Der europäische Pflichtverteidiger: Die Anforderungen an Prozesskostenhilfe in nationalen und transnationalen Strafverfahren aus europäischer Perspektive [1 ed.] 9783428558292, 9783428158294

Aus Anlass der Ende 2016 erlassenen Richtlinie über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Stra

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German Pages 436 [437] Year 2020

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Der europäische Pflichtverteidiger: Die Anforderungen an Prozesskostenhilfe in nationalen und transnationalen Strafverfahren aus europäischer Perspektive [1 ed.]
 9783428558292, 9783428158294

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Schriften zum Prozessrecht Band 259

Der europäische Pflichtverteidiger Die Anforderungen an Prozesskostenhilfe in nationalen und transnationalen Strafverfahren aus europäischer Perspektive

Von Carolin Bannehr

Duncker & Humblot · Berlin

CAROLIN BANNEHR

Der europäische Pflichtverteidiger

Schriften zum Prozessrecht Band 259

Der europäische Pflichtverteidiger Die Anforderungen an Prozesskostenhilfe in nationalen und transnationalen Strafverfahren aus europäischer Perspektive

Von Carolin Bannehr

Duncker & Humblot · Berlin

Die Bucerius Law School – Hochschule für Rechtswissenschaft Hamburg hat diese Arbeit im Jahr 2019 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2020 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Satz: TextFormA(r)t, Daniela Weiland, Göttingen Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0219 ISBN 978-3-428-15829-4 (Print) ISBN 978-3-428-55829-2 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die Bucerius Law School  – Hochschule für Rechtswissenschaft  – hat meine Untersuchung im Frühjahrstrimester 2019 als Dissertation angenommen. Die mündliche Prüfung fand am 1. Juli 2019 statt. Literatur und Rechtsprechung be­ finden sich auf dem Stand von November 2018. Der größte Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dr. Karsten Gaede: Er hat die­ ses Promotionsvorhaben von Anfang an eng begleitet und war für Rückfragen, Diskussionen und Ratschläge stets erreichbar. Obwohl seine zahlreichen eigenen Projekte ihn stark einbinden, hat er die Arbeit immer engagiert betreut, mir Orien­ tierung gegeben und durch eine schnelle und umfangreiche Begutachtung deren Abschluss optimal gefördert. Ich bin ihm sehr dankbar, dass er sich der Betreuung und Unterstützung dieses Projekts derart verschrieben hat. Danken möchte ich zu­ dem Prof. Dr. Paul Krell für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens – und seine hilfreichen Anmerkungen für die Veröffentlichung. Viele weitere Menschen haben Anteil an dieser Arbeit. Dies gilt insbesondere für all die Personen, die sich die Mühe gemacht haben, mich bei der Korrektur und Schlussfassung zu unterstützen. Dafür danke ich besonders meinem Vater, Hen­ ning Castorf, meinen Großeltern, Renate und Wolfgang Pabst, meinem Schwie­ gervater, Günter Scheyhing, sowie meinen Freunden Rabea Bönnighausen und Jacob Feder. Letztlich wäre diese Arbeit ohne die jahrelange Unterstützung meiner Familie nicht möglich gewesen. Vor allem meinem Mann, Marwin Bannehr, danke ich für seine stete Zugewandtheit, innere Ruhe und seine unbedingte, liebevolle Unter­ stützung zu jeder Zeit. Ihm und dem Andenken meiner Mutter, Anke Castorf, ist dieses Buch gewidmet. Berlin, im August 2019 

Carolin Bannehr

Inhaltsverzeichnis Kapitel 1 Einleitung 19 A. Einführung und Forschungsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 I. Erkennbare Mängel strafrechtlicher Prozesskostenhilfe auf mitgliedstaatlicher Ebene – am Beispiel Deutschlands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 II. Verschlechterung dieser Situation über die zusätzliche Dimension transnationaler Strafverfolgung in der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 1. Erhöhte Schutzbedürftigkeit des Beschuldigten bei grenzüberschreitender Strafverfolgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2. Notwendigkeit der Erstreckung strafrechtlicher Prozesskostenhilfe auf grenz­ überschreitende Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 III. Europäisierung der Pflichtverteidigung als Verbesserung der Verteidigungsrechte in den Mitgliedstaaten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 IV. Forschungsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 V. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 B. Definitionen und thematische Begrenzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 I. Das Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 II. Nationalität und Transnationalität – Rechtshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 1. Nationalität und Transnationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2. Rechtshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 III. Strafrechtliche Prozesskostenhilfe – Pflichtverteidigung – notwendige Verteidigung? 40 IV. Das Prozesssubjekt des Strafverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 C. Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

Kapitel 2

Die menschenrechtliche Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe 45

A. Die Konzeption der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 I. Strafrechtliche Prozesskostenhilfe als Rückgrat der Verteidigungsrechte in Art. 6 Abs. 3 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 II. Voraussetzungen strafrechtlicher Prozesskostenhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

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Inhaltsverzeichnis 1. Rechtspflegeinteresse als primär im staatlichen Interesse stehende Voraussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 a) Betrachtung der potenziellen Folgen eines Strafverfahrens gegen den Angeklagten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 b) Betrachtung der Umstände des Strafverfahrens im Verhältnis zu den kon­ kreten Fähigkeiten des Angeklagten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 aa) Objektive Komplexität des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 bb) Abgleich mit den persönlichen Fähigkeiten des Angeklagten . . . . . . 55 (1) Feststellung der an den Angeklagten zu stellenden Anforderungen 55 (2) Bewertung der Kompetenzen des Angeklagten . . . . . . . . . . . . . . 56 2. Bedürftigkeit als primär im Angeklagteninteresse stehende Voraussetzung . . 58 3. Das Überwiegen des staatlichen Fürsorgeansatzes im Sinne eines Rechtspflege­ interesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 a) Verzicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 b) Die Garantenpflicht des Staates als subsidiärer Absicherungsmechanismus für effektive Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 c) Antragsrechte als vernachlässigte Materie in der Rechtsprechung des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 III. Der „Angeklagte“ im „strafrechtlichen Verfahren“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 1. Strafverfahren als auf die Territorialgrenzen beschränktes Verfahren zur Be­ stimmung von Schuld oder Unschuld des Angeklagten . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 a) „Charged with  a criminal offence“: Determination von Schuld oder Un­ schuld als Kernelement des Strafverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 aa) Strafrechtlicher Vorwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 bb) Strafverfahren als Rahmen der unmittelbaren Feststellung eines straf­ rechtlichen Vorwurfs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 b) Transnationale Verfahrensteile als den Verteidigungsgarantien entzogene Verfahrensteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 aa) Ursprung der Problematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 (1) Grundsätzlich fehlende Hoheitsgewalt des Anordnungsstaates . . 84 (2) Verwaltungsverfahrensrechtliche Natur des Rechtshilfeverfahrens aus Sicht des Vollstreckungsstaats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 (3) Grundsätzlich keine Zurechnung von Rechtsverletzungen des An­ ordnungsstaats – der „flagrant denial“-Test . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 bb) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 cc) Subsumtion: Überlappende Verantwortlichkeiten von Anordnungs- und Vollstreckungsstaat im transnationalen Strafverfahren . . . . . . . . . . . 94 (1) „Control and authority“ des Vollstreckungsstaats für drohende Rechtsverletzungen im Anordnungsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 (2) Strafrechtliche Natur des Rechtshilfeverfahrens auch aus Perspek­ tive des Vollstreckungsstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96

Inhaltsverzeichnis

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(a) Ausbau der in Stojkovic angedeuteten weiten Auslegung des strafrechtlichen Konnexes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 (b) Auslieferungsuntersuchungshaft: Anerkennung als Kombina­ tion von Untersuchungs- und Auslieferungshaft im transnatio­ nalen Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 (c) Schlussfolgerungen aus der zunehmenden Ausbildung eines einheitlichen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 (d) Praktisch wirksame Auslegung von Art. 6 Abs. 3 EMRK im transnationalen Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 (3) „Control and authority“ des Anordnungsstaates bei Verletzungen der Verteidigungsrechte des Angeklagten im Vollstreckungsstaat 101 2. Angeklagter als Akteur eines partizipatorischen Ermittlungsverfahrens . . . . . 102 a) Von der Beschuldigung bis zur rechtskräftigen Verurteilung – der weite An­ klagebegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 b) Partizipatorische Ausgestaltung der Stellung des Angeklagten im Ermitt­ lungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 aa) Partizipationsrechte des Beistands in strafprozessualen Zwangssitua­ tionen als vermittelte Teilhabe für den Angeklagten . . . . . . . . . . . . . 108 (1) Partizipationsrechte in allen wesentlichen Verfahrenssituationen

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(2) Haftprüfungstermin als Sonderfall der Vernehmung . . . . . . . . . . 112 bb) Berücksichtigungspflicht bezüglich des vom Angeklagten benannten Beistands seines Vertrauens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 c) Absicherung der Akteursstellung über ein wirksames Fehlerfolgenregime 115 aa) Vortrag eines Grundes für die Beschränkung einer Gewährleistung aus Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 (1) Beschränkung oder Verzögerung des Zugangs zu einem Verteidi­ ger im Ermittlungsverfahren nur aus „zwingenden Gründen“ . . . 116 (a) Konkrete Gefährdung von Leib, Leben oder persönlicher Frei­ heit anderer Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 (b) Prozessuale Sicherungsmechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 (2) Missachtung des Wunsches des Angeklagten bezüglich der Person des Verteidigers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 (3) Übertragung dieser Maßstäbe auf die Beschränkung bzw. Verzöge­ rung des Zugangs zu strafrechtlicher Prozesskostenhilfe . . . . . . . 122 bb) Keine unbillige Beschränkung der Verteidigung – Gesamtfairnessbe­ trachtung des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 IV. Der Staat als Garant der Rahmenbedingungen effektiver strafrechtlicher Prozess­ kostenhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 1. Kostenfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 2. Die durch die Anforderungen effektiver Verteidigung vorgegebene Qualität des rechtlichen Beistands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130

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Inhaltsverzeichnis a) Rechtliche Qualität der Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 b) Unabhängigkeit des rechtlichen Beistands von staatlicher Beeinflussung 132 V. Zwischenergebnis: Der europäische Pflichtverteidiger nach Maßgabe der EMRK 134 1. Voraussetzungen strafrechtlicher Prozesskostenhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 2. Der „Angeklagte“ im „strafrechtlichen Verfahren“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 3. Der Staat als Garant der Rahmenbedingungen effektiver strafrechtlicher Pro­ zesskostenhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

B. Die Konzeption der Grundrechtecharta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 I. Die neue Bedeutsamkeit der GRCh im Strafverfahren: dynamische Erweiterung des Anwendungsbereichs der Grundrechtecharta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 1. Der verschiebliche Maßstab der „Durchführung des Rechts der Union“ . . . . 142 a) Erforderlichkeit einer anwendbaren Ermächtigungs- oder Auftragsnorm des Primär- oder Sekundärrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 b) „Durchführung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 2. Rechtsfolge: Menschenrechtliche Fragmentierung einheitlicher (strafrecht­ licher) Sachverhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 II. Anforderungen der GRCh zwischen Kohärenz und autonomer Gestaltung . . . . 150 III. Die eigenständige Bedeutung der Grundrechtecharta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 1. Das ganzheitliche Verständnis des Strafverfahrens der Grundrechtecharta . . . 154 a) Haftprüfungsverfahren und ähnliche begleitende Verfahren . . . . . . . . . . . 155 b) Einbezug aller Abschnitte des transnationalen Strafverfahrens . . . . . . . . . 156 aa) Einbezug grenzüberschreitender Verfahrensabschnitte in den Begriff des „strafrechtlichen Verfahrens“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 bb) Zurechnung von Rechtsverletzungen im Anordnungs- oder Vollstre­ ckungsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 (1) Unzureichende Berücksichtigung der Grundrechte in den harmo­ nisierenden Rechtsakten de lege lata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 (2) Verteidigungsrechte als Vollstreckungshindernis aus Perspektive des Vollstreckungsstaats? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 (a) Wechselhafte Rechtsprechungslinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 (b) Die Rechtssache Aranyosi u. Căldăraru – C-404/15 u. C-659/15 PPU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 (c) Übertragung der Argumentation aus Aranyosi u. Căldăraru auf die Verletzungen von Verteidigungsrechten? . . . . . . . . . . 167 2. Auswirkungen der transnationalen Dimension der Charta auf die Vorausset­ zungen strafrechtlicher Prozesskostenhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 a) Transnationale Prägung des Rechtspflegeinteresses . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 aa) Vermutung der tatsächlichen Komplexität in transnationalen Strafver­ fahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171

Inhaltsverzeichnis

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bb) Vermutung der rechtlichen Komplexität in transnationalen Straf­ verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 cc) Vermutung des Rechtspflegeinteresses in bestimmten Auslieferungs­ situationen im Rahmen des Europäischen Haftbefehls . . . . . . . . . . . . 173 dd) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 b) Transnationale Auslegung der Bedürftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 3. Die zusätzlich marktrechtliche Prägung von Art. 48 Abs. 2 GRCh durch die Dienstleistungsfreiheit in transnationalen Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . 177 a) Die Frage der Kostenfreiheit als marktrelevanter, staatlicher Eingriff . . . . 177 b) Übernahme von Doppelverteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 aa) Maßstäbe der Dienstleistungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 (1) Die Regelung einer Kostenübernahme für Doppelverteidigung im Rahmen des Europäischen Haftbefehls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 (2) Anforderungen der Dienstleistungsfreiheit in den übrigen Fällen transnationaler Kooperation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 bb) Maßstäbe von Art. 48 Abs. 2 GRCh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 cc) Zusammenführende Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 c) Umfang der Übernahme als Konfliktfall zwischen Kostenvorhersehbarkeit und dem Erfordernis effektiver Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 aa) Umfang der Kostentragung nach den Maßgaben der Dienstleistungs­ freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 bb) Umfang der Kostentragung nach Maßgabe von Art. 48 Abs. 2 GRCh 191 cc) Ausgleich beider Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 4. Unabhängigkeit des Rechtsbeistands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 a) Standesrechtliche Verpflichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 b) Fehlende Weisungsabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 c) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 5. Die eigene Schrankensystematik in Art. 52 Abs. 1 GRCh . . . . . . . . . . . . . . . . 201 a) Einschränkung auf gesetzlicher Grundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 b) Wesensgehaltsgarantie: Keine systematische Beschränkung von Verteidi­ gungsrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 c) Besondere Ausprägung der Verhältnismäßigkeit im Rahmen von Art. 48 Abs. 2 GRCh im Fall strafrechtlicher Prozesskostenhilfe . . . . . . . . . . . . . 205 aa) Legitimes Ziel der Einschränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 bb) Das Erforderlichkeitskriterium als Hebel einer verteidigungsfreund­ licheren Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 cc) Angemessenheit und Bedeutung der Kausalität des Verfahrensverstoßes 210 IV. Zwischenergebnis: Der europäische Pflichtverteidiger nach der Grundrechtecharta 212 1. Die neue Bedeutsamkeit der Grundrechtecharta im Strafverfahren . . . . . . . . 212 2. Anforderungen der Grundrechtecharta zwischen Kohärenz und autonomer Gestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213

12

Inhaltsverzeichnis 3. Selbständige Bedeutung der Grundrechtecharta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214

C. Zusammenführung der Ergebnisse aus EMRK und GRChfür ein einheitliches men­ schenrechtliches Verständnis des europäischen Pflichtverteidigers . . . . . . . . . . . . . . 216 I. Umfassende und transnational offene Definition des Strafverfahrens . . . . . . . . . 216 II. Voraussetzungen strafrechtlicher Prozesskostenhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 III. Der Angeklagte als Akteur des gesamten Strafverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 IV. Rahmenbedingungen strafrechtlicher Prozesskostenhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 V. Strafrechtliche Prozesskostenhilfe nach EMRK und GRCh in einer zusammenfas­ senden Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220

Kapitel 3

Implementation und Ergänzung der menschenrechtlichen Vorgabendurch die PKH-RL  221

A. Strafrechtliche Prozesskostenhilfe nach Maßgabe der PKH-RL . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 I. Die Effektuierung der Verteidigungsbeistands-RL als Ziel der PKH-RL . . . . . . . 224 1. Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand nach Maßgabe der Verteidigungs­ beistands-RL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 a) Anwendungsbereich gem. Art. 2 Verteidigungsbeistands-RL . . . . . . . . . . 225 b) Voraussetzungen gem. Art. 3 Verteidigungsbeistands-RL . . . . . . . . . . . . . 226 2. Prozessuale und gesetzliche Auslöser des Anwendungsbereichs der PKH-RL 227 a) Vorgeschriebene Unterstützung durch einen Rechtsbeistand nach uniona­ lem oder nationalem Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 aa) Nach Maßgabe des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 (1) Aktueller Besitzstand des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 (2) Dynamischer Verweis auf künftige Rechtsakte . . . . . . . . . . . . . . . 231 bb) Nach Maßgabe des nationalen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 b) Vorgeschriebener Zugang zu einem Rechtsbeistand bei bestimmten Ermitt­ lungs- oder Beweiserhebungshandlungen und nach Entzug der Freiheit . . 232 II. Autonome Begriffsbestimmung des „Strafverfahrens“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 1. Einbezug justizieller Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 2. Einbezug transnationaler Strafverfahren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 III. Voraussetzungen strafrechtlicher Prozesskostenhilfe gem. Art. 4 PKH-RL . . . . . 237 1. Erforderlichkeit im Interesse der Rechtspflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 a) Vermutungswirkung bei Inhaftierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 b) Vermutungswirkung bei drohender Haftstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 c) Vermutung der Beiordnungspflicht bei Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 2. Bedürftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243

Inhaltsverzeichnis

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IV. Ermittlungsverfahren als Ausgangspunkt der Partizipationsrechte des Verdächti­ gen oder der beschuldigten Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 1. Die Begriffe des Verdächtigen und der beschuldigten Person als Indikator ­einer frühzeitigen Gewährleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 2. Zeitliche Abdeckung des gesamten Strafverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 a) Beginn der Gewährleistung nach der PKH-RL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 aa) Auslösende Situationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 bb) Unverzüglichkeit der Bestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 b) Zeitliche Beschränkung der PKH-RL bei geringfügigen Zuwiderhand­ lungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 c) Ende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 3. Partizipationsrechte des Verdächtigen als Kernstück strafrechtlicher Prozess­ kostenhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 a) Antragsrechte und spiegelbildliche Fürsorgepflichten . . . . . . . . . . . . . . . . 253 b) Die Entscheidungsfreiheit des Verdächtigen bzw. der beschuldigten Person zur Eigenverteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 4. Ausreichendes Fehlerfolgensystem bei Beschränkung des Rechts auf straf­ rechtliche Prozesskostenhilfe? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 a) Zulässige Ausnahmen gem. Art. 3 Abs. 5, 6 Verteidigungsbeistands-RL . . 258 aa) Verzögerung des Zugangs zu einem Rechtsbeistand wegen geogra­ fischer Entfernung, Art. 3 Abs. 5 Verteidigungsbeistands-RL . . . . . . . 258 bb) Verzögerung des Zugangs zu einem Rechtsbeistand wegen zwingender Gründe, Art. 3 Abs. 6 Verteidigungsbeistands-RL . . . . . . . . . . . . . . . 261 cc) Strengere Anforderungen für Kinder gem. Art. 6 Jugendstrafverfah­ rens-RL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 b) Prozessuale Sicherungsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 V. Gestaltungsaufgaben bezüglich der Rahmenbedingungen strafrechtlicher Prozess­ kostenhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 1. Vorrang der Unterstützungsleistung vor umfassender Kostenfreiheit . . . . . . . 266 a) Erheblicher Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten bezüglich des Um­ setzungsmodus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 b) Umfang der Kostenübernahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 2. Anforderungen der PKH-RL an die Qualitätssicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 a) Qualität des Systems strafrechtlicher Prozesskostenhilfe . . . . . . . . . . . . . 270 b) Qualität durch die Beschränkung des für strafrechtliche Prozesskostenhilfe zugelassenen Personenkreises . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 c) Qualität der mit der Prozesskostenhilfe verbundenen Dienstleistung . . . . 273 d) Das Recht auf einen Verteidiger des Vertrauens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 3. Unabhängigkeit der mit der Gewährung strafrechtlicher Prozesskostenhilfe befassten Entscheidungsinstanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276

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Inhaltsverzeichnis VI. Der Europäische Haftbefehl als geregelter Sonderfall des transnationalen Straf­ verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 1. Der Anwendungsbereich der PKH-RL für „gesuchte Personen“ . . . . . . . . . . 279 2. Festlegung eigener Voraussetzungen und Gewährleistungen . . . . . . . . . . . . . 280 a) Voraussetzungen im transnationalen Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 aa) Die zwingende Beiordnung eines Beistands im Vollstreckungsstaat . 281 bb) Gesonderte Voraussetzungen für strafrechtliche Prozesskostenhilfe im Anordnungsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 cc) Bedürftigkeit im Rahmen des Europäischen Haftbefehls . . . . . . . . . . 284 dd) Zeitraum der Gewährleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 b) Sonderregelung des Beistands und der Kostenfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . 285 aa) Mehrfacher Beistand im Rahmen des transnationalen Strafverfahrens 286 bb) Umfang der Kostentragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288

B. Zusammenfassung: Die Konzeption des europäischen Pflichtverteidigersnach Maß­ gabe der PKH-RL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 I. Der Anwendungsbereich der PKH-RL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 II. Voraussetzungen strafrechtlicher Prozesskostenhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 III. Frühzeitige Partizipationsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 IV. Rahmenbedingungen strafrechtlicher Prozesskostenhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 C. Der europäische Pflichtverteidiger im Zusammenspiel zwischen EMRK, GRCh und maßgeblichem Sekundärrecht der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293

Kapitel 4

Ausblick auf die mitgliedstaatliche Ebene am Beispiel des deutschen Rechts 300

A. Grundlagen der notwendigen Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 I. Strafsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 II. Prozessualer Rahmen der Wahrheitsermittlung – das Strafverfahren . . . . . . . . . 304 B. Die allein an den Interessen der Rechtspflege orientierten Voraussetzungen notwendi­ ger Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 I. Beiordnung erst ab „Vollstreckung“ der Untersuchungshaft . . . . . . . . . . . . . . . . 309 II. Beiordnung bei Schwere der Straftat sowie schweren drohenden Rechtsfolgen . 313 1. Beiordnung wegen drohender Freiheitsstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 a) Status quo der deutschen Regelung in § 140 Abs. 1 Nr. 1, 2, Abs. 2 S. 1 StPO sowie in §§ 418 Abs. 4, 408b StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 b) Richtlinienkonformität durch eine erweiterte Auslegung der „Schwere der Tat“ in § 140 Abs. 2 S. 1 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316

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c) Die vom BMJV vorgeschlagene Neuregelung in § 140 Abs. 1 StPO-E . . . 317 2. Mögliche Umwandlung einer Geldstrafe in Ersatzfreiheitsstrafe als Drohen von Freiheitsstrafe? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 III. Vermutung der Beiordnungspflicht bei jugendlichen Beschuldigten . . . . . . . . . . 322 1. Der derzeitige Rechtsstand und Novellierungsvorschläge . . . . . . . . . . . . . . . 323 2. §§ 68, 68a JGG-E nach dem Umsetzungsvorschlag des BMJV . . . . . . . . . . . 325 IV. Zwischenergebnis: Erforderlichkeit von Anpassungen in § 140 Abs. 1 StPO und § 68 JGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 C. Die eng gefasste Akteursstellung des Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 I. Strafrechtliche Prozesskostenhilfe im Ermittlungsverfahren als Ausnahmefall . . 328 1. Beiordnungszeitpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 2. Fehlendes Antragsrecht des Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 3. Erforderliche Aufnahme zusätzlicher auslösender zeitlicher Momente . . . . . 332 a) Vernehmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 b) Identifizierungs- und Vernehmungsgegenüberstellungen . . . . . . . . . . . . . 335 c) Tatortrekonstruktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 4. Unverzüglichkeit der Beiordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 II. Fehlerfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 1. Gesetzlich geregelte Gründe der Zugangsbeschränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 a) Die Zugangsbeschränkung gem. §§ 31 ff. EGGVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 b) Die Zugangsbeschränkungen gem. § 141 Abs. 3 StPO-E und § 68a Abs. 2 JGG-E der Referentenentwürfe des BMJV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 aa) Missverständnis bezüglich des Kriteriums der „zwingenden Gründe“ für die Vernehmung eines unverteidigten Beschuldigten . . . . . . . . . . 344 bb) Zu weitgehende Ermöglichung von Vernehmungen und Gegenüberstel­ lungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 2. Verwertung von unter Verletzung der Vorschriften der notwendigen Verteidi­ gung erhobenen Beweismitteln? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 a) Beweisverwertungsverbot bei Beschränkung des Zugangs zu einem not­ wendigen Verteidiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 b) Beweisverwertungsverbot bei fehlerhafter oder unterbliebener Belehrung gem. § 136 Abs. 1 S. 5 Hs. 2 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 D. Unzureichende Rahmenbedingungen der Pflichtverteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 I. Vorläufige Kostenübernahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 II. Pflichtverteidiger: Qualitätssicherung und Auswahlverfahren . . . . . . . . . . . . . . . 354 1. Beschränkung der für die Pflichtverteidigung zugelassenen Rechtsbeistände 355 a) Beschränkung des für Pflichtverteidigung zugelassenen Personenkreises 355 b) Exkurs zur Pflichtverteidigervergütung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358

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Inhaltsverzeichnis 2. Auswahl durch eine unabhängige Entscheidungsinstanz und im Rahmen eines transparenten Verfahrens? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 3. Wahl- und Auswechslungsrecht des Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 a) Wahlrecht des Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 b) Auswechslungsrecht des Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368

E. Notwendiger Beistand im transnationalen Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 I. Beistand i. S. v. § 40 IRG als Regelung für den Europäischen Haftbefehl . . . . . . 371 1. Die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 a) Zu strenge Voraussetzungen der Beiordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 b) Zeitraum der Bestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 2. Die Anordnung eines Europäischen Haftbefehls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 II. Regelung anderer strafprozessualer Zwangsmaßnahmen im transnationalen Straf­ verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 1. Beistand im Vollstreckungsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 2. Doppelverteidigung durch Unterstützung im Anordnungsstaat . . . . . . . . . . . 379 III. Rahmenbedingungen des Beistands in transnationalen Strafverfahren . . . . . . . . 380 F. Ergebnis: Erheblicher Nachbesserungsbedarf für die kommende Novelle der Pflicht­ verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 I. Erweiterung des Beiordnungskatalogs in § 140 Abs. 1 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . 382 II. Frühzeitige Partizipationsrechte des Beschuldigten über notwendige Verteidigung 383 III. Reformbedürftige Rahmenbedingungen der Pflichtverteidigung . . . . . . . . . . . . . 385 IV. Neue Beistandsregelungen im transnationalen Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . 387

Kapitel 5 Zusammenfassung 389

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis Abbildung 1: Akteure des transnationalen Strafverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Abbildung 2: Regelungsstruktur der PKH-RL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 Tabelle 1:

Richtlinien des Stockholmer Programms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

Kapitel 1

Einleitung A. Einführung und Forschungsansatz Verteidigung ist nicht nur dann erfolgreich, wenn ein Verfahren eingestellt oder der Angeklagte freigesprochen wird. Sie erfüllt ihren Sinn und Zweck dadurch, als Korrektiv der Strafverfolgungsbehörden einen ordnungsgemäßen Verfahrens­ ablauf zu sichern.1 Zugang zu formeller Strafverteidigung ist für den Angeklagten ein wesentlicher Schutzmechanismus gegenüber staatlicher Verfolgungsmacht. Der Angeklagte muss sich in einem System zur Wehr setzen, das eigene Normen und Begrifflichkeiten verwendet, die sich der juristisch nicht Vorgebildete kaum erschließen kann.2 Ohne in diesen Begrifflichkeiten versierten Beistand wird der Angeklagte schwerlich selbst seine Rechte wahren und auf das Verfahren einwir­ ken können.3 Zugang zur Verteidigung ist mithin das Mittel der Waffengleichheit im Angesicht der juristischen Expertise der Strafverfolgungsbehörden, weil „der Beschuldigte erst in Gemeinschaft mit seinem rechtsverständigen Verteidiger [zur vollberechtigt anerkannten Prozesspartei wird]. Wo dem Staatsanwalte als fachmännisch gebildeten Anklagekünstler kein fachmännisch gebildeter Verteidigungskünstler gegen­ übersteht, kann von einer Waffengleichheit der Parteien keine Rede sein.“4

Inwiefern jeder Beschuldigte sich tatsächlich eines Beistandes bedienen kann, hängt letztlich von seiner Vermögenssituation ab, wenn nicht ausgleichende Me­ chanismen – wie strafrechtliche Prozesskostenhilfe – bestehen. Für den bedürfti­ gen Beschuldigten existiert wirksamer Zugang zu einem Rechtsbeistand nur dann, wenn er über strafrechtliche Prozesskostenhilfe in die Lage versetzt wird, einen solchen Rechtsbeistand zu beauftragen.5 Die Verteidigungsrechte des Beschuldigten  – und damit auch strafrechtliche Prozesskostenhilfe – befinden sich aktuell in einem Europäisierungsprozess, der erstmalig in dieser Form versucht, die Strafverfahrensordnungen der Mitgliedstaa­ ten in diesem Bereich zu harmonisieren. Die Bemühungen der Mitgliedstaaten um die Verbesserung der Verteidigungsrechte stagnierten, während die europäische 1 S. Gerlach, in: Wasserburg / Haddenhorst (Hrsg.), FS K. Peters, S. 166; zu dieser Rolle als sog. „watchdog of procedural regularity“ vgl. auch u. Kap. 2, Fn. 349. 2 Vargha, Das Strafprozeßrecht, S. 173 spricht von einer fehlenden „prozessualen Intelligenz“. 3 Vgl. zu dieser grundlegenden Rechtsposition des Angeklagten als Prozesssubjekt im Strafverfahren, BVerfGE 133, 168 (200 ff.) m. w. N.; NJW 1984, 113. 4 Vargha, Das Strafprozeßrecht, S. 173. 5 Für das europäische Strafverfahren Hodgson, NCLR 14 (2011), 649.

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Kap. 1: Einleitung

Integration primär der Strafverfolgung die auf rein nationale Sachverhalte aus­ gerichteten Verfahrensordnungen und -rechte vor neue Aufgaben stellten. Diese Gemengelage – und die so entstandenen Schutzlücken für die Verteidigungsrechte des Beschuldigten  – ließen eine europäisch initiierte Regelung strafrechtlicher Prozesskostenhilfe notwendig erscheinen.

I. Erkennbare Mängel strafrechtlicher Prozesskostenhilfe auf mitgliedstaatlicher Ebene – am Beispiel Deutschlands Das Recht der notwendigen Verteidigung in den §§ 140 ff. StPO verfolgt grund­ sätzlich einen richtigen Ansatz, enthält jedoch Schutzlücken, die der Gesetzgeber gegen politischen Widerstand bislang nicht auflösen konnte. Pflichtverteidigung soll zwar „staatliche Fürsorge für den vermögenslosen Beschuldigten“ sein,6 dies jedoch nur „in schwerwiegenden Fällen“.7 Bedürftigkeit ist keine Voraussetzung der Pflichtverteidigung in §§ 140 f. StPO, sondern bestimmt sich allein danach, wann ein in diesem Sinne „schwerwiegender Fall“ vorliegt, der die Beiordnung eines Verteidigers für den Beschuldigten zur Sicherung eines „prozessordnungs­ gemäßen Verfahrensablauf[s]“8 unverzichtbar macht. Neben dieser Prämisse liegt notwendiger Verteidigung zudem das Telos zugrunde, dass Partizipation des Be­ schuldigten nicht im Ermittlungsverfahren notwendig ist, sondern erst dann, wenn gegen ihn die öffentliche Klage erhoben wurde.9 Dies entspricht jedoch nicht der strafverfahrensrechtlichen Realität. Dadurch entstehen Beiordnungslücken, die diejenigen benachteiligen, die auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, um sich gegen einen Strafvorwurf zu verteidigen. In den §§ 140 f. StPO werden die „schwerwiegenden Fälle“ so eng ausgelegt, dass in einem großen Bereich der mittleren Kriminalität der Beschuldigte nicht auf Pflichtverteidigung zugreifen kann. Die Fallgruppen des § 140 Abs. 1 StPO10 normieren Fälle schwerwiegender Kriminalität,11 schwerwiegender drohender Rechtsfolgen12 oder Fälle grundrechtsintensiver Eingriffe gegenüber dem Ange­ 6

BVerfGE 110, 226 (261); 63, 380 (391); 46, 202 (210); 39, 238 (243). BVerfGE 39, 238 (243); dies zumindest als Zielvorgabe der §§ 140 ff. StPO erkennend Plekksepp, Die gleichmäßige Gewährleistung des Rechts auf Verteidigerbeistand, S. 381. 8 BVerfGE 110, 226 (261); 39, 238 (243); NStZ 1998, 363 (364); NJW 1984, 113; so auch KMR-Haizmann, StPO, § 140 Rn. 5. 9 Vgl. u. Kap. 4 B. I. 10 Zu den weiteren Bestellungsgründen in §§ 118a Abs. 2 S. 2, 3, 350 Abs. 3 S. 1, 364a, 418 Abs. 4 StPO wird in Kap. 4 B. II., III. Stellung genommen. 11 So wenn die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor dem Landesgericht oder Ober­ landesgericht stattfindet, § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO, oder dem Beschuldigten ein Verbrechen zur Last gelegt wird, § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO. 12 So bei Berufsverbot, § 140 Abs. 1 Nr. 3 StPO, und de facto auch bei der Anklage eines Verbrechens, also wenn dem Angeklagten Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr droht, vgl. § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO, § 12 Abs. 1 StGB. 7

A. Einführung und Forschungsansatz 

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klagten.13 § 140 Abs. 2 StPO soll als Auffangtatbestand die Lücken des Katalogs in § 140 Abs. 1 StPO schließen, wird jedoch herrschend so ausgelegt, dass eine Beiordnung erst als notwendig gilt, wenn dem Beschuldigten mindestens ein Jahr Freiheitsstrafe droht.14 Freiheitsstrafen unterhalb dieser Schwelle und Geld­ strafen – so die gesetzgeberische Intention – sind demnach Bagatellen, in denen Eigenverteidigung zumutbar ist.15 Das lässt jedoch außer Acht, dass gravierende persönliche Folgen bereits innerhalb dieses gesetzgeberisch festgelegten „Baga­ tellbereichs“ eintreten:16 Vorstrafen erscheinen bereits im polizeilichen Führungs­ zeugnis, wenn der Angeklagte zu einer Geldstrafe von über 90 Tagessätzen oder zu einer Freiheitsstrafe von über drei Monaten verurteilt wurde, vgl. § 32 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Nr. 5 BZRG. Dadurch wird die Vorstrafe potenziellen Arbeitgebern zugänglich und wirkt sich auf zukünftige Erwerbschancen aus.17 Auch Freiheits­ strafen unter einem Jahr sind schwere Rechtsfolgen. Dem Beschuldigten droht der Verlust seines Arbeitsplatzes, die Isolation von Freunden und Familie und die deutlich erschwerte Rückkehr in das zuvor geführte Leben. Der grundsätzlich nur begrenzte Zugang zu Pflichtverteidigung wird durch den zeitlichen Geltungsbereich noch weiter beschränkt. Gem. § 141 Abs. 1 S. 1 StPO ist ein Verteidiger grundsätzlich erst dann beizuordnen, wenn der Angeklagte gem. § 201 StPO zur Erklärung über die Anklage aufgefordert worden ist. Im Ermitt­ lungsverfahren dagegen ist die Beiordnung eines Verteidigers nur fakultativ und nur auf Antrag der Staatsanwaltschaft möglich, § 141 Abs. 3 S. 1 StPO. Der Gesetz­ geber bewertet nach wie vor die Hauptverhandlung als Kernstück des Strafverfah­ rens und sieht Verteidigung daher auch erst in hauptverhandlungsnahen Stadien des Strafverfahrens als notwendig an.18 Das wird jedoch der prozessualen Bedeutung des Ermittlungsverfahrens nicht gerecht. Denn auch wenn § 261 StPO vorsieht, dass das Gericht seine Überzeugung aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung

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Z. B. wenn Untersuchungshaft vollstreckt wird, § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO, wenn die Unter­ bringung in einer Anstalt aufgrund richterlicher Anordnung bereits mindestens drei Monate andauert, § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO, wenn die Unterbringung zur Vorbereitung eines psychischen Gutachtens in Frage kommt, § 140 Abs. 1 Nr. 6 StPO, oder wenn dem Verletzen ein Rechts­ anwalt beigeordnet worden ist, § 140 Abs. 1 Nr. 8 StPO. 14 Vgl. detaillierter u. Kap. 4 B. II.; MüKo-Thomas / Kämpfer, StPO, § 140 Rn. 28 ff.; m. w. N. Plekksepp, Die gleichmäßige Gewährleistung des Rechts auf Verteidigerbeistand, S. 390. 15 Ähnlich zu dieser gesetzgeberischen Geringschätzung Gerlach, in: Wasserburg / Hadden­ horst (Hrsg.), FS K. Peters, S. 159. 16 Mit weiteren Beispielen Bahns / Burkert / Guthke / Kitlikoglu u. a., Neuordnung der Pflicht­ verteidigerbestellung, S. 8. 17 Ebd., S. 23. 18 Insg. zu dieser hauptverhandlungszentrischen Sicht der StPO Barton / Kölbel / Lindemann, in: Barton / Kölbel / Lindemann (Hrsg.), Wider die wildwüchsige Entwicklung des Er­ mittlungsverfahrens, S. 11; krit. Rückel, in: Wasserburg / Haddenhorst (Hrsg.), FS K. Peters, S. 267; ebenso abl. gegenüber dieser Verkennung der Bedeutung des Vorverfahrens, Esser, in: ders. / Günther u. a. (Hrsg.), FS H.-H. Kühne, S. 546.

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Kap. 1: Einleitung

schöpfen soll, sind die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens für die Gestaltung der Hauptverhandlung wie für die Würdigung der Beweisergebnisse prägend.19 Die Wahrheitsermittlung in der Hauptverhandlung ist ohnehin mittlerweile weniger der Regel- als der Ausnahmefall:20 In einer statistischen Auswertung der im Jahr 2012 geführten Ermittlungsverfahren in Deutschland belegt Heinz, dass die Staatsanwaltschaft von knapp 1,8 Mio. anklagefähigen Ermittlungsverfahren 799.230 (43,3 %) aus Opportunitätsgründen einstellte und weitere 531.775 (28,8 %) durch Strafbefehl erledigte.21 Unklar bleibt zwar, wie viele dieser 531.775 Anträge auf Erlass eines Strafbefehls abgelehnt oder wegen eines Einspruchs des Ange­ klagten doch in der Hauptverhandlung verhandelt werden. Trotz dieser Unbekann­ ten zeigen diese Zahlen jedoch die Bedeutung des Ermittlungsverfahrens. 72,1 % der Verfahren werden aufgrund der im Vorverfahren gewonnenen Erkenntnisse zum Teil endgültig entschieden. Selbst wenn es zur Hauptverhandlung kommt, besteht die Möglichkeit einer Verständigung gem. § 257c StPO. Auch dort ver­ kürzt sich die Beweiserhebung gem. § 257c Abs. 3 S. 2 StPO wiederum auf die „freie Würdigung aller Umstände des Falles“ durch das Gericht, abweichend vom sonst erforderlichen Strengbeweis. Grundlage für die Verständigung, neben dem Geständnis des Beschuldigten, sind damit auch vorrangig die Erkenntnisse des Ermittlungsverfahrens.22 Trotz dieser immensen Bedeutung des Ermittlungsverfahrens steht dem Be­ schuldigten im Ermittlungsverfahren weder ein eigenes Antragsrecht bezüglich eines Pflichtverteidigers23 noch ein zwingender Anspruch auf Beiordnung zu, 19

Augustin, Das Recht des Beschuldigten auf effektive Verteidigung, S. 27 f.; Rückel, in: Wasserburg / Haddenhorst (Hrsg.), FS K. Peters, S. 268; ebenso Jahn, in: Barton / Kölbel / Lin­ demann (Hrsg.), Wider die wildwüchsige Entwicklung des Ermittlungsverfahrens, S. 47; ders., Zur Rechtswirklichkeit der Pflichtverteidigerbestellung, S. 28; ders., in: Fischer / Bernsmann (Hrsg.), FS Rissing-van Saan, S. 279; ebenso Soyer / Schumann, StV 2012, 496; Busse, Frühe Strafverteidigung und Untersuchungshaft, S. 72; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 502a; Barton  / ​ Kölbel / Lindemann, in: Barton / Kölbel / Lindemann (Hrsg.), Wider die wildwüchsige Entwick­ lung des Ermittlungsverfahrens, S. 12 f. 20 Trüg, in: Paal / Poelzig (Hrsg.), Effizienz durch Verständigung, S. 66; Jahn, in: Barton / Köl­ bel / ​Lindemann (Hrsg.), Wider die wildwüchsige Entwicklung des Ermittlungsverfahrens, S. 40 f. 21 Heinz, Das strafrechtliche Sanktionensystem und die Sanktionierungspraxis in Deutsch­ land 1882–2012, 2014, S. 57; dies krit. aufgreifend Trüg, in: Paal / Poelzig (Hrsg.), Effizienz durch Verständigung, S. 65. 22 MAH-Ignor, Strafverteidigung, § 13 Rn. 7. 23 Vgl. dazu u. Kap. 4 C. I. 2.; die h. M. der Rspr. lehnt ein Antragsrecht ab, so BGH, NStZ 2016, 114; OLG Karlsruhe, NStZ 1998, 315, 316; krit. Sowada, NStZ 2005, 2; insoweit einen Reformbedarf erkennend vgl. BMJV, Bericht der Expertenkommission zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des allgemeinen Strafverfahrens und des jugend­ gerichtlichen Verfahrens, 2015, http://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/ Dokumente/RefE_Aenderung_StGB.pdf?__blob=publicationFile& (geprüft am: 10.12.2019), S. 16; zust. Gräfin von Galen, ZRP 2016, 43; ebenso für ein Antragsrecht Kortz, Die Notwen­ digkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 131 f.

A. Einführung und Forschungsansatz 

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selbst wenn deren Voraussetzungen bereits im Ermittlungsverfahren vorliegen.24 Diese Benachteiligung trifft vor allem diejenigen Beschuldigten, die sich eine Verteidigung im Vorverfahren nicht leisten können.25 Derjenige, der einen Vertei­ diger finanzieren kann, wird dadurch gegenüber dem bedürftigen Beschuldigten bessergestellt, der tendenziell auf die Beauftragung eines für ihn teuren Rechts­ anwalts verzichtet. Dies kostet den bedürftigen Beschuldigten Wissen und Ein­ fluss in dieser wichtigen Verfahrensphase:26 Als unverteidigter Beschuldigter hat er kein vollständiges Akteneinsichtsrecht27 und in der Regel weder Erfahrung noch ausreichende Kenntnisse, um mit der Staatsanwaltschaft auf Augenhöhe über eine Einstellung zu diskutieren,28 oder rechtlich wie tatsächlich Entlastendes derart vor­ zutragen, dass es Gehör findet. Nicht umsonst plädieren Strafrechtswissenschaftler dafür, das Ermittlungsver­ fahren partizipatorischer auszugestalten.29 In den wesentlichen Fragen, wie dem Antragsrecht des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren oder der Erweiterung des Beiordnungskatalogs, verharren der Gesetzgeber wie die Rechtsprechung trotzdem beim bisherigen (Miss-)Stand.30

II. Verschlechterung dieser Situation über die zusätzliche Dimension transnationaler Strafverfolgung in der EU Das Strafverfahren hat sich zudem verändert. Insbesondere im Raum der EU nimmt als Antwort auf grenzüberschreitende Kriminalität die grenzüberschrei­ tende Strafverfolgung zu. Bereits seit Beginn der 2000er haben die damals noch Europäischen Gemeinschaften Maßnahmen eingeleitet, Strafverfolgung in Europa 24 Abl. daher Leipold, AnwBl. 2004, 686; anders lediglich in eng begrenzten Ausnahme­ fällen, vgl. dazu u. zu §§ 140 Abs. 1 Nr. 4, 141 Abs. 3 S. 4 StPO, Kap. 4 C. I. 1., 3. 25 Ähnlich Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 502 a. E. 26 So auch Bahns / Burkert / Guthke / Kitlikoglu u. a., Neuordnung der Pflichtverteidiger­ bestellung, S. 7. 27 Zutr., dass dies auch durch das Beratungshilfegesetz und dadurch kostenfreie Beratungs­ hilfe nicht kompensiert werden kann: Gerlach, in: Wasserburg / Haddenhorst (Hrsg.), FS K. Pe­ ters, S. 166; Plekksepp, Die gleichmäßige Gewährleistung des Rechts auf Verteidigerbeistand, S. 463. 28 Davon macht sie auch in erheblichem Umfang Gebrauch: Laut der Erhebung des Statisti­ schen Bundesamts (Statistisches Jahrbuch Deutschland 2016, S. 312) hat die Staatsanwaltschaft im Jahr 2014 von 2.081.000 strafmündigen Tatverdächtigen gegen 744.000, also insgesamt 35,75 %, Anklage erhoben. 29 Dafür Schlothauer, StV 2016, 609 ff.; Trüg, in: Paal / Poelzig (Hrsg.), Effizienz durch Ver­ ständigung, S. 78 f.; für eine dahingehende Auslegung der bestehenden Normen der StPO Jahn, in: Barton / Kölbel / Lindemann (Hrsg.), Wider die wildwüchsige Entwicklung des Ermittlungs­ verfahrens, S. 51; Weigend, in: Fischer / Bernsmann (Hrsg.), FS Rissing-van Saan, S. 763 ff.; grundlegend Salditt, StV 2001, 311 ff. 30 Vgl. dazu näher u. Kap. 4 B., C.

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Kap. 1: Einleitung

zu zentralisieren und einem einheitlichen Rechts- und Verfolgungsregime zu unter­ stellen,31 weil die Mitgliedstaaten selbst vor allem die gegen die EU selbst gerich­ teten Delikte trotz immenser Schäden nicht ausreichend verfolgten.32 Mit Europol,33 Eurojust,34 OLAF35 und anderen Institutionen36 hat die Euro­ päische Union daher ein Netzwerk aufgebaut, das Strafverfolgung über mitglied­ staatliche Grenzen hinweg koordiniert.37 Ab 2020 werden durch diese Institutionen gesammelte Informationen und Erkenntnisse für die Strafverfolgung in jedenfalls 16 Mitgliedstaaten38 in den Händen der Europäischen Staatsanwaltschaft zusam­ mengeführt, soweit es um Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union geht.39 Auf verfahrensrechtlicher Ebene hat die EU zudem eine Vielzahl von Maßnahmen erlassen, die grenzüberschreitende Ermittlungen der Strafver­ folgungsbehörden vereinfachen. Seitdem sind die grenzüberschreitende Beweis­ erhebung, Vermögensabschöpfung und die Festnahme des Beschuldigten so mü­ helos möglich wie nie zuvor.40 Die Verteidigerschaft selbst konnte diese Ungleichheiten auf institutioneller Ebene bislang nicht ausgleichen:41 Ansätze wie Informationsdatenbanken, Netzwerke,42

31 Vgl. so bereits Anfang der 2000er, Kommission, Grünbuch v. 11.12.2001 – COM(2001) 715 final, S. 7. 32 Ebd., S. 10; zum Schadensumfang vgl. Vorschlag v. 11.7.2012 – COM(2012) 363 final, S. 2; krit. Brodowski, StV 2017, 684 („empirisch nur teilweise untermauert“). 33 Abk. für Europäisches Polizeiamt, Art. 88 AEUV; vgl. für nähere Informationen Safferling, Int. StR, § 12 Rn. 4 ff.; Spencer, in: Arnull / Barnard u. a. (Hrsg.), GS Dashwood, S. 347 f. 34 Abk. für Einheit für justizielle Zusammenarbeit in der Europäischen Union; m. w. N. Spencer, in: Arnull / Barnard u. a. (Hrsg.), GS Dashwood, S. 348 ff.; Zeder, JRP 2009, 176. 35 Die Abkürzung leitet sich von der französischen Bezeichnung „Office Européen de Lutte Anti-Fraude“ ab, dt. Europäisches Amt für Betrugsbekämpfung. 36 U. a. das EJN (European Judicial Network – Europäisches Justizielles Netzwerk), dazu m. w. N. Spencer, in: Arnull / Barnard u. a. (Hrsg.), GS Dashwood, S. 346 f.; Zeder, JRP 2009, 175. 37 Zur Wichtigkeit dieser zusammen getragenen Informationen im transnationalen Verfah­ ren, Gleß, Utr. L. Rev. 9 (2013), 100. 38 Belgien, Bulgarien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Kroatien, Litauen, Luxemburg, Portugal, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Spanien, Tschechische Republik und Zypern, vgl. Rat, Verordnung v. 12.10.2017 – EU/2017/1939, EStA-VO, ABl. L 283, 1. 39 Vgl. Rat, Verordnung v. 12.10.2017 – EU/2017/1939, EStA-VO, ABl. L 283, 1, Art. 22; m. w. N. Brodowski, StV 2017, 685 ff.; krit. Magnus, ZRP 2015, 183 f.; Zerbes, ZIS 2015, 152 bezüglich der Verwertung von transnational erlangten Beweismitteln; krit. zu dieser erneuten Stärkung der Strafverfolgungsbehörden, Satzger, NStZ 2013, 212 f. 40 Vgl. Groeben / Schwarze / Hatje-Meyer, EUV / A EUV, Art. 82 AEUV Rn. 6 („Entgrenzung staatlicher Strafgewalt“); in diesem Sinne GHN-Vogel / Eisele, EUV / A EUV, Art. 82 AEUV Rn. 32 ff.; zum Effizienzgedanken im Rahmen der Beweisrechtshilfe, Ambos, ZIS 2010, 558 f.; zur Überbetonung der Strafverfolgung Longridge, Eur. J. Legal Stud. 6 (2013), 181 ff.; m. w. N. zu den Instrumenten des Informationsaustauschs in der EU: Lauer, Informationshilfe im Rah­ men der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen, S. 102 ff. 41 So krit. Grünewald, HRRS 2013, 513. 42 Vgl. für eine Übersicht EnzEuR-Rackow, Eur. StR, § 23 Rn. 3 ff., 11 ff.

A. Einführung und Forschungsansatz 

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internationale Verteidigerteams oder ein Ombudsmann43 sind nur wenig aus­ gebaut. Darüber hinausgehende institutionalisierende Lösungen  – wie der sog. Eurodefensor – wurden von der Literatur zwar begrüßt,44 von Verteidigern jedoch grundsätzlich abgelehnt.45 Auch auf verfahrensrechtlicher Ebene hat die Ent­ wicklung der Verteidigungsrechte mit diesem erweiterten Zugriff nicht Schritt gehalten.46 1. Erhöhte Schutzbedürftigkeit des Beschuldigten bei grenzüberschreitender Strafverfolgung Dabei ist das grenzüberschreitende Strafverfahren gerade durch das Zusam­ menwirken verschiedener, nicht aufeinander abgestimmter Rechtsordnungen be­ sonders komplex. Mangels abgestimmter Zuständigkeitsvorschriften führen bei grenzüberschreitenden Strafverfahren oft mehrere Mitgliedstaaten gleichzeitig ein Ermittlungsverfahren.47 Denn bei grenzüberschreitenden Delikten sind grund­ sätzlich auch mehrere Mitgliedstaaten strafberechtigt, weil ihre Zuständigkeit in Strafsachen sich nicht nur an den Tatort, sondern darüber hinaus noch an die Staatsangehörigkeit des Täters oder Opfers oder gar an die Strafwürdigkeit eines Geschehens48 knüpfen kann. Durch die Freizügigkeit in der EU haben sich diese Zuständigkeitskonflikte vervielfacht.49 Dagegen fehlt es nach wie vor an ausrei­

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Vgl. dazu ebd., Rn. 22; NomosKomm-Esser, Eur. StR, § 59 Rn. 21; krit. dazu Arnold, StraFo 2013, 57. 44 So grds. befürwortend Fuchs, ZStW 116 (2004), 370; Nestler, ZStW 116 (2004), 351 f.; EnzEuR-Rackow, Eur. StR, § 23 Rn. 23 ff., 30; Satzger, in: Schöch / Satzger u. a. (Hrsg.), FS Widmaier, S. 560, 562 f.; Satzger, StV 2003, 139; ebenso zust. Schünemann, StV 2016, 184 f.; ders., ZIS 2009, 493; für eine Stärkung der Waffengleichheit plädierend Banach-Gutierrez / Harding, Eur. J. Crime Crim. L. & Crim. Just. 20 (2012), 261. 45 Vgl. dazu, dass eine Institutionalisierung von den Verteidigern als generell nicht erforder­ lich angesehen wird: Arnold, StraFo 2013, 57, 61; dazu, dass in dieser Hinsicht auch finanzielle Interessen der bestehenden Strafverteidigervereinigungen eine Rolle spielen, vgl. Wade, Eur. J. Crime Crim. L. & Crim. Just. 23 (2015), 154. 46 Meyer, in: Beck / Burchard / Fateh-Moghadam (Hrsg.), Strafrechtsvergleichung als Problem und Lösung, S. 98 f.; zu dieser Waffenungleichheit jeweils krit. EnzEuR-Rackow, Eur. StR, § 23 Rn. 6, 31; Ahlbrecht, StV 2012, 495; Beukelmann, NJW 2010, 2086; so auch Kommission, JLS/2008/E4/009, Study on Cross Border Legal Aid Project, S. 6. 47 Sog. positiver Kompetenzkonflikt, krit. Arnold, StraFo 2013, 55 f.; krit. dazu European Criminal Policy Initiative, ZIS 2013, 414; Kommission, JLS/2008/E4/009, Study on Cross Border Legal Aid Project, S. 10; ebenso krit. zur fehlenden Koordination der Strafgewalten Satzger, in: Reindl-Krauskopf / Zerbes u. a. (Hrsg.), FS Fuchs, S. 435; Schünemann, StV 2016, 181; ebenso dazu Zimmermann, in: Asp / Ulväng (Hrsg.), Essays on European Criminal Law, S. 154 f.; ders., BJCLCJ 3 (2015), 4. 48 Vgl. zum sog. Weltrechtsprinzip im deutschen Recht die Vorschrift des § 6 StGB; m. w. N. Ambos, Internationales Strafrecht § 3 Rn. 92 ff. 49 Durch das Internet sogar „world-wide victims“ erkennend Schomburg / Suominen-Picht, NJW 2012, 1192; Zimmermann, BJCLCJ 3 (2015), 3 f.

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Kap. 1: Einleitung

chenden50 Kollisionsregelungen, ähnlich denen des Internationalen Privatrechts,51 die eine Mehrfachverfolgung durch objektive, von vornherein feststehende Kri­ terien verhindern.52 Diese mehrfache Zuständigkeit verschiedener Mitgliedstaaten ist auch deshalb misslich, weil dies den Strafverfolgungsbehörden einen Spielraum bezüglich der anwendbaren Verfahrensordnung (und des anwendbaren materiellen Strafrechts)53 einräumt. Dadurch besteht zumindest die Möglichkeit, die für das Verfahren günstigste Jurisdiktion zu wählen,54 um z. B. bei Beweiserhebungen geringere Anforderungen erfüllen zu müssen (sog. forum shopping).55 Die Wahl des Ver­ fahrensortes wirkt sich zudem ganz unmittelbar auf die Verteidigungschancen des Beschuldigten aus: Wird ein Strafverfahren nicht in dem Staat geführt, in dem der Beschuldigte seinen Wohnort hat, steigt für ihn die Gefahr, in Untersuchungshaft genommen zu werden, exponentiell, während die Chancen, eine Außervollzug­

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Es gibt vereinzelte Regelungen, vgl. so z. B. Rat, Rahmenbeschluss v. 22.06.2002 – 2002/475/JI, Rb-Terrorismusbekämpfung, ABl. L 164, 3, Art. 9 Abs. 2, der in Terrorismus­ fällen vorsieht, dass die Verfolgungsstaaten durch Einvernehmen sich auf einen verfolgenden Staat einigen; krit. dazu EnzEuR-Radtke, Eur. StR, § 12 Rn. 22. 51 So Zimmermann, in: Asp / Ulväng (Hrsg.), Essays on European Criminal Law, S. 151; vgl. zwar Rat, Rahmenbeschluss zur Vermeidung und Beilegung von Kompetenzkonflikten im Strafverfahren v. 30.11.2009, in dem eine Lösung versucht wurde; gelungen sind jedoch keine zwingenden Kollisionsregelungen, Art. 1 Abs. 2 lit. b, Art. 2 Abs. 1 lit. a, b des Rahmen­ beschlusses sehen lediglich ein fakultatives Verfahren vor, mit dem die Mitgliedstaaten zu einem Einvernehmen gelangen sollen; dazu auch krit. Sidhu / Saucken, NZWiSt 2018, 126 f. 52 Vgl. insoweit auch für eine unionsweite Lösung plädierend Klip, European Criminal Law, S. 532 f.; ebenso Zimmermann, BJCLCJ 3 (2015), 15 ff., der eine EU-weite Regelung vorschlägt, die eine eindeutige Zuordnung über hierarchische und konsensuale Elementen vornimmt. 53 Mangels materiell einheitlicher Strafanordnungen sind manche Handlungen nur in eini­ gen Mitgliedstaaten mit Strafe bedroht, vgl. so am Beispiel der Beihilfe zum Freitod, der in Österreich strafbar ist (§ 78 ÖStGB), in Deutschland jedoch nicht, Zimmermann, BJCLCJ 3 (2015), 8, gleichwohl diese Wertung inzwischen für Deutschland nach der Novellierung von § 217 StGB nur noch gilt, soweit die Beihilfe nicht geschäftsmäßig erfolgt, vgl. krit. dazu Gaede, JuS 2016, 387; in England und Wales nach Art. 2 des Suicide Act 1961 strafbar, vgl. m. w. N. Sanders, ZStW 128 (2016), 52 ff.; in Nordirland gem. Art. 12 f. des Criminal Justice Act (Northern Ireland) 1966 mit Strafe bedroht; ebenso straffrei in der Schweiz, den Niederlan­ den und Belgien; mit Auflösung des Prinzips der beiderseitigen Strafbarkeit in der Rechtshilfe kann so insg. auf eine Dekriminalisierung nicht mehr vertraut werden, krit. Sieber, ZStW 121 (2009), 33; ebenso krit. dazu EnzEuR-Burchard, Eur. StR, § 14 Rn. 42; vgl. mit umfassender Darstellung zum Streitstand des Erfordernisses der beiderseitigen Strafbarkeit, Nalewajko, Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, S. 186 ff. 54 Vgl. so die weiten Auswahlmöglichkeiten auch bei mehreren zuständigen Europäischen Staatsanwälten, vgl. Art. 26 Abs. 4 EStA-VO i. V. m. Art. 31 Abs. 1, 2 EStA-VO; dies als „un­ erträglich“ bezeichnend, auch mit Blick auf den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, Fuchs, ZStW 116 (2004), 369; Gleß, Utr. L. Rev. 9 (2013), 91, 97. 55 Vgl. krit. und m. w. N. Nalewajko, Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, S. 248; ebenso abl. Zimmermann, in: Asp / Ulväng (Hrsg.), Essays on European Criminal Law, S. 155 ff.

A. Einführung und Forschungsansatz 

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setzung einer solchen Haft zu erlangen, gering sind.56 Im Zweifel wird ein abseits seines Wohnorts verfolgter Beschuldigter sich einem eingriffsintensiveren Ver­ fahren ausgesetzt sehen. Die Anwendbarkeit unterschiedlicher Verfahrenssysteme wäre dann unproble­ matisch, wenn alle mitgliedstaatlichen Verfahrensordnungen den Angeklagten im gleichen Umfang schützen würden. Doch bisher sind die Verteidigungsstandards kaum angeglichen.57 Trotzdem operieren die Mitgliedstaaten in der transnatio­ nalen Strafverfolgung nach dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung. Den Entscheidungen der Ermittlungsbehörden und der Gerichte anderer Mitgliedstaa­ ten wird dadurch eine inländischen Entscheidungen vergleichbare Rechtserheblich­ keit eingeräumt.58 Das Prinzip selbst ist inzwischen zwar primärrechtlich veran­ kert, vgl. Art. 82 Abs. 1 AEUV. Umfang und Inhalt des Prinzips richten sich jedoch nach den jeweiligen sekundärrechtlichen Rahmenbeschlüssen und Richtlinien, durch die es ausgeformt wird.59 Es ist das Mittel der Wahl der Kommission, einen einheitlichen Rechtsraum zu simulieren, obgleich die mitgliedstaatlichen Rechts­ ordnungen noch verschieden sind.60 Diese gegenseitige Anerkennung soll auf dem gegenseitigen Vertrauen der Mitgliedstaaten in die Rechtsstaatlichkeit der anderen Mitgliedstaaten und ihrer Entscheidungen fußen.61 Dieses für die Anerkennung 56

Rat, Rahmenbeschluss v. 23.10.2009 – 2009/829/JI, Rb-Überwachungsmaßnahmen, ABl. L 294, 20, Erwägungsgrund (5); ebenso Nestler, ZStW 116 (2004), 341. 57 Krit. zur daraus folgenden Benachteiligung des transnational Verfolgten, Arnold, StraFo 2013, 60; dies auch bemängelnd Kommission, JLS/2008/E4/009, Study on Cross Border Legal Aid Project, S. 11; Hodgson, NCLR 14 (2011), 612; ebenso krit. m. w. N. Winter, Utr. L. Rev. 9 (2013), 128 f.; Wade, Eur. J. Crime Crim. L. & Crim. Just. 23 (2015), 148. 58 Zur Terminologie der „Rechtserheblichkeit“: Kloska, Das Prinzip der gegenseitigen An­ erkennung im Europäischen Strafrecht, S. 180 ff., 189; so wohl auch Nalewajko, Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, S. 88 f.; a. A. Zeder, JRP 2009, 176 und Klip, European Cri­ minal Law, S. 394 f., 401, die darin eine Vollstreckungspflicht des ersuchten Staates bezüglich einer Anordnung des ersuchenden Staates erkennen; wiederum a. A. Safferling, Int. StR, § 12 Rn. 43; Hecker, Eur. StR, § 12 Rn. 37; krit. Heine, Die Rechtsstellung des Beschuldigten im Rahmen der Europäisierung des Strafverfahrens, S. 74 f., die jeweils nur den Entzug einer er­ neuten rechtlichen Überprüfungsmöglichkeit durch den ersuchten Staat sehen; insg. krit. zur Unschärfe der Definition des Prinzips Groeben / Schwarze / Hatje-Meyer, EUV / A EUV, Art.  82 AEUV Rn. 5. 59 GHN-Vogel / Eisele, EUV / A EUV, Art. 82 AEUV Rn. 28; zu den Verweigerungsgründen in Rahmenbeschlüssen Kloska, Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung im Europäischen Strafrecht, S. 202, z. B. „ne bis in idem“-Prinzip in Art. 3 Abs. 2 Rb-EHB als obligatorischer Verweigerungsgrund; ein ausnahmsweise obligatorischer ordre-public-Vorbehalt in Rat, Rah­ menbeschluss v. 24.2.2005 – 2005/214/JI, Rb-Geldbuße, ABl. L 76, 16, Art. 20 Abs. 3, oder in Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 3.4.2014 – 2014/41/EU, EEA-RL, ABl. L 130, 1, Art. 11 Abs. 1 lit. f; krit. zur oft nur fakultativen Normierung des ordre-public-Vorbehalts in den Instrumenten der gegenseitigen Anerkennung, Zimmermann, ZStW 127 (2015), 153. 60 Vgl. zu dieser Intention der Kommission im Zivilrecht Mansel, RabelsZ 70 (2006), 662; ebenso für das Strafrecht dies annehmend Albert / Merlin, eucrim 2015, 62; zudem ist es auch das souveränitätsschonendste Mittel, EnzEuR-Gaede, Eur. StR, § 3 Rn. 48; ebenso Longridge, Eur. J. Legal Stud. 6 (2013), 184. 61 Vgl. dazu Schallmoser, Europäischer Haftbefehl und Grundrechte, S. 10, 13.

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Kap. 1: Einleitung

notwendige Vertrauen in die jeweils andere, fremde Rechtsordnung kann jedoch nur über angeglichene und tatsächlich umgesetzte Mindestverfahrensstandards gelingen.62 Die an sich früh erfolgten Mahnungen der Kommission diesbezüglich sind zunächst ohne großen Widerhall verklungen.63 Die Hoffnung, die EMRK als gemeinsamer „Mindeststandard“ genüge für die Schaffung gegenseitigen Ver­ trauens,64 wurde enttäuscht.65 Gleiche Rechte für den Beschuldigten wären im europäischen Rechtsraum daher die notwendige Bedingung, um das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung tatsächlich auf gegenseitigem Vertrauen zu gründen.66 Für den transnational Verfolgten ergibt sich daraus vorrangig eine verfahrens­ rechtlich zutiefst unsichere Situation: Er kann von dem Ineinandergreifen unabge­ stimmter Regelungssysteme profitieren, ihm kann aber auch das Schlechteste aus den verschiedenen Verfahrensrealitäten zuteil werden:67 Wird z. B. gegen einen Verdächtigen in Deutschland ermittelt und macht er von seinem Schweigerecht Gebrauch, kann dies bei einer Verfahrensübernahme in einem anderen europäi­ schen Staat zu seinen Lasten verwendet werden, wenn dort an das Schweigen im Ermittlungsverfahren unter gewissen Voraussetzungen Nachteile geknüpft werden dürfen.68 Gegen eine durch die Rechte des Beschuldigten begrenzte Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung spricht grundsätzlich nichts. Ord­ 62

EnzEuR-Gaede, Eur. StR, § 3 Rn. 48 f.; Hatje, NJW 2007, 2360; m. w. N. zum Vertrau­ ensbegriff und den diesen begleitenden Streitpunkten, Nalewajko, Grundsatz der gegenseiti­ gen Anerkennung, S. 96 ff.; zust. Klip, European Criminal Law, S. 104, der uneingeschränkte Anerkennung nur bei einer Vollharmonisierung zulassen will; dazu, dass nicht koordinierte Verfahrensordnungen grundsätzlich menschenrechtliche Standards beeinträchtigen, Basedow, JZ 71 (2016), 273. 63 Kommission, Mitteilung v. 26.7.2000 – COM(2000) 495 final, S. 18. 64 Zu dieser Annahme s. auch GA Bot, Stellungnahme v. 28.4.2008 – C-66/08, Kozlowski, Rn. 98. 65 Kommission, Grünbuch v. 19.2.2003 – COM(2003) 75 final, Verfahrensgarantien in Straf­ verfahren innerhalb der Europäischen Union, S. 10; etwas impliziter in einem Vorschlag des Rates für einen Rahmenbeschluss v. 28.4.2004 – COM(2004) 328 final, Rb-Verteidigungs­ rechte, S. 73; ebenso krit. Rafaraci, in: Ruggeri (Hrsg.), Transnational Inquiries and the Pro­ tection of Fundamental Rights in Criminal Proceedings, S. 333; ebenso zur Vorrangigkeit der Schaffung von Mindeststandards Fuchs, ZStW 116 (2004), 371 u. Banach-Gutierrez / Harding, Eur. J. Crime Crim. L. & Crim. Just. 20 (2012), 244. 66 Ebenso Hecker, Eur. StR, § 12 Rn. 54; zutr. jedoch insoweit Klip, European Criminal Law, S. 402, dass gegenseitige Anerkennung auch ohne Harmonisierung praktiziert werden kann – mit den daraus folgenden, nachteiligen Konsequenzen für die Rechte des Beschuldigten; in diesem Sinne eine „strukturelle Kompensation fordernd“: Meyer, NStZ 2009, 663. 67 Vgl. ausführlich zum Vorhergehenden Thunberg-Schunke, Whose Responsibility?, S. 5 f.; ebenfalls Sorge äußernd Spencer, in: Arnull / Barnard u. a. (Hrsg.), GS Dashwood, S. 363; krit. Nestler, ZStW 116 (2004), 336. 68 So. z. B. in Irland, vgl. m. w. N. Daly, Dublin U. L. J. 31 (2009), 46 ff.; krit. dazu Sidhu / Saucken, NZWiSt 2018, 128; die Auslegung von Schweigen zulasten des Angeklagten soll aber durch Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 11.3.2016 – 2016/343/EU, Unschulds­ vermutungs-RL, ABl. L 65, 1, Art. 7 Abs. 5, in der Europäischen Union unterbunden wer­ den; sie trat am 1.4.2018 in Kraft; zu dieser Zielsetzung auch Kommission, Mitteilung v. 27.11.2013 – COM(2013) 820 final, S. 5, 8 f.

A. Einführung und Forschungsansatz 

29

nungsgemäß durchgeführt, beschleunigt gegenseitige Anerkennung die Rechts­ hilfeverfahren im europäischen Rechtsraum und steht damit auch im Interesse des Beschuldigten.69 Das bisherige Modell geringfügiger Mindeststandards bei gleich­ zeitiger gegenseitiger Anerkennung erweitert jedoch nur den Zugriff auf den An­ geklagten,70 ohne seine Rechte ähnlich dem nationalen Verfahren sicherzustellen.71 2. Notwendigkeit der Erstreckung strafrechtlicher Prozesskostenhilfe auf grenzüberschreitende Verfahren Steht die Fähigkeit zur Eigenverteidigung bereits im national begrenzten Ver­ fahren in Zweifel, verstärkt sich dieser Eindruck für das transnationale Verfahren umso mehr. Wie vielleicht in keinem anderen Fall ist ein transnational Verfolg­ ter besonders auf die Unterstützung eines Verteidigers angewiesen.72 Die Kosten einer transnationalen Verteidigung sind jedoch ungleich höher als solche einer rein nationalen Verteidigung. Denn wird der Vorwurf zunächst in mehreren Mit­ gliedstaaten ermittelt, muss der transnational Verfolgte sich – unter erheblichem Kostenaufwand – in all diesen Mitgliedstaaten präventiv verteidigen.73 Dies dürfte die meisten Angeklagten finanziell überfordern.74 Die Mitgliedstaaten der Union haben für strafrechtliche Prozesskostenhilfe zudem sehr unterschiedliche Regelungen getroffen.75 Der transnational Verfolgte kann zunächst das Pech haben, das Strafverfahren in einem Mitgliedsstaat füh­ ren zu müssen, der keine oder nur unzureichende Regelungen für strafrechtliche Prozesskostenhilfe vorsieht.76 Die Kriterien eines solchen Anspruchs auf staatlich getragene Verteidigung77 variieren erheblich darin, ob sie überhaupt einen Be­ 69

In diesem Sinne EnzEuR-Gaede, Eur. StR, § 3 Rn. 49 ff.; Gleß, ZStW 116 (2004), 356 a. E.; ebenso Hinarejos / Spencer / Peers, Opting out of EU Criminal Law, S. 32 f.; Wade, Utr. L. Rev. 9 (2013), 168; auch in Bezug auf die verbesserte Zugänglichkeit entlastender Auslandsbeweise eine Stärkung der Verteidigungsrechte sehend Nestler, ZStW 116 (2004), 334. 70 So auch Groeben / Schwarze / Hatje-Meyer, EUV / A EUV, Art. 82 AEUV Rn. 6; ebenso Asp, in: Reindl-Krauskopf / Zerbes u. a. (Hrsg.), FS Fuchs, S. 4; ebenso Zeder, JRP 2009, 184 f.; Ambos, ZIS 2010, 559. 71 So Hodgson, NCLR 14 (2011), 612. 72 Daher von „Zweiklassenverteidigung“ sprechend vgl. Arnold, StraFo 2013, 60; dies ebenso bemängelnd Kommission, JLS/2008/E4/009, Study on Cross Border Legal Aid Project, S. 11. 73 Vgl. Schünemann, StV 2016, 181; ebenso Roger, Grund und Grenzen transnationaler Strafrechtspflege, S. 188. 74 So auch Schünemann, StV 2016, 181; Wade, Eur. J. Crime Crim. L. & Crim. Just. 23 (2015), 153 f. 75 Vgl. m. w. N. zu den Unterschieden in der einfachgesetzlichen Ausgestaltung, Hodgson, in: Mitsilegas / Bergström / Konstadinides (Hrsg.), Research Handbook on EU Criminal Law, S. 172 ff.; vgl. ebenso die Übersicht in Spronken / Vermeulen / Vocht / van Puyenbroeck, EU Pro­ cedural Rights in Criminal Proceedings, S. 78 ff. 76 Vgl. dazu Arnold, StraFo 2013, 60. 77 Den Begriff der „staatlich getragenen“ Verteidigung prägend, Gaede, Fairness als Teil­ habe, passim.

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Kap. 1: Einleitung

dürftigkeitsansatz zulassen,78 ob dieser Anspruch eine Bagatellgrenze hat79 und ob notwendige Verteidigung schon im Ermittlungsverfahren gewährt wird.80 Selbst wenn notwendige Verteidigung oder strafrechtliche Prozesskostenhilfe im Verfah­ rensstaat geregelt ist, ist dies grundsätzlich nicht auf die Bedürfnisse transnatio­ naler Verteidigung zugeschnitten. So ist die wünschenswerte Doppelverteidigung im transnationalen Verfahren bisher noch in keinem Mitgliedstaat als Fall der notwendigen Verteidigung anerkannt.81 Insgesamt fehlt es auch am grundlegenden Verständnis, der Strafverfolgung dienende Maßnahmen der Rechtshilfe überhaupt als Teil des Strafverfahrens anzuerkennen oder Verteidigungsrechte in diesen Ver­ fahrensabschnitten wenigstens entsprechend anzuwenden.82 Die divergenten Regelungen der Mitgliedstaaten zur Vergütung der Pflichtver­ teidiger erschweren zudem den Zugang zu Verteidigung in grenzüberschreitenden Strafverfahren. Im Einzelfall kann eine solche Verteidigung für den jeweiligen Rechtsanwalt kaum kostendeckend möglich sein:83 Ausgehend von der aktuellen Rechtsprechung des EuGH darf ein in einem anderen Mitgliedstaat ebenso hinzu­ gezogener Anwalt nur Gebühren in der Höhe geltend machen, wie dies auch ein im Verfahrensstaat niedergelassener Anwalt dürfte.84 Da die Gebührenordnungen der Rechtsanwaltschaft grundsätzlich den allgemeinen Lebenshaltungskosten des jeweiligen Mitgliedstaates angepasst sind, führt dies dazu, dass ein Verteidiger aus einem Mitgliedstaat mit höheren Wohlstandsniveau nur einen Bruchteil seiner entstandenen Kosten zurückverlangen kann.85 Solche Aspekte können die Zugäng­ lichkeit strafrechtlicher Prozesskostenhilfe negativ beeinflussen.

78 In Italien z. B. findet eine summenmäßig genau bestimmte Bedürftigkeitsprüfung statt, vgl. Varano / Luca, GJ 7 (2007), 19; in Großbritannien dagegen kommt es – im Rahmen der Verteidigung im Prozess – nur auf Rechtspflegeinteressen an, anders als in Frankreich und Belgien, vgl. Gibens / van Houtte, Sociologia del Diritto 38 (2011), 93 f. 79 Vgl. für die Ausnahmen in Frankreich, Irland, den Niederlanden und Finnland Barendrecht / Kistemaker / Scholten / Schrader u. a., Legal Aid in Europe, 2014, S. 30. 80 Vgl. m. w. N. Spronken, EuCLR 2011, 226; in Spanien jedenfalls ab Vollziehung von Untersuchungshaft und bei Anhörung vor dem Haftrichter, vgl. Díez-Ripollés / Guerra-Pérez, Eur. J. Crime Crim. L. & Crim. Just. 18 (2010), 377; in England dagegen jederzeit, bei leich­ ten Delikten umfasst Prozesskostenhilfe jedoch ggf. nur telefonische Rechtsberatung, vgl. Hodgson, Contemp. Readings L. & Soc. Just. 7 (2015), 9. 81 Vgl. Kommission, JLS/2008/E4/009, Study on Cross Border Legal Aid Project, S. 11; krit. zu diesem Kostenaufwand für den Beschuldigten European Criminal Policy Initiative, ZIS 2013, 427; für die deutsche Regelung vgl. u. Kap. 4 E. 82 Vgl. dazu u. Kap. 2 A. III. 1. b), Kap. 4. A. II., E. 83 Vgl. Arnold, StraFo 2013, 60. 84 Vgl. EuGH, Urteil v. 11.12.2003 – C-289/02, AMOK Verlags GmbH, Slg. 2003, I-15075 Rn. 27; vgl. u. Kap. 2 B. III. 3.  85 Vgl. ausführlich dazu u. Kap. 2 B. III. 3.

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A. Einführung und Forschungsansatz 

III. Europäisierung der Pflichtverteidigung als Verbesserung der Verteidigungsrechte in den Mitgliedstaaten? Vor dem Hintergrund dieser Faktoren hat sich die EU entschieden, strafrecht­ liche Prozesskostenhilfe durch die „Richtlinie über Prozesskostenhilfe für Ver­ dächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls“86 zu harmonisie­ ren. Die PKH-RL ist eine der Maßnahmen, mit denen das sog. Stockholmer Pro­ gramm des Rats von 200987 umgesetzt werden soll. Dieses Programm war Aus­ druck der Erkenntnis, dass eine Regelung der Verteidigungsrechte nur schrittweise politisch umsetzbar sein würde.88 Von den im Stockholmer Programm festgelegten Maßnahmen wurden inzwischen fünf in den folgenden Richtlinien umgesetzt:89 Tabelle 1 Richtlinien des Stockholmer Programms Richtlinie

Umsetzungspflicht bis:

Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 20.10.2010  – 2010/64/ 27. Oktober 2013. EU, ABl. L 280, 1 – Richtlinie über das Recht auf Dolmetschleistun­ gen und Übersetzungen im Strafverfahren (i. F. Übersetzungs-RL). Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 22.5.2012 – 2012/13/EU, ABl. L 142, 1 – Richtlinie über das Recht auf Belehrung und Unter­ richtung im Strafverfahren (i. F. Belehrungs-RL).

2. Juni 2014.

Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 22.10.2013  – 2013/48/ 27. November 2016.90 EU, ABl. L 294, 1 – Richtlinie über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrich­ tigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommu­ nikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Frei­ heitsentzugs (i. F. Verteidigungsbeistands-RL).

86

Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 26.10.2016 – 2016/1919/EU, PKH-RL, ABl. L 297, 1. 87 Vgl. Rat, Entschließung v. 30.11.2009, Fahrplan Verteidigungsrechte, ABl. C 295, 1 ff. 88 So auch Rat, Konferenzbericht v. 1.2.2012 – 5970/12, S. 3.; Hodgson, N. C. J. Int’l L. & Com. Reg. 37 (2011), 312; krit. Wade, Eur. J. Crime Crim. L. & Crim. Just. 23 (2015), 158 („sluggish implementation“). 89 Ausstehend ist lediglich Maßnahme F, ein Grünbuch über die Untersuchungshaft, vgl. Rat, Entschließung v. 30.11.2009, Fahrplan Verteidigungsrechte, ABl. C 295, 1, S. 3. 90 Inzwischen von allen Mitgliedstaaten umgesetzt, vgl. https://eur-lex.europa.eu/legalcontent/DE/NIM/?uri=celex:32013L0048 (geprüft am: 10.12.2019), davor hatten selbst nach Ablauf der Umsetzungsfrist am 16.12.2016 nur 12 der 28 Mitgliedstaaten die Kommission über die Umsetzung der Richtlinie notifiziert, vgl. Rat, Ergebnisse des COPEN-Treffens v. 16.12.2016 – 15714/16, S. 5. Ob das an der fehlenden Umsetzung liegt oder daran, dass nur die Unterrichtung unterlassen wurde, ist unklar.

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Kap. 1: Einleitung

Richtlinie

Umsetzungspflicht bis:

Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 11.3.2016  – 2016/343/ EU, ABl. L 65, 1 – Richtlinie zur Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Ver­ handlung in Strafverfahren (i. F. Unschuldsvermutungs-RL).

1. April 2018.

Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 26.10.2016 – 2016/1919/ 25. Mai 2019. EU, ABl. L 297, 1 – Richtlinie über Prozesskostenhilfe für Verdäch­ tige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haft­ befehls (i. F. PKH-RL). Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 11.5.2016  – 2016/800/ 11. Juni 2019. EU, ABl. L 132, 1 – Richtlinie über Verfahrensgarantien in Straf­ verfahren für Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind (i. F. Jugendstrafverfahrens-RL).

Bereits vor der Regelung durch die PKH-RL waren nationale Verfahrensord­ nungen nicht frei von europäischen Einflüssen. Insbesondere die Rechtsprechung des EGMR zum Grundsatz des fairen Verfahrens in Art. 6 Abs. 1, 3 EMRK be­ einflusst die Auslegung der Verfahrensrechte seit Jahrzehnten zugunsten des Be­ schuldigten.91 Nach der Umsetzung der PKH-RL wird die GRCh zusätzlich zur EMRK den menschenrechtlichen Rahmen für die Verfahrensrechte des Beschul­ digten im Strafverfahren ergänzen.

IV. Forschungsfrage Die Perspektive einer Europäisierung strafrechtlicher Prozesskostenhilfe ver­ spricht auf den ersten Blick, neue Impulse für die mitgliedstaatlichen Verfah­ rensrechte des Beschuldigten zu setzen und dabei über eine genuin europäische Herangehensweise bisherige Defizite für den Beschuldigten im transnationalen Strafverfahren besser abzubilden, als dies die Mitgliedstaaten aus Eigeninitia­ tive leisten. Ob eine europäische Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe diese Erwartungen tatsächlich erfüllen kann, soll daher im Folgenden erarbeitet werden. Denn auch wenn die Impulsgebung durch gemeinsame europäische Stan­ dards eine Aufwertung der Verteidigungsrechte bedeuten kann, kann die Suche nach einem gemeinsamen europäischen Konsens der Verteidigungsrechte auch

91

Vgl. so z. B. in Bezug auf den Einsatz von Brechmitteln, EGMR, Urteil v. 11.7.2006 – 54810/00, Jalloh ./. DE, Rep. 2006-IX, Rn. 94 ff. und daraufhin einlenkend BGHSt 55, 121 (130, 135 f.); m. w. N.; nach wie vor a. A. BeckOK-Ritzert, StPO, § 81a Rn. 12.2; ebenso im Rah­ men des Einsatzes von sog. Lockspitzeln EGMR, Urteil v. 23.10.2014 – 54648/09, Furcht ./. DE, Rn. 48 ff.; aufgegriffen und umgesetzt in BGHSt 60, 276 (283 ff.).

A. Einführung und Forschungsansatz 

33

zu einer Verwässerung oder gar der Normierung nur des kleinsten gemeinsamen Nenners führen.92 Für diese Abhandlung ist daher zunächst erforderlich, die Konzeption eines europäischen Pflichtverteidigers zu ermitteln, indem die Anforderungen der EMRK, GRCh und PKH-RL an strafrechtliche Prozesskostenhilfe erarbeitet wer­ den. Dabei wird von EMRK und GRCh als menschenrechtlicher Grundlage ausge­ gangen. Diese werden methodisch im Wege der Konventionskonkretisierung ana­ lysiert. Davon ausgehend werden Anforderungen erarbeitet, die auch die PKH-RL umsetzen muss. Die PKH-RL wird jedoch mit diesen Anforderungen nicht nur ab­ geglichen, sondern auch dahingehend untersucht, ob sie über die Maßgaben von EMRK und GRCh hinaus eigene Maßstäbe für die europäische Pflichtverteidigung setzt. Diese vervollständigte Betrachtung aller Anforderungen aus EMRK, GRCh und PKH-RL wird sodann ermöglichen, Einfluss und Potential der Europäisierung strafrechtlicher Prozesskostenhilfe zu ermitteln. Dies soll durch einen Überblick über die bisherige deutsche Regelung notwendiger Verteidigung exemplarisch ab­ geschlossen werden.

V. Gang der Untersuchung In Kapitel 1 B. werden zunächst die Kernbegriffe der Arbeit definiert. Die De­ finitionen stellen zum einen eine einheitliche Terminologie – soweit möglich – in der Abhandlung sicher, ermöglichen zum anderen aber auch thematische Abgren­ zungen zu benachbarten Fragestellungen. Kapitel 1 C. gibt einen kurzen Überblick über die Methodik der Arbeit. Der Schwerpunkt der Abhandlung liegt in der europäischen Konzeption des Pflichtverteidigers. Dafür wird als erster Hauptteil in Kapitel 2 die menschen­ rechtliche Dimension dieser Konzeption anhand der Gewährleistungen von Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK und Art. 48 Abs. 2 GRCh erarbeitet. Ausgangspunkt dafür ist das Recht auf strafrechtliche Prozesskostenhilfe im historisch älteren und deut­ licher ausjudizierten Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK in Kapitel 2 A. Oft nur als Neben­ aspekt oder Hilfsrecht des Rechts auf Zugang zu einem Verteidigerbeistand be­ handelt, konkretisiert die Arbeit dessen Konventionsgewährleistungen anhand der Rechtsprechung des EGMR und des Rechtsdiskurses dazu. Die grundsätzlich fort­ schrittlich ausgestalteten Gewährleistungen werden auch auf ihre Übertragbarkeit auf das transnationale Strafverfahren hin betrachtet. Die insoweit bislang nationalzentrierte Auslegung des EGMR wird kritisch begutachtet und im Wege einer ge­ 92 Im Hinblick auf frühere Vorstöße der Kommission zu Verfahrensrechten krit. Nestler, ZStW 116 (2004), 348; ebenso Panainte, CES Working Papers 2015, 569; krit. bereits im Rahmen der EMRK Wade, Eur. J. Crime Crim. L. & Crim. Just. 23 (2015), 166 („race to the bottom“); vor einem solchen Vorgehen warnend: European Criminal Policy Initiative (ECPI), ZIS 2013, 427; in diesem Sinne das Stockholmer Programm kritisierend: Schünemann, StV 2016, 181 ff.

34

Kap. 1: Einleitung

sellschaftlich-dynamischen Auslegung an die gewachsenen Realitäten des Straf­ prozesses angepasst. Kapitel 2 B. ergänzt diese Betrachtungen um die Vorgaben für strafrechtliche Prozesskostenhilfe aus Art. 48 Abs. 2 GRCh. Dabei wird über das Kohärenzgebot zu Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK der Gehalt von Art. 48 Abs. 2 GRCh ermittelt. In diesem Rahmen wird insbesondere die transnationale Dimension des Rechts auf strafrechtliche Prozesskostenhilfe in der GRCh untersucht werden. Die Gleichrangigkeit der GRCh mit anderem Primärrecht, insbesondere den Grund­ freiheiten, erfordert zudem eine Abwägung zwischen diesen und den justiziellen Rechten der Charta. Denn anders als im Rahmen der EMRK müssen die Gewähr­ leistungen der GRCh in grenzüberschreitenden Sachverhalten in praktischer Kon­ kordanz mit den Gewährleistungen der Grundfreiheiten ausgelegt werden. Das Zusammenspiel von Art. 48 Abs. 2 GRCh mit den Gewährleistungen insbesondere der Dienstleistungsfreiheit in Art. 56 f. AEUV wird daher ein Schwerpunkt der Bearbeitung in Kapitel 2 B. sein. Das zweite Kapitel endet mit der Betrachtung beider menschenrechtlicher Konzeptionen und führt beide zu einem einheitlichen Maßgabenkatalog zusammen, der sowohl für den unionalen wie mitgliedstaatli­ chen Gesetzgeber Maßstabswirkung entfaltet. Der zweite Hauptteil der europäischen Konzeption der Pflichtverteidigung ist die Untersuchung der PKH-RL in Kapitel 3. Ihre Vorschriften werden durch Auslegung konkretisiert und soweit erforderlich im Wege konventions- und char­ takonformer Auslegung an die Vorgaben der EMRK und GRCh angepasst. Da­ durch wird nicht nur kritisch begutachtet, inwiefern die PKH-RL den aktuellen menschenrechtlichen Standard strafrechtlicher Prozesskostenhilfe in Sekun­ därrecht umsetzt, sondern zugleich untersucht, welche eigene Gestaltungskraft die PKH-RL darüber hinausgehend entfaltet. Die menschenrechtliche Konzep­ tion strafrechtlicher Prozesskostenhilfe wird über die PKH-RL in Kapitel 3 C. zu einer gesamteuropäischen Konzeption ergänzt. Die in dieser Form entwickel­ ten und thesenartig zusammengefassten Maßstäbe bilden das erforderliche Um­ setzungsniveau für die Mitgliedstaaten und damit ein konkretes Handlungspro­ gramm ab. Kapitel 4 leitet den Schlussteil der Abhandlung ein. Es stellt der erarbeiteten europäischen Konzeption der Pflichtverteidigung die bislang reale mitgliedstaat­ liche Konzeption am Beispiel des deutschen Rechts gegenüber. Diese schlaglicht­ artige Begutachtung wird neben den bereits positiv umgesetzten Aspekten ins­ besondere begutachten, inwieweit Handlungsbedarf des deutschen Gesetz­gebers besteht. Exemplarisch wird so der Vorteil oder Nachteil einer europäisierten Kon­ zeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe gegenüber einer rein national ausge­ stalteten Prozesskostenhilfe greifbar gemacht. Kapitel 4 endet mit dem Ergebnis dieser Überprüfung. Als Abschluss legt Kapitel 5 das tatsächliche Potenzial der Europäisierung straf­ rechtlicher Prozesskostenhilfe für das nationale wie transnationale Strafverfahren fest und fasst die wesentlichen Ergebnisse der Arbeit zusammen.

B. Definitionen und thematische Begrenzungen 

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B. Definitionen und thematische Begrenzungen Vor der eigentlichen Erarbeitung von Inhalt und Ausformung der europäischen Pflichtverteidigung sollen zunächst die zentralen Begriffe der Arbeit definiert und ausgewählt werden. In diesem Rahmen wird zugleich klargestellt, welche angren­ zenden Fragestellungen diese Abhandlung nicht beantwortet.

I. Das Strafverfahren Das Strafverfahren im Sinne dieser Arbeit soll sowohl das Ermittlungsverfah­ ren, Zwischenverfahren, die spätere Hauptverhandlung sowie die Rechtsmittelebe­ nen umfassen, die durch eine der Rechtskraft fähigen Entscheidung abgeschlos­ sen werden. Dadurch bleibt bei der Bearbeitung das Strafvollstreckungsverfahren außen vor.93 Zwar spielt auch Prozesskostenhilfe im Vollstreckungsverfahren eine erhebliche Rolle. Für die Durchsetzungen der Privilegien und Rechte im Strafvoll­ zug steht oft sogar die „Kostenbarriere […] an erster Stelle.“94 Ein Einbezug des zweifelsohne grundrechtsintensiven Eingriffs des Strafvollzugs und der dazu er­ forderlichen Anpassungen strafrechtlicher Prozesskostenhilfe würde den Schwer­ punkt der Arbeit verschieben. Denn Verteidigungsrechte im engeren Sinne, wie in Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK zugrunde gelegt, sind in diesen Verfahren nicht mehr betroffen. Die insoweit bestehenden Besonderheiten müssen daher anderen Ab­ handlungen vorbehalten bleiben.

II. Nationalität und Transnationalität – Rechtshilfe Das Vorhaben wird sich sowohl mit Aspekten des nationalen wie des transna­ tionalen Strafverfahrens befassen und den Fokus im transnationalen Verfahren auf die Kooperation der Mitgliedstaaten der EU in Form der Rechtshilfe legen. 1. Nationalität und Transnationalität Die Grundkonzeption in jedem Staat ist das national begrenzte Verfahren,95 d. h., auf dem eigenen Staatsgebiet begeht ein Staatsangehöriger eine strafbare Hand­ lung zulasten eines anderen Staatsangehörigen des gleichen Staates. Indem Täter und / oder Opfer Ausländer sind, Tathandlungen in mehreren Mitgliedstaaten verübt werden oder Taterfolge in mehreren Mitgliedstaaten eintreten oder Beweismittel 93

Obgleich diese Materie für den verurteilten Angeklagten nicht unbedeutend ist, vgl. MAH-Hein / Piel, Strafverteidigung, § 25 Rn. 2, 23; Rotthaus, NStZ 1990, 165. 94 Rotthaus, NStZ 1990, 165. 95 Ebenso Roger, Grund und Grenzen transnationaler Strafrechtspflege, S. 27.

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Kap. 1: Einleitung

oder abzuschöpfendes Vermögen sich in anderen Staaten befinden,96 kann ein Ver­ fahren zum grenzüberschreitenden, sog. transnationalen Verfahren, werden. Ob diese Verschiebung zum transnationalen Strafverfahren erfolgt, liegt letztendlich im Ermessen der Ermittlungsbehörden, namentlich durch deren Entscheidung, Beweiserhebungshandlungen oder andere strafprozessuale Zwangsmaßnahmen in einem anderen Mitgliedstaat durchzuführen und somit mehrere Mitgliedstaa­ ten an einem Strafverfahren zu beteiligen. Erst dadurch wird das Strafverfahren transnational im Sinne dieser Abhandlung. Die Betrachtung des grenzüberschreitenden Rechtsverkehrs in Strafsachen wird jedoch auf denjenigen Rechtsverkehr beschränkt, der innerhalb der EU zwischen den Mitgliedstaaten erfolgt. Dies erlaubt zum einen die Bestimmung eines ein­ heitlichen menschenrechtlichen Überbaus in Form von EMRK und GRCh. Durch eine Erweiterung der Betrachtung um das nicht-europäische Ausland hätte wegen der Bindungen an verschiedene Menschenrechtsinstrumente kein – wie in diesem Vorhaben avisiert – übergeordneter Maßstab für strafrechtliche Prozesskostenhilfe entwickelt werden können. Transnationalität eines Verfahrens kann verschiedene Ebenen betreffen. Ein Strafverfahren kann horizontal-transnational sein, also die Zusammenarbeit bei der Strafverfolgung zwischen einzelnen (Mitglied-)Staaten betreffen, oder verti­ kal-transnational, also die Strafverfolgung durch supranationale Organisationen betreffen. Die folgende Arbeit behandelt vorrangig das horizontal-transnationale Strafverfahren. „Horizontal-transnationale“ Strafverfahren meinen dabei insbe­ sondere Konstellationen, − in denen aufgrund des entweder örtlichen oder personalen Bezugs zwei oder mehrere Mitgliedstaaten der Europäischen Union ein Strafverfahren betreiben oder − wenn ein Verfahren eines Kooperationsakts anderer mitgliedstaatlicher Strafver­ folgungsbehörden bedarf, um Ermittlungen durchzuführen oder den Verdächti­ gen festzunehmen.97 In diesem Vorhaben spielt das vertikal-transnationale Strafverfahren nur eine marginale Rolle, auch wenn zu erwarten ist, dass eine europäische Konzeption der Pflicht­verteidigung auch in Verfahren der Europäischen Staatsanwaltschaft98 zukünftig von Bedeutung sein wird. Durch die Beschränkung auf diese Sonder­ 96 Zu dieser Interpretation „transnationale[n] Recht[s] als Recht der grenzüberschreitenden Sachverhalte“ Calliess / Maurer, in: Calliess (Hrsg.), Transnationales Recht, S. 6; mit einem Überblick zu den verschiedenen Definitionsansätzen Arnold, StV 2015, 589. 97 Dazu Winter, Utr. L. Rev. 9 (2013), 129; a. A. Jeßberger, in: Calliess (Hrsg.), Transnatio­ nales Recht, S. 527 f., 536, der „transnational“ im strafrechtlichen Diskurs eher an privatrecht­ liche Diskussionen von Privatisierung und „Entstaatlichung“ anlehnen will. 98 Rat, Verordnung v. 12.10.2017 – EU/2017/1939, EStA-VO, ABl. L 283, 1; dazu Brodowski, StV 2017, 685 f.

B. Definitionen und thematische Begrenzungen 

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form vertikal-transnationaler Verfahren innerhalb der EU werden solche Verfahren ausgeschieden, die von anderen internationalen Organisationen geführt werden, wie z. B. Verfahren vor dem IStGH oder anderen Sondergerichtshöfen der UN.99 2. Rechtshilfe Der eigentliche Kooperationsakt zwischen den Mitgliedstaaten der EU in einem transnationalen Strafverfahren wird in dieser Untersuchung mit dem Be­ griff der „Rechtshilfe“ bezeichnet. Rechtshilfe soll für die vorliegende Arbeit jede hoheitliche, auf einem Ersuchen beruhende Unterstützung eines auf Sanktio­ nierung gerichteten gerichtsförmigen Verfahrens gegen eine Person bezeichnen, das nicht ausschließlich durch eigene Stellen, sondern auch durch solche eines anderen Staates oder durch Stellen der Europäischen Staatsanwaltschaft durch­ geführt wird.100 Durch diese Definition soll in Übereinstimmung mit dem Be­ griff der „Transnationalität“ vorrangig die horizontal-transnationale Rechtshilfe in Bezug genommen, ebenfalls jedoch eine gegenüber einem möglichen Ver­ fahren durch die Europäische Staatsanwaltschaft offene Begrifflichkeit gewählt werden. Davon abzugrenzen ist der in der EU ebenfalls existente Begriff der „justiziel­ len Zusammenarbeit“, vgl. Art. 82 Abs. 1 AEUV. „Justizielle Zusammenarbeit“101 bezeichnet jedwede Zusammenarbeit von Behörden unterschiedlicher Mitglied­ staaten auf dem Gebiet des Strafrechts. Dazu gehört zwar auch die Rechtshilfe, jedoch zählt ebenso die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten dazu. Damit erstreckt sich dieser Begriff über den klassischen Rechtshilfebegriff hinaus.102 Im Rahmen dieser Bearbeitung bedarf es jedoch keiner so weiten Be­ grifflichkeit, weil die PKH-RL zwar als Ergebnis dieser Angleichungen i. S. v. Art. 82 Abs. 2 AEUV analysiert wird, der Fokus jedoch auf der Kooperation der Mitgliedstaaten im konkreten Strafverfahren liegt. Daher soll der engere Begriff der Rechtshilfe genutzt werden.

99

Vgl. zu den Besonderheiten dieser supranationalen Kooperation Ambos / König / Ra­ ckow-Ambos, Rechtshilfe, Kap. 5 Rn. 22 ff.; ders., Internationales Strafrecht, § 8 Rn. 65, der vor allem die Kooperationspflicht im vertikal-transnationalen Bereich als Unterscheidungs­ merkmal transnationaler Verfahren erblickt. 100 Ambos / König / Rackow-Ambos / Poschadel, Rechtshilfe, Kap. 1 Rn. 4. 101 Vgl. zur Definition Kloska, Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung im Europäischen Strafrecht, S. 137; GHN-Vogel / Eisele, EUV / A EUV, Art. 82 AEUV Rn. 14 f. 102 So auch Groeben / Schwarze / Hatje-Meyer, EUV / A EUV, Art. 82 AEUV Rn. 1; ebenso GHN-Vogel / Eisele, EUV / A EUV, Art. 82 AEUV Rn. 15.

38

Kap. 1: Einleitung

Im Rahmen der Rechtshilfe sind neben dem Angeklagten ebenso die beteiligten Staaten von Bedeutung. Zur Übersicht der Akteure und ihrer Bezeichnung in der folgenden Ausarbeitung wird auf die folgende Grafik verwiesen: Angeklagter/Zeuge/sachliches Beweismittel

Festnahme/Beweiserhebung o. ä. Maßnahmen

Übergabe

Anordnungsstaat bzw. ersuchender Staat

Vollstreckungsstaat bzw. ersuchter Staat ersucht um strafprozessuale Maßnahme

Abbildung 1: Akteure des transnationalen Strafverfahrens Quelle: Eigene Darstellung

Im Rahmen dieser Untersuchung wird der Gedanke diskutiert, einen trans­ national verfolgten Beschuldigten nicht nur im Vollstreckungsstaat, sondern auch im Anordnungsstaat Rechtsbeistand im Wege strafrechtlicher Prozesskostenhilfe zukommen zu lassen. Dieser Gedanke wird in der Literatur unterschiedlich als „Spiegelverteidigung“103, „multinationale Verteidigerteams“104 oder auch „Dop­ pelverteidigung“105 benannt. Im Strafverfahren kann es dazu kommen, dass nicht nur ein Mitgliedstaat, sondern mehrere am Strafverfahren beteiligt sind und der Beschuldigte sich in all diesen Rechtsordnungen zugleich verteidigen muss. Der Begriff der „Mehrfachverteidigung“ wäre dementsprechend passend, würde jedoch mit der Terminologie der berufsrechtswidrigen Mehrfachverteidigung i. S. v. § 146 StPO zusammenfallen und ist daher ungeeignet. Die übrigen Begriffe der „Spie­ gelverteidigung“ wie der „multinationalen Verteidigerteams“ sind ebenso treffend und verdeutlichen die simultane Vertretung des so Verfolgten in mehreren Mit­ gliedstaaten. Daher soll allein der Einheitlichkeit zuliebe diese Konstellation im Folgenden als Doppelverteidigung umschrieben werden. 103

So Grützner / Pötz-Vogel / Burchard, Int. Rechtshilfe in Strafsachen, § 77 IRG Rn. 43; dies aufgreifend BT-Drs. 18/9757, S. 31. 104 Böse, ZIS 2014, 160. 105 Abetz, Justizgrundrechte in der Europäischen Union, S. 331 f.; Böse, ZIS 2014, 160; Gaede, ZStW 115 (2004), 867 ff.; Gleß, StV 2010, 406; Nestler, ZStW 116 (2004), 340 („doppelte not­ wendige Verteidigung“); Salditt, StV 2003, 137; Satzger, NStZ 2013, 212 („Doppelpflicht­ verteidigung“).

B. Definitionen und thematische Begrenzungen 

39

Die (strafrechtliche) Kooperation im Wege der Rechtshilfe hat die EU in den letzten 15 Jahren durch diverse Rechtsakte ausgestaltet. Diese umfassen bisher die folgenden Rahmenbeschlüsse und Richtlinien: − Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (i. F. Rb-EHB)106 − Rahmenbeschluss über die Vollstreckung von Entscheidungen über die Sicher­ stellung von Vermögensgegenständen oder Beweismitteln in der Europäischen Union (i. F. Rb-Sicherstellung)107 − Rahmenbeschluss über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen An­ erkennung von Geldstrafen und Geldbußen (i. F. Rb-Geldbuße)108 − Rahmenbeschluss über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen An­ erkennung auf Einziehungsentscheidungen (i. F. Rb-Einziehungsentscheidung)109 − Rahmenbeschluss zur Berücksichtigung der in anderen Mitgliedstaaten der Euro­ päischen Union ergangenen Verurteilungen in einem neuen Strafverfahren (i. F. Rb-Verurteilungen)110 − Rahmenbeschluss über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen An­ erkennung auf Urteile und Bewährungsentscheidungen im Hinblick auf die Überwachung von Bewährungsmaßnahmen und alternativen Sanktionen (i. F. Rb-Bewährungsentscheidungen)111 − Rahmenbeschluss über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen An­ erkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Euro­ päischen Union (i. F. Rb-Freiheitsentziehung)112 − Rahmenbeschluss über die Anwendung  – zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union – des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Ent­ scheidungen über Überwachungsmaßnahmen als Alternative zur Untersuchungs­ haft (i. F. Rb-Überwachungsmaßnahmen)113

106

Rat, Rahmenbeschluss v. 13.6.2002 – 2002/584/JI, Rb-EHB, ABl. L 190, 1. Rat, Rahmenbeschluss v. 22.7.2003 – 2003/577/JI, Rb-Sicherstellung, ABl. L 196, 45. 108 Rat, Rahmenbeschluss v. 24.2.2005 – 2005/214/JI, Rb-Geldbuße, ABl. L 76, 16. 109 Rat, Rahmenbeschluss v. 6.10.2006 – 2006/783/JI, Rb-Einziehungsentscheidung, ABl. L 328, 59. 110 Rat, Rahmenbeschluss v. 24.7.2008 – 2008/675/JI, Rb-Verurteilungen, ABl. L 220, 32. 111 Rat, Rahmenbeschluss v. 27.11.2008 – 2008/947/JI, Rb-Bewährungsentscheidungen, ABl. L 337, 102. 112 Rat, Rahmenbeschluss v. 27.11.2008 – 2008/909/JI, Rb-Freiheitsentziehung, ABl. L 327, 27. 113 Rat, Rahmenbeschluss v. 23.10.2009  – 2009/829/JI, Rb-Überwachungsmaßnahmen, ABl. L 294, 20. 107

40

Kap. 1: Einleitung

− Richtlinie über die Europäische Schutzanordnung (i. F. RL-Schutzanordnung)114 − Richtlinie über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen (i. F. EEA-RL)115 In Zusammenschau mit der obigen Definition des Strafverfahrens, die das Vollstreckungsverfahren ausklammert, sind damit für die folgende Bearbeitung jene Rechtsakte irrelevant, die das Vollstreckungsverfahren betreffen, also der Rb-Geldbußen, Rb-Freiheitsentziehung, Rb-Bewährungsentscheidungen und der Rb-Verurteilungen.116 Die RL-Schutzanordnung trifft zwar einschneidende Maß­ nahmen zulasten einer dort genannten gefährdenden Person, trifft diese Maßnah­ men jedoch grundsätzlich nicht aufgrund oder innerhalb eines Strafverfahrens gegen diese Person. Daher ist diese Maßnahme – obgleich ausweislich unter Art. 82 Abs. 1 AEUV über die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen geregelt –, grund­ sätzlich kein Teil eines Strafverfahrens und damit von der vorliegenden Untersu­ chung ebenfalls auszuschließen. Soweit die Stellungnahme zu konkreten Akten horizontal-transnationaler Zusammenarbeit erforderlich wird, beschränkt sich die Abhandlung folglich auf die insoweit nur relevanten Rechtsakte, nämlich den ­Rb-EHB, den Rb-Sicherstellung, den Rb-Überwachungsmaßnahmen, den Rb-Ein­ ziehung117 sowie die EEA-RL und die Vermögensabschöpfungs-RL.

III. Strafrechtliche Prozesskostenhilfe – Pflichtverteidigung – notwendige Verteidigung? In der Arbeit soll der Begriff der strafrechtlichen Prozesskostenhilfe benutzt werden. Damit soll die teilweise oder vollständige Übernahme der Prozesskosten und der Kosten für einen bestellten Verteidiger während des Strafverfahrens ge­ meint sein, die durch den Staat für einen Angeklagten oder Beschuldigten erfolgt, der bedürftig ist und / oder in dessen Fall ein Interesse der Rechtspflege an Zugang zu einem Verteidiger besteht. Die Gewährung „während des Strafverfahrens“ bedeutet, dass Prozesskosten­ hilfe jedenfalls während des Verfahrens erfolgen muss, jedoch nicht zwingend voraussetzt, dass die Entlastung von den Kosten dauerhaft erfolgt. Eine Rückfor­ derung der gewährten Prozesskostenhilfe im Anschluss an das Strafverfahren, die abhängig ist von der Bedürftigkeit des Angeklagten, ist demgemäß ebenso vom 114 Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 13.12.2011 – 2011/99/EU, RL-Schutzanord­ nung, ABl. L 338, 2. 115 Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 3.4.2014 – 2014/41/EU, EEA-RL, ABl. L 130, 1; diese ersetzte Rat, Rahmenbeschluss v. 18.12.2008  – 2008/978/JI, Rb-Beweisanordnung, ABl. L 350, 72. 116 Vgl. für den Rb-Verurteilungen: Rat, Rahmenbeschluss v. 24.7.2008  – 2008/675/JI, Rb-Verurteilungen, ABl. L 220, 32, Erwägungsgrund (6). 117 Soweit die Einziehung nicht als Maßnahme der Strafvollstreckung erfolgt.

B. Definitionen und thematische Begrenzungen 

41

Begriff umfasst wie eine dauerhafte Kostenentlastung. Diese Definition eignet sich zudem, in zeitlicher Hinsicht das gesamte Strafverfahren einzubeziehen. „Prozess­ kostenhilfe“ verweist zwar auf den „Prozess“ und könnte damit eine Beschränkung auf die Hauptverhandlung suggerieren.118 In der gesetzlichen Systematik umfasst der Strafprozess jedoch nicht nur die Hauptverhandlung, sondern auch das Er­ mittlungsverfahren sowie die anderen Verfahrensstufen.119 Zudem greift auch die aktuelle Richtlinie der Europäischen Union über „Prozesskostenhilfe […] in Straf­ verfahren“ auf diese Formulierung zurück, wenn zeitlich auch eine Verteidigung im Ermittlungsverfahren erfasst werden soll. Es wurde gezielt auf den im deutschen Recht unüblichen Begriff der „strafrecht­ lichen Prozesskostenhilfe“ zurückgegriffen. Der Rückgriff auf die im deutschen Recht übliche Terminologie der „notwendigen Verteidigung“ oder „Pflichtver­ teidigung“ bot sich nicht an, weil mit dem Institut der Pflichtverteidigung und der notwendigen Verteidigung in der deutschen Rechtssprache spezifische Vor­ aussetzungen und Rechtsfolgen verbunden werden. Um eine Betrachtung losgelöst davon zu ermöglichen, lag die Wahl eines anderen Begriffs nahe. Die Begriffe der „notwendigen Verteidigung“ oder „Pflichtverteidigung“ bezeichnen jeweils nur, dass die Verfahrensumstände die Beiordnung eines Verteidigers erzwingen,120 lassen jedoch wenig Raum darüber hinaus zu einer disponiblen oder auch be­ dürftigkeitsbasierten Ausgestaltung,121 wie sie in den europäischen Vorschriften möglich ist. „Prozesskostenhilfe“ ist zwar eher ein im Verwaltungs- oder Zivilprozess ge­ bräuchlicher Rechtsbegriff. Für die Ziele der vorliegenden Arbeit dürfte er jedoch passender sein. Denn ihm wohnt bereits inne, dass jemand bei der Tragung der Verfahrenskosten finanziell unterstützt werden soll. Der Begriff bildet zwar nicht unmittelbar ab, dass Verteidigung auch aufgrund eines Rechtspflegebedürfnisses nötig werden kann, ist demgegenüber jedoch auch nicht derart festgelegt, dass der Einbezug von Interessen der Rechtspflege von vornherein ausgeschlossen ist. Lediglich für die Beschreibung des deutschen Rechtsrahmens wiederum sind die Begriffe der notwendigen Verteidigung und der Pflichtverteidigung die technisch korrekten Termini. Für diesen Teil der Untersuchung wird daher abweichend nicht von strafrechtlicher Prozesskostenhilfe gesprochen, sondern auf die gesetzlich vorgesehenen und im deutschen Rechtsdiskurs gebräuchlichen Begrifflichkeiten zurückgegriffen. 118

„Prozess […], in dem entschieden wird, ob eine strafbare Handlung vorliegt, u. in dem ge­ gebenenfalls eine Strafe festgesetzt wird“ so eher uneindeutig allgemeinsprachlich im Duden, S. 1703 f. („Strafprozess“/„Strafverfahren“). 119 Vgl. der Titel der „Strafprozessordnung“, die alle Abschnitte des Strafprozesses/-ver­ fahrens regelt; ebenso in seiner Definition Creifelds-Weidenkaff, Rechtswörterbuch, S. 1258 („Strafprozess(recht)“). 120 Vgl. u. Kap. 4 B. 121 Zu Letzterem krit. Plekksepp, Die gleichmäßige Gewährleistung des Rechts auf Vertei­ digerbeistand, S. 405 ff.

42

Kap. 1: Einleitung

Indem nach hiesiger Definition strafrechtliche Prozesskostenhilfe nur vorliegt, wenn die Kosten der Verteidigung durch den Staat übernommen werden, werden privatrechtliche Ergänzungsmechanismen, wie Rechtsschutzversicherungen, Pro­ zessfinanzierung oder die Übernahme der Verteidigung durch pro-bono-Anwälte aus der Untersuchung ausgeschlossen. Die Untersuchung hat ihren Schwerpunkt in dem von staatlicher Seite geführten Strafverfahren und den deshalb spiegel­ bildlich durch den Staat zu gewährenden Verteidigungsrechten. Bei Schutzlücken sind die eben benannten Ansätze valide, um diese zu komplementieren.122 Die fol­ gende Untersuchung kann nicht leisten, zusätzlich zu den dogmatischen Fragen strafrechtlicher Prozesskostenhilfe in nationalen wie transnationalen Verfahren zu erörtern, wie idealiter strafrechtliche Prozesskostenhilfe möglicherweise über ein Mischsystem staatlicher wie privater Initiativen umzusetzen ist. Dieser Aspekt bleibt daher anderen Arbeiten vorbehalten.

IV. Das Prozesssubjekt des Strafverfahrens Die Terminologie bezüglich des Prozesssubjekts des Strafverfahrens wird in den jeweiligen Abschnitten der Abhandlung daran angepasst, welches Rechts­ instrument gerade untersucht wird. Denn während EMRK und GRCh jeweils den „Angeklagten“ als Träger der dortigen Rechte bezeichnen, ist es in der PKH-RL der „Verdächtige“, die „beschuldigte Person“ bzw. die „gesuchte Person“. Im deut­ schen Recht dagegen fächert sich die Bezeichnung des Prozesssubjekts danach auf, welches Verfahrensstadium des Strafverfahrens erreicht ist („Beschuldigter“, „An­ geschuldigter“ oder „Angeklagter“, vgl. § 157 StPO) oder auch danach, ob jemand Prozesssubjekt eines Rechtshilfeverfahrens ist („Verfolgter“). Über eine dem jeweils untersuchten Abschnitt entsprechende Begriffswahl wird bewirkt, dass in diesem Kontext besser verdeutlicht werden kann, welcher Rechts­ träger konkret gemeint ist. Die jeweils in EMRK, GRCh, PKH-RL und deutschem Recht gewählten Begriffe sind in ihrer jeweiligen Rechtsordnung entsprechend rechtlich aufgeladen. Eine einheitliche Begriffswahl, wie z. B. des „Beschuldig­ ten“, würde in bestimmten Verfahrenskontexten, die diesen Begriff nicht nutzen, die eigentliche Bedeutungsebene verschleiern. Bestimmte Rechtsprobleme – wie die zeitliche Dimension des Begriffes des „Angeklagten“ im Rahmen von Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK – ließen sich über die einheitliche Benutzung des Begriffes 122 Für die sog. pro-bono-Arbeit von Anwälten Gruodytė / Kirchner, Baltic J. Law Polit. 5 (2012), 61 f.; für Rechtsschutzversicherungen („Zugangsinstrument der Mittelklasse“) Dux, Die pro-bono-Tätigkeit des Anwalts, S. 189; dazu, dass viele eine solche Versicherung als unnötig betrachten, weil sie nicht davon ausgehen, jemals einen Anwalt zu benötigen, vgl. Gruodytė / Kirchner, in: Kerikmäe (Hrsg.), Protecting Human Rights in the EU, S. 71; zur Untauglichkeit der Prozessfinanzierung im strafrechtlichen Bereich Gogolin, Die deutsche Prozesskostenhilfe im Umbruch, S. 369; zur Streitwertübersicht verschiedener Anbieter vgl. Böttger, Gewerbliche Prozessfinanzierung und staatliche Prozesskostenhilfe, S. 10.

C. Methodik 

43

des „Beschuldigten“ nicht mehr abbilden. Der Begriff des „Angeklagten“ wäre so übergreifend in der deutschen Rechtsordnung genutzt jedenfalls terminologisch ungenau bzw. mitunter falsch. Daher sind wechselnde Begriffe in den jeweiligen Abschnitten keine Ungenauigkeit, sondern der jeweils anderen Terminologie in EMRK, GRCh, PKH-RL sowie dem deutschen Recht geschuldet. Diese Untersuchung beschränkt sich zudem nur auf strafrechtliche Prozesskos­ tenhilfe für den Beschuldigten bzw. Angeklagten. Die Stärkung der Opferrechte im Strafprozess befasst sich zwar ebenso mit der Möglichkeit, strafrechtliche Pro­ zesskostenhilfe als Unterstützung bedürftiger Opfer zu ermöglichen, setzt jedoch einen gänzlich anderen Fokus, nämlich wie neben der Wahrheitsermittlung in einem Strafverfahren das Opfer am Verfahren beteiligt werden kann.123 Sie kann nicht aus der in dieser Untersuchung angelegten Perspektive des Angeklagten und seiner Verteidigungsrechte bewältigt werden124 und würde eine andere Untersu­ chungsmethode erfordern. In diesem Sinne musste die Arbeit daher in persönlicher Hinsicht auf den Angeklagten bzw. Beschuldigten begrenzt werden.

C. Methodik Ausgangspunkt der Arbeit ist die Konkretisierung der europäischen Konzeption der Pflichtverteidigung. Damit wird gerade nicht versucht, ausgehend von einem nationalen Maßstab die Ergänzung möglicher Schutzlücken über europäische Menschenrechte oder unionales Recht zu füllen, sondern die europäischen Men­ schenrechte und das Unionsrecht autonom zu bestimmen und so einen Maßstab für mitgliedstaatliches Recht zu entwickeln. Im Rahmen der EMRK und GRCh wird dafür auf das Mittel der Konventionskonkretisierung zurückgegriffen.

123

Umfassend zur Nebenklage Barton / Flotho, Opferanwälte im Strafverfahren, S. 23 ff., passim; zu dieser Ausgestaltung der Opferposition im dt. Institut der Nebenklage Satz­ ger / Schluckebier / Widmaier-Schöch, StPO, Vor §§ 395 ff. Rn. 2; krit. zu diesem erhöhten Un­ gleichgewicht MAH-Pollähne, Strafverteidigung, § 56 Rn. 2 ff.; Meyer-Goßner / Schmitt, StPO, Vor § 395 Rn. 1; vgl. ebenso krit. bezüglich einer möglichen Zurückdrängung der Unschulds­ vermutung Schroth / Schroth, Die Rechte des Verletzten im Strafprozess, Rn. 5 f.; dagegen für eine weitere Aufwertung der Opferrechte plädierend Daimagüler, Der Verletzte im Strafver­ fahren, Rn. 6 ff.; nunmehr mit Regelungskompetenz der EU in Art. 82 Abs. 2 lit. c AEUV; vgl. dazu die europäische Richtlinie Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 25.10.2012 – 2012/29/EU, Opferrechte-RL, ABl. L 315, 57; zust. zur erweiterten Harmonisierungskompe­ tenz für Opferrechte m. w. N. Letschert / Rijken, New J. Eur. Crim. L. 4 (2013), 227 ff., 254 f. 124 Für Tatopfer kann ein Teilhaberecht unter bestimmten Voraussetzungen auf Art. 6 Abs. 1 EMRK gestützt werden, vgl. EGMR, Urteil v. 12.2.2004 – 47287/99, Perez ./. FR, Rep. 2004-I, Rn. 54 ff.; zust. Meyer-Goßner / Schmitt, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 3c; abl. Helmken, StV 2016, 459 ff.; krit. Hilf, in: Jesionek / Sautner (Hrsg.), Opferrechte in europäischer, rechtsvergleichen­ der und österreichischer Perspektive, S. 29 f.; offen Satzger / Schluckebier / Widmaier-Schöch, StPO, Vor §§ 395 ff. Rn. 6.

44

Kap. 1: Einleitung

Insbesondere im Rahmen von Art. 6 Abs. 3 lit.  c EMRK wird diese Kon­ kretisierung bislang vereinzelte und überwiegend im Rahmen des Rechts auf Verteidigungsbeistand diskutierte Gewährleistungen zu einer Gesamtkonzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe zusammenfassen. Die dafür aufgearbeitete Rechtsprechung des EGMR wird für diesen Zweck neu strukturiert und losgelöst von der Prüfungsstruktur des Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK betrachtet. Über die Zu­ sammenführung dieser Untersuchung mit den Anforderungen der GRCh wird ein einheitliches menschenrechtliches Verständnis strafrechtlicher Prozesskostenhilfe als Überbau der Abhandlung etabliert. Die GRCh stellt dabei neben dem Erforder­ nis der Konkretisierung der in ihr enthaltenen Rechte gesonderte Anforderungen an ihre Auslegung. Denn für den Bereich grenzüberschreitender Verfahren muss die Auslegung unter schonender Berücksichtigung der Maßstäbe der Grundfreihei­ ten erfolgen.125 Diese gleichrangige Geltung ist üblicherweise in Kommentierungen wegen der Vielzahl möglicher Kollisionskonstellationen nicht zu erfassen, kann aber im Rahmen strafrechtlicher Prozesskostenhilfe erstmalig untersucht werden und vervollständigt den dogmatischen Rahmen strafrechtlicher Prozesskostenhilfe im transnationalen Strafverfahren. Der daraus entwickelte Katalog bildet den menschenrechtlichen Überbau und damit die Grundlage für eine „Strafverfassungsrechtsvergleichung“126 mit diesen erarbeiteten Erkenntnissen. Dieser Katalog ermöglicht zunächst die Evaluation des Instituts der strafrechtlichen Prozesskostenhilfe in der PKH-RL. Die PKH-RL ergänzt diese Konzeption. Alle drei Rechtsinstrumente gemeinsam bilden einen für die Mitgliedstaaten verbindlichen autonomen Rechtskanon ab,127 der eine Be­ wertung mitgliedstaatlicher Systeme ermöglicht. Die Frage des Potenzials der Europäisierung strafrechtlicher Prozesskosten­ hilfe kann nur durch einen Vergleich dieses entwickelten Maßstabs mit der exem­ plarisch gewählten deutschen Rechtsordnung beantwortet werden. Dadurch wird messbar, wie stark die europäische Impulsgebung im nationalen Straf­verfahren wirken kann.128

125

Vgl. u. Kap. 2 B. III. 3. Vogel, JZ 67 (2012), 30 127 Vgl. dazu Oderkerk, RabelsZ 79 (2015), 606 („include systems that can teach us some­ thing.“). 128 Zu dieser Erwartung schon früh Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 59. 126

Kapitel 2

Die menschenrechtliche Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe Welche Maßstäbe für die Gewährung von strafrechtlicher Prozesskostenhilfe gelten, bemisst sich für den europäischen Rechtsraum1 an den Garantien von EMRK und GRCh. Über diese beiden menschenrechtlichen Konventionen hinaus existieren zwar noch andere menschenrechtliche Instrumente, wie der Internatio­ nale Pakt für bürgerliche und politische Rechte oder andere Konventionen der UN.2 Auf den europäischen Rechtsraum haben diese Regelungen jedoch deutlich weni­ ger Einfluss. Das liegt vor allem an der Durchsetzbarkeit von EMRK und GRCh:3 Die EMRK gilt in ihren Konventionsstaaten – zu denen alle Mitgliedstaaten der EU gehören – zum Teil im Rang einfachen Rechts,4 zum Teil in Verfassungsrang.5 Der GRCh kommt als unionsrechtliches Primärrecht Anwendungsvorrang vor nationa­ lem (Verfassungs-)Recht zu.6 Beide Menschenrechtsinstrumente zusammen bilden daher für die Mitgliedstaaten der EU einen gemeinsamen Anforderungskatalog für die Gewährleistung der Verteidigungsrechte. Europäisierung und Überformung mitgliedstaatlicher Rechtssysteme wird daher hauptsächlich von beiden gelenkt, seit Jahrzehnten bereits von der EMRK, mit zunehmender Bedeutung auch durch die GRCh. Das Konzept eines europäischen Pflichtverteidigers geht damit aus von den Gewährleistungen der EMRK und der GRCh.

1 Dies meint den durch die derzeit 28 Mitgliedstaaten der Europäischen Union gebildeten Rechtsraum. 2 Vgl. u. a. Generalversammlung der UN, Resolution v. 10.12.1948 – A / R ES/217 A (III), Allgemeine Erklärung der Menschenrechte; für weitere vgl. Bossuyt, International Human Rights Protection, S. 71 ff. 3 EnzEuR-Gaede, Eur. StR, § 3 Rn. 38. 4 So im deutschen Recht, vgl. st. Rspr. vgl. m. w. N. BVerfGE 128, 326 (367 f.); m. w. N. zur Einordnung im dt. Recht EnzEuR-Gaede, Eur. StR, § 3 Rn. 17 Fn. 45; „pragmatischer Mittel­ weg“ Thym, JZ 70 (2015), 54; abl. zum Versuch, Art. 6 EMRK darüber hinausgehend Verfas­ sungsrang zuzuschreiben vgl. Jahn, ZStW 127 (2015), 562; so auch der Regelungsmechanis­ mus im finnischen Recht, vgl. Plekksepp, Die gleichmäßige Gewährleistung des Rechts auf Verteidigerbeistand, S. 57 f. 5 Vgl. so in Österreich und der Türkei, Goerlich, in: Esser / Harich u. a. (Hrsg.), Die Bedeu­ tung der EMRK für die nationale Rechtsordnung, S. 110 ff. 6 EuGH, Gutachten v. 18.12.2014  – C-2/13, EMRK-Beitritt, Rn. 166, 169; Urteil v. 26.2.2013 – C-399/11, Melloni, Rn. 59; vgl. Groeben / Schwarze / Hatje-Beutler, EUV / A EUV, Art. 6 EUV Rn. 13; Calliess / Ruffert-Ruffert, AEUV / EUV, Art. 1 AEUV Rn. 18; grundlegend für die deutschen Grundrechte: BVerfGE 73, 339 (374 ff.); zust. m. w. N. Wölker, EuR 2007, 39; m. w. N. zum Streit u. Kap. 2 B. I.

46

Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

A. Die Konzeption der EMRK Gemäß Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK hat „[j]ede angeklagte Person mindestens die folgenden Rechte: […] sich selbst zu verteidigen, sich durch einen Verteidiger ihrer Wahl verteidigen zu lassen oder, falls ihr die Mittel zur Bezahlung fehlen, unent­ geltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist.“ Maßgeblich für die vorliegende Bearbeitung werden die verbindliche englische und französische Sprachfassung sein.

I. Strafrechtliche Prozesskostenhilfe als Rückgrat der Verteidigungsrechte in Art. 6 Abs. 3 EMRK Über strafrechtliche Prozesskostenhilfe wird im Gefüge der EMRK ein fun­ damentaler Aspekt des Rechts auf ein faires Verfahren im Strafprozess verwirk­ licht.7 Die in Art. 6 Abs. 3 EMRK aufgezählten Mindestrechte des Angeklagten in einem Strafverfahren sind unverzichtbare Teilhaberechte, um sich effektiv gegen den staatlichen Vorwurf strafrechtlichen Handelns verteidigen zu können. Straf­ rechtliche Prozesskostenhilfe als solche ist zwar nur eine von diesen Mindest­ garantien, ihr kommt jedoch eine darüber hinausgehende Bedeutung zu. Kann der Angeklagte mangels strafrechtlicher Prozesskostenhilfe sich keinen Verteidiger leisten, kann seine Teilhabe an jeder einzelnen Garantie aus Art. 6 Abs. 3 EMRK bedroht sein. Es fehlt dann an der vermittelten Expertise und Verständigkeit, die eigenen Rechte zu erfassen und durchzusetzen. Zu Recht lässt sich damit der Zu­ gang zu strafrechtlicher Prozesskostenhilfe als Rückgrat der Verteidigungsrechte des Angeklagten, des fairen Verfahrens an sich, bezeichnen. Diese stützende Funktion wird besonders deutlich, wenn man den engen Kon­ nex zum Recht auf Verteidigungsbeistand betrachtet. Beide Rechte sind Teil einer einheitlich in Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK formulierten Garantie, auch wenn straf­ rechtliche Prozesskostenhilfe ein selbständiges Recht bleibt.8 Denn strafrechtli­ che Prozesskostenhilfe verhilft dem Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand 7 St. Rspr. EGMR, Urteil v. 6.10.2016  – 37364/05, Jemeljanovs ./. LV, Rn. 75; Urteil v. 9.4.2015 – 30460/13, A. T. ./. LU, Rn. 63; Urteil v. 27.3.2007 – 32432/96, Talat Tunc ./. TR, Rn. 55; Urteil v. 10.8.2006 – 54784/00, Padalov ./. BG, Rn. 41; Urteil v. 26.9.2000 – 33170/96, Biba ./. GR, Rn. 26; Urteil v. 25.9.1992 – 13191/87, Pham Hoang ./. FR, Rep. Serie A, Nr. 243 Rn. 39; Urteil v. 24.5.1991 – 12744/87, Quaranta ./. CH, Rep. Serie A, Nr. 205 Rn. 27; Urteil v. 13.5.1980 – 6694/74, Artico ./. IT, Rep. Serie A, Nr. 37 Rn. 32; Entscheidung v. 17.6.2008 – 44298/02, Synnelius u. Edsbergs Taxi AB ./. SE, Rn. 4; Entscheidung v. 9.9.2004 – 53329/99, Toeva ./. BG, S. 14; Urteil v. 18.12.2001 – 29692/96 u. 34612/97, R. D. ./. PL, Rn. 43; Entschei­ dung v. 29.8.2000 – 31541/96, Caresana ./. GB, S. 12. 8 Vgl. EGMR, Urteil v. 25.4.1983 – 8398/78, Pakelli ./. DE, Rep. Serie A, Nr. 64 Rn. 31; zust. Leanza / P ridal-Leanza, The Right to a Fair Trial, S. 176; EnzEuR-Gaede, Eur. StR, § 3 Rn. 72, 77; KK-Schädler / Jakobs, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 62; Demko, in: Gaede / Meyer / Schle­ gel (Hrsg.), HRRS-FG Fezer, S. 6.

A. Die Konzeption der EMRK

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zu praktischer Wirksamkeit und ermöglicht dadurch die Teilhabe auch an allen anderen Garantien aus Art. 6 Abs. 3 EMRK.9 So wichtig die Selbständigkeit dieser Garantie folglich ist, umso mehr kann sie ohne die Akzessorietät zum Recht auf Verteidigungsbeistand nicht gedacht werden.

II. Voraussetzungen strafrechtlicher Prozesskostenhilfe Der Gedanke, dass strafrechtliche Prozesskostenhilfe eine Hilfsfunktion für die Verwirklichung anderer Verteidigungsrechte hat, prägt die Auslegung von Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK. Dessen Voraussetzungen, das Vorliegen von Interessen der Rechtspflege und die Mittellosigkeit des Angeklagten,10 versuchen, sowohl das staatliche Interesse an Rechtsstaatlichkeit über ein prozessordnungsgemäßes Strafverfahren abzusichern, als auch dem Interesse des Angeklagten an einer für ihn zugänglichen und effektiven Verteidigung Rechnung zu tragen. Durch die Vo­ raussetzung der „Interessen der Rechtspflege“ wird dieser objektive Auftrag eines strafprozessordnungsgemäßen Verfahrens einerseits besonders deutlich formuliert, andererseits wird darüber zugleich eine Auslegung entlang der Interessen des Angeklagten an einem für ihn fair ausgestalteten Verfahren ermöglicht.11 Die Vo­ raussetzung der Mittellosigkeit zielt prima facie stärker auf eine tatsächliche Lage des Angeklagten ab, ist jedoch zugleich dem ebenso rechtsstaatlichen Gedanken eines chancengleichen Zugangs zu Verteidigungsrechten verpflichtet.

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In diesem Sinne EGMR, Urteil v. 23.11.1993 – 14032/88, Poitrimol ./. FR, Rn. 33 f.; Urteil v. 22.9.1994 – 16737/90, Pelladoah ./. NL, Rep. Serie A, Nr. 297B Rn. 37 ff.; vgl. zu dieser Funktion formeller Verteidigung m. w. N. Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 505 f.; ebenso zu dieser stellvertretenden Wahrnehmungsfunktion im Kontext der Zwangsverteidigung Welp, ZStW 90 (1978), 116. 10 Kumulativer Ansatz, st. Rspr., vgl. EGMR, Urteil v. 6.10.2016 – 37364/05, Jemeljanovs ./. LV, Rn. 76; Urteil v. 19.11.2015 – 46998/08, Mikhaylova ./. RU, Rn. 78; Urteil v. 6.11.2012 – 32238/04, Zdravko Stanev ./. BG, Rn. 36; Urteil v. 16.10.2012  – 21124/04, Tsonyo Tsonev ./. BG [Nr. 3], Rn. 50; Urteil v. 17.12.2009 – 20075/03, Shilbergs ./. RU, Rn. 120; Urteil v. 22.10.2009  – 35185/03, Raykov ./. BG, Rn. 57; Urteil v. 27.3.2007  – 32432/96, Talat Tunc ./. TR, Rn. 55; Urteil v. 10.8.2006 – 54784/00, Padalov ./. BG, Rn. 41; Urteil v. 18.12.2001 – 29692/96 u. 34612/97, R. D. ./. PL, Rn. 43; Urteil v. 25.9.1992 – 13191/87, Pham Hoang ./. FR, Rep. Serie A, Nr. 243 Rn. 39; Urteil v. 13.5.1980 – 6694/74, Artico ./. IT, Rep. Serie A, Nr. 37 Rn. 34; Entscheidung v. 17.6.2008 – 40768/06, Guney ./. SE, S. 4; Entscheidung v. 17.6.2008 – 44298/02, Synnelius u. Edsbergs Taxi AB ./. SE, Rn. 4; Entscheidung v. 4.1.2008 – 40766/06 u. 40831/06, Barsom u. Vali ./. SE, S. 5; Entscheidung v. 9.9.2004 – 53329/99, Toeva ./. BG, S. 14; Entscheidung v. 29.8.2000 – 31541/96, Caresana ./. GB, S. 12; EKMR, Entscheidung v. 1.7.1988 – 31145/96, Wilkinson ./. GB, S. 8; Entscheidung v. 4.3.1998 – 31043/96, Lehto ./. FI, S. 4; Entscheidung v. 3.12.1990 – 17120/90, Higgins ./. GB, S. 3; so auch NomosKomm-Meyer-​ Ladewig / Harrendorf, EMRK, Art. 6 Rn. 228. 11 Von einem „Interesse der Verfahrensgerechtigkeit“ sprechend Gaede, Fairness als Teil­ habe, S. 264, 563 ff.; MüKo-ders., StPO, Art. 6 EMRK Rn. 208; in diesem Sinne auch Int­ Komm-Kühne / Miehsler / Vogler, EMRK, Art. 6 Rn. 554.

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

Die Voraussetzungen sind somit zweipolig zwischen den subjektiven Interes­ sen des Angeklagten sowie den objektiven Interessen des Staates verortet. Diese sind jedoch ungleich gewichtet und stellen klar ein Fürsorgeinteresse des Staates zugunsten einer rechtsstaatlichen Strafrechtspflege in den Vordergrund, wobei ein Gleichlauf mit den Interessen des Angeklagten vermutet wird. Im Folgenden wird dies anhand der Voraussetzungen strafrechtlicher Prozesskostenhilfe näher erläutert und dargestellt, inwiefern diese Betonung des zugunsten des Angeklag­ ten ideal und fürsorglich agierenden Staates effektive Verteidigung nicht immer wirksam gestaltet. 1. Rechtspflegeinteresse als primär im staatlichen Interesse stehende Voraussetzung Die „Interessen der Rechtspflege“12 sind begrifflich weit gefasst und stellen scheinbar allein auf formale, organisatorische Interessen der Rechtspflege ab, prozessgemäße Abläufe für ein rechtsstaatliches Verfahren abzusichern. In diesem Sinne stellt der EGMR grundsätzlich auf die objektiven gesetzlichen Rahmenbe­ dingungen des strafrechtlichen Vorwurfs ab: Maßgebliche Interessen der Rechts­ pflege sind daher dann berührt, wenn die Schwere der angeklagten Tat („serious­ ness of the offence […] accused“) sowie die Schwere der drohenden Rechtsfolgen („severity of the sentence […] risked“) für eine Beiordnung streiten. Diese beiden Kriterien bilden ab, dass es sich – zunächst aus der Perspektive des das Verfahren führenden Staates – um ein Verfahren mit schwerwiegenden Auswirkungen und damit von hoher Bedeutung für den konkreten Angeklagten handeln muss. Diese Betrachtung der objektiven Rahmenbedingen wird über das Merkmal der Komplexität des Falles („complexity of the case“) ergänzt um die Perspektive und Fähigkeiten des konkreten Angeklagten.13 Zwar kommt es für die Komplexität des Falles auch auf die objektive Ausgestaltung des konkreten Verfahrens an. Eine für die Interessen der Rechtspflege maßgebliche Komplexität erreicht ein Fall jedoch nur, wenn der konkrete Angeklagte aufgrund seiner persönlichen Fähigkeiten den durch sein Strafverfahren gestellten Anforderungen nicht mehr gewachsen ist. Diese Kriterien sind Teil einer einheitlichen Gesamtbetrachtung unter Berück­ sichtigung aller Umstände des Einzelfalls, die weitere tatsächliche Umstände des Angeklagten einbeziehen und eine offene Gewichtung zulassen.14 Es gibt in diesem 12

Krit. zur Begriffswahl Wohlers, in: Rogall / P uppe u. a. (Hrsg.), FS Rudolphi, S. 725; ebenso krit. zur deutschen Übersetzung und stattdessen „Interesse des Beschuldigten auf an­ gemessene Teilhabe am Strafverfahren“ vorschlagend: Weigend, StV 2000, 385; ebenso krit. Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 476. 13 Jeweils EGMR, Urteil v. 24.5.1991 – 12744/87, Quaranta ./. CH, Rep. Serie A, Nr. 205 Rn. 32 ff. 14 Vgl. EGMR, Urteil v. 6.10.2016  – 37364/05, Jemeljanovs ./. LV, Rn. 89; Urteil v. 19.11.2015 – 46998/08, Mikhaylova ./. RU, Rn. 79; Urteil v. 6.11.2012 – 32238/04, Zdravko

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Sinne keine Rangfolge der Kriterien und keine zwingende Kumulation; sie können jeweils für sich einen Anspruch auf strafrechtliche Prozesskostenhilfe auslösen.15 Dieses Zusammenwirken staatlich motivierter verfassungsgemäßer Rechts­ pflege und einer dem konkreten Angeklagten entsprechenden Auslegung und Verfahrensführung prägt damit die doppelpolige Auslegung des Begriffs der Rechtspflegeinteressen. Es handelt sich folglich nicht um rein formal begründete Interessen an gerechter Strafrechtspflege, sondern um die dazugehörige Betrach­ tung der materiellen Interessen des Angeklagten, seine Subjektstellung im Straf­ verfahren wirksam wahrzunehmen.16 Zugunsten eines fairen Verfahrens wird über die Interessen der Rechtspflege fingiert, dass der Angeklagte in dieser konkreten Verfahrenssituation ein materielles Interesse an staatlich getragenem Beistand hat. Vorrangig sind in der Festlegung des Rechtspflegeinteresses diejenigen Um­ stände, die das Verfahren, seine Eingriffsintensität und Komplexität prägen und so die tatsächliche Grundlage für die Einschätzung bilden, ob Verteidigung für ein faires Verfahren erforderlich erscheint. Die drei alternativ möglichen Kriterien sind danach die Ausgestaltung und Komplexität des Verfahrens in tatsächlicher wie rechtlicher Hinsicht, die Schwere der angeklagten Tat sowie die Schwere der aufgrund einer Verurteilung drohenden Rechtsfolgen. Alle drei Kriterien erlauben eine Einschätzung, welche Eingriffsintensität einem Strafverfahren im Einzelnen beizumessen ist. Es lässt sich daraus nicht zwingend ableiten, dass, sobald mehrere der Kriterien zu bejahen sind, immer von einem Rechtspflegeinteresse ausgegan­ gen werden muss. Die Vermutungswirkung dahingehend verstärkt sich jedoch mit jedem weiteren angenommenen Kriterium.

Stanev ./. BG, Rn. 38; Urteil v. 27.3.2007  – 32432/96, Talat Tunc ./. TR, Rn. 56; Urteil v. 10.8.2006 – 54784/00, Padalov ./. BG, Rn. 43; Urteil v. 14.1.2003 – 26891/95, Lagerblom ./. SE, Rn. 51; Urteil v. 24.5.1991 – 12744/87, Quaranta ./. CH, Rep. Serie A, Nr. 205 Rn. 32 ff.; Urteil v. 28.3.1990 – 11932/86, Granger ./. GB, Rep. Serie A, Nr. 174 Rn. 46; Entscheidung v. 17.6.2008 – 44298/02, Synnelius u. Edsbergs Taxi AB ./. SE, Rn. 4; Entscheidung v. 3.12.1990 – 17120/90, Higgins ./. GB, S. 3; Entscheidung v. 4.3.1998 – 31043/96, Lehto ./. FI, S. 4; krit. SK-Paeffgen, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 153 („schwer zugänglicher Beurteilungsspielraum“); ebenso krit. zur wenig systematischen Anwendung Trechsel / Summers, Human Rights in Cri­ minal Proceedings, S. 273. 15 Vgl. LR-Esser, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 739; Demko, in: Gaede / Meyer / Schlegel (Hrsg.), HRRS-FG Fezer, S. 8; daher krit. IntKomm-Kühne / Miehsler / Vogler, EMRK, Art. 6 Rn. 558. 16 In diesem Sinne EGMR, Urteil v. 18.12.2001  – 29692/96 u. 34612/97, R. D. ./. PL, Rn. 48 f.; LR-Esser, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 738; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 265; so auch Trechsel / Summers, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 272.

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

a) Betrachtung der potenziellen Folgen eines Strafverfahrens gegen den Angeklagten Die „Schwere der Tat“ und die „Schwere der drohenden Rechtsfolgen“ betrach­ ten den gleichen Sachverhalt und werden vom EGMR nicht eindeutig getrennt.17 Als allgemeine Richtlinie lässt sich jedoch festhalten, dass für die Schwere der angeklagten Tat („seriousness of the offence“) der abstrakt mögliche, gesetzlich zulässige Höchststrafrahmen der angeklagten Tat maßgeblich ist,18 während die Schwere der drohenden Rechtsfolgen die innerhalb dieses abstrakten Rahmens tatsächlich drohenden Rechtsfolgen in Bezug nimmt.19 Eine angeklagte Tat oder drohende Rechtsfolgen sind insbesondere dann schwer­ wiegend im Sinne dieser Rechtsprechung, wenn sie die Ausübung anderer von der Konvention geschützter Rechte des Angeklagten, sei es auch nur zeitlich vorüber­ gehend, gefährden oder ausschließen. Je intensiver dieser Eingriff ist, umso eher sind Rechtspflegeinteressen anzunehmen. Maßgeblich ist zunächst die Schwere der unmittelbar drohenden Rechtsfolgen. Je schwerer diese wiegen, umso eher muss ein Angeklagter Unterstützung durch einen Verteidiger erhalten. Ein Drohen schwerer Rechtsfolge ist bereits dann anzunehmen, wenn der Eintritt dieser Rechtsfolgen nicht fernliegend ist. Es bedarf folglich keiner konkreten Darlegung durch den An­ geklagten.20 Gerade wenn Freiheitsentzug droht, als nach dem in den Mitgliedstaa­ ten der Europäischen Union weitgehendsten Eingriff in die Rechte des Angeklagten, liegt grundsätzlich ein Rechtspflegeinteresse vor („where deprivation of liberty is at stake, the interests of justice in principle call for legal representation“).21 Erst 17 Vgl. zu einer solchen vermischten Betrachtung bspw. in EGMR, Urteil v. 14.3.2013 – 36697/03, Krylov ./. RU, Rn. 44; Urteil v. 27.3.2007 – 32432/96, Talat Tunc ./. TR, Rn. 57; Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 477 f.; beide Kriterien unter dem Gesichtspunkt der „Bedeutung der Sache für den Beschuldigten“ zusammenfassend Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 266; MüKo-ders., StPO, Art. 6 EMRK Rn. 210; auch einer gemeinsamen Betrachtung beider Merkmale zuneigend NomosKomm-Meyer-Ladewig / Harrendorf, EMRK, Art. 6 Rn. 232; so implizit Stavros, Guarantees for Accused Person under Article 6 ECHR, S. 210; Villiger, EMRK, Rn. 520. 18 EGMR, Urteil v. 10.6.1996 – 19380/92, Benham ./. GB, Rep. 1996-III, Rn. 61 a. E.; Urteil v. 24.5.1991 – 12744/87, Quaranta ./. CH, Rep. Serie A, Nr. 205 Rn. 33. 19 Rechtspflegeinteresse besteht jedenfalls, wenn Freiheitsentzug droht, vgl. EGMR, Urteil v. 10.6.1996 – 19380/92, Benham ./. GB, Rep. 1996-III, Rn. 61; Urteil v. 24.5.1991 – 12744/87, Quaranta ./. CH, Rep. Serie A, Nr. 205 Rn. 33. 20 Vgl. EGMR, Urteil v. 19.11.2015  – 46998/08, Mikhaylova ./. RU, Rn. 90; Urteil v. 24.5.1991 – 12744/87, Quaranta ./. CH, Rep. Serie A, Nr. 205 Rn. 33 a. E. 21 St. Rspr. EGMR, Urteil v. 17.3.2016  – 6287/10, Hammerton ./. GB, Rn. 142; Urteil v. 19.11.2015 – 46998/08, Mikhaylova ./. RU, Rn. 82; Urteil v. 6.11.2012 – 32238/04, Zdravko Stanev ./. BG, Rn. 38; Urteil v. 16.10.2012 – 21124/04, Tsonyo Tsonev ./. BG [Nr. 3], Rn. 52; Urteil v. 22.10.2009 – 35185/03, Raykov ./. BG, Rn. 59; Urteil v. 1.3.2005 – 29798/96 u. a., Lloyd u. a. ./. GB, Rn. 134; Urteil v. 16.11.2004 – 42317/98, Hooper ./. GB, Rn. 20; Entschei­ dung v. 9.9.2004 – 53329/99, Toeva ./. BG, S. 14; Urteil v. 27.3.2007 – 32432/96, Talat Tunc ./. TR, Rn. 56; Urteil v. 10.8.2006  – 54784/00, Padalov ./. BG, Rn. 43; Urteil v. 10.6.1996  – 19380/92, Benham ./. GB, Rep. 1996-III, Rn. 61; zust. Demko, in: Gaede / Meyer / Schlegel (Hrsg.), HRRS-FG Fezer, S. 13.

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recht gilt dies, wenn die Verhängung der Todesstrafe droht.22 Die Erheblichkeits­ schwelle für Freiheitsentzug ist insoweit sehr niedrig und wurde bereits bei nur wenigen Wochen bejaht.23 Verbindliche Erheblichkeitsschwellen gibt es jedoch nicht.24 Die bisherige Judikatur lässt aber den Schluss zu, dass nur in eng um­ grenzten Ausnahmefällen bei abstrakt oder konkret drohendem Freiheitsentzug die Beiordnung eines Verteidigers entbehrlich ist. Die Beiordnung ist in diesen Fällen folglich ein Quasi-Automatismus. Dies entspricht der starken Kopplung der Rechtspflegeinteressen an die Ein­ griffsintensität des Strafverfahrens in andere Konventionsfreiheiten: Die persön­ liche Fortbewegungsfreiheit z. B. ist ein Konventionsrecht, das nur im Ausnahme­ fall beschränkt werden kann, vgl. Art. 5 EMRK, und gegen deren Entzug sich ein Betroffener ausreichend wehren können muss. Der Verlust dieser persönlichen Freiheit ist äußerst folgenreich für die Betroffenen: Der Verlust des Arbeitsplatzes, sowie sozialer und familiärer Kontakte und das soziale Stigma einer so schweren strafrechtlichen Verurteilung wirken sich dauerhaft auf das Leben der Betroffenen aus. Diese Strafform ist nur gerechtfertigt, wenn ihre Verhängung regelmäßig über den Verteidiger als Korrektiv kontrolliert und begleitet wird. Auch andere unmittelbare Rechtsfolgen können ein Rechtspflegeinteresse be­ gründen. Nur weil kein Freiheitsentzug droht, ist ein Strafverfahren nicht zwingend als Bagatelle und damit einer Verteidigerbeiordnung unwürdig zu betrachten.25 Dies ist jedoch eine jeweils von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab­ hängige Bewertung. Bei Geldstrafen, die in Freiheitsstrafen umgewandelt werden können, spricht ebenso eine Vermutung für die Annahme eines Rechtspflegein­ teresses.26 Für strafprozessuale Systeme, die grundsätzlich eine solche Umwand­ lung für möglich halten, kann dadurch regelmäßig ein Interesse der Rechtspflege anzunehmen sein.27 Andernfalls würde über diese Vollzugslösung ermöglicht,

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EGMR, Urteil v. 27.3.2007 – 32432/96, Talat Tunc ./. TR, Rn. 57. EGMR, Urteil v. 19.11.2015 – 46998/08, Mikhaylova ./. RU, Rn. 90 (15 Tage drohender administrativer Arrest); Urteil v. 16.11.2004 – 42317/98, Hooper ./. GB, Rn. 20, 22 (zwei Wo­ chen Arrest); Urteil v. 10.6.1996 – 19380/92, Benham ./. GB, Rep. 1996-III, Rn. 61 (abstrakt mögliche Höchststrafe von drei Monaten Freiheitsstrafe). 24 EGMR, Urteil v. 19.11.2015 – 46998/08, Mikhaylova ./. RU, Rn. 82; Urteil v. 6.11.2012 – 32238/04, Zdravko Stanev ./. BG, Rn. 38; für eine Freiheitsstrafe von 3–6 Monaten: Trechsel / Summers, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 274. 25 EGMR, Urteil v. 19.11.2015 – 46998/08, Mikhaylova ./. RU, Rn. 82; Urteil v. 6.11.2012 – 32238/04, Zdravko Stanev ./. BG, Rn. 38. 26 EGMR, Urteil v. 14.11.2000 – 27783/95, T ./. AT, Rep. 2000-XI, Rn. 61 f., 66 f.; Urteil v. 8.6.1995 – 15917/89, Jamil ./. FR, Rn. 32; Urteil v. 23.10.1995 – 15963/90, Gradinger ./. AT, Rep. Serie A, Nr. 328C Rn. 36; Entscheidung v. 17.6.2008 – 44298/02, Synnelius u. Edsbergs Taxi AB ./. SE, S. 4. 27 Insgesamt krit. gegenüber dem System der Ersatzfreiheitsstrafe EGMR, Urteil v. 2.7.2002 – 33402/96, Göktan ./. FR, Rep. 2002-V, Rn. 51 („The Court has to express reser­ vations about the imprisonment in default system as such: it constitutes an archaic custodial measure available only to the Treasury“; vgl. zum dt. System u. Kap. 4 B. II. 2. 23

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

weniger Verteidigungsrechte zu gewähren, obwohl gleichfalls Freiheitsentzug abstrakt möglich ist. Bei Geldstrafen, die nicht in eine Freiheitsstrafe umgewandelt werden kön­ nen, ist die Betrachtung dagegen offener und bisher kasuistisch geprägt. Sehr geringfügige Geldstrafen wurden als nicht ausreichend erachtet, um ein Rechts­ pflegeinteresse zu begründen.28 Bei hohen Geldstrafen oder Geldbußen ist die Rechtsprechungslinie dagegen nicht einheitlich: In manchen wird eine persona­ lisiert-konkrete Betrachtung vorgenommen, sodass Geldbußen dann ein Rechts­ pflegeinteresse begründen, wenn sie die finanzielle Situation des Angeklagten massiv beeinflussen.29 In anderen Entscheidungen reichten dagegen auch hohe Geldstrafen nicht aus, ohne dass überhaupt eine Betrachtung der Verhältnisse des Angeklagten vorgenommen wurde.30 Folgt man jedoch dem Gedanken, Rechtspflegeinteressen umso eher anzuneh­ men, je intensiver die Belastung des Angeklagten durch die verhängten Rechts­ folgen ist, so muss dies auch für Geldstrafen gelten. Das bedeutet zum einen, dass eine drohende Geldstrafe mit den daraus folgenden Einschnitten für den Ange­ klagten abzuwägen ist. Ist die Belastung für diesen hoch, muss im Zweifel ein Verteidiger im Wege strafrechtlicher Prozesskostenhilfe bestellt werden. Im Ein­ zelfall kann dies jedoch schwierig zu ermitteln sein, weil es sich bei Äußerungen zur wirtschaftlichen Lage des Angeklagten um Äußerungen zur Sache und damit um von seinem Schweigerecht grundsätzlich geschützte Informationen handelt.31 Entscheidet sich der Angeklagte, von seinem Schweigerecht auch diesbezüglich Gebrauch zu machen, muss ausgehend von den objektiv feststellbaren Umständen eine Prognose getroffen werden, ob die mögliche Geldstrafe ausreichend empfind­ lich ist, um von einem Rechtspflegeinteresse auszugehen. Zusätzlich sind auch mittelbare Rechtsfolgen relevant, um den abstrakt oder kon­ kret drohenden Eingriff der Strafverfolgungsbehörden festzustellen. Maßgeblich ist, inwiefern der Angeklagte zukünftig entweder seine Konventionsrechte wegen mittelbarer Folgen nicht mehr wahrnehmen kann oder davon abgehalten wird. Das können rechtliche Folgen, wie der Verlust des aktiven oder passiven Wahlrechts oder Berufsverbote, sein, aber ebenso die tatsächliche Abschreckungswirkung, wenn die strafrechtliche Verurteilung aufgrund der potentiell zulässigen Wahr­ nehmung von Konventionsrechten erfolgt, wie z. B. bei Verurteilungen wegen der

28 EGMR, Urteil v. 19.11.2015 – 46998/08, Mikhaylova ./. RU, Rn. 96 (drohende Geldstrafe von umgerechnet ca. 28,00 EUR). 29 EGMR, Urteil v. 6.11.2012 – 32238/04, Zdravko Stanev ./. BG, Rn. 39 a. E. 30 EGMR, Entscheidung v. 17.6.2008 – 44298/02, Synnelius u. Edsbergs Taxi AB ./. SE, Rn. 4. 31 Weil diese grundsätzlich über die Geldstrafe und damit die Rechtsfolgen für den straf­ rechtlichen Vorwurf entscheiden, vgl. so jdf. im dt. Recht: KK-Schneider, StPO, § 243 Rn. 18.

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zulässigen Ausübung der Versammlungsfreiheit, der Meinungsfreiheit oder der Pressefreiheit.32 Zusammenfassend ist damit weder die Schwere der angeklagten Tat noch die Schwere der drohenden Rechtsfolgen rechtssicher und abstrakt zu bestimmen. Dennoch lassen sich über den Gedanken der Eingriffsintensität diese Kriterien leichter handhaben. Aus diesem Gedanken folgt auch, dass bestimmte Eingriffe eine staatlich getragene Verteidigung für den Angeklagten quasi zwingend er­ fordern, insbesondere die drohende Freiheitsentziehung oder existentiell bedroh­ liche Geldbußen. Über dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis wird eine Untergrenze gebotener zwingender Verteidigung eingezogen, die anerkennt, dass Verfahrens­ gerechtigkeit in solchen Situationen schwerwiegender Konsequenzen nicht vom Angeklagten allein zu bewältigen ist. b) Betrachtung der Umstände des Strafverfahrens im Verhältnis zu den konkreten Fähigkeiten des Angeklagten Das Kriterium der „Komplexität des Verfahrens“ erfordert eine Beiordnung im Interesse der Rechtspflege dann, wenn die rechtlichen oder tatsächlichen Umstände des Strafverfahrens so schwierig sind, dass der konkret betroffene Angeklagte als nicht mehr aus eigener Kraft verteidigungsfähig einzuschätzen ist.33 Dieses Kri­ terium ist folglich vom Gedanken der Waffengleichheit geprägt:34 Der Angeklagte soll nicht ohne rechtlichen Beistand in Verfahrenssituationen bleiben, die er den rechtlich vorgebildeten Strafverfolgungsbehörden gegenüber nicht gleichwertig bewältigen kann. Es muss ihm gerade möglich sein, seinen Fall unter solchen Umständen darzulegen, „which do not place him at substantial disadvantage vis-à-vis his opponent.“35 Diese zweischrittige Betrachtung, die objektive Feststellung einer Verfahrens­ situation und ihre Komplexitätsbewertung durch den Vergleich mit den subjektiven Fähigkeiten des Angeklagten, belässt jedoch im Einzelfall ebenfalls einen weiten Beurteilungsspielraum und legt damit abstrakt wenig rechtssichere Standards fest. Soweit möglich, soll jedoch im Folgenden versucht werden, diesen Maßstab über Regel-Ausnahme-Verhältnisse zu begrenzen. 32

EGMR, Urteil v. 19.11.2015 – 46998/08, Mikhaylova ./. RU, Rn. 99. Vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteil v. 28.10.1994 – 18711/91, Boner ./. GB, Rep. Serie A, Nr. 300B Rn. 41; vgl. Urteil v. 22.10.2009  – 35185/03, Raykov ./. BG, Rn. 54; Urteil v. 28.3.1990  – 11932/86, Granger ./. GB, Rep. Serie A, Nr. 174 Rn. 47; Urteil v. 13.5.1980  – 6694/74, Artico ./. IT, Rep. Serie A, Nr. 37 Rn. 34 a. E.; Demko, in: Gaede / Meyer / Schlegel (Hrsg.), HRRS-FG Fezer, S. 15. 34 Vgl. dazu EGMR, Entscheidung v. 29.8.2000 – 31541/96, Caresana ./. GB, S. 15; Urteil v. 16.2.2000 – 28901/95, Rowe u. Davis ./. GB, Rep. 2000-II, Rn. 60; Urteil v. 16.10.2012 – 21124/04, Tsonyo Tsonev ./. BG [Nr. 3], Rn. 52. 35 Vgl. EGMR, Urteil v. 23.10.1996 – 17748/91, Ankerl ./. CH, Rep. 1996-V, Rn. 38. 33

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

aa) Objektive Komplexität des Verfahrens Die Komplexität des Verfahrens kann sowohl in tatsächlichen wie rechtlichen Fragen des Verfahrens gründen. Dabei können bestimmte Faktoren die Komple­ xität des Verfahrens so sehr anheben, dass ein Rechtspflegeinteresse zu vermuten ist – wenngleich diese Vermutung durch den Abgleich mit den persönlichen Fä­ higkeiten des Angeklagten noch widerlegt werden kann. In tatsächlicher Hinsicht prägen insbesondere der Umfang der Hauptverhand­ lung, und die Klarheit der Beweislage die Komplexität des Verfah­rens. Je länger eine Hauptverhandlung dauert, umso eher ist davon auszugehen, dass das Verfah­ ren einen für den durchschnittlichen Angeklagten nicht mehr zu bewältigenden Schwierigkeitsgrad hat. Dies gilt umso mehr, wenn das Verfahren eine ausgedehnte Beweisaufnahme erfordert. Die Beweissituation selbst kann schwierig sein, weil verschiedene sich widersprechende Beweismittel erhoben und bewertet werden müssen,36 oder wenn sich bei der Beweiserhebung Probleme ergeben, z. B. wenn der Angeklagte von der Vernehmung bestimmter Zeugen aus Opferschutzgründen ausgeschlossen wird.37 Die rechtliche Komplexität eines Verfahrens betrifft zum einen materielle Fra­ gen der Schuld und der Strafzumessung ebenso wie prozessuale Abläufe. Ausge­ hend vom durchschnittlich nicht juristisch vorgebildeten Angeklagten sind jeden­ falls solche Verfahren als komplex zu vermuten, die sich anhand rechtlich streitiger Fragen entscheiden, seien sie verfahrens- oder materiellrechtlicher Natur.38 Auch rechtliche Fragen können ein Rechtspflegeinteresse wegen der Komplexität des Verfahrens begründen, wenn deren Beantwortung zum einen nicht auf der Hand liegt und zum anderen für die konkrete Ausgestaltung der Strafe von Bedeutung sind: Entscheidet eine rechtliche Frage über Qualifikation oder Privilegierung,39 den Umfang der Schuldfähigkeit40 oder den Widerruf der Bewährung,41 darf deren Verhandlung nicht dem Angeklagten allein überlassen werden.

36 Vgl. so in EGMR, Urteil v. 10.8.2006 – 54784/00, Padalov ./. BG, Rn. 44 (Teilgeständ­ nisse des Angeklagten). 37 Vgl. ähnliche Abwesenheitssituation in EGMR, Urteil v. 26.6.2008 – 15435/03, Shule­ pov ./. RU, Rn. 35 (unverteidigter Angeklagter kann nur per Videokonferenz hinzugeschaltet werden). 38 Vgl. so für das deutsche Revisionsverfahren, EGMR, Urteil v. 25.4.1983 – 8398/78, Pa­ kelli ./. DE, Rep. Serie A, Nr. 64 Rn. 37 f. 39 Vgl. dafür EGMR, Urteil v. 14.3.2013 – 36697/03, Krylov ./. RU, Rn. 46. 40 Vgl. EGMR, Urteil v. 10.6.1996 – 19380/92, Benham ./. GB, Rep. 1996-III, Rn. 62. 41 EGMR, Urteil v. 24.5.1991 – 12744/87, Quaranta ./. CH, Rep. Serie A, Nr. 205 Rn. 34.

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bb) Abgleich mit den persönlichen Fähigkeiten des Angeklagten Ob der Grad an Komplexität verlangt, dass ein Verteidiger im Interesse der Rechtspflege beigeordnet werden muss, bemisst sich anhand der konkreten Person des Angeklagten und seiner Fähigkeiten.42 Ergibt diese Betrachtung, dass gegenüber jemandem mit rechtlicher Expertise eine weniger effektive Verteidigung möglich ist, ist staatlich getragener Verteidigungsbeistand im Interesse der Rechtspflege.43 Hypothetisch fragt der EGMR danach, ob der Angeklagten sich zu den in Frage stehenden rechtlichen Punkten derart hätte äußern können, dass der Vortrag und die Anwesenheit eines Verteidigers überflüssig gewesen wären.44 (1) Feststellung der an den Angeklagten zu stellenden Anforderungen Der Umfang der vorauszusetzenden Kompetenzen des Angeklagten gilt nur re­ lativ: An seine Fähigkeiten sind umso höhere Anforderungen zu stellen, je mehr er durch ein strafrechtliches Urteil riskiert.45 Insoweit überschneidet sich dieser Kom­ plexitätsmaßstab in Teilen mit den anderen beiden Kriterien des Rechtspflegeinter­ esses. Je eher ein Verfahren in seinen abstrakt und konkret drohenden Rechtsfolgen nach einem der obigen Kriterien ein Rechtspflegeinteresse begründet, umso höhere Anforderungen sind an den Angeklagten zu stellen und umso eher ist ein Verfahren komplex. Komplexität ist nicht nur aufgrund des konkreten Verfahrens­ablaufs, der sich dort stellenden Fragen und der Person des Angeklagten zu ermitteln, sondern auch anhand seines – unterstellten – Interesses, in einer drohenden staatlichen Ein­ griffssituation rechtlichen Beistand zu erhalten. Was vom Angeklagten für ein Verfahren geleistet werden muss, bemisst sich zu­ dem am Umfang der Aufklärungspflicht des Gerichts selbst. Trifft das Gericht eine Ermittlungs- und Sachaufklärungspflicht von Amts wegen, dürfen geringere An­ forderungen an den Angeklagten gestellt werden, als wenn das Gericht ohne eigene Aufklärungspflicht nur die von Verfahrensbeteiligten beigebrachten Beweismittel

42 EGMR, Urteil v. 28.10.1994 – 18711/91, Boner ./. GB, Rep. Serie A, Nr. 300B Rn. 41; Urteil v. 22.10.2009 – 35185/03, Raykov ./. BG, Rn. 54; Urteil v. 28.3.1990 – 11932/86, Gran­ ger ./. GB, Rep. Serie A, Nr. 174 Rn. 47; Urteil v. 9.6.2016 – 2308/06, Saranchov ./. UA, Rn. 56; Demko, in: Gaede / Meyer / Schlegel (Hrsg.), HRRS-FG Fezer, S. 15. 43 Vgl. EGMR, Urteil v. 28.10.1994 – 18711/91, Boner ./. GB, Rep. Serie A, Nr. 300B Rn. 41; vgl. Urteil v. 22.10.2009 – 35185/03, Raykov ./. BG, Rn. 54; Urteil v. 28.3.1990 – 11932/86, Granger ./. GB, Rep. Serie A, Nr. 174 Rn. 47; Urteil v. 13.5.1980 – 6694/74, Artico ./. IT, Rep. Serie A, Nr. 37 Rn. 34 a. E.; Demko, in: Gaede / Meyer / Schlegel (Hrsg.), HRRS-FG Fezer, S. 15. 44 EGMR, Urteil v. 14.3.2013 – 36697/03, Krylov ./. RU, Rn. 46; in diesem Sinne Urteil v. 28.3.1990 – 11932/86, Granger ./. GB, Rep. Serie A, Nr. 174 Rn. 47; grundlegend Urteil v. 25.4.1983 – 8398/78, Pakelli ./. DE, Rep. Serie A, Nr. 64 Rn. 38. 45 So jedenfalls implizit EGMR, Urteil v. 25.9.1992 – 13191/87, Pham Hoang ./. FR, Rep. Serie A, Nr. 243 Rn. 40.

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zu bewerten hat.46 Je mehr eine Rechtsordnung dem Angeklagten auferlegt, die für sein Strafverfahren erforderlichen Beweise selbst beizubringen, umso mehr Kompetenzen benötigt er für die Führung des Verfahrens. Daraus folgt jedenfalls theoretisch, dass adversariale, stark vom Beibringungsgrundsatz geprägte Straf­ verfahrenssysteme47 eher wegen Komplexität einen Verteidiger beiordnen müssen als dies in inquisitorischen Rechtssystemen der Fall ist. Auch wenn der EGMR im Einzelnen immer die persönlichen Fähigkeiten des Angeklagten prüft,48 kann grundsätzlich vermutet werden, dass die Eigenverteidi­ gung durch einen Angeklagten nicht zu leisten ist, weil er einem Verteidiger ähn­ lich rechtlich wie tatsächlich vortragen können müsste. Bei ehrlicher Bewertung der Anforderungen, die aus dem Strafverfahren selbst erwachsen, kann ein durch­ schnittlicher Angeklagter rechtlich und tatsächlich sehr einfach gelagerte Verfah­ ren, in denen lediglich geringfügige Strafen drohen, bewältigen.49 (2) Bewertung der Kompetenzen des Angeklagten Für die Kompetenzen des Angeklagten sind vorrangig dessen intellektuelle Voraussetzungen maßgeblich. Juristisches Vorwissen,50 allgemeines Verständnis komplexer Sachverhalte, Sprachkenntnis und Bildungsniveau an sich bestimmen, ob jemand sich in einem komplexen, und in den Abläufen unbekannten Strafver­ fahren zurechtfindet. Ein Angeklagter ist nicht bereits deswegen als verteidigungs­ fähig einzuschätzen, weil er grundsätzlich gebildet ist und das Verfahren verste­ hen kann.51 Es muss vielmehr gesichert sein, dass ein Angeklagter dem gegen ihn geführten Strafverfahren folgen kann. Dies kann bereits dann ausscheiden, wenn ein Angeklagter weder mit der Verfahrenssprache noch mit dem Kulturkreis be­

46 In diesem Sinne EGMR, Entscheidung v. 4.1.2008 – 40766/06 u. 40831/06, Barsom u. Vali ./. SE, S. 6 f.; Entscheidung v. 17.6.2008 – 44298/02, Synnelius u. Edsbergs Taxi AB ./. SE, Rn. 4; Entscheidung v. 17.6.2008 – 40768/06, Guney ./. SE, S. 5. 47 M. w. N. in kurzer Zusammenfassung Freiberg, Eur. J. Criminology 8 (2011), 84 f.; am Beispiel des anglo-amerikanischen Rechtssystems Weßlau, ZIS 2014, 558 ff. 48 Vgl. sogl. u. Kap. 2 A. II. 1. b). 49 In diesem Sinne auch Bahns / Burkert / Guthke / Kitlikoglu u. a., Neuordnung der Pflicht­ verteidigerbestellung, S. 2 („Praktisch kein Beschuldigter aber ist zu einer sachgerechten Selbstverteidigung in der Lage“). 50 EGMR, Urteil v. 19.11.2015  – 46998/08, Mikhaylova ./. RU, Rn. 91 a. E.; Urteil v. 26.7.2012 – 38773/05, Savitskyy ./. UA, Rn. 115; Entscheidung v. 17.6.2008 – 40768/06, Gu­ ney ./. SE, S. 5; Entscheidung v. 17.6.2008 – 44298/02, Synnelius u. Edsbergs Taxi AB ./. SE, Rn. 4; Entscheidung v. 4.1.2008 – 40766/06 u. 40831/06, Barsom u. Vali ./. SE, S. 6 f. 51 EGMR, Urteil v. 6.11.2012  – 32238/04, Zdravko Stanev ./. BG, Rn. 40; Urteil v. 28.10.1994 – 18711/91, Boner ./. GB, Rep. Serie A, Nr. 300B Rn. 41; Urteil v. 28.10.1994 – 18949/91, Maxwell ./. GB, Rep. Serie A, Nr. 300C Rn. 38; Urteil v. 25.9.1992 – 13191/87, Pham Hoang ./. FR, Rep. Serie A, Nr. 243 Rn. 40; Urteil v. 25.4.1983 – 8398/78, Pakelli ./. DE, Rep. Serie A, Nr. 64 Rn. 37 f.

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kannt ist52 oder wenn Vorwissen fehlt.53 Legen die Kompetenzen des Angeklagten nahe, dass er sein eigenes Strafverfahren nicht im erforderlichen Umfang begreifen und gestalten kann, muss das Verfahren als komplex gelten. In manchen Konstellationen legt die besondere Schutzbedürftigkeit eines An­ geklagten grundsätzlich dessen Verteidigungsunfähigkeit nahe und begründet damit Komplexität im Sinne eines Rechtspflegeinteresses. Schutzbedürftigkeit kann aufgrund des Alters einer Person bestehen, aber auch aufgrund geistiger54 oder körperlicher Konditionen, welche die Teilnahme an einem Strafverfahren deutlich erschweren.55 Wie Schutzbedürftigkeit im Strafverfahren berücksichtigt wird, und wie die Strafverfolgungsbehörden das Verfahren dementsprechend an­ zupassen haben, entscheidet maßgeblich über die Gesamtfairness des Verfahrens.56 Als aufgrund ihres Alters besonders schutzbedürftige Gruppe betrachtet der EGMR kindliche und jugendliche Angeklagte, also Angeklagte unter 18 Jahren. In deren Fall ist grundsätzlich zu vermuten, dass das Strafverfahren diese über­ fordert.57 Um Teilhabe und Verständnis jugendlicher Angeklagter zu ermöglichen, bedarf es nach der Rechtsprechung des EGMR einer auf das Alter und den Reife­ grad des jeweiligen Angeklagten zugeschnittenen Herangehensweise der Strafver­ folgungsbehörden.58 Der EGMR geht folglich grundsätzlich davon aus, dass auch jugendliche Angeklagte zur eigenen Verteidigung fähig sind, wenn die Strafverfol­ gungsbehörden diesen angepasst gegenüber treten. Zugleich betont der EGMR je­ doch, dass ein gesetzlicher Vertreter oder rechtlicher Beistand anwesend sein muss, wenn die Verständnisfähigkeit des jugendlichen Angeklagten in Zweifel steht.59 52

EGMR, Urteil v. 26.9.2000  – 33170/96, Biba ./. GR, Rn. 27; Urteil v. 9.6.1998  – 42/1997/826/1032, Twalib ./. GR, Rep. 1998-IV, Rn. 53. 53 Vgl. so in EGMR, Urteil v. 19.11.2015 – 46998/08, Mikhaylova ./. RU, Rn. 91 a. E.; Urteil v. 26.7.2012 – 38773/05, Savitskyy ./. UA, Rn. 115. 54 Z. B. bei geistigen Defiziten aufgrund jahrelangen Substanzmissbrauchs, vgl. EGMR, Urteil v. 24.5.1991 – 12744/87, Quaranta ./. CH, Rep. Serie A, Nr. 205 Rn. 35. 55 Vgl. die Definition in Kommission, Empfehlung v. 27.11.2013 – C(2013) 8178 final, Ver­ fahrensgarantien für schutzbedürftige Personen, Erwägungsgrund (1). 56 EGMR, Urteil v. 12.5.2017 – 21980/04, Simeonovi ./. BG, Rep. 2017 (vorgesehen), Rn. 120 lit. a; ebenso Urteil v. 13.9.2016 – 50541/08 u. a., Ibrahim u. a. ./. GB, Rep. 2016 (vorgesehen), Rn. 274 lit. a. 57 EGMR, Urteil v. 23.3.2016 – 47152/16, Blokhin ./. RU, Rep. 2016 (vorgesehen), Rn. 199; Urteil v. 27.11.2008 – 36391/02, Salduz ./. TR, Rep. 2008-V, Rn. 60. 58 EGMR, Urteil v. 23.3.2016 – 47152/16, Blokhin ./. RU, Rep. 2016 (vorgesehen), Rn. 195; Urteil v. 30.5.2013 – 35985/09, Martin ./. EE, Rn. 92; Urteil v. 11.12.2008 – 4268/04, Pano­ vits ./. CY, Rn. 67; Urteil v. 14.6.2004 – 60958/00, S. C. ./. GB, Rep. 2004-IV, Rn. 28; Urteil v. 16.12.1999 – 24724/94, T ./. GB, Rn. 84; grds. zust. zu diesem Ansatz Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 799 f. 59 Vgl. dazu EGMR, Urteil v. 23.3.2016 – 47152/16, Blokhin ./. RU, Rep. 2016 (vorgese­ hen), Rn. 14, 195, 198 f. (12jähriger); Urteil v. 30.5.2013  – 35985/09, Martin ./. EE, Rn. 92 (17jähriger); Urteil v. 2.3.2010 – 54729/00, Adamkiewicz ./. PL, Rn. 89 f. (15jähriger); Urteil v. 11.12.2008  – 4268/04, Panovits ./. CY, Rn. 7, 71, 74 (17jähriger); Urteil v. 14.6.2004  – 60958/00, S. C. ./. GB, Rep. 2004-IV, Rn. 29 (11jähriger); Urteil v. 16.12.1999 – 24724/94, T ./. GB, Rn. 84 ff. (11jähriger).

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

Der EGMR argumentiert nicht anhand fester Altersgrenzen oder anderer (rechts­ sicherer) Kriterien, sondern unterstellt die Einschätzung der Verteidigungsfähigkeit der jugendlichen Angeklagten grundsätzlich der freien Beurteilung durch die Kon­ ventionsstaaten. Anders als z. B. in Fällen drohender Freiheitsentziehung arbeitet der EGMR an dieser Stelle keine derart deutliche Vermutungswirkung zugunsten eines Rechtspflegeinteresses heraus. Das ist in Anbetracht der besonderen Schutz­ bedürftigkeit dieser Gruppe von Angeklagten bedauerlich. Aber indem er wieder­ holt auf die besondere Schutzbedürftigkeit jugendlicher Angeklagter verweist und die Wichtigkeit des Zugangs zu einem Rechtsbeistand gerade in diesen Fällen be­ tont („the Court stresses in particular the fundamental importance of providing access to a lawyer where the person in custody is a minor“60), wird deutlich, dass der selbstständig verteidigungsfähige jugendliche Angeklagte in der Konzeption des EGMR zutreffend nicht die Regel, sondern die Ausnahme darstellt. Im Zwei­ fel streitet somit bei jugendlichen Angeklagten ein Interesse für die Beiordnung eines Verteidigers, es sei denn, die Strafverfolgungsbehörden können im Einzelfall darlegen, dass der konkrete jugendliche Angeklagte die Tragweite des Strafver­ fahrens und seine eigenen Rechte selbst und verständig wahrnehmen konnte. 2. Bedürftigkeit als primär im Angeklagteninteresse stehende Voraussetzung Mittellosigkeit des Angeklagten zu berücksichtigen, formuliert den Anspruch eines chancengleichen Zugangs zu strafrechtlicher Prozesskostenhilfe. Dieser Ge­ danke spielt jedoch – jedenfalls gemessen an der Judikatur des EGMR – eine ver­ gleichsweise geringe Rolle.61 Das liegt jedoch weniger an einer Geringschätzung dieses gleichwertigen Zugangs, als daran, dass der EGMR anscheinend von einer selbstverständlichen Bedeutung ausgeht und das Vorliegen von Bedürftigkeit nicht selten ohne weitere Erörterung annimmt.62 Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK legt Bedürftigkeit als teilweises Fehlen von Mitteln, als unzureichende finanzielle Ausstattung des Angeklagten aus, die ihm den Zu­ gang zu einem Verteidiger versperrt. Wenngleich der französische Wortlaut von Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK ein gänzliches Fehlen von Mitteln erforderlich zu ma­ chen scheint („s’il n’a pas les moyens de rémunérer un défenseur“), deutet der englische Wortlaut lediglich auf nicht ausreichende Mittel hin („not sufficient ­means to pay“). Würde man den französischen Wortlaut zugrunde legen, wäre Mittel­ losigkeit ein sehr enges Konstrukt, das nur auf vollkommen mittellose Angeklagte 60 EGMR, Urteil v. 23.3.2016 – 47152/16, Blokhin ./. RU, Rep. 2016 (vorgesehen), Rn. 199; Urteil v. 27.11.2008 – 36391/02, Salduz ./. TR, Rep. 2008-V, Rn. 60. 61 Ebenso Plekksepp, Die gleichmäßige Gewährleistung des Rechts auf Verteidigerbeistand, S. 73; Esser, in: ders. / Günther u. a. (Hrsg.), FS H.-H. Kühne, S. 558 f. 62 Vgl. dazu jeweils EGMR, Urteil v. 27.3.2007 – 32432/96, Talat Tunc ./. TR, Rn. 56 („ne prête pas à controverse“); Urteil v. 10.8.2006 – 54784/00, Padalov ./. BG, Rn. 42.

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zuträfe. Eine derart restriktive Auslegung würde den Anspruch auf strafrechtliche Prozesskostenhilfe jedoch für viele Angeklagten leerlaufen lassen. Richtig ist da­ her, dass auch nur teilweise fehlende Mittel, die aber trotzdem die Beauftragung eines Verteidigers unmöglich machen, bereits die Definition der Mittellosigkeit erfüllen müssen. Wann ausreichende Mittel fehlen, bestimmt der EGMR anhand einer Auswahl von Kriterien, die die Abwesenheit solcher Mittel be- oder widerlegen. Dafür wer­ den in einer Gesamtschau die dafür relevanten Lebensumstände des Angeklag­ ten gewichtet: Das Bestehen von Vermögenswerten,63 einer festen Anstellung als regelmäßiger Einnahmequelle,64 das Lohnniveau einer bestehenden Anstellung, finanzielle Autarkie und davon abgehende regelmäßige Verpflichtungen wie Unter­ haltspflichten,65 bemessen am Lebensstandards des jeweiligen Konventionsstaats.66 Fehlt dagegen eine solche stabile Anstellung,67 ein regelmäßiges, dem Lebensstan­ dard des jeweiligen Konventionsstaats genügendes Einkommen68 oder eigenes Ver­ mögen69 oder bestehen finanzielle Abhängigkeiten70 und Schulden, dann können diese Kriterien jeweils Bedürftigkeit nahelegen. Diese Gesamtschau ermöglicht den Konventionsstaaten ihrem Lebensstandard entsprechend Bedürftigkeit zu beurteilen. Dies entspricht der Diversität von Ein­ kommen und Vermögen in den unterschiedlichen Konventionsstaaten der EMRK. Denn diese Diversität verhindert, dass für einen solch großen Rechtsraum sinnvoll Schwellenwerte festgelegt werden können:71 Zu niedrige Schwellenwerte, die den teils geringen Pro-Kopf-Einkommen in manchen Konventionsstaaten gerecht wür­ den, würden Prozesskostenhilfe in finanziell stärkeren Ländern zum Automatis­ mus für den Großteil der Bevölkerung werden lassen. Zu hohe Schwellenwerte da­ gegen würden in gewissen Konventionsstaaten mit geringen Pro-Kopf-Einkommen Prozesskostenhilfe quasi gänzlich unzugänglich machen. Diese fehlende Be­ stimmtheit der Bedürftigkeit ist in der Rechtsanwendung zwar unsicher,72 aber das einzige Mittel, weder eine zu enge, Chancenungleichheit fördernde noch eine zu weite, Ressourcen überstrapazierende Definition von Bedürftigkeit zugrunde zu legen.

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EGMR, Entscheidung v. 29.8.2000 – 31541/96, Caresana ./. GB, S. 12 f. Vgl. EGMR, Entscheidung v. 9.9.2004 – 53329/99, Toeva ./. BG, S. 14. 65 EGMR, Urteil v. 17.2.2011 – 38157/04, Ognyan Asenov ./. BG, Rn. 47. 66 S. auch EGMR, Urteil v. 17.2.2011 – 38157/04, Ognyan Asenov ./. BG, Rn. 47; Jüriloo, Nordic J. Hum. Rts. 33 (2015), 217. 67 EGMR, Urteil v. 10.8.2006 – 54784/00, Padalov ./. BG, Rn. 42. 68 EGMR, Urteil v. 26.9.2000 – 33170/96, Biba ./. GR, Rn. 28 (nur gelegentliche, spontane Tätigkeiten als ungelernter Arbeiter). 69 EGMR, Urteil v. 6.11.2012 – 32238/04, Zdravko Stanev ./. BG, Rn. 16, 39. 70 EGMR, Urteil v. 16.10.2012 – 21124/04, Tsonyo Tsonev ./. BG [Nr. 3], Rn. 20, 51. 71 Gegen eine solche Schwellenwertbetrachtung bei Prozesskostenhilfe allgemein Jüriloo, Nordic J. Hum. Rts. 33 (2015), 217. 72 Krit. daher Newman, Legal Aid Lawyers and the Quest for Justice, S. 11. 64

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

Grundsätzlich können die Konventionsstaaten diejenigen Umstände, die Mittel­ losigkeit begründen, nur schlecht selbst ermitteln. Die dafür benötigten Informa­ tionen liegen zumeist vollständig in der Sphäre des Angeklagten. Es ist daher zulässig, ihm die Darlegungslast dafür aufzuerlegen.73 Die Interessen der Mit­ gliedstaaten an einer gerechten Verteilung sind durchaus so gewichtig, dass sie eine glaubhafte Substantiierung der Bedürftigkeit durch den Angeklagten fordern dürfen. Die Anforderungen dürfen lediglich nicht so überhöht sein, dass der Zu­ gang zu strafrechtlicher Prozesskostenhilfe insgesamt versperrt wird. Liegen also unbestritten gebliebene Anhaltspunkte zur Mittellosigkeit des Angeklagten vor, so ist er im Zweifel als mittellos zu betrachten.74 Diese Anhaltspunkte können über die Darlegungslast des Angeklag­ten hin­ aus den Staat in die Pflicht nehmen, selbst die Bedürftigkeit des Angeklagten zu erkennen und eine Beiordnung zu veranlassen. Auch an dieser Stelle wirkt sich aus, dass Bedürftigkeit nicht nur ein im Interesse des Angeklagten stehendes Er­ fordernis ist, sondern dass der Staat als Garant für Verteidigungsrechte und ein ordnungsgemäßes Strafverfahren gleichfalls Verantwortung trägt. Beschlüsse be­ treffend z. B. die Insolvenz des Angeklagten oder eines von ihm getragenen Unter­ nehmens,75 die vorherige Befreiung von den Gerichtskosten per Beschluss76 oder ähnliche Anhaltspunkte, die klarstellen, dass Bedürftigkeit sehr naheliegend ist, dürfen vom Tatgericht nicht übergangen werden. 3. Das Überwiegen des staatlichen Fürsorgeansatzes im Sinne eines Rechtspflegeinteresses Im Rahmen der Bedürftigkeit klang bereits an, dass den Angeklagten zwar Verantwortung bezüglich seines eigenen Strafverfahrens und dessen effektiver Führung trifft  – der das Verfahren führende Staat darf dies jedoch nicht aus­ nutzen, um die Verantwortung für ein prozessgemäßes Strafverfahren allein auf den Angeklagten abzuwälzen. Der Sicherung eines fairen Verfahrens wird so vor der – auch möglicherweise unvernünftigen – eigenverantwortlichen Entscheidung des Angeklagten Vorrang eingeräumt. Dem Staat wächst in der Folge eine eigene

73 EGMR, Urteil v. 5.11.2015 – 36814/06, Chukayev ./. RU, Rn. 116; Urteil v. 21.6.2011 – 29652/04, Orlov ./. RU, Rn. 114; Entscheidung v. 29.8.2000 – 31541/96, Caresana ./. GB, S. 12; Urteil v. 25.9.1992 – 13611/88, Croissant ./. DE, Rep. Serie A, Nr. 237B Rn. 37 a. E.; OLG Düs­ seldorf, NJW 1989, 676; LR-Esser, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 737 m. w. N. 74 EGMR, Urteil v. 9.6.1998 – 42/1997/826/1032, Twalib ./. GR, Rep. 1998-IV, Rn. 51; Urteil v. 25.4.1983 – 8398/78, Pakelli ./. DE, Rep. Serie A, Nr. 64 Rn. 34 a. E.; zust. Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 264. 75 EKMR, Entscheidung v. 4.10.1989 – 12631/87, Fejde ./. SE, S. 7. 76 EGMR, Urteil v. 18.12.2001  – 29692/96 u. 34612/97, R. D. ./. PL, Rn. 46; Urteil v. 9.6.1998 – 42/1997/826/1032, Twalib ./. GR, Rep. 1998-IV, Rn. 51 (Antragstellung für Prozess­ kostenhilfe durch den Angeklagten).

