstand vor; ein unsichtbares Wesen, einen Begriff, eine Eigenschaft – oder sie verbinden deren mehrere, um eine Handlung, eine geschehene Sache, oder eine aus vielen Begriffen zusammengesetzte Vorstellung auszudrücken.« 20 | Ebd. S. 102: »Darauf kommt es also zuerst an, daß der Künstler in dem Körper der Begebenheit, die er allegorisch vorstellen will, eine Seele entdeke, und denn, daß er das unsichtbare Wesen derselben sichtbar mache. So müßte uns ein allegorisches Gemählde von Alexanders Eroberungen des persischen Reichs, nicht Schlachten und Feldzüge, sondern entweder edle Rachgier, die, von einem übermüthigen Fürsten, an einem freyen Volke verübte Gewaltthätigkeit, zu rächen; oder ausschweifende Herrschsucht mit allen ihren übeln Folgen, wenn sie einem schon mächtigen Fürsten von großem Verstande beywohnet; oder etwas dergleichen vorstellen, das uns gleich in einen Gesichtspunkt stellt, aus welchem wir die Sache im Ganzen übersehen können. Hat der Künstler die Seele seiner Geschichte erst entdeket, so wird es ihm nicht sehr schweer werden, das besondere, wodurch die Begebenheit angezeiget werden kann, zu erfinden.«

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Beide Verstorbenen werden einer traditionellen sozialen und religiösen Ordnung entsprechend mit Allegorien des Schuld- und Schambewusstseins über dem eigenen sündigen Leib überformt. Gleichwohl bleibt die Frage nach der Medialität der Monumente und ihrer spezifischen Rezeptionsästhetik. Folgt die erotische, verschleierte Skulptur Corradinis tatsächlich allein einem solchen moralischen Rahmen? (Abb. 5) Funktioniert ihr prononcierter Körperentwurf in diesem Sinne oder unterläuft er die sozialen Codes? Fraglich ist auch, ob beide Monumente getrennt und nacheinander geplant wurden, ob Queirolo nach dem Tod seines Vorgängers nur auf Corradinis invenzione ›antworten‹ konnte und ob Hinweise auf eine Planungsidee zielen, derzufolge die Grabmäler als Pendants gelesen werden wollen. Dafür dürfte es hilfreich sein, im Folgenden zunächst Corradinis Pudicizia unabhängig von dem späteren Monument für Antonio di Sangro zu analysieren. Die Statue wird von Corradini durch eine füllige Frau dargestellt, deren Körper von oben bis unten verschleiert ist. Von größter Raffinesse schmiegt sich das Tuch an ihren nackten Körper, nicht nur die erhabenen Formen wie Brüste und Oberschenkel, auch kleinste Vertiefungen wie der Bauchnabel zeichnen sich auf erotische Weise ab. Corradini gibt die Schönheit und Sinnlichkeit nicht preis, sondern deutet sie nur verführerisch an. Die junge Frau wendet ihren Kopf nach rechts, ihr Blick ist nicht zu erkennen. In der Oberflächenbehandlung werden neue mediale Möglichkeiten von Skulptur erkennbar: Weibliche Formen drücken sich durch das Tuch durch, wie ein nasses, dünnes Gewand bleibt es an den erhabenen spitzen Formen des weiblichen Körpers hängen. Eine Rosengirlande steht möglicherweise sinnbildlich für Schamhaftigkeit oder Verschwiegenheit.21 Auf einer zerbrochenen Inschrifttafel kann der neugierig gewordene, lateinkundige Betrachter eine lange Widmung an die Verstorbene lesen. 21 | Deckers 2010, S. 281 und Cogo 1996, S. 317 bieten sehr viele Bedeutungen an. Meines Erachtens schafft uns Hieronymus Lauretus‘ Wald der Allegorien aus der Heiligen Schrift (Silva allegoriarum totius sacrae scripturae), eine Sammlung von christlichen Bedeutungen und ihrer biblischen Stellenangabe (Erstausgabe Barcelona 1570, mehrere Ausgaben im Barock folgten, die letzte 1744), Aufschluss über die Rosengirlande. Unter »rosa rubens«, der »roten Rose« kann man, so Lauretus, die Schamhaftigkeit der Heiligen Jungfräulichkeit verstehen. Lauretus, Hieronymus: Silva allegoriarum totius sacrae scripturae. Barcelona 1570. Repr. München 1971, Bd. 2, S. 807.

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Zusammengefasst lässt sie sich so wiedergeben: In den ersten Zeilen findet sich der Name, der gesellschaftliche Rang etc., eine Würdigung der besonderen Tugenden, u.a. ihr feiner Anstand (elegantia) ihr Geist

Abb 5 | Antonio Corradini, Pudicizia, 1750-1752

(ingenium) ihre tätige Liebe (caritas) Frömmigkeit (religio) usw. usf. Darunter folgt das Alter (zwanzig Jahre), wer ihr das Denkmal gesetzt hat (- der Sohn Raimondo di Sangro –) und warum (also nicht aufgrund ihrer sozialen Stellung, sondern aufgrund ihrer Tugenden).22 Am Fuße der Inschrifttafel steht eine Art Urne oder Gefäß. 22 | Die Inschrift lautet folgendermaßen: »PACI AETERNAE / CAECILIAE CAJETANAE AQUILAE ARAGONIAE / NICOLAI LAURENTIANSIUM DUCIS / ET AURORAE SANSEVERIANAE / BISIGSANENSIUM PRINCIPIBUS FLIAE / DE SANGRO TURRISMAJOR: DUCIS / OPTIS / OPTIMAE CONJUGI / QUAE / MORIBUS ELEGANTIA INGENIO / PIETATE RELIGIONE AC FIDE / ADEO ENITUIT / UT NOBILISS: AC PIENTISS: AB OMNI AEVO / FOEMINIS AEQUARI POSSET / VIX: ANN: XX: DECESSIT VII: KAL: JAN: MDCCXI / RAYMUNDUS DE SANGRO FILIUS / SANCTOSEVERENTIUM PRINCEPS / QUO EXIMIA EJUS MERITA / GRATI ANMI ET AMORIS MONUMENTO / SINT INSIGNIORA / MATRI INCOMPARABILI / TUMULUM EXCITANDUM CURAVIT / ANNO SAL. MDCCLII.«

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Warum aber erdachte sich Corradini eine kaum verhüllte, ostentativ erotische – gleichsam ›schuldig‹ wirkende Figur, deren Körper alles andere als schamhaft wirkt? Welche Körperprojektion provoziert er? Der schon erwähnte Cesare Ripa definiert die Pudicizia in mehreren Modellen für eine Allegorie, eine davon ähnelt dem Konzept der Statue, auch wenn die Attribute sich unterscheiden; so heißt es in der Iconologia:23 »eine Frau mit einem durchsichtigen Schleier, der ihr Gesicht bedeckt […] Der Schleier gibt zu verstehen, wie die keuschen und schamhaften Frauen die Verschönerung ihrer Person verachten müssen.«24 Ripas Vorschlag, den Schleier nur das Gesicht der Figur [und vermutlich deren Schamesröte als »Verschönerung«] bedecken zu lassen, kennzeichnet ihn als Attribut und verschreibt sich konventioneller Allegorietheorie, die Hilfen für Künstler und Humanisten bietet, aber im vorliegenden Fall nur wenig Berücksichtigung fand. Corradinis Aufgabe war es, die jung verstorbene Cecilia Gaetani im Medium des Marmors und eines aus verschiedenen Gattungen bestehenden Monuments zu überhöhen. Darüber hinaus bezieht er den Betrachter in einen kommunikativen Akt, d.h. hier genauer: in den ganzen Komplex von Begehren und Verweigerung mit ein. In einer bewusst betonten Ambivalenz, die das dünne Textil auf der Skulptur hervorruft, wird der Betrachter durch die Figur und den Schleier angestoßen, den Statuenkörper zu betasten und die Unterschiede in den Oberflächen zu erfühlen, gleichsam die Frage nach der hier suggerierten »verlebendigten« Wahrheit eines Körpers zu ergründen. Er kann auch über seine Begierden und seine eigene »Züchtigung des Fleisches« nachdenken. Somit bietet sich vielleicht eine Rechtfertigung durch die funktionale Einbindung der Pudicizia in den Kirchenraum an.25 Zit. n. Deckers 1991, S. 280-281. Zu deutsch: »Ewigen Frieden der Cecilia Gaetani dell’Aquila d’Aragona, Tochter von Niccolò, Herzog von Laurenzano und von Aurora Sanseverino und Prinzessin von Bisignano, berühmte Ehefrau von Antonio de Sangro, Herzog von Torremaggiore, gefeiert für ihre soziale Anmut, ihr Betragen, ihren Intellekt, ihre caritas, Demut und Loyalität, (Tugenden), die so hervorstachen, dass sie als eine der liebenswürdigsten und exzellentesten Frauen aller Zeiten bekannt war. Sie lebte bis zu ihrem zwanzigsten Lebensjahr und starb am 26. Dezember 1710. Ihr Sohn Raimondo de Sangro, setzte dieses Denkmal zu Ehren von seiner herausragenden Mutter, damit man in Erinnerung immer ihrer besonderen Tugenden gedenke.« 23 | Deckers 2010, S. 281 äußert sich ausführlich zu diesem Unterschied. 24 | Ripa: Iconologia (1603), S. 23. 25 | Die Statue wendet sich mit ihrem verhüllten Gesicht zur Choröffnung, die den Blick auf den Hochaltar freigibt. Dort wird ein Jahrzehnt später der Bildhauer

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Dennoch bleibt die Frage, ob nicht doch die einst untadelig lebende, jung verstorbene Cecilia Gaetani als Projektionsfläche – post mortem – in einem Bußkontext mit ihrer stark erotischen Gestaltung zu sehr beschädigt wird? Dagegen ließe sich einwenden, dass selbst die Hl. Magdalena im Relief unterhalb der Figur in der Szene des Noli me tangere im Gestus der überkreuzten Arme vor dem Herrn dargestellt ist (Abb. 6). Hypothetisch könnte man annehmen, dass die jung verstorbene Figur der Gaetani – selbst für den Auftraggeber aufgrund ihres kurzen Lebens eine kaum fassbare Gestalt – als ›fiktionale‹ Büßerin in Analogie zur Magdalena mit einer neuen Körpervorstellung überformt wird, Relief und Statue in dieser Lesart zusammengehören. Die barocke Textexegese des Noli me tangere und ihre Kommentatoren würden aber geltend machen, dass sich Magdalena in Joh. 20,17 nicht als Büßerin, sondern als erste Zeugin der Auferstehung Christi zeigt. Weder im Relief noch in der Darstellungstradition des Noli me tangere werden Buß- und Begegnungskontext von Christus und Magdalena überblendet. Infolgedessen käme der Gaetani hier vor allem das Privileg zu, in Analogie zu dieser ersten Zeugin, der apostola apostolorum, im Kontext der Auferstehung gesehen zu werden.

Abb 6 | Antonio Corradini, Noli me tangere, 1750-1752

Celebrano die Kreuzabnahme des Erlösers gestalten. Zum besseren Verständnis des Gesamtprogramms muss erwähnt werden, dass der Hochaltar ein sogenannter privilegierter Altar war. Mit dem vom Papst verliehenen Altarprivileg konnte ein vollkommener Sündenablass gewährt werden.

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Gestützt wird diese Aussage, wenn man beachtet, dass die Inschrifttafel für die Konzeption eine wichtige Rolle spielt.26 In einem langen lateinischen Passus sind die Tugenden der Gaetani ausgebreitet. Betrachtet man das Grabmal Corradinis im Ganzen, so sieht man verblüfft, dass die Inschrifttafel zerbrochen ist.27 Der Riss – als bildhauerisches Konzept bewusst eingefügt – evoziert den Gedanken eines gewaltsamen Einwirkens. Damit spielt er auf ein sublimes Geschehen, die Auferstehung der Toten an, wie sie im Brief von Paulus an die Gemeinde von Thessaloniki geschildert wird:15 Die zerborstene Platte kann demnach in einer Doppelfunktion als Epitaph und als Grabplatte gelesen werden, infolgedessen offenbart sich die Figur als Auferstandene, als neue Cecilia Gaetani.28 Literarisch nimmt der Paulusbrief an dieser Stelle Konzepte des Erhabenen vorweg, wie sie in der Frühen Neuzeit, insbesondere im 18. Jahrhundert, in Literatur und Kunst erörtert wurden. Im Brief des Paulus an die Gemeinde von Thessaloniki heißt es zur Auferstehung der Toten: »Denn das sagen wir euch als ein Wort des Herrn, daß wir, die wir leben und übrig bleiben auf die Zukunft des Herrn, werden denen nicht zuvorkommen, die da schlafen. denn er selbst, der Herr, wird mit einem Feldgeschrei und der Stimme des Erzengels und mit der Posaune Gottes herniederkommen vom Himmel, und die Toten in Christo werden auferstehen zuerst.“29

Der Text legt es nahe, dass der Plan der zerbrochenen Grabplatte von Corradini möglicherweise durch Johann August Nahls berühmtes Monument für Maria Langhans in der Schweiz gefördert gewesen sein könnte.30 (Abb. 7) In jedem Fall konnte sich Nahl rühmen, mit dem Epitaph von 1751 ein Werk von europäischem Rang geschaffen zu haben, denn 26 | Deckers 2010, S. 280. 27 | Der Riss geht nur durch ihren sozialen Status, aber nicht durch ihre Vorbildhaftigkeit an weiblichen Tugenden. 28 | Cogo 1996, S. 317. Grund 2008, S. 326-327. In Anlehnung an die Auferstehung Christi wird die Auferstehung und Vergeistigung der Gerechten gesehen, denn der auferstandene Leib des Herrn ging – nach Joh. 20,19.26 – aus dem verschlossenen Grab hervor und durch verschlossene Türen hindurch. 29 | 1 Thess. 4, 15-17. 30 | Weidner, Thomas: Die Grabmonumente von Johann August Nahl in Hindelbank. In: Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde 57,2 (1995), S. 51-102. Gampp, Axel Christoph: Das Grabmal der Maria Magdalena Langhans von Johann August Nahl von 1751. In: Holenstein, André (Hg.): Berns goldene Zeit: das 18. Jahrhundert neu entdeckt. Bern 2008, S. 362-363.

ZWISCHEN EROS, SCHAM UND ENTHÜLLUNG

Abb 7 | Johann August Nahl, Grabmal der Maria Langhans, Hindelbank, 1751

es wurde von vielen Zeitgenossen von Wieland bis Goethe beschrieben und gepriesen, in Biskuit nachgeformt, gestochen und verbreitet, u.a. von Johann Georg Sulzer in seinem bekannten Lexikon der Allgemeinen Theorie der schönen Künste als Beispiel für eine gelungene Allegorie genannt, in der der Ausdruck sprechender sei als die beigefügte Schrift.31 Nahls Monument alludiert auf sublime Vorstellungen des Erstaunens und göttlicher Interaktion. Das Grabmal war ursprünglich im Chorraum der Kirche in den Boden eingesetzt worden.32 Die vertiefte Lage steigerte das Überraschungsmoment. 33 Erst beim Nähertreten nimmt 31 | Sulzer, Johann Georg 1792, [1. Aufl. 1771], S. 107: »Soll sie [die Allegorie] auf solchen Werken einen Werth haben, so muß sie vielbedeutend seyn, und mehr sagen, als eine Schrift hätte sagen können, oder es mit grösserer Kraft sagen. Ein sehr schönes Beyspiel eines Denkmals, das mehr sagt, als eine Schrift würde gesagt haben, ist das, welches der Bildhauer Nahl in der Kirche zu Hindelbank, einem Dorfe unweit Bern in der Schweiz, gesetzt hat.« (Sulzer geht auch im Art. ›Denkmal‹ auf Nahls Grabmonument ein.) Vgl. Weidner 1995, S. 86. Es ist durchaus denkbar, dass Corradini, selbst ein internationaler Künstler, davon hörte, kurz nachdem es enthüllt wurde, gleichwohl dürfte sein Werk schon in Planung gewesen sein. 32 | Dabei handelte es sich um einen Höhenunterschied von zwanzig Zentimetern. Die Grabplatte, aus einem einzigen Sandsteinblock herausgemeißelt, misst 220 x 119 cm. Weidner 1995, S. 52 und S. 79. 33 | Gampp 2008, S. 363.

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der Betrachter die zerbrochene Grabplatte wahr und das Wunder der Wiederauferstehung der jungen Frau und ihres Kindes, die als intakte, lebendige Körper sich aus der Dunkelheit unter den zerbrochenen Platten ins Licht schieben. Auch die Inschrift, die Nahl noch einmal abwandelte, bezieht sich auf den oben zitierten Paulusbrief (1 Thess. 4, 15-17): »Horch! Die Trompete schallt, ihr Klang dringt durch das Grab / Wach auf, mein Schmerzenssohn, wirf deine Hülsen ab / Dein Heiland ruft dir zu; vor ihm flieht Tod und Zeit / Und in ein ewig Heil verschwindet alles Leid.34 « Mit der zerbrochenen Grabplatte involviert Corradini den Betrachter ebenso in die mentalen Bilder einer dynamischen Wiederauferstehung. In seiner dünnen Stofflichkeit transzendiert der Schleier, weit mehr als ein reines Attribut,35 in der Gleichzeitigkeit des Verbergens und Enthüllens Nacktheit und Unschuld. Sie verbinden sich in westlicher kultureller Prägung mit dem Toten, dem Wiederauferstandenen, dem Neugeborenen, dem Kind und auf allegorischer Ebene mit der Wahrheit. Will man das ganze Monument durch die zerbrochene Platte dynamisch verstehen, d.h. in einem Moment von vielen verschiedenen, sich konsekutiv vollziehenden Zeitabschnitten, so liest sich die allegorische Figur der Verschleierten in Bewegung zwischen Tod und Auferstehung. Dabei werden auch hier – wie bei Queirolo – lebensweltliche Bezüge deutlich, die, typisch für das 18. Jahrhundert, einen kreativen Umgang mit neuen allegorischen Signifikanten bezeugt. In einer Allusion ist die Figur als Verstorbene eben als Cecilia Gaetani in ein Grabtuch eingewickelt – als Auferstandene trägt sie es noch. In einem vitalistischen Konzept verspricht der Schleier mit seinem zarten, textilen Gewebe die Schönheit eines neuen, lebendigen Körpers, der auch allegorisch als Pudicizia und Verità lesbar ist. In einer raffinierten Dialektik – so meine These – entwirft der Künstler hier einen attraktiven weiblichen Körper zwischen Medialisierung und Fiktion auf der einen Seite und Wirklichkeit auf der anderen: Der den schönen Körper begehrende, in erotische Bereiche der Fiktion geführte Betrachter erfährt über die Wahrnehmung des Marmors als kalten Stein gleichsam eine Verführung und eine Täuschung, einen inganno. Weder 34 | Ebd. 35 | Grund 2008, S. 311 und S. 323-327. Deckers 2010, S. 281.

ZWISCHEN EROS, SCHAM UND ENTHÜLLUNG

der biologische noch der verklärte Körper der Gaetani wird für ihn greifbar, nur das Bild einer Schönen. So gesehen, enthüllt sich auch der Schleier als geheimnisvolles, sichtbares Zeichen einer künftigen Wiederverlebendigung eines verklärten Auferstehungsleibes, der sich nach herrschender Lehre durch Unversehrtheit auszeichnet und keine vegetativen Funktionen besitzt.36 Das dünne Tuch – mit seinem verschleiernden Charakter ein erotisches Versprechen signalisierend – lässt sich als ästhetische Grenze definieren, schwankend zwischen Visualisierung und Verhüllung. Mit seiner Hilfe vermag der fromme Zeitgenosse über irdisches und himmlisches Dasein zu reflektieren, sein eigenes begehrliches Sehen zu erkennen, und vielleicht meditierend auf Erlösung zu hoffen. Die verhüllte Pudicizia dürfte allerdings nicht ganz ohne das Wiederaufleben ägyptischer Mysterienkulte durch die Freimaurerei, der antica sapienza, und der Rezeption der verschleierten Göttin von Sais (gleichsam als verborgene Wahrheit) zu denken sein.37 In diesem Zusammenhang muss auch die Wahrheit für das Frontispiz der großen Encyclopédie von Diderot und D‘Alembert von 1751, ein Werk von europäischem Rang, erwähnt werden: Es zeigt eine verschleierte Allegorie, die vérité, die von den Wissenschaften, Theologie, Philosophie, usw. entschleiert wird.38 Sie ähnelt der Figur in der Cappella Sansevero sehr, auch wenn die Pudicizia von Anfang an diesen Titel trug, als solche also geplant war. Durch die Verschleierung wird das präzise Tugendkonzept unscharf: Es lädt ein zu einer gewissen Deutungsbreite, die sowohl freimaurerisches Gedankengut (antica sapienza), Konzepte christlicher Tugendallegorien (Pudicizia), als auch Auferstehungssymbolik zulässt. Cecilia Gaetani, eine historisch blasse Figur, fungiert gleichsam als Leerstelle, oszillierend zwischen der eines allegorischen Körpers und - verstärkt durch die zerbrochene Grabplatte – der einer jungen Frau, verlebendigt aus ihrem Grab heraustretend. Als Rechtfertigung ihrer Sinnlichkeit bietet sich das 36 | So will etwa Matthäus Christus‘ Worte bezeugen: »Ihr seid im Irrtum; ihr kennt weder die Schriften noch die Macht Gottes; denn bei der Auferstehung nehmen sie weder zur Ehe noch werden sie zur Ehe genommen, sondern sie sind wie die Engel Gottes im Himmel.« Mt. 22,29. Dass der Schleier auch als Grabtuch lesbar war, wird in dem ebenfalls von Corradini entworfenen aber von Sanmartino ausgeführten Christus deutlich, der früher in der Krypta zu sehen war, heute in der Kapelle museal aufgestellt ist. Im Innenraum der Pietatella deutet vieles auf das österliche Geschehen. 37 | Deckers 2010, S. 152 und S. 295. 38 | Ebd., S.157-163.

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Gnadenkonzept für die Auferstandenen an und die Lehre vom unversehrten, »geistförmigen« Leib, der als »sinnlicher Leib« gesät wurde.39 Die erotische Statue Corradinis funktioniert in einer auf das österliche Geschehen ausgerichteten Kapelle demnach unabhängig von der Gruppe Queirolos, sie scheint für sich zu stehen, nur der Titel der Pudicizia mag das gemeinsame moralische Konzept verdeutlichen. Dennoch ist noch einmal auf die weiter oben angesprochene Frage einzugehen, ob Queirolo auf Corradinis invenzione ›antwortet‹ und ob es Hinweise auf einen concetto gibt, der die Grabmäler in ihrer Medialität und Wirkungsästhetik als Pendants gelesen wissen will. Ein Deutungsversuch, der retrospektiv nach der Vollendung von Queirolos Epitaph beide Monumente aufeinander bezieht, erkennt das auf Dauer angelegte evozierende Begehren der Statue als inganno, als täuschende Verführung und so auch als willkommene anschauliche ‚›Logik‹ zu den Entsagungsvorstellungen von Queirolos männlicher Allegorie für Antonio di Sangro. Um dessen Vita zu beschönigen, werden im Disinganno im souveränen Umgang alter Feudalstrukturen Vorstellungen einer ›Bekehrung‹ in das Konzept eingeschlossen, die Biografie erfährt in der Allegorie eine Umformung, sie wird den üblichen Tugend- und Lastertopoi der männlichen Vita entsprechend – also Jugendsünde und Erkenntnis – einem heiligen, moralisch geführten Leben unterworfen. Aus der Genderperspektive versteht man, dass hier eine hegemonial männlich geprägte Ordnung den Körperentwurf der Pudicizia nachträglich sexualisiert und ihm die Rolle des verführenden sinnlichen Leibes zuschreibt: Die verschleierte Figur Corradinis erhebt sich unabhängig von Queirolos Monument gleichsam als unschuldiger Auferstehungsleib und Allegorie der Schamhaftigkeit, als Pendant wandelt sie sich hingegen in der Wahrnehmung zum ›schuldigen‹, ›irdischen‹ inganno, der dem Betrachter im Kontrast eine männliche Entsagung des Disinganno vor Augen stellt. Sieht man einmal von den Inschriften und den Titeln der Allegorien ab, so unterläuft gleichwohl die Wirkungsästhetik der Skulpturen eine starre Festschreibung der sozialen Codes. Nicht nur Corradinis erotisch Verschleierte hat eine schillernde Bedeutung, auch Queirolos schöner Mann mit dem androgynen Männerbein unter dem eng aufliegendem Netz vermag Projektionen von Erotik zu evozieren, die ihn weit von der eigentlichen Bestimmung, 39 | 1. Kor. 15,42-44 und Mt. 13,43.

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eine Befreiung aus der Verstrickung vorzugeben, entfernt erscheinen lassen, zumal nicht jeder Besucher die lateinische Inschrift lesen konnte. In der Beziehung aufeinander ergeben sich bei beiden Statuen erstaunliche Verschiebungen von Entsagungs- zu Erotikkonzepten, die erheblich zur gegenseitigen Animation der Figuren beitragen. Die Medialität der skulpturalen Allegorien und ihre Rezeptionsästhetik machen die bisherigen Ambiguitäten erst wirksam. Allein über die Materialität der Skulptur und ihre dreidimensionalen Möglichkeiten, Körperentwürfe, ekstatische Erkenntnis und Wahrheit zu fingieren, wird der Betrachter emotional und gedanklich einbezogen, überrascht und desillusioniert. Nur über die Dynamik der Figuren und ihrer zwischen Fiktion und Wahrheit oszillierenden Körper begreift er partiell oder vollständig – je nach Bildungsstand – die Monumente und ihre Komplexität. Wie schon anfangs angedeutet und in der Forschung mehrfach betont, erwachsen der Cappella Sansevero mit der Person Raimondo di Sangros und der von ihm berufenen Bildhauer Corradini und Queirolo neue Dimensionen herausragender Bildhauerei. Raimondo widmet, kurz nach dem Ableben von Corradini, diesem am Sockel der verschleierten Statue eine kleine Memorialtafel, die dicht am Relief des Noli me tangere zu Füßen des Betrachters angebracht ist. Die Inschrift geht auf den Urheber seiner Statue ein, auf die »selbst die Griechen neidvoll blicken mussten«. Der rein profane Wettstreit mit der Antike und die namentliche Erwähnung von Auftraggeber und Künstler demonstrieren genügend, dass sich Funktionen von profanen Sammlungskontexten in den ursprünglichen Wirkungsbereich der Kapelle als religiösem Kultraum spätestens mit der Ausstattung der beiden Monumente gemischt haben dürften. Offenbar war es kein Paradox, dass paragonale Strukturen, bedingt durch kreatives und gelehrtes Mäzenatentum, Körperentwürfe in der Kapelle ermöglichten, welche nicht nur genealogische Strukturen verfestigen, sondern auch solche, deren beinahe subversives Potenzial ein Eigenleben führen und das Publikum erstaunen und vergnügen konnte.40 40 | Di Sangro 1991, S. 164. Zum Künstlerdenkmal vgl. Cogo 1996, S. 317. Die vollständige Inschrift lautet: »ANTONIO CORRADINO VENETO / SCULPTORI CAESAREO ET APPOSITI / SIMULACRI VEL IPSIUS CRAECIS INVIDENDI / AUCTORI QUI DEUM RELIQUA HUIUS TEMPLI / ORNAMENTA MEDITABATUR OBIIT A MDCCLII. RAYMUNDUS DE SANGRO S: SEVERI PRINCEPS P.« Vgl. Deckers 2010, S. 282.

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Katharina Philipowski 241

DER ALLEGORISCHE TRAUM ALS ICH-ERZÄHLUNG ODER DIE ICH-ERZÄHLUNG ALS TRAUM-ALLEGORIE Minnelehre und Rosenroman

Wer versucht, die allegorische Dichtung des volkssprachigen Mittelalters im deutschen Sprachraum zu überblicken, dem fällt zunächst auf, dass Allegorien in bestimmten, etwa den großepischen Gattungen, weitgehend1 fehlen. Selbständige, weltliche allegorische Formen sind zumeist lehrhafte Textsorten wie das bispel, die Schach- oder Minneallegorie oder die Minnerede und damit solche, die erst im 13./14. Jahrhundert ins mittelalterliche Gattungssystem eintreten. Zweitens sind die meisten rein allegorischen Erzählungen2 des deutschsprachigen Mittelalters IchErzählungen. Das ist bereits bei den biblischen Quellen und den lateinischen Vorbildern der Fall – man denke an das Hohe Lied sowie die Consolatio philosophiae des Boethius. In der volkssprachigen weltlichen 1 | Die Betonung liegt tatsächlich auf dem »weitgehend« – denn dass in der folgenden Aufzählung Ausnahmen die Regel bestätigen, soll durchaus nicht in Abrede gestellt werden. Solche Ausnahmen sind im Falle des Artusromans etwa der Wigalois Wirnts von Grafenberg, in dem das Rad der Fortuna eine zentrale Rolle spielt, im Falle der Märenliteratur Konrads von Würzburg Der Welt Lohn, wo die Allegorie der Frau Welt auftritt. 2 | Ausgeschlossen sind von der folgenden Untersuchung also literarische Formen wie der Minneleich. Seine Verbindungen mit narrativen Minneallegorien, etwa in Bezug auf die Sprechhaltung, wären einmal gesondert zu analysieren.

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KÖRPER-ÄSTHETIKEN

Literatur entstehen im Laufe des Spätmittelalters erste selbständige Allegorien, die ebenfalls einen Ich-Erzähler aufweisen, 3 beispielsweise Konrads von Würzburg Klage der Kunst, Hadamars von Laber Jagd, die anonym überlieferte Minneburg, das Kloster der Minne oder Hermanns von Sachsenheim Mörin. Allegorische Ich-Erzählungen (oder allegorische Texte, die einen Ich-Erzähler aufweisen) nehmen vor allem als neue Gattung ›Minnerede‹ im Laufe des 14. Jahrhunderts feste Form an. Diese Texte, die allegorische Darstellungsform und Ich-Erzählhaltung verbinden, nutzen drittens auffallend häufig das Motiv des Traumes, um die allegorische Handlung zu rahmen:4 Einer in aller Regel nicht-allegorischen Rahmenhandlung steht hier eine Binnenhandlung, eine Intradiegese5 gegenüber, in der die allegorische Handlung angesiedelt ist. Der 3 | Eine eigene Stellung nehmen hierbei die sogenannten ›Büchlein‹ ein, deren Entstehung noch ins 13. Jahrhundert fällt. Dazu zählen u.a. Hartmanns von Aue Büchlein, das zweite Ambraser Büchlein, Strickers Frauenehre und Ulrichs von Liechtenstein Frauenbuch. Diese zumeist in Form der Ich-Erzählung abgefassten kürzeren didaktischen Texte zählen nicht zur Gruppe der selbständigen Allegorien, doch jene Büchlein, die ihre Aussage über Personifikationen treffen (wie Hartmanns Büchlein) unterhalten signifikante Gemeinsamkeiten mit ihnen. Vgl. Huschenbett, Dietrich: Minne als Lehre. Zur Bedeutung der ›Vorläufer‹ der Minnereden für die Literaturgeschichte des 12. und 13. Jahrhunderts. In: Ashcroft, Jeffrey; Huschenbett, Dietrich; Jackson, William Henry (Hg.): Liebe in der deutschen Literatur des Mittelalters. St.-Andrews-Colloquium 1985. Tübingen 1987, S. 50-60, hier S. 51 und Philipowski, Katharina: Erzähler und Erzählform in Ulrichs von Liechtenstein Frauenbuch oder: Ist das Frauenbuch eine Minnerede?. In: Linden, Sandra; Young, Christopher (Hg.): Ulrich von Liechtenstein. Leben – Zeit – Werk – Forschung. Berlin/New York 2010, S. 442-486. 4 | Vgl. hierzu u.a. Blank, Walter: Die Minneallegorie. Gestaltung und Funktion einer spätmittelalterlichen Dichtungsform. Stuttgart 1970, S. 139-142. Michael Schmidt schreibt in Bezug auf die Minnereden: »Das Darstellungsmuster einer Traumerzählung ist für die Minnereden topisch.« Schmidt, Michael: Studien zur deutschen Minnerede. Untersuchungen zu Zilies von Sayen, Johann von Konstanz und Eberhard von Cersne (=GAG 345). Göppingen 1982, S. 79. So auch schon Glier: »Der Traum und noch mehr der Spaziergang gehören nächst der Dichterrolle zum festen Motivbestand der Gattung, und zwar so eng, daß man sie schon nahezu als konstituierende Merkmale betrachten könnte. Und da immer der Dichter träumt, spazierengeht oder –reitet, scheint es typologisch gerechtfertigt, sie in diesem Zusammenhang zu behandeln.« Glier, Ingeborg: Artes Amandi. Untersuchung zu Geschichte, Überlieferung und Typologie deutscher Minnereden (=MTU 34). München 1971, S. 398. 5 | »intradiegetische Erzählung (Binnenerzählung): Erzählung zweiter Stufe, d.h. Erzählung in der Erzählung einer Figur, die der erzählten Welt angehört.« Martínez, Matias; Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München 2002, S. 190. (Hervorhebungen im Original).