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Garan­tenstellung zu, Schutzmaßnahmen für die Verteidigungsrechte in besonde­ ren Situationen zu ergreifen.77 In diesem Sinne gestaltet der EGMR das Bild eines idealen Staates, der neutral und ideal Strafverfolgungsinteresse und Verteidigungsrechte des Angeklagten im Sinne eines fairen Verfahrens ausgleicht. Dieser Gedanke schlägt auf alle Ebenen strafrechtlicher Prozesskostenhilfe durch: Voraussetzungen wie Gewährleistungen werden unter dem Gesichtspunkt einer staatlich übergreifenden Verantwortung ge­ lesen und ausgelegt. Dieser an sich zutreffende Gedanke führt jedoch zu Friktionen mit Einflussmöglichkeiten und Willen des Angeklagten. a) Verzicht Die Disponibilität des Anspruchs auf strafrechtliche Prozesskostenhilfe ist Ausdruck seines ebenso genuinen Rechts auf die Wahl der Eigenverteidigung aus Art. 6 Abs. 3 lit.  c EMRK.78 Der Verzicht  – und die Entscheidung für die Eigen­verteidigung  – birgt jedoch die Gefahr eines weitreichenden, wenngleich grundsätzlich widerruflichen Rechteverlusts. Für die Zeit des Verzichts hat der Angeklagte dann keinen Anspruch mehr auf dieses Recht und muss sich dem Strafverfahren allein stellen. Da die Rechtfertigung für diese Alleinstellung im Verfahren der genuine Wunsch des Angeklagten ist, seine Verteidigung selbst zu führen, muss zunächst sichergestellt werden, dass der Verzicht Ergebnis einer freiwilligen Willensent­ scheidung ist und dieser Wille auch eindeutig erklärt wurde.79 Um nicht vorschnell einen derartigen Rechteverlust anzunehmen, müssen daher den Verzicht beglei­ tende, prozessuale Sicherungsmaßnahmen („safeguards commensurate with its

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Ebenso eine Pflicht zur Herstellung von effektiver Verteidigung erkennend MüKo-Gaede, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 218 f.; früher ebenfalls noch von einer Garantenstellung sprechend ders., Fairness als Teilhabe, S. 110, 117 Fn. 216, S. 335; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24 Rn. 129 („positive Verpflichtungen“); darin geringfügiger nur eine „Überwachungspflicht“ erkennend NomosKomm-Meyer-Ladewig / Harrendorf, EMRK, Art. 6 Rn. 234 78 EGMR, Urteil v. 15.11.2007 – 26986/03, Galstyan ./. AM, Rn. 91; zu dieser Pluralität von Verteidigungsrechten in Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK ebenso Dijk / Hoof / R ijn / Zwaak-Bark­ huysen / van Emmerik / Jansen / Fedorova, ECHR, Kap. 10, S. 629; zust. Croquet, EHRLR 3 (2012), 295; a. A. Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 450, der von einem einheitlichen Recht auf effektive Verteidigung im Strafverfahren ausgeht; im Anschluss an Villiger, EMRK, Rn. 514, von einem „vierten Recht“ sprechend Kratzsch, in: Esser / Harich u. a. (Hrsg.), Die Bedeutung der EMRK für die nationale Rechtsordnung, S. 68 f.; ebenso von einem „vierten“ Recht ausgehend Plekksepp, Die gleichmäßige Gewährleistung des Rechts auf Verteidigerbeistand, S. 67. 79 Vgl. von vielen EGMR, Urteil v. 6.7.2017 – 21987/05, Sadkov ./. UA, Rn. 128; Urteil v. 6.10.2016 – 37364/05, Jemeljanovs ./. LV, Rn. 84; Urteil v. 9.6.2016 – 2308/06, Saranchov ./. UA, Rn. 44; Urteil v. 15.11.2007 – 26986/03, Galstyan ./. AM, Rn. 90; Urteil v. 22.10.2009 – 35185/03, Raykov ./. BG, Rn. 63; Urteil v. 10.8.2006 – 54784/00, Padalov ./. BG, Rn. 47.

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

importance“) existieren.80 Diese sollen sicherstellen, dass der Verzicht auf einer verständigen Entscheidung des Angeklagten beruht und dieser sich der daraus erwachsenden Konsequenzen voll bewusst ist (sog. „knowing and intelligent waiver“).81 In diese Verständigkeitsbetrachtung ist – ähnlich wie im Rahmen der Komplexität des Verfahrens – auch die Fähigkeit des Angeklagten zur selbstän­ digen Verfahrensorganisation miteinzubeziehen.82 Die prozessualen Sicherungs­ maßnahmen sollen dadurch primär den Angeklagten davor schützen, durch irre­ führende Informationen einen schlecht informierten, weitgehenden Verzicht auf seine Rechte zu formulieren. Beim Verzicht – bzw. dem Wunsch des Angeklagten, sich selbständig im Straf­ verfahren zu vertreten – kann es zu Friktionen zwischen dem genuinen Willen des Angeklagten und der Pflicht des Staates kommen, im Ganzen die Fairness des Verfahrens zu sichern. Diese Problematik löst der EGMR darüber, dass dem Verzicht keine wichtigen öffentlichen Interessen entgegenstehen dürfen („not run counter to any important public interest“)83 und appelliert über dieses Merkmal an den Staat als Garanten eines fairen Verfahrens. In diesem Fall ist die Frage, ob der Wille und die Autonomie des konkreten Angeklagten respektiert werden müssen, oder ob beides zugunsten einer ebenso in seinem Interesse liegenden Verteidigung für die Sicherung eines fairen Verfahrensablaufs hintangestellt werden sollen. Soweit begründete öffentliche Interessen für einen Beistand des Angeklagten streiten, soll nach der Rechtsprechung des EGMR dem Angeklagten auch ein Bei­ stand aufgezwungen werden können.84 Diese öffentlichen Interessen sind andere als jene Interessen der Rechtspflege, die für eine Beiordnung im Rahmen der Vor­ aussetzung streiten. Hohe drohende Freiheitsstrafen an sich machen das Recht auf strafrechtliche Prozesskostenhilfe für den Angeklagten nicht per se verzichtsunfä­ 80 EGMR, Urteil v. 14.1.2010  – 2376/03, Tsonyo Tsonev ./. BG [Nr. 2], Rn. 36; Urteil v. 22.10.2009 – 35185/03, Raykov ./. BG, Rn. 33; Urteil v. 27.3.2007 – 32432/96, Talat Tunc ./. TR, Rn. 59; Urteil v. 10.8.2006 – 54784/00, Padalov ./. BG, Rn. 47. 81 EGMR, Urteil v. 6.7.2017  – 21987/05, Sadkov ./. UA, Rn. 128; Urteil v. 16.2.2017  – 40464/05, Artur Parkhomenko ./. UA, Rn. 79; Urteil v. 6.10.2016 – 37364/05, Jemeljanovs ./. LV, Rn. 84; Urteil v. 1.4.2010  – 42371/02, Pavlenko ./. RU, Rn. 44; Urteil v. 27.3.2007  – 32432/96, Talat Tunc ./. TR, Rn. 59. 82 So zutr. LR-Esser, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 723. 83 EGMR, Urteil v. 14.1.2010  – 2376/03, Tsonyo Tsonev ./. BG [Nr. 2], Rn. 36; Urteil v. 22.10.2009 – 35185/03, Raykov ./. BG, Rn. 33; Urteil v. 27.3.2007 – 32432/96, Talat Tunc ./. TR, Rn. 59; Urteil v. 10.8.2006 – 54784/00, Padalov ./. BG, Rn. 47. 84 Vgl. EGMR, Urteil v. 3.7.2012  – 34806/04, X. ./. FI, Rep. 2012-IV, Rn. 182; Urteil v. 15.11.2007 – 26986/03, Galstyan ./. AM, Rn. 91; Urteil v. 1.3.2006 – 56581/00, Sejdovic ./. IT, Rep. 2006-II, Rn. 86 a. E.; Urteil v. 20.1.2005 – 63378/00, Mayzit ./. RU, Rn. 66, zur Ab­ weichung insgesamt von Wünschen des Angeklagten, wenn Rechtspflegeinteressen dies ge­ bieten; Urteil v. 21.2.1990 – 11855/85, Håkansson u. Sturesson ./. SE, Rn. 66; Entscheidung v. 15.11.2001 – 48188/99, Correia de Matos ./. PT, Rep. 2001-XII, 161 (169 f.); EKMR, Entschei­ dung v. 8.7.1978 – 7572/76, Ensslin, Baader u. Raspe ./. DE, Rn. 22; zust. m. w. N. LR-Esser, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 721, 723; Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfah­ rensrecht, S.  492 ff.; Peers / Hervey / Kenner / Ward-Sayers, GRCh, Art. 48 Rn. 48.42B.

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hig.85 Die wichtigen öffentlichen Interessen hindern lediglich dann die Verzichts­ fähigkeit des Rechts auf strafrechtliche Prozesskostenhilfe, wenn das Verfahren eigenständig für den Angeklagten nicht fair zu führen ist oder der Angeklagte eines „knowing and intelligent waiver“ nicht fähig ist.86 Dadurch greift der EGMR fak­ tisch die Komplexitätsbetrachtung im Rahmen der Rechtspflegeinteressen erneut auf. Ist danach von einem den Angeklagten überfordernden Verfahren und dadurch von seiner Verteidigungsunfähigkeit auszugehen, greift die Garantenstellung des Staates zu seinem Schutz und entmündigt den Angeklagten an dieser Stelle. Darüber hinausgehend gesteht der EGMR den Konventionsstaaten im Rahmen ihrer margin of appreciation87 zu, für gewisse Verfahrenssituationen, angeklagte Taten oder drohende Rechtsfolgen Verteidigung zwingend zu normieren,88 solange die materielle Mitbestimmung des Angeklagten gewährleistet bleibt.89 Die Konven­ tionsstaaten könnten dies in besserer Kenntnis des nationalen Rechts entscheiden, geleitet von dem Interesse der bestmöglichen Verteidigung und eines fairen Ver­ fahrens für den Angeklagten.90 Solange dem Angeklagten eigene Mitwirkungsbe­ fugnisse erhalten bleiben, so z. B. Schlussvorträge oder die Zustellung von Anträ­ gen an das Gericht,91 und er die Herrschaft über die materielle Verteidigung nicht 85

EGMR, Urteil v. 15.11.2007 – 26986/03, Galstyan ./. AM, Rn. 91. Vgl. EGMR, Urteil v. 6.10.2016 – 37364/05, Jemeljanovs ./. LV, Rn. 85 f., 91. 87 Vgl. zum Konzept: „The Court’s task is to determine whether the result called for by the Convention has been achieved“ so in EGMR, Urteil v. 14.6.2001 – 20491/92, Medenica ./. CH, Rep. 2001-VI, Rn. 55; zu Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK im Speziellen vgl. Urteil v. 6.10.2016 – 37364/05, Jemeljanovs ./. LV, Rn. 80; Urteil v. 24.9.2009  – 7025/04, Pishchalnikov ./. RU, Rn. 66; Urteil v. 10.8.2006 – 54784/00, Padalov ./. BG, Rn. 51; Urteil v. 28.10.1994 – 18711/91, Boner ./. GB, Rep. Serie A, Nr. 300B Rn. 43; Urteil v. 12.2.1985 – 9024/80, Colozza ./. IT, Rep. Serie A, Nr. 89 Rn. 30; vgl. zu dieser „obligation de résultat“ auch Gilliaux, Droit(s) européen(s) à un procès équitable, S. 28; dieser Grundsatz sei dazu bestimmt, die nationalen Behörden und Gerichte als Wächter für die Menschenrechte zu installieren, so Spielmann, CLP 67 (2014), 53, 57; krit. zu dieser Ungenauigkeit und den Schwierigkeiten für die Praxis vgl. Wohlers, in: Ro­ gall / P uppe u. a. (Hrsg.), FS Rudolphi, S. 729, 732; zust. zu dieser Zurückhaltung Goerlich, in: Esser / Harich u. a. (Hrsg.), Die Bedeutung der EMRK für die nationale Rechtsordnung, S. 109. 88 EGMR, Urteil v. 3.7.2012 – 34806/04, X. ./. FI, Rep. 2012-IV, Rn. 182; Urteil v. 14.1.2003 – 26891/95, Lagerblom ./. SE, Rn. 50; Urteil v. 25.9.1992 – 13611/88, Croissant ./. DE, Rep. Serie A, Nr. 237B Rn. 27; Entscheidung v. 15.11.2001 – 48188/99, Correia de Matos ./. PT, Rep. 2001XII, 161 (169 f.) im Fall eines Rechtsanwalts m. Bespr. Raveling, Self-Representation Before International Criminal Tribunals, S. 43 ff. 89 EGMR, Urteil v. 14.6.2004  – 60958/00, S. C. ./. GB, Rep. 2004-IV, Rn. 29; Urteil v. 8.2.2000 – 25878/94, Cooke ./. AT, Rn. 42 a. E.; zust. Aall, Nordic J. Hum. Rts. 29 (2011), 262; ebenso Gollwitzer, Menschenrechte im Strafverfahren, Rn. 194; ebenso zust. Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 533 f. 90 EGMR, Entscheidung v. 15.11.2001 – 48188/99, Correia de Matos ./. PT, Rep. 2001-XII, 161 (169 f.); krit. zur dadurch entstehenden Unsicherheit Croquet, EHRLR 3 (2012), 292 f.; auch ein weites Ermessen der Konventionsstaaten feststellend Raveling, Self-Representation Before International Criminal Tribunals, S. 44 f.; zust. Aall, Nordic J. Hum. Rts. 29 (2011), 268. 91 EGMR, Urteil v. 27.2.2001 – 34237/97 u. 34595/97, Adoud u. Bosoni ./. FR, Rn. 20 f.; Urteil v. 8.2.2000  – 27362/95, Voisine ./. FR, Rn. 25 ff.; insg. zust. Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24 Rn. 124. 86

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

verliert, bleibt die autonome Entscheidung des Angeklagten zugunsten einer selbst geführten Verteidigung einschränkbar. Insoweit verfolgt der EGMR im Zweifel eine weniger die tatsächlichen Inte­ ressen des Angeklagten betonende Auslegung, als eine Auslegung, die ihm aus Fürsorge ein Interesse an einem fairen Verfahren unterstellt.92 Damit müssen die Konventionsstaaten die zum Teil schwierige Gratwanderung leisten, zu erkennen, wann der Wunsch zur selbst geführten Verteidigung Ausdruck intakter oder mög­ licherweise defekter Autonomie ist.93 Demgegenüber gibt es eine Reihe von Ansichten, die gerade für eine stärkere Verwirklichung der Autonomie des Angeklagten plädieren, auch um den Preis, dass dieser gegebenenfalls eine unvernünftige Entscheidung für sein eigenes Straf­ verfahren trifft. Denn jede aufgezwungene Pflichtverteidigung, insbesondere eine solche ohne Ansehung eines konkreten Autonomiedefizits beim Angeklagten, bevormunden diesen.94 Das staatliche, objektive Interesse an ordnungsgemäßer Strafrechtspflege und einem fairen Verfahren fingiere ein gleichlautendes sub­ jektives Interesse des Angeklagten, das in der konkreten Situation in dieser Form nicht bestehe.95 Dort wo der Angeklagte einen selbstbestimmten und nach eigenen Überlegungen gefassten Entschluss äußere, nicht verteidigt werden zu wollen, sei daher kein Platz für staatliche Fürsorge.96 Der Strafprozess habe sich gerade zu diesem, auf den Angeklagten als Verfahrenssubjekt konzentrierten Prozess ent­ wickelt; dieser Entwicklung entspräche auch ein gestiegenes Selbstverständnis des Angeklagten, den Strafverfolgungsbehörden gegenüber gleichberechtigt am Ver­ fahren mitwirken zu dürfen.97 Wie solle zudem effektive Verteidigung aussehen, wenn ein gegen Drittverteidigung entschlossener Angeklagter seinem „Zwangs­ verteidiger“ quasi feindlich gegenüberstehe?98 Dieser Streit zwischen gerechter Berücksichtigung der Autonomie des Ange­ klagten und der Führung eines noch fairen Verfahrens beschäftigt nicht nur den EGMR. Auch wenn diese vielfache Diskussion suggeriert, dass es sich um ein prak­

92

Dies als einen Widerstreit „sozialer“ und „liberaler“ Gedankenströmungen sehend Trechsel / Summers, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 263; abl. Herrmann, StV 1996, 397. 93 Zu dieser Schwierigkeit m. w. N. zur internationalen Rspr. Jalloh, in: Carter / Pocar (Hrsg.), International Criminal Procedure, S. 134; vgl. zu diesem Gedanken Welp, ZStW 90 (1978), 117. 94 So Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 559 f.; allg. zur aufgezwungenen Verteidigung Haffke, StV 1981, 481 f.; mit einem Bsp. Herrmann, StV 1996, 398. 95 So krit. insg. zur aufgedrängten Pflichtverteidigung Haffke, StV 1981, 480 f. („totali­ täre[r] Fürsorge- und Bevormundungsstaat“); Herrmann, StV 1996, 396; a. A. Schellenberg, StV 1996, 641 f. 96 Herrmann, StV 1996, 397. 97 Ebd.; krit. dazu insg. Schellenberg, StV 1996, 641 f. 98 Dazu Trechsel / Summers, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 264.

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tisch möglicherweise dringendes Problem handelt, ist das Gegenteil der Fall.99 Im deutschen Rechtsraum z. B. ist die Diskussion dazu bisher rein theore­tisch geblie­ ben. Dadurch ist die Diskussion nicht unbedeutsam, insbesondere, weil die Stellung des Angeklagten als Verfahrenssubjekt und nicht -objekt durch jede Regelung in Frage gestellt wird, die seinen autonom geäußerten Willen unberücksichtigt lässt. Da die Autonomie „das Grundgesetz der prozessualen Stellung“100 des Angeklag­ ten ist, rühren solche Gedanken der Zwangsverteidigung an eine Grundprämisse des Strafprozesses.101 Der EGMR hat insoweit einen „eleganten“,102 wenngleich rechtsunsicher handhabbaren Maßstab gewählt.103 Trotzdem ist diesem Maßstab zuzustimmen.104 Die Kritiker erkennen dort Be­ vormundung, wo der Staat seiner – ihm obliegenden – Fürsorgepflicht für den An­ geklagten nachkommt. Sich „unvernünftig“ gegen die Verteidigung durch einen Dritten entscheiden zu können, mag der „Preis der Freiheit“ sein.105 Würde man die autonome Entscheidung des Angeklagten unbegrenzt gelten lassen, ließe man ihn gleichermaßen auf ein für ihn faires Verfahren verzichten. Auch wenn die Ein­ zelrechte von Art. 6 Abs. 3 EMRK für sich genommen disponibel sind, kann auf das Recht eines fairen Verfahrens in toto jedoch nicht verzichtet werden.106 Es ist die grundsätzliche Grenze der prozessualen Stellung des Angeklagten und seiner Autonomie. Auch in anderen Konstellationen kann der Angeklagte nicht kraft sei­ nes Willens grundlegende Verfahrenssätze aushebeln. Dies findet in anderen Fäl­ len deutlich mehr Zustimmung. Weniger – bzw. faktisch gar nicht – diskutiert wird 99 Herrmann, StV 1996, 397; Schellenberg, StV 1996, 642; im Völkerstrafrecht hat dies­ bezüglich der Fall von Karadzic vor dem IStGH Aufmerksamkeit erregt, vgl. dazu krit. Boas, J. Int’l Crim. J. 9 (2011), 79 ff.; im US-amerikanischen Raum stellte sich diese Problematik Fall des sog. „Unabombers“ Ted Kaczynski, vgl. dazu Sabelli / L eyton, JCLC 91 (2000), 161 ff., 166 ff. 100 Welp, ZStW 90 (1978), 117. 101 Haffke, StV 1981, 472; Schoeller, Beiordnung von Pflichtverteidigern, S. 176; Welp, ZStW 90 (1978), 124. 102 Trechsel / Summers, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 266. 103 So krit. Croquet, EHRLR 3 (2012), 301. 104 Ebenso Kratzsch, in: Esser / Harich u. a. (Hrsg.), Die Bedeutung der EMRK für die natio­ nale Rechtsordnung, S. 74 f. mit Hinweis auf eine geringe Praxisrelevanz dieser Konstellation; ebenso zust. Jorgensen, J. Int’l Crim. J. 4 (2006), 70; soweit diese Beschränkung des Eigen­ verteidigungsrechts ausreichend und angemessen begründet ist, Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 559 ff., m. w. N. zur Fallgruppe der „Verfahrensopposition“ auf S. 562 ff.; SK-Paeffgen, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 137; Stavros, Guarantees for Accused Person under Article 6 ECHR, S. 203; a. A. Weigend, StV 2000, 385. 105 So Haffke, StV 1981, 482. 106 Obgleich bei Verständigungen theoretisch auf das gesamte Verfahren verzichtet werden kann, unterliegt dies jedoch Beschränkungen i. S. einer Absicherung der Fairness, vgl. m. w. N. EGMR, Urteil v. 23.2.2016 – 46632/13 u. a., Navalnyy u. Ofitserov ./. RU, Rn. 100, sodass die Gesamtfairness unverzichtbar ist, vgl. in diesem Sinne Aall, Nordic J. Hum. Rts. 29 (2011), 239; vgl. auch Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 622 f.; eher a. A. MüKo-Gaede, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 92 a. E.; ebenso a. A. IntKomm-Kühne / Miehsler / Vogler, EMRK, Art. 6 Rn. 409 ff.

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diese Einschränkung der Autonomie des Angeklagten, wenn ihm unerlaubt bleibt, der Verwertung eines durch Folter erlangten Geständnisses zuzustimmen, vgl. Art. 6 Abs. 3 EMRK i. V. m. Art. 3 EMRK.107 Doch warum sollte der Fürsorgegedanke der Autonomie des Angeklagten im Einzelnen vorgehen? Einen offenkundig108 mit der Eigenverteidigung überforder­ ten Angeklagten diese trotzdem wahrnehmen zu lassen, lässt das strafverfahrens­ rechtliche System eines Staates zwar die Autonomie des Angeklagten respektieren, erweckt jedoch den Eindruck, dessen Überforderung zu einem „schnellen“ Urteil auszunutzen, und damit nur vorgeschoben dessen autonomer, interessengeleiteter Entscheidung gedient zu haben. Zudem ist fraglich, inwiefern davon ausgegangen werden kann, dass eine solche autonome Entscheidung bei prozessualen Zwangsmaßnahmen und schwerwiegen­ den Vorwürfen durch den Staat überhaupt möglich erscheint. Der sich kühl und rational mit den gegen ihn gerichteten Vorwürfen befassende Angeklagte dürfte ein illusorischer Idealtypus sein.109 Selbst einem juristisch vorgebildeten Ange­ klagten dürfte in den meisten Fällen die für die Bearbeitung des eigenen Falles notwendige Objektivität verloren gehen.110 Wenn viel auf dem Spiel steht, ist der Wille des Angeklagten zur Eigenverteidigung besonders eingehend zu prüfen, ins­ besondere dahingehend, ob ihm die alleinige Vertretung gegenüber juristischen Experten in angemessener Weise möglich ist. Die Eigenverteidigung wird einem Angeklagten wegen seiner eigenen emotionalen Betroffenheit kaum je so rational möglich sein wie den davon emotional unberührten Strafverfolgungsbehörden,111 geschweige denn, dass der durchschnittliche, juristisch nicht vorgebildete Bürger den Widerstreit der rechtlichen Argumente und das Verfahren selbst überhaupt gestalten könnte.112 Autonomie kann nur eingeschränkt gelten, wenn dem Angeklagten eine waffen­ gleiche Verteidigung ohne Rechtsbeistand nicht möglich ist. Der Verteidiger hat einen gegenüber dem Angeklagten deutlichen Vorsprung an Expertise, die hilft, Ressourcen zutreffend zu verteilen und die richtigen Maßnahmen zu ergreifen.113 107

Aall, Nordic J. Hum. Rts. 29 (2011), 221; anders jedoch, wenn ein solches Geständnis erneut in der Hauptverhandlung wiederholt wird, vgl. insoweit EGMR, Urteil v. 30.6.2008 – 22978/05, Gäfgen ./. DE, Rn. 99 f., 108. 108 Solchen Fällen „defekter Autonomie“ möchte Haffke, StV 1981, 482 durch ausreichende Aufklärung und Belehrung eine informierte, wenngleich immer noch unvernünftige Entschei­ dung ermöglichen; krit. dazu Wächtler, StV 1981, 469. 109 Ebenso Schellenberg, StV 1996, 641; Welp, ZStW 90 (1978), 116. 110 Zu dieser psychologischen Komponente von Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK Trechsel / Summers, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 245 f., 264. 111 Boas, J. Int’l Crim. J. 9 (2011), 79; insg. die Eigenverteidigung abl. Vargha, Das Straf­ prozeßrecht, S. 173. 112 Schellenberg, StV 1996, 641. 113 Boas, J. Int’l Crim. J. 9 (2011), 79; Rieß, StV 1981, 462; Schoeller, Beiordnung von Pflicht­ verteidigern, S. 176 f.; SK-Wohlers, StPO, Vor § 137 Rn. 23; ders., StV 2010, 151; in diesem

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Zudem ist es für das Gericht mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden, den kom­ plexen Strafprozess für den unverteidigten Angeklagten in eine Form zu bringen, die diesem effektive Teilhabe ermöglicht. Bei besonders komplexen Fragestel­ lungen, wie z. B. der Beweisverwertung, dürfte dies mitunter unmöglich sein.114 Diese wenngleich aufgezwungene formale Verteidigung darf nicht verwechselt werden mit einem Verlust der materiellen Rechtsinhaberschaft. Diese verbleibt gerade, auch nach der Auslegung des EGMR, beim Angeklagten. Die formale Tätigkeit des Verteidigers kann dem Angeklagten zwar gegen seinen Willen auf­ erlegt werden. Inwiefern dieser aufgedrängte Verteidiger in materieller Hinsicht seine Interessen wahrnimmt, bleibt jedoch in der Hand des Angeklagten als Rech­ teinhaber selbst.115 Insofern kann auch der „Zwangsverteidigte“ maßgeblich an seiner Verteidigung mitwirken und deren Verlauf bestimmen. Dafür spricht auch der Wortlaut von Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK, der nicht von einem „replacement“ des Angeklagten, sondern von „assistance“ spricht und damit nahelegt, dass der Verteidiger nur Hilfestellung zur Verwirklichung des Willens des Angeklagten sein soll, nicht aber über ihn hinwegentscheiden darf.116 Ihm ist dann lediglich für gewisse Verfahrenssituationen – als prozessualer Hilfsmechanismus –117 ein Ver­ teidiger an die Seite gestellt. Auch wenn eine aufgedrängte Verteidigung nach hiesiger Ansicht grundsätzlich zulässig ist, bleibt dies im Hinblick auf das Recht auf Eigenverteidigung immer noch ein rechtfertigungsbedürftiger Eingriff.118 In diesem Sinn müssen insbeson­ dere generelle Regelungen, die eine Pflichtverteidigung zwingend vorschreiben, dahingehend überprüft werden, ob diese tatsächlich schützenswerten Interessen der Rechtspflege dienen und ob sie ausreichende Mechanismen vorsehen, die ma­ terielle Rechteinhaberschaft des Angeklagten zu wahren. Dabei können bestimmte Faktoren eher für eine zwingende Beiordnung streiten: Dazu kann gehören, dass in Sinne ebenso und m. w. N. Raveling, Self-Representation Before International Criminal Tri­ bunals, S. 127 ff. 114 Insb. wegen der Unübersichtlichkeit des Beweisrechts EGMR, Urteil v. 27.11.2008  – 36391/02, Salduz ./. TR, Rep. 2008-V, Rn. 54; Urteil v. 14.6.2004 – 60958/00, S. C. ./. GB, Rep. 2004-IV, Rn. 29; insofern Eigenverteidigung im Hinblick auf die ansteigende Komple­ xität in der Rechtsentwicklung als „illusorisch“ ansehend vgl. Gilliaux, Droit(s) européen(s) à un procès équitable, S. 832; häufig wird der Angeklagte insoweit vielmehr hilflos sein, vgl. Rieß, StV 1981, 462 115 Harvey, Self-Representation in International Criminal Procedure, S. 10; zu unterschied­ lichen Modi aufgezwungener Verteidigung durch Dritte Jorgensen, J. Int’l Crim. J. 4 (2006), 71 ff.; m. w. N. Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 532 ff.; Trechsel / Summers, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 251, 264. 116 Aall, Nordic J. Hum. Rts. 29 (2011), 268; ebenso Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 532. 117 Im deutschen Rechtsraum hat sich insoweit der Gedanke des „Prozesssubjektsgehilfen“ eingebürgert, m. w. N. Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 502 ff.; in diesem Sinne auch Welp, ZStW 90 (1978), 119; ebenso dazu: SK-Wohlers, StPO, Vor § 137 Rn. 29 ff.; ders., StV 2010, 151; ders., in: Stuckenberg / Gärditz (Hrsg.), Strafe und Prozess im freiheitlichen Rechtsstaat, S. 631 ff. 118 Dies betonend Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 559 f. m. w. N.

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

einer Rechtsmittelinstanz nur noch rechtliche Gesichtspunkte verhandelt werden, zu denen ein Laie sich nicht äußern kann.119 Auch eine hohe Freiheitsstrafe oder schwerwiegende Folgen, wie z. B. Sicherungsverwahrung, Verlust von Bürger­ rechten oder die psychiatrische Unterbringung, sind grundsätzlich geeignet, eine zwingende Beiordnung zu begründen.120 Es kann ebenso Sachverhalte geben, wie z. B. Sexualstraftaten, in denen die Situation erfordert, dass der Angeklagte wäh­ rend der Befragung des mutmaßlichen Opfers abwesend ist und dann durch einen Rechtsanwalt vertreten wird.121 Gegen eine Beiordnung kann streiten, dass der Angeklagte bereits verteidigt ist. Die Gründe für eine zusätzliche Beiordnung müssen umso besser ausgeführt werden, wenn dem Angeklagten dann gegen seinen Willen  – und zumeist auf seine Kosten – ein weiterer Rechtsanwalt beigeordnet werden soll.122 Ebenso gegen die Missachtung des Willens des Angeklagten zur Eigenverteidigung spricht ein grundsätzlich rechtlich wie tatsächlich einfach gelagerter Fall.123 Auch die konkrete Qualifikation des Angeklagten, z. B. als Rechtsanwalt oder anderweitig ausge­ bildetem Juristen, kann ein Hinweis darauf sein, dass der Angeklagte sich selb­ ständig und ohne Rechtsbeistand verteidigen kann.124 Die jeweilige Konventions­ konformität entscheidet sich wegen des durch den EGMR zugestandenen, weiten Umsetzungsermessens anhand der konkreten staatlichen Regelung im Einzelfall. Insoweit wird auch eine generelle, gesetzlich vermutete Beiordnung angemessen sein, quasi als „Vorkehrung zur Kompensation von Autonomiedefiziten“,125 wenn dem Angeklagten durch die jeweiligen prozessualen Vorschriften trotzdem die eigene Gestaltungshoheit des Verfahrens erhalten bleibt. Jedoch verdeutlicht diese Rechtsprechung des EGMR, wie weitgehend die staatliche Garantenpflicht die Subjektsstellung des Angeklagten schützend überformt. b) Die Garantenpflicht des Staates als subsidiärer Absicherungsmechanismus für effektive Verteidigung Liegen die Voraussetzungen strafrechtlicher Prozesskostenhilfe vor, muss der Angeklagte gem. Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK, kostenlos rechtlichen Beistand er­ hält („to be given [legal assistance] free“). Bereits dem Wortlaut nach ist Beistand eine über formelle Beiordnung und reine Anwesenheit hinausgehende Form der 119

Aall, Nordic J. Hum. Rts. 29 (2011), 265. Ebd., 266. 121 Tochilovsky, Jurisprudence of the International Criminal Courts and the European Court of Human Rights, S. 249; Trechsel / Summers, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 251. 122 Mit einer recht weiten Auslegung jedoch EGMR, Urteil v. 25.9.1992 – 13611/88, Croissant ./. DE, Rep. Serie A, Nr. 237B Rn. 29; krit. dazu Aall, Nordic J. Hum. Rts. 29 (2011), 265. 123 Aall, Nordic J. Hum. Rts. 29 (2011), 266. 124 Dagegen streng EGMR, Entscheidung v. 15.11.2001 – 48188/99, Correia de Matos ./. PT, Rep. 2001-XII, 161 (170); dafür Aall, Nordic J. Hum. Rts. 29 (2011), 267. 125 Lüderssen, NJW 1986, 2744. 120

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aktiven Verteidigung. Der Begriff des „Beistands“ wird vom EGMR dahingehend ausgelegt, dass den Staat über seine Garantenpflicht für das faire Verfahren auch eine subsidiäre Eingriffspflicht treffen kann, wenn die über den Beistand zu ge­ währende effektive Verteidigung bedroht scheint. Diese Fürsorgepflicht des Staates bedeutet jedoch nicht, dass der Angeklagte für sein eigenes Strafverfahren keine eigene Verantwortung mehr besitzt. Ihm dürfen Antragserfordernisse auch für strafrechtliche Prozesskostenhilfe auferlegt werden.126 Der Angeklagte ist damit grundsätzlich für die Wahrnehmung seiner Rechte selbst verantwortlich und muss die Konsequenz seiner Säumnis, unvertei­ digt zu bleiben, tragen.127 Auch diese Eigenverantwortung endet, sobald das faire Verfahren des Ange­ klagten erkennbar bedroht ist. Das jeweilige Gericht bleibt damit verpflichtet, Maßnahmen zu ergreifen, wenn es erkennt, dass die effektive Verteidigung des Angeklagten gefährdet ist. Der Grat zwischen zutreffender Eigenverantwortung des Angeklagten und der Fürsorgepflicht des Gerichts verläuft entlang der Er­ kennbarkeit der Bedrohung des fairen Verfahrens ohne Verteidiger aus Perspek­ tive der staatlichen Behörden, also spätestens wenn das Versagen des bestellten Verteidigers offenbar wird.128 Wird für das Gericht erkennbar, dass der Ange­ klagte sich selbst nicht effektiv verteidigen kann, oder von seinen Rechten bzw. Antragspflichten keine Kenntnis hat,129 so muss es – auch wenn ein Antragser­ fordernis besteht – zugunsten des Angeklagten tätig werden.130 Insoweit kollidiert die Eingriffspflicht des Staates nicht nur mit der Eigenverantwortung des Ange­ klagten, sondern auch damit, dass der Staat die Vertraulichkeit des Verhältnisses zwischen dem Angeklagten und seinem rechtlichen Beistand respektieren muss. Pflichtverletzungen im Mandatsverhältnis sind daher grundsätzlich eine Ange­ legenheit zwischen Mandant und Rechtsanwalt, die dem Staat nicht zugerechnet werden.131 Das Versagen des staatlich bestellten Verteidigers wird damit erst dann zum pflichtauslösenden Moment für den Staat, wenn dieses Versagen offenkun­ 126

So implizit EGMR, Entscheidung v. 7.4.2009 – 25623/04, Urtans ./. LV, Rn. 23 a. E. EKMR, Entscheidung v. 1.7.1988 – 31145/96, Wilkinson ./. GB, S. 9; krit. dagegen LREsser, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 743. 128 EGMR, Urteil v. 9.4.2015 – 2870/11, Vamvakas ./. GR [Nr. 2], Rn. 36; Urteil v. 27.4.2006 – 30961/03, Sannino ./. IT, Rep. 2006-VI, Rn. 51; Urteil v. 13.5.1980 – 6694/74, Artico ./. IT, Rep. Serie A, Nr. 37 Rn. 36; Urteil v. 26.1.2010  – 36822/06, Ebanks ./. GB, Rn. 73; Urteil v. 10.10.2002  – 38830/97, Czekalla ./. PT, Rep. 2002-VIII, Rn. 60; EKMR, Entscheidung v. 20.5.1996 – 24667/94, Frerot ./. FR, S. 7 f. 129 Vgl. EGMR, Urteil v. 10.8.2006 – 54784/00, Padalov ./. BG, Rn. 54. 130 EGMR, Urteil v. 8.4.2010 – 20508/03, Sinichkin ./. RU, Rn. 43; Rzepka, Zur Fairness im deutschen Strafverfahren, S. 71; zust. LR-Esser, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 743 a. E.; ders., in: ders. / Günther u. a. (Hrsg.), FS H.-H. Kühne, S. 559. 131 EGMR, Urteil v. 1.4.2010  – 42371/02, Pavlenko ./. RU, Rn. 99; Urteil v. 15.9.2009  – 41373/04, Arcinski ./. PL, Rn. 31; Urteil v. 20.1.2009 – 70337/01, Güvec ./. TU, Rep. 2009-I, Rn. 130; Urteil v. 27.4.2006  – 30961/03, Sannino ./. IT, Rep. 2006-VI, Rn. 49; Urteil v. 14.1.2003 – 26891/95, Lagerblom ./. SE, Rn. 67. 127

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

dig ist oder dem Staat zur Kenntnis gebracht wird („to intervene only if a failure by legal aid counsel to provide effective representation is manifest or sufficiently brought to their attention in some other way.“)132 Das Kriterium der „Offenkundigkeit“ als Zurechnungselement des Verschul­ dens des Verteidigers zum Staat ist insbesondere geeignet, die Fürsorgepflicht des Staates nicht zu überspannen, indem keine in das (vertrauliche) Mandatsverhältnis hineinreichende Ermittlungspflichten aufgestellt werden.133 Für die Annahme der Offenkundigkeit eines Fehlverhaltens ist daher ein besonders schwerer, das Maß der allgemeinen Fahrlässigkeit deutlich überschreitender Fehler erforderlich. Dies wurde z. B. angenommen für den Fall, dass der Rechtsanwalt nicht in der Lage war, einen formal zulässigen Antrag beim Rechtsmittelgericht zu stellen.134 Ebenso wird eine offenkundig unzureichende Verteidigung angenommen, wenn die äu­ ßeren Umstände eine effektive Verteidigung schlechthin nicht zulassen, also z. B. wenn der Angeklagte für jeden Hauptverhandlungstermin von staatlicher Seite neue Verteidiger erhält, die aber weder langfristig benachrichtigt wurden noch Zeit hatten, um sich in den Fall einzuarbeiten.135 Zudem galt als offenkundig, wenn die bestellten Verteidiger entweder gänzlich inaktiv blieben136 oder die Mitwirkung sogar aktiv verweigerten.137 Ist das Fehlverhalten des Verteidigers offenkundig, so bedarf es keiner weiteren Handlung des Angeklagten, sondern die Handlungspflicht, eine effektive Verteidi­ gung des Angeklagten zu sichern, geht sofort auf die staatlichen Behörden über.138 Dann ist der Staat dazu verpflichtet einzugreifen, in dem Umfang, wie es die ef­ fektive Verteidigung des Angeklagten erfordert: Das kann von der Ermahnung der Verteidigung bis hin zur Entpflichtung und Neubestellung reichen.139 Damit ist

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St. Rspr. EGMR, Urteil v. 26.7.2011 – 35485/05 u. a., Huseyn u. a. ./. AZ, Rn. 65; Urteil v. 1.4.2010 – 42371/02, Pavlenko ./. RU, Rn. 99; Urteil v. 10.10.2002 – 38830/97, Czekalla ./. PT, Rep. 2002-VIII, Rn. 60; Urteil v. 21.4.1998 – 22600/93, Daud ./. PT, Rep. 1998-II, Rn. 38; ähnlicher Maßstab in Urteil v. 7.10.2008 – 35228/03, Bogumil ./. PT, Rn. 46; dies als Verschul­ densprüfung betrachtend Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 451. 133 Karpenstein / Mayer-Meyer, EMRK, Art. 6 Rn. 197; Esser, Auf dem Weg zu einem euro­ päischen Strafverfahrensrecht, S. 458; ebenso F / P-Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 121. 134 EGMR, Urteil v. 10.10.2002 – 38830/97, Czekalla ./. PT, Rep. 2002-VIII, Rn. 53, 68. 135 EGMR, Urteil v. 27.4.2006 – 30961/03, Sannino ./. IT, Rep. 2006-VI, Rn. 50 f. 136 Zum Maßstab vgl. EGMR, Urteil v. 6.10.2016 – 37364/05, Jemeljanovs ./. LV, Rn. 80; Urteil v. 7.10.2008 – 35228/03, Bogumil ./. PT, Rn. 47 (einzige Tätigkeit: Entbindungsantrag kurz vor Hauptverhandlungsbeginn); Urteil v. 21.4.1998 – 22600/93, Daud ./. PT, Rep. 1998-II, Rn. 41 f. (Untätigkeit von acht Monaten). 137 EGMR, Urteil v. 26.7.2011 – 35485/05 u. a., Huseyn u. a. ./. AZ, Rn. 181; ebenso Urteil v. 13.5.1980 – 6694/74, Artico ./. IT, Rep. Serie A, Nr. 37 Rn. 33 a. E. 138 EGMR, Urteil v. 27.4.2006 – 30961/03, Sannino ./. IT, Rep. 2006-VI, Rn. 51. 139 St. Rspr. EGMR, Urteil v. 9.4.2015 – 2870/11, Vamvakas ./. GR [Nr. 2], Rn. 37; Urteil v. 14.10.2008 – 40631/02, Timergaliyev ./. RU, Rn. 59; Urteil v. 10.10.2002 – 38830/97, Czekalla ./. PT, Rep. 2002-VIII, Rn. 67 f.; Urteil v. 21.4.1998 – 22600/93, Daud ./. PT, Rep. 1998-II,

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der Staat aktiver Garant für die effektive Verteidigung des Angeklagten.140 Über den Wortlaut von Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK hinaus legt der EGMR diese staat­ liche Fürsorgepflicht nicht nur als Gewährleistung zugunsten des bedürftigen An­ geklagten aus, sondern auch zugunsten des nicht bedürftigen, aber unzureichend verteidigten Angeklagten.141 Vollziehen sich die Verteidigung beeinträchtigende Fehler abseits der Kenntnis der Behörden, trägt der Angeklagte die Verantwortung, die Behörden darauf auf­ merksam zu machen, dass seine Verteidigung unzureichend ist.142 Rein mandats­ interne Fehler, von denen der Staat keine Kenntnis erlangt, lösen dessen Eingriffs­ pflicht somit nicht aus.143 Auch muss nicht jede Kritik am Verteidiger gegenüber den Behörden Maßnahmen nach sich ziehen, wenn davon auszugehen ist, dass die Verteidigung insgesamt noch konventionskonform gewährleistet wird.144 Die Be­ weislast für die Zurechenbarkeit des Fehlers zum Staat trifft den Angeklagten.145 Wurde dem Staat vom Angeklagten eine solche Mitteilung gemacht, kann dieser sich auch nicht damit exkulpieren, dass die Mitteilung des Angeklagten nicht in der Gerichtssprache erfolgte.146

Rn. 38, 42; Urteil v. 9.4.1984 – 8966/80, Goddi ./. IT, Rep. Serie A, Nr. 76 Rn. 27 ff.; Urteil v. 13.5.1980 – 6694/74, Artico ./. IT, Rep. Serie A, Nr. 37 Rn. 33, 36. 140 EGMR, Urteil v. 27.3.2007 – 32432/96, Talat Tunc ./. TR, Rn. 61; Urteil v. 10.8.2006 – 54784/00, Padalov ./. BG, Rn. 54; Urteil v. 13.5.1980 – 6694/74, Artico ./. IT, Rep. Serie A, Nr. 37 Rn. 36 a. E.; generell krit. zur Etablierung von aktiven Fürsorgepflichten i.R.d. EMRK, vgl. Bossuyt, International Human Rights Protection, S. 137 ff., 142 ff. 141 Vgl. für diese Eingriffspflicht auch bei Wahlverteidigern EGMR, Urteil v. 20.1.2009 – 70337/01, Güvec ./. TU, Rep. 2009-I, Rn. 131; zust. Kratzsch, in: Esser / Harich u. a. (Hrsg.), Die Bedeutung der EMRK für die nationale Rechtsordnung, S. 71; insofern zur schwindenden Bedeutung für die Frage der Beiordnung Esser, in: ders. / Günther u. a. (Hrsg.), FS H.-H. Kühne, S. 558 f.; zust. ebenso zu dieser Schutzerweiterung Plekksepp, Die gleichmäßige Gewährleis­ tung des Rechts auf Verteidigerbeistand, S. 80; ebenso Stavros, Guarantees for Accused Person under Article 6 ECHR, S. 203 f. 142 EGMR, Urteil v. 10.4.2012 – 8088/05, Gabrielyan ./. AM, Rn. 67; krit. dazu, dass unklar bleibt, was vom Angeklagten für ein Kennenmüssen des Staates erforderlich ist, Gaede, Fair­ ness als Teilhabe, S. 273. 143 Vgl. EGMR, Urteil v. 22.2.1994 – 13743/88, Tripodi ./. IT, Rep. Serie A, Nr. 281B Rn. 30, in dem ein Rechtsanwalt, obwohl er um seine Verhinderung im Rahmen der Berufungshaupt­ verhandlung wusste, weder um eine Vertretung noch eine Verschiebung des Termins küm­ merte. 144 EGMR, Urteil v. 19.12.1989 – 9783/82, Kamasinski ./. AT, Rep. Serie A, Nr. 168 Rn. 70. 145 Vgl. so implizit im Fall eines non liquet: EGMR, Urteil v. 9.4.1984 – 8966/80, Goddi ./. IT, Rep. Serie A, Nr. 76 Rn. 29. 146 EGMR, Urteil v. 21.4.1998 – 22600/93, Daud ./. PT, Rep. 1998-II, Rn. 41 f.

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

c) Antragsrechte als vernachlässigte Materie in der Rechtsprechung des EGMR Das Konzept des Staates als Garant des fairen Verfahrens auch über die eigene Verantwortung und den eigenen Willen des Angeklagten hinweg birgt je­ doch auch Kehrseiten. Der EGMR betrachtet Antragserfordernisse bzw. -rechte vorrangig als Hindernisse für die Rechtswahrnehmung des Angeklagten  – und sieht in dieser Hinsicht den Staat in der Pflicht, tätig zu werden, um ineffek­ tive Verteidigung abzuwenden. Das Konzept des Antrags nicht nur als Hindernis der Rechtswahrnehmung, sondern darüber hinausgehend als Recht und Einflussnahmemöglichkeit auf das Strafverfahren, findet demgegenüber keine Erwähnung in der Rechtsprechung des EGMR. Es ist konsequent fortgedacht auch nicht erforderlich, weil der Staat als Garant gerade tätig wird, um eine erforderliche Beiordnung im Wege straf­ rechtlicher Prozesskostenhilfe von Amts wegen zu realisieren. Über diese Kons­ truktion hat sich der EGMR jedoch der Chance begeben, Anträge auch als Posi­ tivum zugunsten des Angeklagten zu verstehen und in seiner Rechtsprechung zu stärken. Der Weg zu einem umfassend fairen Verfahren gelingt nicht allein über die Hilfe eines starken und zugunsten des Angeklagten agierenden Staates, sondern auch darüber, dass der Angeklagte für die Wahrnehmung seiner Rechte nicht auf die Initiative des Staates angewiesen ist. Antragsrechte sind das Mittel, ihm diese Teilhabe direkt zu ermöglichen. Es ist eine vertane Chance, die Konventionsstaaten nicht aktiv dazu anzuhal­ ten, eigenverantwortliche Teilnahme am Strafverfahren über Antragsrechte zu er­ möglichen. Antragsrechte sind als Ausdruck der Waffengleichheit zwischen den verschiedenen Verfahrensbeteiligten für den Angeklagten äußerst wichtig.147 Der Gedanke, den Staat als Garant für die Verteidigungsrechte für die Einhaltung der Verfahrensgrundsätze in die Verantwortung zu nehmen, ist grundsätzlich richtig. Er geht aber dort zu weit, wo der Angeklagte für die Wahrnehmung seiner Rechte quasi auf den Staat angewiesen ist. Dies ist jedoch dann der Fall, wenn Antragsrechte nicht allen Verfahrensbeteiligten gleichermaßen zur Verfügung stehen. Strafrechtliche Prozesskostenhilfe als grundlegender Teil der Mindestrechte der Verteidigung muss daher zwingend dem Angeklagten nicht nur materiell zu­ stehen, er muss diese Teilhabe auch formell über einen Antrag einfordern können. Das muss auch aus dem oft wiederholten Grundsatz des EGMR folgen, dass die Gewährleistungen und Rechte der EMRK „wirksam und effektiv, und nicht theore­

147 Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 655 f., 661; am Beispiel des dt. Strafprozesses BeckOK-­ Krawczyk, StPO, § 141 Rn. 7.

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tisch und illusorisch“ sein sollen.148 Effektiv und wirksam ist dieses Recht für den Angeklagten erst dann, wenn er als Rechteinhaber nicht nur wirksam darauf verzichten, sondern dieses Recht aktiv beantragen kann. Die ideal aufgeladene Rolle des Staates birgt Gefahrenpotential für die Rechte des Angeklagten. Dass die konkret mit der Verfahrensführung beauftragten Strafverfolgungsbehörden Fehler machen und nicht die vom EGMR eingeforderte, ideal der Verwirklichung der Angeklagtenrechte zugewandte Einstellung haben, wird deutlich in den viel­ fachen Beschwerden wegen Verletzungen der Verfahrensfairness.149 Die Subjekts­ rolle des Angeklagten ist damit auch nach der EMRK über ein Antragsrecht zu vervollständigen.

III. Der „Angeklagte“ im „strafrechtlichen Verfahren“ Die in Art. 6 Abs. 3 EMRK enthaltenen Mindestgarantien gelten nur für den in einem Strafverfahren Angeklagten („charged with  a criminal offence“ /  „accusé“). Die Auslegung dieser Begriffe richtet sich nicht nach den konventions­ staatlichen Vorstellungen,150 sondern unterliegt einer autonomen Auslegung durch den EGMR.151 In persönlicher und sachlicher Hinsicht eröffnen diese Begriffe den Anwendungsbereich der Mindestgarantien aus Art. 6 Abs. 3 EMRK, beschränken in ihrem Definitionsumfang aber zugleich die Reichweite ebenjener Rechte. Sollen die in Art. 6 Abs. 3 EMRK enthaltenen Rechte wirksam sein, können sie das nur, wenn der über diese Begriffe eröffnete Geltungsbereich der Verteidigungsrechte weit genug gefasst ist. 148

EGMR, Urteil v. 24.9.2009 – 7025/04, Pishchalnikov ./. RU, Rn. 66; Urteil v. 12.11.2008 – 34503/97, Demir u. Baykara ./. TR, Rep. 2008-V, Rn. 66; Urteil v. 13.5.1980 – 6694/74, Artico ./. IT, Rep. Serie A, Nr. 37 Rn. 33; Urteil v. 9.10.1979 – 6289/73, Airey ./. IE, Rep. Serie A, Nr. 41 Rn. 24; Urteil v. 22.9.1994 – 16737/90, Pelladoah ./. NL, Rep. Serie A, Nr. 297B Rn. 41 („its exercise should not be made dependent on the fulfilment of unduly formalistic conditi­ ons“); zur vorrangig teleologisch geprägten Auslegung des EGMR: Jahn, ZStW 127 (2015), 589; ebenso Gaede, in: Gaede / Meyer / Schlegel (Hrsg.), HRRS-FG Fezer, S. 27 f.; ders., Fair­ ness als Teilhabe, S. 83. 149 Sowohl in 2017 (EGMR, Annual Report 2017, https://www.echr.coe.int/Documents/ Annual_report_2017_ENG.pdf [geprüft am: 10.12.2019], S. 167), 2016 (EGMR, Annual Report 2016, http://www.echr.coe.int/Documents/Annual_report_2016_ENG.pdf [geprüft am: 10.12.2019], S. 195) als auch 2015 (EGMR, Annual Report 2015, http://www.echr.coe. int/Documents/Annual_report_2015_ENG.pdf [geprüft am: 10.12.2019], S. 191) waren die meisten Konventionsverletzungen für Art. 6 EMRK festgestellt worden (2017: 28,03 %, 2016: 22,97 %, 2015: 24,18 %). 150 Z. B. auch wegen des begrenzten Anwendungsbereichs des Wortes „accusé“ im Franzö­ sischen allein auf Schwurgerichtsverfahren, vgl. dazu NomosKomm-Meyer-Ladewig / Nettesheim / Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 21. 151 EGMR, Urteil v. 13.9.2016 – 50541/08 u. a., Ibrahim u. a. ./. GB, Rep. 2016 (vorgesehen), Rn. 249; Urteil v. 28.6.1984 – 7819/77, 7878/77, Campbell u. Fell ./. GB, Rep. Serie A, Nr. 80 Rn. 68; Urteil v. 27.2.1980 – 6903/75, Deweer ./. BE, Rep. Serie A, Nr. 35 Rn. 42; Urteil v. 8.6.1976 – 5100/71 u. a., Engel u. a. ./. NL, Rep. Serie A, Nr. 22 Rn. 81.

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

1. Strafverfahren als auf die Territorialgrenzen beschränktes Verfahren zur Bestimmung von Schuld oder Unschuld des Angeklagten In der Konzeption des EGMR ist das Strafverfahren allein der Verfahrensteil, der unmittelbar auf die Bestimmung von Schuld oder Unschuld des Angeklagten gerichtet ist. Das „Strafverfahren“ im Hinblick auf seinen Zweck, die Bestim­ mung von Schuld oder Unschuld einer bestimmten Person, zu definieren, be­ schränkt den Strafverfahrensbegriff und damit den Wirkungsbereich der Rechte aus Art. 6 Abs. 3 EMRK. Denn so werden all jene Begleitentscheidungen oder Ver­ fahrensteile ausgenommen, die der Findung der Schuld zwar zuarbeiten, für sie jedoch nicht unmittelbar relevant sind. Dadurch erfasst dieser Begriff primär das nationale Strafverfahren in dem Umfang, der unmittelbar der Schuldfeststellung dient, also insbesondere unter Ausschluss des Haftprüfungsverfahrens. a) „Charged with a criminal offence“: Determination von Schuld oder Unschuld als Kernelement des Strafverfahrens Das Strafverfahren ist darauf gerichtet, prozessförmig Schuld oder Unschuld eines einer strafrechtlichen Tat Angeklagten festzustellen. Es verlangt somit auf der einen Seite die Verfolgung eines strafrechtlichen Vorwurfs, auf der anderen Seite beschränkt dieser Begriff das Verfahren auf diejenigen Teile, die unmittel­ bar der Klärung der Schuldfrage dienen. aa) Strafrechtlicher Vorwurf Grundvoraussetzung ist die Existenz eines strafrechtlichen Vorwurfs. In auto­ nomer Auslegung bestimmt der EGMR die strafrechtliche Natur eines Vorwurfs anhand von drei Kriterien:152 Die Einordnung der Handlung durch den nationa­ len Gesetzgeber, die Natur der Verfehlung sowie die Art der drohenden Rechts­ folgen. Wenn die Kriterien für sich allein nicht aussagekräftig genug sind, wer­ den sie in einer wertenden Gesamtschau gemeinsam gewürdigt.153 Grundsätzlich zwar gleichrangig und alternativ154 normiert, gehen die materiellen Kriterien, die 152 St. Rspr. grundlegend EGMR, Urteil v. 11.6.2009 – 5242/04, Dubus S. A. ./. FR, Rn. 36; Urteil v. 28.10.1999 – 26780/95, Escoubet ./. BE, Rep. 1999-VII, Rn. 32; Urteil v. 8.6.1976 – 5100/71 u. a., Engel u. a. ./. NL, Rep. Serie A, Nr. 22 Rn. 82 ff.; EKMR, Entscheidung v. 15.5.1996 – 25761/94, Kulpakko ./. FI, S. 3; EnzEuR-Gaede, Eur. StR, § 3 Rn. 42 a. E. 153 EGMR, Urteil v. 11.6.2009  – 5242/04, Dubus S. A. ./. FR, Rn. 36; Entscheidung v. 11.1.2001 – 43862/98, Inocencio ./. PT, Rep. 2001-I, 445 (453); Urteil v. 25.8.1987 – 9912/82, Lutz ./. DE, Rn. 55; Urteil v. 24.2.1994 – 12547/86, Bendenoun ./. FR, Rep. Serie A, Nr. 284 Rn. 47; Urteil v. 21.2.1984, Öztürk ./. DE, Rep. Serie A, Nr. 73 Rn. 54; NomosKomm-MeyerLadewig / Harrendorf, EMRK, Art. 6 Rn. 30; ebenso Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24 Rn. 19. 154 Ebd.

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Schwere der drohenden Rechtsfolgen und die Natur der Verfehlung, der formalen Einordnung durch den Gesetzgeber vor.155 Diese primär materielle Bestimmung löst die Anwendung von Art. 6 Abs. 3 EMRK von einer möglicherweise fehlerhaf­ ten gesetzlichen Zuordnung.156 Wird die Verfehlung jedoch bereits im nationalen Recht dem Strafrecht zugeordnet, wird auch das Vorliegen eines strafrechtlichen Vorwurfs i. S. v. Art. 6 Abs. 3 EMRK vermutet.157 Daher betrachtet der EGMR zunächst, wie der jeweilige Tatbestand durch den nationalen Gesetzgeber eingeordnet wird, ob dieser den Verstoß dem Strafrecht, Disziplinarrecht oder beiden gleichsam zuordnet.158 Demgegenüber gewichtiger ist jedoch, ob die Verfehlung auch ihrer Natur nach strafrechtlich ist, also ob sie die – auch unter den Konventionsstaaten anerkannten – Charakteristika einer strafrecht­ lichen Verfehlung und der dazugehörigen Rechtsfolgen trägt. Zu diesen Charakte­ ristika gehören u. a. die Feststellung persönlicher Schuld als Voraussetzung einer strafrechtlichen Sanktion (Schuldgrundsatz),159 die Verfolgung der Verfehlung durch einen öffentlichen Hoheitsträger mit Vollstreckungsgewalt,160 die sowohl re­ pressiv als auch präventiv intendierte Wirkung der Sanktion161 sowie die erkennbar der Bestrafung und nicht der Restitution dienende Geldstrafe.162 All diese Punkte indizieren, dass die Verfehlung der Natur nach strafrechtlich ist. Unerheblich ist danach, ob die Verfehlung den Angeklagten sozial stigmatisiert.163 Auch nur ge­ ringfügige Verfehlungen können in den Schutzbereich von Art. 6 Abs. 3 EMRK fallen, wenn sie durch ein Gesetz geahndet werden, das repressive und präventive Zwecke gleichermaßen verfolgt. Die Schwere der Verfehlung wird über das Kriterium der drohenden Rechts­ folgen erfasst. Maßgeblich ist nicht nur, welche Rechtsfolgen abstrakt drohen 155

EGMR, Entscheidung v. 11.1.2001 – 43862/98, Inocencio ./. PT, Rep. 2001-I, 445 (453); Urteil v. 23.11.2006 – 73053/01, Jussila ./. FI, Rep. 2006-XIV, Rn. 38; Urteil v. 28.6.1984 – 7819/77, 7878/77, Campbell u. Fell ./. GB, Rep. Serie A, Nr. 80 Rn. 71; Urteil v. 9.10.2003 – 39665/98, Ezeh u. Connors ./. GB, Rep. 2003-X, Rn. 102. 156 EGMR, Urteil v. 4.3.2014 – 18640/10 u. a., Grande Stevens u. a. ./. IT, Rn. 95; Urteil v. 4.10.2007 – 28183/03, Anghel ./. RO, Rn. 49 f.; Urteil v. 28.10.1999 – 26780/95, Escoubet ./. BE, Rep. 1999-VII, Rn. 33; Urteil v. 28.6.1984 – 7819/77, 7878/77, Campbell u. Fell ./. GB, Rep. Serie A, Nr. 80 Rn. 68. 157 Vgl. EGMR, Urteil v. 28.6.1984 – 7819/77, 7878/77, Campbell u. Fell ./. GB, Rep. Serie A, Nr. 80 Rn. 71; Urteil v. 8.6.1976 – 5100/71 u. a., Engel u. a. ./. NL, Rep. Serie A, Nr. 22 Rn. 84. 158 EGMR, Urteil v. 13.9.2016 – 50541/08 u. a., Ibrahim u. a. ./. GB, Rep. 2016 (vorgesehen), Rn. 249; Urteil v. 28.6.1984 – 7819/77, 7878/77, Campbell u. Fell ./. GB, Rep. Serie A, Nr. 80 Rn. 68; Urteil v. 27.2.1980 – 6903/75, Deweer ./. BE, Rep. Serie A, Nr. 35 Rn. 42; grundlegend in Urteil v. 8.6.1976 – 5100/71 u. a., Engel u. a. ./. NL, Rep. Serie A, Nr. 22 Rn. 81. 159 S. z. B. EGMR, Urteil v. 10.6.1996 – 19380/92, Benham ./. GB, Rep. 1996-III, Rn. 56. 160 Ebd. 161 EGMR, Urteil v. 24.2.1994 – 12547/86, Bendenoun ./. FR, Rep. Serie A, Nr. 284 Rn. 47; Urteil v. 21.2.1984, Öztürk ./. DE, Rep. Serie A, Nr. 73 Rn. 53. 162 EGMR, Urteil v. 1.2.2005 – 61821/00, Ziliberberg ./. MD, Rn. 33; Urteil v. 24.2.1994 – 12547/86, Bendenoun ./. FR, Rep. Serie A, Nr. 284 Rn. 47. 163 EGMR, Urteil v. 21.2.1984, Öztürk ./. DE, Rep. Serie A, Nr. 73 Rn. 53 f.

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

und wie schwer diese wiegen, sondern auch wie sie konkret verhängt und voll­ streckt werden sollen.164 Dabei bezieht der EGMR die Wirkung der Strafe so­ wie mittelbare Folgen, wie Berufsverbote oder Eintragungen in Register mit Prangerwirkung.165 Maßgeblich für die Einordnung ist die dem Angeklagten drohende, abstrakt mögliche Maximalstrafe.166 Danach ordnet der EGMR regemäßig freiheitsentzie­ hende Maßnahmen dem Strafrecht zu.167 Eine solche kann auch darin bestehen, dass ein Gefängnisinsasse später als eigentlich vorgesehen aus dem Strafvollzug entlassen wird, wenn diese Verzögerung der Entlassung als Disziplinarmaßnahme für Fehlverhalten im Vollzug dienen soll und die Länge der Verzögerung nicht un­ erheblich ist.168 Geldstrafen oder andere Maßnahmen, die nicht Freiheitsentzug sind, müs­ sen anhand der Umstände des Einzelfalls dahingehend überprüft werden, ob sie konkret geeignet sind, abschreckend und strafend zu wirken.169 Geldstrafen gelten insbesondere dann als strafrechtlich, wenn sie auch in Ersatzfreiheits­ strafe umwandelbar sind.170 Das bedeutet im Umkehrschluss aber nicht, dass eine nur geringfügige Sanktion die strafrechtliche Natur einer Norm wider­ legt. Denn solange der Grundgedanke einer Sanktion darauf zielt, zu bestrafen und abzuschrecken, soll ihre Geringfügigkeit die strafrechtliche Natur der Norm nicht aufheben können.171 Diese kombinierte materielle Anschauung ist geeignet, einen für den diversen Rechtsraum der Konventionsstaaten einheitlichen Begriff

164 Grundlegend EGMR, Urteil v. 25.8.1987  – 9912/82, Lutz ./. DE, Rn. 55; Urteil v. 28.6.1984  – 7819/77, 7878/77, Campbell u. Fell ./. GB, Rep. Serie A, Nr. 80 Rn. 72; Urteil v. 8.6.1976 – 5100/71 u. a., Engel u. a. ./. NL, Rep. Serie A, Nr. 22 Rn. 82; krit. zur Aussage­ kraft dieses Kriteriums und der Definition des EGMR allgemein Karpenstein / Mayer-Meyer, EMRK, Art. 6 Rn. 27. 165 EGMR, Urteil v. 4.3.2014 – 18640/10 u. a., Grande Stevens u. a. ./. IT, Rn. 97. 166 EGMR, Urteil v. 19.11.2015 – 46998/08, Mikhaylova ./. RU, Rn. 61; Urteil v. 4.3.2014 – 18640/10 u. a., Grande Stevens u. a. ./. IT, Rn. 97 f.; Urteil v. 11.6.2009  – 5242/04, Dubus S. A. ./. FR, Rn. 37; Urteil v. 9.10.2003 – 39665/98, Ezeh u. Connors ./. GB, Rep. 2003-X, Rn. 120; Urteil v. 27.8.1991 – 13057/87, Demicoli ./. MT, Rep. Serie A, Nr. 210 Rn. 34; Urteil v. 8.6.1976 – 5100/71 u. a., Engel u. a. ./. NL, Rep. Serie A, Nr. 22 Rn. 82, 85. 167 EGMR, Urteil v. 28.6.1984 – 7819/77, 7878/77, Campbell u. Fell ./. GB, Rep. Serie A, Nr. 80 Rn. 72. 168 Ebd. (570 Tage Verlängerung). 169 NomosKomm-Meyer-Ladewig / Harrendorf, EMRK, Art. 6 Rn. 28. 170 EGMR, Urteil v. 14.11.2000 – 27783/95, T ./. AT, Rep. 2000-XI, Rn. 61, 67; Urteil v. 22.5.1990 – 10/1989/170/226, Weber ./. CH, Rep. Serie A, Nr. 177 Rn. 34. 171 EGMR, Urteil v. 4.3.2014 – 18640/10 u. a., Grande Stevens u. a. ./. IT, Rn. 97; Urteil v. 11.6.2009 – 5242/04, Dubus S. A. ./. FR, Rn. 37; Urteil v. 23.7.2002 – 34619/97, Janosevic ./. SE, Rep. 2002-VII, Rn. 69; Urteil v. 21.2.1984, Öztürk ./. DE, Rep. Serie A, Nr. 73 Rn. 53 f.; Urteil v. 23.11.2006 – 73053/01, Jussila ./. FI, Rep. 2006-XIV, Rn. 38; nicht ausreichend jedoch der vorübergehende Entzug der Fahrerlaubnis, Urteil v. 28.10.1999 – 26780/95, Escoubet ./. BE, Rep. 1999-VII, Rn. 38; abgelehnt jedoch in Entscheidung v. 11.1.2001 – 43862/98, Inocencio ./. PT, Rep. 2001-I, 445 (453 f.).

A. Die Konzeption der EMRK

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des strafrechtlichen Vorwurfs zu begründen und so die Mindestgarantien aus Art. 6 Abs. 3 EMRK gleichmäßig anzuwenden. Der vom EGMR entwickelte Abwägungsmaßstab kann in dieser Form keine eindeutigen Ergebnisse und noch weniger genaue Handlungsanweisungen für die Konventionsstaaten leisten. Ob ein Vorwurf tatsächlich „strafrechtlich“ i. S. v. Art. 6 Abs. 3 EMRK ist, kann daher nicht rechtssicher abgeschätzt werden.172 Ein solcher  – auch im Rahmen der übrigen Rechte von Art. 6 EMRK üblicher –173 Ansatz schafft zwar die Möglichkeit einer dynamischen Weiterentwicklung und beinhaltet zugleich die notwendige Offenheit gegenüber den Besonderheiten der konventionsstaatlichen Rechtssysteme.174 Der EGMR verpasst jedoch die Chance, eine über die jeweiligen Einzelfälle hinausreichende Dogmatik zu schaffen, die die Umsetzung der Inhalte von Art. 6 Abs. 3 EMRK für die Konventionsstaaten we­ nigstens erleichtert.175 Diese ist zurzeit nur unter umfangreicher Rezeption der nicht immer einheitlichen Einzelfallurteile des EGMR zu bewirken.176 Insofern kann im Rahmen der Auslegung nur versucht werden, Regel-Ausnahme-Verhältnisse als grobe Leitlinien aus den Urteilen und Entscheidungen des EGMR herauszulesen. bb) Strafverfahren als Rahmen der unmittelbaren Feststellung eines strafrechtlichen Vorwurfs Das Strafverfahren soll allein diejenigen Verfahrensteile umfassen, die un­ mittelbar der Aufklärung der strafrechtlichen Anklage, also der Feststellung von Schuld oder Unschuld des Angeklagten dienen.177 Verfahrensteile, die zwar mit dem Strafverfahren zusammenhängen, jedoch innerhalb dessen andere Ziele ver­ folgen, sind aus dem Begriff des Strafverfahrens – und damit aus dem Anwen­ dungsbereich von Art. 6 Abs. 3 EMRK – ausgeschlossen.178 Das betrifft vorrangig strafprozessuale Zwangsmaßnahmen und den gegen diese ergriffenen Rechtsweg. 172

Vgl. zur fehlenden Rechtssicherheit krit. Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 860 ff.; Trechsel, ZStW 101 (1989), 837; dies am Bsp. von Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK diff. Weigend, StV 2001, 63 f.; ebenso krit. Wohlers, in: Rogall / P uppe u. a. (Hrsg.), FS Rudolphi, S. 729. 173 Vgl. dazu auch u. Kap. 2 A. III. 2. c) aa) (1) (b). 174 Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 860; in diesem Sinne auch Trechsel, ZStW 101 (1989), 837. 175 Dazu m. w. N. Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 149; ebenso krit. Gleß, StV 2010, 406; Grabenwarter, EuGRZ 2003, 177 f. 176 Vgl. dazu Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 867; ebenso krit. Korn, Defizite bei der Umsetzung der EMRK im deutschen Strafverfahren, S. 60 f. 177 EGMR, Urteil v. 15.11.2005 – 67175/01, Reinprecht ./. AT, Rep. 2005-XII, Rn. 47 f.; Ent­ scheidung v. 7.10.2008 – 41138/05, Monedero Angora ./. ES, Rep. 2008-IV, 439 (447 f.); zust. IntKomm-Kühne / Miehsler / Vogler, EMRK, Art. 6 Rn. 202. 178 Am Bsp. der Untersuchungshaft, EGMR, Urteil v. 15.11.2005 – 67175/01, Reinprecht ./. AT, Rep. 2005-XII, Rn. 39 f., 48; krit. Karpenstein / Mayer-Meyer, EMRK, Art. 6 Rn. 32; dazu m. w. N. LR-Esser, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 90.

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

Da diese Verfahrensteile auf die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der jeweiligen Maßnahme gerichtet sind und gerade nicht Schuld oder Unschuld des Angeklagten bestimmen helfen, sollen sie nach der Rechtsprechung des EGMR auch nicht als Teil des Strafverfahrens gelten. Das ist insbesondere problematisch, weil mit dieser Begründung auch das Haft­ prüfungsverfahren im Rahmen der Untersuchungshaft nicht als Bestandteil des Strafverfahrens betrachtet wird. Nach dem EGMR würde der Zweck des Haftprü­ fungsverfahrens, die Rechtmäßigkeit der Haft zügig zu kontrollieren, konterka­ riert,179 wenn die Rechte aus Art. 6 Abs. 3 EMRK darin vollumfänglich garantiert werden müssten.180 Dies gelte auch für die Garantien aus Art. 6 Abs. 1 EMRK.181 Daher sei allein Art. 5 Abs. 4 EMRK als lex specialis anwendbar.182 Art. 5 Abs. 4 EMRK sieht vor, dass „[e]veryone who is deprived of his liberty by arrest or detention shall be entitled to take proceedings by which the lawfulness of his detention shall be decided speedily by a court and his release ordered if the detention is not lawful.“183 Dem Wortlaut nach garantiert Art. 5 Abs. 4 EMRK zu­ nächst nicht mehr als das Anrecht auf ein Verfahren im Falle des Freiheitsentzuges und enthält keine weiteren Konkretisierungen dahingehend, durch welche prozes­ sualen Garantien dieses Verfahren begleitet werden soll. Die Schutzgewähr von Art. 5 Abs. 4 EMRK ist jedoch nicht einheitlich, sondern richtet sich danach, wel­ che Form der Freiheitsentziehung i. S. v. Art. 5 Abs. 1 EMRK vorliegt.184 Freiheits­ entziehung i. S. v. Art. 5 Abs. 1 EMRK ist die staatlich veranlasste unfreiwillige Unterbringung an einem räumlich begrenzten Ort für nicht unerhebliche Zeit.185 179 EGMR, Urteil v. 15.11.2005 – 67175/01, Reinprecht ./. AT, Rep. 2005-XII, Rn. 39, 52; Urteil v. 19.10.2000 – 27785/95, Wloch ./. PL, Rep. 2000-XI, Rn. 133. 180 Krit. dazu Trechsel / Summers, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 33 f. 181 EGMR, Urteil v. 27.6.1968 – 1936/63, Neumeister ./. AT, Rep. Serie A, Nr. 8 Rn. 23; krit. NomosKomm-Meyer-Ladewig / Harrendorf, EMRK, Art. 6 Rn. 32; SK-Paeffgen, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 44. 182 EGMR, Urteil v. 16.7.2015  – 7997/08, Kuttner ./. AT, Rn. 45 ff.; Urteil v. 9.10.2012  – 49658/09, Dimitrios Dimopoulos ./. GR, Rn. 43; implizit auch in Entscheidung v. 27.3.2012 – 65194/10, Eroglu u. a. ./. TR, Rn. 4; Urteil v. 8.10.2009 – 4922/04, Lazoroski ./. MK, Rn. 65; Entscheidung v. 14.4.2009 – 6644/08, Can ./. TR, Rn. 3; Urteil v. 1.6.2006 – 70148/01, Fodale ./. IT, Rep. 2006-VII, Rn. 27; grundlegend in Urteil v. 15.11.2005 – 67175/01, Reinprecht ./. AT, Rep. 2005-XII, Rn. 55; ebenso Urteil v. 25.3.1999 – 31195/96, Nikolova ./. BG, Rep. 1999-II, Rn. 69. 183 Bzw. in der französischen Version: „Toute personne privée de sa liberté par arrestation ou détention a le droit d’introduire un recours devant un tribunal, afin qu’il statue à bref délai sur la légalité de sa détention et ordonne sa libération si la détention est illégale.“; krit. zur Wortlautfassung Karpenstein / Mayer-Elberling, EMRK, Art. 5 Rn. 49. 184 St. Rspr. EGMR, Urteil v. 15.12.2016 – 16483/12, Khlaifia u. a. ./. IT, Rep. 2016 (vorgese­ hen), Rn. 129; Urteil v. 27.3.2008 – 44009/05, Shtukaturov ./. RU, Rep. 2008-II, Rn. 123; Urteil v. 17.1.2012 – 36760/06, Stanev ./. BG, Rep. 2012-I, Rn. 169; Urteil v. 29.2.1988 – 9106/80, Bouamar ./. BE, Rn. 60; Urteil v. 15.11.1996 – 22414/93, Chahal ./. GB, Rep. 1996-V, Rn. 127; zust. Trechsel / Summers, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 475 m. w. N. 185 NomosKomm-Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, EMRK, Art. 5 Rn. 9.

A. Die Konzeption der EMRK

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Dieser allgemeine, für Umstände des Einzelfalls wertungsoffene Begriff stellt somit auf die vom Staat als Urheber zu verantwortende Beschränkung der kör­ perlichen Bewegungsfreiheit eines Betroffenen ab. Je nach Eingriffsintensität der Maßnahme können ähnlich gelagerte Situationen in einem Fall als Freiheitsent­ ziehung, im anderen Fall als bloße, nicht von Art. 5 EMRK erfasste Beschränkung der Bewegungsfreiheit angesehen werden.186 Welchen Maßstäben eine Freiheitsentziehung unterworfen wird und welche Ver­ fahrensgarantien für sie gelten, entscheidet sich nach dem mit der Freiheitsentzie­ hung verfolgten Ziel, abschließend aufgezählt in Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. a–f i. V. m. Art. 5 Abs. 4 EMRK.187 Insofern wendet der EGMR einen gleitenden Willkürmaß­ stab an, je nach Maßgabe des verfolgten Zwecks.188 Verfolgt eine Freiheitsentzie­ hung keines der in Art. 5 Abs. 1 S. 2 EMRK aufgezählten Ziele, gilt sie per se als willkürlich.189 Für das hiesige Vorhaben interessiert jedoch allein der Umfang von Art. 5 Abs. 4 EMRK für solche Freiheitsentziehungen, die anlässlich eines Straf­ verfahrens erfolgen, also insbesondere die Untersuchungshaft, vgl. Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. c EMRK. Da die Untersuchungshaft dem Angeklagten die Freiheit entzieht, obgleich für ihn die Unschuldsvermutung gem. Art. 6 Abs. 2 EMRK gilt, stellt sie einen be­ sonders schwerwiegenden Eingriff dar, für den Art. 5 Abs. 4 EMRK daher eine Rechtsweggarantie normiert. Um im Rahmen der Untersuchungshaft ausrei­ chendes prozessuales Gegengewicht zu bilden, wird in Art. 5 Abs. 4 EMRK ein Großteil der wesentlichen Garantien aus Art. 6 Abs. 3 EMRK hinein gelesen.190 Trotzdem verwahrt sich der EGMR gegen eine deckungsgleiche Übernahme der 186 Diese werden erfasst von Art. 2 Abs. 1 ZP IV EMRK, zur Abgrenzung vgl. EGMR, Urteil v. 26.6.2014  – 26587/07, Krupko u. a., Rn. 34 („The distinction between depriva­ tion of, and  a restriction upon, liberty is merely one of degree or intensity and not one of nature or substance“); Urteil v. 12.9.2012  – 10593/08, Nada ./. CH, Rep. 2012-V, Rn. 225; Urteil v. 15.3.2012  – 39692/09 u. a., Austin u. a. ./. GB, Rep. 2012-II, Rn. 57; Urteil v. 17.1.2012  – 36760/06, Stanev ./. BG, Rep. 2012-I, Rn. 115; Urteil v. 29.3.2010  – 3394/03, Medvedyev u. a. ./. FR, Rep. 2010-III, Rn. 73; in diesem Sinne Urteil v. 16.6.2005 – 61603/00, Storck ./. DE, Rep. 2005-V, Rn. 71; Urteil v. 6.11.1980 – 7367/76, Guzzardi ./. IT, Rep. Se­ rie A, Nr. 39 Rn. 92 f.; Urteil v. 8.6.1976  – 5100/71 u. a., Engel u. a. ./. NL, Rep. Serie A, Nr. 22 Rn. 59. 187 Zur abschließenden Natur dieser Gründe, st. Rspr., EGMR, Urteil v. 22.9.2015 – 62116/12, Nabil u. a. ./. HU, Rn. 26; Urteil v. 4.6.2015 – 5425/11, Ruslan Yakovenko ./. RU, Rep. 2015II, Rn. 45; Urteil v. 26.6.2014 – 26587/07, Krupko u. a., Rn. 38; Urteil v. 29.3.2010 – 3394/03, Medvedyev u. a. ./. FR, Rep. 2010-III, Rn. 78; Urteil v. 8.4.2004  – 71503/01, Assanidze ./. GE, Rep. 2004-II, Rn. 170; Urteil v. 1.7.1997 – 19218/91, Giulia Manzoni ./. IT, Rep. 1997-IV, Rn. 25. 188 NomosKomm-Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, EMRK, Art. 5 Rn. 20. 189 EGMR, Urteil v. 4.6.2015 – 5425/11, Ruslan Yakovenko ./. RU, Rep. 2015-II, Rn. 45; Urteil v. 26.6.2014 – 26587/07, Krupko u. a., Rn. 38 ff.; Urteil v. 15.3.2012 – 39692/09 u. a., Austin u. a. ./. GB, Rep. 2012-II, Rn. 60. 190 EGMR, Urteil v. 15.11.2005 – 67175/01, Reinprecht ./. AT, Rep. 2005-XII, Rn. 36; Ent­ scheidung v. 24.8.2010 – 40431/06, Prehn ./. DE, S. 3.

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

Maßstäbe aus Art. 6 EMRK auf das Haftprüfungsverfahren.191 Jedenfalls er­ forderlich ist aber trotz des reduzierten Umfangs des Haftprüfungsverfahrens, dass dem Angeklagten ein justizförmiges, adversarial ausgestaltetes Verfahren zugänglich sein muss.192 Dazu gehören die Anhörung des Angeklagten und die Gewähr von Waffengleichheit insbesondere durch einen Rechtsbeistand, weil die Garantie des rechtlichen Gehörs Kerngarantie im Fall einer Freiheitsentziehung ist („features among the fundamental guarantees of procedure applied in matters of deprivation of liberty“).193 Ebenso als wesentlichen Bestandteil eines adversarialen, auf die Teilhabe des Angeklagten ausgerichteten Verfahrens betrachtet der EGMR zudem das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand („The right to receive legal assistance, if necessary, is indeed implicit in the very notion of an adversarial procedure“).194 Dieses ist daher auch zwingend im Rahmen von Art. 5 Abs. 4 EMRK zu gewähren. Der Staat muss nicht generell dem Inhaftierten im Rahmen von Art. 5 Abs. 4 EMRK die Möglichkeit der Anhörung einräumen. Die Gewähr einer Anhörung ist aber dann für den Staat zwingend, „where the prisoner’s appearance can be regarded as  a means of ensuring respect for equality of arms, one of the main safeguards inherent in judicial proceedings conducted in conformity with the Con­ vention.“195 Wird also der Staatsanwaltschaft die Möglichkeit des persönlichen Vortrags vor Gericht eingeräumt, muss dem Angeklagten das gleiche Recht zu­ stehen. In Fällen von Untersuchungshaft ist eine Anhörung zwingend.196 Wenn es für den Angeklagten um eine hohe Haftstrafe oder eine langfristige Unterbringung 191

Vgl. st. Rspr.: EGMR, Urteil v. 20.10.2015 – 5201/11, Sher u. a. ./. GB, Rep. 2015-VII, Rn. 147; Urteil v. 21.4.2011  – 42310/04, Nechiporuk u. Yonkalo ./. UA, Rn. 240; Urteil v. 19.2.2009  – 3455/05, A. u. a. ./. GB, Rep. 2009-II, Rn. 203; Urteil v. 9.3.2006  – 66820/01, Svipsta ./. LV, Rep. 2006-III, Rn. 129 lit. e; so bedarf es z. B. keiner öffentlichen Verhandlung, vgl. Urteil v. 15.11.2005 – 67175/01, Reinprecht ./. AT, Rep. 2005-XII, Rn. 31 lit. b, 34 ff.; Urteil v. 19.10.2000 – 27785/95, Wloch ./. PL, Rep. 2000-XI, Rn. 125; Urteil v. 4.7.2000 – 27915/95, Niedbala ./. PL, Rn. 66; Urteil v. 28.10.1998 – 24760/94, Assenov u. a. ./. BG, Rn. 162; Urteil v. 12.5.1992 – 13770/88, Megyeri ./. DE, Rn. 21 lit. e; grundlegend in Urteil v. 24.10.1979 – 6301/73, Winterwerp ./. NL, Rn. 60. 192 Vgl. EGMR, Urteil v. 5.7.2016 – 50130/12, Bandur ./. HU, Rn. 79; Urteil v. 19.2.2009 – 3455/05, A. u. a. ./. GB, Rep. 2009-II, Rn. 204; Urteil v. 15.11.2005 – 67175/01, Reinprecht ./. AT, Rep. 2005-XII, Rn. 39; Urteil v. 31.1.2002 – 24430/94, Lanz ./. AT, Rn. 40; Urteil v. 13.2.2001 – 24479/94, Lietzow ./. DE, Rep. 2001-I, Rn. 44; Urteil v. 13.2.2001 – 25116/94, Schöps ./. DE, Rep. 2001-I, Rn. 44. 193 EGMR, Urteil v. 21.4.2011 – 42310/04, Nechiporuk u. Yonkalo ./. UA, Rn. 240; Urteil v. 13.7.1995  – 17977/91, Kampanis ./. GR, Rep. Serie A, Nr. 318B Rn. 47; Entscheidung v. 24.8.2010 – 40431/06, Prehn ./. DE, S. 3. 194 EGMR, Entscheidung v. 24.8.2010 – 40431/06, Prehn ./. DE, Rn. 3. 195 EGMR, Urteil v. 13.7.1995 – 17977/91, Kampanis ./. GR, Rep. Serie A, Nr. 318B Rn. 47. 196 St. Rspr., vgl. EGMR, Urteil v. 15.11.2005 – 67175/01, Reinprecht ./. AT, Rep. 2005-XII, Rn. 31 lit. c; Urteil v. 13.2.2001 – 24479/94, Lietzow ./. DE, Rep. 2001-I, Rn. 44; Urteil v. 10.10.2000 – 37975/97, Grauzinis ./. LT, Rn. 31; Urteil v. 19.10.2000 – 27785/95, Wloch ./. PL, Rep. 2000-XI, Rn. 126; Urteil v. 25.3.1999 – 31195/96, Nikolova ./. BG, Rep. 1999-II, Rn. 58

A. Die Konzeption der EMRK

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geht, erfordert Art. 5 Abs. 4 EMRK als Ausdruck einer kontradiktorischen Ver­ fahrensweise eine Anhörung, die Vertretung durch einen Rechtsbeistand und die Möglichkeit, Zeugen zu laden und zu vernehmen („an oral hearing in the context of an adversarial procedure involving legal representation and the possibility of calling and questioning witnesses“).197 Davon ausgehend ist dem inhaftierten Anklagten prinzipiell ein Verteidiger beizuordnen und strafrechtliche Prozesskostenhilfe zu gewähren,198 wenngleich über den Umweg von Art. 5 Abs. 4 EMRK. Auch wenn das summarische Haft­ prüfungsverfahren nicht alle Garantien aus Art. 6 EMRK übernimmt, gilt dies jedenfalls nicht für das Recht auf Verteidigungsbeistand und strafrechtliche Pro­ zesskostenhilfe aus Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK im Rahmen der Untersuchungshaft. Im Ergebnis liest der EGMR zwar die Garantie strafrechtlicher Prozesskostenhilfe auch in Art. 5 Abs. 4 EMRK hinein.199 Diese nur entsprechende Anwendung von Art. 5 Abs. 4 EMRK ist jedoch Ausdruck eines sehr sektoralen Verständnisses des Strafverfahrens, das verkennt, dass diese einzelnen Verfahrensbestandteile zu einem einheitlichen Verfahren gehören und die Feststellung von Schuld oder Un­ schuld ebenso ermöglichen bzw. fördern. Gerade Erkenntnisse aus dem Haftprü­ fungsverfahren sind häufig auch Teil der Wahrheitsermittlung des Hauptstrafver­ fahrens, die dortige Anhörung des Angeklagten kann nicht selten auch – zu seinen Gunsten oder seinen Lasten – in der Hauptverhandlung verwertet werden.200 Dem Angeklagten in diesen Abschnitten formal die Rechte aus Art. 6 Abs. 3 EMRK abzuerkennen, widerspricht gerade der sonst an effektiver und wirksamer Rechts­ ausübung orientierten Rechtsprechung des EGMR. b) Transnationale Verfahrensteile als den Verteidigungsgarantien entzogene Verfahrensteile Es erscheint selbstverständlich, dass die Rechte des Angeklagten nicht variieren dürfen, nur weil Teile der Straftat im Ausland verfolgt werden. Ob ein Verfahren rein national oder grenzüberschreitend geführt wird, dürfte für die Rechte aus a. E.; Urteil v. 21.2.1996 – 21928/93, Hussain ./. GB, Rep. 1996-I, Rn. 60; Urteil v. 21.2.1996 – 23389/94, Singh ./. GB, Rep. 1996-I, Rn. 68; Urteil v. 21.10.1986 – 9862/82, Sanchez-Reisse ./. CH, Rep. Serie A, Nr. 107 Rn. 51. 197 EGMR, Urteil v. 21.2.1996 – 21928/93, Hussain ./. GB, Rep. 1996-I, Rn. 60; Urteil v. 21.2.1996 – 23389/94, Singh ./. GB, Rep. 1996-I, Rn. 68. 198 A. A. jedenfalls früher in Bezug auf die Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK, EGMR, Urteil v. 27.6.1968 – 1936/63, Neumeister ./. AT, Rep. Serie A, Nr. 8 Rn. 23; für eine zwingende Bei­ ordnung im Rahmen der Untersuchungshaft plädierend, NomosKomm-Meyer-Ladewig / Harrendorf, EMRK, Art. 6 Rn. 32; ebenso vgl. Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 572 ff.; so auch Trechsel / Summers, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 486. 199 EGMR, Entscheidung v. 24.8.2010 – 40431/06, Prehn ./. DE, Rn. 3. 200 Vgl. die erleichterten Bedingungen im dt. Recht für die Verwertung der als richterliche Vernehmung ausgestalteten Haftprüfung über § 254 Abs. 1 StPO.

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

Art. 6 Abs. 3 EMRK keinen Unterschied machen. In der Literatur hat sich dem­ entsprechend inzwischen die Vorstellung durchgesetzt, dass das transnationale Strafverfahren als ein einheitliches, aber grenzüberschreitend und arbeitsteilig geführtes Strafverfahren angesehen werden muss.201 Der EGMR nimmt jedoch eine gespaltene Beurteilung des Strafverfahrens vor, weil nach Art. 1 EMRK die Konventionsstaaten nur im Bereich ihrer Hoheitsgewalt die Einhaltung der EMRK sicherstellen müssen.202 aa) Ursprung der Problematik In den meisten transnationalen Strafverfahren müssen bestimmte Verfahrens­ schritte in einem anderen Staat und damit auf fremden Hoheitsgebiet erfolgen, also grundsätzlich außerhalb der Hoheitsgewalt des das Verfahren führenden Staates. Gemäß Art. 1 EMRK sichern die Konventionsstaaten jedoch nur den Personen die Rechte und Freiheiten der EMRK zu, die ihrer Hoheitsgewalt unterstehen. Damit erstreckt und beschränkt Art. 1 EMRK die Verantwortungsbereiche eines Kon­ ventionsstaats grundsätzlich auf seine Staatsangehörigen (ratione personae) und auf sein Staatsgebiet (ratione materiae und ratione loci).203 Insofern orientiert sich der EGMR am existierenden Begriff der Hoheitsgewalt im Völkerrecht.204 Hoheitsgewalt über die verletzende Handlung oder Unterlassung ist also maßgeb­ lich, um einen Konventionsstaat für eine Konventionsverletzung zur Verantwor­ tung ziehen zu können.205 Hoheitsgewalt ist nach dem Verständnis des EGMR ein primär territorial de­ finierter Begriff.206 Die Ausweitung der Verantwortlichkeit eines Konventions­ 201

Vgl. zu dieser Begriffsprägung des „international-arbeitsteiligen Strafverfahrens“: Kar­ penstein / Mayer-Meyer, EMRK, Art. 6 Rn. 31; EnzEuR-Schomburg / L agodny / Schallmoser, Eur. StR, § 13 Rn. 76 ff.; Schomburg / L agodny, NJW 2012, 348 f.; Lagodny, JZ 53 (1998), 568; in diesem Sinne LR-Esser, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 87; Hecker, Eur. StR, § 13 Rn. 34 a. E.; mit krit. Auseinandersetzung zu dieser Begrifflichkeit Krüßmann, Transnationales Strafpro­ zessrecht, S. 134 ff. 202 Vgl. zu dieser Argumentationslinie des EGMR auch Battjes, Eur. J. Migration & L. 11 (2009), 214; für Auslieferungsverfahren ebenfalls diese Souveränitätsbetrachtung als Ursprung der strengen Auslegung von Art. 6 EMRK sehend Langford, Int. J. Hum. Rts. 13 (2009), 524. 203 EGMR, Urteil v. 7.7.2011 – 55721/07, Al-Skeini u. a. ./. GB, Rep. 2011-IV, Rn. 131; Urteil v. 8.7.2004 – 48787/99, Ilascu u. a. ./. MD u. RU, Rep. 2004-VII, Rn. 312; Urteil v. 14.5.2002 – 48205/99 u. a., Gentilhomme u. a. ./. FR, S. 6; Urteil v. 12.12.2001 – 52207/99, Bankovic u. a. ./. BE u. a., Rep. 2001-XII, Rn. 59, 61; zur zeitlichen Beschränkung ab Ratifizierung der Konven­ tion (ratione temporis) wird im Folgenden nicht eingegangen, vgl. für weiterführende Hinweise NomosKomm-Meyer-Ladewig / Peters, EMRK, Art. 35 Rn. 39. 204 EGMR, Urteil v. 8.7.2004 – 48787/99, Ilascu u. a. ./. MD u. RU, Rep. 2004-VII, Rn. 312; Urteil v. 14.5.2002 – 48205/99 u. a., Gentilhomme u. a. ./. FR, S. 6.; näher dazu Ambos / Kö­ nig / Rackow-Ambos / Poschadel, Rechtshilfe, Kap. 1 Rn. 2. 205 M. w. N. EGMR, Urteil v. 7.7.2011 – 55721/07, Al-Skeini u. a. ./. GB, Rep. 2011-IV, Rn. 130. 206 EGMR, Urteil v. 12.1.2017 – 12552/12, Kebe u. a. ./. UA, Rn 73; Urteil v. 12.9.2012 – 10593/08, Nada ./. CH, Rep. 2012-V, Rn. 119; Urteil v. 7.7.2011 – 55721/07, Al-Skeini u. a. ./.

A. Die Konzeption der EMRK

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staates nach der EMRK auf fremdes Staatsgebiet ist nur eine vom EGMR selten anerkannte Ausnahmekonstellation.207 Für Handlungen und Unterlassungen außer­ halb des eigenen Staatsterritoriums soll ein Konventionsstaat sich nur verantwor­ ten müssen, wenn er über diese Handlungen „control and authority“ innehatte und diese ihm daher zurechenbar sind:208 „It is clear that, whenever the State, through its agents, exercises control and authority over an individual, and thus jurisdiction, the State is under an obligation under Article 1 to secure to that individual the rights and freedoms under Section I of the Convention that are relevant to the situation of that individual.“209 [Herv. d. Verf.]

Diese Aufteilung von Konventionsverantwortlichkeit nach Souveränitätsberei­ chen wird im transnationalen Strafverfahren zum Problem. Denn durch diese Zer­ teilung wird vor allem verwischt, wer für die Gewährung der Verteidigungsrechte Verantwortung trägt. Denn eindeutig verantwortlich sind die Konventionsstaaten zunächst nur für diejenigen Teile des Verfahrens, die auf ihrem Hoheitsgebiet durchgeführt werden. Davon ausgehend ist der Anordnungsstaat grundsätzlich nur für den Teil des Strafverfahrens verantwortlich, den er auf seinem Hoheits­ gebiet vollzieht. Für das Verfahren im Vollstreckungsstaat muss er sich folglich nicht darum kümmern, die Rechte aus Art. 6 Abs. 3 EMRK zu schützen. Der Vollstreckungsstaat dagegen hat zwar Hoheitsgewalt über den auf seinem Ho­ heitsgebiet durchgeführten Teil des Verfahrens. Aus seiner Perspektive ist er aber nicht zur Gewährleistung der Rechte aus Art. 6 Abs. 3 EMRK verpflichtet, weil das Rechtshilfeverfahren nur das Ziel hat, dem Ersuchen des Anordnungsstaates nachzukommen, nicht aber die Feststellung von Schuld oder Unschuld einer an­ geklagten Person. Dieser Ansatz des EGMR soll zunächst dargestellt werden, um im Anschluss zu überprüfen, ob dieser einer effektiven und wirksamen Gewähr­ leistung von Verteidigungsrechten entgegensteht.

GB, Rep. 2011-IV, Rn. 131; Urteil v. 8.7.2004 – 48787/99, Ilascu u. a. ./. MD u. RU, Rep. 2004VII, Rn. 312; Urteil v. 12.12.2001 – 52207/99, Bankovic u. a. ./. BE u. a., Rep. 2001-XII, Rn. 61; Urteil v. 7.7.1989 – 14038/88, Soering ./. GB, Rep. Serie A, Nr. 161 Rn. 86; m. w. N. SK-Paeffgen, StPO, Art. 1 EMRK Rn. 16, 22a. 207 EGMR, Urteil v. 7.7.2011 – 55721/07, Al-Skeini u. a. ./. GB, Rep. 2011-IV, Rn. 131; Urteil v. 8.7.2004 – 48787/99, Ilascu u. a. ./. MD u. RU, Rep. 2004-VII, Rn. 314; Urteil v. 12.12.2001 – 52207/99, Bankovic u. a. ./. BE u. a., Rep. 2001-XII, Rn. 67. 208 Vgl. EGMR, Urteil v. 7.7.2011 – 55721/07, Al-Skeini u. a. ./. GB, Rep. 2011-IV, Rn. 131; Urteil v. 8.7.2004  – 48787/99, Ilascu u. a. ./. MD  u. RU, Rep. 2004-VII, Rn. 314; Urteil v. 12.12.2001 – 52207/99, Bankovic u. a. ./. BE u. a., Rep. 2001-XII, Rn. 66; Urteil v. 7.7.1989 – 14038/88, Soering ./. GB, Rep. Serie A, Nr. 161 Rn. 86; NomosKomm-Meyer-Ladewig / Peters, EMRK, Art. 35 Rn. 40; LR-Esser, StPO, Art. 1 EMRK Rn. 30 f. 209 EGMR, Urteil v. 12.1.2017  – 12552/12, Kebe u. a. ./. UA, Rn. 74; Urteil v. 7.7.2011  – 55721/07, Al-Skeini u. a. ./. GB, Rep. 2011-IV, Rn. 137; noch strenger dagegen bezüglich einer jurisdiktionsbezogenen Einzelfallbetrachtung, Urteil v. 12.12.2001 – 52207/99, Bankovic u. a. ./. BE u. a., Rep. 2001-XII, Rn. 75.

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

(1) Grundsätzlich fehlende Hoheitsgewalt des Anordnungsstaates Da die Vollstreckung des Rechtshilfeersuchens im Vollstreckungsstaat nicht auf dem Hoheitsgebiet des Anordnungsstaates erfolgt, hat der Anordnungsstaat grund­ sätzlich keine Hoheitsgewalt über das dortige Verfahren – und damit auch keine Verantwortung für die Gewährleistung der Verteidigungsrechte. Der EGMR hat diverse Fallgruppen gebildet, in denen er über das Hoheitsgebiet hinaus „control and authority“ und damit eine Zurechnung von Hoheitsgewalt angenommen hat:210 Grundsätzlich ist dies der Fall, wenn Repräsentanten in einem fremden Staat im Namen ihres entsendenden Staates211 öffentliche Funktionen ausüben oder Maß­ nahmen vornehmen und dies aufgrund von Zustimmung, Einwilligung oder Einla­ dung des Vollstreckungsstaates geschieht.212 Dies bildet jedoch nicht den Normal­ fall des Rechtshilfeverfahrens ab. Dort wird vielmehr die gesamte Vollstreckung durch die eigenen Vollzugskräfte des Vollstreckungsstaates vorgenommen. Es gab jedoch zuletzt Ansätze des EGMR, diesen territorialen Ansatz im Fall transnatio­ naler Strafverfahren aufzuweichen. Im Fall Stojkovic hat er zumindest vorsichtig eine Schutzpflicht des Anordnungsstaates für die Rechte der Verteidigung auch im Vollstreckungsstaat postuliert.213 In diesem Fall wurde der Beschwerdeführer beschuldigt, einen Juwelier in Cour­ chevel (Frankreich) überfallen zu haben. Der Beschwerdeführer war zu diesem Zeitpunkt in anderer Sache in Belgien inhaftiert. Der französische Ermittlungs­ richter ersuchte die belgische Polizei, den Beschwerdeführer als „unterstützten Zeugen“ („témoin assisté“) im Beisein seines Rechtsanwalts, des belgischen Er­ mittlungsrichters und französischer Beamten zu vernehmen.214 Bei der anschlie­ ßenden Vernehmung des Beschwerdeführers waren ein belgischer sowie ein französischer Ermittlungsrichter anwesend. Der Beschwerdeführer wurde ohne an­ waltlichen Beistand vernommen und belastete sich bei dieser Vernehmung selbst.

210

Für eine extensive Aufzählung vgl. EGMR, Urteil v. 7.7.2011 – 55721/07, Al-Skeini u. a. ./. GB, Rep. 2011-IV, Rn. 134; Urteil v. 12.12.2001 – 52207/99, Bankovic u. a. ./. BE u. a., Rep. 2001-XII, Rn. 71, 73; Urteil v. 14.5.2002 – 48205/99 u. a., Gentilhomme u. a. ./. FR, S. 6 f.; fortgeführt in Urteil v. 2.5.2017 – 15944/11, Vasiliciuc ./. MD, Rn. 23; krit. zur bisher unzu­ reichenden Klarheit dieser Voraussetzungen Duttwiler, Neth. Q. Hum. Rts. 30 (2012), 138, 142, 151 f. 211 Keine Zurechnung erfolgt somit, wenn Richter in fremden Staaten für diese fremden Staaten Recht sprechen, ohne dass sie von ihrem entsendenden Staat kontrolliert werden, vgl. EGMR, Urteil v. 26.6.1992 – 12747/87, Drozd u. Janousek ./. FR u. ES, Rep. Serie A, Nr. 240 Rn. 96. 212 EGMR, Urteil v. 7.7.2011 – 55721/07, Al-Skeini u. a. ./. GB, Rep. 2011-IV, Rn. 135; Urteil v. 14.5.2002 – 48205/99 u. a., Gentilhomme u. a. ./. FR, S. 6; Urteil v. 12.12.2001 – 52207/99, Bankovic u. a. ./. BE u. a., Rep. 2001-XII, Rn. 71. 213 Vgl. für die Sachverhaltsausführungen EGMR, Urteil v. 27.10.2011 – 25303/08, Stojko­ vic ./. FR u. BE, Rn. 8 ff. 214 Zu diesem Zeitpunkt war die Europäische Ermittlungsanordnung noch nicht in Kraft, vgl. Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 3.4.2014 – 2014/41/EU, EEA-RL, ABl. L 130, 1. 

A. Die Konzeption der EMRK

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Diese Erkenntnisse führten schließlich zur Anklage und Verurteilung des Be­ schwerdeführers. Er rügte die Verletzung seiner Verteidigungsrechte sowohl durch Frankreich als auch durch Belgien. Der EGMR gab der Beschwerde gegen Frankreich wegen einer Verletzung von Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK statt; die Beschwerde gegen Belgien sei verfristet ge­ wesen.215 Frankreich sei nicht dadurch von seinen Pflichten aus der Konvention befreit worden, dass die Vernehmung in Belgien stattfand. Der anwesende fran­ zösische Ermittlungsrichter hätte für Frankreich die Wahrung der Verteidigungs­ rechte sicherstellen müssen.216 Da die Beschwerde gegenüber Belgien verfristet war, konnte der EGMR sich nicht direkt dazu äußern, inwiefern auch für Belgien als Vollstreckungsstaat das Rechtshilfeverfahren als strafrechtlich i. S. v. Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK einzuord­ nen war. Für Frankreich begründet der EGMR diese strafrechtliche Natur des auf fremden Staatsgebiet erfolgenden Rechtshilfeverfahrens damit, dass die Verneh­ mung aufgrund eines strafrechtlich veranlassten Rechtshilfeersuchens erfolgte, in dem Anhaltspunkte benannt wurden, die für einen strafrechtlichen Tatverdacht gegen den Angeklagten sprachen und dass dem Angeklagten diese Anhaltspunkte mitgeteilt wurden. Insgesamt habe gerade diese Vernehmung zur späteren Ankla­ geerhebung in Frankreich geführt, sodass die Vernehmung sich derart auf die Lage des Angeklagten auswirkte, dass auch eine strafrechtliche Anklage i. S. v. Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK anzunehmen gewesen sei.217 Obwohl die Verfahrenshandlungen für Frankreich auf fremdem, nämlich belgi­ schem Staatsgebiet stattfanden, erkannte der EGMR eine Pflicht Frankreichs, die Rechte des Angeklagten, insbesondere auf Zugang zu einem Verteidiger, sicher­ zustellen. Diese Pflicht leitete er vorrangig aus der Anwesenheit des französischen Ermittlungsrichters her. Denn in diesem konkreten Fall hat ein französischer Er­ mittlungsrichter seine öffentliche Funktion als Ermittlungsrichter in Belgien ausge­ übt und dies aufgrund von Zustimmung, Einwilligung oder Einladung Belgiens ge­ tan – eine Standardkonstellation, in der der EGMR gerade „control and authority“ annimmt.218 Dies könnte ein Anhaltspunkt dafür sein, dass keine darüber hinaus­ gehende Rechtsprechungsänderung bewirkt werden sollte. Der Anordnungsstaat wäre weiterhin nur dann verantwortlich, wenn er über bestimmte, zusätzliche Momente – wie einen anwesenden Hoheitsträger als Repräsentant – „control and authority“ ausübt.

215

EGMR, Urteil v. 27.10.2011 – 25303/08, Stojkovic ./. FR u. BE, Rn. 38 ff. Ebd., Rn. 55 f.; zust. Esser / Gaede / Tsambikakis, NStZ 2012, 623; ebenso positiv Gleß, Utr. L. Rev. 9 (2013), 94; Heijer, Neth. Int. Law Rev. 60 (2013), 425 f. 217 EGMR, Urteil v. 27.10.2011 – 25303/08, Stojkovic ./. FR u. BE, Rn. 51. 218 Zum allgemeineren Maßstab EGMR, Urteil v. 7.7.2011 – 55721/07, Al-Skeini u. a. ./. GB, Rep. 2011-IV, Rn. 135; Urteil v. 14.5.2002 – 48205/99 u. a., Gentilhomme u. a. ./. FR, S. 6; Urteil v. 12.12.2001 – 52207/99, Bankovic u. a. ./. BE u. a., Rep. 2001-XII, Rn. 71. 216

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

Jedoch war zudem für den EGMR maßgeblich, wie der Angeklagte über seine Situation informiert wurde, wie er behandelt wurde und welche Auswirkungen die Vernehmung konkret auf sein Verfahren hatte.219 Dadurch nimmt der EGMR de facto eine Betrachtung aus der Perspektive des Angeklagten vor: Handelte es sich für diesen um einen Teil seiner Schuld- bzw. Unschuldsfeststellung in einem Strafverfahren? Ist dies der Fall, dann trifft den das Verfahren führenden Staat eine Pflicht, für die Einhaltung der aus Art. 6 Abs. 3 EMRK folgenden Verteidigungs­ rechte zugunsten des Angeklagten gegebenenfalls auch im Ausland zu sorgen. Da­ durch erkennt der EGMR erstmals über seinen territorial geprägten Ansatz hinaus eine Schutzpflicht des Anordnungsstaates an. Die territoriale Zergliederung des Strafverfahrens soll folglich den Anordnungsstaat nicht automatisch von seinen aus der Konvention herrührenden Pflichten befreien. Diese Schutzpflichterweiterung ist eine positive Entwicklung für den transnational Angeklagten. (2) Verwaltungsverfahrensrechtliche Natur des Rechtshilfeverfahrens aus Sicht des Vollstreckungsstaats An den Vollstreckungsstaat wird grundsätzlich oft nur ein kleiner Teil der Straf­ verfolgung ausgelagert, seien dies Beweiserhebungen oder die Auslieferung des Angeklagten. Damit stellt sich für diesen die „strafrechtliche Natur“ des Verfah­ rens nicht so eindeutig dar wie für den das Verfahren führenden Anordnungsstaat. Beschränkt man die Betrachtung formalistisch allein auf die Handlungen, die auf dem Gebiet des Vollstreckungsstaates sich ereignen, dann sind Rechtshilfehand­ lungen weder auf die Erkennung einer repressiven Strafe ausgerichtet, noch geht es um eine konkrete Verfehlung. In diesem Sinne legt der EGMR bei der Bestimmung der Rechtsnatur des Rechtshilfeverfahrens für den Vollstreckungsstaat eine strikt auf das Gebiet des Vollstreckungsstaats begrenzte Auslegung an. Am Beispiel der (Untersuchungs-) Auslieferungshaft hat der EGMR daher wiederholt betont, dass das Auslieferungs­ verfahren nicht die Aufklärung einer strafrechtlichen Anklage i. S. v. Art. 6 EMRK zum Ziel habe („the extradition procedure does not involve the determination of the applicant’s civil rights and obligations or of a criminal charge against him within the meaning of Article 6 of the Convention“).220 Auch nachdem die ursprüngliche Rechtshilfe durch den Europäischen Haft­ befehl ersetzt wurde, blieb der EGMR bei dieser verwaltungsverfahrensrechtlichen 219

EGMR, Urteil v. 27.10.2011 – 25303/08, Stojkovic ./. FR u. BE, Rn. 51. Insoweit zu Auslieferungen: EGMR, Urteil v. 6.2.2003  – 46827/99 u. a., Mamatkulov u. Abdurasulovic ./. TR, Rep. 2005-I, Rn. 80; Entscheidung v. 7.10.2008 – 41138/05, Mone­ dero Angora ./. ES, Rep. 2008-IV, 439 (447) (zum Europäischen Haftbefehl); Entscheidung v. 20.2.2007 – 35865/03, Al-Moayad ./. DE, Rn. 93 f.; Entscheidung v. 16.4.2002 – 65965/01, Peñafiel Salgado ./. ES, S. 9; zust. Vogler, ZStW 105 (1993), 17 ff.; IntKomm-Kühne / Miehsler / ​ Vogler, EMRK, Art. 6 Rn. 247 f., aber trotzdem für die Anwendbarkeit der EMRK plädierend.

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A. Die Konzeption der EMRK

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Einordnung des Auslieferungsverfahrens.221 Die Natur des Verfahrens folge zum einen aus den zusätzlichen Gewährleistungen des Art. 1 ZP VII EMRK. Dieser lege gerade Garantien für Verfahren fest, in denen Ausländer vom Staatsgebiet eines Konventionsstaates verwiesen werden. Für eine solche Regelung hätte keine Notwendigkeit bestanden, wenn Art. 6 EMRK sowieso Anwendung finden wür­ de.222 Auch sei die Auslieferungshaft nicht repressiver, sondern präventiver Natur, selbst wenn sie als Auslieferungsuntersuchungshaft im Zusammenhang mit einem Strafverfahren stünde.223 Nur ausnahmsweise erstreckt der EGMR den Schutzbereich von Art. 6 EMRK auf das Auslieferungsverfahren im ersuchten Staat, wenn dieses Verfahren einen engen Bezug zum Strafverfahren hat.224 Dies wurde bisher dann angenommen, wenn durch Äußerungen des ausliefernden oder überstellenden Staates ein enger Konnex zum Strafverfahren hergestellt wurde, sei es dadurch, dass die Ausliefe­ rungsentscheidung vorverurteilend von „begangenen Taten“ entgegen Art. 6 Abs. 2 EMRK sprach225 oder das ursprüngliche Geständnis in der Hauptverhandlung an die Zusicherung des Staatsanwalts geknüpft war, eine Überstellung in den Heimat­ staat nach rechtskräftigem Urteil zu bewirken.226 Ein allgemeiner Konnex einer Auslieferung zu einem Strafverfahren – üblicherweise die Auslieferung eines An­ geklagten zur Strafverfolgung – genügt jedoch grundsätzlich nicht.227 Auch über Art. 5 Abs. 4 EMRK bringt der EGMR die Verfahrensgarantie im Rahmen der Auslieferung in einem transnationalen Strafverfahren nicht zur An­ wendung. Denn der Umfang der Gewährleistung dieser Rechtsweggarantie rich­ tet sich nach der Art der verhängten Haft i. S. v. Art. 5 Abs. 1 EMRK.228 (Unter­ suchungs-)Auslieferungshaft im Rahmen der Rechtshilfe in Strafsachen, auch im Verfahren des Europäischen Haftbefehls, wird vom EGMR jedoch nicht als Fall der Untersuchungshaft i. S. v. Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. c EMRK behandelt, sondern als Fall der Auslieferungshaft gem. Art. 5 Abs. 1 lit. f EMRK.229

221

EGMR, Entscheidung v. 7.10.2008 – 41138/05, Monedero Angora ./. ES, Rep. 2008-IV, 439 (447 f.). 222 EGMR, Urteil v. 5.10.2000 – 39652/98, Maaouia ./. FR, Rep. 2000-X, Rn. 36 f. 223 Ebd., Rn. 39. 224 EGMR, Urteil v. 24.4.2008 – 2947/06, Ismoilov u. a. ./. RU, Rn. 164; für das Überstel­ lungsverfahren nach Verurteilung: EGMR, Urteil v. 1.4.2010 – 27804/05, Buijen ./. DE, Rn. 41. 225 EGMR, Urteil v. 24.4.2008 – 2947/06, Ismoilov u. a. ./. RU, Rn. 158, 162 ff. 226 EGMR, Urteil v. 1.4.2010 – 27804/05, Buijen ./. DE, Rn. 41 f.; zust. EnzEuR-Morgenstern, Eur. StR, § 15 Rn. 5. 227 EGMR, Entscheidung v. 7.10.2008 – 41138/05, Monedero Angora ./. ES, Rep. 2008-IV, 439 (447 f.). 228 S. o. Kap. 2, Fn. 184. 229 EGMR, Urteil v. 3.6.2014 – 44330/07, Khadzhiev ./. BG, Rn. 27 ff., 62; Entscheidung v. 20.9.2016 – 14308/05, Coretchi ./. BG, Rn. 45; Entscheidung v. 14.4.2015 – 5380/12, West ./. GB u. HU, Rn. 4 ff., 38 f.; Entscheidung v. 7.10.2008 – 41138/05, Monedero Angora ./. ES, Rep. 2008-IV, 439 (446 f.).

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

Dessen Garantien sind weniger engmaschig gestaltet als im Rahmen der Unter­ suchungshaft.230 Zum einen ist die Haft nach Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. f EMRK nicht zwingend verhältnismäßig auszugestalten und bedarf keines besonderen Anord­ nungsgrundes, solange das Verfahren der Auslieferungshaft andauert und geführt wird.231 Zum anderen unterliegt die Auslieferungsuntersuchungshaft damit nicht dem Beschleunigungsgebot von Art. 5 Abs. 3 EMRK.232 Zwar hat der EGMR auch für Auslieferungsfälle betont, dass gem. Art. 5 Abs. 4 EMRK dem Inhaftierten ein adversarial ausgestaltetes Verfahren zusteht.233 Anders als in Untersuchungs­ haftsachen sieht der EGMR jedoch nicht für erforderlich an, dass im Rahmen von Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. f EMRK zwingend eine mündliche Anhörung erfolgen muss. Damit ist auch die Frage der Verteidigung des Angeklagten im transna­ tionalen Strafverfahren ebenfalls kein Quasiautomatismus, sondern abhängig davon, ob das jeweilige nationale Recht im Einzelfall eine Anhörung vorsieht oder ob es aus Gründen der Waffengleichheit geboten ist.234 Obgleich es sich in beiden Fällen um Untersuchungshaft handelt – die eine in den nationalen Straf­ prozess integriert, die andere im Ausland durchgeführt –, ist lediglich im Rah­ men der nationalen Untersuchungshaft die Anhörung eines Angeklagten sowie sein Zugang zu einem Verteidiger die Regel. Bisher hat der EGMR auch für diese Sonderfälle – obwohl ihm Fälle zum Europäischen Haftbefehlsverfahren bereits zur Entscheidung vorlagen –, seine Rechtsprechung zur Untersuchungshaft nach Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. c EMRK nicht auf die Fälle der „Auslieferungsuntersuchungs­ haft“ erstreckt.235 (3) Grundsätzlich keine Zurechnung von Rechtsverletzungen des Anordnungsstaats – der „flagrant-denial“-Test Der Vollstreckungsstaat ist grundsätzlich nach Art. 6 EMRK nicht verantwort­ lich, wenn er einen Angeklagten an einen Anordnungsstaat ausliefert, in dem diesem möglicherweise eine Verletzung seiner Verteidigungsrechte droht. Die konventionswidrige Behandlung im ersuchenden Staat rechnet der EGMR erst 230

EGMR, Urteil v. 22.9.2015 – 62116/12, Nabil u. a. ./. HU, Rn. 28; Urteil v. 12.4.2005 – 36378/02, Shamayev u. a. ./. GE u. RU, Rep. 2005-III, Rn. 397; Urteil v. 15.11.1996 – 22414/93, Chahal ./. GB, Rep. 1996-V, Rn. 112. 231 EGMR, Urteil v. 22.9.2015 – 62116/12, Nabil u. a. ./. HU, Rn. 28; Urteil v. 3.6.2014 – 44330/07, Khadzhiev ./. BG, Rn. 64; Urteil v. 5.2.2002 – 51564/99, Čonka ./. BE, Rep. 2002-I, Rn. 38; Urteil v. 15.11.1996 – 22414/93, Chahal ./. GB, Rep. 1996-V, Rn. 112 f. 232 F / P-Peukert, EMRK, Art. 5 Rn. 89. 233 EGMR, Urteil v. 21.10.1986  – 9862/82, Sanchez-Reisse ./. CH, Rep. Serie A, Nr. 107 Rn. 51. 234 Vgl. zu letzterem EGMR, Urteil v. 21.10.1986 – 9862/82, Sanchez-Reisse ./. CH, Rep. Serie A, Nr. 107 Rn. 51. 235 EGMR, Entscheidung v. 7.10.2008 – 41138/05, Monedero Angora ./. ES, Rep. 2008-IV, 439 (446 ff.), gleichwohl dafür auch der mangelhafte Vortrag des Beschwerdeführers wohl mit ausschlaggebend war.

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zu, wenn der Konventionsstaat die betroffene Person durch die Auslieferung erst der konkreten Gefahr einer schwerwiegenden, konventionswidrigen Behandlung aussetzt.236 Im Fall von Art. 6 EMRK müsste der Auszuliefernde eine eklatante Verweigerung seiner grundlegenden Rechte („a flagrant denial of a fair trial“)237 im Anordnungsstaat darlegen können. Eine derartige Verletzung von Art. 6 EMRK im Rechtshilfeverfahren wurde bisher – seit der Begründung der Rechtsprechungslinie im Jahr 1989 – lediglich einmal anerkannt.238 Denn der „flagrant denial“-Test wird vom EGMR streng gehandhabt und verlangt eine drohende, so fundamentale Verletzung von Art. 6 EMRK, dass der Wesensgehalt dieser Garantie berührt wird.239 Der EGMR lehnte bisher ab, dem Vollstreckungsstaat eine detailliertere Prüf­ pflicht aufzuerlegen. In Stapleton hatte der Beschwerdeführer angeregt, dass die Prüfung vielmehr dahingehen solle, ob im Anordnungsstaat die hohe Wahrschein­ lichkeit eines unfairen Verfahrens besteht.240 Dagegen wandte der EGMR insbe­ sondere ein, dass der Vollstreckungsstaat schwerlich rechtliche und tatsächliche Fragen klären könne, für die der Anordnungsstaat die sachnähere Beurteilungs­ instanz darstelle.241 Erhöhte Prüfplichten seien lediglich insofern feststellbar, als unverzichtbare Rechte gem. Art. 2 und 3 EMRK betroffen seien und eine Auslie­ ferung an Nicht-Konventionsstaaten der EMRK im Raum stehe.242 In Bestätigung dieser Prämisse hat der Gerichtshof auch im Fall Othman das erste Mal überhaupt eine solche eklatante Rechtsverweigerung in Bezug auf Art. 6 EMRK (i. V. m. Art. 3 EMRK) festgestellt: In diesem Verfahren stimmte der EGMR mit dem Angeklagten überein, dass in Jordanien die Vollstreckung einer 236

EGMR, Urteil v. 8.7.2004 – 48787/99, Ilascu u. a. ./. MD u. RU, Rep. 2004-VII, Rn. 317; Urteil v. 7.7.1989 – 14038/88, Soering ./. GB, Rep. Serie A, Nr. 161 Rn. 91; m. w. N. SK-Paeffgen, StPO, Art. 1 EMRK Rn. 19. 237 Grundlegend: EGMR, Urteil v. 7.7.1989 – 14038/88, Soering ./. GB, Rep. Serie A, Nr. 161 Rn. 113; seitdem st. Rspr., Urteil v. 27.10.2011 – 37075/09, Ahorugeze ./. SE, Rn. 113; Ent­ scheidung v. 4.5.2010 – 56588/07, Stapleton ./. EI, Rep. 2010-IV, Rn. 25; Urteil v. 6.2.2003 – 46827/99 u. a., Mamatkulov u. Abdurasulovic ./. TR, Rep. 2005-I, Rn. 85. 238 EGMR, Urteil v. 17.1.2012  – 8139/09, Othman ./. GB, Rep. 2012-I, Rn. 260; Urteil v. 27.10.2011 – 37075/09, Ahorugeze ./. SE, Rn. 115; insoweit diesen Test lediglich als „fair trial emergency brake“ bezeichnend, Gleß, Utr. L. Rev. 9 (2013), 102; ebenso in Menschenrechts­ einwänden eine fast nur theoretische Bedeutung sehend, vgl. Arnell, Eur. J. Crime Crim. L. & Crim. Just. 21 (2013), 335. 239 EGMR, Urteil v. 17.1.2012 – 8139/09, Othman ./. GB, Rep. 2012-I, Rn. 260 („A flagrant denial of justice goes beyond mere irregularities or lack of safeguards in the trial procedures such as might result in a breach of Article 6 if occurring within the Contracting State itself. What is required is a breach of the principles of fair trial guaranteed by Article 6 which is so fundamental as to amount to a nullification, or destruction of the very essence, of the right guaranteed by that Article.“); Urteil v. 27.10.2011 – 37075/09, Ahorugeze ./. SE, Rn. 115. 240 So der Vortrag des Beschwerdeführers in EGMR, Entscheidung v. 4.5.2010 – 56588/07, Stapleton ./. EI, Rep. 2010-IV, Rn. 27. 241 Ebd., Rn. 29. 242 Ebd., Rn. 30.

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

Verurteilung bzw. die Wiederholung eines Verfahrens drohe, in dem unter Folter erlangte Zeugenaussagen gegen ihn verwendet würden.243 Dies stelle jedenfalls eine im Sinne von Art. 6 EMRK eklatante Rechtsverweigerung dar.244 Der Ge­ richtshof schloss zwar nicht aus, dass ähnliche Erwägungen in Fällen gelten kön­ nen, in denen ebenfalls Beweise durch Misshandlungen erlangt wurden, die noch nicht als Folter gelten, ließ dies aber offen.245 Für die Umsetzung von Judikaten anderer Konventionsstaaten hat der EGMR diese Pflichterweiterung ebenso abgelehnt. Eine höhere Prüfpflicht in Bezug auf die Fairness des Verfahrens und Art. 6 EMRK aufzuerlegen, würde bedeuten, die Effektuierungsbestrebungen der Konventionsstaaten bei der grenzüberschreiten­ den Kooperation in Strafsachen zu sabotieren, obgleich eine effektivere Zusam­ menarbeit eine Entwicklung darstelle, „which is in principle in the interests of the persons concerned.“246 Eine höhere Prüfplicht sei lediglich dann geboten, wenn die umzusetzende gerichtliche Entscheidung aus einem Staat stamme, der kein Konventionsstaat ist.247 Daraus folgt für den transnational Verfolgten bisher zweier­ lei: Die Rüge eines drohenden unfairen Verfahrens im Anordnungsstaat, allein basierend auf Art. 6 EMRK, ist bisher in der Judikatur des EGMR nicht an­ erkannt worden. Zudem sind die Substantiierungspflichten hoch, weil der EGMR zwischen den Konventionsstaaten eine Form des gegenseitigen Vertrauens in die Gewährung der Voraussetzungen eines Art. 6 EMRK entsprechenden Verfahrens postuliert. bb) Bewertung In der zuvor streng souveränitätsbasierten Rechtsprechung des EGMR finden sich vermehrt Tendenzen, die Betrachtung zugunsten einer einheitlichen Verfah­ rensbetrachtung zu öffnen. Diese Tendenzen haben sich jedoch noch nicht gefestigt und lassen nicht erkennen, dass eine Anerkennung der strafrechtlichen Natur des transnationalen Strafverfahrens in jedem Verfahrensabschnitt sicher ist. Die Zer­ teilung eines einheitlichen Strafverfahrens in getrennte Sphären des Anordnungswie des Vollstreckungsstaats trifft dabei vor allem den Angeklagten. Einzelne Verfahrensteile fallen nicht unter Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK, sodass ihm die dort

243

EGMR, Urteil v. 17.1.2012 – 8139/09, Othman ./. GB, Rep. 2012-I, Rn. 269 ff. Ebd., Rn. 263 ff., 267. 245 Ebd., Rn. 267 a. E. 246 EGMR, Urteil v. 26.6.1992 – 12747/87, Drozd u. Janousek ./. FR u. ES, Rep. Serie A, Nr. 240 Rn. 110. 247 So auch dann, wenn die Auslieferung an den ersuchenden Staat nur Transit ist für die weitere Auslieferung an einen Nichtkonventionsstaat, vgl. EGMR, Entscheidung v. 4.5.2010 – 56588/07, Stapleton ./. EI, Rep. 2010-IV, Rn. 30; vgl. i. Ü. Urteil v. 20.7.2001 – 30882/96, Pel­ legrini ./. IT, Rep. 2001-VIII, Rn. 40; Klip, European Criminal Law, S. 476; Lenaerts, CMLRev 54 (2017), 837; krit. Gleß, Utr. L. Rev. 9 (2013), 103. 244

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eigentlich zugesicherten Mindestgarantien allein aufgrund des grenzüberschrei­ tenden Verfahrenscharakters entzogen werden.248 Wer verantwortlich ist für die Maßnahmen innerhalb eines Strafverfahrens und folglich nach der EMRK für Ver­ letzungen der Rechte der Konvention verantwortlich gehalten werden kann, ist nur im Rahmen einer schwierigen Zurechnung zu klären – die im Einzelfall erhebliche Schutzlücken für den Angeklagten lässt. Dabei ist es im transnationalen Strafverfahren zwischen den Konventionsstaa­ ten, die zugleich Mitgliedstaaten der EU sind, ohne Weiteres möglich, die straf­ rechtliche Natur von Rechtshilfeverfahren ausgehend von einer funktionalen De­ finition von Hoheitsgewalt anzunehmen. Der EGMR hat zwar festgehalten, dass der Maßstab von Art. 1 EMRK ein prinzipiell territorial geprägter ist. Hoheits­ gewalt eines Staates aus anderen Gründen ist zwar möglich, jedoch „exceptional and requiring special justification in the particular circumstances of each case“.249 Liegen solche Umstände vor, müssen die Konventionsstaaten den Personen inner­ halb ihrer Hoheitsgewalt („under their actual authority and responsibility“) die Freiheiten der Konvention zusichern, sei dies auf ihrem eigenen oder auf fremden Staatsgebiet.250 Insgesamt bleibt der EGMR jedoch eine genaue Definition schul­ dig, wann solche Umstände vorliegen und wie „control and authority“ beschaffen sein müssen, um von Hoheitsgewalt eines Staates auch extraterritorial auszugehen. Dafür soll dieses Begriffspaar für das transnationale Strafverfahren noch einmal aufgespalten werden. „Authority“ i. S. v. Befehlsgewalt bezeichnet im ursprünglichen Wortlautsinn „[t]he power or right to give orders, make decisions, and enforce obedience.“251 Da­ von ausgehend scheint zunächst nicht klar, wie sich der Begriff von „control“ ab­ grenzen soll, dem ebenfalls innewohnt, ein erwünschtes Verhalten durchzusetzen („the power to influence or direct people’s behaviour or the course of events“).252 Würde man beide Begriffe in ihrem üblichen Wortsinn verstehen, wären sie eine redundante Begriffsdoppelung.

248

Dazu ebenfalls krit. LR-Esser, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 87; Lagodny, JZ 53 (1998), 568; Klip, European Criminal Law, S. 471 ff.; dazu krit. Meyer, NStZ 2009, 663 („Verkürzung von essentiellen individualrechtlichen […] Garantien durch Aufgabenverlagerung aus dem Natio­ nalstaat heraus“); ebenso krit. Norouzi, Die audiovisuelle Vernehmung von Auslandszeugen, S. 47, 50 f. 249 EGMR, Urteil v. 12.12.2001  – 52207/99, Bankovic u. a. ./. BE u. a., Rep. 2001-XII, Rn. 61. 250 EGMR, Urteil v. 26.6.1992 – 12747/87, Drozd u. Janousek ./. FR u. ES, Rep. Serie A, Nr. 240 Rn. 91; EKMR, Entscheidung v. 26.5.1975 – 6780/74 u. 6950/75, CY ./. TR, Rn. 8; Entscheidung v. 10.7.1978 – 8007/77, CY ./. TR (II), Rn. 19. 251 So die Definition des Oxford Dictionary, vgl. https://en.oxforddictionaries.com/definition/ authority (geprüft am: 10.12.2019). 252 So die Definition des Oxford Dictionary, vgl. https://en.oxforddictionaries.com/definition/ control (geprüft am: 10.12.2019).

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

Bei Betrachtung beider Begriffe zusammen scheint, „authority“ als eine Willens­ äußerung des Staates gegenüber dem Individuum zu verstehen zu sein, in der ein Gebot oder Verbot dem Individuum gegenüber zum Ausdruck gebracht wird.253 Zur Hoheitsgewalt verdichtet sich diese Willensäußerung jedoch nur dann, wenn der Staat durch „control“ in die Lage versetzt wird, diese eigene Willensäußerung dem Individuum gegenüber – gegebenenfalls auch mit Zwang – durchzusetzen.254 „Control“ bezieht sich folglich auf die tatsächliche Durchsetzungsfähigkeit.255 Damit befindet sich jemand grundsätzlich dann in der Hoheitsgewalt eines an­ deren Staates, wenn er unabhängig von seinem Standort einer Handlung ausge­ setzt wird, die kausal auf die Willensausübung des Staates und eine dahin gehende Durchsetzungshandlung erfolgt ist. In diesem Sinne ist Hoheitsgewalt weniger ter­ ritorial als „funktional“ zu verstehen:256 Es geht darum, Konventionsstaaten dann Hoheitsgewalt zuzuschreiben, wenn sie tatsächlich in der Lage sind, Konventions­ rechte zu gewährleisten.257 Diese Idee, Hoheitsgewalt funktional und nicht territorial zu definieren, hat ins­ besondere Richter am EGMR Loucaides geprägt: „[J]urisdiction’ means actual authority, that is to say the possibility of imposing the will of the State on any person, whether exercised within the territory of the High Contracting Party or outside that territory. Therefore, a High Contracting Party is accountable under the Convention to everyone directly affected by any exercise of authority by such Party in any part of the world. Such authority may take different forms and may be legal or illegal. […] The test should always be whether the person who claims to be within the ‚jurisdiction‘ of a High Contracting Party to the Convention, in respect of a particular act, can show that the act in question was the result of the exercise of authority by the State concerned.“258

Dabei kommt dem Merkmal der Kontrolle begrenzende Wirkung zu. Es be­ zieht sich gerade auf die effektive Durchsetzung dieser staatlichen Willensäuße­ rung und ist maßgeblich für den Umfang der extraterritorialen Hoheitsgewalt des Staates.259 Die an dieser Stelle vorgenommen Auslegung ist jedoch weniger streng als in der Rechtsprechung des EGMR. Dieser hat tatsächliche Kontrolle lediglich in fest umrissenen Fallkonstellationen angenommen und so hohe Maßstäbe an­ gesetzt für die extraterritoriale Verantwortlichkeit von Konventionsstaaten. Denn 253

Zust. Duttwiler, Neth. Q. Hum. Rts. 30 (2012), 156 f., 159 a. E. M. w. N. zu Fallgruppen Thallinger, Grundrechte und extraterritoriale Hoheitsakte, S. 180 ff.; zust. Duttwiler, Neth. Q. Hum. Rts. 30 (2012), 156 f., 159 a. E. 255 Hampson, in: Gilbert / Hampson / Sandoval (Hrsg.), FS Rodley, S. 166. 256 EGMR, zust. Votum des Richters Bonello v. 7.7.2011 – 55721/07, Al-Skeini, Rn. 3, 12 ff.; dies erneut aufgreifend Loucaides, The European Convention on Human Rights, S. 84. 257 Zust. Votum des Richters Bonello v. 7.7.2011 – 55721/07, Al-Skeini, Rn. 13. 258 Zust. Votum des Richters Loucaides v. 8.4.2004 – 71503/01, Assanidze ./. GE, wiederholt im teilweise abl. Votum von Richter Loucaides v. 8.7.2004 – 48787/99, Ilascu u. a. ./. MD u. RU; ders., The European Convention on Human Rights, S. 88 f.; insg. zust. zu diesem Ansatz Heijer, Neth. Int. Law Rev. 60 (2013), 438. 259 Hampson, in: Gilbert / Hampson / Sandoval (Hrsg.), FS Rodley, S. 167. 254

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nur im Umfang dieser effektiven Durchsetzbarkeit schlägt die Willensäußerung des Staates in die Ausübung aktiver Hoheitsgewalt um. Ein erlassener Haftbefehl ist zwar eine Willensäußerung eines Staates, die sich jedoch nicht zur Ausübung von Hoheitsgewalt verdichtet, wenn dessen Vollstreckung nur angeregt, jedoch nicht beeinflusst werden kann. Nicht jede Veranlassung hoheitlichen Handelns eines Staates, das sich kausal auf eine Person auswirkt, begründet jedoch „control“ in diesem Sinne. Andern­ falls würde die Begrenzungsfunktion dieses Merkmals verloren gehen. Dies lässt sich am besten am Beispiel der Auslieferung eines Angeklagten: Begehrt der Anordnungsstaat die Auslieferung eines Angeklagten durch einen Staat, mit dem er nur im Wege diplomatischer Beziehungen verkehrt und keine speziellen Auslieferungsübereinkünfte getroffen hat, kann er zwar einen Antrag auf Aus­ lieferung zur Strafverfolgung stellen. Dieser Antrag wird jedoch einem ausführ­ lichen Bewilligungsprozess unterworfen, auf den der Anordnungsstaat keinen weiteren Einfluss hat. Wird dem Antrag am Ende zugestimmt, war das Handeln des Anordnungsstaates zwar kausal für die Auslieferung durch den Vollstreckungs­ staat. In dieser Konstellation Hoheitsgewalt anzunehmen, würde die Einfluss­ möglichkeit des Anordnungsstaates jedoch überschätzen. Solche Hoheitsgewalt ist lediglich dann anzunehmen, wenn der Anordnungsstaat die dem Angeklagten gegenüber vorzunehmende Handlung auf fremden Staatsgebiet in einer solchen Form bestimmen kann, dass dem Vollstreckungsstaat faktisch kein eigenes Er­ messen mehr verbleibt. Die Fragen, ob einerseits jemand in die Hoheitsgewalt eines der Konventions­ staaten der EMRK fällt und ob andererseits dessen Konventionsrechte verletzt wurden, behandelt der EGMR als strikt zu trennende Fragen.260 Damit wendet sich diese funktionale Auslegung des „jurisdiction“-Kriteriums von der strikten Tren­ nung von Hoheitsgewalt und Konventionsverletzung durch den EGMR ab, indem es in seiner funktionalen Betrachtungsweise auch die Konventionsverletzung be­ nötigt, um Hoheitsgewalt anzunehmen. Die an dieser Stelle gewählte Auslegung stellt jedoch sicher, dass den Konventionsstaaten nur dann die Einhaltung der Konventionsrechte zugemutet wird, wenn dies auch in deren Macht steht – es aber dann auch von ihnen verlangt. Sie von dieser Pflicht zu befreien – obwohl sie es könnten, leuchtet dagegen nicht ein. Insofern gehen auch die Einwände ins Leere, eine derart funktionale Auslegung würde die Begrenzungsfunktion des „jurisdic­ tion“-Kriteriums aufheben.261

260 EGMR, Urteil v. 12.9.2012  – 10593/08, Nada ./. CH, Rep. 2012-V, Rn. 118; Urteil v. 12.12.2001  – 52207/99, Bankovic u. a. ./. BE u. a., Rep. 2001-XII, Rn. 75; zust. Duttwiler, Neth. Q. Hum. Rts. 30 (2012), 155; ebenso zust. Thallinger, Grundrechte und extraterritoriale Hoheitsakte, S. 146. 261 So krit. Duttwiler, Neth. Q. Hum. Rts. 30 (2012), 153.

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

cc) Subsumtion: Überlappende Verantwortlichkeiten von Anordnungsund Vollstreckungsstaat im transnationalen Strafverfahren Ausgehend von diesem Maßstab tragen Anordnungs- und Vollstreckungsstaat im transnationalen Strafverfahren die Verantwortung für die Einhaltung der Ver­ teidigungsrechte des Angeklagten gemeinsam. Der Anordnungsstaat trägt jedoch die vordringliche Verantwortung für die Einhaltung und Gewährung dieser Rechte. Das folgt aus den Besonderheiten der strafrechtlichen Zusammenarbeit im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. (1) „Control and authority“ des Vollstreckungsstaats für drohende Rechtsverletzungen im Anordnungsstaat Bei dem Zurechnungskriterium einer Verletzung von Art. 6 EMRK im Falle einer eklatanten Rechtsverweigerung handelt es sich in der bisherigen Auslegungs­ variante des EGMR fast um eine rein theoretische Verletzungsmöglichkeit im Zu­ sammenhang mit der Verweigerung von Verteidigungsrechten. Insofern scheint eine Zurechnung der Verletzung von Art. 6 EMRK nur dann nach der Rechtspre­ chung des EGMR anerkannt zu werden, wenn sie in einem engen Zusammenhang mit den absolut geschützten Rechten aus Art. 2 und 3 EMRK steht. Dies verringert den Anwendungsbereich des „flagrant denial“-Tests im Rahmen von Art. 6 EMRK derart, dass die wirksame und effektive Gewährung von Verteidigungsrechten im transnationalen Strafverfahren gefährdet ist. Das liegt zum einen an der zurückgenommenen Prüfplicht des EGMR, wenn eine Auslieferung zwischen Konventionsstaaten der EMRK erfolgt, weil der EGMR im Sinne einer effektiven Strafrechtspflege die Konventionskonformi­ tät der jeweiligen Strafprozesse der Mitgliedstaaten vermutet. In Anbetracht der vielfachen Verletzungen von Art. 6 EMRK ist diese Annahme realitätsfremd.262 Diese Vermutung der Konventionskonformität bei der Auslieferung innerhalb von Konventionsstaaten sollte dementsprechend zugunsten einer offenen Prüfung auf­ gegeben werden.263 Zum anderen liegt dieser mangelnde Schutz im transnationalen Verfahren an der zu engen Auslegung des „flagrant denial“-Tests. Es ist nicht einmal erforderlich, wie in Stapleton vom Beschwerdeführer vorgetragen, den Maßstab dahingehend zu modifizieren, dass bereits bei einer „hohen Wahrscheinlichkeit“ einer Konven­ tionsverletzung im ersuchenden Staat Art. 6 EMRK als verletzt gelten muss. Dies würde tatsächlich im Einzelfall den Gerichten der ersuchenden Staaten Prüfpflich­ ten für ihnen fremdes Recht auferlegen, die sie nicht erfüllen können. 262

Vgl. o. Kap. 2, Fn. 148. Krit. Ivory, Utr. L. Rev. 9 (2013), 161; ebenso krit. zu diesem abstrakten Vertrauen Vennemann, ZaöRV 2003, 117 f. 263

A. Die Konzeption der EMRK

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Es dürfte jedoch ausreichen, den Maßstab des „flagrant denial“-Tests ernsthaft anzuwenden. Eine eklatante Rechtsverweigerung definiert der EGMR als Feh­ ler, „beyond mere irregularities or lack of safeguards in the trial procedures such as might result in a breach of Article 6 if occurring within the Contracting State itself.“ Es geht somit nicht um mindere Verstöße, sondern um die Infragestellung der Grundgewährleistungen von Art. 6 EMRK. Insoweit hat der EGMR in anderen Urteilen (theoretische) Beispiele aufgestellt und ein „flagrant denial“ i. S. v. Art. 6 EMRK für möglich gehalten, wenn während eines Strafverfahrens dem Ange­ klagten droht, systematisch der Zugang zu einem Rechtsbeistand verweigert zu werden,264 oder wenn das Strafverfahren in einer Hauptverhandlung ohne Beisein des Angeklagten, ohne Partizipationsmöglichkeiten seines Beistands und zugleich nur unter summarischer Beweiswürdigung stattfindet.265 Im Hinblick auf Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK sind Fallkonstellationen denkbar, in denen dem Angeklagten trotz des Vorliegens der Voraussetzungen von Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK der Zugang zu strafrechtlicher Prozesskostenhilfe verweigert wird und er dadurch vom Zugang zu einem Rechtsbeistand im Strafverfahren ab­ geschnitten ist. Das kann der Fall sein, wenn der ersuchende Staat für bestimmte Personengruppen die Zugänglichkeit von Prozesskostenhilfe einschränkt oder die Gewährung von Voraussetzungen abhängig macht, die ein transnational Ver­ folgter nicht erfüllen kann oder weil trotz der rechtlichen Zugangsmöglichkeit zu strafrechtlicher Prozesskostenhilfe die tatsächliche Ausgestaltung in der Praxis den Zugang faktisch vereitelt. Wird in diesem Sinne der grundlegende Zugang zu Prozesskostenhilfe für einen transnational Verfolgten im ersuchenden Staat un­ möglich, so sollte eine eklatante Rechtsverweigerung und damit eine Zurechnung der Verletzung von Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK angenommen werden. Dadurch würde der ersuchte Staat auch nicht überfordert. Bei dieser Auslegung des „flagrant denial“-Test soll der ersuchende Staat keine extensive Kontrolle frem­ den Rechts vornehmen, sondern allenfalls einen Abgleich, ob die Mindestgaran­ tien des Art. 6 Abs. 3 EMRK de lege lata und de lege ferenda dem Angeklagten grundsätzlich offenstehen. Zutreffend geht der EGMR von einer Überforderung der ersuchten Staaten aus, wenn sie zu extensiven Prüfungen fremder Rechtsord­ nungen aufgefordert würden.266 Dies wäre im Rahmen dieses Abgleichs jedoch nicht erforderlich und entspräche der Prüfung, die der EGMR bei der Auslieferung an Nicht-Konventionsstaaten für erforderlich hält.267 Der „flagrant denial“-Test soll zwar eine Überforderung der ersuchten Staaten verhindern, jedoch nicht bewirken, dass im Rahmen der Rechtshilfe Staaten für vorhersehbare Konventionsverletzungen nicht mehr einstehen müssen. In diesem 264

EGMR, Entscheidung v. 20.2.2007 – 35865/03, Al-Moayad ./. DE, Rn. 101. EGMR, Urteil v. 8.11.2005 – 13284/04, Bader u. Kanbor ./. SE, Rep. 2005-XI, Rn. 47. 266 So die Begründung in EGMR, Entscheidung v. 4.5.2010  – 56588/07, Stapleton ./. EI, Rep. 2010-IV, Rn. 29. 267 EGMR, Entscheidung v. 6.7.2010 – 24027/07 u. a., Babar Ahmad u. a. ./. GB, Rn. 132 f. 265

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

Sinne hat der Vollstreckungsstaat sowohl „authority“ als auch „control“ bei einer Auslieferung für diejenigen vorhersehbaren Rechtsfolgen, die der Angeklagte im Anordnungsstaat erleidet. Für eine praktische und effektive Gewährleistung der Verteidigungsrechte von Art. 6 Abs. 3 EMRK im transnationalen Strafverfahren muss der „flagrant denial“-Test von den Konventionsstaaten daher ernsthaft bei der Auslieferung geprüft werden. Fehlt es an einer ausreichenden Gewährung von Verteidigungsrechten, ist die Auslieferung dementsprechend entweder abzubre­ chen oder, soweit diese ausreichen, unter Einholung von ausreichend konkreten und plausibel erscheinenden Zusicherungen abzuschließen.268 (2) Strafrechtliche Natur des Rechtshilfeverfahrens auch aus Perspektive des Vollstreckungsstaates Auch aus der Perspektive des Vollstreckungsstaates muss das Rechtshilfeverfah­ ren auf seinem Staatsgebiet als „strafrechtlich“ i. S. v. Art. 6 Abs. 3 EMRK gelten. (a) Ausbau der in Stojkovic angedeuteten weiten Auslegung des strafrechtlichen Konnexes In Stojkovic hat der EGMR das erste Mal angedeutet, dass der strafrechtliche Konnex eines Rechtshilfeverfahrens zum im Anordnungsstaat geführten Straf­ verfahren bereits dann anzunehmen sein könnte, wenn im Rechtshilfeverfahren diejenige Person ähnlich einem Angeklagten behandelt und belehrt wird und die strafrechtliche Natur der Angelegenheit aus dem Rechtshilfeersuchen selbst er­ sichtlich wird.269 Diese Auslegung zugrunde legend müssten Rechtshilfeverfahren in der Europäischen Union grundsätzlich als strafrechtliche Verfahren auch für den Vollstreckungsstaat gelten. Denn im Rahmen von Rechtshilfeersuchen im Europäischen Haftbefehl oder im Rahmen der Europäischen Ermittlungsanordnung sind die Verfahren derart ausgestaltet, dass diese Voraussetzungen erfüllt sind: Die dortigen Formulare für Rechtshilfeersuchen enthalten den Tatvorwurf und informieren so den er­ suchten Staat über die eigentliche Natur des Verfahrens.270 Zudem sehen diese Rechtsmittel vor, dass der in solch einem Verfahren befindliche Angeklagte durch 268 Zu dieser Praxis inzw. grundlegend EuGH, Urteil v. 5.4.2016 – C-404/15 u. C-659/15 PPU, Aranyosi u. Căldăraru, Rn. 95 ff. m. Bespr. Böhm, NJW 2016, 1713 f.; zum Erfordernis einer „konkreten, belastbaren und einzelfallbezogenen Zusicherung“, ders., NStZ 2017, 80; ebenso m. w. N. zu dieser Praxis Gazeas, GA 2018, 279 ff.; Oehmichen, StV 2017, 258 ff. 269 EGMR, Urteil v. 27.10.2011 – 25303/08, Stojkovic ./. FR u. BE, Rn. 51 f. 270 Für den Europäischen Haftbefehl s. Rat, Rahmenbeschluss v. 13.6.2002 – 2002/584/JI, Rb-EHB, ABl. L 190, 1, 16 f.; Rahmenbeschluss v. 22.7.2003 – 2003/577/JI, Rb-Sicherstellung, ABl. L 196, 45, 54; Rahmenbeschluss v. 6.10.2006 – 2006/783/JI, Rb-Einziehungsentschei­

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den Vollstreckungsstaat ähnlich einem Angeklagten belehrt werden muss.271 So­ weit es um Beweisermittlungen, Vernehmungen oder gar die Auslieferung des An­ geklagten geht, werden diese gerade zum Zweck der Strafverfolgung erhoben bzw. durchgeführt und sollen damit der Be- oder Entlastung des Angeklagten dienen. Insoweit ist das Rechtshilfeverfahren grundsätzlich maßgeblicher Bestandteil des gegen den Angeklagten geführten Strafverfahrens und Baustein der Ermittlung seiner Schuld oder Unschuld. (b) Auslieferungsuntersuchungshaft: Anerkennung als Kombination von Untersuchungs- und Auslieferungshaft im transnationalen Strafverfahren Die Auslieferungsuntersuchungshaft im Verfahren des Europäischen Haft­ befehls sollte nicht nur unter Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. f EMRK subsumiert, sondern ebenso als Fall der Untersuchungshaft i. S. v. Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. c EMRK ver­ standen werden, um dadurch die strafrechtlich arbeitsteilige Natur des Verfahrens anzuerkennen und dem Angeklagten die gleichen Rechte zukommen zu lassen wie einem rein national Verfolgten. Dazu gehört, dass auch für die (Untersuchungs-) Auslieferungshaft im Rahmen des Europäischen Haftbefehls die Anhörung des Angeklagten – sowie dessen Zugang zu einem Verteidiger und zu strafrechtlicher Prozesskostenhilfe – zwingend wird. Das grenzüberschreitende Element an sich kann den strafrechtlichen Konnex nicht aufheben.272 Für eine derartige Auslegung ist Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. c EMRK grundsätzlich auch offen. Gem. Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. c EMRK fällt darunter jede Form von Haft, „effected for the purpose of bringing him before the competent legal authority on reasonable suspicion of having committed an offence or when it is reasonably considered necessary to prevent his committing an offence or fleeing after having done so“. Dies ist gerade der Fall von Auslieferungsuntersuchungshaft. Denn die Ergreifung und Festsetzung des Angeklagten erfolgt, um ihn einer zuständigen, wenn auch ausländischen, Behörde zum Zweck der Strafverfolgung vorzustellen. Dagegen könnte Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. f EMRK zwar dem Wortlaut nach Anwen­ dung finden, weil die Auslieferungsuntersuchungshaft auch im Hinblick auf eine Auslieferung erfolgt („lawfull arrest or detention of a person against whom action

dung, ABl. L 328, 59, 75 f.; Rahmenbeschluss v. 23.10.2009 – 2009/829/JI, Rb-Überwachungs­ maßnahmen, ABl. L 294, 20, 33 f.; Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 3.4.2014  – 2014/41/EU, EEA-RL, ABl. L 130, 1, 27. 271 Im Rahmen des Europäischen Haftbefehls s. Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 22.5.2012 – 2012/13/EU, Belehrungs-RL, ABl. L 142, 1 Art. 5 Abs. 1; für die Europäische Ermittlungsanordnung ebenfalls, Richtlinie v. 3.4.2014 – 2014/41/EU, EEA-RL, ABl. L 130, 1, Art. 24 Abs. 3. 272 Schomburg / L agodny, NJW 2012, 350.

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is being taken with a view to […] extradition“). Der Anwendungszweck dieser Va­ riante passt jedoch nicht. Denn Art. 5 Abs. 1 lit. f EMRK soll Staaten vor allem die Möglichkeit geben, in einem Kontext der Immigration die persönliche Freiheit von Ausländern zu beschränken, um ihre aufenthaltsrechtlichen Regeln effektiv durch­ setzen zu können.273 Diesen Zweck verfolgt die Auslieferungsuntersuchungshaft jedoch in keiner Hinsicht: Zum einen erstreckt sich die Auslieferung im Rahmen des Europäischen Haftbefehls auch auf eigene Staatsangehörige, sodass nicht ein­ mal zwingend ein Ausländer betroffen ist.274 Zum anderen geht es bei der Auslie­ ferung im Rahmen des Europäischen Haftbefehls nicht um die Durchsetzung der aufenthaltsrechtlichen Regelungen des ersuchten Staates, sondern dieser wird als Vollstreckungshelfer eines genuin strafrechtlichen Ersuchens des anordnenden Staates tätig, ohne diesbezüglich einen eigenen Willen gebildet zu haben. In Anbetracht dessen muss die Auslieferung im Rahmen des Europäischen Haft­ befehls unter Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. c EMRK subsumiert werden, um darüber gem. Art. 5 Abs. 4 EMRK einen umfassenden Zugang zu Verteidigungsrechten auch im Rahmen der Haftprüfung im Vollstreckungsstaat sicher zu stellen.275 (c) Schlussfolgerungen aus der zunehmenden Ausbildung eines einheitlichen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in der EU Der EGMR legt die jeweiligen Normen der EMRK im Licht der heutigen ge­ sellschaftlichen Anforderungen („present-day conditions“)276 aus. Die Konvention soll kein starres Regelwerk einmal festgelegter Gewährleistungen sein, sondern eine Sammlung lebendiger Vorschriften („living instrument“), die aktuelle gesell­ schaftliche Veränderungen reflektiert.277 Diese dynamische Auslegung ergänzt die teleologische Auslegung der EMRK.278 Die Auslegung des EGMR ist damit gegenwartsorientiert. Die Konvention soll gewährleisten, dass auch im Wandel der Zeiten die dort garantierten Freiheiten und Rechte ihre Schutzgewähr entfalten können, indem sie sich neu auftretenden

273 EGMR, Urteil v. 15.12.2016  – 16483/12, Khlaifia u. a. ./. IT, Rep. 2016 (vorgesehen), Rn. 89; Urteil v. 3.6.2014 – 44330/07, Khadzhiev ./. BG, Rn. 61; Urteil v. 19.2.2009 – 3455/05, A. u. a. ./. GB, Rep. 2009-II, Rn. 163; Urteil v. 22.9.2009 – 30471/08, Abdolkhani u. Karimnia ./. TR, Rn. 128; Urteil v. 29.1.2008 – 13229/03, Saadi ./. GB, Rep. 2008-I, Rn. 64. 274 Vgl. Art. 5 Abs. 3 Rb-EHB; m. w. N. dazu Hecker, Eur. StR, § 12 Rn. 38. 275 Zutr. dass dies keinesfalls entbehrlich ist, trotz einer gewissen Automatisierung des Ver­ fahrens, Schomburg / L agodny, NJW 2012, 351 f. 276 EGMR, Urteil v. 12.11.2008 – 34503/97, Demir u. Baykara ./. TR, Rep. 2008-V, Rn. 68. 277 Ebd.; Urteil v. 27.9.1990 – 10843/84, Cossey ./. GB, Rep. Serie A, Nr. 184 Rn. 35; Urteil v. 7.7.1989 – 14038/88, Soering ./. GB, Rep. Serie A, Nr. 161 Rn. 102; Urteil v. 25.4.1978 – 5856/72, Tyrer ./. GB, Rep. Serie A, Nr. 26 Rn. 31. 278 Vgl. so wohl auch Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 83 f.

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Fragen und Situationen anpassen.279 Dafür bezieht der EGMR in seine Ermitt­ lungen der „present-day conditions“ nicht nur tatsächliche und gesellschaftli­ che Gegebenheiten mit ein, sondern auch rechtliche Entwicklungen des natio­ nalen wie internationalen Rechts.280 Die Konventionsrechte können gerade im Licht anderer internationaler Verträge ausgelegt werden, die für dieses konkrete Recht ebenso anwendbar sind.281 Internationale Verträge und Verbindlichkeiten „reflect a reality that the Court cannot disregard when it is called upon to clarify the scope of a Convention provision that more conventional means of interpreta­ tion have not enabled it to establish with a sufficient degree of certainty“.282 Aus diesen Regelungen kann ein allgemeiner Konsens abgeleitet werden, der auch die Auslegung der EMRK lenken kann.283 Explizit hat der EGMR dabei bereits die Charta der Grundrechte der EU herangezogen284 ebenso wie die Europäischen Verträge selbst. Aus diesen Maßstäben folgt, dass auch die Anwendung von Art. 6 Abs. 3 EMRK – bzw. dessen Nichtanwendung – dahingehend überprüft werden muss, ob eine strenge, souveränitätsbasierte Auslegung der EMRK noch den „present-day conditions“ angemessen ist. In zeitgemäßer Anwendung der Grundsätze von Art. 1 EMRK ebenso wie der Garantien von Art. 6 Abs. 3 EMRK und unter Berücksich­ tigung der rechtlichen Entwicklungen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts sollte die Rechtshilfe gerade Ausschnitt eines einheitlichen, im Wege der mitgliedstaatlichen Arbeitsteilung durchgeführten Strafverfahrens sein.285 Dies kann rechtlich aus der Charta der Grundrechte abgeleitet werden, die mit Art. 48 Abs. 2 GRCh sowie mit Art. 50 GRCh jeweils transnational geltende Ver­

279

Das betrifft gesellschaftliche Moralvorstellungen, so z. B. für die sich ändernde gesell­ schaftliche Akzeptanz für die Anerkennung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften als Familie i. S. v. Art. 8 EMRK: EGMR, Urteil v. 24.6.2010 – 30141/04, Schalk u. Kopf ./. AT, Rep. 2010-IV, Rn. 90 ff.; zur Öffnung der Begriffe „Mann“ und „Frau“ auch gegenüber ande­ ren als rein biologischen Faktoren vgl. Urteil v. 11.7.2002 – 28975/95, Christine Goodwin ./. GB, Rep. 2002-VI, Rn. 100 ff. 280 EGMR, Urteil v. 12.11.2008 – 34503/97, Demir u. Baykara ./. TR, Rep. 2008-V, Rn. 68; Urteil v. 7.7.1989 – 14038/88, Soering ./. GB, Rep. Serie A, Nr. 161 Rn. 102. 281 EGMR, Urteil v. 12.11.2008 – 34503/97, Demir u. Baykara ./. TR, Rep. 2008-V, Rn. 69; am Bsp. von Art. 8 EMRK Urteil v. 22.6.2004 – 78028/01 u. 78030/01, Pini u. a. ./. RO, Rep. 2004-V, Rn. 139; Urteil v. 13.12.2007 – 39051/03, Emonet u. a. ./. CH, Rn. 65 f. 282 EGMR, Urteil v. 12.11.2008 – 34503/97, Demir u. Baykara ./. TR, Rep. 2008-V, Rn. 76; in diesem Sinne ebenso Urteil v. 28.2.2008 – 37201/06, Saadi ./. IT, Rep. 2008-II, Rn. 63, 126. 283 EGMR, Urteil v. 12.11.2008 – 34503/97, Demir u. Baykara ./. TR, Rep. 2008-V, Rn. 77 f., 85; Urteil v. 11.1.2006 – 52562/99 u. 52620/99, Sørensen u. Rasmussen ./. DK, Rep. 2006-I, Rn. 73 ff.; Urteil v. 30.6.1993 – 16130/90, Sigurður A. Sigurjónsson ./. IS, Rep. Serie A, Nr. 264 Rn. 35. 284 So in EGMR, Urteil v. 19.4.2007 – 63235/00, Vilho Eskelinen u. a. ./. FI, Rep. 2007-II, Rn. 60 f.; Urteil v. 11.1.2006 – 52562/99 u. 52620/99, Sørensen u. Rasmussen ./. DK, Rep. 2006I, Rn. 74; Urteil v. 11.7.2002 – 28975/95, Christine Goodwin ./. GB, Rep. 2002-VI, Rn. 100. 285 Zu diesem Begriff s. u. Kap. 2, Fn. 201.

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teidigungsrechte geschaffen hat.286 Für den Bereich der strafrecht­lichen Zusam­ menarbeit zwischen Konventionsstaaten, die zugleich Mitgliedstaaten der Euro­ päischen Union sind, könnten die Gewährleistungen der Charta dementsprechend eine fortschrittlichere Auslegung von Art. 6 Abs. 3 EMRK fördern. Ebenfalls ergibt sich für die Mitgliedstaaten der EU eine zunehmende Verzah­ nung ihrer strafrechtlichen Zusammenarbeit seit der Etablierung eines einheitli­ chen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, Art. 82 Abs. 1 S. 1 AEUV, und damit einhergehender Maßnahmen der Unionsgesetzgebung. Dadurch ist die strafrechtliche Zusammenarbeit in der EU rechtlich und institutionell in den letz­ ten Jahren enger geworden. Die durch solche Richtlinien und Rahmenbeschlüsse geprägten Rechtshilfeverfahren enthalten durch das Prinzip der gegenseitigen An­ erkennung fast einen Automatismus der Umsetzung für den Vollstreckungsstaat, sodass das transnationale Strafverfahren quasi wie in einem einheitlichen Territo­ rialstaat geführt werden kann. Die Handhabe von Strafverfahren nach dem Prin­ zip der gegenseitigen Anerkennung darf nicht nur dazu führen, den Angeklagten belastende Maßnahmen verkehrsfähiger zu machen. Die dazugehörenden Rechte im Strafverfahren müssen ebenfalls eine derartige Verkehrsfähigkeit zugespro­ chen bekommen.287 (d) Praktisch wirksame Auslegung von Art. 6 Abs. 3 EMRK im transnationalen Strafverfahren Nur diese Auslegung ist in Einklang mit einer effektiven und wirksamen Aus­ legung des Anwendungsbereiches von Art. 6 Abs. 3 EMRK zu bringen. Auch das Merkmal der „strafrechtlichen Anklage“ muss so ausgelegt werden, dass der Angeklagte umfassend von den dort niedergelegten Verteidigungsrechten profi­ tieren kann. Die aktuelle Auslegung des EGMR kann dies für den transnational Verfolgten nicht leisten. Er würde allein durch den grenzüberschreitenden Bezug seines Verfahrens für solche Maßnahmen seine Rechte aus Art. 6 Abs. 3 EMRK verlieren, die auf einem anderen Hoheitsgebiet als dem des Anordnungsstaats vollzogen werden. Damit kann der Zufall darüber entscheiden, ob Art. 6 Abs. 3 EMRK dem Angeklagten im gesamten Verfahren zugutekommt oder lediglich in Ausschnitten. Der EGMR hat betont, dass ein strafrechtliches Verfahren i. S. v. Art. 6 Abs. 3 EMRK den „full process of the examination of an individual’s guilt or innocence in relation to an offence“288 betrifft. Dieser Maßstab würde es ihm gerade erlauben, 286

Vgl. dazu u. Kap. 2 B. III. 1. b). Schomburg / L agodny, NJW 2012, 353. 288 EGMR, Entscheidung v. 8.1.2004 – 56271/00, Sardinas Albo ./. IT; implizit Entschei­ dung v. 21.11.2000 – 53652/00, Raf ./. ES, Rep. 2000-XI, 549 (555 f.); ebenso in diesem Sinne: Entscheidung v. 18.10.2001 – 33878/96, A. B. ./. PL, Rn. 2; grundlegend m. w. N. EKMR, Ent­ scheidung v. 8.2.1990 – 11683/85, Farmakopoulos ./. GR, DR 64, 62 (69). 287

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in einer staatenübergreifenden Gesamtbetrachtung das transnationale Strafverfah­ ren als einheitliches Verfahren zu begreifen. Dagegen wird bisher nicht beachtet, dass die Entscheidung über Auslieferungshaft im Vollstreckungsstaat sich im Ge­ samtkontext eines Verfahrens bewegt, das gerade auf die Feststellung der Schuld des Angeklagten – oder dessen Unschuld – zielt, auch wenn vordergründig nur die Frage der Auslieferung selbst entschieden wird. Dazu zählen ebenso diejenigen Ermittlungsmaßnahmen, die auf fremdem Staatsgebiet geschehen. Den vollstän­ digen Prozess der Schuldermittlung als Strafverfahren i. S. v. Art. 6 Abs. 3 EMRK zu verstehen, muss bedeuten, alles einzubeziehen, was für diese Ermittlung von Belang ist, unabhängig davon, ob Teile davon aufgrund der Natur des Verfahrens auf anderem Staatsgebiet erfolgen als das Strafverfahren selbst. (3) „Control and authority“ des Anordnungsstaates bei Verletzungen der Verteidigungsrechte des Angeklagten im Vollstreckungsstaat Im Fall Stojkovic hatte der EGMR grundsätzlich eine Schutzpflicht des An­ ordnungsstaates auch für das weitere Rechtshilfeverfahren im Vollstreckungs­ staat etabliert. Der Fall war jedoch insoweit besonders gelagert, als durch die Anwesenheit eines französischen Ermittlungsrichters vor Ort ein Hoheitsträger des Anordnungsstaates das Rechtshilfeverfahren vor Ort mitgestalten konnte. Auch über diese Sonderkonstellation hinaus sollte jedoch grundsätzlich „control and authority“ des Anordnungsstaates angenommen werden, wenn das Rechts­ hilfeersuchen eines Staates dem Vollstreckungsstaat eine Handlung oktroyieren kann. Dies ist in der EU jedenfalls dann zu bejahen, wenn Rechtshilfeersuchen nach dem Prinzip gegenseitiger Anerkennung umgesetzt werden müssen. Die Souve­ ränität des ersuchten Staates ist in Fällen solcher Rechtshilfeersuchen erheblich reduziert. Denn das Prinzip gegenseitiger Anerkennung soll innerhalb der straf­ rechtlichen Zusammenarbeit fingieren, um ein Beweismittel oder die Übergabe einer Person sei im gleichen Nationalstaat ersucht worden. So wird beispielsweise in Art. 9 Abs. 1 Hs. 1 EEA-RL direkt formuliert: „Die Vollstreckungsbehörde erkennt eine nach dieser Richtlinie übermittelte EEA ohne jede weitere Formalität an und gewährleistet deren Vollstreckung in derselben Weise und unter denselben Modalitäten, als wäre die betreffende Ermittlungsmaßnahme von einer Behörde des Vollstreckungsstaats angeordnet worden […].“

Auch wird – abgesehen von den normierten, aber eng gehaltenen Ablehnungs­ gründen  – vom ersuchten Staat die Umsetzung faktisch erzwungen. Für den Europäischen Haftbefehl hat der EGMR diesen Umsetzungsautomatismus selbst festgehalten: „Execution of a European arrest warrant is, in fact, practically automatic; the judicial authority does not carry out a fresh examination of the warrant in order to check that it conforms to its

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

own domestic law, and will only refuse its execution for reasons laid down by the Law.“289 [Herv. d. Verf.]

Der ersuchende Staat hat somit Kontrolle über das derart angestoßene Rechts­ hilfeverfahren, weil der ersuchte Staat die Umsetzung nur in eng normierten Fäl­ len ablehnen kann – die Gewährung des Rechtshilfeersuchens wird dadurch zum Regelfall. Dadurch kann die strafrechtliche Hoheitsgewalt gerade über das eigent­ liche Staatsgebiet hinausreichen.290 Ob der Anordnungsstaat „control and authority“ über das im Vollstreckungs­ staat weitergeführte Strafverfahren hat, hängt somit maßgeblich vom völkerrecht­ lichen Besitzstand zwischen Anordnungs- und Vollstreckungsstaat ab. Lässt der Anordnungsstaat eine weitgehende Bestimmung der Rechtshilfehandlung zu und kann er im Regelfall die Bewilligung des Ersuchens vom Vollstreckungsstaat ver­ langen, ist grundsätzlich von ausreichender Kontrolle im obigen Wortsinn auszu­ gehen. Im Fall der Mitgliedstaaten der Europäischen Union ist damit im Rahmen strafrechtlicher Zusammenarbeit grundsätzlich Befehlsgewalt und Kontrolle des Anordnungsstaates über das gesamte strafrechtliche Verfahren anzunehmen. 2. Angeklagter als Akteur eines partizipatorischen Ermittlungsverfahrens Art. 6 Abs. 3 EMRK geht im Wortlaut von einem „Angeklagten“291 aus. Dadurch wird die Reichweite von Art. 6 Abs. 3 EMRK vorrangig in zeitlicher Hinsicht auf den Zeitpunkt ab „Anklage“/„charge“ begrenzt.292 Über den Begriff des „Angeklag­ ten“ wird jedoch zugleich das Subjekt der Mindestrechte aus Art. 6 Abs. 3 EMRK festgelegt. Nur dem Angeklagten kommen die dortigen Verfahrensrechte zu. Er wird damit bereits als Akteur mit eigenen Teilhabe- und Partizipationsrechten festgelegt.

289

EGMR, Entscheidung v. 7.10.2008 – 41138/05, Monedero Angora ./. ES, Rep. 2008-IV, 439 (448). 290 Dazu Burchard, in: Beck / Burchard / Fateh-Moghadam (Hrsg.), Strafrechtsvergleichung als Problem und Lösung, S. 283 („Enthegung“); Nettesheim, EuR 2009, 26 („Enträum­ lichung“); Meyer, in: Beck / Burchard / Fateh-Moghadam (Hrsg.), Strafrechtsvergleichung als Problem und Lösung, S. 96 f. („Entterritorialisierung von Strafgewalt“); ders., NStZ 2009, 663. 291 Die offizielle dt. Version spricht von einer „angeklagten Person“. 292 Vgl. Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 188; ebenso Plekksepp, Die gleichmäßige Gewähr­ leistung des Rechts auf Verteidigerbeistand, S. 63; a. A. zust. Votum von Richter Mahoney v. 13.9.2016 – 50541/08 u. a., Ibrahim u. a. ./. GB, Rn. 3 ff., der für eine Vorwirkung der Garan­ tien von Art. 6 Abs. 3 EMRK plädiert.

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a) Von der Beschuldigung bis zur rechtskräftigen Verurteilung – der weite Anklagebegriff Der Anklagebegriff setzt primär die zeitlichen Grenzen fest, in denen der da­ von Betroffene von den Rechten aus Art. 6 Abs. 3 EMRK profitieren kann. Den Begriff „Anklage“ definiert der EGMR als „the official notification given to an individual by the competent authority of an allegation that he has commit­ ted  a criminal offence.“293 Damit legt der EGMR zunächst nur fest, wann die Rechte aus Art. 6 Abs. 3 EMRK erstmals eingreifen. Diesen Beginn verlagert er grundsätzlich früh ins Ermittlungsverfahren: Jede offizielle, d. h. von staatlicher Seite stammende294 Mitteilung über eine Beschuldigung durch die zuständige Behörde ist folglich eine „Anklage“ i. S. d. Konvention. Dies kann bereits bei einer Vorladung zur Polizei vorliegen. Diese Betrachtung erweitert der EGMR noch dadurch, dass ebenfalls als „Anklage“ i. S. der Konvention gilt, wenn die gegen eine verdächtige Person eingeleiteten Verfolgungsmaßnahmen wesent­ liche Auswirkungen auf die Lage dieser Person haben.295 Dadurch genügen für die Eröffnung des Schutzbereichs von Art. 6 Abs. 3 EMRK bereits die Mitteilung durch die Polizei, dass man einer Straftat verdächtigt wird,296 die Zustellung von Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüssen,297 Vernehmungen durch die Polizei,298 Begehren, die Immunität einer Person aufheben zu lassen,299 oder andere von der zuständigen Behörde erlassene strafprozessuale Zwangsmaßnahmen.300

293 St. Rspr., EGMR, Urteil v. 27.4.2017  – 34015/07, Zherdev ./. UA, Rn. 131; Urteil v. 13.9.2016  – 50541/08 u. a., Ibrahim u. a. ./. GB, Rep. 2016 (vorgesehen), Rn. 249; Urteil v. 27.2.1980 – 6903/75, Deweer ./. BE, Rep. Serie A, Nr. 35 Rn. 46. 294 Daher sind auch interne Ermittlungen grds. nicht von Art. 6 EMRK umfasst, gegen die Aushöhlung der Verteidigungsvorschriften allein durch die Beteiligung Privater m. w. N. Zerbes, ZStW 125 (2012), 556 ff.; für die Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK in dieser Konstellation Knauer / Gaul, NStZ 2013, 193; ebenso Wewerka, Internal Investigations, S. 271 ff.; eine ana­ loge oder entsprechende Anwendung dagegen grundsätzlich abl. Karpenstein / Mayer-Meyer, EMRK, Art. 6 Rn. 34a f. 295 EGMR, Urteil v. 17.7.2018 – 6587/07, Fefilov ./. RU, Rn. 53; Urteil v. 12.5.2017 – 21980/04, Simeonovi ./. BG, Rep. 2017 (vorgesehen), Rn. 110 f.; Urteil v. 27.4.2017 – 34015/07, Zherdev ./. UA, Rn. 131; Urteil v. 13.9.2016 – 50541/08 u. a., Ibrahim u. a. ./. GB, Rep. 2016 (vorgese­ hen), Rn. 249; Urteil v. 15.7.1982 – 8130/78, Eckle ./. DE, Rep. Serie A, Nr. 51 Rn. 73; Urteil v. 27.2.1980 – 6903/75, Deweer ./. BE, Rep. Serie A, Nr. 35 Rn. 46, grundlegend hergeleitet in Rn. 42 ff. 296 EGMR, Urteil v. 17.12.2004 – 49017/99, Pedersen u. Badsgaard ./. DK, Rep. 2004-XI, Rn. 44. 297 EGMR, Urteil v. 5.7.2001 – 45269/99, P. G. F. ./. IT, Rn. 12; Urteil v. 15.7.1982 – 8130/78, Eckle ./. DE, Rep. Serie A, Nr. 51 Rn. 72, 75. 298 Vgl. m. w. N. EGMR, Urteil v. 13.9.2016  – 50541/08 u. a., Ibrahim u. a. ./. GB, Rep. 2016 (vorgesehen), Rn. 253, 255; Urteil v. 9.4.2015 – 30460/13, A. T. ./. LU, Rn. 64; Urteil v. 27.11.2008 – 36391/02, Salduz ./. TR, Rep. 2008-V, Rn. 55. 299 EGMR, Urteil v. 19.2.1991 – 12147/86, Frau ./. IT, Rep. Serie A, Nr. 195E Rn. 14. 300 So z. B. auch für die Mitteilung, dass ein Gebäude nunmehr versiegelt sei, vgl. EGMR, Urteil v. 18.7.1994 – 14804/89, Venditelli ./. IT, Rep. Serie A, Nr. 293A Rn. 21.

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

Der Schutz von Art. 6 Abs. 3 EMRK verlagert sich dadurch in die Phase des Ermittlungsverfahrens hinein.301 Diese weite Auslegung des Begriffs der Anklage bedeutet – nach inzwischen herrschender Auffassung – auf zeitlicher Ebene eine Vorverlagerung des Schutzes von Art. 6 Abs. 3 EMRK: „[T]he guarantees of Article 6 are applicable from the moment that a ‚criminal charge‘ exists within the meaning of this Court’s case-law […] and may therefore be relevant during pre-trial proceedings if and in so far as the fairness of the trial is likely to be seriously prejudiced by an initial failure to comply with them.“302

Die zeitliche Vorverlagerung ist jedoch nicht zwingend, sondern dem EGMR zufolge nur dann erforderlich, wenn die fehlende Gewähr der Mindestrechte aus Art. 6 Abs. 3 EMRK geeignet ist, die Gesamtfairness des Verfahrens zu beein­ trächtigen.303 Für diese Betrachtung kommt es maßgeblich auf die Besonderhei­ ten des Verfahrens und die konkreten Umstände des jeweiligen Einzelfalles an („special features of the proceedings involved and on the circumstances of the ca­ se“),304 u. a. ob der Angeklagte sich in einer besonders verletzlichen Position befin­ det,305 aus der Einstellung und dem Verhalten des Angeklagten nachteilige Schlüsse für die Hauptverhandlung gezogen werden dürfen306 oder ob insgesamt seine Verteidigungsaussichten maßgeblich durch das Ermittlungsverfahren bestimmt werden.307 Bei genauerer Betrachtung des Maßstabs des EGMR stellt sich die Frage, wel­ ches strafprozessuale System derart konsequent zwischen Ermittlungsverfahren und Hauptverhandlung trennt, dass die im Ermittlungsverfahren gesammelten Be­ weise den Angeklagten nicht erheblich präjudizieren. Dementsprechend geht der EGMR auch davon aus, dass sich der Angeklagte im Ermittlungsverfahren regel­ mäßig in einer schutzbedürftigen Lage befindet, die nur durch den Beistand eines

301

Vgl. früher dazu: EKMR, Entscheidung v. 11.12.1976 – 7641/76, X. u. Y. ./. DE, S. 5. EGMR, Urteil v. 13.9.2016 – 50541/08 u. a., Ibrahim u. a. ./. GB, Rep. 2016 (vorgesehen), Rn. 253; Urteil v. 20.10.2015 – 25703/11, Dvorski ./. HR, Rep. 2015-VI, Rn. 76; Entscheidung v. 12.10.2004 – 16743/03, Beale ./. GB, S. 4; vgl. ähnlich ebenso Urteil v. 20.6.2002 – 27715/95 u. 30209/96, Berlinski ./. PL, Rn. 75; Urteil v. 24.11.1993 – 13972/88, Imbrioscia ./. CH, Rep. Serie A, Nr. 275 Rn. 36. 303 Zust. Trechsel / Summers, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 250 f. 304 EGMR, Urteil v. 13.9.2016 – 50541/08 u. a., Ibrahim u. a. ./. GB, Rep. 2016 (vorgesehen), Rn. 253; Urteil v. 24.11.1993 – 13972/88, Imbrioscia ./. CH, Rep. Serie A, Nr. 275 Rn. 38. 305 Z. B. wenn dem Angeklagten nach Festnahme keinerlei Kontaktaufnahme zu Verwandten oder Freunden gestattet wird, EGMR, Urteil v. 1.4.2010 – 42371/02, Pavlenko ./. RU, Rn. 106. 306 EGMR, Urteil v. 13.9.2016  – 50541/08 u. a., Ibrahim u. a. ./. GB, Rep. 2016 (vorgese­ hen), Rn. 253; Urteil v. 20.10.2015 – 25703/11, Dvorski ./. HR, Rep. 2015-VI, Rn. 77; Urteil v. 27.11.2008 – 36391/02, Salduz ./. TR, Rep. 2008-V, Rn. 52, 54. 307 EGMR, Urteil v. 27.11.2008 – 36391/02, Salduz ./. TR, Rep. 2008-V, Rn. 52, 54; wie­ derholt in Urteil v. 13.9.2016 – 50541/08 u. a., Ibrahim u. a. ./. GB, Rep. 2016 (vorgesehen), Rn. 253; dies ist jedoch abhängig von den Eigenheiten der jeweiligen Verfahrensordnung und den Umständen des jeweiligen Einzelfalls, so grundlegend in Urteil v. 24.11.1993 – 13972/88, Imbrioscia ./. CH, Rep. Serie A, Nr. 275 Rn. 38. 302

A. Die Konzeption der EMRK

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Verteidigers kompensiert werden kann.308 Grundsätzlich sei daher die (staatlich getragene) Verteidigung des Angeklagten rechtzeitig im Ermittlungsverfahren zu gewährleisten,309 regelmäßig bereits ab der ersten Vernehmung durch die Poli­ zei310 oder ab dem Zeitpunkt der vorläufigen Festnahme.311 Durch dieses Regel-­ Ausnahme-Verhältnis wird Verteidigung frühestmöglich im Ermittlungsverfahren festgeschrieben. Dafür hat der EGMR jedoch einen umständlichen Weg gewählt, indem er wiederum eine Gesamtabwägung der Einzelfallumstände einem zwin­ genden Gebot vorgezogen hat. Verteidigung und der Zugang zu wesentlichen Par­ tizipationsrechten ist in diesem Verfahrensstadium jedenfalls so elementar, dass es einer derartigen Abwägung nicht bedarf. Das Ermittlungsverfahren ist grund­ sätzlich als Vorbereitung der späteren Hauptverhandlung konzipiert. Werden dem Angeklagten in diesem Stadium weder eigene Informations- und Fragerechte noch Rahmenbedingungen für seine Verteidigung zugestanden, ist nicht ersichtlich, wie er erst ab Anklage dieses Teilhabedefizit noch ausgleichen können soll. Der EGMR hätte insoweit wirkungsvoller und rechtssicherer durch eine zwingendere Festschreibung die Geltung der Verteidigungsrechte bereits im Ermittlungsver­ fahren sicherstellen können. Auch wenn in der Definition der „Anklage“ nicht deutlich angelegt, endet die­ ser Verfahrensabschnitt mit rechtskräftiger Entscheidung über den Tatvorwurf.312 Rechtsmittel,313 die Klärung einzelner Fragen vor den Verfassungsgerichten314 und die Neuverhandlung nach Aufhebung und Zurückverweisung eines strafrechtli­ chen Urteils315 sind folglich ebenso umfasst. Der Begriff der rechtskräftigen Ent­ scheidung ist weit. Dabei muss es sich nicht zwangsläufig um ein Urteil handeln. Taugliche Endpunkte einer strafrechtlichen Anklage i. S. v. Art. 6 Abs. 3 EMRK

308

EGMR, Urteil v. 1.4.2010 – 42371/02, Pavlenko ./. RU, Rn. 101; für die Vernehmung am Bsp. des dt. Rechts Bahns / Burkert / Guthke / Kitlikoglu u. a., Neuordnung der Pflichtverteidi­ gerbestellung, S. 6 f. 309 EGMR, Urteil v. 9.6.2016 – 2308/06, Saranchov ./. UA, Rn. 41 f., wenn die Fairness des Verfahrens es gebietet; Urteil v. 5.11.2015  – 36814/06, Chukayev ./. RU, Rn. 97; so impli­ zit Urteil v. 27.11.2008 – 36391/02, Salduz ./. TR, Rep. 2008-V, Rn. 54; Urteil v. 9.6.1998 – 42/1997/826/1032, Twalib ./. GR, Rep. 1998-IV, Rn. 55, 57; Urteil v. 12.1.2016 – 37537/13, Borg ./. MT, Rn. 56 f.; Urteil v. 11.7.2000 – 20869/92, Dikme ./. TU, Rep. 2000-VIII, Rn. 108; dies inzwischen als „common sense“ bezeichnend Esser, in: ders. / Günther u. a. (Hrsg.), FS H.-H. Kühne, S. 555. 310 Grundlegend EGMR, Urteil v. 27.11.2008 – 36391/02, Salduz ./. TR, Rep. 2008-V, Rn. 55. 311 EGMR, Urteil v. 9.4.2015 – 30460/13, A. T. ./. LU, Rn. 64; Urteil v. 13.10.2009 – 7377/03, Dayanan ./. TU, Rn. 32. 312 Grundlegend EGMR, Urteil v. 15.7.1982 – 8130/78, Eckle ./. DE, Rep. Serie A, Nr. 51 Rn. 77. 313 St. Rspr. EGMR, Urteil v. 26.7.2002  – 32911/96, Meftah u. a. ./. FR, Rep. 2002-VII, Rn. 40; Urteil v. 2.3.1987  – 9562/81 u. 9818/82, Monnell u. Morris ./. GB, Rep. Serie A, Nr. 115 Rn. 54; Urteil v. 15.7.1982 – 8130/78, Eckle ./. DE, Rep. Serie A, Nr. 51 Rn. 76; Urteil v. 27.6.1968 – 2122/64, Wemhoff ./. DE, Rep. Serie A, Nr. 7 Rn. 18. 314 EGMR, Urteil v. 25.2.2000 – 29375/95, Gast u. Popp ./. DE, Rep. 2000-II, Rn. 62 ff. 315 EGMR, Urteil v. 10.12.1982 – 8304/78, Corigliano ./. IT, Rep. Serie A, Nr. 57 Rn. 18 ff., 36.

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

können ebenso Einstellungsentscheidungen von anderen Behörden sein.316 Ist das Strafverfahren in diesem Sinne beendet, findet Art. 6 Abs. 3 EMRK auf danach folgende Maßnahmen keine Anwendung mehr. Das Verfahren der Strafvollstre­ ckung ebenso wie Maßnahmen im Strafvollzug sind vom EGMR grundsätzlich von den Garantien des Art. 6 Abs. 3 EMRK ausgenommen317 und unterstehen le­ diglich den Garantien von Art. 5 EMRK,318 mitunter auch Art. 6 Abs. 1 EMRK.319 b) Partizipatorische Ausgestaltung der Stellung des Angeklagten im Ermittlungsverfahren Die in Art. 6 Abs. 3 EMRK enthaltenen Teilhaberechte werden vorrangig über das Recht auf Verteidigungsbeistand und strafrechtliche Prozesskostenhilfe als Vehikel für den Angeklagten überhaupt erst zugänglich. Strafrechtliche Prozess­ kostenhilfe kann damit Tor zu diesen Mindestrechten sein, indem sie kostenlos Zugang zu einem rechtlichen Beistand („legal assistance“) schafft. Die EMRK enthält für die konkrete Auslegung dieses Begriffs ebenfalls nur Zielvorgaben,320 welche Elemente wirksamen und effektiven Beistand im Kon­ ventionssinne ausmachen. Nach dieser sog. „margin of appreciation“-Doktrin des EGMR ist es gleichgültig, wie die Mitgliedstaaten Vorgaben der EMRK umsetzen, solange sie sie konventionskonform umsetzen.321 Dieser Umsetzungsspielraum ist dabei umso größer, je weniger vereinheitlicht die Regelungen der Konventions­ staaten sind.322 Je umfangreicher die margin of appreciation wiederum ist, umso

316 Vgl. so jeweils zu Art. 4 ZP VIII EMRK: EGMR, Urteil v. 4.3.2014  – 18640/10 u. a., Grande Stevens u. a. ./. IT, Rn. 101, 222; Urteil v. 16.6.2009 – 13079/03, Ruotsalainen ./. FI, Rn. 41 ff.; Urteil v. 23.10.1995 – 15963/90, Gradinger ./. AT, Rep. Serie A, Nr. 328C Rn. 55. 317 EGMR, Urteil v. 17.9.2009  – 74912/01, Enea ./. IT, Rep. 2009-IV, Rn. 97; Urteil v. 30.10.2003  – 41576/98, Ganci ./. IT, Rep. 2003-XI, Rn. 22; Entscheidung v. 13.5.2003  – 59290/00, Montcornet de Caumont ./. FR, Rep. 2003-VII, S. 5; zust. Gollwitzer, Menschen­ rechte im Strafverfahren, Art. 6 EMRK Rn. 41. 318 Vgl. Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK i. V. m. Art. 5 Abs. 4 EMRK, m. w. N. Karpenstein / Mayer-​ Elberling, EMRK, Art. 5 Rn. 29. 319 EGMR, Urteil v. 30.10.2003 – 41576/98, Ganci ./. IT, Rep. 2003-XI, Rn. 22 ff. 320 Dazu bereits o. im Rahmen der margin-of-appreciation-Doktrin, Kap. 2, Fn. 87. 321 Zu Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK im Speziellen vgl. EGMR, Urteil v. 6.10.2016 – 37364/05, Jemeljanovs ./. LV, Rn. 80; Urteil v. 24.9.2009 – 7025/04, Pishchalnikov ./. RU, Rn. 66; Urteil v. 10.8.2006 – 54784/00, Padalov ./. BG, Rn. 51; Urteil v. 28.10.1994 – 18711/91, Boner ./. GB, Rep. Serie A, Nr. 300B Rn. 43; Urteil v. 28.10.1994 – 18949/91, Maxwell ./. GB, Rep. Serie A, Nr. 300C Rn. 40; Urteil v. 12.2.1985 – 9024/80, Colozza ./. IT, Rep. Serie A, Nr. 89 Rn. 30; in­ sofern sei dieser Grundsatz dazu bestimmt, die nationalen Behörden und Gerichte als Wächter für die Menschenrechte zu installieren, so Spielmann, CLP 67 (2014), 53, 57. 322 S. EGMR, Urteil v. 11.7.2002  – 28975/95, Christine Goodwin ./. GB, Rep. 2002-VI, Rn. 85; insofern ist der EGMR jedoch gerade bei Fragen divergierender moralischer Standards strenger, vgl. dazu m. w. N. Reid, A Practitioner’s Guide to the European Convention on H ­ uman Rights, Rn. 3–004.

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größer ist die Darlegungslast des Beschwerdeführers, dass ein Konventionsstaat außerhalb jenes Spielraums gehandelt hat.323 Davon ausgehend haben die Konventionsstaaten einen weiten Umsetzungsspiel­ raum bei der Gewährleistung strafrechtlicher Prozesskostenhilfe.324 Jeder Konven­ tionsstaat hat diese anders gesetzlich ausgestaltet,325 manche sogar mit Verfassungs­ rang.326 In den bestehenden Regelungen sind zudem die Details divergent geregelt: Einige sehen die Berücksichtigung der Bedürftigkeit des Angeklagten vor, andere dagegen betrachten nur das Rechtspflegeinteresse.327 Ebenso variiert, wer staatlich getragene Verteidigung leisten darf, also ob dies Rechtsanwälten328 vorbehalten ist oder auch anderweitig juristisch qualifiziertem Personal übertragen werden darf.329 In manchen Ländern hat der Angeklagte kein Wahlrecht bezüglich der Person des Pflichtverteidigers330 und ebenso wenig einen Anspruch auf Zugang zu einem kos­ 323 Vgl. ebenso Schlüter, AVR 54 (2016), 45; anders Legg, The Margin of Appreciation in International Human Rights Law, S. 121 ff., der nicht nur nach Umfang der Staatenpraxis dif­ ferenziert, sondern auch danach, ob die Staatenpraxis für oder gegen den Beschwerdeführer spricht. 324 Ebenso allg. für den Grundsatz des fairen Verfahrens, vgl. Hodgson, NCLR 14 (2011), 613; Spronken / Vermeulen / Vocht / van Puyenbroeck, EU Procedural Rights in Criminal Pro­ ceedings, S. 109. 325 Vgl. m. w. N. Hodgson, in: Mitsilegas / Bergström / Konstadinides (Hrsg.), Research Hand­ book on EU Criminal Law, S. 172 ff.; vgl. ebenso die Übersicht in Spronken / Vermeulen / ​ Vocht / van Puyenbroeck, EU Procedural Rights in Criminal Proceedings, S. 78 ff. 326 Vgl. so z. B. in den Niederlanden in Art. 18 Abs. 2 der niederländischen Verfassung, vgl. zur englischen Übersetzung Hardt / Heringa, Sources of Constitutional Law, S. 131; in Deutsch­ land über die Rechtsweggarantie in Art. 19 Abs. 4 GG, vgl. m. w. N. Maunz / Dürig-SchmidtAßmann, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 242; in Österreich gilt das Recht auf Prozesskostenhilfe über die EMRK in Verfassungsrang, vgl. dazu Goerlich, in: Esser / Harich u. a. (Hrsg.), Die Bedeu­ tung der EMRK für die nationale Rechtsordnung, S. 110 ff.; in Italien gem. Art. 24 Abs. 3 der italienischen Verfassung, vgl. Varano / Luca, GJ 7 (2007), 18; ebenso in der spanischen und polnischen Verfassung, vgl. Petrescu, Acta Juridica Hungarica 55 (2014), 63; zu einem Über­ blick vgl. Barendrecht / Kistemaker / Scholten / Schrader u. a., Legal Aid in Europe, 2014, S. 29; vgl. ebenso die Übersicht in Meyer-Eser, GRCh, Art. 47 Rn. 38a. 327 In Italien z. B. findet eine summenmäßig genau bestimmte Bedürftigkeitsprüfung statt, vgl. Varano / Luca, GJ 7 (2007), 19; in England dagegen kommt es – im Rahmen der Verteidi­ gung im Prozess – nur auf Rechtspflegeinteressen an, anders als in Frankreich und Belgien, vgl. Gibens / van Houtte, Sociologia del Diritto 38 (2011), 93 f. 328 Vgl. so für England und Wales, in denen staatlich getragene Verteidigung nur über solicitors oder barristers geleistet wird, m. w. N. Plekksepp, Die gleichmäßige Gewährleistung des Rechts auf Verteidigerbeistand, S. 294 ff. 329 So z. B. auch – in beschränkten Fällen – in Deutschland Juristen im Assessordienst oder Hochschullehrer, vgl. §§ 142 Abs. 2, 138 Abs. 1 StPO, KK-Laufhütte, StPO, § 142 Rn. 2 f., 6; oder in Finnland andere Personen, die jedenfalls die akademisch juristische Ausbildung ab­ geschlossen haben, vgl. dazu Plekksepp, Die gleichmäßige Gewährleistung des Rechts auf Verteidigerbeistand, S. 297 f. 330 Vgl. so in Estland, Plekksepp, Die gleichmäßige Gewährleistung des Rechts auf Vertei­ digerbeistand, S. 298; in Finnland dagegen ist ein Wahlrecht anerkannt, vgl. S. 297; ebenso in Deutschland, vgl. § 142 Abs. 1 S. 2 StPO; in Italien kann der Angeklagte nur von einer fest­ stehenden Liste von Anwälten wählen, vgl. Varano / Luca, GJ 7 (2007), 20. 

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

tenlosen Verteidiger im Ermittlungsverfahren.331 Auch wer den Pflichtverteidiger bestellt – ob eine gesonderte Kommission332 oder ein Richter333 – unterscheidet sich. In manchen Konventionsstaaten ist staatlich getragene Verteidigung zudem in Bagatellfällen ausgeschlossen.334 Ausgehend von diesem weiten Spielraum kann der Beistandsbegriff von Art. 6 Abs. 3 lit.  c EMRK im Folgenden nur im Hinblick auf Ergebnisse formuliert werden, nicht jedoch im Hinblick auf die  – den Mitgliedstaaten freistehende  – Umsetzungsweise. aa) Partizipationsrechte des Beistands in strafprozessualen Zwangssituationen als vermittelte Teilhabe für den Angeklagten Der Beistand im Rahmen strafrechtlicher Prozesskostenhilfe soll dem Ange­ klagten Teilhabe an seinem Strafverfahren und effektive Verteidigung vermitteln. Daher genügt es nicht, einem Angeklagten einen Verteidiger nur formal beizuord­ nen.335 Dies folgt zunächst aus dem Wortlaut („assistance“/„assisté“), der bereits ein aktives Unterstützen voraussetzt.336 Ebenso folgt dies aus dem teleologischen Ansatz des Menschenrechtsschutzes der EMRK: Die Auslegung der Rechte der EMRK als nicht rein theoretische, sondern effektive und wirksame Rechte337 verlangt eine über die formale Bestellung hinausgehende, aktive Rolle des Bei­ stands.338 Anderenfalls wäre das Recht auf staatlich finanzierten Rechtsbeistand

331

Vgl. m. w. N. Spronken, EuCLR 2011, 226; in Spanien jedenfalls ab Vollzug der Unter­ suchungshaft und bei Anhörung vor dem Haftrichter, vgl. Díez-Ripollés / Guerra-Pérez, Eur. J. Crime Crim. L. & Crim. Just. 18 (2010), 377; in England dagegen jederzeit, bei leichten De­ likten umfasst Prozesskostenhilfe jedoch ggf. nur telefonische Rechtsberatung, vgl. Hodgson, Contemp. Readings L. & Soc. Just. 7 (2015), 9. 332 So in Belgien, vgl. Gibens / van Houtte, Sociologia del Diritto 38 (2011), 98 f.; vgl. dazu auch Art. 508/2 des belgischen Code Judiciaire. 333 So in Italien, vgl. Varano / Luca, GJ 7 (2007), 19 und in Deutschland, § 141 StPO. 334 Vgl. für die Ausnahmen in Frankreich, Irland, den Niederlanden und Finnland Barendrecht / Kistemaker / Scholten / Schrader u. a., Legal Aid in Europe, 2014, S. 30. 335 Vgl. EGMR, Urteil v. 12.5.2005 – 46221/99, Öcalan ./. TU, Rep. 2005-IV, Rn. 135 be­ züglich Zugangshindernissen zwischen Mandant und Rechtsanwalt; Urteil v. 14.1.2003  – 26891/95, Lagerblom ./. SE, Rn. 56 ff.; Urteil v. 19.12.1989 – 9783/82, Kamasinski ./. AT, Rep. Serie A, Nr. 168 Rn. 65; Urteil v. 13.5.1980 – 6694/74, Artico ./. IT, Rep. Serie A, Nr. 37 Rn. 33. 336 EGMR, Urteil v. 26.7.2011  – 35485/05 u. a., Huseyn u. a. ./. AZ, Rn. 180; Urteil v. 13.5.1980 – 6694/74, Artico ./. IT, Rep. Serie A, Nr. 37 Rn. 33. 337 Vgl. o. bereits Kap. 2, Fn. 148. 338 Insofern genügt die rein formale Beiordnung nicht, vgl. EGMR, Urteil v. 10.4.2012  – 8088/05, Gabrielyan ./. AM, Rn. 65; Urteil v. 1.4.2010 – 42371/02, Pavlenko ./. RU, Rn. 99; Urteil v. 10.10.2002 – 38830/97, Czekalla ./. PT, Rep. 2002-VIII, Rn. 60; Urteil v. 13.5.1980 – 6694/74, Artico ./. IT, Rep. Serie A, Nr. 37 Rn. 33; zust., jedoch kein Recht auf „optimale“ staatlich bezahlte Verteidigung sehend: Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 575 ff.; ebenso zust. Schabas, The European Convention on Human Rights, S. 311.

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in Strafsachen wirkungslos und würde seinen Zweck verfehlen, gleichberechtige Teilhabe auch für bedürftige Angeklagte sicherzustellen.339 (1) Partizipationsrechte in allen wesentlichen Verfahrenssituationen Grundsätzlich soll der gem. Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK im Rahmen strafrecht­ licher Prozesskostenhilfe bestellte Verteidiger alle Möglichkeiten haben, die Ver­ teidigungsrechte des Angeklagten zu sichern. In den Worten des EGMR: „In this regard, counsel has to be able to secure without restriction the fundamental aspects of that person’s defence: discussion of the case, organisation of the defence, collection of evidence favourable to the accused, preparation for questioning, support of an accused in distress and checking of the conditions of detention.“340

Um diese grundlegenden Aspekte der Verteidigung eines Angeklagten wahr­ nehmen zu können, muss der Verteidiger nicht nur grundsätzlich partizipations­ befugt sein, sondern zusätzlich auch in allen wesentlichen Verfahrenssituationen tatsächlich anwesend sein dürfen. Denn während die Organisation und Konzep­ tion der Verteidigung, die Vorbereitung von Vernehmungen und die eigenständige Sammlung von Beweisen das Agieren des Rechtsanwalts im Hintergrund betreffen, verlangt die Unterstützung des Angeklagten („support of an accused in distress“)341 vielmehr, dass der Verteidiger über diese Hintergrundtätigkeiten hinaus bei gegen den Angeklagten gerichteten Zwangsmaßnahmen anwesend sein muss, um ihn in dieser Situation effektiv zu unterstützen. Wenngleich so ausdrücklich nicht formuliert, folgt dies aus der Zweckrichtung von Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK, über einen Verteidiger die Selbstbelastungsfreiheit des Angeklagten abzusichern. Das Herzstück eines fairen Verfahrens ist das Recht des Angeklagten, schweigen zu dürfen und sich nicht selbst belasten zu müssen.342 Der prompte Zugang zu einem Verteidiger soll davor schützen, Opfer von Zwang oder Misshandlung zu werden, und ein prozessuales Gegengewicht zu der Exper­ tise und den Möglichkeiten der Strafverfolgungsbehörden bilden.343 Dafür ist die 339

EGMR, Urteil v. 13.5.1980 – 6694/74, Artico ./. IT, Rep. Serie A, Nr. 37 Rn. 33. EGMR, Urteil v. 13.10.2009 – 7377/03, Dayanan ./. TU, Rn. 32; dies aufgreifend Urteil v. 20.10.2015 – 25703/11, Dvorski ./. HR, Rep. 2015-VI, Rn. 78 a. E. 341 Ebd. 342 St. Rspr., EGMR, Urteil v. 13.9.2016 – 50541/08 u. a., Ibrahim u. a. ./. GB, Rep. 2016 (vor­ gesehen), Rn. 266; Urteil v. 14.10.2010 – 1466/07, Brusco ./. FR, Rn. 44; Urteil v. 10.3.2009 – 4378/02, Bykov ./. RU, Rn. 92; Urteil v. 11.12.2008 – 4268/04, Panovits ./. CY, Rn. 65 f.; Urteil v. 11.7.2006 – 54810/00, Jalloh ./. DE, Rep. 2006-IX, Rn. 100; Urteil v. 5.11.2002 – 48539/99, Allan ./. GB, Rep. 2002-IX, Rn. 44; Urteil v. 8.2.1996 – 18731/91, John Murray ./. GB, Rep. 1996-I, Rn. 45. 343 St. Rspr. EGMR, Urteil v. 13.9.2016  – 50541/08 u. a., Ibrahim u. a. ./. GB, Rep. 2016 (vorgesehen), Rn. 255 f.; Urteil v. 1.4.2010 – 42371/02, Pavlenko ./. RU, Rn. 100 f.; Urteil v. 24.9.2009 – 7025/04, Pishchalnikov ./. RU, Rn. 68 f.; Urteil v. 27.11.2008 – 36391/02, Salduz ./. TR, Rep. 2008-V, Rn. 53 f.; Urteil v. 11.12.2008 – 4268/04, Panovits ./. CY, Rn. 65; Urteil v. 340

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

Anwesenheit eines Verteidigers vor allem in Vernehmungssituationen essentiell, in denen der Angeklagte am ehesten Gefahr läuft, sich selbst zu belasten. Da­ her verlangt der EGMR zurecht, dass ein Verteidiger grundsätzlich ab der ersten polizeilichen Vernehmung zugegen sein muss.344 Im Einzelfall kann davon zwar aus gewichtigen Gründen abgewichen werden.345 Dann trifft den Staat aber umso mehr die Pflicht, den Angeklagten über seine Selbstbelastungsfreiheit ausreichend aufzuklären.346 Der EGMR verbietet darüber hinaus sogar vorherige „informelle Befragungen“ einer Person, die vermeintlich andere Themen als die Tat betreffen, weil er jedwedes Gespräch zwischen staatlichen Behörden und einem Angeklagten als formellen Kontakt i. S. e. Vernehmung ansieht.347 In Vernehmungen allein dem Angeklagten beizustehen, deckt jedoch nur einen kleinen Bereich notwendiger anwaltlicher Tätigkeit ab. Auch in anderen prozes­ sualen Situationen, wie bei körperlichen Untersuchungen, Durchsuchungen und Gegenüberstellungen u. a., ist die Selbstbelastungsfreiheit, wenn auch geringfügi­ ger bedroht.348 Selbst wenn nicht die Vernehmung des Angeklagten zum Tatvor­ wurf im Vordergrund steht, verfestigen andere Verfahrenssituationen ebenso die Übermacht und Expertise der Strafverfolgungsbehörden gegenüber dem zumeist unerfahrenen Angeklagten. Ihm ist oft aus eigener Kraft nicht möglich, die Ver­ fahrensmäßigkeit der vorgenommenen Maßnahmen zu überprüfen, möglicher­ weise anzugreifen und zugleich seine eigenen Rechte zu kennen und diese wirk­ sam wahrzunehmen. Um zu verhindern, dass der Angeklagte so übervorteilt wird, ist der Beistand eines Verteidigers essenziell. Ist der Verteidiger zunächst in allen neuralgischen Verfahrenssituationen anwesend, kann er die Selbstbelastungsfrei­ heit des Angeklagten nur wirksam schützen, wenn er aktiv die Einhaltung der Verteidigungsrechte gegenüber den Strafverfolgungsbehörden einfordern kann. Ein Verteidiger, der nur anwesend sein, aber nichts sagen darf, kann seiner für ihn vorgesehenen Korrektivrolle im Strafverfahren349 nicht gerecht werden. Er muss folglich auch selbst befragen, widersprechen, Einsicht nehmen können müssen – 5.11.2002 – 48539/99, Allan ./. GB, Rep. 2002-IX, Rn. 44; Urteil v. 3.5.2001 – 31827/96, J. B. ./. CH, Rep. 2001-III, Rn. 64; Urteil v. 17.12.1996 – 19187/91, Saunders ./. GB, Rep. 1996-IV, Rn. 68; zust. Ginter / Soo, Juridica Int’l 19 (2012), 174. 344 M. w. N. siehe o. Kap. 2 A. III. 2. a). 345 Vgl. zu den möglichen Beschränkungen u. Kap. 2 A. III. 2. c). 346 Teilweise abl. Ansicht der Richter Sajò u. a. v. 12.5.2017 – 21980/04, Simeonovi ./. BG, S. 48; EGMR, Urteil v. 24.10.2013  – 62880/11 u. a., Navone u. a. ./. MC, Rn. 74; Urteil v. 27.10.2011 – 25303/08, Stojkovic ./. FR u. BE, Rn. 54; Urteil v. 11.12.2008 – 4268/04, Panovits ./. CY, Rn. 72 f. 347 EGMR, Urteil v. 20.9.2012 – 31720/02, Titarenko ./. UA, Rn. 87. 348 In diesem Sinne Ginter / Soo, Juridica Int’l 19 (2012), 176 f.; zu den Möglichkeiten der Einschränkung vgl. u. Kap. 2 A. III. 2. c). 349 EKMR, Entscheidung v. 8.7.1978  – 7572/76, Ensslin, Baader u. Raspe ./. DE, Rn. 20 („watchdog of procedural regularity“); zust. Soo, Juridica Int’l 23 (2015), 124; Ginter / dies., Juridica Int’l 19 (2012), 174; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 256, 504, 802; Trechsel / Summers, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 245; Stavros, Guarantees for Accused Person under Article 6 ECHR, S. 202; ders., Int’l & Comp. L. Q. 41 (1992), 355.

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kurzum: als tatsächlicher Vermittler der Teilhaberechte des Angeklagten eingesetzt sein, um ein Gegengewicht zur Expertise und zu den Handlungsmöglichkeiten der Strafverfolgungsbehörden bilden zu können.350 Zusammen betrachtet folgt aus der Korrektiv- und Schutzfunktion des Ver­ teidigers, dass dieser grundsätzlich bei strafprozessualen Zwangsmaßnahmen anwesend sein muss, um den Angeklagten effektiv zu verteidigen. Seinen Auf­ gaben könnte der Verteidiger nicht ausreichend nachkommen, wenn seine Anwe­ senheit nur auf Vernehmungen beschränkt würde, er aber bei Durchsuchungen, medizinischen Untersuchungen und anderen Maßnahmen nicht zugegen sein darf. Insofern ist die Teilhabe des Angeklagten über den Verteidiger in grund­ sätzlich jeder Ermittlungssituation zu sichern. Die EMRK wählt damit einen Weg, der die Akteursstellung des Angeklagten, vermittelt über seinen Beistand, betont und für ihn Schutzmechanismen zur Wahrung seiner Verteidigungsrechte etabliert. Dadurch wird erkannt, dass das Ermittlungsverfahren grundsätzlich den Weg für die spätere Hauptverhandlung und das darauf basierende Urteil bahnt. Die Stellung des Angeklagten so früh abzusichern, entspricht der herausge­ hobenen Stellung des Ermittlungsverfahrens und dem Gedanken, den Angeklagten zu jedem Zeitpunkt des Verfahrens als Prozesssubjekt ernst zu nehmen. In Strafverfahren müssen die Interessen des Angeklagten an einem prozess­ ordnungsgemäßen Verfahren gegenüber dem vorrangigen Ziel, der Ermittlung der materiellen Wahrheit, beachtet werden.351 Insofern ist nicht unumstritten, das Recht auf Zugang zu einem – staatlich getragenen – Rechtsbeistand derart früh und bei grundsätzlich allen für die Selbstbelastungsfreiheit des Angeklagten kritischen Verfahrenssituationen ansetzen zu lassen. Denn ein frühzeitig anwaltlich bera­ tener Angeklagte mache zumeist von seinem Schweigerecht Gebrauch und stehe so als „Beweismittel“ nicht mehr zur Verfügung.352 Frühzeitiger Rechtsbeistand hat aber nicht als Ziel, Wahrheitsermittlung zu behindern oder zu gar zu vereiteln. Insbesondere Rechtsanwälte als Rechtsbeistände sind aufgrund ihrer Doppelstel­ lung353 als einerseits Fürsprecher für den Angeklagten und andererseits als Organ 350

Zu diesem Aspekt der Waffengleichheit Ginter / Soo, Juridica Int’l 19 (2012), 174; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 256, 504; Trechsel / Summers, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 245 („technical aspect“). 351 Vgl. zu diesem Balanceakt: EGMR, Urteil v. 13.9.2016 – 50541/08 u. a., Ibrahim u. a. ./. GB, Rep. 2016 (vorgesehen), Rn. 252; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 1; Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 1 Rn. 2; davon ausgehend, dass Wahrheitsermittlung und Freiheits­ rechtsgewährung immer auf Kosten der jeweils anderen Position erfolgen müssen, m. w. N. Kotsoglou, JZ 72 (2017), 127 ff. 352 Vgl. dazu auch Ransiek, Die Rechte des Beschuldigten in der Polizeivernehmung, S. 71 f.; zu diesem Einwand in der US-amerikanischen Diskussion Weisselberg, B. U. L. Rev. 97 (2017), 1270; grundlegend dazu, in welcher Hinsicht der Beschuldigte teils doch als (subjektives) Beweismittel fungieren muss: Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, S. 31 ff. 353 BGHSt 12, 367 (369); Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 524; vgl. m. w. N. Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht., § 19 Rn. 3 ff.; BeckHB-Roxin, RA, § 53 Rn. 40 ff.

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

der Rechtspflege wesentlicher Bestandteil eines funktionsfähigen Justizapparates und damit auch Teil der materiellen Wahrheitsfindung. Dem Verteidiger obliegt in seiner Rolle als Fürsprecher für den Angeklagten lediglich, dessen Rechte zu schützen und zu verwirklichen.354 Die Wahrheitsermittlung ist in dieser Hinsicht von vornherein nicht grenzenlos möglich, sondern bewegt sich in den durch diese Prozessgrundsätze, und gerade auch durch die Selbstbelastungsfreiheit des Angeklagten, gezogenen Grenzen.355 Dass diese eingehalten werden – und insoweit der Verteidiger daran mitwirkt, ist kein Störfaktor der Wahrheitsfindung, sondern soll Fehler im Ermittlungsverfahren verhindern, und damit zugleich vermeiden, dass sich durch fehlerhafte Geständ­ nisse und Prozesshandlungen, Pseudoüberzeugungen etablieren, Missverständ­ nisse entstehen oder später unverwertbare Beweise gewonnen werden.356 Dass der Angeklagte von seinem Schweigerecht dann gegebenenfalls öfter Gebrauch macht als ohne Verteidiger, ist in der Konzeption der Selbstbelastungsfreiheit genau so angelegt – und ihr Konflikt mit der Wahrheitsermittlung hingenommen.357 Eine frühere und umfangreichere Beiordnung eines Rechtsbeistands ist also kein stö­ render Einflussfaktor, sondern setzt die im Strafprozess bereits für die Wahrheits­ ermittlung angedachten Grenzen in die Realität des Strafverfahrens um. (2) Haftprüfungstermin als Sonderfall der Vernehmung Die Akteursstellung des Angeklagten wird im Fall der Untersuchungshaft über Art. 5 Abs. 4 EMRK bewirkt.358 Da Art. 5 Abs. 4 EMRK zwingend erfordert, dass der Angeklagte vor Anordnung der Untersuchungshaft angehört wird, und er in­ soweit Anspruch auf Verteidigungsbeistand und strafrechtliche Prozesskosten­ hilfe hat, müssen dem Angeklagten diese Rechte bereits zu diesem Zeitpunkt, im Haftprüfungstermin, und nicht erst ab Vollzug der Untersuchungshaft zustehen. Davon ausgehend muss dem Angeklagten bereits vor dem ersten Haftprüfungs­ termin, wenn der Angeklagte aufgrund des Haftbefehls vorläufig festgenommen 354

Vgl. bereits o. Kap. 2, Fn. 349. Vgl. dazu Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips aus verfassungsrechtlicher und straf­ prozessualer Sicht, S. 107 f., 112; m. w. N. Doege, Die Bedeutung des nemo-tenetur-Grundsat­ zes in nicht von Strafverfolgungsorganen geführten Befragungen, S. 62 f.; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 523; Ransiek, Die Rechte des Beschuldigten in der Polizeivernehmung, S. 84 f. („Bedingung, um Wahrheit zu ermitteln“); Weigend, ZStW 113 (2001), 293. 356 So auch st. Rspr. EGMR, Urteil v. 27.11.2008  – 36391/02, Salduz ./. TR, Rep. 2008V, Rn. 52; Urteil v. 11.7.2006  – 54810/00, Jalloh ./. DE, Rep. 2006-IX, Rn. 100; Urteil v. 17.12.1996 – 19187/91, Saunders ./. GB, Rep. 1996-IV, Rn. 68; zu den Vorteilen der Selbstbe­ lastungsfreiheit für die Wahrheitsfindung m. w. N. Doege, Die Bedeutung des nemo-teneturGrundsatzes in nicht von Strafverfolgungsorganen geführten Befragungen, S. 61. 357 Vgl. zu dieser Abwägung im dt. Recht BGHSt 31, 304 (309) (keine „Wahrheitserforschung um jeden Preis“); 14, 358 (365). 358 Vgl. o. Kap. 2 A. III. 1. a) bb). 355

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bzw. ergriffen wird, Rechtsbeistand und strafrechtliche Prozesskostenhilfe zu­ gänglich sein.359 Andernfalls wäre der Angeklagte zwischen dem Zeitpunkt der Ergreifung und dem Zeitpunkt der Vorführung nicht verteidigt bzw. könnte seine Verteidigung auf den Haftprüfungstermin nicht ausreichend vorbereiten. Dies gilt umso mehr, als der Angeklagte sich aus der Untersuchungshaft heraus kaum selbst verteidigen kann,360 insbesondere wenn einzelne Informationsrechte, wie z. B. die Akteneinsicht, (in vollem Umfang) nur einem verteidigten Angeklagten zustehen.361 Einen Verteidiger erst zum Vorführungstermin zu bestellen, würde zudem be­ deuten, diesen – entgegen den Anforderungen des EGMR – tatsächlich nur formell zu bestellen, weil ihm zeitlich gar nicht möglich war, eine materielle Verteidi­ gungsstrategie auszuarbeiten. Dies widerspricht jedoch dem Grundsatz der Waf­ fengleichheit, der gerade auch innerhalb von Art. 5 Abs. 4 EMRK Anwendung findet.362 Auch strafrechtliche Prozesskostenhilfe muss ab diesem Zeitpunkt uneinge­ schränkt zur Verfügung stehen. Das Rechtspflegeinteresse streitet grundsätzlich für eine Beiordnung, wenn Freiheitsentzug nicht nur in Aussicht steht, sondern im Rahmen der Untersuchungshaft bereits – trotz bestehender Unschuldsvermutung – vollzogen wird. Ebenso muss verhindert werden, dass im Fall eines solch schwer­ wiegenden Grundrechtseingriffs der bedürftige Angeklagte sich im Gegensatz zum vermögenden Angeklagten nicht eines Beistands bedienen und somit aus der Haft heraus seine Rechte gar nicht wahrnehmen kann. bb) Berücksichtigungspflicht bezüglich des vom Angeklagten benannten Beistands seines Vertrauens „Beistand“ beinhaltet auch, dass der Angeklagte diesen auswählen darf. Das wurde früher noch abgelehnt,363 insbesondere weil der französische Wortlaut von Art. 6 Abs. 3 lit.  c EMRK nahe legt, dass der Angeklagte entweder einen Verteidiger seiner Wahl beauftragen kann oder bei fehlenden Mitteln ihm ein – staatlich ausgesuchter  – „avocat d’office“ gestellt wird. Effektive Verteidigung kann jedoch besser durch einen vom Angeklagten ausgesuchten als ihm aufge­

359

So zur Salduz-Rspr. zust. Schlegel / Wohlers, StV 2012, 310. Vgl. ebenso Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 572, 574. 361 So z. B. die Regelung in § 147 Abs. 2 StPO; jedoch im Wege konventionskonformer Aus­ legung ein vollständiges Akteneinsichtsrecht fordernd NomosKomm-Meyer-Ladewig / Harrendorf, EMRK, Art. 6 Rn. 109; ebenso Pauly, StV 2010, 492 f.; a. A. Strafner, NStZ 2009, 165 f. 362 EGMR, Urteil v. 5.7.2016  – 50130/12, Bandur ./. HU, Rn. 79; Urteil v. 13.2.2001  – 23541/94, Garcia Alva ./. DE, Rn. 39; s. o. Kap. 2, Fn. 190, 193. 363 EGMR, Entscheidung v. 9.12.1999 – 38321/97, Erdem ./. DE, S. 7; EKMR, Entscheidung v. 17.7.1986 – 11255/84, F. ./. DE, S. 8. 360

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

zwungenen Rechtsanwalt geleistet werden.364 Nur so kann der Angeklagte auch durch die Auswahl der Person des Beistands über die konkrete Ausgestaltung sei­ ner Verteidigung – als Akteur des Strafverfahrens – bestimmen. Gerade gegenüber vom Staat bestellten Verteidigern ist der Angeklagte häufig misstrauisch, insbe­ sondere weil ihm durch die Instanz, die ihn strafrechtlich verfolgt, ein Verteidiger beigeordnet wird.365 Zutreffend ist deswegen inzwischen ein Wahlrecht des An­ geklagten anerkannt.366 Diese Annahme stützt auch der englische, ebenfalls ver­ bindliche Wortlaut von Art. 6 Abs. 3 EMRK. In dem Satz „to defend himself […] through legal assistance of his own choosing or, if he has not sufficient means to pay for legal assistance, to be given it free“ kann sich das „it“ in „to be given it free“ entweder auf „legal assistance“ allgemein oder auf das vorhergehende „legal assistance of his own choosing“ beziehen, also der gewählte Rechtsbeistand, den der Angeklagte mithilfe staatlicher Unterstützung kostenfrei erhalten soll. Diesem Wahlrecht steht jedoch keine absolute Berücksichtigungspflicht des Staates gegenüber. Der Staat darf – nach der Rechtsprechung des EGMR gerade im Rahmen strafrechtlicher Prozesskostenhilfe – aus ausreichenden und gewich­ tigen Gründen vom Wunsch des Angeklagten abweichen („relevant and sufficient grounds“).367 Solche Gründe liegen insbesondere dann vor, wenn der Staat nur so anderen Konventionspflichten nachkommen kann, also z. B. wenn sonst eine zügige und funktionstüchtige Strafrechtspflege gefährdet erscheint, z. B. weil ein ausdrücklich gewünschter Verteidiger nicht erreichbar ist bzw. nicht erscheint.368 Diese unbestimmten Rechtsbegriffe der „ausreichenden und gewichtigen Gründe“ sind grundsätzlich problematisch, weil sie dem Staat scheinbar weitreichende Mög­

364

EGMR, Urteil v. 20.10.2015 – 25703/11, Dvorski ./. HR, Rep. 2015-VI, Rn. 79; Urteil v. 6.10.2015 – 30582/04 u. 32152/04, Karpyuk u. a. ./. UA, Rn. 144; Urteil v. 3.7.2012 – 34806/04, X. ./. FI, Rep. 2012-IV, Rn. 183; Urteil v. 21.7.2011 – 44438/06, Breukhoven ./. CZ, Rn. 60; Urteil v. 26.4.2007 – 5953/02, Vozhigov ./. RU, Rn. 41; Urteil v. 13.7.2006 – 26853/04, Popov ./. RU, Rn. 171; Urteil v. 14.1.2003 – 26891/95, Lagerblom ./. SE, Rn. 54; grundlegend Urteil v. 25.9.1992 – 13611/88, Croissant ./. DE, Rep. Serie A, Nr. 237B Rn. 29. 365 Vgl. zu diesem Gedanken struktureller Befangenheit u. Kap. 4, Fn. 347. 366 EGMR, Urteil v. 20.10.2015 – 25703/11, Dvorski ./. HR, Rep. 2015-VI, Rn. 79; Urteil v. 6.10.2015 – 30582/04 u. 32152/04, Karpyuk u. a. ./. UA, Rn. 144; Urteil v. 3.7.2012 – 34806/04, X. ./. FI, Rep. 2012-IV, Rn. 183; Urteil v. 21.7.2011 – 44438/06, Breukhoven ./. CZ, Rn. 60; Urteil v. 26.4.2007 – 5953/02, Vozhigov ./. RU, Rn. 41; Urteil v. 13.7.2006 – 26853/04, Popov ./. RU, Rn. 171; Urteil v. 14.1.2003 – 26891/95, Lagerblom ./. SE, Rn. 54; grundlegend Urteil v. 25.9.1992 – 13611/88, Croissant ./. DE, Rep. Serie A, Nr. 237B Rn. 29; zust. Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 269 f.; Trechsel / Summers, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 277; diesbezüglich deutlicher für ein Wahlrecht Wohlers, in: Rogall / P uppe u. a. (Hrsg.), FS Ru­ dolphi, S. 726. 367 Vgl. EGMR, Urteil v. 6.10.2015 – 30582/04 u. 32152/04, Karpyuk u. a. ./. UA, Rn. 145; Urteil v. 25.9.1992 – 13611/88, Croissant ./. DE, Rep. Serie A, Nr. 237B Rn. 29; EKMR, Ent­ scheidung v. 21.5.1997 – 24588/94, Van Ulden ./. NL; zust. Schabas, The European Convention on Human Rights, S. 311; ebenso Epp / O’Brien, EHRLR 2001, 413 f.; Villiger, EMRK, Rn. 519. 368 Vgl. EGMR, Urteil v. 6.10.2015 – 30582/04 u. 32152/04, Karpyuk u. a. ./. UA, Rn. 144 f.; EKMR, Entscheidung v. 21.5.1997 – 24588/94, Van Ulden ./. NL.

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lichkeiten eröffnen, vom Wunsch des Angeklagten abzuweichen. Um dieses Wahl­ recht des Angeklagten nicht auf eine formale Position zu reduzieren, müssen diese Rechtsbegriffe als Ausnahmen grundsätzlich eng ausgelegt werden. Die Regel ist daher die Bestellung des vom Angeklagten gewünschten Beistands. Eine Abwei­ chung davon darf dem Staat nur unter ausreichender Begründung zulässig sein.369 c) Absicherung der Akteursstellung über ein wirksames Fehlerfolgenregime Strafrechtliche Prozesskostenhilfe ist – wie die anderen Verteidigungsrechte aus Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK – kein unbeschränktes Recht, auch wenn Art. 6 EMRK dem Wortlaut nach schrankenlos gewährleistet wird.370 Sie unterliegt konventions­ immanenten Schranken.371 Denn die Rechte in der EMRK sind gleichberechtigt normiert und können daher in mehrpolig grundrechtsrelevanten Sachverhalten miteinander in Konflikt stehen. In diesem Zusammenhang kann es erforderlich werden, Gefahren für Konventionsrechte auf der einen mit Beeinträchtigungen von Konventionsrechten auf der anderen Seite in bestmöglichen Ausgleich zu bringen. Der EGMR benutzt zwar nicht den Begriff der „praktischen Konkordanz“,372 geht in seiner Auslegung jedoch entsprechend vor.

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Gaede, Fairness als Teilhabe, 269 f.; Trechsel / Summers, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 277; daher ein Wahlrecht als Begriff abl. NomosKomm-Meyer-Ladewig /  Harrendorf, EMRK, Art. 6 Rn. 229; diesbezüglich deutlicher für ein Wahlrecht Wohlers, in: Rogall / P uppe u. a. (Hrsg.), FS Rudolphi, S. 726. 370 Vgl. dagegen Art. 8–12 EMRK; insofern findet Art. 18 EMRK auf Art. 6 EMRK keine Anwendung, EGMR, Urteil v. 23.2.2016 – 46632/13 u. a., Navalnyy u. Ofitserov ./. RU, Rn. 129; krit. Sondervotum der Richter Sajó, Tsotsoria u. Pinto de Albuquerque v. 21.6.2016 – 15256/05, Tchankotadze ./. GE, Rn. 5; offen dagegen zuletzt in EGMR, Urteil v. 16.11.2017 – 919/15, Ilgar Mammadov ./. AZ, Rn. 261; krit. LR-Esser, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 1 a. E. 371 Der Missbrauch der Rechte gem. Art. 17 EMRK ist auch theoretisch eine Schranke der Verteidigungsrechte hat aber bisher im Rahmen von Art. 6 EMRK keine wirkliche Bedeutung entfaltet, vgl. nur peripher dazu EGMR, Urteil v. 5.3.2013 – 61005/09, Varela Geis ./. ES, Rn. 40 und Urteil v. 1.7.1961 – 332/57, Lawless ./. EI, Rn. 7, m. w. N. zum Ausnahmecharakter von Art. 17 EMRK, vgl. Urteil v. 6.2.2011 – 34932/04, Paksas ./. LT, Rep. 2011-I, Rn. 87; m. w. N. dazu NomosKomm-Neidhart, EMRK, Art. 17 Rn. 2 ff.; Art. 17 EMRK hat bislang keine Be­ deutung im Streit um die sog. Konfliktverteidigung entfaltet, vgl. dazu Abdallah, Rechtsmiss­ brauch im Strafverfahren, passim; Fahl, Rechtsmißbrauch im Strafprozess, passim; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 671 f., 674 ff. Jahn, „Konfliktverteidigung“ und Inquisitionsmaxime, S. 38 ff., 49 ff., 61 ff.; Kudlich, Strafprozess und allgemeines Missbrauchsverbot, passim; krit. zur Anwendung im Rahmen von Art. 6 EMRK Stavros, Guarantees for Accused Person under Article 6 ECHR, S. 206; mit eigenem Definitionsversuch Trechsel / Summers, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 267 f.; gänzlich abl. bezgl. der Anwendung auf Art. 6 EMRK Villiger, EMRK, Rn. 703. 372 Vgl. zum Begriff der praktischen Konkordanz im deutschen Verfassungsrecht grund­ legend BVerfGE 89, 214 (232); Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 72, 317 ff.; der EuGH bringt dieses Modell dagegen seit kurzem wieder zur Anwendung, vgl. m. w. N. Kahl / Schwind, EuR 2014, 173 ff.

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

Die Schranken von Art. 6 EMRK richten sich nach den Besonderheiten der jeweiligen Garantie.373 Das gilt auch innerhalb der unterschiedlichen von Art. 6 Abs. 3 lit.  c EMRK gewährleisteten Rechte. Das Recht auf Eigenverteidigung, das Recht auf (gewählte)  Drittverteidigung, sowie das Recht auf im Wege der strafrechtlichen Prozesskostenhilfe getragene Verteidigung werden vom EGMR nach jeweils unterschiedlich strengen Maßstäben für einschränkbar erachtet. Für Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK ergeben sich daraus insgesamt vier mögliche Eingriffs­ szenarien: Die Beschränkung des Rechts auf Eigenverteidigung durch Beiordnung eines (Zwangs-)Verteidigers,374 die Beschränkung oder Verzögerung des Zugangs zu einem gewünschten Verteidiger, die Verweigerung der Verteidigung durch den persönlich gewählten Verteidiger sowie die Verweigerung strafrechtlicher Pro­ zesskostenhilfe an sich. Der Prüfung all dieser Konstellationen gemein ist jedoch, dass auf der ersten Ebene ein legitimer Grund für die Beschränkung und auf der zweiten Ebene die Gesamtfairness des Verfahrens zu prüfen ist. aa) Vortrag eines Grundes für die Beschränkung einer Gewährleistung aus Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK Auf der ersten Ebene bedarf es eines Grundes für den Eingriff. Die erforderli­ che Begründungsintensität ergibt sich aus der Wichtigkeit der eingeschränkten Ge­ währleistung und variiert dementsprechend innerhalb der Rechte von Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK. In dieser Betrachtung, ob ein zulässiger Grund für die Beschrän­ kung vorliegt, werden zugleich die Weichen für die Prüfung der Gesamtfairness des Verfahrens gestellt. Umso eher ausreichende legitimierende Gründe vorliegen, umso mehr muss der Angeklagte darlegen, dass das Verfahren für ihn insgesamt noch unfair war und vice versa. Die Illegitimität des Eingriffs wird grundsätzlich vermutet, wenn ein Konventionsstaat keinen den Begründungserfordernissen des EGMR genügenden Zweck des Eingriffs vortragen kann. (1) Beschränkung oder Verzögerung des Zugangs zu einem Verteidiger im Ermittlungsverfahren nur aus „zwingenden Gründen“ Der EGMR hat festgelegt, dass der Zugang zu einem Verteidiger nur aus „zwin­ genden Gründen“ („compelling reasons“) beschränkt oder verzögert werden

373

Vgl. ausführlich dazu Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 685 ff.; ebenso Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 18 Rn. 30 f.; vgl. z. B. zur Zulassung von rechtswidrig erlangten Beweismitteln EGMR, Urteil v. 3.3.2016 – 7215/10, Prade ./. DE, Rn. 32 ff.; und dagegen die Rechtfertigungs­ struktur bei Eingriffen in das Konfrontationsrecht gem. Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 lit.  d EMRK m. w. N. Urteil v. 15.12.2015 – 9154/10, Schatschaschwili ./. DE, Rep. 2015-VIII, Rn. 113 ff. m. Bspr. Thörnich, ZIS 2017, 42 ff. 374 Dazu s. bereits o. Kap. 2 A. II. 3. a).

A. Die Konzeption der EMRK

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darf.375 Erstmals in der Rechtssache Salduz geprägt,376 blieb seitdem ungeklärt, welche Gründe als „zwingend“ zu qualifizieren sind und wie das Fehlen zwingen­ der Gründe sich auf die Fairness des gesamten Verfahrens auswirken soll.377 Diese Klärung hat der EGMR nun in seiner Entscheidung Ibrahim u. a. vorgenommen. Zwingende Gründe liegen danach dann vor, wenn die Einschränkung der Vertei­ digungsrechte geeignet ist, konkrete Gefahren von anderen Konventionsrechten abzuwenden, und dieser Eingriff durch prozessuale Sicherungsmechanismen so geringfügig wie möglich gehalten wird.378 Dadurch nähert der EGMR die Prüfung der „zwingenden Gründe“ der in anderen Verfassungen und im Rahmen der GRCh üblichen Schrankenprüfung an und definiert den Voraussetzungen der Geeignet­ heit und Erforderlichkeit ähnliche Kriterien. (a) Konkrete Gefährdung von Leib, Leben oder persönlicher Freiheit anderer Menschen In Ibrahim u. a. hat der EGMR erstmals die in Salduz benannten „zwingenden Gründe“ konkretisiert. Erforderlich für die Annahme eines zwingenden Grunds ist die konkrete Bedrohung oder Gefährdung anderer Konventionsfreiheiten, für die die Konventionsstaaten ebenso schutzpflichtig sind. Damit hat der EGMR jeden­ falls einen „ordre public“-Vorbehalt für die Geltung der Verteidigungsrechte in Art. 6 Abs. 3 EMRK begründet, wenn sich der Staat im Konflikt der Gewährleis­ tung von essentiellen Verteidigungsrechten und seiner Schutzpflicht gegenüber den Konventionsrechten auf Freiheit, Leben und körperliche Unversehrtheit befindet.379 Der EGMR hat demgegenüber jedoch offengelassen, ob über diese Konventions­ freiheiten hinaus auch die Gefährdung anderer Konventionsfreiheiten geeignet ist, die Beschränkung des Zugangs zu einem Rechtsbeistand zu begründen.380 Sinn und Zweck dieser strengen Auslegung ist es, die Beschränkung des Rechts auf Zu­ gang zu einem Verteidiger nur ausnahmsweise zuzulassen. Nicht jeder Konflikt mit einer anderen Konventionsfreiheit kann folglich die Verteidigungsrechte des 375

St. Rspr. EGMR, Urteil v. 13.9.2016  – 50541/08 u. a., Ibrahim u. a. ./. GB, Rep. 2016 (vorgesehen), Rn. 256; Urteil v. 27.11.2008 – 36391/02, Salduz ./. TR, Rep. 2008-V, Rn. 55; zuvor noch ließ der EGMR die Beschränkung aus „good cause“ zu, vgl. Urteil v. 16.10.2001 – 39846/98, Brennan ./. GB, Rep. 2001-X, Rn. 45; Urteil v. 6.6.2000 – 28135/95, Magee ./. GB, Rep. 2000-VI, Rn. 41; grundlegend Urteil v. 8.2.1996 – 18731/91, John Murray ./. GB, Rep. 1996-I, Rn. 63. 376 EGMR, Urteil v. 27.11.2008 – 36391/02, Salduz ./. TR, Rep. 2008-V, Rn. 55. 377 Krit. zum unklaren Wortlaut der Entscheidung insgesamt Ginter / Soo, Juridica Int’l 19 (2012), 171 f. 378 Vgl. sogl. u. Kap. 2 A. III. 379 EGMR, Urteil v. 13.9.2016 – 50541/08 u. a., Ibrahim u. a. ./. GB, Rep. 2016 (vorgesehen), Rn. 259, 276 ff.; vgl. insgesamt zu diesem public-interest-Vorbehalt: Urteil v. 19.2.2009  – 3455/05, A. u. a. ./. GB, Rep. 2009-II, Rn. 205. 380 Vgl. EGMR, Urteil v. 13.9.2016 – 50541/08 u. a., Ibrahim u. a. ./. GB, Rep. 2016 (vorge­ sehen), Rn. 259.

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

Angeklagten aushebeln. Immerhin bedeutet der nur verzögerte Zugang zu einem Verteidiger, dass der Angeklagte sich allein verteidigen muss und sich ungeschützt einer Vernehmungssituation mit geschulten Strafverfolgungsbehörden gegenüber­ sieht. Diese Schutzlosigkeit darf folglich nur dann zulässigerweise herbeigeführt werden, wenn gewichtige Konventionsfreiheiten auf dem Spiel stehen. Im Fall Ibrahim u. a. erscheint es nicht zufällig, dass der EGMR den Maßstab gerade auf eine konkrete Gefährdung der grundlegenden Konventionsfreiheiten aus Art. 2, 3 und 5 EMRK beschränkte. In materieller Hinsicht sollten folglich nur konkrete Gefährdungen dieser Konventionsfreiheiten die Strafverfolgungs­behörden ermäch­ tigen, den Zugang zu einem Verteidiger zu beschränken. (b) Prozessuale Sicherungsmechanismen Die Beschränkung des Zugangs soll nur unter Einhaltung bestimmter Siche­ rungsmechanismen möglich sein. Daher verlangt der EGMR, dass eine solche Beschränkung nur in Ausnahmefällen, zeitlich vorübergehend und aufgrund einer individuellen Einschätzung der konkreten Umstände des Einzelfalls ge­ schehen darf.381 Die vom Konventionsstaat angeführten Gründe müssen sich auf konkrete einzelfallbezogene Umstände stützen lassen.382 Dadurch muss die avisierte Ver­zögerung des Zugangs noch einmal dahingehend geprüft werden, ob sie überhaupt notwendig ist und tatsächlich ein solcher Ausnahmefall vorliegt. Abstrakte Vermutungen oder allgemeine Befürchtungen reichen dafür nicht aus.383 Zugleich stellt diese Betrachtung sicher, dass Beschränkungen nur aus konkreten Erwägungen und nicht pauschal bei bestimmten schweren Delikten angeordnet werden dürfen. Denn unabhängig von der Natur der Verfehlung oder dem Inter­ esse an einer Bestrafung gelten die Garantien aus Art. 6 EMRK einheitlich, un­ abhängig davon, ob es sich um Delikte leichter, mittlerer oder schwerer Krimina­ lität handelt.384

381 EGMR, Urteil v. 13.9.2016 – 50541/08 u. a., Ibrahim u. a. ./. GB, Rep. 2016 (vorgesehen), Rn. 258; fortgeführt in Urteil v. 16.2.2017 – 40464/05, Artur Parkhomenko ./. UA, Rn. 75; Urteil v. 17.11.2016 – 8865/06, Loboda ./. UA, Rn. 34; Urteil v. 6.7.2017 – 21987/05, Sadkov ./. UA, Rn. 124; Urteil v. 10.11.2016 – 48016/06 u. 7817/07, Sitnevskiy u. Chaykovskiy ./. UA, Rn. 59. 382 EGMR, Urteil v. 13.9.2016 – 50541/08 u. a., Ibrahim u. a. ./. GB, Rep. 2016 (vorgesehen), Rn. 258; zust. zum allgemeinen Maßstab, jedoch krit. hinsichtlich der konkreten Würdigung Castorf, HRRS 2017, 172 f.; differenzierend Jahn, JuS 2017, 178 f. 383 Ebd. 384 Vgl. EGMR, Urteil v. 27.11.2008 – 36391/02, Salduz ./. TR, Rep. 2008-V, Rn. 54 („These principles are particularly called for in the case of serious charges.“); Urteil v. 9.6.1998  – 25829/94, Teixeira de Castro ./. PT, Rn. 36 (in Fällen organisierter Drogenkriminalität); Urteil v. 17.12.1996 – 19187/91, Saunders ./. GB, Rep. 1996-IV, Rn. 74 (bei Umfangsverfahren); zust. Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 707 ff.; ebenso Esser, in: ders. / Günther u. a. (Hrsg.), FS H.-H. Kühne, S. 541.

A. Die Konzeption der EMRK

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Den Eingriff zudem zeitlich auf das Nötigste zu beschränken, zwingt die Konventionsstaaten dazu, die mildeste Eingriffsform zu wählen. Um dies auch prozes­sual zu erreichen, muss die Beschränkung daher in solcher Art und Weise gesetzlich vorgeschrieben sein, dass die Ermittlungsbehörden durch die gesetz­ liche Regelung angeleitet werden.385 Den Konventionsstaaten steht somit zwar im Rahmen der Umsetzung ein erheblicher Spielraum zu. Von diesem müssen sie jedoch wegen der Wichtigkeit des Zugangs zu einem Verteidiger auf Ebene der Gesetzgebung Gebrauch machen. Der Exekutive, also den Ermittlungsbehörden, darf insoweit kein Spielraum verbleiben. Zum einen verbessert dies die spätere rechtliche Überprüfbarkeit, zum anderen wird dadurch grundsätzlich eine weitere Schutzebene für den Angeklagten eingezogen, indem der konkrete Handlungs­ spielraum der Strafverfolgungsbehörden wenigstens gesetzlich genau umschrie­ ben werden muss. Dadurch hat der EGMR jedenfalls theoretisch valide Sicherungsmechanismen etabliert. Diese können jedoch nur dann ihre Wirkung entfalten, wenn sie so streng ausgelegt werden, wie in der Theorie vorgegeben. Dies wird bislang vom EGMR selbst nur teilweise verwirklicht: Denn selbst wenn ein Konventionsstaat insoweit keine zwingenden Gründe vortragen kann, soll dies nicht unweigerlich zu einer Verletzung von Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK führen. Der EGMR stellt nur eine Ver­ mutung auf, dass regelmäßig das Verfahren als unfair zu gelten habe, wenn der Zugang zu einem Verteidiger ohne zwingende Gründe beschränkt wurde.386 Dies hat jedoch wenigstens eine Beweislastverschiebung zum Nachteil des Konventions­ staates zufolge: Kann er keine (plausiblen) zwingenden Gründe anführen, obliegt es ihm, zu beweisen, dass das Verfahren trotzdem fair war.387 Gleichwohl diese Entscheidung durch die Verschiebung der Argumentationslast zugunsten des Angeklagten bewirkt, dass dieser eher eine Verletzung von Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK vor dem EGMR geltend machen kann, ist das gänzliche Ab­ rücken von einer „bright-line rule“ bedauerlich. Eine solche wäre durchaus denkbar 385 Grundlegend EGMR, Urteil v. 13.9.2016 – 50541/08 u. a., Ibrahim u. a. ./. GB, Rep. 2016 (vorgesehen), Rn. 258; fortgeführt in Urteil v. 16.2.2017 – 40464/05, Artur Parkhomenko ./. UA, Rn. 75; Urteil v. 17.11.2016 – 8865/06, Loboda ./. UA, Rn. 34; Urteil v. 6.7.2017 – 21987/05, Sadkov ./. UA, Rn. 124. 386 Grundlegend EGMR, Urteil v. 13.9.2016 – 50541/08 u. a., Ibrahim u. a. ./. GB, Rep. 2016 (vorgesehen), Rn. 260, 262; arg e Urteil v. 27.11.2008 – 36391/02, Salduz ./. TR, Rep. 2008-V, Rn. 55; fortgeführt im Urteil v. 6.7.2017 – 21987/05, Sadkov ./. UA, Rn. 126; Urteil v. 16.2.2017 – 40464/05, Artur Parkhomenko ./. UA, Rn. 77; Urteil v. 17.11.2016 – 8865/06, Loboda ./. UA, Rn. 36; Urteil v. 10.11.2016 – 48016/06 u. 7817/07, Sitnevskiy u. Chaykovskiy ./. UA, Rn. 61; Urteil v. 27.4.2017 – 34015/07, Zherdev ./. UA, Rn. 137; Urteil v. 5.10.2017 – 22059/08, Kalēja ./. LT, Rn. 66; krit. und für eine bright-line-rule bei der vorsätzlichen Umgehung von Verteidi­ gungsrechten Castorf, HRRS 2017, 173. 387 EGMR, Urteil v. 13.9.2016 – 50541/08 u. a., Ibrahim u. a. ./. GB, Rep. 2016 (vorgesehen), Rn. 265; Urteil v. 6.7.2017 – 21987/05, Sadkov ./. UA, Rn. 126; Urteil v. 16.2.2017 – 40464/05, Artur Parkhomenko ./. UA, Rn. 77; Urteil v. 17.11.2016  – 8865/06, Loboda ./. UA, Rn. 36; Urteil v. 10.11.2016 – 48016/06 u. 7817/07, Sitnevskiy u. Chaykovskiy ./. UA, Rn. 61; Urteil v. 12.5.2017 – 21980/04, Simeonovi ./. BG, Rep. 2017 (vorgesehen), Rn. 118.

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

und angemessen in Fällen, in denen die Strafverfolgungsbehörden die Rechte des Angeklagten vorsätzlich umgehen – indem z. B. wider besseres Wissen die Beleh­ rung des Angeklagten über sein Recht auf einen Verteidigungsbeistand unterlas­ sen wird388 oder ihm suggeriert wird, dass ein staatlich getragener Beistand nicht zur Verfügung steht. Im Ergebnis wird bei solchen schweren Verstößen gegen die Verteidigungsrechte das Verfahren in der Regel auch als unfair im Rahmen der Gesamtbetrachtung des EGMR gelten, jedoch wäre die Formulierung eines klaren Verstoßes gegen Verteidigungsrechte bei deren vorsätzlicher Umgehung ein Signal für die Konventionsstaaten gewesen, die Rechte des Angeklagten im Ermittlungs­ verfahren grundsätzlich ernst zu nehmen. (2) Missachtung des Wunsches des Angeklagten bezüglich der Person des Verteidigers Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK gewährt dem Angeklagten Zugang zu einem Ver­ teidiger seiner Wahl („of his own choosing“). Der EGMR erlaubt die Beschrän­ kung des Wahlrechts des Angeklagten bereits, wenn wichtige und ausreichende Gründe („relevant and sufficient grounds“) für die Auswahl eines anderen als des gewünschten Verteidigers vorliegen.389 Dies soll gerade für das Wahlrecht eines im Wege der strafrechtlichen Prozesskostenhilfe vertretenen Angeklagten gel­ ten.390 Diese geringeren Anforderungen an den legitimen Zweck sind dem Grund­ gedanken nach auch hinnehmbar: Denn anders als bei der kompletten Zugangs­ beschränkung erhält der Angeklagte Zugang zu einem Rechtsbeistand und kann von diesem für sein Strafverfahren profitieren. Lediglich sein Wunsch bezüglich der Person des Verteidigers wird eingeschränkt, die Verteidigung an sich jedoch nicht (zwingend) gefährdet.391 Die Eingriffsintensität in das Recht auf einen Bei­

388

In diese Richtung vgl. EGMR, Urteil v. 11.12.2008 – 4268/04, Panovits ./. CY, Rn. 72 f. EGMR, Urteil v. 27.4.2017 – 34015/07, Zherdev ./. UA, Rn. 138; Urteil v. 20.10.2015 – 25703/11, Dvorski ./. HR, Rep. 2015-VI, Rn. 81 f.; Urteil v. 25.9.1992 – 13611/88, Croissant ./. DE, Rep. Serie A, Nr. 237B Rn. 29; Urteil v. 16.11.2006 – 46503/99, Klimentyev ./. RU, Rn. 116; Urteil v. 30.5.2013 – 35985/09, Martin ./. EE, Rn. 90; krit. und sich für eine insgesamt strenge Auslegung auch dieser Ausnahme aussprechend Stavros, Guarantees for Accused Person un­ der Article 6 ECHR, S. 206 f. 390 EGMR, Urteil v. 7.11.2017 – 37717/05, Dudchenko ./. RU, Rn. 152; Urteil v. 20.10.2015 – 25703/11, Dvorski ./. HR, Rep. 2015-VI, Rn. 79; Urteil v. 6.10.2015 – 30582/04 u. 32152/04, Karpyuk u. a. ./. UA, Rn. 144; Urteil v. 3.7.2012 – 34806/04, X. ./. FI, Rep. 2012-IV, Rn. 183; Urteil v. 21.7.2011 – 44438/06, Breukhoven ./. CZ, Rn. 60; Urteil v. 26.4.2007 – 5953/02, Voz­ higov ./. RU, Rn. 41; Urteil v. 20.1.2005 – 63378/00, Mayzit ./. RU, Rn. 66; Urteil v. 14.1.2003 – 26891/95, Lagerblom ./. SE, Rn. 54; Urteil v. 26.7.2002 – 32911/96, Meftah u. a. ./. FR, Rep. 2002-VII, Rn. 45; Urteil v. 25.9.1992  – 13611/88, Croissant ./. DE, Rep. Serie A, Nr. 237B Rn. 29; EKMR, Entscheidung v. 21.5.1997 – 24588/94, Van Ulden ./. NL, S. 6; zust. Schabas, The European Convention on Human Rights, S. 311; ebenso Epp / O’Brien, EHRLR 2001, 413 f. 391 EGMR, Urteil v. 7.11.2017 – 37717/05, Dudchenko ./. RU, Rn. 152; Urteil v. 20.10.2015 – 25703/11, Dvorski ./. HR, Rep. 2015-VI, Rn. 81; vgl. zur damit zusammenhängenden Frage 389

A. Die Konzeption der EMRK

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stand gem. Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK ist demgemäß deutlich geringer gegenüber der Fallgruppe der vollständigen Zugangsbeschränkung.392 Jedes legitime Interesse der Konventionsstaaten kann ein solcher wichtiger und ausreichender Grund sein. Aus der Rechtsprechung des EGMR ergibt sich, dass insbesondere solche Gründe als tragend erachtet werden, die die Wahrnehmung und den Schutz anderer Gewährleistungen aus Art. 6 Abs. 1, 3 EMRK, also die Wahrung eines fairen Verfahrens insgesamt, betreffen. Insofern hält der EGMR z. B. die Bestellung eines anderen Verteidigers als des gewünschten für zulässig, wenn nur dadurch das Verfahren innerhalb angemessener Frist durchgeführt wer­ den kann, vgl. Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK.393 Fürchtet der Konventionsstaat um die Effektivität der Verteidigung, wenn er dem Wunsch des Angeklagten bezüglich der ausgewählten Person des Verteidigers entspricht, so ist auch dies grundsätzlich ein valider Grund, dem Angeklagten einen anderen Verteidiger beizuordnen.394 Das Gleiche gilt, wenn droht, dass der Angeklagte unverteidigt bleibt, weil dieser von seinem Wahlrecht keinen Gebrauch macht395 oder den beigeordneten Verteidiger zwar ablehnt, aber keine weitere Person benennt.396 Ebenso zulässig ist, dem An­ geklagten einen zusätzlichen, ortsansässigen Verteidiger zu bestellen, um seine Verteidigung in jeder Hauptverhandlung zu sichern.397 Ist die Verteidigung durch den zwangsweise beigeordneten Verteidiger nicht gefährdet und besteht zudem Vertrauen des Angeklagten auch in den nicht selbst ausgewählten Verteidiger, betrachtet der EGMR die Beiordnung grundsätzlich als konventionskonform.398 Daraus lässt sich schließen, dass das Gebot effektiver Verteidigung das grundsätzlich weite Ermessen der Konventionsstaaten begrenzt. Erscheint effektive Verteidigung gefährdet, sei es durch die fehlende Kompetenz des staatlich ausgewählten Verteidigers oder dadurch, dass es an der grundle­ gend er­forderlichen Vertrauensbeziehung zwischen Angeklagtem und Verteidiger mangelt, muss der Konventionsstaat jedenfalls einen anderen, bestenfalls den ge­ wünschten Verteidiger beiordnen. Dadurch ergibt sich das Bild einer Berücksich­ der zweifelhaften Unabhängigkeit eines vom Staat zwangsweise beigeordneten Verteidigers Kap. 2 A. IV. 2. a), sowie Kap. 3 A. V. 3.  und Kap. 4 D. II. 2. 392 EGMR, Urteil v. 20.10.2015 – 25703/11, Dvorski ./. HR, Rep. 2015-VI, Rn. 81; a. A. das beipflichtende Votum der Richter Kalaydjieva u. a. v. 20.10.2015 – 25703/11, Dvorski ./. HR, Rn. 20 f. 393 EGMR, Urteil v. 6.10.2015 – 30582/04 u. 32152/04, Karpyuk u. a. ./. UA, Rn. 144 a. E.; Urteil v. 25.9.1992 – 13611/88, Croissant ./. DE, Rep. Serie A, Nr. 237B Rn. 28. 394 EGMR, Urteil v. 7.11.2017 – 37717/05, Dudchenko ./. RU, Rn. 154 (Bruder, Rechtsanwalt für Zivilrecht); Urteil v. 20.1.2005 – 63378/00, Mayzit ./. RU, Rn. 68 (Mutter u. Schwester); Urteil v. 13.7.2006 – 26853/04, Popov ./. RU, Rn. 171 ff. (Onkel). 395 EGMR, Urteil v. 21.7.2011 – 44438/06, Breukhoven ./. CZ, Rn. 61 f. 396 EGMR, Urteil v. 3.7.2012 – 34806/04, X. ./. FI, Rep. 2012-IV, Rn. 185 ff. 397 EGMR, Urteil v. 25.9.1992 – 13611/88, Croissant ./. DE, Rep. Serie A, Nr. 237B Rn. 30; krit. zur späteren Kostentragung Beulke, StV 1990, 365. 398 EGMR, Urteil v. 14.1.2003 – 26891/95, Lagerblom ./. SE, Rn. 60; Urteil v. 25.9.1992 – 13611/88, Croissant ./. DE, Rep. Serie A, Nr. 237B Rn. 29 f.

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

tigungspflicht des Wunsches des Angeklagten hinsichtlich einer bestimmten Per­ son als Rechtsbeistand und einer Begründungslast des Staates, wenn von diesem Wunsch abgewichen werden soll. Zugleich lässt diese Rechtsprechungslinie den Schluss zu, dass der Angeklagte nicht nur initial seinen Verteidiger bestimmen darf, sondern auch die Auswechs­ lung des Verteidigers verlangen kann, wenn seine Verteidigung nicht mehr effektiv gewährleistet ist. Das Wahlrecht des Angeklagten erstreckt sich folglich auf das gesamte Strafverfahren. Die Beschränkung des Wahlrechts des Angeklagten über wichtige und ausreichende Gründe ist im Ergebnis zwar weiter ausgelegt als die Beschränkung des Zugangs zu einem Verteidiger. Indem jedoch die Vertrauens­ beziehung zu diesem Beistand und die Effektivität der Verteidigung als Grenzen dieser Schranken betont werden, ist das Wahlrecht des Angeklagten ausreichend abgesichert. (3) Übertragung dieser Maßstäbe auf die Beschränkung bzw. Verzögerung des Zugangs zu strafrechtlicher Prozesskostenhilfe Zur Verweigerung des Zugangs zu strafrechtlicher Prozesskostenhilfe existieren bislang keine Judikate des EGMR. Die soeben erläuterten Maßstäbe sind jedoch entsprechend anzuwenden, abhängig von der vorgenommenen Beschränkung: Wird dem Angeklagten nicht der Pflichtverteidiger seiner Wahl beigeordnet, ist diese Beschränkung aus wichtigen und ausreichenden Gründen zulässig,399 wird dagegen bereits der Zugang zu strafrechtlicher Prozesskostenhilfe beschränkt, müssen zwingende Gründe dargelegt werden.400 Für die letztere Fallgruppe liegt die Übertragbarkeit der Maßstäbe aus Ibrahim u. a. nicht derart deutlich auf der Hand. Der EGMR hat für den Zugang zu einem Rechtsbeistand schließlich deshalb so strenge Ausnahmeregelungen postuliert, weil dem Angeklagten entgegen seinem Wunsch und seiner schutzlosen Lage der Zugang zu einem Verteidiger verweigert wird und er so den Strafverfolgungsbe­ hörden allein gegenübertreten muss. Ihm fehlt damit der eigentlich vorgesehene Schutzmechanismus für die Wahrnehmung seiner Rechte. Wird der Zugang zu strafrechtlicher Prozesskostenhilfe beschränkt, ist nicht zwingend, dass der An­ geklagte deswegen unverteidigt bleibt. Droht ein Strafverfahren, sind gerade Freunde und Familie oft bereit, extreme finanzielle Belastungen einzugehen, um dem Angeklagten noch eine Verteidigung zu ermöglichen. Insofern könnte man in solchen Situationen, wenn der Angeklagte schlussendlich doch verteidigt ist, eine Beschränkung auch lediglich aus wichtigen und ausreichenden Gründen zu­ lassen, entsprechend den Maßstäben bei der Beschränkung des Wahlrechts des Angeklagten. 399 400

Vgl. o. Kap. 2 A. III. 2. c) aa) (2). Vgl. o. Kap. 2 A. III. 2. c) aa) (1).

A. Die Konzeption der EMRK

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Diese Betrachtung würde jedoch die Ebene der Legitimität und Erforderlich­ keit des Eingriffs mit der erst nachgelagerten Gesamtbetrachtung vermischen. Grundsätzlich ist die Beschränkung des Zugangs ein schwerwiegender Eingriff in eine fundamentale Verteidigungsgarantie, die das konkrete Risiko in sich trägt, dass ein Angeklagter unverteidigt bleibt. Strafrechtliche Prozesskostenhilfe ermöglicht gerade demjenigen, der sich einen Verteidiger wünscht, die Kosten dafür jedoch nicht aufbringen kann, von einem Beistand zu profitieren. Sie ist damit Vehikel, überhaupt Verteidigung und vermittelt darüber die Wahrnehmung der anderen Rechte aus Art. 6 Abs. 3 lit.  c EMRK zu erhalten. Um dieser Be­ deutung gerecht zu werden, bedarf es bereits einer Beschränkung der zulässigen Ausnahmegründe. Ob der Angeklagte wegen dieses Verstoßes letztendlich auch unverteidigt blieb, kann über die Betrachtung der Gesamtfairness des Verfahrens berücksichtigt werden.401 bb) Keine unbillige Beschränkung der Verteidigung – Gesamtfairnessbetrachtung des EGMR Auf der zweiten Prüfungsebene darf die Verteidigung durch diese Zugangs­ beschränkung nicht unbillig benachteiligt worden sein. Dies beinhaltet eine Ge­ samtbetrachtung des Verfahrens hinsichtlich der Wahrung des Fairnessstandards im Strafverfahren. Insoweit hat der EGMR inzwischen eine nicht abschließende Liste an Kriterien zusammengestellt, die für die Beurteilung der Gesamtfairness maßgeblich sind. Diese Liste gibt jedoch vorrangig darüber Aufschluss, welche Fehlerfolgenmaßnahmen Verletzungen der Verteidigungsrechte im Verfahren noch ausgleichen können.402 Erstmalig in Ibrahim u. a. in dieser Form derart ausdrücklich formuliert, gelten für die Gesamtfairness bei Verletzungen im Rahmen von Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK vorrangig die folgenden Kriterien:403

401 So implizit in EGMR, Urteil v. 26.9.2000 – 33170/96, Biba ./. GR, Rn. 30 f.; grundlegend Urteil v. 9.6.1998 – 42/1997/826/1032, Twalib ./. GR, Rep. 1998-IV, Rn. 55 ff.; vgl. auch Urteil v. 25.4.1983 – 8398/78, Pakelli ./. DE, Rep. Serie A, Nr. 64 Rn. 16 ff., wo der EGMR nur wegen der fehlenden Beiordnung eine Verletzung annahm, gleichwohl der Angeklagte im schrift­ lichen Verfahren verteidigt blieb. 402 Krit. zu dieser fehlenden Klarheit van Puyenbroeck / Vermeulen, Int’l & Comp. L. Q. 60 (2011), 1019. 403 EGMR, Urteil v. 17.7.2018  – 6587/07, Fefilov ./. RU, Rn. 58; Urteil v. 5.10.2017  – 22059/08, Kalēja ./. LT, Rn. 66; Urteil v. 6.7.2017  – 21987/05, Sadkov ./. UA, Rn. 127; Urteil v. 12.5.2017  – 21980/04, Simeonovi ./. BG, Rep. 2017 (vorgesehen), Rn. 120; Urteil v. 27.4.2017  – 34015/07, Zherdev ./. UA, Rn. 139; Urteil v. 16.2.2017  – 40464/05, Artur Parkhomenko ./. UA, Rn. 78; Urteil v. 17.11.2016 – 8865/06, Loboda ./. UA, Rn. 37; Urteil v. 10.11.2016  – 48016/06 u. 7817/07, Sitnevskiy u. Chaykovskiy ./. UA, Rn. 62; grundle­ gend in Urteil v. 13.9.2016  – 50541/08 u. a., Ibrahim u. a. ./. GB, Rep. 2016 (vorgesehen), Rn. 274.

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

− Die Verletzlichkeit des Angeklagten, insb. ausgehend von seinem Alter und sei­ nen persönlichen Fähigkeiten; − die gesetzliche Ausgestaltung des Ermittlungsverfahrens und der Beweisverwer­ tung – existiert eine den kontaminierten Beweis ausschließende Regel, gilt das Verfahren in der Regel als fair; − die Möglichkeit des Angeklagten, das Beweismittel anzugreifen und dessen Ver­ wertung zu widersprechen; − die Qualität des Beweismittels, insbesondere ausgehend von den Umständen der Beweismittelerlangung (z. B. Zwang, Täuschung); − im Fall einer Einlassung die Natur der Einlassung (Bestreiten, Geständnis) und ob die Einlassung später verändert und / oder widerrufen wurde; − ob das fragliche Beweismittel am Ende zugelassen wurde und welche Bedeutung es bei der Verurteilung spielte; − das öffentliche Interesse an der Verfolgung der Straftat; − die Existenz anderer strafprozessualer Sicherungsmechanismen nach nationalem Recht. Aus dem – nicht abschließenden – Umfang der Liste wird ersichtlich, dass die konkrete Wertung im Einzelfall kaum abstrakt vorherbestimmt werden kann.404 Dreh- und Angelpunkt dieser Aufzählung ist jedoch, ob der konkrete Verfahrens­ verstoß sich kausal im Urteil gegen den Angeklagten ausgewirkt hat. Grundsätz­ lich wird dabei zunächst die abstrakte gesetzliche Lage in den Blick genommen, also inwiefern der Angeklagte von Gesetzes wegen die Möglichkeit hat, inkrimi­ nierte Beweismittel anzugreifen, oder diese Beweismittel ohnehin über Beweis­ verwertungsverbote nicht mehr verwertbar sind.405 Davon ausgehend überprüft der EGMR dann konkret, wie das inkriminierte Beweismittel tatsächlich erhoben und verwertet wurde. Grundsätzlich ist die Fairness des Verfahrens also dann noch ge­ wahrt, wenn sich der Rechtsverstoß im Verfahren nicht kausal auswirkt. Wird ein Beweismittel, das unter Verletzung des Rechts auf Verteidigung nach Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK erhoben wurde, zur alleinigen oder maßgeblichen Grundlage eines Urteils, begründet dies daher in der Regel eine Verletzung des Verfahrens.406 Gilt 404 Krit. insgesamt zu dieser der Gesamtbetrachtung inhärenten Unsicherheit, aber trotzdem auch Schutzpotenzial für den Angeklagten erkennend: Ambos, ZStW 115 (2003), 611 ff., 631; Meyer-Eser, GRCh, Art. 48 Rn. 20; krit. Vogel / Matt, StV 2007, 211; die Gesamtbetrachtung als zwingenden Teil des Integralrechts aus Art. 6 EMRK ansehend: Gaede, Fairness als Teil­ habe, S. 443 ff.; grds. zust. Korn, Defizite bei der Umsetzung der EMRK im deutschen Straf­ verfahren, S. 61. 405 Den prozessualen Umgang mit den Beweisen als die „Schnittstelle“ betrachtend Gaede, JR 2009, 494. 406 EGMR, Urteil v. 26.7.2011 – 35485/05 u. a., Huseyn u. a. ./. AZ, Rn. 172; für den ent­ gegengesetzten Fall Urteil v. 5.10.2017 – 22059/08, Kalēja ./. LT, Rn. 67 f.; ebenso arg e Urteil

A. Die Konzeption der EMRK

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für derartig inkriminierte Beweismittel dagegen ein Beweisverwertungsverbot („exclusionary rule“), gilt das Verfahren in der Regel als fair.407 Das Gleiche gilt, wenn das Beweismittel, obwohl ein solch striktes Verbot nicht existiert, vom Tat­ gericht im konkreten Fall nicht verwertet wurde.408 Im Einzelfall kann aber auch eine Beschränkung von Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK, die nicht kausal wurde, dazu führen, dass das Verfahren entgegen Art. 6 Abs. 1 EMRK als unfair zu gelten hat.409 Dies ist jedoch nur ausnahmsweise der Fall, namentlich wenn es sich um einen besonders schwerwiegenden Verstoß handelt. Existiert gar keine gesetzliche Regelung, liegt ein systematischer Verstoß vor, der nach der Rechtsprechung des EGMR aus sich heraus genügt, um eine Konventions­ verletzung zu begründen, unabhängig davon, ob dieser Verstoß sich im Urteil und späteren Verfahren kausal auswirkte oder nicht.410 Den Verfahrensverstoß mithin auf seine Kausalität im konkreten Urteil hin zu überprüfen, bietet grundsätzlich einen geeigneten Anhaltspunkt dafür, ob das Ver­ fahrens insgesamt noch fair war. Das kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Bewertung insgesamt so wenig greifbar ist, dass sich Konkretes daraus nicht entnehmen lässt.411 Je weicher dieser Maßstab ist, umso eher liegt die kon­ krete Bedeutung des fairen Verfahrens im Ermessen des jeweiligen Gerichts und damit ultimativ des EGMR.412 Sind die Maßstäbe zuvor deutlich gefasst, kann auch v. 13.9.2016 – 50541/08 u. a., Ibrahim u. a. ./. GB, Rep. 2016 (vorgesehen), Rn. 274, 288; im Rahmen von Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK als sole-or-decisive-rule benannt, zu einer Ähnlichkeit damit vgl. Ujkašević, Kompensation von Verfahrensrechtsverstößen in der Rechtsprechung des EGMR, S. 61 f.; zust. insg. Wohlers, GA 2005, 26 407 EGMR, Urteil v. 13.9.2016 – 50541/08 u. a., Ibrahim u. a. ./. GB, Rep. 2016 (vorgesehen), Rn. 274; aufgegriffen in Urteil v. 12.5.2017 – 21980/04, Simeonovi ./. BG, Rep. 2017 (vor­ gesehen), Rn. 120; Urteil v. 6.7.2017 – 21987/05, Sadkov ./. UA, Rn. 129 ff.; zu geringfügige­ ren Formen wie einer Beweiswürdigungslösung abl. Stellungnahme von Richter Zupančič v. 20.10.2015 – 25703/11, Dvorski ./. HR, Rn. 12; ebenso abl. gegenüber einer reinen Beweis­ würdigungslösung: Ambos, ZStW 115 (2003), 631 f. 408 EGMR, Urteil v. 6.7.2017  – 21987/05, Sadkov ./. UA, Rn. 129 ff., 137 f.; krit. zu die­ ser Kausalitätsbetrachtung Rzepka, Zur Fairness im deutschen Strafverfahren, S. 103, 112 f.; diff. dazu Spaniol, Das Recht auf Verteidigerbeistand im GG und in der EMRK, S. 159 ff. 409 A. A. Schroeder, GA 2003, 296 ff., der von einem dem dt. Revisionsrecht ähnlichen Be­ ruhenserfordernis ausgeht; abl. Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 445 f. 410 EGMR, Urteil v. 4.9.2018  – 28338/07, Ömer Güner ./. TR, Rn. 36; EGMR, Urteil v. 13.10.2009 – 7377/03, Dayanan ./. TU, Rn. 33; Urteil v. 27.11.2008 – 36391/02, Salduz ./. TR, Rep. 2008-V, Rn. 57 f., 61; so auch Wohlers, GA 2005, 26. 411 Vgl. das beipflichtende Votum der Richter Kalaydjieva u. a. v. 20.10.2015 – 25703/11, Dvorski ./. HR, Rn. 20 („assessing the overall fairness of proceedings by relying on a balan­ cing test is too malleable an approach“); am Bsp. von Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK mit diff. Krit. Esser, JR 2005, 254; krit. dazu, dass die Gesamtbetrachtung „erhebliche“ Verfahrensfehler zulasse, Ujkašević, Kompensation von Verfahrensrechtsverstößen in der Rechtsprechung des EGMR, S. 211 f. 412 Beipflichtendes Votum der Richter Kalaydjieva u. a. v. 20.10.2015 – 25703/11, Dvorski ./. HR, Rn. 20.

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

solch eine weite Prüfung der Gesamtfairness später kompensiert werden. Dies ver­ hindert, dass tatsächlich ein wirksames Fehlerfolgenregime die Akteursstellung des Angeklagten absichert, weil die Mitgliedstaaten auch ohne konkrete Absiche­ rungsmechanismen darauf hoffen können, aus der Perspektive der EMRK doch noch ein insgesamt faires Verfahren durchgeführt zu haben.413

IV. Der Staat als Garant der Rahmenbedingungen effektiver strafrechtlicher Prozesskostenhilfe Um strafrechtliche Prozesskostenhilfe zu gewähren, muss der Staat die dafür geeigneten Rahmenbedingungen schaffen. Dies betrifft nicht nur die gesetzliche Regelung der Voraussetzungen und der Gewährleistungen, sondern darüber hi­ naus die Schaffung institutioneller und finanzieller Rahmenbedingungen. Dies­ bezüglich bleibt der EGMR entsprechend seiner zurückhaltenden, subsidiär ver­ standenen Rolle zwar vage und räumt den Konventionsstaaten einen erheblichen Spielraum bezüglich der Umsetzung ein, weil diese die sozialen wie ökonomischen Anforderungen in ihrem Land grundsätzlich zutreffender einschätzen können.414 Daher enthält die EMRK nur Ergebnisvorgaben, durch die das Handeln der Kon­ ventionsstaaten geleitet werden muss, wenn diese strafrechtliche Prozesskosten­ hilfe umsetzen. 1. Kostenfreiheit Wenn der Angeklagte keine eigenen Mittel hat, um sich Verteidigung zu leisten, soll er diese gem. Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK kostenfrei erhalten („free“/„gratuite­ ment“). Diese Kostenfreiheit für den Angeklagten bedeutet für die Konventions­ staaten, dass sie Mittel für strafrechtliche Prozesskostenhilfe bereithalten müssen, die folglich an anderer Stelle nicht mehr einsetzbar sind. Diese budgetären Kon­ sequenzen sind Hauptgrund, warum strafrechtliche Prozesskostenhilfe innerhalb der Konventionsfreiheiten besonders umstritten ist.415 413

So auch krit. Ambos, ZStW 115 (2003), 612 f. („Beschuldigtenrechte relativierende[…] Abwägungslehre“); Eisele, JR 2004, 15 f.; Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Straf­ verfahrensrecht, S. 860 f.; zu dieser Gefahr der Gesamtbetrachtung des EGMR Krauß, V-Leute im Strafprozeß und die EMRK, S. 83; ebenso krit. am Bsp. von Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK Weigend, StV 2001, 63 f.; insgesamt positiv zur Gesamtbetrachtung Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 443 ff.; ähnlich Wohlers, GA 2005, 25 f. 414 So Gilliaux, Droit(s) européen(s) à un procès équitable, S. 28. 415 Vgl. dazu Wade, Utr. L. Rev. 9 (2013), 173 Fn. 56; zu sozialen Rechten allgemein sieht der IPwskR in Art. 2 Abs. 1 daher auch keine sofortige Umsetzungspflicht, sondern eine dauerhafte Bemühenspflicht vor, vgl. Kradolfer, AVR 50 (2012), 262 f.; dies als Hauptgrund für die zögerliche Umsetzung sozialer und ökonomischer Rechte ausmachend, vgl. Fischer-­ Lescano / Möller, in: Fischer-Lescano / Möller (Hrsg.), Transnationalisation of Social Rights, S. 33 f.

A. Die Konzeption der EMRK

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Der Gesichtspunkt der Kostenfreiheit – ebenso wie die vom EGMR aufgestellten positiven Gewährleistungspflichten – ist zudem ein für bürgerliche und politische Freiheiten der EMRK ungewöhnlicher Aspekt, weil dadurch die durch wirtschaft­ liche Ungleichheiten bedingten Unterschiede in der Rechtewahrnehmung ausge­ glichen werden sollen. Dies ist eigentlich ein typischer Bestandteil für sog. soziale und ökonomische Menschenrechte.416 Diese gewähren gerade ein Leistungsrecht,417 einen Anspruch gegen den Staat,418 wenn jemand eigenverantwortlich ohne staat­ liches Eingreifen seine Rechte nicht mehr verwirklichen kann.419 Der Staat soll so den Einzelnen vor den Gefahren wirtschaftlicher Übermacht oder Ungleich­ heit schützen.420 Dadurch grenzen sich die sog. sozialen Menschenrechte nach herrschender Auffassung von den allgemeinen Freiheitsrechten ab, die auf die Rechtsverwirklichung durch die Freiheit vom Staat zielen.421 Diese Vermischung sozialer und bürgerlicher Garantien sieht der EGMR jedoch nicht als System­ bruch, die Auslegung der EMRK müsse sich nicht strikt im Bereich der bürgerli­ chen Freiheitsrechte bewegen, sondern dürfe sich auch in die Sphäre sozialer und ökonomischer Rechte erstrecken.422 Strafrechtliche Prozesskostenhilfe – als Teil­ recht des auf diese zwei Faktoren allein nicht zu verkürzenden Art. 6 EMRK – 423 ist somit eine um ein soziales, auf Chancengleichheit zielendes Element ergänzte Justizgarantie.424

416

Davy, Int. J. Soc. Qual. 3 (2013), 43. So m. w. N. Seifert, EuZA 2013, 301; krit. Bossuyt, International Human Rights Protec­ tion, S. 20, 22, insbesondere zum Ressourcenverbrauch im Staatshaushalt. 418 Seifert, EuZA 2013, 301 f.; differenzierender Schmid, Taking Economic, Social and Cultural Rights Seriously in International Criminal Law, S. 27, die zudem auch von einer Pflicht zum Schutz und zum Respekt gegenüber sozialen Rechten ausgeht und damit auch dort Aspekte einer „Freiheit vom Staat“ erblickt. 419 Vgl. zum Vorrang der Eigenverantwortlichkeit, Davy, Int. J. Soc. Qual. 3 (2013), 43 f. 420 Seifert, EuZA 2013, 301 f. 421 Vgl. jedoch auch zur Freiheit „vom Staat“ im Rahmen der sozialen Rechte durch Unter­ lassungs- und Schutzpflichten, Kradolfer, AVR 50 (2012), 263. 422 EGMR, Urteil v. 9.10.1979 – 6289/73, Airey ./. IE, Rep. Serie A, Nr. 41 Rn. 26 („The Court therefore considers […] that the mere fact that an interpretation of the Convention may extend into the sphere of social and economic rights should not be a decisive factor against such an interpretation; there is no water-tight division separating that sphere from the field covered by the Convention“). 423 M. w. N. zur Rechtsnatur als dezidiert nur für strafrechtliche und zivilrechtliche Ange­ legenheiten geltende Rechtsweggarantie: Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 339 ff.; EnzEuR-­ ders., Eur. StR, § 3 Rn. 71 ff.; MüKo-ders., StPO, Art. 6 EMRK Rn. 10; Karpenstein / MayerMeyer, EMRK, Art. 6 Rn. 12, 17; darüber hinausgehend Grote / Marauhn-Grabenwarter / ​Pabel, EMRK / GG, Kap. 14 Rn. 10 („Rechtsstaatsprinzips europäischer Prägung“). 424 So wohl auch EGMR, Urteil v. 9.10.1979 – 6289/73, Airey ./. IE, Rep. Serie A, Nr. 41 Rn. 26; zust. zu dieser Auslegung Scott, Hum. Rts. Q. 21 (1999), 640 f.; auch zur Einordnung als sozialem Menschenrecht tendierend, vgl. Krennerich, Soziale Menschenrechte, S. 59; darin ein bürgerliches Recht erblickend, das lediglich um eine positive Handlungsverpflichtung er­ gänzt wurde, Brems, Hum. Rts. L. Rev. 9 (2009), 365 f.; ebenso zur GRCh Frenz, Europäische Grundrechte, Rn. 5065. 417

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

Ist strafrechtliche Prozesskostenhilfe in diesem Sinne Ausgleichsmechanismus zugunsten des chancengleichen Zugangs auf Verteidigung, wirkt sich das ebenso auf den Umfang der Kostenfreiheit aus. Kostenfreiheit kann in diesem Sinne nur erforderlich sein, wenn andernfalls chancengleicher Zugang nicht möglich wäre; sie ist also zwingend an die Bedürftigkeit geknüpft. Dadurch ist deutlich, dass Kos­ tenfreiheit grundsätzlich – entgegen dem ersten Anschein des Wortlauts – keine komplette Kostenfreistellung bedeutet, wenn der Angeklagte nicht in diesem Um­ fang bedürftig ist, sondern bereits mit einem Weniger an staatlicher Unterstützung gleichermaßen Zugang zu einem Rechtsbeistand erhält.425 Außerdem ist diese Kos­ tenfreistellung nicht zwingend endgültig, wenn zum Zeitpunkt der Rückforderung der Angeklagte inzwischen leistungsfähig ist.426 Dadurch werden die Begriffe „free“/„gratuitement“ im Rahmen von Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK strenger ausgelegt, als das gleiche Begriffspaar im Rahmen von Art. 6 Abs. 3 lit. e EMRK.427 Art. 6 Abs. 3 lit. e EMRK sieht vor, dass ein An­ geklagter unentgeltlich durch einen Dolmetscher unterstützt werden soll, wenn er die Verhandlungssprache des Gerichts nicht versteht oder spricht. Kostenfreiheit i. S. v. Art. 6 Abs. 3 lit. e EMRK knüpft sich folglich nur an die fehlende Verständ­ nisfähigkeit des Angeklagten. Grundgedanke ist dadurch nicht, Chancengleich­ heit zwischen vermögenden und bedürftigen Angeklagten zu schaffen, sondern dem (sprachunkundigen) Angeklagten überhaupt zu ermöglichen, dem Verfahren zu folgen und sein Teilhaberechte wahrzunehmen, anstatt ihn zum „unverstande­ ne[m] Objekt“ herabzuwürdigen.428 Daher sieht es der EGMR als gerechtfertigt an, Kostenfreiheit im Rahmen von Art. 6 Abs. 3 lit. e EMKR nicht nur als endgültige, sondern auch als vollumfängliche Kostenbefreiung auszulegen („these terms de­ note neither a conditional remission, nor a temporary exemption, nor a suspension, but a once and for all exemption or exoneration“).429 Der Wortlaut von Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK, der Kostenfreiheit nur unter der Bedingung von Bedürftigkeit gewährt, lässt eine beschränktere Gewährleis­

425

Vgl. EGMR, Urteil v. 26.2.2002 – 38784/97, Morris ./. GB, Rep. 2002-I, Rn. 88 f. EGMR, Urteil v. 21.6.2011  – 29652/04, Orlov ./. RU, Rn. 111; Urteil v. 28.11.1978  – 6210/73 u. a., Luedicke u. a. ./. DE, Rep. Serie A, Nr. 36 Rn. 42 f.; EKMR, Entscheidung v. 6.5.1982 – 9365/81, X. ./. DE, S. 3; zust. Meyer-Goßner / Schmitt, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 21; zust. Trechsel / Summers, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 278; Villiger, EMRK, Rn. 519; Stavros, Guarantees for Accused Person under Article 6 ECHR, S. 210; a. A. Harris / ​O’Boyle / Warbrick, ECHR, S. 479; krit. soweit es um die Rückforderung der Kosten eines neben einem Wahlverteidiger bestellten Pflichtverteidigers geht SK-Paeffgen, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 153a. 427 EKMR, Entscheidung v. 6.5.1982 – 9365/81, X. ./. DE, S. 3; EGMR, Urteil v. 28.11.1978 – 6210/73 u. a., Luedicke u. a. ./. DE, Rep. Serie A, Nr. 36 Rn. 44. 428 BVerfGE 64, 135 (144 f.); m. w. N.; zust. Christl, NStZ 2014, 376. 429 EGMR, Urteil v. 21.6.2011 – 29652/04, Orlov ./. RU, Rn. 111; vgl. etwas ausführlicher Urteil v. 28.11.1978 – 6210/73 u. a., Luedicke u. a. ./. DE, Rep. Serie A, Nr. 36 Rn. 40, 42 a. E. 426

A. Die Konzeption der EMRK

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tung bereits zu.430 Trotzdem besteht auch in diesem Rahmen das Risiko, dass ein Angeklagter aus Angst vor späteren Rückforderungen auf den Zugang zu einem Rechtsbeistand verzichtet. Dieses Abschreckungsargument hat der EGMR auch im Rahmen von Art. 6 Abs. 3 lit. e EMRK benutzt, um für eine bedingungs­ lose und vollständige Kostenbefreiung zu argumentieren.431 Dieser Abschreckungseffekt ist jedoch im Rahmen von Art. 6 Abs. 3 lit.  c EMRK als gering einzustufen, weil die Bedürftigkeitsbetrachtung auch eine Überforderung im Nachhinein verbietet. Denn die Bedürftigkeit des Angeklagten als Voraussetzung der Kostenfreiheit bedingt nicht nur, dass Kostenfreiheit be­ schränkt wird, sondern bedingt zugleich ein Überforderungsverbot des Angeklag­ ten. Schützend wird dadurch besorgt, dass Rückforderungen den Angeklagten nur im Fall seiner Leistungsfähigkeit treffen dürfen. Ihm wird damit kein unvorher­ sehbares, untragbares Kostenrisiko aufgebürdet. Anders dagegen bei Art. 6 Abs. 3 lit. e EMRK, der keine Rückkopplung an die Leistungsfähigkeit des Angeklagten vorsieht: Würde in dieser Konstellation trotzdem eine Rückforderung nach Ver­ urteilung möglich werden, würde diese unabhängig von der Leistungsfähigkeit des Angeklagten erfolgen und den Angeklagten tatsächlich abschrecken, überhaupt davon Gebrauch zu machen. Insofern entfaltet das Bedürftigkeitskriterium doppelte Bedeutung für den An­ geklagten: Es entscheidet zum einen im Zeitpunkt des Verfahrens darüber, ob strafrechtliche Prozesskostenhilfe überhaupt gewährt werden soll. Zum anderen kann es je nach Ausgestaltung im jeweiligen Konventionsstaat im Zeitpunkt der Kostenfestsetzung darüber entscheiden, ob und inwieweit der Angeklagte an den Kosten des Verfahrens beteiligt wird.432 Dabei sichert das Kriterium jedoch auch ab, dass der Angeklagte nicht über seine Leistungsfähigkeit hinaus belastet wird. Ihm wird darüber die Tragung all jener Kosten erspart, die für sein Verfahren notwendig werden. Je nachdem, welchen Umfang sein Verfahren hat, können dies auch die Kosten für mehrere Verteidiger sein.433 Ist der Angeklagte jedoch leistungsfähig, ist ihm also zuzumuten, wenigstens einen Teil der Kosten zu tragen, solange diese im Verhältnis zu den erbrachten Leistungen stehen (sog. excessiveness-Test).434 Dazu muss der Staat den Nachweis 430 S. EKMR, Entscheidung v. 6.5.1982 – 9365/81, X. ./. DE, S. 3; zust. IntKomm-Kühne  / ​ Miehsler / Vogler, EMRK, Art. 6 Rn. 569 f.; ebenso zust. Trechsel / Summers, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 278. 431 EGMR, Urteil v. 28.11.1978 – 6210/73 u. a., Luedicke u. a. ./. DE, Rep. Serie A, Nr. 36 Rn. 42; daher krit. zu dieser Kostenübertragung im Rahmen von Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK: Beulke, StV 1990, 365 f. 432 S. EKMR, Entscheidung v. 6.5.1982 – 9365/81, X. ./. DE, S. 3. 433 EKMR, Entscheidung v. 8.7.1978 – 7572/76, Ensslin, Baader u. Raspe ./. DE, Rn. 19; grds. zust. Trechsel / Summers, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 271. 434 Vgl. jeweils unter dem Vorbehalt, dass die Kosten nicht „excessive“ sind – EGMR, Urteil v. 25.9.1992 – 13611/88, Croissant ./. DE, Rep. Serie A, Nr. 237B Rn. 36 a. E. und offener Urteil v. 17.2.2011 – 38157/04, Ognyan Asenov ./. BG, Rn. 45 f.; EKMR, Entscheidung v. 6.5.1986 –

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

der Bedürftigkeit des Angeklagten aber auf jeden Fall gesetzlich vorsehen.435 Die Kostentragung insgesamt darf ihm jedoch nur im Fall einer Verurteilung aufge­ bürdet werden.436 Auch kann eine Selbstbeteiligung des Angeklagten jedoch die Gefahr bergen, ihn davon abzuhalten, Zugang zu einem Rechtsbeistand im Wege strafrechtlicher Prozesskostenhilfe überhaupt zu verlangen. Zugleich erscheint es jedoch berechtigt, den Angeklagten bei Verurteilung im Rahmen des ihm Mögli­ chen zu beteiligen, um eine gerechte Verteilung der insoweit beschränkten staat­ lichen Ressourcen sicherzustellen.437 2. Die durch die Anforderungen effektiver Verteidigung vorgegebene Qualität des rechtlichen Beistands Kostenfreiheit ist ein sehr wichtiger Bestandteil strafrechtlicher Prozesskos­ tenhilfe. Bedingt diese jedoch nur Zugang zu einem unzulänglichen Beistand, ist effektive Verteidigung bedroht. Die Unterstützung durch einen rechtlichen Bei­ stand („legal“/„par un avocat d’office“) beinhaltet folglich Anforderungen an die Qualität dieses Beistands. a) Rechtliche Qualität der Beratung Der Wortlaut enthält hinsichtlich der Anforderungen an die rechtliche Quali­ tät des Beistands wenig Hinweise. Der englische Begriff „legal“ ist weit. Er kann jede Form von rechtlichem Beistand bezeichnen, also auch solche Rechtsbeistände, die noch keine zugelassenen Rechtsanwälte sind. Der Begriff „avocat d’office“ im Französischen ist dagegen enger: Übersetzt bedeutet dieser Pflichtverteidiger oder Zwangsverteidiger und trägt die Stellung als (zugelassener) Rechtsanwalt be­ reits im Wortlaut.438 Diese Sprachversion deutet somit darauf hin, dass nur durch einen Rechtsanwalt Verteidigung i. S. v. Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK gewährleistet werden kann. In seiner am Telos der effektiven Verteidigung orientierten Auslegung schließt sich der EGMR der englischen Sprachversion an. Solange ein Rechtsbeistand in der 11626/85, K. ./. DE, S. 2 (z. B. Verhältnismäßigkeit bejaht bei Aufwendung von 1/6 des Ein­ kommens im Strafvollzug); Entscheidung v. 6.5.1982 – 9365/81, X. ./. DE, S. 3. 435 Konventionswidrig ist daher jedenfalls, wenn eine Prüfung der Bedürftigkeit vom Kon­ ventionsstaat gesetzlich gar nicht vorgesehen ist, vgl. EGMR, Urteil v. 16.7.2009 – 14934/03, Potapov ./. RU, Rn. 23, 26. 436 EGMR, Urteil v. 25.9.1992 – 13611/88, Croissant ./. DE, Rep. Serie A, Nr. 237B Rn. 35 f.; EKMR, Entscheidung v. 4.9.1996 – 27074/95, Nordigård ./. SE, Rn. 3. 437 Vgl. Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 264; Stavros, Guarantees for Accused Person under Article 6 ECHR, S. 207. 438 Vgl. auch zur Übersetzung als „Armenanwalt“, PONS Wörterbuch Studienausgabe Fran­ zösisch, S. 92 (Stichwort: „avocat(e) commis d’office“).

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Lage sei, effektive Verteidigung zu gewährleisten, gäbe es keinen Grund, die Vertei­ digung nur zugelassenen Rechtsanwälten vorzubehalten.439 Den Konventionsstaa­ ten steht bei der Auswahl also ein Umsetzungsspielraum zu: Verteidiger in diesem Sinne muss kein vollständig ausgebildeter Jurist oder zugelassener Rechtsanwalt sein, wenn der Mitgliedsstaat – durch Festlegung von erforderlichen Qualifikatio­ nen – die Effektivität der Verteidigung auch durch diese Personen gewährleistet.440 Dadurch wird die Verteidigung auch z. B. in Ausbildung befindlichen Juristen, wie Referendaren, ermöglicht.441 Gleiches gilt für die grundsätzliche Zulässigkeit einer Regelung, die den Beistand durch Verwandte – ungeachtet ihrer juristischen Qualifikation – zulässt.442 Theoretisch hat der EGMR aus seiner Perspektive der Zielvorgabe recht: Ist ef­ fektive Verteidigung auch über andere Beistände als zugelassene Rechtsanwälte abzusichern, ist es nicht erforderlich, strafrechtliche Prozesskostenhilfe nur durch diese erbringen zu lassen. Selbst die Beschränkung auf zugelassene Rechtsanwälte allein könnte Qualität nicht garantieren, weil ein z. B. nur im Zivilrecht tätiger Rechtsanwalt nicht zwangsläufig ebenso kompetent strafrechtlich verteidigen kann. Aber die Betonung liegt darauf, dass nur durch die Festlegung von Qualifikationen und Kriterien die Mitgliedstaaten sicherstellen können, dass Personen die Befähi­ gung haben, als rechtliche Beistände im Strafverfahren zu agieren. Den konkreten Inhalt solcher Regelungen hat der EGMR bislang jedoch ungeprüft gelassen, wenn die Verteidigung im konkreten Einzelfall noch als effektiv zu gelten hatte. Rein abstrakt betrachtet lassen die Zulassung von juristisch ungeschulten Verwandten oder noch in Ausbildung befindlichen Juristen aber Zweifel daran aufkommen, wie diese effektive Verteidigung gewährleisten sollen. Ohne regelmäßige prakti­ sche Erfahrung oder mit wenig fachlicher Expertise kann ein solcher Beistand nur begrenzt die Rechtmäßigkeit strafprozessualer Zwangsmaßnahmen prüfen oder den Angeklagten gegenüber den Strafverfolgungsbehörden effektiv verteidigen. Auch wenn der EGMR nur Zielvorgaben erteilt und sich dementsprechend bei Angaben bezüglich der konkreten Umsetzung zurückhält, ist es bedauerlich, dass die Qualität des rechtlichen Beistands bislang nicht genauer gefasst worden ist. Ähnlich wie z. B. im Rahmen der Interessen der Rechtspflege könnte er Vermu­ tungen und Regel-Ausnahme-Verhältnisse bilden. So bewegt sich das Kriterium 439

EGMR, Entscheidung v. 5.12.2000 – 35685/97, Mills ./. GB, S. 10. Zust. LR-Esser, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 745; ebenso Plekksepp, Die gleichmäßige Ge­ währleistung des Rechts auf Verteidigerbeistand, S. 67. 441 Grds. zust. IntKomm-Kühne / Miehsler / Vogler, EMRK, Art. 6 Rn. 564 („keinen Anspruch auf einen besonderen Kenner der Materie“); ebenso Trechsel / Summers, Human Rights in Cri­ minal Proceedings, S. 277; ebenso zust. Villiger, EMRK, Rn. 514; krit. eher Stavros, Guaran­ tees for Accused Person under Article 6 ECHR, S. 220 f., der eine möglichst enge Auslegung fordert und die Beschränkung auf „unabhängige“ Juristen; offen dagegen Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 496. 442 So implizit zur russischen Regelung, vgl. EGMR, Urteil v. 7.11.2017 – 37717/05, Dud­ chenko ./. RU, Rn. 154 (Bruder); Urteil v. 20.1.2005 – 63378/00, Mayzit ./. RU, Rn. 68 (Mutter u. Schwester); Urteil v. 13.7.2006 – 26853/04, Popov ./. RU, Rn. 171 ff. (Onkel). 440

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

der Qualität des rechtlichen Beistands in einem Bereich, in dem, zugespitzt for­ muliert, jeder Beistand leisten darf, solange das Ergebnis im Einzelfall, und sei es zufällig, noch als effektive Verteidigung zu bewerten ist. Dabei wäre auch im Rahmen des Begriffs des rechtlichen Beistands die Bildung solcher Regel-Ausnahme-Verhältnisse möglich. Die Kompetenz eines Beistands sollte umso eher angenommen werden, wenn ein Beistand nachweisen kann – über die dafür nach dem Recht des Konventionsstaates vorgesehenen Mechanismen –, dass er im Strafrecht versiert ist und erfahren in der Vertretung von Angeklagten. Je unerfahrener dagegen ein Beistand ist, je weiter die gesetzliche Regelung ein Tätigwerden auch solcher Beistände zulässt, umso höher sollte die Darlegungs­ last des jeweiligen Konventionsstaates dafür sein, dass diese konkrete Person noch effektiv verteidigen konnte. Beim Nachweis einer Konventionsverletzung wäre der Angeklagte folglich dann weniger beweisbelastet, wenn die Bestimmungen des jeweiligen Konventionsstaates keine ausreichenden Anforderungen an die Quali­ fikation des Beistandes stellen. Die weite Auslegung des EGMR ist zwar eher geeignet, den mitunter hohen Bedarf an Beiständen für strafrechtliche Prozesskostenhilfe zu decken. Das kann jedoch nicht um jeden Preis gewollt sein, sondern muss durch die Konventions­ staaten in einem Rahmen durchgeführt werden, der effektive Verteidigung über­ haupt ermöglicht. Auch die Konventionsstaaten sollten daran interessiert sein, Haushaltsmittel nur für tatsächliche und wirksame Verteidigung durch kompetente Beistände zu verwenden. In der Regel verlangt daher das Erfordernis eines qualifi­ zierten rechtlichen Beistands nach dieser engen Auslegung nicht nur einen voll aus­ gebildeten, sondern zudem in der Verteidigung auch erfahrenen Rechtsanwalt.443 b) Unabhängigkeit des rechtlichen Beistands von staatlicher Beeinflussung Ein weiterer wichtiger Baustein für die Qualität eines rechtlichen Beistandes ist dessen Unabhängigkeit von staatlicher Beeinflussung, um so parteiisch und ohne Furcht vor Repressionen für den Angeklagten handeln zu können. Der EGMR hat dem rechtlichen Beistand die Rolle als Hüter prozessualer Ord­ nungsmäßigkeit („watchdog of procedural regularity“) zugedacht.444 So korrigie­ rend auf die Strafverfolgungsbehörden einzuwirken, ist jedoch nur von einem Verteidiger zu erwarten, der bei auch konfrontativer Wahrnehmung der Interessen seines Mandanten keine negativen Konsequenzen fürchten muss. Dafür muss ein Verteidiger primär institutionell unabhängig sein. Er darf folglich nicht Teil der Strafverfolgungsbehörden sein und muss weisungsfrei von diesen und vom Staat 443

A. A. IntKomm-Kühne / Miehsler / Vogler, EMRK, Art. 6 Rn. 564 a. E. Vgl. das beipflichtende Votum der Richter Kalaydjieva u. a. v. 20.10.2015 – 25703/11, Dvorski ./. HR, Rn. 20; s. i. Ü. o. Kap. 2, Fn. 349. 444

A. Die Konzeption der EMRK

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agieren können.445 In diesem Sinne versteht der EGMR jedenfalls Rechtsanwälte als unabhängige rechtliche Berufsträger („independent legal professionals“)446 in­ nerhalb des Justizsystems, die als parteiisches Korrektiv für ihre Mandanten konzi­ piert sind.447 Ob auch sonstige rechtliche Beistände i. S. v. Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK institutionell unabhängig sein müssen, hat der EGMR bislang nicht adressiert. Nur für Rechtsanwälte existiert diese Feststellung. Denn innerhalb der Konventions­ staaten ist jedenfalls Konsens, dass Rechtsanwälte kraft ihrer Zulassung besondere Privilegien, wie die Unabhängigkeit der Anwaltschaft, genießen, aber über das Standes- bzw. Berufsrecht auch besonderen Pflichten unterliegen. Gerade dieser Aspekt streitet besonders dafür, „rechtliche Beistände“ grundsätzlich Rechts­ anwälten vorzubehalten, es sei denn, es gibt diesen im Recht des Konventionsstaates gleichgestellte Personengruppen, die eine ähnliche institutionelle Unabhängigkeit genießen. Institutionelle Unabhängigkeit genügt jedoch nicht allein. Der konkrete Rechts­ beistand muss auch im Rahmen der Gewährung strafrechtlicher Prozesskostenhilfe tatsächlich unabhängig bleiben. An dieser Stelle kann Unabhängigkeit insbeson­ dere infrage stehen, wenn die Strafverfolgungsbehörden selbst den Pflichtverteidi­ ger benennen. Das ist noch unproblematisch, wenn die Benennung den Wunsch des Angeklagten hinsichtlich des Verteidigers seines Vertrauens berücksichtigt. Wird jedoch entgegen dem oder ohne expliziten Wunsch des Angeklagten ein Pflicht­ verteidiger beigeordnet, weckt dieser Mechanismus Zweifel an der Unabhängigkeit des rechtlichen Beistands, wenn die Beiordnung von den Strafverfolgungsbehörden vorgenommen wird.448 Der EGMR hat diese Konstellation bislang nicht als Problem der Unabhängigkeit eines Verteidigungsbeistandes aufgefasst, sondern lediglich als Beschränkung des Wahlrechts des Angeklagten.449 Aus wichtigen und ausreichenden Gründen könne eine solche Zwangsbeiordnung daher gerechtfertigt sein.450 Ob eine Verquickung der Interessen von Strafverfolgungsbehörden und dem so beigeordneten Rechts­ beistand vorliegt, berücksichtigt der EGMR im Rahmen der Gesamtfairness.451 Da dieser Maßstab jedoch so vage und ergebnisoffen ist, ist zweifelhaft, dass dieser die Bedeutung der Unabhängigkeit des Verteidigers für effektive Verteidigung aus­

445

In diesem Sinne Stavros, Guarantees for Accused Person under Article 6 ECHR, S. 220. EGMR, Urteil v. 4.4.2018  – 56402/12, Correia de Matos ./. PT, Rn. 140; Urteil v. 27.6.2017 – 50446/09, Jankauskas ./. LT, Rn. 75; Urteil v. 23.4.2015 – 29369/10, Morice ./. FR, Rep. 2015-II, Rn. 133. 447 In diesem Sinne EGMR, Urteil v. 4.4.2018 – 56402/12, Correia de Matos ./. PT, Rn. 139 („effective representation“); Urteil v. 27.6.2017 – 50446/09, Jankauskas ./. LT, Rn. 74 m. w. N.; Urteil v. 23.4.2015 – 29369/10, Morice ./. FR, Rep. 2015-II, Rn. 132. 448 So z. B. in Deutschland, vgl. § 141 Abs. 4 StPO; vgl. m. w. N. u. Kap. 4 D. II. 2. 449 So in EGMR, Urteil v. 20.10.2015 – 25703/11, Dvorski ./. HR, Rep. 2015-VI, Rn. 79 ff. 450 EGMR, Urteil v. 4.4.2018 – 56402/12, Correia de Matos ./. PT, Rn. 143 ff.; i. Ü. vgl. o. Kap. 2 A. III. 2. c) aa) (2), bb). 451 Vgl. EGMR, Urteil v. 20.10.2015 – 25703/11, Dvorski ./. HR, Rep. 2015-VI, Rn. 111. 446

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

reichend berücksichtigt.452 Auch an dieser Stelle würde die Formulierung konkreter Maßstäbe absichern, dass die Zielvorgabe – effektive und unabhängige Verteidi­ gung – erreicht wird. Wenn der Wunsch des Angeklagten bezüglich des Vertei­ digers seines Vertrauens nicht berücksichtigt werden kann, sollte die Zwangsbei­ ordnung grundsätzlich nur dann als fair gelten, wenn die Auswahl des Beistands entweder von einer von den Strafverfolgungsbehörden wiederum unabhängigen Stelle erfolgt, oder die Auswahl transparenten und im Vorhinein festgelegten Kri­ terien unterliegt, die sachfremde Motive bei der Auswahl ausschließen.453 Anders­ herum sollte den Konventionsstaat in solchen Fällen wiederum die Darlegungslast dafür treffen, dass das Verfahren noch fair war, wenn keine Mechanismen zur Sicherung einer objektiven Beiordnungsentscheidung existieren. Insofern müssen tragfähige Gründe die Beiordnung dieses konkreten Verteidigers rechtfertigen. Solche objektivierenden Auswahlmechanismen würden verhindern, dass recht­ liche Beistände sich einem Konflikt gegenübersehen zwischen der effektiven Wahrnehmung der Mandanteninteressen und dem dadurch womöglich bestehen­ den Risiko, nicht erneut von den Strafverfolgungsbehörden beigeordnet zu werden. Dadurch kann gerade der Anreiz bestehen, aus finanzieller Notwendigkeit den Angeklagten angepasster und weniger konfrontativ zu verteidigen, als es für seine effektive Verteidigung notwendig wäre.454 Unabhängigkeit sollte im Rahmen von Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK folglich dahingehend ausgelegt werden, dass sie eine in­ stitutionelle Selbständigkeit des Rechtsbeistands verlangt, die auch durch objektive Auswahlmechanismen im Beiordnungsverfahren sichergestellt wird.

V. Zwischenergebnis: Der europäische Pflichtverteidiger nach Maßgabe der EMRK In der EMRK ist strafrechtliche Prozesskostenhilfe als selbstständige Garan­ tie in Art. 6 Abs. 3 lit c) EMRK normiert, wenngleich diese einen engen Konnex zum Recht auf Zugang zu einem Verteidiger hat. Beide Rechte teilen sich, dass sie dem Angeklagten über den Rechtsbeistand als Vehikel seine Verteidigungs­ rechte vermitteln und so erst wirksam zugänglich machen. Strafrechtliche Prozess­ kostenhilfe geht als Garantie darüber hinaus, indem sie zugleich den Aspekt der Chancengleichheit verfolgt. Angeklagte sollen über strafrechtliche Prozesskosten­ hilfe unabhängig von Einkommen und Vermögen Zugang zu einem Verteidiger erhalten können.455

452 Krit. daher das Votum der Richter Kalaydjieva u. a. v. 20.10.2015 – 25703/11, Dvorski ./. HR, Rn. 20. 453 Dies implizierend, indem sie die Unabhängigkeit des Rechtsbeistandes betonen ebd. 454 Vgl. zu dieser Kritik m. w. N. u. Kap. 4, Fn. 336. 455 Vgl. o. Kap. 2 A. I.

A. Die Konzeption der EMRK

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1. Voraussetzungen strafrechtlicher Prozesskostenhilfe Strafrechtliche Prozesskostenhilfe steht dem Angeklagten zu, wenn er bedürf­ tig ist und wenn ein Interesse der Rechtspflege für die Beiordnung eines staatlich getragenen Verteidigers streitet. Beide Voraussetzungen formulieren das Interesse an strafrechtlicher Prozesskostenhilfe aus unterschiedlichen Perspektiven: Die In­ teressen der Rechtspflege formulieren vorrangig ein Interesse des Staates daran, über strafrechtliche Prozesskostenhilfe ein für den Angeklagten faires Verfahren zu ermöglichen, das Interesse der Bedürftigkeit steht dagegen vorrangig im Inte­ resse des Angeklagten. Interessen der Rechtspflege sind umso eher gegeben, je schwerer die drohenden Rechtsfolgen wiegen oder je weniger vom Angeklagten eine wirksame und effek­ tive Eigenverteidigung erwartet werden kann. Insbesondere wenn dem Angeklag­ ten Freiheitsentzug bereits abstrakt droht, streitet in der Regel ein Rechtspflege­ interesse dafür, ihm einen Verteidiger im Wege strafrechtlicher Prozesskostenhilfe beizuordnen. Diese drohenden Rechtsfolgen beschränken sich jedoch nicht auf die unmittelbar angedrohten Strafen, sondern beziehen auch solche mittelbaren Wirkungen ein, die sich an die jeweils verhängte Strafe knüpfen. Ob der Ange­ klagte eine Verteidigung in Eigenregie leisten kann, bemisst sich zunächst an den tatsächlichen und rechtlichen Fragestellungen, folglich der objektiven Komplexi­ tät des Verfahrens, die mit seinen subjektiven Fähigkeiten und Kompetenzen ins Verhältnis gesetzt werden müssen. Dabei gilt: Je schutzbedürftiger der Angeklagte ist, sei es aufgrund seines Alters oder geistiger Einschränkungen, umso eher muss ihm ein Verteidiger beigeordnet werden. Dies gilt insbesondere für jugendliche Angeklagte, die am Strafverfahren grundsätzlich nur über einen Verteidiger ef­ fektiv teilhaben können.456 Das Interesse der Bedürftigkeit dagegen steht prinzipiell vorrangig im Inter­ esse des Angeklagten, wenngleich auch der Staat ein Interesse an einem chancen­ gleichen Zugang zu einem Verteidiger, und an einem dadurch fair geführten Ver­ fahren hat. Der Angeklagte muss daher auch darlegen, dass ihm, und sei es nur teilweise, die Mittel fehlen, einen Verteidiger selbst zu beauftragen. Dies bemisst sich anhand einer Betrachtung der Einkommens- und Vermögenslage, von der lau­ fende Verpflichtungen abgezogen werden. Der Maßstab ist insofern jedoch nicht streng. Auch aus Indizien, die eine Vermögenslosigkeit nahelegen, wie z. B. andau­ ernde Arbeitslosigkeit, darf der Staat die Bedürftigkeit des Angeklagten folgern.457 Bereits in der Konzeption der Voraussetzungen wird deutlich, dass der EGMR insoweit zwar auch Eigenverantwortung des Angeklagten zulässt, dem Staat jedoch weitgehende Fürsorgepflichten auferlegt. Dies zeigt sich insbesondere an der Rechtsprechung des EGMR zum Verzichtsrecht des Angeklagten so­ 456 457

Vgl. o. Kap. 2 A. II. 1. Vgl. o. Kap. 2 A. II. 2.

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

wie zur Zurechenbarkeit ineffektiver Verteidigung zum jeweiligen Konventions­ staat. Als Ausdruck seines in Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK zugesicherten Rechts auf Eigenverteidigung darf der Angeklagte ebenso auf die Garantien des Verteidi­ gungsbeistands und der strafrechtlichen Prozesskostenhilfe verzichten. Der EGMR gewährt insoweit jedoch dem Staat einen weiten Spielraum, einen solchen Verzicht aus Gründen des öffentlichen Interesses nicht anzuerkennen und dem Angeklagten auch gegen seinen erklärten Willen einen Verteidiger beizuordnen. Damit wird den Konventionsstaaten erlaubt, auch ohne tatsächlichen Autonomiedefekt des Ange­ klagten zu vermuten, dass dieser sich selbst in bestimmten Konstellationen nicht selbst verteidigen kann. Dies ist grundsätzlich hinnehmbar, solange die Stellung des Angeklagten als materiellen Rechteinhaber der Verteidigungsrechte respektiert wird und er über den Verteidiger nur eine zusätzliche Option erhält, seine Eigen­ verteidigung umzusetzen.458 Ebenso wird bei ineffektiver Verteidigung des Angeklagten diese ineffektive Verteidigung als Konventionsverletzung zugerechnet, wenn für den Konventions­ staat diese offenkundig war oder durch den Angeklagten mitgeteilt wurde. Dies sichert ab, dass der Konventionsstaat nicht nur formal einen Verteidiger beiordnet und so seinen Konventionspflichten genügt, sondern dass er darüber hinaus tat­ sächlich für die Unterstützung durch einen Rechtsbeistand („assistance“ / „assisté“) sorgen muss. Von dieser Fürsorgepflicht kann sich ein Konventionsstaat auch nicht befreien, indem er den Angeklagten für die Wahrnehmung seiner Rechte vorran­ gig selbst verpflichtet.459 Diese materielle Verpflichtung des Konventionsstaates für effektive Verteidi­ gung ist zwar begrüßenswert, lässt bei diesem Fürsorgeansatz jedoch außer Acht, dem Angeklagten über Antragsrechte auch Eigenverantwortung im Verfahren zu­ zugestehen. Der EGMR formuliert über seinen Fürsorgeansatz eine Idealvorstel­ lung des strafverfolgenden Konventionsstaates, der die Verwirklichung der Ver­ teidigungsrechte für den Angeklagten immer zutreffend ermöglicht – und deshalb Antragsrechte eigentlich nicht erfordert. Dies versäumt jedoch, dem Angeklagten über Antragsrechte an neuralgischen Verfahrensstellen auch eigene Gestaltungs­ macht einzuräumen und so seine Stellung als Prozesssubjekt zu betonen.460 2. Der „Angeklagte“ im „strafrechtlichen Verfahren“ Über die Begriffe des „Angeklagten“ und des „strafrechtlichen Verfahrens“ wird der Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 3 EMRK eröffnet, aber auch in zeit­ licher, sachlicher wie persönlicher Hinsicht beschränkt.

458

Vgl. o. Kap. 2 A. II. 3. a). Vgl. o. Kap. 2 A. II. 3. b). 460 Vgl. o. Kap. 2 A. II. 3. c). 459

A. Die Konzeption der EMRK

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„Strafrechtlich“ ist ein Verfahren dann, wenn es insbesondere wegen der Natur der Verfehlung oder der drohenden Rechtsfolgen dem Gebiet des Strafrechts zu­ zurechnen ist. Indiziell kann dabei auch die Wertung des jeweiligen Konventions­ staates herangezogen werden, ob dieser den konkreten Vorwurf als strafrechtlich beurteilt.461 Das Strafverfahren bildet für den strafrechtlichen Vorwurf den Rahmen zur Feststellung der Schuld oder Unschuld des Angeklagten. Diesen Rahmen zieht der EGMR in seiner aktuellen Rechtsprechung noch vergleichsweise eng, indem er nur diejenigen Verfahrensteile in das Strafverfahren – und damit in die Garantien von Art. 6 Abs. 3 EMRK – miteinbezieht, die unmittelbar der Feststellung der Schuld oder der Unschuld des Angeklagten dienen. Dadurch sind insbesondere das Haft­ prüfungsverfahren ebenso wie das transnationale Strafverfahren in der Rechtspre­ chung des EGMR kein Teil des Strafverfahrens, weil sie andere Ziele verfolgen. Diese Auslegung wird jedoch den tatsächlichen Gegebenheiten des Strafverfah­ rens nicht (mehr) gerecht und muss deswegen in dynamischer Auslegung angepasst werden, um noch zu einer wirksamen und effektiven Auslegung des Anwendungs­ bereichs von Art. 6 Abs. 3 EMRK zu gelangen. Die Garantie von Art. 5 Abs. 4 EMRK bewirkt zwar auch den Einbezug von grundlegenden Verteidigungsrechten im Fall des Freiheitsentzugs. Sowohl im Rahmen des Haftprüfungsverfahrens als auch im Rahmen anderer strafprozessualer Zwangsmaßnahmen und dagegen ge­ richteter Beschwerdeverfahren ist es aber formalistisch, sie aus dem Schutzbereich von Art. 6 Abs. 3 EMRK auszunehmen, nur weil sie nicht die Schuldfrage konkret betreffen. Dies verkennt, dass in diesen Verfahren das Strafverfahren in seinem konkreten Ablauf überhaupt erst ermöglicht und so die Wahrheitsermittlung mit­ telbar gefördert wird.462 Die grenzüberschreitenden Teile des transnationalen Strafverfahrens sollten aus diesem Grund ebenso in den Schutzbereich von Art. 6 Abs. 3 EMRK einbezogen werden, weil auch sie die Wahrheitsermittlung im Strafverfahren fördern. Grenz­ überschreitende Verfahrensteile hat der EGMR aber bislang vor allem deswegen aus dem Schutzbereich von Art. 6 Abs. 3 EMRK herausgenommen, weil seiner An­ sicht nach der Konnex des Strafverfahrens zum im Ausland durchgeführten Teil des Verfahrens nicht ausreicht. Insbesondere für den Fall des Europäischen Haft­ befehls sieht der EGMR über Art. 5 Abs. 4 EMRK auch nur eine abgeschwächte Rechtsweggarantie vor, weil er die Natur dieses Verfahrens nicht als Untersu­ chungshaft, sondern als Auslieferungshaft i. S. v. Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. f EMRK begreift. Zudem können Verteidigungsrechte nur dann Rechtshilfemaßnahmen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union hindern, wenn eine ekla­ tante Rechtsverweigerung vorliegt.463

461

Vgl. o. Kap. 2 A. III. 1. a) aa). Vgl. o. Kap. 2 A. III. 1. a) bb). 463 Vgl. zur Darstellung der Rspr. des EGMR o. Kap. 2 A. III. 1. b) aa). 462

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

Diese Auslegung der EMRK muss jedoch ebenfalls dynamische den aktuellen Umständen des transnationalen Strafverfahrens im Raum der Freiheit, der Sicher­ heit und des Rechts angepasst werden. Danach ist anzunehmen, dass Anordnungsund Vollstreckungsstaat gemeinsam und überlappend verantwortlich dafür sind, die Verteidigungsrechte des Angeklagten zu gewährleisten. Der Anordnungsstaat muss dies – wie im rein nationalen Strafverfahren auch – jedenfalls auf seinem Staatsgebiet gewährleisten, ihn trifft aber auch auf für den Teil des Vollstre­ ckungsverfahrens im Vollstreckungsstaat insoweit eine Schutzpflicht. Dies folgt aus der Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten nach dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, die dem Anordnungsstaat erlaubt, dem Vollstreckungsstaat Hand­ lungen im Rahmen der strafrechtlichen Zusammenarbeit quasi wie auf eigenem Hoheitsgebiet zu oktroyieren. Den Vollstreckungsstaat dagegen trifft grundsätzlich nur eine Pflicht, auf seinem Hoheitsgebiet dem Angeklagten auch die Mindest­ rechte nach Art. 6 Abs. 3 EMRK zu garantieren, weil sich für ihn dieses Rechts­ hilfeverfahren gerade nicht als reines Verwaltungsverfahren, sondern als Beitrag zu einem im Anordnungsstaat geführten Strafverfahren darstellt. Insbesondere im Rahmen des Europäischen Haftbefehls müssen für den Angeklagten nicht nur über Art. 6 Abs. 3 EMRK die Mindestrechte der Verteidigung gewährt werden, sondern auch über eine realistische Einschätzung und Einordnung als Auslieferungsunter­ suchungshaft über Art. 5 Abs. 4 EMRK i. V. m. Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit.  c EMRK. Inwiefern die drohende Verletzung von Verteidigungsrechten im Anordnungs­ staat Rechtshilfe zwischen den Mitgliedstaaten behindern kann, sollte in einer erweiterten Auslegung der flagrant-denial-Rechtsprechung des EGMR erfolgen. Diese muss berücksichtigen, dass, solange Verteidigungsrechte in der EU noch keinem einheitlichen Standard zugeführt wurden, ihre Wahrung pauschal auch nicht vermutet werden darf. Macht somit ein Angeklagter substantiiert geltend, dass ihm im Vollstreckungsstaat ein entgegen den Grundsätzen von Art. 6 Abs. 3 EMRK unfaires Verfahren droht, muss dies im Rechtshilfeverfahren beachtet werden.464 Über den Begriff des „Angeklagten“ wird zunächst zeitlich festgelegt, dass dem Angeklagten ab dem Zeitpunkt der ersten offiziellen Beschuldigung durch die Ermittlungsbehörden bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens die Min­ destgarantien aus Art. 6 Abs. 3 EMRK zustehen. „Anklage“ im Sinne der EMRK ist daher nicht mit der – erst späten – Erhebung der öffentlichen Klage gegen den Angeklagten gleichzusetzen, sondern mit der Mitteilung der Beschuldigung bereits im Ermittlungsverfahren. Dadurch wird die Stellung des Angeklagten als Prozess­ subjekt im gesamten Strafverfahren betont.465 Diese Prozesssubjektsstellung wird dem Angeklagten zudem eingeräumt, indem gemäß Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK ihm über strafrechtliche Prozesskostenhilfe ein Verteidiger vermittelt wird, der in allen Phasen des Ermittlungsverfahrens wie der 464 465

Vgl. o. Kap. 2 A. III. 1. b) bb), cc). Vgl. o. Kap. 2 A. III. 2. a).

A. Die Konzeption der EMRK

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späteren Hauptverhandlung für den Angeklagten nicht nur anwesend sein, sondern ihm in diesen Situationen aktiv beistehen darf. Um auf seine Verteidigung ausrei­ chend Einfluss zu nehmen, muss dem Angeklagten zudem zustehen, diese über die Person des Verteidigers mitzubestimmen. Auch wenn dem Angeklagten insofern kein schrankenloses Wahlrecht zusteht, kann der Konventionsstaat nur ausnahms­ weise von dem benannten Verteidiger des Vertrauens abweichen.466 Diese Partizipations- und Einflussmöglichkeiten des Angeklagten blieben je­ doch wirkungslos, wenn ihre Verletzung nicht durch ein ausreichendes Fehler­ folgenregime abgesichert wäre. Eingriffe in die Rechte aus Art. 6 Abs. 3 lit.  c EMRK sind daher nur möglich, wenn die Konventionsstaaten legitime, gemessen an der Intensität des Eingriffs ausreichende Gründe vortragen können und auch in einer Betrachtung des gesamten Verfahrens dieses trotz der Beschränkung noch fair war. Der Zugang zu strafrechtlicher Prozesskostenhilfe sollte dabei nur aus „zwingenden Gründen“ beschränkt oder verzögert werden dürfen, unabhängig davon, ob diese Verzögerung später dazu führt, dass der Angeklagte unverteidigt bleibt oder nicht. Damit ist die Beschränkung strafrechtlicher Prozesskostenhilfe an den strengeren Maßstäben zu messen, die der EGMR für die Beschränkung des Zugangs zu einem Verteidiger aufgestellt hat. Dies entspricht dem engen Konnex strafrechtlicher Prozesskostenhilfe zum Zugang auf Verteidigungsbeistand und der dadurch chancengleich vermittelten Teilhabe an den Mindestgarantien aus Art. 6 Abs. 3 EMRK. Ob diese Beschränkung – trotz zwingender Gründe – ins­ gesamt noch fair war, muss im Rahmen einer Gesamtfairnessbetrachtung bewer­ tet werden. In dieser ist vorrangig auch die Kausalität der Verfahrensverletzung zu berücksichtigen. Über diesen Mechanismus wird den Konventionsstaaten auch vermittelt, dass gewisse Eingriffe nur über Beweiswürdigungslösungen oder gar Beweisverwertungsverbote kompensiert werden können, damit nicht das gesamte Verfahren als unfair zu gelten hat. Diese Gesamtbewertung ist über die Bewertung der Kausalität des Verfahrensverstoßes zwar greifbarer geworden, belässt den Mit­ gliedstaaten jedoch einen weiten Spielraum, das Verfahren trotz Verletzungen der Verteidigungsrechte noch fair zu gestalten.467 3. Der Staat als Garant der Rahmenbedingungen effektiver strafrechtlicher Prozesskostenhilfe Die Qualität des rechtlichen Beistands wird auch davon bestimmt, inwiefern er unabhängig und parteiisch die Interessen des Angeklagten gegenüber den Straf­ verfolgungsbehörden vertreten kann. Dafür muss der Verteidiger vor allem insti­ tutionell unabhängig vom Staat sein. Diese institutionelle Unabhängigkeit muss vor allem in der Praxis der Beiordnung integriert werden, insbesondere wenn dem 466 467

Vgl. o. Kap. 2 A. III. 2. b). Vgl. o. Kap. 2 A. III. 2. c).

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

Angeklagten zwangsweise ein Verteidiger gegen oder ohne seinen Wunsch bei­ geordnet wird. Um zu verhindern, dass die Qualität der Verteidigung wegen sach­ fremder Einflüsse leidet, gilt ein Verfahren in der Regel dann als fair, wenn Me­ chanismen existieren, die eine objektive Entscheidungsfindung absichern. Umso mehr Spielraum jedoch den direkt am Verfahren beteiligten Strafverfolgungsbe­ hörden bei der Auswahl des Pflichtverteidigers zukommt, umso mehr muss der jeweilige Konventionsstaat belegen, dass diese Auswahl konkret die Fairness des Verfahrens nicht beeinträchtigt hat.468

B. Die Konzeption der Grundrechtecharta Die Europäische Charta der Grundrechte ist die für die EU formal alleinig verbindliche Rechtsquelle.469 Sie entfaltet weder nur deklaratorische Wirkung im Vergleich zu den vorher vom EuGH etablierten allgemeinen Rechtsgrundsätzen,470 noch dupliziert sie lediglich vorhandene Gewährleistungen aus der EMRK.471 Sie geht durch ihren genuin transnationalen Anwendungsbereich über das Schutz­ niveau der EMRK hinaus.472 Zudem bindet sie – trotz der Protokolle Polens, Groß­ britanniens und der Tschechischen Republik – 473 alle Mitgliedstaaten der EU und bestimmt mit zunehmendem Harmonisierungsgrad auch das nationale Strafver­ fahren.474 Die Charta ergänzt folglich nicht nur den Gewährleistungsumfang der EMRK, sondern kann über ihre Verbindlichkeit gegenüber Union und Mitglied­ staaten anders und weitgehender wirken als die EMRK.475 Der menschenrechtlich erforderliche Umfang von strafrechtlicher Prozesskostenhilfe kann somit nur unter Einbezug der GRCh entwickelt werden.

468

Vgl. o. Kap. 2 A. IV. 2. b). Im Gegensatz zur EMRK, die wegen des bislang gescheiterten Beitritts der EU keine Grundrechtsverpflichtung gegenüber der EU selbst entfaltet, vgl. dazu EuGH, Gutachten v. 18.12.2014 – C-2/13, EMRK-Beitritt, Rn. 178 ff. (insb. zum Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts); abl. Breuer, EuR 2015, 348 ff.; ebenso abl. Engel, Der Beitritt der Europäi­ schen Union zur EMRK, S. 313 ff.; abl. Spielmann, IWRZ 2017, 150 ff.; abl. Walter, in: Kment (Hrsg.), FS Jarass, S. 147 ff.; krit. Wendel, NJW 2015, 923 ff.; pessimistisch Streinz, in: Kment (Hrsg.), FS Jarass, S. 144; diff. Schorkopf, JZ 70 (2015), 783 f. 470 Die erhebliche Bedeutung der expliziten Regelung der Grundrechte in der Charta beto­ nend Sarmiento, CMLRev 50 (2013), 1270; a. A. Gleß, Utr. L. Rev. 9 (2013), 94. 471 So auch Búrca, I. Jur. 49 (2013), 54; vgl. so schon die Aufnahme ausschließlich sozialer Rechte in die Charta selbst im Gegensatz zur EMRK, so auch Wildhaber, R. L. R. 2009, 160. 472 Vgl. dazu u. Kap. 2 B. III. 1. b) aa). 473 Vgl. EuGH, Urteil v. 21.12.2011 – C-411/10 u. C-493/10, N. S. u. a., Slg. 2011, I-13991 Rn. 119 f.; zust. Beal / Hickman, J. Rev. 16 (2015), 123 ff.; ebenso Thunberg-Schunke, Whose Responsibility?, S. 55 Fn. 94; ebenso Calliess / Ruffert-Kingreen, AEUV / EUV, Art. 6 EUV Rn. 14 a. E. 474 Vgl. u. Kap. 2 B. I. 475 In diesem Sinne auch Meyer-Eser, GRCh, Art. 48 Rn. 32. 469

B. Die Konzeption der Grundrechtecharta

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Titel VI der GRCh enthält die justiziellen Rechte. Art. 47 GRCh normiert eine allgemeine Rechtsschutzgarantie, die Artikel 48–50 GRCh haben gesonderte Vorschriften für das Strafverfahren zum Inhalt. Für das Recht auf strafrechtliche Prozesskostenhilfe ist Art. 48 Abs. 2 GRCh die maßgebliche Vorschrift, die in ge­ meinsamer Lesung mit Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK Voraussetzungen und Gewähr­ leistung der strafrechtlichen Prozesskostenhilfe normiert.476

I. Die neue Bedeutsamkeit der GRCh im Strafverfahren: dynamische Erweiterung des Anwendungsbereichs der Grundrechtecharta Lediglich im durch Art. 51 Abs. 1 GRCh definierten Rahmen ist die Charta an­ wendbar. Sie richtet sich gem. Art. 51 Abs. 1 GRCh vorrangig an die Europäische Union und ihre Organe,477 bindet „bei der Durchführung des Rechts der Union“ aber auch die Mitgliedstaaten. Die Bindung der Union ist unbestritten, die kon­ krete Auslegung des Begriffs der „Durchführung des Rechts der Union“ – und damit der Bindungsumfang der Mitgliedstaaten – hingegen nicht. Da der Charta in ihrem Anwendungsbereich nicht nur vor einfachem nationalen Recht An­ wendungsvorrang zukommt, sondern ebenso vor nationalem Verfassungsrecht,478 sollte die Bedingung der „Durchführung von Unionsrecht“ nach Auffassung des Grundrechtekonvents den Anwendungsbereich der Charta gegenüber den Mitglied­ staaten begrenzen.479 Denn nur soweit die Charta nicht in den Bereich nationaler Verfassungswerte eindringt, sind die nationalen Verfassungsgerichte noch allein auslegungsbefugt.480 Inwiefern die Charta das Institut strafrechtlicher Prozess­ kostenhilfe auch auf mitgliedstaatlicher Ebene mitbestimmt, hängt mithin davon ab, ob harmonisierende Richtlinien – wie die PKH-RL – eine „Durchführung des Rechts der Union“ darstellen.

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Vgl. dazu sogl. u. Kap. 2 B. II. Zutr. dazu, dass der materielle Gehalt der Charta klar dafür spreche, dass die Mitglied­ staaten mindestens ebenso grundrechtsverpflichtet sein sollen vgl. Eeckhout, CMLRev 39 (2002), 952. 478 Vgl. u. m. w. N., Kap. 2 B. I. 2. 479 Grundrechtekonvent, ABl. C 303, 17, 32; insb. im Hinblick auf die sog. ERT-Rechtspre­ chung insgesamt zust. Stern / Sachs-Ladenburger / Vondung, GRCh, Art. 51 Rn. 32; ebenso Paulus, in: Jahn / Radtke (Hrsg.), Deutsche Strafrechtsreform und Europäische Grundrechte, S. 53; Meyer-Borowsky, GRCh, Art. 51 Rn. 23 („unübersehbares Signal […] zum ‚judicial self restraint‘“); Lenaerts, ECLR 8 (2012), 376. 480 EuGH, Urteil v. 26.2.2013 – C-617/10, Fransson, Rn. 19, 22; ausführlich zum insoweit drohenden Bedeutungsverlust nationaler Verfassungsgerichte Thym, NVwZ 2013, 895. 477

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

1. Der verschiebliche Maßstab der „Durchführung des Rechts der Union“ Mit dem stetig wachsenden Regelungswerk des Unionsrecht vergrößert sich im gleichen Maße der Anwendungsbereich der Charta für die Mitgliedstaaten. In welchem Umfang dies konkret geschieht, hängt auch von der unionsrechtlichen Auftragsnorm, vorrangig jedoch davon ab, wie weit der Begriff der Durchführung verstanden wird. a) Erforderlichkeit einer anwendbaren Ermächtigungsoder Auftragsnorm des Primär- oder Sekundärrechts Da die Grundrechtsverpflichtung der Mitgliedstaaten nur eine von der Union abgeleitete ist, sind diese nur dann an Grundrechte der Charta gebunden, wenn sie als Repräsentanten der Union in ihrem Auftrag und Interesse tätig werden (sog. „agency“-Situation).481 Daher genügt nicht jede Norm des Unionsrechts. Vielmehr ist erforderlich, dass die Mitgliedstaaten eine hinreichend bestimmte Verpflichtung des Unionsrechts umsetzen, also aufgrund einer Auftrags- oder Er­ mächtigungsnorm des Primär- oder Sekundärrechts482 handeln.483 Es muss sich um eine „unionsrechtlich geregelte […] Fallgestaltung“ handeln.484 Das Primärrecht enthält eine Vielzahl solcher Auftrags- oder Ermächtigungs­ normen, wie z. B. den Auftrag effektiver Verfolgung von Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union aus Art. 325 AEUV,485 und die Pflicht zur

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Sarmiento, CMLRev 50 (2013), 1276; Stern / Sachs-Ladenburger / Vondung, GRCh, Art. 51 Rn. 34; Meyer-Borowsky, GRCh, Art. 51 Rn. 25; EnzEur-Schorkopf, Eur. Grundrechtsschutz, § 3 Rn. 19; a. A. Ohler, NVwZ 2013, 1434, der die Mitgliedstaaten als durch das Unionsrecht definierte Träger eigener Zuständigkeiten versteht. 482 Ob sog. Tertiärrecht auch nach Lissabon noch eine eigenständige Kategorie des Unions­ rechts darstellt dazu m. w. N. Bueren, EuZW 2012, 168; zum Umfang von Primär- und Sekun­ därrecht vgl. m. w. N. GHN-Nettesheim, EUV / A EUV, Art. 288 AEUV Rn. 27 f., 30; begrifflich für den Einbezug von Tertiärrecht i.R.v. Art. 51 GRCh Meyer, ZStW 72 (2017), 1091; Ohler, NVwZ 2013, 1433. 483 Vgl. EuGH, Urteil v. 10.7.2014 – C-198/13, Hernàndez u. a., Rn. 35; Urteil v. 13.6.1996 – C-144/95, Maurin, Slg. 1996, I-2909 Rn. 11 f.; Urteil v. 6.3.2014 – C-206/13, Siragusa, Rn. 26 f.; zust. Meyer, ZStW 72 (2017), 1095; in der Literatur wird auch von einer „messbaren Verpflich­ tung“ (Thym, NVwZ 2013, 894), „triggering rules“ (Sarmiento, CMLRev 50 (2013), 1279 ff.) oder einer „hinreichend bestimmten Verpflichtung der Mitgliedstaaten“ (Latzel, EuZW 2015, 659) gesprochen; ebenso Ohler, NVwZ 2013, 1434. 484 St. Rspr. EuGH, Urteil v. 17.12.2015 – C-419/14, WebMindLicences, Rn. 66; Urteil v. 26.2.2013 – C-617/10, Fransson, Rn. 19; auch aufgegriffen von den Generalanwälten, s. GA Bobek, Schlussanträge v. 7.9.2017 – C-298/16, Ispas, Rn. 29; GAin Kokott, Schlussanträge v. 30.3.2017 – C-73/16, Puškár, Rn. 29. 485 Vgl. EuGH, Urteil v. 8.9.2015 – C-105/14, Taricco, Rn. 37; GAin Kokott, Schlussanträge v. 15.12.2011 – C-489/10, Bonda, Rn. 18; EuGH, Urteil v. 26.2.2013 – C-617/10, Fransson, Rn. 26;

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loyalen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten in Art. 4 Abs. 3 AEUV.486 Auch die Grundfreiheiten487 und ihre Ausnahmetatbestände488 sind solche tauglichen Auf­ tragsnormen. Nicht ausreichend dagegen sind primärrechtliche Vorschriften, die lediglich ein gemeinsames Strukturziel der Union festlegen,489 Kompetenztitel, von denen die Europäische Union bislang keinen Gebrauch gemacht hat490 sowie die Charta selbst.491 Auch ungeschriebene, aus dem Primärrecht abgeleitete Ansprüche von Unionsbürgern, wie der unionale Staatshaftungsanspruch, sind Unionsrecht i. S. v. Art. 51 Abs. 1 GRCh.492 Sekundärrechtliche Vorschriften entwerfen grund­ sätzlich konkrete Aufträge oder Aufgaben und sind zunächst taugliche Normen.493 Dies gilt jedoch nur für die nach Art. 288 AEUV verbindlichen Sekundärrechts­ normen, nicht also für Empfehlungen oder Stellungnahmen.494 Diese Verpflichtungsnorm muss zudem selbst in ihrem „Geltungsbereich“ be­ troffen oder „anwendbar“ sein. Die Anwendbarkeit einer unionsrechtlichen Norm

zust. Meyer, ZStW 72 (2017), 1105; ebenso als europarechtlich zutr. bezeichnend O ­ hler, NVwZ 2013, 1436. 486 Vgl. EuGH, Urteil v. 30.6.2016 – C-205/15, Toma, Rn. 21, 28 bei einem möglichen Ver­ stoß gegen Art. 110 AEUV. 487 EuGH, Urteil v. 4.10.1991  – C-159/90, Society for the Protection of Unborn Children Ireland, Slg. 1991, I-4685 Rn. 22 ff.; vgl. für die Dienstleistungsfreiheit, Urteil v. 18.6.1991 – C-260/89, ERT, Slg.  1991, I-2925 Rn. 42 ff.; Urteil v. 15.11.2011  – C-256/11, Dereci u. a., Slg.  2011, I-11339 Rn. 60 f.; vgl. zu Fällen der Freizügigkeit m. w. N. Thym, NVwZ 2012, 103 f. 488 Vgl. grundlegend EuGH, Urteil v. 18.6.1991 – C-260/89, ERT, Slg. 1991, I-2925 Rn. 43; bestätigt in Urteil v. 26.6.1997 – C-368/95, Familiapress, Slg. 1997, I-3709 Rn. 24; Urteil v. 30.4.2014 – C-390/12, Pfleger u. a., Rn. 35 f.; zust. Lenaerts, ECLR 8 (2012), 385 f.; krit. Wollenschläger, EuZW 2014, 580. 489 Z. B. Schutz des kulturellen Erbes, Schutz der Kultur, EuGH, Urteil v. 18.12.1997  – C-309/96, Annibaldi, Slg. 1997, I-7493 Rn. 14 ff., jedoch mit Hinweis darauf, dass bei einer zielgerichteten Durchführung dieser Strukturziele durch einen Mitgliedstaat auch solche taug­ lich sein können; zust. Meyer, ZStW 72 (2017), 1106. 490 Am Bsp. von Art. 79 Abs. 2 AEUV vgl. EuGH, Urteil v. 7.3.2017  – C-638/16 PPU, X. u. X., Rn. 44; Urteil v. 10.7.2014 – C-198/13, Hernàndez u. a., Rn. 36; Urteil v. 15.11.2011 – C-483/09 u. C-1/10, Gueye u. Salmerón Sánchez, Slg. 2011, I-8286 Rn. 55, 69 f.; a. A. dagegen GAin Sharpston, Schlussanträge v. 30.9.2010 – C-34/09, Ruiz Zambrano, Slg. 2010, I-1179 Rn. 165. 491 Alles andere wäre zirkulär, dennoch ausdrücklich dazu EuGH, Urteil v. 1.12.2016  – C-395/15, Daouidi, Rn. 63; Beschluss v. 15.4.2015 – C-497/14, Burzio, Rn. 29, 31; Urteil v. 26.2.2013 – C-617/10, Fransson, Rn. 22; ein solcher Fall lag wohl auch Urteil v. 7.6.2012 – C-27/11, Vinkov, Rn. 40, 54, 59 zugrunde; zust. Ohler, NVwZ 2013, 1433. 492 EuGH, Urteil v. 22.12.2010 – C-279/09, Deutsche Energiehandels- und Beratungsgesell­ schaft, Slg. 2010, I-13849 Rn. 29 f. 493 Vgl. zur Verordnung EuGH, Urteil v. 16.2.2017 – C-578/16 PPU, C. K. u. a., Rn. 59; zur Richtlinie Urteil v. 10.7.2014 – C-198/13, Hernàndez u. a., Rn. 38 ff.; für Beschlüsse, vgl. ­Jarass, GRCh, Art. 51 Rn. 17; m. w. N. Sarmiento, CMLRev 50 (2013), 1281. 494 EuGH, Urteil v. 13.12.1989 – 322/88, Grimaldi, Slg. 1989, 4416 Rn. 16; Latzel, EuZW 2015, 659; Röder, Gesetzesvorbehalt der Charta im Lichte einer europäischen Wesentlichkeits­ theorie, S. 116 f., 130 f.

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

zieht zwingend die Anwendbarkeit der Charta nach sich.495 Grundfreiheiten sind nur dann taugliche Auftragsnormen, wenn sie wegen eines grenzüberschreitenden Sachverhalts überhaupt Anwendung finden.496 Ebenso ist für Sekundärrechtsakte wie Richtlinien497 und Verordnungen erforderlich,498 dass deren Anwendungs­ bereich eröffnet und im Falle von Richtlinien die Umsetzungsfrist abgelaufen ist.499 Für Rahmenbeschlüsse gilt dies ebenso.500 Unionsrecht kann die Determination eines bestimmten Bereiches und damit die Anwendbarkeit der Charta auch ausschließen.501 Werden die Mitgliedstaaten in einem solchen von der Anwendbarkeit ausgenommenen Bereich tätig, dann han­ deln sie in einer explizit dem Unionsrecht und der Charta entzogenen Fallgestal­ tung. Erst recht ist Art. 51 Abs. 1 GRCh nicht berührt, wenn die Mitgliedstaaten vollständig außerhalb der Kompetenz der Union handeln.502 b) „Durchführung“ Das Merkmal der „Durchführung“ in Art. 51 Abs. 1 GRCh qualifiziert darüber hinaus, welches Handeln der Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich einer unions­ rechtlichen Norm einen ausreichenden Bezug hat, um eine Grundrechtsverpflich­ tung nach der Charta auszulösen.503

495

EuGH, Urteil v. 30.4.2014 – C-390/12, Pfleger u. a., Rn. 34; Urteil v. 26.2.2013 – C-617/10, Fransson, Rn. 21 („The applicability of EU law entails applicability of the fundamental rights guaranteed by the Charter.“). 496 Vgl. EuGH, Urteil v. 8.11.2012 – C-40/11, Iida, Rn. 77; Urteil v. 29.5.1997 – C-299/95, Kremzow, Slg. 1997, I-2629 Rn. 16. 497 Vgl. EuGH, Urteil v. 9.3.2017 – C-406/15, Milkova, Rn. 35 ff., 50; Urteil v. 16.4.2015 – C-446/12 u. a., Willems u. a., Rn. 49 f.; Urteil v. 10.7.2014 – C-198/13, Hernàndez u. a., Rn. 38 ff. (für Richtlinien); Urteil v. 5.10.2010 – C-400/10 PPU, McB., Slg. 2010, I-8965 Rn. 52 (für die Bestimmungen der Brüssel-II-VO); Urteil v. 13.6.1996 – C-144/95, Maurin, Slg. 1996, I-2909 Rn. 11 f. (Ablehnung der Anwendbarkeit mangels Einschlägigkeit einer Richtlinie). 498 EuGH, Urteil v. 17.9.2014 – C-562/12, Liivimaa Lihaveis MTÜ, Rn. 57, 62 ff. 499 EuGH, Urteil v. 19.1.2010 – C-555/07, Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365 Rn. 24 f. 500 Vgl. EuGH, Urteil v. 1.6.2016 – C-241/15, Bob-Dogi, Rn. 34; Urteil v. 5.4.2016 – C-404/15 u. C-659/15 PPU, Aranyosi u. Căldăraru, Rn. 84; implizit in Urteil v. 29.1.2013 – C-396/11, Radu, Rn. 32 u. Urteil v. 26.2.2013 – C-399/11, Melloni, Rn. 55; Urteil v. 16.6.2005 – C-105/03, Pupino, Slg.  2005, I-5285 Rn. 59; zur richtlinienähnlichen Natur des Rahmenbeschlusses m. w. N. Schönberger, ZaöRV 2007, 1120 ff.; Schroeder, EuR 2007, 356 ff.; seit dem Vertrag von Lissabon ist dies jedoch keine Handlungsform der Union mehr, vgl. Art. 288 AEUV. 501 Vgl. so z. B. in Rat / Europäisches Parlament, Verordnung v. 27.4.2016 – (EU) 2016/679, Datenschutz-Grundverordnung, ABl. L 119, 1, Art. 2 Abs. 2; m. w. N. Sarmiento, CMLRev 50 (2013), 1285 („exclusionary rules“). 502 Zu dieser – selbstverständlich anmutenden – Feststellung, EuGH, Urteil v. 27.11.2012 – C-370/12, Pringle, Rn. 105, 179. 503 Die Stärke des erforderlichen Bezugs zum Unionsrechts immer noch nicht als geklärt ansehend Meyer, ZStW 72 (2017), 1094.

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Durchgeführt werden kann Unionsrecht durch jeden legislativen,504 exekutiven505 oder judikativen Akt der Mitgliedstaaten, der Unionsrecht umsetzt, implemen­ tiert oder auslegt.506 Mitumfasst sind daher auch solche Akte der Mitgliedstaaten, die durch beliehene natürliche oder juristische Personen des Privatrechts ausge­ führt werden oder für die sich die öffentliche Verwaltung privatrechtlicher Hand­ lungsformen bedient.507 Durchführung bedeutet jedoch nicht nur Handeln an sich, sondern benötigt zusätzlich einen hinreichend bestimmten Bezug zum Unions­ recht. Ein solcher Bezug muss jedenfalls „darüber hinausgeh[en], dass die frag­ lichen Sachbereiche benachbart sind oder der eine von ihnen mittelbare Auswir­ kungen auf den anderen haben kann“.508 Ob dies der Fall ist, bestimmt der EuGH im Wege einer wertenden Gesamtbetrachtung und bezieht vorrangig ein, „ob mit ihr eine Durchführung einer Bestimmung des Unionsrechts bezweckt wird, wel­ chen Charakter diese Regelung hat und ob mit ihr nicht andere als die unter das Unionsrecht fallenden Ziele verfolgt werden […], sowie ferner, ob es eine Regelung des Unionsrechts gibt, die für diesen Bereich spezifisch ist oder ihn beeinflussen kann.“509 Diese Kriterien werden großzügig gehandhabt. Insbesondere ist ein zweckge­ richtetes Tätigwerden der Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich des Unions­ rechts nicht zwingend erforderlich.510 Grundsätzlich genügt, dass die Mitglied­ staaten im Anwendungsbereich des Unionsrechts tätig werden. Nicht erforderlich

504

Vgl. EuGH, Urteil v. 10.7.2014 – C-198/13, Hernàndez u. a., Rn. 29, allerdings Anwendung des Unionsrechts abgelehnt mangels Einschlägigkeit der Richtlinie; Urteil v. 18.12.1997  – C-309/96, Annibaldi, Slg.  1997, I-7493 Rn. 13 ff.; Urteil v. 18.6.1991  – C-260/89, ERT, Slg. 1991, I-2925 Rn. 42 ff. 505 Z. B. der Strafvollzug, vgl. EuGH, Urteil v. 29.5.1997 – C-299/95, Kremzow, Slg. 1997, I-2629 Rn. 15 f. 506 M. w. N. dazu, dass diese Akte jeweils als „Durchführung“ gelten, vgl. Bienert, Die Kon­ trolle mitgliedstaatlichen Handelns anhand der Gemeinschaftsgrundrechte, S. 4 ff.; ebenso EnzEuR-Gärditz, Eur. StR, § 6 Rn. 48. 507 Vgl. dazu Meyer-Borowsky, GRCh, Art. 51 Rn. 25; Stangl, in: Kahl / Raschauer / Storr (Hrsg.), Grundsatzfragen GRCh, S. 5 f. 508 St. Rspr., EuGH, Urteil v. 17.9.2014 – C-562/12, Liivimaa Lihaveis MTÜ, Rn. 62; Urteil v. 10.7.2014 – C-198/13, Hernàndez u. a., Rn. 34, 37; Urteil v. 8.11.2012 – C-40/11, Iida, Rn. 79; Urteil v. 8.5.2013 – C-87/12, Ymeraga, Rn. 41; Urteil v. 6.3.2014 – C-206/13, Siragusa, Rn. 25; Urteil v. 18.12.1997 – C-309/96, Annibaldi, Slg. 1997, I-7493 Rn. 21 ff.; Urteil v. 29.5.1997 – C-299/95, Kremzow, Slg. 1997, I-2629 Rn. 16 f. 509 St. Rspr., EuGH, Urteil v. 10.7.2014  – C-198/13, Hernàndez u. a., Rn. 37; Urteil v. 6.3.2014 – C-206/13, Siragusa, Rn. 25; Urteil v. 8.5.2013 – C-87/12, Ymeraga, Rn. 41; Urteil v. 8.11.2012 – C-40/11, Iida, Rn. 79; Urteil v. 18.12.1997 – C-309/96, Annibaldi, Slg. 1997, I-7493 Rn. 21 ff.; eine Konkretisierungstendenz erkennend Holoubek / Lienbacher-Holoubek / L echner / Oswald, GRCh, Art. 51 Rn. 31 a. E. 510 EuGH, Urteil v. 6.10.2015 – C-650/13, Delvigne, Rn. 30 ff.; grundlegend Urteil v. 26.2.2013 – C-617/10, Fransson, Rn. 21; zust. Sarmiento, CMLRev 50 (2013), 1278; Peers / Hervey / Ken­ ner / Ward-Sayers, GRCh, Art. 48 Rn. 65B a. E.; krit. Meyer-Borowsky, GRCh, Art. 51 Rn. 30b; ähnlich wohl auch Jarass, GRCh, Art. 51 Rn. 26.

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ist, dass sie zur Durchführung von Unionsrecht handeln.511 Es kann und soll somit keinen Sachverhalt geben, in dem nationales Recht in den Anwendungsbereich von Unionsrecht fällt, ohne dass die Charta Anwendung findet.512 Dadurch findet die Charta selbst in prima facie rein mitgliedstaatlichem Recht unterworfenen Konstellationen Anwendung, weil insbesondere unerheblich ist, ob die jeweilige Regelung bereits vorher bestand oder erst nach dem Unionsrechts­ akt erlassen wurde, oder ob sie vorrangig nationale Interessen durchsetzt.513 Setzt ein mitgliedstaatlicher Straftatbestand europarechtliche Normen um oder schützt er im konkreten Fall die finanziellen Interessen der Union, wird Unionsrecht durchgeführt.514 Ebenso führen rein nationale Verfahrensvorschriften Unionsrecht durch, wenn sie für die Geltendmachung eines unionsrechtlichen Anspruches im Einzelfall von Bedeutung sind.515 Das Gleiche gilt, wenn in einem Strafverfahren Rechtsfolgen ausgesprochen werden, die die Wahrnehmung unionaler Rechte be­ einflussen bzw. diese beschneiden.516 Darunter fallen ebenso Gesetze und Maß­ nahmen der Mitgliedstaaten, die geeignet sind, unionsrechtliche Grundfreiheiten zu beschränken.517 Selbst wenn die Mitgliedstaaten unionsrechtliche Umsetzungs- oder Gestal­ tungsspielräume ausfüllen, werden sie auf Veranlassung der Union tätig und führen 511 Vgl. grundlegend EuGH, Urteil v. 5.4.2017 – C-217/15, C-350/15, Orsi u. Baldetti, Rn. 16; Urteil v. 8.9.2015 – C-105/14, Taricco, Rn. 49, 52 f.; Urteil v. 26.2.2013 – C-617/10, Fransson, Rn. 21, 27 f.; zust. Sarmiento, CMLRev 50 (2013), 1279, weil die Mitgliedstaaten sich sonst unter Vorbringen einer fehlenden Zweckrichtung der Anwendbarkeit der Charta entziehen könnten; abl. dagegen Swoboda, ZIS 2018, 281 f. 512 EuGH, Urteil v. 30.4.2014 – C-390/12, Pfleger u. a., Rn. 34; Urteil v. 26.2.2013 – C-617/10, Fransson, Rn. 21; dazu Ohler, NVwZ 2013, 1435 („im Ansatz […] richtig“); Streinz, in: Kment (Hrsg.), FS Jarass, S. 134 („etwas weit hergeholt“); zu dieser sehr weiten Auslegung krit. Sarmiento, CMLRev 50 (2013), 1268 („one of the most contested issues“); vgl. dazu die Auf­ arbeitung der Rechtsprechungslinien Wachauf und ERT des EuGH durch EnzEur-Schorkopf, Eur. Grundrechtsschutz, § 3 Rn. 18 ff.; insgesamt keine Ausweitung, sondern eine konstante Rechtsprechungslinie erkennend Stangl, in: Kahl / Raschauer / Storr (Hrsg.), Grundsatzfragen GRCh, S. 21 f.; ebenso eine fortwährende Entwicklung erkennend Pirker, Grundrechtsschutz im Unionsrecht zwischen Subsidiarität und Integration, S. 335. 513 EuGH, Urteil v. 26.2.2013 – C-617/10, Fransson, Rn. 28; GA Bobek, Schlussanträge v. 11.10.2016 – C-439/16 PPU, Emil Milev, Rn. 51. 514 EuGH, Urteil v. 5.4.2017 – C-217/15, C-350/15, Orsi u. Baldetti, Rn. 16; Urteil v. 8.9.2015 – C-105/14, Taricco, Rn. 37, 49, 52 f.; Urteil v. 26.2.2013 – C-617/10, Fransson, Rn. 26 ff.; zust. Meyer, ZStW 72 (2017), 1105; Pirker, Grundrechtsschutz im Unionsrecht zwischen Subsidiari­ tät und Integration, S. 340; Stangl, in: Kahl / Raschauer / Storr (Hrsg.), Grundsatzfragen GRCh, S. 15 („Sub-Judikaturlinie“); zust. schon vor „Fransson“: Jarass, NStZ 2012, 613. 515 EuGH, Urteil v. 22.12.2010 – C-279/09, Deutsche Energiehandels- und Beratungsgesell­ schaft, Slg. 2010, I-13849 Rn. 29 f. 516 Die Aberkennung des aktiven und passiven Wahlrechts als Rechtsfolge eines Strafver­ fahrens führt Unionsrecht durch, weil die Wahlen für das Europaparlament direkt, frei und geheim sein müssen, vgl. Art. 1 Abs. 3 des 1976 Act i. V. m. Art. 14 Abs. 3 EUV, s. EuGH, Urteil v. 6.10.2015 – C-650/13, Delvigne, Rn. 32 f. 517 EuGH, Urteil v. 30.4.2014 – C-390/12, Pfleger u. a., Rn. 35 f.; Meyer, ZStW 72 (2017), 1093 f.; allgemeiner Ohler, NVwZ 2013, 1435; grds. zust. Wollenschläger, EuZW 2014, 578 ff.

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daher Unionsrecht durch.518 Der EuGH hat sich in seiner Rechtsprechung gerade dagegen entschieden, nur bei bis ins Detail unionsrechtlich vorbestimmten Fragen von einer Durchführung von Unionsrecht auszugehen und bei Umsetzungs- und Ermessensspielräumen nationales Recht als anwendbar zu betrachten.519 Harmo­ nisierende Akte der EU für das Strafverfahren und diese umsetzende Rechtsakte der Mitgliedstaaten unterfallen nach diesen Vorgaben daher dem Anwendungs­ bereich der Charta.520 2. Rechtsfolge: Menschenrechtliche Fragmentierung einheitlicher (strafrechtlicher) Sachverhalte Durch die nun erfolgte Harmonisierung521 strafrechtlicher Prozesskostenhilfe wird dieser grundrechtsnahe Bereich des Angeklagten zukünftig, d. h., sobald die Umsetzungsfrist der PKH-RL abgelaufen ist,522 sowohl durch die Charta als auch durch die nationalen Verfassungswerte determiniert. Das folgt zunächst aus dem Anwendungsbereich der PKH-RL selbst: Sie beansprucht Geltung sowohl für rein nationale wie transnationale Verfahren, indem sie Verdächtige sowie beschuldigte und gesuchte Personen einbezieht.523 Die PKH-RL legt darüber hinaus fest, unter 518

Vgl. für Verordnungen, am Beispiel von Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO EuGH, Urteil v. 16.2.2017 – C-578/16 PPU, C. K. u. a., Rn. 53; Urteil v. 21.12.2011 – C-411/10 u. C-493/10, N. S. u. a., Slg. 2011, I-13991 Rn. 64 ff., 68; grundlegend dazu Urteil v. 13.7.1989 – 5/88, Wa­ chauf, Slg. 1989, 2609 Rn. 22; ebenso bei Richtlinien Urteil v. 26.9.2013 – C-418/11, TEX­ DATA, Rn. 73 f.; zust. zur Anwendbarkeit der Charta auch bei Gestaltungsspielräumen Britz, EuGRZ 2015, 279; Bleckmann, Nationale Grundrechte, S. 30 f.; Fassbender, NVwZ 2010, 1049 f.; ebenso zust. Frenzel, Der Staat 53 (2014), 11; Grünewald, Individualrechtsschutz in der EU, S. 27; ebenso Jarass, NJW 2011, 1394; Meyer, ZStW 72 (2017), 1092, 1099; für eine differenziertere Lösung plädierend Kahl / Schwind, EuR 2014, 189; krit. Cremer, EuGRZ 2011, 551; Swoboda, ZIS 2018, 283; ebenso krit. Thym, NVwZ 2013, 894. 519 Sog. Trennungsthese, vgl. BVerfGE 133, 277 (313 f.); der Trennungsthese zust. Britz, EuGRZ 2015, 280 f.; Calliess, JZ 64 (2009), 120 f.; zust. EnzEuR-Gärditz, Eur. StR, § 6 Rn. 49 f.; Masing, JZ 70 (2015), 481 f.; Ziegenhorn, NVwZ 2010, 807 f.; krit. Meyer, ZStW 72 (2017), 1097 f., 1138; abl. Thym, JZ 70 (2015), 56; zum Begriff ders., NVwZ 2013, 892 ff.; abl. Frenzel, Der Staat 53 (2014), 12 ff.; die Trennungsthese zutr. als unionsrechtswidrig be­ zeichnend, Ehlers, EuGR, § 14 Rn. 74; ebenso krit. Ohler, NVwZ 2013, 1436 f. 520 EuGH, Urteil v. 15.11.2011 – C-483/09 u. C-1/10, Gueye u. Salmerón Sánchez, Slg. 2011, I-8286 Rn. 55, 63 ff., 69; Urteil v. 16.6.2005 – C-105/03, Pupino, Slg. 2005, I-5285 Rn. 59; für Rahmenbeschlüsse s. Urteil v. 5.4.2016 – C-404/15 u. C-659/15 PPU, Aranyosi u. Căldăraru, Rn. 84; Meyer, ZStW 72 (2017), 1104; zust. Frenzel, Der Staat 53 (2014), 10; gerade für die Umsetzung von aufgrund Art. 82 Abs. 2 AEUV erlassenen Richtlinien, Stern / Sachs-Ladenburger / Vondung, GRCh, Art. 51 Rn. 55 a. E.; ebenso Tinsley, New J. Eur. Crim. L. 2013, 472; Longridge, Eur. J. Legal Stud. 6 (2013), 188. 521 Zur Abgrenzung zu den Begriffen der „Assimilation“ und der „Vereinheitlichung“ vgl. Braum, Europäische Strafgesetzlichkeit, S. 168 ff. 522 D. h. ab dem 26.5.2019, vgl. Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 26.10.2016  – 2016/1919/EU, PKH-RL, ABl. L 297, 1. 523 Vgl. Erwägungsgrund (1) PKH-RL; m. w. N. zur PKH-RL u. Kap. 3 A. IV. 1., VI. 1.

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

welchen Voraussetzungen Prozesskostenhilfe bewilligt werden soll, in welchem Umfang dies geschehen kann, wer darüber entscheidet und wie die Qualität von durch Prozesskostenhilfe finanziertem Rechtsbeistand auszusehen hat.524 Da­ durch wird die GRCh für den Bereich strafrechtlicher Prozesskostenhilfe erstmals überhaupt relevant. Diese neue Anwendbarkeit wird jedoch zu einer im Einzel­ fall schwierigen Abgrenzung von nationalen Verfassungsrecht und GRCh führen. Denn die Charta genießt zwar Anwendungsvorrang vor nationalem Verfassungs­ recht. Dieses gilt jedoch grundsätzlich noch parallel zu den Bestimmungen der Charta fort,525 solange wie „durch diese Anwendung weder das Schutzniveau der Charta, wie sie vom Gerichtshof ausgelegt wird, noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden.“526 Daraus folgt, dass, sobald die GRCh anwendbar ist, sie nicht nur den Mindeststandard des Grund­ rechtsschutzes festlegt, sondern zugleich auch den Maximalstandard.527 Darüber hinausgehendes nationales Verfassungsrecht muss unangewendet bleiben, ins­ besondere wenn es geeignet ist, die Wirksamkeit des Unionsrechts im Rahmen grenzüberschreitender Zusammenarbeit zu vereiteln.528 Diese Doppelverbürgung529 fragmentarisiert einheitliche prozessuale wie mate­ rielle Sachverhalte in durch die Charta wie durch nationale Verfassungswerte be­ stimmte Teile. In materieller Hinsicht kann dergestalt ein einheitlicher Sachverhalt künstlich in eine unionsrechtlich und eine national determinierte Einheit aufge­ spaltet werden. Im Bereich der Strafzumessung können z. B. Strafe und Nebenstrafe sowohl der Charta als auch nationalem Verfassungsrecht unterfallen. Wird z. B. das aktive Wahlrecht aberkannt,530 beeinträchtigt dies die Garantie der allgemei­ nen Wahl des Europäischen Parlaments, gem. Art. 14 Abs. 3 EUV, und führt damit Unionsrecht durch.531 Daher muss bei Zweifeln ob der Auslegung einer solchen Wahlrechtsbeschränkung dem EuGH vorgelegt werden, während für den übrigen Teil der Strafzumessung der nationale Instanzenzug durchlaufen werden muss. Diese Zersplitterung kann auch die rechtliche Beurteilung derselben prozes­ sualen Tat betreffen. In einem einheitlichen Verfahren wegen Hinterziehung der 524

Vgl. Art. 4 ff. PKH-RL. EuGH, Urteil v. 26.2.2013 – C-617/10, Fransson, Rn. 29; Urteil v. 26.2.2013 – C-399/11, Melloni, Rn. 60; Frenzel, Der Staat 53 (2014), 12 ff.; Meyer, HRRS 2016, 334. 526 EuGH, Urteil v. 26.2.2013 – C-617/10, Fransson, Rn. 29; Urteil v. 26.2.2013 – C-399/11, Melloni, Rn. 60. 527 EuGH, Urteil v. 26.2.2013 – C-399/11, Melloni, Rn. 59 f. 528 EuGH, Gutachten v. 18.12.2014 – C-2/13, EMRK-Beitritt, Rn. 191; Urteil v. 26.2.2013 – C-399/11, Melloni, Rn. 60, 63; krit. Anagnostaras, CMLRev 53 (2016), 1685 ff.; ebenso Safferling, NStZ 2014, 550 f.; krit. Swoboda, ZIS 2018, 276 („Grundrechteverdrängungsrecht­ sprechung“); eher zust. Payandeh, JuS 2018, 921. 529 Ohler, NVwZ 2013, 1437. 530 In Deutschland gem. § 45 Abs. 5 StGB vorgesehen, Anwendungsfälle: §§ 80–91a i. V. m. § 92a StGB, §§ 93–100a i. V. m. § 101 StGB, §§ 102 StGB, §§ 107, 107a, 108, 108a i. V. m. § 108c StGB, § 108e (Abs. 5) StGB und §§ 109e, 109f i. V. m. 109i StGB. 531 Vgl. EuGH, Urteil v. 6.10.2015 – C-650/13, Delvigne, Rn. 30 ff. 525

B. Die Konzeption der Grundrechtecharta

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Umsatz- oder Einkommensteuer ist der Bereich der Umsatzsteuer unionsrecht­ lich determiniert, der der Einkommensteuer nicht.532 Daraus folgt, dass Fragen nach der Vereinbarkeit des Verfahrens oder des Urteils mit höherem Recht in Be­ zug auf die Umsatzsteuer durch den EuGH ausgelegt werden müssen, bezüglich der Einkommensteuer dagegen ultimativ in die Zuständigkeit des Bundesverfas­ sungsgerichts fallen. Eine einheitliche Norm – in jenem Fall die des § 370 AO – unterfällt damit unterschiedlichen Überprüfungsmaßstäben, weil nur gewisse Verfahrensinstitute unionsrechtlich determiniert sind und für deren Rechtsfragen folglich der EuGH, für andere Rechtsfragen die nationalen Verfassungsgerichte ultimativ zuständig sind.533 Da der Anwendungsbereich des Unionsrechts sich ständig erweitert, werden sich diese Abgrenzungsschwierigkeiten immer wieder neu stellen.534 Für den An­ geklagten bedeutet dies vor allem Ungewissheit, wer über Umfang und Geltung des für ihn anwendbaren Grundrechtsregimes entscheidet. Die Frage der Abgrenzung lässt sich nicht abstrakt beantworten, sondern muss insofern anhand jedes neuen Falles und dessen konkreter Umstände beurteilt werden.535 Durch die jeweils er­ forderliche Einzelfallprüfung gibt es für nationale Gerichte wie Behörden keine allgemein verbindlichen oder trennscharf anwendbaren Maßstäbe, wann sie euro­ päische und wann nationale Grundrechte anwenden müssen.536 Die Fachgerichte werden in diese neue Rolle und Prüfungsaufgabe erst hineinwachsen müssen. In prozessualer Hinsicht bedeutet dies, dass der EuGH den Mitgliedstaaten Spielraum für die Anwendung ihrer nationalen Verfassungssysteme zuerkennt,537 dieser jedoch nur formal betrachtet tatsächlich wirksam sein dürfte. Denn letzt­ endlich entscheidet der EuGH über die Weite der Doppelverbürgung und den Beginn des Anwendungsvorrangs der Charta und verpflichtet insoweit auch das Bundesverfassungsgericht zur Vorlage.538 Da jedes Fachgericht bei Zweifeln dem EuGH vorlegen kann, ist es wahrscheinlich, dass das Bundesverfassungsgericht in diesem Bereich an Bedeutung einbüßen wird.539 Auch Verfahrensverzögerungen 532

Zu diesem Beispiel anhand von § 370 AO und § 263 StGB s. Bülte / Krell, StV 2013, 715, 717 f. 533 Krit. ebd. 534 Daher von einem verschieblichen Grundrechtsschutz ausgehend Meyer, ZStW 72 (2017), 1093. 535 Eine generelle Festlegung offen lassend Kokott, NZWiSt 2017, 410; Meyer, ZStW 72 (2017), 1129; die Einzelfallabhängigkeit bemängelnd Latzel, EuZW 2015, 663; a. A. GA Bo­ bek, Schlussanträge v. 7.9.2017 – C-298/16, Ispas, Rn. 52 ff. 536 Krit. Safferling, NStZ 2014, 548 („entformalisiert“); Latzel, EuZW 2015, 663. 537 So zutr. Thym, JZ 70 (2015), 55. 538 Vgl. ebd., 56; ders., NVwZ 2013, 895; m. w. N. Häberle / Kotzur, Europäische Verfassungs­ lehre, S. 324 ff.; a. A. Meyer, ZStW 72 (2017), 1096, der wegen der parallelen Geltung nach wie vor von Einflussmöglichkeiten der Grundrechte ausgeht; krit. zur Monopolisierung der Auslegung bezüglich der Grenzen der Charta durch den EuGH Thym, NVwZ 2013, 895. 539 Meyer, HRRS 2016, 334; Thym, JZ 70 (2015), 56, 58 f., der über ein System nationaler Rückversicherung einen einheitlichen europäischen Grundrechtsraum mit weiterhin bedeu­ tungsvollen nationalen Verfassungssystemen vorschlägt; a. A. mit ausführlichen Vorschlägen

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

sind durch immer neue Vorlagen zu befürchten.540 Problematisch ist vor allem, dass eine prozessuale Verlagerung des Individualrechtsschutzes des Angeklag­ ten zum Teil auf die europäische Ebene erfolgt, ohne dass ein dem Schutzniveau der nationalen Systeme vergleichbarer Rechtsweg zur Verfügung steht.541 Die ge­ steigerte Verfahrensstellung des Angeklagten durch die Gewährleistungen der Charta könnte somit über die unzureichenden prozessualen Mechanismen an Wirksamkeit verlieren.

II. Anforderungen der GRCh zwischen Kohärenz und autonomer Gestaltung Die GRCh wurde mit dem Gedanken normiert, den Gewährleistungsstandard der EMRK aufzugreifen und soweit passend auf den Rechtsraum der Union zu übertragen: Sie sollte nicht menschenrechtliche Gewährleistungen neu erfinden, sondern auf dem für die Mitgliedstaaten der Union ohnehin verbindlichen Stan­ dard der EMRK aufbauen. Daher sollen die Rechte der Charta, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, wie sie ihnen in der EMRK verliehen werden, vgl. Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh. Dadurch wird Kohärenz zwischen der EMRK und der Charta sichergestellt, zu­ mindest dahingehend, dass die Schutzgewährleistungen der Charta nicht unter jene der EMRK fallen. Die EMRK normiert damit für korrespondierende Rechte der Charta einen Minimalstandard.542 Dieser besteht dabei aus dem normierten Kon­ ventionsrecht sowie der dazugehörigen Rechtsprechung des EGMR.543 Insoweit ist Claasen, EuR 2017, 364 ff.; allgemein zu diesen Unitarisierungsbefürchtungen Meyer, ZStW 72 (2017), 1129; krit. Huber, EuR 2008, 194 f.; grds. pos. dagegen Wollenschläger, EuZW 2014, 579. 540 So krit. Masing, JZ 70 (2015), 484. 541 Krit. Meyer, ZStW 72 (2017), 1109, 1123; ders., HRRS 2016, 332; insbesondere fehlt es an einem eigenen Antragsrecht Langbauer, Das Strafrecht vor den Unionsgerichten, S. 223; zur aktuellen Rechtslage Aden, in: Rehder / Schneider (Hrsg.), Gerichtsverbünde, Grundrechte und Politikfelder in Europa, S. 240; sowie m. w. N. Thomy, Individualrechtsschutz durch das Vorabentscheidungsverfahren, S. 137 ff., 166 ff., 215 ff. 542 In diesem Sinne auch EuGH, Urteil v. 14.9.2017 – C-18/16, K., Rn. 26; zust. Bühler, Ein­ schränkung von Grundrechten der GRCh, S. 308 f.; ebenso Jarass, GRCh, Art. 52 Rn. 62 f.; Storgaard, in: Gammeltoft-Hansen / Koch u. a. (Hrsg.), FS Vedsted-Hansen, S. 446; vgl. Grund­ rechtekonvent, ABl. C 303, 17, 30; a. A. Meyer-Borowsky, GRCh, Art. 52 Rn. 30 (inhalt­ liche Identität fordernd); ebenso Deckungsgleichheit annehmend Brittain, ECLR 11 (2015), 495 ff., 499. 543 Vgl. von vielen EuGH, Urteil v. 22.12.2017 – C-571/17 PPU, Ardic, Rn. 43 ff., 75; Urteil v. 28.7.2016 – C-294/16 PPU, JZ, Rn. 51 ff.; Urteil v. 5.4.2016 – C-404/15 u. C-659/15 PPU, Ara­ nyosi u. Căldăraru, Rn. 86 f., 90; Urteil v. 15.2.2016 – C-601/15 PPU, J. N., 192 Rn. 78; Urteil v. 8.9.2015 – C-105/14, Taricco, Rn. 57; Urteil v. 22.12.2010 – C-279/09, Deutsche Energiehan­ dels- und Beratungsgesellschaft, Slg. 2010, I-13849 Rn. 45 f.; Urteil v. 26.2.2013 – C-399/11, Melloni, Rn. 50; ebenso GAin Sharpston, Schlussanträge v. 26.1.2016 – C-601/15 PPU, J. N., Rn.  119 ff.; zust. Calliess / Ruffert-Kingreen, AEUV / EUV, Art. 52 GRCh Rn. 32 a. E.; Meyer-

B. Die Konzeption der Grundrechtecharta

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das Kohärenzgebot verschieblich und dynamisch an Änderungen im Schutzniveau der EMRK anpassbar. Dadurch wird zugleich die Autonomie des EuGH bei der Auslegung der Charta begrenzt.544 Unterschreitet die Union den Schutzstandard der EMRK – oder Mitgliedstaaten bei der Durchführung von Unionsrecht – stellt dies einen Verstoß gegen die Charta dar.545 Durch diesen Mindeststandard wird die GRCh jedoch nicht beschränkt, sondern sie darf einen eigenständigen, über die EMRK hinausgehenden Maximalstandard bilden. Gemäß Art. 52 Abs. 3 S. 2 GRCh steht ein höheres Schutzniveau der Charta dem Kohärenzgebot nicht entgegen.546 Dadurch können die Vorschriften der Charta eigenständig den Grundrechtsstandard der Europäischen Union gestalten und die unterschiedlichen (Menschenrechts-)Standards der Mitgliedstaaten vereinheitli­ chen. Dies geht jedoch nicht nur zulasten schwächerer Garantien, sondern zwingt die Mitgliedstaaten ebenso, stärkere mitgliedstaatliche Verfassungsgarantien nicht anzuwenden, jedenfalls dann, wenn diese dem Prinzip gegenseitiger Anerkennung entgegenstehen.547 Die Auslegungsmaßstäbe aus Art. 52 Abs. 3 GRCh werden im gesamten Kapitel immer wieder eine Rolle spielen. Diese Vorschrift entscheidet bereits maßgeblich die Frage, welche Norm der Charta überhaupt das Recht auf strafrechtliche Pro­ zesskostenhilfe steuert. Insofern kommen sowohl Art. 48 Abs. 2 GRCh als auch Art. 47 Abs. 3 GRCh in Betracht. Art. 48 Abs. 2 GRCh gewährleistet „[j]edem Angeklagten […] die Achtung der Verteidigungsrechte“. Einen Hinweis auf Prozesskostenhilfe enthält Art. 48 Abs. 2 GRCh jedenfalls nicht ausdrücklich. Art. 47 Abs. 3 GRCh normiert dagegen kon­ kreter, dass „Personen, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, […] Prozess­ kostenhilfe bewilligt [wird], soweit diese Hilfe erforderlich ist, um den Zugang zu den Gerichten wirksam zu gewährleisten.“ Ausgehend vom Wortlaut wäre Art. 47 Abs. 3 GRCh die treffendere Norm, weil sie sich ausdrücklich zum Recht auf Prozesskostenhilfe verhält, auch wenn sie nicht zwischen den Rechtszweigen Borowsky, GRCh, Art. 52 Rn. 37; Jarass, GRCh, Art. 52 Rn. 65; Bühler, Einschränkung von Grundrechten der GRCh, S. 322 f.; zust. Douglas-Scott, in: Vries / Bernitz / Weatherill (Hrsg.), The EU Charter of Fundamental Rights as a Binding Instrument, S. 41; Kober, Grundrechts­ schutz in der EU, S. 209; ebenso zust. Naumann, EuR 2008, 425; m. krit. Hinweisen Brittain, ECLR 11 (2015), 501 ff. 544 EnzEuR-Gaede, Eur. StR, § 3 Rn. 28 a. E.; Meyer, ZStW 72 (2017), 1090; in diesem Sinne Meyer-Borowsky, GRCh, Art. 52 Rn. 30. 545 Peers / Hervey / Kenner / Ward-Sayers, GRCh, Art. 48 Rn. 27B. 546 Vgl. zu einem Beispiel höheren Schutzes GA Bobek, Schlussanträge v. 11.5.2016  – C-108/16 PPU, Dworzecki, Rn.  73; ausführlich Peers / Hervey / Kenner / Ward-Peers, GRCh, Art. 51 Rn. 135; Art. 52 Rn. 138 ff.; zutr. insoweit Meyer, ZStW 72 (2017), 1098 und Naumann, EuR 2008, 433 f., dass in mehrpoligen Rechtsverhältnissen die Erhöhung des Schutzniveaus einer Garantie der Charta ggf. zur Unterschreitung oder Herabsenkung einer anderen Garantie der EMRK führen kann. 547 In diesem Sinne EuGH, Urteil v. 26.2.2013 – C-399/11, Melloni, Rn. 59 f., 63; zur Kritik dazu vgl. bereits o. Kap. 2, Fn. 528.

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

unterscheidet.548 Art. 48 Abs. 2 GRCh dagegen enthält mit seinem Hinweis auf die Achtung der Verteidigungsrechte womöglich auch ein Recht auf strafrechtliche Prozesskostenhilfe. Der insoweit sehr kurz gehaltene Wortlaut bleibt jedoch vage und enthält keine Hinweise auf Voraussetzungen oder Rechtsfolgen, geschweige denn eine Aufzählung der zu achtenden Verteidigungsrechte.549 Die Erläuterungen des Grundrechtekonvents, die gem. Art. 52 Abs. 7 GRCh ebenso berücksichtigt werden müssen,550 geben jedoch an, dass Art. 48 Abs. 2 GRCh Art. 6 Abs. 3 EMRK entsprechen soll.551 Art. 48 Abs. 2 GRCh soll daher ein zu Art. 6 Abs. 3 EMRK kor­ respondierendes Recht i. S. v. Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh sein.552 Im Fall von Art. 48 Abs. 2 GRCh zeigt das Kohärenzgebot daher seine besondere Bedeutung: Da weder der Wortlaut von Art. 48 Abs. 2 GRCh Anhaltspunkte für die Auslegung gibt, noch Präjudizien des EuGH existieren, ist nur über Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh überhaupt eine konkrete Auslegung möglich.553 Für den Schutzbereich von Art. 48 Abs. 2 GRCh folgt daraus, dass dieser trotz seines vagen Wortlauts all jene Verteidigungs­ rechte beinhaltet, die Art. 6 Abs. 3 EMRK enthält, und diese Inhalte über die Norm von Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh in Art. 48 Abs. 2 GRCh hineingelesen werden.554 Sie ist außerdem dem allgemeineren Art. 47 Abs. 3 GRCh vorzuziehen. Denn zum einen wäre die Vorschrift des Art. 47 Abs. 3 GRCh nur bei konventionskon­ former Auslegung geeignet, dem Kohärenzgebot von Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh zu genügen. Aus dem Wortlaut von Art. 47 Abs. 3 GRCh („soweit diese Hilfe erforder­ lich ist, um den Zugang zu den Gerichten zu gewährleisten“) folgt, dass Prozess­ kostenhilfe nach Art. 47 Abs. 3 GRCh nur bei hinreichenden Erfolgsaussichten zu gewähren ist.555 Dieses Kriterium bedeutet aber eine zusätzliche Bedingung – und damit Beschränkung – des Rechts auf strafrechtliche Prozesskostenhilfe. In der 548 Zutr., dass Art. 47 GRCh daher im Vergleich zu Art. 6 Abs. 1 EMRK weitreichender gilt, EnzEur-Pabel, Eur. Grundrechtsschutz, § 19 Rn. 60. 549 Krit. zu diesem Wortlaut Kargopoulos, in: Dzehtsiarou / Konstadinides u. a. (Hrsg.), Hu­ man Rights Law in Europe, S. 115; ebenso Holoubek / Lienbacher-Granner / Raschauer, GRCh, Art. 48 Rn. 51; ebenfalls abl. Meyer-Eser, GRCh, Art. 48 Rn. 31; krit. Mock-D’Amico, GRCh, Art. 48, S. 301 f. 550 Zum Berücksichtigungsgebot der Erläuterungen des Grundrechtekonvents vgl. außerdem Art. 6 Abs. 1 UA. 3 Hs. 2 EUV. 551 Grundrechtekonvent, ABl. C 303, 17, 30; zust. Bühler, Einschränkung von Grundrechten der GRCh, S. 347. 552 Grundrechtekonvent, ABl. C 303, 17, 34; so auch inzwischen EuGH, Urteil v. 5.6.2018 – C-612/15, Kolev u. a., Rn. 105; m. w. N. zum Entsprechungskriterium, Bühler, Einschränkung von Grundrechten der GRCh, S. 329 ff.; Meyer-Borowsky, GRCh, Art. 52 Rn. 31 ff.; Schmitz, JZ 56 (2001), 839. 553 Frenz, Europäische Grundrechte, Rn. 5104 („prägnanter Fall von Art. 52 Abs. 3“). 554 Grundrechtekonvent, ABl. C 303, 17, 30; a. A. Calliess / Ruffert-Blanke, AEUV / EUV, Art. 48 GRCh Rn. 5, der Art. 48 Abs. 2 GRCh als Konkretisierung der in Art. 47 Abs. 2 GRCh allgemein angelegten Verteidigungsrechte versteht; wohl ebenso a. A. Jarass, NJW 2011, 1396, der einzelne Rechte der Verteidigung auch in Art. 47 Abs. 2 GRCh verortet. 555 Calliess / Ruffert-Blanke, AEUV / EUV, Art. 47 GRCh Rn. 19; Holoubek / LienbacherRaschauer / Sander / Schlögl, GRCh, Art. 47 Rn. 51; Jarass, GRCh, Art. 47 Rn. 50; Meyer-Eser, GRCh, Art. 47 Rn. 40.