DER ALLEGORISCHE TRAUM ALS ICH-ERZÄHLUNG

Ich-Erzähler begegnet im Traum Allegorien wie der Frau Minne oder Personifikationen von Tugenden und Lastern, die ihn über ihr Wesen in Kenntnis setzen, so dass er, aus dem Traum erwachend und durch diesen autorisiert, sein durch eigene Anschauung erworbenes Wissen weiter geben kann. Der Zusammenhang zwischen Allegorie und Traum wird zwar in vielen Studien zur Allegorie beiläufig angesprochen, aber vermutlich wegen seiner vermeintlichen Plausibilität kaum je hinterfragt. Mir scheint er vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass Traum-Allegorien so oft die Form von Ich-Erzählungen aufweisen, gleich in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert zu sein. Ohne im beschränkten Rahmen dieses Aufsatzes auf die zahlreichen mittelalterlichen Traumtheorien6 ausgreifen zu können, möchte ich im Folgenden der – vielleicht doch nicht ganz so trivialen – Frage nachgehen, welcher Zusammenhang besteht zwischen den Merkmalen der Allegorie, der Ich-Erzählung und dem Motiv des Traumes. Dazu werde ich mich zweier Beispieltexte bedienen, nämlich des altfranzösischen Rosenromans und der Minnelehre Johanns von Konstanz. Johann von Konstanz: Minnelehre

Johanns von Konstanz (bezeugt zwischen 1281 und 1312) Minnelehre 7 eröffnet die Haupthandlung durch einen Prolog, der in den Handschriften B (Karlsruhe, Landesbibliothek, Cod. Donaueschingen 77, 15. Jahr6 | Goodich, Michael E.: Jüdische und christliche Traumanalyse im 12. Jahrhundert. In: Ders. (Hg.): Lives and Miracles of the Saints. Studies in Medieval Latin Hagiography (=Variorum collected studies series). Aldershot 2004, S. 77-82; Schmitt, Jean-Claude: Récits et images de rêves au Moyen Age. In: Ethnologie française 33,4 (2003), S. 553-563; Haag, Guntram: Traum und Traumdeutung in mittelhochdeutscher Literatur: Theoretische Grundlagen und Fallstudien. Stuttgart 2003; Ricklin, Thomas: Der Traum der Philosophie im 12. Jahrhundert. Traumtheorien zwischen Constantinus Africanus und Aristoteles. Leiden 1998; Speckenbach, Klaus: Kontexte mittelalterlicher Träume: Traumtheorie – fiktionale Träume – Traumbücher. In: Schmitsdorf, Eva; Hartl, Nina; Meurer, Barbara (Hg.): Lingua Germanica. Studien zur deutschen Philologie. Jochen Splett zum 60. Geburtstag. Münster u.a. 1998, S. 298-316; Hiestand, Rudolf (Hg.): Traum und Träumen. Inhalt – Darstellung – Funktion einer Lebenserfahrung in Mittelalter und Renaissance (=Studia Humaniora 24). Düsseldorf 1994; Speckenbach, Klaus: Der Traum als bildhafte Rede. In: Fritsch-Rößler, Waltraud; Homering, Liselotte (Hg.): Uf der mâze pfat. Festschrift für Werner Hoffmann zum 60. Geburtstag (=GAG 555). Göppingen 1991, S. 421-442; Speckenbach, Klaus: Von den troimen. Über den Traum in Theorie und Dichtung. In: Rücker, Helmut; Seidel, Kurt Otto (Hg.): »Sagen mit sinne«. Festschrift für Marie-Luise Dittrich zum 65. Geburtstag (=GAG 180). Göppingen 1976, S. 169-204. 7 | Zur Gattung der Minnerede vgl. Klingner, Jacob; Lieb, Ludger (Hg.): Handbuch Minnereden. Berlin/New York 2012; Lieb, Ludger: Art. Minnerede. In: Reallexikon

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KÖRPER-ÄSTHETIKEN

hundert), D (Dresden, Landesbibl., Mscr. M 68, geschrieben 1447) und E (Nelahozeves, Lobkowitzsche Bibl., Cod. VI Fc 26 [früher Prag, Nationalbibl., Cod. R VI Fc 26; davor Raudnitz/Roudnice, Lobkowitzsche Bibl., Cod. VI Fc 26], entstanden 1464-67)8 seinerseits mit einem Epilog einen Rahmen bildet. Die Handlung nimmt ihren Ausgang bei dem Entschluss des Ich-Erzählers, sich von der Minne abzuwenden. Diese lässt ihn jedoch in Liebe zu einem Mädchen entbrennen. Vom Ungestüm seiner Leidenschaft erschöpft fällt der Erzähler bei einem Freund in Schlaf. Die Wiedergabe des allegorischen Trauminhalts erstreckt sich von Vers 158 bis V. 1045, nimmt also 886 Verse in Anspruch und damit ein knappes Drittel des gesamten Textumfangs. Der Traum wird eingeleitet mit den Worten »An disen selben stvnden / do kom ain s sser slaf, daz ich / entslief. dar inne ich sicherlich / sach...«. (V. 156-158) und endet mit »seht, do waz dez troumes zil, / won er suz ain ende nam.« (V. 1044f.)9 Im Rahmen seines Traumes trifft der Ich-Erzähler auf die Allegorie Cupidos, einen nackten, blinden, gekrönten und geflügelten Knaben mit Fackel und Speer10, und seine Mutter, die Minne, die auf einem Wagen vorfährt und den Ich-Erzähler über ihr eigenes Wesen und darüber belehrt, wie er seine Werbung ausführen soll. Nachdem sie sich wieder entfernt hat, erwacht der Erzähler aus seinem Traum, verfasst einen Liebesbrief an das Mädchen, durch den eine umfangreiche Korrespondenz angestoßen wird, die zu einem Treffen führt, in dessen Rahmen ein zärtlicher Liebesbund geschlossen wird. Der Erzähler beschließt, ein zweites Treffen dazu zu nutzen, sich gegebenenfalls auch unter Anwendung von Gewalt ans Ziel seines Begehrens zu bringen, was er schließlich gegen den Widerstand des Mädchens durchsetzt. Er kann sie dazu überreden, der deutschen Literaturwissenschaft. Berlin 2007, S. 601-604; Ders.: Zur Poetik und Kultur der Minnereden. Eine Einleitung. In: Lieb, Ludger; Neudeck, Otto (Hg.): Triviale Minne? Konventionalität und Trivialisierung in spätmittelalterlichen Minnereden. Berlin/New York 2006, S. 1-17; Achnitz, Wolfgang: Minnereden. In: Schiewer, Hans-Jochen (Hg.): Forschungsberichte zur Germanistischen Mediävistik. Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe C, Forschungsberichte Bd. 6, Teil II. Bern 2003, S. 197-255; Ders.: Kurz rede von guoten minnen / diu guotet guoten sinnen. Zur Binnendifferenzierung der sogenannten ›Minnereden‹. In: Jahrbuch der Oswald-von-Wolkenstein-Gesellschaft 12 (2000), S. 137-149. 8 | Angaben nach: http://www.handschriftencensus.de, 05.03.2012. 9 | Die Minnelehre des Johann von Konstanz. Hg. v. Dietrich Huschenbett. Wiesbaden 2002. 10 | Zu Parallelen der Beschreibung in der mittelalterlichen Literatur vgl. Glier 1971, S. 87, Anm. 86.

DER ALLEGORISCHE TRAUM ALS ICH-ERZÄHLUNG

ihm seine grobe Übertretung zu verzeihen und es beginnt eine heimliche, glückliche und erfüllte Liebesbeziehung. Die Frage nach der Funktion der Traum-Allegorie in diesem Text führt den Leser rasch zu der Beobachtung, dass dessen allegorische Elemente durchaus nicht allein auf das Traumgeschehen beschränkt sind.11 Denn die Trennung zwischen einer allegorischen Traumerzählung und der nicht-allegorischen Erzählung, in die sie eingefügt ist, erodiert deutlich im weiteren Verlauf der Minnelehre. Die Allegorie der Minne, die dem Ich-Erzähler im Traum begegnet, wird, nachdem sie ihn darauf hingewiesen hat, dass sie in seinem Herzen wohne, auch nach seinem Erwachen immer wieder von ihm angesprochen und zu Hilfe gerufen. Auch von sich aus greift sie in das Werbungsgeschehen ein, etwa, indem sie den Ich-Erzähler für seine Zurückhaltung der Geliebten gegenüber tadelt.12 Wozu nutzt der Autor die Traum-Allegorie, wenn er diese dann doch aus dem abgeschlossenen Bereich des Traumes heraustreten lässt? Zunächst ist es notwendig, einen Blick auf die Erzählform der Minnelehre als ganze zu werfen. Der größeren Übersichtlichkeit wegen gliedere ich den Text in vier Abschnitte: einen ersten, in dem der Zustand des Ich-Erzählers und die Intention der Erzählung, nämlich die Unterweisung der ›Jungen‹, an die sich der Ich-Erzähler wendet, exponiert werden, gefolgt von einem zweiten, der die Traum-Allegorie umfasst. Hier tritt der Erzähler nicht in der Rolle des Unterweisenden auf, sondern steht als lernbegieriger Schüler im Dialog mit Cupido und Minne. Es schließt sich ein dritter Abschnitt an, der den Briefwechsel zwischen dem Ich-Erzähler und dem Mädchen zum Gegenstand hat und in dem der Erzähler sich an das Mädchen wendet. Schließlich folgt die Erzählung davon, wie der Liebende ans Ziel seiner Werbung kommt. Diese Einteilung lässt erkennen, dass die Minnelehre in verschiedenen Abschnitten aus divergierenden Rollen heraus ein je unterschiedliches textinternes oder auch -externes Publikum adressiert und seine Aussage aus unterschiedlichen Erzählhaltungen heraus formuliert: Die Ich-Erzählung dominiert die Rahmen- und die Traumhandlung. Doch im drit11 | »In diese einfache, geradlinig erzählte Werbungsgeschichte ist eine längere Traumerzählung eingeschaltet [...], die etwa ein Drittel des Textes umfaßt und allegorische Elemente enthält.« Glier, Ingeborg: Art. Johann von Konstanz, 2VL, Sp. 661. 12 | die Minne mir vs mim hertze schrait / vnd sprach... (V. 1166f.) und Dvi Minne vs minem herzen sprach: / ‚mir ist lait din vngemach... (V. 1325f.) etc.

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ten Erzählteil, nachdem der Erzähler aus seinem allegorischen Traum erwacht ist, wird der Ich-Erzähler zum auktorialen Erzähler, was sich zunächst darin äußert, dass er über Vorgänge zu berichten weiß, von denen er keine Kenntnis haben kann, etwa, was das Mädchen denkt, als i es seinen Brief gelesen hat oder was es tat: was sint disv mere‹, / daht si o in ir mute… . (V. 1090f.).13 Zweitens wird die Erzählung durch die zehn Briefe, die in schneller Folge wörtlich, also in der Form von direkter Figurenrede im Präsens, wiedergegeben werden, marginalisiert. Schließlich wird die Erzählung dort, wo sie im vierten und letzten Abschnitt die Vergewaltigung des Mädchens zu ihrem Gegenstand macht, wieder zur klassischen und konventionellen Ich-Erzählung. Diese rahmt in der Minnelehre also die eigentliche Werbung, die sich in Form des Briefwechsels vollzieht. In welchem Zusammenhang stehen beide literarischen Formen mit den jeweiligen Inhalten, die sie vermitteln? Der Traum schließt sich an ein Räsonnement des Ich-Erzählers über die Minne und seinen Wunsch, sich für seine Liebesqualen an ihr zu rächen (V. 149-155), an.14 Im Rahmen des Traumes erschließen sich ihm 13 | Anders deuten Bockmann und Klinger: »Inwiefern Minne und Minnelehre auch den Blick in aller hertzen gedanck eröffnen, zeigt sich weiter daran, daß die heimlichen Gedanken der Dame nach dem Lesen der Briefe Teil der Erzählung sind. In ihnen artikuliert sich die topische Haltung der Ablehnung und des Zweifels an der Ehrlichkeit der Werbung [...].« Bockmann, Jörn; Klinger, Judith: Höfische Liebeskunst als Minnerhetorik: Die Konstanzer ›Minnelehre‹. In: Das Mittelalter 3 (1998), S. 107-126, hier S. 119. (Hervorhebung im Original). 14 | Schmidt scheint diesen Zusammenhang zwischen Reflexion über das Wesen der Minne und Fortsetzung dieser Reflexion im Traum sogar für ursächlich für die Traum-Allegorie zu halten: »Das Darstellungsmuster einer Traumerzählung ist für die Minnereden topisch, Johann begnügt sich aber nicht mit einer unvermittelten Einführung des Traumes, wie ihn Minnereden oft anbieten, sondern er liefert die Begründung für eben diesen Traum vorweg: Die Reflexion über das Wesen der Minne setzt sich – man könnte es psychologisch begründet nennen – im nachfolgenden Traum fort.« Schmidt 1982, S. 79. Und an anderer Stelle, ebenfalls über die Funktion der Traum-Allegorie: »Auch die Traumhandlung ist plausibel nachvollziehbar angelegt und in den kunstvollen Rahmen der Szenerie eingepaßt. [...] Die Bühne, auf der sich eine solche Kompetenz darstellen läßt – und die Traumszenerie besitzt hier in erster Linie diese Funktion –, bedarf einer genau nachvollziehbaren Einbettung in eine konkrete und damit konkretisierbare Handlung: der Spielhandlung einer Liebeswerbung«, ebd., S. 88 und: »Auf diese Weise gelang es Johann von Konstanz ebenfalls, die Traumhandlung als abstraktes Motiv in den konkreten Handlungsablauf einzubetten und von dort her zu motivieren.«, ebd., S. 97. Es drängt sich jedoch die Frage auf, ob die Plausibilität, die aus der Verknüpfung von Reflexion über die Minne beim Einschlafen mit der Minneallegorie im Rahmen des Traumes hervorgeht, bereits eine Erklärung für die Traumallegorie sein kann.

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dann die Erscheinung und das Wesen der Minne, die ihn über sich, ihre Macht, ihre Wirkung und ihre Eigenschaften instruiert. Das Wissen von der Minne wird so durch den Traum als konkrete, eigene Erfahrung und Anschauung präsentiert.15 Er ermächtigt und autorisiert also den die ivngen (V. 1) durch seine lere (V. 6) unterrichtenden Ich-Erzähler, indem er die Gegenstände der Lehre zu Erfahrungswissen deklariert, über das der Erzähler ganz unmittelbar verfügen kann. Diese Exklusivität der Anschauung und Erfahrung wird dort literarisch fruchtbar gemacht, wo im Rahmen eines Traumes und unter Bezug auf ihn Wissen über die Liebe vermittelt wird. Denn der Traum wird im Mittelalter zumeist nicht als ein subjektives Erleben verstanden, sondern als exklusive Erfahrung und Schau objektiver Wahrheiten. So erklärt sich die Verknüpfung von Traum und Vision: »Traum und Vision: wir sind gewohnt, den einen Typus dem Schlaf zuzuordnen, den anderen einer besonderen Qualität des Wachseins, der Ekstase, zuzuschreiben. Weite Strecken der Spätantike und des Mittelalters hätten diese Differenzierung aufgrund materialer Kriterien nicht mitvollzogen. Im frühen Christentum werden visio und somnium sowohl für Gesichte im Schlaf als auch in der Ekstase gebraucht. [...] Der Sprachgebrauch des Mittelalters differenziert ebenfalls weitgehend nicht.«16

Deshalb ist, was der Ich-Erzähler im Traum sieht, eben auch Wissen, das objektiv17 angeeignet wird,18 so dass die Minnelehre von dieser 15 | Auf diesen Aspekt verweist auch Neudeck im Zusammenhang seiner Frage nach der (Sprach)Kunst von Minnereden: »Sie machen diese Weltsicht für ihr Publikum erlebbar, während sie sonst, in diskursiver Sprache, nur beschreibbar ist.« Neudeck, Otto: Integration und Partizipation in mittelhochdeutschen Minnereden. Zu ästhetischen Kriterien vormoderner Literatur. In: Scientia Poetica 9 (2005), S. 1-13, hier S. 3. Diese Erlebbarkeit hängt maßgeblich mit dem Ich-Erzähler zusammen, auf den weiter unten ausführlich eingegangen wird. 16 | Haubrichs, Wolfgang: Offenbarung und Allegorese. Formen und Funktionen von Vision und Traum in frühen Legenden. In: Haug, Walter (Hg.): Formen und Funktionen der Allegorie. Symposion Wolfenbüttel 1978. Stuttgart 1979, S. 243-264, hier S. 243. (Hervorhebungen im Original). 17 | »Kein deutscher Autor erhebt explizit einen so entschiedenen Wahrheitsanspruch wie Guillaume de Lorris zu Eingang des ›Rosenromans‹. Doch auch solche Vorstellungen müssen verbreitet gewesen sein, denn sonst wäre kaum zu verstehen, daß sich gerade im Traum oft gedrängt Wesen und Gebote der Liebe offenbaren.« Glier 1971, S. 398. (Hervorhebung von mir). 18 | Etwa bei Schmidt, der schreibt: »Es ›lernt‹ der Erzähler, der literarisch gestaltete ›Held‹ der Geschichte exemplarisch.« Schmidt 1982, S. 82. Denn was er lernt, ist, was er selbst schon weiß. Vgl. auch Brügel, die schreibt: »Der Traum führt das

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Wissensvermittlung ausgehend eine »Engführung und Identifizierung von Traum und Realgeschehen«19 vornehmen kann. Der Traum hat hier also mehrere Funktionen: Er versieht die Inhalte, die in seinem Rahmen dem Träumenden mitgeteilt werden, einerseits mit Unmittelbarkeit, insofern der Träumende sie selbst unmittelbar erfahren und gesehen hat, andererseits aber auch mit Autorität und Objektivität: Die Erscheinung der Frau Venus ist nicht Einbildung oder Trugbild, sondern die exklusive Mitteilung eines Sachverhaltes an den Träumer als Visionär. Darüber hinaus verleiht der Traum seinem Inhalt aber auch Exklusivität, denn außer dem, der ihn ›hat‹, besitzt niemand Anteil und Zugang zum Inhalt eines Traumes: »Der ›Traum an sich‹ gehört allein dem Träumenden.20 [...] Wenn wir einmal von nervenphysiologischen Messungen von Gehirnaktivitäten des Träumers absehen, kann der Traum selbst nie Gegenstand von wie auch immer gearteten Untersuchungen sein. Solange die beliebte Science-Fiction-Vision einer Maschine, die Träume direkt sichtbar machen würde, noch nicht realisiert wurde, bleibt der Traum eine ›black box‹. Hineinsehen kann nur der Träumer.«21

Seine Lehrinhalte in der Form eines Traumes zu präsentieren, hat für den Erzähler einer Minnelehre deshalb gleich mehrere Vorzüge. Denn innerhalb seines eigenen Traumes kann der Ich-Erzähler zwei Rollen miteinander verknüpfen: Er ist in seiner Eigenschaft als Ich-Erzähler Erlebender und Erfahrender, andererseits aber, insofern das Geschehen als Traumgeschehen ja in seinem Bewusstsein stattfindet, auch auktorialer Erzähler, der nicht auf den engen Radius seiner eigenen Perspektive beschränkt ist. So verbindet er die Allwissenheit des auktorialen Erzählers mit der Identität von Erzählen und Erleben, die den Ich-Erzähler charakterisiert: »Diesem Reden [in der ersten Person] ist eine Spannung eigen, die sich einerseits aus dem Eigenerleben des Ichs, dem ein Moment des Kontingenten, ›Wer‹ der Minne vor, indem er sie selbst mit ihrem Sohn Cupido in Erscheinung treten läßt, sie ausführlich beschreibt und deutet.« Brügel, Susanne: Minnereden als Reflexionsmedium. Zur narrativen Struktur der ›Minnelehre‹ Johanns von Konstanz. In: Lieb/Neudeck 2006, S. 201-223, hier S. 208. 19 | Brügel 2006, S. 221. 20 | Engel, Manfred: Kulturgeschichte/n? Ein Modellentwurf am Beispiel der Kulturund Literaturgeschichte des Traums. In: KulturPoetik 10,2 (2010), S. 153-176, hier S. 157. 21 | Engel 2010, S. 156.

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Einmaligen und Unwiederholbaren anhaftet, und andererseits der Exemplarität des Erzählten, der inhaltlichen und strukturellen Wiederholung und Serialität der Texte ergibt. Die Minnereden suchen trotz der Tatsache, dass sie das zu Erzählende an ein Ich und ›dessen Erleben‹ binden, immer wieder den Bezug zum Allgemeinen.«22

Als Produzent, Protagonist und Erzähler seines eigenen Traumes ist der Erzähler gleichermaßen Subjekt und Objekt der Handlung – und genau das gilt ja auch von der Minne, die Gegenstand der Lehre ist. Denn es ist unverkennbar, dass ›die Minne‹ auch als Allegorie nicht nur ›die‹ Minne, sondern eben auch dieW des Ich-Erzählers, seine Minne ist.23 Genau das bringt die Minne am Ende des Traumes selbst zum Ausdruck, wenn sie erklärt, dass sie ihn jetzt zwar verlasse, aber gleichzeit stets in seinem Herzen anwesend sei: ›[...] nv bin ich doch gewaltig dines herzen noch. dar in bin ich versigelt vnd also verrigelt, o

daz ich mu z beliben drinne vnd rihten dine sinne. swie ich lieplich von dir var, so wissist doch, das ich bewar mit miner gothait dinen lip.‹ (V. 1019-27) 22 | Uhl, Susanne: Der Erzählraum als Reflexionsraum. Eine Untersuchung zur Minnelehre Johanns von Konstanz und weiteren mittelhochdeutschen Minnereden (=Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700, Bd. 48). Bern 2010, S. 256. 23 | Diesen Aspekt macht Brügel als Merkmal von Minnereden ganz allgemein stark: »Ich nehme dazu einen Punkt von Ludger Lieb auf, der die Minnereden nicht als autonome Kunstwerke, sondern als Teil eines umfassenden Diskurses beschreibt, in dem traditionelles Wissen um die Minne bewahrt, bestätigt und diskursiv verhandelt wird. Daneben findet, so meine These, aber auch ein indirektes und spezifisches Reden über ein Ich und dessen Befindlichkeit statt. Indirekt und spezifisch deshalb, weil dieses Reden durch eine den Minnereden eigene narrative Struktur ermöglicht wird. Sie generiert [...] den Raum, in dem das Reden und Reflektieren über Minne und Ich geleistet werden kann. Es ist ein Raum, der als abgegrenzter und übergängiger zugleich präsentiert wird, dessen Ausgestaltung sehr variieren kann (Traum, Kloster, Burg, Garten, Wiese etc.) [...]).« Brügel 2006, S. 202f.

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Wenn im Folgenden die Minne den Ich-Erzähler immer wieder tröstet, berät24 und verspottet, so tut sie das nicht nur als verselbständigtes Prinzip ›Minne‹, sondern immer auch als seine eigene Minne, als sein Begehren, sein Empfinden: die Minne mir vs dem hertze schrait (V. 1166). In letzter Konsequenz berät, verspottet, instruiert und ermutigt der IchErzähler sich gewissermaßen selbst. Genau dieser Gestus der Selbstbezüglichkeit und Selbstermächtigung ist es dann, der auch das Prinzip der Traum-Allegorie bildet, die sich als auktorialer Erfahrungsraum des Ich-Erzählers präsentiert. Auch die anderen Textteile bestätigen diese Perspektive: Die Briefe, die sich an die Traum-Allegorie anschließen, bestehen aus wörtlicher Rede, sie sind in der ersten und zweiten Person abgefasst, sprechen also unmittelbar ein Du an, indem sie über ein Ich sprechen – nämlich das Ich des Ich-Erzählers. Im Rahmen der Briefe wird die Lehre, die der Text ja darstellt, ganz unmittelbar präsentiert, der Erzähler spricht (zumindest in seinen eigenen Briefen) nicht als Erzählender und Unterweisender, sondern als Liebender, als Werbender, er spricht hier nicht – wie der Ich-Erzähler – zu den ›Jungen‹, sondern er spricht seine Dame an. Die Lehre, die er erteilt, gründet also in einer Werbung, die keine rein theoretische ist, sondern zu einer praktischen wird,25 um ihrerseits wieder zur Lehre zu werden – die Minnelehre präsentiert sich so als »Handbuch des garantiert erfolgreichen Verhaltens in Liebesdingen«. 26 Die Aufteilung des Textes in unterschiedliche Abschnitte mit je unterschiedlichen Adressaten und unterschiedlichen Sprechhaltungen (nämlich Erzählung und Rede) hat folglich die Funktion, Theorie und Praxis der Werbung, Reflexion und Handlung praktisch zu verknüpfen. Auch in der Minnelehre wird also ein »gleitender Übergang zwischen textinternem Reden und textexternen o

24 | »’so wil ich aber raten dir / allez, daz ich gutes kan, / wie du die liebvn wolgetan o

o

/ lieplich pringest wol da zu, / daz si spat vnde fru / lebet in dem willen din.’« (V. 1178-83) 25 | Insofern trifft es sicher nicht zu, dass die Rezipienten der Minnelehre aus dieser allein Briefeschreiben lernen konnten: »So gesehen mag man denn das einzig Lernbare aus Johanns Minnelehre, das Briefeschreiben, auch als eine Form der Literaturpflege ansehen. Mithin verhält sich auch das Publikum nicht passiv, sondern – wenn es ein Interesse an Briefstellern bekundet – beteiligt sich aktiv an der Ausgestaltung von Literatur.« Schmidt 1982, S. 91. 26 | Bockmann/Klinger 1998, S. 109. Schon Glier nennt die Minnelehre ein »gefälliges Handbuch der Verführungskunst«. Glier 1971, S. 93.

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Anschlußkommunikationen«27 hergestellt, der zum Ziel hat, das Werben um Minne und das Reden über sie zum Ausgangspunkt eines weiteren, fortgesetzten Sprechens über Werbung, zu ›Minnerede‹, zu machen,28 also zu »Minnekommunikation. Diese Verhandlung aber ist, wie es scheint, in spezifischer Weise so strukturiert, daß sie den Anschluß weiterer textexterner Minnekommunikationen nahelegt und diese zugleich mit zu steuern versucht.«29 Offenbar bedarf aber gerade eine Kommunikation, die auf Anschluss abzielt, einer Verankerung in der Erfahrung eines Ich, das die Kommunikationsinhalte beglaubigt:30 »Die Rolle und Funktion, welche dort [in der Epik] die Quelle, die schriftliche Vorlage oder das kollektive Wissen als Legitimierung des Erzählens und Garantie für die Wahrheit des Erzählten hat, nimmt in den Minnereden die Figur des Ich ein. ›Sein‹ Erleben ist die Legitimation des Erzählens und Garant und Gegenstand des Erzählten selbst.«31 Während der Ich-Erzähler also in der Wiedergabe seiner eigenen Briefe Werbung nicht erzählt, sondern vollzieht,32 ermächtigt er sich als Erzähler der Briefe des Mädchens und als Erzähler des Briefwechsels der Perspektive eines auktorialen Erzählers, dem nichts von dem, was seine Dame tut oder denkt, verborgen 27 | Lieb, Ludger; Strohschneider, Peter: Die Grenzen der Minnekommunikation. Interpretationsskizzen über Zugangsregulierungen und Verschwiegenheitsgebote im Diskurs spätmittelalterlicher Minnereden. In: Melville, Gert; Moos, Peter von (Hg.): Das Öffentliche und Private in der Vormoderne (=Norm und Struktur 10). Köln/Weimar/Wien 1998, S. 275-305, hier, mit Bezug auf die Minnerede ›Minne und Gesellschaft‹, S. 301. 28 | In diesem Sinne auch Brügel: »Das Reden über das Ich wies in den bisher untersuchten Texten eine Besonderheit auf: Sie inszenieren zu Beginn ein Ich, welches mehr andeutend als informierend über sich und seinen Zustand räsoniert. Dieser Reflexionsprozeß wird dann aber unterbrochen und auf einen anderen Handlungsraum (hier: Traum und Garten) und andere Figuren ausgelagert.« Brügel 2006, S. 222. Vgl. auch Uhl 2010, S. 234-259 (Kapitel ›Reden über ein Ich‹). 29 | Lieb/Strohschneider 1998, S. 299. 30 | In diesem Sinne auch Glier 1971: »Es [das ‚Ich’] verbürgt zudem in sehr vielen Fällen ein Höchstmaß an Authentizität des Dargestellten. Auch der Wahrheitsgehalt der Lehre wird so noch eigens hervorgehoben.« S. 396. 31 | Uhl 2010, S. 257. 32 | »Auf welche Weise etabliert der Erzählerdiskurs die Gültigkeit des Vermittelten, wie legitimiert sich die Kompetenz des sprechenden Ich? Wenn, wie oben unterstellt, nicht nur poetischer und pragmatischer Minnediskurs in diesem Text harmonisiert werden, sondern auch Minnedienst als Handlung in der rhetorischen Kompetenz aufgehen soll, so verlangt dies nach einer analogen Übereinstimmung von Handlungsebene und Erzählerdiskurs. Entscheidend sind dafür die Inszenierungen redender und normstiftender Instanzen im Text.« Bockmann/ Klinger 1998, S. 120.