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EMRK steht das Recht auf strafrechtliche Prozesskostenhilfe aber nur unter den Voraussetzungen der Bedürftigkeit und des Rechtspflegeinteresses, nicht unter jener einer hinreichenden Erfolgsaussicht. Art. 47 Abs. 3 GRCh müsste daher, we­ nigstens – und entgegen dem eigentlichen Wortlaut begrenzend ausgelegt werden, um der Äquivalenzbestimmung des Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh entsprechend keine geringere Gewährleistung als in Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK zu enthalten. Zum anderen erstreckt sich Art. 47 GRCh grundsätzlich nicht auf vorbereitende Verfahrensstadien. Art. 47 GRCh ist nach den historischen Vorstellungen des Grundrechtekonvents an Art. 13 EMRK sowie Art. 6 Abs. 1 EMRK angelehnt und damit an das Beschwerderecht bzw. das allgemeine Fairnessprinzip.556 Die Erläu­ terungen des Grundrechtekonvents verweisen zudem auf die Rechtsprechung des EGMR in der Rechtssache Airey,557 in der über die Verweigerung zivilrechtlicher Prozesskostenhilfe der Zugang zu einem gerichtlichen Verfahren versperrt wur­ de.558 Daraus wird die eigentliche Schutzrichtung von Art. 47 GRCh deutlich, vor­ rangig den Zugang zum gerichtlichen Verfahren zu sichern. Um das Ermittlungs­ verfahren in Kohärenz zur Gewährleistung von Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK mit in den Schutzbereich einzubeziehen, bedürfte es dementsprechend einer erweiterten, bisher im Rahmen von Art. 47 GRCh nicht angedachten Auslegung. Art. 47 GRCh ist daher nicht nur die allgemeinere Vorschrift, sondern passt zu­ dem nicht auf die Gewährleistung von Prozesskostenhilfe im Strafverfahren. Dem könnte zwar auch durch eine gemeinsame Anwendung von Art. 47 Abs. 3 GRCh und Art. 48 Abs. 2 GRCh Genüge getan werden. Da Art. 48 Abs. 2 GRCh über die Verweisung auf Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK jedoch vollständig das Recht auf straf­ rechtliche Prozesskostenhilfe enthält, ist eine gemeinsame Lesung mit Art. 47 Abs. 3 GRCh nicht erforderlich.559 Art. 48 Abs. 2 GRCh ist lex specialis gegenüber Art. 47 Abs. 3 GRCh.560

556 Grundrechtekonvent, ABl. C 303, 17, 29 f.; zust. Holoubek  /  Lienbacher-Granner /  ­Raschauer, GRCh, Art. 48 Rn. 42, 43, in Fn. 133; Stern / Sachs-Alber, GRCh, Art. 48 Rn. 14. 557 Grundrechtekonvent, ABl. C 303, 17, 30. 558 Vgl. dort EGMR, Urteil v. 9.10.1979 – 6289/73, Airey ./. IE, Rn. 26. 559 A. A. wohl EuGH, Urteil v. 29.1.2013 – C-396/11, Radu, Rn. 32, 39. 560 Ebenso zum speziellen Verhältnis der Art. 48 ff. GRCh zur allgemeinen Vorschrift des Art. 47 GRCh EnzEur-Pabel, Eur. Grundrechtsschutz, § 19 Rn.  91; Peers / Hervey / Kenner / ​ Ward, GRCh, Art. 47 Rn. 5; unklar bei Eser, R. L. R. 2009, 182 a. E., 186; ebenso in Meyer-​ ders., GRCh, Art. 48 Rn. 27, Art. 47 Rn. 40; a. A. mit gleichzeitiger Anwendung von Art. 47 Abs. 3, 48 Abs. 2 GRCh: EuGH, Urteil v. 29.1.2013 – C-396/11, Radu, Rn. 32, 39; ebenso im Fall des Rechts auf Verteidigungsbeistand, vgl. Urteil v. 5.6.2018  – C-612/15, Kolev u. a., Rn. 104; Kommission, Vorschlag v. 27.11.2013 – COM(2013) 824 final, RL-E-KOM, Rn. 9, 14; Rat, Allgemeine Ausrichtung v. 26.2.2015 – 6603/15, RL-E-Rat, Erwägungsgrund (1a); zust. Jarass, GRCh, Art. 48 Rn. 16; a. A. wohl Kargopoulos, in: Dzehtsiarou / Konstadinides u. a. (Hrsg.), Human Rights Law in Europe, S. 114 („duplications of the rights of the defence“); Klip, European Criminal Law, S. 267; ebenso Langbauer, Das Strafrecht vor den Unions­ gerichten, S. 143 f.; Mock-D’Amico, GRCh, Art. 47, S. 290; Rusu, Juridical Trib. 6 (2016), 143.

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

III. Die eigenständige Bedeutung der Grundrechtecharta Über das Kohärenzgebot in Art. 52 Abs. 3 GRCh ergeben sich zahlreiche Über­ schneidungen zwischen Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK und Art. 48 Abs. 2 GRCh. Das Kerninteresse an der Charta liegt jedoch nicht in den Bereichen, die sich mit der EMRK decken, sondern in jenen, in denen sie über die EMRK hinausgeht und so selbst den europäischen Menschenrechtsraum gestaltet. Daher wird darauf ver­ zichtet, alle Überschneidungen zu den Gewährleistungen der EMRK erneut zu wiederholen und nur Stellung zu den Aspekten genommen, die die Auslegung strafrechtlicher Prozesskostenhilfe genuin chartarechtlich prägen. 1. Das ganzheitliche Verständnis des Strafverfahrens der Grundrechtecharta Der Wortlaut von Art. 48 Abs. 2 GRCh garantiert die Achtung der Verteidi­ gungsrechte nur dem „Angeklagten“. Dieser Wortlaut beschränkt den Anwen­ dungsbereich von Art. 48 Abs. 2 GRCh daher auf das Strafverfahren und lässt Schutz über Art. 48 Abs. 2 GRCh erst ab dem Zeitpunkt der Anklage zu. Abgesehen davon ist Art. 48 Abs. 2 GRCh ein Jedermannsrecht. Es steht jeder Person561 un­ abhängig von deren Unionsbürgerschaft zu, solange diese in der Union angeklagt ist.562 Da weder der Begriff der „Anklage“ noch der des „Strafverfahrens“ in der Charta selbst definiert sind, sind diese Begriffe gem. Art. 52 Abs. 3 GRCh ent­ sprechend den Vorgaben von Art. 6 Abs. 3 EMRK auszulegen.563 Für die Anklage ist daher ebenso wie unter Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK erforder­ lich, dass eine für die Verfolgung von Straftaten bzw. ähnlichen Handlungen zu­ ständige Stelle den Betroffenen offiziell darüber informiert, dass ihm die Begehung einer Straftat (bzw. einer ähnlichen Handlung) vorgeworfen wird.564 Als eine solche 561 Also natürlichen wie juristischen Personen, vgl. so zur Anwendung auf Unternehmen: EuGH, Urteil v. 16.2.2017 – C-90/15 P, Paraffinwachs, Rn. 18; Urteil v. 21.1.2016 – C-74/14, Lettische Reisebüros, Rn. 38; ebenso Jarass, GRCh, Art. 48 Rn. 8; Calliess / Ruffert-Blanke, AEUV / EUV, Art. 48 GRCh Rn. 2; a. A. Holoubek / Lienbacher-Granner / Raschauer, GRCh, Art. 48 Rn. 21 ff., 30, die sich aber für eine analoge Anwendung aussprechen. 562 Eser, R. L. R. 2009, 169; Jarass, GRCh, Art. 48 Rn. 8. 563 H. M. zur „strafrechtlichen“ Natur von Verfahren EuGH, Urteil v. 5.6.2012 – C-489/10, Bonda, Rn. 37 f.; ebenso dazu GA Mengozzi, Schlussanträge v. 31.1.2012  – C-418/11, ­T EXDATA Software GmbH, Rn. 73 ff.; GA Trstenjak, Schlussanträge v. 3.5.2007 – C-62/06, Z. F. Zefeser, Slg. 2007, I-11998 Rn. 56; EnzEur-Pabel, Eur. Grundrechtsschutz, § 19 Rn. 77 ff., 82; Jarass, NStZ 2012, 612; Meyer-Eser, GRCh, Art. 48 Rn. 25; Frenz, Europäische Grund­ rechte, Rn. 5074, 5078, 5106; a. A. dagegen Groeben / Schwarze / Hatje-Lemke, EUV / A EUV, Art. 48 GRCh Rn. 4 a. E., die pauschal unter Verweis auf Art. 6 EMRK annimmt, dass Art. 48 GRCh nicht für die Vernehmung des Betroffenen oder die vorläufige Festnahme als sog. vor­ bereitende Maßnahmen gelte. 564 Holoubek / Lienbacher-Granner / Raschauer, GRCh, Art. 48 Rn. 11; Jarass, GRCh, Art. 48 Rn. 7.

B. Die Konzeption der Grundrechtecharta

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Unterrichtung über den Strafvorwurf wird auch die Zustellung eines Strafbefehls verstanden.565 Durch diese weitgehende Übernahme der EMRK-Definition ist in der GRCh auch die zeitliche Komponente dieser Definition übernommen worden. Damit ist bereits im Ermittlungsverfahren erforderlich, Verteidigung und straf­ rechtliche Prozesskostenhilfe für den Angeklagten bereit zu stellen.566 Auch in der GRCh bleibt damit die Strafvollstreckung und der Strafvollzug aus dem Schutzbe­ reich von Art. 48 Abs. 2 GRCh ausgenommen.567 Der Begriff der „Anklage“ deckt sich folglich mit dem der EMRK. Um die strafrechtliche Natur des Verfahrens festzulegen, bezieht sich der EuGH ebenso auf den EGMR.568 Zum Umfang des zur Entscheidung dieses strafrecht­ lichen Vorwurfs geführten Verfahrens gibt es dagegen keine Urteile. Auch wenn bislang eine allgemeine Maßstabsbildung fehlt, finden sich in der Rechtsprechung des EuGH immer wieder Hinweise darauf, dass das strafrechtliche Verfahren zwar vorrangig jene Verfahrensteile umfasst, die der Feststellung der Schuld oder Un­ schuld des Angeklagten unmittelbar dienen, dass darüber hinaus aber auch jene Verfahrensteile in die Terminologie des „strafrechtlichen Verfahrens“ mit einbe­ zogen werden, die vorrangig das Strafverfahren prozessual absichern und daher der Feststellung von Schuld oder Unschuld nur mittelbar dienen. a) Haftprüfungsverfahren und ähnliche begleitende Verfahren Im Haftprüfungsverfahren bezieht der EGMR einen Anspruch auf strafrecht­ liche Prozesskostenhilfe nur über die Gewährleistung von Art. 5 Abs. 4 EMRK ein. Eine direkte Anwendung von Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK lehnt er – bislang – ab.569 Im Rahmen der GRCh hat der Angeklagte jedenfalls über Art. 6 GRCh i. V. m. Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh i. V. m. Art. 5 Abs. 4 EMRK einen Anspruch auf strafrechtliche Prozesskostenhilfe.570 Art. 6 GRCh garantiert jedem Menschen das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Ergänzt wird dieser Wortlaut nach den Erläu­ terungen des Konvents über den Besitzstand aus Art. 5 EMRK.571 Dadurch gelten

565 EuGH, Urteil v. 22.3.2017 – C-124/16 u. a., Tranca u. a., Rn. 36; Urteil v. 15.10.2015 – C-216/14, Gavril Covaci, Rn. 61. 566 Vgl. dazu EuGH, Urteil v. 18.10.1989 – C-374/87, Orkem, Slg. 1989, 3283 Rn. 33; EuG, Urteil v. 20.4.1999  – T-305/94 u. a., Limburgse Vinyl Maatschappij u. a., Slg.  1999, II-931 Rn. 446; Jarass, NStZ 2012, 613; zust. Langbauer, Das Strafrecht vor den Unionsgerichten, S. 147. 567 Vgl. auch EuGH, Urteil v. 22.12.2017 – C-571/17 PPU, Ardic, Rn. 76 f.; Urteil v. 10.8.2017 – C-271/17 PPU, Zdziaszek, Rn. 85. 568 S. o. für dessen Rspr. o. Kap. 2 A. III. 1. a) aa). 569 Vgl. o. Kap 2 A. III. 1. a) bb). 570 So auch Jarass, GRCh, Art. 6 Rn. 24 f.; so wohl auch Meyer-Bernsdorff, GRCh, Art. 6 Rn. 14; m. w. N. zur dazugehörigen EGMR-Rechtsprechung vgl. o. Kap 2 A. III. 1. a) bb). 571 Grundrechtekonvent, ABl. C 303, 17, 19.

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

im Haftprüfungsverfahren im Rahmen von Art. 6 GRCh die obigen Erkenntnisse aus Art. 5 Abs. 4 EMRK. Im Rahmen von Art. 48 Abs. 2 GRCh streitet auch das Telos der Vorschrift dafür, Strafverfahren integrativ als Rahmen all jener Entscheidungen und Verfahren zu verstehen, die die Feststellung von Schuld oder Unschuld des Angeklagten unmit­ telbar oder mittelbar vorbereiten.572 Selbst wenn der Angeklagte über Art. 6 GRCh wenigstens für den Fall der Untersuchungshaft nicht schutzlos gestellt wird, ist die Weite des Begriffs des „strafrechtlichen Verfahrens“ maßgeblich dafür, inwiefern andere strafprozessuale Zwangsmaßnahmen  – und die gegen sie angestrengten Beschwerdeverfahren – als Teil des Strafverfahrens gelten und so dem Angeklag­ ten auch in diesen Verfahren ein Anspruch auf strafrechtliche Prozesskostenhilfe zusteht. Denn diese sonstigen strafprozessualen Zwangsmaßnahmen sind andern­ falls nicht über die Charta mit eigenen Rechtsweggewährleistungen ausgestattet. Um strafrechtliche Prozesskostenhilfe in jeder Situation des Strafverfahrens zu­ gänglich zu machen, ist eine integrative Definition des Strafverfahrens zwingend. In diesem Sinne ist auch die Rechtsprechung des EuGH zu verstehen. Ohne dies näher zu begründen, bezieht er jedenfalls den Abschnitt der Untersuchungshaft und das zugehörige Haftprüfungsverfahren in den Schutzbereich von Art. 48 Abs. 2 GRCh ein.573 Ebenso beurteilte Generalanwalt Bobek in der Rechtssache Milev den Charakter von Untersuchungshaft und Haftprüfungsverfahren.574 So scheint der EuGH eine Gesamtbetrachtung des Strafverfahrens anzulegen, die nicht nur das Ermittlungsverfahren und die spätere Hauptverhandlung in den Begriff des Straf­ verfahrens mit einbezieht, sondern auch Hilfsverfahren, die die spätere Feststellung der Schuld oder Unschuld des Angeklagten absichern sollen. Diese Betrachtung von Art. 48 Abs. 2 GRCh bedarf keiner Hilfskonstruktionen über andere Grund­ rechte der Charta, sondern gewährleistet automatisch im gesamten Strafverfahren einen gleichmäßigen Zugang zu strafrechtlicher Prozesskostenhilfe. b) Einbezug aller Abschnitte des transnationalen Strafverfahrens Im Rahmen des transnationalen Strafverfahrens stellt sich ebenfalls die Frage, ob Art. 48 Abs. 2 GRCh für alle Verfahrensbestandteile gilt und damit über den – bisher vom EGMR anerkannten – Schutzbereich von Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK 572

Ebenso für einen Einbezug solcher vorbereitenden Entscheidungen, die „sachlich-funk­ tionell“ mit dem Strafverfahren zusammenhängen Holoubek / Lienbacher-Granner / Raschauer, GRCh, Art. 48 Rn. 9; dazu offen Stern / Sachs-Alber, GRCh, Art. 48 Rn. 20; a. A. Jarass, GRCh, Art. 48 Rn. 7 unter Verweis auf Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24 Rn. 28. 573 In diesen Fällen der sog. Untersuchungsauslieferungshaft, EuGH, Urteil v. 10.8.2017 – C-270/17 PPU, Tupikas, Rn. 60; Urteil v. 29.1.2013 – C-396/11, Radu, Rn. 29, 31 f. 574 GA Bobek, Schlussanträge v. 11.10.2016  – C-439/16 PPU, Emil Milev, Rn. 63; zust., aber eine kumulative Geltung von Art. 48 Abs. 2 GRCh und Art. 6 GRCh annehmend, Holou­ bek / Lienbacher-Schramm, GRCh, Art. 6 Rn. 7, 13.

B. Die Konzeption der Grundrechtecharta

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hinausgeht.575 Die weite Auslegung für das Haftprüfungsverfahren ließe auch einen Einbezug des transnationalen Strafverfahrens in den Anwendungsbereich von Art. 48 Abs. 2 GRCh möglich erscheinen. Denn danach ist auch das Rechtshilfe­ verfahren im Vollstreckungsstaat grundsätzlich mittelbar der Wahrheitsermittlung förderlich und könnte daher als Teil des Strafverfahrens gelten. aa) Einbezug grenzüberschreitender Verfahrensabschnitte in den Begriff des „strafrechtlichen Verfahrens“ Art. 48 Abs. 2 GRCh ist ein genuin transnationaler Anwendungsbereich zu­ grunde zu legen. Zwar könnte dagegensprechen, dass die Charta in Art. 48 Abs. 2 GRCh keinen ausdrücklichen Hinweis auf eine Geltung im transnationalen Straf­ verfahren enthält. In Art. 50 GRCh hingegen, dem transnationalen ne bis in idem, wurde bereits im Wortlaut die Geltung auch für grenzüberschreitende Strafver­ fahren festgehalten („in der Union“). Ebenso hat der Grundrechtekonvent explizit darauf verwiesen, dass die Charta durch Art. 50 GRCh über die Gewährleistungen der EMRK hinausgeht.576 Eine solche Regelung oder Erwähnung fehlt für Art. 48 Abs. 2 GRCh.577 Soweit der Wortlaut und die historische Auslegung nahelegen, über den Kohä­ renzvergleich von Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh auch die Beschränkungen des Anwen­ dungsbereiches von Art. 6 Abs. 3 EMRK für Art. 48 Abs. 2 GRCh zu übernehmen, sprechen teleologische Erwägungen dagegen. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind bei der Auslegung einer Vorschrift auch ihr Zusammenhang und ihre Ziele zu berücksichtigen.578 Art. 53 Abs. 2 S. 1 GRCh soll zwar die EMRK als Mindeststandard festlegen. Deren Auslegung durch den EGMR bindet den EuGH jedoch gerade nicht, solange er den Schutzgehalt der EMRK nicht unterschreitet.579 Diese Beschränkung des Anwendungsbereichs der Verteidigungsrechte auf das Verfahren im Anordnungsstaat ergibt sich zudem nicht aus Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK selbst, sondern aus Art. 1 EMRK, der die primär territoriale Reichweite der konventionsrechtlichen Bindung festlegt.580 Es ist nicht ersichtlich, dass der EuGH 575 Zu diesem Potential auch GA Bobek, Schlussanträge v. 20.12.2017 – C-571/17 PPU, Ar­ dic, Rn. 58. 576 Grundrechtekonvent, ABl. C 303, 17, 35 („Artikel 50 entspricht Artikel 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK, aber seine Tragweite ist auf die Ebene der Europäischen Union ausgedehnt worden und er gilt zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten.“). 577 Ebd., 33 f.; insg. krit. zu dieser unspezifischen Aufzählung Calliess / Ruffert-Kingreen, AEUV / EUV, Art. 52 GRCh Rn. 27 ff. 578 EuGH, Urteil v. 15.10.2015  – C-216/14, Gavril Covaci, Rn. 29; Urteil v. 21.5.2015  – C-65/14, Roselle, Rn. 43; Urteil v. 20.11.2014  – C-40/14, Utopia, Rn. 27 m. w. N.; Urteil v. 4.5.2010 – C-533/08, TNT Express Nederland, Slg. 2010, I-4107 Rn. 44; Urteil v. 17.11.1983 – 292/82, Merck, Slg. 1983, 3781 Rn. 12 a. E. 579 Grundrechtekonvent, ABl. C 303, 17, 33; zust. Brittain, ECLR 11 (2015), 499. 580 Vgl. o. Kap. 2 A. III. 1. b) aa).

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

eine Jurisdiktionsbeschränkung der EMRK übernehmen sollte, wenn die Charta über Art. 51 Abs. 1 GRCh über eigene Anwendbarkeitsvoraussetzungen verfügt. Ebenso entspräche es nicht dem unionsrechtlichen Verständnis eines einheitlichen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts i. S. v. Art. 82 Abs. 1 AEUV, Verfahrensgarantien von den Grenzen der jeweiligen Mitgliedstaaten abhängig zu machen, während diese für die Strafverfolgung gerade keine Rolle mehr spielen (dürfen). Zutreffend bringt der EuGH daher auch in transnationalen Konstellatio­ nen die Rechte der Art. 47, 48 GRCh zur Anwendung.581 Dadurch wird ein einheitlicher Schutz der Verteidigungsrechte sowohl im Ver­ fahren des Anordnungs- wie des Vollstreckungsstaats bewirkt.582 Nach der in die­ ser Arbeit vorgenommenen Auslegung soll zwar auch die EMRK in transnationa­ len Strafverfahren die Verteidigungsrechte des Art. 6 Abs. 3 EMRK gewähren.583 Während insoweit eine Rechtsprechungsänderung des EGMR aber noch aussteht, ist in der GRCh dieser transnationale Anwendungsbereich dagegen angelegt und vom EuGH anerkannt.584 bb) Zurechnung von Rechtsverletzungen im Anordnungsoder Vollstreckungsstaat Der transnationale Anwendungsbereich von Art. 48 Abs. 2 GRCh verbessert bereits grundlegend die Situation des Angeklagten im transnationalen Verfahren. Trotzdem klärt dies nicht auf, welche Bedeutung den Verteidigungsrechten inner­ halb des Rechtshilfeverfahrens zukommt, insbesondere wie eine Verletzung der Verfahrensgarantien im Anordnungs- oder Vollstreckungsstaat im Rahmen der Rechtshilfe berücksichtigt werden muss. (1) Unzureichende Berücksichtigung der Grundrechte in den harmonisierenden Rechtsakten de lege lata Zentrale Fragestellung in der EMRK war vorrangig, wo die Hoheitsgewalt des einen Konventionsstaates begann und die des anderen aufhörte, um so die Zu­ rechnung zu ermöglichen oder zu begrenzen. Das ist in der EU zwischen den Mit­ 581 Jeweils implizit EuGH, Urteil v. 29.1.2013 – C-396/11, Radu, Rn. 32; Urteil v. 26.2.2013 – C-399/11, Melloni, Rn. 49 f.; zust. Holoubek / Lienbacher-Granner / Raschauer, GRCh, Art. 48 Rn. 9 a. E. 582 Generell zum transnationalen Schutz durch die GRCh Meyer, ZStW 72 (2017), 1090, 1125; dies ebenso für Art. 48 GRCh annehmend Holoubek / Lienbacher-Granner / Raschauer, GRCh, Art. 48 Rn. 9 a. E. 583 S. o. Kap. 2 A. III. 1. b) cc). 584 In diesem Sinne Meyer-Borowsky, GRCh, Art. 51 Rn. 16; Kober, Grundrechtsschutz in der EU, S. 138 ff.; a. A. Plekksepp, Die gleichmäßige Gewährleistung des Rechts auf Verteidi­ gerbeistand, S. 81; ebenso a. A. implizit EnzEur-Pabel, Eur. Grundrechtsschutz, § 19 Rn. 17.

B. Die Konzeption der Grundrechtecharta

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gliedstaaten zwar auch ein Aspekt, der die Zurechnung von Rechtsverletzungen unterbrechen kann. Was aber letztlich die Attribution von Rechtsverletzungen zwischen den Mitgliedstaaten hindert, ist der Vorrang der Geltung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung, vgl. Art. 82 Abs. 1 AEUV. Danach sind Entscheidungen der Ermittlungsbehörden und der Gerichte an­ derer Mitgliedstaaten rechtserheblich wie eine inländische Entscheidung.585 Wie umfänglich das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung gilt, kann nicht pauschal beantwortet werden, sondern bemisst sich nach dem konkreten harmonisierenden Rechtsakt und inwieweit dieser Ausnahmen vom Prinzip der gegenseitigen An­ erkennung zulässt.586 Insofern ist auch der Maßstab flexibel, nach dem Grundrechte die Zusammenarbeit nach dem Prinzip gegenseitiger Anerkennung hindern kön­ nen. Jeder einzelne Rechtsakt, der Kooperation nach dem Prinzip gegenseitiger Anerkennung konkretisiert, normiert ebenso Gründe, die dem Vollstreckungsstaat ermöglichen, die Vollstreckung abzulehnen.587 Das bedeutet, dass Grundrechte jedenfalls dann die Vollstreckung solcher Maßnahmen hindern können, wenn sie als Ablehnungsgründe normiert sind. Ablehnungsgründe sind in solchen Rechts­ akten oft überhaupt erst vor dem Hintergrund des Schutzes der Grundrechte ein­ gefügt worden.588 Von allen bisherigen Instrumenten gegenseitiger Anerkennung sieht nur die EEA-RL589 in einem allgemeinen Grundrechtsvorbehalt vor, dass die Vollstreckung verweigert werden darf, wenn sie „mit den Verpflichtungen des Vollstreckungsstaats nach Artikel 6 EUV und der Charta unvereinbar wäre.“590 Alle anderen Instrumente gegenseitiger Anerkennung postulieren zwar die An­ erkennung und Achtung der Grundrechte der Charta, sehen jedoch keinen allge­ meinen Grundrechtsvorbehalt vor.591 585

Vgl. dazu bereits o. Kap. 1, Fn. 58. Vgl. o. Kap. 1, Fn. 59. 587 Im Rb-EHB vgl. Art. 4 (Versagung); im Rb-Sicherstellung Art. 7 (Versagung) bzw. Art. 8 (Aufschub); in Rb-Einziehungsentscheidung vgl. Art. 8 (Versagung) und Art. 10 (Aufschub); in Rb-Überwachungsmaßnahmen Art. 15 (Versagung); in EEA-RL Art. 11 (Versagung) und Art. 15 (Aufschub). 588 Zum Europäischen Haftbefehl s.  EuGH, Urteil v. 1.6.2016  – C-241/15, Bob-Dogi, Rn. 61; Urteil v. 5.4.2016 – C-404/15 u. C-659/15 PPU, Aranyosi u. Căldăraru, Rn. 80; Urteil v. 26.2.2013 – C-399/11, Melloni, Rn. 62 f.; zust. GA Ruiz-Jarabo Colomer, Schlussanträge v. 12.9.2006 – C-303/05, Advocaten voor de Wereld, Slg. 2006, I-3638 Rn. 69 f. und dazu krit. EnzEuR-Gaede, Eur. StR, § 3 Rn. 45 Fn. 117 („dramatisch unzureichend“); Erwägungsgrund (12) Rb-EHB; insofern krit. Kargopoulos, in: Dzehtsiarou / Konstadinides u. a. (Hrsg.), Human Rights Law in Europe, S. 115. 589 Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 3.4.2014 – 2014/41/EU, EEA-RL, ABl. L 130, 1; diese löste den vorherigen Rahmenbeschluss ab, vgl. Rat, Rahmenbeschluss v. 18.12.2008 – 2008/978/JI, Rb-Beweisanordnung, ABl. L 350, 72, der keinen Grundrechtsvorbehalt vorsah, sondern ebenfalls nur die Achtung der Grundrechte postulierte, s. Erwägungsgrund (27) und Art. 1 Abs. 3. 590 S. Art. 11 Abs. 1 lit.  f EEA-RL; insg. pos. Armada / Weyembergh, in: Fletcher / Herlin-­ Karnell / Matera (Hrsg.), The European Union as an Area of Freedom, Security and Justice, S. 131 f. 591 Im Rb-EHB, Art. 1 Abs. 3 und Erwägungsgrund (12), ebenso in der späteren Änderung durch Rat, Rahmenbeschluss v. 26.2.2009 – 2009/299/JI, ABl. L 81, 24, s. Art. 1 Abs. 2; in 586

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

Dies bedeutet jedoch nicht, dass es in all jenen Rechtsakten, die keinen aus­ drücklichen Grundrechtsvorbehalt kennen, nicht zu Konflikten zwischen dem Inte­ resse an einer zügigen Kooperation im Wege gegenseitiger Anerkennung und dem Interesse an der Wahrung der Grundrechte, insbesondere der Verteidigungsrechte des Angeklagten, kommt. Vielmehr fehlt es in diesen Fällen an einer Anweisung, ob und wie im Konfliktfall trotzdem Grundrechte zu beachten sind. (2) Verteidigungsrechte als Vollstreckungshindernis aus Perspektive des Vollstreckungsstaats? Lange Zeit schien es, als würde der EuGH den Grundsatz der gegenseitigen An­ erkennung vor die Wahrung der Grundrechte stellen. Insofern betonte er immer wieder, dass gegenseitige Anerkennung nur funktioniere, wenn die Mitgliedstaaten einander grundrechtskonformes Verhalten unterstellen: „Sowohl der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten als auch der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung haben im Unionsrecht fundamentale Bedeutung, da sie die Schaffung und Aufrechterhaltung eines Raums ohne Binnengrenzen ermöglichen. Konkret verlangt der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, namentlich in Bezug auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, von jedem Mitgliedstaat, dass er, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten.“592

Sobald Sekundärrecht gegenseitige Anerkennung der Mitgliedstaaten vorschreibt, muss folglich davon ausgegangen werden, dass die „Behandlung […] in jedem ein­ zelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta […] und der EMRK steht.“593 Denn die Sekundärrechtsakte berücksichtigen nach der Idealvor­ stellung des EuGH den Grundrechtsschutzstandard der Charta bereits ausreichend594 Rb-Sicherstellung, Art. 1 S. 2 und Erwägungsgrund (6); in Rb-Einziehungsentscheidung Er­ wägungsgrund (13) und Art. 1 Abs. 2; in Rb-Überwachungsmaßnahmen Erwägungsgrund (16) und Art. 5; dies als ungenügend kritisierend EnzEuR-Gaede, Eur. StR, § 3 Rn. 56. 592 St. Rspr. EuGH, Urteil v. 25.7.2018 – C-220/18 PPU, ML, Rn. 49; Urteil v. 10.11.2016 – C-477/16 PPU, Kovalkovas, Rn. 27; Urteil v. 10.11.2016 – C-452/16 PPU, Poltorak, Rn. 26; Urteil v. 5.4.2016 – C-404/15 u. C-659/15 PPU, Aranyosi u. Căldăraru, Rn. 78; Gutachten v. 18.12.2014 – C-2/13, EMRK-Beitritt, Rn. 191; Urteil v. 21.12.2011 – C-411/10 u. C-493/10, N. S. u. a., Slg. 2011, I-13991 Rn. 78 ff.; ähnlich Urteil v. 26.2.2013 – C-399/11, Melloni, Rn. 37, 63; dies als systemisch-allgemeinen Maßstab kritisierend Callewaert, ZeuS 2014, 83 f.; ebenso krit. Hodgson, N. C. J. Int’l L. & Com. Reg. 37 (2011), 310. 593 EuGH, Urteil v. 21.12.2011 – C-411/10 u. C-493/10, N. S. u. a., Slg. 2011, I-13991 Rn. 80; in diesem Sinne Urteil v. 30.5.2013 – C-168/13, Jeremy F., Rn. 47; krit. zur nicht tatsachenge­ bundenen Vermutung zugunsten eines fairen Verfahrens, Kargopoulos, in: Dzehtsiarou / Kons­ tadinides u. a. (Hrsg.), Human Rights Law in Europe, S. 115. 594 Zum Europäischen Haftbefehl s. EuGH, Urteil v. 1.6.2016 – C-241/15, Bob-Dogi, Rn. 61; Urteil v. 5.4.2016  – C-404/15 u. C-659/15 PPU, Aranyosi u. Căldăraru, Rn. 80; Urteil v. 26.2.2013 – C-399/11, Melloni, Rn. 62 f.; zust. GA Ruiz-Jarabo Colomer, Schlussanträge v.

B. Die Konzeption der Grundrechtecharta

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und werden zum anderen von Mitgliedstaaten umgesetzt, die dieselben Vorstel­ lungen von Menschenrechten und deren Umsetzung haben.595 Wird aber die Grundrechtskonformität grundsätzlich unterstellt, folgt daraus bereits, dass gegenseitige Anerkennung und damit die Vollstreckung eines begehr­ ten Rechtshilfeakts die Regel darstellt, der Beschwerdeführer dagegen eine Verlet­ zung seiner Rechte nur ausnahmsweise rügen kann.596 Dementsprechend wurden Verteidigungsrechte in grenzüberschreitenden Zusammenhängen ent­weder nicht erwähnt oder lediglich lose geprüft.597 Von diesem Standpunkt aus hat sich die Rechtsprechung des EuGH bisher deutlich entwickelt. Trotzdem bestehen nach wie vor Konfliktpotentiale zwischen seiner geübten Rolle als marktintegrativer Kraft der EU und seiner neuen Rolle als „Menschenrechtsgerichtshof“.598 (a) Wechselhafte Rechtsprechungslinien Während die Rechtsprechung des EuGH von dem Grundsatz der Grundrechts­ konformität zu einem Ausgleich von Grundrechten und gegenseitiger Anerkennung grundsätzlich erst finden musste,599 haben einige Generalanwälte beim EuGH be­ reits früh dafür plädiert, dass Rechtsakte im Wege der gegenseitigen Anerken­ 12.9.2006 – C-303/05, Advocaten voor de Wereld, Slg. 2006, I-3638 Rn. 69 f.; Erwägungsgrund (12) Rb-EHB; insofern krit. Kargopoulos, in: Dzehtsiarou / Konstadinides u. a. (Hrsg.), Human Rights Law in Europe, S. 115. 595 EuGH, Urteil v. 10.11.2016 – C-477/16 PPU, Kovalkovas, Rn. 27; Urteil v. 10.11.2016 – C-452/16 PPU, Poltorak, Rn. 26; Urteil v. 5.4.2016 – C-404/15 u. C-659/15 PPU, Aranyosi u. Căldăraru, Rn. 78; Gutachten v. 18.12.2014  – C-2/13, EMRK-Beitritt, Rn. 191; Urteil v. 21.12.2011  – C-411/10 u. C-493/10, N. S. u. a., Slg.  2011, I-13991 Rn. 78 ff.; krit. dazu Armada / Weyembergh, in: Fletcher / Herlin-Karnell / Matera (Hrsg.), The European Union as an Area of Freedom, Security and Justice, S. 123; ebenso krit. Callewaert, ZEuS 2014, 85. 596 Abl. Swoboda, ZIS 2018, 294. 597 EuGH, Urteil v. 26.2.2013 – C-399/11, Melloni, Rn. 50 ff.; Urteil v. 29.1.2013 – C-396/11, Radu, Rn. 33 ff.; krit. Aden, in: Rehder / Schneider (Hrsg.), Gerichtsverbünde, Grundrechte und Politikfelder in Europa, S. 247 ff.; ebenso krit. zur Rechtssache „Melloni“: Streinz, in: Kment (Hrsg.), FS Jarass, S. 139; krit. Gaede, ZStW 115 (2004), 852 („in strafverfahrensrechtlich be­ deutenden Entscheidungen Grundrechtsentwicklungen verwehrt“); m. w. N. Stieglitz, Grund­ rechtsverständnis nach der EMRK und der Judikatur des EuGH, S. 147 598 Pos. dazu Kingreen, in: Kment (Hrsg.), FS Jarass, S. 61 („Agent[…] des Grundrechts­ schutzes in Europa“); Klip, European Criminal Law, S. 542 („primary guarantor of human rights“); ebenso Meyer, JZ 71 (2016), 624; ders., NStZ 2009, 663 a. E.; ebenfalls grds. positiv Ojanen, ECLR 12 (2016), 322 f., 329; dies als grundlegende Zukunftsaufgabe des EuGH se­ hend EnzEuR-Gaede, Eur. StR, § 3 Rn. 97; dazu, dass dies überhaupt nicht die genuine Auf­ gabe des EuGH sei, Spielmann, IWRZ 2017, 147 f.; ebenso Skouris, MMR 2011, 426; dies als unvermeidliche Entwicklung betrachtend Möllers, ZeuP 2015, 464; krit. zu dieser bislang eher marktintegrativen als grundrechtszentrierten Auslegung Swoboda, ZIS 2018, 277. 599 Vgl. als Ausnahme dazu bereits früh EuGH, Urteil v. 28.3.2000 – C-7/98, Krombach, Slg. 2000, I-1935 Rn. 43; wegen der „jungen Zuständigkeit für den Grundrechtsschutz“ den EuGH als „Latecomer“ bezeichnend Aden, in: Rehder / Schneider (Hrsg.), Gerichtsverbünde, Grundrechte und Politikfelder in Europa, S. 249 f.

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

nung auch die Grundrechte berücksichtigen müssen. 2010 führte Generalanwalt Villalón aus, dass „[w]enn es richtig ist, dass die gegenseitige Anerkennung ein Instrument zur Stärkung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ist, so trifft es doch nicht weniger zu, dass der Schutz der Grundrechte und -freiheiten ein prius darstellt, das das Bestehen und die Entwicklung dieses Raums legitimiert. […] Die Notwendigkeit, den Rahmenbeschluss im Licht der Grundrechte auszulegen, ist nach dem Inkrafttreten der Charta der Grundrechte […] noch dringlicher geworden.“600

Insofern sollte verhindert werden, dass es zu einem Automatismus der Voll­ streckung zulasten der Rechte des Einzelnen kommt. Nach Maßgabe von General­ anwalt Mengozzi sollte „[d]er freie Verkehr von Strafurteilen […] unter Berücksichtigung dieses übergeordneten Grundsatzes, den der Schutz der Würde des Menschen, ein Eckpfeiler des Grundrechts­ schutzes in der Rechtsordnung der Union, darstellt, sicher[ge]stell[t], aber gegebenenfalls auch ein[ge]schränk[t]“601

werden. Diese Erwägungen fanden in den korrespondierenden Urteilen des EuGH jedoch keinen Widerhall.602 Vielmehr schien der Gerichtshof in der Rechts­ sache Radu weiterhin die Gewährleistung gegenseitiger Anerkennung den Grund­ rechten voranzustellen. In dem Vorlageverfahren vor dem EuGH hatte Rumänien den Angeklagten Radu per Europäischen Haftbefehl an Deutschland ausgeliefert. Radu wandte gegen seine Auslieferung ein, dass er von der ausstellenden Justizbe­ hörde vor Erlass des Haftbefehls nicht angehört und somit gegen seine Rechte aus Art. 47 f. GRCh verstoßen worden sei.603 Das vorlegende Gericht wollte daher wis­ sen, ob die fehlende Anhörung vor der Auslieferung durch die ausstellenden Justiz­ behörden die Übergabe im Rahmen des Europäischen Haftbefehls hindern kann.604 Dies lehnte der EuGH ab.605 Zwar fänden die Rechte aus Art. 47 f. GRCh auf den Fall von Herrn Radu Anwendung. Sie wären jedoch über die bereits in den abschlie­ ßend geregelten Gründen zur Ablehnung der Vollstreckung eines Haftbefehls gem. 600

GA Villalón, Schlussanträge v. 6.7.2010  – C-306/09, I. B., Rn. 43 f.; zust. GAin Shar­ pston, Schlussanträge v. 18.10.2012 – C-396/11, Radu, Rn. 72; ebenso zust. Callewaert, ZeuS 2014, 90; dagegen verzichtet der EuGH in seinem anschließenden Urteil komplett auf eine Grundrechtsprüfung oder auf eine Gewichtung grundrechtlicher Belange, s. EuGH, Urteil v. 21.10.2010 – C-306/09, I. B., Rn. 42 ff.; a. A. zu diesem Urteil des EuGH Leczykiewicz, in: Flet­ cher / Herlin-Karnell / Matera (Hrsg.), The European Union as an Area of Freedom, Security and Justice, S. 90. 601 GA Mengozzi, Schlussanträge v. 20.3.2012 – C-42/11, Lopes Da Silva Jorge, Rn. 28. 602 Am Beispiel des Rb-Geldbußen, GAin Sharpston, Schlussanträge v. 18.7.2013 – C-60/12, Baláz, Rn. 77; s. dagegen EuGH, Urteil v. 14.11.2013 – C-60/12, Baláz, Rn. 24 ff.; später auch aufgegriffen von GA Bobek, Schlussanträge v. 11.5.2016 – C-108/16 PPU, Dworzecki, Rn. 49 („selbst wenn dies dazu führen sollte, dass die Vollstreckung des Haftbefehls abgelehnt wer­ den muss.“). 603 EuGH, Urteil v. 29.1.2013 – C-396/11, Radu, Rn. 29. 604 Ebd., Rn. 31. 605 Ebd., Rn. 39.

B. Die Konzeption der Grundrechtecharta

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Art. 3, 4 und 4a Rb-EHB ausreichend berücksichtigt worden.606 Eine Anhörung sei dort nicht vorgesehen und würde daher den Harmonisierungsbestimmungen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zuwiderlaufen.607 Im Ergebnis dürfte dem EuGH zuzustimmen sein, dass keine Grundrechtsver­ letzung im Fall von Herrn Radu vorlag. Die unterlassene Anhörung dürfte zwar Verteidigungsrechte gem. Art. 48 Abs. 2 GRCh einschränken, jedoch in ihrer Be­ schränkung verhältnismäßig und damit gerechtfertigt sein.608 Insofern erregt das Ergebnis an sich keinen Anstoß, sondern lediglich die Weigerung des EuGH, den Rahmenbeschluss im Lichte der Grundrechte auszulegen, indem er pauschal da­ rauf verweist, dass die Grundrechte ausreichend in der Regelung des Rahmenbe­ schlusses selbst Niederschlag gefunden hätten.609 Damit hat er eine Überformung durch Grundrechte zwar nicht ausgeschlossen, diese aber jedenfalls nicht zur An­ wendung gebracht.610 Es schien vielmehr so, als würde nach Auffassung des EuGH eine Auslegung des Rahmenbeschlusses im Lichte der Grundrechte den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts scheitern lassen.611 Dabei ergab sich jedoch bereits zu diesem Zeitpunkt, dass der weitere Ausbau des strafrechtlichen Europas nur in­ nerhalb der durch die Grundrechte gezogenen Schranken erfolgen dürfte.612 Diese ersten Auslegungstendenzen des EuGH ließen dementsprechend offen, ob in einer ernsthaften Gefährdungssituation für die Verteidigungsrechte des Angeklagten eine umfangreichere Grundrechtsprüfung zu erwarten wäre.613

606

Vgl. ebd., Rn. 32, 34 ff., 39; abl. gegen diese Form der Argumentation: Gaede, NJW 2013, 1279 f. 607 Vgl. EuGH, Urteil v. 29.1.2013 – C-396/11, Radu, Rn. 36, 40; deswegen krit.: Europäisches Parlament, Bericht v. 28.1.2014 – A7–0039/2014, S. 5. 608 So auch Anagnostaras, CMLRev 53 (2016), 1690; laut Zeder, in: Reindl-Krauskopf / Zer­ bes u. a. (Hrsg.), FS Fuchs, S. 677, sei bereits der Sachverhalt nicht ausreichend, eine Verletzung der Verteidigungsrechte zu belegen. 609 So krit. Leczykiewicz, in: Fletcher / Herlin-Karnell / Matera (Hrsg.), The European Union as an Area of Freedom, Security and Justice, S. 87 („unwillingness to take account of fundamen­ tal rights“); ebenso krit. Armada / Weyembergh, in: Fletcher / Herlin-Karnell / Matera (Hrsg.), The European Union as an Area of Freedom, Security and Justice, S. 117; Meysman, EuCLR 2016, 204 f.; auch abl. Xanthopoulou, CMLRev 2018, 493. 610 Vgl. Gaede, NJW 2013, 1280. 611 EuGH, Urteil v. 29.1.2013 – C-396/11, Radu, Rn. 40; ebenso und krit. zu dieser Auslegung des EuGH, Favreau, eucrim 2016, 106. 612 S. auch Art. 1 Abs. 3 Rb-EHB; grundlegend GA Villalón, Schlussanträge v. 6.7.2010 – C-306/09, I. B., Rn. 43 f.; zust. GAin Sharpston, Schlussanträge v. 18.10.2012 – C-396/11, Radu, Rn. 73, die sich im Anschluss an GA Villalón für die Abwägung von Grundrechten und gegen­ seitiger Anerkennung ausspricht; Arnell, Eur. J. Crime Crim. L. & Crim. Just. 21 (2013), 335 f., erblickt darin die hypothetische Möglichkeit der Charta, tatsächlich über Art. 6 Abs. 3 EMRK hinauszuwachsen; Gaede, NJW 2013, 1280; EnzEuR-ders., Eur. StR, § 3 Rn. 49. 613 Zuversichtlich dahingehend bereits damals Bülte / Krell, StV 2013, 716; ebenso offen Zeder, in: Reindl-Krauskopf / Zerbes u. a. (Hrsg.), FS Fuchs, S. 677.

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

In den folgenden Jahren zeigte der EuGH in Bezug auf die Umsetzung straf­ rechtlicher Grundrechte unterschiedliche Tendenzen. Zum Teil prüfte er fast lehr­ buchmäßig einschlägige Garantien durch,614 zum Teil berief er sich wieder darauf, dass solange ein Europäischer Haftbefehl als justizielle Entscheidung im Sinne des Rahmenbeschlusses erginge, die jeweils gebotenen Verteidigungsgarantien bereits allein aufgrund der Durchführung des Rahmenbeschlusses enthalten seien.615 Je­ doch tauchten auch vermehrt Entscheidungen auf, die betonten, dass die Charta der Grundrechte zu achten und daher eine Überprüfung der Normen des Rahmen­ beschlusses anhand der Grundrechte grundsätzlich erforderlich sei.616 Wenig klar jedoch blieb, wie stark diese Grundrechtsprüfung tatsächlich ausgebaut würde, insbesondere ob Grundrechte geeignet sein könnten, Rechtsakte gegenseitiger An­ erkennung in ihrer Vollstreckung zu hindern. (b) Die Rechtssache Aranyosi u. Căldăraru – C-404/15 u. C-659/15 PPU Insofern verschaffte das Urteil in der Rechtssache Aranyosi u. Căldăraru erst­ mals Klarheit. Dort hat der EuGH die Berücksichtigung von Grundrechten über Art. 1 Abs. 3 Rb-EHB ausgebaut zu einem grundrechtlichen, nicht im Rahmen­ beschluss selbst vorgesehenen Vollstreckungsaufschub bzw. -hindernis.617 Beide Angeklagten sollten durch die Staatsanwaltschaft Bremen im Wege des Europäischen Haftbefehls ausgeliefert werden: Der Angeklagte Aranyosi nach Ungarn, der Angeklagte Căldăraru nach Rumänien. Sowohl im Falle Ungarns als auch im Falle Rumäniens lagen offizielle Berichte von Nichtregierungsorganisatio­ nen und Urteile des EGMR vor, die systemische Mängel der Haftanstalten feststell­ ten und davon ausgingen, dass eine Unterbringung in den dortigen Haftanstalten eine menschenunwürdige Behandlung entgegen Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRCh darstelle.618 Das mit der Sache befasste OLG Bremen legte daher die Frage vor, ob Art. 1 Abs. 3 Rb-EHB in solchen Situationen die Auslieferung hindern bzw. von bestimmten Bedingungen abhängig machen kann.619

614 Am Beispiel von Art. 50 GRCh GA Jäaskinen, Stellungnahme v. 2.5.2014  – C-129/14 PPU, Spasic, Rn. 85 ff.; dies aufgreifend EuGH, Urteil v. 27.5.2014 – C-129/14 PPU, Spasic, Rn. 56 ff. 615 EuGH, Urteil v. 30.5.2013 – C-168/13, Jeremy F., Rn. 39, dies bekräftigend in Rn. 41, 45; später erneut bekräftigt in Urteil v. 10.11.2016 – C-477/16 PPU, Kovalkovas, Rn. 37 und Urteil v. 10.11.2016 – C-452/16 PPU, Poltorak, Rn. 39. 616 EuGH, Urteil v. 16.7.2015 – C-237/15 PPU, Lanigan, Rn. 53. 617 EuGH, Urteil v. 5.4.2016 – C-404/15 u. C-659/15 PPU, Aranyosi u. Căldăraru, Rn. 104; grds. zust. Gáspár-Szilágyi, Eur. J. Crime Crim. L. & Crim. Just. 24 (2016), 210 f. 618 EuGH, Urteil v. 5.4.2016 – C-404/15 u. C-659/15 PPU, Aranyosi u. Căldăraru, Rn. 43 ff., 60 ff. 619 Ebd., Rn. 46, 63.

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Generalanwalt Bot plädierte in seinen Schlussanträgen für eine Verhältnis­ mäßigkeitsprüfung, die eine Auslieferung bei schweren Delikten auch dann zulässt, wenn die Zustände im Anordnungsstaat den Anforderungen an eine menschen­ würdige Behandlung i. S. v. Art. 4 GRCh widersprechen. Ein ungeschriebener Hinderungsgrund für gegenseitige Anerkennung, der nur darauf basiere, dass eine Grundrechtsverletzung im Anordnungsstaat drohe, würde das gegenseitige Ver­ trauen der Mitgliedstaaten stören und damit das System gegenseitiger Anerken­ nung strafrechtlicher Entscheidungen vereiteln.620 Gerade wegen der hohen Anzahl an Mitgliedstaaten, die ein systemisch mangelhaftes Gefängnissystem unterhalten, wäre die Folge eine faktische Lähmung des Systems des Europäischen Haftbe­ fehls.621 Insofern schlug Generalanwalt Bot eine Abwägung im Rahmen der Ver­ hältnismäßigkeitsprüfungvor, in die die drohenden Gefahren für den Angeklagten gem. Art. 4 und 6 GRCh mit dem Interesse an öffentlicher Sicherheit und Ordnung abzuwägen seien.622 Die Möglichkeit zu einer solchen Verhältnismäßigkeitsprüfung ergebe sich aus dem den jeweils vollstreckenden Justizbehörden eingeräumten Er­ messen.623 Dies würde dazu führen, dass bei schweren Delikten und Verbrechen trotz Zuständen im Anordnungsstaat, die gegen Art. 4 GRCh verstoßen, ausgelie­ fert werden muss, während bei geringfügigeren Delikten eine solche Auslieferung zu versagen wäre. Diese Auslegung hat der EuGH abgelehnt. Er hat stattdessen aus Art. 1 Abs. 3 Rb-EHB i. V. m. Art. 4 GRCh einen Vollstreckungsaufschub bzw. ein Vollstre­ ckungshindernis im Rahmen des Europäischen Haftbefehls herausgelesen.624 Zwar sei der Europäische Haftbefehl vom Vollstreckungsmitgliedstaat grundsätzlich durchzuführen, es sei denn, einer der abschließend geregelten Gründe in Art. 3, 4 oder 4a Rb-EHB fände Anwendung.625 Trotzdem seien „unter ‚außergewöhnlichen Umständen‘ Beschränkungen der Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten möglich“.626 Zudem werde die Pflicht der Mitgliedstaaten, die Grundrechte zu achten, durch den Rah­ menbeschluss nicht berührt.627 Insoweit betont der EuGH die absolute Natur des Verbots unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung und den Charakter dieses 620 GA Bot, Schlussanträge v. 3.3.2016 – C-404/15 u. C-659/15 PPU, Aranyosi u. Căldăraru, Rn. 122; krit. Gáspár-Szilágyi, Eur. J. Crime Crim. L. & Crim. Just. 24 (2016), 205 f. 621 GA Bot, Schlussanträge v. 3.3.2016 – C-404/15 u. C-659/15 PPU, Aranyosi u. Căldăraru, Rn. 123. 622 Ebd., Rn. 135 f. 623 Ebd., Rn. 147 f. 624 EuGH, Urteil v. 5.4.2016 – C-404/15 u. C-659/15 PPU, Aranyosi u. Căldăraru, Rn. 104; krit. dagegen GA Bot, Schlussanträge v. 3.3.2016 – C-404/15 u. C-659/15 PPU, Aranyosi u. Căldăraru, Rn. 74 f., 78, 80 ff., weil dieser ungeschriebene Grund dem Willen des Unions­ gesetzgebers widerspräche; pos. zur Ansicht von GA Bot: Meyer, JZ 71 (2016), 624; ebenso zust. Schwarz, EuR 2016, 430; 625 EuGH, Urteil v. 5.4.2016 – C-404/15 u. C-659/15 PPU, Aranyosi u. Căldăraru, Rn. 79 f. 626 Ebd., Rn. 82; in diesem Sinne bereits in Gutachten v. 18.12.2014 – C-2/13, EMRK-Beitritt, Rn. 191. 627 EuGH, Urteil v. 5.4.2016 – C-404/15 u. C-659/15 PPU, Aranyosi u. Căldăraru, Rn. 83.

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

Rechts als „Grundwert“ der Europäischen Union und der Mitgliedstaaten.628 Bei der Gefährdung eines solchen absoluten Schutzguts sah der EuGH es als gerecht­ fertigt an, die Auslieferung im Rahmen des Europäischen Haftbefehls nicht be­ dingungslos weiterzuführen. Daher soll der jeweilige Mitgliedstaat eine zweistufige Prüfung durchführen: Zunächst muss die vollstreckende Justizbehörde sich objektiv und zuverlässig ver­ gewissern, dass diese Gefahr unmenschlicher bzw. erniedrigender Behandlung im Anordnungsstaat abstrakt droht,629 um in einem zweiten Schritt festzustellen, ob diese Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung dem jeweiligen Angeklagten auch konkret droht.630 Werden beide Punkte bejaht, ist das Auslie­ ferungsverfahren zunächst aufzuschieben,631 bis der Vollstreckungsstaat Informa­ tionen erhält, die das Vorliegen einer echten Gefahr für den Angeklagten ausschlie­ ßen.632 Kann die Gefahr für den Angeklagten jedoch nicht innerhalb angemessener Frist ausgeschlossen werden, muss der Vollstreckungsstaat entscheiden, ob das Übergabeverfahren zu beenden ist.633 Dies ist die bisher stärkste Aufwertung des eher allgemein gehaltenen Art. 1 Abs. 3 Rb-EHB.634 Zwar wurde er nicht zu einem allgemeinen Grundrechtsvor­ behalt erhoben,635 hat jedoch trotzdem in Verbindung mit Art. 4 GRCh die Wirk­ macht der Grundrechte im Rahmen der gegenseitigen Anerkennung bewiesen. Das mehrteilige Abhilfeverfahren zeigt zwar nach wie vor das Bestreben des EuGH, grundsätzlich der gegenseitigen Anerkennung zu voller Wirksamkeit zu verhel­ fen.636 Trotzdem hat er die Bedeutung der Grundrechte in diesem Zusammenhang stärker betont als zuvor. Ausgehend von seiner vorherigen Rechtsprechung ist dies eine erhebliche Entwicklung. Ebenso wichtig ist, dass er dem Abwägungsgedanken von Generalanwalt Bot nicht gefolgt ist. Dies liefe gerade darauf hinaus, das Fol­ terverbot aus Art. 4 GRCh als verhandelbaren Verfassungswert zu betrachten.637 An 628

Ebd., Rn. 84 f., 87. Ebd., Rn. 89. 630 Ebd., Rn. 94 f.; so auch GA Bot, Schlussanträge v. 3.3.2016  – C-404/15 u. C-659/15 PPU, Aranyosi u. Căldăraru, Rn. 133 f.; zum Umfang der Prüfung nunmehr EuGH, Urteil v. 25.7.2018 – C-220/18 PPU, ML, Rn. 77 ff., 90 ff. 631 EuGH, Urteil v. 5.4.2016 – C-404/15 u. C-659/15 PPU, Aranyosi u. Căldăraru, Rn. 98; zum Vorrang des Aufschubs vor der Aufhebung des Verfahrens Urteil v. 16.7.2015 – C-237/15 PPU, Lanigan, Rn. 38. 632 Allg. Rechtsschutzmöglichkeiten widerlegen diese Gefahr nicht zwingend, vgl. EuGH, Urteil v. 25.7.2018 – C-220/18 PPU, ML, Rn. 72 ff. 633 EuGH, Urteil v. 5.4.2016 – C-404/15 u. C-659/15 PPU, Aranyosi u. Căldăraru, Rn. 104. 634 Xanthopoulou, CMLRev 2018, 491 („ground-breaking“). 635 Krit. Meyer, ZStW 72 (2017), 1113; trotzdem insg. zust. Kaiafa-Gbandi, EuCLR 2017, 237; ebenso keine „echte Kehrtwende“ erkennend Swoboda, ZIS 2018, 290. 636 Krit. zur eher vagen Beschreibung des Abhilfeverfahrens und damit des weiten Spiel­ raums der Mitgliedstaaten Meyer, JZ 71 (2016), 623; ebenso krit. dazu Anagnostaras, CMLRev 53 (2016), 1682; bezgl. der vom EuGH geforderten Darlegungslast und Darlegungsdichte ­Gáspár-Szilágyi, Eur. J. Crime Crim. L. & Crim. Just. 24 (2016), 214 ff. 637 Ebenso krit. Schwarz, EuR 2016, 429. 629

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dieser Stelle wäre fragwürdig gewesen, welchen Rechten sich die Union noch ver­ pflichtet sieht, wenn bereits das Folterverbot solchen Relativierungen zugänglich ist. Die Nähe zur Menschenwürde dieser Garantie verbietet eine solche Abwägung grundsätzlich. Hätte die EU nicht einmal dem Folterverbot diesen Wert zuerkannt, wäre auch fraglich gewesen, inwiefern der EGMR seine Prämisse judizieller Zu­ rückhaltung gegenüber dem EuGH aufrechterhalten hätte.638 Zutreffend hatte Generalanwalt Bot zwar herausgearbeitet, dass gerade, wenn es darum geht, dass jemand zur Strafverfolgung übergeben werden soll, derjenige bei Aufschub und Aussetzung des Übergabeverfahrens straflos bleiben wird, wenn der Vollstreckungsstaat selbst für die Strafverfolgung unzuständig ist.639 Selbst wenn der Vollstreckungsstaat zuständig sein sollte, wird ein Strafverfahren mit auslän­ dischen Beweismitteln und ausländischem zu einem enormen Ressourcenaufwand führen.640 Auch ist fraglich, ob dem Vollstreckungsstaat auferlegt werden kann, im Falle eines Europäischen Haftbefehls das Urteil mit all den daraus folgenden Kosten selbst zu vollstrecken – und ob dies nicht auf Dauer zu Strafvollstreckungs­ inseln in einzelnen Mitgliedstaaten der Union führt.641 Die Ansicht des EuGH ist trotzdem in Anbetracht der Absolutheit von Art. 4 GRCh die richtige: In Bezug auf die oben erkannten Defizite bleibt nur zu hoffen, dass die Europäische Union es schafft, Maßnahmen einzuleiten, die menschenwürdige Grundstandards in den Haft- und Unterbringungssystemen unionsweit sichern können. Diesen Defiziten mit einer Aufweichung grundrechtlicher Garantien zu begegnen, hätte ein Problem staatlichen Ursprungs dem einzelnen Angeklagten auferlegt.642 (c) Übertragung der Argumentation aus Aranyosi u. Căldăraru auf die Verletzungen von Verteidigungsrechten? Die Rechtsprechung des EuGH hat sich nach der obigen Betrachtung positiv zu einer den Grundrechten gegenüber offeneren Judikatur entwickelt. Inwieweit der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung aber unter einen tatsächlichen Grund­ 638

Vgl. zur sog. Bosphorus-Rechtsprechung des EGMR, die vermutet, dass die EU als inter­ nationale Organisation Menschenrechte vergleichbar schützt („equivalent protection“), st. Rspr. EGMR, Urteil v. 30.6.2005 – 45036/98, Bosphorus Hava Yollari Turizm Ve Ticaret Anonim Sirketi ./. EI, Rn. 152 ff.; Urteil v. 6.12.2012 – 12323/11, Michaud ./. FR, Rn. 103; diese gilt auch bei Rechtsakten gegenseitiger Anerkennung, dazu Urteil v. 23.5.2016 – 17502/07, Avotins ./. LV, Rn. 101; krit. dazu das abw. Votum von Richter Sajó v. 23.5.2016 – 17502/07, Avotins ./. LV, Rn. 9; ebenso abl. Vogler, in: Ruggeri (Hrsg.), Transnational Inquiries and the Protec­ tion of Fundamental Rights in Criminal Proceedings, S. 38 f.; dazu, dass diese beschränkte Überprüfung jedenfalls eine „problematische Seite“ habe, vgl. Ress, EuZW 2016, 800. 639 Dies als Gefahr sehend EuGH, Urteil v. 25.7.2018 – C-220/18 PPU, ML, Rn. 85 f. m. w. N. 640 GA Bot, Schlussanträge v. 3.3.2016 – C-404/15 u. C-659/15 PPU, Aranyosi u. Căldăraru, Rn. 125. 641 Ebd., Rn. 63, 126. 642 In diesem Sinne auch Kaiafa-Gbandi, EuCLR 2017, 239; ebenso Schwarz, EuR 2016, 429.

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

rechtsvorbehalt gestellt wird, dürfte sich erst in Zukunft herausstellen. Mit dem Inkrafttreten der verschiedenen Richtlinien zur Harmonisierung der Garantien im Strafverfahren dürften deutlich mehr Fälle und Auslegungsfragen in strafrecht­ licher Hinsicht den EuGH erreichen. Dass allerdings gerade im Rahmen des Europäischen Haftbefehls – oder dort wo auch nur die Achtung der Grundrechte ähnlich wie in Art. 1 Abs. 3 Rb-EHB als reine Postulation festgeschrieben ist – der EuGH womöglich auch allgemeine Ver­ teidigungsrechte als Grenze gegenseitiger Anerkennung zulässt, erschien bislang unwahrscheinlich.643 Nicht nur hat der EuGH betont, dass lediglich unter „außer­ gewöhnlichen Umständen“644 eine solche Hinderung gegenseitiger Anerkennung möglich wäre, sondern dies zudem mit dem absoluten Charakter des Folterverbots begründet. Angesichts dieser ausdrücklichen Einhegung des Grundrechtsvorbe­ halts schien zweifelhaft, dass diese Ausnahme für andere als absolute Chartarechte Anwendung finden wird.645 Die Entscheidung LM des EuGH über eine Auslieferung im Wege des Europäi­ schen Haftbefehls an Polen bricht dieses Argumentationsmuster jedoch auf und wendet die Grundsätze aus Aranyosi u. Căldăraru entsprechend auf das Recht auf ein faires Verfahren gem. Art. 47 Abs. 2 GRCh an.646 Der Irish High Court begehrte mit seiner Vorlage die Klärung der Frage, ob die Ansätze aus Aranyosi u. Căldăraru auch auf das Recht auf ein faires Verfah­ ren anwendbar seien, wenn dem Angeklagten durch die Auslieferung im Anord­ nungsstaat ein grundsätzlich rechtsstaatswidriges und willkürliches Strafverfahren drohe. Denn nach der kürzlichen Reform des polnischen Justizsystems könne dieses grundlegende Voraussetzungen der Rechtsstaatlichkeit nicht mehr gewährleisten.647 Der EuGH bejahte die entsprechende Anwendbarkeit der Grundsätze in Aranyosi 643

Ähnlich Anagnostaras, CMLRev 53 (2016), 1677, 1682 („it is not immediately apparent how it will be applied in practice in cases of alleged violations of fundamental rights“); Brodowski, JR 2016, 430; Meyer, ZStW 72 (2017), 1113 („isolierte Konstellation“); ders., JZ 71 (2016), 624; so auch Wendel, DRiZ 2018, 177 f. 644 So u. a. bestätigt in EuGH, Urteil v. 23.1.2018 – C-367/16, Piotrowski, Rn. 48; zuvor be­ reits in Urteil v. 29.6.2017 – C-579/15, Popławski, Rn. 19; Urteil v. 10.8.2017 – C-270/17 PPU, Tupikas, Rn. 50 f.; Xanthopoulou, CMLRev 2018, 495 („exception is firmly tamed and con­ trolled“). 645 Ähnlich wohl Favreau, eucrim 2016, 106; ebenso Gáspár-Szilágyi, Eur. J. Crime Crim. L. & Crim. Just. 24 (2016), 212 f.; Leczykiewicz, in: Fletcher / Herlin-Karnell / Matera (Hrsg.), The European Union as an Area of Freedom, Security and Justice, S. 88; zweifelnd bei abwäg­ baren Rechten Meyer, JZ 71 (2016), 624; a. A. Anagnostaras, CMLRev 53 (2016), 1690; Kromrey / Morgenstern, ZIS 2017, 116 f.; pos. dagegen Schwarz, EuR 2016, 430 f.; ebenso positiv zu diesem Urteil des EuGH und der Stärkung des Grundrechtsschutzes insb. bei Auslieferungen Oehmichen, StV 2017, 262. 646 EuGH, Urteil v. 25.7.2018 – C-216/18 PPU, LM, Rn. 44 ff. m. grds. zust. Anm. Payandeh, JuS 2018, 921; dies zuvor für unwahrscheinlich erachtend Wendel, DRiZ 2018, 177 f. 647 EuGH, Urteil v. 25.7.2018 – C-216/18 PPU, LM, Rn. 21 ff.; mit einem krit. Überblick zur Justizreform in Polen Niezgódka, NJ 2017, 361 ff.

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u. Căldăraru in einem solchen Fall. Von einer Auslieferung sei danach „bei einer echten Gefahr der Verletzung des Grundrechts der betroffenen Person auf ein un­ abhängiges Gericht und damit ihres Grundrechts auf ein faires Verfahren“648 ab­ zusehen. Denn die Unabhängigkeit eines Gerichts sei ein so elementarer Bestand­ teil des Rechts auf ein faires Verfahren, dass dessen Wesensgehalt berührt sei.649 Insofern genügt aber nicht ein im Einzelfall abhängiges Gericht, sondern es muss sich um „systemische[…] oder zumindest allgemeine[…] Mängel“ handeln.650 Dadurch formuliert der EuGH erstmals, dass nicht nur die drohende Verletzung absoluter Rechte, sondern auch die drohende Verletzung relativer Verfahrensrechte die Vollstreckung einer Rechtshilfemaßnahme aufhalten können – wenn diese in ihrem Wesensgehalt betroffen sind.651 Das Recht auf ein faires Verfahren kann folglich auch ohne ausdrückliche Anordnung in einem Rahmenbeschluss Voll­ streckungsgegenrecht sein. Insofern transponiert der EuGH die Kategorie der ekla­ tanten Rechtsverweigerung652 in das System der unionalen Rechtshilfe. Dadurch hat der EuGH erstmals anerkannt, dass Verteidigungsrechte als wich­ tige Schranke und Vollstreckungshindernis gegenseitiger Anerkennung fungieren können.653 Verteidigungsrechte sind nicht nur Zierde im System gegenseitiger An­ erkennung und strafrechtlicher Zusammenarbeit, sondern lassen genau ablesen, wie ernst die Europäische Union den Grundrechtsschutz ihrer Bürger nimmt. Die zunehmende Harmonisierung strafrechtlicher Angelegenheiten über Art. 82 Abs. 2 AEUV nimmt den EuGH stärker für den strafrechtlichen Menschenrechtsschutz in die Verantwortung und verdrängt damit nationale Gerichte und den EGMR. Seine Auslegung und Gewichtung der Grundrechte wird diesem neuen Auftrag als „Men­ schenrechtsgerichtshof“654 zunehmend gerecht. So betont er tatsächliches gegenseitiges Vertrauen in die Rechtsordnungen der anderen Mitgliedstaaten als Basis der gegenseitigen Anerkennung.655 Vertrauen kann gerade nur im Konkreten erfolgen, wenn also ähnliche und auch gelebte Rechtsstandards, insbesondere der Verteidigungsrechte, ein solches Vertrauen zulassen.656 Die immer noch stark disparaten Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten 648

EuGH, Urteil v. 25.7.2018 – C-216/18 PPU, LM, Rn. 47, 60 ff. Ebd., Rn. 48, 60. 650 Ebd., Rn. 60. 651 So implizit EuGH, Urteil v. 25.7.2018 – C-216/18 PPU, LM, Rn. 48, 59 f.; GA Tanchev, Schlussanträge v. 28.6.2018 – C-216/18 PPU, LM, Rn. 81 ff. 652 GA Tanchev, Schlussanträge v. 28.6.2018 – C-216/18 PPU, LM, Rn. 66; vgl. dazu o. Kap. 2 A. III. 1. b) cc) (1). 653 Zust. Gáspár-Szilágyi, Eur. J. Crime Crim. L. & Crim. Just. 24 (2016), 213. 654 Vgl. bereits o. Kap. 2, Fn. 598. 655 Xanthopoulou, CMLRev 2018, 492 sieht daher das Ende einer langen Phase des „blind trust“ bereits seit Aranyosi. 656 Buermeyer, HRRS 2005, 273 f.; ebenso dafür plädierend EnzEuR-Gaede, Eur. StR, § 3 Rn. 49; Kaufhold, EuR 2012, 417 ff.; krit. zur bisherigen Praxis Streinz-Satzger, EUV / A EUV, Art. 82 AEUV Rn. 13; a. A. aber noch implizit in EuGH, Urteil v. 21.12.2011 – C-411/10 u. C-493/10, N. S. u. a., Slg. 2011, I-13991 Rn. 78 f. 649

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der Europäischen Union rechtfertigen bisher kein uneingeschränktes Vertrauen,657 sodass auch der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung nicht vollumfänglich gelten kann. Dies hat der EuGH nunmehr anerkannt, wenngleich er seiner strengen Auslegung treu bleibt und außergewöhnliche Umstände i. S. v. systemischen Män­ geln der anderen Rechtsordnung verlangt. Damit beschränkt der EuGH gleichsam den Anwendungsbereich dieser Ausnahme auf für die Essenz des fairen Verfahrens relevante Verletzungen, um weiterhin die gegenseitige Anerkennung im Rahmen der strafrechtlichen Zusammenarbeit zu fördern.658 2. Auswirkungen der transnationalen Dimension der Charta auf die Voraussetzungen strafrechtlicher Prozesskostenhilfe Der Einbezug des transnationalen Strafverfahrens in den Anwendungsbereich von Art. 48 Abs. 2 GRCh bedingt Besonderheiten zunächst auf Ebene der Voraus­ setzungen strafrechtlicher Prozesskostenhilfe. Entsprechend Art. 6 Abs. 3 lit.  c EMRK setzt auch Art. 48 Abs. 2 GRCh für einen Anspruch auf strafrechtliche Prozesskostenhilfe voraus, dass entweder ein Interesse der Rechtspflege an der Beiordnung eines staatlich getragenen Verteidigers besteht oder der Angeklagte bedürftig ist.659 Die Auslegung richtet sich nach dem aktuellen Konventionsstand von Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK.660 Da der EGMR einen Einbezug des transnationa­ len Strafverfahrens bislang nicht ausdrücklich anerkennt, fehlt es an einer daran angepassten Auslegung dieser Voraussetzungen. Insoweit muss die Auslegung der Voraussetzungen der Interessen der Rechtspflege und der Bedürftigkeit des Angeklagten zum Teil über eigene Vermutungs­ regeln im Rahmen des grenzüberschreitenden Strafverfahrens ergänzt werden. a) Transnationale Prägung des Rechtspflegeinteresses Das Interesse der Rechtspflege bestimmt sich entsprechend Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK in der GRCh auch anhand einer Gesamtschau verschiedener Kriterien, die die Schwere der angeklagten Tat, die drohenden Rechtsfolgen und die tatsächliche und rechtliche Komplexität des Verfahrens einbezieht.661 Hinzu kommt der Aspekt

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So auch A / B/E / E-Böhm, Int. Strafrecht Rn. 1421 f.; in diesem Sinne Sieber, ZStW 121 (2009), 1 („Flickenteppich“); ebenso einen flexiblen Anwendungsmaßstab der Menschenrechte auch im Rahmen gegenseitiger Anerkennung fordernd Callewaert, ZeuS 2014, 90. 658 Dies unter Verweis auf die Rspr. des EGMR rechtfertigend GA Tanchev, Schlussanträge v. 28.6.2018 – C-216/18 PPU, LM, Rn. 81 ff.; aber krit. im Hinblick auf die schwierige Einzel­ fallprüfung Payandeh, JuS 2018, 921. 659 Jarass, GRCh, Art. 48 Rn. 29. 660 Vgl. o. Kap. 2 A. II. 1., 2. 661 S. o. Kap. 2 A. II. 1.

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der Waffengleichheit. In seiner eigenen Rechtsprechung hat der EuGH immer wie­ der betont, dass das Fundament eines fairen Verfahrens durch den Grundsatz der Waffengleichheit maßgeblich geprägt wird.662 Kern dieses Prinzips ist es, jeder Partei zu ermöglichen, ihre Auffassung, Beweise, Anträge und anderen Belange unter solchen Bedingungen vorzutragen, die sie gegenüber der gegnerischen Partei nicht benachteiligt.663 Der Angeklagte soll dadurch die Möglichkeit haben, nach­ teilsfrei und in angemessenem Umfang dem ihm gegenüber geäußerten Verdacht entgegenzutreten.664 Dort wo eine Benachteiligung des Angeklagten zu befürchten ist, weil er nicht auf strafrechtliche Prozesskostenhilfe zurückgreifen kann, ist da­ her grundsätzlich von einem Rechtspflegeinteresse zu seinen Gunsten auszugehen. Das ist ebenso im transnationalen Strafverfahren von Bedeutung. Insbesondere begründet die rechtliche wie tatsächliche Komplexität des transnationalen Ver­ fahrens in der Regel ein Rechtspflegeinteresse. aa) Vermutung der tatsächlichen Komplexität in transnationalen Strafverfahren In tatsächlicher Hinsicht ist das transnationale Strafverfahren zunächst wegen eines erheblichen Informations- und Wissensvorsprung der Strafverfolgungsbe­ hörden als grundsätzlich komplex einzuschätzen. Dies gilt umso mehr wegen des Informationsüberhangs und der besseren Vernetzung der mitgliedstaatlichen Straf­ verfolgungsbehörden665 im Vergleich zu der demgegenüber nur wenig ausgeprägten Infrastruktur und Vernetzung aufseiten der Verteidigung.666 Ein Hauptaspekt tatsächlicher Komplexität ist jedoch die Sprachunkundigkeit des Angeklagten. Ist der Angeklagte im transnationalen (wie im nationalen) Straf­ verfahren weder vertraut mit der Landessprache noch mit dem Rechtssystem, so besteht auch in diesem Fall die Vermutung für ein Rechtspflegeinteresse.667 Dann ist grundsätzlich zu erwarten, dass er sich allein weniger effektiv verteidigen kann als jemand mit Verteidigungsbeistand. Im Einzelfall nur bagatellhafter Delikte mag es genügen, einen Dolmetscher beizuziehen, um diesen Mangel auszuglei­ chen.668 Zumeist aber wird der Angeklagte damit überfordert sein, das in einer fremden Sprache durchgeführte Verfahren selbst zu gestalten. Die Übersetzung 662 EuGH, Urteil v. 16.5.2017  – C-682/15, Berlioz Investment Fund, Rn. 96; Urteil v. 30.6.2016 – C-205/15, Toma, Rn. 47; Urteil v. 6.11.2012 – C-199/11, Otis u. a., Rn. 71; Urteil v. 17.7.2014 – C-169/14, Sánchez Morcillo u. Abril García, Rn. 49. 663 EuGH, Urteil v. 30.6.2016 – C-205/15, Toma, Rn. 47; Urteil v. 17.7.2014 – C-169/14, Sán­ chez Morcillo u. Abril García, Rn. 49; Urteil v. 6.11.2012 – C-199/11, Otis u. a., Rn. 71. 664 EuGH, Urteil v. 16.2.2017 – C-95/15 P, H&R ChemPharm, Rn. 45 a. E. 665 Vgl. o. Kap. 1 A. II. 666 So krit. Gleß, Utr. L. Rev. 9 (2013), 91, 96; Grünewald, HRRS 2013, 513. 667 Vgl. so EGMR, Urteil v. 9.6.1998 – 42/1997/826/1032, Twalib ./. GR, Rn. 53; Urteil v. 26.9.2000 – 33170/96, Biba ./. GR, Rn. 27. 668 A. A. MAH-Jung, Strafverteidigung, § 18 Rn. 151.

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des Verfahrens selbst kann dies nicht kompensieren, weil sie ihm lediglich hilft, dem Ablauf überhaupt folgen und sich im Verfahren äußern zu können.669 Die Übersetzung durch einen Dolmetscher ist auch eine potenzielle zusätzliche Feh­ lerquelle wegen eigener, nicht nachprüfbarer Interpretationen des Dolmetschers, die gerade die Anwesenheit eines Verteidigers erforderlich machen kann, um als Kontroll- und Fürspracheinstanz solche Fehler vermeiden zu helfen.670 Das Er­ schließen der Gerichtsdokumente und das Abschätzen seiner Verteidigungsoptio­ nen ist in einem kulturell und sprachlich fremden Rechtskreis für den Angeklagten ungleich schwerer.671 Hinzu kommen meist persönliche, erschwerende Umstände, wie die Schwie­ rigkeit, Familie und Freunde im Ausland zu kontaktieren und damit eine gewisse Isolation des Angeklagten.672 Ist der Angeklagte in dieser Hinsicht fremd im voll­ streckenden oder anordnenden Staat, so besteht eine grundsätzliche tatsächliche Komplexität des Verfahrens, die für eine Beiordnung aus Interessen der Rechts­ pflege streitet. bb) Vermutung der rechtlichen Komplexität in transnationalen Strafverfahren Zudem sind transnationale Strafverfahren im Vergleich zu national begrenz­ ten Strafverfahren überdurchschnittlich rechtlich komplex. Der dort Angeklagte muss sich in einem solchen Strafverfahren in mindestens zwei, möglicherweise noch mehr, Rechtsordnungen behaupten, die rechtlich unterschiedlich konzipiert sind. Selbst ein Rechtsanwalt kann das meist nur für das eigene, nicht aber für ein fremdes Rechtssystem leisten. Insbesondere ob grenzüberschreitende Beweise rechtmäßig erhoben oder ver­ wertet wurden, ist grundsätzlich eine derart komplexe Rechtsfrage,673 dass der Angeklagte selbst Vortrag dazu kaum leisten kann. Die wenig angeglichenen 669 In diesem Sinne LG Freiburg, Beschluss v. 18.8.2015 – 8 Qs 7/15, juris, Rn. 3; vgl. zu dieser Funktion des Dolmetschens BGH, NJW 2017, 3797; Kranjčić, Zum Dolmetschen im Strafverfahren, S. 25 f., 185 f. 670 MAH-Jung, Strafverteidigung, § 18 Rn. 46, 48, 151; in diesem Sinne auch Schomburg / L agodny, NJW 2012, 351 f.; EnzEuR-Schomburg / L agodny / Schallmoser, Eur. StR, § 13 Rn. 125 f.; offen zu diesem Ausgleich des Sprachrisikos, Kranjčić, NStZ 2011, 661. 671 So auch Albi, in: Fletcher / Herlin-Karnell / Matera (Hrsg.), The European Union as an Area of Freedom, Security and Justice, S. 151. 672 Krit. dazu ebenfalls Wade, Eur. J. Crime Crim. L. & Crim. Just. 23 (2015), 158; dies., Utr. L. Rev. 9 (2013), 169. 673 Vgl. zur grundlegenden Komplexität Ambos, ZIS 2010, 560; zum neuen Beweisrecht nach der EEA-RL Böse, ZIS 2014, 153 ff.; zu den Schwierigkeiten einer grenzüberschreitenden und zugleich kohärenten Beweisrechtsregelung, Busemann, ZIS 2010, 554 ff.; die Schwierigkeiten m. w. N. zusammenfassend Gleß, ZStW 115 (2003), 133 ff.; dies., ZStW 125 (2014), 575 ff.; auch am Beispiel der EEA-RL dazu m. w. N. Ruggeri, ZIS 2015, 461 ff.

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Rechtssysteme der Mitgliedstaaten bewirken bisher lediglich, dass selbst ein nach ausländischem Recht rechtmäßig gewonnener Beweis im Anordnungsstaat ver­ wertbar ist, gleichwohl er unter den gleichen Umständen nach dessen Recht gar nicht hätte erhoben werden dürfen.674 Zugleich bleibt unklar, welcher Mitgliedsstaat in diesem Zusammenspiel für welche Maßnahme die Verantwortung trägt – und damit Rechtsschutz gewähren muss.675 Die transnationale Strafverfolgung verlangt vom Angeklagten außerdem, nicht nur sich in einem Mitgliedstaat selbst zu verteidigen, sondern die Folgen seiner Einlassung oder seines Schweigens für das Verfahren im Anordnungsstaat abzu­ schätzen. Ein im Vollstreckungsstaat möglicherweise effektives Verteidigungshan­ deln, kann sich im Anordnungsstaat negativ auswirken.676 Ihm wird folglich eine doppelte rechtliche Überprüfung seines Verhaltens auferlegt. Auch wenn immer noch die Leistungsfähigkeit des konkreten Angeklagten darüber entscheidet, ob ein Verfahren als komplex zu gelten hat, besteht aufgrund dieser Faktoren grund­ sätzlich eine Vermutung zugunsten eines Rechtspflegeinteresses. cc) Vermutung des Rechtspflegeinteresses in bestimmten Auslieferungssituationen im Rahmen des Europäischen Haftbefehls Ebenso dürfte grundsätzlich ein Rechtspflegeinteresse für die Beiordnung eines Rechtsanwalts im Anordnungs- wie im Vollstreckungsstaat streiten, wenn der Angeklagte im Rahmen des Europäischen Haftbefehls zur Strafverfolgung677 an einen anderen Mitgliedstaat ausgeliefert werden soll.678 Denn dort kumulieren die tatsächlichen und rechtlichen Probleme des transnationalen Strafverfahrens mit jenen der Untersuchungshaft. Auf der einen Seite spielen Sprachunkundigkeit sowie jedenfalls das unüber­ schaubare Ineinandergreifen mehrere Rechtsordnungen ebenso wie bei anderen transnationalen strafprozessualen Zwangsmaßnahmen eine Rolle. Auf der anderen Seite ist die Fähigkeit des Angeklagten, sich selbst zu verteidigen, in der (Unter­ 674

Vgl. mit einem Beispiel dazu Ambos, ZIS 2010, 562 f.; GHN-Vogel / Eisele, EUV / A EUV, Art. 82 AEUV Rn. 98 f. 675 Am Beispiel der EEA-RL Böse, ZIS 2014, 159 ff., 164; krit. Meyer, in: Beck / Bur­ chard / ​Fateh-Moghadam (Hrsg.), Strafrechtsvergleichung als Problem und Lösung, S. 99 („Diffusion von Verantwortlichkeit“); eigene Verantwortung zu erkennen und danach zu handeln, ist auch für die Mitgliedstaaten ein Problem, vgl. Klip, European Criminal Law, S. 471 f., 474. 676 Vgl. dazu bereits o. Kap. 1 A. II. 1.; EnzEuR-Gaede, Eur. StR, § 3 Rn. 52; s. auch Wade, Utr. L. Rev. 9 (2013), 177. 677 Bei Auslieferungen im Rahmen des Europäischen Haftbefehls zur Strafvollstreckung gilt Art. 48 Abs. 2 GRCh dagegen nicht mehr, weil das Strafverfahren zu diesem Zeitpunkt bereits beendet ist. 678 EnzEuR-Schomburg / L agodny / Schallmoser, Eur. StR, § 13 Rn. 135 am Beispiel von § 140 StPO.

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suchungs-)Auslieferungshaft zusätzlich erschwert. Hinzu kommt eine mögliche sprachliche und soziale Isolation des Angeklagten, der zumeist im Ausland fernab von Familie und Freunden in Auslieferungshaft sitzt.679 Wird der Angeklagte per Europäischen Haftbefehl zur weiteren Strafverfolgung festgenommen, ist der Euro­ päische Haftbefehl lediglich eine grenzüberschreitend ausgeführte Form der Unter­ suchungshaft. Mithin verlangt diese Form der Freiheitsentziehung zwingend eine Anhörung des Angeklagten, in der ihm seine Verteidigungsrechte zu gewähren sind. Hat auch die Staatsanwaltschaft ein Anhörungsrecht, ist ebenso aus Gründen der Waffengleichheit dem Angeklagten ein Verteidiger beizuordnen.680 Art. 48 Abs. 2 GRCh gebietet daher, die Verteidigungsrechte – und damit auch das Recht auf strafrechtliche Prozesskostenhilfe  – in Fällen der sog. Ausliefe­ rungsuntersuchungshaft zur Anwendung zu bringen.681 Denn durch den Einbezug des transnationalen Strafverfahrens in den Anwendungsbereich von Art. 48 Abs. 2 GRCh folgt daraus eine gleichmäßige Geltung des Rechts auf strafrechtliche Pro­ zesskostenhilfe, unabhängig davon, ob ein Strafverfahren grenzüberschreitend geführt wird. Um ähnlich den Fällen des Freiheitsentzugs im Rahmen der Unter­ suchungshaft diesen Anspruch zu bewirken, muss auch der Freiheitsentzug im Rahmen des Europäischen Haftbefehls die gleichen Rechtsfolgen auslösen. In die­ sem Sinne wirken Art. 48 Abs. 2 GRCh, Art. 6 GRCh und der dazugehörige Besitz­ stand von Art. 5 Abs. 4 EMRK zusammen, und verstärken so die Rechtsposition des im Rahmen des Europäischen Haftbefehlsverfahren Verfolgten. dd) Zwischenergebnis Aus den obigen Punkten folgt, dass in den meisten Fällen transnationaler Ver­ folgung eines Angeklagten das Rechtspflegeinteresse für eine Verteidigerbeiord­ nung und soweit erforderlich strafrechtliche Prozesskostenhilfe streitet. Nur im Ausnahmefall erscheint es möglich, dass ein transnational Angeklagter auch ohne Verteidigung sich den Strafverfolgungsbehörden ebenbürtig zu dem ihm vorge­ worfenen Geschehen äußern kann. Dies folgt grundsätzlich aus den bisher nicht vereinheitlichen Rechtssystemen der Mitgliedstaaten, die im transnationalen Straf­ verfahren unvorhersehbar ineinandergreifen. Diese Lage ist für den Angeklagten in einer solchen Situation ohne rechtlichen Beistand regelmäßig nicht zu bewälti­ gen. Für den Europäischen Haftbefehl folgt dies zudem aus dem transnationalen Anwendungsbereich von Art. 48 Abs. 2 GRCh und der Schutzbereichsverstärkung über Art. 6 GRCh, Art. 5 Abs. 4 EMRK.

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Vgl. dazu Kap. 2, Fn. 672. S. o. Kap. 2 A. III. 1. a) bb). 681 Vgl. so auch implizit EuGH, Urteil v. 29.1.2013  – C-396/11, Radu, Rn. 32; Urteil v. 26.2.2013 – C-399/11, Melloni, Rn. 49 f. 680

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b) Transnationale Auslegung der Bedürftigkeit Bedürftigkeit wird auch im Rahmen der GRCh als Fehlen von ausreichen­ den Mitteln bestimmt und bezieht die finanzielle Lage des Angeklagten, seine Einkommenssituation, Unterhaltspflichten und andere Indizien ein, die einen Rückschluss auf seine Vermögenslage zulassen.682 Diese Gesamtschau verbietet damit ebenfalls einen Rückgriff auf unionsweit festgelegte, pauschale Schwel­ lenwerte, weil solche starren Grenzen in der disparaten Einkommens- und Ver­ mögensverteilung zwischen den Mitgliedstaaten der EU Bedürftigkeit nicht zu­ treffend abbilden könnten. Die Beweislast für seine Leistungsfähigkeit trägt der Angeklagte.683 Diese Maßstäbe gelten grundsätzlich ebenso im transnationalen Verfahren. In diesem Rahmen kann sich aber eine Sonderkonstellation ergeben, die der im Fol­ genden genannten „regional partiellen Bedürftigkeit“. Damit ist gemeint, dass der Angeklagte im Rahmen einer strafprozessualen Maßnahme im Vollstreckungsstaat nach den dortigen Verhältnissen als bedürftig gilt, seine finanziellen Umstände ihn im Anordnungsstaat aber nicht als bedürftig qualifizieren. Gilt der Angeklagte abweichend von der Einschätzung im Anordnungsstaat im Vollstreckungsstaat als bedürftig oder nicht bedürftig, stellt sich die Frage, welche Maßstäbe konkret für die Bedürftigkeit maßgeblich sind, jene des Anordnungsstaates (vergleichbar dem Grundsatz „forum regit actum“) oder jene des Vollstreckungsstaates (vergleichbar dem Grundsatz „locus regit actum“)? Bedürftigkeit einheitlich nach dem Recht des Vollstreckungsstaates zu beurtei­ len, entspräche dem Prinzip des sog. „locus regit actum“, also dass der Ort der Vollstreckung der Maßnahme darüber entscheidet, welches Recht zur Anwen­ dung gelangt.684 Dies widerspricht zunächst scheinbar der eigentlichen Verfah­ rensgestaltung. Der Anordnungsstaat bestimmt und führt – gerade, wenn die Mit­ gliedstaaten nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung operieren – das gesamte Strafverfahren: Verlangt er eine Beweisaufnahme, Auslieferung oder andere Maßnahme vom Vollstreckungsstaat, hat der Vollstreckungsstaat  – bis auf einen Katalog abschließend geregelter Ablehnungsgründe – diese Anordnung grundsätzlich umzusetzen.685 682 Vgl. so auch EuGH, Urteil v. 26.7.2017 – C-670/15, Salplachta, Rn. 36; zur Auslegung der finanziellen Leistungsfähigkeit bei einer juristischen Person Urteil v. 22.12.2010 – C-279/09, Deutsche Energiehandels- und Beratungsgesellschaft, Slg. 2010, I-13849 Rn. 54; vgl. ebenso in Art. 4 Abs. 3 PKH-RL. 683 EuGH, Urteil v. 26.7.2017 – C-670/15, Salplachta, Rn. 36. 684 Vgl. für die Beweissammlung m. w. N. Böse, ZStW 114 (2002), 150; Gleß, Utr. L. Rev. 9 (2013), 95; ausführlich dazu Krüßmann, Transnationales Strafprozessrecht, S. 623 ff.; vgl. Zerbes, ZIS 2015, 147 zur Normierung dieses alten Grundsatzes im Entwurf zur Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft, vgl. so noch den Vorschlag des Rates in Art. 5 Abs. 3 RL-E-Rat zur PKH-RL. 685 Vgl. o. Kap. 2, Fn. 591.

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

Betrachtet man in der EU ein von mehreren Mitgliedstaaten geführtes Straf­ verfahren gerade als einheitliches, wenngleich arbeitsteilig durchgeführtes Ver­ fahren,686 dann wäre es konsequent, die Rechtsordnung gerade des das Verfahren führenden Staates zur Anwendung zu bringen. Dies entspräche dem Prinzip des „forum regit actum“, also dass der Anordnungsstaat Voraussetzungen bei der Vollstreckung festlegen darf, die der vollstreckende Staat dann umsetzen muss – 687 und das inzwischen die strafrechtliche Zusammenarbeit in der Europäischen Union vorrangig prägt.688 Wendete man dies an, dann würde im Einzelfall jedoch der be­ dürftige Angeklagte im Vollstreckungsstaat gerade schutzlos sein, wenn er nach den dortigen Verhältnissen sich keinen Verteidiger leisten kann, nach den Verhält­ nissen im Anordnungsstaat aber nicht als bedürftig gilt. Der EuGH legt seiner Auslegung der GRCh jedoch – ebenso wie der EGMR – zugrunde, dass die darin enthaltenen Rechte effektiv gewährleistet werden,689 auch wenn der teleologischen Auslegung in seiner Rechtsprechung nicht die glei­ che starke Vorrangstellung eingeräumt wird.690 Dies gilt gerade auch für die Ver­ teidigungsrechte: Die Mitgliedstaaten dürfen keine Auslegung wählen, die den Zweck solcher prozessualer Bestimmungen, nämlich die Fairness des Verfahrens zu gewährleisten, gefährdet.691 Andernfalls kann der Angeklagte seine Verteidi­ gungsrechte nicht effektiv wahrnehmen. Die Betrachtung der Bedürftigkeit des Angeklagten nach den Maßstäben des Anordnungsstaates würde ihm zwar formal die Möglichkeit auf strafrechtliche Prozesskostenhilfe einräumen, würde jedoch dann ins Leere zielen, wenn der Angeklagte nur nach den Maßstäben des Voll­ streckungsstaats als bedürftig gelten würde. Art. 48 Abs. 2 GRCh soll jedoch jeden Angeklagten gleich schützen. Am Zweck der effektiven Gewährleistung der Ver­ 686

Vgl. zu dieser Begrifflichkeit bereits o. Kap. 2, Fn. 201. Rijken, CMLRev 47 (2010), 1474. 688 Meyer, NStZ 2008, 189; Rijken, CMLRev 47 (2010), 1474; van Puyenbroeck / Vermeulen, Int’l & Comp. L. Q. 60 (2011), 1021. 689 Implizit aber doch auf Effektivität der Verteidigungsrechte abstellend EuGH, Urteil v. 10.8.2017 – C-270/17 PPU, Tupikas, Rn. 84; Urteil v. 10.8.2017 – C-271/17 PPU, Zdziaszek, Rn. 47; Urteil v. 1.6.2016 – C-241/15, Bob-Dogi, Rn. 33; Urteil v. 15.10.2015 – C-216/14, Gavril Covaci, Rn. 67; ebenso implizit Urteil v. 24.5.2016 – C-108/16 PPU, Dworzecki, Rn. 43; so im Zivilverfahren i.R.v. Art. 47 GRCh Urteil v. 2.3.2017 – C-354/15, Henderson, Rn. 52; Urteil v. 16.9.2015 – C-519/13, Alpha Bank Cyprus, Rn. 32; Beschluss v. 28.4.2016 – C-384/14, Alta Realitat, Rn. 50; Urteil v. 19.12.2012 – C-325/11, Alder, Rn. 36, 41 („praktische Wirksamkeit“); Urteil v. 8.5.2008 – C-14/07, Weiss und Partner, Slg. 2008, I-3367 Rn. 64, 73. 690 Implizit EuGH, Urteil v. 15.10.2015 – C-216/14, Gavril Covaci, Rn. 29; Urteil v. 21.5.2015 – C-65/14, Roselle, Rn. 43; zust. Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Euro­ päischen Gemeinschaften, S. 384, 386 f.; Arnull, The European Union and its Court of Justice, S. 616 f.; zutr. mit empirischer Auswertung Dederichs, EuR 2004, 345, 347 f., 354 f.; Hadding, Strafrechtliche Aspekte des Unionsrechts, S. 49 f.; Klip, European Criminal Law, S. 147 f.; a. A. GHN-Mayer, EUV / A EUV, Art. 19 EUV Rn. 53; gleichermaßen a. A. Bleckmann, NJW 1982, 1178. 691 EuGH, Urteil v. 15.10.2015 – C-216/14, Gavril Covaci, Rn. 63 („However, those procedu­ res cannot undermine the objective […], which […] consists in [...] safeguarding the fairness of the proceedings.“). 687

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teidigungsrechte ausgelegt muss Bedürftigkeit mithin nach den Maßstäben desje­ nigen Mitgliedstaates ermittelt werden, in dem der Angeklagte seinen Antrag auf strafrechtliche Prozesskostenhilfe stellt.692 3. Die zusätzlich marktrechtliche Prägung von Art. 48 Abs. 2 GRCh durch die Dienstleistungsfreiheit in transnationalen Strafverfahren Die GRCh gilt im Rang des Primärrechts und steht somit normhierarchisch auf einer Ebene mit den Verträgen als übrigem Primärrecht der Union, vgl. Art. 6 Abs. 1 EUV. Diese Gleichordnung kann dann zu ausgleichsbedürftigen Normen­ kollisionen führen, wenn andere Primärrechtsnormen, insbesondere die Grund­ freiheiten, gleichermaßen auf einen ebenso von der GRCh geregelten Sachverhalt Anwendung finden. Diese Konstellationen ergeben sich im grenzüberschreiten­ den Strafverfahren. Der transnational Angeklagte muss sich dort gegen strafpro­ zessuale Zwangsmaßnahmen in mehreren Mitgliedstaaten zugleich verteidigen. Für einen Angeklagten in dieser Situation stellt sich daher zunächst die Frage, ob ihm Verteidigungsbeistand in allen ihn verfolgenden Mitgliedstaaten zu­ steht (sog. Doppelverteidigung) und in welchem Umfang dieser finanziert wird. Wie ein Mitgliedstaat im Einzelnen diese Frage regelt, wirkt sich nicht nur auf den Angeklagten aus. Der Gewährleistungsumfang, also die Rechtsfolgenebene, strafrechtlicher Prozesskostenhilfe entscheidet zugleich darüber, wie attraktiv anwaltliche Dienstleistungen im grenzüberschreitenden Verkehr sind und berührt damit die Dienstleistungsfreiheit gem. den Art. 56 f. AEUV.693 Zusätzlich zu den obigen Maßstäben der EMRK muss im Rahmen der GRCh folglich der Einfluss der Dienstleistungsfreiheit auf die Kostenfreiheit strafrechtlicher Prozesskosten­ hilfe berücksichtigt werden. a) Die Frage der Kostenfreiheit als marktrelevanter, staatlicher Eingriff Gem. Art. 56 Abs. 1 AEUV sind Beschränkungen des freien Dienstleistungs­ verkehrs verboten. Dienstleistungen, Dienstleister und Dienstleistungsempfänger sollen frei über die Unionsgrenzen hinweg verkehren können.694

692 Vgl. so auch die Regel in Art. 5 zur RL 2003/8/EG, der für die Bedürftigkeitsbetrachtung die Perspektive desjenigen Staates heranzieht, in dem der Beklagte sich verteidigen muss, sei es der Anordnungs- oder der Vollstreckungsstaat. 693 Über Art. 15 Abs. 2 GRCh dürfte die Dienstleistungsfreiheit aber auch als chartaimma­ nente Schranke zu betrachten sein. 694 M. w. N. Calliess / Ruffert-Kluth, AEUV / EUV, Art. 57 AEUV Rn. 36 ff.; GHN-Randelzhofer / Forsthoff, EUV / A EUV, Art. 57 AEUV Rn. 21 ff.

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

Der Anwendungsbereich ist in persönlicher Hinsicht für alle Bürger der EU bzw. gem. Art. 62 AEUV i. V. m. Art. 54 AEUV auch für alle in der Union hauptsäch­ lich niedergelassenen Gesellschaften eröffnet.695 Die Dienstleistungsfreiheit gilt damit in persönlicher Hinsicht beschränkter als das Jedermannsrecht des Art. 48 Abs. 2 GRCh, weil sie lediglich Unionsbürger schützt. Nur soweit Angeklagte im Rahmen von Art. 48 Abs. 2 GRCh auch Unionsbürger sind, kann es zum Konflikt zwischen Art. 56 f. AEUV und Art. 48 Abs. 2 GRCh kommen. In sachlicher Hinsicht definiert der Begriff der „Dienstleistung“ den Anwen­ dungsbereich. Der Dienstleistungsbegriff selbst umfasst grundsätzlich nur gegen Entgelt erbrachte,696 wirtschaftliche Betätigungen.697 Lediglich die selbständige Erledigung, nicht jene als Arbeitnehmer ist davon erfasst.698 Der Schutzbereich ist zudem nur bei sog. grenzüberschreitenden Dienstleistungen eröffnet, also wenn der Dienstleister sich in einen anderen Mitgliedstaat begibt (sog. aktive Dienst­ leistungsfreiheit),699 der Dienstleistungsempfänger eine Dienstleistung in einem anderen Mitgliedstaat in Anspruch nimmt (sog. passive Dienstleistungsfreiheit)700 oder wenn gar nur die Dienstleistung selbst die Grenze passiert (sog. Korrespon­ denzdienstleistung).701 Maßgeblich für den grenzüberschreitenden Charakter ist die Ansässigkeit der Beteiligten, nicht dagegen, ob Dienstleister und Dienstleistungs­ empfänger unterschiedlicher Nationalität sind.702 Sowohl in der Union niedergelassene Rechtsanwälte als Dienstleister als auch Angeklagte mit Unionsbürgerschaft als Dienstleistungsempfänger sind damit vom sachlichen Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit erfasst. Insbesondere wirkt sich strafrechtliche Prozesskostenhilfe in transnationalen Verfahren darauf 695

Calliess / Korte, Dienstleistungsrecht in der EU, § 3 Rn. 57 ff.; m. w. N. Frenz, Europäische Grundrechte, Rn. 2991 f. 696 EuGH, Urteil v. 3.10.2002  – C-136/00, Danner, Slg.  2002, I-8147 Rn. 26; Urteil v. 12.12.1974 – 36/74, Walrave u. Koch, Slg. 1974, 1405 Rn. 4/10; Frenz, Europäische Grund­ rechte, Rn. 3027 ff. 697 Zum Begriff des „Bezugs zum Wirtschaftsleben“ jeweils grundlegend vgl. EuGH, Urteil v. 11.4.2000 – C-51/96 u. C-191/97, Deliège, Rn. 52; Urteil v. 12.12.1974 – 36/74, Walrave u. Koch, Slg. 1974, 1405 Rn. 4/10; m. w. N. Calliess / Korte, Dienstleistungsrecht in der EU, § 3 Rn. 8 ff. 698 M. w. N. Calliess / Korte, Dienstleistungsrecht in der EU, § 3 Rn. 19; Frenz, Europäische Grundrechte, Rn. 3013. 699 Z. B. ein deutscher Anwalt berät einen französischen Mandanten in Paris, EuGH, Urteil v. 3.12.1974 – C-33/74, van Binsbergen, Slg. 1974, 1299 Rn. 7/9, 10/12; Calliess / Korte, Dienst­ leistungsrecht in der EU, § 3 Rn. 26 f.; Frenz, Europäische Grundrechte, Rn. 3063. 700 Vgl. z. B. EuGH, Urteil v. 9.3.2017 – C-342/15, Piringer, Rn. 34 f.; Urteil v. 2.2.1989 – Rs. 186/87, Cowan, Slg. 1989, 216 Rn. 2, 17; m. w. N. Calliess / Korte, Dienstleistungsrecht in der EU, § 3 Rn. 29. 701 S. EuGH, Urteil v. 9.7.1997 – C-34/95 u. a., De Agostini, Rn. 48; Urteil v. 4.12.1986 – 205/84, KOM ./. DE, Slg. 1986, 3755 Rn. 18 ff.; Urteil v. 24.10.1978 – 15/78, Koestler, Slg. 1978, 1971 Rn. 3; Urteil v. 30.4.1974 – 155/73, Sacchi, Slg. 1974, 409 Rn. 6; zu weiteren Konstel­ lationen der grenzüberschreitenden Dienstleistungsfreiheit von Anwälten Muller, EBLR 26 (2015), 360. 702 EuGH, Urteil v. 21.9.1999 – C-124/97, Läärä, Slg. 1999, I-6067 Rn. 27; m. w. N. Calliess  / ​ Korte, Dienstleistungsrecht in der EU, § 3 Rn. 22 ff.

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aus, inwiefern der Angeklagte bereit ist, auch im Ausland Verteidiger zu manda­ tieren und inwieweit Rechtsanwälte bereit sind, diese Mandanten anzunehmen oder sich selbst zur Rechtsberatung in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben. Die Dienstleistungsfreiheit soll Dienstleistungen wie Dienstleister umfassend gegen Beschränkungen und Diskriminierungen schützen.703 Während Diskrimi­ nierungen an die Staatsangehörigkeit anknüpfen,704 ist der Beschränkungsbegriff weiter und erfasst auch solche Maßnahmen, die, ohne offen an die Staatsangehörig­ keit oder die Herkunft der Dienstleistung anzuknüpfen, geeignet sind, die Tätigkeit eines in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Dienstleistenden zu unterbinden oder zu behindern oder auch nur weniger attraktiv zu machen.705 Das umfassende Beschränkungsverbot soll verhindern, dass durch Maßnahmen der Mitgliedsstaa­ ten ein grenzüberschreitender Sachverhalt ungünstiger beurteilt wird als ein na­ tionaler.706 Die Dienstleistungsfreiheit normiert dadurch aber keinen zwingenden, identischen Schutz für Dienstleister oder Dienstleistungen aus anderen Mitglied­ staaten. Sie garantiert nur einen Inländern vergleichbaren Zugang zum jeweiligen Dienstleistungsmarkt.707 Insofern ist das Beschränkungsverbot auf der einen Seite Ausdruck eines Benachteiligungsverbots für Wettbewerber aus anderen Mitglied­ staaten, auf der anderen Seite Ausdruck eines Anspruchs dieser Wettbewerber da­ rauf, ungehindert und nur in ähnlicher Weise Zugang zu einem anderen mitglied­ staatlichen Markt zu erhalten. Nicht jede – diskriminierungsfreie – Bedingung oder Regulierung der Dienst­ leistungserbringung durch einen Mitgliedstaat ist jedoch am Beschränkungsverbot zu messen.708 Den Mitgliedstaaten steht es grundsätzlich offen, Dienstleistungen durch Bedingungen, Voraussetzungen und Anforderungen gesetzlich auszuge­ stalten.709 Erschweren solche Regulierungen den Zugang zu einem fremden mit­ 703 St. Rspr. EuGH, Urteil v. 9.3.2017  – C-342/15, Piringer, Rn. 49; Urteil v. 5.12.2006  – C-94/04 u. C-202/04, Cipolla u. Meloni, Slg.  2006, I-11455 Rn. 56; Urteil v. 29.11.2001  – C-17/00, De Coster, Slg.  2001, I-9445 Rn. 29; Urteil v. 9.8.1994  – C-43/93, Vander Elst, Slg. 1994, 3803 Rn. 14; Urteil v. 25.7.1991 – C-76/90, Säger, Slg. 1991, 4221 Rn. 12; m. w. N. GHN-Randelzhofer / Forsthoff, EUV / A EUV, Art. 57 AEUV Rn. 159. 704 Zum Diskriminierungsbegriff vgl. Calliess / Korte, Dienstleistungsrecht in der EU, § 3 Rn. 79 ff. 705 Zum Maßstab der st. Rspr., EuGH, Urteil v. 18.5.2017 – C-99/16, Jean-Philippe Lahorgue, Rn. 26; Urteil v. 30.11.1995 – C-55/94, Gebhard, Slg. 1995, I-4165 Rn. 37; Urteil v. 9.8.1994 – C-43/93, Vander Elst, Slg. 1994, 3803 Rn. 14; Urteil v. 25.7.1991 – C-76/90, Säger, Slg. 1991, 4221 Rn. 12. 706 GA Maduro, Schlussanträge v. 1.2.2006  – C-94/04 u. C-202/04, Cipolla u. Meloni, Slg. 2006, I-11426 Rn. 58. 707 Frenz, Europäische Grundrechte, Rn. 3257. 708 Zu diesem Verständnis eines nur eingeschränkten Beschränkungsverbots vgl. GHN-Randelzhofer / Forsthoff, EUV / A EUV, Art. 57 AEUV Rn. 107; Kuhn, Freier Dienstleistungsver­ kehr, S. 69 ff. m. w. N. zum Streitstand. 709 Ebenso zu einer sonst bedenklichen Weite des Beschränkungsverbots Calliess / Korte, Dienstleistungsrecht in der EU, § 3 Rn. 89; GHN-Randelzhofer / Forsthoff, EUV / A EUV, Art.  57 AEUV Rn. 136.

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

gliedstaatlichen Markt, sind diese am Beschränkungsverbot zu messen.710 Da jeder Mitgliedstaat die Dienstleistungen von Rechtsanwälten nach eigenen Systemen vergütet, kann die Festlegung dieser Vergütung im Fall von strafrechtlicher Pro­ zesskostenhilfe bedingen, dass die Erbringung grenzüberschreitender Dienstleis­ tungen für Rechtsanwälte weniger attraktiv wird. Decken die Gebühren in einem anderen Mitgliedstaat z. B. nicht die angefallenen Kosten und Aufwendungen, werden darauf für ihre eigene Lebenshaltung angewiesene Rechtsanwälte weniger interessiert sein, in diesen Mitgliedstaaten anwaltliche Dienstleistungen zu erbrin­ gen oder von diesem Mitgliedstaat vergütete Mandatsverhältnisse zu akzeptieren. Für den Angeklagten als Dienstleistungsempfänger wird es weniger attraktiv, auf Rechtsanwälte aus anderen Mitgliedstaaten zurückzugreifen, wenn strafrechtliche Prozesskostenhilfe die Kosten dieser Anwälte nicht deckt. Dies stellt, mangels Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit, zwar keine Diskriminierung dar,711 es macht grenzüberschreitende Dienstleistungen im Sinne einer Beschränkung je­ doch weniger attraktiv. Eine solche Beschränkung darf nach ständiger Rechtsprechung des EuGH nur „in nichtdiskriminierender Weise angewandt werden, […] aus zwingenden Grün­ den des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein, […] geeignet sein, die Verwirkli­ chung des mit ihnen verfolgten Zieles zu gewährleisten, und […] [darf] nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist“.712 Der EuGH nimmt damit eine allgemeine Verhältnismäßigkeitsprüfung vor, bestehend aus einem legitimen, zwingenden Gründen des Allgemeininteresses entsprechendem Ziel, Geeignetheit,713 Erforderlichkeit und einer Verhältnismäßigkeitsprüfung im engeren Sinne.714 710 EuGH, Urteil v. 22.5.2003  – C-355/00, Freskot, Slg.  2003, I-5263 Rn. 63; Urteil v. 5.12.2006 – C-94/04 u. C-202/04, Cipolla u. Meloni, Slg. 2006, I-11455 Rn. 58 f.; zust. Calliess / Korte, Dienstleistungsrecht in der EU, § 3 Rn. 89 ff.; ebenso GHN-Randelzhofer / Forsthoff, EUV / A EUV, Art. 57 AEUV Rn. 110, 136 ff.; so auch als Einschätzung zur Rechtspre­ chung des EuGH, Kuhn, Freier Dienstleistungsverkehr, S. 87 f. 711 Zum Diskriminierungsbegriff: Verbot bei Anknüpfung an die Herkunft der Dienstleis­ tung, EuGH, Urteil v. 4.5.1993 – C-17/92, Fedicine, Slg. 1993, I-2239 Rn. 15; zur Anknüpfung an den Dienstleister bzw. Dienstleistungsempfänger, s. Urteil v. 25.7.1991 – C-288/89, Gouda, Slg.  1991, I-4007 Rn. 19 ff.; GHN-Randelzhofer / Forsthoff, EUV / A EUV, Art. 57 AEUV Rn. 84; zu den eingeschränkten und abschließenden Rechtfertigungsgründen, vgl. EuGH, Urteil v. 3.10.2002 – C-136/00, Danner, Slg. 2002, I-8147 Rn. 56; zust. Calliess / Ruffert-Kluth, AEUV / EUV, Art. 57 AEUV Rn. 74 a. E.; GHN-Randelzhofer / Forsthoff, EUV / A EUV, Art.  57 AEUV Rn. 90, 92. 712 EuGH, Urteil v. 30.11.1995  – C-55/94, Gebhard, Slg.  1995, I-4165 Rn. 37; Urteil v. 12.12.1996  – C-3/95, Reisebüro Broede, Slg.  1996, I-6511 Rn. 28; Urteil v. 23.11.1999  – C-369/96 u. C-376/96, Arblade, Slg. 1999, 8453 Rn. 35; a. A. wohl Calliess / Korte, Dienstleis­ tungsrecht in der EU, § 3 Rn. 106. 713 EuGH, Urteil v. 31.3.1993 – C-19/92, Kraus, Slg. 1993, I-1663 Rn. 32; Urteil v. 25.7.1991 – C-288/89, Gouda, Slg. 1991, I-4007 Rn. 15; Urteil v. 4.12.1986 – 220/83, KOM ./. FR, Slg. 1986, 3663 Rn. 17, 19. 714 St. Rspr. EuGH, Urteil v. 5.12.2006 – C-94/04 u. C-202/04, Cipolla u. Meloni, Slg. 2006, I-11455 Rn. 61; Urteil v. 23.11.1999 – C-369/96 u. C-376/96, Arblade, Slg. 1999, 8453 Rn. 39;

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Im Rahmen dieser Prüfung715 zieht der EuGH zudem einschlägiges Sekundär­ recht als Auslegungshilfe heran.716 Regelt sekundäres Unionsrecht einen Bereich abschließend, müssen sich nationale Regelungen sogar allein an dessen Maßstä­ ben messen lassen.717 Das Sekundärrecht bestimmt in diesem Fall den Umfang der Grundfreiheiten und versperrt zudem den Rückgriff auf die in den Grundfreihei­ ten normierten Ausnahmetatbestände, weil diese abschließend sekundärrechtlich bestimmt sind.718 Dadurch kann erforderlich werden, sich bereits auf der Ebene des Primärrechts mit dem eigentlich hierarchisch nachrangigen Sekundärrecht im Detail auseinanderzusetzen. Diese Maßstäbe gelten ebenso für die Dienstleistungsfreiheit, gleichwohl Se­ kundärrecht dort nur eine die Auslegung konkretisierende Rolle spielt. Denn bisher sind nur einzelne Teile des anwaltlichen Berufsrechts sekundärrechtlich harmonisiert.719 Mit der PKH-RL ist die erste Harmonisierung strafrechtlicher Pro­ zesskostenhilfe unternommen worden. Im grenzüberschreitenden Zivilverfahren existieren dazu bereits seit 2002 Vorschriften.720 Ob eine Richtlinie abschließende Regelungen trifft, beurteilt der EuGH jedoch jeweils für den konkreten Ausschnitt Urteil v. 25.7.1991 – C-76/90, Säger, Slg. 1991, 4221 Rn. 15; Urteil v. 31.3.1993 – C-19/92, Kraus, Slg. 1993, I-1663 Rn. 32; Urteil v. 30.11.1995 – C-55/94, Gebhard, Slg. 1995, I-4165 Rn. 37; Urteil v. 28.3.1996 – C-272/94, Guiot, Slg. 1996, I-1905 Rn. 13; Urteil v. 12.12.1996 – C-3/95, Reisebüro Broede, Slg. 1996, I-6511 Rn. 28; Urteil v. 25.7.1991 – C-288/89, Gouda, Slg. 1991, I-4007 Rn. 15. 715 EuGH, Urteil v. 14.9.2000 – C-238/98, Hocsman, Slg. 2000, I-6640 Rn. 31 ff.; Urteil v. 28.4.1998 – C-158/96, Kohll, Slg. 1998, I-1931 Rn. 25; Urteil v. 8.11.1979 – 251/78, Denkavit, Slg. 1979, 3369 Rn. 14; GHN-Forsthoff, EUV / A EUV, Art. 45 AEUV Rn. 349; Calliess / Korte, Dienstleistungsrecht in der EU, § 3 Rn. 108. 716 EuGH, Urteil v. 11.12.2003  – C-289/02, AMOK  Verlags GmbH, Slg.  2003, I-15075 Rn. 37 ff., 41. 717 St. Rspr. EuGH, Urteil v. 11.12.2003 – C-322/01, Doc Morris u. a., Slg. 2003, I-14887 Rn. 64; Urteil v. 30.9.2003  – C-167/01, Inspire Art, Slg.  2003, I-10155 Rn. 65 ff.; Urteil v. 13.12.2001 – C-324/99, Daimler Chrysler, Slg. 2001, I-9897 Rn. 32; Urteil v. 9.7.1997 – C-34/95 u. a., De Agostini, Rn. 56 ff.; Urteil v. 23.5.1996 – C-5/94, Lomas, Slg. 1996, I-2553 Rn. 18; Urteil v. 5.10.1994 – C-323/93, Crespelle, Slg. 1994, I-5077 Rn. 31; Urteil v. 20.9.1988 – 190/87, Moormann, Slg. 1988, 4689 Rn. 10; Urteil v. 8.11.1979 – 251/78, Denkavit, Slg. 1979, 3369 Rn. 14; Urteil v. 5.4.1979 – 148/78, Ratti, Slg. 1979, 1629 Rn. 36; Urteil v. 5.10.1977 – 5/77, Tedeschi, Slg. 1977, 1555 Rn. 33/35; zust. Dauses / Ludwigs-Roth, EU-Wirtschaftsrecht, E. I. Rn. 50; Jarass, EuR 2000, 719 f. 718 EuGH, Urteil v. 13.12.2001 – C-324/99, Daimler Chrysler, Slg. 2001, I-9897 Rn. 32; Urteil v. 9.7.1997 – C-34/95 u. a., De Agostini, Rn. 60 f.; Urteil v. 20.9.1988 – 190/87, Moormann, Slg. 1988, 4689 Rn. 10; zust. GHN-Forsthoff, EUV / A EUV, Art. 45 AEUV Rn. 355. 719 Vgl. für den Abbau von Zugangshindernissen, Rat, Richtlinie v. 22.3.1977  – 77/249/ EWG, ABl. L 78, 17; dazu Lonbay, Fordham Int. L. J. 33 (2010), 1640 f. („most dramatic rules for allowing free movement of lawyers“); Anerkennung von Qualifikationen aus anderen Mit­ gliedstaaten, Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 7.9.2005 – 2005/36/EG, ABl. L 255, 22, sowie die Ermöglichung unionsweiter Niederlassung für Rechtsanwälte, vgl. Richtlinie v. 16.2.1998 – 98/5/EG, ABl. L 77, 36; m. w. N. zum Harmonisierungsstand Frenz / Wübbenhorst, NJW 2011, 1262 ff.; vgl. zum bislang nicht vereinheitlichen Standesrecht s. Dauses / Lud­ wigs-Stumpf, EU-Wirtschaftsrecht, E. II. Rn. 20 m. w. N. 720 Rat, Richtlinie v. 27.1.2003 – 2003/8/EG, ABl. L 26, 41

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

einer Richtlinie und nicht abstrakt für den Bereich des (Berufs-)Rechts der Rechts­ anwälte.721 Mithin sind die jeweiligen Sekundärrechtsakte im Rahmen der Dienst­ leistungsfreiheit im Einzelfall nur als Auslegungshilfe mit zu berücksichtigen. Für die weitere Arbeit folgt daraus, dass die Dienstleistungsfreiheit die Ge­ währleistungsseite strafrechtlicher Prozesskostenhilfe mitgestaltet. Denn wenn ein Rechtsanwalt die Grenzen eines anderen Mitgliedstaats überschreitet, um dort als Rechtsanwalt tätig zu sein, fällt dies ebenso unter die Dienstleistungsfreiheit, wie wenn ein Unionsbürger in einem anderen Mitgliedstaat die Dienste eines dort ansässigen Rechtsanwalts in Anspruch nimmt.722 Durch die normhierarchische Gleichstellung von Dienstleistungsfreiheit und GRCh wird das transnationale Strafverfahren zu einem mehrpoligen, ausgleichs­ bedürftigen Rechtsverhältnis, in dem sowohl die Dienstleistungsfreiheit als auch Art. 48 Abs. 2 GRCh in gegenseitiger Anwendung zu einem bestmöglichen Aus­ gleich gebracht werden müssen – soweit sie überhaupt konfligieren. Ähnlich wie in der EMRK können die Erkenntnisse aus Dienstleistungsfreiheit und GRCh nur die Zielvorgaben abstecken, die eine chartakonforme Auslegung bedingen. Die konkrete Umsetzung verbleibt im Ermessen der Mitgliedstaaten. b) Übernahme von Doppelverteidigung Einen Angeklagten im transnationalen Verfahren interessiert nicht nur, ob er im Verfahren des Anordnungsstaates strafrechtliche Prozesskostenhilfe erhält, sondern ob er darüber hinaus auch in allen Vollstreckungsstaaten auf staatlich ge­ tragene Unterstützung durch einen Verteidiger hoffen kann. Ob der Angeklagte auf Doppelverteidigung einen Anspruch hat, ist anhand der Maßstäbe der Dienst­ leistungsfreiheit sowie derjenigen aus Art. 48 Abs. 2 GRCh getrennt zu erarbeiten. Sollten diese nicht zu kongruenten Ergebnissen gelangen, müssen deren jeweilige Anforderungen schonend gegeneinander abgewogen werden. aa) Maßstäbe der Dienstleistungsfreiheit Ob strafrechtliche Prozesskostenhilfe gewährt wird, ist in den Mitgliedstaaten Sache des jeweils zuständigen Gerichts bzw. teilweise auch von gesondert zu­ ständigen Behörden. Verweigern diese die Übernahme einer Doppelverteidigung im transnationalen Strafverfahren, würde dies grundsätzlich eine nationale Maß­ 721 Vgl. z. B. EuGH, Urteil v. 9.7.1997  – C-34/95 u. a., De Agostini, Rn. 57; Urteil v. 5.10.1994 – C-323/93, Crespelle, Slg. 1994, I-5077 Rn. 33 ff. 722 EuGH, Urteil v. 5.12.2006 – C-94/04 u. C-202/04, Cipolla u. Meloni, Slg. 2006, I-11455 Rn. 58; Urteil v. 19.2.2002 – C-309/99, Wouters, Slg. 2002, I-1577 Rn. 48; Urteil v. 10.7.1991 – C-294/89, KOM ./. FR, Slg. 1991, 3606 Rn. 10 f.; Urteil v. 19.1.1988 – C-292/86, Gullung, Slg. 1988, 111 Rn. 11, 13; Urteil v. 3.12.1974 – C-33/74, van Binsbergen, Slg. 1974, 1299 Rn. 7/9 f.

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nahme darstellen, die die Dienstleistung beschränkt. Bei der Frage, ob eine Dop­ pelverteidigung im Rahmen strafrechtlicher Prozesskostenhilfe gestellt wird, han­ delt es sich nicht lediglich um eine Ausformung der Dienstleistungsfreiheit. Denn werden im Fall eines Anspruchs auf strafrechtliche Prozesskostenhilfe durch An­ wälte in mehreren Mitgliedstaaten nur die Kosten für einen der Anwälte getragen, kann dies den Angeklagten, als Dienstleistungsempfänger, davon abhalten, sich zusätzlichen Rechtsbeistand zu holen. Kann er in dieser Konstellation selbst bei Freispruch nicht auf eine beide Anwälte erfassende Kostenübernahme vertrauen, wird er regelmäßig davon Abstand nehmen, sich sowohl im Anordnungsstaat wie im Vollstreckungsstaat anwaltlich vertreten zu lassen. Dies würde für Rechtsan­ wälte als Dienstleistungserbringer bedeuten, dass diesen erschwert wird, Man­ danten aus anderen Mitgliedstaaten zu gewinnen und diesen ihre Dienstleistung anzubieten, weil das Kostenrisiko die Angeklagten abschreckt.723 Der Marktzu­ gang zu solchen Dienstleistungen ist daher direkt davon betroffen, ob Doppelver­ teidigung getragen wird. Eine rechtfertigungsbedürftige Beschränkung liegt daher grundsätzlich vor. Ob eine solche Beschränkung gerechtfertigt werden kann, hängt von den Um­ ständen des Einzelfalls ab und kann an dieser Stelle anhand einer lediglich abs­ trakten Betrachtung nicht beantwortet werden. Jedoch kann eine Aussage dahin­ gehend getroffen werden, wie streng der Rechtfertigungsmaßstab im Einzelfall ist – und damit welchen Begründungsanforderungen eine solche Beschränkung unterliegt. Je strenger die Anforderungen an deren Rechtfertigung sind, umso eher verschiebt sich die Darlegungslast auf den darin eingreifenden Mitgliedstaat. Auch wenn damit keine bestimmten Ergebnisse für den jeweiligen Einzelfall ermittelt werden können, kann doch ein Regel-Ausnahme-Verhältnis abgeleitet werden. Die Strenge des Rechtfertigungsmaßstabs richtet sich vorrangig danach, inwieweit der beschränkte Bereich harmonisiert und durch Sekundärrecht restriktiveren Be­ schränkungsregeln unterworfen wurde. Dies ist im Rahmen der strafrechtlichen Prozesskostenhilfe durch die PKH-RL für den Bereich der Kostenübernahme jedenfalls teilweise geschehen. (1) Die Regelung einer Kostenübernahme für Doppelverteidigung im Rahmen des Europäischen Haftbefehls Für das Verfahren des Europäischen Haftbefehls ergibt sich eine bedingte Pflicht zur Tragung von Doppelverteidigung aus Art. 56 f. AEUV in gemeinsamer Lesung mit der PKH-RL. Die PKH-RL sieht – unter bestimmten Voraussetzungen – die Über­ nahme von Doppelverteidigung unionsrechtlich verpflichtend vor.724 723

Vgl. zu einer ähnlichen Konstellation: EuGH, Urteil v. 11.12.2003 – C-289/02, AMOK Verlags GmbH, Slg. 2003, I-15075 Rn. 39. 724 Vgl. zur vorherigen Schutzlücke Kortenhorst, in: Guild / Marin (Hrsg.), Still Not Re­ solved?, S. 101.

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

Die PKH-RL benutzt den Terminus der Doppelverteidigung zwar nicht, regelt sie aber trotzdem, wenngleich ausschließlich im Zusammenhang mit dem Ver­ fahren des Europäischen Haftbefehls. Gem. Art. 5 Abs. 2 PKH-RL stellt der An­ ordnungsstaat sicher, dass gesuchte Personen Anspruch auf Prozesskostenhilfe gegenüber dem Anordnungsstaat für das Verfahren im Vollstreckungsmitgliedstaat haben, wenn − gegen diese Person ein Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haft­ befehls zum Zwecke der Strafverfolgung anhängig ist − Prozesskostenhilfe erforderlich ist, um den wirksamen Zugang zu den Gerichten zu gewährleisten − und wenn die gesuchte Person gemäß Art. 10 Abs. 4, 5 VerteidigungsbeistandsRL725 ihr Recht auf Benennung eines Rechtsbeistands im Ausstellungsmitglied­ staat zur Unterstützung des Rechtsbeistands im Vollstreckungsmitgliedstaat wahr­ genommen hat. Für das Verfahren im Anordnungsstaat folgt der Anspruch auf strafrechtliche Prozesskostenhilfe bereits aus Art. 4 PKH-RL. Dort ist die gesuchte Person zu­ gleich Verdächtiger bzw. beschuldigte Person i. S. v. Art. 4 Abs. 1 PKH-RL, sodass für ihn die regulären Anforderungen des rein nationalen Strafverfahrens gelten. Dies gilt jedoch grundsätzlich nur für die dort erfolgenden strafprozessualen Hand­ lungen. Grundsätzlich muss der Anordnungsstaat also nach Art. 4 PKH-RL keine Verteidigung im Wege strafrechtlicher Prozesskostenhilfe für das Verfahren des Europäischen Haftbefehls im Vollstreckungsstaat zur Verfügung stellen, sondern nur für das übrige, von ihm selbst durchgeführte Strafverfahren. In diese Schutz­ lücke stößt Art. 5 Abs. 2 PKH-RL, der den Anordnungsstaat darüber hinaus ver­ pflichtet, einen zweiten, zusätzlichen Verteidiger für das Verfahren im Vollstre­ ckungsstaat im Wege strafrechtlicher Prozesskostenhilfe bereit zu stellen. Art. 5 Abs. 2 PKH-RL i. V. m. Art. 10 Abs. 4, 5 Verteidigungsbeistands-RL regelt damit das Recht des Angeklagten, im Verfahren des Europäischen Haftbefehls – im Vollstreckungsstaat wie im Anordnungsstaat  – einen Rechtsbeistand seiner 725 Art. 10 Abs. 4 Verteidigungsbeistands-RL: „Die zuständige Behörde im Vollstreckungs­ mitgliedstaat unterrichtet die gesuchte Person unverzüglich nach dem Entzug der Freiheit darüber, dass sie das Recht hat, einen Rechtsbeistand im Ausstellungsmitgliedstaat zu be­ nennen. Die Rolle dieses Rechtsbeistands im Ausstellungsmitgliedstaat besteht darin, den Rechtsbeistand im Vollstreckungsmitgliedstaat zu unterstützen, indem er jenen Rechtsbei­ stand mit Informationen versorgt und berät, damit die gesuchte Person ihre Rechte nach dem Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates wirksam ausüben kann.“ bzw. Abs. 5: „Wollen ge­ suchte Personen das Recht, einen Rechtsbeistand im Ausstellungsmitgliedstaat zu benennen, wahrnehmen und verfügen sie nicht bereits über solch einen Rechtsbeistand, so unterrichtet die zuständige Behörde im Vollstreckungsmitgliedstaat umgehend die zuständige Behörde im Ausstellungsmitgliedstaat. Die zuständige Behörde jenes Mitgliedstaats stellt den gesuchten Personen unverzüglich Informationen zur Verfügung, um es ihnen zu erleichtern, dort einen Rechtsbeistand zu benennen.“

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Wahl zu benennen und diesen gegebenenfalls finanziert zu erhalten. Unabhängig von den konkreten Bedingungen der PKH-RL726 wird in Art. 5 Abs. 2 PKH-RL die grundlegende Entscheidung getroffen, dass Doppelverteidigung im Verfahren des Europäischen Haftbefehls zu tragen ist. Der Spielraum der Mitgliedstaaten ist insoweit begrenzt, als sie eine Tragung im Regelfall vorsehen müssen und nur in Ausnahmesituationen davon absehen dürfen. In der Regel folgt daraus die Übernahme strafrechtlicher Prozesskostenhilfe sowohl im Anordnungs- wie im Vollstreckungsstaat, wenn der Angeklagte zum Zwecke der Strafverfolgung über den Europäischen Haftbefehl ausgeliefert werden soll. Damit verkürzt sich der Spielraum der Mitgliedstaaten zu einer Beschränkung auf Ausnahmefälle. Daraus folgt zugleich, dass die Darlegungslast für deren Recht­ fertigung die Mitgliedstaaten trifft, weil sie – entgegen der unionsrechtlich vor­ gegebenen Vermutung der Erforderlichkeit von Doppelverteidigung – diese spie­ gelbildliche Verteidigung im Anordnungs- wie im Vollstreckungsstaat verweigern. (2) Anforderungen der Dienstleistungsfreiheit in den übrigen Fällen transnationaler Kooperation Bei anderen transnationalen, strafprozessualen Maßnahmen existiert keine Re­ gelung, dass strafrechtliche Prozesskostenhilfe sowohl im Anordnungs- wie im Vollstreckungsstaat gewährt werden müsste. Damit besitzen die Mitgliedstaaten bei der Beschränkung strafrechtlicher Prozesskostenhilfe grundsätzlich einen grö­ ßeren Spielraum, ob sie Doppelverteidigung übernehmen oder nicht. Die Rechtfer­ tigungsprüfung – eine allgemeine Verhältnismäßigkeitsprüfung – ist mithin offen und streitet weder für die Gewährleistung noch für die Ablehnung strafrechtlicher Prozesskostenhilfe. Die Mitgliedstaaten müssen den Eingriff lediglich gesetzlich vorsehen und mit diesem ein legitimes Interesse verfolgen, das sie in geeigneter, erforderlicher und insbesondere verhältnismäßiger Weise umsetzen. bb) Maßstäbe von Art. 48 Abs. 2 GRCh Am grundrechtlichen Maßstab von Art. 48 Abs. 2 GRCh gemessen, muss im transnationalen Strafverfahren Doppelverteidigung für den Angeklagten grund­ sätzlich gewährt werden – und bei Vorliegen der jeweiligen Voraussetzungen eine diese Doppelverteidigung tragende strafrechtliche Prozesskostenhilfe. Dies gilt für alle transnationalen, strafprozessualen Zwangsmaßnahmen, weil die Beiord­ nung eines Verteidigers im Vollstreckungsstaat aus Gründen der Rechtspflege in der Regel geboten ist. Auch der Verteidiger im Vollstreckungsstaat kann effektive Verteidigung grundsätzlich nur für das dortige Verfahren garantieren, weil er 726

Vgl. dazu u. Kap. 3 A. III.

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

nur im Rechtssystem des Vollstreckungsstaats die notwendige Fachkenntnis und Erfahrung besitzt. Um die Verteidigung im Vollstreckungsstaat jedoch effektiv im Hinblick auf das Verfahren im Anordnungsstaat ausrichten zu können, be­ darf er der rechtlichen Expertise eines simultan begleitenden Rechtsbeistands im Anordnungsstaat.727 Art. 48 Abs. 2 GRCh unterliegt – ähnlich wie Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK – dem Gebot, dass die Verteidigungsrechte einer wirksamen Auslegung zugeführt wer­ den müssen.728 Bisher fehlt es zwar an einer ähnlich einprägsamen Formel der nicht illusorischen, sondern effektiven Rechtsgewährleistung, jedoch betont der EuGH immer wieder die „Achtung der Verteidigungsrechte“,729 die „wirksame In­ anspruchnahme der Verteidigungsrechte“,730 den „angemessenen Schutz der Ver­ teidigungsrechte“731 und dass Verteidigungsrechte ein „tragende[r] Grundsatz des Unionsrechts“ seien.732 Seine Auslegung von einzelstaatlichen (und unionsrecht­ lichen) Vorschriften unterwirft er dabei grundsätzlich ebenso der Prämisse, dass die Wahrnehmung von Verteidigungsrechten durch die Anwendung und Auslegung einer Norm tatsächlich ermöglicht werden muss.733 Wird nach dem Gewährleis­ tungsumfang von Art. 48 Abs. 2 GRCh gefragt, bestimmt sich die dazugehörige Antwort danach, wie wirksame und effektive Verteidigung gewährleistet werden kann.734 Seinem transnationalen Schutzauftrag kann Art. 48 Abs. 2 GRCh daher nur ge­ recht werden, wenn dessen Auslegung den in diesem Bereich bestehenden lücken­ haften Schutz durch unzureichend aufeinander abgestimmte nationale Strafpro­ zesssysteme berücksichtigt. Das bedeutet, dass Art. 48 Abs. 2 GRCh dahingehend 727 So bereits früh Gaede, ZStW 115 (2004), 868; Gleß, StV 2010, 406; Nestler, ZStW 116 (2004), 340 f. 728 In diesem Sinne EuGH, Urteil v. 10.8.2017 – C-271/17 PPU, Zdziaszek, Rn. 91; Urteil v. 10.8.2017 – C-270/17 PPU, Tupikas, Rn. 84; Urteil v. 24.5.2016 – C-108/16 PPU, Dworzecki, Rn. 43; Urteil v. 15.10.2015 – C-216/14, Gavril Covaci, Rn. 67. 729 Grundlegend zum Inhalt der „Achtung der Verteidigungsrechte“ EuGH, Urteil v. 7.1.2004 – C-204/00 P, C-205/00 P u. a., Aalborg Portland u. a., Slg. 2004, I-123 Rn. 64; Urteil v. 23.9.2003 – C-78/01, BGL, Slg. 2003, I-9543 Rn. 52; Urteil v. 28.3.2000 – C-7/98, Krom­ bach, Slg. 2000, I-1935 Rn. 25 f. 730 EuGH, Urteil v. 26.1.2017 – C-609/13 P, Duravit, Rn. 99; Urteil v. 2.10.2003 – C-199/99 P, Corus UK, Slg. 2003, I-11177 Rn. 126; ähnlich Urteil v. 8.7.1999 – C-51/92 P, Hercules Che­ micals, Slg. 1999, I-4250 Rn. 76. 731 EuGH, Beschluss v. 28.4.2016 – C-384/14, Alta Realitat, Rn. 51. 732 EuGH, Urteil v. 22.11.2012 – C-277/11, M. M., Rn. 81; Urteil v. 18.12.2008 – C-349/07, Sopropré, Slg. 2008, I-10369 Rn. 36; Urteil v. 28.3.2000 – C-7/98, Krombach, Slg. 2000, I-1935 Rn. 42; EuG, Urteil v. 13.12.2006 – T-217/03 u. T-245/03, FNCBV u. a., Slg. 2006, II-5000 Rn. 217. 733 EuGH, Urteil v. 18.12.2008 – C-349/07, Sopropré, Slg. 2008, I-10369 Rn. 44. 734 EnzEuR-Gaede, Eur. StR, § 3 Rn. 45; dies anhand der Rs. Melloni und Radu aufgreifend ders., NJW 2013, 1281; zudem eine dynamische Auslegung für erforderlich haltend und eine Verwandtschaft mit dem Prinzip der praktischen Wirksamkeit erkennend Rengeling / Szczekalla, EU-Grundrechte, Rn. 233, 557; vgl. ebenso zur Anwendbarkeit des effet-utile-Prinzips auf Grundrechte der EU Potacs, EuR 2009, 480 Fn. 81.

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ausgelegt werden muss, dass er, gerade auf das transnationale Verfahren bezogen, Verteidigungsrechte effektiv und wirksam gewährleisten muss, indem er die mit­ gliedstaatlichen Strafverfahren wie unterschiedliche Teile eines einheitlichen Strafverfahrens behandelt und dementsprechend die Verteidigungsrechte in jedem Mitgliedstaat garantiert und zwingend voraussetzt. Nur dann können der national und transnational Angeklagte auf Dauer verfahrensrechtlich gleichgestellt werden. Gerade im transnationalen Strafverfahren folgt dies zugleich aus dem in Art. 48 Abs. 2 GRCh und in Art. 47 GRCh verkörperten Prinzip der Waffengleichheit.735 Der mehrfache Zugriff unterschiedlicher Strafverfolgungsbehörden muss auf Ebene der Verteidigungsrechte so ausgeglichen werden, dass dem Angeklagten nicht bereits durch die grenzüberschreitende Natur des Strafverfahrens ein Nach­ teil entsteht, sondern dass die ihm gewährten Verteidigungsrechte sich im Um­ fang der Strafverfolgungsgewalt mit entwickeln. Dies muss gerade das Recht auf staatlich getragenen Verteidigungsbeistand umfassen, weil dieses in schwierigen rechtlichen wie tatsächlichen Verfolgungssituationen den Zugang des Angeklagten zu einem Verteidiger absichert und ihm so die Verfahrensteilhabe erst vermittelt. Ist der Angeklagte daher dem mehrfachen Zugriff der Strafverfolgungsbehörden im transnationalen Verfahren ausgesetzt, spricht parallel zum Interesse der Rechts­ pflege eine Vermutung dafür, dass Verteidigung nicht nur im Vollstreckungsstaat, sondern zugleich im Anordnungsstaat erforderlich ist und daher getragen werden muss. Diese Vermutung kann zwar erschüttert werden, die Darlegungslast dafür trägt jedoch der jeweilige Mitgliedstaat. cc) Zusammenführende Auslegung Da Grundfreiheiten und Grundrechte der Charta in einem Gleichordnungsver­ hältnis stehen, sind sie gleichberechtigt zu berücksichtigen, wenn sie innerhalb eines Sachverhalts zusammenwirken. Ergibt sich wie an dieser Stelle keine Kolli­ sion der Gewährleistungsinhalte, sondern eine gleichgerichtete Gewährleistungs­ dimension, dann sind beide Gewährleistungen, im Sinne einer Gewährleistungs­ verstärkung, kombiniert auf den Sachverhalt anwendbar. Bezüglich des „ob“ der Übernahme von Doppelverteidigung gebieten sowohl die Art. 56 f. AEUV als auch Art. 48 Abs. 2 GRCh, dass Doppelverteidigung im trans­ nationalen Strafverfahren zu tragen ist. Im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit ist lediglich der Beschränkungsmaßstab großzügiger, soweit keine sekundärrechtli­ chen Regelungen zur Übernahme von Doppelverteidigung existieren. Die GRCh da­ gegen beinhaltet in Art. 48 Abs. 2 GRCh ein auch auf grenzüberschreitenden Schutz ausgelegtes Prozessgrundrecht. Würde der Umfang dieses Verteidi­gungsrechts am jeweiligen Rechtsakt oder am Grad der Harmonisierung festgemacht, würde eine 735

Vgl. o. Kap. 2, Fn. 662–664.

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

Fragmentierung des Schutzes der Verteidigungsrechte drohen. Die Dienstleistungs­ freiheit sieht eine derart weite Auslegung zwar nicht vor, sie steht ihr aber auch nicht entgegen. Vielmehr profitiert die Dienstleistungsfreiheit von dieser Auslegung, weil dadurch erleichtert wird, im transnationalen Strafverfahren Anwaltsdienstleis­ tungen in anderen Mitgliedstaaten zu beanspruchen. Beide zusammen verstärken omit den Gewährleistungsumfang der Verteidigungsrechte des Angeklagten. c) Umfang der Übernahme als Konfliktfall zwischen Kostenvorhersehbarkeit und dem Erfordernis effektiver Verteidigung Doppelverteidigung verlangt nicht nur die Kostenübernahme im Vollstreckungs­ staat, sondern darüber hinausgehend zeitgleich im Anordnungsstaat. Während sich strafrechtliche Prozesskostenhilfe im Anordnungsstaat nach dessen Recht richtet, gleich einem reinen nationalen Verfahren, ist weniger deutlich, ob die Kostenüber­ nahme im Vollstreckungsstaat sich nach dem Recht des Anordnungsstaates als In­ itiator der Rechtshilfemaßnahmen oder nach den tatsächlich anfallenden Kosten im Vollstreckungsstaat richtet.736 Der Umfang der Kostenübernahme ist gerade deswegen ein gesonderter Aspekt, weil die wirtschaftlichen Verhältnisse der Mitgliedstaaten – ebenso wie die jeweils übliche Entlohnung für anwaltliche Dienstleistungen – divergieren. Die Mitglied­ staaten haben in diesem Bereich stark voneinander abweichende Regelungen, teils ohne Begrenzung der Honorarhöhe, teils ausgerichtet, ähnlich dem deutschen Sys­ tem, an fest etablierten Gebührenordnungspunkten.737 Die Übernahme der Kosten im Umfang der Verhältnisse und üblichen Vergütungsmodi des Anordnungsstaates kann im Vollstreckungsstaat entweder überhaupt nicht kostendeckend sein oder womöglich über die eigentlich entstandenen Kosten hinausgehen. Für einen Rechts­ anwalt können dadurch Anreize gesetzt werden, nur Mandanten aus reichlich ver­ gütenden Mitgliedstaaten zu übernehmen oder keine transnationalen Mandate anzunehmen, wenn die Vergütung hinter dem zurückbleibt, was die Mandats­ bearbeitung an Kosten verursacht. Für den Angeklagten bedeutet eine unzurei­ chende Vergütung transnationaler strafrechtlicher Prozesskostenhilfe, dass er Schwierigkeiten haben kann, sich für diesen Vergütungssatz angemessene Ver­ teidigung zu sichern. Wessen Gebührenordnung auf die Vergütung im Rahmen strafrechtlicher Prozesskostenhilfe Anwendung findet, entscheidet damit maß­ geblich über Effektivität der Verteidigung und Attraktivität grenzüberschreitender anwaltlicher (Verteidigungs-)Dienstleistungen.

736

Vgl. o. zum parallelen Problem beim Merkmal der Bedürftigkeit, Kap. 2 B. III. 2. b). Vgl. so die Übersicht bei Hardege / Waas, Rechtsanwaltsvergütung in Europa, 2008, S. 66 ff.

737

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aa) Umfang der Kostentragung nach den Maßgaben der Dienstleistungsfreiheit Der Umfang der Kostentragung beeinflusst maßgeblich, ob die Dienstleistungs­ erbringung für den Dienstleister selbst attraktiv ist, für den Angeklagten als Dienst­ leistungsempfänger, ob er überhaupt oder eine für seine Zwecke angemessene Verteidigungsleistung erhält. Die Entscheidung über den Umfang der Übernahme selbst ist daher grundsätzlich nicht nur eine Ausgestaltung der Dienstleistungsfrei­ heit, sondern geeignet, diese zu beschränken.738 Im Rahmen des Europäischen Haftbefehls enthält sich der Wortlaut von Art. 5 Abs. 2 PKH-RL einer genauen Regelung. Zwar wird dort geregelt, dass Prozess­ kostenhilfe gewährt wird, „als [sie] erforderlich ist, um den wirksamen Zugang zu den Gerichten zu gewährleisten.“ Dies könnte dahingehend zu verstehen sein, dass dadurch eine flexible Betragsbemessung möglich sein soll, die sich lediglich daran orientiert, was erforderlich ist, um den Zugang zu Gericht zu bewirken. Die Formulierung ist jedoch offen. Insgesamt enthält sich die PKH-RL einer Festle­ gung bezüglich der Kosten, sondern erwähnt lediglich in Erwägungsgrund (8), dass Prozesskostenhilfe die Kosten der Verteidigung decken „sollte“. Die PKH-RL präzisiert folglich nicht, ob die Gebührenordnung des Anordnungs- oder Voll­ streckungsstaates maßgeblich sein soll. Auch für die übrigen strafprozessualen Maßnahmen im transnationalen Strafverfahren fehlt es an einer konkreten har­ monisierenden Regelung. Insoweit ist jeweils unklar, ob der Umfang der Kosten­ übernahme sich nach dem Recht des Anordnungsstaates oder nach dem Recht des Vollstreckungsstaates anhand der tatsächlich angefallenen Kosten richten soll. Mangels näherer Konkretisierung im Sekundärrecht ist diese Frage anhand der allgemeinen Wertungen der Dienstleistungsfreiheit zu bestimmen. Die Vergü­ tungsordnung des Vollstreckungsstaates bildet grundsätzlich ab, was dort erfor­ derlich ist, um Zugang zu sachgerechter Verteidigung im Vollstreckungsstaat zu erhalten. Diese Gebührenposten sind – zumindest idealiter – konzipiert, Anwäl­ ten eine kostendeckende Vergütung zuzugestehen.739 Damit würden transnational Angeklagte den rein national Angeklagten im Vollstreckungsstaat zudem gleich­ gestellt und damit in der Mandatsbearbeitung weder bevorzugt, noch benachtei­ ligt. Dadurch, dass die gleiche Prozesskostenordnung Anwendung findet, werden keine Anreize gesetzt, für diesen Angeklagten weniger oder mehr zu tun, als für einen rein national Angeklagten. Dies führt jedoch dazu, dass der Angeklagte die jeweiligen Kosten nicht mehr abschätzen kann, weil diese im Vollstreckungsstaat nach einer anderen Gebührenordnung berechnet werden. Auch das kann den Ange­ klagten davon abhalten, anwaltliche Beratung im Vollstreckungsstaat in Anspruch zu nehmen. Denn auch für ihn ist erforderlich, im Vorhinein die Kosten des Ver­ 738 EuGH, Urteil v. 5.12.2006 – C-94/04 u. C-202/04, Cipolla u. Meloni, Slg. 2006, I-11455 Rn. 58 f. 739 Wenn diese so gestaltet sind, vgl. zum RVG u. Kap. 4 D. II. 1.

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

fahrens und der Verteidigung abzuschätzen, gerade in Staaten, die strafrechtliche Prozesskostenhilfe grundsätzlich unter einen Rückforderungsvorbehalt stellen.740 Diese fehlende Vorhersehbarkeit entstehender Kosten hat der EuGH in einer grenzüberschreitenden Fallkonstellation zum Anlass genommen, dem das Verfah­ ren führenden Staat zuzugestehen, die zu erstattenden Kosten auf die nach seiner Gebührenordnung maximal möglichen Gebührensätze zu beschränken.741 Dies sei zwar grundsätzlich eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit, weil der Rechtssuchende abgeschreckt werden könnte, einen Anwalt zu beauftragen, für welchen er nur einen Teil der Kosten erstattet bekomme.742 Das zwingende All­ gemeininteresse, das für diese Auslegung spreche, sehe er jedoch in der Rechts­ sicherheit und der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege.743 Kostenvorhersehbarkeit würde damit rechtfertigen, dass anwaltliche Dienst­ leistungen im transnationalen (Straf-)Verfahren weniger zugänglich sind als in rein nationalen Verfahren. Dafür bewirkt die Anwendbarkeit nur einer Gebüh­ renordnung, dass der insoweit unerfahrene Mandant die Angemessenheit seiner Kosten selbst einschätzen und so den Wissensvorsprung des Anwalts ausgleichen kann.744 Gleichwohl ist die beschränkende Wirkung im grenzüberschreitenden Ver­ fahren nicht zu unterschätzen. Sobald ein EU-Mitgliedstaat wesentlich geringere Gebührensätze für Rechtsanwälte vorsieht, z. B. wegen niedrigerer Lohnverhält­ nisse, kann sich diese mangelhafte Vergütung auf den Aufwand auswirken, den ein Verteidiger bereit ist zu leisten. So könnte sich eine Form von transnationalem Verteidigungstourismus etablieren: Angeklagte aus Mitgliedstaaten mit lukrati­ veren Vergütungssystem werden bevorzugt einen Verteidiger bekommen, andere dagegen kaum. Auch Höchstgebühren für eine Tätigkeit können gerade davor abschrecken, in grenzüberschreitenden Fällen tätig zu werden, wenn diese niedriger liegen, als im Mitgliedstaat des die Dienstleistung erbringenden Rechtsanwalts.745 In dieser Situation kann der Angeklagte de facto nicht gewinnen. Eine Kostenübernahme nach dem Recht des Vollstreckungsstaates würde jedenfalls die dort entstandenen Kosten decken und dem transnationalen Angeklagten den gleichen Vergütungs­ mechanismen unterstellen wie einen rein national Angeklagten. Er könnte jedoch, 740 741

So z. B. in Deutschland, vgl. u. Kap. 4 D. I. EuGH, Urteil v. 11.12.2003 – C-289/02, AMOK Verlags GmbH, Slg. 2003, I-15075 Rn. 30,

39.

742

GA Mischo, Schlussanträge v. 18.9.2003 – C-289/02, AMOK Verlags GmbH, Slg. 2003, I-15060 Rn. 52; EuGH, Urteil v. 11.12.2003 – C-289/02, AMOK Verlags GmbH, Slg. 2003, I-15075 Rn. 27. 743 So zutr. GA Mischo, Schlussanträge v. 18.9.2003 – C-289/02, AMOK Verlags GmbH, Slg. 2003, I-15060 Rn. 55; EuGH, Urteil v. 12.12.1996 – C-3/95, Reisebüro Broede, Slg. 1996, I-6511 Rn. 31. 744 In diesem Sinne auch GA Mazák, Schlussanträge v. 6.7.2010 – C-565/08, KOM ./. IT, Slg. 2010, I-2103 Rn. 34. 745 EuGH, Urteil v. 11.12.2003 – C-289/02, AMOK Verlags GmbH, Slg. 2003, I-15075 Rn. 27.

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insbesondere wenn ein Strafverfahren der Kooperation von mehr als zwei Mit­ gliedstaaten bedarf, die für ihn möglicherweise entstandenen Kosten nicht mehr abschätzen. Beide Aspekte – die Zugänglichkeit anwaltlicher Dienstleistungen und die Vorhersehbarkeit der drohenden Kosten – sind wichtig für den Angeklagten und daher nicht ohne Weiteres zugunsten des einen oder anderen Aspekts aufzulösen. Eine endgültige Stellungnahme soll daher erst im Anschluss an die Auslegung von Art. 48 Abs. 2 GRCh erfolgen. bb) Umfang der Kostentragung nach Maßgabe von Art. 48 Abs. 2 GRCh Aus der Perspektive effektiver Verteidigung sollte strafrechtliche Prozesskos­ tenhilfe diejenigen Kosten tragen, die erforderlich sind, um dem Angeklagten im jeweiligen Mitgliedstaat Zugang zu einem Rechtsbeistand zu verschaffen. Damit dürfte grundsätzlich einhergehen, dass die Gebührenordnung desjenigen Mitglied­ staats Anwendung findet, in dem ein Rechtsanwalt im konkreten Fall tätig wird, weil die Gebührenordnung jenes Mitgliedstaats grundsätzlich ein kostendeckendes Arbeiten ermöglichen soll. Ähnlich wie auf Tatbestandsebene beim Merkmal der „Bedürftigkeit“ sollte das Vergütungssystem desjenigen Staates maßgeblich sein, in dem der Angeklagte strafrechtliche Prozesskostenhilfe begehrt. Dies würde vermeiden, dass der transnational Angeklagte gegenüber den rein national Angeklagten bevorzugt oder benachteiligt wird. Bei alleiniger Anwend­ barkeit der Gebührenordnung des Anordnungsstaates würde strafrechtliche Pro­ zesskostenhilfe bei dort günstigeren Lebensverhältnissen und daher niedrigeren Gebührensätzen nur in diesem Umfang übernommen werden. Ist der Vollstre­ ckungsstaat ein Mitgliedstaat mit deutlich höheren Gebührensätzen, würden dort tätige Anwälte tendenziell davor zurückschrecken, Mandate aus schlechter vergü­ tenden Anordnungsstaaten überhaupt anzunehmen. In dieser Konstellation würde dem transnational Angeklagten drohen, dass er mit strafrechtlicher Prozesskos­ tenhilfe allein womöglich keinen Zugang zu einem Rechtsbeistand erhält. Ist der Anordnungsstaat dagegen wohlhabend, würde demgegenüber ein Anwalt in einem ärmeren Vollstreckungsstaat gegebenenfalls derart entlohnt, dass er transnationale Mandanten gegenüber rein national Angeklagten bevorzugt annähme. Für den konkret transnational Angeklagten ist diese Situation an sich zwar nicht nachtei­ lig. Es würde jedoch dazu führen, dass andere Angeklagte im Vergleich zu ihm möglicherweise schwieriger Zugang zu einem Verteidiger erhalten. Die Bezahlung nach einer nicht auf die Lebensverhältnisse des Vollstreckungsstaates abgestimm­ ten Gebührenordnung würde nur dann zu gerechten Ergebnissen führen, wenn die Gebührenordnungen ein ähnliches Vergütungsniveau zugrunde legen. Zudem würden über die Anwendbarkeit der Gebührenordnung des Anordnungssowie des Vollstreckungsstaates die Chancen zwischen einem bedürftigen und einem nicht bedürftigen Angeklagten angeglichen werden. Der nicht bedürftige Angeklagte würde sich im Anordnungs- wie im Vollstreckungsstaat um einen

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

Verteidiger bemühen und diesen nach den dort jeweils geltenden Bedingungen vergüten – und auch dementsprechend immer Zugang zu einem Verteidiger er­ halten. Durch die Vergütung nach der jeweils anwendbaren Vergütungsordnung hätte auch der bedürftige Angeklagte im Rahmen strafrechtlicher Prozesskosten­ hilfe eine gleichwertige Chance, Zugang zu einem Verteidiger zu erhalten. Dies entspricht dem Gedanken der Chancengleichheit, dem auch Art. 48 Abs. 2 GRCh verpflichtet ist. Insgesamt kann aus Art. 48 Abs. 2 GRCh jedoch nicht zwingend eine Verpflich­ tung abgelesen werden, die Kosten im Vollstreckungsstaat zu übernehmen, solange effektive Verteidigung noch gewährleistet ist. Daher käme zugleich in Betracht, grundsätzlich die Gebührenordnung des Anordnungsstaates zur Anwendung zu bringen und die Übernahme darüber hinausgehender Kosten des Rechtsanwalts nur am Recht des Vollstreckungsstaates zu orientieren, aber sie nicht zwingend identisch auszugestalten. Insoweit ist für Art. 48 Abs. 2 GRCh allein maßgeblich, dass die Kostenübernahme in einem Rahmen erfolgt, der dem Angeklagten Zu­ gang zu angemessener und effektiver Verteidigung ermöglicht. Dies wird für die Kostenübernahme im Vollstreckungsstaat im Zweifel jedoch in dem Umfang er­ forderlich sein, wie üblicherweise Rechtsanwälte in ähnlichen Angelegenheiten vergütet werden. cc) Ausgleich beider Positionen Während die Auslegung von Art. 48 Abs. 2 GRCh dafür spricht, den Umfang der Kostenübernahme flexibel, aber grundsätzlich orientiert an der Vergütung im Vollstreckungsstaat zu gestalten, um so den Zugang zu effektiver Verteidigung im Vollstreckungsstaat gleichermaßen zu ermöglichen, betont der EuGH im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit den Aspekt der Kostenvorhersehbarkeit und rechtfer­ tigt über diesen den beschränkten Zugang zu grenzüberschreitenden anwaltlichen Dienstleistungen. Da die Auslegung nach der Charta gerade provozieren würde, was der EuGH durch seine Auslegung der Dienstfreiheit zu vermeiden sucht, kol­ lidieren in dieser Konstellation die Anforderungen der Dienstleistungsfreiheit und der Gewährleistungen aus Art. 48 Abs. 2 GRCh. Als einheitlicher Kanon subjektiv-öffentlicher Rechte im Unionsrecht746 sind Grundfreiheiten und Grundrechte im Normkollisionsfall so auszulegen, dass sie jeweils soweit möglich zu voller Wirksamkeit gebracht werden.747 Diese Auslegung 746

In diesem Sinne Kahl / Schwind, EuR 2014, 188, 192; zur Gleichrangigkeit ebenso Sieber, in: Delmas-Marty / Pieth / Sieber (Hrsg.), Les chemins d’ l’harmonisation pénale, S. 389. 747 Jarass, GRCh, Art. 53 Rn. 12; Kahl / Schwind, EuR 2014, 173; zust. zu diesem Ansatz Kizil, Strafrechtliche Verfahrensgarantien im europäischen und deutschen Wettbewerbsrecht, S. 102 f.; grundlegend zu diesem Gedanken praktischer Konkordanz im dt. Recht, Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 72, 317 ff.; Pirker, Grundrechtsschutz im Unionsrecht zwischen Subsidiarität und Integration, S. 345.

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führt zu einem variablen Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten:748 Im Einzelfall können Grundfreiheiten im Lichte der Grundrechte ausgelegt werden749 oder Grundrechte als Schranken-Schranken der Grundfreiheiten dienen.750 In an­ deren Fällen dreht sich dieses Verhältnis um und Grundfreiheiten beschränken Rechte der GRCh.751 Sie können jedoch nicht nur gegenseitig als Schranken wirken, sondern im Einzelfall auch zu einer Schutzbereichsverstärkung beitragen.752 Dieser schonende Ausgleich wird mithin zwischen Grundrechten und Grundfreiheiten so vorgenommen, wie im Fall einer Kollision von Grundrechten untereinander.753 Bezüglich des Umfangs der Kostentragung stehen die vom EuGH bevorzugte Rechtssicherheit hinsichtlich der Vorhersehbarkeit der Kosten und die effektive Verteidigung des transnational Angeklagten miteinander in Konflikt. Ein Aus­ gleich, in dem beide Positionen vollständig verwirklicht werden könnten, ist nicht ersichtlich. Dies wäre lediglich möglich, wenn es eine empirisch feststellbare Schwelle gäbe, ab der z. B. eine geringere Bezahlung als in einer anderen Gebüh­ renordnung die Zugangsmöglichkeit zu einem Verteidiger verschlechtert, sodass erst ab dieser Schwelle der Anordnungsstaat über seine eigene Gebührenordnung hinaus zuzahlen müsste. Für eine solche Einschätzung mangelt es jedoch an Daten. Folglich muss abgewogen werden, welcher Aspekt eher zurücktreten kann, um noch zu einem insgesamt verhältnismäßigen Ergebnis zu gelangen. Dabei sind sowohl die Kostenvorhersehbarkeit als auch die gleichmäßige Zugänglichkeit an­ waltlicher Dienstleistungen jeweils für sich genommen wesentliche Belange, die zur Funktionsfähigkeit der Rechtspflege754 beitragen. Dass ein transnational Angeklagter seine Verteidigungschancen durch Doppel­ verteidigung effektiv nutzen und wahrnehmen kann und in dieser Hinsicht straf­ rechtliche Prozesskostenhilfe erhält, entscheidet über die Wirksamkeit seiner Verteidigung. Die bislang unterschiedlichen Vergütungsmodi und Honorarhöhen bestimmen im transnationalen Strafverfahren über Qualität und Zugänglichkeit von Verteidigungsdienstleistungen für den Angeklagten, wenn der Anordnungs­ 748

Von einer „ambivalenten Rolle“ der Grundrechte sprechend Meyer, ZStW 72 (2017), 1107. EuGH, Urteil v. 11.7.2002 – C-60/00, Slg. 2002, I-6279 Rn. 46; diese daher als „Schranken“ der Grundfreiheiten bezeichnend Gratzl, Grundrechte als Grenzen der Marktfreiheiten, S. 159 ff.; zust. Kahl / Schwind, EuR 2014, 183 f. 750 Grundlegend dazu EuGH, Urteil v. 12.6.2003 – C-112/00, Schmidberger, Slg. 2003, I-5659 Rn. 71, 73 f.; zust. Huber, EuR 2008, 194 f.; z. B. als „zwingender Grund des Allgemeinwohls“ Kahl / Schwind, EuR 2014, 174 f. 751 Gratzl, Grundrechte als Grenzen der Marktfreiheiten, S. 86; Jarass, GRCh, Art. 53 Rn. 13; ders., EuR 2013, 31; m. w. N. Kahl / Schwind, EuR 2014, 178 f. 752 So zutr. Jarass, GRCh, Art. 53 Rn. 13; dies als „Gleichläufigkeit“/„Gegenläufigkeit“ be­ zeichnend Kahl / Schwind, EuR 2014, 171. 753 Zur Grundrechtskollision im Rahmen der GRCh: Jarass, GRCh, Art. 53 Rn. 16 f.; zum Begriff der „Grundrechtskollision“ Sauer, in: Hong / Matz-Lück (Hrsg.), Grundrechte und Grundfreiheiten im Mehrebenensystem, S. 5; Ziegenhorn, Einfluss der EMRK im Recht der EU-GRCh, S. 233 f. 754 Inwiefern der Aspekt der Funktionsfähigkeit ein legitimes Interesse ist, vgl. u. Kap. 2, Fn. 830. 749

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

staat nur maximal die nach seinem Recht erforderlichen Gebühren tragen muss. Der Zugang zu strafrechtlicher Prozesskostenhilfe hinge durch eine solche Rege­ lung vom Zufall ab. Diese Zufälligkeit würde zu absurden Ergebnissen führen: Unterstellt ein An­ geklagter wäre nicht Unionsbürger, sondern Drittstaatsangehöriger, sodass er sich nicht auf die Dienstleistungsfreiheit berufen könnte. Art. 48 Abs. 2 GRCh würde für diesen Angeklagten aber als Jedermannsrecht gelten, sobald er in der EU an­ geklagt ist. Da es in dieser Konstellation – mangels Anwendbarkeit der Dienstleis­ tungsfreiheit – nicht zu einer Normenkollision käme, wäre die Konstellation allein nach Maßgabe von Art. 48 Abs. 2 GRCh zu beurteilen. Danach sollte effektive Verteidigung den Aspekt der Kostenvorhersehbarkeit überwiegen. Ein Drittstaats­ angehöriger würde dementsprechend leichter als ein Unionsbürger in grenzüber­ schreitenden Strafverfahren die Dienstleistung eines Rechtsanwalts in Anspruch nehmen können. Das würde Sinn und Zweck der Dienstleistungsfreiheit konter­ karieren, gerade für Unionsbürger Dienstleistungen verkehrsfähiger zu machen. Kostenvorhersehbarkeit soll den Angeklagten ebenso schützen, ihm Orientie­ rung in einem für ihn schwer erfassbaren Vergütungssystem geben und Kosten­ risiken verlässlich abschätzbar machen. Auch dies ist für die Rechtsposition des Angeklagten von Belang. Die Kostenvorhersehbarkeit darf im Rahmen des trans­ nationalen Strafverfahrens jedoch nicht überschätzt werden. Denn in der Grund­ entscheidung des EuGH sollte vorrangig das Risiko beschränkt werden, dass eine Partei darauf verzichtet, ihre Rechte einzuklagen, weil sie keinen Überblick über die entstehenden Kosten hat bzw. haben kann.755 Anders als im zivilrechtlichen Parteiprozess wird der Angeklagte jedoch nicht gleichermaßen von der Rechts­ wahrnehmung abgehalten werden, weil er den Gang des Verfahrens im Konkreten ohnehin nicht beeinflussen kann. Es ist seiner Verfügungsgewalt weitestgehend entzogen. Ihm bleibt nur die Option, sich in diesem Verfahren zu verteidigen oder nicht. Im Strafverfahren selbst hat der Angeklagte dadurch Kontrolle über die Kostenentwicklung: Er entscheidet nicht über die Terminierung, den Umfang des Verfahrens, und nur teilweise darüber, ob kostenintensive Ermittlungshandlun­ gen unternommen oder unterlassen werden. Kostenvorhersehbarkeit ist deshalb für den Angeklagten zwar relevant, ihre Bedeutung ist im Strafverfahren jedoch deutlich geringer. Während folglich Kostenvorhersehbarkeit im Strafverfahren weniger bedeutsam ist als im Zivilverfahren, würde deren Vorrang den Zugang des Angeklagten zu einem Verteidiger dagegen real beschränken. In Anbetracht dieser Konstellation ist es gerechtfertigt, dem Gedanken einer effektiven, am Vergütungsniveau des Vollstreckungsstaates orientierten Kostenumfangs Vorrang vor dem Gedanken der Kostenvorhersehbarkeit einzuräumen. Auch auf Gewährleistungsebene ist daher –

755

EuGH, Urteil v. 11.12.2003 – C-289/02, AMOK Verlags GmbH, Slg. 2003, I-15075 Rn. 30.

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parallel zur Bedürftigkeit auf Voraussetzungsebene – das Recht desjenigen Staates maßgeblich, in dem der Angeklagte strafrechtliche Prozesskostenhilfe begehrt. 4. Unabhängigkeit des Rechtsbeistands Welche Anforderungen und Qualifikationen für den Rechtsbeistand im Rah­ men von Art. 48 Abs. 2 GRCh gelten, bemisst sich zunächst gem. Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh an Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK sowie der Rechtsprechung des EGMR zu diesem Kriterium. Ebenso wie im Rahmen der EMRK ist für einen Rechts­ beistand dessen Unabhängigkeit vom Staat erforderlich.756 Der EuGH macht den Umfang der Verteidigungsrechte jedoch zudem davon abhängig, inwieweit ein Rechtsbeistand als vom Mandanten unabhängig angesehen werden kann. Das ist eine diametral entgegengesetzte Perspektive auf das Kriterium der Unabhängig­ keit als die des EGMR. Diese Anforderungen  – entwickelt anhand des Kartellordnungswidrigkeiten­ rechts – spielen auch im Rahmen von Art. 48 Abs. 2 GRCh eine Rolle. Entschei­ det sich der Angeklagte für einen nach der Rechtsprechung des EuGH als „ab­ hängig“ anzusehenden Rechtsanwalt, kann er dessen Dienste zwar in Anspruch nehmen, muss die dazu geltenden Einschränkungen jedoch hinnehmen.757 Zu­ nächst belässt der EuGH dem Angeklagten damit trotzdem die uneingeschränkte Möglichkeit, einen Verteidiger seiner Wahl zu benennen, sei es auch ein in die­ sem Sinne „abhängiger“ Verteidiger. Eine Beschränkung etwaiger Rechte, wie des Vertraulichkeitsprinzips, müsste dann bei der Beauftragung eines solchen Rechtsanwalts hingenommen werden.758 An dieser Stelle zeigt sich jedoch die besondere Wechselwirkung des Wahlrechts mit dem Begriff eines tauglichen Rechtsbeistands. Gerade im Strafverfahren ist die Vertraulichkeit anwaltlicher Kommunikation Grundfeste eines fairen Verfahrens und Absicherung des Prinzips der Selbstbelastungsfreiheit.759 Ein vom Vertraulichkeitsprivileg ausgenommener Rechtsbeistand ist gerade kein geeigneter, den Anforderungen von Art. 48 Abs. 2 GRCh genügender Rechtsbeistand, weil er effektive Verteidigung ohne Ver­ traulichkeit als Vertrauensgrundlage nicht leisten kann. Entwickelt wurde diese Rechtsprechung zwar im Kartellordnungswidrigkeitenrecht, in der das verfolgte Unternehmen zugleich Arbeitgeber des in jenen Fällen beauftragten Syndi­ kusanwalts war. Trotzdem ist diese Rechtsprechung auch im Fall von natürli­ chen Personen relevant. Insoweit ist an Personengesellschafter, Geschäftsführer 756

Vgl. dazu o. Kap. 2 A. IV. 2. b). EuGH, Urteil v. 14.9.2010 – C-550/07 P, Akzo Nobel u. a., Slg. 2010, I-8360 Rn. 41 f.; Urteil v. 18.5.1982 – 155/79, AM & S Europe Ltd., Slg. 1982, 1577 Rn. 21, 24. 758 EuGH, Urteil v. 14.9.2010 – C-550/07 P, Akzo Nobel u. a., Slg. 2010, I-8360 Rn. 96. 759 St. Rspr., m. w. N. EGMR, Urteil v. 25.7.2013 – 11082/06 u. 13772/05, Khodorkovskiy u. Lebedev ./. RU, Rn.  627, 629; Urteil v. 2.11.2010 – 21272/03, Sakhnovskiy ./. RU, Rn. 97; Urteil v. 13.3.2007 – 23393/05, Castravet ./. MO, Rn. 49. 757

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

oder Arbeitnehmer760 eines Unternehmens zu denken, die strafrechtlich wegen unternehmensbezogener Tatvorwürfe verfolgt werden und auf den Rat des (ihnen bekannten) Syndikusanwalts zurückgreifen wollen. Diese Grenzziehung des EuGH bezüglich der Unabhängigkeit des Rechtsanwalts nimmt einen ganzen Berufs­ zweig der Rechtsanwaltschaft aus dem Bereich der Strafverteidigung heraus und beschneidet dadurch auch das Recht des Angeklagten auf einen selbst gewählten Rechtsbeistand.761 a) Standesrechtliche Verpflichtungen Der EuGH hat in ständiger Rechtsprechung festgelegt, dass der Schriftwechsel zwischen einem Rechtsbeistand und seinem Mandanten nur dann das Privileg der Vertraulichkeit genießt, wenn dieser Rechtsbeistand ein unabhängiger Rechtsanwalt ist.762 In positiver Hinsicht werde Unabhängigkeit durch standesrechtliche Verpflichtungen garantiert.763 Damit beschränkt der EuGH den Kreis der zugelas­ senen Rechtsbeistände grundsätzlich auf Rechtsanwälte oder ähnliche Gruppen im Recht der Mitgliedstaaten, die juristisch ausgebildet sind und über Berufsrecht der ordnungsgemäßen Verteidigung und Wahrung ihrer berufsrechtlichen Pflich­ ten besonders verpflichtet sind. Bereits im Rahmen der EMRK wurde angedeutet, dass bei ernsthafter Ausle­ gung des Merkmals der effektiven Verteidigung voraussichtlich nur ein enger Kreis an Personen tauglich ist, strafrechtliche Prozesskostenhilfe überhaupt zu erbringen, vorrangig Rechtsanwälte mit besonderer Erfahrung im Strafrecht.764 Der EuGH beschränkt dies für die Rechtsanwaltschaft auf unabhängig tätige Rechtsanwälte. Diese Perspektive des EuGH rührt jedoch nicht aus der Sorge um effektive Vertei­ digung, sondern kommt anscheinend aus einem Misstrauen gegenüber dem partei­ isch für den Angeklagten auftretendem Verteidiger. Die Bindung an Standesrecht

760

Diese Regelung findet sich auch im dt. Recht im Vertretungsverbot des § 46c Abs. 2 BRAO wieder. 761 So krit. Hamacher, AnwBl. 2011, 42. 762 EuGH, Urteil v. 14.9.2010 – C-550/07 P, Akzo Nobel u. a., Slg. 2010, I-8360 Rn. 41 f.; Urteil v. 18.5.1982 – 155/79, AM & S Europe Ltd., Slg. 1982, 1577 Rn. 21, 24; abl. Thanos, Die Reichweite der Grundrechte im EU-Kartellverfahrensrecht, S. 242 ff. 763 EuGH, Urteil v. 6.9.2012 – C-422/11 P u. C-423/11 P, Prezes Urzędu Komunikacji Elek­ tronicznej, Rn. 24; Urteil v. 14.9.2010 – C-550/07 P, Akzo Nobel u. a., Slg. 2010, I-8360 Rn. 45; Urteil v. 18.5.1982 – 155/79, AM & S Europe Ltd., Slg. 1982, 1577 Rn. 24, 27; GAin Kokott, Schlussanträge v. 29.4.2010 – C-550/07 P, Akzo Nobel u. a., Slg. 2010, I-8309 Rn. 60 f.; zust. Schnichels / Resch, EuZW 2011, 49. 764 Vgl. o. Kap. 2 A. IV. 2 a); aber im Rahmen der GRCh ist ähnlich wie in der EMRK der Begriff des Rechtsbeistands theoretisch grundsätzlich weit, vgl. unter Verweis auf die Entste­ hungsgeschichte Holoubek / Lienbacher-Raschauer / Sander / Schlögl, GRCh, Art. 47 Rn. 4, 47; Jarass, GRCh, Art. 47 Rn. 45; Meyer-Eser, GRCh, Art. 47 Rn. 37; diesen fehlenden Rechts­ anwaltsvorbehalt bedauernd Jaeger, NJW 2004, 6 f.

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ist ein valider Sicherungsmechanismus der Rechtsanwaltschaft, im Rahmen der Selbstverwaltung Regeln für den Umgang mit Mandanten, Konfliktsituationen und für berufsethische Standards festzulegen, um das Ansehen des Rechtsanwalts als Teil der Rechtspflege zu wahren.765 Dadurch wird zugleich auch standesrechtli­ che Kontrolle möglich. Vertraulichkeit als Verteidigungsprivileg zwingend daran zu knüpfen – zusammen mit der Weisungsfreiheit des Rechtsbeistandes –, zeugt jedoch von einem Verständnis, das Mandanten und Verteidiger über die partei­ ische Rechtswahrnehmung hinaus grundsätzlich kollusives Verhalten zulasten der materiellen Wahrheitsfindung unterstellt. Dieses Verständnis des EuGH zeugt zumindest von einer fragwürdigen Auffassung von der Rolle und Bedeutung von Rechtsanwälten im System der Justiz. b) Fehlende Weisungsabhängigkeit In negativer Hinsicht gilt nach der Rechtsprechung des EuGH nur ein Rechts­ beistand als unabhängig, der nicht vom Mandanten abhängig beschäftigt wird.766 Daher genieße der Schriftverkehr mit angestellten Syndikusanwälten767 keine Ver­ traulichkeit. Denn der Syndikusanwalt sei abhängig beschäftigt und dadurch in das geschäftliche Wirken seines Arbeitgebers und in dessen Interessensphäre ein­ gebunden.768 Ein im Unternehmen tätiger Rechtsanwalt unterliege dem Weisungs­ recht seines Arbeitgebers.769 Dass der Syndikusanwalt dabei in einer organisations­ rechtlich selbständigen, jedoch mit dem Mandanten verbundenen Einheit angestellt sei, vermöge diese Abhängigkeit nicht aufzuheben.770 Diese Weisungsabhängig­ keit könne auch nicht dadurch ausgeglichen werden, dass standesrechtlich für den Syndikusanwalt ähnliche Regeln gelten, weil schlussendlich das Wohlwollen des Arbeitgebers der Unabhängigkeit des Syndikusanwalts enge Grenzen ziehe.771

765

Zu dieser Funktion für das dt. anwaltliche Berufsrecht m. w. N. BVerfGE 36, 212 (217 f.); Feuerich / Weyland-Brüggemann, BRAO, § 1 Rn. 11; in diesem Sinne Redeker, NJW 1982, 2761. 766 EuGH, Urteil v. 6.9.2012 – C-422/11 P u. C-423/11 P, Prezes Urzędu Komunikacji Elek­ tronicznej, Rn. 24; Urteil v. 14.9.2010 – C-550/07 P, Akzo Nobel u. a., Slg. 2010, I-8360 Rn. 45; Urteil v. 18.5.1982 – 155/79, AM & S Europe Ltd., Slg. 1982, 1577 Rn. 24, 27; GAin Kokott, Schlussanträge v. 29.4.2010 – C-550/07 P, Akzo Nobel u. a., Slg. 2010, I-8309 Rn. 60 f.; zust. Schnichels / Resch, EuZW 2011, 49. 767 Darunter wird ein nach dem Recht des jeweiligen Mitgliedstaates zugelassener Rechts­ anwalt verstanden, der jedoch nicht in selbständiger Tätigkeit seinen Beruf ausübt, sondern der rechtliche Beratung in einem Unternehmen aus einem Angestelltenverhältnis heraus leistet. 768 EuGH, Urteil v. 14.9.2010 – C-550/07 P, Akzo Nobel u. a., Slg. 2010, I-8360 Rn. 47; zust. Schnichels / Resch, EuZW 2011, 49 f. 769 GAin Kokott, Schlussanträge v. 29.4.2010  – C-550/07 P, Akzo Nobel u. a., Slg.  2010, I-8309 Rn. 61 f. 770 EuGH, Urteil v. 6.9.2012 – C-422/11 P u. C-423/11 P, Prezes Urzędu Komunikacji Elek­ tronicznej, Rn. 25; krit. dazu Stefanelli, Int’l & Comp. L. Q. 62 (2013), 487 f., 492. 771 GAin Kokott, Schlussanträge v. 29.4.2010  – C-550/07 P, Akzo Nobel u. a., Slg.  2010, I-8309 Rn. 64.

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

Dieser Rechtsprechungslinie wurde vereinzelt beigetreten. Insbesondere wurde betont, dass der dem Urteil zugrunde liegende Fall rechtspolitisch keine andere Lösung vertrage: Unterfiele die schriftliche Korrespondenz mit dem Syndikus­ anwalt dem Anwaltsprivileg, wären vor allem im Kartellordnungswidrigkeiten­ verfahren wichtige Beweismittel unzugänglich.772 Das Kriterium des fehlenden Angestelltenverhältnisses sei zudem trennscharf und ermögliche dadurch eine rechtssichere Handhabung.773 Überwiegend wurde diese Sichtweise des EuGH jedoch kritisiert. Die Begrün­ dungslast sei bereits fehlerhaft verteilt worden:774 Als zugelassenem Rechtsanwalt stehe dem Syndikusanwalt automatisch das Anwaltsgeheimnis zu. Insofern sei die Frage des EuGH, ob dem Syndikusanwalt dieses Privileg zustehe, fehlerhaft gestellt.775 Viel eher werfe dies die Frage auf, ob das anwaltliche Vertraulichkeits­ privileg dem Syndikusanwalt allein aufgrund seiner Anstellung genommen werden könne.776 Zudem ist die schablonenhafte Annahme fehlender Unabhängigkeit allein aufgrund eines bestehenden Arbeitsvertrages auf Kritik gestoßen.777 Die Unabhän­ gigkeit könne nicht pauschal aufgrund eines bestehenden Anstellungsverhältnisses abgelehnt werden, weil nur eine Betrachtung der standesrechtlichen Regeln und des jeweiligen konkreten Arbeitsverhältnisses Aufschluss darüber geben könne, ob die Unabhängigkeit eines Syndikusanwalts tatsächlich gefährdet ist.778 Syndi­ kusanwälte seien nicht dazu angestellt, um gewünschte Ergebnisse rechtlich zu untermauern, sondern um dem Arbeitgeber unternehmensintern verlässlichen – Haftung gerade vermeidenden – Rechtsrat zu bieten.779 Dies könnten Syndikus­ anwälte oft schneller und kompetenter als externe Rechtsberater, weil sie Einblick in das Unternehmen selbst und dessen Abläufe haben.780 Das Weisungsrecht des Arbeitgebers werde insoweit überbetont. Denn auch im Mandatsverhältnis sei ein Rechtsanwalt keinesfalls gänzlich frei, sondern unterliege ebenso Wünschen und Weisungen des Mandanten.781 Das Argument der finanziellen Abhängigkeit des Syndikusanwalts und damit einer nicht vorurteilsfrei möglichen Rechtsprüfung verfange ebenso wenig. Zum einen könne der selbständig tätige Rechtsanwalt ebenso finanziell von besonders

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Schnichels / Resch, EuZW 2011, 51. Ebd. 774 Zum gesamten Absatz Hamacher, AnwBl. 2011, 43. 775 Ebd. 776 Ebd. 777 Weitbrecht / Mühle, EuZW 2011, 421 („realitätsfremd“). 778 Hamacher, AnwBl. 2011, 45; so auch Mann / L eisinger, AnwBl. 2010, 778; Prütting, AnwBl. 2013, 83. 779 Berrisch, EuZW 2010, 786; Hamacher, AnwBl. 2011, 45. 780 Berrisch, EuZW 2010, 786 a. E. 781 Sowohl der selbständige Anwalt als auch der Syndikusanwalt unterliegen Weisungsrech­ ten, so jdf. im dt. Recht, vgl. Bissel, Der Syndikusanwalt und die anwaltliche Unabhängigkeit, S. 69 ff., 72; Prütting, AnwBl. 2013, 83. 773

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umfangreichen oder einbringlichen Mandaten abhängig sein.782 Zum anderen folge aus dem Anstellungsverhältnis  – und den damit einhergehenden Kündigungs­ schutzvorschriften – gerade eine finanzielle Sicherheit des Syndikusanwalts, durch die er unabhängiger als ein selbständiger Rechtsanwalt beraten könne.783 c) Stellungnahme Letztlich entscheidet sich diese Frage nicht nur an den soeben aufgeführten Argumenten, sondern vor allem daran, ob diese Beschränkung des Rechts des Angeklagten auf einen Rechtsbeistand seiner Wahl gerechtfertigt ist. Insofern gilt über Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh die Rechtsprechung des EGMR, die eine Ein­ schränkung des Wahlrechts nur aus „relevant and sufficient grounds“ zulässt.784 Das Kartellordnungswidrigkeitenverfahren ist zwar der Form nach ein Verwal­ tungsverfahren, wird jedoch aufgrund des enormen Sanktionsrisikos und der den Kartellbehörden zustehenden Ermittlungsgewalt als strafrechtsähnliches Verwal­ tungsverfahren angesehen, mit der Folge, dass die Verteidigungsrechte aus Art. 6 EMRK wie aus Art. 48 Abs. 2 GRCh entsprechend Anwendung finden.785 Um dergestalt das Wahlrecht des Angeklagten zu verkürzen, müssen daher ge­ wichtige Interessen diesem Wahlrecht gegenüberstehen. Der EuGH hat insoweit festgehalten, dass er die Interessen der Rechtspflege betroffen sieht, wenn ein Rechtsanwalt abhängig von seinem Mandanten arbeitet und damit seine eigentli­ che Funktion, die eines Organs der Rechtspflege, nicht mehr vorrangig wahrneh­ me.786 Ist der Rechtsanwalt einem Mandanten in so enger Weise verbunden, dass seine Unabhängigkeit verloren geht, so entzieht der EuGH ihm daher die für die Vertretung wesentliche Komponente des Vertraulichkeitsprivilegs. Es wird an­ scheinend eine Verquickung von Mandanteninteresse und Rechtsanwaltstätigkeit 782 Dies auch aufgreifend, am Ende jedoch verwerfend GAin Kokott, Schlussanträge v. 29.4.2010 – C-550/07 P, Akzo Nobel u. a., Slg. 2010, I-8309 Rn. 67; Mann / L eisinger, AnwBl. 2010, 778 f.; Prütting, AnwBl. 2013, 82 a. E. 783 Bissel, Der Syndikusanwalt und die anwaltliche Unabhängigkeit, S. 74. 784 Vgl. o. Kap. 2 A. III. 2. c) aa) (2). 785 St. Rspr. EuGH, Urteil v. 22.11.2012  – C-89/11 P, E.ON  Energie, Rn. 72 f.; Urteil v. 8.7.1999  – C-235/92 P, Montecatini ./. KOM, Slg.  1999, I-4575 Rn. 175 f.; EuG, Urteil v. 11.7.2014 – T-541/08, Sasol u. a., Rn. 206; GA Bobek, Schlussanträge v. 7.9.2017 – C-298/16, Ispas, Rn. 108; GAin Kokott, Schlussanträge v. 11.12.2014 – C-286/13 P, Dole Food Company u. Dole Fresh Fruit Europe, Rn. 26 a. E.; zur Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK im Kartell­ ordnungswidrigkeitenverfahren vgl. Lenaerts, EuR 1997, 37 f.; zust. Schmitz, wistra 2016, 131; ebenso Weiß, NJW 1999, 2236 f.; ebenso mit ausführlicher Herleitung Kizil, Strafrechtliche Verfahrensgarantien im europäischen und deutschen Wettbewerbsrecht, S. 147 ff., 167 ff., 214; abl. dagegen und für eine Einordnung als Verwaltungssanktion plädierend Braum, Europäi­ sche Strafgesetzlichkeit, S. 232; ebenso Krajewski, Geldbußen und Zwangsgelder im Recht der Europäischen Gemeinschaften, S. 62 ff. 786 S. EuGH, Urteil v. 14.9.2010 – C-550/07 P, Akzo Nobel u. a., Slg. 2010, I-8360 Rn. 25; Urteil v. 18.5.1982 – 155/79, AM & S Europe Ltd., Slg. 1982, 1577 Rn. 24.

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

befürchtet, die zum Missbrauch der Vertraulichkeit und damit letztendlich zum Schaden der Rechtspflege – im Mandanteninteresse – gereichen. Im Ergebnis geht es um die divergierenden Vorstellungen von der Tätigkeit eines Syndikusanwalts im Vergleich zu der eines selbständigen Rechtsanwalts und den damit verbunde­ nen Wertungen.787 Schaden von der ordnungsgemäßen (Straf-)Rechtspflege durch kollusives Ver­ halten von Mandant und Rechtsanwalt abzuwehren, ist ein legitimes und wichtiges Ziel. Jedoch wird der EuGH mit seiner Maßstabsbildung der noch verhältnismäßi­ gen Verfolgung dieses Ziels nicht gerecht. Es genügt keinesfalls, aus einem einzel­ nen Fakt – wie dem Anstellungsverhältnis des Syndikusanwalts – auf eine kollusive Ausnutzung anwaltlicher Privilegien zulasten der Rechtspflege zu schließen.788 Das vertragliche Verhältnis zum gewählten Rechtsbeistand allein ist für solch eine konkrete Darlegung kollusiven Zusammenwirkens ungeeignet. Die vom EuGH vorgebrachten Faktoren, wie finanzielle Unselbständigkeit und struktu­ relle Weisungsgebundenheit können zwar im Einzelfall für eine Abhängigkeit des Rechtsanwalts streiten. Es muss jedoch darüber hinaus dargelegt werden, dass diese Umstände sich konkret derart verdichtet haben, dass ein standeswidriges Verhalten des Rechtsanwalts zu befürchten steht. Für sich genommen kann die arbeitsvertragliche Einbindung des Rechtsanwalts nämlich noch nicht eine Ab­ hängigkeit vom Mandantenwillen belegen. Nicht nur der Rechtsanwalt im Unter­ nehmen ist weisungsgebunden, sondern auch der Rechtsanwalt im Mandatsvertrag muss den Wünschen des Mandanten grundsätzlich entsprechen. Dabei ist das Ver­ tragsverhältnis dort im Zweifel zwar loser als im Unternehmen. Gerade die siche­ rere Stellung des Syndikusanwalts, auch durch Kündigungsschutzgesetze, erlaubt ihm mehr Widerspruch gegenüber seinem Arbeitgeber als dem selbständig tätigen Rechtsanwalt gegenüber einem finanz­k räftigen Mandanten. Insofern sollte im Zweifel davon ausgegangen werden, dass ein zugelassener und nach Standesrecht verpflichteter Rechtsanwalt grundsätzlich unabhängig agieren kann und dies nach seinen standesrechtlichen Verpflichtungen auch tut. Diese konkrete Betrachtung gilt grundsätzlich für alle zugelassenen Rechts­ anwälte. Dadurch ist im Einzelfall natürlich eine Abwägung gefordert, die im Vergleich zur Lösung des EuGH weniger Rechtssicherheit bietet. Zugleich ist sie der Realität der eigentlichen anwaltlichen Tätigkeit näher, vor allem weil es den vom EuGH beschworenen Konsens der Mitgliedstaaten zur Vertrau­ lichkeit von Syndikusanwälten in dieser Form nicht gibt.789 Vielmehr ist den 787

Ebenso diesbezüglich und krit. zur fehlenden empirischen Untermauerung Bissel, Der Syndikusanwalt und die anwaltliche Unabhängigkeit, S. 67 f.; Prütting, AnwBl. 2013, 83; Seitz, EuZW 2010, 526. 788 Zu dieser Missbrauchsvermutung ebenfalls krit. Berrisch, EuZW 2010, 787. 789 So EuGH, Urteil v. 14.9.2010 – C-550/07 P, Akzo Nobel u. a., Slg. 2010, I-8360 Rn. 40 unter Verweis auf Urteil v. 18.5.1982 – 155/79, AM & S Europe Ltd., Slg. 1982, 1577 Rn. 24; krit. dazu Stefanelli, Int’l & Comp. L. Q. 62 (2013), 488.

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common-law-Jurisdiktionen eher gemein, das Vertraulichkeitsprivileg weit auszu­ legen und auch auf angestellte Rechtsanwälte zu erstrecken, während die kontinen­ talen Jurisdiktionen dagegen insgesamt engere Grenzen für das Vertraulichkeits­ privileg ziehen.790 Wird anerkannt, dass finanzielle Abhängigkeit und Anreize für kollusives Verhalten Syndikusanwälte wie Rechtsanwälte gleichermaßen betreffen können, stellt sich die unterschiedliche Behandlung beider Gruppen als nicht mehr nachvollziehbar dar.791 Erst wenn konkrete und gewichtige Gründe vorliegen, eine solche Interessensverquickung zulasten der Rechtspflege anzunehmen, ist es im Zweifelsfall gerechtfertigt, das Wahlrecht des Angeklagten zu beschränken. 5. Die eigene Schrankensystematik in Art. 52 Abs. 1 GRCh Die Rechtfertigung eines Eingriffs in Art. 48 Abs. 2 der Charta richtet sich sowohl nach dem allgemeinen Schrankenvorbehalt in Art. 52 Abs. 1 GRCh als auch nach dem Kohärenzgebot des Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh.792 Anders als in der EMRK gilt in der Charta für alle darin enthaltenen Rechte ein einheitliches Schrankensystem. Gem. Art. 52 Abs. 1 GRCh muss jede Einschränkung der Ausübung der in die­ ser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Über die Kohärenzklausel des Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh wird diese allgemeine Schrankenklausel auch um die Schrankenregelungen aus Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK ergänzt. Diese Konstruktion verhindert, dass durch die allgemeine Fassung der Schrankenklausel in der GRCh die Gewährleistungen der EMRK unterschritten werden.793 Insofern ergänzt Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh die allgemeine Schrankenvorschrift in Art. 52 Abs. 1 GRCh – vergleichbar einer Auslegungshilfe – um die konkreteren Vorgaben der EMRK.794 790 S. Fish, Regulated Legal Professionals and Professional Privilege Within the European Union, the European Economic Area and Switzerland, and Certain Other European Jurisdic­ tions, Feb. 2004, S. 15 ff.; m. w. N. Stefanelli, Int’l & Comp. L. Q. 62 (2013), 488. 791 In diesem Sinne ebenso Berrisch, EuZW 2010, 786 ff.; Hamacher, AnwBl. 2011, 43 ff.; Prütting, AnwBl. 2013, 81 f.; Seitz, EuZW 2010, 526; Thanos, Die Reichweite der Grundrechte im EU-Kartellverfahrensrecht, S. 242 ff. 792 Auch im Rahmen der GRCh spielt der Rechtsmissbrauch in Art. 54 GRCh nur eine mar­ ginale Rolle, vgl. dazu als weitere Schranke der GRCh, Frenz, Europäische Grundrechte, Rn. 486; EnzEuR-Gaede, Eur. StR, § 3 Rn. 29 a. E.; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 23 Rn. 5 am Beispiel von Art. 17 EMRK; Jarass, GRCh, Art. 54 Rn. 5; a. A. Calliess / Ruffert-Kingreen, AEUV / EUV, Art. 54 GRCh Rn. 3. 793 Bühler, Einschränkung von Grundrechten der GRCh, S. 303 f.; Holoubek / LienbacherRumler-Korinek / Vranes, GRCh, Art. 52 Rn. 25. 794 Vgl. dazu implizit GA Bot, Schlussanträge v. 5.4.2011 – C-108/10, Scattolon, Slg. 2011, I-7495 Rn. 123 f., 128 ff.; in diesem Sinne auch Jarass, GRCh, Art. 52 Rn. 60, obgleich dieser es „realkonkurrierend“ nennt; zust. Calliess / Ruffert-Kingreen, AEUV / EUV, Art. 52 GRCh Rn.  38; Stern / Sachs-Krämer, GRCh, Art. 52 Rn. 74; a. A. Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh als lex ­specialis: Holoubek / Lienbacher-Rumler-Korinek / Vranes, GRCh, Art. 52 Rn. 25, 31; ebenso

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Die einzelnen Prüfungsschritte im Rahmen von Art. 52 Abs. 1 GRCh orientieren sich damit nicht nur am allgemeinen Wortlaut der Vorschrift, sondern werden durch die Anforderungen aus Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK und der Rechtsprechung dazu zusätzlich verengt. Gem. Art. 52 Abs. 1 GRCh muss jede Einschränkung der in der Charta an­ erkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Zusätzlich normiert Art. 52 Abs. 1 S. 2 GRCh ausdrücklich die Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Einschränkungen dürfen daher nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Er­ fordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entspre­ chen. Prima facie erlaubt Art. 52 Abs. 1 GRCh großzügigere Einschränkungen als sie für die Verteidigungsrechte in der EMRK möglich sind. Diese Auslegung ließe jedoch unberücksichtigt, dass trotz des engen Wortlauts von Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK der EGMR dieses Recht nicht absolut versteht, sondern Eingriffe unter bestimmten Voraussetzungen zulässt.795 Das Kohärenzgebot verlangt jedoch nicht eine schematische Imitation der Prüfweise des EGMR. Dem EuGH steht insoweit eine autonome, am System der Charta orientierte Vorgehensweise zu, solange die Gewährleistungen der Charta diejenigen der EMRK nicht unterschreiten. Dieses an sich von der EMRK deutlich unterschiedliche Regelungsmodell796 führt zu Er­ gebnissen, die dem Schutzniveau der EMRK entsprechen.797 a) Einschränkung auf gesetzlicher Grundlage Jede unionsrechtliche oder jede das Unionsrecht durchführende nationale Bestim­mung, die rechtlich oder tatsächlich geeignet erscheint, die Ausübung der durch die Charta gewährleisteten Rechte und Freiheiten einzuschränken, stellt eine Einschränkung i. S. v. Art. 52 Abs. 1 GRCh dar.798 Zweckgerichtet muss die Maß­ nahme nicht sein. Jede tatsächliche Beschränkung, final oder faktisch-mittelbar, unterfällt dem Rechtfertigungsregime in Art. 52 Abs. 1 GRCh.799

a. A. Meyer-Borowsky, GRCh, Art. 52 Rn. 18; wohl ebenso Rengeling / Szczekalla, EU-Grund­ rechte, Rn. 439. 795 Ebenso EnzEur-Pabel, Eur. Grundrechtsschutz, § 19 Rn. 15 f. 796 Fassbender, NVwZ 2010, 1050. 797 So zutr. GA Wathelet, Schlussanträge v. 10.1.2017 – C-682/15, Berlioz Investment Fund, Rn. 83; ebenso EnzEur-Pabel, Eur. Grundrechtsschutz, § 19 Rn. 17. 798 GA Jäaskinen, Stellungnahme v. 2.5.2014 – C-129/14 PPU, Spasic, Rn. 81. 799 Ebd.; Jarass, GRCh, Art. 52 Rn. 20; Meyer-Borowsky, GRCh, Art. 52 Rn. 19; krit. zu den bisher fehlenden Konkretisierungen aus der Rechtsprechung Calliess / Ruffert-Kingreen, AEUV / EUV, Art. 52 GRCh Rn. 56 a. E.

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Solche Einschränkungen dürfen nur auf der Basis einer gesetzlichen Grundlage, sei es eine Norm des Unionsrechts oder des nationalen Rechts, erfolgen.800 Art. 52 Abs. 1 GRCh lässt damit Beschränkungen der Unionsgrundrechte aufgrund eines einfachen Gesetzesvorbehalts zu. Dieser Gesetzesvorbehalt ist im Rahmen des Unionsrechts nicht als Parlamentsvorbehalt zu verstehen. Auch ein ohne Beteili­ gung des Europäischen Parlaments zustande gekommenes Gesetz kann Eingriffs­ grundlage sein.801 Es fehlt jedoch bisher an einer Konturierung des Gesetzesvorbe­ halts für Unionsrecht dahingehend, welche Anforderungen an Qualität, Inhalt und demokratische Legitimation eines Gesetzes gestellt werden.802 Jedenfalls darunter zu fassende Unionsrechtsakte sind solche, die unmittelbare Wirkung für Unions­ bürger entfalten, d. h. Verordnungen803 und unmittelbar anwendbare Richtlinien, entweder weil diese Unionsbürger begünstigen804 oder weil sie in nationales Recht umgesetzt worden sind.805 Auch Beschlüsse, vgl. Art. 288 Abs. 3 AEUV, können Grundlage einer Einschränkung sein, soweit sie sich an Mitgliedstaaten und nicht die Union wenden.806 Lediglich Stellungnahmen und Empfehlungen sind mangels Verbindlichkeit ungeeignet, Grundrechte der Charta einzuschränken.807 Im Rah­ men des mitgliedstaatlichen Rechts ist taugliche Eingriffsnorm jedes Gesetz, das nach den Maßstäben des mitgliedstaatlichen Verfassungsrechts als Gesetz gilt.808 800

EuGH, Urteil v. 1.7.2010 – C-407/08, Knauf Gips, Slg. 2010, I-6375 Rn. 89, 91; Holoubek / ​ Lienbacher-Rumler-Korinek / Vranes, GRCh, Art. 52 Rn. 11 f.; Jarass, GRCh, Art. 52 Rn. 24, 26. 801 EuGH, Urteil v. 19.7.2012 – C-130/10, Europäisches Parlament ./. Rat, Rn. 83 f.; Holoubek / ​ Lienbacher-Rumler-Korinek / Vranes, GRCh, Art. 52 Rn. 12 a. E.; Jarass, GRCh, Art. 52 Rn. 25; daher von einem „Ratsvorbehalt“ ausgehend Calliess / Ruffert-Kingreen, AEUV / EUV, Art.  52 GRCh Rn. 62; ausführlich dazu Rieckhoff, Gesetzesvorbehalt im Europarecht, S. 67 ff., 86 f. 802 M. w. N. Meyer-Borowsky, GRCh, Art. 52 Rn. 20a; erstmals mit näheren Vorschlägen dahingehend GA Villalón, Schlussanträge v. 12.12.2013 – C-293/12, Digital Rights Ireland, Rn. 108 ff., 120; zu früherer Rspr. mit ausführlicher Auswertung Rieckhoff, Gesetzesvorbehalt im Europarecht, S. 184 ff.; zur Erforderlichkeit einer europäischen Wesentlichkeitstheorie vgl. m. w. N. Röder, Gesetzesvorbehalt der Charta im Lichte einer europäischen Wesentlichkeits­ theorie, S. 154 ff., 180 ff., 208 ff. 803 EuGH, Urteil v. 9.11.2010 – C-92/09 u. C-93/09, Schecke u. Eifert, Slg. 2010, I-11117 Rn. 66; ebenso Jarass, GRCh, Art. 52 Rn. 24; Kober, Grundrechtsschutz in der EU, S. 194. 804 EuGH, Urteil v. 15.2.2016 – C-601/15 PPU, J. N. Rn. 13 ff., 51; Jarass, GRCh, Art. 52 Rn. 24. 805 Zust. Jarass, GRCh, Art. 52 Rn. 24; Kober, Grundrechtsschutz in der EU, S. 194; grund­ legend dazu Rieckhoff, Gesetzesvorbehalt im Europarecht, S. 157 ff.; m. w. N. Teetzmann, EuR 2016, 94 ff. 806 Calliess / Ruffert-Kingreen, AEUV / EUV, Art. 52 GRCh Rn. 62; Holoubek / Lienbacher-​ Rumler-Korinek / Vranes, GRCh, Art. 52 Rn. 12; Jarass, GRCh, Art. 52 Rn. 24; Stern / Sachs-​ Ladenburger, GRCh, Art. 52 Rn. 33. 807 In diesem Sinne EuGH, Urteil v. 13.12.1989 – 322/88, Grimaldi, Slg. 1989, 4416 Rn. 16; zust. Röder, Gesetzesvorbehalt der Charta im Lichte einer europäischen Wesentlichkeitstheo­ rie, S. 116 f., 130 f. 808 Vgl. jeweils m. w. N. GA Trstenjak, Schlussanträge v. 22.9.2011  – C-411/10, N. S. u. a., Slg.  2011, I-13909 Rn. 160 Fn. 75; Calliess / Ruffert-Kingreen, AEUV / EUV, Art. 52 GRCh Rn.  63; Holoubek / Lienbacher-Rumler-Korinek / Vranes, GRCh, Art. 52 Rn. 13; Jarass, GRCh, Art. 52 Rn. 26; Kober, Grundrechtsschutz in der EU, S. 196 f. m. w. N.; Stern / Sachs-Krämer, GRCh, Art. 52 Rn. 38.

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

b) Wesensgehaltsgarantie: Keine systematische Beschränkung von Verteidigungsrechten Anders als der EGMR schreibt Art. 52 Abs. 1 GRCh auch vor, dass die Beschrän­ kung den Wesensgehalt des Grundrechts selbst nicht berühren darf. Dieser kann dann betroffen sein, wenn der Eingriff die Ausübung des Rechts schlechthin ver­ hindert.809 Dagegen genügt es nicht, dass die Wahrnehmung eines Grundrechts lediglich gewissen Modalitäten unterworfen wird.810 Die ausdrückliche Nennung in der Charta und in der Rechtsprechung des EuGH erfordert einen tatsächlich selbständigen Prüfungspunkt neben der Verhältnismäßigkeitsprüfung.811 Die We­ sensgehaltsgarantie schützt daher einen unbeschränkbaren, vor Staatszugriff ab­ solut geschützten Kernbereich des Grundrechts, der nicht in Frage gestellt werden darf.812 So schwer eine konkrete Fassung des Wesensgehalts eines Grundrechts begrifflich ist,813 lässt sich verallgemeinernd jedoch sagen, dass eine systematisch und ausnahmslose Beschränkung eines Rechts jedenfalls das Recht als solches in Frage stellt und damit eine Beschränkung des absolut geschützten menschenrecht­ lichen Kernbereiches darstellt.814 Davon ausgehend sind grundsätzlich ausdifferenzierte Einschränkungen und Ausnahmen zu den Verteidigungsrechten und zu strafrechtlicher Prozesskosten­ hilfe legitim. Wird jedoch z. B. strafrechtliche Prozesskostenhilfe gesetzlich nicht vorgesehen und / oder besteht keinerlei Möglichkeit darauf zuzugreifen, dann ist von einem abstrakt-systematischen Eingriff auszugehen, der das Grundrecht des Angeklagten auf strafrechtliche Prozesskostenhilfe an sich tangiert – und sich da­ mit jeder Rechtfertigung entzieht. Im Rahmen dieses Prüfungspunktes kann der EuGH folglich aufgreifen, was der EGMR in der Salduz-Rechtsprechung bereits etabliert hat: Eine Gesamtfairnessbetrachtung darf nicht mehr erfolgen, wenn man­ gels rechtlicher Regelungen oder wegen tatsächlicher Gegebenheiten der Zugang 809 Vgl. EuGH, Urteil v. 4.5.2016  – C-477/14, Pillbox 38, Rn. 161; Urteil v. 4.5.2016  – C-547/14, Philipp Morris Brands u. a., Rn. 151; implizit Urteil v. 22.1.2013 – C-283/11, Sky Österreich, Rn. 49; zur Bejahung einer solchen Wesensgehaltsverletzung s. Urteil v. 25.7.2018 – C-216/18 PPU, LM, Rn. 48, 59 f.; grundlegend Urteil v. 6.10.2015  – C-362/14, Schrems, Rn. 94 f.; zu letzterem pos. Ojanen, ECLR 12 (2016), 325. 810 Vgl. EuGH, Urteil v. 4.5.2016  – C-477/14, Pillbox 38, Rn. 161; Urteil v. 4.5.2016  – C-547/14, Philipp Morris Brands u. a., Rn. 151; Urteil v. 6.10.2015  – C-650/13, Delvigne, Rn. 48; implizit Urteil v. 22.1.2013 – C-283/11, Sky Österreich, Rn. 49. 811 Holoubek / Lienbacher-Rumler-Korinek / Vranes, GRCh, Art. 52 Rn. 18; Jarass, GRCh, Art. 52 Rn. 28 f.; ebenso Meyer-Borowsky, GRCh, Art. 52 Rn. 23; dagegen eine eigenständige Bedeutung bezweifelnd Trstenjak / Beysen, EuR 2012, 280; ebenso Calliess / Ruffert-Kingreen, AEUV / EUV, Art. 52 GRCh Rn. 64. 812 Vgl. so auch Meyer-Borowsky, GRCh, Art. 52 Rn. 23a. 813 Krit. zur fehlenden Konturierung durch den EuGH Swoboda, ZIS 2018, 279. 814 Vgl. zu den Maßstäben in diesem Sinne EuGH, Urteil v. 15.2.2016 – C-601/15 PPU, J. N., Rn. 52; Urteil v. 27.5.2014 – C-129/14 PPU, Spasic, Rn. 58; ebenso Calliess / Ruffert-Kingreen, AEUV / EUV, Art. 52 GRCh Rn. 64; so auch Meyer-Borowsky, GRCh, Art. 52 Rn. 23; offen Jarass, GRCh, Art. 52 Rn. 29; a. A. relativer Schutzkern Stern / Sachs-Krämer, GRCh, Art. 52 Rn. 58.

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zum Recht an sich verhindert wird. In diesem Sinne formuliert der EGMR ebenso einen unantastbaren Bereich, dessen Einschränkung eine nicht mehr zu rechtfer­ tigende Verletzung des Grundrechts an sich bedeutet,815 auch wenn er den Begriff der Wesensgehaltsgarantie nicht verwendet. An dieser Stelle zeigt sich zugleich die Möglichkeit des EuGH, die Garantien der Charta autonom und angepasst an das System des Unionsrechts auszulegen, um Kohärenz mit dem Schutzniveau der EMRK herzustellen. c) Besondere Ausprägung der Verhältnismäßigkeit im Rahmen von Art. 48 Abs. 2 GRCh im Fall strafrechtlicher Prozesskostenhilfe Art. 52 Abs. 1 GRCh definiert den allgemeinen Maßstab der Verhältnismäßig­ keitsprüfung. Auch im Rahmen der GRCh ist Verhältnismäßigkeit als Übermaß­ verbot zu verstehen, das dem Handeln der Union und der Mitgliedstaaten, konkret bemessen an den verfolgten Zielen und bewirkten Nachteilen, Grenzen aufzeigt. Das bedeutet, dass „die Handlungen der Unionsorgane nicht die Grenzen dessen überschreiten dürfen, was zur Erreichung der mit der fraglichen Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist, wobei zu beachten ist, dass dann, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen ist und die verursachten Nachteile nicht außer Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen dürfen.“816

Für die Grundrechtsprüfung der Verteidigungsrechte im Einzelnen besteht je­ doch keine einheitliche Prüfungssystematik des EuGH. Zum Teil verwendet er den durch Art. 52 Abs. 1 GRCh vorgegeben Prüfungsweg,817 zum Teil wiederum unterstellt er die Einschränkung von Verteidigungsrechten lediglich der Voraus­ setzung, dass die Verteidigungsrechte nicht übergebührlich benachteiligt werden dürfen.818 Mangels einer solchen einheitlichen Systematik orientiert sich die fol­ 815

Vgl. so in EGMR, Urteil v. 27.11.2008 – 36391/02, Salduz ./. TR, Rep. 2008-V, Rn. 52, 56; m. w. N. Kap. 2, Fn. 410. 816 St. Rspr., EuGH, Urteil v. 25.1.2018 – C-473/16, F, Rn. 56; Urteil v. 16.6.2015 – C-62/14, Gauweiler u. a., Rn. 67; Urteil v. 4.5.2016 – C-477/14, Pillbox 38, Rn. 48; Urteil v. 22.1.2013 – C-283/11, Sky Österreich, Rn. 50; Urteil v. 9.3.2010  – C-379/08 u. C-380/08, ERG  u. a., Slg. 2010, I-2007 Rn. 86; GAin Kokott, Schlussanträge v. 30.3.2017 – C-73/16, Puškár, Rn. 58. 817 Am Beispiel von Art. 50 GRCh GA Jäaskinen, Stellungnahme v. 2.5.2014  – C-129/14 PPU, Spasic, Rn. 85 ff.; dies aufgreifend EuGH, Urteil v. 27.5.2014 – C-129/14 PPU, Spasic, Rn. 56 ff.; ebenso am Beispiel der Ausgestaltung des Rechtswegs gem. Art. 47 GRCh, vgl. Urteil v. 27.9.2017 – C-73/16, Puškár, Rn. 62 ff. 818 Am Beispiel des Akteneinsichtsrechts im Rahmen von Art. 47 GRCh: EuGH, Urteil v. 16.5.2017 – C-682/15, Berlioz Investment Fund, Rn. 97; Urteil v. 26.1.2017 – C-609/13 P, Du­ ravit, Rn. 99; Urteil v. 2.10.2003 – C-199/99 P, Corus UK, Slg. 2003, I-11177 Rn. 126 f.; Urteil v. 15.10.2002 – C-238/99 P u. a., Limburgse Vinyl Maatschappij u. a., Slg. 2002, I-8618 Rn. 317; Urteil v. 8.7.1999 – C-51/92 P, Hercules Chemicals, Slg. 1999, I-4250 Rn. 77; krit. zur wechselnden Terminologie: Koch, Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung des EuGH, S. 254, 259 ff.

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

gende Darstellung daher grundsätzlich an der von Art. 52 Abs. 1 GRCh vorgege­ benen Prüfreihenfolge, ergänzt um die aus Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh folgenden Kohärenzanforderungen.819 aa) Legitimes Ziel der Einschränkung Die Verteidigungsrechte des Art. 48 Abs. 2 GRCh dürfen zunächst nur einge­ schränkt werden, wenn damit ein legitimes Ziel verfolgt wird, also eine in der Union anerkannte, dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung oder wenn die Ein­ schränkung zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer erfolgt.820 Die Wahl des Wortlauts der „von der Union anerkannten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung“ umfasst sowohl die durch die Unionsverträge primär­ rechtlich821 explizit benannten Ziele, wie z. B. in Art. 3, Art. 4 EUV oder in Art. 35 Abs. 3, Art. 36, Art. 346 AEUV,822 als auch mitgliedstaatliche Interessen, solange diese kongruent mit jenen Interessen der Union sind.823 Der Bezug auf die „Rechte und Freiheiten anderer“ bezieht verfassungsimmanente Schranken ein, also die­ jenigen Beschränkungen, die sich aus anderen Grundrechten der Charta oder an­ deren unionsrechtlich eingeräumten subjektiv-rechtlichen Positionen ergeben.824 Welche Gründe als legitime Interessen konkret in Betracht kommen, ist im Rah­ men der Rechtsprechung des EuGH nicht geklärt. Anerkannt wurden bisher – nicht abschließend – eine Vielzahl von Interessen, darunter der Verbraucherschutz,825 der Schutz der öffentlichen Gesundheit und des Lebens von Menschen,826 der Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung,827 der Schutz der Integrität der Finanz­ märkte,828 die Sicherstellung der Steuererhebung,829 die Funktionsfähigkeit der

819

Zu einem ähnlichen Aufbau vgl. Koch, Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung des EuGH, S. 284 ff. 820 St. Rspr. EuGH, Urteil v. 15.2.2016 – C-601/15 PPU, J. N., Rn. 50; Urteil v. 6.10.2015 – C-650/13, Delvigne, Rn. 46; Urteil v. 16.7.2015 – C-237/15 PPU, Lanigan, Rn. 55; Urteil v. 9.11.2010 – C-92/09 u. C-93/09, Schecke u. Eifert, Slg. 2010, I-11117 Rn. 50; zust. Fassbender, NVwZ 2010, 1051. 821 Ausführlich dazu Stern / Sachs-Krämer, GRCh, Art. 52 Rn. 46 f. 822 Vgl. Grundrechtekonvent, ABl. C 303, 17, 32; zust. Holoubek / Lienbacher-Rumler-Korinek  / ​ Vranes, GRCh, Art. 52 Rn. 14. 823 Meyer-Borowsky, GRCh, Art. 52 Rn. 21. 824 M. w. N. dazu ebd., Rn. 22. 825 EuGH, Urteil v. 30.6.2016 – C-134/15, Lidl, Rn. 37. 826 EuGH, Urteil v. 4.5.2016  – C-547/14, Philipp Morris Brands u. a., Rn. 149; Urteil v. 17.10.2013 – C-101/12, Schaible, Rn. 35. 827 EuGH, Urteil v. 5.7.2017 – C-190/16, Fries, Rn. 42 f. (Schutz eines einheitlich hohen Si­ cherheitsniveaus der zivilen Luftfahrt); Urteil v. 15.2.2016 – C-601/15 PPU, J. N., Rn. 53. 828 GA Sànchez-Bordona, Schlussanträge v. 12.9.2017  – C-596/16 u. C-597/15, Di Puma, Rn. 83; Schlussanträge v. 12.9.2017 – C-537/16, Garlsson Real Estate, Rn. 76. 829 EuGH, Urteil v. 26.10.2017 – C-534/16, BB Construct, Rn. 39.

B. Die Konzeption der Grundrechtecharta

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Rechtspflege830 und die Beschränkung öffentlicher Ausgaben.831 Der Begriff des legitimen Interesses ist damit weit und kann sowohl auf den Schutz von gesell­ schaftlich relevanten Systemen als auch auf den Schutz von Individualrechtsgütern zielen.832 Grundsätzlich ist daher jedes legitime Interesse geeignet, das Recht auf strafrechtliche Prozesskostenhilfe einzuschränken. Im Kohärenzvergleich zu den Anforderungen der EMRK an einen legitimen Eingriffszweck, gemessen auch an der Schwere des Eingriffs, unterschreitet diese weite Fassung des legitimen Interesses die Anforderungen der EMRK. Die Be­ schränkung des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand lässt der EGMR nur zu, wenn eine Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer anderen Person durch den Zugang zu einem Rechtsbeistand besteht.833 Dadurch ergänzt Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK die Auslegung des legitimen Interesses um die Wertungen der Recht­ sprechung des EGMR. bb) Das Erforderlichkeitskriterium als Hebel einer verteidigungsfreundlicheren Auslegung Da im Wortlaut von Art. 52 Abs. 1 GRCh gefordert wird, dass Einschränkun­ gen den dort postulierten legitimen Zielen „tatsächlich entsprechen“ müssen, ist die Maßnahme zunächst auf ihre Geeignetheit zu überprüfen.834 Die Eignung der Maßnahme, das legitime Ziel zu erreichen, ist jedoch kein rein objektiver Maßstab, sondern bezieht einen weiten Spielraum des unionalen Gesetzgebers mit ein.835 Dadurch ist der Maßstab insbesondere bei komplexen Sachverhalten großzügig und Geeignetheit bereits dann anzunehmen, wenn eine Maßnahme nicht offensichtlich ungeeignet ist.836 Der Gestaltungsspielraum des Unionsgesetz­ 830

EuGH, Urteil v. 5.6.2018 – C-612/15, Kolev u. a., Rn. 107 f. (Gewährleistung einer wirk­ samen Verteidigung); Urteil v. 27.9.2017 – C-73/16, Puškár, Rn. 62, 67 (Entlastung und Effek­ tivierung der Rechtspflege). 831 EuGH, Urteil v. 13.6.2017 – C-258/14, Florescu u. a., Rn. 56. 832 In diesem Sinne auch Holoubek / Lienbacher-Rumler-Korinek / Vranes, GRCh, Art. 52 Rn. 14; Meyer-Borowsky, GRCh, Art. 52 Rn. 22a; krit. Gratzl, Grundrechte als Grenzen der Marktfreiheiten, S. 85 f. 833 Vgl. m. w. N. o. Kap. 2 A. III. 2. c) aa) (1). 834 Zum allg. Maßstab nach st. Rspr. EuGH, Urteil v. 15.2.2016 – C-601/15 PPU, J. N., Rn. 55; Urteil v. 8.4.2014 – C-293/12 u. C-594/12, Digital Rights u. a., Rn. 46; Urteil v. 22.1.2013 – C-283/11, Sky Österreich, Rn. 50; Urteil v. 17.10.2013  – C-101/12, Schaible, Rn. 29; Urteil v. 2.4.2009  – C-394/07, Gambazzi, Slg.  2009, I-2563 Rn. 29; Calliess / Ruffert-Kingreen, AEUV / EUV, Art. 52 GRCh Rn. 68. 835 EuGH, Urteil v. 17.10.2013  – C-101/12, Schaible, Rn. 48 für den Bereich der Agrar­ politik; Urteil v. 17.10.2013 – C-291/12, Schwarz, Rn. 42 f.; aber einschränkend in Urteil v. 8.4.2014 – C-293/12 u. C-594/12, Digital Rights u. a., Rn. 49 f.; zust. Calliess / Ruffert-Kingreen, AEUV / EUV, Art. 52 GRCh Rn. 68. 836 Vgl. so die zurückgenommene Prüfung in EuGH, Urteil v. 25.1.2018  – C-473/16, F, Rn. 58 f.; Reduzierung auf eine Ermessensfehlerkontrolle Urteil v. 17.10.2013  – C-101/12,

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

gebers wird jedoch dann beschränkt, wenn dem Grundrecht besondere Bedeutung zukommt.837 Darüber hinaus muss die geeignete Maßnahme erforderlich sein. Dem Wort­ laut nach hat die Erforderlichkeit in Art. 52 Abs. 1 GRCh eine Doppelfunktion. Nicht nur soll die Maßnahme selbst erforderlich sein, sondern zudem darf sie zur Erreichung des Ziels „nicht über das Erforderliche hinaus“ gehen. Auch wenn der Wortlaut dies suggeriert, werden dadurch keinesfalls Aspekte der An­ gemessenheitsprüfung in die Erforderlichkeit mit einbezogen, sondern ein se­ parater Aspekt der Verhältnismäßigkeitsprüfung eingeführt.838 Erforderlichkeit i. e. S. bedeutet also, dass von „mehrere[n] geeignete[n] Maßnahmen […] die am wenigsten belastende zu wählen“ ist.839 Es darf somit kein weiteres denkbares Mit­ tel existieren, das gleich effektiv aber weniger belastend in das jeweilige Grund­ recht eingreift.840 Eine Maßnahme kann insbesondere dann eingriffsärmer sein, wenn sie in geringerem Umfang in das Recht eingreift oder zeitlich und / oder per­ sönlich begrenzter das jeweilige Grundrecht beschränkt.841 Mögliche Alternativ­ maßnahmen prüft der EuGH zunehmend genauer.842 Die Prüfungsdichte erhöht sich dabei umso mehr, je bedeutender das eingeschränkte Recht ist.843 Grundsätz­ lich nicht mehr erforderlich sind daher zeitlich, persönlich oder sachlich pauschale Einschränkungen des Grundrechts.844

Schaible, Rn. 48, 50; krit. insg. zu dieser Herangehensweise GA Trstenjak, Schlussanträge v. 21.1.2010 – C-365/08, Agrana Zucker, Slg. 2010, I-4344 Rn. 64 ff. 837 So für Art. 8 GRCh EuGH, Urteil v. 8.4.2014 – C-293/12 u. C-594/12, Digital Rights u. a., Rn. 47 f. 838 So auch EuGH, Urteil v. 17.10.2013 – C-101/12, Schaible, Rn. 29; GA Trstenjak, Schluss­ anträge v. 21.1.2010  – C-365/08, Agrana Zucker, Slg.  2010, I-4344 Rn. 64 ff.; a. A. Jarass, GRCh, Art. 52 Rn. 36, 39 ff. 839 St. Rspr., EuGH, Urteil v. 4.5.2016 – C-477/14, Pillbox 38, Rn. 48; Urteil v. 16.6.2015 – C-62/14, Gauweiler u. a., Rn. 67; Urteil v. 17.10.2013 – C-291/12, Schwarz, Rn. 46; Urteil v. 22.1.2013 – C-283/11, Sky Österreich, Rn. 50; Urteil v. 9.11.2010 – C-92/09 u. C-93/09, Sche­ cke u. Eifert, Slg. 2010, I-11117 Rn. 74; Urteil v. 9.3.2010 – C-379/08 u. C-380/08, ERG u. a., Slg. 2010, I-2007 Rn. 86; GAin Kokott, Schlussanträge v. 30.3.2017 – C-73/16, Puškár, Rn. 58. 840 EuGH, Urteil v. 6.9.2017 – C-643/15, Slowakei ./. Rat, Rn. 206, 236; grundlegend Urteil v. 11.7.1989 – C-265/87, Schräder, Slg. 1989, 2263 Rn. 21. 841 EuGH, Urteil v. 20.4.2010 – C-265/08, Federutility u. a., Slg. 2010, I-3406 Rn. 35, 39. 842 EuGH, Urteil v. 8.4.2014 – C-293/12 u. C-594/12, Digital Rights u. a., Rn. 51 ff.; Urteil v. 17.10.2013 – C-101/12, Schaible, Rn. 43 ff.; Urteil v. 22.1.2013 – C-283/11, Sky Österreich, Rn.  54; so Calliess / Ruffert-Kingreen, AEUV / EUV, Art. 52 GRCh Rn. 69 („Herzstück der Ver­ hältnismäßigkeitsprüfung“); ebenso Stern / Sachs-Krämer, GRCh, Art. 52 Rn. 49; ausführlich dazu Koch, Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung des EuGH, S. 210 ff. 843 EuGH, Urteil v. 6.10.2015 – C-362/14, Schrems, Rn. 92; Urteil v. 15.2.2016 – C-601/15 PPU, J. N., Rn. 56; bei einem sehr bedeutenden Recht sogar auf das „absolut Notwendige“, so in Urteil v. 8.4.2014 – C-293/12 u. C-594/12, Digital Rights u. a., Rn. 47 f., 52; Urteil v. 9.11.2010 – C-92/09 u. C-93/09, Schecke u. Eifert, Slg. 2010, I-11117 Rn. 77; abl. dazu Stern / Sachs-Krämer, GRCh, Art. 52 Rn. 56. 844 EuGH, Urteil v. 4.7.1996 – C-295/94, Hüpeden, Slg. 1996, I-3396 Rn. 26; zust. Jarass, GRCh, Art. 52 Rn. 40.

B. Die Konzeption der Grundrechtecharta

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Überträgt man diese Grundsätze auf das Recht der strafrechtlichen Prozesskos­ tenhilfe ist von einer grundsätzlich strengen Erforderlichkeitsprüfung auszugehen. Als Teil eines einheitlichen Verteidigungsrechtekanons in Art. 48 Abs. 2 GRCh ist das Recht auf strafrechtliche Prozesskostenhilfe ein essenzielles Grundrecht, um das Recht auf ein faires Verfahren über den chancengleichen Zugang zu einem Verteidiger abzusichern. Wird der Zugang zum Recht auf strafrechtliche Prozess­ kostenhilfe beschränkt oder der Gewährleistungsumfang beschnitten, muss diese Einschränkung sich folglich einer strengen Überprüfung unterwerfen, ob die Be­ schränkung nicht in milderer Form möglich gewesen wäre. Auch diese Prüfung sichert die gem. Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh erforderliche Übereinstimmung zwischen Art. 48 Abs. 2 GRCh und Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK ab und greift im Rahmen einer genuin unionsrechtlichen Grundrechtsprüfung auf, was der EGMR bei der Einschränkung von Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK noch im Rahmen der zwingenden Gründe („compelling reasons“) prüft.845 Zur Erinnerung: Der Begriff der zwingenden Gründe setzt nicht nur die Existenz eines legitimen Interesses voraus, sondern ausweislich der Rechtsprechung des EGMR darf eine solche Beschränkung nur in außergewöhnlichen Umständen erfolgen, muss zeit­ lich begrenzt sein und sich an den konkreten Umständen des Einzelfalls orientie­ ren.846 Durch diese Definition greift der EGMR übertragen auf die GRCh nicht nur Aspekte des legitimen Interesses, sondern auch solche der Erforderlichkeit auf. An dieser Stelle wird das Potential der GRCh deutlich, im konkreten Einzel­ fall über die Gewährleistungen der EMRK hinauszugehen. Der EGMR bestand in seiner in Salduz und Ibrahim u. a. formulierten Rechtsprechung darauf, dass das Fehlen zwingender Gründe für eine Einschränkung des Rechts auf Verteidigung gem. Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK nicht den Weg zu einer Gesamtfairnessabwägung versperre.847 Insofern existiere keine sog. bright-line-rule. Selbst wenn es also an zwingenden Gründen fehlt, verletzt die Maßnahme nicht zwangsläufig Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK. In der GRCh kann ein Eingriff jedoch nicht mehr ausgleichend durch andere Aspekte gerechtfertigt werden, wenn eine an sich legitime Zielset­ zung durch ungeeignete oder nicht mehr erforderliche Maßnahmen verfolgt wird. An einem konkreten Beispiel benannt bedeutet das Folgendes: Darf der Zugang eines Angeklagten auf einen durch strafrechtliche Prozesskostenhilfe finanzierten Verteidiger von Gesetzes wegen zeitlich unbegrenzt beschränkt werden, wenn die­ ser konkrete Angeklagte z. B. bestimmter Straftaten verdächtig ist, widerspricht dies allgemein den Voraussetzungen des EGMR an eine nur zeitlich begrenzte Beschränkung aus zwingenden Gründen. Diese unzulässige Verfahrensbeschrän­ kung wäre zwar im Rahmen einer Beweislastverschiebung zu berücksichtigen, zwingt jedoch nicht zur Annahme einer ungerechtfertigten Beschränkung. Dies 845

Vgl. EGMR, Urteil v. 13.9.2016 – 50541/08 u. a., Ibrahim u. a. ./. GB, Rep. 2016 (vorge­ sehen), Rn. 258; m. w. N. o. Kap. 2 A. III. 2. c) aa) (1). 846 Vgl. o. Kap. 2 A. III. 2. c) aa) (1). 847 Vgl. o. m. w. N. Kap. 2 A. III. 2. c) bb).

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Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

verhält sich im Rahmen der GRCh anders, weil ein solcher zeitlich unbeschränk­ ter Eingriff über das zur Zielerreichung erforderliche Maß hinausginge. Dann scheitert die Verhältnis­mäßigkeitsprüfung zwingend. Einschränkungen der Ver­ teidigungsrechte sind damit grundsätzlich weniger weitgehend möglich und unter­ liegen restriktiveren Anforderungen. Die GRCh eröffnet dem EuGH folglich die Möglichkeit, über die Rechtsprechung des EGMR hinaus großzügiger im Hin­ blick auf Verteidigungsrechte und strenger im Hinblick auf Einschränkungen zu judizieren. cc) Angemessenheit und Bedeutung der Kausalität des Verfahrensverstoßes Die Angemessenheitsprüfung im Rahmen der Verhältnismäßigkeit setzt ange­ strebte Ziele und verursachte Nachteile ins Verhältnis. Indem die Nachteile ver­ glichen mit den Zielen nicht außer Verhältnis stehen dürfen,848 wird eine äußerste Grenze der Grundrechtseinschränkung gezogen. Zunächst muss daher in einem ersten Schritt das verfolgte legitime Ziel ge­ wichtet werden. Je gewichtiger das Ziel ist, umso schwerer darf der Eingriff in das jeweilige Recht wiegen. In einem zweiten Schritt muss dann eine Gewich­ tung des eingeschränkten Grundrechts erfolgen. Die Wichtigkeit des jeweiligen Grundrechts beschränkt wiederum die Eingriffsintensität im konkreten Einzel­ fall. Erst in der Gegenüberstellung beider Positionen kann für den jeweiligen An­ wendungsfall ermittelt werden, ob beide in einen schonenden Ausgleich gebracht werden können oder eine der anderen weichen muss.849 Dabei sei nicht nur die Natur des betreffenden Rechtsakts selbst, sondern auch die existierenden Rechts­ vorschriften auf dem betreffenden Gebiet in die Abwägung miteinzubeziehen.850 Der EuGH bezieht neben der Existenz anderer, möglicherweise ausgleichender Rechtsvorschriften ebenfalls die konkreten und persönlichen Möglichkeiten des Angeklagten mit ein. Dadurch wird eine der Gesamtbetrachtung des EGMR ent­ sprechende Abwägung ermöglicht. Zentraler Punkt dieser Gesamtabwägung des 848

Vgl. zum Maßstab st. Rspr., EuGH, Urteil v. 16.6.2015 – C-62/14, Gauweiler u. a., Rn. 67; Urteil v. 4.5.2016 – C-477/14, Pillbox 38, Rn. 48; Urteil v. 22.1.2013 – C-283/11, Sky Österreich, Rn. 50; Urteil v. 9.3.2010 – C-379/08 u. C-380/08, ERG u. a., Slg. 2010, I-2007 Rn. 86; Urteil v. 2.4.2009 – C-394/07, Gambazzi, Slg. 2009, I-2563 Rn. 32; GAin Kokott, Schlussanträge v. 30.3.2017 – C-73/16, Puškár, Rn. 58; Jarass, NStZ 2012, 614 f.; eine inzwischen ausdefiniertere Verhältnismäßigkeitsprüfung lobend Kahl / Schwind, EuR 2014, 186. 849 Zur Handhabung in der Rspr. des EuGH vgl. Kischel, EuR 2000, 386 ff.; vgl. m. w. N. Koch, Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung des EuGH, S. 287 ff.; Trstenjak / Beysen, EuR 2012, 269 ff.; zur Abwägung im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes grundlegend Vranes, AVR 47 (2009), 10 ff. 850 St. Rspr. EuGH, Urteil v. 26.7.2017  – C-348/16, Sacko, Rn. 41; Urteil v. 16.5.2017  – C-682/15, Berlioz Investment Fund, Rn. 97; Urteil v. 9.2.2017 – C-560/14, M., Rn. 33; Urteil v. 10.9.2013 – C-383/13 PPU, G. u. R., Rn. 34; Urteil v. 18.7.2013 – C-584/10 P u. a., Kadi, Rn. 102; Urteil v. 25.10.2011 – C-110/10 P, Solvay ./. KOM, Slg. 2011, I-10439 Rn. 63.

B. Die Konzeption der Grundrechtecharta

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EuGH im Rahmen der Angemessenheit des Eingriffs ist die Frage der Kausalität der Verteidigungsbeschränkung für das spätere Strafverfahren. Diese Rechtsprechungslinie hat der EuGH bisher jedoch nur anhand einer Fall­ gruppe etabliert: der unvollständigen Akteneinsicht im Kartellordnungswidrig­ keitenverfahren.851Am Beispiel der unvollständigen Akteneinsicht hat der EuGH zweierlei Maßstäbe der hypothetischen Kausalität entwickelt, die abhängig sind von der be- oder entlastenden Natur des vorenthaltenen Beweismittels. Ist dem Angeklagten ein belastendes Beweismittel nicht zugänglich gemacht worden, auf das sich aber das Gericht bzw. die Kommission gestützt hat, dann müsse der An­ geklagte beweisen, dass bei Nichtzulassung des Beweismittels die Entscheidung anders ausgefallen wäre.852 Die Entscheidung müsse mithin auf diesem konkreten, vorenthaltenen Beweismittel beruhen. Wurde dem Angeklagten hingegen ein ent­ lastendes Dokument vorenthalten, dann seien die Verteidigungsrechte bereits ver­ letzt, wenn er darlegen könne, dass dieses Dokument für die Verteidigung dienlich gewesen wäre und er durch das Vorenthalten in seinen Verteidigungsmöglichkeiten beeinträchtigt worden sei.853 Dieser hypothetische Kausalitätsmaßstab ist jedoch nicht auf die aktive Be­ schränkung des Zugangs zu strafrechtlicher Prozesskostenhilfe anwendbar. Um die Folgen eines Unterlassens zuzurechnen, kann nur hypothetisch ermittelt werden, ob bei Vornahme der korrekten, objektiv gebotenen Handlung die negative Folge ausgeblieben wäre.854 Im Fall beschränkten Zugangs zu strafrechtlicher Prozess­ kostenhilfe ist jedoch fraglich, ob überhaupt auf diese hypothetischen Kausal­ verläufe abgestellt werden muss, wenn der Schwerpunkt der Verfahrensverletzung doch in der aktiven Beschränkung der Verteidigungsrechte eines unverteidigten Angeklagten liegen. Einer hypothetischen Betrachtung bedarf es daher gerade nicht. Um einzuschätzen, wie diese Beschränkung strafrechtlicher Prozesskosten­

851

Vgl. zur entsprechenden Anwendbarkeit der Verteidigungsrechte o. Kap. 2, Fn. 785. EuGH, Urteil v. 10.9.2013 – C-383/13 PPU, G. u. R., Rn. 38; Urteil v. 6.9.2012 – C-96/11 P, Storck / H ABM Rn. 80; Urteil v. 1.10.2009 – C-141/08 P, Foshan Shunde Yongjian House­ wares & Hardware, Slg. 2009, I-9147 Rn. 94; Urteil v. 7.1.2004 – C-204/00 P, C-205/00 P u. a., Aalborg Portland u. a., Slg. 2004, I-123 Rn. 71 ff.; Urteil v. 2.10.2003 – C-194/99 P, Thyssen Stahl, Slg. 2003, I-10821 Rn. 31; Urteil v. 5.10.2000 – C-288/96, DE ./. KOM, Slg. 2000, I-8285 Rn. 101; Urteil v. 14.2.1990 – C-301/87, FR ./. KOM, Slg. 1990, I-351, Rn. 31; EuG, Urteil v. 15.12.2016 – T-762/14, Philips, Rn. 272; Calliess / Ruffert-Blanke, AEUV / EUV, Art. 48 GRCh Rn. 6; Jarass, NStZ 2012, 614. 853 EuGH, Urteil v. 26.1.2017 – C-609/13 P, Duravit, Rn. 100; Urteil v. 19.12.2013 – C-239/11 P u. a., Siemens u. a., Rn. 367 f.; Urteil v. 2.10.2003 – C-199/99 P, Corus UK, Slg. 2003, I-11177 Rn. 128; Urteil v. 2.10.2003 – C-194/99 P, Thyssen Stahl, Slg. 2003, I-10821 Rn. 31; Urteil v. 15.10.2002 – C-238/99 P u. a., Limburgse Vinyl Maatschappij u. a., Slg. 2002, I-8618 Rn. 318; in diesem Sinne auch Urteil v. 8.7.1999 – C-51/92 P, Hercules Chemicals, Slg. 1999, I-4250 Rn. 78, 80 f.; EuG, Urteil v. 15.12.2016 – T-762/14, Philips, Rn. 273. 854 Im Sinne der im Rahmen der Unterlassungsdelikte üblichen Quasikausalität vgl. m. w. N. MüKo-Freund, StGB, § 13 Rn. 213, Vor § 13 Rn. 335; m. w. N. zu dieser Betrachtung Nomos­ Komm-Gaede, StGB, § 13 Rn. 14 ff.; Spendel, JZ 28 (1973), 139 f. 852

212

Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

hilfe sich auf die Entscheidung des Strafverfahrens ausgewirkt hat, genügt folglich eine gewöhnliche conditio-sine-qua-non-Prüfung. Wenngleich nicht vollends übertragbar, ist der in der Abwägung des EGMR prä­ sente Gedanke der Kausalität ebenso in der GRCh wichtig. Maßgeblich ist – neben den übrigen Umständen des Einzelfalls  – inwiefern die Zugangsbeschränkung beim Angeklagten zu einem Verzicht auf Verteidigungsbeistand geführt hat oder dazu, dass der Angeklagte sich eines anderen als des gewünschten Verteidigers bedient hat. Hat die Ablehnung strafrechtlicher Prozesskostenhilfe dazu geführt, dass der Angeklagte unverteidigt blieb, dann ist bereits grundsätzlich von einer Beeinträchtigung auszugehen, wenn zuvor das Vorliegen eines Rechtspflegeinter­ esses und damit die Notwendigkeit eines Verteidigers zur effektiven Verteidigung bejaht wurde. Eine Benachteiligung liegt umso eher nahe, je mehr Beweismittel in der Zeit dieser Zugangsbeschränkung gewonnen und am Ende gegen den An­ geklagten verwendet wurden. In den übrigen Fällen ist das Abwägungsergebnis eine Frage des Einzelfalls  – und damit dem Maßstab des EGMR vergleichbar wertungsoffen.855

IV. Zwischenergebnis: Der europäische Pflichtverteidiger nach der Grundrechtecharta Die GRCh tritt mit eigenständigen Gewährleistungen neben jene der EMRK und ergänzt somit, wie strafrechtliche Prozesskostenhilfe nach Maßgabe der im Raum der EU geltenden Menschenrechtsinstrumente idealiter zu gestalten ist. 1. Die neue Bedeutsamkeit der Grundrechtecharta im Strafverfahren Bislang ist die GRCh noch kein anerkannter Einflussfaktor im nationalen Straf­ verfahren gewesen, weil sie erst durch die Harmonisierung speziell der Verteidi­ gungsrechte überhaupt das nationale Strafverfahren beeinflusst, vgl. Art. 51 Abs. 1 GRCh. Zwar gab es mit dem Rb-EHB und den anderen Instrumenten gegenseitiger Anerkennung856 schon zuvor partielle Regelungen, die auf die Harmonisierung der strafrechtlichen Zusammenarbeit zielten und sich mittelbar auch auf das Strafver­ fahren auswirkten. Diese Harmonisierungsbemühungen der EU widmeten sich jedoch vorrangig der Effektuierung der Rechtshilfe und der gegenseitigen An­ erkennung in grenzüberschreitenden Strafverfahren, zumeist ohne die Perspektive der Verteidigungsrechte mitzudenken.857 Die Gewährung von Verfahrensgarantien für den Angeklagten war damit keine Durchführung von Unionsrecht. Die Ver­ 855

Vgl. zu diesen Maßstäben und zur Kritik daran o. Kap. 2 A. III. 2. c) bb). Vgl. dazu o. Kap. 1 B. II. 2. 857 Vgl. dazu bereits o. Kap. 1 A. II.; in diesem Sinne auch Ehlers-Gundel, EuGR, § 27 Rn. 44. 856

B. Die Konzeption der Grundrechtecharta

213

teidigungsrechte blieben damit weiterhin der souveränen Ausgestaltung durch die Mitgliedstaaten vorbehalten. Durch die zunehmende Umsetzung von Richtlinien für die Harmonisierung der Verfahrensrechte des Angeklagten im Rahmen des Stockholmer Programms, wurden nicht nur erstmals die Verteidigungsrechte des Angeklagten unional-gesetzgeberisch geregelt, sondern diese Harmonisierung auch explizit für das mitgliedstaatliche Strafverfahren vorgenommen. Die GRCh wird daher durch diese erweiterte Harmonisierung zunehmend die prozessuale Seite des mitgliedstaatlichen Strafverfahrens (mit-)bestimmen und gemeinsam mit den nationalen Grundrechten Verteidigungsrechte verbürgen. Meist werden jedoch nicht alle Teile eines mitgliedstaatlichen Strafverfahrens durch die GRCh verbürgt, sodass die mitgliedstaatlichen Tatgerichte vor schwie­ rigen Abgrenzungsfragen stehen, je umfangreicher die Charta im Strafverfahren Anwendung findet. Diese Last der Fragmentierung des Strafverfahrens in ver­ schiedene, gleichzeitig anwendbare Grundrechtsstandards muss nicht zuletzt der Angeklagte tragen, weil er je nachdem einen anderen Rechtsweg beschreiten muss.858 Der zum Teil erhöhte materielle Schutz muss bislang in einem prozessual auf Individualrechtsschutz nur mangelhaft ausgelegten Rechtsschutzsystem ein­ gelegt werden. 2. Anforderungen der Grundrechtecharta zwischen Kohärenz und autonomer Gestaltung Die GRCh wurde auch im Hinblick auf die bestehenden Garantien der EMRK konzipiert. Dies gilt gerade für Art. 48 Abs. 2 GRCh als Grundlage strafrecht­ licher Prozesskostenhilfe in der GRCh. Über Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh wird si­ chergestellt, dass jene Rechte der GRCh, die in Inhalt und Umfang mit jenen der EMRK korrespondieren, den Schutzstandard der EMRK nicht unterschreiten (sog. Kohärenzgebot). Jedoch darf die GRCh darüber hinausgehende Standards auf­ stellen, vgl. Art. 52 Abs. 3 S. 2 GRCh. Über die Charta wird folglich garantiert, dass der Mindeststandard der EMRK  – jedenfalls im Rahmen strafrechtlicher Prozesskostenhilfe – primärrechtlich verbindlich für die Mitgliedstaaten der EU wird. Da Art. 48 Abs. 2 GRCh  – nach Vorstellung des Grundrechtekonvents  – alle Verteidigungsrechte von Art. 6 Abs. 3 EMRK enthalten soll, ist er auch als Grundlage für strafrechtliche Prozesskostenhilfe heranzuziehen und maßgeblich über Art. 6 Abs. 3 lit.  c EMRK zu konkretisieren. Eines Rückgriffs auf Art. 47 Abs. 3 GRCh, der Prozesskostenhilfe im gerichtlichen Zivilverfahren gewährleis­ tet, bedarf es dafür nicht.859

858 859

Vgl. o. Kap. 2 B. I. Vgl. o. Kap. 2 B. II.

214

Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

3. Selbständige Bedeutung der Grundrechtecharta Über Art. 48 Abs. 2 GRCh werden die Garantien von Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK in vielen Aspekten zwar kopiert und dadurch im Primärrecht integriert. Art. 48 Abs. 2 GRCh ist darüber hinaus jedoch ein autonomes Verständnis strafrecht­licher Pro­ zesskostenhilfe zu entnehmen. Dies beginnt bei der selbständigen Definition des Strafverfahrens. Dieser Begriff umfasst im Rahmen der Charta nicht nur jene Ver­ fahrensteile und Entscheidungen, die unmittelbar Schuld oder Unschuld des Ange­ klagten festzustellen helfen, sondern inkludieren auch jene, die das Strafverfahren in seinem prozessualen Ablauf unterstützen und so nur mittelbar die Wahrheits­ ermittlung tragen. Der Strafverfahrensbegriff der Charta ist damit weiter, bildet aber die Realität eines Strafverfahrens zutreffender ab, indem sie auch das Haft­ prüfungsverfahren in den Schutzrahmen der Verteidigungsrechte einbezieht.860 Dies gilt auch für das transnationale Strafverfahren. Art. 48 Abs. 2 GRCh hat ähnlich wie Art. 50 GRCh einen genuin transnationalen Anwendungsbereich und bezieht darüber auch grenzüberschreitend durchgeführte Verfahrensteile mit ein. Unabhängig davon, ob der Angeklagte sich im Anordnungs- oder im Voll­ streckungsstaat befindet, profitiert er folglich von den Verteidigungsrechten aus Art. 48 Abs. 2 GRCh und damit auch von strafrechtlicher Prozesskostenhilfe. Verteidigungsrechte werden im Rahmen des strafrechtlichen Rechtshilfeverkehrs jedoch ebenso wie im Rahmen der EMRK nicht als Vollstreckungsgegenrechte diskutiert. Der EuGH orientiert sich damit sehr stark an der flagrant-denial-Recht­ sprechung des EGMR und verkennt dabei, dass gegenseitiges Vertrauen nicht durch Verteidigungsrechte behindert wird, sondern Verteidigungsrechte und ihre ausreichende Umsetzung dieses Vertrauen erst ermöglichen. Daher muss, solange mitgliedstaatliche Verteidigungsrechte noch keinem einheitlichen Standard unter­ stehen, auch die drohende Verletzung von Verteidigungsrechten im Anordnungs­ staat berücksichtigungsfähig sein.861 Durch den transnationalen Schutzbereich von Art. 48 Abs. 2 GRCh wird eine an die besondere Situation des transnationalen Strafverfahrens angepasste Aus­ legung der Voraussetzungen strafrechtlicher Prozesskostenhilfe erforderlich. Insbesondere unter Zugrundelegung der tatsächlichen Besonderheiten und der rechtlichen Schwierigkeiten eines grenzüberschreitenden Strafverfahrens ist in der Regel ein Interesse der Rechtspflege für die Beiordnung eines Rechts­ beistands im Vollstreckungs- wie im Anordnungsstaat anzunehmen. Bedürf­ tigkeit bemisst sich dagegen grundsätzlich anhand einer dem rein nationalen Verfahren ähnlichen Betrachtung. Maßgeblich für den Vergleich zwischen ver­ fügbaren Mitteln des Angeklagten und benötigten Mitteln für die Beauftragung eines Rechtsbeistands ist das Wohlstands- und Vergütungsniveau desjenigen

860 861

Vgl. o. Kap. 2 B. III. 1. a). Vgl. o. Kap. 2 B. III. 1. b).

B. Die Konzeption der Grundrechtecharta

215

Mitgliedstaates, in dem der Angeklagte einen Antrag auf strafrechtliche Prozess­ kostenhilfe stellt.862 Wird ein Strafverfahren grenzüberschreitend geführt, bewirkt dies zudem, dass nicht nur die Charta, sondern auch die Grundfreiheiten der Union Anwendung auf den Sachverhalt finden können. Dies gilt insbesondere für die Dienstleistungs­ freiheit. Denn die Ausgestaltung strafrechtlicher Prozesskostenhilfe – vorrangig des Aspekts der Kostenfreiheit  – entscheidet maßgeblich darüber, wie einfach Rechtsanwälte grenzüberschreitend Dienstleistungen erbringen können, aber auch wie leicht Angeklagte als Dienstleistungsempfänger Zugang zu Rechtsbeiständen erhalten, die über strafrechtliche Prozesskostenhilfe vergütet werden. In dieser Konstellation müssen Art. 48 Abs. 2 GRCh und die Dienstleistungsfreiheit ge­ meinsam betrachtet werden. Aus beiden ergibt sich, dass der Angeklagte im trans­ nationalen Strafverfahren grundsätzlich Anspruch auf staatlich getragene Dop­ pelverteidigung hat. Diese Doppelverteidigung muss in einem solchen Umfang übernommen werden, dass sowohl im Anordnungs- wie im Vollstreckungsstaat der Angeklagte Zugang zu einem Rechtsbeistand erhalten kann. Dafür wird sich die Vergütung eines staatlich getragenen Verteidigers je nach der Vergütungsordnung richten müssen, in der der Angeklagte Zugang zu einem Rechtsbeistand sucht.863 Der Rechtsbeistand muss auch im System der GRCh unabhängig agieren können und prinzipiell befähigt sein, effektive Verteidigung zu leisten. Unabhängigkeit ist in der Rechtsprechung des EuGH vorrangig eine ausreichende Distanz des Rechts­ beistands zum Angeklagten. Insoweit dürfe der Rechtsbeistand vor allem nicht arbeitsrechtlich von seinem Mandanten abhängig sein. Da der EuGH Privilegien, wie Vertraulichkeit der Kommunikation mit dem Angeklagten, speziell an diese Unabhängigkeit knüpft, ist grundsätzlich auch zu überprüfen, ob der Rechtsanwalt ausreichend unabhängig von seinem Mandanten agiert. Auf der einen Seite knüpft der EuGH diese Unabhängigkeit an die standesrechtliche Bindung des Rechtsbei­ standes. Dadurch ist der Begriff des Rechtsbeistandes im Rahmen der Charta de facto auf Rechtsanwälte verkürzt. Auf der anderen Seite bedeutet Unabhängigkeit nach dem Maßstab des EuGH, dass ein Rechtsanwalt nie unabhängig tätig sein kann, wenn er vom Mandanten nicht im Rahmen eines Dienstvertrages, sondern im Rah­ men eines Arbeitsvertrages mandatiert bzw. beschäftigt wird. Damit legt er dieses Erfordernis jedoch zu eng aus. Es bedarf vielmehr einer Einzelfallbetrachtung, ob Umstände nahelegen, dass ein Beistand trotz Bindung an Standesrecht die Grenzen zwischen parteiischer Wahrnehmung seiner Pflichten als Organ der Rechtspflege zu kollusiver Zusammenarbeit mit dem Angeklagten überschritten hat.864 EMRK und GRCh verstärken sich zudem gegenseitig in Bezug auf die Effektu­ ierung strafrechtlicher Prozesskostenhilfe über ein Fehlerfolgensystem. Über das Kohärenzgebot gem. Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh werden die engen legitimen Inte­ 862

Vgl. o. Kap. 2 B. III. 2. Vgl. o. Kap. 2 B. III. 3. 864 Vgl. o. Kap. 2 B. III. 4. 863

216

Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

ressen für eine Beschränkung des Rechts auf strafrechtliche Prozesskostenhilfe auch in die grundsätzlich weite Schrankenklausel von Art. 52 Abs. 1 GRCh hinein gelesen. Dadurch sind Eingriffe nur möglich, wenn Leib, Leben oder Freiheit an­ derer Personen gefährdet sind. Ebenso wirkt die Charta schutzverstärkend auf die Schrankenregelung in Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK sowie die dazugehörige Recht­ sprechung des EGMR ein. Denn die Verhältnismäßigkeitsprüfung gem. Art. 52 Abs. 1 GRCh lässt keine Angemessenheitsprüfung mehr zu, wenn ein Eingriff bereits ungeeignet oder nicht mehr erforderlich ist. Der dagegen großzügigere Maßstab des EGMR, der lediglich mit einer Beweislastverschiebung argumen­ tiert, wird dadurch zugunsten der Verteidigungsrechte nunmehr ebenfalls strenger ausgelegt und doch zu einer bright-line-rule erhoben. Darin zeigt sich das Schutz­ potenzial beider menschenrechtlicher Instrumente, wenn diese nicht für sich, sondern nur in gemeinsamer Lesung die Verteidigungsrechte des Angeklagten stärken.865

C. Zusammenführung der Ergebnisse aus EMRK und GRChfür ein einheitliches menschenrechtliches Verständnis des europäischen Pflichtverteidigers EMRK und Grundrechtecharta bilden zusammen einen einheitlichen men­ schenrechtlichen Überbau für die Mitgliedstaaten der Union und prägen die Vor­ gaben für strafrechtliche Prozesskostenhilfe. Die Umsetzung überlassen beide jedoch den Mitgliedstaaten und geben somit nur Zielvorgaben an die Hand, wie strafrecht­liche Prozesskostenhilfe fair und wirksam zu gestalten ist. Um nicht die Zwischenergebnisse erneut zu umschreiben, soll die Konzeption des europäischen Pflichtverteidigers nach EMRK und GRCh nur noch einmal anhand dieser Ziel­ vorgaben wiedergegeben werden.

I. Umfassende und transnational offene Definition des Strafverfahrens Die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten müssen leisten, dass Verteidigungs­ rechte i. S. v. Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK, Art. 48 Abs. 2 GRCh dem Angeklagten in jedem Abschnitt des Verfahrens ab der Beschuldigung zustehen, unabhängig davon, ob diese Verfahrenshandlung zur Feststellung der Schuld oder Unschuld des Angeklagten nur mittelbar oder unmittelbar beiträgt. Das bedingt, dass Ver­ teidigungsrechte jedenfalls auch in vorbereitenden Verfahrensabschnitten – wie im Haftprüfungsverfahren – dem Angeklagten zustehen müssen, aber auch, dass Ver­ teidigungsrechte und strafrechtliche Prozesskostenhilfe dem Angeklagten zugäng­ 865

Vgl. o. Kap. 2 B. III. 5.

C. Zusammenführung der Ergebnisse aus EMRK und GRCh 

217

lich sind, wenn die Beweiserhebung in einem anderen Mitgliedstaat vorgenommen wird. Dies müssen die Mitgliedstaaten jedoch nur im Ergebnis umsetzen: Das bedeutet, dass ihnen freisteht, über eine ähnliche Definition des Strafverfahrens das transnationale Strafverfahren in den Anwendungsbereich der Verteidigungs­ rechte miteinzubeziehen oder dies lediglich über eine entsprechende Anwendung der Verteidigungsrechte zu leisten.866

II. Voraussetzungen strafrechtlicher Prozesskostenhilfe Strafrechtliche Prozesskostenhilfe steht einem Angeklagten zu, wenn Interessen der Rechtspflege eine Verteidigung erforderlich erscheinen lassen und er bedürftig ist. Interessen der Rechtspflege liegen dann vor, wenn ein Angeklagter bemessen an seinen konkreten individuellen Fähigkeiten und den Umständen des jeweiligen Einzelfalles ohne Verteidigung kein faires Verfahren erhalten kann. Dies wird dann vermutet, wenn − dem Angeklagten Freiheitsentzug als Rechtsfolge droht,867 − der Angeklagte inhaftiert ist oder für die Entscheidung über eine poten­zielle Haft vorgeführt wird,868 − der Angeklagte jugendlich ist869 oder − das Strafverfahren einen transnationalen Charakter hat.870 Zudem müssen dem Angeklagten die Mittel für die Bezahlung seiner Verteidi­ gung fehlen. Maßgeblich ist dafür ein Vergleich zwischen dem, was für die Ver­ teidigung üblicherweise nach den Standards des jeweiligen Mitgliedstaats an Kos­ ten aufzubringen ist, und der Einkommens- und Vermögenslage des Angeklagten. Im transnationalen Strafverfahren ist Bedürftigkeit jeweils nach den Maßstäben desjenigen Staates, nach dessen Recht der Angeklagte auf strafrechtliche Prozess­ kostenhilfe zurückgreifen will.871

III. Der Angeklagte als Akteur des gesamten Strafverfahrens Der Angeklagte ist das maßgebliche Prozesssubjekt des Strafverfahrens. Über formelle Verteidigung im Wege strafrechtlicher Prozesskostenhilfe wird ihm die Teilhabe an seinen Verteidigungsrechten vermittelt. Dafür muss strafrechtliche 866

Vgl. o. Kap. 2 A. III. 1. b), B. III. 1. b). Vgl. o. Kap. 2 A. II. 1. a). 868 Vgl. o. Kap. 2 A. III. 1. a) bb), B. III. 2. a) cc). 869 Vgl. o. Kap. 2 A. II. 1. b). 870 Vgl. o. Kap. 2 B. III. 2. 871 Vgl. o. Kap. 2 B. III. 2. b). 867

218

Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

Prozesskostenhilfe bereits so früh wie möglich im Ermittlungsverfahren gewährt werden. Frühstmögliche Unterstützung bedeutet, dass dem Angeklagten in der ersten für ihn kritischen Ermittlungssituation, sei es eine Vernehmung oder eine andere strafprozessuale Maßnahme, ein Verteidiger beigeordnet werden muss. Nur so kann der Verteidiger als Korrektiv der strafprozessualen staatlichen Er­ mittlungen wirksam tätig werden und zugleich den in solchen Situationen sonst unverteidigten Angeklagten schützen.872 Unterstützung bedeutet, dass der über strafrechtliche Prozesskostenhilfe be­ stellte Rechtsbeistand nicht nur anwesend sein darf, sondern aktiv die Ermitt­ lungssituationen über Fragen und Erklärungen mitgestalten kann. So werden die Partizipationsrechte und Verteidigungsmöglichkeiten des Angeklagten über seinen Verteidiger in eine für den Strafprozess wirksame Form gebracht. Diese Akteurs­ stellung muss zudem über ein wirksames Fehlerfolgensystem effektuiert werden, um Beschränkungen des Zugangs zu einem im Wege strafrechtlicher Prozess­ kostenhilfe beizuordnenden Verteidigers im Strafverfahren zu unterbinden. Die Beschränkung des Zugangs ist nur möglich, wenn diese gesetzlich vorgesehen ist, dem Schutz von Leib, Leben oder Freiheit einer anderen Person dient und die Maßnahme geeignet und erforderlich ist und zudem die Gesamtfairness des Ver­ fahrens nicht beeinträchtigt. Insofern wirken EMRK und GRCh schutzverstärkend zusammen. Während die EMRK keine sog. bright-line-rule kennt, selbst wenn eine Zugangsbeschränkung keinem wichtigem Grund dient oder nicht auf das Er­ forderliche beschränkt wurde, ist nach der GRCh eine Abwägung verwehrt, wenn ein legitimes Interesse für die Beschränkung fehlt oder für einen Eingriff nicht das mildeste Mittel gewählt wird. Dadurch verstärken sich auch in dieser Hinsicht die Anforderungen von EMRK und GRCh gegenseitig.873 Eigenverantwortliche Wahrnehmung der Verteidigungsrechte durch den Ange­ klagten wird in dieser menschenrechtlichen Konzeption ferner nur so lange ermög­ licht, wie der Angeklagte dadurch nicht auf ein faires Verfahren selbst verzichtet. Das Recht auf notwendige Verteidigung ist damit für den Angeklagten zwar grund­ sätzlich disponibel. Der das Strafverfahren führende Staat darf jedoch entgegen dieser Willensäußerung zugunsten einer prozessordnungsgemäßen Verfahrensfüh­ rung und eines fairen Verfahrens, diesen Willen ignorieren und den Angeklagten trotzdem einen Verteidiger beiordnen. Solange der Angeklagte über eigene Teil­ haberechte neben der ihm aufgedrängten Verteidigung materieller Rechteinhaber bleibt, lassen sowohl EMRK als auch GRCh zu, dass Fairnesserwägungen der Vorrang vor der Entscheidung des Angeklagten eingeräumt wird.874 Ausgehend von diesem Fürsorgekonzept erklärt sich auch die nur marginale Be­ handlung von Antragsrechten. Diese werden eher als Antragspflich­ten verstanden, die die Gewährleistung strafrechtlicher Prozesskostenhilfe verhindern, wenn der 872

Vgl. o. Kap. 2 A. III. 2. b). Vgl. o. Kap. 2 A. III. 2. c), B. III. 5. 874 Vgl. Kap. 2 A. II. 3. a), b). 873

C. Zusammenführung der Ergebnisse aus EMRK und GRCh 

219

Angeklagte die Stellung eines notwendigen Antrags versäumt. Von dieser Prä­ misse ausgehend beschäftigen sich weder EMRK noch GRCh ausführlich mit An­ tragsrechten als Möglichkeit der Teilhabe. Diese soll vielmehr darüber abgesichert werden, dass in einer Situation erkennbaren ineffektiven Beistands der Staat als subsidiärer Garant die notwendige Beiordnung veranlasst. Dieser Fürsorgeansatz und die Perspektive eines auch die Interessen des Angeklagten ideal repräsentie­ renden Strafrechtspflege vernachlässigt, Antragsrechte als wichtige Form der Teil­ habe innerhalb von EMRK und GRCh zu etablieren.875

IV. Rahmenbedingungen strafrechtlicher Prozesskostenhilfe Strafrechtliche Prozesskostenhilfe muss für den Angeklagten grundsätzlich kostenfrei sein. Daher müssen ihm diejenigen Kosten der Verteidigung erlassen werden, für die die notwendigen Mittel fehlen. Den Mitgliedstaaten steht frei, ob sie diese Kostenfreiheit endgültig oder vorläufig, grundsätzlich umfänglich oder bemessen an der Leistungsfähigkeit des Angeklagten nur partiell ermöglichen. Die Kostenübernahme muss aber alle für den konkreten Angeklagten nötigen Kosten umfassen.876 Im transnationalen Strafverfahren umfasst diese Kostenfreiheit nicht nur die Übernahme der Kosten für einen Verteidiger im Vollstreckungsstaat, son­ dern ebenso die Kosten im Anordnungsstaat.877 Über diese finanzielle Unterstützung muss dem Angeklagten Zugang zu einem Rechtsbeistand vermittelt werden, der engagiert und parteiisch dessen Verteidi­ gung durchsetzt. Die dafür erforderliche Qualitätsanforderungen festzusetzen, steht im weiten Ermessen der Mitgliedstaaten, solange im konkreten Einzelfall der An­geklagte noch effektiv verteidigt ist. Diese vage Zielvorgabe lässt sich nur da­ hingehend konkretisieren, dass eine Verteidigung im Einzelfall umso eher noch als fair bewertet werden kann, je höhere Anforderungen die Mitgliedstaaten in Bezug auf Erfahrung und Fachkenntnis an die für Pflichtverteidigung zugelassenen Per­ sonen stellen.878 Wie ein für den Angeklagten unabhängig agierender Verteidiger ausgewählt wird, steht – wählt der Angeklagte nicht selbst einen zulässigen Rechts­ beistand aus – ebenso im Ermessen der Mitgliedstaaten. Diese Rechtsbeistände können ihre Arbeit nur dann wirksam leisten, wenn sie unabhängig sind, und auch – soweit sie nicht vom Angeklagten selbst ausgewählt wurden – unabhängig und objektiv ausgewählt werden. Auch diesbezüglich sehen EMRK und GRCh für die Mitgliedstaaten jedoch nur die Zielvorgabe vor, durch die Rahmenbedingungen des Auswahlverfahrens im Einzelfall ein faires Verfahren zu ermöglichen. Ledig­ lich in Bezug auf die Darlegungslast der Mitgliedstaaten müssen diese im Fall einer Rüge die Auswahl eines Verteidigers umso eingehender begründen, je mehr 875

Vgl. Kap. 2 A. II. 3. c). Vgl. o. Kap. 2 A. IV. 1., B. III. 3. 877 Vgl. Kap. 2 B. III. 3. 878 Vgl. Kap. 2 A. IV. 2. a). 876

220

Kap. 2: Die Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

die für die Auswahl zuständige Stelle mit dem konkreten Strafverfahren befasst ist und je größer das subjektive Auswahlermessen ohne Rückbindung an zuvor festgelegte Kriterien ist.879

V. Strafrechtliche Prozesskostenhilfe nach EMRK und GRCh in einer zusammenfassenden Definition Zusammenfassend bedeutet dies, dass nach der menschenrechtlichen Konzep­ tion von EMRK und GRCh strafrechtliche Prozesskostenhilfe − dem Angeklagten bei offenkundiger ineffektiver Verteidigung von Amts wegen zu gewähren ist, − wenn der Angeklagte bedürftig ist und Interessen der Rechtspflege für eine Bei­ ordnung streiten, − unabhängig davon, ob das Verfahren national oder transnational geführt wird, − und zudem beinhaltet, dass der Angeklagte grundsätzlich durch einen Verteidiger seines Vertrauens kostenfrei, aktiv und frühstmöglich im Ermittlungsverfahren vertreten wird, dieser Verteidiger aber auch von staatlicher Seite ausgewählt werden darf, wenn der Angeklagte keine oder eine unzulässige Wahl trifft.

879

Vgl. Kap. 2 A. IV. 2. b), zur Unabhängigkeit vom Angeklagten vgl. Kap. 2 B. III. 4.

Kapitel 3

Implementation und Ergänzung der menschenrechtlichen Vorgabendurch die PKH-RL  Im folgenden Kapitel soll zunächst untersucht werden, ob und wie die PKH-RL die Maßstäbe der EMRK und der GRCh umsetzt. Von Interesse ist jedoch nicht nur die Konformitätsüberprüfung zwischen PKH-RL und EMRK und GRCh, sondern inwiefern die PKH-RL die Konzeption des europäischen Pflichtverteidigers eigen­ ständig ergänzt. Daher ist Ziel dieses Kapitels, zunächst den Harmonisierungsum­ fang der PKH-RL zu bestimmen und zu bewerten und diesen im Anschluss ge­ meinsam mit den Erkenntnissen der GRCh und der EMRK in einer einheitlichen europäischen Konzeption der Pflichtverteidigung zusammenzufassen. Die PKH-RL soll die bisher divergierenden Standards bezüglich des Zugangs zu kostenloser Verteidigung im Strafverfahren innerhalb der Mitgliedstaaten ver­ einheitlichen,1 indem „gemeinsame Mindestvorschriften“ geschaffen werden, die das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten untereinander fördern und da­ mit auch die gegenseitige Anerkennung justizieller Entscheidungen erleichtern.2 Damit markiert sie das vorläufige Ende eines zwölfjährigen Gesetzgebungs­ prozesses3 zur Stärkung der Verteidigungsrechte. Die PKH-RL ist die sechste4 und – vorerst – letzte Maßnahme aus dem Stockholmer Programm,5 das sich die schrittweise Stärkung der Verteidigungsrechte vornahm. Ein umfassender Rah­

1

Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 26.10.2016 – 2016/1919/EU, PKH-RL, ABl. L 297, 1, Erwägungsgrund (1), (2) und der Rat, Allgemeine Ausrichtung v. 26.2.2015 – 6603/15, RL-E-Rat, Erwägungsgrund (1d). 2 Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 26.10.2016 – 2016/1919/EU, PKH-RL, ABl. L 297, 1, Erwägungsgrund (2); für die Verteidigungsbeistands-RL nur eine „gesetzliche Fixierung bereits etablierter höchstrichterlicher Rechtsprechung“ erkennend Esser, KriPoZ 2017, 167. 3 Vgl. zum längst überschrittenen Zeitrahmen Kommission, Mitteilung v. 20.4.2010  – COM(2010) 171 final, Aktionsplan Stockholmer Programm, S. 15. 4 Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 26.10.2016 – 2016/1919/EU, PKH-RL, ABl. L 297, 1, Erwägungsgrund (6). 5 Vgl. so der Verweis des Europäischen Rats, Information v. 4.5.2010 – 2010/C 115/01, Stockholmer Programm, ABl. C 115, 1, 10 auf Rat, Entschließung v. 30.11.2009, Fahrplan Verteidigungsrechte, ABl. C 295, 1, 3; zur separaten Normierung des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand und des Rechts auf strafrechtliche Prozesskostenhilfe vgl. Peers / Her­ vey / ​Kenner / Ward-Sayers, GRCh, Art. 48 Rn. 97B; teilweise krit. dies., HRLR 14 (2014), 738, 748 f.; Willems, NCLR 17 (2014), 207.

222

Kap. 3: Implementation und Ergänzung der menschenrechtlichen Vorgaben  

menbeschluss für Verteidigungsrechte war 2004 am Widerstand der Mitgliedstaa­ ten gescheitert.6 Die im Rahmen des Stockholmer Programms erlassenen Richt­ linien normieren somit einen einheitlichen Kanon der Verteidigungsrechte.7 Die konkreten Gewährleistungen ergeben sich wegen dieses Vorgehens auch nur aus einer Zusammenschau mit den anderen Richtlinien, insbesondere der Verteidi­ gungsbeistands-RL und der Jugendstrafverfahrens-RL, vgl. Art. 1 Abs. 2 PKH-RL. An diesem langwierigen Entstehungsprozess zeigt sich, dass die Regelung straf­ rechtlicher Prozesskostenhilfe ein kontroverses Projekt war und ist, nicht zuletzt, weil dadurch die Europäische Union mittelbar den Mitgliedstaaten budgetäre Vor­ gaben macht.8 Dass die PKH-RL letztendlich zustande kam – und auch mit diesen grundsätzlich weitgehenden Gewährleistungen – ist ein echter Fortschritt in der Integration des Strafrechtsraumes der Europäischen Union.9 Die PKH-RL muss sich grundsätzlich an beiden Menschenrechtsinstrumenten messen lassen, auch wenn die EU formal nicht an die EMRK gebunden ist.10 Da Art. 11 PKH-RL festlegt, dass diese Richtlinie nicht so ausgelegt werden darf, dass dadurch die Rechte und Verfahrensgarantien der Charta, der EMRK oder der mit­ gliedstaatlichen Rechtsordnungen, soweit sie ein höheres Schutzniveau vorsehen, beeinträchtigt werden, muss bei der Auslegung der PKH-RL zugleich der oben erarbeitete Standard von GRCh und EMRK im Blick behalten werden. Dadurch wird eine Untergrenze für die Schutzgewährleistungen eingezogen. Wegen Art. 11 PKH-RL muss im Folgenden auch die konventionskonforme Auslegung themati­ siert werden. Dies gilt zudem, weil bei der Auslegung einer Richtlinie grundsätz­ lich zu ermitteln ist, welchen Regelungsauftrag sie an die Mitgliedstaaten enthält. Dies kann jedoch nur zutreffend erfolgen, wenn berücksichtigt wird, dass die Mit­ gliedstaaten nicht nur an die Charta gebunden sind, sondern anders als die EU zu­ gleich die Gewährleistungen der EMRK respektieren müssen. Diese Konformitätsprüfung kann jedoch nur in den Bereichen erfolgen, in denen die PKH-RL überhaupt eine Regelung trifft. Denn Richtlinien sind gem. Art. 288 Abs. 3 AEUV für jeden Mitgliedstaat nur hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlassen den innerstaatlichen Stellen jedoch die Wahl der Form und der Mittel. Sie enthalten daher bereits per Definition einen Spielraum der Mitgliedstaaten. Wie weit dieser Spielraum reicht und wie tiefgreifend die Har­ monisierung des jeweiligen nationalen Rechts erfolgen soll, liegt in der Hand des

6

Vgl. Europäisches Parlament, Bericht v. 18.5.2015 – A8–0165/2015, S. 37. Zu diesem Verständnis auch Kommission, Vorschlag v. 27.11.2013  – COM(2013) 824 final, RL-E-KOM, Rn. 1. 8 Die Kommission veranschlagt Mehrkosten i.H.v. 1,594 bis 1,716 Milliarden EUR pro Jahr in der EU, vgl. Kommission, Arbeitsunterlage v. 27.11.2013 – SWD(2013) 477 final, Folgen­ abschätzung PKH-RL, S. 8. 9 Dies daher auch als „wahrhaften Quantensprung“ bezeichnend Schlothauer, StV 2018, 170. 10 Vgl. bereits o. Kap. 2, Fn. 469. 7

A. Strafrechtliche Prozesskostenhilfe nach Maßgabe der PKH-RL

223

unionalen Gesetzgebers. Dessen Gesetzgebungsspielraum ist lediglich durch das unionsrechtliche Prinzip der Subsidiarität begrenzt, Art. 5 Abs. 3 EUV. Danach dürfen Richtlinien nicht in Bereiche eingreifen, die durch die Mitgliedstaaten bes­ ser oder gleichwertig auf nationaler Ebene umgesetzt werden können.11 Das heißt, dass Richtlinien vereinzelte Regelungen zulässigerweise den Mitgliedstaaten über­ lassen können bzw. müssen. Eine Richtlinie verstößt daher nicht bereits gegen die EMRK oder die GRCh, weil sie bestimmte Bereiche nicht harmonisiert. Nur so­ weit sie überhaupt Regelungen trifft, kann sie auch anhand von EMRK und GRCh überprüft werden. Dort, wo sie sich einer Regelung enthält, endet ihre Harmonisie­ rungswirkung. Von diesen Prämissen ausgehend ist die PKH-RL zu untersuchen.

A. Strafrechtliche Prozesskostenhilfe nach Maßgabe der PKH-RL In 14 Artikeln legt die PKH-RL Voraussetzungen und Gewährleistungen für strafrechtliche Prozesskostenhilfe fest. Dabei unterscheidet die PKH-RL grund­ legend nach Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in (nationalen) Strafverfahren und nach Prozesskostenhilfe für gesuchte Personen im Rahmen eines Europäischen Haftbefehlsverfahrens. Insbesondere der Anwen­ dungsbereich der PKH-RL und die Voraussetzungen unterscheiden sich für natio­ nale Strafverfahren und Verfahren des Europäischen Haftbefehls, vgl. Art. 2, 4, 5 PKH-RL. Erst auf Ebene der Rechtsfolgen gelten für strafrechtliche Prozesskos­ tenhilfe im Strafverfahren wie im Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls mit Art. 6–8 PKH-RL die gleichen Normen. Daraus ergibt sich die folgende Struktur der PKH-RL (vgl. Abb. 2). Grundsätzlich geht die PKH-RL jedoch vom Normalfall des rein national ge­ führten Strafverfahrens aus und modifiziert die jeweiligen Vorschriften für das Verfahren des Europäischen Haftbefehls nur entsprechend. Daher werden im Fol­ genden zunächst die Vorschriften der PKH-RL anhand der Voraussetzungen und Gewährleistungen für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren erläutert und die Besonderheiten des Europäischen Haftbefehlsverfahrens erst im zweiten Teil dieses Kapitels besprochen.12

11

EuGH, Urteil v. 8.6.2010 – C-58/08, The Queen ./. Secretary of State for Business, En­ terprise and Regulatory Reform, Slg. I-2010, 499 Rn. 72; m. w. N. Calliess / Ruffert-Calliess, AEUV / EUV, Art. 5 EUV Rn. 30 ff.; m. w. N. GHN-Bast, EUV / A EUV, Art. 5 EUV Rn. 49 ff.; Streinz, EUV / A EUV, Art. 5 EUV Rn. 26. 12 Vgl. u. Kap. 3 A. VI.

224

Kap. 3: Implementation und Ergänzung der menschenrechtlichen Vorgaben  

Anwendungsbereich der PKH-RL für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren

Anwendungsbereich der PKH-RL für gesuchte Personen im Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls

gem. Art. 1 Abs. 1 lit. a i.V.m. Art. 2 Abs. 1, 3, 4 PKH-RL i.V.m. Art. 3 Verteidigungsbeistands-RL

gem. Art. 1 Abs. 1 lit. b i.V.m. Art. 2 Abs. 2 PKH-RL i.V.m. Art. 10 Verteidigungsbeistands-RL

Voraussetzungen strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

Voraussetzungen strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

gem. Art. 4 PKH-RL

gem. Art. 5 PKH-RL

Jeweils Berücksichtigung von Art. 11 PKH-RL (Regressionsverbot) und

Rechtsfolge: Anspruch auf Prozesskostenhilfe gem. der Legaldefinition in Art. 3 PKH-RL Gemeinsame Rahmenbedingungen

Art. 6 PKH-RL Entscheidung über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe

Art. 7 PKH-RL Qualität der mit der Prozesskostenhilfe verbundenen Diesntleistungen und Schulungen

Art. 9 PKH-RL (Belange schutzbedürftiger Personen)

Art. 8 PKH-RL Rechtsbehelfe

Abbildung 2: Regelungsstruktur der PKH-RL Quelle: Eigene Darstellung

I. Die Effektuierung der Verteidigungsbeistands-RL als Ziel der PKH-RL Mit der PKH-RL soll die „Effektivität des in der [Verteidigungsbeistands-RL] vorgesehenen Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand gewährleistet“ wer­ den,13 indem Verdächtigen und beschuldigten Personen dieser Rechtsbeistand, so­ weit erforderlich, von den Mitgliedstaaten kostenfrei zur Verfügung gestellt wird. Strafrechtliche Prozesskostenhilfe als Vehikel des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand ist damit auch die Grundprämisse der PKH-RL. Diesem Anspruch kann sie jedoch nur gerecht werden, wenn sie tatsächlich im wenigstens gleichen Umfang wie die Verteidigungsbeistands-RL Anwendung findet.14 Über den Um­ 13 Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 26.10.2016 – 2016/1919/EU, PKH-RL, ABl. L 297, 1, Erwägungsgrund (1). 14 Europäisches Parlament, Bericht v. 18.5.2015 – A8–0165/2015, S. 38.

A. Strafrechtliche Prozesskostenhilfe nach Maßgabe der PKH-RL

225

fang des Anwendungsbereiches entscheidet Art. 2 Abs. 1 PKH-RL. Danach fin­ det die PKH-RL Anwendung auf Verdächtige und beschuldigte Personen, die ein Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand nach Maßgabe der Verteidigungsbei­ stands-RL haben und die sich in einer der in Art. 2 Abs. 1 lit. a–c PKH-RL auf­ gezählten Situationen befinden. Im Folgenden werden beide Voraussetzungen des Anwendungsbereichs zunächst getrennt untersucht, um anschließend die gesetzge­ berische Intention hinter der zum Teil redundanten Regelungsstruktur zu ermitteln. 1. Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand nach Maßgabe der Verteidigungsbeistands-RL Die Gewährleistungen der PKH-RL finden nur dann Anwendung, wenn ein Verdächtiger oder eine beschuldigte Person nach Maßgabe der Verteidigungsbei­ stands-RL Anspruch auf Zugang zu einem Rechtsbeistand hat. Dies ist dann der Fall, wenn der Anwendungsbereich der Verteidigungsbeistands-RL eröffnet ist, Art. 2 Abs. 1 Verteidigungsbeistands-RL, und die Voraussetzungen für den Zu­ gang zu einem Rechtsbeistand gem. Art. 3 Verteidigungsbeistands-RL erfüllt sind. a) Anwendungsbereich gem. Art. 2 Verteidigungsbeistands-RL Der Anwendungsbereich von Art. 2 Verteidigungsbeistands-RL ist ähnlich weit wie derjenige in Art. 2 PKH-RL. Auch in Art. 2 Verteidigungsbeistands-RL wird dieser in persönlicher Hinsicht auf Verdächtige und beschuldigte Personen bzw. auf gesuchte Personen erstreckt und in sachlicher Hinsicht auf das Strafverfahren beschränkt, vgl. Art. 2 Abs. 1, 2 Verteidigungsbeistands-RL. In zeitlicher Hinsicht legt Art. 2 Abs. 1 S. 1 Verteidigungsbeistands-RL fest, dass die PKH-RL ab dem Zeitpunkt anwendbar ist, in dem verdächtige und beschuldigte Personen von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats durch amtliche Mit­ teilung oder auf sonstige Art und Weise davon in Kenntnis gesetzt wurden, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtig sind oder beschuldigt werden, und un­ abhängig davon, ob ihnen die Freiheit entzogen wurde. Damit greift Art. 2 Abs. 1 Verteidigungsbeistands-RL die Maßstäbe von Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK zur „straf­ rechtlichen Anklage“ auf.15 Folglich gilt die PKH-RL in zeitlicher Hinsicht ab der Beschuldigung im Ermittlungsverfahren bis zum Abschluss des Verfahrens, vgl. Art. 2 Abs. 1 S. 2 Verteidigungsbeistands-RL.

15

Vgl. o. Kap. 2 A. III. 1. a), 2. a); so insgesamt auch bezüglich des zeitlichen Umfangs, vgl. Art. 2 Abs. 1 S. 2 Verteidigungsbeistands-RL.

226

Kap. 3: Implementation und Ergänzung der menschenrechtlichen Vorgaben  

b) Voraussetzungen gem. Art. 3 Verteidigungsbeistands-RL Art. 3 Verteidigungsbeistands-RL regelt Voraussetzungen und Inhalt des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand. Als deskriptive Generalklausel sieht Art. 3 Abs. 1 Verteidigungsbeistands-RL lediglich vor, dass die Mitgliedstaaten den Zu­ gang zu einem Rechtsbeistand von Verdächtigen und beschuldigten Personen ef­ fektiv, praktisch und wirksam sicherstellen sollen. Art. 3 Abs. 2, 3 Verteidigungsbeistands-RL sieht dagegen zusätzliche Voraus­ setzungen für den Zugang zu einem Rechtsbeistand vor. Die prozessualen Situa­ tionen, in denen in jedem Fall Zugang zu einem Rechtsbeistand gewährt werden muss, werden in Art. 3 Abs. 2 S. 2 Verteidigungsbeistands-RL abschließend auf­ gezählt. Danach muss ein Rechtsbeistand für den Verdächtigen bzw. die beschul­ digte Person zugänglich sein: − vor der Befragung16 durch die Polizei oder durch andere Strafverfolgungsbehör­ den (lit. a), − unverzüglich nach dem Entzug der Freiheit (lit. c), − wenn der Verdächtige oder die beschuldigte Person vor ein in Strafsachen zu­ ständiges Gericht geladen wurde, rechtzeitig bevor der Verdächtige oder die be­ schuldigte Person vor diesem Gericht erscheint (lit. d),  − oder bei Beweiserhebungshandlungen gem. Art. 3 Abs. 3 lit. c, also Tatortrekonst­ ruktionen, Identifizierungs- und Vernehmungsgegenüberstellungen, soweit diese Ermittlungshandlungen im nationalen Recht vorgesehen sind und soweit die An­ wesenheit des Verdächtigen bzw. der beschuldigten Person vorgeschrieben oder zulässig ist (lit. b).17 Damit werden die grundlegenden prozessualen Situationen im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren benannt, in denen entweder die Schutzbedürftigkeit des Verdächtigen oder der beschuldigten Person besonders hoch ist, wie im Fall des Freiheitsentzugs, oder wenn prozessuale Situationen den Beschuldigten und seine Selbstbelastungsfreiheit besonders unter Druck setzen, wie im Rahmen von Be­ fragungen durch die Polizei oder bei anderen Ermittlungshandlungen, die die An­ wesenheit des Verdächtigen oder der beschuldigten Person voraussetzen. Der Umfang des Katalogs ist grundsätzlich begrüßenswert. Insbesondere ist die Gewährung von Rechtsbeistand vor einer Befragung, nach Entzug der Freiheit und mit ausreichend zeitlichem Vorlauf vor Gerichtsverhandlungen erforderlich, um eine rechtzeitige Verteidigung des Verdächtigen bzw. der beschuldigten Person 16 Die Terminologie der Richtlinie ist die Befragung des Verdächtigen bzw. der beschul­ digten Person, vgl. Art. 3 Abs. 2 lit. a Verteidigungsbeistands-RL. Lediglich im Falle von ge­ suchten Personen wird der Begriff der „Vernehmung“ verwendet, vgl. Art. 10 Verteidigungs­ beistands-RL. 17 Vgl. für die Auslegung u. Kap. 3 A. IV. 2. a) aa).

A. Strafrechtliche Prozesskostenhilfe nach Maßgabe der PKH-RL

227

abzusichern. Der Verweis auf Beweiserhebungs- und Ermittlungshandlungen in Art. 3 Abs. 2 i. V. m. Abs. 3 lit. c Verteidigungsbeistands-RL setzt demgegenüber jedoch keine vereinheitlichenden Maßstäbe, weil Art. 3 Abs. 2 i. V. m. Abs. 3 lit. c Verteidigungsbeistands-RL voraussetzt, dass die benannten Ermittlungshandlun­ gen im nationalen Strafprozessrecht vorgesehen sind. Die begrenzte Anzahl so­ wie der Zuschnitt dieser prozessualen Situationen verdeutlicht jedoch den Zweck der Verteidigungsbeistands-RL, nur Mindestgarantien festzulegen. Denn die in Art. 3 Abs. 2, 3 Verteidigungsbeistands-RL enumerierten Fälle decken nicht alle Situationen ab, in denen das Verfahren bereits im Ermittlungsverfahren für den Verdächtigen bzw. die beschuldigte Person präjudiziert zu werden droht.18 Inso­ fern bedarf es – auch für die spiegelbildlichen Vorschriften der PKH-RL – einer erweiternden, den Standard der EMRK abbildenden Auslegung. Es ist jedoch positiv zu bewerten, dass für die prozessualen Ermittlungshand­ lungen, denen der der Verdächtige bzw. die beschuldigte Person beiwohnen muss oder kann, sichergestellt wird, dass er zugleich Unterstützung durch einen Ver­ teidiger erhält. Art. 3 Abs. 3 lit. b, c Verteidigungsbeistands-RL sieht jeweils vor, dass der Rechtsbeistand „zugegen“19 ist bzw. der jeweiligen Ermittlungshandlung „beiwohnt“20, und legt so gleichsam fest, dass der Rechtsbeistand anwesenheitsbe­ rechtigt ist.21 Das bedeutet, dass es eine begründungsbedürftige Rechtsverkürzung darstellt, wenn die Strafverfolgungsbehörden dieses Anwesenheits- und Teilhabe­ recht beschränken wollen, wie z. B. auf eine telefonische Konsultation. 2. Prozessuale und gesetzliche Auslöser des Anwendungsbereichs der PKH-RL Sind die obigen Voraussetzungen erfüllt, sollen dem Verdächtigen oder der beschuldigten Person noch nicht automatisch die in der PKH-RL festgelegten Rechte zustehen. Es müssen zusätzliche, prozessuale Auslöser vorliegen oder zwingende Regelungen im Unionsrecht oder nationalem Recht existieren, da­ mit der Verdächtige oder die beschuldigte Person dem Anwendungsbereich der PKH-RL unterfällt, vgl. Art. 2 Abs. 1 PKH-RL. Danach muss dem Verdäch­ tigen oder der beschuldigten Person entweder die Freiheit entzogen worden (lit. a), nach Maßgabe des Unionsrechts oder des nationalen Rechts die Unter­ stützung eines Rechtsbeistands vorgeschrieben (lit. b)  oder deren Anwesen­ 18

So aber der Maßstab der EMRK, vgl. dazu o. Kap. 2 A. III. 2. b) aa) (1). Noch deutlicher in der englischen („to be present“), der französischen („aient droit à la présence de leur avocat“), der spanischen („esté presente“), niederländischen („bij het verhoor aanwezig is“) und schwedischen („att ha sin försvarare närvarande“) Sprachversion. 20 Vgl. ebenso die englische („to attend“), französische („aient droit […] à la présence de leur avocat“), spanische („esté presente“), niederländische („laten bijwonen“) und schwedische („att ha sin försvarare närvarande“) Sprachversion. 21 Esser, KriPoZ 2017, 171 f.; ebenso Vasold, Die Umsetzung der RL Rechtsbeistand 2013/48/EU, S. 35. 19

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Kap. 3: Implementation und Ergänzung der menschenrechtlichen Vorgaben  

heit bei einer Ermittlungs- oder Beweiserhebungshandlung vorgeschrieben oder zulässig sein (lit. c). a) Vorgeschriebene Unterstützung durch einen Rechtsbeistand nach unionalem oder nationalem Recht Gem. Art. 2 Abs. 1 lit. b PKH-RL findet die PKH-RL Anwendung, wenn die verdächtige oder beschuldigte Person nach Maßgabe des Unionsrechts oder des nationalen Rechts die Unterstützung eines Rechtsbeistands erhalten muss. So si­ chert die PKH-RL ab, dass in den Situationen, in denen Rechtsbeistand zwingend ist, Verdächtige und beschuldigte Personen zu diesem auch über das Mittel straf­ rechtlicher Prozesskostenhilfe Zugang erhalten können. Dies bedeutet im Umkehr­ schluss jedoch auch, dass nur die Möglichkeit, einen Rechtsbeistand zu erhalten, nicht zur Anwendbarkeit der PKH-RL führt. aa) Nach Maßgabe des Unionsrechts Art. 2 Abs. 1 lit. b PKH-RL verweist auf das Unionsrecht und damit auf Pri­ mär- wie Sekundärrecht der Union. Damit wird zum einen auf die bestehenden Rechtsakte der Union, soweit sie ein Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand vorsehen, und zum anderen dynamisch auf zukünftige Rechtsakte Bezug genom­ men, die das Recht auf strafrechtliche Prozesskostenhilfe bzw. auf Unterstützung durch einen Rechtsbeistand weiterentwickeln. Denn Art. 2 Abs. 1 lit. b PKH-RL verweist gerade nicht auf eine abschließende Anzahl an Rechtsakten,22 sondern generisch auf das gesamte Unionsrecht. (1) Aktueller Besitzstand des Unionsrechts Der Wortlaut von Art. 2 Abs. 1 lit.  b PKH-RL („nach Maßgabe des Unions­ rechts“) bezieht sich zunächst auf den aktuellen Besitzstand des gesamten ­Primärwie Sekundärrechts der Union. Ein solches zwingendes Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand enthalten zunächst die Jugendstrafverfahrens-RL23 sowie die Vermögensabschöpfungs-RL.24 22 Vgl. im Gegensatz dazu der statische Verweis auf festgelegte Rechtsakte in Rat / Euro­ päisches Parlament, Richtlinie v. 3.4.2014 – 2014/42/EU, Vermögensabschöpfungs-RL, ABl. L 127, 39, Art. 3. 23 Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 11.5.2016 – 2016/800/EU, Jugendstrafverfah­ rens-RL, ABl. L 132, 1. 24 Dagegen enthalten weder der Rb-EHB, der Rb-Sicherstellung, der Rb-Überwachungs­ maßnahmen, der Rb-Einziehung noch die EEA-RL eine derartige Regelung bezüglich des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand.

A. Strafrechtliche Prozesskostenhilfe nach Maßgabe der PKH-RL

229

Gem. Art. 6 Abs. 1 Jugendstrafverfahrens-RL haben Kinder, also Personen unter 18 Jahren,25 die Verdächtige oder beschuldigte Person in einem Strafverfahren sind, das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand gemäß der Verteidigungsbei­ stands-RL. Dies soll unverzüglich gelten, sobald Kinder davon in Kenntnis gesetzt wurden, dass sie Verdächtige oder beschuldigte Personen sind, vgl. Art. 6 Abs. 2 S. 1 Jugendstrafverfahrens-RL. Kinder müssen die Unterstützung eines Rechtsbei­ stands in den in Art. 6 Abs. 3 S. 2 Jugendstrafverfahrens-RL aufgezählten Fällen erhalten. Diese Aufzählung deckt sich mit jener in Art. 3 Abs. 2 S. 2 Verteidigungs­ beistands-RL. Da Art. 6 Abs. 2 S. 1 Jugendstrafverfahrens-RL diese Unterstützung als zwingend beschreibt,26 muss Kindern strafrechtliche Prozesskostenhilfe vor jeder Befragung durch Strafverfolgungsbehörden, ab dem Entzug der Freiheit, wenn sie vor ein strafrechtliches Gericht geladen wurden sowie bei bestimmten Beweiserhebungs- und Ermittlungshandlungen zustehen.27 Gem. Art. 8 Abs. 7 S. 1 Vermögensabschöpfungs-RL haben zudem Personen, gegen deren Vermögen sich die Einziehungsentscheidung richtet, zur Wahrneh­ mung ihrer Rechte im Einziehungsverfahren ein Recht auf Rechtsbeistand in Be­ zug auf die Bestimmung der Tatwerkzeuge und der Erträge. Folglich muss, soweit diese Person ein Verdächtiger oder eine beschuldigte Person ist, in dieser Verfah­ renssituation nach den Voraussetzungen von Art. 4 PKH-RL die grundsätzliche Möglichkeit eingeräumt werden, strafrechtliche Prozesskostenhilfe in Anspruch zu nehmen. Der Verweis auf den aktuellen Besitzstand erfasst zudem auch die Verteidi­ gungsbeistands-RL selbst. Das erscheint zunächst widersprüchlich, weil sie be­ reits zuvor als Bedingung für die Eröffnung des Anwendungsbereiches erwähnt wurde. Nähme man die Verteidigungsbeistands-RL jedoch von diesem Verweis aus, würde dies bewirken, dass die PKH-RL in einem sehr viel beschränkteren Umfang Anwendung fände, als eine verdächtige oder beschuldigte Person das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand i. S. d. Verteidigungsbeistands-RL hat. Dies würde dem ausdrücklich in der PKH-RL formulierten Sinn und Zweck zu­ widerlaufen, die Effektivität der Verteidigungsbeistands-RL abzusichern.28 Würde man diese Auslegung zugrunde legen, wäre die PKH-RL z. B. im Falle einer Be­ fragung grundsätzlich nicht anwendbar, weil dieser prozessuale Auslöser nicht in den Katalog von Art. 2 Abs. 1 PKH-RL aufgenommen worden ist. Dies wider­ strebt jedoch der Auslegung, die die PKH-RL selbst immer wieder proklamiert: Strafrechtliche Prozesskostenhilfe muss spätestens zur ersten Befragung durch 25 Vgl. Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 11.5.2016 – 2016/800/EU, Jugendstraf­ verfahrens-RL, ABl. L 132, 1, Erwägungsgrund (1), Art. 3 Abs. 1. 26 So jedenfalls in der deutschen („werden […] unterstützt“), englischen („shall be assisted“), französischen („sont assistés“), spanischen („recibirán asistencia“), niederländischen („worden […] bijgestaan“) und schwedischen („ska […] biträdas“) Sprachversion. 27 Vgl. dazu sogleich u. Kap. 3 A. III. 1. c). 28 Vgl. so Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 26.10.2016 – 2016/1919/EU, PKH-RL, ABl. L 297, 1, Erwägungsgrund (1).

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Kap. 3: Implementation und Ergänzung der menschenrechtlichen Vorgaben  

die Polizei oder eine andere Strafverfolgungsbehörde zur Verfügung stehen, vgl. Art. 4 Abs. 5 PKH-RL.29 Die Verteidigungsbeistands-RL sieht auch eine zwingende Unterstützung durch einen Rechtsbeistand i. S. v. Art. 2 Abs. 1 lit.  b PKH-RL vor. Der Wortlaut der deutschen Fassung von Art. 3 Abs. 2 Verteidigungsbeistands-RL („können unver­ züglich Zugang zu einem Rechtsbeistand erhalten“) erweckt zwar den Anschein, dass die Regelung den Mitgliedstaaten einräumt, dem Verdächtigen bzw. der be­ schuldigten Person nur ein fakultatives Beistandsrecht zu gewähren. Die deutsche Sprachversion ist jedoch lediglich eine von 24 verbindlichen Sprachversionen, vgl. Art. 342 AEUV.30 Eine zutreffende Wortlautauslegung,31 die zugleich eine einheit­ liche Anwendung und Auslegung des Unionsrechts garantiert, kann daher nicht anhand einer einzelnen Amtssprache erfolgen, sondern muss im Kontext auch der anderen Amtssprachen ermittelt werden.32 Ergibt sich danach eine Abweichung der unterschiedlichen Sprachfassungen voneinander, entscheiden die allgemeine Systematik und der Zweck der Regelung über die maßgebliche Auslegung.33 Im Gegensatz zur deutschen Regelung ist Art. 3 Verteidigungsbeistands-RL in der englischen und der spanischen Version jeweils als Soll-Regelung formuliert, das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand muss danach grundsätzlich in die­ sen Situationen vorgesehen sein.34 Die französische, die niederländische und die schwedische Version gehen sogar darüber hinaus und legen fest, dass Verdächtige und beschuldigte Personen ein Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand haben bzw. haben werden und legen damit eine zwingende Regelung fest.35 Da die verschiedenen Sprachfassungen voneinander abweichen, muss Art. 3 Abs. 2 Verteidigungsbeistands-RL unter Berücksichtigung seiner allgemeinen Sys­ 29

Vgl. in diesem Sinne Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 26.10.2016 – 2016/1919/ EU, PKH-RL, ABl. L 297, 1, Erwägungsgrund (19), (10). 30 S. dazu Rat, Verordnung v. 20.11.2006 – (EG) 1791/2006, ABl. L 363, 1, S. 80, lediglich mit Ausnahme des Luxemburgischen. 31 M. w. N. zur Bedeutung der Wortlautauslegung in der Argumentation des EuGH Dederichs, EuR 2004, 349 ff. 32 St. Rspr. EuGH, Urteil v. 22.9.2016 – C-113/15, Breitsamer und Ulrich, Rn. 58; Urteil v. 4.10.2007 – C-457/05, Schutzverband der Spirituosen-Industrie, Slg. 2007, I-8092 Rn. 17; Urteil v. 19.4.2007 – C-63/06, Profisa, Slg. 2007, I-3241 Rn. 13; Urteil v. 2.4.1998 – C-296/95, EMU Tabac, Slg. 1998, I-1629 Rn. 36 jeweils m. w. N.; Calliess / Ruffert-Wichard, AEUV / EUV, Art. 342 AEUV Rn. 11. 33 St. Rspr. EuGH, Urteil v. 22.9.2016 – C-113/15, Breitsamer und Ulrich, Rn. 58 m. w. N.; Urteil v. 4.10.2007 – C-457/05, Schutzverband der Spirituosen-Industrie, Slg. 2007, I-8092 Rn. 18; Urteil v. 23.10.2003 – C-245/01, RTL Television, Slg. 2003, I-12505 Rn. 99; Urteil v. 19.4.2007 – C-63/06, Profisa, Slg. 2007, I-3241 Rn. 14; Urteil v. 1.4.2004 – C-1/02, Borgmann, Slg. 2004, I-3238 Rn. 25, jeweils m. w. N. 34 Vgl. dort Art. 3 Abs. 2 Verteidigungsbeistands-RL in der englischen („shall have access to a lawyer“) bzw. in der spanischen („tendrá derecho a ser asistido“) Version. 35 Vgl. dort Art. 3 Abs. 2 Verteidigungsbeistands-RL in der französischen („ont accès à un avocat“), der niederländischen („hebben […] toegang tot een advocaat“) und der schwedischen („ska […] ha rätt till tillgång till försvarare“) Version.

A. Strafrechtliche Prozesskostenhilfe nach Maßgabe der PKH-RL

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tematik und seines Zwecks ausgelegt werden. Sinn und Zweck der Verteidigungs­ beistands-RL ist, das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand für Verdächtige und beschuldigte Personen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu ver­ einheitlichen und insbesondere festzulegen, wann dieses Recht Verdächtigen und beschuldigten Personen zustehen muss. Die Regelung wäre dann ineffektiv, wenn sie den Mitgliedstaaten lediglich auftrüge, Rechtsbeistand zugänglich machen zu können. Auch die allgemeine Systematik der PKH-RL spricht für eine Aus­ legung von Art. 3 Abs. 2 PKH-RL als obligatorische Regelung. Denn Art. 3 Abs. 5, 6 Verteidigungsbeistands-RL enthalten sehr eng gefasste Ausnahmetat­ bestände, die dann überflüssig wären, wenn die Regelung des Zugangs zu einem Rechtsbeistand für die Mitgliedstaaten ohnehin fakultativ wäre. Insofern wird über den Verweis „nach Maßgabe des Unionsrechts“ auf Art. 3 Abs. 2 Verteidi­ gungsbeistands-RL verwiesen und so sichergestellt, dass die PKH-RL jedenfalls in allen notwendigen Beistandssituationen der Verteidigungsbeistands-RL auch anwendbar ist. (2) Dynamischer Verweis auf künftige Rechtsakte Durch den Generalverweis auf das Unionsrecht hat der unionale Gesetzgeber den Anwendungsbereich auch für zukünftige Entwicklungen öffnen wollen. Richt­ linien geben für die Mitgliedstaaten verbindliche Ergebnisse vor, die fristgerecht umgesetzt werden müssen.36 Verweist eine Richtlinie in ihrem Anwendungsbereich auf Unionsrecht, das nach Erlass der Richtlinie durch neue Rechtsakte ergänzt wird, verändert sich der Anwendungsbereich der Richtlinie in diesem Verhältnis ebenso. Das führt jedoch zu dem Problem, dass das die Richtlinie umsetzende mitgliedstaatliche Recht den damaligen Umsetzungsstandard abbildet, nicht aber zwangsläufig die danach erst eintretende dynamische Entwicklung. Regelt ein wei­ terer Unionsrechtsakt im Nachhinein ein zwingendes Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand, führt das Fehlen einer spiegelbildlichen Regelung im mitglied­ staatlichen Recht für strafrechtliche Prozesskostenhilfe zu einem unmittelbaren Unionsrechtsverstoß.37 Dieser dynamische Verweis auf Unionsrecht wie nationa­ les Recht bewirkt folglich, dass jede weitere Regelung eines Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand sowohl von der Union als auch von den Mitgliedstaaten eine daran angepasste Möglichkeit des Zugangs zu strafrechtlicher Prozesskos­ tenhilfe erfordert, wenn sie sich nicht in Widerspruch zur PKH-RL setzen wollen. Dadurch wird der zukünftige Gleichlauf der Entwicklung des Rechts auf Zugang

36

Vgl. Art. 288 Abs. 3 AEUV, m. w. N. GHN-Nettesheim, EUV / A EUV, Art. 288 AEUV Rn.  112 ff., 142 ff.; Calliess / Ruffert-Ruffert, AEUV / EUV, Art. 288 AEUV Rn. 23 ff., 51 ff. 37 Zu dieser Problematik kann es auch kommen, wenn der EGMR durch eine Rechtspre­ chungsänderung oder -ergänzung das Schutzniveau für strafrechtliche Prozesskostenhilfe anhebt, vgl. dazu Callewaert, ZEuS 2014, 81

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Kap. 3: Implementation und Ergänzung der menschenrechtlichen Vorgaben  

zu einem Rechtsbeistand und des Rechts auf strafrechtliche Prozesskostenhilfe sichergestellt. bb) Nach Maßgabe des nationalen Rechts Art. 2 Abs. 1 lit. b PKH-RL verweist ebenso auf das nationale Recht. Der An­ wendungsbereich der PKH-RL soll danach eröffnet sein, wenn mitgliedstaatliche Regelungen das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand vorschreiben. Der Verweis ins nationale Recht perpetuiert an dieser Stelle die Ungleichheiten zwischen den strafprozessualen Systemen der Mitgliedstaaten. Diejenigen Mit­ gliedstaaten, die bereits jetzt weitgehende Zugangsmöglichkeiten zu Rechtsbei­ ständen vorsehen, werden konsequenterweise auch häufiger und flächendeckender Zugang zu kostenloser Verteidigung ermöglichen müssen als andere Mitgliedstaa­ ten ohne vergleichbar umfangreiche Regelungen. Eine Vereinheitlichung zwischen den Mitgliedstaaten wird durch diese Vorschrift nicht erreicht. Die PKH-RL bezweckt jedoch lediglich, „gemeinsame Mindestvorschriften“ zu schaffen.38 Insofern ist bereits begrüßenswert, dass die PKH-RL wenigstens absichert, dass strafrechtliche Prozesskostenhilfe in essenziellen Situationen zur Verfügung steht und darüber hinaus auch dann, wenn das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand im nationalen Recht verpflichtend vorgesehen ist. Si­ tuationen, in denen ein Verteidiger auf Wunsch des Verdächtigen oder der be­ schuldigten Person verpflichtend anwesend sein dürfen muss, werden dadurch für alle Verdächtigen und beschuldigten Personen gleichermaßen zugänglich. Innerhalb dieser Mitgliedstaaten verbessert die PKH-RL über diese Erweiterung des Anwendungsbereichs die Chancengleichheit für bedürftige Verdächtige und beschuldigte Personen. b) Vorgeschriebener Zugang zu einem Rechtsbeistand bei bestimmten Ermittlungs- oder Beweiserhebungshandlungen und nach Entzug der Freiheit Gem. Art. 2 Abs. 1 lit. a, c PKH-RL findet die PKH-RL auf solche Verdächti­ gen und beschuldigten Personen Anwendung, denen die Freiheit entzogen ist oder deren Anwesenheit bei einer der dort abschließend benannten Ermittlungs- oder Beweiserhebungshandlungen vorgeschrieben oder zulässig ist. Beide Regelungen werden an dieser Stelle gemeinsam besprochen, weil beide als auslösende Momente prozessuale Handlungen aufzählen, die bereits über 38 Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 26.10.2016 – 2016/1919/EU, PKH-RL, ABl. L 297, 1, Erwägungsgrund (2).

A. Strafrechtliche Prozesskostenhilfe nach Maßgabe der PKH-RL

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den Verweis auf Art. 3 Abs. 2 Verteidigungsbeistands-RL vorausgesetzt wer­ den. Art. 2 Abs. 1 lit.  a PKH-RL findet seine Entsprechung in Art. 3 Abs. 2 lit.  c Verteidigungsbeistands-RL, Art. 2 Abs. 1 lit.  c PKH-RL in Art. 3 Abs. 2 lit.  b i. V. m. Abs. 3 Verteidigungsbeistands-RL. Nach der oben gewählten Auslegung der Begriffsgruppe „nach Maßgabe des Unionsrechts“ ist die PKH-RL in allen Situationen anwendbar, in denen Verteidigungsbeistand nach Art. 3 Abs. 2 Verteidigungsbeistands-RL zwingend ist. Diese Lesung von Art. 2 Abs. 1 lit.  b PKH-RL macht die gesonderte Nennung in Art. 2 Abs. 1 lit. a, c PKH-RL redundant. Dies könnte die obige Auslegung in Zweifel ziehen. Denn dadurch wird die gesamte Regelungsstruktur von Art. 2 Abs. 1 PKH-RL ad absurdum geführt: Für einen Gleichlauf von PKH-RL und Verteidigungsbeistands-RL hätte ebenso ein Verweis auf die Verteidigungsbeistands-RL oder lediglich die Aufzählung von lit. b als zusätzlicher Voraussetzung genügt.39 Die Regelungsstruktur von Art. 2 Abs. 1 PKH-RL könnte ebenfalls nahelegen, dass der Verweis „nach Maßgabe des Unionsrechts“ enger zu verstehen ist. Denn durch das „und“ zwischen den persönlichen („Verdächtige oder beschuldigte Personen“) und sachlichen Anwen­ dungsvoraussetzungen („nach Maßgabe der [Verteidigungsbeistands-RL]“) sollen die strafprozessualen Auslöser augenscheinlich zusätzliche, kumulative Voraus­ setzungen vorliegen müssen, um den Anwendungsbereich im Vergleich zur Ver­ teidigungsbeistands-RL zu verengen. Die Entstehungsgeschichte der PKH-RL kann dies ebenso wenig aufklären. Ursprünglich war der Anwendungsbereich im Entwurf der Kommission deutlich begrenzter. Danach sollte die PKH-RL nur auf Verdächtige oder beschuldigte Personen Anwendung finden, die nach Maßgabe der Verteidigungsbeistands-RL einen Anspruch auf Rechtsbeistand haben und denen die Freiheit entzogen ist, vgl. Art. 2 lit. a RL-E-KOM. Der Rat übernahm diesen Vorschlag hinsichtlich des Anwendungsbereiches, vgl. Art. 2 Abs. 1 lit.  a RL-E-Rat. Erst das Europäische Parlament erweiterte in seinem ersten Änderungsentwurf vom 18. Mai 2015 den Anwendungsbereich radikal, indem es ihn für alle Verdächtigen und beschuldigten Personen in Strafverfahren eröffnete, die Anspruch auf Zugang zu einem Rechts­ beistand nach Maßgabe der Verteidigungsbeistands-RL oder anderer verbindlicher Rechtsakte der Union über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für verdächtige Kinder haben.40 Dies sollte gerade eine weitestgehende Kongruenz zwischen dem Anwendungsbereich der Verteidigungsbeistands-RL und der PKH-RL festlegen. Im zuletzt veröffentlichten Standpunkt des Europäischen Parlaments zur PKH-RL dagegen findet sich die auch nun in Art. 2 Abs. 1 PKH-RL aufgenommene Rege­ lung des Anwendungsbereichs, nach der nicht nur der Zugang nach Maßgabe der Verteidigungsbeistands-RL maßgeblich ist, sondern darüber hinaus die Voraus­ setzungen von Art. 2 Abs. 1 lit. a-c PKH-RL vorliegen müssen. Die Historie der 39

Vgl. in diesem Sinne noch Europäisches Parlament, Bericht v. 18.5.2015 – A8–0165/2015, S. 25, 38. 40 Europäisches Parlament, Bericht v. 18.5.2015 – A8–0165/2015, S. 25.

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Kap. 3: Implementation und Ergänzung der menschenrechtlichen Vorgaben  

PKH-RL spricht somit ebenfalls dafür, dass den zusätzlich normierten Auslösern gerade eine beschränkende Funktion zukommen soll. Nach hiesiger Auffassung ist diese Beschränkung jedoch redaktionell miss­ glückt. Selbst wenn „nach Maßgabe des Unionsrechts“ so ausgelegt würde, dass die Verteidigungsbeistands-RL davon nicht erfasst wäre, hätte Art. 2 Abs. 1 lit. a, c PKH-RL nur scheinbar eine eigenständige Funktion. Denn Art. 2 Abs. 1 lit. b PKH-RL verweist nicht nur auf das Unionsrecht, sondern auch auf verbindliches nationales Recht, das zwingend den Zugang zu einem Verteidiger vorschreibt. Da die Mitgliedstaaten seit dem 27. November 2016 die Inhalte der Verteidigungs­ beistands-RL in nationales Recht umsetzen mussten, sind diese Vorschriften in­ zwischen verbindliches, nationales Recht und verlangen auch danach eine An­ wendung der PKH-RL. Die Änderungen des Europäischen Parlaments in seinem Standpunkt vom 4. Oktober 2016 im Vergleich zur ersten Version am 18. Mai 2015 sollten einen Kompromiss nach langer Diskussion zwischen Kommission, Europäischem Parlament und Rat abbilden. Dafür schlug der Berichterstatter des Ausschusses für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres, Dennis De Jong, eine Änderung vor, die zur heutigen Regelung führte.41 Diese Änderung bewirkt diese intendierte Beschränkung des Anwendungsbereichs jedoch nicht, weil die Ver­ weise auf Unionsrecht und nationales Recht doch zu einem umfangreichen Gleich­ lauf von Verteidigungsbeistands-RL und PKH-RL führen. Es scheint, als sei der vermeintliche Kompromiss gegenüber Rat und Kommission jedenfalls im Hinblick auf den Anwendungsbereich der PKH-RL nur formal erfolgt, ohne aber in mate­ rieller Hinsicht tatsächlich ihren Anwendungsbereich zu beschränken. In diesem Sinne betonen die Voraussetzungen in Art. 2 Abs. 1 lit. a,  c PKH-RL lediglich bestimmte prozessuale Situationen, in denen strafrechtliche Prozesskostenhilfe zugänglich sein muss. Sie haben jedoch gegenüber dem Verweis in Art. 2 Abs. 1 lit. b PKH-RL keinen selbständigen Regelungsgehalt.

II. Autonome Begriffsbestimmung des „Strafverfahrens“ Gem. Art. 2 PKH-RL findet die PKH-RL auf Verdächtige und beschuldigte Per­ sonen in einem Strafverfahren Anwendung. Weder die PKH-RL noch die anderen Richtlinien zu den Verteidigungsrechten ebenso wie die begleitenden Materialien von Rat und Kommission definieren den Begriff des Strafverfahrens. Lediglich im gescheiterten Rb-Verteidigungsrechte von 2004 hat die Kommission den Begriff des Strafverfahrens bestimmt als ein „Verfahren innerhalb der Europäischen Union […], in de[m] die Schuld oder Unschuld einer Person, die der Begehung einer Straf­ tat verdächtigt wird, festgestellt [wird] oder in de[m] über den Ausgang des Ver­ fahrens entschieden werden soll, nachdem die Person sich der Anklage für schul­

41

Rat, Informatorischer Vermerk v. 5.10.2016 – 12842/16, S. 1.

A. Strafrechtliche Prozesskostenhilfe nach Maßgabe der PKH-RL

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dig bekannt hat.“42 Diese Definition ähnelt bereits jener, die EMRK und GRCh zugrunde legen, unterscheidet sich jedoch durch die explizite Erwähnung und den Einbezug des auf eine konsensuale Verständigung folgenden Strafverfahrens. Da die PKH-RL selbst keine eigene Definition enthält, schien über die in EMRK und GRCh bekannten Konkretisierungen hinaus kein eigener Regelungsbedarf zu be­ stehen. Daher sollte auch auf die obigen Definitionen von EMRK und GRCh zum Strafverfahrensbegriff zurückgegriffen werden. 1. Einbezug justizieller Entscheidungen Die PKH-RL legt einen der GRCh ähnlichen materiellen Begriff des Strafver­ fahrens zugrunde, der auch vorbereitende und begleitende justizielle Entscheidun­ gen miteinbezieht, die nicht direkt für die Bestimmung von Schuld oder Unschuld des Verdächtigen oder der beschuldigten Person von Belang sind, aber die Wahr­ heitsermittlung wenigstens mittelbar fördern. Dies macht die PKH-RL deutlich am Haftprüfungsverfahren. Gem. Art. 4 Abs. 4 lit. a PKH-RL ist dies als integ­ raler Bestandteil des Strafverfahrens zu verstehen. Denn danach ist ein Interesse der Rechtspflege zu bejahen, wenn ein Verdächtiger oder eine beschuldigte Person im Anwendungsbereich der PKH-RL einem zuständigen Gericht oder einem zu­ ständigen Richter zur Entscheidung über eine Haft vorgeführt wird. Der Wortlaut nimmt gerade jede „Entscheidung über eine Haft“ in Bezug, sodass auch fortlau­ fende Haftprüfungstermine von diesem Artikel umfasst sein sollen – und somit jeder Abschnitt des Haftprüfungsverfahrens in den Schutzbereich strafrechtlicher Prozesskostenhilfe einbezogen wird. Zu anderen Verfahrenshandlungen enthält sich die PKH-RL. Insofern bleiben allein die oben im Rahmen von EMRK und GRCh erläuterten Standards maßgeblich. 2. Einbezug transnationaler Strafverfahren? Für transnationale Strafverfahren beschränkt sich die PKH-RL auf die Harmo­ isierung der Voraussetzungen und Rechtsfolgen strafrechtlicher Prozesskostenhilfe für das Verfahren des Europäischen Haftbefehls. Insofern stellt sich die Frage, ob auch das transnationale Strafverfahren diesem Strafverfahrensbegriff unterfällt oder dieser Begriff auf das nationale Strafverfahren allein beschränkt ist. Dann wären die Regelungen in Art. 5 PKH-RL somit nur Ausdruck einer ausnahms­ weise vorgenommenen Erweiterung dieser Garantien auf grenzüberschreitende Sachverhalte.

42

Kommission, Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des Rates v. 28.4.2004 – COM(2004) 328 final, Rb-Verteidigungsrechte, Rn. 32, Art. 1 Abs. 1.

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Kap. 3: Implementation und Ergänzung der menschenrechtlichen Vorgaben  

Systematisch betrachtet ist in der PKH-RL kein weiter, das transnationale Straf­ verfahren umfassender Begriff des Strafverfahrens zugrunde gelegt worden. Denn das Verfahren des Europäischen Haftbefehls wird gesondert erfasst und der davon Betroffene als „gesuchte Person“ ebenso gesondert benannt, vgl. Art. 1 Abs. 1 lit. b, Art. 2 Abs. 2, Art. 5 PKH-RL. Dies folgt ebenso aus den offiziellen Titeln von Art. 4 PKH-RL („Prozesskostenhilfe in Strafverfahren“) sowie Art. 5 PKH-RL („Prozesskostenhilfe in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbe­ fehls“), die das Verfahren des Europäischen Haftbefehls als getrennt vom eigent­ lichen Strafverfahren normieren. Zu anderen transnationalen Ermittlungshand­ lungen äußert sich die PKH-RL nicht. Daraus scheint ein klarer Regelungswille für das Europäische Haftbefehlsverfahren zu sprechen, wogegen andere Formen transnationalen Handelns nicht Gegenstand dieser Angleichung sein sollten.43 Dagegen definiert die PKH-RL den Begriff des Strafverfahrens gerade nicht konkret und postuliert in Art. 11 PKH-RL ein Regressionsverbot zulasten der Be­ stimmungen von EMRK und GRCh. Damit gibt die PKH-RL den Mitgliedstaa­ ten den Auftrag, das Mindestschutzniveau von Charta und EMRK umzusetzen.44 Daraus könnte gefolgert werden, dass die PKH-RL nicht hinter dem insbesondere von der Charta vorgegebenen Gewährleistungsrahmen für strafrechtliche Prozess­ kostenhilfe zurückbleiben kann. Doch lässt sich in dieser Form eine Richtlinie gerade nicht auf ihre Konventionskonformität bzw. auf ihre Konformität mit den Gewährleistungen der Charta überprüfen. Sie ist nicht allein deswegen konven­ tionswidrig, weil sie bestimmte Bereiche strafrechtlicher Prozesskostenhilfe nicht normiert. Der unionale Gesetzgeber hat einen Spielraum, welche Bereiche er im Wege einer Richtlinie harmonisiert und in welchem Umfang. Dabei unterliegt nur der durch die PKH-RL harmonisierte Bereich der Überprüfung anhand der Charta. Die von ihr nicht geregelten Bereiche sind damit weiterhin den nationalen Bemü­ hungen der Mitgliedstaaten und der Anwendung von Art. 48 Abs. 2 GRCh, Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK überlassen. Der Unionsgesetzgeber kann folglich wählen, welche Bereiche strafrechtlicher Prozesskostenhilfe überhaupt harmonisiert werden sollen, und dies auch über einen autonomen Begriff des Strafverfahrens umsetzen – wie in der PKH-RL. Die Systematik und Wortlautfassung legen nahe, dass nicht ein Ausschnitt eines so­ wieso von Art. 4 PKH-RL erfassten Verfahrens besonders geregelt werden sollte, sondern dass Art. 5 PKH-RL diese Gewährleistungen auf das Europäische Haft­ befehlsverfahren erstrecken muss, weil dieses sonst über Art. 4 PKH-RL nicht abgedeckt wäre. Das bedeutet, dass die PKH-RL einen auf das nationale Straf­ verfahren beschränkten Strafverfahrensbegriff zugrunde legt, über die Sonder­ regelung in Art. 5 PKH-RL aber wenigstens für das Verfahren des Europäischen 43

Krit. zu dieser fehlenden Erstreckung auf andere transnationale Maßnahmen Brodowski, ZIS 2016, 116. 44 Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 26.10.2016 – 2016/1919/EU, PKH-RL, ABl. L 297, 1, Erwägungsgrund (30); krit. zur tatsächlichen Effektivität Callewaert, ZeuS 2014, 82.

A. Strafrechtliche Prozesskostenhilfe nach Maßgabe der PKH-RL

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Haftbefehls strafrechtliche Prozesskostenhilfe entsprechend anwendbar sein lässt. Andere transnationale strafprozessuale Maßnahmen sollten jedoch ausdrücklich nicht zum Gegenstand der PKH-RL gemacht werden. Auch wenn der Einbezug des Europäischen Haftbefehlsverfahrens in die PKH-RL und in die Verteidigungsbeistands-RL die bislang größte Anerkennung der Verteidi­ gungsrechte im transnationalen Strafverfahren bedeutet,45 ist die Ausklammerung anderer transnationaler Zwangsmaßnahmen enttäuschend. Zwar ist der Europäi­ sche Haftbefehl wohl das intensivste Eingriffsinstrument. Gleichwohl haben die von anderen transnationalen Verfolgungsmaßnahmen Betroffenen eine europaweit einheitliche Klärung ihrer Verteidigungsrechte erwarten können. Insoweit bleibt die Regelung dieses Bereichs den Mitgliedstaaten frei überlassen. Sie sind damit zwar an Charta und EMRK gebunden und müssen nach hiesiger Auffassung ein Prozesskostenhilfesystem unter Einbezug aller transnationalen Maßnahmen etab­ lieren.46 Wie jedoch alle bisherigen Richtlinien zu den Verteidigungsrechten rich­ tigerweise festhielten, wird allein durch die Bindung an EMRK, IPbpR und Charta „nicht immer ein hinreichendes Maß an Vertrauen in die Strafjustiz anderer Mit­ gliedstaaten geschaffen“.47 Zudem bestanden die bisher unzureichenden Regelun­ gen strafrechtlicher Prozesskostenhilfe in der Europäischen Union in den Mitglied­ staaten, obwohl diese an die EMRK gebunden waren unddie Mitgliedstaaten deren Erfordernisse längst hätten umsetzen müssen. Dass andere transnational-strafpro­ zessuale Maßnahmen als der Europäische Haftbefehl nicht geregelt wurden, ver­ passt – wahrscheinlich auf Jahre hin – die Chance, diese betroffenen Personen mit rein national Verdächtigen bzw. beschuldigten Personen gleichzustellen.

III. Voraussetzungen strafrechtlicher Prozesskostenhilfe gem. Art. 4 PKH-RL Gem. Art. 4 Abs. 1 PKH-RL stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass Verdächti­ gen und beschuldigten Personen, die nicht über ausreichende Mittel zur Bezahlung eines Rechtsbeistands verfügen, Anspruch auf Prozesskostenhilfe haben, wenn es im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. Insoweit nimmt die PKH-RL beide Voraussetzungen auf, die in Art. 6 Abs. 3 lit.  c EMRK postuliert und über den Generalverweis in Art. 48 Abs. 2 GRCh aufgenommen werden. Die Mitgliedstaa­ ten können gemäß Art. 4 Abs. 2 PKH-RL wählen, ob sie nur eine Bedürftigkeits­ 45

Dies ebenso pos. bewertend Callewaert, ZeuS 2014, 81 f. Vgl. o. Kap. 2 A. III. 1. b), B. III. 1. b). 47 Vgl. Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 26.10.2016 – 2016/1919/EU, PKH-RL, ABl. L 297, 1, Erwägungsgrund (3); Richtlinie v. 22.10.2013 – 2013/48/EU, Verteidigungs­ beistands-RL, ABl. L 294, 1, Erwägungsgrund (5); Richtlinie v. 22.5.2012 – 2012/13/EU, Be­ lehrungs-RL, ABl. L 142, 1, Erwägungsgrund (7); Richtlinie v. 11.3.2016 – 2016/343/EU, Un­ schuldsvermutungs-RL, ABl. L 65, 1, Erwägungsgrund (5); Richtlinie v. 11.5.2016 – 2016/800/ EU, Jugendstrafverfahrens-RL, ABl. L 132, 1, Erwägungsgrund (3). 46

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Kap. 3: Implementation und Ergänzung der menschenrechtlichen Vorgaben  

prüfung,48 eine Prüfung des Rechtspflegeinteresses oder eine kumulative Prüfung vorsehen wollen.49 1. Erforderlichkeit im Interesse der Rechtspflege Die PKH-RL spricht zwar auch von Interessen der Rechtspflege, vgl. Art. 4 Abs. 1 PKH-RL, bezeichnet diese später jedoch als materielle Kriterien, vgl. Art. 4 Abs. 2, 4 PKH-RL. Art. 4 Abs. 4 S. 1 PKH-RL konkretisiert, welche Kriterien als sog. materielle Kriterien über die Gewährleistung von strafrechtlicher Prozesskos­ tenhilfe entscheiden sollen. Maßgeblich für die Prüfung sollen insbesondere die Schwere der Straftat, die Komplexität des Falles und die Schwere der zu erwar­ tenden Strafe sein.50 Dadurch greift die PKH-RL die in der Rechtsprechung des EGMR übliche Auslegung des Kriteriums des Rechtspflegeinteresses auf. Zugleich sind diese Begriffe jedoch unbestimmt und müssen über die dazugehörige Recht­ sprechung des EGMR ausgefüllt werden. Demgemäß verbleibt den Mitgliedstaaten über diese unbestimmten Rechtsbegriffe ein gewisser Spielraum,51 der sich jedoch in den durch EMRK und Charta gesteckten Grenzen bewegt.52 Die PKH-RL räumt den Mitgliedstaaten darüber hinaus zusätzliches Ermessen ein, „die Prüfung der materiellen Kriterien bei bestimmten geringfügigen Zuwiderhand­ lungen als nicht erfüllt“ anzusehen,53 ohne dabei die Verpflichtungen nach EMRK und GRCh zu unterschreiten.54 Um diesen Umsetzungsspielraum konform mit den Anforderungen der EMRK und der GRCh auszufüllen, können die Mitgliedstaaten zwar Fallgruppen bilden und normieren. Diese Ausnahmen müssen jedoch widerleg­ lich ausgestaltet sein, um noch eine einzelfallgerechte Anwendung zu ermöglichen. Auch der EGMR arbeitet in seiner Rechtsprechung zum Teil mit solchen widerleg­ 48 Krit. zu einer derartigen Überbewertung des Bedürftigkeitsansatzes Generalversamm­ lung der UN, Resolution v. 20.12.2012  – A / R ES/67/187, UN-PKH-Leitlinien, Rn. 41 lit. a, insbesondere wenn es um minderjährige Verdächtige oder beschuldigte Personen geht, vgl. Rn. 41 lit. c. 49 Insgesamt pos. zu diesem Ansatz Schlothauer, StV 2018, 171; ebenso pos. zur Flexibilität für die einzelnen nationalen Strafprozesssysteme BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neu­ regelung des Rechts der notwendigen Verteidigung, 2018, https://www.bmjv.de/SharedDocs/ Gesetzgebungsverfahren/Dokumente/RefE_notwendige_Verteidigung.pdf;jsessionid=49B 7F541656D192978ABD36071E581B5.2_cid289?__blob=publicationFile&v=2 (geprüft am: 10.12.2019), S. 2. 50 So auch der Vorschlag der Generalversammlung der UN, Resolution v. 20.12.2012  – A / R ES/67/187, UN-PKH-Leitlinien, Rn. 21, 41 lit. e. 51 Sich für klare Kriterien aussprechend, um willkürliche Entscheidungen zu vermeiden: Longridge, Eur. J. Legal Stud. 6 (2013), 200. 52 Zu diesen Grenzen vgl. o. Kap. 2 A. II. 1., B. III. 2. 53 Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 26.10.2016 – 2016/1919/EU, PKH-RL, ABl. L 297, 1, Erwägungsgrund (13). 54 Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 26.10.2016 – 2016/1919/EU, PKH-RL, ABl. L 297, 1, Erwägungsgrund (14).

A. Strafrechtliche Prozesskostenhilfe nach Maßgabe der PKH-RL

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lichen Vermutungen: So hat er wiederholt betont, dass, sobald eine Freiheitsstrafe droht, das Rechtspflegeinteresse in der Regel gegeben ist. Bei Drohen geringfügiger Geldstrafen würde ein Rechtspflegeinteresse dagegen zumeist nicht vorliegen; dies sei jedoch nicht zwingend und der Auslegung im Einzelfall zugänglich.55 Um diese Abwägung für den jeweiligen konkreten Lebenssachverhalt zuzulassen, dürfen die Mitgliedstaaten folglich solche Fallgruppen zwar normieren, müssen jedoch deren Widerlegung für Verdächtige und beschuldigte Personen ermöglichen. Solche Vermutungen können aber auch zugunsten des Verdächtigen bzw. der beschuldigten Person wirken. Diese normiert die PKH-RL teils ausdrücklich, teils sind diese in einer gemeinsamen Lesung aus den Anforderungen der GRCh und EMRK abzuleiten. a) Vermutungswirkung bei Inhaftierung Art. 4 Abs. 4 S. 2 PKH-RL legt fest, dass die materiellen Kriterien „in jedem Fall“56 als erfüllt angesehen werden müssen, wenn der Verdächtige oder die be­ schuldigte Person einem zuständigen Gericht oder einem zuständigen Richter zur Entscheidung über eine Haft vorgeführt wird (lit. a) oder wenn er sich in Haft be­ findet (lit. b).57 Der Freiheitsentzug – bzw. die Entscheidung darüber – wird damit als Situation normiert, in der strafrechtliche Prozesskostenhilfe zugänglich sein muss. Damit orientiert sich die PKH-RL an der vom EGMR entwickelten Rechtsprechung zu den innerhalb des Haftprüfungsverfahrens zu gewährenden Verfahrensgarantien gem. Art. 5 Abs. 1 lit. c, Abs. 4 EMRK. Bereits bezüglich der Entscheidung über die Untersuchungshaft soll dem Verdächtigen oder der beschuldigten Person straf­ rechtliche Prozesskostenhilfe zur Verfügung stehen.58 Freiheitsentzug definiert die PKH-RL nur im negativen Sinne. Danach gelten nicht als Freiheitsentzug „die Identifizierung des Verdächtigen oder der beschuldigten Person, die Feststellung, ob Er­ mittlungen aufgenommen werden sollten, Überprüfungen auf Waffenbesitz oder Prüfungen ähnlicher Sicherheitsfragen, die Durchführung anderer als in dieser Richtlinie ausdrücklich genannter Ermittlungs- oder Beweiserhebungshandlungen wie Körperkontrollen, körperli­ che Untersuchungen, Blut-, Alkohol- oder ähnliche Tests, die Anfertigung von Fotografien

55

Vgl. o. Kap. 2, Fn. 28–30. In der englischen („in any event“), französischen („en tout état de cause“), niederlän­ dischen („en elk geval“) schwedischen („[u]nder alla omständigheter“) und spanischen („en cualquier caso“) Version ebenso absolut. 57 Eine solche Regelung bereits im frühen Stadium des Gesetzgebungsverfahrens fordernd ECBA, ECBA Touchstones, 2013, S. 11. 58 Pos. zur gleich lautenden Vorgängervorschrift in Art. 4 Abs. 2b RL-E-Rat, Brodowski, ZIS 2016, 115. 56

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Kap. 3: Implementation und Ergänzung der menschenrechtlichen Vorgaben  

oder die Abnahme von Fingerabdrücken und die Vorführung des Verdächtigen oder der beschuldigten Person vor eine zuständige Behörde nach Maßgabe des nationalen Rechts“.59

Durch diese Aufzählung soll scheinbar sichergestellt werden, dass nur vorü­ bergehende Ingewahrsamnahmen eines Verdächtigen oder einer beschuldigten Person, die nicht primär den Zweck der Freiheitsentziehung verfolgen, sondern zwingend notwendig sind, um Ermittlungshandlungen oder andere Zwangsmaß­ nahmen durchzuführen, keinen Anspruch auf unverzüglichen Zugang zu einem Rechtsbeistand auslösen. Dadurch zieht die PKH-RL den Begriff der Freiheitsentziehung jedoch deut­ lich enger als die EMRK und GRCh. Denn nach diesen ist zwar auch die Dauer ein wesentliches Merkmal, um die Freiheitsentziehung von einer nicht nach Art. 5 EMRK bzw. Art. 6 GRCh zu beurteilenden Freiheitsbeschränkung abzugrenzen. Die Dauer allein ist jedoch nicht maßgebend: Vielmehr können andere Umstände wie Art, Wirkung und Durchführung der jeweiligen Maßnahme bedingen, dass eine Freiheitsbeschränkung in eine besonderen Schutzmechanismen unterlie­ gende Freiheitsentziehung umschlägt.60 Eine derartige pauschale Ausnahme der in Erwägungsgrund (15) genannten Handlungen ist zwar rechtssicher, entbindet die Strafverfolgungsbehörden und die Polizei nicht davon, eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, um nicht mit ihren aus EMRK und GRCh erwachsenden Konven­ tionspflichten in Konflikt zu kommen. Jedenfalls als Freiheitsentzug im Sinne der PKH-RL gilt die Untersuchungshaft. Zutreffend werden so die Vorgaben von EMRK und GRCh umgesetzt, nach denen dieser intensive strafprozessuale Eingriff der Freiheitsentziehung –, obgleich die Schuld noch nicht festgestellt wurde, ein Interesse der Rechtspflege stets begrün­ det. Dabei ist es ebenso richtig, diesen Schutz bereits vor der Inhaftierungsent­ scheidung ansetzen zu lassen und nicht erst dann, wenn dem Verdächtigen oder der beschuldigten Person bereits die Freiheit entzogen ist. So wird dem Verdächtigen oder der beschuldigten Person bereits ermöglicht, ihre Verfahrensrechte wirksam und effektiv vor einer Haftentscheidung zu verwirklichen. Dadurch orientiert sich die PKH-RL sehr eng an den Gewährleistungen von GRCh und EMRK. b) Vermutungswirkung bei drohender Haftstrafe Die PKH-RL regelt nicht ausdrücklich, dass, sobald Haftstrafe droht, die Bei­ ordnung eines Verteidigers im Rechtspflegeinteresse geboten ist. Gleichwohl lässt sich dies aus Art. 4 Abs. 4 S. 1 PKH-RL schlussfolgern. Denn danach müssen die 59 Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 26.10.2016 – 2016/1919/EU, PKH-RL, ABl. L 297, 1, Erwägungsgrund (15); vgl. noch den vorher entworfenen zwingenden Ausschluss vom Anwendungsbereich, Rat, Allgemeine Ausrichtung v. 26.2.2015 – 6603/15, RL-E-Rat, Art. 2 Abs. 4 lit. a, b, d. 60 Vgl. m. w. N. o. Kap. 2. A. III. 1. a) bb), B. III. 1. a); mit weiterführenden Hinweisen zu mo­ dernen Methoden der „Freiheitsentziehung“ Morgenstern, Die Untersuchungshaft, S. 145 ff.

A. Strafrechtliche Prozesskostenhilfe nach Maßgabe der PKH-RL

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Mitgliedstaaten eine Prüfung der materiellen Kriterien, insbesondere auch anhand der Schwere der zu erwartenden Strafe, vornehmen. Zudem wird den Mitglied­ staaten bei der Umsetzung der PKH-RL aufgegeben, wenigstens das Mindest­ niveau an Schutz, wie es durch die GRCh und die EMRK vorgeschrieben ist, zu normieren.61 Der EGMR hat in seiner Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK konkretisierenden Rechtsprechung wiederholt betont, dass bei drohender Haftstrafe regelmäßig ein Rechtspflegeinteresse vorliege.62 In konventions- und chartakonformer Auslegung ist Art. 4 Abs. 4 S. 1 PKH-RL daher dahingehend auszulegen, dass, sobald eine Haftstrafe droht, regelmäßig die Gewährung strafrechtlicher Prozesskostenhilfe im Interesse der Rechtspflege geboten ist. c) Vermutung der Beiordnungspflicht bei Kindern Die PKH-RL selbst enthält keine Regelung, die strafrechtliche Prozesskosten­ hilfe speziell für kindliche oder jugend­liche Verdächtige oder beschuldigte Perso­ nen vorsieht. Gem. Art. 2 Abs. 1 lit. b PKH-RL findet die PKH-RL jedoch auch Anwendung, wenn der Verdächtige oder die beschuldigte Person nach Maßgabe des Unionsrechts Unterstützung durch einen Rechtsbeistand erhalten müssen. Dies ist für Kinder nach Art. 6 Jugendstrafverfahrens-RL der Fall und muss daher auch durch strafrechtliche Prozesskostenhilfe begleitet und ermöglicht werden.63 Art. 6 Jugendstrafverfahrens-RL regelt die Unterstützung durch einen Rechts­ beistand im Rahmen von Strafverfahren gegen Kinder und trifft diesbezüglich Sonderregelungen hinsichtlich des Umfangs der Gewährleistungen, aber auch be­ züglich möglicher Ausnahmen vom Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand.64 Art. 6 Jugendstrafverfahrens-RL soll durch Sonderregelungen für Untersuchungs­ haft, Kontaktmöglichkeiten zu Dritten, und Beistandsrechte die besondere Schutz­ bedürftigkeit von Kindern im Strafverfahren ausgleichen. Ursprünglich sollte eine Richtlinie geschaffen werden, die die Besonderheiten in Strafverfahren gegen „schutzbedürftige Personen“ insgesamt regelt.65 Es konnte jedoch keine konsens­ fähige Definition gefunden werden, wer zu diesen „schutzbedürftigen Personen“ dazugehören solle,66 sodass die Kommission sich auf „Kinder“ als leichter zu 61 Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 26.10.2016 – 2016/1919/EU, PKH-RL, ABl. L 297, 1, Erwägungsgrund (30). 62 Vgl. o. Kap. 2 A. II. 1. a). 63 Zwar ist die Jugendstrafverfahrens-RL erst zum 11.6.2019 und damit nach der PKH-RL umzusetzen, wegen des dynamischen Anwendungsbereichs der Richtlinie, vgl. o. Kap. 3 A. I. 2. a) aa) (2), ist eine Berücksichtigung sogleich jedoch anzuraten. 64 Cras, eucrim 2016, 111, 113 („most controversial article of the entire Directive“). 65 Kommission, Arbeitsunterlage v. 27.11.2013 – SWD(2013) 481 final, Folgenabschätzung Jugendstrafverfahrens-RL. 66 Kommission, Mitteilung v. 27.11.2013 – COM(2013) 820 final, S. 11; dazu Cras, eucrim 2016, 110; vgl. jedoch die Empfehlung der Kommission zum Umgang mit „schutzbedürftigen Personen“, Empfehlung v. 27.11.2013 – C(2013) 8178 final, Verfahrensgarantien für schutzbe­

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Kap. 3: Implementation und Ergänzung der menschenrechtlichen Vorgaben  

erfassende Gruppe beschränkte, weil diese auch prozentual den größten Anteil an „schutzbedürftigen Personen“ in Strafverfahren innerhalb der Europäischen Union ausmacht.67 Gem. Art. 6 Abs. 3 PKH-RL müssen Kinder unverzüglich von einem Rechts­ beistand unterstützt werden, wenn sie von ihrer Verdächtigung oder Beschuldi­ gung informiert werden,68 jedenfalls aber vor einer Befragung durch die Polizei oder andere Justizbehörden, vor dem Entzug der Freiheit, vor der Durchführung einer Gegenüberstellung oder Tatortrekonstruktion oder spätestens, wenn sie einem Gericht zur Entscheidung über Haft vorgeführt werden. Davon können die Mitgliedstaaten abweichen, wenn es im konkreten Einzelfall unverhältnismäßig wäre, Rechtsbeistand zu gewähren, dies jedoch nur unter Berücksichtigung des Kindeswohls, des Rechts auf ein faires Verfahren sowie der Schwere der Straftat, der Komplexität des Falles und der Maßnahmen, vgl. Art. 6 Abs. 6 S. 1 Jugendstraf­ verfahrens-RL.69 Lediglich im Fall der Vorführung zur Entscheidung über Haft oder wenn Haft bereits vollzogen wird, ist Kindern, wie erwachsenen Verdächti­ gen, ein Rechtsbeistand zu bestellen, Art. 6 Abs. 6 S. 2 Jugendstrafverfahrens-RL. Art. 6 Abs. 3 Jugendstrafverfahrens-RL sieht aber einen Spielraum der Mitglied­ staaten vor, im Einzelfall die Beiordnung eines Rechtsbeistands wegen Unverhältnismäßigkeit zu unterlassen. Insofern legt die PKH-RL lediglich fest, dass Freiheitsentzug nicht als Strafe verhängt werden sollte, wenn der jugendliche Be­ schuldigte nicht in der in Art. 6 Abs. 3 Jugendstrafverfahrens-RL angedachten Form von einem Rechtsbeistand unterstützt wurde.70 Es bleibt somit lediglich die Möglichkeit, von einer Beiordnung abzusehen, wenn geringfügige  – nicht frei­ heitsentziehende – Jugendsanktionen drohen oder das Verfahren ohnehin infor­ mell erledigt werden soll. Dies deckt sich auch mit der in EMRK und GRCh für jugendliche Beschuldigte geltenden Rechtslage.71

dürftige Personen, sowie einer dort vorgenommenen Definition als Personen, „die aufgrund ihres Alters, ihrer geistigen oder körperlichen Verfassung oder aufgrund von Behinderungen nicht in der Lage sind, einem Strafverfahren zu folgen oder tatsächlich daran teilzunehmen“, vgl. Erwägungsgrund (1). 67 Kommission, Arbeitsunterlage v. 27.11.2013 – SWD(2013) 481 final, Folgenabschätzung Jugendstrafverfahrens-RL, S. 3; die Kommission schätzt, dass von allen von Strafverfahren betroffenen Europäern 12 % Kinder und 4–8 % in anderer Hinsicht schutzbedürftig sind. 68 Diesen Zeitpunkt daher als grds. Beiordnungszeitpunkt ansehend Bahns / Burkert / ​ Guthke / Kitlikoglu u. a., Neuordnung der Pflichtverteidigerbestellung, S. 20. 69 Grds. zust. m. w. N. Eisenberg, JGG, Einleitung Rn. 12i; für eine praktikable Umsetzung plädierend Brunner / Dölling, JGG, Einf. Rn. 130 a. E.; ebenso eine bedingungslose Beiordnung von Rechtsbeiständen abl. Ostendorf-Sommerfeld, JGG, Grdl. z. §§ 67–69 Rn. 10b. 70 Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 11.5.2016 – 2016/800/EU, Jugendstrafverfah­ rens-RL, ABl. L 132, 1, Erwägungsgrund (30). 71 Vgl. o. Kap. 2 A. II. 1. b) bb).

A. Strafrechtliche Prozesskostenhilfe nach Maßgabe der PKH-RL

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2. Bedürftigkeit Die PKH-RL definiert „Bedürftigkeit“ als das Fehlen ausreichender Mittel zur Bezahlung eines Rechtsbeistands, vgl. Art. 4 Abs. 1 PKH-RL. Insofern orientiert sich die PKH-RL diesbezüglich an der EMRK. Dafür enumeriert Art. 4 Abs. 3 PKH-RL verschiedene Kriterien für die Bewertung der Vermögenslage des Ver­ dächtigen oder der beschuldigten Person. Danach müssen sämtliche relevanten und objektiven Kriterien einbezogen werden, zu denen u. a. Einkommen,72 Vermögen und familiäre Verhältnisse der betroffenen Person, die Kosten der Unterstützung durch einen Rechtsanwalt und der Lebensstandard in diesem Mitgliedstaat gehören. Die Kriterien in Art. 4 Abs. 3 PKH-RL geben für die Mitgliedstaaten einen Er­ mittlungsrahmen vor, belassen ihnen bei der Auslegung jedoch Spielraum zur Ge­ wichtung und Anpassung der Kriterien an ihre jeweiligen Verhältnisse. Es wird den Mitgliedstaaten lediglich aufgegeben, den Kostenaufwand eines Rechtsanwalts zu ermitteln und diesen mit Einkommen und Vermögen der betroffenen Person abzugleichen, abzüglich dessen, wie viel diese Person im jeweiligen Mitgliedstaat für ihren Lebensunterhalt aufwenden muss.73 Bei der Berücksichtigung der Ver­ hältnisse des Verdächtigen bzw. der beschuldigten Person sollen neben Einkom­ men und Vermögen auch die familiären Verhältnisse berücksichtigt werden, also Unterhaltspflichten für andere Familienmitglieder. Diese Kriterien sind jedoch nur beispielhaft aufgezählt und ermöglichen den Mitgliedstaaten darüber hinaus­ gehend noch weitere Voraussetzungen zu normieren. Insofern gibt die PKH-RL den Mitgliedstaaten lediglich auf, allgemein verbindliche, transparente Kriterien zu verwenden, die einer nachträglichen Kontrolle im Rechtswege offenstehen.74 Dadurch können die Mitgliedstaaten die Bedürftigkeit angepasst und zugeschnit­ ten auf ihre jeweiligen Maßstäbe hin regeln.

IV. Ermittlungsverfahren als Ausgangspunkt der Partizipationsrechte des Verdächtigen oder der beschuldigten Person Die PKH-RL zielt ebenso wie die EMRK und die GRCh auf eine im Ermittlungs­ verfahren ansetzende Beteiligung des Verdächtigen oder der beschuldigten Person über den staatlich finanzierten Beistand eines Verteidigers. Dies deutet sich bereits 72

Mit weiteren Erwägungen zur Zurechnung von Einkommen anderer Haushaltsmitglieder, vgl. Generalversammlung der UN, Resolution v. 20.12.2012 – A / R ES/67/187, UN-PKH-Leit­ linien, Rn. 41 lit. f. 73 Dagegen spricht sich die ECBA dafür aus, die Kommission für jeden Mitgliedstaat ver­ bindliche Schwellenwerte gemessen am durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen festsetzen zu lassen, vgl. ECBA, ECBA Touchstones, 2013, S. 12. 74 Zur transparenten Handhabung der Bedürftigkeitskriterien vgl. Generalversammlung der UN, Resolution v. 20.12.2012 – A / R ES/67/187, UN-PKH-Leitlinien, Rn. 41 lit. b.

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Kap. 3: Implementation und Ergänzung der menschenrechtlichen Vorgaben  

durch die Begriffswahl für die von einem Strafverfahren betroffenen Personen an („Verdächtige oder beschuldigte Personen“). 1. Die Begriffe des Verdächtigen und der beschuldigten Person als Indikator einer frühzeitigen Gewährleistung Die PKH-RL findet gem. Art. 2 Abs. 1, 3 PKH-RL Anwendung auf drei Per­ sonengruppen, Verdächtige sowie beschuldigte und gesuchte Personen. Für Ver­ dächtige und beschuldigte Personen gelten die gleichen Vorschriften, für ge­ suchte Personen, vgl. Art. 2 Abs. 3 PKH-RL, normiert die PKH-RL gesonderte Voraussetzungen.75 Maßgeblich für das nationale Strafverfahren sind die Begriffe des „Verdächtigen“ und der „beschuldigten Person“, vgl. Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 PKH-RL. Beide Begriffe werden jedoch weder in der PKH-RL noch in vorherigen Richt­ linien nach dem Stockholmer Programm definiert. Dass zwei Begriffe benutzt wurden, indiziert an sich, dass diese unterschiedliche Personengruppen bezeichnen sollen. In den begleitenden europäischen Dokumenten werden die Begriffe „ver­ dächtig“ und „beschuldigt“ jedoch austauschbar und willkürlich verwendet und ziehen so die deutsche Sprachfassung und ihre Genauigkeit in Zweifel.76 Im deutschen juristischen Sprachgebrauch unterscheiden sich die Begriffe „Verdächtiger“ und „Beschuldigter“ durch den für die Beschuldigung voraus­ gesetzten manifestierten Strafverfolgungswillen der Behörden. Der Beschul­ digte ist immer ein Verdächtiger, gegen den ein Ermittlungsverfahren geführt oder eingeleitet wird,77 bzw. ein Verdächtiger, gegen den die Ermittlungsbehör­ den faktisch Maßnahmen ergreifen, die erkennbar darauf abzielen, gegen ihn wegen einer Straftat vorzugehen.78 Gegen den Verdächtigen79 hat sich folglich noch kein Strafverfolgungswille der Behörden gerichtet, obgleich Verdachtsmo­ mente existieren. An seine Stellung knüpfen sich daher grundsätzlich noch keine besonderen Rechte.80 Es ist jedoch fraglich, ob der PKH-RL diese Auslegung zugrunde gelegt werden sollte. Denn dann würden auch solche Personen vom Recht auf straf­ rechtliche Prozesskostenhilfe profitieren, gegen die ein Ermittlungsverfahren weder eingeleitet noch von den Strafverfolgungsbehörden in nächster Zeit be­ 75

Vgl. u. Kap. 3 E. Vgl. z. B. Kommission, Arbeitsdokument v. 20.7.2010 – SEK(2010) 908, Folgenabschät­ zung Belehrungs-RL, S. 2. 77 Grundlegend BGH, NJW 1957, 230, 231; m. w. N. KK-Diemer, StPO, § 136 Rn. 4. 78 BGHSt 51, 150 (156 f.) m. w. N.; ebenso KK-Diemer, StPO, § 136 Rn. 4 m. w. N. 79 Vorausgesetzt in § 60 Nr. 2 StPO als verdächtiger Zeuge. 80 Vgl. für die dt. Rechtslage §§ 136 ff. StPO, die erst ab der Beschuldigung Anwendung finden; insoweit kann der Verdächtige als einzige Privilegierung nur das Vereidigungsverbot in § 60 Nr. 2 StPO für sich beanspruchen. 76

A. Strafrechtliche Prozesskostenhilfe nach Maßgabe der PKH-RL

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absichtigt ist. Im Vergleich mit einigen anderen Sprachversionen setzen auch die französische und die schwedische Sprachversion den persönlichen Anwen­ dungsbereich scheinbar ebenso weit wie die deutsche, indem sie „Verdächtige“ („les suspects“/„misstänkta“) und „verfolgte Personen“ („personnes poursuivies“/ „tilltalade“) als von der PKH-RL geschützten Personenkreis benennen. Dagegen werden sowohl im Englischen,81 im Niederländischen82 als auch im Spanischen83 die Begriffspaare „Verdächtiger / Beschuldigter“ und „Angeklagter“ verwendet, um eine Unterscheidung zu treffen zwischen der Person, gegen die lediglich ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde, und der Person, gegen die bereits öffent­ liche Klage erhoben ist. Die Sprachversionen legen damit unterschiedliche Be­ griffe zugrunde. Aus der allgemeinen Systematik der PKH-RL ergibt sich, dass die PKH-RL zum einen denjenigen schützen soll, gegen den die öffentliche Klage bereits erhoben ist, zum anderen diesen Schutz auch auf das Ermittlungsverfahren ausdehnt.84 Dies folgt daraus, dass die PKH-RL dann eingreift, bevor ein Beschuldigter bzw. Ver­ dächtiger von der Polizei befragt wird, also im Stadium des Ermittlungsverfahrens noch vor der ersten Vernehmung, vgl. Art. 4 Abs. 5 PKH-RL.85 Im Zusammenhang mit sog. geringfügigen Zuwiderhandlungen sieht die PKH-RL zudem ein erst deut­ lich späteres Eingreifen vor, nämlich ab dem gerichtlichen Verfahren.86 Ebenso legt Art. 2 Abs. 3 PKH-RL nahe, dass ein Begriff des „Verdächtigen“, der vor der eigentlichen Einleitung des Ermittlungsverfahrens ansetzt, von der PKH-RL nicht intendiert ist. Denn dort wird geregelt, dass die PKH-RL auch Personen umfasst, die von ursprünglich unverdächtigen bzw. nicht beschuldigten Zeugen während der Befragung durch die Polizei oder eine andere Strafverfol­ gungsbehörde zu Verdächtigen oder beschuldigten Personen werden.87 Auch der Verdächtige i. S. d. PKH-RL wird nur durch den Strafverfolgungswillen der Be­ hörden zu einem solchen. Zur beschuldigten Person kann die verdächtige Person in der Zusammenschau mit den anderen Sprachversionen folglich nur abgegrenzt 81 „Suspect“ (= „A person thought to be guilty of a crime or offence.“, so die Definition in https://en.oxforddictionaries.com/definition/suspect, geprüft am: 10.12.2019) und „accused“ (= „A person or group of people who are charged with or on trial for a crime.“, so die Definition in https://en.oxforddictionaries.com/definition/accused, geprüft am: 10.12.2019). 82 Vgl. dort „verdachten“ („Verdächtige“) und „beklaagden“ („Angeklagte“). 83 Vgl. dort „sospechosos“ („Verdächtige“) und „acusados“ („Angeklagte“). 84 In diesem Sinne auch EuGH, Urteil v. 22.12.2008 – C-491/07, Turanský, Slg. 2008, I-11039 Rn. 30, 45. 85 Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 26.10.2016 – 2016/1919/EU, PKH-RL, ABl. L 297, 1, Erwägungsgrund (19), Art. 4 Abs. 5. 86 Vgl. dazu u. Kap. 3 A. IV. 2. a), b); Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 26.10.2016 – 2016/1919/EU, PKH-RL, ABl. L 297, 1, Erwägungsgrund (12), Art. 2 Abs. 4. 87 Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 26.10.2016 – 2016/1919/EU, PKH-RL, ABl. L 297, 1, Erwägungsgrund (10); vgl. auch bereits in Richtlinie v. 22.10.2013 – 2013/48/EU, Verteidigungsbeistands-RL, ABl. L 294, 1, Erwägungsgrund (21); so eingeführt durch die Än­ derungen in Europäisches Parlament, Standpunkt v. 4.10.2016 – EP-PE_TC1-COD(2013)0409, RL-E-EP, Erwägungsgrund (10); dazu pos. Longridge, Eur. J. Legal Stud. 6 (2013), 196.

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Kap. 3: Implementation und Ergänzung der menschenrechtlichen Vorgaben  

werden, wenn diese beschuldigte Person als Person verstanden wird, gegen die die öffentliche Klage bereits erhoben wurde. Auch der Zweck der PKH-RL stützt diese Auslegung. Zwar ist ein frühes Ein­ greifen von strafrechtlicher Prozesskostenhilfe sinnvoll, um das Recht des Ver­ dächtigen bzw. der beschuldigten Person auf Zugang zu einem Rechtsbeistand abzusichern.88 Es wäre aber eine unnötige und kostspielige Ausweitung dieses Rechts, wenn schon ein Verdacht diese Gewährleistungen auslöst, obgleich die Verfolgungsbehörden noch gar keinen Strafverfolgungswillen gefasst oder mani­ festiert haben. In solchen Situationen ergibt sich noch gar kein Bedürfnis für einen Rechtsbeistand, weil ohne Strafverfolgungswillen auch keine den Verdächtigen belastenden Maßnahmen ergriffen werden. Daraus folgt für den Anwendungsbereich der PKH-RL in persönlicher Hin­ sicht eine Erstreckung des Schutzes auf denjenigen, der einer Straftat beschul­ digt wird und den die Strafverfolgungsbehörden deswegen als potenziellen Täter verfolgen.89 Der deutsche Wortlaut der PKH-RL ist insoweit ungenau übersetzt. Ausweislich der Begriffe des Verdächtigen und der beschuldigten Person muss strafrechtliche Prozesskostenhilfe mithin bereits im Ermittlungsverfahren zu­ gänglich sein.90 2. Zeitliche Abdeckung des gesamten Strafverfahrens Die PKH-RL setzt einen zeitlich weiten Geltungsbereich fest. Ausgehend vom Ermittlungsverfahren hat der Verdächtige bzw. die beschuldigte Person bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens die Möglichkeit, strafrechtliche Pro­ zesskostenhilfe in Anspruch zu nehmen. In der PKH-RL wird den Mitgliedstaa­ ten jedoch die Möglichkeit eröffnet, für sog. geringfügige Zuwiderhandlungen, vgl. Art. 2 Abs. 4 PKH-RL, erst im gerichtlichen Verfahren strafrechtliche Pro­ zesskostenhilfe zugänglich zu machen. Diese zeitliche Fassung strafrechtlicher Prozesskostenhilfe durch die PKH-RL setzt die Vorgaben von EMRK und GRCh autonom um.

88

Vgl. Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 26.10.2016 – 2016/1919/EU, PKH-RL, ABl. L 297, 1, Erwägungsgrund (1) i. V. m. Richtlinie v. 22.10.2013 – 2013/48/EU, Verteidi­ gungsbeistands-RL, ABl. L 294, 1, Erwägungsgrund (12); so bereits früh die Kommission, Arbeitsunterlage v. 27.11.2013 – SWD(2013) 477 final, Folgenabschätzung PKH-RL, S. 2. 89 Vgl. dazu auch o. im Rahmen der EMRK, Kap. 2 A. III. 2. a) und im Rahmen der Charta, vgl. Kap. 2, Fn. 561–563. 90 Dafür ebenso Generalversammlung der UN, Resolution v. 20.12.2012 – A / R ES/67/187, UN-PKH-Leitlinien, Rn. 44 lit. c; zu den weiteren Einschränkungen aus Art. 2 Abs. 1, 4 PKH-RL sogl. u. Kap. 3 A. IV. 2. b).

A. Strafrechtliche Prozesskostenhilfe nach Maßgabe der PKH-RL

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a) Beginn der Gewährleistung nach der PKH-RL Art. 4 Abs. 5 PKH-RL legt fest, ab wann strafrechtliche Prozesskostenhilfe zu gewähren ist. Danach stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass strafrechtliche Pro­ zesskostenhilfe unverzüglich und spätestens vor einer Befragung durch die Poli­ zei, eine andere Strafverfolgungsbehörde oder eine Justizbehörde oder vor einer Tatortrekonstruktion oder Gegenüberstellung bewilligt wird. aa) Auslösende Situationen Verdächtigen oder beschuldigten Personen muss gem. Art. 4 Abs. 5 PKH-RL vor Befragungen der Zugang zu strafrechtlicher Prozesskostenhilfe eröffnet werden. Das belässt den Mitgliedstaaten Spielraum, wie weit vor der Befragung Zeit für Konsultation bleiben muss. Auch an dieser Stelle sind die Vorgaben von EMRK und GRCh zu berücksichtigen, sodass, gemessen an den Umständen des jeweiligen Falles, Zugang so rechtzeitig vor der Befragung erfolgen muss, dass der beauf­ tragte Rechtsbeistand noch eine für eine angemessene Verteidigung erforderliche Konsultation durchführen kann.91 Zugleich löst nicht jede Befragung der Strafverfolgungsbehörden ein Anwesen­ heitsrecht des Verteidigers des Verdächtigen oder der beschuldigten Person aus. Zwar ist Art. 4 Abs. 5 PKH-RL dahingehend offen formuliert und lässt die Ge­ währung strafrechtlicher Prozesskostenhilfe pauschal vor jeder Befragung zu, ohne zu konkretisieren, wer durch die Strafverfolgungsbehörden befragt wird. Insoweit erscheint Art. 4 Abs. 5 PKH-RL dahingehend auslegbar zu sein, auch die Gewäh­ rung von Prozesskostenhilfe vor der Befragung von Zeugen oder Mitbeschuldigten zu ermöglichen. In Erwägungsgrund (19) der PKH-RL wird jedoch konkretisiert, dass es sich um die Befragung der betroffenen Person, also des Verdächtigen, der beschuldigten oder gesuchten Person, handeln soll. Dies ist auch kongruent mit den Gewährleistungen der Verteidigungsbeistands-RL. Nach den Maßgaben der Verteidigungsbeistands-RL wird ein Rechtsbeistand Verdächtigen oder beschul­ digten Personen nur vor ihrer Befragung zugänglich gemacht, nicht jedoch vor der Befragung von Zeugen oder anderen Mitbeschuldigten, s. Art. 3 Abs. 2 S. 2 lit. a Verteidigungsbeistands-RL. Dadurch zeigt sich erneut, dass die Richtlinien über die Beschuldigtenrechte nur die wichtigsten Verfahrenssituationen und damit Mindestgarantien harmonisieren.92 Bei Tatortrekonstruktionen und Gegenüberstellungen gilt das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand erst ab der Durchführung dieser Ermittlungshandlungen. 91

Vgl. insoweit auch das Gebot, ausreichende Zeit zur Vorbereitung der Verteidigung zu ge­ währen, Art. 6 Abs. 3 lit. b EMRK, Art. 48 Abs. 2 GRCh, m. w. N. dazu Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24 Rn. 15 ff.; NomosKomm-Meyer-Ladewig / Harrendorf, EMRK, Art. 6 Rn. 226 f. 92 Vgl. zur Kritik im Rahmen des dt. Rechts u. Kap. 4 C. I. 3. a).

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Kap. 3: Implementation und Ergänzung der menschenrechtlichen Vorgaben  

Dies lässt vermuten, dass von Beginn der Durchführung der Ermittlungsmaßnahme bis zu deren Ende ein Rechtsbeistand zugegen sein muss. Zugleich lässt diese For­ mulierung kaum Raum für eine vorherige Konsultation des Rechtsbeistands mit seinem Mandanten, weil dieser häufig erst mit Anordnung oder zur Durchführung der Maßnahme gerufen wird. Jedoch legen die Regelungen der PKH-RL selbst nur Mindestvorschriften fest. Mit Hinblick darauf dürfte es ausreichen, dass ein Rechtsbeistand, der in den prozessualen Voraussetzungen und Rechtsfolgen die­ ser einzelnen Beweiserhebungshandlungen firm ist, die Einhaltung der Rechte des Verdächtigen bzw. der beschuldigten Person während der Ermittlungshandlung selbst sicherstellen kann. Soweit möglich und soweit keine eilige Durchführung der Maßnahme geboten ist, muss auch vor diesen Beweishandlungen Zugang so rechtzeitig gewährleistet werden, dass die Verteidigung vorbereitet werden kann.93 Bei einem Freiheitsentzug ist Zugang zu einem Rechtsbeistand unmittelbar danach erforderlich. Art. 4 Abs. 5 PKH-RL legt zwar nicht ausdrücklich fest, dass im Fall der Freiheitsentziehung unverzüglich Zugang zu strafrechtlicher Prozesskostenhilfe zu gewährleisten ist, sondern referenziert lediglich Befragun­ gen und andere Beweiserhebungshandlungen. Auch wenn die Haftprüfung nicht ausdrücklich erwähnt ist, ist sie doch in diese Vorschrift mit hineinzulesen. Denn wesentlicher und immanenter Bestandteil dieser Maßnahme ist eine Befragung durch Straf­verfolgungsbehörden, zumeist durch den Haftrichter, nicht nur über die Entscheidung der Haft an sich, sondern oft auch Fragen, die den eigentlichen Tatvorwurf berühren können. Folglich bedurfte es keiner zusätzlichen Nennung der Haftprüfung in Art. 4 Abs. 5 PKH-RL.94 bb) Unverzüglichkeit der Bestellung Strafrechtliche Prozesskostenhilfe muss unverzüglich zur Verfügung stehen. Art. 6 Abs. 1 PKH-RL sieht vor, dass Entscheidungen über strafrechtliche Pro­ zesskostenhilfe „unverzüglich“ – in anderen Sprachversionen „ohne schuldhaftes Zögern“ – getroffen werden müssen,95 jeweils ausgehend von dem den Anspruch auf strafrechtliche Prozesskostenhilfe auslösenden Moment. Verzögerungen sind folglich, solange diese gerechtfertigt sind, hinnehmbar.96 Solche Verzögerungen sind gerade dann wahrscheinlich, wenn ein Bewilligungs- und Entscheidungspro­ 93 Diese Alternative als echte Schutzerweiterung im Vergleich zur EMRK ansehend Callewaert, ZeuS 2014, 81. 94 Positiv noch zum dahingehend ähnlich lautenden RL-E-KOM Brodowski, ZIS 2016, 116 95 Ähnlich vgl. Generalversammlung der UN, Resolution v. 20.12.2012 – A / R ES/67/187, UN-PKH-Leitlinien, Rn. 27, Rn. 43 lit. d („promptly“); zust. Willems, NCLR 17 (2014), 192. 96 Vgl. dazu noch Rat, Allgemeine Ausrichtung v. 26.2.2015 – 6603/15, RL-E-Rat, Erwä­ gungsgrund (10a): „Diesbezüglich wird anerkannt, dass es in bestimmten Situationen, bei­ spielsweise zu ungünstigen Uhrzeiten, eine gewisse Zeit dauern kann, bis die Vorkehrungen für die Unterstützung durch einen Rechtsbeistand nach dem System der Prozesskostenhilfe getroffen werden können.“

A. Strafrechtliche Prozesskostenhilfe nach Maßgabe der PKH-RL

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zess erforderlich wird, wie es gerade bei strafrechtlicher Prozesskostenhilfe der Fall ist. Im Rahmen strafrechtlicher Prozesskostenhilfe ist das Erfordernis „un­ verzüglicher“ Gewährleistung bereits aufgrund dieses Bewilligungsprozederes anfällig für Verzögerungen. Eine Verzögerung der Bewilligungsentscheidung darf jedoch nicht dazu führen, dass der Verdächtige oder die beschuldigte Person unverteidigt bleibt. Erwägungs­ grund (19) der PKH-RL präzisiert dies dahingehend, dass dieser rasche Zugang auch über eine Form der Dringlichkeits- oder Eilprozesskostenhilfe sichergestellt werden kann, wenn die Bewilligungsentscheidung so zügig nicht durchzuführen ist.97 Dies soll nicht nur für die Befragung gelten, sondern auch für die in Art. 2 Abs. 1 lit. c PKH-RL genannten Beweiserhebungs- und Ermittlungsmaßnahmen.98 Die PKH-RL enthält folglich nicht nur den Auftrag, gewöhnliche Prozesskos­ tenhilfe bereitzustellen, sondern verpflichtet die Mitgliedstaaten zugleich, ein um­ fängliches, vorläufiges System für eine rechtzeitige Gewährleistung zu etablieren. Eine Befragung oder konkrete Ermittlungsmaßnahme muss daher unterlassen werden, bis strafrechtliche Prozesskostenhilfe gewährt und ein darüber bestellter Rechtsbeistand anwesend ist.99 Dadurch wird über Prozesskostenhilfe das Bei­ standsrecht des Verdächtigen bzw. der beschuldigten Person und damit auch deren Selbstbelastungsfreiheit umfassend abgesichert.100 b) Zeitliche Beschränkung der PKH-RL bei geringfügigen Zuwiderhandlungen Für sog. geringfügige Zuwiderhandlungen beschränkt sich der Anwendungs­ bereich in zeitlicher Hinsicht auf das gerichtliche Verfahren, vgl. Art. 2 Abs. 4 S. 1 PKH-RL.101 Geringfügige Zuwiderhandlungen sollen dabei vorrangig Ver­ kehrsübertretungen oder Verstöße gegen die öffentliche Ordnung sein.102 Welche Übertretungen als geringfügig anzusehen sind, liegt im Entscheidungsspielraum der Mitgliedstaaten. Geringfügig ist eine Zuwiderhandlung entweder, wenn sie nicht mit Freiheits­ entzug bedroht ist oder wenn ihre Sanktion auch durch eine Behörde verhängt 97 So auch Kommission, Vorschlag v. 27.11.2013  – COM(2013) 824 final, RL-E-KOM, Rn. 26. 98 Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 26.10.2016 – 2016/1919/EU, PKH-RL, ABl. L 297, 1, Erwägungsgrund (19). 99 Dies ebenso fordernd Generalversammlung der UN, Resolution v. 20.12.2012  – A / R ES/67/187, UN-PKH-Leitlinien, Rn. 43 lit. b; Schlothauer, StV 2018, 171; ders., StV 2017, 559. 100 Schlothauer, StV 2018, 172. 101 Allg. krit. zu dieser Einschränkung European Criminal Policy Initiative, ZIS 2013, 428. 102 Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 26.10.2016 – 2016/1919/EU, PKH-RL, ABl. L 297, 1, Erwägungsgrund (11 f.).

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werden darf. Dann soll die PKH-RL nur im gerichtlichen Verfahren Anwendung finden, wenn ein in Strafsachen zuständiges Gericht mit der Sache befasst werden kann, vgl. Art. 2 Abs. 4 S. 1 lit. a PKH-RL. Strafrechtliche Prozesskostenhilfe darf daher nur dann zeitlich beschränkt werden, wenn die Mitgliedstaaten das Ver­ halten entweder dekriminalisiert haben oder wenn die fehlende Sanktionshärte das frühe Eingreifen von strafrechtlicher Prozesskostenhilfe überflüssig erschei­ nen lassen. Als Rückausnahme von dieser Beschränkung muss die PKH-RL folglich wie­ der in vollem zeitlichen Umfang Anwendung finden, wenn doch schwerwiegende Rechtsfolgen drohen. Dies regelt die PKH-RL für den Fall des drohenden Freiheits­ entzugs in Art. 2 Abs. 4 S. 2 PKH-RL. Über Art. 2 Abs. 4 lit. b EMRK wird – un­ abhängig von der Definition der Mitgliedstaaten – die Anwendbarkeit der PKH-RL sichergestellt, wenn Freiheitsstrafe als Sanktion droht,103 der Verdächtige oder die beschuldigte Person einer Entscheidung über eine Inhaftierung zugeführt wird oder wenn sich bereits in Haft befindet. In Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK und Art. 48 Abs. 2 GRCh gibt es grundsätzlich keine abgesenkten Verteidigungsgarantien für geringfügige Zuwiderhandlungen, sondern nur einen einheitlichen Katalog der Verteidigungsgarantien für strafrechtlich Angeklagte. Geringfügige Zuwiderhandlungen, Verfahren also in Bezug auf Verkehrsübertretungen, Ordnungswidrigkeiten, Übertretungen, die formal von ei­ nigen Mitgliedstaaten aus dem Anwendungsbereich des Strafrechts herausgenom­ men wurden, sind ebenso Strafverfahren i. S. d. EMRK bzw. der Charta, wenn sie nicht nur ein Verhalten bestrafen, sondern über den Mechanismus der Bestrafung hinaus zugleich generalpräventiv wirken sollen.104 Im Rahmen von EMRK und GRCh dürfte es für solche geringfügigen Zuwider­ handlungen zwar regelmäßig an der Erforderlichkeit im Interesse der Rechtspflege fehlen, sodass auch in diesen Fällen im Ergebnis regelmäßig kein Anspruch auf strafrechtliche Prozesskostenhilfe besteht. Dies führt jedoch nur auf den ersten Blick zu ähnlichen Ergebnissen. Denn ob eine Verfehlung geringfügig ist, sagt nichts über deren Komplexität aus. Auch eine mit nur einer geringfügigen Strafe bedrohte Verfehlung kann rechtliche oder tatsächliche Schwierigkeiten im Verfah­ ren aufweisen, sodass der Verdächtige bzw. die beschuldigte Person nicht eigen­ ständig vortragen kann. In solchen Fällen kann der Verdächtige bzw. die beschul­ digte Person, obgleich die Voraussetzungen für strafrechtliche Prozesskosten­hilfe nach Art. 4 Abs. 1 PKH-RL grundsätzlich vorliegen, diese erst ab dem gericht­ lichen Verfahren in Anspruch nehmen, obgleich ihr auch in diesen Fällen eine frühzeitige Verteidigung nach Art. 6 Abs. 3 lit.  c EMRK, Art. 48 Abs. 2 GRCh zustünde. Dem ersten Anschein nach beschränkt Art. 2 Abs. 4 PKH-RL den An­ wendungsbereich der PKH-RL nicht nur in zeitlicher Hinsicht, sondern legt einen 103 104

Vgl. dazu o. Kap. 2 A. II. 1. a), B. III. 1. a), 2. a) cc). Vgl. o. Kap. 2 A. III. 1. a) aa).

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autonomen Begriff der strafrechtlichen Anklage zugrunde – der hinter jenem der Charta und der EMRK zurückbleibt.105 Insofern muss Art. 2 Abs. 4 PKH-RL charta- und konventionskonform aus­gelegt werden. Der Begriff der „geringfügigen Zuwiderhandlung“ bietet sich dafür jedoch nicht an. In Art. 2 Abs. 4 S. 1 PKH-RL ist die Geringfügigkeit abschließend defi­ niert über die Sanktionserwartung sowie die zuständige Sanktionsbehörde. Auch der Wortlaut stellt eher auf die verübte Tat und ihren Schweregrad ab und erscheint demgegenüber verschlossen gegenüber Komplexitätserwägungen in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht. Eine charta- bzw. konventionskonforme Lesung muss in Ermangelung besserer Lösungen über die zu Beginn von Art. 2 Abs. 4 PKH-RL eingefügte „salvatorische Klausel“ („unbeschadet des Rechts auf ein faires Verfah­ ren“)106 hineingelesen werden. Diese soll anscheinend Einfallstor für solche Erwä­ gungen sein. Insofern kann die Norm zwar noch in Einklang mit EMRK und GRCh ausgelegt werden, ist jedoch insgesamt als missglückt zu bezeichnen. Anstatt z. B. komplexe Verfahren aus der Beschränkung für geringfügige Zuwiderhandlungen in Art. 2 Abs. 4 PKH-RL ausdrücklich auszunehmen, muss dies von den Mitglied­ staaten nun über eine generalklauselartige Bestimmung selbst erarbeitet werden. Dies wird die einheitliche Umsetzung der PKH-RL erschweren. Um überhaupt zu dieser, wenngleich mangelbehafteten Version von Art. 2 PKH-RL zu gelangen, haben die beteiligten Gesetzgebungsorgane bereits erheblich miteinander gerungen. Der Vorschlag der Kommission kannte keine ausdrückliche Ausnahme vom Anwendungsbereich für geringfüge Zuwiderhandlungen.107 Der Entwurf der Kommission war jedoch von vornherein in nur wenigen Fällen über­ haupt anwendbar, weil die Anwendbarkeit auf Konstellationen beschränkt wurde, in denen dem Verdächtigen bzw. der beschuldigten Person die Freiheit entzogen ist.108 Dies implizierte zumindest, dass Bagatellfälle nicht vom Anwendungsbe­ reich der PKH-RL in der Fassung der Kommission erfasst sein sollten. Der Rat dagegen formulierte diesen Ausschluss geringfügiger Zuwiderhandlungen aus­ drücklich und kategorisch in Art. 2 Abs. 3 RL-E-Rat. Danach sollte für gering­ fügige Zuwiderhandlungen in keinem Verfahrensstadium strafrechtliche Prozess­ kostenhilfe zur Verfügung stehen.109 Diese zusätzliche Einschränkung stand im Kontext eines bereits äußerst restriktiven Entwurfs, der ohnehin nur die Gewähr­ leistung vorläufiger und gerade nicht im gesamten Verfahren zugänglicher Prozess­

105

So auch krit. Sayers, HRLR 14 (2014), 751, wenngleich zum wortlautgleichen Art. 2 Abs. 4 Verteidigungsbeistands-RL. 106 Vgl. auch Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 22.10.2013 – 2013/48/EU, Verteidi­ gungsbeistands-RL, ABl. L 294, 1, Erwägungsgrund (14). 107 Vgl. Kommission, Vorschlag v. 27.11.2013 – COM(2013) 824 final, RL-E-KOM, Art. 2. 108 Vgl. ebd., Art. 4 Abs. 1. 109 Vgl. auch Rat, Allgemeine Ausrichtung v. 26.2.2015  – 6603/15, RL-E-Rat, Erwä­ gungsgrund (9a); krit. dazu Belgien, Spanien, Portugal und Frankreich in Stellungnahme v. 14.4.2015 – 7166/15, S. 9; ebenso abl. zu Art. 2 Abs. 4 RL-E-Rat, Brodowski, ZIS 2016, 115.