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bleibt.33 Diese Selbstermächtigung34 nimmt im letzten Teil auf der Ebene der histoire ganz konkrete Gestalt an, wenn er sich nicht nur als Erzähler auf der Ebene des discours der Dame, sondern als Akteur auf Figurenebene ihres Körpers bemächtigt, indem er sie vergewaltigt: ›daz var, als got welle,‹ / sprach ich vnd vnderwant mich ir / lieplich nah mins hertzen gir. [...] ich wart aller sorgen fri / vnde wart nie manne baz, / swie ich het verschult ir haz. (V. 2350-60) Wie sehr der Text auch außerhalb des Traumes des Ich-Erzählers immer auf ihn, seine Minne und seine Imagination bezogen bleibt, zeigt sich neben der latenten Übergriffigkeit der auktorialen Züge seiner IchErzählung auch darin, dass es ihm nach der Vergewaltigung mühelos gelingt, die Gunst seiner Dame wieder zu erlangen, obwohl er, wie er selbst zugibt, ir haz verschult (V. 2360) hat. Überaus hintersinnig ist seine Entschuldigung, die darauf hinausläuft, der Minne die Verantwortung i für die Vergewaltigung zuzuweisen: ›vro Minne, frowe, du mirs gebot, der ist die schulde vnd nit min.‹ (V. 2394f.) Denn wie bereits erwähnt, ist die Minne im Rahmen der Minnelehre einerseits zwar verselbständigtes und abstraktes Prinzip, gleichermaßen und zugleich aber auch die persönliche Empfindung des Ich-Erzählers, also seine eigene Minne. Auch aus diesem Grund ist die Ich-Erzählung paradigmatisch für die Minnerede, die maßgeblich als »Anschlußkommunikation«35 konzipiert ist. Dieser Anschlusskommunikation arbeitet die Perspektive der Ich-Erzählung zu: »Der Ich-Erzähler vertritt alle potenziellen Aspiranten der ars amandi und demonstriert zugleich, daß Minne als Lehrgegenstand und Unterweisungsinstanz besondere Kompetenzen und Dispositionen verlangt.«36 Das Identifikationsangebot, das in der Erzählhaltung der ersten Person angelegt ist, wird in der Forschung seit Glier37 als ›Ich-Hohlform‹ bezeichnet.38 Lieb sieht eine ihrer Funktionen für die Rezeption in der 33 | Schmidt vermerkt diesen Sachverhalt nur beiläufig mit dem Hinweis: »Jedoch schildert Johann nun bereits die Empfindung der ›frowe‹ beim Lesen des Briefes, macht also auch die Wirkung der Rezeption nachvollziehbar.« Schmidt 1982, S. 89. 34 | Bockmann/Klinger 1998 sprechen von einem »hegemonialen Ich-Diskurs«, S. 121. 35 | Lieb/Strohschneider 1998, S. 301. 36 | Bockmann/Klinger 1998, S. 116. 37 | Glier 1991, S. 394f.: »Dieses ‚Ich’, für das in der historischen Untersuchung durchweg ›der Dichter‹ synonym gesetzt wurde, ist eine literarische Hohlform, eine ›Rolle‹ gleichsam, die sich immer wieder anders besetzen und in Grenzen neu agieren läßt.« 38 | Allerdings gibt es bereits in der Minnesang-Forschung der 1980er-Jahre Überlegungen, die in diese Richtung weisen, z.B. bei Grubmüller: »Liebeserfahrung

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»Neutralisierung der Unterscheidung von Autoren und Rezipienten,«39 die zu »einem erleichterten Wechsel zwischen Produzenten- und Rezipientenrolle«40 führt. Solche Identifikationsangebote macht auch die Minnelehre, insbesondere dadurch, dass ihr Ich-Erzähler sich nicht nur nach Belieben auf die Minne als Allegorie, als Göttin, Herrin, Feindin, Gesprächspartnerin und eigenes Erleben bezieht, sondern ihr diese Rollen auch selbst zuweisen kann, indem er ihr Fehde ansagt, von ihr träumt, sie herbei ruft, befragt und ihrem Rat folgt. Darin offenbart sich die Programmatik der Minnelehre: Sie unterrichtet nicht allein über das Wesen der Minne und unterweist nicht nur in der Kunst der Werbung, sondern führt ganz praktisch vor, auf welche Weise der Liebende teilhat am Prinzip Minne und wie es der literarisch Gebildete vermag, die Art und Weise dieser Teilhabe selbst zu gestalten. Denn das Prinzip Minne, die Göttin und Herrscherin, die Allegorie, wird in der Minnelehre immer wieder rückgebunden an das Erleben und Empfinden des Ich-Erzählers, dieses wird seinerseits zum abstrakten Prinzip verselbständigt. Beide autorisieren sich wechselseitig: Von der Allegorie der Minne erfährt der Ich-Erzähler im Traum, was sie ist und wie sie herrscht. Als sein Traum und seine Erzählung aber ist es der Erzähler, der die Minne präsentiert und in sein Liebeswerben umsetzt. So ist es letztlich weder sie, noch auch das umworbene Mädchen, das im Mittelpunkt des Geschehens steht, sondern er selbst ist es, als Auktor und Herr des Geschehens: Dadurch, dass er Erleben und Erzählen in sich vereinigt, dadurch, im Medium der Literatur wird zum Exemplum infragegestellter Personalität, die gedankliche Bewältigung dieser Irritation führt zur Entdeckung der Person als eines ›schöpferischen Subjekts‹ – eines Subjektes, das aber – indem es öffentlich entdeckt und in seiner Konstituierung rollenhaft vorgeführt wird – nicht Subjekt für sich bleibt, sondern generalisiertes Ich: ein Entwurf für die Entfaltung des Einzelnen in seiner Besonderung im Rahmen der gegebenen Gesellschaft, nicht aber ein Weg aus dieser hinaus in die Autonomie der sich selbst absolut setzenden Innerlichkeit [...].« Grubmüller, Klaus: Ich als Rolle. ›Subjektivität‹ als höfische Kategorie im Minnesang? In: Kaiser, Gert; Müller, Jan-Dirk (Hg.): Höfische Literatur – Hofgesellschaft – Höfische Lebensformen um 1200 (=Studia humaniora 6). Düsseldorf 1986, S. 387-406, hier S. 406. 39 | Lieb, Ludger: Eine Poetik der Wiederholung. Regeln und Funktionen der Minnerede. In: Peters, Ursula (Hg.): Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150-1450. Stuttgart/Weimar 2001, S. 506-528, hier S. 528. Neudeck führt die Funktion der Ich-Hohlform weiter aus: »Sie ermöglicht einerseits das intime Bekenntnis von subjektiver, emotionaler Betroffenheit und gewährt andererseits Anonymität, das heißt, sie bietet Identifikation ohne die Gefahr der Identifizierung [...].« Neudeck 2005, S. 8f. 40 | Lieb 2000, S. 528.

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dass er die Epiphanie der Minne im Rahmen seines Traumes zu seiner Erfahrung und seinem Wissen macht und schließlich, indem seine eigene Minne ihm die Verfügungsgewalt über seine Geliebte zuweist. Der Rosenroman

Der altfranzösische Rosenroman wurde um 1230 von Guillaume de Lorris begonnen und etwa vierzig Jahre später von Jean de Meun vollendet. Er ist eine klassische Traumallegorie und erzählt damit per definitionem von einem inneren Geschehen,41 insofern alles, was sich ereignet, sich allein im und als Traum des Ich-Erzählers ereignet.42 Der Ich-Erzähler fungiert innerhalb des Rosenromans als jener Punkt, von dem aus die Allegorien erfahr- und beschreibbar werden. Denn auch eine nahezu rein allegorische Handlung bedarf eines Erzählers, der die Allegorien beschreibt, selbst aber eben gerade nicht allegorisch sein kann. Dass es sich im Falle des Erzählers im Rosenroman, wie im Falle der meisten allegorischen Texte, um einen homodiegetischen IchErzähler (einen Erzähler also, der selbst zur erzählten Welt hinzu gehört) und nicht um einen heterodiegetischen Erzähler handelt, der außerhalb der Diegese verbleibt, wird dabei einerseits von der allegorischen Form nahe gelegt: Die Allegorien bedürfen allein der Betrachtung, sie verfügen über nichts, was sich der äußeren Erscheinung entzöge oder über sie hinaus ginge, nicht über eine Vergangenheit, eine Geschichte, eine Absicht, nicht über ein verborgenes Inneres, das sich allein einem auktorialen Erzähler erschließen und das er dem Leser mitteilen könnte. Die Allegorie kann, anders als eine konventionelle literarische Figur, nur betrachtet werden oder sich im Modus der Figurenrede selbst darstellen, kommentieren und deuten: »In personification-allegory [...] the reader 41 | Der Erzähler träumt von sich selbst: Lors m’iere avis en mon dormant / Qu’il estoit matins durement: / De mon lit tantost me levai, / Chauçai moi e mes mains lavai. (V. 87-90) (»Da schien es mir in meinem Schlaf, es sei schon früher Morgen: Von meinem Bett erhob ich mich sogleich, zog mir die Schuhe an und wusch mir die Hände.«) Guillaume de Lorris; Jean de Meun: Der Rosenroman. Hg., übersetzt und eingeleitet von Karl August Ott. München 1976. 42 | Ou vintieme an de mon aage, / Ou point qu’Amors prent le paage / Des juenes genz, couchiez m’estoie / Une nuit, si con je soloie, / E me dormoie mout forment: / Si vi un songe en mon dormant / Qui mout fu biaus e mout me plot. (V. 22-27) (»Im zwanzigsten Jahr meines Lebens, an dem Punkt, an dem AMOR den Wegzoll von den jungen Leuten nimmt, hatte ich mich eines Nachts zur Ruhe gelegt, wie ich zu tun pflegte, und schlief sehr fest; da sah ich einen Traum, der sehr schön war und mir gut gefiel.«)

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must take at most one translation to understand the allegory. He does not have to find a second meaning for the personification in the allegory, for they have none. Their names – Thought, Wit, Nature – express their one and only meaning.«43 Die Allegorie verlangt aufgrund ihrer Äußerlichkeit44 also nach einem Betrachter oder einem Gesprächspartner und nicht nach einem Erzähler, der in ihr Inneres oder auf ihre Vergangenheit zu blicken vermöchte. Dadurch, dass Allegorien über kein verborgenes Inneres verfügen, limitieren sie von sich aus den Erzähler, der entsprechend im Falle der allegorischen Erzählung keines Vermögens bedarf, sehen und wissen zu können, wo es nichts zu sehen und zu wissen gibt jenseits dessen, was sich bereits auf der Figurenebene augenfällig mitteilt: Die zerlumpte Kleidung der ›Armut‹ oder die galante Erscheinung des ›schönen Empfangs‹. Umgekehrt erlaubt die Allegorie es dem Ich-Erzähler, von dem, was an sich keine Handlung besitzt (wie etwa die Sorge, von der geliebten Dame aufgrund der eigenen Armut zurück gewiesen zu werden), als einer Erfahrung oder einem Erlebnis erzählen zu können45 – im Rosenroman 43 | Frank, Robert Worth: The Art of Reading Medieval Personification-Allegory. In: English Literary History 20 (1953), S. 237-250, hier S. 244f. 44 | »As such [als ›figural categories‹], they have no meaning in themselves, but rather contain the potential for creating signification according to a given context. One cannot isolate a personification like ›Fair Welcome‹ (Bel Acceuil) and ascribe to it all the autonomous individuality of a human being, whether fictional or real [...].« Nichols, Stephen G.: Rethinking Texts through Contexts. The Case of le Roman de la Rose. In: Müller, Jan-Dirk (Hg.): Text und Kontext (=Schriften des Historischen Kollegs 64). München 2007, S. 245-270, hier S. 259. 45 | Deshalb ist die Bedeutung der Traumallegorie bei König auch nur oberflächlich erfasst, wenn er schreibt: »Die Kunstform der Traumerzählung, in der mittelalterlichen Dichtung als Gesamtkonzept eines umfangreichen Textes ebenso überraschend wie der Rosenroman als Ganzes, greift also nicht sehr tief. Der Traum als Verfremdung verschwindet geradezu, um dann aber doch im letzten Vers den Grundcharakter des nicht Realen zu wahren.« König, Eberhard: »Atant fu jourz, et je m’esveille«. Zur Darstellung des Traums im Rosenroman. In: Paravicini, Bagliani; Stabile, Giorgio (Hg.): Träume im Mittelalter. Ikonologische Studien. Stuttgart 1989, S. 171-182, hier S. 171. Dieser Aufsatz hat vor allem die Ikonographie der Rosenroman-Handschriften zum Gegenstand. Vgl. zum Thema der Ikonographie auch Peters, Ursula: Das Ich im Bild. Die Figur des Autors in volkssprachigen Bilderhandschriften des 13. bis 16. Jahrhunderts. Köln 2008, besonders das Kapitel: ›Das Ich zwischen Liebendem und gelehrtem Autor: Die Bilder der französischen und deutschen Redendichtung‹, S. 118-240. Zur Bebilderungspraxis von Träumen in mittelalterlichen Handschriften allgemein vgl. Bogen, Steffen: Träumen und Erzählen. Selbstreflexion der Bildkunst vor 1300. München

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beispielsweise ist der junge Mann nicht mittellos, sondern er begegnet der Allegorie des Reichtums und der der Armut und in ihnen kommt der ungegenständliche Zustand der Mittellosigkeit zur objektiven Anschauung. Von der Anschaulichkeit der Allegorien, die den Rosenroman bevölkern, unterscheidet sich der junge Mann ebenso signifikant wie von der Rose, die er im weiteren Verlauf sieht, begehrt und umwirbt. Denn während diese in der Art, wie sie sich auf den sie Umwerbenden ablehnend, schamhaft oder einladend bezieht, in eine Vielzahl von Allegorien wie ›Scham‹ oder ›schöner Empfang‹ zerfällt, bleibt der junge Mann, aus dessen Perspektive ja erzählt wird, als Figur kohärent und abgeschlossen. Als literarische Figur verfügt er über ein ›Inneres‹, über das er reflektieren und sprechen kann, weil es sich nicht wie im Falle der Rose zu Allegorien verselbständigt. Was ›sein‹ Inneres ist, ist aber gar nicht so leicht anzugeben, denn die Ebenen von Innen und Außen sind im Rosenroman – wie in jeder Traumallegorie – paradox: Der Raum des Rosengartens ›ist‹, beziehungsweise ›bedeutet‹ gleichsam das Innere des Protagonisten, denn der junge Mann und der Raum, in dem er sich bewegt, sind ja nur ›geträumt‹. Der Ich-Erzähler durchmisst diese Räume nicht ›wirklich‹, sondern erträumt sie nur. Einerseits trägt sich folglich alles, was geschieht, im Inneren des träumenden Erzählers zu.46 Andererseits lässt sich die Tatsache, dass die Handlung des Rosenromans eine immer nur geträumte ist, auch als Veräußerlichung und Sekundarisierung beschreiben: Der junge Mann ist seinerseits nur ein Traumgesicht des Erzählers der Rahmenhandlung. In seiner Eigenschaft, geträumtes Ich zu sein und kein selbständiges Handlungssubjekt, kann er aber kein eigenes Inneres besitzen.47 So verfügt der junge Mann anders als die ihn umgebenden 2001 und Ganz, David: Oculus interior. Orte der inneren Schau in mittelalterlichen Visionsdarstellungen. In: Philipowski, Katharina; Prior, Anne (Hg.): anima und sêle. Darstellungen und Systematisierungen von Seele im Mittelalter (=Philologische Studien und Quellen 197). Berlin 2006, S. 113-144. 46 | Anders als in der Minnelehre Johanns von Konstanz wird der Binnenerzählung auch nicht eine Rahmenerzählung an die Seite gestellt, auf die sie bezogen ist – sobald der Träumende erwacht, ist die Handlung abgeschlossen. Der Rosenroman besteht im Wesentlichen aus dem Traum. 47 | In diesem Sinne äußert sich auch Evelyn Birge Vitz über die Figur des jungen Mannes: »[...] although this is the story of an inner transformation [...], it seems impossible to speak of any psychological interiority or inwardness here. Psychologically the Hero is a void. He is as opaque as any ‚he’ of medieval romance.

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Allegorien zwar einerseits sehr wohl über ein Inneres, er hat Wünsche, Sehnsüchte, Zweifel und Ziele. Aber diese Wünsche sind andererseits nicht ›seine‹, sondern die des Erzählers, der ihn träumt. Ist es aber sinnvoll, solchermaßen zwischen dem träumenden Erzähler und dem geträumten jungen Mann zu unterscheiden?48 Dass eine solche Unterscheidung nicht nur geboten, sondern unerlässlich ist, liegt daran, dass die jeweiligen Figuren unterschiedlichen Erzählebenen (und damit unterschiedlichen Erzählungen) angehören: Der träumende Erzähler ist der Protagonist der Rahmenerzählung, der junge Mann der der Binnenerzählung. Es ist der Traum des Ich-Erzählers, der beide Ebenen der Erzählung einerseits verknüpft, aber andererseits, indem er selbständige Intradiegesen ausbildet, auch unüberwindlich trennt. So drängt sich die Frage auf, ob der Ich-Erzähler der Rahmenhandlung in seinem Traum überhaupt vorkommt – ob es sich um einen homodiegetischen oder um einen heterodiegetischen Erzähler handelt, ist nicht eindeutig zu beantworten. Und zwar nicht allein aufgrund der Unklarheit über Identität oder Nicht-Identität der beiden Ich-Erzähler von Guillaume de Lorris und Jean de Meun49 , auch nicht der über die Identität von Ich-Erzähler und jungem Mann,50 sondern auch, weil im We occasionally know what he thinks – but never why.« Vitz, Evelyn Birge: Inside/Outside: First-Person Narrative in Guillaume de Lorris’ Roman de la Rose. In: Yale French Studies 58 (1979), S. 148-164, hier S. 151. 48 | Vgl. dazu auch Strohm, Paul: Guillaume as Narrator and Lover in the Roman de la Rose. In: Romanic Review 59 (1968), S. 3-9; Vitz, Evelyn Birge: The I of the Roman de la Rose. In: Genre 6 (1973), S. 49-75 und Hult, David F.: Closed Quotations: The Speaking Voice in the Roman de la Rose. In: Yale French Studies 67 (1984), S. 248-269. 49 | »Jean has invested the narrative first-person pronoun with still another identity: his own. If the differentiation between present Narrator and past Lover was already a feature of Guillaume’s text [...], Jean has installed a ›new‹ narrator whose past ›self‹ becomes identified with the irresolvable existential difficulty of the courtly Guillaume.«, Hult 1984, S. 267. 50 | Ebd., S. 265: »Is the lamentation, which intrudes more and more, a direct expression of the Narrator or is it a borrowed voice, the quotation of a past self which the Narrator is dutifully recording for us? To what extent can we interpret the Narrator’s voice as genuinely objective?« Vgl. auch seine Monographie zum Thema: Self-Fulfilling Prophecies: Readership and Authority in the first Roman de la rose. Cambridge 1986. Auf die Arbeiten von Hult bezieht sich Noah D. Guynn in seinem Aufsatz zum Rosenroman: »As David F. Hult observes, there is ›a layering of distinct and yet coalescet perceptual vantage points‹ within the narrative ›I‹

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Rahmen der Erinnerung an den eigenen Traum und die Erzählung des Traumes der Blick des Ich-Erzählers in das eigene Selbst zum Blick darauf wird. Der Erzähler erzählt weniger von dem, was ihm selbst widerfahren ist, als von einer exemplarischen höfischen Werbung. Die Beschreibung der eigenen Erfahrung, nämlich des Traumes, gerät so zunehmend zur Erzählung von den Erlebnissen eines Anderen. Das zeigt sich in zweierlei Gestalt: Erstens darin, dass sich der Erzähler durch seinen Traum ein ›Ich‹ als Gegenüber erschafft, nämlich in der Figur des jungen Mannes.51 Dieser ist er, und er ist dieser, mit all den Paradoxien, die diese Spiegelung und Verdoppelung für den Rest der Handlung mit sich bringt. Und damit nicht genug der Komplexität – denn dem Avatar des Erzählers innerhalb seines Traumes entspringen nach und nach immer mehr Allegorien, die seine (oder die des ihn träumenden Erzählers) Empfindungen vergegenständlichen. Ist der junge Mann Figuration des Erzählers, so sind die Allegorien, denen er begegnet, ihrerseits Figurationen von dessen Fühlen und Wahrnehmen. Zweitens aber wird der Blick in das eigene Selbst im Laufe der Handlung insofern zum Blick auf das eigene Selbst, als das Innere, das in der Allegorisierung vergegenständlicht wird, genau in dem Augenblick aufhört, Inneres zu sein, in dem es vergegenständlicht und objektiviert wird.52 Als Allegorie des Zweifels ist der Zweifel nicht mehr der des in Guillaume’s poem: the narrator (›the storytelling voice‹, which should be ›distinguished from the author‹), the dreamer (›the past self of the narrator who had the dream‹), and Amant (›the persona in the dream who directly experienced the various events‹ of the dream).« Guynn, Noah D.: Authorship and Sexual/Allegorical Violence in Jean de Meun’s Roman de la rose. In: Speculum 79 (2004), S. 628-659, hier S. 633. Guynn bezieht sich auf Hult 1986, S. 110. 51 | Die Frage, ob und wie ein Erzähler überhaupt von sich selbst erzählen kann, insofern er selbst immer schon Objekt, also Gegenstand, wird, wo er von sich als Subjekt, als Person erzählen will, stellt sich im Falle der Traum-Erzählung mit besonderem Nachdruck. Ob der Ich-Erzähler tatsächlich von sich selbst träumt oder von einem Anderen und ob der junge Mann identisch mit dem Erzähler ist oder nicht, wird vom Text nicht vorgegeben, ebenso wenig wie der Bezug zwischen den Allegorien und dem jungen Mann – denn was vergegenständlichen die Allegorien eigentlich, worauf sind sie bezogen? Wessen Neid ist ›der‹ Neid? Offenbar geht es im Rosenroman nicht allein darum, am Beispiel des jungen Mannes und der Allegorien, denen er begegnet, die Geschichte einer höfischen Werbung zu erzählen, sondern darum, genau diese Fragen aufzuwerfen und damit aus den Leerstellen zwischen den Bezügen und Verknüpfungen eine Dynamik in Gang zu setzen, die nirgends an ein Ende kommt. 52 | »It might be argued that this absence of any sense of interiority or inwardness results precisely from the fact that allegory has turned the Hero inside out, that the characters he meets up with ›outside‹ of himself (and who are all in fact

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jungen Mannes,53 sondern nur noch ›Zweifel‹, damit aber nicht allein von der Figur, sondern gleichzeitig auch von der Handlung abstrahiert. Die einzige Art, dennoch an ihr teilzuhaben, ist die Figurenrede – sie ist das Fundament der allegorischen Erzählung, die im eigentlichen Sinne auch weniger Erzählung als Rede ist. Folgerichtig wird die Geschichte der Werbung des jungen Mannes um die Rose umso stärker verdrängt, je mehr Allegorien auftreten. Handlungen, die Teil der Werbung sind, treten in den Hintergrund zugunsten eines Redens über Gott und die Welt – über Armut, Ehe, Wissenschaft. Der Rosenroman ist enzyklopädisch, weil die Form der Allegorie eine abstrakte ist. Mit Abstraktionen aber lässt sich keine Geschichte erzählen. Die Allegorie zwingt zur Reflexion, weil sie für Handlung gar keinen Raum lässt. Das hat Konsequenzen für das Verhältnis zwischen Erzähler und Allegorien. Diese verwandeln den Traum von der Werbung um die begehrenswerte Rose nach und nach in eine Aneinanderkettung ausführlicher Monologe, in denen sich die einzelnen Allegorien und Personifikationen ergehen. Ihre Dominanz über die eigentliche Handlung, nämlich die Werbung des Ich-Erzählers um die Rose, dokumentiert sich unter anderem auch darin, dass die Ermächtigung der Allegorien über ihren eigenen Erzähler zum Gegenstand der Erzählung wird, indem die Allegorien über Jean, der das Fragment des Guillaume fortsetzen wird, als einen noch Ungeborenen sprechen und so die Handlung in eine gegenüber der Abfassung des Rosenromans vergangene Zeit verlegen, genauer: in eine Zeit, in der der Autor der Figuren, die im Text sprechen, noch ungeboren ist.54 Der Roman maßt sich also auf ironische und hintergründige Weise eine Selbständigkeit gegenüber seinem Schöpfer an und spielt solchermaßen mit der Kategorie der schöpferischen Hervorbringung, vielleicht sogar der Fiktionalität. In der Passage, in der die Umstände der better characterized than he!) are really to be understood as his own insides, his own faculties.« Birge Vitz 1979, S. 154. 53 | »In the first place he [Guillaume de Lorris] abolishes the hero, as one of his dramatis personae, by reducing him to the colourless teller of the tale. The whole poem is in the first person and we look through the lover’s eyes, not at him. In the second place he removes the heroine entirely. Her character is distributed among personifications. This seems, at first, a startling device, but Guillaume knows what he is about. You cannot really have the lady, and, say, the lady’s Pride, walking about on the same stage as if they were entities on the same plane.« Lewis, C. S.: The Allegory of Love. A Study in Medieval Tradition. Oxford 1936, S. 118. 54 | Vgl. hierzu auch Hult 1984.

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zukünftigen Geburt des Fortsetzers des Rosenromans verhandelt werden, imaginiert er sich als eine autonome Welt, die unabhängig von Autor und Erzähler existiert. Amor sagt, als er sein Gefolge um sich schart, um den Angriff auf Argwohn vorzubereiten, über diesen: ›Ci se reposera Guillumes, / Li cui tombleaus seit pleins de baumes, / D’encens, de mirre e d’aloé, / Tant m’a servi, tant m’a loé! / Puis vendra Johans Chopinel / Au cueur joli, au cors inel, / Qui naistra seur Leir a Meün [...]‹. (V. 1056110567).55 Diese Konstellation ist freilich absurd: Wir befinden uns bereits in jener Fortsetzung, von der Amor behauptet, der Autor, der sie schreiben werde, sei noch nicht einmal geboren.56 Und Amor geht an dieser Stelle sogar noch weiter: Seine Autorität erstreckt sich nicht allein auf den Autor, den er ankündigt und dessen Geburt jetzt (was immer das an dieser Stelle heißen mag) noch aussteht, sondern auch auf das Ende der Geschichte, das er vorwegnimmt. In seiner Rede greift er vom Beginn von Jeans Fortsetzung des fragmentarischen Rosenromans bis zu dessen Schluss aus,57 indem er ankündigt, dass der Erzähler, der ihn träumt, schließlich erwachen wird. Amor überschreitet jene Schwelle zur Rahmenhandlung, die für alle literarischen Figuren immer eine notwendig unüberwindliche Grenze ist, indem er vorhersagt, was der Erzähler, nachdem er erwacht sein wird, tun wird, nämlich die Geschichte seines Traumes erzählen. In diesem Ausgriff Amors über die Grenzen der Diegese hinaus wird die Gültigkeit der Kategorien von Erzählen und Erzählung sowie von Autorschaft in Frage gestellt. Die Allegorie Amor richtet den Blick, den der Erzähler auf sein Geschöpf, also in die Erzählung hinein richtet, auf seinen Erzähler:58 Er 55 | (»Hier [an dieser Stelle im Text] wird Guillaume aufhören, dessen Grab voller Balsam sein möge, voll Weihrauch, Myrrhe und Aloe, so gut hat er mir gedient, so sehr hat er mich gelobt! Und dann wird Jean Chopinel kommen, mit heiterem Herzen, wendigem Leib, der an der Loire in Meung geboren werden wird...«) 56 | Se cist conseil metre i peüssent, / Tantost conseillié m’en eüssent; / Mais par cetui ne peut or estre, / Ne par celui qui est a naistre, / Car il n’est mie ci presenz. (V. 10605-1069). (»Wenn die beiden [Guillaume und Jean] hier helfen könnten, so hätten sie mir bald geraten; doch durch diesen kann es nicht geschehen, noch durch jenen, der erst noch geboren werden muß, denn er kann ja hier nicht anwesend sein«) 57 | Jusqu’a tant qu’il avra coillie / Seur la brache vert e foillie / La trés bele rose vermeille, / E qu’il seit jourz e qu’il s’esveille. (V. 10599-10602) (»bis dahin, wo er von dem Ast die sehr schöne rote Rose geplückt haben wird, und es Tag wird und er aufwacht«) 58 | Ganz und gar treffend ist es daher, wenn Amor den Text, aus dem heraus und

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blickt aus der Intradiegese der Traumhandlung in die Rahmenhandlung und über die Rahmenhandlung in den textexternen Prozess der Abfassung des Rosenromans. Jean nutzt also die Struktur der Traum-Allegorie, um die Grenzen, die die Erzählung konstituieren, die wechelseitige Hervorbringung von Erzähler und Erzählwelt, thematisieren zu können.59 Voraussetzung dieser Formen von Selbstbeobachtung und Selbstthematisierung des Erzählens ist jedoch zunächst die Herstellung von Grenzen (und das heißt von Komplexität). Sie werden durch den Traum gezogen: Wie jede andere Rahmenerzählung erlaubt auch die Traumerzählung Beobachtungen höherer Ordnungen, weil – in all jenen Fällen, in denen die Traumerzählung von einer intradiegetischen Figur vorgetragen wird und nicht von einem heterodiegetischen Erzähler – das Erzählen selbst innerhalb der Erzählung60 zum Erzähl- und Reflexionsgegenstand wird.61 Obwohl beide Erzählungen aufeinander bezogen sind, sind sie dennoch selbständige und voneinander weitgehend unabhängige Erzählungen.62 über den er spricht, als einen Spiegel bezeichnet: Car tant en lira proprement / Que trestuit cil qui ont a vivre / Devraient apeler ce livre / Le Mirouer aus Amoureus [...]. (V. 10648-10651).(»denn er [Jean] wird auf rechte Weise so viel darüber [über die Liebe] lehren, daß alle, die am Leben sind, dieses Buch bezeichnen müßten als den Spiegel der Liebenden [...].«) Die Forschung zum Spiegelmotiv im Rosenroman ist mittlerweile nahezu unüberschaubar. Um nur einige Titel der neueren Literatur zu nennen: Antonietti, Pascal: C’est li miroers perilleus: images et miroirs dans le Roman de la Rose. In: Scheidegger, Jean R.; Girardet, Sabine; Hicks, Éric (Hg.): Le Moyen Âge dans la modernité: mélanges offerts à Roger Dragonetti. Paris 1996, S. 33-47; Nouvet, Claire: An Allegorical Mirror: the Pool of Narcissus in Guillaume de Lorris’ Romance of the Rose. In: Romanic Review 91,4 (2000), S. 353-374; Atanassov, Stoyan: Miroirs aux roses. Du Nom de la rose au Roman de la rose. Un parcours labyrinthique à travers le motif du miroir. In: Pomel, Fabienne (Hg.): Miroirs et jeux de miroirs dans la littérature médiévale. Rennes 2003, S. 79-104. 59 | Vgl. dazu Viereck Gibbs Kamath, Stephanie A.: Authorship and First-Person Allegory in Late Medieval France and England. Cambridge 2012, S. 26-29. 60 | Vgl. u.a. Haferland, Harald; Mecklenburg, Michael (Hg.): Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit. München 1996. 61 | Der Traum hat also nicht primär die Funktion, das ‚Drastische’ des TraumInhalts als reine Imagination zu legitimieren, wie König suggeriert: »Durch das Traumhafte wird manch Drastisches im Text gemildert und mit Hilfe dieser Verfremdung wird Verantwortung verlagert in eine Sphäre, die nicht mehr vom Verstand allein regiert wird.« König 1989, S. 171. 62 | Eine andere Position vertritt Uhl, die sich im Rahmen ihrer Arbeit zur Minnerede des Johann von Konstanz mit Erzählräumen von Minnereden auseinander setzt. Uhl begrenzt ihre Untersuchung nicht auf Traum-Allegorien, sondern generalisiert die Zäsur zwischen ›Einleitung‹ und ›zweitem Erzählteil‹. Der Traum ist für die Differenzierung dessen, was Uhl als zwei ›Erzählräume‹ bezeichnet, die konsequenteste Lösung, weil er – anders als etwa ein Spaziergang – tatsächlich

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Doch darüber hinaus scheint es auch eine spezifische Attraktivität der Allegorie für die Ich-Erzählung zu geben. Anders wäre kaum zu erklären, dass die ersten, sehr vereinzelten selbständigen Ich-Erzählungen in der Volkssprache mit wenigen Ausnahmen allegorische Texte sind: Allegorien sind Abstraktionen – sie sind objektiv. Die Begegnung mit Frau Minne, mit Cupido, dem Geiz oder der huote etc. stellt keine subjektive Erfahrung dar, sondern die Anschauung eines Sachverhaltes und damit eines Lehrinhaltes. Dieser teilt sich dem Ich allein dazu mit, um von ihm an Dritte weiter mitgeteilt zu werden. Im Rosenroman etwa wird die Tatsache, dass der Roman eigentlich Lehre ist und sein will, genau wie in der Minnelehre Johanns von Konstanz ganz explizit gemacht: Li deus d’Amors lors m’encharja, Tot ensi con vos orroiz ja, Mot a mot ses comandemenz: Bien les devise cist romanz. Qui amer viaut or i entende, Que li romanz des or amende: Des or le fait bon escouter, S’il est qui le sache conter, Car la fin dou songe est mout bele E la matire en est novele [...]. (V. 2057-2066).63 eine Erzählung in der Erzählung, also eine Metadiegese hervorruft: »Die narrative Struktur, wie sie in sehr vielen Minnereden begegnet, kann stark vereinfacht so beschrieben werden: Einer sehr kurzen, mehr andeutenden als explizierenden Einleitung (Exposition) durch ein in der Regel männliches Ich folgt sogleich die Überleitung in einen zweiten Erzählteil, die unterschiedlich motiviert ist. Das Ich kann einschlafen und träumen, es kann sich bei einem Spaziergang oder Ausritt verirren oder es begegnet einer Figur, die es an einen speziellen Ort führt. [...] Diesem Teil, auf dem deutlich der narrative Schwerpunkt liegt, folgt in der Regel ein zweiter Übergang zurück in den Raum, in dem sich das Ich zu Beginn des Textes präsentiert hat.« Uhl 2010, S. 98. Uhl kann das narratologische Phänomen nicht als Intradiegese bezeichnen und beschreiben, weil sie auch Texte in ihre Untersuchung mit einbezieht, in denen sich erster und zweiter Erzählteil oder Erzählraum eben nicht zu selbständigen Diegesen ausdifferenzieren. Uhl beschreibt den ›Erzählraum‹ deshalb eher inhaltlich denn narratologisch als ›Heterotopos‹: »Vor diesem Hintergrund könnte man den zweiten Erzählteil der Minnereden in gewisser Hinsicht mit Foucault auch als ›Heterotopie‹, als ›Gegenort‹ und ›Ander-Welt‹ bezeichnen.« Uhl 2010, S. 99. 63 | (»Gott AMOR gab mir alsdann, ganz so, wie Ihr es hören werdet, Wort für Wort seine Gebote: Dieser Roman beschreibt sie genau. Wer lieben will, höre jetzt gut zu, denn jetzt erhellt sich der Sinn des Romans; von nun an ist es nützlich, ihn

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Die zentrale Erfahrung des Ich-Erzählers im Rahmen allegorischer Erzählungen ist nicht Handlung oder Aktion, sondern Anschauung und Erkenntnis: Der Ich-Erzähler agiert nicht, er kämpft nicht, er hilft nicht, sondern sieht und hört. So besteht der Rosenroman vor allem in der zweiten Hälfte nicht mehr aus Handlung, sondern aus Abhandlung. Von Vers 19505 bis 20683 etwa erstreckt sich der Brief, den Genius verliest. Der Ich-Erzähler ist als Handelnder kaum mehr greifbar, er berichtet aus der Perspektive eines Erzählers aus der dritten Person vom Tun und Lassen, vor allem aber von Reden der Allegorien und Personifikationen, die seinen Traum besiedeln, sich aber allein durch Monologe, Dispute, Exkurse und umfängliche Predigten mitteilen. Während im Rahmen der Minnelehre nie Zweifel darüber aufkommen, wer handelt und erzählt, ist im Rosenroman Jean de Meuns alles darauf ausgelegt, die Erzählung durch endlose Exkurse zum Erliegen zu bringen und den Ich-Erzähler im Gewirr der Stimmen von Natur, Amor oder Venus zunächst aus dem Blick und schließlich aus dem Sinn zu verlieren. Doch sowohl in der Selbstinszenierung des Ich-Erzählers in der Rolle des vorbildlich Werbenden, die die Minnelehre vornimmt, als auch in der Invisibilisierung des Ich-Erzählers des Rosenromans ist eine Strategie erkennbar, die zum Ziel hat, den Ich-Erzähler zu marginalisieren. Während er im Rosenroman durch die ausgedehnten Figurenmonologe nahezu ausgeblendet wird, verschwindet er in der Minnelehre in der Lehrhaftigkeit. Erzählung im Sinne von Mitteilung eigener Erfahrungen und Erlebnisse, Erzählung von Handlungen und Begegnung ist (mit Ausnahme des Frauendienstes) keine der frühen Ich-Erzählungen. Vielmehr ist die Rolle des Ich-Erzählers hier, anders als die des Helden in narrativen Großformen wie dem höfischen Roman oder dem Heldenepos, eine weitgehend passive. Die ersten volkssprachigen weltlichen Ich-Erzählungen im Mittelalter weisen diesem Ich eine ganz und gar handlungsarme Rolle zu; die Auseinandersetzung mit dem Rosenroman und der Minnelehre hat gezeigt, wie unterschiedlich die Wege sind, die dabei beschritten werden können.64 Das frühe Ich-Erzählen präsentiert sich jedoch in beiden anzuhören, wenn einer da ist, der ihn zu erzählen versteht, denn das Ende des Traums ist sehr schön, und sein Inhalt ist neu.«) 64 | In diesem Sinne bereits Gruenter: »So läßt sich das historische Verhältnis der ›Minnereden‹ zur höfischen Dichtung als Sieg bestimmter epischer Ausstattungsmittel (Allegorie und Allegorese) über die epische Fabel beschreiben: – ein Vorgang, der die ursprünglichen Herrschaftsverhältnisse umkehrt.« Gruenter, Rainer: Zum Problem des Allegorischen in der deutschen ›Minnerede‹. In: Euphorion 51 (1957), S. 2-22, hier S. 7.