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kostenhilfe vorsah.110 Das Europäische Parlament hat nicht nur die Vorläufigkeit der Prozesskostenhilfe zu einem umfänglichen Zugangsrecht im gesamten Straf­ verfahren aufgewertet, sondern ebenso den Ausschluss vom Anwendungsbereich bei geringfügigen Zuwiderhandlungen zu einer lediglich zeit­lichen Beschränkung abgemildert.111 Dadurch hat das Europäische Parlament nicht nur eine konsens­ fähige, sondern zugleich eine mit EMRK und GRCh konforme Lösung erarbeitet. c) Ende Das Ende der Gewährleistung ist durch die PKH-RL für Verdächtige und be­ schuldigte Personen nicht ausdrücklich definiert. Der in Art. 2 Abs. 1 PKH-RL vorgesehene Anwendungsbereich „in Strafverfahren“ erstreckt den zeitlichen Anwendungsbereich bis zum rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens.112 Darunter ist die endgültige und rechtskräftige Klärung der Frage zu verstehen, ob der Verdächtige oder die beschuldigte Person die Straftat begangen hat, vgl. Art. 2 Abs. 1 S. 2 Verteidigungsbeistands-RL. Das wird auch implizit durch Art. 2 Abs. 4 S. 2 PKH-RL bestätigt, der für ge­ ringfügige Zuwiderhandlungen festlegt, dass bei drohender oder vollzogener Haft die PKH-RL ebenso wie in Art. 2 Abs. 1 PKH-RL Anwendung findet, „zu jedem Zeitpunkt des Verfahrens bis zu seinem Abschluss.“ Dadurch ist die PKH-RL vom historisch ursprünglich nur vorläufigen, auf das Ermittlungsverfahren begrenzten Modell abgewichen und normiert einen umfassenden Anspruch auf strafrechtli­ che Prozesskostenhilfe im gesamten Strafverfahren. In dieser Form eröffnet die PKH-RL einen zu den Vorgaben von EMRK und GRCh kongruenten zeitlichen Anspruch auf strafrechtliche Prozesskostenhilfe. 3. Partizipationsrechte des Verdächtigen als Kernstück strafrechtlicher Prozesskostenhilfe Im Ermittlungsverfahren setzt die effektive Partizipation des Verdächtigen bzw. der beschuldigten Person über das Vehikel des staatlich getragenen Verteidigers an. Dadurch wird dem Verdächtigen bzw. der beschuldigten Person in grundsätzlich für die Selbstbelastungsfreiheit kritischen Situationen des Ermittlungs­verfahrens aktive Unterstützung durch einen Verteidiger gewährt. 110

Diese vorläufige Prozesskostenhilfe daher auch nur als „Notmechanismus“ bezeichnend: Rat, Allgemeine Ausrichtung v. 26.2.2015 – 6603/15, RL-E-Rat, Erwägungsgrund (12a). 111 Europäisches Parlament, Standpunkt v. 4.10.2016 – EP-PE_TC1-COD(2013)0409, RLE-EP, Erwägungsgrund (11 f.); abl. dazu Rat, Stellungnahme Polens v. 10.10.2016 – 12835/16. 112 Dafür auch Generalversammlung der UN, Resolution v. 20.12.2012  – A / R ES/67/187, UN-PKH-Leitlinien, Rn. 20; krit. zur fehlenden Definition, wann jemand als „beschuldigt“ gilt Willems, NCLR 17 (2014), 192.

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a) Antragsrechte und spiegelbildliche Fürsorgepflichten Weder Art. 4 noch Art. 5 PKH-RL sehen einen Antrag als Voraussetzung für die Gewährung strafrechtlicher Prozesskostenhilfe ausdrücklich vor.113 Der Gestal­ tungsspielraum der Mitgliedstaaten erlaubt ihnen jedoch, diejenigen praktischen Maßnahmen zu ergreifen, die nach ihrem System eine effektive Umsetzung ge­ währleisten. Innerhalb dieses Gestaltungsspielraums können die Mitglied­staaten ebenfalls festlegen, „dass Prozesskostenhilfe auf Antrag eines Verdächtigen, einer beschuldigten Person oder einer gesuchten Person bewilligt wird.“114 Zudem scheint Art. 6 Abs. 2 PKH-RL gerade vorauszusetzen, dass dem Verdächtigen bzw. der beschuldigten oder gesuchten Person ein Antrag zusteht.115 Danach soll der Verdächtige, die beschuldigte oder gesuchte Person informiert werden, wenn ihr Antrag abgelehnt wird. Obwohl ein ausdrückliches Antragsrecht folglich fehlt, setzt die PKH-RL ein solches quasi selbstverständlich voraus. Die PKH-RL stellt den Mitgliedstaaten die Ausgestaltung dieses Antragserfor­ dernisses frei. Es wird lediglich beispielsweise erwähnt, dass die Regelung den „Antrag eines Verdächtigen, einer beschuldigten oder gesuchten Person“ vorsehen könne.116 Aus der Formulierung selbst wird jedoch deutlich, dass diese Aufzählung den Kreis der Antragsberechtigten nicht auf Verdächtige, beschuldigte oder ge­ suchte Personen beschränken will, sondern dass es sich insoweit nur um eine bei­ spielhafte Aufzählung handelt. Ein Antragserfordernis dürfe nicht so umgesetzt werden, dass eigentlich an­ spruchsberechtigte Personen ihr Recht auf strafrechtliche Prozesskostenhilfe nicht wahrnehmen können.117 Daher solle ein Antrag nicht als materiellrechtliche Voraussetzung für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe verstanden werden.118 Diese Auslegungshilfe zieht für die Umsetzung eines Antragserfordernisses mit­ hin eine Grenze für die Mitgliedstaaten119 und lässt zugleich anklingen, dass die 113 Zur Auswechslung des Verteidigers auf entsprechenden Antrag gem. Art. 7 Abs. 4 PKH-RL vgl. u. Kap. 3 A. V. 2. d). 114 Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 26.10.2016 – 2016/1919/EU, PKH-RL, ABl. L 297, 1, Erwägungsgrund (18). 115 BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidi­ gung, 2018, a. a. O. Kap. 3, Fn. 49, S. 23; so auch Schlothauer / Neuhaus / Matt / Brodowski, HRRS 2018, 62. 116 Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 26.10.2016 – 2016/1919/EU, PKH-RL, ABl. L 297, 1, Erwägungsgrund (18). 117 Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 22.5.2012 – 2012/13/EU, Belehrungs-RL, ABl. L 142, 1. 118 Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 26.10.2016 – 2016/1919/EU, PKH-RL, ABl. L 297, 1, Erwägungsgrund (18). 119 Auch in der englischen („such  a request should not […] be  a substantive condition“), französischen („une telle demande ne devrait toutefois pas constituer une condition de fond“), und der spanischen Version („dicha solicitud no debe, sin embargo, considerarse un requisito sustantivo“) spricht der Wortlaut jeweils für eine Soll-Vorschrift; anders dagegen verhält es sich in der niederländischen („mag dit […] geen materiële voorwaarde zijn voor het verlenen

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Fürsorgepflicht des Staates nicht auf den Verdächtigen bzw. die beschuldigte Per­ son abgewälzt werden kann, insbesondere wenn diese Person als schutzbedürftig einzuschätzen ist. Insofern muss untersucht werden, inwiefern diese Fürsorgepflicht des Staates und die zumutbare Eigenverantwortung des Verdächtigen bzw. der beschuldig­ ten oder gesuchten Person in Ausgleich gebracht werden können. Dafür ist die PKH-RL gemeinsam mit der Verteidigungsbeistands-RL auszulegen. In der letz­ teren wurde die Fürsorgepflicht noch als „Grundlage einer fairen Justiz“ bezeich­ net,120 mit dem gleichzeitigen Auftrag an die Strafverfolgungsbehörden, „etwaige Benachteiligungen, die die Fähigkeit der Personen beeinträchtigen, das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand […] wahrzunehmen, [zu] berücksichtigen und […] sicherzustellen, dass diese Rechte gewährleistet sind.“121 Dadurch stellt die Verteidigungs­beistands-RL eine für die Mitgliedstaaten flexible Fürsorgepflicht auf, die sich vorrangig am Grad der Schutzbedürftigkeit der konkreten Person bemisst.122 Doch wo beginnt und endet diese Fürsorgepflicht? Die Antwort auf diese Frage ist nur zum Teil in der PKH-RL angelegt und muss über die Anforderungen aus EMRK und GRCh ergänzt werden. Jedenfalls endet die Fürsorgepflicht des Staates dann, wenn der Verdächtige bzw. die beschuldigte Person wirksam auf sein Recht verzichtet hat, vgl. Art. 9, 10 Abs. 3 Verteidigungsbeistands-RL.123 Aber auch davor sind Grenzen für diese Fürsorgepflicht eingezogen, weil diese Fürsorgepflicht des Staates nur subsidiär eingreift, nicht aber dem Verdächtigen bzw. der beschuldig­ ten oder gesuchten Person gänzlich die eigenverantwortliche Wahrnehmung ihrer Rechte abgenommen werden soll.124 Im Einklang mit den Gewährleistungen der EMRK wird dann die Fürsorgepflicht des jeweiligen Gerichts oder der Strafver­ folgungsbehörden ausgelöst, wenn die ineffektive Verteidigung des Verdächtigen oder der beschuldigten oder gesuchten Person dem Staat entweder zurechenbar ist, weil diese Ineffektivität offenkundig war, oder weil der Verdächtige bzw. die be­ schuldigte Person die Unzulänglichkeit seiner Verteidigung den Strafverfolgungs­ behörden ausreichend zur Kenntnis gebracht hat.125

van rechtsbijstand“) und schwedischen Sprachversion („bör dock inte […] vara ett materiellt villkor för beviljande av rättshjälp“). 120 Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 22.10.2013 – 2013/48/EU, Verteidigungsbei­ stands-RL, ABl. L 294, 1, Erwägungsgrund (51). 121 Ebd. 122 So auch zu Art. 13 Verteidigungsbeistands-RL: Mevis / Verbaan, Erasmus L. Rev. 7 (2014), 182. 123 Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 22.10.2013 – 2013/48/EU, Verteidigungsbei­ stands-RL, ABl. L 294, 1, Erwägungsgrund (28). 124 Vgl. ebd., Erwägungsgrund (27). 125 Vgl. o. Kap. 2 A. II. 3. b).

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b) Die Entscheidungsfreiheit des Verdächtigen bzw. der beschuldigten Person zur Eigenverteidigung Auch in der Konzeption der PKH-RL ist über strafrechtliche Prozesskosten­ hilfe finanzierte Drittverteidigung eine Option, auf die der Verdächtige bzw. die beschuldigte Person zugunsten einer selbstständig geführten Verteidigung verzichten kann.126 Die PKH-RL stellt den Mitgliedstaaten frei, dass sie „nicht zur Anwendung komm[t], wenn Verdächtige oder beschuldigte Personen oder gesuchte Personen auf ihr Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand gemäß Artikel 9 bzw. Artikel 10 Absatz 3 [Verteidigungsbeistands-RL] verzichtet ha­ ben und diesen Verzicht nicht widerrufen haben“.127 Dadurch soll ebenfalls ein Gleichlauf zum Anwendungsbereich der Verteidigungsbeistands-RL hergestellt werden. Gemäß Art. 9 Abs. 1 Verteidigungsbeistands-RL sollen die Mitgliedstaaten si­ cherstellen, dass für einen Verzicht auf das Recht auf Zugang zu einem Rechts­ beistand bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein müssen. Diese umreißen die vom EGMR aufgestellten Bedingungen an einen „intelligent and knowing waiver“.128 Art. 9 Abs. 1 lit.  a Verteidigungsbeistands-RL enthält die Voraussetzungen für eine verständliche Belehrung, die dem Verdächtigen, der beschuldigten oder ge­ suchten Person ermöglichen soll, die Tragweite und Bedeutung eines Verzichts zu erfassen und darauf basierend eine informierte Entscheidung zu treffen. Daher sollen mündlich oder schriftlich eindeutige und ausreichende Informationen in einfacher und verständlicher Sprache über den Inhalt des betreffenden Rechts und die möglichen Folgen eines Verzichts auf dieses Recht an die betroffene Person weitergegeben werden.129 Bei der konkreten Gestaltung der Belehrung müssen die jeweiligen Umstände, das Alter der zu belehrenden Person sowie deren geistige und körperliche Ver­ fassung berücksichtigt werden.130 Dies folgt zudem aus Art. 13 Verteidigungsbei­ stands-RL, der den besonderen Bedürfnissen von schutzbedürftigen Verdächtigen 126 Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 26.10.2016 – 2016/1919/EU, PKH-RL, ABl. L 297, 1, Erwägungsgrund (9); eingeführt durch Europäisches Parlament, Standpunkt v. 4.10.2016 – EP-PE_TC1-COD(2013)0409, RL-E-EP, Erwägungsgrund (9); insg. krit. zur Ver­ zichtsmöglichkeit Mevis / Verbaan, Erasmus L. Rev. 7 (2014), 181. 127 Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 26.10.2016 – 2016/1919/EU, PKH-RL, ABl. L 297, 1, Erwägungsgrund (9). 128 Vgl. dazu o. Kap. 2 A. II. 3. a). 129 In diesem Sinne auch Generalversammlung der UN, Resolution v. 20.12.2012  – A / R ES/67/187, UN-PKH-Leitlinien, Rn. 43 lit. i); krit. dazu, dass kein Verweis auf das Recht der jeweiligen Person auf Übersetzung enthalten ist: Sayers, HRLR 14 (2014), 756 („to create a set of clearer enforceable standards“); dagegen die Regelung der Richtlinie für ausreichend erachtend Mevis / Verbaan, Erasmus L. Rev. 7 (2014), 181. 130 Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 22.10.2013 – 2013/48/EU, Verteidigungsbei­ stands-RL, ABl. L 294, 1, Erwägungsgrund (39); krit. dazu, dass dies die Anforderungen der EMRK nicht wahre, Sayers, HRLR 14 (2014), 757.

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und beschuldigten Personen Rechnung trägt.131 Der Begriff der „Schutzbedürftig­ keit“ ist in der PKH-RL nicht definiert. Jedoch kann insoweit auf die Empfehlung der Kommission vom 27. November 2013 zurückgegriffen werden, die allgemeine Maßstäbe für den Umgang mit schutzbedürftigen Personen aufstellt. Danach sind all jene Personen schutzbedürftig, die aufgrund ihres Alters, ihrer geistigen oder körperlichen Verfassung oder aufgrund von Behinderungen nur mit fremder Hilfe in der Lage sind, einem regulär durchgeführten Strafverfahren zu folgen oder tat­ sächlich daran teilzunehmen.132 Eine Belehrung muss folglich, angepasst an die Verständnisfähigkeit der jeweiligen Person, vermitteln, was ein Verzicht darstellt und wie sich dieser auf das Verfahren auswirkt. Es gibt keine einheitlichen Anforderungen, die an einen informierten und um­ sichtigen Verzicht gestellt werden können, sondern die Strafverfolgungsbehörden müssen in jedem konkreten Einzelfall, gemessen am Verständnis und der Situ­ ation des jeweiligen Verdächtigen bzw. der jeweiligen beschuldigten Person, si­ cherstellen, dass diese Person Inhalt und Tragweite eines Verzichts versteht.133 Im Einzelfall kann eine Person daher auch verzichtsunfähig sein.134 Die besonderen Anforderungen an die Belehrung über den Verzicht sollen sicherstellen, dass jeder Verdächtige bzw. jede beschuldigte Person in der Lage ist, selbstbestimmt über Eigen- oder Fremdverteidigung zu entscheiden.135 Die Verzichtserklärung muss zudem freiwillig und unmissverständlich abge­ geben werden, vgl. Art. 9 Abs. 1 lit. b Verteidigungsbeistands-RL. Art. 9 Abs. 2 Verteidigungsbeistands-RL schreibt darüber hinaus die Form des Verzichts vor (mündlich oder schriftlich) und enthält zusätzlich ein Dokumentationserfordernis entsprechend dem Recht des jeweiligen Mitgliedstaates.136 Auch dieses Erfordernis ist mit Rücksicht auf die Bedürfnisse schutzbedürftiger Personen auszulegen, vgl. Art. 13 Verteidigungsbeistands-RL. Um sicherzugehen, dass bei schutzbedürftigen

131

Vgl. ebenso Mevis / Verbaan, Erasmus L. Rev. 7 (2014), 182 f. Kommission, Empfehlung v. 27.11.2013 – C(2013) 8178 final, Verfahrensgarantien für schutzbedürftige Personen, Erwägungsgrund (1); solange diese Defizite durch „verfahrens­ rechtliche Hilfe“ ausgeglichen werden können, ist auch nicht von Verhandlungsunfähigkeit auszugehen, vgl. zur dt. Rechtslage m. w. N. BVerfG, NJW 1995, 1951 (1952); OLG Dresden, Beschluss v. 5.2.2015 – 2 OLG 21 Ss 734/14, juris, Rn. 14; krit. zum weiten Verständnis der Verhandlungsfähigkeit des EGMR: Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfah­ rensrecht, S. 729 ff. 133 Ogorodova / Spronken, Erasmus L.  Rev. 7 (2014), 194; zust. Mevis / Verbaan, Erasmus L. Rev. 7 (2014), 183. 134 So auch Kommission, Empfehlung v. 27.11.2013  – C(2013) 8178 final, Verfahrens­ garantien für schutzbedürftige Personen, Erwägungsgrund (11), Rn. 11; m. w. N. zur nur aus­ nahmsweise anzunehmenden Unzulässigkeit des Verzichts vgl. Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 770 ff. 135 Krit. zu den Anforderungen an den Verzicht in Art. 9 Verteidigungsbeistands-RL: Esser, KriPoZ 2017, 179 („kryptisch“). 136 In diesem Sinne auch Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 22.10.2013 – 2013/48/ EU, Verteidigungsbeistands-RL, ABl. L 294, 1, Erwägungsgrund (40). 132

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Personen nicht vorschnell ein Rechtsverzicht angenommen wird, sollte der Ver­ zicht ausdrücklich erfolgen müssen.137 Gemäß Art. 9 Abs. 3 Verteidigungsbeistands-RL muss der Verzicht zudem zu jedem Zeitpunkt des Strafverfahrens widerruflich sein und der Verdächtige bzw. die beschuldigte Person über diese Widerrufsmöglichkeit belehrt werden. Der Widerruf soll ab dem Zeitpunkt, zu dem er erfolgt, wirksam werden, vgl. Art. 9 Abs. 3 S. 2 Verteidigungsbeistands-RL. Die Verteidigungsbeistands-RL regelt jedoch nicht, wie mit Beweismitteln umgegangen werden soll, die zwischen der Abgabe der Verzichtserklärung und ihrem Widerruf erhoben wurden. Die Erwä­ gungsgründe sehen lediglich vor, dass jedenfalls eine Wiederholung der in die­ sem Zeitraum erfolgten Prozesshandlungen nicht erforderlich sei.138 Alle anderen Rechtsfolgen, ob Verwertungsverbot oder Beweiswürdigungslösungen, sind damit dem Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten überlassen. Auffällig und begrüßenswert ist, dass Art. 9 Verteidigungsbeistands-RL sich eng an den Maßstäben orientiert, die der EGMR zum Verzicht auf Verteidigungs­ rechte etabliert hat. Die Verteidigungsbeistands-RL geht grundsätzlich von einem disponiblen Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand, ebenso wie von einem disponiblen Recht auf strafrechtliche Prozesskostenhilfe aus, vgl. Art. 9 Verteidi­ gungsbeistands-RL. Eine zwangsweise Beiordnung wird jedoch weder durch die PKH-RL noch durch die Verteidigungsbeistands-RL ausgeschlossen. Dadurch sieht die Verteidigungsbeistands-RL ein Recht auf Eigenverteidigung für den Be­ schuldigten, die verdächtige oder gesuchte Person vor, das aber – im Einklang mit der Rechtsprechung des EGMR –139 zugunsten vorrangiger öffentlicher Interessen zurückgedrängt werden kann. 4. Ausreichendes Fehlerfolgensystem bei Beschränkung des Rechts auf strafrechtliche Prozesskostenhilfe? Die PKH-RL normiert nur für geringfügige Zuwiderhandlungen einen zeitlich beschränkten Anwendungsbereich, schreibt den Mitgliedstaaten darüber hinaus aber keine weiteren Ausnahmen vor.140 Lediglich in den Erwägungsgründen wird festgehalten,141 dass die PKH-RL nicht angewandt werden sollte, wenn Verdäch­ 137

Ogorodova / Spronken, Erasmus L. Rev. 7 (2014), 194, obgleich der Verweis auf die Recht­ sprechung des EGMR in der Rs. Panovits ungünstig ist, weil in diesem Fall gerade ein Kind i. S. d. Jugendstrafverfahrens-RL angeklagt war und Kinder nach der PKH-RL gerade nicht verzichten können, vgl. dazu sogleich u. Kap. 3 A. IV. 4. a) cc). 138 Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 22.10.2013  – 2013/48/EU, Verteidigungs­ beistands-RL, ABl. L 294, 1, Erwägungsgrund (41). 139 Vgl. o. Kap. 2 A. II. 3. a), b). 140 Vgl. anders noch im vorherigen Ratsentwurf, Art. 2 Abs. 2, 3 RL-E-Rat. 141 Vgl. Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 26.10.2016 – 2016/1919/EU, PKH-RL, ABl. L 297, 1, Erwägungsgrund (9).

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tige, beschuldigte oder gesuchte Personen auf ihr Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand verzichtet haben142 oder wenn Mitgliedstaaten die vorübergehenden Ausnahmen gem. Art. 3 Abs. 5, 6 Verteidigungsbeistands-RL anwenden. Der Wortlaut weist zwar auf eine Soll-Regelung143 und damit allenfalls auf einen en­ gen Umsetzungsspielraum der Mitgliedstaaten hin. Zugleich spricht jedoch die Erwähnung dieser Ausnahmen lediglich in den Erwägungsgründen dafür, dass es sich um eine Auslegungs- und Anwendungshilfe handeln soll, deren Umsetzung den Mitgliedstaaten freisteht. a) Zulässige Ausnahmen gem. Art. 3 Abs. 5, 6 Verteidigungsbeistands-RL Art. 3 Abs. 5, 6 Verteidigungsbeistands-RL regeln Ausnahmemöglichkeiten der Mitgliedstaaten in Fällen besonderer Gefährdungssituationen (Abs. 6) und in Fällen tatsächlicher Schwierigkeiten bei der Gewährung von Verteidigungsrechten (Abs. 5). Diese Ausnahmen rechtfertigen jedoch nie die vollständige Verweigerung des Zugangs zu einem Rechtsbeistand, sondern erlauben lediglich, und nur im Er­ mittlungsverfahren, den Zugang zu einem Rechtsbeistand zu verzögern.144 Diese Ausnahmen vom Anwendungsbereich greifen zum Teil solche Regelungen auf, die im Rahmen der EMRK und der Charta als Beschränkungen geprüft und verortet wurden. Die PKH-RL setzt diese Beschränkungen autonom als Ausnahmen vom Anwendungsbereich um. aa) Verzögerung des Zugangs zu einem Rechtsbeistand wegen geografischer Entfernung, Art. 3 Abs. 5 Verteidigungsbeistands-RL Gem. Art. 3 Abs. 5 Verteidigungsbeistands-RL können die Mitgliedstaaten unter außergewöhnlichen Umständen und nur im vorgerichtlichen Stadium vorüberge­ hend den Zugang zu einem Rechtsbeistand nach Entzug der Freiheit verzögern, wenn es aufgrund der geografischen Entfernung des Verdächtigen oder der beschul­ digten Person nicht möglich ist, das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand unverzüglich nach dem Entzug der Freiheit zu gewährleisten. Art. 3 Abs. 5 Verteidigungsbeistands-RL formuliert keine allgemeine Ausnahme zum Recht auf Verteidigungsbeistand, sondern lediglich für das Vorverfahren, wenn der inhaftierte Verdächtige oder die inhaftierte beschuldigte Person sich an einem 142

Vgl. o. Kap. 3 A. IV. 3. b). So auch in der englischen („this Directive should not apply“), der französischen („la présente directive ne devrait pas s’appliquer“), der spanischen („la presente Directiva no se aplicará“), der niederländischen („mag de onderhavige richtlijn niet van toepassing zijn“) und der schwedischen („bör detta direktiv inte tillämpas“) Sprachversion. 144 Vgl. dazu auch Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 26.10.2016 – 2016/1919/EU, PKH-RL, ABl. L 297, 1, Erwägungsgrund (9). 143

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entlegenen Ort befindet und diese Entfernung den nach der Verteidigungsbei­ stands-RL erforderlichen rechtzeitigen Zugang zu einem Rechtsbeistand ver­ hindert. Als Beispiele solcher Orte führt die Verteidigungsbeistands-RL in ihren Erwägungsgründen Überseegebiete oder Militäroperationen außerhalb des mit­ gliedstaatlichen Hoheitsgebiets auf.145 Der Wortlaut dieser Ausnahmebestimmung ist jedoch unklar. Denn bei des­ sen Lektüre stellt sich die Frage, ob Art. 3 Abs. 5 Verteidigungsbeistands-RL nur solche Situationen erfassen soll, in denen ein früherer Zugang aufgrund der geo­ grafischen Entfernung faktisch nicht möglich ist. Wäre dies der Fall, dann könnte sich ein solcher zeitlicher Spielraum bereits aus der Pflicht zur „unverzüglichen“ Beiordnung gem. Art. 3 Abs. 2 S. 1 Verteidigungsbeistands-RL ergeben. Der Be­ griff des „unverzüglichen“ im Sinne eines „unverschuldeten“ Zögerns („undue“ /  „indue“ / „injustificada“ / „onnodig“ / „onödigt“)146 ist ein wertungsoffener Rechts­ begriff, der Umstände des Einzelfalls und die Interessen und Umstände der Verfahrens­beteiligten abbilden kann und so eine flexible Handhabung der Frist ermöglicht.147 Zugleich muss aber auch der Begriff der Unverzüglichkeit anhand der von EMRK und GRCh entwickelten Maßstäbe ausgelegt werden. Insbesondere nach dem Maßstab der EMRK ist jedwede Verzögerung des Zugangs zu einem Rechtsbeistand nur aus zwingenden Gründen möglich, also wenn der Eingriff auf gesetzlicher Grundlage geschieht, geeignet und erforderlich ist, um die Gefährdung anderer Konventionsrechte abzuwehren.148 Insbesondere der letzte Punkt, der des legitim mit der Verzögerung verfolgten Ziels, erscheint zweifelhaft, wenn lediglich die örtliche Entfernung allein dazu ver­anlasst, den Zugang zu einem Rechtsbeistand zu verzögern und nicht eine zu­ sätzliche Gefährdung anderer Konventionsfreiheiten dargelegt wird. Existiert außer der geografischen Entfernung eine solche Gefährdungslage nicht, liegen nach der EMRK keine zwingenden Gründe für eine Einschränkung vor. Das ver­ schiebt die Argumentationslast zulasten des eingreifenden Mitglied­staates, dass das im Anschluss durchgeführte Strafverfahren trotz der Verzögerung des Zu­ gangs noch fair war.149 Im Rahmen der Charta, die ein legitimes Ziel für den Ein­ griff fordert und insoweit über die Kohärenzklausel des Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh mit den Anforderungen der EMRK aufgeladen wird, fehlt es für einen nur auf die 145 Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 22.10.2013 – 2013/48/EU, Verteidigungsbei­ stands-RL, ABl. L 294, 1, Erwägungsgrund (30). 146 Vgl. so der Wortlaut von Art. 3 Abs. 2 S. 1 Verteidigungsbeistands-RL in der englischen („without undue delay“), der spanischen („sin demora injustificada“), der französischen („sans retard indu“), der niederländischen („zonder onnodig uitstel“) und der schwedischen („utan onödigt dröjsmål“) Version. 147 Vgl. so zum Begriff „without undue delay“ EuGH, Urteil v. 25.1.2018 – C-360/16, Hasan, Rn. 62 f. m. w. N.; krit. zur fehlenden Definition durch die Verteidigungsbeistands-RL: Sayers, HRLR 14 (2014), 751. 148 Vgl. dazu o. Kap. 2 A. III. 2. c) aa). 149 Vgl. o. Kap. 2 A. III. 2. c) bb).

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geografische Entfernung abstellenden Eingriff bereits an einem legitimen. Der insoweit strengere Maßstab der GRCh verlangt gerade ein kumulatives Vorliegen der Rechtfertigungsvoraussetzungen eines Eingriffs, vgl. Art. 52 Abs. 1 GRCh.150 Fehlt es an einem legitimen Eingriffsziel, scheitert die Rechtfertigung nach der Charta von vornherein. Daher muss die Vorschrift von Art. 3 Abs. 5 Verteidi­ gungsbeistands-RL ergänzend dahingehend gelesen werden, dass nicht allein die geographische Entfernung des Verdächtigen oder Beschuldigten genügt, um den Zugang zum Rechtsbeistand zu verzögern, sondern dass darüber hinaus eine Ge­ fahr für andere Konventionsrechte diese Verzögerung erforderlich macht. Dieser Aspekt wird in der Verteidigungsbeistands-RL wahrscheinlich deswegen nicht klar herausgestellt, weil sie erlassen wurde, bevor der EGMR das Kriterium der „wichtigen Gründe“ in dieser Form konkretisierte.151 Auf einer zweiten Stufe ist nach der Rechtsprechung des EGMR erforderlich, dass die Verzögerung die Verteidigungsrechte des Angeklagten nicht ungebührlich benachteiligt, also ausreichende Sicherungsmechanismen existieren, die diese Ver­ zögerung ausgleichen.152 Solche sieht Art. 3 Abs. 5 PKH-RL nicht vor. Lediglich in Erwägungsgrund (30) wird erwähnt, dass der Verdächtige oder die beschuldigte Person nicht vernommen werden sollte, solange sich der Zugang zu seinem ihm zustehenden Rechtsbeistand noch verzögert. Dies ergibt sich aber auch bereits aus der Rechtsprechung des EGMR, nach der die Verwertung der Vernehmung eines unverteidigten Beschuldigten in der Regel die Fairness des Verfahrens irrepara­ bel kompromittiert.153 Das Ausnutzen der unverteidigten Lage des Beschuldigten für eine Vernehmung ist damit nach den Standards der EMRK grundsätzlich un­ zulässig. Es ist irreführend, dass lediglich in den Erwägungsgründen als Ausle­ gungshilfe nicht aber im Richtlinientext selbst darauf hingewiesen wird, dass eine Befragung unterbleiben sollte.154 Eine konventionskonforme Anwendung dieses Ausnahmetatbestands kann regelmäßig nur gelingen, wenn auf eine Vernehmung verzichtet wird, bis der Verdächtige bzw. die beschuldigte Person Zugang zu einem Rechtsbeistand erhält. Nur durch diese beiden vorgeschlagenen Anpassungen über den Wortlaut von Art. 3 Abs. 5 Verteidigungsbeistands-RL hinaus kann diese Vorschrift noch im Einklang mit den Vorgaben aus EMRK und GRCh ausgelegt werden.155

150

Vgl. dazu o. Kap. 2 B. III. 5. c) aa). Vgl. dazu auch u. Kap. 4, Fn. 236. 152 Vgl. o. Kap. 2 A. III. 2. c) bb). 153 Vgl. grundlegend EGMR, Urteil v. 27.11.2008 – 36391/02, Salduz ./. TR, Rep. 2008-V, Rn. 55. 154 Sayers, HRLR 14 (2014), 754. 155 So auch Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 22.10.2013 – 2013/48/EU, Verteidi­ gungsbeistands-RL, ABl. L 294, 1, Erwägungsgrund (30); zust. zur Regelung insgesamt Ogorodova / Spronken, Erasmus L. Rev. 7 (2014), 194. 151

A. Strafrechtliche Prozesskostenhilfe nach Maßgabe der PKH-RL

261

bb) Verzögerung des Zugangs zu einem Rechtsbeistand wegen zwingender Gründe, Art. 3 Abs. 6 Verteidigungsbeistands-RL Gem. Art. 3 Abs. 6 Verteidigungsbeistands-RL können die Mitgliedstaaten unter außergewöhnlichen Umständen und nur im vorgerichtlichen Stadium vorüberge­ hend von der Anwendung der Beistandsrechte nach Art. 3 Abs. 3 Verteidigungs­ beistands-RL abweichen, wenn dies angesichts der besonderen Umstände des Falles durch einen zwingenden Grund gerechtfertigt ist. Diese Rechtfertigungs­ gründe sind abschließend geregelt: Ein zwingender Grund ist gem. Art. 3 Abs. 6 Verteidigungsbeistands-RL dann gegeben, wenn dies zur Abwehr einer Gefahr für Leib oder Leben oder für die Freiheit einer Person dringend erforderlich ist (lit. a) oder wenn ein sofortiges Handeln der Ermittlungsbehörden zwingend ge­ boten ist, um eine erhebliche Gefährdung eines Strafverfahrens abzuwenden (lit. b). Dem Wortlaut nach geht diese Ausnahme bereits deutlich weiter als jene in Art. 3 Abs. 5 Verteidigungsbeistands-RL, weil sie nicht nur auf eine Situation im Ermittlungsverfahren begrenzt ist. Die in Art. 3 Abs. 6 lit. a Verteidigungsbeistands-RL formulierte Ausnahme hat der erst kürzlich entstandenen Rechtsprechung des EGMR in der Sache Ibrahim u. a. vorgegriffen.156 In den Erwägungsgründen wird betont, dass die Abweichung nur in „dringenden Fällen“ gestattet sein soll und begleitet werden muss von einer eingehenden Belehrung des Verdächtigen oder der beschuldigten Personen über ihr Recht, die Aussage zu verweigern.157 Im Gegensatz zur Ausnahmeregelung in Art. 3 Abs. 5 Verteidigungsbeistands-RL soll aber nicht grundsätzlich erforder­ lich sein, von einer Befragung abzusehen. Eine Befragung soll in beschränkten Umfang möglich sein, soweit es um die Ermittlung solcher Informationen geht, die geeignet sind, die Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit abzuwehren.158 In Art. 3 Abs. 6 lit. b Verteidigungsbeistands-RL wird den Mitgliedstaaten dagegen eine Möglichkeit eingeräumt, eine konkrete Gefährdung des Strafverfahrens zu unterbinden. Eine solche konkrete Gefährdung liegt insbesondere dann vor, wenn die Vernichtung oder Veränderung wesentlicher Beweismittel oder die Beeinflus­ sung von Zeugen droht.159 Diese Ausnahmevorschriften entwerfen die bedenkliche Konzeption eines Rechtsbeistands, dem der Zugang zum Verdächtigen oder zur beschuldigten Per­ son vorenthalten werden muss, weil ansonsten die Behinderung des Verfahrens drohen würde. Der Verteidiger ist in dieser Konstellation der Ko-Konspirator des Verdächtigen oder der beschuldigten Person und wird dadurch als Feindbild zur ge­

156

Vgl. o. Kap. 2 A. III. 2. c). Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 22.10.2013 – 2013/48/EU, Verteidigungsbei­ stands-RL, ABl. L 294, 1, Erwägungsgrund (31). 158 Ebd. 159 Ebd., Erwägungsgrund (32). 157

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Kap. 3: Implementation und Ergänzung der menschenrechtlichen Vorgaben  

ordneten Rechtspflege entworfen.160 Die Vorschrift darf nicht dazu genutzt werden, ein solches Feindbild zu hegen und bestimmte schwerwiegende Vorwürfe dem Ver­ dächtigen bzw. der beschuldigten Person gegenüber dazu zu benutzen, diesem sein Zugangsrecht zu einem – an dem jeweiligen Strafvorwurf unbeteiligten – Rechts­ beistand zu beschneiden.161 Vielmehr muss der konkrete, durch Tatsachen belegte Verdacht bestehen, dass durch die Gewährung von Rechtsbeistand droht, dass sich die in Art. 3 Abs. 6 Verteidigungsbeistands-RL beschriebenen Gefahren realisie­ ren.162 Nicht ausreichend dagegen ist, dass der Verdächtige oder die beschuldigte Person sich bestimmten Vorwürfen gegenübersieht und allein deshalb verzögert Zugang zu seinem Rechtsbeistand erhält. Insbesondere lässt Art. 3 Abs. 6 Vertei­ digungsbeistands-RL ein – wenngleich thematisch beschränktes – Fragerecht der Strafverfolgungsbehörden zu, gleichwohl der Verdächtige oder die beschuldigte Person unverteidigt ist.163 In einer solchen Lage ist die Selbstbelastungsfreiheit des Verdächtigen bzw. der beschuldigten Person besonders gefährdet, insbesondere weil der Verdächtige bzw. die beschuldigte Person in dieser Situation zwar belehrt ist, aber trotzdem den Strafverfolgungsbehörden allein gegenübersteht. Die Beschränkung des Ver­ nehmungsrechts ist zudem nur ein theoretischer Schutz der Selbstbelastungsfrei­ heit, weil der Vernehmungsgegenstand in der Praxis schwer abzugrenzen ist von dem, was zur Gefahrenbeseitigung in dieser Situation noch erforderlich ist, und dem, was die Tataufklärung betrifft und daher vom Schweigerecht des Verdächti­ gen oder der beschuldigten Person umfasst ist. Um dem Ausnahmecharakter der Vorschrift Genüge zu tun, müssen die Strafverfolgungsbehörden daher darlegen, dass durch die Gewährung des Rechtsbeistandes tatsächlich eine Gefährdung des Strafverfahrens oder von Leib, Leben oder Freiheit anderer Personen konkret drohen – und nicht nur a­ bstrakt nahelegen. Zumeist wird, selbst wenn diese Ge­ fahren durch den Zugang zu einem konkreten Rechtsbeistand drohen, als milderes Mittel zumeist möglich sein, einen anderen Beistand zu bestellen, bei dem diese Gefährdungslage nicht besteht. Es erscheint keinesfalls gerechtfertigt, wegen Verdachtsmomenten gegen einen konkreten Verteidiger dem Verdächtigen oder der beschuldigten Person den Zugang zu einem anderen, nicht kompromittierten Rechtsbeistand zu verweigern.164 160 Dazu ebenfalls krit. Sayers, HRLR 14 (2014), 755; CCBE, Proposal for a Directive of the European Parliament and of the Council on the Right of Access to a Lawyer and on the Right to Inform a Third Party upon Deprivation of Liberty, 2013, S. 3. 161 Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 556; Spaniol, Das Recht auf Verteidigerbeistand im GG und in der EMRK Menschenrechtskonvention, S. 165; krit. zu dieser Regelung in der Vertei­ digungsbeistands-RL insgesamt Esser, KriPoZ 2017, 176. 162 Vgl. dazu schon o. Kap. 2 A. III. 2. c) aa) (1), bb). 163 Krit. daher von einer „‚Einladung zur Ausnahme‘ vom Grundsatz des Rechtsbeistands“ sprechend Callewaert, ZeuS 2014, 82. 164 Sayers, HRLR 14 (2014), 755; CCBE, Proposal for a Directive of the European Parliament and of the Council on the Right of Access to a Lawyer and on the Right to Inform a Third Party upon Deprivation of Liberty, 2013, S. 3.

A. Strafrechtliche Prozesskostenhilfe nach Maßgabe der PKH-RL

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cc) Strengere Anforderungen für Kinder gem. Art. 6 Jugendstrafverfahrens-RL Diese Ausnahmen vom Anwendungsbereich der PKH-RL sollen unbeschadet von Art. 6 Jugendstrafverfahrens-RL gelten. Art. 6 Jugendstrafverfahrens-RL modi­fiziert die Ausnahmen gem. Art. 3 Abs. 5, 6 Verteidigungsbeistands-RL für Kinder. Gemäß Art. 6 Abs. 8 Jugendstrafverfahrens-RL kann das Recht auf Zu­ gang zu einem Rechtsbeistand ähnlich wie nach Art. 3 Abs. 6 Verteidigungsbei­ stands-RL aus zwingenden Gründen beschränkt werden, soweit dabei das Kindes­ wohl gesondert beachtet wird, vgl. Art. 6 Abs. 8 S. 2 Jugendstrafverfahrens-RL. Damit verweist Art. 6 Abs. 8 S. 2 Jugendstrafverfahrens-RL auf Art. 24 GRCh. Art. 24 GRCh normiert die Rechte von Kindern und die Berücksichtigung des Kindeswohls primärrechtlich auch für Ermittlungsmaßnahmen. Die für die Aus­ nahme in Art. 3 Abs. 6 Verteidigungsbeistands-RL geäußerten Bedenken bleiben jedoch bestehen: Wenn Kinder als besonders schutzbedürftige Verdächtige oder beschuldigte Personen betroffen sind, muss dieser Ausnahmetatbestand eng aus­ gelegt und substantiiert dargelegt werden, inwiefern die rechtzeitige Gewährung von Rechtsbeistand eine Gefahr im Sinne dieser Norm begründen kann. Art. 6 Abs. 8 S. 3 Jugendstrafverfahrens-RL sieht noch einen zusätzlichen, pro­ zessualen Sicherungsmechanismus vor. Denn anders als im Rahmen von Art. 3 Abs. 6 Verteidigungsbeistands-RL darf die Befragung des Kindes ohne Rechts­ beistand nicht fortgesetzt werden. Diese Entscheidung, ob die Befragung ohne Rechtsbeistand fortgesetzt werden darf, muss von einer Justizbehörde oder  – unter der Bedingung, dass die Entscheidung einer richterlichen Kontrolle unter­ zogen werden kann – von einer anderen zuständigen Behörde getroffen werden. Die Abwägung zwischen der Selbstbelastungsfreiheit und der weiteren Ermitt­ lung einer nicht mit den konkreten Ermittlungen befassten Behörde zuzuführen, stellt sicher, dass eine möglichst objektive Entscheidung über diesen Einschnitt in die Verteidigungsrechte des Kindes getroffen wird. Dieser besondere Schutz­ mechanismus ist umso wichtiger, weil es im konkreten Fall um Verdächtige oder beschuldigte Personen geht, die aufgrund ihrer Unerfahrenheit und fehlenden Reife besonders angreifbar sind, wenn sie sich allein den Strafverfolgungsbehör­ den stellen müssen. Darüber hinaus sieht Art. 6 Jugendstrafverfahrens-RL keine weiteren Aus­ nahmen vom Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand für Kinder vor. Daraus folgt zunächst, dass Art. 3 Abs. 5 Verteidigungsbeistands-RL auf Kinder i. S. d. Verteidigungsbeistands-RL keine Anwendung finden darf. Zudem sollen Kin­ der auf ihr Recht auf Unterstützung durch einen Rechtsbeistand nicht verzichten können, vgl. Art. 6 Abs. 2 Jugendstrafverfahrens-RL, Erwägungsgrund (25).165 165 Cras, eucrim 2016, 114; ebenso CCBE, Proposal for a Directive of the European Par­ liament and of the Council on the Right of Access to a Lawyer and on the Right to Inform a Third Party Upon Deprivation of Liberty, 2013, S. 3.

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Kap. 3: Implementation und Ergänzung der menschenrechtlichen Vorgaben  

Dadurch hat sich die Jugendstrafverfahrens-RL strenger positioniert als die dazu früher ergangene Verteidigungsbeistands-RL, die grundsätzlich eine Verzichts­ möglichkeit auch bei kindlichen und jugendlichen Verdächtigen bzw. beschuldig­ ten Personen vorsah.166 Der EGMR selbst ist großzügiger mit dem Verzicht auch bei kindlichen und jugendlichen Angeklagten. Diesen gesteht er ebenso zu, auf ihr Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand zu verzichten, wenn sie in geeigne­ ter und verständlicher Form über dieses Recht belehrt wurden, ihnen die Tragweite der Entscheidung verständlich gemacht wurde und sie daraufhin eindeutig auf dieses Recht verzichten wollen.167 Die Jugendstrafverfahrens-RL geht demgegen­ über von einem generellen Autonomiedefizit von kindlichen und jugendlichen Verdächtigen bzw. beschuldigten Personen aus. Diesen wird dadurch quasi eine Zwangsverteidigung vorgeschrieben, wenn die Voraussetzungen strafrechtlicher Prozesskostenhilfe vorliegen. Dass zugunsten der Interessen von Kindern und Jugendlichen diesen ein Ver­ zichtsrecht grundsätzlich aberkannt wird, fügt sich in die Rechtsprechung „zwin­ gender öffentlicher Interessen“ im Rahmen der EMRK ein. Es dürfte den Mit­ gliedstaaten danach zustehen, den Schutz kindlicher und jugendlicher Verdächtiger und beschuldigter Personen über ein Verzichtsverbot sicherzustellen.168 Denn es ist durchaus belegt, dass die Verständnisfähigkeit umso geringer ist, je jünger die Verdächtigen bzw. beschuldigten Personen sind.169 Obwohl die Verständnis­ fähigkeit mit zunehmendem Alter steigt, und Jugendliche mit steigendem Alter abstrakte Konzepte besser nachvollziehen können, sind auch von den 16–17jäh­ rigen immer noch ein Drittel nicht in der Lage, das Konzept des Schweige­ rechts zu erfassen.170 Selbst vereinfacht gestaltete Verzichtserklärungen kön­ nen dieses Konzept dem jeweiligen Beschuldigten nicht immer näherbringen.171 Diese Form der Zwangsverteidigung steht damit im Einklang mit den Vorschrif­ ten der EMRK.

166 Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 22.10.2013 – 2013/48/EU, Verteidigungsbei­ stands-RL, ABl. L 294, 1, Erwägungsgrund (55). 167 EGMR, Urteil v. 11.12.2008 – 4268/04, Panovits ./. CY, Rn. 68 a. E. 168 Vgl. o. insb. in Kap. 2 A. II. 3. a), b). 169 Vgl. m. w. N. wenngleich zu sog. „Miranda warnings“ im US-amerikanischen Justiz­ system erhoben, Rogers / Blackwood / Fiduccia / Steadham u. a., Crim. Justice Behav. 39 (2012), 233. 170 Ebd. 171 Vgl. zu den Problemen von „vereinfachten Verzichtsbelehrungen“ gegenüber Jugend­ lichen in den USA Weisselberg, B. U. L. Rev. 97 (2017), 1280; mit einer empirischen Erhe­ bung der Schwierigkeiten, Verzichtskonzepte Jugendlichen verständlich zu machen, Zelle / Romaine / Goldstein, Law Hum. Behav. 39 (2015), 281 ff.

A. Strafrechtliche Prozesskostenhilfe nach Maßgabe der PKH-RL

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b) Prozessuale Sicherungsmaßnahmen Die PKH-RL sieht zunächst vor, dass Verdächtigen, beschuldigten und gesuch­ ten Personen ein Rechtsbehelf zur Verfügung stehen soll, wenn das Recht auf Prozesskostenhilfe verzögert oder ganz oder teilweise abgelehnt wird, vgl. Art. 8 PKH-RL,172 oder aber auch, wenn der Verdächtige oder die beschuldigte Person ihr Recht mangels ausreichender Belehrung nicht kannten.173 Die PKH-RL schweigt jedoch dazu, was mit den Beweismitteln, insbesondere den Einlassungen der Ver­ dächtigen oder beschuldigten Personen geschehen soll, wenn diese aufgrund einer Beschränkung des Rechts auf strafrechtliche Prozesskostenhilfe erhoben wurden. Dieses Schweigen der PKH-RL ist umso auffälliger, als die Verteidigungs­ beistands-RL solche Fehlerfolgen selbst festlegt. In Art. 12 Abs. 2 Verteidigungs­ beistands-RL wurde explizit geregelt, dass unbeschadet der nationalen Vorschrif­ ten und Regelungen über die Zulässigkeit von Beweismitteln die Mitgliedstaaten dafür zu sorgen haben, dass in Strafverfahren bei der Beurteilung von Aussagen von Verdächtigen oder beschuldigten Personen oder von Beweisen, die unter Miss­ achtung ihres Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand erhoben wurden, die Verteidigungsrechte und die Einhaltung eines fairen Verfahrens beachtet wer­ den.174 Damit greift Art. 12 Abs. 2 Verteidigungsbeistands-RL dem im Rahmen der ­Ibrahim u. a.-Rechtsprechung des EGMR entwickelten Gesamtbetrachtungsansatz vor, der ebenso auf die Einführung zwingender Verwertungsverbote verzichtet, solange durch prozessuale Sicherungsmaßnahmen die Fairness des Verfahrens gewahrt bleibt. Ebenso sieht Art. 8 Verteidigungsbeistands-RL vor, dass Abwei­ chungen vom Recht auf Zugang zu einem Verteidigungsbeistand grundsätzlich verhältnismäßig sein und zudem, je nach Art der Abweichung, formelle zusätzliche Anforderungen erfüllen müssen, vgl. Art. 8 Abs. 1–3 Verteidigungsbeistands-RL. Dies wurde auch im Rahmen der Ausnahmen von Art. 3 Abs. 6 Verteidigungsbei­ stands-RL betont: Die Erwägungsgründe weisen sowohl für lit. a als auch für lit. b darauf hin, dass ein Missbrauch dieser Ausnahmemöglichkeit die Verteidigungs­ rechte grundsätzlich irreparabel beeinträchtigen würde.175 Auch wenn die PKH-RL derartige Fehlerfolgen nicht vorschreibt, füllen die oben festgestellten Gewährleistungen von EMRK und GRCh diese Lücke, weil die Mitgliedstaaten keine Umsetzung anstreben dürfen, die hinter den bislang gültigen Maßstäben von GRCh und EMRK zurückbleibt. Eine Beschränkung, Verzögerung 172

Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 26.10.2016 – 2016/1919/EU, PKH-RL, ABl. L 297, 1, Erwägungsgrund (27). 173 Vgl. Generalversammlung der UN, Resolution v. 20.12.2012 – A / R ES/67/187, UN-PKHLeitlinien, Rn. 31. 174 Zust. dazu Corell / Sidhu, StV 2012, 249 f.; ebenso zust., aber bedauernd, dass die Vertei­ digungsbeistands-RL kein Beweisverwertungsverbot vorschreibt: Mevis / Verbaan, Erasmus L. Rev. 7 (2014), 182. 175 Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 22.10.2013 – 2013/48/EU, Verteidigungsbei­ stands-RL, ABl. L 294, 1, Erwägungsgrund (31), (32) a. E.

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Kap. 3: Implementation und Ergänzung der menschenrechtlichen Vorgaben  

oder Verweigerung des eigentlich bestehenden Rechts auf strafrechtliche Prozess­ kostenhilfe kann somit im Verfahren nicht folgenlos bleiben. Welche Maßnahmen die Mitgliedstaaten innerhalb ihres Systems ergreifen, steht ihnen zwar frei. Sie müssen jedoch so effektiv ausgestaltet sein, dass sie die Fairness des Verfahrens gegen die konkrete betroffene Person wiederherstellen können. Insofern gelten auch im Rahmen der PKH-RL die oben beschriebenen Grundsätze.176

V. Gestaltungsaufgaben bezüglich der Rahmenbedingungen strafrechtlicher Prozesskostenhilfe Über strafrechtliche Prozesskostenhilfe ist dem Verdächtigen bzw. der beschul­ digten oder gesuchten Person zu ermöglichen, ihr Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand kostenfrei wahrzunehmen. Art. 3, 6 und 7 PKH-RL formulieren, wie die Mitgliedstaaten die Rahmenbedingungen strafrechtlicher Prozesskosten­ hilfe auszugestalten haben. Sie fordern von den Mitgliedstaaten nicht nur die Ge­ währ kostenfreien Rechtsbeistands, sondern verlangen darüber hinaus auch dessen qualitative Absicherung. Damit normiert die PKH-RL strafrechtliche Prozesskos­ tenhilfe als ganzheitliches System.177 1. Vorrang der Unterstützungsleistung vor umfassender Kostenfreiheit Die PKH-RL benutzt nicht den Begriff der „Kostenfreiheit“. Prozesskosten­ hilfe soll gem. Art. 3 PKH-RL „die Bereitstellung finanzieller Mittel durch einen Mitgliedstaat für die Unterstützung durch einen Rechtsbeistand [sein], sodass das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand wahrgenommen werden kann.“ Jede teilweise finanzielle Unterstützung bis hin zur kompletten Kostentragung ist damit richtlinienkonform, solange sie ermöglicht, einen Rechtsbeistand zu beauftragen. Maßgeblich ist allein, dass diese konkrete finanzielle Hilfe die Rechtswahrneh­ mung überhaupt ermöglicht. Dadurch wird der oben herausgearbeitete Sozialhil­ fecharakter strafrechtlicher Prozesskostenhilfe als Unterstützungsleistung für den gleichberechtigten Zugang zu einem Rechtsbeistand unterstrichen.

176

Ebd., Erwägungsgrund (50); i. Ü. vgl. o. Kap. 2 A. III. 2. c), B. III. 5. Sich ebenso für einen solch weiten Begriff strafrechtlicher Prozesskostenhilfe ausspre­ chend ECBA, ECBA  Touchstones, 2013, S. 4; Generalversammlung der UN, Resolution v. 20.12.2012 – A / R ES/67/187, UN-PKH-Leitlinien, Rn. 8. 177

A. Strafrechtliche Prozesskostenhilfe nach Maßgabe der PKH-RL

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a) Erheblicher Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten bezüglich des Umsetzungsmodus Die Mitgliedstaaten sind bei der Ausgestaltung der Kostenübernahme frei. Die PKH-RL regelt deren Modalitäten nicht, insbesondere nicht, ob eine solche Kos­ tenübernahme endgültig sein soll. Mit Blick auf die Entstehungsgeschichte der PKH-RL ist jedoch fraglich, ob der Unionsgesetzgeber sich nicht gegen eine nur vorläufige Form der Prozesskostenhilfe entschieden hat. Ursprünglich war der Vorschlag der Kommission nur auf vorläufige Prozesskos­ tenhilfe gerichtet, die Verdächtigen und beschuldigten Personen schnellen Zugang zu einem Rechtsbeistand ermöglichen sollte.178 Der darauf folgende Anspruch auf gewöhnliche Prozesskostenhilfe sollte einer nationalen Regelung vorbehalten bleiben. Zudem sollten die Mitgliedstaaten bereits gewährte Prozesskostenhilfe zurückfordern können, wenn im weiteren Verlauf des Verfahrens die Vorausset­ zungen dafür entfielen.179 Gewöhnliche Prozesskostenhilfe, nach der Konzeption der Kommission als endgültige Entscheidung über die Gewährung oder Ablehnung von finanzieller Unterstützung im Rahmen eines Strafverfahrens, sollte dagegen der Regelung in einer Empfehlung vorbehalten bleiben.180 Der Grundgedanke im Entstehungsprozess der PKH-RL war der einer vorläufigen, der Rückforderung vorbehaltenen Prozesskostenhilfe, vgl. Art. 4 Abs. 5 RL-E-KOM, Erwägungs­ grund (12) RL-E-Rat.181 Das ganze Konzept der PKH-RL hat sich jedoch von der nur vorläufigen Ge­ währleistung zu einer das gesamte Strafverfahren überdauernden Gewährleistung entwickelt. Maßgeblich hat das Europäische Parlament diese Entwicklung ange­ stoßen und schließlich die aktuelle Version der PKH-RL geformt.182 Die aktuelle Regelung geht jedoch auch nicht so weit, wie ursprünglich vom Berichterstatter De Jong des Europäischen Parlaments angeregt. Eine spätere Rückforderung sollte im ersten Entwurf des Parlaments nur dann möglich sein, wenn der Ver­ dächtige, die beschuldigte oder gesuchte Person wissentlich falsche Angaben gemacht hat.183 Die PKH-RL lässt in ihrer finalen Fassung offen, wie die Mitgliedstaaten, an­ gepasst an ihr jeweiliges Strafprozesssystem, die Umsetzung der Voraussetzungen und Rechtsfolgen von strafrechtlicher Prozesskostenhilfe umsetzen sollen. Die 178 Kommission, Vorschlag v. 27.11.2013 – COM(2013) 824 final, RL-E-KOM, Rn. 10, arg e Art. 4, Art. 5 Abs. 1. 179 Ebd., Art. 4 Abs. 5. 180 Kommission, Mitteilung v. 27.11.2013 – COM(2013) 820 final, S. 3. 181 Vgl. auch Kommission, Vorschlag v. 27.11.2013 – COM(2013) 824 final, RL-E-KOM, Rn. 31, abweichend geregelt jedoch für das Verfahren des Europäischen Haftbefehls, vgl. Rn. 11. 182 Europäisches Parlament, Bericht v. 18.5.2015  – A8–0165/2015, S. 37 f.; Standpunkt v. 4.10.2016 – EP-PE_TC1-COD(2013)0409, RL-E-EP, Art. 4. 183 Europäisches Parlament, Bericht v. 18.5.2015 – A8–0165/2015, S. 38.

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Kap. 3: Implementation und Ergänzung der menschenrechtlichen Vorgaben  

Entstehungsgeschichte der PKH-RL zwingt somit nicht dazu, eine Rückforderung auszuschließen. Sie stellt es den Mitgliedstaaten vielmehr frei, Rückforderungen vorzusehen.184 Eine derartige Umsetzung sehen gerade auch die EMRK und die Charta vor.185 Die Mitgliedstaaten müssen jedoch eine Umsetzung wählen, die im Einzel­ fall nicht davor abschreckt, strafrechtliche Prozesskostenhilfe überhaupt in An­ spruch zu nehmen: Teil dessen muss folglich sein, dass eine Rückforderung nur bemessen an den konkret vorhandenen Mitteln des jeweils Betroffenen möglich ist und die damit verbundenen Kosten transparent und vorhersehbar sind.186 Das bedeutet auch, dass die Mitgliedstaaten, die auf Tatbestandsebene nur Interessen der Rechtspflege berücksichtigen, spätestens auf Ebene der Gewährleistung ein Bedürftigkeitskriterium einführen müssen, um eine solche Berücksichtigung der Belange bedürftiger Verdächtiger und beschuldigter Personen leisten zu können. Zudem darf die Rückforderung nicht in zeitlicher Hinsicht den Zweck der Unter­ stützungsleistung strafrechtlicher Prozesskostenhilfe konterkarieren: Folglich ist eine solche Rückforderung nicht mitten im Strafverfahren zulässig, sondern erst, wenn dieses endgültig abgeschlossen ist. b) Umfang der Kostenübernahme Gem. Art. 3 PKH-RL sollen die Kosten grundsätzlich in dem Umfang getragen werden, der für den Zugang zu einem Rechtsbeistand erforderlich ist. Diese Defi­ nition nehmen die anderen Sprachfassungen grundsätzlich ähnlich vor,187 ledig­ lich die französische Version spricht davon, dass Prozesskostenhilfe die effektive Wahrnehmung des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand ermöglichen solle („permettant l’exercice effectif du droit d’accès à un avocat“). Doch auch wenn es so deutlich in den anderen Sprachversionen von Art. 3 PKH-RL nicht ausgespro­ chen wird, ist die gesamte PKH-RL der Effektivierung des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand gewidmet. Daraus folgt zugleich, dass jede Vorschrift der PKH-RL, auch die der Kostenübernahme, grundsätzlich der Prämisse unterliegt, effektive und wirksame Verteidigung sicherzustellen.188

184 So auch BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung, 2018, a. a. O. Kap. 3, Fn. 49, S. 1. 185 Vgl. o. Kap. 2 A. IV. 1.  186 Vgl. insoweit o. Kap. 2 A. IV. 1.  187 Vgl. so die englische („enabling the exercise of the right of access to a lawyer“), die spa­ nische („que permita el ejercicio del derecho a la asistencia de letrado“), die niederländische („waardoor de uitoefening van het recht op toegang tot een advocaat mogelijk wordt gemaakt“) und die schwedische („för att möjliggöra att rätten till tillgång till en försvarare ska kunna utövas“) Sprachversion. 188 Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 26.10.2016 – 2016/1919/EU, PKH-RL, ABl. L 297, 1, Erwägungsgrund (1), ebenso vorausgesetzt in Art. 7 Abs. 1 lit. a.

A. Strafrechtliche Prozesskostenhilfe nach Maßgabe der PKH-RL

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Eine Beteiligung des Verdächtigen, der beschuldigten oder gesuchten Person an den Kosten strafrechtlicher Prozesskostenhilfe liegt somit noch im gesetzgeberi­ schen Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten.189 Die Kostenübernahme muss jedoch mindestens so hoch sein, dass der konkrete Verdächtige bzw. die konkrete beschuldigte oder gesuchte Person, einen Rechtsbeistand mit seiner Unterstützung beauftragen kann. Eine Beteiligung an den Kosten kann somit jedenfalls nicht schematisch angeordnet werden, steht jedoch, wenn sie an der Leistungsfähigkeit des Verdächtigen bzw. der beschuldigten Person bemessen wird, den Mitgliedstaa­ ten frei. Der Grundsatz ist daher die Übernahme sämtlicher Kosten, die Ausnahme die Beteiligung der betroffenen Person. Zudem beschränkt Art. 4 Abs. 6 PKH-RL die Übernahme der Kosten auf die Zwecke desjenigen Strafverfahrens, in dem die betreffende Person der Begehung einer Straftat verdächtigt oder beschuldigt wird, vgl. Art. 4 Abs. 6 PKH-RL. Diese Vorschrift regelt eine Kostenbeschränkung, bezogen auf den Gegenstand des Verfahrens („Strafsachen“) und auf das Subjekt des Verfahrens („in dem die betroffene Person beschuldigt oder verdächtig ist“). Das führt zum einen zu einer Beschränkung auf die für die Zwecke des Strafverfahrens erforderlichen Kosten. Das heißt, dass darüber hinaus für z. B. aus der gleichen Handlung erwachsende Zivilklagen oder verwaltungsrechtliche Verfahren eine Kostentragung unterbleibt. Zum anderen bedeutet die Beschränkung in persönlicher Hinsicht, dass die Kosten auch nicht für solche Angelegenheiten getragen werden, in denen die betroffene Person zwar in Strafsachen, aber als anderweitiger Verfahrensbeteiligter, z. B. als Zeuge, auftritt. Gerade Letzteres kann eintreten, wenn innerhalb eines einheitli­ chen geschichtlichen Vorwurfs mehrere Personen angeklagt werden und das Ver­ fahren gegen einen der Mitangeklagten abgetrennt wird. Die Vorschrift ist im Hinblick auf die Vorgaben von EMRK und GRCh aber unproblematisch. Sie bekräftigt lediglich den grundsätzlich auf das Strafverfahren begrenzten Anwendungsbereich, vgl. Art. 2 PKH-RL, und enthält keine erneute Beschränkung. Ähnlich wie die Eingrenzung in persönlicher Hinsicht nur auf Ver­ dächtige, beschuldigte oder gesuchte Personen bewirkt sie, dass dieses prozessuale Privileg des Zugangs zu staatlich getragener Verteidigung als budgetär begrenzte Ressource denjenigen Personen und Verfahren vorbehalten bleibt, in denen sie am dringendsten benötigt wird. In dieser Hinsicht bekräftigt Art. 4 Abs. 6 PKH-RL nur auf Gewährleistungsebene, was über den Anwendungsbereich der PKH-RL ohnehin schon Voraussetzung ist.

189

Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 26.10.2016 – 2016/1919/EU, PKH-RL, ABl. L 297, 1, Erwägungsgrund (8); eingeführt durch Europäisches Parlament, Standpunkt v. 4.10.2016 – EP-PE_TC1-COD(2013)0409, RL-E-EP, Erwägungsgrund (8).

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Kap. 3: Implementation und Ergänzung der menschenrechtlichen Vorgaben  

2. Anforderungen der PKH-RL an die Qualitätssicherung Art. 7 PKH-RL regelt die Qualität der mit strafrechtlicher Prozesskostenhilfe verbundenen Dienstleistungen und Schulungen. Danach bemisst sich die Qualität strafrechtlicher Prozesskostenhilfe zum einen am Bewilligungssystem strafrechtli­ cher Prozesskostenhilfe, zum anderen an der Qualität der im Wege strafrechtlicher Prozesskostenhilfe erbrachten Dienstleistung. Beide bedingen auch einander. Ohne ein ausreichend umgesetztes, funktionsfähiges System strafrechtlicher Prozesskos­ tenhilfe wird die Qualität der damit erbrachten Dienstleistungen unzureichend sein und vice versa. Beide Aspekte werden daher in Art. 7 PKH-RL normiert. Diese Ausgestaltung ist gegenüber den reinen Ergebnisvorgaben von EMRK und GRCh eine eigenständige, detaillierte Vorgabe an die Mitgliedstaaten, nicht nur dass, sondern auch wie ein faires Verfahren zu bewirken ist. a) Qualität des Systems strafrechtlicher Prozesskostenhilfe Die Qualität des Systems strafrechtlicher Prozesskostenhilfe soll insbesondere durch eine ausreichende personelle wie finanzielle Ausstattung sichergestellt wer­ den, jeweils unter Wahrung der Unabhängigkeit der rechtsberatenden Berufe, vgl. Art. 7 Abs. 1 lit. a PKH-RL. Maßgeblich ist dafür insbesondere die finanzielle Ausstattung des Prozesskos­ tenhilfesystems, welches die Qualität sowie die Zugänglichkeit des Systems für alle Anspruchsberechtigten über die Verteidigervergütung und über die Größe des Budgets bestimmt. Wie eine solche ausreichende finanzielle Infrastruktur aussieht, lässt die PKH-RL offen und stellt dies damit ins Ermessen der Mitgliedstaaten. Die Leitlinien der UN-Generalversammlung zu strafrechtlicher Prozesskostenhilfe können an dieser Stelle – wie von der PKH-RL vorgesehen – als Auslegungshilfe herangezogen werden und leiten somit die Umsetzung durch die Mitgliedstaaten an.190 Eine angemessene Infrastruktur setzt nach deren Konzeption vorrangig eine stabile, unabhängige Ausrüstung mit Mitteln nach transparenten Kriterien voraus. Andernfalls könnten budgetäre Probleme einzelner Mitgliedstaaten die Gewähr­ leistung an sich gefährden.191 Das Budget für strafrechtliche Prozesskostenhilfe sollte zudem in einem angemessenen Verhältnis zu den Mitteln stehen, die für die Strafverfolgung abrufbar sind.192 Die Finanzierung sollte zudem so ausrei­ chend sein, dass die Mehrheit der Verteidigungskosten darüber geleistet wer­ 190

Vgl. Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 26.10.2016 – 2016/1919/EU, PKH-RL, ABl. L 297, 1, Erwägungsgrund (23) mit Verweis auf Generalversammlung der UN, Resolu­ tion v. 20.12.2012 – A / R ES/67/187, UN-PKH-Leitlinien. 191 EWSA, Stellungnahme v. 16.7.2014 – 2014/C 226/12, ABl. C 226, 63, Rn. 1.4 mit Anre­ gung der Einrichtung eines europäischen Fonds zur Unterstützung bedürftiger Staaten. 192 Generalversammlung der UN, Resolution v. 20.12.2012 – A / R ES/67/187, UN-PKH-Leit­ linien, Rn. 61 lit. d.

A. Strafrechtliche Prozesskostenhilfe nach Maßgabe der PKH-RL

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den kann. Die Ergänzung des Budgets über andere Modelle wie Law Clinics, NGOs oder die Berufskammern193 ist zwar wünschenswert, sollte strafrechtliche Prozesskostenhilfe jedoch maximal ergänzen und nicht an die Stelle der staat­ lichen Unterstützung treten. Diese finanzielle Ausstattung muss sich zudem in einer angemessenen Ver­ gütung der Rechtsbeistände niederschlagen. Dies folgt auch aus Art. 3 PKH-RL. Aus der dortigen Definition strafrechtlicher Prozesskostenhilfe ergibt sich, dass die Mitgliedstaaten dem Verdächtigen bzw. der beschuldigten oder gesuchten Per­ son ausreichende finanzielle Mittel bereitstellen müssen, damit dieser das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand auch wahrnehmen kann. Damit wird für die Vergütungshöhe zwar ein weiter Spielraum belassen. Die Mitgliedstaaten müs­ sen jedoch die Höhe der Vergütung grundsätzlich so ausgestalten, dass Rechts­ beistände die Leistung zum einen überhaupt erbringen wollen und zum anderen effektiv erbringen können, gleichzeitig berücksichtigend, dass strafrechtliche Pro­ zesskostenhilfe eine begrenzte Ressource ist und damit nicht verschwenderisch gewährt werden darf. Ob sie dafür Rechtsbeistände nach den einzeln erbrachten Tätigkeiten vergüten oder feste Gebührensätze bestimmen, ist solange gleichgültig, wie die Qualität der Dienstleistung und die Bedarfsdeckung gewährleistet bleiben. Z. B. ist es zwar möglich, durch gleiche Vergütung von Wahl- wie Pflichtvertei­ digern zu verhindern, dass vor allem Berufsanfänger des Anwaltsberufs Pflicht­ verteidigermandate übernehmen.194 Eine Lösung dieses Problems hinsichtlich der Qualität von staatlich getragener Verteidigung ist aber nicht zwingend über den Mechanismus der Vergütung zu erreichen, sondern kann ebenso z. B. über Akkre­ ditierungsmechanismen geregelt werden. Gerade im Entwurf des Europäischen Parlaments wurde betont, dass nicht die Gebührensysteme der Mitgliedstaaten vereinheitlicht, sondern die Qualität der Dienstleistung vielmehr über festgelegte Kriterien abgesichert werden sollen.195 Die gem. Art. 7 Abs. 2 PKH-RL geforderte angemessene personelle Ausstattung des Systems strafrechtlicher Prozesskostenhilfe bezieht sich nur auf den Verwal­ tungsapparat, der die administrative Seite strafrechtlicher Prozesskostenhilfe um­ setzt. Die Rechtsbeistände und die Qualität ihrer Dienstleistung werden über Art. 7 Abs. 1 lit. b PKH-RL erfasst. Die PKH-RL sieht insbesondere vor, dass die über strafrechtliche Prozesskostenhilfe entscheidenden Personen in dieser Angelegen­ heit ausreichend und wiederholt geschult werden, vgl. Art. 7 Abs. 2 PKH-RL.196 Dadurch soll nicht nur eine sachlich zutreffende, sondern auch eine unverzügliche Entscheidung sichergestellt werden.197

193

Dazu insgesamt pos. ebd., Rn. 60 f., 70, 72. Augustin, Das Recht des Beschuldigten auf effektive Verteidigung, S. 295. 195 Europäisches Parlament, Bericht v. 18.5.2015 – A8–0165/2015, S. 38. 196 So auch Generalversammlung der UN, Resolution v. 20.12.2012  – A / R ES/67/187, UN-PKH-Leitlinien, Rn. 64. 197 In diesem Sinne auch ebd., Rn. 15. 194

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Kap. 3: Implementation und Ergänzung der menschenrechtlichen Vorgaben  

b) Qualität durch die Beschränkung des für strafrechtliche Prozesskostenhilfe zugelassenen Personenkreises Die PKH-RL bedient sich des Begriffs des „Rechtsbeistands“ und bezieht sich damit auf die Terminologie der Verteidigungsbeistands-RL. Die PKH-RL enthält sich zwar einer konkreten Definition des Begriffs des „Rechtsbeistands“, legt aber in Art. 7 PKH-RL Anforderungen fest, um den Kreis der tauglichen Rechts­ beistände zu begrenzen und so die Qualität strafrechtlicher Prozesskostenhilfe abzusichern. Der Begriff an sich ist offen dafür, dass die Mitgliedstaaten abgesehen von zugelassenen Rechtsanwälten auch andere Personen im Rahmen strafrechtlicher Prozesskostenhilfe beauftragen, solange diese in der Lage sind, effektive Ver­ teidigung zu leisten. Neben der deutschen Version ist z. B. auch die schwedische Sprachversion mit ihrer allgemeinen Terminologie eines „Fürsprechers“ bzw. „Ver­ teidigers“ nicht festgelegt. Andere Sprachversionen benutzen jedoch ausdrücklich den Begriff des „Rechtsanwalts“ und scheinen dadurch von einem beschränkteren Personenkreis auszugehen.198 Maßgeblich ist jedoch der Begriff des „Rechtsbeistands“. Dies ergibt sich aus der übrigen Systematik und dem Sinn und Zweck sowohl der Verteidigungsbei­ stands-RL als auch der PKH-RL. Danach soll das Wort „Rechtsbeistand“ jede „Person [bezeichnen], die nach nationalem Recht befähigt und befugt ist – ein­ schließlich durch Akkreditierung durch eine dazu befugte Stelle –, Verdächtige und beschuldigte Personen rechtlich zu beraten und zu unterstützen.“199 Ist also eine Person nicht nur tatsächlich befähigt, diese Funktion als Rechtsbeistand wahr­ zunehmen, sondern dazu ebenso von einer offiziellen Stelle als befugt anerkannt, darf sie Rechtsbeistand leisten. Selbst wenn diese Person kein Rechtsanwalt ist, können die Mitgliedstaaten sich grundsätzlich entscheiden, über die Anwaltschaft hinaus Personen für die Verteidigung im Rahmen strafrechtliche Prozesskosten­ hilfe zuzulassen. Diese offene Formulierung ändert jedoch nichts daran, dass in den meisten Mitgliedstaaten beide Voraussetzungen – offizielle Akkreditierung zur Begleitung in einem Strafverfahren sowie die zusätzlich erforderliche tatsäch­ liche Befähigung – zumeist nur von Rechtsanwälten erfüllt werden.200 Wie diese Akkreditierung vergeben wird und ob sich ein Mitgliedstaat entschei­ det, diese Akkreditierung auch anderen Personengruppen als Rechtsanwälten zu erteilen, unterliegt folglich einem weiten Gestaltungsspielraum, auch um den be­ stehenden Unterschieden in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gerecht zu 198 Vgl. jeweils passim, in der englischen Version („lawyer“), im Französischen („avocat“), im Niederländischen („advoocaat“) und im Spanischen („letrados“); so auch Schlothauer, StV 2018, 173; allgemeiner dagegen in der schwedischen Sprachversion („försvarare“). 199 Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 22.10.2013 – 2013/48/EU, Verteidigungsbei­ stands-RL, ABl. L 294, 1, Erwägungsgrund (15). 200 Dies für das dt. Strafprozessrecht annehmend, Schlothauer, StV 2018, 172.

A. Strafrechtliche Prozesskostenhilfe nach Maßgabe der PKH-RL

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werden und diesen eine friktionsfreie Umsetzung zu ermöglichen. Jede Entschei­ dung diesbezüglich muss aber der Überprüfung standhalten, dass die derart für strafrechtliche Prozesskostenhilfe zugelassenen Personengruppen auch über die tatsächliche Befähigung verfügen, effektiven Rechtsbeistand in einem nationalen wie transnationalen Strafverfahren zu gewähren. c) Qualität der mit der Prozesskostenhilfe verbundenen Dienstleistung Gem. Art. 7 Abs. 1 lit. b PKH-RL muss zudem die Qualität der mit der Prozess­ kostenhilfe verbundenen Dienstleistungen  – und damit des Rechtsbeistands an sich – angemessen sein, um die Fairness des Verfahrens zu wahren. Dies betrifft zunächst die fachliche Qualifikation der Rechtsbeistände. Die PKH-RL sieht vor, dass die Mitgliedstaaten geeignete Maßnahmen ergreifen sol­ len, um die Qualität der Dienstleistung sicherzustellen. Dies ist vorrangig über ein System der Qualitätssicherung zu leisten, in dem Kriterien die Eignung eines Rechtsbeistands für strafrechtliche Prozesskostenhilfe transparent festlegen und damit auch die Verwendung mitgliedstaatlicher Haushaltsmittel rechtfertigen.201 Wie diese Kriterien aussehen und wie sie überprüft werden müssen, überlässt die PKH-RL den Mitgliedstaaten. Es müssen somit gesonderte, über die reine Zulassung als Rechtsanwalt hinaus­ gehende Anforderungen festgelegt werden.202 Die Zulassung ist nur geeignet, den Abschluss der juristischen Ausbildung und die Erfüllung zusätzlicher formeller Kriterien zu bezeugen. Sie beweist jedoch gerade nicht, dass eine Person befä­ higt ist, effektiven Rechtsbeistand in einem Strafverfahren zu leisten.203 Genau diesen Nachweis verlangt die PKH-RL jedoch. Die Mitgliedstaaten sind folglich verpflichtet, ein nachprüfbares, speziell auf die Bedürfnisse strafrechtlicher Pro­ zesskostenhilfe zugeschnittenes Kriteriensystem zu entwickeln, welches die von der PKH-RL verlangte Qualitätssicherung umsetzen kann. Insoweit bleibt die PKH-RL zwar offen auch für solche Personen, die nicht zugelassene Rechtsan­ wälte sind, solange sie die nach dem jeweiligen System für die Prozesskostenhilfe erforderlichen Kriterien erfüllen. Jedoch erscheint es nach dem von der PKH-RL vorausgesetzten Bild eines akkreditierten Rechtsbeistands unwahrscheinlich, dass noch unerfahrene, in Ausbildung befindliche Personen, wie z. B. Referendare, dem von der PKH-RL geforderten Anspruch eines Rechtsbeistands entsprechen.204 201

Vgl. ebd. Ebd. 203 Ebd., 173; ebenso sich früh für ein separates Zulassungssystem für Prozesskostenhilfean­ wälte aussprechend Kommission, Empfehlung v. 27.11.2013 – C(2013) 8179 final, Empfehlung PKH, Rn. 19. 204 Dies auch lediglich als subsidiäre Option ansehend, wenn sonst keinerlei Rechtsbeistände verfügbar sind, z. B. in ländlichen Gegenden, Generalversammlung der UN, Resolution v. 20.12.2012 – A / R ES/67/187, UN-PKH-Leitlinien, Rn. 45 lit. f, 67 f. 202

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Kap. 3: Implementation und Ergänzung der menschenrechtlichen Vorgaben  

Die tatsächliche Überprüfung der Qualität der mit strafrechtlicher Prozess­ kostenhilfe verbundenen Dienstleistungen soll über die für die Weiterbildung der Rechtsbeistände zuständige Stelle erfolgen, vgl. Art. 7 Abs. 3 PKH-RL. Dies wird sich nach den Besonderheiten des jeweiligen nationalen Rechts bestimmen. Diese Stellen müssen somit zusätzlich zu ihrer Fortbildungsverpflichtung die qualitative Überprüfung der Rechtsbeistände übernehmen. d) Das Recht auf einen Verteidiger des Vertrauens Weder die PKH-RL noch die Verteidigungsbeistands-RL sehen ein Wahlrecht des Verdächtigen bzw. der beschuldigten Person vor.205 Und dies obwohl das Euro­ päische Parlament für die PKH-RL in seinem Änderungsentwurf anregte, „eine Regelung in die Richtlinie auf[zunehmen], dass die Präferenzen und Wünsche des Verdächtigen, Beschuldigten oder der gesuchten Person bei der Wahl eines im Rahmen der Prozesskostenhilfe tätigen Rechtsbeistands soweit wie möglich berücksichtigt werden“.206 Die PKH-RL sieht lediglich vor, dass ein im Wege strafrechtlicher Prozesskos­ tenhilfe bestellter Verteidiger dem Verdächtigen bzw. der beschuldigten Person zugewiesen wird.207 Der Verdächtige, die beschuldigte oder gesuchte Person kann diesen zugewiesenen Rechtsbeistand jedoch auswechseln lassen, wenn die konkre­ ten Umstände es rechtfertigen, vgl. Art. 7 Abs. 4 PKH-RL.208 Die Maßstäbe der Charta und der EMRK erlauben zwar auch grundsätzlich eine Zuweisung des Rechtsbeistands, jedoch anders als die PKH-RL, die insoweit kei­ nerlei Regelung enthält, nur unter vorrangiger Berücksichtigung der Wünsche des Verdächtigen bzw. der beschuldigten Person bezüglich der konkreten Person des Rechtsbeistands.209 Ein in dieser Hinsicht deutlicherer Wortlaut der PKH-RL wäre 205 Krit. zur fehlenden Regelung in der Verteidigungsbeistands-RL, vgl. Ogorodova / Spronken, Erasmus L. Rev. 7 (2014), 193; zur PKH-RL Schlothauer, StV 2018, 173. 206 Europäisches Parlament, Bericht v. 18.5.2015 – A8–0165/2015, S. 38; dies nicht für er­ forderlich haltend: Generalversammlung der UN, Resolution v. 20.12.2012 – A / R ES/67/187, UN-PKH-Leitlinien, Rn. 45 lit. c; ebenso noch vor dem ersten Richtlinienentwurf dazu Kom­ mission, Empfehlung v. 27.11.2013 – C(2013) 8179 final, Empfehlung PKH, Rn. 24; vgl. dazu auch inzwischen EuGH, Urteil v. 5.6.2018 – C-612/15, Kolev u. a., Rn. 106; zwar ohne aus­ drückliche Konkretisierung für das Recht auf strafrechtliche Prozesskostenhilfe, dafür unter Verweis auf die Maßstäbe für die Auswahl eines Verteidiger des Vertrauens im Rahmen von Fällen strafrechtlicher Prozesskostenhilfe, vgl. EGMR, Urteil v. 25.9.1992 – 13611/88, Crois­ sant ./. DE, Rn. 29 und Urteil v. 14.1.2003 – 26891/95, Lagerblom ./. SE, Rn. 54. 207 Vgl. den englischen („the lawyer providing legal aid services assigned to them“), den fran­ zösischen („l’avocat […] qui leur a été assigné“), den spanischen („letrado que les haya sido asignado“), den niederländischen („de aan hen toegewezen rechtsbijstandsadvocaat“) sowie den schwedischen („den försvarare som de tilldelats“) Wortlaut von Art. 7 Abs. 4 PKH-RL. 208 Dies als Minimalansatz bezeichnend ECBA, ECBA Touchstones, 2013, S. 10. 209 Vgl. o. Kap. 2 A. III. 2. b) bb); so auch EuGH, Urteil v. 5.6.2018 – C-612/15, Kolev u. a., Rn. 106.

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daher wünschenswert gewesen. Dies gilt insbesondere, weil der gesuchten Person gem. Art. 5 Abs. 2 PKH-RL i. V. m. Art. 10 Abs. 4, 5 Verteidi­gungsbeistands-RL dieses Recht auf Benennung und damit Wahl eines eigenen Rechtsbeistands für das Verfahren im Anordnungsstaat ausdrücklich zugesichert wird. Es ist eigentümlich, dass dieses Wahlrecht für das Verfahren im Anordnungsstaat geregelt wird, aber im Übrigen nicht vorgesehen ist. Durch das Fehlen eines genuinen Wahlrechts verkehrt die PKH-RL die Be­ gründungslast zulasten des Verdächtigen bzw. der beschuldigten Person: Wäh­ rend Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK und Art. 48 Abs. 2 GRCh vorsehen, dass grund­ sätzlich dem Wunsch des Angeklagten zu entsprechen ist, es sei denn der Staat kann gewichtige Gründe für eine Abweichung geltend machen, legt die PKH-RL ein anderes Regel-Ausnahme-Verhältnis zugrunde. Der Staat kann danach grund­ sätzlich einen Rechtsbeistand zuweisen, dessen Auswechslung der Verdächtige bzw. die beschuldigte Person nur unter Begründungsaufwand erreichen kann. Dies unterläuft das durch die EMRK und die Charta vorgegebene Auswahl- und Berücksichtigungsrecht. Gem. Art. 7 Abs. 4 PKH-RL muss wenigstens ein bereits zugewiesener Rechts­ beistand ausgetauscht werden können, wenn konkrete Umstände dies rechtfertigen. Diese Regelung eröffnet den Mitgliedstaaten einen weiten Spielraum, diesen un­ bestimmten Rechtsbegriff der „konkreten Umstände“ auszufüllen. Auch insoweit ist die Gestaltungsmacht der Mitgliedstaaten jedoch begrenzt. Konkrete Umstände müssen daher in zwei Konstellationen zwingend angenommen werden: zum einen wenn der Verdächtige bzw. die beschuldigte Person kein Vertrauen mehr in den er­ nannten Rechtsbeistand hat, zum anderen wenn effektive Verteidigung durch den zugewiesenen Rechtsbeistand offenkundig nicht geleistet wird.210 Soweit der Verdächtige bzw. die beschuldigte Person erkennbar ineffektiv ver­ teidigt ist, rührt diese Vorschrift gleichfalls an das Verhältnis von Eigenverant­ wortlichkeit des Verdächtigen bzw. der beschuldigten Person über ein Antragser­ fordernis und die Absicherung effektiver Verteidigung über die Fürsorgepflicht des Gerichts. Art. 7 Abs. 4 PKH-RL sieht dieses Auswechslungsrecht nur „auf entspre­ chenden Antrag“ vor, obgleich sowohl Charta als auch EMRK gewährleisten, dass in einer für das Gericht offenkundigen Situation fehlender effektiver Verteidigung ein Antragserfordernis die Fürsorgepflicht des Gerichts nicht aufhebt, sondern die Auswechslung gerade von Amts wegen geboten sein kann.211 Auch insoweit ist Art. 7 Abs. 4 PKH-RL an die Vorgaben von EMRK und GRCh anzupassen.

210 211

Vgl. o. Kap. 2 A. II. 3. b), III. 2. b) bb). Vgl. o. Kap. 2 A. II. 3. b).

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Kap. 3: Implementation und Ergänzung der menschenrechtlichen Vorgaben  

3. Unabhängigkeit der mit der Gewährung strafrechtlicher Prozesskostenhilfe befassten Entscheidungsinstanz Die Entscheidung über die Bewilligung strafrechtlicher Prozesskostenhilfe und über die Bestellung eines Rechtsbeistands soll gemäß Art. 6 Abs. 1 S. 1 PKH-RL von einer zuständigen Behörde getroffen werden, die ihre Entscheidungen mit Sorgfalt trifft und dabei die Rechte der Verteidigung wahrt, vgl. Art. 6 Abs. 1 S. 2 PKH-RL. Welche Behörde dies ist und in welchem Verhältnis sie zu den Strafverfol­ gungsbehörden steht, ob sie mit diesen nicht auch identisch sein kann, lässt Art. 6 Abs. 1 PKH-RL offen. Zunächst scheint die PKH-RL von einer institutionell von den Strafverfolgungsbehörden und der Polizei unabhängigen Behörde auszuge­ hen: Dafür spricht einerseits, dass die PKH-RL sonst von der „Polizei und ande­ ren Strafverfolgungsbehörden“212 spricht, wenn diese bezeichnet werden sollen.213 Andererseits könnte der Begriff „Behörde“ jedoch auch lediglich als Oberbegriff genutzt werden, sodass darunter auch Strafverfolgungsbehörden fallen. Der Wort­ laut ist insoweit zweideutig. In den Erwägungsgründen wird jedoch ausdrücklich erwähnt, dass es sich bei der entscheidenden und zuständigen Behörde um eine „unabhängige“ Behörde oder um ein „Gericht einschließlich eines Einzelrichters“ handeln soll.214 Ledig­ lich in „dringenden Fällen“ sollen auch die Polizei und andere Strafverfolgungs­ behörden einbezogen werden, sofern es für die rechtzeitige Bewilligung von Prozesskostenhilfe erforderlich ist.215 Unabhängigkeit der die Entscheidung tref­ fenden Behörde ist daher vorrangig eine institutionelle Unabhängigkeit von den das Verfahren führenden Strafverfolgungsbehörden. Von diesem Grundsatz darf zudem nur ausnahmsweise abgewichen werden. Über die ebenso heranzuziehen­ den Leitlinien der UN ist Unabhängigkeit zudem auch tatsächlicher Natur und

212

Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 26.10.2016 – 2016/1919/EU, PKH-RL, ABl. L 297, 1, Erwägungsgrund (10), (19), Art. 2 Abs. 3, Art. 4 Abs. 5. 213 So auch in der englischen („the police or […] another law enforcement authority“), franzö­ sischen („par la police ou par une autre autorité chargée de l’application de la loi“), spanischen („la policía, otra autoridad policial o una autoridad judicial“), niederländischen („de politie, een andere rechtshandhavingsinstantie of een gerechtelijke instantie“) und schwedischen („polisförhör eller förhör som genomförs av någon annan brottsbekämpande myndighet“) Sprachversion. 214 Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 26.10.2016 – 2016/1919/EU, PKH-RL, ABl. L 297, 1, Erwägungsgrund (24); eingeführt durch Europäisches Parlament, Standpunkt v. 4.10.2016 – EP-PE_TC1-COD(2013)0409, RL-E-EP, Erwägungsgrund (24); ähnlich der Wort­ laut der englischen („independent authority“), französischen („une autorité indépendante“), spanischen („una autoridad independiente“), schwedischen („en oberoende myndighet“) und der niederländischen („een onafhankelijke autoriteit“) Version. 215 Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 26.10.2016 – 2016/1919/EU, PKH-RL, ABl. L 297, 1, Erwägungsgrund (24).

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über ein eigenes, ausreichendes Budget und ausreichende personelle Ausstattung abzusichern, die eine zeitnahe und qualitätssichernde Gewährung strafrechtlicher Prozesskostenhilfe ermöglichen.216 Ob aber Unabhängigkeit in diesem institutionellen Sinne auch bedeutet, dass das entscheidungsbefugte „Gericht einschließlich eines Einzelrichters“ mit dem Ver­ fahren nicht befasst sein darf, ist dagegen weniger deutlich. In der PKH-RL wird das Wort „unabhängig“ lediglich in Bezug auf das Wort „Behörde“ benutzt. Dass der über Prozesskostenhilfe befindende Richter somit auch in das Strafverfahren gegen den konkreten Verdächtigen oder die beschuldigte Person mit eingebunden ist, lässt die PKH-RL anscheinend zu. Dies ist vor dem Hintergrund der richterlichen Unabhängigkeit grundsätzlich richtig, weil danach die Vorbefassung mit vorbereitenden oder begleitenden Fragen die Neutralität des Richters nicht beeinträchtigt.217 Nach der herrschenden Recht­ sprechung des EuGH ist Unabhängigkeit Kern des richterlichen Auftrages218 und bedingt somit zwangsläufig, dass Richter ihre Funktionen autonom, ohne hierar­ chische Verbindung mit anderen Stellen, weisungsfrei und ohne Druck von außen ausüben.219 In dieser Unabhängigkeit steckt auch die vorauszusetzende innere Un­ parteilichkeit eines Richters, der hinsichtlich der unterschiedlichen Interessen aller Parteien gleichmütig bleibt und sich strikt von Sachlichkeit und Gesetz ohne eige­ nes Interesse leiten lässt.220 Von diesem Begriff der richterlichen Unabhängigkeit ausgehend erscheint es jedenfalls nicht falsch, den Mitgliedstaaten freizustellen, ob die Entscheidung über strafrechtliche Prozesskostenhilfe von einem mit der Sache befassten oder unbefassten Richter getroffen wird. Trotz dieser Idealkonzeption können Richter unabhängig und neutral nur im Rahmen ihrer Möglichkeiten sein. Der mit der Verhandlungsleitung betraute 216 Generalversammlung der UN, Resolution v. 20.12.2012 – A / R ES/67/187, UN-PKH-Leit­ linien, Rn. 59 lit. b. 217 Vgl. zum Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit in den mitgliedstaatlichen Verfassun­ gen von Europa, Überblick dazu von Meyer-Eser, GRCh, Art. 47 Rn. 23a; m. w. N. Stürner, JZ 72 (2017), 905 Fn. 1. 218 EuGH, Urteil v. 25.7.2018 – C-216/18 PPU, LM, Rn. 63; Urteil v. 27.2.2018 – C-64/16, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, Rn. 42; in diesem Sinne Urteil v. 19.9.2006 – C-506/04, Wilson, Slg.  2006, I-8643 Rn. 49; Urteil v. 13.12.2017  – C-403/16, El Hassani, Rn. 40. 219 St. Rspr., zu dieser externen Komponente der Unabhängigkeit EuGH, Urteil v. 25.7.2018 – C-216/18 PPU, LM, Rn. 63; Urteil v. 27.2.2018 – C-64/16, Associação Sindical dos Juízes Portu­ gueses, Rn. 44; Urteil v. 16.2.2017 – C-503/15, Margarit Panicello, Rn. 37; Urteil v. 14.6.2017 – C-685/15, Online Games, Rn. 60; Urteil v. 21.12.2016 – C-327/15, TDC A / S, Rn. 30; Urteil v. 6.10.2015 – C-203/14, Consorci Sanitari del Maresme, Rn. 19; Urteil v. 19.9.2006 – C-506/04, Wilson, Slg. 2006, I-8643 Rn. 51. 220 Sog. interne Komponente der Unabhängigkeit, vgl. m. w. N. EuGH, Urteil v. 25.7.2018 – C-216/18 PPU, LM, Rn. 65; Urteil v. 16.2.2017 – C-503/15, Margarit Panicello, Rn. 38; Urteil v. 14.6.2017 – C-685/15, Online Games, Rn. 61; Urteil v. 21.12.2016 – C-327/15, TDC A / S, Rn. 31; Urteil v. 6.10.2015 – C-203/14, Consorci Sanitari del Maresme, Rn. 20; Urteil v. 19.9.2006 – C-506/04, Wilson, Slg. 2006, I-8643 Rn. 52.

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Kap. 3: Implementation und Ergänzung der menschenrechtlichen Vorgaben  

Richter wird bei der Auswahl des Verteidigers nicht nur davon geleitet, die sach­ gerechte Verteidigung des Verdächtigen bzw. der beschuldigten oder gesuchten Person sicherzustellen, sondern ebenso von gerade auf die Verhandlungsleitung bezogenen Interessen, wie auch der zügigen Erledigung eines Verfahrens. Inso­ fern besteht die – inzwischen teils empirisch belegte –221 Gefahr, dass ein Richter einen „bequemen“ Verteidiger eher wählen wird, als jemanden, der die Konfron­ tation im Verfahren sucht.222 Aus Perspektive des Verdächtigen bzw. der beschul­ digten Person erweckt die Beiordnung des Verteidigers durch ein mit der Sache befasstes Gericht zudem oft den Eindruck, einen für ihn nicht voll parteiischen, unabhängigen Rechtsanwalt ausgewählt zu haben.223 Eine wirklich objektive, am Interesse effektiver Verteidigung ausgerichtete Entscheidung über strafrechtliche Prozesskostenhilfe kann nur von einer gänzlich unabhängigen Stelle getroffen werden.224 Eine derart strenge Auslegung gibt jedoch weder die EMRK noch die Charta vor. Insoweit sind die Mitgliedstaaten frei, auch mit dem Verfahren be­ fasste Richter in die Bewilligungsentscheidung strafrechtlicher Prozesskostenhilfe einzubinden. Gerade die Existenz von Befangenheitsregelungen zeugt davon, dass die a­ bstrakte Postulation richterlicher Unabhängigkeit auch einer konkreten und tat­ sächlichen Korrektur standhalten muss. Es geht darum, zu verhindern, dass die Strukturen strafrechtlicher Prozesskostenhilfe für Abhängigkeiten verantwortlich sind, die der Effektivität der Verteidigung der Verdächtigen oder beschuldigten Person schaden.

VI. Der Europäische Haftbefehl als geregelter Sonderfall des transnationalen Strafverfahrens Die PKH-RL regelt lediglich das Verfahren des Europäischen Haftbefehls als Sonderfall eines transnationalen Strafverfahrens. Die Regelungen dazu sind stark angelehnt an die reguläre strafrechtliche Prozesskostenhilfe, wurden jedoch in Be­ zug auf die Terminologie, die Voraussetzungen und die Gewährleistungen an die Besonderheiten des Verfahrens des Europäischen Haftbefehls angepasst.

221

Augustin, Das Recht des Beschuldigten auf effektive Verteidigung, S. 267 ff.; vgl. dazu u. m. w. N. Kap. 4 D. II. 2. 222 Augustin, Das Recht des Beschuldigten auf effektive Verteidigung, S. 278 f.; Schlothauer, StV 1981, 452; Welp, ZStW 90 (1978), 107 f. 223 Augustin, Das Recht des Beschuldigten auf effektive Verteidigung, S. 278, 280; Welp, ZStW 90 (1978), 107; Rudolph, in: Hamm / Matzke (Hrsg.), FS Schmidt-Leichner, S. 163. 224 Generalversammlung der UN, Resolution v. 20.12.2012 – A / R ES/67/187, UN-PKH-Leit­ linien, Rn. 59 lit. a; ebenso ECBA, ECBA Touchstones, 2013, S. 9; insoweit die jeweiligen Rechtsanwaltskammern vorschlagend Schlothauer, StV 2018, 174.

A. Strafrechtliche Prozesskostenhilfe nach Maßgabe der PKH-RL

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1. Der Anwendungsbereich der PKH-RL für „gesuchte Personen“ Die PKH-RL findet gem. Art. 2 Abs. 2 PKH-RL auf gesuchte Personen Anwen­ dung, also Personen, gegen die ein Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls anhängig ist, vgl. Art. 2 Abs. 2 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 lit. b PKH-RL. Der Anwendungsbereich ist mit dem Zeitpunkt der Festnahme im Vollstreckungs­ staat eröffnet. Das Verfahren des Europäischen Haftbefehls muss zunächst anhängig sein, das heißt, dass der Europäische Haftbefehl erlassen und an die vollstreckende Justiz­ behörde übermittelt worden sein muss. Das Verfahren eines Europäischen Haftbefehls teilt sich in drei Abschnitte, den der Ausstellung bzw. des Erlasses, der Festnahme und jenen der Vollstreckung.225 Wird der Europäische Haftbefehl von einem Mitgliedstaat erlassen, umfasst dies nicht nur das Ausfüllen des Formblatts, sondern zudem die Übermittlung des Europäischen Haftbefehls an die vollstreckende Justizbehörde,226 weil erst durch diese Übermittlung der Europäische Haftbefehl Außenwirkung entfaltet. Auf die Übermittlung folgt die Festnahme der gesuchten Person und anschließend die Vollstreckung, die entweder zur Übergabe, zur Entscheidung über die Übergabe oder zur Ablehnung des Europäischen Haftbefehls führt. Aus diesem Ablauf ergibt sich, dass die PKH-RL mit „Anhängigkeit“ einen Zeitpunkt vor Festnahme der ge­ suchten Person bezeichnen muss, weil andernfalls die zusätzliche Voraussetzung in Art. 2 Abs. 2 PKH-RL („ab Festnahme“) überflüssig wäre. Dieser Zeitpunkt ist mithin der Erlass und die Übermittlung des konkreten Europäischen Haftbefehls an die vollstreckende Justizbehörde. Darüber hinaus ist für den Anwendungsbereich der PKH-RL irrelevant, ob das Verfahren des Europäischen Haftbefehls zur Strafverfolgung oder zur Strafvoll­ streckung anhängig ist. Für diese Auslegung spricht zunächst, dass die Wörter „in Strafverfahren“ nur im Zusammenhang mit Verdächtigen und beschuldigten Perso­ nen verwendet wird, nicht jedoch im Zusammenhang mit gesuchten Personen, vgl. Art. 1 Abs. 1 PKH-RL. Dies folgt zudem systematisch aus der Regelung in Art. 5 Abs. 2 PKH-RL, der strafrechtliche Prozesskostenhilfe im Anordnungsstaat227 auf Personen beschränkt, die zur Strafverfolgung im Rahmen des Europäischen Haftbefehls gesucht werden, vgl. Art. 5 Abs. 2 PKH-RL. Weder für strafrechtliche Prozesskostenhilfe im Vollstreckungsstaat noch für die Anwendung der PKH-RL auf gesuchte Personen allgemein spielt daher die Existenz eines noch rechtshän­ gigen Strafverfahrens eine Rolle. Die PKH-RL erfasst in dieser Hinsicht über die Gewährleistungen von Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK und Art. 48 Abs. 2 GRCh hinaus auch einen Teil der (transnationalen) Strafvollstreckung.

225

In diesem Sinne vgl. Kommission, ABl. C 335, 1, 7 f. Soweit diese bekannt ist, vgl. zum sonst erforderlichen Prozedere, Art. 9 Rb-EHB. 227 Terminologie der PKH-RL: Ausstellungsstaat. 226

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Kap. 3: Implementation und Ergänzung der menschenrechtlichen Vorgaben  

Zudem muss die gesuchte Person – nach dem Zeitpunkt ihrer Festnahme – auch nach Maßgabe der Verteidigungsbeistands-RL das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand haben. Gem. Art. 10 Abs. 1 Verteidigungsbeistands-RL hat eine gesuchte Person nach ihrer Festnahme das Recht, im Vollstreckungsstaat Zu­ gang zu einem Rechtsbeistand zu erhalten. Allein maßgeblich für die Anwendung der PKH-RL ist damit der Zeitpunkt der Festnahme im Vollstreckungsstaat, vgl. Art. 2 Abs. 2 Verteidigungsbeistands-RL. Insofern ist für gesuchte Personen der Anwendungsbereich von PKH-RL und Verteidigungsbeistands-RL kongruent, weil beide Richtlinien jeweils ab dem Zeitpunkt der Festnahme der gesuchten Person in ihrem Anwendungsbereich eröffnet sind. Der zweite Halbsatz von Art. 2 Abs. 2 PKH-RL ist damit redundant, bekräftigt jedoch durch seinen Verweis auf die Ver­ teidigungsbeistands-RL deklaratorisch den Gleichlauf der Anwendungsbereiche von Verteidigungsbeistands-RL und PKH-RL.

2. Festlegung eigener Voraussetzungen und Gewährleistungen Art. 5 PKH-RL ist die Kernvorschrift für strafrechtliche Prozesskostenhilfe im Verfahren des Europäischen Haftbefehls. In dessen ersten Absatz werden die Vor­ aussetzungen für Zugang zu strafrechtlicher Prozesskostenhilfe im Vollstreckungs­ staat festgehalten, in dessen zweiten Absatz die Voraussetzungen für simultanen staatlich getragenen Beistand im Anordnungsstaat normiert und in dessen dritten Absatz wird den Mitgliedstaaten eine über die ersten Absätze hinausgehende Mög­ lichkeit eingeräumt, auch die Bedürftigkeit von gesuchten Personen zu berücksich­ tigen. In dieser Form normiert Art. 5 Abs. 1, 2 PKH-RL zum einen eigenständige materielle Kriterien und löst sich so von der im rein nationalen Verfahren üblichen Gesamtschau in Art. 4 PKH-RL. Zum anderen wird dadurch in der Geschichte der strafrechtlichen Integration der EU erstmalig ein Anspruch der gesuchten Person auf staatlich getragene Doppelverteidigung ausdrücklich normiert.

a) Voraussetzungen im transnationalen Strafverfahren Für den Europäischen Haftbefehl normiert Art. 5 PKH-RL die Voraussetzun­ gen strafrechtlicher Prozesskostenhilfe. Im Vollstreckungsstaat (Art. 5 Abs. 1 PKH-RL) und im Anordnungsstaat (Art. 5 Abs. 2 PKH-RL) gelten danach unter­ schiedlichen Voraussetzungen. Weder Art. 5 Abs. 1 PKH-RL noch Art. 5 Abs. 2 PKH-RL beziehen sich dafür auf Art. 4 Abs. 1 PKH-RL, sondern enthalten eigene Anforderungen. Dies folgt auch systematisch aus Art. 5 Abs. 3 PKH-RL. Durch diesen wird den Mitgliedstaaten freigestellt, abweichend von den in Art. 5 Abs. 1, 2 PKH-RL nor­ mierten Anforderungen zusätzlich eine Bedürftigkeitsprüfung einzuführen. Die in Art. 5 Abs. 1, 2 PKH-RL normierten Bedingungen sind daher abschließende Son­

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derregelungen der materiellen Kriterien im Europäischen Haftbefehlsverfahren. Im vorherigen Entwurf der Kommission sollte den Mitgliedstaaten noch ermög­ licht werden, zusätzlich zu den in Art. 5 Abs. 1, 2 PKH-RL normierten Voraus­ setzungen nicht nur eine Bedürftigkeitsprüfung, sondern auch eine Prüfung der materiellen Kriterien festzulegen, vgl. Art. 5 Abs. 3 RL-E-KOM.228 Die endgültige Version der PKH-RL hat Art. 5 Abs. 1, 2 PKH-RL damit zu einer grundsätzlich abschließenden Regelung aufgewertet. aa) Die zwingende Beiordnung eines Beistands im Vollstreckungsstaat Begehrt die gesuchte Person strafrechtliche Prozesskostenhilfe im Vollstre­ ckungsstaat, legt Art. 5 Abs. 1 PKH-RL fest, dass die Mitgliedstaaten sicherstel­ len müssen, dass gesuchte Personen ab dem Zeitpunkt ihrer Festnahme aufgrund eines Europäischen Haftbefehls bis zu ihrer Übergabe oder bis zu dem Zeitpunkt, zu dem die Entscheidung, diese nicht zu übergeben, rechtskräftig geworden ist, Anspruch auf Prozesskostenhilfe haben. Der Wortlaut „stellt sicher“229 spricht für einen zwingenden Anspruch auf strafrechtliche Prozesskostenhilfe, der allein über den Festnahmeakt ausgelöst wird,230 ohne dass es weiterer Voraussetzungen be­ darf. Art. 5 Abs. 1 PKH-RL gilt zudem für jede gesuchte Person im Verfahren des Europäischen Haftbefehls, unabhängig davon, ob dieser zur Strafvollstre­ ckung oder zum Zweck der Strafverfolgung erfolgt.231 Die Mitgliedstaaten haben durch diese Regelung keinerlei Ermessen, ob sie strafrechtliche Prozesskostenhilfe im Vollstreckungsstaat gewähren. Folglich ist jedenfalls im Rahmen des Europäischen Haftbefehls die Gewährung strafrechtlicher Prozesskostenhilfe zwingend. Die gesuchte Person hat ab dem Zeit­ punkt der Festnahme einen Anspruch darauf, sich gegen ihre Festhaltung im Voll­ streckungsstaat eines Rechtsbeistands über strafrechtliche Prozesskostenhilfe be­ dienen zu können. Dadurch wird diese Regelung den Ansprüchen von EMRK und Charta voll gerecht: Der unionale Gesetzgeber hat erkannt, dass die Situation der Festnahme und Inhaftierung im Vollstreckungsstaat, ähnlich der Untersuchungs­ haft, immer eines Beistands durch strafrechtliche Prozesskostenhilfe bedarf. Daher war es insbesondere zutreffend, die Gewährung strafrechtlicher Prozesskosten­ hilfe nicht noch von weiteren, zusätzlichen Kriterien abhängig zu machen, son­ dern die Festnahme im Vollstreckungsstaat als zwingendes auslösendes Moment anzuerkennen. Dadurch wird zugleich eine Art. 4 Abs. 4 PKH-RL entsprechende

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Kommission, Vorschlag v. 27.11.2013 – COM(2013) 824 final, RL-E-KOM, Rn. 34. Ähnlich verbindlich in der englischen („shall ensure“), französischen („s’assure“), spa­ nischen („velará“), niederländischen („zorgt ervoor“) und schwedischen Sprachversion („ska se till“). 230 Zust. und dies fordernd ECBA, ECBA Touchstones, 2013, S. 11. 231 Arg e Art. 5 Abs. 2 PKH-RL. 229

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Kap. 3: Implementation und Ergänzung der menschenrechtlichen Vorgaben  

Regelung für den Fall des Europäischen Haftbefehls geschaffen und dadurch diese Form der (Untersuchungs-)Auslieferungshaft in Bezug auf die Voraussetzungen strafrechtlicher Prozesskostenhilfe dem nationalen Verfahren gleichgestellt. bb) Gesonderte Voraussetzungen für strafrechtliche Prozesskostenhilfe im Anordnungsstaat Der Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten ist bei der Gewährung straf­ rechtlicher Prozesskostenhilfe im Anordnungsstaat deutlich größer. Gemäß Art. 5 Abs. 2 PKH-RL stellt der Anordnungsstaat sicher, dass gesuchte Personen, gegen die ein Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls zum Zwecke der Strafverfolgung anhängig ist und die ihr Recht auf Benennung eines Rechtsbeistands im Anordnungsstaat zur Unterstützung des Rechtsbeistands im Voll­ streckungsmitgliedstaat wahrnehmen, insoweit Anspruch auf Prozesskostenhilfe im Anordnungsstaat für die Zwecke eines solchen Verfahrens im Vollstreckungs­ mitgliedstaat haben, als Prozesskostenhilfe erforderlich ist, um den wirksamen Zugang zu den Gerichten zu gewährleisten. Folglich muss für die Gewährleistung strafrechtlicher Prozesskostenhilfe zu­ nächst ein Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls zum Zwecke der Strafverfolgung anhängig sein. Dadurch schafft Art. 5 Abs. 2 PKH-RL einen engeren Anwendungsbereich als Art. 5 Abs. 1 PKH-RL für die Gewähr­ leistung strafrechtlicher Prozesskostenhilfe im Vollstreckungsstaat. Zudem muss die gesuchte Person gem. Art. 10 Abs. 4, 5 Verteidigungsbeistands-RL ihr Recht auf Benennung eines Rechtsbeistands im Ausstellungsmitgliedstaat wahrgenom­ men haben. Liegen diese Voraussetzungen vor, stellen die Mitgliedstaaten den Zugang zu strafrechtlicher Prozesskostenhilfe jedoch nur sicher, wenn die zusätzliche Ge­ währung im Anordnungsstaat erforderlich ist, um den wirksamen Zugang zu den Gerichten zu gewährleisten. Damit orientiert sich die PKH-RL für die Gewähr strafrechtlicher Prozesskostenhilfe explizit am bedingten Wortlaut des Art. 47 Abs. 3 GRCh.232 Art. 47 Abs. 3 GRCh regelt den Zugang zu Prozesskostenhilfe in zivil- und verwaltungsrechtlichen Verfahren.233 Legte man die Art. 47 Abs. 3 GRCh konkretisierende Rechtsprechung auch in diesem Fall zugrunde, müsste die Erfor­ derlichkeit für den Zugang zu den Gerichten über eine Gesamtbetrachtung festge­ stellt werden, in der untereinander insbesondere der Streitgegenstand, die begrün­ deten Erfolgsaussichten, die Bedeutung des Rechtsstreits für die gesuchte Person, die Komplexität des geltenden Rechts und des anwendbaren Verfahrens sowie die Fähigkeit der gesuchten Person, ihr Anliegen wirksam zu verteidigen, gewichtet

232 233

So auch Erwägungsgrund (21) PKH-RL. Vgl. dazu bereits o. Kap. 2 B. II.

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werden.234 Somit enthält Art. 5 Abs. 2 PKH-RL ein eigenständiges Prüfschema für die Prüfung des Rechtspflegeinteresses bzw. der sog. materiellen Kriterien. Der Richtlinienentwurf kopiert zwar den Wortlaut von Art. 47 Abs. 3 GRCh („soweit diese Hilfe erforderlich ist, um den Zugang zu den Gerichten wirksam zu gewährleisten“), zielt dadurch aber in Art. 5 Abs. 2 PKH-RL auf eine ganz konkrete Situation: Denn strafrechtliche Prozesskostenhilfe soll nach den Erwä­ gungsgründen der PKH-RL dann für den wirksamen Zugang zu Gericht erforder­ lich sein, wenn der Rechtsbeistand im Vollstreckungsmitgliedstaat seine Aufgaben im Zusammenhang mit der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls ohne die Unterstützung eines Rechtsbeistands im Anordnungsstaat nicht wirksam und effizient erfüllen kann.235 Die PKH-RL geht somit davon aus, dass grundsätz­ lich nur die rechtliche Vertretung im Vollstreckungsstaat erforderlich ist. Erst wenn der Rechtsbeistand im Vollstreckungsmitgliedstaat effiziente Verteidigung ohne die Hilfe eines weiteren Rechtsbeistands nicht mehr leisten kann, soll auch im Anordnungsstaat ein Rechtsbeistand zusätzlich zu tragen sein. Insofern gibt die PKH-RL ein Regel-Ausnahme-Verhältnis vor: Während strafrechtliche Prozess­ kostenhilfe im Vollstreckungsstaat ab dem Zeitpunkt der Festnahme immer zu gewähren ist, gilt dies im Anordnungsstaat nur ausnahmsweise. In konventions- und chartakonformer Auslegung ist jedoch davon auszugehen, dass der Erwägungsgrund zwar eine beispielhafte Situation aufzählt, die offene Formulierung in Art. 5 Abs. 2 PKH-RL dem Anordnungsmitgliedstaat jedoc heine eigene Prüfung der materiellen Kriterien ermöglicht. Denn die im Rahmen von Art. 47 Abs. 3 GRCh vorzunehmende Abwägung ist deutlich weiter, als die in Erwägungsgrund (21) PKH-RL festgelegte Fallkonstellation. Nimmt man diese Abwägung anhand der oben benannten Kriterien vor, wird deutlich, dass auch im Anordnungsstaat eine zusätzliche Verteidigung des Verdächtigen oder der be­ schuldigten Person geboten ist.236 Denn zunächst sind Verfahren des Euro­päischen Haftbefehls grundsätzlich komplex, weil in diesen Verfahren typischerweise die Rechtsordnungen des Anordnungs- wie des Vollstreckungsstaats unvorhersehbar ineinandergreifen. Die Fähigkeit des Verdächtigen bzw. der beschuldigten Person, sich selbständig zu verteidigen, ist bereits dadurch prinzipiell nicht gegeben. Ihr wird es meist nicht möglich sein, Fragen zum Verfahren im Anordnungsstaat in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht so zu beantworten, dass dies für eine Ver­ teidigung im Vollstreckungsstaat genügt. Letzteres gilt insbesondere, wenn die Verfahrenssprache im Anordnungsstaat für die gesuchte Person fremd ist. Zudem hat das Auslieferungsverfahren für den Verdächtigen bzw. die beschuldigte Person 234 EuGH, Urteil v. 22.12.2010 – C-279/09, Deutsche Energiehandels- und Beratungsgesell­ schaft, Slg. 2010, I-13849 Rn. 61. 235 Erwägungsgrund (21) PKH-RL. 236 Ebenso dafür plädierend, wenngleich noch im Rahmen der Verteidigungsbeistands-RL, CCBE, Proposal for a Directive of the European Parliament and of the Council on the Right of Access to a Lawyer and on the Right to Inform a Third Party upon Deprivation of Liberty, 2013, S. 4.

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eine hohe Bedeutung, insbesondere wenn, wie im Rahmen des Europäischen Haft­ befehls, Untersuchungshaft bzw. in jenem Fall Untersuchungsauslieferungshaft durchgeführt wird. Auch der Rechtsbeistand im Vollstreckungsstaat wird grund­ sätzlich die Unterstützung eines Rechtsbeistands im Anordnungsstaat benötigen, um die Konsequenzen seiner prozessualen Handlungen für das Verfahren im An­ ordnungsstaat überhaupt abschätzen zu können. Nur im Ausnahmefall wird er in der fremden Verfahrensordnung diese Einschätzung gleichfalls leisten können. Folglich haben die Mitgliedstaaten im Rahmen von Art. 5 Abs. 2 PKH-RL zwar einen größeren Gestaltungsspielraum als im Rahmen von Art. 5 Abs. 1 PKH-RL. Durch die Anforderungen von Charta und EMRK verringert sich dieser Spielraum jedoch dahingehend, dass im Regelfall die Beiordnung auch eines Verteidigers im Anordnungsstaat als für den wirksamen Zugang zu Gerichten erforderlich ange­ sehen werden muss. cc) Bedürftigkeit im Rahmen des Europäischen Haftbefehls Den Mitgliedstaaten wird gem. Art. 5 Abs. 3 PKH-RL freigestellt, zusätzlich eine Bedürftigkeitsprüfung vorzusehen. Wird eine solche Prüfung nicht eingeführt, müssten die Mitgliedstaaten im Verfahren des Europäischen Haftbefehls – unab­ hängig von der Leistungsfähigkeit der gesuchten Person – ab Festnahme immer strafrechtliche Prozesskostenhilfe gewähren. Dass den Mitgliedstaaten folglich freisteht, die Bedürftigkeit der gesuchten Person in die Bewilligungsentscheidung miteinzubeziehen, ist für eine gerechte Ressourcenverteilung sinnvoll. Die Bedürftigkeitsprüfung orientiert sich entsprechend an Art. 4 Abs. 3 PKH-RL und richtet sich nach den Umständen desjenigen Mitgliedstaates, in dem die ge­ suchte Person strafrechtliche Prozesskostenhilfe beantragt. In der vorherigen Ent­ wurfsfassung des Rates war noch vorgesehen, dass die Bedürftigkeitsprüfung sich immer nach dem Recht des Vollstreckungsstaates richten sollte, vgl. Art. 5 Abs. 3 RL-E-Rat. Durch den Verweis auf die sinngemäße Anwendung von Art. 4 Abs. 3 PKH-RL hat sich die PKH-RL für einen flexiblen und praxisnahen Bedürftig­ keitsmaßstab entschieden, der Bedürftigkeit nach den Verhältnissen des Mitglied­ staates bestimmt, in dem die gesuchte Person strafrechtliche Prozesskostenhilfe begehrt. Dadurch entspricht Art. 5 Abs. 3 PKH-RL ebenso den Gewährleistungen von EMRK und Grundrechtecharta. dd) Zeitraum der Gewährleistung Art. 5 PKH-RL begrenzt die Gewährleistung strafrechtlicher Prozesskostenhilfe vom Zeitpunkt der Festnahme an bis zur Beendigung des Verfahrens des Euro­ päischen Haftbefehls. Gem. Art. 5 Abs. 1 PKH-RL besteht im Vollstreckungsstaat nach der Festnahme ein Anspruch auf strafrechtliche Prozesskostenhilfe. Ebenso

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wie im Rahmen eines nationalen Strafverfahrens bedeutet dies, dass die Gewäh­ rung ab der Festnahme, spätestens jedoch vor der Vernehmung durch die Polizei oder eine andere Strafverfolgungsbehörde erfolgen muss.237 Nach ihrer Festnahme ist der gesuchten Person nicht nur im Vollstreckungsstaat, sondern akzessorisch dazu auch im Anordnungsstaat das Recht auf strafrechtliche Prozesskostenhilfe zu gewähren. Der Beginn des Beistandsrecht wird daher gem. Art. 10 Abs. 1 Ver­ teidigungsbeistands-RL für den Vollstreckungs- und Anordnungsstaat gemeinsam festgelegt: auf den Zeitpunkt ab der Festnahme der gesuchten Person. Durch die zusätzlich im Anordnungsstaat erforderliche Benennung eines Rechtsbeistands kann die Bestellung eines Beistands sich im Vollstreckungsstaat verzögern. Inso­ fern sollten die Mitgliedstaaten ihrer Verpflichtung zur unverzüglichen Beiord­ nung über eine – im Europäischen Haftbefehlsverfahren ohnehin erforderliche – effiziente Zusammenarbeit nachkommen. Der Anspruch auf strafrechtliche Prozesskostenhilfe zum Zweck der Vertei­ digung im Europäischen Haftbefehlsverfahren endet mit dem Abschluss dieses Verfahrens, d. h. mit Übergabe der gesuchten Person bzw. mit Rechtskraft der Ent­ scheidung, dass die Person nicht übergeben wird, vgl. Art. 5 Abs. 1 PKH-RL.238 Damit wurde der Vorschlag des Rates abgewiesen, den Zeitraum der Gewährleis­ tung enden zu lassen, wenn die Person im Rahmen des Verfahrens freigelassen wird,239 jedoch über die Übergabe noch nicht rechtskräftig entschieden ist. Diese Regelung bedingt, dass die gesuchte Person, auch wenn sie nicht mehr inhaftiert ist, trotzdem noch von einem Rechtsbeistand für die Dauer des Europäischen Haft­ befehlsverfahrens profitieren kann. Das ist insbesondere begrüßenswert, weil nicht nur die Inhaftierung eine eingriffsintensive strafprozessuale Zwangsmaßnahme ist, sondern gerade die drohende Übergabe an einen anderen Mitgliedstaat das Ver­ fahren derart einschneidend macht. Dass der gesuchten Person bis zum Ende des Europäischen Haftbefehlsverfahrens ein Rechtsbeistand, auch staatlich getragen, zusteht, ist folgerichtig. b) Sonderregelung des Beistands und der Kostenfreiheit Im Rahmen des Europäischen Haftbefehlsverfahrens profitiert die gesuchte Person unter den in Art. 5 PKH-RL festgelegten Voraussetzungen von strafrecht­ licher Prozesskostenhilfe sowohl im Anordnungs- wie im Vollstreckungsstaat.240 237 Vgl. so der für Verdächtige, beschuldigte und gesuchte Personen gleichermaßen Geltung beanspruchende Wortlaut („betroffene Person“) in Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 26.10.2016 – 2016/1919/EU, PKH-RL, ABl. L 297, 1, Erwägungsgrund (19). 238 Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 26.10.2016 – 2016/1919/EU, PKH-RL, ABl. L 297, 1, Erwägungsgrund (22). 239 Rat, Allgemeine Ausrichtung v. 26.2.2015 – 6603/15, RL-E-Rat, Erwägungsgrund (11). 240 Zust. zu diesem Anspruch auf staatlich getragene Doppelverteidigung, ECBA, ECBA Touchstones, 2013, S. 3.

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Kap. 3: Implementation und Ergänzung der menschenrechtlichen Vorgaben  

Die PKH-RL sieht damit für das Verfahren des Europäischen Haftbefehls eine doppelte Kostentragung vor. Auch wenn bereits im Entstehungsprozess der PKH-RL kritisiert wurde, dass andere transnationale Maßnahmen unberücksichtigt blieben,241 war die Aufnahme einer mehrfachen Kostenübernahme im Rahmen des Europäischen Haftbefehls äußerst umstritten. Der ursprüngliche Kommissionsentwurf sah vor, dass ge­ suchte Personen nicht nur Zugang zu vorläufiger, sondern auch zu gewöhnlicher Prozesskostenhilfe im Anordnungs- wie im Vollstreckungsstaat haben sollen, vgl. Art. 5 Abs. 3 RL-E-KOM.242 Der Rat dagegen strich diesen Ansatz und er­ setzte ihn gegen einen einseitigen, lediglich im Vollstreckungsstaat bestehenden Anspruch, vgl. Art. 5 Abs. 3 RL-E-Rat.243 Zudem legten der Rat sowie die Kom­ mission in ihren jeweiligen Entwürfen keine genauen Kriterien für die Gewäh­ rung von Prozesskostenhilfe im Europäischen Haftbefehlsverfahren fest, sondern verwiesen lediglich auf die Bestimmungskriterien des Rechts im Vollstreckungs­ mitgliedstaat, vgl. Art. 5 Abs. 3 RL-E-Rat, Art. 5 Abs. 3 RL-E-KOM. Dadurch wäre in diesem Bereich keine Vereinheitlichung erfolgt, sondern lediglich beste­ hende Schutzlücken der bisherigen, mitgliedstaatlichen Regelungen fortgeschrie­ ben worden.244 Die jetzige Regelung in Art. 5 PKH-RL schreibt Doppelverteidigung im Euro­ päischen Haftbefehlsverfahren zwingend vor. Auch diese ist im Zusammenhang mit den Gewährleistungen der Verteidigungsbeistands-RL zu lesen. Insofern ist noch von Belang, wie diese Kostenübernahme konkret durch die Mitgliedstaaten auszugestalten und wie der Beistand in diesem Verfahren zu leisten ist. aa) Mehrfacher Beistand im Rahmen des transnationalen Strafverfahrens Welche Beistandsleistungen der Rechtsbeistand für die gesuchte Person im Vollstreckungs- wie im Anordnungsstaat erbringen kann, richtet sich nach Art. 10 Verteidigungsbeistands-RL. Die gesuchte Person kann zusätzlich zum Rechtsbei­ stand im Vollstreckungsstaat, vgl. Art. 10 Abs. 1 Verteidigungsbeistands-RL, einen Rechtsbeistand im Anordnungsstaat benennen bzw. sich zuweisen lassen, der den Rechtsbeistand im Vollstreckungsstaat unterstützt, vgl. Art. 10 Abs. 4 Verteidi­

241

So z. B. Brodowski, ZIS 2016, 115. Kommission, Vorschlag v. 27.11.2013  – COM(2013) 824 final, RL-E-KOM, Art. 5 Abs. 3. 243 Abl. zur nur einseitigen Prozesskostenhilfe Brodowski, ZIS 2016, 115; ebenso für eine not­ wendige doppelte Verteidigung Kinzler, Grenzüberschreitende Strafverfahren, S. 231; ebenso abl. Smith, Neth. Q. Hum. Rts. 2013, 94; ebenfalls sprachen sich Spanien, Portugal und Frank­ reich gegen diese Streichung aus, vgl. Rat, Stellungnahme v. 14.4.2015 – 7166/15, S. 9. 244 Vgl. daher krit. zum Verweis auf das nationale Recht für die Gewährung gewöhnlicher Prozesskostenhilfe, BRAK, Stellungnahme, Juni 2014, S. 3. 242

A. Strafrechtliche Prozesskostenhilfe nach Maßgabe der PKH-RL

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gungsbeistands-RL. Das Recht auf Beistand im Vollstreckungsmitgliedstaat um­ fasst gem. Art. 10 Abs. 2 Verteidigungsbeistands-RL, dass die wirksame Ausübung unverzüglich nach dem Freiheitsentzug gewährleistet sein muss (lit. a), dass die gesuchte Person mit dem Rechtsbeistand zusammentreffen und kommunizieren kann (lit. b) und der Rechtsbeistand bei der Vernehmung durch die vollstreckende Justizbehörde anwesend sein kann und gemäß den Verfahren des nationalen Rechts daran teilnimmt (lit. c). In dieser Hinsicht ähnelt Art. 10 Abs. 2 Verteidigungsbeistands-RL grundsätz­ lich Art. 3 Abs. 3 Verteidigungsbeistands-RL, der den Umfang des Beistands­ rechts für Verdächtige bzw. beschuldigte Personen regelt. Auffällig ist jedoch, dass Art. 10 Abs. 2 lit. c Verteidigungsbeistands-RL für die Teilnahme des Rechts­ beistands an Vernehmungen im Vollstreckungsstaat vorsieht, dass die aktive Teil­ nahme des Rechtsbeistands nur nach Maßgabe des nationalen Rechts möglich ist. Anders als im Rahmen von Befragungen von Verdächtigen bzw. beschuldigten Per­ sonen wird diese Teilhabe nicht der Prämisse effektiver Verteidigung unterstellt. Ebenso fehlt ein Art. 3 Abs. 3 lit.  b Verteidigungsbeistands-RL entsprechender Hinweis darauf, dass nationale Verfahren nur insoweit Regelungen treffen dürfen, als sie die wirksame Ausübung und den Wesensgehalt des Rechts an sich nicht beeinträchtigen dürfen. Ausgehend vom Wortlaut scheint Art. 10 Abs. 2 Verteidigungsbeistands-RL ein im Vergleich zu Verdächtigen und beschuldigten Personen nur eingeschränktes Beistandsrecht vorzusehen. Die Mitgliedstaaten dürften – nur dem Wortlaut nach – den Rechtsbeistand im Vollstreckungsstaat und seine Tätigkeit frei im mitglied­ staatlichen Recht ausgestalten – und damit auch beschränken. Eine gesuchte Person hat damit im Vollstreckungsstaat ein weniger umfangreiches, effektives Recht auf Teilhabe durch einen Rechtsbeistand als ein Verdächtiger oder eine beschuldigte Person. Dies scheint auch bei systematischer Betrachtung der Vorschrift in dieser Form intendiert gewesen zu sein. Denn hätte ein Gleichlauf zwischen den Vor­ schriften für den Verdächtigen bzw. die beschuldigte Person bewirkt werden sollen, hätten für den Umfang des Rechtsbeistands ebenso Abschnitte von Art. 3 Abs. 3 Verteidigungsbeistands-RL für entsprechend anwendbar erklärt werden können, so wie z. B. in Art. 10 Abs. 3 Verteidigungsbeistands-RL. Dort wird gerade auf die sinngemäße Anwendung der grundlegenden Beistandsrechte, wie Vertraulichkeit der Kommunikation mit dem Rechtsbeistand, sowie das Recht auf Information von und Kommunikation mit Dritten, verwiesen. Diese Unterscheidung zwischen dem Beistandsrecht für Verdächtige bzw. be­ schuldigte Personen sowie demjenigen für gesuchte Personen hält jedoch einer Überprüfung anhand der Vorgaben von EMRK und GRCh nicht stand. Das Euro­ päische Haftbefehlsverfahren ist durch seinen grenzüberschreitenden Charakter eine Sonderform der Untersuchungshaft und als solche Teil des Strafverfahrens gegen die gesuchte Person im Anordnungsstaat. Dass einer gesuchten Person al­ lein wegen des grenzüberschreitenden Charakters des Strafverfahrens weniger

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Kap. 3: Implementation und Ergänzung der menschenrechtlichen Vorgaben  

Beistandsrechte zustehen sollen, leuchtet nicht ein.245 Diese insbesondere von der Charta vorgeschriebene Gleichstellung von gesuchten Personen und sonstigen Ver­ dächtigen und beschuldigten Personen greift die PKH-RL in Wortlaut und Syste­ matik unvollständig auf. Insoweit müssen die Mitgliedstaaten in chartakonformer Auslegung berücksichtigen, dass, obgleich der Wortlaut enger ist, das Beistands­ recht der gesuchten Person in Art. 10 Abs. 2 Verteidigungsbeistands-RL ebenso der Maßgabe einer effektiven Wahrnehmung der Verteidigungsrechte unterliegt. Auch wenn die Regelung des Rechtsbeistands im Europäischen Haftbefehls­ verfahren – jedenfalls dem Wortlaut und der Systematik nach – Lücken aufweist, ist dennoch positiv hervorzuheben, dass dies die erste Regelung der Doppelvertei­ digung im Anordnungs- und im Vollstreckungsstaat im transnationalen Strafver­ fahren darstellt. Sie gehörte bereits im Rahmen der Verteidigungsbeistands-RL zu einem der umstrittensten Artikel überhaupt.246 Trotzdem macht gerade das etwas beschränkter formulierte Zugangsrecht zu einem Rechtsbeistand im Vollstre­ ckungsmitgliedstaat deutlich, dass insoweit noch das Missverständnis fortzu­ bestehen scheint, es würde sich um ein vom Strafverfahren unabhängiges Teil­ verfahren handeln, in dem folglich weniger Garantien für die gesuchte Person gelten müssen. Dies ist aber im Hinblick auf die Garantien aus Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK und Art. 48 Abs. 2 GRCh nicht zu rechtfertigen: Im Vollstreckungsstaat wie im Anordnungsstaat muss der gesuchten Person – gleich einem im rein nationalen Verfahren Verdächtigen bzw. Beschuldigten – der Zugang zu einem Rechtsbeistand wie strafrechtlicher Prozesskostenhilfe zustehen. bb) Umfang der Kostentragung Der Umfang der Kostentragung wird durch die PKH-RL nicht geregelt, jeden­ falls nicht über die Feststellung hinaus, als dass strafrechtliche Prozesskostenhilfe im Umfang so bemessen sein soll, dass das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbei­ stand wahrgenommen werden kann. Insofern gelten an dieser Stelle die gleichen Prämissen wie oben im rein nationalen Strafverfahrens, vgl. Art. 3 PKH-RL. Im Rahmen des transnationalen Verfahrens ist jedoch zusätzlich zu berücksichtigen, dass die Ausgestaltung der Vergütung nicht bewirken darf, dass die grenzüber­ schreitende Erbringung von (Rechts-)Dienstleistungen unattraktiv wird,247 sodass gesuchte Personen oder anderweitig durch transnationale Zwangsmaßnahmen Be­ troffene nicht deshalb schlechteren Zugang zu einem Rechtsbeistand erhalten, weil

245

Vgl. dazu abl. Schomburg / L agodny, NJW 2012, 351. Vgl. so die jeweils geänderten Artikel in den einzelnen Stadien des Entwurfs, vgl. Art. 5 RL-E-KOM, Art. 5 RL-E-Rat und Art. 5 PKH-RL; mit pos. Kommentar EWSA, Stellung­ nahme v. 16.7.2014 – 2014/C 226/12, ABl. C 226, 63, 3.3.3.2; abl. zur Doppelverteidigung, Rat, Stellungnahme Polens v. 10.10.2016 – 12835/16, a. E. 247 Vgl. o. ausführlich Kap. 2 B. III. 3. 246

B. Zusammenfassung: Die Konzeption des europäischen Pflichtverteidigers 

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die Gebührensysteme in den Mitgliedstaaten strafrechtliche Prozesskostenhilfe unterschiedlich vergüten. Die Mitgliedstaaten müssen daher eine Regelung treffen, die sowohl nationale Vergütungssysteme als auch unionsrechtliche Marktinteres­ sen zutreffend abbildet, und dies in den eigenen Strafprozessordnungen umsetzt.

B. Zusammenfassung: Die Konzeption des europäischen Pflichtverteidigersnach Maßgabe der PKH-RL Die PKH-RL setzt die Anforderungen strafrechtlicher Prozesskostenhilfe durch EMRK und GRCh sekundärrechtlich um, schafft darüber hinaus aber zum Teil konkretere Vorgaben auch für die Umsetzung, als es die zielvorgabenorientierten Menschenrechtsinstrumente können. In dieser detaillierteren Festlegung liegt der Mehrwert der PKH-RL für die Verteidigungsrechte des Verdächtigen bzw. der beschuldigten Person. Denn indem diese Vorgaben sekundärrechtlich verbindlich für die Mitgliedstaaten fest­geschrieben werden, wird ihr durch EMRK und GRCh belassener weiter, nur durch die Vorgabe der Gesamtfairness begrenzter Spielraum deutlich verengt und zielgerichteter gefasst.

I. Der Anwendungsbereich der PKH-RL Die PKH-RL legt einen eigenen Begriff des Strafverfahrens zugrunde, in den sie grundsätzlich all jene Verfahrensteile einbezieht, die mittelbar oder unmittel­ bar die Feststellung der Schuld oder Unschuld des Beschuldigten fördern. Über die gesonderte Regelung des Europäischen Haftbefehls wird deutlich, dass das trans­nationale Strafverfahren jedoch nicht in den Begriff des Strafverfahrens einbezogen werden sollte, sondern über Art. 5 PKH-RL lediglich entsprechende Rechte auch für dieses Verfahren gewährt werden. Dies beschränkt den Harmoni­ sierungsumfang zugleich auf das Verfahren des Europäischen Haftbefehls. Bezüg­ lich anderer transnationaler Beweiserhebungshandlungen oder strafprozessualer Maßnahmen trifft die PKH-RL keine Regelung. Der weitere Anwendungsbereich richtet sich nach Art. 2 PKH-RL. Über Art. 2 PKH-RL wird die Bedeutung der PKH-RL als Hilfsinstrument für den Zugang zu einem Rechtsbeistand verdeutlicht, weil die PKH-RL jedenfalls im Umfang der Verteidigungsbeistands-RL Anwendung findet. Zudem wird in Art. 2 Abs. 1 lit. b PKH-RL die Anwendbarkeit der PKH-RL für zukünftige Entwicklungen dyna­ misch geöffnet: Im gleichen Umfang, wie Unionsrecht ebenso wie mitgliedstaat­ liches Strafverfahrensrecht zwingend Zugang zu einem Rechtsbeistand vorsehen, erweitert sich der Anwendungsbereich der PKH-RL. Dadurch werden die Mitglied­ staaten in diesem Umfang angehalten, bei der Erweiterung des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand regelmäßig zu überprüfen, ob diese Erweiterung nicht zugleich einer Erweiterung der Gewährleistung strafrechtlicher Prozesskostenhilfe

290

Kap. 3: Implementation und Ergänzung der menschenrechtlichen Vorgaben  

bedarf,248 um so den Gleichlauf von beiden Verteidigungsrechten in Zukunft sicherzustellen.

II. Voraussetzungen strafrechtlicher Prozesskostenhilfe Die PKH-RL stellt den Mitgliedstaaten frei, ob die Gewährleistung strafrecht­ licher Prozesskostenhilfe nur aufgrund einer Bedürftigkeitsbetrachtung, einer Be­ trachtung der Rechtspflegeinteressen oder beider Aspekte erfolgt. Dabei schreibt sie eine Auslegung dieser Voraussetzungen entlang der Maßgaben von EMRK und GRCh vor, vgl. Art. 4 PKH-RL. Art. 4 Abs. 4 S. 2 PKH-RL legt dabei fest, wann die materiellen Kriterien als erfüllt anzusehen sind. Dadurch müssen die Mitgliedstaaten strafrechtliche Pro­ zesskostenhilfe gewährleisten, wenn der Beschuldigte oder die verdächtige Person einem zuständigen Richter zur Entscheidung über seine Inhaftierung vorgeführt wird oder wenn er bereits inhaftiert ist, vgl. Art. 4 Abs. 4 PKH-RL. Bei jugend­ lichen Beschuldigten oder verdächtigen Personen ist eine Beiordnung nicht in diesem Maße, jedoch regelmäßig geboten, es sei denn, die Beiordnung wäre im konkreten Fall unverhältnismäßig, vgl. Art. 6 Abs. 6 Jugendstrafverfahrens-RL. Dieser unbestimmte Rechtsbegriff der Unverhältnismäßigkeit kann von den Mit­ gliedstaaten jedoch nicht frei ausgefüllt werden, sondern erlaubt nur dann, von der Beiordnung abzusehen, wenn der jugendliche Beschuldigte weder inhaftiert ist noch zur Entscheidung über eine Haft vorgeführt wird noch ihm Freiheitsstrafe droht.249 Diese Voraussetzungen gelten grundsätzlich nur für das national begrenzte Straf­ verfahren. Art. 5 PKH-RL sieht für den Europäischen Haftbefehl gesonderte Vor­ aussetzungen vor, die die Beiordnung im Vollstreckungs- wie im Anordnungsstaat regeln. Im Vollstreckungsstaat ist der gesuchten Person strafrechtliche Prozess­ kostenhilfe ab Festnahme zu gewähren, vgl. Art. 5 Abs. 1 PKH-RL. Durch diese Regelung wird Art. 4 Abs. 4 lit. b PKH-RL entsprechend auf das Verfahren des Europäischen Haftbefehls übertragen und sichert auch dort der gesuchten Person im Wege strafrechtlicher Prozesskostenhilfe getragene Verteidigung zu. Beiord­ nung im Anordnungsstaat kann dazu spiegelbildlich erfolgen, wenn die gesuchte Person gem. Art. 5 Abs. 2 PKH-RL ihr Recht auf Benennung eines Rechtsbeistands im Anordnungsstaat wahrnimmt und Prozesskostenhilfe erforderlich ist, um den wirksamen Zugang zu den Gerichten zu gewährleisten. Die letzte Voraussetzung belässt den Mitgliedstaaten grundsätzlich einen Umsetzungsspielraum, wann Pro­ zesskostenhilfe für den Zugang zu Gericht erforderlich ist. In chartakonformer Auslegung ist jedoch auch im Anordnungsstaat Prozesskostenhilfe grundsätzlich

248 249

Vgl. dazu o. Kap. 3 A. I. Vgl. dazu Kap. 3 A. III.

B. Zusammenfassung: Die Konzeption des europäischen Pflichtverteidigers 

291

notwendig: Die Unterstützung des Rechtsbeistands im Vollstreckungsstaats ist regelmäßig geboten, um die Verteidigung der Rechte der gesuchten Person so aus­ zurichten, dass diese Strategie ihr im Anordnungsstaat nicht zum Nachteil gereicht. Eine Bedürftigkeitsbetrachtung dürfen die Mitgliedstaaten zusätzlich einführen, vgl. Art. 5 Abs. 3 PKH-RL.250

III. Frühzeitige Partizipationsrechte Im nationalen wie im transnationalen Strafverfahren legt die PKH-RL fest, dass strafrechtliche Prozesskostenhilfe so frühzeitig wie möglich gewährt werden muss. Im national begrenzten Strafverfahren wird bereits durch die Terminologie des „Beschuldigten“ bzw. der „verdächtigen Person“ bestimmt, dass strafrechtliche Prozesskostenhilfe ab dem Ermittlungsverfahren beansprucht werden kann. Gem. Art. 4 Abs. 5 PKH-RL ist zudem unverzüglich und spätestens vor einer Befragung des Beschuldigten, einer Tatortrekonstruktion oder einer Identifizierungs- bzw. Vernehmungsgegenüberstellung ein im Wege strafrechtlicher Prozesskostenhilfe finanzierter Verteidiger zu bestellen. Dadurch wird verhindert, dass der Beschul­ digte bzw. die verdächtige Person im Ermittlungsverfahren in Situationen großer Schutzbedürftigkeit den Strafverfolgungsbehörden unverteidigt gegenübertreten muss. Für das transnationale Strafverfahren wird diese unverzügliche Beiordnung ebenso verlangt. Im Vollstreckungsstaat ist die Festnahme nicht nur sachliche Voraussetzung der Gewährung strafrechtlicher Prozesskostenhilfe, sondern auch zeitlicher Auslöser. Ab Festnahme und spätestens vor Vernehmung der gesuchten Person muss sie die Unterstützung eines Rechtsbeistands erhalten, vgl. Art. 5 Abs. 1 PKH-RL. Im Anordnungsstaat erfolgt die Beiordnung zeitgleich zum Verfahren im Vollstreckungsstaat.251 Darüber hinaus sieht die PKH-RL eine Vielzahl von Partizipationsrechten vor, wie der Beschuldigte, die verdächtige oder gesuchte Person strafrechtliche Prozess­ kostenhilfe für sich selbst gestalten kann. Zum einen impliziert die PKH-RL – hi­ nausgehend über EMRK und GRCh – ein Antragsrecht. Insofern enthält sie zwar auch die Maßgabe, dass ein Antragserfordernis weder von der Rechtsgewähr ab­ schrecken sollte noch zur materiellen Voraussetzung erhoben werden darf. In Art. 6 Abs. 2 PKH-RL wird jedoch anerkannt, dass ein Antragsrecht nicht nur Hindernis im Sinne einer Antragspflicht ist, sondern auch Mittel der Rechtswahrnehmung sein kann.252 Hinter den Gewährleistungen von EMRK und GRCh bleibt die PKH-RL hin­ sichtlich des Wahlrechts des Beschuldigten bezüglich eines Verteidigers seines Vertrauens zurück. Sie sieht lediglich ein Auswechslungsrecht bezüglich eines 250

Vgl. dazu Kap. 3 A. III. 2., VI. 2. a) cc). Vgl. o. Kap. 3 A. IV. 2. 252 Vgl. Kap. 3 A. IV. 3. a). 251

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Kap. 3: Implementation und Ergänzung der menschenrechtlichen Vorgaben  

bereits bestellten Rechtsbeistands gem. Art. 7 Abs. 4 PKH-RL vor, falls der Ver­ dächtige, die beschuldigte oder gesuchte Person diesen konkreten Rechtsbeistand nicht mehr mit ihrer Verteidigung beauftragen will. Insoweit muss die PKH-RL im Verhältnis zu den Anforderungen aus Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK und Art. 48 Abs. 2 GRCh konform ausgelegt werden.253 Im Übrigen sieht die PKH-RL Teilhabe im von EMRK und GRCh ebenso vor­ gesehenen Umfang vor. Die Gewährleistungen der PKH-RL sind für den Beschul­ digten bzw. die verdächtige Person sowie die gesuchte Person disponibel. Den Mit­ gliedstaaten steht jedoch frei, diese Disponibilität in ihren Verfahrensordnungen umzusetzen.254 Für den Beschuldigten bzw. die verdächtige oder gesuchte Person muss der bestellte Rechtsbeistand deren Verteidigungsinteressen wahrnehmen können. Dafür wird dem Beistand in der PKH-RL sowie der Verteidigungsbei­ stands-RL ein Anwesenheits- sowie ein Mitwirkungsrecht eingeräumt.255 Diese Teilhaberechte des Verdächtigen, der beschuldigten oder gesuchten Per­ son müssen zudem durch ein Fehlerfolgensystem effektuiert werden. Die PKH-RL enthält sich jedoch einer konkreten Regelung und verweist lediglich auf die Maß­ gaben der Verteidigungsbeistands-RL. Die Ausnahmekonstellationen und Aus­ legungsregeln für die Mitgliedstaaten halten sich grundsätzlich im Rahmen des­ sen, was EMRK und GRCh vorgeben. Der Spielraum der Mitgliedstaaten, diese Fehlerfolgen – auch im durch die GRCh strengeren Umfang – festzulegen, bleibt jedoch weit, um eine für die jeweilige Strafverfahrensordnung friktionsfreie Um­ setzung zu ermöglichen.256

IV. Rahmenbedingungen strafrechtlicher Prozesskostenhilfe In Art. 3 PKH-RL wird strafrechtliche Prozesskostenhilfe definiert als „die Bereitstellung finanzieller Mittel durch einen Mitgliedstaat für die Unterstützung durch einen Rechtsbeistand, sodass das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand wahrgenommen werden kann.“ Dadurch wird der Hilfscharakter strafrechtlicher Prozesskostenhilfe für die Wahrnehmung des Rechts auf Zugang zu einem Rechts­ beistand betont, dieser jedoch zugleich auf das dafür Erforderliche begrenzt. Kos­ tenfreiheit, ob partiell oder vollständig, vorläufig oder endgültig, unterliegt daher auch nach der PKH-RL der freien Gestaltung durch die Mitgliedstaaten, solange Beteiligungen und Rückforderungen an die Leistungsfähigkeit der jeweiligen Person anknüpfen.257 Für das Verfahren des Europäischen Haftbefehls legt die PKH-RL fest, dass Kostentragung sich auf das Verfahren im Anordnungs- wie 253

Vgl. dazu Kap. 3 A. V. 2. d). S. Kap. 3 A. IV. 3. b). 255 S. o. Kap. 3 A. IV. 2. a) aa). 256 Vgl. o. Kap. 3 A. IV. 4.  257 Vgl. Kap. 3 A. V. 1. 254

C. Der Pflichtverteidiger zwischen EMRK, GRCh und Sekundärrecht der EU  293

im Vollstreckungsstaat in solch einem Umfang erstrecken muss, dass der Zugang zum jeweiligen Markt der Rechtsdienstleistungen dem transnational Verfolgten auch tatsächlich offen steht.258 Tatsächlich geht die PKH-RL über die Gewährleistungen der EMRK und GRCh durch ihre Vorgaben zur Qualitätssicherung hinaus. Art. 7 PKH-RL legt erstmalig fest, dass ein System der Akkreditierung und Überprüfung für zur Pflichtverteidi­ gung zugelassene Rechtsbeistände etabliert werden muss. Eine allgemeine recht­ liche Qualifikation genügt den Vorgaben der PKH-RL folglich nicht. Dies bedingt eine Beschränkung des für diese Rechtsdienstleistung zugelassenen Personenkrei­ ses – und folglich auch des Wahlrechts des Beschuldigten auf diesen Personenkreis. Zugleich setzt die PKH-RL fest, dass, soweit ein Mitgliedstaat die Auswahl für einen solchen Pflichtverteidiger treffen muss, diese Entscheidung grundsätzlich durch eine unabhängige Behörde zu erfolgen hat. Damit erlegt die PKH-RL über EMRK und GRCh hinausgehend den Mitgliedstaaten auf, das Auswahlverfahren für Pflichtverteidiger unabhängig und möglichst gerichtsfern auszugestalten.259 Lediglich im Hinblick auf die finanzielle Ausstattung der Systeme strafrechtli­ cher Prozesskostenhilfe verlangt die PKH-RL eine „angemessene“ finanzielle In­ frastruktur. Dazu gehören insbesondere die Vergütung der Rechtsbeistände sowie die Anstellung des von mit der Bewilligung und Ablehnung strafrechtlicher Pro­ zesskostenhilfe befassten Personals und die Anstellung derjenigen Personen, die die nach der PKH-RL vorgesehenen Schulungen durchführen. Die Details dieser Budgetierung bleiben jedoch den Mitgliedstaaten vorbehalten.260

C. Der europäische Pflichtverteidiger im Zusammenspiel zwischen EMRK, GRCh und maßgeblichem Sekundärrecht der EU Werden EMRK, GRCh und PKH-RL in ihren Voraussetzungen und Gewähr­ leistungen einer gemeinsamen Lesung zugeführt, ergibt sich durch deren Zusam­ menwirken eine Schutzbereichsverstärkung zugunsten einer beschuldigtenfreund­ lichen Auslegung des Rechts auf strafrechtliche Prozesskostenhilfe. EMRK, GRCh und PKH-RL sind für die Mitgliedstaaten zwar unterschiedlich verbindlich, ver­ dichten sich jedoch zu einem einheitlichen Handlungs- und Schutzprogramm. Im Einzelnen: 1. Auf Ebene der Voraussetzungen stellt die europäische Konzeption der Pflichtver­ teidigung den Mitgliedstaaten frei, strafrechtliche Prozesskostenhilfe aufgrund der Bedürftigkeit des Beschuldigten, aufgrund der für eine Beiordnung sprechen­ 258

Vgl. Kap. 3 A. VI. 2. b). Vgl. Kap. 3 A. V. 3. 260 Vgl. o. Kap. 3 A. V. 2. a). 259

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Kap. 3: Implementation und Ergänzung der menschenrechtlichen Vorgaben  

den Rechtspflegeinteressen oder aber in einer kumulativen Anwendung beider Voraussetzungen zu gewähren. a) Die Bedürftigkeit eines Beschuldigten bestimmt sich anhand seiner Einkom­ mens- und Vermögenssituation, abzüglich seiner Verbindlichkeiten, im Ver­ hältnis zu den für einen Verteidiger erforderlichen Kosten. Sobald es an aus­ reichenden Mitteln fehlt, um einen Verteidiger selbständig zu beauftragen, liegt eine das Eingreifen strafrechtlicher Prozesskostenhilfe erforderlich ma­ chende Mittellosigkeit vor.261 b) Die Interessen der Rechtspflege dagegen bilden Verfahrenssituationen ab, in denen dem Beschuldigten ein Verteidiger zustehen muss, weil andernfalls die Fairness des Verfahrens nicht mehr gegeben wäre. Sie sind nicht abstrakt vor­ herzubestimmen, sondern richten sich nach einer wertenden Gesamtbetrach­ tung der Schwere der Tat, der Schwere der drohenden Rechtsfolgen sowie der relativ zu den konkreten Fähigkeiten des Beschuldigten einzuschätzen­ den Komplexität der Sach- und Rechtslage. Lediglich in vereinzelten Kon­ stellationen ist die regelmäßige Beiordnung eines Rechtsbeistands im Wege strafrechtlicher Prozesskostenhilfe geboten. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn dem Beschuldigten Freiheitsentzug als Rechtsfolge droht, er bereits in­ haftiert ist oder bezüglich der Entscheidung über eine potenzielle Haft vor­ geführt wird, er jugendlich ist oder das Strafverfahren einen transnationalen Charakter hat. Abgesehen von diesen festgelegten Konstellationen ist die Aus­ legung der Rechtspflegeinteressen im Übrigen eine stets ergebnisoffene Ab­ wägung im Einzelfall.262 c) Die Zugänglichkeit strafrechtlicher Prozesskostenhilfe aus Gesichtspunkten des chancengleichen Zugangs von vermögenden wie mittellosen Beschul­ digten spielt im Rahmen dieser Betrachtung dagegen keine Rolle. Dies wi­ derspricht auch nicht grundsätzlich dem Kerngedanken strafrechtlicher Pro­ zesskostenhilfe, gerade diese Chancengleichheit herzustellen. Denn im Falle einer idealen Auslegung der Interessen der Rechtspflege erhält jeder, auch der vermögenslose Beschuldigte, Zugang zu einem Rechtsbeistand, wenn die Umstände seines Falls eine eigenständige Führung der Verteidigung als nicht mehr mit dem Anspruch einer fairen und ordnungsgemäßen Strafrechtspflege vereinbar scheinen lassen. Es wird lediglich dann das Ziel eines chancenglei­ chen Zugangs zu einem Rechtsbeistand verfehlt, wenn eine zu strenge Ausle­ gung der Interessen der Rechtspflege zu Beiordnungslücken führt, aufgrund derer der bedürftige Beschuldigte schließlich unverteidigt bleibt. 2. Die Ausgestaltung strafrechtlicher Prozesskostenhilfe erfolgt grundsätzlich vor dem Hintergrund, dem Beschuldigten die seiner Rolle als prinzipiellem Prozess­ subjekt entsprechenden Beteiligungsrechte einzuräumen. Diese partizipatorische 261 262

Vgl. o. Kap. 2 A. II. 2., B. III. 2. b) sowie Kap. 3 A. III. 2. Vgl. o. Kap. 2 A. II. 1., B. III. 2. a) sowie in Kap. 3 A. III. 1.

C. Der Pflichtverteidiger zwischen EMRK, GRCh und Sekundärrecht der EU  295

Ausgestaltung betrifft insbesondere das Antrags- und Verzichtsrecht des Be­ schuldigten, die rechtzeitige Gewähr strafrechtlicher Prozesskostenhilfe, eine aktiv ausgestaltete Rechtsstellung des Verteidigers als „watchdog of procedural regularity“263 sowie eine Effektuierung dieser Partizipationsrechte über ein an­ gemessenes Fehlerfolgensystem.264 a) Die europäische Konzeption verlangt, dass dem Beschuldigten über ein An­ tragsrecht ermöglicht wird, selbst strafrechtliche Prozesskostenhilfe zu bean­ spruchen und stellt ihm zugleich frei, auf dieses Recht zu verzichten. Initiie­ rung und Gestaltung des Rechts auf strafrechtliche Prozesskostenhilfe sollen dadurch grundsätzlich in der Hand des Beschuldigten liegen.265 Diese Auto­ nomie des Beschuldigten wird in der europäischen Konzeption jedoch einem Vorbehalt der noch fairen Verfahrensführung unterworfen. Die Mitgliedstaa­ ten können – und müssen – autonome Entscheidungen des Beschuldigten im Einzelfall beschränken, wenn bekannt oder offenkundig ist, dass diese Ent­ scheidung des Beschuldigten zu seiner unzureichenden, in­effizienten Vertei­ digung führt und damit die Grundlagen eines fairen Verfahrens berührt. Sie können zudem bestimmte Verfahrenssituationen definieren, in denen ein Ver­ zicht auf das Recht auf Zugang zu strafrechtlicher Prozess­kostenhilfe nicht mehr mit den Interessen eines fairen Verfahrens zu vereinbaren ist. Diese sub­ sidiäre Fürsorgepflicht setzt einerseits um, dass der Beschuldigte zwar auf umsetzende Teilaspekte des fairen Verfahrens, aber nicht auf die Fairness des Verfahrens an sich verzichten kann. Andererseits werden die Mitgliedstaa­ ten so in eine aktive Garantenstellung zugunsten des Beschuldigten gerückt. Das Ende der Eigenverantwortlichkeit des Beschuldigten und den Beginn der staatlichen Fürsorgepflicht müssen die Mitgliedstaaten folglich in ihren Ver­ fahrensordnungen ermessen.266 b) Strafrechtliche Prozesskostenhilfe kann einem Beschuldigten nur dann Teil­ habe ermöglichen, wenn sie rechtzeitig ansetzt. Die europäische Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe betont insoweit die präjudizielle Bedeu­ tung des Ermittlungsverfahrens für die spätere Hauptverhandlung. Das Er­ mittlungsverfahren ist Grundlage der Beweis- und Erkenntnissammlung, die für eine Einstellung oder Verurteilung die entscheidenden Weichen stellt. Da­ her muss frühstmöglich im Ermittlungsverfahren strafrechtliche Prozesskos­ tenhilfe zugänglich sein, spätestens wenn der Beschuldigte vernommen wird, einer Tatortrekonstruktion, Identifizierungs- oder Vernehmungsgegenüber­ stellung beiwohnen muss oder andere Ermittlungsmaßnahmen die Anwesen­ heit des Beschuldigten erfordern.267 263

Vgl. o. Kap. 2, Fn. 349. Vgl. o. Kap. 2 A. III. 2. c), B. III. 5.  sowie Kap. 3 A. IV. 4. 265 Vgl. Kap. 2 A. II. 3. a), c) sowie Kap. 3 A. III. 3. 266 Vgl. Kap. 2 A. II. 3. b) sowie Kap. 3 A. III. 3. a). 267 S. o. Kap. 2 A. III. 2. a) sowie Kap. 3 A. IV. 2. 264

296

Kap. 3: Implementation und Ergänzung der menschenrechtlichen Vorgaben  

c) Zugang zu einem Rechtsbeistand ist jedoch nur dann effektiv, wenn der Ver­ teidiger nicht auf die formale Anwesenheit bei diesen Ermittlungshandlun­ gen beschränkt ist, sondern den Beschuldigten aktiv unterstützen kann. Die­ ses Beistandsrecht ist gerade keine formale Beiordnung, sondern der Einsatz eines Rechtsbeistands, um für den Beschuldigten ein fachkundiges Korrektiv in überfordernden Ermittlungssituationen sein zu können. Diese Rolle kann er nur wahrnehmen, wenn er einerseits über Frage- und Erklärungsrechte selbst auf die Ermittlungen einwirken, andererseits aber auch seine Mitwirkung vor­ bereiten kann. In Eilfällen mag dies im Einzelfall nicht einzurichten sein. Die europäische Konzeption verlangt aber, dass die Mitgliedstaaten soweit wie möglich dem Verteidiger zuvor Gelegenheit geben müssen, sich mit dem Be­ schuldigten zu beraten, um ihn aufgrund dieser Konsultation angepasst und informiert verteidigen zu können.268 d) Diese Partizipationsrechte des Beschuldigten müssen zudem über ein ausrei­ chendes Fehlerfolgensystem effektuiert werden. Unter Verletzung des Rechts auf strafrechtliche Prozesskostenhilfe erhobene Beweise, insbesondere Ein­ lassungen durch den Beschuldigten, würden sonst ungefiltert und ohne aus­ gleichenden Mechanismus in das Urteil einfließen. Zugleich helfen diese Fehler­folgen als Sanktionen im späteren Verfahren, dass keine Anreize für die Strafverfolgungsbehörden bestehen, den unverteidigten Beschuldigten in einer Ermittlungssituation zu übervorteilen. Die europäische Konzeption straf­ rechtlicher Prozesskostenhilfe gibt vor, dass, sobald ein Anspruch auf – staat­ lich getragenen – Zugang zu einem Rechtsbeistand besteht, dieser Zugang nur ausnahmsweise verzögert werden und der Beschuldigte nur beschränkt ver­ nommen werden darf. Um eine solche Beschränkung zu rechtfertigen, müs­ sen die Mitgliedstaaten aufgrund einer gesetzlichen Eingriffsgrundlage han­ deln, um Leib, Leben oder Freiheit einer anderen Person zu schützen, und diesen Eingriff auf das für die Zielerreichung Erforderliche beschränken. Da­ bei müssen sie zudem darlegen können, dass die Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit konkret durch den Zugang zu einem Rechtsbeistand droht. Liegt eine dieser Voraussetzungen nicht vor, ist der Eingriff per se rechtswidrig und das Beweismittel muss nach dem Recht des jeweiligen Mitgliedstaates dem Er­ kenntnisprozess des Strafverfahrens entzogen werden. Dadurch wird den Mit­ gliedstaaten ein weitgehender Spielraum belassen, wie sie eine mit ihren jewei­ ligen Verfahrensordnungen friktionsfreie Lösung finden, die diese Vorgaben umsetzt.269 3. Die Rahmenbedingungen strafrechtlicher Prozesskostenhilfe entscheiden über die Vehikel der Kostenfreiheit sowie der Qualität der rechtlichen Dienstleistung darüber, inwiefern strafrechtliche Prozesskostenhilfe tatsächlich einen chancen­ gleichen Zugang zu einem Verteidiger für bedürftige Beschuldigte ermöglicht. 268 269

Vgl. dazu Kap. 2 A. III. 2. b) sowie Kap. 3 A. IV. 2. a) aa). Vgl. o. Kap. 2 A. III. 2. c), B. III. 5.  sowie Kap. 3 A. IV. 4.

C. Der Pflichtverteidiger zwischen EMRK, GRCh und Sekundärrecht der EU  297

a) Kostenfreiheit ist dabei Kernelement strafrechtlicher Prozesskostenhilfe. Durch sie wird grundsätzlich ermöglicht, dass ein Beschuldigter unabhängig von seiner finanziellen Lage, auf einen Verteidiger zugreifen kann. Sie gilt jedoch nicht unbegrenzt. Vielmehr kann der Beschuldigte auch nur vorläufig oder teilweise von den Kosten freigestellt werden, wenn die Leistungsfähig­ keit des Beschuldigten eine Beteiligung zulässt. Dadurch wird nicht nur der Leistungsfähigkeit des Beschuldigten als notwendiger Bedingung einer Rück­ forderung bzw. Beteiligung Rechnung getragen, sondern auch den budgetären Begrenzungen strafrechtlicher Prozesskostenhilfe als staatlicher Ressource.270 b) Qualitativ hochwertige strafrechtliche Prozesskostenhilfe setzt zudem die Dienstleistung durch grundsätzlich befähigte und dafür akkreditierte Vertei­ diger voraus, die entweder vom Beschuldigten selbst oder aber im Wege eines unabhängigen Auswahlverfahrens ausgewählt wurden. Nicht jeder zugelas­ sene Rechtsbeistand kann und darf nach der europäischen Konzeption Pflicht­ verteidigung leisten. Seine Befähigung muss nicht nur tatsächlich bestehen, sondern zudem durch von den Mitgliedstaaten festzulegende Parameter of­ fiziell nachvollziehbar sein. Durch diese Anforderungen an die Qualität der Verteidigung wird eine Regelung der Vergütung grundsätzlich nachrangig. Standards dafür schreibt die europäische Konzeption ebensowenig fest. Die Mitgliedstaaten müssen aber austarieren, dass strafrechtliche Prozesskosten­ hilfe von Rechtsanwälten erbracht wird und zu den gesetzlich festgelegten Konditionen auch erbracht werden können muss.271 c) Durch diese Begrenzung des zugelassenen Kreises an Verteidigern beschränkt sich im gleichen Umfang das Wahlrecht des Beschuldigten. Diese Begrenzung fußt aber auf einem wichtigen Grund, nämlich über ein abstraktes Akkreditie­ rungssystem die Rahmenbedingungen für qualitative und effektive Verteidi­ gung zu schaffen. Im Übrigen kann der Beschuldigte innerhalb dieses Perso­ nenkreises einen Verteidiger seines Vertrauens wählen. Tut er dies nicht oder ist seine Wahl unzulässig, darf auch für ihn ein Beistand bestellt werden. Die europäische Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe sieht dafür vor, dass ein grundsätzlich unabhängiges, mit dem konkreten Strafverfahren nicht befasstes Organ diese Auswahl anhand eines objektiven Auswahlverfahrens trifft. Die dafür erforderlichen Kriterien, wie Fachkenntnis und Erfahrung, Sprachkenntnisse u. Ä., müssen vorherbestimmt und transparent sein, und sol­ len die Auswahl dieses Organs leiten. Dadurch sollen persönliche Einflussfak­ toren weitestgehend ausgeschaltet, aber auch verhindert werden, dass diese Auswahlentscheidung anderen Verfahrensbeteiligten mit anderen Interessen als der Effektivität der Verteidigung des Beschuldigten obliegt.272

270

Vgl. o. Kap. 2 A. IV. 1., B. III. 3. sowie Kap. 3 A. V. 1.  Vgl. Kap. 2 A. IV. 2. a) sowie Kap. 3 A. V. 2. a). 272 S. m. w. N. Kap. 2 A. IV. 2. b), B. III. 4.  sowie Kap. 3 A. V. 2. b)–d), 3. 271

298

Kap. 3: Implementation und Ergänzung der menschenrechtlichen Vorgaben  

4. Die europäische Konzeption strafrechtlicher Prozesskostenhilfe erklärt jeden­ falls Verteidigungsrechte im Rechtshilfeverfahren für entsprechend anwendbar. Sie verlangt von den Mitgliedstaaten, die grenzüberschreitende Strafverfolgung ähnlich einer inländischen Beweiserhebung mit den üblichen Garantien zu be­ gleiten.273 a) Die Besonderheiten des transnationalen Strafverfahrens machen jedoch An­ passungen sowohl auf Voraussetzungs- als auch auf Gewährleistungsebene er­ forderlich. Bei konkreter Anwendung des Erfordernisses eines Rechtspflege­ interesses wird deutlich, dass im transnationalen Strafverfahren grundsätzlich im Vollstreckungs- wie im Anordnungsstaat strafrechtliche Prozesskostenhilfe zugänglich sein muss. Im Vollstreckungsstaat sind sowohl tatsächlich wie rechtlich komplexe Umstände gegeben, die den durchschnittlichen Beschul­ digten zumeist überfordern. Insbesondere kann er die doppelte Bewertung seines Verteidigungshandelns im Vollstreckungsstaat und dessen Auswirkun­ gen im Anordnungsstaat nicht zu leisten. Für diese Doppelbewertung bedarf er zudem regelmäßig eines unterstützenden, zeitgleichen Beistands im Anord­ nungsstaat, der abschätzen kann, welche Folgen das Verteidigungshandeln im Vollstreckungsstaat für das weitere Strafverfahren hat.274 b) Um zu erreichen, dass das grenzüberschreitende Element eines transnationa­ len Strafverfahrens den Beschuldigten nicht benachteiligt, muss wenigstens in den Situationen, in denen der Beschuldigte auch im nationalen Strafverfah­ ren Zugang zu einem Verteidiger hat, Anspruch auf strafrechtliche Prozess­ kostenhilfe im Vollstreckungsstaat, unverzüglich und vor der Durchführung dieser Maßnahme bestehen. Für den Europäischen Haftbefehl ist dies inzwi­ schen über die PKH-RL umgesetzt. Danach ist ab Festnahme des Beschuldig­ ten der Zugang zu einem Rechtsbeistand im Vollstreckungs- wie im Anord­ nungsstaat erforderlich, vgl. Art. 5 Abs. 1, 2 PKH-RL. Dadurch spiegelt diese Vorschrift die Maßgaben für den Beschuldigten im rein national geführten Strafverfahren und überträgt sie auf das transnationale Verfahren. c) Auf Gewährleistungsebene sind sowohl vom Vollstreckungsstaat als auch vom Anordnungsstaat die Kosten für die erforderliche Doppelverteidigung zu er­ setzen. Dabei müssen sich die Gebühren nach dem Recht desjenigen Staates richten, in dem der Beschuldigte seinen Antrag auf strafrechtliche Prozess­ kostenhilfe stellt. Da die Vergütungssysteme und auch das Wohlstandsniveau zwischen den Mitgliedstaaten unterschiedlich sind, wird nur so bewirkt, dass grenzüberschreitende anwaltliche Dienstleistungen von Beschuldigten aus är­ meren Mitgliedstaaten gleichermaßen in Anspruch genommen werden kön­ nen wie von jenen aus reicheren Mitgliedstaaten.275

273

Vgl. dazu o. Kap. 2 A. III. 1., B. III. 1. sowie Kap. 3 A. II. 2., VI. Vgl. o. Kap. 2 B. III. 2. sowie Kap. 3 A. VI. 2. a). 275 Vgl. o. Kap. 2. B. III. 3. sowie Kap. 3 A. VI. 2. b). 274

C. Der Pflichtverteidiger zwischen EMRK, GRCh und Sekundärrecht der EU  299

5. Fasst man all diese Ergebnisse zusammen – unter Bezugnahme auf die vorhe­ rige Definition strafrechtlicher Prozesskostenhilfe allein aus den Vorgaben von EMRK und GRCh – ergibt sich für eine gemeinsame Betrachtung aller drei Inst­ rumente ein ergänzter Definitionsversuch. Nach dieser europäischen Konzeption ist strafrechtliche Prozesskostenhilfe folglich – auf Antrag des Beschuldigten oder von Amts wegen bei erkennbarer ineffek­ tiver Verteidigung – entweder bei Bedürftigkeit oder einem dafür streitenden Interesse der Rechtspflege zu gewähren, – unabhängig davon, ob der Beschuldigte in einem rein national oder transnational geführten Verfahren verfolgt wird, – und beinhaltet die aktive, kostenfreie und frühstmögliche Vertretung durch ei­ nen qualitativ befähigten Rechtsbeistand, der grundsätzlich vom Beschuldigten auszuwählen ist und nur ausnahmsweise, u. U. in Eilfällen, von einem un­ abhängigen Organ für ihn ausgewählt wird.276

276

Vgl. o. Kap. 2. C. V.

Kapitel 4

Ausblick auf die mitgliedstaatliche Ebene am Beispiel des deutschen Rechts Die Konzeption des europäischen Pflichtverteidigers entfaltet ihre Wirkung erst auf mitgliedstaatlicher Ebene. Am Beispiel der mitgliedstaatlichen Strafver­ fahrensordnungen wird sich am deutlichsten zeigen, welchen Effekt diese über EMRK, GRCh und EU beeinflusste Überformung der Verteidigungsrechte hat. Um diese Europäisierung der Verteidigungsrechte greifbar zu machen, soll daher im Folgenden der aktuelle Stand der Pflichtverteidigung in Deutschland betrach­ tet und mit den Vorgaben der europäischen Konzeption der Pflichtverteidigung abgeglichen werden. Insbesondere im Hinblick auf die Vorgaben der PKH-RL wirft eine solche Betrachtung ein Licht auf den akuten Handlungsbedarf des deutschen Gesetzgebers bis zum Ende der Umsetzungsfrist am 25. Mai 2019.1 Das folgende Kapitel soll mithin nicht umfänglich das Recht der notwendigen Vertei­ digung kommentieren, sondern vorrangig Problemfelder2 der deutschen Regelung im Verhältnis zur erarbeiteten Konzeption des europäischen Pflichtverteidigers aufzeigen. Ob aus einer dem Wortlaut nach bestehenden Schutzlücke immer zugleich ein Handlungsbedarf des Gesetzgebers folgt, ist Frage des jeweiligen Einzelfalls. Wenn eine Vorschrift sowohl noch im Sinne von EMRK und GRCh als auch richtli­ nienkonform ausgelegt werden kann, besteht kein gesetzgeberischer Änderungsbe­ darf. Diese richtlinienkonforme (und auch konventions- und chartakonforme) Aus­ legung ist jedoch nur begrenzt möglich. Sind diese Grenzen erreicht, kann eine Norm grundsätzlich noch im Wege richterlicher Rechtsfortbildung als richtlinien­ konform bewertet werden.3 Auch die richterliche Rechtsfortbildung ist jedoch an Recht und Gesetz gebunden, vgl. Art. 20 Abs. 3 i. V. m. Art. 97 Abs. 1 GG.4 Diese Bindung wird vorrangig ausgedrückt im Wortlaut,5 im historischen Willen des

1 Dazu nun als Erstvorschlag: BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung, 2018, a. a. O. Kap. 3, Fn. 49. 2 Diskrepanzen zugestehend ebd., S. 1, 17. 3 Zur Trennung von Auslegung und richterlicher Rechtsfortbildung Wenzel, NJW 2008, 346; Wiedemann, NJW 2014, 2407. 4 Zur verfassungsrechtlichen Anerkennung, BVerfGE 65, 182 (191); abl. zur weiten In­ anspruchnahme dieses Mittels durch die Richterschaft Rüthers, NJW 2005, 2760 f.; zur Ge­ schichte dieses Abgrenzungsstreits Wenzel, NJW 2008, 345 f.; zu Erscheinungsformen Wiede­ mann, NJW 2014, 2410 f. 5 BVerfGE 138, 64 (93 f.) m. w. N.; NVwZ 2007, 1396 (1401) m. w. N.

A. Grundlagen der notwendigen Verteidigung

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Gesetzgebers6 sowie in Sinn und Zweck des auszulegenden Gesetzes.7 Eine Norm darf insbesondere nicht so ausgelegt werden, dass sie ein Ziel des Gesetzgebers „verfehlt oder verfälscht“.8 Können die Vorgaben von EMRK, GRCh und insbeson­ dere der PKH-RL nicht mehr über Auslegung und richterliche Rechtsfortbildung umgesetzt werden, darf nur der Gesetzgeber abhelfen.9 Selbst im Bereich möglicher Rechtsfortbildung ist jedoch eine Klarstellung durch den Gesetzgeber das geeig­ netere Mittel. Vor diesem Hintergrund müssen auch die bestehenden Regelungen der §§ 140 ff. StPO betrachtet werden.

A. Grundlagen der notwendigen Verteidigung Die Terminologie für Prozesskostenhilfe im Strafverfahren ist in der StPO und begleitenden Regelwerken die notwendige Verteidigung.10 Der dadurch beigeord­ nete Verteidiger ist der Pflichtverteidiger.11 Die verfassungsrechtliche Basis der notwendigen Verteidigung findet sich im Anspruch auf ein faires und rechtsstaatli­ ches Verfahren.12 Insofern ist notwendige Verteidigung der Verfassungsauftrag13 an den Staat, dem Angeklagten ein „prozessordnungsgemäßes Strafverfahren“14 zu gewährleisten. Das Interesse des Rechtsstaats an ordentlicher, gesetzmäßiger Strafrechtspflege zur prozessualen Legitimation des staatlichen Strafanspruches steht nach dieser Konzeption dem Interesse des Beschuldigten an einer effektiven Verteidigung gegenüber15 – wenngleich Letzteres aus Perspektive des Staates nur einen Nebeneffekt eines prozessordnungsgemäßen Verfahrens darstellt.16 6

Ebd.; m. w. N. Maunz / Dürig-Jachmann, GG, Art. 95 Rn. 14 a. E.; Rüthers, NJW 2005, 2760 f.; Wenzel, NJW 2008, 346 f. 7 BVerfGE 138, 64 (93 f.) m. w. N.; NVwZ 2007, 1396 (1401); Maunz / Dürig-Jachmann, GG, Art. 95 Rn. 14 a. E. 8 BVerfGE 138, 64 (93 f.) m. w. N.; Schlaich / Korioth, BVerfG, Rn. 449 ff. 9 Rüthers, NJW 2005, 2761 („Machtverteilung zwischen Gesetzgebung und Rechtspre­ chung“). 10 Vgl. so die amtliche Überschrift in § 140 StPO, § 68 JGG, aber auch die rekurrierende Bezeichnung im Gesetzestext in §§ 140 Abs. 1, 141 Abs. 2, 3 StPO; im Ordnungswidrigkeiten­ verfahren wird unter Verweis auf § 140 StPO die Bezeichnung der „gebotenen Verteidigung“ benutzt, vgl. § 60 S. 1 OWiG; in §§ 40, 53 Abs. 2, 61 Abs. 1 S. 3 IRG wird der Begriff des „Bei­ stands“ benutzt, vgl. dazu u. Kap. 4 F. I. 11 Vgl. so die amtlichen Überschriften der §§ 141–143, 145 StPO. 12 BVerfGE 63, 380 (391); 46, 202 (210); 39, 238 (243); NJW 1984, 113; BGHSt 48, 170 (172); m. w. N. Graalmann-Scheerer, StV 2011, 696. 13 In diesem Sinne BVerfGE 63, 380 (391); 46, 202 (210); 39, 238 (243); NStZ 1998, 363 (364); NJW 1984, 113. 14 St. Rspr. BVerfGE 110, 226 (261); NStZ 1998, 363 (364); NJW 1984, 113; so auch KMR-Haizmann, StPO, § 140 Rn. 5. 15 St. Rspr. BVerfG, Beschluss v. 28.11.2006 – 2 BvR 2373/06, 2 BvR 2374/06, juris, Rn. 4 a. E.; NStZ 1998, 363 (364); NJW 1984, 113. 16 In diesem Sinne BVerfG, Beschluss v. 28.11.2006 – 2 BvR 2373/06, 2 BvR 2374/06, juris, Rn. 4 a. E.

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Kap. 4: Ausblick auf die mitgliedstaatliche Ebene 

Die einfachgesetzlichen Vorschriften der Pflichtverteidigung sind dezentral geregelt, wenngleich die Kernvorschriften in §§ 140 ff. StPO zu finden sind. Ins­ besondere die Voraussetzungen von § 140 Abs. 1, 2 StPO sind Bezugs- und Modi­ fikationsgrundlage für die notwendige Verteidigung in besonderen Verfahrensfor­ men.17 In der StPO existieren neben den §§ 140 ff. StPO zudem Sonderregelungen für die notwendige Verteidigung für das Strafbefehlsverfahren (§ 407 Abs. 2 S. 2, 408b StPO), das beschleunigte Verfahren (§ 418 Abs. 4 StPO), das Einziehungs­ verfahren (§ 428 Abs. 2 StPO), die Hauptverhandlung im Rahmen der Revision (§ 350 Abs. 3 S. 1 StPO),18 das Ordnungswidrigkeitenverfahren (§§ 60, 71 OWiG), im Strafverfahren gegen Jugendliche und Heranwachsende (§ 68 JGG) und für den Rechtshilfeverkehr mit dem Ausland (§§ 40, 53 Abs. 2, 61 Abs. 1 S. 3, 77 Abs. 1 IRG). Ergänzt werden die §§ 140 ff. StPO in zeitlicher Hinsicht durch die Vor­ schriften des BerHG19, in sachlicher Hinsicht in Bezug auf Fragen der Rahmenbe­ dingungen notwendiger Verteidigung durch § 465 Abs. 1 StPO i. V. m. RVG i. V. m. VV RVG sowie über die berufsrechtlichen Vorschriften der BRAO und BORA. In Nr. 106–108 RiStBV existieren zudem Auslegungshilfen, wenngleich diese sich vorrangig an Richter und Staatsanwälte richten.20 Damit notwendige Verteidigung in Form der §§ 140 ff. StPO Anwendung findet, muss zunächst die StPO anwendbar sein. Sie regelt den Ablauf des Strafverfahrens und die Rechte und Pflichten der daran Beteiligten, ebenso wie die notwendige Verteidigung. Sie findet gem. § 3 Abs. 1 EGStPO auf alle Strafsachen Anwendung, welche vor die ordentlichen Gerichte gehören. In diesem Sinne ist das Strafverfah­ ren die prozessuale Plattform, um die Schuld oder Unschuld einer konkreten Per­ son bezüglich eines konkreten strafrechtlichen Vorwurfs zu beurteilen und so die Ge- und Verbote des materiellen Strafrechts abzusichern.21 Maßgeblich ist daher zum einen, welche Vorwürfe als „Strafsachen“ zu definieren sind, zum anderen, wie weit die StPO den dafür erforderlichen prozessualen Rahmen zur Wahrheits­ ermittlung definiert.

17 Vgl. so für das Sicherungsverfahren, arg e § 414 Abs. 1 StPO, direkter Bezug auf § 140 StPO für das Einziehungsverfahren (§ 428 Abs. 2 S. 2 StPO). 18 Vgl. aber zur geplanten Abschaffung dieser Vorschrift nunmehr: BMJV, Entwurf eines Ge­ setzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung, 2018, a. a. O. Kap. 3, Fn. 49, S. 42; Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Anwesenheit in der Verhandlung, 2018, https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Dokumente/ RefE_Staerkung_Recht_Angeklagter_Anwesenheit_Verhandlung.pdf;jsessionid=EB908C A90B0FB85AE063FEA9A373DCC2.2_cid297?__blob=publicationFile&v=2 (geprüft am: 10.12.2019), S. 21 f.; zust. BRAK, Stellungnahme Nr. 24, 2018, S. 4 a. E.; krit. dagegen RAV, Stellungnahme des RAV, 2018, S. 4; ebenso krit. Deutsche Strafverteidiger e. V., Stellungnahme Nr. 01/2018 des Gesetzgebungsausschusses des Deutsche Strafverteidiger e. V., 2018, S. 5 f. 19 Beratungshilfegesetz (BerHG), BGBl. I-1980, 689. 20 Vgl. Einführung RiStBV. 21 In diesem Sinne MüKo-Kudlich, StPO, Einleitung Rn. 2; ebenso mit Einschränkungen NomosKomm-Hassemer / Neumann, StGB, Vorbem. zu § 1 Rn. 199 ff.

A. Grundlagen der notwendigen Verteidigung

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I. Strafsachen Dem Gesetzgeber steht es frei, bestimmte Verstöße aus dem Bereich des Straf­ rechts auszuschließen. Das dazugehörige Verfahren kann im Einzelfall trotzdem von den im Strafverfahren geltenden Verteidigungsgarantien entsprechend be­ gleitet werden müssen, wenn das Verfahren i. S. v. EMRK, GRCh sowie PKH-RL als strafrechtlich gilt. Die Einordnung durch den nationalen Gesetzgeber ist in­ soweit indiziell und wird durch die Natur der Verfehlung und durch die Art der drohenden Rechtsfolge ergänzt. Dadurch sind insbesondere Ordnungswidrigkeiten im Einzelfall als „strafrechtlich“ im Sinne von EMRK und GRCh einzuordnen.22 Diese Interpretation des „strafrechtlichen“ Verfahrens teilt zudem die PKH-RL, die sich diesbezüglich zum einen sehr an EMRK und GRCh orientiert, zum ande­ ren ausdrücklich auch solche Verfahren in ihre Gewährleistungen miteinbezieht, die geringfügige Übertretungen durch Verwaltungsbehörden sanktionieren, vgl. Art. 2 Abs. 4 PKH-RL.23 Notwendige Verteidigung steht also bereits dann in einem mit der europäischen Konzeption des Pflichtverteidigers konformen Umfang zur Verfügung, wenn zwar gewisse Übertretungen nicht als strafrechtlich gelten, je­ doch grundsätzlich von ausreichenden Verfahrensgarantien begleitet werden. Für diese Lösung hat sich der deutsche Gesetzgeber mit seiner Ausgestaltung des Begriffs der „Strafsachen“ entschieden. Strafrecht ist das staatliche Mittel, um gewünschtes Verhalten zu verstärken bzw. unerwünschtes Verhalten zu unter­ binden, indem es anders als präventive Mittel ein rechtlich unerwünschtes Verhal­ ten sanktioniert und damit „gerechte Vergeltung“ schafft.24 Die in diesem Wege ausgesprochene Strafe ist der Vorwurf an den Täter, sich nicht an die sozialethisch vorgegebene Handlungsweise gehalten zu haben.25 Verhaltensweisen werden folg­ lich dem Strafrecht unterworfen, um die Gefährdung oder Verletzung von Rechts­ gütern zu ahnden und zu verhindern.26

22 Am Bsp. von Verkehrsordnungswidrigkeiten vgl. EGMR, Urteil v. 21.2.1984, Öztürk ./. DE, Rep. Serie A, Nr. 73 Rn. 53; vgl. i. Ü. m. w. N. o. Kap. 2 A. III. 1. a) aa). 23 Zur zeitlichen Beschränkung in Art. 2 Abs. 4 PKH-RL und deren bisheriger Regelung im OWiG vgl. dazu kurz u. Kap. 4 C. I. 24 St. Rspr. BVerfGE 133, 168 (198) m. w. N.; 110, 1 (13) („Ausdruck vergeltender Gerech­ tigkeit“); 20, 323 (331); zur Vergeltung als Hauptzweck des Strafrechts mit empirischer He­ rangehensweise Walter, Strafe und Vergeltung – Rehabilitation und Grenzen eines Prinzips, S. 7 ff.; a. A. dazu, dass der Strafzweck der „Vergeltung“ gerade nicht in allen Deliktsbereichen greift NomosKomm-Hassemer / Neumann, StGB, Vorbem. zu § 1 Rn. 102. 25 BVerfGE 133, 168 (198) m. w. N.; 110, 1 (13); 95, 96 (131); 20, 323 (331). 26 Zu dieser sog. Rechtsgüterlehre teilweise krit. NomosKomm-Hassemer / Neumann, StGB, Vorbem. zu § 1 Rn. 108 f., 116 ff.; MüKo-Joecks, StGB, Einleitung Rn. 34 ff.; SK-Rudolphi / Jäger, StGB, Vor § 1 Rn.  1 ff.; Dubber, ZStW 117 (2005), 500 ff.; Kim, ZStW 124 (2013), 596 ff., 609; m. w. N., grds. zust. Swoboda, ZStW 122 (2010), 24 ff.; krit. zu seiner übermäßigen Dehn­ barkeit – und daher fehlenden Aussagekraft – vgl. Welzel, ZStW 58 (1939), 509; a. A. Absi­ cherung der Normgeltung, nicht des Rechtsgüterschutzes, Jakobs, Staatliche Strafe, S. 29 f.; ders., System der strafrechtlichen Zurechnung, S. 13 ff.

304

Kap. 4: Ausblick auf die mitgliedstaatliche Ebene 

Der Gesetzgeber hat dazu für verschiedene Handlungen eine Zuordnung vorge­ nommen, welche Rechtsgutsverletzungen oder -gefährdungen dem Kernstrafrecht im StGB27 unterfallen sollen und welche dem Strafrecht ebenfalls zuzuordnen, aber außerhalb des StGB geregelt sind (sog. Nebenstrafrecht).28 Zudem hat er festgelegt, welche Rechtsgutsverletzungen bzw. -gefährdungen nur mit geringfügi­ gen Sanktionen bedroht und damit dem strafrechtlichen (Un-)Werturteil entzogen werden sollten. Zu letzterer Kategorie gehören die Ordnungswidrigkeiten. Diese grenzen sich von Straftaten zunächst formal über die angedrohten Rechtsfolgen ab:29 Wird als Rechtsfolge für eine tatbestandsmäßige, rechtswidrige und indivi­ duell vorwerfbare Handlung eine Geld- oder Freiheitsstrafe vorgesehen, also das System der Sanktionen des StGB zur Anwendung gebracht (vgl. §§ 38 ff. StGB), liegt eine Straftat vor. Ist eine ebensolche Handlung lediglich mit einer Geldbuße bedroht, handelt es sich um eine Ordnungswidrigkeit bzw. um eine mit Geldbuße bedrohte Handlung, vgl. § 1 OWiG. Die Vorschriften und Rechte der StPO finden zum Teil zwar Anwendung auf das Ordnungswidrigkeitenverfahren, jedoch nur soweit deren Inhalte übertragbar sind, vgl. § 46 OWiG.30 Ordnungswidrigkeiten sind folglich aus dem Begriff der „Strafsachen“ ausgenommen. Gleichwohl gibt es über die §§ 60, 71 OWiG begleitende, an das Strafverfahren angelehnte Ver­ fahrensgarantien, auch zur notwendigen Verteidigung.