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Fällen, die als repräsentativ für das frühe Ich-Erzählen gelten können, als ein dezidiert lehrhaftes Sprechen, nicht als ein Erzählen von sich selbst. Wo ein Text sich als die Aussage eines Erzählers über sich selbst präsentiert, ohne dass diese neue Erzählform bereits habitualisiert wäre, bieten sich Allegorien als Interaktionspartner des Erzählers offenbar geradezu an, weil sie eine komplizierte Handlungsstruktur erübrigen. Der Ich-Erzähler artikuliert so zunächst keine eigene Erfahrung, sondern eigenes Wissen. Die Ich-Erzählung nimmt nicht den Gestus des Erzählens ein, sondern den des Unterweisens und Belehrens. In diesem Sinne verstehe ich auch Überlegungen von Sonja Glauch zu Ich-Erzählungen des Mittelalters, deren Erzähler sie als ›Erzähler ohne Stimme‹ und als ›unindividuell‹ bezeichnet: »Die Ich-Erzähler des Mittelalters wiederum haben ganz allgemein wenig ›Stimme‹, sie sind als Erzähler unaufdringlich. [...] Das schränkt die charakterisierende Wirkung der Erzählerrede ein und trägt dazu bei, dass die Erzähler als Erzähler unindividuell wirken.«65 Glauch geht zwar auf die Tatsache, dass sich die meisten frühen Ich-Erzählungen der Darstellungsform der Allegorie bedienen, nicht ein, doch die Beobachtung, auf die sie hinweist, nämlich die starke Beispielhaftigkeit der mittelalterlichen Ich-Erzählungen, lässt sich meiner Meinung nach in eben diesem Zusammenhang deuten: »Somit sind die Ich-Erzähler als Erzählende schwach profiliert, und als Erlebende verschwimmt ihre Kontur im Beispielhaft-Allgemeinen. Hier zeigt sich deutlich eine Abweichung von der Erwartung, dass die Ich-Rede für die Gestaltung von Autoreflexivität und den Ausdruck von Subjektivität prädestiniert sein sollte.«66 65 | Glauch, Sonja: Ich-Erzähler ohne Stimme. Zur Andersartigkeit mittelalterlichen Erzählens zwischen Narratologie und Mediengeschichte. In: Haferland, Harald; Meyer, Matthias (Hg.): Historische Narratologie – Mediävistische Perspektiven. Berlin/New York 2010, S. 149-185, hier S. 177f. 66 | Glauch 2010, S. 178. Einer der Gründe dafür, dass die frühen Ich-Erzähler-Stimmen »schwach profiliert« sind und »ihre Kontur im Beispielhaft-Allgemeinen verschwimmt«, lässt sich darin erblicken, dass die Perspektive der Ich-Erzählung in den ersten narrativen Texten aus dem Minnesang übernommen worden sein dürfte. Dieses Ich ist jedoch ein exemplarisches, kein individuelles (vgl. dazu Anmerkung 37 zum Konzept der ›Ich-Hohlform‹). In diese Richtung gehend äußert sich bereits im Jahre 1970 Blank: »Spezifisch für das Gesamtgedicht [gemeint ist die Minneburg] ist die ausnahmslos durchgeführte Wahl der IchForm, in der die lyrische Tradition evident wird.« Blank 1970, S. 208. Auch Glier spricht in Bezug auf Minnereden mit Ich-Erzähler von »liedverwandten Typen«

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Denn das wohl aus dem Minnesang übernommene Ich67 ist eben gerade (Glier 1971, S. 400). Später weist sie auf die Entstehung der Minnerede – der Gattung, in der die Ich-Erzählperspektive erstmals gehäuft begegnet und sich auch mit der Allegorie verbindet – aus dem Minneleich hin: »Der dritte Bereich, in dem sich die Allegorie im späten Mittelalter besonders produktiv entfaltet, ist die Minnelehre. Ansätze dazu sind schon im höfischen Roman und den Leichs des 13. Jahrhunderts zu beobachten.« Glier, Ingeborg: Allegorien. In: Mertens, Volker; Müller, Ulrich (Hg.): Epische Stoffe des Mittelalters. Stuttgart 1984, S. 205-228, hier S. 221. Kartschoke stellt einen Zusammenhang zwischen frühen Ich-Erzählungen und der ›höfische[n] Liebesdichtung‹ her – seine Darstellung lässt (in meinen Augen) erkennen, dass er damit den Minnesang meint: »Ulrichs ›Frauendienst‹ und Dantes ›Vita nova‹ stehen im unmittelbaren Zusammenhang der höfischen Liebesdichtung. Das sich selbst thematisierende Ich spricht mit den Worten des Liebenden, beklagt seine Lage, beobachtet sein Leiden, preist sein Glück und bekennt sich vor der Welt zu seiner Liebe und zu sich selbst.« Kartschoke, Dieter: Ich-Darstellung in der volkssprachigen Literatur. In: Dülmen, Richard van (Hg.): Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Köln 2001, S. 61-78, hier S. 74. In diesem Sinne weist Achnitz auf den Autor der Minnelehre, ihr kulturelles Umfeld und ihre Überlieferungsgemeinschaft mit Minnesang in der Weingartner Liederhandschrift hin: »Als ihr Verfasser gilt der zwischen 1281 und 1312 regelmäßig in Zürcher Urkunden belegte Johann(es) von Konstanz, der in Kontakt zu Personen stand, die sich im Umfeld der Familie Manesse mit Minnelyrik beschäftigten [...]. Es überrascht daher nicht, daß als frühestes von sieben Überlieferungszeugnissen die im ersten Viertel des 14. Jahrhunderts vermutlich in Konstanz angefertigte Weingartner Liederhandschrift den Text enthält.« Achnitz, Wolfgang: Als mir Johannes verjach, der die warheit weste wol. Beobachtungen zum Minnediskurs in Der Schüler von Paris B und in der Minnelehre des Johann von Konstanz. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 240 (2003), S. 360-370, hier S. 362. Eine ›Übernahme‹ der Ich-Perspektive aus dem Minnesang deuten auch Bleumer/Emmelius an: »In der weltlichen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts ist die Lyrik der Ort der Ich-Rede schlechthin, während es in den epischen Texten zunächst keinen Ich-Erzähler gibt.« Bleumer, Hartmut; Emmelius, Caroline: Generische Transgressionen und Interferenzen. Theoretische Konzepte und historische Phänomene zwischen Lyrik und Narrativik. In: Dies. (Hg.): Lyrische Narrationen – narrative Lyrik. Gattungsinterferenzen in der mittelalterlichen Literatur. Berlin/New York 2011, S. 1-39, hier S. 9. Vor allem Hartmut Bleumer hat in den letzten Jahren immer wieder auf Übergänge zwischen Lyrik und Epik hingewiesen, jüngst in seinem Beitrag: Der Frauendienst als narrative Form. In: Linden/Young 2010, S. 358-397, besonders auf den S. 367 und 382 (»Dabei ist gerade ausgehend vom Frauendienst zu erwägen, ob die narrativen und lyrischen Paradigmen nicht grundsätzlich stärker zusammenzusehen sind, da die Lyrik als ausgezeichnetes Experimentierfeld der Ich-Aussagen die Entwicklung der Ich-Erzählung schon vor Ulrichs Frauendienst ständig beeinflusst«) und S. 388 (»Für Ulrichs Autonarration liefert die Entwicklung narrativer Strukturen in der Lyrik selbst eine entscheidende historische Vorbedingung«). 67 | Die notwendige mediale Voraussetzung einer solchen Übernahme benennt Schnell – die schriftliterarische Verfügbarkeit des Minnesangs, mit der seine

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KÖRPER-ÄSTHETIKEN

keines, das erzählen würde, kein narratives Ich, sondern nur eine IchPerspektive. Die Zaghaftigkeit und Konturlosigkeit, mit der Ich-Erzähler sich selbst auf der Ebene der histoire entwerfen und die gleichsam Zuflucht nimmt ins Lehrhaft-Objektive68 oder zu einer »rollenhaften Stilisierung«69, könnten auch die Funktion der Allegorie im Zusammenhang mit der Ich-Erzählung erklären: Sie sichert die Inhalte der Ich-Erzählung und damit die Aussagen des Ich-Erzählers als anschauliche, allgemeingültige und unzweifelhafte ab. Das Ich spricht und unterrichtet, wenn es von den Allegorien erzählt, denen es begegnet sein will, über Sachverhalte, die es gesehen hat und deren Gestalt sich jedem Betrachter in gleicher Weise mitteilen würde wie dem Ich-Erzähler.70 Dieser fungiert innerhalb seiner Erzählung nicht als Handelnder, als Held, sondern als objektiver Beobachter, der kaum eigenen Anteil am Geschehen hat. Und diese Rolle, die ›Didaktisierung‹ einhergeht: »Mit der Transformation von der momentanen Vorbildlichkeit der Sängerrolle hin zur schriftlich fixierten und damit kontinuierlichen Vorbildlichkeit des Autors in den Handschriften wächst den Liedinhalten eine stärkere didaktische Funktion zu: Sie gerinnen zur ›Lehre‹. [...] Die Liedaussage gewinnt über den Augenblick des Liedvortrags hinaus einen Status an Vorbildhaftigkeit, löst sich somit von der Einzelsituation der Aufführung.« Schnell, Rüdiger: Vom Sänger zum Autor. Konsequenzen der Schriftlichkeit des deutschen Minnesangs. In: Peters 2001, S. 96-149, hier S. 147. 68 | Ausführlicher zu diesem Zusammenhang: Brüggen, Elke: Fiktionalität und Didaxe. Annäherungen an die Dignität lehrhafter Rede im Mittelalter. In: Peters 2001, S. 546-574. 69 | So Glauch 2010, S. 167. 70 | Ähnlich bei Kartschoke: »Man hat behauptet, dass dem Mittelalter die IchErzählung fern lag, weil auch personal perspektiviertes Erzählen noch nicht möglich war. Deshalb gäbe es Ich-Erzählungen nur in allegorischer Form wie beispielsweise im altfranzösischen ‚Roman de la rose’ aus dem 13. Jahrhundert.« Kartschoke 2001, S. 72. Kartschoke bezieht sich hier auf Zumthor, Paul: Langue, texte, énigme. Paris 1975, S. 170. Von Zumthor distanziert er sich jedoch mit dem Argument: »Das entspricht den literarischen Gegebenheiten in der Romania. Blickt man auf die deutschsprachige Literatur, wird man die erstaunliche Beobachtung machen können, dass es schon im 13. Jahrhundert Ich-Erzählungen in größerem Maßstab gibt.« Kartschoke 2001, S. 72. Im Folgenden bezieht er sich allerdings auf Rudolfs von Ems Der gute Gêrhart, der keine selbständige Ich-Erzählung ist, sondern Ich-Erzählung als Figurenrede präsentiert, und Ulrichs von Liechtenstein Frauendienst, der zwar eine selbständige nicht-allegorische IchErzählung ist, aber unter den Ich-Erzählungen des 13. und 14. Jahrhunderts eine singuläre Sonderstellung einnimmt. Vgl. dazu demnächst: Philipowski, Katharina: Autodiegetisches Erzählen im Mittelalter oder: Warum mittelalterliche Erzähler singen müssen, um von sich erzählen zu können. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 3 (2013).

DER ALLEGORISCHE TRAUM ALS ICH-ERZÄHLUNG

sich Ich-Erzähler des Mittelalters zuschreiben, entspricht auch der Beobachtung, dass sich »Autor und Erzähler in dieser Zeit gar nicht in verschiedene Identitäten dissoziieren könnten«,71 weil »einen Erzähler [zu] fingieren heißt [,] eine fremde Stimme fingieren«72 und eine fremde Erzählerstimme sich im Rahmen einer überwiegend durch Mündlichkeit charakterisierten Erzählkultur wie der mittelalterlichen kaum fingieren lässt. Unter der Maßgabe, dass die Ich-Erzählung die Äußerung eines Autors ist, der zwar eine fiktionale Geschichte erzählt, aber nicht deren Erzähler fingiert, bietet sich die Allegorie in spezifischer Weise dazu an, den prekären Anspruch dieser Äußerung 73 abzusichern: Wenn die Allegorisierung »zunächst gerade bei jenen Phänomenen auftritt, deren historische Funktion fragwürdig geworden ist,«74 so kann sie wohl in gleichem Maße dazu herangezogen werden, Aussagen einer literarischen Form zu vermitteln, die sich noch nicht etabliert hat. 71 | Glauch 2010, S. 184. Vgl. auch: »Meine These wäre nun: Ein erzählendes Ich zu fingieren, gelingt in der abendländischen Erzählkultur erst signifikant später als die Fiktion eines erlebenden Ich. Mit Fingieren soll der Entwurf einer unmissverständlich vom Autor selbst verschiedenen Figur gemeint sein, nicht schon die unumgängliche Selbststilisierung, die eintritt, wenn ein Sprechender oder Schreibender ›Ich‹ sagt.« Ebd., S. 173. 72 | Ebd., S. 179. 73 | Einen solchen prekären Anspruch der Ich-Rede setzt implizit auch Kartschoke voraus, wenn er auf den Zusammenhang zwischen ›Ich-Instanz‹ und beißender Ironie hinweist: »In der höfischen Literatur erfuhr das sich seiner selbst bewusst gewordene Ich seine Individualität als Mangel – als Sündhaftigkeit vor Gott, als Fehlbarkeit vor den Menschen, als Unerfülltheit in der Liebe. Das mag der Grund dafür sein, dass biographisch profilierte Ich-Instanzen häufig der Lächerlichkeit anheimfielen. Walther von der Vogelweide exponierte sich mit beißender Ironie, Wolfram komisierte sich in den Erzählerfiguren seiner beiden Großepen, Neidhart machte sich als höfischer Minnesänger im unhöfischen Milieu der Dörper lächerlich, Ulrich von Liechtenstein bewährte seine persönliche Vorbildlichkeit in extremen Schwanksituationen.« Kartschoke 2001, S. 78. 74 | Cramer, Thomas: Allegorie und Zeitgeschichte. Thesen zur Begründung des Interesses an der Allegorie im Spätmittelalter. In: Haug 1979, S. 265-276, hier S. 271.

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Dania Schüürmann 273

SCHWESTER TOD Weiblichkeit und Körper in den Poetiken Hilda Hilsts und Clarice Lispectors

Por que me fiz poeta? Porque tu, morte, minha irmã, No instante, no centro de tudo o que vejo. No mais que perfeito No veio, no gozo Colada entre mim e o outro. No fosso No nó de um ínfimo laço No hausto No fogo, na minha hora fria. Me fiz poeta Porque à minha volta Na humana idéia de um deus que não conheço A ti, morte, minha irmã, Te vejo.1 1 | Hilst, Hilda: Odes mínimas. Ode XXXII. São Paulo 2001. (Warum bin ich Dichterin geworden?/ Weil du, Tod, meine Schwester,/ plötzlich, im Mittelpunkt/ von allem, was ich sehe.// Im Mehr als Perfekten/ Im Flöz, im höchsten Genuss/Zwischen mich und den Anderen eingeschoben/ In der Grube/ Im Knoten einer unbedeutenden Schlaufe/ Im Schluck/ Im Feuer, in meiner frigiden Stunde.// Ich wurde

274

KÖRPER-ÄSTHETIKEN

Einführung

Die Schwester Tod – »morte, minha irmã« – impliziert eine Personifikation, nämlich die des Todes als Schwester.2 In diesem Beitrag sollen Ideen zu einer Poetik der Schwesterlichkeit mit dem Tod, d.h. einer engen Verbindung von weiblichem Körper und Tod skizziert werden. Da der Tod in den romanischen Sprachen ein grammatikalisch weibliches Substantiv darstellt – ganz im Gegensatz zur deutschen Sprache – eröffnet die Evokation seines weiblichen Körpers Möglichkeiten einer genuin weiblichen, schwesterlichen Intimität zwischen Tod und den Frauen. Die Ode an den Tod von Hilda Hilst hat das als Einstieg in meine Überlegungen gezeigt. In den Texten der brasilianischen Schriftstellerinnen Hilda Hilst (1930-2004) und Clarice Lispector (1920-77) wird dem semantischen Feld des Todes nachzuspüren sein. Nicht immer gewinnt er als Personifikation Sichtbarkeit, sondern zeigt sich mittelbar im alternden Körper oder als schlichtes Fatum bzw. schicksalhaftes Ereignis, stets jedoch ist er mit dem weiblichen Körper verbunden. Im umfassenden Werk der beiden Autorinnen sind die Erzählung Agda aus dem Sammelband Kadosh (1973) von Hilda Hilst und der Roman A paixão de G.H. (Die Passion von/nach G.H., 1964) von Clarice Lispector als Korpus gewählt.3 In beide Werke kann an dieser Stelle natürlich nur ein Einblick gewährt werden. Weiblichkeit und Körper sind hier nicht vorrangig als Themen der Texte zu begreifen, sondern als ein (allegorisches) Verfahren der Sichtbarmachung eines abstrakteren Prinzips. Das ist eine ergänzende Sichtweise auf die Literatur brasilianischer Schriftstellerinnen, die bisher zu kurz gekommen ist. In der Dissertation von Susana Moreira de Lima aus dem Jahr 2008 steht beispielsweise das Thema der alternden Frau in der neueren brasilianischen Literatur im Zentrum einer vorrangig thematisch ausgerichteten Lektüre. Die Darstellung weiblicher Dichterin/ Weil um mich herum/ In der menschlichen Idee eines Gottes, den ich nicht kenne/ Dich, Tod, meine Schwester/ Dich sehe ich.) Die Übersetzung stammt von der Autorin des Beitrags, wie auch alle folgenden Übersetzungen, die möglichst wortgetreu vorgenommen wurden. Insbesondere für die Übersetzung eines Gedichtes gelten Schwierigkeiten, die hier sicherlich nur unzureichend und annähernd gelöst werden konnten. 2 | Dieser kurze Beitrag steht in einem Zusammenhang mit einer umfassenderen Dissertation zu dem Thema der (göttlich-dämonischen) Personifikation in der brasilianischen Literatur an der Freien Universität Berlin. 3 | Der Erzählband Kadosh enthält zwei Texte mit dem Titel Agda, doch nur an den ersten ist hier verwiesen, der vornehmlich aus der Perspektive Agdas entwickelt ist. Der zweite Text widmet sich anderen Stimmen.

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alter und begehrender Körper bedeutet damit eine Tabuverletzung und einen Widerstand.4 In meinen Ausführungen dagegen soll die Bedeutung des weiblichen Körpers als kreatürlicher Leib herausgestellt werden. Der alternde Körper der Frau ist hierbei meiner Ansicht nach eine (auch thematische) Konsequenz der Kreatürlichkeit als Prinzip und Idee der Poetik. Anders als Susana Moreira de Lima sehe ich nicht die thematische Auseinandersetzung mit der alternden Frau aus Gründen des Widerstands gegen eine soziale und ästhetische Marginalisierung als grundlegend für die Poetik der beiden brasilianischen Schriftstellerinnen, sondern das Moment der Kreatürlichkeit, für das ein vergänglicher und zugleich ehemals fruchtbarer Körper konstitutiv ist. In dem Text Hilda Hilsts geht es hierbei um eine alternde Frau; im Text Clarice Lispectors um die Gegenüberstellung mit der Kreatur Tier, genauer mit dem Weibchen. Der Tod ergänzt die Konstellationen. Für beide Autorinnen existieren jedoch auch Texte mit dem jeweils anderen Motiv, die also als kennzeichnend für die Poetik beider angesehen werden können und um die Kreatürlichkeit als Begriff kreisen.5 Hilda Hilst

Die Erzählung Agda wird gänzlich beherrscht von einer Stimme, die zu und mit einer alternden Frau spricht, Agda, und deren Altern ausstellt. Die Stimme ruft andere Stimmen an, die Stimme des Vaters, der Mutter Agdas, die eines Arztes6, die Stimme einer jüngeren Frau, der Hausangestellten, 4 | Susana Moreira de Lima schreibt: »Assumir o desejo é tomar posse de seus corpos, satisfazê-lo é ocupar seus espaços nas narrativas, na medida em que estas se constituem de ações das personagens, seus gestos, seus movimentos, que permitem a elas chegarem a saciar seus desejos. A postura das personagens é transgressora tanto quanto a da voz narradora, que ultrapassa o convencional e toca numa ferida oculta, como o desejo feminino senil. Escondido, mas pulsante.« Lima, Susana Moreira de: O Outono da Vida: trajetórias do envelhecimento feminino em narrativas brasileiras contemporâneas. Brasília 2008, S. 102. Für die detaillierte Auseinandersetzung mit Hilda Hilsts A obscena Senhora D. siehe S. 138ff. 5 | Kreatürlichkeit ist hier letztlich als Todverfallenheit oder Endlichkeit zu verstehen, genauer als Spannung zwischen Körper und Bedeutung. Im Laufe des Textes wird sich dies genauer erschließen. 6 | In dem Gespräch mit einem Arzt, der das Altern als unwiderruflichen Prozess darstellt, der auch die sexuelle Attraktivität des weiblichen Körpers für die Männer in Mitleidenschaft zieht, ist der Erzählung Ruído de Passos aus dem Band A Via Crucis do Corpo von Clarice Lispector aus dem Jahr 1974 in einigen Zügen ähnlich. Hier sucht die Protagonistin Cândida Raposo einen Gynäkologen auf mit der Frage, wann denn endlich das sexuelle Begehren aufhören werde, schließlich zähle

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die einen Eindruck von Agdas Leben und Meinungen über das Alter wiedergeben. Sie kommen einem inneren Dialog gleich, denn auch Agda selbst kommt in diesen Stimmen jeweils zu Wort. Das Alter, oder die Zeit, ist das letztlich umkreiste Abstraktum: O tempo? Sim, esse que ninguém vê, esse espichado, gosma, cada vez mais perto da transparência.7 (Die Zeit? Ja, diese, die niemand sieht, diese ausgestreckte, Schleim, mit jedem Mal der Transparenz näher.) Agda ist verliebt, begehrt, will leben, und so erfährt sie die fortschreitende Zeit als eine Bedrohung. In ihrem Begehren macht sie sich mit ihrem alten Körper lächerlich: eine alte verliebte Frau mit sinnlichen Bedürfnissen und Eitelkeiten, die versucht, ihre alternde Haut, Cellulitis und Altersflecken zu verbergen. Die Kommentare des Geliebten werden zu (noch einer) imaginären Stimme im Chor, dem Agda ausgeliefert ist, und der eine eindrückliche Stellvertretung für die Gesellschaft abgibt: […] depois de tudo a vergonha, é sim, vergonha, ele dirá aos amigos a velha gania nas minhas mãos, a velha amarela estertorava até com a ponta dos meus dedos.8 (nach allem schließlich die Scham, ja, die Scham, er wird seinen Freunden sagen, die Alte winselte in meinen Händen, die gelbe Alte röchelte auf die Berührung meiner Fingerspitze hin.) Trotz der Angst und Scham des Sich-Lächerlich-Machens sieht sich Agda nicht in der Lage, ihren Körper und seine Bedürfnisse zu verleugnen. Ein alter Körper ja, aber dieselbe Agda. So fragt nun Agda selbst: NUNCA MAIS deverei ser tocada, e afinal é o corpo esse que não pode mais ser tocado, afinal ele existe, e eu poderia dizer eu sou meu corpo? Se eu fosse o meu corpo ele me doeria assim? Se eu fosse o meu corpo ele estaria velho assim? O que é a minha linguagem? Linguagem para o meu corpo: um funeral de mim, sie bereits 81 Jahre. Der Arzt gibt lapidar zur Antwort, das Begehren höre niemals auf, bis zum Tod. Ähnlich lapidar rät der Arzt Agda zu langärmeligen Oberteilen, um ihre schlaffe Haut an den Armen zu verstecken. Cândida findet einzig in der Selbstbefriedigung, die mit Scham besetzt bleibt, einen (provisorischen) Ausweg für die Bedürfnisse ihres Körpers. Agda schämt sich ebenfalls, hat aber einen Geliebten – im zweiten Text mit dem Titel Agda scheinen es gar drei Männer zu sein – und ist überdies auch verliebt, d.h. das Begehren ist hier nicht auf seine rein biologische Dimension begrenzt. Beide Frauen, Cândida und Agda, werden zudem in ihrer Körperlichkeit in Verbindung mit Pflanzen gesetzt, mit der Sinnlichkeit der Natur, die Bedürfnisse weckt. Es kann also von einem Intertext ausgegangen werden. 7 | Hilst, Hilda: Agda. In: Dies.: Kadosh. São Paulo 2001, S. 17f. 8 | Ebd., S. 18.

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regado, gordo, funeral de boninas e açucenas, alguém repetindo uma inútil cadência: girassóis para a mulher-menina. Para o meu corpo um funeral, e para a VIDA GRANDE DO DE DENTRO, ESSA INTEIRA VIVA, o quê? 9

(NIE MEHR darf ich berührt werden, und am Ende ist es dieser Körper, der nicht mehr berührt werden darf, schließlich existiert er aber, und könnte ich sagen, dass ich mein Körper bin? Wenn ich mein Körper wäre, würde er mir dann so wehtun? Wenn ich mein Körper wäre, wäre er dann so alt? Was ist meine Sprache? Sprache für meinen Körper: eine Beerdigung von mir, gegossen, üppig, Beerdigung von Gänseblümchen und Lilien, jemand wiederholt eine nutzlose Kadenz: Sonnenblumen für die Frau-Mädchen. Für meinen Körper eine Beerdigung, und für das GROSSE LEBEN INNEN, DIESE GANZE LEBENDIGE, was?)

Diese »GANZE LEBENDIGE« wird von der Entität bzw. Identität rhetorisch abgespalten. Nicht mehr die alte Agda, sondern die innen so ganz lebendige und junge Agda gewinnt ein Eigenleben durch Personifikation. Die auktoriale Erzählerstimme erklärt Agda diese Abspaltung: Agda, é assim: ESSA INTEIRA VIVA não acompanha o corpo, essa é intacta, nada a corrompe, ESSA INTEIRA VIVA tem muitas fomes, busca, nunca se cansa, nunca envelhece, infiltra-se em tudo que borbulha, no parado também, no que parece tácito e ajustado, nos pomos, nas aguadas, no paludoso rico que o teu corpo não vê. ESSA INTEIRA VIVA é que vive esse amor, o corpo não, Agda.10

(Agda, es ist so: DIESE GANZE LEBENDIGE begleitet den Körper nicht, diese ist intakt, nichts korrumpiert sie, DIESE GANZE LEBENDIGE hat viele Formen, sucht, ermüdet niemals, altert niemals, infiltriert alles, was sprudelt, das Unbewegte auch, das, was stillschweigend und passend scheint, im Fruchtfleisch, in den Wassern, im grobfaserigen Üppigen dessen, was dein Körper nicht sieht. DIESE GANZE LEBENDIGE ist es, die diese Liebe lebt, nicht der Körper, Agda.)

Die zu relativierende Wichtigkeit des Körpers wird auch in den dann folgenden Szenen deutlich, wenn Agda berichtet, wie ihr Vater am Krankenbett dachte, sie sei die Mutter bzw. seine Frau. Der Inzest wird durch 9 | Ebd., S. 19. 10 | Ebd.

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diese Verwechslung angedeutet. In der Vermischung der familiären Rollen scheint Agda die Zeit, das Alter, den Tod zu überwinden. Sie ist Mutter und Tochter zugleich. Die Familie wird orthographisch zu einem einzigen Subjekt: »mãepaifilha« (Muttervatertochter) – eine Trinität, die an die christliche Idee der Dreifaltigkeit erinnern soll. Neben der Referenz an die Dreifaltigkeit und dem Chor der Stimmen spielt Hilda Hilst mit weiteren Formen der Subjektkonstitution, die nicht als Stimmen oder Prosopopoiie, auch nicht als Personifikationen, sondern eher als Anthropomorphismen zu begreifen sind: o inanimado, menina-planta, menina-pedra, menina-terra (das Unbelebte, Mädchen-Pflanze, MädchenStein, Mädchen-Erde).11 Agda selbst wird mit einer Pflanze gleichgesetzt. Von Dünger und stützenden Hilfskonstruktionen ist die Rede. Pflegebedürftige Pflanze: Agda ist in ihrer Körperlichkeit bedürftig. esse interior agora íntima absorvência de nós dois, perplexidade de suores, corpo-limite-coitado, de repente te moves, entras na casa dos porcos, te perguntas o que é isso um porco? De repente te lembras que alguém já perguntou, que muitos perguntarão o que é isso um porco. O que é isso-eu? Porco jovem, porquinho rosado, aí eu pego cheia de doçuras digo porquinho tão bonito, seria bom ter um assim sempre dentro de casa, depois grande porco estufado, aí não pego mais, digo bom para comer […] te pergunto: o corpo-porco ainda é o teu?

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(dieses Innere, jetzt intimes Absorbieren von uns beiden, Perplexität unseres Schweißes, Körper-Grenzebedauernswert, jäh bewegst du dich, gehst in das Haus der Schweine, du fragst dich, was ist das, ein Schwein? Auf einmal erinnerst du dich, dass das schon jemand gefragt hat, dass viele fragen werden, was ist ein Schwein. Was ist Dieses-Ich? Junges Schwein, rosafarbenes Schweinchen, da nehme ich es voller Zärtlichkeit, sage schönes Schweinchen, es wäre schön, so eines immer im Haus zu haben, danach großes korpulentes Schwein, da nehme ich es nicht mehr, sage, gut um zu essen […] ich frage dich: der Körper-Schwein ist immer noch deiner?)

Der Körper ist hier mit einem Schwein gleichgesetzt, zuerst jung, rosig und anziehend, später abstoßend. Das Schwein steht bei Hilda Hilst stets für das Fleischliche, aber zugleich für das Göttliche. Das schmutzige Tier 11 | Ebd., S. 28. 12 | Ebd., S. 23f.

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wird paradoxal als göttliches Wesen gesehen, göttlich und dämonisch zugleich. Außerdem ist in diesem Zitat in der Stimme des Vaters wiederum an die Abfolge der Generationen gemahnt: Es wurde schon gefragt, es wird weiter gefragt werden, Agda und ihr Vater mit ihren gegenwärtigen Fragen lösen sich ineinander und in den Vielen, Anderen als Individuen praktisch auf. Eine GRANDE COISA TURVA, eine GROSSE TRÜBE SACHE, bedroht Agda, lässt sie die Kontrolle über ihren Körper verlieren, der sich ihrem Geist und ihren Wünschen nicht mehr anzugleichen scheint. Aus lauter Willen zum Leben droht Agda der GROSSEN TRÜBEN SACHE: despacha-te coisa imunda, morte, vassoura negra de asas, esse nunca, esse não, esse tênue indelével, verdade vigília dentro de mim, esse inteiro vida no meu-corpo-dele. […] como se o grande corpo tempo fosse apenas um todo imóvel, irremediavelmente enrodilhado e imóvel.13

(verschwinde schmutziges Ding, Tod, schwarzer beflügelter Besen, dieses Nie, dieses Nicht, dieses Feine Unauslöschliche, Wahrheit, Nachtwache in mir, dieses ganze Leben in meinem-Körper-von ihm. […] als ob der große Körper Zeit nur ein Ganzes Unbewegliches wäre, unwiederbringlich eingewickelt und unbeweglich.)

Die Zeit, die GROSSE TRÜBE SACHE, ist nichts anderes als der Tod, die Hexe mit dem Besen, die Negativität schlechthin. In der respektlosen Geste des Wegscheuchens, im provokanten Ton der Beleidigung äußert sich hier die Intimität zwischen der Frau Agda und dem Tod. Über den Tod spricht auch Agdas Vater mit seiner Tochter; er gibt den Auftrag, an seiner Statt und zum Zeitpunkt seines Todes das Unveränderliche, das in der Zeit Stehengebliebene, das zugleich der Tod ist, zu loben. Für das Veränderliche des Lebens dagegen, das Lebendige, setzt Agdas Vater den Ausdruck objeto-demônio-aço e prata: »Objekt-DämonStahl und Silber«. Das Metall reflektiert, wirft Spiegelbilder, multipliziert – daher steht es hier für das Lebendige und die Vielheit der Identität(en), die eben nicht in sich eins ist, sondern sich im Anderen widerspiegelt und vervielfacht. 13 | Ebd., S. 26.

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Que ela diga assim ao médico, toma nota, tira o lápis, assim: ele agradece doutor a ausência do objeto-demônio-aço e prata, esse inteiro abominável, assim filha: ele agradece por todos nós. E que esse-único-eu nunca mais desdobrado está contente de existir dentro do nada, que esse único-eu está, usa boas expressões, filha, está...está estupefato, isso, agora em letras maiúsculas: ESTUPEFATO COM SEU LÚCIDO CRITÉRIO, doutor...porque essa vida, Agda, do objeto-demônio-abominável, esse existir multiplicado acrescentava peso a esse-único-eu, até nos talheres da tua mãe, nos cristais das janelas, até no metal das bandejas, eu pedia sempre para que ela colocasse os panos, que envolvesse as facas nas flanelas, tudo naquela casa era mil vezes eu-outro, […], e lá lá o outro desconhecido espionando.14

(Dass sie so zum Arzt sagt, schreib auf, nimm den Stift, so: Er bedankt sich beim Arzt für die Abwesenheit des Objekt-Dämon-Stahl und Silber, dieses Ganze Abscheuliche, so Tochter: Er bedankt sich für uns alle. Und dass DiesesEinzig-Ich, nie wieder entfaltet, zufrieden ist, im Nichts zu existieren, dass Dieses-Einzig-Ich, gebrauche gute Ausdrücke, Tochter, verwundert ist, genau, jetzt in Großbuchstaben. VERWUNDERT ÜBER SEIN KLUGES KRITERIUM, Herr Doktor... denn dieses Leben, Agda, des Objekt-Dämon-Stahl und Silber, dieses multiplizierte Existieren fügte Diesem-Einzigen-Ich Gewicht zu, sogar im Besteck deiner Mutter, im Glas der Fenster, sogar im Metall der Tabletts, ich bat immer, dass sie Tücher auflegte, dass sie die Messer in Flanell wickelte, alles in jenem Haus war tausend Mal Ich-Anderer, […], und dort dort der andere Unbekannte lauernd.)

So scheint der Tod plötzlich auch gute Seiten zu haben, die wahre Identität, das Mit-Sich-Selbst-Eins-Sein zu ermöglichen. (Clarice Lispector wird sagen, der Tod sei die Begegnung mit sich selbst – wie zu zeigen sein wird.) Vor seinem angekündigten Tod verrät der Vater Agda noch ein Geheimnis. In der Nähe der Schweineställe müsse sie graben nach einer goldenen Erde und wenn sie diese esse, dann werde sie verjüngen, den umgekehrten Weg ins Nichts gehen: Vais caminhar menina para o nada, mas o mecanismo é mais fácil, aos poucos te identificas com o inanimado, menina-planta, menina-pedra, menina-terra.15 (Du wirst in die Richtung des Nichts laufen, Mädchen, aber der Mechanismus 14 | Ebd., S. 26f. 15 | Ebd., S. 28.

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ist leichter, allmählich identifizierst du dich mit dem Unbelebten, Mädchen-Pflanze, Mädchen-Stein. Mädchen-Erde.) Die anthropomorphen Formen sind identitäre Substanzen, ein Aufgehen in der Nicht-Differenz. Clarice Lispector wird das »Entpersönlichung« nennen. Agda gräbt also nach der goldenen Erde, die sie nicht findet, nur Schnecken und Larven. Während sie mit den Händen in der Erde wühlt, denkt Agda: Lodo na cara. Tenho ares de alguém semisepulto. Um ouro que não vem. Nem o reflexo. Bom que seria luz amarelada dourando os caracóis, as larvas, a minha mão. Bom que seria recompor palavras, cruzá-las, dizer da luz filtro cintilante facetado, dizer do escuro entranha apenas, dizer da busca o que ela é, buscador e buscado, revelar os dois lados, aqui te vês, aqui sou eu te vendo.16

(Schlick im Gesicht. Ich sehe aus wie jemand Halb-Begrabenes. Ein Gold, das nicht kommt. Nicht einmal der Schimmer. Gut wäre gelbes Licht, die Schnecken vergoldend, die Larven, meine Hand. Gut wäre das Wiederherstellen der Wörter, sie zu kreuzen, vom Licht zu sagen glitzernder Filter in Facetten, vom Dunklen nur zu sagen Innerei, von der Suche zu sagen, was sie ist, Suchender und Gesuchtes, beide Seiten aufzudecken, hier siehst du dich, hier bin ich dich sehend.)

Wenn die Sprache befähigt würde, alles in seiner Komplexität, mit all seinen Seiten darzustellen, so wäre das Leiden des Lebens aufgehoben; es bedeutete eine Vorausnahme des Todes als sinnvollem Fatum, in dem Differenz sich in Indifferenz auflöst. Der kreatürliche Leib des Menschen, hier Agdas, der alten Frau, bestimmt wesentlich unsere Existenz: Bis zum Tod begehren wir, spüren wir unseren Körper, leiden unter dem Altern. Leiden, denn zugleich sind wir nicht unser Körper. Wir gelangen erst zur Einheit bzw. zur Indifferenz, wenn wir sterben – das kann Erlösung sein. So ist die alte Agda nur eine Figur und Möglichkeit, von der Kreatürlichkeit als menschlicher Seinsbedingung zu sprechen. Clarice Lispector

Als Schwester in der Auseinandersetzung mit der Kreatürlichkeit und dem Tod mag für Hilda Hilst Clarice Lispector gelten. In der berühmten Erzählung von der Begegnung mit einer Schabe, A Paixão segundo G.H., 16 | Ebd., S. 29f.

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findet die Erzählerin und Figur G.H. im Zimmer ihrer Hausangestellten eine Schabe und zermalmt diese unwillkürlich durch das Zuschlagen einer Tür. Die Schabe stirbt und stürzt G.H. in Ekel und Reflexion über ihr eigenes Wesen. Die Kreatur Mensch erkennt in der Begegnung mit der Kreatur der Schabe die Kreatürlichkeit als Existenzbedingung und Grenze. Diese führt zu einer »Entpersönlichung«, wie Clarice Lispector es auf den letzten Seiten des Romans benennt: A despersonalização como a destituição do individual inútil – a perda de tudo o que se possa perder e, ainda assim, ser. Pouco a pouco tirar de si, com um esforço tão atento que não se sente a dor, tirar de si, como quem se livra da própria pele, as características. Tudo o que me caracteriza é apenas o modo como sou mais facilmente visível aos outros e como termino sendo superficialmente reconhecível por mim. Assim como houve o momento em que vi que a barata é a barata de todas as baratas, assim quero de mim mesma encontrar em mim a mulher de todas as mulheres.17

(Die Entpersönlichung als die Abschaffung des unnützen Individuums – der Verlust von allem, was man verlieren kann und, trotzdem, sein. Stück für Stück aus sich ziehen, mit einer so aufmerksamen Anstrengung, dass der Schmerz sich nicht fühlen lässt, die Charakteristiken aus sich ziehen, wie ein von der eigenen Haut sich Befreiender. Alles, was mich charakterisiert, ist nur eine Art, wie ich leichter sichtbar bin für die anderen und wie ich am Ende für mich selbst oberflächlich wieder erkennbar bin. So wie es den Moment gab, als ich sah, dass die Schabe die Schabe aller Schaben ist, so möchte ich aus mir selbst heraus, in mir die Frau aller Frauen finden.)

Die Rückkehr zum kreatürlichen Sein ist das Ziel der Bewegung des Romans wie des Erkenntnisweges, den die Protagonistin G.H. zurücklegt. Verkürzt auf die Initialen ihres Namens ist sie bereits eine Figur der Entpersönlichung: Sie steht als Frau für alle Frauen und für alle Menschen. Der Weg bis zur Entpersönlichung könnte hierbei als Passion oder via mística begriffen werden.18 In der Mühseligkeit der Sprache zeichnet sich der Kreuzweg ab. 17 | Lispector, Clarice: A Paixão Segundo G.H.. Paris 1988, S. 112. 18 | »Sua experiência negativa terá sido um processo de transformação interior, consumada, como o dos ascetas, no segredo da consciência solitária, entre um momento de ruptura e um momento de retorno. Essa trajetória, que sintetiza a linha da ação de PSGH, acompanha, de muito perto, a via mística, reproduzindo-lhe as

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Eu tenho à medida que designo – e este é o esplendor de se ter uma linguagem. Mas eu tenho muito mais à medida que não consigo designar. A realidade é a matéria-prima, a linguagem é o modo como vou buscá-la – e como não acho. Mas é do buscar e não achar que nasce o que eu não conhecia, e que instantaneamente reconheço. A linguagem é o meu esforço humano. Por destino tenho que ir buscar e por destino volto com as mãos vazias. Mas – volto com o indizível. O indizível só me poderá ser dado através do fracasso de minha linguagem. Só quando falha a construção, é que obtenho o que ela não conseguir.19

(Ich habe in dem Maße, in dem ich bezeichne – und das ist die Herrlichkeit eine Sprache zu haben. Aber ich habe viel mehr in dem Maße, in dem es mir nicht gelingt, zu bezeichnen. Die Wirklichkeit ist das Primärmaterial, die Sprache ist die Art, wie ich es suchen werde – und wie ich es nicht finde. Aber es ist im Suchen und Nicht-Finden, wo geboren wird, was ich nicht kannte, und was ich augenblicklich wiedererkenne. Die Sprache ist meine menschliche Anstrengung. Schicksalhaft muss ich suchen gehen und schicksalhaft kehre ich mit leeren Händen zurück. Aber – ich kehre mit dem Unsagbaren zurück. Das Unsagbare kann mir nur gegeben werden durch das Scheitern meiner Sprache. Nur wenn die Konstruktion versagt, erhalte ich, was sie nicht vermag.)

Trotz des sprachlichen Versagens ist die Kreatur Mensch mit Vertrauen gesegnet: ein Vertrauen in die Schöpfung, in das krude Leben an und für imagens típicas de deslocamento espacial (saída/entrada), a tópica do deserto (aridez, secura, solidão, silêncio) e a contraditória visão do inefável (realidade primária, núcleo, nada, glória).« Nunes, Benedito: O Drama da Linguagem. Uma leitura de Clarice Lispector. São Paulo 1989, S. 66. In der Studie und Lektüre von Benedito Nunes werden die spirituell-metaphysischen Momente der écriture von Clarice Lispector betont. Ligia Chiappini hat dagegen in einem Artikel auch darauf hingewiesen, dass ein sprachkritischer (und mystischer) Ansatz nicht die bedeutende Funktion von Sprache aushebelt, dass Wörter schlicht weiterhin etwas bedeuten und eine referentielle Funktion erfüllen. Diese Referenz bezieht sich auch auf eine gesellschaftliche und soziale Umgebung. Die Frauen Clarice Lispectors sind dabei Frauen aus einer finanziell gut versorgten Schicht, die durch alltägliche Phänomene plötzlich auf die Misere um sie herum hingewiesen werden. Die Hausbediensteten spielen dabei stets eine bedeutende Rolle. Die einfachen Leute sind bei Lispector häufig dem eigentlichen Sein näher als die Frauen-Protagonistinnen ihrer Erzählungen. Die Texte Lispectors kennen also auch eine nicht zu vernachlässigende soziale Dimension. Vgl. Chiappini, Ligia: Pelas ruas da cidade uma mulher precisa andar. Leitura de Clarice Lispector. In: Literatura e Sociedade 1 (1996), S. 60-80. 19 | Lispector 1988, S. 113.

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sich. Eu confiava 20 (ich vertraute), so spricht G.H. aus und versucht hiermit ihren neuen Status zu definieren. Das Scheitern des Vermögens der Sprache ist nicht länger Grund zur Verzweiflung, denn die Kreatur weiß um ihre eigene Unbedeutsamkeit, die auch eine Befreiung bedeutet. Schicksalhaft geht sie auf die Suche nach dem Ausdruck der Wirklichkeit und kehrt unverrichteter Dinge zurück. Doch kann sie trotzdem vertrauen. Auch das ist ein Moment von Kreatürlichkeit, ein befreiendes Moment. G.H. endet daher ihre Erzählung folgendermaßen: O mundo independia de mim – esta era a confiança a que eu tinha chegado: o mundo independia de mim, e não estou entendendo o que estou dizendo, nunca! nunca mais compreenderei o que eu disser. Pois como poderia eu dizer sem que a palavra mentisse por mim? como poderei dizer senão timidamente assim: a vida se me é. A vida se me é, e eu não entendo o que digo. E então adoro.21

(Die Welt hing nicht von mir ab – das war das Vertrauen, zu dem ich gelangt war: Die Welt hing nicht von mir ab, und ich verstehe nicht, was ich sage, nie! Nie mehr werde ich verstehen, was ich auch sagen werde. Denn wie könnte ich sagen, ohne dass das Wort für mich lügen würde? Wie könnte ich sagen, wenn nicht schüchtern so: Das Leben ist mir. Das Leben ist mir, und ich verstehe nicht, was ich sage. Also verehre ich.)

Das befreiende Moment der eigenen Unbedeutsamkeit kulminiert in Vertrauen und Verehrung – Verehrung als positiv gedeutete Verständnislosigkeit. Der Körper, insbesondere der weibliche Körper, spielt auf dem Kreuzweg der Erkenntnis bis zur Kreatürlichkeit des Menschen eine bedeutende Rolle. Körper und Seele sind hier kein einfaches Paar der Gegensätze mehr, sondern der Körper wird als beseelt dargestellt: Der Körper ist hier ein Leib, im quasi-religiösen Sinne. So ist auch die Beseelung der Schabe zu erklären, die G.H. in den anthropomorphen Beschreibungen vor allem des Gesichtes der Schabe vornimmt. Die Schabe hat nicht nur Körper, sie hat Leib, sie stellt das Leben ebenso dar wie die Kreatur Mensch. Die Weiblichkeit der Schabe ist gar der Weiblichkeit der G.H. ganz verwandt. 20 | Ebd., S. 114. 21 | Ebd., S. 115.

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De vez em quando, por um leve átimo, a barata mexia as antenas. Seus olhos continuavam monotonamente a me olhar, os dois ovários neutros e fertéis. Neles eu reconhecia meus dois anônimos ovários neutros. E eu não queria, ah, como eu nao queria!

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(Manchmal, für einen winzigen Moment, bewegte die Schabe ihre Antennen. Ihre Augen schauten mich weiterhin monoton an, die beiden neutralen und fruchtbaren Eierstöcke. In ihnen erkannte ich meine beiden anonymen und neutralen Eierstöcke wieder. Und ich wollte nicht, ah, wie ich nicht wollte!)

G.H. erinnert sich plötzlich an ihre Abtreibung. Die gemeinsame Kondition von Frau und Schabe wird ihr deutlich, auch durch das weiße Sekret, das bei der Zerquetschung der Schabe ausgetreten ist. Dieses Weiß mag an Eier, aber auch an Sperma erinnern, es ruft Assoziationen der Fruchtbarkeit hervor. Aber auch die Gewalt, mit der die Schabe zu Tode kam, lässt G.H. sicher sein, es handele sich bei dem Tier um ein Weibchen: Eu só a pensara como fêmea, pois o que é esmagado pela cintura é fêmea.23 (Ich dachte sie nur als Weibchen, denn das, was von der Hüfte ab zerquetscht wird, ist Weibchen.) Die Körpermetaphern sind allgemein zahlreich in dem Roman – O quarto era o retrato de um estômago vazio 24 (Das Zimmer war das Bild eines leeren Magens), meu coração embranqueceu como cabelos embranquecem 25 (mein Herz ergraute, wie meine Haare ergrauten) – da hier eine Phänomenologie des Körpers entwickelt wird. Nur die Erfahrung der eigenen Körper- und Leiblichkeit lässt den Menschen erkennen, dass er/sie Kreatur ist. Die weibliche Körpererfahrung ist hierbei eine spezifische: Von der Mutterschaft, der Schwangerschaft, der (sexuellen) Gewalt gegen Frauen ist hier explizit die Rede. Schabe und Frau teilen sich ein Schicksal als Weibchen: »Die Frau? Sehr einfach, sagen diejenigen, die einfache Formeln bevorzugen: sie ist eine Gebärmutter und Ovarien; sie ist ein Weibchen: dies Wort genügt, um sie zu definieren. Im Munde des Mannes klingt das Wort ›Weibchen‹ wie eine Beleidigung; gleichwohl schämt er selber sich nicht seiner tierisch bedingten Natur, er ist im Gegenteil stolz, wenn man von ihm sagt, er habe etwas 22 | Ebd., S. 59. 23 | Ebd., S. 60. 24 | Ebd., S. 29. 25 | Ebd., S. 31.

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›sehr Männliches‹. Der Ausdruck ›Weibchen‹ ist nicht nur pejorativ, weil er der Frau einen Platz in der Natur anweist, sondern weil er sie auf ihr Geschlecht beschränkt; und wenn dieses Geschlecht dem Manne selbst bei unschuldigen Tieren verächtlich und feindlich erscheint, so ist es augenscheinlich deswegen, weil die Frau eine nie zur Ruhe kommende feindselige Haltung in ihm hervorruft, für die er in der Biologie eine Rechtfertigung finden will. Bei dem Worte ›Weibchen‹ hebt in ihm ein toller Tanz von Vorstellungen an: ein enormes rundes Ovulum schlingt die beweglichen Spermatozoen in sich hinein, wobei es sie wehrlos macht; zu monströsem Umfang aufgeschwollen, herrscht die Termitenkönigin über die unterjochten Männchen; die Mantis, die liebesgesättigte Spinne gewisser Arten, zermalmt ihren Partner und verschlingt ihn; die läufige Hündin läßt hinter sich in den Gassen ein Kielwasser ekler Gerüche zurück; das Affenweibchen bietet sich schamlos an und entzieht sich dann wieder in heuchlerischer Koketterie; und die prachtvollsten Raubkatzen, die Tigerin, die Löwin, das Pantherweibchen, geben sich sklavenhaft der besitzergreifenden Geste des männlichen Tieres hin. Wenn der Mann die Frau als willenlos, ungeduldig, listig, einfältig, fühllos, lüstern, wild, demütig bezeichnet, läßt er seine Vorstellung von sämtlichen Weibchen der Tierwelt in sie eingehen. Sie ist nun einmal ein Weibchen.« 26

Während Simone de Beauvoir polemisch die Eigenarten des ›Weibchens‹ aus dem Blickwinkel des ›Männchens‹ beschreibt, so ist das »Weibchen« von Clarice Lispector die Bezeichnung einer schwesterlichen Beziehung zwischen Frau und Schabe, die beide sich in ihren biologischen Funktionen der Mutterschaft gleichen. Beide müssen (irgendwann) sterben. Das »Weibchen« ist hier nicht negativ als eine Reduktion auf die biologische Dimension zu sehen, sondern als eine Erkenntnis der menschlichen Existenz, als Hinweis auf eine Wahrheit. Wenn Clarice Lispector davon spricht, die Schabe werde von der Hüfte ab zerquetscht, so ist daran verwiesen, dass das ›Weibchen‹ eine spezifische Erfahrung hat, eine andere Erfahrung als das ›Männchen‹, über die sie dann aber zu einer universalen Erkenntnis ihrer Existenzbedingungen gelangen kann. Die Schwester Tod bedeutet eine Intimität mit der Wahrheit, so ist am Gedicht Hilda Hilsts deutlich geworden. Clarice Lispector resümiert in einem anderen Roman: A morte é um encontro consigo.27 (Der Tod ist eine 26 | Beauvoir, Simone de: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Hamburg 1951, S. 23. 27 | Lispector, Clarice: A Hora da Estrela. Rio de Janeiro 1995, S. 105.

SCHWESTER TOD

Begegnung mit sich selbst.) Der Tod der Schabe löst in G.H. eine Erkenntnis über die menschliche Existenz aus: Sie wird »entpersönlicht«. Der Tod ist hier als ausschlaggebendes Fatum zu sehen. In der postum veröffentlichten Erzählung Água Viva [Aqua Viva], einem Zwiegespräch, ist der Tod nicht mehr als Fatum, sondern als Personifikation gestaltet: Escrevo-te na hora mesmo em si própria. Desenrolo-me apenas no atual. Falo hoje – não ontem nem amanhã – mas hoje e neste próprio instante perecível. Minha liberdade pequena e enquadrada me une à liberdade do mundo – mas o que é uma janela senão o ar emoldurado por esquadrias? Estou asperamente viva. Vou embora – diz a morte sem acrescentar que me leva consigo. E estremeço em respiração arfante por ter que acompanhá-la. Eu sou a morte. É neste meu ser mesmo que se dá a morte – como te explicar? é uma morte sensual. Como morta ando por entre o capim alto na luz esverdeada das hastes: sou Diana a Caçadora de ouro e só encontro ossadas. Vivo de uma camada subjacente de sentimentos: estou mal e mal viva.28

(Ich schreibe dir in der Stunde selbst. Ich verständige mich nur im Gegenwärtigen. Ich spreche heute – nicht gestern, nicht morgen – sondern heute und in diesem selbigen vergehenden Augenblick. Meine kleine und umrandete Freiheit vereint mich mit der Freiheit der Welt – aber was ist ein Fenster, wenn nicht die durch Rechtecke geformte Luft? Ich bin auf eine raue Weise lebendig. Ich gehe fort – sagt der Tod, ohne hinzufügen, dass er mich mit sich nimmt. Und ich erschauere atemlos, da ich ihn begleiten muss. Ich bin der Tod. Es ist in diesem meinem Sein, das der Tod sich gibt – wie dir erklären? es ist ein sinnlicher Tod. Wie eine Tote gehe ich zwischen den hohen Gräsern in dem grünlichen Licht der Stängel: Ich bin Diana die Goldjägerin und ich finde nur Knochen. Ich lebe von einer verborgen liegenden Schicht der Gefühle: Es geht mir schlecht und ich bin kaum lebendig.)

Tod und Lebendig-Sein sind hier kaum voneinander zu trennen, denn beides sind nur Zustände eines und desselben kreatürlichen Lebens. Daher verschmelzen Frau und Tod miteinander: »Ich bin der Tod«. 28 | Lispector, Clarice: Água Viva. Ficção/São Cristóvão 1973, S. 29f.

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Schlussbetrachtungen: Moderne Mystik?

Schwester Tod – das ist ein Zeichen der Verbundenheit, der Loyalität des fruchtbaren weiblichen Körpers mit seinem Spiegelbild der Vergänglichkeit. Kreatürlichkeit bedeutet hier die Todverfallenheit des Körpers, die am weiblichen Körper in seiner Fruchtbarkeit und seinem tabuisierten sexuellen Begehren und Alterungsprozess besonders ersichtlich wird. Als Allegorie ist der weibliche Körper hier nicht makellose Gestalt, sondern Sinnbild für Vergänglichkeit und Leiblichkeit. Eine moderne Mystik würde hier geradezu bedeuten, die Endlichkeit des (weiblichen) Körpers nicht zu verdrängen, sondern exzessiv auszustellen in ihren Grenzen und zu leben. Denn mit den Grenzen und den Grenz-Erfahrungen stellt sich die Frage nach einer möglichen Meta-Physik. Das ›Weibchen‹ wie das ›Männchen‹ als Figuren der Kreatürlichkeit zu sehen, das wäre die Aufgabe. Die Personifikation des Todes ist als Schwester von Frauen zu sehen, die zur Erkenntnis der eigenen Vergänglichkeit und damit Kreatürlichkeit gelangt sind. Es sind weise Frauen. Agda versucht, der Vergänglichkeit, der Zeit, der Todverfallenheit zu widerstehen; G.H. dagegen begegnet dem Tod nur vermittelt im Tod der Schabe, die jedoch ein Gesicht hat. Mit ihrem Blick auf die menschliche Mörderin vermag sie Intimität zwischen diesen Kreaturen desselben Geschlechts herzustellen. In der »Entpersönlichung«, in der Aufgabe der eigenen Individualität und einem Aufgehen im Kollektiv der Gattung, liegt hier die Erkenntnis. Bei Hilda Hilst dagegen ist die Individualität Agdas gewahrt im Kampf gegen die Zeit, die GROSSE TRÜBE SACHE. Doch sind die Vielzahl der Stimmen und Perspektiven eine Multiplikation der Identität Agdas, die sich auch in der familiären Konstellation als Einzelwesen gewissermaßen auflöst. In diesem Text ist keine Lösung einer »Entpersönlichung« als mystischer Erkenntnisweg geschildert, sondern nur der Tod selbst als Ende des Lebens kann Ende der Widersprüche und Fragen sein – morte, minha irmã. Die Kreatürlichkeit als Existenzbedingung ist jedoch im Werk beider Autorinnen gegenwärtig und poetischer Ausgangspunkt für Figuren, Stimmen oder Prosopopoiie, Personifikationen und Anthropomorphismen.

SCHWESTER TOD

LITERATUR

Beauvoir, Simone de: Das andere Ge-

Lispector, Clarice: Água Viva. Ficção/

schlecht. Sitte und Sexus der Frau.

São Cristóvão 1973.

Hamburg 1951.

Lispector, Clarice: A Hora da Estrela. Rio

Chiappini, Ligia: Pelas ruas da cidade

de Janeiro 1995.

uma mulher precisa andar. Leitura de

Lispector, Clarice: A Paixão Segundo

Clarice Lispector. In: Literatura e Socie-

G.H.. Paris 1988.

dade 1 (1996), S. 60-80.

Lispector, Clarice: A Via Crucis do Corpo.

Hilst, Hilda: Agda. In: Dies.: Kadosh. São

Rio de Janeiro 1974.

Paulo 2001.

Nunes, Benedito: O Drama da Lingua-

Hilst, Hilda: Odes mínimas. Ode XXXII.

gem. Uma leitura de Clarice Lispector.

São Paulo 2001.

São Paulo 1989.

Lima, Susana Moreira de: O Outono da Vida: trajetórias do envelhecimento feminino em narrativas brasileiras contemporâneas. Brasília 2008.

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Abb 1 | Gabriel von Max, Der Anatom, München 1869

Silke Tammen 291

BEGEHRENSWERTE ERKENNTNISSE Weiblichkeit, Schleier und Wahrheit

I. Einleitung

Mein Beitrag will den spannungsreichen Zusammenhang zwischen Frauenkörper, Fleisch und Schleier, zwischen Allegorie und Textil exemplarisch beleuchten. Im Zentrum meiner Überlegungen steht dabei ein Gemälde – Der Anatom – des Malers Gabriel von Max1 , das auf den ersten Blick kaum unter Allegorie-Verdacht gerät und seinen Kritikern morbide, peinlich und patriarchalisch erschien.2 (Abb. 1) Vordergründig handelt es von Körpern – einem lebendigen und einem toten Körper – und von einem Geschlechterverhältnis, wie Elisabeth Bronfen herausgearbeitet 1 | Der Anatom (1869), München, Neue Pinakothek, Öl auf Leinwand, 136,5 x 189,5 cm. Althaus, Karin; Friedel, Helmut (Hg.): Gabriel von Max. Malerstar, Darwinist, Spiritist. Kat. Ausst. Lenbachhaus München 2010-2011. München 2010. 2 | Kritik an der schönen Leiche in satirischer Form bei Bates, Will O.: The Poet-Painter of Munich. In: Potter’s American Monthly 19 (1882), S. 128, 150ff, hier S. 158: »›Terrible affair at the Art Union this morning‹, says a Munich student to his fellow. ›Why, what’s the matter?‹ ›Oh, Max has murdered another girl.‹« Pauschale Kritik am Anatomiebild bei Eberlein, K.K.: Anatomie. In: Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte, Bd. 1. Stuttgart 1937, Sp. 670-681, hier Sp. 675: »Später hat die Karikatur das Thema der A. zu grauenhafter Ironie benutzt (Hogarth), und wenn es ernsthaft gemalt wurde, wie von G. Max (Der Anatom), von Haman (Die Anatomie) oder im neueren Arbeitsbildnis, wirkt es mehr als peinlich.« Kritik als misogyn bei Barbara Eschenburg im Ausst.-Kat. Der Kampf der Geschlechter. Der neue Mythos in der Kunst 1850-1930. Kat. Ausst. Lenbachhaus München 1995. Köln 1995, S. 44: »Der ganze Kosmos der christlichen Sünde wird in dieser nächtlichen Szene heraufbeschworen. Sinnenfeindlichkeit und überhitzte erotische Phantasie als seine Hauptbestandteile wurden ja die Merkmale der seelischen Grundstimmung innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts.«

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hat: Das in den Künsten des 18. und 19. Jahrhunderts beliebte Motiv der schönen weiblichen Leiche sei als »Symptom« einer patriarchalischen Kultur zu verstehen. Die Figur der schönen Toten helfe, »das Wissen um die Realität des Todes zu verdrängen« und dieses als »Symptom« zugleich zur Anschauung zu bringen. Sie »kann ›Ordnung schaffen‹«, aber auch Spielraum geben, »sich ganz der Faszination des Beunruhigenden hin[zu] geben«.3 Zwar wird von Max’ Anatom mit dieser ordnungsbedrohenden Weiblichkeit konfrontiert – die Tote erscheint noch verführerisch, und ihr Tod muss das Resultat eines unordentlichen Schicksals sein – sonst läge sie wohl anständig aufgebahrt im Hause ihrer Familie. Der lebendige männliche Geist des Wissenschaftlers an ihrer Seite wird aber über die tote weibliche Materie triumphieren, aus ihr Wissen extrahieren, dieses in einem nächsten Schritt in Schriftlichkeit überführen und damit eine Exkarnation vollziehen, die die männliche Wissensordnung über den Tod des und der Einzelnen hinaus perpetuiert. Dieser Akt müsse nach Bronfen ästhetisiert werden, in einer Weise gezeigt werden, dass der Betrachter sich mit dem kontemplativ inszenierten Anatomen ganz der erwähnten »Faszination des Beunruhigenden« hingeben könne. Dieser kulturwissenschaftlichen Bildinterpretation, die Anklänge an Walter Benjamins Überlegungen zur Leiche als Emblem und Schwellenfigur zwischen Körperlichkeit und Allegorisierung aufweist4 , wird man sich anschließen können, und doch glaube ich, dass über das Gemälde damit noch nicht alles ausgesagt ist. Im Folgenden möchte ich daher zwei vergleichsweise stärker als kunstwissenschaftlich anzusprechende Ansätze verfolgen. Ich frage zum einen nach den Ikonografien der allegorischen Figuren Veritas und Natura, die die Gestaltung der schönen L eiche 3 | Bronfen, Elisabeth: Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik. München 1994, S. 9-10; die Ausführungen zu Der Anatom auf S. 13-27. Zum Verhältnis von Buch und Körper vgl. auch Lembke, Sven: Wie der menschliche Leichnam zu einem Buch der Natur ohne Druckfehler wird. Über den epistemologischen Wert anatomischer Sektionen im Zeitalter Vesals. In: Schirrmeister, Albert; Pozsgai, Mathias (Hg.): Zergliederungen – Anatomie und Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit (Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit 9). Frankfurt a.M. 2005, S. 19-49. 4 | Benjamin, Walter: Ursprung des deutschen Trauerspiels. Frankfurt a.M. 1963. Die Leiche ist für das Trauerspiel des 17. Jahrhunderts das »oberste emblematische Requisit schlechthin« (S. 247). »(...) die Allegorisierung der [menschlichen] Physis kann nur an der Leiche sich energisch durchsetzen. Und die Personen des Trauerspiels sterben, weil sie nur so, als Leichen, in die allegorische Heimat eingehen. Nicht um der Unsterblichkeit willen, um der Leiche willen, gehn sie zugrunde.« (S. 246).