II. Prozessualer Rahmen der Wahrheitsermittlung – das Strafverfahren Der Strafverfahrensbegriff der europäischen Konzeption umfasst nicht nur die unmittelbar für die Feststellung von Schuld oder Unschuld relevanten Prozess­ teile, sondern auch jene, die nur mittelbar die Wahrheitsermittlung fördern.31 Einen ebensolchen Begriff legt auch die StPO zugrunde. Sie beschreibt den Strafprozess in seiner Gesamtheit, von der Feststellung des Schuldvorwurfs in einem Erkennt­ nisverfahren bis zur Vollstreckung der Strafe im Vollstreckungsverfahren (vgl. ab §§ 449 ff. StPO). Für beide Verfahren werden die Verfahrensrechte und -pflichten getrennt geregelt. Damit sind nicht nur die „Strafverfolgung im engeren Sinne […] [, sondern] […] auch die damit in Zusammenhang stehenden allgemeinen und be­ sonderen Tätigkeiten der Justizbehörden zur Ermöglichung und geordneten Durch­ führung der Strafverfolgung und Strafvollstreckung“ umfasst.32 27 Dazu können noch diejenigen Vorschriften gezählt werden, die die Umsetzung des Kern­ strafrechts absichern, wie die StPO, GVG, JGG, vgl. NomosKomm-Hassemer / Neumann, StGB, Vorbem. zu § 1 Rn. 206. 28 Ob und inwiefern ein Unterschied zum Kernstrafrecht besteht und mit einer Übersicht der Regelungen vgl. m. w. N. ebd. 29 BeckOK-Gerhold, OWiG, Einl. zum OWiG Rn. 1. 30 Vgl. die Übersicht zu den insoweit übertragbaren Vorschriften der StPO, KK-Lampe, OWiG, § 46 Rn. 55. 31 Vgl. m. w. N. o. Kap. 3. C. 32 BGH, NJW 2001, 1077.

A. Grundlagen der notwendigen Verteidigung

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Dies kommt auch in den Vorschriften der StPO zum Ausdruck. Ist dem Beschul­ digten ein Pflichtverteidiger beigeordnet worden, steht ihm dieser für alle im Er­ kenntnisverfahren möglichen Zwangsmaßnahmen und dem dazu korrespondieren Rechtsweg zur Verfügung. Im Haftprüfungsverfahren ist jedenfalls ab Vollzug der Untersuchungshaft notwendige Verteidigung zu gewähren, vgl. §§ 140 Abs. 1 Nr. 4, 141 Abs. 3 S. 4 StPO.33 Für den Haftprüfungstermin selbst ist gem. §§ 118a Abs. 2 S. 3, 4, 141 Abs. 3 S. 4 StPO die Beiordnung eines Verteidigers möglich.34 Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung gem. § 98 Abs. 2 S. 2 StPO bzw. § 98 Abs. 2 S. 2 StPO analog35 muss ebenso vom notwendigen Verteidiger gestellt werden. Durch diese Ausgestaltung ist der deutsche Strafverfahrensbegriff zunächst in­ klusiv bezüglich aller Maßnahmen der Strafverfolgungs- und Justizbehörden, die dem Strafverfahren mittelbar und unmittelbar dienen. Mithin wäre der Begriff grundsätzlich weit genug, um auch Rechtshilfemaßnah­ men in diese Betrachtung miteinzubeziehen. Jedoch wird der Rechtshilfe­verkehr in strafrechtlichen Angelegenheiten mit dem Ausland und der EU gesondert im IRG geregelt, vgl. § 1 Abs. 1, 4 IRG. Die Notwendigkeit von Sonderregelungen ver­ deutlicht bereits den Willen des Gesetzgebers, das Handeln der Bundesrepublik Deutschland in Rechtshilfeverfahren nicht den allgemeinen Regelungen des Straf­ prozesses zu unterwerfen, sondern dafür eigenständige Regelungen zu schaffen. Der Verfolgte (nach derzeitiger Terminologie des IRG)36 ist somit einem eigenen Verfahrenskodex unterworfen. Das spricht bereits gegen eine Inklusion trans­ nationaler Maßnahmen in den deutschen Begriff des Strafverfahrens. Das Bundesverfassungsgericht hat dagegen, wenn auch nur einmalig, formuliert, dass „[d]ie Auslieferungshaft […] als Maßnahme der internationalen Rechts- und Amtshilfe Teil der gegen den Verfolgten durchgeführten Strafverfolgung insge­ samt“ ist.37 Diese Anerkennung des Verfahrens im Vollstreckungsstaat als Teil eines grenzüberschreitend geführten Strafverfahrens wurde gerade in der Lite­ ratur auch als Anfangspunkt einer Rechtsentwicklung betrachtet, die die tatsäch­ lichen Gegebenheiten des transnationalen Strafverfahrens berücksichtigt und so zur Anwendung von Verteidigungsrechten im Vollstreckungsstaat führt.38 Dies wird nunmehr oft als Abwendung von einer zweidimensionalen, lediglich auf den

33

Zu Näherem vgl. u. Kap. 4 B. I., C. I. 1.  Vgl. m. w. N. u. Kap. 4 B. I. 35 Vgl. grundlegend BGHSt 28, 57 (58 f.) (erledigte nicht-richterlich angeordnete Durch­ suchung); NJW  1998, 3653 (3654) (überholte vorläufige Festnahme); NJW 1999, 3499 f. (erledigte richterlich angeordnete Durchsuchung); zust. KK-Fischer, StPO, Einl. 419 f. 36 Der Referentenentwurf des BMJV schlägt als geschlechtsneutrale Bezeichnung die „ver­ folgte Person“ vor, BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwen­ digen Verteidigung, 2018, a. a. O. Kap. 3, Fn. 49, S. 51. 37 BVerfGE 61, 28 (34); pos. dazu Schomburg / L agodny, NJW 2012, 349. 38 In diesem Sinne hoffnungsvoll S / L /G / H-Schomburg / L agodny / Gleß / Hackner, Int. Rechtshilfe in Strafsachen, Einl. Rn. 97, 112. 34

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Kap. 4: Ausblick auf die mitgliedstaatliche Ebene 

zwischenstaatlichen Kooperationsakt beschränkten Perspektive39 hin zu einer dreidimensionalen Betrachtung mit der Perspektive des Beschuldigten als dritter Dimension verstanden.40 Diese Modellbetrachtung bestimmt zutreffend, welche Perspektiven im transnationalen Verfahren berücksichtigt werden sollten und ist umso wichtiger, um den Gesetzgeber zu bewegen, Realitäten des transnationalen Strafverfahrens in passende Verfahrensbestimmungen umzusetzen. Trotzdem sagt diese Modellbetrachtung weder etwas über die tatsächliche, bislang normierte Rechtsträgerschaft aus,41 noch kann sie den diesbezüglich exklusiven Strafver­ fahrensbegriff der StPO erweitern. Die Normen des IRG ist normieren das Rechtshilfeverfahren als Sonderre­ gelungen außerhalb der StPO und erlauben nur in dem dort festgelegten Um­ fang den Rückgriff auf die Vorschriften der StPO.42 Daher ist vorrangig von Be­ deutung, welche Rechte dem transnational Verfolgten über das IRG eingeräumt werden. Weniger von Belang dagegen ist – für die in diesem Kapitel notwendige konkrete Betrachtung – die Auseinandersetzung um die Natur des Rechtshilfe­ verfahrens.43 Es ist insofern unerheblich, ob es sich um ein reines Verwaltungs­ verfahren i. S. d. Rechtshilfetheorie44 oder um eine dem innerstaatlichen Recht vergleichbaren Beitrag zur Feststellung von Schuld oder Unschuld i. S. d. Rechts­ pflegetheorie handelt.45 Denn beiden zufolge finden jedenfalls nur die Verfahrens­ rechte im IRG zugunsten des transnational Verfolgten in Deutschland Anwendung. Es ist nicht zwingend erforderlich, dass der Gewährleistungsumfang im Ver­ gleich zu EMRK, GRCh und PKH-RL über eine schematisch gleiche Herangehens­ weise bewirkt wird, wie z. B. über eine identische Definition des Strafverfahrens. 39

Zu dieser sog. Vertragstheorie grundlegend Vogler, Auslieferungsrecht und Grundgesetz, S. 43 ff.; ders., ZStW 105 (1993), 3 ff.; abl. Meyer, ZStW 72 (2017), 1121 Fn. 141; ebenso abl. Roger, Grund und Grenzen transnationaler Strafrechtspflege, S. 42 f. 40 Grundlegend Schomburg / L agodny, NStZ 1992, 357; s. nun in S / L/G / H-Schomburg / L agodny / Gleß / Hackner, Int. Rechtshilfe in Strafsachen, Einl. Rn. 97, 112; zust. Ambos / König / ​ Rackow-Ambos / Poschadel, Rechtshilfe, Kap. 1 Rn. 21; in diesem Sinne auch zust. A / B/E / EBöhm, Int. Strafrecht, Rn. 696; krit. zur aus dem Modell abgeleiteten Rechtsfolge Grütz­ ner / Pötz-Vogel / Burchard, Int. Rechtshilfe in Strafsachen, Vor § 1 IRG Rn. 78, 148 ff.; ebenso Klip, European Criminal Law., S. 471 ff.; in diesem Sinne von drei Ebenen sprechend Norouzi, Die audiovisuelle Vernehmung von Auslandszeugen, S. 43 ff. 41 Grützner / Pötz-Vogel / Burchard, Int. Rechtshilfe in Strafsachen, Vor § 1 IRG Rn. 77. 42 Vgl. dazu u. Kap. 4 E. II. zu § 77 Abs. 1 IRG. 43 Zutr. dazu Grützner / Pötz-Vogel / Burchard, Int. Rechtshilfe in Strafsachen, Vor § 1 IRG Rn. 76 („ideengeschichtlich eindeutig im 19. Jahrhundert verhaftet“); a. A. Roger, Grund und Grenzen transnationaler Strafrechtspflege, S. 68 f. („Auseinandersetzung [wirkt] […] sich auf die zentrale Problematik der Rechtsstellung des Beschuldigten maßgeblich aus“). 44 Vgl. dazu BGHSt 32, 314 (322) („kein Strafverfahren, sondern lediglich ein Verfahren zur Unterstützung einer ausländischen Strafverfolgung“); OLG Dresden, Beschluss v. 12.3.2010 – OLG Ausl 53/10, juris, Rn. 4; OLG Karlsruhe, GA 1987, 514; Böse, ZIS 2014, 153; Leonhardt, Die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen, S. 301; Meyer, ZStW 72 (2017), 1121; Ambos / König / Rackow-ders., Rechtshilfe, § 1 Rn. 224. 45 Ambos / König / Rackow-Meyer, Rechtshilfe, § 1 Rn. 224; m. w. N. Roger, Grund und Gren­ zen transnationaler Strafrechtspflege, S. 32 ff.

B. Die Voraussetzungen notwendiger Verteidigung

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Ein engerer, das transnationale Strafverfahren nicht inkludierender Begriff des Strafverfahrens ist mithin, wenn der transnational Verfolgte dennoch entspre­ chend von den Verteidigungsrechten profitiert.46 Dass die Verteidigungsrechte im transnationalen Strafverfahren mithin nur über das IRG verbürgt werden, ist nicht zwingend mit einer geringfügigeren Gewährleistung gleichzusetzen.

B. Die allein an den Interessen der Rechtspflege orientierten Voraussetzungen notwendiger Verteidigung Nach der Konzeption des Gesetzgebers dient die Vorschrift des § 140 StPO vor allem der Absicherung eines „prozessordnungsgemäßen Verfahrens“.47 Das deutsche Recht sieht daher für den Beschuldigten nur eine Prüfung der materiellen Interessen vor. Ob der Beschuldigte bedürftig ist, spielt für die Gewährung von Pflichtverteidigung keine Rolle, sondern wirkt sich erst auf Kostenebene aus.48 In diesem Sinne ist notwendige Verteidigung keine genuine Prozesskostenhilfe, weil ihr der Bedürftigkeitsansatz zumindest auf Tatbestandsebene fehlt. Es han­ delt sich aber um ein dazu „funktionales Äquivalent“.49 Diese Regelung des § 140 StPO steht grundsätzlich im Einklang mit den Vorgaben aus EMRK und GRCh. Sie führt jedoch dann zu Schutzlücken für den Beschuldigten, wenn die Interes­ sen der Rechtspflege restriktiv bestimmt werden und über die fehlende Bedürf­ tigkeitsbetrachtung ein alternativer Weg zu strafrechtlicher Prozesskostenhilfe versperrt bleibt.50 Die konkreten Voraussetzungen notwendiger Verteidigung ergeben sich vor­ rangig aus den §§ 140 f. StPO. Auf diese verweisen zudem auch andere Vorschrif­ ten, die notwendige Verteidigung in besonderen Verfahrensarten regeln, soweit 46

Vgl. dazu u. Kap. 4 E. Vgl. o. Kap. 1, Fn. 8, Kap. 4, Fn. 14. 48 Vgl. dazu, dass nur „in schwerwiegenden Fällen“ ein bedürftiger Angeklagter notwen­ dige Verteidigung erhält: BVerfGE 63, 380 (391); 46, 202 (210); 39, 238 (243); Beschluss v. 28.11.2006  – 2 BvR 2373/06, 2 BvR 2374/06, juris, Rn. 4; krit. m. w. N. Plekksepp, Die gleichmäßige Gewährleistung des Rechts auf Verteidigerbeistand, S. 406; Kortz, Die Not­ wendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 187; Cape / Hodgson / Prakken / Spronken, in: Cape / Hodgson u. a. (Hrsg.), Suspects in Europe, S. 23; BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung, 2018, a. a. O. Kap. 3, Fn. 49, S. 18 f. („ein von paternalistischen Gedanken getragenes System der Beiordnung eines (zunächst) staatlich finanzierten Rechtsbeistandes“); vgl. dazu u. Kap. 4 D. I. 49 BRAK, Stellungnahme Nr. 34/2018, S. 3; Schlothauer / Neuhaus / Matt / Brodowski, HRRS 2018, 56; ebenso BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung, 2018, a. a. O. Kap. 3, Fn. 49, S. 2. 50 Daher wird zum Teil eine aus dem Ansatz der Nebenklage abgeleitete, entsprechende Anwendung der Grundsätze der zivilrechtlichen Prozesskostenhilfe befürwortet, Herrmann, StV 1996, 400; vgl. m. w. N. Inoue, Die Pflichtverteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 190 ff.; Kortz, Die Notwendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 193 ff., 207 ff.; dies andeutend Schünemann, ZStW 114 (2002), 50. 47

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Kap. 4: Ausblick auf die mitgliedstaatliche Ebene 

sie keine eigenen Regelungen vorsehen.51 Nach dem Wortlaut von § 140 StPO ist Verteidigung nicht im Interesse der Rechtspflege erforderlich, sondern „notwen­ dig“. Ausgehend von seiner ursprünglichen Bedeutung („die noth […] wendend, beseitigend oder sie zu beseitigen geeignet, unentbehrlich“)52 wird so suggeriert, dass die in § 140 Abs. 1, 2 StPO genannten Situationen den Beschuldigten in eine Zwangslage bringen, deren Konsequenzen er nicht mehr eigenverantwortlich be­ gegnen kann, sondern die nur mithilfe eines Verteidigers bewältigt werden können. § 140 Abs. 1 StPO sieht zwingende Situationen notwendiger Verteidigung vor, während § 140 Abs. 2 StPO als Auffangklausel dem Beurteilungsspielraum des Vorsitzenden unterliegt.53 Da nach § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO die Beiordnung zwin­ gend notwendig ist, wenn das Verfahren im ersten Rechtszug vor dem Oberlandes­ gericht bzw. vor dem Landgericht stattfindet oder wenn gem. § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO dem Beschuldigten ein Verbrechen zur Last gelegt wird, ist die Generalklau­ sel mithin nur im Rechtsmittelverfahren und in Verfahren vor dem Amtsgericht von Bedeutung.54 Dadurch wird bereits deutlich: § 140 Abs. 1 StPO zielt allein auf die Absicherung von Verteidigung in Fällen schwerwiegender Kriminalität ab und lässt nur in besonderen Konstellationen eine Beiordnung in Fällen mittlerer und geringfügiger Kriminalität über § 140 Abs. 2 StPO zu.55 Die §§ 140 f. StPO sind inzwischen so umfangreich besprochen und ausjudiziert worden, dass ihre einzelnen Ausprägungen kaum noch zu erfassen sind.56 Für die Frage der konformen Umsetzung der Vorgaben von EMRK, GRCh und PKH-RL genügt es jedoch, einzelne Problemfelder – und die dazugehörigen Vorschläge des Gesetzgebers – zu untersuchen.

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Krit. zu dieser dezentralen Regelung Graalmann-Scheerer, StV 2011, 698. Grimm / Grimm, DWB, Sp. 956. 53 OLG Braunschweig, Beschluss v. 18.12.2014 – 1 Ws 343/14, juris, Rn. 18; OLG Köln, Beschluss v. 24.9.2012 – III-2 Ws 678/12, juris, Rn. 20; ebenso Meyer-Goßner / Schmitt, StPO, § 140 Rn. 22; Oellerich, StV 1981, 436; SK-Wohlers, StPO, § 140 Rn. 30; ebenso zu einem Be­ urteilungsspielraum neigend OLG Karlsruhe, NStZ 1991, 505; a. A. geht von einem pflicht­ gemäßen Ermessen aus, vgl. KG, Beschluss v. 6.1.2017 – 4 Ws 212/16, – 161 AR 190/16, juris, Rn. 16; BGH, NJW 1953, 116; insoweit widersprüchlich OLG Frankfurt a. M., NStZ-RR 2015, 229; ebenso von einer Ermessensentscheidung ausgehend KK-Laufhütte / Willnow, StPO, § 140 Rn. 20. 54 MüKo-Thomas / Kämpfer, StPO, § 140 Rn. 26, der eine Bedeutung nur für Verfahren vor dem AG und in Berufungsverfahren erkennt; § 140 Abs. 2 StPO findet jedoch auch im Revi­ sionsverfahren Anwendung, m. w. N. MAH-Stetten, Strafverteidigung, § 16 Rn. 58. 55 Krit. dazu ebenfalls Graalmann-Scheerer, StV 2011, 696 f. 56 Vgl. dazu jeweils m. w. N. BeckOK-Krawczyk, StPO, § 140 Rn. 3 ff.; KK-Laufhütte / Willnow, StPO, § 140 Rn. 7 ff.; LR-Lüderssen / Jahn, StPO, § 140 Rn. 50 ff.; MAH-Stetten, Straf­ verteidigung, § 16 Rn. 7 ff.; MüKo-Thomas / Kämpfer, StPO, § 140 Rn. 11 ff.; Satzger / Schlucke­ bier / Widmaier-Beulke, StPO, § 140 Rn. 12 ff. 52

B. Die Voraussetzungen notwendiger Verteidigung

309

I. Beiordnung erst ab „Vollstreckung“ der Untersuchungshaft Nach der europäischen Konzeption der Pflichtverteidigung ist im Fall von Unter­ suchungshaft die Bestellung eines Verteidigers zwingend, vgl. insbesondere Art. 4 Abs. 4 S. 2 PKH-RL.57 Dies gilt jedoch nicht nur ab bzw. während des Vollzugs der Untersuchungshaft, sondern bereits dann, wenn ein Beschuldigter einem zu­ ständigen Gericht oder einem zuständigen Richter zur Entscheidung über eine Haft vorgeführt wird, Art. 4 Abs. 4 S. 2 lit. a PKH-RL. Bereits vor dem Vollzug der Untersuchungshaft, zum ersten Vorführungstermin, muss dem Beschuldig­ ten folglich ein Verteidiger beigeordnet werden. Nach der kürzlichen Novelle der StPO58 kann insoweit teilweise eine richtlinienkonforme Auslegung der Vor­ schriften erreicht werden.59 Gem. § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO ist die Beiordnung erst ab der Vollstreckung der Untersuchungshaft oder der einstweiligen Unterbringung erforderlich. Dadurch wird die PKH-RL teilweise umgesetzt. Denn jedenfalls wenn sich der Beschul­ digte in Haft befindet, ist diesem ein Verteidiger beizuordnen, Art. 4 Abs. 4 S. 2 lit. b PKH-RL. Für den Zeitpunkt der Vorführung vor das Amtsgericht gem. § 115 Abs. 1 StPO gilt die Vorschrift jedoch nicht. Denn Vollstreckung im Rahmen von § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO beginnt nach der herrschenden Rechtsprechung grund­ sätzlich erst mit der Verkündung des Haftbefehls im Vorführungstermin, also mit Aufrechterhaltung der Haft gem. § 115 Abs. 4 S. 1 StPO,60 und nicht bereits mit Ergreifung des Beschuldigten.61 57

Vgl. dazu m. w. N. o. Kap. 2 A. II. 1. a), III. 1. a) bb) sowie Kap. 3 A. III. 1. a). Vgl. dazu BMJV, Bericht der Expertenkommission zur effektiveren und praxistaugliche­ ren Ausgestaltung des allgemeinen Strafverfahrens und des jugendgerichtlichen Verfahrens, 2015, a. a. O. Kap. 1, Fn. 23; m. krit. Anm. RAK Berlin, Stellungnahme zum Referentenentwurf des BMJV eines Gesetzes zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Straf­ verfahrens, 2016; ebenso krit. DAV, Stellungnahme zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuchs, des Jugendgerichtsgesetzes und der Strafprozessordnung, 2016; krit. Löffelmann, StV 2018, 537; abl. Gräfin von Galen, ZRP 2016, 42 ff. („Effektivität und Praxistauglichkeit des Strafverfahrens können offenbar sehr unterschiedlichen Vorstellun­ gen unterliegen“); teils zust., teils abl. Kudlich, JR 2016, 516 ff.; sowie die endgültige BT-Drs. 18/11277; zum Ergebnis der StPO-Reform teils abl. Singelnstein / Derin, NJW 2017, 2649 ff.; pos. für die Pflichtverteidigung Schlothauer, StV 2017, 557 ff. 59 Trotzdem eine Neuregelung vorschlagend BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neurege­ lung des Rechts der notwendigen Verteidigung, 2018, a. a. O. Kap. 3, Fn. 49, S. 2, 19 f. 60 Vgl. so die Gesetzesbegründung BT-Drs. 16/13097, S. 16 f.; BGHSt 60, 38 (41); OLG Kob­ lenz, BeckRS 2011, 4039; zust. Knauer, NStZ 2014, 724; ebenso zust. Morgenstern, Die Unter­ suchungshaft, S. 523; abl. KK-Graf, StPO, § 115 Rn. 11a; ebenso abl. Meyer-Goßner / Schmitt, StPO, § 140 Rn. 14. 61 In diesem Sinne, st. Rspr. OLG Hamm, Beschluss v. 3.9.2013 – III-4 RVs 111/13, juris, Rn. 6; mit ausführlicher Begründung dazu OLG Frankfurt, NStZ-RR 2011, 19; LG Olden­ burg, Beschluss v. 30.11.2017 – 1 Qs 391/17, Rn. 4; LR-Hilger, StPO, § 114 Rn. 28; MüKo-Thomas / Kämpfer, StPO, § 140 Rn. 17; MAH-Stetten, Strafverteidigung, § 16 Rn. 12; Schlothauer, in: Joecks / Ostendorf u. a. (Hrsg.), FS Samson, S. 714 f.; a. A. AG Aschersleben, Beschluss v. 19.4.2010 – 6 VR Js 23/10, juris (ab Vorliegen der Haftgründe analog § 112 StPO). 58

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Kap. 4: Ausblick auf die mitgliedstaatliche Ebene 

Dies bedeutete für vorläufig Festgenommene, dass sie von der Festnahme, über die Vorführung vor den Richter bis hin zur Verkündung des Haftbefehls keinen Anspruch auf einen Pflichtverteidiger hatten.62 Für eine solche Betrachtung wurde vor allem angeführt, dass in vorherigen Gesetzgebungsverfahren sich der frühere Zeitpunkt der vorläufigen Festnahme gem. § 127 Abs. 2 StPO nicht habe durch­ setzen können.63 Zurecht wurde kritisiert, dass diese Auslegung des „Vollzugs der Vollstreckung“ systematisch anderen Wertungen, wie etwa dem Beginn des Fristlaufs in §§ 121, 122 StPO, widerspreche,64 und der Zeitpunkt der Ergreifung als Beginn der Haft sich zudem systematisch aus §§ 115 Abs. 4, 115a Abs. 2 S. 4 StPO ergebe.65 Jedoch ist dieser Streit inzwischen durch die Einführung von § 141 Abs. 3 S. 4 StPO obsolet geworden. Nach dieser Vorschrift bestellt das Gericht, bei dem eine richterliche Vernehmung durchzuführen ist, dem Beschuldigten einen Verteidiger, wenn die Staatsanwaltschaft dies beantragt oder wenn die Mitwirkung eines Ver­ teidigers aufgrund der Bedeutung der Vernehmung zur Wahrung der Rechte des Beschuldigten geboten erscheint. § 141 Abs. 3 S. 4 StPO gilt sowohl für Zeugenals auch Beschuldigtenvernehmungen,66 sodass der richterliche Vorführtermin nunmehr auch die Beiordnung eines Verteidigers erfordert,67 unabhängig von der rechtlichen Grundlage der Vorführung und der Ursache der Freiheitsentziehung. Eine Vorführung zur Entscheidung über eine Haft ist für die Verteidigungsrechte des Beschuldigten immer von Bedeutung. Denn ob ihm die Freiheit für den Lauf des Strafverfahrens entzogen wird oder nicht, hat erhebliche Auswirkungen darauf, wie selbständig er sich verteidigen kann und ist damit bedeutsam für die Wahrung seiner Rechte i. S. v. § 141 Abs. 3 S. 4 StPO.68 Eine Beiordnung in diesem Moment ist umso wichtiger, als ein spontan erfolgendes Geständnis gem. § 254 StPO unter erleichterten Bedingungen in die Hauptverhandlung eingeführt werden darf.69 Im 62

Bittmann, NStZ 2010, 15; a. A. Esser, in: ders. / Günther u. a. (Hrsg.), FS H.-H. Kühne, S. 544; ebenso a. A. Lammer, AnwBl. 2013, 328; ebenso Wohlers, StV 2010, 153. 63 Vgl. BGHSt 60, 38 (41) mit Verweis auf zuletzt BT-Drs. 16/13097, S. 19; BMJV, Bericht der Expertenkommission zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des allgemei­ nen Strafverfahrens und des jugendgerichtlichen Verfahrens, 2015, a. a. O. Kap. 1, Fn. 23, S. 16; krit. dazu im Hinblick auf die Unionsrechtskonformität vgl. Gräfin von Galen, ZRP 2016, 42 a. E. 64 Dort ist gerade die Ergreifung maßgeblich, vgl. Schlothauer, in: Joecks / Ostendorf u. a. (Hrsg.), FS Samson, S. 715. 65 So KK-Laufhütte / Willnow, StPO, § 140 Rn. 11. 66 BT-Drs. 18/11277, S. 28. 67 AG Stuttgart, Beschluss v. 27.11.2017  – 26 Gs 8396/17, juris, Rn. 4 f.; LG Halle, Be­ schluss v. 26.3.2018 – 10a Qs 33/18, juris, Rn. 12 f.; BeckOK-Krawczyk, StPO, § 141 Rn. 8; Satzger / Schluckebier / Widmaier-Beulke, StPO, § 141 Rn. 19; Schlothauer, StV 2017, 558; in diesem Sinne auch ders. / Neuhaus / Matt / Brodowski, HRRS 2018, 64. 68 AG Stuttgart, Beschluss v. 27.11.2017 – 26 Gs 8396/17, juris, Rn. 5. 69 LG Halle, Beschluss v. 26.3.2018 – 10a Qs 33/18, juris, Rn. 14; so die Gesetzesbegrün­ dung BT-Drs. 18/11277, S. 28; zust. Schlothauer, StV 2017, 558; dazu bereits vor der Novelle KK-Laufhütte / Willnow, StPO, § 140 Rn. 11; zust. wohl Knauer, NStZ 2014, 724.

B. Die Voraussetzungen notwendiger Verteidigung

311

Angesicht eines plötzlichen Freiheitsentzuges versuchen viele unverteidigte Be­ schuldigte durch Einlassungen die Untersuchungshaft noch abzuwenden und sind somit in einer besonders verletzlichen Situation.70 § 141 Abs. 3 S. 4 StPO hat folglich die Umsetzung der PKH-RL in Teilen vorweg genommen.71 Dies gilt jedoch nur, wenn das Merkmal der „Bedeu­ tung für die Rechte des Beschuldigten“ in dieser Konstellation immer ange­ nommen wird. Die bislang vorherrschende Ansicht, dass regelmäßig dann ein Verteidiger für die gerichtliche Vorführung beizuordnen ist, lässt im Umkehr­ schluss annehmen, dass es Ausnahmen geben könnte. Solche Ausnahmen sieht Art. 4 Abs. 4 S. 2 PKH-RL jedoch nicht vor. Insofern reduziert Art. 4 Abs. 4 S. 2 PKH-RL in dieser Konstellation der richterlichen Vorführung nach Freiheitsentzug den Beurteilungsspielraum des Gerichts dahingehend auf Null.72 Der Gesetzgeber könnte sich trotzdem entscheiden, diese Konstellation zum einen deutlicher als einen zwingenden Fall der Beiordnung zu normieren und dies zum anderen klar­ stellend – und systematisch zutreffend – bei den zwingenden Beiordnungsgründen des § 140 Abs. 1 StPO einzufügen.73 Dagegen wird im Referentenentwurf des BMJV ein „Umsetzungsbedarf“ er­ kannt.74 Bei näherer Betrachtung der Begründung, die allein auf § 140 Abs. 1 Nr. 4, 5 StPO abstellt, entsteht der Eindruck, dass der erst im August 2017 novellierte § 141 Abs. 3 S. 4 StPO schlicht übersehen bzw. die haftrichterliche Vorführung nicht als (richterliche)  Vernehmung erkannt wurde.75 Zutreffend ist, dass lange Zeit in diesem Rahmen allein § 140 Abs. 1 Nr. 4, 5 StPO galten, die nur bestimmte Formen der Freiheitsentziehungen einschlossen. In § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO werden als beiordnungswürdige Formen der Freiheitsentziehungen aber lediglich Unter­ suchungshaft gem. §§ 112, 112a StPO und die einstweilige Unterbringung gem. §§ 126a, 275a Abs. 6 StPO erfasst.76 Über § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO werden auch Beschuldigte in anderen als den in § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO aufgezählten Haft­

70

Zum Überrumpelungseffekt einer plötzlichen Festnahme vgl. Schlothauer, in: Joecks /  Ostendorf u. a. (Hrsg.), FS Samson, S. 709; ebenso Jahn, in: Fischer / Bernsmann (Hrsg.), FS Rissing-van Saan, S. 278. 71 LG Halle, Beschluss v. 26.3.2018 – 10a Qs 33/18, juris, Rn. 12 f.; Schlothauer, StV 2017, 558; in diesem Sinne auch Satzger / Schluckebier / Widmaier-Beulke, StPO, § 141 Rn. 19; grds. zust. Conen, Stellungnahme zum Regierungsentwurf eines Gesetzes zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens, 2017, Rn. 3 („notwendige Verteidigung moderat […] vorverlagert“). 72 In diesem Sinne LG Halle, Beschluss v. 26.3.2018 – 10a Qs 33/18, juris, Rn. 12 f. 73 Dafür auch Schlothauer / Neuhaus / Matt / Brodowski, HRRS 2018, 63; a. A. noch Schlothauer, StV 2017, 558, der noch zuvor die Regelung als systematisch passend einstufte. 74 BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Vertei­ digung, 2018, a. a. O. Kap. 3, Fn. 49, S. 19 f. und dementsprechend eine Ergänzung von § 140 Abs. 1 Nr. 4, 5 StPO-E vorschlägt. 75 Ebd., S. 30 ff., 35. 76 M. w. N. Satzger / Schluckebier / Widmaier-Beulke, StPO, § 140 Rn. 20 f.

312

Kap. 4: Ausblick auf die mitgliedstaatliche Ebene 

situationen berücksichtigt,77 jedoch nur solange sie mindestens drei Monate unter­ gebracht waren und nicht mindestens zwei Wochen vor Beginn der Hauptverhand­ lung entlassen werden.78 Dadurch werden andere Formen der Freiheitsentziehungen gar nicht in den Schutzbereich von § 140 Abs. 1 Nr. 4, 5 StPO einbezogen, obwohl diese ebenso eine richterliche Vorführung erfordern. Dies betraf insbesondere die vorläufige Festnahme, §§ 127, 128 StPO,79 sowie die sog. Sicherungshaft im be­ schleunigten Verfahren, §§ 127b, 128 StPO.80 Wegen § 141 Abs. 3 S. 4 StPO ist trotz des Vorschlags des BMJV davon aus­ zugehen, dass Art. 4 Abs. 4 S. 2 lit. a PKH-RL bereits ausreichend umgesetzt ist. Der Vorschlag einer systematisch treffenderen Neuregelung im Rahmen der Bei­ ordnungsgründe von § 140 Abs. 1 Nr. 10 StPO-E ist dagegen vorzugswürdig und im Ergebnis gleichwertig, allein der Begründungsweg des Referentenentwurfs ist fehlerhaft.81 Die vorgeschlagene Neufassung von § 140 Abs. 1 Nr. 4, 5 StPO-E für die Vorführung zur Entscheidung über eine Haft ist nach dem Ergebnis dieses Vorhabens redundant. Bedenklich erscheint jedoch, dass der Referentenentwurf § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO-E in Bezug auf die vorläufige Festnahme folgendermaßen verstanden wissen möchte: „Durch die Inbezugnahme der §§ 128, 129 StPO werden die Fälle der vorläufigen Fest­ nahme erfasst […]. In diesen Fällen ist im Gegensatz zu den eben dargestellten noch kein Haft- oder Unterbringungsbefehl ergangen. Die Vorführung hat nur zu erfolgen, wenn die festgenommene Person nicht wieder in Freiheit gesetzt wird. Daher liegt insoweit erst dann ein Fall notwendiger Verteidigung vor, wenn die Notwendigkeit der Vorführung feststeht. Infolgedessen bleibt es in diesen Fällen erlaubt, den Beschuldigten nach vorläufiger Fest­ nahme erst noch zu vernehmen und dann vorzuführen, soweit dies zur Klärung der Frage, ob ein Haftbefehl überhaupt beantragt werden soll, erforderlich ist.“82

Dem kann nicht gefolgt werden. Obgleich der Referentenentwurf zuvor noch richtig feststellt, dass die PKH-RL bei jedwedem Entzug der Freiheit verlangt, dass Zugang zu einem Pflichtverteidiger hergestellt wird,83 soll dies nun für die vor­ 77

MüKo-Thomas / Kämpfer, StPO, § 140 Rn. 20; m. w. N. Satzger / Schluckebier / ­Widmaier-​ Beulke, StPO, § 140 Rn. 26; a.A: BeckOK-Krawczyk, StPO, § 140 Rn. 9; ebenso a. A. KK-Laufhütte / Willnow, StPO, § 140 Rn. 12. 78 Krit. zum systematisch fehlplatzierten Einbezug des actus contrarius in § 140 Abs. 1 Nr. 5 2. Hs. StPO, Schlothauer / Neuhaus / Matt / Brodowski, HRRS 2018, 62. 79 Krit. dazu Esser, in: ders. / Günther u. a. (Hrsg.), FS H.-H. Kühne, S. 544; ebenso a. A. Lammer, AnwBl. 2013, 328; ebenso a. A. Wohlers, StV 2010, 152. 80 Vgl. bislang zur Aussparung i.R.v. § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO, Satzger / Schluckebier / Wid­ maier-Beulke, StPO, § 140 Rn. 21; Wohlers, StV 2010, 152; m. w. N. zu den Kritikpunkten und zur untergeordneten statistischen Bedeutung: Morgenstern, Die Untersuchungshaft, S. 422 ff. 81 BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidi­ gung, 2018, a. a. O. Kap. 3, Fn. 49, S. 32 f.; ebenso § 141 Abs. 3 S. 4 StPO als ausreichend er­ achtend: Schlothauer / Neuhaus / Matt / Brodowski, HRRS 2018, 63 f. 82 BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidi­ gung, 2018, a. a. O. Kap. 3, Fn. 49, S. 31. 83 Vgl. ebd., S. 31 f.

B. Die Voraussetzungen notwendiger Verteidigung

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läufige Festnahme nicht mehr gelten, wenn noch nicht feststeht, ob die Festnahme über einen Haftbefehl aufrechterhalten bleibt. Vielmehr soll der Beschuldigte über einen Haftbefehl aufrechterhalten bleibt unverteidigt vernommen werden können. Das ist im Hinblick auf die zuvor erarbeiteten Vorgaben von EMRK, GRCh und PKH-RL nicht haltbar. Insbesondere unterscheidet die PKH-RL nicht danach, ob die Freiheitsentziehung des Beschuldigten fortgeführt wird. Ob ein Haftbefehl vorliegt oder nicht, ist danach ebenso irrelevant. Sie nimmt lediglich ganz kurz­ zeitige Freiheitsentziehungen, wie z. B. eine Personalienfeststellung, vom Anwen­ dungsbereich aus.84 Eine insoweit unbeachtliche Freiheitsbeschränkung weitet sich immer dann zu einer die Garantien nach Art. 4 Abs. 4 S. 2 lit. a PKH-RL auslö­ senden Freiheitsentziehung aus, wenn dem Beschuldigten die Freiheit während weiterer strafprozessualer Ermittlungshandlungen entzogen wird.85 In der vom Referentenentwurf vorgezeichneten Situation kann es danach nicht unterbleiben, einen Pflichtverteidiger zu bestellen, weil eine Freiheitsentziehung im Sinne der PKH-RL gerade vorliegt. Ein Verteidiger ist danach immer zu bestellen, wenn dem Beschuldigten die Freiheit entzogen wird, und in diesem Fall spätestens vor jeder Vernehmung, sei diese auch polizeilicher Natur. Dieser für vorläufige Fest­ nahmen vorgeschlagene Sonderweg ist mit den Vorgaben der EMRK, GRCh und der PKH-RL nicht überein zu bringen.

II. Beiordnung bei Schwere der Straftat sowie schweren drohenden Rechtsfolgen Gem. Art. 4 Abs. 1, 4 S. 1 PKH-RL, Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK und Art. 48 Abs. 2 GRCh ist für die Bestimmung der materiellen Kriterien u. a. die Schwere der dro­ henden Rechtsfolgen einzubeziehen. Solche schweren Rechtsfolgen drohen dann, wenn die Verhängung einer Freiheitsstrafe abstrakt oder konkret wahrscheinlich ist, sei es auch lediglich eine kurze Freiheitsstrafe von wenigen Wochen.86 Das wird bislang über § 140 Abs. 1, 2 StPO nur unzureichend umgesetzt. 1. Beiordnung wegen drohender Freiheitsstrafe Die großzügigste Regelung der notwendigen Verteidigung verlangt für eine Beiordnung bislang, dass dem Beschuldigten mindestens eine Freiheitsstrafe von einem Jahr droht. Das ist im Hinblick auf die europäischen Anforderungen an die notwendige Verteidigung zu strikt und belässt, gerade wegen des rein mate­ riell-basierten Ansatzes der notwendigen Verteidigung, erhebliche Schutzlücken. 84

Vgl. Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 26.10.2016 – 2016/1919/EU, PKH-RL, ABl. L 297, 1, Erwägungsgrund (15). 85 Vgl. dazu bereits o. Kap. 3 A. III. 1. a). 86 Vgl. o. Kap. 2 A. II. 1. a).

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Kap. 4: Ausblick auf die mitgliedstaatliche Ebene 

a) Status quo der deutschen Regelung in § 140 Abs. 1 Nr. 1, 2, Abs. 2 S. 1 StPO sowie in §§ 418 Abs. 4, 408b StPO Gem. § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO ist die Mitwirkung eines Verteidigers notwen­ dig, wenn dem Beschuldigten ein Verbrechen zur Last gelegt wird87 und somit eine Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr abstrakt droht, vgl. § 12 Abs. 1 StGB. Gem. § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO ist die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig, wenn die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor dem Oberlandesgericht oder dem Landgericht stattfindet, also die vorgeworfene Tat mit mindestens vier Jahren Freiheitsstrafe bedroht ist, vgl. § 74 Abs. 1 S. 2 GVG.88 Damit belassen die §§ 140 Abs. 1 Nr. 1, 2 StPO erhebliche Lücken: Werden dem Angeklagten nur Vergehen zur Last gelegt, die aber mit einer potenziellen Straferwartung unter vier Jahren bedroht ist, hat er nach diesen Regelungen zunächst keinen Anspruch auf Beiord­ nung eines Verteidigers. Innerhalb dieser Schutzlücke soll grundsätzlich der Auffangtatbestand von § 140 Abs. 2 S. 1 StPO eingreifen. Danach wird dem Beschuldigten auch dann ein Verteidiger bestellt, wenn u. a. wegen der Schwere der Tat die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint. Dieser unbestimmte Rechtsbegriff der „Schwere der Tat“ eröffnet dem Tatrichter einen Beurteilungsspielraum.89 Dabei gilt, dass „[j]e einschneidender die zu erwartenden Rechtsfolgen sind, umso geringer […] auch die Bedeutung der eigenen Verteidigungsfähigkeit des Angeklagten“ ist.90 Wann eine Rechtsfolge in diesem Sinne als einschneidend gilt, bemisst sich vor­ rangig an der Höhe der zu erwartenden Strafe.91 War dies früher noch streng auf eine erwartbare Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren beschränkt,92 wird herr­ schend inzwischen das Drohen einer Haftstrafe von mindestens einem Jahr als eine zur Beiordnung verpflichtende Schwere der Tat betrachtet.93 Freiheitsstrafen 87

Zur Auslegung des Begriffes „zur Last legen“ vgl. OLG Bremen, StV 1984, 13 Ls. 1 (An­ klage); auch rechtlicher Hinweis genügend KG, StV 1995, 184 Ls. 1; in diesem Sinne auch OLG Düsseldorf, JZ 1984, 636; m. w. N. KK-Laufhütte / Willnow, StPO, § 140 Rn. 9; vgl. m. w. N. MüKo-Thomas / Kämpfer, StPO, § 140 Rn.  13; Satzger / Schluckebier / Widmaier-Beulke, StPO, § 140 Rn. 15 f. 88 Angeklagte Verbrechen sind zwar ebenfalls gem. § 74 Abs. 1 S. 1 GVG auslösend für die Zuständigkeit der Strafkammern, dies ist jedoch bereits über § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO abge­ deckt. 89 BayObLG, Beschluss v. 3.8.1993 – 4St RR 78/93, juris, Rn. 20. 90 BGH, Urteil v. 29.6.1954 – 5 StR 207/54, juris, Rn. 8 ff.; BayObLG, NJW 1995, 2738; Beschluss v. 3.8.1993 – 4St RR 78/93, juris, Rn. 21; OLG Stuttgart, Beschluss v. 4.6.1999 – 2 Ss 196/99, juris, Rn. 6. 91 BayObLG, Beschluss v. 3.8.1993 – 4St RR 78/93, juris, Rn. 21. 92 BayObLG, Beschluss v. 12.6.1995 – 5St RR 42/95, juris, Rn. 6; OLG Stuttgart, Beschluss v. 4.6.1999 – 2 Ss 196/99, juris, Rn. 6. 93 BayObLG, NJW 1995, 2738; KG, Beschluss v. 11.8.2017 – 4 Ws 109/17, 161 AR 166/17, juris, Rn. 13 m. w. N.; in diesem Sinne Beschluss v. 6.1.2017 – 4 Ws 212/16, 161 AR 190/16, juris, Rn. 10, 14 ff.; OLG Oldenburg, StV 1993, 511 Rn. 5; OLG Stuttgart, Beschluss v. 22.11.2012 – 4a Ws 151/12, juris, Rn. 8; Beschluss v. 4.6.1999 – 2 Ss 196/99, juris, Rn. 6; zust.

B. Die Voraussetzungen notwendiger Verteidigung

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unter einem Jahr sollen dagegen nicht genügen, es sei denn, es liegen weitere quali­ fizierende Umstände vor.94 Welche Umstände in diesem Sinne eine geringfügigere drohende Freiheitsstrafe als einschneidend qualifizieren, ist sehr kasuistisch ge­ prägt. Eine solche Konstellation wurde jedenfalls angenommen, wenn eine Frei­ heitsstrafe unter einem Jahr zu einem erheblichen Bewährungswiderruf führen würde,95 oder wenn andere schwerwiegende, mittelbare Nachteile durch eine kurze Freiheitsstrafe drohen.96 Diese Einzelfälle klären jedoch nicht, wann mittelbare Nachteile konkret ausreichen, um die Schwere der Tat zu belegen. Nicht nur ist dieser Maßstab unsicher in der Rechtsanwendung, er belässt zudem einen Groß­ teil der Beschuldigten ohne Pflichtverteidiger, obgleich ihnen – nach der europäi­ schen Konzeption der Pflichtverteidigung – ein erheblicher Freiheitsentzug droht. Für das beschleunigte Verfahren (§ 417 StPO) und das Strafbefehlsverfahren gelten zwar etwas großzügigere Regelungen. Aber auch diese genügen den euro­ päischen Anforderungen an die Pflichtverteidigung nur teilweise. Dem unver­ teidigten Beschuldigten wird gem. § 418 Abs. 4 StPO für das beschleunigte Ver­ fahren vor dem Amtsgericht ein Verteidiger bestellt, wenn ihn eine Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten erwartet.97 Im Strafbefehlsverfahren muss gem. § 408b S. 1 StPO dem unverteidigten Angeschuldigten ein Verteidiger bestellt wer­ den, wenn diesem die Rechtsfolge des § 407 Abs. 2 S. 2 StPO droht, also wenn die Staatsanwaltschaft beabsichtigt, im Strafbefehl eine zur Bewährung auszusetzende Freiheitsstrafe zu beantragen. Im Strafbefehlsverfahren genügt folglich, dass über­ haupt Freiheitsstrafe droht. Dadurch, dass diese Beiordnung auch dann fortgilt, wenn das Strafbefehlsverfahren nach Einspruch in ein reguläres Strafverfahren mündet,98 wird der so verfolgte Beschuldigte aktuell bessergestellt, als ein im re­ gulären oder beschleunigten Strafverfahren wegen des gleichen Tatvorwurfs Be­ Satzger / Schluckebier / Widmaier-Beulke, StPO, § 140 Rn. 36; inzwischen für eine ausdrück­ liche Normierung plädierend BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung, 2018, a. a. O. Kap. 3, Fn. 49, S. 20, vgl. § 140 Abs. 1 Nr. 3 StPO-E. 94 OLG Brandenburg, Beschluss v. 21.11.2007 – 1 Ss 84/07, juris, Rn. 5 ff.; ebenso VerfGH Sachsen, Beschluss v. 27.10.2005 – Vf. 62-IV-05, juris, Rn. 15 f. 95 So bei jeweils mehrmonatiger Freiheitsstrafe: BayObLG, NJW 1995, 2738; OLG Düssel­ dorf, StV 2000, 408 Rn. 8. 96 So auch verneinend OLG Brandenburg, Beschluss v. 21.11.2007  – 1 Ss 84/07, juris, Rn. 5 ff.; OLG Düsseldorf, StV 2000, 408 Rn. 8. 97 Gilt auch für Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Monaten, m. w. N. Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, Rn. 895. 98 Umstr., dafür OLG Oldenburg, BeckRS 2017, 119219 Rn. 13 ff., 16; ebenso OLG Celle, BeckRS 2011, 14974; OLG Düsseldorf, Beschluss v. 27.5.2008 – 3 Ws 160/08, juris, Rn. 7 f. mit Hinweisen zu gebührenrechtlichen Auswirkungen; OLG Köln, NStZ-RR 2010, 30 f.; zust. Satzger / Schluckebier / Widmaier-Momsen, StPO, § 408b Rn. 5; Böttcher / Mayer, NStZ 1993, 156; a. A. OLG Düsseldorf, NStZ 2002, 390 f.; KG, Beschluss v. 29.5.2012 – 1 Ws 30/12, ju­ ris, Rn. 4; m. w. N. OLG Saarbrücken, Beschluss v. 17.9.2014 – 1 Ws 126/14, juris, Rn. 9 ff.; ebenso a. A. Lutz, NStZ 1998, 395 f.; Meyer-Goßner / Schmitt, StPO, § 408b Rn. 6; nunmehr unter allgemeiner Anwendung der §§ 141 ff. StPO-E eine differenzierte Lösung vorschlagend BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung, 2018, a. a. O. Kap. 3, Fn. 49, S. 48 f.

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Kap. 4: Ausblick auf die mitgliedstaatliche Ebene 

schuldigter, dem ebenfalls eine Bewährungsstrafe unter einem Jahr bzw. unter sechs Monaten droht.99 Bislang genügt allein die Verteidigerbestellung im Straf­ befehlsverfahren den europäischen Anforderungen an die notwendige Verteidi­ gung.100 §§ 140 Abs. 2 S. 1, 418 Abs. 4 StPO bilden dagegen nicht den nunmehr erforderlichen Standard ab. b) Richtlinienkonformität durch eine erweiterte Auslegung der „Schwere der Tat“ in § 140 Abs. 2 S. 1 StPO Für reguläre Strafverfahren könnte § 140 Abs. 2 S. 1 StPO konventions- und richtlinienkonform ausgelegt werden, wenn die Schwere der Straftat bereits dann angenommen wird, wenn überhaupt Freiheitsstrafe droht.101 Die Generalklausel ist dem Wortlaut nach für eine solche Auslegung offen. Über die europäischen Maßstäbe wird eine bislang bestehende, erhebliche Schutzlücke geschlossen. Denn insoweit wurde unterstellt, Freiheitsstrafen unterhalb eines Jahres würden für Beschuldigte keine schweren Rechtsfolgen darstellen. Dabei ist insbesondere bei kurzen Freiheitsstrafen, vgl. § 47 StGB, anerkannt, dass diese nicht nur das übliche soziale Gefüge zerrütten, sondern zu kurzen Freiheitsstrafen Verurteilte zudem nicht an den Resozialisierungsangeboten des Vollzugs teilneh­ men können.102 Daher hat der Gesetzgeber die Verhängung kurzer Freiheits­strafen über § 47 StGB auch als besonders begründungsbedürftig ausgestaltet. Daraus hätte schon längst geschlossen werden müssen, dass die Länge der Freiheitsstrafe zwar auch deren Gewichtigkeit bestimmt, sie aber unabhängig von der verbüßten Dauer ein erheblicher Eingriff in die Freiheitsrechte des Beschuldigten bleibt. Ebenso knüpft § 32 Abs. 2 Nr. 5 lit. b, Abs. 3 Nr. 1 BZRG an die Verhängung kur­ zer Freiheitsstrafen bereits die Sichtbarkeit im Führungszeugnis.103 Das ist für die weitere Resozialisierung des Beschuldigten nach Verurteilung und Verbüßung seiner Strafe ein Hindernis, weil dadurch Vorstrafen für potentielle Arbeitgeber sichtbar werden. 99

Dazu m. w. N. OLG Oldenburg, BeckRS 2017, 119219 Rn. 13. A. A. Bahns / Burkert / Guthke / Kitlikoglu u. a., Neuordnung der Pflichtverteidigerbestel­ lung, S. 11 ff., die für jedes Strafbefehlsverfahren die Beiordnung eines notwendigen Vertei­ digers für notwendig erachten, unabhängig davon, ob Freiheitsstrafe droht oder nicht. 101 Dafür ebenso ebd., S. 8, 21 f., die aber noch darüber hinausgehend fordern, dass auch bei einer drohenden Geldstrafe von über 90 Tagessätzen Verteidigung notwendig sein sollte; Satzger / Schluckebier / Widmaier-Beulke, StPO, § 140 Rn. 37; SK-Wohlers, StPO, § 140 Rn. 33; Herrmann, StV 1996, 396, 400; Oellerich, StV 1981, 437; MüKo-Thomas / Kämpfer, StPO, § 140 Rn. 30; a. A. inzwischen der Referentenentwurf BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neu­ regelung des Rechts der notwendigen Verteidigung, 2018, a. a. O. Kap. 3, Fn. 49, S. 20 und § 140 Abs. 1 Nr. 3 StPO-E (Freiheitsstrafe von mind. einem Jahr). 102 MüKo-Radtke, StGB, § 43 Rn. 2 m. w. N. 103 Dies als mittelbaren Nachteil gem. § 140 Abs. 2 S. 1 StPO für nicht ausreichend haltend, KG, Beschluss v. 23.2.2016 – 3 Ws 87/16, 141 AR 96/16, juris, Rn. 5 (vier Monaten Freiheits­ strafe). 100

B. Die Voraussetzungen notwendiger Verteidigung

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Eine zwingende Beiordnung bei drohender Freiheitsstrafe ist vorzugswürdig, weil es auch an Maßstäben fehlt, die Erheblichkeit oder Unerheblichkeit von ge­ ringeren Freiheitsstrafen rechtlich greifbar machen. Insbesondere in der Recht­ sprechung des EGMR wurden auch Freiheitsstrafen von nur wenigen Wochen als beachtlich eingeschätzt.104 Der Versuch, eine Beachtlichkeitsschwelle zu normie­ ren, kann folglich nur scheitern. Wird aber immer eine Beiordnungspflicht ange­ nommen, wenn Freiheitsstrafe droht, wäre eine Regelung dieser Option im Rahmen von § 140 Abs. 1 StPO im verpflichtenden Katalog der Beiordnungsgründe klarer, als diese Konstellation über den eigentlich im Ermessen des zuständigen Gerichts stehenden § 140 Abs. 2 S. 1 StPO zu lösen. Eine derart einheitliche Lösung hätte zudem den Vorteil, die bislang zwischen §§ 140 f. StPO und den Sonderregelungen in §§ 408b, 418 Abs. 4 StPO bestehenden Friktionen aufzulösen. Alle Beschuldigten würden unabhängig davon, welche Ver­ fahrensart die Staatsanwaltschaft wählt, unter gleichen Voraussetzungen Zugang zu einem staatlichen Pflichtverteidiger erhalten. Die Vorschrift des § 418 Abs. 4 StPO kann in ihrer aktuellen Form zudem nicht bestehen bleiben. Ihr strenger Wortlaut lässt nicht zu, über eine Auslegung noch zu einer Beiordnung auch bei drohenden Freiheitsstrafen unter sechs Monaten zu gelangen. Herrschend wird je­ doch angenommen, dass § 418 Abs. 4 StPO als „subsidiärer Sonderfall notwendiger Verteidigung“105 gilt, sodass, sobald eine Beiordnung gem. § 140 StPO geboten ist, diese Vorrang hat.106 Das kann an dieser Stelle dahinstehen, wenn entweder § 140 Abs. 2 S. 1 StPO weit ausgelegt wird oder ohnehin zur Referenznorm auch für die anderen Verfahrensarten wird. Der Gesetzgeber ist lediglich dahingehend gebunden, dass Verteidigung dann als notwendig zu gelten hat, wenn eine Frei­ heitsstrafe droht. c) Die vom BMJV vorgeschlagene Neuregelung in § 140 Abs. 1 StPO-E Der Referentenentwurf des BMJV teilt diese Auffassung nicht, sondern schlägt lediglich aus Klarstellungsgründen vor, die bisherige Rechtsprechung zu § 140 Abs. 2 S. 1 StPO in § 140 Abs. 1 Nr. 3 StPO-E ausdrücklich zu normieren.107 Dem Beschuldigten muss folglich eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr dro­ hen. Zugleich solle in Erweiterung von § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO auch bei Verfah­ ren vor einem Schöffengericht Verteidigung immer notwendig sein, vgl. § 140

104

Vgl. o. Kap. 2, Fn. 23 f. Satzger / Schluckebier / Widmaier-Rosenau, StPO, § 418 Rn. 13. 106 KG, NStZ-RR 2002, 242 Ls. 1; in diesem Sinne auch OLG Brandenburg, NJW 2005, 521; Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, Rn. 895; Satzger / Schluck­ ebier / Widmaier-Rosenau, StPO, § 418 Rn. 13 m. w. N. 107 BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidi­ gung, 2018, a. a. O. Kap. 3, Fn. 49, S. 29 f. 105

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Kap. 4: Ausblick auf die mitgliedstaatliche Ebene 

Abs. 1 Nr. 1 StPO-E.108 Es wird kein Widerspruch erkannt zwischen den deutlich großzügigeren Regelungen in § 418 Abs. 4 StPO und § 408b StPO-E und den nun vorgeschlagenen, restriktiveren Änderungen in § 140 Abs. 1 Nr. 1, 3 StPO-E. Die Diskrepanz für das Strafbefehlsverfahren zur sonst üblichen Vorschrift des § 140 StPO-E rechtfertige sich gerade aus der Schriftlichkeit des Verfahrens und den damit einhergehenden Besonderheiten.109 Insgesamt schlägt der Referentenentwurf somit eine Neuregelung von § 140 Abs. 1 StPO vor, die deutlich hinter dem in diesem Vorhaben geforderten – und so auch nach Maßgabe der PKH-RL und EMRK angezeigten – Beiordnungsniveau zurückbleibt. Die ausdrückliche Erweiterung der Beiordnungsvoraussetzungen um Verfahren vor dem Schöffengericht ist im Vergleich zur notwendigen Vertei­ digung ab drohender Freiheitsstrafe von einem Jahr in § 140 Abs. 1 Nr. 3 StPO-E sogar überflüssig: Ein Strafverfahren wird dann vor dem Schöffengericht geführt, wenn entweder ein Verbrechen angeklagt wird – so bereits abgedeckt über § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO – oder aber wenn die Straferwartung über zwei Jahren liegt, vgl. §§ 25, 28 GVG – dieser Fall nun ausdrücklich abgedeckt auch über § 140 Abs. 1 Nr. 3 StPO-E oder bereits zuvor über § 140 Abs. 2 S. 1 StPO. Der Vorschlag schafft es auch nicht, die mit den anderen Vorschriften notwendiger Verteidigung be­ stehenden Friktionen aufzuheben, vgl. §§ 418 Abs. 4, 408b StPO. Beide Ergänzun­ gen bringen daher über die bislang defizitäre Regelung hinaus keine Verbesserun­ gen und entsprechen nicht den Vorgaben der auch anhand der GRCh und EMRK auszulegenden PKH-RL. Diese ausdrückliche Normierung insbesondere der Beiordnung ab drohender Freiheitsstrafe von einem Jahr erhebt diese Fallgruppe wenigstens zu einem Fall zwingender Beiordnung. Anders als behauptet, dürfte diese ausdrückliche Kodi­ fizierung jedoch kaum „Handhabbarkeit und Erkennbarkeit für die (ermittlungs­ behördliche) Praxis“ fördern.110 Denn § 140 Abs. 1 Nr. 3 StPO verlangt vor allem von der Polizei, das Strafmaß zum frühen Zeitpunkt der Vernehmung bereits recht konkret einzuschätzen. Das dürfte zu solch einem Zeitpunkt jedoch schwer sein. Auch insofern hätte die konventionskonforme Lösung – Beiordnung bei drohen­ der Freiheitsstrafe überhaupt – auch in dieser Hinsicht einen deutlichen (prakti­ schen) Vorteil.

108

Ebd., S. 20, 29; dies ebenso klarstellend fordernd: Bahns / Burkert / Guthke / Kitlikoglu u. a., Neuordnung der Pflichtverteidigerbestellung, S. 21 f.; bereits zuvor für einen verpflichtenden Beiordnungsgrund bei Anklage zum Schöffengericht plädierend: Graalmann-Scheerer, StV 2011, 698. 109 BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidi­ gung, 2018, a. a. O. Kap. 3, Fn. 49, S. 48. 110 Ebd., S. 30.

B. Die Voraussetzungen notwendiger Verteidigung

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2. Mögliche Umwandlung einer Geldstrafe in Ersatzfreiheitsstrafe als Drohen von Freiheitsstrafe? In der Rechtsprechung des EGMR wird der drohende Eingriff in die Konven­ tionsfreiheit der persönlichen Freiheit als äußerst schwerwiegend eingeordnet. Daher wird bereits dem drohendem Freiheitsentzug ein derartiges Gewicht für die Frage der notwendigen Verteidigung beigemessen. Der EGMR nimmt auch dann eine drohende Freiheitsentziehung an, wenn zwar nur eine Geldstrafe verhängt wurde, diese jedoch in eine (Ersatz-)Freiheitsstrafe umgewandelt werden kann.111 In Deutschland kann jede Geldstrafe, die uneinbringlich ist, gem. § 43 S. 1 StGB, in eine Ersatzfreiheitsstrafe umgewandelt werden.112 Bei strenger Anwendung der Grundsätze des EGMR müsste folglich auch bei jeder drohenden Geldstrafe ein Verteidiger beigeordnet werden, weil über § 43 StGB i. V. m. §§ 459c ff. StPO eine Ersatzfreiheitsstrafe wenigstens abstrakt droht. Insoweit ist anerkannt, dass die Ersatzfreiheitsstrafe keine Form der Beitreibungshaft, sondern eine „echte Kriminalstrafe“ darstellt.113 Für den EGMR kommt es gerade nicht darauf an, ob es tatsächlich zu einer Umwandlung kommt, sondern zunächst darauf, ob diese Möglichkeit besteht.114 Ob nur die Möglichkeit der Ersatzfreiheitsstrafe als Drohen von Freiheitsent­ zug zu betrachten ist, bedarf folglich der Klärung. Dafür lohnt sich noch einmal ein genauerer Blick in die dazu bestehenden Präjudizien des EGMR. Der EGMR stellt deutlich heraus, dass er das Institut der Ersatzfreiheitsstrafe an sich als ein veraltetes Zwangsmittel des Staates („archaic custodial measure available only to the Treasury“) betrachtet,115 um den vermutet leistungsfähigen, aber leistungs­ unwilligen Verurteilten zur Zahlung zu bewegen.116 Im Rahmen der Frage, ob Freiheitsstrafe droht und so die Interessen der Rechtspflege regelmäßig eine Bei­ ordnung gebieten, hat der EGMR mit einbezogen, ob die erwartete Geldstrafe in eine Freiheitsstrafe umgewandelt werden kann.117 Zugleich hat er in diesem Urteil nicht klargestellt, wie eng der Bezug zwischen Geldstrafe und potenzieller Ersatz­ freiheitsstrafe sein muss.

111

Vgl. o. Kap. 2, Fn. 26. Zum Ziel der Absicherung der Einbringlichkeit von Geldstrafen vgl. mit einem statis­ tischen Hinweis BT-Drs. 19/803, S. 4; m. w. N. MüKo-Radtke, StGB, § 43 Rn. 2; Mosbacher, NJW 2018, 1071; Tiedemann, JZ 1980, 492. 113 BVerfG, NJW 2006, 3626 (3627); BGHSt 20, 13 (16); MüKo-Radtke, StGB, § 43 Rn. 3 m. w. N. zur h. M. 114 EGMR, Urteil v. 8.6.1995 – 15917/89, Jamil ./. FR, Rn. 32; Urteil v. 2.7.2002 – 33402/96, Göktan ./. FR, Rep. 2002-V, Rn. 51; i. Ü. vgl. o. Kap. 2, Fn. 26, 170. 115 EGMR, Urteil v. 2.7.2002 – 33402/96, Göktan ./. FR, Rep. 2002-V, Rn. 51. 116 EGMR, Urteil v. 8.6.1995 – 15917/89, Jamil ./. FR, Rn. 32. 117 EGMR, Entscheidung v. 17.6.2008 – 44298/02, Synnelius u. Edsbergs Taxi AB ./. SE, S. 10. 112

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Kap. 4: Ausblick auf die mitgliedstaatliche Ebene 

Im Vergleich mit den sonstigen Fällen drohenden Freiheits­entzugs liegt nahe, dass dieser auch im Fall der Umwandlung in eine Ersatzfreiheitsstrafe ähnlich unmittelbar durch das Strafverfahren drohen muss, vergleichbar der direkten Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe. Dies ist jedoch nur möglich, wenn Ersatz­ freiheitsstrafe entweder direkt mit Ausspruch der Geldstrafe als subsidiäre Voll­ streckungsmaßnahme ausgesprochen wird oder wenn die Umwandlung nach Fristablauf unmittelbar erfolgt, ohne weitere Zwischenhandlungen der Verfah­ rensbeteiligten. In dieser Form trifft auch der EGMR die Unterscheidung zu einer nicht mehr konkret drohenden (Ersatz-)Freiheitsstrafe. Eine Ersatzfreiheitsstrafe droht dann nicht mehr in diesem Sinne, wenn die Umwandlung der Geldstrafe einem eigenen förmlichen Verfahren unterworfen wird, dass mit einer Anhörung des Verurteilten verbunden ist.118 Erfolgt die Umwandlung dagegen quasi auto­ matisiert noch durch Beschluss im ursprünglichen Strafurteil119 oder sofort nach Fristablauf, droht selbst bei jeder Geldstrafe zugleich Freiheitsstrafe. Maßgeblich ist somit, wie unmittelbar nach der gescheiterten Beitreibung der Geldstrafe Ersatzfreiheitsstrafe ausgesprochen und vollstreckt wird. Dies rich­ tet sich in Ergänzung zu § 43 StGB in prozessualer Hinsicht nach den §§ 459c ff. StPO. Diese legen fest, wie Geldstrafen einzutreiben und wann diese konkret in eine Ersatzfreiheitsstrafe umwandelbar sind. Nach der Verurteilung versucht die Staatsanwaltschaft als Vollstreckungsbehörde, § 451 Abs. 1 StPO, die Geldstrafe zu vollstrecken, vgl. § 459 StPO i. V. m. den Vorschriften der EBAO120 i. V. m. den Vorschriften des JBeitrG121. Dafür wird zunächst der Verurteilte zur Zahlung auf­ gefordert, § 5 Abs. 1 EBAO, nach erfolglosem Ablauf der Zahlungsfrist folgt eine Mahnung, § 5 Abs. 2 EBAO. Anschließend leitet die Staatsanwaltschaft als Voll­ streckungsbehörde die Beitreibung ein, § 8 EBAO, §§ 6 ff. JBeitrG i. V. m. ZPO. Erst wenn diese Beitreibung erneut erfolglos bleibt, kann die Geldstrafe – auf An­ ordnung der Staatsanwaltschaft, vgl. § 459e Abs. 1 StPO – in eine Ersatzfreiheits­ strafe umgewandelt werden, im Verhältnis 1:1 von Tagessätzen zu Hafttagen, vgl. § 43 S. 2 StGB.122 Bereits die Umwandlung ist jedoch kein Automatismus, weil die Staatsanwaltschaft vor der Anordnung einer Umwandlung die Voraussetzungen in § 459e Abs. 2–4 StPO zu prüfen hat.

118

EGMR, Urteil v. 23.10.1995 – 15963/90, Gradinger ./. AT, Rep. Serie A, Nr. 328C Rn. 66 f., unter Verweis auf Urteil v. 23.3.1994 – 14220/88, Ravnsborg ./. SE, Rn. 35. 119 So in EGMR, Urteil v. 2.7.2002 – 33402/96, Göktan ./. FR, Rep. 2002-V, Rn. 13 f., 51 und Urteil v. 8.6.1995 – 15917/89, Jamil ./. FR, Rn. 15. 120 Einforderungs- und Betreibungsanordnung (EBAO), so u. a. veröffentlicht in JMBl. NRW 2011, 197 ff., abrufbar unter: https://www.justiz.nrw.de/JM/jmbl/archiv_2011/20110801. pdf (geprüft am: 10.12.2019). 121 Justizbeitreibungsgesetz (JBeitrG), BGBl. I-2017, 1926. 122 Krit. MüKo-Radtke, StGB, § 43 Rn. 2 m. w. N.; Dölling, ZStW 104 (1992), 276; ebenso krit. Streng, ZStW 111 (1999), 840 ff., aber wegen der Handhabbarkeit trotzdem für eine Bei­ behaltung plädierend.

B. Die Voraussetzungen notwendiger Verteidigung

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Der Verurteilte hat eine jederzeitige Abwendungsbefugnis, vgl. § 459e Abs. 4 StPO.123 Grundsätzlich muss dafür zwar die Geldstrafe entrichtet werden, inzwi­ schen haben jedoch alle Bundesländer gem. Art. 293 Abs. 1 S. 1 EGStGB Rechts­ verordnungen erlassen, um die Abwendung der Ersatzfreiheitsstrafe durch das Ableisten gemeinnütziger Arbeit zu ermöglichen,124 wenngleich die konkrete Aus­ gestaltung dieser ersatzweisen Arbeit, insbesondere was den Umfang der zu leis­ tenden Stunden für einen abzuleistenden Tagessatz anbelangt, sehr unterschied­ lich erfolgt ist.125 Zudem kann der Verurteilte sowohl vor der Anordnung der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe als auch danach eine gerichtliche Anhörung und Entscheidung über seinen Fall herbeiführen. Vor der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe kann das Unterbleiben der Vollstreckung der Geldstrafe angeordnet werden, vgl. § 459d Abs. 1 StPO, entweder auf Antrag des Verurteilten oder von Amts wegen. Diese vom gem. §§ 462, 462a StPO zuständigen Gericht zu treffende Anordnung ist nur nach Anhörung der Staatsanwaltschaft und des Beschuldigten möglich, vgl. § 462 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 StPO. Auch nach der Umwandlung kann das Gericht noch an­ ordnen, dass die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe zu unterbleiben habe, wenn die Vollstreckung für den Verurteilten eine unbillige Härte wäre, § 459f StPO,126 ebenso nach Anhörung der Staatsanwaltschaft und des Verurteilten, § 462 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 StPO. Ebenso wird die Ersatzfreiheitsstrafe trotz Uneinbringlichkeit nicht vollstreckt, wenn entweder die Vollstreckung nach § 459d StPO unterbleibt oder der uneinbringliche Restteilbetrag keinen vollen Tagen Freiheitsstrafe ent­ spricht, vgl. § 459e Abs. 4 i. V. m. Abs. 3 StPO.

123

M. w. N. KK-Appl, StPO, § 459e Rn. 6. In Bayern geregelt in der §§ 32 ff. Bayerische Gnadenordnung (BayGnO), in Baden-Würt­ temberg in der Ersatzfreiheitsstrafen-Verordnung (ErsFreihStrVO), in Berlin in der Ersatz­ freiheitsstrafen-AbwendungsVO (EFhStrAVO), in Brandenburg in der Verordnung über die Abwendung der Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe durch freie Arbeit, in Bremen in der Uneinbringliche Geldstrafen-Tilgungsverordnung (UGeldStrTilgVO), in Hamburg in der Tilgungsverordnung (TilgVO), in Hessen in der Geldstrafentilgungsverordnung (GStrTO), in Mecklenburg-Vorpommern in der Verordnung über die Abwendung der Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe durch freie Arbeit (VollstrErsfrArVO), in der Niedersachsen die Ersatz­ freiheitsstrafen-Abwendungsverordnung (EFrStrAbVO), in NRW ebenso in der Geldstrafentil­ gungsverordnung (GStrTilgVO), in Rheinland-Pfalz in der Ersatzfreiheitsstrafen-Verordnung (EFreiStrVO RhPf), im Saarland in der Verordnung über die Abwendung der Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafen durch freie Tätigkeit, in Sachsen in der Verordnung des Sächsi­ schen Staatsministeriums der Justiz und für Europa über die Abwendung der Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe durch Arbeit, in Sachsen-Anhalt in der Ersatzfreiheitsstrafe-Ab­ wendungsverordnung (EFhStrAVO), in Schleswig-Holstein in der Ersatzfreiheitsstrafen-Ab­ wendungsverordnung (EFhStrAVO), in Thüringen in der Geldstraften-Tilgungs-Verordnung (GStrTilgVO); von einem „Boom“ sprechend: Wilde, Armut und Strafe, S. 196 ff. 125 Vgl. krit. dazu MüKo-Radtke, StGB, § 43 Rn. 4. 126 Zur Auslegung vgl. BVerfG, NJW 2006, 3626 (3627); BGHSt 27, 90 (93 f.); m. w. N. ­Meyer-Goßner / Schmitt, StPO, § 459f Rn. 2; KK-Appl, StPO, § 459f Rn. 2; BeckOK-Coen, StPO, § 459f Rn. 1. 124

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Kap. 4: Ausblick auf die mitgliedstaatliche Ebene 

Dieser Ablauf zeigt gerade: Ersatzfreiheitsstrafe ist kein Automatismus im Fall der Uneinbringlichkeit, sondern erst nach Ausschöpfen der verschiedenen prozes­ sualen Stufen innerhalb der §§ 459c ff. StPO das probate Mittel. Dem Schuldner stehen auch eigene Möglichkeiten zur Verfügung, die Vollstreckung als Ersatz­ freiheitsstrafe abzuwenden und eine gesonderte gerichtliche Entscheidung herbei­ zuführen, vgl. §§ 459d, 459f StPO. Trotzdem sind Ersatzfreiheitsstrafen in ihrer aktuellen Form reformbedürftig:127 Zehn Prozent der Gefangenen in der Bundes­ republik Deutschland verbüßen eine Ersatzfreiheitsstrafe und sind damit eigentlich wegen einer Tat inhaftiert, die lediglich nach einer Geldstrafe verlangte.128 Bis­ lang ist noch nicht empirisch belegt worden, dass die Einführung des Instruments der gemeinnützigen Arbeit diese Zahl verringern konnte.129 Geldstrafen sollen gerade verhindern, dass jemand nur für kurze Zeit in Haft muss.130 Dieses Ziel wird aber durch die zurzeit weitreichende Anordnung von Ersatzfreiheitsstrafen konterkariert.131 Dieses Problem über eine zwingende Verteidigung auch bei jeder drohenden Geldstrafe zu lösen, wäre jedoch nicht zielführend. Denn die Fehlsteuerung erfolgt nicht auf Verfahrens-, sondern auf Vollstreckungsebene. Bisher scheint es nicht zu gelingen, Schuldnern ihre Möglichkeiten der Abwendung ausreichend verständ­ lich zu machen. Aus diesem Anlass das System der Pflichtverteidigung zu über­ fordern, ist daher unnötig und würde nicht vermeiden, dass es bei ausgeurteilten Geldstrafen zur Verhängung von Ersatzfreiheitsstrafen kommt.

III. Vermutung der Beiordnungspflicht bei jugendlichen Beschuldigten Gem. Art. 9 PKH-RL i. V. m. Art. 6 Jugendstrafverfahrens-RL ist die Beiord­ nung eines Verteidigers bei Beschuldigten unter 18 Jahren grundsätzlich notwen­ dig vor Befragungen, Gegenüberstellungen und Tatortrekonstruktionen, sowie be­ vor ein Jugendlicher einem Richter zur Entscheidung über Haft vorgeführt wird. Zwingend ist die Beiordnung nur, wenn Haft bereits vollzogen wird oder der Ju­ gendliche zur Entscheidung über Haft einem Gericht vorgeführt wird. In anderen Fällen dürfen die Mitgliedstaaten von einer Beiordnung im Ermittlungsverfahren

127

Mosbacher, NJW 2018, 1071 f.; m. w. N. Wilde, Armut und Strafe, S. 115 f.; BT-Drs. 19/803, S. 5. 128 Vgl. dazu BT-Drs. 19/803, S. 1 ff. 129 Dies anhand der Daten für Mecklenburg-Vorpommern bezweifelnd: Wilde, Armut und Strafe, S. 231 ff. 130 Dölling, ZStW 104 (1992), 275; ebenso pos. Schall, NStZ 1985, 104 ff.; Streng, ZStW 111 (1999), 837 f.; zu dieser Möglichkeit bereits früh Würtenberger, ZStW 64 (1952), 29; dazu, dass dieses Ziel verfehlt wurde: Wilde, Armut und Strafe, S. 101 ff.; ebenso krit. Würtenberger, ZStW 64 (1952), 19. 131 So krit. Dölling, ZStW 104 (1992), 275; Würtenberger, ZStW 64 (1952), 18.

B. Die Voraussetzungen notwendiger Verteidigung

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absehen, wenn eine solche unverhältnismäßig wäre.132 Diesem Standard entspricht § 68 JGG bislang nur teilweise.133 1. Der derzeitige Rechtsstand und Novellierungsvorschläge Grundlage der notwendigen Verteidigung in Jugendstrafverfahren ist § 68 Nr. 1 JGG. Danach ist dem Beschuldigten ein Verteidiger zu bestellen, wenn auch einem Erwachsenen ein Verteidiger zu bestellen wäre. Über § 68 Nr. 1 JGG wird folglich auf §§ 140 f. StPO verwiesen. In § 68 Nr. 2–5 JGG werden darüber hinausgehende Situationen normiert, in denen dem jugendlichen Beschuldigten ein Verteidiger zusteht. Für die Situation der Vorführung zur Entscheidung über die Untersuchungshaft, vgl. Art. 6 Abs. 3, 6 S. 2 Jugendstrafverfahren, existiert dadurch über § 68 Nr. 1 JGG i. V. m. §§ 140 Abs. 1 Nr. 4, 141 Abs. 3 S. 4 StPO bereits eine richtlinienkonforme Regelung.134 Art. 6 Abs. 3, 6 Jugendstrafverfahrens-RL überlässt die Einschätzung, ob Beiordnung im Einzelfall noch verhältnismäßig ist, den Mitgliedstaaten. Jeden­ falls aber im Fall drohenden Freiheitsentzugs, also im deutschen Jugendstrafrecht der drohenden Jugendstrafe (§ 17 JGG) oder des Jugendarrests (§ 16 JGG),135 muss dem Jugendlichen so früh wie möglich ein Pflichtverteidiger beigeordnet werden. Dies leistet § 68 Nr. 1 JGG bislang in seiner aktuellen Auslegung nicht. Über den Verweis von § 68 Nr. 1 JGG auf § 140 StPO wird auch die restriktive Handhabung des Kriteriums der „Schwere der Tat“ übernommen, gleichwohl im­ mer wieder betont wird, dass im Jugendstrafverfahren eine extensive Auslegung von § 140 Abs. 2 StPO geboten sei.136 Daher wird entsprechend dem Erwachsenen­ strafrecht eine Pflicht zur Beiordnung erst dann angenommen, wenn mindestens ein Jahr Jugendstrafe droht.137 Auch nicht ausreichend sei die Anklage beim Ju­ gendschöffengericht, die grundsätzlich mit einer Straferwartung von mindestens sechs Monaten Jugendstrafe einhergeht.138 Darüber hinausgehende Ansichten in

132

Vgl. o. Kap. 3 A. III. 1. c). So auch BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschul­ digten im Jugendstrafverfahren, 2018, https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfah​ ren/ ​Dokumente/RefE_Verfahrensrechte_Jugendstrafverfahren.pdf;jsessionid=5AFA1BD​F E8​ E74852DA833FF801FE8251.2_cid297?__blob=publicationFile&v=1 (geprüft am: 10.12.2019), S. 1 f. 134 Vgl. dazu konkreter o. Kap. 4 B. I. 135 Eisenberg, JGG, Einl. Rn. 12i. 136 OLG Brandenburg, NStZ-RR 2002, 184 f.; m. w. N. KMR-Haizmann, StPO, § 140 Rn. 46. 137 KG, Beschluss v. 7.5.2013  – 4 Ws 47/13, 141 AR 193/13, juris, Rn. 5; Beschluss v. 26.11.2012 – (4) 161 Ss 226/12 (286/12), juris, Rn. 8 f.; früher noch strenger OLG Hamm, NJW 2004, 1338; LG Berlin, Beschluss v. 26.9.2005 – 509 Qs 48/05, juris, Rn. 4. 138 OLG Brandenburg, NStZ-RR 2002, 184 (185); a. A. Beulke / Herrlinger / Kahlert / Pieplow u. a., NJW 1989, 1026; offen OLG Hamm, Beschluss v. 24.4.2008 – 2 Ss 164/08, juris, Rn. 8. 133

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Kap. 4: Ausblick auf die mitgliedstaatliche Ebene 

der Literatur, die eine Beiordnung auch bei drohendem Dauerarrest und bei Jugend­ strafe in jedweder Höhe forderten,139 konnten sich nicht durchsetzen. Dieser kursorische Überblick zeigt bereits, dass der in § 68 JGG aufgestellte Ka­ talog zwar theoretisch über die Beiordnung in Erwachsenenfällen hinausgeht,140 jedoch trotzdem weit von der in PKH-RL, EMRK und GRCh geforderten grund­ legenden Beiordnung entfernt ist.141 Über eine extensive Auslegung von § 68 Nr. 1 JGG i. V. m. § 140 Abs. 2 S. 1 JGG könnte noch eine konforme Auslegung er­ reicht werden. Jedoch steht die eigentliche Konzeption von § 68 JGG nicht für eine regelmäßige Beiordnung, sondern regelt bislang notwendige Verteidigung im Jugendstrafverfahren als Ausnahme. Die zusätzlichen Voraussetzungen in § 68 Nr. 1–5 JGG zeigen, dass notwendige Verteidigung nicht allein aufgrund der Minderjährigkeit des Beschuldigten, sondern nur unter weiteren Bedingungen er­ folgt.142 Dies ergibt auch der systematische Vergleich zu § 40 Abs. 2 Nr. 3 IRG, in dem allein aufgrund seiner Minderjährigkeit der Verfolgte einen Beistand erhalten muss. § 68 JGG muss folglich neu gefasst werden und eine regelmäßige Beiord­ nungspflicht für jugendliche Beschuldigte aufnehmen.143 Diese Pflicht zur Bestellung eines Pflichtverteidigers entfällt dann, wenn eine Beiordnung in der konkreten Situation im Ermittlungsverfahren als unverhältnis­ mäßig erscheint.144 Dieses Ausnahmemerkmal der „Unverhältnismäßigkeit“ muss durch den Gesetzgeber konkretisiert werden, z. B. über einen Negativkatalog, in dem vorgeschrieben wird, wann nicht auf die Ausnahme der Unverhältnismäßigkeit zurückgegriffen werden darf. Dabei kann zum einen auf die bisherige Wertung des

139

Block, Fehlerquellen im Jugendstrafprozess, S. 30 f.; Eisenberg, JGG, § 68 Rn. 24 ff.; KMR-Haizmann, StPO, § 140 Rn. 47; NK-Trüg, JGG, § 68 Rn. 8; Ostendorf-Sommerfeld, JGG, § 68 Rn. 8; offen, aber grds. zust. OLG Hamm, Beschluss v. 17.9.2007 – 2 Ss 380/07, juris, Rn. 7; Beschluss v. 24.4.2008 – 2 Ss 164/08, juris, Rn. 8; Beschluss v. 26.3.2009 – 5 Ws 91/09, juris, Rn. 8; arg e OLG Bremen, Beschluss v. 26.8.2016 – 1 Ws 128/16, juris, Rn. 6 – je­ weils aber gepaart mit Zweifeln an Verteidigungsfähigkeit; abl. KG, Beschluss v. 7.5.2013 – 4 Ws 47/13, 141 AR 193/13, juris, Rn. 5 f.; inzwischen aber so gefordert in § 68 Nr. 5 JGG-E, vgl. BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Jugendstrafverfahren, 2018, a. a. O. Kap. 4, Fn. 133, S. 29, 64. 140 Ob im Jugendstrafrecht weniger oder mehr Pflichtverteidiger beigeordnet werden, ist empirisch mit unterschiedlichen Ergebnissen untersucht worden, vgl. dafür, dass weniger Pflichtverteidiger beigeordnet werden NK-Trüg, JGG, § 68 Rn. 1 m. w. N.; Ostendorf, StV 1998, 301 f.; Beulke / Herrlinger / Kahlert / Pieplow u. a., NJW 1989, 1025; diese Tendenz konnte Baumhöfener, Jugendstrafverteidiger, S. 137 f. mit Verweis auf andere Erhebungen jedoch nicht bestätigen. 141 Ebenso Reformbedarf erkennend: MüKo-Höffler / Kaspar, StPO, Einl. JGG Rn. 13a. 142 LG Berlin, Beschluss v. 26.9.2005 – 509 Qs 48/05, juris, Rn. 6. 143 In diesem Sinne zutr. BRAK, Stellungnahme Nr. 34/2018, S. 4; Brodowski, ZIS 2015, 91; ebenso Schlothauer / Neuhaus / Matt / Brodowski, HRRS 2018, 59. 144 Schlothauer / Neuhaus / Matt / Brodowski, HRRS 2018, 59, die stattdessen als Ausnahme­ kriterium die „Entbehrlichkeit“ der Pflichtverteidigung vorschlagen; a. A. Brodowski, ZIS 2015, 91, der von einer Beiordnungspflicht auch in Bagatellsachen ausgeht.

B. Die Voraussetzungen notwendiger Verteidigung

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JGG zurückgegriffen werden, also die § 68 Nr. 1–5 JGG.145 Darüber würde erfasst, dass jedenfalls bei für den Jugendlichen drohendem Freiheitsentzug sowie in den Fällen von §§ 140 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 3 S. 4 StPO eine Beiordnung regulär erfolgt. Dies ließe zum anderen Spielraum für die Ermittlungsbehörden, im Einzelfall dann von einer Pflichtverteidigerbestellung abzusehen, wenn ohnehin die informelle Erledigung des Verfahrens gem. §§ 45, 47 JGG146 angestrebt wird oder lediglich eine Erziehungsmaßregel i. S. v. § 9 JGG droht. 2. §§ 68, 68a JGG-E nach dem Umsetzungsvorschlag des BMJV Der Referentenentwurf des BMJV zur Stärkung der Verfahrensrechte von Be­ schuldigten im Jugendstrafverfahren147 schlägt eine Ergänzung von § 68 JGG sowie die Schaffung eines zusätzlichen § 68a JGG-E vor. Beide nehmen sich be­ stimmter Schutzlücken und umstrittener Rechtsfragen der bisherigen Regelung in § 68 JGG an, bleiben jedoch hinter dem durch die europäische Konzeption nun erforderlichen, grundlegenden Beiordnungsmechanismus zurück. § 68 Nr. 1–4 JGG-E sollen im Wesentlichen nur begrifflich an die neue Wort­ lautfassung von § 140 StPO-E angepasst werden.148 § 68 Nr. 5 JGG soll dagegen ge­ strichen werden, weil für den Fall der Vorführung zur Entscheidung über eine Haft über § 68 Nr. 1 JGG-E mit dem Verweis auf das gegen erwachsene Beschuldigte anwendbare Verfahrensrecht bereits ein ausreichender Schutz im Fall von Frei­ heitsentzug im Ermittlungsverfahren bestehe.149 Im Entwurf soll diese Vorschrift durch § 68 Nr. 5 JGG-E ersetzt werden, nach dem ein Fall notwendiger Verteidi­ gung dann vorliegt, wenn die Verhängung einer Jugendstrafe oder die Aussetzung der Verhängung einer Jugendstrafe zu erwarten ist. In dieser Form würde die bis­ lang bestehende Schutzlücke für jugendliche Beschuldigte im Fall drohender Jugendstrafe geschlossen.150 Damit zieht der Referentenentwurf jedoch den Begriff der Freiheitsentziehung zu eng. Denn nicht eingeschlossen ist somit, wenn als Strafe gem. § 16 Abs. 4 JGG Dauerarrest droht, obgleich dieser anerkannterma­ ßen ein erzieherisch intendierter Freiheitsentzug ist.151 Nach dem EMRK sind aber 145

Schlothauer / Neuhaus / Matt / Brodowski, HRRS 2018, 68. Beulke / Herrlinger / Kahlert / Pieplow u. a., NJW 1989, 1025; zust. Brunner / Dölling, JGG, § 68 Rn. 17. 147 BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Jugendstrafverfahren, 2018, a. a. O. Kap. 4, Fn. 133. 148 Ebd., S. 63. 149 Ebd., S. 26, 28 f., 64, wenngleich unter Übernahme der fehlerhaften Auffassung des an­ deren Referentenentwurfs, dass es insoweit einer Änderung des § 140 StPO bedürfe, vgl. dazu bereits o. Kap. 4 B. I. 150 BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Jugendstrafverfahren, 2018, a. a. O. Kap. 4, Fn. 133, S. 29. 151 Vgl. BGHSt 18, 207 (209); krit. zu dieser Unterscheidung zwischen Jugendarrest und Jugendstrafe u. m. w. N., Eisenberg, JGG, § 13 Rn. 8, § 16 Rn. 5. 146

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Kap. 4: Ausblick auf die mitgliedstaatliche Ebene 

auch derartige nur wenige Wochen andauernde Arrestformen „Freiheitsstrafen“ und erfordern daher eine Beiordnung.152 In § 68a Abs. 1 S. 1 JGG-E wird zudem eine Sonderregelung zur Bestellung des Verteidigers in Abweichung von § 141 StPO-E getroffen, wenn der Jugendliche bislang unverteidigt ist und in anderer Sache in Haft sitzt. Damit soll Art. 6 Abs. 6 UA 2 lit. b Jugendstrafverfahrens-RL umgesetzt werden, nach dem inhaftierte be­ schuldigte Jugendliche durch einen Rechtsanwalt unterstützt werden sollen, un­ abhängig davon, ob der Jugendliche sich in dieser oder in anderer Sache in Haft befindet. Da für § 68 Nr. 5 JGG in derzeitiger Lesung umstritten ist, ob § 68 Nr. 5 JGG auch für solche Fälle der (Straf-)Haft in anderer Sache gilt,153 ist dies eine sinnvolle Klarstellung. § 68a Abs. 1 S. 1 JGG-E soll lediglich nicht gelten, wenn der Jugendliche noch nicht in Kenntnis gesetzt wurde, dass er Beschuldigter ist bzw. wenn das Verfahren in der Sache alsbald eingestellt wird und bis dahin lediglich Registerauskünfte eingeholt werden sollen, vgl. § 68a Abs. 1 S. 2 JGG. Auch im Übrigen bleibt die Umsetzung hinter der erforderlichen grundlegenden Beiordnung für den jugendlichen Beschuldigten zurück. Allein die Erweiterung der Beiordnungsvoraussetzungen für erwachsene Beschuldigte bewirkt keinen für Jugendliche ausreichenden Schutz über notwendige Verteidigung. Die in §§ 68, 68a JGG-E vorgeschlagenen Einzelregelungen bewirken einen besseren Schutz als zuvor, aber keinen, der das in diesem Vorhaben vorgeschlagene Schutzniveau erreicht. Den Mitgliedstaaten wurde durch die Jugendstrafverfahrens-RL gerade freigestellt, von dem grundlegenden Erfordernis eines Rechtsbeistands abzuwei­ chen, wenn dies in Anbetracht der Ermittlungs- oder Verfahrenssituation nicht mehr verhältnismäßig wäre.154 Darüber würde ermöglicht, nicht nur ein umfas­ sendes Schutzniveau zu etablieren, sondern zugleich auch in Bagatellverfahren oder bei zu erwartenden Einstellungen eine zu weitgehende Formalisierung des Jugendstrafverfahrens zu vermeiden.155

152

Vgl. o. Kap. 2, Fn. 23 f. BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Jugendstrafverfahren, 2018, a. a. O. Kap. 4, Fn. 133, S. 28; m. w. N. für eine Beiordnung bei Untersuchungshaft in anderer Sache plädierend OLG Frankfurt a. M., NStZ-RR 2011, 19; LG Berlin, NStZ 2007, 47 f.; BeckOK-Noak, JGG, § 68 Rn. 36; Eisenberg, JGG, § 68 Rn. 31. 154 Vgl. bereits o. Kap. 3 A. III. 1. c). 155 Vgl. zu diesem Vorschlag auch Schlothauer / Neuhaus / Matt / Brodowski, HRRS 2018, 59; krit. zu einer derart pauschalen Beistandspflicht DJVV, Resolution: Verfahrensgarantien in Strafverfahren für verdächtige oder beschuldigte Kinder, 2015, S. 2 f.; zum Vorschlag in Art. 6 Abs. 3 PKH-RL grundsätzlich positiv wegen der möglichen Einschränkungen MüKo-Höffler / Kaspar, StPO, Einl. JGG Rn. 13a. 153

C. Die eng gefasste Akteursstellung des Beschuldigten

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IV. Zwischenergebnis: Erforderlichkeit von Anpassungen in § 140 Abs. 1 StPO und § 68 JGG Bereits im Hinblick auf die Voraussetzungen notwendiger Verteidigung muss der Gesetzgeber in § 140 Abs. 1 StPO nachbessern. Zwar existiert inzwischen über § 141 Abs. 3 S. 4 StPO für den inhaftierten Beschuldigten eine Regelung notwendi­ ger Verteidigung im Fall der Vorführung zur (erstmaligen) Haftprüfung. Insofern wäre jedoch für den Rechtsanwender eine Aufnahme in den zwingenden Katalog von § 140 Abs. 1 StPO für solche Konstellationen eine hilfreiche Klarstellung. Bei drohendem Freiheitsentzug ist zwar ebenfalls über § 140 Abs. 2 S. 1 StPO eine mit den europäischen Anforderungen konforme Auslegung möglich. In Anbetracht der dort jahrzehntelang gewachsenen Rechtsprechung zur Schwere der Tat wäre aber auch insoweit eine Regelung in § 140 Abs. 1 StPO treffender, die eine Beiordnung bei drohendem Freiheitsentzug zwingend regelt. § 418 Abs. 4 StPO dagegen muss an die neuen Vorgaben gesetzgeberisch angepasst werden. Ebenfalls eine Neuregelung ist für § 68 JGG erforderlich. Dessen Novelle muss das nunmehr erforderliche Regel-Ausnahme-Verhältnis widerspiegeln: In der Re­ gel bedarf der jugendliche Beschuldigte eines Verteidigers, nur ausnahmsweise ist dies entbehrlich. Die Definition der Entbehrlichkeit wird insoweit die schwierigste Aufgabe des Gesetzgebers. Ihm stünde über die PKH-RL und EMRK und GRCh hinausgehend jedoch zu, ähnlich wie in § 40 Abs. 2 Nr. 3 IRG, die Notwendigkeit allein an die Minderjährigkeit des Beschuldigten zu knüpfen.156 Sowohl für das Erwachsenenstrafverfahren wie für das Jugendstrafverfahren werden diese Anfor­ derungen vom bisherigen Entwurf des BMJV leider nicht ausreichend umgesetzt.

C. Die eng gefasste Akteursstellung des Beschuldigten In der StPO steht der Beschuldigte als Prozesssubjekt im Mittelpunkt. Inwie­ fern dieser jedoch tatsächlich das Verfahren aktiv mitbestimmen kann, ist maß­ geblich vom Zeitpunkt des Verfahrens abhängig. Der Beschuldigte hat andere – und weniger  – Partizipationsrechte als der Angeschuldigte und noch weniger als der Angeklagte. Die Idee eines partizipatorischen oder kontradiktorischen Ermittlungsverfahrens, das den Beschuldigten bereits im Zeitpunkt des Ermitt­ lungsverfahrens mit einem Mehr an Verteidigungsmöglichkeiten ausrüstet, wird zwar bereits seit Langem im strafrechtswissenschaftlichen Diskurs erörtert,157 es 156 Eine „unnötige Formalisierung des Jugendstrafverfahrens“ befürchtend: Brunner / Dölling, JGG, Einf. Rn. 130 a. E.; abl. zu einer „ausnahmslosen Pflichtverteidigung“ Osten­ dorf-Sommerfeld, JGG, Grdl. z. §§ 67–69 Rn. 10b. 157 Zum Begriff vgl. je m. w. N. Ambos, ZStW 115 (2003), 617 ff.; Jahn, ZStW 127 (2015), 579; m. w. N. ders., ZStW 115 (2003), 821 ff.; Salditt, StV 2001, 311 ff.; ebenso Schünemann, ZStW 114 (2002), 39; Wohlers, GA 2005, 11 ff.; zu den möglichen Auswirkungen auf das Un­ mittelbarkeitsprinzip Bürger, ZStW 128 (2016), 543 ff.; ohne diese Begrifflichkeit schon früh

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Kap. 4: Ausblick auf die mitgliedstaatliche Ebene 

spiegelt sich jedoch nach wie vor nicht in der rechtlichen Ausgestaltung der Posi­ tion des Beschuldigten im Strafverfahren wider.

I. Strafrechtliche Prozesskostenhilfe im Ermittlungsverfahren als Ausnahmefall EMRK und GRCh sowie die PKH-RL sehen einen möglichst frühen Zeitpunkt vor, an dem der Beschuldigte Zugang zu einem Verteidiger über strafrechtliche Prozesskostenhilfe erhalten muss. Gem. Art. 4 Abs. 5 PKH-RL ist Prozesskosten­ hilfe unverzüglich und spätestens vor der Befragung durch die Polizei oder einer anderen Strafverfolgungs- oder Justizbehörde oder bei Durchführung bestimmter Beweiserhebungshandlungen zu gewähren. Soweit für geringfügige Zuwiderhand­ lungen eine Ausnahme von diesem Grundsatz der Beiordnung im Ermittlungsver­ fahren möglich ist, vgl. Art. 2 Abs. 4 PKH-RL, normieren §§ 60, 71 OWiG dafür ausreichende Regelungen. Danach kann sogar bereits vor dem gerichtlichen Ver­ fahren, im Verfahren vor der Verwaltungsbehörde, ein notwendiger Verteidiger gem. § 60 S. 1 OWiG i. V. m. § 140 Abs. 2 S. 1 StPO bestellt werden. Für das Straf­ verfahren jedoch werden die aktuellen Vorschriften der StPO dem Standard der europäischen Konzeption der Pflichtverteidigung nicht gerecht. 1. Beiordnungszeitpunkt Theoretisch sehen zwar auch die §§ 140 f. StPO die Möglichkeit vor, dass bereits zu einem frühen Zeitpunkt im Ermittlungsverfahren dem Beschuldigten notwen­ dige Verteidigung zusteht. Denn die Beiordnung ist ausdrücklich in § 140 StPO für den „Beschuldigten“158 vorgesehen, vgl. § 140 Abs. 1 Nr. 2, 4–6, Abs. 2, Abs. 3 S. 1 StPO. Der intendierte Zeitpunkt für die Bestellung eines notwendigen Verteidigers setzt jedoch nicht beim Beschuldigten im Ermittlungsverfahren, sondern später an. Gemäß § 141 Abs. 1 StPO soll ein notwendiger Verteidiger erst dann bestellt werden, wenn der Angeschuldigte, also derjenige gegen den die öffentliche Klage bereits erhoben wurde, § 157 StPO, gemäß § 201 StPO zur Erklärung über die An­ klageschrift aufgefordert worden ist. Die Beiordnung im Ermittlungsverfahren ist gegenüber der Regelbeiordnung ab dem Zwischenverfahren als Ausnahmekonstellation normiert worden. Die Be­ stellung im Ermittlungsverfahren ist nur zwingend, wenn Untersuchungshaft oder dafür Peters, Fehlerquellen im Strafprozess, S. 195 („Mängel des Ermittlungsverfahrens in aller Regel in der Hauptverhandlung nicht mehr zu beseitigen“). 158 Grundlegend zum Beschuldigtenbegriff BGH, NJW 1957, 230 (231); m. w. N. KK-Diemer, StPO, § 136 Rn. 4; zum sog. Inkulpationsverdacht, der erst die Beschuldigtenstellung begrün­ det Rogall, in: Freund / Murmann u. a. (Hrsg.), FS Frisch, S. 1199; m. w. N. Fincke, ZStW 95 (1983), 918 ff.

C. Die eng gefasste Akteursstellung des Beschuldigten

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einstweilige Unterbringung vollzogen wird, § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO, oder bei rich­ terlichen Vernehmungen unter den Voraussetzungen des § 141 Abs. 3 S. 4 StPO. In anderen Fällen kann im Ermittlungsverfahren lediglich ein Pflichtverteidiger be­ stellt werden, § 141 Abs. 3 S. 1 StPO, wenn die Staatsanwaltschaft dies beantragt, § 141 Abs. 3 S. 2 StPO. Erst nach Abschluss der Ermittlungen gem. § 169a StPO ist auf Antrag der Staatsanwaltschaft noch im Ermittlungsverfahren ein Pflicht­ verteidiger zu bestellen.159 Dass im Regelfall der Beschuldigte keinen Pflichtverteidiger im Ermittlungsver­ fahren erhält, wird auch nicht über andere Regelungen aufgefangen. Zwar existiert mit der Beratungshilfe ein Mechanismus für bedürftige Rechtssuchende. Gem. § 2 Abs. 2 S. 2 BerHG wird in Angelegenheiten des Strafrechts und Ordnungswid­ rigkeitenrechts jedoch lediglich Beratung gewährt, aber keine Vertretung. Dadurch bleibt der Beschuldigte gerade in Vernehmungssituationen unverteidigt. Die Re­ gelungen des Beratungshilfegesetzes können die Schutzlücke im Ermittlungsver­ fahren für mittellose Beschuldigte somit nicht schließen.160 Das bisherige Regel-Ausnahme-Verhältnis in § 141 Abs. 1, 3 StPO bezüglich des Zeitpunkts der Beiordnung spiegelt nicht den nunmehr erforderlichen Standard wider.161 Der Wortlaut und die Systematik in § 141 Abs. 1, 3 StPO sind zudem so deutlich bezüglich der nur ausnahmsweisen Beiordnung im Ermittlungsverfah­ ren, dass eine Neuregelung unumgänglich ist. Erst dadurch kann bewirkt werden, dass – entsprechend der prägenden Bedeutung des Ermittlungsverfahrens für den weiteren Verlauf des Strafverfahrens –162 der Beschuldigte bereits im Ermittlungs­ verfahren grundsätzlich Zugang zu einem Pflichtverteidiger erhält. Das wirkt sich auch auf die maßgebliche Perspektive für die Beurteilung der Voraussetzungen in § 140 Abs. 1 StPO aus: Waren dessen Voraussetzungen bislang hauptsächlich mit Blick auf die spätere Hauptverhandlung zu bestimmen, wird über die Neuregelung des Zeitpunkts erforderlich, dass die Voraussetzungen aus der Perspektive des ak­ tuellen Stands im Ermittlungsverfahren bestimmt werden.163 Wird jemandem im Ermittlungsverfahren ein Verbrechen vorgeworfen, muss folglich mit Blick auf § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO ein Verteidiger beigeordnet werden.

159

Abl. Sowada, NStZ 2005, 4. So Kortz, Die Notwendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 190 f. 161 BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldig­ ten im Jugendstrafverfahren, 2018, a. a. O. Kap. 4, Fn. 133, S. 25; krit. dazu Bahns / Burkert / Guthke / Kitlikoglu u. a., Neuordnung der Pflichtverteidigerbestellung, S. 8. 162 Herrmann, StV 1996, 397; vgl. auch Löffelmann, StV 2018, 538 („Diese zentrale Funk­ tion spiegelt sich nicht ansatzweise in der Dogmatik des Gesetzes“); Peters, Fehlerquellen im Strafprozess, S. 195; vgl. i. Ü. o. Kap. 1, Fn. 19. 163 So nun auch in BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwen­ digen Verteidigung, 2018, a. a. O. Kap. 3, Fn. 49, S. 28 f. mit dem Vorschlag einer Ausformulie­ rung von § 140 Abs. 1 StPO-E, der prognostische Elemente auf Voraussetzungsebene enthält. 160

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Kap. 4: Ausblick auf die mitgliedstaatliche Ebene 

2. Fehlendes Antragsrecht des Beschuldigten Ein Antragsrecht des Beschuldigten ist im Rahmen der europäischen Konzep­ tion strafrechtlicher Prozesskostenhilfe ein wesentliches Partizipationsinstrument, vgl. Art. 6 Abs. 2, Erwägungsgrund (18) PKH-RL.164 Dem Beschuldigten muss darüber die Möglichkeit eingeräumt werden, notwendige Verteidigung selbst in­ itiieren zu können.165 Zudem müssen die staatlichen Behörden von Amts wegen dem Beschuldigten einen Pflichtverteidiger beiordnen, wenn die Ineffektivität der Verteidigung offenkundig ist. Beides lassen die Regelungen der notwendigen Ver­ teidigung bislang nicht zu.166 Gem. § 141 Abs. 3 S. 1, 2 StPO kann im Vorverfahren auf Antrag der Staats­ anwaltschaft ein notwendiger Verteidiger bestellt werden. Diese Regelung ist bereits lange Gegenstand von Kritik und wurde zurecht als „rechtsstaatliche Baustelle“ beurteilt.167 Herrschend wird § 141 Abs. 3 S. 1, 2 StPO bislang dahinge­ hend ausgelegt, dass der Beschuldigte zwar eine Anregung auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers stellen kann, er jedoch im Gegensatz zur Staatsanwaltschaft kein eigenes Antragsrecht hat.168 Selbst wenn die Staatsanwaltschaft einen Antrag stellt, ist eine Beiordnung nicht zwingend. Der Beschuldigte hat lediglich einen „Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung“.169 In der Literatur wurden zahlreiche Wege besprochen, diese als unbefriedigend empfundene Lage aufzulösen. Insofern wurde diskutiert, den Beurteilungsspiel­ raum der Staatsanwaltschaft170 in § 141 Abs. 3 S. 2 StPO auf Null zu reduzieren.171 Dem ist der BGH jedoch nur in Ausnahmefällen beigetreten, namentlich wenn die 164

Vgl. dazu Bahns / Burkert / Guthke / Kitlikoglu u. a., Neuordnung der Pflichtverteidigerbe­ stellung, S. 26; so auch Schlothauer / Neuhaus / Matt / Brodowski, HRRS 2018, 62; vgl. o. Kap. 2 A. II. 3. c) sowie Kap. 3 A. IV. 3. a). 165 Müller-Jacobsen, NJW 2015, 3385. 166 Die Regelung in § 408b S. 1 StPO stellt insoweit eine Ausnahme dar. 167 Esser, in: ders. / Günther u. a. (Hrsg.), FS H.-H. Kühne, S. 548. 168 Vgl. dazu BGH, NStZ 2016, 114; ebenso schon OLG Karlsruhe, NStZ 1998, 315 (316); krit. Sowada, NStZ 2005, 2; insoweit ist der Reformbedarf inzwischen auch erkannt worden, vgl. BMJV, Bericht der Expertenkommission zur effektiveren und praxistauglicheren Ausge­ staltung des allgemeinen Strafverfahrens und des jugendgerichtlichen Verfahrens, 2015, a. a. O. Kap. 1, Fn. 23, S. 16; zust. Gräfin von Galen, ZRP 2016, 43; ebenso für ein Antragsrecht Kortz, Die Notwendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 131 f. 169 Esser, in: ders. / Günther u. a. (Hrsg.), FS H.-H. Kühne, S. 543; a. A. Sowada, NStZ 2005, 4. 170 Vgl. zu dieser Einschätzung als Beurteilungsspielraum BGHSt 47, 172 (176), 233 (236); abl. zu dieser Einschätzung Roxin, JZ 57 (2002), 899. 171 Dafür Roxin, JZ 57 (2002), 899; dazu, dass – soweit die Vss. von § 140 StPO vorliegen – ein Verteidiger möglichst früh bestellt wird, vgl. Kortz, Die Notwendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 121, 126; so wenn eine Prognoseentscheidung im Ermittlungsverfahren eine Beiordnung in der Hauptverhandlung wahrscheinlich erscheinen lässt, vgl. Wohlers, in: Rogall / P uppe u. a. (Hrsg.), FS Rudolphi, S. 732; krit. dazu, weil maßgeblich für eine Beiord­ nung das Vorliegen der § 140 f. StPO im aktuellen Verfahrensstadium sei, Esser, in: ders. / Gün­ ther u. a. (Hrsg.), FS H.-H. Kühne, S. 545; abl. jedoch BGHSt 47, 233 (236 f.).

C. Die eng gefasste Akteursstellung des Beschuldigten

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Wahrnehmung des Konfrontationsrechts des Beschuldigten gem. Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK auf dem Spiel stand.172 Andere versuchten zu argumentieren, dass trotz des eindeutigen Wortlauts ein Eingreifen des zuständigen Richters von Amts wegen zulässig sein müsse,173 um die Verteidigung des Beschuldigten sicherzustellen. Jedoch erscheint § 141 Abs. 3 StPO nicht mehr mit den europäischen Anforde­ rungen kompatibel auslegbar. Der Wortlaut von § 141 Abs. 3 S. 2 StPO sieht ein reines Antragsmonopol der Staatsanwaltschaft vor,174 ohne Initiativrecht des Be­ schuldigten oder des zuständigen Richters. Aus einer systematischen Betrachtung ergibt sich, dass der Gesetzgeber Antragsrechte des Beschuldigten normiert, wenn er diesem ein Antragsrecht einräumen will.175 Über das Zusammenwirken von Systematik und Wortlaut scheint ein redaktionelles Versehen ausgeschlossen.176 Dies beurteilt der Referentenentwurf des BMJV ebenso.177 Dass es wünschenswert wäre, frühzeitig eine Beiordnung zu bewirken, kann nicht entkräften, dass die ak­ tuelle Regelung von § 141 Abs. 3 StPO einer solchen in ihrer bisherigen Fassung entgegensteht.178 Nicht nur, dass die Beiordnung im Regelfall ohnehin erst im Zwischenverfahren zu erfolgen hat. Sie wird über das Antragsmonopol der Staatsanwaltschaft noch zusätzlich erschwert und so die hinlänglich bekannte Bedeutung einer zeitigen Beiordnung im Ermittlungsverfahren ignoriert.179 Das fehlende Antragsrecht des Beschuldigten sowie die für den zuständigen Richter fehlende Möglichkeit, einen Verteidiger von Amts wegen beizuordnen,180 lassen eine europarechtskonforme 172

Vgl. m. w. N. BGH, NJW 2000, 3505 (3506, 3508); als „voll beifallswürdig“ zust. Kunert, NStZ 2001, 217; Ermessensreduzierung auf Null, insb., wenn der Beschuldigte nicht anwe­ send sein darf, vgl. BVerfG, Beschluss v. 2.5.2007 – 2 BvR 411/07, juris, Rn. 6; BGHSt 47, 233 (236). 173 So LG Limburg, NStZ-RR 2013, 87 (88); in diesem Sinne unter Verweis auf die EMRK LR-Lüderssen / Jahn, StPO, § 141 Rn. 24 a. E.; abl. BGH, NStZ 2016, 114. 174 A. A. Kortz, Die Notwendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 132; ebenso a. A. Müller-Jacobsen, NJW 2015, 3385 unter Verweis auf § 136a Abs. 1 S. 3 StPO und die dortige Wortwahl („beanspruchen“). 175 Vgl. u. a. §§ 117 Abs. 1 (i. V. m. § 126a Abs. 2 S. 1), 233 Abs. 1, 265 Abs. 3, 350 Abs. 3 S. 1, 364a, 364b Abs. 1 S. 1, 416 Abs. 2 S. 2 StPO. 176 Anders Kortz, Die Notwendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 132 f. 177 BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Vertei­ digung, 2018, a. a. O. Kap. 3, Fn. 49, S. 2 f., 20 f., 23 und § 141 Abs. 1 StPO-E; vgl. bereits zu diesem Vorschlag in einem früheren Entwurf: BMJV, Bericht der Expertenkommission zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des allgemeinen Strafverfahrens und des jugendgerichtlichen Verfahrens, 2015, a. a. O. Kap. 1, Fn. 23, S. 16, 31; dazu zust. Kudlich, JR 2016, 519 („uneingeschränkt zu begrüßen“); ebenso RAK Berlin, Stellungnahme zum Referen­ tenentwurf des BMJV eines Gesetzes zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens, 2016, S. 10; ebenso Gräfin von Galen, ZRP 2016, 43. 178 So auch Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 190; a. A. LG Limburg, NStZ-RR 2013, 87 (88). 179 So krit. Esser, in: ders. / Günther u. a. (Hrsg.), FS H.-H. Kühne, S. 546; ebenso krit. Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 105.2. 180 Zur Konventionswidrigkeit daher im Hinblick auf die EMRK, Esser, in: ders. / Günther u. a. (Hrsg.), FS H.-H. Kühne, S. 559 f.

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Kap. 4: Ausblick auf die mitgliedstaatliche Ebene 

Auslegung nicht mehr zu. Der Gesetzgeber muss somit zum einen den Regelzeit­ punkt der Beiordnung in § 141 Abs. 1 StPO auf das Ermittlungsverfahren verlegen, zum anderen muss er darüber hinaus die Partizipation des Beschuldigten über ein Antragsrecht sicherstellen.181 Ein solches Antragsrecht sieht jedenfalls der Referentenentwurf des BMJV nun­ mehr in § 141 Abs. 1 StPO-E vor.182 Diesen Antrag kann der Beschuldigte bei der Polizei oder Staatsanwaltschaft stellen, vgl. § 141 Abs. 4 S. 1 StPO-E. Über den Antrag kann in Fällen der Eilbedürftigkeit die Staatsanwaltschaft entscheiden, grundsätzlich liegt die Entscheidungsbefugnis beim gem. § 142 Abs. 1 StPO-E zu­ ständigen Gericht. Auch in Fällen der Eilbedürftigkeit muss die Entscheidung der Staatsanwaltschaft jedoch spätestens innerhalb einer Woche gerichtlich bestätigt werden, vgl. § 142 Abs. 2 S. 2 StPO-E. Der Beschuldigte kann in diesen Fällen je­ derzeit die gerichtliche Entscheidung beantragen, vgl. § 142 Abs. 2 S. 3 StPO-E. Dieser vorerst vorgeschlagene Weg der Umsetzung steht im Einklang mit den er­ arbeiteten Vorgaben. Durch diesen Vorschlag kommt der Referentenentwurf diesen Bedürfnissen nach einem Antragsrecht – wie einem vorverlagerten Zeitpunkt der Pflichtverteidigerbestellung – im erforderlichen Umfang nach. 3. Erforderliche Aufnahme zusätzlicher auslösender zeitlicher Momente Die PKH-RL verlangt Beistand nicht nur zeitlich spätestens vor der ersten Be­ fragung, sondern auch vor Identifizierungsgegenüberstellungen, Tatortrekonst­ ruktionen und Vernehmungsgegenüberstellungen. Liegen die Voraussetzungen notwendiger Verteidigung vor, muss im Ermittlungsverfahren, spätestens vor einer dieser Ermittlungshandlungen oder Zwangsmaßnahmen, notwendige Verteidigung gewährt werden.183 Wie bereits die Besprechung von § 141 Abs. 1, 3 StPO gezeigt hat, ist eine Beiord­ nung im Ermittlungsverfahren ohnehin die Ausnahme. Dementsprechend lücken­ haft ist daher der Zugang zu notwendiger Verteidigung im deutschen Recht bislang. Bis auf die richterliche Vernehmung sieht § 141 StPO keine weiteren zwingenden zeitlichen Auslöser für Pflichtverteidigung im Ermittlungsverfahren vor.184 Nur 181

Schlothauer / Neuhaus / Matt / Brodowski, HRRS 2018, 64 mit einem eigenen Umsetzungs­ vorschlag; m. w. N. zum Problem der Fremdkontrolle durch die Justiz: Barton, Mindeststan­ dards der Strafverteidigung, S. 117 ff. 182 BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidi­ gung, 2018, a. a. O. Kap. 3, Fn. 49, S. 7. 183 Auch für eine erweiterte Belehrung in Bezug auf die Zeitpunkt der Beiordnung plädierend: Bahns / Burkert / Guthke / Kitlikoglu u. a., Neuordnung der Pflichtverteidigerbestellung, S. 21. 184 Daher inzwischen eine Ergänzung von § 58 Abs. 2 StPO anregend BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung, 2018, a. a. O. Kap. 3, Fn. 49, S. 5.

C. Die eng gefasste Akteursstellung des Beschuldigten

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die Anwesenheitsrechte des Beschuldigten und seines Verteidigers sind bereits grundsätzlich ausreichend in der StPO vorgesehen. a) Vernehmungen Gem. Art. 4 Abs. 5 PKH-RL ist spätestens vor der Vernehmung durch Polizei, Strafverfolgungs- oder andere Justizbehörden im Ermittlungsverfahren Zugang zu notwendiger Verteidigung zu gewähren. § 141 Abs. 3 S. 4 StPO ermöglicht diesen Zugang nur für richterliche Vernehmungen.185 Für polizeiliche und staatsanwalt­ schaftliche Vernehmungen gibt es keine § 141 Abs. 3 S. 4 StPO entsprechende Re­ gelung. Zwar muss bei diesen Vernehmungen der Beschuldigte gem. § 163a Abs. 3 S. 2, Abs. 4 S. 2 i. V. m. § 136 Abs. 1 S. 5 StPO darüber belehrt werden, dass er not­ wendige Verteidigung beanspruchen kann. Dieser Anspruch gilt jedoch nur unter Vorbehalt der zeitlichen Geltung gem. § 141 Abs. 1, 3 StPO und damit grundsätz­ lich nicht im Ermittlungsverfahren, sondern nur auf Antrag der Staatsanwaltschaft. In § 141 Abs. 3 S. 4 StPO wird dies noch zusätzlich unterstrichen, in dem nur bei richterlichen Vernehmungen davon eine Ausnahme zu machen ist. Grundsätzlich konform mit den Vorgaben der europäischen Konzeption straf­ rechtlicher Prozesskostenhilfe sind dagegen die Anwesenheits- und Mitwirkungs­ rechte des Pflichtverteidigers. Die über § 141 Abs. 3 S. 4 StPO notwendige Verteidigung bei richterlichen (Beschuldigten-)Vernehmungen wird über ein An­ wesenheits- und Mitwirkungsrecht der Verteidigung in § 168c Abs. 1 StPO flan­ kiert. § 168c Abs. 2 StPO sieht darüber hinaus das Anwesenheitsrecht und Fra­ gerecht des Verteidigers bei Vernehmungen von Zeugen oder Sachverständigen vor  – und geht diesbezüglich über die Vorgaben der PKH-RL hinaus. § 168c Abs. 1 S. 2 StPO stellt klar, dass der Verteidiger aktiv über Fragen und Erklärun­ gen an den Vernehmungen mitwirken können soll, um frühzeitig auch auf ent­ lastende Beweisermittlungen hinwirken und sogleich bei Zeugenvernehmungen korrigierend eingreifen zu können.186 Bei richterlichen Vernehmungen werden auch weitere Untersuchungshandlungen für möglich erachtet, so z. B. Gegenüber­ stellungen.187 Handelt es sich bei einer solchen Untersuchungshandlung um eine der in Art. 4 Abs. 5 PKH-RL genannten, muss erst Recht Beistand und Zugang zu notwendiger Verteidigung gewährleistet sein. Die Anwesenheits- und Mitwirkungsrechte des Verteidigers sind ebenso für Beschuldigtenvernehmungen bei der Staatsanwaltschaft gem. § 163a Abs. 3 S. 2 StPO i. V. m. § 168c Abs. 1 StPO, und nach der letzten Novelle der StPO seit Sep­ 185

Vgl. insoweit o. Kap. 4 B. I. MüKo-Kölbel, StPO, § 168c Rn. 1 („zentrales Korrektiv von fehlerhaften (Zeugen-)Aus­ sagen und / oder Einseitigkeiten der amtlichen Nachforschungen“). 187 KG, NJW 1979, 1668 (1669); MüKo-Kölbel, StPO, § 168c Rn. 6; LR-Erb, StPO, § 168c Rn. 5. 186

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Kap. 4: Ausblick auf die mitgliedstaatliche Ebene 

tember 2017 nunmehr auch im Rahmen polizeilicher Vernehmungen vorgesehen, vgl. § 163a Abs. 4 S. 3 i. V. m. § 168c Abs. 1, 5 StPO.188 Kein ausdrückliches Anwe­ senheitsrecht dagegen ist bei staatsanwaltschaftlichen oder polizeilichen Verneh­ mungen von Zeugen oder Sachverständigen vorgesehen, weil § 163a Abs. 3 S. 2 und Abs. 4 S. 3 StPO nicht auf § 168c Abs. 2 StPO verweisen. Auch wenn diese Ungleichbehandlung polizeilicher und staatsanwaltschaftlicher Vernehmungen in formell-rechtlicher Hinsicht wegen der leichteren Verwertbarkeit der richter­ lichen Vernehmung in der Hauptverhandlung begründbar ist, erscheint sie im Hinblick auf die tatsächlich verfahrensprägende Bedeutung auch staatsanwalt­ schaftlicher und polizeilicher Vernehmungen von Zeugen und Sachverständigen unverständlich.189 Ebenso nicht geregelt ist das Anwesenheitsrecht des Beschuldigten und seines Verteidigers bei der Vernehmung von Mitbeschuldigten. Die insoweit zentrale Norm des § 168c StPO enthält keine Regelung. Eine solche ist nach den Maßgaben der PKH-RL auch nicht erforderlich, weil diese nur als Mindestgarantie strafrecht­ liche Prozesskostenhilfe vor einer Vernehmung des Beschuldigten selbst verlangt. Jedoch gebietet die konventionskonforme Auslegung, § 168c Abs. 2 StPO analog anzuwenden und das Anwesenheitsrecht des Verteidigers des Beschuldigten auch die richterliche Vernehmung von Mitbeschuldigten zu erstrecken.190 Dies folgt weniger aus dem Recht des Angeklagten auf Zugang zu einem staatlich getrage­ nen Rechtsbeistand in Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK, als aus seinem aus Art. 6 Abs. 3 lit.  d EMRK folgenden Konfrontationsrecht in Bezug auf Belastungszeugen.191 Denn ein solcher „Zeuge“ ist nach dem autonomen Begriffsverständnis des EGMR

188

Vgl. zu dieser Änderung BT-Drs. 18/9534, S. 14; dies begrüßend Heim, NJW-Spezial 2016, 440; ebenso zust. BRAK, Stellungnahme Nr. 40/2016 zum Regierungsentwurf eines Zweiten Gesetzes zur Stärkung der Verfahrensrechte des Beschuldigten im Strafverfahren und zur Änderung des Schöffenrechts  – BT-Drs. 18/9534, S. 4; zum Reformbedarf in An­ betracht der Anforderungen der Verteidigungsbeistands-RL vgl. Esser, KriPoZ 2017, 169 ff.; zuvor zum Streitstand m. w. N. Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 517; LR-Erb, StPO, § 163a Rn. 98; Plekksepp, Die gleichmäßige Gewährleistung des Rechts auf Verteidigerbeistand, S. 372 m. w. N.; ebenso krit. zum davor fehlenden Anwesenheitsrecht Roxin / Schünemann, Straf­ verfahrensrecht, § 19 Rn. 64 f.; grundlegende Herleitung des Anwesenheitsrechts in Werner, Zur Notwendigkeit der Verteidigeranwesenheit während der polizeilichen Beschuldigtenver­ nehmung, passim. 189 Ebenso für eine Korrektur: Stoffers, NJW 2013, 1496 f.; SK-Wohlers / Albrecht, StPO, § 161a Rn. 17 f.; differenzierend LR-Erb, StPO, § 161a Rn. 31, 34; abl. dagegen wohl h. M. m. w. N. KK-Griesbaum, StPO, § 161a Rn. 6, 8; so auch die Gesetzesbegründung in BT-Drs. 18/9534, S. 71 f. 190 A. A. BGHSt 42, 391 (395 ff.); NStZ-RR 2002, 67 f.; BVerfGK 8, 355 (358 ff.); ebenso zust. LR-Erb, StPO, § 168c Rn. 16; KK-Griesbaum, StPO, § 168c Rn.  11; Satzger / Schluckebier / Wid­ maier-Sing, StPO, § 168c Rn. 5; krit. dagegen für eine analoge Anwendung plädierend, OLG Karlsruhe, JR 1996, 434 (435) m. abl. Anm. Theisen, JR 1996, 436 f.; Dehne-Niemann, HRRS 2010, 190; Gleß, NStZ 2010, 99; Mosbacher, NStZ 2015, 303; Prittwitz, NStZ 1981, 464 ff. 191 Mosbacher, NStZ 2015, 303; SK-Wohlers / Albrecht, StPO, § 168c Rn. 12.

C. Die eng gefasste Akteursstellung des Beschuldigten

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auch der den Beschuldigten mit seinen Aussagen belastende Mitbeschuldigte.192 Da die Rechtsprechung diese in der Literatur inzwischen längst anerkannte For­ derung nach wie vor ablehnt, hätte ein von Europa ausgehender Impuls diesen Streit – ähnlich wie um die zwingend notwendige Vorverlagerung des Gewährleis­ tungszeitpunkts – zugunsten des Beschuldigten beilegen können. Insoweit bleibt abzuwarten, ob die Rechtsprechung ihrer Aufgabe der konventionskonformen Um­ setzung der Anforderungen aus Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK nachkommt oder zuvor der Gesetzgeber tätig wird.193 Zudem gilt für alle Beschuldigtenvernehmungen § 168c Abs. 5 S. 3 StPO. Gem. § 168c Abs. 5 S. 1 StPO ist der Beschuldigte sowie sein Verteidiger von dem Ter­ min der Vernehmung zu benachrichtigen. § 168c Abs. 5 S. 3 StPO regelt, dass weder die Staatsanwaltschaft noch der Beschuldigte oder sein Verteidiger einen Anspruch auf Terminsverlegung bei Verhinderung haben. Diese Vorschrift wird zwar grundsätzlich dahingehend ausgelegt, dass Verlegungswünsche zu berück­ sichtigen sind. Zwingend ist dies jedoch nicht.194 Bereits im Hinblick auf Art. 141 Abs. 3 S. 4 StPO n. F. dürfte § 168c Abs. 5 S. 3 StPO so uneingeschränkt nicht mehr Anwendung finden.195 Die Verhinderung des Verteidigers darf bei europarechts­ konformer Auslegung nicht dazu führen, dass der Beschuldigte unverteidigt bleibt. Wenigstens muss daher über eine Eilbestellung die Verteidigung des Beschuldig­ ten sichergestellt werden. Es ist jedoch fraglich, ob das sinnvoll ist, insbesondere wenn der Beschuldigte bereits einen Pflichtverteidiger seiner Wahl benannt hat.196 Denn ein Verteidiger kann nur dann sinnvoll zugunsten seines Mandanten tätig werden, wenn er sein Fragerecht informiert ausüben kann, d. h. nach Aktenein­ sicht und Besprechung mit dem Beschuldigten.197 In diesem Sinne ist § 168c Abs. 5 StPO restriktiver auszulegen. b) Identifizierungs- und Vernehmungsgegenüberstellungen Gem. Art. 4 Abs. 5 PKH-RL ist spätestens vor einer Identifizierungs- und Ver­ nehmungsgegenüberstellung ein Verteidiger beizuordnen. Auch insoweit fehlt es bislang an einer Beiordnungsregelung. Ein solcher früherer Beiordnungszeitpunkt

192

M. w. N. EGMR, Entscheidung v. 17.11.2005 – 73047/01, Haas ./. DE; Urteil v. 27.2.2001 – 33354/96, Lucà ./. IT, Rep. 2001-II, Rn. 41; zust. Gleß, NStZ 2010, 99; Mosbacher, NStZ 2015, 303; Stavros, Guarantees for Accused Person under Article 6 ECHR, S. 231; SKWohlers / ­Albrecht, StPO, § 168c Rn. 12; krit. Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 630. 193 Einen Rechtsprechungswechsel erwartend SK-Wohlers / Albrecht, StPO, § 168c Rn. 12 a. E. 194 In diesem Sinne KK-Griesbaum, StPO, § 168c Rn. 20 m. w. N.; MüKo-Kölbel, StPO, § 168c Rn. 23. 195 Schlothauer, StV 2017, 559. 196 Dazu sogl. u. Kap. 4 D. II. 3. 197 Schlothauer, StV 2017, 560; vgl. dazu auch BGH, NJW 2000, 3505 (3509).

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Kap. 4: Ausblick auf die mitgliedstaatliche Ebene 

soll in die StPO nun eingefügt werden, vgl. § 141 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 StPO-E.198 Ver­ gleichbar zu § 168c StPO ist jeweils die Anwesenheit und Mitwirkung des Beschul­ digten und seines Verteidigers vorgesehen. Grundlage für Gegenüberstellungen und die Rechte der zur Anwesenheit Berechtigten ist § 58 Abs. 2 StPO.199 Danach ist eine Gegenüberstellung mit anderen Zeugen oder mit dem Beschuldigten im Vorverfahren zulässig, wenn es für das weitere Verfahren geboten erscheint. Gem. § 58 Abs. 2 S. 2 StPO ist dem Verteidiger des Beschuldigten bei einer Gegenüber­ stellung die Anwesenheit gestattet. Dies betrifft sowohl Vernehmungs- als auch Identifizierungsgegenüberstellungen, jedoch keine Wahllichtbildvorlagen.200 Ein zu § 168c Abs. 5 S. 3 StPO paralleles Problem stellt sich auch im Rahmen von § 58 Abs. 2 S. 4 StPO. Danach hat der Verteidiger auf eine Verlegung des Termins wegen Verhinderung ebenfalls keinen Anspruch. An dieser Stelle gelten die glei­ chen Erwägungen. Jedenfalls darf der Beschuldigte während der Gegenüberstel­ lung nicht unverteidigt bleiben. Dies ist notfalls über einen Ersatzverteidiger für die Gegenüberstellung sicherzustellen.201 c) Tatortrekonstruktionen Auch vor Tatortrekonstruktionen, soweit sie die Anwesenheit des Beschul­ digten erfordern, ist gem. Art. 4 Abs. 5 PKH-RL demjenigen, der Anspruch auf notwendige Verteidigung hat, spätestens ein Verteidiger beizuordnen.202 Tatort­ rekonstruktionen sind in der StPO nicht ausdrücklich geregelt, können jedoch auf die §§ 161 Abs. 1 S. 1 Alt. 2, 163 Abs. 1 S. 2 StPO als Generalklausel gestützt und durchgeführt werden.203 In der letzten StPO-Novelle wurde zwar angedacht, auch für Tatortrekonstruktion eine ausdrückliche Ermächtigungsgrundlage zu schaffen. Davon wurde jedoch abgesehen, weil bei Gelegenheit der Tatortrekonstruktion dem

198 BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidi­ gung, 2018, a. a. O. Kap. 3, Fn. 49, S. 7, 27. 199 Vgl. KG, NJW 1979, 1668 (1669); ebenso Schlothauer / Neuhaus / Matt / Brodowski, HRRS 2018, 62; a. A. keine gesetzliche Regelung in der StPO: Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 103.3; a. A. § 81a StPO als Eingriffsgrundlage BVerfGE 47, 239 (246 ff.); zust., da § 58 Abs. 2 StPO keine Eingriffsbefugnisse enthalte, Odenthal, NStZ 1985, 434 m. w. N. zum Streitstand; ebenso zust. LR-Erb, StPO, § 163 Rn. 40; wiederum a. A. § 81b StPO vertreten von Geppert, Jura 1989, 278. 200 BeckOK-Huber, StPO, § 58 Rn. 13, 15; vgl. zur Notwendigkeit der Regelung wegen der Verteidigungsbeistands-RL: Esser, KriPoZ 2017, 172. 201 So auch Schlothauer / Neuhaus / Matt / Brodowski, HRRS 2018, 62. 202 A. A. ebd., 65, die die Anwendbarkeit der PKH-RL in dieser Hinsicht für das deutsche Recht ablehnen; vgl. dazu o. Kap. 3 A. IV. 2. a) aa). 203 So jedenfalls BT-Drs. 18/9534, S. 15; ebenso BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Stär­ kung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Jugendstrafverfahren, 2018, a. a. O. Kap. 4, Fn. 133, S. 26; m. w. N. zum Umfang der Generalklausel (für Ermittlungen der Staatsanwalt­ schaft) Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, Rn. 3376.

C. Die eng gefasste Akteursstellung des Beschuldigten

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Beschuldigten regelmäßig Fragen gestellt würden. Damit handele es sich ohnehin um eine Vernehmung.204 Daran zeigt sich die schwierige Einordnung der Tatortrekonstruktion: Je nach­ dem, wie sie konkret durchgeführt wird, kann sie im Einzelfall Teil einer Ver­ nehmung des Beschuldigten sein, oder eine einfache Inaugenscheinnahme des rekonstruierten Tatorts sein.205 Wird letztere durch einen Richter durchgeführt, sind der Beschuldigte wie sein Verteidiger wegen der Verlesbarkeit des dabei gem. § 86 StPO angefertigten Protokolls, § 249 Abs. 1 S. 1 StPO, gem. § 168d Abs. 1 S. 1 StPO ohnehin zur Anwesenheit berechtigt. Wird die Augenscheinseinnahme durch die Staatsanwaltschaft oder die Polizei durchgeführt, fehlt es dagegen an einem solchen Anwesenheitsrecht. Ob vor einer solchen Tatortrekonstruktion in Anwesenheit des Beschuldigten der Verteidiger nicht nur zugegen sein muss, sondern auch auf ihn gewartet werden muss, wurde bislang in der Rechtsprechung offengelassen.206 Nach Inkrafttreten der PKH-RL wird in Zukunft auf den Verteidiger gewartet werden müssen. Zum einen muss, wird bei der Tatortrekonstruktion die Anwesenheit des Beschuldigten erforderlich, dieser davor Zugang zu notwendiger Verteidigung erhalten. Zum an­ deren darf die notwendige Verteidigung – und damit auch das Anwesenheitsrecht des Verteidigers – nach der PKH-RL nicht davon abhängig gemacht werden, ob die Rekonstruktion von einem Richter oder der Staatsanwaltschaft oder Polizei durch­ geführt wird. Dadurch muss entweder § 168d StPO ausgeweitet werden oder für die Tatortrekonstruktion nunmehr eine eigene Ermächtigungsgrundlage und Ver­ fahrensnorm geschaffen werden, die den aktuellen Anforderungen gerecht wird. Gem. § 141 Abs. 1 S. 2 StPO-E sieht der bisherige Referentenentwurf Regel­ beispiele vor, in denen die Mitwirkung eines Pflichtverteidigers spätestens er­ forderlich wird. Darin sind zwar die Vernehmung und die Gegenüberstellung des Beschuldigten angeführt, vgl. § 141 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 StPO-E, jedoch nicht die Tatortrekonstruktion. Diese könnte stattdessen unter die Generalklausel des § 141 Abs. 1 S. 1 StPO-E fallen. Danach ist einem Beschuldigten ein Pflichtverteidiger zu bestellen, sobald er dies beantragt oder die Mitwirkung eines Verteidigers im Verfahren erforderlich wird. Nach der Begründung des Referentenentwurfs soll die Mitwirkung eines Verteidigers immer dann erforderlich sein, „wenn eine kon­ krete Verteidigungshandlung naheliegt, also etwa, wenn gegen eine Maßnahme ein 204 BT-Drs. 18/9534, S. 14 f.; BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Verfah­ rensrechte von Beschuldigten im Jugendstrafverfahren, 2018, a. a. O. Kap. 4, Fn. 133, S. 26; krit. dazu BRAK, Stellungnahme 17/17 zur praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafver­ fahrens, S. 3. 205 BGH, NJW 1961, 1486 (1487); OLG Köln, NJW 1955, 843; BeckOK-Goers, StPO, § 86 Rn. 13; Rohne, Notwendige Verteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 155 f.; m. w. N. Satz­ ger / Schluckebier / Widmaier-Bosch, StPO, § 86 Rn. 15. 206 Offen BGHSt 47, 172 (178 f.); dafür Rohne, Notwendige Verteidigung im Ermittlungs­ verfahren, S. 159 f.; insg. pos. zum Ansatz des BGH: Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 106; ebenso Sowada, NStZ 2005, 3.

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Kap. 4: Ausblick auf die mitgliedstaatliche Ebene 

Rechtsbehelf eröffnet ist (zum Beispiel nach Durchsuchung und Beschlagnahme), wenn Anwesenheitsrechte (zum Beispiel bei Zeugenvernehmungen, § 168c Absatz 2 StPO, oder Augenscheinseinnahmen, § 168d Absatz 1 StPO) oder Stellungnah­ merechte ausgeübt werden können.“207 Da richterlich geführte Tatortrekonstruktionen zumeist richterliche Vernehmun­ gen oder richterliche Inaugenscheinnahmen mit dementsprechenden Anwesen­ heitsrechten darstellen, fallen diese entweder unter § 141 Abs. 1 S. 1 StPO-E oder § 141 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 StPO-E. Anders dagegen liegt jedoch der Fall bei von der Staatsanwaltschaft oder der Polizei durchgeführten Tatortrekonstruktionen. Für diese fehlt es an einer entsprechenden Regelung, jedenfalls wenn die durchgeführte Tatortrekonstruktion keine Beschuldigtenvernehmung ist. Es scheint, dass der Re­ ferentenentwurf zur notwendigen Verteidigung dies schlicht übersehen hat. Die Variante der Tatortrekonstruktion wird an keiner Stelle erwähnt. Dadurch ist der bisherige Entwurf in Bezug auf Tatortrekonstruktionen lückenhaft.208 4. Unverzüglichkeit der Beiordnung Gem. Art. 4 Abs. 5 PKH-RL muss die Beiordnung unverzüglich erfolgen, spä­ testens aber vor einer der dort genannten Ermittlungshandlungen. Bislang fehlt – außer in § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO  – ein solcher Hinweis in den §§ 140 f. StPO. Die unverzügliche Beiordnung kann mit dem Recht des Beschuldigten auf einen Rechtsanwalt seines Vertrauens konfligieren, weil die Bestellung dieses konkreten Rechtsanwalts zu Verzögerungen führen kann. Unverzüglich ist zwar als „ohne schuldhaftes Zögern“ auszulegen, sodass eine Bestimmungsfrist für den Vertei­ diger des Vertrauens grundsätzlich vorgesehen ist, um dem gleichfalls wichtigen Wahlrecht des Beschuldigten zur Wirksamkeit zu verhelfen. Dem werden jedoch durch die europäische Konzeption dahingehend Grenzen gezogen, dass der Be­ schuldigte in den benannten Situationen nicht unverteidigt bleiben darf, wenn ihm ein notwendiger Verteidiger zusteht.209 Diesem Konflikt sah sich die StPO bislang nur im Rahmen von Beiordnungen gem. § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO ausgesetzt, weil dort ebenfalls eine unverzügliche Verteidigerbestellung vorgesehen war. Zugleich sollte dem Beschuldigten gem. § 142 Abs. 1 StPO die Möglichkeit gewährt werden, vor der Beiordnung einen Verteidiger seiner Wahl zu bezeichnen. Dies hat bislang dazu geführt, dass der 207 BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidi­ gung, 2018, a. a. O. Kap. 3, Fn. 49, S. 35. 208 A. A. dagegen BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Jugendstrafverfahren, 2018, a. a. O. Kap. 4, Fn. 133, S. 26, der eine solche Regelung bezüglich Tatortrekonstruktionen für das Jugendstrafverfahren für entbehrlich hält. 209 In diesem Sinne Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 26.10.2016 – 2016/1919/EU, PKH-RL, ABl. L 297, 1, Erwägungsgrund (19); in diesem Sinne Richtlinie v. 22.10.2013 – 2013/48/EU, Verteidigungsbeistands-RL, ABl. L 294, 1, Erwägungsgrund (21).

C. Die eng gefasste Akteursstellung des Beschuldigten

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Beschuldigte unverteidigt blieb, wenn er bis zum Vorführungstermin noch kei­ nen Verteidiger seiner Wahl benannt hatte und die dazugehörige Frist noch nicht abgelaufen war.210 Das in § 141 Abs. 3 S. 5 StPO geregelte Erfordernis der Unver­ züglichkeit stünde dem nicht entgegen, weil dies lediglich auf den beschleunigten Fortgang des Strafverfahrens hinweise.211 Dadurch solle verhindert werden, dass ein Beschuldigter an einen von ihm nicht selbst gewählten Verteidiger für den Rest des Strafverfahrens gebunden bleibe.212 Diese Auslegung ist im Hinblick auf die nunmehr an notwendige Verteidigung zu stellenden Anforderungen nicht mehr aufrecht zu erhalten. Denn dem Beschul­ digten ist spätestens zur Vorführung ein Pflichtverteidiger beizuordnen.213 Er darf nicht unverteidigt bleiben. Zutreffend ist, dass § 142 Abs. 1 StPO eine Anhörungs­ pflicht in Bezug auf den Beschuldigten normiert, ohne dass insoweit für Haftsa­ chen eine Sonderregelung gilt.214 Da unverzügliche Beiordnung nunmehr gem. Art. 4 Abs. 5 PKH-RL die Regel ist, muss der Gesetzgeber insoweit eine Lösung finden. Er könnte z. B. die Benennungsfrist in § 142 Abs. 1 StPO sehr kurz bemes­ sen, um eine zeitnahe und zügige Beiordnung zu gewährleisten. Dabei bestünde jedoch die Gefahr, dass der insoweit unerfahrene Beschuldigte in der knappen zur Verfügung stehenden Zeit sein Wahlrecht gar nicht nutzen kann und deswegen einen Verteidiger beigeordnet erhält. Insofern erscheint weniger eine Fristenlösung angebracht,215 als ähnlich wie im Rahmen von §§ 168c Abs. 5 S. 3, 58 Abs. 2 S. 4 StPO die Möglichkeit einer Eil­ bestellung, wenn die Zeit vor der avisierten Ermittlungshandlung nicht ausreicht, um einen Anwalt des Vertrauens zu benennen.216 Zugleich besteht auch zurzeit 210

KG, Beschluss v. 3.12.2008 – 1 AR 1744/08, 4 Ws 119/08, juris, Rn. 8. KG, NStZ-RR 2012, 351 (352); OLG Koblenz, BeckRS 2011, 4039; OLG Düsseldorf, NJW 2011, 1618; LG Krefeld, NJW 2010, 591 (592); grds. zust. Jahn, in: Fischer / Bernsmann (Hrsg.), FS Rissing-van Saan, S. 284 f.; vgl. zum Spannungsfeld Beschleunigungsgebot / Be­ stellung des Verteidigers des Vertrauens m. w. N. Meyer-Goßner / Schmitt, StPO, § 142 Rn. 9. 212 OLG Koblenz, BeckRS 2011, 4039; LG Krefeld, NJW 2010, 591 (592); a. A. Schlothauer, in: Joecks / Ostendorf u. a. (Hrsg.), FS Samson, S. 714 dahingehend, dass § 141 Abs. 3 S. 4 StPO a. F. (inzw. § 141 Abs. 3 S. 5 StPO) als Sondervorschrift zu § 142 Abs. 1 StPO eine Anhörung gänzlich entbehrlich werden lasse; zu Recht abl. dazu Jahn, in: Fischer / Bernsmann (Hrsg.), FS Rissing-van Saan, S. 285 f. 213 BRAK, StV 2010, 544, 546; MAH-Stetten, Strafverteidigung, § 16 Rn. 12. 214 KG, NStZ-RR 2012, 351 (352); in diesem Sinne auch Jahn, in: Fischer / Bernsmann (Hrsg.), FS Rissing-van Saan, S. 285 f.; Schlothauer, in: Joecks / Ostendorf u. a. (Hrsg.), FS Samson, S. 713. 215 Dafür aber MAH-Stetten, Strafverteidigung, § 16 Rn. 12, die für einen Gleichlauf der Fristen in § 142 Abs. 1 StPO und § 115 Abs. 2 StPO plädiert. 216 In diesem Sinne LG Halle, Beschluss v. 26.3.2018 – 10a Qs 33/18, juris, Rn. 12 ff., 15; dies andeutend BGH, Beschluss v. 25.4.2012 – 2 BGs 88/12, juris, Rn. 1; so auch BeckOK-Krawczyk, StPO, § 141 Rn. 10; MAH-König, Strafverteidigung, § 4 Rn. 82e; Herrmann, StV 2011, 653 f.; Lammer, AnwBl. 2013, 328; Schlothauer, in: Joecks / Ostendorf u. a. (Hrsg.), FS Samson, S. 711, 715; Schnelligkeit durch eine Beschränkung auf ortsansässige Rechtsanwälte ders., StV 2018, 174; dafür plädierend dies am besten durch eine Trennung der Entscheidung über die Notwendigkeit der Verteidigung von der Entscheidung über die Person des Verteidigers umzu­ setzen, ders. / Neuhaus / Matt / Brodowski, HRRS 2018, 64, 67; SK-Wohlers, StPO, § 142 Rn. 8. 211

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Kap. 4: Ausblick auf die mitgliedstaatliche Ebene 

über § 143 StPO (analog) die Möglichkeit, den Verteidiger, der ohne Berücksich­ tigung des Prozederes von § 142 Abs. 1 StPO dem Beschuldigten bestellt wurde, unter erleichterten Bedingungen auswechseln zu lassen.217 Dadurch wird einerseits sichergestellt, dass der Beschuldigte verteidigt ist, andererseits jedoch auch nach­ träglich ermöglicht, dass er im Verlauf des restlichen Strafverfahrens noch einen Verteidiger seiner Wahl bestellen lassen kann. Zwar können die bisherigen Regelungen noch konform ausgelegt werden. Auch insoweit wäre jedoch deutlicher, eine solche Konstellation und das erleichterte, bedingungslose Auswechslungsrecht ausdrücklich in §§ 142, 143 StPO vorzuse­ hen. Der Referentenentwurf des BMJV regelt durch die avisierte Neufassung von §§ 142 Abs. 1, 143a Abs. 2 StPO-E eine Variante, in der solche Situationen einer Eilbeiordnung jedenfalls vorausgesetzt werden.218

II. Fehlerfolgen EMRK, GRCh und davon ausgehend die PKH-RL und die Verteidigungsbei­ stands-RL sehen Ausnahmen vom Recht auf Zugang zu einem (notwendigen) Verteidiger nur in sehr eng definierten Konstellationen vor, vgl. Art. 3 Abs. 5, 6 Verteidigungsbeistands-RL. Die Verwertung eines unter Ausnutzung der unvertei­ digten Stellung des Beschuldigten gewonnenen Beweismittels beschädigt danach die Fairness des Verfahrens grundsätzlich irreparabel. Diese strengen Voraus­ setzungen bedingen zum einen, dass nach der bisherigen Regelung im deutschen Recht faktisch keine Ausnahmen existieren, die erlauben, den Zugang zu einem notwendigen Verteidiger zu beschränken. Zum anderen bewirken diese Anforde­ rungen, dass derart inkriminierte Beweismittel nunmehr zwingend einem Ver­ wertungsverbot unterliegen müssen. 1. Gesetzlich geregelte Gründe der Zugangsbeschränkung Im Grundsatz gilt, dass der Beschuldigte zu seinem notwendigen Verteidiger ungehindert und unüberwacht schriftlich wie mündlich Kontakt aufnehmen darf, § 148 Abs. 1 StPO.219 Gesetzlich geregelte Ausnahmegründe existieren lediglich 217

St. Rspr. BGH, Beschluss v. 25.4.2012 – 2 BGs 88/12, juris, Rn. 1; KG, NStZ-RR 2012, 351 (352); LG Heilbronn, BeckRS 2011, 6731 Rn. 3; m. w. N.; LG Krefeld, NJW 2010, 591 (592); BeckOK-Krawczyk, StPO, § 141 Rn. 10; MAH-König, Strafverteidigung, § 4 Rn. 82e; Herrmann, StV 2011, 654 f.; ebenso dafür Lammer, AnwBl. 2013, 329; Lam / Meyer-Mews, NJW 2012, 180; dann für eine erleichterte Auswechslung plädierend Schlothauer, in: Joecks / Osten­ dorf u. a. (Hrsg.), FS Samson, S. 715; SK-Wohlers, StPO, § 142 Rn. 8. 218 BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidi­ gung, 2018, a. a. O. Kap. 3, Fn. 49, S. 39; i. Ü. vgl. u. Kap. 4 D. 3. b). 219 BGHSt 27, 260; Meyer-Goßner / Schmitt, StPO, § 148 Rn. 2; LR-Lüderssen / Jahn, StPO, § 148 Rn. 4 („Geheimsphäre der Verteidigung“); Satzger / Schluckebier / Widmaier-Beulke,

C. Die eng gefasste Akteursstellung des Beschuldigten

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in den Vorschriften zur Kontaktsperre, vgl. §§ 31 ff. EGGVG: Diese haben einen Art. 3 Abs. 6 lit.  a Verteidigungsbeistands-RL entsprechenden Anwendungsbe­ reich. Dagegen waren bislang die Ausnahmegründe in Art. 3 Abs. 5 Verteidigungs­ beistands-RL sowie Art. 3 Abs. 6 lit. b Verteidigungsbeistands-RL im deutschen Recht nicht geregelt.220 Art. 3 Abs. 6 lit. b Verteidigungsbeistands-RL soll jedoch nach den Referentenentwürfen des BMJV in § 141 Abs. 3 StPO-E und für Jugend­ liche in § 68a Abs. 2 JGG-E neu aufgenommen werden.221 a) Die Zugangsbeschränkung gem. §§ 31 ff. EGGVG Gem. § 31 Abs. 1 S. 1 EGGVG kann eine Kontaktsperre festgestellt werden, wenn eine gegenwärtige Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit einer Person be­ steht, bestimmte Tatsachen den Verdacht begründen, dass die Gefahr von einer terroristischen Vereinigung ausgeht und es zur Abwehr dieser Gefahr geboten ist, jedwede Verbindung von Gefangenen untereinander und mit der Außenwelt zu unterbrechen. § 31 EGGVG gilt in persönlicher Hinsicht nur für Gefangene, also Verurteilte oder Beschuldigte, die in Haft sitzen, vgl. § 31 EGGVG. Diese Gefan­ genen müssen in sachlicher Hinsicht wegen einer Straftat nach §§ 129a, 129b StGB oder wegen einer der dort bezeichneten Straftaten entweder rechtskräftig verurteilt oder beschuldigt sein, vgl. § 31 Abs. 1 S. 2 EGGVG. Über § 77 Abs. 1 IRG finden die §§ 31 EGGVG zur Kontaktsperre auch im Rechtshilfeverfahren Anwendung.222 Die §§ 31 ff. EGGVG waren eigentlich bereits an die Voraussetzungen der Ver­ teidigungsbeistands-RL angepasst worden.223 Von der Regelung darüber hinaus­ gehender Ausnahmegründe hatte der Gesetzgeber damals ausdrücklich abgesehen. Die Anpassungen der Regelungen der Kontaktsperre an die Verteidigungsbei­ stands-RL waren dadurch restriktiver und verteidigungsfreundlicher ausgestal­ tet worden, als dies in Art. 3 Abs. 6 lit. a Verteidigungsbeistands-RL vorgesehen war.224 Die Kontaktsperre ist zunächst in ihren Voraussetzungen deutlich strenger. Sie ist gegenüber Gefangenen i. S. v. § 31 Abs. 1 EGGVG nur dann möglich, wenn zum einen eine Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit einer Person besteht und zum anderen diese Gefahr von einer terroristischen Vereinigung auszugehen scheint. StPO, § 148 Rn. 1; m. w. N.; Plekksepp, Die gleichmäßige Gewährleistung des Rechts auf Ver­ teidigerbeistand, S. 352. 220 BT-Drs. 18/9534, S. 15. 221 BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidi­ gung, 2018, a. a. O. Kap. 3, Fn. 49, S. 7 und sog. u. Kap. 4 C. II. 1. b). 222 Grützner / Pötz-Vogel / Burchard, Int. Rechtshilfe in Strafsachen, § 77 IRG Rn. 4. 223 Dazu BT-Drs. 18/9534, S. 15. 224 Insg. zust. zur aktuellen Regelung BRAK, Stellungnahme Nr. 40/2016 zum Regierungs­ entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Stärkung der Verfahrensrechte des Beschuldigten im Strafverfahren und zur Änderung des Schöffenrechts – BT-Drs. 18/9534, S. 5.

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Kap. 4: Ausblick auf die mitgliedstaatliche Ebene 

Insbesondere durch die letztere Voraussetzung wird § 31 EGGVG in seinem An­ wendungsbereich noch weiter eingeschränkt, als dies Art. 3 Abs. 6 lit. a Vertei­ digungsbeistands-RL vorgesehen ist. Zudem ist ebenso konform mit den Anfor­ derungen aus Art. 3 Abs. 6 lit.  a Verteidigungsbeistands-RL die Kontaktsperre (inzwischen) beschränkt auf das Ermittlungsverfahren, vgl. § 31 Abs. 2 EGGVG.225 Als Rechtsfolge ermöglicht die Kontaktsperre zwar, den Kontakt zum (gewähl­ ten notwendigen) Verteidiger zu unterbinden. Sie führt jedoch nur im Ausnahme­ fall dazu, dass der Beschuldigte unverteidigt bleibt. Zunächst führt eine Kontakt­ sperre dazu, dass dem bislang unverteidigten Beschuldigten ein Verteidiger bestellt werden muss, vgl. § 34 Abs. 3 Nr. 1 EGGVG.226 Der Kontakt zum Verteidiger darf überhaupt nur unterbrochen werden, wenn die Kontaktsperre gem. § 31 Abs. 2 EGGVG auf den Verteidiger erstreckt wurde.227 Wenn dies passiert, sind jedoch weitere Schutzmechanismen zugunsten des betroffenen Beschuldigten vorgesehen: Zunächst darf der dann unverteidigte Beschuldigte nicht ohne weiteres zum Gegen­ stand weiterer Beweiserhebungen gemacht werden. In der Zeit der Kontaktsperre darf der Beschuldigte nicht vernommen werden, es sei denn, sowohl er als auch der der Kontaktsperre unterliegende Verteidiger verzichten während der Vernehmung auf die Anwesenheit des Verteidigers, § 34 Abs. 3 Nr. 3 EGGVG. Zudem kann der Beschuldigte beantragen, eine Kontaktperson beigeordnet zu bekommen, die für ihn an Vernehmungen und Ermittlungshandlungen teilnehmen darf, an denen der Verteidiger wegen der Kontaktsperre nicht teilnehmen darf, § 34a Abs. 2 S. 2 EGGVG.228 Zudem darf diese Kontaktperson an der Verkündung des Haftbefehls, § 34 Abs. 3 Nr. 4 S. 1 EGGVG, der mündlichen Haftprüfung und anderen münd­ lichen Verhandlungen, § 34 Abs. 3 Nr. 5 EGGVG, mitwirken. Eingeschränkt wird der Beschuldigte lediglich insoweit, als er seine Kontaktperson nicht frei wählen, § 34a Abs. 4 EGGVG,229 und mit dieser ausschließlich mündlich kommunizieren darf, § 34a Abs. 5 EGGVG. Die §§ 31 ff. EGGVG setzen damit zwar Art. 3 Abs. 6 lit. a PKH-RL um. Sie sind jedoch deutlich restriktiver und sichern sogar über § 34a EGGVG den Beschuldig­ ten dahingehend ab, unverteidigt vernommen zu werden.230 Die Vorschriften sind so streng, dass sie bislang keine wirkliche praktische Relevanz haben.231 Für die Einschränkung des Zugangs zu notwendiger Verteidigung bedeutet dies nach der­ 225

Dazu BT-Drs. 18/9534, S. 15. Abl. Oellerich, StV 1981, 436 („Zynismus“). 227 MüKo-Ellbogen, StPO, § 34 EGGVG 1a; grds. zust. zu dieser Novelle Esser, KriPoZ 2017, 175. 228 Dies als „Kompensation“ sehend Esser, KriPoZ 2017, 176. 229 Krit. Plekksepp, Die gleichmäßige Gewährleistung des Rechts auf Verteidigerbeistand, S. 354. 230 Die verpasste Chance zur Aufhebung der §§ 31 ff. EGGVG bedauernd Esser, KriPoZ 2017, 175 f. 231 Jedenfalls nicht im Verhältnis zur Verteidigung, sondern nur zwischen Mitgefangenen und Gefangenen und der Außenwelt, so insg. abl. Esser, KriPoZ 2017, 176; Kühne, Strafpro­ zessrecht, Rn. 212 f.; Plekksepp, Die gleichmäßige Gewährleistung des Rechts auf Verteidiger­ 226

C. Die eng gefasste Akteursstellung des Beschuldigten

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zeitiger Rechtslage, dass darüber hinausgehende Beschränkungen bereits mangels gesetzlicher Grundlage ausgeschlossen sind. b) Die Zugangsbeschränkungen gem. § 141 Abs. 3 StPO-E und § 68a Abs. 2 JGG-E der Referentenentwürfe des BMJV Gem. § 141 Abs. 3 S. 1 StPO-E des Referentenentwurfs des BMJV sollen Ver­ nehmungen des Beschuldigten oder Gegenüberstellungen mit dem Beschuldigten vor der Bestellung eines Verteidigers durchgeführt werden können, soweit dies zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben oder für die Freiheit einer Person dringend erforderlich (Nr. 1) oder zur Abwendung einer erheb­lichen Gefährdung eines Strafverfahrens zwingend geboten ist. Unberührt davon soll das Recht des Beschuldigten bleiben, seinen Verteidiger (des Vertrauens) auch vor der Vernehmung oder der Gegenüberstellung zu befragen, vgl. § 141 Abs. 3 S. 2 StPO-E. Für das Verfahren gegen jugendliche Beschuldigte gilt der eng daran an­ gelehnte § 68a Abs. 2 JGG-E. Dort ist lediglich zusätzlich das „Wohl des Jugend­ lichen“ zu berücksichtigen. Diese Normentwürfe zielen auf die Umsetzung von Art. 3 Abs. 6 lit. a, b Ver­ teidigungsbeistands-RL bzw. Art. 6 Abs. 8 Jugendstrafverfahrens-RL.232 Damit hat sich der Gesetzgeber zumindest im jetzigen Stadium des Gesetzgebungsver­ fahrens entschieden, die bisherigen Vorschriften der §§ 31 ff. EGGVG um weitere Ausnahmen zu ergänzen. Das ist bemerkenswert, als jedenfalls die Vorschrift nach Art. 3 Abs. 6 lit. a Verteidigungsbeistands-RL über die Novellierung der §§ 31 ff. EGGVG bereits umgesetzt werden sollte und wurde.233 Insofern war es anschei­ nend aus Perspektive des Gesetzgebers erforderlich, die Umsetzung von Art. 3 Abs. 6 Verteidigungsbeistands-RL erneut anzugehen und so die §§ 31 ff. EGGVG zu verschärfen. Die vorgeschlagenen Neuregelungen in StPO und JGG gehen deutlich über die §§ 31 ff. EGGVG hinaus. Inhaltlich bewirken diese, dass der Beschuldigte, der gem. § 140 StPO bzw. § 68 JGG eigentlich Anspruch auf einen Pflichtverteidiger hätte, in den dort enumerierten Gefährdungslagen unverteidigt vernommen werden darf oder unverteidigt an einer Gegenüberstellung teilnehmen muss. § 68a Abs. 2 JGG-E ist lediglich strenger in Bezug auf die Voraussetzungen und verlangt, dass nicht nur eine Gefahr, sondern „schwerwiegende nachteilige Auswirkungen auf Leib, Leben oder Freiheit“ zu befürchten stehen müssen, vgl. § 68a Abs. 2 S. 1 lit. a JGG-E. Zudem erfordert § 68a Abs. 2 S. 1 lit. b JGG-E, dass es sich um die beistand, S. 354; das letzte (und bislang einzige) gerichtliche Urteil zu den §§ 31 ff. EGGVG erfolgte 1978, vgl. BVerfGE 49, 24 (47 ff.). 232 BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidi­ gung, 2018, a. a. O. Kap. 3, Fn. 49, S. 36 f.; Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Verfah­ rensrechte von Beschuldigten im Jugendstrafverfahren, 2018, a. a. O. Kap. 4, Fn. 133, S. 65 f. 233 Vgl. so bereits BT-Drs. 18/9534, S. 15, 24 ff.

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Kap. 4: Ausblick auf die mitgliedstaatliche Ebene 

Gefährdung eines Strafverfahrens wegen einer schweren Straftat handeln muss, angelehnt an § 100a Abs. 2 StPO.234 Die Eingriffstatbestände bzw. -situationen sind direkt aus Art. 3 Abs. 6 Verteidigungsbeistands-RL bzw. Art. 6 Abs. 8 Jugend­ strafverfahrens-RL übernommen worden. Positiv hervorzuheben ist zunächst, dass dem Beschuldigten wenigstens die vorherige Konsultation eines Verteidigers nicht verwehrt werden darf, vgl. § 141 Abs. 3 S. 2 StPO-E bzw. § 68a Abs. 2 S. 2 JGG-E. Im Übrigen aber halten beide Regelungen dem Konformitätsabgleich mit den Anforderungen aus EMRK, GRCh und Verteidigungsbeistands- wie Jugend­ strafverfahrens-RL nicht stand. aa) Missverständnis bezüglich des Kriteriums der „zwingenden Gründe“ für die Vernehmung eines unverteidigten Beschuldigten Beide Vorschriften erlauben die Vernehmung bzw. Gegenüberstellung des un­ verteidigten Beschuldigten in bestimmten Gefährdungssituationen, obgleich dem Beschuldigten die Konsultation seines Verteidigers zuvor nicht verwehrt werden darf, vgl. § 141 Abs. 3 S. 2 StPO-E, § 68a Abs. 2 S. 2 JGG-E. Durch diese schein­ bare Abmilderung der Zugangsbeschränkung wird in beiden Vorschriften weniger erkenntlich, welchem Ziel die Zugangsbeschränkung dienen soll. Dieses Ziel der Zugangsbeschränkung ist zwar einerseits über die Beschreibung der Gefährdungslagen festgelegt, andererseits aber erfordern „wichtige Gründe“ nach der Rechtsprechung des EGMR235 nicht nur, dass eine Gefährdungslage be­ steht, sondern dass diese Gefährdungslage gerade durch den Kontakt mit einem Verteidiger besteht und deshalb erfordert, dass der Beschuldigte nur verzögert Zugang zu diesem erhält. Beide Referentenentwürfe sehen aber gerade vor, dass die Beschuldigten ihre Verteidiger zuvor konsultieren können müssen  – und scheinen damit gerade nicht von einer Gefährdung durch den Zugang zu einem Rechtsbeistand auszugehen. Damit fehlt es bereits an einem wichtigen Grund für die Einschränkung dieses Rechts auf Zugang zu einem (staatlich getragenen) Rechtsbeistand. Zwar geht dieses Kausalitätserfordernis so eindeutig weder aus der Verteidi­ gungsbeistands-RL noch aus der Jugendstrafverfahrens-RL hervor, jedoch sind beide jeweils vor der Klarstellung des Erfordernisses der wichtigen Gründe in der Rechtssache Ibrahim u. a. erlassen wurden.236 Das befreit die Mitgliedstaaten jedoch nicht davon, die Vorgaben der EMRK und der GRCh bei der Umsetzung der Richtlinien, selbst wenn diese sich nicht eindeutig im Wortlaut widerspiegeln, 234 BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Jugendstrafverfahren, 2018, a. a. O. Kap. 3, Fn. 49, S. 66. 235 Vgl. dazu m. w. N. o. Kap. 2 A. III. 2. c) aa). 236 Das Urteil in der Rs. Ibrahim u. a. erging erst am 13.9.2016, während die Verteidigungs­ beistands-RL bereits am 22.10.2013 und die Jugendstrafverfahren-RL am 11.5.2016 erlassen wurden.

C. Die eng gefasste Akteursstellung des Beschuldigten

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zu berücksichtigen. Auch nach der GRCh ist die bisherige Fassung der deutschen Umsetzung zweifelhaft. Denn die grundsätzlich weite legitime Zielsetzung nach Art. 52 Abs. 1 GRCh wird über das Kohärenzgebot des Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh mit den Anforderungen der EMRK in ihrer aktuellen Auslegung durch den EGMR gerade verengt auf solche Gefährdungslagen, die durch den Kontakt zu einem Rechtsbeistand entstehen.237 Auch nach dieser Lesung können § 141 Abs. 3 StPO-E und § 68a Abs. 2 JGG-E in dieser Form keinen Bestand haben. Unabhängig von dieser weder unions- noch konventionskonformen Umsetzung bleibt rätselhaft, was das Ziel dieser Vorschriften sein soll, wenn nicht der Kon­ takt zum Verteidiger selbst bewirkt, dass die Gefährdungslagen eintreten. In de­ ren aktuellen Konzeption schimmert in beiden Vorschriften die Hoffnung durch, den Eintritt von Schäden möglicherweise zu vermeiden oder zu verhindern, wenn der Beschuldigte unverteidigt zur Sache vernommen werden kann, er also ohne rechtlichen Beistand weniger von seinem Schweigerecht Gebrauch macht. Zwar weist die Begründung auch darauf hin, dass nur diejenigen Beschuldigten ver­ nommen werden sollen, die über ihr Schweigerecht belehrt wurden und trotzdem aussagen wollen.238 Aber trotz dieser Begründung zielen beide Vorschriften an­ scheinend auf den Abbau der Verteidigung gerade als kundiges Gegengewicht zur Strafverfolgung und als wichtiger Schutzwall für die Selbstbelastungsfrei­ heit, um den Beschuldigten in diesen – zweifelsohne gravierenden – Ausnahme­ situationen doch als Beweismittel gegen sich selbst zu verwenden. Dies ist gerade im Hinblick auf die fundamentale Natur des nemo-tenetur-Prinzips239 im Straf­ verfahren eine äußerst bedenkliche Zielrichtung von § 141 Abs. 3 StPO-E und § 68a Abs. 2 JGG-E. bb) Zu weitgehende Ermöglichung von Vernehmungen und Gegenüberstellungen Des Weiteren ist selbst bei korrekter Umsetzung der Verteidigungsbeistands-RL und der Jugendstrafverfahrens-RL zwar eine Verzögerung des Zugangs zu einem Pflichtverteidiger möglich, aber nicht zwangsläufig auch eine Vernehmung. Für Jugendliche wurde in Art. 6 Abs. 8 S. 3 Jugendstrafverfahrens-RL als zusätz­ licher Sicherungsmechanismus festgelegt, dass die Vernehmung des Jugendlichen ohne Rechtsbeistand nur aufgrund einer Entscheidung einer anderen Justizbe­ 237

Vgl. dazu o. Kap. 2 A. III. 2. c) aa) (1). BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidi­ gung, 2018, a. a. O. Kap. 3, Fn. 49, S. 36 f. 239 Grundlegend dazu BGHSt 31, 304 (309) (keine „Wahrheitserforschung um jeden Preis“); 14, 358 (365) („auch sonst kein Grundsatz der Strafprozessordnung, dass die Wahrheit um jeden Preis erforscht werden müsste“); Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips aus ver­ fassungsrechtlicher und strafprozessualer Sicht, passim; grundlegend in der Literatur: Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, passim. 238

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Kap. 4: Ausblick auf die mitgliedstaatliche Ebene 

hörde im Einzelfall erfolgen darf.240 Dies wird jedoch weder umgesetzt noch vom Entwurf thematisiert. Dementsprechend, mangels einer besonders zugewiesenen Entscheidungskompetenz, scheint diese Entscheidung der weiteren Vernehmung des unverteidigten Jugendlichen im Ermessen der die Ermittlungen führenden Be­ hörde zu liegen. Dies entspricht nicht den verfahrenssichernden Vorgaben in der Jugendstrafverfahrens-RL. Ferner eröffnen weder Art. 6 Abs. 8 S. 3 Jugendstrafverfahrens-RL noch Art. 3 Abs. 6 Verteidigungsbeistands-RL ein unbeschränktes Vernehmungsrecht, selbst wenn die dort beschriebenen Gefährdungslagen vorliegen. Vielmehr legen beide Richtlinien in ihren Erwägungsgründen fest, dass solche Vernehmungen nur „zum ausschließlichen Zweck der Erlangung notwendiger Informationen zur Ab­ wehr schwerwiegender, nachteiliger Auswirkungen auf das Leben, die Freiheit oder die körperliche Unversehrtheit einer Person oder zur Abwendung einer er­ heblichen Gefährdung des Strafverfahrens und in dem dafür erforderlichen Um­ fang“241 zulässig sein sollen, also nur in thematisch streng begrenzter Form. Ein Missbrauch dieser Rechte beschädige die Verteidigungsrechte des Beschuldigten „irreparabel“.242 Ein solcher Hinweis auf eine thematische Beschränkung ist jedoch weder in § 141 Abs. 3 StPO-E, § 68 Abs. 2 JGG-E noch in den Begründungen dazu auf­genommen worden. Auch wenn ein solch thematisch beschränktes Vernehmungsrecht seine eigenen praktischen Probleme aufwirft,243 ist jedenfalls ein unbeschränktes Ver­ nehmungsrecht der Behörden, das gar nicht mehr auf die Abwendung der Gefah­ renlage gerichtet ist, nicht mit der Verteidigungsbeistands-RL und der Jugend­ strafverfahrens-RL zu vereinbaren. Zusammen mit der zuvor angesprochenen, zweifelhaften Zielsetzung beider Vorschriften, sowohl von § 141 Abs. 3 StPO-E als auch von § 68a Abs. 2 JGG-E, kann für den weiteren Gesetzgebungsprozess nur auf eine Neufassung oder Entfernung dieser Entwurfsvorschrift gehofft werden. Mit den §§ 31 ff. EGGVG besteht ein ausreichend weites Eingriffsinstrumentarium, das trotzdem einen Ausgleich schafft zwischen der Gefahrenabwehr und den Rech­ ten des Beschuldigten auf Zugang zu einem Rechtsbeistand. Einer weitergehenden neuen Umsetzung bedarf es insoweit nicht.

240

Vgl. dazu o. Kap. 3 A. IV. 4. a) cc). Rat / Europäisches Parlament, Richtlinie v. 11.5.2016  – 2016/800/EU, Jugendstrafver­ fahrens-RL, ABl. L 132, 1, Erwägungsgrund (31) und ähnlich in Richtlinie v. 22.10.2013 – 2013/48/EU, Verteidigungsbeistands-RL, ABl. L 294, 1, Erwägungsgrund (31). 242 Ebd. 243 Vgl. dazu o. bereits Kap. 3 A. IV. 4. a) bb). 241

C. Die eng gefasste Akteursstellung des Beschuldigten

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2. Verwertung von unter Verletzung der Vorschriften der notwendigen Verteidigung erhobenen Beweismitteln? Nur auf der Grundlage der §§ 31 ff. EGGVG existiert ausgehend von der euro­ päischen Konzeption der Pflichtverteidigung eine nur sehr beschränkte Möglich­ keit, das Recht auf Zugang zu einem notwendigen Verteidiger zu verzögern oder zu beschränken. § 141 Abs. 3 StPO-E sowie § 68a Abs. 2 JGG-E sollen diese Mög­ lichkeiten – wenngleich nach hiesiger Auffassung unionsrechts- und konventions­ widrig – erweitern. Es bleibt nunmehr zu klären, wie sich nach derzeitiger und geplanter Gesetzeslage eine rechtswidrige Beschränkung oder Verzögerung des Zugangs zu einem Pflicht­verteidiger auf die Verwertbarkeit dadurch gewonnener Beweismittel auswirkt. Ob aufgrund eines vorangegangenen Verfahrensverstoßes ein Beweismittel ver­ wertet wird oder nicht,244 ist bislang nach herrschender Rechtsprechung eine Frage der Abwägung „der im Rechtsstaatsprinzip angelegten gegenläufigen Gebote und Ziele“.245 In diese Abwägung sind das „unabweisbare Bedürfnis“ an einer wirk­ samen Strafrechtspflege und das Interesse an vollständiger Wahrheitsermittlung für die Allgemeinheit,246 der Schutzzweck des Beweiserhebungsverbots,247 die Schwere der Straftat248 sowie einer möglicherweise hypothetisch rechtmäßigen Be­ weiserhebung einzustellen.249 Dabei sind ebenso die Schwere der Rechts­verletzung sowie die Schutzbedürftigkeit des Beschuldigten zu beachten.250 Ist das Beweisverwertungsverbot nach Ansicht des Tatrichters als Reaktion auf den streitgegenständlichen Verfahrensverstoß zu streng, kann er über die sog. Beweiswürdigunglösung dem inkriminierten Beweismittel einen geringeren Be­ weiswert beimessen.251 Im Rahmen der Beweiswürdigungslösung bezieht der BGH

244

Sog. unselbständige Beweisverwertungsverbote MüKo-Kudlich, StPO, Einleitung Rn. 450; Paul, NStZ 2013, 490. 245 BGHSt 47, 172 (179); 42, 170 (174); in diesem Sinne auch 38, 214 (219 f.); a. A. die in der Lit. herrschend vertretene Schutzzwecklehre Grünwald, JZ 1966, 492 ff.; Beulke, ZStW 103 (1991), 657 ff.; vgl. m. w. N. und diesen zust. MüKo-Kudlich, StPO, Einleitung Rn. 461 ff., m. w. N. zum früheren Streitstand unter Rn. 454 ff. sowie bei Rogall, ZStW 91 (1979), 23 ff.; krit. und mit einer Neukonzeption Heghmanns, in: Rotsch (Hrsg.), Zehn Jahre ZIS, S. 867, 878 ff. 246 St. Rspr. BGHSt 47, 172 (179 f.); BVerfGE 80, 367 (378); 77, 65 (76) m. w. N. 247 St. Rspr. BGHSt 58, 84 (96); 42, 170 (172) m. w. N.; NJW 2015, 2594 (2596); BVerfGE 130, 1 (29 f.). 248 M. w. N. BGHSt 54, 69 (87); NJW 2015, 2594 (2596); NStZ 2006, 236 (237). 249 BGH, NStZ 2016, 551 (552) a. E. m. krit. Anm. Schneider, NStZ 2016, 553 ff.; grund­legend BGHSt 24, 125 (130); m. w. N. BVerfG, NStZ 2004, 216; allerdings keine Anwendung bei will­ kürlichen oder bewussten Verfahrensverstößen vgl. BGH NJW 2017, 1332 (1335); BGHSt 51, 285 (295 f.) m. w. N.; krit. zur Rechtsfigur und m. w. N. Jahn / Dallmeyer, NStZ 2005, 298 ff.; grundlegend zu den Argumentationslinien Rogall, NStZ 1988, 385 ff. 250 BGHSt 47, 172 (179 f.); BVerfGE 130, 1 (29 f.) m. w. N. 251 St. Rspr. BGH, NStZ 2018, 51 (53) und NJW 2000, 3505 (3509) zum Konfrontationsrecht; Urteil v. 8.6.2016 – 2 StR 539/15, juris, Rn. 25 m. w. N. zum Zeugen vom Hörensagen; krit.

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Kap. 4: Ausblick auf die mitgliedstaatliche Ebene 

inzwischen aber auch die Wertungen der EMRK ein,252 insbesondere dahingehend, ob ausgleichende prozessuale Maßnahmen bestanden, um die kompromittierte Be­ weiserhebung zu kompensieren.253 Die Annahme eines Beweisverwertungsverbots ist jedoch die Ausnahme und wurde insbesondere bei verspäteter Beiordnung eines Verteidigers oft verweigert, weil den Ermittlungsbeamten keine Willkür nach­ zuweisen gewesen sei.254 Nach Auffassung der Referentenentwürfe soll es auch nach der Neukonzeption des § 141 Abs. 3 StPO-E und des § 68a Abs. 2 JGG-E bei dieser allgemeinen Abwägung und dem Ausnahmecharakter eines Verwertungs­ verbots bleiben.255 a) Beweisverwertungsverbot bei Beschränkung des Zugangs zu einem notwendigen Verteidiger Der verweigerte Zugang zu einem notwendigen Verteidiger ist in der Recht­ sprechung bislang im Rahmen von § 141 Abs. 3 S. 2 StPO diskutiert worden, wenn die Staatsanwaltschaft versäumte, im Ermittlungsverfahren einen Antrag auf Bei­ ordnung zu stellen. Wegen des Ermessens der Staatsanwaltschaft wurde grund­ sätzlich nicht einmal eine Verletzung von § 141 Abs. 3 StPO angenommen, selbst wenn die Voraussetzungen von § 140 Abs. 1 StPO bereits im Ermittlungsverfah­ ren vorlagen256 oder sogar bereits Haftbefehl gegen den Beschuldigten erlassen wurde.257 Bei unterlassener Bestellung eines notwendigen Verteidigers sollte ein Verwertungsverbot lediglich dann möglich sein, wenn die unterlassene Bestellung auf Willkür der Strafverfolgungsbehörden zurückzuführen sei.258

dazu Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 482; Kunert, NStZ 2001, 217 f.; ebenso krit. Wohlers, StV 2014, 564 f., 568. 252 BGH, NStZ 2018, 51 (53). 253 Am Bsp. von Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK ebd.; diese Vorgaben des EGMR aber für zu weit und „inhaltsarm“ haltend Arnoldi, NStZ 2018, 56. 254 St. Rspr., m. w. N. BGHSt 58, 84 (96 f.); 38, 214 (219 f.); in diesem Sinne 32, 221 (217); so bei Missachtung der Belehrungspflicht in § 136 Abs. 1 S. 5 Hs. 2 StPO: NStZ-RR 2018, 219 (220); NJW 2015, 2594 (2596) m. w. N.; BVerfGE 130, 1 (30).; krit. zur aktuellen Ausgestal­ tung der Beweisverwertungsverbote: Löffelmann, StV 2018, 539 f. 255 BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidi­ gung, 2018, a. a. O. Kap. 3, Fn. 49, S. 37; Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Verfahrens­ rechte von Beschuldigten im Jugendstrafverfahren, 2018, a. a. O. Kap. 4, Fn. 133, S. 66. 256 BGHSt 60, 38 (41); 47, 233 (235 ff.); NStZ-RR 2006, 181 (182 f.); NJW 2006, 1008 (1010); NStZ 2004, 390; krit. zu den hohen Hürden der vermeintlichen Verteidigungsfähigkeit eines Beschuldigten Kasiske, HRRS 2015, 69 f.; ebenso abl. zu der strengen Auslegung von Vertei­ digungsfähigkeit Wohlers, JR 2015, 283 („bizarr zu bezeichnendes Bild von der prozessualen Handlungsfähigkeit des unverteidigten Beschuldigten“). 257 BGHSt 60, 38 (41); NStZ 2004, 390. 258 BGHSt 60, 38 (41); zust. dazu BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung, 2018, a. a. O. Kap. 3, Fn. 49, S. 37; krit. Knauer, NStZ 2014, 725; ebenso krit. Kasiske, HRRS 2015, 70 f.; abl. Wohlers, JR 2015, 285.

C. Die eng gefasste Akteursstellung des Beschuldigten

349

Setzt man jedoch die neuen Anforderungen durch EMRK, GRCh und PKH-RL nach der in diesem Vorhaben erarbeiteten Konzeption um und fügt sie in das bis­ lang bestehende deutsche Konzept der notwendigen Verteidigung ein, ist ein Be­ weisverwertungsverbot die gebotene Reaktion auf Beschränkungen des Zugangs zu notwendiger Verteidigung. Eine Neuregelung nach Maßgabe der PKH-RL erfor­ dert einen erweiterten Beiordnungskatalog und erzwingt zugleich die Beiordnung bereits zum frühestmöglichen Zeitpunkt im Ermittlungsverfahren. Im Vergleich zur bisher im Ermittlungsverfahren nur ausnahmsweise möglichen Beiordnung, die allein im (Antrags-)Ermessen der Staatsanwaltschaft stand, wird § 141 StPO in der in diesem Vorhaben angedachten Neukonzeption dadurch zugunsten des Be­ schuldigten zu einem zwingenden Zugang aufgewertet. Eine – für den BGH auch in die Abwägung miteinzubeziehende – hypothetisch noch rechtmäßige Beweis­ erhebung kann es bei der Vernehmung eines eigentlich anspruchsberechtigten, aber unverteidigt gebliebenen Beschuldigten daher nicht mehr geben.259 Diese Wertung wird verstärkt durch den indisponiblen Charakter der Beiord­ nung im Wege notwendiger Verteidigung.260 Ein Wahlrecht des Beschuldigten zugunsten einer Eigenverteidigung enthält § 140 StPO nicht.261 Liegt ein Fall der §§ 140 Abs. 1, 141 Abs. 3 S. 4 StPO vor, wird ein durch einen notwendigen Ver­ teidiger auszugleichendes Autonomiedefizit des Beschuldigten unwiderleglich vermutet.262 Der in dieser Form beigeordnete Verteidiger tritt nach herrschender Ansicht als sog. „Prozesssubjektsgehilfe“263 neben den Beschuldigten als eigent­ lichen Rechteinhaber264 und ermöglicht diesem, seine Wünsche in die Sprache des Strafprozesses wirksam zu übersetzen.

259

A. A. BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Ver­ teidigung, 2018, a. a. O. Kap. 3, Fn. 49, S. 37. 260 Zur Unverzichtbarkeit dieses Rechts selbst bei Rechtskundigkeit des Beschuldigten vgl. BVerfG, NStZ 1998, 363 (364); NJW 1984, 113 f.; OLG Hamm, Beschluss v. 29.1.2004 – 3 Ss 15/04, juris, Rn. 7; OLG Bamberg, NJW 2007, 3796 (3797); demgegenüber abl. Rheinbay, Die Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft, S. 206; insofern bei fehlendem Willen für eine enge an der Charta orientierte Auslegung plädierend: MüKo-Thomas / Kämpfer, StPO, § 140 Rn. 2 f. 261 Krit. Herrmann, StV 1996, 396. 262 In diesem Sinne ebd. („Kontrahierungszwang“, der der „Vorkehrung zur Kompensation von Autonomiedefiziten“ diene). 263 Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 502 ff.; in diesem Sinne auch Welp, ZStW 90 (1978), 119; ebenso zum „Prozesssubjektsgehilfen“ SK-Wohlers, StPO, Vor § 137 Rn. 29 ff. m. w. N.; ders., StV 2010, 151; ders., in: Stuckenberg / Gärditz (Hrsg.), Strafe und Prozess im freiheitlichen Rechtsstaat, S. 631 ff. 264 Vgl. so die eigenen Teilhaberechte des Beschuldigten / Angeschuldigten / Angeklagten in §§ 168c Abs. 2 S. 1, 2, 168d Abs. 1 S. 1, Abs. 2, 240 Abs. 2 S. 1, 257 Abs. 1, 219, 296 Abs. 1, 297, 302 Abs. 2 StPO; grundlegend BGHSt 12, 367 (369 f.); Ambos, ZStW 115 (2003), 607 f.; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24 Rn. 124; Rohne, Notwendige Verteidigung im Ermittlungs­ verfahren, S. 50; Schoeller, Beiordnung von Pflichtverteidigern, S. 176; krit. dazu Gaede, Fair­ ness als Teilhabe, S. 559 ff.; ebenso krit. Lam / Meyer-Mews, NJW 2012, 179.

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Kap. 4: Ausblick auf die mitgliedstaatliche Ebene 

Diese Ausgestaltung steht in dieser Form in Einklang mit Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK und Art. 48 Abs. 2 GRCh. Sie bewirkt aber auch, dass ab dem Zeitpunkt des Eintretens der Voraussetzungen notwendiger Verteidigung der Beschuldigte nicht mehr vernommen werden darf.265 Der Beschuldigte kann nach bisheriger Konzeption der notwendigen Verteidigung im deutschen Recht auf dieses Recht nicht verzichten. Jede weitere Vernehmung des unverteidigten Beschuldigten, obwohl die Voraussetzungen der §§ 140 f. StPO vorliegen, verletzt damit dessen Recht auf Zugang zu einem Verteidiger. Dadurch kommt es voraussichtlich zu der Konstellation, dass ein Beschuldigter ohne Anspruch auf notwendige Verteidigung in gewisser Weise „schlechter gestellt“ wird. Seine Vernehmung darf auch ohne einen Verteidiger fortgesetzt werden, wenn er wirksam auf sein Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand verzichtet. Im Fall notwendiger Verteidigung existiert diese Möglichkeit nicht. In der Begründung des Referentenentwurfs zu den möglichen Ausnahmen von dieser zwingenden Beiordnungspflicht gem. § 141 Abs. 3 StPO-E und gem. § 68a Abs. 2 JGG-E soll die unterlassene Beiordnung trotzdem nach den bisherigen Maß­ stäben der Abwägungslehre beurteilt werden und nur im Ausnahmefall zu einem Verwertungsverbot führen.266 Dabei wendet sich auch die in diesem Promotions­ vorhaben vorgesehene Auslegung nicht von der Abwägungslehre an sich ab. Aller­ dings haben sich bei näherer Betrachtung der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Abwägungslehre in diesen Fällen gerade die Parameter geändert, die zuvor aus der Perspektive der Rechtsprechung gegen ein Verwertungsverbot gesprochen haben. Selbst wenn § 141 Abs. 3 StPO-E und § 68a Abs. 2 JGG-E in dieser Form (zulässige) Eingriffsgrundlagen wären, würde durch beide nur zusätzlich betont, dass dieses Recht außerhalb der dort vorgesehenen Möglichkeiten keinen darüber hinausgehenden Eingriffen der Strafverfolgungsbehörden offen steht. Dies muss sich entgegen der Ansicht der Referentenentwürfe somit auch auf Ebene der Be­ weisverwertung auswirken. b) Beweisverwertungsverbot bei fehlerhafter oder unterbliebener Belehrung gem. § 136 Abs. 1 S. 5 Hs. 2 StPO Aus dieser Neukonzeption notwendiger Verteidigung folgt auch eine Aufwer­ tung der Belehrungspflicht in § 136 Abs. 1 S. 5 Hs. 2 StPO. Danach müssen die Ermittlungsbehörden den Beschuldigten bei der ersten Vernehmung darüber be­ lehren, dass er unter den Voraussetzungen von den §§ 140 f. StPO die Bestellung eines notwendigen Verteidigers beanspruchen kann.