BEGEHRENSWERTE ERKENNTNISSE

beeinflusst haben mögen; zum anderen beleuchte ich die (produktions-) ästhetische Dimension des Gemäldes, in der das Leichentuch der Toten und sein Farbauftrag bedeutsam werden. Beide Ebenen der Betrachtung sind über das Motiv eines verhüllenden und zugleich enthüllenden (Schleier-)Tuchs verknüpft. II. Gabriel von Max – Maler, Naturforscher und Spiritist

Nachdem Gabriel von Max Historienmalerei von 1855 bis 1858 an der Prager Kunstakademie studiert hatte, übersiedelte er 1863 nach München und blieb vier Jahre in der Schule des Historienmalers Karl Theodor von Piloty. Seine Karriere begann mit der Märtyrerin am Kreuz, die 1867 auf der Pariser Weltausstellung zu sehen war. Mit dem zwei Jahre später, im Jahre seines Auszugs aus dem Atelier Pilotys und der Gründung eines eigenen Ateliers entstandenen großformatigen Gemälde Der Anatom emanzipiert sich Gabriel von Max von seinem Lehrer Piloty in programmatischer Weise. Karin Althaus und Susanne Böller haben darauf hingewiesen, dass sich Gabriel von Max an Pilotys Gemälde Seni vor der Leiche Wallensteins (1855) zwar angelehnt habe, insofern ein dunkel gekleideter melancholischer Betrachter mit knochig-hoher Denkerstirn eine Leiche betrachtet, aber Gabriel von Max’ Malweise eine dezidiert andere sei als die seines Lehrers: Er »verschleiert [...] abgesehen von Gesicht und Brust des Mädchens, das gesamte Geschehen durch ein leichtes Sfumato.«5 Diese Weichzeichnung wird Gabriel von Max’, der von 1879 bis 1883 Professor für Historienmalerei an der Münchner Akademie war, Markenzeichen: Sein Erfolg gründete in Bildern totenbleicher, meist träumerischer oder visionärer Frauen und dem Einsatz verhüllender, mal transparenter, mal opaker Stoffe, deren reduzierte Farbigkeit bis hin zur ›Weißmalerei‹ reichen kann.6 Nicht nur das geisterhafte Gemälde Die weiße Frau (um 1900) steht exemplarisch für dieses Interesse an Weiblichkeit und Stofflichkeit, sondern das ungleich berühmtere Werk Die ekstatische Jungfrau Katharina Emmerich (1885), das die 1824 gestorbene Stigmatisierte, die durch Schriften des zum Katholizismus bekehrten Dichters Clemens 5 | Althaus, Karin; Böller, Susanne: Die Tote als Bild. In: Kat. Ausst. Gabriel von Max, S. 93-96, hier S. 93. 6 | Zu unterschiedlichen Kolorit-Strategien bei Gabriel von Max vgl. Böller, Susanne: Totenblässe und Pfauenaugen – koloristische Herausforderungen. In: Kat. Ausst. Gabriel von Max, S. 154-164.

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von Brentano berühmt wurde, im Krankenbett bei der visionären Betrachtung eines auf ihrem Schoß liegenden Kruzifixus zeigt: ein dem Blick unter festen Verbänden verborgenes, weniger von Gott als durch »intensive menschliche Meditation«7 bewirktes Wunder. Nach Harald Siebenmorgen ging es Gabriel von Max hier »um den empirischen, naturwissenschaftlich abgesicherten Nachweis des Übersinnlichen und Transzendenten und nicht um eine irrationalistische, metaphysische Gegenwelt zur empirischen Wirklichkeit«.8 Von Max will sich schon während seiner Studienzeit in Prag mit Okkultismus beschäftigt haben. Diese ›spiritistische‹ Seite seiner Persönlichkeit intensivierte sich aber erst Ende der 1870er Jahre, als er den Münchener Psychologen und Philosophen Carl du Prel kennenlernte und an spiritistischen Sitzungen teilnahm.9 Offenbar versuchte von Max, in einem artistischen Spagat Metaphysik und Naturwissenschaft zu meistern, für die er früh Interessen entwickelte. Schon zu Jugendzeiten begann er den Aufbau einer Sammlung, »die selbstgefundene Fossilien, geologische Proben, Tierknochen und Ähnliches enthielt«. Von einer »wissenschaftlichen Sammlung«, in die u.a. auch Publikationen von Darwin, Virchow und Haeckel eingingen und die prähistorische, ethnographische und anthropologische Funde enthielt, sprechen Karin Althaus und Susanne Böller ab 1867, die sich »programmatisch auf die Frage nach dem Ursprung des Menschen« konzentrierte.10 Ab den 1870er Jahren hielt sich Gabriel von Max Affen und porträtierte sie häufig. Vor dem Hintergrund dieser vielfältigen Interessen, ja Identitäten, liegt es nahe zu vermuten, der Künstler-Wissenschaftler habe sich selbst in der melancholischen Maske des Anatoms porträtiert, dessen erbarmungslose Tätigkeit des Aufschneidens und Zerstückelns, der Lektüre des Körperinneren im Grunde ja nur über den Titel des Bildes Der Anatom aufgerufen ist. Und in der Tat: Rückblickend identifizierte sich Gabriel von Max in einem Briefentwurf an ein »Fräulein Ruge« am 9. Februar 1896 (gemeint ist die Schriftstellerin Clara Ottilie Ruge) mit dem gemalten 7 | Fronhöfer, Andrea: Die ekstatische Jungfrau [Anna] Katharina Emmerich. In: Kat. Ausst. Gabriel von Max, S. 196-201, hier S. 201. 8 | Siebenmorgen, Harald: Gabriel von Max und die Moderne. In: Beuckers, Klaus Gereon; Jaeggi, Annemarie (Hg.): Festschrift für Johannes Langner. Münster 1997, S. 215-240, hier S. 220. 9 | Ebd., S. 30. 10 | Althaus, Karin; Böller, Susanne: Gabriel von Max 1840-1915. In: Kat. Ausst. Gabriel von Max, S. 18-37, hier S. 23.

BEGEHRENSWERTE ERKENNTNISSE

Anatom, als er seine Haltung zur Naturwissenschaft und dem Spiritismus Revue passieren ließ: »Mann steht in der Mitte dieser zwei Arme. (....) Hiermit sehen Sie wie es in Einklang zu bringen ist, daß ich Affen, Affenmenschen, Geistesgruß, Phantome, Visionen, Christusse etc. gemalt habe. Hiermit haben Sie den Hausschlüssel zur Lebensgeschichte meines Kadavers. [...] Einen Ruhepunkt zwischen Hier und Drüben bildet der Anatom an einer Mädchenleiche – es denkt in ihm. Aber Philosophie kann man nicht machen, nur andeuten, es kommt eben auf den Beschauer an, [...]«.11

Der Einsicht von Max’ folgend, dass es »auf den Beschauer ankommt«, will ich in meinem Beitrag nach der von Max bildlich »angedeuteten Philosophie« fragen, und dabei ein wenig weitergehen, als es das Wissen um von Max’ Biografie und Selbstaussagen nahelegt. III. Der Anatom I: zwischen Kontemplation und Sektion

Der Anatom, dessen Schädelumriss sfumatoartig in den dunklen Hintergrund übergeht, sitzt dicht neben der auf schmalen Brettern aufgebahrten jungen Frau. Sein Auge mit gesenktem Lid liegt tief und verschattet im Schädel. Man könnte meinen, er hielte Totenwache, das Haupt in der Pose des Denkers und Melancholikers aufgestützt, wäre da nicht dieser zögerliche und zugleich indezente Gestus der Enthüllung, der über der entblößten bleichen Brustwarze der Leiche verharrt. Der undeutsame Blick des Anatomen und der tote Blick der Frau treffen sich nicht. Die Situation hat etwas Traumhaftes und zugleich Emblematisches in der Reduktion der symbolhaft wirkenden Bildgegenstände an sich, eine nature morte mit dem vanitas-stillebenhaft arrangierten Studiertisch12 , auf dem sich naturwissenschaftliche Paraphernalia befinden: links ein Menschenschädel auf einem Buch, daneben, das Gesicht bildeinwärts gewandt, ein Primatenschädel mit seinen tiefen blicklosen Augenhöhlen. Die Schädel, die sich so oder ähnlich in von Max Sammlung befanden, zeigen an, dass es Aufgabe des Forschers ist, auf diesen knöchernen Grund der Dinge mit Auge, Hand und Verstand vorzudringen. Der bildlich auf Dauer gestellte Moment der Unterbrechung im Griff des Anatomen ist 11 | Der Fragment gebliebene Brief an Fräulein Ruge wird in Kat. Ausst. Gabriel von Max, S. 241-242, hier S. 241 zitiert. 12 | Bronfen 1994, S. 17.

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insbesondere taktil aufgeladen. Mit ihm, der die leuchtende Haut der Leiche noch nicht berührt, ist der Betrachter zwischen Berühren und Blicken, Haut und Textil gefangen. Die Schriften auf dem Tisch machen deutlich, dass das Aufschlagen von Seiten Wissen vermittelt – verspricht das Zurückschlagen des Tuchs ein Ähnliches? Bücher und beschriftete Blätter bezeichnen mit Elisabeth Bronfen die Seite des Wissens, der Exkarnation, der die bald zu öffnende Leiche der Frau zugeführt werden wird.13 Dieser Körper steht unmerklich auf der Schwelle zum Verfall, wovon das leicht wächsern anmutende Inkarnat mit den bräunlich verfärbten Lidern und Lippen zeugt. Demgegen hebt sich die leuchtende Marmorblässe des Dekolletés ab, die hier, aber auch nur hier, dem Körper die Anmutung einer Skulptur verleiht, während der unter dem Leichentuch sichtbare restliche Körper wiederum fleischfarben schimmert. Nicht nur diese ambivalente Behandlung der drei Körperzonen, sondern auch die merkwürdige Perspektive in dem in seiner Räumlichkeit nicht zu erfassenden Interieur irritiert: die Frau ist nicht streng horizontal zum unteren Rahmen parallel gelegt, sondern ein wenig schräg nach außen gekippt. Und woher kommt das Licht, das ein kleines pikantes Glanzlicht auf dem Ehering des Mannes und eine weiß leuchtende Zone auf der Stirn der Toten hinterlässt? Nimmt man an, dass die Sektion einer weiblichen Leiche mit einer besonderen Scham- und Anstandsproblematik behaftet sein müsste, dann erscheint auch die intime Räumlichkeit eines Studierzimmmers anstelle des erwartbaren Seziersaales, das Fehlen von Zeugen, wie man sie auf dem Sektionsgemälde Die schöne Frankfurterin von Johann Hasselhorst (1864) sieht (Abb. 2), unangemessen intim. Unwillkürlich fragt sich der Betrachter nicht nur nach dem Ereignis, das Anatomen und Leiche zusammenführte, sondern nach dem, was auf die kontemplative Starre des Mannes folgen wird: Wird ein Schnitt den Körper und damit die secreta mulieris öffnen? Die kurze Deutung Barbara Eschenburgs legt nahe, dass diese den verborgenen Kern bilden, über dem der melancholische Anatom schon wissend und »wie Hamlet über die Grenzen von Leben und Tod und über die Sünde meditiert«.14 »Spielte doch die vergleichende Anatomie neben der Gynäkologie eine Hauptrolle bei der Erarbeitung einer weiblichen Sonderanthropologie, mit der sich die Wissenschaft seit dem späten 18. Jahrhundert 13 | Bronfen 1994, S. 18-19. 14 | Eschenburg 1995, S. 44.

BEGEHRENSWERTE ERKENNTNISSE

Abb 2 | Johann Hasselhorst, Die schöne Frankfurterin, Frankfurt 1864

intensiv beschäftigte. Von der Medizin über die Anthropologie bis zur Psychologie übernahm sie nun die Aufgabe, die vorher bei der Moraltheologie angesiedelt war, nämlich den Beweis zu erbringen, dass die Frau eine dem Manne nachgeordnete Stellung innerhalb der Hierarchie der Natur einnähme und einzunehmen habe. Belege wurden durch Untersuchung der Lage der Geschlechtsorgane, der Unterschiedlichkeit des Gewebes sowie vor allem durch Messen und Wiegen des Gehirns erarbeitet und erbrachten eindeutig, dass die Frau für den Herd geschaffen sei, weniger Intelligenz besäße, dafür aber umso mehr Herz wegen der Brutpflege und [...] auch mehr Sexualität, eine Eigenschaft, die vor allem die Psychologen fanden.«15 In dieser Leseweise thematisiert das Gemälde das »Rätsel Weib«, das sich sowohl den Wissenschaftlern als auch den Künstlern, »die hier gerne anschließen«16, als unlösbar und erotisch bedrohlich präsentiert. Der von Eschenburg postulierte nahtlose und willige »Anschluss« der Kunst an die Naturwissenschaften konnte aber 15 | a.a.O. 16 | a.a.O.

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auch die Gestalt eines Konflikts bzw. Paragones annehmen. Nach Florian Britsch sei nämlich der alte Zusammenhang von medizinischem Wissen und Kunstproduktion seit dem späten 18. Jahrhundert unter einen neuen Druck geraten. »Zusehends begann die Medizin ihre Deutungsmacht auch auf die Ästhetik, insbesondere auf die Darstellung des weiblichen Körpers auszudehnen.«17 Diese These erarbeitet Britsch anhand des Gemäldes Die Schöne Frankfurterin: »Wenn die Überlieferung stimmt, dann betrat der Frankfurter Anthropologe und Anatomieprofessor Johann Christian Gustav Lucae die Antikensammlung des Städelschen Kunstinstituts eines Tages im Jahr 1863 just in dem Augenblick, als der Bildhauer Eduard Schmidt von der Launitz ›Beckenmessungen‹ an Abgüssen antiker Statuen vornahm und dabei behauptete, die Venus von Milo habe ein schiefes Becken.«18 Lucae traute grundsätzlich aber Künstlern nicht zu, von der Körperoberfläche aus auf die Knochenlage zu schließen und ging der Sache also selber und in sensationalistischer Weise ›auf den Grund‹, indem er eine Sektion an einer 18jährigen Frankfurterin durchführte, die sich im Main ertränkt hatte und idealtypische Maße aufwies. Die Sektion geschah im Präparatorium des Senckenbergischen Instituts unter Anwesenheit diverser Maler und Bildhauer. »Diese waren von der gelungenen anatomischen Rehabilitierung des antiken Körperideals offenbar einhellig begeistert. Der künstlerische Ertrag der Lehrsektion bestand in einer Reihe von Gipsabgüssen, dem von Lucae gemeinsam mit Hermann Junker herausgegebenen Tafelwerk Zur Anatomie der schönen weiblichen Form, 6 Tafeln nach geometrischen Aufrissen für Künstler und Anatomen (1864) sowie einem in zwei identischen Fassungen angefertigten Ölgemälde von Johann Heinrich Hasselhorst, Zeichenlehrer am Städelschen Kunstinstitut, welches das Ereignis selbst dokumentieren sollte«.19 Gabriel von Max, der im übrigen als Schüler an 17 | Britsch, Florian: Von der anatomischen Sektion zum abstrakten Bildkörper. Paul Klees Anatomie der Aphrodite im Kontext. In: Ehrlicher, Hanno; Siebenpfeiffer, Hania (Hg.): Gewalt und Geschlecht. Bilder, Literatur und Diskurse im 20. Jahrhundert. Köln 2002, S. 61-83, hier S. 63. Vgl. auch Mann, Gunter: J. Ch. G. Lucae und die Senckenbergische Anatomie. Eine Ikonographie. Frankfurt a.M. 1963; Mendelssohn, Gabriele: Johann Heinrich Hasselhorst, 1825-1904: Ein Beitrag zur Frankfurter Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. 1989, S. 223, S. 460-461. 18 | Britsch 2002, S. 62 19 | a.a.O.

BEGEHRENSWERTE ERKENNTNISSE

der Münchener Akademie Anatomieunterricht nahm und Leichen in Anatomiesaal und Pathologie skizzierte20, könnte Hasselhorsts Gemälde als auch Lucaes erfolgreiches Tafelwerk gekannt haben und sich von jenem inspirieren lassen. Auffällig ist in beiden Gemälden, wie ein sinnend innehaltender Anatom jeweils auf den Kopf bzw. Oberkörper der Toten bezogen ist und sich so der Mediziner für einen Moment zum Philosophen zu wandeln scheint. Ansonsten sind die beiden Gemälde kaum miteinander vergleichbar. Insgesamt erscheint Hasselhorsts Entwurf der Sektion gegenwärtiger: Es gibt – wie eigentlich üblich in der Tradition der Sektionsikonographie – Zuschauer.21 Ein ebenfalls typischer Sektionsgehilfe, der Prosektor (hier Assistenz-Chirurg Sälzer) ist mit dem Körpermaterial beschäftigt und lüftet den Schleier der Gewebeschichten der bis über die Hüften hinaus enthüllten Toten, während Lucae ganz Auge sein kann und momentan wie entrückt sich der Schönheit des weiblichen Antlitzes hinzugeben scheint. Auffällig ist die Parallele zwischen dem angehobenen Hautlappen und dem dreieckigen Lichtkegel der Lampe, in dem sich der blaue Dunst des Rauchers auf der linken Seite schlierig sammelt.22 Nicht das Gewebe der Toten, sondern dieser ätherische Dunstschleier, ein Produkt moderner, kontemplativer Männlichkeit, erscheint als das ‚Medium’ des Sehens und Denkens Professor Lucaes, der im Reich der Ideen und inneren Anschauungen zu verweilen scheint. Ein Gemälde inszeniert einen Paragone zwischen Medizin und Bildhauerei und feiert seinen Sieger: den Anatomieprofessor. Zugleich legt es eine sonst verborgene Dichotomie bloß, die nicht die Wissenschaft, wohl aber die Kunst betrifft – die Schöpfung schöner Oberflächen ist nur um den Preis eines Wissens um das potenziell bedrohlich wirkende ›formlose‹ Körperinnere zu haben.23 Sicher finden sich die von Eschenburg und Britsch angesprochenen Themen der Erotik, Misogynie und eines Paragones zwischen Medizin und Kunst auch im Anatom von Gabriel von Max. Doch erscheint seine 20 | Althaus/Böller 2010 (wie Anm. 5), S. 95. 21 | Wolf-Heidegger, Gerhard; Cetto, Anna Maria: Die anatomische Sektion in bildlichen Darstellungen. Basel 1967. 22 | Auch Britsch 2002, S. 63 hat diese Korrespondenz bemerkt und sie »im Sinne der Lichtmetaphorik der Aufklärung« interpretiert. 23 | »Die Szene der Operation wird so zu einer verschobenen Darstellung des künstlerischen Akts; der dramatisch inszenierte Blick unter die Haut der Frau ist zugleich eine Einblicknahme ins ›Innenleben‹ des klassischen Bildwerks.« Britsch 2002, S. 64.

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Auseinandersetzung mit dem Thema der schönen weiblichen Leiche anders motiviert als bei Hasselhorst: Vor den bei von Max nur imaginierbaren Schnitt in die Haut24 legt sich der Anblick eines diesen Körper weitgehend verhüllenden Tuchs, das einen Status zwischen Realie (Leichentuch) und dramatischem Requisit der Dialektik von Geheimnis und aufgedeckter Wahrheit beansprucht. Wie schon angedeutet entspricht das Schleiertuch in seiner Feinheit und Semitransparenz nicht der Erwartung an ein nüchternes Laken, das nur den Zweck zu erfüllen hätte, die Leiche aus Gründen der Pietät bis zum Moment der Sektion dem Blick zu entziehen. Das mal pudrig, mal kühlvenös erscheinende Farbspiel auf seiner faltigen Oberfläche lässt es im Verein mit der unklaren Lichtquelle eigentümlich belebt erscheinen. Es weist, nur in transluzideren Farblagen, die in etwa gleiche Farbskala auf wie die opake Haut der Toten: Sandtöne, ins Gelbliche spielendes Elfenbein, bräunliche und blau-grau-pastellige Töne. Das Schleiertuch scheint eine ungleichmäßige Dichte zu besitzen, was wohl hauptsächlich mit der Beleuchtung zusammenhängen mag, aber auch den Effekt einer zum Oberkörper der Toten hin gesteigerten ›Stofflichkeit‹ des Körpers mit sich bringt: Während das Tuch an den Füßen der Frau sogar deren Zehen durchschimmern lässt, kann man die Hand der Toten nur noch ahnen, im Bereich des Brustkorbs gewinnt es durch die doppelte Lage an Opazität, erhält eine kreidigere Tönung, die zu der hellen entblößten Brust passt. Der von der Bahre zum Bildrand herabhängende Rest des Tuchs erscheint von noch höherer Dichte. 24 | Der Anatom inspirierte 1890 den spanischen Maler Enrique Simonet y Lombardo zu einem nur als ironisch zu verstehenden Ölgemälde mit dem Titel ¡Y tenía corazón! (Anatomía del corazón), in dem ein Mediziner das ausführt, was bei Gabriel von Max der Imagination überlassen bleibt: Er hat dem schönen weiblichen Leichnam, dessen linker Thoraxbereich durch ein blutbeflecktes Tuch verdeckt ist, das Herz entnommen und betrachtet das in seiner Hand liegende Organ sinnend. (177 x 291cm, Museo de Málaga) Der amerikanische Anatom John Wilkes Brodnax, dem Der Anatom durch Reproduktionen bekannt gewesen sein muss, schlüpft umgekehrt in zwei Zeichnungen mit den Titeln Only a Dream und The Anatomist aus den 1920er Jahren in die Rolle von Gabriel von Max’ nachdenklichem Anatomen, der den Schnitt nicht vollzieht. Abb. von Brodnax bei Jordanova, Ludmilla: Sexual Visions. Images of Gender in Science and Medicine between the 18th and 20th Centuries. Madison 1989, S. 101-103. Ein breiter Überblick zu Sektionsbildern mit weiblicher Leiche bei Ferrer Alvarez, Mireia: The Dramatization of Death in the Second Half of the 19th Century. The Paris Morgue and Anatomy Painting. In: Petö, Andrea; Schrijvers, Klaartje (Hg.): Faces of Death: Visualizing History. Pisa 2009, S. 163-187.

BEGEHRENSWERTE ERKENNTNISSE

Der zarte Nachtfalter, der rechts auf der vorderen Kante der Bahre sitzt, teilt die Pudrigkeit seiner bräunlich-grauen Flügel mit dem pudrigen Farbauftrag beim Schleiertuch. Seine Fragilität steht im Kontrast zu den anderen entweder knöchernen oder schweren Objekten und Menschen im Raum. Er scheint zum Schleier zu gehören, wie der Anatom auf der anderen Seite der Leiche zu den Büchern und Schädeln. Beide verharren in konzentrierter Ruhe ausgerichtet auf Oberkörper und Kopf der Toten. Er versinnbildlicht die offenbar vor noch nicht allzulanger Zeit ausgehauchte Seele der Frau und wirkt insofern so, als wäre er aus der ›Puppe‹ des umhüllten toten Körpers herausgeschlüpft. Die aufgeschlagenen bräunlichen Bücherseiten des linken oberen Bildviertels lassen sich mit den Flügeln des Falters vergleichen. Der Falter mit entpuppter Seele auf der einen, Bücher und Schädel als entpupptes Wissen auf der anderen Seite – es sind Zeichen jener eigentümlichen Mischung aus Naturwissenschaftlichkeit und Spiritualität, die Gabriel von Max prägte.25 Zwar ist der Betrachter kraft des Bildtitels dazu eingeladen, in seiner Vorstellung die weitere Entschleierung der Leiche und die Öffnung ihres Gewebes fortzusetzen, aber all dies bleibt suggestiv verhüllt. Die Unterbrechung der Handlung schafft den »fruchtbaren Augenblick« (Lessing), in dem Vorgängigkeit und Zukunft der bildlichen Narration imaginiert werden können. Der Betrachter wird kraft des umhüllenden Textils zu einem tieferdringenden Blick, zu einer Bildlektüre Schicht um Schicht eingeladen. Befragt der erstarrte Anatom sich und die Leiche, so ist der Betrachter aufgefordert, auch das Bild selbst zu befragen. In einem ersten Schritt soll daher nach den Traditionen gefragt werden, in denen von Max’ Inszenierung der ver-/enthüllten Leiche steht und von denen er sich zugleich abhebt. 25 | Bronfen 1994, S. 20-25 lässt der Figur des Nachtfalters eine wesentlich kompliziertere Interpretation angedeihen: Durch ihn komme eine »Art von Unbestimmtheit« (S. 20) ins Spiel, die die als Verhältnis von »Schreiben und Auslöschung« zu deutende Trias von Text, Schädel und Leichnam erschüttere (S. 20). Zugleich ist er »Allegorie des Todes« (S. 25) bzw. in seiner sich bilddiagonal erstreckenden Beziehung zum Schädel auf dem Studiertisch Teil einer »Achse [...] die wir als ›allegorische‹ bezeichnen wollen« (S. 20). In einer grundsätzlicheren Wendung, in der die schwierigen Zeichen- und Bedeutungsbeziehungen in Der Anatom gemeint sind, heißt es: »Durch den Nachtfalter wird freilich ein weiterer rhetorischer Modus eingeführt, nämlich der allegorische« (S. 20).

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Abb 3 | Jacopo Berengario da Carpi, Isagoge brevis, Bologna: Benedikt Hector 1522

IV. Enthüllungen I: der weibliche Leichnam in Anatomiedarstellungen26

Rahmend drapierte oder dramatisch zurückgeschlagene Verhüllungen waren lange unverzichtbare Requisiten in Anatomie- und Sektionsdarstellungen: In Jacopo Berengario da Carpis anatomischem Werk Isagoge brevis (Bologna 1522) hält eine Nackte mit geöffneter Bauchhöhle mit einer Hand ein sich hinter ihr dramatisch aufblähendes Schleiersegel, tritt dabei keck auf Bücher und behauptet damit triumphierend die Evidenz ihres sezierten und ihres auf einem links neben ihr platzierten 26 | In den vergangenen Jahren wurden die sich wandelnden Inszenierungsstrategien von Bildern in naturwissenschaftlichen Diensten zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert intensiv untersucht. Dabei wurde auch der tote, geöffnete Frauenleib als besonderer Darstellungsanlass erkannt, in dem sich Begehren, Scham, Neugier, Erotisierungs- und zunehmend auch Objektifizierungsstrategien überkreuzen. Rosoff Encarnación, Karen: The Proper Uses of Desire. Sex & Procreation in Reformation Anatomical Fugitive Sheets. In: Dies.; McClanan, Anne L. (Hg.): The Material Culture of Sex, Procreation and Marriage in Premodern Europe. New York 2002, S. 221-249; Simons, Patricia: Anatomical Secrets. Pudenda and the Pudica Gesture. In: Engel, Gisela (Hg.): Das Geheimnis am Beginn der europäischen Moderne. Frankfurt a.M. 2002, S. 302-327; Jordanova, Ludmilla: Gender, Generation, and Science: William Hunter’s Obstetrical Atlas. In: Bynum, W.F.; Porter, Roy (Hg.): William Hunter and the 18th-Century Medical World. Cambridge 1985, S. 385-412; Massey, Lyle: Pregnancy and Pathology: Picturing Childbirth in 18th-Century Obstetric Atlases. In: The Art Bulletin 87 (2005), S. 7391; Schiebinger, Londa: Skeletons in the Closet: the First Illustrations of the Female Skeleton in 18th-Century Anatomy. In: Representations 14 (1986), S. 42-82.

BEGEHRENSWERTE ERKENNTNISSE

Podest abgelegten Uterus (Abb. 3).27 In Charles Estiennes De Dissectione Partium Corporis Humani (Paris 1545) räkelt sich eine Nackte mit geöffnetem Torso auf einer mit üppigen Draperien ausgestatteten Bettstatt. Der eindringende Blick ist hier eindeutig erotisch inszeniert (Abb. 4).28 Die farbig gefasste Terrakotta-Skulptur einer Schwangeren, die 17731776 von Giovan-Battista Manfredini als anatomische Schaufigur für den Anatomen und Geburtskundler Francesco Febbrari in Modena geschaffen wurde29, trägt über einer Schulter ein blaugraues Tuch locker drapiert und hält mit zarter Geste zwei von vier Hautlappen zur Seite, die den hervorquellenden schwangeren Uterus rahmen (Abb. 5). Die Hautlappen sind symmetrisch geschnitten, hellrosa und zeigen sehr regelmäßige Säume in einem ockerfarbenen Grundton, auf den ein inneres rostrotes Band gelegt ist. Der Effekt wirkt irritierend ›textil‹. Die Textilien verweisen in den hier exemplarisch gezeigten Bildern, deren Grad an wissenschaftlicher Evidenzbehauptung unterschiedlich stark ausgeprägt erscheint, auf das ebenso wissenschaftlich wie sinnlich motivierte Begehren des Sehens und rufen die Metaphorik von Organen und Haut als Gewebe auf.30 Sie wirken wie eine zweite, schon teilweise abgestreifte Haut. Ohne dem systematisch nachgegangen zu sein, ist mein Eindruck, dass 27 | Der Holzschnitt ist Teil einer interessanten Bildsequenz: Das dem hier abgebildeten vorausgehende Bild zeigt eine Frauenfigur, in deren Leib man die Lage des Uterus sehen kann und die wie eine sich verlebendigende Skulptur schwungvoll, mit weit gespreizten Beinen von ihrem Podest herabsteigt. Dabei hält sie ein großes Tuch zeltartig über ihrem Kopf empor. Diese Armhaltung wird im zweiten Bild beibehalten, das Tuch wirkt aber stärker bewegt. Den Platz der Frau auf dem Podest hat ihr Uterus eingenommen. Ein drittes Bild zeigt den Uterus selbst in zwei Ansichten. Hierzu Laqueur, Thomas: Making Sex. Body and Gender from the Greeks to Freud. Cambridge, Mass./London 1990, S. 78-80 und Sawday, Jonathan: The Body Emplazoned. Dissection and the Human Body in Renaissance Culture. London 1996, S. 214-215. 28 | Erscheint in Paris 1546 übersetzt als La dissection des parties du corps humain. Estienne war Abkömmling einer angesehenen Druckerfamilie und Hofanatom Franz’ I.. Die Kupferstiche basieren auf Perino del Vagas erotischer Serie von Götterlieben. Vgl. Kellett, C.E.: Perino del Vaga et les illustrations pour l’anatomie d’Estienne. In: Aesculape 37 (1955), S.74-89. 29 | 85x55x45cm. Università di Modena e Reggio Emilia, Museo di Storia naturale e della strumentazione scientifica. 30 | Vgl. Keller, Hildegard E.: Fleischmäntel. Textile Analogien in der mittelalterlichen Theologie und der frühneuzeitlichen Medizin. In: Böse, Kristin; Tammen, Silke (Hg.): Beziehungsreiche Gewebe. Textilien im Mittelalter. Frankfurt a.M. 2013, S. 185-199.

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Abb 4 | Charles Estienne, De Dissectione Partium Corporis Humani, Paris: S. de Colines 1545

Abb 5 | Giovan-Battista Manfredini, Terrakotta-Skulptur einer Schwangeren, Modena 1773-1776

die hauptsächlich31 bei der Inszenierung weiblicher Anatomie zum Einsatz gebrachten Draperien und Schleiertücher im Laufe des 18. Jahrhunderts seltener werden: die Bildtafeln im gynäkologischen Atlas William Hunters von 1774 etwa verzichten ganz auf textiles Beiwerk und stellen stattdessen einen weiblichen Torso mit gespreizten und sichtbar abgetrennten Beinstümpfen in nüchterner Brutalität aus.32 Ebenso wie die paradox lebendigen Leichen verschwinden die Tücher, die ihren zwiefachen Ursprung im Leichentuch und der Bildrhetorik des »bewegten Beiwerks« (Aby Warburg) haben, seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert aus Anatomiebildern. Allerdings treffen wir sie sehr wohl in ihrer alten Symbiose mit der Allegorie an. 31 | Seltener scheinen übrigens Gesichtsschleier dargestellt worden zu sein, wie man ihn in Michiel und Pieter van der Mierewelds Anatomiestunde des Dr. Willem van der Meer zu Delft (1617, heute Delft, Stedelijk Museum Het Prinsenhof) sieht. Durch die Ausblendung der Augenpartie wird der männlichen Leiche Individualität genommen, treten anstelle ihrer toten Augen umso stärker die wissbegierigen, neugierigen, hochmütigen und verschwörerischen Blicke der umstehenden Männer hervor. 32 | Daston, Lorraine; Galison, Peter: The Image of Objectivity. In: Representations 40 (1992), S. 81-128; Massey 2005, S. 73-91.

BEGEHRENSWERTE ERKENNTNISSE

V. Enthüllungen II: Natura

Vor der oben exemplarisch angerissenen Tradition des Textils im anatomischen Kontext erscheint das in seiner zwischen Opazität und Transparenz changierende, wohl besser als Schleier zu bezeichnende Tuch, das in Der Anatom suggestiv zur unteren Bildgrenze reicht, als ein Zeichen des Sehbegehrens und des Durchdringens von Gewebeschichten. Doch schließt Gabriel von Max eben gerade nicht an die Traditionen der von enthüllenden Tüchern umgebenen Leiche als Zeigefigur ihrer selbst an, sondern sein Leichentuch erscheint mir vielmehr als Abkömmling der Schleier der Personifikationen Veritas und Natura33 : Er birgt eine so makellose und von Verwesung und Sektion (noch) unversehrt erscheinende Leiche, die eher an die eigentümliche Körperlichkeit der Allegorie denken lässt. Leiche und allegorischer Körper sind zwar beide Projektionsflächen des Erkenntnisstrebens und der Geheimnisaufdeckung, aber der allegorische Körper ist ganz Oberfläche, besitzt kein sterbliches fleischliches Inneres, keine Tiefe. Personifikationen sind bildwissenschaftlich betrachtet faszinierende Studienobjekte, denn ihre zumeist weiblichen Körper, in deren Fleisch sich Begriffe oder Ideen inkarnieren, strahlen – einmal Bild geworden – eine mehrdeutige Anschaulichkeit aus.34 Wir haben es bei Bildern von Personifikationen häufig mit einem mehrfachen ›Schleier‹ zu tun: dem ersten, unsichtbaren des rhetorischen integumentums35 , also der sprachlichen Einkleidung eines Begriffs, dann mit dem zweiten, visuellen Schleier, der 33 | Bronfen 1994 thematisierte in ihrer Bildlektüre eines eigentümlicherweise nicht – das Leichentuch. Sie hat es interpretatorisch schnell abgestreift, um sich mit dem Leichnam beschäftigen zu können. Jordanova 1989, Kapitel 5: Nature Unveiling before Science, S. 87-110 hat sich hingegen mit der Entschleierungstopik bei Hasselhorst und Gabriel von Max’ Der Anatom, der als Cover ihrer Publikation geradezu emblematischen Charakter erlangt, und im anatomischen Sprachgebrauch des 18. und 19. Jahrhunderts auseinandergesetzt. Sie thematisiert in locker assoziierender Weise den Zusammenhang von Geheimnis und Weiblichkeit, nimmt dabei aber weder die ikonographische Tradition der enthüllten Leiche in Anatomiedarstellungen noch die in der Medizin- und ihrer Bildgeschichte selteneren Allegorisierungen des ungeöffneten Frauenleibes als Personifikationen von Wahrheit und Natur in den Blick. 34 | Vgl. Warner, Marina: In weiblicher Gestalt. Die Verkörperung des Wahren, Guten und Schönen. Reinbek bei Hamburg 1989 [Originalausgabe: Monuments and Maidens. The Allegory of the Female Form. London 1985]. 35 | Vgl. Logemann, Cornelia: Mantel der Bilder – Mantel der Gedanken: die AntiIntegumenta der Iconologia. In: Dies.; Thimann, Michael (Hg.): Cesare Ripa und die Begriffsbilder der Frühen Neuzeit. Zürich 2011, S. 167-198.

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in der bildlichen Repräsentation eines weiblichen, oftmals idealschönen Körpers besteht, und drittens mit einem Schleier im textilen Wortsinn, der das Prinzip der Einkleidung nochmals an der Oberfläche des allegorischen Körpers aufruft. Den Begriff des Schleiers will ich großzügig verstanden wissen und darunter sowohl aufwendige Bekleidungen fassen, wie etwa das Kleid der Philosophia nach der Traumvision des Boethius36 , als auch Schleiertücher im engeren Sinne, die die Körper der Personifikation umschmeicheln und sie als begehrenswerte Schwestern der Göttin Venus37 erscheinen lassen. Grundsätzlich lässt sich bei Bildern dieser Personifikationen beobachten, dass die mit künstlerischen Mitteln hergestellte ›Inkarnation‹ eines nicht mehr nur gesprochenen und geschriebenen, sondern sichtbar gemachten Ideenkörpers Bedeutungsüberschüsse produziert, die zwischen Reflexionsangeboten über die Schönheit und Wahrheit der Kunst und dem visuellen Begehren nach dem weiblichen Körper schillern. Jenen Bedeutungsüberschuss produziert auch Gabriel von Max’ Darstellung der weiblichen Leiche in ihrem üppigen Kokon, liest man sie als Allegorie – was im Folgendem nach einer exemplarischen Betrachtung von Natura-Allegorien diskutiert werden soll. Entschleierte Nacktheit kennzeichnet die personifizierte Wahrheit, Nuda Veritas38 , ähnlich gilt dies für ihre ›Schwester‹, die Natura. In der 36 | Denny-Brown, Andrea: How Philosophy Matters. Death, Sex, Clothes, and Boethius. In: Burns, E. Jane (Hg.): Medieval Fabrications. Dress, Textiles, Clothwork and other Cultural Imaginings. Basingstoke 2004, S. 273-294 zu den zerrissenen Kleidern der Philosophie in Miniaturen spätmittelalterlicher BoethiusHandschriften. Zur Ikonographie der ›heidnischen Philosophie‹ in den Miniaturen der Bibles moralisées der ersten Hälfte des 13. Jhs., in denen Häretiker die im Untergewand dargestellte, ihres Schleiers beraubte Personifikation entehren, Tammen, Silke: Verkörperungen: Ecclesia und Philosophia in der Bible moralisée (Codex 2554 der Österr. Nationalbibliothek, Wien). In: Mitteilungen der Gesellschaft für Vergleichende Kunstforschung in Wien 52 (2000), S. 6-9 und Dies.: Begehrenswerte Körper und Schriften: Gibt es eine geschlechtliche Codierung des Buches in der mittelalterlichen Kunst? In: Falkenhausen, Susanne von (Hg.): Medien der Kunst. Geschlecht, Metapher, Code. Marburg 2004, S. 257-272. 37 | Zum Venusschleier vgl. Robert, Jörg: Die Wahrheit hinter dem Schleier. Lucas Cranachs heidnische Götter und die humanistische Mythenallegorese. In: Schade, Werner (Hg.): Kat. Ausst. Lucas Cranach. Glaube, Mythologie und Moderne. Ausstellung Bucerius Kunst Forum Hamburg. Stuttgart 2003, S. 102-115; Pardo, Mary: Veiling the Venus of Urbino. In: Goffen, Rona (Hg.): Titian’s Venus of Urbino. New York 1997, S. 108-128. 38 | Warner 1989, Kapitel 13: Nuda Veritas, S. 397-442. Zur für die französische Aufklärung zentralen Gestalt vgl. auch Perrig, Alexander: Das Frontispiz der

BEGEHRENSWERTE ERKENNTNISSE

Abb 6 | Jan Luyken, Frontispiz zu Gerardus Blasius‘ Anatome animalium, Amsterdam: Joannis a Sommeren 1681

ikonografischen Tradition kann die Wahrheit entweder immer schon nackt sein oder sie wird von der Zeit, von Chronos enthüllt. Im naturwissenschaftlichen Kontext konnte Natura die Stelle von Veritas einnehmen: So sieht man etwa auf Jan Luykens Frontispiz zur Anatome animalium (1681) von Blasius die Naturwissenschaft mit brennender Lampe auf dem Haupt, Skalpell und Lupe in den Händen haltend, wie sie die (an das Kultbild der Diana bzw. Isis von Ephesos angelehnte) mehrbrüstige Natura entschleiert (Abb. 6).39 Zentral brennt eine Sonne vor deren Brust, ein Attribut der Veritas. Zu ihren Füßen seziert links eine Amourette ein Tier, während der andere flügellose Knabe rechts schon Eingeweide untersucht. Am unteren Bildrand wird so das auf die Betrachtung des Frontispizes folgende Öffnen der Seiten des Anatomiebuchs durch das Öffnen tierischer Körper vorbereitet. Louis-Ernest Barrias, ein seit den 1870er Jahren recht erfolgreicher Pariser Bildhauer40 wiederum überlässt es seiner Natura, sich selbst zu enthüllen. La Nature mysterieuse et voilée se dévoilant à la science, die erste von zwei Versionen, wurde im Pariser Salon von 1893 gezeigt. Sie war Encyclopédie oder die hohe Kunst der Verblümung. In: Idea. Jahrbuch der Hamburger Kunsthalle 9 (1990), S. 67-92. 39 | Goesch, Andrea: Diana Ephesia: ikonographische Studien zur Allegorie der Natur in der Kunst vom 16. bis 19. Jh.. Frankfurt a.M. 1996; Hadot, Pierre: Le voile d’Isis: Essai sur l’histoire de l’idée de la nature. Paris 2004. 40 | Mourey, G.: Ernest Barrias. In: Les Arts 40 (1905), S. 29-32.

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Abb 7 | Louis-Ernest Barrias, La Nature mysterieuse et voilée se dévoilant à la science, 1893

Abb 8 | Louis-Ernest Barrias, La Nature se dévoilant à la science, 1899

1889 von der École de Médicine in Bordeaux in Auftrag gegeben worden. (Abb. 7) Hier hat sich die marmorne Natura völlig enthüllt und hält mit ausgebreiteten Armen ein großes Schleiertuch über ihrem Haupt auseinander, das hinter ihrem Körper vom Kopf bis zu den Füßen fällt.41 Als La Nature se dévoilant à la science, die für die Ehrentreppe des Conservatoire des Arts et Métiers in Paris bestimmt war, zeigt sie sich noch recht bedeckt, aber mit entblößtem Busen und einem Schleier über ihrem Haupt. (Abb. 8) Sie wurde im Salon von 1899 gezeigt und gelobt für ihre Vielfarbigkeit, die durch algerischen Onyx, Marmor, roten Stein aus den Pyrenäen, Gold und Malachit zustande kommt. Mit dem über den Titel aufgerufenen Szenario einer Natura, »die sich vor der Wissenschaft enthüllt«, lässt sich das aus rotgeädertem Stein gestaltete Untergewand als abgezogene Haut wahrnehmen – womit auf eine jenseits der Hüllen und noch unberührten Haut liegende, nur sezierenderweise zu erarbeitende Erkenntnis verwiesen wäre. Paul Desjardins bemängelte allerdings in seiner Salonkritik die Figur als »coquette«, deren gezierte Geste die »grandeur« verfehle, die das Thema eigentlich verlange.42 Deutlicher in seiner 41 | Eine marmorne Replik dieser Version, die 1896 für Carl Jacobsen angefertigt wurde, wird in der Ny Carlsberg Glyptothek in Kopenhagen aufbewahrt. 42 | Nach Fusco, Peter: Allegorical Sculpture. In: Ders.; Janson, H.W. (Hg.): Kat.

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Allegoriekritik war der Kritiker C. Timbal schon 1877, indem er sich über die vielen jungen Frauen beschwerte, »die aus ihren Kleidern fallen« und mit denen Künstler vergeblich die Menge und ihre Kollegen verführen wollten.43 Vor dem Hintergrund einer sich seit dem 18. Jahrhundert vollziehenden Abwertung der Allegorie mutet Barrias’ Natura in ihrem Thema unzeitgemäß, in ihrer Polychromie und dem über den das Busenband zierenden Skarabäus aufgerufenen, geheimnisvollen ägyptischen Orient schon wieder aktuell an, insofern sie manchen Betrachter vielleicht auch an die Salome-Mode und Erfolge der Schleiertänzerin Loie Fuller in den 1890er Jahren erinnert haben dürfte.44 Vielleicht trifft hier die Beobachtung Ulrich Tragatschnigs zu, dass Allegorien nach ihrem Abstieg in der Kunsttheorie ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unkonventioneller werden (können).45 VI. Der Anatom II: die Wahrheit des Malers

Der bei Barrias zu konstatierende Verlust der Allegorie an Trennschärfe gegenüber anderen Bildformen könnte sich umgekehrt bei Gabriel von Max’ Frauenleiche als Allegorisierung einer Bilderzählung bzw. ihrer zentralen Figur zeigen: Angedeutetes Narrativ über eine zwischen Eros und wissenschaftlicher Gewalt schwankenden Geschlechterbeziehung, Vanitaselemente und eine sacht über ihrem Busen enthüllte Leiche gehen eine schillernde Verbindung ein. Ist die Leiche also als nature morte, Natura und zugleich Veritas im Namen der Naturwissenschaft zu verstehen, die aufgedeckt wird? Ausst. The Romantics to Rodin. French 19th-Century Sculpture from American Collections. Los Angeles County Museum. Los Angeles 1980, S. 60-69, hier: S. 66. Vgl. auch Pierre, Caterina Y.: Louis-Ernest Barrias and Modern Allegories of Technology. In: Nineteenth-Century Art Wold-Wide 11, 2012 (E-Journal). http:// www.19thc-artworldwide.org/index.php/summer12/caterina-pierre-louis-ernestbarrias, 21.08.2012. 43 | Timbal, Charles: La sculpture au salon. In: Gazette des beaux arts 16 (1877), S. 30-45, hier S. 32. 44 | Ob die gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend populärere Polychromie von Skulptur von Betrachtern tatsächlich als fleischartig oder eben ›nur‹ als Signatur der Art Nouveau verstanden wurde, wäre über die Salonkritiken zu überprüfen. Jana Sterbaks vergängliche Arbeit Vanitas. Fleischkleid für einen anorektischen Albino (1987) hat dieses Spiel mit der Allegorie und ihrer Dialektik aus Ver- und Enthüllung, Außen und Innen auf die Spitze getrieben. Vgl. Lamoureux, Johanne: La ›Robe de chair‹ de Jana Sterbak: l’allégorie par la viande. In: Revue d’esthétique 40 (2001), S. 161-168. 45 | Tragatschnig, Ulrich: Sinnbild und Bildsinn. Allegorien in der Kunst um 1900. Berlin 2004, S. 17.

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Vielleicht verhält es sich aber noch komplizierter, denn anders als bei Blasius’ Frontispiz oder Barrias’ Skulptur wirkt der Akt dieser Enthüllung im Namen des Wissenwollens weder freudig-festlich noch freiwillig, sondern zutiefst melancholisch. Über die Debatte zwischen Aufklärern und Romantikern, Naturwissenschaftlern und Dichtern im 18. Jahrhundert zur Frage, ob und wie weit sich die Natur dem rastlosen Forschen des Menschen zu enthüllen habe, und ob es eine Wahrheit ›hinter‹ oder nicht vielmehr ›im‹ Schleier selbst gebe, hat Pierre Hadot geschrieben, der sich dabei auch mit Frontispizen wie dem zu Blasius’ Anatome animalium beschäftigt hat.46 Während derartige Frontispizen keinen Zweifel kennen an der Notwendigkeit und Möglichkeit einer Entschleierung der Naturgeheimnisse und den einschneidenden Blick des Wissenschaftlers wie des Betrachters zelebrieren, waren die Debatten komplizierter, wo es grundsätzlich um das Verhältnis von Natur- und Wahrheitserkenntnis ging. Die Metaphorik der Entschleierung hat im abendländischen Ringen um Legitimität und Grenzen der Erkenntnissuche einen elementaren Platz.47 Doch hat der neugierige Wunsch, hinter den Schleier zu blicken, seinen Preis, wie Schiller 1795 in Das verschleierte Bild zu Sais formulierte. Ein wissensdurstiger Jüngling, der die geheime Weisheit der ägyptischen Priester von Sais zu erlangen suchte, forderte von ihnen die ganze Wahrheit im Angesicht eines verschleierten Tempelbildes, an dessen Schleier niemand rühren darf. Ein Priester spricht zum Jüngling: »Gewichtiger, mein Sohn, als du es meinst/Ist dieser dünne Flor – Für deine Hand./Zwar leicht, doch zentnerschwer für dein Gewissen.«48 Um Mitternacht betritt der Jüngling dann allein den Tempel und deckt nach kurzem Zaudern den Schleier auf. Anderntags finden ihn die Priester ohnmächtig vor; zum Melancholiker geworden nimmt er das Geheimnis der der Göttin abgezwungenen Wahrheit mit sich und stirbt noch in jungen Jahren. Schiller vollzieht nach Nathali Jückstock mit seiner Ballade eine »Abkehr von der 46 | Hadot, Pierre: Zur Idee der Naturgeheimnisse. Wiesbaden 1982. 47 | Assmann, Jan: Das verschleierte Bild zu Saïs – griechische Neugier und ägyptische Andacht. In: Ders.; Assmann, Aleida (Hg.): Schleier und Schwelle. Bd. 2: Geheimnis und Offenbarung. München 1998, S. 45-66; Assmann, Aleida: Der Dichtung Schleier aus der Hand der Wahrheit. Esoterische Dichtungstheorien in der Neuzeit. In: Dies.; Assmann, Jan (Hg.): Schleier und Schwelle. Bd. 1: Geheimnis und Öffentlichkeit. München 1997, S. 263-280. 48 | Schiller, Friedrich: Sämtliche Werke. Gedichte. Bearb. v. Jochen Golz. Leipzig 1980, S. 249-252, hier S. 251.

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aufklärerischen Konzeption der ›nackten Wahrheit‹: Der Schleier, die Verhüllung schützt vor einer Erkenntnis, für die der Mensch qua humaner Konstitution (noch) nicht gerüstet ist. Dabei ist die Verhüllung nicht Betrug oder Täuschung, sondern bildhafter Ausdruck einer dem Menschen angemessenen sinnlichen Erkenntnis«.49 Mir scheint, dass es eine gewisse Verwandtschaft zwischen dem Jüngling zu Sais und dem Anatomen bei Gabriel von Max gibt: Letzterer, kein Jüngling mehr, hält im Wissen um die desillusionierende, melancholisch stimmende Konsequenz des Geheimnisverlustes inne, in der die schöne Frauenleiche zur banalen Fleischmasse würde.50 Im Tempel der Ballade herrscht ebenso Nacht wie in der Studierstube, Jüngling und Mediziner sind allein vor einem geheimnisvoll beleuchteten, verschleierten ›Bild‹51 – dort das einer überlebensgroßen Göttin, hier eine schöne Leiche – und dieses eigentlich niedere Gefäß sublimiert im so überschüssig erscheinenden Schleiertuch zur ›Naturwahrheit‹. Oder verhält es sich doch uneindeutiger, wie es die Präsenz eines Schleierzeichens nach den metaphorologischen Überlegungen von Ralf Konersmann ja generell erwarten lässt? 52 Gabriel von Max stand als Wissenschaftler aufseiten der ›Exkarnation‹, 49 | Jückstock, Nathali: ›Verhüllte Wahrheit‹. Anmerkungen zu biblischen und theologischen Wurzeln eines Topos. In: Knauer, Bettina (Hg.): Das Buch und die Bücher: Beiträge zum Verhältnis von Bibel, Religion und Literatur. Würzburg 1997, S. 29-40, hier S. 36. 50 | Zu denken wäre auch an eine weitere Inspirationsquelle für das Zögern des Anatoms, nämlich an eine Szene aus dem 3. Buch des 3. Kapitels in Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Die Entsagenden (1829): Wilhelm wird zur Teilnahme an einer Sektion eingeladen und findet vor sich »auf einem saubern Brette, reinlich zugedeckt, eine bedenkliche Aufgabe; denn als er die Hülle wegnahm, lag der schönste weibliche Arm zu erblicken, der sich wohl jemals um den Hals eines Jünglings geschlungen hatte. Er hielt sein Besteck in der Hand und getraute sich nicht es zu eröffnen, [...]. Der Widerwille dieses herrliche Naturerzeugnis noch weiter zu entstellen stritt mit der Anforderung, welche der wissensbegierige Mann an sich zu machen hat [...].« Fink, Gonthier-Louis; Baumann, Gerhart; John, Johannes (Hg.): Wilhelm Meisters Wanderjahre. Maximen und Reflexionen. München 1991, S. 555. Interessant für unseren Zusammenhang des Paragone zwischen Wissenschaft und Kunst, der ja auch Hasselhorsts Schöne Frankfurterin motivierte, ist die Fortsetzung der Geschichte, in der ein anatomisch gebildeter Bildhauer, der hölzerne und wächserne Nachbildungen des menschlichen Körpers fertigt und Wilhelm dazu anleitet, einen künstlichen Arm auf der Basis einen hölzernen Skelettfragments zu fertigen. 51 | Zum Leichnam als im Sterbeprozess gewordenes Bild des Körpers Blanchot, Maurice: Die zwei Fassungen des Bildlichen. In: Macho, Thomas; Marek, Kristin (Hg.): Die neue Sichtbarkeit des Todes. München 2007, S. 25-36. 52 | Konersmann, Ralf: Der Schleier des Timanthes. Perspektiven einer historischen Semantik. Frankfurt a.M. 1994.

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des Sammelns vertrockneten, verknöcherten, verschriftlichten Wissens und suchte in Séancen nach dem Ort der Seelen. Nach Martin C. Pieterse wandte er sich Jahre nach Entstehen dieses Gemäldes, nämlich in den 1880er Jahren, gegen die Vivisektion von Tieren und vertrat die Ansicht, dass man den Kern des Lebens nicht finde, indem man Leichen und lebendige Tiere aufschneidet oder fossile Knochen und Schädel ausgräbt.53 Offenbar kündet sich schon in Der Anatom leiser Zweifel an der Reichweite naturwissenschaftlichen Erkenntnisstrebens an. Als Maler, der schon während seiner Prager Ausbildungszeit intensive Farbstudien betrieb und 1886/87 aufgrund seines stimmungsvoll reduzierten Kolorits von Agathon Klemt ein »Meister der Seelenmalerei« genannt werden würde54 , befand Gabriel von Max sich hingegen aufseiten der ›Inkarnation‹, im Sinne des Fleischgebens durch Farbe.55 Während der Wissenschaftler Oberflächen zerstört, um die Wahrheit in der Tiefe zu finden, trägt er als Maler Farbschicht um Schicht auf der Leinwand auf, stiftet mit seinem Farbschleier dort ein Geheimnis, wo es wissenschaftlich gesehen schon länger keines mehr gibt: Es ist eine Arbeit am Schleier der kunstvoll gestalteten Bildoberfläche – ein kunsttheoretisch fruchtbarer Topos, den Klaus Krüger in seiner Arbeit über Das Bild als Schleier des Unsichtbaren untersucht hat. Krüger geht es dabei um den paradox anmutenden Sachverhalt, dass einerseits das Bild seit Alberti als ›Fenster‹ gesehen werden kann, das den Ausblick auf eine in Farben vermittelte Realität suggeriert, es andererseits aber ein opaker Bild›schirm‹ ist. Das Gemälde setzt »der ihm angetragenen Wirkung einer reinen Offenbarung und Enthüllung immer neu den reflexiven Widerstand der eigenen Vermittlungsleistung, sprich: der eigenen Existenzform als Verhüllung« entgegen.56 Übertragen auf das Gemälde von Max’ wird in der schönen Leiche auch die mimetische Kunst enthüllt und im Totenschleier zugleich ihre Bedingung – ein virtuoser Farbschleier über der groben Leinwand, der topische ›Schleier 53 | Nach Pieterse, Martin C.: Gabriel Max. Ein Maler und die Naturwissenschaften. In: Muggenthaler, Johannes (Hg.): Kat. Ausst. Der Geister Bahnen. Eine Ausstellung zu Ehren von Gabriel von Max, 1840-1915. München 1988, S. 9-15, hier S. 11. 54 | Klemt, Agathon: Gabriel Max und seine Werke. In: Die graphischen Künste 9 (1886/7), Heft II, S. 25-36, hier S. 34. Vgl. auch Weber, Susanne: ›Modern sind alte Möbel und junge Nervositäten.‹ Zu Seelenmalerei und Nervenreiz in der Kunstkritik. In: Kat. Ausst. Gabriel von Max, S. 140-142, hier S. 141. 55 | Kruse, Christiane: Wozu Menschen malen. Historische Begründungen eines Bildmediums. München 2003, Kap. 4: Fleisch Werden und Bild Werden, S. 175-224. 56 | Krüger, Klaus: Das Bild als Schleier des Unsichtbaren. Ästhetische Illusion in der Kunst der frühen Neuzeit in Italien. München 2000, S. 8.

BEGEHRENSWERTE ERKENNTNISSE

der Illusion‹ – sichtbar gehalten. Kann es für einen Anatomen nur eine, überdies eine nackte Wahrheit geben, nach der er so handfest greift um zu begreifen, liegt die dem gegenüber produktionsästhetisch reflexive und kritische Wahrheit des Malers gerade im und auf dem Schleier. Gabriel von Max betrieb intensive Farb- und Farbwahrnehmungsstudien: »Er beschäftigte sich mit Farbenlehre, Farbsymbolik, Farbpsychologie sowie mit zeitgenössischen und klassischen Vorbildern in der Malerei. [...] Noch 1882 erklärte er: ›Ein Hauptstudium war mir damals und noch lange Jahre danach das ›Sehen‹, die Physiologie des Auges, der Farben, aller Fehler und Täuschungen, das Sehen mit zwei Augen, alles mit Nutzanwendung auf Malerei und ich wollte ein Buch für Maler schreiben in dieser Richtung. Ich habe noch das große Material aufgehoben. Zahllose Experimente gemacht. Bleibt für meine Kinder.‹«57 Anders als Gian Lorenzo Bernini (1646-1652) und Gustav Klimt (1899), die ihre ›nackten Wahrheiten‹ eindeutig als programmatische Personifikationen ihrer künstlerischen Überzeugungen und Könnens deklarierten58 , belässt Gabriel von Max seine ›Wahrheit‹, eine paradox tote Personifikation/Leiche, größtenteils verhüllt. Er spielt auf allegorische Traditionen und evidenzstiftende Strategien der Anatomiedarstellungen an und grenzt sich von ihnen zugleich ab, indem er weniger den Körper, sein Studium und dessen mimetisch getreue Repräsentation als den Schleier des Farbauftrags zur Hauptsache des Bildes macht. Betrachtet man die Geste des Anatomen nicht mehr nur auf der narrativen Ebene als Moment des Zweifelns, eines moralischen Dilemmas der Wahrheitssuche, sondern als Unterbrechung, die im Sinne einer Störungsdynamik zur Wahrnehmungsreflexion führt59, dann gewinnt der Griff in den Schleier eine besondere Qualität: Der Betrachter kann sich mit dem grübelnden Anatomen entscheiden, ob er sich weiter zum Fleisch und damit in eine schaurig-pikante Erzählung vorantasten will, ob er eine allegorische Lesart vorzieht, oder ob er ganz nah beim Schleier und damit den Bedingungen künstlerisch vermittelten Sehens verharren möchte, damit das Bild in seiner Materialität und Medialität, seiner mit Farben 57 | Nach Böller 2010, S. 155. 58 | Vgl. Herrbach, Elsa B.: Berninis Verità. Die schönste Tugend der Welt oder Versuch sich einer Berniniskulptur zu nähern. Würzburg 1987; Natter, Tobias; Hollein, Max (Hg.): Kat. Ausst. Die nackte Wahrheit: Klimt, Schiele, Kokoschka und andere Skandale. Schirn, Frankfurt 2005. München 2005, bes. S. 108. 59 | Zu ›Störung‹ und ›Unterbrechung‹ vgl. Roesler, Alexander; Stiegler, Bernhard (Hg.): Grundbegriffe der Medientheorie. München 2005, S. 229-235.

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KÖRPER-ÄSTHETIKEN

gestalteten Leinwandoberfläche anerkennen und mit dem Auge förmlich ›begreifen‹ will. Vielleicht muss es aber auch keine Entscheidung geben, sondern in der erstarrten Bewegung des Anatomen dicht über der Haut der Frau ist ein permanenter Umschlagpunkt für den Blick des Betrachters und eine Meditation über ›Gewebe‹ verschiedenster Art angeboten.60 60 | Mit Gabriel von Max’ Der Anatom könnte ein Fallbeispiel für Theresa M. Kelleys Beobachtung (Reinventing Allegory. Cambridge 1997, S. 2) gegeben sein, nach der sich die Allegorie nach der Renaissance gegen alle ihr entgegengebrachten Widerstände halten könne, indem sie »border raids« auf die ihr entgegengesetzen Kategorien »realism, mimesis, empiricism, and history« unternehme. »The claim that allegory should be set apart from history and realism has far too long masked the degree to which all three terms are implicated in questions about knowing and representability that permeate modern culture.«.

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AUTORINNEN UND AUTOREN

Iuditha Balint (M.A.) studierte Philosophie und Germanistik an der Universität Mannheim und der University of Virginia. Mit ihrer Dissertation über den Zusammenhang von Arbeit und Identität in der Gegenwartsliteratur war sie Stipendiatin der Landesgraduiertenförderung Baden-Württemberg und ist gegenwärtig wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für deutsche Philologie an der Universität Mannheim. Forschungsschwerpunkte: Literatur der Arbeitswelt, literarische Ökonomik, literarische Anthropologie, Identitätstheorien, Literatur der Aufklärung, der Romantik und der Gegenwart. Publikationen u.a.: Literarische Ökonomik. München 2013 (Mithg.); Hyperfiktion, Simulation. Medien(technologien) und die Architektonik des Erzählens in Daniel Kehlmanns Ruhm. Ein Roman in neun Geschichten. In: Jahrbuch der ungarischen Germanistik 2010 (2011), S. 15-31; Ökonomie und die Suche nach dem guten Leben. Ewald Palmetshofers faust hat hunger und verschluckt sich an einer grete. In: Englhart, Andreas; Pełka, Arthur (Hg.): Junge Stücke. Theatertexte junger Autorinnen und Autoren im Gegenwartstheater. Bielefeld 2013, S. 179-189.