265

So schon für den Fall von § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO, vgl. Wohlers, StV 2010, 156. BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidi­ gung, 2018, a. a. O. Kap. 3, Fn. 49, S. 37; Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Verfahrens­ rechte von Beschuldigten im Jugendstrafverfahren, 2018, a. a. O. Kap. 4, Fn. 133, S. 66. 266

C. Die eng gefasste Akteursstellung des Beschuldigten

351

Die Rechtsprechung stuft bislang die innerhalb von § 136 Abs. 1 StPO existieren­ den Belehrungspflichten als unterschiedlich bedeutungsvoll für das faire Verfahren des Beschuldigten ein.267 Der Belehrung über das Recht auf notwendige Verteidi­ gung käme dabei – insbesondere im Vergleich zur Belehrung über das Recht auf Zugang zu einem Verteidigungsbeistand – nur geringere Bedeutung zu.268 Denn die Regelungen über die notwendige Verteidigung würden zusätzlichen Voraus­ setzungen unterliegen und seien im Ermittlungsverfahren einem Antrag des Be­ schuldigten ohnehin nicht zugänglich.269 Daher sei es gerechtfertigt, kein absolutes Beweisverwertungsverbot für Verstöße gegen diese Belehrungspflicht vorzusehen, sondern nur im Einzelfall bei nachweisbarer Willkür der Strafverfolgungsbehörden ein solches zu verhängen.270 Diese Argumentation ist im Hinblick auf die durch die europäischen Anfor­ derungen erforderlich werdenden Neuerungen nicht mehr zu halten. Zwar unter­ liegt notwendige Verteidigung nach wie vor zusätzlichen Voraussetzungen in den §§ 140 f. StPO, sie wird jedoch in Zukunft durch den Beschuldigten selbst beantragt werden können. Dies ist auch nach den insgesamt restriktiven Umsetzungsplänen des Referentenentwurfs in § 141 Abs. 1 StPO-E vorgesehen. Zudem erfordert die nunmehr zeitliche Vorverlagerung der notwendigen Verteidigung von den Be­ hörden eine Prüfung dahingehend, ob die Voraussetzungen der §§ 140 f. StPO vor der Vernehmung gegeben sind und damit eine Beiordnung erfordern.271 In dieser Konstellation unterliegt notwendige Verteidigung keinen weiteren Voraussetzun­ gen mehr. Es ist dann ein Verteidiger beizuordnen. Für den mittellosen und anspruchsberechtigten Beschuldigten ist notwendige Verteidigung zudem der einzig mögliche Zugang zu einem Rechtsbeistand. Nur darüber wird er befähigt, auf einen Verteidiger zurückzugreifen, der für ihn als Korrektiv im Verfahren tätig wird. Der BGH führt zur fehlerhaften bzw. fehlenden Belehrung auf die Möglichkeit der Hinzuziehung eines Verteidigers gem. § 136 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 StPO aus, dass diese Belehrung „selbst nach erteiltem Hinweis auf die umfassende Schweigebefugnis, von besonderer Bedeutung für die rechtlich geschützte Spähre [sic] des Beschuldigten ist und die Aufgabe hat, die Grundlagen seiner verfahrensrechtlichen Stellung im Strafverfahren zu sichern“.272 Der Hin­ weis verdeutliche dem Beschuldigten gerade seine prozessualen Möglichkeiten.273 Diese Erwägungen gelten jedoch ebenso für die Belehrung aus § 136 Abs. 1 S. 5 Hs. 2 StPO. Das (formell verteidigte) Recht auf Selbstbelastungsfreiheit ist für den 267

BGHSt 47, 172 (174); NStZ 1997, 609 a. E.; OLG Köln, JZ 2016, 264 (268) m. abl. Anm. Schuhr, JR 2016, 273. 268 BGH, NStZ-RR 2018, 219; OLG Köln, JZ 2016, 264 (268). 269 BGH, NStZ-RR 2018, 219 (220). 270 Ebd. 271 Vgl. zu dieser Vorverlagerung auch im Referentenentwurf des BMJV, und die Anm. dazu o. Kap. 4 C. I. 1., 4. 272 BGH, NStZ 1997, 609 (610) m. w. N. 273 BGHSt 47, 172 (174).

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Kap. 4: Ausblick auf die mitgliedstaatliche Ebene 

mittellosen und gem. den §§ 140 f. StPO anspruchsberechtigten Beschuldigten al­ lein über notwendige Verteidigung zu erreichen. Für ihn ist der Hinweis auf die Möglichkeit eines Rechtsbeistandes für seine Rechtsstellung quasi unerheblich, wenn er diesen ohnehin finanziell außer Reichweite glaubt.274 In diesem Sinne ist notwendige Verteidigung für den mittellosen Beschuldigten entgegen der bisheri­ gen Ansicht des BGH doch eine für die Verfahrensstellung „konstitutive Bestim­ mung.“275 Auch die „verfahrensmäßige Stellung“ des mittellosen Beschuldigten ist „in ihren Grundlagen“ zu schützen.276 Dies ist nur über eine Aufwertung der Belehrung in § 136 Abs. 1 S. 5 Hs. 2 StPO und ein dies absicherndes Beweisver­ wertungsverbot zu leisten.277

D. Unzureichende Rahmenbedingungen der Pflichtverteidigung Gem. Art. 7 PKH-RL treffen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnah­ men auch finanzieller Art, um ein wirksames System strafrechtlicher Prozesskos­ tenhilfe und die Qualität der mit strafrechtlicher Prozesskostenhilfe verbundenen Dienstleistungen angemessen zu sichern. Zudem schreibt Art. 6 Abs. 1 PKH-RL vor, dass die Entscheidung über die Bewilligung strafrechtlicher Prozesskosten­ hilfe und über die Bestellung eines notwendigen Verteidigers einer unabhängigen Instanz obliegen solle. Dadurch werden zum einen die Form der Finanzierung not­ wendiger Verteidigung vorgegeben und zum anderen die Rahmenbedingungen für die Auswahl bezüglich der Personen der Pflichtverteidiger festgelegt.

I. Vorläufige Kostenübernahme Strafrechtliche Prozesskostenhilfe soll genügend finanzielle Mittel bereitstellen, um dem Beschuldigten einen Pflichtverteidiger zugänglich zu machen. Aufgeladen mit den Anforderungen aus EMRK, GRCh und PKH-RL bedeutet dies, dass der Beschuldigte orientiert an seiner Leistungsfähigkeit sowohl an den Kosten betei­ ligt werden als auch die nur vorläufig übernommene Pflichtverteidigervergütung zurückgefordert werden kann.278 Diese Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit des Beschuldigten sieht die deutsche Regelung vor. Die Kosten werden ungeachtet der konkreten Leistungsfähigkeit zunächst von der Staatskasse getragen. Erst mit dem rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens wird über die Kostentragung und -verteilung befunden. Der Beschuldigte muss die 274

Vgl. dazu nur den Sachverhalt in BGH, NStZ-RR 2006, 181 (182 f.). BGH, NStZ-RR 2018, 219 (220). 276 BGH, NStZ 1997, 609 (610) m. w. N. 277 In diesem Sinne auch MüKo-Schuhr, StPO, § 136 Rn. 63; ders., JR 2016, 273. 278 Vgl. o. Kap. 2 A. IV. 1. sowie Kap. 3 A. V. 1. 275

D. Unzureichende Rahmenbedingungen der Pflichtverteidigung

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Kosten tragen, wenn er verurteilt wurde, vgl. § 465 Abs. 1 S. 1 StPO.279 Wegen der Kosteneinheit des gesamten Verfahrens bedeutet dies, dass erst nach rechtskräf­ tigem Abschluss des Verfahrens, also auch erst nach Ausschöpfung aller Rechts­ mittel inklusive einer weiteren Tatsacheninstanz nach Zurückverweisung, eine Entscheidung über die Kostentragung ergeht.280 Der Pflichtverteidiger kann vom Staat als vorläufiger Kostenträger im Verfahren gem. § 47 Abs. 1 S. 1 RVG Vor­ schuss in Höhe der entstandenen, aber noch nicht zwingend fälligen Gebühren verlangen.281 Bei etwaigen Rückforderungen hat der Beschuldigte grundsätzlich zwei Gläubi­ ger: Den Staat sowie seinen Pflichtverteidiger. Eine Rückforderung durch den Staat muss der Beschuldigte nur bei Verurteilung befürchten, § 465 Abs. 1 S. 1 StPO. Die Vollstreckung richtet sich dann nach dem Justizbeitreibungsgesetz, vgl. § 1 Abs. 1 Nr. 4, 9 JBeitrG. Dabei wird auch die Leistungsfähigkeit des Verurteilten berück­ sichtigt. Denn gem. § 6 Abs. 1 Nr. 1 JBeitrG werden die Pfändungsschutzvorschrif­ ten der §§ 850c ff. ZPO zur Anwendung gebracht.282 Insbesondere über § 850c ZPO wird der Beschuldigte geschützt, weil dieser Pfändungsfreigrenzen beim Arbeitseinkommen festschreibt und dabei Unterhaltspflichten berücksichtigt.283 Über diese Vollstreckungsschutzvorschriften wird folglich die Leistungsfähigkeit des Verurteilten berücksichtigt und zur Grundlage der Rückforderung gemacht. Bei der potenziellen Rückforderung durch den vorherigen Pflichtverteidiger ist eine solche Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit bereits auf Ebene der An­ spruchsentstehung geregelt. Gem. § 52 Abs. 2 RVG erhält der Pflichtverteidiger einen eigenen Vergütungsanspruch in Höhe der Wahlverteidigergebühren, der neben den Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse tritt.284 Wird der Beschul­ digte verurteilt, kann der Pflichtverteidiger von ihm die Gebühren eines Wahlver­ teidigers verlangen, wenn das Gericht des ersten Rechtszugs auf Antrag des Ver­ teidigers feststellt, dass der Beschuldigte ohne Beeinträchtigung des für ihn und seine Familie notwendigen Unterhalts zur Zahlung oder zur Leistung von Raten in der Lage ist, vgl. § 52 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 RVG. In diesem Fall wird die Leistungs­ fähigkeit des Beschuldigten über die zu den Pfändungsfreigrenzen gem. §§ 850c ff. ZPO sowie die zur Prozesskostenhilfe gem. §§ 114 ff. ZPO entwickelten Maß­ stäbe berücksichtigt.285 279

Veranlasserprinzip, vgl. BGH, NStZ-RR 2006, 32; zur Verfassungsmäßigkeit vgl. BVerfGK 8, 285 (288 ff.) m. abl. Anm. Eisenberg, JR 2006, 482 f.; BVerfGE 18, 302 (304). 280 BGH, NStZ-RR 1999, 63; NStZ 1982, 80; KK-Gieg, StPO, § 465 Rn. 3 m. w. N. 281 BeckOK-Sommerfeldt / Sommerfeldt, RVG, § 47 Rn. 4; Mayer / K roiß-Ebert, RVG, § 47 Rn. 3 f. 282 Eine Klarstellung dieser Rechtslage in § 465 StPO fordernd: BRAK, Stellungnahme Nr. 34/2018, S. 4. 283 So auch Schlothauer / Neuhaus / Matt / Brodowski, HRRS 2018, 57, 62, 68. 284 M. w. N. Hartmann, KostG, § 52 RVG Rn. 1, 6; Mayer / Kroiß, RVG, § 52 Rn. 2. 285 Hartmann, KostG, § 52 Rn. 29, 31 m. w. N.; Mayer / Kroiß, RVG, § 52 Rn. 15; Riedel / Suß­ bauer-Kremer, RVG, § 52 Rn. 21.

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Kap. 4: Ausblick auf die mitgliedstaatliche Ebene 

Der Pflichtverteidiger kann aber auch vom Verurteilten die Zahlung der Gebüh­ ren eines gewählten Verteidigers verlangen, wenn dieser freigesprochen oder das Verfahren gegen ihn eingestellt wurde, vgl. § 52 Abs. 2 S. 1 Hs. 1 RVG, wenn ihm ein Erstattungsanspruch gegen den Verurteilten zusteht, so z. B. aus §§ 467 Abs. 1, 467a StPO oder aus § 473 Abs. 2–4 StPO.286 Dies gilt jedoch nur in dem Umfang, in dem die Staatkasse die Kosten nicht bereits getragen hat, vgl. § 52 Abs. 1 S. 2 RVG. Die bereits durch den Staat gezahlten Pflichtverteidigergebühren werden folglich vollständig verrechnet.287 Sinn und Zweck ist, dass der Beschuldigte sich nicht über den Erstattungsanspruch gegen den Staat bereichert und damit besser steht als vor dem Verfahren. Der Pflichtverteidiger soll daher einen Anspruch darauf haben, den Erstattungsanspruch vom Beschuldigten abzuschöpfen.288 Nur insoweit dieser Erstattungsanspruch des Verurteilten gegen den Staat besteht, ver­ mutet § 52 Abs. 2 S. 1 Alt. 1 RVG die Leistungsfähigkeit des Verurteilten unwider­ leglich.289 Für darüber hinausgehende Wahlverteidigergebühren muss wiederum das Feststellungsverfahren bezüglich der Leistungsfähigkeit des Verurteilten gem. § 52 Abs. 2 S. 1 Hs. 2 RVG angestrengt werden.290 Mithin entspricht die aktuelle Rückforderungsregelung den Anforderungen aus EMRK und GRCh.

II. Pflichtverteidiger: Qualitätssicherung und Auswahlverfahren Gem. Art. 7 Abs. 1 lit. b, Abs. 2 PKH-RL müssen die Mitgliedstaaten Maß­ nahmen ergreifen, um die angemessene Qualität der im Zusammenhang mit not­ wendiger Verteidigung erbrachten Dienstleistungen sicherzustellen, sowohl im nationalen als auch im transnationalen Strafverfahren. Die Entscheidung über die Bestellung eines notwendigen Verteidigers soll zudem durch eine unabhängige Behörde getroffen werden, vgl. Art. 6 Abs. 1 PKH-RL.291 Daraus folgt, dass die konkrete Ausgestaltung des Auswahlverfahrens novel­ liert, die für Pflichtverteidigung zugelassenen Rechtsbeistände begrenzt und ein an diese Beschränkungen angepasstes Recht des Beschuldigten, einen Verteidiger seiner Wahl zu beauftragen bzw. einen vorherigen Verteidiger auswechseln zu las­ sen, geschaffen werden muss.

286

Vgl. m. w. N. Hartmann, KostG, § 52 Rn. 16 f.; Mayer / Kroiß, RVG, § 52 Rn. 7. OLG Jena, Beschluss v. 28.2.2014 – 1 Ws 403/13, juris, Rn. 17 m. w. N.; zur Quotelung bei Teilfreispruch vgl. OLG Nürnberg, Beschluss v. 11.11.2016 – 1 Ws 475/16, juris, Rn. 6; m. w. N. OLG Celle, Beschluss v. 8.8.2016 – 1 Ws 382/16, juris, Rn. 24; m. w. N. OLG Saarland, Beschluss v. 10.11.2015 – 1 Ws 197/15, juris, Rn. 19; zust. Mayer / Kroiß, RVG, § 52 Rn. 2. 288 Hartmann, KostG, § 52 Rn. 17. 289 BeckOK-Sommerfeld / Sommerfeldt, RVG, § 52 Rn. 7; Riedel / Sußbauer-Kremer, RVG, § 52 Rn. 23. 290 Riedel / Sußbauer-Kremer, RVG, § 52 Rn. 23. 291 Vgl. m. w. N. o. Kap. 3 V. 3. 287

D. Unzureichende Rahmenbedingungen der Pflichtverteidigung

355

1. Beschränkung der für die Pflichtverteidigung zugelassenen Rechtsbeistände Gem. Art. 7 Abs. 1 lit.  b PKH-RL müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass die Qualität der mit der Prozesskostenhilfe verbundenen Dienstleistungen angemessen ist, um die Fairness des Verfahrens zu wahren. Zugleich müssen sie geeignete Maßnahmen zur Förderung geeigneter Weiterbildungsmaßnahmen für Rechtsbeistände ergreifen, die Dienstleistungen im Rahmen von Prozesskosten­ hilfe erbringen. Dadurch wird den Mitgliedstaaten abverlangt, Kriterien zu etab­ lieren, die die Qualifikation des jeweiligen Verteidigers für die Pflichtverteidigung sicherstellen. a) Beschränkung des für Pflichtverteidigung zugelassenen Personenkreises Gem. § 138 Abs. 1 StPO dürfen alle Rechtsanwälte und Hochschullehrer,292 so­ wie unter den zusätzlichen Voraussetzungen von § 142 Abs. 2 StPO auch Rechts­ referendare,293 Pflichtverteidigung leisten. Eine Beschränkung gilt lediglich für Syndikusrechtsanwälte gem. § 46c Abs. 2 S. 2 BRAO. Danach dürfen diese – ent­ sprechend den vom EuGH aufgestellten Maßstäben –294 nicht als Verteidiger oder Vertreter in einem Straf- oder Bußgeldverfahren gegen ihren Arbeitgeber oder dessen Mitarbeiter tätig werden, wenn Gegenstand des Straf- oder Bußgeldverfah­ rens ein unternehmensbezogener Tatvorwurf ist. Im Übrigen jedoch können alle in §§ 138 Abs. 1, 142 Abs. 2 StPO benannten Personengruppen Pflichtverteidigung leisten, ohne weitere Fachkenntnis oder Erfahrung belegen zu müssen. Bei Referendaren ist der Mangel an Erfahrung in Sachen Strafverteidigung of­ fenkundig. Die Beiordnungssituationen in den §§ 140 f. StPO sind zudem bislang so streng geregelt und erfassen grundsätzlich nur derart schwerwiegende Fälle, dass fraglich ist, inwiefern ein Referendar damit beauftragt werden können soll.295 Aber auch nicht jeder zugelassene Rechtsanwalt ist in der Lage, einen Beschuldigten effektiv zu verteidigen,296 wenn er üblicherweise vorrangig oder allein in ande­ 292

M. w. N. BeckOK-Wessing, StPO, § 138 Rn.  4; Satzger / Schluckebier / Widmaier-Beulke, StPO, § 138 Rn. 17 ff.; abl. dazu Kortz, Die Notwendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 142 f.; grds. für einen Rechtsanwaltsvorbehalt plädierend: Jaeger, NJW 2004, 6 f. 293 Vgl. zu den Voraussetzungen von § 142 Abs. 2 StPO: BGH, NJW 1975, 2351 f.; zust. Kühne, Strafprozessrecht, Rn.  169; m. w. N. Satzger / Schluckebier / Widmaier-Beulke, StPO, § 142 Rn. 34 ff.; zur geringfügigen Bedeutung dieser Vorschrift: Barton, Mindeststandards der Strafverteidigung, S. 98, 100, 102. 294 Vgl. o. Kap. 2 B. III. 4. 295 Im Referentenentwurf des BMJV wurde § 142 Abs. 2 StPO deswegen auch gestrichen, vgl. BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung, 2018, a. a. O. Kap. 3, Fn. 49, S. 8, 23, 38. 296 A. A. BGHSt 48, 170 (172).

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ren Rechtsgebieten tätig ist. Insofern ist weder die Regelung in § 142 Abs. 2 StPO noch in § 138 Abs. 1 StPO in ihrer bisherigen Weite haltbar.297 Vielmehr muss kon­ kreter festgestellt werden, welche Kriterien Rechtsanwälte erfüllen müssen, um als Pflichtverteidiger bestellt werden zu können. Die Festlegung solcher Kriterien ist schwierig, weil die Mitgliedstaaten zum einen die Qualität der Dienstleistung über gewisse Anforderungen sicherzustel­ len haben, zum anderen aber auch die Anforderungen nicht derart hoch ansetzen dürfen, dass nur eine unzureichende Zahl an Rechtsanwälten überhaupt für die Pflichtverteidigung zugelassen wird und damit womöglich der bestehende Be­ darf nicht gedeckt werden kann. Die einzige Akkreditierung, die bislang besteht und Expertise und Erfahrung im Strafrecht bezeugt, ist der Titel des Fachanwalts für Strafrecht, weil dieser gem. § 15 FAO auch nur geführt werden darf, wenn die Person sich laufend fortbildet.298 Übergangsweise kann auf diesen Mechanis­ mus auch zurückgegriffen werden.299 Es ist jedoch fraglich, ob damit der Bedarf an sich gedeckt werden kann: Von insgesamt im Jahr 2018 164.656 zugelassenen Rechtsanwälten300 sind etwas weniger als ein Drittel, 55.274 Rechtsanwälte, als Fachanwälte zugelassen. Von diesen wiederum sind nur 3.553 Fachanwälte für Strafrecht.301 Daher sollten die Rechtsanwaltskammern unabhängig von der bisher existie­ renden Fachanwaltszulassung eigene Akkreditierungsmaßstäbe entwickeln, die sowohl Fachkenntnis302 als auch Erfahrung303 im Strafrecht zur Grundlage ma­ chen. Dies könnte durch einen vorgeschriebenen Mindestzeitraum der Zulassung bewirkt werden, sowie durch eine kontinuierliche Fortbildungsverpflichtung in einem gewissen Zeitumfang, wenngleich abgemildert gegenüber derjenigen des

297 Teilweise zustimmend BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung, 2018, a. a. O. Kap. 3, Fn. 49, S. 38 ff. 298 Schlothauer, StV 2018, 173; als Ausweis für Erfahrung und Fachkenntnis, Schoeller, Beiordnung von Pflichtverteidigern, S. 374; dies schon früher wenigstens bei Verbrechens­ vorwürfen anmahnend Thielmann, HRRS 2009, 454; Wohlers, StV 2010, 156. 299 A. A. Barton, Mindeststandards der Strafverteidigung, S. 249 ff. („nicht mehr verhältnis­ mäßig“). 300 BRAK, Entwicklung der Zahl zugelassener Rechtsanwälte von 1950 bis 2018, Berlin 2018, https://www.brak.de/w/files/04_fuer_journalisten/statistiken/2018/grafik-entwicklungrae-seit-1950.pdf (geprüft am: 10.12.2019). 301 Dies., Entwicklung der Fachanwaltschaften seit 1960, Berlin 2018, https://www.brak.de/w/ files/04_fuer_journalisten/statistiken/2018/entwicklung-fae.pdf (geprüft am: 10.12.2019); für eine deckende Versorgung daher auch das Fachanwaltschaftssystem als wichtig sehend: BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung, 2018, a. a. O. Kap. 3, Fn. 49, S. 40. 302 Schoeller, Beiordnung von Pflichtverteidigern, S. 374; Wenske, NStZ 2010, 480; Wohlers, StV 2010, 155. 303 Schoeller, Beiordnung von Pflichtverteidigern, S. 374; Schlothauer, StV 1981, 443; ders., StV 2018, 173.

D. Unzureichende Rahmenbedingungen der Pflichtverteidigung

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Fachanwalts für Strafrecht, vgl. § 15 Abs. 3 FAO.304 Ebenso ist es möglich, die von Rechtsanwälten öffentlich geführten Tätigkeitsschwerpunkte mit einzubezie­ hen. Denn diese dürfen nach § 7 BORA nur geführt werden, wenn entsprechende theoretische Kenntnisse und Erfahrung bestehen.305 Abzurücken ist dagegen von Kriterien, die zwar eine allgemeine Befähigung oder ein Interesse des Rechtsan­ walts zum Ausdruck bringen, über seine Erfahrung und Expertise im Strafrecht jedoch nichts aussagen. Daher sind sowohl Interessenschwerpunkte, die auch von Berufsanfängern geführt werden dürfen,306 als auch Examensnoten nicht aussage­ kräftig dafür, ob jemand für Pflichtverteidigung befähigt ist.307 Der Referentenentwurf des BMJV greift die Bedenken der PKH-RL auf und verengt den Kreis der nunmehr tauglichen Pflichtverteidiger. § 142 Abs. 2 StPO, der Referendaren die Tätigkeit als Pflichtverteidiger ermöglicht, soll wegfallen.308 Zudem soll, wenn der Beschuldigte nicht selbst einen Verteidiger gewählt hat309 und das Gericht den Pflichtverteidiger auswählt, vgl. § 142 Abs. 4 S. 2 S. 1 StPO-E, die Auswahl dieses Pflichtverteidigers beschränkt sein auf Fachanwälte für Straf­ recht sowie auf solche Rechtsanwälte, die ihr Interesse an Pflichtverteidigung be­ kunden. Wählt ein Beschuldigter selbst einen Pflichtverteidiger seines Vertrauens aus, soll folglich jeder zugelassene Rechtsanwalt diese Pflichtverteidigung über­ nehmen können. Dem Wunsch des Beschuldigten soll Vorrang vor den gesetzlich festgelegten Qualitätsanforderungen an einen Pflichtverteidiger eingeräumt wer­ den.310 Der vom Beschuldigten benannte Pflichtverteidiger müsse dann im Rah­ men seiner standesrechtlichen Verantwortung entscheiden, ob er befähigt sei, die Pflichtverteidigung des Beschuldigten wirksam zu übernehmen.311 Der Beschuldigte würde dadurch grundsätzlich dem bemittelten Beschuldigten gleichgestellt, der seinen Wahlverteidiger auch aus jedem zugelassenen Rechts­ anwalt auswählen darf. Dies deckt sich jedoch nicht mit den Anforderungen aus Art. 7 Abs. 1 PKH-RL. Denn dieser verlangt von den Mitgliedstaaten grundsätz­ liche Mechanismen, die die Qualität der mit der Prozesskostenhilfe verbundenen Dienstleistung absichern – unabhängig davon, ob es sich bei dem Pflichtverteidiger um einen für den oder vom Beschuldigten ausgewählten Pflichtverteidiger han­ delt. Dadurch wird eine klare Rangfolge zwischen Wahlrecht und Qualitätssiche­ rung zugunsten einer qualitativen Sicherung der Pflichtverteidigung geschaffen. 304 Dies in einem konkreten Gesetzesvorschlag ausformulierend: Schlothauer / Neuhaus / ​ Matt / Brodowski, HRRS 2018, 60; gleichfalls, einen höheren Fortbildungsaufwand fordernd: Bahns / Burkert / Guthke / Kitlikoglu u. a., Neuordnung der Pflichtverteidigerbestellung, S. 33 f. 305 Schoeller, Beiordnung von Pflichtverteidigern, S. 375; vgl. zur Auslegung m. w. N. BGH, NJW 2017, 669 f. 306 So auch Schoeller, Beiordnung von Pflichtverteidigern, S. 375. 307 A. A. für möglich haltend ebd.; ebenso Wenske, NStZ 2010, 482. 308 BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidi­ gung, 2018, a. a. O. Kap. 3, Fn. 49, S. 23. 309 Ebd. 310 Ebd., S. 40. 311 Ebd.

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Kap. 4: Ausblick auf die mitgliedstaatliche Ebene 

Dieses Umsetzungserfordernis gelingt dem aktuellen Entwurf in § 142 Abs. 3, 4 StPO-E nicht. Zusätzlich überzeugt auch die Auswahl der Qualitätskriterien nicht. Laut dem Referentenentwurf des BMJV würde durch die Ausweitung auf solche Rechtsan­ wälte, die ihr Interesse an Pflichtverteidigung bekunden, eine flächendeckende Versorgung mit Pflichtverteidigern gewährleistet, die „[d]urch diese Interessens­ bekundung […] ihren besonderen fachlichen Bezug zur Strafverteidigung und ihre Bereitschaft, sich durch eine verstärkte forensische Tätigkeit laufend fortzubilden“ herausstellen würden.312 Das ist ein Ansatzpunkt, der tatsächlich eine bedarfsge­ rechte Abdeckung mit Pflichtverteidigern bewirken dürfte. Allerdings ist fraglich, warum der Entwurf auf dieses Merkmal der Interessensbekundung zurückgreift. Dies wird einerseits zusätzlich bürokratisch erfordern, dass ein solches Interesse den Rechtsanwaltskammern mitgeteilt und dort geführt wird. Andererseits ist es ein Kriterium, das nur ein Interesse an der Pflichtverteidigung an sich zum Aus­ druck bringt, nicht aber einen „besonderen fachlichen Bezug“ belegt. Dieses Inter­ esse an Pflichtverteidigung kann aus vielerlei, auch insbesondere Akquisegründen, motiviert sein. Es fragt sich daher, warum nicht wenigstens auf bereits bestehende Kriterien zurückgegriffen wurde, die Expertise über das Interesse hinaus tatsäch­ lich nachweisen, wie z. B. der Tätigkeitsschwerpunkt nach § 7 BORA, und dem­ entsprechend standesrechtlich abgesichert sind. Es wird nur augenscheinlich der Kreis der geeigneten Pflichtverteidiger verengt, tatsächlich aber wird die Pflicht­ verteidigung über das Kriterium der Interessensbekundung allen Rechtsanwälten ohne Rückbindung an theoretische oder praktische Erfahrung geöffnet. Das ist nach dem Ergebnis dieses Vorhabens nicht mit den Vorgaben insbesondere auch der PKH-RL vereinbar. b) Exkurs zur Pflichtverteidigervergütung Die Mitgliedstaaten sollen zudem die erforderlichen Maßnahmen auch finanzieller Art treffen müssen, um ein angemessenes System strafrechtlicher Prozess­ kostenhilfe zu garantieren, vgl. Art. 7 Abs. 1 PKH-RL. Die PKH-RL enthält jedoch keine genauen Vorgaben für die Höhe der Vergütung, außer dass sie angemessen sein muss. Dies dürfte in Deutschland grundsätzlich313 auch der Fall sein. Bislang ist die Vergütung nach RVG für Pflichtverteidiger gem. Vorbem. 4 Abs. 1 VV RVG der Höhe nach beschränkt auf zurzeit 80 % der Mittelgebühr eines

312

Ebd. Grds. a. A. Leipold, AnwBl. 2004, 686; zu den Ausnahmen gerade in Umfangsverfahren vgl. m. w. N. Fromm, NJW 2013, 357 ff.; vgl. aber zum intendierten Ausgleich in Umfangs­ verfahren durch die Pauschgebühr gem. § 51 RVG, vgl. m. w. N. OLG Düsseldorf, Beschluss v. 19.4.2018 – 3 AR 256/16, 3 AR 257/16, 3 AR 258/16, 3 AR 259/16, juris, Rn. 4 a. E.; grund­ legend dazu m. w. N. BVerfG, NJW 2007, 3420.

313

D. Unzureichende Rahmenbedingungen der Pflichtverteidigung

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Wahlanwalts.314 Über § 52 RVG kann der Pflichtverteidiger jedoch zumeist auch die Differenz der Gebühr zu einem Wahlverteidiger verlangen.315 Zudem versucht das RVG Ausgleich für besondere Härten zu schaffen, indem es für Pflichtverteidiger Längenzuschläge für lange Verhandlungstage vorsieht,316 sowie eine Pauschgebühr gem. § 51 RVG in Umfangsverfahren, wenn die gesetzlichen Gebühren unzumutbar sind.317 Inzwischen gilt die Pflichtverteidigung nicht mehr als Verlustgeschäft,318 wenngleich die letzte Erhöhung der Gebühren inzwischen 15 Jahre zurückliegt.319 Jedoch ist zu bedenken, wie die Vergütung des Pflichtverteidigers  – gerade wenn besondere Qualifikationen für die Pflichtverteidigung verlangt werden –, so ausgestaltet werden kann, dass die Tätigkeit als Pflichtverteidiger jedenfalls so at­ traktiv bleibt, dass der Bedarf an notwendigen Verteidigern gedeckt werden kann. Der Gesetzgeber muss nicht zwingend mit einer Gebührenerhöhung reagieren, wenn über die Akkreditierungserfordernisse Qualität sichergestellt wird. Er darf auch Pflichtverteidigung als Ressource des Staates sehen und dementsprechend versuchen, kosteneffizient zu vergüten. Eine regelmäßige Anpassung der Ver­ gütung an ansteigende Preise und geänderte Lebensverhältnisse ist jedoch nötig, weil der Staat insoweit auf die Rechtsanwälte als Dienstleister angewiesen ist und von diesen nicht erwartet werden kann, sich für die Pflichtverteidigung finanziell zu überfordern. Die genaue Ausgestaltung dessen ist den Mitgliedstaaten weitgehend überlassen. Jedenfalls aber muss das RVG und das VV RVG um die neu hinzukommenden Positionen und Handlungsmöglichkeiten des Pflichtverteidigers ergänzt werden. Eine solche Anpassung im RVG wird bislang im Gesetzgebungsverfahren jedoch nicht vorgeschlagen, obwohl die auch vom Referentenentwurf vorgezogene Be­ stellung des Pflichtverteidigers einen viel umfangreicheren Tätigkeitsbereich im Ermittlungsverfahren vorsieht. So erfolgt bislang nach den Gebührenpositionen z. B. keine Vergütung für Gegenüberstellungen außerhalb der Grundgebühr, vgl. Nr. 4102 VV RVG. Zudem erscheint die – ohnehin sehr knappe – Bemessung der

314

Zur Verfassungskonformität BVerfGE 110, 226 (261); NJW 2007, 3420; NJW 2005, 3699; OLG Düsseldorf, Beschluss v. 19.4.2018 – 3 AR 256/16, 3 AR 257/16, 3 AR 258/16, 3 AR 259/16, juris, Rn. 4. 315 So auch Thielmann, HRRS 2013, 289; m. w. N. vgl. o. Kap. 4 D. I. 316 Vgl. Nr. 4110 f., 4116 f., 4122 f., 4128 f., 4134 f. VV RVG; m. w. N. dazu Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, Rn. 2948 f. 317 M. w. N. dies aber immer noch als unzureichend erachtend Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, Rn. 2956; a. A. BVerfG, Beschluss v. 1.6.2011 – 1 BvR 3171/10, juris, Rn. 18; NJW 2007, 3420; NJW 2005, 3699. 318 Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 193; ebenso grundsätzlich pos. Mehle, NJW 2007, 970 („gute Grundlage für die anwaltliche Existenz“); Wenske, NStZ 2010, 481 („erheblicher[r] wirtschaftliche[r] Bedeutungszuwachs“); zur früheren Lage krit. Eisenberg / Classen, NJW 1990, 1021 ff.; ebenso mit Rechenbeispielen zur früheren Lage Barton, Mindeststandards der Strafverteidigung, S. 254 ff. 319 Im Jahr 2004, vgl. BGBl. I-2004, 718.

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Kap. 4: Ausblick auf die mitgliedstaatliche Ebene 

Grundgebühr i. H. v. 160,00 EUR320 nicht mehr angemessen, wenn der Pflichtver­ teidiger davon noch mehr Verteidigungsaufgaben erbringen muss. Bei einer der­ art bemessenen Grundgebühr wird gerade ein Anreiz gesetzt, auf die einzelnen Verteidigungshandlungen weniger Zeit aufzuwenden. Werden solche Fehlanreize gesetzt, steht die Angemessenheit der Vergütungsstruktur in Frage. 2. Auswahl durch eine unabhängige Entscheidungsinstanz und im Rahmen eines transparenten Verfahrens? Nach der PKH-RL sowie den Anforderungen von EMRK und GRCh soll die Auswahl des zu bestellenden Pflichtverteidigers grundsätzlich durch eine unab­ hängige Behörde oder ein Gericht, einschließlich eines Einzelrichters, erfolgen. Dem entspricht die Regelung in § 141 Abs. 4 S. 1 StPO grundsätzlich. Danach liegt die Entscheidung über die Notwendigkeit der Verteidigung und über die Bestellung des Pflichtverteidigers ab Erhebung der Anklage beim Vor­ sitzenden des Gerichts, bei dem das Verfahren anhängig ist. Vor Erhebung der Anklage, § 141 Abs. 4 S. 1 Hs. 1 StPO ist grundsätzlich der Ermittlungsrichter zuständig,321 d. h. entweder das Amtsgericht, in dessen Bezirk die Staatsanwalt­ schaft oder ihre zuständige Zweigstelle ihren Sitz hat, oder der gem. § 162 Abs. 1 S. 3 StPO für gerichtliche Vernehmungen und Augenscheinnahmen zuständige Er­ mittlungsrichter. Die letztere Variante soll der Beschleunigung dienen, indem das Gericht für die Bestellung zuständig ist, bei dem die Staatsanwaltschaft bereits eine gerichtliche Augenscheinnahme oder Vernehmung beantragt hat.322 Nur wenn Untersuchungshaft oder einstweilige Unterbringung vollstreckt wird, § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO, entscheidet darüber das dafür gem. §§ 126, 275a Abs. 6 StPO zuständige Gericht, vgl. § 141 Abs. 4 S. 2 Hs. 2 StPO.323 An dieser Regelung will der Referentenentwurf des BMJV grundsätzlich, wenngleich nach systematischer Neugliederung von §§ 141, 142 StPO, festhalten, vgl. § 142 Abs. 1 StPO-E. Le­ diglich neu ist die an anderen Eilzuständigkeiten der Staatsanwaltschaft orien­ tierte Eilzuständigkeit für die Bestellung eines notwendigen Verteidigers in § 142 Abs. 2 StPO-E.324 Letzteres ist im Hinblick auf eine in der PKH-RL angedachten Eilkompetenz für Strafverfolgungsbehörden mit dem Erfordernis einer unabhän-

320

Vgl. Nr. 4100 VV RVG. BT-Drs. 18/11277, S. 29; zust. Claus, jurisPR-StrafR 2017, 5; dies schon früher fordernd Esser, in: ders. / Günther u. a. (Hrsg.), FS H.-H. Kühne, S. 542; den gem. § 27 StPO zuständigen Richter vorschlagend Wenske, NStZ 2010, 484 Fn. 67. 322 BT-Drs. 18/11277, S. 29. 323 Zust. zu dieser Regelung Esser, in: ders. / Günther u. a. (Hrsg.), FS H.-H. Kühne, S. 542; zust., aber mit Hinweis auf Probleme bei der Vollstreckung von Untersuchungshaft in anderer Sache, Satzger / Schluckebier / Widmaier-Beulke, StPO, § 141 Rn. 33 ff. 324 BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidi­ gung, 2018, a. a. O. Kap. 3, Fn. 49, S. 39. 321

D. Unzureichende Rahmenbedingungen der Pflichtverteidigung

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gigen behördlichen Entscheidung vereinbar,325 insbesondere weil die Entscheidung der Staatsanwaltschaft einer nachträglichen gerichtlichen Überprüfung unterliegt. Den Mitgliedstaaten steht es nach den oben erarbeiteten Anforderungen auch frei, die Auswahl des Pflichtverteidigers bei einem mit der Sache befassten Gericht anzusiedeln. Vorausgesetzt ist jedoch, dass die Unabhängigkeit der Entscheidung über die Bestellung durch andere Mechanismen abgesichert wird, um Interessen­ konflikte zu vermeiden.326 Diese Objektivität ist vorrangig durch ein transparen­ tes Auswahlverfahren sicherzustellen. Ein solches garantiert die bisherige deut­ sche Regelung jedoch nicht. Denn bei der Auswahl wird das zuständige Gericht lediglich gem. § 142 Abs. 1 StPO angeleitet. Danach muss der Vorsitzende den Beschuldigten anhören und grundsätzlich – es sei denn, wichtige Gründe stehen entgegen – den gewünschten Verteidiger beiordnen. Es gibt darüber hinaus keine weiteren Vorschriften, die das Auswahlverfahren bezüglich des Pflichtverteidi­ gers konkretisierten.327 Ein objektives Auswahlverfahren ist auch nicht im neuen Referentenentwurf des BMJV angelegt. Der Entwurf spricht zwar davon, dass das „Verfahren der Auswahl des Verteidigers […] näher geregelt werden“ solle.328 § 142 Abs. 3, 4 StPO-E ent­ hält im Vergleich zur bisherigen Vorschrift jedoch nur geringfügige Ergänzungen bereit und wird dem formulierten eigenen Anspruch damit nicht gerecht. Die Gerichte behalten dadurch ihr enormes Auswahlermessen, wenn der Be­ schuldigte keinen Verteidiger seiner Wahl benennt oder der Bestellung des Anwalts des Vertrauens ein wichtiger Grund i. S. v. § 142 Abs. 1 S. 2 StPO entgegensteht.329 Dieses soll nach den Vorstellungen des Referentenentwurfs auch nicht weiterge­ hend beschränkt werden. Das Auswahlermessen wird bereits dann pflichtgemäß ausgeübt, solange der ausgewählte Verteidiger „die Gewähr für eine sachgerechte und ordnungsgemäße Verteidigung bietet.“330 Welche Kriterien dafür einzubezie­ hen sind, ist nicht ausdrücklich im Gesetz festgelegt. In einer Bundestagsdruck­ sache wurden beispielhaft u. a. die besondere Qualifikation des Rechtsanwalts für konkrete Fragen des Verfahrens, die Möglichkeit der Verständigung in der Mut­ tersprache des Mandanten sowie etwaige Mehrkosten durch Beauftragung eines auswärtigen Verteidigers benannt.331 Da die Entscheidung nicht zu begründen ist, 325

Vgl. dazu o. Kap. 3 A. V. 3. Vgl. o. Kap. 2 A. IV. 2. b) sowie Kap. 3 A. V. 3. 327 Mehle, NJW 2007, 970; Thielmann, HRRS 2009, 452; daher das Auswahlverfahren bis­ lang als „fragmentarisch“ bezeichnend BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung, 2018, a. a. O. Kap. 3, Fn. 49, S. 38. 328 BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidi­ gung, 2018, a. a. O. Kap. 3, Fn. 49, S. 38. 329 Krit. dazu Ahmed, StV 2015, 68 f.; Schoeller, Beiordnung von Pflichtverteidigern, S. 371; Schlothauer, StV 2018, 174. 330 BGH, Beschluss v. 15.8.2007 – 1 StR 341/07, juris, Rn. 10; Thielmann, HRRS 2009, 452; m. w. N. zur Ermessensausübung Schlothauer, StV 1981, 444 ff. 331 BT-Drs. 16/12098, S. 20; zust. insoweit Wenske, NStZ 2010, 480. 326

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Kap. 4: Ausblick auf die mitgliedstaatliche Ebene 

nicht einmal schriftlich ergehen muss, ist aber nicht nachvollziehbar, nach welchen Kriterien der Richter seine Entscheidung letztendlich ausgerichtet hat.332 Insofern operiert das Auswahlverfahren nach theoretisch zutreffenden Gesichtspunkten, die jedoch in der Praxis als nicht ausreichend umgesetzt bemängelt werden.333 Diese Entscheidungsmacht des Richters bestimme nicht nur über die Quali­ tät des Pflichtverteidigers für den Beschuldigten, sondern zugleich über die Ver­ teilung erheblicher finanzieller Ressourcen.334 Die Interessen von Beschuldigten und Richtern seien in dieser Verfahrenssituation naturgemäß unterschiedlich und spiegeln sich auch dementsprechend in der Auswahl wider. Insoweit wurde wiederholt beklagt, dass Richter dazu tendieren würden, unabhängig von deren Qualifikation immer die gleichen Verteidiger beizuordnen.335 Verteidiger würden demgegenüber bequemer agieren, um zukünftige Beiordnungen nicht zu gefähr­ den,336 und darin von Richtern bestärkt werden, denen wegen des hohen Erledi­ gungsdrucks an einer schnellen Verfahrensführung mehr gelegen sei als an einer gründlichen.337 Schoeller hat durch die Aktenanalyse von rechtskräftig abgeschlossenen Straf­ verfahren vor den Land- und Schöffengerichten338 die unterschiedlichen Interessen von Beschuldigten und Richtern in Zahlen greifbar gemacht, aber auch viele der bestehenden Vorwürfe jedenfalls nicht anhand der objektiven Datenlage verifi­ zieren können – wenngleich damit die geschilderten Einzelfälle nicht an Brisanz verlieren.339 Nach der Aktenanalyse von Schoeller lässt sich feststellen, dass Be­ schuldigte selbst dazu tendieren, Fachanwälte auszusuchen, während Richter dies nur in geringerem Umfang tun und somit anscheinend weniger professionalisier­ ten Rechtsanwälten zuneigen.340 Zudem wählen Richter fast ausschließlich orts­ ansässige Rechtsanwälte aus, während Beschuldigte nur in 64 % der Fälle einen

332

So krit. Bahns / Burkert / Guthke / Kitlikoglu u. a., Neuordnung der Pflichtverteidigerbe­ stellung, S. 9 f.; Mehle, NJW 2007, 970; Schlothauer, StV 1981, 443; Thielmann, HRRS 2009, 454; Wenske, NStZ 2010, 480. 333 Bahns / Burkert / Guthke / Kitlikoglu u. a., Neuordnung der Pflichtverteidigerbestellung, S. 27; Thielmann, HRRS 2009, 452 („alles bis zur untersten Grenze der Minimalstandards“). 334 So auch Bahns / Burkert / Guthke / Kitlikoglu u. a., Neuordnung der Pflichtverteidigerbe­ stellung, S. 9 („Vergabeentscheidung“). 335 Heydenreich, StV 2011, 700 („Mythos richterlicher Unabhängigkeit“); Thielmann, HRRS 2009, 454. 336 Augustin, Das Recht des Beschuldigten auf effektive Verteidigung, S. 277 ff.; Ahmed, StV 2015, 68 f.; Bahns / Burkert / Guthke / Kitlikoglu u. a., Neuordnung der Pflichtverteidiger­ bestellung, S. 27; Bringewat, ZRP 1979, 252; Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Er­ mittlungsverfahren, Rn. 2763; Mehle, NJW 2007, 970; Schlothauer, StV 1981, 443; Thielmann, HRRS 2009, 452 ff.; mit einem Überblick zur Kritik Wenske, NStZ 2010, 480 f. 337 In diesem Sinne Graalmann-Scheerer, StV 2011, 698. 338 Zur Methode vgl. Schoeller, Beiordnung von Pflichtverteidigern, S. 62 ff. 339 Vgl. zu einer Schilderung davon Thielmann, HRRS 2009, 452 ff. 340 Schoeller, Beiordnung von Pflichtverteidigern, S. 409 ff. (Beschuldigte zu 34 %, Richter nur zu 19 %).

D. Unzureichende Rahmenbedingungen der Pflichtverteidigung

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ortsansässigen Verteidiger wählten.341 Die demgegenüber in § 142 Abs. 1 S. 2 StPO a. F. erfolgte Gesetzesänderung, die Ortsansässigkeit als Merkmal für den Pflicht­ verteidiger gerade überflüssig machte, hat somit jedenfalls in der Beiordnungspra­ xis keinen Niederschlag gefunden.342 Zudem neigen tatsächlich manche Richter dazu, wiederholt denselben Pflichtverteidiger für mehrere Fälle beizuordnen343 und so auch eine finanzielle Abhängigkeit zu schaffen. Von Richtern ausgewählte Pflichtverteidiger legten zudem im Vergleich zu vom Beschuldigten ausgewählten Pflichtverteidigern deutlich seltener Rechtsmittel ein.344 Nicht festgestellt werden konnte dagegen, dass die Auswahl des Pflichtverteidigers durch den Richter oft mit einem Rechtsmittelverzicht einhergehe,345 oder dass nur Berufsanfänger aus­ gewählt würden.346 Jedoch zeigen auch diese wenigen Punkte die Anfälligkeit des Systems gerade für persönliche Präferenzen der auswählenden Richter, die sich zum Teil auch sta­ tistisch in einem konformeren Verhalten niederschlägt. Insofern gilt es, diese Nähe und Abhängigkeit zwischen Richtern und Pflichtverteidigern aufzuheben347 und durch ein objektiveres System der Auswahl zu ersetzen. Denn Qualität im Sinne der PKH-RL kann dann nicht sichergestellt werden, wenn die Auswahlkriterien nicht greifbar sind. Zudem nimmt der Beschuldigte den vom Gericht ausgewählten Verteidiger oft als einen nicht gänzlich für ihn parteiischen Fürsprecher wahr, weil dieser gerade durch die gegen ihn ermittelnde Staatsseite ausgewählt wurde.348 Dieses Näheverhältnis muss zunächst dadurch aufgelöst werden, dass die Aus­ wahl des zu bestellenden Verteidigers auf eine unabhängige, gerichtsferne Instanz übertragen wird.349 Dafür bieten sich grundsätzlich die örtlich zuständigen Rechts­ anwaltskammern an,350 obgleich dies für diese erstmals ein neues und damit mit 341

Ebd., S. 412 ff. Ebd., S. 414; vgl. zur Änderung BT-Drs. 16/12098, S. 20; theoretisch aber die Nachran­ gigkeit der Ortsansässigkeit betonend KG, Beschluss v. 8.7.2013 – 2 Ws 349/13, 1 AR 340/13, juris, Rn. 14; OLG Brandenburg, Beschluss v. 20.10.2014 – 1 Ws 162/14, juris, Rn. 13; noch zur alten Rechtslage BGHSt 43, 153 (155). 343 Schoeller, Beiordnung von Pflichtverteidigern, S. 459; krit. Ahmed, StV 2015, 68; Mehle, NJW 2007, 970 („Routine“); Thielmann, HRRS 2009, 454. 344 Schoeller, Beiordnung von Pflichtverteidigern, S. 439 f., 442 (bei von Beschuldigten aus­ gewählten Pflichtverteidigern legten 30 % Rechtsmittel ein, bei von Richtern ausgewählten Pflichtverteidiger nur 20 %, bzw. soweit diese Pflichtverteidiger wiederholt ausgewählt wurden nur 16 %). 345 Ebd., S. 443. 346 Vgl. ebd., S. 459. 347 Schlothauer, StV 2018, 174 und ders. / Neuhaus / Matt / Brodowski, HRRS 2018, 66 („struk­ turelle Befangenheit“); Thielmann, HRRS 2009, 454. 348 Augustin, Das Recht des Beschuldigten auf effektive Verteidigung, S. 280; Bahns / Burkert / Guthke / Kitlikoglu u. a., Neuordnung der Pflichtverteidigerbestellung, S. 10. 349 Vgl. o. Kap. 3 V. 3. 350 Ahmed, StV 2015, 69; Bahns / Burkert / Guthke / Kitlikoglu u. a., Neuordnung der Pflicht­ verteidigerbestellung, S. 28; Leipold, AnwBl. 2004, 686; Schlothauer, StV 2018, 174; so schon etliche Jahre zuvor ders., StV 1981, 452; ders. / Neuhaus / Matt / Brodowski, HRRS 2018, 66; 342

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Kap. 4: Ausblick auf die mitgliedstaatliche Ebene 

erheblichem organisatorischen Aufwand verbundenes Aufgabenfeld generiert.351 Diese Einbindung einer grundsätzlich verfahrensfremden Instanz ist zeitlich je­ doch aufwendiger und verlangt zudem eine Trennung der Frage der Notwendig­ keit der Verteidigung von dem Prozess der Auswahl,352 anders als bislang in § 141 Abs. 4 StPO vorgesehen. Dieser Prozess könnte in Eilfällen, namentlich kurz vor einer Befragung oder bei Inhaftierung des Beschuldigten, so schnell nicht durch­ zuführen sein. Daher könnte in solchen Fällen eine Eilkompetenz des Ermittlungs­ richters im Ermittlungsverfahren bestehen bleiben, um die rechtzeitige Verteidi­ gung des Beschuldigten abzusichern.353 Zwar besteht auch in dieser Konstellation die Gefahr struktureller Abhängigkeiten. Diese ist jedoch dadurch begrenzt, dass die Auswechslung von in Eilfällen bestellten Verteidigern unter erleichterten Be­ dingungen möglich ist.354 Neben der institutionellen Trennung ist den Mitgliedstaaten aufgegeben, über konkrete Maßnahmen die Qualität der Dienstleistung messbar zu machen – und damit Kriterien für die Auswahl von Pflichtverteidigern zu bestimmen. Dabei ist bereits über die soeben festgestellten Anforderungen an die überhaupt in Frage kommenden Pflichtverteidiger eine Vorauswahl getroffen. Zwischen den verblei­ benden Pflichtverteidigern muss die Rechtsanwaltskammer jedoch Kriterien fest­ legen, die eine Auswahl im Einzelfall ermöglichen. Ihnen obliegt es damit, ein System zu entwickeln, das eine transparente Auswahl ermöglicht.355 Dies können insbesondere die fachliche Qualifikation, aber auch die terminliche Verfügbarkeit, sowie in Eilfällen die Nähe zum Verfahrenssitz sein.356 Zum anderen müssen die Mitgliedstaaten auch in ihren eigenen Abläufen sicherstellen, dass Maßnahmen getroffen werden, die verhindern, dass Pflichtverteidiger aufgrund persönlicher Beziehungen zur jeweiligen Rechtsanwaltskammer bevorzugt benannt werden.357 Es existieren bereits verschiedene Vorschläge, solche Auswahlmechanismen innerhalb der Rechtsanwaltskammern neu zu etablieren. Einig sind sich die verschiedenen Autoren lediglich insofern, als dass die Rechtsanwaltskammern eine ständig aktuell zu haltende Liste mit den grundsätzlich zur Pflichtverteidi­ Bringewat, ZRP 1979, 253; abl. Wenske, NStZ 2010, 483 f. („verfassungsrechtlich unzulässig“); jedenfalls für einen Einbezug der Rechtsanwaltskammern plädierend BRAK, Stellungnahme Nr. 34/2018, S. 5. 351 Daher von einer Überforderung der Rechtsanwaltskammern ausgehend Rudolph, in: Hamm / Matzke (Hrsg.), FS Schmidt-Leichner, S. 164 f. 352 BRAK, Stellungnahme Nr. 34/2018, S. 4; dafür auch Schlothauer / Neuhaus / ​Matt / ​Brodowski, HRRS 2018, 65. 353 Schlothauer / Neuhaus / Matt / Brodowski, HRRS 2018, 67. 354 Vgl. dazu sogleich u. Kap. 4 D. II. 3. b). 355 Für einen weiten, auch regionale Besonderheiten berücksichtigenden Gestaltungsspiel­ raum der Rechtsanwaltskammern plädierend, Bahns / Burkert / Guthke / Kitlikoglu u. a., Neu­ ordnung der Pflichtverteidigerbestellung, S. 28. 356 Schlothauer, StV 2018, 174; ders. / Neuhaus / Matt / Brodowski, HRRS 2018, 67; SK-Woh­ lers, StPO, § 142 Rn. 29. 357 Schlothauer, StV 2018, 174; ders. / Neuhaus / Matt / Brodowski, HRRS 2018, 61.

D. Unzureichende Rahmenbedingungen der Pflichtverteidigung

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gung befähigten Rechtsanwälten führen sollten. Augustin schlägt vor, eine dy­ namische Liste zu führen, in der Rechtsanwälte über Fortbildungen z. B. Punkte sammeln können, um so in der Liste aufzurücken und damit öfter beigeordnet zu werden. Ergänzt werden sollte diese sog. „punkteorientierte Qualitätssiche­ rungspflicht“358 zudem über eine Einteilung der Rechtsanwälte in Untergrup­ pen für spezielle Rechtsgebiete wie z. B. das Betäubungsmittel-, Umwelt- oder Wirtschaftsstrafrecht.359 Dieser Ansatz hat zwar für sich, dass dadurch Rechtsanwälte dauerhaft zu Fort­ bildungen und der Erweiterung ihrer fachlichen Kompetenz angehalten werden, um wettbewerbsfähig für die Pflichtverteidigung zu bleiben. Aber Fortbildungen allein belegen lediglich die theoretische fachliche Kenntnis und sagen nicht viel darüber aus, wie viel Erfahrung der jeweilige Rechtsanwalt mitbringt. Ebenso könnte Erfahrung in diesem System über die Zulassungsdauer quantifiziert werden oder aber zum Beispiel über Hauptverhandlungstage. Zugleich sind solche Aspekte immer nur begrenzt aussagefähig: Die Zulassungsdauer allein ist nicht zwingend ein Kriterium für tatsächliche Erfahrungen im Strafrecht. Hauptverhandlungstage dagegen belegen zwar tatsächliche Erfahrungen, berücksichtigen jedoch keine Er­ fahrungswerte im Vorverfahren und dort möglicherweise häufig erreichte Einstel­ lungen, die gerade ein Tätigwerden in der Hauptverhandlung verhindern. Schlothauer, Neuhaus, Matt und Brodowski dagegen schlagen vor, die Auswahl des jeweils tauglichen Verteidigers über eine Liste durch den dafür vom Präsi­ denten der jeweiligen Rechtsanwaltskammer extra zu bestellenden Geschäftsfüh­ rer nach dessen Ermessen vornehmen zu lassen.360 Die Auswahl soll anhand des Tätig­keitsschwerpunktes, der praktischen wie theoretischen Kenntnisse sowie der für das Mandat relevanten Sprachkenntnisse erfolgen.361 Dadurch werde sicherge­ stellt, dass Pflichtverteidigungsmandate auch sachgerecht nach der tatsächlichen Qualifikation verteilt werden.362 Jedoch ist nach dieser Konzeption das persönliche Auswahlermessen dieses Geschäftsführers sehr weit – und damit auch anfällig für möglicherweise unbewusst wirkende persönliche Präferenzen und damit den Aus­ schluss von weniger umfangreich vernetzten Rechtsanwälten. Beide Ansätze haben für sich, dass sie greifbarer gestalten, wer letztlich ausge­ wählt wird. Dabei ist das Punktesystem von Augustin sehr anschaulich und würde tatsächlich bewirken, dass dauerhafte Fortbildung für Pflichtverteidigung attraktiv bleibt und somit ein echter Qualitätswettkampf entsteht. Die Auswahl würde nach diesem System danach erfolgen, wer sich durch Fortbildungen und andere Maßnah­ men an die Spitze der Liste befördert. Das System stößt jedoch an seine Grenzen, 358

Augustin, Das Recht des Beschuldigten auf effektive Verteidigung, S. 284. Ebd. 360 Vgl. dazu den Vorschlag von Schlothauer / Neuhaus / Matt / Brodowski, HRRS 2018, 61. 361 Ebd., 69, 71; so auch Augustin, Das Recht des Beschuldigten auf effektive Verteidigung, S. 280 f.; ebenso SK-Wohlers, StPO, § 142 Rn. 29. 362 Augustin, Das Recht des Beschuldigten auf effektive Verteidigung, S. 280 f. 359

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Kap. 4: Ausblick auf die mitgliedstaatliche Ebene 

weil es bestimmte Erfahrungswerte nicht in Punkten greifbar machen kann und so tatsächlich erfahrene Rechtsanwälte außen vor bleiben können. Der Vorschlag von Schlothauer, Neuhaus, Matt und Brodowski ist insofern zu­ treffend, als er die Entscheidung den Rechtsanwaltskammern überträgt und da­ durch möglichst gerichtsfern ausgestaltet. Jedoch erscheint es schwierig, das sehr weite persönliche Ermessen des Richters durch das weite persönliche Ermessen eines dafür zu bestellenden Geschäftsführers auszutauschen. Zwar sollen dessen Ermessenserwägungen ebenfalls von sachgerechten Kriterien begrenzt sein, das Auswahlermessen selbst bleibt indes sehr weit. Beide Vorschläge könnten jedoch insoweit vereint werden, als Tätigkeitsschwerpunkte, für das Mandat essenzielle Sprachkenntnisse, Fachanwaltstitel, sowie Ortsnähe, die Vorauswahl der befähig­ ten Pflichtverteidiger von vornherein begrenzen sollten und ausgehend davon eine zufällige Auswahl unter den verbliebenen grundsätzlich ähnlich qualifizierten Verteidigern erfolgen sollte.363 Das persönliche Ermessen bei der Auswahl würde dadurch beschränkt, dem qualifiziertesten Pflichtverteidiger würde Vorrang gege­ ben und bei mehreren gleich geeigneten Kandidaten würde über das Zufallsprinzip eine gleichmäßige Verteilung sichergestellt. Eine letzte, persönliche Überprüfung dieser Entscheidung sollte dem dafür zu bestellenden Geschäftsführer offenstehen können, wenn z. B. die Anzahl der Fortbildungen oder Hauptverhandlungstage einen anderen qualifizierteren Kandidaten nahelegen. 3. Wahl- und Auswechslungsrecht des Beschuldigten Durch eine solche Limitierung des Personenkreises wird das Wahl- und Aus­ wechslungsrecht des Beschuldigten beschränkt. Trotzdem steht dem Beschuldig­ ten noch in ausreichender Weise das Recht zu, einen Verteidiger seines Vertrauens zu wählen. a) Wahlrecht des Beschuldigten Das Wahlrecht des Beschuldigten ist verfassungsrechtlich als wichtiger Aspekt des Rechtsstaatsprinzip und des Rechts auf ein faires Strafverfahren in Art. 20 Abs. 3 GG verortet364 und seit 1978 in Form von § 142 Abs. 1 StPO einfachgesetz­ lich normiert. Dadurch wird bezweckt, die subjektive Entscheidung des Beschul­

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In diesem Sinne auch Bringewat, ZRP 1979, 253. St. Rspr. BVerfGE 39, 238 (243); Beschluss v. 28.11.2006  – 2 BvR 2373/06, 2 BvR 2374/06, juris, Rn. 3 a. E.; m. w. N. BGHSt 48, 170 (172 f.); 39, 310 (312); zust. und m. w. N. zum Streitstand Schoeller, Beiordnung von Pflichtverteidigern, S. 178 f.; zust. Welp, ZStW 90 (1978), 101. 364

D. Unzureichende Rahmenbedingungen der Pflichtverteidigung

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digten, genau diese Person mit der Wahrnehmung seiner Rechte zu betrauen, zu respektieren.365 Dementsprechend ist, auch wenn der Wortlaut nur ein Berücksich­ tigungsrecht des Beschuldigten vorsieht, gem. § 142 Abs. 1 S. 2 StPO der Anwalt des Vertrauens regelmäßig zu bestellen366 und dem Beschuldigten für die Bestim­ mung eine ausreichende Frist zu belassen.367 Das Wahlrecht des Beschuldigten soll nach dem Referentenentwurf des BMJV nun in § 142 Abs. 3, 4 StPO-E neu, aber inhaltsgleich verankert werden. Begrü­ ßenswert ist in diesem Zusammenhang die ausdrückliche Anordnung, dass der Beschuldigte entsprechend § 136 Abs. 1 S. 3, 4 StPO über die Kontaktmöglichkei­ ten zu einem Verteidiger und die anwaltlichen Notdienste informiert werden soll, vgl. § 142 Abs. 3 S. 2 StPO-E. Zudem formuliert § 142 Abs. 3 S. 3 StPO-E im Ver­ gleich zur derzeitigen Wortlautfassung in § 142 Abs. 1 StPO bereits im Wortlaut ein zwingendes Wahlrecht des Beschuldigten („ist zu bestellen“).368 Aus wichtigen Gründen kann dieses Wahlrecht des Beschuldigten eingeschränkt werden, § 142 Abs. 1 StPO. Diese Einschränkungsmöglichkeit ist auch nach den Vorstellungen des Referentenentwurfs beizubehalten, vgl. § 142 Abs. 3 S. 3 StPO-E. Der Referentenentwurf unterlässt dadurch – bis auf ein Regelbeispiel369, die sehr einzelfallbezogene Rechtsprechung zum Bestellungshindernis des „wich­ tigen Grunds“370 zu systematisieren. In der Auslegung des Referentenentwurfs geht das Wahlrecht des Beschuldigten den grundsätzlich an Pflichtverteidiger zu stel­ lenden Qualitätsanforderungen vor, vgl. § 142 Abs. 3, 4 StPO-E. Da die PKH-RL jedoch einheitliche Qualitätssicherungsmechanismen verlangt, unabhängig davon, ob ein selbst gewählter oder fremdbestimmter Pflichtverteidiger für den Beschul­ digten tätig wird,371 muss konsequenterweise das Wahlrecht des Beschuldigten auf solche Rechtsanwälte beschränkt werden, die für Pflichtverteidigung überhaupt als

365 OLG Thüringen, NJW 2009, 1430 (1431); Schoeller, Beiordnung von Pflichtverteidigern, S. 180; Welp, ZStW 90 (1978), 102 f.; BT-Drs. 16/12098, S. 20 („von erheblicher Bedeutung“); zust. Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, Rn. 2771; Welp, ZStW 90 (1978), 102. 366 BVerfG, NJW 2001, 3695; BGH, NJW 2001, 237 f.; OLG Brandenburg, Beschluss v. 20.10.2014 – 1 Ws 162/14, juris, Rn. 13; zust. Lam / Meyer-Mews, NJW 2012, 180; zust. Kortz, Die Notwendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 147 f. 367 Keine Ausschlussfrist, vgl. OLG Braunschweig, StV 2012, 401 Ls.; Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, Rn. 2773. 368 BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidi­ gung, 2018, a. a. O. Kap. 3, Fn. 49, S. 39. 369 Vgl. § 142 Abs. 3 S. 3 Hs. 2 StPO-E. 370 Vgl. zu einer Übersicht der Auslegung dieses Merkmals BeckOK-Krawczyk, StPO, § 142 Rn.  13 f.; Satzger / Schluckebier / Widmaier-Beulke, StPO, § 142 Rn. 18 ff.; insg. für eine Ab­ schaffung dieser Einschränkung plädierend Bahns / Burkert / Guthke / Kitlikoglu u. a., Neuord­ nung der Pflichtverteidigerbestellung, S. 27. 371 Vgl. o. Kap. 4 D. II. 1. a).

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Kap. 4: Ausblick auf die mitgliedstaatliche Ebene 

geeignet gelten.372 Dadurch überformen die an die Qualität der Rechtsbeistände zu stellenden Anforderungen das Wahlrecht des Beschuldigten. b) Auswechslungsrecht des Beschuldigten Zudem sieht Art. 7 Abs. 4 PKH-RL vor, dass dem Beschuldigten auf Antrag die Möglichkeit gewährt wird, seinen Rechtsbeistand auswechseln zu lassen, sofern es konkrete Umstände rechtfertigen. Dieser Maßstab wird zwar in der PKH-RL nicht konkretisiert und bleibt damit offen für eine eigene Auslegung der Mit­ gliedstaaten. Deren Umsetzung ist jedoch durch die europäische Konzeption der Pflichtverteidigung dahingehend begrenzt, dass der Beschuldigte seinen Vertei­ diger wenigstens dann auswechseln können muss, wenn er entweder zu diesem Rechtsbeistand kein Vertrauen mehr hat oder durch den beigeordneten Rechtsbei­ stand keine effektive Verteidigung geleistet wird.373 Diese Anforderungen werden ebenfalls in der bisherigen Regelung des § 143 StPO größtenteils umgesetzt. Bislang ist gem. § 143 StPO die Bestellung zurückzunehmen, wenn demnächst ein anderer Verteidiger gewählt wird und dieser die Wahl annimmt. Damit ist der Wortlaut sehr eng und beschränkt sich auf Fälle, in denen sich anstelle eines be­ reits beigeordneten Pflichtverteidigers für den Beschuldigten ein Wahlverteidiger meldet.374 Die herrschende Meinung legt aber § 143 StPO analog dahingehend aus, dass dieser auch dann zur Entpflichtung berechtigt, wenn ein wichtiger Grund vorliegt.375 Dabei kommt als wichtiger Grund „jeder Umstand in Frage, der den Zweck der Pflichtverteidigung, dem Beschuldigten einen geeigneten Beistand zu sichern und den ordnungsgemäßen Verfahrensablauf zu gewährleisten, ernsthaft gefährdet.“376 Zu solchen wichtigen Gründen377 zählt insbesondere schweres Fehl­ verhalten des Pflichtverteidigers378 oder ein zwischen dem Beschuldigten und 372 Bahns / Burkert / Guthke / Kitlikoglu u. a., Neuordnung der Pflichtverteidigerbestellung, S. 26, 33 f.; Schlothauer, StV 2018, 174; ders. / Neuhaus / Matt / Brodowski, HRRS 2018, 65; in diesem Sinne bereits Welp, ZStW 90 (1978), 103; grds. zust. aber die Regelung des § 142 Abs. 1 StPO dafür für ungeeignet haltend Ahmed, StV 2015, 68. 373 Vgl. dazu o. Kap. 2 A. II. 3. b) sowie Kap. 3 A. V. 2. d). 374 Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, Rn. 2914; m. w. N. zu den in § 143 StPO ausdrücklich angelegten Widerrufsgründen: Kett-Straub, NStZ 2006, 362. 375 St. Rspr. in diesem Sinne BVerfGE 39, 238 (243); KG, Beschluss v. 9.8.2017 – 4 Ws 101/17, 161 AR 164/17, juris, Rn. 10; NStZ 2017, 305 (306); OLG Saarland, Beschluss v. 10.10.2016 – 1 Ws 113/16, juris, Rn. 6. 376 St. Rspr. BGH, NStZ 2017, 59 (61) m. abl. Anm. Barton, StV 2016, 477 f.; KG, Beschluss v. 9.8.2017 – 4 Ws 101/17, 161 AR 164/17, juris, Rn. 10. 377 M. w. N. zur umfangreichen Kasuistik Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermitt­ lungsverfahren, Rn. 2920. 378 KG, NJW 2008, 3652 f. (absprachewidrig unterlassene Revisionsbegründung); OLG Stuttgart, NStZ 2016, 436 (437) (Nichtteilnahme an wesentlichem Teil der Hauptverhandlung); Beschluss v. 12.2.2002 – 1 Ws 21/02, juris, Rn. 11 f. (Weigerung, eine Revisionsbegründung zu erstellen); aber nicht zwingend bei „evidentem Interessenskonflikt“ BGH, NStZ 2017, 59

D. Unzureichende Rahmenbedingungen der Pflichtverteidigung

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dem beigeordneten Verteidiger zerrüttetes Vertrauensverhältnis, also ein „end­ gültig“ und „nachhaltig“ gestörtes Vertrauensverhältnis, das die objektive und sachgerechte Verteidigung nicht mehr möglich erscheinen lässt.379 Letzteres muss der Beschuldigte jedoch dann nicht darlegen, wenn die Bestellung des Pflicht­ verteidigers erfolgte, ohne dass er ausreichend Gelegenheit hatte, sein Wahlrecht auszuüben.380 Dadurch spiegelt die aktuelle Auslegung in § 143 StPO bereits die auch in der europäischen Konzeption des Pflichtverteidigers angelegten Anfor­ derungen wider. Es fehlt lediglich – wie in Art. 7 Abs. 4 PKH-RL vorgesehen – an einem An­ tragsrecht des Beschuldigten. Dieses muss durch Gesetzesänderung nachgeholt werden.381 Das BMJV hat die Schaffung eines neuen, erweiterten § 143a StPO-E vorgeschlagen, der den Wechsel des Verteidigers und die Rechtsprechung dazu ausdrücklich normiert.382 Insbesondere § 143a Abs. 2 StPO-E soll konkretisiert in drei Fallgruppen die Vorgaben der PKH-RL bezüglich des Auswechslungsrechts umsetzen.383 Darin ist zudem in § 143a Abs. 2 StPO-E ein Antragsrecht des Be­ schuldigten enthalten. Es gibt jedoch inhaltliche Punkte, in denen § 143 StPO trotzdem angepasst wer­ den muss. Zum einen regelt § 143 StPO durch die Entpflichtung des vorherigen Pflichtverteidigers den actus contrarius zur Auswahl und Bestellung des Pflicht­ verteidigers. Wird – wie in dieser Arbeit vorgeschlagen – die Zuständigkeit für Auswahl und Bestellung den örtlichen Rechtsanwaltskammern bzw. der Bundes­ rechtsanwaltskammer übertragen, muss die Rücknahme der Bestellung sowie eine Neubestellung ebenfalls durch diese durchgeführt werden.384 Zum anderen ist für die Fallgruppe des zerstörten Vertrauens erforderlich, dass diese Zerrüttung nicht nur vom Beschuldigten oder von seinem Pflichtverteidiger (61 f.) m. abl. Anm. Barton, StV 2016, 477 f.; m. w. N. Burhoff, Handbuch für das strafrechtli­ che Ermittlungsverfahren, Rn. 2919; ebenso m. w. N. KMR-Haizmann, StPO, § 143 Rn. 13 ff.; zust. zu dieser Kontrollmöglichkeit des Tatgerichts Kett-Straub, NStZ 2006, 365; vgl. dazu inzwischen auch § 143a Abs. 2 S. 2 StPO-E des Referentenentwurfs des BMJV. 379 BGH, Beschluss v. 25.4.2012  – 2 BGs 88/12, juris, Rn. 1; NStZ-RR 2005, 240 (241); BGHSt 39, 310 (314 f.); KG, NStZ 2017, 305 (306); Kett-Straub, NStZ 2006, 364; m. w. N. Hellwig / Z ebisch, NStZ 2010, 602 ff.; KMR-Haizmann, StPO, § 143 Rn. 18 f.; krit. zur unge­ nauen Maßstabsbildung durch die Rspr. Bahns / Burkert / Guthke / Kitlikoglu u. a., Neuordnung der Pflichtverteidigerbestellung, S. 11, 29 f. 380 BGH, NJW 2001, 237 (238); KG, NStZ-RR 2012, 351 (352); OLG Stuttgart, Beschluss v. 11.1.2007 – 2 Ws 12/07, juris, Rn. 4; Jahn, in: Fischer / Bernsmann (Hrsg.), FS Rissing-van Saan, S. 287; grundsätzlich zust. Wenske, NStZ 2010, 484; vgl. dazu inzwischen auch § 143a Abs. 2 S. 2 StPO-E des Referentenentwurfs des BMJV. 381 BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidi­ gung, 2018, a. a. O. Kap. 3, Fn. 49, S. 24. 382 Ebd., S. 45 f. 383 Ebd., S. 44. 384 Vgl. Schlothauer / Neuhaus / Matt / Brodowski, HRRS 2018, 59; a. A. zur Zuständigkeit BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung, 2018, a. a. O. Kap. 3, Fn. 49, S. 8 f.

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Kap. 4: Ausblick auf die mitgliedstaatliche Ebene 

behauptet wird, sondern die konkreten Tatsachen, die zur Unzumutbarkeit führen, substantiiert dargelegt werden müssen.385 Dies ist für den Verteidiger wegen seiner strafbewehrten Schweigepflicht grundsätzlich nicht zu leisten und verlangt auch vom Beschuldigten, Mandatsinterna und damit womöglich auch Vorgänge, die von seinem Schweigerecht gedeckt sind, dem Gericht bekannt zu machen.386 Dieses Substantiierungserfordernis ist dann zu hoch angesetzt, wenn sowohl der Pflicht­ verteidiger als auch der Beschuldigte übereinstimmend geltend machen, wegen des zerstörten Vertrauens nicht mehr zusammen arbeiten zu können.387 Die Möglichkeit, seinen Verteidiger bei Vertrauensverlust auswechseln zu las­ sen, darf nicht nur theoretisch, sondern muss dem Beschuldigten auch tatsächlich zustehen. Dies ist dann nicht der Fall, wenn ihm abverlangt wird, seine Gründe detailliert darzulegen. Der Beschuldigte befindet sich in dieser Konstellation in einem der Situation des Auskunftsverweigerungsrecht des Zeugen (§ 55 StPO) ver­ gleichbaren Dilemma: Äußert er sich nicht zu den Inhalten des Mandates, muss er an einem für ihn zerrütteten (Pflicht-)Verteidigerverhältnis festhalten. Äußert er sich dazu, hat er zwar Chancen einen neuen Verteidiger zu erhalten, muss je­ doch inhaltlich zu seiner Verteidigungsstrategie vortragen und riskiert damit eine (Teil-)Einlassung in der Sache. Der Zeuge, der für sich oder einen Angehörigen nur die Möglichkeit einer Strafverfolgung riskiert, ist über das Auskunftsverwei­ gerungsrecht weitgehender geschützt, als ein Beschuldigter, der bereits inmitten eines Strafverfahrens steckt. Das überzeugt nicht. Auch dem Beschuldigten sollte vergleichbar zu § 56 S. 1 StPO über die Glaubhaftmachung hinaus nicht abverlangt werden dürfen, zu den Gründen vorzutragen. Denn der Zeuge muss für § 55 StPO die ihn bewegenden Gründe nicht detailliert ausführen, weil dies die Effektivität des Auskunftsverweigerungsrechts konterkarieren würde.388 Ähnlich konterkariert wird der Sinn und Zweck, dem Beschuldigten eine Aus­ wechslung eines zerrütteten Pflichtverteidigerverhältnisses wirksam zu garantie­ ren, wenn er sich zwischen seiner Selbstbelastungsfreiheit und einem nicht mehr haltbaren Verteidigerverhältnis entscheiden muss. Dadurch bleibt § 143a StPO-E hinter den Vorgaben zurück, die durch die PKH-RL an das Auswechslungsrecht des Beschuldigten gestellt werden. Insofern muss § 143 StPO entweder im Wort­ laut angepasst oder aber durch die Rechtsprechung großzügiger ausgelegt werden. Jedoch könnte diese Gelegenheit genutzt werden, um § 143 StPO klarstellend neu

385

St. Rspr. BVerfG, NJW 2001, 3695 (3697); BGHSt 39, 310 (314 f.); NStZ-RR 2005, 240 (241); NStZ 1988, 420; KG, NJW 2008, 3652; OLG Stuttgart, Beschluss v. 12.2.2002 – 1 Ws 21/02, juris, Rn. 10; m. w. N. KMR-Haizmann, StPO, § 143 Rn. 20. 386 Krit. Bahns / Burkert / Guthke / Kitlikoglu u. a., Neuordnung der Pflichtverteidigerbestel­ lung, S. 29 f.; ebenso krit. Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, Rn. 2931; Hellwig / Z ebisch, NStZ 2010, 604; KMR-Haizmann, StPO, § 143 Rn. 20; MüKo-Thomas / Kämpfer, StPO, § 143 Rn. 9; SK-Wohlers, StPO, § 143 Rn. 16 m. w. N. 387 KMR-Haizmann, StPO, § 143 Rn. 20; in diesem Sinne SK-Wohlers, StPO, § 143 Rn. 16. 388 BGH, NJW 1984, 136; grundlegend NJW 1955, 230 (231 a. E.).

E. Notwendiger Beistand im transnationalen Strafverfahren 

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zu fassen und darin einen Katalog einzufügen, der die Situationen einer möglichen Auswechslung sowie ihre Anforderungen benennt.389

E. Notwendiger Beistand im transnationalen Strafverfahren Verteidigungsrechte müssen nach den europäischen Vorgaben auch im trans­ nationalen Strafverfahren jedenfalls entsprechend im Vollstreckungs- wie im An­ ordnungsstaat Anwendung finden.390 Die Europäischen Haftbefehl macht Art. 5 PKH-RL dafür sehr konkrete Vorgaben. Für die Bundesrepublik Deutschland muss das, dass sie, je nachdem, ob sie als Anordnungs- oder Vollstreckungsstaat, unter­ schiedliche Anforderungen umsetzen: Ist Deutschland Vollstreckungsstaat, muss gem. Art. 5 Abs. 1 PKH-RL ab Festnahme und spätestens vor der Vernehmung der festgenommenen Person ein Rechtsbeistand beigeordnet werden, auch wenn die Überstellung zur Strafvollstreckung erfolgen soll. Ist Deutschland dagegen Anord­ nungsstaat, unterscheiden sich die Pflichten wiederum in zeitlicher Hinsicht: Vor der Überstellung der festgenommenen Person muss gem. Art. 5 Abs. 2 PKH-RL ein Pflichtverteidiger beigeordnet werden, wenn der Verfolgte im Vollstreckungs­ staat einen Verteidiger in Deutschland benannt hat und dies für ihn grundsätzlich zur Rechtswahrnehmung erforderlich ist. Nach der Überstellung dagegen gelten für den Verfolgten die sonst im Strafverfahren üblichen Regelungen der StPO.

I. Beistand i. S. v. § 40 IRG als Regelung für den Europäischen Haftbefehl Gem. § 40 Abs. 1 IRG bedient sich der Verfolgte nicht eines notwendigen Ver­ teidigers, sondern eines Beistands.391 Dieser Begriff soll – in Abgrenzung zu an­ deren Formen der Beistandschaft durch rechtsunkundige Personen, wie z. B. in § 69 JGG, § 149 StPO – nunmehr klarer als Rechtsbeistand bezeichnet werden.392 Die Vorschrift des § 40 IRG ist im Zweiten Teil des IRG geregelt, der nur die Aus­ lieferung an das Ausland betrifft und durch die §§ 80–83e IRG in Bezug auf die 389 So auch der Vorschlag des BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung, 2018, a. a. O. Kap. 3, Fn. 49, S. 3, 41 f.; Schlothauer / Neuhaus / Matt / Brodowski, HRRS 2018, 67; sich für ein nicht zu begründendes, aber dafür einma­ liges Auswechslungsrecht aussprechend: Bahns / Burkert / Guthke / Kitlikoglu u. a., Neuordnung der Pflichtverteidigerbestellung, S. 29. 390 Vgl. o. m. w. N. zu den jeweiligen Fundstellen Kap. 3. C. 391 Inzwischen ergänzend BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung, 2018, a. a. O. Kap. 3, Fn. 49, S. 21 („notwendige Rechtsbeistand­ schaft“); krit. zu dieser eher an § 149 StPO angelehnten und damit geringfügigere Leistungen unterstellenden Wortwahl: Schomburg / L agodny, NJW 2012, 352. 392 BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidi­ gung, 2018, a. a. O. Kap. 3, Fn. 49, S. 50.

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Kap. 4: Ausblick auf die mitgliedstaatliche Ebene 

Auslieferung an einen Mitgliedstaat der EU ergänzt wird. Der Beistand i. S. v. § 40 Abs. 1 IRG wird auch nach gesonderten Vorschriften vergütet.393 Ähnlich wie § 140 StPO für die notwendige Verteidigung ist § 40 IRG als zentrale Norm für Beistand im Rahmen strafrechtlicher Rechtshilfe konzipiert und wird daher auch für sonstige Rechtshilfemaßnahmen in Bezug genommen.394 Die Stellung des Beistands ist aber grundsätzlich an die eines Verteidigers an­ gelehnt. Gem. § 40 Abs. 3 IRG richten sich die Befugnisse des Beistands nach den Vorschriften des 11. Abschnitts des Ersten Buches der Strafprozessordnung, also den Vorschriften über die Verteidigung, §§ 137–150 StPO.395 Daraus folgt grund­ sätzlich auch das Recht des Verfolgten auf ungestörte vertrauliche Kommunikation mit seinem Beistand, auf Akteneinsicht,396 auf eigene Ermittlungen sowie auf Vor­ trag zu den Rechtsfragen des Europäischen Haftbefehlsverfahrens.397 Ein solcher Beistand ist dem Verfolgten zu bestellen, wenn die Bedingungen von § 40 Abs. 2 IRG vorliegen. Bislang wird darüber nur die Rechtsperspektive des Verfolgten im Vollstreckungsstaat abgebildet. Eine ähnliche Unterstützung, wenn Deutschland Anordnungsstaat ist, fehlt bislang im IRG. 1. Die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls Ist Deutschland Vollstreckungsstaat, muss gem. Art. 5 Abs. 1 PKH-RL ab Festnahme und spätestens vor der Vernehmung der festgenommenen Person ein Rechtsbeistand beigeordnet werden, auch wenn die Überstellung zur Strafvollstre­ ckung erfolgen soll. Das ist bislang in dieser Form nicht geregelt, es sei denn, der Verfolgte ist jugendlich. Insofern muss § 40 Abs. 2 IRG zwingend – jedenfalls für den Übergabeverkehr in der Europäischen Union – novelliert werden. a) Zu strenge Voraussetzungen der Beiordnung § 40 Abs. 2 IRG regelt als lex specialis zu § 140 Abs. 1, 2 StPO, wann einem noch unverteidigten Verfolgten ein Beistand beizuordnen ist.398 Dem Verfolgten soll gem. § 40 Abs. 2 IRG ein Rechtsanwalt als Beistand bestellt werden, wenn wegen 393

Vgl. 6. Teil des VV RVG. Vgl. so in §§ 45 Abs. 6, 53 Abs. 2, 61 Abs. 1 S. 3 IRG 395 Ambos / König / Rackow-Köberer, Rechtshilfe, Kap. 2 Rn. 512. 396 Ebd.; dies eher in § 77 Abs. 1 IRG i. V. m. § 147 StPO verortend Grützner / Pötz-Vogel / ​ Burchard, Int. Rechtshilfe in Strafsachen, § 77 IRG Rn. 42. 397 Ambos / König / Rackow-Köberer, Rechtshilfe, Kap. 2 Rn. 513 f. 398 Insb. keine Anwendung von § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO auf die Auslieferungshaft, OLG Mün­ chen, NStZ-RR 2013, 179 (180); vgl. KK-Laufhütte / Willnow, StPO, § 140 Rn. 11; abl. Arnold, StraFo 2013, 60; ebenso krit. Nestler, ZStW 116 (2004), 340; ebenso Meyer-Goßner / Schmitt, StPO, § 140 Rn. 14 („unbefriedigend“); ebenso krit. Schomburg / L agodny, NJW 2012, 351; krit. dazu Wohlers, StV 2010, 152. 394

E. Notwendiger Beistand im transnationalen Strafverfahren 

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der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Beistandes ge­ boten erscheint (Nr. 1), wenn ersichtlich ist, dass der Verfolgte seine Rechte nicht selbst hinreichend wahrnehmen kann (Nr. 2) oder wenn der Verfolgte noch nicht achtzehn Jahre alt ist (Nr. 3). Damit zeigt die Regelung Parallelen zu § 140 StPO und zu § 68 JGG. In § 40 Abs. 2 Nr. 1, 2 IRG werden zu § 140 Abs. 2 S. 1 StPO entsprechende Regelungen geschaffen, sowohl für die Konstellation der Schwierigkeit der Sach- und Rechts­ lage als auch für die bestehende Verteidigungsunfähigkeit des Verfolgten. § 40 Abs. 2 Nr. 3 IRG schafft zudem eine besondere Schutzvorschrift für jugendliche Verfolgte unter 18 Jahren, die strenger ist als § 68 JGG. Außer für jugendliche Angeklagte gebietet § 40 Abs. 2 IRG jedoch nicht, dass nach der Festnahme im Rahmen des Europäischen Haftbefehls dem Verfolgten ein Verteidiger beigeord­ net werden muss. Zwar gibt es Stimmen in der Literatur, die für eine großzügige Auslegung von § 40 Abs. 2 Nr. 1 IRG plädieren, sodass wegen der grundsätzlichen Schwierigkeit des Auslieferungsverfahrens eine Beiordnung in der Regel notwendig sei.399 Diese Auffassung konnte sich in der obergerichtlichen Rechtsprechung jedoch nicht durchsetzen. Die herrschende Rechtsprechung geht davon aus, dass § 40 Abs. 2 IRG keine grundsätzliche Beiordnung gebiete,400 sondern nur eine Prüfung im Einzelfall.401 Systematisch folge dies zudem aus § 31 Abs. 2 S. 2 IRG, der gerade einen Fall regelmäßiger Beiordnung normiere.402 Das Auslieferungsverfahren im Rahmen des Europäischen Haftbefehls sei zumeist sogar weniger komplex, weil die Prüfpflicht der Gerichte in diesem Rahmen ohnehin reduziert sei.403 Tatsächlich hat der Gesetzgeber § 40 Abs. 2 Nr. 1 IRG – gerade im systema­tischen Vergleich zu § 40 Abs. 2 Nr. 3 IRG – nicht als Norm regelmäßiger Beiordnung aus­ gestaltet. Dass ein Auslieferungsverfahren an sich keinen erhöhten Schwierig­ keitsgrad haben soll, mag aus der Perspektive der dauerhaft damit beschäftigten Berufsrichter am OLG stimmen. Fraglich ist doch aber, ob aus der Perspektive des Verfolgten eine solche Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage vorliegt. Immerhin 399

OLG Schleswig-Holstein, Beschluss v. 20.3.2003 – 1 Ausl (A) 5/03 (4/03), juris, Rn. 7; dies in einem obiter dictum andeutend: BGHSt 32, 221 (228 f.); so auch Ambos / König / Ra­ ckow-Köberer, Rechtshilfe, Kap.  2 Rn.  517; ebenso S / L/G / H-Lagodny / Schomburg / Hackner, Int. Rechtshilfe in Strafsachen, § 40 IRG Rn. 14. 400 KG, NStZ-RR 2011, 339; OLG Dresden, Beschluss v. 12.3.2010 – OLG Ausl 53/10, juris, Rn. 5; OLG München, NStZ-RR 2013, 179; OLG Saarbrücken, Beschluss v. 2.6.2016 – OLG Ausl 22/16 (39/16), juris, Rn. 5. 401 KG, NStZ-RR 2011, 339; OLG Köln, NStZ-RR 2010, 377; OLG München, NStZ-RR 2013, 179; OLG Karlsruhe, GA 1987, 514 f.; OLG Saarbrücken, Beschluss v. 2.6.2016 – OLG Ausl 22/16 (39/16), juris, Rn. 5. 402 KG, NStZ-RR 2011, 339. 403 OLG München, NStZ-RR 2013, 179; OLG Saarbrücken, Beschluss v. 2.6.2016 – OLG Ausl 22/16 (39/16), juris, Rn. 5; zust. Grützner / Pötz-Böhm, Int. Rechtshilfe in Strafsachen, § 40 IRG Rn. 24.

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Kap. 4: Ausblick auf die mitgliedstaatliche Ebene 

wurde das Verfahren vom Gesetzgeber auch deshalb bei den Oberlandesgerichten angesiedelt, weil der Gesetzgeber für diese Verfahren eine besondere Expertise vo­ raussetzte.404 Vor diesem Hintergrund ist fraglich, wie der durchschnittliche juris­ tisch nicht vorgebildete und oft auch sprachlich fremde Verfolgte ein solches Aus­ lieferungsverfahren in rechtlicher wie tatsächlicher Hinsicht bewältigen soll. Für die Einschätzung der Schwierigkeit ist nicht entscheidend, ob ein Berufsrichter ein Verfahren aus seiner Perspektive als schwierig beurteilt, sondern ob der konkrete Angeklagte dieses Verfahren effektiv selbst gestalten kann. Auch wenn dies in der Regel nicht der Fall ist, haben die Oberlandesgerichte diese Auslegung bislang § 40 Abs. 2 Nr. 1 IRG nicht zugrunde gelegt. Insofern bedarf es einer neuen Rege­ lung, die eine Beiordnung ab dem Zeitpunkt der Festnahme zwingend vorschreibt, ohne diese Beiordnung zusätzlichen Anforderungen zu unterstellen.405 Dies gilt jedenfalls für das Verfahren des Europäischen Haftbefehls, auf den § 40 IRG gem. § 78 Abs. 1 IRG entsprechend Anwendung findet. Da § 40 IRG eine all­ gemeine Norm für den Auslieferungsverkehr auch mit Drittstaaten darstellt, steht es dem Gesetzgeber frei, entweder ein nur im Achten Teil des IRG angesiedeltes notwendiges Beistandsrecht zu normieren, um dies auf das Verfahren des Euro­ päischen Haftbefehls – richtlinienkonform – zu beschränken oder aber § 40 IRG insgesamt, wenngleich im Verhältnis zur PKH-RL überschießend neu und umfas­ sender zu regeln. Letzteres bietet sich, gerade im Hinblick auf die Erforderlich­ keit eines Beistandsrechts im Rahmen anderer transnationaler strafprozessualer Maßnahmen, an.406 Der Referentenentwurf des BMJV passt seine Neukonzeption von § 40 Abs. 2 IRG-E den Vorgaben von Art. 5 Abs. 1 PKH-RL an. Er geht jedoch über die Vor­ gaben der PKH-RL sogar hinaus und schafft in § 40 Abs. 2 IRG-E eine Norm, die rechtlichen Beistand für alle Auslieferungsverfahren, ob mit EU- oder Drittstaa­ ten, für notwendig erklärt. Das ist insbesondere positiv, weil auch im Verfahren mit Drittstaaten die gleichen Erwägungen für eine frühzeitige Beiordnung strei­ ten, umso mehr, wenn die Verfahrensstandards noch weniger angeglichen sind.407 Zudem ist das Verfahren mit Drittstaaten meist unübersichtlicher, was die Sach­ verhaltsaufklärung aber auch die anwendbaren Rechtsvorschriften betrifft. Diese überschießende Umsetzung erkennt somit die gleichgelagerte Notwendigkeit einer Verteidigung für alle festgenommenen Personen an.

404 So aber KG, NStZ-RR 2011, 339; OLG Dresden, Beschluss v. 12.3.2010 – OLG Ausl 53/10, juris, Rn. 5; OLG Saarbrücken, Beschluss v. 2.6.2016 – OLG Ausl 22/16 (39/16), juris, Rn. 5; OLG München, NStZ-RR 2013, 179. 405 BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung, 2018, a. a. O. Kap. 3, Fn. 49, S. 21; Schlothauer / Neuhaus / Matt / Brodowski, HRRS 2018, 68. 406 Vgl. sogl. u. Kap. 4 E. II. 407 BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidi­ gung, 2018, a. a. O. Kap. 3, Fn. 49, S. 51.

E. Notwendiger Beistand im transnationalen Strafverfahren 

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b) Zeitraum der Bestellung Die Festnahme in Art. 5 Abs. 1 PKH-RL hat eine Doppelfunktion als sachliche Voraussetzung, und als Beginn der Gewährleistung. Dem Verfolgten soll im Voll­ streckungsstaat ab der Festnahme, spätestens jedoch vor der ersten Vernehmung ein Beistand bestellt werden. Im Rahmen von Art. 5 Abs. 1 PKH-RL endet der Anspruch entweder mit Überstellung des Verfolgten oder mit rechtskräftiger Ab­ lehnung des Auslieferungsgesuchs. Jedenfalls in Bezug auf das Ende der Gewährleistung entspricht die deutsche Regelung diesen Anforderungen. Danach endet die Bestellung des Beistands gemäß der Rechtsprechung zu § 40 IRG entweder mit der Überstellung des Verfolgten408 oder mit der Entscheidung des Oberlandesgerichts, die das Ver­ fahren gem. § 32 i. V. m. § 13 Abs. 1 S. 1 IRG rechtskräftig abschließt.409 Es ist zwar zutreffend, dass es keine ausdrückliche gesetzliche Regelung gibt, die den Endzeitpunkt der notwendigen Rechtsbeistandschaft gem. § 40 Abs. 2 IRG vor­ sieht. Es besteht jedoch in Anbetracht der richtlinienkonformen Ausprägung der Rechtsbeistandschaft und ihrer Beendigung – anders als der Referentenentwurf des BMJV behauptet – kein „Änderungsbedarf“.410 Eine gesetzliche Klarstellung ist trotzdem der sich nicht im Gesetz widerspiegelnden Auslegung durch die Ge­ richte vorzuziehen. Änderungsbedürftig dagegen ist, ab wann dem Verfolgten ein Beistand zu be­ stellen ist. Dazu äußert sich § 40 IRG nicht. Zugleich ist wegen § 40 Abs. 3 IRG ein Rückgriff auf § 141 Abs. 3 StPO ausgeschlossen. Im Verfahren des Euro­päischen Haftbefehls in seiner Umsetzung im IRG gibt es verschiedene potenzielle Zeit­ punkte im (nicht vereinfachten) Auslieferungsverfahren, vgl. § 41 Abs. 1 IRG, zu denen ein Beistand bestellt werden könnte: Zunächst wird der Verfolgte gem. § 21 IRG ergriffen und einem Richter am Amtsgericht vorgeführt, § 21 Abs. 2 S. 1 IRG. Bei dieser Vorführung kann der Verfolgte Einwendungen geltend machen. Er ist zu diesem Zeitpunkt zudem über sein Recht auf einen Beistand aufzuklären. Dar­ aufhin erfolgt die Vorentscheidung der Generalstaatsanwaltschaft gem. § 79 Abs. 2 S. 2 IRG. Erst dann wird die Entscheidung des Oberlandesgerichts gem. § 79 Abs. 2 S. 3 IRG i. V. m. § 29 IRG beantragt. Der BGH hat angenommen, dass erst zum

408

OLG Köln, NStZ-RR 2010, 377; zust. Grützner / Pötz-Böhm, Int. Rechtshilfe in Strafsa­ chen, § 40 IRG Rn. 2. 409 M. w. N. Grützner / Pötz-Böhm, Int. Rechtshilfe in Strafsachen, § 32 IRG Rn. 72 f.; dazu, ob das Nachverfahren umfasst ist vgl. eher krit. OLG Köln, NStZ-RR 2010, 377; offen dagegen Grützner / Pötz-Böhm, Int. Rechtshilfe in Strafsachen, § 40 IRG Rn. 2; inzwischen für einen das Nachverfahren umfassenden Rechtskraftbegriff plädierend: BMJV, Entwurf eines Geset­ zes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung, 2018, a. a. O. Kap. 3, Fn. 49, S. 53. 410 Vgl. BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Ver­ teidigung, 2018, a. a. O. Kap. 3, Fn. 49, S. 22.

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Kap. 4: Ausblick auf die mitgliedstaatliche Ebene 

Zeitpunkt, in dem der Antrag auf Entscheidung des OLG gem. § 29 IRG gestellt wird, dem Verfolgten ein Beistand zu bestellen ist.411 Diese Auslegung deckt sich jedoch nicht mit den Anforderungen aus Art. 5 Abs. 1 PKH-RL.412 Denn die erste Vernehmung des Verfolgten findet bereits im Rahmen der Vorführung zum Amtsgericht statt, § 21 Abs. 2 S. 1 IRG. Dementspre­ chend sollte der Zeitpunkt der Bestellung in § 40 IRG aufgenommen werden, wie es nunmehr auch der Referentenentwurf des BMJV in § 40 Abs. 2 IRG-E vor­ schlägt.413 Indem § 40 IRG dadurch angepasst werden muss, dass es zu einer auto­ matischen Beiordnung ab Festnahme und spätestens vor der Vorführung zum Amtsgericht kommt, wird § 40 IRG den Gewährleistungen von § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO gleichgestellt.414 2. Die Anordnung eines Europäischen Haftbefehls Ist Deutschland Anordnungsstaat muss dem Verfolgten vor seiner Überstellung gem. Art. 5 Abs. 2 PKH-RL dann ein Beistand bestellt werden, wenn der Verfolgte im Vollstreckungsstaat einen Beistand in Deutschland benannt hat und dies für ihn grundsätzlich zur Rechtswahrnehmung erforderlich ist. Im Rahmen der euro­ päischen Anforderungen wurde bereits erarbeitet, dass diese Beiordnung auch im Anordnungsstaat regelmäßig zu erfolgen hat, wenn der Verfolgte von seinem Recht, einen Beistand zu benennen, Gebrauch macht.415 Auch daran muss sich die neue Regelung im deutschen Recht orientieren. Über sein Recht, im Anordnungsstaat einen Beistand zu benennen, muss der Vollstreckungsstaat zudem den Verfolgten informieren. Dieses Informationsrecht ist bereits in § 83c Abs. 2 IRG geregelt. Eine solche Regelung notwendiger Rechtsbeistandschaft im Anordnungsstaat existiert bislang jedoch nicht. Diese muss daher neu geschaffen werden.416 Im Referentenentwurf wird eine derartige Regelung in § 83j IRG-E vorgeschlagen. Anders als § 40 Abs. 2 IRG-E wird diese Doppelverteidigung im Anordnungs­ staat systematisch und dem Wortlaut nach allein auf das Verfahren des Europäi­

411 BGHSt 32, 221 (229); zust. OLG Schleswig-Holstein, Beschluss v. 20.3.2003 – 1 Ausl (A) 5/03 (4/03), juris, Rn. 7. 412 BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidi­ gung, 2018, a. a. O. Kap. 3, Fn. 49, S. 21. 413 Ebd., S. 51 f. mit einem differenzierten System der Anknüpfungspunkte über den Zeit­ punkt der Festnahme hinaus und mit der Erstreckung auch auf den Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten. 414 Schlothauer / Neuhaus / Matt / Brodowski, HRRS 2018, 68. 415 Dies bereits früh fordernd: Salditt, StV 2003, 137; Schlothauer / Neuhaus / Matt / Brodowski, HRRS 2018, 60. 416 BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidi­ gung, 2018, a. a. O. Kap. 3, Fn. 49, S. 22; Schlothauer / Neuhaus / Matt / Brodowski, HRRS 2018, 60, 68.

E. Notwendiger Beistand im transnationalen Strafverfahren 

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schen Haftbefehls beschränkt.417 Das ist im Hinblick auf die Beschränkungen der PKH-RL nicht zu beanstanden. Lediglich nachdem für das Verfahren im Vollstre­ ckungsstaat der Entwurf ausführlich begründete, warum im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten eine Ungleichbehandlung nicht angezeigt ist, erscheint es nicht verständlich, warum dies bei der parallelen Beiordnung eines Rechtsbeistands im Anordnungsstaat in Auslieferungsverfahren mit Drittstaaten auf einmal nicht mehr gelten soll.418

II. Regelung anderer strafprozessualer Zwangsmaßnahmen im transnationalen Strafverfahren Auch wenn die PKH-RL keine gesonderten Regelungen für andere Maßnahmen im Rahmen strafrechtlicher Rechtshilfe festlegt, ist nach der EMRK und der GRCh die entsprechende Anwendung der Verteidigungsrechte im Vollstreckungs- wie im Anordnungsstaat grundsätzlich zu gewährleisten. Der Referentenentwurf, der sich lediglich mit der Umsetzung der PKH-RL beschäftigt, trifft dementsprechend keine über die Gehalte der PKH-RL hinausgehenden Überlegungen zu anderen transnationalen Ermittlungsmaßnahmen. 1. Beistand im Vollstreckungsstaat Für die Rolle Deutschlands als Vollstreckungsstaat sieht das IRG dafür wenige eigene Regelungen vor. Stattdessen existiert die Verweisungsvorschrift in § 77 Abs. 1 IRG. Danach gelten die Vorschriften des GVG, des EGGVG, der StPO, des JGG, der AO sowie des OWiG, soweit das IRG selbst keine besonderen Verfah­ rensvorschriften enthält. Dadurch sind viele Zwangsmaßnahmen der StPO auch im Rechtshilfeverfahren anwendbar. Die Anwendung der dortigen Verfahrensvorschriften soll dem Wortlaut nach nur sinngemäß erfolgen, um eine Anpassung an rechtliche Besonderheiten des Rechtshilfeverfahrens auch für den Verfolgten zu ermöglichen.419 Durch den ge­ nerellen Verweis auf das jeweilige Gesetz ist dieser bewusst dynamisch gestaltet worden.420 Das macht jedoch den Umfang des Verweises und der entsprechend im Rechtshilfeverfahren anwendbaren Vorschriften schwer erfassbar.421 § 77 Abs. 1 IRG ermöglicht aber die Übertragung wichtiger Verfahrensgrundsätze und wird 417 BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidi­ gung, 2018, a. a. O. Kap. 3, Fn. 49, S. 56. 418 So aber ebd., S. 55 f. 419 Grützner / Pötz-Vogel / Burchard, Int. Rechtshilfe in Strafsachen, § 77 IRG Rn. 4. 420 Ebd., Rn. 6. 421 Krit. ebd.; S / L/G / H-Lagodny / Hackner / Trautmann, Int. Rechtshilfe in Strafsachen, § 77 IRG Rn. 6.

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Kap. 4: Ausblick auf die mitgliedstaatliche Ebene 

daher als Grundlage der „Justizialisierung und Justizförmigkeit“ des Rechtshilfe­ verfahrens bezeichnet.422 Dieser Justizialisierungseffekt bezieht sich dabei nicht nur auf die entsprechende Anwendung von Eingriffsmaßnahmen, sondern auch auf die zum Teil entsprechende Anwendung von Beschuldigtenrechten.423 Es muss also insbesondere ermittelt werden, inwiefern Verteidigungsrechte aus der StPO für andere transnationale Verfahrensmaßnahmen wirksam gemacht werden können. Diese können nur über § 77 Abs. 1 IRG Anwendung finden, wenn das IRG selbst keine eigenen, spezielleren Vorschriften vorsieht. Ebenso sind Ver­ weisungen des IRG auf Verfahrensvorschriften in der StPO oder in anderen Ge­ setzen vorrangig und sperren die allgemeinere Vorschrift des § 77 Abs. 1 IRG.424 Das Beistandsrecht gem. § 40 IRG gilt zwar nur für das Auslieferungsverfahren. Auf § 40 IRG wird jedoch für andere Rechtshilfemaßnahmen explizit verwiesen und damit auch dort zur Anwendung gebracht, vgl. §§ 45 Abs. 6, 53 Abs. 2, 61 Abs. 1 S. 3 IRG. Daher sind die Vorschriften über die notwendige Verteidigung im Übrigen gesperrt.425 Nach der aktuellen Regelung im IRG – und deren Auslegung durch die Gerichte – ist damit ein Beistandsrecht außer im Rahmen der Ausliefe­ rung nicht vorgesehen. Dies muss in einer Neufassung des IRG geändert werden. Dies gilt insbesondere für strafprozessuale Maßnahmen im Vollstreckungsstaat, in denen die Selbstbelastungsfreiheit des transnational Verfolgten besonders ge­ fährdet ist und er umso mehr das Korrektiv eines rechtlichen Beistands benötigt. Das sollten zunächst jene Ermittlungssituationen sein, die auch im nationalen Straf­ verfahren zwingend eine Beiordnung erfordern, also Vernehmungen im Vollstre­ ckungsstaat, dort durchgeführte Tatortrekonstruktionen sowie Vernehmungs- und Identifizierungsgegenüberstellungen. Dies wäre im Rahmen von Vernehmungen konsequent, weil deren Bedeutung auch im Rechtshilfeverfahren anerkannt ist.426 Deswegen werden dort bereits herrschend über § 77 Abs. 1 IRG sowohl die Anwe­ senheits- und Fragerechte aus der StPO für anwendbar erklärt,427 als auch wie die Vorschriften über die Beschuldigtenvernehmung, vgl. §§ 136, 136a StPO. In allen übrigen Fällen sollte das Beistandsrecht in § 40 IRG erweitert werden, grundsätzlich auch für andere Rechtshilfemaßnahmen anwendbar sein und eine grundlegende Beiordnung normiert werden. Diese entsprechende Anwendung im Rechtshilfeverfahren im Vollstreckungsstaat setzt um, dass die derart gewonnenen 422

Grützner / Pötz-Vogel / Burchard, Int. Rechtshilfe in Strafsachen, § 77 IRG Rn. 11. Vgl. in diesem Sinne BGHSt 32, 221 (228); zust. Grützner / Pötz-Vogel / Burchard, Int. Rechtshilfe in Strafsachen, § 77 IRG Rn. 14. 424 Grützner / Pötz-Vogel / Burchard, Int. Rechtshilfe in Strafsachen, § 77 IRG Rn. 16. 425 LG Hamburg, Beschluss v. 5.11.2010 – 601 Qs 96/10, juris, Rn. 1, 3; LG Koblenz, NJW 1989, 677; Grützner / Pötz-Vogel / Burchard, Int. Rechtshilfe in Strafsachen, § 77 IRG Rn. 16; zust. Satzger / Schluckebier / Widmaier-Beulke, StPO, § 140 Rn. 21; a. A. MüKo-Thomas / Kämpfer, StPO, § 140 Rn. 6. 426 Befürwortend LG Hamburg, Beschluss v. 5.11.2010 – 601 Qs 96/10, juris, Rn. 11. 427 Grützner / Pötz-Vogel / Burchard, Int. Rechtshilfe in Strafsachen, § 77 IRG Rn. 42; Grütz­ ner / ​Pötz-Johnson, Int. Rechtshilfe in Strafsachen, § 59 IRG Rn. 30. 423

E. Notwendiger Beistand im transnationalen Strafverfahren 

379

Beweise in einem anderem Mitgliedstaat in ein laufendes Strafverfahren einflie­ ßen und daher von dementsprechenden Verteidigungsgarantien begleitet werden müssen. In dieser Form würde auch vermieden, dass nur durch die Auslagerung einer Ermittlungsmaßnahme in einen anderen Mitgliedstaat der EU die Verteidi­ gungsrechte für den Beschuldigten abgesenkt werden. Es bleibt abzuwarten, wie sich der Rechtshilfeverkehr zwischen den Mitglied­ staaten entwickelt. Gem. Art. 4 Abs. 1 RhÜbk, Art. 6 Abs. 1 lit. b EEA-RL müs­ sen Beweismittelersuchen zwischen den Mitgliedstaaten der EU nach dem Recht des Anordnungsstaates durchgeführt werden.428 Dies gilt jedenfalls für die zwin­ genden Verfahrensvorschriften, wie z. B. § 168c Abs. 1, 5 StPO. Mit Umsetzung der PKH-RL und den dort normierten Mindestsituationen würde dann in diesen Situationen der Zugang zu einem Rechtsbeistand und gegebenenfalls strafrecht­ licher Prozesskostenhilfe ebenso zwingend und damit auch vom Anordnungsstaat für die Beweismittelerhebung vorgeschrieben werden. Über Art. 4 Abs. 1 RhÜbk, Art. 6 Abs. 1 lit. b EEA-RL wird damit bereits der Anordnungsstaat in die Pflicht genommen, eine Umsetzung seiner Verfahrensvorschriften im Vollstreckungsstaat zumindest einzufordern. Jedenfalls für entgegen § 168c StPO in einem anderen Mitgliedstaat durchgeführte Vernehmungen hat der Bundes­gerichtshof sich dem­ entsprechend offen für ein mögliches Beweisverwertungsverbot gezeigt.429 2. Doppelverteidigung durch Unterstützung im Anordnungsstaat Aus der Perspektive Deutschlands als Anordnungsstaat sieht das IRG keine Re­ gelungen vor, die einen unterstützenden Beistand aus dem Anordnungsstaat für Handlungen im Vollstreckungsstaat vorsehen. Grundsätzlich gelten für den Beschuldigten im Anordnungsstaat ohnehin die üblichen Regeln aus den §§ 140 ff. StPO. Danach kann er jedenfalls notwendige Verteidigung beanspruchen. Ist er bereits verteidigt und findet in diesem Rahmen eine Rechtshilfemaßnahme in einem anderen Mitgliedstaat der EU statt, bleibt die notwendige Verteidigung bestehen und gilt auch für die Unterstützung des dann im Vollstreckungsstaat zu bestellenden Beistands. Auch in Fällen, in denen ein Beschuldigter noch nicht verteidigt ist und ihm eine Rechtshilfemaßnahme im Ausland droht, sollte spiegelbildlich zu den Bei­ ordnungssituationen im Vollstreckungsstaat ebenso ein Verteidiger im Anord­ nungsstaat gemäß einer in das IRG einzufügenden Regelung zu bestellen sein.430 428

Vgl. zur Geltung § 168c StPO bei ausländischen Zeugenvernehmungen BGH, NStZ 2007, 417; zust. MüKo-Kreicker, StPO, § 251 Rn. 29 f.; ebenso zust. KK-Diemer, StPO, § 251 Rn. 20. 429 Dahingehend offen vgl. BGH, NStZ 2007, 417; zust. MüKo-Kreicker, StPO, § 251 Rn. 29 f.; ebenso zust. KK-Diemer, StPO, § 251 Rn. 20. 430 Für „multinationale Verteidigerteams“ oder „doppelte Verteidigung“ plädierend Böse, ZIS 2014, 160; Grützner / Pötz-Vogel / Burchard, Int. Rechtshilfe in Strafsachen, § 77 IRG

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Kap. 4: Ausblick auf die mitgliedstaatliche Ebene 

Nur so kann der Beistand im Vollstreckungsstaat ermessen, welcher Vortrag und welche Einwendungen im Rechtshilfeverfahren aus Perspektive des Anordnungs­ staates sinnvoll sind.431 Dies kann der Beistand im Vollstreckungsstaat üblicher­ weise nur für die dortige Rechtsordnung überblicken, obgleich wichtiger noch ist, welche Auswirkungen das gewonnene Beweismittel für das eigentliche Strafver­ fahren im Anordnungsstaat hat. Effektive Verteidigung ist über den Beistand im Vollstreckungsstaat allein daher nicht zu gewährleisten.432 Auch dies kann nur über eine neue Fassung einer solchen ergänzenden Beistandsleistung im IRG be­ wirkt werden.

III. Rahmenbedingungen des Beistands in transnationalen Strafverfahren Für die Rahmenbedingungen gilt im Wesentlichen das bereits zum nationalen Strafverfahren Ausgeführte.433 Auch für die im transnationalen Verfahren tätigen Rechtsbeistände müssen Kriterien geschaffen werden, die nachvollziehbar machen, wer über Expertise im Verfahren des Europäischen Haftbefehls sowie sonstige Maßnahmen der Rechtshilfe verfügt. Dies wird, ähnlich wie im nationalen Straf­ verfahren, über eine gemischte Betrachtung der Zulassungsdauer aber auch der für die Fachkenntnis im transnationalen Strafverfahren sprechenden Fortbildungen und Qualifikationen zu bewirken sein.434 Referendare waren ohnehin nie für die Erbringung von Beistandsleistungen im Rahmen des transnationalen Verfahrens zugelassen, vgl. § 40 Abs. 3 IRG i. V. m. § 142 Abs. 2 StPO.435 Der Entwurf des BMJV belässt es auch im Rahmen des IRG bei einer grundsätzlichen Zuständigkeit des Gerichts für die Auswahl eines nicht näher benannten Rechtsbeistandes durch den Verfolgten.436 Insoweit gelten die bereits oben formulierten Kritikpunkte.437 Auch die Kostenübernahme erfolgt vorläufig, nach dem gleichen Mechanismus wie im nationalen Strafverfahren. Insofern kann der gerichtlich bestellte Beistand Rn. 43 („Spiegelverteidigung“); ebenso grundsätzlich Salditt, StV 2003, 136 f.; Sidhu / Saucken, NZWiSt 2018, 127 f.; zu einer grds. zust. Einstellung der Praxis dazu vgl. Arnold, Grenzüber­ schreitende Strafverteidigung in Europa, S. 57 f.; a. A. ausreichend, dass der Pflichtverteidiger vor Ort ist Ungern-Sternberg, ZStW 87 (1975), 929 f. 431 Zu den Nachweisen vgl. o. Kap. 2, Fn. 727. 432 So grundsätzlich dafür Abetz, Justizgrundrechte in der Europäischen Union, S. 331 f.; Böse, ZIS 2014, 160; Gaede, ZStW 115 (2004), 867 ff.; Gleß, StV 2010, 406; Nestler, ZStW 116 (2004), 340 („doppelte notwendige Verteidigung“); Salditt, StV 2003, 137; Satzger, NStZ 2013, 212 („Doppelpflichtverteidigung“). 433 Vgl. o. Kap. 4 D. 434 Dafür auch die Praktiker in der Umfrage von Arnold, Grenzüberschreitende Straf­ verteidigung in Europa, S. 103; vgl. o. Kap. 4 D. II. 1. 435 BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidi­ gung, 2018, a. a. O. Kap. 3, Fn. 49, S. 53 f. zu § 40 Abs. 5 IRG-E. 436 Ebd., S. 56. 437 Vgl. dazu o. Kap. 4 D. II.

F. Ergebnis: Nachbesserungsbedarf für die Novelle der Pflichtverteidigung 

381

ebenso die Vergütung eines Wahlbeistands vom Verfolgten verlangen, wenn die­ ser leistungsfähig ist, vgl. § 53 Abs. 1 RVG i. V. m. § 52 RVG.438 Jedoch muss das Vergütungsverzeichnis des RVG angepasst werden. Die bislang existierenden Nr. 6100–6102 VV RVG decken nur einen kleinen Teil der Rechtsdienstleistun­ gen im transnationalen Strafverfahren ab. Insbesondere die Unterstützung als Bei­ stand im Anordnungsstaat wird bislang nicht erfasst. Sie kann auch nicht über die Nr. 4102 ff. VV RVG vergütet werden, weil diese z. B. die Teilnahme an konkreten Ermittlungshandlungen verlangen (vgl. Nr. 4102 VV RVG). Zudem gelten diese grundsätzlich nicht für Verfahren nach dem IRG, weil für diese die Nr. 6100 ff. VV RVG leges speciales sind. Auch insoweit hat der Referentenentwurf des BMJV leider keinen eigenen Vorschlag erarbeitet.

F. Ergebnis: Erheblicher Nachbesserungsbedarf für die kommende Novelle der Pflichtverteidigung Der Vergleich der aktuellen Ausformung notwendiger Verteidigung im deut­ schen Recht mit den Anforderungen der europäischen Konzeption der Pflichtver­ teidigung zeigt, wie weitgehend die Europäisierung in mitgliedstaatliche Verfah­ rensordnungen eingreift und zu Änderungen zwingt. Für die Verteidigungsrechte, insbesondere das Recht auf Pflichtverteidigung, bedeutet dieser Eingriff eine grundlegende Verbesserung. Bereits zum Teil seit Jahrzehnten bestehende Streit­ punkte, ob dem Beschuldigten in § 141 Abs. 3 StPO ein Antragsrecht zusteht bzw. zustehen sollte oder wie großzügig § 140 Abs. 2 S. 1 StPO auszulegen ist, werden durch die Europäisierung der Pflichtverteidigung zugunsten einer verteidigungs­ freundlichen Auslegung beigelegt. Dieser Effekt ließ sich auch bereits bei anderen Richtlinienprojekten beobach­ ten: Das zuvor umstrittene und von Verteidigern und Literatur lange geforderte Anwesenheitsrecht eines Verteidigers bei der polizeilichen Vernehmung hat erst Eingang in die StPO gefunden, vgl. § 163a Abs. 4 S. 3 i. V. m. § 168c Abs. 1, 5 StPO n. F., nachdem die Umsetzung der Verteidigungsbeistands-RL dies erforderlich machte.439 Diese Richtlinien, die stückweise das Stockholmer Programm umsetzen, sind folglich ein wichtiges und effektives Mittel, Verteidigungsrechte auf nationaler Ebene zu stärken. Dem muss nunmehr nur noch der nationale Gesetzgeber folgen. Die bisherigen Referentenentwürfe des BMJV zur Jugendstrafverfahrens-RL und zur PKH-RL bewältigen dies nur teilweise.

438

I. Ü. vgl. dazu Kap. 4 D. I. Vgl. zu dieser Änderung BT-Drs. 18/9534, S. 14; Plekksepp, Die gleichmäßige Gewähr­ leistung des Rechts auf Verteidigerbeistand, S. 372 m. w. N.; ebenso krit. zum davor fehlenden Anwesenheitsrecht Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 19 Rn. 64 f. 439

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Kap. 4: Ausblick auf die mitgliedstaatliche Ebene 

I. Erweiterung des Beiordnungskatalogs in § 140 Abs. 1 StPO Über die europäische Konzeption der Pflichtverteidigung muss § 140 Abs. 1 StPO erweitert werden. Zwar werden über § 140 Abs. 1 StPO auch materielle Kri­ terien, wie die Schwere der Straftat, die drohenden Rechtsfolgen und die Komple­ xität des Verfahrens abgebildet. Sie gehen jedoch gemessen an den europäischen Anforderungen nicht weit genug. Das betrifft insbesondere den Fall, dass dem Be­ schuldigten Freiheitsstrafe droht. In dieser Konstellation kann der Beschuldigte nur auf Pflichtverteidigung hoffen, wenn ihm Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr droht. Zwar kann § 140 Abs. 2 S. 1 StPO über den Begriff der „Schwere der Tat“ noch zu einer mit den europäischen Anforderungen konformen Auslegung gelangen. Da jedoch, wenn Freiheitsentzug droht, regelmäßig Verteidigung not­ wendig ist, sollte diese Konstellation in § 140 Abs. 1 StPO aufgenommen werden. Dadurch würden ebenso die Sonderregeln für andere spezielle Verfahrensarten, vgl. §§ 408b, 418 Abs. 4 StPO, überflüssig werden. Die vom Referentenentwurf angedachte Kodifizierung der Jahresgrenze in § 140 Abs. 1 Nr. 3 StPO-E bleibt demgegenüber hinter dem zurück, was durch die Europäisierung der notwendigen Verteidigung geboten ist.440 Ausreichend umgesetzt ist dagegen der Zugang zu notwendiger Verteidigung im Rahmen der Vorführung zur Entscheidung über Haft, vgl. § 141 Abs. 3 S. 4 StPO. Dieser lässt notwendige Verteidigung bei richterlichen (Beschuldigten-)Verneh­ mungen zu, wenn dies für die Wahrung der Rechte des Beschuldigten geboten erscheint. Dadurch wird dem Beschuldigten auch in Vorführungssituationen not­ wendige Verteidigung gewährt und so der davor nur lückenhafte Schutz von § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO ergänzt. Diese Vorschrift erkennt der Referentenentwurf nicht als einschlägig an und sieht daher einen Regelungsbedarf in Form eines neuen § 140 Abs. 1 Nr. 4, 5 StPO-E. Insofern wäre es tatsächlich deutlicher, § 141 Abs. 3 S. 4 StPO ebenso in § 140 Abs. 1 StPO einzubeziehen, weil dieser weniger die Art und Weise der Bestellung als vielmehr einen Bestellungsgrund normiert.441 Auch § 68 JGG muss weiter gefasst werden, um richtlinienkonform Zugang zu einem notwendigen Verteidiger zu gewähren. Der fallgruppenbezogene Katalog an Beiordnungssituationen in § 68 JGG ist durch die gesetzliche Regelung einer regelmäßigen Beiordnungspflicht für jugendliche Beschuldigte zu ersetzen. Dabei ist jedoch den Besonderheiten des Jugendstrafrechts und den dortigen informellen Erledigungsformen Rechnung zu tragen. Dies wird auch über die Jugendstrafver­ fahrens-RL ermöglicht, indem eine Beiordnung dann nicht erforderlich sein soll, wenn sie unverhältnismäßig ist. Darüber ist dem Gesetzgeber zum einen eröffnet, bei einer avisierten informellen Erledigung grundsätzlich keinen Beistand bestel­ len zu müssen und so das Verfahren gegen den jugendlichen Beschuldigten nicht unnötig zu formalisieren. Zum anderen kann er das Merkmal der „Unverhältnis­ 440 441

Vgl. Kap. 4. B. II. 1. Vgl. Kap. 4 B. I.

F. Ergebnis: Nachbesserungsbedarf für die Novelle der Pflichtverteidigung 

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mäßigkeit“ auch negativ konturieren, indem Fälle vorgeschrieben werden, die eine Beiordnung erfordern, sei es der drohende Freiheitsentzug, die Entscheidung über Haft oder vollstreckter Freiheitsentzug. Dabei kann auch auf die Wertung der Fall­ gruppen in § 68 Nr. 1–5 JGG zurückgegriffen werden. Anstatt für diese leichter zu handhabende Lösung über eine neue Definition des Regel-Ausnahme-Verhält­ nisses der notwendigen Verteidigung hat der Referentenentwurf des BMJV nur an einigen Stellen nachgebessert. Auch wenn dadurch wenigstens in Zukunft einem Jugendlichen bei jeder Form von drohender Jugendstrafe ein notwendiger Ver­ teidiger zusteht, bleibt diese Nachbesserung im Gesamtgefüge noch hinter dem zurück, was nach EMRK, GRCh und PKH-RL für jugendliche Beschuldigte er­ forderlich ist.442

II. Frühzeitige Partizipationsrechte des Beschuldigten über notwendige Verteidigung Der in § 141 Abs. 1, 3 StPO regelmäßige Zeitpunkt der Beiordnung im Zwi­ schenverfahren ist verspätet. § 141 Abs. 1 StPO muss dahingehend geändert wer­ den, dass eine Beiordnung grundsätzlich bereits im Ermittlungsverfahren ab dem Zeitpunkt der Beschuldigung möglich ist und spätestens vor einer Vernehmung, einer Gegenüberstellung oder einer Tatortrekonstruktion gewährt werden muss. Die bestehenden Anwesenheitsrechte des Verteidigers jedenfalls im Falle rich­ terlicher Untersuchungshandlungen sind daher auch auf solche Maßnahmen aus­ zuweiten, die von der Polizei oder der Staatsanwaltschaft vorgenommen wer­ den. Nach der europäischen Konzeption ist jede dieser Situationen, unabhängig davon, welche Behörde sie durchführt, eine für die Selbstbelastungsfreiheit des Beschuldigten sensible Konstellation, die die Unterstützung eines Pflichtvertei­ digers erfordert, wenn die Voraussetzungen der §§ 140 f. StPO vorliegen. Auch im Gesetzgebungsverfahren muss der vorgeschlagene § 141 Abs. 1 StPO-E daher angepasst werden.443 Bislang ist ebenso unzureichend geregelt, wer Beiordnung im Ermittlungs­ verfahren veranlassen bzw. beantragen kann. Dem Beschuldigten kommt nach bislang herrschender Ansicht der Rechtsprechung kein Antragsrecht zu. Er kann lediglich die Beiordnung bei der Staatsanwaltschaft anregen. Für den gesamten Zeitraum des Vorverfahrens hat die Staatsanwaltschaft ein grundsätzlich nur ihr allein zustehendes Antragsmonopol. Dadurch ist auch dem Gericht verwehrt, von Amts wegen einen Pflichtverteidiger beizuordnen, selbst wenn die Verteidigung offenkundig nicht mehr effektiv gewährleistet ist oder ein Fall der Pflichtvertei­ digung vorliegt. Eine von der Staatsanwaltschaft unabhängige Entscheidungs­ gewalt kann das Gericht nur im Fall einer richterlichen Vernehmung ausüben, 442 443

Vgl. Kap. 4 B. III. Vgl. Kap. 4 C. I. 1., 3., 4.

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Kap. 4: Ausblick auf die mitgliedstaatliche Ebene 

vgl. § 141 Abs. 3 S. 4 StPO. Auch dies verlangt nach einer umfassenden Neure­ gelung im Rahmen von § 141 Abs. 3 StPO. Darin ist vorrangig ein Antragsrecht des Beschuldigten zu normieren, wie es nunmehr auch der Referentenentwurf des BMJV in § 141 Abs. 1 StPO-E vorsieht.444 Zudem muss die Beiordnung eines notwendigen Verteidigers unverzüglich erfolgen. Das Merkmal der Unverzüglichkeit ist zwar so auszulegen, dass eine Beiordnung ohne schuldhaftes Zögern genügt. Es darf jedoch nicht so ausgelegt werden, dass der Beschuldigte in einer Situation notwendiger Verteidigung im Ermittlungsverfahren unverteidigt bleibt. Dies kann zu Konflikten mit anderen Verteidigungsrechten des Beschuldigten führen. Insbesondere ist ihm auch im Rahmen der notwendigen Verteidigung grundsätzlich zuzugestehen, einen Vertei­ diger seiner Wahl zu benennen und für diese Benennung eine angemessene Frist eingeräumt zu bekommen. Um zu vermeiden, dass in Eilfällen der Beschuldigte unverteidigt bleibt, muss trotzdem der Unverzüglichkeit vor dem Wahlrecht des Beschuldigten durch die Beiordnung eines Eilverteidigers Vorrang eingeräumt werden. Um damit dem Beschuldigten keinen Verteidiger für das gesamte Straf­ verfahren aufzubürden, zu dem er kein Vertrauen hat, muss dieser Eil­verteidiger über § 143 StPO unter erleichterten Bedingung auswechselbar sein, vgl. § 143a Abs. 2 S. 1 StPO-E.445 Diese Partizipationsrechte sind nur so durchgreifend, wie ihre Einhaltung auch über ein effektives Fehlerfolgenregime überwacht wird. Die insoweit von den Re­ ferentenentwürfen neu vorgesehenen Beschränkungsmöglichkeiten der Ermitt­ lungsbehörden in § 141 Abs. 3 StPO-E und § 68a Abs. 2 JGG-E sollen über §§ 31 ff. EGGVG hinaus tatsächlich die Vernehmung des unverteidigten Beschuldigten ermöglichen, halten jedoch einem Abgleich mit den Vorgaben der europäischen Konzeption der Pflichtverteidigung nicht stand. Beide Vorschriften erwecken den Eindruck, der Beistand zum Pflichtverteidiger wäre zwar nicht ursächlich für die dort beschriebenen Gefährdungssituationen, müsse aber trotzdem unterbunden werden. Dadurch entsteht der Eindruck, dass gezielt eine Vernehmungssituation mit einem unverteidigten Beschuldigten geschaffen werden soll. Abgesehen da­ von, dass ein legitimes Ziel fehlt, sehen beide auch als ungeeignetes Mittel eine thematisch unbeschränkte Vernehmung des Beschuldigten vor. Beide Vorschrif­ ten sind daher in dieser bisherigen Form konventions- und unionsrechtswidrig.446 Trotz dieser vorgesehenen zusätzlichen Beschränkungsmöglichkeiten folgt aus der Anwendung der allgemeinen Grundsätze der Abwägungslehre, dass der Zu­ gang zu einem notwendigen Verteidiger und die Belehrung darüber über ein Be­ weisverwertungsverbot abgesichert werden müssen. Bislang war eine unterbliebene Beiordnung meist nur über die abgeschwächte Würdigung der so gewonnenen Beweise zu parieren, nicht jedoch über ein Beweisverwertungsverbot, auch weil 444

Vgl. Kap. 4 C. I. 2. Vgl. Kap. 4 C. I. 4., D. II. 3. 446 Vgl. Kap. 4 C. II. 1. 445

F. Ergebnis: Nachbesserungsbedarf für die Novelle der Pflichtverteidigung 

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notwendige Verteidigung im Ermittlungsverfahren nicht zwingend ausgestaltet war, sondern die Beantragung der Pflichtverteidigung lediglich im Ermessen der Staatsanwaltschaft stand. Die zwingende Beiordnung im Ermittlungsverfahren und die indisponible Konzeption notwendiger Verteidigung wirken in diesem Kontext derart zusammen, dass eine Vernehmung eines unverteidigten Beschuldigten, der eigentlich notwendige Verteidigung beanspruchen könnte, in der Hauptverhand­ lung nicht mehr verwertbar sein darf. Dadurch wird auch die Belehrungspflicht über die mögliche Pflichtverteidigung in § 136 Abs. 1 S. 5 Hs. 2 StPO aufgewertet. Da diese Belehrung für den mittellosen Beschuldigten die einzige Möglichkeit ist, darüber informiert zu werden, wie er trotz fehlender Mittel auf einen Rechtsbei­ stand zurückgreifen kann, ist die unterbliebene Belehrung ebenso über ein Beweis­ verwertungsverbot zu effektuieren.447

III. Reformbedürftige Rahmenbedingungen der Pflichtverteidigung Eine zentrale Rahmenbedingung notwendiger Verteidigung ist die Kostenfrei­ heit. Diese ist im deutschen Recht konform mit den Anforderungen aus der euro­ päischen Konzeption des Pflichtverteidigers ausgestaltet. Zwar werden die Kosten der Pflichtverteidigung nur vorläufig übernommen, eine Rückforderung ist jedoch sowohl durch den Staat als auch durch den Pflichtverteidiger nur möglich, inso­ weit der Beschuldigte leistungsfähig ist. Dadurch wird eine Überforderung des Beschuldigten im Nachgang des Verfahrens vermieden, während zugleich über diesen vorläufigen Mechanismus zügig Zugang zu einem Pflichtverteidiger er­ möglicht wird.448 Auch die Rahmenbedingungen der Pflichtverteidigung müssen umfassend re­ formiert werden. Dies bedeutet zunächst, dass der Kreis der für die Pflichtvertei­ digung zugelassenen Personen von dem in §§ 138 Abs. 1, 142 Abs. 2 StPO zuge­ lassenen Personenkreis auf solche Personen beschränkt werden muss, die sowohl hinsichtlich ihrer Erfahrung als auch hinsichtlich ihrer Fachkenntnis zur Pflicht­ verteidigung befähigt sind. Die vom Referentenentwurf vorgesehene Ausnahme für vom Beschuldigten gewählte Pflichtverteidiger widerspricht dem ausdrücklich von der PKH-RL vorgesehenen Vorrang der Qualitätssicherung. Um die Eignung als Pflichtverteidiger greifbar zu machen, müssen folglich ein Akkreditierungsprozess und konkrete Akkreditierungsvoraussetzungen festgelegt werden. Bislang existiert dies nur in Form der Fachanwalt für Strafrecht. Da Fach­ anwälte jedoch nur einen Bruchteil der gesamten Anwaltschaft ausmachen und über die erweiterte Regelung in § 140 Abs. 1 StPO mit einem erhöhten Beiordnungs­ bedarf zu rechnen ist, sollte auch über einen unterhalb der Schwelle der Fachan­ 447 448

Vgl. Kap. 4 C. II. 2. Vgl. Kap. 4. D. I.

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Kap. 4: Ausblick auf die mitgliedstaatliche Ebene 

waltszulassung angesiedelten Nachweis der Befähigung nachgedacht werden. Ein solcher Nachweis könnte z. B. über die Zulassungsdauer, aber auch über zwingende Fortbildungen erfolgen. Nicht geeignet erscheint dagegen eine reine Interessens­ bekundung für die Pflichtverteidigung, wie in § 142 Abs. 4 StPO-E vorgeschlagen. Diese Bekundung weist gerade weder theoretische noch praktische Kenntnisse in der Pflichtverteidigung nach und genügt damit nicht den Vorgaben der PKH-RL.449 Diese Begrenzung des Kreises für die Pflichtverteidigung überhaupt zugelasse­ ner Rechtsanwälte bedingt auch, dass der Beschuldigte nur aus diesem Kreis einen Verteidiger seines Vertrauens wählen darf. Sollte der Beschuldigte nicht von sei­ nem Benennungsrecht in § 142 Abs. 1 StPO Gebrauch machen oder steht der Be­ stellung des von ihm benannten Rechtsanwalts ein wichtiger Grund entgegen, muss für ihn ein Pflichtverteidiger ausgewählt werden. Diese Entscheidung über die Person des Pflichtverteidigers ist dabei von der Entscheidung, ob ein Fall notwen­ diger Verteidigung vorliegt, zu trennen, und – anders als in § 142 Abs. 1, 2 StPO-E vorgeschlagen – auf eine gerichtsferne Institution, die Rechtsanwaltskammern, zu übertragen. Diese müssen ebenfalls aus der Reihe befähigter Pflichtverteidiger eine Auswahl treffen, die sich maßgeblich an der für das konkrete Mandat erforderli­ chen Fachkenntnis und Erfahrung, ebenso wie an möglicherweise erforderlichen Sprachkenntnissen orientiert. Aus dem insoweit verbleibenden Kreis an für den konkreten Einzelfall tauglichen Pflichtverteidigern ist dann zufällig auszuwählen. Über diesen Modus Operandi werden damit zum einen die konkret erforderlichen Kenntnisse und Erfahrungen für den Beschuldigten sichergestellt, zum anderen wird der Einfluss von persönlichen Faktoren oder Präferenzen reduziert.450 Für die Auswechslung des Pflichtverteidigers sind konsequent dazu ebenfalls die Rechtsanwaltskammern zuständig. Das Auswechslungsprozedere kann noch konform mit den Anforderungen der europäischen Konzeption der Pflichtverteidi­ gung über § 143 StPO gelöst werden. Die Auswechslung muss dem Beschuldigten immer dann möglich sein, wenn entweder die Verteidigung durch seinen aktuellen Pflichtverteidiger offenkundig nicht mehr effektiv gewährleistet ist oder wenn kein Vertrauen mehr zu diesem Verteidiger besteht. Lediglich im Hinblick auf die letzte Konstellation muss die Auslegung von § 143 StPO durch die Praxis angepasst oder besser vom Gesetzgeber durch eine Ände­ rung klargestellt werden. Denn bislang kann eine Auswechslung bei zerrüttetem Vertrauensverhältnis nur dann erfolgen, wenn die Gründe dem Gericht vorgetra­ gen werden. Dadurch ist diese Möglichkeit bislang eher theoretisch als praktisch umsetzbar, weil der Beschuldigte für die Substantiierung dazu gezwungen wird, dem Gericht Mandatsinterna offen zu legen und damit auch Informationen, die sein Schweigerecht tangieren. Daher darf eine solche Substantiierung grundsätz­ lich nicht über eine § 56 StPO vergleichbare Glaubhaftmachung hinausgehen. In 449 450

Vgl. Kap. 4 D. II. 1. Vgl. Kap. 4 D. II. 2., 3.

F. Ergebnis: Nachbesserungsbedarf für die Novelle der Pflichtverteidigung 

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der grundsätzlich begrüßenswerten Entwurfsfassung von § 143a StPO-E wird die­ ser Punkt leider nicht thematisiert.451

IV. Neue Beistandsregelungen im transnationalen Strafverfahren Die Beistandsregeln für das transnationale Strafverfahren im IRG müssen ebenfalls grundlegend reformiert werden, um den europäischen Anforderungen zu genügen. Bislang existiert in § 40 IRG nur eine Beistandsregelung für den Europäischen Haftbefehl. Dieser regelt jedoch lediglich die Rolle Deutschlands als Vollstreckungsstaat. Es existiert dagegen keine Regelung, die die Benennung und Bestellung eines unterstützenden Beistands zulässt, wenn Deutschland An­ ordnungsstaat ist.452 § 40 IRG ist zudem zu eng ausgestaltet, um Beistand im Voll­ streckungsstaat in allen nunmehr vorgeschriebenen Situationen für den Verfolgten zu leisten. Die Voraussetzungen in § 40 Abs. 2 IRG ordnen die Bestellung eines Rechtsbeistands im Verfahren des Europäischen Haftbefehls nur ausnahmsweise an. In diesem Sinne werden die Vorschriften von § 40 Abs. 2 Nr. 1 IRG bislang auch ausgelegt. Um eine Beiordnung ab dem Zeitpunkt der Festnahme zu bewirken, muss § 40 Abs. 2 IRG daher neu konzipiert werden. Dies wird durch § 40 Abs. 1, 2 IRG-E des Referentenentwurfs nicht nur zutreffend umgesetzt, sondern zugleich als all­ gemeines Beistandsrecht im Vollstreckungsstaat für Auslieferungsverfahren auch mit Drittstaaten ausgestaltet.453 Diese Neukonzeption ist gleichsam erforderlich, um eine rechtzeitige Beiord­ nung nach Festnahme und vor der ersten Vernehmung im Vollstreckungsstaat zu erreichen. Denn bislang wird ein Beistand erst bestellt, wenn gem. § 79 Abs. 2 S. 3 IRG i. V. m. § 29 IRG die Entscheidung des Oberlandesgerichts beantragt wird. Zu diesem Zeitpunkt wurde der Verfolgte jedoch längst vernommen. Um Beistand europarechtskonform auszugestalten ist mithin ein Abstellen auf die Ergreifung des Verfolgten gem. der §§ 21 f. IRG erforderlich, vgl. § 40 Abs. 2 S. 2, 3 IRG-E.454 Für andere transnationale Verfahrenshandlungen existiert dagegen kein Bei­ standsrecht. Da § 40 IRG zudem eine spezielle, wenngleich nur im Auslieferungs­ verfahren anwendbare Beistandsregelung trifft, sperrt § 77 Abs. 1 IRG den Rück­ griff auf die Vorschriften der notwendigen Verteidigung. Dabei gebieten EMRK und GRCh eine grundsätzliche Gleichstellung des transnational Verfolgten mit dem nur im rein nationalen Strafverfahren Beschuldigten. Eine solche Gleichstellung ist nur dann sicherzustellen, wenn der Verfolgte im Vollstreckungsstaat wenigs­ tens in solchen Situationen zwingend Beistand erhalten muss, in denen er sonst auch im Anordnungsstaat Beistand erhielte. Das sind vorrangig Vernehmungen, 451

Vgl. Kap. 4 D. II. 3. Vgl. Kap. 4 E. I. 2.  453 Vgl. Kap. 4 E. I. 1. a). 454 Vgl. Kap. 4 E. I. 1. b). 452

388

Kap. 4: Ausblick auf die mitgliedstaatliche Ebene 

Gegenüberstellungen und Tatortrekonstruktionen, aber auch sonstige Situationen transnationaler Beweiserhebung, wenn die Schwere der Tat oder die besondere Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage dies gebieten. Den Besonderheiten des transnationalen Strafverfahrens ist zudem nur über eine spiegelbildliche Doppel­ verteidigung im Anordnungsstaat effektiv Rechnung zu tragen. Um diese Vorga­ ben umzusetzen, muss das IRG eine gänzlich neue, allgemein gültige Beistands­ regelung erhalten, die über begleitende Regelungen im Vergütungsverzeichnis des RVG ergänzt werden muss.455

455

Vgl. Kap. 4 E. II.

Kapitel 5

Zusammenfassung Für das Institut strafrechtlicher Prozesskostenhilfe kann die Frage, ob Europäi­ sierung positive Impulse setzt, grundsätzlich bejaht werden. Der exemplarische Vergleich mit der deutschen Regelung notwendiger Verteidigung kann innerhalb einer Rechtsgemeinschaft von 28 Mitgliedstaaten zwar diesbezüglich nur ein Indiz sein. Selbst ohne diesen konkreten Vergleich wird anhand von EMRK und GRCh jedoch deutlich, dass diese zusammen mit der PKH-RL nicht kleinste gemeinsame Nenner strafrechtlicher Prozesskostenhilfe normieren, sondern den Mitgliedstaa­ ten ein Handlungsprogramm auferlegen, das die Anhebung der Rechte der Vertei­ digung erzwingt. Die Aufwertung insbesondere des Verfahrens des Europäischen Haftbefehls zu einem  – wenngleich grenzüberschreitend durchgeführten  – Teil des Strafverfahrens mit Anrecht auf strafrechtliche Prozesskostenhilfe schafft, was seit 2002 von den Mitgliedstaaten oft aus schlichtem politischen Widerwillen nicht umgesetzt wurde. EMRK, GRCh und PKH-RL beinhalten jeweils nur unvollständige Gewähr­ leistungen strafrechtlicher Prozesskostenhilfe. In dieser Hinsicht zeigt sich das Potenzial der Europäisierung, die die Mitgliedstaaten nicht nur an eines dieser drei Instrumente bindet. Unabhängig davon, dass das Maß der Verbindlichkeit sowie die Sanktionsmechanismen variieren, sind sie als für die Mitgliedstaaten verbind­ liche Rechtssätze Teil einer einheitlichen, zu verwirklichenden Konzeption. Vor diesem Hintergrund sind die einzelnen Ergebnisse der Untersuchung noch einmal zusammenzufassen. 1. Die EMRK ist nach wie vor Ausgangspunkt für die Verbesserung der Vertei­ digungsrechte. Ob im Rahmen der Salduz-Rechtsprechung1 oder der Ibrahim u. a.Rechtsprechung2 verlangt sie von den Mitgliedstaaten, Verteidigungsrechte im Strafverfahren wirksam und effektiv zu verbürgen. Dieser Wirkung eines quasi menschenrechtlichen Katalysators sind jedoch über die begrenzte Verbindlichkeit der Urteile des EGMR3 sowie dessen andauernder Überlastung4 praktische Gren­

1

Vgl. dazu o. m. w. N. Kap. 2 A. III. 2. a). Vgl. dazu o. m. w. N. Kap. 2 A. III. 2. c) aa) (1), bb). 3 Vgl. zur Abhängigkeit von der Kooperation der Mitgliedstaaten Goerlich, in: Esser / Ha­ rich u. a. (Hrsg.), Die Bedeutung der EMRK für die nationale Rechtsordnung, S. 106, 114. 4 Vgl. zu den die Erledigungszahlen bei weitem übersteigenden Fallzugänge, EGMR, Erle­ digungsstatistik v. 1.1.2016–30.9.2016, 11.11.2016, http://www.echr.coe.int/Documents/Stats_ annual_2016_ENG.pdf (geprüft am: 10.12.2019); Grund dafür sind v. a. wiederkehrende Fälle 2

390

Kap. 5: Zusammenfassung 

zen gesetzt. Trotzdem ist die EMRK wichtige Grundlage eines grundsätzlich be­ schuldigtenfreundlich auszulegenden Instituts strafrechtlicher Prozesskostenhilfe. Das Problem der Konzeption der EMRK ist jedoch die Ausrichtung der Ver­ teidigungsrechte auf solche Verfahrensteile, die unmittelbar der Feststellung von Schuld oder Unschuld des Angeklagten dienen. Mit dieser formalistischen Defini­ tion unterstellt der EGMR weder das Haftprüfungsverfahren und noch das Verfah­ ren im Vollstreckungsstaat im transnationalen Strafverfahrens den Verteidigungs­ rechten des Art. 6 Abs. 3 EMRK.5 Insbesondere im Hinblick auf das transnationale Strafverfahren verpasst der EGMR, seine Rechtsprechung den gewachsenen, inter­ nationalisierten Anforderungen des Strafrechts anzupassen. Dadurch verhindert er an manchen Stellen das, was ihm eigentlich Kernanliegen bei der Auslegung der EMRK ist: Eine Auslegung der Verteidigungsrechte, die nicht nur theoretisch, sondern vielmehr praktisch 6 wirksam ist. Daher war eine gesellschaftlichdynamische Auslegung des Begriffs des „Strafverfahrens“ geboten, um die Zu­ nahme grenzüberschreitender Strafverfolgung und strafprozessualer Maßnahmen auf dem Gebiet fremder Mitgliedstaaten mit einer dementsprechenden Erweiterung und Anwendung der Verteidigungsrechte aus Art. 6 Abs. 3 EMRK zu versehen.7 2. Art. 48 Abs. 2 GRCh fußt grundsätzlich auf Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK und ist über das Kohärenzgebot in maßgeblichen Anteilen ein unionsrechtliches Eben­ bild des Konventionsrechts auf strafrechtliche Prozesskostenhilfe. Die Charta ent­ faltet jedoch sowohl in materieller als auch in prozessualer Hinsicht eine eigene Gewährleistungsebene: Zum einen erweitert der genuin transnationale Anwendungsbereich der GRCh die in der EMRK bislang nur angelegte transnationale Dimension. Die gemeinsame Auslegung mit den Anforderungen und Gewährleistungen der Dienstleistungs­ freiheit macht das Recht auf strafrechtliche Prozesskostenhilfe zudem nicht nur als Verteidigungsgarantie begreifbar, sondern zeigt zugleich, welchen marktwirt­ schaftlichen Einfluss die Mitgliedstaaten auf die Attraktivität grenzüberschrei­ tender anwaltlicher Dienstleistungen nehmen können, wenn sie staatliche Mittel über strafrechtliche Prozesskostenhilfe in den anwaltlichen Dienstleistungssektor lenken. Nicht nur um im Rahmen des komplexen transnationalen Strafverfahrens dem Angeklagten effektive Verteidigung zu ermöglichen, sondern auch um grenz­ überschreitende anwaltliche Dienstleistungen nicht zu beschränken, müssen die Mitgliedstaaten daher im Vollstreckungs- wie im Anordnungsstaat Zugang zu strafrechtlicher Prozesskostenhilfe eröffnen. Gerade auch in einer Zeit, in der der EuGH noch seine Rolle als Auslegungsinstanz für Menschenrechte sucht, kann und ansteigende Fallzahlen, vgl. dazu EGMR, Annual Report 2015, http://www.echr.coe.int/ Documents/Annual_report_2015_ENG.pdf (geprüft am: 10.12.2019), S. 31 f.; EnzEuR-Gaede, Eur. StR, § 3 Rn. 96 f. 5 Vgl. Kap. 2 A. III. 1. a) bb), b). 6 Vgl. o. Kap. 2, Fn. 148. 7 Vgl. o. Kap. 2 A. III. 1. b) bb), cc).

Kap. 5: Zusammenfassung

391

dieser marktintegrative Ansatz helfen, Verteidigungsrechte im transnationalen Strafverfahren großzügiger zu fördern.8 Zum anderen wird die GRCh im Umfang ihrer Anwendbarkeit auch im Rah­ men strafrechtlicher Prozesskostenhilfe eine prozessuale Verschiebung der Deu­ tungsmacht über die Ausgestaltung strafrechtlicher Prozesskostenhilfe zum EuGH bewirken. Auch wenn nach der Konzeption des EuGH bislang nationale Verfas­ sungen und GRCh parallel strafrechtliche Prozesskostenhilfe verbürgen sollen, gilt diese Doppelverbürgung nur solange, wie die Wirksamkeit und Einheitlich­ keit des Unionsrechts nicht in Frage steht. In Zweifelsfällen entscheiden nicht mehr die nationalen Verfassungsgerichte über eine menschenrechtskonforme Aus­ legung, sondern der EuGH. Auf Ebene des Rechtsschutzes bedeutet das für den Beschuldigten, dass er aus dem strafrechtlichen Instanzenzug heraus eine Vorlage beim EuGH anregen muss. So positiv Europäisierung strafrechtliche Prozesskos­ tenhilfe verändern kann, verspricht diese prozessuale Verschiebung primär Un­ wägbarkeiten und absehbare negative Konsequenzen. Diese Zuständigkeitsver­ lagerung wird auf mitgliedstaatlicher Ebene zusammenhängende Sachverhalte zerteilen, in solche, die dem EuGH vorzulegen sind und andere, die nach wie vor dem nationalen Instanzenzug unterliegen. Diese Zerteilung des Rechtsschutzes für den Beschuldigten folgt zwangsläufige aus dem dynamisch mit den Kompeten­ zen der EU wachsenden Anwendungsbereich der GRCh. Auch für die Tatgerichte wird die Abgrenzung im Einzelfall Schwierigkeiten bereiten. Im Gegensatz zur Möglichkeit der zusätzlichen Anrufung des EGMR ersetzt der EuGH einen Teil nationaler Rechtsprechung, obgleich die individualrechtlichen Beschwerdewege auf Ebene der EU noch keinen ausreichenden Rahmen für eine derartige Form der Quasi-Verfassungsbeschwerde bilden. Wie sich dieser bislang nicht ausreichend verfestigte Rechtsschutz auf europäischer Ebene auf die Rechtswahrnehmung des Beschuldigten auswirkt, bleibt abzuwarten.9 3. Die PKH-RL setzt in weitem Umfang die Vorgaben von EMRK und GRCh um und legt ebenfalls einen weiten, menschenrechtskonformen Anspruch auf strafrechtliche Prozesskostenhilfe fest. Diese Entwicklung darf in der Nachschau jedoch nicht als selbstverständlich verklärt werden: Im gesamten Gesetzgebungs­ prozess rangen Kommission, Rat und Europäisches Parlament darum, wie Prozess­ kostenhilfe im Strafverfahren auszusehen habe. Insbesondere der Rat versuchte, strafrechtliche Prozesskostenhilfe tatsächlich im Wege des kleinsten gemeinsa­ men Nenners umzusetzen. Die finale Fassung der PKH-RL ist dem Nachsetzen des Europäischen Parlaments zu verdanken. Einziger Kritikpunkt ist, dass die PKH-RL sich für das transnationale Strafverfahren auf die Regelung strafrecht­ licher Prozesskostenhilfe im Rahmen des Europäischen Haftbefehls beschränkt. Insoweit steht zu befürchten, dass in anderen Konstellationen transnationaler

8 9

Vgl. o. Kap. 2 B. III. 3. Vgl. dazu o. Kap. 2 B. I. 2. 

392

Kap. 5: Zusammenfassung 

Strafverfahren Verbesserungen bei der Zugänglichkeit strafrechtlicher Prozess­ kostenhilfe nur schleppend umgesetzt werden. Dass inzwischen jedoch überhaupt ein gewichtiger strafprozessualer Eingriff wie der Europäische Haftbefehl sekun­ därrechtlich mit Verteidigungsrechten versehen wurde, verbessert die Verfahrens­ gerechtigkeit nach langen Jahren der Diskussion.10 4. Aus allen drei Rechtsinstrumenten – EMRK, GRCh und PKH-RL – kann ein integrales Handlungsprogramm für die Mitgliedstaaten abgeleitet werden, das Voraussetzungen, Gewährleistungsinhalte und Rahmenbedingungen strafrecht­ licher Prozesskostenhilfe vorschreibt. Nach dieser europäischen Konzeption ist strafrechtliche Prozesskostenhilfe − auf Antrag des Beschuldigten oder von Amts wegen bei erkennbarer ineffektiver Verteidigung, − bei Bedürftigkeit und / oder einem dafür streitenden Interesse der Rechtspflege zu gewähren, − unabhängig davon, ob der Beschuldigte in einem rein national oder grenzüber­ schreitend geführten Verfahren verfolgt wird, − und beinhaltet die aktive, kostenfreie und frühstmögliche Vertretung durch einen qualitativ befähigten Rechtsbeistand, der grundsätzlich vom Beschuldigten auszuwählen ist und nur ausnahmsweise, u. U. in Eilfällen, von einem unabhängigen Organ für ihn ausgewählt wird.11 5. Das Recht auf strafrechtliche Prozesskostenhilfe steht nach dieser europäi­ schen Konzeption grundsätzlich in der Macht des Beschuldigten als prinzipiellem Prozesssubjekt. Er kann auf dieses Recht verzichten, soweit dem nicht wichtige Gründe entgegenstehen, und über sein Antragsrecht strafrechtliche Prozesskosten­ hilfe eigenständig beanspruchen. Eigenverantwortlichkeit und Partizipation des Beschuldigten werden darüber verwirklicht. Für den Rechtsbeistand als Vertreter muss die Akteursstellung des Beschuldigten sich in aktiven Teilhaberechten nie­ derschlagen: Gerade in den für die Selbstbelastungsfreiheit des Beschuldigten kritischen Situationen muss er anwesend sein, Fragen stellen und Erklärungen ab­ geben sowie aktiv korrigierend eingreifen dürfen.12 6. Diese Akteursstellung des Beschuldigten wird zudem ergänzt über eine sub­ sidiäre Schutzpflicht des Staates, falls die ineffektive Verteidigung des Beschuldig­ ten offenbar ist oder dem Staat zur Kenntnis gelangt. In solch einer Konstellation darf sich der Staat nicht auf die Eigenverantwortlichkeit des Beschuldigten zurück­ ziehen, sondern muss die Maßnahmen ergreifen, die für die Wiederherstellung effektiver Verteidigung erforderlich sind. Diese subsidiäre Verfahrensgaranten­

10

Vgl. o. Kap. 3 A. Vgl. o. Kap. 3. C. 12 Vgl. Kap. 2 A. II. 3. c) sowie Kap. 3 A. IV. 1., 2. 11

Kap. 5: Zusammenfassung

393

stellung des Staates stellt somit sicher, dass strafrechtliche Prozesskostenhilfe in den diese erzwingenden Situationen auch tatsächlich gewährt wird.13 7. Die Voraussetzungen strafrechtlicher Prozesskostenhilfe sind die Bedürftig­ keit und / oder ein für eine Beiordnung streitendes Interesse der Rechtspflege. Den Mitgliedstaaten steht es frei, ob sie einen genuinen Bedürftigkeitsansatz, eine Mischbetrachtung beider Voraussetzungen ähnlich der EMRK oder aber einen rein auf Basis der Interessen der Rechtspflege basierenden Ansatz wählen. Bedürftig­ keit als Voraussetzung strafrechtlicher Prozesskostenhilfe ist dabei das direkteste Mittel, staatlich getragenen Rechtsbeistand denjenigen zukommen zu lassen, die sonst mangels finanzieller Möglichkeiten darauf verzichten würden.14 Die Interessen der Rechtspflege bilden dagegen dieses Element des chancen­ gleichen Zugangs weniger ab. Die „Interessen der Rechtspflege“ als unbestimmte Rechtsbegriffe nicht nur das Interesse der Mitgliedstaaten an einer strafprozessual ordnungsgemäßen Rechtspflege, sondern zugleich das Interesse des Beschuldigten, an einem fairen Verfahren. Die dabei anhand der Schwere der Tat, der Schwere der drohenden Rechtsfolgen sowie der Komplexität der Sach- und Rechtslage vor­ zunehmende Abwägung ist grundsätzlich ergebnisoffen für die Umstände des Einzelfalls, erzwingt jedoch in Fällen besonders schwerwiegender Rechtsfolgen oder besonderer Schutzbedürftigkeit die Gewährleistung strafrechtlicher Prozess­ kostenhilfe. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn dem Beschuldigten im Straf­ verfahren Freiheitsstrafe droht, er bereits inhaftiert ist oder über seine Inhaftie­ rung entschieden wird, bei jugendlichen Beschuldigten sowie in transnationalen Verfahrenskonstellationen.15 8. Liegen diese Voraussetzungen vor, je nach Ausgestaltung in der mitgliedstaat­ lichen Verfahrensordnung, ist frühstmöglich strafrechtliche Prozesskostenhilfe zu gewähren. Dies verschiebt den Gewährleistungszeitpunkt strafrechtlicher Prozess­ kostenhilfe ins Ermittlungsverfahren. Spätestens vor einer Befragung oder jeden­ falls anderen Beweiserhebungshandlungen, die für die Selbstbelastungsfreiheit des Beschuldigten kritisch sind, muss dieser strafrechtliche Prozesskostenhilfe bean­ spruchen können. Diese zeitliche Vorverlagerung ermöglicht dem Beschuldigten eine frühzeitige Einflussnahme auf die Weichen des weiteren Strafverfahrens – und damit letztendlich auf die gegen ihn ergehende Entscheidung. Über strafrechtli­ che Prozesskostenhilfe wird insbesondere dem mittellosen Beschuldigten ermög­ licht, in kritischen Situationen der Beweiserhebung den erfahreneren Kräften der Strafverfolgung nicht unverteidigt und ohne fachliches Gegengewicht gegenüber treten zu müssen.16

13

Vgl. Kap. 2 A. II. 3. b) sowie Kap. 3 A. IV. 3. a). Vgl. Kap. 2 A. II. 2. sowie Kap. 3 A. III. 2.  15 Vgl. o. Kap. 2 A. II. 1., B. III. 2. a) sowie Kap. 3 A. III. 1. 16 Vgl. Kap. 2 A. III. sowie Kap. 3 A. IV. 1.–3. 14

394

Kap. 5: Zusammenfassung 

9. Die Gewährleistung strafrechtlicher Prozesskostenhilfe soll qua definitionem bereits über die Hilfe bei den Kosten eines Strafprozesses Zugang zum Recht er­ möglichen. Grundsätzlich ist Kostenfreiheit eines dafür beigeordneten Rechts­ beistands daher ein Kernelement strafrechtlicher Prozesskostenhilfe. Da sie jedoch nur eingreifen muss, soweit jemand tatsächlich dieser Unterstützung bedarf, um einen Rechtsbeistand zu erhalten, steht den Mitgliedstaaten grundsätzlich frei, Kostenfreiheit nur vorläufig oder partiell zu gewähren. Die tatsächliche Leis­ tungsfähigkeit des Beschuldigten begrenzt diese Möglichkeit der Rückforderung jedoch. Selbst Mitgliedstaaten, die auf Tatbestandsebene keine Bedürftigkeitsprü­ fung vorsehen, sind bei Rückforderungen gezwungen, auf der Rechtsfolgenseite die Bedürftigkeit des Beschuldigten zu berücksichtigen.17 10. Zentral für die effektive Gewährleistung strafrechtlicher Prozesskostenhilfe ist der Verteidiger. Ohne seine Leistungsbereitschaft geht die finanzielle Unter­ stützung des Beschuldigten ins Leere. Ohne die Qualifikation des Verteidigers in strafrechtlichen Angelegenheiten wird strafrechtliche Prozesskostenhilfe als be­ grenzte staatliche Ressource auf ineffektive Leistungen verwandt. Den Mitglied­ staaten obliegt folglich, über Rahmenbedingungen die zielgerichtete Gewährung strafrechtlicher Prozesskostenhilfe und die Abdeckung des Marktes mit ausrei­ chend qualifizierten Rechtsbeiständen zu steuern.18 Vorrangig ist dies über die verbindliche Festlegung von Qualifikationsanfor­ derungen für Pflichtverteidiger zu erreichen. Die Festlegung von Kriterien über die Zulassung als Rechtsanwalt hinaus, die Expertise und Erfahrung in der Straf­ verteidigung belegen, rechtfertigen erst die Ausgaben staatlicher Mittel zu diesem Zweck. Den Mitgliedstaaten müssen dafür, einen Weg zu finden, ausreichende Qualifikationen abzusichern, ohne die Marktabdeckung zu gefährden. Vergütungs­ fragen werden zwar nicht vorgeschrieben. Es ist jedoch offenkundig, dass eine (un-) angemessene Vergütungsstruktur die Attraktivität der Pflichtverteidigung senkt oder gar Anreize setzt, ineffektiv zu verteidigen. Dem müssen die Mitgliedstaa­ ten entgegenwirken.19 Effektivität der Pflichtverteidigung setzt zudem eines voraus: Das Vertrauen des Beschuldigten in den beigeordneten Verteidiger. Dieses Vertrauen besteht grund­ sätzlich gegenüber dem selbst ausgewählten Rechtsanwalt. Daher muss dem Be­ schuldigten grundsätzlich dieses Wahlrecht bezüglich eines Beistands seines Ver­ trauens gewährt werden. In den Situationen, in denen der Beschuldigte davon keinen Gebrauch macht oder seiner Auswahl wichtige Gründe entgegenstehen, muss der dann beizuordnende Verteidiger so ausgewählt werden, dass der Beschuldigte auch gegenüber diesem grundsätzlich fremdbestimmten Verteidiger Vertrauen fassen kann. Dies ist grundsätzlich über die Ansiedlung des Auswahlverfahrens bei einer nicht mit dem Strafverfahren befassten Stelle zu bewirken, die nach 17

Vgl. Kap. 2 A. IV. 1., B. III. 2. b) sowie Kap. 3 A. V. 1. Vgl. Kap. 2 A. IV., B. IV. sowie Kap. 3 A. V. 19 Vgl. Kap. 2 A. IV. 2. a) sowie Kap. 3 A. V. 2. a)–c). 18

Kap. 5: Zusammenfassung

395

objektiven, im Vorhinein festgelegten und transparenten Kriterien einen für das konkrete Mandat befähigten Rechtsbeistand auswählt. Dadurch konkretisiert sich nicht nur die gesetzgeberische Forderung nach einem qualifizierten Verteidiger im jeweiligen Einzelfall, sondern es wird zudem aus Perspektive des Beschuldigten ein für ihn parteiisch und unabhängig agierender Verteidiger ausgewählt.20 11. Aus der europäischen Konzeption heraus treten auch die besonderen An­ forderungen an die effektive Gewähr von Verteidigungsrechten im transnationa­ len Strafverfahren zutage. Auch wenn diese Forderungen nicht neuartig sind, be­ kommen sie durch die Anwendbarkeit der GRCh sowie die Verabschiedung der PKH-RL neues Gewicht.21 Über diese Konzeption wird für das transnationale Strafverfahren strafrechtliche Prozesskostenhilfe im Vollstreckungsstaat wie An­ ordnungsstaat so zugänglich, dass der Beschuldigte trotz der grenzüberschreiten­ den Natur des Strafverfahrens keine Nachteile erleidet. Auf der Ebene der Voraussetzungen kann der Beschuldigte dadurch im Voll­ streckungsstaat grundsätzlich strafrechtliche Prozesskostenhilfe beanspruchen. Das Zurechtfinden in einer fremden Verfahrensordnung, möglicherweise auch in einem kulturell wie sprachlich fremden Kontext, und die schwierige Abschätzung der Konsequenzen des eigenen Handelns für das Verfahren im Anordnungsstaat, bedingen regelmäßig, dass ein Beschuldigter seine Verteidigung nicht effektiv eigenständig gestalten kann.22 Auf Gewährleistungsebene muss daher ebenso wie im rein national geführten Strafverfahren frühzeitig und kostenfrei ein qualifizierter Rechtsbeistand zugäng­ lich sein. Diese Gewährleistungen müssen jedoch an die besonderen Anforderun­ gen des transnationalen Verfahrens angepasst werden, um das Ziel eines Zugangs zu effektiver Verteidigung durch strafrechtliche Prozesskostenhilfe zu erreichen. Das bedeutet zum einen, dass frühzeitiger Zugang entsprechend der jeweils im Vollstreckungsstaat vorzunehmenden Handlung gewährt, und dem Beschuldigten grundsätzlich vor der Durchführung dieser Handlung zugänglich sein muss. Dies ist jedenfalls entsprechend dem nationalen Verfahren geboten bei Vernehmungen und ähnlichen, für die Selbstbelastungsfreiheit des Beschuldigten kritischen Situ­ ationen. Diese Verteidigung im Vollstreckungsstaat muss zum anderen über eine spiegelbildliche Verteidigung im Anordnungsstaat flankiert werden. Der Rechts­ beistand im Vollstreckungsstaat kann für gewöhnlich die Implikationen seines Handelns in prozessualer Hinsicht für das Verfahren im Anordnungsstaat nicht ab­ schätzen. Der Rechtsbeistand im Anordnungsstaat bedarf dagegen einer Hilfsper­ son, die für das Strafverfahren im Anordnungsstaat valide Verteidigungs­ansätze in die prozessuale Sprache des Vollstreckungsstaates übersetzt. Diese Doppel­

20

Vgl. Kap. 2 A. III. 2. b) bb), IV. 2. b), B. IV. sowie Kap. 3 A. V. 2. Vgl. Kap. 2 A. III. 1. b), B. 1. b) sowie für das Europäische Haftbefehlsverfahren Kap. 3 A. VI. 1.  22 Vgl. Kap. 2 B. III. 2.  sowie Kap. 3 A. VI. 2. a) aa), bb). 21

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Kap. 5: Zusammenfassung 

verteidigung ist die einzige Möglichkeit, den strukturell nachteiligen Faktor der grenzüberschreitenden Verfahrenszersplitterung auszugleichen.23 12. Exemplarisch übertragen auf die deutsche Rechtsordnung zeigt sich das Potenzial der Europäisierung strafrechtlicher Prozesskostenhilfe für das mit­ gliedstaatliche Strafverfahren in Form eines Katalysators für seit Langem dis­ kutierte und längst überfällige Verbesserungen. Der Gesetzgeber wird durch die europäische Konzeption zu einer umfassenden Neuregelung der notwendigen Verteidigung angehalten: Der Beiordnungskatalog in § 140 Abs. 1 StPO24 wie in § 68 JGG,25 das Auswahlverfahren des Pflichtverteidigers, der Zeitpunkt der Bei­ ordnung,26 die Zulassungskriterien für Pflichtverteidiger,27 ein Antragsrecht des Beschuldigten,28 die strengeren Vorgaben für Beweisverwertungsverbote29 sowie die Erweiterung des Beistandsrechts im IRG30 im transnationalen Strafverfahren erfordern ein gesetzgeberisches Handeln auf allen Ebenen, die strafrechtliche Pro­ zesskostenhilfe betreffen. Der gerade erst in Gang gesetzte Gesetzgebungsprozess lässt jedoch eine nur teilweise ausreichende Umsetzung befürchten. Insbesondere für den mittellosen Beschuldigten sollte die nunmehr erforderliche großzügigere Auslegung von §§ 140 f. StPO erstmals ermöglichen, chancengleich Zugang zu einem Rechtsbeistand und damit die gleichen Verteidigungsoptionen wie vermö­ gende Beschuldigte zu erhalten. 13. Aber: Quo vadis? Nach wie vor stehen die Zeichen der strafrechtlichen Zu­ sammenarbeit auf Integration, wenngleich diese durch die Etablierung einer Euro­ päischen Staatsanwaltschaft vorläufig abgeschlossen erscheint. Gerade vor dem Hintergrund einer nach wie vor zunehmenden transnationalen Strafgewalt war die Regelung strafrechtlicher Prozesskostenhilfe essenziell, um mit diesen Bemühun­ gen um immer effizientere Strafverfolgung Schritt zu halten. Es bleibt jedoch un­ gewiss, wie sich die strafrechtliche Zusammenarbeit in Zukunft entwickelt. Das liegt zum einen an der bislang unterentwickelten Individualrechtsschutzstruktur der EU, auf die der Beschuldigte aber mit zunehmender Harmonisierung der Ver­ teidigungsrechte gerade angewiesen ist. Zum anderen bleibt abzuwarten, ob der bislang zwar nicht unbestrittene, aber doch bestehende Konsens für strafrecht­ liche Zusammenarbeit und europäische Integration andauert: Die Europäische Staats­anwaltschaft wird lediglich von 16 der 28 Mitgliedstaaten umgesetzt,31 und einzelne Mitgliedstaaten zeigen Ansätze anti-europäischer, zum Teil anti-rechts­

23

Vgl. Kap. 2 B. III. 3.  sowie Kap. 3 A. VI. 2. b). Vgl. Kap. 4 B. I., II. 25 Vgl. Kap. 4 B. III. 26 Vgl. Kap. 4 B. I., C. I. 1., 3., 4. 27 Vgl. Kap. 4 D. II. 1., 2. 28 Vgl. Kap. 4. C. I. 2.  29 Vgl. Kap. 4 C. II. 30 Vgl. Kap. 4 E. I., II. 31 Vgl. o. Kap. 1, Fn. 38. 24

Kap. 5: Zusammenfassung

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staatlicher Vorbehalte gegenüber der nationalen wie europäisierten Rechts­pflege.32 Die bislang gewachsenen Verflechtungen innerhalb der Union erschweren zwar eine Aufkündigung der Zusammenarbeit,33 aber die positive Einstellung zur euro­ päischen Idee scheint zu stagnieren. Erst anhand solcher Bewährungsproben wird erkennbar, inwiefern das in der erarbeiteten europäischen Konzeption zum Aus­ druck kommende Bekenntnis zu Verteidigungsrechten tatsächlich Bestand hat.

32 Vgl. so zur umstrittenen Justizreform in Polen bereits andeutungsweise EuGH, Urteil v. 25.7.2018 – C-216/18 PPU, LM, Rn. 21 ff., 60 ff.; mit einem krit. Überblick zur Reform Niezgódka, NJ 2017, 361 ff.; m. w. N. s. o. Kap. 2 B. III. 1. b) bb). 33 Wie am „Brexit“ deutlich wird, vgl. zu den Verhandlungen Priebe, EuZW 2018, 563; als einer von vielen zu den Auswirkungen auf die unionsprivatrechtliche Ebene Schmidt-Kessel, GPR 2018, 119 ff.; zu den Details des Austritts M. w. N. Armstrong, Brexit Time, S. 197 ff., 255 ff.; zur Komplexität des Austrittsverfahrens Herchenröder, in: Kramme / Baldus / Schmidt-Kessel (Hrsg.), Brexit und die juristischen Folgen, S. 59 ff.

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Sachregister Akteneinsicht  23, 113, 211, 335, 372 Angemessenheit siehe Verhältnismäßigkeit Anhörung  30, 80 f., 88, 97, 108, 162 f., 174, 320 f., 339 Anklage  20 f., 23, 77, 85 f., 100, 102–105, 138, 154, 225, 251, 314, 318, 323, 360 Antrag 21 f., 69 f., 72, 93, 171, 177, 215, 218 f., 253, 275, 291, 295, 298 f., 305, 321, 329 f., 332 f., 348 f., 351, 353, 368, 376, 392 Antragsrecht  22 f., 72 f., 136, 150, 219, 253, 291, 295, 330–332, 369, 381, 383, 392, 396 anwaltlicher Notdienst  367 Anwaltsprivileg siehe Vertraulichkeit Anwendungsvorrang des Unionsrechts  45, 141, 148 Anwesenheit  32, 55, 68, 85, 101, 110 f., 172, 226, 228, 232, 295 f., 302, 336 f., 342 Anwesenheitsrecht  247, 333 f., 337, 381 Auslieferung  86 f., 89 f., 93–98, 101, 162, 164–166, 168, 175, 371, 378 –– Auslieferungsentscheidung 87 –– Auslieferungshaft  87 f., 101, 137, 174, 305, 372 –– Auslieferungsuntersuchungshaft 86–88, 97, 138, 174 –– Auslieferungsverfahren  86 f., 166, 283, 373–375, 377 f., 387 Auswahlverfahren  219, 293, 297, 354, 361 f., 394, 396 Autonomie  62, 64–66, 151 –– Autonomiedefizit  64, 264, 349 Bedürftigkeit  19 f., 23, 40, 47, 58–60, 71, 107, 128–130, 135, 153, 170, 175 f., 188, 191, 195, 214, 217, 243, 280, 284, 293 f., 299, 392 f. Beeinflussung von Zeugen  261 Befragung  68, 110, 112, 226, 229, 242, 245, 247–249, 260 f., 263, 287, 291, 322, 328, 332, 364, 393

Belehrung  31, 66, 120, 255 f., 261, 265, 332, 351, 384 Beratungshilfe  23, 329 Berufsverbot  52, 76 beschleunigtes Verfahren  302, 315 Beweiserhebungsverbot 347 Beweisverwertung  67, 124 –– Abwägungslehre  126, 350, 384 –– Beweisverwertungsverbot  124, 139, 257, 265, 340, 347–351, 379, 384, 396 –– Beweiswürdigungslösung  139, 257, 347 –– bright-line rule  119, 209, 216, 218 Chancengleichheit  47, 58, 127 f., 134 f., 192, 209, 232, 294, 296, 393 Dienstleistungsfreiheit  34, 143, 177–179, 181–183, 187, 189 f., 192, 194, 215, 390 –– Anwendungsbereich 178 –– Beschränkung  177, 179 f., 183, 185, 187, 189 f. –– Dienstleistung  177–180, 183, 188, 194, 215, 390 –– Dienstleistungsempfänger  177 f., 180, 183, 189, 215 –– Diskriminierung  179 f. Disziplinarmaßnahme 76 Disziplinarrecht 75 Dolmetscher  128, 171 Doppelverbürgung  148 f., 391 Doppelverteidigung  30, 38, 177, 182–185, 187 f., 193, 215, 280, 285 f., 288, 298, 376, 379, 388, 396 Drittverteidigung  64, 116, 255 Durchsuchung  110 f. Eigenverteidigung  21, 29, 56, 61, 65–68, 116, 135 f., 257, 349 Eilbestellung  335, 339 f. Einlassung  87, 124, 173, 265, 296, 310 f., 370

Sachregister eklatante Rechtsverweigerung siehe flagrant denial Ermittlungshandlungen  194, 226 f., 229, 236, 240, 247, 296, 313, 332, 338, 342, 381 Ermittlungsrichter  84 f., 360 Ersatzfreiheitsstrafe  51, 76, 319–322 Eurodefensor 25 Eurojust 24 Europäische Ermittlungsanordnung  40, 84, 96 f., 306 Europäischer Haftbefehl  31 f., 39, 86 f., ­96–98, 101, 137 f., 159 f., 162, ­164–168, 173 f., 183–185, 189, 223, 235–237, 267, 278–284, 286, 289 f., 292, 298, 371, 373–375, 377, 380, 387, 389, 391 f. –– Vollstreckungsaufschub  164 f. –– Vollstreckungshindernis  165, 169 Europäische Staatsanwaltschaft  24, 36 f., 175, 349, 396 Europäisierung  19, 27, 31–34, 44 f., 300, 381 f., 389, 391, 396 Europol 24 Fachanwalt für Strafrecht  356 f. Festnahme  24, 104, 154, 279–281, 283 f., 290 f., 298, 305, 310–313, 371–376, 387 flagrant denial  89, 94 f., 137 f., 169, 214 forum regit actum  175 f. forum shopping  26 Fragerecht  105, 262, 333, 335, 378 Freiheitsentzug  31, 39 f., 50 f., 53, 58, 76, 78–80, 113, 135, 174, 184, 217, 226, 229, 239 f., 242, 248 f., 258, 287, 294, 310–313, 315, 319, 325, 327, 382 f. Freiheitsstrafe  20 f., 51 f., 68, 239, 250, 290, 304, 313–321, 382, 393 Funktionsfähigkeit der Rechtspflege  190, 193, 207 Fürsorgepflicht  65, 69–71, 136, 254, 275, 295 Garantenpflicht  60, 68 f., 71 f., 126, 219 gebotene Verteidigung  301 Gebührenordnung  30, 188–193, 215 –– Gebührensatz  190 f., 271 –– Pflichtverteidigergebühren 354 –– Wahlverteidigergebühren  353 f. Gefangene  322, 341 f.

433

Gegenüberstellung  110, 210, 242, 247, 322, 333, 336 f., 343 f., 359, 383, 388 –– Identifizierungsgegenüberstellung 226, 291, 295, 332, 335 f., 378 –– Vernehmungsgegenüberstellung 226, 291, 332 Geldstrafe  21, 39, 51 f., 76, 239, 319–322 geringfügige Zuwiderhandlungen  75, 238, 245 f., 249–252, 257, 328 Gesamtbetrachtung des EGMR  48, 59, 74, 101, 120, 123, 145, 156, 170, 175, 210, 280, 282, 294 Geständnis siehe Einlassung Grundfreiheiten  34, 44, 143 f., 146, 177, 181, 187, 192 f., 215 Grundrechte der Charta  99, 140, 142, 149, 156, 159 f., 162–166, 168 f., 187, 192, 203 –– allgemeine Rechtsgrundsätze  140 –– Anwendungsbereich  140–142, 147, 157 f., 170, 174, 214, 390 f. –– Beschränkung  157, 163, 170, 202–204, 207, 209, 211 f., 216, 218 Grundrechtekonvent  141, 152 f., 213 Haftprüfungsverfahren  74, 78, 80 f., 137, 155–157, 214, 216, 235, 239, 305, 390 Hochschullehrer  107, 355 Hoheitsgewalt  82–84, 91–93, 102, 158 Interessen der Rechtspflege  30, 40 f., ­46–55, 57 f., 62 f., 67, 107, 113, 131, 135, 153, 170–174, 187, 199, 212, 214, 217, 220, 235, 237–241, 250, 268, 280, 283, 290, 294, 298 f., 307 f., 319, 382, 392 f. –– Komplexität der Sach- und Rechtslage  49, 53 f., 62, 135, 170, 172, 294, 382, 393 –– Schwere der angeklagten Tat  48–50, 53, 170 –– Schwere der drohenden Rechtsfolgen  48, 50, 53, 75, 294, 313, 393 international-arbeitsteiliges Strafverfahren  82 Jugendliche  57 f., 135, 217, 264, 294, 302, 322, 326, 341, 372 f. Kinder  32, 229, 233, 241 f., 257, 263, 326 Kohärenzgebot  34, 151 f., 154, 201 f., 213, 215, 345, 390

434

Sachregister

Kollisionsregelung 26 Kontaktsperre  341 f. Konventionsfreiheiten der EMRK  51, 117 f., 126, 259 –– Anwendungsbereich  100, 136 –– Konventionspflichten  114, 136, 240 –– Konventionsverletzung  82, 93 f., 125, 132, 136 Konzeption des europäischen Pflichtvertei­ digers  216, 221, 300 Kostenfreiheit  46, 126–130, 177, 215, 219, 266, 292, 296 f., 385, 394 –– Selbstbeteiligung  130, 269, 292, 297, 352 Kostentragung  121, 130, 183, 188–190, 192 f., 266–269, 286, 288, 292, 352, 380 Kostenübernahme siehe Kostentragung Kostenvorhersehbarkeit  190, 192–194 Leistungsfähigkeit  128 f., 175, 219, 269, 284, 292, 297, 352–354, 381, 385, 394 locus regit actum  175 margin of appreciation  63, 106 materielle Kriterien siehe Interessen der Rechtspflege Mindeststandard  28, 148, 151, 157, 213 Mittellosigkeit siehe Bedürftigkeit Mitwirkungsrecht 333 Natur der Verfehlung  74, 118, 137, 303 Offenkundigkeit mangelhafter Verteidigung  70, 136, 254, 275, 295, 330, 383, 386 OLAF 24 Ortsansässigkeit  121, 339, 363 Partizipationsrecht  218, 295 f., 327, 384 Pflichtverteidigung  20 f., 31, 33–36, 41, 43, 64, 67, 219, 221, 293, 297, 300, 302, 307, 309, 315, 322, 324, 327 f., 332, 347, 354–359, 365, 367 f., 381–386, 394 praktische Konkordanz  115 Prinzip der gegenseitigen Anerkennung  ­26–28, 37, 100, 138, 159 f., 167, 170, 175 –– Ablehnungsgründe  101, 159, 175

–– gegenseitiges Vertrauen  27 f., 90, 160, 165, 169, 214 –– Grundrechtsvorbehalt  159 f., 166, 168 –– ordre-public-Vorbehalt  27, 117 pro-bono-Mandate 42 Prozessfinanzierung 42 Prozesssubjekt  19, 42, 111, 136, 138, 217, 294, 327, 392 Prozesssubjektsgehilfe 349 prozessuale Sicherungsmaßnahmen  61 f., 117, 265 Qualitätssicherung  273, 293, 385 –– Akkreditierung  272, 293, 356 –– Erfahrung  23, 131, 186, 196, 219, 297, 355 f., 358, 365, 385 f., 394 –– Fachkenntnis  186, 219, 273, 297, 355 f., 364, 380, 385 f. –– Fortbildung  355, 365 f., 380, 386 Rahmenbedingungen effektiver strafrecht­ licher Prozesskostenhilfe  48, 105, 126, 219, 266, 296 f., 302, 352, 380, 385, 392, 394 Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts  94, 99 f., 138, 140, 158, 160, 162 f. Rb-Verteidigungsrechte  28, 234 f. Recht auf ein faires Verfahren  32, 46, 49, 60–65, 69, 72, 109, 121, 125, 169–171, 195, 218, 242, 251, 265, 295, 393 Rechtsanwaltskammer  278, 356, 358, 363 f., 366, 369, 386 Rechtshilfe  26, 30, 35, 37–39, 82, 86 f., 95, 99, 138, 158, 169, 212, 305 f., 341, 372 f., 375, 377–380 –– Rechtshilfeersuchen  96, 101 –– Rechtshilfeverfahren  29, 42, 84 f., 96, 138, 158, 306, 377 f. Rechtsschutzversicherung 42 Referendare  131, 273, 355, 357, 380 Referentenentwurf  305, 309, 311 f., ­316–318, 325, 331 f., 337 f., 340, 351, 355, 357–361, 367, 374–377, 381–385 Rückforderung  129, 268, 292, 353, 394 Schranken  116 f., 122, 163, 169, 193, 206 –– Erforderlichkeit  117, 180, 185, 208 f., 282

Sachregister –– –– –– –– –– –– ––

Geeignetheit  117, 180, 207 Gesetzesvorbehalt  143, 203 konventionsimmanente Schranken  115 Schrankenklausel  201, 216 Schranken-Schranken 193 verfassungsimmanente Schranken  206 Verhältnismäßigkeit  165, 180, 185, ­204–206, 208, 210, 216 Schutzbedürftigkeit  57 f., 104, 124, 226, 241 f., 254–256, 263, 291, 347, 393 Schutzbereichsverstärkung  174, 193, 293 Schutzpflicht  84, 86, 101, 117, 138 Schweigerecht siehe Selbstbelastungsfreiheit Selbstbelastungsfreiheit  28, 52, 109–112, 195, 226, 249, 252, 262 f., 345, 351, 370, 378, 383, 386, 392 f., 395 soziale Menschenrechte  127 Spiegelverteidigung siehe Doppelverteidi­ gung Sprachunkundigkeit  171, 173 Standesrecht  181, 196 f., 200, 215 Stockholmer Programm  31, 33, 213, 221 f., 244, 381 Strafbefehl  22, 155, 302, 315 f., 318 strafprozessuale Zwangsmaßnahmen  36, 77, 103, 111, 156, 173, 177, 185 Strafvollstreckung  35, 40, 106, 155, 173, 279, 281, 304, 371 f. Strafvollzug  35, 76, 106, 130, 145, 155 Subsidiaritätsprinzip 223 Syndikusrechtsanwalt  195–200, 355 Tätigkeitsschwerpunkt  357, 366 Tatortrekonstruktion  226, 242, 247, 291, 295, 322, 332, 336–338, 378, 383, 388 Teilhaberecht  43, 46, 106, 111, 128, 218, 227, 292, 349 transnationales ne bis in idem  157 Übersetzung  48, 107, 130, 171, 255 Überstellung  87, 371 f., 375 f. Umsetzungsspielraum  106 f., 131, 238, 258, 290 Unabhängigkeit  121, 132–134, 139, 169, 195–200, 215, 220, 270, 276–278, 361 f. –– institutionelle Unabhängigkeit  132–134, 139, 276

435

–– richterliche Unabhängigkeit  277 Unschuldsvermutung  32, 43, 79, 113 Untersuchung  110 f., 239 Untersuchungsauslieferungshaft siehe Aus­ lieferungsuntersuchungshaft Untersuchungshaft  21 f., 26, 30 f., 77–81, 87 f., 97, 108, 112 f., 137, 156, 173 f., 239–241, 281, 284, 287, 305, 309, 311 f., 323, 326, 328, 360 Unverzüglichkeit  226, 229 f., 242, 247 f., 258, 287, 291, 298, 328, 338, 384 Verfassungsrecht  115, 141, 148 Vergütung  30, 180, 188–190, 192, 215, 270 f., 288, 293, 297, 358 f., 381 Vergütungsordnung siehe Gebührenordnung Vernehmung  54, 81, 84–86, 91, 105, 110, 154, 218, 226, 245, 260, 285, 287, 291, 306, 310 f., 313, 318, 332–335, 337, 342–345, 349–351, 360, 371 f., 375 f., 381, 383–385, 387 Vernichtung von Beweismitteln  261 Verständigung  22 f., 235 Vertraulichkeit  69, 195–197, 200 f., 215, 287 Verzicht  61 f., 136, 212, 255–257, 264, 295 –– entgegenstehende öffentliche Interessen ​ 62 f. –– knowing and intelligent waiver  62 f. –– Widerruf 257 vorläufige Festnahme  105, 112, 310, 312 Vorstrafe  21, 316 Waffengleichheit  19, 25, 53, 66, 72, 80, 88, 111, 113, 171, 174, 187 Wahllichtbildvorlage 336 Wahlrecht bezüglich eines Verteidiger des Vertrauens  52, 107, 114, 120–122, 133, 139, 148, 195, 199, 201, 274 f., 291, 293, 297, 338 f., 349, 357, 366 f., 369, 384, 394 –– Auswechslung  122, 275, 364, 370 f., 386 –– Auswechslungsrecht  275, 291, 340, 366, 370 –– Berücksichtigungspflicht  114, 122 –– Berücksichtigungsrecht  275, 367

436

Sachregister

Wahlverteidiger  113, 120, 195, 338–340, 354, 361, 384 watchdog of procedural regularity  19, 110, 132, 295 Weisungsabhängigkeit  197, 200 Wesensgehaltsgarantie  204 f. Willkür  348, 351

Zugang zu strafrechtlicher Prozesskosten­ hilfe  46, 95, 122, 139, 194, 247 f., 280, 282, 295 Zurechnung  69, 84, 91, 94 f., 136, 158, 243, 303 Zwangsverteidigung  47, 64 f., 116, 130, 133, 264