PD Dr. Viola Hildebrand-Schat ist Gastprofessorin für moderne und zeitgenössische Kunst an der Karl-Franzens-Universität Graz und wissenschaftliche Mitarbeiterin am DFGForschungsprojekt Das Künstlerbuch als ästhetisches Experiment. Akademische Arbeitsschwerpunkte: Intermedialität und Text-Bild-Verhältnis; Sozialgeschichte der Kunst, kontextuelle Voraussetzungen künstlerischer Produktion; zeitgenössische Kunst, Kunst in Russland und Osteuropa. Publikationen: Die Kunst schlägt zu Buche. Das Künstlerbuch als Grenzphänomen. Köln 2012; Literarische Aneignung und künstlerische Transformation. Zur Literaturrezeption im Werk von Marcel Broodthaers. München 2012; Zeichnung im Dienste der Literaturvermittlung. Moritz Retzschs Umrissillustrationen als Ausdruck bürgerlichen Kunstverstehens. Würzburg 2004.

Dr. Daniel Hornuff studierte Theaterwissenschaft, Germanistik, Komparatistik, Kunstwissenschaft und Philosophie in Leipzig und Karlsruhe; Magister 2007, Promotion 2009. Zahlreiche Lehraufträge in Deutschland und Österrei ch; derzeit ist er akademischer Mitarbeiter an der HfG Karlsruhe. Publikationen: Im Tribunal der Bilder. Politische Interventionen durch Theater und Musikvideo. München 2011; Bildwissenschaft im Widerstreit. Belting, Boehm, Bredekamp, Burda. München 2012.

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KÖRPER-ÄSTHETIKEN

Prof. Dr. Alexandra Karentzos ist Wella-Stiftungsprofessorin für Mode und Ästhetik an der Technischen Universität Darmstadt. Von 2004 bis 2011 war sie Juniorprofessorin für Kunstgeschichte an der Universität Trier und von 2002 bis 2004 wissenschaftliche Assistentin bei den Staatlichen Museen zu Berlin. 2007 war sie Fellow in der Forschungsgruppe No Laughing Matter. Visual Humor in Ideas of Race, Nationality, and Ethnicity am Dartmouth College, Hanover/USA und 2010/11 Fellow am Alfried-Krupp-Wissenschaftskolleg Greifswald. Sie ist Mitbegründerin und Mitherausgeberin der Zeitschrift Querformat. Zeitgenössisches, Kunst, Populärkultur. Forschungsschwerpunkte: Kunst des 19. bis 21. Jahrhunderts, Kulturtheorien (Visual Culture, Postcolonial- und Gender Studies, Systemtheorie), Körper- und Identitätskonzepte, Lachen und Ironie, Mode, Kunst und Globalisierung, Reise und Tourismus in der Kunst, Antikenrezeptionen, Orientalismen, Ästhetische Theorien. Publikationen u.a.: Schlüsselwerke der Postcolonial Studies. Wiesbaden 2012 (Mithg.); Kunstgöttinnen. Mythische Weiblichkeit zwischen Historismus und Secessionen. Marburg 2004.

Maret Keller (Dipl.-Kulturwiss.) studierte in Kiel, Oviedo (Spanien) und Frankfurt/ Oder. Sie promoviert im Rahmen der Transkulturellen Studien der Universität Heidelberg zum Thema der Mission des Mercedarier-Ordens im frühneuzeitlichen Andenraum (Peru, Ecuador). Ihre Interessensschwerpunkte sind Andine Kulturen, Diskursanalyse, Diskursive Traditionen und Interkulturelle Kommunikation.

Dr. Cornelia Logemann ist Leiterin der Nachwuchsgruppe Prinzip Personifikation. Visuelle Intelligenz und epistemische Tradition, 1300-1800 an der Universität Heidelberg und lehrt dort am Institut für Europäische Kunstgeschichte. Neuere Publikationen: Heilige Ordnungen. Die Bild-Räume der Vie de Saint Denis und die französische Buchmalerei des 14. Jahrhunderts [pictura et poesis 24]. Köln/Wien 2009; Götterbilder und Götzendiener. Europas Blick auf fremde Religionen (hg. mit Maria Effinger und Ulrich Pfisterer). Kat. Ausst. UB Heidelberg. Heidelberg 2012.

Dr. Mati Meyer is a senior lecturer in the Department of Literature, Language and the Arts at the Open University of Israel, where she heads the Art History Division and is in charge of the development of its undergraduate program. Dr. Meyer’s teaching and research interests are in Byzantine visual culture, with a special emphasis in gender issues, illuminated manuscripts, and iconography of the Bible. She has published articles in Byzantion, Bizantinistica, Deltion tes Christianikes, Ars Judaica, Studies in Iconography, Iconographica, Cahiers de Civilisation Médiévale; additional articles are presently in press. She has also co-edited (with Katrin Kogman-Appel) a book entitled Between Judaism and Christianity. Art Historical Essays in Honor of Elisheva (Elisabeth) Revel-Neher. Leiden 2009. Her book, An Obscure Portrait: Imaging Women’s Reality in Byzantine Art, has come

AUTORINNEN UND AUTOREN

out with Pindar Press (London 2009). Dr. Meyer is currently engaged in a work-in-progress on the gender aspects of the female body in Byzantine culture.

Prof. Dr. Ulrike Müller-Hofstede ist derzeit Gastprofessorin in Vertretung für Prof. Dr. Klaus Krüger im Rahmen der DFG-geförderten Kollegforscherguppe Bildevidenz an der FU Berlin. Sie studierte Kunstgeschichte, Archäologie und Romanistik an der Freien Universität Berlin; 1990 Promotion zur Ästhetik des Sublimen im 18. Jahrhundert, Habilitation 2001 zum Thema: Polyvalenz. Zu Michelangelos, Bandinellis und Cellinis Skulpturen auf der Piazza della Signoria in Florenz. Forschungsinteressen in der Frühen Neuzeit/Vormoderne in Kunstund Kulturanthroplogie: Kolossalskulptur und das öffentliche Bildwerk in Florenz im 16. Jahrhundert. Schaffensprozesse, ästhetische Konzepte von Natur und Kunst, Formen kollektiven Gedächtnisses in Kunst und Kultur, Praxis öffentlicher und privater Denkmäler (18. u. 19. Jh.), Körperentwürfe in Malerei u. Skulptur, Probleme historischer Bildlichkeit in unterschiedlichen medialen Ausprägungen. Neuere Publikationen: Zur Medialität der Skulptur im Kontext des ›Noli me tangere‹ und der ›Heilung des Blindgeborenen‹. Wahrheits- und Glaubenskonzepte in spätbarocken Epitaphien in Neapel. In: Bieringer, Reimund; Baert, Barbara; Demasure, Karlijn (Hg.): Noli me tangere: New Interdisciplinary Perspectives. Leuven/Paris/ Dudley, Mass. [im Druck]; Zur Rezeption von antiken Statuen in der Kunsttheorie der Frühen Neuzeit. In: Rombach, Ulla; Seiler, Peter (Hg.): ›Imitatio‹ als Transformation. Theorie und Praxis der Antikennachahmung in der frühen Neuzeit. Petersberg 2012, S. 87-95.

Miriam Oesterreich (M.A.) studierte Kunstgeschichte, Spanisch und Altamerikanistik in Heidelberg, Havanna, Valencia und an der FU Berlin. 2008-11 Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Transcultural Studies, Nachwuchsgruppe Prinzip Personifikation innerhalb der Exzellenzinitiative der Universität Heidelberg. Sie promoviert an der Freien Universität Berlin zu Repräsentationen ›exotischer‹ Körper in der frühen Bildreklame. 2011/12 Volontariat am Wilhelm-Hack-Museum Ludwigshafen. Seit 2013 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Mode und Ästhetik der TU Darmstadt. Publikationen u.a.: Der Troubadour und die America – Das Prinzip Personifikation und Geschlechtercodes (gemeinsam mit Julia Rüthemann). In: Flüchter, Antje; Mommertz, Monika (Hg.): Verflochtene Lebenswelten [in Vorbereitung]; Der Beatus von El Burgo de Osma. Die Apokalypse – Eine Enthüllungsgeschichte? Einige Fragen zu Körperkonzepten in den Miniaturen von 1086. In: Zöhl, Caroline (Hg.): Visionen vom Weltende. Apokalypse-Faksimiles aus der Sammlung Detlef M. Noack. Kat. Ausst. Berlin 2010, S. 45-49.

Prof. Dr. Katharina Philipowski wurde 1999 mit einer Arbeit zum Prosa-Lancelot promoviert und habilitierte 2005 mit einer Arbeit über Die Gestalt des Unsichtbaren. Narrative Konzeptionen des Inneren in der höfischen Erzählliteratur. Ihre aktuellen

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KÖRPER-ÄSTHETIKEN

Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der historischen Narratologie, der mittelalterlichen Ich-Erzählung und des Gabentauschs. Derzeit hat Frau Philipowski eine Vertretungsprofessur in Erlangen inne. Neuere Publikationen: Aporien von dienst und lôn im Mauritius von Craûn und in der Heidin. In: GRM 59,2 (2009), S. 211–238; ›diu gâb mir tugende gît‹. Das gabentheoretische Dilemma von milte und lôn im hohen Minnesang, im Frauendienst und im Tagelied. In: DVjs 85,4 (2011), S. 455-488.

Julia Rüthemann (St-Ex.) ist DAAD-Lektorin an der Université de Bourgogne in Dijon und promoviert zum Thema Personifikation, Poetik und Geschlecht in deutschen und französischen Texten des Mittelalters. Sie hat Deutsch und Biologie in Göttingen, Lund (Schweden), Besançon (Frankreich) und Mittelalterstudien an der University of Toronto studiert. Von 2008-2011 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Nachwuchsforschergruppe Prinzip Personifikation an der Universität Heidelberg (Transkulturelle Studien). Publikationen: Der Troubadour und die America – Das Prinzip Personifikation und Geschlechtercodes (gemeinsam mit Miriam Oesterreich). In: Flüchter, Antje; Mommertz, Monika (Hg.): Verflochtene Lebenswelten [in Vorbereitung]; Poetologische Deformierungen – Konrads von Würzburg Der Welt Lohn. In: Antunes, Gabriela; Reich, Björn (Hg.): (De)formierte Körper, Wahrnehmung und das Andere im Mittelalter. Göttingen [im Druck].

Dania Schüürmann (promoviert) war Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei den Transcultural Studies, Nachwuchsgruppe Prinzip Personifikation innerhalb der Exzellenzinitiative der Universität Heidelberg mit einem Dissertationsprojekt zur figuralen Gestaltung und Imagination des Göttlich-Dämonischen in der brasilianischen Literatur. Neueste Publikation: Betwixt and Between: Dämonen-Trickster im brasilianischen Theater. In: Kreuder, Friedemann; Bachmann, Michael; Pfahl, Julia; Volz, Dorothea (Hg.): Theater und Subjektkonstitution. Theatrale Praktiken zwischen Affirmation und Subversion. Bielefeld 2012, S. 663-676.

Prof. Dr. Silke Tammen war von 1992 bis 1999 Wissenschaftliche Assistentin am Kunsthistorischen Institut der Universität Bonn und am Kunstgeschichtlichen Seminar der Universität Hamburg. Nach Vertretungen in Tübingen und Karlsruhe ist sie seit 2003 Professorin für Kunstgeschichte in Gießen. Forschungsschwerpunkte: Mittelalterliche Buchmalerei, spätmittelalterliche Reliquiare und Andachtsschmuck; Bilder am Boden, textile Künste. Publikationen: Verkörperungen: Ecclesia und Philosophia in der Bible moralisée (Codex 2554 der Österr. Nationalbibliothek, Wien). In: Mitteilungen der Gesellschaft für Vergleichende Kunstforschung in Wien 52 (2000), S. 6-9; Auf der Suche nach der nackten Wahrheit: Gewand und Erzählung auf einem katalanischen Eugenienfrontale um 1280. In: Ganz, David; Rimmele, Marius (Hg.): Kleider machen Bilder. Vormoderne Strategien vestimentärer Bildsprache. Emsdetten/Berlin 2012, S. 235-254.

323

ABBILDUNGSNACHWEIS

Miriam Oesterreich/Julia Rüthemann

Abb. 9: http://www.newsdaylaura.

Abb. 1: Fotografie von Olga Wlassics und

com/2010/10/ew-olive-loaf.html,

dem Atelier Manassé, um 1930, Museum

31.07.2012.

des 20. Jahrhunderts, Wien. Aus: Warner,

Abb. 10: http://patternizer.wordpress.

Marina: In weiblicher Gestalt. Die Verkör-

com/2011/03/08/bread-roses-a-career/,

perung des Wahren, Guten und Schönen.

24.07.2012.

Reinbek bei Hamburg 1989, Bildteil.

Abb. 11: Sarah Lucas, Fighting Fire with

Abb. 2: Frida Kahlo, Selbstbildnis mit

Fire, 1996, Fotografie, 182 x 134 cm, Edi-

abgeschnittenem Haar, 1940, Öl auf Lein-

tion of 3 + 1 ap. Aus: Dziewior, Yilmaz

wand, 40 x 28 cm, The Museum of Mo-

(Hg.): Sarah Lucas. Kat. Ausst. Kunsthalle

dern Art, New York. Aus: Dexter, Emma;

Zürich, Kunstverein in Hamburg, Tate

Barson, Tanya (Hg.): Frida Kahlo. Kat.

Liverpool. Ostfildern 2005, S. 135.

Ausst. Tate Modern, London. München

Abb. 12: Jules Lefebvre, Die Wahrheit,

2005, Tafel 29.

1870 (Salon von 1870), Öl auf Leinwand,

Abb. 3: Frida Kahlo, Selbstbildnis mit

265 x 112 cm, Musée d’Orsay, Paris. Aus:

Zopf, 1941, Öl auf Hartfaser, 51 x 38,5

Rosenblum, Robert (Hg.): Die Gemälde-

cm, Fundación Cultural Parque Morelos,

sammlung des Musée d’Orsay. Köln 1989,

Cuernavaca. Aus: Dexter, Emma; Barson,

S. 44.

Tanya (Hg.): Frida Kahlo. Kat. Ausst. Tate

Abb. 13: Werbemarke der Allgemeinen

Modern, London. München 2005, Tafel 38.

Elektricitäts-Gesellschaft (AEG). Deut-

Abb. 4: http://www.etsy.com/

sches Patent- und Markenamt Berlin,

listing/13026628/gender-blender-paper-

Anmeldung vom 24.06.1892. Foto: Miriam

doll-boy-mature, 31.07.2012.

Oesterreich 2010.

Abb. 5: Anonym, La Véritable Femme á

Abb. 14: Stecher: Küsel, Melchior (1626-

barbe. Miss Annie Jones Elliot. Ende 19.

1683), Inventor: Baur, Johann Wilhelm

Jahrhundert. Copyright: Wellcome Libra-

(1606-1642), Radierung Neid und Zwie-

ry, London.

tracht (Eris), 1670, Graphische Sammlung

Abb. 6: Jacopo di Arcangelo, genannt

Stift Göttweig. Foto: Graphische Samm-

Jacopo del Sellaio, Der büßende Heilige

lung Stift Göttweig.

Hieronymus, die Heilige Maria Magdalena

Abb. 15: Albrecht Dürer, Melencolia

und der Heilige Johannes der Täufer in

I, 1514, Kupferstich, 24 x 18,5 cm, The

der Wüste (Detail), 1485-90, Öl auf Holz,

Metropolitan Museum of Art, New York.

74 x 51 cm, Museo Bandini, Fiesole. Foto:

Aus: Mende, Matthias (Katalogbearb.):

Miriam Oesterreich 2011.

Albrecht Dürer. 80 Meisterblätter. Holz-

Abb. 7: Salvador Dali, Self Portrait as

schnitte, Kupferstiche und Radierungen

Mona Lisa, 1954 (Photographic ele-

aus der Sammlung Otto Schäfer. Mün-

ments by Philippe Halsman). Aus:

chen u.a. 2000, Tafel 60.

D’Harnoncourt, Anne; McShine, Kynaston:

Abb. 16: Julia Margaret Cameron, Sad-

Marcel Duchamp. Kat. Ausst. Museum of

ness (Ellen Terry), 1864, Pigmentdruck.

Modern Art New York, Philadelphia Mu-

Aus: Graeve Ingelmann, Inka (Hg.): Fe-

seum of Art. New York 1973, S. 195.

male Trouble. Die Kamera als Spiegel und

Abb. 8: Ana Mendieta, Untitled (Facial

Bühne weiblicher Inszenierungen. Kat.

Hair Transplants), 1972, Farbfotografien aus

Ausst. Pinakothek der Moderne, München.

einer Performance, University of Iowa. Aus:

Ostfildern 2008, S. 63.

Gaiger, Jason (Hg.): Frameworks for Modern Art. New Haven u.a. 2003, Plate 4.20.

324

KÖRPER-ÄSTHETIKEN

Cornelia Logemann

Fair (Ausgabe USA), August 1991. Ent-

Abb. 1, 3, 7, 9, 12: Archiv d. Autorin.

nommen aus: http://www.ibtimes.com/

Abb. 2 aus: Bogart 1989.

demi-moore-topless-photo-twitter-

Abb. 4 aus: Crane 1972.

photos-708460, 17.01.2013.

Abb. 5 aus: Wilmerding, John et al.:

Abb. 4: Bildschirmfoto des twitter-

Thomas Eakins (1844-1916) and the Heart

Posts von Mariah Carey vom 28.03.2011,

of American Life. Kat. Ausst. National

entnommen aus: https://twitter.com/

Portrait Gallery. London 1993, no. 3, S. 57.

MariahCarey/status/52393065968713728,

Abb. 6 aus: Wilmerding, John et al.:

15.12.2012.

Thomas Eakins (1844-1916) and the Heart

Abb. 5: © Printanzeige der Firma eti-

of American Life. Kat. Ausst. National

cur. Gesundheitsvorsorge fürs Baby zur

Portrait Gallery. London 1993, no.17, S. 90.

Bewerbung einer privaten Nabelschnur-

Abb. 8 aus: Gelabert-Navia 1996.

blutbank und daran angeschlossener

Abb. 10 aus: Rozas, Diane; Bourne

Stammzellenaufbereitung, entnommen

Gottehrer, Anita: American Venus. The

aus: mein baby – mein kidsgo. Das Kurs-

Extraordinary Life of Audrey Munson,

und Veranstaltungsmagazin. 2. Quartal,

Model and Muse. Los Angeles 1999, S. 82.

8. Jahrgang 2009, S. 2.

Abb. 11 aus: Garvey, Timothy J.: Public

Abb. 6: Leopold Karl Walter Graf von

Sculptor: Lorado Taft and the Beautifica-

Kalckreuth: Sommer, 1890, Öl auf Lein-

tion of Chicago. Chicago 1988, no.37,

wand, 356 x 294 cm, Kunsthalle Bremen.

S. 157.

Aus: Schneede, Uwe M. (Hg.): Leopold

Viola Hildebrand-Schat

Ausst. Hamburger Kunsthalle. Buchholz

Abb. 1-3: C-Print, Bildgröße variabel.

2005, S. 19.

von Kalckreuth. Poetischer Realist. Kat.

Aus: Trübswetter, Iris (Hg.): Iskusstwo 2000. Neue Kunst aus Moskau, St. Pe-

Alexandra Karentzos

tersburg und Kiew, Kat. Ausst. Kunstver-

Abb. 1: Augustin Alexandre Dumont,

ein Rosenheim 2001. Rosenheim 2001.

Veritas, 1865, Paris, Justizpalast. Aus: Le

Copyright: Tanya Antoshina.

Normand-Romain, Antoinette et al. (Hg.):

Abb. 4-6: C-Print, 90 x 60 cm. Aus:

Skulptur. Die Moderne. 19. und 20. Jahr-

Nikitsch, Georgij; Winzen, Matthias (Hg.):

hundert, Bd. 3. Köln 1996, S. 57.

Na Kurort! Russische Kunst heute. Kat.

Abb. 2: Alfred Mietzner, Wahrheit und

Ausst. Staatliche Kunsthalle Baden-

Lüge, 1882 (Allegorien und Embleme,

Baden 2004. Köln 2004. Copyright:

Taf. 114). Aus: Gerlach, Martin (Hg.): Alle-

Tanya Antoshina.

gorien und Embleme. Originalentwürfe von den hervorragendsten modernen

Daniel Hornuff

Künstlern, sowie Nachbildungen alter

Abb. 1 aus: Milupa Ratgeber für die wer-

Zunftzeichen und moderne Entwürfe von

dende Mutter. Verfasst und herausgege-

Zunftwappen. Wien 1882.

ben von der Firma Milupa AG. Friedrichs-

Abb. 3: Unbekannt (Barthélemy Prieur

dorf/Taunus 1986 [1980], S. 3.

zugeschrieben), Negervenus, um 1600,

Abb. 2: Printanzeige zur Bewerbung des

Bronze, 30 cm, Liebighaus Frankfurt

Produkts Milk. Sahnige Blütenlotion mit

a.M. Aus: Bückling, Maraike: Negervenus.

Kamille der Firma Bübchen, entnommen

Frankfurt a.M. 1991, S. 9.

aus: Bübchen; Rolf Becker; Deutsches

Abb. 4: William Graigner nach Thomas

Grünes Kreuz (Hg.): Ärztlicher Ratgeber

Stothard, Illustration des Gedichts The

für werdende und junge Mütter. Baier-

Voyage of the Sable Venus from Angola

brunn bei München 1981, S. 32.

to the West Indies, in Bryan Edwards:

Abb. 3: Frontcover der Zeitschrift Vanity

The History, Civil and Commercial, of the

ABBILDUNGSNACHWEIS

British Colonies in the West Indies, Lon-

Pars Terrae in Forma Virginis, 1588, kolo-

don 1794, London British Library. Aus:

rierte Karte, Privatbesitz. Aus: Pelz, An-

Bindman, David; Gate, Jr., Henry Louis

negret: Reisen durch die eigene Fremde.

(Hg.): The Image of the Black in Western

Reiseliteratur von Frauen als autogeo-

Art. From the »Age of Discovery« to the

graphische Schriften. Köln/Weimar/Wien

Age of Abolition. The Eighteenth Century,

1993, Umschlag.

Bd. III,3. Cambridge, Mass/London 2011, S. 260, Abb. 250.

Maret Keller

Abb. 5: Kara Walker, Untitled, um 1990,

Abb. 1: Foto: Maret Keller 2010.

Renaissance Society, University of Chicago. Aus: Willis, Deborah (Hg.): Black

Mati Meyer

Venus 2010. They Called her ›Hottentot‹.

Fig. 1: Venice, Biblioteca Nazionale Mar-

Philadelphia, Pennsylvania 2010, Abb. 24.

ciana, cod. gr. Z. 479 (= 881), Pseudo-Op-

Abb. 6: Huet Le Jeune, Hottentottenve-

pian, Cynegetika, Constantinople, c. 1062,

nus, Profilansicht von Saartje Baartmann,

fol. 33r (top): The Power of Eros. Photo

1815. Aus: Williams, Carla; Willis, Deborah:

by Biblioteca Nazionale Marciana, Venice.

The Black Female Body. A Photographic

Fig. 2: Praxiteles, Aphrodite of Knidos, c.

History. Kat. Ausst. Philadelphia 2002.

360 BC, marble, Roman copy, 1st c. BC,

Abb. 7: Unbekannt, La belle Hottentote.

Musei Vaticani. photographer unknown

Les Curieus en extase ou les cordons de

to the author.

souliers (The curious in ecstacy, or the

Fig. 3: Eve Persuading Adam to Eat the

schoe laces), 1815, kolorierte Radierung,

Forbidden Fruit, Octateuch, Constantino-

23,5 x 31cm, British Museum. Aus: Bet-

ple, c. 1150, Vatican City, Bibl. Apost. Vat.,

ween Worlds: Voyagers to Britain 1700-

gr. 746, fol. 37v. Photo by Bibl. Apost.

1850. Kat. Ausst. National Portrait Gallery.

Vat., Vatican City.

London 2007, S. 93.

Fig. 4: Aphrodite, Homilies of Gregory

Abb. 8: Renée Cox, Hott-en-tott, Foto-

of Nazianzus, Mount Athos, Panteleimon

grafie, 1996. Aus: Schade, Sigrid; Strunk,

Monastery, cod. 6, 11th c., fol. 164r. Pho-

Marion (Hg.): Unterschiede. Unterschei-

tographer unknown to the author.

den. Zwischen Gender und Kulturen. Zü-

Fig. 5: Susanna Spied Upon by the El-

rich 2004, S. 135.

ders; the Bath of Susanna, Sacra Paral-

Abb. 9: Ingrid Mwangi, Static Drift, zwei-

lela, gr. 923, fol. 373v, Paris, Bibliothèque

teilige Fotoarbeit, 2001. Aus: Bara, Tina;

nationale de France, Rome, after 843 (?).

Holschbach, Susanne; D’Urbano, Alba

Photo by Paris, BnF.

(Hg.): Bellissima: Körper – Konstrukt –

Fig. 6: Venus at her Toilette, Casket of

Schönheit. Kat. Ausst. Hochschule für

Projecta, from Rome (Esquilline treasure),

Graphik und Buchkunst. Leipzig 2007,

London, British Museum (M&ME 1866, 12-

S. 181.

29,1), Late Roman, metal and silver-gilt,

Abb. 10: William Blake, Europe supported

repoussé, l.: 54.9 cm; h.: 27.9 cm, around

by Africa and America, aus John Sted-

380 CE. Photo by British Museum, Lon-

man: Narrative of a Five Years Expedition

don.

against the Revolted Negroes of Surinam,

Fig. 7: The Martyr of Helene, St. Kyriakos’

1796, pl. 6. Aus: Bindman, David; Gate,

Mother, Menologion of Basil II, Vatican

Jr., Henry Louis (Hg.): The Image of the

City, Bibl, Apost. Vat. gr. 1613, fol. 144r.

Black in Western Art. From the »Age of

Photo by Bibl. Apost. Vat., Vatican City.

Discovery« to the Age of Abolition. The

Fig. 8: Ivory pyxis, Judgment of Paris,

Eighteenth Century, Bd. III, 3. Cambridge,

Egypt (det.), early 6th c., h.: 8,5, d. 9 cm,

Mass./London 2011, S. 14, Abb. 7.

Baltimore, The Walters Art Gallery, 71.64.

Abb. 11: Heinrich Bünting, Europa Prima

Photo by Walters Art Gallery, Baltimore.

325

326

KÖRPER-ÄSTHETIKEN

Ulrike Müller-Hofstede

Abb. 6: Jan Luyken, Frontispiz zu

Abb. 1 aus: Cioffi 1987, Frontispiz.

Gerardus Blasius‘ Anatome animalium,

Abb. 2 aus: Deckers 2010, Abb. 139.

Amsterdam: Joannis a Sommeren 1681,

Abb. 3 aus: Cioffi 1987, Abb. 34.

Kupferstich. Aus: Hadot, Pierre: Zur Idee

Abb. 4 aus: Andrea Alciati, Emblemata,

der Naturgeheimnisse. Wiesbaden 1982.

Lyon 1550 (transl. and annotated by

Abb. 7: Louis-Ernest Barrias, La Nature

Betty I. Knott,[…] 1996, S. 83).

mysterieuse et voilée se dévoilant à la

Abb. 5 aus: Cioffi 1987, Abb. 2.

science, Paris 1893, Marmor, 198 x 100 x

Abb. 6 aus: Deckers 2010, Abb. 281.

45cm, Musée des Beaux-Arts Bordeaux.

Abb. 7: Foto: DiDi - Digitale Diathek,

Aus: Jordanova, Ludmilla: Sexual Visions.

Technische Universität Berlin, Institut für

Images of Gender in Science and Medi-

Kunstgeschichte, Berlin.

cine Between the 18th and 20th Centu-

Silke Tammen

Abb. 8: Louis-Ernest Barrias, La Nature

Abb. 1: Gabriel von Max, Der Anatom,

se dévoilant à la science, Paris 1899, al-

München 1869, Öl auf Leinwand, 136,5

gerischer Onyx, Marmor, roter Stein aus

x 189,5cm, Neue Pinakothek München.

den Pyrenäen, Gold, Malachit, 200 x 85 x

Aus: Althaus, Karin; Friedel, Helmut

55cm, Musée d’Orsay Paris. Aus: Lindner,

(Hg.): G abriel von Max. Malerstar, Dar-

Ines et al. (Hg.): Blick-Wechsel. Konstruk-

winist, Spiritist. Kat. Ausst. Lenbachhaus

tionen von Männlichkeit und Weiblichkeit

ries. Madison, Wisconsin 1989.

München 2010-2011. München 2010.

in Kunst und Kunstgeschichte.

Bildrechte: Bayerische Staatsgemälde-

Berlin 1989.

sammlungen. Abb. 2: Johann Hasselhorst, Die schöne Frankfurterin, Frankfurt 1864, Öl auf Leinwand, Historisches Museum Frankfurt a.M. Bildrechte: Frankfurt a.M./Historisches Museum, Foto: Horst Ziegenfusz. Abb. 3: Jacopo Berengario da Carpi, Isagoge brevis, Bologna: Benedikt Hector 1522, fol. 24v Holzschnitt. Aus: Laqueur, Thomas: Making Sex. Body and Gender from the Greeks to Freud. Cambridge,Mass. 1990. Abb. 4: Charles Estienne, De Dissectione Partium Corporis Humani, Paris: S. de Colines 1545, S. 285, Kupferstich. Aus: Kemp, Martin: Spectacular Bodies: the Art and Science of the Human Body from Leonardo to Now. Berkeley 2000. Abb. 5: Giovan-Battista Manfredini, Terrakotta-Skulptur einer Schwangeren, Modena 1773-1776, 85 x 55 x 45cm. Università di Modena e Reggio Emilia, Museo di Storia naturale e della strumentazione scientifica. Aus: Kemp, Martin: Spectacular Bodies: the Art and Science of the Human Body from Leonardo to Now. Berkeley 2000.

Kultur- und Medientheorie Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien November 2013, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5

Sandro Gaycken (Hg.) Jenseits von 1984 Datenschutz und Überwachung in der fortgeschrittenen Informationsgesellschaft. Eine Versachlichung März 2013, 176 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-2003-0

Sven Grampp, Jens Ruchatz Die Fernsehserie Eine medienwissenschaftliche Einführung November 2013, ca. 200 Seiten, kart., ca. 16,80 €, ISBN 978-3-8376-1755-9

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Kultur- und Medientheorie Kai-Uwe Hemken Exposition/Disposition Eine Grundlegung zur Theorie und Ästhetik der Kunstausstellung September 2013, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-2095-5

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Hermann Parzinger, Stefan Aue, Günter Stock (Hg.) ArteFakte: Wissen ist Kunst – Kunst ist Wissen Reflexionen und Praktiken wissenschaftlich-künstlerischer Begegnungen Februar 2014, 400 Seiten, Hardcover, zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2450-2

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Christopher F. Laferl, Anja Tippner (Hg.) Künstlerinszenierungen Performatives Selbst und biographische Narration im 20. und 21. Jahrhundert

Beate Flath (Hg.) Musik/Medien/Kunst Wissenschaftliche und künstlerische Perspektiven

August 2013, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2215-7

Juli 2013, ca. 250 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2346-8

Bastian Lange, Hans-Joachim Bürkner, Elke Schüssler (Hg.) Akustisches Kapital Wertschöpfung in der Musikwirtschaft

Urs Hangartner, Felix Keller, Dorothea Oechslin (Hg.) Wissen durch Bilder Sachcomics als Medien von Bildung und Information August 2013, ca. 330 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1983-6

August 2013, ca. 230 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2256-0

Kai Mitschele, Sabine Scharff (Hg.) Werkbegriff Nachhaltigkeit Resonanzen eines Leitbildes Oktober 2013, ca. 200 Seiten, kart., ca. 23,80 €, ISBN 978-3-8376-2422-9

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Birgit Wagner, Christina Lutter, Helmut Lethen (Hg.)

Übersetzungen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2012

2012, 128 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2178-3 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 12 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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